Die Politisierung des Protestantismus: Entwicklungen in der Bundesrepublik Deutschland während der 1960er und 70er Jahre [2 ed.] 9783525574515, 9783647574516, 3525574517

Das Verhältnis zwischen Religion und Politik ist in jüngster Zeit wieder zu einem Thema von hoher öffentlicher und wisse

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Die Politisierung des Protestantismus: Entwicklungen in der Bundesrepublik Deutschland während der 1960er und 70er Jahre [2 ed.]
 9783525574515, 9783647574516, 3525574517

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© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525574515 — ISBN E-Book: 9783647574516

Arbeiten zur Kirchlichen Zeitgeschichte Herausgegeben im Auftrag der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte von Siegfried Hermle und Harry Oelke

Reihe B: Darstellungen Band 52

Vandenhoeck & Ruprecht

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Die Politisierung des Protestantismus Entwicklungen in der Bundesrepublik Deutschland während der 1960er und 70er Jahre

Herausgegeben von Klaus Fitschen, Siegfried Hermle, Katharina Kunter, Claudia Lepp und Antje Roggenkamp-Kaufmann

2. Auflage

Vandenhoeck & Ruprecht

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-57451-5 ISBN 978-3-647-57451-6 (E-Book) © 2014, 2011, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U. S. A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Satz: textformart, Göttingen Druck und Bindung: Books on Demand GmbH, Norderstedt Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

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Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Claudia Lepp Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11

Rahmenbedingungen Siegfried Hermle Zur Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 Detlef Siegfried Politisierungsschübe in der Bundesrepublik 1945 bis 1980 . . . . . . . . . . . 31 Siegfried Hermle Ergebnisse der Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51

Foren der Politisierung des Protestantismus Antje Roggenkamp-Kaufmann Zur Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 Karin Oehlmann Die Synoden als Foren der Politisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 Stephan Linck „Jetzt hilft nur noch eine Flugzeugentführung!“ Die Radikale Linke und die Evangelische Studierendengemeinde in Hamburg 1973 bis 1978 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77

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Inhalt

Thomas Schlag Formen der Politisierung des Religionsunterrichts in den 1960er und 70er Jahren im bundesrepublikanischen Kontext . . . 90 Antje Roggenkamp-Kaufmann Ergebnisse der Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111

Die Politisierung der Theologie Klaus Fitschen Zur Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 Christian A. Widmann Vom Gespräch zur Aktion? Der „christlich-marxistische Dialog“ und die Politisierung des Protestantismus in den 1960er und 70er Jahren . . . . . . . . . . . . . . . . 121 Annegreth Schilling „Theologie der Hoffnung – Theologie der Revolution – Theologie der Befreiung“. Zur Politisierung der Theologie in den „langen sechziger Jahren“ in globaler Perspektive . . . . . . . . . . . . . 150 Kornelia Sammet Feministische Theologie und die Politisierung evangelischer Theologinnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 Klaus Fitschen Ergebnisse der Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191

Die Politisierung des Protestantismus als Thema der Medien Claudia Lepp Zur Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 Nicolai Hannig Axel Springer, Rudolf Augstein und die mediale Politisierung der Religion 198

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Inhalt

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Sven-Daniel Gettys Wie politisch darf die Kirche sein? Politisierungsdiskurse in protestantischen Zeitschriften (1967/68) . . . . . 221 Claudia Lepp Ergebnisse der Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243

Die Politisierung des Christentums – eine shared history? Pascal Eitler Konziliare Aufbrüche und kontestative Umbrüche. Die Politisierung des Katholizismus um 1968 – eine diskurshistorische Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249

Die Politisierung des Protestantismus – ein internationales Phänomen? Katharina Kunter Zur Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 Keith Robbins Politicization Tendencies in British Protestantism in the 1960s and 1970s 278 Jens Holger Schjørring Aufbruch und Polarisierung. Die Volkskirchen in den nordischen Ländern in den 1960er und 70er Jahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290 Peter Morée „Unsere Kirchen sind die Verkörperung, ein Extrakt der Kleinbürgerlichkeit.“ Die politische Funktion der Idee vom Ende des konstantinischen Zeitalters in der tschechischen Theologie . . . . . . . 302 Katharina Kunter Ergebnisse der Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 326

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Inhalt

Die Politisierung des westdeutschen Protestantismus in den 1960er und 70er Jahren – Ergebnisse und offene Fragen Detlef Siegfried Ein kurzes Statement . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331 Claudia Lepp Ergebnisse der Schlussdiskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 334 Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 337 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 340

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Vorwort

Der vorliegende Band basiert auf den Beiträgen der Tagung „Die Politisierung des Protestantismus in der Bundesrepublik Deutschland während der 1960er und 70er Jahre“, die am 26. und 27. Juni 2009 im Hanns-Lilje-Haus in Hanno­ver stattgefunden hat. Vorbereitet und durchgeführt wurde sie von den Herausgeberinnen und Herausgebern im Rahmen der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte. Diese beschäftigt sich seit dem Jahr 2004 verstärkt mit den Wechselbeziehungen zwischen gesellschaftlichem und kirchlichem Wandel in den 1960er und 70er Jahren. Im Wesentlichen enthält der Band die Beiträge dieser Tagung. Neu hinzu gekommen sind die Aufsätze von Peter Morée und Pascal Eitler, die das internationale und konfessionelle Spektrum erweitern. Das Referat von Klaus Tanner mit dem Titel „Der politische Protestantismus in Deutschland (1945–1961)“ kann leider nicht publiziert werden, da es nicht eingereicht wurde. Unser Dank gilt zunächst allen Referentinnen und Referenten sowie allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Tagung für ihre aktive Beteiligung. Dank ihnen war die Tagung ein gelungenes Beispiel für eine offene interdisziplinäre Diskussionskultur zwischen Theologen, Historikern und Religions­ soziologen. Sodann danken wir den Herausgebern der „Arbeiten zur Kirchlichen Zeitgeschichte“ für die Aufnahme in diese Reihe. Nicht zuletzt danken wir der Fritz Thyssen-Stiftung für ihre finanzielle Unterstützung der Tagung. Klaus Fitschen Siegfried Hermle Katharina Kunter Claudia Lepp Antje Roggenkamp-Kaufmann

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Claudia Lepp

Einleitung

1. Religion und Politik Das Verhältnis zwischen Religion und Politik ist in jüngster Zeit wieder zu einem Thema von hoher öffentlicher und wissenschaftlicher Aufmerksamkeit geworden. Damit ist die Interaktion des Religiösen mit dem Politischen auch auf die Agenda der deutschen Zeitgeschichte gekommen und hat dazu an­ geregt, das Verhältnis von Religion, Moderne und Säkularisierung neu zu überdenken und auch der christlichen Religionsgeschichte nach 1945 mehr Aufmerksamkeit zu widmen1. Mit einem kulturgeschichtlich inspirierten Zugang zur Religionsgeschichte kommt nun die vielschichtige Beziehung von Religion und Politik hinsichtlich Akteure und Diskurse in den Blick und es wird Abschied genommen von einer „bipolare Sicht auf vermeintlich ausdifferenzierte Gesellschaftsbereiche Religion und Politik“2. Vertreter der evangelischen Kirchen- und Theologiegeschichte sowie der Systematischen Theologie in Deutschland beschäftigen sich schon länger mit der historischen und systematisch-theologischen Zuordnung von Politik und Christentum im 20.  Jahrhundert. Häufig stand hier das Verhältnis zwischen Kirche und Staat im Vordergrund, zumal in der Tradition evangelischen Denkens die politische Verantwortung der Kirche in der Regel im Gegenüber zum Staat verankert wurde. Dabei dominierten im deutschen Protestantismus lange obrigkeitsstaatliche politische Leitbilder und wurde der Obrigkeitsgehorsam mit besonderer theologischer Autorität ausgestattet. Auf der Analyse dieser obrigkeitsstaatlichen Vorstellungen und ihrem allmählichen Wandel liegt denn auch ein Schwerpunkt der kirchen- und theologiegeschichtlichen Forschung; einen weiteren bilden die liberalen Traditionen des Protestantismus. Was umfasst nun das Themenfeld „Religion und Politik im 20. Jahrhundert“ aus der Perspektive einer kulturgeschichtlich orientierten Religionsgeschichte und einer sozial- und kulturgeschichtlich interessierten Kirchen- und Theo­ 1 Vgl. den Forschungsbericht von Balbier, Sag, der sich jedoch auf deutsche Veröffentlichungen zur amerikanischen Religionsentwicklung und transatlantisch vergleichend angelegte Sammelbände zum Verhältnis von Religion und Politik konzentriert. 2 Ebd., 5.

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logiegeschichte? Es geht allgemein gesprochen um Religionspolitik, um politisierte Religion und um politische Religion. Spart man letztere einmal aus, da sie in diesem Tagungsband keine Rolle spielt, geht es bezogen auf das evangelische Christentum in Deutschland um das Verhältnis von Kirche, Staat und Gesellschaft, um die Interaktion der Kirche mit politischen Parteien und Regierungsvertretern, um das politische Selbstverständnis und Agieren von Laienchristen und kirchlichen Amtsträgern, um die Verflechtung von religiösem und politischem Diskurs in öffentlichen Debatten sowie um theologische Deutungsmuster der Verbindung von christlichem Glauben und politischer Existenz. Dabei muss jede Untersuchung des Verhältnisses von evangelischem Christentum und Politik grundsätzlich von der konfessionellen und politischen Pluralität des Protestantismus ausgehen, da dieser kein festgefügtes Lehrgebäude für das politische Handeln besitzt.

2. Evangelisches Christentum und Politik in der frühen Bundesrepublik Der Mai 1945 war keine „Stunde Null“ im Verhältnis von Protestantismus und Politik. Viele alte Deutungs-, Einstellungs- und Verhaltensmuster wurden mit in die Nachkriegszeit hinein genommen. Aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert brachte der Mehrheitsprotestantismus eine starke nationale Orientierung, eine ausgeprägte Staatsfixierung, gesellschaftliche Homogenitätsvorstellungen, eine Aversion gegen politische Parteien und die liberal-parlamentarische Demokratie sowie antikapitalistische Ressentiments mit. Doch es gab auch Transformationen, die sich schon in der frühen Bundes­ republik abzeichneten oder bereits zum Tragen kamen. Als Reaktion auf poli­ tische und moralische Versäumnisse während der NS-Herrschaft fand die evangelische Kirche nach Kriegsende zu einem neuen Verständnis des kirchlichen Öffentlichkeitsauftrages. Das bei der staatlichen und gesellschaftlichen Neuordnung von der Kirche einzunehmende Öffentlichkeitsmandat wurde bereits in dem „Wort zur Verantwortung der Kirche für das öffentliche Leben“3 reklamiert, das im August 1945 der Kirchenversammlung in Treysa vorgelegt worden war. Die darin formulierte und fortan in allen Besatzungszonen auch in Handeln umgesetzte Bereitschaft der Kirche und insbesondere der Laienchristen, sich von einem rein innerlich-individualistischen Heilsverständnis abzukehren und sich aktiv gesellschaftspolitisch zu engagieren, zählte zu den fundamentalsten Wandlungen im protestantischen Selbstverständnis

3 Treysa,

102 ff. Zu Entstehung und Wirkung des Wortes vgl. Schmeer, Hoffnungen, 33−48.

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Einleitung

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nach 1945. Hinter diesem neuen Willen standen jedoch noch wenig theore­ tische Vorarbeit, wenig konkrete Vorstellung und noch weniger praktische Erfahrung. In der Bundesrepublik fanden Staat und Kirchen zu einem kooperativen Verhältnis zueinander. Die christlichen Parteien übernahmen die Wahrnehmung der kirchlichen Interessen und profitierten selbst wie auch die junge Bonner Republik von der kirchlichen Legitimierung ihrer zunächst noch schwachen Autorität. Jedoch endete die Kooperationsbereitschaft der Bundesregierung und ihres katholischen Kanzlers Konrad Adenauer mit den Kirchen stets dann, wenn diese versuchten, ihre gesellschaftlichen und kulturellen Vorstellungen kompromisslos durchzusetzen. So wurde die Bundesrepublik nicht zum klerikalen Staat, auch nicht zu einem katholischen, wie in protestantischen Kreisen zunächst befürchtet. Die Kirchlichkeit war aber auch in der sich modernisierenden westdeutschen Wiederaufbaugesellschaft noch hoch und die katholische wie die evangelische Kirche blieben angesehene und einflussreiche Institutionen. In nahezu allen Lebensbereichen der Gesellschaft waren sie an verantwortlicher Stelle präsent: im Bildungs- und Erziehungsbereich, im Sozialbereich, im Gesundheitswesen, im Strafvollzug, bei Rundfunk, Film und Fernsehen und später auch in der Bundeswehr. Die evangelischen Landes­ kirchen schlossen seit Mitte der 1950er Jahre mit den Bundesländern partnerschaftlich ausgestaltete Staatskirchenverträge ab, die ihre im Grundgesetz und in den Landesverfassungen abgesicherte privilegierte Stellung bewahrten sowie Art und Umfang ihres Öffentlichkeitsauftrages regelten. Dem veränderten Bewusstsein über die eigene Rolle in der Öffentlichkeit trug die evangelische Kirche in einem konstruktiven Dialog mit Staat und Gesellschaft Rechnung. Er wurde in neuen Formen und auf vielfältige Weise geführt: Durch ihren ständigen Beauftragten am Sitz der Bundesregierung, Prälat Hermann Kunst, war die Kirche im politischen Entscheidungszentrum präsent; ihre Vertreter führten regelmäßig Gespräche mit den Parteien; in Kammern und Ausschüssen setzten sich Laien und Theologen mit sozialethischen Fragen auseinander und berieten die kirchlichen Leitungsgremien, die sich wiederum in „Worten“ an die Öffentlichkeit wandten; „Kirche“ und „Gesellschaft“ begegneten sich auf den Massenveranstaltungen des Deutschen Evangelischen Kirchentages, in den Evangelischen Akademien sowie in den Studierendengemeinden und gaben sich wechselseitig Impulse. Die protestantischen Laien wurden von den Kirchenleitungen aufgefordert, sich in das parlamentarisch-demokratische Staatswesen einzubringen und in Parteien und Parlamenten mitzuarbeiten. Aufgrund der gemeinsamen Wertvorstellungen geschah dies in den frühen Jahren der Bundesrepublik vornehmlich in den neuen, interkonfessionellen, christlichen Parteien CDU und CSU. Erhebliche Teile der evangelischen Kirche unterstütz-

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ten die christlich-konservative Regierungspolitik Adenauers einschließlich ihres ausgeprägten Antikommunismus4. Trotz der unbestrittenen Stärkung des konservativen Lagers durch evange­ lische Christen und Kirche kann jedoch die Kirchengeschichte der Nachkriegszeit nicht pauschal mit dem Begriff „Restauration“ gefasst werden, weder in kultureller noch in politischer Hinsicht. Getragen vom Leitbild einer christlichen Renovatio kämpften protestantische Theologen und Laien zwar zunächst gegen die Erscheinungen der modernen Gesellschaft westlicher Prägung, gegen „Materialismus“, „Technisierung“, „Vermassung“ und „Entfremdung“ an. Die Enttäuschung über eine ausbleibende Rechristianisierung der deutschen Gesellschaft ließ sie dann in den frühen 1950er Jahren in eine kulturpessi­mis­ tische Stimmung verfallen. Schon in der zweiten Hälfte des Jahrzehnts schien man sich jedoch bereits mehrheitlich im Sinne eines modernen Konservativismus auf die moderne Gesellschaft und ihre soziokulturellen Veränderungen demonstrativ einzulassen5. Auch in der Schule der Demokratie machte der westdeutsche Protestantismus während der 1950er Jahre erste Fortschritte. Da die emanzipatorischen Potentiale des Protestantismus − wie das Drängen auf die Begrenzung von Herrschaft, die Notwendigkeit der Gewissensbindung der Machthaber sowie die Forderung der Gewissensfreiheit − in der Vergangenheit mehr verdeckt als entdeckt worden waren, hatten die evangelischen Kirchen in Deutschland ein langes antidemokratisches Erbe abzutragen. Das Bekenntnis zur Demokratie musste unter den evangelischen Christen erst wachsen. Zwar lehnten die westdeutschen Kirchen nach den Schreckenserfahrungen in einem totalitären System und angesichts des Demokratisierungsdrucks der westlichen Besatzungsmächte die Etablierung einer parlamentarischen Demokratie 1945 nicht mehr offen ab, wie sie es noch 1918 getan hatten, sondern arbeiteten konstruktiv in ihr mit6. Jedoch überwog unter den Kirchenvertretern zunächst ein innerer Vorbehalt gegenüber den demokratischen Machtordnungsverhältnissen. Viele orientierten sich weiterhin am Leitbild des starken Staates und an nicht-pluralistischen Gesellschaftsmodellen. Andere Teile der evangelischen Kirche wiederum hofften auf eine grundlegende Neuordnung des politischen Lebens jenseits aller bisherigen Systeme7. 4 Zum Verhältnis des westdeutschen Protestantismus zu den politischen Parteien in der frühen Bundesrepublik vgl. allgemein: Klein, Westdeutscher Protestantismus. 5 Vgl. Sauer, Westorientierung. 6 Vgl. Spotts, Kirchen, 305 f und Chon-Hun, Sozialethik, 179. 7 Zu den politischen Leitbildern und Vorstellungen im deutschen Protestantismus der unmittel­ baren Nachkriegszeit vgl. Zum politischen Weg unseres volkes.

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Einleitung

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Die 1950er Jahre waren im westdeutschen Protestantismus vor allem ein Jahrzehnt der großen politischen Debatten, die  – verallgemeinernd gesprochen  – zwischen einem lutherisch geprägten Mehrheitsprotestantismus und einem von Karl Barths Theologie beeinflussten Minderheitsprotestantismus geführt wurden. Im Kern gingen die Auseinandersetzungen um das Selbstverständnis als integrative Volks- oder vorkämpferische Gruppenkirche sowie um die Frage einer im Blick auf die NS-Vergangenheit und die deutsche Teilung von Protestanten verantwortbaren Deutschland- und Verteidigungspolitik der jungen Bundesrepublik. Thematisch kreisten sie in der ersten Hälfte des Jahrzehnts um die westdeutsche Westintegration und Wiederbewaffnung, in der zweiten Hälfte um Militärseelsorgevertrag und Atombewaffnung. Grundfragen der politischen Ethik verwoben sich darin mit friedensethischen Überlegungen und diese wiederum mit nationalen Motiven. Mehr als einmal gelangte die evangelische Kirche hierbei an den Rand der Spaltung8. Ein Teil der kirchlichen Funktionsträger, vor allem konfessionelle Lutheraner, sah vor dem Hintergrund der lutherischen Zwei-Reiche-Lehre in der Frage nach den Wegen der Friedenssicherung allein ein Problem der menschlichen Vernunft. Er lehnte es ab, eine politische Frage wie die Wiederbewaffnung mit der Autorität der Bibel zu beantworten und als Kirche zu vertreten. Persönlich schlossen sich diese Protestanten aus politischen Erwägungen den Vorstellungen der Adenauer-Regierung an. Sie hielten die Wiederbewaffnung zum Schutz der Bundesrepublik für notwendig und die politische, wirtschaftliche und militärische Westbindung mit der Wiedervereinigung im Konzept einer Politik der Stärke für vereinbar. Der bruderrätliche Flügel der EKD und namentlich Martin Niemöller sowie der Präses der EKD-Synode und Politiker Gustav Heinemann waren hingegen auf der Grundlage einer Ethik der Königsherrschaft Christi in allen Lebensgebieten gewillt, im Bewusstsein der deutschen Schuld am Zweiten Weltkrieg wie der Hoffnung auf Wiedervereinigung wegen auf einen deutschen Verteidigungsbeitrag zur westlichen Allianz zu verzichten. Doch obgleich innerhalb der deutsch-deutschen Organisations- und Kommunikationsgemeinschaft EKD Theorien eines Dritten Weges zwischen den ideologischen Blöcken sowie Modelle eines neutralen, wiedervereinigten Deutschlands mit einer Brückenfunktion zwischen Ost und West eine größere Rolle spielten als andernorts, waren sie auch hier nicht mehrheitsfähig. Auch war es nur eine Minderheit unter den westdeutschen Protestanten, die sich aktiv an dem politischen Protest der „Ohne-mich-Bewegung“, den Volksbefragungsaktionen, der Paulskirchenbewegung und der Kampagne „Kampf dem Atomtod“ beteiligten. Gleichwohl waren mit Martin Niemöller, Gus

8 Zu

den Debatten vgl. bislang: Vogel, Kirche; Walther, Atomwaffen; Möller, Prozess.

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tav Heinemann, Helmut Gollwitzer u. a. sehr prominente Protestanten und Adenauer-Gegner darin mit Gleichgesinnten aus den Gewerkschaften und der SPD öffentlichkeitswirksam aktiv. Sie brachten eine religiös-moralische Deutung von Politik in die Protestbewegungen ein und luden die Protestsemantik religiös auf. Der Versuch Heinemanns, durch eine eigene Parteigründung, die Gesamtdeutsche Volkspartei, Einflussmöglichkeiten zu eröffnen, scheiterte bereits 1953, als die GVP bei der Bundestagswahl lediglich 1,1 % der Stimmen erhielt. Bleibendes Erbe der Auseinandersetzungen der 1950er Jahre aber war eine dauerhafte Beschäftigung mit der Friedensfrage sowie das Eintreten für den Schutz der Kriegsdienstverweigerung – beides Ausdruck eines gewandelten protestantischen Selbstverständnisses. Denn die evangelischen Kirchen in Deutschland gehörten nicht zu den klassischen Friedenskirchen des Christentums, sondern fanden mehrheitlich erst nach dem Zweiten Weltkrieg zu einer protestantischen Friedensethik. Das hieß jedoch nicht, dass man sich über die Wege zum Erhalt des Friedens einig gewesen wäre. Die letzte der Kontroversen in den 1950er Jahren, die Atomdebatte von 1957 bis 1959, machte dies abermals deutlich. Die erbitterte Auseinandersetzung um die Frage, ob die Kirche die Atomrüstung generell als ethisch nicht zu rechtfertigen ablehnen müsse, endete in einer „Ohnmachtsformel“: in der Willensbekundung, unter dem Evangelium zusammenzubleiben und sich um die Überwindung der Gegensätze zu bemühen. In diesem „Einüben und Aushalten konträrer Positionen in einem gemeinsamen Geist“ sieht Michael J. Inacker den Protestantismus allerdings in einer „Vorbildfunktion für den gesamten demokratischen Prozeß im Nachkriegs-Deutschland“9. Auf jeden Fall aber waren diese Diskurse immer auch Auseinandersetzungen um Gestalt und Grenzen einer „Politisierung“ der Kirche, um theologische Interpretationen des Verhältnisses von Politik und Christentum und um die religiöse Qualifizierung politischer Fragen als Glaubensfragen. So wandte sich der Erlanger Theologe Walter Künneth auf der Synode der EKD im Jahr 1958 „mit Leidenschaft gegen jede Politisierung der Kirche und gegen jede Überfremdung der Kirche durch politische Gesichtspunkte“10. In den 1960er und 70er Jahren sollten diese Diskurse dann unter veränderten gesellschaftlichen Bedingungen erneut geführt werden.



9 Inacker,

10 Zit.

Zwischen Transzendenz, 372. nach KJ 85, 1958, 61.

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Einleitung

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3. Die Politisierung des Protestantismus während der 1960er und 70er Jahre Seit Ende der 1950er Jahre schien der westdeutsche Protestantismus zunehmend in der Demokratie anzukommen. Dabei spielte zwei Faktoren eine Rolle11: Zum einen rückte allmählich die Generation in die Verantwortung, die das Jahr 1945 als Jugendliche erlebt hatten. Bei ihnen führten die NS-Erfahrungen zusammen mit den Prägungen der Nachkriegszeit zu einer demokratischen Haltung. Zum anderen wirkte die Macht des Faktischen: Die Gesellschaft der Bundesrepublik funktionierte politisch und wirtschaftlich immer besser. Die innere Verankerung des politischen Systems und die Entwicklung eines tieferen Demokratieverständnisses im Protestantismus brauchten jedoch noch einige Zeit und fanden einen vorläufigen Abschluss erst in der Demokratie-Denkschrift der EKD im Jahr 198512. Ausdruck eines zunehmend liberalen Staatsverständnisses einschließlich eines weltanschaulichen Pluralismus war auch die Tatsache, dass es seit Beginn der 1960er Jahre einer wachsenden Zahl von überzeugten evangelischen  – und schließlich auch katholischen – Christen möglich war, die SPD zu wählen. In den Jahren zuvor hatte ein kleiner Kreis führender Protestanten die Verständigung mit der Sozialdemokratie stetig vorangetrieben, während sich umgekehrt die Partei in ihrem Godesberger Programm 1959 den Kirchen angenähert hatte13. Im Bundestagswahlkampf von 1961 votierten nun etliche Geistliche öffentlich für die SPD. Im selben Jahr wurde auch der SPD-nahe Berliner Bischof Kurt Scharf zum Vorsitzenden des Rates der EKD gewählt. Unter dem Ratsvorsitz von Scharf entstanden auch die ersten Denkschriften der EKD. Mit ihnen fand die evangelische Kirche eine moderne Form, am politischen Diskurs der bundesdeutschen Gesellschaft teilzunehmen. Waren die vorhergehenden kirchlichen Worte knapp gehalten und trugen Weisungscharakter, so hatten die Denkschriften einen argumentativen, zur Diskussion anregenden Stil. Dabei oszillierten sie zwischen „Ausgewogenheit und Profilschärfe“14. Das „Zeitalter der Denkschriften“15 setzte 1962 mit der Schrift „Eigentumsbildung in sozialer Verantwortung“ ein und erreichte bereits seinen ersten Zenit mit der so genannten Ostdenkschrift der Kammer für öffentliche Verantwortung von 1965. In der Bundesrepublik brachte diese Denkschrift und ihr Appell zur 11 Vgl.

Nowak, Evangelische Kirche, 267. Evangelische Kirche. Vgl. zum Gesamtkomplex: Ruddies, Protestantismus. 13 Vgl. Heimerl, Evangelische Kirche. 14 Hauschild, Evangelische Kirche, 82. 15 Vgl. Schroer, Denkschriften, 494; Raiser, Denkschriften, 11.

12 Kirchenamt,

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Versöhnung mit dem polnischen Volk Bewegung in erstarrte politische Positionen und ebnete damit der „neuen Ostpolitik“ der sozial-liberalen Koalition unter Bundeskanzler Willy Brandt den Weg16. Zugleich signalisierte sie öffentlich den Abschied von der Prädominanz des Nationalprotestantismus. Innerprotestantisch hatte sie daher eine stark polarisierende Wirkung und wurde gerade für konservative Protestanten zum Signum einer Fehlentwicklung der evangelischen Kirche. Im Zuge der äußerst heftigen Auseinandersetzung um die Denkschrift formierten sich 1966 national und antipluralistisch eingestellte Protestanten in der „Notgemeinschaft evangelischer Deutscher“. Auch die im Januar 1966 gegründete, wesentlich erfolgreichere „Bekenntnisbewegung ‚Kein anderes Evangelium‘“ wandte sich gegen eine „Politisierung der Kirche“, wie sie in der Denkschrift zum Ausdruck komme. Die Bekenntnisbewegung opponierte insgesamt gegen den in den 1960er Jahren sich beschleunigenden Prozess der Auflösung des traditionellen Verständnisses der Bibel als Gottes Wort bzw. generell gegen die Traditionsabbrüche in Kirche und Gesellschaft17. Einen Höhepunkt erlebte die Auseinandersetzung um eine „Politisierung der Kirche“ in den Jahren 1967 bis 1972 vor dem Hintergrund von Entwicklungen, die die gesamte bundesdeutsche Gesellschaft betrafen18. Im Zuge der fundamentalen Transformation der westlichen Gesellschaften während der „langen“ 1960er Jahre kam es in der Bundesrepublik zu einer stärkeren Politisierung der Bürger sowie von bis dahin vorpolitischen Räumen19. Die Bereitschaft nahm zu, für die Mitgestaltung der gesellschaftlichen Ordnung Verantwortung zu übernehmen. Universalistische oder kollektive Werte wie Solidarität, Frieden und Gerechtigkeit gewannen an Bedeutung20 – ein „Bürgersinn mit Weltgefühl“21 entwickelte sich. Zugleich wuchs die Kritik an den institutionellen und sozialen Ordnungen der Bundesrepublik und der westlichen Gesellschaft. Intensiv wurde über die „Demokratisierung“ der Gesellschaft debattiert. Es entstand ein breites Geflecht politischer Reformbewegungen, aber auch von Gegenreaktionen. Ein Kampf um die Hegemonie politischer Deutungsmuster, um Lebensstile und Wertesysteme entbrannte. Im Kontext dieser Politisierung der bundesdeutschen Gesellschaft, aber auch angestoßen durch Impulse aus der Ökumene der nichtrömischen Kirchen, 16 Vgl.

Heck, EKD. hierzu Jung, Bewegung; Scheerer, Christen. 18 Vgl. hierzu insbesondere den Beitrag von Sven-Daniel Gettys in diesem Band. 19 Vgl. u. a. Faulenbach, Siebziger Jahre, 6 f, 20; Rödder, Bundesrepublik Deutschland, 64 ff; Siegfried, Entwicklung, 45; Schildt, Kräfte, 467 f; Siegfried, Demokratie, 737 f, 750; Siegfried, Time, 747 f, 755, sowie den Beitrag von Detlef Siegfried in diesem Band. 20 Pollack, 2006, 117. 21 Knoch, Bürgersinn. 17 Vgl.

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Einleitung

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e­ rlebte der westdeutsche Protestantismus eine Teilpolitisierung von unten, die seit den 1970er Jahren auch Breitenwirksamkeit erreichte. Beständig stieg das Interesse an öffentlichen Angelegenheiten und an demokratischer Teilhabe auch neben den klassischen Partizipationsmöglichkeiten. Forderungen nach mehr Demokratie und Partizipation in Staat und Kirche wurden lauter und führten zur Konstituierung neuer (kirchen-)politisch ausgerichteter Gruppierungen22. Ab Ende der 1960er Jahre wurde dann der globale Nord-Süd-Konflikt zu einem zentralen Thema. Neben das humanitär-diakonische Engagement trat nun auch das politische Engagement für Befreiung und Gerechtigkeit in der „Dritten Welt“23. Dabei spielten insbesondere in den evangelischen Studierendengemeinden, die sich den Politisierungstendenzen am weitesten öffneten, auch neomarxistische Theorien eine Rolle24. Zwar wurde eine ökumenischweltweite Orientierung zunächst vor allem von Aktionsgruppen getragen, doch diese beeinflussten zunehmend die Mentalität der jüngeren Pfarrer und Gemeindeglieder. Das Eintreten für Menschenrechte konzentrierte sich auf den Kampf gegen Rassismus und Neokolonialismus und fand im Antirassismusprogramm des Ökumenischen Rates einen internationalen Rahmen. Später kam auch der Einsatz für Frauenrechte hinzu, nachdem seit Mitte der 1970er Jahre Impulse der US-amerikanischen feministischen Befreiungstheologie aufgenommen wurden25. Von Mitte der 1960er Jahre an fand international wie national eine Politisierung der Theologie statt26. Diese neue politische Theologie ist in Deutschland mit den Namen Jürgen Moltmann, Dorothee Sölle oder auf katholischer Seite mit Johann Baptist Metz verbunden. Sie beanspruchte in Abgrenzung zu älteren politischen Theologien eine kritisch-aufgeklärte Kompetenz und war bestrebt, die eschatologische Botschaft des Neuen Testaments in politische Bewegung umzusetzen. Christen und Kirchen sollten zum Stoßtrupp einer Humanisierung der Gesellschaft werden. Diese theologischen Entwürfe fanden gerade bei jüngeren Christen Resonanz, die versuchten sie in ihre politische und private Praxis umzusetzen. Sozialethische Fragen von globaler Dimension drangen über Diskussionen in der Ökumene ab Ende der 1960er Jahre auch in die Amtskirche vor und blieben in den Folgejahren auf der kirchlichen Tagesordnung27. Die evange 22 Für

Bayern vgl. Hager, Jahrzehnt. Willems, Entwicklung. 24 Vgl. hierzu den Beitrag von Stephan Linck in diesem Band. 25 Zur feministischen Theologie vgl. den Beitrag von Kornelia Sammet in diesem Band. 26 Vgl. hierzu die Beiträge von Christian A. Widmann, Annegreth Schilling und Pascal Eitler. 27 Dass es hierbei große Unterschiede unter den evangelischen Landeskirchen gab, zeigen der Beitrag von Karin Oehlmann und die sich an ihn anschließende Diskussion. 23 Vgl.

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lische Kirche engagierte sich vermehrt sozial- und friedenspolitisch sowie zugunsten der „Dritten Welt“. Die mit der westdeutschen Wohlstandsentwicklung erweiterten finanziellen Spielräume konnten hierfür genutzt werden. Die kirchliche Positionierung in diesen Feldern kann als Versuch gedeutet werden, der wachsenden Entkirchlichung und Institutionenkritik zu begegnen. Das zunehmende Engagement vor allem von Basisgruppen und ihren theologischen Leitfiguren auf verschiedenen Politikfeldern sowie die damit verbundene Forderung nach einer Politisierung von Religion, Kirche und Theologie wurden von einem starken innerkonfessionellen Polarisierungsprozess begleitet, in dem politische und religiöse Konfliktlinien miteinander verwoben waren. Konservative Protestanten kritisierten eine „Politisierung der Kirche“, sahen das Gottesverhältnis gegenüber der Weltverantwortung vernachlässigt und wehrten sich gegen Versuche einer linken Indoktrinierung. In der breiten öffentlichen Debatte zwischen 1968 und 1972 avancierte „Politisierung“ zum Kampfbegriff28. Mitte der 1970er Jahre kreiste die öffentliche Diskussion dann um die These, zwischen Christentum und Sozialismus bestehe eine inhalt­ liche Affinität, ein Christ müsse hinsichtlich seiner gesellschaftlichen Zielvorstellung Sozialist sein29. Die „Politisierung“ spielte aber auch eine Rolle in den innerkirchlichen Auseinandersetzungen um das Antirassismusprogramm sowie in der innerkirchlichen wie allgemeinen Terrorismusdebatte. Auch die Massenmedien kritisierten unter diesem Stichwort kirchliche Gesellschafts­ reformer und warnten davor, dass aus der christlichen Jenseitsreligion die Caritas werde30. Die mediale Wahrnehmung beider Kirchen in dieser Zeit war jedoch von Kritik sowie Indifferenz gleichermaßen geprägt und folgte auch Marktlogiken. Auf der diesem Band zugrunde liegenden Tagung wurde der Prozess einer Poli­ tisierung des Protestantismus als Teil  eines Politisierungsprozesses der westdeutschen Gesellschaft untersucht und nach Wechselwirkungen und Besonderheiten gefragt. Ein starkes Augenmerk wurde auch auf den öffentlichen Diskurs über eine „Politisierung“ von Religion und Kirche gelegt. Politisierung wurde somit sowohl als wertneutraler, analytischer Begriff verwendet, um ein sich veränderndes politisches Engagement und den damit verbundenen Wandel im Selbstverständnis sowie in Glaubens- und Ausdrucksformen des Protestantismus während der 1960er und 70er Jahre zu fassen, als auch als ein zeitgenössischer Kampfbegriff rezipiert. Letzerer wurde insbesondere von 28 Eitler,

Politik, 272 f; Hauschild, Evangelische Kirche, 76 f. Hauschild, Grundsatzfragen, 92–98. 30 Vgl. hierzu den Beitrag von Nicolai Hannig in diesem Band.

29 Vgl.

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Einleitung

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konservativer Seite verwendet, um eine in ihren Augen illegitime politischideologische Überfremdung der Botschaft des Evangeliums und des kirch­lichen Auftrags zu bezeichnen und einem Linkstrend des deutschen Protestantismus zu begegnen. Leitend waren für die Referate und Diskussionen folgende Fragestellungen: − Was unterscheidet den Politisierungsprozess der 1960er und 70er Jahre von den politischen Auseinandersetzungen in den 1950er Jahren und worin liegen die Unterschiede zu den 1980er Jahren und deren Friedens- und Umweltbewegungen? Handelt es sich bei den 1960er und 70er Jahren hinsichtlich des Politisierungsprozesses lediglich um eine „Übergangs- und Inkubationszeit“31? − Welche soziale und generationelle Reichweite hatte der Politisierungsprozess innerhalb des Protestantismus? Überstieg seine mediale Präsenz sein reales Ausmaß und wenn ja, was waren die Ursachen hierfür? − Wie ging man mit den politischen Differenzen innerhalb der Kirche um? Welche Handlungsstrategien wurden entwickelt und fand man zu einer nachhaltigen Akzeptanz des politischen Pluralismus in der Kirche? − Gab es vergleichbare Entwicklungen im westdeutschen Katholizismus und wenn ja, wo lagen die Gemeinsamkeiten und wo die Unterschiede? Wie verhalten sich Politisierung und Entkonfessionalisierung zueinander? Trieb die Politisierung die Entkonfessionalisierung voran? − Was waren die internationalen Bedingungsfaktoren dieses Politisierungsprozesses und welche spezifisch deutschen Bedingungsfaktoren lagen vor? Handelt es sich bei der Politisierung des Protestantismus während der 1960er und 70er Jahre insgesamt um ein internationales Phänomen? Auf der Tagung konnte nicht auf alle diese Fragen eine abschließende Antwort gegeben werden. Auch tauchten auf ihr neue Fragen auf. So bleibt noch Raum für weitere Forschung, zu der dieser Band Impulse geben möchte.

Literaturverzeichnis Balbier, Uta Andrea: „Sag: Wie hast Du’s mit der Religion?“ Das Verhältnis von Religion und Politik als Gretchenfrage der Zeitgeschichte. In: H-Soz-u-Kult 10. 11. 2009 (http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/forum/2009–11–001). Chon-Hun, Jeon: Die deutsche evangelische Sozialethik und die Demokratie seit 1945. Der Beitrag der EKD-Denkschriften zur Demokratie. Frankfurt a. M. u. a. 1997. 31 Hauschild,

Evangelische Kirche, 52, 54 f.

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Eigentumsbildung in sozialer Verantwortung. In: Kirchenkanzlei der EKD (Hg): Die Denkschriften der Evangelischen Kirche in Deutschland, Bd. 2. Gütersloh 1978, 21–32. Eitler, Pascal: „Gott ist tot – Gott ist rot“. Max Horkheimer und die Politisierung der Religion um 1968 (Historische Politikforschung 17). Frankfurt a. M./New York 2009. –, Politik und Religion: Semantische Grenzen und Grenzverschiebungen in der Bundesrepublik Deutschland 1965–1975. In: Ute Frevert/Heinz-Gerhard Haupt (Hg.): Neue Politikgeschichte. Perspektiven einer historischen Politikforschung. Frankfurt a. M./New York 2005, 268–303. Faulenbach, Bernd: Die Siebziger Jahre – ein sozialdemokratisches Jahrzehnt? In: Archiv für Sozialgeschichte 44 (2004), 1–37. Hager, Angela: Ein Jahrzehnt der Hoffnungen. Reformgruppen in der bayerischen Landeskirche 1966–1976 (AKiZ B 51). Göttingen 2010. Hauschild, Wolf-Dieter: Evangelische Kirche in der Bundesrepublik Deutschland zwischen 1961 und 1979. In: Hermle, Siegfried/Lepp, Claudia/Oelke, Harry (Hg.): Umbrüche. Der deutsche Protestantismus und die sozialen Bewegungen in den 1960er und 70er Jahren (AKiZ B 47). Göttingen 2007, 51–90. –, Kirchliche und theologische Grundsatzfragen. In: Kirchliches Jahrbuch 103/104 (1976/1977), 17–107. Heck, Thomas E.: EKD und Entspannung. Die Evangelische Kirche in Deutschland und ihre Bedeutung für die Neuformulierung der Ost- und Deutschlandpolitik bis 1969. Frankfurt a. M. 1996. Heimerl, Daniela: Evangelische Kirche und SPD in den fünfziger Jahren. In: Kirchliche Zeitgeschichte 3 (1990), 187–200. Inacker, Michael J.: Zwischen Transzendenz, Totalitarismus und Demokratie. Die Entwicklung des kirchlichen Demokratieverständnisses von der Weimarer Republik bis zu den Anfängen der Bundesrepublik (1918–1959) (Historisch-Theologische Studien zum 19. und 20. Jahrhundert 8). Neukirchen-Vluyn 1994. Jung, Friedhelm: Die deutsche Evangelikale Bewegung – Grundlinien ihrer Geschichte und Theologie (EHS Reihe 23. 461). Frankfurt a. M. u. a. 1992. Kaiser, Jochen-Christoph: Erwägungen zu Begriff und Geschichte des politischen Protestantismus. In: Politischer Protestantismus im 19.  und 20.  Jahrhundert. Ausgewählte Arbeiten zur kirchlichen Zeitgeschichte. Hg. von Rolf-Ulrich Kunze und Roland Löffler. Konstanz 2008, 27–38. Kirchenamt der EKD (Hg.): Evangelische Kirche und freiheitliche Demokratie. Der Staat des Grundgesetztes als Angebot und Aufgabe. Eine Denkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland. Gütersloh 1985. Kirchliches Jahrbuch für die Evangelische Kirche in Deutschland 85 (1958). Klein, Michael: Westdeutscher Protestantismus und politische Parteien. Anti-ParteienMentalität und parteipolitisches Engagement von 1945 bis 1963. Tübingen 2005. Knoch, Habbo (Hg.): Bürgersinn mit Weltgefühl. Politische Moral und solidarischer Protest in den sechziger und siebziger Jahren. Göttingen 2007. Die Lage der Vertriebenen und das Verhältnis des deutschen Volkes zu seinen östlichen Nachbarn. In: Kirchenkanzlei der EKD (Hg): Die Denkschriften der Evangelischen Kirche in Deutschland, Bd. 1/1. Gütersloh 1978, 77–126.

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Einleitung

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Möller, Ulrich: Im Prozess des Bekennens. Brennpunkte der kirchlichen Atomwaffendiskussion im deutschen Protestantismus 1957–1962 (Neukirchener Beiträge zur systematischen Theologie 24). Neukirchen-Vluyn 1999. Nowak, Kurt: Evangelische Kirche in Deutschland 1945−1995. Beitrag zu einer historischen Bilanz. In: Zeitschrift für Evangelische Ethik 40 (1996), 266−275. Pollack, Detlef: Der Protestantismus in Deutschland in den 1960er und 70er Jahren. Forschungsprogrammatische Überlegungen. In: Mitteilungen der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte 24 (2006), 103–126. Raiser, Ludwig: Die Denkschriften der Evangelischen Kirche in Deutschland als Wahrnehmung des Öffentlichkeitsauftrags der Kirche. In: Kirchenkanzlei der EKD (Hg.): Die Denkschriften der Evangelischen Kirche in Deutschland, Bd. 1/1 (Gütersloher Taschenbücher 414). Gütersloh 1978, 9–39. Rödder, Andreas: Die Bundesrepublik Deutschland 1969–1990 (Oldenburger Grundriss der Geschichte 19 A). München 2004. Ruddies, Hartmut: Protestantismus und Demokratie in Westdeutschland. In: Lepp, Claudia/Nowak, Kurt (Hg.): Evangelische Kirche im geteilten Deutschland (1945– 1989/90). Göttingen 2001, 206–227. Sauer, Thomas: Westorientierung im deutschen Protestantismus? Vorstellungen und Tätigkeit des Kronberger Kreises. München 1999. Sauer, Thomas: Die Geschichte der evangelischen Kirchen in der Bundesrepublik  – Schwerpunkte und Perspektiven der Forschung. In: Lepp, Claudia/Nowak, Kurt (Hg.): Evangelische Kirche im geteilten Deutschland (1945–1989/90). Göttingen 2001, 295–309. Scheerer, Reinhard: Bekennende Christen in den evangelischen Kirchen Deutschlands 1966−1991. Geschichte und Gestalt eines konservativ-evangelikalen Aufbruchs. Frankfurt a. M. 1997. Schildt, Axel: „Die Kräfte der Gegenreform sind auf breiter Front angetreten.“ Zur konservativen Trendwende in den Siebzigerjahren. In: Archiv für Sozialgeschichte 44 (2004), 449–478. Schröer, Henning: Art. Denkschriften, Kirchliche. In: Theologische Realenzyklopädie 8, 1981, 493–499. Siegfried, Detlef: Demokratie und Alltag. Neuere Literatur zur Politisierung des Privaten in der Bundesrepublik Deutschland. In: Archiv für Sozialgeschichte 46 (2006), 737–750. –, Time is on my side. Konsum und Politik in der westdeutschen Jugendkultur der 60er Jahre (Hamburger Beiträge zur Sozial- und Zeitgeschichte 41). Göttingen 2006. –, Was hat die Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland in den 60er und 70er Jahren bestimmt? Was ist die „Signatur“ der als „Reformzeit“ bezeichneten Umbruchsphase? In: Calließ, Jörg (Hg.): Die Reformzeit des Erfolgsmodells BRD. Die Nachgeborenen erforschen die Jahre, die ihre Eltern und Lehrer geprägt haben. Rehburg-Loccum 2004, 41–46. Spotts, Frederic: Kirchen und Politik in Deutschland. Stuttgart 1976. Vogel, Johanna: Kirche und Wiederbewaffnung. Die Haltung der Evangelischen Kirche in Deutschland in den Auseinandersetzungen um die Wiederbewaffnung der

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Bundesrepublik 1949–1956 (Arbeiten zur Kirchlichen Zeitgeschichte B 4). Göttingen 1978. Walther, Christian (Hg.): Atomwaffen und Ethik. Der deutsche Protestantismus und die atomare Aufrüstung 1956–1961 (Studienbücher zur kirchlichen Zeitgeschichte  3). München 1981. Willems, Ulrich: Entwicklung, Interesse und Moral. Die Entwicklungspolitik der Evangelischen Kirche in Deutschland. Opladen 1998. Wright, Jonathan R. C.: „Über den Parteien.“ Die politische Haltung der evangelischen Kirchenführer 1918–1933 (AKiZ B 2). Göttingen 1977. „Zum politischen Weg unseres Volkes“. Politische Leitbilder und Vorstellungen im deutschen Protestantismus 1945–1952. Eine Dokumentation. Bearbeitet von Dorothee Buchhaas-Birkholz (Veröffentlichungen der Kommission für Geschichte der Parlamentarismus und der politischen Parteien). Düsseldorf 1989.

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Rahmenbedingungen

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Siegfried Hermle

Zur Einführung

Die Frage, ob und gegebenenfalls wie Christinnen und Christen in der Politik aktiv sein können oder gar müssen, hat in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg eine tiefgreifende Veränderung erfahren. In der unmittelbaren Nachkriegszeit war es angesichts der traditionell „protestantische[n] Abstinenz von der Politik“1 und der in weiten kirchlichen Kreisen akzeptierten Maxime, dass die Kirche der Parole „Über den Parteien“2 zu genügen habe, alles andere als selbstverständlich, dass sich Protestanten politisch oder gar parteipolitisch engagierten. Dezidiert politische Aktionen, wie beispielsweise die Mitwirkung an der Paulskirchenkundgebung 1955 oder an den Ostermärschen ab 1960, blieb die Sache einzelner häufig jedoch große Aufmerksamkeit auf sich ziehender Personen wie Martin Niemöller, Gustav Heinemann oder Helmut ­Gollwitzer3. Und bis in die Gegenwart hinein wird ein politisches Engagement der Kirche kritisch gesehen. Bei einer vom Meinungsforschungsinstitut polis im Auftrag der Deutschen Presse-Agentur im Jahr 2005 durchgeführten Umfrage erklärten 54 % der Befragten, die Kirchen sollten sich ganz aus der Politik heraushalten; unter Jüngeren (14–34 Jahre) fordern dies sogar 58 %. Lediglich 38 % der Befragten wünschten ein noch stärkeres politisches Engagement der christlichen Kirchen als bisher4. Doch trotz dieser signifikanten Distanzierung zum Bereich des Politischen im Protestantismus finden wir spätestens ab Mitte der 1960er Jahre eine gänzlich veränderte Situation: In weiten Bereichen eben dieses Protestantismus ist eine entschiedene Politisierung unübersehbar5. So entwickelten sich beispielsweise die Studierendengemeinden – wie Wolf-Dieter Hauschild herausstellte – „von bisher frommen Arbeitsgemeinschaften zu politischen Agitationszentren“6,



1 Greschat,

Christenheit, 324. Wright, „Über den Parteien“. 3 Vgl. Herbert, Kirche, 296. 4 Nach: http://religion.orf.at/projekt02/news/0505/ne050523_d_umfrage_fr.htm. (19. 6. 2009). 5 Womit die Tendenz verstanden werden soll, so Detlef Siegfried, „Fragen der gesellschaftlichen Entwicklung und auch scheinbar abgeschirmte private Habitusformen öffentlich zu kommunizieren“ (Siegfried, Teenager, 584). 6 Hauschild, Kirche, 77.

2 Vgl.

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Siegfried Hermle

die Kirchentage wurden zu Plattformen reger politischer Diskurse7, Synoden beschäftigten sich mit dem Antirassismusprogramm des ÖRK8 und die Evange­ lische Frauenarbeit rief zum Boykott von Früchten aus Südafrika auf. Doch nicht allein in den Kirchen lassen sich Entwicklungen hinsichtlich einer Partizipation am politischen Geschehen in den Jahren nach 1945 erkennen. Ein signifikanter Markstein dafür, wie sich die Menschen in politische Prozesse einbrachten, ist in der Wahlbeteiligung und der Bereitschaft, Mitglied einer Partei zu werden, zu sehen. Bei der ersten Bundestagswahl im Jahre 1949 übten 78,5 % der Bevölkerung Westdeutschlands ihr Wahlrecht aus; in den beiden Wahlen der 1950er Jahre und den drei Wahlen der 1960er Jahre steigerte sich die Wahlbeteiligung und lag zwischen 86 % und 87,8 %9. Eine erneute Steigerung brachten die Wahlen 1972 und 1976: Bei ersterer stieg die Beteiligung auf nie wieder erreichte 91,1 %, 1976 lag sie immer noch bei beachtlichen 90,7 %. In den 1980er und 90er Jahren sank die Wahlbeteiligung dann kontinuierlich und lag um die Jahrtausendwende bei ungefähr 80 %. Spannend sind zwei weitere Beobachtungen: Zum einen lag die Wahlbeteiligung der jüngsten Wählergruppe bei allen Wahlen signifikant unter dem Durchschnitt und dies, obwohl „das politische Interesse von jungen Wählern eher höher ist als bei der Wählerschaft insgesamt.“10 Zum anderen hatten bis 1965 die Unionsparteien bei der Wählergruppe der 21 bis 29jährigen leicht überdurchschnittlichen Zuspruch, während die Führerschaft in dieser Altersgruppe ab 1969 auf die SPD überging, der es 1972 – nun waren auch die 18 bis 21jährigen wahlberechtigt – sogar gelang, die absolute Mehrheit bei den Jungwählern zu erreichen11. Allerdings vermochte die SPD diese Mobilisierung nur kurz aufrecht zu erhalten; bereits bei der Wahl 1983 hatte die SPD nur noch einen durchschnittlichen Anteil an den Wählern dieser Gruppe. Betrachtet man den Organisationsgrad in den beiden großen westdeutschen Volksparteien CDU und SPD, so ist auch hier eine deutliche Entwicklung erkennbar, die auf einen Wandel in der Bereitschaft zur politischen Beteiligung verweist. Hatte die CDU 1948 noch ca. 360.000 Mitglieder, so ging diese Zahl zunächst in den 1960er Jahre auf ca. 250.000 zurück, um im folgenden Jahrzehnt stetig anzusteigen12: 1970 waren ungefähr 304.000 Personen als Mit

7 Vgl.

Schroeter-Wittke, Kirchentag, und Hermle, Evangelikalen. Hermle, Lied, 369 f und Beckmann, Anti-Rassismus Programm. 9 Vgl. http://www.bundestag.de/dokumente/analysen/2009/entwicklung_wahlbeteiligung.pdf (26. 4. 2010). 10 Deutsches Jugendinstitut, Jugend, 484. 11 Vgl. ebd., 485. 12 Vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/Christlich_Demokratische_Union_DeutschlandsMitglieder (26. 4. 2010); Zahlen vor 1966 sind Schätzungen. Vgl. auch Rödder, Bundesrepublik, 64 f.

8 Vgl.

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Zur Einführung

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glieder verzeichnet, 1972 423.000, 1976 dann 590.000 und 1980 waren es schließlich 705.000. Den absoluten Höhepunkt brachte das Jahr 1983 mit 735.000 Mitgliedern ehe ein stetiger Rückgang einsetzte – bis zur Jahrtausendwende auf 638.000 Personen13. Die SPD hatte 1948 701.000 Mitglieder und wuchs binnen kürzester Zeit auf 847.000 Mitglieder an, doch bis Mitte der 1950er Jahre war dann ein Rückgang auf ca. 586.000 zu verzeichnen14. Erst in den 1960er Jahren nahmen diese Zahlen wieder rasant zu: 1963 waren es 648.000 Mitglieder, 1969 bereits 779.000 und Mitte der 1970er Jahre war ein Höchststand von 1.022.000 Mitgliedern erreicht, ehe die Zahlen langsam aber stetig zurückgingen – um die Jahrtausendwende wurden noch ungefähr 694.000 SPD-Mitglieder gezählt. Neben diesen Faktoren im Blick auf das unmittelbare politische Engagement sei noch eine Beobachtung herausgestellt, die den tiefgreifenden Wandel in der politischen Kultur im westlichen Teil Deutschlands markiert: die Stellung der Frau. Noch in den 1950er Jahren ist eine – so Detlef Siegfried – „normativ forcierte Familienorientierung junger Frauen“ festzustellen, die jedoch bald „erodierte“15; sie wurde „durch die zunehmend attraktive Leitidee der berufliche[n] Qualifikation“ und „durch die Entfaltung der Jugendkultur, die über Konsum den Zugang zur öffentlichen Sphäre öffnete und vermehrt Möglichkeiten der außerhäuslichen Freizeitgestaltung bot“ abgelöst. Durch eine Aufwertung der Rolle junger Frauen „über Beruf und Konsum“ stärkte sich deren „gesellschaftliche Stellung“ und bildete „eine wesentliche Voraussetzung für die seit dem Ende der 60er Jahre zunehmende Bereitschaft junger Frauen zur politischen Intervention“. Einher ging mit dieser Entwicklung seit Mitte der 1960er Jahre ein rapider Rückgang der Geburtenrate, die zunächst zwischen 1955 und 1965 steil angestiegen war: Zählte man 1955 820.000 Geburten, so waren es 1965 1.064.00, 1978 dann jedoch nur noch 576.00016. Im selben Zeitraum ging die Zahl der Eheschließungen immer weiter zurück: kamen 1950 noch 10,7 Eheschließungen auf 1000 Einwohner, so 1975 nur noch 6,317. Die hier angedeuteten einschneidenden Veränderungen, die im Kontext fundamentaler Transformationen in der westdeutschen Gesellschaft erfolgten und denen sich unsere Tagung insbesondere im Blick auf den Protestantismus zuwenden wollte, werden im sich nun anschließenden Beitrag von Detlef Siegfried über die Politisierungsschübe in der Bundesrepublik beleuchtet. 13 Ende November 2009 gehörten der CDU 522.944, der SPD 513.340 Mitglieder an (http:// de.wikipedia.org/wiki/Christlich_Demokratische_Union_DeutschlandsMitglieder (26. 4. 2010). 14 Vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/SPDMitgliederentwicklung (26. 4. 2010). 15 Siegfried, Time, 748. 16 Deutsches Jugendinstitut, Jugend, 193. Vgl. auch Mantei, Protestantismus. 17 Deutsches Jugendinstitut, Jugend, 256.

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Siegfried Hermle

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Der Begriff der Politisierung, wie ich ihn verstehe, umfasst das steigende Interesse an den öffentlichen Angelegenheiten, wie es etwa bei Wahlen sichtbar oder bei Meinungsumfragen geäußert wird, aber auch eine gewachsene politische Teilhabe jenseits der Partizipationsmöglichkeiten der repräsentativen Demokratie – also etwa in Gestalt von Demonstrationen, Unterschriftensammlungen, Hausbesetzungen o. ä. Eines der auffälligsten Merkmale der politischen Kultur des hier interessierenden Zeitraums besteht in der rasant zunehmenden Politisierung privater Praktiken wie etwa der Sexualität, der Haartracht oder des Glaubensbekenntnisses1. Dabei verblieb die Politisierung von Alltagspraktiken nicht in der Hand des Staates, von der sie noch in den 1950er Jahren im Wesentlichen ausgegangen war, sondern sie wurde von den Bürgern aufgegriffen und unter dem Vorzeichen der Emanzipation gegen den Politisierungsanspruch des Staates gewendet. Im Folgenden steht die Politisierung von unten im Mittelpunkt, weil sie ein wesentliches Moment der Verankerung demokratischer Überzeugungen in der Bevölkerung darstellt. Zwischen den 1950er und den 80er Jahren sind vier Politisierungsperioden zu unterscheiden, deren Eigenarten näher beschrieben werden sollen: Erstens die Inkubationszeit einer demokratischen politischen Kultur in den 1950er Jahren, bei der von einer Politisierung im eigentlichen Sinne noch gar keine Rede sein kann – bestenfalls im Sinne einer Politisierung von oben insbesondere unter dem Vorzeichen des Antikommunismus –, wohl aber eine Infrastruktur und manche Diskursfelder einer Zivilgesellschaft sichtbar werden. Zweitens wird der Durchbruch von „Zeitkritik“ und Reforminitiativen in der ersten Hälfte der 1960er Jahre beschrieben, dem ersten signifikanten Politisierungsschub in der Geschichte der Bundesrepublik. Drittens folgen die von Engagement und Polarisierung geprägten späten 1960er und frühen 70er Jahre und viertens schließlich der Ausbau der partizipatorischen Demokratie bei gleichzeitiger

1 Vgl.

Siegfried, Demokratie.

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partieller Rücknahme des Demokratisierungsversprechens in den 1970er und frühen 80er Jahren2.

1. Die allmähliche Gewöhnung an die politische Kultur einer Demokratie Auch als der Krieg zuende war, setzte sich für viele Menschen zunächst eine Kontinuität der Noterfahrung fort, die seit dem Ersten Weltkrieg ihr Leben maßgeblich geprägt hatte3. Umso stärker sehnten sich die Zeitgenossen nach Ruhe, Ordnung und Sicherheit. Dies bestimmte nicht nur die politischen Neigungen, sondern auch kulturelle Vorlieben. Die Westdeutschen orientierten sich an Bekanntem aus der Weimarer Republik und dem „Dritten Reich“. Sie standen dem Mehrparteiensystem skeptisch gegenüber, Demokratie, Toleranz und Pluralismus waren höchst umstrittene Werte. Noch herrschte unter den meinungsbildenden Intellektuellen die Auffassung vor, man solle sich dem durch die „Masse“ geprägten Zeitgeist widersetzen und an der Überlegenheit der deutschen „Kultur“ gegenüber der westlichen „Zivilisation“ festhalten. Gerade das NS-Regime und sein unrühmliches Ende hatten sie in der Verachtung der „Masse“ bestärkt4. Die Kontinuität der traditionalistischen Kultur konnte zunächst imma­ terielle Haltepunkte vermitteln, die die im materiellen Aufbruch befindliche „Pioniergesellschaft“ (Arnold Sywottek) der 1950er Jahre zur Verhaltensstabi­ lisierung benötigte. Allerdings waren in der frühen Bundesrepublik bereits Elemente einer modernen Gesellschaft zu erkennen, die sich erst später durchsetzen sollten. Schon damals begannen Wochenzeitungen, Illustrierte und Taschen­bücher, die später die Politisierung der Gesellschaft moderierten, ihren Aufstieg zu neuen Höhen. Einige wenige Ausnahme-Intellektuelle wie Wolfgang Koeppen, Alfred Andersch oder Heinrich Böll übten bereits in den frühen 1950er Jahren jene Kritik an Geschichtsverlust und Doppelmoral, die um 1960 das Profil einer neuen Intellektuellengeneration bestimmen sollte. Die in den 1950er Jahren zu konstatierende Politisierung von oben ging vor allem vom Staat, den Parteien und Jugendorganisationen aus, und sie richtete sich unter dem Vorzeichen des Kalten Krieges in erster Linie gegen den Kom 2 Dieser Aufsatz fasst Befunde zur Entwicklung der politischen Kultur zusammen, die im weiteren Rahmen einer Kulturgeschichte der Bundesrepublik dargelegt werden in: Schildt/Siegfried, Kulturgeschichte. 3 Vgl. Niethammer, „Jahre“. 4 Vgl. insgesamt: Schildt/Sywottek, Modernisierung.

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munismus in Gestalt der DDR und der schon marginalisierten KPD, die 1956 verboten wurde. Der das politische Klima bestimmende Antikommunismus verband ein bipolares Freund-Feind-Denken mit einer bizarren AbendlandIdeologie gegen den „Bolschewismus“, in der nicht die Demokratie gegen die stalinistische Diktatur, sondern eine angeblich seit Jahrhunderten gegebene westliche Freiheit in religiöser Bindung gegen einen immer schon vorhandenen östlichen Kollektivismus gestellt wurde. Noch um 1960 wurde allgemein befürchtet, dass das staatspolitische Bewusstsein der Bürger keineswegs so gefestigt war wie die schnelle wirtschaft­liche Konsolidierung vorgaukelte. Die Überzeugung, der Westen sei „moderner“ als der Osten5, war zwar weitverbreitet, aber wie tragfähig diese Sichtweise sein würde, ob man einer „vielleicht besseren, vielleicht aber auch schlechteren Ordnung“ entgegenginge, erschien unsicher6. Nach der Überzeugung vieler konnte schon eine nicht ganz so große Wirtschaftskrise genügen, um das ideell labile Staatswesen ins Wanken zu bringen. Der Bundesminister für Familien- und Jugendfragen, Franz-Josef Wuermeling, erklärte: „Mit Bürgern, die sich ungezügeltem Genussleben hingeben, kann man keinen auf sozialer Mitverantwortung beruhenden Staat aufbauen.“7 Ähnliche Befürchtungen hegte die kritische Intelligenz, wenn auch ohne die politische Stoßrichtung gegen den Kommunismus. In einer Zeit der scheinbar unendlichen konsumtiven Möglichkeiten erschien gesellschaftliches Engagement als probates Gegenmittel, um den allgemeinen „Formverlust“ (Friedrich Tenbruck) der Konsumgesellschaft auszugleichen. Beide Seiten wollten die vermeintlich unpolitischen Bürger politisieren. Auch die aufsehenerregende Kampagne gegen „Schmutz und Schund“ knüpfte an tradierte Wertmuster an. Noch im letzten Drittel der 1950er Jahre befürwortete die Mehrheit der Bundesbürger eine Zensur für „unanständige“ Bücher und Filme8. Gegen die Verführungskraft dieser Produkte der Massenkultur wirkte auch der Rundfunk, das bei weitem einflussreichste Massen­ medium der 1950er Jahre. Er sollte in erster Linie nicht unterhalten, sondern aufklären – auch im politischen Sinne. Der Rundfunk hatte, wie Erich Rossmann, der Intendant von Radio Stuttgart, erklärte, „eine große politische, kulturelle, ethische und wirtschaftliche Erziehungsmission an unserem Volke zu erfüllen“. Entsprechend waren die Programme komponiert: Im Ersten Programm des Süddeutschen Rundfunks etwa lag der Anteil der Wortsendungen 5 „Westen“ – so der Titel eines Vortrags im Frankfurter Amerikahaus 1958, zit. nach Schildt, USA, 267. 6 Dolezol, Die Spontanen, 471. 7 Zit. nach: Aufgaben, 50. 8 DIVO-Pressedienst, März 1959.

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1953 bei 38 %, während die Unterhaltungsmusik nur 27 % ausmachte. Erst in den späten 1950er Jahren begannen Hörerwünsche und Programmgestaltung einander anzunähern9. Gleichzeitig wurden in den 1950er Jahren Strukturen geschaffen, die, anfangs noch unter der Kontrolle der Besatzungsmächte, die politische Artikulation der Bürger förderten – vor allem die parlamentarische Demokratie und die Parteien, die sich um die Einbeziehung möglichst vieler bemühten. Dass dies unter konservativen Auspizien erfolgte, vor dem Hintergrund eines traditionalistischen Wertesystems, in dem gerade angesichts der massenhaften Involvierung in das NS-Regime insbesondere die Kirchen neue Legitimität gewannen, entsprach den zeitgenössischen Rahmenbedingungen. Gleichzeitig zeigten Streiks und Großdemonstrationen etwa zur Lohnfortzahlung im Krankheitsfall oder gegen die Wiederbewaffnung, dass traditionelle Methoden der außer­ parlamentarischen politischen Teilhabe reaktivierbar waren. Auch vermehrte sich die Zahl der Akteure, Foren und Ideen – etwa in den kirchlichen Akademien, um Zeitschriften wie „Der Monat“ oder in den Nachtprogrammen der Rundfunkanstalten –, die mit zunehmender Resonanz zu einer Liberalisierung der politischen Kultur und Öffentlichkeit beitrugen. In den ersten Jahren der Bundesrepublik waren sie noch nicht tonangebend, erst im folgenden Jahrzehnt war ein Durchbruch zu verzeichnen.

2. Politisierung des Alltags und Zeitkritik am Ende der Ära Adenauer Der Politisierungsschub, der die Bundesrepublik seit dem Ende der 1950er Jahre erfasste, speiste sich aus mehreren Quellen, wobei der Druck der traditionellen Konsumkritik und der Oppositionsgeist junger Intellektueller besonders stark wirkten und sich zum Teil auch gegeneinander aufbauten. Nachdem die Bereitschaft der Bevölkerung offenkundig geworden war, die neuen Möglichkeiten des Konsums auch zu nutzen, fürchteten viele Politiker, Publizisten, Erzieher um die moralische und politische Standfestigkeit insbesondere der Jugend, und sie forderten kritisches Bewusstsein gegenüber den Verführungen der modernen Konsumgesellschaft. Hinzu kam: In der Zeit zwischen dem „Sputnik-Schock“ von 1957 und dem Weltraumflug Juri Gagarins sowie dem Mauerbau von 1961 ging die Befürchtung um, dass der Kommunismus vielleicht doch das Wettrennen um die politische Vorherrschaft in der geteilten Welt

9 Dussel,

Streit, 260 und 262.

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gewinnen könnte10. Kritikfähigkeit und Engagement galten als probate Mittel gegen wirtschaftliche und politische „Verführer“ – so ein klassisches Schlagwort der Zeit. Aus dieser Perspektive erhielten Lederjacken, Lippenstift, Haartracht und Musikgeschmack eine politische Komponente. Sie wurden als Indikatoren mangelnder politischer und moralischer Zuverlässigkeit gedeutet. Die betroffenen Jugendlichen hingegen bestanden darauf, dass lange Haare mit Politik nichts zu tun hätten, sondern Privatsache seien. Allerdings unterlegte man in Teilen der erwachenden Jugendszene den neuen Stilen von Jugendkultur durchaus schon einen politischen Sinn. Aus dieser Perspektive verband sich Jugendkultur mit einem zivilen Habitus, der sich vom zackigen Militarismus abgrenzte. Wenn junge Intellektuelle eine Politisierung der Gesellschaft forderten, dann geschah dies in Abgrenzung gegen den „Zynismus der Gegenaufklärung“.11 Für sie war die Kritik an der Einförmigkeit und Saturiertheit der Wirtschaftswundergesellschaft Teil des aufklärerischen Projekts, und bei ihnen hatte die Forderung nach Politisierung eine staatskritische Komponente, während sie auf Seiten des „Establishments“ gerade die Stabilität des Staatswesens befestigen sollte. Politisch standen die meisten Jungintellektuellen links. 1961 äußerte sie sich in dem von Martin Walser herausgegebenen Band „Die Alternative oder Brauchen wir eine neue Regierung“ mit einer Stellungnahme zur Bundestagswahl erstmals auch pateipolitisch. Hans Magnus Enzensberger, Günter Grass, Siegfried Lenz und andere sprachen sich für die Wahl der SPD aus. 1962 rief die Verhaftung Rudolf Augsteins im Zuge der „Spiegel-Affäre“ den gesammelten Protest der Intellektuellen hervor, 1966 waren es die Notstandsgesetze. Nie wieder haben Intellektuelle so stark in die parteipolitische Konfrontation eingegriffen und den Wandel des geistigen Klimas mitbefördert wie in dem Jahrzehnt zwischen den frühen 1960er und den frühen 70er Jahren. Bei einer zunehmenden Zahl von ihnen radikalisierte sich die Kritik an der Gesellschaft zusehends. Sie richtete sich gegen die „formierte Gesellschaft“, gegen die vermeintliche Tendenz der Massenmedien zur Betäubung und Verdummung. Derart direkte Interventionen seitens der „Mandarine“ waren ungewohnt, und es war Bundeskanzler Erhard, der einem latenten Antiintellektualismus regierungsamtliche Weihen verlieh. Wenn Erhard von Intellektuellen als „­Pinschern“ sprach, dann lag er damit ganz auf der Höhe der Volksmeinung. Unter den Begriff des „Intellektuellen“ wurde, wie eine Meinungsumfrage ergab, von einem großen Teil der Bevölkerung alles subsumiert, was sich durch einen abweichenden Habitus auszeichnete: „Künstler, Bärte, Gammler“, „die 10 Emnid-Informationen, 11 So

Nr. 36/1964; DIVO-Pressedienst, Juli 1961. Jürgen Habermas, zit. nach Maase, Vergnügen, 240.

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heutige Jugend, die Rolling Stones und die Mädchen, die sich zu Jungen machen“, „Außenseiter mit eigenem Geschmack“.12 Der Politisierungsdruck von oben und von unten, der Aufstieg des Fernsehens, der Streit um die Konturen des Deutschen in der Konsumgesellschaft – all dies bewirkte, dass in der Zeit zwischen den späten 1950er und den späten 60er Jahren das politische Interesse der Bevölkerung stärker anstieg als je zuvor oder danach. Demokratie sollte nicht mehr auf die Teilnahme an Wahlen und die Mitwirkung in Parteien begrenzt bleiben. Gefordert wurden Reformen – ein Zauberwort der 1960er Jahre –, die eine Demokratisierung aller gesellschaftlichen Bereiche, nicht zuletzt der Bildungseinrichtungen, zum Ziel hatten. Dabei richtete sich bei der Suche nach Vorbildern der Blick vor allem auf die USA, daneben auf west- und nordeuropäische Gesellschaften. Symbolisiert durch die Präsidentschaft von John F. Kennedy schien eine gemeinsame westliche liberale Werteordnung zu entstehen, die die westdeutsche Wirklichkeit in den Augen kritischer Intellektueller als anachronistisch erscheinen ließ, während gleichzeitig die Bemühungen zur Bewahrung traditionalistischer Grenzen zunahmen. Insbesondere die Konflikte der mittleren 1960er Jahre waren geprägt von Versuchen, die kulturelle Liberalisierung einzugrenzen oder zurückzudrängen. Die als Reaktion auf Ingmar Bergmanns Film „Das Schweigen“ 1964 gestartete Aktion „Saubere Leinwand“ des CDU-Abgeordneten Adolf Süsterhenn, die 142 Bundestagsabgeordnete mobilisierte und eine Million Unterschriften gegen die angeblich übermäßige Sexualisierung der Medien sammelte, Ludwig Erhards Ideal einer „formierten Gesellschaft“ oder der Aufstieg der NPD bei den Landtagswahlen seit 1966 waren Elemente dieses Rollback-Versuchs, der wiederum starke Gegenreaktionen auslöste13. Diese frühen Versuche, eine „Tendenzwende“ gegen Liberalisierung und Demokratisierung herbeizuführen, richtete sich direkt gegen die vermuteten kulturellen Folgen der Konsumgesellschaft, die eine, wie es in einer Quelle heißt, „Verbrauchergemeinschaft mit halber Moral“ erzeugt habe14. Allerdings konnten sie gegen den sich verbreiternden Liberalisierungsstrom kaum etwas ausrichten. Nicht nur auf der politischen Ebene, sondern auch in Fragen der Moral fächerte sich das Spektrum dessen, was als zulässig erachtet wurde, weiter auf. Vor allem wurden normative Vorgaben von oben immer stärker in Frage gestellt und das Konzept des „Pluralismus“ über die Politik auch auf Moralfragen und das Alltagsverhalten übertragen. So erhielten im Liberalisierungsstrom jene Reformer mehr und mehr Spielraum, die noch in den 1950er Jahren vor dem traditionalistischen 12 DIVO-Pressedienst,

Mai und Juni 1966. Hugo, „Erregung“. 14 Schäfer, Weiße-Kragen-Kriminalität, 380.

