Die psychologische Entwickelung des Apriori: mit Rücksicht auf das Psychologische in Kants Kritik der reinen Vernunft [Reprint 2021 ed.] 9783112452349, 9783112452332


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Die psychologische Entwickelung des Apriori: mit Rücksicht auf das Psychologische in Kants Kritik der reinen Vernunft [Reprint 2021 ed.]
 9783112452349, 9783112452332

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DIE

PSYCHOLOGISCHE ENTWICKELUNG DES

APRIORI, MIT RÜCKSICHT AUF DAS PSYCHOLOGISCHE

IN KANTS KRITIK DER REINEN VERNUNFT.

VON

Dr. OTTO SCHNEIDER, GYMNASIALLEHRER IN KÜSTRIN.

BONN, E D U A R D W E B E R ' S VERLAG. (JULIUS FLITTNER.)

1883.

Inhalt. Einleitung.

Seite

Die Methode der Auffindung des apriori'schen Stammbesitzes im erkennenden Bewusstsein

1—14

I. Das Psychologische in Kants Kritik der reinen Vernunft

15—78

A. B. C. D. E.

In den beiden Vorreden und in der Einleitung . . Das Psychologische in der transcendentalen Aesthetik Das Psychologische in der transcendentalen Analytik Das Psychologische in der transcendentalen Dialektik Das Psychologische in der transcendentalen Methodenlehre

II. Die Psychologische Entwickelung des Apriori in den verschiedenen Stufen des natürlichen Innewerdens und des erkennenden Bewusstseins .

15—21 21—31 31—51 51—75 75—78

79—228

A. Das Apriori in den verschiedenen Arten der Raumvorstellung . . . . . . . 79—122 1. Der Eaum im tierischen Innewerden und im natürlichen menschlichen Bewusstsein 79—109 2. Der Baum im denkenden Bewusstsein . 109—122 B. Das Apriori in den verschiedenen Arten der Zeitvorstellung . . . . . 123—140 1. Die Zeit im tierischen Innewerden und im natürlichen menschlichen Bewusstsein . . . 123—129 2. Die Zeit im denkenden Bewusstsein . . 129—140 C. Die apriori'schen Verstandesfunctionen in den verschiedenen Stufen des Bewusstseins . 140—228 1. Im tierischen Innewerden . . . . . 140—148 2. Die apriori'schen Verstandesfunctionen im Vorstellungsmechanismus . 148—153

IV Seite

3. Die apriori'schen Yerstandesfunctionen in der Sprache 4. Die apriori'schen Yerstandesfunctionen im logischen Denken . . . . . . . . . 5. Die apriori'schen Yerstandesfunctionen im wissenschaftlichen Bewusstsein . . . 6. Die apriori'schen Verstandesfunctionen im kritischen Bewusstsein . . . . 7. Das Apriori im kritischen Ich- oder Selbstbewusstsein

154—176 176—200 200—211 211—212 212—228

Einleitung. Die Methode der Auffindung des apriori'schen Stammbesitzes im erkennenden Bewusstsein. Der Entwickelungsgang der neusten Philosophie hat den grössten Teil der wissenschaftlichen Geister des gegenwärtigen Geschlechtes wieder zum Kantischen Kriticismus zurückgeführt. Willkürlichen und phantastischen Speculationen abgewandt, erkennt unser Zeitalter die Hauptaufgabe der Philosophie darin, mit Befolgung des vom Kriticismus vorgezeichneten Verfahrens zur Beantwortung der letzten und höchsten Frage nach dem Verhältnisse von Denken und Sein, zur Lösung des Erkenntnisproblemes, vor allem d i e B e d i n g u n g e n der E r k e n n t n i s festzustellen, und zwar durch die t r a n s c e n d e n t a l e Ueberlegung, durch den i n d i r e c t e n Beweis aus der Ergrtindung der M ö g l i c h k e i t a l l e r und j e d e r E r f a h r u n g , in Verbindung mit e m p i r i s c h - p s y c h o l o g i s c h e r Beobachtung, also durch den d i r e c t e n Beweis aus der Beobachtung der Thatsachen des Bewusstseins, des Seelen- und Geisteslebens und der Beschaffenheit der Sinneseindrücke. Ueber die M e t h o d e der Aufdeckung des A p r i o r i denkt man verschieden, ebenso über d i e N a t u r desselben, aber die Thatsache seines Vorhandenseins wird von den meisten Anhängern der Wissenschaft anerkannt, und hundert Jahre nach dem Erscheinen des Hauptwerkes des Kriticismus schämt man sich nicht des Geständnisses, bei dem alten Lehrmeister mit besserem Erfolge in die Schule zu gehen als bei seinen Schülern, die ihn weit zu überflügeln gedachten. Zunächst kommt es freilich darauf an, die Kantische Lehre vom Apriori urkundlich festzustellen. Wer sich des Streites zwischen K u n o F i s c h e r und T r e n d e l e n b u r g erinnert, wird es begreiflich finden, dass eine grosse Zahl von Forschern unserer Tage sich dieser Aufgabe zuwendet. Vor allem B o n a Meyer, Cohen, L i e b m a n n , S t a d l e r in ihren hervorragenden Arbeiten, nicht minder B e n n o Erdmann und A r n o l d t in ihrer lebhaften Controverse, zahlreiche Monographieen von Leclair, Lehmann, Jacobson, Krause, Witte, Pfleiderer u. a. wären hier zu nennen. (Vgl. B. Meyers kritischen Bericht über die Kant-Studien im 1. Bd. der Vierteljahrsberichte über die gesammten Wissenschaften, hrsg. v. Rieh. Fleischer, Berlin beiHempel S c h n e i d e r , Psycho!. Entwickelung.

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Einleitung.

1882.) Daneben steuert man jedoch auf eine sorgfältige p s y c h o l o g i s c h e Analyse auch der Erkenntniskräfte hin; Windelband, Biese, Lazarus, Horwicz, Ueberhorst, Harms, Hoppe, Fechner, Hemann sind bis in die jüngste Zeit in dieser Richtung thätig gewesen. Bei manchem Philosophen unserer Tage freilich ist diese Hinneigung zur psychologischen Betrachtung auch der (gegenstände der Erkenntnistheorie sogar mit einer starken Abneigung gegen Kants Transcendentalphilosophie verbunden; so z. B. bei L a a s in „Kants Analogieen der Erfahrung" (Berlin 1877 bei Weidmann); noch weiter geht L a a s auf diesem Wege in der Schrift „Idealismus und Positivismus", 1. Theil (Berlin 1879 bei Weidmann). Von lobenswertem Bestreben, möglichst alle psychologischen Elemente zu erforschen, welche bei der Bildung unserer Erkenntnis mitwirken, zeugt Carl G ö r i n g s „System der kritischen Philosophie" (Leipzig 1874 bei Veit und Cp.), eine Schrift, welche zur Orientierung über den Stand dieser wissenschaftlichen Fragen von hervorragendem Nutzen ist. Aber eben dieses Buch ist mir einmal ein schlagender Beweis dafür gewesen, wie sehr man inmitten dieser wertvollen psychologischen Forschungen in Gefahr steht, die allerwichtigste psychologische Thatsache, das Apriori in seiner unwandelbaren Natur, zu vernachlässigen und in ihrer Wichtigkeit zu unterschätzen; sodann aber hat mir gerade diese psychologische Schrift den Beweis dafür geliefert, dass man durchaus noch nicht überall in vollem Masse den Reichtum psychologischer Erkenntnisse beachtet, welcher sich in Kants Kritiken aufgespeichert findet. Auf das Hauptwerk, die Kritik der reinen Vernunft, wird bei Göring in dieser Beziehung so gut wie gar nicht hingewiesen. „Die kritische Philosophie Kant's kennt keine Psychologie", ruft R i e h l aus in seinem höchst schätzenswerten Buche „der philosophische Kriticismus und seine Bedeutung für die positive Wissenschaft" (Leipzig bei Engelmann 1876, 1. Bd. S. 8; der 2. Bd. 1879). „Wie kann man von einer Kantischen Psychologie, von einer psychologischen Kritik reden, da doch Kant den Begriff einer Seelensubstanz für gänzlich unerweislich erklärt?" Als ob sich die Seele deshalb gleich in nichts verlieren sollte, weil Kant mit seiner bewundernswürdigen Aufdeckung der psychologischen Paralogismen die kühnen Ausschweifungen einer dogmatischen Phantasie vernichtet! Wenn Einer die Nichtberechtigung theoretischer Ausweisung der Psychologie aus dem Bereiche der Erkenntnistheorie durch die Praxis seines eigenen Verfahrens darlegt, so thut es Riehl in seinen umsichtigen Forschungen. An Locke wird in tadelndem Sinne als

Einleitung.

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charakteristisch hervorgehoben „die beständig wiederkehrende Berufung auf den Geisteszustand von Kindern und Wilden" (I 20); Riehl „versetzt sich" in seiner „Erkenntnistheorie der Empfindung" nicht blos bis dahin, sondern „auf den Standpunkt des anfänglichen Bewusstseins, das nur Empfindungen und Gefühle umfasste, zurück" (II 67), zu jenem „Allgemeinsinn des sensiblen Hauptblattes", aus welchem nach der Entwickelungsgeschichte alle Sinne mit ihren Functionen sich gebildet haben (II 27,57, 58). Der Mann, für welchen mit Kecht „eine blosse Kritik der psychologischen Erkenntnisvermögen sich in eine auf den Begriff der Erfahrung gegründete Kritik der Erkenntnis selbst verwandelt" (II 18), bequemt sich zu dem Zugeständnisse: „Weit näher als die reine Psychologie steht der Erkenntnistheorie die p h y s i o l o g i s c h e P s y c h o l o g i e " (II 13). Auch den Substanzbegriff der Seele weist er durchaus nicht mit voller Entschiedenheit ab. „Und in der That verhält sich auch der einheitliche Inbegriff relativ constanter und gleichsam fixirter Gefühle, Gedanken und Bestrebungen, unser empirisches Ich, zu allen weiteren Erlebnissen wie eine Substanz zu ihren Modificationen" (II 272). Solchen Thatsachen gegenüber halte ich mindestens diejenige Hälfte meiner Arbeit nicht für überflüssig, welche sich mit der Hervorhebung der psychologischen Erkenntnisschätze der Kritik der r. V. beschäftigt. Aber auch die Berechtigung des sich daran anschliessenden Versuchs einer psychologischen Betrachtung und Darstellung des apriori'schen Stammbesitzes in den verschiedenen Stadien des empfindenden, wahrnehmenden und erkennenden Bewusstseins scheint mir in der Mangelhaftigkeit begründet zu sein, mit welcher bis auf den heutigen Tag selbst in den gelehrtesten psychologischen Werken, z. B. auch in W u n d t s „Vorlesungen über die Menschen- und Thierseele", das Apriori beleuchtet wird. Wohl habe ich mir die Warnung Cohens zu Herzen genommen, das Psychologisch-Anfängliche mit dem Metaphysisch-Ursprünglichen nicht zu verwechseln; aber ich kann darum nicht zugeben, dass dieses Aufsuchen des Metaphysisch-Ursprünglichen durch die Transcendentalphilosophie, welche die Möglichkeit der Erfahrung zu erklären für die höchste Aufgabe der Erkenntnistheorie ansieht, uns völlig aus dem Bereiche der Psychologie hinausführe und mit der directen Beobachtung der Thatsache des Seelenlebens gar nichts zu schaffen habe. Gerade aus dem Umstände, dass einerseits C o h e n selbst (Kants Theorie der Erfahrung S. 39) Kant „den grossen Psychologen der reinen Vernunft" nennt, und dass andrerseits ernste Vertreter des Kriticismus, wie z. B. W i t t e in seinen Schriften, zu Folgerungen

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Einleitung.

gelangen, die über die von dem kritischen Philosophen gesteckten Grenzen hinauszugehen scheinen, ergiebt sich für mich eine doppelte Aufgabe, e r s t e n s eine F e s t s t e l l u n g der M e t h o d e d e s Kant i s c h e n K r i t i c i s m u s , also eine Untersuchung darüber, wie weit derselbe sich direct, wie weit indirect den Thatsachen des Geisteslebens zuwendet, z w e i t e n s e i n e U n t e r s u c h u n g d e s a p r i o r i s c h e n S t a m m b e s i t z e s unseres Geistes, sowohl auf i n d i r e c t e m oder t r a n s c e n d e n t a l e m Wege, durch Erklärung der M ö g l i c h k e i t der E r f a h r u n g u n d d e s W i s s e n s mit Hülfe eben jenes Apriori, als auch auf d i r e c t e m Wege durch u n m i t t e l b a r e B e o b a c h t u n g aller Erscheinungen, in welchen sich ein zu dem Erfahrungsmaterial hinzukommendes Plus des Geistes oder der Seele offenbart. B o n a M e y e r giebt uns in seinem Buche „Kant's P s y c h o l o g i e " darüber Aufschluss, wie Kant selbst über die Methode seiner Kritik geurteilt hat. Danach war dessen positives Bestreben daraufgerichtet, durchVernunftkritik und Transcendentalphilosophie eine gründliche Metaphysik vorzubereiten. Also Kants Grundtendenz ist eine m e t a p h y s i s c h e , keine p s y c h o l o g i s c h e . Kant hat aber die Lehre von den Seelenvermögen bis zum Jahre 1790 fertig ausgebildet und während dieser Ausbildung zugleich in ihrem jeweiligen Entwickelungsstadium zur Grundlage seiner Kritik gemacht. Die psychologische Grundlage ist nach Meyer im wesentlichen richtig und von Kant mit klarem Nachdenken gerechtfertigt (S. 302). Hinsichtlich der zweiten Hauptfrage, ob Kant innerhalb seiner kritischen Arbeiten seine Hauptentdeckung, die des apriori'schen Thatbestandes, auf den verschiedenen Gebieten der Seelenvermögen vermittels psychologischer Selbstbeobachtung gemacht habe oder überhaupt auch nur habe machen können, erweist Meyer durch eine Zusammenstellung aller in Kants Briefen und Hauptschriften enthaltenen Aeusserungen, dass er selbst im Grunde die psychologische Natur dieser Entdeckung nicht verkannt habe. „Die Durchforschung unseres Erkenntnisbestandes war eine Sache der analysierenden und reflectierenden Selbstbeobachtung und konnte auf keinem anderen als auf diesem psychologischen Wege zum Ziel gelangen." Dieser Beweis ist offenbar ein äusserlicher; ein zweiter bietet sich, wie wir sehen werden, in der sorgfältigen Analyse der ganzen Kritik und in einer Aufweisung aller derjenigen Stellen, in welchen die psychologischen Sätze in den Gang der kritischen Untersuchung eingreifen. Aber nicht durch blosse S e l b s t b e o b a c h t u n g , sondern auf dem Wege einer durch wissenschaftliche Analyse und Reflexion ge-

Einleitung.

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leiteten Selbstbesin n u n g will Kant nach seinen eigenen Aeusserungen zum Apriori gelangt sein (S. 204). Freilich richtete er nun nach der Auffindung des Apriori seine Aufmerksamkeit fast ausschliesslich auf die t r a n s c e n d e n t a l e D e d u c t i o n ; „sie bestand darin, dass die apriori'schen Anschauungen, Verstandesbegriffe und Vernunftideen als Grundbedingung zur Möglichkeit aller Erfahrung dargestellt wurden". Jedoch hat Kant die psychologische Natur auch dieser Untersuchungen nicht übersehen. Aber Meyer teilt die Meinung K. Fischers, dass der Beweis der Rechtmässigkeit des Apriori im Sinne Kants mehr ist als eine psychologische Entdeckung, wenn es gleich auf dem Wege psychologischer Selbstbesinnung entdeckt wurde (S. 305). Aber „woher denn die unleugbar von Kant ausgesprochene A bw e i s u n g a l l e r p s y c h o l o g i s c h e n E m p i r i e von seiner kritischen Aufgabe, besonders von der Aufsuchung des Apriori auf den Gebieten der Metaphysik, Logik und Ethik? Welchen Sinn hat denn diese Abweisung, und wie weit ist sie in dem von Kant angenommenen Sinne berechtigt ?" Die Antwort lautet: Kant schliesst nur die durch I n d u c t i o n gewonnene, von der Sinnlichkeit herrührende Seite unserer Erkenntnis aus. Ohne diese soll das Apriori entdeckt sein, und ohne sie ist es auch nach Meyer entdeckt. Wenn man aber den Begriff der inneren Erfahrung im eigentlich Kantischen Sinne fasst als das Product der von aussen erregten Sinnesempfindungen und des Verstandes, der den also dargebotenen Stoff von innen bearbeitet, dann müssen wir nach Meyer Kants Auffinden des Apriori als eine psychologische Analyse der inneren Erfahrung und seine transcendentale Deduction als eine ebenfalls der Psychologie angehörige Rechtfertigung dieser Analyse ansehen. „Stets handelt es sich um eine Erkenntnis des t b a t s ä c h l i c h e n W e s e n s u n s e r e r S e e l e und die Gesetze ihrer T h ä t i g k e i t . Die Aufwendung verschiedener E r k e n n t n i s m i t t e l in verschiedenen Richtungen dieses allgemeinen psychologischen Zweckes bedingt keine Sonderung der Disciplinen." Die langsame Entstehungsgeschichte der Erkenntnis des Apriori macht es erklärlich, dass Kant die unmittelbare Selbstbeobachtung als Mittel der kritischen Methode trotz ausdrücklicher, nachher zu erwähnender Erklärungen in Abrede stellt. Das Vorurteil blieb haften, und dadurch, dass Kant aus Vorurteil Anstand genommen hat, den richtigen Namen zu gebrauchen, hat er allerlei speculative Irrtümer seiner oben erwähnten Nachfolger veranlasst, welche dem realen Fortschritt der Psychologie nachteilig geworden sind. Vor allem aber hat ihn dieses psychologische Vorurteil ge-

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Einleitung.

hindert, den vollen a p r i o r i ' s c h e n B e s i t z u n s e r e r S e e l e z u e n t d e c k e n , ein Mangel, der besonders in seiner Ethik hervortritt. Die u n b e r e c h t i g t e Scheidung der transcendentalen und psychologischen Erkenntnis hat den irrigen Subjectivismus seiner Logik und Ethik verschuldet (S. 307). Als wirkliche Irrtümer Kants in Logik und Ethik bezeichnet Meyer „ d i e U n t e r s c h e i d u n g von Sinn, V e r s t a n d und V e r n u n f t , d i e A b l e i t u n g d e r K a t e gorieen aus den U r t e i l s f o r m e n , die I s o l i e r u n g des apriori's c h e n P f l i c h t b e g r i f f s " (S. 308). „Die irrige Scheidung der Elemente unserer psychologischen Erkenntnis ist es auch, welche Kant zu e i n e r V e r k e n n u n g d e r P s y c h o l o g i e a l s W i s s e n s c h a f t verleitete" (S. 309). Aber Meyer will zugleich die Wahrheit der Behauptung Kants bekräftigen, dass wir vom Wesen der Seele kein Wissen besitzen (S. 311). Die Bedeutung der rationalen Psychologie, d. h. der idealistischen Auffassung der Seele als Theorie, soll Kant in Folge seiner einseitigen Ansicht vom inneren Sinn verkannt haben (S. 312). Eine Psychologie mit den beiden Teilen der rationalen und der empirischen Psychologie, eine Psychologie, die Theorie und Beobachtung der Thatsachen vereinigt, ist nach Meyers Schlusssatz „ d a s d r i n g e n d s t e B e d ü r f n i s d e r Z u k u n f t u n s e r e r Phil o s o p h i e " (S. 312). Der Weg zur Auffindung des Apriori ist nach Kants eigenen Andeutungen die von einem bestimmten Principe, d. h. von den sicheren Kriterien der Allg e m e i n h e i t und N o t w e n d i g k e i t geleitete Selbstb e s i n n u n g , r e f l e c t i e r e n d e S e l b s t b e o b a c h t u n g (S. 130). Diese besteht also darin, dass ich mich frage: Welche Reihe von Vorstellungen habe ich Uberhaupt? Welche von diesen Vorstellungen sind unbedingt und ein- für allemal sicher? Unterscheiden des Verschiedenen und Zusammenfassen des Gemeinsamen, Abstraction und Reflexion, sind also die Denkakte, die sich bei dieser Selbstbeobachtung, d. h. bei der Beobachtung meines Besitzstandes an Vorstellungen, vollziehen. Kant sagt selbst, dass „diese Thätigkeit kein grösseres Nachdenken oder mehr Einsicht voraussetze, als aus einer Sprache Regeln des wirklichen Gebrauchs der Wörter überhaupt heraussuchen und so Elemente zu einer Grammatik zusammentragen (in der That sind beide Untersuchungen auch sehr verwandt)" (S. 124). Das „Isolieren" der Sinnlichkeit in der Trsc.-Aesthetik, das „Isolieren" des Verstandesvermögens, das „Abstrahieren" von allem Inhalte eines Urteils in den Functionen der Einheit in den Urteilen, alles das sind Denkoperationen, die sich bei jeder bewussten wissenschaftlichen Thätigkeit, sei es bei empirischer äusserer oder innerer

Einleitung.

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Beobachtung, beim Analysieren aller abstracten Begriffe wiederholen. Das allmähliche „Weglassen" alles Empirischen in unserem Erfahrungsbegriffe eines Körpers, wodurch Kant uns auf den Raum führen will, und ebenso das „Weglassen" bei der Zeit ist auch weiter nichts als ein allgemein übliches wissenschaftliches Abstrahieren; als etwas anderes ist jene reflectierende Selbstbesinnung mit ihren „festen Leitsternen", den Kriterien der Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit, nicht anzusehen. Auch die Reflexion, durch welche Kant die drei transcendenten Yernunftideen gewinnt, indem er irrtümlicher Weise aus der Thatsache, dass wir auch schliessen, d. h. mittelbar und nicht blos unmittelbar urteilen, das Vorhandensein eines neuen Vermögens ableitet, auch diese Reflexion ist weiter nichts als, nach seinem eigenen Ausdrucke, ein Studium unserer Natur. Ebenso wäre es unrichtig, diejenige reflectierende Selbstbesinnung für eine eigentümliche Kraft unserer Seele zu halten, durch welche Kant zum apriorischen Grundbegriffe der praktischen Vernunft gelangt, indem er nämlich die Wirksamkeit des Pflichtbegriffes in der Erfahrung beobachtet und daraus dann auf seinen Sitz im apriori'schen Vermögen unserer Vernunft schliesst. Welche neuen Elemente spielen denn in dieser Thätigkeit? Es treten hier keine anderen Urteilsformen auf als bei jedem anderen wissenschaftlichen Denken; es bekunden sich also keine anderen apriori'schen Functionen oder Grundkräfte als anderswo. Das „Sichbewusstwerden" reiner praktischer Gesetze, das „Achthaben" auf die Notwendigkeit in den Vorschriften der Vernunft und auf die von ihr geforderte Absonderung aller empirischen Bedingungen lässt sich auf die bei der Beobachtung anderer seelischer Erscheinungen thätigen Denkfunctionen zurückführen. Kant selbst nimmt nichts als die gemeinste Aufmerksamkeit auf sich selbst zur Erkenntnis des kategorischen Imperativs und der Freiheit in Anspruch (S. 133). Auch in den Urteilen der Urteilskraft, der ästhetischen sowohl wie der teleologischen, lassen sich absolut keine neuen logischen Functionen entdecken; wir reichen zur Erklärung der in diesem Felde zustande kommenden Urteile vollkommen mit den in jedem vernünftigen Denken erscheinenden Formen aus, und es liegt auch hier kein Grund vor, die Erklärungsprincipien über das kleinstmögliche Mass hinaus zu vermehren. B. M e y e r , dem wir eine so klare Einsicht in die Entdeckungsgeschichte des Kantischen Apriori und in Kants eigene Ansicht von seiner Entdeckungsmethode verdanken, behauptet nun freilich: „Offenbar ist die Selbstbesinnung, die uns zur Entdeckung des

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Einleitung.

Apriori'schen führt, anders beschaffen, als die Selbstbeobachtung, die uns zur Auffindung anderer Elemente und Gesetze unseres Seelenlebens führt" (S. 167). Die letztere besteht nach ihm in einer Sammlung von Beobachtungsmaterial und in einem Entwickeln allgemeiner Gesetze aus demselben. Beides aber führe uns immer noch nicht zu einem absolut sicheren Resultat, weil das Material sich vermehren könne. „Ganz a n d e r s verhält es sich mit der E n t d e c k u n g , dass die Raumanschauung eine ursprüngliche Zuthat unseres Geistes zur Erfahrung ist. Wir brauchen dazu gar keine Summe von Beobachtungen von inneren Wahrnehmungen, es genügt die e i n f a c h e S e l b s t b e s i n n u n g , uns zu vergegenwärtigen, dass wir den Raum gar nicht wegdenken können, weil er die Form unserer Anschauung ist" (S. 167). Diesem Urteil geben wir sofort unbedingte Gültigkeit für die menschliche Seele überhaupt. Das Wissen von synthetischen Sätzen a priori „bedarf keiner Summe von Erfahrungen und das Erkennen ist nur ein B e w u s s t w e r d e n u n s e r e r D e n k f o r m e n a n der Erfahrung, k e i n G e w i n n d e r s e l b e n aus der E r f a h r u n g . Die Selbstbesinnung, die zum Apriorischen führt, ist also offenbar unterschieden von der Beobachtung seelischer Erfahrungsthatsachen, aus der wir allgemeine Gesetze unseres Seelenlebens ableiten. Bei der ersteren nehmen wir, geleitet von den festen Kriterien der Allgemeinheit und Notwendigkeit, nur Abstraction und Reflexion zur Hülfe, bei der zweiten gehen wir ohne festen Leitstern den Weg der Induction." Es wäre thöricht, den Unterschied von absolut sicheren mathematischen und Erfahrungssätzen (z. B. die Gefühle sind entweder Gefühle der Lust oder Unlust oder aus beiden gemischt) leugnen zu wollen. Da aber aus der vermeintlichen Verschiedenheit der zu beiden Arten der Erkenntnis führenden Denkakte, S e l b s t b e s i n n u n g und S e l b s t b e o b a c h t u n g , so weitgehende Folgerungen über die Verschiedenheit der Disciplinen gezogen worden sind, so müssen wir doch jene beiden Denkakte einer genaueren Betrachtung unterziehen. Wir müssen uns fragen: Offenbaren sich in jenen Akten wirklich ganz verschiedene Functionen des menschlichen Geistes, und sind aus diesem Grunde Selbstbesinnung und Selbstbeobachtung als wesentlich verschiedene Thätigkeiten gegenüber zu setzen, oder sind die in beiden sich bekundenden Denkkräfte dieselben, so dass nur wegen der Verschiedenheit des Resultates mit willkürlicher Behandlung des Sprachgebrauches der eine Teil der Resultate der Selbstbesinnung, der andere der Selbstbeobachtung zugewiesen wird? Zunächst vom Sprachgebrauche! Wenn ein Kind einmal den Satz

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von der Summe der Winkel eines Dreiecks begriffen, oder das Datum der Schlacht bei Marathon gelernt und beides wieder vergessen, oder ein Messer verlegt hat, so sageich zu ihm: „ B e s i n n e d i c h ! Wie gross ist die Summe ? Wann war die Schlacht bei Marathon ? Wohin hast du das Messer gelegt?" Das Sich-Besinnen bedeutet da nichts anderes als mit Absicht und Anstrengung frühere Vorstellungen wieder ins Bewusstsein zurückrufen, nichts anderes als sich erinnern. Wenn ich dagegen ein Kind zum ersten Male zum Bewusstsein einer Vorstellung leiten will, dann wende ich jenes „besinne dich!" ebensowohl bei mathematischen Sätzen, wie bei Gegenständen innerer Erfahrung an: „Welcherlei Gefühle hast du? Besinne dich! Durchweiche Gedankenverbindung bist du darauf gekommen? Besinne dich! Worauf mag es wohl beruhen, dass dieser schnell rotierende Ring dir als Kugel erscheint? Besinne dich!" Also jedes Nachdenken über das innere Leben nennt man ein Sich-Besinnen, d. h. ein absichtliches Hinlenken seiner Sinne, seines Denkens auf sich selbst. Aber nicht nur auf sich selbst; ich sage auch zu dem Schüler: „Besinne dich! Warum mag wohl das Thermometer beim Kochen des Wassers nicht über 80 Grad hinaussteigen?" Soviel steht also fest, dass der Sprachgebrauch bei der Meyer'schen Verwendung des Wortes Selbstbesinnung, bei der Einschränkung auf apriori'sche Anschauung und synthetische Sätze a priori Gewalt erleidet. Aber wir können uns bei dem Philosophen die willkürliche Bestimmung seiner Terminologie gefallen lassen, wenn sie einen sachlichen Anhalt hat. Was thue ich nun bei jener Selbstbesinnung? Ich suche in meinem ganzen Vorstellungsschatze diejenige Masse auf, welche das Merkmal der Notwendigkeit und Allgemeinheit an sich trägt; also ich r e f l e c t i e r e auf eine einer gewissen Anzahl von Vorstellungen gemeinsame Eigenschaft und abstrahiere dabei zugleich von der Verschiedenheit, welche die Unterarten derselben, jenachdem sie sich auf den Raum oder die Zeit oder auf die den Kategorieen entsprechenden notwendigen Verhältnisse beziehen, aufzuweisen haben. Reflexion und Abstraction sind also bei dieser Selbstbesinnung ebenso notwendig wie bei einer inductiven Selbstbeobachtung; der Unterschied ist nur der, dass ich bei jener Reflexion und Abstraction auf das Vorhandensein des bestimmten Merkmales der Notwendigkeit und Allgemeinheit reflectiere und zu dem Behufe von anderem abstrahiere, während ich bei der Induction, oft wenigstens, von vornherein kein solches Merkmal im Auge habe, sondern mich ohne Leitstern der blossen Zusammenstellung des Gleichartigen und Sonderung des Ungleichartigen hingeben muss. Es ist aber bekannt, wie oft

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die inductiv verfahrende Naturwissenschaft oder die Sprachforschung, kurz die Induction, von vornherein durch einen vorläufig angenommenen Einteilungsgrund zu ihrem Vorteile eine bestimmte Richtung erhält und dadurch vor Unsicherheit und Umherschwärmen bewahrt wird. Und umgebehrt: wie ich bei der Sammlung und Feststellung meines apriori'schen Stammbesitzes Selbstbeobachtung übe, so besinne ich mich auf mich selbst, wenn ich z. B. (und dieses Beispiel führt Meyer selbst S. 167 an) die Gesetze der Association der Vorstellungen beobachte. Allerdings unter den durch jene Denkoperationen gegliederten Vorstellungen sind diejenigen die sichersten, welche den Charakter der Notwendigkeit und Allgemeinheit tragen; aber auch innerhalb des dann noch übrigbleibenden Erkenntnisgebietes giebt es Sätze, deren unbedingte Anerkennung auf Grund sorgfältiger Untersuchung ich ebenso bestimmt verlangen kann, wie die des Satzes der Identität oder der einfachsten mathematischen Behauptung. Wenn ich an vielen Beispielen zeige, dass Vorstellungsmassen sich associieren, und wie sie es thun, oder dass aus bestimmten Strebungen bestimmte Affekte entstehen, so verlange ich die allgemeine Anerkennung solcher Thatsachen. Wenn jemand sie leugnet, ohne jedes Bewusstsein von der Möglichkeit der Erweiterung des Erfahrungsgebietes, so gerät er ebenso in Gefahr, „der Blödsinnigkeit oder der Verrücktheit" geziehen zu werden, wie der, welcher bestreitet, dass 2 x 2 = 4 ist. In der empirischsten Empirie kann ich ebensowohl die Anerkennung gewisser Resultate auf bestimmter Grundlage verlangen wie in der reinen Mathematik. Daraus, dass hier immer Notwendigkeit und Allgemeinheit das Merkmal ist, folgt nicht, dass es anderswo nicht sein kann. Also die Objecte sind bei der Selbstbesinnung und Selbstbeobachtung in der That verschieden; aber die Qualität der Denkoperation ist darum nicht wesentlich verschieden. Gilt etwa die Kantische Art der Darlegung des Apriori für eine zweifellose? Ist sie allgemein als die geeignetste und beste anerkannt? Gegen Kants Beweise für die Apriorität der Zeit und des Raumes, ebenso gegen seine Ableitung der Kategorieen aus den Urteilsformen haben sich seit jeher bis auf den heutigen Tag viele Bedenken erhoben. Also die Verschiedenheit des Leitsternes bei meinen Untersuchungen bedingt keine Verschiedenheit in der Qualität der Untersuchungen selbst; und sei auch jener Leitstern das Merkmal der Notwendigkeit und Allgemeinheit der gesuchten Vorstellungen, und mögen auch Notwendigkeit und Allgemeinheit zwei Kriterien sein, welche das Denken sich

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völlig selbständig aus dem apriori'schen Stammbesitze erzeugt, die Untersuchung selbst erhält dadurch nicht mehr den Charakter der Notwendigkeit und Allgemeinheit als jede andere sorgfältige nach den Vorschriften der Logik angestellte Induction. So erweist sich also der Ausdruck „Selbstbesinnung mit dem Leitstern der Abstraction und Reflexion auf Notwendigkeit und Allgemeinheit" als ein zwar blendender, aber vorsichtig zu gebrauchender. M e y e r hütet sich wohl, aus der vermeintlichen Verschiedenheit des Mittels der psychologischen Analyse tiberschwängliche Folgerungen über die Natur des Apriori zu ziehen. Er sieht ein, dass, wie das Auffinden des Apriori eine psychologische Analyse der inneren Erfahrung, so auch seine transcendentale Deduction eine der Psychologie angehörige Rechtfertigung dieser Analyse ist (S. 169). Weiss er es doch: der Unterschied der Untersuchung bedingt keinen Unterschied der Disciplinen! In diesem Sinne spricht sich auch Alb. L a n g e (Gesch. des Mater. S. 469) gelegentlich der Kritik des Begriffes Selbstbeobachtung aus: „Ueberhaupt ist wohl nicht gar schwer einzusehen, dass die Natur aller und jeder Beobachtung dieselbe ist, dass der Unterschied hauptsächlich nur darin liegt, ob eine Beobachtung so beschaffen ist, dass sie von Anderen gleichzeitig und später ebenfalls gemacht werden kann, oder ob sie sich jeder solchen Aufsicht und Bestätigung entzieht." Mit Recht stellt er (S. 86) die Behauptung auf, mit Kant werde die Reform der Metaphysik in dem Sinne begonnen, „dass sie mehr und mehr ihre Aufgabe erkenne in der blossen h i s t o r i s c h k r i t i s c h e n und p s y c h o l o g i s c h e n Bearbeitung der zu jedem wissenschaftlichen Denken unentbehrlichen Begriffe." Freilich schiesst Lange über das Ziel hinaus, wenn er bei Behandlung der Psychologie, besonders der Moralstatistik (S. 479), bedauert, dass die deutsche Philosophie, trotz ihrer Klarheit über die Nichtigkeit der alten Freiheitslehre, ihren Blick n o c h i m m e r g e r n e n a c h innen, auf d i e T h a t s a c h e n d e s B e w u s s t s e i n s r i c h t e t . Nur mit dem ersteren Verfahren, so meint er, darf die Wissenschaft hoffen, allmählich Resultate von dauerndem Werte zu verzeichnen. Der Wert der Kantischen Kritik besteht aber gerade darin, dass sie mehr als irgend ein anderes philosophisches System den Blick n a c h innen, auf die Thatsachen des Bewusstseins richtet. Diese Untersuchung muss Ausgangspunkt und Endziel aller philosophischen Betrachtung sein. Wir müssen uns sorgfältig davor hüten, durch den Kampf gegen die Ausschreitungen der Metaphysik und Speculation uns von dieser grundlegenden psychologischen und darum echt philosophischen,, recht

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eigentlich metaphysischen und erkenntnis-theoretischen Untersuchung ablenken zu lassen. Das Wort Empirie tritt mir nicht mehr als Schreckgespenst entgegen, wie K u n o F i s c h e r , der verlangt, dass die Untersuchung über das Apriori n i c h t p s y c h o l o g i s c h sein solle, denn diese würde ja empirisch sein! Und wie könnten die Objecte einer solchen a priori sein? Wenn Cohen gegen Fischer (S. 106) auf Kants Worte hinweist, dass „innere Erfahrung ü b e r h a u p t und deren Möglichkeit und Wahrnehmung ü b e r h a u p t und deren Verhältnis zu anderen Wahrnehmungen nicht als e m p i r i s c h e E r k e n n t n i s , sondern als Erkenntnis des Empirischen überhaupt angesehen werden müsse", so ist damit die Thatsache nicht fortgeschafft: die Untersuchung ist und bleibt, wenn sie auch auf die Möglichkeit einer jeden Erfahrung ü b e r h a u p t geht und transcendental ist, dennoch e m p i r i s c h und p s y c h o l o g i s c h . Zwar enthüllt sich das Apriori selbst und unmittelbar nie unseren sterblichen Blicken; es zeigt sich uns nur in den mannigfaltigen Aeusserungen des Seelischen; und diese wiederum, mögen wir sie an Aeusserem oder an uns selbst schliesslich beobachten, e r s c h e i n e n uns nur, nie tritt uns dieses geheimnissvolle Ding an sich entgegen. Es e r s c h e i n t uns eben im Augenblicke unserer Selbstbeobachtung oder Selbstbesinnung nur durch seine eigene Vermittelung; wenn es .uns zum Bewusstsein kommt, so geschieht dies schon in der durch die apriori'schen Anschauungs- und Denkformen bedingten Weise, und diese selbst verbergen sich, sobald wir sie zu erfassen suchen, unaufhörlich hinter sich selbst, treiben ein ewiges Versteckspiel mit dem nach ihnen haschenden Bewusstsein. Aber wenn wir gleich den Schleier nicht zu lüften vermögen, so suchen wir seine Natur doch mit den sich in ihm ausprägenden Formen des verschleierten Gegenstandes zu erkennen, und diese Erkenntnistheorie ist p s y c h o l o g i s c h - e m p i r i s c h e r Natur. Danach bedingt sich auch meine Stellung zu S t a d l e r , welcher (in Kants Teleologie S. 74) behauptet, dass „ein philosophischer Grundsatz (also auch die transcendentale Hypothese) überhaupt und allein desjenigen Beweises fähig ist, der sich auf die Deduction aus der Möglichkeit der Erfahrung gründet." Ich erkenne den Wert eines solchen Beweises aus der Möglichkeit der Erfahrung in vollem Masse an; z. B. die Formulierung des Princips der „formalen Zweckmässigkeit" im Sinne der Kantischen Transcendentalphilosophie (S. 75); sie verdient in der That das Lob einer „kaum zu übertreffenden Präcision und Deutlichkeit." Aber diese Deduction aus der Möglichkeit der Erfahrung ist genau genommen nur ein i n d i r e c t e r Beweis;

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und dieser kann nur die Vorstufe, ein T e i l der Erkenntnistheorie bilden, zu der eine d i r e c t e p s y c h o l o g i s c h e Erforschung des Geistes mit seinem apriori'schen Stamme notwendig gehört. Stadler selbst kann nicht umhin, Kants Methode wenigstens „insofern psychologisch" zu nennen, als sie ihre Begriffe durch Reflexion gewinnt" (S. 1). Auch bei W u n d t begegnen wir dem unglückseligen Antagonismus zwischen Philosophie und Psychologie, zwischen „philosophischem Nachdenken und psychologischer Untersuchung" (Vorl. I 292). Vollzieht sich das philosophische Nachdenken ohne psychologische Untersuchung, so ist es ungründliches philosophisches, d. h. unphilosophisches Nachdenken; vollzieht sich die psychologische Untersuchung ohne philosophisches Nachdenken, d. h. ohne Loslösung von dem einzelnen Falle auf Grund der in der Natur des Denkens liegenden Gesetze und ohne Selbstbesinnung über Methode und Ziel der Untersuchung, so ist es ungründliches psychologisches Untersuchen, d. h. blindes und beschränktes Umhertappen. Als Ausgangspunkt bei allen folgenden psychologischen Untersuchungen müssen wir immer den Moment ins Auge fassen, in welchem sich ein Bewusstsein offenbart. Die „oft totgeschwiegene Thatsache" (ein Ausdruck, den Witte gebraucht), dass nämlich die Möglichkeit der Übersetzung von Sinnesreizen in bewusste Empfindungen erklärt werden will, soll von mir nicht totgeschwiegen werden. Ich stelle mir die Schwierigkeit der Erklärung des Bewusstseins und Selbstbewusstseins in ihrer ganzen Grösse vor. Ich werfe mir die Frage auf: Wie ist eine Ubersetzung von Reizen in bestimmte Empfindungen des B e w u s s t s e i n s m ö g l i c h ? Wie vollzieht sie sich in unserem Bewusstsein? Ich frage daher zunächst nach der Beschaffenheit des Bewusstseins; mit dieser Frage werden auch jene beiden beantwortet. Soviel steht wohl naturwissenschaftlich fest, dass das „Bewusstsein" erst mit den niedrigsten Stufen der Tierwelt in Gestalt von dumpfen Gefühlen der Lust und Unlust auftritt; bei scheinbaren Reflexbewegungen der Pflanzen kann man davon noch nicht reden. Aber selbst auf dieser niedrigsten Stufe, wo sie immer zu suchen sein mag, ist und bleibt das Bewusstsein nach dem Zugeständnis der hervorragendsten Naturforscher, ein unauflösbares Rätsel. Stellen wir uns den primitivsten Organismus vor! Es entsteht das Gefühl der Unlust mit dem Mangel an Nahrung, daraus das Streben nach Aufnahme derselben, und bei diesem Akte wieder das Gefühl der Lust. Aber schon hier ist die Art, wie die Gefühle der Unlust und Lust.

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und das Begehren sich zu Momenten eines Bewusstseins gestalten, unerklärt und unerklärlich. Wie aus den in Folge des Fehlens von Stoffteilen entstehenden stofflichen Veränderungen des Organismus das Gefühl der Unlust, wie ferner aus den in Folge des Hinzukommens von Stoffteilen entstehenden stofflichen Veränderungen des Organismus das Gefühl der Lust entstehen, wie jenes Gefühl der Unlust sich in ein Streben umsetzen könne, alles das sind Fragen, die bei dem niedrigsten Stande des Bewusstseins gerade ebenso jeder Erklärung spotten wie bei dem höchsten. Ob zu den Bewegungen und Veränderungen der materiellen Bestandteile ein Nichtmaterielles hinzukomme, um das Bewusstsein hervorzubringen; oder ob auf irgend eine Weise an dem stofflichen Substrate haftende eigentümliche, nicht wahrnehmbare Kräfte, ob endlich lediglich die eigentümliche Lage der Atome dasjenige hervorbringt, was wir Bewusstsein nennen, ist nicht ausgemacht und kann wahrscheinlich nie so sicher entschieden werden, dass nicht immer von neuem der Kampf dieser beiden sich streitenden Richtungen entbrennen sollte. Ganz neue Momente des Seelen- und Geisteslebens offenbaren sich auf d e r Stufe, wo das b l o s s e m p f i n d e n d e I n n e w e r d e n e r s t r e c h t e i g e n t l i c h s i c h zum e r k e n n e n d e n B e w u s s t s e i n und zum S e l b s t b e w u s s t s e i n erhebt. Aus dem blossen unwillkürlichen Innewerden, gleichsam aus dem blossen nach Naturgesetzen sich vollziehenden Wiederspiegeln wird dort ein freies Nachschaffen und Gestalten des Wahrgenommenen. Wie ist es möglich — diese Frage drängt sich hier auf und verlangt Beantwortung —, dass der Träger jenes Bewusstseins zugleich Träger eines Selbstbewusstseins wird, dass dasselbe Subject sich spaltet und sich selbst zum Gegenstande des Bewusstwerdens macht? So viel ist klar, dass diese Stufe mit dem Eintritt der Fähigkeit der B i l d u n g v o n A I l g e m e i n v o r s t e l l u n g e n und der S p r a c h e zusammenfällt. Wo die Bedingungen gegeben sind, die bunte Masse des Wiedergespiegelten zu trennen und zusammenzufassen , und noch dazu für die Teile und das Zusammengefasste irgend einen freien Ausdruck zu finden, da sind wir zu einer wesentlich neuen Art des Bewusstseins gelangt, und da müssen wir die wesentlich neuen Bedingungen zu erkennen suchen. Die höchste Stufe dieses S e l b s t b e w u s s t s e i n s ist offenbar diejenige, wo das Selbstbewusstsein jene Bedingungen seiner Möglichkeit benutzt, um diese selbst zu erkennen und durch Begriff und sprachlichen Ausdruck sich selbst vorzustellen; das ist die Stufe des philosophischen Kriticismus.

I. Das Psychologische in Kants Kritik der reinen Vernunft. A. In den b e i d e n V o r r e d e n u n d in d e r E i n l e i t u n g . Wir folgen nun dem Gange der Kritik der r. V. und prüfen zunächst die b e i d e n V o r r e d e n und d i e E i n l e i t u n g darauf hin, ob in der That durch sie trotz aller ausdrücklichen Abweisung jeder Empirie die p s y c h o l o g i s c h e E r f a h r u n g unbedingt ausgeschlossen wird, oder ob schon nach diesen wichtigen Erklärungen eine wesentliche Bereicherung unseres Wissens von d e r N a t u r d e r S e e l e o d e r des G e i s t e s zu erwarten ist. Kant versteht, nach der Vorrede zur ersten Auflage (S. 7 des dritten Bandes der H a r t e n s t e i n ' s c h e n Ausgabe), unter der Kritik der reinen Vernunft „die Kritik des Vernunftvermögens überhaupt, in Ansehung aller Erkenntnisse, zu denen sie, u n a b h ä n g i g von a l l e r E r f a h r u n g , streben mag, mithin die Entscheidung der Möglichkeit oder Unmöglichkeit einer Metaphysik überhaupt und die Bestimmung sowohl der Quellen, als des Umfanges und der Grenzen derselben, alles aber aus Principien." Die Untersuchung ist also schon nach dieser Eingangserklärung auf das Streben eines Seeleuvermögens und auf dessen etwaige Erfolge gerichtet. Seiner „Deduction der reinen Verstandesbegriffe" stellt Kant selbst das Zeugniss aus: „Ich kenne keine Untersuchungen, die zur Ergründung des Vermögens, welches wir Verstand nennen, und zugleich zu Bestimmung der Kegeln und Grenzen seines Gebrauchs wichtiger wären." Und zwar geht diese Betrachtung nach der einen Seite darauf aus, „den reinen Verstand selbst, nach seiner Möglichkeit und den E r k e n n t n i s k r ä f t e n , auf denen er selbst beruht, mithin in s u b j e c t i v e r Beziehung zu betrachten" (S. 9 u. 10). Nachdem er sich alsdann in der Vorrede zur 2. Auflage viel ausführlicher über das völlig Neue seiner Untersuchungen, über die damit eingeführte, der Copernicanisehen vergleichbare „Veränderung der Denkart" (S. 19) verbreitet hat, fügt er in einer Anmerkung hinzu: „Ich stelle in dieser Vorrede die in der Kritik vorgetragene, jener Hypothese analogische Veränderung der Denkart auch nur als Hypothese auf, ob sie gleich in der Abhandlung selbst aus der B e s c h a f f e n h e i t u n s e r e r Vor-

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S t e l l u n g e n von Raum und Zeit und den Elementarbegriffen des Verstandes nicht hypothetisch, sondern apodiktisch bewiesen wird." Also diese Wissenschaft, welche „nur das einsehen" zu können eingesteht, „was sie selbst hervorbringf" (S. 16), durch welche „wir von den Dingen nur das a priori erkennen, was wir selbst in sie legen", gründet sich trotz dieses Princips der veränderten Denkart nicht etwa auf die Hypothese der Subjectivität unserer Erkenntnisse, sondern auf die Untersuchung eines Seelenelementes, gewisser Vorstellungen. Es ist das jenes „Erkenntnisvermögen", von welchem gleich der erste Absatz der „Einleitung" sagt, dass es „durch Gegenstände zur A u s ü b u n g e r w e c k t werde, die unsere Sinne rühren und theils von selbst Vorstellungen bewirken, theils unsere V e r s t a n d e s k r ä f t e in B e w e g u n g b r i n g e n , diese zu v e r g l e i c h e n , sie zu v e r k n ü p f e n oder zu t r e n n e n und so den r o h e n S t o f f sinnlicher Eindrücke zu einer Erkenntnis der Gegenstände zu v e r a r b e i t e n , die Erfahrung heisst." (S. 33.) Mit dieser drastischen Charakteristik jenes Erkenntnisvermögens in Ubereinstimmung bringt Kant gegen den Schluss der Einleitung (S. 47) einen Teil der Aufgabe der Kritik der reinen Vernunft auf die Formel: „Wie ist Metaphysik als N a t u r a n l a g e möglich? d. i. wie entspringen die Fragen, welche die reine Vernunft sich aufwirft, und die sie, so gut als sie kann, zu beantworten durch eigenes B e d ü r f n i s getrieben wird, aus der N a t u r der a l l g e m e i n e n Menschenvernunft?" Aber wenn man gleich bei solcher Charakteristik von vornherein geneigt sein könnte, das Object der folgenden Betrachtungen als ein p s y c h o l o g i s c h e s anzusehen, so betont doch Kant zu nachdrücklich und wiederholt den Ausschluss aller und jeder Erfahrung, als dass wir unsere Vermutung voreilig gelten lassen und des Philosophen Warnung nicht vorsichtig prüfen sollten. ' Schon in der Vorrede zur ersten Auflage (S. 7) erklärte Kant „ a l l e s a u s P r i n c i p i e n " entscheiden zu wollen; er nennt dort (S. 9) diese Untersuchungen „eine Bestimmung aller reinen Erkenntnisse a priori", welche, da sie „das ßichtmaass, mithin selbst das Beispiel aller apodiktischen (philosophischen) Gewissheit sein soll", „noch viel mehr", nämlich als jede andere Erkenntnis, „die a priori feststehen soll", „selbst ankündigt, dass sie für schlechthin notwendig gehalten werden will". „Es kann uns hier nichts entgehen, weil, was Vernunft gänzlich aus sich selbst hervorbringt, sich nicht verstecken kann, sondern selbst durch die Vernunft ans Licht gebracht wird, sobald man nur d a s g e m e i n s c h a f t l i c h e P r i n c i p desselben entdeckt hat" (S. 11). Sechs Jahre später erweitert Kant diese principiellen Erörterungen über die Me-

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thode seiner Untersuchungen; die Vernunft soll „gänzlich a priori ihr Object bestimmen" (S. 14); denn die Beispiele der Mathematik und der Naturwissenschaft lehren, „dass die Vernunft nur das einsieht, was sie selbst nach ihrem Entwürfe hervorbringt, dass sie mit P r i n c i p i e n ihrer Urtheile nach beständigen Gesetzen vorangehen und die Natur nötigen müsse, auf ihre Fragen zu antworten" . . . „die Vernunft muss mit ihren P r i n c i p i e n , nach denen allein übereinkommende Erscheinungen für Gesetze gelten können, in einer Hand, und mit dem Experiment, das sie nach jenen ausdachte, in der anderen, an die Natur gehen." (S. 16.) Diese Metaphysik der Kritik der reinen Vernunft „hat es blos mit P r i n c i p i e n und den Einschränkungen ihres Gebrauchs zu thun, welche durch jene selbst bestimmt werden." (S. 21.) Der Ausdruck P r i n c i p wird in diesen Stellen in einem doppelten Sinne gebraucht; erst (S. 7), wo Kant alles „aus Principien entscheiden will", in einem subjectiven, dann in einem objectiven, da damit die Gegenstände bezeichnet werden, auf welche, sich die Kritik der reinen Vernunft richtet. In letzterer Bedeutung steht er auch noch u. a. in der Uberschrift des dritten Abschnittes der Einleitung (S. 37): „Die Philosophie bedarf einer Wissenschaft, welche die Möglichkeit, die Principien und den Umfang aller Erkenntnisse a priori bestimme." Es sind damit nach der Einleitung der 1. Auflage (S. 42) „die u r s p r ü n g l i c h e n Q u e l l e n , Abtheilungen, Umfang und Grenzen" gemeint, und die 2. Auflage führt weiter aus, dass die Frage nach den Principien sich in ihrem einen Teile auf die Formel bringen lasse: „Wie ist Metaphysik als Naturanlage möglich? d. i. wie e n t s p r i n g e n die Fragen, welche reine Vernunft sich aufwirft, . . aus der Natur der allgemeinen Menschenvernunft?" Dieses Aufsuchen aber aller Principien der reinen Vernunft, d. h. aller synthetischen Urteile a priori, auf welche sich Mathematik, Naturwissenschaft und Metaphysik gründen, trägt so sehr das Gepräge einer psychologischen Aufgabe, dass wir von dieser Seite wenigstens in unserer vorher entstandenen Uberzeugung nicht wankend gemacht werden. Es könnte dies höchstens noch durch eine Untersuchung jener s u b j e c t i v e n Bedeutung des Ausdruckes Princip geschehen. Auf welche Principien deutet Kant, wenn er unter seiner Kritik „des Vernunftvermögens überhaupt, in Ansehung aller Erkenntnisse, zu denen sie, unabhängig von aller Erfahrung, streben mag", „die Entscheidung der Möglichkeit oder Unmöglichkeit einer Metaphysik überhaupt und die Bestimmung sowohl der Quellen, als des Umfanges und der Grenzen derselben", versteht, „ a l l e s a b e r aus P r i n c i p i e n " ? Es kann damit nur zweierlei gemeint sein: erstens Schneider, Psychol. Entwickelung.

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der Grundsatz, das Bestreben, durchaus nur solche Urteile aufzudecken, welche den Stempel „der N o t w e n d i g k e i t und s t r e n g e n A l l g e m e i n h e i t als sichere Kennzeichen einer Erkenntnis a priori" tragen (S. 35), und zweitens der specifisch transcendentale, weil nicht auf die Objecte der Erkenntnis, sondern auf die Möglichkeit unserer Erkenntnisart (S. 49) ausgehende Grundsatz oder das transscendentale Bestreben, diejenigen synthetischen Urteile a priori aufzufinden und ins Bewusstsein zu bringen, welche für alle und jede Erfahrung unentbehrlich sind. Auch diesen Beweis aus der U n e n t b e h r l i c h k e i t reiner Grundsätze zur Möglichkeit der Erfahrung selbst nennt Kant (S. 35) einen a p r i o r i ' s c h e n . Er ist aber offenbar nur ein indirecter, hat also ebenso wie sonst liberall nicht die volle Uberzeugungskraft, welche einer directen Ableitung aller Erkenntnis durch Aufdeckung aller „ursprünglichen Quellen", aus denen sie fliessen, beiwohnen würde. Zunächst käme es bei diesem Unternehmen immer darauf an, jenem ersten Grundsatze gemäss den Thatbestand an Urteilen der Notwendigkeit und strengen Allgemeinheit festzustellen. Die Durchmusterung nun meines Vorrates an solchen Urteilen oder Begriffen, die Darlegung des „reinen Gebrauchs unseres E r k e n n t n i s v e r m ö g e n s als T h a t s a c h e sammt den Kennzeichen desselben" (S. 36) ist eine p s y c h o l o g i s c h e Arbeit. Urteile oder Begriffe, d. h. Bewusstseinszustände, welche mit jenen Kennzeichen untrennbar verbunden sind, d. h. mit welchen sich die Bewusstseinszustände unmittelbar verknüpfen, die wir sprachlich durch die Laute Notwendigkeit und Allgemeinheit ausdrücken, bieten sich dem denkenden und beobachtenden Bewusstsein als p s y c h ol o g i s c h e r T h a t b e s t a n d sogar in Begleitung bestimmter Gefühlsregungen dar. Nur die eine Frage bleibt schliesslich noch offen: Wie war es denn überhaupt möglich, dass sich jenes denkende oder beobachtende Bewusstsein in Kants Person die Aufgabe stellte, apriori'sche Urteile oder Begriffe aufzusuchen? Die Genesis dieser Aufgabe erzählt uns Kant in der Vorrede zur zweiten Auflage: er beobachtete eine Revolution der Denkart und damit einen sicheren Fortschritt in den Wissenschaften seit jener ersten „Demonstrierung des gleichschenklichten Triangels", seit jenen Experimenten Gallileis, Torriceiiis und Stahls und seit jener Einführung des experimentellen Verfahrens durch Baco von Verulam, endlich seit dem Auftreten der Gopernicanischen Himmelsbetrachtung zu einer sicheren Methode der Forschung. Kant beobachtete also an geschichtlichen Thatsachen und zwar an psychologischen Vorgängen, dass und wie gewisse notwendige und allgemeine Urteile gewonnen wurden. Wie denn? Beobach-

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tete er das alles wirklich? Lieferte ihm die Erfahrung a l l e i n wirklich diese Erkenntnis? Keineswegs! Denn jedenfalls musste er in selbsteigner Thätigkeit jene mathematische Construction wiederholen, wenn er sich ein Bewusstsein von der Existenz jenes Systems von synthetischen Urteilen a priori der Mathematik verschaffen wollte, wie er auch jene Versuche der Physiker und die Copernicanische Veränderung der Himmelsbetrachtung im eigenen Denken wiederholen musste, wenn er Wesen und Bedeutung dieser Processe begreifen wollte. Ja erst indem Kant von neuem diese Kunst des wissenschaftlichen Denkens selbst ausübte, konnte er das allgemeine Merkmal jener Kunstgriffe, welche solche Männer aus der Kraft des Genies unbewusst vollführten, erkennen und sich und anderen zum Bewusstsein bringen. Er bewahrheitete so unmittelbar an sich selbst die Richtigkeit des auf diese Weise neu erkannten, sich selbst erzeugenden Grundsatzes, dass „die Vernunft nur das einsieht, was sie selbst nach ihrem Entwürfe hervorbringt." Und so sind wir denn mit unserer Frage an die höchste Instanz verwiesen, die einzige, welche noch bleibt: Wie war es möglich, dass sich in Kants Person bei der bewussten Wiederholung jener wissenschaftlichen Denkprocesse zugleich das Bewusstsein der Notwendigkeit und Allgemeinheit der so erzeugten Urteile einfand? Wenn das denkende Bewusstsein sich irgend eine Grösse bestimmen will, muss es sich ein unbedingt feststehendes, unbedingt gleichbleibendes „Richtmaass" selbst, aus eigener Kraft verschaffen. So war jedenfalls auch bei den empirischen, historisch-psychologischen Beobachtungen und Wiederholungen jener Entdeckungen jenes Constante nötig, welches in dem Wechsel und in der Mannigfaltigkeit jener Vorstellungen ihre bleibende Natur, Notwendigkeit und Allgemeinheit, festhielt und so erst für das Bewusstsein hervorbrachte. Aber damit nicht genug! Wie konnte aus einer immerhin doch nur kleinen Reihe von Bewusstseinszuständen und Selbsterfahrungen in Kant jene Ueberzeugung von der Notwendigkeit und Allgemeinheit des Satzes entspringen, dass d u r c h a u s a l l e so erzeugten Urteile eine solche Erkenntnis geben müssen. Noch einmal bewahrheitet es sich an letzter für uns erreichbarer Stelle: diese Vorstellungen der Allgemeinheit und Notwendigkeit lieferte nicht die kleine Reihe von inneren Erfahrungen, sondern sie sind d i e e i g e n s t e n Z u t h a t e n d e s D e n k e n s , nennen wir es Verstand, Vernunft oder Geist. N o t w e n d i g k e i t und A l l g e m e i n h e i t sowie G l e i c h h e i t ergeben sich schon hier a l s a p r i o r i ' s c h e r S t a m m b e s i t z des Geistes, als höchste, Denknotwendigkeit erzeugende K a t e g o r i e e n . Dies ist das e i n z i g e

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h ö c h s t e P r i n e i p , aus welchem Kant alle anderen Erkenntnisse seiner Kritik der reinen Vernunft gewinnt: jene grossartige Veränderung der Denkart; es war eigentlich ungenau (S. 7) von Principien in der Mehrzahl zu reden. Dadurch bestätigt sich aber für uns von neuem eine höchst wichtige Erkenntnis: Es giebt absolut kein Wissen, kein Urteil, keinen Begriff, der nicht durch diese beiden Pactoren in unser Bewusstsein käme: Erfahrung und das Apriori. Denn wir sehen, dass selbst jenes oberste Prineip das Ergebnis einer Vereinigung psychologischer Betrachtung und apriori'scher Functionen war. So tief führen uns schon die Vorreden und die Einleitung in das Wesen der Seele ein, der erkennenden, die wir lieber als Geist, Verstand oder Vernunft bezeichnen. Manches blieb freilich noch dunkel. So lesen wir den Satz: „Aber n i c h t b l o s s in Urtheilen, sondern s e l b s t in Begriffen zeigt sich ein Ursprung einiger derselben a priori." (S. 36.) Stehen etwa Urteile und Begriffe so gleichwertig nebeneinander? Richtiger drückt sich die erste Ausgabe über dies Verhältniss in den Worten aus: „Wenn man aus den ersteren (d. h. den Erfahrungserkenntnissen) auch alles wegschafft, was den Sinnen angehört, so bleiben dennoch gewisse u r s p r ü n g l i c h e Beg r i f f e und a u s i h n e n e r z e u g t e U r t e i l e übrig, die gänzlich a priori, unabhängig von der Erfahrung entstanden sein müssen." (S. 36.) Auch das Verhältniss jener beiden „Stämme der menschlichen Erkenntniss, nämlich Sinnlichkeit und Verstand" bleibt unklar. „Die Anschauung" der Mathematik „kann selbst a priori gegeben, mithin von einem blossen reinen Begriffe kaum unterschieden werden." Wie steht es mit dieser reinen Anschauung? Bei den synthetischen Urteilen a priori der Mathematik soll nach den folgenden Ausführungen die Anschauung „zu Hülfe genommen" werden, „etwa die fünf Finger oder fünf Punkte" (S. 43), oder eine gerade Linie (S. 44). Ist das jene reine Anschauung? Ja selbst ein Satz wie a = a soll in der Mathematik nur zugelassen werden, „weil er in der Anschauung dargestellt werden kann." (S. 44.) Aber welche Anschauung könnte wohl jemals den Satz der Identität darstellen ? Mathematische synthetische Sätze a priori charakterisiert Kant als solche, in denen zu dem Subjectsbegriffe im Prädicate etwas vermittels der Anschauung hinzukommt. Aber sollten nicht jene Subjectsbegriffe zu der Anschauung genau in demselben Verhältnisse stehen wie die Prädicatsbegriffe? Wird durch diese Formulierung der Frage nicht doch eine unrichtige Vorstellung von dem Verhältnisse von Begriff und Anschauung erzeugt? Einen Begriff „zergliedern" heisst (S. 40): „etwas, was ich j e d e r z e i t in ihm d e n k e , mir nur bewusst werden." Dann kann

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ich also mir etwas in einem Begriff denken, ohne mir dessen b e w u s s t zu sein. Aber d e n k e ich dann etwas, wenn ich mir dessen auf keine Weise bewusst bin? Wir sehen, es bleiben hier in Bezug auf die Natur unserer Erkenntnis noch manche Fragen offen; das Verhältniss jener „zwei Stämme" ist noch genauer zu bestimmen, und es fragt sich, ob dasselbe auf eine richtige Formel in der berühmten Schlusshypothese der Einleitung gebracht ist, wonach sie „vielleicht aus einer gemeinschaftlichen, aber uns unbekannten Wurzel entspringen." (S. 52.) Aber der Gewinn, welcher für die Erkenntnis des besten Teiles unseres Selbst aus diesen Untersuchungen sich ergeben muss, dieser p o s i t i v e p s y c h o l o g i s c h e Ertrag ist ein so grosser, dass ich auch von diesem Gesichtspunkte dem nicht zustimmen kann, was vor einiger Zeit ein ßecensent Benno Erdmann gegenüber bei Gelegenheit der Beurteilung von dessen Schrift „Kants Kriticismus in der 1. u. 2. Auflage der Kr. d. r. V." (Leipzig 1878) geltend machte: Kants Grundgedanke sei die n e g a t i v e Absicht der Aufhebung des Wissens, die Aufstellung der positiven Theorie sei für ihn cura posterior. Es war nicht wohlgethan, dass Kant durch die geniale Productivität des Verstandes, vermöge deren er seinem Gegenstande immer wieder neue Seiten abgewinnt und immer wieder neue wetterleuchtende Thesen aufstellt, zu dieser Formulierung des Resultates seiner Kritik sich verleiten liess: „Ich musste das W i s s e n aufheben, um zum G l a u b e n Platz zu bekommen." (S. 25.)

B. D a s P s y c h o l o g i s c h e in d e r t r a n s c e n d e n t a l e n A e s t h e t i k . Wir treten nun in die Kritik selbst ein, und zwar in ihren grundlegenden Teil, mit welchem alles andere steht und fällt. Auch die transcendentale Aesthetik eröffnet uns einen tiefen Einblick in die Natur der Seele. Denn wenn sich auch diese Erörterungen teils m et a p h y s i s c h , teils t r a n s c e n d e n t a l nennen, so ist doch der Hauptgewinn in seiner Summe ein p s y c h o l o g i s c h e r . Kant gesteht selbst (S. 71) „eine Theorie von der wahren Beschaffenheit dieser zwei ursprünglichen Formen der Sinnlichkeit" in seinen Erörterungen des Raumes und der Zeit haben liefern zu wollen. Weit entfernt, in diesen apriori'schen Anschauungsformen etwas nicht specifisch der Sphäre des menschlichen Seelenlebens Zugehöriges zu beleuchten, erklärt er vielmehr zu wiederholten Malen ausdrücklich, „nur aus dem Standpunkte e i n e s M e n s c h e n vom Räume reden zu können"

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(S. 62), hält er die Zeit „lediglich fülr eine subjective Bedingung unserer ( m e n s c h l i c h e n ) Anschauung" (S. 68); er will „ u n s e r e Art" die Gegenstände „wahrzunehmen, die u n s eigenthtimlich ist, die auch n i c h t notwendig j e d e m Wesen, obzwar j e d e m M e n s c h e n zukommen muss" (S. 72), erkennen lehren. Es handelt sich für ihn nicht um die „intellectuelle Anschauung, als welche . . . allein dem Urwesen, niemals aber einem, seinem Dasein sowohl als seiner Anschauung nach . . . abhängigen Wesen zuzukommen scheint." „Es ist auch nicht nöthig, dass wir die Anschauungsart in Raum und Zeit auf die Sinnlichkeit d e s M e n s c h e n einschränken; es mag sein, dass endliche denkende Wesen hierin mit den Menschen nothwendig übereinkommen" (S. 79); von diesen „endlichen denkenden Wesen'' masst sich aber der kritische Philosoph nicht an etwas zu wissen; er beschränkt sich auf uns Menschen so sehr, dass ihm nach meinem Dafürhalten hieraus ein berechtigter Einwand erwächst. Denn offenbar kennen wir in den Tieren Wesen, welche eine den Menschen entweder gleiche oder wenigstens ähnliche Art der Baum- und Zeitanschauung besitzen, und zwar ohne dabei „synthetische Urteile a priori" in Mathematik und Physik zu haben. Kants Fehler ist es aber, den psychologischen Gesichtspunkt zu sehr vernachlässigt zu haben; sonst hätte er diese tierischen Vorstellungen von Raum und Zeit in den Bereich seiner Betrachtungen mithineingezogen, und dann musste er zu einem anderen Resultate als dem der blossen transcendentalen Idealität jener Anschauungsformen gelangen. Weil im -Entwickelungsgange der Philosophie Kant naturgemäss zunächst darauf ausging, den irrigen Ansichten der extremen Idealisten über die vermeintliche „Verworrenheit" der Sinnlichkeit entgegenzutreten (S. 73); weil er zunächst und vor allem die Möglichkeit wissenschaftlicher Erkenntnis dem Skepticismus gegenüber zu retten bestrebt war; weil also diese beiden Rücksichten überwiegen, das m e t a p h y s i s c h e Interesse, Raum und Zeit „als a priori gegeben" darzustellen (S. 58, § 2), und das t r a n s c e n d e n t a l e Interesse, „ein Princip" zu erklären, „woraus die Möglichkeit anderer synthetischer Erkenntnisse a priori eingesehen werden kann" (S. 60, § 3); weil er einzig und allein nach diesen beiden Erkenntnisquellen (S. 70) suchte, wie es „der Beschluss der transscendentalen Aesthetik" (S. 80) ausdrücklich noch einmal hervorhebt; deshalb vermag sich die Philosophie in dem Stadium dieses Kriticismus noch nicht zu einer allseitigen, vorurteilslosen psychologischen Betrachtung der Momente des tierischen wie menschlichen Seelenlebens aufzuraffen. Was nur als Mittel zum Zwecke, oder wenigstens nur als Teil angesehen werden sollte, das Aufsuchen

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der wissenschaftlichen Hülfsmittel des Menschen, der Erkenntnisquellen, die Erklärung der Notwendigkeit und Allgemeinheit gewisser Urteile, das gilt als die einzige Aufgabe, das gilt als eine erschöpfende Betrachtung dieser Elemente des Seelenlebens, und das Hesiodische „nXsov fyuov navzog" kommt an einem glänzenden Beispiele zu Ehren. Daher stammt denn aber auch jene Nichtbefriedigung, welche der transcendentale Idealismus noch immer zurückgelassen hat; daher halten denn die mathematischen Naturforscher (S. 70), im Hinblick darauf, dass diese Verhältnisse auch ohne alles anschauende und denkende Seelenleben bestehen bleiben, an der absoluten Realität des Raumes und der Zeit so zähe fest. Diesen gesteht Kant (S. 71) selbst zu: sie „gewinnen so viel, dass sie für mathematische Behauptungen sich das Feld der Erscheinungen frei machen." Dem aber gleich folgenden Vorwurfe: „dagegen verwirren sie sich sehr durch eben diese Bedingungen, wenn der Verstand über dieses Feld hinausgehen will", m ü s s e n sie sich ihm denn n o t w e n d i g aussetzen? Können sie sich nicht aus der Kritik der reinen Vernunft die Warnung zu Nutzen machen, den Verstand nicht über jenes Feld hinausgehen zu lassen? Dass „sie zwei ewige und unendliche, für sich bestehende Undinge (Raum und Zeit) annehmen müssen, welche da sind, (ohne dass doch etwas Wirkliches ist), nur um alles Wirkliche in sich zu befassen", das werden sie von vorn herein gar nicht zugeben; sie weichen eben in ihrem Begriffe des Raumes und der Zeit von Kant trotz der Anerkennung eines unumstösslichen Kernes erheblich ab. Kant nämlich gelang die grosse psychologische Entdeckung, dass bei der Raumvorstellung „gewisse Empfindungen auf etwas ausser mir bezogen werden" (S. 59); er beachtete „jene Receptivität des Subjects, von Gegenständen afficirt zu werden"; in seinem Kopfe entstand für den Raum der sachgemässe, höchst wichtige, ganz neue Begriff von einer „Form aller Erscheinungen äusserer Sinne" (S. 61), für die Zeit der „einer wirklichen Form der inneren Anschauung" (S. 69). Er begriff zuerst in diesem neuen und durchaus unanfechtbaren Sinne „das, was der Empfindung correspondirt", als die Materie. Er enthüllte zuerst die bisher in diesem Sinne völlig unbekannte psychologische Thatsache, dass die Vorstellungen unseres Bewusstseins E r s c h e i n u n g e n , nicht die Dinge an sich sind. Denn „es liegen" ja jene Anschauungsformen Raum und Zeit, wie er sich ausdrückt, „im Gemüthe a priori bereit", „welche machen, dass das Mannigfaltige der Erscheinung in gewissen Verhältnissen geordnet werden kann." (S. 56.) Mit psychologischem Scharfblicke bestimmt

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er auch schon das Verhältniss jener beiden Formen als das der Überordnung; denn „die Zeit ist eine Bedingung a priori von aller Erscheinung überhaupt, und zwar die unmittelbare Bedingung der inneren (unserer Seelen) und eben dadurch mittelbar auch der äusseren Erscheinungen." (S. 67.) Diesen wichtigen Ertrag lieferte freilich weder die metaphysische noch die transcendentale Erörterung, sondern er ergiebt sich erst später unter den „Schlüssen aus diesen Begriffen" (§ 6 c). Aber dort wird thatsächlich nicht bloss mit Hülfe von § 4 und 5 g e s c h l o s s e n , sondern mit den als Grund angeführten Worten: „weil alle Vorstellungen, sie mögen nun äussere Dinge zum Gegenstande haben oder nicht, doch an sich selbst, als Bestimmungen des Gemüths, zum inneren Zustande gehören, dieser Zustand aber unter der formalen Bedingung der innern Anschauung, mithin der Zeit gehört", mit diesen Worten behaupte ich, wird auf Grund einer neu hinzukommenden psychologischen Beobachtung einer allgemeinen Thatsache des Seelenlebens jenem schon § 4 näher bestimmten Begriffe der Zeit ein weiteres wichtiges Merkmal beigelegt, nämlich das der Überordnung über den Raum. Der Obersatz jener ersten Schlussfigur: „der innere Zustand gehört unter der formalen Bedingung der inneren Anschauung, mithin der Zeit", dieser Satz schon stützte sich in § 4 auf eine p s y c h o l o g i s c h e Überlegung. Der Untersatzaber: „alle Vorstellungen, sie mögen nun äussere Dinge zum Gegenstande haben oder nicht, gehören doch an sich selbst, als Bestimmungen des Gemüths zum innern Zustande", enthält eine psychologische Behauptung von der gewaltigsten Tragweite; folglich kommt jene weitere Bestimmung des Begriffes Zeit nicht allein durch specifisch metaphysische und transcendentale Erörterungen zustande. Die Mittel, welche das Denken hier notwendiger Weise angewandt haben muss, sind folgende: es durchmusterte eine grössere Reihe möglichst verschiedener Vorstellungen, solche die sich auf äussere Gegenstände (auch den eigenen Körper) bezogen, und solche, die auf nicht äussere, sinnlich nicht wahrnehmbare Objecte gingen. An allen diesen, auch an den ersteren, bemerkt das vergleichende, gleichsetzende und unterscheidende Denken das Merkmal einer gewissen Innerlichkeit im Gegensatze zu dem, was sich dem Denken als Aeusseres bekundet. Dieses Aeussere fasst jenes Denken als die Materie zusammen, dies Resultat der Beobachtung einer Reihe von Vorstellungen verallgemeinert sich ihm durch die Kategorie der A l l h e i t , für jenes innere erwächst ihm aus geheimnissvoller Tiefe seines innern Reichtums der Begriff des Gemüts, d. i. des Bewusstseins und zuletzt der des Selbstbewusstseins, einer Substanz, der alle

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Vorstellungen inhärieren. Jenes Setzen des Aeusseren und Inneren, also die Raumanschauung oder'Raumvorstellung, jenes Verallgemeinern, also die Kategorie der Allheit, und die Vorstellung einer Substanz als des Beharrlichen in dem Wechsel der Bewusstseinsvorstellungen, das sind die Quellen, aus welcher diese Weisheit fliesst. Wiederum verglich das Denken (auf die Reihenfolge, in welcher die Prämissen entstanden, kommt nichts an) eine möglichst grosse Zahl möglichst mannigfacher Bewusstseinszustände (Vorstellungen), und es erwuchs der neue Bewusstseinszustand, die neue Vorstellung, dass diese alle, folglich der gesammte innere Zustand das Merkmal des Nacheinander, der zeitlichen Existenz habe; denn das denkende Bewusstsein konnte nicht anders, als die Vorstellungen eben in dieser Form aufnehmen, es kann nicht anders neue Vorstellungen erzeugen und sich zum Bewusstsein bringen als wiederum eben in dieser Form. An diese Form ist es in allen seinen Regungen mit eiserner Notwendigkeit gebunden, von dieser Form kann es sich nicht befreien, sie ist es, die sich dem denkenden, vergleichenden Bewusstsein als immer dasselbe gleiche, nicht weiter definierbare, sondern ebenso und nicht anders gegebene Zeitverhältnis offenbart. Diesen psychologischen Sachverhalt hat Kant, so gut es eben ging und überhaupt geht, mit den Worten getroffen: „das Zugleichsein oder Aufeinanderfolgen würde selbst nicht in die Wahrnehmung kommen, wenn die Vorstellung der Zeit nicht a priori zum Gruride läge. Nur unter deren Voraussetzung kann man sich vorstellen, dass Einiges zu einer und derselben Zeit (zugleich) oder] in verschiedenen Zeiten (nacheinander) sei." Es war also einerseits ein p s y c h o l o g i s c h e s E r f a h r u n g s object, eine möglichst grosse Reihe von Vorstellungen (Bewusstseinszustand en), von welchen das Denken ausging; es war andererseits eine f r e i e L e i s t u n g u n d Z u t h a t des apriori'schen Stammbesitzes, wenn plötzlich der Begriff a l l e Vorstellungen des Gemüts dastand (denn a l l e Vorstellungen sind ja niemals Object psychologischer Beobachtung), wenn ferner diese Summe einem A e u s s e r e n , Correspondierenden als etwas I n n e r e s , ein i n n e r e r Gemütszustand gegenübertrat; wenn endlich an allen, auch noch so verschiedenen Vorstellungen (Gemüts- oder Bewusstseinszuständen) das Merkmal, die Natur, die „wahre Beschaffenheit" (S. 71) der Zeitlichkeit, des Nacheinander in einer neuen Vorstellung (Zeit) als Bewusstseinszustand auftrat, so ist das nur unter der Voraussetzung zu erklären, dass im denkenden Geiste trotz seiner eigenen zeitlichen Natur eine absolut bleibende, in ihrem Wesen unveränderliche, unwandelbare übergreifende Kraft versteckt liegt, welche in allem Wechsel der Ge-

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mütszustände jene immer wieder auftretende Eigenschaft festhält, ja ihrer sogar als sich selbst anhaftend sich bemächtigt. Ich finde diesen so charakterisierten psychischen Sachverhalt bei Kant wenigstens annähernd, obschon, wie ich gleich auseinandersetzen werde, nicht vollkommen übereinstimmend, dort wieder, wo er die Form der Anschauung „die Art" nennt, „wie das Gernüth durch eigene Thätigkeit, nämlich dieses Setzen ihrer (nämlich der Form der Anschauung) Vorstellung, mithin durch sich selbst afficirt wird, d. i. ein innerer Sinn seiner Form nach." (S. 77.) Wir sehen uns bei diesen Erörterungen über Raum und Zeit gleich in die schwierigsten Probleme verwickelt, wie es ja ein ganz vergebliches Unternehmen ist, einen Teil des Seelenlebens vollständig begreifen zu wollen unter absoluter Isolierung von dem übrigen. Denn in der That „ist auch reine Vernunft e i n e s o v o l l k o m m e n e Einh e i t , dass, wenn das Princip derselben auch nur zu einer einzigen aller Fragen, die ihr durch ihre eigene Natur aufgegeben sind, unzureichend wäre, man dieses immerhin nur wegwerfen könnte, weil es alsdann auch keiner der übrigen mit völliger Zuverlässigkeit gewachsen sein würde." (S. 8.) Das Isolieren ist ein notwendiges Hülfsmittel unseres Denkens, welches letztere aber damit durchaus nicht seine Stärke beweist, sondern im Gegenteil sich ein freilich nicht beschämendes testimonium paupertatis ausstellt. So fühlt sich auch Kant vor das letzte und höchste philosophische Rätsel gestellt, und es fällt mir nur auf, in welch' einem leichten Tone dieser ernsteste Denker sich über diese Lage forthilft (S. 77): „Hiebei beruht alle Schwierigkeit nur darauf, wie ein Subject sich selbst innerlich anschauen könne; allein diese Schwierigkeit ist jeder Theorie gemein." Das ist eben der kritischen „Weisheit höchster Schluss", durch welchen sie sich den Vorrang vor allem Dogmatismus und Skepticismus erobert hat, dass sie diese Schranke alles menschlichen Wissens aufzeigt. Es giebt aber doch noch Schwierigkeiten, welche Kant bei dem Mangel gründlicher psychologischer Betrachtungsweise entgehen, wie zunächst aus den gleich folgenden Worten ersichtlich werden mag: „Das Bewusstsein seiner Selbst (Apperception) ist die einfache Vorstellung des Ich, und wenn dadurch allein alles Mannigfaltige im Subject s e l b s t t h ä t i g gegeben wäre, so würde die innere Anschauung intellectuell sein. Im Menschen erfordert dieses Bewusstsein innere Wahrnehmung von dem Mannigfaltigen, was im Subjecte vorher gegeben wird, und die Art, wie dieses ohne Spontaneität (!) im Gemüthe gegeben wird, muss um dieses Unterschiedes willen Sinnlichkeit heissen. Wenn das Vermögen sich bewusst zu werden

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das, was im Gemüthe liegt, aufsuchen (apprehendieren) soll, so muss es dasselbe afficieren und kann allein auf solche Art eine Anschauung seiner selbst hervorbringen, deren Form aber, die vorher im Gemüthe zum Grunde liegt, die Art, wie das Mannigfaltige im Gemüthe beisammen ist, in der Vorstellung der Zeit bestimmt; da es dann sich gelbst anschaut, nicht wie es sich unmittelbar selbstthätig vorstellen würde, sondern nach der Art, wie es von innen afficiert wird, folglich wie es sich erscheint, nicht wie es ist." Was bietet sich hier nicht alles dar! Ein Vermögen sich bewusst zu werden, das Gemüt mit dem, was in ihm liegt, ein Apprehendieren, ein Afficieren, eine dem Gemüte zu Grunde liegende Form, eine Art, wie das Mannigfaltige im Gemüte beisammen ist, die Vorstellung derZeit! Und bei alle dem Apprehendieren und Afficieren bleibt die S p o n t a n e i t ä t gänzlich ausgeschlossen! Schon im Verlaufe der vorangehenden Betrachtungen stieg in uns ein Zweifel auf, ob wirklich im Bewusstsein die Vorstellungen Raum und Zeit ohne Spontaneität entstehen könnten. Kant dagegen hält durchweg an seiner Isolierung fest, er lässt „eine Form im Gemüthe a priori bereit liegen", die „daher abgesondert von aller Empfindung muss betrachtet werden können." (S. 56.) Es giebt für ihn „reine Vorstellungen, in denen nichts ist, was zur Empfindung gehört"; er „trifft an". . . die „reine Form der Sinnlichkeit", . . . „reine Anschauung"; er „ s o n d e r t ab von der Vorstellung eines Körpers das, was der V e r s t a n d davon denkt . . ., imgleichen, was davon zur Empfindung gehört", und „so b l e i b t mir aus dieser empirischen Anschauung noch etwas übrig, nämlich Ausdehnung und Gestalt. Diese gehören zur reinen Anschauung, die a priori, auch ohne einen wirklichen Gegenstand der Sinne oder Empfindung, als eine blosse leere Form der Sinnlichkeit im Gemüthe stattfindet." Dieses so Abgesonderte, Uebrigbleibende verdichtet sich nach diesen vorläufigen, aber schon den ganzen Gehalt der transcendentalen Aesthetik widerspiegelnden Definitionen später zu einer allbefassenden, unendlichen, gegebenen, einigen Grösse (S. 59 und 60), zu etwas, was man nicht „aufheben", nicht „wegnehmen kann" (S. 65), zu Grössen, durch deren „Einschränkungen" erst die mannigfaltigen Vorstellungen von einzelnen Räumen und Zeiten entstehen (S. 60 u. 65). Diese Formen gewinnen bei Kant so sehr einen selbständigen Charakter, dass sie nicht nur „vor allen wirklichen Wahrnehmungen, mithin a priori, im Gemüthe gegeben" sein, sondern auch an und für sich „als eine reine Anschauung, in der alle Gegenstände bestimmt werden müssen, Principien der Verhältnisse derselben v o r aller Erfahrung enthalten können." (S. 62.) „Niemand kann", so führt die 1. Ausg. der Kritik

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der reinen Vernunft aus, „a priori weder eine Vorstellung einer Farbe, noch irgend eines Geschmacks haben; der Kaum aber betrifft nur die reine Form der Anschauung, schliesst also gar keine Empfindung (nichts Empirisches) in sich und alle Arten und Bestimmungen des Raumes können und müssen sogar a priori vorgestellt werden können, wenn Begriffe der Gestalten sowohl als Verhältnisse entstehen sollen." (S. 63.) So kann auch die Zeit v o r den Gegenständen, mithin a priori vorgestellt werden. Baum und Zeit „können wir allein a priori, d. i. vor aller wirklichen Wahrnehmung erkennen." (S. 72.) Aber da erheben sich doch zwei Bedenken; erstens: wird wirklich jemals v o r aller Erfahrung, vor aller Wahrnehmung in uns etwas a priori vorgestellt? Beginnt nicht vielmehr alles und jedes Vorstellen überhaupt erst unmittelbar m i t der Erfahrung und m i t der Wahrnehmung? Die mathematischen Gebilde vollends, welche allerdings a priori vorgestellt werden müssen, können doch thatsächlich erst vorgestellt werden, nachdem in unzähligen Erfahrungen und Wahrnehmungen und unmittelbar mit denselben die a priori „bereitliegende" Anschauungsform als Raum- und Zeitvorstellung ins Bewusstsein getreten ist, nachdem, wie ich glaube mit Recht deuten zu dürfen, die blosse Dynamis der Anschauungsform zur Energeia geworden und so Raum- und Zeitgebilde entstanden sind. Und ferner! Nachdem jene mathematischen Gebilde entstanden sind, wo treffen wir sie jemals in der Erfahrung an? Sie treten uns nirgends an irgend etwas Empirischem entgegen. Mit jener reinen Anschauung a priori, zu welcher wir in der Geometrie jederzeit unsere Zuflucht nehmen (S. 75), und durch welche wir uns „einen Gegenstand" für unsere Begriffe „geben" sollen, hat es doch seine eigene Bewandtnis. Welcher Art ist denn dieses mathematische Anschauungsgebilde, welches dem mathematischen Begriffe „entspricht" ? (S. 80.) Mit dem Schlagwort „reine Anschauung" ist uns hier nicht geholfen; es bedarf einer sorgfältigen psychologischen Analyse desjenigen Bewusstseinszustandes, der etwa durch den Begriff gerade Linie, Dreieck, Kreis, Pyramide u. s. w. bezeichnet wird. Raumgebilde kann ich mir j a eingestandenermassen nur durch das Medium der inneren Anschauung, der Zeitform, ins Bewusstsein bringen, diese aber „giebt keine Gestalt." (S. 67.) Um „diesen Mangel zu ersetzen", greifen wir nach der „Analogie" der Raumgebilde. So drehen wir uns im Kreise herum und wissen doch noch nicht, wie beschaffen jene Gebilde der reinen Anschauung a priori sind. Sind sie wirklich etwas, „was als Vorstellung, v o r a l l e r H a n d l u n g i r g e n d e t w a s zu denken, vorhergehen kann" ? (S. 77.) Ist die Sinnlichkeit in dieser Weise von

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der Spontaneität" abzutrennen, auch blos im transcendentalen Sinne, behufs der Erklärung der Möglichkeit unserer Bewusstseinzustände, geschweige denn behufs der Erkenntnis des wahren Seins unserer Seele? Raum und Zeit hat Kant unstreitig als etwas dargethan, was in der subjectiven Beschaffenheit unserer, der menschlichen Natur seinen Ursprung hat, als ursprüngliche Formen der Sinnlichkeit (S. 71); aber das Verhältnis dieser Sinnlichkeit zum Verstände ist damit noch nicht klar gelegt. Raum und Zeit werden mit Recht von Kant von den einzelnen Sinnen, Gesicht, Gehör, Gefühl, Geschmack, unterschieden, da sie ja in allen diesen als etwas ihnen Gemeinsames sich bethätigen; aber zu weit geht er, wenn er behauptet, dass diese Sinne „gar nicht nothwendige Bedingungen sind, unter welchen die Gegenstände allein für uns Objecte der Sinne werden können", dass sie „nur als zufällig beigefügte Wirkungen der besonderen Organisation mit der Erscheinung verbunden sind." (S. 68.) Sie sind ebenso notwendige Bedingungen, ebensowenig zufällige Wirkungen wie Raum und Zeit, und umgekehrt unterliegen Raum und Zeit ebensosehr den Bedingungen besonderer Organisation wie die Sinnenwerkzeuge; nur dass sie allerdings auf einer allen Menschen gemeinsamen Organisation beruhen und bei ihnen nicht die Schwankungen und Verschiedenheiten obwalten, welchen z. B. die Sehorgane ausgesetzt sind. Dass aber dennoch alle Menschen Raum- und Zeitverhältnisse trotz jener im Grunde gleichen Art der Verräumlichung und der zeitlichen Auffassung in voller Gleichheit in sich tragen, wer wäre verwegen genug, das zu behaupten? Weil Kant Raum und Zeit in dieser Weise beleuchtet hat, deshalb wird uns klar, dass „verschiedene Zeiten nicht zugleich sein können." Solchen Satz leiten wir nicht mehr wie frühere Schulen aus einem „allgemeinen Begriffe" her, sondern wir gewinnen ihn durch das Denken aus dem ebenfalls durch das Denken gewonnenen, ganz bestimmten Begriffe des Raumes und der Zeit, indem wir uns im analytischen Urteilen die Merkmale jener Begriffe entfalten, welche wir durch die Synthesis des denkenden Bewusstseins unter Beobachtung jener allgemeinsten Thatsachen des Seelenlebens in jenen Begriffen zusammengefasst haben. Nur in diesem Sinne ist für mich jener Satz „in der Anschauung und Vorstellung der Zeit unmittelbar enthalten." (S. 65.) „Die Wirklichkeit der Gegenstände unserer inneren Sinne (meiner selbst und meines Zustandes)" nehmen wir aber dabei ebenso als „unmittelbar durchs Bewusstsein klar" an, wie die der äusseren; denn ohne diese Annahme wäre alles weitere Denken überflüssig. Wenn ferner die Zeit wirklich „die Form des Anschauens

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unserer selbst und unseres inneren Zustandes" ist, wenn wirklich alle „Erscheinungen überhaupt", also auch die des „inneren Sinnes" . . „in der Zeit sind und notwendigerweise in Verhältnissen der Zeit stehen" (S. 67), dann überrascht es, die Gefühle der Lust und den Willen aus der Reihe der Anschauungen, die in Verhältnissen der Zeit stehen, gestrichen zu finden. (S. 76.) Sie sind allerdings „gar nicht Erkenntnisse", aber sie liefern den Stoff für Erkenntnisse, sie sind, wie früher (S. 51) zugestanden wurde, „empirische Erkenntnisquellen"; die Gefühle der Lust und Unlust erscheinen nur in der Zeit. Auch der Wille erscheint als Ding an sich niemals; der Wille wird, wie C. G ö r i n g (Syst. d. kr. Phil. I 68) ausführt, nicht wahrgenommen, sondern kommt durch einen Schluss von seinen Wirkungen aus mittelbar ins Bewusstsein; aus den Gefühlen und dem vorgestellten Inhalte wird er erschlossen; er tritt nach Göring (S. 75) stets als Unlustgefühl im Bewusstsein auf; Vorstellungen aber und Gefühle sind Erscheinungen in der Zeit. Wenn dies richtig ist — so können wir gleich hier hinzufügen —, wenn der Wille selbst niemals direct von dem Bewusstsein wahrgenommen wird; wenn vielmehr nur Vorstellungen von etwas noch nicht Existierendem, Gefühle der Unlust über das Dasein und über das Nochnicht-Dasein eben jener neu entworfenen Vorstellungen, das Gefühl der Lust bei der Vorstellung von der Möglichkeit der Verwirklichung dieser neuen Vorstellungen, das der Unlust bei der Vorstellung von Hindernissen, ferner das Ersinnen und Herbeischaffen von Mitteln zur Verwirklichung, also wiederum nur Vorstellungen und Gefühle der Anstrengung und Erschlaffung bei Kraftäusserungen als diejenigen Bewusstseinszustände auftreten, aus denen die Existenz des Willens erschlossen werden kann; dann ist auch nicht der W i l l e als Quelle des C a u s a l i t ä t s b e g r i f f e s anzusehen, sondern umgekehrt: der C a u s a l i t ä t s b e g r i f f ist es, welcher erst die Synthesis jener Reihe von Bewusstseinzuständen zu dem neuen Bewusstseinszustand ermöglicht, der sich in dem Worte W i l l e ausdrückt. Wie Kant die Kraft als etwas bezeichnet, was „der Verstand von der Vorstellung eines Körpers denkt", so ist es in letzter Instanz der C a u s a l i t ä t s b e g r i f f , durch welchen nicht nur die K ö r p e r k r a f t , sondern auch die W i l l e n s k r a f t ein Besitz des denkenden Bewusstseins wird. Wenngleich also der Wille selbst nicht zur Anschauung gehört, so doch die Vorstellungen und Gefühle, und diese sind zwar selbst keine Erkenntnisse, wohl aber liefern sie ebenso den Stoff zu Erkenntnissen, wie die durch die Anschauungsformen Raum und Zeit gegebenen „Verhältnisse" der „Ausdehnung, Bewegung nnd der bewegenden Kräfte." (S. 76.) Ja selbst wenn der

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Verstand den Begriff des R e c h t e s denkt (S. 73), so gehört ein solcher Denkakt, falls er ins Bewusstsein treten soll, zu den Erscheinungen, da auch er nur in der Anschauungsform der Zeit bewusst werden kann; und rechtliche Handlungen, welche die in jenem Verstandesbegriffe enthaltene Beschaffenheit an sich tragen, müssen in der Zeit erscheinen, falls sie ein Element unseres Bewusstseins werden sollen. Schon hier können wir also bemerken, wie sich in Folge mangelhafter psychologischer Beobachtung ein falscher Begriff der Empirie nachteilig geltend macht und die Keime zu Irrtümern ausgestreut werden, welche später, namentlich auch in der Kritik der praktischen Vernunft und der Urteilskraft, üppig aufschiessen.

c. D a s P s y c h o l o g i s c h e in der t r a n s c e n d e n t a l e n A n a l y t i k . In der A n a l y t i k d e r B e g r i f f e besonders bewährt sich Kant als den „ g r o s s e n P s y c h o l o g e n der reinen Vernunft". Unzweifelhaft ist, dass die blossen Reize der Sinne dem Menschen keine bessere Erkenntnis als dem Tiere liefern würden. Hätte das menschliche Erkenntnisvermögen keine anderen Eigenschaften als etwa die grössere oder geringere H a f t b a r k e i t wiederholter Sinneseindrücke, so würde sich in demselben niemals eine Spur von A l l g e m e i n v o r s t e l l u n g e n , geschweige denn ein w i s s e n s c h a f t l i c h e s S y s t e m bilden können. Wo sich nur dieselben oder ähnliche Reize wiederholen, ohne dass durch ein apriori'sches Vermögen „dieses Mannigfaltige erst auf gewisse Weise durchgegangen, aufgenommen und verbunden werde" (S. 98), da findet sich nur eine Reihe von Einzelvorstellungen. Die Alternative, welche Kant am Schlüsse dieses Abschnittes (S. 135) aufstellt: „Entweder die Erfahrung macht die Begriffe möglich oder die Begriffe machen die Erfahrung möglich", erregt ja allerdings in ihrer Schroffheit Bedenken, und ruft die Frage hervor: Sollte nicht doch der Mittelweg der richtige sein, dass die Begriffe als „subjective, uns" (d. h. der menschlichen Natur) „mit unserer Existenz zugleich eingepflanzte Anlagen zu denken wären, die von unserem Urheber so eingerichtet werden, dass ihr Gebrauch mit den Gesetzen der Natur, an welchen die Erfahrung fortläuft genau stimmt"? Denn die Kategorieen nennt Kant „ s e l b s t g e d a c h t e erste Principien a priori unserer Erkenntnis"; selbstgedacht natürlich von uns; und uns mit unserer Existenz zugleich eingepflanzt. Wenn sie also von unserem Urheber „nach Art eines Präformationssystems der reinen

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Vernunft" eingepflanzt sind, so könnten sie doch mehr als „eine beliebige uns eingepflanzte subjective Notwendigkeit, gewisse empirische Vorstellungen nach einer Regel zu verbinden", enthalten. Wie vorsichtig drückt sich Kant aus! Er hütet sich wohl vor der Behauptung, dass in diesem Falle eine Erkenntnis des Dinges an s i c h stattfindet, denn diese wäre selbst unter jener Voraussetzung nicht möglich, da das so präformierte Subject doch immer an seine Formen gebunden bliebe. Ja sogar, sobald ein irgendwie gedachter Weltschöpfer irgend ein denkendes Wesen dem blossen Sein gegenüber stellte, k ö n n t e e r bei aller seiner Macht n u r ein die E r s c h e i n u n g e n , nicht das An-sich d e r D i n g e auffassendes Wesen schaffen, selbst wenn etwa der Erkennende zum Erkannten sich wie der Abdruck eines plastischen Gebildes zu diesem selbst verhielte. Da wir jedoch hiermit den Boden des Dogmatischen betreten, so müssen wir uns mit der Lehre genügen lassen, dass wir im Apriori wenigsten einen festen Grund sicherer Erkenntnis der E r s c h e i n u n g e n besitzen. Wenn wir nun gleich nicht die Dinge s e l b s t zu erkennen vermögen, so könnten wir vielleicht ihre B e w e g u n g e n mit absoluter Gewissheit bestimmen. Berechnen wir doch im voraus die Stellung von Himmelskörpern und haben damit nicht bloss die Erkenntnis von Erscheinungen, sondern von einem wirklichen Sachverhalte! Aber auch hier lässt sich entgegnen: Selbst die Erkenntnis der Bewegungen wird doch erst durch das Medium unserer Sinne und unserer Raumund Zeitvorstellungen vermittelt, und so kommen wir auch hier nicht aus dem durch das Apriori bedingten Banne subjectiven Erkennens hinaus. Wie in diesem Grundgedanken, so offenbart Kant auch in der näheren Bestimmung des apriori'schen Gehaltes unseres Geistes ein tief eindringendes psychologisches Verständnis. Er unterscheidet für die Erklärung der im menschlichen Bewusstsein sich bildenden Vorstellungsmassen folgende Elemente: 1. die äussere empirische Empfindung, 2. die innere empirische Empfindung, 3. die reproductive Synthesis der Apprehension durch Association u. s. w. Durch die letztgenannte weist er uns auf das ganze Getriebe des psychologischen Mechanismus mit seinen elementaren und zusammengesetzten Processen hin. Diese drei Bestandteile aber fallen nach Kant der Psychologie anheim; sie stehen als das Empirische, erfahrungsmässig zu Gewinnende, gelegentlich sich Darbietende und Bethätigende, nur Subjective und Individuelle, als solches in seiner Mannigfaltigkeit und in seinem Wechsel Unbestimmbare, das als subjective, uns mit unserer Existenz zugleich eingepflanzte Anlage zu denken ist (und

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auf einer beliebigen uns eingepflanzten subjectiven Notwendigkeit beruht (S. 135 u. 136), allen folgenden a p r i o r i ' s c h e n Elementen schroff und durch eine breite und tiefe Kluft getrennt gegenüber. Diese apriori'schen Elemente sind aber nach Kant: 1. die reinen apriori'schen Anschauungsformen, und zwar a. die des äusseren Sinnes, der Baum, b. die des inneren Sinnes, die Zeit; 2. die apriori'schen Denkformen, und zwar a. die apriori'sche figürliche Synthesis oder transcendentale Synthesis der Einbildungskraft, b. die apriori'sche productive intellectuelle Synthesis der Einheit des Mannigfaltigen durch die Kategorieen, c. die objective Einheit des Selbstbewusstseins als oberstes Princip alles Verstandesgebrauches. Alle diese apriori'schen Momente tragen, wie Witte (Beiträge zum Verständniss Kants' Vorstudien zur Erkenntniss des unerfahrbaren Seins, Zur Erkenntnisstheorie und Ethik) mit Eecht hervorhebt, einen jenem Aposteriori'schen völlig fremden Charakter; durch die Kriterien der Notwendigkeit und strengen Allgemeinheit kenntlich, sind sie von allen jenen empirischen Thatsachen des Seelenlebens specifisch unterschieden. Ueber die Bichtigkeit dieser Aufzählung apriori'scher Elemente lässt sich nun allerdings streiten; über die Wertlosigkeit der Kantischen Annahme des innern Sinnes spricht sich z. B. L a n g e (Gesch. d. Mat. S. 466) aus und bekämpft daselbst F o r t l a g e s Psychologie, in welcher von dieser willkürlichen Hypothese durch Hineintragen beliebiger Erfindungen in das ßeobachtungsfeld der schädlichste Gebrauch gemacht werde. Dennoch müssen wir auch hierin den Scharfsinn des grossen Psychologen d. r. V. bewundern. Freilich lehnt Kant entschieden ab, in jener Analytik der Begriffe Psychologie zu treiben. Nicht dadurch, dass er psychologisch die Gelegenheitsursache der Erzeugung der apriori'schen Begriffe in der Erfahrung aufsucht, will er eben dieses apriori'schen Momentes habhaft werden; nicht will er ein blosses „Nachspüren der ersten Bestrebungen unserer Erkenntnisskraft" ausüben, „um von einzelnen Wahrnehmungen zu allgemeinen Begriffen zu steigen" (S. 107); sondern durch zwei D e d u c t i o n e n ganz anderer Natur, durch eine m e t a p h y s i s c h e und eine transs c e n d e n t a l e , will er sich in den vollständigen Besitz jener apriori'schen Bestandteile setzen. Nur in dem so gewonnenen Apriori haben wir nach Kant die Gewähr einer mit Notwendigkeit und strenger Allgemeinheit behafteten synthetischen, objectiv gültigen Erkenntnis, in der auf empirische Anschauung angewendeten reinen Mathematik und allgemeinen Naturwissenschaft. Dem so wirkenden Apriori werden natürlich, wenn es auch nicht ausdrücklich bei Kant geschieht, die c o n t r a d i c t o r i s c h entgegengesetzten Prädicateder oben genannSchneider, Psychol. Entwickelung.

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ten Bestimmungen des Empirischen beizulegen sein. Diesen Charakter des Kantischen Apriori setzt Witte mit objectivem Verständnis ins rechte Licht; aber er geht über Kant hinaus, wenn er dem Apriori die c o n t r ä r e n Prädicate der aposteriori'schen Attribute beilegt. Ich lobe mit Witte das Bestreben Kants, den Quell aller menschlichen Erkenntnis in möglichster Reinheit aufzuspüren; es ist ein bewundernswürdiger Lichtblick, mit welchem er Notwendigkeit und Allgemeinheit als die Kriterien aller objectiv gültigen Erkenntnis aufdeckt. Es ist nur zu billigen, dass Kant sich nicht bloss auf eine empirische Beobachtung einzelner Thatsachen bei einzelnen Subjecten stützen, sondern eine sicherere Gewähr der Vollständigkeit in der Entdeckung des apriori'schen Stammbesitzes haben will. In dieser Methode mit ihren Resultaten giebt uns Kant Winke von bleibendem Werte; wir sollen in dem menschlichen Erkenntnisvermögen das Allgemeine, stets und überall Wiederkehrende von dem Subjectiven und stets und überall Wechselnden unterscheiden. Aber der p s y c h o l o g i s c h e Charakter dieser Untersuchungen lässt sich damit nicht wegdemonstrieren. S t a d l e r (die Grundsätze der reinen Erkenntnistheorie S. 25) nennt die L o g i k die P s y c h o l o g i e des notwendigen Denkens. Aber überall tritt bei ihm die Psychologie in schroffen Gegensatz zur Erkenntnistheorie. Z. B. (S. 41) heisst es von der E i n h e i t s f u n c t i o n oder S y n t h e s i s : „ P s y c h o l o g i s c h beruht sie auf der Einbildungskraft oder der Fähigkeit, sich einmal gehabter Vorstellungen immer wieder bewusst zu werden und dieselben mit neuen oder anderen reproducirten zu associiren. E r k e n n t n i s t h e o r e t i s c h bedeutet Function nichts weiter als Aenderung des Bewusstseins.'' Ich halte diese Entgegensetzung für verfehlt. Die Einheitsfunction oder Synthesis muss doch ein und dasselbe bleiben, mag sie nun p s y c h o l o g i s c h als eine Eigenschaft der Seele oder des Geistes, oder e r k e n n t n i s t h e o r e t i s c h , d. h. behufs Beantwortung der Frage nach der Möglichkeit der Erkenntnis, betrachtet werden. Hier darf so wenig ein Gegensatz gestiftet werden, dass vielmehr darauf hingewiesen werden muss, wie die letztere Frage sich nur durch jene erstere nach der Beschaffenheit der Einheitsfunction psychologisch erledigen lässt. Derselbe unglückliche Gegensatz kehrt u. a. S. 67 wieder, wo von einer Verwechselung e r k e n n t n i s t h e o r e t i s c h e r mit p s y c h o l o g i s c h e r Wahrheit gesprochen wird. Ich sollte meinen: es giebt nur e i n e Wahrheit, und es kann sich hier gar nicht um eine V e r w e c h s e l u n g z w e i e r Wahrheiten, sondern nur um ein Verkennen des e i n e n wahren Sachverhaltes handeln. Wenn wirklich „aus psychologischen

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Gründen der Process der Synthese unterbrochen wird", so ist auch damit „die erkenntnistheoretische Stetigkeit der synthetischen Einheit verloren''. Wenn thatsächlich absolut aller Zusammenhang zwischeu den Zuständen des Bewusstseins geschwunden ist, so ist auch keine erkenntnistheoretische Einheit mehr möglich. Die letztere beruht darauf, dass auch während der Zustände des Schlafes, der Ohnmacht, der Narkose die wichtigsten und höchsten Eigenschaften des menschlichen Geistes, desselben Subjects, ihm unbewusst in constanter Kraft verharren. Stadler hingegen verliert sich in die Hypostasierung eines „höheren, letzten Subjectes" im Gegensatze zu dem „empirischen". (S. 69.) Die Tafel der Kategorien hat Kant, wie B o n a Meyer sagt, auf Borg von der Logik genommen. In der ersten, der m e t a p h y s i s c h e n Deduction dieser Tafel (§ 8, S. 93) „wurde (nach § 26 Anf.) der Ursprung der Kategorien a priori überhaupt durch ihre völlige ZusammentrefFung mit den allgemeinen logischen Functionen des Denkens dargethan". Dass Kant die Stammbegrifife des Verstandes durch eine vollständige Aufzählung aller Urteile und der sich darin bekundenden Denkfunctionen zu finden sucht, ist ein wertvolles und ein zuverlässigeres methodisches Hülfsmittel als ein psychologisches Aufsuchen „der Gelegenheitsursachen ihrer Erzeugung in der Erfahrung". (S. 107.) Aber was ist denn die Beobachtung aller logischen Urteilsformen des menschlichen Denkens anders als eine psychologische Beobachtung der Thatsachen des menschlichen Bewusstseins Uberhaupt? was anderes als jene von Kant (S. 108) so entschieden abgewiesene „ p s y c h o l o g i s c h e Ableitung, die eigentlich gar nicht Deduction heissen kann, weil sie eine quaestionem facti betrifft"? Das Wesen aber der zweiten, der t r a n s c e n d e n t a l e n Deduction und überhaupt „die eigentümliche Natur" aller transcendentalen Erkenntnisse (S. 108) besteht darin, dass „die Möglichkeit" der Kategorieen und der reinen Anschauungsformen Raum und Zeit „als Erkenntnisse a priori von Gegenständen einer Anschauung überhaupt dargestellt" wird. (S. 131.) Diese transcendentale Deduction ist zusammengefasst in den fünf zu einem zweigliedrigen Ketten schlusse verbundenen Sätzen des § 20 (S. 122). Der e r s t e O b e r s a t z nun: „Das mannigfaltige in einer sinnlichen Anschauung Gegebene gehört nothwendig unter die ursprüngliche synthetische Einheit der Apperception, weil durch diese die E i n h e i t der Anschauung allein möglich ist" stützt sich auf § 17. Dieser aber ist vorzugsweise ein Muster und eine Fundgrube der feinsten p s y c h o l o g i s c h e n Beobachtungen. Er weist nämlich auf die Thatsache hin, dass wir gar keine ein-

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h e i t l i c h e Erkenntnis haben würden, wenn unser Bewusstsein nur aus der unbestimmten Reihe einzelner Vorstellungen zusammengesetzt wäre. „Nur dadurch, dass ich ein Mannigfaltiges gegebener Vorstellungen in einem B e w u s s t s e i n verbinden kann, ist es möglich, dass ich mir die I d e n t i t ä t d e s B e w u s s t s e i n s in diesen Vors t e l l u n g e n selbst vorstelle, d . h . die analytische Einheit der Apperception ist nur unter Voraussetzung irgend einer synthetischen möglich." (S. 116.) „Sonst würde ich ein so vielfarbiges verschiedenes Selbst haben, als ich Vorstellungen habe, deren ich mir bewusst bin." (S. 117.) Der moderne Psychologe, der die Natur des Vorstellungsmechanismus vom Standpunkte Herbarts und Benekes betrachtet, kann ohne diese Kantische Entdeckung nicht auskommen. Die ganze Lehre von der Verbindung, Verschmelzung, Verflechtung, Abwandlung, von der Apperception der Vorstellungsmassen, von ihrer Klassificierung und Systematisierung gipfelt in dem Satze, dass die Vorstellungen ich bin und ich d e n k e alle übrigen appercipieren müssen, damit eine einh e i t l i c h e Erkenntnis in m e i n e m Bewusstsein zustande komme. Der e r s t e U n t e r s a t z jenes Kettenschlusses ferner geht auf die schon der metaphysischen Deduction zu Grunde gelegte Thatsache zurück, dass die logische Function der Urteile es ist, durch welche „das Mannigfaltige gegebener Anschauungen unter eine Apperception überhaupt gebracht wird". (S. 122.) Diese Untersuchung aber über die logische Function der Urteile, über die Arten, wie Subject und Prädicat in den Urteilen verbunden werden, ist weiter nichts als eine p s y c h o l o g i s c h e Zergliederung der allgemeinsten Eigenschaften des menschlichen Denkvermögens. Darauf kommt es vor allem an, dass diese psychologische Beobachtung richtig und vollständig ist. Gerade hier aber treffen wir deshalb Mängel bei Kant, weil er bei seiner Geringschätzung solcher empirisch-psychologischen Untersuchungen durch eine blosse allgemeine Darlegung seiner metaphysischen und transcendentalen Principien das Erforderliche leisten zu können glaubt. Den richtigen Grund hat Kant mit der Bemerkung gelegt, dass sich in den .Urteilen alle Denkfunctionen offenbaren müssen. Fr. A. L a n g e (G. d. M. 270) unterschätzt die Genialität dieses Kantischen Grundgedankens, wenn er sagt: „Die Ableitung aus einem Princip . . . . bestand doch im Grunde nur darin, dass fünf senkrechte Striche und vier Querstriche gemacht, und die dadurch gebildeten 12 Fächer ausgefüllt wurden, während es doch z. B. auf der Hand liegt, dass von den Urteilen der Möglichkeit und Notwendigkeit höchstens eins eine ursprüngliche Form sein kann, aus der sich das andere durch Anwendung der Negation er-

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giebt. Da war das rein empirische Verfahren des Aristoteles im Grunde doch besser." Viel richtiger urteilt C o h e n (K. Th. d. E. S. 110): „Die Anlage und der Grundgedanke der transscendentalen Logik, d i e r e i n e n V e r s t a n d e s b e g r i f f e a u s d e n F o r m e n der U r t h e i l e a b z u l e i t e n , zeugt von derselben psychologischen Klarheit und derselben transscendentalen Tiefe, welche die Tadeler der Logik an der Aesthetik bewundern." Andererseits erregt mir die schroffe Loslösung der transcendentalen von den logischen Kategorieen Zweifel, welche sich bei Witte (Zur Erkenntnisstheorie S. 37 ff.) vorfindet. Die Kategorieen der Modalität haben doch wohl für unsere ganze Erkenntnis grösseren als bloss formal-logischen Wert. Gerade in den Begriffen der Möglichkeit und Notwendigkeit offenbart sich eine ureigene schöpferische Erkenntniskraft unseres Geistes, welche mit denen der Substanz und Causalität gleichwertig ist und im engsten Zusammenhange steht. In den Urteilen bethätigt sich unablässig diejenige „Spontaneität unseres Denkens, vermöge deren das Mannigfaltige zuerst auf gewisse Weise durchgegangen, aufgenommen und verbunden werden muss, um daraus eine Erkenntnis zu machen" (S. 98), im Urteilen wird unablässig die Synthesis des Mannigfaltigen geübt. Mit Unrecht scheint mir Witte (S. 47 ff.) auch gegen diesen Grundgedanken des Kriticismus Einspruch zu erheben. Er erkennt zwar an, dass in allen Urteilen die ursprüngliche Einheit des Apriori wirke und auch hier der Bürge sei, dass jene Urteile „keine Phantasiebilder, sondern ein Spiegel des Wirklichen sind". (S. 49.) Dennoch fährt er fort: „Keineswegs jedoch ist jenes Konstante in der Einheitsfunktion mit der formalen Einheits-Beziehung in den l o g i s c h e n Urteilen identisch. Diese logischen Einheiten oder Kategorieen sind vielmehr aus der Erfahrung abstrahiert. Nachdem die blos psychologisch durch Reproduktion der Erinnerungsbilder gewonnenen Allgemeinvorstellungen mittels der Abstraktion und Determination fixiert sind, wird der Sinn dieses nicht mehr flüssigen und verschiebbaren Allgemeinen festgehalten im Urteile. Das Wort ist an sich nur der flüssigen Allgemeinvorstellung adäquat, aber die Beziehung zweier solcher Vorstellungen auf einander im S a t z e ermöglicht es, die Bedeutung desselben, und zwar gemäss der Leistung, welche das von dem Satze der Identität geleitete Denken in Abstraktion und' Determination an demselben vollzogen hat, auch in einer bleibenden Form für andere festzuhalten. Ein Satz, welcher in solcher Weise die Bedeutung zweier Vorstellungen fixiert, ist ein formal-logisches Urteil. Im Urteile erlangt also die flüssige Allgemein -Vorstellung des Wortes eine von der Erfahrung

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abstrahierte Konstanz und dasselbe sagt deren Sinn aus. Abstrahiere ich nun wieder von den beiden verbundenen Vorstellungen oder dem Inhalte der Urteile und sehe ich nur auf die A r t ihrer Verbindung, d. i. auf ihre Form, so habe ich die höchsten von der Erfahrung auf diesem Wege möglichen Abstraktionen, die formal-logischen Kategorieen erhalten. Letztere sind aber auf ganz anderem Wege als die ursprünglichen Formen der synthetischen Einheitsfunktionen gewonnen. Diese stellten sich als letzte Grenzen der Abstraktion, jene als letzte Produkte der Abstraktion, beide in Rücksicht auf das einende ßewusstsein dar. D o r t haben wir es mit ursprünglichen Bedingungen, die der Inhalt eines den Charakter der Selbstbesinnung tragenden Bewusstseins sind, zu thun; h i e r mit a b g e l e i t e t e n Ergebnissen, die aus einer auf die mannigfachen Erscheinungen des Daseins gerichteten Beobachtung allmählich ausgelöst worden sind." Dagegen habe ich dies einzuwenden: Sobald ich zu der Betrachtung der Form des Urteils übergehe und von dem Inhalte der Worte absehe, betrete ich einen ganz anderen Weg der Abstraction, als wenn ich den Inhalt der Worte betrachte und vergleiche. Sofort beschäftige ich mich dann mit der Natur des erkennenden Geistes, nicht mehr mit dem Objecte dieses Erkennens. Wenn ich von den Worten Fichte, Eiche u. s. w. zu dem Worte Baum komme, so gewinne ich damit ein Product der Erfahrung; wenn ich aber aus dem Urteile die Eiche blüht oder „der Baum blüht" die Formen des Urteilens ableite, so verlasse ich die Reihe jener Erfahrungsproducte und gehe zu einer ganz anderen Reihe von Objecten über, zu den Operationen, die der Geist mit jenen vorherbetrachteten Erfahrungsobjecten vornimmt, zu den ursprünglichen Formen der synthetischen Einheitsfunctionen, zu den apriori'schen Grundqualitäten des Geistes. Ich gelange eben zu dem Inhalte des den Charakter der Selbstbesinnung tragenden Bewusstseins. Damit will ich aber keineswegs sagen, dass nun diese zuletzt beschriebenen Objecte nicht zur Erfahrung gehörten; im Gegenteil, sie gerade sind die letzten und höchsten Objecte der t r a n s c e n d e n t a l - p s y c h o l o g i s c h e n E r f a h r u n g , Bei dieser Art von Erfahrung darf man sich aber nicht damit begnügen, nur die Arten, wie im Urteile das Prädicat mit dem Subjecte verbunden wird, zu hetrachten. Wer das thut, wie Kant, der bleibt schon im Anfange eines so trefflich gewählten Weges stehen. Es müssen zunächst und vor allem die apriori'schen Momente aufgesucht werden, die sich schon in dem Erzeugen der Subjects- und der Prädicatsbegriffe offenbaren; es muss ferner vor allem das Apriori in den vier Gattungsbegriffen der Kategorieen: Quantität, Qualität,

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Relation und Modalität aufgespürt und gefragt werden: Was befähigt den Menschen dazu, ein Quantum, eine Quäle, einen Modus und eine Relation zu setzen? Auch S t a d l e r (Erk. S. 141) sieht sich über den Bereich des Apriori mit C o h e n in Widerspruch gesetzt. Jener will dasselbe nur aus n o t w e n d i g e n Urteilen ableiten, während dieser seine Wirksamkeit in j e d e m Urteile erkennt. Letzteres scheint auch mir das Richtige zu sein: j e d e s Urteil enthält eine synthetische Einheit des Mannigfaltigen, alle Urteile sind also in diesem Sinne a priori. Stadlers Ansicht, „die Erkenntniss der Vollständigkeit der Kategorieen müsse unabhängig sein vom Fortgange der Erfahrung", kann ich nur in dem Sinne unterschreiben, dass uns allezeit im Leben, namentlich aber in der Wissenschaft, eine genügende Zahl von Urteilen, ein genügend grosses Erfahrungsgebiet vorliegt, um die Urteilsformen und somit die Kategorieen mit dem Bewusstsein der Vollständigkeit zusammenstellen zu können. Der Stofí der Erfahrung vermehrt sich stetig, aber die Urteilsformen und die Kategorieen bleiben wahrscheinlich in Zukunft ebenso immer bei dem Menschen dieselben, wie sie es bis jetzt, so weit unsere Erfahrung reicht, geblieben sind. In der Logik werden bei dem Kapitel vom Urteile das P r i n c i p der I d e n t i t ä t und der E i n s t i m m i g k e i t , das P r i n c i p d e s zu v e r m e i d e n d e n W i d e r s p r u c h s , und bei der Lehre vom Schlüsse das P r i n c i p d e s z u r e i c h e n d e n G r u n d e s als Quelle alles Urteilens oder Schliessens angegeben. Es fragt sich: W e l c h e a p r i o r i s c h e n B e s t a n d t e i l e o f f e n b a r e n s i c h in d i e s e n G r u n d s ä t z e n ? Oder: In w e l c h e m Z u s a m m e n h a n g e s t e h e n d i e i n d i e s e n G r u n d g e s e t z e n sich o f f e n b a r e n d e n apriori'schen Bestandt e i l e o d e r F u n c t i o n e n mit j e n e n , auf w e l c h e man k o m m t , w e n n m a n nur d i e F o r m der U r t e i l e u n t e r s u c h t , d. h. mit den K a t e g o r i e e n ? Es lässt in mir immer Nichtbefriedigung zurück, wenn ich in der Logik keinen Hinweis auf diese Frage, geschweige denn eine Beantwortung derselben finde. Ueberweg sagt (System der Logik S. 181): „Die Logik betrachtet diese Principien als Normen unseres (erkennenden) Denkens. Inwiefern aber dieselben so einfach und in ihrer Anwendung so einleuchtend seien, dass sie bei klarem Denken gar nicht verletzt werden k ö n n e n , und in diesem Sinne gewissermassen auch die Eigenschaften von N a t u r g e s e t z e n für unser Denken gewinnen, oder inwiefern nicht: dies ist nicht mehr eine logis c h e , sondern eine p s y c h o l o g i s c h e Frage." Da bei Ueberweg nach § 3 die Logik nicht etwa blos eine Wissenschaft von den formalen Gesetzen des Denkens, sondern „die wissenschaftliche Lösung

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der Frage nach den Kriterien der Wahrheit oder die Lehre von den normativen Gesetzen ist, auf deren Befolgung die ßealisirung der Idee der Wahrheit in der theoretischen Vernunftthätigkeit beruht", da also die-Logik die E r k e n n t n i s t h e o r i e umschliesst, so fühle ich auch hier jene Unzufriedenheit darüber, dass die Frage nach der apriori'schen Natur jener Principien abgewiesen wird. Umgekehrt wird auch in der E r k e n n t n i s t h e o r i e dieses Verhältnis nicht in befriedigender Weise erörtert: K a n t namentlich überweist S. 148— 150 den S a t z d e s W i d e r s p r u c h s d e r L o g i k und erwartet von ihm keine Bereicherung der Erkenntnistheorie. Aber nach meinem Dafürhalten sollten doch gerade diese Grundthatsachen der Logik, ohne welche nach derselben kein Denken möglich ist, bei der Entdeckung des A p r i o r i nicht unberücksichtigt bleiben, vielmehr gerade die in jenen Sätzen sich offenbarenden apriori'schen Functionen zu den „Urthatsachen" des denkenden Geistes gerechnet werden. Daher lobe ich es an S t a d l e r , dass er (z. B. S. 89 ff.) die formalen Gesetze der L o g i k auf erkenntnistheoretische Principien, das Gesetz der Identität und Einstimmigkeit auf das Princip der Beharrlichkeit der Substanz zurückführt und jenes durch dieses „reale Bedeutung erlangen" lässt. „Wenn die Logik die Unwandelbarkeit ihrer Begriffe fordern musste, so hat die Erkenntnisstheorie in den Objecten ein beharrliches Substrat entdeckt." (S. 92.) Aber es fragt sich, ob „die beiden unabhängig gewonnenen Resultate," welche hier „sich begegnen", wirklich so unabhängig von einander sind. Mir scheint im Gegenteil die Frage nach dem apriori'schen Quell des logischen Identitätssatzes ebenso wie die Frage nach dem apriori'schen Quell des Substanzbegriffes und die Frage nach dem apriori'schen Quell des „Princips der Beharrlichkeit" aufs engste verknüpft zu sein; alle führen uns auf das Apriori; jener von Kant stiefmütterlich behandelte „oberste Grundsatz aller analytischen Urtheile" ebenso wie „der oberste Grundsatz aller synthetischen Urtheile": „ein jeder Gegenstand steht unter den nothwendigen Bedingungen der synthetischen Einheit des Mannigfaltigen der Anschauung in einer möglichen Erfahrung" (Kr. d. r. Y. S. 152); und diese beiden ebenso wie die Ableitung der K a t e g o r i e e n aus den U r t e i l s f o r m e n . Ja, die ganze Summe der erkenntnistheoretischen Grundsätze, welche S t a d l e r so scharfsinnig und bedächtig entwickelt, kann sich nicht ohne jene logischen Principien bilden; diese sind das eigentliche Prius, nicht jene. Wie sollte wohl das Princip der Beharrung: „Jeder Vorstellungsverknüpfung liegt die Vorstellung der beharrlichen Zeitanschauung zu Grunde. Oder: Jeder Gegenstand der Erfahrung istdie Bestimmung einer Substanz.

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Oder: jeder Gegenstand der Erfahrung ist die Bestimmung einer Substanz im Räume" (S. 85 u. 86) zustande kommen, d. h. wie sollte eine solche letzte und höchste Erkenntnis als Grundlage alles unseren Erkennens gefunden werden, wenn nicht mit Hülfe jener logischen, recht eigentlich apriori'schen Denkfunctionen. Wenn wir nicht die Fähigkeit hätten, in dem beständigen Wandel und Wechsel unserer Bewusstseinszustände jenes B l e i b e n d e festzuhalten, welches hinter allen Wahrnehmungen und Eigenschaften als Ursache und Träger derselben erscheint, so würden wir eben gar nicht die Vorstellung oder den Begriff Substanz, ebensowenig die Begriffe „Vorstellungsverknüpfung, Zeitanschauung, zu Grunde liegen" u. s. w. bilden können; ohne diese Fähigkeit würden wir also gar nicht jene Kenntnis von unserem Geiste erwerben, welche das Princip der Beharrung ausspricht. A. L a n g e (Gesch. d. Mat. 373) drückt diese enge Zusammengehörigkeit des Logischen mit dem Apriori in seiner originellen und drastischen Weise so aus: „„Unser Hang zur Personification"" (Du Bois-Reymond's Ausdruck) oder wenn man mit K a n t reden will, was auf dasselbe hinauskommt, die K a t e g o r i e der S u b s t a n z nötigt uns stets den einen dieser Begriffe (Kraft und Stoff) als S u b j e c t , den anderen als P r ä d i c a t aufzufassen. Indem wir das Ding Schritt für Schritt auflösen, bleibt uns immer der noch nicht aufgelöste Rest, der Stoff, der wahre Repräsentant des Dinges. Ihm schreiben wir daher die entdeckten Eigenschaften zu. So enthüllt sich die grosse Wahrheit „ k e i n S t o f f o h n e Kraft, k e i n e K r a f t ohne S t o f f " als eine blosse Folge des Satzes „ k e i n S u b j e c t o h n e P r ä d i c a t , k e i n P r ä d i c a t ohne S u b j e c t , " „ k e i n e S u b s t a n z o h n e Acc i d e n s , k e i n A c c i d e n s ohne S u b s t a n z " ; mit anderen Worten: wir können nicht anders sehen als unser Auge zulässt; nicht anders reden, als unser Schnabel gewachsen ist; n i c h t a n d e r s a u f f a s s e n , a l s d i e S t a m m b e g r i f f e u n s e r e s V e r s t a n d e s b e d i n g e n . " Liebm a n n (zur Analysis der Wirklichkeit S. 496) lässt das Verhältnis der logischen und erkenntnistheoretischen Principien, des logischen und erkenntnistheoretischen Apriori ganz unerörtert und spricht nur von einem l o g i s c h e n Apriori. „Wie (also) im leiblichen Organismus hinter und über den Gesetzen der Physik und Chemie, von denen die Atome des Leibes beherrscht werden, noch specifisch organische Bildungsgesetze in Wirksamkeit sind, ohne deren Wirksamkeit die Materie nicht diesen besonderen Typus, diese eigentümliche Gattungsform, diese Menschengestalt annehmen würde, so waltet in unserer Intelligenz hinter und über den psychologischen Associations- und Reproductionsgesetzen noch ein

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l o g i s c h e s Apriori des empirischen Denkens, o h n e d e s s e n Wirks a m k e i t es für uns gar k e i n e n U n t e r s c h i e d z w i s c h e n Wahrheit und Irrtum g e b e n w ü r d e . Hier stossen wir auf das platonische nâiïrioiç=àvâ(ivrjoiç, hier auf die Leibnitzischen vérités nécessaires, hier auf die Kantische A priorität. In unserer Intelligenz ist ein n a t ü r l i c h e r lôyoç als psychisch-realer Denkfactor enthalten, nach welchem die Kunstlogik forscht; gewissermaassen der G a t t u n g s t y p u s der m e n s c h l i c h e n I n t e l l i g e n z , dem sich das Individuum als selbstverständlicher Autorität unterwirft, und, soviel und gut es kann, assimiliert." Diese in grösster Allgemeinheit gehaltenen Worte, dieser „ p s y c h i s c h - r e a l e D e n k f a c t o r " bedürfen eben einer Beleuchtung durch d i e T r a n s c e n d e n t a l - P s y c h o l o g i e der r e i n e n Vernunft. Nun schliesse ich so: Eine der Grundthatsachen des Seelenlebens ist das beständige Nacheinander aller Vorstellungen, d. h. ihr z e i t l i c h e s Verhältnis, oder die Z e i t . Folglich hat die Logik bei der Formulierung ihrer Grundsätze gerade auf die Zeit ganz besonders Rücksicht zu nehmen. Kein Ding bleibt auch nur zwei Augenblicke dasselbe. Ich befinde mich in einer groben Selbsttäuschung, wenn ich z. B. einen Menschen als Jüngling und als Mann für denselben Menschen halte. Es wäre daher völlig berechtigt, dies logische Princip aufzustellen: Es ist unmöglich, dass A zug l e i c h A und nicht = A sei, wenn diese Fassung nicht die Annahme zuliesse, dass dasselbe Ding n a c h e i n a n d e r A und nicht = A sein könne, folglich auch A b l e i b e n k ö n n e , während es doch notwendig nacheinander A und nicht = A sein muss. Nichts kann weder in demselben Momente ,ein anderes, noch in einem anderen dasselbe sein ; alles ist immerfort verschieden. Gewiss ! A kann nicht z u g l e i c h A und Nicht-A sein; aber auch nicht unter irgend welcher anderen Bedingung, also auch nicht im Nacheinander in der Zeit; denn A, welches jetzt A ist, ist nachher eben nicht mehr A, sondern B, und dieses B ist B, sodass es unzweckmässig ist zu sagen, A k ö n n e nach einander A und Nicht = A sein, da doch A notwendig nachher Nicht = A sein muss. Gerade weil der Logiker einerseits dieses t h a t s ä c h l i c h e Verhältnis des beständigen z e i t l i c h e n Flusses und Wechsels aller Dinge, selbst unserer Vorstellungen berücksichtigt, weil aber andererseits doch die T h a t s a c h e des Denkens, des Urteilens, Schliessens und Beweisens nur aus der Unwandelbarkeit der Begriffe erklärlich ist, deshalb giebt er seinem Principe jene Fassung, welche allen Bedingungen Genüge leistet. Denn an der Formel : »Es ist unmöglich, dass A, welches A ist, nicht

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A sei" scheitern sowohl die Kunststücke der Sophistik, welche den Wechsel aller Dinge in der Zeit vertuschen wollen, wie auch die Trugschüsse der Skeptiker, welche die Fähigkeit, etwas im Denken trotz alles Wechsels der Vorstellungen festzuhalten, widerspruchsvoll nicht anerkennen. Der Relativsatz „welches A ist* heisst ja nichts anderes als: so lange und unter welchen Umständen auch immer A im Denken als dieses ganz bestimmte A festgehalten wird. Es erweist sich also als eine unhaltbare Behauptung, wenn Stadler sagt: „In der formalen Logik gibt es Uberhaupt keine Rücksicht auf die Zeit", wenn er die Zeit etwas nennt, was die Logik „nicht interessirt und nicht interessiren darf". Warum? damit Uberall die Grenzen der Wissenschaften hergestellt und rein gehalten werden. Aber sollte das wohl auf die Gefahr hin geschehen dürfen, dass dabei die einzelnen Wissenschaften zur Blindheit und Stumpfsinnigkeit verurteilt werden? Gerade weil die Logik sich das nicht gefallen lassen will, deshalb gewinnt sie eine unbedingt, dem zeitlichen Wechsel der Objecte wie der Constanz des Apriori, genügende Formel. Der z w e i t e U n t e r s a t z jenes die transcendentale Deduction bildenden Kettenschlusses eröffnet uns abermals einen tiefen Einblick in die geheimsten Vorgänge des menschlichen Erkenntnisvermögens, indem er uns in den Kategorieen jene Functionen des Denkens erkennen lehrt, durch welche das Mannigfaltige einer gegebenen Anschauung zu einer objectiv gültigen Erkenntnis bestimmt wird. Mit welchem Rechte kann man wohl behaupten, man stehe nicht mehr innerhalb der Psychologie, wenn man so den Geist bis in seine Stammbegriffe hinein beobachtend verfolgt? Wir wollen uns hüten, „die Grenzen der Wissenschaften in einander laufen zu lassen" und so jene zu „verunstalten" (Kr. d. r. V. S. 14); aber wir wollen auch keine gar zu leicht umstösslichen, weil unberechtigten Scheidewände errichten; es geschehe denn letzteres mit gutem Bedachte nur vorläufig im Interesse einer leichteren Bewältigung des schwierigen Stoffes. Mögen auch jene apriori'schen Functionen, wie Witte behauptet, nicht p s y c h o l o g i s c h e Akte oder Processe sein (obgleich Kant doch ausdrücklich und wiederholt die Thatsache, dass der Verstand nach dem obersten Grundsatze der synthetischen Einheit des Mannigfaltigen im Ichbewusstsein das Mannigfaltige durch die den einzelnen Kategorieen entsprechenden Akte der Verbindung in Urteilen zusammenfasst, eine H a n d l u n g nennt); ja mag auch Witte die logischen Kategorieen von den transcendentalen völlig abtrennen und jene tief unter diese stellen; selbst wenn er dann sein über allem Individuellen stehendes, ursprüngliches Constante in seiner Reform

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der Kategorieenlehre zu finden sucht, steht er doch immer auf dem Boden der von Kant angebahnten T r a n s c e n d e n t a l - P s y c h o l o g i e , also auf dem Boden der P s y c h o l o g i e ü b e r h a u p t . Weil er eben dies nicht zugestehen will und lieber eine ganz abstract gehaltene Ableitung der Kategorieen wählt, deren „Princip die Beziehung der transcendentalen Einheitsfunctionen zu den übrigen apriori'schen Bedingungen des Bewusstseins" ist (Zur Erkenntnistheorie S. 51), deshalb gelangt er zu einer transcendentalen Kategorieentafel, in welcher die für die ganze Gestaltung unserer Erkenntnis so wichtigen Kategorieen der M o d a l i t ä t , die freien Erzeugnisse des schöpferischen Geistes M ö g l i c h k e i t und N o t w e n d i g k e i t fehlen. Also Kants Ergebnisse gehören auch in diesem Teile der Psychologie an. Das Wichtigste aber darunter ist zunächst der Grundgedanke der Transcendental-Philosophie, dass erst durch die Annahme eines Apriori die Möglichkeit der Erfahrung und der Erkenntnis erklärt wird. Wir besitzen eigentümliche Verstandesfunctionen, durch die wir also befähigt werden, über die blosse Reizempfindung zur objectiven Erkenntnis fortzugehen. Ohne diesen Stammbesitz könnte ich — um ein lehrreiches Beispiel Kants gleich hier hervorzuheben — nur sagen: Wenn ich einen Körper trage, so fühle ich einen Druck der Schwere. (S. 121.) Kant meint: ohne die Kategorieen würde ich nur meinen Empfindungen Ausdruck geben, niemals aus mir zu Aussagen über ein meinem Bewusstsein durch das Mittel der Sinne entgegentretendes Object fortgehen können. Aber es fragt sich, ob eine solche Verständigung auch nur über die Empfindung durch irgendwelches Zeichen bei dem Mangel des Apriori möglich ist. Hier muss die Psychologie der Tierseele zu Hülfe kommen und uns darüber Auskunft geben, wie weit thatsächlich eine Art von Verständigung unter den Tieren vorhanden ist. Ueberhaupt muss aber hier die Grenze scharf bezeichnet werden, wo das dem Menschen im Vergleiche zum Tiere Eigentümliche sich zu bethätigen beginnt. Die Lehre v o m S c h e m a t i s m u s in der A n a l y t i k d e r Grunds ä t z e würde S c h o p e n h a u e r nicht so spöttisch „höchst dunkel und berühmt, weil kein Mensch je hat daraus klug werden können' (Cohen S. 165) genannt haben, wenn er in der Lage gewesen wäre, dieselbe vom Gesichtspunkte einer transcendentalen P s y c h o l o g i e zu berurteilen und zu begreifen. Wir finden nämlich auch in diesem ganzen schwierigen Abschnitte der Analytik der Grundsätze (S. 137 —208) Kant in dem Bestreben, die Natur des Geistes zu erforschen und in allen ihren Handlungen zu prüfen. Wer in der transcendentalen Aesthetik in Bezug auf Baum und Zeit mit Kant nicht voll-

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ständig übereinstimmte, wird zwar auch gegen dieses Kapitel, das sich hauptsächlich auf die dort entwickelte Auffassung der Zeit stützt, Einspruch erheben. Aber auch hier müssen wir unbedingt als richtigen Kern das Hinsteuern auf eine methodische Entwicklung der aus dem apriori'schen Stammbesitze unmittelbar herfliessenden Grundsätze anerkennen. Die Frage ist unabweislich: Welche allgemeinen und grundsätzlichen Urteile verdanken wir jenen Functionen der Kategorieen? In der Analytik der Grundsätze beschäftigt sich Kant eben damit, diese Grundfunctionen des Apriori, diese Grundprocesse der denkenden Seele, welche sich aus den Factoren des constanten und schöpferischen Apriori und des durch die Anschauung gelieferten Stoffes entwickeln, auf Formeln zu bringen. Hier besteht die Hauptaufgabe der Transcendental-Psychologie darin, die Ueberzahl der Vermögen und Fächer hinwegzuräumen, welche durch Kants Abweisung einer empirisch-psychologischen Untersuchung, durch das in dem damaligen Entwickelungsstadium der Philosophie begründete, noch in hohem Ansehen stehende dialektische Operieren mit Begriffen (denn auch der Kantische Kriticismus ergeht sich noch viel zu sehr in dieser Dialektik) bei der allgemeinen Neigung zur Hypostasierung verschiedener Vermögen erzeugt wird. Auf diese Weise gelingt es vielleicht eher, den Schematismus des Verstandes, den Kant „eine verborgene Kunst in den Tiefen der menschlichen Seele" nennt, „deren wahre Handgriffe wir der Natur schwerlich jemals abrathen und sie unverdeckt vor Augen legen werden" (S. 143), in ein helleres Licht zu setzen. Allerdings wird immer zuletzt ein Unbegreifliches übrig bleiben, das constante, schöpferische Apriori selbst, und die von Kant (S. 129) so scharf hervorgehobene Frage, „wie ich mir selbst überhaupt ein Object und zwar der Anschauung und inneren Wahrnehmung sein könne". C o h e n (S. 186) warnt vor der „Annahme der Wirklichkeit eines seelichen Organs in dogmatischem Sinne", und sagt (S. 188): „Man muss darauf Acht haben, dass mit dem Schematismus n i c h t e t w a e i n n e u e s S e e l e n v e r f a h r e n eingeführt wird." Aber wie er schon bei der Behandlung der Kategorieen hervorhob (S. 39), dass erst Kant „Herbarts Gedanken möglich gemacht habe, die Kategorieen in P r o c e s s e aufzulösen, soweit methodische Vermuthungen gestattet sind", und dass nach Kant die Kategorie als „Proc e s s gedacht worden ist, insofern Baum und Zeit, und ebenso die Kategorie in der Synthesis entstehen" (S. 99), ebenso weist er hier (S. 189) auf die „grosse und eigene Aufgabe" hin, sowohl den bisherigen Einfluss dieses Gedankens — dass nämlich der Schematismus

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unseres Verstandes, in Ansehung der Erscheinungen und ihrer blossen Form, eine verborgene Kunst in den Tiefen der menschlichen Seele ist" — „auf die. nachkantische Philosophie darzulegen, als auch zu untersuchen, welche fernere Anwendung demselben zu geben sei." S t a d l e r (Erk. S. 144) setzt die einzelnen Einheitsfunctionen mit Kants schematisierten Kategorieen, mit den Schemata der reinen Verstandesbegriffe, mit den Grundsätzen gleich; auch er sieht also in den Schemata die functionierenden Kategorieen; aber er will darin k e i n e p s y c h o l o g i s c h e n P r o c e s s e erkennen und auch die Wissenschaft davon nicht als psychologisch bezeichnen. L i e b mann (Z. A. d. W. 434) nennt die Schemata „äusserst dunkel imaginirte, undeutlich gewordene Phantasmata, schwankende Gestalten, innere Nebelbilder, die vermöge des Mangels so und so vieler individueller Ziige eine gewisse verschwommene Allgemeinheit besitzen und sich dem abstracten nomen appellativuin, dem Gattungsnamen, associiren". Aber aus dieser „verschwommenen Allgemeinheit" müssen wir doch wohl herauszukommen suchen und zunächst festhalten, dass wir bei dem Worte S c h e m a an gar n i c h t s F i g ü r l i c h e s denken dürfen. Dafür spricht, dass Kant später (S. 448) die Ideen der reinen Vernunft ein Analogon von einem Schema der Sinnlichkeit nennt, insofern sie eine Regel oder Princip der systematischen Einheit alles Verstandesgebrauchs sind (vgl. unten S. 74). Endlich gebraucht er den Begriff S c h e m a noch einmal in der transcend. Methodenlehre und erklärt ihn als eine a priori aus dem Principe des Zweckes bestimmte wesentliche Mannigfaltigkeit und Ordnung der Teile. Mit Recht nennt also C l a s s e n die Schemata „präformirte Regeln"; sie verdanken „ihre Entstehung der ersten Anwendung der Kategorieen auf Erscheinungen überhaupt als deren Zeitverhältnisse". (Die Physiol. d. Gesichtssinnes S. 35.) Eine psyc h o l o g i s c h e Betrachtungsweise dürfte auch hier am ehesten zur Klarheit führen; eine solche aber wird bei aller grundsätzlichen Uebereinstimmung mit der Kantischen Lehre einen anderen Charakter tragen, als dieser Abschnitt der Analytik der Grundsätze. Auf jeder Seite desselben haben wir nämlich das Gefühl, dass es sich hier um die sauere Arbeit und den heissen Kampf handelt, einerseits gegen den Empirismus L o c k e s und Humes, andererseits gegen den Idealismus L e i b n i t z e n s und B e r k e l e y s feste Stellung zu gewinnen. Weil es darauf vor allem ankommt, den sicheren Grund der Erkenntnis in dem Apriori darzuthun, deshalb fasst auch Kant das ganze Ergebnis der Analytik der Grundsätze in den Schlussworteu zusammen: „die letzte Folgerung aus diesem ganzen Abschnitte ist

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also: alle Grundsätze des reinen Verstandes sind nichts weiter als Principien a priori der Möglichkeit der Erfahrung, und auf die letztere allein beziehen sich auch alle synthetische Sätze a priori, ja ihre Möglichkeit beruht selbst gänzlich auf dieser Beziehung." (S. 208.) Aber kommt es uns wohl nur darauf an, „Principien a priori der Möglichkeit der Erfahrung" aufzufinden? Sollen wir den specifischen Wert des Kriticismus m i t K u n o F i s c h e r nur darin sehen, dass seine Beweisführung nicht e m p i r i s c h , sondern t r a n s c e n d e n t a l ist? (Gesch. der neueren Philos. III 378, 391 der 3. Aufl.). Die transcendental Beweisführung sucht ihre Stärke darin, dass „nichts durch die Erfahrung bewiesen wird, auch nichts ohne alle Beziehung auf die Erfahrung, sondern a l l e s nur, i n s o f e r n es B e d i n g u n g zur E r f a h r u n g ist". (III 374.) „Das ist der transscendentale Beweis in seiner negativen Form, welche die Unmöglichkeit des Gegenteils darthut. Gerade diese Beweisführung ist die k r i t i s c h e , die vor Kant keiner gekannt, viel weniger geübt hat." Sollen wir uns mit dieser n e g a t i v e n Form, mit diesem i n d i r e c t e n Beweise genügen lassen? Es ist gewiss ein unvergängliches Verdienst, die Momente aufgedeckt zu haben, ohne welche die Erfahrung nicht möglich ist. Aber das Wissensbedürfnis geht weiter; wir verlangen nach einem Einblick in die Werkstätte des Geistes mit den unwandelbaren Instrumenten der Denkgesetze und Anschauungsformen. Jenes Subject selbst möchten wir kennen lernen mit seinen Eigenschaften, durch welche es die Grundsätze liefert, welche alle Erfahrung erst ermöglichen; nicht blos über die „Dignität" der Erkenntnis, sondern über die Natur des Erkennenden möchten wir aufgeklärt werden. Gehen wir nun die von Kant aufgedeckten s y n t h e t i s c h e n G r u n d s ä t z e a priori, d.h. diejenigen Erkenntnisse durch, welche der Mensch allein der Spontaneität seines Verstandes verdankt, und welche allen seinen Urteilen bewusst oder unbewusst zu Grunde liegen (Kr. d. r. V. S. 152, 155, 158,. 165, 169, 173, 177, 192), so müssen wir wieder den Scharfsinn bewundern, der aus der bunten und mannigfaltigen Masse unserer Gedanken diejenigen herausfindet, welche als Grundlage aller übrigen dienen, welche sich als unmittelbarster Ausfluss der Denkkräfte bekunden; aber diese Sätze treten in viel zu lockerem Zusammenhange mit der Kategorieenlehre und überdies in dem steifen Kleide einer altmodischen Terminologie auf. Was heisst es, wenn Kant schreibt: „1. Axiomen der Anschauung. Das Princip derselben ist: Alle Anschauungen sind extensive Grössen", und wenn er diesen Satz als einen synthetischen Satz a priori bezeichnet? Schlicht ausgedrückt, liegt darin die wichtige Lehre: Ich

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kann keine Erkenntnis von etwas den Sinnen Wahrnehmbarem haben ohne das Bewusstsein, dass jedem Sinnenreize ein räumlich ausgedehnter, ausser mir bestehender Gegenstand entspricht, d. h. ich habe die apriori'sche Kraft, auf Grund eines durch die Sinne empfundenen Reizes einen körperlichen, d. h. räumlich ausgedehnten Gegenstand zu setzen. Wenn Kant das beweisen will, so kann es auf keinem anderen Wege als durch Hinweis auf die einfachsten psychologischen Thatsachen, auf die Urthatsachen des Geistes, des menschlichen Erkenntnisvermögens, geschehen. Und in der That beruht auch der Kern des Beweises (S. 156) auf d e r p s y c h o l o g i s c h e n E r w ä g u n g , dass aus den einzelnen mannigfaltigen Wahrnehmungen nicht eine Erfahrung mit dem Bewusstsein objectiver Gültigkeit werden kann, dass in uns das Vermögen liegt, die verschiedenen, von den wahrgenommenen Gegenständen ausgehenden Reize zu vereinigen, auf e i n e n Träger zu vereinigen und diesen als Ursache des in uns erregten und empfundenen Zustandes ausser uns zu setzen. Es ist eine ganz abstracte Ausdrucksweise, bei welcher der einfache Sachverhalt schon wieder in trübem Nebel verschwimmt, wenn man sagt: „das Princip der Axiome der Anschauung ist: Alle Anschauungen sind extensive Grössen", oder wenn man dafür setzt: „diejenige Denkfunction, welche uns erst die Wahrnehmung eines Objects als Erscheinung ermöglicht, ist der B e g r i f f der Grösse." Der fertige Begriff der Grösse liegt ursprünglich sicher nicht in uns; wohl aber ist unser Denkvermögen so beschaffen, d a s s es auf V e r a n l a s s u n g der S i n n e n r e i z e d u r c h f r e i e A k t e des S e t z e n s e i n e s A u s g e d e h n t e n m i t H ü l f e d e r a l l gemeinen logischen Gesetze die Vorstellung der Grösse sich erzeugt. K u n o F i s c h e r (III 359, S. 381 d. 3. Aufl.) schreibt: „Man wird die schwierige Lehre von den Grundsätzen mit vollkommener Deutlichkeit einsehen, wenn man sie unter dem einfachsten Gesichtspunkte begreift. L a s s e n w i r d a h e r die T o p i k d e r Kategor i e e n bei Seite, die ü b e r a l l m e h r d e r S y s t e m a t i k a l s d e r K r i t i k d i e n t . Zwar sind sie für die Ordnung der Grundsätze der natürliche Rechtstitel, doch giebt es einen Weg, der nach der strengen Richtschnur der Kritik am sichersten in die Grundsätze einführt." Aber gerade das Verhältnis der Kategorieen zu den aus ihnen fliessenden Grundsätzen wollen wir uns klar machen, und gerade hierin bieten sich in der Kritik der reinen Vernunft die grössten Schwierigkeiten und lassen uns die Erklärer im Stiche. Das fortgesetzte Zerspalten eines so zusammenhängenden Stoffes, das wiederholte Von-

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neuem-einsetzen mit neuen Definitionen und allgemeinen Betrachtungen, oft von principieller Bedeutung, möchte ein Beweis dafür sein, dass „der grosse Psychologe der reinen Vernunft" zwar tiefe Lichtblicke in den menschlichen Geist gethan hat, aber noch nicht das ganze Feld im Zusammenhange ruhig zu überblicken in der Lage gewesen ist. S t a d l e r (S. 117) behauptet 'die Einheit und Solidarität der kritischen Deductionen". Er beruft sich darauf, dass anfangs die Möglichkeit des Zugleichseins durch die Möglichkeit des Beisammenseins und zum Schlüsse die Möglichkeit des Zusammenseins (in der ßaumanschauung) durch die Objectivierung der Gleichzeitigkeit bedingt sei. Aber in einer philosophischen Deduction scheint mir das nicht „Einheit und Solidarität", sondern im Gegenteil der Fehler der Zirkelbewegung zu sein. „Einheit und Solidarität" ist wohl ohne alle Fragen in unserem Objecte, in dem apriori'schen Stammbesitze des Geistes, in den Functionen, die nur „zum Zweck der Beschreibung gesondert" worden. Wenn man aber einmal auf eine D e d u c t i o n ausgeht, darf man sich mit einer solchen Zirkelbewegung nicht zufrieden geben. Der letzte (dritte) Abschnitt der A n a l y t i k der G r u n d s ä t z e d e s r e i n e n V e r s t a n d e s , der v o n der U n t e r s c h e i d u n g d e r G e g e n s t ä n d e in P h ä n o m e n a und N o u m e n a h a n d e l t (S. 202 —224), führt die im Vorangehenden entwickelten Gedanken in grosser Breite und mannigfaltigster Abwandelung weiter aus. Zu den überwundenen Anschauungen muss es gerechnet werden, wenn Kant fort und fort von den reinen, auf die Erfahrungswelt sich beziehenden Anschauungsformen Baum und Zeit einerseits und von abstracten, fertig daliegenden „Begriffen" andererseits spricht, die nur auf ihre Anwendung, auf ihre Beziehung zur Empirie warten. Recht bezeichnend sind hierfür die Worte (S. 223): „ V e r s t a n d und S i n n l i c h k e i t können bei uns nur in Verbindung Gegenstände bestimmen. Wenn wir sie trennen, so haben wir Anschauungen ohne Begriffe oder Begriffe ohne Anschauungen; in beiden Fällen aber Vorstellungen, die wir auf keinen bestimmten Gegenstand beziehen können." An der voraufgeschickten Behauptung zu rütteln, ist unmöglich; sie trifft den empirischen Materialismus ebenso wie den transcendenten Idealismus, ebenso aber auch den Skepticismus mit vernichtendem Schlage. Ohne diese „Verbindung" von Anschauung und Begriffen ist keine „Bestimmung von Gegenständen" in unserem Bewusstsein, also keine Erfahrung, am wenigsten wissenschaftliche Erfahrung, möglich. Aber wie steht es mit der „Trennung"? Wo haben wir Menschen AnSchneidor, Psychol. Entwickelung.

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schauung ohne Begriffe? Im ganzen Bereiche m e n s c h l i c h e r Erfahrung existiert eine solche Anschauung ohne Begriffe nicht; auch die Anschauung des ungebildetsten Menschen und des Kindes ist schon durch die Begriffe, d. h. die Verstandesfunctionen, die Kategorieen, das Apriori, bestimmt. Wollen wir Anschauung ohne Begriffe haben, so müssen wir selbst über die wüsten Gebilde des Blödsinns hinweg zum t i e r i s c h e n Bewusstsein hinabsteigen. ImBewusstsein des Tieres löst sich allerdings der einzelne Gegenstand nicht als abgeschlossenes, bestimmtes Subject von den Verbindungsvorstellungen los, sondern sich nicht die Eigenschaften als Prädicate ab, eben weil die „Begriffe" fehlen; aber es ist doch immer eine Anschauung, es sind Vorstellungen da, und sie werden auch durch ein natürliches Apriori, ohne denkendes Bewusstsein, „auf bestimmte Gegenstände bezogen". Andererseits: wie sollen wir uns Begriffe ohne Anschauung denken ? Die Platonischen Ideen und den Aristotelischen vovg, die göttliche Intelligenz moderner P h i l o s o p h e n gehören ins Gebiet der Dogmatik. Der freiste Gottesbegriff, die genialste künstlerische Idee sind auf dem Grunde der Anschauung gebildet, so sehr derselbe auch auf der Höhe der Abstraction tief unten im Nebel verschwimmen mag. Keine apriori'sche Verstandesfunction kann aus der negativen Dynamis ohne Anschauung zur positiven Energie übergeführt werden; also solche Begriffe ohne alle Anschauung giebt es überhaupt gar nicht. Die Annahme einer solchen Trennung der beiden Erkenntnisformen führt daher nur zu Irrtümern und beruht auch wohl bei Kant auf einer unklaren Vorstellung des psychologischen Sachverhaltes. Denn richtig ist, was Kant in der 1. Auflage (Anm. 1 auf S. 214 d. 2. Aufl.) sagt: „die Kategorie kann nichts als die logische Function enthalten, das Mannigfaltige unter einen Begriff zu bringen." Und ebenso richtig heisst es weiter (S. 216): „Vielmehr sind sie bloss die reine Form des Verstandesgebrauchs in Ansehung der Gegenstände überhaupt und des Denkens, ohne doch durch sie allein irgend ein Object denken oder bestimmen zu können." Viel energischer und im Sinne eines gesunden Realismus wendet sich Kant in einer späteren, S. 59 zu erwähnenden Stelle gegen die dialektische Trennung von absolut untrennbaren Elementen unserer Erkenntnis. Der Grundgedanke aber dieses Abschnittes, die Kantische Unterscheidung der P h ä n o m e n a und N o u m e n a , die Bestimmung der Begriffe mundus sensibilis und intelligibilis im Sinne des Kriticismus, die Verwerfung des falschen Unterschiedes von Sinnen- und Verstandeswelt, im besonderen für die Astronomie (S. 222), alles das ist vortrefflich, mit einem Schlage Licht spendend.

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Die Lehre von der A m p h i b o l i e der R e f l e x i o n s b e g r i f f e (S. 225—243) ist in der That nur als ein „Anhang" zu betrachten, der nichts wesentlich Neues bietet. Sein Hauptziel besteht in der Kritik der Leibnitz-Wolff'schen und Lockischen Philosophie und der weitverbreiteten Monadenlehre. Wenn man die Bedeutung solcher und anderer philosophischer Systeme zu Kants Zeit berücksichtigt, dann, aber auch nur dann, begreift man die Weitschweifigkeit und Umständlichkeit der Kritik der reinen Vernunft und die fortwährenden Wiederholungen und Modulationen derselben Grundthemata. Für mich, der ich Kant als „den grossen Psychologen der reinen Vernunft" kennen lernen will, bilden die durchgegangenen Kapitel die wichtigsten Fundstätten. Alles a n d e r e hat dem gegenüber untergeordnete Bedeutung. Sämmtliche Begriffe, welche uns in diesem Abschnitte so unvermittelt und neu entgegentreten, müssen wir mit den Kategorieen in Beziehung zu bringen suchen. Wir haben es ja offenbar bei allen diesen Begriffen mit lauter Functionen des menschlichen Denkens zu thun, die unmittelbar mit dem Apriori zusammenhängen; da also, wo das Apriori erschöpfend aufgezeichnet werden soll, ist ihre Stelle. Kant hingegen bemüht sich S. 225—243 um diesen Zusammenhang nicht; im Gegenteil, S. 230 unterscheidet er ausdrücklich jene „vier Titel aller Vergleichung und Unterscheidung" von den Kategorieen; und zwar in der Weise, dass durch „jene (Titel) nicht der Gegenstand, nach demjenigen, was seinen Begriff ausmacht, (Grösse, Realität,) sondern nur die Vergleichung der Vorstellungen, welche vor dem Begriffe von Dingen vorhergeht, in aller ihrer Mannigfaltigkeit dargestellt wird". Aber es ist doch wohl eine berechtigte Frage, ob nicht diejenigen Begriffe, welche „Titel aller Vergleichung und Unterscheidung" genannt werden, als der Ausdruck gewisser apriori'scher Geistesfunctionen zu betrachten sind, ohne welche überhaupt kein Begriff, keine Vorstellung, keine Erfahrung möglich ist. Auch die ganz am Schlüsse nachhinkende „Tafel der Einteilung des Begriffs N i c h t s " fällt ganz und gar und vorzugsweise der Kategorieenlehre, der Untersuchung über das Apriori zu, die ohne eine zusammenhangsvolle Betrachtung der in der Negation sich ausdrückenden schöpferischen Kraft des Geistes eben unvollständig ist.

D. D a s P s y c h o l o g i s c h e in der t r a n s c e n d e n t a l e n D i a l e k t i k . Die ganze Lehre von der V e r n u n f t ist vom p s y c h o l o g i s c h e n Standpunkte zu verwerfen, das ganze überaus künstliche und com-

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plicierte Lehrgebäude abzutragen und das Material in Verbindung mit dem bisher gewonnenen zu verwerten. Wer die bisherigen Abschnitte als Psychologe verfolgt hat, der ist überrascht, plötzlich dies n e u e Vermögen, gleichsam wie eine Hydra aus dem so sorgfältig durchsuchten Stammbesitze des Geistes hervorspringen, aus der Pandorabüchse der Vermögen sich entgegengebracht zu sehen. Und doch ist es abermals als ein hohes Verdienst der Kantischen Kritik um d i e P s y c h o l o g i e zu betrachen, dass sie mit solchem Nachdrucke „jene natürliche und unvermeidliche Dialektik der reinen Vernunft" ins Auge gefasst hat, „nicht eine, in die sich etwa ein Stümper aus Mangel an Kenntnissen selbst verwickelt, oder die irgend ein Sophist, um vernünftige Leute zu verwirren, künstlich ersonnen hat, sondern die der menschlichen Vernunft unhintertreiblich anhängt, und selbst, nachdem wir ihr Blendwerk aufgedeckt haben, dennoch nicht aufhören wird, ihr vorzugaukeln und sie unablässig in augenblickliche Verwirrungen zu stossen, die jederzeit gehoben zu werden bedürfen". (S. 247. Ebenso 302.) Nicht blos theoretisch, sondern auch praktisch, gleichsam pathologisch, bewährt sich hier Kant als den g r o s s e n P s y c h o l o g e n d e r r e i n e n Vernunft. Sein Fehler besteht nur darin, dass er für diese krankhaften Erscheinungen, als Kind seiner Zeit, einen neuen Träger, das Vermögen „Vernunft" einführt, anstatt sie als Auswüchse der bisher entdeckten Eigenschaften und Bestandteile des Geistes zu bezeichnen. Kant muss sich mit dem ganzen Ballast der zu seiner Zeit allgemein üblichen metaphysischen Begriffe abfinden, ihnen eine Stelle in seinem kritischen System anzuweisen suchen. Anstatt unbefangen, wie wir es thun, zu fragen: Giebt es überhaupt jenes auf seine Leistungen zu prüfende Vermögen „Vernunft" neben dem bisher Entdeckten?, nimmt er noch das Vermögen als selbstverständlich und allbekannt hin und weist ihm seine Krankheiten nach; den weiteren Schritt, das Vermögen selbst bei Seite zu schieben und den Quell jener Krankheiten einzig und allein in dem krankhaften Gebrauche der Anschauungs- und Denkformen zu suchen, vermochte er bei aller Grösse nach dem damaligen Entwickelungsstandpunkte der Metaphysik und Psychologie noch nicht zu thun. Weder die Urteilskraft (S. 250), noch die Vernunft darf als besonderes Vermögen „isolirt" und als „Quell von Begriffen und Urteilen" (S. 251) kritiklos hingenommen werden. Aus der im Geiste vorgefundenen Thatsache, „dass er zu dem bedingten Erkenntnisse des Verstandes das Unbedingte zu finden" sucht, „womit die Einheit desselben vollendet wird", folgt nicht die Berechtigung, ein neues Vermögen, die Vernunft, mit „eigentümlichem Grundsatze" (S. 252) zu

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isolieren. Auf solchen Gedanken sollte ein Psychologe der Jetztzeit nicht mehr kommen. Und doch sieht selbst L o t z e (Mikrokosmos I 266) in der Vernunft „eine neue und eigentümliche That des beziehenden Denkens". Noch in allerneuester Zeit treten Forscher für solche exceptionelle Stellung der Vernunft ein. (Der heliocentrische Standpunkt der Weltbetrachtung, v. A. B i l h a r z , und Metaphysische Anfangsgründe der mathem. Wissenschaften, v. B i l h a r z u n d Dannegger.) Nach Kant bewegt sich der Verstand zur Erscheinungswelt, die Vernunft zum Unbedingten hin. Daraus folgt nicht die Notwendigkeit der Annahme zweier v e r s c h i e d e n e r V e r m ö g e n , sondern umgekehrt lässt sich nur behaupten, dass d a s s e l b e Denkvermögen zwei verschiedene Richtungen hat, in denen es sich bewegt; oder — da wir uns ja hier nur mit einem bildlichen Ausdrucke abfinden —, dass dasselbe Denkvermögen auf die mannigfaltigsten Objecte angewendet werden kann. In voller Uebereinstimmung hiermit sagt denn auch Kant S. 294: „Die Vernunft erzeuge keine Begriffe, sondern mache allenfalls nur den Verstandesbegriff von den unvermeidlichen Schranken einer möglichen Erfahrung frei." „Dies geschieht dadurch, dass sie . . . . die K a t e g o r i e zur t r a n s s c e n d e n t a l e n Idee macht." „Also werden die transscendentalen Ideen eigentlich nichts, als zum Unbedingten erweiterte Kategorieen sein." Derselbe Gedanke findet sich auch noch an späteren Stellen ausgesprochen; z. B. S. 345 wirft Kant die Frage auf: ob nicht die Schuld der Antinomieen „auf dem empirischen Regressus" (des Verstandes nach den Kategorieen) hafte. Er erklärt den durch die Erfahrung gesicherten Begriff für „das Richtmass, wonach die Idee beurteilt werden muss". Die Idee ist ihm ein durch mögliche Erfahrung nicht realisierter und nicht realisierbarer Begriff, ein Begriff ohne Wahrheit und Beziehung auf einen Gegenstand. Aber freilich in der ganzen vorangehenden Lehre von den Ideen tritt dies zu wenig hervor, dort erscheint vielmehr die Idee als das Erzeugnis eines besonderen Vermögens, der Vernunft, nicht als ein Erzeugnis der einen sich immer gleichbleibenden Denkkraft, des Verstandes und seiner Kategorieen. Danach ist auch z. B. der Ausspruch zu beurteilen: „die Vernunft geht ihren Gang im empirischen und ihren besondern Gang im transscendentalen Gebrauche". (S. 388.) Für uns steht fest: die Vernunft geht immer d e n s e l b e n Gang, sei es, dass sie sich in den Grenzen der Erfahrung hält, sei es, dass sie ihrer Neigung folgt, sich in das Gebiet des Unerfahrbaren zu verlieren. Ferner heisst es S. 436 von der Vernunft in Uebereinstimmung mit der oben angeführten Stelle v. S. 294: „die Vernunft s c h a f f t keine

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Begriffe, sondern ordnet sie nur und giebt ihnen diejenige Einheit, welche sie in ihrer grösst-möglichen Ausbreitung haben können, d. i. in Bezug auf die Totalität der Reihen, als auf welche der Verstand gar nicht sieht." Diese Einschränkung des Yerstandesgebietes, um ein Ressort für die nun einmal unterzubringende Vernunft zu erhalten, ist willkürlich. Ebenso unhaltbar ist vom Standpunkte heutiger Psychologie die folgende Charakteristik, in der es zunächst heisst: „die Vernunft hat also eigentlich nur den Verstand und dessen zweckmässige Anstellung zum Gegenstande." Wenn also nach Kants eigenen Aeusserungen jenes neu eingeführte Vermögen Vernunft sich immermehr verflüchtigt, sich als Product der apriori'schen Denkformen, als „die bis zum Unbedingten erweiterten Kategorieen" erweist, so sind demgemäss auch die transcendentalen Principien aufzufassen, welche (S. 440 ff.) darauf zurückgeführt werden. Die E x i s t e n z u n s e r e s V e r s t a n d e s hängt nicht von den beiden Voraussetzungen des transcendentalen Kriticismus ab, dass in der Natur Verschiedenheit obwaltet, und dass ihre Objecte Gleichartigkeit an sich haben; wohl aber hängt die M ö g l i c h k e i t der Beg r i f f s b i l d u n g von zweien Bedingungen ab, dass erstens die dazu nötigen apriori'schen Verstandesfunctionen und zweitens Objecte mit genereller Gleichartigkeit und specifischer Verschiedenheit vorhanden sind, an denen sich die Dynamis des Apriori zur Energeia entwickeln kann. Zu dieser Erkenntnis führt uns die transcendental-kritische Ueberlegung; diese beiden Bedingungen genügen aber auch, um alle Erkenntnis zu erklären. Nicht eine noch über dem Verstände angenommene V e r n u n f t ist es, „die dem Verstände sein Feld bereitet" durch die drei Principien der Gleichartigkeit, Varietät und Affinität, oder durch die Principien der Homogeneität, der Specification und der Continuität" der Formen (S. 444); sondern lediglich der Verstand mit seinen Kategorieen und Formen „bereitet sich selbst sein Feld", veranlasst durch die sich ihm darbietenden Objecte. Kant besitzt eine erstaunliche Virtuosität in der Erfindung von Terminis, die immer zur Bereicherung unserer Erkenntnis dienen; aber wir dürfen uns durch den wuchtigen Vollklang solcher Worte nicht über den eigentlichen psychologischen Sachverhalt täuschen lassen. Die drei V e r n u n f t b e g r i f f e o d e r I d e e n werden von Kant (S. 250, vgl. S t a d l e r , Kants Teleol. S. 16) aus den drei l o g i s c h e n S c h l u s s f o r m e n abgeleitet. Neben dem V e r s t ä n d e im Obersatze und der V e r n u n f t in der Conclusio tritt da noch ein drittes Vermögen, die U r t e i l s k r a f t , im Untersatze auf. An eine Bestim-

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mung des psychologischen Verhältnisses dieser Urteilskraft zu dem Verstände denkt Kant ebensowenig wie bei der Vernunft. „Das Verhältnis also, welches der Obersatz als die Regel zwischen einer Erkenntnis und ihrer Bedingung vorstellt, macht die verschiedenen Arten der Vernunftschlüsse aus." Die Dreiheit der Vernunftschlüsse wird auf die Dreiheit „der Urteile überhaupt" zurückgeführt, „sofern sie (die Urteile) sich in der Art unterscheiden, wie sie das Verhältnis des Erkenntnisses im Verstände ausdrücken, nämlich k a t e g o r i s c h e oder h y p o t h e t i s c h e oder d i s j u n c t i v e Vernunftschlttsse". Also auf das Verhältnis des Erkenntnisses im Verstände kommt zuletzt alles hinaus. Dieses ist aber nun einfach nach dem Schematismus der damaligen Logik als ein d r e i f a c h e s bestimmt, während doch die disjunctiven Urteile nach dem angegebenen Gesichtspunkte entweder k a t e g o r i s c h e oder h y p o t h e t i s c h e sind, wir also auf die Zweiteilung zurückgehen müssen. Aber es sollen einmal die drei V e r n u n f t s c h l t i s s e , d i e d r e i vor g e f u n d e n e n I d e e n „abgeleitet" werden, und so ist im erkenntnistheoretischen Interesse jene Dreiteilung einerseits sehr willkommen, andererseits gewinnt dieselbe nun wieder im Spiegel der Transcendental-Philosophie ein erhöhtes Ansehn. Nur das eigentümliche Kantische Bedürfnis und Verlangen nach einer möglichst sorgfältigen, allen Schein der Oberflächlichkeit vermeidenden Schematisierung seines Systems, nach einer möglichst bestimmten Ableitung der Begriffe ist es, dem auch jene „Ableitung der Ideen" ihren Ursprung verdankt. Man hat aber nicht die mindeste Sicherheit, dass durch dieses Operieren mit vorgefundenen logischen und veralteten psychologischen Terminis der wahre psychologische Sachverhalt getroffen ist. Man fühlt abermals schwer und drückend den Mangel einer klaren psychologischen Darstellung des Zusammenhanges zwischen den Kategorieen und den Schlussfunctionen. Die erkenntnistheoretische Bedeutung der Ideen besteht nur darin, dass sie sich als notwendige Ergebnisse jener apriori'schen Denkfunctionen erweisen, sie selbst aber gehören zu diesen apriori'schen Denkfunctionen nicht. Selbst S t a d l e r muss anerkennen, dass in Kants kritischen Untersuchungen des apriori'schen Bestandes Unklarheit herrscht, dass in der Aufstellung zu vieler Principien, hervorgerufen durch ein abstractes Schematisieren, sich der Mangel klarer p s y c h o l o g i s c h e r Betrachtung offenbart. Aber freilich, was S t a d l e r unter einer p s y c h o l o g i s c h e n Betrachtung versteht, das ersieht man aus S. 120 seiner Schrift „Kants Teleologie". Diese psychologische Untersuchung beschränkt sich auf eine Betrachtung „der empirischen Gelegenheitserzeugung", prüft, „ob ein Urtheil der Ideenassociation oder

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einer poetischen oder einer religiösen Betrachtungsweise seinen Ursprung verdankt". Keine psychologische Analyse aber könne die Notwendigkeit und Allgemeingültigkeit (das „Soll") eines Urteils erklären. Diese Aufgabe fällt der t r a n s c e n d e n t a l e n P r ü f u n g zu, welche „das zu Grunde liegende Princip aufsuchen muss". Als Lösung dieser Aufgabe ergiebt sich: „der Grundsatz der formalen Zweckmässigkeit ist auch das apriori'sche Princip für die objectivteleologischen Urtheile". (S. 122.) Von diesem Principe aber heisst es (S. 126): „Somit liegt der einzige nicht dialektische Grund zu der Bezeichnung objectiv in dem Umstand, dass sich unser Princip auf eine unmittelbar gegebene Einheit beziehe." Nun aber frage ich: Was heisst es: „Unser Princip bezieht sich auf eine unmittelbar gegebene Einheit"? Ich denke, nichts anderes als dies: Auf Veranlassung empirischer Beobachtung erfasst das Denken vermöge seiner Kategorieen gewisse Dinge als Ganzes mit seinen Teilen und zwar das Ganze in Wechselwirkung mit seinen Teilen und legt so den Begriff der Zweckmässigkeit in das beobachtete Object hinein. Diesen Begriff der Zweckmässigkeit schöpft das denkende Bewusstsein zunächst aus der eigenen zweckmässigen Willensbestimmung und aus der eigenen „Kunstthätigkeit". (S. 131.) Aber auch die Willenszuständc des Ich treten erst durch das Medium dieses Apriori in das Bewusstsein. Daher erscheint es nicht geraten, mit W i t t e die Zweckmässigkeit selbst unter die Kategorieen mitaufzunehmen, da für deren Erklärung die Kategorie der Ursache und Wirkung genügt. „Die erkenntnisstheoretische Kritik hat" allerdings, wie S t a d l e r sehr richtig sagt, „nicht nur die c o n s t i t u t i v e n , sondern auch die r e g u l a t i v e n Grundsätze zu prüfen." Eine solche Prüfung aber wird zu dem Ergebnis führen, dass für die letzteren Grundsätze kein anderer Quell als für die ersteren existiert. Von dieser Prüfung behauptet auch Fr. A. L a n g e (Gesch. d. Mat. 221): „Wir befinden uns hier ganz einfach auf dem Boden der P s y c h o l o g i e — sofern nämlich eine solche Wissenschaft als schon bestehend bezeichnet werden darf — und nur die allgemeine Methode wissenschaftlicher Specialforschung kann uns zu einer Erkenntnis solcher Naturanlage führen (der Ideen: Seele. Welt, Gott), wenn diese überhaupt möglich ist" „Dieselben Anlagen, welche den Kategorien des Verstandes und der Sinne zu Grunde liegen, spielen auch auf dem Gebiet jener Ideen ihre Rolle. Namentlich werden die Kategorien der Einheit, der Vielheit und der Substanz an der Erzeugung der Ideen Antheil haben; denn davon kann für eine aufgeklärte Psychologie gar keine Rede mehr sein, dass der Mensch ein besonderes Vermögen für Erkenntnis

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des Einzelnen habe, den Verstand, und ein besonderes für die einheitliche Auffassung der Erkenntniss, die Vernunft." Und weiter sagt er (S. 347): „die wissenschaftliche Idee entsteht, wie die poetische, wie die metaphysische, aus der Wechselwirkung aller Elemente des individuellen Geistes; sie nimmt aber einen anderen Verlauf, indem sie sich dem Urteil der Forschung unterzieht, in welchem allein die Sinne, der Verstand und das wissenschaftliche Gewissen zu ßathe sitzen." „Die kindliche Wissenschaft verwechselt fortan Idee und Thatsache, die entwickelte methodisch sicher gewordene bildet die Idee auf dem Wege der exacten Forschung fort zur H y p o t h e s e und endlich zur T h e o r i e . " Auf diese „Wechselwirkung aller Elemente des individuellen Geistes" kommt es auch hier bei der Erklärung der Ideen hauptsächlich an: die Idee ist ein Product aller geistigen Eigenschaften; ein Gebilde von Vorstellungen, das unter dem Stachel des Begehrens und des Gefühls nach den Gesetzen des Denkens entsteht und immer über das empirisch Gegebene zum Unbedingten hinausgeht. Ein Ergebnis aller psychologischen Processe, welche sich unter Bethätigung der apriori'schen Anschauungs- und Denkformen vollziehen, beeinflusst von Gefühlsstimmungen, und wiederum selbst Gefühle und Gemütserregungen hervorrufend, von dem Begehren und Wollen zum Ziel erhoben, so schwebt die Idee dem Menschen immer in junger Lebensfrische vor; dem Inhalte nach stets verändert und neu verjüngt, der Form, den Elementen nach, deren Ergebnis sie ist, immer dieselbe. Eine solche p s y c h o l o g i s c h e Erklärung der Ideen und der zu diesen führenden „dialektischen Schlüsse der reinen Vernunft" braucht sich nicht angesichts der Kantischen Charakteristik der letzteren (S. 272) zu verstecken, in der es heisst: „dergleichen Schlüsse sind in Ansehung ihres Resultats (also) eher v e r n ü n f t e l n d e als Vernunftschlüsse zu nennen; wiewohl sie ihrer Veranlassung wegen wohl den letzteren Namen führen können, weil sie doch nicht erdichtet oder zufällig entstanden, sondern aus der Natur der Vernunft entsprungen sind. Es sind Sophisticationen, nicht der Menschen, sondern der reinen Vernunft selbst, von denen selbst der Weiseste unter allen Menschen sich nicht losmachen, und vielleicht zwar nach vieler Bemühung den Irrthum verhüten, den Schein aber, der ihn unaufhörlich zwackt und äfft, niemals loswerden kann." In der W i d e r l e g u n g d e r P a r a l o g i s m e n d e r r e i n e n Vernunft steht Kant auf dem realistischen, empirischen Boden des grossen Psychologen der reinen Vernunft. Die Bemerkungen unter den Nummern 1—4 (S. 278—279) tragen durchaus ein solches Gepräge. Abweisung rein dialektischer Kunststücke und Bestehen auf „An-