13 Vgl.

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Mainstream hatten klein beigeben müssen. In der politischen Kultur bekamen jene Oberwasser, die, um den Werbeslogan einer zeitgenössisch stark nachgefragten Zigarettenmarke zu zitieren, den „Duft der großen weiten Welt“ verströmten und den Anschluss der Bundesrepublik an den Westen auch auf dem Gebiet der politischen Kultur erreichen wollten. Eine der zentralen Reformforderungen betraf die Bildungsreform, die zugleich eine wesentliche Ausgangsbasis des Politisierungsschubs in den späten 1960er Jahren wurde. Sie wurde schon bald nicht mehr nur als „Erschließung des Begabungspotentials“ verstanden, die den vermeintlichen Rückstand der Bundesrepublik im Wettkampf mit dem Kommunismus und den anderen westlichen Ländern ausgleichen sollte, sondern als Teil  einer Gesellschaftsreform, als demokratisches Projekt zur Verbesserung der „Chancengleichheit“15. Wie soziale Gleichstellung über Bildung und die Zivilisierung der Deutschen konzeptionell ineinander griffen, illustriert das von Willy Brandt in seiner Regierungserklärung von 1969 skizzierte Ideal des Bundesbürgers: „Das Ziel ist die Erziehung eines kritischen, urteilsfähigen Bürgers, der imstande ist, durch einen permanenten Lernprozess die Bedingungen seiner sozialen Existenz zu erkennen und sich ihnen entsprechend zu verhalten. Die Schule der Nation ist die Schule.“16 Wie auf anderen Gebieten auch, war der parteipolitische Konsens bei der Bildungsreform bis in die frühen 1970er Jahre hinein groß. Erst dann lehnten konservative Kreise dezidiert das zuvor geteilte Ziel der Chancengleichheit als „sozialistische Gleichmacherei“ ab17. Neben der Bildungsreform stand in der ersten Hälfte der 1960er Jahre die Deutschland-Politik im Mittelpunkt der politischen Debatten. Der Mauerbau vom 13. August 1961 hatte Hoffnungen auf eine baldige Wiedervereinigung zunichte gemacht. Während die Regierungen Adenauer und Erhard sich nun erst recht auf die Position der Nichtanerkennung der DDR versteiften, dachten Politiker der FDP und der SPD zunehmend über Möglichkeiten der Entspannung nach, um die verhärtete Konfrontationssituation aufzubrechen. Hinzu kam, dass nach der Teilung der Stadt gerade in Berlin die Notwendigkeit zu einer Übereinkunft mit der DDR besonders dringlich war, um die Folgen der Abschottung für die Bevölkerung zu mildern. Daher entwickelte Egon Bahr als Mitarbeiter des West-Berliner Oberbürgermeisters Willy Brandt 1963 das Konzept des „Wandels durch Annäherung“, das darauf abzielte, durch eine Entspannung des Verhältnisses zwischen beiden deutschen Staaten eine innere 15 Naumann,

Entwicklungstendenzen, 39. des Deutschen Bundestags. Stenographische Berichte. 6. Wahlperiode, 5. Sitzung, 28. 10. 1969, 27.  17 Zit. nach Kenkmann, „Bildungsmisere“, 414. 16 Verhandlungen

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Liberalisierung der DDR zu befördern, die die Lage der Menschen verbessern würde18. Das Ziel der Wiedervereinigung wurde dabei keineswegs aufgegeben. Auf dem Karlsruher Parteitag der SPD 1964 zierte die Bühnenwand eine Landkarte Deutschlands in den Grenzen von 1937, darunter das Motto: „Erbe und Auftrag“. Unterstützt wurde der weiter um sich greifende Gedanke der Entspannungspolitik durch den Druck aus den USA, die insbesondere nach der Kuba-Krise eine Lösung des Ost-West-Konflikts erleichtern wollten, indem sie die Lösung der deutschen Frage nicht mehr zur Conditio sine qua non erklärten, sondern Verhandlungen mit der Sowjetunion unter Umgehung dieses Stolpersteins einleiteten und auch die Bundesrepublik zum Arrangement mit der DDR drängten. Doch in Westdeutschland war insbesondere der Umgang mit den ehemals deutschen Gebieten im Osten nach wie vor ein Reizthema von erheblicher Brisanz. Als die EKD im Oktober 1965 eine sogenannte „Ostdenkschrift“ über „Die Lage der Vertriebenen und das Verhältnis des deutschen Volkes zu seinen östlichen Nachbarn“ veröffentlichte, wurde dies vielfach als Provokation wahrgenommen19. Erstmals wurde hier das stets eingeklagte „Recht auf Heimat“ für die Vertriebenen auch auf die Millionen in den ehemaligen deutschen Gebieten geborenen Polen bezogen, und es fehlte nicht der Hinweis auf die deutsche Verantwortung für den Zweiten Weltkrieg. Obwohl damit eine Forderung nach Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze nicht verbunden war, wurde die Denkschrift stark attackiert und von der Bundesregierung abgelehnt. Doch zeigte sich, dass das Insistieren der Bundesregierung auf ihrer unversöhnlichen Haltung gegenüber den osteuropäischen Staaten und ihrem Festhalten an ihren Rechtspositionen mit den Erwartungen der Bevölkerung, die die Situation nüchterner beurteilte, immer stärker in Konflikt geriet. Erhebungen des Instituts für Demoskopie Allensbach ergaben, dass sich der Anteil derjenigen, die Pommern, Schlesien und Ostpreußen für immer verloren gaben, von 32 % (1959) auf 46 % (1964) und 61 % (1967) erhöhte. Der Anteil derjenigen, die meinten, eines Tages würden diese Territorien wieder zu Deutschland ge­hören, halbierte sich gleichzeitig von 35 über 25 auf 18 %20. Für die Mehrzahl der Bundesbürger war daher in der Mitte der 1960er Jahre eine Wiedervereinigung nur noch als Vereinigung von Bundesrepublik und DDR vorstellbar. Auch die Sicht auf die DDR veränderte sich nach dem Mauerbau allmählich. Journalisten der Wochenzeitung Die Zeit durften 1963 die DDR bereisen und berichteten mit einem Buch von ihrer „Reise in ein fernes Land“. 18 Vgl.

Bender, Ostpolitik; Stöver, Der Kalte Krieg, 386 ff. Greschat, „Ostdenkschrift“. 20 Schildt/Siegfried, Kulturgeschichte, 222 f.

19 Vgl.

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Auch andere Publikationen und die ZDF-Serie „drüben“ (1966–1973) signalisierten, dass hier mit fremdem Blick ein Land neu entdeckt wurde. Die politische Kultur der beiden deutschen Staaten unterschied sich mittlerweile viel tiefgreifender voneinander als diejenige der Bundesrepublik von ihren westeuropäischen Nachbarn. Die Kritik vieler Intellektueller an der ihnen anachronistisch erscheinenden „Gänsefüßchen“– und Verbotspolitik, die nach dem Mauerbau noch einmal für kurze Zeit wiederbelebt wurde, war eng verbunden mit Forderungen nach einer Liberalisierung der Bundesrepublik. Gleichzeitig befeuerten obrigkeitsstaatliche Reaktionen der Regierung auf publizistische Kritik den öffentlichen Protest. Zum ersten Mal öffentlich sichtbar wurde dieser Mechanismus bei der „Spiegelaffäre“. Die Besetzung der Redaktionsräume am 26. Oktober 1962 durch die Polizei, die Verhaftung des Herausgebers Rudolf Augstein, der Chefredakteure und eines Redakteurs mit der Begründung, das Blatt habe in einem kritischen Bericht zur Verteidigungspolitik Landesverrat begangen, rief in der Öffentlichkeit derart massive Proteste hervor, dass die FDP-Minister aus dem Kabinett austraten und bei der nachfolgenden Regierungsumbildung Verteidigungsminister Franz Josef Strauß seinen Hut nehmen musste21.

3. „Mehr Demokratie wagen“ Die politische Kultur des „mündigen Bürgers“ Die Skepsis der Bundesbürger gegenüber der Demokratie, ihre ausgeprägte Staatsloyalität, das Ideal politischer Harmonie, ihre Neigung zur Unterordnung und das geringe politische Engagement – diese Merkmale einer „Untertanenkultur“ traten im Laufe der 1960er Jahre und frühen 70er Jahre zurück22. In den „langen sechziger Jahren“ entstand zunächst nur in Ansätzen eine politische Kultur der Teilhabe, die über den Rahmen der repräsentativen Demokratie hinausging. Indikatoren waren etwa das Interesse für Politik, das mit dem Reichtum der Gesellschaft, dem Anwachsen des Dienstleistungssektors, dem Bildungsgrad, der Medialisierung und der politischen Konflikte stark zunahm. Bis 1960 betrachteten sich nur knapp 30 % der Bundesbürger als politisch interessiert, bis 1973 stieg dieser Anteil auf fast 50 %23. Auch die Tatsache, dass 1966 das sozialdemokratische Ideal einer „mündigen Gesellschaft“ viele Bürger bereits mehr ansprach als Visionen einer „formierten Gesellschaft“, signalisierte 21 Vgl.

Schöps, Spiegel-Affäre; Liehr, „Aktion“. Almond/Verba, Civic Culture.; Dies., Civic Culture Revisited. 23 Noelle/Neumann, Jahrbuch, 213.

22 Vgl.

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ihr wachsendes politisches Selbstbewusstsein24. In den politischen „Wende­ jahren“, die mit dem Regierungseintritt der SPD im Rahmen der Großen Koa­ lition von 1966 einsetzten, wurden die Demokratiedefizite der westdeutschen Gesellschaft immer vehementer thematisiert25. Insbesondere forderten die Kritiker, die parlamentarische Ordnung durch eine demokratische Verankerung in der Gesellschaft zu vertiefen. Von den Kirchen und dem Städtebau über die Arbeitsplätze, Schulen und Hochschulen bis hin zu den Erziehungsheimen und der Bundeswehr sollten den Betroffenen mehr Mitbestimmungsrechte eingeräumt werden – das war der Sinn der Losung „Mehr Demokratie wagen“ des sozialliberalen Regierungsprogramms von 1969. Wie weit die Demokratisierung der Gesellschaft gehen sollte, ob sie etwa, wie beispielsweise Jürgen Habermas meinte, auf die soziale Teilhabe ausgedehnt werden oder sogar in sozia­ listische Verhältnisse münden sollte, wie einem Teil  der Studentenbewegung vorschwebte, war Gegenstand der politischen Auseinandersetzung26. Konservative Gegner der Demokratisierung betrachteten die politische Teilhabe der „Masse“ als ein Grundübel der Moderne, liberale Kritiker sahen darin ein totalitäres Konzept, das die Regeln des Miteinanders in Staat und Gesellschaft unzulässig gleichsetzte und die Legitimität der staatlichen Institutionen unterlief. Diese Konfliktkonstellation beeinflusste die politische Kultur bis weit in die 1970er Jahre hinein. Dass die Demokratisierungsforderungen von links immer mehr Rückhalt in der Bevölkerung erhielten und mit der sozialliberalen Koalition schließlich politisch bestimmend zu werden schienen, provozierte Gegenreaktionen. Umgekehrt kamen auch in den außerparlamentarischen Bewegungen, die in den 1960er Jahren entstanden, radikale Strömungen auf, die das politische System umwälzen wollten. Aber wesentlich wichtiger war die Rolle der APO als Demokratisierungskatalysator für einen erheblichen Teil der Bundesbürger27. Die Öffnung der seit 1965 entstehenden Studentenbewegung zur Jugendkultur verlieh der politischen Revolte eine starke kulturelle Färbung, die sich aus den Leitbildern und Praktiken nonkonformistischer Jugendlicher ergab. Weil zwischen 1967 und 1969 die politischen Protestbewegungen ineinander griffen und mit einem kulturellen Umbruch verschmolzen, der Kunst, Musik, Literatur und Lebensweisen umfasste, ist es richtig, für diese Jahre von einer „68er-Bewegung“ zu sprechen, die die heterogenen, oftmals widersprüchlichen Elemente vereinte. Gerade die Kombination aus politischen Neuordnungsvorstellungen und dem Ideal eines anderen Lebens im Hier und Jetzt machte das 24 Metzler,

Ende, 91 f. Schönhoven, Wendejahre. 26 Vgl. Scheibe, Suche. 27 Vgl. Richter, Opposition; Thomas, Protest Movements.

25 Vgl.

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Faszinosum des Aufbruchs um 1968 aus und überstieg die Grenzen der Studentenbewegung. Die Verschränkung von Privatem und Politischem vermarktete im Zusammenspiel mit den Medien besonders gekonnt die Kommune 1, die sich am Jahreswechsel 1966/67 in West-Berlin bildete und getreu der Losung „Man muss die Gesellschaft ändern, um sich selbst ändern zu können. Man muss sich selbst ändern, um die Gesellschaft ändern zu können“ in den kommenden Monaten die politische Kultur der Stadt durch Happenings, Provokationen und einen unkonventionellen Alltag belebte28. Aus dem breiten Spektrum der Themen, an denen sich der 1967/68 sichtbare Politisierungsschub exemplifizieren ließe, sollen zwei näher beschrieben werden, die Berührungspunkte zu religiösen Motiven oder kirchlichem Engagement aufweisen. Deutliche Hinweise auf die Veränderung der politischen Kultur gab die Zahl der Kriegsdienstverweigerer, die sich seit 1965 vervielfachte. Schub­ artig nahm sie 1968 zu, als mit knapp 12.000 doppelt so viele junge Männer wie im Vorjahr den Dienst bei der Bundeswehr verweigerten, 1971 waren es 28.00029. Mit dem Anstieg der KDV-Zahlen traten ethisch-weltanschauliche und politische Motive für die Verweigerung in den Vordergrund, während die in den frühen 1960er Jahren vorherrschenden religiösen Beweggründe weniger häufig angegeben wurden. In der Zurückweisung soldatischer Sozialisation spiegelte sich nicht nur ein Zivilisierungsschub, sondern auch die politische Kritik am Vietnamkrieg und den Notstandsgesetzen. Allerdings verdeckten ethische und politische Begründungen vor dem Prüfungsausschuss häufig andere, vielleicht stärkere Motive30. Denn junge Männer lehnten nicht nur mehr und mehr das Erlernen von Kriegstechnik ab, sondern auch die Unterordnung unter eine militärische Disziplin. Sie hielten den 18-monatigen Militärdienst für Zeitvergeudung und zogen den Zivildienst vor, bei dem eine sinnvollere Arbeit zu verrichten war und Haartracht, Kleidung und ein „lässiger“ Habitus nicht allzu stark eingeschränkt wurden. Die Bundesregierung hielt 1968 fest, bei Ersatzdienstleistenden handelte es sich um „meist stark individualistisch geprägte Persönlichkeiten“, und eine Infratest-Studie kam 1971 zu dem Ergebnis, eine ablehnende Haltung gegenüber der „Schule der Nation“ nehme mit dem Bildungsgrad zu, weil sich Besucher der weiterführenden Schulen „überwiegend an Leitbildern aus der zivilen Gesellschaft“ orientierten31. 28 Fritz Teufel, Prophylaktische Notizen zur Selbstbezichtigung des Angeklagten Teufel, o. D., 7 (Archiv APO und soziale Bewegungen Berlin, Teufel). 29 Vgl. die Übersicht in: Verhandlungen des Deutschen Bundestags, 6.  Wahlperiode, Druck­sache VI/569 vom 23.3.1970, 1; Möhle/Rabe, Kriegsdienstverweigerer, 64. 30 Bernhard, Zivildienst, 169 ff. 31 Bundesminister für Familie und Jugend (Hg.): Zweiter Bericht über die Lage der Jugend, 174; Konkret 15 (1972), H. 2.

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Das zweite Beispiel: Seit 1959 engagierten sich die Kirchen mit wohltätigen Initiativen wie Brot für die Welt und Misereor beim Kampf gegen die Armut in der Dritten Welt. Ergänzt wurden sie bis Mitte der 1960er Jahre durch den Aufbau eines staatlichen Systems der Entwicklungshilfe, das die Verteilung der mittlerweile erheblichen Finanzmittel aus dem Steuertopf abwickelte32. Nicht zuletzt der Druck aus den Entwicklungsländern – im Rahmen der Vereinten Nationen oder in der 1961 gegründeten Bewegung der blockfreien Staaten – führte dazu, dass die wirtschaftliche Unterstützung der Dritten Welt weniger als taktische Investition und mehr als Ausgleich für ein historisch gewachsenes Abhängigkeitsverhältnis betrachtet wurde, bei dem die Erste Welt gut und die Dritte Welt schlecht abschnitt. Insbesondere Erhard Eppler (SPD), Bundes­ minister für wirtschaftliche Zusammenarbeit von 1968 bis 1974, nahm die Impulse der 68er-Bewegung auf – um das links von der SPD flottierende Potenzial zu gewinnen, aber auch, um mit seiner Hilfe eine schlagkräftige „Lobby für die Dritte Welt“ zu formen. Sie sollte den innenpolitischen Druck für eine nachhaltige, in erster Linie an den Interessen der Nehmerländer orientierten Entwicklungshilfe erhöhen. Die ambitionierten Neuordnungsinitiativen stießen allerdings nicht nur – wie auf anderen Gebieten auch – bei der CDU/CSU-­ Opposition auf Widerstand, die in den Jahren 1970 bis 1974 Epplers Etat stets ablehnte, sondern auch innerhalb der sozialliberalen Koalition. Politisiert und öffentlich angeprangert wurden die Verhältnisse in der Dritten Welt von der linken Studentenbewegung, die sich gegen bürgerliche Mildtätigkeit richtete, aber auch gegen eine Entwicklungshilfe, die in erster Linie den Interessen der Industrieländer diente33. Daneben entstanden Initiativen, die sich vom traditionellen Konzept der Wohltätigkeit ebenso absetzten wie von einer revolutionären Zielsetzung. Sie konnten breiter in die Gesellschaft wirken als die radikalen Gruppen, weil sie sich ernsthaft auf den Kampf um Reformen einließen. Viele entstanden im Umfeld der Kirchen, bei denen das Thema seit Mitte der 1960er Jahre eine zentrale Rolle spielte. So gründeten evangelische und katholische Jugendorganisationen 1970 die Aktion Dritte Welt Handel, die Verbesserungen durch faire Wirtschaftsbeziehungen erreichen wollte. Unabhängig von den Kirchen entstand schon 1968 in Freiburg die „Aktion Dritte Welt“, die sich für einen grundlegenden Richtungswechsel in der Entwicklungspolitik einsetzte und damit auch bundespolitisch Impulse gab. Nach Vorläufern während des Algerienkrieges erhielt die Dritte-Welt-Bewegung ihren eigentlichen Gründungsschub zwischen 1965 und 196934. Aktionen 32 Vgl.

Hein, Die Westdeutschen. Juchler, Studentenbewegungen. 34 Vgl. Balsen/Rössell, Solidarität; Olejniczak, Dritte-Welt-Bewegung; Seibert, Proteste.

33 Vgl.

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richteten sich nicht nur gegen die Kriegsführung der USA in Vietnam, sondern auch gegen afrikanische oder mittelöstliche Diktatoren wie Moishe Tschombé oder Schah Reza Pahlavi. Im Laufe der 1970er Jahre verstetigte und verbreiterte sich diese Bewegung. Es entstand eine Vielzahl von Organisationen und Zeitschriften, die zum Teil aufgrund unterschiedlicher politischer Observanz miteinander konkurrierten. Ein Schwerpunkt des Engagements wurde in den 70er Jahren das südliche Afrika. 1971/72 richteten sich Proteste gegen die Beteiligung deutscher Firmen am Bau des Cabora-Bassa-Staudamms in der portugiesischen Kolonie Mozambique, 1974 wurde die Anti-Apartheid-Bewegung gegründet, die sich für die Abschaffung der Rassentrennung in Namibia und Südafrika einsetzte. Dritte-Welt-Läden und Fair Trade  – 1975 entstand als Handelsorganisation die Gesellschaft zur Förderung der Partnerschaft mit der Dritten Welt (GEPA) – verankerten globales Problembewusstsein nicht nur im Alltag einer zahlenmäßig begrenzten Gruppe35. Boykottaktionen gegen Äpfel aus Chile oder Südfrüchte aus Südafrika signalisierten generell, dass sich dem Konsumenten auch politische Einflussmöglichkeiten eröffneten. Allerdings veränderten zunächst nur kleine Gruppen ihre Einstellung und ihr Verhalten. Insgesamt standen die Bundesbürger der Entwicklungspolitik noch Mitte der 1970er Jahre ambivalent gegenüber. In der Krise nach Sparmöglichkeiten befragt, fiel 60 % zu allererst dieser Bereich ein36. Erheblich befeuert wurde auch der Politisierungsschub der späten 1960er Jahre durch die heftigen Gegenreaktionen, die er auf der konservativen Seite auslöste. 1969 stellte Wilhelm Hennis in einem Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung fest, unter dem Schlagwort der „Demokratisierung“ seien in keinem anderen westlichen Land während der vorangegangenen fünf Jahre „gesellschaftliche Strukturen so in Bewegung geraten“ wie in der Bundes­ republik37. Tatsächlich hatten sich die Verhältnisse gerade auf diesem Gebiet besonders stark gewandelt, weil der Rückstand der Deutschen besonders groß gewesen war. Von Hennis skeptisch betrachtet, weil man nicht ohne Weiteres das demokratische Prinzip des Staates auf die Ebene der gesellschaftlichen Institutionen übertragen könne, war doch unverkennbar in der Bundesrepublik die Bereitschaft, politische, soziale und kulturelle Gegebenheiten in Frage zu stellen ebenso gewachsen wie das Selbstbewusstsein, sie verändern zu können. Zwischen 1959 und 1974 nahm der Anteil derer, die meinten, politisch Einfluss nehmen zu können, stärker zu als in Großbritannien und den USA –

35 Vgl.

Poiger, Imperialism. Die Westdeutschen, 251. 37 Hennis, „Demokratisierung“, 207 f.

36 Hein,

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insbesondere in der Jugend38. Diese Entwicklung setzte die Institutionen in Staat und Gesellschaft unter Druck, stellte aber auch die mentale Wandlungsfähigkeit der Bürger auf die Probe. Eine konservative Gegenmobilisierung richtete sich insbesondere gegen „1968“, dem alle als negativ erachteten Zeiterscheinungen kultureller wie politischer Natur zugerechnet wurden. Sie begann nicht erst auf dem Höhepunkt der Studentenbewegung, sondern setzte bereits einige Jahre früher ein und mündete auch in staatlichen Maßnahmen wie dem Radikalenerlass von 1972, der die Polarisierung wiederum vorantrieb.

4. Partizipatorische Demokratie und die teilweise Rücknahme des Demokratisierungsversprechens Ein „sozialdemokratisches Jahrzehnt“ wurden die 1970er Jahre entgegen aller Hoffnungen, die sich noch nach dem überwältigenden Wahlsieg Willy Brandts von 1972 mit ihm verbanden, nicht39. Während sich die schon in dieser Zeit sichtbare konservative „Tendenzwende“ in der Mitte der 1970er Jahre immer nachdrücklicher geltend machte, als das sozialdemokratische Modernisierungsprojekt zwischen Wirtschaftskrise und politischer Radikalisierung stecken blieb, entstand zugleich eine politische Strömung, die die Idee der Modernisierung an sich in Frage stellte. Vielleicht deutlicher noch als in der vorangegangenen Dekade trat in den 1970er Jahren neben der „Inhaltsseite“ der politischen Kultur ihre „Ausdrucksseite“ (Karl Rohe), ihr soziokultureller Aspekt hervor. Denn mit den Neuen sozialen Bewegungen und dem alternativen Milieu traten neue kollektive Akteure in Erscheinung, deren Meinungen, Einstellungen und Werte sich in prononciert eigenen sozialen Formen zur Geltung brachten und auf die Gesellschaft als Ganzes einwirkten. Politisch und soziokulturell umfassten Neue soziale Bewegungen und alternatives Milieu sehr viel größere Gruppen als sich dann in den frühen 1980er Jahren in der neuen Partei „Die Grünen“ organisieren sollten. Hier entstand eine neuartige Form der politischen Partizipation, die in verschiedenen soziokulturellen Milieus verankert war. Obwohl in der Verfassung nicht vorgesehen, wurden Umweltschutz- und Anti-AKW-Bewegung, Frauenbewegung und Friedensbewegung, aber auch die Schwulen- und Lesbenbewegung, Hausbesetzer und Autonome zu eigenständigen und schwergewichtigen Akteuren im politischen System der Bundesrepublik. Partizipation wurde weniger als Teilnahme an Auseinandersetzungen sich gegenüberstehender sozialer Klassen konzipiert, sondern individualistischer, als 38 Conradt, 39 Vgl.

Culture, 232. Faulenbach, Siebzigerjahre.

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kritisches Engagement des Einzelnen in überschaubaren Gruppen, die dann gegebenenfalls die Form einer umfassenderen „Bewegung“ annehmen konnten. Nicht mehr nur Mitgliedschaft in Parteien und Teilnahme an Wahlen, sondern eine Vielzahl von Methoden der direkten Demokratie – Demonstration, politisches Happening, Bürgerinitiative, Unterschriftensammlung, begrenzte Regelverletzung – fächerten die Möglichkeiten der politischen Teilhabe weit auf und wurden zu selbstverständlichen Optionen der Bürgerbeteiligung. Der gestiegene Partizipationsanspruch bei Diversifizierung der Partizipationsformen rückte das aus den großen sozialen Formationen scheinbar entlassene Individuum stärker in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit – nicht die „große Persönlichkeit“ aus Politik und Wirtschaft, sondern, die „kleinen Leute“ oder „einfachen Menschen“. Gleichzeitig wurden im alternativen Milieu die Möglichkeiten und Grenzen subjektzentrierter Kooperationsformen in der Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft durchgespielt – eine „Versuchsanordnung“, deren Resultate in der ganzen Gesellschaft verwertet wurden40. Die neuen Formen der Teilhabe bildeten sich im Konflikt vor allem mit dem Staat heraus, was zum Teil zu gewaltsamen Auseinandersetzungen führte, die das politische Klima erheblich belasteten. „Radikalenerlass“ und überzogene staatliche Reaktionen auf den Terrorismus markierten die Grenzen der Liberalisierung und führten zur Verhärtung der politischen Fronten41. Dass sich die Demokratie trotz Wirtschaftskrise und Rücknahme des Demokratisierungsversprechens fester in der politischen Kultur der Bundesrepublik verankert hat, ist nicht zuletzt auf die Neuen sozialen Bewegungen zurückzuführen, die die „Selbstgestaltungsfähigkeit“ (Roland Roth/Dieter Rucht) der Gesellschaft entscheidend verbesserten. Ein wesentlicher Faktor für die Ver­ ankerung der Demokratie im Alltag der Bundesbürger, wie sie in den 1970er Jahren in der zunehmenden politischen Beteiligung zu sehen ist, war der markant höhere Bildungsstand unter den nachwachsenden Altersgruppen. Martin und Sylvia Greiffenhagen haben diesen empirisch immer wieder nachweis­baren Zusammenhang festgehalten: „Je formal gebildeter jemand ist, desto größer ist sein politisches Interesse, desto besser sein Wissen über politische Vorgänge, desto größer sein Selbstvertrauen und sein Vertrauen zu anderen Menschen, desto größer auch seine Überzeugung, durch eigenes Handeln die Politik seines Landes mitgestalten zu können.“42 Unter generationellem Blickwinkel war die Entstehung einer zivilen politischen Kultur darauf zurückzuführen, dass ältere

40 Vgl.

Kraushaar, Sponti-Szene. Herbert, Liberalisierung. 42 Greiffenhagen, Kultur, 395.

41 Vgl.

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Bundesbürger ihre Einstellungen änderten, indem sie sich an den gewachsenen Partizipationsansprüchen der jungen Bildungsaufsteiger orientierten. Zwischen 1973 und 1976 ging das politische Interesse der Bundesbürger ­etwas zurück, stieg dann aber wieder an. Anfang 1983 erreichte der Anteil derer, die von sich selbst sagten, sie interessierten sich für Politik, einen Spitzenwert von 57 %43. Ebenso nahm die Wahlbeteiligung bei den Bundestagswahlen nach dem Rekordergebnis von 91,1 % im Jahre 1972 wieder leicht ab, bewegte sich aber bis in die frühen 80er Jahre nur wenige Prozentpunkte unterhalb dieses Wertes, um danach markant zurückzugehen. Dass das gestiegene politische Interesse nicht automatisch mit zunehmender Organisationsbereitschaft in der traditionellen Form einherging, insbesondere nicht im linken Spektrum, zeigten die Mitgliederbewegungen bei Parteien und Gewerkschaften. Während die Mitgliederzahl der CDU weiterhin stieg, hatte die SPD den Höhepunkt ihrer Anziehungskraft 1976 erreicht, danach besaßen immer weniger Bundesbürger das blaue Parteibuch. Auch der seit Ende der 1960er Jahre wieder gestiegene gewerkschaftliche Organisationsgrad nahm in der zweiten Hälfte der 70er Jahre erneut ab44. Die bedeutendste Innovation der politischen Kultur in diesem Jahrzehnt war eine neue Partizipationsbewegung von unten, die zunächst als „Bürgerinitiativbewegung“ bezeichnet wurde und sich später in ein klarer strukturiertes Spektrum Neuer sozialer Bewegungen ausdifferenzierte. „Neu“ waren diese sozialen Bewegungen im Gegensatz zur Arbeiterbewegung insofern, dass sie sich vor allem aus den jüngeren Segmenten der besser gebildeten Mittelschichten rekrutierten. Aus diesem Sozialfundus schöpften auch die Parteien, aber im Gegensatz zu ihnen und den Gewerkschaften waren sie nicht zentralistisch, sondern lokal und regional strukturiert, was Zugänglichkeit und unmittelbare Einflussnahme erleichterte. Sie agierten öffentlich, aber außerhalb der Parlamente, mit Unterschriftensammlungen, Demonstrationen, Blockaden und Besetzungen. Häufig verbanden sich in ihren Zielen radikaldemokratische Ideale mit postmaterialistischen Vorstellungen einer besseren Lebensqualität. Schon in den frühen 1970er Jahren waren ihre künftigen Schwerpunkte zu erkennen: Naturschutz, Emanzipation der Frauen und Gleichstellung der Geschlechter, Frieden, Solidarität mit der Dritten Welt, Bürger- und Menschenrechte, Wiederbelebung des urbanen Raums. Zumeist hatten sie Vorläufer mit zum Teil langer Geschichte, aber im Unterschied zu manchen früheren Bewegungen wurden sie nicht von Großorganisationen wie Gewerkschaften, Parteien, Kirchen oder überregionalen Komitees ins Leben gerufen und mobilisiert, sondern von unten her. Dass in ihnen auch Mitglieder derartiger 43 Noelle-Neumann, 44 Zahlen

Allensbacher Jahrbuch, 339. bei Ritter/Niehuss, Wahlen, 52 f und 75 f.

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­ rganisationen aktiv waren, stützt die Deutung, dass es sich bei den Neuen soO zialen Bewegungen weniger um eine Alternative zu den schon etablierten Formen der politischen Partizipation handelte, als um deren Erweiterung. Betrachtet man die Entwicklung in einem längeren zeitlichen Verlauf, dann wird deutlich, dass nach der Protestspitze um 1968 seit Mitte der 1970er Jahre die Zahl der Proteste wieder stark zunahm und im Hinblick auf die Teilnehmerzahl 1983/84 einen neuen Höhepunkt erreichte. Hier ragten einzelne Ereignisse wie die Großdemonstrationen der Friedensbewegung hervor, aber zur Hochzeit des politischen Protestes wurden die Jahre zwischen 1980 und 1984 vor allem, weil sich hier bei einer hohen Anzahl von Aktivitäten mehr Menschen betätigten als in jedem anderen Jahrfünft45. Damit bestätigte sich, was schon in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre sichtbar geworden war: Die Neuen sozialen Bewegungen hatten sich als politischer Faktor fest etabliert. Zwar gab es thematische Konjunkturen, aber gerade das gleichzeitige Auftreten der Bewegungen zwischen 1974 und 1984 muss als schubartiger Durchbruch be­wertet werden – zumal viele Menschen für unterschiedliche Themen mobi­lisierbar waren.

5. Fazit Auf die ersten 40 Jahre der Geschichte der Bundesrepublik geschaut, zeichnen sich also Wellenbewegungen der Politisierung ab, in denen sich Zeiten der Inku­bation – insbesondere die 1950er, aber in gewisser Weise auch die mittleren 70er Jahre – mit Schubphasen ablösten, die zunächst – in den frühen 1960er Jahren – noch durch Reformen in manchen Teilbereichen und durch eine intensivierte Diskussionskultur in Medien und Akademien gekennzeichnet waren. In den späten 1960er Jahren und noch erheblich gesteigert in den frühen 80er Jahren blieb es nicht mehr bei der diskursiven Intervention von Intellektuellen, sondern es kam zu einer erheblichen Mobilisierung der Bürger. Dabei stellen die 70er Jahre denjenigen Zeitabschnitt dar, in dem sich das Engagement zahlreicher Bürger auf einer Vielzahl gesellschaftlicher Felder verstetigte. Trotz der nicht zuletzt von staatlicher Seite und von den Medien vorangetriebenen Polarisierung insbesondere im Kontext der Terrorismusbekämpfung verfestigte sich die Überzeugung vom Wert einer partizipatorischen Demokratie in der Gesellschaft. Diese Verankerung wurde nicht nur in unterschiedlicher Weise von großen gesellschaftlichen Gruppen vorangetrieben, es hat sie auch selbst verändert. Dies gilt ebenso wie für Parteien und Gewerkschaften auch für die beiden großen Kirchen. 45 Neidhardt/Rucht,

Protestgeschichte, 37.

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Detlef Siegfried

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Siegfried Hermle

Ergebnisse der Diskussion

Angesichts der stark kulturgeschichtlichen Argumentation des Vortragenden wurde zunächst nach dem Gewicht der wirtschaftlichen Faktoren im Blick auf die Politisierung gefragt. Verwiesen wurde darauf, dass es der wirtschaftlichen „Knappheit“ in den 1950er Jahren geschuldet gewesen sei, dass die Menschen anderes zu tun hatten, als sich für Politik zu interessieren und die kritische Bewertung der „Idee der Modernisierung“ ab Mitte der 1970er Jahre könne im Zusammengang mit dem Ölpreis-Schock von 1973 gesehen werden. Siegfried nahm diesen Einwand auf. Häufig sei die Bundesrepublik als eine „Schön-Wetter-Demokratie“ bezeichnet worden, da die Loyalität der ­Menschen zur Demokratie in enger Beziehung zur wirtschaftlichen Lage gesehen wurde. Die Ängste vor einer Wirtschaftskrise hingen auch damit zusammen, dass befürchtet wurde, erst bei einem wirtschaftlichen Niedergang zeige sich, „wie stabil die Demokratiebereitschaft der Bürger“ tatsächlich sei. Ein wichtiger Faktor für die Entwicklung hin zu einer stärkeren Politisierung sei darin zu sehen, dass sich Ende der 1950er, Anfang der 1960er Jahren die „lebensgeschicht­lichen Freiräume“ ausdehnten: Beispielsweise machte es der verlängerte Jahresurlaub möglich, andere Teile der Welt kennenzulernen, und die Bildungsreform führte dazu, dass ein immer größerer Teil der Bevölkerung nicht mehr automatisch von 15 Jahren bis zur Rente in einem Betrieb arbeitete. Als These könne formuliert werden, dass „Konsum und Demokratisierung positiv miteinander verkoppelt“ seien. Während in den zeitgeschichtlichen Diskursen davon ausgegangen worden sei, „dass die Konsumgesellschaft zur Verdummung der Bürger“ führe, sei im Rückblick unübersehbar, dass der Wohlstand der Gesellschaft und die Partizipationsforderungen der Bürger ineinander gingen. Kritisch hinterfragt wurde sodann, ob eine angebliche „Wasserscheide 1973/ 74/75“ als historische Zäsur tatsächlich überzeugen könne. Häufig werde für die zweite Hälfte der 1970er Jahre ein Rückzug ins Private konstatiert; dem­ gegenüber sei jedoch festzuhalten, dass ein Moment der Individualisierung von Anfang an präsent gewesen sei. Es sei die Eigendynamik einer zwiespältigen Politi­sierung, dass sie einerseits auf die Veränderung von Gesellschaftsstrukturen und andererseits auf die eigene Befindlichkeit ziele; zudem habe das Alternativmilieu die Sorge um sich selbst als dezidiert politisch begriffen.

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Siegfried Hermle

Siegfried relativierte die gängige Sicht, dass es ’68 eine Politisierung und danach einen Rückzug in die Innerlichkeit gegeben habe. Einer der zentralen Gründungszusammenhänge von ’68 sei in der Gleichzeitigkeit zu sehen, die Gesellschaft und sich selbst zu verändern. Diese beiden Richtungen differenzierten sich zwar auseinander, aber sie wurden doch nicht vollkommen getrennt. So setzte die K-Gruppen-Szenerie auf die äußere Veränderung der Gesellschaft und ignorierte weitgehend innere Prozesse, während den Drogen- oder Musik-Subkulturen die politischen Dinge nicht so wichtig waren. Und doch sei eine Trennung auf die Dauer nicht durchzuhalten gewesen, weshalb die Prozesse dieser Gleichzeitigkeit, Trennung und Wiedervermischung von besonderem Interesse seien. Der Generationenfaktor stand im Mittelpunkt von zwei Rückmeldungen. Hinsichtlich der von Siegfried herausgestellten Schübe wurde zu bedenken gegeben, ob diese nicht ganz erheblich durch die Ablösung der alten durch die jungen Eliten bedingt gewesen seien  – beispielsweise könnte die konstatierte Wende 1974/75 weniger mit einem neuen Konservativismus zu tun haben, wohl aber damit, dass die Generation der Jungen zur etablierten Generation geworden sei. Zum anderen wurde darauf aufmerksam gemacht, dass der Reformdurchbruch im Zusammenhang mit den Erfahrungen gesehen werden könne, die die Generation der um 1945 Geborenen Anfang der 1960er Jahre mit dem Eichmann-Prozess in Israel und den Auschwitz-Prozessen in Frankfurt machte. Für diese jungen Menschen sei mit der Erkenntnis, dass die Eltern in den Holocaust involviert gewesen seien, ein fundamentaler Einschnitt verbunden gewesen. Der Referent wies darauf hin, dass bereits mit dem 1958 in Ulm durch­ geführten Einsatzgruppenprozess die NS-Vergangenheit breit öffentlich wahrgenommen wurde. Im Zusammenhang mit diesen Ereignissen wurde die sogenannte ’45-Generation aktiv, für die das Jahr 1945 mit dem Beginn der Demokratie und dem wirtschaftlichen Aufschwung das entscheidende Ereignis ihrer Biographie gewesen sei. Die öffentlich hervortretenden Intellektuellen wie Martin Walser (1927), Hans Magnus Enzensberger (1929), Günter Grass (1927) oder auch z. B. Helmut Kohl (1930) waren bei Kriegsende Jugendliche oder junge Erwachsene, die zwar durch das Dritte Reich berührt, aber nicht individuell als Täter verantwortlich waren. Davon zu unterscheiden seien jene Jahrgänge für die 1968 das kritische Ereignis in ihrer Biographie war. Diese beiden generationellen Schichten seien die Hauptakteure der darzustellenden Zeit gewesen. Von diesen müsse die als vollkommen antiquiert geltende „GroßelternGeneration“ unterschieden werden, für die der Name Adenauer stand. Letztere konnte der nachfolgenden – repräsentiert durch den Namen Kennedy – nicht standhalten; insoweit seien generationelle Fragen wirklich zentrale Fragen.

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Ergebnisse der Diskussion

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Auf eine Nachfrage zu Helmut Kohl und zur CDU verwies Siegfried darauf, dass die CDU mit dem Regierungsantritt der sozialliberalen Koalition 1969 vollkommen in der Defensive war. Doch habe sie viele Reformprojekte der 1970er Jahre mitgetragen und so eine innere Erneuerung möglich gemacht. Im Verbund mit der konservativen Tendenzwende gelang es ihr, ideologisches Terrain wieder gut zu machen. Insoweit seien Kontinuitäten konservativer Ideen zu erkennen und gleichzeitig eine innere Erneuerung der CDU festzuhalten, die im Folgenden einen enormen Mitgliederzuwachs und neuen Rückhalt bei den Wählern brachte.

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Foren der Politisierung des Protestantismus

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Antje Roggenkamp-Kaufmann

Zur Einführung

In Anknüpfung an die 2005 auf der Tutzinger Tagung „Der Protestantismus und die sozialen Bewegungen in den 1960er und 70er Jahren“ entwickelten programmatischen Aspekte stand in Hannover die Frage nach der Politisierung des Protestantismus im Zentrum. Vorträge und Diskussionen der ersten Sektion waren Orten gewidmet, die als Schnittstellen zwischen (evangelischer) Kirche und Gesellschaft gelten können. Diese Orte sind insofern von nicht un­ erheblicher Relevanz für die Gesamtdeutung der langen 1960er Jahre als Synode, Studierendengemeinde und Religionsunterricht das Wechselspiel von kirchlichem bzw. kirchlich organisiertem Protestantismus und bundesrepublikanischer Gesellschaft in den 1960er und 70er Jahren zur Sprache brachten. Dies Verhältnis lässt sich grundsätzlich von zwei verschiedenen Richtungen aus in den Blick nehmen. Zum einen impliziert der Ausdruck „Politisierung des Protestantismus“, dass der Protestantismus – im Sinne eines genitivus subjectivus – vielfältige Wirkungen auf die ihn umgebende Gesellschaft ausübt1. Zum anderen bringt die Formulierung aber auch zur Sprache, dass sich der Protestantismus selbst unter dem Eindruck der Politisierung der Gesellschaft verändert. Er erfährt also – im Sinne eines genitivus objectivus – seine Politisierung als Resultat einer gesellschaftlich bedingten Veränderung und erlebt seine Transformation. Detlef Pollack brachte diesen Zusammenhang bezogen auf die genuin kirchlichen Strukturen 2005 folgendermaßen zur Sprache: „Prozesse, in denen Kirche auf gesellschaftliche Veränderungen reagiert, [haben] einen höheren Stellenwert […] als Prozesse, in denen Kirche auf die Gesellschaft einwirkt.“2 Zwar gilt Kirche dabei grundsätzlich als lernende und insofern modernitätsfähige Institution, es schien ihr aber in den (späten) 1960er Jahren nicht gegeben zu sein, die Erscheinungen und Folgewirkungen des Modernisierungs­

1 Entsprechendes führt Wolf-Dieter Hauschild für das Volkskirchenkonzept im 19. Jahrhundert aus. Dieses habe die Funktion gehabt, der um sich greifenden Entkirchlichung ekklesiolo­ gische Reformvorstellungen entgegenzusetzen. Hauschild, Evangelische Kirche, 63 f. In der hier vornehmlich interessierenden Periode der 1960er Jahre sei es demgegenüber insbesondere in Folge der Ostdenkschrift zu Annäherungen kirchlich distanzierterer Protestanten an die EKD gekommen (ebd., 81 f ). 2 Lorentzen, Schlussdiskussion, 378.

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Antje Roggenkamp-Kaufmann

prozesses – wie etwa den Abwärtstrend in den Mitgliederzahlen – aufzuhalten oder gar zu stoppen3. Ähnliche Beobachtungen zum Verhältnis von Protestantismus und Gesellschaft lassen sich auch den kirchlichen Denkschriften entnehmen. Dabei ist allerdings darauf hinzuweisen, dass sich gerade bei einer genaueren Analyse der zentralen Denkschriften – der Ost-, aber auch der Demokratiedenkschrift der EKD – nicht nur das Verhältnis zwischen Kirche und der sie umgebenden Gesellschaft wandelt, sondern auch die Funktion von Kirche. Während die Ostdenkschrift von 1965 im Sinne eines genitivus subjectivus auf die von Willy Brandt vorangetriebene Ostpolitik einwirkte4, setzte die Demokratiedenkschrift von 1985 den Einfluss einer demokratischen Entwicklung der bundesrepublikanischen Gesellschaft sowie eine eigenständige Positionierung der evangelischen Kirche in der alten Bundesrepublik voraus5. In diesem Sinne kann die Ostdenkschrift als eine wichtige Etappe auf dem Weg hin zu einem protestantischen Demokratieverständnis bewertet werden, die durch die Einleitung eines faktischen Entspannungs-Prozesses die Abwehr von demokratiefeind­lichen Positionen allererst ermöglichte6. Vor diesem Hintergrund rücken Institutionen und Orte, also spezifische ­Foren des Protestantismus in den Fokus der Diskussion, deren Verhältnis zur Politisierung bislang wenig thematisiert und erforscht worden ist7. Im Einzelnen handelt es sich um die Württemberger Landessynode, deren Interagieren mit den im- und expliziten Elementen gesellschaftlicher Politisierung von K­arin Oehlmann vorgestellt wird. Vor allem das so genannte Urwahlprinzip, 3 Pollack, Protestantismus, 105. Während die moderne Religionssoziologie die Säkularisierungsfrage in den übergeordneten Kontext der sich beschleunigenden gesellschaftlichen Individualisierungs- und Wertbildungsprozesse einbindet (ebd., 117 f ), verhandelte die zeitgenössische Soziologie das Problem in den 1960er Jahren überwiegend als kirchensoziologisches Problem. Infolge einer Ausklammerung der Transzendenzfrage aus dem Dialog zwischen Theologie und Soziologie, reduziere sich die Religionssoziologie auf die Soziologie der expliziten Religion, d. h. auf die Säkularisierungsprozesse und schließlich auf die Gemeinde- oder Pfarrsoziologie (Bosse, Marx-WeberTroeltsch, 11; anders Rendtorff, Säkularisierungsproblematik. 4 Lepp, Tabu, 528 ff. 5 Huber, Demokratie, 384 f. 6 Jürgen Habermas bestätigt in seinem autobiographischen Rückblick den entsprechenden Einfluss der beiden Denkschriften als einen spezifisch protestantischen Beitrag zur Gesellschaft. Die Demokratie sei auf intermediäre Institutionen angewiesen, „die als Herzschrittmacher der Demokratie dienen.“ Habermas, Öffentlicher Raum, 24. Vgl. dazu Huber, Demokratie, 397. 7 Der Zusammenhang zwischen der noch gesamtdeutsch orientierten Kirchentagsbewegung der 1950er Jahre und dem Kirchentag als Neuer Sozialer Bewegung der 1980er Jahre ist von SchröterWittke und Palm gut dargestellt worden: die „Lücke“ in den 1960er und 70er Jahren wird besonders von Schröter-Wittke durch verschiedene, die Kirchentage politisierende Diskussionen erklärt (Schröter-Wittke, Kirchentag, 213).

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Zur Einführung

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aber auch die spezifische Art der Protokollierung lassen das Beispiel Würt­ temberg zu einer Folie für kontrastierende Beobachtungen werden. Die tendenziell basis­demokratisch organisierte Synode leistete politisierenden Tendenzen zunehmend Vorschub und gewann – etwa mit Blick auf die kirchliche Ämterverteilung – an Einfluss dazu. Dass sich diese Form der Politisierung bisweilen auch als Kampf verschiedener Lager ereignet, lassen nicht zuletzt die Aus­ einandersetzungen im Umfeld des Stuttgarter Kirchentages von 1969 deutlich werden. Stephan Linck, der die (kirchen-) politischen Hintergründe der Zwangsschließung der ESG in Hamburg untersucht, zeichnet die von ihm untersuchten Vorfälle in die kirchenpolitische Landschaft Norddeutschlands ein. Dabei weist er nach, dass die Veränderung der kirchlichen Strukturen – das gemeinsame Landeskirchenamt der neu gegründeten nordelbischen Kirche nahm 1977 seinen Sitz in Kiel  – zu einem technokratisch-distanzierteren Umgang der Beteiligten miteinander führte. Hinweise auf pastorale Handlungen oder seelsorgerliche Überlegungen finden sich in den entsprechenden Dokumenten zur Ekhofstraßenbesetzung, an der immerhin acht spätere RAF-Mitglieder beteiligt waren, kaum. Die aufgeregten Reaktionen beider Seiten werden ebenso nachgezeichnet, wie das politische Ringen um theologische Kernfragen und – unter­scheidungen. Thomas Schlag schließlich widmet sich dem weiten Thema des Religionsunterrichts. Dabei vollzieht er unterschwellig eine Neubestimmung bisheriger Forschungspositionen: Die Politisierung des Religionsunterrichts in den 1960er Jahren sei nicht so erfolgreich gewesen, wie es die Anhänger unterschied­licher kirchen- und theologiepolitischer Konzepte jahrzehntelang pro­pagieren zu können meinten8. Spezifische Trends einer sich säkularisierenden Gesellschaft verbanden sich mit politisierenden Konzepten. Gegen erinnerungs­kulturelle Trends des Faches zeichnet Schlag nach, dass der Religionsunterricht ein kompliziertes Verhältnis zu seiner Politisierung hatte, deren Folgen bis in die Gegenwart hinein reichen. Die gesellschaftspolitische Diskussion um die Stellung des Faches in der Schule hält bis heute an.

8 Während den einen diese Epoche als eine Achsenzeit deutscher Religionspädagogik gilt, ist sie für die anderen ein schlecht gemachter Versuch, dem Zeitgeist auf „unheilige Weise“ hinterher zu hechten. Vgl. dazu insgesamt die verschiedenen Bezugnahmen in Schlag/Schweitzer, Religionspädagogik.

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Antje Roggenkamp-Kaufmann

Literaturverzeichnis Bosse, Hans: Marx-Weber-Troeltsch. Religionssoziologie und marxistische Ideologie­ kritik. München 1970. Habermas, Jürgen: „Öffentlicher Raum und politische Öffentlichkeit“. In: Ders., Zwischen Naturalismus und Religion. Philosophische Aufsätze. Frankfurt am Main 2005, 15–26. Hauschild, Wolf-Dieter: Evangelische Kirche in der Bundesrepublik Deutschland zwischen 1961 und 1979. In: Hermle/Lepp/Oelke, Umbrüche, 51–90. Hermle, Siegfried/Lepp, Claudia/Oelke, Harry (Hg.): Umbrüche. Der deutsche Protestantismus und die sozialen Bewegungen in den 1960er und 70er Jahren (AKiZ B 47). Göttingen 2007. Huber, Wolfgang: Demokratie wagen. Der Protestantismus im politischen Wandel 1965–1985. In: Hermle/Lepp/Oelke, Umbrüche, 383–399. Lepp, Claudia: Tabu der Einheit? Die Ost-West-Gemeinschaft der evangelischen Christen und die deutsche Teilung (1945–1969) (AKiZ B 42). Göttingen 2005. Lorentzen, Tim (Bearbeiter): Schlussdiskussion mit Tagungsberichten von Hartmut Lehmann und Detlef Pollack. In: Hermle/Lepp/Oelke, Umbrüche, 353–379. Pollack, Detlef: Der Protestantismus in Deutschland in den 1960er und 70er Jahren. Forschungsprogrammatische Überlegungen. In: Mitteilungen der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte 24 (2006), 103–125. Rendtorff, Trutz: Zur Säkularisierungsproblematik. Über die Weiterentwicklung der Kirchensoziologie zur Religionssoziologie. In: Internationales Jahrbuch für Religionssoziologie II (1966), 51–72. Schlag, Thomas/Schweitzer, Friedrich: Religionspädagogik im 21. Jahrhundert (RPG 4). Gütersloh 2004. Schröter-Wittke, Harald: Der Deutsche Evangelische Kirchentag in den 1960er und 70er Jahren  – eine soziale Bewegung? In: Hermle/Lepp/Oelke, Umbrüche, 213–225.

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Karin Oehlmann

Die Synoden als Foren der Politisierung

Politisierung – dieser Begriff prägte nicht nur den Titel der Tagung, aus der dieser Sammelband hervorgegangen ist, er ist im Kontext der Forschung über die 1960er und 70er Jahre beinahe allgegenwärtig. Politisierung – das scheint das Merkmal jener Jahre, der Neuen Sozialen Bewegungen, insgesamt der NachWirtschaftswunder-Gesellschaft zu sein. Jedoch: eine wirkliche Definition des Begriffes ist weder a priori gegeben, noch in Literatur und Forschung oder auch nur in den Medien zu finden. Daher werden die folgenden Ausführungen mit dem kurzen Versuch einer De­ finition beginnen, um dann die Frage nach der Politisierung der Synoden in den 1960er Jahren am Beispiel der Württembergischen Landessynode zu unter­ suchen. Dabei wird in zwei Richtungen zu fragen sein; zum einen nach einer Politisierung in der Arbeitsweise und zum anderen nach einer Politisierung in den Themen, die behandelt werden.

1. Vorbemerkungen 1.1 Definition Die aktuelle Zeitgeschichtsdiskussion geht weithin davon aus, dass es während der 1960er und 70er Jahre in der Bundesrepublik zu einer stärkeren Politisierung der Bürger sowie von bis dahin vorpolitischen Räumen kam. Die Bereitschaft, für die Mitgestaltung der gesellschaftlichen Ordnung Verantwortung zu übernehmen, habe zugenommen, zugleich sei die Kritik an den institutionellen und sozialen Ordnungen der Bundesrepublik und der westlichen Gesellschaft gewachsen1. Ausgehend von dieser Einschätzung  – als vorläufiger Definition von Politisierung  – lassen sich zwei Kernbegriffspaare herausschälen: die gesellschaft­ liche Ordnung als Ansatz- und Zielpunkt der Veränderung, sowie Verantwortung bzw. Kritik als Movens und Modus der Veränderung. Politisierung wird also verstanden als eine Bewegung, in der breite bzw. zumindest namhafte, 1 So exemplarisch im Einladungsschreiben der Forschungsstelle für Kirchliche Zeitgeschichte vom 24. 5. 2008 zur Tagung.

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Karin Oehlmann

tragende Gruppen einer Gesellschaft ein Interesse am Gemeinwesen zu nehmen beginnen, das sie zuvor nicht genommen hatten. Dieses Interesse speist sich aus einem Gefühl der Verantwortung für das unter Umständen sogar global verstandene Gemeinwesen (vgl. das neu entstehende Interesse an der sogenan­nten Dritten Welt) – und ist somit im klassisch-platonischen Sinne des Wortes politisch, πολιτικός, nämlich um die wahre Staatskunst und um den besten bzw. gerechtesten Staat bemüht. Das neu erwachende Interesse der Bürgerinnen und Bürger geht dabei in aller Regel von einem Unbehagen an bzw. Unzufriedenheit mit den vorfindlichen Zuständen aus und wird motiviert durch das Gefühl, für eine Verbesserung der Zustände eintreten zu müssen, also verantwortlich zu sein und Verantwortung übernehmen zu wollen2. Aus diesen beiden Faktoren ergeben sich die beiden Stoßrichtungen der Politisie­rung. Das Streben nach dem gerechten Gemeinwesen ist das zentrale Thema dieser Bewegung – es fächert sich in der praktischen Umsetzung in zahlreiche Themen auf, von der Wiederbewaffnung bis zur Ostdenkschrift, von der Gleichstellung der Geschlechter bis zum fairen Umgang mit der sogenannten Dritten Welt. Indem man die in den Synoden verhandelten Themen untersucht, wird sich zeigen, inwieweit die Synoden als Foren der Politisierung dienten. Der Kritik an der vorhandenen Ordnung bzw. der Wille zur Verantwortung innerhalb dieser Ordnung wiederum macht die Synoden selbst zu Objekten der Politisierung, indem ihre Arbeitsweise zum Gegenstand der Diskussion und somit zum Gradmesser der Politisierung wird. Dabei ist nicht nur die Synode selbst – im Rahmen ihrer Sitzungen – sondern natürlich auch und erst recht ihr Vorraum zu beleuchten: wie läuft die Wahl ab? Wie interagiert die Synode mit der (kirchlichen) Gesellschaft, auf die sie bezogen ist, wie wird Öffentlichkeit wahrgenommen und gegebenenfalls genutzt? Gerade in diesen letzten Punkten wird sich zeigen, dass das Beispiel der Württembergischen Landessynode in besonders prägnanter Weise auf die aufgeworfenen Fragen zu antworten vermag.

2 Die bei der Tagung verschiedentlich vorgebrachte Sicht, nachdem unter anderem jegliche Rede von Gott im Bereich des Protestantismus als eminent politischer Akt zu betrachten sei, mag zwar für Extremsituationen durchaus richtig sein  – zu denken wäre hier z. B. an Barmen II. Für die Frage nach der Politisierung des (west-)deutschen Protestantismus in den 1960er und 70er Jahren erscheint mir diese überwiegend semantische Definition jedoch allzu sehr in die Beliebigkeit ab­ zugleiten und Gefahr zu laufen, auch das Banale „politisch“ zu nennen.

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Die Synoden als Foren der Politisierung

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1.2 Die Württembergische Landessynode als Beispiel für die Politisierung der Synoden Die Synode der Evangelischen Landeskirche in Württemberg zeichnet sich durch zwei Merkmale aus, die in der EKD einzigartig oder zumindest selten sind. Zum einen – das mag banal klingen, ist aber für eine präzise Forschung von kaum zu unterschätzender Bedeutung – liegen die gesamten Verhandlungen der Landessynode seit den 1950er Jahren als Wortprotokolle vor, vergleichbar den Protokollen der Landtage bzw. des Bundestags. Fast alle anderen Landeskirchen begnügen sich mit zum Teil  stark verkürzten Mitschriften oder Ergebnisprotokollen. Es leuchtet unmittelbar ein, dass nur auf der Grundlage von Wortprotokollen der Gang der Diskussion – bis hin zu gelegentlichen Zwischenrufen – oder etwa die Genese und häufige Modifikationen von Anträgen sinnvoll nachvollzogen werden kann. Das zweite, kirchenverfassungsrechtlich natürlich ungleich gewichtigere Alleinstellungsmerkmal der Württembergischen Landessynode ist, dass sie aus einer Urwahl hervorgeht, also direkt (und selbstverständlich frei und geheim) von den Kirchengliedern gewählt wird – im Gegensatz zu den anderen Glied­ kirchen der EKD, die viele ihrer Leitungsgremien durch die sogenannte Siebwahl bestimmen, bei der nicht nur das aktive, sondern auch – und das sollte man nicht vernachlässigen  – das passive Wahlrecht delegiert und somit ein­ geschränkt wird3. Dieses „kirchliche Rätesystem“4 entspricht zwar der reformierten Tradition, es ist jedoch unschwer zu erkennen, dass bei einer Urwahl andere Phänomene und Dynamiken und höchstwahrscheinlich auch andere Ergebnisse zu Stande kommen als bei jenem (polemisch formuliert) semi-clandestinen Prozess der Delegation aus den Pfarrgemeinderäten heraus. Ent­sprechend ist bei der durch Urwahl bestimmten Württembergischen Landes­synode sowohl mit einer stärkeren Anbindung an die Gemeindebasis zu rechnen als auch, da die Wahl naturgemäß starke Parallelen zu kommunalen bzw. staatlichen Wahlen hat, mit einer Angleichung oder zumindest Annäherung an die Vorgehens- und Arbeitsweisen im genuin politischen Raum – also wiederum ein guter Parameter für die Frage nach der Politisierung.



3 Vgl.

Barth, Leitung, 62. Kirchenverfassung, zit. bei Barth, ebd.

4 Rohn,

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2. Synode als Forum der Politisierung 2.1 Politisierung der Arbeitsweise In der Arbeitsweise der Württembergischen Landessynode ist am deutlichsten eine Politisierung im Sinne einer Übernahme von Strukturen und Methoden, wie sie sich im Staatswesen finden, zu beobachten. 2.1.1 Gruppierungen in der Landessynode Obwohl es in der 140-jährigen Geschichte der Synode fast immer eine gewisse Neigung zur Bildung von Gruppen gab – hier diejenigen, die dem libe­ ralen Bürgertum und der liberalen Theologie zuneigten, dort jene, die dem schwäbischen Pietismus entstammten – so bestand doch bis in die 1960er Jahre eine große Scheu, diese „Parteiungen“, σχίσματα (1. Kor. 1, 10 ff ), offensichtlich werden zu lassen. Noch 1948 hatte Theodor Dipper5, der Gründer der Evangelischen Bekenntnisgemeinschaft, in einer „Äusserung zur Arbeitsweise der Synode“ programmatisch formuliert: „Eine kirchliche Synode ist ­Synode und nicht Parlament: Über der Synode steht der Herr, der sie durch Wort und Geist in alle Wahrheit leitet.“ Der Synode sei es daher „verwehrt, sich […] parlamentarische[n] Majoritäten oder parlamentarische[n] Kompromisse[n] zu unterwerfen“.6 Die Tendenz zur Bildung von Richtungs-Gruppen negierte Dipper nicht, forderte aber: „Die Synode als solche nimmt keine Kenntnis vom Vorhandensein oder Nichtvorhandensein von Gesinnungsgemeinschaften. [… S]ie wacht darüber, dass ihre Arbeit sich in ihren geordneten Organen unter der Herrschaft des Wortes Gottes vollzieht und nicht in inoffizielle Gruppen abwandert.“7 Diese Position erwies sich auf Dauer weder als mehrheitsfähig noch als praktikabel. Der Umfang der zu erledigenden Arbeit – wie etwa der vor jeder Sitzung zu lesenden Unterlagen – nahm ständig zu und war, je länger je mehr, nur noch durch ein arbeitsteiliges System zu bewältigen. 1966, bei der Konstituierung der neu gewählten Synode, stellte Synodalpräsident Oskar Klumpp, Landrat von Tübingen, denn auch lapidar fest: „heute sind wir der Erörterung darüber, ob Gruppenbildungen stattfinden sollen und können, enthoben, weil die Gruppen gebildet sind. Soweit sie jedoch nicht effektiv gebildet sind, so sind sie so intensiv in Bildung begriffen, daß ein Zurück in dieser Beziehung wohl nicht mehr möglich ist.“8 Zunächst gab es drei Gruppen mit einigermaßen kla

5 Zu Theodor 6 Theodor

Dipper vgl. Haag, Dipper. Dipper, Äußerung zur Arbeitsweise der Landeskirchentages (LKA Stuttgart, A126

AR 125 III). 7 Ebd. 8 Verhandlungen der 7. Landessynode, 10. 6. 1966, 30.

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Die Synoden als Foren der Politisierung

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rem Profil: Bibel und Bekenntnis repräsentierte den Württembergischen Pietismus. Evangelium und Kirche bestand v. a. aus Pfarrern, die der von Theodor Dipper in der Zeit des Kirchenkampfes gegründeten und nach 1945 weiter bestehenden Evangelischen Bekenntnisgemeinschaft angehörten. Schließlich die Evangelische Erneuerung, die sich als progressivste Kraft in der Synode verstand9. Synodalpräsident Klumpp befürwortete die Gruppen als Maßnahme zur Arbeitserleichterung – nicht als „Organe der politischen Willensbildung“. Ihm schwebte vor, dass sich diese Gruppen je nach Thema neu formieren sollten – also nicht Gesinnungs-, sondern Arbeitsgruppen. Entsprechend gehöre es zum grundlegenden Charakter dieser Gruppen, dass sie „1. freiwillig, 2. offen, 3. durchlässig, 4. tolerant“10 seien. Zunächst gab es noch eine kleine Anzahl von Synodalen, die genau dies praktizieren wollten und sich daher keiner Gruppierung anschlossen. Allerdings entwickelten die sogenannten Gesprächskreise schnell eine solche Eigendynamik, dass bei allen Ausschüssen, Arbeitskreisen und Abordnungen fortan strikt auf den Gruppenproporz geachtet wurde. Die Nicht-Gruppierten waren hierbei ein „Problem“ und wurden daher zwei Jahre später ziemlich ultimativ aufgefordert, sich ihrerseits zu formieren und einen Sprecher zu wählen, oder in Zukunft „auf eine gemeinsame Vertretung und Beachtung als Gruppe“ zu verzichten11. So entstand die Gruppe IV, Offener Gesprächskreis genannt, die aber nur bis zum Beginn der 8. Landessynode existierte12. Die Vision arbeitsteiliger, aber nicht-ideologisierter Organisation erwies sich sehr schnell als utopisch. In den Auseinandersetzungen im Zuge der Vor­ bereitung des Kirchentages 1969 in Stuttgart zeigte sich, dass die Gruppen über eine relativ feste ideologische Plattform verfügten und klar gegeneinander abgegrenzt waren. 1971, im Vorfeld der Wahl zur 8. Landessynode, kam es denn auch zu einem eindeutigen Lagerwahlkampf; die Wahlentscheidung, die sich bis dato vorwiegend an den Kandidaten-Persönlichkeiten orientiert hatte, wurde seit damals mehr und mehr zur Entscheidung für eine bestimmte kirchenpolitische Richtung. Heute ist die Arbeit der Landessynode stark durch die fest etablierten Gruppen strukturiert13. Mit der Forderung der Offenen Kirche, heute sozusagen der

9 Vgl.

Freiwilligkeit, 5. 31. 11 Verhandlungen der 7. Landessynode, 15. 11. 1968, 670. 12 Vgl. Verhandlungen der 8. Landessynode, 26. 10. 1972, 230 f. 13 Ein eindrucksvolles Beispiel für die Entwicklung eines ausgeprägten Blockdenkens bieten die Wahlen des Landesbischofs: Ab den 1970er Jahren sind sie zunehmend durch die gegenseitige Blockade der Gesprächskreise geprägt. Die Wahl von 1993 bildete dabei mit 17 Wahlgängen den unrühmlichen Höhepunkt. Vgl. Hermle/Oehlmann, Gruppen. 10 Ebd.,

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linke Flügel des kirchenpolitischen Spektrums in Württemberg, nach Einführung einer klaren Fraktionsstruktur in der Synode (samt Geschäftsführer und Fraktionsbüro)14, kann die Übernahme der Arbeitsweise aus dem profan-parlamentarischen in den kirchlich-synodalen Bereich in diesem Aspekt als abgeschlossen betrachtet werden. Wiewohl diese Strukturveränderung bislang keinen Niederschlag in der Kirchenverfassung gefunden hat, ist sie sowohl in der praktischen Arbeit der Kirchenleitung als auch in der (Außen-)Wahrnehmung der Landeskirche fest verankert. So sind beispielsweise Personalentscheidungen in der Landeskirche, zumindest bei hohen oder herausgehobenen Posten, oft vom Gruppenproporz diktiert. Ob diese Politisierung einer kirchlichen Synode angemessen, sachgerecht und dienlich ist, ist eine andere Frage. 2.1.2 Öffentlichkeit An einer weiteren Stelle vollzog sich in den 1960er Jahren eine interessante Veränderung, die wohl ebenfalls als Politisierung der Synode und ihrer Mitglieder, als Wille zu Verantwortung seitens der Bürger und zu Transparenz seitens der Institutionen gedeutet werden kann: in der Wahrnehmung der Öffentlichkeit. Dabei ist meines Erachtens zu unterscheiden zwischen a) der Wahrnehmung der Öffentlichkeit und b) der Wahrnehmung durch die Öffentlichkeit. Der erste Aspekt wird am Ablauf von zwei ganz unterschiedlich verlaufenen Bischofswahlen zu demonstrieren sein, der zweite an zwei Fällen von abweichender Lehrmeinung. 1948, nachdem Bischof Theophil Wurm 80jährig in Ruhestand gegangen war, tagte das Bischofswahlgremium (damals bestehend aus den Synodalen und den Mitgliedern des Oberkirchenrats) hinter verschlossenen Türen15. Offensichtlich hatten sich die Wortführer der verschiedenen Flügel schon zuvor Gedanken über geeignete und wünschenswerte Nachfolger gemacht und diese auch kontaktiert. Es ergab sich, dass von den beiden aussichtsreichsten Kandidaten, Martin Haug und Karl Hartenstein, letzterer das Bischofsamt für sich nicht wünschte und energisch Haug unterstützte. Die Anhänger Hartensteins – zumeist aus dem pietistischen Lager stammend – unterwarfen sich diesem Wunsch und Martin Haug wurde mit großer Mehrheit gewählt. Der gesamte Prozess  – die Suche nach geeigneten Kandidaten, ihre Vorstellung vor dem Wahlgremium, die anschließende Personaldebatte sowie auch die genauen 14 So beispielsweise der Ehrenvorsitzende der Offenen Kirche, Fritz Röhm, der in einem Leserbrief an das Evangelische Gemeindeblatt für Württemberg „Fraktionen“ als schon längst gegeben sieht und deren Verankerung in der Kirchenverfassung fordert. Vgl. http://www.offenekirche. de/?select=2&sub=0&id=222 (13. 5. 2009). 15 Für den gesamten Abschnitt vgl. Wahl des Kirchenpräsidenten 1948 (LKA Stuttgart), 3.

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Abstimmungsergebnisse  – blieben strikt nicht-öffentlich. In den offiziellen Synodal­protokollen sowie in der kirchlichen Presse findet sich nur das Ergebnis in Gestalt der öffentlichen Präsentation des neuen Bischofs16. Die nächste Bischofswahl 14 Jahre später, 1962, verlief nach genau demselben Muster17. 1969 aber änderte sich das Vorgehen; zwar hatten sich die „Nominierten“ den Synodalen in gewohnter Weise am Vorabend des Wahltags im geschlossenen Kreis vorgestellt. Zu Beginn der nun komplett öffentlichen Wahlsitzung aber bat der Synodalpräsident die Nominierten, sich nochmals für die Öffentlichkeit vorzustellen, um damit dem „berechtigten Wunsch nachzu­kommen, daß die Synode von sich aus die Nominierten einer weiteren Öffentlichkeit präsentiert.“18 Offensichtlich war mittlerweile die „Öffentlichkeit“ im Bewusstsein der Synodalen doch insoweit präsent, dass man sie als Größe mit eigenen „berechtigten“ Wünschen wahrnahm und diesen – wenn auch noch in relativ engen Grenzen  – nachzukommen bereit war. Wiederum eine klare Veränderung der politischen Sitten im Raum der Kirche bzw. eine Angleichung an den profanen Bereich. Inwieweit aber war diese Öffentlichkeit an den kirchlichen Themen überhaupt interessiert? Handelte es sich um eine innerkirchliche Öffentlichkeit oder fanden diese Themen auch das Interesse einer weiteren, nicht-kirchengebundenen Öffentlichkeit? An zwei besonders markanten Fällen wird dies zu ­zeigen sein. 1951 verabschiedete die Landessynode eine sogenannte Lehrzuchtordnung. In diesem Gesetz wurde festgelegt, was „die unantastbare Grundlage der Kirche“19 und somit ihrer Verkündigung sei, sowie, als Konsequenz, was zu geschehen habe, sollte ein Pfarrer in seiner Predigttätigkeit von dieser Grundlage abweichen. Hintergrund dieser Gesetzgebung waren die Erfahrungen der Nazizeit. Gegenüber den offensichtlichen Irrlehren der Deutschen Christen war die Kirchenleitung machtlos; sie hatte keine Handhabe, Pfarrer aufgrund ihrer Verkündigung zu maßregeln. Konkreter Anlass für die Verabschiedung der Lehrzuchtordnung jedoch war der Fall Baumann, um den es hier gehen soll. Richard Baumann (1899–1997), seit 1922 Pfarrer der Württembergischen Landeskirche20, veröffentlichte 1946 eine Broschüre mit dem Titel „Herr, bist 16 Verhandlungen

des 4. Landeskirchentags, 3. 5. 1949, 345–352.

17 Niederschrift über die Wahl des Kirchenpräsidenten [Landesbischofs] am Montag, den 26. Fe-

bruar 1962 (LKA Stuttgart), 4 bzw. Verhandlungen der 6. Evangelischen Landessynode, 26. 2. 1962, 327. 18 Verhandlungen der 7. Landessynode, 9. 6. 1969, 820. 19 Lehrzuchtordnung der Evangelischen Landeskirche in Württemberg, § 1. Zit. nach Baumann, Lehrprozeß, 229. 20 Darstellung nach Baumann, Lehrprozeß.

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Du es? Versuch einer Antwort auf die Papstrede vom 2. Juni 1945“, in der er den Stadtpunkt vertrat, Petrusamt und Papstprimat seien in Matthäus 16 gültig begründet – es handele sich bei dem „hoc est Petrus“-Zitat also nicht um eine nur auf den Jünger Petrus bezogene Aussage oder gar nur um sogenannte Gemeindebildung – und entsprechend auch von den Protestanten anzuerkennen. Diese Überzeugung, zu der Baumann in den vorangegangenen zwanzig Jahren sukzessive gekommen war und die vor allem auf Ökumene und Überwindung der Kirchentrennung abzielte, vertrat Baumann von da an in Wort und Schrift vehement. Gut lutherisch wollte er sich nur durch Gegenargumente aus der Schrift widerlegen lassen. Die Kirchenleitung reagierte zunächst mit Gesprächen, Rückfragen, Bitten um Stellungnahme, Präzisierung und Reflexion, holte Gutachten ein und visitierte den Pfarrer. Da – erwartungsgemäß – weder die Kirchenleitung von Baumanns Ansichten, noch Baumann von der Haltung der Kirchenleitung zu überzeugen war, wurde letzterer 1947 zunächst beurlaubt, dann in den Wartestand versetzt. Eine solide Rechtsgrundlage für diesen Schritt bestand jedoch nicht21. Diese wurde mit dem oben genanntem Gesetz geschaffen. Entsprechend der nun vorgegebenen Verfahrensordnung wurde ein Spruchkammerverfahren gegen Baumann eingeleitet; am 4.  September 1946 erging der Entscheid, dass Baumann, da er den Boden des Evangeliums nach reformatorischer Lehre verlassen habe, aus dem Pfarrdienst endgültig zu entlassen sei und seine beamtenrechtlichen Ansprüche sowie die Rechte der Ordination verliere. Der ganze, zumal in seiner Endphase in den 1950er Jahren doch einigermaßen spektakuläre Fall zeitigte nach meinen Recherchen annähernd keinen Widerhall in Presse und Öffentlichkeit. Laut Baumanns eigener Aussage war es lediglich das Urteil, das „in die evangelisch-kirchliche Presse drang“22; die allgemeine Presse und Öffentlichkeit war an einem theologischen Lehrstreit offensichtlich zu dieser Zeit nicht interessiert23. Erst 1961 analysierte der 21 Wie schon im Dritten Reich wurde in solchen Fällen die Entfernung eines Pfarrers aus seiner Gemeinde i. d. R. mit § 57 des Pfarrergesetzes begründet, wonach ein Pfarrer in den Wartestand versetzt werden kann, „wenn seine Stellung in der Gemeinde oder in einem sonstigen Arbeitsbereich unhaltbar geworden ist und ein gedeihliches Wirken in einer anderen Gemeinde oder in einem anderen Arbeitsbereich zunächst nicht erwartet werden kann oder die Versetzung auf eine andere Stelle aus anderen Gründen nicht möglich erscheint“. In: Das Recht. 22 Baumann, Lehrprozeß, 7. 23 Im Gegensatz zum Lehrstreit um Abendmahl und weiblichen Zyklus, wie er 1990 bis 1993 unter reger Anteilnahme der kirchlichen wie weltlichen Presse um die Pfarrerin Jutta Voss und ihr Buch „Das Schwarzmondtabu“ ausgetragen wurde. Dieses zweite Lehrzuchtverfahren in der Württembergischen Landeskirche wurde nicht zu Ende geführt, da Voss auf eigenen Wunsch aus dem Dienst der Landeskirche ausschied. Vgl. beispielsweise Obermüller, Autonomie; oder Lächele, Welt, 180.