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schauung", das sind seine Waffen. Diese Anschauung ist aber weiter nichts als die zu jeder Erkenntnis unerlässliche Erfahrung. Später (S. 285 ff.) unternimmt Kant die Widerlegung auch der Paralogismen der reinen Vernunft im Sinne der Transcendental-Philosophie. „Die E i n h e i t des Bewusstseins erkennen wir selbst nur dadurch, dass wir sie zur Möglichkeit der Erfahrung unentbehrlich brauchen." Von dieser Ueberlegung will er jedoch nur den vorsichtigsten Gebrauch gemacht sehen. Diese indirecte Erkenntnis von der Einheit des Bewusstseins ermöglicht uns gar nicht, „über die Erfahrung (unser Leben im Dasein) hinauszukommen, und sogar unsere Erkenntnis auf die Natur aller denkenden Wesen überhaupt durch den empirischen, aber in Ansehung aller Art der Anschauung unbestimmten Satz: ich denke, zu erweitern." Was nun Kant weiter (S. 286) über die Natur dieses e i n h e i t l i c h e n B e w u s s t s e i n s sagt, sind die tiefsten Betrachtungen über das Wesen der Seele, die sich denken lassen. Hier finden wir es mit möglichster Schärfe und Entschiedenheit ausgesprochen: der letzte Ursprung unserer Vorstellungen, jenes Etwas, dem das Apriori angehört, bleibt uns ewig verschleiert; in dem Augenblicke, wo wir, nach Durchforschung und Zergliederung aller unserer Vorstellungen und Vorstellungsprocesse, jenen Schleier hoffen lüften zu können, da fällt er düster wieder herab, und uns grinst das Bild menschlicher Geistesschwäche entgegen. An dieser tiefsinnigen Kantischen Psychologie scheitert jenes Ueberweg'sche Dogma von der unmittelbaren Erkennbarkeit unseres eigenen inneren Selbst. Aus dem „Beschluss der Auflösung des psychologischen Paralogismus" heben wir noch die merkwürdige Stelle hervor (S. 289), in welcher uns Kant vor das letzte Problem aller Erkenntnis führt: Wie ist es möglich, dass das Denken das Sein erfasst und erkennt? Er giebt dieser Frage einen ganz realistischen Charakter in der Formulierung: Wie ist Gemeinschaft von Substanzen möglich?, indem er von der ebenfalls ganz realistischen Hypothese ausgeht, dass „das, was der Erscheinung der Materie als Ding an sich selbst zum Grunde liegt, vielleicht nicht so ungleichartig sein dürfte", nämlich so ungleichartig im Vergleiche zu dem, dem es erscheint. Aber die Beantwortung einer solchen Frage liegt nicht bloss „ausser dem Felde der P s y c h o l o g i e (der unberechtigen rationalen), sondern ohne allen Zweifel auch ausser dem Felde aller menschliehen Erkenntnis", d. h. für uns, ausserhalb der berechtigten e m p i r i s c h e n , k r i t i s c h e n Psychologie. Wie lobenswert ist diese massvolle Vorsicht, und wie sehr verdient sie den Vorzug vor jener bestimmten, und doch so

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wenig gesicherten Zuversichtlichkeit der Epigonen (z. B. selbst Lotzes, im Mikrokosmos I 439)! Das Kapitel von den „ A n t i n o m i e n d e r r e i n e n V e r n u n f t " (S. 292—390) interessiert uns hier nur noch insofern, als es ergänzende Bemerkungen über Baum und Zeit enthält, auf deren Analyse in der transcendentalen Aesthetik sich dieser ganze Abschnitt stützt. Der Baum ist (S. 307) f o r m a l e A n s c h a u u n g , nicht w i r k l i c h e r G e g e n s t a n d , und klar und schlagend heisst es: „Die empirische Anschauung ist also nicht zusammengesetzt aus Erscheinungen und der leeren Anschauung. Eines ist nicht des Anderen Correlatum der Synthesis, sondern nur in einer und derselben empirischen Anschauung verbunden, als Materie und Form derselben. Will man eines dieser zween Stücke ausser dem anderen setzen, (Baum ausserhalb aller Erscheinungen,) so entstehen daraus allerlei leere Bestimmungen der äusseren Anschauung, die doch nicht mögliche Wahrnehmungen sind, z. B. Bewegung oder Buhe der Welt im unendlichen leeren Baum, eine Bestimmung des Verhältnisses beider untereinander, welche niemals wahrgenommen werden kann und also auch das Prädikat eines blossen Gedankendinges ist." Man lernt an solchen Bemerkungen im Vergleiche zu weniger entschieden gefärbten anderen Stellen wie z.B. zu der S. 49 u. 50 besprochenen den e m p i r i s c h - r e a l i s t i s c h e n G e h a l t des k r i t i s c h e n I d e a l i s m u s verstehen und schätzen; Kant will die Vorstellungen, welche in unserem Bewusstsein den Erfahrungsinhalt ausmachen, richtig aufgefasst und analysiert sehen: das Merkmal des Bäumlichen ist allerdings von dem Inhalte der Vorstellungen unlösbar; allen diesen haftet es unzertrennlich von dem Augenblicke des Bewusstseins an; alle Wahrnehmungen treten sofort in ein räumliches Verhältnis. Von einem leeren Baume und von einer leeren Zeit hat noch nie und kann Uberhaupt nie ein Mensch etwas erfahren, weil alle Vorstellungen von Baum und Zeit an das Etwas irgend einer Wahrnehmung gebunden sind, und das Nichts überhaupt nicht erfahrbar ist. Das Nichts, ebenso der leere Baum und die leere Zeit sind reine Gedankendinge, und letztere sogar reine Hirngespinste, Gebilde einer durch den Verstand nicht controlierten unklaren Phantasie, welche dem unkritischen Gebrauche der dem Denken entsprossenen Negation, des Grenzbegriffes Nichts, ihr luftiges, nebelhaftes Dasein verdanken. Es verbreitet auf einmal Licht über dunkele Vorgänge der Seele, wenn Kant uns (S. 305 u. 309) erinnert, dass leerer Baum und leere Zeit nichts sind, wenn er (S. 344) ausruft: „Wer kann eine Erfahrung vom Schlechthin-Leeren haben?" Im Widerspruch hiermit redet Kant am Schlüsse der transcendentalen

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Elementarlehre (S. 469) doch von dem leeren Räume, der ausserhalb der Grenzen der Erfahrung das einzige Existierende sei! — Eine ebenso einleuchtende Wahrheit ist es ferner, dass „das Dasein des schlechthin Einfachen aus keiner Erfahrung oder Wahrnehmung, weder äusseren, noch inneren, dargethan werden könne, dass das schlechthin Einfache eine blosse Idee sei". Von demselben tiefen Einblick in das Seelenleben nach der Seite der Vorstellungsbildungen zeugt die den ganzen Abschnitt beherrschende Beobachtung, dass alle unsere Begriffe durch s u c c e s s i v e S y n t h e s i s zustande kommen, daher es denn auch etwas Ungereimtes ist, von dem U n e n d l i c h e n in anderem als in dem transcendentalen Sinne zu sprechen; in diesem nämlich nur, „dass die successive Synthesis der Einheit in Durchmessung eines Quantum niemals vollendet seiu kann" (S. 408); von einem U n e n d l i c h e n an s i c h wissen wir gar nichts, es ist ein reines Hirngespinst; fassen wir es genauer ins Auge, so ertappen wir uns auf der Selbsttäuschung mit einer ganz unbestimmten Grösse, mit einer Grösse, von der wir eben nichts weiter wissen, als dass wir nie mit ihrer Durchmessung fertig werden können, wenn sie nicht einfach in das Gebiet des Endlichen fallen soll. Eine treffliche Anwendung dieses Begriffs der Unendlichkeit auf Raum und Zeit, finden wir bei R i e h l in dem bezüglichen Abschnitte (S. 178—187), nur wird dort auffallender Weise D ü h r i n g als derjenige hervorgehoben, welcher „zeigte, dass das Grundschema des Unendlichen in dem beständigen Zuzählen und Wegzählen der Einheit gegeben ist". (S. 161.) D i e E r s c h e i n u n g e n aber sind (nach S. 373) „ V o r s t e l l u n g e n , d i e nach e m p i r i s c h e n G e s e t z e n z u s a m m e n h ä n g e n " , und N a t u r ist „der Zusammenhang nach allgemeinen Gesetzen sich einander notwendig bestimmender Erscheinungen". (S. 323.) Dieser Zusammenhang ist „ d a s M e r k m a l e m p i r i s c h e r W a h r h e i t , welc h e s E r f a h r u n g vom T r a u m u n t e r s c h e i d e t " . Und wodurch wird dieser Zusammenhang nach empirischen Gesetzen, dieses Merkmal empirischer Wahrheit, gegeben ? Vor allem in den apriori'schen Anschauungsformen des Raumes und der Zeit; „in dem Räume aber und der Zeit ist die empirische Wahrheit der Erscheinungen genugsam gesichert und von der Verwandtschaft mit dem Traume hinreichend unterschieden, wenn b e i d e n a c h e m p i r i s c h e n G e s e t z e n in e i n e r E r f a h r u n g r i c h t i g und d u r c h g ä n g i g z u s a m m e n h ä n g e n . " (S.348.) Also wirklich wahrgenommene Erscheinungen stehen mit den Traumgebilden in Verwandtschaft; denn auch diese sind ja räumlicher und zeitlicher Natur, so sehr sie sich auch von der Wirklichkeit entfernen, sosehr sie

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das Spiel einer durch keine Willkür geregelten, von keinem klaren Selbstbewusstseinbegleiteten Phantasie sein mögen. Dem Träumenden erscheinen seine Gestalten mit erschreckender oder bezaubernder Leibhaftigkeit in Raum und Zeit; wie auch der Wahnsinnige fest von der Existenz seiner Hirngespinste in Raum und Zeit überzeugt ist. Als einziges unterscheidendes Merkmal der letzteren von wirklichen Erscheinungen bleibt also nur das übrig, dass bei diesen „Raum und Z e i t nach e m p i r i s c h e n Gesetzen in einer Erfahrung r i c h t i g und d u r c h g ä n g i g zusammenhängen", bei jenen Gebilden des Traumes und des Wahnsinns dagegen dies thatsächlich nicht der Fall ist. In so hohem Grade trägt also der Kantische transcendentale Idealismus einen empirisch-realistischen Charakter, dass er sich für die Wahrheit und Wirklichkeit der Erscheinungen einfach auf die T h a t s ä c h l i c h k e i t eines „ r i c h t i g e n u n d d u r c h g ä n g i g e n Z u s a m m e n h a n g e s der räumlichen und zeitlichen Vorstellungen nach e m p i r i s c h e n G e s e t z e n " beruft. Wo der Wache und Vernünftige — denn dieser kann doch allein die Entscheidung haben - diese Bedingungen nicht vorfindet, da existiert keine „empirische Wahrheit der Erscheinungen". R i c h t i g e r , d u r c h g ä n g i g e r Zus a m m e n h a n g a l s o in Raum und Z e i t n a c h e m p i r i s c h e n G e s e t z e n — das ist „der Weisheit höchster Schluss"! Vor solche überraschend einfachen Kriterien führt uns schliesslich die Kritik ebenso, wie neuerdings R i e h l s „philosophischer Kriticismus". Was aber bringt — so müssen wir zuletzt fragen — die R i c h t i g k e i t und D u r c h g ä n g i g k e i t des Zusammenhanges nach empirischen Gesetzen hervor? Nichts anderes als das klare Bewusstsein des Wachen und Gesunden, welches alle seiner Sinne und aller seiner Denkfunctionen mächtig ist. Die V e r n u n f t tritt auch in diesem Kapitel immer wieder als s e l b s t s t ä n d i g e s V e r m ö g e n auf; der Unterschied zwischen einem Principium der Möglichkeit der Erfahrung und der empirischen Erkenntnis der Gegenstände der Sinne, also zwischen G r u n d s ä t z e n des V e r s t a n d e s einerseits und einem P r i n c i p i u m der Vernunft, und zwar entweder einem c o n s t i t u t i v e n oder r e g u l a t i v e n , andererseits wird befestigt. (S. 357.) Aus langatmigen Principien (S. 387) condensiert oder krystallisiert sich, wie aus einer chemischen Lösung ein fester Körper, immer wieder die Vernunft; sie versetzt zwar den Menschen in „einen unaufhörlich schwankenden Zustand" (S. 337), und es muss erst ein „ p r a k t i s c h e s I n t e r e s s e " hinzukommen, um „dieses Spiel der bloss spekulativen Vernunft, wie Schattenbilder eines Traumes, verschwinden" zu machen. (Ebd.) Trotz dieser Unbe-

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stimmtheit ihrer Natur ist sie jenes für sich bestehende Etwas, welches „als e i n b l o s s i n t e l l i g i b l e s V e r m ö g e n der Zeitform, und mithin auch den Bedingungen der Zeitfolge nicht unterworfen ist" (S. 381); sie ist „die beharrliche Bedingung aller willkürlichen Handlungen, unter denen der Mensch erscheint" (S. 382), „sie ist allen Handlungen der Menschen in allen Zeitumständen gegenwärtig und einerlei, selbst aber ist sie nicht in der Zeit und geräth etwa in einen neuen Zustande, darin sie vorher nicht war; sie ist b e s t i m m e n d , aber nicht b e s t i m m t e r in Ansehung desselben." (S. 384.) Wenn aber die Vernunft (nach S. 382) „selbst keine Erscheinung und gar keinen Bedingungen der Sinnlichkeit unterworfen ist", dann dürfen wir auch folgern, dass sie kein Theil „des eigentlichen Selbst" ist; denn dieses gehört (nach S. 347) zu dem, was erscheint. Aber zu solcher schroffen Folgerung geht Kant in der Entgegensetzung der Vernunft und des übrigen Selbst mit den apriori'schen Anschauungs- und Denkformen nicht vor; denn er sagt (S. 379): „Allein der Mensch, der die ganze Natur sonst lediglich nur durch Sinne kennt, erkennt sich auch durch b l o s s e A p p e r c e p t i o n , und zwar in Handlungen und inneren Bestimmungen, die er gar nicht zum Eindrucke der Sinne zählen kann, und ist sich selbst freilich e i n e s t h e i l s P h ä n o m e n , anderntheils aber, nämlich in Ansehung g e w i s s e r Vermögen, ein bloss intelligibler Gegenstand, weil die Handlung desselben gar nicht zur Receptivität der Sinnlichkeit gezählt werden kann. Wir nennen diese Vermögen V e r s t a n d und Vernunft; v o r n e h m l i c h wird d i e l e t z t e r e g a n z e i g e n t l i c h u n d v o r z ü g l i c h e r W e i s e von allen empirisch bedingten Kräften unterschieden, da sie ihre Gegenstände bloss nach Ideen erwägt und den Verstand darnach bestimmt, der dann von seinen (zwar auch reinen) Begriffen einen empirischen Gebrauch macht." Es ist klar, dass hier in der Bestimmung des Verhältnisses der Vernunft zu dem Verstände, in dieser Verbindung durch „und" und dann wieder in dieser Bevorzugung mit „ v o r n e h m l i c h g a n z e i g e n t l i c h und v o r z ü g l i c h e r Weise" keine volle Bestimmtheit und im Vergleiche mit den vorher angezogenen Aeusserungen keine volle Einstimmigkeit herrscht. Und worauf stützt sich in letzter Instanz diese Isolierung der Vernunft als eines besonderen Vermögens? Wie wir bisher t h e o r e t i s c h uns auf den Begriff des U n b e d i n g t e n hingewiesen sahen, so tritt von nun an je länger je mehr das p r a k t i s c h e Gebiet mit seinen Momenten in den Gesichtskreis des Kriticismus. „Dass diese Vernunft nun Causalität habe, wenigstens wir uns eine dergleichen an ihr vorstellen, ist aus den I m p e r a t i v e n klar, welche

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wir in allem Praktischen, den ausübenden Kräften als Regeln aufgeben. Das S o l l e n drückt eine Art von Nothwendigkeit und Verknüpfung mit Gründen aus, die in der ganzen Natur sonst nicht vorkommt." . . . „Dieses Sollen nun drückt eine mögliche Handlung aus, davon der Grund nichts anderes, als ein blosser Begriff ist; dahingegen von einer blossen Naturhandlung der Grund jederzeit eine Erscheinung sein muss." (S. 379.) Also B e g r i f f s - und E r s c h e i n u n g s w e l t treten hier schroff gegenüber; hier ist uns nicht mehr die Annahme gestattet, dass der Begriff, d. h. der Verstand und die Vernunft mit ihren Erzeugnissen, z. B. dem Bewusstsein, dass das Lügen schlecht sei, und dem daraus fliessendeu Verbote des Lügens, auch zu den Erscheinungen, nämlich denen des inneren Selbst, gehöre; die e t h i s c h e n Begriffe sehen wir hier plötzlich und mit aller Entschiedenheit aus der Kette der übrigen Erscheinungen herausgehoben und daraus auch theoretisch die weitgehendsten Folgerungen gezogen. Zwar verschliesst sich Kant der p s y c h o l o g i s c h e n Erkenntnis nicht: „Alle Handlungen der Menschen in der Erscheinung sind aus seinem empirischen Charakter und den mitwirkenden anderen Ursachen nach der Ordnung der Natur bestimmt, und wenn wir alle Erscheinungen seiner Willkühr bis auf den Grund erforschen könnten, so würde es keine einzige menschliche Handlung geben, die wir nicht mit Gewissheit vorhersagen und aus ihren vorhergehenden Bedingungen als notwendig erkennen könnten." (S. 180.) Ja sogar da, wo in den Antinomieen reine Vernunft noch reine Vernunft „examinierte" (vgl. S. 343), da begründete er uns mit feiner und umfassender p s y c h o l o g i s c h e r Beobachtung die Bevorzugung der Thesis mit dem Hinweise auf das „praktische Interesse, woran jeder W o h l g e s i n n t e , wenn er sich auf s e i n e n w a h r e n V o r t h e i l v e r s t e h t , h e r z l i c h T h e i l nimmt". Die Behauptungen der Thesis „sind so viel Grundsteine der Moral und R e l i g i o n . " (S. 332.) Kant durchschaut „den g e m e i n e n V e r s t a n d " vollständig; er weiss, dass er an dem rastlosen Aufsteigen vom Bedingten zur Bedingung, jederzeit mit einem Fusse in der Luft, gar kein W o h l g e f a l l e n finden kann". (S. 333.) Er verhehlt sich nicht, dass sein Kriticismus mit seiner scharfsinnigen Darlegung der Unbeweisbarkeit der Behauptungen des idealisierenden Dogmatikers ebenso wie der des Empirikers nicht auf „ P o p u l a r i t ä t " rechnen dürfe (S. 333 ff.), dass „ G e m ä c h l i c h k e i t und E i t e l k e i t eine starke Empfehlung" der Grundsätze des transcendentalen Dogmatismus allzeit bleiben werden, weil „das U m h e r w a n d e l n u n t e r l a u t e r I d e e n " dem gemeinen Verstände gerade zusagt (S. 336);

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„ B e s o r g n i s s e o d e r H o f f n u n g e n " stellt Kant in aller Nacktheit als die Triebfedern hin, vor denen zuletzt „ a l l e s s p e c u l a t i v e I n t e r e s s e " zuGunsten des „ p r a k t i s c h e n v e r s c h w i n d e t " . (S. 336.) Und trotz dieser tiefen und klaren Einsicht in das Getriebe des Seelenlebens jene Hypostasierung der intelligiblen, Uber Zeit und Raum erhabenen Vernunft mit ihrer Freiheit! Diese ist das wichtigste Unterscheidungsmerkmal des Menschen von der Tierwelt. „Bei der lebl o s e n oder b l o s s t h i e r i s c h b e l e b t e n Natur finden wir keinen Grund, irgend ein Vermögen uns anders als bloss sinnlich bedingt zu denken." (S. 375.) Und wer wollte die Wichtigkeit und specifische Bedeutung dieses Merkmals fortleugnen? Aber wer könnte andererseits bestreiten, dass der tierische Instinct mit seinen zahllosen, staunenswerten Erscheinungsformen für uns ein ebenso grosses Rätsel wie Verstand und Vernunft ist? D e r kann ebensowenig „zum Eindrucke der Sinne, zur Receptivität der Sinnlichkeit gezählt werden" (S. 379), er ist für uns ebenso „ein intelligibler Gegenstand", wie Verstand und Vernunft mit ihren „Imperativen". Dass „der Mensch die Natur nur d u r c h Sinne kennt", wie die vorher (S. 62) citierte Stelle besagt, kann nur heissen: durch Vermittelung und auf Veranlassung der Sinne; denn „alle unsere Erkenntnis fängt m i t der Erfahrung an, entspringt aber darum doch nicht eben alle a u s der Erfahrung." Zu der ganzen Natur gehört ferner selbstverständlich auch der sinnlich wahrnehmbare Mensch, der Körper selbst. Bei der sinnlichen Wahrnehmung denkt Kant nur an die ä u s s e r e . Aber wir haben auch Wahrnehmung von unseren Gefühlen, und vermittels dieser auch von Strebungen, Willensäusserungen und Denkakten; selbst die reineren Gefühle des ästhetischen Wohlgefallens äussern sich in einem wirklichen körperlichen Wohlbehagen, das Spiel genialer Phantasie, ethische Begeisterung, siegreiches Denken treten unter lebhaften körperlichen Erregungen in das Bewusstsein. Ob wohl Kant daran gedacht hat, wenn er sagt: „der Mensch erkennt sich durch blosse Apperception" ? (S. 378.) Ueberall in den genannten Erscheinungen ist der Mensch sich selbst P h ä n o m e n ; das „ e i n e s t h e i l s " gilt von dem g a n z e n Menschen nach Körper und Seele. V e r s t a n d und V e r n u n f t „anderntheils" offenbaren sich allerdings den äusseren Sinnen, auch jener vorher angedeuteten inneren Erfahrung niemals unmittelbar. Aber auch dies „anderenteils" gilt nach den Grundlagen des Kriticismus vom g a n z e n Menschen nach Körper und Seele, denn der transcendentale Gegenstand, welchen „wir überhaupt den Erscheinungen in Gedanken zum Grunde legen müssen, ob wir zwar an ihm, was er an sich selbst sei, nicht wissen" (S. 375), dieser transcenden-

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tale Gegenstand ist ebensowol die Materie wie das Seelische oder Geistige. Dass aber jene Selbsterkenntnis des Menschen durch Apperception doch ganz bestimmte Einschränkungen erleidet, betont Kant ausdrücklich: „Dieser intelligible Charakter könnte zwar niemals unmittelbar gekannt werden, weil wir nichts wahrnehmen können, als sofern es erscheint, aber er würde doch dem empirischen Charakter gemäss gedacht werden müssen." So tief uns auch dieser Abschnitt in die Geheimnisse des Seelenlebens und in die Werkstätte des Geistes einführt, die metaphysische Hjpostasierung der F r e i h e i t auf Grund jener erkenntnistheoretisch so wichtigen und notwendigen Unterscheidung des empirischen und intelligiblen Charakters der Dinge ist unhaltbar. E i n s v o n b e i d e n k a n n n u r s t a t t h a b e n : e n t w e d e r i s t e t w a s von dem, w a s u n s e r s c h e i n t , f r e i o d e r n i c h t f r e i . Unter den Erscheinungen giebt es solche, bei welchen das Causalgesetz seine Gültigkeit zu verlieren scheint; die Aeusserungen des Geistigen im Denken, Fühlen und Wollen sind solcher Art; hier können wir dann bei unserer mangelhaften Kenntnis nur sagen: es ist möglich, dass Freiheit herrscht, möglich aber auch das Gegenteil; e i n s von b e i d e n kann aber nur stattfinden, ebensowohl an der Erscheinung wie an der Sache an sich, von der wir nichts wissen. Nach S. 385 hat Kant weder die W i r k l i c h k e i t noch die M ö g l i c h k e i t der Freiheit nachweisen wollen, sondern nur, dass „Natur der Causalität aus Freiheit wenigstens nicht w i d e r s t r e i t e " . Wenn ich aber darthue, dass irgend etwas einer Sache nicht w i d e r s t r e i t e t , dann thue ich die Möglichkeit der letzteren dar. Und Kant begnügt sich thatsächlich so wenig mit diesem Nachweise der Möglichkeit der Freiheit, dass er den Lügner doch für die Lüge völlig verantwortlich macht, d.h. freilich nur in seinem intelligiblen Charakter! Als trefflicher Psychologe berücksichtigt er auch hier „die s c h l e c h t e E r z i e h u n g , ü b l e G e s e l l s c h a f t , zum T h e i l a u c h die B ö s a r t i g k e i t e i n e s f ü r B e s c h ä m u n g u n e m p f i n d l i c h e n N a t u r e l l s , zum T h e i l a u c h d e n L e i c h t s i n n und U n b e s o n n e n h e i t , auch d i e v e r a n l a s s e n d e n G e l e g e n h e i t s u r s a c h e n " . (S. 383.) Aber wegen jenes „intelligiblen Charakters . . . . hat der Lügner doch in dem Augenblicke, da er lügt, gänzlich Schuld; mithin war die Vernunft unerachtet aller empirischen Bedingungen der That völlig frei, und ihrer Unterlassung ist diese gänzlich beizumessen." (S. 384.) Die Kantische Unterscheidung des empirischen und intelligiblen Charakters führt uns, sobald sie ausser ihrer guten erkenntnistheoretischen Bedeutung metaphysische Hypostasierung erfährt, zu unentwirrbaren S c h n e i d e r , Psychol. Enwickelung.

5

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Das Psychologische in Kants Kritik der reinen Vernunft.

Schwierigkeiten.

(Vgl. S. 581.)

Das ist die Achillesferse der Kan-

tischen Kritik, in Bezug auf welche B a u m a n n (Philosophie als Orientirung über die Welt S. 180) sich zu der Behauptung

berechtigt

fühlen konnte, dass „von eigentlicher Kritik sich bei Kant so wenig findet, dass er ihn in den Dogmatismus

trotz seiner gegenseitigen

Versicherungen durchaus einrechnen muss"; das ist die wunde Stelle, bei deren Anblick es wirklich so scheinen könnte, als ob Kant

in

der Kritik der reinen Vernunft in der That den Hauptzweck verfolgt habe, „das Wissen aufzuheben, um zum Glauben Platz zu bekommen". (III 25.) Der Schluss der Kritik der reinen Vernunft,

„das Ideal der

r e i n e n V e r n u n f t " , ist die Krone der ganzen gewaltigen Arbeit. Ausgehend von dem einmal ihm feststehenden Gedanken, dass e s I d e e n d e r r e i n e n V e r n u n f t giebt, dass diese weit über dieobjective Realität erhoben seien, wendet Kant sich zur Untersuchung des höchsten Objects dieser Ideen, des I d e a l s ,

welches von der objectiven Rea-

lität noch weiter entfernt sein soll als jene. (S. 891.) Gegenstand spottet aller Erfahrung. schöpfen der Einbildungskraft, .

Ein solcher

Ganz verschieden von den „Ge-

. welche mehr eine im Mittel ver-

schiedener E r f a h r u n g e n gleichsam schwebende Zeichnung, als ein bestimmtes Bild

ausmachen,

dergleichen

Maler

und Physiognomen

in ihrem Kopfe zu haben vorgeben", — kann der Gegenstand

der

Idee nicht zur Erfahrung gehören (S. 411), welche „ganz müssig ist", das Ideal ,,an irgend einem bestimmten Dinge darzuthun". vgl. besonders S. 4 2 2 ! )

Das

ist der eine wesentliche

(S. 414;

Unterschied

zwischen dem Erfahrungsinhalte und dem Inhalte des Ideals. kommt aber zugleich jener andere,

welcher

der Kritik seinen dämonischen Zauber geübt hat. fahrungsinhalte haftet nie Notwendigkeit

Dem blossen Er-

und strenge Allgemeinheit

an, während das Ideal sich jedem Vernünftigen aufdrängt;

mit Notwendigkeit

denn jeder Vernünftige sieht sich g e z w u n g e n

dem B e d i n g t e n

zu einem U n b e d i n g t e n

Da also der G e g e n s t a n d

Dazu

von den ersten Seiten

von

vorzugehen.

der Betrachtung auch in diesem

Kapitel ein n i c h t - e m p i r i s c h e r ,

d. h. ein

transcenden-

t a 1 e r, d. h. ein solcher ist, über den sich d u r c h

Erfahrung

nichts ausmachen lässt, so muss auch nach Kant die Methode der Behandlung eine n i c h t - e m p i r i s c h e , sein, d. h. eine solche,

eine t r a n s c e n d e n t a l e

welche den U r s p r u n g

die geistigen a p r i o r i ' s c h e n

des Gegenstandes,

Bedingungen seiner Existenz in un-

serem Bewusstsein aufzudecken und zugleich

die Berechtigung und

Befugnis zu prüfen hat, für diesen so beschaffenen Begriff ein ent-

Das Psychologische in Kants Kritik der reinen Vernunft.

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sprechendes Object jenseits der Erfahrung, ein transcendentales, zu suchen. So präcisiert denn Kant mit der ihm eigentümlichen Schärfe die Methode auch dieses Abschnittes mit den Worten: „Transscendentale Fragen erlauben nur transscendentale Antworten, d. i. aus lauter Begriffen a priori ohne die mindeste empirische Beimischung." (S. 432.) Das Wertvolle in diesen methodischen Erörterungen liegt in dem energischen Hinweise auf die Endlichkeit und Unzulänglichkeit jedes, auch des reichsten Erfahrungsgehaltes gegenüber dem Unendlichen und Unbedingten, es liegt in der scharfen Auseinanderhaltung des erfahrungsmässig Aufgenommenen und des durch den Geist Hinzugedachten, jenes Gegensatzes, den S c h i l l e r kurz und treffend in „Wallensteins Tod" (II 2) mit den Worten offenbart: „Eng ist die Welt und weit ist das Gehirn"; das Mangelhafte liegt in der Voraussetzung, dass überhaupt „aus lauter Begriffen a priori o h n e d i e m i n d e s t e e m p i r i s c h e Beimischung" irgend etwas beantwortet und entschieden werden könne. Die „Beschreibung der Dialektik der reinen Vernunft" enthüllt uns den „Grundsatz der d u r c h g ä n g i g e n B e s t i m m u n g " eines jeden D i n g e s als den Ausgangspunkt aller Machinationen der reinen Vernunft auf diesem Felde; derselbe besagt: dass „einem Dinge von a l l e n m ö g l i c h e n Prädicaten der D i n g e , sofern sie mit ihren Gegenteilen verglichen werden, eines zukommen muss." „Alles Mögliche", „die gesammte Möglichkeit als Inbegriff aller Prädicate", das ist der grosse Begriff, den die reine Vernunft sich geschaffen haben muss, um den Satz: „alles Existierende ist durchgängig bestimmt" aufstellen zu können. Wir sehen die K a t e gor i e e n der M ö g l i c h k e i t und der A l l h e i t wiederkehren. Zu jenen zwei Kategorieen gesellt sich alsbald im Laufe jener „Beschreibung" eine dritte, die N e g a t i o n . Und zwar stellt Kant die l o g i s c h e und die t r a n s c e n d e n t a l e Negation (S. 395) in einen schroffen Gegensatz. Jene bezeichne nur das Verhältnis „eines Begriffes zu einem anderen im Urtheile, . . . und kann also dazu bei weitem nicht hinreichend sein, einen Begriff in Ansehung seines Inhaltes zu bezeichnen. Der Ausdruck: nicht sterblich, kann gar nicht zu erkennen geben, dass dadurch ein blosses Nichtsein vom Gegenstande vorgestellt werde, sondern lässt allen Inhalt unberührt." Diese Worte zeigen die Tendenz, den Wert der l o g i s c h e n Negation gegenüber dem der transcendentalen herunterzusetzen. Wer nicht - schwarz, nicht-gut, nicht-vier, nicht-sterblich denkt, weiss damit allerdings noch nichts Weiteres und Bestimmtes über die Natur des Nicht-Schwarzen, Nicht-Guten, Nicht-Vi erfachen, Nicht-Sterblichen; aus dem blossen

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Denken der Negation erspriesst kein positiver Gewinn. Wie steht es dagegen mit der transcendentalen Negation? Sie „bedeutet das Nichtsein an sich selbst, . . . . einen blossen Mangel, die Aufhebung alles Dinges." Als solche transcendentale Negationen nennt Kant sofort die F i n s t e r n i s , Armut, U n w i s s e n h e i t ; also ganz bestimmte E r f a h r u n g s o b j e c t e , Dinge, die nirgend anderswoher als aus der E r f a h r u n g genommen werden können; p o s i t i v e , direct g e g e b e n e „ R e a l i t ä t e n " , keineswegs „ a b g e l e i t e t e Negationen, zu denen die Realitäten die data und so zu sagen die Materie oder den transcendentalen Inhalt zu der Möglichkeit und durchgängigen Bestimmung" erst darbieten müssten. Zu so empirischen Objecten hat sich also die Vernunft bei ihren transcendentalen „Fragen und Antworten" verlaufen, sie, die doch mit „lauter Begriffen a priori ohne die mindeste empirische Beimischung" operieren wollte. Dem gegenüber aber steigt für mich wieder die logische Negation an Ansehn hinsichtlich ihres Wertes für das Zustandekommen und die Erweiterung unserer Erkenntnis. Wollen wir überhaupt von irgend einer Negation sprechen, so wird diese nur durch die „logische" Negation erzeugt; wer Finsternis, Armut und Unwissenheit als Negationen bezeichnen will, der ist nur durch die K a t e g o r i e d e r Neg a t i o n , d. h. durch die Eigenschaft des Geistes dazu befähigt, vermöge deren er jene erfahrungsmässig gegebenen Objecte, unter Anleitung der Erfahrung, im „ C o n t e x t e der Erfahrung" zu anderen erfahrungsmässig gegebenen Objecten, Licht, Reichtum, Weisheit, in Beziehung setzt und sich so aus ursprünglicher Kraft den negativen Gegensatz stiftet. Ja noch mehr! Da hier die Vernunft gerade die Erfahrung verschmähte, so musste sie sich als Quelle für die Ausdehnung ihrer Erkenntnis auf das Gebiet des Unbedingten, nicht auf jene Data der Erfahrung, sondern auf ihren apriori'schen Stammbesitz, also auf die apriori'schen Kategorieen der A l l h e i t und Neg a t i o n berufen; denn nur so gelangt sie zum U n b e d i n g t e n . Von erfahrungsmässig gegebenen Schranken oder Grenzen erhebt sie sich in rastlosem Ueberfliegen jener Schranken und Grenzen zu der Vorstellung des Alls, des Unbeschränkten. An dem empirisch-gegebenen Beschränkten erzeugt sich durch die Kraft der Negation die Allheit; nicht „das Unbeschränkte (das All) liegt zum Grunde", wie Kant (S. 396) behauptet. Nach ihm (S. 397) verhalten sich die Dinge zur höchsten Realität wie die Figuren zu dem unendlichen Räume. Diese Proportion ist richtig; aber ebensowenig wie die Figuren, die bestimmten Raumgebilde „nur als verschiedene Arten, den unendlichen Raum einzuschränken, möglich sind", d. h. ebensowenig wie jene ihre

Das Psychologische in Kants Kritik der reinen Vernunft.

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Existenz dem Begriffe des unendlichen Raumes verdanken, ebensowenig erzeugen sich alle einzelnen Vorstellungen an dem Begriffe der höchsten Realität durch Einschränkung „dieses ihres gemeinschaftlichen Substratums". (S. 357.) Gerade der weitere Fortgang der Beschreibung der Dialektik der reinen Vernunft läuft ja auf eine Vernichtung dieses „gemeinschaftlichen Substratums" als „Urwesen, höchstes Wesen oder Wesen aller Wesen", als „wirklichen Gegenstandes" hinaus, erweist dasselbe vielmehr als „eine blosse Erdichtung, durch welche wir das Mannigfaltige unserer Idee in einem Ideale als einem besonderen Wesen zusammenfassen". (S. 308.) R e a l i s i e r u n g einer blossen Vorstellung, H y p o s t a s i e r u n g und P e r s o n i f i c i e r u n g , das sind die Kunststiike dieser Dialektik, die Stadien der „transscendentalen Subreption" (S. 400), der erste dieser Schritte aber, die Realisierung, beruht einfach auf einer Erweiterung des Gebrauchs unserer K a t e g o r i e e n über das Gebiet der Erfahrung hinaus. Das beweist Kant selbst (S. 399) in der Darlegung der Q u e l l e n der Dialektik der reinen Vernunft. Dort wird mit empirischem Realismus die Materie, „der I n b e g r i f f a l l e r e m p i r i s c h e n Realität", als Bedingung aller Möglichkeit der Erfahrung von Gegenständen (d. h. des Eintritts von Vorstellungen in den Zusammenhang unseres erfahrungsmässig bestimmten Bewusstseins) hingestellt. So oft irgend ein Bewusstsein — diese allgemeinste psychologische Wahrheit wird eingeschärft — aus seiner Empfindung heraus einen Gegenstand mit dem Ansprüche der Anerkennung als solchen setzt, ist es irgendwie an die Erfahrung gebunden. Der Tugend, welche das Tier in seiner Beschränktheit unbewusst übt, dass es nämlich nichts setzt, was es nicht erfährt, dieser soll sich auch der menschliche Geist bei seinen verführerischen Vorzügen bewusst befleissigen. Die apriori'schen mathematischen Gebilde sind gewiss Gegenstände unseres Bewusstseins, „für uns", aber keine sinnlich wahrnehmbaren. Doch setzen sie die allgemeinsten Bedingungen aller Erfahrung, Raum und Zeit, voraus. Die reine Vernunft aber überfliegt in ihrer Dialektik alle Schranken der Erfahrung; ein solches Gebahren bezeichnet Kant sehr glimpflich als eine „natürliche Illusion". „Durch Weglassung der Einschränkung auf die Erscheinungswelt, ein Satz für ein transscendentales Princip der Möglichkeit der Dinge überhaupt zu halten", das ist in Wahrheit ein arger Trugschluss. Weshalb findet die transcendentale Dialektik mit ihren Trugschlüssen eine so milde Beurteilung vor dem Richterstuhle der Kritik? Es ist ein unwiderstehliches Verlangen der reinen "Vernunft, in dem

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Das Psychologische in Kants Kritik der reinen Vernunft.

Kegressus vom Bedingten, was gegeben ist", das Unbedingte, „den unbeweglichen Felsen des Absolut-Nothwendigen" nach dem Grundsatze zu suchen: „Wenn etwas, was es auch sei, existirt, so muss auch eingeräumt werden, dass etwas noth w e n d i g e r w e i s e existire." (S. 401.) „Die Existenz eines notwendigen Wesens dürfen wir nicht in den Wind schlagen." (S. 402.) Vor allem aber: die Pflicht „zu wählen bringt die Unschlüssigkeit der Speculation durch einen p r a k t i s c h e n Z u s a t z aus dem Gleichgewicht" (S. 408), „dringende Bewegursachen, obzwar nur mangelhafte Einsicht" lassen selbst bei den rohesten Völkern mit der blindesten Vielgötterei „einige Funken des Monotheismus durchschimmern." (S. 404.) „Diese logische N o t wendigkeit" mit der „so grossen Macht ihrer Illusion" (S. 406) hat den „Schulwitz" verführt durch den ontologischen Beweis die Existenz Gottes „auszuklauben". (S. 412.) Aber das blosse „Bedürfniss" (S. 405) ist noch lange kein Beweis für die Existenz eines Gegenstandes, eines „auf das blosse Gerathewohl gewagten und endlich geläufig gewordenen Begriffes". (S. 406.) Weit entfernt, nur das l o g i s c h e Erkenntnisvermögen zu durchforschen und in Anrechnung zu bringen, blickt Kant, namentlich bei der Widerlegung des physikotheologischen Beweises, in das G ef ü h l s l e b e n , hinein; er charakterisiert den G e m ü t s z u s t a n d als „ t r o s t l o s " , wollte man dem Ansehen des physikotheologischen Beweises etwas entziehen, als einen Zustand der G e d r ü c k t h e i t , g r ü b l e r i s c h e r U n e n t s c h l o s s e n h e i t " , aus der sich die Vernunft, gleich als aus einem T r a u m e , in der e r h a b e n e n e n t h u s i a s t i s c h e n S t i m m u n g , welche ein Blick auf die Wunder der Natur, und der Majestät des Weltbaues erzeugt, mächtig „befreit". Der E i g e n d ü n k e 1 hellsehender Naturkenner beim Herabschauen „auf das Spinngewebe finsterer Grübler", das Verlassen des gesicherten Bodens der Erfahrung auf „den Flügeln der Ideen", alle diese Motive erfasst der grosse Kritiker mit scharfem p s y c h o l o g i s c h e m Blicke, und gerade aus dieser seiner a l l s e i t i g e n p s y c h o l o g i s c h e n Würdigung des g a n z e n S e e l e n l e b e n s geht die milde Beurteilung der speculativen Unternehmungen der reinen Vernunft hervor. Das S c h r e c k l i c h e und Q u a l v o l l e d e s Z u s t a n d e s d e r m e n s c h l i c h e n S e e l e , „etwas an sich notwendig unter den existirenden Dingen annehmen zu müssen und doch zugleich vor dem Dasein eines solchen Wesens als einem Abgrunde zurückzubeben", das Bedürfniss und heisse Verlangen, aus dem schwankenden Zustande eines schüchternen und immer wiederum zurückgenommenen Beifalls zur ruhigen Einsicht zu gelangen; alles

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das spricht bei der endgültigen Entscheidung mit. „ D r e i s t e A nm a s s u n g e n e i n e r a p o d i k t i s c h e n G e w i s s h e i t " werden „auf b e s c h e i d e n e A e u s s e r u n g e n e i n e r e r l a u b t e n H y p o t h e s e " eingeschränkt (S. 417), „die dogmatische Sprache eines hohnsprechenden Verntinftlers auf den Ton der Mässigung und Bescheidenheit eines zur B e r u h i g u n g hinreichenden, obgleich eben nicht unbedingte Unterwerfung gebietenden G l a u b e n s herabgestimmt" (S. 424); vermeintlich o b j e c t i v e G r u n d s ä t z e als bloss s u b j e c t i v e , h e u r i s t i s c h e u n d r e g u l a t i v e P r i n c i p i e n erkannt (S. 409), der Verwandlung r e g u l a t i v e r Principien in c o n s t i t u t i v e ein Ende gemacht (S. 421), und „aus Gunst eingeräumt, was aus dem Rechte eines vermeintlich unwiderstehlichen Beweises gefordert wurde". (S. 431.) Aber wenn wir das richterliche Urteil genau ins Auge fassen, so läuft es doch auf eine Verurteilung wegen unberechtigter Ansprüche und auf eine moralische Vernichtung des Prätendenten hinaus. Wenn schliesslich das Ideal der reinen Vernunft wieder aus jener bestimmten Gestalt, zu der es sich mit der reinen Vernunft selbst krystallisiert hatte, sich auflöst, aus einem festen Vermögen und Gegenstande in ein bloss regulatives Prinzip zerfliesst, so zeigt es sich, dass wir uns von vorn herein mit Kant gar nicht in so schroffem Widerspruche befanden, als wir v o m p s y c h o l o g i s c h e n Standpunkte der Annahme d i e s e s b e s o n d e r e n V e r m ö g e n s widersprachen und dabei unseren Philosophen als ein Kind seiner Zeit, unter dem unentfliehbaren Einflüsse des Entwickelungsganges der Philosophie bis zu seiner Zeit stehend bezeichneten. Es ist beachtenswert, dass gegen den Schluss des Abschnittes immer häufiger der V e r s t a n d wieder auftritt, wo man nach der ganzen Anlage d i e V e r n u n f t erwartet. „Alle s y n t h e t i s c h e n G r u n d s ä t z e d e s r e i n e n V e r s t a n d e s sind von immanentem Gebrauche; zu der Erkenntnis eines höchsten Wesens aber wird ein transcendentaler Gebrauch derselben erfordert, wozu unser Verstand gar nicht ausgerüstet ist." (S. 431.) Und weiter: „Wie der Verstand auch zu diesem (d. h. „zu irgend einem von uns selbst ausgedachten") Begriffe gelangt sein mag, so kann doch das Dasein des Gegenstandes desselben nicht analytisch in demselben gefunden werden, weil eben darin die Erkenntnis der E x i s t e n z des Objects besteht, da dieses a u s s e r d e m G e d a n k e n an sich selbst gesetzt ist." (S. 433.) Der Kernpunkt dieses Abschnittes liegt in der Widerlegung des ontologischen Beweises; und dort (S. 410) wird in einer wiederum

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Das Psychologische in Kants Kritik der reinen Vernunft.

überraschenden realistischen Einfachheit der einzige Beweisgrund aller Wirklichkeit eines Gegenstandes in dem „Verhältnisse zu meinem ganzen Zustande des Denkens" gefunden, „dass die Erkenntnis jenes Objectes auch a posteriori möglich ist". Es ist derjenige „Zustand des Denkens", in welchem die Aufnahme, das Einreihen des Gegenstandes in den „Context (Zusammenhang) der gesammten Erfahrung" durch mögliche „Wahrnehmung, nach empirischen Gesetzen" stattfindet. Das ist die nüchterne Antwort des kritischen Philosophen auf die dialektischen Kunststücke des unkritischen. Mit dieser Nüchternheit steht dann auch die spätere Erläuterung jener Proportion in Einklang, nach welcher sich die Dinge zur höchsten Realität wie die Figuren zum unendlichen Raum verhielten. (S. 397 im Vgl. zu S. 421.) Eine t r a n s c e n d e n t a l e S u b r e p t i o n , e i n e U n t e r s c h i e b u n g wird es in beiden Fällen genannt, wenn man d e n u n e n d l i c h e n R a u m ebenso wie d a s a l l e r r e a l s t e W e s e n zu einem f ü r s i c h b e s t e h e n d e n E t w a s macht, anstatt darin nur eine f o r m a l e B e d i n g u n g d e s D e n k e n s zu erkennen. So sehen wir uns denn durch die Kritik, d. h. durch eine psychologische Erwägung aller Elemente, welche bei der Bildung unserer Vorstellungen mitwirken, auf die A n s c h a u u n g s f o r m e n und „ d i e r e i n e n K a t e g o r i e e n " (S. 410), auf d i e W e l t u n serer Gefühle und die T h a t s a c h e u n s e r e s Willens (S. 402 n. 425) hingewiesen. In letzter Beziehung ist noch eine ganz knappe parenthetische Bemerkung hervorzuheben. Nach „der Analogie einiger Naturproducte mit demjenigen, was menschliche Kunst hervorbringt", setzt die natürliche Vernunft auch „bei der freiwirkenden Natur Verstand und Wille" voraus. Die Macht dieses Analogieschlusses, welcher „vielleicht die schärfste transscendentale Kritik nicht aushalten dürfte", ist bei der Bildung unserer Erkenntnis nicht zu unterschätzen. Hinsichtlich dieser freiwirkenden Natur aber macht Kant die wichtige Bemerkung, dass „sie alle Kunst u n d v i e l l e i c h t s o g a r die V e r n u n f t zuerst m ö g l i c h macht". Also jene Vernunft, die uns befähigte, ü b e r a l l e N a t u r hinauszugehen, welche aber die Quelle der a l l e r E r f a h r u n g s p o t t e n d e n I d e e n u n d d e s I d e a l s der reinen Vernunft war, sie ist v i e l l e i c h t w e i t e r n i c h t s , a l s e i n E r z e u g n i s d e r f r e i w i r k e n d e n N a t u r ! Durch diese wenigen Worte einer Parenthese, mögen sie auch nur hypothetisch gesprochen sein, wird vollends die reine Vernunft des Nimbus entkleidet, mit welchem sie sich anfangs zu umgeben wusste. Wenn aber die

Das Psychologische in Kants Kritik der reinen Vernunft.

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N a t u r , d. h. die M a t e r i e mit „A u s d e h n u n g u n d U n d u r c h d r i n g l i c h k e i t (die zusammen den Begriff von Materie ausmachen)" (S. 420), „die Vernunft vielleicht zuerst möglich machen", dann möchte doch wohl der Schluss nicht so unbedingt bündig sein, „dass die Materie, und überhaupt, was zur Welt gehörig ist, zu der Idee eines nothwendigen Urwesens, als eines blossen Prinzips der grössten empirischen Einheit nicht schicklich sei". (S. 420.) Auch bei solchem Principe „könnnn wir immer getrost die Erscheinungen der Welt und ihr Dasein von anderen ableiten", und nichts hindert uns dabei „in dem unaufhörlichen Streben nach Vollständigkeit". (S. 421.) Schon einmal (S. 167), in dem „Beschluss der Auflösung des psychologischen Paralogismus", sahen wir uns in ähnlicher Weise vor die letzte Frage aller Erkenntnistheorie gestellt: W i e i s t d a s V e r h ä l t n i s s von D e n k e n und S e i n a u f z u f a s s e n ? Wie i s t G e m e i n s c h a f t v o n S u b s t a n z e n m ö g l i c h ? , und Kant sprach die Vermutung aus, dass „das, was der Erscheinung der Materie als Ding an sich selbst zum Grunde liegt, vielleicht nicht so ungleichartig sein dürfte". Wenn nun also die Vernunft ein Erzeugnis der freiwirkenden Natur ist, so läge darin eine Beantwortung jener Fragen und eine Bestärkung jener Hypothese in m a t e r i a l i s t i s c h e m Sinne. Der „ A n h a n g z u r t r a n s s c e n d e n t a l e n D i a l e k t i k " (S. 335—470) ist nichts als eine nochmalige Zusammenfassung der in der ganzen transcendentalen Dialektik (S. 244—334) niedergelegten Gedanken, welche mit dieser sowohl inhaltlich als auch methodisch übereinstimmt. Eine besondere Beachtung erheischen nur zwei Stellen. Die Vernunft soll — so heisst es S. 457 — m i t n i c h t s a l s m i t s i c h s e l b s t beschäftigt sein, und doch werden sofort d i e V e r s t a n d e s e r k e n n t n i s s e als ihr Object bezeichnet, insofern sie „zur Einheit des Vernunftbegriffs gegeben werden". S. 436 war diese Schroffheit des Ausdruckes vermieden und gesagt, die Vernunft beziehe sich lediglich auf den V e r s t a n d und v e r m i t t e l s d e s s e l b e n auf ihren eigenen e m p i r i s c h e n G e b r a u c h . Nach K a n t s eigenen Erklärungen auf S. 457, wonach daselbst „das Resultat der ganzen transscendentalen Dialektik deutlich vor Augen gestellt, und die Endabsicht der Ideen der reinen Vernunft genau bestimmt" werden soll, verdient die Fassung an dieser späteren Stelle den Vorzug; von dem Standpunkte jedoch, auf welchem die ganze auch hier wieder so schroff hervortretende Lehre von der

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Das Psychologische in Kants Kritik der reinen Vernunft.

Vernunft als besonderem Vermögen verwerflich erscheint, hat die frühere Stelle mit ihrer massvollen und vorsichtigeren Fassung Anspruch auf eine relativ grössere Berechtigung. Hier rückt doch die Vernunft schon aus ihren ätherischen Höhen ein wenig herab und nähert sich, wenngleich nur durch das Mittel des Verstandes, der Empirie. Aber je nachdrücklicher Kant selbst die Leistungen dieses besonderen Vermögens auf r e g u l a t i v e Grundsätze reduciert, welche nur dazu dienen, der Verstandesthätigkeit zu systematischer Einheit zu verhelfen, desto mehr wird man geneigt sein, diesem Vermögen das Recht einer selbstständigen, isolierten Existenz gänzlich abzusprechen, diesen „obersten Gerichtshof aller Rechte und Ansprüche unserer Speculation" mit dem Tribunal zu vereinigen, aus welchem der Hauptbestandteil unserer Erkenntnis fliesst, in welchem die Kategorieen zu Rate sitzen, und diesem Tribunal die Befugnis zuzuerkennen, sich auch ausserhalb des sicheren Gebietes seiner Gerichtsbarkeit seine Grundsätze und Vorstellungsmassregeln klar zu machen. Wenn ich einerseits „keine Begriffe dazu habe", den „Gegenstand meiner Idee nach dem, was er an sich sein mag, zu erkennen"; wenn andererseits zugestanden wird, dass ich mir den Gegenstand der Idee „nach der Analogie der Realitäten in der Welt" thatsächlich mit Hülfe derjenigen Begriffe denke, „die eigentlich nur in der Sinnenwelt ihre Anwendung haben" (S. 456); wenn die Ideen der reinen Vernunft in ein „Analogon von einem S c h e m a der Sinnlichkeit" zerfliessen, „aber mit dem Unterschiede, dass die A n w e n d u n g d e r V e r s t a n d e s b e g r i f f e a u f d a s S c h e m a d e r V e r n u n f t nicht eben so eine Erkenntnis des Gegenstandes selbst ist, (wie bei der Anwendung der Kategorien auf ihre sinnliche Schemata,) sondern nur eine Regel oder Prinzip der systematischen Einheit alles Verstandesgebrauchs" (S. 448, vgl. S. 451, 458); wenn endlich selbst „die oberste Intelligenz in ein blosses Schema" sich verwandelt (S. 466): dann verliert die Vernunft das Anspruchsrecht auf eine selbstständige Existenz. Eine f a u 1 e Vernunft, welcher der Makel der Bequemlichkeit anhaftet (S. 462 u. 463), und eine v e r k e h r t e Vernunft, „die anthropomorphistisch bestimmt", „gewaltsam und dilatorisch" ihre Zwecke der Natur „aufdringt" (S. 464), sollte es geben; von „ I n t e r e s s e n der Vernunft, davon dieser Theil das eine, jener das andere zu H e r z e n n i m m t oder auch a f f e c t i r t " (S. 450), sollte man sprechen dürfen; und doch sollten „alle Fehler der Subreption jederzeit einem Mangel der U r t h e i l s k r a f t , niemals aber dem V e r s t ä n d e oder d e r V e r n u n f t zuzuschreiben", also neben Verstand und Vernunft noch gar ein drittes Vermögen, „die U r t h e i l s kraft",

Das Psychologische in Kauts Kritik der reinen Vernunft.

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zu hypostasieren sein ? Nein, wir müssten uns selbst den Vorwurf der fa ulen und v e r k e h r t e n Vernunft machen, wollten wir uns nicht aus diesem Wirrsal von Vermögen durch die Psychologie herauszuwinden suchen, wie denn auch z. B. Lotze (Mikrokosmos I 157) Urteilskraft und Einbildungskraft ohne Bedenken aus dem „angeborenen Besitze der Seele" ausschliesst. Dass aber diese unsere Thätigkeit p s y c h o l o g i s c h e r Natur ist; zu dieser Behauptung berechtigt uns noch zum Ueberflusse der Schlusssatz der ganzen transcendentalen Elementarlehre, in welchem Kant „die A u f l ö s u n g a l l e r u n s e r e r t r a n s s c e n d e n t a l e n E r k e n n t n i s s in i h r e E l e m e n t e a l s ein S t u d i u m u n s e r e r i n n e r e n N a t u r " bezeichnet (S. 470); auf p s y c h o l o g i schem, e m p i r i s c h e m Wege der Selbstbesinnung und Selbstbeobachtung dringen wir mit Zuhtilfenahme der Beobachtung der Aussenwelt zu „den ersten Quellen der speculativen Vernunft" so wahr, als eine „Intelligenz ein empirischer Begriff" (S. 467) genannt werden kann. Aber bei allen diesen p s y c h o l o g i s c h e n Untersuchungen werden wir als den unverrückbaren Pol der TranscendentalPhilosophie, d i e E r k l ä r u n g der M ö g l i c h k e i t der E r f a h r u n g , im Auge behalten müssen. Also p s y c h o l o g i s c h e Beoba c h t u n g „der N a t u r u n s e r e r K r ä f t e 1 ' (S. 435) bis zu dem Grade, dass daraus „die M ö g l i c h k e i t d e s g r ö s s t e n G e b r a u c h s der M e n s c h e n v e r n u n f t " (S. 465) begreiflich wird, das ist das grosse Problem. Bei dessen annähernder Lösung werden wir uns ebensowenig wie Kant, was die Eigentümlichkeit u n s e r e r N a t u r anlangt, von der Ueberzeugung losreissen: „alles, was in der Natur unserer Kräfte gegründet ist, muss zweckmässig und mit dem richtigen Gebrauche derselben einstimmig sein, wenn wir nur einen gewissen Missverstand verhüten und die eigentliche Richtung derselben ausfindig machen können." (S. 435.)

E.

Das P s y c h o l o g i s c h e in der t r a n s c e n d e n t a l e n Methodenlehre.

In der t r a n s c e n d e n t a l e n M e t h o d e n l e h r e (S. 471—562) giebt sich Kant noch einmal in systematischer Weise von dem in seiner kritischen Philosophie eingeschlagenen Verfahren Rechenschaft. Es entwickelt sich hier vor uns e i n e P s y c h o l o g i e des wissens c h a f t l i c h e n G e i s t e s , wie sie eben nur der gottbegnadete Mensch zu geben weiss, der selbst in sich jenes beobachtete Object, „das Talent der Vernunft" (S. 552) in der ihm eigenen unerschöpflichen Pro-

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Das Psychologische in Kants Kritik der reinen Vernunft.

ductivität und unermüdlichen Agilität vorfindet. Wer das Leben des Geistes in seiner höchsten Potenz so dem profanen Blicke entschleiert, wie es Kant in diesem Abschnitte thut (besonders in dem Hauptstücke über die höchsten Leistungen, in der Architektonik der r. Vernunft S. 549), der setzt sich dem Vorwurfe zu weit getriebener Bescheidenheit aus, wenn er den Nutzen der Philosophie der reinen Vernunft (S. 526) als nur n e g a t i v bezeichnet, wenn er dieselbe n i c h t als ein O r g a n o n zur Erweiterung, sondern nur als eine Disciplin der G r e n z b e s t i m m u n g bezeichnet, wenn er ihre Aufgabe nicht in der E n t d e c k u n g n e u e r W a h r h e i t e n , sondern nur in der V e r h ü t u n g v o n I r r t ü m e r n erkennt. Das ist eben der p o s i t i v e Gew i n n dieser Philosophie — der p s y c h o l o g i s c h e Einblick in die geheimste Werkstätte des Geistes. Zwar wird in willkürlicher Einschränkung des Begriffs der Psychologie diese Wissenschaft aus den vorliegenden m e t a p h y s i s c h e n Untersuchungen abermals verbannt (S. 518), es wird ihr nur als „Episode ein Plätzchen darin verstattet und zwar aus ökonomischen Bewegursachen", sie wird als „Fremdling" behandelt. Aber gerade aus dieser geringschätzigen Behandlung gehen die meisten Mängel auch dieses Abschnittes hervor. Wie könnte bei sorgfältigerer psychologischer Ueberlegung immerfort die Vernunft als besonderes Vermögen hingestellt und von einem beständigen Hange von gewissen Regeln abzuweichen (474), mit dem Hange zur Erweiterung Uber die Grenzen der Erfahrung (476), von der Hoffnung der reinen Vernunft (477), von der eitlen Anmassung und dem Eigendünkel derSpeculation(490), von einer gewissen Unlauterkeit der menschlichen Natur (438), von einem Hange verborgener Association (518), von dem trotzigen Sich-berufen auf den gesunden Menschenverstand (519), von einer speculativen Erweiterungssucht (520), von Ausschweifungen und Blendwerken der r. V., von ihren nicht zu dämpfenden Begierden (526), von einem Hange nach Ruhe (527), nach völliger Befriedigung (531) gesprochen werden, ohne dass auch nur einmal auf den Zusammenhang aller dieser Eigenschaften mit dem ganzen Getriebe des Seelenlebens, mit den Gefühls- und Willensäusserungen hingewiesen würde? Ganz anders z. B. bei Lotze, der sogar soweit geht, das „Gefühl für die Werthe der Dinge und ihrer Verhältnisse" als eine „ernst gemeinte Offenbarung" für die Vernunft, als Grund der Vernunft zu bezeichnen. (Mikrokosmos I 273 u. 275.) Bliebe nicht dieser ganze Mechanismus des Seelenlebens allzu sehr ein „corpus mysticum" (534), dann würde nicht mit dem Sollen unmittelbar das Können gesetzt (533), dann würden nicht die Neigungen selbstverständlich als Hindernisse der

Das Psychologische in Kants Kritik der reinen Vernunft.

77

Sittlichkeit betrachtet (534), dann würde nicht Ideen der Sittlichkeit die Eigenschaft abgesprochen, Triebfedern des Vorsatzes und der Ausübung zu sein, nachdem sie doch als Gegenstände des Beifalls und der Bewunderung hingestellt sind (536), und da doch ein natürliches Interesse des menschlichen Gemüts an der Moralität eingeräumt wird (546). Bei aller Anerkennung des Wertes der innerlichen Verbindlichkeit für die Ethik (540) hätte doch diese wichtige Grundlage der Kantischen Sittenlehre befriedigender ausfallen können, wenn nicht der Einblick in die realen Verhältnisse des Seelenlebens, in diese ganze innere Erfahrung grundsätzlich abgewiesen worden wäre. „Aus der Erfahrung nehmen wir nichts weiter als was nöthig ist, uns ein Object theils des äusseren, theils des inneren Sinnes zu geben", die Begriffe der Materie (undurchdringliche, leblose Ausdehnung) und eines denkenden Wesens, d. h. die empirische innere Vorstellung: ich denke (557). Was eben hierbei psychologisch, d. i. empirisch sein möchte, das will Kant gänzlich bei Seite setzen (530). Aber gleich darauf beruft er sich zum Beweise der praktischen Freiheit auf die E r f a h r u n g , sowie später (533) auf „das sittliche Urteil eines jeden Menschen, wenn er sich ein moralisches Gesetz deutlich denken will". Er beachtet auch unter den Bestimmungsgründen der menschlichen Willkür 1. das, was reizt, d. h. das, was die Sinne unmittelbar afficiert, also nicht diejenigen Lust- und Unlustgefühle, welche wie z. B. die Freude über wissenschaftliche und künstlerische Erfolge, von äusseren Reizempfindungen ganz verschieden sind. Er beachtet 2. „das Vermögen, durch Vorstellungen von dem, was selbst auf entfernte Art nützlich oder schädlich ist, die Eindrücke auf unser sinnliches Begehrungsvermögen zu überwinden". Also das Gebiet der Erfahrung wird zwar nicht erschöpft, aber es drängt sich doch zu einem guten Teile in den Gesichtskreis. Freilich, während hier die Erkenntnis jenes zuletzt genannten Vermögens, die Causalität der Vernunft in Bestimmung des Willens, durch E r f a h r u n g bewiesen werden kann, also Gegenstand e m p i r i s c h e r Erkenntniss ist, wurde nach S. 379 das Gegenteil behauptet. Denn es hiess: „der Mensch erkennt sich auch durch blosse Apperception, und zwar in Handlungen und inneren Bestimmungen, die er gar nicht zum Eindrucke der Sinne zählen kann." Hier ist der Mensch sich selbst n i c h t P h ä n o m e n , also n i c h t ein e m p i r i s c h e r , sondern e i n b l o s s i n t e l l i g i b l e r G e g e n s t a n d , weil V e r s t a n d und V e r n u n f t mit ihren Handlungen gar nicht zur R e c e p t i v i t ä t d e r S i n n l i c h keit, also n i c h t z u r E r f a h r u n g gehören. Wir sehen also einen offenen Widerspruch. Wie es einerseits geradezu ein Missbrauch

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Das Psychologische in Kants Kritik der reinen Vernunft.

des Namens eines P h i l o s o p h e n ist, wenn von ihm gesagt (S. 479) wird, er könne „nach seiner Art" nichts über den Triangel ausmachen, d. h. nach der Erkenntnis aus blossen Begriffen (gerade Linie — Winkel — Zahl drei), so ist es eine unreife und vorurteilsvolle Auffassung des P s y c h o l o g e n , wenn ihm gerade das interessanteste Feld, das Apriori, die innere Erfahrung entzogen wird, wie es geschieht, wenn alle Begriffe, ja alle Fragen, welche uns die reine Vernunft vorlegte, als n i c h t in d e r E r f a h r u n g , sondern selbst wiederum in der Vernunft liegend bezeichnet werden. (S. 506.) Auch der P h i l o s o p h , oder der Philosoph als Geometer construiert sich sofort den Triangel; unter jenem Philosophen, der mit blossen Begriffen operiert, kann nur der vorkritische, der Dogmatiker gemeint sein. Für uns sollte es, dank Kants Kritik, keinen solchen Philosophen mehr geben; er sollte ins Bereich leerer Abstractionen treten; denn kein Mensch kann mit blossen Begriffen, ohne alle Erfahrung philosophieren. Der kritische Philosoph ist, wie Kant von David Hume sagt (S. 508), „der G e o g r a p h d e r m e n s c h l i c h e n V e r n u n f t " . Diese auf die „Quellen der Wahrheit" gerichtete Beobachtung ist ein o s t e n s i v e s , d i r e c t e s Beweisverfahren; der transcendentale Beweis dagegen, welcher sich für die Richtigkeit seiner Entdeckungen auf deren Unentbehrlichkeit für die Möglichkeit der Erfahrung stützt, ist nicht, wie Kant (S. 522) behauptet, direct, sondern a p a g o g i s c h , i n d i r e c t . Letztes Ziel der Philosophie (wie jeder Wissenschaft) muss es allerdings sein, d u r c h d i r e c t e B e w e i s f ü h r u n g , d u r c h V e r b i n d u n g von I n d u c t i o n u n d D e d u c t i o n zu erkennen, ob wirklich „die letzte Absicht der weislich uns versorgenden Natur bei der Einrichtung unserer Vernunft eigentlich nur aufs Moralische gestellt ist". (S. 529.) Die Buchstabenrechnung nennt Kant ebenfalls, aber fälschlich, eine symbolische Construction. Die Zeichen für die Zahlen und Rechnungsarten sind willkürlich nach der Zweckmässigkeit gewählt. Die Zahlenoperationen vollziehen sich durch blosse Begriffe in discursiver Erkenntnis. Die Zeichen 1, 2, 3 u. s. w., H—J/ u. s. w., sind nicht in der Weise Symbole, wie die Figuren der Geometrie, sondern eine Stenographie für Zahlenbegriffe. So öffnet Kant — wie Walter (Festrede, gehalten zur Einweihung der neuerrichteten Grabstätte des Philosophen in Königsberg, Leipzig 1881, Breitkopf und Härtel) ausführt — den Menschen „der eigenen Brust geheime tiefe Wunder"; er zeigt, wie „das theoretische Weltbild dem seelischen Geschehen seine Gesetzlichkeit verdankt".

II.

Psychologische Entwicklung des Apriori in den verschiedenen Stnfen des natürlichen Innewerdens und des erkennenden Bewusstseins.

A.

D a s A p r i o r i in d e n v e r s c h i e d e n e n

Arten der Raum-

vorstellung. 1.

Der Raum im tierischen Innewerden und im natürlichen menschlichen Bewusstsein.

Auf Grund dieses reichen psychologischen, folglich auch erkenntnistheoretischen Gewinnes, den uns der Kritik der

die psychologische Betrachtung

reinen Vernunft gewährte, wollen

wir

nun die

im

Bereiche unserer Erfahrung liegenden Bewusstseinsarten stufenweise durchgehen und das Apriori

in denselben hinsichtlich

der Zeit und der Verstandesfunctionen festzustellen

des Raumes,

suchen.

W i r fragen also zuerst: Ist auf der untersten Stufe des empfindenden Seelenlebens, Vorstellung vom

selbst des niedrigsten

Räume vorhanden,

und

tierischen, irgend welcher Art

mag

eine diese

wohl sein? Sobald irgend ein mit Empfindung begabtes Wesen, sei es das niedrigste tierische, sei es der gebildetste Mensch, auf Grund wiederholter Reizemfindungen,

gleichgültig welches

sich sucht und erstrebt, so vollzieht

Sinnes, etwas

ausser

sich darin eine freie Leistung

des Seelischen, die ein Uebergehen von der Wirkung auf die Ursache ist, und wenn auch dieser Akt, etwas Innegewordenes

ausser

dem

eigenen Empfinden zu setzen, zwischen jenen beiden Extremen durch die Stufen der höheren Tiere und

der niederen Menschen

hindurch

die verschiedensten Grade der Klarheit annehmen kann, so ist doch im Grunde bei allen eine Gleichartigkeit des schöpferischen Setzens von etwas gar nicht unmittelbar Wahrgenommenem

und gar

nicht

unmittelbar Wahrnehmbarem anzuerkennen. Stellen wir

uns das Bewusstsein

Innewerden im Augenblicke

oder auch nur ein dumpfes

seines Entstehens, gleichviel bei welch'

einem Wesen vor! Soviel wir wissen, haftet das Bewusstsein immer an etwas Stofflichem. An diesem Stoffe gehen in Folge von mecha-

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Psychologische Entwickelung des Apriori.

nischen Einwirkungen (Reizen) anderer Stoffe Veränderungen vor, welche auf unerklärliche Weise empfunden, gefühlt und bewusst werden. Wenn nun das Bewusstsein, was auch der Träger desselben sein mag, das kleinste mikroskopische Infusionstierchen oder das niedrigste Schleimtier oder der Mensch, von innen heraus auf die äussere Ursache jener körperlichen Veränderung ausgeht, so ist das nur denkbar unter der Annahme einer j e d e m B e w u s s t s e i n oder besser a l l e m L e b e n d i g e n a n h a f t e n d e n a p r i o r i ' s c h e n , s c h ö p f e r i s c h e n Kraft. Wenn das Kalb nach dem Euter sucht, so offenbart sich darin dieselbe Function, etwas ausser sich zu setzen, wie bei dem Kinde, das nach der Brust schnappt. Diese Kraft will auf die mannigfaltigste Art geübt und ausgebildet sein. Bei den niedrigsten Tieren erscheint die Fähigkeit, etwas ausserhalb ihrer selbst zu setzen und die räumlichen Verhältnisse abzumessen, in einer für den sich langsam entwickelnden Menschen überraschenden Schnelligkeit; der Mensch hat eine verhältnissmässig lange Schule in der Erlernung der Raumabmessung durchzumachen. Im ersten Stadium des Bewusstseins findet sich nur ein dumpfes Gefühl von Lust und Unlust vor, von geistiger Thätigkeit noch keine bemerkbare Spur. Dem dumpfen Einwirken der verschiedensten Reize setzt das neugeborene Kind scheinbar noch nichts entgegen. Jede Unterscheidung räumlicher Verhältnisse fehlt noch. Dieser Zustand des dumpfen Hindämmerns beginnt erst bestimmtere Gestalt anzunehmen, wenn der Hunger entsteht, d. h. eine grössere Veränderung des Stoffes stattfindet. Die Wiederherstellung des ursprünglichen stofflichen Verhältnisses, d. h. die Stillung des Hungers, ist auch anfangs ein Vorgang, bei welchem das Kind lange nicht eine Lustempfindung von der Deutlichkeit hat, wie der ausgebildete Mensch; aber die Einwirkung auf die Geschmacksnerven und das Gefühl des Hungers sind Mittel, welche in hohem Grade eine grössere Bestimmtheit des Bewusstseins über seine Lage in dem Kinde fördern helfen. Das Kind schnappt bald nach dem ihm dunklen, wohlthuenden Gegenstande. Aber in dem Momente, in welchem sich zuerst eine noch so geringe Strebung nach einem Aeusseren offenbart, zeigt sich jene schöpferische apriori'sche Kraft, ohne welche auch nicht die geringste Vorstellung von irgend einem räumlichen Verhältnisse möglich wäre. Ohne ein solches Reagierungsvermögen hätte das Seelische gar keine Veranlassung, über seinen eigenen Zustand und den des stofflichen Trägers der Reize hinauszugehen. Und doch bleibt es dabei immer in den Kreis s e i n e r Vorstellungen gebannt; es erzeugt zu s e i n e n Vorstellungen eine n e u e von dem Draussen, welches jene ersteren

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hervorbringt. „Zu dieser äusseren Welt gehört", wie wir hier gleich, uin Missverständnisse zu vermeiden, ausdrücklich mit C l a s s e n (die Physiologie des Gesichtssinnes, Braunschweig bei Vieweg und Sohn 1876, S. 52) betonen wollen, dem Bewusstsein oder Innewerden gegenüber „jede Substanz, von der wir reden können, auch die der Nerven und des Gehirns, die wir durch die empirische Wissenschaft kennen lernen, nicht aber unmittelbar empfinden." Zu den die Raumvorstellung weckenden Veranlassungen gehört also auch das Betasten d e s e i g e n e n K ö r p e r s. Wie könnte ich aber zwischen den meinen eignen Körper betastenden Gliedern etwas annehmen, wenn nicht in dem Bewusstsein als Factor desselben eine Kraft vorhanden wäre, über den empfundenen Reiz hinauszugehen? Selbst wenn ich mit zwei Fingern einen dritten derselben Hand betaste, so ist bei dieser doch nur auf den Kreis meines Selbst eingeschränkten Erfahrung jenes Doppelte zu unterscheiden: ich empfinde an allen drei Fingern einen Druck; ich (mein Bewusstsein) erfahre von meinem eigenen Körper durch Reize, welche Teile meines eigenen Körpers, unwillkürlich oder willkürlich — und dabei noch deutlicher — auf andere Teile und dadurch mittelbar auf mein Bewusstseins selbst ausüben. Dass ich über den Reiz und Druck hinaus etwas, d. h. meinen Finger, meinen eigenen Körper setze, darin offenbart sich ein Plus, welches in dem Reize und Drucke nicht liegt. So sehr ich nun im Laufe der Jahre alle meine Sinne geübt haben mag, jedwede Raumgestalt auszumessen, sogar im voraus für meine Zwecke zu berechnen, ich erhalte dabei durch die Sinne nichts weiter als d i e E i n d r ü c k e von Gegenständen, sei es von meinem eigenen Körper oder von solchen, die nicht zu diesem gehören; nur die G r e n z e n der Körper erfahre ich nach Massgabe der Beschaffenheit meiner Sinne und nach der Art, wie der Sinneneindruck in das Bewusstsein eingeht; dass ich innerhalb und ausserhalb der Grenzempfindungen ein Etwas in meinem Bewusstsein als neues Vorstellungselement setze, j a dass ich diese Grenze selbst aus dem Zustande meines eigenen Selbst hinaus objectiv.iere, das ist nur auf Grund eines apriori'schen, keines empirischen Factors möglich. Auch nach L ö t z es Mikrokosmos (1346) bedarf die Seele, um das Mannigfache der u n r ä u m l i c h e n Eindrücke wieder auseinander zu ordnen, 1. einer in der Natur ihres Wesens liegenden N ö t i g u n g , F ä h i g k e i t und D r a n g e s , Raumvorstellungen überhaupt zu bilden, 2. eines Anstosses, der von den anzuordnenden Eindrücken selbst herkommt, und durch welchen diese ihre gegenseitige Lagerung im Räume verlangen. Ich habe bisher absichtlich von der Verschiedenheit der reiz-

Schneider, Psychol. Enwickehnig.

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aufnehmenden Mittel, der Sinne, abgesehen. Aber C l a s s e n und noch mehr R i e h l betonen nachdrücklichst den Unterschied, welcher zwischen den Gesichtswahrnehmungen einerseits und allen übrigen Sinneswahrnehmungen andererseits obwaltet. Den Empfindungen des Gesichtsfeldes allein, jedenfalls ihnen am entschiedensten, verdanken wir nach R i e h l (II 103, 140, 144, 148 ff., 159) die directe und unmittelbare Wahrnehmung der flächenhaften Ausdehnung eines Continuums. Ein Ton, ein Gedanke erfülle keinen Ort, Töne, Gerüche, Empfindungen von Widerstand, Glätte u. s. f., sind an sich nur punktuell. Mir erscheint das zweifelhaft, namentlich mit Rücksicht auf die von R i e h l selbst hervorgehobene entwickelungsgeschichtliche Behauptung des gemeinschaftlichen Ursprunges aller Sinne aus dem Tast- und Muskelsinne (II 27), aus dem Tastsinne des sensiblen Hautblattes; danach ist die Netzhaut nur ein modificiertes Stück der sensiblen Haut. Wenn ich bei einem misslingendem Kopfsprunge mich buchstäblich vom Scheitel bis zur Zehe sehr empfindlich schlage, sollte ich bei dieser Empfindung nicht die directe und unmittelbare Vorstellung der Ausdehnung gewinnen? Bin ich wirklich im Stande, bei Empfindung eines Tones, u. s. w. mich von jeder Raumvorstellung loszumachen ? Der mathematische Punkt aber ist ja nach R i e h l s eigener Behauptung überhaupt gar nicht anschaubar (II 149), die Erzeugung geometrischer Gebilde geschieht auch nach ihm durch begriffliche Ueberlegung vermittels der logischen Functionen und zuletzt auf Grund der Grundform des Bewusstseins, seiner absoluten Identität, Einheit und beständigen Gleichheit. (II 87,94, 111,116,123, 127,131,142,148,158.) Das natürliche tierische Innewerden wird also wohl auch einen Ton, einen Druck u. s. w. irgendwo suchen und setzen, und das natürliche Bewusstsein des denkenden Menschen war von jeher geneigt, selbst dem Gedanken einen Ort anzuweisen; bei Homer steht der kluge Gedanke sogar verkörpert als Pallas Athene dem zürnenden oder zweifelnden Helden zur Seite. Ueberall haben wir hier ein im Grunde gleichartiges Verräumlichen einer Empfindung, das Hinausgehen des inne- oder bewusstwerdenden Subjectes zu einem Etwas ausser ihm. Die Causalität verwirft R i e h l als Erklärungsgrund hierfür. „Die Causalität kann die Raumform nicht aus sich erschaffen, weil sie überhaupt nichts von der bestimmten F o r m der Ursache enthält." Sie kann nicht den Satz begründen: „es existirt etwas r ä u m l i c h von uns verschiedenes, das a u s s e r uns, in einem anderen Orte des Raumes vorhanden ist." Aber wenn irgend etwas, so kann nach meiner Ueberzeugung die Causalität hier helfend eintreten. Die directe, unmittelbare Wahrnehmung eines Continuums von z w e i

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Dimensionen schreibt R i e h l den Empfindungen des Gesichtsfeldes zu; die dritte Dimension (die körperliche Tiefe), die etwas Ungleichartiges haben soll, setzt er auf Rechnung der Association gewisser Entfernungsgefühle, nach „angeborener Neigung" (!), auf Rechnung der Fortbewegung und Verschiebung des Bildes im Räume, der Augenbewegung und Ortsbeweglichkeit, der Bewegungsgefühle; diese nennt er etwas auf Grund zahlloser Erfahrungen Gefolgertes. (II 149ff.) Soviel wird also wenigstens zugestanden, dass noch zur Empfindung etwas hinzukommen muss. Ein blosses „logisches Schliessen" nach dem Gesetze der Identität u. s. w., ein blosser Analogieschluss, noch viel weniger ein blosses Summieren kann das nicht sein, da doch immer erst einmal jener Bewusstseinszustand der dritten Raumdimension erzeugt sein muss. Aus allen jenen Thatsachen, aus allen solchen nacheinander im Bewusstsein verlaufenden Vorgängen der Fortbewegung u. s. w., könnte nie die Raumvorstellung von drei Dimensionen entstehen, wenn nicht dals Bewusstsein auf Veranlassung eines Reizes über diesen Zustand zu der Vorstellung des Aussen hinausginge und damit z u g l e i c h sich selbst und jenes Aussen in den Raum setzte, diesen also durch eine freie That sich a priori erzeugte. Dass diese That, obgleich von Hause aus subjectiver Natur, „in gesetzlichem Zusammenhange mit der Sache" steht, werde ich mich hüten R i e h l s trefflichen Darlegungen (II 165 ff.) gegenüber zu bestreiten. Die Kräfte, welche R. M a y e r als Functionen der Distanzen materieller Objecte zu betrachten gelehrt hat, jene Form der Kraft, die Fallkraft, welche nach ihm in dem räumlichen Abstände ponderabler Objecte zu suchen ist, weiss ich als bestimmende Momente für jenes Apriori im vollsten Masse zu würdigen; selbst Newtons Gesetze sind nicht rein logisch-mathematisch, sondern auf Thatsachen begründet. (II 87.) „Der Satz, dass in einem Punkte nur drei auf einander Senkrechte möglich sind", ist auch für mich „nicht, wie Kant lehrte, ein Satz der reinen, sondern der empirischen Anschauung"; aber allerdings einer empirischen Anschauung, die nur durch das Apriori möglich, durch dieses wesentlich bestimmt und folglich im wesentlichen subjectiv bedingt ist. Bei dieser Anerkennung der Bedeutung empirischer Realität ist daher die Existenz der Aussenwelt für mich „kein subj e c t i v e r Glaube, auch kein S c h l u s s u n s e r e s V e r s t a n d e s " im Sinne des b l o s s l o g i s c h e n s y l l o g i s t i s c l i e n Schliessens (S. 186); allerdings aber auch, was R i e h l annimmt, kein unmittelbares Wissen; denn von einem W i s s e n können wir absolut nur auf der Stufe des begrifflichen Denkens, des Denkens in allgemeinwertigen Vorstellungen und Zeichen reden. Ich begnüge mich damit, zunächst nur das Inne-

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werden, die gewisse Wahrnehmung zu begreifen. „Auf Grund desselben Empfindungsvorganges wissen wir" — zunächst sagen wir also besser: erfahren wir — „von anderen Dingen und von uns, wir können kein Wissen" (kein Innewerden, Bewusstsein, keine Wahrnehmung, Erfahrung) „von uns haben, das nicht zugleich das Wissen anderer Dinge einschliessen würde." (II 186.) Aber weit entfernt, in dem „Zwange unserer Gesichtsvorstellungen mit ihrer Empfindung eines u n v e r m i t t e l t e n Auseinanderseins der Objecte" jenes böse Verhängnis zu erkennen, welches „der vermeintlich reinen Subjectivität und Innerlichkeit der Empfindungen eine unerreichbare Welt von „„Dingen an sich"" gegenüberstellt", behaupte ich vielmehr, zum kritischen Denken herangereift, dass am allerwenigsten die Gesichtsvorstellungen zu jener durchaus festzuhaltenden Erkenntnis führen, dass sie am allermeisten durch ihre sanfte Täuschung mich an der Erreichung jener höchsten Stufe der Erkenntnis verhindern; denn gerade, weil nach ihnen „sich gleichsam die Bilder der realen Dinge von uns ablösen, aus der Continuität der übrigen Empfindungen heraustreten", glaubt man naiver Weise, diese abgelösten Objecte als etwas An-sichseiendes zu erkennen. Gerade diese Täuschung der Gesichtsbilder hat den Philosophen vor Kant jene ewige Wahrheit verschlossen. Es ist das nicht bloss „ein bildlicher und sozusagen s y m b o l i s c h e r Ausdruck der relativen Selbständigkeit, die uns und die Dinge trennt", sondern eine vollkommen ernstgemeinte Subjectivität kommt uns und dem gegenüber eine ebensolche Objectivität den Dingen an sich zu. Ein „Substituten der Wechselwirkung der Dinge mit uns selbst und untereinander" kann ich nicht in dem Sinne zulassen, dass dadurch jener Unterschied verwischt würde. Aber wie! Da erscheint plötzlich doch die W e c h s e l w i r k u n g ! Diese aber ist mit der Causal i t ä t aufs engste verknüpft. Mit Recht greifen wir also nach dieser, um die Raumvorstellung zu erklären. Ob aber in der That für das kritische Denken die Empfindungen des Gesichtsfeldes „aus der Continuität der Empfindungen heraustreten", das ist eine Frage, welche wir in dem Abschnitte über die Z e i t noch einmal berühren werden. Kant nennt jenen die Raumvorstellung erzeugenden apriori'schen Factor die r e i n e A n s c h a u u n g s f o r m d e s ä u s s e r e n S i n n e s , die Vorstellung der blossen Möglichkeit des Beisammenseins. (Cohen, K. Th. d. Erf. 158.) Aber zwischen die Empfindungen der Farbe, des Klanges, des Geruches, des Geschmackes, der Härte, kurz zwischen alle die Reizempfindungen, welche irgend einem Bewusstsein durch die verschiedensten Sinne nach ihrer Beschaffenheit zugeführt werden,

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und zwischen jene apriori'sche Kraft des Innewerdens und Bewusstseins, welcher wir die neue Vorstellung des Draussen verdanken, und die wir eine S c h l u s s k r a f t nennen können, haben wir keinen Grund, ein drittes Glied, eine reine apriori'sche Anschauungsform des äusseren Sinnes oder, wie Riehl sagt, „eine neue, psychologisch unfassbare Vorstellungsciasse" (II 106), einzuschalten. Einen S c h l u s s a k t nehmen hierbei S c h o p e n h a u e r , Helmholtz, Wundt, S i g w a r t , Liebmann, Alb. L a n g e , Ed. v. Hartm a n n an. L a n g e z. B. nennt (G. d. M. 251) die unmittelbaren Sinneseindrücke „Vorgänge, welche durch Elimination oder Ergänzung gewisser logischer Mittelglieder den Schlüssen und Trugschlüssen des bewussten Denkens auffallend entsprechen." Und hierdurch, nicht durch die Herbart'sche Psychologie oder die Hegel'sche Phänomenologie des Geistes, werde Kants Vermutung bestätigt, dass Sinnlichkeit und Verstand vielleicht beide aus einer gemeinschaftlichen, uns unbekannten Wurzel entspringen. „Zahlreiche Thatsachen beweisen, dass sich die Empfindungen nicht nach einer fertigen Form, der Raumvorstellung, gruppieren, sondern dass umgekehrt die Raumvorstellung durch unsere Empfindung bedingt wird." (S. 252.) Raum und Z e i t sind nicht fertige Formen, aber sie könnten sich doch vermöge o r g a n i s c h e r B e d i n g u n g e n , die in anderen Wesen fehlen möchten, aus unserem Empfindungsmechanismus notwendig ergeben. (S. 253.) Auch die Sinnesempfindungen sind mit ihren einfachen Qualitäten etwas vor der Erfahrung Liegendes. Sie haben gleiche Apriorität wie Raum und Zeit. (S. 255.) Und weiter gelangt er zu den wichtigen Grundsätzen: „das Allgemeine ist im Besonderen, das Logische im Physiologischen, wie der Stoff in der Form." „Es giebt kein reines Denken, welches bloss das Allgemeine zum Inhalt hat. Es giebt auch keine Empfindung, welche nichts Allgemeines in sich hätte." (S. 250.) Als deutliches und schlagendes Beispiel des Schliessens beim blossen Sehen hebt Lange (S. 494) den Fall hervor, dass, wenn man auf einer Fläche von irgend einer Farbe einen Fleck von einer anderen Farbe auf den blinden Fleck der Netzhaut einstellt, dann doch die ganze Fläche von derselben Farbe erscheint. „Das Auge macht hier einen Schluss, eine unvollständige Induktion." „Wenn man an dem wirklichen Vorgange nicht künstlich deutet, so ist in diesem Falle das S e h e n s e l b s t e i n S c h l i e s s e n und d e r S c h l u s s v o l l z i e h t s i c h in F o r m e i n e r G e s i c h t s v o r s t e l l u n g , wie er in anderen Fällen in der Form sprachlich ausgedrückter Begriffe sich vollzieht." Von Lieb mann (Zur Analysis der Wirklichkeit, S. 48 ff.) wird der Raum als ein objectivierender Akt unserer Intelligenz dargestellt, der dem

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logischen Schlussverfahren analog ist. Bei der „Verräumlichung der Sensibilität" erscheint ihm die Verstandesthätigkeit als wesentlich. (S. 160.) Das optische Ich und das logische fallen zusammen. Desgleichen nimmt Ed. v. H a r t m a n n (in der Philos. des Unb. 1281 ff.) bei der ßaumanschauung eine schöpferische Synthese der Seele an, indem er dieselbe zu den anderen Aeusserungen des Unbewussten rechnet. Soviel steht fest: alles, was bewusst werden soll, muss sich in die durch die Beschaffenheit der Sinne bedingte Form fügen. Das Rädertier mit einem Auge, das nur Hornhaut hat, muss nach Moleschotts Bemerkung andere Bilder von den Gegenständen aufnehmen als die Spinne, die auch Linse und Glaskörper besitzt. (Vgl. Lange Gesch. d. M. 472.) Je nach dieser subjectiven Beschaffenheit stellen sich die Raumgebilde dem Bewusstsein in verschiedenen Dimensionen dar. Auch Classen (S. 165) lehrt, dass „der objective Raum nicht nur von unseren Anschauungs- und Erkenntnisvermögen überhaupt, sondern in jedem einzelnen Falle sogar von unserem Körper und unsern Organen abhängig ist." Aber wie viele Dimensionen auch vorkommen mögen, alle räumlichen Gebilde können doch nur n a c h e i n a n d e r in das Bewusstsein treten. Die Z e i t a n s c h a u u n g ist in der That die Grundbedingung alles und jedes Anschauens, was noch Joh. Müller bestritt, und Niemand, wie er behauptete, zugeben würde. (Vgl. Classen, S. 49; auch Riehl führt das treffend aus, II, 79,115, 157, 159.) Aus dem Nacheinander der Vorstellungen muss sich die Vorstellung desBeisammenseins derselben, d. b. der vorgestellten Gegenstände erzeugen. Ich empfange z. B. in einem langen Nacheinander von einem Tische die Eindrücke des Braunen, des Glatten, des stumpf und kurz Tönnenden; ich fühle die Bewegungen, welche ich vollziehe, um die viereckige Tischplatte und die Beine zu überschauen; ich empfinde einen Druck oder Schmerz, wenn ich den Tisch hebe oder mich an ihm stosse. Bei allen diesen Vorgängen bewege ich mich in meinen subjectiven Zuständen. „Das Auge verlässt sich, wie S t a d l e r (Erk. S. 29) hervorhebt, auf das Zeugnis der Hand und umgekehrt." „Als Reiz der Tastempfindung zeigt sie (die Psychologie) dem Auge den Stein, den der Finger berührt; um uns den Gegenstand eines Netzhautbildes vorzuführen, giebt sie der Hand eine Tastempfindung. Bald stellt sie den Reiz der Gehörsempfindung mit Hülfe des Gesichts, und bald durch Berufung auf eine Druckempfindung dar. So führt sie die Welt des einen Sinnes auf die Welt der übrigen zurück und die Vorstellung behält sich selbst zum Inhalt." Die E m p f i n d u n g ist also nicht minder

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eine Bedingung der Erfahrung als das Apriori. „Ja es charakterisiert, wie Cohen (S. 235) sagt, den freien Gebrauch seines a priori, dass Kant z w e i m a l (S. 197 u. 200) die Wahrnehmung als „comparativ a priori" bezeichnet." Wie objectiviere ich nun die lange Folge jener meiner Bewusstseinszustände? Ich bleibe ja allerdings immer in dem Bannkreise meiner Vorstellungen befangen; aber in dieser Lage befinde ich mich auch im Zustande des Träumens, und zwischen diesem und dem vollkommen klaren und deutlichen Bewusstsein meines Ichs und seiner durchgängigen Abhängigkeit in allen Lebensregungen von äusseren Dingen muss ich doch einen Unterschied gelten lassen. Die Vorstellungen sind nach Kant als solche an und für sich schon wirklich und „ihre unmittelbare Wahrnehmung (Bewusstsein) sind zugleich ein genügsamer Beweis ihrer Wirklichkeit"; Gegenstände sind nie etwas anderes als Vorstellungen, d. h. immer nur etwas durch die subjectiven Formen Gegebenes; aber das Seelische setzt dennoch diese Gegenstände aus sich heraus, nimmt einen Träger als Grund aller subjectiven Empfindungen ausserhalb des Bewusstseins an. In der That „habe ich" (als kritisch denkendes Ich) „in Absicht auf die Wirklichkeit äuss e r e r G e g e n s t ä n d e " wesentlich mehr „nöthig zu schliessen, als in Ansehung der Wirklichkeit des Gegenstandes meines i n n e r e n S i n n e s , meiner G e d a n k e n " , und zwar gerade, weil „beide nichts als V o r s t e l l u n g e n sind, deren unmittelbare Wahrnehmung im Bewusstsein zugleich ein genügsamer Beweis ihrer Wirklichkeit ist". „Das Bewusstsein meines eigenen Daseins ist zugleich ein unmittelbares Bewusstsein des Daseins anderer Dinge ausser mir" nur desh a l b , weil ich (in transcendentaler Ueberlegung) das denkende Ichbewusstsein nur unmittelbar mit seinen Vorstellungen i n n e r e r Erf a h r u n g erklären kann, für den e i n e n Teil derselben aber, für die äussere, wie bei den T i e r e n , das u n b e w u s s t e S e t z e n eines äusseren Gegenstandes als unerlässliche B e d i n g u n g ihres Daseins ansehen muss. Der brennende Durst und das Wonnegefühl seiner Stillung ist dem Bewusstsein hinreichende Gewähr, dass den empfundenen Eindrücken eines Glases mit Wasser ein bestimmtes Etwas da draussen entspricht. Das Seelische setzt aus apriori'scher Kraft einen Grund aller Vorstellungen, einen Träger der verschiedensten, auf einanderfolgenden Reize und sondert diese aus der ununterbrochen fortfliessenden Reihe der Vorstellungen ab. Das Seelische erschafft sich so meist unter dem Stachel der Begierde, der Lust und Unlust die Welt concreter Dinge; wir denkenden Geister „wenden mit Bewusstsein die Kategorieen der C a u s a l i t ä t und der Substanz'', wie

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Cohen sagt (S. 250), — und wir werden später andere hinzufügen — „auf die vorgestellten Gegenstände an und machen sie, die Erscheinungen unseres Sinnes, zu Erscheinungen eines unbekannten Etwas, welches lediglich geschlossen, nicht wahrgenommen werden kann." Also ein Unterschied zwischen jener rein seelischen und dieser geistigen Function muss angenommen werden. Betrachten wir das von L a n g e angeführte Beispiel der Fläche mit dem anders gefärbten Flecke! In das Bewusstsein tritt eine lange Reihe gleicher Reize der Netzhaut, nur wird diese Reihe momentan durch das Auftreten des Fleckes auf der blinden Stelle der Netzhaut unterbrochen. Es findet hier nur eine ganz unmerkliche Unterbrechung der Empfindungsreihen und dadurch eine Täuschung des Bewusstseins statt, nicht ein positives Schliessen. Ich kann mir in diesem Falle die Möglichkeit der Erfahrung noch ohne das Vorhandensein eines logischen Schliessens erklären. Die neuere Wissenschaft hat sich ein grosses Verdienst durch die Untersuchung der Vorgänge in den Nerven bei Reizempfindungen erworben. Aber ich wage nicht mit Wundt (Vorl. I 200) zur Annahme e i n e r I d e n t i t ä t v o n m e c h a n i s c h e r u n d l o g i s c h e r N o t w e n d i g k e i t , von M e c h a n i s m u s u n d L o g i k vorzugehen. Es krankt zunächst an allen Gliedern die Deduction der Behauptung: „das D e n k e n b e s t e h t d a h e r a l l e i n in der T h ä t i g k e i t des S c h l i e s s e n s . " (I 56.) Das B e g r e i f e n und das Urt e i l e n behaupten als eigentümliche Aeusserungen des Apriori neben jenem ihr Recht. Demnach ist auch nicht erwiesen, „dass die Thätigkeit des Denkens eine vollkommen g l e i c h a r t i g e ist". (Ebd.) Das „Wesen" dieser Thätigkeit des Schliessens ist mit der A u f e i n a n d e r f o l g e " sicher nicht getroffen. Es ist endlich nicht zuzugeben, dass dieses vermeintlich wesentliche Merkmal der A u f e i n a n d e r f o l g e des Denkens zur E i n h e i t d e s D e n k e n s umgedeutet wird. Wer sich wie Wundt in seiner 3. Vorlesung auf gut experimentellem Wege, ferner an dem Beispiele des Schmiedes, der die Funken sprühen sieht, ehe er den Hammerschlag hört, an dem des Arztes, der beim Schröpfen manchmal erst das Blut fliessen und nachher den Schröpfschnepper in die Haut fahren sieht, die l i n e a r e N a t u r des D e n k e n s zum Bewusstsein gebracht hat, gerade der muss einräumen, dass mit dieser inneren Anschauungsform das Apriori nicht erschöpft ist, welches Erfahrung ermöglicht. Mit dieser grundlegenden Deduction fallen auch für mich die Folgerungen, die Wundt weiterhin (S. 135—137) daraus zieht. Wenn als Grundthatsache unseres gesammten Denkens weiter nichts ange-

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geben wird als „die Einheit des Denkens" (d. h. die lineare Natur), dann ist „streng genommen" noch nicht einmal die Vergleichung von auch nur zwei Grössen erklärbar. Dann ist es vielmehr eine streng genommen ganz natürliche Folgerung, dass gar keine Vergleichung stattfinden kann. In jenen Arten des Bewusstseins, welchen nichts weiter als die „Einheit des Denkens" anhaftet, liegen die Empfindungen lose nebeneinander. Erst das Hinzutreten apriori'scher Functionen in einem erkennenden Bewusstsein ermöglicht überhaupt eine Vergleichung, einen Begriff, ein Urteil und einen Schluss. Wuudt gelangt ferner (S. 193) zu dem Resultat: „derProcess des Schlusses ist es, der hier wie dort (bei den durch das Ohr wie durch das Auge vermittelten Empfindungen) der Empfindung zu Grunde liegt. Und doch ist es höchst bemerkenswert, dass wir zu diesem i d e n t i s c h e n Resultat auf so ganz verschiedenen Wegen gelangen konnten." Weshalb auf so ganz verschiedenen Wegen? Die Methode der Untersuchung, welche zu dem „identischen Resultat" führte, war beide Male die gleiche, die der experimentellen Beobachtung ; nur die Objecte waren verschieden, hier Gesichts- dort Gehörsnerven. Dass diese beiden Wege, d. h. Untersuchungsreihen, nach den Objecten verschieden sind, „das ist zweifellos". Aber es hat gar nichts „Paradoxes", dass durch jene e i n e Untersuchungsmethode bei beiden Objecten dasselbe Gesetz entdeckt wird. Und doch lässt sich ein so bedeutender Forscher bei solch' einfachem Sachverhalte zu folgendem dialektischen Kunststücke verführen: „Sind denn die Wege, die wir gegangen sind, wirklich so ganz verschieden? Der erste fieng bei einem ganz andern Punkt an als der zweite, das ist zweifellos; auch der weitere Fortgang unterschied sich; als aber erst die beiden Wege ganz zurückgelegt waren, da zeigte sich's dennoch, dass auf den zwei Wegen die nämlichen Dinge liegen. Wie ist das möglich? Es giebt nur e i n e Möglichkeit, die diese Thatsache nicht paradox sondern natürlich macht: wenn die zwei Wege der nämliche Weg sind, den wir in beiden Fällen nur von entgegengesetzten Enden durchwandelt haben." Also die Wege sind eingestandenermassen im Anfang und Fortgang verschieden. Auf beiden liegen aber dieselben Dinge. Daraus darf doch nicht gefolgert werden, dass die zwei Wege der nämliche Weg sind. „Weil aber physische Vorgänge in den Gesichtsorganen und Nerven und physische Vorgänge in den Gehörsorganen und Nerven dasselbe psychische Gesetz der Empfindung erkennen lassen, deshalb wird behauptet, dass die physischen Vorgänge und die psychischen Akte der Empfindung identisch, ja sogar dass „Mechanismus und

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Logik identisch sind". (S. 200.) Vorhin begnügte sich W u n d t noch damit, die beiden Wege durch das Gebiet der Gehörs- und Gesichtseinpfindungen zu identificieren; jetzt erstreckt sich diese Behauptung sogar auf alle physischen und psychischen Akte. Danach stehen die Tiere mit dem Menschen auf gleicher Stufe. Auf so schwacher Grundlage baut W u n d t alle seine weiteren Folgerungen zuversichtlich auf, und zwar in den nächsten Vorlesungen gerade in Bezug auf denjenigen Punkt, von dessen Erörterung wir ausgingen. Nach dem R ä u m e wird gefragt. Es werden höchst lehrreiche experimentelle Untersuchungen angestellt. Diese führen zu der für mich nicht annehmbaren Behauptung zahlloser unbewusster Schlussakte. Das Resultat aller dieser besteht aber darin, dass ein Schlussprocess „die Form feststellt, in welcher das Auge seine sinnlichen Empfindungen in die Anschauung überträgt. Diese Form ist b e k a n n t l i c h der Raum." Also was erklärt werden sollte, erscheint plötzlich als guter Bekannter. Aber ich muss gestehen, dass ich ihn trotz der fünfzehn Wundt'sehen Vorlesungen als solchen nicht anerkennen kann. Zu guterletzt wird noch an Stelle des Raumes, an Stelle „der Form, in welcher das Auge seine sinnlichen Empfindungen in die Anschauung überträgt", ohne weiteres „Ausdehnung im Räume" gesetzt, also: „Ausdehnung in der Form, in welcher das Auge seine sinnlichen Empfindungen in die Anschauung überträgt." W u n d t meint nur: „Wir verbinden einen Punkt mit dem anderen, messen die Entfernungen der Lichteindrücke nach den verschiedensten Richtungen, und b a u e n so, indem wir allmälig das Einzelne verknüpfen, g l e i c h s a m d e n Raum a u s s e i n e n Elementen." (1 249.) Der Raum, jene oben bezeichnete Form, ist „kein von vornherein in unsere Seele gelegtes Besitztum, sondern ein erworbenes und allmälig entwickeltes, dessen Ausbildung fortan inZuund Abnahme begriffen steht." (I 245.) Aber es ist doch sehr zweifelhaft, ob „schon der augenfällige Einfluss der Uebung auf räumliches Unterscheidungsvermögen", ob sogar „die Bewegungsempfindungen des Augapfels", welcher Art und wie wichtig sie auch sein mögen, ausreichend sind, um eine solche Grundform alles Anschauens einzig und allein aus sich erklären zu lassen. „Reflexbewegungen der Körpermuskeln" mögen „für die allgemeine psychische Ausbildung, namentlich für die Entstehung der Vorstellungsthätigkeit und des Bewusstseins" von der grössten Wichtigkeit sein (I 259); sie allein ermöglichen nicht die Erklärung unserer Erfahrung; ja nicht einmal den wesentlichsten Erklärungsgrund geben sie ab. Aus blossen Reflexbewegungen könnten nimmer räumliche Vorstellungen werden, w e n n

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d i e Seele n i c h t a u s i h r e m a p r i o r i ' s c h e n S t a m m b e s i t z e g e r a d e dasA 11 e r w i c h t i g s t e h e r g ä b e : d a s V e r m ö g e n , i i b e r d a s B e w e g t e z u m B e w e g e n d e n h i n a u s z u g e h e n , d i e in d e r Z e i t v e r f l i e s s e n d e n B e w e g u n g e n w e n i g s t e n s bis zu e i n e m g e w i s s e n G r a d e im B e w u s s t s e i n z u s a m m e n z u f a s s e n u n d d a s in d e m zeitlichen Verlaufe als ein Nacheinander Erscheinende i n e i n N e b e n e i n a n d e r E x i s t i e r e n d e s u m z u d e u t e n . Wenn dem Blindgeborenen das für die Bildung der Raumanschauung so wichtige Hiilfsmittel der Bewegungsempfindungen des Augapfels abgeht, und er dennoch nur mit Hülfe der Druckempfindungen der Haut und der Bewegungsempfindungen der tastenden Glieder die Raumanschauung sich aufbaut (12C0), so muss er doch mit Sehendgeborenen etwas Wesentliches gemein haben, was jenseits jener von W u n d t ausschliesslich betonten Hülfsmittel liegt, die apriori'schen Functionen der Seele. Aus ihnen heraus erzeugt er sich trotz der geringeren Zahl seiner sinnlichen Hülfsmittel gewiss ebenso die Vorstellung des unendlichen Raumes, wie der durch das Auge begünstigte, „für welches es", n a c h W u n d t s unbestimmtem Ausdrucke (1260), „kaum eine Schranke des Raumes giebt". Auch von R i e h l (vgl. II 198 ff.) hätte nachdrücklicher das Gemeinsame hervorgehoben werden sollen, welches sich in der Raumanschauung des Blinden sowie in der des Sehenden finden muss. Aber es ertönt die Botschaft am Anfange der 17. Vorlesung (I 267): „So wäre denn der Raum glücklich aus seinen Elementen zu Stande gebracht." Und nun, welche überraschende Einschränkung dieser Siegeskunde! „Doch was wir als Raum konstruirten, das ist eigentlich nur unsere R a u m a n s c h a u u n g . " Der Raum ist aus seinen Elementen zu Stande gebracht — und eben dieser Raum ist eigentlich nur unsere R a u m a n s c h a u u n g ! Sobald ich weiss, was meine Raumanschauung ist, dann ist das Problem gelöst: denn dann bleibt mir nur noch die Ueberlegung übrig, dass der sich in mir abspiegelnden Welt eine andere ursächliche ausserhalb meines Bewusstseins und meiner Raumanschauung entsprechen muss, von der ich aber eben, weil ich immer im Kreise meiner Anschauung befangen bleibe, nichts wissen kann. Wundt dagegen gesteht: „Alle unsere Beweise legen nur die Motive dar, die uns veranlassen, den Raum auch räumlich anzuschauen. Aber wir sind hiermit nicht im geringsten darüber aufgeklärt, was nun dieser Raum selber ist." Da ich nun aber „erst durch Erfahrung weiss, dass es Dinge ausser mir giebt, so weiss ich auch erst durch die Erfahrung, dass es einen Raum giebt." Also: „Raum ist E r f a h r u n g . "

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Oben warf sich W u n d t ein: „doch was wir als Raum konstruirten, das ist eigentlich nur unsere R a u m a n s c h a u u n g . Aber wir sind nicht im geringsten darüber aufgeklärt, was nun dieser Raum selber ist." Jetzt sollen wir uns ruhig gefallen lassen, dass die Frage nach d i e s e m Raum s e l b e r dahin beantwortet wird: „Raum ist Erfahrung"? Nein, jetzt entgegne ich: Erfahrung kann nur eine kürzere oder längere Reihe vonThätigkeiten bezeichnen. Mit diesem Handlungen oder wenigstens Vorgänge bezeichnenden Substantivum kann eigentlich nur unsere Thätigkeit oder unser Vorgang der Rauma n s c h a u u n g bezeichnet werden, nicht das Concretum der Raum. Ich bin also überrascht, von Wundt nach dem von ihm selbst angeregten Bedenken gerade diese Antwort zu vernehmen. Aber hören wir nun: „Was ist E r f a h r u n g ? " „Erfahrung ist die wirkliche Welt, wie ich sie durch das Medium der Sinne in mich aufnehme", d. h. nichts anderes als Erfahrung ist die wirkliche Welt, wie sie mir in derjenigen Form erscheint, in welcher die Sinne ihre Empfindungen in die Anschauung übertragen, also Erfahrung ist die wirkliche Welt, wie ich sie in der Raumanschauung aufnehme. Da haben wir den offenkundigsten circulus in definiendo: von dem Räume, d. h. der Raumanschauung, sehen wir uns auf den Raum, von dem Räume auf die Erfahrung und von dieser wieder auf die Raumanschauung verwiesen! Gewöhnlich nennt man eine solche Cirkeldefinition einen logischen Fehler und sucht ihn zu corrigieren. Anders Wundt; er hilft sich (I 282) so: „Wir haben gefragt: was ist der Raum? Die Antwort hiess: Raum ist Erfahrung. Wir haben dann gefragt: was ist Erfahrung? Die Antwort heisst jetzt: Erfahrung ist Raum. — So sind wir glücklich auf dem Punkt wieder angekommen, von dem wir ausgegangen waren." Das Jahrhundertsjubiläum von Kants Kritik der reinen Vernunft war Schuld daran, dass ich mich in dieser Situation nicht „glücklich" schätzen konnte. „Meine Zuhörer werden sich erinnern, dass es uns früher mit der Zeit ganz ebenso gegangen ist." „Als wir fragten: was ist die Zeit? da hiess es: Zeit ist Denken. Und als wir fragten: was ist Denken? Da hiess es: Denken ist Zeit. So sind Raum und Zeit zwei Kreise: wo man auch anfangen mag, man kommt immer auf den Punkt zurück, von dem man ausging." Wir werden gleich sehen, welche dialektische Operation Wundt auch mit diesen beiden Kreisen vornimmt. Fürs erste aber wollen wir doch noch Wundts nun folgende Behauptung ins Auge fassen: „Die Thatsache steht fest, dass alle Erfahrung, mag sie von aussen oder von innen kommen, immer eine räumliche Gestalt annimmt, dass d i e E r f a h r u n g Raum

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ist." (I 282.) Welche räumliche Gestalt nimmt die von innen kommende Erfahrung an? In welchem Sinne ist auch die innere Erfahrung Raum? Ich verspüre in mir ein Gefühl der Unlust in dem Bewusstsein, dass meine Triebe und Neigungen gegen das als richtig erkannte Sittengesetz, die Lüge vermeiden zu sollen, sich auflehnen, ein Gefühl der Unlust über die Unfähigkeit der logisch erworbenen Moral, sich der Angriffe der nicht logischen Naturgewalt nicht ein- für alle Male erwehren zu können; diesen inneren Vorgang, welcher den ganzen Menschen bewegt und erschüttert, soll ich mit einem Punkte, einer Linie identificieren, räumlich nennen? Aber Wundt meint es selbst nicht damit ernst. Er sagt ja gleich darauf: „Will ich mir die z e i t l i c h e Aufeinanderfolge meiner Gedanken vergegenwärtigen, so erscheint diese Zeitfolge als eine Linie." Das lasse ich gelten; das ist aber auch ganz etwas anderes; hier handelt es sich nur um eine zeitliche Aufeinanderfolge und um ein Hülfsmittel der Vergegenwärtigung, um ein E r s c h e i n e n , nicht um ein S e i n . Freilich einige Zeilen später schreibt Wundt: „Jeder Gedanke, jede Vorstellung erscheint mir unter dem Bilde einer mehr oder minder bestimmt begrenzten Masse." Also meine innere Erfahrung ist nicht bloss ein Punkt, sondern sogar Ausdehnung, also eine Linie oder sogar ein Körper. Zwar wird offen eingeräumt: „Hier (d. h. bei den ganzen inneren Massenbewegungen) sind die Massen nur Bilder und zwar sehr verwaschene und wechselnde Bilder." (I 281.) Und Wundt hört den Warnruf: „die Linie ist nur das B i l d der Zeit." „Aber sie ist dies ebenso wie das Bild im Auge ein Bild ist." „Sie ist dies ebenso" soll heissen: sie hat die gleiche Bedeutung, steht im gleichen Verhältnis. Denn „ohne das Bild im Auge kann ich nicht sehen, ohne das Bild der Linie kann ich mir die Zeit nicht vorstellen." (I 281.) Also ohne das Bild im Auge kann ich nicht sehen? Gewiss! Das Bild im Auge ist sogar das Einzige, was in meine Empfindung beim Sehen eingeht. Mit diesem Objecte meines Bewusstseins wird die Linie gleichgestellt, die, wie in demselben Atemzuge eingestanden wird, nur ein Bild des Objects, nämlich der Zeit, ist, ein Hülfsmittel, sie mir vorstellig zu machen! Und ist dieses Hülfsmittel wirklich unentbehrlich? In mein Bewusstsein treten nacheinander Vorstellungen von Dingen sinnlich wahrnehmbarer und sinnlich nicht wahrnehmbarer Natur, kurz: Gedanken, Gefühle und, wenigstens auch indirect, Willensregungen. Sie verschmelzen, sie verflechten sich auf Grund der Haftbarkeit im Bewusstsein. Aber in das Bewusstsein geht nun auch durch absichtsloses

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oder absichtsvolles Nachdenken, die Vorstellung der Zeit; d. h. im Verlaufe jenes bunten Wechsels der Vorstellungen tritt ein Zustand ein, in welchem das Subject aller jener Vorgänge sich dieses Wechsels, dieses Ablaufes selbst bewusst wird. Gedanken, Gefühle und Willensakte und schliesslich wieder übergreifende Gedanken, die synthetische Einheit des Selbstbewusstseins: das sind die Factoren, welche in meinem Bewusstsein die Zeitvorstellung bedingen, und das Resultat dieses complicierten Processes sollte im Bewusstsein nicht zustande kommen, ohne dass ich noch denjenigen Process ins Bewusstsein treten lasse, in welchem ich die Linie denke? Ich sollte meinen, auch ohne diesen Abstractionsprocess, der die Vorstellung der Linie im Bewusstsein erzeugt, kann sich in demselben Bewusstsein auf Grund einer beliebigen Reihe von Gedanken, Gefühlen und Willensregungen jene Vorstellung der Zeit bilden. Wenn ich höchst gespannt und erwartungsvoll den Zeiger der Uhr von 11 nach 12 rücken sehe, so treten in mein Bewusstsein nur Vorstellungen von Körpern, Gefühle der Spannung und Erwartung, nicht die Vorstellung der Linie, und ich habe sicher ein Bewusstsein von der Zeit damit ohne weiteres gehabt. Wohl geht der Raum in der Anschauungsform der Zeit in mein Bewusstsein ein, nicht aber die Zeit in der des Raumes; dieser kann für jene nur ein Bild, nicht eine Wesenserklärung liefern. Die Thatsache steht also n i c h t f e s t , dass alle Erfahrung, mag sie von aussen oder innen kommen, immer eine räumliche Gestalt annimmt, dass d i e E r f a h r u n g der Raum ist. „Wir haben im Denken einen Kreis gefunden, der uns in die Zeit und aus der Zeit wieder in das Denken zurückführt; wir haben die Anschauung als Raum einen zweiten Kreis genannt, der uns vom Raum in die Erfahrung und aus der Erfahrung wieder in den Raum zurückführt. Wir sehen jetzt, dass jeder dieser Kreise nicht nur in sich selbst sondern zugleich in den andern übergeht. Das Denken nimmt, indem es Gegenstand der Erfahrung wird, das Bild räumlicher Anschauung an, und die Anschauung löst, wenn sie in ihren Zusammenhang zergliedert wird, in Denken sich auf. Wie ist dies möglich ? Wie können zwei Kreise, indem sie in s i c h zurücklaufen, auch in e i n a n d e r zurücklaufen? Es giebt nur einen einzigen Fall, wenn die zwei Kreise in einen zusammenfallen, wenn beide derselbe Kreis sind. Somit sind Denken und Erfahrung nachgewiesen als an sich identische Processe, die nur in der Art, wie wir sie auffassen, auseinanderfallen." (I 283.) Das Denken also nimmt das B i l d räum-

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licher Anschauung an; die Anschauung l ö s t in Denken s i c h auf. Beides aber, das Annehmen eines Bildes und das Sich-auflösen in, ist etwas so Verschiedenes, dass die Behauptung von dem Ineinanderlibergehen der Kreise als ebenso kühn erscheint, wie die Annahme der Kreise selbst. Zum Ueberflusse werden noch dem Denken die Erscheinungen und Veränderungen des innern Lebens, der Erfahrung die Erscheinungen und Veränderungen der objectiven Natur zugewiesen; als ob nicht das Denken sich auch auf die „objective" Natur richten mtisste, damit diese überhaupt Object werden könne, und als ob nicht das innere Leben zu den Objecten gehörte! „Sind also Denken und Erfahrung einerlei in ihrem Wesen, so heisst dies: die physischen Erscheinungen, die wir allgemein als r ä u m l i c h e anschauen, und die psychischen Erscheinungen, die wir stets als l o g i s c h e aufpassen, sind miteinander identisch." Mit Hülfe der Gleichungen: Denken = Erfahrung; Denken = psychische Erscheinungen (allgemein als logisch aufgefasst), Erfahrung = physische Erscheinungen (stets als räumlich aufgefasst); ergiebt sich Psychisches = Logisches. Aber auf die eliminierten Factoren und die Berechtigung, sie = 1 zu setzen, kommt alles an. Das mathematische Kleid und der logische Inhalt dieser Beweisführung stehen in umgekehrtem Wertverhältnisse zu einander. Auch R i e h l neigt zu einer Gleichsetzung logischer Denkakte und solcher seelischen Vorgänge, in welchen man bisher gewohnt war nichts dem Denken in seiner specifischen Eigenart Eigentümliches anzuerkennen. „Was wir bewusst empfinden, ist die Differenz, das Verhältnis je zweier Erregungen, welche erst durch ihr Zusammenwirken als Product die Empfindung ergeben. Wir h a b e n immer nur E m p f i n d u n g e n d u r c h E m p f i n d u n g e n , b e w u s s t e Emp f i n d u n g e n durch unbewusste Erregung, g l e i c h w i e wir als E r g e b n i s s e von U r t h e i l s a c t e n V o r s t e l l u n g e n d u r c h Vors t e l l u n g e n h a b e n . In der That, wenn wir auf die wesentliche Form des Urtheilsactes sehen, lässt sich deren vollständiges Zusammenfallen mit der Form des Empfindungsvorganges nicht verkennen. Diejenige Erregung, welche vorhanden sein muss, damit eine zweite empfunden werde, ist ganz analog der a p p e r c i p i r e n d e n V o r s t e l l u n g , durch welche und nach Massgabe welcher irgend eine zweite allererst erkannt oder beurtheilt wird." (II 41.) Aber es bedarf doch noch einer genaueren Erwägung, ob „die wesentliche Form des Urtheilsactes" jenes „Appercipieren" der einen Vorstellung durch eine andere ist. Jedenfalls scheint mir das Wesen des analytisch-apriori'schen Urteilens, dieses Bewusstwerden der Verbindbarkeit oder Nicht-

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verbindbarkeit a priori erzeugter Begriffe, und das bewusste Entfalten der Merkmale eines solchen Begriffes zu einem Urteile, mit dem Worte „appercipieren" nicht getroffen zu sein. Jenes „vollständige Zusammenfallen" reduciert sich bei Riehl daher nicht ohne Grund auf eine „Analogie". Während aber bei W u n d t das ganze Denken in dieThätigkeit des Schliessens aufging, behauptet R i e h l „der Schluss ist keine

dem Urtheil

(II 16)

mit

viel

gleichwerthige

mehr R e c h t :

und neben ihm

selbstständige Erkenntnisform, da er nur in der wiederholten Anwendung der Urtheilsform besteht."

In

einem vorteilhaften

Gegensatze

zu Wundts, das Apriori vernachlässigenden und zu so kühnen Ergebnissen gelangenden Deductionen steht C l a s s e n s P h y s i o l o g i e Gesichtssinnes,

des

ein Werk, in welchem mit allem Ernste, viel-

leicht mit zu starrer Consequenz der Kant'sche Kriticismus zur E r klärung des Raumproblemes verwendet wird. C 1 a s s e n nennt mit Kant „alle die unbewussten Schlüsse und Thätigkeiten,

die

man

als Functionen

der Netzhaut

oder

Nerven-

substanz zugeschrieben hat", . . . „leere Hirngespinste." . . . „Denn trotz Schopenhauers

kühnen Ausführungen

kann

der Verstand

nur

denken, aber nicht anschauen; zergliedern wir alle seine Fähigkeiten durch das ganze Gebiet der Logik, so finden wir in allen Verstandesfunctionen niemals die Raumform mitenthalten,

und in dem Schluss

von der Wirkung auf die Ursache liegt sie erst recht nicht enthalten." (S. 69.) . . . „ W ä r e nicht die reine Form des Raumes a priori jeder einzelnen Empfindung man durchaus Räume,

die von

mit einander

in jedem Organe vorausgegangen,

so könnte

nicht begreifen, wie der Verstand die verschiedenen den

einzelnen

Empfindungen

zu vereinigen wüsste,

wie Härte, F a r b e und Ton

denn

lassen sich

producirt

wären,

die Empfindungen

selbst

gar nicht mit einander ver-

gleichen. Wie sollten die von ihm producirten Raumarten verschmolzen werden,

wenn

nicht der allgemeine Raum

als Bedingung

für

alle

voraufginge." (S. 71.) Aber was soll ich mir unter solch' einer reinen F o r m des allgemeinen Raumes a priori und unter dem Verschmelzen denken? Dass wir „den Raum unserer Anschauung aus unserer physischen Organisation ableiten ich nicht.

„Denn

und

erklären sollen",

verlange

auch

eine Bedingung a priori für alle Erfahrung lässt

sich nicht aus der Erfahrung ableiten.

Man kann nur aus der E r -

fahrung auf sie zurückschliessen als auf deren nothwendige Voraussetzung."

Aber dass ich mir eben diese apriori'sche Bedingung nicht

als ein Setzen dürfe,

das

eines

will mir

äusseren Grundes dieser Bewegung nicht

einleuchten.

Gerade

in

vorstellen

dieser

überall

gleichen Function den verschiedensten Reizen und Nervenbewegungen

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Psychologische Entwicklung des Apriori.

gegenüber kann ich den Grund der Möglichkeit jener „Verschmelzung" erblicken. Wie mir als kritischem Philosophen das Recht zugestanden wird, auf eine apriori'sche Erfahrungsbedingung nach innen „zurückzuschli essen", so sollte mir doch auch wohl gestattet sein, zur Erklärung derselben Erfahrung eine ausserhalb meines denkenden, kritisch bewusstwerdenden und reizempfindenden Ichs und ausserhalb des Leibes, an welchen ich dies gebunden erkenne, ein erregendes Ursächliche und nicht blos eine Gehirn- und Nervensubstanz vorauszusetzen. Das naive menschliche Bewusstsein und das auch noch so einfache tierische Innewerden vollzieht aber thatsächlich unausgesetzt ein derartiges Reagieren; ohne ein solches ist es in seinem ganzen Sein und Wesen unbegreiflich. Classen räumt selbst sofort ein, „dass mit Kants Entdeckung der Natur des Raumes als einer reinen Form unsers äusseren Sinnes die Erklärung unserer empirischen Raumanschauung durch den Gesichtssinn noch nicht abgethan ist." (S. 71.) Er nimmt daher in den folgenden Ausführungen dieses grundlegenden Kapitels für die Erklärung der Wahrnehmungen alle übrigen F u n c t i o n e n des Erkenntnisvermögens ausnahmslos in Anspruch; und zwar üben diese g e i s t i g e T h ä t i g k e i t oder F u n c t i o n des Verstandes nach Classen die Tiere ganz ebenso wie die Menschen aus, und auch diese selbstverständlich in ihrem natürlichen Wahrnehmen ganz ebenso wie in der bewussten Erkenntnis. (S. 75.) Er behauptet sogar: „Was u n s v o n d e n T h i e r e n u n t e r s c h e i d e t , i s t d i e S p r a c h e , d.h. die Art der Bezeichnung, die wir unseren Begriffen geben, nicht die Thätigkeit des Verstandes, die zu jeder sinnlichen Wahrnehmung erfordert wird. Der Adler, der aus blauen Höhen herabschiesst auf die ferne Beute, könnte dies niemals thun, wenn er nicht g e d a c h t hätte, dass an dem Orte, von dem aus er den sinnlichen Eindruck empfangen, ein Gegenstand sich befinde, welcher diesem Eindruck entspräche, d. h. wenn er nicht die Function des Verstandes, welche den Begriff von Substanz und von Ursache und Wirkung u. s. w. erzeugt, angewandt hätte." So sehr ich mit der Annahme apriorischer Fähigkeiten auch in dem tierischen Zustande und Grade des Innewerdens einverstanden bin, so wenig vermag ich jedoch dieser äussersten Consequenz zuzustimmen. Zunächst frage ich: wenn das Tier wirklich gerade so wie der Mensch d e n k t , warum s p r i c h t es dann nicht auch? Da es aber nicht s p r i c h t , oder ähnliche a l l g e m e i n w e r t i g e Zeichen besitzt, so muss doch wohl zwischen jener seiner Art des „Denkens" bei sinnlichen Wahrnehmungen und zwischen dem menschlichen Denken sowie der darauf beruhenden S c h n e i d e r , Peycbol. Entwicklung.

7

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Psychologische Entwickelung des Apriori.

menschlichen „Art der Bezeichnung, die wir unseren Begriffen geben", ein erheblicher Unterschied sein. Wenn auch offenbar in dem tierischen Innewerden apriori'sche Functionen angenommen werden müssen, vermöge deren es einen Gegenstand mit Eigenschaften, Grösse, in dieser oder jener Entfernung deutlicher oder undeutlicher wahrnimmt (vgl. Classen S. 83—87), so fragt es sich doch noch, ob diese Functionen denen des denkenden und denkend-sprechenden Menschen völlig gleichzusetzen sind, ob diese Functionen „durch Kategorieen bestimmte", ob es „kategoriale Functionen" sind; es fragt sich, in welchem Sinne wir mit A l b r e c h t K r a u s e von der „formalenLogik des reinen Gefühls" sprechen dürfen, auf dessen Werk: „Gesetze des menschlichen Herzens wissenschaftlich dargestellt als die formale Logik des reinen Gefühls" (1876) Classen sich beruft. Von den Folgen, den „Früchten" dieser Functionen bei Menschen und Tieren, darf ich wohl auch hier mir einen erkennenden Rückschluss auf ihr Wesen erlauben. Wenn das Tier die ganze Schaar der 16 Krause'schen Kategorieen besässe (Classen S. 201), dann wäre doch das Wahrscheinlichste, dass es mit dem Menschen zu gleichen Leistungen befähigt sein würde; da sich aber davon ganz das Gegenteil durch die Erfahrung aufdrängt, so ist wiederum das Wahrscheinlichste, dass das Tier jener Kategorieen ermangelt, und dass da, wo es noch mit dem Menschen gleichen Schritt hält, im sinnlichen Anschauen des Einzelnen, ihm zwar nicht jede apriori'sche seelische Kraft abgesprochen, aber darum noch nicht der ganze Apparat gerade dieser menschDenkfunctionen zugesprochen wird. Nicht bloss fehlt mit den Begriffen oder Allgemeinvorstellungen und mit der Sprache „ein klar bewusstes Urteil", sondern auch „die Möglichkeit, es mit Bewusstsein begleiten zu können, d. h. eine Beziehung zu einem möglichen Bewusstsein, ohne welche wir allerdings von gar keinem Bewusstsein reden können". (Classen S. 109.) Weder die Functionen der Quantität (S. 108), noch der Qualität (S. 131, 149), noch der Relation (S. 158), noch der Modalität (S. 184), also auch nicht die durch Anwendung der Yerstandesfunctionen auf den Raum sich ergebenden Gesetze der Mathematik (S. 153), ebenso auch nicht die „nach dem sogenannten Gesetz des Querschlusses entstandene Verbindung der Begriffe für gross, lang, breit, hoch, stark, viel, mehr, schnell, dehnen, breiten und ähnliche mit nah'', und der „für klein, kurz, schmal, niedrig, schwach, wenig, langsam, kürzer, einschränken u. s. w. mit fern" (S. 193), sind in der Tierseele mit irgend welcher Wahrschein-

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lichkeit zu constatieren. Die Logik des tierischen Empfindungslebens ist eben nicht die des menschlichen Verstandeslebens. Wenn mit Recht in Bezug auf den Menschen behauptet werden kann: „der b e w u s s t e Verstand e r k e n n t in der E r k e n n t n i s s eines sinnlichen Gegenstandes nur seine eigenen Thätigkeiten wieder, welche die sinnlichen Eindrücke bereits zu Bildern zusammengestellt hatte, bevor er sich dieses Verfahrens bewusst wurde", dann sind wir noch nicht berechtigt, bei den Tieren, welche offenbar des bewussten Verstandes entbehren, eine diesem bewussten Verstände gleichartige Thätigkeit bei ihrem Wahrnehmen als selbstverständlich vorauszusetzen. „Eine Abgrenzung der Empfindung gegen die psychische Thätigkeit ist", wie ich Classen (S. 77) zugebe, „unmöglich." Aber das bestreite ich, dass „ohne die kategorialen Functionen für uns gar keine Empfindung möglich ist.'' Der Verrückte hat Empfindung, aber mit seinen kategorialen Functionen ist es schlecht bestellt. Die kategorialen Functionen müssen also doch wohl nicht ganz in der Empfindung und Wahrnehmung aufgehen. Zwar können wir ohne diese kategorialen Functionen „von der Empfindung gar nichts wissen. Denn wir können nur von dem reden (besser: wissen), worauf wir Begriffe vermittelst der Sprache anwenden"; aber dass Begriffe nur Gleichartiges unter sich zusammenfassen sollen", das kann nur durch einen Trugschluss so gedeutet werden, als ob es das den Begriffen mit den Dingen Gleichartige und nicht vielmehr den zusammengefassten Dingen unter sich Gleichartige bedeute. (S. 75.) In allen diesen und in den übrigen Ausführungen dieses Kapitels verliert man aber die reine Raum- und Zeitanschauung neben jenen kategorialen Functionen völlig aus dem Auge. Erst am Schlüsse tauchen sie wieder auf. Da heisst es aber einfach: „dass diese Anschauungsformen nicht von der Empfindung oder durch unsere Begriffe erzeugt werden können, wollen wir hier nach Allem, was wir voraufgeschickt haben, nicht weiter erörtern." (S. 83.) Dadurch fühle ich mich in der Annahme eines schlussartigen Setzens eines Aeusseren nicht erschüttert, zumal da Classen selbst (S. 85) zugiebt: „Um sagen zu können, dass diese Erscheinung einem Gegenstande entspreche, welcher ein wirkliches Ding ausser uns in der Welt ist, müssen die dynamischen Kategorieen (also auch die der Ursache) eintreten." „Die Bestimmung eines Gesichtsobjectes als Substanz, auf welche die Qualitäten als Accidenzen zu beziehen sind, ist das notwendigste Geschäft des Verstandes, der durch den Gesichtssinn etwas Wirkliches, Daseiendes erkennen will." (S. 86.) Wo Classen im Verlaufe seiner Erklärungen der Gesichtswahrnehmungen nach

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den Kategorieen einmal den Versuch macht, über den Baum (sowie über die Zeit) etwas mehr zu sagen, als dass er eben mit Kant als eine gegebene apriori'sche Anschauung so und nicht anders hinzunehmen sei (vgl. S. 153, 184), da verfällt er unwillkürlich auf den Ausdruck des S e t z e n s . „ W i r können schon von Geburt an vor der Entwicklung jeder bewussten Erkenntniss gar nicht anders, als den Gegenstand jeder Gesichtsempfindung ausser uns s e t z e n . "

(S. 150.) Wenn er hinzu-

fügt: „Niemals versetzen wir den Gegenstand der Gesichtsempfindung ins Auge",

so scheint mir das der bekannten Thatsache zu wider-

streiten, dass die neugeborenen Kinder allerdings die Ursache ihrer Empfindung in den Augen suchen, was sie durch das Reiben der durch den Reiz empfindlich berührten Organe beweisen. das dann eigentlich nicht „der Gegenstand selbst".

Freilich ist

der Gesichtsempfindung

Immerhin findet auch hier schon ein nach aussen setzendes

Reagieren des bewusstwerdendenSubjects statt, wenn auch der Akt noch nicht die eigentliche äussere Ursache des Bewusstseinszustandes, das gesehene Object, trifft.

Also „die allgemeine Fähigkeit, überhaupt

Raumanschauungen zu haben" ist ein „Setzen aller Gegenstände der Gesichtsempfindung in den allgemeinen Raum." (S. 150.) Mit Recht will jedoch Classen dieses Setzen nicht

für ein P r o j i c i e r e n

N e t z h a u t b i l d e r n gelten lassen. (S. 151, 166.)

Dagegen

von

spricht

er bei den „pathologischen Skotomen und Phosphenen, die an lokale Reizungen der Netzhaut gebunden sind" von einem „Projiciren auf das fixirte Object". (S. 167.) Eine sehr beachtenswerte Unterscheidung der m a t h e m a t i s c h e n und der d y n a m i s c h e n Ausführungen hindurch. „Die

Kategorieen geht durch die Classen'schen Jene

functionieren getrennt von

sinnlichen Eindrücke sind die Empfindungen, so

diesen.

lange

sie

nur von den mathematischen Kategorieen (Quantität und Qualität) erfasst sind." (S. 158.) „ S o l a n g e

wir sehen, ohne zu tixiren, nur

Quantität und Qualität unserer Empfindung, nicht aber die objectiven Dinge beurtheilen, so lange giebt es in der Gesichtsempfindung weder oben noch unten, weder rechts noch links."

(S. 169.)

„Die Netz-

hautbilder bleiben immer wie sie sind, aber unsere Empfindung, die vorher

gar keine Beziehung zur Orientirung im Raum hatte, weil

sie nur der Auffassung der F o r m e n , nicht des I n h a l t e s derselben (der Gegenstände ihrem Dasein nach) diente, wird erst zur Grundlage des objectiven Sehens, w e n n die Fixation und damit der Beginn der Orientierung

im Raum eingetreten

ist." (S. 169.)

Sollten wirklich

die apriori'schen Functionen in solchem zeitlichen Verlaufe eintreten?

Psychologische Entwickelung des Apriori.

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Sollte wirklich ein solcher Gegensatz zwischen jenen Kategorieen angenommen werden dürfen? Mit diesem Gegensatze kreuzt sich, wie wir sahen, ein anderer, der zwischen F o r m und I n h a l t der Gegenstände. „Die Form der Gegenstände wird mathematisch erfasst, der Inhalt derselben, d.h. die Gegenstände selbst, wollen auf ihr Dasein beurtheilt werden, d.i. durch die kategorialenFunctionen der Beziehung." (S. 160.) Also die eine Hälfte der Kategorieen liefert nur die Form, die andere den Inhalt, d. h. die Gegenstände selbst! Danach wäre die Form etwas rein Subjectives, der Inhalt — so sollte man wenigstens bei solcher Gegenüberstellung vermuten — etwas rein Objectives. Mir scheint es überhaupt falsch, im besonderen aber unkantisch zu sein, erstens das Apriori in dem obigen Sinne zeitlicher Aufeinanderfolge und Abwechselung functionieren zu lassen. Wenn irgendwo, dann muss man in dem Apriori ein absolutes Zugleichsein aller Functionen annehmen. Zweitens ist es unkantisch, die eine Seite des Apriori der anderen so gegenüberzustellen, dass die eine die Form, die andere den Inhalt der Dinge, die Dinge selbst, „erfasst, bearbeitet, beurteilt"; vielmehr der ganze Inhalt des Apriori ist die Form (Anschauungsoder Denkform), welcher auf jene Weise „den Gegenstand als Wahrnehmung bestimmt". (S. 160 und 156.) Alles, was so ins Bewusstsein tritt, ist wirklich, Baum, Zeit und was die Kategorieen liefern; aber alles das ist subjectiv geformt. Alle apriori'schen Fähigkeiten, nicht bloss die dynamischen Kategorieen, bestimmen die Dinge ihrem Inhalte, d. h. (nach S. 169) ihrem Dasein nach, als etwas Wirkliches, wie sie selbst sind; aber alle thun es in subjectiv-formaler Weise. Diese Lehre von dem successiven Functionieren der Kategorieen, bald mit formaler, bald mit materialer Bedeutung, vernachlässigt auch einen Grundbegriff des Kantischen Kriticismus, nämlich die „synt h e t i s c h e E i n h e i t in d e r A p p e r c e p t i o n desSelbstbewusstseins". Von der liest man in Classens Ausführungen gar nichts weiter. Zwar behauptet er, dass „eine einheitliche Verknüpfung der sinnlichen Data, die wir durch Netzhaut und Muskelgefühl erhalten, notwendig zur Erklärung unserer Wahrnehmung von Entfernungen ist"; er verlangt die Combination der Modalität mit der Quantität. (S. 193.) Aber dieses Zugeständnis deckt sich nicht mit jenem Princip. So viel steht jedenfalls auch für Classen fest: „ E s ist die kategoriale Function der Substanz, die uns zwingt, jeder Qualität der Empfindung ein r e e l l e s S u b s t r a t u n t e r z u l e g e n , auf welches sie bezogen werden muss." (S. 156.) Doch dagegen verwahrt er sich, dass dies „ein Schluss von der Wirkung (Empfindung) auf die Ursache (Gegenstand) derselben sei". (S. 157.) Aber ist dieser Widerspruch

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gegen jene Schopenhauer'sche Verursächlichung wirklich bei Classen consequent durchgefochten? Dies räumt er sofort ein: „die Empfindung ist nach Kant allerdings die W i r k u n g eines Gegenstandes auf unsere Vorstellungsfähigkeit, sofern wir von demselben afficirt werden. Trotzdem schliessen wir in der Wahrnehmung niemals von der Wirkung auf ihre Ursache zurück, denn die Wirkung kommt uns selbst gar nicht zum Bewusstsein." Also Classen erkennt die Empfindung mit Kant nicht als Wirkung an, da sie uns ja zum Bewusstsein kommt. „Sondern d u r c h die Wirkung kommt uns der Gegenstand u n m i t t e l b a r zum Bewusstsein, wenn auch zuerst als ein unbestimmtes Etwas." Das ist ein Widerspruch in sich; sobald der Gegenstand d u r c h die W i r k u n g zum Bewusstsein kommt, geschieht es nicht u n m i t t e l b a r , und umgekehrt; dass aber der Gegenstand gar nicht durch die „blosse" Wirkung zum Bewusstsein kommen kann, liegt in dem gleich folgenden Geständnisse: die sinnlichen Eindrücke „sind schon mehr als die blosse Wirkung der Gegenstände auf uns". Wenn aber die sinnlichen Eindrücke schon mehr sind als die „blosse" Wirkung, was ist dann d i e s e ? Die sinnlichen Eindrücke „sind schon begabt mit den Formen unserer Receptivität und Spontaneität." (S. 158.) Dieses Urteil wird aber nach einigen Zeilen wieder eingeschränkt; gemeint sind nur „die mathematischen Kategorieen". Dazwischen ist aber von „Wirkungen" die Rede, „welche die Eindrücke (die sinnlichen) in uns hervorgerufen haben." Diese Wirkung ist offenbar eine ganz andere, gleichsam eine viel höhere Instanz als jene „blosse" Wirkung, über die wir in allen diesen dialektischen Wendungen nichts erfahren. „Die G e g e n s t ä n d e aber — auch dies Zugeständniss finden wir dazwischen — sind nicht die Ursachen dieser (sinnlichen) Eindrücke (Empfindungen), sondern höchstens U r s a c h e der Wirkungen, welche die Eindrücke in uns hervorrufen." Also doch „Ursachen"! Und wie kommen wir zu diesen „Ursachen"? Indem — so heisst es weiter — die sinnlichen Eindrücke (die erst nur durch die mathematischen Kategorieen erfassten) „auf Gegenstände ihrem Dasein nach durch die Kategorieen der Relation, und zwar nicht in der Form wissenschaftlicher Begriffe, sondern als Denkfunctionen, welche schon vor der Bezeichnung durch Begriffe thätig sind, in Beziehung." gesetzt werden. „Zu diesen gehört aber nicht allein" (gehört also doch unbedingt) „Ursache und Wirkung, sondern vor Allem (wieso vor Allem?), doch nein nur „vor Allem a u c h die Kategorie der Substanz, welche uns zwingt, die nach mathematischen Gesetzen geformten Eindrücke auf objective Dinge zu beziehen." So sehr sich Classen auch sträubt, aus allen diesen

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und ähnlichen dialektischen Operationen geht doch so viel hervor, dass er selbst die Annahme eines Schlusses (durch die Denkfunction der Ursache) von der Wirkung (der durch die mathematischen Kategorieen erfassten sinnlichen Eindrücke in uns) auf die Gegenstände (als daseiender, und zwar ausser uns daseiender Objecte) nicht loswerden kann. A u c h C l a s s e n legt hohen Wert auf die „Muskelaction" (S. 169) und auf die damit verbundenen „Muskelgefühle" (S. 189, 191, 193), auf das „Gefühl des ruhigen Gleichgewichts". (S. 162.) Ob für die Erklärung des Aufrechtsehens der Dinge bei Verkehrtheit der Netzhautbilder, ob für die Erklärung der Accommodationserscheinungen die von ihm in Anschlag gebrachten Factoren als genügend werden befunden werden, ist mir zweifelhaft. Betont er doch selbst (S. 152), dass Bewegung nicht den Raum erzeugen kann; sollten also Muskelbewegungen und die damit verbundenen Gefühle genügen, um die Herstellung der den objectiven Verhältnissen entsprechenden Raumvorstellungen zu erklären ? Ein Ausgangspunkt aller Fixation ist nach Classen (S. 162) durch die macula lutea und die fovea centralis retinae geboten; wir sollen das Gefühl eines ruhigen Gleichgewichtes haben, unser Auge soll ruhen. Haben wir aber wirklich jemals ein solches Gefühl im strengsten Sinne des Wortes? Das Kind empfindet (anfangs dumpf und unbestimmt) den Lichteindruck einer Lampe. Die Wissenschaft lehrt, dass auf der Netzhaut das verkehrte Bild der Lampe steht. Aber schon das Kind sucht nach einiger Uebung den Ausgangspunkt des Lichtes nicht in der Richtung der hellen Teile des Netzhautbildes, also nicht im dunklen Fusse der Lampe, sondern in der umgekehrten Richtung. Es muss sich also notwendig in dem Kinde jenseits des Netzhautbildes in den Vorgängen bis zum Bewusstsein ein Process vollziehen, durch welchen sich dieser verkehrte Eindruck wieder so gestaltet, dass das Bewusstsein sich dem realen Sachverhalte anbequemt. Denn die Lampe bleibt doch nun einmal aufrecht stehen, auch wenn kein Mensch sie beobachtet und wahrnimmt. Auf die Denkt'unctionen sind diese Leistung schwerlich zurückzuführen. Denn in dem Tiere lassen sich diese nicht nachweisen. Das Raubtier springt nach meinem Gesicht und Halse in der Richtung der Füsse des Netzhautbildes. Ich betrachte mit kritischem Bewusstsein möglichst ruhig die Lampe aus angemessener Entfernung. Ich schränke meine Muskelbewegungen auf das kleinstmögliche Mass ein. Ganz kann ich sie niemals vermeiden; wenn auch noch so unmerklich, gleitet das Auge an der aufzufassenden Lampe auf und ab. Ich brauche keinen andern Sinn,

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kein Tasten zu Hülfe zu nehmen: obgleich mir versichert wird und ich weiss, dass das vermittelnde Netzhautbild umgekehrt steht, nehme ich die Lampe doch so und nicht anders wahr. Mein ganzes Dasein, die ganze Summe meiner Lebensgefühle ist an meine aufrechte Stellung auf's bestimmteste gebunden. Aber auch ich selbst erscheine mir so durch das verkehrte Netzhautbild. Wie komme ich, als kritisch denkendes Ich, wie kommt das Kind, wie kommt das Tier dazu, allüberall, selbst beim ersten deutlichen Wahrnehmen das Oben des Gegenstandes als das Oben, das Unten als das Unten trotz des Netzhautbildes auch ohne jede weitere Beihülfe eines andern Sinnes wahrzunehmen und sich danach auch zu verhalten, danach zu springen, zu greifen und vor allem zu sehen, Augen und Kopf zu richten? Der Blinde stellt ohne das verkehrte Netzhautbild mit Hülfe des Tastsinnes einen Gegenstand in seinem Bewusstsein so, wie der Sehende ihn vermittels des verkehrten Netzhautbildes auch ohne den Tastsinn in sein Bewusstsein einordnet. Die Täuschung des Bildes beim Sehenden muss doch notwendig aufgehoben werden, wenn ihm nicht das Sehen im Vergleiche zum Blinden geradezu zu einem schweren Verhängnisse werden soll. Muskelbewegungen und die Kategorieen der Relation und das Gleichgewichtsgefühl unseres ganzen Körpers (S. 169), alles das reicht nicht aus, die Paralysierung der Täuschung jener fatalen Netzhauterscheinung zu erklären. Die Netzhautbilder, wie auch Classen wiederholt hervorhebt, sind ja nicht das Object unserer Empfindungen, diese Gebilde setzen sich vielmehr in eine lange Kette unzähliger Einwirkungen auf den Sehnerv, in eine Reihe vorläufig aller Beobachtung unzugänglicher, wahrscheinlich elektrischer Vorgänge um. (Classen S. 88.) Das Complicierte dieser Processe tritt uns recht grell ins Bewusstsein, wenn wir uns die Lichtempfindung mit Hülfe von Classens Hypothese zu erklären suchen, wonach in den einzelnen zahlreichen Kügelchen der inneren Körnerschicht der Netzhaut je drei elektrische Ströme in der Richtung rechtwinkeliger Coordinaten unter Schwankungen nach allen möglichen Richtungen je nach dem verschiedenartigen Reize sich bewegen. (S. 135, 144, 146.) Jedenfalls gehen zahllose einzelne, zeitlich unendlich kleine Momente nach einander ins Bewusstsein ein. Das Oben und Unten des Netzhautbildes setzt sich also doch jedenfalls in ein Vor und Nach für das Bewusstsein um, auch „vom Gesichtswinkel kommt in unserer Empfindung nichts vor" (Classen S. 107), und so erscheint schon die Umkehrung des Netzhautbildes als ganz gleichgültig für den schliesslich eintretenden Bewusstseinszustand. Muss sich der Augenreiz doch einmal in ein Nacheinander umsetzen, um überhaupt bewusst zu werden,

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dann ist dieses Nebeneinander des Netzhautbildes in dieser seiner Eigenschaft eines Nebeneinander irrelevant im Vergleiche zu jenen Functionen, welche das in ein Nacheinander umgewandelte Nebeneinander zu dem Gegenstande eines Bewusstseins machen. Es kommt also alles darauf an zu bestimmen, welcher Art diese Functionen sein mögen, ja sein müssen, welche jenes lineare Aufeinander der Bewusstseinserregungen immer zu einem solchen, mit dem Moment des Nebeneinander behafteten Bewusstseinzustande umbilden, dass das bewusstwerdende Subject sich ein den Objecten entsprechendes und durch die trügerische Eigenschaft des Netzhautbildes unbeeinflusstes Gegenbild erschafft. Die allgemeinste Erfahrung, welche das Bewusstsein macht, welche dasselbe, so lange es eben vorhanden ist, buchstäblich in jedem Momente begleitet, ist die Erfahrung der Lage des Körpers auf einer nach dem Erdboden und dem Mittelpunkte der Erde gerichteten Grundlage. Alle übrigen Organe werden nicht so ununterbrochen gleichmässig stark von Reizen getroffen, wie der Tastsinn von diesem durch die Anziehungskraft der Körper verursachten Drucke. Geruch, Geschmack, Gehör und Gesicht liefern dem Bewusstsein zeitweilig nur schwache, verschwindende und unmerklich werdende Eindrücke; aber der Einfluss, welchen diese bestimmte Lage des Körpers, seiner Teile zu einander, der oberen auf die unteren, der untersten und des ganzen Körpers auf die unentbehrliche Grundlage ausübt, ist ein schlechterdings immerwährender; er beherrscht das Bewusstsein fast andauernd. Keine der fortlaufenden Veränderungen, kein zeitweiliges Unterbrechen irgend eines anderen Erfahrungsmediums bringt in dem Bewusstsein eine solche Umwälzung und solche unerträgliche Störung des Bewusstseinszustandes hervor, als wenn der Tastsinn auch auf nur wenige Secunden, ja nur einen Augenblick diese seine gewöhnliche, naturgemässe Leistung ändert und das Bewusstsein den Körper in umgekehrter Richtung, etwa beim Hängen am Reck, als eine nach oben gezogene Masse empfindet; ja selbst dann verspürt das Bewusstsein jenes Streben der Masse nach der gewohnten, als Druck empfundenen Grundlage. Alles Lebendige, selbst der leichtbeschwingte Vogel, ja selbst die an der Stubendecke kriechende Fliege, das auf der unteren Seite eines Blattes lebende Insekt, muss in seinem Gemeingefühl von diesem Gesetz der Materie in gewisser Weise beeinflusst werden; viel mehr jedoch der Mensch und die höheren Tiere. Unser ganzes Bewusstsein ist also an diese unausgesetzt empfundene und wahrgenommene Grundbedingung unseres Daseins un-

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auflöslich gebunden; das Bewusstsein sieht sich durch die Erfahrung unablässlich veranlasst, die durch die verschiedenen Sinne aufgenommenen Erfahrungsmomente zunächst seines eigenen Lebens so anzuordnen, so sich einzureihen, dass es die stützenden Teile mit der Grundlage, dem Erd- oder Zimmerboden u. s. f., verbunden denkt. Das an sich selber beständig Empfundene, zur Notwendigkeit und regelmässigen Gewohnheit Gewordene überträgt es auf alles Gesehene; mit mechanischer Gesetzmässigkeit stellt es bei allem, z. B. bei der Lampe, die Verknüpfung der meist in buntem Durcheinander zuströmenden Erfahrungsmomente so her, dass es den Fuss, wozu ja auch unmittelbar die Erfahrung nötigt, sich mit der Grundlage, dem Tische, den Tisch mit dem Erdboden, diesen mit sich selbst verbindet, die Flamme dagegen mit den davon sich entfernenden Teilen, und bei reiferem Bewusstsein mit der umgebenden Luft. Die Verkehrtheit des Netzhautbildes ist keine Instanz dagegen, da sie ja gar nicht bewusst wird, und der Weg von dem Bilde bis zum Bewusstsein, wie wir uns klar machten, eine complicierte Kette von Vorgängen ist. Ich kann also nicht einmal sagen: es wird dem Bewusstsein zur Gewohnheit, die Netzhautbilder umzukehren. Ich darf nur behaupten: das Bewusstsein ordnet alle Empfindungen in jener durch die beständige, unabweisliche Erfahrung des Tastsinnes und Richtungsgefühles veranlassten Weise. Die den Baum mit der Erde verknüpfenden Wurzeln sind in ihm das Unten wie die das Subject selbst mit dem Erdboden verbindenden Beine. Mit dieser notwendigen Vorstellung setzt es auf Grund der empfundenen Reize die Dinge nach Aussen. Dem fliegenden Vogel giebt es nach Anleitung der Wahrnehmungsverbindungen die Richtung mit den Beinen nach dem Erdboden und so die gleiche Lage wie sich selbst, die an der Stubendecke kriechende Fliege verbindet es mit der Decke, die Decke mit den Seitenwänden, diese mit dem Zimmer und dem Erdboden. Die beständige, nun doch einmal nicht wegzuleugnende Erfahrung ist das Veranlassende; das Verdienst der eigentlichen Leistung gebührt den apriori'schen Kräften des bewusstwerdenden Subjects. Gerade darin aber beweist sich die Macht des Bewusstseins, dass es trotz der grossen Willkür und Regellosigkeit im Zuströmen der Reizempfindungen dennoch aus eigener Kraft, m i t B e h a r r l i c h k e i t u n d B e s t i m m t h e i t immer ein und dieselbe Gesetzmässigkeit der Erscheinungen in sich herstellt und diese auch den Dingen an sich zumutet. Wir können nicht anders als in dem Bewusstsein— denn hier;, und nicht in der Netzhaut findet, wie Classen oft hervorhebt, das Sehen statt — eine apriori'sche Function annehmen, welche auf Ver-

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anlassung der Erfahrung, besonders des Gesichtsbildes und des Tastsinnes jede neue Erscheinung aus eigener Kraft verräumlicht und regelmässig so einordnet und erfasst, wie es seit Erwachen eines bestimmteren Bewusstseins, seit dem Aufdämmern der Fähigkeit, sich überhaupt aus dem Chaos der Empfindungen durch R i c h t u n g s b e s t i m m u n g e n herauszuarbeiten, im „Contexte der Erfahrung" gewohnt ist. Das Kind oder der Wilde, welche die völlig unbekannte Erscheinung eines Luftballons sehen, können nicht anders als ihn in Verbindung mit der Luft und dem Erdboden und mit sich selbst ins Bewusstsein aufnehmen. Wie auch das Netzhautbild stehen möge, jeder Punkt des Luftballons ist doch mit anderen Punkten des Himmels und der Erde näher oder enger verknüpft. Die Gondel geht in anderen Verbindungselementen ins Bewusstsein als die Kugel. Die Verbindungselemente oder Bewusstseinsfactoren der Gondel weisen in fortlaufender Reihe nach dem Erdboden, die Kugeleindrücke mit ihren sich an sie drängenden Gesichtsfactoren weisen in die entgegengesetzte Richtung. Niemand sieht irgend einen bestimmten Gegenstand allein, sondern die Eindrücke desselben treten sofort in der Verbindung mit unzähligen anderen Eindrücken ins Bewusstsein. Indem das Bewusstsein mittels der Bewegung des Kopfes und Auges den Weg von dem eigenen, so aufrecht empfundenen Leibe über den Erdboden zum Horizont, von dort zu höheren Punkten, zu den Wolken, zu dem Vogel und Luftballon durchmisst, sieht es sich doch in bestimmter Weise genötigt, freilich vor allem auch a priori befähigt, den Erscheinungen eine feste, durch das eigene Lebensgefühl allermeist mitbeeinflusste, geordnete Verbindung zu geben. Wie sich aber das Netzhautbild auch legen möge, diese Verbindungen aller Erscheinungen, auch der des eigenen Leibes, bleiben untereinander constant; die Gondel des hoch schwebenden Luftballons erscheint stets in engerer Verbindung mit dem Vogel, dem Kirchturm, dem Horizont, dem Erdboden, meinem Leibe, als die Kugel. Eine Verbindung aber, welche dem Bewusstsein diese Richtung zu den Grundbedingungen seiner in jedem Augenblicke empfundenen, seinem Streben und Erwarten fortwährend entsprechenden Lage anweist, erscheint eben dem Bewusstsein, auch wenn dessen leiblicher Träger sich auf den Kopf stellt, als die von oben nach unten. (Vgl. Lotzes Medicinische Psychologie § 315 ff.) Sehr nachdrücklich aber ist jene Mitwirkung des S t r e b e n s und E r w a r t e n s zu betonen, auf welche Classen wiederholt (S. 161, 169, 176, 177) als auf „wirkliche Theile des psychischen Lebens" sich beruft.

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„Das Grundprincip der Sinnesapparate, namentlich des Auges und Ohres, besteht darin, dass aus dem Chaos von V i b r a t i o n e n und B e w e g u n g e n jeder Art, von welchen wir uns die umgebenden Medien erfüllt denken müssen, gewisse Formen einer in bestimmten Zahlenverhältnissen wiederholten Bewegung herausgehoben, relativ verstärkt und so zur Perception gebracht werden, während alle übrigen Formen der Bewegung ohne irgend einen Eindruck zu machen vorübergehen." So schreibt treffend L a n g e (G. d. M. S. 491), und in diesem Sinne können wir auch mit ihm sagen: „Unsere Sinnesapparate sind Abstractions-Apparate." Aber damit erst die Sinne diesen wichtigen Dienst leisten können, bedarf es gewisser Grundeigenschaften des Seelischen, selbst in seinen niedrigsten Erscheinungsformen, vermöge deren in ihm Raumvorstellungen, Raumgebilde entstehen können. Zunächst ist die H a f t b a r k e i t der einzelnen Empfindungsreihen im Bewusstsein eine unerlässliche Bedingung; ohne das G e d ä c h t n i s s ist kein Raumgebilde möglich. Da ferner alle Vorstellungen, auch die vom eigenen Körper, nur in zeitlicher Folge, in der Form des Nacheinander, in das Bewusstsein eingehen, so lässt sich die V e r r ä u m l i c h u n g d i e s e s N a c h e i n a n d e r , d i e V e r w a n d l u n g des S u c c e s s i v e n in ein C o e x i s t i e r e n d e s , nur durch e i n e u r s p r ü n g l i c h e A n l a g e erklären, welche zwar anfangs schlummern und dann erst ausgebildet werden mag, aber gleich bei den ersten Verräumlichungsakten ihre Function übernimmt. Endlich, damit das seelische Bewusstsein überhaupt über den Inhalt seiner Vorstellungen zu einem Gegenstande ausserhalb derselben hinausgehen, einen Gegenstand ausser sich setzen könne, sei es den eigenen Körper oder Dinge, welche mit demselben in mittelbare oder unmittelbare Berührung treten, ist das Analogen eines S c h l u s s a k t e s , ich möchte, dem Ausdrucke „Verräumlichung" entsprechend, sagen eine V e r u r s ä c h l i c h u n g der Vorstellungsbilder, notwendig. Die Synthesis einer Reihe von Vorstellungen, wie sie durch irgend einen Gegenstand hervorgerufen wird, zur e i n h e i t l i c h e n A u f f a s sung dieses Objectes ist im Bereiche des rein Seelischen, des zwar Empfindenden und Wahrnehmenden, aber noch nicht Begrifflieh-denkenden, als Erklärungsgrund entbehrlich. Eine g e w i s s e Gleichartigkeit, Identität, Beharrlichkeit des innewerdenden Subjects muss wohl schon auf der Stufe des animalischen Lebens mit jener Haftbarkeit der Vorstellungen angenommen werden, aber nicht jene absolute Bewusstseinseinheit, ohne welche die Systeme des logisch-mathematischen Denkens absolut unbegreiflich wären. (Riehl II 111, 123, 131.) In dem bezeichneten Stadium gelangt selbst das Innewerden der be-

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gabtesten Tiere noch nicht zu jener Stufe, dass es ein Object von seiner ganzen Umgebung i s o l i e r t und dasselbe sich als e i n h e i t l i c h g e s c h l o s s e n e s G a n ze vorstellt. Vielmehr, Wiedas bestimmte Object nie ohne eine Unzahl angrenzender Objecte ins Bewusstsein tritt, in solcher Verbindung bleibt es auch in dem Bewusstsein bestehen, und eine freie, willkürliche I s o l i e r u n g und I n d i v i d u a l i s i e r u n g tritt noch nicht ein. Selbst der klügste Hund erfasst seinen Herrn nicht als Individuum, losgelöst von aller Umgebung; nach Massgabe der Begierden schwinden und verblassen nur die Eindrücke des Umgebenden; aber von dort bis zu jener Stufe der bewussten Individualisierung ist noch ein weiter Weg. Nur das denkende Bewusstsein vollzieht jene Leistung, schöpft aus seinem eigenen Stammbesitze den Begriff der E i n h e i t , V i e l h e i t , A l l h e i t , d e s G a n z e n und s e i n e r T e i l e . 2. Der Baum im denkenden Bewusstsein.

Wenn das Kind dazu gelangt, die Dimensionen eines Spiegelbildes von denen des körperlichen Gegenstandes selbst zu unterscheiden, so offenbart sich schon darin jene neue Kraft, die beim Tiere nicht vorhanden ist; Dieses lässt sich durch die Erscheinung, welche das Bild oder das Spiegelbild erweckt, täuschen und kommt aus dieser Täuschung nicht heraus; es giebt sich mit der Thatsache der gar nicht bewusst werdenden Täuschung zufrieden, das denkende Bewusstsein bestimmt den Unterschied der räumlichen Verhältnisse des Bildes und des abgebildeten Gegenstandes selbst. Wenn vollends das Bewusstsein über alle Grenzen der durch Reize wahrnehmbaren Gegenstände, über das Himmelsgewölbe, sich zu der Vorstellung eines unendlichen Raumes erhebt, wer möchte den gewaltigen Fortschritt verkennen, der sich darin bekundet? Ja das denkende Bewusstsein bildet sich ein ganzes System unendlich vieler und mannigfaltiger Raumverhältnisse in der Wissenschaft vom Räume, urteilt über diese mit Notwendigkeit und Allgemeinheit, mit absoluter Gewissheit. Was habe ich zu dem vorher beschriebenen Zustande jenes Innewerdens räumlicher Verhältnisse, wie es sich sogar bei den Tieren findet, aus dem denkenden Bewusstsein an Kräften hinzuzusetzen, um dessen Beschaffenheit hinsichtlich der Raumvorstellung zu erklären? Ich antworte (mit Riehl II 87, 116, 158, 162, 175, 181): d i e log i s c h e n F u n c t i o n e n , d u r c h w e l c h e ü b e r h a u p t B e g r i f f e , Urt e i l e und S c h l ü s s e zu S t a n d e k o m m e n . Gehen wir dem Entwicklungsgänge des denkenden Bewusstseins nach, so bemerken wir,

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dass, nachdem einmal in dem vorher beschriebenen Zustande die That der Raumanschauung sich vollzogen hat, auf Grund dieses Naturaktes und des durch ihn gelieferten Materiales die logische Denkthätigkeit beginnt, die gebotenen Formen oder Gestalten vergleicht und unterscheidet, zu abstracteren und allgemeinen Vorstellungen, z. B. zur Vorstellung Baum-, Pferde-, Hunde- und Menschengestalt, zur dreiseitigen, kreisförmigen Gestalt (letztere hier noch nicht im streng mathematischen Sinne genommen) und erst später durch fortgesetztes Abstrahieren und Reflectieren zu dem B e g r i f f e der Gestalt und des Raumes überhaupt gelangt. Thatsächlich kommt der denkende Mensch erst im Laufe einer langen Entwickelung des Denkens zu d e m Beg r i f f e des Raumes. Gewiss! Damit überhaupt der Begriff des Raumes entstehen könne, muss der Bewusstseinszustand einer Vorstellung vom Räume, d. h. jene Thathandlung der Verräumlichung, vorhanden sein; damit überhaupt das Denken die Merkmale des Ausgedehnten, der absoluten Homogeneität, der strengen Continuität, der Unendlichkeit (Riehl II 133) zur synthetischen Einheit des Bewusstseins in der Raum Vorstellung verknüpfen kann, muss das Subject selbst mit einer gewissen Homogeneität, Continuität und apriori'schen Fähigkeit, welche den Unendlichkeitsbegriff erzeugt, behaftet sein. Raumvorstellungen haben sich aber thatsächlich auf der Stufe des rein animalischen Innewerdens gebildet. Das denkende Bewusstsein, welches uns nur bei dem Menschen und in höchster Gestalt hinsichtlich des Raumes beim Mathematiker und Philosophen, nicht beim Kinde oder Südseeinsulaner, ja nicht einmal bei unseren meist ohne Geometrie aufgewachsenen gebildetsten Damen, bekannt wird, bearbeitet nach den ihm anhaftenden Gesetze, die als spontane Akte gegenüber jenem notwendigen Akte des Setzens der Anschauung oder Vorstellung in den Raum erscheinen, das Anschauungs- oder Vorstellungsmaterial und steigt allmählich zu immer abstracteren Raumbegriffen und erst in einem späteren Stadium zum B e g r i f f e d e s R a u m e s ü b e r h a u p t auf mit seinen Merkmalen der absoluten Homogeneität, strengen Continuität und Unendlichkeit. Wenn das Kind schon vom „Räume" spricht, bevor es zu jener Höhe der Abstraction vorgeschritten sein kann, so benutzt es nur ein durch das ausgebildete Bewusstsein des Sprachgeistes geschaffenes, ihm dargereichtes Mittel, ohne im entferntesten darunter alles das zu begreifen, was die Sprechenden damit gemeint und darunter begriffen haben. Wenn das Kind, welches in einfacheren Kreisen aufgewachsen ist, sagt: „es ist kein Platz"; oder das Kind, welches mehr die Sprache der wissenschaftlichen Reife gehört hat, sagt: „es ist kein Raum", so

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verbindet doch weder jenes mit „Platz" noch dieses mit „Raum" andere abstractere Vorstellungen, als es nach seinen Jahren und nach seinem Entwickelungsstandpunkte selbst bei grösster Begabung haben kann. Die allgemeinsten Arten des Begriffes Baum sind: begrenzter und unbegrenzter Raum? Wie ist der Artbegriff unbegrenzter Raum möglich? Gerade so wie der Begriff unsichtbar, unfreiwillig, unsterblich, kurz wie jeder Begriff, der Uber die positive und gegebene Erscheinung zum Nicht-Gegebenen, sei es ein Wirkliches oder ein Nicht-Wirkliches, z u r N e g a t i o n hinausgeht. „Die Negation wurzelt, wie Trendelenburg sagt, allein im menschlichen Denken", sie ist ein apriori'scher Stammbesitz desselben, und zwar fällt dieses erkenntnistheoretische Apriori zusammen mit jenem logischen, welches sich in der Begriffsbildung auf Grund der durch das Naturapriori gelieferten Anschauung bethätigt. Die in dem logischen Abstrahieren und Reflectieren, auch bei den räumlichen Begriffen, sich bekundenden Functionen sind: U n t e r s c h e i d u n g und G l e i c h s e t z u n g , und dieses Unterscheiden, dieses Nicht-Gleichsetzen, ist eine eigentümliche apriori'sche Kraft des denkenden Bewusstseins, vermöge deren es Uber den Erfahrungskreis in das Nicht-Erfahrbare schöpferisch hinausgeht; in jeder logischen Negation liegt ein freies Herausbilden eines durch die b l o s s e E r f a h r u n g nicht ermöglichten Bewusstseinszustandes. Allerdings eine weitere Leistung, aber keine wesentlich verschiedene That ist es, wenn aus diesem negierenden Bewusstsein ein negativer Begriff als Subject oder Prädicat, wie das Unsterbliche, das Unbegrenzte, Unendliche, entspringt. Dieses schöpferische, freie Erzeugen des negierenden Bewusstseinszustandes, der negativen Vorstellung, ist wesensgleich mit jenem Naturapriori, welches zu der Empfindung der Grenzen die Raumvorstellung erzeugt. Das letztere mussten wir auch dem tierischen Innewerden zuschreiben; zu jener Leistung zeigt es sich nicht mehr befähigt. Das Tier erfährt eine Reihe verschiedener Empfindungen des Nicht-Gleichen, es hat ein schmerzhaftes Gefühl bei der Nichtbefriedigung seiner Begierden; aber über diesen positiven Empfindungs- und Gefühlszustand kommt es nicht hinaus. Aus solchen Momenten lässt sich die Negation im menschlichen Denken nicht erklären, am wenigsten die im abstracten, rein theoretischen Denken. Sie ist ein freies Erzeugnis des apriori'schen Stammbesitzes des menschlichen Geistes. Aber wie sind denn die Gebilde der g e o m e t r i s c h e n Wissens c h a f t möglich? K a n t formuliert diese Frage in der Kritik der reinen Vernunft (S. 60) so: „Was muss die V o r s t e l l u n g d e s R a u m e s d e n n sein, d a m i t e i n e s o l c h e E r k e n n t n i s s v o n ihm

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m ö g l i c h sei?" Nämlich: „die G e o m e t r i e , w e l c h e die E i g e n s c h a f t e n d e s R a u m e s s y n t h e t i s c h u n d d o c h a p r i o r i bestimmt." Ich kann diese Frage nur so ausdrücken: Wie sind unsere geometrischen Raumbegriffe beschaffen, und worauf beruht die Notwendigkeit und Allgemeinheit, welche das denkende Bewusstsein für die aus diesen Begriffen analytisch, nicht synthetisch, gebildeten Urteile beansprucht? Kant geht, wie R i e h l (II87) hervorhebt, von Newtons absolutem Räume aus; wir dagegen von dem relativen, beschränkten des natürlichen Innewerdens und Empfindens. Durch das Naturapriori, dessen auch das Tier teilhaftig ist, sind sie dem Bewusstsein sicher nicht gegeben; denn in der ganzen Erfahrung begegnen uns keine genauen geometrischen Gebilde, sondern nur unvollkommene Annäherungen an dieselbe; selbst die künstlichsten Erzeugnisse, welche die geometrischen Begriffe zur Anschauung bringen sollen, sind keine genaue Darstellung derselben. Die geometrischen Begriffe sind nicht wie die Begriffe Baum, Haus, Tapferkeit, Tragödie abstrahiert, die sich alle auf ein in der Erfahrung, sei es in der Natur oder in der Geisteswelt, in den Thatsachen des ethischen Lebens, des Genies vorliegendes Wirkliche beziehen; sie sind vielmehr durch das freie Denken selbstständig, höchstens auf Anregung der Erfahrung durch die Synthesis gewisser Merkmale zur Einheit des Bewusstseins erzeugte Begriffe. Der Begriff Baum stellt sich uns mit allen seinen Merkmalen in jedem einzelnen Baume dar; selbst die dem mathematischen am nächsten stehenden ethischen Begriffe, z. B. den der Gerechtigkeit, kann ich in einem bestimmten Akte verwirklicht finden; bei den mathematischen muss ich darauf verzichten. Wie entsteht zunächst der Begriff Punkt? C l a s s e n (S. 109 u. 168) gesteht zu: „der mathematische Punkt ist nur ein wissenschaftlicher Begriff und als solcher nicht anschaulich." Dann fährt er jedoch fort: „Wenn sich aber ein Anschauungsbild dem Begriff der Einheit und zwar einer möglichst eng eingeschlossenen Einheit unterwirft, so sehen wir anschauliche Punkte, ganz ohne zu wissen, wie viel Theile der Netzhaut dadurch in Anspruch genommen werden." Unter der Einheit versteht Classen nach dem Vorangehenden mit Krause die Denkfunction, die Kategorie der Einheit. Diese also soll bald weit, bald eng geschlossen sein können! Und was ist denn die möglichst eng eingeschlossene Einheit? Unser B e g r i f f vom Punkte, keine Anschauung; jener aber lässt sich nur erklären durch die Kategorie der N e g a t i o n , durch die Fähigkeit, aus der positiv gegebenen Erfahrung zu etwas Nicht-Gegebenem in freier Denkthätigkeit fortzuschreiten. Durch allmähliches Verkleinern des erfahrungs-

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massig Aufgenommenen gelangt das Denken zu dem Begriffe eines Raumgebildes von gar keiner Ausdehmjng, von gar keiner Raumerfüllung. Immer gewohnt und gezwungen, Ausgedehntes, Körperliches wahrzunehmen, sucht sich das denkende Bewusstsein doch den Punkt als jenes Etwas vorzustellen, welches entsteht, sobald das Nichts sich um ein Unendlich-Kleines vermehrt. Es ist das freilich nur ein Vorstellungsversuch, eine bewusste Täuschung; denn mit der Vorstellung des Kleinsten ist noch nicht das Unendlich-Kleine vorgestellt und damit wieder noch nicht der Punkt. Der Punkt lässt sich noch am besten als Analogon des Unendlich-Kleinen in der Z e i t erfassen. Classens „gesehene Punkte von noch so kleinem Raum" (S. 188) giebt es nicht, das sind gesehene Körper. Sie sind allerdings nicht „die primitivsten und leichtesten Wahrnehmungen" . . , „sondern sie entstehen nur dann durch eine besondere Anstrengung unserer Aufmerksamkeit, wenn wir vorhandene Wahrnehmungen in ihre kleinsten anschaulichen Theile zerlegen." Was aber ist das für eine Anstrengung unserer Aufmerksamkeit? Was sind das für kleinste Teile ? Wenn wir nicht zu den Verstandesfunctionen unsere Zuflucht nehmen, bleibt nicht weniger als alles unklar. Von dem Punkte aus zieht sodann das mathematische Bewusstsein nach allen Richtungen des natürlichen Raumes Linien, nach eigenen Gesetzen, gerade oder nicht gerade, in derselben oder nicht in derselben Richtung, d. h. das mathematische Bewusstsein besitzt die Fähigkeit, trotzdem es sich fortwährend in den Strudel des zeitlichen Verlaufes hineingerissen fühlt, zunächst jenen Punkt festzuhalten, dann ihn in dem natürlichen Räume bewegt zu denken. Schon mit der kleinsten Bewegung, mit der Bewegung um ein UnendlichKleines ist eine Richtung gegeben, und zwar zunächst die g e r a d e L i n i e erzeugt. Diese Bewegung ist ein Akt des Willens, des zweckmässigen Wollens, im Dienste des Denkens. Also nur mit zweckmässigem Willen erzeugt sich das Bewusstsein die Richtung und die Linie, besonders die gerade Linie. Den Endpunkt dieser zunächst unendlich kleinen Linie kann das mathematische Bewusstsein nun abermals nach unendlich vielen Richtungen weiter bewegen. Es stellt sich aber die Aufgabe der Fortbewegung in d e r s e l b e n Richtung. Was heisst das: in derselben, in gleicher Richtung? Aus der Kategorie der Gleichheit allein — so scheint es — ist die gerade Linie nicht zu erklären; der Forderung der Gleichheit kann durch Fortbewegung des Punktes in unendlich vielen Fällen genügt werden; die gleiche Richtung, die gerade Linie, die Fortbewegung des Punktes in demselben Sinne, das ist ein Product, welches allein die „reine Schneider, Psychol. Entwickelung.

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Psychologische Entwiokelung des Apriori.

A n s c h a u u n g " aus sich selbst schöpft, sie ist eine a p r i o r i erzeugte Norm des „reinen Anschau^ns", eines jener Musterbilder der Seele, welches als Massstab an die Dinge angelegt wird und welches nicht umgekehrt seine Dignität sich von irgend einem Objecte, aber auch von keiner Kategorie erborgt. Sehen wir aber genauer zu, so reichen wir doch mit der Kategorie der Gleichheit aus, so finden wir doch, dass sie im Stillen bei der Erzeugung der geraden Linie wirkt. Bei jener zweiten Fortbewegung um ein Unendlich-Kleines kann das neu erzeugte Stück unendlich viele Stellungen zu dem ersten einnehmen, es entstehen unendlich viele Winkel. Nur wenn alle diese Winkel unter einander g l e i c h sind, entsteht die g e r a d e Linie. Das ist die geheime, a u s d e r K a t e g o r i e d e r G l e i c h h e i t geschöpfte Bedingung, die sich das Bewusstsein beim Erzeugen der geraden Linie stellt. Kein äusseres Anschauen, sondern das in der Zeit verfliessende, aus verborgener Kraft zu neuer Synthesis sich gestaltende Bewusstsein erzeugt sich selbst die gerade Richtung und Linie. Versucht es, dieses sein Erzeugnis auf irgendwelche, noch so vollkommene Weise auch für das Auge anschaulich zu machen, so stellt sich sofort die Ueberzeugung ein, dass dieser Versuch vergeblich ist, und dass es sich bei all' solcher Veranschaulichung nur um eine mehr oder weniger unvollkommene Annäherung an das handeln kann, was es aus eigener Kraft erzeugt hat. Jedwede gerade Linie schafft sich das Bewusstsein dadurch, dass immer zu dem Unendlich-Kleinen ein ebenso Unendlich-Kleines unter Beobachtung der Gleichheit aller Winkel hinzugesetzt wird. Aus der Zusammensetzung von solchen unendlich kleinen Grössen erzeugt sich die zwischen 2 Punkten der bewusst gewordenen geraden Linie liegende Strecke. Von jedem beliebigen Punkte der Strecke kann das Bewusstsein nach unendlich vielen Richtungen ebenso unendlich kleine Grössen erzeugen; aber sie würden von jener e i n e n Richtung abgewichen sein, welche das Bewusstsein sich als dieselbe, als die gerade Linie setzt. Sucht das Bewusstsein von dem Endpunkte jener abweichenden unendlich kleinen Strecken den Rückweg zu der geraden Linie, so ist im günstigsten Falle die unendlich kleine Strecke abermals zurückzulegen. Der Punkt also, welcher in der geraden Richtung nur um e i n Unendlich-Kleines bewegtwurde, ist jetzt um mindestens deren z w e i auf irgend einer von jener geraden abweichenden Strecken bewegt. Da aber alle Linien durch Zusammenfügen von unendlich kleinen Grössen, d. h. durch Fortbewegung des Punktes um unendlich kleine Grössen, erzeugt werden, so wiederholt sich jenes Verhältnis zwischen den verschiedenen Richtungen immer wieder: jede von der geraden Richtung ab-

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Psychologische Entwickelung des Apriori.

weichend vollzogene Bewegung des Punktes offenbart sich dem diese Akte vornehmenden Bewusstsein als eine grössere Linie, als eine in längerer Zeit

verfliessende Thätigkeit.