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Kirchenrechtler Ekkehard Kaufmann das Verfahren24 und einige Jahre nach Baumanns Tod 1997 findet sich in der erzkatholischen Zeitschrift „Der Fels“ ein längerer und natürlich entsprechend gefärbter Aufsatz über Leben und Werk des zwischenzeitlich zum Katholizismus Konvertierten25. Ganz anders verhielt sich die Presse zwei Jahrzehnte später im Fall der jungen Tübinger Theologin Regula Rothschuh26. Diese hatte im Frühjahr 1969 zwar das Examen insgesamt bestanden, jedoch rief ihre Prüfungspredigt Zweifel an ihrer Eignung zum Pfarrdienst, konkret an ihrer Stellung zu Schrift und Bekenntnis hervor27. Die Predigt war – ganz im Stil der Zeit – eher ein sozial­ pädagogisches und gesellschaftskritisches Plädoyer als Auslegung eines Bibeltextes. Verkündigung des Evangeliums war für Rothschuh dem Tun des Guten strikt unterzuordnen. Da ein solches Prinzip mit dem Verkündigungsauftrag eines Pfarrers kaum vereinbar ist, Rothschuh aber auch nach mehreren Gesprächen mit dem Oberkirchenrat nicht zu einer Revision ihrer Ansichten bereit war, verweigerte die Landeskirche schließlich die Aufnahme der Kandidatin ins Vikariat. Die Presse wurde zunächst von Regula Rothschuhs Ehemann Michael eingeschaltet – schon dies ein gänzlich neues, seit jener Zeit aber durchaus gängiges Verfahren – wohl, um durch die Öffentlichkeit Druck zu erzeugen. Michael Rothschuh gab die Predigt seiner Frau sowie weitere Informationen an die Stuttgarter Nachrichten, die diese auch abdruckten28. Nun reagierte auch der Oberkirchenrat mit (zunächst nur innerkirchlichen) öffentlichen Stellungnahmen, schließlich mit Pressekonferenzen und einer Debatte des Vorfalls in der Synode29. Die kirchliche Presse verfolgte diese über mehrere Monate andauernde Auseinandersetzung je nach Standpunkt neutral berichtend bis stark wertend30. Bemerkenswerter aber ist die Aufmerksamkeit, die der „Fall Rothschuh“ in der allgemeinen und gar überregionalen Presse fand. So berichtete nicht nur das Schwäbische Tagblatt31 aus Tübingen, sondern auch das Hamburger Abendblatt32,

24 Kaufmann,

Glaube. Einswerden, 44–46. 26 In wie weit die Faktoren „jung“ und „Frau“ für das Medienecho eine Rolle spielten, kann nur gemutmaßt werden. 27 Für die Darstellung vgl. Ehmer, Rothschuh, 227–283. 28 Vgl. Erlaß des Oberkirchenrats vom 28. 2. 1969. In: Ehmer, Rothschuh, 241. 29 Vgl. Ehmer, Rothschuh, 241, 244–247; Verhandlungen der 7. Landessynode, 24. 3. 1969, 728–743. 30 Evangelisches Gemeindeblatt für Württemberg, 16. 3. 1969, 6. 4. 1969; 17. 4. 1969; oder Braun, Vorgänge. 31 19. 5. 1969, vgl. Ehmer, Rothschuh, 278–280. 32 Vgl. Regula Rothschuh, 10. 25 Froitzheim,

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das Deutsche Allgemeine Sonntagsblatt33 und Die Zeit34. Und es blieb nicht bei den Printmedien. In mehreren Sendungen griff der Hörfunk des Süddeutschen Rundfunks35 das Thema auf und schließlich nahm sich sogar die ARDSendung „Monitor“ der von den „Kirchenbossen“36 gemaßregelten Theologin an. Die junge Frau mit ihrer kirchenkritischen und sozialpädagogisch auf­ geladenen Examenspredigt traf offenbar den Ton der Zeit – und dass sie von den alten Männern der Kirchenleitung dafür scheinbar abgestraft wurde, war für die mittlerweile skandalhungrige Öffentlichkeit interessant. War in den ersten beiden Nachkriegsjahrzehnten das Interesse der Öffentlichkeit an kirchlichen Themen wie auch das Interesse der kirchlichen Institutionen an der Öffentlichkeit noch recht beschränkt gewesen, so zeigen sich am Beispiel von Regula Rothschuh bzw. der Bischofswahl 1969, dass einerseits die innerkirchliche wie auch allgemein-gesellschaftliche Öffentlichkeit nun ein verstärktes Interesse an den Vorgängen in der Kirche und um die Kirche nahm. Dabei berichtete die Presse teilweise neutral, teilweise aber auch bewusst parteilich oder gar skandalisierend. Die Kirchenleitung zeigte sich bemüht, dem gewachsenen Interesse gerecht zu werden. Einerseits stellte sie Öffentlichkeit her (etwa durch Zulassung der Öffentlichkeit zu Synodalsitzungen, durch Pressekonferenzen), andererseits professionalisierte sie ihren Umgang mit Öffentlichkeit und Presse beispielsweise durch die Gründung einer eigenen Pressestelle 196837. 2.2 Politisierung in den Themen Anlässlich des 60. Jubiläums des Grundgesetzes wurde im Mai 2009 allerorten Rückschau gehalten, was die Republik in diesem Zeitraum bewegt hat. Um zu prüfen, inwieweit Themen der Politik Einzug in die Synoden hielten, orientiert sich vorliegender Beitrag an den zahlreichen Ereignis-Kanones, die in den darauf folgenden Monaten veröffentlicht worden sind; exemplarisch werden die 1960er Jahre aus dem Ereignisüberblick der ZEIT überprüft38. Welche dieser 33 6. 4. 1969,

vgl. Ehmer, Rothschuh, 274–277. Lang, Fruchtlose Kirche, 19. 35 SDR 1, 9. 3. 1969, 8.45–9.00 Tonbandnachschrift von M. Rothschuh, vgl. Ehmer, Rotschuh, 244–247 bzw. hektografiertes Protokoll „Nur zum internen Gebrauch, Protokoll von Hörern der Kirchenfunksendung des SDR vom 9. März 1969“ im Besitz der Verfasserin. SDR 1, 30. 3. 1969, 8.45–9.00: Orientierung. Berichte und Kommentare aus der Christenheit. Kopiertes Manuskript im Besitz der Verfasserin. 36 ARD 24. 3. 1969, zit. n. Ehmer, Rothschuh, 261–264, 261. 37 Auskunft von Gabriele Pflüger, Pressestelle der Evangelischen Landeskirche in Württemberg. E-mail an die Verf. vom 9. 7. 2009. 38 Mauerbau (13. 8. 1961), Spiegel-Affäre (Oktober 1962), deutsch-französischer Freundschaftsvertrag (22. 1. 1963), Besuch Präsident John F. Kennedys in Berlin (26. 6. 1963), Wechsel im Kanzler 34 Vgl.

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Themen finden sich in den Verhandlungen der Württembergischen Landes­ synode wieder und wie wird, wenn überhaupt, auf sie Bezug genommen? Das Ergebnis ist überraschend. Von den zwölf aufgelisteten Ereignissen, vom Mauerbau über die Auschwitzprozesse bis zu den Notstandsgesetzen findet nur ein einziges direkte Aufmerksamkeit in der Württembergischen Landessynode, und auch das nur in einer sehr spezifischen Art und Weise: der Mauerbau. Der Bau der Berliner Mauer findet vor allem im Bericht des Landesbischofs für das Jahr 1960/61 seinen Niederschlag – im Kontext der Situation der EKD. Bischof Haug berichtete von den Schwierigkeiten der 3.  EKD-Synode, die im Februar 1961 in Berlin stattgefunden hatte und bei der zahlreichen West-Delegierten die Einreise nach Berlin-Ost verwehrt und so ein gemeinsamer Gottesdienst verhindert worden war. Auch die Wahl eines Nachfolgers für den scheidenden Ratsvorsitzenden Otto Dibelius hatte ganz unter der Frage der Einheit der EKD gestanden  – mit der Folge, dass der Berliner Präses Kurt Scharf zum neuen Vorsitzenden gewählt wurde39, dem dann allerdings am 31. August 1961, bei der Rückkehr von einer Ratssitzung, die Wiedereinreise nach BerlinOst verwehrt wurde. Für Haug ergab sich als „Antwort der Kirche auf solche Gewalttat und solches Unrecht“, die Kirche solle die „Last aus Gottes Hand annehmen und tragen in Geduld“, das Unrecht klar bezeugen „und die Wiederherstellung des Rechts fordern“ sowie durch Gebet und praktische Liebestätigkeit die Verbindung zu den Christen in der DDR aufrecht erhalten und diese unterstützen.40 Mit einem Wort: eine typisch christliche-kirchliche Antwort auf ein politisches Phänomen. amt von Konrad Adenauer zu Ludwig Erhard (15. 10. 1965), Auschwitzprozess (19. 8. 1965 – Urteilsverkündung), Große Koalition unter Kurt Georg Kiesinger (30. 11. 1966), Tod des Studenten Benno Ohnesorg (2. 7. 1967), Gründung der Europäischen Gemeinschaft (1. 7. 1967), Attentat auf Rudi Dutschke und die anschließenden Proteste (11.–17. 4. 1968), Verabschiedung der Notstandsgesetze (30. 5. 1968), Regierungswechsel zur sozialliberalen Koalition unter Willy Brandt (28. 8. 1969) (Dossier – extra, 15–23). 39 Anstatt des eigentlich vorgesehenen Hanns Lilje: „Die Synode war der Meinung, daß die Rücksicht auf die Erhaltung der schwer bedrohten Einheit der Evangelischen Kirche in Deutschland und auf die schwierige Lage der Gliedkirchen in der Deutschen Demokratischen Republik an erster Stelle der Überlegungen zu stehen habe. Sie verzichtete deshalb – nicht leichten Herzens – darauf, dem bisherigen stellvertretenden Vorsitzenden, dem Landesbischof von Hannover D. Hanns Lilje, den Vorsitz im neuen Rat zu übertragen und stellte in Präses D. Kurt Scharf einen Mann aus dem Osten an die Spitze der EKD, einen Mann, der sich sowohl im Kirchenkampf der Hitlerzeit wie auch in der Begegnung der Kirche mit dem kommunistischen Regime in Ostberlin und in der Zone als eine wahrhaft geistliche Kraft, als standfester, klarer und brüderlicher, auch im Umgang mit den Kommunisten offener und bei aller Unbeugsamkeit im Glauben sehr friedfertiger ‚Präses‘ bewährt hatte.“ Verhandlungen der 6. Landessynode, 1. 10. 1961, 208–219, Zitat: 211 f. 40 Ebd., 212. Ganz ähnlich hatte sich auch Synodalpräsident Hans Authenriet bei der Eröffnung geäußert, ebd. 208.

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Interessant ist, dass in der Aussprache zum Bischofsbericht wesentlich weniger irenische Töne angeschlagen wurden. Hermann Diem beispielsweise, Professor an der Universität Tübingen, blickte auf die zurückliegenden 15 Jahre und analysierte das Verhältnis von Kirche und Staat folgendermaßen: In Treysa 1945 habe man erklärt, „daß die Kirche und ihre Diener sich zwar nicht selbst in die politische Arena begeben sollten, aber daß man eine aus Evangelischen und Katholiken zusammengesetzte ‚christliche‘ Partei unterstützen solle, die für ‚christliche Grundsätze‘ in der Politik zu sorgen habe. Das war der Anfang der CDU.“41 Daraus resultierte nach Diems Meinung, dass – mit der CDU als Regierungspartei – die Kirche in den Sog der westlichen Bündnispolitik hineingeraten sei. „Als die Bundesrepublik im Zuge ihrer westlichen Bündnispolitik die Wiederaufrüstung einführte, da hat die Kirche, die sich vorher gegen jede Wiederaufrüstung im zweigeteilten Deutschland erklärt hatte, Schritt für Schritt einfach nachgezogen. Es kam der Militärseelsorgevertrag, die Zustimmung zur Atomrüstung usw.“ Diem verließ bzw. kritisierte Haugs binnenkirchliche Sicht, thematisierte den Anteil der Kirche an Ordnung und Lenkung des Gemeinwesens und behaftete sie bei ihrer Verantwortung – einerseits für dieses Gemeinwesen, andererseits und a priori aber für ihr kirchliches Proprium: „Wir haben keine Ideologie zu vertreten. Wir stehen in keiner politischen, sozialen und weltanschaulichen Front, sondern wir leben allein davon, daß Jesus Christus auferstanden ist und lebt.“42 Offensichtlich finden sich also die zentralen Themen des Jahres 1961 und ihr Hintergrund (Westeinbindung der Bundesrepublik, Antikommunismus) in durchaus kontroversen Voten in den Verhandlungen der Landessynode wieder. Dabei vertrat – zumindest im vorliegenden Fall – der Oberkirchenrat eine gänzlich binnenkirchliche Sicht- und Handlungsweise, während verschiedene Synodale, Theologen wie Laien, deutlich aus dem (staats-)politischen Bereich heraus und auf ihn hin argumentierten. Die restlichen elf exemplarisch überprüften Ereignisse der „Großen Politik“ zeigten keinerlei Widerhall in der Synode  – weder die Auschwitzprozesse43 41 Ebd.,

238. 239. 43 Unter dem Stichwort „Judentum“ findet sich in den Protokollen 1966–1971 lediglich ein sehr allgemeiner und augenscheinlich nicht weiter verfolgter Antrag, sich um ein besseres Verhältnis vom „Kirche und Israel“ zu bemühen, v. a. „Informationen über das Wesen des Judentums, das deutsche Judentum und … Israel“, „eine intensive Beschäftigung mit dem Alten Testament [… sowie] mit der Geschichte der Juden“. Interessanterweise forderte die Antragstellerin Dr. Anne-Lore Schmid schon damals, den Begriff „Judenmission“ durch „Gespräche mit Israel“ zu ersetzen – eine sicherlich nicht nur linguistisch gemeinte Forderung. Verhandlungen der 7.  Landessynode, 8. 11. 1966, 94. 42 Ebd.,

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noch der Tod des Studenten Benno Ohnesorg und das, obwohl die Synode am Tag nach den fatalen Ereignissen rund um den Schah-Besuch in Berlin zu ihrer Sommersitzung 1967 zusammen trat. Der gesamte Komplex der Studentenunruhen findet sich zunächst lediglich im Rahmen der Haushaltplanberatungen über den Etat der Studentenseelsorge in einer Bemerkung über die „große[n] Schwierigkeiten“ heute in den Universitätsstädten wieder44. 1970 dann – kennzeichnend für Ausrichtung und Wahrnehmungsweise der Synode  – wird in einer Debatte um die „aufgetretenen Schwierigkeiten im Evang. Stift“45, dem traditionsreichen Studienhaus der Landeskirche in Tübingen, etwas von den ‚Studentenunruhen‘ sichtbar. In jenen Jahren wurde um die Reform das Studienbetriebs an der Universität wie auch im Stift, sowie um eine neue Leitungsstruktur unter Einbeziehung der Studierenden gerungen46. Hohe Wellen schlug jedoch vor allem die Abschaffung des gemeinsamen Tischgebets im Sommer 1968 sowie die Abschaffung des sogenannten Damenparagraphs, der bis dato Damenbesuch nur bis 22 Uhr erlaubt hatte – ab dem Wintersemester galt für Damen das gleiche wie für andere Gäste: Sie mussten um Mitternacht das Haus verlassen47. Als dann auch noch im Mai 1969 ein Gottesdienst des Landesbischofs in der Stiftskirche von Studierenden – vermeintlich Stiftlern – gestört bzw. gesprengt wurde, sahen konservative Kreise der Landeskirche darin das unheilvolle Wirken des ‚Zeitgeistes‘ im Evangelischen Stift voll entfaltet48. Eine weitere kontrovers und emotional geführte Synodaldebatte49 zeitigte die „Esslinger Vikarserklärung“, in der im Oktober 1969 die Ausbildungsvikare unter anderem ihr Unbehagen an dem Spagat zwischen der wissenschaftlichen Theologie, die ihnen an der Universität vermittelt worden war, und der zumeist pietistisch-bibeltreuen Auslegung, die in den Gemeinden nun von ihnen erwartet wurde, öffentlich zum Ausdruck gebracht hatten. Dieses Beispiel bestätigt den Befund im Zusammenhang mit dem Mauerbau. Die Landessynode nahm Themen der „Großen Politik“ nur dann zur Kenntnis und diskutierte sie, wenn und insoweit sie unmittelbar mit dem kirchlichen Leben, mit dem binnenkirchlichen Raum in Verbindung standen. Dies könnte man ergänzend auch noch am Beispiel der Vertriebenenproblematik bzw. der Ostpolitik nachweisen, die selbstverständlich im Nachgang zu der berühmten Ostdenkschrift der EKD 44 Verhandlungen

der 7. Landessynode, 12. 11. 1968, 569. der 7. Landessynode, 12. 11. 1969, 974. 46 Für den gesamten Absatz vgl. Hahn/Mayer, Stift, 223 f. 47 Dies galt natürlich nicht für die zum Sommersemester 1969 erstmals aufgenommenen Stift­ lerinnen. 48 Für die evangelikale Sicht der Ereignisse vgl. Braun, Vorgänge. 49 Verhandlungen der 7. Landessynode, 13. 11. 1969, 1041–1051. 45 Verhandlungen

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Aufnahme in die Synodaldebatten fand50 – aber eben auch nur in diesem von der EKD vorgegebenen, also a priori binnenkirchlichen Rahmen. An dieser Stelle ist allerdings auch darauf hinzuweisen, dass es neben der hier aufgezeigten Ignoranz gegenüber der „Tagesordnung der Welt“ auf der anderen Seite aber auch eine besondere Sensibilität für bestimmte Themen gab; so brachte erst die bereits erwähnte Ostdenkschrift das Thema Versöhnung (an Stelle etwa der Restitution) auf die politische Agenda. Auch der Themen­ komplex Dritte Welt und Entwicklungspolitik – zu nennen wäre hier unter anderem der Biafra-Konflikt und das heftig umstrittene Antirassismusprogramm des ÖRK, oder, Ende der 1970er Jahre, der Protest gegen die Apartheids­ politik in Südafrika  – ist wohl zunächst ein kirchliches Thema, das aus der Kirche heraus in die profane Politik hinein getragen wurde. Wiederum hat man es also mit einer ganz speziellen Art von politischem Handeln zu tun. Da die Kirche sich als Ökumene, als weltweite Gemeinschaft versteht, ist ihr Blick prinzipiell transnational, sind die Nöte und Probleme der Geschwister im Osten oder Süden prinzipiell Anfrage an das eigene Denken und Handeln. Entsprechend hat die Kirche eine besondere Sensibilität für bestimmte Problemkreise und die theologische wie die politische Verantwortung, diese zu thematisieren. Es ist also festzuhalten, dass die kirchlichen Synoden sehr wohl ein Forum der Politisierung darstellten – allerdings unter ihren eigenen kirchlichen Vorzeichen. Dies wirkt sich sowohl in der (selektiven) Wahrnehmung und Behandlung von Themen als auch in der ebenfalls selektiven bzw. modifizierten Übernahme von Arbeitsweisen aus. Diese Befunde, weitgehende Angleichung in Arbeits-, Aktions- und Handlungsweise bei gleichzeitiger weitgehender inhaltlich-thematischer Abschottung, scheinen mir auch für die Kirche und Synode heute zutreffend zu sein. Daher soll im Blick auf den Protestantismus heute provokativ die These aufgestellt werden, dass die Politisierung passé ist. Wie sich an der seit 1977 kontinuierlich rückläufigen Wahlbeteiligung51, stärker aber noch an der von Wahlperiode zu Wahlperiode schwieriger werdenden Kandidatenfindung ablesen lässt, ist der Wille zur Übernahme von Verantwortung in und für die Kirche massiv im Schwinden. Für die aktiven Kirchenglieder heute steht nicht mehr politi 50 Verhandlungen

der 7.  Landessynode, 10. 6. 1966, 38 ff (Bericht Landesbischofs Hans von Keler von der EKD-Synode); 7. 11. 1966, 52 (Bischofsbericht); 8. 11. 1966, 66, 68–73 (­Debatte). 51 Vgl. Wahl. Die Ergebnisse vor 1977 können mit den nachfolgenden nicht verglichen werden, da seit den 1950er Jahren u. a. das Wahlalter gesenkt, die persönliche Anmeldung zu Wahl abgeschafft sowie die Briefwahl eingeführt worden war.

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sches Engagement im Vordergrund, sondern, neben der Wahrnehmung der Kasualien, vor allem die Pflege des persönlichen Glaubens. Die Erwartungen an die Kirche zu Beginn des 21. Jahrhunderts sind offensichtlich ganz andere, als in den 1960er und 70er Jahren.

Quellen- und Literaturverzeichnis I. Unveröffentlichte Quellen Landeskirchliches Archiv (LKA) Stuttgart A126 AR 125 III: Theodor Dipper: Äußerung zur Arbeitsweise des Landeskirchentages. Akten des Landeskirchentages, unverzeichnet: Wahl des Kirchenpräsidenten 1948. Niederschrift über die Wahl des Kirchenpräsidenten [Landesbischofs] am Montag, den 26. Februar 1962. Privatbesitz Oehlmann Auskunft von Gabriele Pflüger, Pressestelle der Evangelischen Landeskirche in Württemberg. E-Mail an die Verf. vom 9. 7. 2009. Hektografiertes Protokoll: „Nur zum internen Gebrauch, Protokoll von Hörern der Kirchenfunksendung des SDR vom 9. März 1969“. Kopiertes Manuskript: SDR 1, 30. 3. 1969, 8.45–9.00: Orientierung. Berichte und Kommentare aus der Christenheit.

II. Veröffentlichte Quellen und Darstellungen Baumann, Richard: Der Lehrprozeß. Rottweil 1974. Barth, Thomas: Elemente und Typen Landeskirchlicher Leitung (Ius ecclesiasticum 53). Tübingen 1995. Braun, Joachim: Die Vorgänge in der Tübinger Stiftskirche. Landesbischof D. Dr. ­Eichele an der Predigt gehindert. In: Lebendige Gemeinde. Berichte – Informationen – Markierungen 5 (Juni 1969), 6–9. Dossier – extra. 60 Jahre Bundesrepublik. In: Die Zeit 64 (2009), Nr. 19, 15–23. Ehmer, Hermann: Der „Fall Rothschuh“. Eine Dokumentation. In: Ehmer, Hermann/ Lächele, Rainer/Thierfelder Jörg (Hg.): Zwischen Reform und Revolution. Evangelische Kirche in Württemberg in den sechziger Jahren. Stuttgart 2007, 227–283. Evangelisches Gemeindeblatt für Württemberg, Jg. 64, 16. 3. 1969, 6. 4. 1969; 17. 4. 1969. Freiwilligkeit, Durchlässigkeit und Toleranz. Die Gesprächskreise der Landes­ synode stellen sich vor. In: Evangelisches Gemeindeblatt für Württemberg 66 (1971), Nr. 40, 5.

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Froitzheim, Horst: „Einswerden nach Jesu Wort von der Kirche“. Richard Baumann und sein Wirken für die Einheit der Christen. In: Der Fels 31 (2000), H. 2, 44–46; oder (9.7.2009). Haag, Norbert: Theodor Dipper. In: Lächele, Rainer/Thierfelder, Jörg (Hg.): Wir konnten uns nicht entziehen. Dreißig Biographien zu Kirche und Nationalsozialismus in Württemberg. Stuttgart 1998, 433–450. Hahn, Joachim/Mayer, Hans: Das Evangelische Stift in Tübingen. Geschichte und Gegenwart – Zwischen Weltgeist und Frömmigkeit. Stuttgart 1985. Hermle, Siegfried/Oehlmann, Karin: Gruppen in der Württembergischen Landes­ synode. In: Blätter für württembergische Kirchengeschichte 107 (2007), 267–296. Kaufmann, Ekkehard: Glaube, Irrtum, Recht. Zum Lehrzuchtverfahren in der evange­ lischen Kirche unter besonderer Berücksichtigung des Falles Richard Baumann. Stuttgart 1961. Lächele, Rainer: In der Welt leben, an Gott glauben. Ein Jahrhundert Frömmigkeit und Öffentlichkeit: Das Evangelische Gemeindeblatt für Württemberg. Stuttgart 2005. Lang, Nikolas: Fruchtlose Kirche. Predigt die Theologiestudentin Rothschuh die Revolution? In: Die Zeit 24 (1969), Nr. 12 vom 21.3.1969, 19. Obermüller, Barbara: Meine Autonomie ist mir wertvoller als Amt und Gehalt. Jutta Voss, Psychotherapeutin, Theologin und Forscherin weiblicher Mythen. In: Mathilde 61 (2002), 3–6. Das Recht der Evangelischen Landeskirche in Württemberg. Ergänzbare Rechtsquellensammlung. Im Auftrag des Evangelischen Oberkirchenrats Stuttgart, begründet von Dr. Martin Daur, hg. von Dr. Michael Frisch. Neuwied, Stand Mai 2009. Regula Rothschuh darf nicht predigen. Rebellische Theologin fiel durchs Examen. In: Hamburger Abendblatt 53 (1969), 10.  Rohn, Otto Ernst: Lutherische und reformierte Kirchenverfassung im Deutschland der Nachkriegszeit im Vergleich. Ochsenfurt a. M. 1933. Verhandlungen des 4. Landeskirchentags in Württemberg in den Jahren 1947 bis 1953. Stuttgart o. J. Verhandlungen der 6. Landessynode in Württemberg in den Jahren 1959 bis 1965. Stuttgart o. J. Verhandlungen der 7. Landessynode in Württemberg in den Jahren 1966 bis 1971. Stuttgart o. J. Verhandlungen der 8. Landessynode in Württemberg in den Jahren 1972 bis 1977. Stuttgart o. J.

III. Internetquellen Wahl zur 14.  Württembergischen Evangelischen Landessynode. Gesamtübersicht Wahlbeteiligung  – Amtliches Endergebnis. http://www.elk-wue.de/fileadmin/ mediapool/elkwue/dokumente/Kirchenwahl2007_Wahlbeteiligung1971–2007.pdf (17. 6 2009).

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Stephan Linck

„Jetzt hilft nur noch eine Flugzeugentführung!“ Die Radikale Linke und die Evangelische Studierendengemeinde in Hamburg 1973 bis 1978

Der vorliegende Aufsatz stellt die Beziehung zwischen der radikalisierten Linken und der Evangelischen Studentengemeinde (ESG) Hamburg in den Jahren 1973 bis 1978 in den Mittelpunkt. Gleichwohl handelt es sich weder um eine Darstellung der ESG Hamburg noch um eine der Hamburger linksradikalen Szene. Es sollen vielmehr einzelne Einblicke in diese Beziehung gewährt werden. Das Verhältnis ist ausgesprochen komplex und folgenreich, für die ESG endet es mit der Zwangsschließung im Jahr 1978. Zur selben Zeit befindet sich das Hamburger linksradikale Milieu in einer fast vollständigen Isolation. Der vorliegende Beitrag konzentriert sich auf einen eingeschränkten, gleichwohl ausgesprochen lebendigen Zeitraum. Denn die im Folgenden beschriebenen Personen und Gruppen befanden sich in diesen Jahren in einem beständigen Wandlungsprozess. Im Unterschied zur Situation in einigen anderen Landeskirchen – stellvertretend sei hier auf die bayrische verwiesen1 – führte der offene Diskurs mit dem linksradikalen Milieu sowie eine partielle inhalt­ liche Annäherung der ESG  – die hier stellvertretend für das linksprotestan­ tische Milieu als ganzes erscheint – zu einer innerkirchlichen Kommunikationsunfähigkeit, an deren Ende – so die These – nicht mehr die Linke, sondern die „Amtskirche“ für eine weitere Radikalisierung im Linksprotestantismus verantwortlich zeichnet.

1. Eine Hausbesetzung, RAF und Radikale Linke Im April 1973 kam es zu einer Hausbesetzung in der Ekhofstraße 39 in Hamburg-Hohenfelde. Die Besetzer orientierten sich in ihrem Auftreten an den Frankfurter Häuserkämpfen. Die Besetzung, die sich als Protest gegen Mietwucher und Gebäudeabriss mit der Forderung nach sozialem Wohnraum verstand, erregte durch das militante Auftreten der Besetzer bundesweit Aufsehen.

1 Vgl.

dazu Hager, Protestantismus, 125 f.

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Die Polizei wollte sichtbar keine „Frankfurter Verhältnisse“ in Hamburg aufkommen lassen und räumte die Ekhofstraße am 23. Mai 1973 mit einem großen, martialisch wirkenden Polizeiaufgebot. Bei der Räumung wurden 70 Besetzer verhaftet, einige saßen mehrere Monate in Untersuchungshaft. Einer der Besetzer, Karl-Heinz Dellwo, wurde am 19. Oktober 1973 gar zu einem Jahr Haft verurteilt. Die Absicht der Hamburger Polizei durch dieses Vorgehen künftige Hausbesetzungen zu unterbinden, ging insofern auf, als die Besetzung der Ekhofstraße tatsächlich für lange Zeit die einzige Hausbesetzung in Hamburg bleiben sollte. Das Vorgehen selbst, aber auch die harte Linie, die man gegenüber den Besetzern vor Gericht weiterverfolgte, beförderte aber eine weitere Radikalisierung der Besetzerszene. Diejenigen Hausbesetzer, die nicht verurteilt wurden oder werden konnten, engagierten sich in einem ersten Schritt für die Freilassung ihrer Genossen und schlossen sich in einem zweiten dem Komitee gegen die Folter an den politischen Gefangenen in der BRD2 an. Die Radikalisierung setzte sich fort: In der Folge des Hungerstreiks der RAF-Häftlinge im Herbst 1974, an dessen Ende Holger Meins am 9. November 1974 ums Leben kam, radikalisierten sich die ehemaligen Hausbesetzer und gingen schließlich in den Untergrund. Zumindest sieben der an der Ekhofstraßenbesetzung Beteiligten gingen später zur RAF: Dies gilt u. a. für Bernhard Rössner, Stefan Wisniewski, Sigrid Sternebeck, Karl-Heinz Dellwo, Christine Dümlein, Wolfgang Beer und Christa Eckes3. Eine Sichtung der Flugblattsammlung der Evangelischen Studentengemeinde Hamburg ergibt für die Ekhofstraßenbesetzung und die sich anschließenden Ereignisse folgendes Bild: Am 21. August 1973 fand ein teach in in den Räumen der ESG statt. Dort wurde über die „Repressionen und Folterungen“ informiert, denen die noch inhaftierten Besetzer der Ekhofstraße ausgesetzt waren. Nach der Veranstaltung verhaftete die Polizei einen Hausbesetzer, der auf der Veranstaltung gesprochen hatte. Soweit aus den Unterlagen ersichtlich setzte sich die Polizei dabei ausgesprochen dramatisch in Szene, sowohl durch die hohe Zahl eingesetzter Beamter als auch in der Art der Verhaftung. Der Vorgang ließe sich mit dem 2 Das Komitee existierte mit einzelnen Gruppen in zahlreichen Städten und hatte vielerorts auch prominente Unterstützer. Dem Komitee wurde in zunehmender Berechtigung eine fehlende Distanz zur RAF vorgeworfen. 3 Die Besetzung wurde auch von Susanne Albrecht unterstützt, die später mit Rössner, KarlHeinz Dellwo und Christine Dümlein für kurze Zeit zusammenwohnte. Am 23. Mai 1973 wurde die Besetzung von der Polizei gewaltsam beendet und verschiedene Besetzer kurzzeitig inhaftiert. Es bildete sich ein Komitee zur Unterstützung der Festgenommenen. Ein Teil der Angehörigen dieses Komitees schloss sich 1974 dem Hamburger Komitee gegen die Folter an den politischen Gefangenen in der BRD an. Vergl. hierzu insgesamt u. a.: Dellwo, Projektil; Hachmeister, Schleyer, 345; Weinhauer/Requate/Haupt, Terrorismus; Kraushaar, RAF.

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Wort „Wildwestmanier“ beschreiben, die Stadtteilgruppe Hohenfelde in der ESG hingegen bezeichnete die Verhaftung in einem Flugblatt als ein „GestapoUnternehmen“ und benannte sie als „Methoden, wie sie in der Bekämpfung des Widerstands im Nationalsozialismus bekannt sind“. Das Flugblatt parallelisierte die bundesdeutsche Polizei mit dem NS-Verfolgungsapparat: „Was das B. K. A. vom Reichssicherheitshauptamt, was die M. E. K.s [die in Hamburg neu aufgestellten Mobilen Einsatzkommandos. SL] von der SS und die politische Polizei von der Gestapo unterscheiden, ist die modernisierte Technologie ihrer Verfolgung: zentrale Computer, Hubschrauber, Kleinstfunkgeräte für jeden ­Polizisten, Video-Cameras und eine wissenschaftlich erforschte Isolationsfolter in den Gefängnissen, all das gekoppelt mit brutaler Härte geben dem heutigen SPD-Regime eine präzis funktionierende Waffe in die Hand, die es braucht, um die sich entfaltende politische Bewegung breiter Massen zu unterdrücken. […]“4

Abschließend wird vermerkt, „dass die Hausbesetzer ihre Erfahrungen auf­ gearbeitet haben und bereit sind, den Widerstand in allen Teilen Hamburgs aufzunehmen […]“. An diesem Flugblatt fällt die Sprache auf. Die Eskalation der Auseinandersetzung führte zu einer Gleichsetzung der Staatsorgane mit den Repressionsorganen der NS-Zeit. Hier verschwammen sämtliche Relationen und den Autoren war nicht ansatzweise bewusst, dass sie damit eine ungeheure Relativierung der NS-Verbrechen vollzogen. Ein anderes Flugblatt lud am 8.  Februar  1974 zu einem LateinamerikaAbend, veranstaltet vom lateinamerikanischen Studentenverband AELA, der ESG und dem Komitee gegen die Folter an den politischen Gefangenen in der BRD ein. Darin heißt es: „Hier in der BRD haben Genossen erkannt, dass revolutionärer Befreiungskampf der Völker der Dritten Welt und Kampf gegen Ausbeutung und Unterdrückung in den Metropolen zusammentreffen müssen, wenn beide siegen sollen. Politische Gefangene, Genossen aus der RAF und des SPK [sozialistisches Patientenkollektiv] werden heute in den Gefängnissen Westdeutschlands gefoltert. Sie sollen vom ­Justizapparat psychisch und physisch vernichtet werden. Der Kampf gegen die Folter an ­politischen Gefangenen hier und heute muss für uns zu einem Teil des konkreten antiimperialistischen Kampfes werden. […] Im Mittelpunkt des Abends steht Information und Einschätzung des Widerstandes in Chile, die uns provozieren werden, über die Möglichkeiten in der BRD zu diskutieren.“5 4 Undatiertes Flugblatt der Stadtteilgruppe Hohenfelde in der ESG [Aug. 1973] (NEK-A Kiel, 13.54, Nr. 33). Dieses Flugblatt wurde auch in dem 1976 erschienenen Rotbuch Kirche zitiert. Matthies, Studentengemeinden, hier: 158. 5 Semesterprogramme, Flugblätter und Veranstaltungen der ESG Hamburg und anderer Gruppen WS 1973/74 (NEK-A Kiel, 13.54, Nr. 33).

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Auch hier sticht die Terminologie ins Auge. Selbst wenn wir die Verwendung der Begriffe von Folter und Vernichtung nicht als Anspielung an die Verfolgung der NS-Zeit verstehen wollen, so fand hier doch zumindest eine Gleichsetzung mit der Verfolgung konkret der Militärdiktatur von Pinochet in Chile statt. Bei aller Kritik an der Praxis des westdeutschen Strafvollzugs wurde hier eine starke Relativierung der Verfolgung in Chile vorgenommen. Ein kurzer Vorgriff sei hier gestattet: die Sprachverwirrung insbesondere die Anspielungen auf die NS-Verfolgung nahm in den folgenden Jahren eher zu. So titelte das Info hamburger undogmatischer Gruppen im September 1977: „Endlösung: Mord in Stammheim geplant“ und eine Ausgabe später las sich in einer Zwischenüberschrift eines Berichtes über die Verhältnisse in der Vollzugsanstalt Stammheim: „Lage der Gefangenen schlimmer als in den Nazi-KZs“.6 Die Aussage soll hier nicht kommentiert, sondern als Ausdruck einer entsprechenden Reflexionsunfähigkeit genommen werden, die diesen Teil der Linken erfasst hatte. Dabei handelt es sich wohlgemerkt nicht um die kirchliche Linke. Diese Gleichsetzung der Bundesrepublik mit dem NS-Staat hatte eine praktische Konsequenz: Die Frage eines Widerstandsrechtes stellte sich nicht. Sie war automatisch beantwortet. Zusätzlich legitimierte sie automatisch jegliche Militanz. Ein Gegner, dem jedes Mittel recht war und der an keine Regeln gebunden war – dies unterstellte man der Staatsmacht, gegen den war ebenfalls jedes Mittel des Widerstandes legitim.

2. Hamburger Konflikte mit der ESG Welche Rolle spielte nun in diesem Zusammenhang die ESG? Zunächst einmal bildete sie den Ort, an dem die zu dieser Radikalisierung führenden Diskussionen stattfinden konnten. Sowohl die Ekhofstraßenbesetzer als auch das Komitee gegen Folter, von denen sich jeweils einige der RAF anschlossen, hielten ihre Treffen in den Räumen der ESG ab. Darüber hinaus erfuhr das Komitee gegen Folter einige Unterstützung von Seiten der kirchlichen Amtsträgerschaft, u. a. von dem Pastor Wolfgang Grell. Im März 1974 verfasste Wolfgang Grell einen offenen Brief an den dama­ ligen nordrhein-westfälischen Justizminister Diether Posser mit der Forderung, die Isolationshaft gegen Ulrike Meinhof und Gudrun Ennslin aufzuheben. Der Brief benannte die Isolationshaft als „Folter“ und verwies auf den Beifall der 6 Info hamburger undogmatischer gruppen, Nr. 17 vom September 1977 und Nr. 18, Oktober–November 1977, (NEK-A Kiel, 98.120, Nr. 148).

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­ hristen „als der Faschismus seine Herrschaft in Deutschland antrat“. Dieser C Brief wurde bundesweit verschickt und von insgesamt 77 Theologen unterschrieben7. Die inzwischen bekanntesten Unterzeichner waren die späteren Ratsvorsitzenden der EKD, Manfred Kock und Wolfgang Huber8 sowie der damalige Vikar ­Jürgen Fliege. Mit unterzeichnet hatten auch die beiden Hamburger Studentenpastoren Dr. Wolfgang Wiedenmann und Dr. Wilhelm Pressel9. Für einen bundesweit verschickten Aufruf macht die Zahl der Unterzeichner aber vor allem eins deutlich: die starke innerkirchliche Isolation, in der man sich befand. Es ist aber zu vermuten, dass die mangelnde Unterstützung nicht an den polarisierenden Formulierungen lag. In einem Interview mit der Zeitschrift konkret beschrieb der ehemalige RAF-Terrorist Karl-Heinz Dellwo im Januar 2009 die damalige Zeit: „Nach dem Tod von Holger Meins [9. 11. 1974] lief in der Evangelischen Studentengemeinde in Hamburg einer von der Ärztegruppe [die m. W. zum Komitee gegen Folter gehörte. SL] herum, fuchtelte wild mit den Händen über dem Kopf und sagte: ‚Jetzt hilft nur noch eine Flugzeugentführung!‘ Ich habe ihn angeguckt und gedacht, mein Gott, wenn die Kleinbürger Revolution machen, dann greifen sie zum potentiellen Massaker. Und auf einmal war ich dann selbst in so einem Kontext drin, das war für mich nicht tragbar. Das artikuliert natürlich nur eine Befindlichkeit. Wichtiger in der Reflexion ist, dass die Hoffnung auf Systemsturz keine tiefe Basis fand und trotzdem keiner von uns den Trennungsstrich rückgängig machen wollte. [….]“10

Man wird aus diesen Aussagen nicht den Schluss ziehen dürfen, dass die zweite Generation der RAF ohne die Unterstützung der ESG nicht entstanden wäre. Die dargestellten Diskussionen hätten vermutlich auch an anderen Orten stattfinden können. Aber die Äußerungen der ESG lassen in diesem Zeitraum (also 1973/1974) neben der Kritik an polizeilichem Vorgehen und Haftbedingungen der Gefangenen der RAF eine klare Abgrenzung gegenüber der sich vollziehenden Radikalisierung vermissen. Dabei ist es von nicht zu unter­schätzender Bedeutung, dass sich die entsprechenden Gruppen in den Räumen der ESG trafen. Soweit ich bisher erkennen konnte, hatte die Kirchenleitung nur eine sehr eingeschränkte Kenntnis von diesen Diskussionsprozessen. Die Hintergründe für eine zunehmende Verschärfung des Verhältnisses zwischen Kirchenleitung 7 Die kirchliche Statistik erfasste für das Jahr 1973 14.547 „hauptamtlich im kirchlichen Dienst angestellte Pfarrer (Volltheologen)“ in den Landeskirchen der EKD. In: KJ 100 (1973), 475. 8 Wolfgang Huber lehrte damals als Privatdozent in Heidelberg; Manfred Kock war Jugend­ pfarrer in Köln. 9 Linck, Grell, 57–59. 10 Der bewaffnete Kampf, 24. 

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und ESG lagen andernorts: – Bereits im August 1974 kam es zu einer Sondersynode der hamburgischen Landeskirche über die Situation in der ESG11 auf der jene von Seiten der Kirchenleitung massiv kritisiert wurde. In einer Reaktion verfasste die ESG folgende Stellungnahme: „Die Spannungen entzündeten sich an Thematik und ‚Gangart‘ unserer Arbeit. So hatten wir Anfang des Jahres eine Blutspendeaktion zugunsten Nordvietnams und des Vietcong durchgeführt, wofür uns ‚Einseitigkeit‘ und ‚mangelnde Versöhnungsbereitschaft‘ vorgeworfen wurde. Nun sind wir allerdings der Meinung, dass Jesus von Nazareth ‚einseitig‘ war in seinem Eintreten für Elende, Unterdrückte und Deklassierte – und dass dies heute in geeigneter Weise, auch politisch, umgesetzt werden muss. Was Versöhnung heißt, muss in diesem Kontext diskutiert werden. – Wer sich theologisch und politisch so engagiert, erfährt den Widerstand von Kirchenleitungen, die sich an gegebenen Verhältnissen orientieren […].“12

Diese Analyse war in der Situation selbst möglicherweise zutreffend. Gleichwohl hatten sich die Diskussionsprozesse innerhalb der ESG schon zu diesem Zeitpunkt erheblich von den gesamtkirchlichen Diskussionen entfernt. Die ESG dachte und agierte im Rahmen der Tradition der Neuen Linken, die sich in den 1960ern entwickelt hatte. Demgegenüber existierte in der Landeskirche eine starke Mehrheit, die diesen gesellschaftlichen Veränderungen – und damit auch der Arbeit der ESG – ablehnend gegenüber stand13. Dies wurde sichtbar an den größer werdenden Konflikten zwischen kirchenleitenden Gremien und der ESG die seit Mitte der 1970er Jahre – also seit der bereits erwähnten Sondersynode – immer deutlichere Konturen annahmen. Auf der einen Seite befand sich die ESG mit ihren Pastoren. Sie war ge­ danklich beeinflusst von den Diskussionsprozessen der studentischen Linken und zwar einerseits dem deutschen K-Gruppenmilieu und andererseits den verschiedenen ausländischen Studentengruppen. Man orientierte sich am marxistischen Diskurs, experimentierte mit neuen Wohnformen, war Forum und Treff nicht nur für das oben skizzierte links­ radikale Milieu, sondern auch für eine Vielzahl linker Gruppierungen, die sich untereinander befehdeten. Damit positionierte sich die ESG zwar links, war aber auf keine bestimmte Strömung oder Partei festgelegt, sondern im linken 11 Sondersynode der Hamburgischen Landeskirche, 22.8.1974 zur Situation der ESG an Uni und FHs (NEK-A Kiel 98.008, Nr. 52). 12 Zur gegenwärtigen Lage der ESG. Semesterprogramm 1973/74 der ESG Hamburg (NEK-A Kiel, 13.54, Nr. 33). 13 Das Verhältnis der Landeskirchen zu den Evangelischen Studentengemeinden war bereits seit den 1960ern von Spannungen und konkret Disziplinierungen geprägt. Wiedemann, Studenten­ gemeinde.

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Spektrum überparteilich. Dies wurde von Seiten der Kritiker meist übersehen. Hier nahm man vorrangig wahr, dass sich die ESG gegenüber linken, marxistischen Diskursen geöffnet hatte, anstatt diese von der Teilnahme an entsprechenden Foren auszugrenzen. Gleichzeitig setzte man sich mit den Befreiungsbewegungen der südlichen Kontinente auseinander, solidarisierte sich mit Vietnam oder der chilenischen Opposition und bot arabischen bzw. palästinensischen Studentengruppen Artikulationsmöglichkeiten. Der von der ESG betriebene diesbezügliche offene Diskurs in diese Richtung führte zu ihrer Isolation innerhalb der hamburgischen Landeskirche, die nur mühsam immer wieder durchbrochen werden konnte durch beständige Diskussionen mit Vertretern der Landeskirche. Die Synode sprach sich 1974 klar für eine Neuorientierung der Arbeit der ESG aus. Und fortan entschied ein Raumvergabeausschuss, in dem Vertreter der Landeskirche saßen, über die Raumvergabe für regelmäßige Gruppentreffen und Veranstaltungen14. Parallel zu der oben geschilderten Entwicklung eskalierte die Situation in Folge des Todes von Holger Meins am 9. November 1974 und der Ermordung des Berliner Kammergerichtspräsidenten Günter von Drenkmann durch An­ gehörige der „Bewegung 2. Juni“ am Folgetag. Gerade in diesem Zusammenhang positionierte sich die ESG Hamburg in einem Flugblatt klar. In dem Flugblatt wurden zwar die Haftbedingungen der RAF-Gefangenen scharf kritisiert. Es finden sich aber – und dies ist neu – distanzierende Überlegungen und Forderungen: „Wir lehnen das Prinzip der Rache und das Prinzip der Abschreckung ab. […] Einen Mord als politisches Mittel lehnen wir ab.“ Bezogen auf die RAF und die „Bewegung 2. Juni“ heißt es schließlich unmissverständlich: „Diese Gruppen haben bisher jeden politischen Zusammenhang mit der Linken in der Bundesrepublik gemieden. Und die Linke stellt an sie die berechtigte Forderung: Aufgabe der individualistischen und zerstörerischen Praxis.“15 Auf diese Weise hatte sich die ESG deutlich gegenüber der Radikalisierung eines Teils der Linken abgegrenzt. Die Kontroversen waren damit nicht beseitigt, da der grundsätzliche Gegensatz kaum mehr zu überbrücken war. So wurde im Sommer 1975 auf der landes­kirchlichen Seite entschieden, die Räumlichkeiten der ESG zu reduzieren, den Etat zu reduzieren und die Studentenpastoren auszuwechseln16. Dies betraf lediglich noch die Studentenpastoren Hartmut Winde und Dr. Wolfgang Wiedenmann, da ihr Kollege Dr. Pressel 1975 bei einem Autounfall ums 14 (NEK-A

Kiel, 11.02, Nr. 338). der Evangelischen Studentengemeinde Hamburg vom 21. 11. 1974 (Auflage 3000). Privatarchiv Wolfgang Wiedenmann. Hervorhebung im Original. 16 NEK-A KIEL, 11.02, Nr. 456 und 1542. 15 Flugblatt

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Leben gekommen war: die Stelle blieb vakant. Die ESG arbeitete gleichwohl fortan mit weniger Räumen und kleinerem Etat weiter. Hartmut Winde wurde versetzt. Wolfgang Wiedenmanns Dienstauftrag wurde nach zähen Verhandlungen und einem Widerspruchsverfahren Wiedenmanns gegen die Versetzung bis April 1978 verlängert.

3. Die Polizei im Martin-Luther-King-Haus Eine entscheidende Veränderung der Lage entstand jedoch 1977, da zum 1. Januar die Hamburgische Landeskirche mit den Landeskirchen Eutin, Lübeck und Schleswig-Holstein zur Nordelbischen Kirche fusionierte17. Nun lag eine starke Handlungsgewalt beim neuen Nordelbischen Kirchenamt in Kiel. Die hier zusammengelegte Verwaltung der einstigen Landeskirchen arbeitete stärker ordnungspolitisch. Als im Frühjahr 1978 Wolfgang Wiedenmann endlich die Pfarrstelle wechselte, blieben sämtliche Bemühungen der ESG um eine einvernehmliche Neubesetzung der Stelle erfolglos. In der Folge begann die ESG die Studentengemeinde ehrenamtlich weiterzuführen und gründete einen Förderverein, der die laufenden Kosten decken sollte. Dieser wurde auch von einem Kreis Hamburger Pfarrer und Gemeindeglieder unterstützt, zum Teil mit Billigung der entsprechenden Kirchenvorstände. Als das Sommersemester endete, erfolgte entgegen der festen Zusagen des Nordelbischen Kirchenamts die überraschende zwangsweise Schließung der ESG durch die Kirchenleitung. Die Schließung wurde den zwei anwesenden Mitarbeitern der ESG ohne weitere Ankündigung durch einen aus Kiel angereisten Referenten des Kirchenamtes mit der Auflage, die Räumung binnen 30 Minuten zu vollziehen „verkündet“ und unmittelbar darauf vollzogen. Als innerhalb von 30 Minuten nicht alle Besitztümer aus dem Gebäude geschafft werden konnten wurde die Polizei hinzugezogen, die von der Situation sichtlich überfordert dem Referenten vorschlug, die Frist um einige Stunden zu verlängern. Als die Räumung der ESG nachmittags abgeschlossen war, ließ man die Schlösser auswechseln. Am gleichen Abend wurde das Foyer der ESG umgehend von ihren Unterstützern besetzt, wobei darauf geachtet wurde, die Türen nicht zu beschädigen. 17 Diese Veränderung wurde anfangs vom Studentenpastor Wiedenmann durchaus begrüßt: Er sandte an Bischof Petersen für die Sitzung der neuen Nordelbischen Kirchenleitung am 18. 1. 1977 ein neunseitiges Memorandum, in dem er die Chronologie des Konfliktes beschrieb und der Hoffnung Ausdruck verlieh, dass die Nordelbische Kirche, „die Hamburger Politik nicht fortsetzte“ (NEK-A Kiel, 10.01, Nr. 88).

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Aber bereits am nächsten Morgen ließ das Nordelbische Kirchenamt polizeilich räumen und die Besetzer, darunter vier Pastoren festnehmen. Dabei entbehrt es nicht einer gewissen Tragikomik, dass das Kirchenamt ein gewaltfreies Sit-In im Gemeindehaus der ESG polizeilich auflösen ließ, das im Einvernehmen mit der Hamburgischen Landeskirche ausgerechnet nach Martin Luther King benannt worden war. Als der durch das Kirchenamt ausgelöste Polizeieinsatz teilweise scharfe Kritik auslöste, gab das Nordelbische Kirchenamt eine Dokumentation heraus, die das Vorgehen rechtfertigte. Hierin heißt es mit Blick auf die Kritiker: „Es zeigt sich in den teilweise hysterischen Reaktionen auf den Polizeieinsatz eine weitverbreitete und tiefsitzende Verwirrung, wenn unter dem Vorzeichen des Evangeliums Rechtsstaatlichkeit und Gewaltmonopol des Staates, Polizeischutz und Eigentumsrechte verteufelt und stattdessen die Gewalt der Straße, die Beugung des Rechts, demagogisch aufgeheizte Emotionen und die angeblich legitimen Ansprüche radikaler Minderheiten theologisch verklärt werden. Hier geht die Saat einer unverantwortlichen Theologie auf, die nicht mehr gemäß den lutherischen Bekenntnissen zwischen Gesetz und Evangelium, Menschenreich und Gottesreich, Glaube und Werken, Theologie und Politik zu unterscheiden vermag. Die Kirche hat sich nicht dem Diktat politischer Extremisten, sondern ihrem Herrn zu beugen.“18

Die sich nicht zuletzt in dem Dokument abzeichnende Konfrontation wurde von Kirchenleitung und Kirchenamt der neu entstandenen Nordelbischen Kirche wesentlich befördert. Die Hamburger Presse bewertete die Vorgänge bereits zum damaligen Zeitpunkt als einen Konflikt, der der Differenz zwischen der Großstadt mit ihren liberalen Traditionen und der Provinz mit Kiel an der Spitze, geschuldet war. Im Nachtrag zur Hamburger Petri-Kirchenbesetzung ein Jahr später schrieb der konservative Hamburger Bischof Hans-Otto Wölber in einem persönlichen Brief an Pastor Wolfgang Grell: „Auch ich begreife erst allmählich, dass der Geist dieser Nordelbischen Kirche sehr administrativ juristisch und darüber hinaus politisch ist. Damit meine ich den ziemlich eindeu­ tigen Versuch des Machtgebrauchs.“19 Die Sprache der Erklärung zur ESG-Räumung 1978 und die Tatsache, dass dieses Vorgehen für Kirchenleitung und die Zuständigen im Kirchenamt folgenlos blieben, zeigen dreierlei: 18 Dokumentation des Nordelbischen Kirchenamtes über die Schließung des Martin-LutherKing-Hauses vom 31. 7. 1978, 9 f (NEK-A Kiel, 11.01, Nr. 318). Vergl. hierzu auch die Dokumentation der ESG ‚Christen rufen zum Widerstand. Eine Dokumentation‘; Polizeieinsatz gegen die ESG, Hamburg 1978 (NEK-A Kiel 98.120, Nr. 139). 19 Schreiben Bischof Wölbers an Wolfgang Grell vom 25. 5. 1979 (NEK-A Kiel 98.120, Nr. 223).

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1. Das Vorgehen ist bestimmt vom gesellschaftlichen Klima des Jahres 1978. Die Diskursfähigkeit der Gesellschaft insgesamt verharrte noch unter dem Eindruck der Ereignisse des „Deutschen Herbstes“ 1977 auf einem Tiefpunkt. Daher hatte das beschriebene konfrontative Denken und Handeln nicht den negativen Gehalt, den man heute darin erblicken dürfte. 2. Das obrigkeitsfixierte und hierarchiebetonte Vorgehen von Kirchenleitung und -amt entsprach einer nationalprotestantischen Tradition, die insgesamt noch mehrheitsfähig war. Gerade das Kieler Kirchenamt stand in einer konsistorialen Tradition, die einem ordnungspolitisch orientierten Verwaltungsdenken Vorschub leistete. 3. Offensichtlich wurden viele Vorwürfe der Kirchenleitung – wenn auch nur bezogen auf weiter zurückliegende Vorgänge – als berechtigt anerkannt. Die ESG hatte sich innerhalb der Nordelbischen Kirche so weit isoliert, dass es weite Teile der Kirche vorzogen, ein solches Vorgehen zu akzeptieren, als die Weiterarbeit der ESG in der bestehenden Form zu ermöglichen oder zu unter­stützen. Gerade von Seiten der medialen Öffentlichkeit wurde der Konflikt entsprechend begleitet. Dabei wurde die Tätigkeit der ESG vielfach gerade nicht als Ausdruck kirchlichen Pluralismus angesehen, sondern vielmehr zum Anlass genommen, „der Kirche“ „Linkslastigkeit“ vorzuwerfen. Jeder Kompromiss in diesem Konflikt wurde dabei zwangsläufig als Beleg für eine entsprechende These gewertet20. Die Eskalation der Auseinandersetzung wurde von den sich gegenüber stehenden Seiten im Folgenden gegensätzlich bewertet. Auf Seiten des Kirchen­amtes sah man in der Besetzung eine Grenzüberschreitung, auf die nur ordnungs­ politisch reagiert werden konnte. Auf Seiten der ESG und ihrer innerkirch­ lichen Unterstützer hingegen wurde die durch das Kirchenamt veranlasste polizeiliche Räumung als kirchenzerstörerische Tat angesehen, die in der liberalen Theologenschaft – ich nenne hier stellvertretend den Leiter der Evangelischen Akademie Hamburg, Dr. Joachim Ziegenrücker, und den Vorsitzenden der Evangelischen Akademikerschaft und Ordiniarius für Praktische Theologie, Prof. Dr. Hans-Rudolf Müller-Schwefe, zu einer Solidarisierung führte. Dabei stellten die genannten Theologen fest, dass ein theologisch begründeter Diskurs um die Aufgaben von Kirche und das Amt der Verkündigung mit dem Kirchenamt unmöglich zu führen wäre. Ziegenrücker mahnte schließlich eine Änderung der Verfassung an, mit dem Ziel, der „Begrenzung der Befugnisse der 20 Dies

zeigen anschaulich Matthies, Studentengemeinden; Motschmann, Chronik.

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Verwaltung“. Obwohl oder gerade weil er dabei auf die Erfahrungen des Kirchenkampfes verwies, sollten sich seine Versuche als vergeblich erweisen21.

4. Bilanz Die Räumung der ESG markiert – auch wenn deren Schließung selbst später aufgehoben wurde – einen Umbruch in der innerkirchlichen Kontroverse, die in diesen Jahren durch verschiedene Aktionen der linken Theologenschaft ohnehin stark belastet war. Exemplarisch sei hier auf die Auseinandersetzungen um das Atomkraftwerk Brokdorf verwiesen, an denen sich einige Pastoren im Talar beteiligten und damit eine weitere, nicht weniger dramatisch geführte innerkirchliche Kontroverse auslösten22. Der Versuch des schwierigen Dialogs wurde von Seiten der Kirchenleitung und des Nordelbischen Kirchenamtes zunehmend ersetzt durch ein Bündel von ordnungspolitischen Maßnahmen, die sich von Verweisen bis hin zu Amtszuchtverfahren erstreckten. Dabei nahm die Kirchenleitung in Kauf, dass öffentlich der Verdacht geäußert wurde, dass das Kirchenamt die Richtungsentscheidungen in der Nordelbischen Kirche bestimme. Als im Herbst 1980 die Nachbereitung der St. Petri-Besetzung schließlich dazu führte, dass der Kirchenamtspräsident Horst Göldner öffentlich ankündigte, den „Besetzer-Pastoren“ die durch sie verursachten Kirchensteuerausfälle mit ihrem Gehalt zu verrechnen, ging es selbst dem konservativen Theologen Helmut Thielicke zu weit. Er unterschrieb einen offenen Brief von 20 Hamburger (Theologie-)Professoren, in dem dem Kirchenamt „tiefe Menschenverachtung“ vorgeworfen wurde23. Solche Kritiken änderten nichts an den verhärteten Umgangsformen. Dies zeigte sich etwa anschaulich in einem Gespräch zwischen Vertretern von Kirchenamt und der ESG 1981 in der Nachbereitung des Hamburger Kirchentages. Im Nachgang dieses Gespräches schrieben die ESG-Vertreter dem Kirchenamt: „Unser Grundgefühl nach dem Gespräch war eine äußerste Betroffenheit und Enttäuschung, ja sogar die Frage, wieweit wir uns mit dieser Art von Kirche identifizieren können.“24 21 Schreiben Joachim Ziegenrückers an die Nordelbische Kirchenleitung/Propst Karlheinz Stoll vom 23. 8. 1978 (NEK-A Kiel 11.01, Nr. 318). 22 Vgl. Schramm, Brokdorf-Pastoren. 23 LINCK, Grell, 66–69. 24 Brief von Alexander Kästner, Klaus Misfeldt, Dorothea Neddermeyer u. a. an OKR Starke vom 29.6.1981 (Nachbemerkungen zum Gespräch). Akte Studentenpfarramt und -gemeinde Hamburg (NEK-A Kiel 10.01, Nr. 88).

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Der Vertreter des Kirchenamtes hingegen schrieb in seinem Gesprächsvermerk lakonisch: „Ich erlebe es häufiger, dass Pastor Kästner verbalen Argumenten nur sehr bedingt zugänglich ist […].“25 Eine solcherart verunglückte Wortwahl lässt vermuten, dass das vom ordnungspolitischen Denken bestimmte Amt sich schon sprachlich gegenüber der kirchlichen Linken kaum verständlich machen konnte. Hier prallten zwei protestantische Lebenswelten in einer Schärfe aufeinander, dass über Jahre hinweg eine fast vollständige Kommunikationsunfähigkeit die weiteren Auseinandersetzungen bestimmen sollte.

Quellen- und Literaturverzeichnis I. Unveröffentlichte Quellen Nordelbisches Kirchenarchiv (NEK-A) Kiel Bestand 10.01: Kirchenleitung der Nordelbischen Kirche, Nr. 88. Bestand 11.01: Bischof für Schleswig, Nr. 318. Bestand 11.02: Bischof für Hamburg, Nr. 338, 456, 1542. Bestand 13.54: Evangelische Studentengemeinde, Nr. 33. Bestand 98.120: Nachlass Wolfgang Grell, Nr. 139, 148, 223. Bestand 98.008, Nachlass Friedrich Hübner, Nr. 52. Privatarchiv Wolfgang Wiedenmann

II. Veröffentlichte Quellen und Darstellungen Beckmann, Joachim (Hg.): Kirchliches Jahrbuch für die evangelische Kirche in Deutschland 1973. Gütersloh. Dellwo, Karl-Heinz: Das Projektil sind wir. Der Aufbruch einer Generation, die RAF und die Kritik der Waffen. Gespräch mit Tina Petersen und Christoph Twickel. Hamburg 2007. „Der bewaffnete Kampf war eine plausible Antwort“. Gespräch mit Karl-Heinz Dellwo über den öffentlichen Umgang mit der RAF und seine Haltung zu ihrer Geschichte. In: Konkret 2009, H. 1, 23–25. Hachmeister Lutz: Schleyer. Eine deutsche Geschichte. München 2004. Hager, Angela: Westdeutscher Protestantismus und Studentenbewegung. In: Hermle, Siegfried/Lepp, Claudia/Oelke, Harry (Hg.): Umbrüche. Der deutsche Protestantis 25 Vermerk OKR Starke (NKA) vom 17. 7. 1981 über das Gespräch vom 26. 6. 1981 von Vertretern des Kirchenamtes (Starke) und der Kirchenleitung (Dr. Kinder) mit Vertretern der ESG Hamburg u. a. über die Friedensdemonstration auf dem Kirchentag und den schwierigen Verhältnis zueinander. Ebd.

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Die Radikale Linke und die Evangelische Studierendengemeinde

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mus und die sozialen Bewegungen in den 1960er und 70er Jahren. Göttingen 2007 (AKiZ B 47), 111–130. Kirchliches Jahrbuch für die Evangelische Kirche in Deutschland 100 (1973). Kraushaar, Wolfgang (Hg.): Die RAF und der linke Terrorismus. 2 Bände. Hamburg 2006. Linck, Stephan: Als im Kirchenamt „die Hölle los“ war. Wolfgang Grell. Ein Pastorenleben zwischen Rotariern und RAF. Wittlingen 2009. Matthies, Helmut: Von evangelischen zu marxistischen Studentengemeinden. In: Motschmann, Jens/Matthies, Helmut (Hg.): Rotbuch Kirche. Stuttgart 1976, 145–166. Motschmann, Jens: Chronik Januar 1977 bis Dezember 1977. In: Motschmann, Jens/Künneth, Friedrich-Wilhelm (Hg.): Das neue Rotbuch Kirche. Stuttgart 1978, 241–299. Schramm Luise: Die Brokdorf-Pastoren versus Amtskirche. Oder: Was ist Kirche? In: Mitteilungen zum Archivwesen der Nordelbischen ev.-luth. Kirche 36 (Mai 2007), 20–22. Weinhauer, Klaus/Requate, Jörg/Haupt, Heinz-Gerhard (Hg.): Terrorismus in der Bundesrepublik: Medien, Staat und Subkulturen in den 1970er Jahren. Frankfurt a. M. 2006. Wiedenmann, Wolfgang: Evangelische Studentengemeinde  – Kirche an der Hochschule? In: Albertz, Heinrich/Thomsen, Joachim (Hg.): Christen in der Demokratie. Festschrift für Joachim Ziegenrücker. Wuppertal 1978, 121–158.

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Thomas Schlag

Formen der Politisierung des Religionsunterrichts in den 1960er und 70er Jahren im bundesrepublikanischen Kontext

1. Drei Impressionen Im Oktober 1971 erscheint auf dem Schulbuchmarkt ein Materialband für den Religionsunterricht der Sekundarstufe I unter dem Titel „Anpassung oder Wagnis“, verlegt im Diesterweg-Verlag. Im Lehrerbegleitheft zu diesem Band wird als Intention des Buches formuliert, zum Protest anzustoßen: „Anpassung oder Wagnis ist nicht nur eine inhaltliche Frage des RU, sondern eine Situationsbeschreibung des Faches Religion. Welcher der beiden Begriffe [also Anpassung oder Wagnis, Th. S.] den Tenor des Evangeliums anzeigt, dürfte aus dem Reden und Handeln Jesu deutlich sein“.1 Im Materialband selbst sind in einem ersten Teil unter der Überschrift „Provokation“ vor allem zeit- und gesellschaftskritische Gedichte, etwa von Brecht, Mao Tse-tung oder Bloch aufgeführt. In einem zweiten Teil finden sich unter dem Stichwort „Orientierung“ biblische Texte und Illustrationen. Zu Röm 13 findet sich die Darstellung auf der gegenüber liegenden Seite. Diesem Bild ist folgender Text beigegeben: „Vergleiche beide Situationen: Römische Soldaten bewachten den gekreuzigten Jesus von Nazareth in Jerusalem. Berliner Polizisten schirmen Kreuzigungsfigur und Altar vor Demonstranten ab. Welches Interesse hatten die politischen Behörden in der jewei­ligen Situation?“2 Im Jahr 1972 legt Gert Otto zusammen mit den Kollegen Hans Joachim Dörger und Jürgen Lott das vollständig überarbeitete „Neue Handbuch des Religionsunterrichts“ vor. Im Vorwort wird dem Religionsunterricht die Aufgabe zugewiesen, an der Entscheidung für eine Schule entweder als „Hort vergangenheitsorientierter Bewahrung“ oder als „Ort dynamischer, zukunftsbezogener Auseinandersetzung“3 mitzuwirken. Unter den im Band ­aufgeführten

1 Brummack,

Anpassung, 4. 106. 3 Otto/Dörger/Lott, Handbuch, 15.  2 Ebd.,

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„Modellthemen“ findet sich etwa das Thema „Konflikte“, bei dem es auch das Verhältnis von Schule und Gesellschaft unter dem orientierenden Stichwort „Politisierung der Schule“ zu bearbeiten gelte4. Unter dem Modellthema „Frieden“ soll das Unterthema „Kirche und Revolution“ unter dem orientierenden

4 Vgl.

ebd., 122.

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Stichwort „Politisierung der Kirche“5 behandelt werden, desgleichen auch unter dem Modellthema „Kirche“ bzw. dem Unterthema „Kirche als politische Macht“.6 An einer weiteren Stelle wird das Begriffspaar Entpolitisierung/Poli­ tisierung in eine analoge Reihe der Paare Verdummung/Aufklärung; Unter­ drückung/Freisetzung; Staatsverklärung/Staatskritik7 gestellt. Ein Jahr später formuliert der Religionspädagoge Folkert Rickers in einem systematischen Essay unter der Überschrift „Die politische Aufgabe der Religionspädagogik“: die Religionspädagogik wird „einer zunehmenden Politisierung nicht mehr aus dem Wege gehen können. Denn […] auch der RU, [ist] den herrschenden Kräften einer spätkapitalistischen Leistungs- und Konsumgesellschaft funktional zugeordnet“.8 Den Schülern müsse zu einem „begründeten politischen Bewußtsein über ihre gesellschaftliche Situation und zum begründeten politischen Engagement für den Prozeß der Befreiung“9 verholfen werden. In der Konsequenz habe der Religionsunterricht auf die Eigenständigkeit der traditionellen Fachstruktur zu verzichten und sich als Teilbereich der Politischen Bildung zu konstituieren10. Im Übrigen sei, so Rickers, ein Pluralismusbegriff „völlig unhaltbar“, der sich von einem liberalen Staatsverständnis herleite – wobei nicht näher ausgeführt wird, was denn nun hier unter „liberal“ verstanden sein soll11. Mit den genannten Impressionen scheint nun das gängige und bis in die Fachwissenschaft hinein immer wieder aufgenommene Klischee bestätigt zu werden, dass der evangelische Religionsunterricht seit den frühen 1970er Jahren den allgemeinen Prozess einer Politisierung der bundesrepublikanischen Gesellschaft auf seine Weise mit vollzogen habe. Und dabei gehen die Einschätzungen dieser Entwicklung durchaus auseinander: für die einen handelt es sich hier um die bedeutsamste, weil problemorientierte Epoche, mit einem klaren fachspezifischen Profil des Religionsunterrichts und einer „sehr produktive[n] Anschlussfähigkeit für fächerübergreifendes Arbeiten“12, also gleichsam um die Achsenzeit der deutschen Religionspädagogik nach 1945. Andere sehen bei aller notwendigen empirischen Neuorientierung13 und Anpassung der Theorie-



5 Ebd.,

272. 315, 318. 7 Vgl. ebd., 346. 8 Rickers, Aufgabe, 27. 9 Ebd., 23. 10 Vgl. ebd., 27. 11 Vgl. ebd., 29. 12 Knauth, Religionsunterricht, 316. 13 Vgl. Wegenast, Wendung. 6 Ebd.,

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bildung mindestens die Gefahr eines religionspädagogischen Mitläufertums „im kurzlebigen Beifall des je herrschenden ‚Zeitgeistes‘“.14 Nun hat bekanntermaßen die Auseinandersetzung mit den deutschen Verhältnissen um 1968 längst ihre eigene Erinnerungskultur mit entsprechenden Verfemungen und Glorifizierungen produziert. Aber gerade die unterschied­ lichen Einschätzungen des Religionsunterrichts in jener Zeit machen deutlich, dass Erinnerung in verschiedenster Weise trügen kann – was es angesichts mancher nach wie vor äußerst lebhafter Protagonisten der Disziplin auch für eine oral history keineswegs leicht macht.

2. Bezugshorizonte der Politisierung des Religionsunterrichts Deshalb verlangt die Frage nach der Politisierung des Religionsunterrichts in den 1960er und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts nach einer differenzierteren Analyse. Diese beginnt sinnvollerweise mit der genaueren Frage, was denn unter Politisierung des Religionsunterrichts überhaupt verstanden werden kann. Im Kontext politischer Bildung und Sozialisation kann Politisierung daher grundsätzlich Lernprozesse bezeichnen, die auf das Individuum primär als Objekt oder primär als Subjekt des Politischen bezogen sind. Dahinter steht in politik­wissenschaftlicher Hinsicht eine doppelte Signatur von Politisierung: a) als Zunahme staatlicher Einfluss-, Steuerungs- und Regulierungstätigkeit im Blick auf alle gesellschaftlichen Lebensbereiche bzw. die Übertragung von Optionen, Verkehrsformen und Regularien aus den Einrichtungen des politischen Systems auf die Organisation des gesellschaftlichen Lebens15; b) des Aufbaus oder der Veränderung von person- und gruppeninternen Mentalitäten und Verhaltensmustern mit dem Ziel der mündigen und kritischen Beteiligung an Fragen des Politischen16. Die Sozialisationsqualität und Zielsetzung von Politisierung kann somit im Blick auf das Individuum als Objekt im Ziel der aufoktroyierten Übernahme bestimmter Denk- und Herrschaftsschemata bestehen, im Blick auf das In­ dividuum als Subjekt in der „Ermöglichung von kritisch reflektierter wechselseitiger Vermittlung“.17 Diese Differenzierung erscheint an dieser Stelle sinnvoll, weil sich von dort aus auch die Entwicklungen innerhalb von Religions­ 14 Lachmann,

Religionspädagogische Wandlungen, 94. Claussen, Politisierung, 24. 16 Vgl. ebd., 24 f. 17 Ebd., 26.

15 Vgl.

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pädagogik und Religionsunterricht in den 1960er und 70er Jahren genauer charakterisieren und systematisieren lassen. Die These lautet folglich, dass sich genau dieser Dualismus der Bestimmung von Politisierung, d. h. von aufoktroyierter Annahme und ermöglichter kritischer Mündigkeit, Indoktrination und Emanzipation, auch innerhalb der jüngeren Geschichte der Religionspädagogik selbst abbildete. Nun sind für die Frage der Politisierung des Religionsunterrichts prinzipiell drei Bezugshorizonte zu unterscheiden: a) die Religionspädagogik als wesentlich theoriegeleitete Bezugsdisziplin; b) die Religionsdidaktik als praxisorientierte Bezugsdisziplin; c) der Religionsunterricht selbst im Sinn konkreter religiöser ­Unterrichtspraxis. Jeder dieser Bezugshorizonte geht nun gerade in dieser Zeit mit einer praktisch unüberschaubaren Menge von Veröffentlichungen einher, sei es in Grund­ lagenbeiträgen, didaktischen Leitlinien, Lehrplänen, Schulbüchern oder Unterrichtsmaterialien. Insofern seien im Folgenden zu den genannten drei Bezugshorizonten einige wesentliche Aspekte der Entwicklung in den 1960er und 70er Jahren aufgezeigt – dafür wird als Bezugsgröße vor allem das zentrale Publikationsmedium der evangelischen Religionspädagogik, der Evangelische Erzieher, heran­gezogen, in dem die wesentlichen Vertreter der Disziplin immer wieder grundsätzlich Stellung nahmen18.

3. Formen der Politisierung des Religionsunterrichts 3.1 Politisierung des Religionsunterricht im Kontext der Religionspädagogik Politisierung ist innerhalb der religionspädagogischen Theoriedebatte über lange Zeit hinweg ein dezidierter Kampfbegriff, der sich auf unterschiedlichste Gegner richten kann und keineswegs erst in den 1960er Jahren intensive Verwendung findet. So zeigten sich für den Religionspädagogen Helmuth Kittel bereits in den ersten Nachkriegsjahren – wie er schreibt – wie schon vor 1933 erneut fatale entmündigende Politisierungstendenzen: und dies durch bedroh­ liche selbstgerechte Reeducation-Programme19, eine problematische Thematisierung der einstweilen ungeklärten Schuldfrage20, die „Zwangschristianisierung des Bildungswesens“ sowie die „theologische Uniformierung eines politisierten 18 Zum

Folgenden vgl. ausführlicher Schlag, Horizonte. Kittel, Paideuomai III, 430. 20 Vgl. ebd., 423.