Wir

haben bis jetzt den

Punkt, die Bewegung des Punktes durch den zweckmässigen Willen, die Richtung, die

gerade Richtung und gerade Linie

als ureigene

Erzeugnisse des fortfliessenden, aber stets identischen Bewusstseins erkannt. Aus ihrem Bewusstwerden entwickelt sich erst das Bewusstsein von der Notwendigkeit und Allgemeinheit des Satzes: die gerade Linie

ist der kürzeste W e g

hierbei

zwischen 2 Punkten.

Ich finde mich

in wesentlicher Uebereinstimmung mit Riehl. ( I I 162.) „Der

Satz, dass die gerade die k ü r z e s t e Verbindung zweier Raumpunkte ist, führt, was bisher nicht bemerkt worden ist, eine z e i t l i c h e Bestimmung in den Begriff der Geraden ein." Wenn nun auf der geraden Linie ein Punkt, von dort ausserdem auf beiden Seiten 2 Punkte in gleicher Entfernung festgehalten und nun von dem Punkte in der Mitte eine gerade Linie so erzeugt wird, dass die von jedem beliebigen Punkte

derselben nach den seitlich festgehaltenen Punkten

gezogenen Geraden gleich sind, so entsteht eine Senkrechte und der rechte Winkel.

Wiederum vollzieht das mathematische Bewusstsein,

d. h. also das Denken, sofern es sich nach Kategorieen in Raumbestimmungen offenbart, einen freien, schöpferischen

synthetischen

Akt, indem es aus eigener Kraft eine Reihe von Bedingungen stellt, d. h. Bewusstseinszustände von ganz bestimmten Merkmalen

erzeugt

und deren Begriff festhält. Von dem Endpunkte oder von

irgend einem anderen Punkte

einer geraden Linie erzeugt ferner das mathematische Bewusstsein abermals nach unendlich vielen Richtungen gerade Linien, verbindet dann irgend einen Punkt

irgend einer dieser Linien mit einem andern

Punkte der ursprünglich gegebenen.

Indem es nun letztere auf den

beiden neuerzeugten Geraden fortbewegt denkt, erzeugt es sich ein neues Raumgebilde, das der ebenen Fläche, die also das Merkmal hat, dass mindestens drei Punkte in ihr durch drei in ihr gezogene gerade Linien müssen verbunden werden können.

War die zuerst

erzeugte Linie eine krumme, so erschafft sich das Denken mit Hülfe derselben

das Raumgebilde der gekrümmten Fläche in der Weise,

dass es zunächst zwei Punkte der krummen Linie durch eine gerade verbindet, zu dieser geraden Linie in der vorhergedachten Weise zwei Ebenen erzeugt, deren eine die krumme Linie in einem dritten oder auch in noch mehreren Punkten schneidet, während die andere im übrigen ausserhalb der krummen Linie liegen kann.

Wenn nun

die erstere Ebene immer in gleicher Neigung zu der zweiten und

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Psychologische Entwickelung des Apriori.

auch in immer gerader oder gesetzmässig krummer Richtung fortbewegt wird, so wird von der krummen L i n i e eine gesetzmässig gekrümmte Fläche durchlaufen.

Wechseln N e i g u n g und Richtung willkürlich, so

entstehen unregelmässig gekrümmte Flächen. krümmte Fläche lässt sich auch

schon

Eine gesetzmässig ge-

dadurch

erzeugen,

dass die

krumme Linie um z w e i festgehaltene Punkte gedreht wird. Es muss dem Mathematiker überlassen bleiben, die verschiedenen möglichen Gebilde aufzusuchen und zu bestimmen; so viel steht fest, dass sie alle, auch die stereometrischen, Erzeugnisse des mit d e n K a t e g o r i e e n tion

(denn

Gleichheit

das

Unendliche

entspringt

und U n g l e i c h h e i t ,

aus

operierenden

derNega-

dieser),

der

Denkens

sind,

dass sie alle n i e m a l s a n g e s c h a u t w e r d e n k ö n n e n , w e d e r

mit

d e n S i n n e n (denn was man mit diesen wahrnimmt, sind eben nicht die mathematischen Gebilde), Raumanschauung.

noch

mit

einer

sog. inneren

reinen

Sobald ich mir irgend ein bestimmtes Dreieck

vorstelle, geschehe es auch mit der grössten Klarheit der Phantasie, dann habe ich nicht das mathematische D r e i e c k in meinem Bewusstsein, sondern eine recht ungenaue Verbildlichung des B e g r i f f e s . Dass die natürliche Raumanschauung, d. h. die Vorstellung von dem nicht näher zu definierenden Etwas, im Bewusstsein da sein muss, in welches alle Ursachen der Reizempfindungen, j a sogar die innere Erfahrung das

ist

und nicht

Erörterung

der

das zu

Bewusstsein leugnen;

im

mathematischen

selbst notwendig

gesetzt

Gegenteil

uns

führte

Raumvorstellungen

werden,

die

immer

obige wieder

darauf zurück.

W i r sahen uns dort zu wiederholten Malen vor

Notwendigkeit,

einen Punkt

Linie verbinden zu müssen.

mit

einem

der

anderen durch eine gerade

W a s heisst das und w i e geschieht das?

Wollte ich sagen: ich nehme ein L i n e a l und ziehe die gerade Linie, so spräche ich so einfältig w i e jener Junge, der sich eine herstellt,

indem

Kanone

er ein L o c h nimmt und Messing herumgiesst.

Die

Aufgabe, „ z w e i Punkte durch eine gerade L i n i e zu verbinden", lässt sich nirgends zur Anschauung bringen, niemals zwei Punkte kann

nur

das

und eine gerade

freischaffende

weil Linie

begriffliche

es in der Anschauung giebt.

Denken

Diese A u f g a b e in

der

Weise

lösen, dass es sich in dem synthetischen, b e g r i f f l i c h e n Raumbewusstsein den einen der Punkte durch den anderen verdeckt vorstellt und letzteren auf ersteren irgend ersten

ein W i n k e l

immer

in

gleicher Richtung,

entsteht und eine L i n i e

fortbewegt denkt.

Piaton

also

also ohne dass

sichtbar wird,

w a r auf

als er die Gerade als diejenige L i n i e definierte,

richtiger

auf den Fährte,

deren Mittleres das

Ende v e r d e c k t , doch dabei verfuhr er v ö l l i g n a i v ; er g i n g —

wie

Psychologische Entwickelung des Apriori.

117

R i e h l (II 120) bemerkt — von der sinnlichen Anschauung aus, die doch nur kleine Scheibchen, nicht streng geometrische Punkte kennt. Jene Leistung setzt voraus die K a t e g o r i e e n , und vor allem die n a t ü r l i c h e R a u m a n s c h a u u n g , d. h. jene alle anderen Vorstellungen begleitende, unausrottbare, unentfliehbare Urvorstellung von dem, in welchem alles ist, d.h. j e n e n f r e i e n A k t d e s S e e l i s c h e n , aus der Reihe der äussern wie i n n e r e n a u f e i n a n d e r f o l genden E r f a h r u n g e n das Zugleich und N e b e n e i n a n d e r a l s d a s U r s ä c h l i c h e j e n e r R e i h e zu e r z e u g e n . „Unser Denken schreitet von einfachen Gebilden, dem Punkt, der Geraden, dem Kreis, zu zusammengesetzten fort und das Ergebniss dieser Composition kann jeden Augenblick wieder in die elementaren Gebilde aufgelöst werden. Dabei bleiben wir uns beständig der Regeln bewusst, die die Erzeugung dieser idealen Gebilde beherrschen." ( R i e h l II 181.) Den Inhalt dieser s y n t h e t i s c h e n Bewusstseinserzeugnisse entfalten wir uns alsdann bei jenem Auflösen in die elementaren Gebilde durch die „geometrischen Urtheile", deren Charakter allerdings „apriorisch, die Erfahrung antieipirend, die Erfahrung von sich aus ergänzend" ist; s y n t h e t i s c h aber nenne ich dies wie jedes andere, gewisse Merkmale zur synthetischen Einheit des Begriffes im Bewusstsein verbindende und so erst die Synthesis eines Bewusstseinszustandes erzeugende kategoriale Denken, dahingegen das mathematische U r t e i l e n a l s s o l c h e s , d.h. als bewusstes Entfalten des Inhaltes jener synthetisch erzeugten Begriffe, mir a n a l y t i s c h , also a n a l y t i s c h - a p r i o r i s c h zu sein scheint. Kein logisches Denken aber, auch nicht, wie wir sahen, jenes mathematische, ist denkbar ohne die I d e n t i t ä t des denkenden Ichs. Wie sich jedoch Uberhaupt kein Bewusstsein ohne alle Erfahrung herausbildet, sondern stets auf Anlass irgend einer Erfahrung vermöge des Apriori, so hat auch das Bewusstsein des Raumes mit seiner absoluten Homogeneität und strengen Continuität überhaupt, besonders aber der mathematischen Gebilde, j a sogar zuletzt das Selbstbewusstsein dieser Identität des Bewusstseins seinen empirischen Anhalt, nämlich in der Thatsache, dass das Bewusstsein von seinem Erwachen an in allem Wechsel der Empfindungen und Wahrnehmungen fort und fort ein Substrat zu setzen sich gezwungen sieht, allerdings nur weil es dazu a priori befähigt ist. Aus dem Vorhandensein dieser dem denkenden Bewusstsein allein anhaftenden apriori'schen Functionen erklärt sich also die Möglichkeit geometrischer Sätze mit ihrem Charakter der Notwendigkeit und Allge-

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Psychologische Entwickelung des Apriori.

meinheit. Wo sie fehlen, ist keine Geometrie möglich, wie beim Tiere, wo sie nicht aus der Dynamis zur Energeia gelangen, entsteht ebenfalls keine Geometrie, wie beim Kinde und beim rohen Naturmenschen oder auch bei dem nur halb gebildeten Culturmenschen. Es hat Zeiten gegeben, in denen das denkende Bewusstsein der Menschen sich noch keine geometrischen Begriffe geschaffen hatte, und viele Menschen werden immer ohne dieselben hinleben; ja nur ein ganz kleiner Teil derjenigen, welche Geometrie treiben, ist wirklich im Besitze geometrischer Begriffe. In beständiger Selbsttäuschung über die Natur ihr#s Wissens, bleiben den meisten die Grundlagen ihrer ganzen Wissenschaft unbewusst und unklar, nur die Folgerungen ziehen sie mit dem logischen, nicht erkenntnistheoretischen Bewusstsein der Notwendigkeit und Allgemeinheit aus den gutwillig und oberflächlich hingenommenen Begriffen. Bei vielen fehlt nur die Veranlassung zu dem Uebergange des Potenziell-Vorhandenen in ein Aktuelles; bei vielen aber auch die Fähigkeit, sich zur Klarheit wissenschaftlicher geometrischer Begriffe aufzuschwingen; sie behelfen sich mit ungenauen Vorstellungen, mit der nie dem Begriffe völlig entsprechenden, durch die Erfährung gebotenen, etwas gemodelten Anschauung. Nicht wenige von diesen gelangen mit Hülfe derselben apriori'schen Elemente, welche zur Bildung geometrischer Begriffe notwendig sind, aber in ihnen nicht zu deren Bildung verwendet werden, zu anderen festen Begriffen, z. B., Rechts-, religiösen, ethischen, ästhetischen Begriffen; ihr Geist ist eben nicht so beschaffen, dass sie ein höheres geometrisches Wissen erreichen könnten. Nur der ausgebildete Mathematiker erklimmt diese Stufe, ohne freilich mit jenen oft auf ihren Feldern wetteifern zu können. Nicht einmal in dem so nah verwandten arithmetischen und geometrischen Denken herrscht immer gleiche Fertigkeit. Eine sorgfältige p s y c h o l o g i s c h e Betrachtung muss sich alle diese Spielarten klar machen und braucht sich doch nicht dem Vorwurfe auszusetzen, das Apriori zu verkennen. Gerade sie erst erklärt die Möglichkeit des Erfahrens und Wissens, den Besitz des natürlichen und des denkenden Bewusstseins vollständig. Wenn ich vom Baume im a l l g e m e i n e n spreche, schaue ich nicht mehr und nicht weniger an, als wenn ich vom Baume, vom Menschen, von der Substanz, der Ursache u. s. f. im a l l g e m e i n e n spreche. Alles das sind eben deswegen Begriffe, weil sie nicht mehr etwas Einzelnes, Anschaubares sind, Begriffe, die ich mir in zeitlichem Verlaufe durch Synthesis der durch sie zusammengefassten Merkmale zum Bewusstsein bringe. Will ich zur Anschauung gelangen, dann muss ich zu dem abstracten Begriffe Raum bestimmte

Psychologische Entwickelung des Apriori.

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Merkmale hinzunehmen und etwa den Kaum betrachten, welchen ein Stein, ein Zimmer ausfüllt, gerade so wie ich mir eine Pappel, Eiche u. s. w. vorstellen muss, wenn ich von dem abstracten Begriffe Baum zur Anschauung übergehen will. Der Begriff als solcher lässt sich eben nicht anschauen. Das Phantom einer geistigen Grundgestalt des gleichseitigen Dreiecks, einer platonischen Idee, eines Kantischen rein apriori'schen Anschauungsdreieckes, des anschaubaren Schemas eines Dreiecks zerrinnt vor einer psychologischen Analyse in nichts. Wir tragen nur eine lange Reihe frei gebildeter Merkmale im Bewusstsein, deren Summe wir den Begriff eines gleichseitigen Dreiecks nennen. „Begriffe ohne Anschauung sind leer, Anschauung ohne Begriffe ist blind." Bei allen Begriffen sehe ich mich an die Anschauung verwiesen, bei den Begriffen Raum, Dreieck ebenso wie bei Säugetier Recht. (Kant III 73.) Wir würden uns keinen Raumbegriff, z. B. vom Dreiecke, bilden können, wenn wir nicht durch das Apriori des natürlichen ßewusstseins in unzähligen Fällen die mannigfaltigsten Raunianschauungen dergestalt empfangen hätten, dass wir auf der höheren Stufe des denkenden Bewusstsein zur freien Bildung räumlicher Gestalten vor-, und zu deren wenigstens annähernder Versinnlichung zurückschreiten könnten. Aber das ganze System von Lehrsätzen, z. B. über das Dreieck, folgert der Mathematiker nur aus dem Begriffe, den er sich a priori gebildet hat. Auf dem die Verständlichkeit erleichternden didaktischen Hülfsmittel der Versinnlichung des Begriffes durch irgendwelche Körperchen, beruht selbstverständlich nicht die Notwendigkeit und strenge Allgemeinheit geometrischer Lehrsätze. „ M e t a p h y s i s c h " genommen steht allerdings der Raum, d. h. der unendlich gedachte Raum, in anderem Verhältnisse zu Nebenarten, als die Unterarten anderer Begriffe wie Baum, Tugend, Kunstwerk zu einander; das beruht aber nicht auf subjectiven Bedingungen, sondern auf objectiver Verschiedenheit der Raumarten. Ganz auf gleicher Linie mit dem Räume steht in dieser Beziehung die Materie, die, wie Riehl (II 183) sagt, das Schicksal des Raumes teilt. Bei beiden erhebt sich das Denken erst später zu der Vorstellung eines Unendlichen. L o g i s c h genommen, hat der Begriff Raum ebenso sehr die Befugnis, das Mannigfaltige unter sich zu begreifen, wie jeder andere Begriff. Mit Materie, Ursache, Qualität u. s. w. steht er in so fern auf gleicher Stufe, als er sich nicht weiter definieren lässt, wir können im Aristotelischen Sinne sagen, zu den Kategorieen gehört. E r k e n n t n i s t h e o r e t i s c h endlich genommen, ergiebt sich bei der Betrachtung des Raumes das Resultat, dass in jedem Bewusst-

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Psychologische Entwickelung des Apriori.

sein eine bestimmte Anlage vorhanden sein muss, die successiven Reize zu verräumlichen, d. h. zunächst aus sich und nebeneinanderzusetzen, dass also jedes Bewusstsein gezwungen ist, die Welt der Erfahrungen in dieser bestimmten ihm anhaftenden apriori'schen Form aufzunehmen und vorzustellen. In diesem Sinne unterschreibe ich Riehls scharf formulierte Behauptung: „Raum und Zeit sind Begriffe, die in den Verhältnissen der Mannigfaltigkeit der Empfindung ihre empirisch-realen, in den l o g i s c h e n Fähigkeiten unseres Geistes ihre idealen Grundlagen haben." Der Raumvorstellung, die nur durch ein Apriori möglich ist, entspricht ein bestimmtes Etwas ebenso gewiss, wie unserem Begriffe von Substanz, Schwere, Ursache u. s. w. Mit derselben Gewissheit, mit der wir die Dinge als daseiend setzen, dürfen wir annehmen, dass sie als ausgedehnt im Räume da sind. Die Eigenschaft der Ausdehnung im Räume, die Raumerfüllung haftet ihnen ebenso an, wie die der Substanzialität, und für beides erschafft das Apriori des natürlichen Innewerdens und des denkenden Bewusstseins das subjective Gegenbild. Mögen wir Menschen oder die Tiere oder anders denkende und vorstellende Wesen in der Welt dasein oder nicht, die Dinge behalten darum doch ihre räumlichen Eigenschaften, ihre räumliche Anordnung so wie andrerseits die Auffassung dieser Raumverhältnisse stets an gewisse subjective Bedingungen geknüpft ist. Aber nicht allein in den mannigfaltigen Erregungsarten unserer verschiedenen S i n n e liegt der Ursprung unserer Raumvorstellung, sondern in demjenigen Teile des Subjects, in welchem die Empfindungen vermöge einer Synthesis und frei schaffenden, Neues setzenden apriori'schen Kraft ins Bewusstsein treten. Wir tragen damit allerdings etwas in uns, worin „alle Gegenstände bestimmt werden müssen" und was „Principien der Verhältnisse vor aller Erfahrung enthalten" kann (Kant III. 62); aber dies ist nicht rein subjective Anschauung a priori, sondern es schafft nur etwas den Dingen Anhaftendes nach seiner Eigentümlichkeit hinzu. Auch das Tier empfindet die Verschiedenheit zweier ähnlichen Gegenstände, ja das bloss empfindende Bewusstsein zeigt oft ein viel schärferes Unterscheidungsvermögen als das denkende. Und doch bildet sich bei dem bloss empfindenden Bewusstsein aus der grossen Zahl der Wahrnehmungen kein fester Complex von Merkmalen, welcher das Gemeinsame in dem Verschiedenen fiir das Bewusstsein festhält. Das denkende Bewusstsein des Menschen hingegen fixiert in der Unzahl von Raumerscheinungen die Eigenschaft der Ausdehnung in drei festgesetzten Richtungen u. s. f., und schafft sich so seine Raumgebilde,

Psychologische Entwickelung des Apriori.

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d. h. bildet sich so seine Raumbegriffe; das Höchste aber, was das denkende Subject erreicht, ist, dass es sich kritisch zum Bewusstsein s e i n e r e i g e n e n V e r s c h i e d e n h e i t von dem Gedachten erhebt. Auch das Tier hat ein natürliches Gefühl der Subjectivität und Objectivität, es verteidigt die erstere und sucht sie zu erhalten; aber es gelangt nie dahin, die einzelnen Teile seiner Erscheinung zu einem geschlossenen Ganzen, welches wir Ich nennen, zu vereinigen. Es nimmt ferner seine Erscheinung mit allen inneren und äusseren Sinnen wahr; aber es setzt weder seine einzelnen Füsse, noch diese mit den Füssen anderer Wesen unter den Begriff Fuss, noch setzt es zu der Wahrnehmung seines Fusses eben jene wichtige Vorstellung m e i n hinzu. Am allerwenigsten erkennt es sein apriori'sches Setzen und Schaffen von Dingen im Räume eben als seine eigene That. Dieses kritische Raumbewusstsein ist dem Menschen auf der höchsten Stufe seiner wissenschaftlichen Ausbildung vorbehalten. Der Raum an sich ändert sich nicht mit dem Aufdämmern dieses kritischen Bewusstseins, die Wissenschaft von den Verhältnissen des Raumes bleibt dieselbe; nur die Erkenntnis von unserer subjectiven Auffassungsweise des Raumes, folglich auch von der Geometrie gestaltet sich anders. Und wodurch? Welche besonderen Denkfunctionen hat das kritische Bewusstsein zu diesem Zwecke angewendet ? Es hat sich die Frage nach der Möglichkeit alles und jedes Raumbewusstseins vorgelegt, während Kant nur die Möglichkeit der notwendigen und allgemeinen Urteile der Geometrie über den Raum sich zu erklären suchte. Die allgemeinsten Thatsachen alles und jedes Raumbewusstseins, die Verräumlichung jedweder Empfindung bis hin zur synthetischen Einheit des Selbstbewusstseins auch hinsichtlich des Raumes, sind das Object dieses kritischen Wissens. Das tierische Innewerden und das vorkritische menschliche Bewusstsein besitzen zweierlei: jenes die Anschauung des Raumes, dieses dazu die wissenschaftliche Kenntnis seiner Verhältnisse. Ersteres ist nicht möglich ohne die Function eines Natnrapriori, letzteres nicht ohne die bei allem logischen Denken noch hinzukommenden Kategorieen. Das kritische Denken prüft jene allgemeinsten Thatsachen mit den Kriterieen der Möglichkeit, also auch der Negation, der Notwendigkeit und Allgemeinheit, der Einheit (Identität), lauter Kategorieen, die das Denken keiner Erfahrung, sondern nur sich selbst verdankt, die aber das kritische Denken mit jedem logischen teilt. Dieses Apriori muss, wenn anders unsere Vorstellungen nicht einem fortwährenden Wechsel unterworfen sein sollen, etwas allem Wechsel Ueberhobenes und Beharrliches sein. Derartig wird auch

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Psychologische Entwickelang des Apriori.

jenes unerfahrbare, wie das sich selbst immer unsichtbare Auge, so sich immer wieder hinter sich selbst versteckende Subject sein, welches die Synthesis aller VVahinehmungen vermöge seiner apriori'schen Functionen vornimmt. So greift unsere p s y c h o l o g i s c h e Untersuchung über d e n ß a u m tief in a l l e a n d e r e n F r a g e n d e s E r k e n n t n i s p r o b l e m e s ein. Wir haben die allgemeinsten Thatsachen alles seelischen Lebens untersucht; deshalb ist diese Untersuchung eine p s y c h o l o g i s c h e zu nennen. Das Seelische war das Object unseres e r f a h r e n d e n Erkennens; insofern ist diese p s y c h o l o g i s c h e Untersuchung als emp i r i s c h zu bezeichnen. Ohne alle Empirie ist auch keine Erkenntnis des Apriori möglich. Kant verlangt eine getrennte Untersuchung der beiden Erkenntnisquellen Sinnlichkeit und Verstand. Ist sie ihm aber wirklich gänzlich gelungen? Ist sie vollständig möglich? Die kunst- und schulgerechte Form, welche ein wissenschaftliches Werk nach zehnjährigem Arbeiten schliesslich erhält, stellt nicht den Weg dar, den das Denken nehmen musste, um zu dem so gestalteten Resultate zu gelangen. Die volle Erkenntnis erwächst aus der stetigen Wechselwirkung von Trennen und Verbinden. In der That muss denn auch Kant in der transcendentalen Aesthetik vom Baume an alle Erfahrung denken, indem er deren Möglichkeit untersucht, ungleichen an die in Begriffen sich bildende Erkenntnis, so sehr er vorzugsweise auf die Erklärung der mathematischen ausging; und dieser Wesen erfasst er nicht vollkommen richtigeben wegen jener Isolierung. Ebenso kann aber auch in der transcendentalen Logik jene Trennung nicht absolut durchgeführt werden. Denn diese läuft ja darauf hinaus, dass diejenigen Grundsätze aufgedeckt werden, welche bei aller und jeder Erfahrung als die durchaus notwendigen Bedingungen wirkend sind, ohne welche auch nicht das mindeste Bewusstsein (dies Wort im strengen Sinne des menschlichen Geisteslebens und nicht des tierischen Empfindens genommen) zu Stande kommen kann. Die Zeit, jene in der Aesthetik mit dem Räume so streng gesonderte Anschauungsform, wird dort sogar das Bindemittel zwischen der synthetischen Einheit der Apperception des Selbstbewusstseins mit seinen Verstandesfunctionen und der Sinnlichkeit; denn die Schemata sind „die erste Anwendung der Kategorie auf Erscheinungen überhaupt als deren Zeitverhältnisse." (Classen S. 36.) So muss das anfangs scharf Getrennte sich doch wieder zur besseren Erkenntnis« • des Sachverhaltes zusammenfinden.

Psychologische Entwickelung des Apriori.

B.

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D a s A p r i o r i in den v e r s c h i e d e n e n Arten der Z e i t vorstellung.

1. Die Zeit im tierischen Innewerden und im natürlichen menschlichen Bewusstsein.

Um uns über das Wesen der Z e i t , die Arten und Bedingungen dieses Begriffes klar zu werden, müssen wir uns wieder das Bewusstsein in vollster Allgemeinheit mit seiner Eigenschaft, der auf die Sinne ausgeübten Eindrücke innezuwerden, vorstellen. So viel ist gewiss: auf den beseelten Organismus mit seinen verschiedenen Sinnen wirken zahllose Kräfte nebeneinander im Räume mit ihren zahllosen, verschiedenen Reizen ein. Wie kann diese Unzahl von Reizen ins Bewusstsein gelangen? Hat das Bewusstsein die Fähigkeit, die von zahllosen nebeneinanderliegenden Dingen ausgehenden Reize, etwa wie die Wasserfläche oder ein Spiegel, absolut gleichzeitig in sich zu erfahren und aus sich zu setzen? Denken wir uns die Zahl der Wege, auf welchen die Reize in ein Bewusstsein Eingang finden, auf das möglichst geringste Mass, also etwa auf den Tastsinn eingeschränkt (auch bei Riehl (II 22) finden wir „aus entwickelungsgeschichtlichen wie psychologischen Gründen den vereinigten Tast- und Muskelsinn als den G r u n d s i n n " bezeichnet), so ist sofort begreiflich, dass keine solche Wiederspiegelung des ganzen räumlichen Nebeneinander stattfinden kann. Aber ebensowenig ist eine solche bei einem mit einer grösseren Zahl von Eingangspforten der Reize ausgestatteten Bewusstsein wahrscheinlich, bei der Mehrzahl der Tiere und beim Menschen. Bei genauerer Beobachtung unseres Bewusstseins finden wir, dass dasselbe nie die ganze Masse der im Nebeneinander auf dasselbe einwirkenden Dinge ebenso als ein Nebeneinander wiederspiegelt. Im Gegenteil, es ist durch wissenschaftliche Experimente das mit Evidenz festgestellt, was man auch annähernd schon durch einfache Selbstbeobachtung finden kann, dass die Reize einzeln, einer nach dem anderen, ins Bewusstsein eingehen. Mein Bewusstsein erfährt nicht, wenigstens nicht mit voller Klarheit, den von einem musikalischen Instrumente und von einem Lichte zugleich ausgehenden Reiz als ein Zugleich-Seiendes; hörend sehe ich nicht, und sehend höre ich nicht; schmeckend denke ich nicht, und denkend schmecke ich nicht; daher die ganz berechtigte Aufforderung der freundlichen Wirtin, mit Verstand zu essen. Die Angabe „einiger Menschen, bei der Perception gewisser Töne gewisse Farben g l e i c h z e i t i g zu empfinden", welche C l a s s s e n (Phys. d. Ges. S. 147) ohne jedes Be-

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Psychologische Entwickelung des Apriori.

denken hinnimmt, scheint mir trotz ihrer „Bestimmtheit" sehr fragwürdig. Weit entfernt in einer Oper die Musik, das Spiel, die Decoration als ein Nebeneinander zu empfinden, was sie doch offenbar sind, nehme ich immer nur einen der qualitativ verschiedenen Reize auf, und nur das ungeheuer schnelle und unablässig abwechselnde Eintreten der verschiedenen Sinneseindrücke in das Bewusstsein erzeugt die Täuschung, dass ich sämmtliche Eindrücke und mit ihnen die Dinge als ein Nebeneinander empfinde und erfahre. Auch Riehl behauptet die Möglichkeit gleichzeitiger Empfindungen und Empfindungscomplexe. „Die Obertöne eines Grundtons werden mit diesem z u g l e i c h und als verschieden von ihm gehört." (II 79.) Wenn ich mich aber genau beobachte, so höre ich weder in dem Moment, in welchem ich mir des Grundtones bewusst werde, die Obertöne, noch umgekehrt jenen in dem Momente, in welchem ich dieser bewusst werde. Alles, sowohl die Beobachtung der Natur der Sinne, als auch die von Riehl so treffend beleuchtete Thatsache, dass „die Vorstellung des Raumes mittelst der Zeitvorstellung erworben wird" (II 79, 115), dass wir für die Vorstellung der unendlichen Teilbarkeit des Raumes der Vorstellung der unendlichen Teilbarkeit der Zeit bedürfen (157), dass „die s t e t i g e V e r b i n d u n g der homogenen Raumtheile nur mittelst der Stetigkeit der Zeit erkannt wird und diese mithin voraussetzt" (159), der Hinweis auf die Zerlegung der Klangwellen durch das Ohr für das Bewusstsein (192), alles das spricht, da doch die Zeit in beständigem Flusse ist, gegen die gleichzeitige Auffassung des Coexistierenden und für die Annahme einer gewissen E n g e , einer l i n e a r e n Natur des Bewusstseins. Zwar höre ich einen Accord, also eine Mehrheit von Tönen; zwar sehe ich immer eine Fläche, empfinde also eine Mehrheit von Lichteindrücken u. s. f.; aber dieser Mehrheit werde ich mir immer nur als einer summarischen M a s s e ohne Klarheit der Teile b e w u s s t ; erst wenn ich anfange, diese Einheit im Bewusstsein aufzulösen, den einzelnen Ton des Accordes, den einzelnen Gegenstand des Gesichtsfeldes scharf zu fixieren, dann tritt volle Klarheit der Teile ein, dann schwindet aber auch sofort das klare Bewusstsein jener einheitlichen Mehrheit; unmittelbar mit ihrer Analyse verflüchtigt sie selbst sich für die Augenblicke des Bewusstwerdens ihrer Bestandteile aus dem Bewusstsein. Beim Auge geschieht bekanntlich das scharfe Erfassen eines bestimmten Teiles jener unbestimmten Fläche durch Einstellen in die fovea centralis; in dem Augenblicke aber, wo das stattfindet, schwindet jedenfalls die grössere Masse der nicht eingestellten Teile aus dem Bewusstsein. Auch dies spricht für dessen Enge.

Psychologische Entwickelung des Apriori.

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Unstreitig giebt es zahllose subjective Unterschiede in der Fähigkeit, die einzelnen Momente des Wahrgenommenen, Gedachten, Gefühlten und Gewollten zur Einheit im Bewusstsein zusammenzufassen. Ein Cäsar, welcher vier Schreibern „zu gleicher Zeit" v i e r Briefe dictiert, ist hierin selbstverständlich dem weit überlegen, welcher seine Gedanken mit Mühe zu e i n em Briefe zusammenfasst; der geniale Schauspieler, welcher „zugleich" die Dichtung und sein Spiel beherrscht, ist dem blossen Recitator Uberlegen. Der Gelehrte, in dessen Geiste sich „zugleich" tausend Gedankenfäden kreuzen, erfreut sich eines anderen synthetischen Bewusstseinsgrades als jener Bauernsohn, der (ein Beispiel, welches Lazarus in einem Vortrage erwähnte) auf dem Wege zur Stadt zu seinem Vater nur sagte: „der Hafer steht gut", und als dieser Vater, der erst anf dem Rückwege die Antwort findet: „der Roggen auch." Aber solche unleugbare Verschiedenheit bildet keinen Gegengrund gegen jene lineare Natur des Bewusstseins; denn in allen jenen bewunderten Fällen redet man recht ungenau von einem Z u g l e i c h . Selbst das grösste Genie ist an die lineare Folge seiner Seelenzustände gebunden, fühlt sich in seinem Bewusstwerden durch solche Schranke eingeengt. Es hat daher für mich nichts Paradoxes und gilt mir an sich nicht für unwahrscheinlich, dass selbst die absolut zugleich und nebeneinander auf e i n e n u n d d e n s e l b e n Sinn einwirkenden Reize nicht zugleich und nebeneinander ins Bewusstsein treten, sondern in Folge einer der Berechnung und Beobachtung sich entziehenden, ungeheuren Schnelligkeit des Wechsels unter Mitwirkung einer apriori'schen synthetischen Kraft sich flir das Bewusstsein zu einer ein Nebeneinander vorspiegelnden Gesammtwirkung vereinigen. Ohne die Mitwirkung jenes Apriori ist allerdings solches Gesammtresultat unerklärlich; das b l o s s e Aufeinanderfolgen, der b l o s s e Wechsel könnte niemals dem die Einwirkungen aufnehmenden Subjecte etwas anderes als eben eine Aufeinanderfolge und einen Wechsel bieten. Das ganze Gebahren aber selbst des tierischen Innewerdens erscheint uns thatsächlich überall als ein solches, welches jene lineare Kette von Eindrücken zu einem Nebeneinander, zu etwas Flächenhaftem und Körperlichem fortwährend umdeutet. Schon hier müssen wir also ausser der unerlässlichen Haftbarkeit der Eindrücke die Fähigkeit einer sehr schnellen Zusammenfassung des Nacheinander und einer gewissen Uradeutung in ein Nebeneinander und auf Grund dieser Leistung ein Verräumlichen und Hinaussetzen des Flächen- und Körperhaften voraussetzen. Es ist hier, wie so- oft, leichter anzugeben, wie der betrachtete Gegenstand nicht, als wie er w i r k l i c h be-

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schaffen ist. An ein absolutes Bewusstwerden des gleichzeitig nebeneinander Existierenden dürfen wir sicher auf der Stufe des empfindenden Seelenlebens bei jener Umdeutung des Nacheinander nicht denken. Denn der denkbar schnellste Akt eines solchen Innewerdens ist ja immer noch etwas Fliessendes. Das Tier mag eines Stückes Fleisch als einer körperhaften Einheit in einem Augenblicke innewerden; aber es wird ja sofort in den Fluss des Erscheinens hineingerissen; fasst es in jener relativ einheitlichen Masse, dieselbe auflösend, die Teile ins Auge, auch so erfüllen seine Seele nur aufeinanderfolgende Zustände. So gelangt das Tier nie zu einem Bewusstsein des absolut Gleichzeitigen. Ist denn dem menschlichen Denken diese Stufe wirklich erreichbar? Das schnellste menschliche Denken ist doch nur ein Nacheinander, kann uns jedenfalls nie anders als ein solches b e g r e i f l i c h er s c h e i n e n . Ich kann mich nicht von der Vorstellung losreissen, dass selbst mein Denken dahinfliesst. Wir suchen den flüchtigen Strom der Zeit zu bannen, wir versuchen, uns mit Anwendung der Kategorie der Negation ein Unendlich-Kleines, einen unausgedehnten Zeitpunkt, das Oxymoron einer zeitlosen Zeit vorzustellen. Es gelingt uns nicht vollständig, viel weniger gelingt es uns, einer Reihe von Eindrücken als absolut gleichzeitig in jenem Oxymoron bewusst zu werden. Wir können uns höchstens der b e w u s s t e n Selbsttäuschung hingeben, a l s ob wir die Dinge uns als gleichzeitig vorstellen, denken könnten; denn, vor allem, mein Denken selbst ist ja in beständigem Flusse, der kühnste Begriff, der das Entlegenste bindet, gerät in den Strudel der Zeit. Das absolute Nebeneinander will sich dem Subjecte also nicht anbequemen. Aber die Dinge existieren ja nicht bloss als ein Nebeneinander, vielmehr sind sie auch ein Nacheinander und in beständiger Veränderung begriffen; den härtesten Felsen benagt fortwährend die Luft. Nachdem allerdings wesentlichen Merkmale der Ausdehnung im Räume, der Raumerfüllung stellen wir uns die Körper gewöhnlich und oberflächlich nur als etwas Zugleichseiendes vor, ohne daran zu denken, dass schon dieses Zugleichsein der Atome auf der gleichzeitigen W e c h s e l w i r k u n g ihrer Kräfte, auf Kraftäusserungen, also auf etwas z e i t l i c h V e r f l i e s s e n d e m beruht. Und abgesehen davon begegnen auch dem blöden Sinne an den Körpern zahllose Erscheinungen, deren eigenstes innerstes Wesen eben nicht in solchem Nebeneinander und Zugleich, sondern in einem beständigen Nacheinander, im Wechsel, in der Veränderung besteht; Vorgänge und Handlungen, die sich also ihrem Wesen nach dem

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Wesen des selbst unaufhörlich dahinfliessenden Innewerdens, wenn auch nicht unbedingt, anbequemen. In das Tier tritt u. a. eine fortlaufende Kette von Gefühlen der Unlust über Hunger und Durst lind von Gefühlen der Lust über Stillung derselben. In der Seele des höheren Tieres jedenfalls rollt sich daneben eine Reihe von Einzel Vorstellungen ab. Der Löwe im Käfig stellt sich beim regelmässigen Auftreten der durch Hunger und Durst verursachten Unlust ebenso den Wärter und das Fleisch vor wie das Kind in gleicher Lage die Mutter und die Nahrung; und hört er um die gewohnte Stunde in der Ferne die Schritte des Wärters und das Rasseln seiner Geräte, das Toben seiner sichtbaren oder nicht sichtbaren Leidensgefährten, so treten die Vorstellungen von seiner demnächst bevorstehenden Fütterung in seine Seele. Es bekundet sich also auch auf der Stufe des natürlichen, tierischen Innewerdens die Fähigkeit, den empfundenen Wechsel von Zuständen wieder hervorzubringen, Vergangenes und Zukünftiges in gewisser Weise zu verknüpfen. Morgen, Mittag und Abend, Tag und Nacht, Sommer und Winter sind mit dem tierischen Leben so eng verknüpfte Naturprocesse, dass auch in ihm die von denselben ausgehenden Vorstellungen von Licht und Finsternis, Wärme und Kälte u. s. f., die Kette der damit verbundenen Gefühlszustände haften, sich befestigen und das Tier dem entsprechend sein Leben regelt. Aber über das dumpfe Innewerden eines Nacheinander gelangen wir auf dieser Stufe ebenso wenig hinaus wie beim Raum über das mechanische Setzen des Gegenstandes und über das dumpfe Gefühl eines Nebeneinander. Die Begierden beherrschen den Wahrnehmungs- und Gefühlskreis des Tieres; nach Massgabe der Begierden laufen Vorstellungsreihen sinnlich - concreter Natur und sinnliche Gefühlszustände in seiner Seele ab; die Begierden geben das T e m p o des tierischen Seelenlebens an. Allgemeinvorstellungen fehlen wahrscheinlich, jedenfalls Begriffe und damit das wesentlichste Mittel der Beschleunigung des im Begehrungstempo schwerfällig sich hinschleppenden Lebens. Denken wir dieses, eine ganz neue Zeitfolge, Zeitart ermöglichende, das Fernste Zusammenraffende und so unser Seelenleben beflügelnde Zaubermittel aus uns fort, dann können wir uns ungefähr vorstellen, wie ganz anders das zeitliche Seelenleben der Tiere beschaffen sein muss. Wie langweilig schlich doch dem gedankenarmen Kinde oft eine Stunde dahin, in welcher der gereifte Mann mit Gedankenflug die Welt durcheiltl Ohne die Denkfunctionen liegen die einzelnen Bewusstseinszustände, wenngleich eine gewisse Synthesis statt hatte, wie die Ringe einer schlaffen Kette nebeneinander; ohne sie fehlt mit dem Be-

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Psychologische Entwickehmg des Apriori.

g r i f f e über alle Dinge der freie schnelle Ueberblick, also auch über die Zeit, ihr Wesen und ihre Arten. Die Denkfunctiouen sind auch für uns das einzige Mittel, den unaufhaltsamen Strom der Zeit, doch nur in bewusster Täuschung, so zu bannen, dass der Gedanke einer Gleichzeitigkeit der Dinge aufschiessen kann. C l a s s e n (Ph. d. G. 41) gründet das Bewusstsein des Zugleichseins auf den Begriff der W e c h s e l w i r k u n g . Eine Fliege und ein Tisch in einem Zimmer würden nur durch ihn als zugleichseiend erkannt; die blosse Wahrnehmung gebe nur w e c h s e l n d e Wahrnehmungen, nicht das Zugleichsein. Für den d e n k e n d e n und erk e n n e n d e n Menschen aber ist diese Wechselwirkung, wie mich dünkt, auf eine w i e d e r h o l t e Anwendung der Kategorie der W i r k u n g , der Cau s a l i t ä t zurückzuführen. In das Bewusstsein tritt die Erscheinung der brandenden Wellen und des starren Felsens; durch die Kategorie der Ursache verknüpfen wir, nicht das Tier, beides in der Weise, dass für uns der Felsen die Ursache des Zerspringens der Welle wird. In das Bewusstsein tritt wiederum die Aushöhlung des Felsens und die brandende Welle; durch die Kategorie der Ursache verknüpfen wirbeides in der Weise, dass für uns die Welle die Ursache der Aushöhlung des Felsens wird. Weil wir aber beide Verknüpfungen in belieb i g e r Reihenfolge auf Veranlassung der Sinneneindrücke vornehmen können und nicht, wie etwa bei Blitz und Donner, beim Ziehen eines Eisenbahnzuges durch die Locomotive, in nur e i n e r b e s t i m m t e n Reihenfolge, deshalb entsteht das Bewusstsein der Gleichzeitigkeit für das menschliche Bewusstsein. Aber auch dieses Bewusstsein ist, den obigen Andeutungen gemäss, nur ein relatives, wegen jener E n g e unseres Bewusstseins. Auch L o t z e erkennt dieselbe (Med. Psych. § 428 ff.) an; später (Mikr. I 237) betont er: „Alle unsere Sinne können z u g l e i c h thätig sein und eine unermessliche Mannigfaltigkeit einzelner Reize aufnehmen" und behauptet: „Die Thatsache, dass wir überhaupt Vergleiche anstellen können, nöthigt uns zu der Annahme einer möglichen Gleichzeitigkeit." Aber gleichzeitige T h ä t i g k e i t der Sinne ist nicht gleichzeitiges B e w u s s t w e r d e n , und selbst jener Vergleichungsakt ist etwas beständig Dahinfliessendes. Will man die Thatsache des Vergleichens erklären, so kann es nur durch den Hinweis auf das absolut Beharrliche und Identische, aber ebenfalls in der Zeit beharrende Apriori geschehen. Aus der absolut beständigen Differenzierung im zeitlichen Verlaufe kommt mit Hülfe jenes notwendig vorauszusetzenden Identischen im Apriori die Vorstellung des Identischen ins Bewusstsein; aber dies ist noch nicht das absolut Gleichzeitige, das wir mit unserem menschlichen Bewusstsein, wie es

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Psychologische Entwickelung des Apriori.

nun einmal ist, niemals ergreifen können. Unterliegt schon das menschliche Bewusstsein hierin solcher Schranke, so noch vielmehr das tierische Seelenleben, welches kein Mittel besitzt, sich aus dem Strudel der unaufhörlich dahinrauschenden Seelenzustände zu jener Vorstellung einer auch nur relativen Gleichzeitigkeit zu retten. Denn ich kann mich nicht entschliessen, mit C l a s s e n in der Annahme gleicher kategorialer Functionen bei Tieren und Menschen Schritt zu halten.

2. Die Zeit im denkenden Bewusstsein.

Das Kind lernt auf der Stufe seines natürlichen Bewusstseins bald das Wort Zeit gebrauchen. Es sagt: ich habe keine Zeit, die Zeit wird mir lang, ich kann die Zeit nicht erwarten; es versteht etwas darunter, wenn es im Märchen hört: „vor langer Zeit." Aber es geht doch mit dem Gebrauche des Wortes Zeit sparsam um; es sagt lieber wie ja auch wir Erwachsene: „Was ist die Uhr?" statt: „Welche Zeit ist es?" Nur eine dunkele Vorstellung ist vorhanden, wenn es hört: „es war einmal", wenn es sagt: „Geh nicht so langsam — ich bin da g e w e s e n — ich komme gleich — jetzt sehe ich's — pass' auf — jetzt kommt's." In allen diesen Ausdrücken bekundet sich ein Bewusstsein von dem Nacheinander von Vorstellungen. Das Kind ist sich seiner selbst mit der wechselnden Reihe seiner Zustände dunkel bewusst. Aber dieses natürliche Innewerden des Nacheinander in den subjectiven Zuständen und objectiven Verhältnissen ist eben nicht der B e g r i f f Zeit. Diesen entdecken wir erst da, wo das denk e n d e B e w u s s t s e i n bestimmte Abschnitte aus jener fortlaufenden Kette von Zuständen herausschneidet, jenes TS^IVSIV vornimmt, auf welches tempus zurückweist, die gleichartigen Ausschnitte vermöge d e r R e f l e x i o n und A b s t r a c t i o n zusammenfasst und unter einen gemeinsamen Begriff stellt. So wurden zuerst die Begriffe Tag und Nacht, Monat, Stunde, die der Jahreszeiten und des Jahres gebildet. In fortlaufenden weiteren Denkakten entstanden immer neue Zeitbegriffe, wie Lebenszeit, Menschenalter, Jahrhundert u. s. w. Erst auf einer hohen Stufe der Abstraction konnte sich der Begriff der Ewigkeit, der unendlich kleinen und der unendlich grossen Zeit, der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und der Zeit überhaupt bilden. Zu den Artbegriffen der unendlich kleinen und unendlich grossen Zeit ist wie bei den entsprechenden Artbegriffen des Raumes die Grundfunction S c h n e i d e r , Psychol. Entwickelung.

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des N e g i e r e n s erforderlich; sie entspringen nur aus dem Denken, nicht aus irgend welcher Erfahrung. Man wird entgegnen: die Vorstellung der Ewigkeit ist doch nicht etwa eine solche, deren nur der Gelehrte, auf der Höhe unserer Wissenschaft Stehende teilhaftig sein könnte. Der Psalmist oder der antike Philosoph hat ebenso einen Begriff von der Ewigkeit gehabt wie wir. Allerdings lässt sich nicht bestreiten, dass das denkende Bewusstsein auch schon in jener frühen Zeit zu dem Begriffe der unbegrenzten Zeit sich erheben konnte; es gehörte ja dazu nur die allgemein vorhandene Denkfunction, über die äussersten Grenzen der erfahrenen Zeit hinaus den Analogieschluss zu machen, dass auch dort die Dinge in ihrem Aufeinander bestehen und deren wechselnde Zustände sich in einem Bewusstsein abspiegeln können. Aber es ist doch fraglich, ob der antike Mensch, der alte Psalmist, wenn er von seinem Jehova spricht, der da war und ist und sein wird, oder der Homerische Sänger, wenn er die Geschlechter der Menschen wie die Blätter dahinwelken sah, oder der antike Philosoph, wenn er sein anaiqov auf die Zeit übertrug, zu ebenso kühnen und deutlich bewussten Abstractionen fortschritt wie der moderne Geologe, der da weiss, dass die Dauer des Menschengeschlechts nur eine kurze Spanne in der Entwickelung der Erdoberfläche ausmacht, oder wie der Astronom, der für die ungefähren Angaben seiner gewaltigen Zeitvorstellungen zu Lichtjahren seine Zuflucht nehmen muss. Soviel steht fest: der B e g r i f f derZeit ist nicht ein von Anfang an in dem denkenden Bewusstsein fertig liegender, sondern allmählich wie alle anderen Begriffe sich entwickelnder. Fertig liegt in dem Bewusstsein a priori die unabänderliche Grundbedingung des Innewerdens eines fortlaufenden Wechsels von Veränderungen, an welches auch nach Riehl (II 111) unsere Zeitvorstellung gebunden ist; fertig auch die Denkfunctionen als Dynamis; aber erst wenn diese durch Vergleichen, Identificieren, Unterscheiden, Zusammenfassen zur Energeia werden, kann der B e g r i f f Zeit entstehen. Diese Denkfunctionen bethätigen sich auch gegenüber den von Vorstellungen freien Zuständen des Schlafes und der Ohnmacht, welche nicht, wie Wundt behauptet, zeitlos sind. Das denkende Bewusstsein überträgt den Zeitbegriff auch auf das zwischen den bewusstgewordenen Grenzen jener Zustände Liegende, da muss es ebenfalls ein Nacheinander von Zuständen gegeben haben. Auch das Denken in seinem Verlaufe wird Object seiner selbst. Freilich nur den sprachlichen, den im Verhältnisse zum Denken selbst schwerfälligen, langsamen Ausdruck, nur die Freuden des Gelingens

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und das Unbehagliche der Anstrengung kann es beobachten. So offenbart sich das Dasein der Zeit dem denkenden Bewusstsein zuletzt nur durch den Wechsel seiner eigenen Zustände, und in diesem, aber auch nur in diesem Sinne hat W u n d t Recht, wenn er (I 282) sagt: „Zeit ist Denken, Denken ist Zeit." Zeit ist vor allem a r i t h m e t i s c h e s Denken; d. h. das Zeitbewusstsein ist die unerlässliche apriori'sche Grundlage aller arithmetischen Gewissheit. Feste Zahlenbegriffe und damit alle arithmetischen Deductionen bis zu den kühnsten Reihenrechnungen sind nur durch das Bewusstsein absolut gleicher zeitlicher Bewusstseinsmomente möglich, wofür natürlich die Kategorie der G l e i c h h e i t Urquell ist. Auch die Zahlen beziehen sich, so sagt R i e h l (II 165), auf „Thatsachen der Natur". Es ist richtig, wenn auch nicht glücklich gefasst: „die Zahlen lassen sich in der objectiven Wirklichkeit nicht einmal anders voraussetzen als sie sich in der subjectiven abbilden." (II 285.) Das eben müssen wir gerade auf dem Standpunkte des Kriticismus von all' unserem Denken voraussetzen, wenn wir nicht wieder dem subjectiven Idealismus und dem Skepticismus verfallen wollen. Die Zahlen sind aber nicht A b b i l d u n g e n in uns, sondern unsere eigenen u r s p r ü n g l i c h e n Geb i l d e . Da also alle Thatsachen der Natur für das denkende Bewusstsein in seiner Zeitanschauung verfliessen, so sieht sich das zählende Denken oder das begriffliche Zählen zunächst oder besser allein an diese seine subjective Zeitanschauung gebunden. Die Erfahrung zeigt ihm auch hier, wie im Räume, niemals etwas vollkommen Gleiches; will es Arithmetik treiben, so muss es sich selbst die Einheit und daraus die übrigen Zahlenbegriffe a priori zur synthetischen Einheit des Selbstbewusstseins erheben, und zwar, indem es die zeitliche Form der blossen gleichmässigen beharrlichen Aufeinanderfolge seiner Bewusstseinstände möglichst klar erfasst — v o l l k o m m e n gelingt auch das nicht bei der beständigen Ungleichheit unserer Zustände — und durch die Kategorie der Einheit und Gleichheit sich in gleiche Teile zerlegt denkt. Sonach sind allerdings die Continuität der Zeit und die durch die Kategorie erzeugte Zahl nicht identisch; ja die trennende Zahl ist sogar jener fortlaufenden Zeit entgegengesetzt, wie denn alles Denken zum Sein, d. h. zu allem, was es denkt (und mag dieses Sein es selbst, das Denken, sein), in einem gewissen, unleugbaren Gegensatze steht. Aber es ist mir unverständlich und mit der eben citierten Aeusserung unvereinbar, wenn R i e h l die Zahl, die sich unmittelbar auf jenes Continuum bezieht, und dieses Continuum „wesentlich verschiedene Seiten der gegenständlichen Welt ausdrücken" lässt. (II 185.)

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L o t z e sagt mit Recht (Mikrok. II 196): „Ohne Zweifel sind auch für ein Thier drei Menschen, die es sieht, etwas anderes, als zwei; ohne Zweifel können die drei, da sie trennbar sind und durch Auseinandertreten sich scheiden, auch für die Anschauung eines Thieres nicht Eine Masse oder Eine Vorstellung bilden, sondern gewiss unterscheiden sie sich als drei Bilder, und diese Dreiheit selbst von der Zweizahl der Bilder in einem anderen Falle der Wahrnehmung. Ist dieses Gewahrwerden von Unterschieden ein Zählen, so zählen die Thiere; verstehen wir unter Zählen zugleich das mitwirkende Bewusstsein, drei sei in einer ins Unendliche gehenden Reihe an seinem Platze zwischen Zwei und Vier zu finden, und entstehe aus diesen beiden Gliedern durch Hinzusetzung oder Abzug der Einheit, so zählen die Thiere ohne Zweifel nicht, und nur der Mensch besitzt wohl die Fähigkeit, mit dieser Klarheit des Bewusstseins über alle Beziehungen Mass und Ziel an die Dinge zu legen." Wer zuerst eine Mehrheit möglichst g l e i c h a r t i g e r Dinge, z. B. Fichten, Schafe, Bienen zählte, der besass zunächst die Fähigkeit, diese gleichartigen Dinge unter einer GesammtvorStellung, unter einem Gattungsnamen zusammenzufassen. Der Nomade, w e n n er etwa schon alle Stücke seines Hauswesens, Weiber, Kinder, Pferde, Rinder, Schafe, Wagen, Beile u. s. w. so zählen konnte, wie etwa ein heutiger Reisender auf dem Bahnhofe, um nichts zu vergessen, die Anzahl seiner Gepäckstücke der verschiedensten Art sich merkt, so musste er die dunkle Vorstellung des hohen Gattungsbegriffes Ding oder Gegenstand besitzen. Aber diese Kunst der Begriffsbildung allein erklärt das Dasein der Zahlwörter noch nicht. Ich sehe zuerst einzelne Finger, dann vergleiche ich einen Finger mit dem anderen und bilde die Gesammtvorstellung Finger. Aber das ist nicht die Vorstellung: zwei, drei u. s. w. Finger. Was muss da noch hinzukommen? Das Tier addiert nichts, auch nicht 1 + 1 . Was geht in dem menschlichen Bewusstsein beim Addieren vor? Ich habe das Bewusstsein der Wahrnehmung eines Fingers; ich habe in zeitlicher Aufeinanderfolge noch einmal das Bewusstsein der Wahrnehmung eines anderen Fingers; nun habe ich die Fähigkeit, nicht nur das Gesammtfacit des Gattungsbegriffes Finger zu bilden, sondern auch die einzelnen getrennten Wahrnehmungsgrössen aneinander zu reihen und frei und willkürlich zu den Wahrnehmungsgrössen 2, B, 4 u. s. w. Finger zusammenzufassen. Der Geist vergleicht das einheitlich gefasste Quantum der zwei Finger mit dem Quantum des einen und der Dreiheit. Jeder solcher Schritt, auch der kleinste, ist ein freies Operieren mit dem Wahrnehmungsgehalte, in welchem immer der

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dem Denken ureigene Begriff der Grösse, der Einheit, Vielheit und der Allheit spielt; und wäre das Denken nicht befähigt, in dem fortwährenden Wechsel und Flusse der Wahrnehmungen etwas als Einheit anzunehmen und festzuhalten, so würde nicht die kleinste Zahlenreihe entstehen können. Erst auf Grund solcher allein durch das Apriori ermöglichten Akte des Zusammenfassens einzelner Individuen zu grösseren Ganzen und zu Reihen, wenn auch nur von wenigen Gliedern, also erst auf Grund des Aktes des Zählens konnte sich das Zahlwort, d. h. ein bestimmter Begriff von den Grössenverhältnissen der Empfindungen bilden, wie sie sich aus dem Flusse der Erscheinung durch Stiften einer Einheit, Vergleichen und Zusammenfassen heraushoben. Anfangs bildet sich der Mensch gewiss auf Grund einer kleinen Reihe nur die concreten Vorstellungen 2S chafe, 2 F i n g e r u. s. w.; aber im Laufe seiner geistigen Entwickelung wird er dieser Wiederholung selbst, sei es von Wahrnehmungen desselben Gegenstandes, sei es ungleichartiger, inne; und so bildet er durch eine Zuthat von freier Geisteskraft aus jenen verschiedenen Zweiheiten von bestimmten Erscheinungen die nackte Abstraction der Zweiheit überhaupt, die Zahl Zwei. Aber im Grunde liegt hier keine A b s t r a c t i o n v o n E r f a h r u n g e n , sondern eine a p r i o r i ' s c h e freie That des Denkens vor. Zwei Schafe, zwei Ziegen; zwei Erlen, zwei Buchen; kurz, alle Zweiheiten der Erfahrung sind trotz manches Aehnlichen doch immer etwas so Verschiedenes, dass aus diesen Wahrnehmungsgrössen allein durch blosse Abstraction schwerlich jemals der Begriff der Zweiheit gewonnen werden könnte, wenn nicht der Mensch a priori, d. h. vermöge der kategorialen Functionen, mit gewaltsamer, freilich nie vollkommen gelingender Abwehr des immer verschiedenen Erfahrungsstoffes, des inneren wie äusseren, sich die Aufgabe zumutete, den beständigen Fluss seiner Bewusstseinszustände durch ein einheitliches, selbstgedachtes Mass zu teilen und die Teile zusammenzufassen. Darin ist also die obige Darstellung L ö t z es zu berichtigen, dass einerseits das menschliche Zählen nicht das Bewusstsein der Unendlichkeit voraussetzt, andererseits aber das tierische Innewerden überhaupt nicht „eine Z w e i - und D r e i z a h l d e r B i l d e r " gewahr wird, sondern nur die Empfindungsmassen ohne jede bestimmte zählende Thätigkeit als ein Weniger oder Mehr auf sich einwirken fühlt. Alles Zählen setzt natürlich überhaupt die Möglichkeit voraus, die Empfindung und Wahrnehmung, sei es die ein- oder mehrfache, als ein bestimmtes Etwas, ein Quantum, einen bestimmten Gehalt dem Bewusstsein einzuverleiben. So kann ich also S t a d l e r (Erk.

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S. 78) nicht zustimmen, welcher Einheit, Vielheit und Allheit n i c h t a l s G r u n d b e g r i f f e gelten lassen will, da sie keine Bedingungen der Erfahrungsmöglichkeit enthielten; er setzt für die Zählbarkeit nichts als das Teilhaben am Räume voraus. (S. 79.) Für mich ist die Existenz der Zahlwörter, dieser im hervorragenden Grade abstracten, weil im Grunde apriori'schen Gebilde nur unter der Voraussetzung erklärbar, dass die Begriffe Grösse, und deren allgemeinste Gestaltung in der Einheit, Vielheit und Allheit zu den Kategorieen gehören, d. h. unmittelbare Erzeugnisse des apriori'schen Stammbesitzes sind. Die Erfahrung bietet niemals wirkliche Reihen absolut gleicher Einheiten, durch deren systematische Zusammensetzung die Zahlenreihen entstehen. Das den Charakter der Notwendigkeit und Allgemeinheit tragende Zählen und Rechnen beruht einzig und allein auf jener apriori'schen Function, irgend einen Bewusstseinszustand als Einheit zu setzen und wiederzusetzen und diese Einheiten zu neuen Grössen zu verbinden. R i e h l sagt (II 286): „die abstracte oder unbenannte Zahl entsteht, wenn wir statt auf den gezählten Inhalt ausschliesslich auf die setzende oder zusammensetzende oder unterscheidende und vereinigende Denkthätigkeit reflectiren." Aber Reflexion und die davon untrennbare Abstraction a l l e i n , mögen sie auch über die Mannigfaltigkeit des Erfahrungsstoffes zu der Denkthätigkeit hinüberschauen, in welcher das als constant zu betrachtende Apriori waltet, verhelfen weder zu u n b e n a n n t e n Zahlen, noch, wie es nach jenen Worten scheinen könnte, zu b e n a n n t e n , die jene apriori'sche Function der Synthesis unbenannter Grössen im Stillen voraussetzen. A l l e s Z ä h l e n ist vielmehr nur denkbar als das unmittelbare Erzeugnis des Apriori, und dieses offenbart sich dem zählenden Bewusstsein nicht a b s o l u t , sondern nur v e r h ä l t n i s m ä s s i g am reinsten in dem Versuche, den continuirlichen Fluss seiner eigenen Zustände in möglichst gleiche Teile zu zerlegen. Wie die Vorstellung des Raumes auf der Zeit, so beruht selbstverständlich auch die Geometrie auf der Arithmetik. „Wir fassen, sagt R i e h l (II 114), die Linie zunächst in der Form einer stetigen Succession ihrer gedachten oder empfundenen Elemente auf, also mittelst der Zeitvorstellung." So verhält es sich bei allen anderen geometrischen Begriffen. Der Begriff des u n e n d l i c h e n Raumes, das wissen wir von Kant (vgl. S. 60!), gründet sich auf dem Bewusstsein, dass wir nie mit der in der Zeit verfliessenden Durchmessung dieser Grösse, d. h. eben zunächst mit dem Zuzählen von zeitlich verfliessenden Bewusstseinszuständen fertig werden. Wir

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dürfen also mit Riehl (II 287) „die Arithmetik die Wissenschaft des Ordnungs- und Positionssystems in der Zeit" nennen. In dem Grade als sich dieses Wissen um die Zeit herausbildet, stellt sich auch das S e l b s t b e w u s s t s e i n ein. Das n a i v e Denken sucht die Zeit da draussen an möglichst deutlichen äusseren Erfahrungsgegenständen; das k r i t i s c h e Zeitbewusstsein sucht sie in sich selbst und erkennt damit so recht eigentlich sein eigenes Selbst, so weit es ihm als kritischem in der Erscheinung erkennbar ist. Es ist gar nicht anders möglich, als dass das richtige Zeitbewusstsein zugleich ein kritisches ist. Die Möglichkeit einer solchen psychologischen Untersuchung auch des Zeitbegriffes verdanken wir K a n t s K r i t i c i s m u s . In Kant reifte zuerst das k r i t i s c h e Zeitbewusstsein heran, indem das Denken sich die Möglichkeit arithmetischer Sätze mit ihrer Notwendigkeit und Allgemeinheit zu erklären suchte. Aber wie beim Räume soll auch hier das kritische Denken sich nicht jene Einschränkung auferlegen. Es darf und soll die Möglichkeit alles und jedes Bewusstwerdens erwägen, die eigentümliche zeitliche Natur jedes Bewusstseins zu bestimmen suchen. Den Anstoss zu dieser Thätigkeit erhält das reifende Bewusstsein ohne alle Frage abermals v o n s i c h s e l b s t , aus seinem eigenen Reichtum schöpft es die Mittel und Werkzeuge, die Begriffe der M ö g l i c h k e i t und der damit aufs engste verbundenen N e g a t i o n , der N o t w e n d i g k e i t und A l l g e m e i n h e i t , also die Q u a n t i t ä t s b e g r i f f e der E i n h e i t , Vielheit und A l l h e i t , den von der Einheit unzertrennlichen Begriff der G l e i c h h e i t , der I d e n t i t ä t , wie sie ihmzuhöchst in der notwendig anzunehmenden Identität seines eigenen Selbst erscheint. Aber wir lassen uns durch solche Kriterien nicht verleiten, die Gesammtheit dessen, was in unserem Bewusstsein solch' apriori'schen Charakter trägt, deswegen zu einem alleinigen Stammbesitze unserer „reinen Anschauung", des Verstandes, der „Vernunft" zu stempeln und diesem gegenüber in einen unversöhnlichen Gegensatz die blinde Masse des Empirischen zu stellen. Eine negative oder problematische Erkenntnis trägt ebenso sehr apriori'schen Charakter, wie die allgemeine und apodiktische; und durch das Merkmal des E m p i r i s c h e n , durch Bearbeiten eines Erfahrungsstoffes verliert kein vernünftiges Denken das unveräusserliche Anrecht auf seinen apriori'schen Ursprung. In allem wirklichen Denken functionieren beständig die Kategorieen, schwerlich bleibt irgend eine derselben ganz unbenutzt, und auch das kritische Zeitbewusstsein hat ebenso wenig wie das kritische Raumbewusstsein hierin vor dem logischen und wissenschaftlichen vor-

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kritischen oder nicht-kritischen etwas voraus. O h n e a l l e E r f a h rung ist auch dieses kritische Zeitbewusstsein schlechterdings undenkbar; seine Erfahrung sind die allgemeinsten Thatsachen, die Urthatsachen des Seelenlebens, Bewusstseinsvorgänge. (Vgl. Riehls treffliche Fassung II 131!) Wie selbst dieser Philosoph den psyc h o l o g i s c h e n Charakter solcher Untersuchungen bestreiten kann, ist mir unbegreiflich, zumal da er doch zugiebt, dass „Kants Ansicht von der Entstehung der Raumvorstellung in der Hauptsache mit den p s y c h o l o g i s c h e n Theorieen Herbarts zusammenfällt". (II 115.) Vom kritisch-psychologischen, vom transcendental-psychologischen Standpunkte erscheint der gespannte Gegensatz zwischen dem transcendenten Idealismus und empirischen Realismus überwunden. Die Zeit ist, l o g i s c h genommen, ein B e g r i f f , welcher Mannigfaltiges unter sich befasst, mit welchem aber, a l s s o l c h e m , sich keine Anschauung verbinden lässt; m e t a p h y s i s c h genommen, bezeichnet sie die unablässige, schlechterdings unvermeidliche, nicht fortzudenkende, also denknotwendige Aufeinanderfolge absolut aller Zustände des Bewusstseins und die daraus unmittelbar gesetzte, projicierte, erschlossene Aufeinanderfolge der Zustände absolut aller Dinge. E r k e n n t n i s t h e o r e t i s c h genommen, enthüllt sich uns in der Zeit von neuem eine Schranke, an welche all' unser Wissen gebunden ist, die Grundbedingung, der sich alle unsere Bewusstseinszustände zuerst und vor allem unterwerfen müssen, auch die vom Räume und seinen Verhältnissen. Jedes Markten um ein Mehr oder Weniger in der Erkenntnis der Dinge an sich ist von dem Standpunkte des Kriticismus abzuweisen. Aber die Folgerung ist unberechtigt, „dass, wenn wir unser Subject oder auch nur die subjective Beschaffenheit der Sinne überhaupt aufheben, alle die Beschaffenheit, alle Verhältnisse der Objecte im Raum und in der Zeit, j a selbst Raum und Zeit verschwinden würden." Ja, als E r s c h e i n u n g e n würden sie nicht a n s i c h s e l b s t , sondern n u r in u n s existieren: aber sie sind eben nicht b l o s s E r s c h e i n u n g e n , so wenig wie wir selbst. S t a d l e r (Erk. S. 59) will „sich nicht vermessen, den psychischen Vorgang in seinem Verlaufe zu beobachten, sondern nur seine im Vorstellungsresultat gegebene Leistung zergliedern". Er setzt sogar einen Unterschied zwischen „erkenntnisstheoretischer und psychologischer Wahrheit". Es kann nur eine Wahrheit, nur e i n e n wahren Sachverhalt geben. Nur von verschiedenen Gesichtspunkten aus kann derselbe betrachtet werden. So kann ich einmal fragen: welche apriori'schen Elemente ermöglichen das Zustandekommen des Zeitbegriffes? — ein andermal: wie ist eben das Object dieses

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Zeitbegriffes, die Natur des. Bewusstseins hinsichtlich des Zeitobjectes, beschaffen? Beide Male ist die Zeit Zeit, A = A. Wir haben sogar gesehen und werden es uns gleich an einer dritten Stelle Stadlers noch einmal vergegenwärtigen, dass beide Untersuchungen gar nicht von einander zu trennen sind; nur die gewonnenen Sätze kann man unter die beiden Wissenschaftsbegriffe Erkenntnistheorie und Psychologie verteilen. Stadler schreibt nämlich (S. 81) scharfsinnig: „die continuirliche Zusammensetzung der Wahrnehmungen ist keineswegs selbst schon die Vorstellung ihrer zeitlichen Einheit; sie ist bloss ihre conditio sine qua non. Jenes Gesetz bewirkt erst, dass überhaupt ein Stoff für die Synthese gegeben werden kann. Dass ich aber successive verschiedene Eindrücke empfange, das ermöglicht mir noch nicht die Behauptung, dass dieselben Bestandtheile einer einzigen Zeitanschauung ausmachen. Das N a c h e i n a n d e r m e i n e s B e w u s s t w e r d e n s ist noch nicht das B e w u s s t w e r d e n e i n e s N a c h e i n a n d e r . Wenn wir die empirisch zusammenkommenden Wahrnehmungen einfach aufnähmen, so würden wir gleichsam nur Buchstaben, nicht Worte von allgemeiner Bedeutung, Erfahrung, lesen. Eine Zeiteinheit erkenne ich erst dann, wenn ich das Bewusstsein habe, dass mehrere Momente meines Vorstellens zeitlich so zusammen gehören, dass ich den einen ohne die entsprechende Zuordnung des anderen überhaupt nicht reproduciren kann. Sobald ich mir denke, dass die Vorstellung eines Zeitpunktes die eines anderen unausbleiblich nach sich zieht, werden mir beide zu etwas Zusammenhängendem, zu einem Ganzen, bilden Theile Einer Anschauung, gehören zu Einer Zeit. Eine solche untrennbare Zusammengehörigkeit der Wahrnehmungen kann ich aber niemals aus der Erfahrung ablesen. Da würde sich höchstens zeigen, dass sie bald in diesem, bald in jenem Verhältnisse, und im einen häufiger als im andern erscheinen; niemals aber könnte geschlossen werden, dass eine solche Verbindung überhaupt unauflöslich sei. Die Vorstellung einer notwendigen Zusammengehörigkeit von Erscheinungen kann also nur aus dem Bewusstsein entspringen, dass die Handlung der Synthese nach einer unumgänglichen Regel geschehe. Die für die Identität des Bewusstseins erforderliche Zeiteinheit kann somit nur unter Voraussetzung einer Notwendigkeit der Verknüpfung erzeugt werden. Wir müssen also den Grundsatz aufstellen: (136.) Jede Vorstellungsverknüpfung enthält eine notwendige Verknüpfung der Wahrnehmungen in der Zeit. Oder: Jeder Gegenstand

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Psychologische Entwicklung des Apriori.

der Erfahrung

ist seinem

Zeitverhältnisse nach gesetzmässig b e-

s t i m m t." Stadler fragt sich also: Welches Urteil muss ich als feststehend annehmen, damit die Vorstellung der Zeit eines Nach- und Nebeneinander ermöglicht werde. E r analysiert also mit Kant den apriorischen, d. h. alle Erfahrung

erst

ermöglichenden Vorstellungsgehalt

des denkenden Bewusstseins, er stellt eine lange Reihe von Urteilen von ursprünglicher Notwendigkeit über diesen Vorstellungsgehalt als Inbegriff der Erkenntnistheorie zusammen.

Die durch solche Grund-

sätze, Principien, entwickelten apriori'schen „Begleitungsvorstellungen" (S. 84) haften, wie man zugeben muss, a priori in unserem Bewusstsein und ermöglichen erst alle Erfahrung.

Aber dieser Complex von

Grundsätzen, Principien über die „Begleitungsvorstellungen" aus einer langen Reihe von Urteilen,

in welchen eine

besteht

grosse Zahl

von Begriffen verknüpft ist. Die F r a g e ist also doch berechtigt: Was entspricht diesem in langer Abfolge des discursiven Denkens und des Sprechens verlaufenden Urteilscomplexe in der Seele, im Geiste, im Denken?

Liegt diese Summe,

dieses System

von Begleitungsvor-

stellungen mit seinen einzelnen Bestandteilen fertig abgeschlossen d a ? oder ist es vielleicht auf wenige Functionen (Kategorieen) zuführen?

zurück-

Und wie kommt das Bewusstsein, welches die Synthese

so vieler Begriffscomplexe in den Grundsätzen vornimmt, zu den Bestandteilen des Complexes, zu den Begleitungsvorstellungen

selbst.

Denn die Grundfunctionen des Denkens bethätigen sich schon in dem Entstehen, in dem Setzen und Schaffen derselben, nicht erst im Urteilen und Schliessen.

Zwar gelangt man durch Urteilen zu Begriffen,

aber in dem Setzen eines Einzelvorstellungen,

Subjectsbegriffes,

sei es auch

nur in

offenbaren sich schon die apriori'schen Eigen-

schaften des Geistes, um wieviel mehr nicht in dem Erzeugen der Begleitungsvorstellungen! Also, wenn Stadler nach Kant mir darthut, dass nur durch eine Reihe notwendiger Grundsätze oder Principien alle übrige Erkenntnis,

alle Erfahrung

zu Stande kommt, dass in

Sonderheit der vorhin citierte Grundsatz über die notwendige Verknüpfung der Wahrnehmungen in der Zeit, ferner der Grundsatz über das Vorhandensein der beharrlichen Zeitanschauung als Grund jeder Vorstellungsverknüpfung

die Bedingung

für jedwedes Urteil,

die Bedingungen der räumlichen Synthese erst schafft,

sogar

so ist diese

Belehrung über die Möglichkeit alles Urteilens, alles Erfahrens und Erkennens, kurz diese Erkenntnistheorie ein unschätzbarer Gewinn; aber letztes und höchstes

Ziel

meines

Wissens

muss mir doch

nicht diese Summe von erkenntnistheoretischen Sätzen, sondern die

Psychologische Entwicklung des Apriori.

139

Theorie über die Natur des erkennenden Bewusstseins selbst und über die ihm anhaftenden Eigenschaften sein, welche jene Begleitungsvorstellungen erst hervorbringen. Ich muss doch versuchen, dieses Substrat mit seinen Eigenschaften oder Functionen und das Verhältnis der letzteren zu einander, soweit es auf dem Boden des Kriticismus möglich ist, zu erkennen und zu beschreiben, nicht bloss die Wirkung der Zeitfunctionen (S. 83), sondern die Function selbst, „ihr eigenes Wesen" zu erfassen. Nicht die Erkenntnistheorie, sondern die P s y c h o l o g i e d e s B e w u s s t s e i n s m i t s e i n e n a p r i o r i ' s c h e n F u n c t i o n e n muss mein letztes Ziel sein. Vor einem Rückfall in den psychologischen Paralogismus bewahrt mich dabei Kants Kritik. (Vgl. S. 2.) In dem Fortgange seiner Bestimmungen bezeichnet Stadler jenes Beharrliche „als die Art, wie dieses Mannigfaltige (der Empirie) zusammengefasst, verknüpft, geformt wird". Diese „subjective Bedingung erscheint in die Objecte der Dinge hineinprojicirt." „Das Bleibende der Zeit producirt in ihrer empirischen Bestimmung, gleichsam als ein Spiegelbild, das Unwandelbare des Daseins." Ist man nicht berechtigt, nach dem Subjecte dieses Z u s a m m e n f a s s e n s , V e r k n ü p f e n s , F o r m e n s , Hineinprojicirens, dieses Producirens eines Spiegelbildes, nach dem logischen obersten Subjecte aller Grundsätze der Erkenntnistheorie zu fragen? Weil S t a d l e r s Betrachtungsweise wie W i t t e s diesen realistisch-psychologischen Charakter verliert und geradezu ablehnt, deshalb lesen wir (S. 86) einen so paradox klingenden Satz: „Mein e i g e n e s D a s e i n , das aus dem Zeitverlauf sich als Einheit hervorhebende Ich kann ja überhaupt erst an diesem Beharrlichen s i c h e r z e u g e n . " So verfallen wir wieder einem extremen Idealismus. Ich kann nicht begreifen, wie sich mein eigenes D a s e i n erst an dem Beharrlichen e r z e u g e n soll. Wie vereint sich das mit dem 7. Grundsatze (S. 85), nach welchem doch dieses Ich die Vorstellung der beharrlichen Zeitanschauung h a b e n , also eine apriori'sche Function ausüben und die Mittel dazu besitzen muss, bevor Erfahrung entstehen kann? Das unerlässliche Apriori auch für unser Zeitbewusstsein ist wie wir sahen, die absolute Identität des Bewusstseins; da aber alles Bewusstwerden andererseits an Erfahrung, Empfindung gebunden ist, so kann R i e h l (II 123) mit Recht sagen, dass „das Gefühl unserer eigenen Existenz die ursprüngliche Grundlage für das Moment des Beharrens" der Zeit ist. Auch Kant bemerkt am Ende der transcendentalen Aesthetik, wo er sich zu einer Art von psychologischer Analyse hingedrängt fühlt, „dass wir nur zu der Gesammt-

140

Psychologische Entwickelang des Apriori.

Vorstellung des Ich auf Grund der inneren Wahrnehmung von dem Mannigfaltigen, was im Subject vorher gegeben wird, gelangen." Dies aber in seinem ganzen Umfange als Sinnlich zu bezeichnen, ist falsch. Die höheren Affecte wie ästhetisches Wohlgefallen, wissenschaftliche und ethische Begeisterung, der Mechanismus der Vordtellungsprocesse, auf welches alles wir doch besonders achten müssen, wenn wir die Natur des Ich erfassen wollen, dürfen mit den Gefühlen sinnlicher Lust und Unlust nicht auf gleiche Stufe gestellt werden.

C. D i e a p r i o r i ' s c h e n V e r s t a n d e s f u n c t i o n e n in d e n v e r s c h i e d e n e n S t u f e n des Bewusstseins. 1. Im tierischen Innewerden.

Das Tier sowohl wie der Mensch empfangen durch eine Reihe mehr oder weniger verschiedener Sinne Eindrücke vom eigenen Leibe und von der Aussenwelt. Alles das sind nichts anderes als Vorgänge, Veränderungen unmittelbar in dem Eigenleben des empfindenden Subjectes selbst. Weder das Tier noch der Mensch nehmen durch Tasten, Schmecken oder irgendwie sonst ein Object d i r e c t wahr, sondern in ihr wie auch immer beschaffenes Bewusstsein gehen die allerdings durch das Object, den eigenen oder fremden Körper, veranlassten Modificationen ihrer auch noch so niedrigen Wahrnehmungswerkzeuge ein. Tier oder Mensch lernen nicht die angenehme Nahrung kennen, sondern sie werden nur der angenehmen Empfindung inne, welche die Nahrung mit ihren bestimmten Eigenschaften auf die ebenso bestimmten Sinne macht. Aber schon bei den allerersten und einfachsten Arten des Innewerdens solcher Eindrücke dürfen wir, um die Möglichkeit der Erfahrung zu erklären, nicht bei der Annahme blosser äusserer Eindrücke stehen bleiben. Wenn wir schon bei der Pflanze, bei welcher wir keine Spur des Innewerdena bemerken können, doch von einem Assimilationsprocesse der Nahrungsaufnahme nur in dem Sinne reden können, dassnach den a p r i o r i a n g e l e g t e n B e d i n g u n g e n i h r e s O r g a n i s m u s der fremde Stoff sofort und unmittelbar in etwas dem Pflanzenstoffe Ähnliches umgewandelt wird, so gilt dies in viel höherem Grade bei dem Tiere, selbst bei dem niedrigsten, sobald mit jenem Assimilieren fremder Stoffe oder mit irgend welchem auf einen beliebigen Sinn ausgeübten Reize eine auch noch so unbedeutende Spur des Innewerdens verbunden ist. Die leiseste und dumpfeste Regung von Lust oder Unlust in einem Infusorium oder sonst einem Schleim- und Gliedertiere, so unerklärlich in ihrem Zu-

141

Psychologische Entwickelung des Apriori.

standekommen wie die stärkste und klarste, nötigt selbst in diesen niedrigsten und primitivsten tierischen Organismen zu der Annahme einer apriori'schen F u n c t i o n , einer dem jedesmaligen Subject eigentümlichen, ursprünglichen F ä h i g k e i t pfangenen Reize.

des B e a r b e i t e n s

der

em-

Ja, selbst wenn wir mit R i e h l (I 25, I I 57 u. a.)

„bis zu den dumpfen, einseitigen Functionen des Hautsinnesblattes gelangen, aus dem sich die reiferen Organe des Verstandes entwickelt haben, und jenseits welcher Functionen alle Bewusstseinserregung und damit die Welt als Vorstellung erlischt", so stellt sich die Sache nicht anders.

Riehl verwirft mit Recht die r e i n e Subjectivität der

Empfindungen und betont die gesetzmässige Beziehung derselben zu den äusseren Reizen

und die Unterschiede

in den Reizen selbst.

( I I 53, 56, 194.) Vorsichtig spricht er von der Umwandlung der Beschaffenheit der Reize in die Qualität der Empfindung, einem Vorgange, der uns nach seiner Meinung wohl immer verborgen bleiben wird. ( I I 63.) Dennoch verliert sich bei der vorwiegend realistischen Tendenz der Riehl'schen Philosophie in vielen Aeusserungen diese Anerkennung des apriori'schen subjectiven, schon in dem Stadium des blossen Empfindens und Wahrnehmens notwendig vorauszusetzenden Factors.

Ich kann nicht

zugeben, dass „das Auge nur deshalb

„ „sonnenhaft ist," " weil es der Hauptsache nach ein Erzeugniss der Sonne ist" (S. 57), dass „nichts in unseren Empfindungen subjectiv ist, als das G e f ü h l ,

das wir in seinen stärkeren Graden als Lust

oder Unlust erfahren" (S. 63).

Nicht bloss diese mit den Vorstel-

lungen aufs engste verknüpften Gefühle, sondern die Art, wie überhaupt, allerdings auf Veranlassung einer „wahren äusseren Ursache", nämlich „der notwendig vorausgehenden B e s c h a f f e n h e i t des Reizes" (S. 60), sich im Innewerden oder Bewusstsein irgend eine Empfindung, z. B. die der Dichtheit (S. 62), bildet,

diese ist — abgesehen eben

von jener Veranlassung — etwas durchaus Subjectives, Apriori'sches. Ich

halte an Riehls Behauptung (S. 191) fest: „Unserem Bewusst-

sein kann nichts gegeben werden, das nicht sogleich von demselben gebildet und umgebildet würde", und ich verallgemeinere dieselbe auf jedwedes Innewerden.

In dieser Ansicht bestärkt mich noch der be-

achtenswerte Hinweis auf die wichtige Thatsache des Eigenlichtes der Augen, das sog. Augenschwarz, sowie auf die allen übrigen Sinnen in gleicher Weise eigene „zu Grunde liegende Erregung". (S. 41.) Es darf daher nach meiner Meinung kein Gegensatz in dem Sinne aufgestellt werden, dass die Q u a l i t ä t e n fühle

dagegen

zur I n n e n w e l t

zur A u s s e n w e l t ,

die Ge-

gerechnet werden (S. 66); beide

sind ihrem Wesen nach subjectiv, beide freilich durch die Aussenwelt

142

Psychologische Entwickelung des Apriori.

erregt und in ihrem bestimmten Zustande bedingt. Die Empfindungen sind nicht „ T h e i l e der directen Wahrnehmung" (S. 196), sondern sie sind der g a n z e und e i n z i g e Inhalt der Wahrnehmung, der gebildet und umgebildet durch die subjectiven Anlagen, das subjective Erfahrungsbild der objectiven Welt liefert. So gilt also schon von der Stufe des rein seelischen, tierischen Empfindens L a n g e s Behauptung (6. d. M. S. 255): „Auch die Sinnesempfindungen sind mit ihren einfachen Qualitäten etwas vor der Erfahrung liegendes. Sie haben gleiche Apriorität wie Raum und Zeit." Ja, wenn man bedenkt, dass diese Qualitäten trotz aller auch in jenen Tieren sich zeigenden Unterschiede doch bis zu einem gewissen Grade gleichartig bleiben, und dass folglich in diese gewissermassen allgemeine Form die mannigfaltigsten besonderen Eindrücke eingehen müssen, kann man sogar schon für diese Stufe unterschreiben, was Lange (S. 290) bemerkt: „Es giebt kein reines Denken, welches bloss das Allgemeine zum Inhalt hat. Es giebt auch keine Empfindung, welche nichts Allgemeines in sich hätte." Weiter aber brauchen wir auf den niedrigsten Stufen tierischen Innewerdens nichts voraussetzen. Es finden sich gewiss Organismen, welche ähnlich wie die Pflanze nach Verbrauch der zu ihrer Existenz notwendigen Bestandteile mechanisch, ohne willkürliche Bewegung neue Stoffe aufsaugen und dabei nichts weiter verspüren, als spontan auftretende, isolierte, dumpfe Lust- oder Unlustgefühle. Eine grössere Summe apriori'scher Functionen müssen wir bei denjenigen Tieren annehmen, welchen die Möglichkeit ihres Daseins durch ihre Organisation schwerer gemacht ist als jener niedrigsten Stufe, welche namentlich w i l l k ü r l i c h e r u n d a n g e s t r e n g t e r Bew e g u n g zu ihrer Ernährung und Fortpflanzung bedürfen. Die Biene, die weithin fliegt, von Blüte zu Blüte summt, dann den langen Heimweg zurücklegt und den Gewinn birgt, setzt den Sinnenreizen sicherlich ein grösseres Mass apriori'scher Kräfte entgegen. Sie mag zunächst zufällig auf einer Blüte sitzen und den Process des Einsaugens so mechanisch vollziehen wie jene niedrigeren Tiere, so dass sie auch nur ein dumpfes Behagen verspürt. Schwärmt sie aber unter dem Antriebe des Hungers willkürlich, leicht und zweckmässigst an tausend Blüten nah und fern umher, so ist das schwerlich ohne die Annahme der H a f t b a r k e i t gehabter Vorstellungen, d. h. ohne die G e d ä c h t n i s k r a f t , und auch nicht ohne eine gewisse Conc e n t r a t i o n s f ä h i g k e i t der mannigfaltigsten Eindrücke zu e i n e m Producte e i n e s innewerdendenSubjectserklärlich. Die wiederholten Eindrücke, welche etwa Gestalt, Farbe, Härte, Geruch u. s. f. auf die verschiedenen Sinne des Tieres machen, h a f t e n in der S e e l e des-

Psychologische Entwicklung des Apriori.

143

selben, v e r b i n d e n s i c h mit einander und werden in kürzerer oder längerer Zeit auf einen Träger dergestalt übergeführt, dass beim erneuten Auftreten des Hungers wahrscheinlich eine Erinnerung der früheren Eindrücke auftaucht, dass es beim blossen Ansichtigwerden einer neuen Blüte sich auch den angenehmen Geschmack wiedervorstellt und so selbst auf das ferner liegende Object zufliegt. Die einzelnen hierbei sich bildenden Seelenzustände mögen in noch so losem Zusammenhange durch vereinzelt zurückbleibende Spuren stehen; mag es auch vollends dem Tiere an der übergreifenden Gewalt eines alle Einzelnzustände verbindenden und beziehenden B e w u s s t s e i n s fehlen; immerhin müssen in seiner Seele ein Z u s a m m e n f l i e s s e n der verschiedensten Eindrücke zu e i n e r dem O b j e c t e in g e w i s s e r W e i s e e n t s p r e c h e n d e n E i n h e i t , die H a f t b a r k e i t dieser Eindrücke und ein Verräumlichen derselben nach aussen stattfinden. In Wahrheit kommen dabei Mensch und Tier aus dem Zustande ihres subject i v e n Empfindens und Vorstellens, des Innewerdens von E r s c h e i n u n g e n nicht hinaus; und treffend sagte L o t z e (Mik. II 186): „die Tiere stellen den Gegenstand, der ihre Sinne verletzt, als ein Etwas vor, von dem ihre Unlust herrührt; aber sie bilden sich wahrscheinlich von dem, was dieses Etwas an sich sei, keine Vorstellung, die von ihrer Art, durch den Gegenstand zu leiden, unabhängig wäre." Lotze spricht hier von einem tierischen E g o i s m u s des Empfindens, der beim Sehen und Hören des Menschen mehr und mehr schwindet. Aber anerkannt muss werden, dass das Seelenleben auch schon in seinen untergeordneten Erscheinungen die Eigenschaft zeigt, aus dem subjectiven Empfinden und Innewerden auf ein Object hinauszugehen, also jene Function zu üben, durch welche auch der Mensch ein Ding als Träger gewisser Eigenschaften ausser sich setzt. Das kritische Wissen bezeichnet diese Functionen als d i e K a t e g o r i e e n der Ursache und Wirkung, des D i n g e s mit Eigenschaften, der G r ö s s e , d i e s i c h in E i n h e i t , V i e l h e i t u n d A l l h e i t s p e c i a l i s i e r t , und diesen abstractesten Begriffen und kategorialen Functionen des denkenden Bewusstseins entsprechen im Tiere gewisse seelische Akte und Fähigkeiten, ohne welche selbst in viel niedrigeren Erscheinungen des Lebens die Möglichkeit desselben mit seinen eigentümlichen, noch so unvollkommenen Empfindungsarten, die Möglichkeit eines noch so kümmerlichen Erfahrens nicht erklärbar ist. Es kann jedoch hier nur von einer A n a l o g i e , nicht von einer unbedingten U e b e r e i n s t i m m u n g die Rede sein; denn nachdrücklich ist mit S t a d l e r hierbei immer der Unterschied „ e i n e r F u n c t i o n d e s p s y c h i s c h e n Caus a l m e c h a n i s m u s " und „ e i n e s b e w u s s t e n E r k e n n t n i s s p r o c e s -

144

Psychologische Entwickelung des Apriori.

ses", „ e i n e r b e w u s s t e n S y n t h e s e " zu betonen. (Erk. S. 115.) Unmöglich können j e n e allgemeinen animalischen Functionen mit den Kategorieen und Grundsätzen d i e s e s Processes gleichgestellt werden. Dann ständen ja Tiere und Menschen, die niedrigsten Tiere und die höchsten Menschen gleich. Sobald wir in die d e n k e n d e , B e g r i f f e erz e u g e n d e Menschenwelt, sei es auch auf der niedrigsten Stufe ihrer Bildung, eintreten, so finden wir in jenen Kategorieen des Denkens, der Begriffsbildung auch die Mittel, über die allem Animalischen gemeinsamen apriori'schen mechanischen Leistungen des unmittelbaren Setzens oder Erschliessens einer Ursache der Erscheinungen, eines Trägers der Eigenschaften hinaus, zu dem Bewusstsein jener h ö c h s t e n erk e n n t n i s t h e o r e t i s c h e n B e g r i f f e oder K a t e g o r i e e n als wirklicher Factoren u n s e r e s Geisteslebens zu gelangen. Werfen wir einen Blick auf die h ö h e r e n und h ö c h s t e n Stufen der Tierwelt, so könnte es häufig scheinen, als ob hier eine Reihe geistiger Eigenschaften des Menschen wenigstens im Keime vertreten wäre. Man redet von der Klugheit, Gelehrigkeit und Treue des Hundes, Pferdes und Elephanten. Aber für die Erklärung der uns hier begegnenden Erscheinungen genügt meistenteils, ja fast durchaus die Annahme e i n f a c h e r N a t u r t r i e b e d e r E r h a l t u n g und Fortp f l a n z u n g ; die Treue und Dankbarkeit des Hundes lässt sich allein aus der Haftbarkeit angenehmer Eindrücke begreifen; sein Gehorsam wird nur durch die Erinnerung an Schläge und Leckerbissen reguliert. Die künstliche Zucht und Macht der Gewohnheit kann allerdings grosse Gradunterschiede in jenen Eigenschaften bewirken, im Wesen wird dadurch jedoch nichts geändert. Der Hund wird z. B. durch Schläge und Leckerbissen an Reinlichkeit gewöhnt. Zeigt er sich einmal wieder unreinlich und sieht den Herrn mit dem Stocke, so könnte man mit Ueberschätzung des tierischen Bewusstseins etwa diese Vorstellungsreihe in dem Tiere vermuten: Ich habe oft schon oder gar immer Prügel bekommen, wenn ich unreinlich gewesen bin, folglich wird es mir auch jetzt so ergehen, ich werde daher lieber ausreissen. Aber diese Vorstellungsreihe mit ihren logischen Verbindungen läuft gewiss nicht in der Hundeseele ab. Vielmehr erweckt nur der Anblick des Stockes in Folge der Haftbarkeit der Vorstellungen die Erinnerung an die Prügel und die damit gedächtnismässig verknüpfte Veranlassung, und diese Erinnerung an frühere Schmerzen treibt als blind wirkende Kraft den Hund zur Flucht. Wenn die Vögel sich nach der Paarung zum ersten Male ihr Nest bauen, so befindet sich in ihrer Seele keine Vorstellung des Zweckes und der Mittel zu dessen Erreichung, sondern dies Verfahren

145

Psychologische Entwickeìung des Àpriori.

ist allein aus G e f ü h l s z u s t ä n d e n

der Lust

und U n l u s t

zu er-

klären, der im Verlaufe der organischen Entwickeìung neu auftretende Gefühlszustand drängt zu neuer Befriedigung ; der Vogel bedarf etwa eines weicheren Lagers, er irrt demnach in dumpfem Unlustgeflihle umher, findet zufällig etwas Geeignetes; sieht er das öfter, so erwacht die Erinnerung und mit ihr das Lustgefühl und in dem dumpfen, unklaren Streben und Verlangen

nach Befriedigung schiesst er auf

das gesehene Hälmchen oder Flöckchen zu. Der Mut und die s c h e i n b a r e L i e b e , mit welcher Tiere ihre Jungen verteidigen, 'lässt sich ebenfalls aus den genannten apriorischen Elementen erklären, gerade so wie die Schnelligkeit und Brutalität, mit welcher sie die Jungen oft Verstössen, verlassen oder auffressen.

Schon das fortwährende Beharren in demselben Zustande,

wahrscheinlich seit ihrer Entstehung bis zu ihrem dereinstigen Untergange, macht das Fehlen eines dem Menschen auch nur entfernt ähnlichen Bewusstwerdens bestimmterer Vorstellungen und Vorstellungsreihen zur Gewissheit. Selbst L o t z e ,

der doch sicher nicht zur Ueberschätzung der

Tier- und zur Unterschätzung der Menschenseele neigt, setzt in jener zu hohe Eigenschaften voraus, wenn er (Mikr. I I 282) den Nestbau der Vögel und Aehnliches „nicht ohne das Zugeständniss erklärlich" findet, „dass auch ihre Seelen Vorhandenes mit Abwesendem, mangelhaftes Wirkliche

mit dem vollkommenen Bilde des Gewollten ver-

gleichen, den Unterschied wahrnehmen und in einem dritten das Mittel

seiner Beseitigung

erkennen".

Bei

dem stupiden Beharren

der Tierwelt in ihrem Zustande müssen wir uns vor einer Annahme von Erkenntnisprocessen hüten, welche jenes als höchst wunderbar und kaum begreiflich erscheinen lassen würden.

Ganz falsch dünkt mich

daher W u n d t s Behauptung (I 445): „Die Thiere sind Wesen, deren Erkenntniss von der des Menschen nur durch die Stufe der erreichten Ausbildung verschieden

ist."

Bei Wundt ist freilich dieser Aus-

spruch ganz natürlich; er hält ja Schliessen

schon jedes Empfinden für ein

und Urteilen, die Thätigkeit

schenden Menschen" zeigt

nur

„des wissenschaftlich for-

„die Schlüsse gehäufter und ver-

wickelter" ; darum sind „die Resultate umfassender und vollkommener" als bei den Tieren.

Gerade die Kühnheit dieser Folgerungen lässt

mich an der Richtigkeit der Wundt'schen Auffassung des Empfindens als Schliessens und Urteilens zweifeln.

Liebmann

(z. A. d. W.

405 ff., 452) geht in der Annahme einer Verstandesthätigkeit bei den Tieren mit Wundt ziemlich weit.

L a n g e dagegen erkennt (Gesch.

d. M. S. 416) einen „ungeheuren" Unterschied zwischen den höheren S c h n e i d e r , Psychol. EntWickelung.

10

146

Psychologische Entwickelung des Apriori.

Tiergattungen und den niedrigsten Stufen der menschlichen Cultur an. „Denn eben die Ausdauer, welche auf die Verfertigung eines Instrumentes verwandt wird, das sich nur massig über die Leistungen eines natürlichen Steines oder Natursplitters erhebt, zeigt eine Fähigkeit, von den natürlichen Bedürfnissen und Genüssen des Lebens zu abstrahiren und die Aufmerksamkeit um des Zweckes willen ganz auf das Mittel zu wenden, welche wir sonst bei den Säugethieren und auch bei den Affen nicht leicht finden werden. Die Tiere bauen sich bisweilen recht künstliche Wohnungen, aber wir haben noch nicht gesehen, dass sie sich zur Herstellung derselben auch künstlicher Werkzeuge bedienen." Aber Lange fügt hinzu: „Trotzdem ist . . . selbstverständlich, dass wir von einem a b s o l u t e n Unterschiede nichts wissen." „Wir haben weder irgend eine Kenntniss von der ferneren Entwickelungsfähigkeit der Thierwelt, noch von den Stufen, durch welche der Mensch wandeln musste, bis er dahin kam, das Feuer zu pflegen und seinen Zwecken dienstbar zu machen." Nach meiner Ueberzeugung können wir dreist die Behauptung wagen: so lange der Tierseele nicht ein g a n z n e u e s a p r i o r i ' s c h e s Elem e n t zu ihrem bisherigen Besitztum hinzugefügt wird, wird siekeine wesentlich anderen Leistungen hervorbringen als bisher. Was das Tier in den bisher verflossenen Jahrtausenden seiner Existenz oder auch nur seiner bisher von den Menschen beobachteten Existenz nicht gelernt hat, das lernt es nie, und selbst die angestrengteste, künstlichste Dressur wird sich nicht der Erzeugung wesentlich neuer Fertigkeiten rühmen können, den Mangel der Natur füllt sie nie aus. Das tierische Bewusstsein ist ein loses Conglomérat einzelner Bewusstseinszustände, die nur durch das schwache Band der Haftbarkeit von einzelnen Vorstellungen, durch kein übergreifendes, vergleichendes, beziehendes Denken, durch kein übergreifendes Ichbewusstsein, durch kein bewusstes Unterscheidungsvermögen des Ich und Nicht-Ich zusammengehalten werden. Und so stimme ich hier L o t z e bei, welcher (Mikr. II 147) in dem menschlichen Geiste ein e i g e n t ü m l i c h e s Wesen, nicht einen auf die Tierseele wie auf einen Wildling gepflanzten Trieb edler Art erkennt, dessen c h a r a k t e r i s t i s c h e Natur selbst in den einfachsten und niedrigsten Aeusserungen seiner Thätigkeit schon wirksam ist. Wenn Lotze einschränkend hinzugefügt: „obgleich ihre volle Bedeutung und ihr Gegensatz gegen die Seele des Thieres erst in den letzten Ergebnissen ihrer Entwickelung deutlicher hervortritt", so erregt dieser Zusatz schon Bedenken; der specifische Unterschied ist schon auf ziemlich früher Stufe, jedenfalls in den leisesten Spuren einer Bil-

Psychologische Entwicklung des Apriori.

147

dung von Allgemeinvorstellungen, also in den noch so primitiven Erscheinungen einer immer jene Allgemeinvorstellungen voraussetzenden S p r a c h e erkennbar. Darin bestärkt mich Lotze, wenn er (S. 283) von dem egoistischen Interesse bei den Wahrnehmungen der Tiere spricht und keine fortstrebende Unruhe der Neugier, keinen Antrieb zum Fortschritte, keinen allgemeinen Wissenstrieb, keinen allgemeinen Drang zu vielförmigem Handeln bestehen lassen will. Ich kann nicht umhin, in der Tierseele die Fähigkeit anzunehmen, für eine Reihe von Empfindungen einen gemeinsamen T r ä g e r , ein S u b s t r a t zu s e t z e n , zu o b j e c t i v i e r e n . Aber ich wage schon nicht zu behaupten, dass in ihr dieser e i n e Träger ganz und klar aus dem Wirrwarr der Empfindungen heraustritt. Der eigene Körper, der andauernd und unmittelbar als Sitz der Lust- und Unlustgefühle erscheint, hebt sich wohl schon schärfer auch auf den weniger entwickelten Stufen des Innewerdens als etwas Fürsichbestehendes von dem wirren Grunde der übrigen Erscheinungen ab; aber gewiss gelangt selbst nicht das klügste und gelehrigste Tier zu einer Vorstellung, welche die mannigfaltige und lange Reihe der Wahrnehmungen des eigenen Körpers zu e i n e m G a n z e n und seiner T e i l e verknüpft. Die einzelnen Bewusstseinszustände des Tieres sind durch die Haftbarkeit der verschiedenen Eindrücke verbunden; je nach dem höheren oder niedrigeren Grade dieser Haftbarkeit gestaltet sich daher bei den verschiedensten Tierklassen, wie ja auch bei den Menschen, der Erfahrungsgehalt des Bewusstseins ganz verschieden; zerfällt doch noch im Bewusstsein des Kindes und des rohen Naturmenschen das Leben mehr oder weniger in getrennt liegende L e b e n s t e i l c h e n , zwischen denen jeder feste Zusammenhang fehlt. Bei dem Tiere vollends nötigt uns nichts, Akte des Innewerdens anzunehmen, durch welche der andauernde Wechsel der einzelnen Bewusstseinszustände zu einer Einheit in etwas Beharrlichem verbunden würde. Das setzt einen neuen apriori'schen Factor voraus, dessen Vorhandensein nicht verborgen bleiben könnte. Auch in diesem Stadium unserer Untersuchung erhob sich wieder die Frage nach der Möglichkeit der Objectivierung der Empfindungen. R i e h l bestreitet auch hier die Berechtigung, zu dem Causalitätsbegriffe Zuflucht zu nehmen. (II 195 ff., 258.) Ich halte diesen aber für unentbehrlich. Allerdings handelt es sich hier um „Ursachen in g a n z gew ö h n l i c h em Sinne, um Dinge der Wahrnehmung", nicht um wissenschaftliche Ursachen. (II 196.) Weder ein W i s s e n im strengsten und allein berechtigten Sinne des Wortes findet hier statt, wie Riehl mehrfach behauptet (II 67, 104, 166, 173), noch in demselben Sinne ein

148

Psychologische Entwickelung des Apriori.

U r t e i l e n . Auf der Stufe des blossen „Gemein-oder Lebensgefühles" (II 198), des „sinnlichen Bewusstseins" (II 204) darf man weder von Wissen, noch von U r t e i l e n , also auch nicht von s i n n l i c h e n Gefühlsur t e i l e n (II 199) sprechen. Auch die Prädicate der „Gewissheit und Allgemeinheit" (II 224) dürfen auf diese Stufe des Wahrnehmens nur in beschränktem Sinne angewendet werden. Die einzelnen Empfindungen und Wahrnehmungen sind auch dem Tiere und unentwickelten menschlichen Bewusstsein g e w i s s ; aber das ist nur die Gewissheit eines engen, dumpfen, individuellen Gefühlszustandes, kein Wissen im eigentlichen Sinne, am wenigsten ein solches, welches zum A l l g e m e i n e n führte. Es ist nicht wahr, was Riehl (II 224) behauptet: „durch die Gewissheit, es sei der W a h r n e h m u n g o d e r d e s D e n k e n s , wird das Einzelne zum Allgemeinen." Nur durch das begriffliche D e n k e n auf Grund apriori'scher Denkfunctionen kann G e w i s s h e i t des Einzelnen erzeugt und diese verallgemeinert, kann „die einzelne Empfindung und Wahrnehmung auf allgemeingültige Weise vorgestellt" werden. (II 222.) Derartiger Leistungen ist jenes Gemeingeflihl nicht fähig; aber eine Verursächlichung seines dumpfen Empfindungszustandes findet notwendiger Weise statt. Es genügt nicht, dass durch „die Innervationsgefiihle der Empfindungsgehalt nach aussen, also zunächst an unsre Körperoberfläche, verlegt wird". (II 197.) Selbst das tierische Innewerden, wo es sich auch immer befindet, im Gehirn oder in dem ganzen Nervensystem bis zu den Enden der sensiblen und motorischen Nerven u. s. f., muss zu dem Innen ein Aussen hinzuschaffen, also jedenfalls das Analogon eines Schlussaktes von der Wirkung auf die Ursache vollziehen. Die Anerkennung dieser Thatsache liegt in Riehls freilich viel zu weitgehenden Worten: „Auch d i e T h i e r e f ä l l e n s i n n l i c h e Caus a l i t ä t s u r t h e i l e und das Schema der im thierischen Verstände ausgelösten Vorstellungsbewegung kann n i c h t w e s e n t l i c h von der Form des Zusammentreffens und Zusammenwirkens der Begriffe im menschlichen verschieden sein." (II 246.)

2.

Die apriori'schen Verstandesfunctionen im Vorstellungsmechanismus.

Erwägen wir genauer den V o r s t e l l u n g s m e c h a n i s m u s der tierischen Seele, wie er sich unter dem Antriebe der gleichförmigen und beschränkten Triebe und Begierden ausbildet, und prüfen wir, bis zu welchem Punkte hierbei die höchsten Stufen der Tierwelt mit den niedrigsten Klassen der Menschen Schritt halten!

Psychologische Entwicklung des Apriori.

149

Die Psychologie bat im grossen und ganzen folgenden Mechanismus der Vorstellungen im menschlichen Bewusstsein beobachtet, bei dessen Darstellung ich besonders S t e i n t h a l s V o r l e s u n g e n über Sprachp h i l o s o p h i e vor Augen habe. Erst im Laufe des ersten Jahres beginnen sich beim Menschen die Wahrnehmungen zu isolieren; vorher erfährt das Kind nur die verschwommene und unklare Massenwirkung von allen Seiten einstürmender Eindrücke des eigenen Leibes wie fremder Körper. Durch häufiges Wahrnehmen isoliert sich z. B. die Vorstellung der Mutter aus der Masse der einzelnen, bunt durcheinander laufenden Eindrücke, die von der Mutter selbst und allen übrigen wahrgenommenen Gegenständen ausgehen. Bei dem Tiere vollzieht sich dieser Isolierungsprocess viel schneller, und es zeigt auf dieser Stufe sogar eine grosse Ueberlegenheit über den Menschen. Wie sollte das Tier ohne diesen Vorzug sich um soviel schneller und so geschickt und zweckentsprechend in sein Dasein hineinfinden, wenn sich nicht das Chaos der Eindrücke viel schneller zu einem der wahrgenommenen Welt einzelner Vorstellungen entsprechenden Spiegelbilde verwandelte? Doch darf man die Schärfe und den Umfang dieses Spiegelbildes auch nicht überschätzen. Die Einfachheit der Bedürfnisse, die einseitige Uebermacht weniger Triebe richtet die Aufmerksamkeit des Tieres gewiss nur auf einen kleineren Teil der sich darbietenden Gegenstände, während die weitaus grösste Masse spurlos verschwindet. Die Schnelligkeit in der Ausbildung des tierischen Organismus zu freier Bewegung und selbstständiger Existenz befördert umgekehrt wiederum jenen Orientierungsprocess im Chaos der Wahrnehmungen. In demselben Sinne sagt Riehl (II 215) also mit Recht: „die Umbildung der Wahrnehmung durch die Vorstellung ist die Bedingung unseres Fortschreitens in der Erkenntniss. Das menschliche Bewusstsein zeichnet sich vor dem thierischen durch das Uebergewicht der Vorstellung über die Wahrnehmung aus." Während dieses ersten Processes jedoch ist das bestimmter auftretende Bild selten oder besser nie völlig dasselbe geblieben. Die Mutter hat sich dem Kinde auch nicht zweimal in völlig gleicher Weise gezeigt, sondern bald säugend, bald tragend u. s. f.; also immer verschiedene V e r b i n d u n g e n von Vorstellungen sind in das Bewusstsein getreten. Und doch hat sich das Bild der Mutter aus diesem Wechsel mit einer gewissen Bestimmtheit herausgehoben. Die Psychologie nennt den Process, welcher sich hier vollzogen haben muss, den der Verschmelzung. Es muss dabei eine Art von stiller, unbewusster A b s t r a c t i o n vollzogen worden sein. Hierin

150

Psychologische Entwickelung des Apriori.

stimmt das T i e r mit dem Menschen offenbar noch überein. — Die Verbindung aber, in welcher jedesmal dasselbe Object wahrgenommen wird, ist von Wichtigkeit, z. B. für das Kind, ob die Mutter es säugt oder schaukelt oder anlächelt.

Das Kind

lernt also

immer mehr

einen Gegenstand in verschiedenen Beziehungen und Verbindungen festhalten, es tritt, j e länger j e mehr, nicht sowohl eine V e r s c h m e l zung als vielmehr eine V e r f l e c h t u n g der Vorstellungsreihen ein. Auch hierin hält noch das T i e r mit dem Menschen gleichen Schritt. Auch in dem Bewusstsein des Hundes isoliert sich die Vorstellung des Herrn in ihrer Verbindung stellung

mit dem Leckerbissen von der Vor-

des Herrn in ihrer Verbindung mit dem Stocke, und doch

sifid beide Vorstellungsreihen

in seinem Bewusstsein v e r f l o c h t e n ;

v e r f l o c h t e n die Vorstellungen seines Herrn in den verschiedensten Kleidungen und Situationen; er empfindet, dass er allemal denselben Herrn vor sich hat. — So gehen nun die Vorstellungen die mannigfaltigsten neuen Verbindungen in demselben Masse ein, wie die unmittelbar sich aufdrängende Mannigfaltigkeit isoliert und gliedert.

der Eindrücke

sich

Die rote Farbe, welche das Kind etwa an

einem Bande der Mutter bemerkt, verschmilzt mit

dem Rot

einer

Blume u. s. f., und so löst sich die A l l g e m e i n v o r s t e l l u n g Rot als etwas Selbständiges allmählich los.

Es ist m ö g l i c h , dass auch

in dem T i e r e die verschiedenen roten Farben ein allgemeines Vorstellungsproduct zurücklassen. schätzung des tierischen vorwagen. scheinlich

Doch dürfen wir uns hier in der Ab-

Vorstellungsmechanismus

nur

vorsichtig

Erblickt das Tier jenes neue Rot, dann wird nicht

sowohl

jenes

abstracte

sondern eine concrete Vorstellung, z. B. rotes Fleischstück, wachgerufen, und dadurch seine Begierde sofort erweckt. der Isolierungsfähigkeit

bestimmter

wahr-

Vorstellungsproduct

Rot,

in ihm

Der Grad

Vorstellungsproducte

und das

Mass der Gliederung der Vorstellungskreise wird wahrscheinlich durch das einseitige und tyrannische Walten der niederen Begierden bedingt und begrenzt.

animalischen

Ja kaum eine Allgemeinvorstellung

von Eigenschaften, die durch den Geschmack wahrgenommen werden, möchte sich in dem Bewusstsein des Tieres

isolieren.

Giebt man

einem Hunde häufig ein Stück Fleisch, so werden die wiederholten Eindrücke ein Product in der Seele zurücklassen, das wie bei dem Menschen, grösser als die Summe der einzelnen Eindrücke ist. Denn die früher gehabten Eindrücke eines Dinges wirken, unter der Voraussetzung der Gedächtniskraft, bei der Erneuerung

als eine die

Deutlichkeit vermehrende, die Stärke und Energie der Assimilation erhöhende Kraft.

Psychologische Entwickelung des Apriori.

151

Man kann dem Vorstellungsvermögen des Hundes zu Hülfe kommen, indem man ihm bei der jedesmaligen Fütterung das Wort Fleisch oder Aehnliches häufig zuruft, und vermag nun mit eben diesem Worte das Tier zu einer neuen Fütterung heranzulocken; bei dem Vernehmen des vertrauten und wohlthuenden Klanges eilt es fröhlich herbei. Aber die Vorstellung, welche bei diesem Klange in dem Bewusstsein des Tieres auftaucht, ist gewiss eine andere, als bei dem denkenden und sprechenden Menschen, während freilich andererseits vor der Annahme einer zu hohen Abstractionsfähigkeit, eines zu grossen Vorrates von Allgemeinvorstellungen bei dem in fast tierischem Zustande lebenden, nicht culturfáhigen Wilden gewarnt werden muss. Die Thatsache der Nichtentwickelung, des andauernden Stillstandes beim Tiere, ebenso aber auch die Thatsache der Uncultivierbarkeit mancher Menschenracen sind eben ein beweiskräftiges Anzeichen für beider sehr geringe Fähigkeit der Bildung von Allgemeinvorstellungen auch nur im blossen Mechanismus des Vorstellens. Das Kind des gebildeteren Culturmenschen gelangt in wenigen Jahren dahin, dass sich in seinem Bewusstsein die Allgemeinvorstellung Rot isoliert, so dass es sagt: „die rote Farbe ist mir die liebste." In der Tierseele verschmelzen wohl die einzelnen Wahrnehmungen concreter Dinge zu einem Gesammtproducte, aber dieses bleibt im grossen und ganzen etwas dem Individuellen und Concreten Verwandtes, das starre Material dieser concreten Vorstellungsmassen bewegt sich schwerfällig bei der Ungelenkigkeit des tierischen Vorstellungsmechanismus und bei dem Mangel geeigneter Werkzeuge zur freien Bearbeitung des Vorstellungsmaterials. Wie der Mangel an Geschicklichkeit und Werkzeugen dem Handwerker und Künstler die Herrschaft über den Stoff erschwert oder unmöglich macht, so verurteilt die Schwerfälligkeit des tierischen Vorstellungsmechanismus, noch mehr aber das Fehlen apriori'scher Hülfsmittel des Denkvermögens das Tier jeder auch nur in geringem Grade culturfáhigen, jeder auch noch so unbeholfen sprechenden Menschenklasse gegenüber zu einer tief untergeordneten Stellung. Von den durch die genannten elementaren Processe angesammelten Vorstellungen ist uns immer nur der kleinste Teil bewusst; ja in jedem einzelnen unendlich kleinen Zeitteilchen ist es wahrscheinlich immer nur e i n e bestimmte Vorstellung concreter oder abstracter Natur, welche ins Bewusstsein treten kann. Unser bewusstes Vorstellen hat, wie wir schon bei der Analyse der Zeit fanden, lin e a r e Natur. Jedenfalls hat aber das menschliche Bewusstsein bei der Einrichtung seines Vorstellungsmechanismus und nach Massgabe der

152

Psychologische Entwicklung des Apriori.

genannten Processe zwischen den Vorstellungselementen die Fähigkeit, in diesen oder jenen Vorstellungskreis hineinzugeraten. Auch hier offenbart sich ein gewaltiger Unterschied zwischen dem tierischen und menschlichen Vorstellungsmechanismus. Zwar wird auch in das Bewusstsein des Hundes, wenn er ein salziges Stück Fleisch frisst, die Vorstellung des Wassers treten können; er wird, wenn er die Schuhe seines Herrn sieht, an diesen selbst sich erinnern, durch das Bedürfnis werden wohl auch hier die verborgenen Vorstellungen von den Mitteln der Befriedigung in seine Seele gerufen. Hierin offenbart sich noch kein qualitativer Unterschied des Tieres vom Menschen. Aber da, wo der auch noch so kindlich fabelnde und combinierende Mensch Uber das Bedürfniss der körperlichen Erhaltung hinaus Vorstellungskreise frei und willkürlich, nur zum Zweck eines nicht sinnlichen Vergnügens in sein Bewusstsein zaubert, da kennzeichnet sich ein wesentlicher Vorzug. Vollends liegt niemals in dem tierischen Seelenleben die A b s i c h t s e l b s t , der W i l l e s e l b s t , zweckentsprechende Vorstellungen bewusst zu machen, als selbständige Vorstellung; mit anderen Worten: es fehlt dem Tiere ein irgendwie nennenswerter Grad der Kunst f r e i e r A s s o c i a t i o n . Mit den durch diese Processe gesammelten und gegliederten Vorstellungsmassen a p p e r c i p i e r t man nun immer wieder die neu in äusserer oder innerer Erfahrung entgegentretenden Stoffe, also auch die Vorstellungen, die plötzlich und selbständig sich entwickelnden Schösslinge des Vorstellungsbaumes. Solches Appercipieren findet auch beim Tiere, wenn auch, der Einfachheit der elementaren Processe gemäss, in viel geringerem Grade statt; auch im Bewusstsein des Tieres könnte sich ja noch allenfalls auf Grund der Haftbarkeit der Eindrücke ein gewisses unbestimmtes Allgemeinbild von Dingen einer Gattung eingefunden haben, und dieses Product oder Residuum wird zum Bewusstsein erweckt, wenn sich ein neuer Gegenstand derselben Gattung darbietet. Aber welcher Unterschied der Apperceptionsmassen bei dem Tiere und bei dem Menschen! Bei dem Tiere, und zwar auch bei allen Exemplaren derselben Art, zu allen Zeiten derselbe oder wenigstens nur wenig veränderte, enge, auf das rein tierische Bedürfnis eingeschränkte Vorstellungskreis; bei den Menschen, sobald sie auch nur eine Spur von Cultur-, Sprach- und Dichtungsfähigkeit bekunden, zu allen Zeiten und bei allen Individuen je nach der speziellsten Begabung, je nach dem Stande der Cultur unendlich verschiedene Apperceptionsmassen. Während bei den meisten, namentlich bei den in beträchtlicherem Grade culturfähigen Menschen der Reichtum der Vorstellungen mit den sich ver-

Psychologische Entwickelung des Apriori.

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grössernden Apperceptionsmassen in geometrischer Progression wächst, verharrt das Tier genügsam und stumpfsinnig, sobald sich sein Organismus entfaltet hat, bei demselben kümmerlichen Hausrat. Freilich diejenigen Menschen, welche a b s o l u t k e i n e Spuren von Entwickelung und Culturfähigkeit zeigen, lassen auch hier keinen qualitativen Unterschied vorn Tiere erkennen. Die in dem Tiere angesammelte Vorstellungsmasse bezieht sich immer auf etwas Sinnlich-Wahrnehmbares; Vorstellungen von abstracter Natur — dafür bürgt schon der Mangel der Sprache — bilden sich nicht in ihm. Aber gerade diese s u b s u m m i e r e n d e A p p e r c e p t i o n , vermöge deren neu auftretende Allgemeinvorstellungen von immer noch höher stehenden, abstracteren Allgemeinvorstellungen appercipiert werden, welche der mächtigste Hebel des wissenschaftlichen Denkens im C l a s s i f i c i e r e n und S c h H e s s e n ist, diese geht dem Tiere völlig ab. Zwar ist jene i d e n t i f i c i e r e n d e Apperception, welche sich begnügt, ein Erfahrungsobject mit dem ihm am nächsten stehenden im Bewusstsein zu verschmelzen, auch im gewöhnlichen Leben der Menschen die Hauptverrichtung. Die allerwenigsten jedoch bleiben in diesem engen Kreise stehen, sehr viele schwingen sich weit darüber hinaus. Aber schon hier müssen wir einräumen, dass unser Mechanismus längst ins Stocken geraten wäre, wenn nicht eine geheime Kraft ihn immer wieder über den Todtenpunkt hinaustriebe, die F ä h i g k e i t , in d e m M a n n i g f a l t i g e n d a s G l e i c h e u n d B l e i b e n d e b e w u s s t u n d f r e i f e s t z u h a l t e n , also willkürlich abs t r a c t e , b e s t i m m t e und f e s t e V o r s t e l l u n g e n , B e g r i f f e zu bilden. Im wesentlichen, wenn auch nicht in den Worten stimmt hiermit R i e h l s treffliche Darlegung des Unterschiedes zwischen blosser A s s o c i a t i o n und der A p p e r c e p t i o n . (II 120 ff.) Er versteht aber unter der Apperception viel mehr als wir im Vorangehenden, nämlich das (apriori'sehe) „Streben nach E i n h e i t oder Einstimmigkeit aller Bewusstseinszustände", welches dem blossen Associationsstoffe „ein systematisches Gepräge verleiht". Im Sinne der Wundt'schen Theorie fligt er hinzu: „diese Wirkung entspricht aber vollkommen derjenigen, welche die höheren Nervencentra auf die niederen ausüben." Am deutlichsten aber tritt dieses apriori'sche Mehr in der S p r a c h e hervor, welche mit ihren unzähligen Bildungen sein beredtester Zeuge ist, und deshalb wollen wir jetzt in die Betrachtung dieses hervorragend bedeutsamen Offenbarungsmittels des Apriori eintreten.

154

Psychologische Entwicklung des Apriori.

3. Die apriori'schen VerstandeBfunctionen in der Sprache.

In a l l e n Sprachen ohne Ausnahme dient das einzelne Lautgebilde, abgesehen von den Eigennamen, zur Bezeichnung einer Mehrzahl von Erscheinungen. Es giebt keine Sprache, oder besser: das würde eben keine Sprache sein, in welcher das Lautgebilde oder Zeichen nur das Gegenbild des einzelnen Gegenstandes wäre. Eine solche Erscheinung ist also nur unter der Voraussetzung der Fähigkeit, Allgemeinvorstellungen zu bilden, erklärbar. Nun konnten wir j a dem höheren Tiere dieses Vermögen noch zugestehen, gewisse typische Residuen wiederholter Eindrücke concreter Gegenstände in sich zu bewahren. Aber wir vermissen in ihm die Fähigkeit, auch nur für die kleinste Reihe zweier gleichartiger Erscheinungen frei und willkürlich einen sprachlichen Ausdruck zu erschaffen. Es bleibt auf der Stufe stehen, unter der Mitwirkung von Lust und Unlust einen rohen und geringer Modulation fähigen, keinen festen Gesetzen unterworfenen Laut durch Reflexbewegung hervorzubringen. Das Vorhandensein der Sprache ist das sicherste Anzeichen von dem Vorhandensein eigentümlicher apriori'scher Functionen; wo dieSprache, d. h. die Fähigkeit fehlt, für eine auch nur kleine Zahl ähnlicher Erscheinungen irgend ein Zeichen für irgend einen der Sinne zu schaffen, da kann man mit Bestimmtheit auf die Abwesenheit jener höheren Functionen schliessen. Auch nach Wundt (II389), der nur einen graduellen Unterschied zwischen der Menschen- und Tierseele gelten lassen will, der das Apriori im menschlichen Denken und Sprechen in seinen „Vorlesungen" nirgends zur vollen Geltung bringt, besitzen die Tiere die Fähigkeit der Bildung von Allgemeinvorstellungen; aber ihre Sprache, die im wesentlichen eine Geberdensprache ist, geht nach ihm „nie über die Bezeichnung von Einzelvorstellungen hinaus". Nach L i e bmann, der den Unterschied von Denken und Sprechen trefflich darthut (z. A. d. W. S. 431, 441 ff.), reicht die Verstandesthätigkeit der Tiere zwar ziemlich weit, offenbart sich wie beim Kinde im Gleichsetzen, Unterscheiden, Bejahen und Verneinen und womöglich noch weiter (vgl. S. 450 das Beispiel vom Elephanten, S. 452 das vom Papagei!); aber auch er leitet die Sprachlosigkeit der Tiere aus dem Unvermögen ihres Verstandes ab. Eine vortreffliche Charakteristik der S p r a c h e begegnet mir zuletzt noch bei R i e h l (II 215): Vermöge der S p r a c h e „hat der entwickelte Mensch gar keine reine, sondern stets eine begrifflich gebildete Wahrnehmung. Er nimmt in der Form der A l l g e m e i n h e i t wahr, weil

Psychologische Entwickelung des Apriori.

155



er beständig die gegenwärtigen Eindrücke durch die Vorstellungen seiner vergangenen Erfahrungen appercipirt. . . . Er sieht die Dinge mit den tausend inneren Augen seiner sprachlich fixirten Begriffe an." D e n k e n und S p r e c h e n sind nicht gleichbedeutend, und doch treffen beide Behauptungen so ziemlich das Richtige: kein Mensch spricht ohne zu denken, und: kein Mensch denkt ohne zu sprechen. Von dem Phantasieren des Blödsinnigen, Kranken und Träumenden abgesehen, setzt jedes Sprechen ein Denken, natürlich im weitesten Sinne des Wortes, voraus, nicht etwa immer das methodische Fortschreiten in einer Reihe von Schlüssen, wohl aber ein Urteilen oder auch nur ein freies Combinieren von Vorstellungen nach den Gesetzen des Vorstellungsmechanismus; denn auch in diesem waltet ein logisches Element. Und wenn jemand etwa absichtlich Unsinn schwatzt, so beeinflusst eben diese versteckte Absicht das ganze Geschwätz. Weniger deutlich leuchtet die entgegengesetzte Behauptung ein: Kein Denken ohne Sprechen; S t e i n t h a l z . B. behauptet, der Mensch denke ohne zu sprechen. Wenn ein auffliegendes Fenster ein Glas umzustossen droht, so greife ich sofort zu. Ich sehe die Bewegung des Fensters, denke sofort an die schädliche Folge, wähle das Mittel zu ihrer Verhinderung. Da verläuft offenbar ein längerer Denkprocess, eine höhere geistige Thätigkeit, als wenn z. B. der Hund plötzlich vor einem Stocke zurückfährt. Zwar spielen sich hierbei auch im Tiere die seelischen Akte des Sehens, der Erinnerung an frühere Schläge, Schmerzen und der Furcht ab. Aber wo der Mensch im Augenblicke eine Handlung vollzieht, welche mit der Erhaltung seines eigenen Lebens so wenig zu thun hat, wie die erwähnte, Handlungen, welche oft völlig interesselos sind, da offenbart sich ein Mehr, welches dem Tiere fehlt. Selbst wenn ein Tier seinem bedrohten Jungen oder der Hund seinem gefährdeten Herrn im Nu zur Hülfe springt, müssen wir zwar ein reges Spiel von seelischen Processen, eine S e e l e n g e g e n w a r t anerkennen; aber wir können nicht von G e i s t e s g e g e n w a r t im Sinne begrifflichen Denkens sprechen; denn jene Vorgänge sind erklärbar aus den Factoren: Setzen eines sinnlich wahrgenommenen Vorganges, natürliche Lust und Unlust. Immer steht hier das Handeln im Dienste natürlicher Gesetze, immer ist es der mechanische, unfreiwillige, notwendige Ausdruck einer blossen Naturgewalt. „Aber — so wirft man ein — was sind denn gerade jene Akte höchster menschlicher G e i s t e s g e g e n w a r t anders? Sind nicht gerade die bahnbrechenden Aeusserungen des Genies in Kunst und Wissenschaft und ethischem Handeln so etwas Ursprüngliches, Unmittelbares, Unbewusstes und Notwendiges wie der elektrische Funke,

156

Psychologische Entwickelung des Apriori.

wie jene Regungen des tierischen Seelenlebens? nicht

gerade

das

höchste Denken des Genies

nicht die Sprache

nur das

nialen

sich

Menschen,

stellen?

Vollzieht sich ohne Sprechen?

Hat die Sprache für das Genie

des

ins Bewusstsein zu heben?" eines

Genius

höhere Bedeutung

sich das Göttliche in ihm durch etwas Menschliches

der Nachricht

Ist

unzulängliche Hlilfsmittel des nicht ge-

das Leben und Wirken

siker etwa beim Anblick

also

vorzuals die,

unvollkommen

Wenn also z. B. in dem genialen Mu-

einer erhabenen Alpenlandschaft oder bei

welterschütternden

Ereignisses

ein

Leitmotiv

blitzartig auftaucht, was geschieht da? Offenbar s p r i c h t der Musiker mit sich in der allgemeinsten Sprache der Töne. bare Vorstellung

des Tones ist

Ohne die unmittel-

in seinem Bewusstsein

nichts;

ist

etwas in seinem Bewusstsein, so ist es unmittelbar m i t und d u r c h den Ton.

Aber wir würden doch zu weit gehen und den Begriff zu

willkürlich fassen, wenn wir dieses Sprechen in Tönen ein D e n k e n nennen wollten; es fand dort vielmehr nur der Ablauf gewisser Gefühle, verbunden mit ganz allgemeinen, unbestimmten Eindrücken von Seiten des Gehörs statt, ein Process, der erst dann, aber dann auch sofort, als ein vorstellendes D e n k e n bezeichnet werden kann, sobald irgend ein sprachlicher Ausdruck wie etwa „das Göttliche, Erhabene, das Schicksal, das Menschenloos" mit den Tönen und den sie hervorbringenden Gefühlen in Verbindung tritt.

Das sind aber eben s p r a c h -

l i c h e Ausdrücke für Erzeugnisse eines langwierigen D e n k e n s ,

und

solche Denkproducte, solche Begriffe können sich nun und nimmer o h n e d i e S p r a c h e gebildet haben. Dieses Denken, sofern es b e w u s s t werden soll, j a sofern es überhaupt werden soll, setzt notwendig das Sprechen voraus.

Wenn ferner das m a t h e m a t i s c h e

Genie die kühnsten

Zahlentheorieen entwickelt, so bedient es sich der Buchstaben, also der unbestimmtesten Laute; aber es bedarf doch immer eines Ausdruckes, mit welchem zugleich immer die ganze endlose Reihe der Zahlennamen, also sprachlicher Erzeugnisse anklingt. Und so giebt es überhaupt keine Wissenschaft, kein wissenschaftliches Nachdenken, kein wissenschaftliches Bewusstsein

ohne Sprache,

sprachliche Selbstunterhaltung.

ohne sprachlichen Verkehr, ohne

Der Philosoph,

der mit

durchdrin-

gendem Verstände sich selbst in voller Abgeschlossenheit die tiefsten Geheimnisse erschliesst, er thut es nur vermittels stillen Sprechens; er spricht, indem er denkt.

Die blosse Thatsache, dass die Wissen-

schaft sich in der Form der Sprache entwickelt, ist der schlagendste Beweis für die Unzertrennlichkeit von Denken und Sprechen.

Man

könnte glauben, diese Behauptung mit einem Wörtchen w i e mit einem Zauberschlage zu vernichten: der Taubstumme! Aber abgesehen davon,

Psychologische Entwiekelung des Apriori.

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ob eine Menschheit von Taubstummen jemals sich zu wissenschaftlicher Denkthätigkeit emporgeschwungen haben würde, da doch nicht einmal viele mit allen Sinnen begabte Völker das leisten, sondern sich als uncultivierbar erweisen, so ist doch klar, dass auch die Taubstummen nur mit Hülfe sichtbarer Zeichen v o n a l l g e m e i n e m Werte, durch das'Mittel des Auges denken. Wie schon der Mathematiker durch das algebraische, sichtbare Zeichen sein Denken gewissermassen beflügelt, so ermöglicht sich auch der Taubstumme seine kümmerlichen Gedankenprocesse nur durch das Hülfsmittel des Auges. • Würde ihm auch noch dieser Sinn genommen, bliebe ihm schliesslich nur e i n Eingangstor für die Erfahrung, für den Ein- und Ausgang allgemeiner Werte übrig, so wäre zuzugeben, dass selbst dann noch ein Denken möglich wäre; aber immer nur mit und durch das allgemeingültige Zeichen. Also: so wie eben die Mannigfaltigkeit der Hülfsmittel des Denkens der Beweis dafür ist, dass hinter dieser Mannigfaltigkeit eine sich überall gleichbleibende Denkkraft des Apriori im Verborgenen wirkt, so steht andererseits fest, dass dieselbe nur mit und durch ein allgemeinwertiges Zeichen, sei es ein lautliches oder bildliches oder irgendwie sonst wahrnehmbares, aus der Dynamis zur Energeia übergeht und ins Bewusstsein tritt. Wenn aber die Unentbehrlichkeit der Sprache für die Bethätigung des Denkens, namentlich des wissenschaftlichen Denkens, nicht zweifelhaft sein kann, dann wird auch das Zugeständnis nicht schwer fallen, dass in jeder Sprache, wenigstens aber in denen der culturfähigen Völker, alle Functionen des vernünftigen Denkens thätig sind, und dass für jede derselben sich bestimmte Ausdrucksmittel finden werden. Zwar sind diese nach Ausweis der Sprachvergleichung oft völlig verschieden, aber erkennen lassen werden sich die Spuren in jeder, selbst in den geringstentwickelten Sprachen. Wie verschieden nun auch immer die Sprachmittel der verschiedensten Völker auf den verschiedensten Stufen ihrer Entwiekelung sein mögen, alle, abgesehen von den Eigennamen, sind eben dadurch Denk- und Sprechmittel, alle haben das Gemeinsame, dass sie e n t w e d e r e i n e gröss e r e Z a h l von v e r s c h i e d e n e n , c o n c r e t e n o d e r a b s t r a c t e n V o r s t e l l u n g e n z u s a m m e n f a s s e n , o d e r d a s s s i e für d e n s e l b e n l o g i s c h e n A k t e i n in d e n v e r s c h i e d e n s t e n F ä l l e n der Anw e n d u n g w i e d e r A k t s e l b s t a l s g l e i c h w e r t i g g e l t e n d e r Ausd r u c k sind. Jenes geschah schon auf der ersten und ältesten Staffel der Sprachentwickelung, in den S t o f f w u r z e l n und in den sich daraus entfaltenden S t o f f w ö r t e r n ; zu dieser Klasse gehören alle F o r m e l e m e n t e der Sprache, d. h, alle Flexionsendungen, Con-

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Psychologische Entwickelung des Apriori.

junctionen, Präpositionen, welche sämmtlich auf jener ältesten Stufe selbstständige Wörter waren. (J.Grimm,über den Ursprung der Sprache.) In manchen Sprachen, z. B. in der chinesischen, werden auch diese Formelemente, wenigstens teilweise, durch Stoffwörter ersetzt. So finden wir also als das w e s e n t l i c h e M e r k m a l a l l e s Sprechens das freie Z u s a m m e n f a s s e n e i n e r Mehrheit von B e w u s s t s e i n s m o m e n t e n , t e i l s o b j e c t i v e r G r ö s s e n , t e i l s rein apriori'scher Functionen, vermittels der dem Menschen • e i g e n t ü m l i c h e n Herrschaft des G e i s t e s über d e n Stoff. Nicht die Nachahmungsfähigkeit, welche in der Sprache sich bekundet, ist das Charakteristische derselben; denn die Wiedergabe eines Eindruckes, sei es der der äusseren oder inneren Erfahrung, findet sich auch beim Tiere; darin verrät sich keine höhere Geisteskraft und Freiheit. Mit Hülfe der blossen Nachahmungsfähigkeit kommt das Tier bei aller Geschicklichkeit doch nie über den Standpunkt hinaus, für etwas Einzelnes ein Einzelzeichen zu schaffen; damit ist ihm noch nicht die Fähigkeit verliehen, ganze Reihen von Erscheinungen zusammenzufassen, d. h. d a s W e s e n t l i c h e und B l e i b e n d e ders e l b e n im B e w u s s t s e i n f e s t z u h a l t e n , das U n w e s e n t l i c h e u n d V e r ä n d e r l i c h e zu d e m h ö h e r e n Z w e c k e der g e i s t i g e n Herrs c h a f t f a l l e n zu lassen. Das Tier besitzt einen dem menschlichen analogen, wenngleich gewiss viel einfacheren Vorstellungsmechanismus. Die wiederholte Wahrnehmung von Menschen lässt auch in der Tierseele das Product einer verschwommenen Gesammtvorstellung des Menschen zurück; vermöge dieser erfasst es das neue Erscheinen eines Menschen mit grösserer Schärfe. Aber es gelangt nie bei dem Mangel jener übergreifenden Kraft des Denkens dazu, der neuen Wahrnehmung einen Ausdruck in dem Urteile zu verleihen: „Dieses Gesehene gehört unter die Allgemeinvorstellung Mensch." Dem Bewusstseinszustande des Tieres würde in diesem Falle höchstens das Urteil entsprechen: „das Gesehene ist abermals ein menschliches Individuum." Aber auch zu solcher Höhe des Innewerdens erhebt sich das Tier noch nicht; in ihm vollzieht sich gar nicht der Akt der Isolierung des Individuellen; es hat keine Vorstellung, folglich auch kein Bewusstsein davon, dass dies Gesehene e i n für s i c h bes t e h e n d e s G a n z e ist, welches von alledem, womit es in der Erscheinung im Zusammenhange steht, als etwas in sich Abgeschlossenes losgelöst werden kann. Selbst wenn der klügste Hund seinen Herrn in einer grossen Menge von Menschen aufspürt und ihm die nützlichsten Dienste leistet, so hat er nie etwas der Gedankenreihe Aehnliches im Bewusstsein: „alle, die ich da sehe, fallen unter die

Psychologische Entwicklung des Apriori.

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Allgemeinvorstellung Mensch, ebenso auch raein Herr; dieser aber steht innerhalb derselben und der übrigen Sinneseindrücke als ein bestimmtes Individuum mit seinen Eigenschaften." Weder etwas dem Begriffe „Gattung", noch den Begriffen „alle, viele, einige, einer" Entsprechendes lebt in der Seele des Hundes. Das Gesammtresultat früherer Eindrücke wirkt als geheime Kraft bei der neuen Wahrnehmung; so wird durch dieses neue Einzelbild die Erinnerung an frühere Genüsse geweckt, und das neue Bild ist nicht etwa das Object irgend welches in Begriffen oder auch nur in Allgemeinvorstellungen thätigen Denkens, sondern das unmittelbar angeschaute beschränkte Ziel beschränkter Begierden und Gefühle. Während also dem Tiere Zeichen von allgemeiner Bedeutung fehlen, b e w e g t s i c h d a s g a n z e D e n k e n d e s M e n s c h e n and a u e r n d in s o l c h e n ; der Mensch sieht sich in die Notwendigkeit versetzt, mit seinen Sprachmitteln, abgesehen von den Eigennamen, immer ein Vieles bezeichnen zu müssen. Das also gerade, was als ein Mangel der nachbildenden Sprache erscheinen könnte, die Unmöglichkeit einer der Wirklichkeit entsprechenden Individualisierung, das gerade ist sein unschätzbares Vorrecht, das Mittel seiner geistigen Ueberlegenheit. Was der Geist bei der Benutzung dieser Zeichen von allgemeinem Werte an lebendiger Anschauung, an unmittelbarem Genüsse der Wirklichkeit mit ihrer Fülle individueller Gestaltungen und ihrer Farbenpracht einbüsst, das ersetzt er sich hundert- und tausendfach durch die damit unmittelbar verbundene Herrschaft über den Stoff, durch die „weit grössere Eleganz und Uebersichtlichkeit" des Denkens, welche durch die Sprache ermöglicht wird. Denn was S t a d l e r (Erk. 92) von den Urteilen der formalen Logik in Bezug auf die erkenntnistheoretischen Urteile zugesteht, dass sie mit ihrem Substantivieren von Eigenschaftswörtern eine symbolische Synthese ausüben, und dass „diese symbolische Erweiterung der gültigen Vorstellungsverknüpfungen dem Denken eine weit grössere Eleganz und Uebersichtlichkeit ermöglicht", das gilt auch von der Sprache, ohne welche ja keine Urteile der formalen Logik zu Stande kommen und bewusstwerden. Mit tiefster psychologischer Einsicht entwickelt Stadler die Bedeutung der Sprache folgendermassen (Erk. 62): „Die Vorstellung einer synthetischen Einheit von Vorstellungen, bei welcher von einigen Bedingungen der empirischen Verknüpfung abgesehen wird, heisst B e g r i f f . . . . . Der Begriff lebt nicht als eine wirkliche Einheit von Vorstellungen in unserem Bewusstsein; er ist nicht das psychische Gebilde, dessen Einheit wir auf ein Ding beziehen; er ist vielmehr das mehr oder minder allgemeine G e s e t z d e r o b j e c t i v e n

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Psychologische Entwickelung des Apriori.

A n s c h a u u n g , eine blosse Anweisung auf Gegenstände. Das Urteil stellt den Vorgang, die Handlung, der Begriff das Resultat der Synthese dar. Im Begriffe lassen sich mehrere durch Urteile vollzogene oder zu vollziehende Verknüpfungen zusammenfassen. Ein solcher complexer Begriff ist dann die Gesammtvorstellung einer Summe von Gesetzen der Einheitsfunction, einem mathematischen Ausdruck ähnlich, der vorschreibt, das und das zu thun, wenn man das und das erhalten will. Der complexe Begriff kann selbst wieder Element eines weiteren Gesetzes werden, das in seiner Action als Urteil, in seinem Ergebniss als anderer Begriff aufgefasst wird. In diesem Combiniren von Regeln bestehen die psychischen Bewegungen, welche man D e n k e n nennt. Indem man jeden Begriff mit der Vorstellung eines Lautsymbols als Erkennungszeichen verbindet, bedient man sich der S p r a c h e . " Stadler nennt diese Ableitung eine e r k e n n t n i s t h e o r e t i s c h e und sucht sie mit peinlicher Sorgfalt vor einer Verwechselung mit p s y c h o l o g i s c h e r Betrachtung zu schützen. Ich gestehe, dass ich keine gründlichere p s y c h o l o g i s c h e Weisheit hinsichtlich des erkennenden Teiles der Seele gefunden habe; und auch die Wichtigkeit der Sprache als des Vehikels für das begriffliche Denken kann nicht tiefer erfasst werden. Ja, hierin könnte Stadlers Gedankengang zu einer Ueberschätzung verleiten. Denn nicht immer „indem man sich der Sprache bedient", vollzieht man jene hohe geistige Action, „ B e g r i f f e mit der Vorstellung eines Lautsymbols als Erkennungszeichen zu verbinden". Wir erfuhren kurz vorher, dass Stadler die Urteile der formalen Logik den eigentlichen erkenntnistheoretischen Acten gegenüber herabsetzte. Damit will es sich nicht recht vereinigen, dass hier die S p r a c h e zum Ausdrucke des Begriffes im strengsten erkenntnistheoretischen Sinne erhoben wird. Wir begnügen uns damit, die Sprache als das allgemeingültige Lautsymbol aufzufassen, welches nicht immer der Ausdruck des Begriffes im erkenntnistheoretischen Sinne, sondern häufig nur der Ausdruck einer unbestimmteren Allgemeinvorstellung, also einer Synthese, aber nicht gerade einer strengen begrifflichen Synthese ist. Auch so aber ermöglicht sie dem Denken „eine weit grössere Eleganz und Uebersichtlichkeit", auch so ist sie, wie W u n d t (I 140) richtig ausführt, ein Abkürzen der Denkoperationen. Bei dieser hohen Wichtigkeit der Sprache für das Denken ist es berechtigt, wenn wir in eine genauere Untersuchung ihrer Bes t a n d t e i l e eintreten und prüfen, welche a p r i o r i ' s c h e n Mom e n t e sich darin offenbaren. Jede Sprache, wenn sie anders ihrem Begriffe und Zwecke entsprechen soll, muss besondere allgemeingültige

Psychologische Entwickelung des Apriori.

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Bezeichnungen für dieselben oder ähnliche Individuen und Arten der D i n g e , der T h ä t i g k e i t e n , der E i g e n s c h a f t e n , der r ä u m l i c h e n und z e i t l i c h e n s o w i e a l l e r j e n e r V e r h ä l t n i s s e h a b e n , w e l c h e d a s m e n s c h l i c h e B e w u s s t s e i n und D e n k e n e n t w e d e r beoba c h t e n d in d e n O b j e c t e n s e i n e r i n n e r e n und ä u s s e r e n Erf a h r u n g b e m e r k t oder auch freischaffend darin erst erzeugt, also Pronomina, S u b s t a n t i v a , Yerba, A d j e c t i v a , A d v e r b i a , Präpositionen und Conjunctionen. D i e I n t e r j e c t i o n e n sind Laute, welche sich von den tierischen Ausdrücken der Lust und Unlust nicht wesentlich unterscheiden; nur dem grösseren ßeichtume der Gefühle gemäss, deren die menschliche Seele fähig ist, sind auch die menschlichen Interjectionen zahlreicher. Die P r o n o m i n a nennt Jac. Grimm (ü. d. U. d. Spr.) mit den Verben „Hebel aller Wörter". „Das Pronomen ist nicht bloss, wie sein Name könnte glauben machen, Vertreter des Nomens, sondern geradezu Beginn und Anfang alles Nomens." In der That wird das durch eine psychologische Erwägung der Möglichkeit alles Sprechens bestätigt. Bevor irgend eine Allgemeinvorstellung oder irgend ein Begriff sich im Bewusstsein bilden kann, muss in mehreren Fällen die einzelne Erscheinung in einer gewissen Bestimmtheit durch einen oder mehrere Sinne ins Bewusstsein geleitet sein. Dem bunten Durcheinander der Eindrücke muss das sich orientierende Bewusstsein ein bestimmtes, fixierendes „das" oder „dieses" oder „was" gebieterisch entgegengesetzt oder wenigstens durch ein „irgend etwas" sich aus seinem Schlummer aufgeschreckt haben. Das ist die grosse erkenntnistheoretische Bedeutung der Pronomina d e m o n s t r a t i v a , i n t e r r o g a t i v a und i n d e f i n i t a , dass sie das erste Hülfsmittel für das Setzen und Fixieren eines Objectes des denkenden Bewusstseins sind. Aber eine noch höhere Stufe des sich klärenden Bewusstseins enthüllt sich in den p e r s ö n l i c h e n Fürwörtern. Mit dem Ich, Du, Er, Sie, Es ordnet sich das Chaos der Erscheinungen; wie wenn ein gewaltiger Windstoss plötzlich alle Nebel verscheucht, welche dem Bergsteiger die Aussicht versperren und dessen Seele umschleiern, und nun mit einem Male Ruhe und Klarheit in seinem Busen über die Nähe und Ferne eintritt, so schwindet auch unter dem Wehen des Geistes, welches sich im Ich und Du und Er vernehmen lässt, das dumpfe Gewühl im Bewusstsein, vor ihm liegen hier die Erscheinungen seines Selbst, davon geschieden und entfernt das, was nicht zum Selbst gehört, und zwar in grösserer Nähe das Du, in grösserer Ferne das Er, und weitere Klarheit in diesem Sinne stiftet wiederum das Wir, Ihr und Sie. Solche BeS c h n e i d e r , Psychol. Entwickelung.

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deutung hatte es, „als der Mensch zum erstenmal sein Ich, das im Sanskrit aham lautet, sprach". Und das geschah in sehr alter, grauer Vorzeit. „Wie das Kind, dessen Denkvermögen wach geworden ist, „ich" ausspricht, finde ich auch im Jadschurveda ausdrücklich anerkannt, dass das ursprüngliche Wesen „ich bin ich" spreche und der Mensch, wenn er gerufen werde „ich bin es" antwortete." Und doch haben wir noch nicht die apriori'sche Geisteskraft jenes ersten „Ich, Aham" erschöpft. Sollte ein solcher Laut etwas mehr als ein einmaliger tierischer Gefühlsausdruck sein, sollten diese vereinzelten Gefühlsausdrücke zu einer bestimmteren Vorstellung im Bewusstsein verschmelzen und sich verfestigen, dann musste ein geheimes vergleichendes, unterscheidendes und gleichsetzendes Denken der Willkür der Gefühlsausdrücke allmählich steuern und, indem es das wiederkehrende Gleichmässige in diesem Setzen des Ich, Du und Er still beobachtete, auf Festhalten des bestimmten Lautes mit seiner bestimmten, allgemeingültigen Bedeutung dringen. Selbst wenn wir jenes Aham auch nur auf ein stilles Uebereinkommen zwischen zweien Menschen zurückführen wollen, ist diese Spracherscheinung nicht ohne jenes Geheimverständnis der in beiden gleichmässig waltenden Geistesfunctionen erklärbar. Ohne den Stempel einer solchen Autorität können auch diese lautlichen Erzeugnisse nicht den Wert und das Gepräge einer allgemein gangbaren Münze bekommen haben. In der Existenz der S u b s t a n t i v a ferner, also in der Kraft des S u b s t a n t i v i e r e n s , offenbart sich dieapriori'scheGeistesfähigkeit, Dinge, sofern sie überhaupt der Erfahrung angehören, aus dem allseitigen Zusammenhange, in welchem sie mit den übrigen Teilen der Erfahrung stehen, loszulösen, zu i s o l i e r e n , als ein s e l b s t ä n d i g e s G a n z e für s i c h h i n z u s t e l l e n . In allen Substantiven, auch in denen, deren Gegenstände nicht der Erfahrung entnommen, sondern, wie die mathematischen und ethischen, frei erzeugt und in die Erfahrung hineingetragen sind, erscheint jedenfalls die Kraft, eine Summe s i c h g l e i c h b l e i b e n d e r Vorstellungen im Bewusstsein f e s t z u h a l t e n , innerhalb der bunten und wirren Mannigfaltigkeit der in endlosem Wechsel dahinfliessenden Bewusstseinszustände ein Gewisses zu i d e n t i f i cieren. Wer auch nur für ein I n d i v i d u u m einen E i g e n n a m e n erfand, der musste durch die Kraft seines Geisteg eine gewisse Losl ö s u n g dieses Individuums von aller mit ihm verwachsenen Erfahrung vornehmen, und in um so höherem Grade bewährte sich diese Geisteskraft, je weiter sich der denkende Mensch von der unmittelbaren

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Anschauung sinnlich wahrnehmbarer Individuen entfernte, d. h. je abstractere Vorstellungen und Begriffe er sich schuf. Nur weil wir diese Kraft des I s o l i e r e n s und I d e n t i f i c i e r e n s besitzen, können wir aus der Gesammtheit der durch innere oder äussere Erfahrung ins Bewusstsein geleiteten oder durch freies Denken erzeugten Vorstellungen diejenigen aussondern, welche von einem oder mehreren bestimmten Gegenständen ausgehen, sie alle in einer einzigen Gesammtvorstellung zusammenfassen und einen Träger den mannigfaltigen Eigenschaften zu Grunde legen; mit anderen Worten: nur durch jene a p r i o r i ' s c h e n Functionen entsteht in uns das Bewusstsein der E i n h e i t und Allheit, mit ihnen auch zugleich das der Vielheit, die Vorstellung I n d i v i d u u m , D i n g , S u b s t a n z , E i g e n s c h a f t . Den Reizen gegenüber, welche durch die Erfahrung ausgeübt werden, machen sich jene ursprünglichen Geisteskräfte unmittelbar mit den Reizen selbst geltend, anfangs, ja bei den meisten Menschen stets unbeobachtet, unentdeckt, nur auf der höchsten Stufe des Nachdenkens an ihren Wirkungen erkannt und begrifflich fixiert. Die Empfindung des Daseins von Objecten mit Eigenschaften in Raum und Zeit, ein Residuum wiederholter Eindrücke haben auch die Tiere; aber etwas anderes ist dieses mechanisch entstandene Residuum, etwas anderes das freie Zusammenfassen derselben im sprachlichen Ausdruck. Der bestimmte sprachliche Laut als Wirkung bestimmter Organe mag ja anfangs nur ein Ergebnis mechanischer Reflexbewegungen gewesen sein; aber dabei bleibt das Denken dem Laute gegenüber nicht stehen. Das Tier hat auch solche Reflexbewegungen, niemals aber sind sie mehr als Nachwirkungen des e i n z e l n e n Eindruckes; beim Menschen wird der sprachliche Laut, abgesehen von den Eigennamen, sofort zum Symbol einer Allgemeinvorstellung. Als einer der Urväter der Indogermanen in vorgeschichtlicher Vergangenheit auf der niedrigsten Stufe der Cultur einen Wolf ins Auge fasste, drängte sich seinem Bewusstsein zunächst grausenerregend die zerreissende Wildheit des Tieres auf, und auch ohne dass er dieses mit vollkommener Klarheit als Individuum von aller anderen Erfahrung völlig loslöste und nach allen seinen Eigenschaften untersuchte, kennzeichnete sich ihm die Bestie nach der einen hervorstechenden Eigenschaft des Zerreissens. Unter der Wucht dieses Eindruckes entstand als Reflex die sprachliche Bezeichnung „der Zerreisser" (im Sanskrit Whrak). Also, so scheint es, die e i n z e l n e Wahrnehmung verursachte das e i n z e l n e sprachliche Gebilde. Aber

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das ist ein verfrühter Schluss; die einzelne Wahrnehmung bringt nun und nimmermehr ein Sprachgebilde und eine Sprache, sondern höchstens Ausrufe hervor, die sich nur durch reichere Modulation von denen der Tiere unterscheiden. Jener Ur-Indogermane „appercipierte", wie sich S t e i n t h a l in seinen Vorlesungen ausdrückt, den Wolf mit der Vorstellungsmasse des Zerreissens; in ihm hatte sich schon die Allgemeinvorstellung des Zerreissens gebildet, jedenfalls hatte er schon zu w i e d e r h o l t e n M a l e n die Erfahrung von etwas Z e r r e i s sen dem gemacht; denn das kommt gewiss äusserst selten vor, dass eine e i n m a l i g e Wahrnehmung irgend einem Menschen das Material zur Apperception einer anderen Erscheinung bietet. Der also, welcher den Wolf so bezeichnete, hatte jedenfalls schon vorher mehreren Erscheinungen des Zerreissens gegenüber eine gewisse apriori'sche Leistung darin vollzogen, dass er die sich mehrenden Eindrücke des Zerreissens bewahrte, sei es auch nur unbewusst und mechanisch, und für das sich so wiederholende Aehnliche ein gemeinsames lautliches Zeichen erschuf. Berücksichtigen wir noch, dass für die Erklärung der Entstehung der Sprache das Bedürfnis der Mitteilung der andere, dem Wiederspiegeln des eigenen Seelenlebens ebenbürtige Factor ist, dass also zunächst mindestens zwei Individuen in der Bezeichnung irgend eines Objectes übereinstimmen mussten (vgl. Grimm), so tritt der Charakter der A l l g e m e i n g ü l t i g k e i t in a l l e n s p r a c h l i c h e n Elementen ausser den Eigennamen noch deutlicher hervor, und die Bethätigung apriori'scher Verstandesfunctionen leuchtet noch mehr ein. Es ist daher schon die Entstehung der ersten sprachlichen Gebilde nicht erklärbar ohne die Functionen des G l e i c h s e t z e n s und U n t e r s c h e i d e n s , des Zus a m m e n f a s s e n s und A u s e i n a n d e r h a l t e n s , d. h. ohne jene apriori'schen Fähigkeiten, deren beständige Bethätigung die Logik als den G r u n d s a t z der I d e n t i t ä t , der E i n s t i m m i g k e i t und des W i d e r s p r u c h e s bezeichnet. So liegt also allem Substantivieren, wie L o t z e (Mikr. II 305) hervorhebt, das Gesetz der Identität zu Grunde, und dieses gehört zu den Denknotwendigkeiten. Mögen wir uns auch die älteste Sprache mit Jac. Grimm als „melodisch, aber weitschweifig und haltlos" denken, mögen „die Wörter sich anfangs unbehindert, in idyllischem Behagen, ohne einen anderen Halt als ihre natürliche vom Gefühl angegebene Aufeinanderfolge sich entfaltet" haben; ohne jene geistige Bethätigung konnte sie sich selbst auf dieser niedrigen Stufe überhaupt nicht entfalten. In das Bewusstsein werden durch die verschiedenen Sinne verschiedene Reize geführt. Diese treten nach Massgabe der beschrie-

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benen Processe des Vorstellungsmechanismus in die mannigfaltigsten Verbindungen. Je nach dem Grade der Anlage, welche wir P h a n t a s i e nennen, und nach den zufälligen Anlässen der Aussenwelt würde sich das bunteste Gewimmel von Vorstellungsgruppen bilden, wenn nicht das ordnende Denken hinzukäme. Freilich tragen ja auch die Grundverhältnisse der sich darbietenden E r f a h r u n g zu ihrem Teile dazu bei, dass nicht gerade ein verkehrtes und wirres, völlig unähnliches Bild der Erscheinungswelt sich in der Seele abspiegelt. Die zahlreichen Wahrnehmungen von Bäumen z. B. ermöglichen n a c h ihrer g a n z e n N a t u r die Allgemeinvorstellung Baum; nicht verschmilzt der eine Baum wegen seiner grünen Farbe etwa mit einem grünen Hause, der andere wegen der Aehnlichkeit des Laubes und des Haares mit einem Mädchen; dergleichen wirre Vorstellungsverbindungen charakterisieren den Verrückten. In den Objecten selbst liegt also für unsere Vorstellungsgebilde ein regelnder Anlass; aber so stark dieser auch sein mag, eine Begriffswelt und die Sprache würde Uberhaupt nicht, am allerwenigsten mit solcher Gleichmässigkeit bei Millionen von Menschen entstehen, wenn nicht in ihnen allen dieselbe o r d n e n d e , b e h e r r s c h e n d e Kraft des Geistes Reizen der Erfahrung gegenüber thätig wäre. Diese Kraft aber ist etwas C o n s t a n t e s , B e h a r r l i c h e s ; wäre sie das nicht, so könnte niemals auch nur ein einzelnes, bestimmtes Object als abgeschlossenes Ganze in unser Bewusstsein treten. Denn es giebt nichts SinnlichWahrnehmbares, zu dessen Perception nicht eine Zeit notwendig wäre, das also nicht aus einer Reihe aufeinanderfolgender Wahrnehmungen bestände. Wie könnte aus solch' einer Reihe von Wahrnehmungen im Bewusstsein ein dem wahrgenommenen Gegenstande entsprechendes Vorstellungsgebilde entstehen, wenn nicht der Geist mitten in dem Flusse der Wahrnehmungen etwas Bleibendes, Beharrliches s i c h zu e r z e u g e n , gleichsam h i n z u z u d i c h t e n befähigt wäre, wenn er nicht durch „die S y n t h e s i s d e s M a n n i g f a l t i g e n in der E i n h e i t d e s B e w u s s t s e i n s " d i e G e g e n s t ä n d e e r s t a l s s e l b s t ä n d i g e O b j e c t e s e i n e r E r f a h r u n g hervorbrächte? So haben sich uns also aus der Betrachtung des Substantivierens apriori'sche geistige Functionen ergeben. Diejenigen Substantiva nun, welche die Bezeichnung für diese a l l g e m e i n s t e n F u n c t i o n e n selbst sind, welche folglich auch die abstractesten sein müssen, den kleinsten Inhalt und den grössten Umfang haben, also die Substantiva: U r s a c h e , S u b s t a n z , D i n g , E i g e n s c h a f t , das (räumlich und zeitlich) A u s g e d e h n t e , Q u a n t u m oder Grösse, E i n h e i t , V i e l -

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heit, A l l h e i t , das Ganze, davon untrennbar G l e i c h h e i t (Identität) und V e r s c h i e d e n h e i t mit der N e g a t i o n , kann ich die K a t e g o r i e e n, den Stammbesitz des Geistes nennen und sagen: der Geist thue den durch diese Kategorieen bezeichneten Inhalt zu der Erfahrung hinzu; nur muss das nicht so verstanden werden, als ob in dem Geiste diese Kategorieen gleichsam wie Etikette bereit lägen, um auf den von der Erfahrung dargebotenen Stoff geklebt zu werden; auch muss man nicht etwa Erfahrungsstoff und Kategorieen sich wie chemische Bestandteile verhalten lassen, etwa wie Sauerstoff und Wasserstoff, durch deren Verbindung ein neues Product, die Erfahrung im Bewusstsein, dem Wasser vergleichbar, entsteht. (Vor einem solchen Erklärungsversuche durch Zusammensetzung wurden wir schon von Kant hinsichtlich des Raumes gewarnt.) Der Sachverhalt ist vielmehr folgender: u n m i t t e l b a r mit den auf das Bewusstsein durch die Sinne ausgeübten Reizen beginnt auch die Thätigkeit der geistigen apriori'schen Functionen, beide, in unlösbarem Zusammenhange, in absolut unaufhebbarer Wechselwirkung, bringen erst die Erfahrung zu Stande; so erst entsteht aus äusseren oder inneren Reizen das b e g r i f f l i c h und dem zufolge s p r a c h l i c h fixierte Bew u s s t s e i n eines bestimmten Dinges von bestimmter Grösse und Gestalt, eines Beharrlichen in der Zeit, eines ausgedehnten im Räume als Träger mannigfaltiger Eigenschaften. Auch bei der Bildung des Z e i t w o r t e s , in welchem nach Jac. Grimm „ausser dem belebenden Pronomen die grösste und eigentliche Kraft der Sprache liegt", und welches „fast alle Wurzeln in sich darstellt", zeigen sich die erwähnten apriori'schen Geistesfunctionen. Die Zeitwörter bezeichnen entweder die Dauer eines Zustandes (Seins) öder den Verlauf eines Werdens. Welche gewaltige und eigentümliche Geisteskraft setzt solch' ein Lautgebilde voraus! Die Tiere ebenso wie der Mensch nehmen durch die Sinnenreize R e i h e n v o n E i n d r ü c k e n auf, sie sehen den Felsen regungslos, dauernd, scheinbar ohne Veränderung emporstarren; indem sie ihre Augen an dem Felsen auf und ab gleiten lassen, empfangen sie unter der fühlbaren Bewegung ihres eigenen Körpers die Reihe von Eindrücken, welche im Bewusstsein die Vorstellung des starren, bewegungslosen Felsens erzeugen. Oder indem sie starr auf einen bestimmten, feststehenden Punkt blicken, werden sie sich des Zustandes dieses Punktes in seinen einzelnen Momenten nicht ohne ein deutlich wahrnehmbares Gefühl der Anstrengung des Beobachtens bewusst. So auch empfangen Tier und Mensch unter Innewerden ihres eigenen körperlichen Zustandes eine fortlaufende Kette von

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Eindrücken sinnlich wahrnehmbarer Veränderungen, Bewegungen und Handlungen, z. B. beim Anblick und Verfolgen eines fliegenden Vogels. Aber wiederum ist es nur der menschliche Geist, der die fortlaufende Kette der einzelnen Wahrnehmungen, anfangs bewusstlos, dann sich selbst immer deutlicher bewusst, zusammenfasst und den dauernden Zustand oder die dauernde Veränderung als ein zusammenhängendes, in sich abgeschlossenes, von aller übrigen Erfahrung isoliertes Bewusstseinsgebilde erschafft, so dass er nunmehr von dem Stehen, dem Fliegen u. s. f. sprechen kann. Das starre Beharren des Felsens kann niemals durch die nie absolut ruhigen Sinne ins Bewusstsein erhoben werden; sondern ein gewisses Unveränderliches, Beharrliches in dem Bewusstsein selbst gebietet, soweit das überhaupt möglich, dem Flusse der Erscheinungen halt; und ebenso wenig kann ohne dieses Constante im Geiste von sinnlich wahrnehmbaren Vorgängen die sprachlich als Zeitwort auftretende Allgemeinvorstellung erzeugt werden. Wer einmal rennt, hat gewiss zunächst mit der Anstrengung seines Körpers ein Bewusstsein von e i n z e l n e n Mom e n t e n dieses Vorganges. Aber von viel reicherem Gehalte ist doch das Bewusstsein dessen, welcher dieses sein Rennen mit dem Rennen anderer Wesen unter der G e s a m m t v o r s t e l l u n g und zuletzt unter dem B e g r i f f e Rennen zur Einheit des Bewusstseins zusammenfasst. Auch in den Zeitwörtern, welche einen durch innere Erfahrung dem Bewusstsein zugeführten Vorgang oder andauernden Zustand bezeichnen, z. B. in den Formen: ich denke, ich freue mich, ich bin betrübt, ich wünsche, ich verabscheue, offenbart sich jenes die einzelnen Momente bindende, die Mannigfaltigkeit der Erscheinungen beherrschende, übergreifende Constante des Denkvermögens, ohne welches eben kein über die Stufe des tierischen Innewerdens hinausgehender Zustand möglich ist. Ich sehe nicht (wie C l a s s e n betont) das Leuchten als Abstractum, an und für sich, sondern etwa die leuchtende Sonne, Flamme u. s. w.; d. h. ich nehme aufeinanderfolgende leuchtende Zustände der Sonne, der Flamme u. s. w. wahr. Ich sehe und fühle nicht das Werden, Sich-vermindern, Sich-bewegen u. s. f. an und für sich, sondern etwa meinen sich bewegenden Körper; d. h. ich nehme die aufeinanderfolgenden Zustände meines sich bewegenden Körpers wahr. Nicht das abstracte Denken, sondern meine Gedanken treten als deutliche sprachliche Gebilde oder leise Vorstellungen sprachlicher Gebilde in mein Bewusstsein. Niemals jedoch ergreife ich dabei u n m i t t e l bar die sich ändernden oder bleibenden Zustände derObjecte selbst, sei es der inneren oder äusseren Erfahrung, sondern zunächst werde

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Psychologische Entwicklung des Apriori.

ich mir m e i n e r dauernden oder sich verändernden Zustände bewusst. Diese Zustände projiciert das Bewusstsein aus sich als Zustände der Dinge, wie es die Materie, die Substanz, das Object selbst aus sich heraussetzt. Dergleichen mechanische Einzelakte vollführt jedoch auch das Tier. Wenn aber der Mensch von dem L e u c h t e n der Sonne, der Flamme u. s. w. s p r i c h t , so setzt das ein freies Isolieren der Substanz und der ihr anhaftenden Eigenschaften des Leuchtens voraus, ferner ein Zusammenfassen der verschiedenen Vorgänge des Leuchtens in einer grösseren Zahl von Wahrnehmungen, gewöhnlich nicht bloss an einem, sondern an mehreren Gegenständen. Am meisten unter den Sinnen bereitet diesen freien Akt des Isolierens der Zustände und Vorgänge das Gehör vor. Das Donnern ist nichts als eine Reihe von Erschütterungen des Trommelfelles durch die Luft und deren Einwirkung auf mein Bewusstsein; ein den Donner erregendes bestimmtes materielles Substrat führt mir weder das Auge noch ein anderer Sinn deutlich zu. Die Sinnlichkeit arbeitet hier durch die Erregung nur eines Sinnes der begrifflichen Abstraction durch das Denken vor. Und doch ist von vorn herein ein freier Akt des nur dem Menschen eigenen Denkens notwendig, welcher diese Reihe der durch das Ohr wahrgenommenen Eindrücke des Donnerns als e i n e n V o r g a n g zusammenfasst, von aller übrigen Erfahrung, mag sie auch, wie bei dem Blinden, eingeschränkter Natur sein, loslöst und sich mit den Lauten „es donnert" deutlich vorstellt. Es kann nach alledem nicht mehr zweifelhaft sein, dass auch in der Existenz der Zeitwörter, in d e r K r a f t u n d K u n s t des V e r b a l i s i e r e n s , eigentümliche apriori'sche Functionen des Geistes wirksam sind. Dasselbe gilt auch, wie ohne weitere Ausführung klar ist, für die E i g e n s c h a f t s w ö r t e r ; auch sie verdanken ihr Dasein jener Fähigkeit, die besondere Art der „Afficierung", der Beeinflussung unseres Bewusstseins durch die Substanz, der sie anhaften, und welche das Bewusstsein doch beharrlich seinem subjectiven Zustande hinzuzusetzen eben durch die apriori'sche Kategorie der Substanz sich gezwungen sieht, von dieser selbst abzulösen, zu isolieren und zu einer selbständigen Einheit im Bewusstsein zu erheben. Das gilt für die nur der inneren Erfahrung wahrnehmbaren Eigenschaften, aller Eigenschaften des Seelischen selbst ebenso, wie für die zunächst durch äussere Eigenschaften hervorgerufenen Modificationen der äusseren Sinne. Welche eminent apriori'sche Leistung den Z a h l w ö r t e r n zu Grunde liegt, das haben wir uns schon bei der Untersuchung des

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Apriori im Zeitbewusstsein klar zu machen dringende Veranlassung gehabt. Auf dieser apriori'schen Thätigkeit beruht es denn auch, dass, während bei allen materialen- Sprachgebilden in den verschiedenen Subjecten keine volle Uebereinstimmung zu herrschen braucht und auch in der That nicht eher herrscht, als • bis man die Allgemeinvorstellung zum bestimmtesten Begriff umgestaltet hat, bei den Zahlwörtern eine Verschiedenheit unmöglich ist; was für den einen zwei und vier ist, das ist es auch für den anderen, weil beide und mit ihnen alle diese bestimmten Begriffe mit Hülfe der bei allen Vernünftigen gleichen Functionen und Abfolge der Bewusstseinszustände in gleicher Weise haben bilden müssen. Die Zahlwörter sind also absolut feste, identische Begriffe, Begriffe die eben wegen ihres apriori'schen Ursprunges durchaus abstracter Natur sind. Auf den Kategorieen der Grösse, der Einheit, Vielheit und Allheit, der Gleichheit (Identität) und Verschiedenheit mit der Negation beruht die schlechthin allgemeinwertige Bedeutung dieser Lautgebilde. Die A d v e r b i a bedürfen, soweit sie von A d j e c t i v e n gebildet werden, zunächst derselben apriori'schen Functionen wie diese. Da aber ihrer aller Aufgabe eben darin besteht, die Art und W e i s e e i n e s Z u s t a n d e s oder e i n e s V o r g a n g e s auszudrücken, welcher durch ein Verbum bezeichnet wird, so setzt diese sprachliche Form auch die apriori'schen Functionen voraus, die zum Verbum führen. Wer also in Besitz der Vorstellungen und Wörter Haus, fest stehen, Strom, ruhig, fliessen gelangt war, der besass das Sprachmaterial, um ebenso die Sätze: „das Haus steht fest" und „der Strom fliesst ruhig" zu bilden, wie die Sätze: „das feste Haus steht" und „der ruhige Strom fliesst". Aber es bekundet eine grössere Feinheit der Beobachtung, wenn die Sprache, wie das Griechische, Lateinische, Altdeutsche, Englische, Französische, sich eine besondere allgemeine Form schaffen, um die bestimmte Art und Weise des Zustandes oder Vorganges ebenso scharf zu bezeichnen wie die bestimmten Eigenschaften der Dinge, an welchen der Zustand oder Vorgang wahrgenommen wurde. Es ist, ich möchte sagen, eine Abstractionsfähigkeit zweiten Grades, wenn, nachdem die Substanz, z. B. das Haus, der Strom, der Gedanke, die Tugend u. s. w. in ihren Eigenschaften fest, ruhig, schnell, sittlich u. s. w. ins Bewusstsein getreten sind, nunmehr noch die Natur der Reihen von Zuständen und Vorgängen durch ein allgemeinwertiges Zeichen für das Bewusstsein fixiert wird. Wir sehen daran, dass die apriori'schen Functionen des Unterscheidens und Gleichsetzens alle die mannigfaltigen subjectiven Bewusstseinszustände, so wie sie durch die objectiven Verhältnisse be-

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Psychologische Entwickelung des Apriori.

dingt sind, natürlich nur in den seltensten Fällen

mit vollem Be-

wusstsein dieses Gegensatzes von Subject und Object, bearbeiten und gestalten. Die A d v e r b i a des O r t e s und der Z e i t stützen sich, abgesehen von den in jeder Raum- und Zeitbestimmung wirkenden apriori'schen Functionen, in gleicher Weise auf die Fähigkeit, die mannigfaltigsten Kaum- und Zeitverhältnisse zu unterscheiden und gleichzusetzen und für die gleichartigen unter ihnen ein allgemeinwertiges sprachliches Symbol im Worte zu erschaffen.

Ja

und n e i n

werden fälschlich

(z. B. in der deutschen Grammatik von Hoffmann S. 98) zu den Adverbien der Art und Weise gezählt.

Sie sind vielmehr von diesen,

z . B . schön, gut, schnell, wesentlich verschieden. vielleicht, für

J a , nein, g e w i s s ,

w o h l und ähnliche sind die modalen Bezeichnungen

die Verbindung oder Trennung

von

Vorstellungen.

Auch

in

diesen Wörtern zeigt sich die f o r m a l e Bildungskraft des Geistes, für dasselbe seinszustände

tausendfach wiederkehrende Verhältnis der ein immer gleichbleibendes

Bewusst-

lautliches Symbol zu er-

finden. I n h a l t l i c h aber erschliesst sich gerade in diesen Sprachgebilden in hervorragender Weise eine schöpferische Geisteskraft, die über das blosse Innewerden eines Seins durch die fühlende Lebenskraft weit hinausgeht. Zwar mag anfangs auch bei dem Menschen das J a und Nein nur der unwillkürliche, durch Reflexbewegungen hervorgebrachteAusdruck für die Befriedigung oder Nichtbefriedigung eines leidenschaftlichen B e g e h r e n s gewesen sein. Aber der sprechende Mensch erhebt sich selbst bei geringerer Entwickelung bald über diese Stufe des blossen Wiederspiegelns seiner Gefühle und Begehrungen, stiftet zwischen den sich bildenden Vorstellungsmassen frei und willkürlich, über das Bedürfnis und Begehren hinaus, neue Verbindungen und Trennungen und giebt sich noch überdies von der Berechtigung und dem Grade der Festigkeit

solcher Verbindungen

und Trennungen

Rechenschaft in den Adverbien der Mo d a l i t ä t ja, nein, nicht, wohl, wahrscheinlich, vielleicht, doch, offenbar, notwendig, schlechterdings, unbedingt u. ä.