19 Vgl.

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Christentums“21. Kittel sah durch die „Willkür fremder Machthaber“22, konkret die amerikanische Besatzungspolitik  – und die „Injizierung demokratischer Ideologie“23 bereits in den ersten Nachkriegsjahren folgenreiche Schwierigkeiten grundgelegt, zu einem eigenständigen deutschen Weg in Politik und Kirche zu gelangen. Im Jahr 1954 betrachtete Oskar Hammelsbeck den Versuch einer kon­ fessionellen Positionierung im Meinungsstreit um die Schulfrage als „Politisierung, in der der politische Katholizismus den diktatorischen Gegnern nicht nachsteht“24. Damit nahm man dem eigenen Selbstverständnis nach die Rolle des über den politischen Machtfragen und über den Konfessionen stehenden Standpunkts einer interessenfreien  – weil dem Evangelium verpflichteten  – Geltungs- und Gestaltungsmacht für sich in Anspruch. 1958 warnte der Studienleiter der Evangelischen Sozialakademie Friedewald Erich Thier in einem Beitrag über die Pädagogik des Bolschewismus, dass diese Kollektivierungsversuche auch als Warnsignal für die westliche Industriegesellschaft und ihre Erziehungsideale verstanden werden müssten. Denn auch innerhalb der westlichen Gesellschaftsordnung drohe aufgrund zunehmender Politisierung, Technokratisierung und „Industriegeprägtheit“ die Ordnung der menschlichen Beziehungen auseinanderzubrechen und die „Freiheit in der dauernden Gefahr der Entleerung“25 zu stehen. Wie ambivalent und unsicher sich die Gefühlslage hinsichtlich der jetzt noch möglichen kirchlichen Öffentlichkeitsaufgabe darstellte, gab 1963 der Theologe Karl Gerhard Steck in folgender Momentaufnahme wieder: „Die Ereignisse der Jahre vor 1945 hatten gezeigt, daß es für Staat, Gesellschaft und Volk nicht gleichgültig ist, wie es zwischen Öffentlichkeit und Kirche steht. Wir waren alle davon überzeugt, daß jetzt eine Zeit gekommen sei, den Öffentlichkeitsauftrag der Kirche ganz neu zu erkennen und wahrzunehmen. Von dieser allgemein verbreiteten guten Zuversicht ist nicht mehr viel vorhanden“.26 Auch wenn man noch keineswegs genau zu bestimmen vermochte, wie dieser „wesensmäßig[e] […] Bezug zur Öffentlichkeit“ zu entfalten sei, sollte damit in jedem Fall der „Versuchung zur Politisierung“27 des kirchlichen Auftrags entschieden widersprochen werden.

21 Ebd.,

445. 465. 23 Ebd., 566. 24 Hammelsbeck, Erziehung, 45. 25 Thier, Erzieher, 235. 26 Steck, Kirche, 247. 27 Ebd., 251 f.

22 Ebd.,

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Der Gegner lauerte aber auch in den eigenen Reihen: so hielt der bisherige Herausgeber Hammelsbeck nochmals Mitte der 1960er Jahre – gleichsam im letzten Moment seiner bisher unbestrittenen Deutungshoheit – gegen jeglichen kompromisshaften Pragmatismus, alles politisierende Christentum und ein weltanschaulich-christliches Bekleckern des Unterrichts fest: „Die Flickschneiderei an den alten Schläuchen ist eine fatale christliche Bequemlichkeit“.28 Im Jahr 1968 schuf der Evangelische Erzieher eine eigene Rubrik „Documenta“, welche die Beobachtung einer zunehmenden Politisierung und Radikalisierung an den Schulen unter dem Schlagwort „Demokratisierung der Schule“ sowie die entsprechenden „Schülerunruhen“ darstellte. Dies mache eine „genaue Kenntnis und eine fundierte Auseinandersetzung mit den hier wirksamen Gedanken dringlich“.29 Aufgeführt wurden Stellungnahmen, Auszüge aus Schülerzeitungen und Flugblätter, in denen vehemente Kritik an der autoritären Schule geübt und vice versa die umfassende Politisierung und Demokratisierung der Schule, die Emanzipation der Schülerschaft und die Abschaffung des konfessionellen Religionsunterrichts an der öffentlichen Schule zugunsten eines religionskundlichen Unterrichts oder die umfassende Trennung von Staat und Kirche gefordert wurden. Allerdings war bereits eine neue Generation von religionspädagogischen Denkern meinungsprägend geworden, die sich nun aber weniger an explizit weltanschaulichen Grundsatzdebatten abarbeitete, als vielmehr ihrer subjektorientierten Version von Politisierung ein eigenständiges didaktisches Gepräge gab. 3.2 „Politisierung“ im Kontext der Religionsdidaktik Im Zusammenhang mit den allgemeinen bildungspolitischen Entwicklungen der Zeit waren Anfang der 1970er Jahre in allgemeinpädagogischer Hinsicht die Stimmen zahlreicher geworden, die eine deutliche Entsprechung zwischen dem demokratischen Auftrag der Schule und den jeweiligen Erziehungszielen und -formen einforderten. Daraus wurden hinsichtlich des Religionsunterrichts je nach theologischer und politischer Positionierung unterschiedliche didaktische Konsequenzen gezogen. Grundsätzlich einig war man sich in der didaktischen Zielsetzung, dass der Religionsunterricht seinen Beitrag zur Schule als sozialem Raum bzw. als „Stätte der Humanisierung und Humanität, der Erfahrung de­ mokratischer und öffentlicher Tugenden und der Einübung in politisches Ver­ halten“30 leisten könne und müsse, so Hans Bernhard Kaufmann im Jahr 1973. 28 Hammelsbeck,

Verantwortung, 140. 249. 30 Kaufmann, Diskussion, 95.

29 Schriftleitung,

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Die Anforderungen an die didaktische Ausarbeitung eines zeitgemäßen Religionsunterrichts ließen alsbald den Grundlagenstreit weitgehend hinter sich. Grundsätzlich gilt hier, dass schon der Begriff der Politisierung selbst seinen Kampfcharakter verliert und überhaupt kaum noch explizit verwendet wird31. An die Stelle tritt vielmehr vor allem die intensive theologische und religions­ pädagogische Auseinandersetzung mit dem Emanzipationsbegriff: Siegfried Vierzig, Leiter des PTI in Kassel, zufolge kommt es – so im Jahr 1971 – darauf an, sowohl auf den emanzipatorischen Charakter der Worte Jesu zu verweisen wie „in gleicher Weise für die politische Emanzipation einzutreten“.32 Über die Bestimmung von Religion als sozialisations-, gesellschafts-, und kulturgestaltende Kraft bzw. als „Wirkungseinheit von Deutung und Wertungen“33 erfolgte der konzeptionelle Versuch, deren emanzipatorische Potentiale für die mündige individuelle und gesellschaftliche Lebensorientierung zu verankern. Ein „die politischen und ökonomischen Mechanismen bewußt reflektierender Unterricht“34 sollte sich durch symbolisch-emanzipative Lernprozesse35 „in aufdeckender wie heilender Absicht auf die Schäden einzelner und, diese auf die Verfassung rückkoppelnd, des Kollektivs“36 beziehen. Dabei galt es, gerade ideologische Fixierungen, emanzipationshemmende Anpassungen, Konflikte und gesellschaftliche Hierarchien durch eine entsprechende Interaktions-Praxis bewusst zu machen. In diesem Sinn wurde über den Begriff der Emanzipation ein sachlich-problemorientierter Zusammenhang zwischen religionspädagogischen Zielsetzungen, deren allgemein-politischen Implikationen und didaktischen Herausforderungen hergestellt, um der Gefahr einer einseitigen Politisierung des Unterrichts im Sinn der Objektivierung des Individuums zu entgehen. In nuanciert anderer Weise forderte Klaus Wegenast durch eine kritische Rezeption der problemorientierten Entwicklungstendenzen, den Schülern vor ­allem auf subjektorientierte Weise „elementare Einsichten in die mögliche Bedeutung des christlichen Glaubens für seine Gegenwart und Zukunft“37 zu vermitteln. Dem Religionsunterricht wurde gleichwohl die Aufgabe zugemessen, 31 Im Blick auf den didaktischen Bezugshorizont hat Thorsten Knauth Entwicklungen und Materialien der Pädagogisch-Theologischen Institute luzide analysiert; vgl. Knauth, Religionsunterricht. 32 Vierzig, Christentum, 197. 33 Ebd., 200. 34 Stoodt, Praxis, 7. 35 Vgl. Stoodt, Therapie, 217. Hier wurde allerdings zugleich deutlich, dass Stoodt inzwischen ein Schwergewicht auf die Aufarbeitung individueller Konflikterfahrungen legte. 36 Stoodt, Praxis, 5. 37 Wegenast, Vorschlag, 217.

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neben der Vermittlung biblischer und kirchengeschichtlicher Grundkenntnisse „erste Einsichten in den Aufgabenbereich des zur Mitverantwortung in Politik und Wirtschaft, Beruf und Familie geforderten Christen“38 zu ermöglichen. Von dort aus gehörte für ihn zur didaktischen Analyse auch die Frage nach den gesellschaftlichen und sozialen Aspekten des jeweils gewählten Themas39. Für die kritische Auseinandersetzung mit dem problemorientierten Ansatz, den man durchaus auf der Grenze problematischer Politisierungstendenzen sah, wurde damit erneut und verstärkt der Aspekt des eigentlichen Propriums des christlichen Glaubens ins Spiel gebracht. Im Sinn einer Dialektik von Emanzipation und Integration insistierte man darauf, dass nicht primär die Veränderung von Kirche und Gesellschaft, sondern „der durch den Glauben veränderte und befreite Mensch im Vordergrund“ der Botschaft stehe. Gegen die Gefahr einer „übermäßigen Gewichtung des gesellschaftlichen Moments und einer hiermit verbundenen Politisierung des Unterrichts“40 wurde geltend gemacht, dass dem Menschen erst „aus dieser personal erfahrenen Veränderung und Befreiung heraus die Kraft zufließt, die Gesellschaft auf Emanzipation hin zu Veränderung und ipso facto auch die Kirche im Blick auf die Ermöglichung von Freiheit zu erneuern“.41 So stehe etwa die thematische Konzentration auf Freiheit als emanzipatorisches Element der biblischen Überlieferung und christlichen Wirkungsgeschichte in der Gefahr, als Selektionsprinzip zu wirken und zur „Verkürzung der theologischen Grundaussagen der Bibel über den Menschen coram deo“42 zu führen. Grundsätzlich wurde für eine stärkere Berücksichtigung ethischer und politischer Fragen im Religionsunterricht  – und nun gerade aus theologischen Gründen  – plädiert. Im Sinn einer christentumsgeschichtlichen Argumentation stellte Siegfried Brill die Thematisierung ethischer Fragen als eine Kernaufgabe des schulischen Religionsunterrichts heraus. Entsprechend wurde Christentumsgeschichte in all ihren Aspekten, als Kirchen-, Sozial-, Kultur- und Ideologiegeschichte zugleich als ein wichtiges inhaltliches Curriculumelement hervorgehoben. Die spezifische Aufgabe des Religionsunterrichts müsse folglich darin bestehen, eben jene „Wiederkunft vergessener und unterdrückter Kräfte“43 der prophetischen und synoptischen Tradition im Licht des Doppelgebots der Liebe zu befördern. Im Blick auf politische Fragestellungen wurde 38 Ebd.,

218. Wegenast, Planung, 204. 40 Kerp, Emanzipation, 422. 41 Ebd., 425. 42 Ebd., 424. 43 Brill, Ethik?, 268.

39 Vgl.

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damit die strikte Trennung zwischen geistlichem und profanem Bereich im Sinn der Evangelischen Unterweisung endgültig zu den Akten gelegt. Diese sei „in ihrem Grundduktus dem bürgerlichen Interesse am ungestörten Gang der Geschäfte ohne störende Dreinrede des christlichen Glaubens nur allzu sehr“44 entgegengekommen, wie konstatiert wurde. Gegen eine unkritische Weltlichkeitsideologie betonte man hingegen, dass bis in das politische Handeln hinein „das Unbedingte auf dem Spiel steht“45. Grundsätzlich ist somit für die überwiegende Zahl der entscheidenden Protagonisten festzuhalten, dass religionsdidaktisch nie an eine reine Verwandlung des Religionsunterrichts in politische Bildung und damit neue verobjektivierende Funktionalisierungsabsichten gedacht war. Nicht um Politisierung im Sinn neuer Indoktrination sollte es gehen, sondern viel mehr um eine subjektivitätsorientierte religiös bzw. christlich orientierte Bildung, die auf ihre Weise zum Erwerb politischer Mündigkeit und Verantwortung beitragen sollte. Anders gesagt: die fundamentale weltanschauliche Auseinandersetzung wurde geerdet, wobei eine klare Positionierung hinsichtlich der politischen Dimension des Religionsunterrichts erkennbar wird. Dass sich dies in den konkreten Hinweisen zur Unterrichtsplanung und -durchführung durchaus wieder anders darstellen konnte, sei im folgenden dritten Bezugshorizont aufgezeigt: 3.3 „Politisierung“ im Kontext der Unterrichtspraxis Anfang der 1970er Jahre wurde in einer Reihe von Beiträgen versucht, die gesellschaftspolitische Relevanz religiöser Bildung in didaktischen Konkretionen und Unterrichtsentwürfen zu materialisieren: der Schüler mit seinen politischen Interessen, Fragen und Bedürfnissen – und zugleich in seiner gesellschaftlichen Verstricktheit – tritt dabei bewusst und stark ins Zentrum. Zu einer intensiven Kontroverse kam es im Anschluss an Friedel Kriechbaums Erziehungsleitlinien im Blick auf die politische Verantwortung des Christen. In Bezugnahme auf die Politische Theologie und bei gleichzeitiger Ablehnung einer als individualistisch-existentialistisch bezeichneten theologischen Ausrichtung hatte sie gefordert, die Themen des Religionsunterrichts von der Tagesordnung der Welt aus zu setzen. Indem „das Geschehen Gottes“ über den zwischenmenschlichen Bereich der Ich-Du-Beziehung hinaus als ein eminent „politisches Geschehen“ zu verstehen sei, bestehe eines der ­wesentlichen

44 Ebd., 45 Ebd.,

264. 265.

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Lernziele des Unterrichts darin, zu erkennen, wo heute individuelle und gesellschaftliche „Situationen sind, in denen uns etwas von Gott aufgeht“.46 Auf der Basis des theologischen Gedankens gesellschaftsbezogener Verheißung nannte sie als Hauptziele eines vernunftgeleiteten Unterrichts die Er­ ziehung zum Frieden und das verantwortliche Verhalten und Engagement in der Welt. Da die gesellschaftliche Situation in Deutschland und Südamerika viele Ähnlichkeiten hinsichtlich struktureller Ungerechtigkeiten aufweise, gelte es, im Rückgriff auf den protestierenden Jesus, der „für die aus der Gesellschaft Ausgeschlossenen“ eintrat, „das Bewußtsein für die undurchbrechbaren Kreisläufe der Not“47 zu erarbeiten. Am deutlichsten manifestiere sich dies beim Thema „Christen im Protest“, wobei dieser Protest sowohl mit Gewalt als auch gewaltlos denkbar sei48. In gleicher Perspektive plädierten weitere Autoren dafür, Religionsunterricht bewusst als politische Erziehung und Friedenserziehung zu verstehen, wobei durch „das Engagement für den Frieden der Konflikt nicht ausgeschlossen, sondern im Gegenteil provoziert“49 werden sollte. So gelte es etwa, die übliche Klischeevorstellung des friedlich-weihnachtlichen Miteinanders von Engeln und Hirten durch eine klare Fokussierung auf den damals verachteten Volksstand der Hirten zu verändern. Erkennbare Absicht war es hier, den Unterricht als Vorbereitungsplattform für einen sozialpolitischen und gesellschaftlichen Strukturwandel zu konzipieren, wobei sich unter den dafür angebotenen Textmaterialien praktisch keine biblischen oder theologischen Texte mehr fanden. Auch in anderen Beiträgen zu einzelnen politischen Fragen oder entsprechenden Verhaltensweisen wurde diese prinzipielle problemorientierte Ausrichtung deutlich erkennbar. Dies zeigte sich beispielsweise in unterschiedlichen Entwürfen zum Thema „Gehorsam und Ungehorsam“ bzw. zum Umgang mit Autoritäten. Im Anschluss an Adorno wurde geltend gemacht: „Die Forderung, daß Auschwitz nicht noch einmal sei, ist die aller erste an Erziehung“.50 Unter dem globalen Lernziel der „Fähigkeit zur Auseinandersetzung und zum selbständigen Umgang mit ethischen Grundbegriffen“ wurde der Auseinandersetzung mit Gehorsam und Gehorsamsverweigerung bzw. der „Verschleierung von Gehorsamsverhältnissen“51 ein eindeutiger Vorrang vor den entsprechen 46 Kriechbaum,

Frage, 11. Verantwortung, 496 f. 48 Ebd., 486–497. 49 Essinger, Frieden, 421. 50 Ruddat/Wolf, Phantasie, 246. 51 Ebd., 250. In diesem kognitiv, affektiv und pragmatisch ausgerichteten Unterrichtsentwurf wurde der didaktische Ausgangsakzent auf die „Deformation des Lebens durch den Gehorsam“ (ebd., 247) gelegt; als Zielperspektive wurde die „Beseitigung des Gehorsams aus unserer Gesellschaft“ (ebd., 248) genannt. 47 Kriechbaum,

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den biblischen Texten zugemessen. Dementsprechend sei anhand der biblischen Überlieferung, insbesondere der Apostelgeschichte oder der Geschichte des Barmherzigen Samariters52 zu zeigen, „wie einzelne Menschen unter Berufung auf Jesus von Nazareth ungehorsam sind gegen Menschen und Mächte, um Jesus von Nazareth gehorsam zu sein“53. Gegenüber einem solchen Bild des „ethisch vorbildlich handelnden ‚histo­ rischen Jesus‘“ äußerte man allerdings erhebliche Kritik, da dieses nicht nur ein gesetzliches Verständnis befördere, sondern auch – so das bereits bekannte Argument – im Modus eines „ideologischen Dezisionismus“ dem schulischen Globalziel der Emanzipation widerspreche54. Grundlage dieser Kritik war wiederum die Befürchtung, dass alle Unterrichtsziele und -themen letztlich nur noch aufgrund von gesellschaftspolitischen Prämissen ausgewählt werden könnten. Dann aber läge diesem problemorientierten Zugang nichts anderes als eine „Hypostasierung der individuellen Entscheidungsfähigkeit“ zugrunde. Auch hier wurde wieder geltend gemacht: „die hermeneutische Frage kann […] nicht zugunsten der Aktualität übersprungen werden“.55 Anhand des Gebots der Feindesliebe favorisierte man in dieser Argumentationslinie eine didaktische Zugangsweise, bei der durch den Blick auf die Tradition nicht nur handlungsleitende, sondern „reflexionseinleitende Impulse“56 freigesetzt werden sollten. Im Horizont einer wirkungsgeschichtlichen Annäherung schlug Wegenasts Schüler Bartholomeus Vrijdaghs vor, den Schülern anhand des Lebens und Wirkens Martin Luther Kings die aktuelle Bedeutsamkeit des Feindesliebesgebotes bis hin zu Möglichkeiten aktuellen gewaltfreien Widerstands einsichtig zu machen, indem sie in die Bewegung und Dynamik des biblischen Textes und seiner Fragen hineingezogen werden sollten. Zudem rezensierte er neuere „sozialkritische“ Literatur und Wallraff-Reportagen ausgesprochen positiv, was ihn zu der These brachte, dass die soziale Wirklichkeit die Fronten aufzeige, an denen der Christ Stellung beziehen müsse. Die Besprechung von Unterrichtsmodellen und Materialsammlungen im Licht einer „Theologie der Revolution“ brachten Vrijdaghs zur Haltung, dass sich vor allem in Lateinamerika schon Umrisse eines neuen Christentums abzeichneten.

52 Vgl.

ebd., 249. Unterrichtsmodell, 251. 54 Ringshausen, Frage, 21 f. 55 Ebd., 27. Kriechbaum (Antwort, 511 f ) reagierte ihrerseits darauf, indem sie Ringshausen auf die entscheidenden Vorwürfe durch die Verneinung einer gesetzlichen Argumentation antwortete. Zugleich betonte sie die Notwendigkeit utopischer Hoffnungen und stellte fest, „daß der christ­ liche Gott nicht auf seiten der Macht in der Welt steht“. 56 Vrijdaghs, Feinde, 449. 53 Poetter,

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Auf der Grundlage dieser prinzipiellen Diskussion widmete sich der Evangelische Erzieher wiederum der Problematik des Verhältnisses von Religionsund Politikunterricht. Angesichts der beobachtbaren, zunehmend auf aktuelle Themen und politische Sachfragen zugreifenden, religionsunterrichtlichen Praxis stellte sich die Frage, worin sich das Fach von politischer Bildung noch unterscheide bzw. in welchem Sinn sein spezifisches Profil und der entsprechende Bildungsanspruch noch erkennbar würden. Hier zeigte sich bei manchen Autoren – wie schon im Zusammenhang der verfassungsrechtlichen Problembeschreibung – die Absicht, den staatlichen Religionsunterricht aus seiner konfessionellen Bindung zu lösen und ihn mithilfe eines allgemeinen Religionsbegriffs nahe an den Politik- bzw. Sozialkundeunterricht zu rücken. In einem aufschlussreichen Vergleich wurde als Hauptaufgabe des Politikwie des Religionsunterrichts herausgearbeitet, einerseits in analytischem Sinn bestimmte Konfliktlagen zu identifizieren, andererseits in verhaltenssteuerndem Sinn den „erkenntnismäßig untermauerten Umgang mit Konflikten“57 zu befördern. Gegen den elitären und auf neue Weise indoktrinär vereinnahmenden „Revolutionskarneval“ betonte man, „daß sich unser (bundesdeutsches) Gemeinwesen auf dem Wege der Demokratisierung befindet, wert-, interessenund normenpluralistisch ist (bzw. wird)  und daß somit auch die bestehende Konfliktgesellschaft weiter gefördert werden kann“.58 Dem wurde ein Bekennt­ nis zur faktischen Pluralität bzw. zur gesellschaftlichen „Multiformität“59 an die Seite gestellt. Die religionspädagogischen Reformdiskussionen der 1970er Jahre manifestierten sich mit zeitlicher Verzögerung auch im Erscheinen neuer Religions­ bücher bzw. in der Tatsache, dass dieses Medium gegenüber den vergleichsweise kurzfristig entwickelten Unterrichtsentwürfen und -materialien wieder stärker in Gebrauch kam60. Eine wesentliche Funktion des Religionsbuchs wurde darin gesehen, „die Probleme der modernen Gesellschaft und die spezifischen Erfahrungen des Einzelnen in ihr“61 darzustellen, ohne allerdings wie die Unterrichtswerke für Gesellschaftslehre, nur Informationen zu liefern oder „den Zeitgeist einfach zu ehelichen“.62 Positiv bezog man sich dort auf die Politische Bildung, wo es dieser gelungen sei, durch methodische Vielfalt Unterrichtsprozesse zu befördern und das Fach überhaupt attraktiver zu machen63. 57 Rössner,

Didaktik, 95. 98. 59 So in Anlehnung an E. Rosenstock-Huessy, ebd. 60 Vgl. Dienst, Vorwort, 1. 61 Caspary, Funktion, 6. 62 Ebd., 8. 63 Vgl. ebd., 12.

58 Ebd.,

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In einer Dokumentation wurden Analysen von Religionsbüchern für die Sekundarstufe I zusammengestellt, in denen neben der Beurteilung der didaktischen Gesamtkonzeption auch die Thematisierung politisch-relevanter Aspekte zur Sprache kam64. Die kurzen Analysen spiegeln wider, dass die problemorientierte Grundausrichtung der Religionspädagogik und deren politische Perspektivierung nun auch immer stärker die aktuelle „Schulbuchgeneration“ und faktische Unterrichtswirklichkeit zu prägen begannen. In der Gesamtkritik wird deutlich, dass mindestens aus Sicht der Autoren die analysierten Religionsbücher nur teilweise dem Ziel gerecht werden, Zusammenhänge zwischen individuellen und gesellschaftlichen Lebensfragen mit biblisch-theologischer Überlieferung in Korrespondenz zu bringen. Im Materialband „Anpassung oder Wagnis“65 entdeckte man zwar die intensive Aufnahme makropolitischer Aspekte, das Verhältnis von biblischen und profanen Texten bleibe allerdings unklar. Bezüglich des von Baldermann und anderen herausgegebenen Arbeitsbuches Religion 9/1066 wurde konstatiert: „Nicht der Mangel an Problemorientiertheit macht das Konzept des Buches problematisch, sondern daß die Problemstellungen zwar durchaus gesellschaftlich relevant, nicht aber eo ipso Problemstellungen der Schüler sind“.67 Auf der anderen Seite wurde das im Crüwell-Verlag erschienene Religionsbuch für Realschulen68, das „wohl am ehesten dem hermeneutischen Ansatz verpflichtet“ ist, dafür kritisiert, dass zwar Politik zusammen mit anderen ethischen Themen auftaucht, aber dies alles „ziemlich zusammenhanglos am Ende der Behandlung der biblischen Fragen“.69 In methodischer Hinsicht monierten die Kandidaten, dass sich die anvisierten Handlungs- und Interaktionsformen fast ausschließlich auf kognitiv-verbale Operationen bezögen, die Erfahrungsbereiche der Schüler kaum angemessen berücksichtigt würden und schülernahe Texte fehlten. Was in theoretischem Sinn gedacht wurde, speiste man mit gewisser zeitlicher Verzögerung seit Ende der 1960er Jahre und dann in den 1970er Jahren in offizielle Lehrpläne ein – und dies teilweise in wechselseitiger Beeinflussung von konzeptioneller und amtlicher Ebene, oft aber auch unabhängig voneinander. Im Zusammenhang der allgemeinen Curriculumrevision kommt es insbesondere in der ersten Hälfte der 1970er Jahre zu einer neuen Generation von curricularen, themenzentrierten Religionslehrplänen in den einzelnen Ländern, 64 Vgl.

Rück, Analyse, 43–55. Brummack, Anpassung, 51–75. 66 Vgl. Baldermann, Arbeitsbuch. 67 Rück, Analyse, 47. 68 Vgl. Religionsbuch für Realschulen. 69 Rück, Analyse, 53, 55.

65 Vgl.

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was durchaus als „epochale Veränderung“70 angesehen werden kann – grundsätzlich änderte sich erst jetzt auch offiziell die Bezeichnung des Faches von „Evangelischer Unterweisung“ zu „Evangelischem Religionsunterricht“71 – der Unterricht wird als Dienst der Kirche an der Schule bewusst schulisch verankert und pädagogisch wie theologisch begründet: „Die Beschäftigung mit der Tradition im Kontext der modernen, gegenwärtigen Welt und Gesellschaft wurde zur zentralen Programmatik des Religionslehrplans entworfen“.72 Hier gilt aber auch, dass trotz dieses Grundkonsenses im Einzelnen sehr unterschiedliche Facetten und Modelle, „in welcher Weise diese Auslegung der biblischen Botschaft für die heutige Zeit geschehen soll“73, vorgelegt wurden. Nimmt man nun die konkrete Unterrichtspraxis insbesondere der 1970er Jahre in den Blick, so ist darauf hinzuweisen, dass die einzelnen Entwicklungen in den Ländern und insbesondere in der konkreten Unterrichtswirklichkeit bisher nicht systematisch rekonstruiert worden sind. So sind folglich Aspekte der Politisierung des Religionsunterrichts vergleichsweise gut identifizierbar, Aspekte der faktischen Politisierung im Religionsunterricht aber noch kaum näher erhoben. Insofern fehlt es bisher insbesondere an einer wenigstens exemplarischen Sichtung der faktisch verwendeten Materialien im Unterricht bzw. des faktischen Umgangs mit Lehrplaninhalten sowie vor allem gewissermaßen einer oral history hinsichtlich des konkret erlebten Religionsunterrichts sowohl bei Lehrkräften als auch bei Schülerinnen und Schülern selbst im Sinn einer „Politisierung von unten“.

4. Fazit Im seit den 1960er Jahren anschwellenden Streit um die Politisierung des Religionsunterrichts bildete sich zwar einerseits das zunehmende Ungenügen des faktischen Religionsunterrichts ab, dahinter aber auch die subkutane Klage über den Verlust evangelischer Deutungspotentiale überhaupt, im Sinn der Einsicht in den Verlust der einstigen Vorzugsstellung und öffentlichen Deutungshoheit von Kirche und Theologie. Unter „Politik“ wurde insbesondere von Vertretern der so genannten Evangelischen Unterweisung vor allem die institutionelle und damit prinzipiell defizitäre Dimension des öffentlichen Regelungssystems verstanden, die man durch 70 Dieterich, 71 Ebd.,

303. 72 Ebd., 385. 73 Ebd., 385.

Religionslehrplanentwicklung, 301.

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bestimmte staatliche, parteiliche sowie kirchliche Machtinteressen bestimmt sah. Das Politische galt vor allem als Sphäre des selbstbezüglichen, formalen und strategischen Agierens der interessegeleiteten Akteure der Politik mit entsprechenden Entmündigungstendenzen. Politik und Demokratie wurden somit vor allem dann thematisiert, wenn das reale politische Geschehen als krisenhaft erlebt wurde. Positiv war Politik nur dann konnotiert, wenn deren Akteure erkennen ließen, dass ihr Handeln in Verantwortung und im Bezug auf ein höheres „evangelisches“ Interesse hin ausgerichtet war. Dies verband sich bei den maßgeblichen Autoren mit einer Sicht des demokratischen Staates, dessen Legalität und Gewaltenteilungsprinzip man zwar anzuerkennen bereit war, aber dessen Mangel an Anschaulichkeit personaler Autoritäten zugleich beklagt wurde. Allerdings bildete sich auch in den Konstellationen der Religionspädago­ gik der 1960er Jahre zunehmend die Beobachtung ab, dass sich im deutschen Nachkriegsprotestantismus sowohl Vertreter für ein „minoritäres Projekt der Freiheit“ fanden, „das sich einem Lernprozeß gegenüber der Demokratie aussetzte“74 als auch Befürworter eines majoritären Projekts „der Ordnung“, das sich der Demokratie durch das Beharren auf einer autoritären Staatskonzeption verweigerte. Diese Umbruchsituation seit Mitte der 1960er Jahre spiegelte sich hier insbesondere in der Vielzahl didaktischer Überlegungen wider, die das ernsthafte Bemühen zeigen, sich mit den Entwicklungen der Zeit in aller gebotenen Intensität auseinanderzusetzen. Ohne einfach auf den Zug der Zeit aufzuspringen, befasste man sich in fachwissenschaftlicher Hinsicht und mit einer erstaunlichen Gelassenheit mit den politischen und schulpolitischen Entwicklungen, den Interessen und Bedürfnissen der jungen Generation, Möglichkeiten der politischen Bildung sowie schließlich der gesellschaftspolitischen Profilierung der Disziplin. Dabei zeigt sich deutlich der Versuch, die säkularen und demokratischen Grundbedingungen nun auch konzeptionell in die religionspädagogische Grundlagenarbeit integrieren zu wollen. Durch die intensiven fachlichen Diskussionen gingen mit den gesellschaftspolitischen Umbrüchen allmähliche und nachhaltige Veränderungen des religionspädagogischen Selbstverständnisses einher. Dies geschah aber keineswegs im Modus der totalen Infragestellung oder gar Umkehrung der Verhältnisse, sondern sehr viel eher durch stetige und auf kontinuierliche Verbesserung ab­ zielende Abwägungen und Dialoge im Modus der Anknüpfung, Übernahme und sanften Revision. 74 Ruddies,

Protestantismus, 207.

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Zwar bündelten sich die Veränderungshoffnungen der 1960er Jahre in den entsprechenden programmatischen und praxisorientierten Konzepten und veränderten die interne Diskussionslandschaft allmählich. Und in der Tat zeigte sich auch im Evangelischen Erzieher „zwischen den Zeilen“ eine für die 1960er Jahre generell angenommene, „mit einer gewissen Plötzlichkeit“ einsetzende, „starke Beschleunigung des im Allgemeinen langsam, stetig, phasenweise kaum merklich fortschreitenden Prozesses der Veränderungen grundlegender normativer Orientierungen“.75 Im Blick auf die fachinternen religionspädagogischen Diskussionen in der Auf- und Umbruchsituation der langen 1960er Jahre76 von einem Entscheidungsjahr 1968 zu sprechen, erweist sich angesichts der differenzierenden Vielfalt der Beiträge jedenfalls als kaum haltbar. Denn das Repertoire des fachlichen Umbruchs basierte doch immer auch auf den Neuorientierungen und Aufbrüchen der „Vorzeit“. So erscheint es im Blick auf die Entwicklung der Religionspädagogik in politischer Perspektive in den späten 1960er Jahren kaum angemessen, von einer wirklichen „Um­ gründung der Republik“77 oder „zweiten Gründung“78 zu sprechen. Dafür spricht auch, dass die Theoriebeiträge trotz aller erkennbaren Differenzen in der Auseinandersetzung um die Ausgestaltung des problemorientierten und emanzipatorischen Ansatzes doch eine gemeinsame subjektivitäts­orientierte Absichtshaltung konstruktiver Mitgestaltung des Politischen deutlich machen. Auf der fachdidaktischen Ebene konnte man sich durchaus gegenseitig positiv wahrnehmen und sich immer wieder der gemeinsamen Intentionen vergewissern. Gleichwohl zeigten sich insbesondere im Zusammenhang der Interpretation des Emanzipationsbegriffs die Grenzen des gegenseitigen Zugeständnisses bis hin zur Strategie, die politischen Implikationen religiöser Bildung gleichsam in einen sanften Deutungsmodus auslaufen zu lassen – etwa indem dann die Errungenschaften einer thematisch-problemorientierten Perspektive überhaupt im Interesse politischer Zurückhaltung vereinnahmt wurden. Deutlich ist jedenfalls, dass die These von der mehr oder weniger bewussten politisch konservativen Unterwanderung und Ausschaltung gesellschaftskritischer Ansätze in der Religionspädagogik ab Mitte der 1970er Jahre so jedenfalls kaum zu halten ist. Allerdings zeigte sich auch im Bereich der Religions­ pädagogik, was für die Reformvorhaben in Politik und Gesellschaft am Ende der 1970er Jahre überhaupt galt: Ihre Realisierung blieb deutlich hinter den Anfang des Jahrzehnts geweckten Erwartungen zurück und zeigte sich weniger 75 Kielmannsegg,

Katastrophe, 428 f. Schildt/Siegfried/Lammers, Zeiten. 77 So Görtemaker, Geschichte, 475. 78 So Albrecht, Gründung, 497 f.

76 Vgl.

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als konsistente Einheit denn als ganz eigene Mischung aus rational-technokratischem Planungsdenken und emanzipationsorientierter Modernisierung79  – aber eben als Mischung, die keineswegs die Errungenschaften des vergangenen Jahrzehnts nun einfach ad acta legte. So weit man es rekonstruieren kann, sind die religionspädagogischen und religionsdidaktischen Auseinandersetzungen zwar erheblich mit den jewei­ ligen außertheologischen Theoriebildungen der Zeit verknüpft, allerdings ist dabei nicht eindeutig identifizierbar, worin denn der innovative Beitrag der Religionspädagogik etwa zu den pädagogischen und politikdidaktischen Debattender Zeit tatsächlich bestand – die außertheologische Rezeption wesentlicher Werke – etwa K. E. Nipkows innerdisziplinär ausgesprochen bedeutsame „Grundfragen der Religionspädagogik“ – ist jedenfalls bisher noch kaum angestellt worden80. Insofern gestaltet sich auch die Suche nach Wechselwirkungen der Religionspädagogik etwa zur politischen Bildung durchaus schwierig, da sich diese Wechselwirkungen wenigstens außerhalb der Disziplin kaum irgendwo explizit festmachen lassen – jedenfalls ist nur selten erkennbar, wo man sich etwa auf Seiten der Pädagogik oder politischen Bildung bewusst auf religionspädagogische Überlegungen bezogen hat. Bisher ist somit kaum zu verifizieren, ob und in welcher Weise der Religionsunterricht bestimmte Politisierungstendenzen in der Schulwirklichkeit der westdeutschen Gesellschaft tatsächlich in entscheidender Weise mitbefördert oder gar mit ausgelöst hat  – die Thematisierung allein lässt jedenfalls noch nicht automatisch auf eine nachhaltige Wirksamkeit des Faches im Sinn der Beförderung kritischer Mündigkeit in Auseinandersetzung mit dem Politischen schließen. Eher trifft auch für die religionspädagogischen Errungenschaften der Zeit zu, was Wolfgang Kraushaar für die 1968er als „divergenten Doppelcharakter von politischem Scheitern und soziokultureller Folgewirkung, deren Grad allerdings schwer zu fixieren ist“81, bezeichnete. Der religionspädagogische Streit um die Politisierung des Faches hat sich vor allem als fachwissenschaftlicher Streit der Generationen abgespielt, aber sich im Bewusstsein der betroffenen Zielgruppen der Schülerinnen und Schüler nicht automatisch auch nachhaltig niedergeschlagen – so zeigt etwa die Untersuchung von Peter Kliemann und Hartmut Rupp „1000 Stunden Religion“, dass gerade die politische Dimension des Religionsunterrichts offenbar an den Schülern weitgehend vorbeigegangen und nicht selten als Form weltfremder re 79 Vgl.

Rödder, Bundesrepublik, 47. etwa Schweitzer, Katechetik, 20. 81 Kraushaar, 1968, 345.

80 Vgl.

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ligiöser Ethikvermittlung wahrgenommen worden ist. Ganz offen und bisher ebenfalls weitgehend ungeklärt ist ebenfalls, ob nicht die exemplarisch aufgezeigten Politisierungstendenzen nicht vielleicht im Gegenteil sogar zu erheb­ lichen Irritationen und damit auch zur Delegitimierung des Faches beigetragen haben. Hier ist sozusagen überhaupt ein erheblicher blinder Fleck in der Wirkungsforschung hinsichtlich des Faches anzusiedeln. Von daher dürfte gelten, dass der Religionsunterricht in seiner politischen Relevanz in den 1970er Jahren eher als relative Größe im Kontext der Schule zu betrachten ist. Insofern erscheint es aus historischen und pädagogischen Gründen als durchaus problematisch, dem Fach eine tatsächliche Vorreiter- oder gar Speerspitzenrolle für die allgemeine Demokratisierung der Schule beimessen zu wollen. Dafür spricht auch, dass in entsprechenden Befragungen die politische Dimension des Religionsunterrichts bis heute auf einem der hinteren Plätze rangiert. Dies hat mit seiner jüngeren Geschichte, aber vermutlich auch damit zu tun, dass der Religionsunterricht in diesen Fragen bis heute auf dem schmalen Grat zwischen der Ermächtigung zu individueller Freiheit und der christ­ lichen Orientierung in Fragen des Politischen wandert und dabei durchaus immer wieder auch in neue Einseitigkeiten abstürzt. Insofern er­öffnet gerade der historische Blick auf die theoretischen Reflexionen und didaktischen Transfers Kriterien für notwendige Formen einer konstruktiven pluralitätsoffenen Politisierung im Religionsunterricht.

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Antje Roggenkamp-Kaufmann

Ergebnisse der Diskussion

Die Diskussion thematisierte mit Blick auf das Referat von Karin Oehlmann zwei zentrale Aspekte: Zum einen stand die Frage nach der spezifischen Politisierung der Württemberger Landessynode im Raum, zum anderen ging es um die Vergleichbarkeit der Württemberger Synode mit anderen Landessynoden. Bezüglich der Politisierung scheint die Württemberger Synode einen eigenständigen Weg beschritten zu haben. Während man etwa auf der Rheinischen Synode überwiegend politische Themen – wie den Vietnamkrieg oder die 68er Revolte – diskutiert habe, sei Entsprechendes in Württemberg offenbar tendenziell und intentional ausgeblendet worden. Allerdings müsse auch das Verhalten der Württemberger zum Antirassismusprogramm als „politisch“ verstanden werden. Dabei führte Oehlmann dieses Verhalten als ein besonders aussagekräftiges Beispiel für die spezifisch württembergischen Politisierungsformen an: Die Württemberger überlegten, in den Ökumenischen Rat der Kirchen als einzelne Kirche einzutreten, um anschließend als eigenständige Körperschaft austreten zu können. Auf diese Weise wollten sie eine gewisse Unabhängigkeit von den Entscheidungen und Verhaltensweisen der EKD erreichen. Insofern allerdings auch die (lutherische) Synode in Hannover Themen diskutierte, die gegenüber der Württemberger Diskussionslage „politischere“ Charakterzüge trugen, wurde vorgeschlagen, zukünftig die regionale Differenzierung in den Fokus entsprechender Forschungsarbeiten zu rücken. So empfehle es sich, etwa die Wahlmodalitäten stärker zu berücksichtigen: In Württemberg dürfte das Urwahlprinzip einen erheblichen Einfluss auf die Themenwahl, eventuell auch auf den zeitlichen Ablauf der Politisierung gehabt haben, wie die Referentin mutmaßte. In diesem Zusammenhang wies sie darauf hin, dass die Wahl­ beteiligung zwar seit 1975 kontinuierlich abgenommen, sie aber noch Mitte der 1970er Jahre um die 25 % betragen habe. Damit unterscheide sich die Partizipation nur unwesentlich von vorangehenden Zahlen, insofern das Wahlalter in Württemberg in den 1950er Jahre herunter gesetzt und die persönliche Meldepflicht im Pfarramt abgeschafft worden sei. Die Frage nach der Definition von Politisierung wurde auf verschiedene Weise beantwortet. Ausdrücklich wurde darauf hingewiesen, dass die Politisierung der Religion auf verschiedenen Ebenen zu diskutieren sei. So kämen zwar vordergründig die politischen Themen in den Blick, protestantisches Handeln

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Antje Roggenkamp-Kaufmann

in der Gesellschaft sei aber nicht selten als solches politisch motiviert gewesen. Während die Referentin ihrem Ansatz eine (katholische) Definition von Politisierung zugrunde legte – „Politisierung heißt der neu aufkeimende starke Wille zur Teilnahme an der Lenkung des Gemeinwesens“1 –, wiesen andere darauf hin, dass bereits das Reden über Gott unter Umständen politische Züge tragen könne. Schließlich sei auch die kybernetische Funktion der Synode für die Gesamtkirche zu beachten, dies gelte insbesondere dann, wenn deren Entscheidungen wie etwa im Falle der abgelehnten EKD-Grundordnung spezifische Konsequenzen hätten: der Württembergische Pietismus habe um seine Stellung in der EKD gefürchtet, so Oehlmann. In der Diskussion über die Hamburger ESG kam es zur Thematisierung von drei Problemkreisen: Zunächst wurde die Frage des Alleinstellungsmerkmals der Hamburger Vorgänge in den Blick genommen. Zeitnah zu den beschriebenen Vorgängen sei eine Dokumentation erschienen, „Pfarrer, die dem Terror dienen?“2, die sich ähnlichen Konflikten in Berlin, im Rheinischen, aber auch in Hamburg widmete. Abgesehen davon, dass es zu einer Springer-Kampagne gegen die (evangelische) Kirche als „Hort des Terrorismus“ gekommen sei, habe man alternative Presse-Rundschauen publiziert, die etwa Presse-Artikel zu entsprechenden Vorgängen gesammelt hätten. Ähnliches gilt für die Bochumer ESG, die ebenfalls einige interessante Konflikte für 1973/74 verzeichnet. Auch hier scheint es „legendäre Terrorismus-Hilfsgeschichten“ gegeben zu haben, daneben engagierte man sich aber auch in Sozialfürsorgeprojekten mit Straßenkindern. In Bochum allerdings habe die westfälische Landeskirche vergeblich versucht einzugreifen als die Situation unübersichtlich zu werden drohte. Der Referent verdeutlichte demgegenüber, dass er das Alleinstellungsmerkmal nicht in den Protesten selbst erblicke  – zu entsprechenden Vorgängen wie Schließungsdiskussionen, Wohnprojekten, politischem Pastoren­engagement sei es an verschiedenen Orten der alten Bundesrepublik gekommen  –, besonders sei vielmehr die durch das weit entfernte Landeskirchenamt verantwortete Eskalation gewesen. Der Referent führte dessen Vorgehen auf die spezifisch schleswig-holsteinische Tradition, ein preußisches Verwaltungsdenken sowie ein nationalprotestantisches Denken, zurück. Dieses habe Vermittlungsversuchen, wie sie zuvor von einzelnen Hamburger Personen ausgegangen waren, entgegen gestanden.



1 Siehe

oben S. 72. Heinrich/Böll, Heinrich/Gollwitzer, Helmut u. a.: „Pfarrer, die dem Terror dienen“? Bischof Scharf und der Berliner Kirchenstreit 1974. Eine Dokumentation. Reinbek bei Hamburg 1975.

2 Albertz,

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Ergebnisse der Diskussion

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Vor diesem Hintergrund wurde anschließend nach entsprechenden Ursachen gefragt. Dabei wies man zunächst auf die Zeitläufte insgesamt hin, in die die Hamburger Prozesse einzubetten seien: auf den Herbst 1977, das angespannte Klima seit November 1974, den Tod von Holger Meins sowie den anschließenden Mord an dem Kammergerichtspräsidenten Günter von Drenkmann. Kirchenintern sei es einerseits zu einer Reihe von Diskussionen innerhalb der EKD – etwa zur Frage des Umgangs mit Gewalt in der Kirche bzw. mit Kirchenbesetzungen  – gekommen. Andererseits sei eine genaue Rekonstruktion der Ursachen insofern schwierig als sich eine Grenze zwischen ESG-Mitgliedern und einzelnen linksradikalen Gruppen, die vielfach die Studentengemeinden als Forum genutzt hätten, nicht eindeutig ziehen lasse. Schließlich wandte man sich den Folgen zu, die sich aus der Schließung der ESG für das sogenannte linke Milieu ergeben hätten. Ausgehend von der Frage, ob es eine differenzierende Reflexion über die spezifische Sozialisation der sich politisch radikalisierenden ESG-Mitglieder gegeben habe, wurde auf mögliche Verbindungen zu „linken Milieus“ in Altona, vor allem aber auch zur Grün-­ Alternativen Liste hingewiesen. Insbesondere die in der Hamburger ESG versammelten (Theologie-) Studierenden hätten sich nach deren „Auflösung“ alternativen Gruppen bzw. Solidaritätsgruppen zugewandt. Der Vortrag von Thomas Schlag führte zum einen die spezifische Funktion des Religionsunterrichts in den 1960er und 70er Jahren vor Augen, bei deren Erörterung sich der Referent deutlich von anderen Ansätzen und Sichtweisen dieser Jahre unterschied. Der Religionsunterricht dieser Zeit sei zum Indikator für die gesellschaftliche Bedeutung der christlichen Religion insgesamt avanciert, insofern müsse man von der bisherigen Darstellung, dass hier über­ wiegend die politischen Auseinandersetzungen der Zeit thematisiert worden seien, abrücken. Vor diesem Hintergrund standen zunächst Organisationsfragen des Religionsunterrichts im Mittelpunkt. Der Referent machte darauf aufmerksam, dass es seit jeher eine große Vielfalt an Lehrplänen, Begründungsformen des Religionsunterrichts, Anstellungsträgern und Kooperationsmodellen gegeben habe. Zum anderen bot der Vortrag Anlass, die Diskussion um den Politisierungsbegriff auf verschiedenen Metaebenen fortzuführen. Dabei traten drei Aspekte in den Vordergrund. Zuvörderst ging es um das Verhältnis von „oben“ und „unten“, nicht zuletzt insofern als der Referent die Politisierungsdebatte im Zusammenhang des Religionsunterrichts als eine „von oben“ gesteuerte dargestellt hatte. Die protestantischen Eliten in den landeskirchlichen Einrichtungen und in den theologischen Fakultäten standen einer Politisierung „von unten“ gegenüber, die sich auf dem Feld des Religionsunterrichts vollzog, deren spezifische Ausprägungen aber noch weitgehend unerforscht seien: Die entsprechende Er-

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innerungskultur müsse sich zu dem Phänomen verhalten, dass die Prozesse je individuell erlebt und empfunden, aber noch kaum systematisch erschlossen worden seien, gab Schlag zu bedenken. In weiterführender Absicht kam an dieser Stelle die Praxis des entdeckenden bzw. forschenden Lernens in den Blick, die sich in den 1960er und 70er Jahren als breite Bewegung in verschiedenen Fächern etablieren konnte. Ziel dieser Bewegung war es, Lernprozesse im Hinblick auf das Individuum als Subjekt zu initiieren und die Schüler dazu zu bewegen, in eigener Regie politisch-historische Prozesse zu untersuchen. Ob diese Konzepte tatsächlich in der Praxis des Geschichts- und Politikunterrichts angekommen seien, müsse beim momentanen Stand der Forschung zwar offen bleiben. Entsprechende Verbindungen in Richtung Religionsunterricht seien aber vorstellbar. Die auf die Mündigkeit des Individuums abhebenden Diskurse könnten auch einer Politisierung der Religionsdidaktik zugearbeitet haben. Schließlich ging es um die Frage, ob der Politisierungsbegriff wegen einer nicht unerheblichen Unschärferelation nicht besser ersetzt werden sollte. Ausgehend von den Subjekten der damaligen Diskurse  – die Diskussionsrunde stellte die Frage nach der theologischen Vorprägung in den Vordergrund – ließe sich erkennen, so Schlag, dass weniger die theologischen Einstellungen als vielmehr die reale Machtpolitik bestimmend gewesen sei. Die Auseinandersetzungen zwischen Oskar Hammelsbeck und Helmuth Kittel etwa seien weniger von dem Streit um theologische Sachfragen, als vielmehr von der Frage nach der effektiveren politischen Aktionsweise geprägt gewesen. Dies könne man vor allem der Zeitschrift Evangelischer Erzieher entnehmen, es ließe sich aber auch daran ablesen, dass fundamentalistische bzw. radikale Bewegungen wie etwa „Kein anderes Evangelium“ in den religionsdidaktischen Debatten keine Rolle gespielt hätten. Vor diesem Hintergrund ging es nochmals um die Frage nach der Politisierung. Diskutiert wurde jetzt allerdings, ob der Begriff, der seit den 1970er und 80er Jahren in den Quellen auch als polemischer Kampfbegriff erscheine, zugleich als analytischer Begriff eingesetzt werden könne oder ob nicht der Begriff der Demokratisierung vorzuziehen sei. Dabei machte der Referent geltend, dass der Begriff der Politisierung innerhalb der Fachdisziplin seit den frühen 1970er Jahren keine Rolle mehr gespielt habe, sondern durch andere Begriffe wie den der Emanzipation oder den der Demokratisierung ersetzt worden sei. Gleichwohl sei es aus heuristischen Gründen sinnvoll, an der doppelten Signatur von Politisierung festzuhalten und die Unterscheidung von Politisierung im Sinne einer ‚Objektivierung‘ sowie einer konstruktiv subjektiven Perspektive beizubehalten, so Schlag. Dieser Ansatz wurde prinzipiell durch den Hinweis auf den Demokratisierungsbegriff unterstützt, der vor allem die Ermächtigung des

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S­ ubjekts, also die zweite Komponente bzw. Version des Politisierungsbegriffs bezeichne. Politisierung im Sinne von Demokratisierung bedeute dann die Reflexion über die Frage: „Wie schafft man es, dass die Subjekte sich an allen Prozessen beteiligen?“ Auf diese Weise wäre es dann allerdings zugleich möglich, die erste Version des Begriffs in Anspruch zu nehmen, nämlich insofern als Praktiken, die nicht von vornherein als politische, sondern als private Praktiken verstanden worden seien, in den gesellschaftlichen Diskurs mit einbezogen wurden: „Das Private ist politisch“! Insgesamt zeichnete sich schließlich ein Konsens dahingehend ab, dass der Politisierungsbegriff nicht generell durch ‚Demokratisierung‘ ersetzbar sei, man aber andererseits seine Verwendung als Kampfbegriff nicht vergessen dürfe. Dabei sei zu bedenken, dass sich auch Diskurse als „Praktiken“ lesen ließen und insofern neben dem von den Zeitgenossen eher polemisch benutzten Ausdruck auch an der analytischen Dimension des Politisierungsbegriffs festzuhalten sei. Abschließend wurde darauf hingewiesen, dass die betreffenden Diskurse und Quellen vor allem einen Generations- bzw. Kohortenwechsel erkennen ließen. Am Ende der 1960er Jahre habe nicht nur die Frankfurter Schule in Theo­logenkreisen Einzug gehalten – Gert Otto und Wolf-Dieter Marsch werden als Beispiele genannt – die Studentenbewegung habe auch eine Kirchen­ reformdebatte ausgelöst, in der man über die Demokratisierung der Kirche diskutiert habe. Parallel zu diesen Ereignissen habe es mit der Großen Koalition und später mit Willy Brandts Regierungserklärung zur sozialliberalen Koalition eine enorme Reformeuphorie gegeben. In diesem Zusammenhang sei dann die schwierige Frage nach der Unterscheidung von privat und öffentlich zu thematisieren. Denn auch heute gebe es vor dem Hintergrund der Ausführungen von John Rawls, aber auch Jürgen Habermas Diskussionen, in denen die entsprechenden Sachverhalte mehr oder weniger unklar blieben. Die württem­ bergischen Pietisten hätten damals über das Allerprivateste – die Sexualität – öffentlich gestritten. Insofern sollte man bei der entsprechenden Zuschreibung diskursanalytisch bedenken, dass das, was privat und öffentlich ist, in diesen religiösen oder christlichen Kontexten vollkommen unterschiedlich bezeichnet und bewertet worden sei.

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Die Politisierung der Theologie

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Klaus Fitschen

Zur Einführung

Mit dem Begriff „Politisierung der Theologie“ lässt sich das beschreiben, was manche direkter „Politische Theologie“ nannten: In den 1960er Jahren sah man sich vor neuen Herausforderungen an die Theologie, die zu Versuchen ihrer gänzlichen Neuinterpretation führen sollten. Sympathien für den Sozialismus, für Befreiung und Revolution und für emanzipatorische Strömungen wie die Frauenbewegung wurden von katholischen wie evangelischen Theologinnen und Theologen in neue Konzepte übersetzt. In gewisser Weise war dies ein Dammbruch gegenüber den Debatten um Wiederbewaffnung und Wehrdienst in den 1950er Jahren, die noch vom Streit über die Geltung der Zwei-ReicheLehre bestimmt gewesen waren und sich damit in klassischen theologischen Bahnen bewegten. Dass das Phänomen einer Politisierung an sich nicht neu war, machten sich jene zunutze, die auf evangelikaler Seite das Projekt als eine Neuauflage der Deutschen Christen ansahen. Die neuen Theologien zeigten im Namen, was sie an Politisierung im Schilde führten, so auch der christlich-marxistische Dialog, der in den Jahren vor 1968 seinen Höhepunkt erreichte. Eine spezifisch tschechische Interpretation der Theologie Karl Barths und Dietrich Bonhoeffers machte Prag zu einem Zentrum dieser Gesprächsversuche, deren wichtigste Protagonisten der Philosoph Milan Machovec und der evangelische Theologie Josef Hromádka waren. Die Zerschlagung des Prager Frühlings bedeutete einen erheblichen Einbruch für derlei Dialogversuche, und dennoch nicht das Ende. Christian Widmann zeichnet in seinem Beitrag zum christlich-marxistischen Dialog „Dialoglandschaften“ nach: Orte und Arenen wie Prag, Veranstaltungen der katholischen Paulus-Gesellschaft oder eine Konferenz in Marienbad im Jahre 1967. Was auf die Krise des Jahres 1968 folgte, war ein „Postdialog“, dessen Tendenz vom Gespräch zur Aktion, jedenfalls zum revolutionären Pathos führte. Was blieb, war und ist der notorische Hang linker Theologie, marktwirtschaftliche Systeme als „Kapitalismus“ zu brandmarken. Die wichtigsten Exponenten einer politisierten Theologie in Deutschland waren auf evangelischer Seite Dorothee Sölle, Helmut Gollwitzer und Jürgen Moltmann. „Politische Theologie“ ist ein Begriff, der überkonfessionell tauglich schien und auf katholischer Seite von Johann Baptist Metz eingeführt wurde. Durchsetzungsfähig in einer breiteren Öffentlichkeit waren diese Programme,

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Klaus Fitschen

weil auch in kirchlichen Kreisen der Ruf nach Partizipation von Nichttheologinnen und -theologen an politisch relevanten Debatten lauter wurde. Damit erwuchs den offiziellen und abgewogenen politischen Verlautbarungen kirch­ licher Leitungsorgane eine selbstbewusste Konkurrenz. Die Chiffren solcher Politisierungen der Theologie hießen  – dies ist das Thema des Beitrags von Annegreth Schilling – Theologie der Hoffnung, Theologie der Revolution oder Theologie der Befreiung, und damit war gesagt, dass sich auch der deutsche, ehemals national ausgerichtete Protestantismus zunehmend als ökumenisch sprach- und dialogfähig verstehen wollte. Die Politisierung der Theologie war demnach sowohl Ausgangspunkt wie Folge von Transferprozessen zwischen den Kirchen des Nordens und denen des Südens. Die unterschiedlichen Zuspitzungen – Hoffnung, Revolution, Befreiung – verwiesen auf unterschiedliche Horizonte politischer Konkretion, gemein war ihnen eine Emphase, die sich aus einer optimistischen Sicht der weltverändernden Möglichkeiten solcher Theologien speiste. Eine Sonderrolle hatte die Feministische Theologie, die in Kirche und Theologie erst nach den 1960er Jahren voll zum Durchbruch kam. Veränderungen im Verständnis der Geschlechterrollen und emanzipatorische Impulse in Politik und Gesellschaft konnten den Protestantismus nicht unberührt lassen. Die Durchsetzung der Frauenordination in den meisten evangelischen Landeskirchen war ein Signal in diese Richtung. Im Rückblick zeigte sich dann, dass die feministischen Theologinnen der „ersten Generation“ in den späten 1960er Jahren entscheidende Prägungen erhielten. Aus diesen Erfahrungen heraus entwickelten sie in den 1970er Jahren dann ihre Konzepte in Kirche und Theologie. Kornelia Sammet fokussiert in ihrem Beitrag zur Feministischen Theologie aus soziologischer Sicht auf die Politisierung evangelischer Theologinnen und damit auf eine erst in dieser Zeit im Rahmen der Neuen Frauenbewegung sich konstituierende Strömung. Theologie hat auch hier eine politische Ausrichtung, ist sie doch eben nicht mehr nur wissenschaftliche Reflexion, sondern die Einbeziehung von Erfahrungen (von Frauen) und die Intention, die Lebensbedingungen von Frauen zu verändern, und dies eben auf politischem Wege. Dass sich die Feministische Theologie gut etablieren und eine Erfolgsgeschichte schreiben konnte, hatte aber auch damit zu tun, dass sie kirchlichen Rückhalt hatte.

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Christian A. Widmann

Vom Gespräch zur Aktion? Der „christlich-marxistische Dialog“ und die Politisierung des Protestantismus in den 1960er und 70er Jahren

1. Fragestellung und Forschungsstand „Die Abhandlung möge als ein Votum im christlich-marxistischen Dialog aufgefasst werden; sie ist geschrieben im inneren und äußeren Kontakt mit denen, die durch ihre Lebenssituation ständig in diesem Dialog stehen. Der Dialog erzwingt das Verlassen der resignierten Distanz, in der der Historiker eine geschichtliche Bewegung als Einheit mit notwendiger und unaufhebbarer Verknüpfung ihrer wesentlichen Momente sieht. Im Dialog geht es gerade um die Auflösung solcher Verknüpfung; ihre Notwendigkeit darf, weil sie eine historische ist, nur als eine relative angesehen werden, die wie die Geschichte selbst nach vorne noch offen und unentschieden ist. Ich hebe das hervor unter dem Eindruck der historischen Sicht der Entstehung des modernen politischen Messianismus.“1

Mit diesen Worten leitete der im Jahr 1949 aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft zurückgekehrte und seit 1957 an der Freien Universität Berlin lehrende Systematiker Helmut Gollwitzer die schriftliche Überarbeitung seines in den Jahren 1958 und 1959 vor der Marxismuskommission der Studiengemeinschaft Evangelischer Akademien vorgetragenen Referats zum Thema „Marxis­ tische Religionskritik und christlicher Glaube“ ein. Mit dem solidarisch formulierten Hinweis auf die Alltagserfahrung der im realexistierenden Sozialismus lebenden Christen unterstrich Gollwitzer, der sich in der Christlichen Friedenskonferenz (CFK) zugleich für einen Ost-West-Ausgleich einsetzte, die Notwendigkeit eines christlich-marxistischen Gesprächs außerhalb des sowjetischen Einflussbereichs: Dieser in Form einer „Auseinandersetzung“ zu führende Dialog sollte „in kritischer Offenheit […] und auch im Widerspruch“ zum marxistischen Gegenüber vollzogen werden2. Sein im Jahr 1962 publiziertes „Votum“ umschreibt somit den zeitgenös­ sischen Hintergrund für das im Folgenden näher untersuchte, sich zu Be

1 Gollwitzer, 2 Ebd.,

7.

Religionskritik, 2.

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ginn der 1960er Jahre im geteilten Europa herausbildende und sich im Laufe der ersten Hälfte der 1970er Jahre auf Lateinamerika ausdehnende Phänomen eines „christlich-marxistischen Dialogs“3. Noch bis vor kurzem zählte der „Dialog“ zur Terra incognita der Forschung. Im Rahmen seiner semantikanalytischen Untersuchung zum Verhältnis von Politik und Religion anhand der Fallgeschichte Max Horkheimers griff Pascal Eitler schließlich den „Dialog“ beider Deutungssysteme auf, um die sublime Grenzziehung zwischen politischer und religiöser Sphäre herauszuarbeiten4. Mit gutem Grund plädierte er dafür, den „Dialog“ in Anlehnung an Friedrich Wilhelm Graf als überkonfessionelle „shared history“5 anzusehen. Eitler hielt es zudem für angebracht, den „Dialog“ als globale Erscheinungsform anzusehen. Damit grenzte er sich von den bisherigen  – im weiteren Verlauf des Beitrags teilweise genannten  – Arbeiten ab, welche den „Dialog“ vornehmlich unter nationalstaatlichen Vorzeichen untersuchten6. Als besonders herausragende und die Konzeption dieses Beitrags inspirierende Arbeiten sei auf die Studien von Paul Mojzes und Simone Thiede verwiesen: Der aus Kroatien emigrierte und in den USA osteuropäische Kirchengeschichte lehrende Pfarrersohn schärfte den Blick auf den „Dialog“ in Osteuropa, während Thiede das Gespräch zwischen Christen und Marxisten in der DDR der 1980er Jahre in den Vordergrund ihrer Fallstudie rückte7. Angesichts dieser bis dato eher stiefmütterlich zu charakterisierenden Behandlung des „christlich-marxistischen Dialogs“ seitens der (Kirchlichen) Zeitgeschichte, konzentriert sich der vorliegende Beitrag darauf, eine Skizze der von diesem Oberbegriff umfassten Dialoglandschaften zu zeichnen. Die bisherigen Forschungsergebnisse berücksichtigend, sollen die hier synoptisch an­gelegten – und durch das als „Wagnis zum Widerspruch“ verwendete Instrument der (Hypo)thesenbildung ergänzten  – Ausführungen den Anreiz für weitere Studien auf der Mikro- und Mesoebene liefern. Im Sinne einer dem „christlichmarxistischen Dialog“ als Globalphänomen Rechnung tragenden und multidisziplinär ausgerichteten Gesamtwürdigung erscheint es zudem unerlässlich, neben den regionalen und (trans)nationalen Zusammenkünften ihrer Anhän 3 Im Sinne Platons wird der „christlich-marxistische Dialog“ hier als eine mannigfaltige, in Zeit und Raum verstreute und dauernder Veränderung unterworfene Erscheinung aufgefasst. 4 Vgl. Eitler, „Umbruch“; Ders., Politik; und die jüngst erschienene Dissertation: Ders., Gott. 5 Eitler, Grenzen, 271; Graf, Wiederkehr, 30–50. 6 So etwa die durchaus anregende zeitgenössische Arbeit von Manfred Spieker, welche sich dem französischen Marxisten und Dialogteilnehmer Roger Garaudy zuwendet. Vgl. Spieker, Neo­ marxismus. 7 Vgl. Mojzes, Dialogue; Thiede, Dialog.

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ger auch die in „Christentum“ und „Marxismus“ geführten Binnendiskurse genauer zu untersuchen8. Im Hinblick auf die Fragestellung des vorliegenden Tagungsbandes werden die abseits des eigentlichen „Dialogs“ geführten innerkatholischen wie auch innermarxistischen Debatten9 hier jedoch weitgehend ausgeklammert, um so den Fokus auf die innerprotestantischen westdeutschen Auseinandersetzungen um das Wesen des „christlich-marxistischen Dialogs“ legen zu können.

2. Tauwetter und erste Ansätze: Von der Auseinandersetzung zum Gespräch Die Vorgeschichte des „Dialogs“ der 1960er und 1970er Jahre reicht bis in die Zeit der ersten Begegnungen einzelner Christen und Sozialisten in der Weimarer Republik zurück. Die Anhänger dieser beiden antagonistischen Deutungssysteme der menschlichen Lebenswelt wagten dabei den Schritt vom polemischen Reden über einander zu einem ersten Gespräch mit einander. Diese ersten Begegnungen waren in erster Linie vom Interesse getragen, eine seit Jahrzehnten vorherrschende Sprachlosigkeit zu beenden, um so den Abbau von Feindbildern zu fördern. An vorderster Front agierten die in den Arbeitervierteln diakonisch tätigen und mit der organisierten Arbeiterbewegung in Kontakt stehenden „Arbeiterpfarrer“. Letztlich dürfte aber eine vielfältige Gemengenlage an Motiven den Ausschlag für das Engagement gegeben haben: Neben einem diakonischen bzw. sozialreformerischen Streben sowie dem apolo­getischen Ansinnen, sich mit dem Marxismus direkt auseinanderzusetzen, verbarg sich dahinter wohl auch die Sorge um eine weiter abnehmende Kirchenbindung seitens der Arbeiterschaft10. Als weiterer – v. a. die Weimarer Republik betreffender  – Faktor wäre noch die Ausformung eines spezifisch protestantischen Antipartikularismus zu nennen, welcher sich in dem Streben nach einer Harmonisierung bestehender Gegensätze artikulierte. Diese Motivlagen fanden sich in den Reihen der auf protestantischer Seite europaweit zu findenden „Religiösen ­Sozialisten“ und ihrem bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges un 8 Im Falle der Theologie ließe sich beispielsweise nach der „befruchtend[en]“ Wirkung der dialogischen Auseinandersetzung mit dem Marxismus fragen (Rolfes, Marx/Marxismus III, 252). Vgl. hierzu den Beitrag von Annegret Schilling zu den „Genetiv-Theologien“ im vorliegenden Band. 9 Vgl. hierzu Eitler, Gott, 247, 265 u. 275–277. 10 Vgl. hierzu folgende zeitgenössischen Arbeiten von Dehn, Jugend; Göhre, Fabrik­arbeiter; und die veröffentlichte Dissertation des Duisburger Theologen Adam Weyer zur Geschichte der Sozialen Arbeitsgemeinschaft: Weyer, Kirche.

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ternommenen Versuch, sich mit dem Marxismus-Leninismus konstruktiv auseinanderzusetzen11. Über die Frage der Reichweite der Rezeption marxistischer Theorien war man sich aber – ungeachtet aller Sympathien für die marxistische Kapitalismusanalyse – dauerhaft uneinig12. Nach Beendigung des Zweiten Weltkriegs stand die Begegnung zwischen Christentum und Marxismus im Schatten des sich verschärfenden Ost-WestGegensatzes. Wenngleich der in der politischen Kultur Westeuropas verbreitete antikommunistische Grundkonsens von dem 1948 als Repräsentationsorgan der nichtkatholischen Christenheit gegründeten Ökumenischen Rat der Kirchen (ÖRK) übernommen wurde, blieb die Erinnerung an die humanistische Zielsetzung marxistischen Gedankenguts – nicht zuletzt aufgrund des Engagements von Karl Barth und seinem tschechischen Kollegen, dem Prager Theologieprofessor Josef L. Hromádka  – weiterhin präsent13. Einer vollständigen Diskreditierung stand auch die gemeinsame Erfahrung des antifaschistischen Kampfes im besetzten Europa entgegen. Auf westdeutschem Boden regten der Systematiker Hans-Joachim Iwand und weitere Vertreter des Bruderrates der EKD einen selbstkritischen Umgang mit den politischen Positionen des deutschen Protestantismus vor und nach dem 30. Januar 1933 an. In dem 1947 als Beitrag „zum politischen Weg unseres Volkes“ herausgegebenen „Darmstädter Wort“ gaben die Autoren mit Blick auf Gegenwart und Zukunft u. a. folgendes zu Bedenken: „Wir sind in die Irre gegangen, als wir übersahen, daß der ökonomische Materialismus der marxistischen Lehre die Kirche an den Auftrag und die Verheißung der Gemeinde für das Leben und Zusammenleben der Menschen im Diesseits hätte gemahnen müssen. Wir haben es unterlassen, die Sache der Armen und Entrechteten gemäß dem Evangelium von Gottes kommendem Reich zur Sache der Christenheit zu machen.“14

Wenngleich der hier implizit artikulierte Dialogaufruf in der EKD weitgehend mit Ablehnung aufgenommen wurde und auch innerhalb des Bruderrates, wie das „Darmstädter Wort“ als Ganzes, auf energischen Widerspruch

11 Vgl. Evangelische Akademie Baden (Hg.), Himmel; Breipohl, Dokumente. Zur zeit­ genössischen Sicht vgl. Heimann, Sozialismus; Tillich, Sozialismus. 12 Vgl. die stellvertretend im „Bund der Religiösen Sozialisten“ geführte Kontroverse zwischen Erwin Eckert und Hans Müller, Breipohl, Sozialismus, 44 ff u. 78 ff. Zum „Bund“ im Allgemeinen vgl. Baig, Bund. 13 Vgl. Tödt, Marxismus-Diskussion. 14 Zit. n. Greschat/Krummwiede (Hg.), Zeitalter, 195. Vgl. die Auslegung von Joachim Beckmann, Hermann Diem, Martin Niemöller und Ernst Wolf (WORT).

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stieß15, so stand er fortan zumindest als Mahnung im Raum, sich mit der marxistisch-leninistischen Lehre objektiv-kritisch auseinanderzusetzen. Einige Göttinger Theologiestudenten gingen einen Schritt weiter, indem sie sich in Berufung auf „Darmstadt“ aufmachten, im Rahmen eines „Arbeitskreises zum Studium des Marxismus“ die direkte Begegnung mit den Kommunisten zu suchen. Unter der Schirmherrschaft des Göttinger Kirchenhistorikers Ernst Wolf erwies sich der Arbeitskreis gegen Ende der 1940er Jahre, so die Meinung eines später in die DDR ausgewanderten christlichen Teilnehmers, „als eine gute Schule zur Einübung des Gesprächs und der politischen Kooperation mit Kommunisten.“16 Letzteres hatte die Studiengemeinschaft der Evangelischen Akademien freilich nicht im Sinn, als sie 1952 eine multidisziplinäre Kommission einrichtete mit dem primären Ziel, die Vielschichtigkeit des „Marxismus“ von wissenschaftlicher Seite her zu beleuchten. Die bipolare Weltsituation in den Blick nehmend, fragten sich die Mitglieder, ob „es noch Ansatzpunkte eines gemeinsamen Gesprächs“ zwischen Ost und West gäbe oder ob „sich bereits in der Mitte Europas ein Riß gebildet“ habe, „der zu einem ständig sich ausdehnenden geistigen Vakuum“ führen würde17. Der Tod Stalins im Jahr 1953 erwies sich in diesem Zusammenhang als Hoffnungsschimmer: Folglich war die Kommissionsarbeit in den kommenden Jahren nicht nur von der an­fänglichen „Einsicht“ bestimmt, „daß die aus dem 19.  Jahrh[undert] überkommenen Grundlagen […] bei der Marxinterpretation […] nicht mehr tragfähig sind“. Ein weiterer Beweggrund war „ein aktuelle[s] Interesse“ angesichts des Umstandes, daß „viele dieser [die Marxismusinterpretation betreffenden, C. A. W] Fragen […] neu in Fluß gekommen“ waren18; dies bedingte die vorsichtig formulierte Zuversicht, das von Stalin in ein statisches Legitimationskorsett gezwängte Konzept des „Dialektischen Materialismus“ würde seitens der KPdSU wiederentdeckt und in den Dienst künftiger Reformen gestellt werden19. In diesem Zusammenhang formulierte Erwin Metzke, der 1956 verstorbene Kommissionsvorsitzende, zwei weitere Aufgabengebiete der Marxismusstudien, die im „Dialog“ der folgenden Dekade wieder aufgegriffen wurden:

15 Vgl.

Ludwig/Prolingheuer/Schönherr, Irre. Begegnung, 161. 17 Metzke, Vorwort, 6. 18 Ebd., 8 f. 19 Der „Dialektische Materialismus“ als Begriff findet sich erstmalig in dem 1887 von dem Philo­sophen Joseph Dietzgen publizierten Werk „Streifzüge eines Sozialisten in das Gebiet der Erkenntnißtheorie“. 16 Müller,

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„Wo aber die letzten und nicht nur die vorletzten Wurzeln, Triebkräfte und Ziel­ setzungen im Sozialismus wie im Kommunismus gefasst werden, da kommt es notwenig zu einer Konfrontation mit der christlichen Tradition. Diese muß sich selbst auf ihre eigene Zukunftshoffnung hin kritisch befragen lassen. Doch das ist nicht im Sinne eines Rückblickens gemeint, vielmehr wird die ‚Eschatologie‘ heute – weit über den theologischen Bereich im engeren Sinne hinaus – Ausgangspunkt eines neuen Seinsbewußtseins im Ringen um Lebenssinn und Geschichtsverständnis.“20

Auf marxistischer Seite fand dieser Ansatz in dem Lebenswerk des 1961 von der DDR in die Bundesrepublik übergesiedelten Philosophen Ernst Bloch ein zeitgenössisches Pendant: In Abkehr von marxistischer Religionskritik und historischem Materialismus benutzte Bloch die von ihm konzipierte geschichtsphilosophische Kategorie eines „Noch-Nicht“, um die Konvergenzen beider Deutungssysteme herauszuarbeiten21. Nicht zuletzt sein 1959 erschienener dritter Band zu „Das Prinzip Hoffnung“ trug dazu bei, die von dem Tübinger Systematiker und späteren Dialogteilnehmer Jürgen Moltmann wenig später entworfene „Theologie der Hoffnung“ zu inspirieren und machte ihn so auch im nicht-deutschsprachigen Raum zum Nestor des kommenden „Dialogs“22. Im Protestantismus wurde diese Funktion dem bereits weiter oben genannten Josef L. Hromádka zuteil. In Verbundenheit mit dem schweizerischen „Religiösen Sozialismus“ sowie in „Freundschaft im Widerspruch“23 zu Karl Barth favorisierte der Dekan der Prager Comenius-Fakultät eine sich auf das hussitische Erbe berufende, Welt gestaltende Theologie mit sozialreformerischem Ansatz. Hieraus leitete er die „Verpflichtung zur vorurteilslosen Begegnung auch mit ideologisch fremden Mitmenschen“24 ab, die ihn und weitere Prager Theologen ausgerechnet in den Jahren 1957 bis 1962, zur Zeit einer Verschärfung der kommunistischen Kirchenpolitik, in erste vereinzelte Gespräche mit interessierten Marxisten führte25. Vor diesem Hintergrund entstand auch seine 1958 erschienene Schrift „Evangelium für Atheisten“26. Parallel zu diesen ersten Dialogbemühungen veranlasste ihn seine ökumenische Solidarität, den Ausgleich zwischen Tschechen und Deutschen wie auch zwischen Ost und West im Allgemeinen zu befördern. Von dem gemeinsamen Interesse der Friedens­sicherung 20 Metzke, Vorwort, 10. Vgl. hierzu den Beitrag von Heinz-Dietrich Wendland im ersten der insgesamt sieben Bände der bis 1972 erschienen Marxismusstudien (Wendland, Hoffnung). 21 Vgl. v. a. Bloch, Müntzer; Ders., Prinzip; sowie Deuser/Steinacker, Vermittlungen. 22 Vgl. hierzu Eitler, Politik, 275. 23 Vgl. Rohrkrämer, Freundschaft. 24 Lochmann, Einleitung, 17. 25 Opočenský, Dialog, 129. 26 Hromádka, Evangelium.