Auch das tierische Bewusstsein

wird unter

dem

Stachel der Naturtriebe und Begierden der Thatsache eines Seins und Nichtseins inne. Das Tier, welches, von Hunger und Durst geplagt, sich Nahrung oder, im Drange des Geschlechtstriebes, ein Weibchen sucht, der treue Hund, welcher den verlorenen Herrn verfolgt, das edle Ross, welches auf dem Grabe seines Reiters verhungert, alle diese haben den unangenehmen Gefühlszustand einer Leere; aber von da an bleiben sie sofort und auf immer hinter dem Menschen zurück, wo dieser auch nur für das assertorische Empfinden ein allgemeingültiges

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Ansdrucksmittel in der Sprache erschafft, durch welches alle die unzähligen Einzelfälle in gleicher Weise ein Bestandteil seines Bewusstseins werden. Das Gefühl einer s c h w ä c h e r e n oder s t ä r k e r e n G e w i s s h e i t des Seins oder Nichtseins vollends darf in der Tierseele nicht gesucht werden. Das hungrige Raubtier, welches sich auf die Lauer legt, um seine Beute zu erhaschen, hat das schmerzhafte Gefühl des Hungers und einer gewissen Leere in dem heissen Verlangen nach Nahrung; aber ein B e w u s s t s e i n der M ö g l i c h k e i t o d e r N o t w e n d i g k e i t , auf diesem oder jenem Wege die Beute erhaschen zu k ö n n e n , bezw. zu müssen, ist schwerlich bei ihm vorhanden. Der Bewusstseinszustand des hungrigen, im Schilfe kauernden Löwen mag sich durch die Worte Hunger, Schmerz, Fressbegier, Giraffe ungefähr umschreiben lassen; aber die V o r s t e l l u n g von der M ö g l i c h k e i t o d e r N o t w e n d i g k e i t eines Kommens der Giraffe reicht gewiss weit über das tierische Vermögen hinaus. In dem kindlichen Bewusstsein dagegen heben sich diese Schattierungen sehr bald von dem einfachen Ist und Ist-nicht ab, und werden durch die entsprechenden Adverbia in den verschiedensten Fällen in gleicher Weise zu Bewusstseinsmomenten. Es bleiben noch die C o n j u n c t i o n e n zu betrachten übrig. Diese, deren Zahl bei den verschiedenen Völkern und bei jedem einzelnen wiederum in den verschiedenen Stufen seiner Entwickelung so sehr verschieden ist, gewähren uns recht eigentlich einen Einblick in den Entwickelungsgrad des einzelnen Volkes und einzelnen Menschen. In ihrer grösseren oder geringeren Anzahl bezeugt sich das höhere oder niedere Mass geistiger Kraft und Herrschaft über den Stoff, geistiger Fähigkeit, die verschiedensten Dinge zu verknüpfen, die Mannigfaltigkeit realer Verhältnisse zu erfassen und frei nachzuschaffen. Und da die Conjunctionen das Mittel der Verbindung der Urteile in zusammengezogenen, zusammengesetzten Sätzen und Perioden sind, in diesen Gebilden aber sich die geistige Reife und Gewandtheit am deutlichsten abspiegelt und in ihrer Eigenart verrät, so leuchtet die grosse Wichtigkeit der Conjunctionen im Zusammenhange unserer Betrachtungen ein. Welche apriori'schen Geistesfunctionen lassen sich nun aus den Conjunctionen herauslesen? Selbst die einfachste, die c o p u l a t i v e Conjunction und, das uralte Verbindungsmittel der Kindersprache, das unvermeidliche Waw copulativum des alten Testaments, ist ein einfachster a l l g e m e i n e r Ausdruck für die m a n n i g f a l t i g s t e n , aber doch im Grunde g l e i c h a r t i g e n Verknüpfungsakte. Wer da sagt: Weib und Kind, Himmel und Erde, Gott und Welt, gut und

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Psychologische Entwickelung (Jes Apriori.

böse, und Gott machte die Erde und den Himmel, und Gott sah, dass es gut war, und Gott ruhete u. s. w., der bezeugt dadurch, dass in seinem Geiste eine immer gleichartige Function thätig ist, welche die verschiedensten Begriffe, die verschiedensten Urteile untereinander immer in derselben Weise verknüpft. Die blosse Thatsache der Existenz des Wörtchens u n d ist der Beweis einer höchsten und letzten geistigen Synthesis der Mannigfaltigkeit von Bewusstseinszuständen durch die Einheit des Bewusstseins. In dem U n d ist der gemeinsame Ausdruck für eine Unzahl geheimer Gedankenprocesse geschaffen, das ist der beredte Zeuge für das Dasein einer höchsten, übergreifenden Instanz, die die einzelnen unzähligen Akte der Synthesis des Mannigfaltigen beobachtend verfolgt, diese in ihrem Wesen durch Abstraction und Reflexion erfasst und dieses Gemeinsame der Verknüpfungsakte mit jenem Wörtchen bezeichnet. Dieselbe Kraft aber offenbart sich in a l l e n f o r m a l e n Sprachelementen; in den Flexions- und Conjugationsformen, in dem S des deutschen Genitivs, in dem T e oder in der Ablautung des Präteritums liegt wie in den Conjunctionen nicht nur eine den Erfahrungs- und Bewusstseinsgehalt freischaffende oder wenigstens frei nachschaffende Geisteskraft, sondern auch die unbewusst bleibende oder dem kritischen Denken bewusst werdende Macht der durchgängigen Gleichsetzung dieser Functionen in der endlosen Zahl ihrer Bethätigungen ausgeprägt. Der Geist arbeitet in der Weise, dass er für alle Verknüpfungen der Vorstellungen, welche er stiftet, wenn sie von denselben Functionen ausgehen, so verschieden auch die Fälle der Anwendung sein mögen, einen gemeinsamen sprachlichen Ausdruck erschafft. Schon die einfachste Verknüpfung durch u n d ist ein willkürlicher, vollkommen freier, aus der Erfahrung allein unerklärbarer Akt. Keinem Tiere wird es beifallen, eine derartige Verknüpfung in seinem Bewusstsein zu vollziehen. Der Hund sieht den Herrn, den Stock in seiner Hand, den Hut auf seinem Kopfe, aber das Gesehene gliedert sich nicht zu dem Vorstellungsgebilde: der Herr u n d sein Stock und sein Hut. Das sind die einander ergänzenden Doppelakte von Trennungen und Verbindungen, welche nur das m e n s c h l i c h e Denken vollziehen kann. Ebenso schöpft auch nur das m e n s c h l i c h e Bewusstsein aus sich selbst, nicht aus der Erfahrung jene Verknüpfungsarten, welche durch die temporalen, conditionalen, causalen, concessiven, adversativen, consecutiven, finalen, comparativen Conjunctionen ausgedrückt werden. Blitz und Donner, Hunger und Sättigung gehen auch in die Tierseele ein; aber in dieser dämmert nicht einmal von dem Verhältnisse der zeitlichen Aufeinanderfolge eine

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Vorstellung auf, geschweige denn, dass ihr ein conditionales, causales, consecutives, finales, concessives, adversatives, comparatives Verhältnis erfassbar sein könnte. So drängt uns die Thatsache der Conjunctionsbildungen die Frage nach den apriori'schen Functionen nachdrücklicher und bestimmter auf, als die Mehrzahl der anderen Sprachformen, bei welchen wir noch von ihrem Inhalte absehen konnten, um zunächst nur ihr formales Bildungsprincip zu erkennen. Aber es liegt freilich auf der Hand, dass die Substantiva Zeit, Bedingung, Grund, Folge, Zweck, Einräumung, Gegensatz, Vergleich und die ihnen entsprechenden Verba und Adverbia zu denselben Grundfragen und Kategorieen führen müssen wie die Conjunctionen nachdem, wenn, da, sodass, damit, obgleich, aber, wie; doch ist es leichter, die begrenzte Zahl dieser formalen Sprachmittel zusammenzustellen, als aus der Unzahl der Substantiva jene die formalen Denkfunctionen bezeichnenden herauszufinden. Diese Betrachtung der einzelnen Sprachelemente befestigte in uns die Ueberzeugung von dem Dasein apriori'scher, teils unmittelbar schöpferischer, teils beziehender, ordnender, einheitstift e n d e r F u n c t i o n e n des Geistes. Auf diese Thatsache ist aber hierbei wiederum mit Nachdruck hinzuweisen: während dieses ganzen psychologischen Erklärungsversuches der Möglichkeit sprachlicher Grundformen fanden wir die beiden so eben auseinandergehaltenen Klassen apriori'scher Elemente, welche man doch so scharf als e r k e n n t n i s t h e o r e t i s c h e und l o g i s c h e Kategorieen oder Principien entgegensetzt, in ununterbrochener, unauflösbarer Wechselbeziehung. Das tierische Bewusstsein setzt ein Ding mit dumpfem Gefühle ausser sich; das Bewusstsein des denkenden Sprechens ward eben nur dadurch zum Denken und Sprechen, dass es das so durch das bloss empfindende Seelenleben Gesetzte durch die Kategorie der U r s a c h e , der S u b s t a n z , des D i n g e s , der E i n h e i t , V i e l h e i t und A l l h e i t , der E i g e n s c h a f t , des R a u m e s und der Zeit, gewissermassen noch eine Stufe höher aus der Verborgenheit einer halbdunkelen Tiefe rückte, dies jedoch n u r s o u n d dadurch, dass es das in wiederholtem Vorstellungsprocesse so Gesetzte und Erfasste durch die Kategorie der G l e i c h h e i t , N e g a t i o n und Ung l e i c h h e i t inmitten des bunten Geschwirr es dumpfer Bewusstseinszustände gleich einem wallenden Nebelgebilde zum Stehen bannte, für das allgemeine Vorstellen und begriffliche Denken f i x i e r t e und i d e n t i f i c i e r t e . Das Bewusstsein der G l e i c h h e i t aber ist ohne das Bewusstsein der E i n h e i t , das der Ungleichheit ohne das der Vielheit undenkbar. Wenn man dazu bedenkt, dass S t o f f und

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Psychologische Entwickelung des Apriori.

Form u n t r e n n b a r sind, dass ohne die Form gar kein Stoff Gegenstand des Bewusstseins, des nur in der Sprache klar erwachenden Bewusstseins werden konnte, so verkleinert sich gewiss jene Kluft, und ich glaube daher nicht „die Functionen des Denkens für die Erfahrung zu verkennen", wenn ich ihm geradezu „die Fähigkeit zuschreibe, das Wissen zu vermehren". (Riehl II 239.) Wenn das formal-logische Denken die Gleichheit negiert (A ist nicht B) und jenes „erkenntnistheoretische" Denken, das Dasein des Stoffes negiert (z. B. im Punkte, im zeitlosen Momente, im luftleeren Räume), sollte zwischen solchen, in ihren Leistungen so ähnlichen Functionen nichts Gemeinsames obwalten? Sicherlich! Jene „ l o g i s c h e " Negation erzeugt sich an dem Fixieren eines Bestimmten durch Vergleichen; diese „ e r k e n n t n i s t h e o r e t i s c h e " Negation erzeugt sich an dem positiven Setzen, der Punkt an dem ausgedehnten, aus den Grenzen erschlossenem Räume, der zeitlose Moment an der empfundenen Dauer meiner Bewusstseinszustände, der luftleere Raum in der Luftpumpe an den wahrnehmbaren Grenzen, und zwar ebenfalls durch Fixieren eines Bestimmten und Vergleichen. Also die e r k e n n t n i s t h e o r e t i s c h e Negation kommt, wie das schon S. 68 dargethan wurde, nur durch die l o g i s c h e ins Bewusstsein, und die logische Negation ist nicht denkbar ohne jene Identität und Beharrlichkeit des Bewusstseins, ohne welche überhaupt kein vorstellendes und begreifendes Bewusstsein denkbar ist. Wenn daher eine Lostrennung der einen von der anderen im denkenden Geiste sich geradezu als unmöglich, als ein Akt von Gewalttätigkeit erweist, dann darf auch zwischen Logik und Erkenntnistheorie keine unüberschreitbare Kluft befestigt werden; die Logik muss zur Erkenntnistheorie führen, und eine Erkenntnistheorie ohne Berücksichtigung der logischen Principien ist unvollständig. Ich halte es daher für keinen Vorzug, wenn Logikern der Neuzeit, z. B. A. Dörings „Grundzügen der allgemeinen Logik als einer allgemeinen Methodenlehre des theoretischen Denkens", nachgerühmt wird, sie erstrebten eine Reform der Logik in dem Sinne, dass das Uebergreifen auf das Gebiet der Erkenntnislehre vermieden werden solle. Eine grosse Empfehlung ist es vielmehr, wenn S c h u p p e s Logik von vorn herein als eine „ e r k e n n t n i s s t h e o r e t i s c h e " auftritt, wenn sie in empirischer Analyse alle die rudimentären Denkmittel aufsuchen will, welche auch die e i n f a c h s t e n D e n k a k t e voraussetzen. Was sie dabei vermeintlich an „apriori'schem" Charakter verliert, gewinnt sie an wissenschaftlichem. Wenn für S t a d l e r (Erk. 8) „eine ration e l l e T e i l u n g der A r b e i t das einzige Princip ist, das er als massgebend für die Gruppirung der verschiedenen Wissenschaften aner-

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kennt", so fragt sich: welches ist diese rationelle Teilung der Arbeit? Und soviel können wir darauf mit Bestimmtheit antworten: nicht diejenige, welche das seiner Natur nach innigst Zusammenhängende auseinanderreisst, ohne je an Wiederzusammensetzung zu denken, sondern nur die, welche bei aller Unvermeidlichkeit der Trennung allzeit den Zusammenhang im Auge behält. Wir haben uns also durch diese psychologische Analyse der sprachlichen Grundformen von der Richtigkeit der Worte J a c o b G r i m m s (Ii. d. U. d. Spr.) tiberzeugt: „der Mensch heisst nicht nur so, weil er denkt, sondern ist auch Mensch, weil er denkt, und spricht, weil er denkt, dieser engste Zusammenhang zwischen seinem Vermögen zu denken und zu reden bezeichnet und verbürgt uns seiner Sprache Grund und Ursprung." Wir haben diese Behauptung noch mit tieferen Gründen gesichert, als wir in jener Abhandlung finden, indem wir auf die apriori'schen, alles Denken und Sprechen ermöglichenden Geistesfunctionen zurückgingen. In der durch die Denkfunctionen und den Vorstellungsmechanismus ermöglichten Sprache besitzt der Mensch ein Mittel, mit der in ihrem festen und bestimmten inneren Zusammenhange sich ihm darbietenden objectiven Welt sein freies Spiel zu treiben, die gegebenen Verhältnisse gleichsam wie das Kind die Figuren in einem Kaleidoskop in bunter Gestaltenfülle durcheinanderzuwürfeln. Daher behauptet Riehl (II 216) mit Recht: „Auch die Sprache w i r k t verä n d e r n d auf die Auffassung der Wirklichkeit zurück, namentlich durch die täuschende Substantivierung von Eigenschaften, Vorgängen und blossen Verhältnissen. Die Unterscheidung blos sprachlicher Kategorieen wird so zu einer unerlässlichen Vorarbeit des kritischen Erkennens." Wir haben uns aber überzeugt, dass die „blos sprachlichen Kategorieen" mit denen, welche das kritische Erkennen vermitteln, im engsten Zusammenhange stehen. Wollen wir nun aber noch weiter in das Wesen des Geistes eindringen, so ist es nötig, diejenige Stufe des Denkens genauer zu betrachten, auf welcher der Inhalt alles Sprechens nicht mehr in b u n t e m D u r c h e i n a n d e r , wie es der Zufall oder das r e i n e anim a l i s c h e B e d ü r f n i s mit sich bringt, auch nicht mehr nach dem n a t ü r l i c h e n M e c h a n i s m u s d e r V o r s t e l l u n g s m a s s e n oder dem willkürlichen Spiele der P h a n t a s i e ins Bewusstsein tritt; wir müssen also nunmehr diejenige Art des Bewusstwerdens betrachten, in welcher sich jener n a t ü r l i c h e G e b r a u c h der Denkfunctionen zu einer mit Strenge, Gewandtheit und Consequenz geübten K u n s t , mit einem Worte zum l o g i s c h e n Denken ver-

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Psychologische Entwicklung des Apriori.

edelt. Wir haben aber dabei nicht ausschliesslich die Stufe des streng w i s s e n s c h a f t l i c h e n Denkens, noch weniger ausschliesslich diejenige im Sinne, auf welcher sich eben dies streng wissenschaftliche Denken s e i n e r e i g e n e n G e s e t z e klar bewusst wurde; Pythagoras hat seinen Lehrsatz bewiesen, lange bevor Aristoteles seine logischen Schriften verfasste; in dunkeler Vorzeit haben die Menschen schon s t r e n g l o g i s c h gedacht, haben sie mit scharfem Verstände die Mittel zu ihren Zwecken ersonnen und Staatsordnungen hergestellt, sich auf ihren Absichten und Trugschlüssen durch Anwendung des ganzen logischen Apparates ertappt. Wir würden uns also einem müssigen Thun ergeben, wollten wir ernstlich auf dieser Stufe des w i s s e n s c h a f t l i c h en Denkens nach n e u e n a p r i o r i ' s c h e n F u n c t i o n e n fahnden. Denn erstens unterscheidet sich der K ü n s t l e r von dem D i l e t t a n t e n nicht durch wesentlich verschiedene Eigenschaften, sondern nur durch den Grad der Ausbildung und durch die Verwendung der ihnen beiden gemeinsamen. Geniale Dilettanten können sich durch methodische Ausbildung ihrer Kräfte zu künstlerischer Reife emporschwingen. Der wahre, geniale Künstler ist um vieles reicher als der beschränkte, stümperhafte Dilettant, und ebenso überragt der scharfsinnige Denker den blöden Kopf; aber der grösste wissenschaftliche Geist steht in der Masse seines Handwerkszeuges auf gleicher Höhe mit dem naiven, nicht verwahrlosten Naturmenschen, gerade wie der Künstler mit dem gleichbegabten Dilettanten. Zweitens aber mussten wir schon bei der reflexionslosen Sprachbildung eine so energische Mitbethätigung logischer Functionen behufs der Möglichkeit ihrer Erklärung anerkennen, dass wir schwerlich auf Entdeckung neuer rechnen können. Ein Volk, welches seine Sprache zu jenem Reichtum an formalen und materialen Elementen ausgebildet hat, wie sie z. B. in den Homerischen Gesängen vorliegen, hat unmittelbar damit den Beweis geliefert, dass es auch streng logischer Denkweise fähig ist, nicht blos im praktischen Leben, sondern in ihrer höchsten Verwendung, in der W i s s e n s c h a f t .

4.

Die apriori'schen Verstandesfunctionen im logischen Denken.

D a s s t r e n g l o g i s c h e D e n k e n besteht 1. in der Bildungvon B e g r i f f e n , 2. in der Verknüpfung der Begriffe zu U r t e i l e n , 3. in der Ableitung neuer Urteile aus einem oder mehreren gegebenen, im S c h l i e s s e n . Welche Functionen setzt zunächst die B e g r i f f s b i l d u n g voraus? Versetzen wir uns in den Zustand zurück, wo wir von dem

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vernünftigen Sprechen in unbestimmten Allgemeinvorstellungen zur bestimmten Begriffsbildung fortschritten! Die Sprache hatte auf Grund wiederholter Wahrnehmung in den Lauten „Haus" ein Mittel geboten, eine Anzahl verwandter Vorstellungen festzuhalten und auch wieder ins Bewusstsein zu rufen. Damit war aber noch nicht der Begriff gewonnen. Wer sich diesen schaffen will, der führt sich abermals möglichst viele jener Einzelerscheinungen, die er früher in dem Worte Haus zusammengefasst hatte, vor die Seele, reiht ihnen auch diejenigen an, welche er im oberflächlichen Vorstellungsmechanismus noch nicht hinzugenommen hatte, deren wesentliche Uebereinstimmung aber dem scharfen Nachdenken nicht entgehen kann, hält die jeder einzelnen Vorstellung anhaftenden Merkmale möglichst vollständig und identisch fest, vereinigt unter andauerndem Vergleichen und Unterscheiden die in diesem ganzen Verlaufe der verschiedenen Bewusstseinszustände auftretenden, nur in der Zeit auseinander gerückten Bestandteile und stellt sie in ihrer Gesammtheit dem Mannigfaltigen der verschiedenen Zustände gegenüber. Sowenig aber schon bei der Wahrnehmung des e i n z e l n e n Gegenstandes das durch die verschiedenen Sinne zugeführte Material locker und unverbunden nebeneinander liegen blieb, sondern zu einer substanziellen \^esenseinheit im Bewusstsein verschmolz, ebensowenig begnügt sich auch das begriffliche Denken mit der blossen Zusammenreihung der den wahrgenommenen Individuen gemeinsamen Merkmale, vielmehr fasst es dieses Wahrnehmungsmaterial durch eine freie, apriori'sche Leistung, durch die Kategorieen der S u b s t a n z und der I n h ä r e n z , als die einer substanziellen Wesenseinheit anhaftenden Eigenschaften. Man mag diese Bearbeitung des Wahrnehmungsmaterials durch die Kategorieen ein F o r m e n , eine f o r m a l e Thätigkeit nennen und so von einem formal-logischen Denken sprechen; nur darf man nicht übersehen, dass durch sie erst ein Begriff als I n h a l t des Bewusstseins erzeugt wird. Form und Inhalt sind hier wie überall untrennbar. Durch diese formale Leistung der Substanzierung des Wahrnehmungsmaterials wird ferner jene Festigkeit und Geschlossenheit des Bewusstseins der bunten Masse des Erfahrungsstoffes gegenüber erzeugt, vermöge deren es selbst einen in hoher Abstraction schwebenden Begriff, wie das Sterbliche oder die Sterblichkeit, durch einen weniger abstracten, wie die Menschen oder die Menschheit, noch mit einer concreten Vorstellung, wie Caius, verbunden weiss und die nota notae zur nota rei ipsius macht oder das Individuum durch Vermittelung des Artbegriffes unter die Gattung stellt. Welcher Art S c h n e i d e r , Psycho!. Entwickelung.

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Psychologische Entwickelung des Apriori.

auch immer das Merkmal eines solchen Begriffes sein mag, d. h. von welcher Art seiner Einwirkung auf unsere Wahrnehmungsmittel es hergenommen sein, in welchen räumlichen oder zeitlichen Verhältnissen es uns erscheinen, in welcher Wechselwirkung und Kraftäusserung zu anderen Objecten es auch immer durch jene subjectiven Formen uns sich darstellen, durch welche kategorialen Functionen diese nur immer erkannt werden mögen: alle diese verschiedenen Merkmale, seien es wenige, viele oder alle, werden durch die Kategorieen der Substanz und Inhärenz zu einer objectiven Wesenseinheit des Begriffes im Bewusstsein verknüpft. Das Grün wird an der Tanne, die Eigenschaften des Kunstwerkes an der Tragödie, die Wirkungen der Aetherschwingungen auf den Gesichtssinn an der Erscheinung der Farbe, das Ausdehnen der Körper an dem Wärmequell, die Unfreundlichkeit gegen den Guten an dem Glücke als inhärente Eigenschaft gedacht; in allen diesen begrifflichen Producten können wir etwas Gemeinsames erkennen, wir können es als das Bewusstwerden eines Verhältnisses der Substanzialität und Inhärenz bezeichnen. Wir hatten bisher mehr Fälle der ä u s s e r e n Erfahrung im Sinne;»das begriffliche Denken kann seinen Stoff selbstverständlich auch in der i n n e r e n vorfinden. Es ist aber von vorn herein noch ein entgegengesetzter Process der Begriffsbildung denkbar. Das Denken könnte sich a p r i o r i eine Summe von Merkmalen völlig frei zur substanziellen Einheit eines Begriffes zusammenstellen; unter diese wieder andere Begriffe mit einer grösseren Zahl von Merkmalen aber von geringerem Umfange ordnen, die es ebenfalls a priori erzeugt, und mit Hülfe solcher selbstgeschaffenen Begriffe die Erfahrung zu beherrschen suchen. Dies geschieht in der reinen und in der angewandten Mathematik. Auch dieses begriffliche Denken lässt sich nur durch die Annahme der vorher bezeichneten Kategorieen erklären: eine zur Totalität zusammengefasste Reihe von Merkmalen wird als einer Substanz anhaftend gedacht und identisch für weitere Begriffsbildungen festgehalten, z. B. die Merkmale des Begriffes Parallelogramm für die Bildung des Begriffes Rechteck; die a priori gegebenen und sich a priori dem Bewusstsein aufdrängenden realen Anschauungsformen Raum und Zeit sind hier die S u b s t a n z , das S u b s t r a t , an welchem so, wie in der Empirie die Empfindungen an der M a t e r i e , die a priori bestimmten Eigenschaften anhaftend, sein Wesen ausmachend gedacht werden. Dass die Empirie sich niemals unbedingt diesen a priori erzeugten Begriffen anbequemen will, erkennt das Denken nur durch das auf der Function des absoluten

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Gleichsetzens und des Unterscheidens begründete Festhalten seiner Gebilde. Nachdem so iD den Begriffen eine Grundlage für weitere Gedankenprocesse geschaffen ist, entstehen U r t e i l e . Zwar vollzog sich schon die Begriffsbildung nicht ohne jedes Urteilen; denn wer auch nur an zweien Vorstellungen Gleichheit oder Ungleichheit erkennt, der urteilt. Aber wir dürfen einen wesentlichen Unterschied nicht verwischen: etwas anderes ist es, durch die Denkfunctionen überhaupt erst ein Object ins Bewusstsein erheben, etwas anderes, dieses so bewusst gewordene von neuem für das Bewusstsein zergliedern und mit anderen auf jene Art erzeugten Bewusstseinsmomenten verknüpfen. Ersteres geschieht im Begriffe, letzteres im Urteile. Wir können mit Rücksicht auf die Etymologie sagen: Urteilen ist austeilen, ein Austeilen des im Bewusstsein begrifflich Zusammengefassten. Das Denken kann aber nicht mehr austeilen, als es besitzt, d. h. es verfährt a n a l y t i s c h nach dem Princip der I d e n t i t ä t , unter Anwendung der Kategorie der Identität. Es tritt jedoch auch der Fall ein, dass das Denken, einen Begriff festhaltend, das Verhältnis dieses zu einem anderen erkennt, der bisher in dem Bewusstsein ausser aller Beziehung zu jenem gestanden hatte oder erst nachträglich demselben zugeführt wurde. Sowohl an a posteriori erworbenen als auch an a priori erzeugten Begriffen kann sich dieser Process der Bewusstseinsbereicherung, dieser Akt des s y n t h e t i s c h e n Urteilens vollziehen. Ersteres findet z. B. statt, wenn der Astronom an einem oder mehreren Planeten Axendrehung beobachtet, oder wenn er durch das Spectrum das Vorhandensein eines noch völlig unbekannten Stoffes auf einem Weltkörper feststellt; letzteres geschah, als Pythagoras das durch seinen Satz ausgedrückte Verhältnis entdeckte. (Der Beweis konnte freilich nur analytisch geführt werden.) Aber auch bei dieser S y n t h e s i s des Urteilens verschmilzt unter der Bethätigung der oben aufgezeigten Kategorieen das neu erkannte Merkmal mit der Summe der bisher im Begriffe zusammengefassten fortan zu einer ebenso substanziellen Einheit, bis etwa ein weiterer Denkakt eine neue Abänderung und eine Correctur des Begriffes erheischt. Das ist aber das Wesen alles und jedes Urteilens, dass es einen Inhärenzbegriff, mag er ein oder mehrere Merkmale oder, wie in der wissenschaftlichen Definition, die Gesammtheit aller wesentlichen umfassen, in diesem seinem Verhältnisse zu einem Substanzbegriffe bewusst werden lässt. Begriffs verknüpfungen wie Haus und Hof, Ross und Reiter sind deshalb keine Urteile, weil durch sie kein solches Verhältnis bewusst wird; der Verbindung „das Ross des Reiters" liegt jenes Verhältnis zu Grunde,

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Psychologische Entwickelung des Apriori.

aber es wird nicht klar bewusst; daher ist aüch diese Verknüpfung kein Urteil; ein solches erhalte ich erst durch die Verbindung: „das Ross gehört dem Reiter". In dem Bewusstmachen jenes Verhältnisses einer Substanzialität und Inhärenz besteht also das Wesen des Urteils; dies ist seine f o r m a l e Function. Aber ich vermag auch hier, wie beim Begriffe, nicht anders von der f o r m a l e n Seite des Urteiles zu sprechen, als dass ich damit jene wesentliche apriori'sche Function bezeichne, durch welche aus den verknüpften Begriffen erst ein neuer Bewusstseinsinhalt, und zwar nie ohne alle Beziehung zu etwas Realem, hergestellt wird. Der Grad der B e w u s s t s e i n s g e w i s s h e i t über jenes Verhältnis der verknüpften Begriffe ist freilich ein verschiedener. Gelangt das aposteriori-synthetisch urteilende Denken dahin, dass es auf Grund irgendwelcher Erfahrung ein neues Merkmal in den Zusammenhang der anderen im „Contexte der Erfahrung" gegebenen aufnimmt, z. B. bei der Wahrnehmung der Axendrehung von Planeten an der Bewegung der auf ihnen beobachteten Flecke, dann entsteht zwar auch Gewissheit; aber verschieden von dieser Gewissheit eines Thatsächlichen, Wirklichen ist diejenige, welche aus der Entfaltung der an einem Begriffe des apriori-analytischen Denkens substanzierten Merkmale entspringt, z. B. wenn der alte Athener sich einen frommen Mann nicht anders als den Göttern opfernd denken konnte. Allerdings auch das aposteriori-synthetisch gewonnene Urteilsproduct kann von dem Bewusstsein einer Notwendigkeit der neu erzeugten Einheit begleitet sein; aber diese Gewissheit kann nur durch einen Schluss bewirkt werden. Wer die Eigenschaft der Axendrehung als notwendigen Bestandteil des Substanzbegriffes Planet über die blos empirische Urteilssynthesis hinaus zum Bewusstsein bringen will, der muss den Planeten als einen von den Gesetzen der Mechanik in allen seinen Bewegungen beherrschten Himmelskörper begreifen, also auf Grund eines aus allgemeineren Begriffen gebildeten Urteiles den bisher nur unvollkommen erfassten Begriff eines Planeten mit neuen Merkmalen für das Bewusstsein erfüllen. Aber selbst diese so erzeugte logische Gewissheit ist noch von jener bei dem rein apriori-analytischen Urteilen und Schliessen entstehenden verschieden, da j a alle Naturerkenntnis auch in den allgemeinsten Sätzen sich zuletzt nur auf die Wirklichkeit berufen kann. So halte ich also L a n g e (G. d. M. S. 89) gegenüber an der Unterscheidung eines dreifachen Gewissheitsgrades beim Urteilen fest und erachte die Annahme von drei wesentlich verschiedenen Grundfunctionen der im Urteilen sich offenbarenden Einheitsstiftung zu ihrer Erklärung für nötig, der M ö g l i c h k e i t , Wirk-

Psychologische Entwickelung des Apriori.

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l i c h k e i t und N o t w e n d i g k e i t . Man hat Langes Angriff gegen die überlieferte Lehre von der Modalität gelobt. Er wendet sich gegen den Aristotelischen Möglichkeitsbegriff; entweder müsse man die Notwendigkeit alles Geschehens annehmen, und dann giebt es keine reale Möglichkeit (evdéyeod-at); oder nicht, womit die Consequenz der naturwissenschaftlichen Weltanschauung verworfen ist. Demgemäss führt er auch die Urteile der Notwendigkeit und Möglichkeit auf Functionen assertorischer Urteile zurück. Jene sollen im Vergleiche zu diesen keine selbständige logische Bedeutung haben. Notwendigkeit entsteht als Ausdruck der Subsumption eines einzelnen Falles unter ein allgemeines Urteil, Möglichkeit durch Subsumption unter ein particulares. Das apodiktische Urteil hat mithin keine grössere Gewissheit als das assertorische, welches der natürliche Ausdruck des Wirklichen, der Thatsache, und als solches der grössten Gewissheit ist, die wir haben können. Wenn auch die Richtigkeit dieser Behauptung hinsichtlich der objectiven Welt des Seienden zugegeben werden muss, so verlieren sie doch ihre Gültigkeit in ihrer Beziehung auf die Arten der subjectiven Wiederspiegelung im Bewusstsein. Hier müssen wir mit allerdings ebenfalls nur assertorischem Urteile über das thatsächliche Sein des Denkens auf Grund unserer psychologischen Beobachtungen jenen dreifachen Gewissheitsgrad annehmen. Der Kartenspieler stellt unmittelbar nach der Verteilung der Karten seine Urteile jedenfalls mit einem anderen Bewusstsein ihrer Gültigkeit auf als etwa in der Mitte und am Schlüsse des Spieles; musste er sich anfangs nur auf mögliche Verknüpfungen beschränken, so darf er im Verlaufe des Spieles immer mehr zu bestimmten, am Schlüsse sogar zu absolut gewissen fortschreiten. Alle diese subjectiven Gewissheitsgrade beziehen sich auf eine objective Wirklichkeit, die gewiss mit Notwendigkeit so geworden ist, wie sie ist. Derjenige, welcher sich seine Begriffe a priori bildet, also immer in seinen Denkobjecten nur finden kann, was er selbst hineingelegt hat, und hierbei aus der Erfahrung nichts gewinnt, sondern ihr höchstens eine erleichternde Unterstützung verdankt, kann alle Eigenschaften, welche er durch das Urteilen an seinem Gegenstande sich vorstellt, alle Merkmale seinem Begriffe mit dem Bewusstsein der unbedingten Notwendigkeit beilegen. Ihm erscheint also stets der Begriff den Merkmalen gegenüber nicht bloss in dem Verhältnisse von Substanz und Eigenschaft, sondern auch in dem der Ursache und Wirkung; die Function der Causalität unterstützt die der Substanz; das blos substanzierende Bewusstsein vertieft sich in das verursachende. Ueberall dagegen, wo Begriffe a posteriori auf die oben beschriebene

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Psychologische Entwickelung des Apriori.

Weise gewonnen werden, in allen Wahrnehmungsurteilen, in allen Natur- und Geisteswissenschaften empirischer Art, wo also der Begriff blos durch Zusammenfassung des in allen Einzelerscheinungen thatsächlich vorhandenen Gleichen gebildet wird, da können zwar in analytischen Urteilen mit logischer Gewissheit die im Begriffe gedachten Merkmale als zu dem Begriffe gehörig vorgestellt werden; aber das Bewusstsein, dass der Begriff nun gerade aus d i e s e n Merkmalen gebildet werden m u s s t e , welche das analytische Urteilen aus ihm mit logischer Gewissheit wieder entfaltet, kann sich nicht ausbilden. Und w e n n die Naturwissenschaft jemals an dem Ziele angelangen sollte, dass sie e i n e n Urstoff aller Dinge mit je e i n e r Qualität für jeden wahrnehmenden Sinn erkennen könnte, so müsste sie sich doch bescheiden, dieses Sein als thatsächlich vorhanden hinzunehmen. Der Urstoff birgt thatsächlich alle Eigenschaften in sich, welchen die Einzelerscheinungen ihr Dasein verdanken, und das logische Denken, welches jenen höchsten Begriff der so beschaffenen Materie mit ihren bestimmten Eigenschaften aus der Erfahrung aufgenommen hat, kann Urteil an Urteil analytisch knüpfen und so mit logischer Gewissheit dem Bewusstsein noch einmal entfalten, was in dem Grundbegriffe enthalten ist. Aber warum dies alles darin enthalten sein muss, nach dieser Notwendigkeit, nach dieser Ursächlichkeit fragt es vergeblich. Bei allen a priori erzeugten Begriffen stellt sich das Bewusstsein ein, dass in ihnen alles analytisch Entfaltete enthalten sein m u s s , weil das Denken dasselbe hineingelegt hat, seine eigene That ist ihm die Ursache alles Bewusstwerdens; und das Bewusstsein dieser U r s ä c h l i c h k e i t ist das allergewisseste. Die That freilich, welche die ganze Welt der Erfahrung, also auch das durch innere Erfahrung, durch Selbstbesinnung und Selbstbeobachtung erfahrene Denken, gerade so geschaffen hat, enthüllt sich ihm nie in analytischen Urteilen mit jener unerschütterlichen Gewissheit über ihre Notwendigkeit und Ursächlichkeit. Der das Wesen des Urteils bildende Akt der Verknüpfung eines Inhäreuzbegriffes mit einem als Substanz gedachten kann mit dem Bewusstsein der h y p o t h e t i s c h e n Natur des letzteren und ohne dasselbe geschehen. Das Bewusstsein ist im h y p o t h e t i s c h e n Urteile um ein Moment reicher als im k a t e g o r i s c h e n , es ist kritischer; es vergegenwärtigt sich die M ö g l i c h k e i t der Nichtexistenz des Substanzbegriffes. Wer urteilt: „wenn Gott ist, so ist er gerecht", der stellt sich auch die Möglichkeit des Nichtseins Gottes vor. Gerade deswegen aber ist in diesem Falle der Gewissheitsgrad über die Yerknüpfbarkeit der Begriffe ein geringerer. Auch in dem Urteile:

Psychologische Entwickelung des Apriori.

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„wenn es Herbst ist, fallen die Blätter" drückt sich das Bewusstsein aus, dass die Verknüpfung der Begriffe als Abspiegelung eines realen Sachverhaltes an gewisse Bedingungen gekettet ist, und dass sie durch das Ausbleiben dieser Bedingungen geradezu unmöglich wird. Wir sehen also in solchen Urteilen die Kategorieen der M ö g l i c h k e i t und N e g a t i o n functionieren; wir erkennen die Verwandtschaft zwischen dem hypothetischen und dem problematischen Urteile. In dem hypothetischen Urteile, in dem Bewusstsein der bedingten Verknüpfbarkeit zweier Begriffe kann sich ferner allerdings auch die Verursachung des einen Begriffes durch den anderen zu voller Klarheitausbilden; doch geschieht das nicht immer; oft wird durch solches Urteilen nicht mehr als ein regelmässiges zeitliches Zusammentreffen der beiden im Urteile verknüpften Begriffe bewusst. Man darf daher das hypothetische Urteil nicht so auffassen, als ob in ihm g a n z bes o n d e r s oder wohl gar a l l e i n das Bewusstsein der Causalität sich ausdrücke, als ob die Kategorie der Ursache g a n z b e s o n d e r s oder gar a l l e i n aus ihm abzulesen sei. Wenn das Denken das Steigen des Quecksilbers im Thermometer sich hypothetisch vergegenwärtigt und damit das Wärmerwerden der Luft in Zusammenhang bringt, dann hat es nicht die Ursache mit der Wirkung, sondern umgekehrt die Wirkung mit der Ursache verknüpft, und der wahre Sachverhalt braucht damit ebensowenig erkannt zu sein, wie von dem gemeinen Manne, der sagt: „wenn es blitzt, donnert es". Viel energischer bekundet sich oft die apriori'sche Denkfunction der Causalverknüpfung in einfachen kategorischen Urteilen wie: „die Sonne erwärmt den Stein" oder gar: „die Sonne ist die Ursache der Erwärmung des Steines". Ich vermag daher dem hypothetischen Urteile keine so hohe Bedeutung für die Logik und Erkenntnistheorie beizumessen wie S t a d l e r . (Erk. S. 116.) Wir sahen oben, dass der eigentliche Ursprung des Bewusstseins der Causalität da zu suchen sei, wo durch das apriori-analytische Denken gewisse Merkmale zu einem Begriffe als dessen notwendige Bestandteile verbunden und im analytischen Urteile aus dieser Einheit wieder herausgelöst wurden. Doch könnte der letzte Quell vielmehr überhaupt und auch für diese Causalität in der F r e i h e i t d e s W i l l e n s , sofern er sich als gewolltes Denken äussert, zu liegen scheinen. Erst wenn der freie Wille den Denkfunctionen den Anstoss zur apriori'schen Construction von Begriffen giebt, erzeugt sich — so könnte es scheinen — das Bewusstsein jener mehr als bloss logischen Causalverknüpfung, das Bewusstsein der eigentlichen Ursächlichkeit und der einzigen unbedingten Notwendigkeit. Stets be-

Psychologische Entwicklung des Apriori.

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müht, in diesen

Untersuchungen

Wesenheit zu berücksichtigen sammmenhang nicht,

in

den Menschen

in

seiner

ganzen

und zu erfassen, entgeht uns der Z u -

welchem

auch

Erkennen

und Wollen,

sogar auch Erkennen und Fühlen mit einander stehen.

ja

Alles Walten

von Kräften in der Natur k a n n der Mensch nur nach der Analogie seiner eigenen physischen K r ä f t e Analogie greifen;

seiner

und

in das Bewusstsein

diese

selbst

nur

nach

der

eingehenden Willenskräfte be-

unter diesen aber nehmen gerade die apriori'sche Begriffe

erzeugenden Willensregungen eine hervorragende Stellung ein.

Wir

dürfen aber nicht übersehen, dass j a auch diese Willensäusserungen nur als ein Nacheinander von Bewusstseinszuständen und noch dazu nicht einmal unmittelbar wahrnehmbar auftreten, dass das B e w u s s t sein ihrer also immer nur in dieser eigentümlichen Erscheinungsform innewerden kann, und dass es endlich doch noch einer synthetischen Grundfunction, der Kategorie der Ursache bedarf, w e l c h e dieses blosse Nacheinander zur Einheit eines die Causalität erkennenden Bewusstseinszustandes verbindet. Neben dem k a t e g o r i s c h e n

und h y p o t h e t i s c h e n Urteile ist

aber von dem Gesichtspunkte, welcher zu dieser Unterscheidung führte, keine

dritte

Klasse

möglich.

Die

disjunctiven

Urteile

diesem Gesichtspunkte e n t w e d e r kategorische o d e r

sind

von

hypothetische.

Die Bildung eines Begriffes w a r bedingt durch die Zusammenfassung des Mannigfaltigen zur Einheit des Bewusstseins, der T e i l e zu

einem

Ganzen,

sowohl

der

Merkmale

als

auch

der

durch

diese gemeinsamen Merkmale verbundenen Vorstellungen individueller oder selbst

schon

begrifflicher Natur.

Es

ist

daher

sowohl

beim

analytischen als auch beim synthetischen Urteilen dreierlei möglich, dass entweder das Bewusstsein sich aus der Gesammtmasse der zusammengefassten Vorstellungen e i n e e i n z i g e fixiert und sie in ihrem Verhältnisse zu einem durch analytisches öder synthetisches Urteilen bewusst werdenden Begriffe sich v e r g e g e n w ä r t i g t , oder dass es eine M e h r h e i t derselben

oder

Sinne zur Klarheit erhebt.

endlich

ihre G e s ä m m t h e i t

in

diesem

D a s ist ohne das Zählen nicht möglich,

dieses aber gründet sich auf die a p r i o r i ' s e h e n Grundbegriffe der Quantität.

Die F ä h i g k e i t , einen bestimmten Bewusstseinszustand als

bestimmte G r ö s s e

zu

fixieren,

festzuhalten,

sich

vervielfachen zu

lassen und eine Reihe derselben zu einem Ganzen, zu einer Allheit eines neuen Bewusstseinszustandes zusammenzufassen, diese Function der G r ö s s e n - und Z a h l e n b i l d u n g

und die darin waltenden

Ka-

t e g o r i e e n der E i n h e i t , V i e l h e i t und A l l h e i t sind der Quell des s i n g u l a r e n , p a r t i c u l a r e n und a l l g e m e i n e n U r t e i l s ;

und zwar

Psychologische Entwickelung des Apriori.

185

stehen diese Grundbegriffe im urteilenden Denken in beständiger Wechselwirkung. Wer auch nur Singular von e i n e m Menschen oder particular von m e h r e r e n Menschen urteilt, der muss doch schon den Gesammtbegriff Mensch erzeugt haben, mag dieser seinem Inhalte nach auch recht arm und einer Bereicherung durch Urteile über einen oder mehrere Menschen sehr bedürftig sein; widrigenfalls würde er nicht von einem oder mehreren M e n s c h e n , sondern etwa nur von diesem und jenem Individuum, oder nur von D e u t s c h e n , Weisen, G u t e n u. s. w. urteilen. Diesen Gesammtbegriff kann ich nun entweder in meinem ßewusstsein auf eine Einzelvorstellung oder auf eine Mehrheit derselben zusammenschrumpfen lassen, um von diesem neuen, verengerten Bewusstseinsgegenstande etwas analytisch oder synthetisch in das Bewusstsein zu erheben; ich kann aber auch den Gesammtbegriff in seinem g a n z e n Umfang und Inhalt im Bewusstsein bewahren und nun mir entweder im analytischen Urteilen diesen Umfang oder Inhalt vergegenwärtigen, z. B. wenn ich urteile: die Farben des Regenbogens sind entweder Rot oder Orange u. s. w., oder im synthetischen Urteilen zwischen den schon mit gewissen Eigenschaften behafteten Gliedern des Umfanges und anderen ganz neu ins Bewusstsein tretenden Vorstellungen oder schon bereitliegenden neue Verbindungen stiften, z. B. wenn Linné die Gesammtheit der Organismen, die er zuvor unter dem Begriffe Pflanze zusammengefasst hatte, nun nach mehr äusserlichen, oder wenn andere Forscher dieselben nach mehr innerlichen Erkennungszeichen ihrem ganzen Umfange nach classificierten, oder wenn ein Bürger die Gesammtheit der Gesetze seines Volkes, welche er bisher unter dem Begriffe allgemeingültiger Bestimmungen vollständig zusammengefasst hatte, nunmehr unter die beiden Unterabteilungen der staats- und privatrechtlichen verteilt, indem er auf diese Weise das Vorhandensein specifischer Merkmale erkennt und zugleich und unmittelbar damit einer Gliederung der vorher unterschiedlos daliegenden Vorstellungsreihe bewusst wird. Eine neue Urteilsfunction können wir jedoch in dieser Denkoperation, in dem d i s j u n c t i v e n Urteile, nicht erkennen; es sind lediglich die bisher schon gefundenen Grundbegriffe der Einheit, Vielheit und Allheit, also der Grösse, des Ganzen und seiner Teile, der Substanz und ihrer notwendig oder zufällig anhaftenden Eigenschaften, mit Hülfe derer wir diese Functionen des Urteilens bezeichnen können. Auch in diesem Sinne vermag ich daher dem disjunctiven Urteile keine selbständige Stellung einzuräumen, so grosse Bedeutung ihm auch nach L a n g e „für die höheren Gebiete der modernen Logik, insbesondere für die Wahrscheinlichkeitslehre gebühren" mag.

186

Psychologische Entwickelung des Apriori.

Die Bevorzugung des disjunctiven Urteils von Seiten der neueren Logik billigt auch R i e h l . (II 229.) S t a d l e r (Erk. S. 121) charakterisiert das disjunctive analytische Urteilen treffend, wenn er ihm die Aufgabe zuweist, die Teile eines gegebenen Begriffes darzustellen, insofern sienach Kants Worten „einander in dem G a n z e n oder zu einem Ganzen, als Ergänzungen (complementa) bestimmen". Das ist aber nach Stadler die G r u n d f o r m a l l e s D e n k e n s , vermöge deren wir „wissen, was in einem Begriffe enthalten und was von ihm ausgeschlossen ist". „Alles logische Erkennen beruht auf der Einteilung eines Begriffes als eines Ganzen in Unterbegriffe als seine Teile." Hiermit wird richtig das letzte und höchste Ziel alles logischen Erkennens, aber nicht jeder einzelne dahin führende Erkenntnisprocess bezeichnet. Wer die Begriffe des Seins und Denkens einteilt und bis in ihre letzten Unterarten bis zum Individuellen verfolgt, der hat die Kunst des logischen Erkennens mit grösster Virtuosität betrieben und kann die Ergebnisse dieser beiden Reihen von logischen Akten schliesslich stolz in zwei disjunctiven Urteilen zusammenfassen. Aber das Erkennen entwickelt sich in den seltensten Fällen so, wie es in der besonderen Form des disjunctiven Urteils geschieht, dass es den ganzen Reichtum des begrifflichen Inhaltes sich vorstellt. Mir scheint es daher unrichtig, gerade mit dieser besonderen .virtuosen Leistung des logischen Denkens die allgemeine Natur alles Erkennens zu bezeichnen; es ist in derselben nur die wiederholte Ausübung der Grundfunctionen des einfachen Urteilens zu sehen. Wir haben bis jetzt ausschliesslich den Akt im Auge gehabt, durch welchen die V e r b i n d u n g eines Begriffes mit einem anderen bewusst wurde; es kann aber in allen diesen Formen durch das Urteilen auch eine T r e n n u n g gestiftet werden. Diese Function beherrscht das ganze logische Denken; denn schon die Begriffsbildung kam ja nur in der Weise zu Stande, dass das Gleiche zusammengefasst, das Verschiedene fortgelassen wurde. Aber das Gewahrwerden einer Verschiedenheit ist ohne die Fähigkeit des Gleichsetzens, des Festhaltens eines bestimmt Gesetzten inmitten des Wechsels der Bewusstseinszustände undenkbar. Mit Recht sagt daher S t a d l e r (Erk. S. 19): „Die negativen Urteile entspringen aus der blossen Unmöglichkeit, das Princip der Identität zur Geltung zu bringen." Aber ebendeswegen, weil u n m i t t e l b a r mit diesem Zusammenfassen des Gleichen auch das Auseinanderhalten des Verschiedenen unablöslich verbunden ist, müssen wir in den negativen Urteilen, d. h. in dem Bewusstwerden der Unverbindbarkeit gewisser in den Be-

Psychologische Entwicklung des Apriori.

187

wusstseinszuständen zeitlich ablaufender positiver Vorstellungen, eine der wesentlichen GrundleistuDgen des Denkens anerkennen. Das strenglogische, kunstvolle und regsame Denken unterscheidet sich von dem mehr auf dem Vorstellungsmechanismus beruhenden, ungeübten und trägen nicht blos durch den reicheren Bewusstseinsgehalt, der auf der Identificierung des Gleichen in dem Mannigfaltigen beruht, sondern auch durch den umfassenderen Besitz negativer Urteile, d. h. durch das bewusste Scheiden vieler solcher Vorstellungen, die zunächst in dem Bewusstsein ausser allem inneren Zusammenhange stehen, die überhaupt in eine bewusste Beziehung zu setzen ausserhalb des Denkens selbst nicht der mindeste Anstoss gegeben wird. Diese psychologische Betrachtung der Natur des Urteilens hat uns einen noch tieferen Einblick in die eigentümliche Kraft des Geistes, in sein schöpferisches Wesen gestattet als die des Begriffes, und es erscheint in der That als ein genialer Griff, wenn K a n t gerade die L e h r e v o m U r t e i l e für die A u f d e c k u n g d e s aprio r i ' s c h e n S t a m m b e s i t z e s verwertete. Der a l l e i n i g e Weg freilich war es nicht, den er betreten konnte. Begriff und Schluss dürfen ebenfalls Anspruch auf Berücksichtigung erheben. Wenden wir uns nunmehr zu der letztgenannten Denkoperation! Das Denken thut zunächst einen weiteren Schritt, indem es analytisch, durch einen u n m i t t e l b a r e n S c h l u s s , ohne Zuhülfenahme eines zweiten Urteils, ein neues gewinnt, d. h. ein Verhältnis zwischen den in einem Urteile verknüpften oder getrennten Begriffen sich vorstellt, welches anfangs noch nicht vorgestellt wurde. Die Logik zählt hierher die Schlüsse ex aequipollentia, ex subalternatione, ex conversione iudicii, ex oppositione und ex contrapositione. In allen diesen Akten aber vermögen wir keine von den bisher entdeckten wesentlich verschiedenen Leistungen oder Grundfunctionen zu finden. Denn der sog. Schluss e x a e q u i p o l l e n t i a zunächst beruht, wenn wir darunter das Einsetzen eines völlig gleichwertigen Begriffes verstehen, auf der Kategorie der Identität. Hierin liegt eigentlich, wie schon Kant behauptete, gar kein Schliessen. Verstehen wir aber darunter mit neueren Logikern (z. B. Ueberweg § 96) die Herstellung eines neuen Urteils von entgegengesetzter Qualität bei völliger Uebereinstimmung des Sinnes, z. B. die Verwandlung des Urteils: „alle Menschen sind sterblich" in das andere: „alle Menschen sind nicht nicht-sterblich", so haben wir dieses Verfahren im Zusammenhange mit dem Schlüsse ex oppositione zu behandeln. In den Schlüssen e x s u b a l t e r n a t i o n e ferner geschieht nichts weiter, als dass sich dasjenige zu der dem Urteilen eigenen Klarheit

Psychologische Entwickelung des Apriori.

188

des Bewusstseins erhebt, w a s unmittelbar in dem gegebenen Erkenntnisproducte

mitgedacht wurde.

Wer

alle

Menschen im Bewusst-

sein zusammenfasst und sich die Verbindbarkeit dieses ganzen Umfanges mit dem Begriffe der

Sterblichkeit

nach

dem Verhältnisse

der Substanzialität und Inhärenz vorstellt, der k a n n das

unmöglich

ohne jedes Bewusstsein von dem einzelnen oder von mehreren Menschen ; die Allheit ist ihm die zur Einheit zusammengefasste Vielheit der Einzelnen.

Sobald das Bewusstsein überhaupt zur Begriffsbildung

fortschreitet, also nicht bei dem Individuellen stehen bleibt,

sondern

eine Mehrheit zusammenfasst, tritt auch stets die Einheit in Beziehung zur Vielheit und Allheit. E s offenbaren sich uns hier Grundfunctionen, die in beständiger W e c h s e l w i r k u n g stehen. D a s W e s e n der U m k e h r u n g

ferner

besteht darin,

dass das

Denken einen Begriff, den es zunächst nur als Eigenschaft an einer Substanz erkannt hat, a priori

selbst als Substanz

und

durch

die

Kategorieen der Grösse sich in einer Anzahl von Einzelerscheinungen darstellbar denkt.

Zugleich sieht es sich befähigt, den in dem ersten

Urteile als Substanz

gedachten Begriff

von der Reihe der E r s c h e i -

nungen, in welchen er sich darbot, mit freier Abstraction loszulösen und als Eigenschaftsbegriff zu verwenden.

Ohne die geringste Ein-

sicht in die Begriffe S und P des Urteils S a P

ist ein zum D e n k e n

überhaupt befähigter Mensch im Stande, das neue Urteil P i S zustellen.

Natürlich

und Erfahrung undenkbar;

ist eine solche Leistung ohne längere U e b u n g

im selbsteigenen Bilden von

ohne

auf-

diese

Begriffen und

bleibt j e d e s gegebene Urteil

Urteilen

entweder

ein

leerer Schall, oder das ungeübte Denken ist geneigt, eine conversio simplex zu vollziehen.

Hat z. B. ein K i n d

seiner Vorstellungsbildung

in dem ersten Stadium

nichts anderes Schwarze als etwa einige

Kleidungsstücke wahrgenommen, so vermutet es beim Anblicke dieses Schwarzen eben nichts weiter als diese Kleidungsstücke. durch eigenste Erfahrung das Bewusstsein

B e v o r nicht

von der Verschiedenheit

der begrifflichen Sphärenverhältnisse

aufgedämmert

sich die

Fähigkeit

durch

wickeln.

Sobald sie aber ihren Anfang nimmt, dann offenbart sich

des

Schliessens

auch sofort in diesem „ P s y c h o l o g i s c h - A n f ä n g l i c h e n " sisch-Ursprüngliches",

jene

Substanzialität und Inhärenz nicht

eine

apriori'schen möglich

ein

nicht

wäre.

kann ent-

„Metaphy-

Verstandesfunctionen

und der Quantität,

einzige Umkehrung

ist, eher

Umkehrung

der

ohne welche auch Dieser Denkprocess

ist aber in den verschiedenen F ä l l e n der U m k e h r u n g wesentlich der gleiche. Welcher Art

sind

ferner

die e x

oppositione

gewonnenen

Psychologische Entwickelung des Apriori.

189

Schlüsse? Jemand habe sich a priori den Begriff des Dreiecks oder a posteriori den der Tanne gebildet und sei durch Urteilen sich klar bewusst geworden, dass die Summe der Winkel jedes Dreiecks zwei Rechte beträgt, dass alle Tannen grüne Nadeln haben ( S a P ) ; was thut dieser, wenn er nunmehr auch des deutlich inne wird, dass die Summe der Winkel auch nicht in einem einzigen Falle nicht-2, nicht 1 oder 3 Rechte ist, dass keine einzige Tanne nicht-grüne, rote oder blaue Nadeln haben kann (also nicht S o P) ? Man könnte sagen: derjenige, welcher sich durch Gleichsetzen und Unterscheiden vieler Einzelvorstellungen den Begriff der Tanne erworben, hat dabei so vieles Nicht-Grüne aufnehmen müssen, dass das Urteil: „die Tanne hat nicht nicht-grüne Nadeln" sich unmittelbar als ein Nebenergebnis einstellen musste. Aber er hat j a nicht das Nicht-Grüne wahrgenommen, sondern das Braune, das Blaue u. s. w., und es erforderte immer noch eine besondere apriori'sche Leistung, alles das Braune, Blaue u. s. w. unter dem Begriffe des Nicht-Grünen zusammenzufassen. Dasselbe gilt für apriori'sche Begriffe: es ist im Bewusstsein neben dem Begriffe des Dreiecks zunächst der des Vierecks u. s. w. vorhanden, nicht das Nicht-Dreieck. Und selbst wenn jemand nur einen einzigen Begriff, z. B. den des Punktes mit dem Merkmale des NichtAusgedehnten, fixiert hat, also noch nicht eine Mehrzahl solcher vergleichen kann, wird er alles mit diesem Merkmale Nicht-Gleiche von seinem Begriffe in einem völlig a priori erzeugten Urteile ausschliessen. Freilich giebt auch hier wieder die innere Erfahrung des thatsächlichen Vorhandenseins verschiedener, sogar grell contrastierender Vorstellungen den Anlass zu jenem Denkprocesse, aber auch nur den äusseren Anlass, seine innere Möglichkeit gründet sich auf apriori'sche Functionen. Ohne die Fähigkeit des absoluten Gleichsetzens und des bewussten Unterscheidens würden die Bewusstseinszustände der Vorstellungen eine lockere Reihe von Einzelheiten bleiben; durch jene werden sie immer enger verkettet, und durch sie tritt nach einiger Uebung zu jeder bestimmten Vorstellung die ganze Reihe der übrigen in einen bewussten Gegensatz. Welches die innerhalb dieser Reihe am schärfsten contrastierende Vorstellung, das cont r ä r e Gegenteil ist, muss wieder in jedem einzelnen Falle durch fortgesetztes Gleichsetzen und Unterscheiden bewusst werden. Hierbei wirken die Kategorieen der Q u a n t i t ä t mit; denn in der blossen Gewohnheit des Wechsels einer unbestimmten Reihe verschiedener Vorstellungen liegt nicht die mindeste Bürgschaft für das Zusammenfassen aller übrigen von einer bestimmten Vorstellung verschiedenen zu einer Gesammtheit. Indem das Denken sich diesen grossartigen

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Psychologische Entwickelung des Apriori.

Ausblick aus dem engen Bezirke des gerade Vorgestellten in die unendliche Welt des Nicht-Vorgestellten, aber möglicherweise Vorstellbaren eröffnet, beweist es sich auch wiederum im Besitze der Kategorieen der M o d a l i t ä t ; es weiss: zu jedem S i s t nicht nur thatsächlich vieles Nicht-S vorhanden, k a n n nicht nur noch manches andere Nicht-S gedacht werden, sondern m u s s sogar die Gesammtheit der Nicht-S unbedingt in einen bewussten Gegensatz gestellt werden. Ja wir dürfen hierin wieder ein Mitwirken der Kategorie der Substanz anerkennen; jenes Nicht-S, zur Einheit zusammengefügt, strebt zu einer substanziellen Bestimmtheit im Bewusstsein auf. In der C o n t r a p o s i t i o n thut das Denken, wie in der ConVersion, noch den weiteren Schritt, jenen durch die Opposition erschlossenen Kreis mit voller Bestimmtheit als etwas Substanzielles zu fassen und sich dessen Verhältnis zu der ganzen Reihe von Merkmalen bewusst zu machen, welche es in dem Ausgangsurteile als einer Anzahl von Individuen oder Arten anhaftend vorgestellt hatte. Aber auch alles das, was nicht zu dem im ersten Urteile substanzierten Begriffe gehört, vermag das Denken gerade so zu einer substanziellen Einheit zusammenzuschliessen wie das contradictorische Gegenteil des im ersten Urteile als Merkmal gedachten Begriffes; und so gewinnt denn in diesem rüstigen Fortschritte des Denkens das aus dem Urteile S a P erschlossene: kein Nicht-P ist S eine mehr als bloss negative Bedeutung: alle Nicht-P sind Nicht-S. Wer durch Contraposition aus dem Urteile: „alle Menschen sind sterblich" denSchluss zieht: „alles Nicht-Sterbliche ist nicht ein Mensch", für den kann sich auch die ganze Sphäre des Nicht-Menschlichen zu einer substanziellen Einheit des Bewusstseins verdichten und so zwei freilich sehr unbestimmte Sphären in eine positive Urteilsverbindung eingehen. — Die apriori'sche Leistung, welche sich uns hier wiederum mit aller Gewalt "aufdrängt, ist in den verschiedenen Fällen, welche bei der Contraposition möglich sind, wie bei der Conversion, dieselbe. Auch hier ist selbstverständlich, dass nur das geübte und erfahrene Denken sich zu einer derartigen Verwendung seines apriori'schen Handwerkszeuges aufraffen wird. Aber selbst in diesen weitgehenden Leistungen unmittelbarer Schlüsse trafen wir keine Function an, welche uns nicht schon begegnet wäre. Wir kommen nun zu denjenigen Operationen, durch welche das Denken aus z w e i gegebenen Urteilen ein neues gewinnt, zu den m i t t e l b a r e n Schlüssen oder S y l l o g i s m e n . Als den bei weitem häufigsten Fall lehrt uns die Erfahrung den der e r s t e n F i g u r , und zwar den Modus barbara kennen. Das

Psychologische Entwickelung des Apriori.

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Denken hat mit Hülfe der uns bekannten Functionen die Urteile S a M und M a P gebildet und schliesst: S a P. Zunächst ist klar, dass in dem beständigen Wechsel der durch diese Begriffe und Urteile dargestellten Bewusstseinszustände die Function des Identificierens sich in voller Kraft bewähren muss, wenn aus einem derartigen langen Bewusstseinsprocesse eine neue Einheit erwachsen soll; sowohl die einzelnen Begriffe, in welcher Reihenfolge sie auftreten mögen, wie auch jedes der beiden durch Urteilen bewusst gewordenen Verhältnisse zwischen ihnen müssen durch eine in dem Wechsel der Bewusstseinszustände constant bleibende Kraft identisch festgehalten werden. Das ist für diese und alle übrigen syllogistischen Figuren festzuhalten. Die Verbindung aber zwischen den beiden Urteilen wurde dadurch hergestellt, dass ein und derselbe Begriff das eine Mal in der Gesammtheit seiner Merkmale als Eigenschaft an einem Substanzbegriffe, das andere Mal als Substanz mit der Gesammtheit seiner Einzelerscheinungen in seinem Verhältnisse zu einem Inhärenzbegriffe bewusst wurde. Nur in diesem einzigen Falle, wenn ein und derselbe Begriffe durch zwei Urteile sowohl in seinem Suabstanzals auch in seinem Inhärenzverhältnisse zu zweien anderen Begriffen positiv bewusst wird, und wenn dies in beiden Urteilen hinsichtlich des ganzen Umfanges der beiden Substanzbegriffe geschieht, ergiebt sich — wie nun das menschliche Denken einmal beschaffen ist — in dem neuen Schlussurteile jener reiche Ertrag, dass zwei bisher im Bewusstsein völlig getrennt liegende Begriffe zu einer Urteilseinheit verknüpft werden, und zwar der eine als Inhärenzbegriff mit dem ganzen Umfange des anderen, des Substanzbegriffes. Von dieser syllogistischen Form macht sowohl das aposteriori. synthetische als auch das apriori-analytische Denken den ausgiebigsten Gebrauch. Steigen wir freilich aus der abstracten Höhe der formalen Logik herab und betrachten beide Methoden genau in ihrem Werden und Wachsen, so stellt sich heraus, dass es eigentlich nur die erstere ist, welche sich in jener Form entwickelt. Von dem einzelnen S geht sie aus und nimmt an diesem wie an dem mit ihm Gleichartigen ein gemeinsames Merkmal wahr; dieses Gemeinsame fasst sie zu dem Begriffe M zusammen und legt dasselbe allen S, an welchem sie es wahrgenommen hat, in einer Urteilssynthesis bei. An allen diesen M, d.h. aber nichts anderes als wieder an eben denselben mit der Qualität M erkannten S, nimmt das Denken ferner die Qualität P wahr. Es handelt sich also für dieses so fortschreitende Denken gar nicht um ein Verknüpfen des Getrenntliegenden, sondern, man könnte sagen, um ein Nichtauseinanderreissen des in engstem

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Psychologische Entwickelung des Apriori.

Zusammenhange Wahrgenommenen. Eine grössere Gewissheit, als dass jene S nun einmal P sind, sowie die S thatsächlich M und die M t a t sächlich P sind, lässt sich in diesem Denkprocesse nicht erreichen. Ganz anders verhält es sich bei dem apriori-analytischen Denken. Auch dieses schliesst in jener ersten Figur: alle Quadrate sind Rechtecke, alle Rechtecke sind Parallelogramme, folglich sind alle Quadrate Parallelogramme. Aber für das erste Urteil bedurfte es doch des Begriffes Rechteck, für das zweite des Begriffes Parallelogramm. Den letzteren musste es — um zunächst bei diesen drei Begriffen stehen zu bleiben — zuerst entwerfen, d. h. der Bewusstseinszustand musste zuerst eintreten, in welchem ganz allgemein die Bedingungen oder Merkmale: vier gerade Linien — in einer Ebene paarweise sich schneidend — paarweise immer in gleicher Entfernung — zur Einheit eines Begriffes zusammengefasst wurden. Dann erst schritt dieses Denken — in seinem Entstehen und in seinem systematischen Wachsen betrachtet — durch Aufnahme einer weiteren Bedingung, eines neuen Merkmales (rechter Winkel) in die Bewusstseinseinheit zur Bildung des Begriffes Rechteck und auf dieselbe Weise zur Unterart Quadrat fort. Dass dem so ist, bestätigt jeder methodische Unterricht in der Mathematik. Der Mathematiker sieht sich gezwungen, in dem Schüler zuerst den Begriff des Punktes und dann weiter den der Linie, des Winkels, der Fläche, der Seiten- und Wechselwinkel in ihren Verhältnissen, wenn auch nur mit annähernder Bestimmtheit, zu erwecken, bevor er den einfachsten Satz von dem Aussenwinkel und von der Summe der Winkel im Dreiecke beweisen, d. h. in einer Reihe von Urteilen mit Hülfe jener Begriffe, zu vollem Bewusstsein bringen kann. Also gerade deswegen, weil thatsächlich beim analytischen Urteilen aus Begriffen a priori von den allgemeinsten Raumthatsachen, d. h. von den allgemeinsten, umfassendsten Begriffen ausgegangen wird, weil für das allererste Urteil schon ein allgemeinster selbsterzeugter, nicht aus der Erfahrung gewinnbarer Begriff vorhanden sein muss, weil also hier für die Urteile M a P und S a P in der ersten Schlussfigur schon das Urteil P i M und M i S nach der Bildung der Begriffe P und M in der bewussten Entfaltung ihres Inhaltes entstanden sein mussten, deshalb ist die v i e r t e S c h l u s s f i g u r , und noch dazu mit zwei particular bejahenden Prämissen, welche von dem allgemeinsten Begriffe durch den mittleren zum besonderen fortgeht, das eigentliche Abbild dieses zugleich die höchste Gewissheit erzeugenden Denkens. Dass die unbedingte Notwendigkeit und strenge Allgemeinheit erzeugende mathematische Denken also, in der angegebenen Weise fortschreitend, urteilt z. B.: einige Parallelogramme

Psychologische Entwickelung des Apriori.

193

sind rechtwinklige Parallelogramme, d. h. Rechtecke, und nur dies ist ein Rechteck; einige Rechtecke sind gleichseitige Rechtecke, d. h. gleichseitige rechtwinklige Parallelogramme, d. h. Quadrate, und nur dies ist ein Quadrat; also einige Parallelogramme sind Quadrate. Also auch hier werden, wie wir es oben hinsichtlich des aposteriorisynthetischen Denkens an der ersten Figur erkannten, durch den Syllogismus nicht völlig zusammenhangslose Begriffe verkettet, sondern im Gegenteil nur das innerlich Verwachsene in diesem seinem Naturzusammenhange bewahrt. Aber freilich: nur dasjenige mathematische Denken, welches sich dieses seines systematischen apriori'schen Entstehungsprocesses klar bewusst ist und weiss, dass Rechteck und Quadrat nichts weiter sind als rechtwinklige Parallelogramme, bezw. gleichseitige Rechtecke, darf jene Schlussfolgerung wagen; wie es sich andererseits hüten wird, für das mathematische Urteilen allgemein das Gesetz aufzustellen, dass aus zwei particularen Prämissen (z. B. einige Parallelogramme sind regelmässige Figuren, einige regelmässige Figuren sind Quadrate) ein Schluss gezogen werden könne. Denn der Eigenschaftsbegriff braucht nicht immer die Merkmale der dem Substanzbegriffe zunächst stehenden Art zu enthalten, sondern kann die einer höheren Gattung umfassen. Die f o r m a l e Logik, welche für alles und jedes Denken, ohne Unterschied, ob apriori-analytisch oder aposteriori-synthetisch erzeugt, Gesetze finden will, muss allgemein behaupten, dass aus rein particularen Prämissen nichts geschlossen werden kann, auch nicht bei particularem Obersatze und negativem Untersatze, am allerwenigsten bei zwei negativen Prämissen. Denn wo die im Urteilen functionierenden Kategorieen in der bewussten Aufhebung des Substanzialitäts- und Inhärenzverhältnisses sich bethätigen, da kann — das ist eine Forderung des Identitätsgesetzes — selbstverständlich kein Zusammenhang bewusst werden. Jedoch ist es eine unberechtigte Forderung, dass der zum Kriticismus herangereifte Logiker sich die Einsicht in jenen besonderen Fall der Entstehung des apriori-analytischen Denkens verschliessen und innerhalb desselben der vierten Figur mit particular bejahenden Prämissen nicht ebensolche Bedeutung beimessen solle, wie der ersten Schlussfigur mit allgemein bejahenden Prämissen für das Werden des aposteriori-synthetischen Denkens. Die vierte Figur ist in diesem Betracht mehr als, nach Trendelenburgs Behauptung, „das steife Kleid der formalen Logik". R i e h l (II 233, vgl. 231) schreibt: „Der Irrthum, die Mathematik für analytisch zu halten, rührt von der Ausserachtlassung des Urs p r u n g s ihrer Erkenntnisse her." Nun, ich habe mich dieses S c h n e i d e r , Psychol. Entwickelung.

13

194

Psychologische Entwickelung des Apriori.

Fehlers nicht schuldig gemacht; jener „irrtümlichen" Ansicht

aber gerade deswegen bin ich zu

gelangt.

Durch das Apriori wird die

Synthesis mathematischer Begriffe im Bewusstsein gestiftet; in diesem Sinne ist aber jede Begriffsbildung Synthesis

ist alles

synthetisch.

Auf Grund dieser

mathematische Urteilen analytisch.

Darin

hat

Riehl Recht, dass er die Logik als der Mathematik übergeordnet bezeichnet. (II 226.) Verlassen

wir nun aber diese kritische Höhe und stellen wir

uns wieder auf den Standpunkt der formalen Logik,

um an einem

unbedingt giltigen Modus der v i e r t e n F i g u r , bamalip, uns die Functionen zu vergegenwärtigen, welche für dieses Schliessen unerlässlich sind! Abgesehen von der für keinen Syllogismus entbehrlichen Bethätigung des Identitätsprincips, finden wir durch die Kategorieen der Substanz und der Qualität nicht ohne die der Quantität zwischen den beiden Prämissen

und ihren drei

Begriffen

genau

denselben

innerlichen Zusammenhang hergestellt wie in der ersten Figur.

Mit

denselben Mitteln übt hier wie dort der Geist seine Herrschaft über die Reihe der im Bewusstsein ablaufenden mannigfaltigen Vorstellungsreihen.

In dieser innerlichen Verkettung

der Begriffe und Urteile

liegt der Grund des Schliessens, nicht in irgend welcher äusserlichen Anordnung der Prämissen.

Diesen innersten Kern und Lebensnerv

des Syllogismus treffen die Scholastiker mit ihrer Zurückführung des Modus bamalip auf barbara durch die Metathesis (m) nicht; und die endlich noch zur Hülfe gerufene conversio per accidens (p) kommt zu spät, um das Wesen

des Schlusses

selbst zu erklären.

Vielmehr

wegen des vollkommen gleichen Aufwandes apriori'scher Kraft wird hier aus den Prämissen P a M und M a S mit demselben Rechte P a S wie in der ersten Figur S a P geschlossen. nicht sowohl darauf an,

Kommt es mir freilich

diese apriori'sche Zuthat

des Geistes

in

jedem einzelnen Schlussakte zu erkennen, als vielmehr darauf, ganz abstract und rein formal die möglichen Verbindungen zu verzeichnen, welche dieselben bei den Begriffen S und P

unter Bewahrung

des-

selben Substanz- und Qualitätsverhältnisses durch denselben terminus medius M syllogistisch eingehen können, dann allerdings vermag ich nur die conclusio S i P als das erreichbare Resultat anzugeben. Wir wenden uns nunmehr zu dem gewiss nicht seltenen Falle, dass derselbe Begriff M, identisch festgehalten, härenzbegriffe P, ein

anderes Mal zu S

einmal zu dem In-

als Substanzbegriff gesetzt

und durch die Synthesis des Urteilens in diesem doppelten Verhältnisse bewusst wird, also zur d r i t t e n Figur,

und zwar

betrachten

wir beispielsweise den modus darapti mit den Prämissen M a P und

Psychologische Entwickelung des Apriori.

195

M a S. Darin, dass dieselbe Urteilsfunction zweimal an einem und demselben Begriffe vollzogen wurde, liegt für das denkende Bewusstsein die Bürgschaft, dass auch die beiden Inhärenzbegriffe mit Sicherheit in irgend eine Beziehung treten, welche durch die gleiche Urteilssynthesis bewusst werden kann. Die in allen drei Urteilen wirksamen Urteilsfunctionen müssen hier wie in allen Syllogismen und wie überhaupt bei allem Urteilen als etwas Constanles, durchaus Identisches angesehen werden; denn ohne diese Voraussetzung würden sowohl in d e m s e l b e n Subjecte die einzelnen durch das Urteilen gestifteten Synthesen eine lose Reihe von Bewusstseinszuständen bleiben als auch in den verschiedenen Subjecten nicht die mindeste Uebereinstimmung, folglich auch nicht das mindeste gegenseitige Verständnis gesichert sein. Wir müssen für alle diese logischen Operationen eine durchaus gleiche apriori'sche Organisation der verschiedenen denkenden Subjecte voraussetzen. Im Besitze solcher Functionen thut das Denken nun auch hier den uns schon von den unmittelbaren Schlüssen her bekannten Schritt, den einen der beiden Inhärenzbegriffe P oder S in einem bestimmten, durch die gegebenen Urteile erschlossenen Bereiche zu substanzieren und an ihm die Merkmale des identisch bewahrten M als Eigenschaften vorzustellen; es erzeugt sich also durch seine apriori'schen Kategorieen entweder das Urteil P i M oder das Urteil S i M. Jedes von diesen aber ermöglicht eine weitere Urteilssynthese, P i M führt zu P i S, S i M zu S i P, da ja die Berechtigung, S, bzw. P an jedem M in dem Verhältnisse der Inhärenz und Substanzialität zu denken, durch je eine der Prämissen, M a S, bzw. M a P, gesichert und so auch das Bewusstsein der Inhärenz von S oder P an der Substanz P, bzw. S, wie das aus der Betrachtung der ersten Figur einleuchtet, ermöglicht ist. Den Lebensnerv dieses Schlussaktes erkannten wir in dem durch die Conversion unmittelbar begründeten Bewusstwerden des Verhältnisses der Begriffe eines gegebenen Urteils; eine solche Conversion muss unbedingt vollzogen werden, wenn die conclusio zu Stande kommen soll. Die Zurückflihrung des modus darapti auf darii, welche mit ihrer conversio per accidens (p) auf jenen innersten Grund und das Wesen dieses Schlusses hindeutet, erlangt daher höheren Wert als den eines Kunststückes der formalen Logik; durch sie gewinnt die bloss äusserliche Versinnlichung der Sphären erst ihre tiefere Begründung. So bleibt uns denn nur noch die z w e i t e Schlussfigur übrig, der Fall, in welchem das Denken zweimal denselben Begriff M in einem Inhärenzverhältnisse, zu S und P, gegeben erhält, um eine Urteilssynthese zwischen S und P zu finden. Merkwürdig! Gerade

196

Psychologische E n t w i c k l u n g des Apriori.

wenn die beiden Prämissen jenes Inhärenzverhältnis mit der grösstmöglichen Deutlichkeit angeben, sie alle beide allgemein bejahend sind, gerade dann vermag es über P und S nichts weiter auszusagen, als dass sie b e i d e eine Anzahl gleicher, unter M zusammengefasster Merkmale in sich tragen, während es bei minder wertvollen Prämissen, bei der Combination einer allgemein oder particular verneinenden mit einer allgemein bejahenden, j a sogar bei dem Zusammentritt einer allgemein verneinenden und einer particular bejahenden, ein Bewusstsein des Verhältnisses von P und S oder S und P, wenn auch nur in einem negativen oder particularen Urteile, erschliessen kann. Woher kommt das? Da die in den beiden Urteilen P a M und S a M wirksamen Functionen vollständig wesensgleich mit den in allen übrigen syllogistischen Formen bethätigten sind, so kann der Grund nur in einer noch nicht ausreichenden Anwendung dieser Functionen auf die drei Begriffe liegen. Das Urteilen stellte sich beide Male M als Inhärenzbegriff vor, unterliess es aber, oder vielmehr war bei den beiden bejahenden Prämissen nicht in der Lage, umgekehrt und wechselweise auch M zu substanzieren und dessen Umfang mit der nötigen Bestimmtheit in seinem Verhältnisse zu einem der beiden anderen Begriffe bewusst zu machen. Sobald ihm dies glückt — und es glückt ihm gerade bei einer allgemeinverneinenden und bei einer particular bejahenden Prämisse —, dann ist für das Bewusstsein jene Klarheit über die drei verknüpften Begriffe verbreitet, welche zur Herstellung einer neuen Verbindung genügt. „Müssen wir dann aber durchaus — so wirft man ein — hierbei zur Conversión, also zu einer erneuten Bethätigung der Kategorieen Substanz und Qualität unsere Zuflucht nehmen, um die apriori'schen Functionen dieses Syllogismus zu erschöpfen? Bei dem modus barocco nehmen j a selbst die Scholastiker davon Abstand und behelfen sich mit dem indirecten Beweise durch die oppositio contradictoria." Aber erstens wird dieser indirecte Beweis mit Hülfe der ersten Figur geführt, und deren Bündigkeit beruht gerade, wie wir sahen, auf jener doppelten Anwendung der Substanz und Qualität auf den Mittelbegriff. Und zweitens: wenn ich selbst zugeben kann, dass in den vier möglichen Modis der zweiten Figur allein nach dem Princip der Identität und des zu vermeidenden Widerspruches, also durch die Function des Identifizierens und Unterscheidens, die beiden äusseren Begriffe in eine gedankliche Beziehung gerückt werden, so ist damit doch noch nicht die dem Urteile eigentümliche Bestimmtheit des Bewusstseins erreicht; dazu muss jedenfalls erst wieder der eine der beiden Begriffe S und P als Eigenschaft gedacht und in diesem seinem Ver-

Psychologische Entwicklung des Apriori.

197

hältnisse zu dem anderen, substanziell festgehaltenen bewusst werden. Die Urteile S a M und P e M besagen: jedes S enthält die unter M zusammengefassten Merkmale, kein P enthält sie; daraus folgt zunächst nur: S und P sind nicht identisch, sind etwas Verschiedenes, gerade so, wie aus S a M und P a M folgt, dass sie in Bezug auf M identisch sind. Erst durch die Gewissheit, hier, dass jedes M die Merkmale von P enthält, dort, dass kein M sie enthält, entwickeln sich die klaren Bewusstseinssynthesen:, S a P und S e P. Die von den Scholastikern in der Zurückftihrung auf die Modi der ersten Figur angewandte Conversion erweist sich also doch als eine innere, gedankliche Notwendigkeit. Mit dieser Figur sind wir unmittelbar an die I n d u c t i o n herangerückt, d. h. an diejenige logische Operation, in welcher das Denken nicht, wie bisher, aus z w e i Urteilen, sondern aus m e h r e r e n zu einem neuen gelangt. Selbstverständlich kann hier nicht mehr vom Kettenschlusse die Rede sein; denn dieser besteht ja nur in einer wiederholten Anwendung des Syllogismus. Wenn das Denken, sei es a priori oder a posteriori, sei es analytisch oder synthetisch, in "zwei Urteilen die Einzelvorstellungen oder Begriffe Mi und Ma zu dem Begriffe S in dem Verhältnisse der Substanzialität und Inhärenz erkannt und in derselben Weise Mi und M2 mit P verknüpft hat, so ergiebt sich aus diesen vier Urteilen das neue: mindestens einige S (nämlich Mi und Mg) sind P, oder umgekehrt P i S. War aber noch das fünfte Urteil gesichert, dass ausser Mi und M2 kein S (oder P) existiert, dass also alle S (oder P) entweder Mi oder M2 sind, so lautet das Schlussresultat: S a P (oder P a S). Es ist klar, dass auch dieser ganze mannigfaltige Bewusstseinsprocess zunächst durch absolut constante Functionen, durch ein absolutes Identificieren des Gleichen und ein bewusstes Auseinanderhalten des Verschiedenen in dem Wechsel der Zustände beherrscht sein muss. Auch kann er nicht ohne die Kategorieen der Grösse zu Stande kommen. Desgleichen mussten sich die Substanzialität und Inhärenz bewähren; denn bei dem particularen Schlussurteile wurde die conversio: mindestens einige S sind Mi oder M2, bei dem allgemeinen Sa Mi oder M2 unentbehrlich. Nicht minder springt die innerliche Verwandtschaft mit der zweiten und dritten syllogistischen Figur in die Augen. Die beiden Prämissen erwachsen ja nur aus je zwei Einzelurteilen, Mi = S und M2 = S, Mi = P und M2 = P, und wir thun hier das ausdrücklich und mit sehr gutem Erfolge, was wir in der zweiten Figur bei zwei allgemein bejahenden Prämissen als überflüssig abgelehnt hatten. Der Unterschied von der dritten Figur besteht aber

198

Psychologische E n t w i c k l u n g des Apriori.

nur darin, dass in diesem Syllogismus nur die ein e Einzelvorstellung oder ein Begriff in dem Verhältnisse der Substanzialität zu zwei Inhärenzbegriffen bewusst wurde, während dies hier mindestens an zwei Substanzbegriffen geschah. Dieser demnach im engsten Zusammenhange mit allen bisher besprochenen logischen Operationen stehende Process ist der Weg, den alles aposteriori-synthetische Denken, jedwede Empirie mehr oder weniger wissenschaftlicher Natur einschlägt. Bewegt sich auch das apriori-analytische auf ihm? Allerdings; z. B. wenn es den Satz von dem Centri- und Peripheriwinkel auf gleichem Bogen und an drei möglichen Fällen beweist. Aber diese Induction ist doch von jener empirischen sehr verschieden. Letztere schafft den Grund und Boden für jedes Erfahrungsurteil, erstere hat fiir das apriori'sche Wissen nur secundären Wert. A priori wird der Kreis, a priori der Centri- und Peripheriwinkel auf gleichem Bogen construiert, a priori, aus keiner Erfahrung, erwirbt sich das Denken den Ueberblick über die drei Arten der unendlichen Zahl möglicher Einzelfälle; nur apriori-analytisch lässt sich der Beweis für die drei Arten führen. Hier besteht also die Induction lediglich in einem Zusammenfassen dreier Urteile (Mi = S, M2 = S, M s = S) zu einem (Mi M2 Mg = S). Alles übrige leistete die apriori'sche Deduction aus den allgemeinen Begriffen durch den Syllogismus. In schroffem Gegensatze hierzu steht das aposteriori-synthetische Urteilen; vom Individuellen geht es aus, die Bearbeitung des Individuellen ist die alleinige Grundlage für seine kühnsten Abstractionen; und das individuelle Urteil: „dieses S ist P " enthält einen Inhärenzbegriff, welcher aus denselben Individuen wie das S geschöpft ist. Die Entstehung dieses Teiles unseres Bewusstseinsinhaltes lässt sich, genau genommen, durch kein syllogistisches Schema ausdrücken, auch nicht durch die erste Figur S a M, M a P, also S a P ; denn P ist aus M, M aus S gewonnen; ihr Schema ist: Mi = S, M2 S . . ., also Mi Mg . . . = S ; Mi = P, M2 = P . . ., also Mi M2 . . . = P ; S i = Mi M2 . . oder S a = Mi M2 . .; folglich S i P oder S a P. Die v o r k r i t i s c h e Logik konnte diesen Unterschied nicht machen; die n a c h k r i t i s c h e braucht und soll bei allem Bestreben, rein f o r m a l zu sein, d. h. a l l g e m e i n e Gesetze für j e d es Denken aufzustellen, sich dieser Einsicht nicht verschliessen. Deduction und Induction, die beiden einzigen vorhandenen Schlussarten, kehren in allen noch übrigen logischen Operationen, also auch im A n a l o g i e s c h l ü s s e vom Besonderen auf das Besondere wieder. Selbst das wichtigste Hülfsmittel der empirischen Wissen-

Psychologische Entwickelung des ApriorL

199

Schäften und ihr höchster Stolz, die H y p o t h e s e , liefert uns keinen reicheren Ertrag an apriori'schen Functionen. Das rein apriori-analytische Wissen bedarf ihrer nicht; das aposteriori-synthetische Denken aber schliesst in der Hypothese von etwas Wahrgenommenem auf etwas zunächst nicht Wahrnehmbares. Das ist nur möglich durch die Kategorieen der U r s a c h e und W i r k u n g , der S u b s t a n z und E i g e n s c h a f t , der A l l g e m e i n h e i t und N o t w e n d i g k e i t . Nur weil der Geist mit diesen ausgerüstet ist, entsteht die sichere, aus keiner Erfahrung zu entnehmende Ueberzeugung, dass jede Erscheinung irgend einen Grund haben, dass also die wahrgenommenen Eigenschaften an irgend einer Substanz (und zwar der materiellen) haften müssen, dass folglich dieser Sachverhalt durch das deductive Verfahren zum Bewusstsein müsse gebracht werden können. Das ist eine auf den unerlässlichen Grundthatsachen des Geisteslebens beruhende, durch diese Grundthatsachen selbst erzeugte, dem Bewusstsein aufgezwungene Denknotwendigkeit. Der i n d i r e c t e B e w e i s endlich besteht in dem Nachweise der Unmöglichkeit des contradictorischen Gegenteiles. Welche gewaltige apriori'sche Leistung in dem Bewusstwerden des contradictorischen und conträren Gegenteiles sich bekundet, sahen wir bei der Betrachtung der unmittelbaren Schlüsse ex oppositione. Die Unmöglichkeit des Gegenteiles thut man nun entweder deductiv durch Syllogismen aus apriori-analytischen Urteilen mit unbedingter Gewissheit dar, weil man sich die ganze Reihe der contradictorischen Möglichkeiten vollzählig vergegenwärtigen kann, oder inductiv, durch aposteriorisynthetisches Urteilen, mit nur relativer Gewissheit, weil auch die Einsicht in die unter das contradictorische Gegenteil gehörigen Fälle nur aus der Erfahrung gewonnen werden kann, und zwar nicht immer mit dem Bewusstsein, sie sämmtlich erschöpft zu haben. Die hierbei functionierenden Kategorieen sind uns bekannt Nachdem so die Natur des contradictorischen Gegenteiles bewusst geworden ist, hält das Denken mit strengstem Gleichsetzen und Unterscheiden die zu beweisende Behauptung für gesichert, freilich nur für l o g i s c h gesichert, auf der einen Seite ohne das Bewusstsein unbedingter Notwendigkeit und Ursächlichkeit, wie es sich dem apriori-analytischen Denken durch syllogistische Ableitung aus dem Wesen der selbsterzeugten Substanz ergiebt, auf der anderen Seite ohne den sicheren Einblick in eine thatsächliche Wirklichkeit, welcher sich nur inductiv aus der Beobachtung des Erfahrungsmateriales erschliesst. Wie sich bei der Betrachtung des tierischen Innewerdens der menschliche Vor stellungsmechanismus, bei diesem das vernünftige Spre-

200

Psychologische Entwicklung des Apriori.

chen, bei diesem wieder das logische Denken in den Kreis unserer psychologischen Beobachtungen drängte, so erging es uns auch in dieser Erwägung des logischen Bewusstseins: auch hier eröffnete sich ganz von selbst der Ausblick in die nächsthöhere Bewusstseinsstufe, in das wissenschaftliche Denken. Das logische Denken also in seiner höchsten Ausbildung, in der W i s s e n s c h a f t , haben wir nunmehr hinsichtlich des Inhaltes und Umfanges der in ihm wirksamen apriorischen Verstandesfunctionen zu prüfen.

5.

Die apriori'schen Verstandesfunctionen im wissenschaftlichen Bewusstsein.

Alles Wissen beruht auf der Bildung von Begriffen. Wo keine Begriffe sind, da giebt es kein Wissen, also auch streng genommen kein B e w u s s t s e i n ; da sollten wir nur von einem Innewerden, Empfinden und Wahrnehmen, sprechen. Frühestens dürfen wir daher dem s p r e c h e n d e n Menschen im strengsten Sinne Bewusstsein beilegen ; denn erst mit dem Sprechen zerteilt sich das Chaos des blossen Innewerdens. Wissen entspringt nur mit und a u s sprachlich versinnlichten Allgemeinvorstellungen und Begriffen, d. h. m i t und a u s dem Erfassen des Allgemeinen, und es giebt daher auch nur Wissen, wo es mit der Wahrnehmung des Einzelnen zugleich ein Wissen vom Allgemeinen giebt. Ohne B e g r i f f e würde es nicht bloss „kaum", wie G ö r i n g , (S. d. kr. Ph. I S. 301) mit nicht zu lobender Bescheidenheit schreibt, sondern a b s o l u t n i c h t eine Wissenschaft geben. Es muss für die Erfahrungswissenschaften, aber auch nur für diese, rückhaltslos eingeräumt werden: „Jede Wissenschaft ist ein System vieler Einzelerkenntnisse und beruht im letzten Grunde auf dem Wissen des Einzelnen." Aber darüber müssen wir uns klar werden, welcher Art dieses Wissen des Einzelnen ist. Von einem W i s s e n der einzelnen Objecte, aus deren Zusammenfassung der Begriff entsteht, können wir nur dann reden, wenn dieses Wissen eben so beschaffen ist, dass daraus der Begriff entstehen kann: es muss wirklich das einzelne Object als Ganzes mit seinen Teilen bewusst geworden und in seinen Eigenschaften durchgängig, nicht bloss nach der Laune eines niedrigen Interesses oder des Zufalls willkürlich aufgefasst sein, es muss aber zugleich das Gleichartige an Verschiedenem zusammengeflossen und so eine Allgemeinvorstellung, ein Begriff und zwar durch ein allgemeinwertiges sprachliches Zeichen bewusst geworden sein. So lange sich der menschliche Geist zu dieser Leistung unfähig zeigt, so lange fehlt ihm auch noch wahres Wissen

201

Psychologische Entwickelung des Apriori.

des Einzelnen ebenso wie des Allgemeinen. sagt:

„Eine einzige,

E s ist wahr, was R i e h l

aber wissenschaftlich genau analysirte Folge

kann als b e g r e i f l i c h und v e r u r s a c h t erscheinen." (II 215.) beruht

auf der Kategorie der

Ursache

und Wirkung;

aber

Das jene

wissenschaftlich genaue Analyse des e i n z i g e n Falles vollzieht sich nur durch Begriffe

und in Begriffen und

zwar in letzter Instanz

eben durch jene die allgemeinsten Begriffe unmittelbar erzeugenden Denkfunctionen oder Kategorieen. Berücksichtigen

wir

nun

die

vier

Elemente,

welche,

wir gesehen haben, bei der Begriffsbildung in Betracht das

Aposteriori

lysis,

und

so ergeben

bewegt:

1.

die

das Apriori,

die Synthesis

sich vier Methoden,

und

die Ana-

in denen sich alles Denken

aposteriori - synthetische,

2.

die

aposteriori-ana-

lytische, 3. die apriori-analytische, 4. die apriori-synthetische. diesen

sind

die erste

und

dritte

wie

kommen,

Haupt-,

die

Von

zweite und vierte

Nebenarten; denn aus jenen beiden stammt alles Wissen, sie allein haben

in

diesem

Sinne

erkenntnistheoretische

Alle Erfahrungswissenschaften

gehen

den

Bedeutung.

aposteriori-synthetischen

Weg; den apriori-analytischen verfolgt die M a t h e m a t i k ,

und zwar

nur diese unbedingt, im wesentlichen jedoch auch die E t h i k .

Die

zweite und vierte Methode an und fiir sich ermöglichen keine Erkenntnis;

aber indem

sie sich mit jenen

beiden

Grundmethoden

vereinigen, sich in ihren Dienst stellen, bilden sie einen Hebel für die Erweiterung der Erkenntnis, gewinnen sie mehr als b l o s s l o g i s c h e n Wert.

Die Erfahrungswissenschaften schliessen oft von den auf dem

ersten Wege gewonnenen Erkenntnissen analytisch auf ein neues E r fahrungsobject; die Mathematik verbindet nicht selten, sei es durch geniale Intuition, sei es auf Veranlassung von Messungen an einem Erfahrungsobjecte, einen apriori'schen Begriff synthetisch

mit einem

anderen, freilich ebenfalls a priori erzeugten. Die Berechtigung dieser Verbindung kann sie aber nur auf dem dritten Wege

nachweisen,

wie auch die analytisch operierende Erfahrungswissenschaft sich nur auf dem ersten Wege die Gewähr für die Richtigkeit ihrer logischen Operationen verschafft. Aesthetik,

Die mathematische Physik,

die allgemeine Grammatik

wenden alle

die Ethik, die vier Methoden

an, indem sie in das durch die Erfahrung gebotene Material die a priori erzeugten Begriffe hineintragen.

Der Unterschied von analyti-

schen und synthetischen Urteilen bleibt auch hiernach, mit K a n t zu reden, als ein „classischer" bestehen. Betrachten

wir nun zunächst das Wesen und die Arten

des

apriori-synthetischen Wissens und prüfen wir, ob es sich hinsichtlich

202

Psychologische Entwickelung des Apriori.

des Apriori von dem natürlichen Denken wesentlich unterscheidet! Es kommen aber hierbei in Betracht alle im w e s e n t l i c h e n beobachtenden und beschreibenden Natur- und Geisteswissenschaften: die Chemie, Geologie, Meteorologie, M i n e r a l o g i e , B o t a n i k , Zoologie und A n t h r o p o l o g i e mit Einschluss der Biologie; die P s y c h o logie, alle Zweige der G e s c h i c h t s w i s s e n s c h a f t , von der speciellsten bis zur Weltgeschichte, alle einzelnen S p r a c h w i s s e n s c h a f t e n sowie die S p r a c h v e r g l e i c h u n g . Alles, was der Mensch, sei es auch der ungebildetste, im „Contexte der Erfahrung", in gesundem, bewusstseinsfähigem Zustande an seinem eigenen Leibe oder in seiner eigenen Seele oder an den ausserhalb beider liegenden Gegenständen wahrgenommen hat (vgl. S. 61), davon kann er mit Recht sagen: „des bin ich gewiss, des bin ich mir bewusst, ich weiss es als etwas Thatsächliches"; und alle empirischen Wissenschaften entstehen nur unter der Bedingung, dass die Kenntnis ihrer Objecte so gesichert ist, wie dort bei dem natürlichen gesunden Menschen im Contexte der Erfahrung. Der scharfsinnigste Naturforscher, welcher seine mit mathematischer Strenge aufgestellte Theorie durch die Beobachtung bestätigt sieht, z. B. wenn ihm das Fernrohr den Neptun an der durch Rechnung gefundenen Stelle zeigt oder das Spectrum in seinen Linien das Vorhandensein eines bestimmten Körpers in einem fernen Weltsysteme nachweist, auch er muss sich doch hierbei auf das Zeugnis des Auges verlassen, welches jedem sehenden Menschen zur Verfügung steht. Aber schon hierin stellt sich ein Vorzug in dem wissenschaftlichen Bewusstseinsgrade heraus: das natürliche Bewusstsein nimmt nur das Nächste und Offenkundige, das sich freiwillig und zufällig Darbietende, höchstens das im Dienste des egoistischen Bedürfnisses, sei es auch mit Aufwand von Scharfsinn Gesuchte auf; das wissenschaftliche Bewusstsein weiss sich auch das Ferne und Versteckte durch Instrumente und Experimente wahrnehmbar und handgreiflich zu machen, steckt sich selbst, wie K a n t in der zweiten Vorrede so nachdrücklich geltend macht, das Gebiet seiner Beobachtung bestimmt und klar, gebieterisch und zweckmässig ab, njisst auch dem allem natürlichen, egoistischen Bedürfnisse völlig fern Liegenden innerhalb eines Ganzen von erstrebten Vorstellungsmassen seinen Wert bei. Der auf seinen Gewinn bedachte Kaufmann oder der schlaue Diplomat bemerkt mit Aufwand aller Beobachtungsschärfe und Berechnungskraft alle Conjuncturen, welche ihm für seinen Zweck günstig sind; alles andere ist ihm dagegen oft gleichgültig, er übersieht es, gerade so wie jener von Schiller in dem Aufsatze „Was heisst und

Psychologische Entwickelung des Apriori.

203

zu welchem Ende studirt man Universalgeschichte?" so trefflich charakterisierte „Brotgelehrte", der eben deshalb auch kein wahrer Gelehrter ist, alles geringschätzig bei Seite liegen lässt und oft sogar verhöhnt, was nicht in den engen Kreis seines rein subjectiven, egoistischen Interesses passt. Umgekehrt ferner glaubt das natürliche Bewusstsein viel mehr zu wissen, als es wirklich weiss, während das wissenschaftliche Bewusstsein sich bescheidet, sobald ihm die Zeugnisse fehlen. Auf Grund mangelhafter, d. h. weder qualitativ noch quantitativ ausreichender Wahrnehmungen, unter willkürlicher Erweiterung der Kategorieen auf das Unbedingte entstehen Trugschlüsse mannigfachster Art; im willkürlichen Getriebe des Vorstellungsmechanismus, durch das Gaukelspiel der Phantasie, unter den Drohungen und Einflüsterungen der Furcht und der Hoffnung, aller guten und schlechten Begierden, Leidenschaften und Affecte bilden sich die Gestalten der Mythe und Sage, des Wahnes und Aberglaubens und das Zauberreich der Dichtkunst. Alle diese dem wahren Wissen feindlichen Mächte hält das wissenschaftliche Bewusstsein sich auf die Gefahr hin fern, nur eines kleinen Schatzes sicherer Vorstellungen habhaft zu werden. Wer könnte uns das alles klarer und gründlicher, mit tieferem psychologischen Einblicke darlegen als K a n t in der D i a l e k t i k d e r reinen Vernunft? Das wichtigste Hülfsmittel der Naturwissenschaften ist das E x p e r i m e n t . Es ist nach Kant eine wissenschaftliche Thätigkeit, durch welche der Mensch die Natur zwingt, auf Fragen zu antworten, die er aus freier Ueberlegung an sie richtet, indem er ebenfalls mit freier Ueberlegung derartige Einrichtungen trifft, dass alle dieser Beantwortung störend entgegenwirkenden Elemente möglichst ausgeschlossen bleiben. Betrachten wir ein solches Experiment! Um die Einwirkung deutlich beobachten zu können, welche die Wärme auf die Körper ausübt, stelle ich mir eine Kugel und einen Ring von möglichst gleichem Durchmesser her. Dann erwärme ich die Kugel und lege sie auf den Ring. Sie bleibt auf demselben liegen und fällt erst nach der Erkaltung hindurch. Ich überzeuge mich also an diesem einzelnen Falle geradezu durch den Augenschein, dass die Wärme die Kugel ausgedehnt hat. Welcher Art ist diese experimentelle Thätigkeit? was stammt in derselben aus der Erfahrung? was hat der Geist völlig aus sich selbst hinzugethan? wodurch unterscheidet sie sich von der gewöhnlichen Erfahrung? Die alltägliche Erfahrung bietet dem gemeinen Verstände die leuchtende Sonne, die Wärme und den warmen Stein, sie bietet die

Psychologische Entwicklung des Apriori.

204

Dunkelheit und den kalten S t e i n ; sie bietet also weiter nichts als eine Reihe, allerdings für den Aufmerksamen eine r e g e l m ä s s i g e von Erscheinungen.

Auch

das T i e r

wird

Reihe

solcher Reihenfolge

inne

und behält sie im Gedächtnis; der Hund merkt sich, dass der Stein Mittags warm ist und sonnt sich auf ihm. er in seiner Seele

warm werdenden Steines.

A b e r schwerlich verknüpft

der leuchtenden Sonne und des

die Erscheinung

Ja noch mehr! Zunächst erfährt der Hund

eine Reihe von Zuständen seiner grösseren

und

geringeren B e h a g -

lichkeit und der Unlust, der leuchtenden Sonne und der Dunkelheit. Diese Reihenfolge haftet gedächtnismässig

in

ihm so, dass er die

leuchtende Sonne freudig erwartet und das Eintreten der Dunkelheit mit Unlust

bemerkt.

Aber

eine

engere V e r k n ü p f u n g

gehen

schon

diese V o r g ä n g e in seiner Seele mit einander schwerlich ein; in dem Tiere haften bloss Reihen von gewohnheitsmässig Vorgängen. werdens,

sich darbietenden

W e d e r die Erscheinung seines eigenen Warm- und Kalt-

noch

w e n i g e r sicherlich

kaltwerdenden Steines gehen

mit

die Erscheinung

des

der Erscheinung

der leuchtenden

warm

und

Sonne, der W ä r m e und der erkältenden Dunkelheit eine andere als die durch die

zeitliche A b f o l g e bedingte Verbindung ein.

völlig uncultivierbaren W i l d e n mag es verhalten.

Sobald aber der Mensch

sich

vielleicht

auf noch

stufe sich sprechend (denn ohne Sprache

B e i dem

nicht anders

so niedriger

Cultur-

ist es schlechterdings un-

möglich) bewusst w i r d : „die Sonne pflegt den Stein, pflegt mich zu erwärmen", dann ist eine V e r k n ü p f u n g

zwischen den Ringen jener

lockeren Erscheinungskette hergestellt, sie ist hergestellt allein durch die

apriori'schen

Denkfunctionen

der U r s a c h e

und W i r k u n g .

W a g t sich der Mensch weiter zu dem Urteile vor, die Sonne erwärmt alle Dinge, so wirkt darin ausserdem die Kategorie der A l l h e i t . Z u solcher Erkenntnis zeigt sich also schon das natürliche

menschliche

Bewusstsein befähigt, aber nur, w e i l es im Besitze apriori'scher Denkfunctionen ist. rung

D i e Erscheinung

der Vergrösserung oder V e r k l e i n e -

eines Gegenstandes drängt

sich

weniger

deutlich durch

Erfahrung auf; aber auch sie ist aus derselben zu entnehmen.

die Das

T i e r wird schwerlich gewahr, dass seine Glieder beim Scheinen der Sonne

grösser, in der Dunkelheit

kleiner

werden.

Der bedürfnis-

reichere Mensch dagegen fühlt in der Hitze des T a g e s den

Druck

des in der Dunkelheit bequemen K l e i d u n g s s t ü c k e s ; j a er sieht auch die kalten Finger kleiner als die warmen. E r w ä h l t den Schuh

für den

grösseren

bei der wärmenden Sonne grösseren Fuss,

den engeren, ihm Schmerz

verwirft

verursachenden, in den sich der bei der

Dunkelheit k l e i n e r e Fuss w i l l i g hineinfügte.

A u c h das natürliche

Psychologische Entwickelung des Apriqri.

205

Bewusstsein stellt also schon eine Verknüpfung zwischen der Erscheinung der wärmenden Sonne und des nicht bloss wärmer, sondern auch grösser werdenden Fusses her; es sagt sich: „die Sonne erwärmt und vergrössert den Fuss." Das Grosse und Kleine bietet die Erfahrung durch die Empfindung dem Bewusstsein; auch das Tier schnappt lieber nach dem grösseren als nach dem kleineren Bissen; aber das klare Bewusstsein des Grösseren und Kleineren kann sich erst da einfinden, wo die Kategorieen der G r ö s s e zu functionieren beginnen. Es ist nun sehr wohl denkbar, dass das natürliche vernünftige Bewusstsein auch jene Thatsache verallgemeinert und zu dem Satze gelangt: „die wärmende Sonne vergrössert die Körper"; der natürliche Verstand hat viele Kenntnisse praktisch verwertet, bevor die Wissenschaft sie begründete. Ein aufmerksamer natürlicher Kopf konnte recht wohl bemerken, dass ein Kochtopf nach der Erwärmung durch das Feuer sich in dem Ringe hob und zu dem Bewusstsein gelangen, dass auch das wärmende Feuer den Topf und so auch andere Gegenstände nicht bloss erwärmt, sondern auch vergrössert. Ja offenbar hat sich doch auch im Bewusstsein des noch nicht zur Wissenschaft gereiften Menschen auf Grand der bezeichneten apriori'schen Functionen der abstractere Begriff der Wärme und des Körpers gebildet, und so war auch schon vor der Reife des entwickelten, experimentierenden und begründenden wissenschaftlichen Bewusstseins der Erfahrungssatz möglich: „die Wärme pflegt die Körper auszudehnen", aber nur möglich durch die die lose Kette der Erscheinungen verknüpfenden und zu etwas ganz Neuem umschaffenden, mit selbsteigenen Elementen schwängernden Denkfunctionen. Welcher besonderen Leistungen kann sich dem gegenüber unser oben erwähnter Experimentator rühmen? Doch nur der, sich die Möglichkeit einer deutlichen, untrüglichen Erfahrung gesichert zu haben. Die Thatsache der Erwärmung und Erkältung des Körpers, ja auch die der Vergrösserung und Verkleinerung entnahm er mit Hülfe der Denkfunctionen aus der Erfahrung. Aber die Erfahrung ist oft in ihrem bunten Wirrsal trügerisch. Das Experiment schafft wie der Richter im Processe alle störenden Elemente fort, so dass möglichst nur der Körper, das Mass und die Wärmequelle übrig bleiben. Um aber das Mass, den im Durchmesser mit der Kugel gleichen Ring, herzustellen, wird der Experimentator schon die durch Erfahrung nahegelegte Mahnung berücksichtigen, dass derselbe mit der Kugel nur bei einem ganz bestimmten Wärmegrade beider als Einheit für beide gelten kann. So viel verdankt das experimentierende wissenschaftliche Bewusstsein in diesem Falle der Erfahrung!

206

Psychologische Entwicklung des Apriori.

Als sein Eigentum der Erfahrung gegenüber und im Vergleiche zu dem natürlichen Bewusstsein bleibt genau genommen nur die Entfernung aller Störungen und die Herstellung des Masses, jenes Kreises von gleichem Durchmesser, übrig, den es in der That wie alle mathematischen Gebilde allein sich selbst verdankt. Von der Bethätigung specifischer, ganz neuer Functionen kann nach alledem keine Rede sein. Das Experiment aber beweist nur an einem einzelnen Falle, an diesem freilich möglichst deutlich, das Vorhandensein gewisser Eigenschaften. Von der Erfahrung geht es aus, zu dieser kehrt es zurück, seine grosse Bedeutung im Systeme der Wissenschaften gewinnt dieses Verfahren nur durch jene Denkfunctionen, ohne welche kein Denken, kein Erfahren, kein Sprechen, auch nicht das des naiven Menschen möglich ist. Betrachten wir ein complicierteres Beispiel! Der Physiker greift behufs Erklärung der Farben zur H y p o t h e s e der Wellenbewegung des Aethers. Welche apriori'schen Functionen in der Hypothese wirksam sind, das haben wir oben gesehen. Unser Optiker geht aber noch weiter. Nachdem er durch die Hypothese der Wellenbewegungen des Aethers einen Erklärungsgrund für die durch das Auge erfahrbaren Farben gefunden hat, gelangt er durch mathematische Ueberlegung auch zur Voraussetzung von Aetherbewegungen, die nicht mehr als Farben für das menschliche Auge zu erfassen sind, und er überzeugt sich von der Richtigkeit solcher Annahme durch den experimentellen Nachweis ihrer chemischen Wirkungen. Er erkennt das Vorhandensein der ultravioletten Strahlen vermittels der durch das Experiment in der vorher beschriebenen Weise zu seinem Zwecke zugerichteten Erfahrung. Was trieb das Schwungrad des Denkens über seinen Todtenpunkt hinaus? Es war die Mathematik, also eine Wissenschaft, welche völlig auf dem Apriori beruht. Auch zu dieser sind jedoch keine Denkfunctionen nötig, in deren Besitz das naive Denken sich nicht befände. Im übrigen aber fühlte sich selbst dieses wissenschaftliche Denken auf der höchsten Höhe seiner Leistungen von der sinnlichen Erfahrung abhängig; von der Erfahrung ging es aus, zur Erfahrung kehrte es zurück. Nur die grössere Virtuosität in der Anwendung aller uns schon bekannten apriori'schen Functionen darf es sein Eigentum, allerdings sein unschätzbares Eigentum nennen. Die Hypothese wendet selbst der rohste Wilde an, sobald er z. B. als Erklärungsgrund für Blitz und Donner eine anthropomorphisch gedachte Gottheit annimmt. Damit beweist er sich im Besitze aller der Denkfunctionen, durch welche der grösste Gelehrte seine kühnsten Leistungen vollbringt. Wie dieser bei dem

Psychologische Entwicklung des Apriori.

207

Ersinnen seines Erklärungsgrundes doch von irgend welcher Erfahrung ausgeht, so auch jener, nur dass er wenig wählerisch und kritisch nach dem Zunächstliegenden greift, und während der Gelehrte von seinem Erklärungsgrunde stets auf irgend einem Wege wieder zur Erfahrung zurückzukehren, jenen in „den Context der Erfahrung" zu stellen sucht, verabsäumt der Naturmensch dieses Geschäft und bleibt daher in seinem Wahne befangen. Yon dem Vorhandensein des Wau überzeugt sich der Philologe durch die Erfahrung, wenn auch nicht durch die in der Homerischen Ueberlieferung selbst, so doch im äolischen Dialekte und in verwandten Sprachen sich darbietende. Nachdem so der gewissenhafte Empiriker den Grund seines Gebäudes gesichert hat, darf er seine Behauptungen mit dem Ansprüche allgemeiner Anerkennung aufstellen. Wer die Natur des Organischen, der Sonne und der Planeten vollständig oder wenigstens bis zu dem gegenwärtig erreichten Grade erkannt hat, darf mit voller Bestimmtheit behaupten, dass auf der Sonne und auf den Planeten ausser Erde und Mars keine Organismen existieren können. Freilich leitet er das nur mit l o g i s c h e r Notwendigkeit aus der Erfahrung des T h a t s ä c h l i c h e n ab und steht so in seiner Gewissheit eine Stufe unter dem apriori'schen Denken. Die u r s ä c h l i c h e T h a t s a c h e muss e m p i r i s c h e r f a h r e n werden; e r k a n n t und b e w u s s t als solche wird sie nur durch die Kategorieen der U r s a c h e und W i r k u n g . So lange das naive Bewusstsein diesen so vermittelten Einblick in das Thatsächliche sich nicht erworben hat, darf es keine allgemeinen Behauptungen aufstellen; es darf nicht sagen, dass der Donner s t e t s auf den Blitz f o l g t , noch weniger, dass er stets auf ihn folgen m u s s . Innerhalb seiner beschränkten Erfahrung ist aber auch das nichtwissenschaftliche Bewusstsein — das zeigten wir uns an dem Beispiele des Kartenspielers — eines dreifachen subjectiven Gewissheitsgrades fähig. Zu den a p r i o r i - a n a l y t i s c h entstehenden und fortschreitenden Wissenschaften gehört unbedingt die M a t h e m a t i k , im w e s e n t l i c h e n daher auch die ihre Probleme mathematisch bearbeitende P h y s i k , die Mechanik, die Akustik. Optik, die Lehre von der Wärme, der Electricität und dem Magnetismus, die Astronomie, andererseits die Sitten-, R e c h t s - und S t a a t s l e h r e und die A e s t h e t i k . Das Wissen des Mathematikers ist das sicherste, lässt keinen Zweifel zu. Diese Gewissheit teilt sich auch der mathematischen Physik mit. In der Anwendung der Mathematik auf die Natur bewährt sich jene von Kant beleuchtete, auch von dem Empiriker mit so grossem Er-

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Psychologische Entwickelung des Apriori.

folge angewendete experimentelle Methode vorzugsweise. War der Empiriker bei seiner Fragestellung doch immer an die Erfahrung gebunden, konnte er immer nur nach Dingen fragen, deren Dasein ihm zunächst auf irgend eine empirische Weise bewusst geworden, wenigstens angedeutet sein musste, so schöpft der mathematische Physiker auch seine Fragen zunächst aus sich selbst; denn die Gesetze des Dreiecks, des Kreises, der Ellipse u. s. w. verdankt er keiner Erfahrung. Nach solchen Gesichtspunkten „examiniert" er den empirisch gebotenen Stoff, die Thatsachen der Bewegung, der Anziehungskraft u. s. w. Aber trotz alledem finden wir auch in diesem Bewusstsein keine ihm eigentümlichen apriori'schen Kategorieen. Denn die Fähigkeit, sich einen Begriff frei und völlig willkürlich festzusetzen und streng festzuhalten, teilt der Mathematiker mit seinen Antipoden, dem Dichter und dem Dogmatiker; er entwirft sich den Kreis wie diese ihre Märchenwelt und ihr Gottesideal. Der ihm so wichtige Begriff des Unendlichen ist so oft der Tummelplatz dichterischer Phantasie. Der Begriff des Punktes, der geraden Linie u. s. w., die Inseln der Seligen, das allerrealste Wesen, die unsterbliche Seele entstammen denselben apriori'schen Verstandesfunctionen. Der grosse Unterschied zwischen dem Mathematiker und dem Dichter und Dogmatiker liegt freilich darin, dass jener seine Begriffe stets auf Grund der realen räumlichen und zeitlichen Urthatsachen des Seelenlebens erzeugt und auch immer das Bewusstsein hat, sie in räumlich und zeitlich erscheinenden Objecten wenigstens annähernd bestätigt sehen zu können, während der Dichter und Dogmatiker für die Existenz ihrer Phantasiegebilde keine solche unzweifelhafte Gewähr haben. Nicht anders steht es mit denjenigen Wissenschaften, welche ihre apriori-analytischen Begriffe, wie die Mathematik in die a l l g e m e i n s t e n Thatsachen des Kaumes und der Zeit, so in die s p e c i f i s c h m e n s c h l i c h e n Thatsachen des Seelenlebens hineintragen, mit der S i t t e n - , R e c h t s - u n d S t a a t s l e h r e und der A e s t h e t i k . Sie sind zwar nicht in demselben Grade von der Erfahrung unabhängig wie der Mathematiker, sondern wie der mathematische Physiker auf die äussere, so auf die innere Erfahrung hingewiesen; aber sie gewinnen ihre Begriffe nicht durch Abstraction aus der Erfahrung, sondern wie der Mathematiker durch freie, willkürliche Bestimmung der Erfahrung, daher ist ihr Bewusstsein ein ebenso gefestigtes wie das des Mathematikers. Die Thatsache der Wahlfreiheit zwischen verschiedenen Möglichkeiten, der Bestimmbarkeit des Handelns durch subjective, egoistische und objective, vernünftige Vorstellungen, die

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Psychologische Entwickelung des Apriori.

Notwendigkeit des Zusammenlebens in der Gemeinschaft, das Streben nach physischer und geistiger Vervollkommnung rnuss zunächst die Erfahrung bieten; für diesen Stoff finden sie aber einen Bestimmungsund Einteilungsgrund nur in ihren frei geschaffenen Begriffen des Sittlich-Guten und Sittlich-Schlechten. Ja, jene Grundthatsache alles sittlichen Lebens, der Wille, wird nie direct wahrgenommen, sondern nur durch die Kategorie der Ursache in die Reihe der inneren Erfahrungsvorstellungen hineingelegt und so die empirisch unbeweisbare Vorstellung der Willensfreiheit erzeugt. Das geschieht aber auch in dem durch keine wissenschaftliche Reife begünstigten Menschen; die wissenschaftliche Kritik erschüttert im Gegenteil die naive Annahme der Willensfreiheit. Auch die A e s t h e t i k findet in den Gefühlen der Lust und Unlust bei bestimmten Wahrnehmungen ihren seelischen Erfahrungsstoff vor; aber welche Gefühle im Unterschiede von den bloss angenehmen s c h ö n zu nennen sind, das zu bestimmen ist eine apriori'sche That. Das unbedingt notwendige Merkmal jedes schönen Gegenstandes, die Einheit, schöpft der Geist ganz aus sich selbst, und zwar erweist sich der naive Künstler lange vor dem Aesthetiker im Besitze desselben. Die Urteile dieser zweiten Gattung der Wissenschaften tragen teils den Stempel unbedingter Notwendigkeit und strengster Allgemeinheit, insofern sie aus vollkommen frei erzeugten Begriffen analytisch abgeleitet werden und auf schlechthin allen Menschen gemeinsame Thatsachen, den Raum, die Zeit und die Materie mit ihren Bewegungen, angewandt werden; teils finden sie unbedingte und allgemeine Anerkennung wenigstens innerhalb der Grenzen einer cultivierten Gemeinschaft, welche ohne ein jenen frei bestimmten Begriffen entsprechendes Wirkliche, nämlich sittliches, vernünftiges Handeln und uninteressiertes Wohlgefallen, absolut undenkbar ist. Aber auch hierin wetteifert das natürliche Bewusstsein mit dem wissenschaftlichen auf Grund des gleichen apriori'schen Stammbesitzes. Der Jäger, der an sich die innere Wahrnehmung macht, dass er den Willen hat, sich einen Hasen zur Stillung seines Hungers zu schiessen, weiss ganz gewiss, dass die Stillung des Hungers die Ursache seines Willens und der Jagd auf den Hasen ist. Indem er sagt: „weil ich Hunger habe, will ich mir einen Hasen schiessen", verknüpft er die ganze Folge nacheinander aufgenommener innerer und äusserer Wahrnehmungen durch die Kategorie der Ursache zu einer synthetischen Einheit des Selbstbewusstseins. So bleiben uns nur noch drei Wissenschaften, die SprachScUneider, Paychol. Entwickelung.

14

210

Psychologische Entwickelung des Apriori.

philosophie,

die

Logik

Ein tieferes Erfassen der

und die

Erkenntnistheorie

übrig.

unendlichen Fülle empirisch dargebotener

Sprachformen ist nur dem vergönnt, welcher sie nicht blos empirisch classificiert, sondern mit Sprachgebilde, Periode,

vom

kritischem

einzelnen

wirkenden

Bewusstsein

Concretum

Denkfunctionen

bis

zur

der

in jedem

compliciertesten

durchdringt.

Nur

angeregt

durch die Erfahrung, schöpft er dieselben ganz aus sich selbst. ist die S p r a c h p h i l o s o p h i e ,

so aber auch die L o g i k

So

untrennbar

von der E r k e n n t n i s t h e o r i e , und meine ganze Darstellung ging von dieser Ueberzeugung aus. feststellen.

D i e L o g i k will die Gesetze des Denkens

Dazu muss sie sich Begriffe, Urteile

und Schlüsse

von

überall her, sowohl aus dem praktischen Leben und aus der Dichtung als auch aus allen Wissenschaften, also auch aus den apriori-analytisch gebildeten, j a sogar auch aus der Erkenntnistheorie darreichen lassen. wenn

W i e will sie aber Anspruch auf Wissenschaftlichkeit erheben, sie jenen

Grundunterschieden

gegenüber sich blind verhält?

zwischen

den

Wissenschaften

Auch sie kann, w i e überhaupt keine

Wissenschaft, ganz auf eigenen Füssen stehen, sie muss sich von der Erkenntnistheorie auf jenen Grundunterschied hinweisen lassen, wenn sie nicht im Kindesalter stehen bleiben will. kennt S t a d l e r , wenn beginnt da,

er (Erk. S. 27) sagt:

wo die L o g i k aufhört."

Mit

Dies Verhältnis „die

ver-

Erkenntnistheorie

mehr Recht

könnte

man

behaupten, die streng wissenschaftliche L o g i k beginne ihr Geschäft, nachdem die Erkenntnistheorie das ihrige vollendet und den Gegensatz von

Denken

und

Sein,

den

Unterschied

des

t i s c h e n und des a p o s t e r i o r i - s y n t h e t i s c h e n und festgestellt hat.

apriori-analy-

Verfahrens erkannt

In Wahrheit aber ist die eine ohne die andere

als vollkommene Wissenschaft nicht möglich. Insofern also, als die L o g i k sich auf die Erkenntnistheorie beruft, haben wir das in ihr wie auch das in der Sprachphilosophie funetionierende Apriori bei jener zu erwägen; in Anbetracht dessen, dass sie ihren Stoff im Leben und in den Wissenschaften vorfindet, ist sie eine Erfahrungswissenschaft.

Natürlich unterlässt auch hier

die verständige Muse der Empirie nicht, durch Deduction, analytisch, ihrer Beobachtung zur Hülfe zu kommen,

ihr Richtung und Ziel zu

geben, z. B. durch die apriori'sche Ueberlegung,

dass bei den Ele-

menten a e i o, bei zwei Prämissen und vier Schlussfiguren an sich 64 Modi möglich, dass jedoch, wie eine Erwägung der begrifflichen Verhältnisse

lehrt,

alle rein

streichen sind, u. s. f. fahrungsobject.

negativen Verbindungen

unbedingt zu

Aber die Gesetze des Denkens sind ein Er-

Was ein Begriff, Urteil oder Schluss ist,

das steht

Psychologische Entwickelung des Apriori.

211

nicht a priori fest, sondern das muss erfahren sein, und zwar unmittelbar durch Vorgänge im eigenen Denken. Da wir nun aber in den Erfahrungswissenschaften als solchen im Vergleiche zu dem vernünftigen Denken des natürlichen Menschen keine neuen apriorischen Functionen annehmen konnten, so haben wir solche auch nicht in der Logik vorauszusetzen. 6.

Die apriori'schen Verstandesfunctionen im kritischen Bewusstsein.

So gelangen wir endlich zur höchsten Stufe des wissenschaftlichen Bewusstseins, zu jener, auf welcher der Gegensatz des Denkens zum Gedachten, zum Sein aufleuchtet. Zu diesem Bewusstsein aber müssen sich alle im Vorangehenden aufgezählten Wissenschaften steigern, wenn sie auf diesen Namen Anspruch machen wollen; das ist endlich das wesentlichste und glänzendste Merkmal, wodurch sich das wahrhaft wissenschaftliche Bewusstsein von allem natürlichen grell und ein- für allemal abhebt, dass es s e i n e e i g e n e n B e d i n g u n g e n oder Q u e l l e n untersucht, dass es seine eigene Natur und ihre Htilfsmittel erforscht und das Verhältnis derselben zu allem nicht dazu Gehörigen, zu allem Erfahrungsstoffe feststellt. Erst wenn das denkende Subject sich des Verhältnisses d e s D e n k e n s zu dem Sein bewusst geworden ist, darf es den Dingen jenseits des erfahrbaren Seins nachforschen und dieselben auf dem Boden solcher Kritik vorsichtig und bescheiden in einem Systeme r a t i o n a l - p s y c h o l o g i s c h e r , k o s m o l o g i s c h e r und t h e o l o g i s c h e r Begriffe zusammenstellen. Solange jene Quellen der Erkenntnis von K a n t nicht kritisch gesichtet waren, blieben alle philosophischen Systeme der grössten Geister nichts anderes als mehr oder weniger kühn entworfene Phantasiegebilde, Luftschlösser, deren nebelhafte Natur sich dem trunkenen Auge ihrer naiven Erbauer verbarg; so oft n a c h k a n t i s c h e Philosophen sich jener kritischen Leistung entschlagen, haben ihre Behauptungen keinen grösseren Anspruch auf Gültigkeit als jene vorkritischen. Das k r i t i s c h e B e w u s s t s e i n , wie es zuerst in Kants Person heranreifte, spürte zunächst, mit den Kriterien d e r u n b e d i n g t e n N o t w e n d i g k e i t u n d s t r e n g e n A l l g e m e i n h e i t gerüstet, in s e i n e m Erfahrungsgebiete, in den Urteilen des erkennenden Geistes, die mit dem Charakter der unbedingten Notwendigkeit und strengen Allgemeinheit behafteten auf. Mit Hülfe von etwas r e i n a p r i o r i Erzeugtem also wurde von ihm r e i n a p r i o r i E r z e u g t e s in seinem E r f a h r u n g s g e b i e t e entdeckt. Das Gesetz der Wahlverwandtschaft

212

Psychologische Entwickelung des Apriori.

bewahrheitete sich, das Gleiche suchte das Gleiche, oder, mit Kant zu reden, das kritische Bewusstsein erkannte das, was es selbst in seine Erfahrung hineinlegte; das Apriori erzeugte und erkannte sich selbst, der eigentümlichste Teil unserer Seele wurde sich seiner selbst bewusst. Aber dies war nicht der einzige Weg, auf welchem das geschehen konnte. Das kritische Bewusstsein konnte sich auch fragen nach der Möglichkeit seines g a n z e n Inhaltes, nicht blos nach der Möglichkeit des mathematischen Wissens; es konnte sich fragen nach der Möglichkeit aller und jeder Empfindung, aller und jeder Wahrnehmung, alles und jeden Vorstellens, Sprechens, logischen Denkens, empirischen und apriori'schen Wissens. Auch hierbei zeigte sich die Herrschaft jenes Gesetzes der Wahlverwandtschaft, die Gültigkeit jenes von Kant beleuchteten experimentellen Verfahrens; auch hier fand das kritische Bewusstsein in seiner Erfahrung nur das, was es in gewisser Weise sich selbst verdankte. Denn ganz abgesehen von allen den einzelnen kategorialen Functionen, auf welche hin das Denken die mannigfaltigen Bewusstseinszustände „examiniert", entspringt schon die Frage nach der M ö g l i c h k e i t Uber h a u p t allein aus ihm selber; dieser Begriff wird ihm durch k e i n e Erfahrung zugeflüstert; alles Sein ist ein Wirkliches, nicht ein Nichtsein, ein Mögliches. Aber auch diesen Begriff des N i c h t s e i n s und der M ö g l i c h k e i t hatte das natürliche Denken wie den der Notwendigkeit und Allgemeinheit schon aus sich erzeugt, bevor das kritische Bewusstsein ihn in wissenschaftlichem Interesse ausbeutete. Auch hier tritt uns also keine neue apriori'sche Denkfunction entgegen. Indem so das kritische Bewusstsein das Verhältnis von Denken und Sein erfasst und sich zu der Erkenntnis erhebt, dass der ganze Inhalt des Bewusstseins, mag er nun durch innere oder äussere Erfahrung gegeben, a posteriori erworben oder a priori erzeugt sein, sobald er bewusst wird, schon durch das Apriori geformt ist und somit keine Erkenntnis des Ansichseienden, sondern nur der Erscheinungen bietet, erhebt es sich auch zu einem kritisch geläuterten I c h b e g r i f f e , bildet sich der k r i t i s c h e B e g r i f f d e s S e l b s t b e w u s s t s e i n s aus. 7. Das Apriori im kritischen Ich- oder Selbstbewusstsein.

In den u n o r g a n i s c h e n Körpern schlummern noch viele uns verborgene Kräfte, von denen „unsere Schulweisheit sich nichts träumen lässt"; aber ihre Bestandtheile lagern doch jedenfalls in so gleich-

213

Psychologische Entwickelung des Apriori.

förmiger

Gliederung nebeneinander, dass es uns im Hinblick auf die

h ö h e r e n O r g a n i s m e n begreiflich erscheint, wenn wir zwar Kraftäusserungen, z. B. Elektricität und Magnetismus, aber keine Spur eines I n n e w e r d e n s ,

eines sich

f ü h l e n d e n Lebens bemerken.

selbst

a u c h n o c h so d u m p f

Selbst auf der untersten Stufe der

organischen Welt, bei den Pflanzen, vermissen wir diese eigentümliche Eigenschaft, sosehr sie auch durch die mannigfaltige Gliederung und den innigeren Zusammenhang ihrer Teile mit dem Ganzen sich vor den unorganischen Massen auszeichnen.

Die Wissenschaft mag

ja eine Reihe von Exemplaren entdecken, welche eine Uebergangsstufe zu der Tierwelt bilden und den niedrigsten tierischen Organismen in ihren Lebensäusserungen um nichts nachzustehen scheinen. (Vgl. Hartmann's Phil.

d. ünb. I I 65 ff.) Werden solche

Wesen

gefunden, dann haben wir eben das Auftreten jenes neuen Elementes zuzugeben und anzuerkennen, in welchem

die ebenso erdrückende

Mehrzahl der Tiere einen Vorzug vor den Pflanzen besitzt.

Denn

schon auf den untersten Stufen der Tierwelt dürften wohl nicht mit Unrecht Triebe und Begehrungen vorausgesetzt werden, welche nicht wie bei den Pflanzen in einem blossen Aufnehmen und Ausscheiden der nötigen Stoffe beschlossen, sondern von auch noch so dumpfen Unlust- und Lustgefühlen begleitet sind und als die niedrigsten Erscheinungsarten müssen.

eines

fühlenden

Innewerdens

betrachtet

werden

Die einzelnen Zustände dieses Innewerdens mögen freilich

l o s e und u n v e r b u n d e n

so aufeinander folgen, wie

es der das

Dasein dieser Organismen bedingende Stoffwechsel mit sich bringt, so dass dieses Leben

sich eigentlich

in viele, zahllose

einzelne

L e b e n s a k t e oder L e b e n s z u s t ä n d e spaltet; auch ist es recht wohl denkbar, dass mit diesen niedrigsten Regungen eines Lust und Unlust empfindenden Lebens noch gar individuellen Daseins gegen

keine Entgegensetzung

dieses

die Aussenwelt verbunden ist; dieses

Leben erhebt sich noch nicht im blinden Aufsaugen der von aussen zuströmenden Stoffe zum E i g e n l e b e n ;

es fliesst in einem bestän-

digen dunkelen Wechselverkehr mit der Aussenwelt dahin, nur eben als vereinzelte Zustände dumpf empfundenen Wohlseins und Missbehagens; ja zu einer vollkommen klaren und deutlichen Entgegensetzung des individuellen Eigenlebens zur Aussenwelt gelangt das ganze Tierreich nicht.

Nur die höheren, feineren und edleren Orga-

nismen, deren Erhaltung wegen dieser ihrer Natur auch von mannigfacheren Bedingungen abhängt und schwieriger ist, also die kleinere Zahl der Tiere, erhebt sich, wiederum in zahllosen Abstufungen, zu einer grösseren Geschlossenheit, Beharrlichkeit und Klarheit von Ge-

214

Psychologische Entwickelung des Apriori.

fühlen der Lust und Unlust und der A k t e werdens.

seines

lebendigen Inne-

Wir kennen viele Tiergattungen, in welchen gewiss eine

Haftbarkeit der Eindrücke, ein schärferes Objectivieren der Empfindungen und ein lebendigeres Gefühl des

individuellen Eigenlebens

im Wechselverkehr mit der Aussenwelt vorausgesetzt

werden muss.

Solange wir aber bei ihnen keine Sprache, d. h. keine Mittel irgend welcher Art von allgemeinerem

Werte

zur Zusammenfassung der

einzelnen Vorstellungen und der einzelnen Zustände des Innewerdens sowie zu gegenseitiger Verständigung finden, haben wir diesen Organismen, so vollkommen sie erscheinen mögen, immer einen niedrigeren Platz anzuweisen als jenen in ihrer ganzen Lebensweise der Stufe der Tierheit nahestehenden und nahebleibenden Menschen, bei welchen sich jene Spuren höheren Lebens vorfinden. der Mangel derselben

eben

Vielmehr scheint

der deutlichste Beweis

dass die einzelnen Zustände

dieses seelischen

dafür

Daseins

zu

selbst

sein, der

höheren Tiere, trotz ihrer Schärfe in der Bestimmung der Aussenwelt und des duum

noch

eigenen Leibes,

auseinanderfallen,

sich g e w i s s e r m a s s e n

dass das I n d i v i -

in v i e l e I n d i v i d u e n

zer-

s p l i t t e r t ; wie die A n z e i c h e n eines Zusammenfassens der einzelnen Akte des Innewerdens fehlen, so entbehren sie wahrscheinlich auch der Mittel und Bedingungen selbst, aus welchen ihres seelischen Lebens entspringen

könnte.

Erhaltung mit den Zuständen, welche

ein volleres Gefühl

Das B e d ü r f n i s

der

der Stoffwechsel herbeiführt,

ist der enge Bezirk, in welchem sich das Seelenleben der ganzen Tierwelt abspielt. Gewisse Wechsel seiner Zustände werden auch in dem tierischen Innewerden einen Eindruck hinterlassen, welcher den dunkelen Zeitvorstellungen von Vergangenem und Künftigem in der menschlichen Seele entspricht. Die tierischen Vorstellungen aber tragen durchweg das Gepräge von Einzelvorstellungen, sind einzelne sinnliche Wahrnehmungen ; das Tier ermangelt derAllgemeinvorstellungen, es ermangelt mithin erst recht des begrifflichen Denkens, und von einem B e w u s s t sein im vollsten Sinne des Wortes kann folglich bei ihm nicht die Rede sein.

Ohne Begriffe aber ist, wie wir sahen, auch kein eigentliches

W i s s e n des Einzelnen möglich, und so w e i s s auch das Tier nichts von sich selbst.

Wie in der Seele

des Tieres wahrscheinlich keine

strenge Individualisierung eines wahrgenommenen Gegenstandes stattfindet,

wie es keinen Gegenstand als G a n z e s

mit seinen T e i l e n

aus dem Chaos der Wahrnehmungen heraushebt, so auch nicht seinen eigenen Leib, geschweige denn sein inneres Seelenleben. Conglomérat solcher Wahrnehmungen,

Das lockere

der sie begleitenden Gefühle

und der Begehrungen bilden den Inhalt des tierischen Seelenlebens.

Psychologische Entwickelung des Apriori.

215

Bei dem Menschen findet selbst auf niedriger Culturstufe eine Bereicherung dieses Inhaltes nach allen drei Richtungen hin statt. Aber auch bei ihm mussten wir sehr verschiedene Stufen der Erkenntnisgrade überhaupt, also auch hinsichtlich des Selbstbewusstseins unterscheiden. Wer den in ihm ruhenden Schatz von Denkfunctionen nur verwertet, um allenfalls das Gestern, Heute und Morgen kümmerlich nach den Eingebungen des Nahrungs- und des Geschlechtstriebes zu verknüpfen, wem also auch die Gabe eines regen Vorstellungsmechanismus fehlt, dessen Bewusstsein mag sich vielleicht noch allenfalls zu der Leistung aufschwingen, die Glieder des eigenen Leibes zur Totalität einer Vorstellung zusammenzufassen; aber einer viel energischeren Bethätigung des Apriori bedarf es, wenn die bunte M&nnigfaltigkeit und das dunkle Gewirr der Zustände i n n e r e r Erfahrung wohlgegliedert und geordnet sich zur Höhe des S e l b s t b e w u s s t s e i n s verklären soll. An Stelle der ungenauen und ineinanderfliessenden Gebilde treten durch scharfes Denken und die Arbeit der Cultur je länger, desto mehr bestimmte, scharf von einander sich abhebende Begriffe. Diese, abermals in beständiger Wechselwirkung mit Gefühlen und Begehrungen gedacht, bilden in ihren unzähligen Spielarten den Inhalt des menschlichen Bewusstseins im eigentlichen Sinne. Begreifen, begriffsmässiges Verknüpfen und Trennen der Vorstellungen, im Sprechen sich kundgebend, ist bewusst-sein. S e i n e B e g r i f f s w e l t ist e i n e s j e d e n B e w u s s t s e i n . Im Stadium des natürlichen, naiven, unkritischen Denkens scheidet sich dieser Inhalt in zwei Hauptteile: die Vorstellungen und Begriffe, welche sich auf den e i g e n e n Leib, und diejenigen, welche sich auf die A u s s e n w e l t beziehen. Jene werden unter dem Begriffe des I c h s zusammengefasst, und mit diesem Begriffe ist die Stufe des naiven Ich- oder S e l b s t b e w u s s t s e i n s erreicht. Dem k r i t i s c h e n Denken erweist sich jene Scheidung als eine trügliche; es schiebt auch alle Vorstellungen und Begriffe, welche auf den eigenen Leib gehen, dem Aussen zu; ja es gewinnt bei genauerer Ueberlegung die Ueberzeugung, dass auch alle Vorstellungen und Begriffe, welche auf Gegenstände innerer Erfahrung gehen, alle Gefühle, Strebungen und Willensakte, ja die Einzel-, Allgemeinvorstellungen und Begriffe selbst, alle Aeusserungen des Talentes, des Genies, des Charakters, ein Aussen, eine Erscheinungswelt sind. So schrumpft, für das kritische Denken jenes Feld, auf welches der Begriff des unbedingten Ich- oder Selbstbewusstseins angewandt wurde, auf ein Nichts zusammen. Aber in dieser Preisgabe eines früher für so sicher gehaltenen Besitztums, in diesem neuerworbenen höchsten

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Psychologische Entwickelung des Apriori.

Begriffe des k r i t i s c h e n Ichs oder Selbsts entfaltet sich ein grosser Gewinn. Dieses Wissen des Ichs erzeugt erst alles übrige Wissen im strengsten Sinne des Wortes, indem es sich seiner selbst der ganzen Erscheinungswelt gegenüber, der ewig wandelbaren und iiiessenden, als des Bleibenden und Festen bewusst wird, die Erscheinungswelt dagegen als einzig und allein durch seine eigene Natur sich selbst vermittelt, mit ihrer durchweg subjectiven Färbung, aber doch zugleich eben dadurch in ihrer festen Bestimmtheit und objectiven Bedingtheit erkennt. Erst hier scheiden sich, soweit das für unser menschliches Bewusstsein überhaupt möglich ist, „die beiden wechselwirkenden Momente des Bewusstseins", wie R i e h l treffend (II 67) Subject und Object nennt. Erst hier erschliesst sich uns die volle Bedeutung jener notwendig vorauszusetzenden Einheit, jene Identität des Bewusstseins, die Riehl so schildert: „Die Identität des Bewusstseins ist das Maass aller Gleichheit ähnlicher und damit zugleich aller Verschiedenheit unähnlicher Vorstellungen, der G r u n d der Synthesis der Erfahrungsbegriife, der Continuität und Stetigkeit der Erfahrungsform, somit die Q u e l l e aller apriori'schen Begriffe. Sie giebt der Präsumption einer allgemeinen Gesetzlichkeit der Erscheinungen Ursprung und Bedeutung; sie ist ebensowohl die Richtschnur des Naturerkennens, als die Quelle aller übereilten Generalisationen. Denn so mächtig ist die Einheitsfunction des Bewusstseins, so stark der Drang, den Vernunfttrieb der Einheit zu befriedigen, dass ein denkendes Wesen lieber zu falschen Theorien greift, als der Theorie gänzlich entbehrte. Eine dauernde Störung dieser Einheit, sei es im Denken, sei es im Wollen, muss, wie die Erfahrung bestätigt, zur Katastrophe des individuellen Bewusstseins führen." (II 77.) „Im Traume, wie im Wachen, im Spiel der frei gestaltenden Phantasie und dem Ernste der Forschung, die den Thatsachen nachgeht, äussert sich eine und dieselbe Einheitsfunction des Bewusstseins." (II 235.) Mit dieser lebendigen Charakteristik der Macht des apriori'schen Stammbesitzes wollen freilich die an anderer Stelle zu lesenden Worte nicht recht übereinstimmen: „Der Inhalt'des S u b j e c t - oder I c h b e w u s s t s e i n s i s t ü b e r w i e g e n d das P r o d u c t der o b j e c t i v e n W a h r n e h m u n g . In dem Maasse, als uns die Gegenstände der Aussenwelt b e k a n n t werden, werden wir selbst bewusst, werden wir auch uns selbst bekannt. Dem „unbestimmten Ensemble auf uns einstürmender Eindrücke" gegenüber „werden wir perplex, nehmen wir zunächst nichts eigentlich wahr, verlieren wir momentan auch das deutliche Bewusstsein unser selbst." (II 190.) Ja es wird ein Fall von Geistesstörung nach

Psychologische Entwickelung des Apriori.

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K r i s h a b e r s Beschreibung herangezogen; „in dieser Krankheit sind alle Empfindungen, oder beinahe alle, ganz verändert, aber die Fähigkeit der R e f l e x i o n , des Denkens ist intact geblieben. Die r e i n e I c h f o r m ist geblieben, aber es hat sich ein gänzlich verschiedenes Empfindungsmaterial untergeschoben. Die eigene Stimme klingt einem solchen Kranken fremd, er erkennt sie nicht als die seine, spricht man zu ihm, so fühlt er sich wie betäubt, als ob mehrere Personen zugleich zu ihm sprächen. Er erkennt weder Geschmack noch Geruch der Speisen, er unterscheidet die Gegenstände nicht mehr nach dem Gefühl, seine Muskelempfindungen sind gestört, er ftihlt den Boden nicht, den er betritt, was seine Schritte unsicher macht und in ihm die Furcht zu fallen erregt u. s. w. Der Kranke ruft aus: „Ich bin nicht mehr"; und bald darauf: „Ich bin ein anderer". Ein neues Selbstbewusstsein, ein zweites Ich hat sich auf Grund der neuen Wahrnehmungswelt gebildet." . . . „Wir lernen daraus, dass das Ich n i c h t s w e i t e r ist als die F o r m d e r V e r e i n i g u n g gewisser mehr oder minder constanter Gefühle und Empfindungen, weil es ja mit der Veränderung dieser selbst zu einem anderen wird. Im gewöhnlichen Verlauf des Lebens ist diese Veränderung eine verhältnismässig ruhige und stetige. Sie ist nicht plötzlich und nie vollständig, immer b l e i b t e i n g r o s s e r T h e i l d e r G e f ü h l e u n d E m p f i n d u n g e n u n v e r ä n d e r t und diese sind es, welche die Brücke schlagen von der Erinnerung zur Gegenwart und die es verhindern, dass wir unser thatsächliches Anderswerden bemerken. Würde kein Gefühl sich unverändert wiedererzeugen, keine Empfindungen je sich wiederholen, so würde, wie ich fest glaube, kein Selbstbewusstsein entstehen. Das Selbstbewusstsein ist a b h ä n g i g v o n d e r ä u s s e r e n W a h r n e h m u n g , e s i s t a b h ä n g i g v o n d e r W i e d e r h o l u n g ähnl i c h e r ä u s s e r e r W a h r n e h m u n g e n . " (II 189—191.) Es erscheint mir keineswegs zweifellos, dass ein „grosser Theil der Gefühle und Empfindungen unverändert bleibe"; ich glaube vielmehr ebenso fest wie Riehl, dass keine völlige Gleichheit dieser Seelenzustände stattfindet; höchstens kann ich einer „Aehnlichkeit" der inneren wie der äusseren Wahrnehmungen das Wort reden. Aber hiervon abgesehen, wie sehr verflüchtigt sich in der eben citierten Schilderung jene in der zuerst angeführten Stelle so klar beleuchtete Quelle alles Bewusstseins, alles Wissens, alles Selbstbewusstseins, die Einheit und Identität des Selbstbewusstseins mit den zu ihr notwendig gehörenden apriori'schen Functionen! Gerade weil in jenem Krankheitsfalle mit der Veränderung der Gefühle (die also in diesem Falle nicht „mehr oder minder constant", sondern durchaus inconstant waren) auch das

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Psychologische Entwicklung des Apriori.

Selbstbewusstsein schwand, gerade deshalb schliesse ich, dass, wenn das Selbstbewusstsein bei normalen Menschen erklärt werden soll, an jenem absolut constanten apriori'schen Momenten als Quelle eines bestimmten Ichs inVerbindung mit apriori'schen Gefühls- und Begehrungsbedingungen festgehalten werden muss. Selbst jener Kranke hatte ja sein ursprüngliches Ich noch nicht völlig verloren; wie könnte er sich denn sonst als ein anderes Ich erkennen? Schon in dem das Apriori des l o g i s c h e n Denkens behandelnden Abschnitte drängte sich uns auf jedem Schritte die Bedeutung des I d e n t i t ä t s p r i n c i p s , also die Kategorie der Einheit und Gleichheit auf. Nach R i e h l ist sogar... „das alleinige Princip der logischen Begründung das Princip der Identität." (S. 228; vgl. 237!) Jetzt hat es sich uns als Quelle der höchsten Erkenntnis erwiesen. Dies behauptet Riehl in so entschiedener Weise, dass er sogar die Kategorie der U r s a c h e aus der E i n h e i t und G l e i c h h e i t d e s S e l b s t b e w u s s t s e i n s ableitet. „Die logische Begründung trifft mit dem Causalverhältnis zusammen, sobald aus dem letzteren die Beziehung auf die Zeit weggedacht wird." (II 241, 257.) Daher „stellt sich uns die W i r k u n g dar als das Product einer zeitlichen Entwickelung und der Wechselwirkung gleichzeitiger, in den Raumverhältnissen der Elemente angelegter Umstände." (II267.) Also „statt auf die P r i o r i t ä t der U r s a c h e in der Z e i t werden wir mit Rücksicht auf den Gesammtvorgang den Nachdruck vielmehr auf ihre G l e i c h z e i t i g k f e i t m i t der W i r k u n g zu legen haben, wodurch die Analogie zwischen dem sachlichen Verhältnis der Causalität und dem logischen der Begründung vollständig wird." (II 267.) Ueber jenes sachliche Verhältnis urteilt er auf Grund des neuesten Entwickelungsstadiums der Naturwissenschaft, besonders auf Grund von R. May e r s bahnbrechenden Lehren und der Ergebnisse der Chemie, in realistischem Sinne so: Die S u b s t a n z , welche ihm das Wirkliche rücksichtlich der Unveränderlichkeit seines Quantums ist, nennt er Materie, sofern sie nach ihrem Dasein, K r a f t , sofern sie nach ihrem Wirken aufgefasst wird. (II 271.) Das Dasein ist die absolute Voraussetzung des Wirkens. (II 212.) Die materielle Wirklichkeit ist atomistisch constituiert. Von dem Gesichtspunkte der E i n h e i t erweitert sich die materielle Wirklichkeit zum Begriffe der u r s p r ü n g l i c h e n E i n h e i t d e r W e l t , von dem der V i e l h e i t zum Begriffe des ursprünglichen Individuums oder Atoms. (II 276.) „Die Atome sind wirkliche Einheiten der Natur und nicht stetige in's unendlich Kleine veränderliche Grössen." (II 284.) „Die sogenannten Prädicate oder Eigenschaften, zu denen der T r ä g e r , die Materie, das fehlende und w o h l gar e r s t d u r c h d a s D e n k e n zu

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e r s e t z e n d e S u b j ect sein soll, sind vielmehr die m a t e r i e l l e n E x i s t e n z w e i s e n d e s W i r k l i c h e n . Das in der Wahrnehmung Wirkende, Erscheinende, ist selber dasjenige Object, dessen Grössenunveränderlichkeit die Erfahrung beweist." (II 284.) Hinsichtlich des Causalitätsbegriffes leugnet Riehl Hume gegenüber den subjectiven Ursprung (II 208); er spricht aber von einem „psychologischen Begriffe der Verursachung" und nennt diesen einen Erfahrungsbegriff, j a sogar „in gewissem Betrachte einen experimentellen Begriff". (211.) „Auch das W e i l ist nur eine A b s t r a c t i o n aus dem D a m i t . " (Ebd.) Diese realistischen Sätze gipfeln dann in der Behauptung: „Das Denken ist selbst ein specieller Fall des allgemeinen Processes der Natur." . . „Die synthetische Identität ist die Form und das Princip unsers Denkens der Natur, die Einheit und Grössenunveränderlichkeit das Princip ihres Seins." (II 290; vgl. 221.) „Die Wissenschaft stützt sich auf die nicht wissenschaftliche, über die Wissenschaft erhabne Thatsache des Seins." (II 29]; vgl. 186.) „Die Chemie beweist mit der Wage in der Hand" die Richtigkeit des Princips von der Erhaltung des Stoffes. (II 282.) Aber selbst ein so beredter Vertreter des Realismus sieht sich trotz seiner Warnung vor „derUeberscbätzung der intellectueilen Functionen" (II 291) zu dem Geständnisse genötigt, dass „die adäquate Erkenntniss des Wirklichen ihren Bedingungen zu Folge nur eine f o r m a l e sein kann". (II 291.) „Es besteht keine Gleichung zwischen Sein und Denken." (II 221.) Trotz der Behauptung der unmittelbaren Wahrnehmung eines wirklichen Objectes wird eingeräumt, dass „die Wissenschaft mit Recht alle. Empfindung als relativ erkennt". (II 203.) „ B e g r e i f l i c h " (und alles Wissen bewegt sich nach meiner Darlegung durchaus in Begriffen) „ist uns einzig und allein der Zusammenhang nach dem Princip der Identität." (II 215.) Riehl „glaubt" doch wenigstens, „dass ohne die a p r i o r i s t i s c h e F o r d e r u n g d e s D e n k e n s n i e m a l s nach der Grössenerhaltung in der Natur geforscht worden wäre." (II 280.) „Ohne aprioristische Ueberlegung ist kein Naturgesetz e n t d e c k t , durch sie allein keines b e w i e s e n worden." (II 281.) Er spricht von dem „ A n - s i c h " der M a t e r i e , von der „Bedeutung, welche immer dem Verhältniss des S u b s i s t i r e n s unabhängig vom wahrnehmenden und denkenden Subject zukommen mag"; und er fügt gleich hinzu: „Es kommt ihm aber in dieser Abstraction nur die Bedeutung d e s S e i n s ü b e r h a u p t zu." Für den Grund aller Gewissheit gilt die Einheit des Bewusstseins. „Für unsere subjective Auffassung der Welt — und mit dieser müssen wir in der Theorie beginnen — ist die Einheit des Bewusstseins offenbar das Nächste und Gewisseste."

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(II 234.) „Mit K a n t müssen wir daher diese synthetische Einheit des Bewusstséins für die oberste, formale Bedingung der Erfahrung erklären." (II 234.) „Denn darin kommen alle Dinge der Erfahrung nothwendig Uberein, dass sie Bewusstseinszustände werden müssen, um Erfahrungsobjecte sein zu können." (II 235, vgl. 205.) Indem sie aber für das o b e r s t e Princip der Erfahrung erklärt wird, wird zugestanden, dass es doch noch a n d e r e formale Principien giebt. Und in der That scheint es mir auch unmöglich, das Causalitätsprincip allein aus dem Identitätsprincipe zu begreifen. (II 142.) Mit dem blossen Identitätsprincip lässt sich diese ewig wandelbare Welt der Erscheinungen nicht erklären, mit ihm allein kämen wir, so zu sagen, nicht von der Stelle. Es ist vorsichtig und kritisch, wenn Riehl trotz seines Realismus „die Untersuchung der Causalität auf ihre p h ä n o m e n a l e Seite beschränken" will (II 244); denn in der That ist keine Ursache jemals aus der Erfahrung des AnsichSeienden zu erkennen. „Wie sich eine Bewegung mittheilt, ist uns ebenso unbekannt, als die Art und Weise, wie der Wille Bewegung hervorruft." (II 242; vgl. jedoch 208, 209, 211, 215 u. a.) Während an anderer Stelle das Denken, also doch zunächst das Identitätsgesetz, welches Voraussetzung alles Denkens ist, folglich auch die daraus entspringende Begründung und das Causalitätsgesetz, als ein specieller Fall des Naturprocesses erklärt wurde, wird hinwiederum (II 255) das Causalitätsgesetz nicht selbst als ein Naturgesetz bezeichnet, „sondern als das Gesetz, das die allgemeine Form der Naturgesetze bestimmt, und das der Geist befolgt, indem er die Natur erforscht". Das Princip der Verursachung hat neben seiner psychologisch-inhaltlichen Seite (es geht das auf die Verursachung aus dem eigenen Wollen) eine logisch-formale, und diese stammt denn doch nicht aus der Erfahrung. (II 208—214.) Dann wird es aber Riehl auch wohl mit der experimentellen Natur der Causalität nicht ernst meinen. Im Sinne des Kriticismus heisst es richtig: „In den P h ä n o m e n e n selbst, die sich folgen, muss etwas anzutreffen sein, das uns gestattet, auf ihre zeitliche Succession das Begriffsverhältnis von Grund und Folge anzuwenden." (II 253.) Dieses E t w a s aber ist mit dem SichGleichbleibenden, Subsistierenden, Identischen nicht erschöpft. In schärferer Begriffsunterscheidung bezeichnet denn auch Riehl den G r u n d als „den Inbegriff aller coexistirenden Bedingungen", die Urs a c h e und W i r k u n g als „den Inbegriff der zeitlichen, v e r ä n d e r lichen Momente desselben". (II 267.) Auch warnt er vor dem „Missverständnisse, als sollten durch die Forderung causaler Begründung alle specifischen Unterschiede der psychischen Elemente ausgeschlossen

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sein", nämlich bei der Erklärung der Mechanik der Gemütsbewegungen, welche, durch S p i n o z a begründet, der künftigen psychologischen Forschung vorbehalten bleibt. Wie also bei Raum und Zeit, so sehen wir auch in der Lehre von den Verstandesfunctionen bei Riehl ein gewisses Schwanken und bei allem Realismus ein starkes Festhalten an dem transcendentalen Idealismus. Auch ihm ist „ein D i n g zunächst eine erfahrungsmässig beharrliche und zusammenhängende, kurz eine c o n s t a n t e G r u p p e von E m p f i n d u n g e n " . (II 202.) Noch besser: „Dinge sind constante Gruppen von Empfindungen zur Einh e i t d e s B e w u s s t s e i n s gebracht." (II 205.) Und mit Hervorhebung des zugleich objectiv gültigen und realen Wertes solcher Empfindungen durch gesperrten Druck schreibt er: „Die bewussten Empfindungscomplexe sind die Gegenstände der Erfahrung, die Succession derselben i s t ihre objective Folge." (II 258.) „Die Empfindung" aber „ist zwar kein rein subjectiver, aber ein subjectiv m i t b e d i n g t e r Ausdruck des materiell Wirklichen." (II 285.) Mit U e b e r w e g behauptet er zwar: „Gewiss kennen wir von der Systematik der objectiven Welt nur die Aussenseite, während uns einzig die der eigenen subjectiven Welt zugleich in ihren innerlichen Znsammenhängen erschlossen ist, welche aber ohne weiteres auf jene übertragbar sind." (II 277.) Aber wir erinnern uns hierbei an Riehls eigene Worte: „Es giebt Grenzen der wissenschaftlichen Erkenntnis und sie nachzuweisen ist verdienstlich." (II 291.) Diese Grenzen bestehen jedoch nicht allein in dem, worauf Riehl hinweist, in der Unbeweisbarkeit der „Thatsache des Seins". (Ebd.) U e b e r w e g s Einwände aber gegen den transcendentalen Idealismus im 40. Paragraphen seiner Logik hinsichtlich der inneren Wahrnehmungen stützen sich so sehr auf eine psychologische Analyse der Thatsachen des Seelenlebens, dass ich sie wenigstens mit einigen Worten beachten will. Er behauptet also : „Die innere Wahrnehmung oder die unmittelbare Erkenntniss der psychischen Acte und Gebilde vermag ihre Objecte so, wie sie an sich sind, mit materialer Wahrheit aufzufassen." Zwar heisst es gleich im Anfange der Erläuterungen zu diesem Paragraphen: „Dass mein Schmerz mir als Schmerz ers c h e i n e , meine Farbenempfindung als Farbenempfindung etc., ist s e l b s t v e r s t ä n d l i c h und dies erst beweisen zu wollen, wäre allerdings ü b e r f l ü s s i g und „ w u n d e r l i c h " ; aber von dem Schmerz, von der Ton- und Farbenempfindung etc. als psychischer Erschein u n g unterscheidet der psychologische Transscendentalist (nicht nur das Wesen und die Substanz der Seele und die i n n e r e n B e d i n g u n g e n der einzelnen psychischen Vorgänge, auch nicht bloss die

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veranlassende äussere Affection, auf was alles die gegenwärtige Untersuchung sich nicht bezieht, sondern auch) ein A n s i c h eben desjenigen einzelnen Zustandes in mir, der mir als Schmerz, Farbenempfindung etc. erscheint." Was hier als selbstverständlich, überflüssig und „wunderlich" bezeichnet wird, die kritische Unterscheidung der Erscheinung von dem Dinge an sich, auch bei inneren Wahrnehmungen, das ist das Ergebnis von Kants Kritik! Wie wenig selbstverständlich und Uberflüssig dieser Nachweis ist, das zeigt Ueberweg selbst mit den citierten Worten. Denn unmittelbar nachdem er die Thatsache der E r s c h e i n u n g des Schmerzes zugegeben hat, bestreitet er das A n s i c h der Schmerzerscheinung; und doch ist das eine ohne das andere nicht denkbar. Darin hat Ueberweg Recht: „das aufzufassende Object ist hier nicht ein solches, welches eben nicht, wie das Object der äusseren Wahrnehmung, an sich selbst, a u s s e r h a l b meines B e w u s s t s e i n s , sondern nur innerhalb desselben existirt." (S. 74.) Aber daraus folgt nicht, dass es auch so, wie es a n s i c h s e l b s t ist, abgesehen von den „inneren Bedingungen" des Bewusstseins, mir b e w u s s t ist; es kann mir vielmehr nur diesen Bedingungen gemäss erscheinen. W a s m i r b e w u s s t ist, d a s i s t m i r a l l e r d i n g s so b e w u s s t , w i e es m i r b e w u s s t i s t ; a b e r d a s ist d a r u m n o c h n i c h t so, w i e es m i r b e w u s s t i s t . „ D a s w i r k l i c h e S e i n d e r S e e l e n t h ä t i g k e i t e n a l s s o l c h e r " ist mit ihrem D a s e i n in m e i n e m B e w u s s t s e i n , besser: mit ihrer E r s c h e i n u n g in m e i n e m B e w u s s t s e i n , durchaus nicht „identisch". Sehr vieles und gerade das Allerwichtigste von dem, was da ist, ist mir nicht bewusst; nur seine Aeusserungen treten in mein Bewusstsein, und zwar als Erscheinungen, nach apriori'schen Bedingungen. Wenn also das Zugeständnis der E r s c h e i n u n g das des A n s i c h in sich schliesst, so sehe ich nicht ein, wie „die gegenwärtige Untersuchung" eine Beachtung „der inneren Bedingungen der einzelnen psychischen Vorgänge" völlig ablehnen kann. „Der logische oder erkenntnisstheoretische Gegensatz zwischen dem eigenen Sein der Dinge oder ihrem Ansichsein und der Erscheinung" steht in engstem Zusammenhange mit dem „metaphysischen Gegensatze zwischen Wesen und Wesensäusserung." (Vgl. S. 76!) Aber abgesehen von diesen Bedenken, wie begründet Ueberweg seine Behauptung von der materialen Wahrheit der inneren Wahrnehmung? „Die innere Wahrnehmung erfolgt, indem das einzelne Gebilde durch den A s s o c i a t i o n s p r o c e s s als einintegrirender Theil der Gesammtheit aufgefasst wird; sie ist in ausgebildetster Form, mit dem Denken v e r s c h m o l z e n , dann vorhanden, wenn das betref-

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fende psychische Gebilde unter den B e g r i f f gestellt wird, unter welchen es gehört, und wenn zugleich das Bewusstsein, welches der, der die innere Wahrnehmung vollzieht, die Form des I c h b e w u s s t s e i n s gewonnen hat. Nun aber kann a. die A s s o c i a t i o n des einzelnen Gebildes mit den übrigen dasselbe nach Inhalt und Form nicht verändern; es geht, so wie es ist, in dieselbe ein, wie daher gegenwärtig unsere V o r S t e l l u n g e n , G e d a n k e n , G e f ü h l e , B e g e h r u n g e n , überhaupt die Elemente unseres psychischen Lebens und deren Verbindungen untereinander wirklich sind, so sind wir uns ihrer bewusst, und wie wir uns ihrer bewusst sind, so ist Unwirkliches Sein, indem bei den Seelenthätigkeiten als solchen Bewusstsein und Dasein identisch ist." Wenn unter der. Association weiter nichts verstanden wird als die zeitliche Aufeinanderfolge, dann allerdings ist das zuzugeben, jedoch mit dem kritischen Zusätze, dass schon in dieser einem jeden Subjecte eigentümlichen Schnelligkeit des zeitlichen Verlaufes jener Reihen und Verbindungen der Vorstellungen, Gedanken, Gefühle, Begehrungen eine subjective, apriori'sche Bedingung des Bewusstwerdens liegt. Wir haben uns aber oben bei der Betrachtung der im Verlaufe jener bloss zeitlichen Association spielenden psychologischen Processe des Vorstellungsmechanismus daran erinnert, dass sich durch apriori'sche Kräfte immer neue Producte bilden, die zwar wieder selbstverständlich so, wie sie bewusst sind und erscheinen, bewusst sind, die aber in ihrem Ansich uns niemals bewusst werden. Dass „b. bei der Wiedererinnerung... die früheren Acte im Allgemeinen zwar in verminderter Intensität, aber in qualitativer Uebereinstimmung mit ihrem ursprünglichen Sein reproducirt werden", ist richtig. Dann heisst es aber weiter: „c. Bei der Subsumption der einzelnen Acte und Gebilde unter die entsprechenden allgemeinen Begriffe wird die Bewusstseinsstärke ihrer gemeinsamen Merkmale erhöht, aber ohne Zumischung irgend einer fremdartigen Form; folglich steht auch das hierdurch gewonnene Bewusstsein von unseren psychischen Acten und Gebilden seiner Natur nach in qualitativer Uebereinstimmung mit dem realen Sein dieser Elemente." Wessen bin ich mir denn bei meinem subsumierenden Denken bewusst? Was weiss ich davon ? Dass ich die Vorstellungen Pferd, Kuh, Hund — Liebe, Hass — habe, dass diese Vorstellungen (als solche) nur erscheinen, dessen bin ich mir bewusst. Ebenso bin ich mir der Absicht bewusst, jene Vorstellungen unter einen Gattungsbegriff zu stellen, und das Resultat erscheint mir in den Begriffen Haustier und Affect. Ich habe ferner das Bewusstsein einer langen Beweisführung; aber so klar ich mir auch das Ziel und

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den Weg vorzeichne, so sehr sich die Ausführung selbst durch körperliches Unbehagen bemerklich macht, so lebhafte Freude ich beim Gelingen empfinde, die eigentlichen Vorgänge des Denkens bleiben mir stets verborgen. Von dem Dasein und der Wirkung dieser apriori'schen Momente habe ich mich überzeugt, und ich sollte dennoch die stets fertig erscheinenden Resultate selbstverständlich als mit materialer Wahrheit aufgefasst hinnehmen? Ueberweg macht sich aber von vornherein des logischen Fehlers der petitio principii schuldig, wenn er die i n n e r e W a h r n e h m u n g durch „oder" mit der u n m i t t e l b a r e n E r k e n n t n i s der psychischen Akte und Gebilde indentificiert. Diese Vertauschung können wir kurz mit Kants Worten (S. 278) abweisen: „Nicht dadurch, dass ich blos denke, erkenne ich irgend ein Object, sondern nur dadurch, dass ich eine gegebene Anschauung in Absicht auf die Einheit des Bewusstseins, darin alles Denken besteht, bestimme, kann ich irgend einen Gegenstand erkennen. Also erkenne ich mich nicht selbst dadurch, dass ich mir meiner als denkend bewusst bin, sondern wenn ich mir der Anschauung meiner selbst., als in Ansehung der Functionen des Denkens bestimmt bewusst bin.'' Indem also Ueberweg vermittels jener Gleichsetzung behauptet: „eine u n m i t t e l b a r e E r k e n n t n i s s ist ein Auffassen der Objecte, wie sie an sich sind, mit materialer Wahrheit", legt er dem Subjecte schon das Attribut bei, dessen prädicative Berechtigung erst nachgewiesen werden soll. Konnten wir aber den Beweis für die Gültigkeit jenes von Ueberweg behaupteten Prädicats als stichhaltig nicht anerkennen, so dürfen wir auch nicht jenes Attribut billigen, sondern müssen daran festhalten, dass auch die innere Wahrnehmung, eine vermittelte, nämlich durch die Natur des nur in zeitlichem, linearem Verlaufe sich entwickelnden Bewusstseins sowie durch die apriori'schen Denkfunctionen vermittelte ist, oder, wie Kant sagt (S. 278): „Meine innere Anschauung" ist Object, „sofern ihr Mannigfaltiges der allgemeinen Bedingung der Einheit der Apperception im Denken gemäss verbunden werden kann." In dem letzten Teile seiner Argumentation lässt Ueberweg „das Selbstbewusstsein im engeren Sinne oder das Ichbewusstsein in drei Momenten sich entwickeln", nämlich 1. aus der Einheit eines bewusstseinsfähigen Individuums, 2. aus dem Bewusstsein des Einzelnen von sich als E i n e m Individuum, 3. aus „der ferneren Wahrnehmung," . . . „dass das Object und Subject der Vorstellungen ein und dasselbe Wesen ist." Das dritte „Moment" wird mit den Worten „fernere Wahrnehmung" viel zu lose deu beiden vorangehenden angereiht, als dass der das Verhältnis der drei Momente ausdrückende Satz zu voller Klarheit kommen

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könnte: „Das erste und zweite Moment bilden die V o r a u s s e t z u n g e n oder die G r u n d l a g e n , das dritte c o n s t i t u i r t das W e s e n des Selbstbewusstseins als Ichbewusstseins". Aus dieser Unklarheit wird man auch durch das gleich folgende Schlagwort nicht befreit, das Selbstbewusstsein oder Ichbewusstsein sei „nur eine p o t e n z i r t e innere Wahrnehmung". Der Beweis für „die logische Berechtigung der Voraussetzung einer Mehrheit persönlicher Wesen nach Analogie unseres eigenen Seins" — so stellt Ueberweg im folgenden Paragraphen die Verbindung zwischen der äusseren Wahrnehmung mit der inneren her — „liegt theils in dem B e w u s s t s e i n , dass die Art und Folge der betreffenden äusseren Erscheinungen

in der blossen C a u s a l i t ä t unseres

eigenen individuellen Seelenlebens nicht ihre volle Begründung findet, theils in der durchgängigen positiven Bestätigung, welche jener Voraussetzung von Seiten der Erfahrung zu Theil wird." (S. 78.) die Thatsache der positiven Bestätigung

Aber

von Seiten der Erfahrung

verhilft uns nicht zur Erkenntnis des Wesens

der Erfahrung;

um

dieses zu erfassen, dazu genügt nicht, auf „das Bewusstsein" hinzuweisen, „dass in der blossen Causalität unseres eigenen individuellen nicht liegt; es

musste

vielmehr die s c h ö p f e r i s c h e K r a f t d e r a l l e E r k e n n t n i s

Seelenlebens" . . . „die volle Begründung"

erzeu-

g e n d e n a p r i o r i ' s c h e n G e i s t e s f u n c t i o n e n betont werden, welche, nur im Menschen vorhanden, zu dem der g a n z e n T i e r w e l t eigenen, mehr oder weniger

d u m p f e n und unklaren Gefühle

Vorhandensein der Dinge ein und klaren Begriffen

geistiges

Gegenbild

von in

dem

festen

erzeugt.

Auch W u n d t s nachdrücklicher Hinweis auf die „Integrität des Ganzen"

(Vorl. I 295)

jener „wesentlicheren

kann

das Verlangen

nach

Unterscheidung

und unwesentlicheren Theile" nicht ersticken,

welche es doch auch nach ihm für das Selbstbewusstsein giebt. Unter diesen aber ist das Apriori der allerwesentlichste, und davon erfahren wir bei ihm nichts; den Worten:

im Gegenteil sehen wir zwei Seiten weiter mit

„All' unser Wissen s t a m m t

nur aus der Erfahrung"

die Warnung beseitigt, welche auf der Eingangspforte heitstempels der Kritik zu lesen steht.

Nach L a z a r u s

des Weis(das Leben

der Seele, I 76) ist die Seele der einzige Punkt, wo die Natur sich ungetrennt und ungeschieden, in sich selber leuchtend offenbart; der Brennspiegel,

unter welchem

allein

alle Zweifel an der Wahrheit

und dem Wissen schmelzen." . . . „Sodann aber ist die S e e l e . . . nicht bloss das Centrum, sondern auch des ganzen Kreises unserer Naturund Welterkenntniss Spiegel und Abbild; von innen heraus begreift S c h n e i d e r , Psychol. Entwickelung.

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der Mensch, wie sich selbst, auch das All, das er in seinem Innern trägt; er kann nach aussen schauen und die Dinge sehen, b e g r e i f e n kann er nur das Bild davon, das sich in seiner Seele spiegelt, wir müssen daher einen forschenden Blick in die Werkstatt der Beg r i f f e werfen, um zu prüfen, ob die Producte derselben der Wahrheit und der Sache gemäss gebildet sind oder nicht; hier wird die Psychologie zur Vernunft- und Verstandeskritik." Also E r k e n n t n i s , nicht bloss a n s c h a u e n d e s Bewusstsein von der Natur, besonders von ihrem „Gesetz", gewinnt die Seele nur durch B e g r i f f e ; und indem wir „einen forschenden Blick in die Werkstatt der Begriffe werfen", müssen wir auch hinsichtlich der die seelische Natur und ihre Gesetze abspiegelnden Begriffe „prüfen, ob die Producte derselben der Wahrheit und der Sache gemäss gebildet sind oder nicht". So bleibt also für mich auch nach der Betrachtung dieses kritischen Selbstbewusstseins jenes unselige Schisma zwischen dem Apriori und Aposteriori, zwischen der Erscheinung und dem Dinge an sich bestehen; aber dies gerade ist der Fels, an welchem alle Gebilde eines regellosen Schwärmens und leidenschaftlichen Begehrens zerschellen. Dass die Erscheinungswelt uns sich wieder in eine Welt des Scheines verflüchtigen möchte, haben wir nicht zu besorgen. Jedwedes Inne- und Bewusstwerden offenbarte sich ja als ein Product aus zwei notwendigen Factoren, dem anschauenden und denkenden Subjecte und dem angeschauten und gedachten Gegenstande. Von der Existenz des letzteren, einschliesslich unseres Leibes, sind wir ebenso fest überzeugt, wie von der des ersteren. Es ist eine drastische, aber unanfechtbare Formulierung, die ein Beurteiler der 3. Aufl. von K u n o F i s c h e r s „Geschichte der neueren Philosophie" dieser Auffassung mit den Worten giebt: „Die neue Physiologie würde sagen: das Denken ist unmöglich ohne Bethätigung des Stoffwechsels im Gehirn. Wenn dieser Stoffwechsel nicht stattfindet, so kommen alle transcendentalen Fähigkeiten nicht zur Entwickelung. Also ist die Thatsache unseres Denkens und Anschauens ein genügsamer Beweis dafür, dass der Stoffwechsel im Gehirn nicht nur unsere Vorstellung, sondern auch eine wirkliche Thatsache ist." (Grenzboten, N. 40,1882.) Da nun also das Bewusstsein im eigentlichen Sinne erst mit dem Wissen beginnt, das Wissen ohne Begriffe nicht möglich ist, diese aber durch die apriori'schen Denkfunctionen erzeugt werden, so ist auch das Apriori die Quelle des Bewusstseins, folglich auch des kritischen Selbstbewusstseins, und zwar das Apriori in keinem anderen, als in dem schon im naiven Denken vorhandenen Umfange. Jeden echt wissenschaftlichen Denker endlich leitet d i e I d e e

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e i n e s S y s t e m s s e i n e r u n d d e r g a n z e n W i s s e n s c h a f t . Das heisst aber nicht mehr und nicht weniger als: er hat den W i l l e n , zunächst das g a n z e engere Gebiet seines Forschens, dann aber überhaupt das G a n z e sowohl der erfahrbaren Natur als auch des a priori zu bestimmenden Erkenntnisbereiches, jedes auf seine Art, streng logisch und methodisch, sich zum Bewusstsein zu bringen. Den Willen aber, den Begriff des Ganzen und seiner Teile, desgleichen alle Kategorieen, aus welchen die jeder Wissenschaft eigentümlichen Principien entwickelt werden, teilt dieses Bewusstsein mit dem naiven. Jenes Wollen im Dienste der Erkenntnis tritt auch in Verbindung mit mehr oder weniger lebhaften Gefühlsstimmungen auf; aber auch diese begründen keinen qualitativen Unterschied; das Staunen (den Thaumas nennt bekanntlich Piaton den Vater der Weisheit) ist auch dem naiven Bewusstsein nicht fremd. Aus diesen Elementen, dem Denken, Fühlen und Wollen in ihren unzähligen Stärkegraden und Mischungen, lassen sich alle Erscheinungen des menschlichen Seelenlebens erklären. Die Seele „im höheren Sinne", der G e i s t , das von ihm geschaffene Reich „des ästhetischen und moralischen Lebens, Sinnens, Denkens und Schaffens," . . . „die ganze Breite und Fülle des Menschlichen, specifisch Humanen, womit der Geist einen Theil der Natur belebend durchdringt, zum Unendlichen und Ewigen sich forschend emporhebt und lebend gestaltet, kurz: die I d e e n " (Lazarus a. a. 0.), alles das setzt sich aus jenen drei Grundeigenschaften der Seele zusammen. Anlage, Talent, Genie, Charakter, Person sind nur Ausdrücke für verschiedene Stärkegrade und Mischungsarten jener Grundeigenschaften. Die Macht der Ideen verkenne ich nicht, sie sind auch für mich der „höchste Gegenstand der psychologischen Forschung, welche nichts Anderes ist, als das wissenschaftlich gewordene, höhere, edlere Selbstbewusstsein der Menschheit". Aber bei aller Begeisterung für sie lasse ich mir den nüchternen Blick in ihre Entstehung aus jenen einfachen Elementen nicht trüben und halte die kritische Ueberzeugung fest, dass das wissenschaftliche menschliche Selbstbewusstsein auch auf seiner höchsten Höhe und in seiner schönsten Vollendung niemals das Wesen jener Elemente selbst erkennen kann. So haben wir die allgemeinsten Thatsachen des bewusstwerdenden und erkennenden Seelenlebens überblickt, Thatsachen, ohne deren Anerkennung kein Bewusstsein und Wissen erklärbar ist, die wir also als Grundsätze oder Principien formulieren könnten. Ich behaupte aber nicht, solche Erkenntnis unabhängig von aller und jeder Erfahrung gewonnen zu haben. Das ist trotz apriori'scher Leitsterne

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ebenso unmöglich, wie die Erzeugung der Welt aus dem Begriffe des absoluten Seins mit Hülfe der dialektischen Methode. Das Unternehmen, die Erkenntnistheorie ganz aus sich selbst zu entwickeln, habe ich nirgends so consequent durchgeführt gefunden wie von S t a d l e r in dem oft genannten Buche (die Grundsätze u. s. w.). Den grossen Dank, welchen ich diesem Werke schulde, würde ich am liebsten hier am Schlüsse durch eine eingehende Beurteilung und den Nachweis abstatten, dass doch auch zu Stadlers erkenntnistheoretischem Gebäude überraschend viele Steine aus der bei Seite geschobenen Psychologie herzugetragen werden. Da jedoch die Erfüllung solcher Pflicht ohne eine ausführlichere Gründlichkeit nicht möglich ist, so muss ich mich an dieser Stelle begnügen, auch meinerseits noch einmal nachdrücklichst auf die Arbeit hingewiesen zu haben.

üniversitäta-Buckdruckcrei von Carl Georgi in Bonn.