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getragen, entwickelte sich in der zweiten Hälfte der 1950er Jahre ein persönliches Kontaktnetzwerk heraus, welches Prager und westdeutsche, vornehmlich den Kirchlichen Bruderschaften angehörende Theologen und Kirchenvertreter zusammenführte. Von deutscher Seite wurden namhafte Personen wie Martin Niemöller, Hans Joachim Iwand, Heinz Kloppenburg und die späteren „Dialog“-Teilnehmer Gollwitzer und Moltmann nach Prag eingeladen, wo sie von ihren tschechischen Brüdern nicht nur über die Lage der Christen im sozialistischen Alltag und die ersten christlich-marxistischen Gespräche vor Ort informiert wurden, sondern ihrerseits auch das Gespräch mit den „marxistischen Freunde[n]“ ihrer Gastgeber führten27. Dass Prag zu einem allgemeinen Symbol für die Begegnung zwischen Ost und West wurde, ist in erster Linie auf die 1958 vollzogene Verlegung dieser ersten Begegnungen auf die Plattform der „Christlichen Friedenskonferenz“ zurückzuführen28. Nichtsdestotrotz war es nicht im Interesse der sozialistischen Staatsführungen, die unter ihrem Einfluss stehende CFK zum Forum eines „christlich-marxistischen Dialogs“ werden zu lassen. Aus diesem Grund scheiterten auch sämtliche Versuche ihres Präsidenten Hromádka, den protestantischen Ost-West-Dialog innerhalb der CFK um Gespräche mit Atheisten aus Ost und West zu ergänzen29. An diesem Umstand sollte sich bis Hromádkas Tod im Dezember 1969 und darüber hinaus nichts ändern.

3. Die Spitze des Eisbergs: Der institutionalisierte Dialog als transnationales Ereignis Anders als auf CFK-Ebene entwickelte sich der Prager „Dialog“ unter der Ägide Hromádkas und dem marxistischen Philosophieprofessor Milan Machovec zu Beginn der 1960er Jahre weiter. Ab Herbst 1964 wurde er in Form eines wöchentlich abgehaltenen Seminars innerhalb der Philosophischen Fakultät domestiziert30. Gleichzeitig wurde in der philosophischen Abteilung der Akade 27 Smolík, Einführung, 13 f. Dass diese Kontakte sich nicht auf deutsche ČSSR-Besuche beschränkten, unterstreicht die Teilnahme Prager Theologen und Marxisten an Veranstaltungen der Kirchlichen Bruderschaften in der Bundesrepublik. Hromádka hatte auf Einladung von Hans Joachim Iwand 1955 seinen ersten Besuch in der Bundesrepublik unternommen. Vgl. Hromádka, Not, 22; Machovec, Einfluß, 82. 28 Zur Geschichte der CFK: Lindemann, Sauerteig; zur Behandlung der Deutschlandfrage als Teil der Friedensfrage: Lepp, Tabu, 469–487. 29 Lindemann, Sauerteig, 739, 762 u. 774. 30 Opočenský, Dialog, 129 u. 132. Als ausländische Referenten nahmen neben dem Mainzer Neutestamentler Herbert Braun auch die Theologen Albert Rasker und Charles West teil.

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mie der Wissenschaften eine Forschergruppe „Religionistik“ ins Leben gerufen. Nicht zuletzt als Antwort auf die auch in Prag rezipierten Studien der Evangelischen Akademien entstanden hier marxistische Arbeiten zu Paul Tillich, Karl Barth und Dietrich Bonhoeffer, um „den Gegner ersteinmal kennenzulernen und zu verstehen, ehe man ihn [zu] widerlegen“ versucht31. Während man in Prag an der „Schwelle zum Dialog“32 stand, setzte die Evangelische Studentengemeinde (ESG) Darmstadt den „Dialog“ auf ihre Agenda, indem sie – in Berufung auf die Entwicklung in der ČSSR – ab 1963 unter der Leitung des in der CFK aktiven und dem jüdisch-christlichen Dialog verbundenen Studentenpfarrers Martin Stöhr regelmäßige Begegnungen in der Evangelischen Akademie Arnoldshain abhielt. Diese, so Stöhr, „ersten Gespräche zwischen christlichen und marxistischen Wissenschaftlern in Deutschland“33 standen in Zusammenhang mit dem allgemeinen „Dialogimperativ“34 der 1960er Jahre. Einen wesentlichen Anteil an der Popularisierung des Dialogs als Modeerscheinung und Kennzeichen eines (religiösen) Modernisierungsschubs hatte dabei die umfassende Medienberichterstattung über das Zweite Vatikanische Konzil, wie auch die nach dem Berliner Mauerbau und der Beilegung der Kubakrise sich entspannende politische Großwetterlage35. Von protestantischer Seite boten eine sich bereits gegen Ende der 1950er Jahre in den Evangelischen Akademien vorzufindende „institutionalisierte Dauerreflexion“ und der von Brigitte und Helmut Gollwitzer maßgeblich beeinflusste christlich-jüdische Dialog einen guten Nährboden für weitere Dialogversuche36. In den mehrheitlich katholisch geprägten Ländern Westeuropas wurden die Konzilsbewegung, aber auch die im Kontext mit der Veröffentlichung des politischen Testaments von Palmiro Togliatti, dem 1964 verstorbenen Generalsekretär der Kommunistischen Partei Italiens, geführte innermarxistische Debatte zum Anlass für erste Dialogveranstaltungen37. In Lyon veranstalteten Vertreter der protestantischen und katholischen Kirche in Frankreich im Februar 1964 eine Diskussion mit Vertretern der Kommunistischen Partei Frankreichs (PCF) zum Thema „Materialismus und Transzendenz“. Wenig später war es die PCF, welche anlässlich 31 Stöhr,

Anfang, 22. der Titel von Hromádkas 1965 publizierter Schrift, die trotz massiver Widerstände auch in der DDR im Union-Verlag publiziert wurde. Vgl. Hromádka, Schwelle, 73 f; Thiede, Dialog, 138. 33 Stöhr, Gespräche, 208. 34 Eitler, Gott, 253. 35 Vgl. Hellemanns, Transformation, 19; sowie Schildt, Wohlstand, 44 f. Zur Wirkung des Konzils auf den „Dialog“ vgl. Eitler, Gott, 246–251. 36 Schelsky, Dauerreflexion; Lepp, Gollwitzer, 238. 37 Vgl. Neubert, Hypothek, 102–125. 32 So

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des 400. Todestages des Reformators Calvin einen Gesprächsabend mit evangelischen Theologen organisierte. Diesen Gesprächen waren wiederum zwei­ jährige Diskussionsrunden innerhalb der evangelisch-theologischen Fakultät Paris vorausgegangen38. Angesichts dieser Entwicklungen überrascht es kaum, dass die 1955 in München von dem katholischen Geistlichen Erich Kellner gegründete und sich fortan der Auseinandersetzung zwischen Theologie und Naturwissenschaft verschriebene Paulus-Gesellschaft den Aspekt des „christlich-marxistischen Dialog“ aufgriff. Wenngleich die Namensgebung dieser weitgehend autonomen katholischen Einrichtung dies suggerierte, stand die ihrerseits zum Ziel erhobene Dialogförderung weniger im Dienste der Bekehrung als der wissenschaftlichen Auseinandersetzung. Nachdem die ersten beiden Dialogveranstaltungen im Mai und November 1964 in München bzw. Köln den Charakter bisheriger Arbeitstagungen der Paulus-Gesellschaft wahrten, indem sie im kleinen Kreis hinter verschlossenen Türen abgehalten wurden, verursachte der 1965 in Salzburg abgehaltene Kongress ein wahres „Weltecho“39. Bei diesem „erste[n] eigentlich große[n] internationale[n] Gespräch zwischen Christentum und Marxismus“40 trafen sich etwa 240 Hochschullehrer und Parteifunktionäre aus West- und Osteuropa41 zum offenen Dialog. Den Ausgangspunkt dieses wissenschaftlichen Diskussionsforums bildete der gemeinsam konstatierte postmoderne Widerspruch einer technisch dynamisierten globalisierten Welt, welche das entwicklungspolitische Nord-Süd-Gefälle vergrößerte anstatt es zu verringern. Diese als Krise der Menschheit wahrgenommene Fortschrittsdialektik wurde mit der bipolaren Weltordnung in Verbindung gebracht und zeitigte kritische Anfragen an beide Deutungssysteme: Im Sinne einer „Gesamtverantwortlichkeit um die Zukunft des Menschen“ sollten Theologen und Marxisten  – ausgehend von der Frage nach dem menschlichen Wesen  – in einen er­gebnisoffenen Austausch über den Gegensatz von marxistischer Im 38 Vgl.

Cardonnel, L’homme. (Hg.), Vorwort, 11. Vgl. auch die von der Paulus-Gesellschaft herausgegebene Zusammenstellung über die Medienberichterstattung in den Ländern West- und Osteuropas bzw. Nordamerikas: Kellner (Hg.), Christentum. 40 So jedenfalls die Charakterisierung von Roger Garaudy in seiner Rede an den Kongress. Die „vielen Dialoge“ in den übrigen Ländern bezeichnete er dabei „als Vorspiel dieses Gesprächs“ (­Garaudy, Rede, 17). Kursiv-Auszeichnungen im Original. 41 Die osteuropäischen Teilnehmer kamen aus Bulgarien, Ungarn und Jugoslawien. Während der mit einem Berufsverbot belegte und aus der SED ausgeschlossene Regimekritiker Robert Have­ mann in Salzburg zum Thema „Kommunismus – Utopie und Wirklichkeit“ referierte, hatten polnische Marxisten, darunter auch der bis 1968 dem Zentralkomitee der polnischen KP angehörende Adam Schaff, ihre Teilnahme kurzfristig abgesagt bzw. keine Ausreiseerlaubnis erhalten. Vgl. hierzu Öster­reichische Sektion, 5; Eitler, Gott, 260. 39 Kellner

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manenz auf der einen Seite und christlicher Transzendenz auf der anderen Seite kommen42. Folglich wurden neben dem Atheismusproblem auch Fragen nach der Stellung des Individuums bzw. Christen in und zu der westlichen bzw. sozia­listischen Gesellschaft diskutiert43. Handelte es sich bei der Salzburger Tagung in erster Linie um einen „katholisch-marxistischen Dialog“, so sollte sich dies bei den kommenden Dialogveranstaltungen der Paulus-Gesellschaft in Herrenchiemsee und Marienbad in den Jahren 1966 und 1967 wesentlich ändern. Im Fall des westeuropäischen Protestantismus hatte die im Juli 1966 vom Ökumenischen Rat der Kirchen (ÖRK) abgehaltene Weltkonferenz für Kirche und Gesellschaft das Augenmerk auf den Aspekt des technischen und sozialen Fortschritts gelenkt. Konkret stellte sich die Frage, welche Rolle die „Kirche als Faktor einer kommenden Weltgesellschaft“44 spielen könne. Schon aufgrund der von marxistischen Theorien beeinflussten ökumenischen Diskussion über eine Revolution sozialer Verhältnisse bot sich eine protestantische Vertiefung des Gesprächs mit dem atheistischen Gegenüber an45. Folglich griff auch der Weltkirchenrat im Anschluss an die Genfer Konferenz das Thema der Dialogförderung auf46. Der Münsteraner Systematiker Trutz ­Rendtorff formulierte gleichzeitig die kritische Erwartung an den institutionalisierten Dialog, wonach dieser in seinem die Welt deutenden abstrakten Ringen um ein gemeinsames Wirklichkeitsverständnis von der in Genf 1966 eingeleiteten ökumenischen Diskussion lernen könne, indem er sich „auch wieder mit den Wirklichkeitswissenschaften“ direkt konfrontieren lasse47. Neben der akademischen Auf­ arbeitung von „Genf“ trug auch eine seit der Salzburger Tagung für Dialogfragen sensibilisierte Medienberichterstattung dazu bei, den nächsten großen Paulus-Kongress im Frühjahr 1967 im böhmischen Marienbad (­Mariánske Lázně) „mit Superlativen der Erwartung“ zu verbinden, denn zum ersten Mal, so Jürgen Moltmann, 42 Kellner,

Wissenschaft, 28. inhaltlichen Auseinandersetzung weiter unten S. 137 f. 44 So lautet jedenfalls der Titel des deutschen Vorbereitungsbandes: Ökumenischer Rat der Kirchen (Hg.), Kirche. Zur Genfer Konferenz selbst vgl. Krüger (Hg.), Appell. 45 Vgl. Bent, Thema. Am Ende der Tagung wurde schließlich die Empfehlung an den ÖRK formuliert, „überall in der Welt auf internationaler Basis einen informellen Dialog mit Marxisten zu beginnen.“ (Krüger [Hg.], Appell, 259). 46 Im April 1968 veranstaltete der ÖRK – im Anschluss zu einer bereits im Oktober 1967 ab­ gehaltenen Tagung – eine eigene Dialogveranstaltung, zu der auch Christen und Marxisten aus der „Dritten Welt“ nach Genf eingeladen waren. Einer ostdeutschen Delegation wurde dagegen von den DDR-Behörden die Ausreise verweigert. Vgl. Garaudy, Dialog, 129; Bent, Thema, 338. Vgl. auch die vom ÖRK-Stab zusammengestellte Bibliographie: Bent, Dialog. 47 Rendtorff, Rezension, 319. 43 Zur

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„erwiderten Marxisten die Einladung der Christen zum Dialog auf dem Boden eines sozialistischen Landes. […] Zum ersten Mal waren mehr marxistische Philosophen aus den Akademien der Wissenschaften der sozialistischen Länder anwesend als marxistische Philosophen der kommunistischen Parteien westlicher Länder. Zum ersten Mal waren auch Protestanten aus beiden Arten von Ländern vertreten. Es ist verständlich, daß sich die Organisation, die von der tschechischen Akademie der Wissenschaften und der Paulus-Gesellschaft zusammen übernommen worden war, vor fast unüberwindliche Schwierigkeiten gestellt sah.“48

Überschattet wurde dieser nunmehr „marxistisch-christliche Dialog“ von der Nicht-Teilnahme sowjetischer Vertreter49. Mit der Wahl der Tagungs­themen „Schöpfertum und Freiheit“ stand die Veranstaltung ohnehin im Kontext der sich zu dieser Zeit in der ČSSR entwickelnden kritischen Öffentlichkeit. Die Frage, inwiefern die Marienbader Tagung und der in Prag betriebene „christlich-marxistische Dialog“ einen „gewissen Einfluss“ auf die politische Situation des Landes ausübten, muss an dieser Stelle bewusst offen gelassen werden50. Im Falle der westeuropäischen Staaten und den USA bewirkte die Anreise zahlreicher Medienvertreter nach Marienbad eine weitere Popularisierung des „christlich-marxistischen Dialogs“. Die nun auf breiter Front wahrgenommenen Paulus-Gespräche schufen somit die Voraussetzungen, dass das Phänomen eines vielerorts – wie in der Evangelischen Akademie Arnoldshain51 – im Stillen in Gang gekommenen „Dialogs“ in das Licht der allgemeinen Öffentlichkeit gelangte. Darüber hinaus wurde das Initiieren weiterer Dialogrunden durch den Hinweis auf den „avantgardistischen Weltruf“ der Paulus-Gesellschaft wesentlich erleichtert52. Insbesondere kirchliche Zeitschriften und Nachrichtendienste wie die „Junge Kirche“ und der „Evangelische Pressedienst“ fungierten fortan als Foren der Informationsbeschaffung. Während die Protagonisten der Paulus-Gesellschaft hierin ihre akademischen Betrachtungen publizierten 48 Moltmann,

Marxisten, 398. hierzu den von der Paulus-Gesellschaft herausgegebenen Tagungsband wie auch einzelne in der „Jungen Kirche“ veröffentlichte Tagungsberichte: Kellner (Hg.), Schöpfertum; Junge ­Kirche, Berichte. Vgl. ferner die vom Präsidenten des Deutschen Evangelischen Kirchentag, Richard von Weizsäcker, gesammelten Eindrücke: Hoffnungsvolle Begegnung zwischen Christen und Marxisten, 6. 50 Vgl. Machovec, Einfluß, 83. Nicht ganz zufällig veröffentlichte die als Plattform der Aus­ einandersetzung zwischen Reformern und Dogmatikern genutzte Literaturzeitschrift „Literární noviny“ noch im selben Jahr eine von dem marxistischen Philosophen Vitězslav Gardavský verfasste Artikelserie unter dem Titel „Gott ist nicht ganz tot“. Vgl. Lochmann, Marx, 33; Anonymus, Tanz, 138. Vgl. auch die ins Deutsche übersetzte Rezension von Machovec’ Werk „Vom Sinn des Lebens“, die am 13. 11. 1965 in „Literární noviny“ erschien: Tomin, Dialog. 51 Vgl. Prager Wissenschaftler, 4. Vgl. auch oben S. 128. 52 Anonymus, Mut, 162. 49 Vgl.

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und so den institutionalisierten Austausch fernab der großen Tagungen weiterführten, bot die kirchliche Berichterstattung dem einzelnen Interessenten – sei er nun Geistlicher, Gemeindemitglied, Kirchenfunktionär oder auch Student bzw. Hochschulangestellter  – die Chance, sich über die einzelnen nationalen Diskurse im westeuropäischen, aber auch osteuropäischen Ausland und deren jeweilige Spezifika ein Bild zu machen53. Betrachtet man z. B. die Entwicklung in Großbritannien und Skandinavien, so finden sich ausreichend Belege zugunsten der Hypothese, wonach der „Dialog“ sich nicht auf mehrheitlich katholisch geprägte Länder begrenzte54. Weitere „Publicity“ generierende Multiplikatoren waren auch die vielerorts in der Bundesrepublik organisierten Themenabende, zu denen einzelne Protagonisten des institutionalisierten Dialogs aus dem Ausland als Gastredner eingeladen wurden. Als weitere Anlässe dienten die im Herbst 1967 abgehaltenen Reformationsfeiern und der 50. Jahres­tag der russischen Oktoberrevolution55.

4. „1968“ und die Generationenwende Spätestens mit dem Tod des Studenten und ESG-Mitglieds Benno Ohnesorg am 2.  Juni 1967 erfuhr die im Zusammenhang mit der Hochschulreform entstandene Studentenbewegung einen Politisierungsschub, der zunehmend auch evangelische Theologiestudierende in seinen Bann zog56. In teils offener, teils kritischer Sympathie zum Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) wurden die Theologischen Fakultäten und Kirchlichen Hochschulen so zum Ort einer intensiven Auseinandersetzung mit dem marxistisch-leninistischen Gedankengut im Allgemeinen wie auch mit der Kritischen Theorie der 53 Mit dem „Neuen Forum“ und der „Internationalen Dialog Zeitschrift“, die unter nationaler Redaktion stehend u. a. auch in Frankreich und Italien herausgegeben wurde, verfügte der „Dialog“ in der Bundesrepublik auch über eigene Periodika. Zu den weiteren Formen der Informations­ beschaffung vgl. ausführlich Eitler, Politik, 278 f; Ders., Gott, 262 f. 54 In Großbritannien zählte der deutschstämmige anglikanische Pfarrer und spätere Leiter des Außenamtes des Britischen Kirchenrates, Paul Oestreicher, zu den verantwortlichen Initiatoren. Vgl. ÖPD-Genf, Christen. Zu den „Dialog“-Bemühungen in Dänemark, Norwegen und Schweden vgl. die folgenden zeitgenössischen Arbeiten: Glebe-Møller, Marx; Langslet, Kirken; ­Frostin, Kristendom. 55 Vgl. z. B. Reformationsgedenken in der Bundesrepublik, 4.  In ihrer Ausgabe vom 24. 3. 1967 hatte die US-Wochen­zeitschrift Time dem „gehorsamen Rebell“ Luther eine aufsehenerregende Titelgeschichte gewidmet, indem sie den Wittenberger Reformator mit Jesus und Karl Marx verglich, um seine zeitgenössische Bedeutung zu würdigen. Vgl. Anonymus, Protestants; ­Luther der ‚gehorsame Rebell‘. 56 Vgl. hierzu überblickartig Hager: Protestantismus wie auch die unterschiedlichen Sicht­ weisen von Frey, 68er; und Dietz, Konservatismus.

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„Frankfurter Schule“ im Besonderen57. Gleiches gilt für die über 100 Evange­ lischen Studentengemeinden in Deutschland58. Schon aus diesem Grund waren die mehrheitlich von der Moskauer Parteilinie abgewandten neomarxistischen „Dialog“-Teilnehmer gern gesehene Gäste an den westdeutschen Universitäten. Im Dezember 1967 z. B. wurde der drei Jahre später aus der PCF ausgeschlossene Parteifunktionär Roger Garaudy von der Evangelisch-Theologischen Fakultät und dem AStA der Universität Heidelberg zu einem Vortrag eingeladen. Auf einer am Folgetag abgehaltenen Podiumsdiskussion diskutierte er schließlich mit den Theologieprofessoren Georg Picht und Heinz-Eduard Tödt59. Für weitere Aufmerksamkeit aus den Reihen der sich entweder religiös oder atheistisch zu erkennen gebenden „Neuen Linken“ sorgte ein im Jahr 1968 erschienenes Spätwerk von Ernst Bloch, in welchem dieser den Versuch einer atheistischen Neubewertung der Bibel unternahm60. Bereits im Februar desselben Jahres war Bloch dem gläubigen Protestanten und Studenten­ führer, Rudi Dutschke, bei einer von der Evangelischen Akademie organisierten und massenmedial rezipierten Tagung in Bad Boll erstmalig begegnet. Zusammen mit weiteren Akademikern und Studenten – darunter auch der sich mit den Fragen des „Dialogs“ beschäftigende Wuppertaler Systematiker Wolf-Dieter Marsch61 – diskutierten die beiden späteren Freunde christliche und (neo) marxistische Positionen zum Thema „Novus Ordo Saecularum – Problem der Revolution in Deutschland“.62 Weniger Verständnis als von Seiten seines väterlichen Fürsprechers erhielt Dutschke hingegen bei seiner Teilnahme an der Dritten „Allchristlichen Friedensversammlung“ in Prag. Auf Einladung der Jugendkommission war Dutschke Ende März 1968, wenige Tage vor dem auf ihn in Westberlin verübten Attentat, zu der CFK-Veranstaltung nach Prag gereist, um über die Tätigkeit des SDS zu berichten. Die CFK-Organisatoren, ein 57 Zum Verhältnis „Neue Linke“ – „Frankfurter Schule“: Kraushaar (Hg.), Schule. Vgl. auch Kailitz, Worten. Zu der Kontroverse um die „religiöse Wende“ Max Horkheimers, die allerdings erst 1970 entbrannte, vgl. ausführlich Eitler, Gott. 58 Vgl. die Ausführungen des Berliner Studentenpfarrers Reinhard Tietz zum Verhältnis von ESG und SDS (Zwischen Kirche und SDS, 523). Zur Frage der Politisierung der Evangelischen Studentengemeinden um „68“ liegt leider noch immer keine umfassende Studie vor. 59 Vgl. Garaudy, Dialog. 60 Bloch, Atheismus. 61 Vgl. Marsch, Bedingungen. 62 Allein das Gesprächprotokoll wurde vom Spiegel auf acht Seiten fast ungekürzt abgedruckt: Anonymus, Revolution, 38–57. Zur Tagung und der weiteren Berichterstattung vgl. Dutschke fand in Bad Boll neue Töne; Aktuelle Gespräche, 1–24 u. 34 ff; Anonymus, Heiterkeit; ­Geiger/Roether, Dutschke; Walter, Bad Boll, 151–156. Zur Frage einer angemessenen Charakterisierung Dutschkes als gläubiger Christ: Marquardt, Dutschke; Engelbrecht/Göpfert, Atheist; und Hager, Dutschke.

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schließlich Hromádka, waren jedoch nicht gewillt, dem Sprachrohr der westdeutschen Studentenbewegung ein Forum zu bieten, mit der Folge, dass der von Dutschke und Teilen der Jugendkommission unternommene Versuch, die Plenardebatte zur Diskussion alternativer Sozialismus-Modelle zu bewegen, abgeschmettert wurde63. Für das institutionalisierte Gespräch zwischen Christen und Marxisten stellte die „Neue Linke“ eine besondere Herausforderung dar. Gerade in Hinblick auf dieses Aufeinandertreffen drängt sich die Hypothese auf, wonach der „Dialog“ als Zeiterscheinung nicht nur durch den weltpolitischen Kontext und personelle Bindungen, sondern vielmehr auch von einzelnen Generationen seine spezifische Prägung erfuhr. Deutlich zeigte sich dies bei dem von der PaulusGesellschaft veranstalteten „Kongreß der jungen Generation“ im Oktober 1968 in Bonn: Während die eingesessenen Dialogteilnehmer aus Ost und West an ihrer aus Referaten und anschließenden Kurzdiskussionen bestehenden Tagesordnung zum Thema „Evolution und Revolution der Gesellschaft“ festhalten wollten, setzten die Vertreter der APO und ihre zahlreich nach Bonn eingeladenen Kommilitonen aus dem westeuropäischen Ausland auf ein durchweg aktionsorientiertes konfrontatives Dialogklima64. Spätestens mit dem Auszug der pejorativ dem „Establishment“ zugerechneten Kongressleitung aus dem Tagungssaal und dem damit einhergehenden offiziellen Veranstaltungsabbruch wurde deutlich, dass nicht nur die Fühlungnahme mit der „Neuen Linken“ gescheitert war: Aus der Sicht des Österreichers Günther Nenning, dem Herausgeber des „Neuen Forum“, gab die Bonner Tagung zu erkennen, dass der institutionalisierte „Dialog“ als solches bereits überholt sei65. Als sinnbildhaft erwiesen sich dabei jene Ausführungen, welche der Praktische Theologe Hans-Eckehard Bahr nach dem Tagungsabbruch an die verbliebenen Teilnehmer richtete. Scharf kritisierte dieser die Ergebnisse der im Juli 1968 in Uppsala abgehaltenen Weltkirchenkonferenz des ÖRK mit der Behauptung, die Dokumente von Uppsala als Weiterführung der in Genf 1966 eingeleiteten ökumenischen Debatte sprächen zwar von einer sozialen Revolution, aber „im Grunde genommen“ handele „es sich bei diesen Sätzen merkwürdigerweise nur um verbale Radikalität bei formal bleibender Kasuistik im ganzen.“66 Dass sich die Kritik des Bochumer Theologen auch direkt an die Adresse des „christlich-marxistischen Dialogs“ 63 Vgl. Auf der Suche nach „Guerillakämpfern für den Frieden“; Lindemann, Sauerteig, 761. Vgl. auch den Brief des niederländischen Mitglieds der Jugendkommission, Bas Wielenga, an Dutschke vom 18. 3. 1968. Darin forderte dieser Dutschke im Vorfeld der Prager Tagung zur „kritische[n] Infragestellung unserer eigenen Linie“ auf (HIS Hamburg, RUD 152,02). 64 Zum Tagungsablauf: Dierth, Evolution; Link, Evolution. 65 Nenning, Paulus-Gesellschaft, 633. 66 Bahr, Unmögliche, 211.

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richtete, offenbarte sich in der gleichzeitig immer lauter vor­getragenen Forderung christlicher „Dialog“-Anhänger, wonach der „Dialog“ als Begegnung nur dann weiterhin glaubhaft wäre, wenn er in Form einer praktischen Zusammenarbeit von Christen und Marxisten weitergeführt werde. Ein solches Bündnis entsprach aber keineswegs der Zielsetzung des institutionalisierten Dialogs, der nunmehr lediglich auf der Publikationsebene weitergeführt wurde. Die Zeit der großen „Schau-Dialoge“ (Machovec) war vorbei. Den eigentlichen Ausschlag für diesen eher symptomatischen Zustand gaben sowohl die mit der Chiffre „1968“ verbundenen Umbrüche im westeuropäischen Christentum67 als auch die Niederschlagung des „Prager Frühlings“68 im August 1968. In Anlehnung an die Arbeit von Martin Spieker soll hier die These vertreten werden, dass die im „Dialog“ engagierten westdeutschen Protestanten angesichts der Prager Ereignisse im Spätsommer 1968 einer traumatisch wirkenden Verunsicherung anheim fielen, welche bei vielen den tiefenpsychologischen Zustand individueller „Standortlosigkeit“ innerhalb der sich wandelnden „Volkskirche“ weiter festigte69. Nach einer kurzen Phase der schockierten Entrüstung über den „Panzersozialismus“ der Sowjetunion70 entbrannte fortan eine publizistische Debatte, in welcher der bisherige „Dialog“ von sowohl christlicher als auch marxistischer Seite einer Bilanzierung unterzogen wurde. Ausgelöst wurde dieser von großen Emotionen dominierte Metadialog durch eine Reihe absurd anmutender Vorwürfe, wonach der institutionalisierte „Dialog“ der Paulus-Gesellschaft die Okkupation der ČSSR mitprovoziert haben soll71. Als Zeichen einer allgemeinen Verunsicherung rückte daher die bereits vor dem 21. August 1968 latent diskutierte Frage nach der Art und Weise einer von christlicher Seite aus betriebenen Dialogführung und den ihr zugrunde liegenden Prinzipien mehr und mehr in den Vordergrund72. 67 Für

den Fall des westeuropäischen Protestantismus vgl. McLeod, Religion. in dem vergangenes Jahr als großes internationales Gemeinschaftswerk zum 40. Jahrestag herausgegebenen Kompendium findet der „Dialog“ keinerlei Erwähnung, was angesichts der Konzentration der 70 Beiträge auf das Regierungshandeln keineswegs verwundert. Vgl. ­Karner U. A. (Hg.), Frühling. Gleiches gilt für den ebenfalls dort aufgeführten Beitrag zur römisch-katho­ lischen Kirche in der ČSSR. Vgl. Cuhra, Kirche. 69 Vgl. Spieker, Neomarxismus, 234. Spieker behauptete in diesem Zusammenhang, eine introvertierte Diskussion in den westdeutschen Kirchen habe den „Dialog“ seit dem Jahr 1968 abgelöst. Die theoretische Auseinandersetzung mit dem Marxismus sei dabei von den allgemeinen Fragen einer Politisierung bzw. Demokratisierung im Bereich Kirche überlagert worden. Vgl. exemplarisch die Auseinandersetzungen während der EKD-Synode in Berlin-Spandau im Herbst 1968. Dazu ausführlich: Wilkens, Zukunft. 70 Vgl. Machovec, Panzersozialismus; Hromádka, Unglück. 71 Vgl. z. B. Daim, Fragen. 72 Vgl. Schwarz, Dialog; Nenning, Konsequenzen. 68 Selbst

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5. Aufbruch oder Abbruch? Vom Metadialog zum Postdialog Auf die seit dem Wegfall der Ost-West-Dialogschiene virulent gewordene Frage eines „Wie soll es weitergehen?“73 antworteten die westeuropäischen Christen höchst unterschiedlich. Ungeachtet der Tatsache, dass dieser „Dialog über den Dialog“ in erster Linie unter Christen geführt wurde, machen die Beispiele Frankreich und Italien deutlich, dass diese Frage zunächst auf nationaler Ebene einerseits und im Verbund mit dem marxistischen Gesprächspartner andererseits beantwortet werden musste74. In der christlichen Auseinander­setzung ging die unter katholischer Schirmherrschaft stehende Internationale Dialogzeitschrift ab dem Jahr 1971 sogar dazu über, den „Dialog“ nur noch mit „disziplinierten Kommunisten“ zu führen, die sich – anders als jene „auf die Butterseite des Lebens“ gefallenen Marxisten in der ČSSR  – nicht „vom realen Gravitationszentrum der kommunistischen Bewegung, der Sowjetunion“ wegbewegt haben75. Von der Mehrheit der westdeutschen „Dialog“-Befürworter wurde diese Haltung abgelehnt. Vielmehr lud man tschechische Marxisten – wie etwa Milan Machovec im Falle des Deutschen Evangelischen ­Kirchentages in Stuttgart im Sommer 1969 – weiterhin als Redner und Diskussionspartner zu einzelnen Veranstaltungen nach Westdeutschland ein. Als Augenzeugen der Prager Geschehnisse trugen sie ihrerseits dazu bei, das ohnehin hoch im Kurs stehende Ideal der Schaffung eines alternativen Sozialismusmodells in den Köpfen jüngerer Protestanten in der Bundesrepublik zu zementieren. In ihrer Argumentation zugunsten eines politischen Bündnisses machten die marxistischen Abweichler zugleich deutlich, dass für sie eine Konversion zum Christentum nicht in Frage kam76; an den Metadialog knüpften sie die Forderung, er möge offen geführt werden mit der Folge, möglichst viele Christen ihrerseits dazu veranlassen, sich marxistischen Bewegungen anzuschließen. Im Gegensatz dazu war der unter Christen ausgetragene Metadialog stets latent an die Frage gekoppelt, ob und inwiefern das Eingehen eines solchen politischen Bündnisses mit dem Evangelium überhaupt zu vereinbaren sei. Vor diesem Hintergrund wurde die von Anhängern und Kritikern einer konkreten politischen Zusammen­arbeit gleichermaßen erhobene Forderung nach einer der gemeinsamen Wahrheits 73 Moltmann, Theologie,

149. Neomarxismus, 236. Im französischen Fall wurde der „Dialog“ ab 1970 sogar intensiviert. Entscheidend hierfür war der von der PCF eingeschlagene Kurs, welcher von der Linie ihrer italienischen Schwesterpartei abwich. 75 Hollitscher, Brief, 193 f. 76 Vgl. auch die Position des Schweizer Marxisten Konrad Farner: Farner, Konfrontation. 74 Spieker,

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suche dienenden Begegnung zum Politikum: Während die Für­sprecher eines ­praktischen „Dialogs“, wie etwa Helmut Gollwitzer, die Ansicht vertraten, hierfür genüge bereits eine „partielle Übereinstimmung“77, warnten führende Kirchenvertreter und Publizisten des bürgerlichen Spektrums78 vor einer Nivellierung des Evangeliums gegenüber der marxistischen Weltanschauung und verwiesen dabei auf die Ergebnisse des bisherigen „Dialogs“. Dabei kristallisierten sich folgende Punkte heraus: Trotz aller Bemühungen, gemeinsame Schnittstellen herauszuarbeiten und diese zu betonen – etwa den gemeinsamen Rekurs auf die philosophischen Arbeiten des jungen Karl Marx wie auch das Bewusstsein über Krisenzustände in Kirche und realexistierendem Sozialismus  –, hatte man in den vergangenen Jahren auf der akademischen Ebene implizit die unabänderlichen Differenzen von christlichem Glauben und marxistischer Lehre herausgearbeitet: Ungeachtet einer zukunftsorientierten und am Humanum ausgerichteten Grundhaltung standen sich der christliche eschatologische Vorbehalt und der Leitgedanke vom atheistischen Prometheus als ein von der Schöpfung unabhängiger, sich selbst schaffender „Neuer Mensch“, nach wie vor unversöhnlich gegenüber79. Betrachtet man nun den „Dialog“ mit dem Maßstab eines ergebnisoffenen Gesprächs unter gleichberechtigten Partnern, in welchem – wie im Fall des interreligiösen oder interkonfessionellen Gesprächs80 – beiderseits zu Beginn die Möglichkeit des gemeinsamen Eingeständnisses divergierender Standpunkte bzw. „letzter Wahrheiten“ eingeräumt wird, so drängt sich der Schluss auf, wonach der „Dialog“ zwangsläufig in eine Sackgasse geraten musste; und zwar unabhängig von der weltpolitischen Großwetterlage. In dieser „postdialogisch einzustufenden Phase“ konnte die Parole „Nicht mehr reden, sondern handeln“81 nach der Einschätzung von Martin Spieker „hier nicht als Ergebnis, sondern als […] Ersatz bzw. […] Alternative zur Klärung theoretischer Differenzen“ verstanden werden82. Die Aporie eines solchen Schritts offenbart sich bei der Beantwortung der von Heinz-Eduard Tödt gestellten „Frage, was es bedeutet, daß der Marxismus, der als geschlossene wissenschaftliche Lehre konzipiert ist, faktisch vor allem durch Einzelelemente, die dem Kontext der Gesamtlehre entrissen sind, weiterwirkt und so in der politisch-geschichtlichen Realität für viele ­akzeptabel

77 Gollwitzer,

Leitsätze, 19; vgl. auch Perels, Bedeutung. Dialog. 79 Vgl. dazu ausführlich Lochmann, Marx; Ders., Christus. 80 So z. B. der von 1946 bis 1975 tagende Ökumenische Arbeitskreis evangelischer und katho­ lischer Theologen in Deutschland. Vgl. hierzu ausführlich Schwahn, Arbeitskreis. 81 Nenning, Dialog, 45. 82 Spieker, Neomarxismus, 227. 78 Odin,

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wird.“83 Entschied sich der christliche Dialogteilnehmer zur Rezeption der ihm „passende[n] Elemente“, so blieb die Frage nach dem weiteren Umgang mit den „abzulehnenden Elementen“ weiter offen84. Pascal Eitler vertritt in diesem Zusammenhang die sehr überzeugende These, wonach dieses Problem im theoretischen „Dialog“ anhand einer „Vielzahl von ‚Formalisierungen‘“ zu lösen versucht wurde85. Dem ist hinzuzufügen, dass es von Anfang an auch gewisse Tabuthemen im „Dialog“ gab. Gerade im Hinblick auf die spätere Forderung nach einer gemeinsamen revolutionären Praxis muss an dieser Stelle festgehalten werden, dass die „Gewaltfrage“ im eigentlichen „Dialog“ selbst nicht verhandelt wurde. Entsprechende Anstöße blieben letztlich ohne Resonanz86. Zwar setzten sich die christlichen Galionsfiguren des „Dialogs“ im Rahmen ihrer zeitgenössischen Schriften mit dem Aspekt einer christlichen Haltung gegenüber sozialrevolutio­närer Gewaltanwendung auseinander, jedoch geschah dies fast ausschließlich im Kontext einer allgemeinen, vornehmlich im deutschen Protestantismus kontroversen Gewaltdebatte87. Von der Veröffentlichung einzelner Diskussionsbeiträge abgesehen, die wie ein von Helmut Gollwitzer verantwortetes Thesenpapier meist in einem anderen Kontext entstanden88, war die Gewaltfrage als möglicher Spaltpilz hinsichtlich eines politischen Bündnisses nie Gegenstand der christlich-marxistischen Gespräche. Der von Machovec auf dem Stuttgarter Kirchentag gehaltene Vortrag zum Thema „Marxismus zwischen Gewalt und Gewaltlosigkeit“ bildet da eine Ausnahme89. Letztlich wurde die „Gewaltfrage“ gerade seitens der christlichen „Dialog“-Teilnehmer mehrheitlich als „Scheinproblem“90, als Wahl zwischen zwei Übeln – den Optionen „Gewalt“ oder „Gewaltlosigkeit“ – behandelt91. Allerdings blieb diese im Ver 83 Tödt,

Marxismus-Diskussion, 39. 39. 85 Eitler, Gott, 283 f. Eitler bezieht sich dabei auf die Aussagen der katholischen Theologen Karl Rahner und Johann Baptist Metz. 86 Vgl. Bent, Thema, 339. 87 Diese „Kontroversen um Gewalt und gesellschaftlichen Wandel im deutschen Protestantismus der 1960er und 1970er Jahre“ stehen im Zentrum eines von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) seit 2008 geförderten und vom Verfasser bearbeiteten Forschungsprojekts. 88 Gollwitzer, Liebe. 89 Machovec, Marxismus. Vgl. Ders., Jesus, 22 ff. Vgl. auch die Teilnahme ­Machovec’ an der gemeinsamen Studientagung evangelischer und katholischer Sozialethiker in Mönchengladbach Ende Mai 1969 zum Thema „Das Humanum und die christliche Sozialethik“. Vgl. hierzu die entsprechende Dokumentation in: Rauscher (Hg.), Humanum. 90 Moltmann, Gott, 569 f. 91 So etwa die Position des katholischen Theologen Giulio Girardi, der die Frage einer möglichen Behinderung der Zusammenarbeit von Christen und Marxisten mit einem klaren Nein beant­ wortet. Vgl. Girardi, Gewalt, 8 f u. 63. 84 Ebd.,

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gleich zur übergeordneten protestantischen Gewaltdebatte jener Jahre sozialethisch verkürzte Herangehensweise nicht ohne Widerspruch92. Nach dem repressionsbedingten Wegfall der in Osteuropa beheimateten Dialogpartner konzentrierten sich die christlichen Verfechter eines den „theoretisierenden“ Dialog hinter sich lassenden politischen Bündnisses auf die Verhältnisse in der „Dritten Welt“. Eine besondere Anziehungskraft strahlte dabei der von politischer Instabilität gekennzeichnete lateinamerikanische Sub­ kontinent aus. Vor dem Hintergrund einer seit Mitte der 1960er Jahre intensivierten Lateinamerika-Rezeption an den Universitäten der westlichen Hemisphäre wurde der permanent von Revolution bzw. Konterrevolution betroffene Kontinent von einer nunmehr verjüngten „Dialog“-Anhängerschaft als Experimentierfeld für die konkrete gemeinsame Aktion angesehen93. Die protestan­ tische Theologin Dorothee Sölle, Mitbegründerin der ab 1968 veranstalteten „Politischen Nachtgebete“94, formulierte hierzu folgende Erwartung: „Noch sind nicht alle Widersprüche zwischen Glauben und sozialistischem Engagement aufgehoben, die zentralen Fragen der Feindesliebe, der Gewaltlosigkeit nicht ausdiskutiert. Erst im Befreiungskampf selber können sie […] aufgehoben werden. Die Einheit ist dann nicht mehr dualistisch konzipiert, sondern dialektisch. Anders gesagt: die Synthese, die wir finden werden, wird nicht den fertigen Glauben mit dem fertigen Sozialismus verbinden, weil beides eine Zumutung an unsere ­Praxis darstellte“.95

Während Sölle sich für die marxismusaffine südamerikanische Befreiungstheologie wie auch das chilenische Sozialismusmodell begeisterte und sich in den Reihen der 1971 in Chile gegründeten und international vernetzten Bewegung „Christen für den Sozialismus“ (CfS)96 engagierte, machte der als Dialogpartner der Studenten in Erscheinung getretene Helmut Gollwitzer auf die vermeintliche Nähe von Christentum und Sozialismus aufmerksam. Besonderes Aufsehen erregte das von ihm im Jahr 1971 als Diskussionsanregung aufgegriffene Zitat des SPD-Politikers Adolf Grimme „Sozialisten können Chris 92 Vgl.

Rupnow, Frage; Wiesner, Frage. Bereich der westdeutschen Landeskirchen ist ab 1970 eine verstärkte Auseinandersetzung mit den Fragen des praktischen „Dialogs“ seitens der Evangelischen Studentengemeinden und den Evangelischen Akademien festzustellen, die Mitte der 1970er Jahre hinsichtlich der Veranstaltungszahlen ihren Höhepunkt erlebte. 94 Vgl. Cornehl, Sölle. 95 Sölle, Christen, 21. 96 Ihr praxisbezogener Einschlag ermöglichte in der DDR die kirchliche Berichterstattung über die CfS. Vgl. z. B. Klein, Quebec. Zu den Hintergründen: Bulisch, Presse, 354 u. 361. Vgl. auch Thiede, Dialog, 79 u. 245. 93 Im

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ten sein; Christen müssen Sozialisten sein“97. Für Gollwitzer implizierte dieses „müssen“ die Notwendigkeit eines christlichen politischen Engagements, welches nur „auf eine sozialistische Weltrevolution hinauslaufen“ könne98. Ausgehend von einer im Dezember 1974 abgehaltenen Tagung führender evangelischer Theologen vor dem Evangelischen Arbeitskreis der CDU/CSU in Mainz, provozierte Gollwitzers Auffassung den öffentlichen Widerspruch seiner Fachkollegen; Zuspruch erhielt er einzig von Dorothee Sölle99. Wegen des zeitgleich eskalierenden „Berliner Kirchenstreits“, in dessen Folge neben kirchlichen Sozialarbeitern und Vikaren auch kirchenleitende Persönlichkeiten mit dem Vorwurf des RAF-„Sympathisantentums“ konfrontiert wurden, was wiederum bundesweit großes Aufsehen erregte100, sahen sich insbesondere die Kirchenleitungen zum Einschreiten genötigt; im Falle der EKD kam man hinsichtlich der Kontroverse um Gollwitzer zu folgender Einschätzung: „Angesichts der Unruhe, die in diesen Tagen und Wochen in weiten Kreisen der Gemeinden und der Öffentlichkeit über die Wahrnehmung politischer Verantwortung durch die Kirchen herrscht, scheinen uns gerade diese Referate für eine Besinnung in Pfarrkonventen und Gemeindekreisen besonders geeignet zu sein.“101

Für die christlichen Anhänger eines praktischen „Dialogs“ ging die thema­ tische Engführung auf den Sozialismus mit einer grundsätzlichen Ablehnung kapitalistisch verfasster Finanz- und Wirtschaftsordnungen einher; alternativen Reformansätzen wurde somit von vorne herein eine Absage erteilt. Eine weitere Folge dieser konstitutiven Überleitung des „Dialogs“ auf den Schauplatz der Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung war das Ausblenden anthropologischer und eschatologischer Aspekte, wie auch die Frage nach dem Stellenwert der Religionsfreiheit. Für die in „Dritte-Welt-Gruppen“ engagierten jugend­ lichen Protestanten aber bot gerade dieses auf Kapitalismus- und westliche Imperialismuskritik zugespitzte Deutungsangebot eine schlüssige Antwort auf ihr Leiden an und ihre Empörung über eine als ungerecht wahrgenomme Welt voll Armut, Hunger, Krieg und Unterdrückung. Gerade in der zweiten Hälfte 97 Diesen

Satz formulierte Grimme im Jahr 1946. Vgl. Gollwitzer, Christ. Christen, 497. Vgl. auch Gollwitzers Referat „Der Gang der internationalen Klassenkämpfe heute und die christliche Kirche“ bei der Sitzung der Marxismus-Kommission in Heidelberg im September 1973 (Ders., Revolution). 99 Zu den Kritikern Gollwitzers zählten neben dem Systematiker Eberhard Jüngel auch die evangelischen Theologen Walter Schmithals, Walter Künneth und Wolfhart Pannenberg. Deren Beiträge sind in einem 1976 veröffentlichten Diskussionsband aufgeführt: Teichert (Hg.), ­Christen. 100 Vgl. epd-Dok Nr. 1 und Nr. 6, 1975. 101 Rundschreiben der Kirchenkanzlei der EKD an sämtliche Amtsstellen der EKD, 13. 12. 1974 (EZA Berlin, 81–4/6). 98 Ders.,

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der 1970er Jahre fungierten die sich mit Fragen einer „praktischen Solidarität des Krisenbewußtseins“ beschäftigenden Evangelischen Studentengemeinden als Ort, an dem die Fragen eines praktischen Bündnisses weiter reflektiert wurden102. Diese Domestizierung des praktischen „Dialogs“ im „linken“ uni­ versitären „Milieu“ vollzog sich als Reaktion auf den Umstand, dass sich der auf publizistischer Ebene geführte internationale Metadialog gegen Mitte der 1970er Jahre nahezu selbst erschöpft hatte103. Andererseits unterstreicht die gleichzeitige Popularisierung der „Theologie der Befreiung“ auch in den nichtkatholisch geprägten Ländern Westeuropas die These, wonach der „Dialog“ „nicht ganz“ zum Erliegen gekommen ist104. Vielmehr scheint er im Rahmen der bis weit in die 1980er Jahre hinein reichenden Diskussion um das Einfließen marxistischen Gedankenguts in die Befreiungstheologien weitergeführt worden zu sein105. Aus der Sicht einer evangelikalen Fundamentalgegnerschaft hinsichtlich der Ausbildung „moderner Theologien“ und „falscher“ Politisierungstendenzen bedeutete dies, „nicht nur die Möglichkeit, sondern geradezu die Notwendigkeit der Frontbildung nicht nur gegenüber dem Gegner von außen, sondern auch dem ‚Freund‘ im Innern“ zu betonen106. Die EKD zog ihrerseits Konsequenzen, indem sie zusammen mit führenden Vertretern des DDR-Kirchenbundes im Rahmen der gemein­samen „Beratergruppe“ die „Theologie der Befreiung“ zum Anlass nahm, mögliche theologische Implikationen einer Verankerung marxistischer „Einzel­emente“ (Tödt) in den protestantischen Traditionsbeständen zu erörtern107. Vor diesem Hintergrund erscheint die Tatsache, dass der „Dialog“ von der zahlen­ mäßig kleinen Anhängerschaft einer praktischen Solidarisierung gegen Mitte 102 Thoma, Vorläufer, 515. Der Verfasser stützt sich dabei in erster Linie auf die Auswertung der im Landeskirchenarchiv Hannover verwahrten Semesterprogramme einzelner Evangelischer Studenten­gemeinden im Raum Niedersachsen (LKA Hannover, E 33a). Eine anhand desselben Bestandes vorgenommene Durchsicht weiterer Programmübersichten einzelner ESGen aus dem gesamten Bundesgebiet bestätigte diesen Eindruck. 103 Im deutschsprachigen Raum manifestierte sich diese Entwicklung in der Beendigung des „Dialogs“ durch das „Neue Forum“ im Jahr 1974 und der Einstellung der „Internationalen Dialog Zeitschrift“ im darauf folgenden Jahr. Vgl. Eitler, Gott, 293; Ders., Grenzen, 283. 104 Zademach, Dialog, 646. Vgl. Stuckmann, Theologie. 105 Vgl. Werz, Theologie, 123. 106 Motschmann, Dialog, 103. 107 Das entsprechende Treffen fand am 17. 6. 1975 in Ostberlin statt. Vgl. hierzu das Schreiben der Berliner Stelle der EKD-Kirchenkanzlei an die von der EKD berufenen Gesprächsteilnehmer und deren Stellvertreter vom 21. 5. 1975. Dem Schreiben beigefügt ist ein Thesenblatt, welches einzelne „Gesichtspunkte“ der Befreiungstheologie herauszustellen versucht (EZA Berlin, 4/1338). Vgl. auch den vom BEK-Sekretariat angefertigten Sitzungsvermerk vom 20. 6. 1975 (EZA Berlin, 101/359). Zu den weiteren Hintergründen der gemeinsamen Sitzung: Silomon, Anspruch, 234.

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der 1970er Jahre für beendet erklärt worden ist, eher als Randnotiz108. Denn folgt man dem hier favorisierten Ansatz, den „christlich-marxistischen Dialog“ als zeitgebundenes wandelbares Phänomen zu betrachten, so würde es zu kurz greifen, das vorläufige Ende des sich in den 1960er Jahren herausbildenden „Dialogs“ lediglich mit der politischen Großwetterlage einerseits wie auch der Scheidung der christlichen Teilnehmer in revolutionäre Praktiker und reformerische Theoretiker andererseits zu erklären.

Quellen- und Literaturverzeichnis I. Unveröffentlichte Quellen Archiv des Hamburger Instituts für Sozialforschung (HIS), Hamburg Bestand RUD: Nachlass Rudi Dutschke Evangelisches Zentralarchiv (EZA), Berlin Bestand 4: Kirchenkanzlei der EKD – Berliner Stelle 81–4 EKD-Ratsvorsitzender Helmut Claß (Handakten) 101 BEK-Sekretariat (Beratergruppe) Landeskirchliches Archiv (LKA), Hannover Bestand E 33a: Evangelische Studentengemeinde Hannover

II. Veröffentlichte Quellen und Darstellungen Aktuelle Gespräche. Nachrichten aus der Evangelischen Akademie Bad Boll 16 (1968), H. 1/2. Auf der Suche nach „Guerillakämpfern für den Frieden“. Auftakt der „Allchrist­ lichen Friedensversammlung“ in Prag. In: epd-Zentralausgabe 80, 3. 4. 1968, 1–2. Anonymus: Mut geweckt. In: Der Spiegel 21 (1967), H. 20, 162. Anonymus: Protestants. The Obedient Rebel. In: Time, 24. 3. 1967, abgerufen unter: http://www.time.com/time/magazine/article/0,9171,836911,00.html [31. 7. 2009]. Anonymus: Tanz und Tod. In: Der Spiegel 21 (1967), H. 20, 138. Anonymus: Heiterkeit in die Revolution bringen. In: Der Spiegel 22 (1968), H.  10, 38–57. Bahr, Hans-Eckehard: Versuchen wir das Unmögliche. In: Kellner, Erich (Hg.): Evolution oder Revolution der Gesellschaft (Dokumente der Paulus-Gesellschaft 20). München 1969, 210–218. Baig, Yong-Gi: Bund der religiösen Sozialisten Deutschlands in der Weimarer Republik. Bochum 1996. 108 Eitler,

Gott, 308.

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Annegreth Schilling

„Theologie der Hoffnung – Theologie der Revolution – Theologie der Befreiung“ Zur Politisierung der Theologie in den „langen sechziger Jahren“ in globaler Perspektive

„Die Kirche als Faktor einer kommenden Weltgemeinschaft“1  – unter diesem Titel wurde ein Vorbereitungsband für die ökumenische Weltkonferenz für Kirche und Gesellschaft in Genf 1966 veröffentlicht. Nicht zögerlich fragend, sondern äußerst selbstbewusst postulierte er, dass die Kirche eine bedeutende Rolle für den gesellschaftlichen Wandel spiele und verwies auf die Notwendigkeit einer grundlegenden Neubestimmung des Verhältnisses von Kirche und Gesellschaft. Anliegen der Genfer Konferenz war es, „mitten in dem technischen und sozialen Umbruch unserer Zeit den Standort christlicher Verantwortung zu umreißen“.2 Für die Zeit der „langen sechziger Jahre“3 (1958–1974) kann festgestellt werden, dass sich die Theologie zunehmend politisierte. Dies schließt nicht aus, dass die Theologie nicht auch schon in den Jahrzehnten zuvor politisch war. Allerdings stellten sich die Kirchen nun bewusst der Herausforderung, ihre Rolle in einer sich modernisierenden und säkularisierenden Gesellschaft genauer zu bestimmen und die Möglichkeiten politischen Handelns zu diskutieren. Das steigende Interesse der Kirchen an politischen Fragen schlug sich auch in neuen theologischen Konzepten nieder. So entstand in der Bundesrepublik Deutschland um den katholischen Theologen Johann Baptist Metz Ende der 1960er Jahre die so genannte „Neue Politische Theologie“, die die Botschaft des Christentums unter Berücksichtigung der Geschichte und den Bedingungen der Gegenwart neu zu formulieren suchte und sich entschieden davon absetzte, den christlichen Glauben zur Privatsache werden zu lassen4. Dieser Ansatz war von

1 Ökumenischer

Rat der Kirchen, Kirche. Rat der Kirchen, Appell, 7. 3 Zum Konzept der „langen sechziger Jahre“ vgl. Marwick, Sixties. 4 Vgl. Metz, Begriff. Mit dem Begriff der „Neuen Politischen Theologie“ forderte Metz eine Neubestimmung politisch engagierter Theologie und setzte sich dezidiert vom Entwurf des Staats

2 Ökumenischer

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der Theologie des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962–1965) beeinflusst, das die Öffnung der röm.-kath. Kirche zur modernen Welt stärkte und bestrebt war, das Verhältnis von Kirche und Gesellschaft neu zu bestimmen5. Für die protestantischen Kirchen gehörte zum Prozess der Politisierung, dass sie sich nicht mehr vorrangig im nordamerikanisch-europäischen Rahmen begegneten, sondern sich zunehmend global orientierten. Auf politischer Ebene wurde durch die Dekolonisationsprozesse, beginnend mit der Unabhängigkeit Indiens 1947, erreicht, dass die unabhängig gewordenen Länder ihre eigene Stimme in die internationale Politik, insbesondere in internationale Organisationen, einbringen konnten6. So stieg auch im Ökumenischen Rat der Kirchen (ÖRK) ab den frühen 1960er Jahren die Zahl der Kirchen aus der so genannten „Dritten Welt“. Auf der 3. Vollversammlung des ÖRK in Neu-Delhi 1961 traten dem Rat insgesamt 23 neue Mitgliedskirchen bei, davon insgesamt 19 Kirchen aus Asien, Afrika und Lateinamerika7. Diese strukturellen Veränderungen forderten eine Neuorientierung in der ökumenischen Zusammenarbeit und zogen theologische Diskussionen nach sich, die bis weit in die 1970er Jahre reichten8. Zur Politisierung der Theologie trugen neben diesen globalen Prozessen jedoch auch konkrete politische Konflikte bei, die international starke Beachtung fanden. Zu ihnen zählen die Kubanische Revolution, die amerikanische Bürgerrechtsbewegung und der Vietnamkrieg. Sei es zur Frage des Sozialismus, des Rassismus oder der Gewalt: Die gesellschaftlichen Umstände verlangten von der Theologie und der Kirche, sich zu den bestehenden Problemen zu äußern. rechtlers Carl Schmitt ab, der den Begriff „Politische Theologie“ (1922) prägte und mit dieser nicht zuletzt den nationalsozialistischen Führerstaat legitimierte. 5 Eine gute Einführung in die Geschichte und Dokumente des Zweiten Vatikanischen Konzils bietet Wenzel, Kleine Geschichte. Ein herausragendes Dokument, das während des Konzils entstanden ist, ist die Pastoralkonstitution „Gaudium et Spes“, in der die Angewiesenheit der Kirche auf den Dialog mit der Welt herausgestellt wurde; vgl. Rahner, Konzilskompendium, 449–552; zur Interpretation: vgl. Wenzel, Kleine Geschichte, 173–205; Mette, Konstitution, 280–296. 6 Vgl. Maul, Internationale Organisationen, 28. 7 11 Kirchen aus Afrika, 5 aus Asien und 2 aus Lateinamerika; vgl. Lossky, Dictionary, 1233. 8 Der Wandel des europäisch-nordamerikanisch geprägten ÖRK zu einer globalen Organisation Ende der 1960er Jahre wird derzeit erstmals aus zeitgeschichtlicher Perspektive von dem DFG-Forschungsprojekt „Auf dem Weg zum globalisierten Christentum: Die europäische Ökumene und die Entdeckung der ‚Dritten Welt‘ zwischen 1966 und 1973“ am Karlsruher Institut für Technologie unter Leitung von PD Dr. Katharina Kunter untersucht (vgl. URL: http://www.rz.unikarlsruhe.de/~geschichte/index.php?page=forschung, Stand: 30. 9. 2009). Das Dissertationsprojekt von Annegreth Strümpfel untersucht in diesem Rahmen die Repräsentation Lateinamerikas im ÖRK zwischen 1966 und 1973 und ihre Auswirkungen auf die ökumenische Theologie.

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Die Beschäftigung mit der Politisierung der Theologie in den 1960er und 70er Jahren kann folgerichtig nur in globaler Perspektive geschehen. Nicht natio­nale Einzelereignisse, sondern das Ineinandergreifen von globalen politischen Bewegungen und Prozessen beförderte eine breite Politisierung der Gesellschaft und forderte Christen weltweit dazu heraus, sich zu positionieren. Der folgende Artikel fragt danach, wie sich die zunehmende Politisierung der Kirchen in theologischen Konzepten der 1960er und frühen 70er Jahre niedergeschlagen hat. Im Mittelpunkt stehen drei theologische Konzepte, die die Notwendigkeit politischen Engagements von Christen theologisch unterschiedlich begründet haben: die „Theologie der Hoffnung“, die „Theologie der Revolution“ und die „Theologie der Befreiung“. Aus theologischer Perspektive ist es unabdingbar, zunächst zwischen den Theologien zu unterscheiden, denn erst nach einer getrennten Analyse kann gezeigt werden, worin ihre je eigenen Spezifika liegen und wie sie sich zueinander verhalten. Im Folgenden sollen die Charakteristika der drei Theologien jeweils skizziert und ihre Nachwirkungen aufgezeigt werden. Anschließend werden ihre Übereinstimmungen und Differenzen dargestellt, um daraus Thesen zur Politisierung der Theologie in den „langen sechziger Jahren“ zu entwickeln.

1. Theologie der Hoffnung Die „Theologie der Hoffnung“ von Jürgen Moltmann zählt zu den bekanntesten deutschen theologischen Büchern des 20. Jahrhunderts. 1964 erstmals veröffentlicht, wurde das Buch innerhalb von zweieinhalb Jahren sechsmal aufgelegt und binnen kürzester Zeit in zahlreiche Sprachen übersetzt9. 2005 erschien in Deutschland die 14. Auflage. Im folgenden Kapitel soll das Grundanliegen der „Theologie der Hoffnung“ herausgestellt werden. Besondere Beachtung kommt der Nachwirkung der „Theologie der Hoffnung“ zu, wobei gefragt werden soll, aus welchen Gründen das Buch so populär wurde. 1.1 Eschatologie als „Lehre von der christlichen Hoffnung“ Mit der „Theologie der Hoffnung“ schloss Moltmann unübersehbar an Blochs „Prinzip der Hoffnung“ an, dessen Erscheinen bereits wenige Jahre zuvor (1954–1959) für Aufsehen gesorgt hatte.10 Moltmanns Anliegen war es, „auf der Basis der biblischen Hoffnung, des jüdischen Verheißungsglaubens und

9 Marsch,

10 Vgl.

Einleitung, 7. Bloch, Prinzip.

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der christlichen Auferstehungshoffnung eine bewusst theologische Parallelhand­ lung“11 zu Blochs säkularer Hoffnungsvision zu ziehen. Damit stellte Moltmann ein Herzstück der Theologie, die christliche Hoffnung, wieder in den Mittelpunkt theologischer Reflexion. „Theologie der Hoffnung. Untersuchungen zur Begründung und zu den Konsequenzen christlicher Eschatologie“ lautete der vollständige Titel von Moltmanns Werk. Der Untertitel verrät, worum es Moltmann ging: Mit seinem Werk plädierte er für eine Reorientierung und Relektüre der christlichen Eschatologie. Als „Lehre von den letzten Dingen“ befindet sich die Eschatologie traditionell im letzten Teil einer Dogmatik. Als solche drohte sie zeitweilig sogar in Vergessenheit zu geraten. Nach Moltmann ist Eschatologie jedoch keine nebulöse Jenseitsvorstellung. Eschatologie – das ist „die Lehre von der christlichen Hoffnung, die sowohl das Erhoffte wie das von ihm bewegte Hoffen umfasst“.12 Verheißung und geschichtliche Gegenwart kommen in ihr zusammen. Moltmann rückt also die an den Rand gedrängte Eschatologie in das Zentrum der Theologie. Eschatologie als Hoffnungslehre ist nicht länger nur ein Teil der Theologie, sondern verkörpert die Theologie in ihrer ganzen Größe und Wirksamkeit. 1.2 Hoffen, um zu verstehen Was heißt „Hoffnung“ bei Moltmann? Hoffnung ist der Grund allen Glaubens. Gemäß dem Anselmschen Glaubenssatz „Fides quaerens intellectum“13 heißt es bei Moltmann: „spes quaerens intellectum – spero, ut intelligam.“14 Ver­stehen heißt für Moltmann nicht einfach Hören und Kopfnicken. Es heißt: Ungerechtigkeit erkennen, widersprechen, sich nicht abfinden mit der gegebenen Wirklichkeit. Der Grund dieser nach Verstehen strebenden Hoffnung ist der Glaube an den auferstandenen Jesus Christus: „Wer auf Christus hofft, kann sich nicht mehr abfinden mit der gegebenen Wirklichkeit, sondern beginnt an ihr zu leiden, ihr zu widersprechen. […] Daß wir uns aber nicht abfinden, daß es zwischen uns und der Wirklichkeit zu keiner freundlichen

11 Moltmann, Erfahrungen, 90 (Hervorhebung d. Verf.). Zum Verhältnis von „Prinzip der Hoffnung“ und „Theologie der Hoffnung“ vgl. Moltmann, ‚Prinzip der Hoffnung‘ und ‚Theologie der Hoffnung‘. Ein Gespräch mit Ernst Bloch. In: Moltmann, Theologie der Hoffnung, 313– 334. Geiko Müller-Fahrenholz schreibt der Rezeption Blochs für Moltmanns theologischer Suche eine „katalysatorische Funktion“ zu (vgl. Müller-Fahrenholz, Phantasie, 34). 12 Moltmann, Theologie der Hoffnung, 11 f. (Die Hoffnung, die nach Verstehen strebt – Ich hoffe, um zu verstehen.) 13 Anselm, Proslogion I. 14 Moltmann, Theologie der Hoffnung, 28.

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Harmonie kommt, das macht die unauslöschliche Hoffnung. Sie hält den Menschen unabgefunden bis zur großen Erfüllung aller Verheißungen Gottes.“15

Hoffnung ist die Erwartung der Verheißungen Gottes, die „Neuschöpfung aller Dinge“.16 Die Hoffnung auf Christus führt zum (Mit-)Leiden an den ge­ gebenen Bedingungen und zum Widerstand. Hier müsste nun eine „Ethik der Hoffnung“ im Sinne einer klaren Handlungsorientierung ansetzen. Doch Moltmann bleibt in seiner Konkretion sehr vage.17 Die Frage nach der konkreten Gestalt der eschatologischen Hoffnung findet sich in Ansätzen im Schlusskapitel der „Theologie der Hoffnung“. Im Zentrum dieses Kapitels steht die Exodusgemeinde, die christliche Gemeinschaft, die aus der göttlichen Verheißung zum Aufbruch gerufen und bereit für den Neuanfang ist. So folgt aus der promissio die missio, aus der göttlichen Verheißung der „Dienst an der Welt und Wirken in der Welt dort und so, wo und wie Gott es will und erwartet“.18 Das ist die Sendung der christlichen Gemeinde. Ihre Verkündigung zielt auf die Erneuerung der Welt und das Streben nach der Wirklichkeit des Reiches Gottes in der Nachfolge Christi. 1.3 Die Sensation „Hoffnung“: Nachwirkung und Kritik Das Erscheinen der „Theologie der Hoffnung“ war eine Sensation. Dies belegen nicht nur die hohen Auflagenzahlen innerhalb weniger Jahre, sondern auch die große Anzahl von Reaktionen, die der Veröffentlichung folgten19. Hervorzuheben ist ein von Wolf-Dieter Marsch herausgegebener Sammelband unter dem Titel: Diskussion über die ‚Theologie der Hoffnung‘. Dieser Band enthält Stellungnahmen aus unterschiedlichen theologischen Lagern und schließt mit 15 Ebd.,

17.  28. 17 Versuche, eine „Ethik der Hoffnung“ in Ergänzung zu seiner „Theologie der Hoffnung“ zu verfassen, schlugen ins Leere. Moltmann betont, dass er durch die Zerschlagung des Prager Frühlings wie gelähmt war und nicht wusste, ob „Reformen oder Revolution die Verhältnisse bessern würden“ (Moltmann, Wie, 27). Müller-Fahrenholz interpretiert das Fehlen einer in sich geschlossenen Ethik bei Moltmann damit, dass die ethischen Implikationen zu umfassend seien und ihre „Komplexität viel zu groß“ (Müller-Fahrenholz, Phantasie, 88), als dass sie in einer Ethik zusammengefasst werden könnten. Dieses Argument ist aus meiner Sicht nicht stichhaltig, da diese Aussage suggeriert, das Verfassen einer theologischen Ethik wäre ein Ding der Unmöglichkeit. Müller-Fahrenholz verweist allerdings darauf, dass für Moltmann die Ethik, die aus seiner Theo­ logie resultierte, nicht unwichtig war, sondern durchaus versprengt an verschiedenen Stellen seines Werks begegnet. Vgl. ebd., 87–102. 18 Moltmann, Theologie der Hoffnung, 302. 19 Eine Auswahl hat Moltmann selbst in seiner Autobiographie zusammengefasst, vgl. Moltmann, Raum, 110–117. 16 Ebd.,

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einer „Antwort auf die Kritik der Theologie der Hoffnung“ von Moltmann selbst. Auffällig ist, dass der Sammelband neben acht deutschsprachigen und einem aus dem Englischen übersetzten Artikel vier Beiträge von holländischen Theologen enthält und damit die internationale Rezeption Moltmanns unterstreicht20. Aus zeitgeschichtlicher Perspektive ist jedoch nicht auf den ersten Blick verständlich, warum die „Theologie der Hoffnung“ angesichts ihrer eher trockenen theologisch-dogmatischen Form für so viel Zündstoff sorgte. Im Folgenden sollen daher drei Gründe angeführt werden, die zur Popularität des Werkes beigetragen haben dürften. Zum einen verfasste Moltmann die „Theologie der Hoffnung“ im Geiste Blochs und in unmittelbar zeitlicher Nähe zu dessen „Prinzip der Hoffnung“. Die theologische Anknüpfung an das undogmatisch marxistische Werk des Philosophen dürfte daher ein Grund für das hohe Interesse an Moltmanns „Theologie der Hoffnung“ gewesen sein. Ein zweiter Grund lag ohne Zweifel in der Wiederentdeckung des Begriffs „Hoffnung“ als theologischer Kategorie. Moltmann öffnete mit seiner Vision der „Neuschöpfung aller Dinge“ den Horizont für die Möglichkeit zur Veränderung der politischen Wirklichkeit. Nach der konservativen Bundespolitik Konrad Adenauers, die sich zuletzt 1957 durch den Werbeslogan „Keine Experimente!“21 ausgewiesen hatte, konnte dies als eindeutige politische Aussage gewertet werden, die sich für gesellschaftliche Veränderungen aussprach. An die Phase der akademischen Rezeption Moltmanns schloss sich drittens eine begeisterte Rezeption der „Theologie der Hoffnung“ in den Jahren der Studentenproteste an. Der Spiegel urteilte Anfang 1968 in einer Rezension: „Wahrscheinlicher Grund des ungewöhnlichen Buch-Erfolges ist der revolutionäre Inhalt von ‚Theologie der Hoffnung‘. Moltmann propagiert darin ein umstürzlerisches, gesellschaftsänderndes – wie er sagt: ursprüngliches – Christentum und offeriert damit Christen und Kirchen eine Theologie, die zu aktiven, ja aggressiven Auseinandersetzungen mit der politischen Umwelt ermächtigt und anfeuert. Christen, so ruft Moltmann seine Glaubensbrüder auf, sollen der Wirklichkeit nicht mehr ‚die Schleppe nachtragen, sondern die Fackel voran‘.“22 20 Vgl.

ebd., 113 f. der Zeichentrickfilm „Keine Experimente!“, der im Vorfeld der Bundestagswahl 1957 ausgestrahlt wurde: Konrad-Adenauer-Stiftung, Keine Experimente! 22 Vgl. Der Spiegel, 22. 1. 1968, zit. n. Moltmann, Raum, 118. Der Spiegel legt mit diesem Zitat eine äußerst radikale Lesart Moltmanns vor, die sich m. E. nicht ohne Weiteres aus dem Original­text ergibt. Moltmann richtet keinen Appell an die Christenheit: „Die Christen sollen der Wirklichkeit nicht die Schleppe nachtragen…“, sondern er formuliert weitaus behutsamer: „Sie [die Hoffnungssätze der Verheißung – Anm. d. Verf.] wollen der Wirklichkeit nicht die Schleppe nachtragen, sondern die Fackel voran.“ (Moltmann, Theologie der Hoffnung, 14). 21 Vgl.

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An dieser Stelle ist es wichtig zu betonen, dass das Buch 1964 bereits erschienen war und nicht als theologische Programmschrift für die studentischen Unruhen 1967/68 verfasst war. Es können auch keine Belege dafür gefunden werden, dass das Werk bestrebt war, zu „aggressiven Auseinandersetzungen“ anzustiften. Am Beispiel des oben zitierten Spiegel-Artikels ist daher deutlich zu erkennen, dass vor dem Hintergrund der Studentenrevolte 1968 Passagen der „Theologie der Hoffnung“ herausgegriffen und ganz im Sinne der Revolution interpretiert wurden23. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die „Theologie der Hoffnung“ ihre Bedeutung nicht durch revolutionäre Parolen, sondern vor allem durch ein verändertes Verständnis der Theologie erhielt, das Moltmann aus der Eschatologie heraus entwickelte. Die bedeutendste Errungenschaft war, dass sie sich als Theologie zur Welt öffnete und so Bezug auf die politische Wirklichkeit nahm. Der Bezug zur Welt war für die Theologie zwar keineswegs neu, wurde aber in der Folgezeit v. a. mit dem revolutionären Wandel in Verbindung gebracht. Moltmann sah schließlich in den Beschlüssen der Vollversammlung des ÖRK in Uppsala 1968, so z. B. in der Einsetzung des Antirassismusprogramms, die „ökumenische Erfüllung dessen […], was mir mit der Theologie der Hoffnung vorschwebte“.24

2. Theologie der Revolution Anders als die „Theologie der Hoffnung“ lässt sich die „Theologie der Revolution“ nicht auf das Werk einer Person beschränken. Und: sie kann auch nicht einen so lang anhaltenden Erfolg für sich reklamieren. In den 1970er Jahren verstummte die Theologie der Revolution recht schnell wieder und heute erinnert sich nur der ein oder andere Alt-68er daran, dass es auch eine theo­logische Diskussion um die Revolution gegeben hat25. Die folgenden Kapitel stellen die „Theologie der Revolution“ in ihren zeitgeschichtlichen Rahmen und markieren die Kernfragen der Diskussion. Die Beschäftigung mit der Rezeption der „Theologie der Revolution“ wirft abschließend die Frage auf, weshalb sie so schnell wieder verstummte.

23 Von einer vorrangig revolutionären Interpretation der „Theologie der Hoffnung“ zeugt nicht zuletzt die Tatsache, dass das oben angegebene Zitat lange Zeit auf der Umschlagseite der meisten Ausgaben abgedruckt wurde und damit scheinbar den Inhalt des Werkes zusammenfasste. 24 Moltmann, Raum, 110. 25 Vgl. Feil/Weth, Diskussion; Rendtorff/Tödt, Theologie der Revolution.

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2.1 Weltkonferenz Genf 1966 Als Geburtsstunde der „Theologie der Revolution“ galt die ökumenische Weltkonferenz für Kirche und Gesellschaft. Sie wurde vom Ökumenischen Rat der Kirchen einberufen und fand im Juli 1966 unter dem Titel „Christliche Antwort auf die technische und soziale Revolution unserer Zeit“ in Genf statt26. Das Besondere dieser Konferenz war zum einen, dass die Mehrheit der 420 Teilnehmenden Laien war. Die Plenarvorträge wurden von daher primär von Ökonomen, Soziologen, Juristen und Entwicklungsexperten gehalten – in ökumenischen Konferenzen ein absolutes Novum. Zum anderen handelte es sich um die erste Konferenz des ÖRK, auf der Repräsentanten der sog. „Ersten“ und „Dritten“ Welt paritätisch vertreten waren. Drittens nahm eine Gruppe von acht Beobachtern der röm.-kath. Kirche an der Konferenz teil. Interdisziplinarität, eine Nord und Süd umfassende Internationalität und Interkonfessionalität über die Mitgliedskirchen des ÖRK hinaus – diese drei Punkte waren an sich schon revolutionär genug. Aber Genf 1966 ging noch weiter: Das Konzept der „verantwortlichen Gesellschaft“, das für den ÖRK seit seiner Gründung 1948 Leitlinie seines sozialethischen Handelns war, schien nun überholt27. Auch wenn es unterschiedliche Positionen dazu gab, so dominierte doch der Eindruck, dass das Verständnis der Kirchen als „verantwortlicher Gesellschaft“ den Status quo erhalte und zum gesellschaftlichen Wandel nicht beitragen könne. Der ÖRK war daher offen für neue theologische Ansätze und setzte sich intensiv mit dem Verhältnis von Theologie und Revolution auseinander. 2.2 Revolution als „inneres Moment der Theologie“ Bekanntester Vertreter der „Theologie der Revolution“ war der an der amerikanischen Universität Princeton lehrende Theologe Richard Shaull. Er forderte, dass ethische Werte „in spezifische soziale Ziele, spezifische menschliche Bedürfnisse und spezifische technische Möglichkeiten und Prioritäten“28 umgesetzt – und nicht in abstrakten Begriffen verklausuliert werden sollten. Während seiner langjährigen Tätigkeit als Missionar in Kolumbien (1942–1950) und als Dozent für Theologie in Brasilien (1952–1962) kam Shaull in Kontakt mit revolutionären Gruppen und Studierenden, die ihn nach den praktischen 26 Vgl. Ökumenischer Rat der Kirchen, Appell. Zur weit reichenden Bedeutung der Weltkonferenz für Kirche und Gesellschaft: vgl. Kessinger, „Genf 1966“. 27 Vgl. Shaull, Herausforderung, 98. Zum Konzept „verantwortliche Gesellschaft“ vgl. Lüpsen, Amsterdamer Dokumente, 45–56; Vischer, Verantwortliche Gesellschaft?, 24–50. 28 Shaull, Herausforderung, 98.

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Implikationen theologischen Denkens fragten29. Ihnen folgend forderte Shaull in Genf von den Christen „Präsenz und Beteiligung an denjenigen Stellen in der Welt, an denen Gott am dynamischsten wirksam ist“.30 Der Weg der Verantwortung für die Mitmenschen führt nach Shaull durch die Revolution hindurch, nicht an ihr vorbei31. Hier wird deutlich, was Shaull unter „Theologie der Revolution“ verstand: Revolution war nicht nur eine Kategorie der theologischen Sozialethik32, mit der sich Theologen aus freien Stücken beschäftigen können, sondern gehörte zum Wesen der Theologie. Revolution konnte also als „inneres Moment der Theologie“33 verstanden werden, deren Ziel die Mit­ wirkung an der neuen Gesamtordnung der Gesellschaft war. Aus der Bundesrepublik Deutschland kam in Genf der deutsche Theologe Dietrich Wendland zu Wort, der Shaulls Auffassung überwiegend teilte, aber in seinem Vokabular moderater war und stärker differenzierte. Nach Wendland bedeutete Revolution „die Umformung, Neuformung, Umwälzung unserer Welt mit allen ihren ökonomischen, sozialen und politischen Verhältnissen“34. Aufgabe der Kirche sei es, „sich an die Spitze dieses ganzen Zuges der Humanisierung der menschlichen Gesellschaft zu setzen und nicht darauf zu warten, daß Marxisten oder Liberale oder Reformisten oder soziale Humanisten dies zuerst tun“35. Damit verdeutlichte Wendland die herausgehobene Rolle der Kirche in der revolutionären Situation und versuchte, sie von einer ideologischen Vereinnahmung fernzuhalten. Die am stärksten kontroverse Debatte entzündete sich an der Frage nach der Gewaltanwendung. Konsens in Genf war: gewalttätige Revolutionen dürften nur die „Ultima ratio“ sein36. Es entstand eine intensive Diskussion über die Frage, ob Christen gewalttätige Revolutionen, die zum gesellschaftlichen Wandel beitragen, bis zu einem bestimmten Punkt unterstützen dürften oder ob sie diese von vornherein ablehnen müssten. Hier schieden sich die Geister. Während sich Heinz-Dietrich Wendland klar für Gewaltverzicht aussprach, schloss Richard Shaull die Anwendung von Gewalt nicht aus.

29 Vgl.

Fischer, Richard Shaulls „Theologie der Revolution“, 1–4. 99. 31 Vgl. Shaull, Revolution, 119. 32 So die Position von Tödt, Revolution. 33 Feil, ‚Theologie‘, 111. 34 Wendland, Kirche, 85. 35 Ebd., 89. 36 Vgl. Ökumenische Rat der Kirchen, Appell, 171 (= Bericht der Sektion II, Nr. 85).

30 Ebd.,

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2.3 Nachwirkung und Kritik Die „Theologie der Revolution“ war zeitlich stark auf die Konferenz in Genf 1966 begrenzt und wurde in der Folgezeit v. a. mit dem Namen Richard Shaull und dessen Sicht verknüpft. Dabei gab es, wie bereits deutlich wurde, auch Zwischentöne. Auf der Vollversammlung des ÖRK 1968 in Uppsala fand das Konzept der „Theologie der Revolution“ schon keine Resonanz mehr. Hier wurde hinsichtlich der Veränderung der Gesellschaft viel behutsamer formuliert: So wurde v. a. gemäß dem Thema der Vollversammlung „Siehe, ich mache alles neu“ von einer „Theologie der Erneuerung“37 gesprochen. Gründe für das schnelle Verstummen der aufrührerischen Theologie sind nicht leicht nachzuweisen und erhalten rasch einen spekulativen Charakter. Bezeichnend für das Ende der 1960er und die frühen 1970er Jahre wurde eine Ausdifferenzierung des Schlagwortes ‚Revolution‘ in Begriffe wie Entwicklung, Bildung, Befreiung und Menschenrechte. Somit entstand eine ganze Serie von Genitivtheologien, angefangen mit der „Theologie der Hoffnung“, über die „Theologie der Entwicklung“ bis hin zur „Theologie der Befreiung“. Die kurze Dauer der „Theologie der Revolution“ lässt sich dadurch begründen, dass der Begriff „Theologie der Revolution“ schon bald als zu undifferenziert erkannt wurde, der die unterschiedlichen Interessen, die mit ihm verbunden waren, nicht ausgewogen berücksichtigen konnte. Fortgesetzt wurde die in Genf geführte Diskussion um revolutionäres Engagement von Christen inhaltlich allerdings mit dem von der Vollversammlung in Uppsala eingeführten „Antirassimusprogramm“ und der Frage nach der Unterstützung gewaltbereiter Befreiungsbewegungen im südlichen Afrika. Aber auch diese Diskussion löste sich von der Terminologie der „Theologie der Revolution“ und verband sich mit der theologischen Debatte um Legitimation von Gewalt, Gewaltverzicht und Befreiung38. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die „Theologie der Revolution“ in ihrer Anfangsphase deutliche Akzente hinsichtlich der Veränderung der Gesellschaft und zur Beteiligung der Kirche an revolutionärem Engagement 37 Belege für diese Formulierung finden sich nicht in Dokumentarberichten von Uppsala. Es handelt sich vermutlich eher um eine Interpretation der theologischen Ansätze, als dass die „Theologie der Erneuerung“ als Konzept vorgestellt worden wäre. Als Stichwort findet es sich jedoch bei: Feil/Weth, Diskussion, 312. Zur Bedeutung und kritischen Darstellung der 4. Vollversammlung des ÖRK in Uppsala 1968 aus zeitgeschichtlicher Perspektive: vgl. Strümpfel, „Uppsala 1968“. 38 Zum Thema „Gewalt, Gewaltfreiheit und der Kampf um soziale Gerechtigkeit“ wurde vom Zentralausschuss des ÖRK ein zweijähriger Studienprozess (1971–1973) eingerichtet. Vgl. ­Gewalt, Gewaltfreiheit und der Kampf um soziale Gerechtigkeit. Studienbericht vor dem Zentralauschuss, Genf 1973. In: Stierle/Werner/Heider, Ethik, 342–349.

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gesetzt hat. Diese Impulse wurden von anderen theologischen Konzepten aufgenommen und weiterentwickelt, fanden aber im Konzept der „Theologie der Revolution“ selbst keine Fortsetzung.

3. Theologie der Befreiung Die Erneuerung theologischen Denkens gipfelte im Konzept der „Theologie der Befreiung“. Im Grunde genommen war auch sie eine Revolutions­theologie, denn sie sorgte für einen einschneidenden Perspektivenwechsel: nicht mehr die Kirchenhierarchie, sondern Basisgemeinden, nicht mehr Nordamerika und Europa, sondern die Dritte Welt sollten zu Wort kommen. Im Folgenden werden die Grundzüge der lateinamerikanischen Befreiungstheologie dargestellt, die Ende der 1960er, Anfang der 1970er Jahre entstand und zur Vorreiterin von Befreiungstheologien in anderen Kontexten geworden ist39. 3.1 Lateinamerikanischer Kontext: Zwischen Kubanischer Revolution und CELAM II In Bezug auf die komplexe politische Situation in Lateinamerika seit den 1950er Jahren kann in diesem knappen Überblick lediglich auf zwei entscheidende Ereignisse eingegangen werden: Zum einen die Kubanische Revolution 1959, die für sozialistischen Aufbruch und Abkehr von Abhängigkeiten zum kapitalistischen System (insbesondere der USA) stand, die allerdings in ihrer Zeit und in ihrem Ausmaß ein politischer Einzelfall in Lateinamerika blieb. Zum anderen der Militärputsch in Brasilien 1964, mit dem eine lange Periode von Militärdiktaturen in vielen Ländern Lateinamerikas eingeleitet wurde. Diese Diktaturen prägten die politische Situation des Kontinents bis weit in die 1980er Jahre (in Mittelamerika sogar bis Anfang der 1990er Jahre). Die kirchliche Wirklichkeit Lateinamerikas wurde in den 1960er und 70er Jahren stark beeinflusst durch das Zweite Vatikanische Konzil (1962–1965). 1968 fand in Medellín/Kolumbien die Zweite Lateinamerikanische Bischofskonferenz (CELAM)40 statt, deren Ziel es war, die Ergebnisse des Konzils auf 39 Die „Theologie der Befreiung“ in Lateinamerika ist natürlich keine Erfindung des 20.  Jh., sondern reicht bis in das Zeitalter der Konquista im 16.  Jh. zurück. Der Dominikanermönch Barto­lomé de las Casas (1484–1566), der sich bereits für die Rechte der Indigenen einsetzte, wird häufig als erster Befreiungstheologe des Kontinents genannt. Vgl. Goldstein, „Selig ihr Armen“, 59 f. 40 CELAM: Consejo Episcopal Latinoamericano. Die einzelnen Bischofskonferenzen fanden in folgenden Jahren und Orten statt: CELAM I: 1955 Rio de Janeiro, CELAM II: 1968 Medellín,

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die lateinamerikanische Realität zu beziehen und Konsequenzen für die lateinamerikanische Theologie abzuleiten. 3.2 Grundzüge der Theologie der Befreiung Die Entstehung der Befreiungstheologie in Lateinamerika ist vor diesem Hintergrund zu sehen. Anliegen der „Theologie der Befreiung“ war es, als Kirche auf die sozialen und gesellschaftlichen Missstände zu reagieren und zu deren Veränderung beizutragen. 1971 legte der peruanische Theologe Gustavo ­Gutiérrez mit seinem Werk „Teología de la liberación“ erstmals ein umfassendes Konzept der Befreiungstheologie vor, die er im Gespräch mit anderen Theologen in den Jahren zuvor entwickelt hatte41. Gutiérrez verstand Theologie als „kritische Reflexion der Praxis der Kirche“.42 Dies bedeutete nicht, eine neue Theologie zu erschaffen, sondern auf eine „neue Art“43 Theologie zu treiben. Der damit verbundene innere Wandel der Theologie kann an zwei Forderungen der Befreiungstheologie deutlich gemacht werden. Erstens verlangte sie die „vorrangige Option für die Armen“44. Sie war und ist die konkreteste und zugleich bekannteste Forderung der Befreiungstheologie. Sie implizierte die Schärfung des kirchlichen Bewusstseins für die gesellschaftliche und konfliktreiche Wirklichkeit45 und forderte von der Kirche, sich mit den Armen zu solidarisieren, sie als Subjekte anzuerkennen und auf Ausübung von Macht und Unterdrückung zu verzichten46. Die strukturelle Analyse der Gesellschaft unter Einbeziehung der Humanund Sozialwissenschaften war dabei für die Befreiungstheologie unverzichtbar. Zweitens plädierte die Befreiungstheologie für die Veränderung der biblischen Hermeneutik. Die Bibel sollte aus der Sicht des Volkes gedeutet werden, nicht aus Sicht der Autoritäten. Folglich wurde bei der biblischen Lektüre der Fokus auf das befreiende Handeln Gottes gelegt, etwa der Exodus aus Ägypten, die Heilung von Kranken oder die Integration von Marginalisierten. CELAM III: 1979 Puebla, CELAM IV: 1992 Santo Domingo, CELAM V: 2007 Aparecida. Dom Helder Câmara leitete die Bischofskonferenz 1968 in Medellín; vgl. Tombs, Liberation theology, 101 f; 107–111. 41 Die Grundzüge der „Theologie der Befreiung“ stellte Gutiérrez erstmals auf der ökumenischen Konferenz von SODEPAX in Cartigny 1969 vor. Hierin zeigt sich auch das ökumenische Grundanliegen der Befreiungstheologie. Vgl. Gutiérrez, Meaning. 42 Vgl. Gutiérrez, Theologie der Befreiung, 6–21, bes. 19 (= 1. Kapitel: Theologie als kritische Reflexion). 43 Ebd., 21. 44 Vgl. Vigil, Option. 45 Der brasilianische Befreiungspädagoge Paulo Freire prägte für diesen Prozess der Bewusst­ werdung den Begriff der „conscientização“, vgl. Freire, Pädagogik. 46 Vgl. weiterführend hierzu: Vigil, Option.

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3.3 Nachwirkung und Kritik Von den ersten Konzeptionen Anfang der 1970er Jahre hat sich die „Theo­logie der Befreiung“ nicht gelöst, aber sich in ihnen weiterentwickelt. So entstanden auf Grundlage der lateinamerikanischen Befreiungstheologie Befreiungstheologien (im Plural), die jeweils für ihren Kontext das Anliegen der Befreiung formuliert haben (z. B. Minjung-Theologie, feministische Theologie)47. Diese Theologien verpflichteten sich der Option für die benachteiligte Gruppen und entwickelten auch jeweils eigene Bibelhermeneutiken. In der Bundesrepublik Deutschland wurde die Befreiungstheologie v. a. ab Ende der 1970er Jahre rezipiert. Ihre bekannteste Vertreterin ist Dorothee Sölle. Sie verstand unter der Theologie der Befreiung „nicht irgendeine theologische Mode, die wir mitmachen oder lassen können, sondern der heute uns von Gott angebotene Ausdruck des Glaubens auch der Menschen der ersten Welt, die auf Befreiung hin leben“48. Sölle sah die Möglichkeit, dass sich durch den Impuls der lateinamerikanischen Befreiungstheologie nun auch die Kirchen in Europa verändern könnten und ein neues theologisches Denken entstünde, dass auf den Primat der Praxis, die Hinwendung zu den Armen und die Abkehr von Machtstrukturen und Unterdrückung setzte. Die „Theologie der Befreiung“ war daher kein ausschließlich lateinamerikanisches Phänomen, wenngleich sie in den späten 1960er Jahren von lateinamerikanischen Theologen wie Gustavo Gutiérrez und Rubem Alves entwickelt wurde. Sie stellte eine neue Form theologischen Denkens dar, das Bezug auf die gesellschaftlichen Missstände nahm und eindeutig Partei für benachteiligte und marginalisierte Gruppen ergriff. Zusammenfassend kann die „Theologie der Befreiung“ als Kulminationspunkt der politisch-orientierten Theologie der späten 1960er und frühen 70er Jahre gesehen werden, die schon bald kontrovers diskutiert wurde und im Laufe der folgenden Jahrzehnte eine breite internationale Rezeption erfuhr.

4. Kurzer Vergleich Beim Vergleich der drei vorgestellten Genitivtheologien fällt auf, dass sie  – wenngleich in unterschiedlicher Weise – für eine theologische Erneuerung und gesellschaftlichen Wandel eintraten. Im Folgenden sollen die Gemeinsamkeiten der drei theologischen Ansätze herausgestellt und im Anschluss auf die jeweils unterschiedlichen Akzentsetzungen aufmerksam gemacht werden. 47 Vgl.

einführend: Wielenga, Liberation theology; und Grey, Feminist theology. 22.

48 Sölle, Theologien,

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1. Sie setzten sich für die Erneuerung theologischer Denkmuster ein und forderten ein Umdenken innerhalb der Theologie. Die „Theologie der Hoffnung“ stellte die Eschatologie als Hoffnungslehre in das Zentrum theologischen Denkens und trug zu einer theologischen Dynamisierung des Verständnisses von Geschichte und politischem Handeln bei. Die „Theologie der Revolution“ forderte eine Positivbestimmung des Begriffs „Revolution“ für die christliche Tradition. Für die „Theologie der Befreiung“ äußerte sich die Forderung nach Erneuerung der Theologie am stärksten im Primat der Praxis. 2. Sie betonten die Notwendigkeit zur Veränderung der bestehenden Wirklichkeit. Jürgen Moltmann sprach in der „Theologie der Hoffnung“ von „Neuschöpfung“ als dem Ziel aller christlichen Hoffnung. Weniger abstrakt, aber ebenso umfassend orientierte sich die „Theologie der Revolution“ auf eine neue „Gesamtordnung der Gesellschaft“. Die „Theologie der Befreiung“ artikulierte die Notwendigkeit zur Veränderung der Wirklichkeit in der „vorrangigen Option für die Armen“. 3. Sie drängten auf die Beteiligung der Kirche an den gesellschaftlichen Veränderungen. Für alle drei Theologien galt das (Mit-)Leiden an der gesellschaftlichen Realität als Schlüssel für die Beteiligung der Kirche an Veränderungen. Doch eine „Beteiligung“ schien sogar noch zu wenig: Als Kirche der Hoffnung sollte sie der Wirklichkeit die Fackel voran tragen, als Kirche der Revolution sollte sie sich an die Spitze des Zuges der Humanisierung der menschlichen Gesellschaft setzen, als Kirche der Befreiung sollte sie an der Seite der Armen stehen. 4. In ihnen lebte die vielfältige Tradition des biblischen Zeugnisses auf. Für die „Theologie der Hoffnung“ stand das Motiv der Verheißung und geschichtliche Gegenwart im Zentrum, die „Theologie der Revolution“ berief sich immer wieder auf den revolutionären Charakter Jesu Wirkens, und die „Theo­ logie der Befreiung“ rückte die Exodus-Tradition ins Zentrum ihrer biblischen Reflexion. Die Unterschiede sind m. E. vor allem in der unterschiedlichen Gewichtung der Themen zu sehen – was sich durch die Titel Hoffnung, Revolution, Befreiung zeigt. Zudem hatten sie unterschiedliche politische Auswirkungen. Während die „Theologie der Hoffnung“ die Frage nach gesellschaftlicher Erneuerung vor allem akademisch-theologisch zu legitimieren versuchte, setzte die „Theologie der Revolution“ dies bereits voraus und forderte die konkrete Beteiligung von Christen im revolutionären Prozess. Die „Theologie der Befreiung“ reagierte mit ihrem Ansatz hingegen gezielt auf die Situation von Unterdrückung und Abhängigkeit in Lateinamerika. Ihr Anliegen war es theologisch zu begründen und praktisch umzusetzen, was es hieß, als Kirche primär für die Armen da zu sein. Insofern war der revolutionäre Kampf nicht die vorder­gründige

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Zielrichtung der Theologie der Befreiung, sondern sie forderte an erster Stelle die Veränderung des kirchlichen und gesellschaftlichen Bewusstseins zur Überwindung unterdrückerischer Strukturen. Im Vergleich der drei Genitivtheologien ist außerdem festzustellen, dass sich die „Theologie der Hoffnung“ primär auf die singuläre Untersuchung von Jürgen Moltmann bezog, während die Ansätze der „Theologie der Revolution“ und der „Theologie der Befreiung“ mit mehreren Namen verbunden und dadurch heterogener waren. Entscheidend ist jedoch, dass sich die Sprecherposition der drei Theologien von Europa hin zur „Dritten Welt“ verschob. Moltmann verfasste die „Theologie der Hoffnung“ als europäischer Theologe unter dem Einfluss Blochs. Richard Shaull bezog sich in seinen Ausführungen der „Theologie der Revolution“ auf seine Erfahrungen in Lateinamerika, war aber dennoch ein Vertreter des Nordens. Mit dem Erstarken der „Theologie der Befreiung“ erhielt erstmalig ein theologisches Konzept aus der Perspektive der „Dritten Welt“, d. h. aus einem nicht-westlichen Kontext, Einzug in die Debatte der politischen Theologie in Europa. Um jedoch pauschalen Gegenüberstellungen zwischen einer Theologie der „Dritten Welt“ und „Europas“ entgegenzuwirken, muss an dieser Stelle eingeräumt werden, dass fast alle Befreiungstheologen der „ersten Generation“ ihre theologische Ausbildung in Europa genossen haben. Damit wird die globale Dimension der Erneuerung theologischen Denkens evident.

5. Zusammenfassung: Zur Politisierung der Theologie in den „langen sechziger Jahren“ Die Analyse und der Vergleich der drei Genitivtheologien haben gezeigt, dass es sich um theologische Konzepte handelte, die sich in unterschiedlicher Weise auf die politische Wirklichkeit bezogen. Wurde eingangs postuliert, dass sich die Theologie in den „langen sechziger Jahren“ zunehmend politisierte, so soll abschließend thesenartig zusammengefasst werden, was ausgehend von der Betrachtung der drei Genitivtheologien unter „Politisierung der Theologie“ verstanden werden kann. Als herausragendes Kriterium ist festzuhalten, dass sich theologische Konzepte der 1960er und 70er Jahre global ausrichteten und international diskutiert wurden. Prägend für die theologische Debatte in der ökumenischen Bewegung war dabei die zunehmende Repräsentation von Kirchen der „Dritten Welt“ und die damit verbundene stärkere Wahrnehmung des Nord-SüdKonflikts. Der Ost-West-Gegensatz geriet zunehmend in den Hintergrund. Desweiteren öffnete sich die Theologie für den interdisziplinären Dialog, ins-

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besondere mit den Sozialwissenschaften. Für den innertheologischen Diskurs waren die Lösung der Theologie aus starren Dogmen und die Hinwendung zur menschlichen Erfahrung entscheidend. Die Theologie sah sich einzig den Menschen in konkreten Situationen verpflichtet und stellte mit dem Stichwort ‚Humanisierung‘ den Mensch in den Mittelpunkt. Das Transzendente sollte in der jeweils gegenwärtigen Wirklichkeit erfahrbar werden. So wurde im Konzept der „Theologie der Revolution“ Gott als Handelnder in revolutionären Prozessen erkannt. Diese Interpretation der Revolution als „Hereinbrechen des Reiches Gottes“ wurde jedoch nicht von allen geteilt. Umstritten blieb außerdem die Frage nach der Legitimation von Gewalt zur Durchsetzung politischer Forderungen. Dass die Debatte über die Anwendung von Gewalt kontrovers geführt wurde, muss m. E. deshalb betont werden, da dadurch das einseitige Verständnis aufgebrochen wird, demzufolge „Politisierung“ unausweichlich eine steigende „Bereitschaft zu Gewalt“ nach sich ziehen müsse. Der Vergleich der drei Genitivtheologien zeigt, dass die „Politisierung der Theologie in den langen sechziger Jahren“ nur als ein vielschichtiger Prozess verstanden werden kann, in dem theologische, sozialethische und gesellschaftspolitische Fragen gleichermaßen thematisiert wurden. Die Kirche wurde als Motor der gesellschaftlichen Veränderungen verstanden und sollte sich im Sinne einer Vorbildwirkung an die Spitze der Bewegung stellen.

Quellen- und Literaturverzeichnis I. Unveröffentlichte Quellen Arbeitspapiere des DFG-Forschungsprojektes „Die europäische Ökumene und die Ent­deckung der ‚ Dritten Welt‘ zwischen 1966 und 1973. Karlsruher Institut für Technologie. Kessinger, Bernd: Unveröffentlichtes Arbeitspapier „Genf 1966“ 2009. Strümpfel, Annegreth: Unveröffentlichtes Arbeitspapier „Uppsala 1968“ 2009.

II. Veröffentlichte Quellen Anselm von Canterbury: Proslogion I. Hg. von P. Franciscus Salesius Schmitt. Stuttgart-Bad Cannstatt 1962. Barth, Karl: Gesamtausgabe V. Briefe 1961–1968. Hg. von Jürgen Fangmeier/Hinrich Stoevesandt. Zürich 21979. Bloch, Ernst: Prinzip der Hoffnung. 3 Bd. Frankfurt a. M. 1973. Feil, Ernst: Von der ‚politischen Theologie‘ zur ‚Theologie der Revolution‘?. In: Feil/ Weth (Hg.): Diskussion, 110–132.

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Feil, Ernst/Weth Rudolf (Hg.): Diskussion zur ‚Theologie der Revolution‘. München/ Mainz 21969. Fischer, Gerd-Dieter: Richard Shaulls „Theologie der Revolution“. Ihre theologische und ethische Argumentation auf dem Hintergrund der Situation in Lateinamerika. Frankfurt a. M. 1984. Freire, Paulo: Pädagogik der Unterdrückten. Bildung als Praxis der Freiheit. Reinbek b. Hamburg 1973. Gewalt, Gewaltfreiheit und der Kampf um soziale Gerechtigkeit. Studienbericht vor dem Zentralauschuss, Genf 1973. In: Stierle/Werner/Heider (Hg.), Ethik, 342–349. Goldstein, Horst: „Selig ihr Armen“. Theologie der Befreiung in Lateinamerika … und in Europa? Darmstadt 1989. Grey, Mary: Feminist theology: a critical theology of liberation. In: Rowland, Christopher: The Cambridge Companion to Liberation Theology. Cambridge 22007, 105–122. Gutiérrez, Gustavo: Die Armen und die Grundoption. In: Ellacuría, Ignacio (Hg.): Mysterium Liberationis. Bd. 1. Luzern 1995, 293–311. –, Theologie der Befreiung. München 1973. –, The Meaning of Development. Notes on a theology of liberation. In: ­Committee on Society, Development, and Peace (Hg.): In Search of a Theology of Development. ­Papers from a Consultation on Theology and Development held by SODEPAX in Cartigny, Switzerland. Geneva 1969, 116–179. Konrad-Adenauer-Stiftung (Hg.): Keine Experimente! vgl. URL: http://www.kas. de/wf/de/71.5230/ (30. 9. 2009). Lossky, Nicholas u. a. (Hg.): Dictionary of the Ecumenical Movement. Geneva 22002. Lüpsen, Focko, (Hg.): Amsterdamer Dokumente. Berichte und Reden auf der Welt­ kirchenkonferenz in Amsterdam 1948. Bericht der Sektion III: Die Kirche und die Unordnung der Gesellschaft. Bethel bei Bielefeld 21949, 45–56. Marsch, Wolf-Dieter (Hg.): Diskussion über die ‚Theologie der Hoffnung‘. München 1967. –, Zur Einleitung: Wohin – jenseits der Alternativen. In: Marsch (Hg.), Diskussion, 7–18. Marwick, Arthur: The Sixties. Cultural Revolution in Britain, France, Italy and the United States, c. 1958–1974. Oxford 1998. Maul, Daniel: Internationale Organisationen als historische Akteure. Die ILO und die Auflösung der europäischen Kolonialreiche 1940–1970. In: Kruke, Anja (Hg.): Dekolonisation. Prozesse und Verflechtungen 1945–1990. Bonn 2009, 21–52. Mette, Norbert: Die pastorale Konstitution über die Kirche in der Welt von heute Gaudium et spes. In: Bischof, Franz Xaver/Leimgruber, Stephan (Hg.): Vierzig Jahre II. Vatikanum. Würzburg 2004, 280–296. Metz, Johann Baptist: Zum Begriff der neuen politischen Theologie 1967–1997. Mainz 1997. Moltmann, Jürgen: Weiter Raum. Eine Lebensgeschichte. Gütersloh 2006. –, Erfahrungen theologischen Denkens. Wege und Formen christ­licher Theologie. Gütersloh 1999.

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Politisierung der Theologie in den „langen sechziger Jahren“

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Kornelia Sammet

Feministische Theologie und die Politisierung evangelischer Theologinnen

1. Einleitung Im Jahr 2008 erschien ein Buch, das schon im Titel die Feministische Theologie als „eine Erfolgsgeschichte“1 bezeichnet und auf 400 Seiten Belege für diesen Erfolg versammelt, der sich in einer Vielfalt von Institutionalisierungen ausdrückt. Aufgelistet und dargestellt werden erstens Initiativen, Netzwerke und Vereine, zweitens Institutionalisierungen innerhalb der Kirche und drittens ihre Verankerung an den Universitäten. Damit werden drei Ebenen unterschieden, auf denen sich die Feministische Theologie in den letzten 40 Jahren in Institutionen organisiert und verfestigt hat: zum einen als Zusammenschlüsse von Frauen zum Austausch und zur In­ teressenvertretung, zum anderen als Teil der Kirche, an Orten und in Werken, die sich feministischen Themen und Anliegen widmen, und schließlich als Feministische Theologie, die als Teil  der Wissenschaft die herkömmliche Theologie als patriarchalisch, androzentrisch und sexistisch kritisiert2 sowie neue Auslegungen und Denkmodelle entwickelt. Auf allen drei Ebenen findet sich der Bezug auf den Feminismus als ein politisches bzw. zumindest politisiertes Selbstverständnis im Sinne einer Parteinahme für Frauen und der Forderung nach Einbeziehung ihrer Erfahrungen. In meinem Beitrag, in dem ich in einer soziologischen Perspektive argumentiere, geht es mir nicht um eine theologische Auseinandersetzung mit Inhalten der Feministischen Theologie oder mit feministisch-theologischen Positionen. Vielmehr sollen die Entstehungsbedingungen und die Auswirkungen der Feministischen Theologie untersucht werden. Welche innerkirchlichen und gesellschaftlichen Bedingungen und Dynamiken haben zu ihrer Entwicklung beigetragen? Welche biographischen Erfahrungen haben den Umgang mit ihr bestimmt, und wie hat die Feministische Theologie die berufliche und wissenschaftliche Identität, den Habitus von Theologinnen geprägt? Diesen Fragen möchte ich meinen Beitrag widmen.

1 Matthiae

u. a., Feministische Theologie. Feminismus I, 42.

2 Janowski, Theologischer

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2. Feminismus und Feministische Theologie Im Begriff „Feministische Theologie“ ist die Theologie, eine wissenschaftliche Disziplin, mit dem Attribut „feministisch“ verknüpft. Das wirft die Frage auf, was es bedeutet, als Theologin feministisch zu denken bzw. als Feministin theologisch zu arbeiten. Der Feminismus ist eng verbunden mit der Neuen Frauenbewegung, die seit Ende der 1960er Jahre mehr Rechte für Frauen einforderte. Im 1986 erschienenen „Handbuch Feministische Theologie“ wird eingangs zur „Entwicklung feministischer Theologie in unserem Kontext“ programmatisch formuliert: „Es entspricht feministischem Selbstverständnis, wenn Frauen ihre ­individuellen Erfahrungen und Lebensbedingungen zum Ausgangspunkt ihrer Gesellschaftsanalyse, ihren theologischen ‚Ort‘ zum Handlungsfeld ihrer politischen Einsichten machen“.3

Das feministische Selbstverständnis ist demnach bestimmt von der Aufgabe, eine Gesellschaftsanalyse zu betreiben, die von den Erfahrungen von Frauen ausgeht und von Frauen selbst betrieben wird. Es geht also darum, der Gesellschaft gegenüber eine wissenschaftliche Haltung einzunehmen und dabei einen bisher vernachlässigten Ausschnitt der Realität zu erfassen. Es bleibt aber nicht bei der Analyse, sondern es wird auch ein Ort der Umsetzung der Einsichten – die als politisch qualifiziert werden – benannt, der wiederum als „theologisch“ bezeichnet wird und damit der Wissenschaft zugeordnet ist. Das Zitat macht deutlich, dass die Feministische Theologie in einem Spannungsfeld zwischen Kirche, Wissenschaft und Politik zu verorten ist und in alle Richtungen Wirkung entfalten möchte: durch theologische Frauenforschung einen Perspektiven- bzw. Paradigmenwechsel innerhalb der Theologie erreichen und als Teil der kirchlichen und gesellschaftlichen Frauenbewegung auf Veränderungen in Kirche und Gesellschaft hinwirken. Als Feministische Theologie ordnet sie sich der Theologie und damit der Wissenschaft zu. Die Wissenschaft ist das Funktionssystem der Gesellschaft, in dem Geltungsfragen methodisch kontrolliert als Wahrheitsfragen bearbeitet werden: Es geht um die Geltung von Weltbildern, Normalitätsentwürfen und Theorien, um Erkenntnis und Erkenntniskritik4 sowie um die Reflexion von

3 Burrichter/Lueg,

Aufbrüche, 19. Entstehung des Wissenschaftssystems ist Resultat von Differenzierungsprozessen, durch die die Erfahrungswissenschaften institutionalisiert werden, „worin erst die methodische Erkenntniskritik und die methodisch kontrollierte, nach expliziten Kriterien der Geltung verfahrende Überprüfung von Behauptungen über die erfahrbare Welt unpersönlich wird als ein normativ geregeltes universalistisches Handlungssystem der spezifisch unpraktischen Wissenschaftspraxis“ (Oevermann, Theoretische Skizze, 92 f ).

4 Die

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Begründungen und Legitimationen. Die Theologie als wissenschaftliche Disziplin bearbeitet Geltungsfragen in Bezug auf religiöse Wissensbestände; sie ist die Reflexionswissenschaft der Kirchen. Aufgabe der Theologie ist die Systematisierung und Weiterentwicklung des religiösen Wissens. Die Kirche wiederum ist der Ort der institutionalisierten religiösen Praxis, in der ausgebildete Theologinnen und Theologen (in einer professionalisierten Form) als Verwalter des religiösen Wissens und der religiösen Praxis fungieren, indem sie (im Zusammenspiel mit Laien) die religiösen Wissensbestände ausdeuten, auf die alltäg­ liche Lebensführung beziehen und auf diese Weise tradieren. Im Unterschied zur Wissenschaft hat es die Politik mit kollektiv bindenden Entscheidungen und ihrer Durchsetzung zu tun. Auf den Punkt gebracht geht es in der Wissenschaft um praxisferne Geltungsüberprüfung, in der Politik um die Praxis von Entscheidungen und um Macht. Indem die Feministische Theologie als Selbstverständnis formuliert, Wissenschaft und Politik zu betreiben, verknüpft sie unterschiedliche Praxisformen und -felder. Entsprechend um­ fassend und grundlegend sind Kritik und Veränderungsanspruch der Feministischen Theologie. Wissenschaftliche Erklärungsmodelle werden im Namen der Realität kritisiert, die bisher nur unzureichend erfasst sei, da von den fast ausschließlich männlichen Wissenschaftlern in einer androzentrischen Perspektive die Lebenswirklichkeit von Frauen nicht wahrgenommen und anerkannt werde. Deshalb werden die Erfahrungen von Frauen ins Zentrum gerückt, wird deren Berücksichtigung eingefordert. Der Feministischen Theologie geht es  – wie das Attribut „feministisch“ zum Ausdruck bringt – um eine Theologie aus feminis­ tischer Sicht, die die Erfahrungen von Frauen zum Gegenstand macht, die, wie z. B. die katholische Theologin Catharina Halkes formuliert hat, „von Leiden, von psychischer und sexueller Unterdrückung, von Infantilisierung und von struktureller Unsichtbarmachung infolge des Sexismus in den Kirchen und der Gesellschaft“5 bestimmt seien. Da sie wissenschaftliches Arbeiten prinzipiell als von Perspektivität bestimmt begreifen, ist es für feministische Theologinnen notwendig, die eigene Perspektive bzw. den eigenen Kontext zu benennen. Das erfordert, zunächst einmal den eigenen Hintergrund und die eigene Herkunft zu reflektieren, wie z. B. Autorinnen des gerade erwähnten Handbuchs es tun: „Wenn wir diesen Artikel über Feministische Theologie schreiben, so tun wir das vor dem Hintergrund unserer Herkunft und geprägt von unseren bisherigen Erfahrungen: aufgewachsen in der sog. 1. Welt – in Westeuropa – in der BRD – im Ruhr­gebiet,

5 Halkes,

Feministische Theologie, 294.

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als Jugendliche in christlichen Verbänden engagiert, reife- und hochschul­geprüft als erste Generation unserer Familien. Unsere Erfahrungen von Benachteiligung in Kirche und Gesellschaft aufgrund des ‚Merkmals: Frau‘ fanden wir zunächst in der autonomen Frauenbewegung thematisiert, erst im zweiten Schritt ließen sich hier gewonnene Einsichten und Entdeckungen übertragen und für unser Studienfach nutzbar machen.“6

Feministische Theologie will aber nicht nur herrschende Theorien und Aus­ legungstraditionen innerhalb der Theologie in Frage stellen, sondern sie formuliert auch politische Perspektiven und Ziele, sie versteht sich selbst als politisch und möchte auf Veränderungen in Kirche und Gesellschaft hinwirken. Dies kommt in einer Beschreibung von Ingrid Lukatis zum Ausdruck: „Feministische Theologie ist keine gesellschafts- und weltabgewandte Theologie, sie ist politische Theologie, Befreiungs-Theologie. Zur feministischen Theologie gehört Aufmerksamkeit für die Lebensmöglichkeiten von Kindern, Jugendlichen und alten Menschen, von Kranken und Behinderten, ausländischen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern und von Menschen, die in unserer Gesellschaft Asyl suchen, aber auch für die Lebensmöglichkeiten in anderen Ländern, insbesondere in Ländern der sog. Dritten Welt“.7

Eine feministische Perspektive impliziert nicht nur die Forderung, dass Wissenschaft Erfahrungen von Frauen (und darüber hinaus von anderen benachteiligten Menschen) angemessen berücksichtige, sondern auch eine Parteinahme für Frauen und damit verbunden politisches Handeln8. Im einzelnen können feministische Theologinnen sich als stärker in der Wissenschaft oder in der (kirch­ lichen) Frauenbewegung verankert verstehen und entsprechend ihr Engagement ausrichten, entscheidend ist jedoch, dass beides als zusammengehörig gedacht wird und die feministische Perspektive das Verbindende ist. Feministische Theologie geht nicht in theologischer Frauenforschung auf und beschränkt sich nicht auf die Forderung nach Frauenförderung in der Kirche, da beides auch ohne ein feministisches Selbstverständnis betrieben werden kann.



6 Burrichter/Lueg,

Aufbrüche, 14. Frauen, 50. 8 Eine kritische Auseinandersetzung mit diesem Theorem findet sich bei Wohlrab-Sahr, ­Empathie.

7 Lukatis,

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3. Anfänge und Entwicklung der Feministischen Theologie Seit Mitte der 1970er Jahre wurde die Situation von Frauen in der Kirche an verschiedenen Orten, in unterschiedlichen institutionellen Kontexten thema­ tisiert und diskutiert. Anstöße dazu kamen vor allem von zwei Seiten: zum einen aus der Ökumene, zum anderen aus der autonomen Frauenbewegung, die auch kirchlich engagierte Frauen erfasste, und von der sich in verschiedenen Disziplinen – auch der Theologie – entwickelnden Frauenforschung. Einige wichtige Wegmarken, Daten und Strömungen der Neuen Frauen­ bewegung möchte ich kurz in Erinnerung rufen9. Als Geburtsstunde der Neuen bzw. autonomen Frauenbewegung wird vielfach die Gründung des „Aktions­ rat(s) zur Befreiung der Frau“ durch Frauen aus dem SDS (dem Sozialistischen Deutschen Studentenbund) im Jahr 1968 in West-Berlin angesehen. Die beteiligten Studentinnen hatten den Eindruck gewonnen, dass ihre autoritäre Strukturen kritisierenden Genossen sich im Privatleben ihren Partnerinnen gegenüber selbst autoritär verhielten; daraufhin formulierten die Frauen eine Resolution für die nächste SDS-Konferenz, auf der es zum berühmten Tomaten­ wurf kam. In den Jahren danach wurden in vielen Städten Frauengruppen und Frauenzentren gegründet. Anfang der 1970er Jahre wurden Kampagnen zum § 218 organisiert, am spektakulärsten war sicherlich die Selbstbezichtigungskampagne im „Stern“ im Jahr 1971. Außerdem wurden Debatten zu Fragen und Problemen wie der Entlohnung von Hausarbeit, der sexuellen Gewalt gegen Frauen und Mädchen, dem Zusammenhang von Feminismus und Sprache als „Spiegel der gesellschaftlichen Verhältnisse“10, zur Kritik an frauenfeindlichen Darstellungen und an Pornographie angestoßen. Ein kontroverses Thema war das Verhältnis von Feminismus und Homosexualität, aus der Beschäftigung damit konnte das öffentliche Bekenntnis zur eigenen lesbischen Sexualität bis hin zur Position, Lesbianismus sei die logische Konsequenz des Feminismus, resultieren11. Eine wichtige Organisationsform des Feminismus der Neuen Frauenbewegung waren in den 1970er Jahren Selbsterfahrungsgruppen. Nave-Herz charakterisiert diese Gruppen und ihre Ziele folgendermaßen: „Die Frauen besinnen sich auf sich selbst und ihre Stärke; sie versuchen zu einer eigenen Weiblichkeit zu finden, und nicht zu der, wie sie Männer durch Jahrhunderte geprägt und Frauen sie übernommen haben. Schwesterlichkeit, Zärtlichkeit unter 9 Dabei beziehe ich mich im Wesentlichen auf die Überblicksdarstellungen in Anders, Chronologie, sowie Nave-Herz, Geschichte. 10 Anders, Chronologie, 35. 11 Nave-Herz, Geschichte, 61; Anders, Chronologie, 27 f.

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Frauen und Solidarität waren vor allem in jener Zeit besonders anerkannte Werte; so halfen und unterstützten sie sich unter Ausschluss von Männern“.12

Die Gruppen dienten also einerseits der Verständigung untereinander, andererseits wurde in ihnen ein Gemeinschaftsgefühl gestiftet. Ab Mitte der 1970er Jahre konnten sich Frauenprojekte in verschiedenen Bereichen (Gesundheitszentren, Frauenhäuser und Beratungsstellen, Buch­ läden, Verlage, Kulturgruppen) entwickeln und etablieren; dies gilt auch und besonders für die Frauenforschung, die an einigen Universitäten nach und nach verankert werden konnte. Das Jahr 1975 wurde von den Vereinten Nationen zum „Internationalen Jahr der Frau“ ausgerufen; dadurch fanden die Ziele der Neuen Frauenbewegung eine größere Verbreitung, sie wurden stärker öffentlich diskutiert und die Bewegung wuchs an. Ab Ende der 1970er Jahre schlug sich die wachsende Anerkennung der Anliegen der Frauenbewegung in Deutschland auch institutionell nieder: Z. B. wurden Frauenbeauftragte auf verschiedenen Ebenen eingesetzt, kommunale Gleichstellungsstellen eingerichtet, Frauen­förderpläne im öffentlichen Dienst eingeführt. Im deutschen Protestantismus fasste die Frauenbewegung etwas später Fuß, und wie erwähnt gaben dabei Impulse aus der Ökumene wichtige Anstöße. Erste feministisch-theologische Entwürfe wurden zunächst von katholischen Theologinnen ausgearbeitet. In den 1960er Jahren war im Gefolge des II. Vatikanischen Konzils in der katholischen Kirche die Frauenfrage zunehmend diskutiert worden; auch Theologinnen hatten sich in der nachkonziliaren Aufbruchstimmung daran beteiligt und Arbeiten zum Thema Frauen und Kirche publiziert13. Als sich dann immer mehr abzeichnete, dass es in der katholischen Kirche nicht zu weitergehenden Veränderungen kommen würde, wurden zunehmend kritischere Thesen formuliert, vor allem von katholischen Theologinnen in den USA14. 1968 erschien Mary Dalys „The Church and the Second Sex“ (auf Deutsch 1970 mit dem Titel „Kirche, Frau und Sexus“), das gemeinhin als das erste feministisch-theologische Werk begriffen wird und das auch in Deutschland rezipiert wurde. Außerdem wurden Aufsätze und Bücher u. a. von Rosemary R. Ruether, einer katholischen Professorin für Theologiegeschichte, von der katholischen Neutestamentlerin Elisabeth Schüssler Fiorenza sowie der evangelischen Theologin Phyllis Trible veröffentlicht15. 12 Nave-Herz,

Geschichte, 57 f. Gössmann/Pelke, Frauenfrage. 14 Zu den Anfängen der Feministischen Theologie in den USA, zu ihren Vorläufern, ihren zentralen Thesen und den dadurch ausgelösten Diskussionen vgl. Flatters, „Probier“. 15 Ebd. 13 Z. B.

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1974 fand in Berlin die „Sexismus-Konsultation“ des Ökumenischen ­Rates der Kirchen (ÖRK) statt, die für viele Theologinnen die Initialzündung der kirchlichen Frauenbewegung und der feministischen Theologie in Deutschland war. Die Konsultation regte ein umfangreiches Studienprogramm in den Kirchen des ÖRK mit dem Titel „Die Gemeinschaft von Frauen und Männern in der Kirche“ an. Ergebnisse dieses Programms wurden 1981 im Rahmen einer Konsultation in Sheffield (Großbritannien) vorgestellt und schließlich als „Sheffield-Report“ veröffentlicht16. In Deutschland führte das Nationalkomitee des Lutherischen Weltbundes (LWB) ein Studienprojekt „Frauen als Innovationsgruppen“ durch, in dem unterschiedliche Aspekte (wie z. B. die Rolle der Frau in der Kirchengeschichte, die Berücksichtigung von Frauen in der Exegese, die Situation von Frauen in Gesellschaft und Kirche sowie die kirchliche Frauenarbeit) untersucht wurden. Ergebnisse des LWB-Studien­ projekts flossen in die EKD-Studie „Die Frau in Familie, Kirche und Gesell­ schaft“17 ein. Nach der Sexismus-Konsultation wurden Ideen der Feministischen Theologie in Deutschland zunehmend rezipiert und diskutiert. Als Orte der Auseinandersetzung, des Austauschs und der gegenseitigen Unterstützung dienten feministischen Theologinnen und kirchlich engagierten Frauen vor allem Evangelische Akademien mit spezifischen Tagungsangeboten und die Evangelischen Kirchentage. Eine Vorreiterrolle nahm die Evangelische Akademie Bad Boll mit ihren „Werkstätten Feministische Theologie“ ein. Sie wurden ab 1979 (die erste noch als Studientagung) durchgeführt und sowohl von Theologinnen als auch von anderen theologisch interessierten Frauen besucht. Seit Anfang der 1980er Jahre fanden auch in der nordelbischen Landeskirche Werkstätten zur Feministischen Theologie statt, veranstaltet von der Evangelischen Frauen­ arbeit, ebenso wie in weiteren Landeskirchen18. In diesen Werkstätten verband sich feministisch-theologisches Arbeiten mit politischen Anliegen und mit Bildungsarbeit: „Auf ideale Weise waren hier Frauenforschung und Frauenbewegung miteinander verbunden, was mit der zunehmenden Ausdifferenzierung der feministisch-theologischen Forschung, der Institutionalisierung von Gleichstellungsanliegen und weniger starken Vernetzungstätigkeiten von Frauen heute nicht mehr in dem Maße gegeben ist. Dennoch ist universitäre Forschung nach wie vor auf die Rezeption von Frauen in Bildungszusammenhängen und in den Kirchen angewiesen und gewinnt umgekehrt 16 Parvey,

Gemeinschaft. Kirche in Deutschland, Frau. 18 Zu den „Werkstätten Feministische Theologie“ in Bad Boll vgl. Leistner, Werkstätten; zu denen in Nordelbien vgl. Knolle, Werkstätten. 17 Evangelische

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aus den hier entstehenden Fragen ihre Forschungsinhalte. Das ambitionierte Ziel ist nichts Geringeres als eine gründliche Revision der theologischen Lehre und Verkündigung unter Maßgabe der Geschlechtergerechtigkeit.“19

Diese Verknüpfung unterschiedlicher Handlungsfelder erklärt die nachhaltige Wirkung und den Erfolg dieser Arbeitsform. Die 1980er Jahre waren die Dekade der Institutionalisierung der Feminis­ tischen Theologie in Deutschland. Sie fand zunehmend Interesse und Verbreitung: Frauengruppen, Arbeitsgemeinschaften und Netzwerke wurden gegründet20; an den Universitäten wurden Forschungsprojekte in Angriff genommen und feministisch-theologische Seminare (z. T. in Eigenregie) durchgeführt; Angebote in Evangelischen Akademien und anderen Bildungseinrichtungen wurden ausgeweitet. Die Früchte der Arbeit feministischer Theologinnen wurden öffentlich sichtbar in Form von Aufsätzen, Handbüchern, Sammelbänden usw. Im Herbst 1989 schließlich (genauer: vom 5.  bis 10.  November) befasste sich in Bad Krozingen eine EKD-Synode mit dem Schwerpunktthema „Die Gemeinschaft von Frauen und Männern in der Kirche“, um „Konsequenzen für das kirchliche Selbstverständnis und das kirchliche Handeln“ zu beraten. Die Synode beschloss als „praktische Schritte“ u. a. die Förderung theologischer Frauenforschung an Hochschulen und in der kirchlichen Studienarbeit sowie Frauenförderung in Kirche und Diakonie. Bei der Zusammensetzung von kirchlichen Leitungen und Organen sollte zumindest eine Frauen-Quote von 40 % erreicht werden21. Schon in der nächsten, der achten Synode schlug sich dies in einem erhöhten Frauenanteil nieder: 58 von 160 Synodalen waren Frauen22. In den 1990er Jahren konnte die kirchliche Frauenbewegung weitere Erfolge verzeichnen: u. a. wurde das Frauenstudien- und -bildungszentrum in der EKD eingerichtet, die theologische Frauenforschung konnte sich Anerkennung verschaffen und erste Bischöfinnen wurden gewählt. Der ÖRK rief die Ökumenische Dekade „Solidarität der Kirchen mit den Frauen“ von 1988 bis 1998 aus, die in den Mitgliedskirchen weitere Diskussionen und Entscheidungen zur Verbesserung der Situation der Frauen anregen sollte. 19 Matthiae,

bilden, 187. Überblick über diese Initiativen geben verschiedene Beiträge in Schaumberger/ Maassen, Handbuch; der neueste Stand findet sich in Matthiae et al., Feministische Theologie, ­24–96. 21 Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland, Gemeinschaft, 23–35. 22 In dieser EKD-Synode, die von 1991 bis 1996 amtierte, war damit der Frauenanteil von zuvor 15 auf 38 % gestiegen und hatte sich mehr als verdoppelt; in der zehnten EKD-Synode (2003 bis 2008) betrug der Frauenanteil dann 45 %. Vgl. Sammet, Entwicklung, 7 f. 20 Einen

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4. Deutungsmuster und Praxen von Theologinnen Welche Bedeutung hatte nun die Feministische Theologie für die berufliche und wissenschaftliche Identität von Theologinnen? Welchen Niederschlag fand sie im Denken und Handeln, im beruflichen Habitus verschiedener Theo­ loginnen-Generationen? Diesen Fragen möchte ich im folgenden Abschnitt nachgehen und mich dabei auf biographische Selbstzeugnisse von Theologinnen beziehen. Zum einen lege ich meinen Analysen (berufs-)biographische Skizzen, Lebensberichte und Erinnerungen zugrunde, die Theologinnen an verschiedenen Stellen veröffentlicht haben und in denen sie ihren Werdegang und ihr Engagement in Kirche und Theologie reflektieren. Zum anderen analysiere ich biographisch-narrative Interviews, die ich mit Pfarrerinnen Anfang der 1990er Jahre geführt habe. Diese Interviews sind – den Standards der qualitativen Sozialforschung entsprechend – wörtlich transkribiert und maskiert, d. h. anonymisiert worden23. Bei all diesem Datenmaterial handelt es sich um Dokumente, die in den 1990er Jahren (in einem Fall schon Mitte der 1980er Jahre) entstanden sind und in denen die Befragten bzw. Autorinnen auf ihre Berufsbiographie zurückblicken. In meiner soziologischen Perspektive geht es mir (im Unterschied zu ZeithistorikerInnen) weniger um eine exakte Rekonstruktion von Ereignissen als vielmehr um Deutungen und Wahrnehmungen; ich rekonstruiere, wie sich (individuelle oder kollektive)  Identitäten herausbilden sowie welche Handlungsorientierungen und Deutungsmuster vorzufinden sind. Am analysierten biographischen Material kann herausgearbeitet werden, wie eine feministischtheologische pastorale Identität entsteht und wodurch sie gekennzeichnet ist. Ich werde mich an dieser Stelle auf zwei Generationen konzentrieren, die sich heute zum größten Teil schon im Ruhestand befinden. Das heißt, ich gehe nicht auf diejenigen Theologinnen ein, die schon während des Studiums in Kontakt mit der Feministischen Theologie gekommen sind und eine Ausbildung in Feministischer Theologie genießen konnten. Mir geht es hier vielmehr um diejenigen Theologinnen, die die 1960er und 70er Jahre des 20. Jahrhunderts in Studium und Kirche bewusst miterlebt haben und deren theologische und pastorale Identität von der Auseinandersetzung mit den Politisierungsschüben dieser Zeit geprägt ist. 23 Die Interviews habe ich in meiner Dissertation mithilfe hermeneutisch-fallrekonstruktiver Interpretationsverfahren in Hinblick auf berufliche Handlungsorientierungen und Geschlechter­ konstruktionen ausgewertet. Die zitierten Passagen sind wörtlich transkribiert, mit Satzabbrüchen, Versprechern und grammatischen Fehlern. Der Dialekt wurde etwas bereinigt, transkribierte „ähs“ an dieser Stelle im Sinne der besseren Lesbarkeit weggelassen. Betonte Wörter sind kursiv gedruckt. Zu Erhebungs- und Auswertungsmethoden vgl. ausführlicher Sammet, Frauen, 165–178.

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4.1 1960er Jahre: Die Rolle der Theologin in der Kirche und der Kampf um die Ordination In den 1960er Jahren wurde die Feministische Theologie in Deutschland noch kaum rezipiert. In den innerkirchlichen Diskussionen um die „Frauenfrage“ spielte vielmehr die Frage der Frauenordination eine zentrale Rolle, und diese Auseinandersetzungen – so meine These – prägten die Identität der beteiligten Theologinnen und ihr Verhältnis zur Feministischen Theologie in entscheidender Weise. Ende der 1960er Jahre begannen evangelische Landeskirchen in Ost und West, Frauen im Pfarramt den Pfarrern gleichzustellen. Frühere Einschränkungen in Hinblick auf Rechte und Pflichten (öffentliche Wortverkündigung, Sakramentsverwaltung und insbesondere Gemeindeleitung) wurden aufgehoben. Nach und nach wurde auch die teilweise noch länger geltende Zölibatsverpflichtung abgeschafft. In Württemberg wurde die Gleichstellung z. B. auf einer Synode im Jahr 1968 beschlossen24, in der Evangelischen Kirche der Union25 Anfang der 1970er Jahre, in Bayern als vorletzter Landeskirche 1978. Das heißt, die Frauenordination und die gleichberechtigte Zulassung von Frauen zum Pfarramt waren bereits größtenteils durchgesetzt, als die Neue Frauen­ bewegung in den 1970ern in der evangelischen Kirche an Boden gewann. In der Diskussion um die Frauenordination war – auf der Seite der Kirchenleitungen, bei Theologen, die Begründungen lieferten, und bei den Theolo­ ginnen selbst – immer ein wichtiges Argument gewesen, dass es gerade nicht um die Durchsetzung von Gleichberechtigung im Bereich der Kirche gehe, sondern um die Anerkennung der Arbeit, genauer: des Dienstes der Theolo­ginnen und um den pneumatischen Charakter ihres Wirkens. Damit sind immer Abgrenzungen von Emanzipationsbestrebungen verbunden26. Für die betroffenen Theologinnen war es ein harter und zäher Kampf, der häufig persönliche Kränkungen mit sich brachte. Auf zwei Ebenen mussten Argumente für die Frauenordination erarbeitet werden: Zum einen musste durch exegetische Bemühungen nachgewiesen werden, dass die Ordination von Theologinnen ins Pfarramt der biblischen Überlieferung entspricht27. Da das Hauptargument der Gegner der Frauenordination behauptete, dass die Bibel eine prinzipielle Unterordnung der Frau verlange, das Pfarramt jedoch aufgrund der mit ihm ver 24 Vgl.

dazu Volz, Talar, 134–169 und Oehlmann, Grenze.

25 Zu den Diskussionen und Entscheidungsprozessen in der Evangelischen Kirche von Westfalen

vgl. Mielke, Lebensbild, 62–92. 26 Ebd., 80–84. 27 Zu den theologischen Argumentationen vgl. auch Kuhlmann, Protestantismus, 155 f.

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bundenen Aufgabe der Gemeindeleitung Überordnung bedeute und damit mit dem weiblichen Geschlecht unvereinbar sei, wurde von Theologinnen und ihren Unterstützern einerseits die prinzipielle Geltung des Unterordnungsgebots in Frage gestellt und andererseits der Dienstcharakter des Pfarramts betont. Lenore Volz beschreibt diese exegetischen Aufgaben folgendermaßen: „Diesem kräftigen Nein des Pietismus zur Theologin konnte nur mit biblisch-theo­ logischen Argumenten begegnet werden. Anders war das Vorurteil nicht zu entkräften, uns Theologinnen gehe es um frauenrechtlerische Tendenzen, um Fragen der Gleichberechtigung. Nur auf dem Weg einer gründlichen exegetischen Arbeit, die sich nicht allein auf die bisher zitierten Stellen 1. Kor 14,34 ff. und 1. Tim ­2,11–15 bezieht, konnte der Widerstand des Pietismus überwunden werden. ‚Bittet den Herrn der Ernte …‘. Wir können Gott nicht vorschreiben, welches Geschlecht er beruft. Die ganze Bibel, das Alte und das Neue Testament waren zu befragen, was über Mann und Frau und ihr Verhältnis zueinander ausgesagt wird. Zu fragen war auch nach dem Amtsverständnis der evangelischen Landeskirche. Im Lauf der Geschichte hatte das Amtsverständnis des evangelischen Pfarrers, weitgehend unbewusst, manche Züge des katholischen Priestertums übernommen und war innerlich fern vom Priestertum aller Gläubigen. Es musste auch gefragt werden, welche Stelle heute der Tradition in der evangelischen Landeskirche eingeräumt wird“.28

Durch die Exegese sollte also der biblischen Überlieferung zu ihrem Recht gegen­über eingeübten und nicht mehr hinterfragten Traditionen verholfen werden. Zum anderen bewiesen die Theologinnen im Dienst der Kirche in ihrer prak­tischen Arbeit, dass sie nicht von eigensüchtigen oder politischen Motiven geleitet waren, sondern dass es um eine angemessene Würdigung sowie die Ab­sicherung und Anerkennung ihrer Arbeit ging. Mit ihren Exegesen leisteten sie wichtige Beiträge für die Feministische Theologie, ohne sich selbst als Frauenrechtlerinnen oder Feministinnen zu verstehen. Sie grenzten sich vielmehr vom Feminismus ab, identifizierten sich mit ihrer Kirche und wollten sich in ihrem Dienst bewähren. Im Unterschied zu ihren katholischen Kolleginnen waren sie in ihrem Kampf um Anerkennung ­ihrer Arbeit und um gleichberechtigten Zugang zum Pfarramt erfolgreich. Das erklärt, warum die kirchenkritischen feministisch-theologischen Entwürfe zunächst nicht in der evangelischen, sondern in der katholischen Theologie entstanden sind. Und es hat Auswirkungen auf die berufliche Identität der Theologinnen und ihr Verhältnis zur feministischen Theologie. Dies möchte ich am Beispiel einer Pfarrerin veranschaulichen, die Anfang der 1930er Jahre geboren wurde, nach ihrem Studium zunächst in der DDR berufstätig war und nach der Geburt ihres ersten Kindes aus dem Dienst ausscheiden musste. Nach 28 Volz, Talar,

142.

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einigen Jahren konnte sie wieder in den Pfarrdienst eintreten und ging Anfang der 1990er Jahre in den Ruhestand. Auch wenn diese Theologin aufgrund ihrer biographischen Erfahrungen und ihrer theologischen Überzeugungen einige Nähe zur Feministischen Theologie hat, geht sie doch habituell zu den jüngeren Kolleginnen auf Distanz, wie der folgende Interviewausschnitt zeigt: „Ich weiß nicht, ob die jungen Theologinnen, die jetzt so ins Pfarramt gehen, ohne dass sie Schwierigkeiten haben, und die jetzt sich auf einmal furchtbar aufplustern und Feministinnen sondergleichen sind, also wo ich manchmal denke, man kann’s auch ein bisschen charmanter machen oder vielleicht nicht ganz so prinzipiell, dass die eigentlich, denk ich immer, die haben keine Ahnung. (lacht) Aber die haben natürlich eine andere Ahnung.“29

Die befragte Pfarrerin führt von ihr wahrgenommene Unterschiede im Auf­ treten auch auf Ost-West-Unterschiede, vor allem jedoch auf Generationenunterschiede zurück, wie auch die folgende Passage zeigt: „Wenn ich jetzt die Jüngeren sehe, also da weiß ich, dass die viel, viel mehr Betonung auf das In legen, dass sie Pfarrerin sind und dass frau sagt. Und das haben wir nicht gemacht. Weiß nicht warum, aber wir wären uns affig dabei vorgekommen. Obwohl ich allerhand übrig hab für den Feminismus. Und ich glaube, dass das in der Kirche auch ganz wichtig ist. Aber ob ich nun sage, die Heilige Geistin oder der Heilige Geist, ist mir schnurz. Vor allen Dingen, weil ich weiß, dass unsere Geschlechtsartikel sowieso bloß eine Hilfssache sind. Da sehe ich nicht, dass ich das, wenn ich nun sage, Ruach, gut, ist hebräisch, ist weiblich, Geist, aber wenn ich da nun sage, Heilige ­Geistin kommt, also ich finde, das ist albern. Das ist meine Meinung, obwohl ich genau weiß, dass so und so viele Geschichten in der Bibel eben gerade von Frauen handeln, noch gar nicht entdeckt worden sind. Und dass da die Frauen und auch Theologinnen doch eine ganze Menge zu tun hatten und zu tun haben. Aber bitte nicht so dick auftragen, ja? Dann geht der Schuss nach hinten los.“30

Diese Pfarrerin grenzt sich vor allem von Theologinnen der nachfolgenden Gegenration ab, weil sie den Eindruck hat, dass für sie selbst nachrangig erscheinende Dinge in den Vordergrund gerückt werden und unangemessene Bedeutung zugeschrieben bekommen, wie z. B. das grammatische Geschlecht von Begriffen. In der Sache sieht sie sich dagegen in Übereinstimmung mit Feministinnen. Unterschiede nimmt sie vor allem in unnötigen Übertreibungen, die ihrer Meinung nach der Sache eher schaden und das Wesentliche aus dem Blick verlieren, und in einem undiplomatischen oder lächerlich wirkenden 29 Interview 30 Ebd.,

22.

Pfarrerin C., 10.

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Auf­treten wahr. Entscheidende Differenzen macht sie auch im Umgang mit der Bibel aus: „Ich bin ja eh keine Intelligenzbestie und keine so analytisch denkende Frau. Sondern ich mache mehr mit Emotionen, obwohl ich nicht sagen will, ich mach alles aus dem Bauch. Diese Generation, die alles so nur aus Gefühl machte, die hab ich nie so gemocht, da habe ich immer gesagt: Hier, richtig lesen und übersetzen, Exegese ­machen und sehen, was wirklich steht in der Bibel, ist wichtig, nicht dass man einen Bibeltext anguckt und sagt, was fühlst du dabei? Ich weiß nicht, ob diese Zeit jetzt schon wieder vorbei ist, aber vor zehn Jahren war das schlimm, die haben alle immer nur gefühlt.“31

Die befragte Pfarrerin nimmt hier wiederum ein unangemessenes Verhalten bei der nächsten Generation wahr, obwohl ihre einführenden Sätze durchaus eine Nähe zu diesen Theologinnen vermuten lassen, denn ihr eigenes Handeln charakterisiert sie ja auch – ebenso wie sie es von den Jüngeren beschreibt und wie es im Übrigen gängigen Weiblichkeitsstereotypen entspricht – als von Ge­ fühlen geleitet. Den Jüngeren gegenüber beharrt sie jedoch auf einer genauen Exegese. Was sie ihnen vorwirft, ist nicht, dass sie von Gefühlen geleitet wären, sondern vielmehr, dass sie ihre Gefühle in der Begegnung mit dem Bibeltext erforschen, thematisieren und damit sich selbst in den Mittelpunkt zu stellen scheinen. Bibellektüre wird so nicht um ihrer selbst willen, sondern als Selbsterfahrung betrieben. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass sich der Generationenunterschied weniger in Glaubensüberzeugungen und theologischen Positionen bemerkbar macht als vielmehr im Auftreten und der Selbstdarstellung. Die älteren Pfarrerinnen haben ihre Position erreicht, gerade weil sie in ihrem Verhalten Zurückhaltung, Bereitschaft zur Unterordnung unter die Sache, Diplomatie und Demut zum Ausdruck gebracht haben, sich von Emanzipationsforderungen distanziert und zur Durchsetzung ihrer Rechte und ihrer Anerkennung sich um exegetische Arbeit bemüht haben. Die nächste Generation von Theo­ loginnen musste nicht mehr um den Zugang zum Pfarramt kämpfen, denn das hatten die Älteren schon für sie erreicht. 4.2 1970er Jahre: Politisierung und Feminismus Für die Theologinnen-Generation, die Ende der 1960er und Anfang der 70er Jahre ihr Studium abschloss, stand nicht nur das Pfarramt offen, sie hatte auch schon eine eigene Prägung im Studium erlebt. In der zweiten Hälfte der 1960er 31 Ebd.,

27.

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Jahre war es zu einer Politisierung der Studierenden gekommen, die sich auch auf Theologiestudentinnen erstreckte. Diese Studentinnen kamen etwa Anfang der 1970er ins Pfarramt, und ihre pastorale Arbeit wurde von dieser Politisierung geprägt. In Kristin Rückers (in einem Sammelband mit dem Titel „Warum ich Pfarrer wurde“ veröffentlichten) Erinnerungen wird deutlich, dass bei den poli­ tisierten Studentinnen Feminismus und Theologie noch unverbunden nebeneinander standen, aber bei aller Faszination doch erste Zweifel an theologischen Traditionen auftauchten. Als Episode aus ihrem Studium schildert Rücker, wie sie als Studentin in Basel Karl Barth erlebte: „Wir lasen aus der Kirchlichen Dogmatik, Band III/4, das Kapitel Mann und Frau, für mich faszinierend und ärgerlich zugleich. Ärgerlich, weil ich das Verhaftetsein Barths an die patriarchalische Ordnung, religiös und systematisch überhöht, nicht übersehen konnte. (Ich las zur gleichen Zeit Simone de Beauvoirs ‚das andere Geschlecht‘.) Faszinierend, weil für mich Barth die Befreiung aus einer konservativ luthe­rischen Dogmatik bedeutete. Mit ihm lernte ich die ‚andere‘ Seite der Reformation kennen, die mir in ihrer Nüchternheit, gedanklichen Schärfe und politischen Parteilichkeit näher stand und steht als das Luthertum“.32

Simone de Beauvoir als Symbol des beginnenden Interesses am Feminismus erscheint hier nur am Rande, in Klammern gesetzt, damit der Begeisterung für Barths Dogmatik in ihrer Bedeutung für das eigene Leben noch nachgeordnet. Sie steht aber auch für das erwachende politische Bewusstsein und das kritische Infragestellen der herrschenden Ordnung. Die weitere berufliche Laufbahn Rückers wurde von diesem Bewusstsein bestimmt; dies beginnt schon mit der Entscheidung für eine Pfarrstelle in einer bestimmten Gemeinde: „Die Konzeption des Gruppenpfarramts, in dem zwei Pfarrstellen mit Sozialwissenschaftlern besetzt sind, das Modell der gastfreien Kirche, die Form der Zusammen­ arbeit – einer soll nicht alles machen, einer soll möglichst nicht allein arbeiten, in der Zusammenarbeit erfährt jeder Korrektur und Hilfe – gab den Ausschlag, dass ich nach Neukölln ging“.33

Im Weiteren beschreibt Rücker ihre berufliche Praxis und ihre berufliche Identität als von ihrem politischen Bewusstsein bestimmt: „Zur ‚Exegese des Lebens‘ gehört aber auch meine politische Existenz. Leitworte des Alten und Neuen Testaments wie Friede und Gerechtigkeit bleiben leere Formeln, wenn ich nicht sagen kann, was sie in den heutigen Verhältnissen bedeuten. Der An 32 Rücker, 33 Ebd.,

Eine schickliche Art, 133 f. 134.

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spruch unserer Volkskirche, eine ‚Dienstgemeinschaft besonderer Art‘ zu sein, darf nicht blind machen gegenüber der Tatsache, dass es auch in den Gemeinden um Arbeitsplätze, Dienstverträge, Kündigungen und Urlaubsregelung geht und dass es auch hier ein ‚Oben‘ und ‚Unten‘ gibt. Gewerkschaftliches Engagement und Mitmachen bei der Friedensbewegung ist für mich nicht ‚äußerliches Werk‘, sondern steht in untrennbarem Zusammenhang mit meinem Glauben und dem Bekenntnis“.34

Während in den 1960er Jahren politische Begründungen für die Gleichstellung der Frauen zurückgewiesen wurden und allein theologische Argumente ausschlaggebend sein sollten, wird hier nun einerseits mit politischen Kategorien auf Kirche und Gemeinde geschaut und andererseits das politische Engagement in Gewerkschaft und Friedensbewegung mit Glaubensüberzeugungen begründet. Durch die berufliche Praxis in der Gemeinde bekommt auch die Feministische Theologie für Rücker größere Bedeutung: „Während meiner Ausbildungstätigkeit war die feministische Theologie für mich eine interessante und sympathische Variante der Befreiungstheologie. Seit ich im Pfarramt bin, ist mir ihre Notwendigkeit deutlicher geworden, weil meine Betroffenheit größer ist. Ich erfahre, wie das ‚Herr Herr‘ sagen viel mehr als eine liturgische Formel ist. Tief ins Bewusstsein eingesenkt, verstärkt es die patriarchalen Verhaltensweisen der Männer und Frauen in unserer Gesellschaft“.35

Die Beschäftigung mit der Feministischen Theologie war auch bei Pfarrerinnen, die in den 1960er oder Anfang der 70er Jahre studierten und die ich im Rahmen meiner Studie interviewte, ihrer Politisierung an der Hochschule nachgeordnet. Einige Pfarrerinnen, mit denen ich sprach, gingen ebenfalls mit politischen Ambitionen und Motiven ins Pfarramt. Sie waren sozial orientiert, hatten Interesse an einem Industriepfarramt oder wollten in einem Arbeiterviertel arbeiten, wobei auch an eine Arbeit nach dem Modell Arbeiter­ priester gedacht wurde. Ziel war, eine Gemeinwesenarbeit zu initiieren. Mit der Zeit konnte sich diese Vorstellung mit einem Engagement für Mädchen und Frauen verbinden, z. B. durch Mädchenprojekte oder Frauengruppen in der Gemeinde. Eine Pfarrerin, die durch das Engagement einer schon bestehenden Frauengruppe eine Pfarrstelle in einer bestimmten Gemeinde bekommen hatte, charakterisierte die Arbeit mit den Arbeiterfrauen in Anknüpfung an Begriffe der Frauenbewegung. Es kam ihr darauf an, „ein Auge dafür zu kriegen, was es bedeutet, nicht in der klassischen akademischen Frauenbewegung, sondern einen ganz anderen Erfahrungsbereich, Frauensolidarität. Das sieht nämlich sehr anders aus. Und das liegt auch für die Frauen so ausein­ 34 Ebd., 35 Ebd.

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ander, dass sie mal nach einer ganzen langen Zeit, als ich sie verlocken wollte, irgendwie ins Verborgene Museum zu gehen oder irgendwas Frauenspezifisches zu machen, nur so: Hör bloß mit so einem feministischen Zeug auf. Wir sind keine Frauenbewegten. [Lachen] Und sie waren es auf ganz andere Weise. Was spannend war, nach einer ziemlich kurzen Zeit hatten wir mal das Thema Geld dran, und da ging es los: Ja, ich kann ja keine Ansprüche stellen, das ist ja doch das Geld meines Mannes, der bringt ja das Geld ran. Und dann andere: Bist du verrückt! Wie stünde der da, wenn du nicht deine Arbeit machst? Und natürlich ist es euer Geld, und du hast Ansprüche, und Taschengeld war eigentlich das Thema, und eine Frau ist hinterher gegangen und hat zu ihrem Mann gesagt: Du, die anderen haben so was, ich will das auch, und der hat sich bei einem Mann einer anderen Frau beschwert: Das hat sie bloß aus dem Frauencafé. […] So läuft Frauenbewegung oder lief sie eben Anfang der 80er Jahre hier, und davon hab ich eine Menge erlebt.“36

In dieser Frauengruppe „läuft Frauenbewegung“, wenn z. B. die Frauen ein­ ander vermitteln, dass sie Anspruch auf Taschengeld haben, und dieses dann von ihren Männern einfordern. Das heißt, die Aufklärungsarbeit in der Frauengruppe wird an Begriffe und Ziele der Frauenbewegung anschlussfähig. Eine andere Pfarrerin, für die die Auseinandersetzung mit religiösen Sozialisten im Theologiestudium prägend war, wird als Pfarrerin im Pfarrkonvent auf die Feministische Theologie gestoßen. Der Pfarrkonvent möchte sich mit dem Thema beschäftigen, und ihr als einziger Frau wird die Aufgabe zugewiesen, das Thema vorzubereiten, was sie auch tut, jedoch ohne dass dies dauerhaft Einfluss auf ihre Arbeit hätte37. Eine weitere Pfarrerin, die sehr geprägt war durch die Studentenproteste um das Jahr 1968 herum, beschreibt ihren Übergang ins Pfarramt als Praxisschock. Sie schildert, dass sie von den Anforderungen des Berufs und der Kindererziehung erschöpft keine Zeit für eine Reflexion ihrer beruflichen Arbeit hatte. Dies ­änderte sich, als sie zum ersten Mal eine Vikarin in ihrer Gemeinde betreute: „Und das war eine ganz tolle Zeit, da hab ich nach der langen Arbeitsperiode das erste Mal angefangen, also hatte ich das erste Mal wieder die Chance, gemeinsam zu reflektieren, und dann eben auch mit einer Frau zu reflektieren, und mit einer Frau, die wesentlich jünger war als ich, einen ganz anderen Ansatz hatte und eben auch sehr dieses Bewusstsein, als Frau im Männerberuf zu arbeiten, in mir verstärkt hat.“38

Im Studium hatte die befragte Pfarrerin nur männliche Theologen als Vorbild gehabt und bewundert. Nach Jahren pastoraler Praxis wurde ihr nun klar, dass 36 Interview

Pfarrerin F., 8 f. Interview Pfarrerin L., 21 f. 38 Interview Pfarrerin E., 8.

37 Vgl.

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das Pfarramt immer noch männlich gedacht wird und dass Männer im Pfarramt anders behandelt werden. Die Erkenntnis, dass Frauen im Pfarramt spezifische Probleme haben und dass mit dem Zugang zum Pfarramt noch nicht alle Probleme von Theologinnen gelöst sind, ist typisch für viele Pfarrerinnen, die zu der Generation gehören, die als erste nach der Gleichstellung (und der damit fast überall verbundenen Aufhebung der Zölibatsverpflichtung) ins Pfarramt kamen. Sie begannen, ihre berufliche Identität und ihre Situation als Frau im Pfarramt zu reflektieren. Erfahrungsberichte von Pfarrerinnen, die die Konfliktfelder, mit denen Frauen im Pfarramt umgehen müssen, beschreiben, wurden in Sammelbänden oder Zeitschriften veröffentlicht39. Themen waren Probleme der Lebensplanung und der Vereinbarung von Familie und Privatleben mit dem Beruf, aber auch Spannungen zwischen der geschlechtlichen und der beruflichen Identität, die Frauen in einem traditionellen Männerberuf balancieren müssen. In kritischer Distanz zur Pfarrerrolle hoben einige Autorinnen hervor, dass diese Probleme nicht persönlicher, sondern struktureller Art waren und dass daraus ein Veränderungspotential für Kirche und Pfarramt erwachsen könnte. Angeregt durch Überlegungen der feministischen Theologie und durch den Einfluss der sozialwissenschaftlichen, vor allem aber der psychoanalytischen und sozialpsychologischen Frauenforschung wurde das Pfarramt aufgrund der eigenen Erfahrungen im Beruf zunehmend kritisch betrachtet; es wurde in Frage gestellt, dass es in seiner traditionellen Form mit der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung von Pfarrer und Pfarrfrau ohne strukturelle Veränderungen gleichermaßen von Pfarrerinnen ausgefüllt werden kann. Diese Überlegungen führten zu einem „Plädoyer für einen neuen Amtsbegriff“40. Die weitere Berufsbiographie der zuletzt erwähnten Pfarrerin und ihre pastorale Praxis sind davon bestimmt, dass sie beginnt, an Fortbildungen teilzunehmen: „Ich überlege gerade, wann ich das erste Mal mit Fortbildung angefangen habe, das ist ein wesentliches Datum. Ich glaube, ich habe fast die ganzen 70er durch­gearbeitet. Natürlich mit Lektüre und Gespräch und Vikariat, also Mentorat. Und habe aber selber an eine eigene Fortbildung erst seit ’80 gedacht. Das war eine ziemlich harte Zeit. Ohne alles von außen zu machen und als ich dann die erste Fortbildung machte, merkte ich, wie erschöpft ich war und wie meine Ressourcen so ziemlich aufgebraucht waren, und ich war total erschrocken und wollte mich der Sache eigentlich überhaupt nicht stellen. Ich wollte gleich abreisen.“41 39 Vgl.

z. B. Kratzmann/Wagner, Lernen. Plädoyer. 41 Interview Pfarrerin E., 9.

40 Wind,

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Die Fortbildungen (zur Reflexion des Berufsbildes, in TZI, d. h. Themenzen­ trierter Interaktion, und in Bibliodrama) stellen einen entscheidenden Wendepunkt im Leben der befragten Pfarrerin dar. Sie richtet ihre pastorale Praxis danach vermehrt an Erfahrungen aus und wird so an die Feministische Theo­logie anschlussfähig. Sie verändert ihre Liturgie und ihre Gottesdienstgestaltung, legt dabei weniger Wert auf Inhalte als auf ganzheitliche Wirkung, auf Körper, Sinne und Gefühle, und sie engagiert sich in der Bibliodrama-Arbeit. Diese Umorientierung und die Begeisterung für das Bibliodrama als einem erfahrungs- und gemeinschaftsbezogenen Zugang zu biblischen Texten42 ist eine für diese Generation typische Umsetzung von feministisch-theologischen Ideen in die pastorale Praxis und findet sich auch in Ostdeutschland43. Die Vermutung liegt nahe, dass es gerade dieser erfahrungsbezogene Zugang zu Bibeltexten ist, den die oben zitierte ältere Pfarrerin so vehement ablehnt. Umgekehrt geht die gerade vorgestellte Pfarrerin ihrerseits auf Distanz zur vorhergehenden Generation. Auf die Frage, ob sie Pfarrvikarinnen und Pastorinnen gekannt habe, entgegnet sie: „Von denen hab ich mich tunlichst ferngehalten. Und zwar deshalb, das muss ein Instinkt gewesen sein, der mich getrieben hat. (Lachen) Denn wenn eine von diesen älteren Kolleginnen auftauchte, die waren so streng und so herbe, dass ich mir nicht vorstellen konnte, dass ich auch so werden wollte. Und die haben ja nun auch Kämpfe hinter sich gebracht, die waren ja, oh, also atemberaubend, ja? Und ich denke, was die durchgemacht haben und wie die angemacht worden sind.“44

In diesem Interviewausschnitt kommen durchaus Verständnis und eine emo­ tionale Nähe zur älteren Generation zum Ausdruck. Allerdings erscheinen Auftreten und Erscheinung dieser Theologinnen als so abschreckend, dass die befragte Pfarrerin lieber Abstand hält. Auch hier handelt es sich wiederum 42 Ähnlich äußert sich Heidemarie Langer in einem Gespräch zu den Qualitäten des Bibliodrama: „Die Erkenntnisse, die Einsichten aus der Feministischen Theologie-Bewegung sind nicht zu trennen von der Bibliodrama-Arbeit. Ich bin auch eine feministische Theologin. Andere haben Bibliodrama entwickelt ohne Feministische Theologie. Von daher ist Bibliodrama als Bewegung sicherlich nicht an Feministische Theologie allein gebunden. […] Bibliodrama ist eine theologische, eine kulturelle Bewegung, die schlichtweg reif war, aufzukommen. Es bedeutet, sich der Verbindung persönlicher Erfahrung mit einem biblischen Text so zuzuwenden, dass die Erfahrung der einzelnen und der Gruppe ernstgenommen wird für das Verstehen des Ganzen. […] Bibliodrama ist keine Bewegung von einer allein. Das Moment des Wir, der Gemeinschaft, des Ganzen wird ernstgenommen und ist im Grunde genommen das erste, in dem dann die einzelnen sich als Individuen und als Ich erkennen“ (Evangelische Akademie Bad Boll, Feministische Theologie-­ Praxis, 69 f ). 43 Vgl. dazu Sammet, Frauen, 215–223. 44 Interview Pfarrerin E., 25. Zur Biographie dieses Falles vgl. auch Sammet, Beruf, 103–126.

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­weniger um eine Ab­grenzung von theologischen Positionen als vielmehr um eine Art kultureller Fremdheit. Diese Abgrenzung beruht sehr stark auf den Gefühlen, die die andere Seite hervorruft, und wird nicht bewusst, sondern habituell vollzogen. Insgesamt scheint zwischen den Theologinnen-Generationen – zumindest in Teilen – durch ihr jeweiliges Verhältnis zur Politik und wegen der Bedeutung, die Erfahrungen zugeschrieben wird, ein Gegensatz zu bestehen, der zu wechselseitigen Distanzierungen führt. Unter den Theologinnen der ’68er-Generation zeichnen sich – das möchte ich zusammenfassend festhalten – zwei mögliche Wege ab, auf denen die Feministische Theologie für die pastorale Praxis Bedeutung gewinnen konnte. Diese Generation ist von einer vorgängigen Politisierung geprägt, die sie an den Hochschulen erfahren hat und die sie mit ins Pfarramt nahm. Diese Theologinnen wollten ein politisches, sozial engagiertes und gemeinwesenorientiertes Pfarramt ausüben, was häufig nicht von Erfolg gekrönt war, weil die anvisierten Zielgruppen sich nicht in den Gemeinden einfanden. Die Feministische Theologie bot dann eine Möglichkeit zur Umorientierung, weg von Arbeitern und Erwerbstätigen hin zu Frauen- und Mädchengruppen, da sie Begriffe und Konzepte bereit hielt, mit denen diese Arbeit als politische Arbeit gedeutet werden konnte. Für andere Pfarrerinnen der ’68er-Generation war der Erfahrungsbezug der Feministischen Theologie attraktiv. Feministische Frauengruppen, Fortbildungen, die gemeinsame Reflexion mit anderen Frauen und nicht zuletzt das feministisch adaptierte Bibliodrama eröffneten Möglichkeiten, Gemeinschaft mit anderen Frauen zu erleben und körper- und gefühlbetonende Arbeitsformen zu entwickeln. Die Generation der ’68erinnen erscheint in Hinblick auf die Feministische Theologie als eine Übergangsgeneration; die nachfolgenden Generationen ­haben sich schon an der Universität mit feministisch-theo­logischen Entwürfen beschäftigen können und sie dadurch auch in größerem Maß in ihre theolo­ gische Identität integriert.

5. Fazit: Thesen zur Erfolgsgeschichte der Feministischen Theologie Ich habe schon erwähnt, dass die Feministische Theologie in der Bundesrepublik Deutschland auf eine Erfolgsgeschichte zurückblicken kann. Abschließend möchte ich kurz einige Thesen dazu formulieren, wie dieser Erfolg zu erklären ist. Die Feministische Theologie ist – als Zusammenwirken der theologischen Frauenforschung und der kirchlichen Frauenbewegung – die soziale Bewegung, die die nachhaltigsten Wirkungen in der Kirche hinterlassen hat. Wie war das möglich?

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Zunächst und vor allen Dingen ist zu sagen: Die Feministische Theologie formulierte ein berechtigtes Anliegen und konnte mit Argumenten überzeugen. Darüber hinaus gibt es weitere begünstigende Faktoren, die teilweise z. B. im Katholizismus nicht vorhanden waren. Eine wichtige Voraussetzung war, dass die Frauenordination in den evangelischen Landeskirchen durchgesetzt war. Es gab dadurch Pfarrerinnen und außerdem eine zunehmende Zahl von Theologie-Studentinnen. Diese Theo­ loginnen haben eine akademische Ausbildung und sind in öffentlicher Rede geübt. Damit haben sie die Möglichkeit, die Bedingungen und Probleme ihrer Arbeit öffentlich zu machen und zu reflektieren. In den 1990er Jahren konnte die Frauen- und Geschlechterforschung an einigen Universitäten etabliert werden, darunter auch die theologische Frauenforschung bzw. die Feministische Theologie. Die Feministische Theologie stellte wichtige Fragen, überzeugte durch gute wissenschaftliche Arbeit und ihre Ergebnisse, die Leerstellen füllten. Die Theologinnen konnten zeigen, dass es Anknüpfungspunkte für feministische Forderungen in der biblischen Überlieferung gibt, und sie konnten sie fruchtbar für Veränderungen machen. In der Gesellschaft wurde in dieser Zeit die Gleichberechtigung von Frauen zunehmend eingefordert und umgesetzt. Die Bildungsbeteiligung von Frauen und die Frauenerwerbstätigkeit stiegen kontinuierlich an. Die Anerkennung und Gleichberechtigung der Frauen in der Kirche standen deshalb nicht im Gegensatz zur herrschenden gesellschaftlichen Ordnung, sondern wurden von dieser herausgefordert. Darüber hinaus ist von nicht geringer Bedeutung, dass die Mehrheit der aktiven Kirchenmitglieder Frauen sind, d. h. sie können  – gerade angesichts steigender Kirchenaustrittszahlen – nicht dauerhaft missachtet werden, wenn man sie nicht auch noch verlieren möchte. Frauen, ihr Engagement und ihre Impulse wurden (und werden) in der Kirche gebraucht: Frauen wurden als „Innovations­gruppen“ bzw. ein mögliches Reformpotential und insofern als eine Bereicherung in der Kirche und im Pfarramt wahrgenommen. Diese Zuschreibungen sind zwar höchst ambivalent, sie eröffnen jedoch Chancen und Gestaltungsspielräume für Frauen. Dabei war die Vielfalt der Feministischen Theologie sicher förderlich; daher ist eher im Plural von feministischen Theologien zu reden. Diese Vielfalt bietet Anknüpfungspunkte für verschiedene Identitätsentwürfe und Motivationen für ein Engagement von Frauen in der Kirche. Die Feministische Theologie ist nicht nur disziplinär und in Hinblick auf ihre Paradigmen vielfältig, sondern auch in Hinblick auf die Handlungs­felder, in denen sie agiert. Sie ist in der Wissenschaft wie in der kirchlichen Praxis präsent, und sie agiert auch (kirchen-)politisch, indem sie auf Entscheidungen

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inner­halb der Organisation hinwirkt. Die Feministische Theologie erfüllt damit unterschiedliche Funktionen, die nach Habermas für die Vermittlung von Theorie und Praxis wesentlich sind: Sie beteiligt sich an der „Bildung und Fortbildung kritischer Theoreme, die wissenschaftlichen Diskursen standhalten“, sie wirkt an der „Organisation von Aufklärungsprozessen“ als Selbstaufklärung von Frauen mit, und sie führt zudem einen politischen Kampf 45. Und schließlich hatten noch weitere Momente des Protestantismus selbst die Forderungen von Frauen auf Beteiligung und Anerkennung in der evan­ gelischen Kirche gefördert: seine Verankerung im Bürgertum und seine Bildungsorientierung. Frauenbildung als Voraussetzung für die Mitarbeit in der Gemeinde, aber auch zur Ermöglichung von eigenständiger Bibellektüre hat der Protestantismus von Anfang an gefördert. Ihr Selbstverständnis als Bildungs- und Aufklärungsarbeit verbindet die Feministische Theologie mit ur­ eigenen Prinzipien des Protestantismus.

Quellen- und Literaturverzeichnis I. Unveröffentlichte Quellen Privatbesitz Sammet Interview mit Pfarrerin C. am 20. Juli 1993. Unveröffentlichtes maskiertes Transkript. Interview mit Pfarrerin E. am 23. Juli 1993. Unveröffentlichtes maskiertes Transkript. Interview mit Pfarrerin F. am 29. Juli 1993. Unveröffentlichtes maskiertes Transkript. Interview mit Pfarrerin L. am 14. Oktober 1993. Unveröffentlichtes maskiertes Transkript. Sammet, Kornelia: Entwicklung der EKD-Synoden. Sozialstrukturelle Zusammensetzung und Ablauf von Tagungen. Unveröff. Forschungsbericht. Berlin 2008.

II. Veröffentlichte Quellen und Darstellungen Anders, Ann: Chronologie der gelaufenen Ereignisse. In: Dies. (Hg.): Autonome Frauen. Schlüsseltexte der Neuen Frauenbewegung seit 1968. Frankfurt a. M. 1988, 10–30. Burrichter, Rita/Lueg, Claudia: Aufbrüche und Umbrüche. Zur Entwicklung femi­ nistischer Theologie in unserem Kontext. In: Schaumberger/Maassen (Hg.), Handbuch, 14–35. Evangelische Akademie Bad Boll: Feministische Theologie-Praxis. Werkstattbuch 2. Arbeitshilfen 5. Bad Boll 1992.

45 Habermas, Theorie

und Praxis, 37 f.

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Klaus Fitschen

Ergebnisse der Diskussion

In der Diskussion wurde in Frage gestellt, ob sich die drei in dieser Sektion beschriebenen Strömungen überhaupt scharf unterscheiden ließen. Annegreth Schilling bejahte dies entschieden. Auch wurde zu bedenken gegeben, ob es sich dabei noch um Theologie oder nicht vielmehr um eine Instrumentalisierung von Theologie handele. Abschließend und ohne dass darauf noch einmal geantwortet werden konnte, wurde danach gefragt, wie es denn überhaupt zu einer Politisierung der Theologie kam und welche Rolle dabei beispielsweise die Exegese spielte. Im Blick auf den christlich-marxistischen Dialog wurde der Impuls aufgenommen, nach seiner Fortsetzung nach dem Ende des Prager Frühlings zu fragen, sei es im Blick auf die sozialistischen Länder oder im Blick auf die westdeutsche Linke. Die Geschichte des „Postdialogs“ wurde von Christian Widmann entsprechend präzisiert. Rückfragen betrafen sowohl den christlich-marxistischen Dialog wie auch die politisierten Theologien: So wurde nach der Interpretation der politisierten Theologien vor dem Hintergrund der „Dialektik der Aufklärung“ und protestantischen Krisendenkens gefragt. Fortschrittsoptimismus, so die Referenten, schnitt sich tatsächlich scharf mit den Hungerkrisen und dem Nord-Süd-Konflikt, Krisenszenarien hatten ihre Bedeutung. Mehrfach angesprochen wurde in der Diskussion die in den politisierten Theologien ausgeblendete Gewaltfrage. Widmann und Strümpfel bestätigten, dass man den Terrorismus der „Befreiungsbewegungen“ nicht zur Kenntnis nahm. Im Blick auf die Feministische Theologie wurde nach dem Aspekt einer stärkeren katholischen Affinität für diese Spielart politisierter Theologie gefragt, ebenso nach ihrer Geschichte in den 1980er Jahren. Ob die Feministische Theologie immer noch eine politische sei, wurde bezweifelt. Die Referentin unterstrich noch einmal, dass die Feministische Theologie ihre Anfänge schon in den 1960er Jahren hatte, und zwar – im katholischen Bereich also – als Reaktion auf das II. Vatikanische Konzil. Dass der Protestantismus insgesamt offener für eine Politisierung war, wurde von ihr auf die Struktur der Landeskirchen zurückgeführt, in denen sich Veränderungen experimentell schneller durchsetzen könnten. Auch sei die Geschichte der Feministischen Theologie in den 1980er Jahren von einer Akademisierung geprägt.

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Die Politisierung des Protestantismus als Thema der Medien

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Claudia Lepp

Zur Einführung

In der Bundesrepublik Deutschland war der Tenor der Medienberichterstattung über Religion und Kirche bis Ende der 1950er Jahre eher affirmativ. Die Massenmedien forderten die kirchliche Religiosität und die Stellung der christlichen Großkirchen in der Bundesrepublik nicht heraus, sondern betonten vielmehr die Bedeutung der Kirchen als moralische Instanzen1. Seit den 1960er Jahren setzte hier jedoch ein deutlicher Wandel ein, der sich im Zusammenhang mit gesellschaftlichen, medialen, aber auch kirchlichen Veränderungen vollzog: Die bundesdeutsche Gesellschaft erlebte eine zunehmende soziomoralische Pluralisierung; die Ausbreitung des Fernsehens, die Etablierung eines kritischen Journalismus sowie einer öffentlichen Meinungsforschung veränderten die mediale Kommunikation; Kirchenaustritte und Reformfragen okkupierten die kirchliche Aufmerksamkeit. Im Ergebnis nahm seit den 1960er Jahren die Präsenz der Themen Religion und Kirche in den Medien keineswegs ab, jedoch pluralisierte sich deren journalistische Wahrnehmung stark2. Die Vorstellungen der Bundesbürger von Religion und Kirche wurden in der zweiten Hälfte des 20.  Jahrhunderts in wachsendem Maße durch die Massenmedien geformt3. Darstellungen und Deutungen in Presse, Hörfunk, Fern­sehen und Film prägten das öffentliche Bild von Religion und Kirche nachhaltig und ließen auch die Selbstwahrnehmung der beiden christlichen Großkirchen nicht unbeeinflusst. Journalisten beschrieben und bewerteten alte und neue Frömmigkeitsformen, theologische Entwicklungen sowie institutionelle Zustände und Veränderungen. Welche Verflechtungen religiöser und beruflicher Identitäten bei den einzelnen Journalisten dabei eine Rolle spielten, aber auch welchen medialen Eigenlogiken sie bei Auswahl und Gestaltung ihrer religiösen und kirchlichen Themen folgten, ist bis heute wenig erforscht. Und auch die jeweils konkrete gesellschaftliche Wirkungsmacht journalistischer Zuschreibungen im religiösen und kirchlichen Bereich gilt es noch genauer zu bemessen.

1 Vgl.

hierzu Hannig/Städter, Krise, 160. Hannig, Medialisierung, 65. 3 Vgl. hierzu nun den Band Bösch/Hölscher (Hg.), Kirchen. Vgl. ferner auch die älteren Einzelstudien: Beck, Kirche; Dörger, Religion; Findeisen, Bild.

2 Vgl.

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Massenmedien prägen jedoch nicht nur die öffentliche Perzeption von Religionen und Kirchen, sie können auch religiöse und kirchliche Entwicklungen initiieren oder zumindest beeinflussen. Damit stellt sich im Rahmen des Tagungsthemas die Frage, inwieweit insbesondere die Printmedien während der 1960er und 70er Jahre das Bild einer „politisierten Kirche“ verstärkten oder gar erst prägten. Welche Rolle spielten die Medien bei der zeitgenössischen Krisenkommunikation über eine „Politisierung der Kirche“4 einerseits und bei der Politisierung des Protestantismus als historischem Prozess andererseits? Dazu gilt es zu klären, welche Vorstellungen vom Verhältnis von Religion und Politik medial verbreitet wurden und inwiefern diese sich im Laufe der Zeit veränderten. Die 1960er Jahre waren auch für die kirchliche Publizistik eine Phase des Umbruchs5. Während die kirchlichen Printmedien in der ersten Hälfte des Jahrzehnts hinsichtlich Auflagen und Zuschauerzahlen ihren Zenit erreichten, setzte danach ein Abwärtstrend ein. Gleichzeitig verloren die Kirchen an Einfluss auf die kirchlichen Sendungen der Rundfunkanstalten. In der zweiten Hälfte der 1960er Jahre setzten jedoch auch Reformen in der kirchlichen Kommunikation ein: Dialogorientierte Zeitschriftenformate kamen auf dem Markt, die kirchlich-religiöse Semantik trat zurück, die konfessionellen Journalisten professionalisierten sich, kirchliche Umfragen wurden in Auftrag gegeben und neue Fernsehformate entwickelt. Der Aufbau neuer Kommunikationsstrukturen war Ausdruck einer Tendenz der beiden christlichen Großkirchen in der modernen westdeutschen Gesellschaft zunehmend als „dialogische Institution[en]“6 zu agieren. Neben der medialen Fremddarstellung einer Politisierung des Protestantismus, die Nicolai Hannig in seinem Beitrag in den Blick nimmt, ist auch deren thematische Präsenz in der evangelischen Publizistik zu untersuchen, was im Beitrag von Sven-Daniel Gettys geschieht. Insbesondere die kirchlichen Printmedien, so scheint es, waren Foren des Politisierungsdiskurses. Dabei standen die Diskussionen über eine Politisierung des Protestantismus im Kontext der Debatte um Gestalt und Zukunft der Kirchen, die in den kirchlichen Zeitungen und Zeitschriften während der 1960er und 70er Jahre insbesondere vor dem Hintergrund steigender Kirchenaustrittszahlen breit und kontrovers geführt wurde. Darstellung und Deutung einer Politisierung des Protestantismus in den kirchlichen und nicht-kirchlichen Medien stehen nicht unverbunden nebenei 4 Vgl. z. B. die 1968 im NDR gesendete Reihe über die „sogenannte Politisierung der Kirche“ von Manfred Linz (Linz, Politisierung). 5 Vgl. auch um Folgenden Bösch/Hölscher, Kirchen, 13 f. 6 Pollack, Protestantismus, 122.

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Zur Einführung

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nander, vielmehr ist hier von indirekten und direkten Austauschprozessen auszugehen. Auch diese Wechselbezüge im Politisierungsdiskurs gilt es genauer zu beleuchten, ebenso wie die Zusammenarbeit von kirchlichen Akteuren mit den Massenmedien in Form von Hintergrundsgesprächen, Interviews oder Gastbeiträgen.

Literaturverzeichnis Beck, Uwe: Kirche im SPIEGEL – Spiegel der Kirche? Ein leidenschaftliches Verhältnis. Ostfildern 1994. Bösch, Frank/Hölscher, Lucian (Hg.): Kirchen  – Medien  – Öffentlichkeit. Trans­ formationen kirchlicher Selbst- und Fremddeutungen seit 1945 (Geschichte der Religion in der Neuzeit 2). Göttingen 2009. Dörger, Hans Joachim: Religion als Thema im Spiegel, Zeit und Stern (Konkretionen 7). Hamburg 1973. Findeisen, Marlies: Das Bild der evangelischen Kirche in der medialen Öffentlichkeit. Dargestellt und analysiert anhand der Zeitungsberichte über den 19. Deutschen Evangelischen Kirchentag Hamburg 1981. Göttingen 1991. Hannig, Nicolai: Von der Inklusion zur Exklusion? Die Medialisierung und Verortung des Religiösen in der Bundesrepublik (1945–1970). In: Bösch/Hölscher, Kirchen, 33–65. Hannig, Nicolai/Städter, Benjamin: Die kommunizierte Krise. Kirche und Religion in der Medienöffentlichkeit der 1950er und 60er Jahre. In: Schweizerische Zeitschrift für Religions- und Kulturgeschichte 101 (2007), 151–183. Pollack, Detlef: Der Protestantismus in Deutschland in den 1960er und 70er Jahren. Forschungsprogrammatische Überlegungen. In: Mitteilungen der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte 24 (2006), 103–125.

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Nicolai Hannig

Axel Springer, Rudolf Augstein und die mediale Politisierung der Religion

Im Verlauf der 1960er Jahre weiteten sich theologische Debatten mehr und mehr in das Forum der Massenmedien aus1. Große Medienhäuser wie der Springer-Konzern und prominente Blätter wie Rudolf Augsteins Nachrichtenmagazin Der Spiegel oder die Illustrierte Stern um ihren Chefredakteur Henri Nannen schwangen sich zu populären Religionsdeutern auf. Journalisten war keineswegs verborgen geblieben, dass sich nicht nur ihre eigene Profession, sondern auch die Theologie im Wandel befand. Im Zuge eines Generationenwechsels hatten sich in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem christlichen Glauben insbesondere die Vorzeichen im Gesellschaftsbezug geändert. Das politische, soziale und ethische Feld gewann für eine immer stärker werdende Gruppe von Kirchenreformern theologisch an Bedeutung. Dementsprechend öffnete sich das gesamte Fach auch für Journalisten, die wiederum Analogien zur Jugend- und Studentenbewegung oder ganz allgemein zum gesellschaftlichen Mentalitätswandel auszumachen begannen. Ebenen der Politik fielen mit Ebenen der Religion zusammen, etwa in dem sich seit 1964/65 entwickelnden christlich-marxistischen Dialog2. Allerdings war es in der medialen Debatte doch eher die Politik, die für die Religion an Bedeutung gewann und nicht umgekehrt. Insgesamt lassen sich drei charakteristische Veränderungen ausmachen, die das öffentliche Bild des theologischen Wandels bestimmten: Erstens schien das Transzendente für die meisten Journalisten aus dem Zentrum des christlichen Glaubens herauszurücken und, wie es der evangelische Theologe und Journalist Eberhard Stammler polemisch formulierte, „gegenüber einem gesellschaftspolitischen Aktionismus in den Hintergrund“ zu treten3; zweitens schien die historisch-kritische Exegese immer mehr die Autorität der Heiligen Schrift zu untergraben und so das reformatorische Bibelverständnis abzulösen; und drit 1 Dieser Artikel greift einige Thesen und Argumente meiner Dissertation auf. Siehe Hannig, Religion. 2 Eitler, Gott. 3 Stammler, Strömungen, 242.

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tens schließlich schien ein humanistisch-aufklärerisches Menschenbild die Erbsünde zu verdrängen und damit an die Stelle der Rechtfertigung des Sünders durch die Heilstat Jesu zu treten.4 Im Hinblick auf die Kontroversen um die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik in den 1950er Jahren oder auch auf theologische Debatten der 1920er Jahre waren dies dem Grundsatz nach gewiss keine gänzlich neuen Phänomene. Zweifelsohne begannen jedoch im Ausgang der 1960er Jahre jene ethisch-politischen Fragen stärker als zuvor die traditionellen dogmatischen Probleme zu überlagern5. Tatsächlich zählte zu den zentralen Forderungen der Reformer unter den Theologen die radikale Öffnung der Kirche zur Welt. Säkularisierung begriffen sie dabei häufig nicht mehr als Relevanzverlust kirchlicher Lehren, Gebote oder Sinngebungen, sondern als Möglichkeit zur Realisierung des Evangeliums in der Welt. Ihre Zielsetzung von einer gemeinsam mit sozialen Bewegungen und anderen engagierten Gruppen verwirklichten friedlichen, gerechten, ökologisch und politisch verantwortungsbewussten Welt entwickelten sie vor allem in den populären Foren von Kirchen- und Katholikentagen, Akademien oder Zeitschriften6. Von dort aus verbreitete sich der Entwurf dieser positiv gewendeten säkularen Gesellschaft und mit ihm die Bewegungen, die ihn in vielen verschiedenen Facetten vertraten. Große Erfolge erreichte die Reformbewegung beispielsweise in der Demokratisierung kirchlicher Hierarchien, Laienpartizipation, Frauenordination, der Neuausrichtung kirchlicher Jugend­ arbeit, Ökumene, Ökologie oder der Dritte-Welt-Arbeit. Der Begriff der „Politisierung“ schien den Aktivisten dabei die Konzepte ihrer Bewegung angemessen zu beschreiben. Teils tauchte er als Kampfbegriff auf, um sich als theologische Schule abzugrenzen, teils diente er dem Anschluss an die 68er-Bewegung. Fast ausschließlich aber verstanden ihn Zeit­ genossen sowohl aus der Fremd- als auch aus der Selbstdeutungsperspektive als „Linkspolitisierung“7. Eine reine Erfolgsgeschichte der Reformbewegung, die womöglich bis in die Gegenwart fortdauerte, lässt sich wohl vor allem aus diesem Grund nicht erzählen. Zu groß dürfte das Polarisierungspotential gewesen sein, das dieser begrifflichen Verengung innewohnte. Denn schon gegen Ende der 1970er, spätestens in den 80er Jahren zeichneten sich reichlich Ernüchterungen ab, sei es im Scheitern an Prämissen der eigenen Friedenspolitik, sei es im abflauenden Zulauf der Bewegung. Klärungsbedürftig erscheint diese Havarie auf halber Strecke aber zweifellos, zumal die Ideale der kirchlichen ­Reformer

4 Vgl.

dazu Mann, Widerstand, 137–156; Hager, Protestantismus, 111–130. Kontinuität, 40–43. 6 Dazu u. a. Sölle, Theologie; Moltmann, Kritik; Gollwitzer, Weltverantwortung. 7 Vgl. Schwab-Felisch, Sprache. 5 Hauschild,

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ja dem breiten gesellschaftlichen Reformgeist der 1960er und 70er Jahre in vieler Hinsicht gar nicht so fremd gewesen sein dürften. Die Gründe, warum sich die Ziele der Reformer teilweise nur sehr schwer realisieren ließen, sind wohl vor allem in ihrer eher schwachen diskursiven, öffent­lichen Durchsetzungskraft zu suchen. Wie innerhalb der Gemeinden so bildete sich auch innerhalb der Theologie um prominente Vertreter ihrer Zunft wie Walter Künneth, Klaus Motschmann oder Helmut Thielicke eine Opposition, die sich vehement vor allem gegen die transkonfessionelle Politisierung der Kirchen und eine Vereinnahmung der christlichen Glaubensgrundlagen durch die politischen Ziele der Studentenbewegung aussprach. Zudem gründete sich 1966 zunächst in Westfalen und dann auch im Rheinland mit der „Bekenntnisbewegung ‚Kein anderes Evangelium‘“ ein weiterer organisierter Gegenpol zur Reformbewegung, der sich insbesondere gegen die pluralistische Verwässerung der evangelischen Glaubenslehre und deren politische Über­formung verwahrte8. Ebenfalls 1966 rief Alexander Evertz gemeinsam mit anderen Pfarrern und Laien die „Notgemeinschaft evangelischer Deutscher“, heute „Evangelische Notgemeinschaft in Deutschland e. V.“ ins Leben. Dieser Zusammenschluss wähnte damals die Kirche „mehr als Vertreterin einer bestimmten politischen Richtung in unserer pluralistischen Gesellschaft denn als Verkünderin der frohen Botschaft von Jesus Christus angesehen und behandelt“ und versuchte daher, den Kirchen ihren Hang zu politischen Stellungnahmen auszureden9. Die letztlich aber wohl entscheidende Ursache für den späteren Substanzverlust der kirchlichen Reformbewegung ist jedoch, so die Ausgangshypothese, woanders zu suchen: und zwar in einer auf den ersten Blick sicher eigentümlich anmutenden Allianz zwischen konservativem traditionalistischen Kirchenchristentum auf der einen und modernem kritischen Journalismus auf der anderen Seite. Das in einem Großteil der Medien vorherrschende Religionsverständnis wies große Parallelen zu den Auffassungen der kirchlichen Traditionalisten auf. Ebenso einig schien man sich in einer gewissen Antipathie gegen die Verschmelzung kirchlichen Handelns mit politischer Arbeit. Selbst in ihren Ansichten sonst so gegensätzliche Medienmogule wie Rudolf Augstein und Axel Springer näherten sich in ihrem Kirchenbegriff immer weiter an. Die theologischen Auseinandersetzungen zwischen Reformern und Traditionalisten entwickelten sich schließlich zu einem öffentlichen Streit, dessen Medialität den Einfluss der Reformbewegung entscheidend mitbestimmte. Der PolitisierungsBegriff tauchte dabei wieder vermehrt als Beschreibungskategorie auf. Meist

8 Zur 9 Zit.

Selbstwahrnehmung siehe Bäumer, Kirchenkampf. aus Notgemeinschaft, 1.

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l­uden ihn Journalisten abwertend auf und verwendeten ihn, um in erster Linie das theologische Streben nach einem neuen Christentum zu beschreiben, das nicht mehr transzendenzbezogen sei, sondern mithilfe eines stärker politischen und sozialen Engagements der Kirchen ganz konkret in der Welt rea­ lisiert werden soll. Die Medienöffentlichkeit sah den Konflikt immer weniger zwischen den Kirchen und der sich liberalisierenden Gesellschaft. Vielmehr verortete man den spannungsgeladenen Widerstreit zwischen liberaler Reform und beharrendem Traditionalismus nun in den Kirchen selbst. Prophezeit wurde dabei eine Auflösung traditioneller Kirchenstrukturen von innen heraus. Im Folgenden interessieren daher insbesondere die mediale Aufbereitung der innerkirchlichen Konflikte am Ende der 1960er Jahre sowie die Auswirkungen journalistischer Positionierungen zur Politisierung der Religion.

„Traditionalisten“ versus „Reformer“ Moderne Theologien hatten im Verlauf der 1960er Jahre medienöffentliche Konjunktur. Neue Strömungen ausgehend von populären Vertretern ihrer Zunft wie James A. Pike oder John A. T. Robinson wurden in großen Serien vorgestellt und von Fachleuten diskutiert. Immer wieder bewunderten Journalisten den „Mut“ mit dem derart „ernsthafte Christen“, wie es ein James Pike sei, vor die Öffentlichkeit treten und behaupteten, man könne auch ohne Glauben an Gott Christ sein. Pike beispielsweise stünde durchaus in deutscher protestantischer Theologietradition, sei berühmten Vertretern seiner Zunft wie etwa dem 1933 in die USA emigrierten Paul Tillich, Rudolf Bultmann oder Dietrich Bonhoeffer sehr ähnlich und dürfte sich, so die 1966 vom Stern-Redakteur Walter Leo formulierte Prognose, daher gerade in der Bundesrepublik viel Gehör verschaffen10. Dementsprechend positiv lud man auch die Erneuerungssemantik auf, mit der man Pikes theologisches Programm in der bundesrepublikanischen Medien­ öffentlichkeit präsentierte. Den „Aufstand evangelischer Theologen gegen den ‚Lieben Gott‘“ deutete der Stern als eine vor dem Hintergrund naturwissenschaftlicher Fortschritte längst überfällige und vor allem „ehrliche“ religiöse „Anpassung an die Moderne“11. Während es also den Kirchen in den 1950er 10 Leo,

Aufstand. aus ebd., 83. Ähnlich Bischof Pike, 185. Zu Robinson siehe auch Leonhardt, Zeit­ fragen; Spiecker, Himmel?; Thielicke, Gottesbild; Bultmann, Glaube; von Balthasar, Geist; Leonhardt, Christentum. 11 Zit.

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Jahren noch gelang, die theologischen Auseinandersetzungen um Rudolf Bultmann, die im Falle des Tübinger Neutestamentlers Ernst Fuchs 1949/50 ja sogar zur Verhinderung einer Lehrstuhlberufung aufgrund kirchenamtlicher Bedenken geführt hatten, streng auf innerkirchliche Öffentlichkeiten zu begrenzen, verschwammen nunmehr im Zuge der verstärkten Medialisierung theologischer Debatten die Grenzen kirchlicher und medialer Öffentlichkeiten12. Ein gewichtiger Teil  der theologischen Diskussionen öffnete sich somit einem breiten Publikum. Dabei waren es freilich nicht nur die zeitgenössisch meist als „modern“, „progressiv“ oder „reformerisch“ typisierten Theologen, die sich in der Medienöffentlichkeit profilieren konnten. Auch deren konservative Widersacher kamen zu Wort. Oftmals fanden sie sogar, wie etwa der evangelische Neutestamentler Ethelbert Stauffer, der in der Hamburger Zeitschrift Kristall einen 17-teiligen Dokumentationsbericht über den historischen Jesus publizierte, ihren Weg in die populären Illustrierten13. Die öffentliche Präsenz reformtheologischer Ansätze überwog jedoch zu Beginn der 1960er Jahre bei weitem. Journalisten stellten zu Beginn der 1960er Jahre progressive Theologen durchaus wohlwollend vor. Sie ließen sie in ausführlichen Zitaten zu Wort kommen und würdigten auch katholische Gelehrte wie Hans Küng, Johann Baptist Metz, Karl Rahner, Edward Schillebeeckx oder auch Julius Döpfner als notwendige Reformer. Die Theologie war nicht zuletzt durch das Zweite Vatikanische Konzil nahezu permanent im Blickfeld der Medien geblieben. Gerade in der Zeit der Konzilsvorbereitungen und vereinzelt noch während der Sitzungsperioden ließen sich die Medien von der deutlich spürbaren Aufbruchstimmung mitreißen. Eine gewisse Affinität zu den Thesen „reformfreudiger“ Theologen wie Küng, Rahner oder Döpfner war unübersehbar14. So war es beispielsweise Küng selbst, der neben dem Kirchenfunkleiter Leo Waltermann für den Westdeutschen Rundfunk (WDR) einen gewichtigen Teil der Konzils­ reportagen übernehmen durfte und dementsprechend in seiner vierteiligen Serie den Deutungsrahmen für die Folgeberichte des WDR-Kirchenfunks abstecken konnte15. Döpfner galt dem Kristall-Redakteur Peter Hornung noch 1966 gar als „sportlich, mutig und modern“, was die Illustrierte zusätzlich mit einem Porträt des Kardinals visuell zu untermauern versuchte. Mit einem breiten 12 Vgl. zu den innerkirchlichen Auseinandersetzungen um Rudolf Bultmann auch Wassmann, Fall Bultmann. 13 Stauffer, Jesus von Nazareth. Die Serie des Erlanger Theologen erregte großes Aufsehen, u. a. weil sie von mehreren Seiten als „Antisemitismus in populärwissenschaftlichem Gewand“ kritisiert wurde. Siehe dazu etwa Die Gemeinde, 27. 1. 1966. 14 Zit. aus Konzil. Schwarzes Schaf, 28; ähnlich Konzil-Küng; Döpfner; Diakone. 15 Küng, Hans: Gedanken zum kommenden Konzil, 4 Teile, 8.  9.–29. 9. 1962 (HA-WDR Köln, Sign. 5924). Siehe auch Waltermann, Konzil.

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­ ächeln, nonchalante an eine Säule gelehnt, inszenierte man Döpfner hier als L unverzagten, lockeren Streiter für die Erneuerung des Katholizismus16. Doch schon im Verlauf des Konzils wandelten sich diese Zuschreibungen. Sowohl in Qualitätszeitungen als auch in den Illustrierten und Kulturzeitschriften wurde dem Konzil, das in Bezug auf die Modernisierungsaufgabe eine tiefe „Kluft zwischen den Kirchenfürsten“ aufgeworfen hätte und zu einer Art „Schlachtfeld“ geworden sei, zunehmend das Potential abgesprochen, die notwendigen Reformen einzuleiten17. Rasch überlagerte sich die mediale Konzilsrezeption wieder mit der Wahrnehmung krisenhafter Erscheinungen, innerer Zerstrittenheit und der zumeist visuell artikulierten Gegensätzlichkeit von Kirche und moderner Gesellschaft. Konfessionelle Unterschiede blichen dabei aus. Die Grenzen schienen in der öffentlichen Debatte nicht mehr zwischen Katholizismus und Protestantismus, sondern zwischen konservativ und progressiv zu verlaufen. Warum hatten sich die Auffassungen in der Medienlandschaft so plötzlich verändert? Einerseits offenbarte sich in dieser etwa seit 1966/67 spürbaren neuerlichen Trendwende innerhalb des Religionsjournalismus sicherlich die für das gesamte mediale Feld so charakteristische Widersprüchlichkeit und der Wankelmut journalistischer Argumentationsmuster. Andererseits wurden aber auch allmählich erste Effekte einer kaum zu übersehenden Professionalisierung des Religionsjournalismus sichtbar. Zeitschriften wie der Spiegel oder der Stern schufen eigenständige Kirchenredaktionen, die nunmehr Reportagen mit großem Vorlauf recherchierten und sie später auch dem Buchmarkt zugänglich machten18. Zu diesen Professionalisierungsschüben ist sicherlich auch der Wandel in den Kirchenfunkabteilungen der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten zu zählen, die sich sukzessive von den Kirchen emanzipierten und sich fortan in vieler Hinsicht eher am säkularen Journalismus als an der kirchlichen Publizistik orientierten19. Dass sich der auch in den Medien zur Mitte der 1960er Jahre wieder findende theologische Optimismus zur Weltveränderung bald verflüchtigte, ist wohl u. a. auf diese Professionalisierung des Religionsjournalismus zurückzuführen. Denn je intensiver sich Journalisten mit den zeitgenössischen Politisierungsbestrebungen im religiösen Feld auseinander­ 16 Hornung,

Kardinal. aus Kampf um Rom, 61. Weniger blumig aber ähnlich in der Argumentation: Schmitz van Vorst, Akt. 18 Zu den Kirchenredakteuren des Sterns zählten Walter Leo und Ulrich Schippke. Der leitende Kirchenredakteur des Spiegels war Werner Harenberg. Dieser publizierte allein in den 60er Jahren drei Religions-Reportagen, die später auch in Buchform erschienen. Harenberg, Mischehe; Ders., Jesus; Ders., Emnid-Umfrage. 19 Hannig, Religion gehört. 17 Zit.

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setzten, umso deutlicher schien sich die Wahrnehmung der Reformideen als humanistische Überformung theologischer und ekklesiologischer Konzepte herauszukristallisieren. In zahlreichen Titelgeschichten und Rundfunksendungen reduzierte nun ein Großteil der Medien das dichte Geflecht unterschiedlicher Strömungen moderner Theologie immer häufiger auf zwei sich diametral gegenüber­stehende Positionen. Die eine Seite sah man vertreten von „Reform-“ oder „neuen Theologen“ wie Küng, Rahner, Metz, Schillebeeckx, Franz Böckle, Gollwitzer, Dorothee Sölle, Herbert Haag, Hubertus Halbfas, Piet Schoonenberg, Yves Congar, Henri de Lubac oder selbst auch Joseph Ratzinger, die sich allesamt einem gesellschaftskritischen Christentum und der „Vermenschlichung der Gesellschaft“ verschrieben hätten20. Auf der anderen Seite stünden dagegen traditionalistisch-konservative Theologen. Repräsentiert würden sie beispielsweise durch Zeitschriften wie Das Zeichen Mariens (Limburg), Nunc et semper (München) oder seit 1969 das Nachfolgeorgan Der Fels (Regensburg), durch die katholische „Una-Voce-Bewegung“, die „Bekenntnisbewegung“ und die „Notgemeinschaft evangelischer Deutscher“, die in den Theorien der Reformer allesamt eine Verkennung des kirchlichen Auftrages sähen. Der Wandel journalistischer Argumentationsmuster im Rahmen dieser Auseinandersetzungen deutete sich zunächst auf semantischer Ebene an. Aus Theologen, die noch 1963 als „Reformer“ vorgestellt und als „theologische Talente ausgezeichnet wurden21, waren seit etwa 1967 „kirchliche Herostraten“ und „Rebellen“ geworden22. Überall beobachtete man vermeintliche Spaltungen innerhalb der christlichen Kirchen. In einer Umfrage-Reportage des Stern, die die Illustrierte gemeinsam mit Infratest entworfen hatte, versuchte das Blatt zu zeigen, wie „verwirrt“ denn die Christen ob der zunehmenden „Entgöttlichung des Christensohnes“ seien, die man vor allem auf „theologische Bilderstürmer“ wie Bultmann zurückführen könne, die „praktisch alle Wunder, die bis dahin den Lebensweg Christi markiert und ihn damit als göttlich ausgewiesen hatten, zur mythologischen Phantasterei erklärt“ hätten23. In der Medienöffentlichkeit verankerten sich der Pluralismus theologischer Positionen und die für die 1970er und 80er Jahre so typische Fraktionierung der Kirchen zumindest sprachlich schon weitaus früher24. Die Grenzen der Lagerbildung zogen Journalisten zumeist entlang der Linie zwischen traditionalistischer und moderner 20 So

etwa in Splittern und Spalten.

21 Konzil-Küng. 22 Splittern

und Spalten, 162 und Boyer, Streitmacht, 42. Warum?, 68. 24 Vgl. Gabriel, Christentum, 177–179.

23 Schippke,

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reformorientierter politischer Theologie. Dass sich allerdings auch gerade unter den Reformern mehrere Fraktionen herausgebildeten hatten, etwa die eher moderatere Gruppe um Moltmann, Metz und Rahner oder die radikalere um Sölle, Gollwitzer oder auch den italienischen katholischen Theologen Giulio Girardi, geriet schnell in Vergessenheit. Der vermeintlich zerstörerische innerkirchliche Konflikt zwischen zwei Parteien wirkte da wesentlich telegener.

Axel Springer und Rudolf Augstein: Ein gemeinsamer Feldzug gegen die Politisierung der Religion Ein Großteil der deutschen Journalisten verwarf zum Ende der 1960er Jahre reformtheologische Denkansätze und versuchte, gesellschaftspolitische Kompetenzen der Kirchen einzudämmen. Erklärungsmodelle dafür sind freilich nicht nur in der Professionalisierung des Religionsjournalismus zu sehen. Auch ein Blick auf das Religions- und Kirchenverständnis bekannter Journalisten und Verleger kann hier wichtige Hinweise liefern. Denn gerade in den Printmedien übertrugen sich Grundeinstellungen der führenden Köpfe politischer wie auch religiöser Couleur rasch auf die übrigen Mitarbeiter. Zum Teil wurden sie sogar, wie noch zu zeigen sein wird, direkt unter Druck gesetzt. Nicht selten passten sie sich aber auch stillschweigend der Verlags- oder Blattlinie an. Zu den in ihren Häusern sicherlich einflussreichsten und in der Bonner Republik schillernsten Medienfiguren dürften Rudolf Augstein und Axel Springer zählen. Beide beschränkten sich in ihrem Leben keineswegs nur auf ihre Berufe als Herausgeber und Journalisten bzw. als Verleger. Oftmals versuchten sie sich beispielsweise auch politisch zu profilieren. Erinnert sei nur an Augsteins FDPBundestagsmandat 1972/73 oder Springers Moskau-Reise 1958. Nicht weniger engagiert zeigten sie sich in religiösen Belangen. Beide brachten sich sowohl mit Artikeln und Reportagen in ihren Blättern als auch mit zahlreichen öffentlichen Vorträgen und Aufrufen immer wieder als Religionsdeuter und -mahner ins Gespräch. Denn auch privat waren sie im Religiösen durchaus musikalisch und trugen diese Musikalität gern in die Öffentlichkeit. Augstein entstammte einem bürgerlichen, streng katholischen Elternhaus, wuchs in der hannoverschen Diaspora auf und war zu Jugendzeiten als Ministrant fest in das katholische Kirchenleben integriert. Im Laufe seines Lebens entfernte er sich jedoch immer weiter von der Amtskirche bis er schließlich 1968 aus der Kirche austrat. Diese sukzessive Loslösung lebte er stets publizistisch aus, beginnend mit einer großen Reportage über den historischen Jesus zu Weihnachten 195825, über ein „Bibel 25 Jesus

von Nazareth.

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feuilleton“, das er während seiner Untersuchungshaft infolge der ­Spiegel-Affäre schrieb26, bis hin zur Veröffentlichung seiner seitenstarken Monographie über die Leben-Jesu-Forschung 1972 und den danach folgenden unzähligen Polemiken gegen die katholische Amtskirche27. Zwar bekundete er in der Neuauflage seines „Jesus Menschensohn“ von 1999, dass er an die „christlichen Grundwahrheiten der beiden großen Religionsgemeinschaften […] in der vorgeschriebenen Form“ nicht geglaubt habe und auch immer noch nicht glaube28. Ebenso äußerte er in einem Interview mit der Welt am Sonntag kurz vor seinem Tode, er glaube weder an Gott noch an die Auferstehung29. Seine persönliche, mal anklagende, mal nachdenkliche Auseinandersetzung mit der Religion hatte er damit jedoch nie aufgegeben. Die in seinem Lebensabend unzähligen, meist angestrengt wirkenden atheistischen Bekenntnisse weisen darauf hin. Axel Springer hingegen wuchs zunächst eher kirchenfern auf. Später wurde er allerdings Mitglied der Unierten Kirche Berlin-Brandenburgs, danach Brandenburgischer Altlutheraner. Im Vergleich zum jungen Augstein war er sein ganzes Leben über noch von einer weitaus intensiveren Frömmigkeit geprägt. Die Religion spielte in seinem Privatleben stets eine übergeordnete Rolle und stand keineswegs allein im Zeichen des Protestantismus. Springer zeigte sich ebenso gegenüber allem Esoterischen und Spiritistischen aufgeschlossen, glaubte an die Astrologie und tauchte selbst regelmäßig in okkulte Praktiken ein. Enge Vertraute berichteten, dass sich Springer in den 1950er Jahren wöchentlich unerkannt zu seiner Haus-Astrologin Ina Hetzel fahren ließ, um sich dort sein Horoskop abzuholen. Wichtige administrative Entscheidungen und andere Verfügungen machte er häufig vom rechten Stand der Sterne abhängig. Sein Mentor Hans Zehrer, ebenfalls gläubiger Christ, stand ihm dabei in nichts nach. Auch er konsultierte regelmäßig die Sterndeuterin Hetzel. In Springers Privatleben vermischten sich diese esoterischen Neigungen mit christlichen Glaubenstraditionen. In einer in seiner Villa eigens eingerichteten Klause fand der Verleger regelmäßig Zeit zur Kontemplation, betete und meditierte vor Heiligenbildnissen, studierte die Bibel oder erlebte gar im Stadium mystischer Askese Visionen und Engelserscheinungen, die ihm offenbarten, er selbst sei die Inkarnation Jesu Christi30. Im Gegensatz zu Augstein trug er diese von HansPeter Schwarz etwas kupierend aber durchaus plausibel als pathologische „Sinnkrise“ gedeuteten Glaubenspraktiken nicht ins Forum der Öffentlichkeit, son 26 Augstein,

Spiegel-Leser. Augstein, 377–384; Beck, Kirche, 237–241. 28 Augstein, Jesus, 8. 29 Henlein, Exklusiv-Interview, 13 30 Schwarz, Axel Springer, 237–250; Kruip, „Welt“-„Bild“, 232–240. Dazu spöttelnd auch Jürgs, Verleger, 35–59. 27 Merseburger,

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dern achtete peinlich genau auf deren Geheimhaltung. Erst als das Esoterische an seinem Glaubenshorizont etwas schwächer wurde und das Protestantische langsam Überhand nahm, suchte Springer auch mit seinen persönlichen Bekenntnissen den Weg in die Öffentlichkeit und gerierte sich dabei gern als Retter eines wahren Kirchenbegriffs. Sowohl Augstein als auch Springer sahen in den Theorien und Praktiken progressiver Theologen und Priestergruppen eine Verfehlung der in ihren Augen eigentlich vorrangigen kirchlichen Aufgabe. Bei Axel Springer führte der Ärger über diese vermeintlichen Verirrungen 1969 sogar so weit, dass er sich genötigt sah, einen klärenden Bekenntnisbrief an einen seiner Chefredakteure – den er wenige Monate später strafversetzte – und an die Spitzen der evangelischen und katholischen Kirche zu schreiben. Was war geschehen? Den Stein ins Rollen brachte das zum Springer-Konzern gehörende Hamburger Abendblatt, in dem der Journalist Erich Hoepfner zum Jahreswechsel 1968/69 eine fünfteilige Artikel-Serie mit dem Titel „Rebellen im Namen Christi“ publiziert hatte31. Hoepfner setzte sich in seiner Reportage vor allem mit politisierten Theo­ logiestudenten, Vikaren und Pfarrern auseinander und diskutierte dabei neue progressive theologische Strömungen. Eine Rhetorik der Unruhe, die schon die Debatte zur 68er-Bewegung prägte, durchzog die gesamte Reihe32. Aufruhr, Verwirrung und Irritation kennzeichneten, laut Hoepfner, das zeitgenössische Kirchenleben. Verantwortlich dafür seien extreme reformtheologische Vorstöße, in denen man die Krise des Transzendenten zum Anlass nehme, alles Numinose aus der christlichen Glaubenslehre zu verbannen und mit ihm gleich die ganze Liturgie33. Die religiöse Unruhe zeichnete Hoepfner dabei als allgegenwärtig, indem er detailliert auf vermeintlich parallele Entwicklungen in verschiedenen deutschen Regionen und im Ausland aufmerksam machte34. Diese Serie in seinem eigenen Blatt muss Springer wie ein Schlag ins Gesicht getroffen haben. Denn eine Grundposition seines Verlags besagte, dass sich die einzelnen Blätter stets für eine Wahrung religiöser Prinzipien einzusetzen und für eine Beachtung christlicher Glaubenssätze Sorge zu tragen hätten. Immer wieder hatte er seinen Chefredakteuren diese Verpflichtungen seines „christ­ lichen Zeitungshauses“ ins Gedächtnis gerufen35. Durch Hoepfners Reportage 31 Hoepfner, Erich: Rebellen im Namen Christi, 5 Teile. In: Hamburger Abendblatt, 24. 12.  1968–7. 1. 1969. 32 Vgl. Kersting, Unruhediskurs. 33 Hoepfner, Gott, 11. 34 Hoepfner, Aufstand, 13. 35 Zit. nach Manuskript zur Ansprache von Axel Springer anlässlich eines Empfangs im Verlagshaus Axel Springer in Berlin nach der Einweihung des Gemeindezentrums der Jerusalems- und Neuen Kirchengemeinde in Berlin Kreuzberg, 22.12.1968 (AS-UA Berlin, NL Horst Mahnke, O. 5).

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seien laut Springer jene Maßgaben nun derart massiv verletzt worden, dass er sich veranlasst sah, bereits kurze Zeit nach Erscheinen des fünften und letzten Teils der Reihe einen teils empörten, teils klärenden Brief an den Chefredakteur des Hamburger Abendblatts Martin Saller aufzusetzen36. Das Abendblatt habe sich mit Hoepfners Serie, so Springer in seinem Schreiben, ohne eine gebotene Darstellung konservativer Gegenpositionen zum „Lautsprecher gewisser Exzentriker“ gemacht, deren „moderne Theologie“ nichts anderes sei als religiöser Radikalismus, den es im Hause Springer zu bekämpfen gelte. Eigentliche Aufgabe der Kirche und ihrer Diener sei es, „Bindeglied zu sein zwischen dem Höchsten und den Menschen“, bzw. „Mittler zwischen Gott und den Menschen“37. Nehme die Kirche dagegen Stellung zu politischen, soziologischen oder wirtschaftlichen Problemen, so verlöre sie unweigerlich ihre Autorität in der für sie so elementaren Seelsorge. Denn sie solle lediglich die Hoffnung auf eine transzendente Vollendung aufrechterhalten und nicht zu einer „pressure-group revolutionärer Bestrebungen denaturieren“. Die Kirche müsse sich gemäß der lutherischen Zwei-Reiche-Lehre also von gesellschaftspolitischen Konflikten fernhalten und auf Stellungnahmen zu tagespolitischen Auseinandersetzungen verzichten, wie es Springer bereits ein Jahr zuvor in einem Schreiben an den evangelischen Pfarrer Horst Bannach eingefordert hatte38. In dieser Hinsicht stimmten Springers Ansichten erstaunlicherweise mit denen seines eigentlichen Antipoden Rudolf Augstein überein. Denn für den Spiegel-Chef stellte ebenso eine Kirche, deren vorrangiges Ziel das Heil der Seele im Jenseits war, die einzig mögliche und begrüßenswerte theologische Position dar. So druckte Augstein nicht nur Springers an Saller und die gesamte Öffentlichkeit gerichtetes Credo ab39, sondern richtete eine Woche später zudem noch folgende elementare Frage an die zeitgenössische politisierte Theologie: „Wäre richtig, dass nicht das Heil der Seele im Jenseits sondern die Vermenschlichung der Gesellschaft euer Ziel ist, nach einem immer wieder von Menschen zu entwerfenden Bild, euer Ziel die ‚Schaffung der Einheit unter der Weltbevölkerung‘ (Schillebeeckx): Wozu dann Kirche?“.40 Augstein stimmte damit ein in den Chor der kirchlich-konservativen Kritiker, die wie die Zeit 36 Ein solches fünftes Axiom wurde in den offiziellen Verlagsrichtlinien jedoch nie manifest. Bei Streitfragen verwies man allerdings stets auf Springers Brief an Saller. Brief Horst Mahnkes an Axel Springer vom 11. 3. 1 969 (ebd.). 37 Brief Axel Springers an Martin Saller vom 23. 1. 1969 (ebd.). Der Entwurf des Schreibens ging auf Horst Mahnke zurück. 38 Brief Axel Springers an Horst Bannach vom 29. 4. 1968 (ebd.). 39 Hinweis. 40 Augstein, Schisma, 166.

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schrift Das Zeichen Mariens, selbsternanntes „Informationsorgan zur Wahrung und Förderung guter Tradition und echter Mystik“, oder der evangelische Pfarrer Alexander Evertz, Mitbegründer der „Notgemeinschaft evangelischer Deutscher“, gegen die „Wischi-Waschi-Theologie“41, die „Termiten-Theologen“ und die „völlige Verlagerung des Schwerpunkts vom Religiösen zum Politischen“ anzugehen versuchten42. Die Argumente Augsteins und Evertz’ waren kaum noch zu unterscheiden. Evertz prophezeite: „Die Kirche hört damit auf, wirklich Kirche zu sein. […] Sie ist nur noch in der Wolle christlich gefärbt.“43 Auch für Augstein schien die einzig glaubwürdige Position die der Konservativen gewesen zu sein: „Wenn ihr glaubt, was ihr nach den Konstitutionen euer Kirchen für wahr halten (und schlimmer: für wahr erklären) müsst: Wäre es nicht ehrlicher und wirksamer, politisch und sozial zu arbeiten, evolutionär oder revolutionär?“44 Öffentlich vorgestellt hatte Augstein seinen Kirchenbegriff bereits 1965, als er eingeladen von der „Evangelischen Akademikerschaft in Deutschland“ vor circa 2.000 Zuhörern einen Vortrag zum Thema „So stell ich mir die Christen vor“ hielt. Eltern brächten ihre Kinder zur Taufe wie zu einer Schluckimpfung, polemisierte der Spiegel-Herausgeber dort gegen das vermeintlich zunehmende kirchliche Festklammern an der Statistik und ließ erkennen, dass er das Christen­tum als reine Jenseitsreligion durchaus akzeptiere, ihr soziales und politisches Engagement jedoch als Entleerung der Heilsbotschaft kritisierte: „Also drängt sie [die Kirche] in die Caritas, für deren Zwecke sie immer größere Summen vom Staat erbittet, in die Kindergärten, in die Altersheime und in die Sozialfürsorge. Sie übernimmt es, den Leuten nach Art des Kalendermannes Ratschläge zur Lebensbemeisterung zukommen zu lassen, immer mit einem winzigen Schuss Bibelgeist. Sie gründet Akademien, Stadtmissionen, paßt aufs Radio und aufs Fernsehen auf, warnt vor Trunkenheit am Steuer und vor übermäßigem Faschingsgenuß […].“45

41 Was

wir noch sagen wollten, 238. Revolution, 56. Bei all seiner Polemik war Augsteins Sprache jedoch weitaus milder als die oftmals erbitterte, beleidigende Kritik, wie sie etwa die Zeitschrift Das Zeichen Mariens an den Tag legte. 43 Evertz, Revolution, 56. 44 Augstein, Schisma, 166. 45 Augstein, Christen, 26. Die Rede lag auch als Sonderdruck dem Spiegel bei. 42 Evertz,

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Eine publizistische Allianz gegen die Politisierung Während der späten 1960er und frühen 70er Jahre fand sich in den Leitlinien prominenter Medienvertreter keineswegs eine rein affirmative Modernitäts­ euphorie. Zwar zeichneten Zeitgenossen, die sich eher der traditionalistischen Bewegung zugehörig fühlten, immer wieder das Zerrbild eines linksmanipulatorischen Medienverbundes. Die Evangelische Zentralstelle für Weltanschauungsfragen und ihr Leiter Kurt Hutten beispielsweise unterstellten den Massenmedien, sie gewährten den Reformern „bereitwillig Raum, um ihre Forderungen öffentlich zu vertreten, und ein interessiertes Publikum klatscht ihnen Beifall: den Priestern, die gegen die Bischöfe aufmucken und den Zölibat als verbindliches Gesetz verwerfen; den Theologen, die das Dogma relativierten und die Bibel entmythologisieren.“ Je „radikaler und provozierender die Reformer sich gebärden“, so Hutten weiter, „desto mehr werden sie in den säkularen Massenmedien ob ihrer Kühnheit als Tabubrecher gepriesen.“46 Auch konservative Journalisten wie Johannes Gross oder Hans-Georg von Studnitz sprachen immer wieder von der „linken Okkupation der Öffentlichkeit“47. Den Rechten stünde „die illustrierte Presse so wenig offen wie Rundfunk und Fernsehen“, die Funkhäuser seien „zu Monopolen der Linksintellektuellen“ geworden48. Tatsächlich aber hatte sich eine auf den ersten Blick recht eigene Allianz zwischen Vertretern eines konservativ-traditionellen Christentums innerhalb der Kirchen und modernem sowie liberal anmutendem Journalismus außerhalb derselben entwickelt. Selbst in der linken Satire-Zeitschrift Pardon trat die Ablehnung gegenüber den reformerischen Kräften innerhalb der Kirchen deutlich hervor: Nachdem hier in einer Reportage aus dem Jahr 1969 die sog. „Rebellen“ in Interviews kurz zu Wort kommen konnten, gehörte das Schlusswort Karlheinz Deschner, der in jenen Reformern nur noch „Helfershelfer der Hierarchie“, „Kadaverkosmetiker“ und „bestallte Konservierer einer Leiche“ sah49. Freilich muss gerade bei den Periodika des linken Spektrums die Kooperation von Journalisten und kirchlichen Traditionalisten etwas eingeschränkt werden. Beide lehnten zwar die Politisierung der Kirchen ab. Die Motive waren jedoch verschieden. Bei den linken Journalisten speiste sich die Motivation eher aus einem Antiklerikalismus, der sich auch durch eine stärker soziale und humanis 46 Hutten,

Abspaltungen. Ähnlich Lindner, Streit. Jahre, 226. Derartige Unterstellungen entluden sich letztlich in der „Rotfunk-Kam­ pagne“ gegen den WDR. Vgl. dazu Schmid, Klaus von Bismarck. 48 Studnitz, Wahrheit, 21. 49 Henscheid/Rosema, Rebellion, 53. 47 Gross,

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tische Orientierung der Theologie nicht aufbrechen ließ. Die ekklesiologischen Perspektiven beider Fraktionen ähnelten sich dafür umso mehr. Wie schon Rudolf Augstein nahmen auch die Redakteure von Pardon, der Jugend- und Szenezeitschrift Twen oder des linken Politikmagazins Konkret die Beobachterperspektive eines Außenstehenden ein. Man selbst habe zwar mit den Kirchen und ihrer Dogmatik abgeschlossen, als Trostspender und Transzendenzstifter wies man ihnen aber eine durchaus wichtige gesellschaftliche Funktion zu. Die von vielen Reformern betriebene Umwidmung der Heils- in eine sozialkritische Anstalt unterminiere diese Bedeutungsebene allerdings. Für Axel Springer und seinen Konzern gestaltete sich jene Koalition weitaus weniger subtil. Zum Teil wurde sie zumindest in privaten Korrespondenzen ganz offen angesprochen. So hatte Axel Springer seinen Brief an den Chef­ redakteur des Hamburger Abendblattes auch an zahlreiche Bischöfe und andere Kirchenmänner geschickt. In seinem Antwortschreiben erfreute sich beispielsweise Heinrich Maria Janssen, Bischof von Hildesheim: „Einige Passus“ aus Springers Darlegungen zum Kirchenbegriff stimmen „inhaltlich sehr stark überein mit dem, was ich an Sylvester und Neujahr in meine Predigten hineingenommen hatte“50. Auch die Reaktionen vieler anderer Bischöfe und Kirchenvertreter waren voll des Lobes für Springers Überlegungen. Die bischöflichen und kirchlichen „opinion leaders“, wie sie Horst Mahnke in einer Zusammenfassung ihrer Zuschriften bezeichnete, hätten mehrheitlich einen „sensationellen Eindruck von der Persönlichkeit des Verlegers“. Viele bewunderten seinen theologischen Scharfsinn und luden ihn sogar zu privaten Gesprächsterminen ein51. Einige kirchliche Aktivisten, wie die des Holsteinischen Preetzer Kreises um den evangelischen Theologieprofessor und späteren Landesbischof der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Schaumburg-Lippe, erbaten gar mehrere Arbeitsexemplare, weil sie glaubten, in Springers „Schreiben einmal eine vollendete Zusammenfassung [zu] finden“52. Ferner sah der Bischof von Regensburg, Rudolf Graber, in Springer einen Verbündeten „im Kampf gegen die zersetzenden Tendenzen in der Kirche“, den er bereits seit mehreren Jahren führe. Es sei „aufschlussreich, daß sich hier ein neuer Ökumenismus entwickelt […]. So ist langsam eine Situation im Entstehen, die einige Hoffnung gibt, wenn sich eine kleine Schicht zusammenfindet und unter Zurückstellung aller persönlichen Interessen zum Handeln bereit ist.“53 Nur selten geriet Sprin 50 Brief Heinrich Maria Janssens, Bischof von Hildesheim, an Axel Springer vom 12. 2. 1969 (AS-UA Berlin, NL Mahnke, O. 5.). 51 Siehe dazu die Auswertung zu den Antwortschreiben von Horst Mahnke in einer Anlage zu seinem Brief an Axel Springer vom 11. 3. 1969 (ebd.). 52 Brief G. A. Baurs an Axel Springer vom 4. 2. 1969 (ebd.). 53 Brief Rudolf Grabers, Bischof von Regensburg, an Axel Springer vom 9. 2. 1969 (ebd.).

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gers stark pietistisch, bisweilen auch schwärmerisch eingefärbte Theologie, die vor allem im konservativen norddeutsch-lutherischen Denkgefüge des 19. Jahrhunderts beheimatet war, in die öffentliche Kritik. Dass man sie, wie etwa bei dem jungen evangelischen Pfarrer und SWF-Volontär Hans-Dieter Mattmüller, als „naiv und gefährlich“ geißelte, da sie verkenne, wie politisch folgenreich auch nur geistliches Handeln sein könne, blieb eher die Ausnahme54. Oftmals schließt man allzu schnell von einer öffentlichen Präsenz auf eine affirmative Position der Journalisten und setzt etwas unscharf Popularität mit einer medialen Parteinahme gleich. Die „Politischen Nachtgebete“ und mit ihnen auch Dorothee Sölle sind dafür ein klassisches Beispiel. Beide erhielten im Zuge der Debatten über moderne Theologien eine große mediale Aufmerksamkeit, was von den Protagonisten selbst gerne als Bestätigung gedeutet wurde und auch heute immer noch den Anlass zu einer Art Erfolgsgeschichte bietet55. Doch von einer Identifikation der Massenmedien mit den Positionen der „politischen Theologie“ konnte keineswegs die Rede sein. Sicherlich fand sie auch publizistische Unterstützung, so etwa durch die katholische Schriftstellerin und FAZ-Redakteurin Vilma Sturm, die als Mitbegründerin des Kölner Arbeitskreises selbst fest in die Nachtgebete eingebunden war56. Die Haltungen der meisten großen Medienhäuser, sei es der Springer-Konzern, Augsteins Spiegel-Verlag oder auch die oft als Haus-und-Hof-Blatt der „Linken Revolution“ verschriene Illustrierte Stern, stimmten jedoch eher mit den Positionen konservativer kirchlicher Funktionsträger überein57. Ähnlich wie Joachim Beckmann, Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland, der die Politischen Nacht­gebete scharf verurteilte und in einem Interview mit dem Kölner Stadtanzeiger im November 1968 jene theologischen Perspektiven als reine Irrlehre bezeichnet hatte, insistierte beispielsweise auch Axel Springer im Rückgriff auf das Altonaer Bekenntnis und die Barmer Theologische Erklärung auf einer strikten Trennung von Gottesdienst und Politik58. Beide begriffen die Politischen Nachtgebete als eine verhängnisvolle Nivellierung dieser Grenze. Immer wieder sah sich Springer daher seit den Osterunruhen von 1968 Anfeindungen linksprotestantischer Aktivisten gegenüber. Im April 1968 war beispielsweise die rund 8.000 Mitglieder zählende Vertreterversammlung der Evangelischen Akademikerschaft in Deutschland, ganz offiziell zu der „Auffassung“ 54 Mattmüller, Hans-Dieter: Anmerkungen zu Axel Springers „Credo“, SWF-Kirchenfunk, Sendung vom 27. 4. 1969 (HA-SWR Baden-Baden, P 12029). 55 So etwa zeitgenössisch bei Steffensky, Nachtgebet. Aktuell: Cornehl, Dorothee Sölle. 56 Sturm, Gongschläge. Vgl. auch Schwab, Vilma Sturm, 469–486. 57 Siehe etwa Grubbe, Nachtgebet; Schippke, Ausverkauf. Das Schülermagazin Underground befürwortete jedoch den politischen Kurs der Nachtgebete, siehe Erbe, Kirche. 58 Siehe auch Kassebeer, Nachtgebet.

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gekommen, „daß die ­Zeitungen des Verlagshauses Axel Springer eine Mitverantwortung an den [politischen und theologischen, N. H.] Unruhen […] tragen“.59 Der sich aus diesen Vorwürfen entwickelnde interne Briefwechsel zwischen Springer und der Evangelischen Akademikerschaft, vertreten durch ihren Generalsekretär Pfarrer Horst Bannach, war ein Schlüsselerlebnis für den Ver­ leger. Er gab ihm einen wichtigen Anreiz, ein theologisches Profil für sich persönlich und die in seinem Haus verlegten Presseerzeugnisse zu formulieren. Gegen Bannach, Sölle und ihre Politischen Nachtgebete pochte er daher auf das Altonaer Bekenntnis von 1933. „Das Reich Gottes“, antwortete Springer der Evangelischen Akademikerschaft, „ist auf dieser Erde nicht herzustellen – nicht der ewige Friede, nicht die vollkommene Gerechtigkeit, nicht die allgemeine Glückseeligkeit. Leid und Mühe gehören zu dieser irdischen Welt, Gott hat uns Grenzen gesetzt. […] Dies also, sehr geehrter Herr Pfarrer Bannach ist mein Standort […].“60 Konservativen Publizisten, die wie Hans-­Georg von Studnitz später selbst die Politisierung der evangelischen Kirche brandmarkten, meist ähnlich wie Springer im Rückgriff auf die Zwei-Reiche-Lehre, fühlten sich durch diese Argumentationslinien von ganz oben in ihren Haltungen bestätigt61. Auch wenn Springer und mit ihm die konservativ-national ausgerichteten Medien im Zuge der Debatte um die Pressekonzentration stark in die Defensive gerieten – 1967 musste Springer vor der von der Großen Koalition eingerichteten Untersuchungskommission seine Marktmacht rechtfertigen – gewann der publizistisch-konservative Block im religiösen Feld weiterhin an Festigkeit62. Gängige Lagerbildungen, die aus historischer Perspektive „zeitkritische“ Medien wie Der Spiegel, Stern oder weite Teile des Rundfunks am Ende der 1960er Jahre auf der linken, regierungskritischen und Blätter des Springer-Verlags auf der rechten Seite verorten63, schienen hier zu verschwimmen. Denn auch Rudolf Augstein nahm in seinem 1972 erschienenen Mammutwerk über die Leben-Jesu-Forschung die „moderne Theologie“ Sölles nur als „fragwürdiges“, „willkürliches“ Postulieren und Denken wahr. Ihre Botschaft ginge an den eigentlichen Bedürfnissen der Menschen vorbei und führe die Theologie auf einen Weg der Selbstauflösung64. Augstein versuchte mit ­seinem 59 Zit. aus dem Vorwort zum Briefwechsel zwischen der Evangelischen Akademikerschaft in Deutschland und dem Verleger Axel Springer, Vorwort (AS-UA Berlin, NL Mahnke, O. 5). 60 Brief Axel Springers an Horst Bannach vom 29. 4. 1968 (ebd.). 61 Studnitz, Politisierung, passim. 62 Vgl. Frei, Jugendrevolte, 116 f; Schwarz, Axel Springer, 479–499. 63 Vgl. Hodenberg, Konsens, 369 f. 64 Augstein, Jesus Menschensohn, 426–429.

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Buch „Jesus Menschensohn“ nichts weniger, als „allen Kirchen“ das Recht abzusprechen, sich auf die ihnen angeblich durch Jesus überkommene gött­ liche Autorität zu berufen. Von dieser wahrlich nicht neuen Erkenntnis versprach er sich, wie er auf einer Pressekonferenz zur Buchvorstellung nochmals präzisierte, die „Abwehr unlegitimierter Einmischung in unsere politischen Streitigkeiten“65. Diese persönlichen Einstellungen Augsteins wirkten sich auch auf die Linie des Religionsjournalismus in seinem Nachrichtenmagazin aus. Im Spiegel fanden antireformerische Positionen seit den späten 1960er Jahren immer wieder ihnen wohlgesonnene Journalisten, was auch in kirchlichen Kreisen erkannt und honoriert wurde. Selbst in der Auswahl seiner Autoren ließ Augstein Affinitäten zur orthodox ausgerichteten Gegenwartstheologie aufscheinen. So war es 1967 der konservative Lutheraner Walter Künneth, der die Rezension zu Heinz Zahrnts neu erschienener Theologiegeschichte besorgte. Künneth war noch ein Jahr zuvor als Hauptredner auf der Kundgebung in der Dortmunder Westfalenhalle aufgetreten, als sich die Bekenntnisbewegung „Kein anderes Evangelium“ erstmals einer breiteren Öffentlichkeit präsentierte. Zahrnt dagegen, der als theologischer Leiter des Hamburger Sonntagsblattes Zeitgenossen durchaus als moderner, progressiver Theologe bekannt war, sprach im Juni 1967 auf dem Kirchentag in Hannover, weshalb die Bekenntnisbewegung bereits im Vorfeld jedwede Unterstützung abgelehnt hatte. Gemäß der konservativen theologischen Linie des Spiegel kritisierte Künneth nun vor allem Zahrnts verengte Perspektive allein auf „modernistische Theologien“ und die „Säkularisierung der Verweltlichung der Welt“. Die Gemeinde lebe, so Künneth, nicht von theologischen Hypothesen, sondern vom „Brot der Bibel“66. Anstößig erschien wohl vor allem Zahrnts durchaus zeittypische Neudeutung des Säkularisierungsbegriffes. Zahrnt hatte ihn nicht mehr pejorativ mit dem Rückgang der gesellschaftlichen Bedeutung von Kirche und Religion oder mit dem Verfall religiöser Denkformen und Normen assoziiert, sondern positiv als die Realisierung des Gottesreiches auf Erden interpretiert67. Dabei wirkte das „Reich Gottes“ für die Bewegung eines „neuen Christentums“ nicht mehr mysteriös oder transzendent. Vielmehr müsse es ganz konkret in dieser Welt mithilfe einer Politi­sierung und Sozialisierung der Kirchen geschaffen werden68. Genau diese Umdeutung erschien jedoch selbst Journalisten linker und liberaler Blätter wie 65 Augstein, Rudolf: Rede anl. Pressekonferenz für „Jesus Menschensohn“ am 28. September [1972] im „Intercontinental“ (Spiegel-Archiv Hamburg, Augstein-Akten: Jesus  – Listen und Korrespondenz, Leserbriefe, Artikel, Sign. 1264). 66 Künneth über Zahrnt, 95. 67 Zahrnt, Theologie. 68 Zit. nach Hoepfner, Evangelium, 4. 

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Twen als „Aushöhlung christlicher Glaubenswahrheiten“, als „wütender Wahrheitsfanatismus“ und letztlich als Ursprung einer Kirchenkrise, in die „modernistische“ Theologen das Christentum hineingestoßen hätten69.

Resümee „Man trägt wieder konservativ“ titelte Rolf Zundel 1974 in einem Leitartikel der liberalen Wochenzeitung Die Zeit. Damit brachte der Bonner Korrespondent einen Trend zum Ausdruck, der, wie oft übersehen, nicht nur den politischen oder kulturellen Raum, sondern auch das religiöse Feld vereinnahmt hatte70. Als Reaktion auf die Verschmelzung kirchlicher und theologischer Konzepte mit politischen Anliegen und gesellschaftlichen Obliegenheiten hatten sich Ende der 1960er Jahre konservative und liberale Kreise weitgehend zugunsten des Konservatismus angenähert. Ebenso erschienen sie eng verzahnt mit kirchlich-traditionalistischen Öffentlichkeiten, in denen häufig dieselben Protagonisten auftraten, Positionen gegenseitig gestärkt wurden und darüber hinaus immer breitere Gesellschaftsgruppen erreicht werden konnten. Im Hinblick auf die vorangegangene Skizze muss damit die für die späten 1960er Jahre immer wieder als charakteristisch hervorgehobene Ausbreitung und Aneignung progressiven Gedankenguts sowie christlich moderner Theologiestile deutlich relativiert werden. Die in der Zeitgeschichte oftmals zitierte „konservative Tendenzwende“, die man meist zur Mitte der 1970er Jahre beginnen lässt, setzte im religiösen Feld demzufolge weitaus früher ein. Noch bevor beispielsweise die Unionsparteien seit Beginn der 1970er Jahre ihre großen Siege in den hessischen, baden-württembergischen, niedersächsischen oder bayerischen Landtagswahlen feierten, hatte der Medienverbund in Religions- und Kirchenfragen den linksorientierten Reformeifer längst hinter sich gelassen71. Daher dürfte die Rehabilitierung des Konservativen, die sich seit Beginn der 1970er Jahre in der Politik, Wissenschaft oder auch der Schriftstellerei ihren Weg bahnte, auch durch die mediale Wertschätzung christlich-konservativer Positionen eine entscheidende Starthilfe erfahren haben72. Entgegen dem Misstrauen gegenüber einem vermeintlich mehrheitlich links stehenden Medienblock, der laut konserva­tiver Publizistik 1976 auch den angeblich zeitgemäßen Wechsel der Regierungs 69 Zit.

aus Schandau, Wo bleibt Gott?, 162; und ders., Jesus, 8. konservativ, 1.  71 Bösch, Krise. 72 Vgl. Schildt, Tendenzwende.

70 Zundel,

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macht gegen die eigentliche Volksmeinung zerschlagen hätte, war das mediale Ensemble längst nicht mehr die linksmanipulatorische Opposition, für die man es gerne halten wollte. Als Reaktion auf das Konzept einer theologisch fundierten säkularen Gesellschaft revitalisierten die Medien einen alten konservativen Kirchenbegriff, der die Transzendenzvermittlung als Wesensmerkmal definierte und eine Politi­ sierung kategorisch ausschloss. Als sich die Kirchen einer Bewegung zu öffnen schienen, deren Ziel es war, das Numinose aus dem Zentrum der christlichen Religion herauszurücken und göttliche Verheißungen stets im Diesseits zu verwirklichen, gerierten sich die meisten Journalisten, allen voran die beiden großen Medienhäuser um Rudolf Augstein und Axel Springer, als Hüter mystisch, spiritueller Glaubensformen. Mit einer Art Allianz zwischen modernem Journalismus und konservativem Kirchenchristentum widersetzte man sich reformtheologischen Strömungen und versuchte, das Transzendente wieder als einzig maßgebende Kraft der Religion zu installieren. Argumentationsstrategien wie diese standen dabei nicht unbedingt im Widerspruch zur Verdrängung religiöser Symbolsprachen aus den gesellschaftspolitischen Debatten der 1960er Jahre. Vielmehr stellten sie eine Präzisierung dar, die schlicht besagte, wenn Kirche, dann nur außerhalb politischer Felder und nur in der Verhandlung letzter Dinge, also dem Verhältnis des Geschöpfes zu seinem Schöpfer, Ewigkeit, Himmel und Hölle.

Quellen- und Literaturverzeichnis I. Unveröffentlichte Quellen Historisches Archiv des WDR (HA-WDR) Köln Kirchenfunkakten, Sign. 5924. Historisches Archiv des SWR (HA-SWR) Baden-Baden Abt. Kirchenfunk, „Aus der christlichen Welt“, Sign. P 12029. Axel Springer Ag., Unternehmensarchiv (AS-UA) Berlin Nachlass Horst Mahnke, O. 5. Spiegel-Archiv, Hamburg Augstein-Akten, Sign. 1264.

II. Veröffentlichte Quellen und Darstellungen Augstein, Rudolf: Jesus Menschensohn. Hamburg 1999.

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Axel Springer, Rudolf Augstein und die mediale Politisierung der Religion 217 –, Das große Schisma. In: Der Spiegel 23 (1969), H. 18, 166. –, So stell ich mir die Christen vor. Berlin 1965. –, Lieber Spiegel-Leser! In: Der Spiegel 16 (1962), H. 47, 38. Balthasar, Hans-Urs von: Komm, du Geist der Wissenschaft! Ein Diskussionsbeitrag zur Frage nach unserem Gottesbild. In: Die Zeit 18 (1963), Nr. 22, 4. Bäumer, Rudolf: Vom ersten zum zweiten Kirchenkampf. In: Ders./Beyerhaus, Peter/ Grünzweig, Fritz (Hg.): Weg und Zeugnis. Bekennende Gemeinschaften im gegenwärtigen Kirchenkampf 1965–1980. Bad Liebenzell 1981, 15–22. Beck, Uwe: Kirche im Spiegel – Spiegel der Kirche? Ein leidenschaftliches Verhältnis. Ostfildern 1994. Bischof Pike. Gespräche mit Jimmy. In: Der Spiegel 21 (1967), H. 46, 185. Bösch, Frank: Die Krise als Chance. Die Neuformierung der Christdemokraten in den siebziger Jahren. In: Konrad H. Jarausch (Hg.): Das Ende der Zuversicht. Die siebziger Jahre als Geschichte. Göttingen 2008, 288–301. Boyer, Arne: Computer sollen die Kirche retten. In: Quick 23 (1970), H. 49, 57–60. –, Gottes Streitmacht verläßt die Kirche. In: Quick 23 (1970), H. 48, 38–42. –, Stirbt die Kirche? In: Quick 23 (1970), H. 47, 34–39. Bultmann, Rudolf: Ist der Glaube an Gott erledigt? Die mythologische Sprache der alten Tradition muss entmythologisiert werden. In: Die Zeit 18 (1963), Nr. 19, 18. Cornehl, Peter: Dorothee Sölle, das „Politische Nachtgebet“ und die Folgen. In: Hermle, Siegfried/Lepp, Claudia/Oelke, Harry (Hg.): Umbrüche. Der deutsche Protestantismus und die sozialen Bewegungen in den 1960er und 70er Jahren. Göttingen 2007, 265–284. Diakone. Leibliche Väter. In: Der Spiegel 17 (1963), H. 45, 56–59. Döpfner. Abschied von der Braut. In: Der Spiegel 15 (1961), H. 30, 34–38. Eitler, Pascal: „Gott ist tot – Gott ist rot“. Max Horkheimer und die Politisierung der Religion um 1968. Frankfurt am Main 2009. Erbe, Gerhild: Ist die Kirche noch zu retten? Politisches Nachtgebet. In: Underground 2 (1969), H. 12, 10–14. Evertz, Alexander: Die evangelische Kirche und die Revolution von links. Bingen am Rhein 1968. Frei, Norbert: 1968. Jugendrevolte und globaler Protest. München 2008. Gabriel, Karl: Christentum zwischen Tradition und Postmoderne. Freiburg 51992. Gollwitzer, Helmut: Die Weltverantwortung der Kirche. In: Wilkens, Erwin (Hg.): Die Zukunft der Kirche und die Zukunft der Welt. Die Synode der EKD 1968 zur Weltverantwortung der Kirche in einem revolutionären Zeitalter. München 1968, 69–96. Gross, Johannes: Unsere letzten Jahre. Fragmente aus Deutschland 1970–1980. Stuttgart 1980. Grubbe, Peter: Das politische Nachtgebet. In: Stern 21 (1969), H. 14, 85–88. Hager, Angela: Westdeutscher Protestantismus und Studentenbewegung. In: Hermle, Siegfried/Lepp, Claudia/Oelke, Harry (Hg.): Umbrüche. Der deutsche Protestantismus und die sozialen Bewegungen in den 1960er und 70er Jahren (AKiZ B 47). Göttingen 2007, 111–130.

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Nicolai Hannig

Hannig, Nicolai: Die Religion der Öffentlichkeit. Medien, Religion und Kirche in der Bundesrepublik Deutschland (1945–1980). Diss. Gießen 2009. –, Religion gehört. Der Kirchenfunk des NWDR und WDR in den 1950er und 60er Jahren. In: Geschichte im Westen 22 (2007), 113–137. Harenberg, Werner: Was glauben die Deutschen? Die Emnid-Umfrage. Ergebnisse und Kommentare. Mainz 1968. –, Jesus und Kirchen. Bibelkritik und Bekenntnis. Stuttgart 1966. –, Mischehe und Konzil. Chancen und Grenzen einer katholischen Reform. Ein Dokumentarbericht. Stuttgart 1964. Hauschild, Wolf-Dieter: Kontinuität im Wandel. Die Evangelische Kirche in Deutschland und die sog. 68er-Bewegung. In: Hey, Bernd/Wittmütz, Volkmar (Hg.): 1968 und die Kirchen. Bielefeld 2008, 35–54. Henlein, Peter: Exklusiv-Interview mit Rudolf Augstein, dem Gründer des „Spiegel“. So lebendig wie lange nicht mehr. In: Welt am Sonntag, 13. 5. 2001, 13. Henscheid, Eckhard/Rosema, Bernd: Rebellion in der Kirche. Vorsicht! Kirche von links! Hat die Kirchen-ApO eine Chance? In: Pardon 8 (1969), H. 12, 43–53. Hinweis, auf die Existenz des Teufels. Axel Springer über Kirche und Theologie. In: Der Spiegel 23 (1969), H. 17, 81–82. Hodenberg, Christina von: Konsens und Krise. Eine Geschichte der westdeutschen Medienöffentlichkeit 1945–1973. Göttingen 2006. Hoepfner, Erich: Aufstand gegen die Autorität (Rebellen im Namen Christi. Teil 2). In: Hamburger Abendblatt, 2. 1. 1969, 13. –, Ihr Gott hat keinen Namen (Rebellen im Namen Christi. Teil  3). In: Hamburger Abendblatt, 3. 1. 1969, 11. –, Das politische Evangelium (Rebellen im Namen Christi, Teil  1). In: Hamburger Abendblatt, 23. 12. 1968, 4. Hornung, Peter: Ein Kardinal sportlich, mutig und modern. In: Kristall 15 (1966), H. 15, 18–22. Hutten, Kurt: Drohen Abspaltungen in der katholischen Kirche? Traditionalisten ­gegen Progressisten. EZW-Information Nr. 42, EZW, Stuttgart III/1970 (www.ezwberlin.de). Jesus von Nazareth. Der Erwählte. In: Der Spiegel 12 (1958), H. 52, 42–55. Jürgs, Michael: Der Verleger. Der Fall Axel Springer. München 2001. Kampf um Rom. In: Kristall 15 (1963), H. 25, 61–67. Kassebeer, Friedrich: Politisches Nachtgebet. Kardinal Frings und Präses Beckmann sind sich in ihrer Ablehnung einig. In: Süddeutsche Zeitung 24 (1968), Nr. 288, 10.  Kersting, Franz-Werner: „Unruhediskurs“. Zeitgenössische Deutungen der 68er-Be­ wegung. In: Frese, Matthias/Paulus, Julia/Teppe, Karl (Hg.): Demokratisierung und gesellschaftlicher Aufbruch. Die sechziger Jahre als Wendezeit der Bundesrepublik. Paderborn 22005, 715–740. Konzil. Schwarzes Schaf. In: Der Spiegel 15 (1961), H. 52, 28–29. Konzil-Küng. Blick auf das Dunkle. In: Der Spiegel 17 (1963), H. 16, 42–51. Kruip, Gudrun: Das „Welt“-„Bild“ des Axel Springer Verlags. Journalismus zwischen westlichen Werten und deutschen Denktraditionen. München 1999.

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Axel Springer, Rudolf Augstein und die mediale Politisierung der Religion 219 Leo, Walter: „Ich glaube nicht mehr an den allmächtigen Gott“, sagte der Bischof. Aufstand evangelischer Theologen gegen den „Lieben Gott“. In: Stern 18 (1966), H. 41, 82–84. Leonhardt, Rudolf Walter: Christentum ohne Religion. Eine Begegnung mit dem anglikanischen Bischof Dr. Robinson in der Evangelischen Akademie Loccum. In: Die Zeit 18 (1963), Nr. 27, 12. –, Zeitfragen: Sind unsere Vorstellungen von Gott veraltet? In: Die Zeit 18 (1963), Nr. 14, 9. Lindner, Reinhold: Streit in der Kirche. Über Gegensätze zwischen konservativen und progressiven Kräften in der evangelischen Kirche. EZW-Information Nr. 45, EZW, Stuttgart III/1971 (Quelle: http://www.ezw-berlin.de). Mann, Gerald H.: Widerstand gegen die kulturrevolutionären Einflüsse in der evangelischen Kirche. In: Becker, Hartmuth/Dirsch, Felix/Winckler, Stefan (Hg.): Die 68er und ihre Gegner. Der Widerstand gegen die Kulturrevolution. Graz 2003, 137–156. Merseburger, Peter: Rudolf Augstein. Biographie. München 2007. Moltmann, Jürgen: Theologische Kritik der politischen Religion. In: Metz, Johann Baptist/Ders./Oelmüller, Willi (Hg.): Kirche im Prozess der Aufklärung. Aspekte einer neuen „politischen Theologie“. München/Mainz 1970, 11–51. Notgemeinschaft: Kirchentag hat Regierungspolitik geschadet. In: epd, Nr.  26, 29. 6. 1967, 1.  Schandau, Marek: Jesus oder unserer Mann aus dem Jenseits. In: Twen 10 (1969), H. 12, 5–11, 152. –, Wo bleibt Gott? In: Twen 10 (1969), H. 11, 162–169. Schildt, Axel: „Die Kräfte der Gegenreform sind auf breiter Front angetreten.“ Zur konservativen Tendenzwende in den Siebziegerjahren. In: Archiv für Sozialgeschichte 44 (2004), 449–478. Schippke, Ulrich: Ausverkauf des Christentums? Nach den protestantischen Pastoren beginnen jetzt auch katholische Pfarrer mit der Demontage des alten Himmels. In: Stern 21 (1969), H. 45, 68–92. –, Warum treten sie nicht aus der Kirche aus? In: Stern 19 (1967), H. 13, 66–70, 108. Schmid, Josef: Intendant Klaus von Bismarck und die Kampagne gegen den „Rotfunk“ WDR. In: Archiv für Sozialgeschichte 41 (2001), 349–381. Schmitz van Vorst, Josef: Der zweite Akt des Konzils. Die Frage der Konzilsmehrheit. Sind die überarbeiteten Schemata im neuen Geist gefasst? In: Frankfurter Allgemeine Zeitung 15 (1963), Nr. 225, 2. Schwab, Hans-Rüdiger: Vilma Sturm. Das Dilemma der Nacktschnecke. In: Ders. (Hg.): Eigensinn und Bindung. Katholische deutsche Intellektuelle im 20. Jahrhundert. 39 Porträts. Kevelaer 2009, 469–486. Schwab-Felisch, Hans: „Deine Sprache verrät Dich“. In: Die sogenannte Politisierung der Kirche (Diskussionsforum in der Reihe Stundenbücher). Hamburg 1968, 97–110. Schwarz, Hans-Peter: Axel Springer. Die Biographie. Berlin 2008. Sölle, Dorothee: Politische Theologie. Auseinandersetzung mit Rudolf Bultmann. Stuttgart 1971.

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Nicolai Hannig

Spiecker, Rochus: Gott richtet sich nicht nach uns. In: Die Zeit 18 (1963), H.  15, 9–10. Splittern und Spalten. In: Der Spiegel 23 (1969), H. 18, 162–178. Stammler, Eberhard: Politische Strömungen im deutschen Protestantismus. In: Oberndörfer, Dieter/Rattinger, Hans/Schmitt, Karl (Hg.): Wirtschaftlicher Wandel, religiö­ ser Wandel und Wertewandel. Folgen für das politische Verhalten in der Bundesrepublik Deutschland. Berlin 1985, 237–244. Stauffer, Ethelbert: Jesus von Nazareth. In: Kristall 17 (1965), H.  22–Kristall 18 (1966), H. 12. Steffensky, Fulbert: Politisches Nachtgebet und ‚neue Gemeinde‘. In: Wissenschaft und Praxis in Kirche und Gesellschaft 60 (1971), 527–534. Studnitz, Hans-Georg von: Ist Gott Mitläufer? Die Politisierung der evangelischen Kirche. Analyse und Dokumentation. Stuttgart-Degerloch 1969. –, Die Wahrheit ist: Links – immer lauter. In: Die Welt am Sonntag, 2.5.1965, 21. Sturm, Vilma: Gongschläge. Journalistische Texte aus fünf Jahrzehnten. Frankfurt am Main 1992. Thielicke, Helmut: Ist unser Gottesbild veraltet? Alte Wahrheiten brauchen neue Formulierungen. In: Die Zeit 18 (1963), H. 16, 17. Walter Künneth über Heinz Zahrnt: „Die Sache mit Gott“. Und wovon lebt die Gemeinde? In: Der Spiegel 21 (1967), H. 6, 95. Waltermann, Leo: Konzil als Prozeß. Berichte im Westdeutschen Rundfunk über das Zweite Vatikanum. Eine Dokumentation. Köln 1966. Was wir noch sagen wollten. Aus dem Tagebuch eines unmündigen Laien. In: Das Zeichen Mariens 2 (1968), H. 4., 238–239. Wassmann, Harry: Der „Fall Bultmann“ in Württemberg (1941–1953). Der Alpirsbacher Mythologievortrag im Spannungsfeld von Kirchenleitung und Universitätstheologie. In: Volker Schäfer (Hg.): Bausteine zur Tübinger Universitätsgeschichte. Folge 4. Tübingen 1989, 137–176. Zahrnt, Heinz: Die Sache mit Gott. Die protestantische Theologie im 20. Jahrhundert. München 1967. Das Zeichen Mariens 2 (1968), H. 4. Zundel, Rolf: Man trägt wieder konservativ. In: Die Zeit 29 (1974), H. 13, 1.

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Wie politisch darf die Kirche sein? Politisierungsdiskurse in protestantischen Zeitschriften (1967/68)

1. Einleitung 1.1 Methodologische Überlegungen zum Begriff der „Politisierung“ Die Frage nach einer „Politisierung“ des Protestantismus, welche diesen Tagungsband beschäftigt, thematisiert ein Grenzgebiet zwischen der ecclesia ad intra und der ecclesia ad extra. Der Begriff der „Politisierung“ setzt daher aus begriffs- und diskurshistorischer Perspektive zwei methodologische Unterscheidungen voraus: Erstens muss in einer historisch-diachronen Fragerichtung untersucht werden, ob die Kirche seit den 1960er Jahren tatsächlich gegenüber früheren Jahren politischer geworden ist. Dazu ist erforderlich, dass die jeweiligen politischen Handlungsfelder untersucht und die daraus resultierenden innerkirchlichen Konfliktlinien herausgearbeitet werden. „Politisierung“ wäre hier als historischer Prozessbegriff anzuwenden und als solcher genau zu definieren.1 Zweitens muss der Begriff der „Politisierung“ in den kirchlichen Debatten selbst historisiert werden. Als zeitgenössischer Kampfbegriff besaß er, wie im Folgenden gezeigt wird, ein außerordentlich hohes Konfliktpotenzial. Sowohl semasiologisch als auch onomasiologisch weicht er somit von seiner heutigen Verwendungsweise ab, insofern diese überhaupt reflektiert wird. Hier wäre insbesondere zu untersuchen, welches Kirchenbild anhand eines solchen Terminus verfochten oder abgelehnt wurde. In diesem Untersuchungsfeld spielen deshalb die Theologie und die Ekklesiologie eine zentrale Rolle. Auch muss berücksichtigt werden, welche anderen Begriffe, wie etwa „Gesellschaftsdiakonie“, „politische Diakonie“ oder „politische Theologie“, der Diskussion um eine „Politisierung“ vorausgingen oder als Alternativkonzepte und Synonyme Verwendung fanden. Das weite Feld, das mit diesen methodologischen Fragen abgesteckt worden ist, kann nicht Gegenstand der folgenden Darstellung sein, muss aber stets als Referenz den Interpretationsrahmen für die konkreten Befunde liefern. 1 Vgl. dazu die Studie von Eitler, „Gott ist tot“. Zur theoretischen Dimension und Periodi­ sierung vgl. auch Ders., Politik.

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1.2 Allgemeine Überlegungen zu den kirchlichen Zeitschriften Die Kirchen in Deutschland, ganz besonders die protestantischen, betreiben seit über zweihundert Jahren Öffentlichkeitsarbeit. Sie haben spätestens nach dem Reichsdeputationshauptschluss 1803 gelernt, sich in die gesellschaftliche und politische Öffentlichkeit einzubringen und dort ihre Interessen zu vertreten2. Insofern, denkt man etwa bei der katholischen Kirche an die „Kölner Wirren“ von 1837/38, haben sich die Kirchen schon sehr früh „politisiert“. Sie haben es aber auch verstanden, die Öffentlichkeit für ihre eigenen Zwecke zu nutzen. Die Pressevereine, welche im Geiste der Wichernschen Inneren Mission gegründet worden sind, belegen dies ebenso, wie die Anstrengungen beider Konfessionen nach 1945, ihr zusammengebrochenes Zeitschriftenwesen wieder neu zu errichten3. Kirchliche Zeitschriften mit ihrer langen Tradition  – das Masternarrativ der evangelischen Publizistikforschung verortet den Beginn der evangelischen Presse üblicherweise im Postulat des publice docere der Reformation – haben eine wichtige Funktion für die Stabilität des Kirchensystems. Sie gewährleisten die interne Kommunikation und Information der unterschiedlichen Kirchenglieder und dienen zugleich der Selbstreflexion und der Kritik. Dabei kommt ihnen zugute, dass das geschrieben Wort, sei es ein Leitartikel, ein Kommentar oder ein Leserbrief, eine gänzlich andere Kommunikationssituation darstellt, als die face-to-face-Situation des Gesprächs in Arbeitskreisen, Synoden oder Konferenzen. Bei diesen Begegnungen müssen oftmals Entscheidungen getroffen werden, der zeitliche Rahmen ist begrenzt und die Teilnehmer sind auf ihre kommunikative Spontaneität angewiesen. Der Schreibtisch dagegen zwingt zur überlegten Argumentation. Ein Artikel bietet zugleich Raum für Exkurse und inhaltliche Vertiefungen, welche die komplexen Diskurse strukturieren. Somit finden wir in Zeitschriften auch eine andere Sprache/Semantik, als etwa auf Kirchentagen oder in Akademietagungen4. Zeitschriften bieten zusätzlich den Vorteil für die historische Analyse, dass sie periodisch erscheinen und oft an bestimmte Zielgruppen gerichtet sind: die Junge Kirche an Linksprotestanten aus dem Umfeld der Bekennenden Kirche, Licht+Leben an die bibeltreuen Pietisten und später auch die Evange­ likalen, Lutherische Monatshefte und Evangelische Kommentare an die Ent 2 Spätestens seit den 1960er Jahren wurde das Thema „Kirche“ und „Öffentlichkeit“ zum festen Bestandteil der theologischen Selbstreflexion. Vgl. dazu vor allem Kortzfleisch, Öffentlichkeitsarbeit; Huber, Kirche. 3 Gute Überblicke zur evangelischen Pressegeschichte liefern immer noch Mehnert, Presse; Klaus, Massenmedien und neuerdings Rosenstock, Presse. 4 Vgl. Mittmann, Kommunikation.

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scheidungsträger in der Kirche, das Deutsche Pfarrerblatt ist die Stimme der Pfarrverbände usf. So lassen sich Konjunkturen, Diskurswechsel und die verschiedenen Flügel inklusive deren Positionen innerhalb kirchlicher Diskus­ sionen ermitteln. Zugleich kommen aber auch in ein und derselben Zeitschrift Kontrahenten zu Wort, welche sich ansonsten ausdrücklich aus dem Weg gehen. Hier ent­wickeln sich Dialoge ganz eigener Art5. Besonders fruchtbar für die Analyse kirchlichen Wandels sind diejenigen Kommunikationsmomente, in denen die Öffentlichkeitsdarstellung und das Selbstverständnis der Kirchen ins Wanken geraten. Solche Krisendiskurse legen Risse frei, in denen eine historische Sonde die unterschiedlichsten Schichten freilegen kann, welche unter dem Deckmantel der „Volkskirche“ schlummern. Insofern handelt es sich bei der diskursorientierten Analyse immer auch um eine Konfliktgeschichte. Eine solche Krise soll in der folgenden Darstellung in einem synchronen Schnitt näher untersucht werden. Dabei hat sich das Verfahren bewährt, im Husserlschen Sinne „zu den Sachen selbst“ zu kommen. Ein erster Blick in das Zeitschriftenmaterial hat somit das Thema des folgenden Beitrags vor­ gegeben. Daher soll nun zunächst ein Zoom auf ein bestimmtes Ereignis (Studentenproteste), einen bestimmten Ort (Berlin) und ein geschichtsträchtiges Jahr (1967/68) gerichtet und erst im Anschluss eine mittlere (Kirche) und dann eine Makroperspektive (Theologie)  eingenommen werden. Für dieses Vorgehen gibt es einen entscheidenden Grund: In den Zeitschriften selbst wird das Thema einer „Politisierung“ der Kirche nicht aus heiterem Himmel, sondern aus ge­gebenem, ereignisbezogenem Anlass diskutiert. Dennoch wird in den Zeitschriften, wie auch den Synoden und Akademietagungen, das Thema sehr bald auf eine gesamtkirchliche und auf eine abstrakte theologische Ebene gehoben. Der Kirchenhistoriker Wolf-Dieter Hauschild hat mit Recht konstatiert, dass die 68er-Bewegung „nur ein Teil eines vielschichtigen Veränderungsprozesses“6 gewesen sei, seiner These aber, dass es historisch nicht zu rechtfertigen sei, von „Umbruch, Aufbruch, Durchbruch“ zu sprechen, kann man mit Blick auf die Berliner Kirche und die Evangelische Kirche in Deutschland aus diskursiver Sicht eindeutig widersprechen. Hauschild versteht historischen Wandel primär als „Strukturwandel“. Einen „Mentalitätswandel“ lässt er nur gelten, wenn man eine Konversion von rechts nach links (oder umgekehrt) messbar 5 Ein gutes Beispiel hierfür sind die Auseinandersetzungen zwischen „progressiven“ Theologen, wie Ernst Käsemann und der Bekenntnisbewegung Kein anderes Evangelium. Letztere verweigerten die Teilnahme an den ev. Kirchentagen, wenn erstere als Redner angekündigt waren. 6 Hauschild, Kontinuität, 35.

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nachweisen kann. Ein diskurstheoretischer Ansatz aber geht immer von einem Wechselspiel zwischen strukturellem und semantischem Wandel aus7. So hat der Strukturwandel häufig einen diskursiven Vorlauf, quasi die Erörterungsphase; konkrete Ereignisse wiederum können den diskursiven Wandel entscheidend prägen. In Bezug auf die Politisierungsdebatte in der Kirche ist letzteres der Fall. Das Jahr 1968 hat für die Kirche einen hohen Symbolwert. Einige Stichworte genügen um das zu belegen: die Vollversammlung des ÖRK in ­Uppsala unter dem Motto „Siehe ich mache alles neu“; der drohende Ausstieg der DDR-Landeskirchen aus der EKD, der durch die neue DDR-Verfassung 1968 besiegelt und 1969 vollzogen wurde; die Studentenproteste; die sprunghaft angestiegenen Kirchenaustritte; die darauf folgenden Ekklesiologie-Debatten; die versuchte EKD-Reform etc. Diese Ereignisse lösten in der evangelischen Kirche eine umfassende Erneuerungsdebatte aus, ohne dass sie aber, und hier ist Hauschild wiederum zuzustimmen, sofort zu einem Strukturwandel der Institution „Kirche“, etwa der EKD, geführt hat8. Der hier näher beleuchtete Konflikt, der die „Politisierungsdebatte“ in die Öffentlichkeit trug, zeichnet sich dadurch aus, dass er: 1. zwar einen regionalen Ursprung, aber deutschlandweite Auswirkungen hatte; 2. alle Teile der Kirche erfasste, von der lokalen Gemeindekirche, über die Kirchenvorstände, bis hin zu den Landeskirchen und die EKD; 3. ein nationales Medienereignis war, sowohl in der säkularen Berichterstattung als auch in der kirchlichen Presse; 4. im direkten Zusammenhang mit weiteren Politisierungsdiskursen der protestantischen Kirche stand und somit einen historischen Blick in die Vergangenheit, als auch in die Zukunft erlaubt.

2. Wie politisch darf die Gemeinde sein? Die Rezeption der Studentenproteste in der Kirche 1967/68 Ein erster handfester Konflikt innerhalb der Berliner Kirche wurde indirekt durch den Schahbesuch am 2. Juni 1967 ausgelöst. Der Tod Benno Ohnesorgs und die Demonstrationen der Studenten, welche die Polizei gewaltsam auf­

7 Vgl.

u. a. Luhmann, Gesellschaftsstruktur. katholischer Seite wäre nur die „Pillenenzyklika“ Humanae vitae zu nennen, die einen prompten Abbruch der Erneuerungseuphorie im katholischen Milieu zu Folge hatte. Ähnliches gilt für den Essener Katholikentag, der einer breiten Öffentlichkeit das kritische Potential innerhalb des Katholizismus ins Bewusstsein rief.

8 Auf

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gelöst hatte, waren nicht nur der Auftakt der „politischen“ 68er-Bewegung, sie markierten auch in der evangelischen Kirche eine historische Zäsur9. Anlässlich der Verhaftung des „Spaßguerillas“ Fritz Teufel während der Unruhen, die der Schahbesuch ausgelöst hatte, kam es auch in der Kirche zu „politischen“ Aktionen. Unter der Mitwirkung von Rudi Dutschke erschien am Montag, dem 18. Juni, eine Gruppe Studenten vor der Kirche von Neu-Westend, um in Solidarität mit Teufel einen Hungerstreik anzumelden. Aufgrund von Informationspannen strömten am nächsten Tag zahlreiche protestwillige Menschen in die Kirche. Dort kam es zu Tumulten mit den Gemeindemitgliedern. Einige Protestierende trugen ihr Anliegen auf der Kanzel vor. Ein Bild von Rudi Dutschke auf eben dieser Kanzel erschien in den nächsten Tagen in zahlreichen Zeitungen10. Der angekündigte Hungerstreik wurde schlussendlich in das Studentenwohnheim in Dahlem verlagert. Der Berliner Bischof Kurt Scharf bemühte sich im Senat und bei der zuständigen Staatsanwaltschaft, in der Sache „Fritz Teufel“ zu vermitteln. Sein kritischer Einwand lautete, dass die sogenannten „Jubel-Perser“ trotz ihrer Bewaffnung unbehelligt geblieben seien, während unbewaffnete Studenten verhaftet und angeklagt wurden11. Insbesondere die CDU-nahen Gemeindekirchenräte äußerten heftige Kritik an der Parteinahme des Bischofs. So bemerkte Generalsuperintendent HansMartin Helbich, neben Bischof Scharf einer der Protagonisten des Konflikts, politische Versammlungen dürften in dem Kirchengebäude nicht stattfinden. Helbich machte auch gleich den eigentlichen Urheber des Konfliktes aus, nämlich eine „ganz bestimmte theologische Konzeption“12. Damit spielte er vor allem auf den Berliner Theologen und Unterstützer der studentischen Anliegen Helmut Gollwitzer an13. Um weiteren Ereignissen solcher Art vorzubeugen, formulierte das Berliner Konsistorium am 24.  Oktober 1967, dass ausschließlich der Gemeindekirchenrat über die Nutzung von Kirchenräumen zu entscheiden habe: „Veranstaltungen, die der Bestimmung der Räume widersprechen, dürfen nicht zugelassen werden. Das gilt für antikirchliche, rein gewerbliche oder ausschließlich politische Veranstaltungen.“14 Kurt Scharf teilte diese Haltung nicht, sondern versuchte zwischen den Studentengemeinden und den bürgerlichen Orts­ 9 In der Geschichtsschreibung wird der Beitrag der Kirchen oftmals marginalisiert, vgl. dazu grundsätzlich Nowak, Zeitgeschichte; und als konkretes Beispiel Frei, 1968. 10 U. a. in: Der Spiegel Nr. 27, 26. Juni 1967, 32. 11 Zimmermann, Kurt Scharf, 133. 12 Ebd., 134. 13 Zu Gollwitzers Einfluss auf die sozialen Bewegungen und die Studenten vgl. Lepp, Goll­ witzer. 14 Zimmermann, Kurt Scharf, 135.

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gemeinden eine Annäherung herbeizuführen. Dabei geriet er zunehmend selbst in die Kritik. Er habe, so der Vorwurf aus der Berliner Landeskirche, die Diskussion der Studenten „unter Benutzung der Kanzel“ geduldet. Die Westberliner Kirchenleitung sah sich daraufhin veranlasst, ihrerseits eine Erklärung zu „Bischof Scharf und die Studenten“ abzugeben, die den Bischof ausdrücklich in Schutz nahm15. Den Vorwurf seiner Kritiker, er habe mit dem Bibelspruch „Wer zu mir kommet, den werde ich nicht hinausstoßen“ einen „Missbrauch des Wortes Gottes“ begangen, wies die Leitung entschieden zurück. Sie legitimierte sein Vorgehen, in dem sie auf die seelsorgerische Grundhaltung Scharfs verwies. Der Bischof erkenne eben in diesem Wort Gottes den Auftrag, das Evangelium vorbehaltlos „allen Menschen konkret anzubieten und keine Seele verloren zu geben“16. Hintergrund des zweiten Berliner Konfliktes war der Wunsch der Evange­ lischen Studentengemeinde, die Kapelle der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche, der zentralen Kirche West-Berlins, für ihre Studentengottesdienste, wie schon in den Jahren zuvor, nutzen zu dürfen17. Der Gemeindekirchenrat lehnte dies aus den bereits genannten Gründen ab. Die Tageszeitung Die Welt kommentierte, dass der Gemeindekirchenrat die Studentengemeinde „mit altpreußischer Härte“ aus seiner Kirche ausgesperrt habe18. Als Motiv mutmaßte der Autor die linkslastige politische Einseitigkeit der Evangelischen Studentengemeinde in den vergangenen Monaten, welche berechtigten Anlass zu Kritik gäbe. Ein Ausschluss aus den Kirchenräumen ging ihm aber zu weit. Hier zeichnet sich ein erster wesentlicher Aspekt der Poli­tisierungsdebatte ab, die „einseitige (linke) politische Haltung“ der Studenten, gegen die sich das Engagement ihrer Gegner richtet. Dabei geht es nicht primär um „Kirche“, sondern um eine politische Haltung jenseits der CDU/ CSU. So urteilte auch der evangelische Publizist Reinhard Henkys im Sender Freies Berlin: „Die Pfarrer und von der Gemeinde in ihr Leitungsgremium gewählten Laien der West-Berliner Zentralkirche unternehmen offenbar den Versuch, mit Sanktionen die Studenten politisch im konservativen Sinne zur Räson zu bringen“.19 Der Kreiskirchenrat hob schließlich den Beschluss des Gemeindekirchenrates auf, Bischof Scharf hielt persönlich am 10. Dezember die Predigt. Doch der Konflikt begann sich jetzt erst recht zu verschärfen. Scharf-Biograph Wolf 15 Abgedruckt

in: Junge Kirche 28, 1967, 604. Jahrbuch 94, 1967, 174. 17 Zimmermann, Kurt Scharf, 136. 18 Abgedruckt in: Junge Kirche 28, 1967, 732. 19 Ebd., 733.

16 Kirchliches

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Dieter Zimmermann sprach davon, dass die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche nun zu einem „Spezialfeind der Studenten“ geworden sei20. Dass dies auf Gegenseitigkeit beruhte, lässt sich problemlos attestieren. Am 24. Dezember 1967 im Weihnachtsgottesdienst kam es zu einer studentischen Protestaktion in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche. Der Gottesdienst wurde unterbrochen und Spruchbänder präsentiert, welche zur Solidarität mit Vietnam aufforderten. Es kam zu Tumulten, Rudi Dutschke versuchte auf die Kanzel zu gelangen. Im anschließenden Gemenge wurde er durch einen Schlag am Kopf verletzt21. Aufgrund dieses Vorfalls berichteten nicht nur zahlreiche säkulare und kirchliche Medien über die Störaktion, auch die betroffenen Parteien (hier besonders der Gemeindepfarrer Pohl und sein Antagonist Helmut Gollwitzer) und viele Unterstützer meldeten sich mit Stellungnahmen, Darstellungen und Gegendarstellungen zu Wort. Dies ist in der westdeutschen Nachkriegsgeschichte in diesem Ausmaß ein ziemlich einzigartiger Fall, der schon aufgrund seiner me­dialen Präsenz einige Aufmerksamkeit verdient. Was zunächst mit der Forderung nach einem Demonstrationsrecht gegen den Vietnamkrieg begann, führte zum Ausschluss der Studenten aus der prestigeträchtigen Zentralkirche und endete schließlich in einem handfesten politischen Lagerkampf, der von einer theologischen Grundsatzdebatte über das Wesen der protestantischen Ver­kündigung des Evangeliums in dieser oder jener Form des Gottesdienstes begleitet wurde. So vermutete der Theologe und Publizist Heinz Zahrnt in einem Kommentar im Deutschen Allgemeinen Sonntagsblatt, der mit „Stockkonservativ“ betitelt war, „dass die Kaiser-Wilhelm-Gedächtnisgemeinde, politisch augenscheinlich konservativ, an Luthers Lehre von den zwei Reichen festhält“22. Während die konservative kirchliche Fraktion ausdrücklich die „Zwei-ReicheLehre“ in Anspruch nahm, um für eine strikte Trennung zwischen Kirche und Tagespolitik zu plädieren, führten die politischen Theologen das „Reich Gottes“, „die Königsherrschaft Christi“, als Beleg dafür an, dass Kirche sich immer in einer Welt vorfindet, die per se „politisch“ ist, sei es in ihrer Sprache, ihrer gesellschaftlichen Relevanz oder der Verantwortung, welche die Kirche als „Volkskirche“ zu tragen hat. Zu einer weiteren Eskalation kam es im Silvestergottesdienst. Diese erneute Protestaktion, an der auch der mittlerweile freigelassene Fritz Teufel teilnahm, führte letztlich kontraproduktiv dazu, dass die Studenten viel öffent 20 Zimmermann,

Kurt Scharf, 138. u. a. die Schilderung von Kurt Scharf in: Kirchliches Jahrbuch 94, 170–174. 22 Zahrnt, Stock-konservativ.

21 Vgl.

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liche Sympathie wieder verloren. Der Gemeindekirchenrat veröffentlichte als „Dokumentation zu den Störungen der Gottesdienste in der Kaiser-WilhelmGedächt­niskirche in Berlin am Heiligen Abend und in der Silvesternacht 1967“ eine Broschüre mit dem Titel „Was ist geschehen“. Diese wurde auszugsweise in kirchlichen Zeitschriften abgedruckt und selbst Gegenstand einer medialen Kontroverse23. So kritisierte Helmut Gollwitzer in einem Brief an das Deutsche Pfarrerblatt, die Einseitigkeit und Parteilichkeit der Dokumentation zeige, dass sich der Gemeindekirchenrat „auf die Seite der Schläger stellt“24. Aus Presseäußerungen werde nur ausgewählt, „was gegen Dutschke und seine Freunde spricht“. Die Dokumentation selbst bewertete Gollwitzer als ein „Dokument christlicher Unbußfertigkeit, tauglich für Agitation gegen eine un­ bequeme Minderheit“ und er verwies auf das achte Gebot: „Du sollst nicht falsches Zeugnis reden wider deinen Nächsten“. Generalsuperintendent Helbich sah sich ebenfalls aufgrund unterschiedlicher Pressemeldungen genötigt, eine weitere Stellungnahme zu den Vorfällen abzugeben. Darin nahm er explizit Bezug auf die Politisierung der Kirche. Er sei, stellte er fest, über die öffentlichen Reaktionen mehr erschüttert, als über die Störungen der Gottesdienste und er warf seinen Gegnern Unkenntnis und Parteilichkeit vor. Hier habe sich gezeigt, „welchen Fortschritt der Prozess der Politisierung der Kirche, besonders durch Theologen“ schon gemacht habe25. Aus diesem Befund schloss Helbich, dass nun den Laien und damit den Gemeindevertretern, die er in der Mehrheit hinter sich wusste, die Verantwortung für die Kirche zukommen müsse. Als Gegenbegriff der „Politisierung“ positionierte Helbich in dieser Erklärung den Begriff der „politischen Diakonie“. Zu ihr sei jeder Christ dann aufgefordert, „wenn Menschen durch das Kräftespiel der politischen Mächte in Not und Bedrängnis geraten“. Der Begriff der „Radikal-Protestanten“, der zunehmend die mediale Debatte prägte, und die verhärteten Positionen des linken und rechten kirchlichen Flügels führten dazu, dass die Grenze zwischen gewaltsamem und friedlichem Protest zunehmend verschwamm. Personen wie Bischof Scharf, später auch der ehemalige Bürgermeister Heinrich Albertz, die sich bemühten zu vermitteln, wurden in der säkularen, von Springer dominierten Berliner Presse pauschal dem linken Lager zugeordnet. Fasst man diesen Politisierungsdiskurs auf der lokalen Mikroebene zu­ sammen, so lässt sich hier bereits festhalten, dass die Konfliktlinien verliefen zwischen: 23 So

im Deutschen Pfarrerblatt, den Evangelischen Kommentaren und der Jungen Kirche. Heiligabend. 25 Erklärung von D. Helbich.

24 Gollwitzer:

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1. den Studentengemeinden (einer reformwilligen Minderheit von Außen­ seitern) und den bürgerlichen Ortsgemeinden als Repräsentanten der Etablierten26; 2. der Kirchenleitung (die versuchte moderierend einzugreifen) und den konservativ geprägten Gemeindekirchenräten; 3. progressiven Theologen (wie Helmut Gollwitzer) und Evangelikalen (wie Pfarrer Gerhard Pohl und Generalsuperintendent Helbich); 4. Linksprotestanten und einer konservativen zumeist CDU-nahen Mehrheit, ganz rechts der NPD-nahen „Notgemeinschaft Evangelischer Deutscher“. Die Vorfälle in der Berliner Landeskirche wurden Gegenstand einer aufmerksamen Berichterstattung in den kirchlichen Zeitschriften. Besonders die Junge Kirche druckte umfangreiche Dossiers ab, die aus Meldungen des Evange­lischen Pressedienstes, Stellungnahmen der Konfliktparteien, Kommentaren einzelner Kirchenmänner und Positionierungen der Kirchenleitung und der EKD bestanden. So lässt sich ein detailliertes Bild über die Argumentationsstrategien der einzelnen Kirchenglieder und Fraktionen rekonstruieren. Die Junge Kirche positionierte sich in diesem Fall eindeutig auf der Seite der Studenten und ihrer Unterstützer. Mehrfach druckte sie Stellungnahmen und Briefe Helmut Gollwitzers, Gustav Heinemanns oder des Tübinger Theologen Ernst Käsemann an exponierter Stelle ab. Das Deutsche Pfarrerblatt beschäftigte sich dagegen vorwiegend auf der Makro­ebene mit der sogenannten „Theologie der Revolution“, welche seit der Genfer, später der Uppsalaer Konferenz des Ökumenischen Weltrates der Kirchen das Thema einer politischen Verantwortung der Kirche auf die Agenda der EKD und VELKD gesetzt hatte und eine intensive Rezeption in den kirchlichen Zeitschriften fand. Dabei nahm die Mehrzahl der Autoren im Deutschen Pfarrerblatt eine kritische Haltung gegenüber den theologischen Konsequenzen, etwa in der Gewaltfrage, ein, äußerte aber eine erkennbare Sympathie für die Forderung nach kirchlicher Verantwortungsübernahme und Er­neuerungsfähigkeit27. Viel konkreter äußerte sich der geschäftsführende Redakteur Hans Becker in der Kulturzeitschrift Zeitwende. Er bewertete in einem wütenden Kommentar die Ereignisse in Berlin als „Methode politischen Terrors“28 und die Störung des Gottesdienstes als rüde Provokation: „Rudi Dutschke, die Milch der frommen Denkart eines andächtigen Gottesdienstbesuchers in das gärende Drachengift 26 Vgl.

Elias/Scotson, Etablierte. u. a. Krimm, Revolution?; Harms, Rebellen. 28 Becker, Diskussion.

27 Vgl.

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eines Routine-Radaumachers verwandelnd, erklomm die Kanzel und schickte sich an seine Version des ‚Friedens auf Erden‘ zu verkünden“.29 Nicht die folgenden Gewalttätigkeiten seitens einiger Gottesdienstbesucher verurteilte Becker als „Skandalon“, sondern die öffentliche Kritik daran. Feurige Kohlen seien gesammelt worden, „aber nicht auf dem Haupt der Unruhestifter, sondernd auf den Häuptern des Gemeindekirchenrats; Asche wurde gestreut, aber nicht auf die Häupter der Aufrührer, sondern auf die Häupter der Opfer der Störaktion“30. Eher vermittelnd und zurückhaltend befasste sich Oberkirchenrat Horst Reller in den Lutherischen Monatsheften mit den Protestaktionen in der Ber­ liner Kirche31. Dabei lenkte er den Politisierungsdiskurs auf eine innerkirchliche Mesoebene. Die Jugend habe gegen die zurückhaltende Einstellung der Kirche, „die eine weitere Politisierung der Kirche“32 habe verhindern wollen, mit Aggression und wachsendem Unmut reagiert. Konkret nahm er Bezug auf den Hungerstreik in der Neu-Westendkirche und die Störungen in der ­Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche am Heiligabend und Silvester, aber er erwähnte auch ähnliche Aktionen in der Hamburger Michaeliskirche und der Peterskirche in Heidelberg. Die Forderung, so sein Urteil, in den Kirchen zu diskutieren, und die gewählten Protestformen hätten die Gemeindemitglieder provoziert. Reller engagierte sich nicht selbst in diesem Fall, sondern argumentierte distanziert. In den Vorfällen liege die Herausforderung für die Kirche „sich selbst zu prüfen.“ Aber prinzipiell hielt er Diskussionen im Gottesdienst nicht für notwendig, da es genug Gelegenheiten dazu in der Kirche gebe33. Dennoch, und hier widersprach er Generalsuperintendent Helbich, solle man sie auch nicht ausschließen. „Auf keinen Fall sollte der Fall eintreten, dass diejenigen, die Diskussion gefordert haben, keinen kirchlichen Partner finden, der sich zum Gespräch stellt.“ Dieser Kritik an dem Verhalten des Kirchenrates ließ er eine ebenso deutliche Kritik an den Demonstranten folgen, denen es mehr um „Provokation und Publizität“ gegangen sei, als um Ergebnisse. Seine Folgerung lautete, es sei falsch, wenn die Administration der Kirche auf die Vorfälle reagiere, aber die Kirche „sollte nicht zurückweichen, falsche Solidarisierungen vermeiden, sich zum Gespräch stellen und zur Ausschaltung von Demagogie selbst die Initiative ergreifen und zum Gespräch einladen“34. 29 Ebd.,

78. 79. 31 Reller, Hochschule. 32 Ebd., 239. 33 Ebd., 240. 34 Ebd.

30 Ebd.,

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Ähnlich wie Reller reflektierte auch der Theologe und spätere Friedens­ aktivist Geiko Müller-Fahrenholz das Thema „Diskussion im Gottesdienst“ aus der Perspektive eines Außenstehenden35. In Berlin und Hamburg, so seine These, habe das Anliegen der Studenten scheitern müssen, da eine Minderheit eine Diskussion erzwingen wollte, zu einem Termin, den die Mehrheit nicht akzeptiert habe, über ein Thema, über welches die Mehrheit nicht habe dis­kutieren wollen, mit Methoden, die der Mehrheit nicht als angemessen er­ schienen seien. Müller-Fahrenholz räumte ein, dass die hergebrachte monologische und auto­ritäre Gottesdienstform grundsätzlich reformbedürftig sei, eine Bereitschaft zum echten Dialog sah er aber bei den Protestierenden ebenso wenig wie Reller. Dennoch äußerte auch er Kritik an der Gemeinde, die allzu schnell die Studenten als „Außenstehende“ exkludiert habe. Auch im ersten Jahrgang der von den Lesern als linksliberal eingestuften Zeitschrift Evangelische Kommentare erschienen zahlreiche Schlüsselartikel, welche die Debatte um und gegen die Politisierung der Kirche führten und auf große Aufmerksamkeit stießen. Hier eröffnen sich zwei Dimensionen des protestantischen Politisierungs­ diskurses, eine praktische und eine theoretische. Die praktische Argumentation geht von zwei sich radikalisierenden Flügeln der evangelischen Kirche aus, auf der linken die Evangelischen Studentengemeinden, auf der rechten die „Not­ gemeinschaft Evangelischer Deutscher“. Dazwischen befand sich die liberale und bürgerliche Mitte, welche unversehens in den Konflikt involviert wurde. Umrahmt wird diese praktische Ebene von einer theologischen Diskussion um das Verhältnis von „Kirche“ und „Politik“. Jürgen Moltmann eröffnete diesen Diskurs mit seinem berühmt gewordenen Grundsatzartikel zur „Existenz und Weltgeschichte“, in dem er seine Interpretation einer „Theologie der Revolution“ entfaltete36. Dagegen argumentierte der Theologe und spätere Gründer der Tierschutzpartei Erich Grässer energisch und titulierte Moltmanns Ansatz als „falsch programmierte Theologie“37. Während dieses theologischen Dialogs wurden in den Evangelischen Kommentaren auch die konkreten Ereignisse in Berlin (aber auch in Hamburg und Heidelberg) kontrovers diskutiert. So analysierte der Heidelberger Alt­ testamentler Hans Walter Wolff in einem Interview, die Studenten hätten Verhaltensweisen, „wie sie sie aus politischen Versammlungen, besonders auch aus den politischen Studentenorganisationen kennen, ohne Weiteres in die 35 Müller-Fahrenholz,

Diskussion. Existenzgeschichte. 37 Grässer, Theologie.

36 Moltmann,

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­ emeinde hineingetragen“38. Zugleich entwickelte Wolff eine aussagekräftige G Differenzierung von Protestströmungen innerhalb des Protestantismus: a) politische Unruhestifter, die „Unruhe um jeden Preis“ wollten; b) enttäuschte Gemeindemitglieder, welche mit den überkommenen Gottesdiensten unzufrieden waren; und c)  allgemein kirchenreformerisch interessierte Studenten, welche sowohl die Strukturen der Kirche, als auch der Gottesdienstformen erneuern wollten39. Auch berichtete die Zeitschrift, nicht ohne ein gewisses Verständnis zu ­äußern, über die Aktivitäten der sogenannten „Radikal-Protestanten“40. Die Berliner Aktion in der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche wurde als „Provokation der verbürgerlichten Kirche“41 gewertet und die vermittelnde Rolle von Bischof Scharf gewürdigt. Ausführlich kam eine Thesenreihe der Evangelischen Studentengemeinde zur „politischen Verantwortung der christlichen Ge­meinde“ zu Wort. Darin hieß es: „Gestalt, Wort, Praxis und Geist Jesu Christi sind eine öffentliche Angelegenheit. Sie betreffen den Menschen zugleich als Einzelperson und als soziales Wesen.“ Die christliche Gemeinde müsse die „Wirklichkeit der Welt“ in Frage stellen. Die Folgerung: „Christlicher Glaube hat immer eine politische Dimension […] eine kritische, ja zersetzende Funktion“42. Auch eine Entgegnung, welche der überwiegend konservativ und bibeltreu besetzte Kirchenvorstand der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche um Pfarrer Gerhard Pohl und Generalsuperintendent Helbich in einer Erklärung vom 13. November veröffentlichte, wurde in den Evangelischen Kommentaren abgedruckt: „Die Einseitigkeit der Studentengemeinde und die in ihr vorhandene Gefahr, das Leben der Kirche zu verpolitisieren, bedürfen eines Gegen­gewichts.“ Damit meinte der Kirchenvorstand keineswegs einen Dialog, sondern eine „geistliche, seelsorgerische, erzieherische Hilfe“, mit anderen Worten eine disziplinarische Zurechtweisung. Die Evangelischen Kommentare hinterfragten kritisch, was mit dieser „einseitigen Politisierung“ gemeint sein könne. Keineswegs strebten die Studentengemeinden eine parteipolitische Orientierung an, sondern „Parteilichkeit“ des Glaubens „im Sinne der Solidarität mit den Leidenden“.43 Der Protest am Weihnachtsgottesdienst habe zum Ziel gehabt, die Religiosität dieser Gemeinde als Spiegelbild eines bürgerlichen Bewusstseins zu sehen, „das Frömmig­keit und 38 Sturm,

118. 118. 40 Bewusstsein. 41 Ebd., 121. 42 Die vollständige Erklärung wurde auch abgedruckt in Junge Kirche 30, 1968, 186 ff. 43 Alle Zitate aus: Bewusstsein, 122.

39 Ebd.,

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gesellschaftliche Verantwortung trennt. Schließlich haben sie die Gemeinde nicht kritisiert, sondern provoziert“44. Ein Redakteur der Evangelischen Kommentare lenkte in einem Interview mit dem Heidelberger Religionsphilosophen Georg Picht den Gesprächs­faden immer wieder auf diese „Politisierung“ der Kirche. Gegenstand des Gespräches war die rechtskonservative „Notgemeinschaft Evangelischer Deutscher“, welche sich am rechten Rand der Kirche anlässlich der sogenannten Ost-Denkschrift der EKD aus dem Jahre 196545 gegründet hatte. Die Notgemeinschaft, bemerkte der Redakteur, werfe der Kirche eine „Politisierung der Verkündigung“ vor. Die Kirche überschreite die Grenzen der Verkündigung und trete in den Bereich politischer Entscheidungen. Andererseits, und hier verwies er auf ein immer wieder thematisiertes Paradoxon, halte die Notgemeinschaft selbst eine „politische Diakonie“ für eine wichtige kirchliche Aufgabe46. An anderer Stelle ging der Interviewer erneut auf den erhobenen Vorwurf der Politisierung ein und thematisierte die Doppelmoral der Notgemeinschaft. So sei zu überlegen, „an welchem Punkt die Kirche ansetzen könnte, um einem offenbar gezielten Versuch entgegenzutreten, der unter dem Vorwand, gegen eine gefährliche Politi­sierung zu kämpfen, selbst deren radikale Politisierung“ betreibe47. In beiden Argumentationen wird deutlich, dass die Evangelischen Kommentare dem Politisierungsvorwurf an die linke Adresse sehr kritisch gegenüber standen und ihrerseits eine politische „Radikalisierung von rechts“ vehement ablehnten. Das wird auch aus dem Kommentar deutlich, der im Anschluss an das Interview abgedruckt wurde. Hier drehte man den Vorwurf konservativer Kirchenkreise, welche die Ost-Denkschrift als politischen Dammbruch ver­ urteilten, um und spiegelte ihn auf diese zurück. Sie hätten die Denkschrift zum „Produkt des Linksprotestantismus“ erklärt48. Über das konkrete Ereignis des studentischen Marsches durch die Institu­ tionen hinaus, der naheliegenderweise bei der Kirche begann, tat sich in der Politisierungs­diskussion ein seit Jahren schwelender Konflikt um die Denkschriftenpraxis und den allgemein attestierten Linksruck der Kirche auf. Hier 44 Ebd.

45 Die Denkschrift, die im Original den Titel „Die Lage der Vertriebenen und das Verhältnis des deutschen Volkes zu seinen östlichen Nachbarn“ trägt, war mit einem Vorwort des damaligen EKD-Ratsvorsitzenden Kurt Scharf versehen. Das war einer der Gründe, warum der spätere Bischof aus Sicht konservativer Kreise, sowohl innerhalb, als auch außerhalb der Kirche, zum Advokaten der Linken avancierte. Zu den Hintergründen der Denkschrift vgl. u. a. Huber, Kirche, 380–420. 46 Umstellungskrise, 302. 47 Ebd., 305. 48 Protestbewegung, 307.

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lässt sich aufgrund des Verlaufs der Debatte feststellen, dass Teile der Kirchenleitungen in der EKD und VELKD zunehmend von einer konservativen Politik abrückten, mitnichten aber die Ortsgemeinden und deren Repräsentanten. Was 1968 in Berlin anlässlich der studentischen Proteste an Konfliktpotentialen eruptierte, war eine bereits im Vorfeld entfachte Unzufriedenheit einer konservativen kirchlichen Mehrheit mit ihrem Führungspersonal, vor allem mit dem Landesbischof. Dies wurde medial unterstützt durch eine gezielte Pressekampagne des Springer-Konzerns49.

3. Die theologische Dimension des Politisierungsdiskurses Die an die konkreten Ereignisse in Berlin (und anderer Städte)  gebundenen Diskurse über rechte und linke Flügel innerhalb des Protestantismus und die umstrittene Denkschriftenpraxis der EKD nahmen zahlreiche Autoren in den kirchlichen Zeitschriften zum Anlass, auf einer Makroebene den Politisierungsdiskurs fortzuführen. Dabei ging es nun nicht mehr um die lokalen Gemeinden, sondern um theologische und ekklesiologische Selbstvergewisserungen, welche die Aufgaben und das Wesen der Kirche in der modernen im Umbruch befindlichen Welt reflektierten. Bereits im Gründungsjahrgang der Evangelischen Kommentare 1968 war diese Ebene präsent. Der Hannoveraner Oberkirchenrat Erwin Wilkens verteidigte in einem Flensburger Vortrag über „Unsere Verantwortung für den Frieden“ die Denkschriftenpraxis der EKD50. Sie dürfe es sich nicht nehmen lassen „mit ihren Beiträgen in die Praxis des Lebens hineinzuwirken“51. Andererseits räumte er ein, dass es keine „richtige Politik im Sinne einer unanfechtbaren Wahrheit“52 geben könne. Der Hamburger Landesbischof Hans-Otto Wölber meldete in einem Artikel grundsätzliche Kritik an einer „Politisierung“ der Kirche an. Längst entwickle sich die politische Verkündigung „ungehemmt zum Kardinalthema der EKD“53. Dabei bezog er sich auf die fragile Konstruktion der Institution Evangelische Kirche in Deutschland als „Einheit“. Ohne strukturelle Rahmenbedin 49 Der Verleger Axel Springer trat im Zuge des Politisierungsschubs in der Berliner Kirche aus der Landeskirche aus und der altlutherischen Kirche bei. Die Freikirche, so sein Argument, betreibe keine „politische Diakonie“, sondern beschränke sich auf das Wort, vgl. hierzu Schwarz, Springer, 535; siehe zur Person auch den Beitrag von Hannig in diesem Band. 50 Wilkens selbst hatte an der Entstehung der Ost-Denkschrift mitgewirkt. 51 Meinungen, 57. 52 Ebd. 53 Wölber, Politisierung, 136.

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gungen, wie Kirchensteuer, staatlich finanzierten Religionsunterricht und die Theologischen Fakultäten an öffentlichen Hochschulen wäre eine Trennung der Kirche vom Staat „wahrscheinlich schon möglich geworden“54. „Politisierung“ bedeutete für den Bischof eine illegitime Festlegung auf eine bestimmte (linke) politische Position. Wölbers Kirchenverständnis – er ist einer der führenden Verfechter einer modernisierten Volkskirchen-Ekklesiologie  – verbat die menschlich, d. h. subjektiv bedingte Relativität politischer Urteile. Kirche musste nach seiner Auffassung überparteilich sein und bleiben. Während der Hamburger Bischof dem politischen Urteil des Individuums misstraute und die „Relativierung des Evangeliums durch die politische Vernunft“ befürchtete55, wurde der rheinische Präses Joachim Beckmann nur wenige Seiten später in der Rubrik „Meinungen“ mit einer gegenteiligen Beurteilung zitiert: „Der Glaube könne nicht auf das Privatleben beschränkt bleiben, denn niemand sei imstande, öffentliches und privates Leben völlig zu trennen.“ Die Zehn Gebote hätten „politische Dinge im Auge“ und richteten sich auf den Menschen in der Gesellschaft. Nach 1945 sei die Kirche zum „Statt­halter des deutschen Volkes“ geworden56. Nach Bekunden der Redaktion hatte der Beitrag Wölbers „in interessierten Kreisen eine lebhafte Diskussion ausgelöst“, die den Bischof dazu bewegte, eine weitere Stellungnahme zu veröffentlichen, in der er die Überparteilichkeit der Kirche noch einmal herausstellte57. Auf redaktioneller Seite griff der Schriftleiter der Evangelischen Kommentare, der renommierte Publizist Eberhard Stammler, die „turbulenten Diskussionen“ um das umgehende „Gespenst“ einer ‚Politisierung‘ der Kirche“ auf58. Das Gegenprogramm zur „Politisierung“, argumentierte Stammler, könne nur die „politische Neutralisierung der Kirche“ bedeuten. Jegliche Polemik gegen die „Politisierung“, welche eine apolitische Kirche postulierte, verfiele einer Fiktion. Die Kirche könne sich nicht mehr „in einen politikfreien Raum zurückziehen“. Das komme, so sein Einwand, einer Verleugnung ihrer geschichtlichen Existenz gleich. Stammler stellte fest, dass die Kirche längst „politisiert“ sei und nur noch die Frage bleibe, in welchem Maße ihr dies bewusst sei und wie sich die Kirche damit auseinandersetze59. Stammlers Kommentar zu Bischof Wölber lieferte einen weiteren wichtigen Aspekt der Politisierungsdebatte, in dem er auf das im Hintergrund zur Dis 54 Ebd.,

141. 139. 56 Meinungen, 173. 57 Wölber, Thema, 329. 58 Stammler, Politisierung. 59 Ebd., 390.

55 Ebd.,

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position stehende, und von Wölber energisch verteidigte Kirchenbild verwies. Letztlich, so Stammler, entspringe die mit der Politisierung der Kirche verbundenen Befürchtungen der Sorge „um den Bestand der Volkskirche“60. Und er kommentierte, dass in der Tat die „volkskirchliche Normalsituation“ gefährdet sei, „wenn die Kirche zur Partei würde oder wenn sie sich in Parteilosungen auflöste“61. Die Politisierungsdebatte wurde also nicht nur zwischen den linken und rechten Flügeln der Kirche ausgetragen, sondern, so der nächste Befund, verweist auch auf die ekklesiologischen Grundsatzdebatten dieser Zeit, welche zwischen einer „Freiwilligkeitskirche“, dem Primat der „Gemeindekirche“ und dem von lutherischer und EKD-Seite profilierten Primat einer neu gefassten „Volkskirche“ geführt wurde62. Ohne dies an dieser Stelle weiter zu vertiefen, deutet der von Stammler skizzierte Diskurs auf das generelle Erneuerungsbedürfnis der späten 1960er Jahre hin. Sein Argument: „Wenn sich in der Kirche Tendenzen zur Politisierung abzeichnen, braucht dies nicht unbedingt ein Zeichen geistlicher Degeneration zu sein; es könnte auch als ein Signal kirchlicher Erneuerung verstanden werden“.63 Die Diskussion um die Legitimität einer politisierten Kirche – eine „politische Kirche“ erschien den meisten Diskutanten als unproblematisch  – beschränkte sich nicht auf die Evangelischen Kommentare. In einem äußerst differenzierten Artikel in der Zeitschrift Zeitwende nahm der Bischof der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche in Braunschweig Gerhard Heintze Bezug auf die Äußerungen Wölbers64. In Heintzes Darlegungen, welche die Frage der Redaktion beantworten: „Wie sollen kirchliche Worte zur Politik aussehen?“, zeigt sich die Vielschichtigkeit der Politisierungs-Debatte besonders eindrücklich. So spannte der Bischof einen weiten Bogen von den Erwartungen an das Engagement der Kirche nach Kriegsende, über die Denkschriftenpraxis der EKD bis hin zu der theologischen Grundfrage, welche in dem Spannungsverhältnis der lutherischen „Zwei-Reiche-Lehre“ und der „Königsherrschaft Christi“ steht, die seit der Barmer Theologischen Erklärung von 1934 im protestantischen Disput um eine Sozialethik gegeneinander ausgespielt werden. Grundsätzlich verteidigte er ein auf Versöhnung, Gewissensschärfung, Sachkunde und vernünftige Überlegung ausgerichtetes gesellschaftliches Engagement der Kirche und erteilte insbesondere der Forderung der Notgemeinschaft nach einer unpolitischen Kirche eine deutliche Absage. Deren Kritik an der Denkschriften 60 Ebd.

61 Ebd.,

391. Gettys, Gestalt, bes. 195. 63 Stammler, 391. 64 Heintze, Engagement.

62 Vgl.

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praxis der EKD habe der „Entpolitisierungsforderung“ in Verbindung mit den Studentenprotesten auch in den Gemeinden zunehmend Gehör verschafft65. Demgegenüber stehe aber die Meinung, dass die Kirche sich noch immer viel zu wenig gesellschaftlich und weltpolitisch engagiere66. Theologisch suchte Heintze eine vermittelnde Vereinbarkeit zwischen der lutherischen „Zwei-Reiche-Lehre“ und dem „Königreich Christi“ und lehnte jede Form von Unausgewogenheit ab. Zu letzterer, und hier kehrt der Diskurs wieder auf die Mikroebene zurück, zählte er sowohl die Haltung der Berliner Studentengemeinde, wie auch die „Theologie der Revolution“, besonders aber die scharfe Trennung von „Kirche“ und „Welt“, wie sie von konservativer Seite gefordert wurde. Dabei nahm er ausdrücklich Bezug auf die Reaktionen der Gemeinden auf studentische Protestaktionen. So vertreten nach seiner Beobachtung die Gemeinden traditionell ihre „herrschenden Ordnungsmächte“ und von daher sei es auch kein Zufall, wenn die Gemeinden in politischen und so­zialen Fragen überwiegend von einem „in der Regel unreflektierten Konservatismus bestimmt“ seien67. Und der Bischof ging noch einen Schritt weiter, indem er konstatierte: „Bis heute ist in der Kirche in der Reaktion auf die Unruhen die Reaggressivität eines starren Konservatismus stärker und bedenk­licher als die Gefahr revolutionärer Aggressivität.“ Beifall bekam Wölbers Artikel in den Evangelischen Kommentaren von einer ganz anderen Seite. So druckten die Lutherischen Monatshefte einen Artikel von Walter Künneth ab, dem wortstarken Mitbegründer der Bekenntnisbewegung „Kein anderes Evangelium“. Darin lobte Künneth das Verdienst des Hamburger Bischofs „dieser Politisierungswelle, die die Kirche zu überfluten droht“, die Aufmerksamkeit zugewendet zu haben68. Auffällig an diesem Artikel ist, dass der Erlanger Theologe, anders als zahlreiche seiner Weggenossen, das „politische Wächteramt“ der Kirche, die „politische Predigt“ und die „politische Diakonie“ durchaus als positive Konzepte zu deuten verstand und sie nicht als Synonyme für die „Politisierung“ verneinte. Entscheidend für Künneth war in dieser Frage, dass die „Kirche Kirche bleibt“ und nicht zu einer „politischen Instanz pervertiert“ werde69. 65 Ebd.,

731. Argumentation stand noch ganz unter dem Eindruck des Geistes der „Weltkonferenz für Kirche und Gesellschaft“ in Genf (1966) und der ÖRK-Vollversammlung in Uppsala, vgl. Frieling, Uppsala. Frieling bezeichnet die Pragmatik der „Theologie der Erneuerung der Welt“, die in Uppsala ausgearbeitet wurde, als „Orthopraxis-Konzeption“, die dazu ermutigen solle, sich sozial und politisch zu engagieren und im „Sinne des Evangeliums Partei zu ergreifen.“ (ebd., 181). 67 Heintze, Engagement, 735. 68 Künneth, Gemeinde, 109. 69 Ebd., 112. 66 Diese

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In einem philosophisch-theologischen Exkurs über die „Weltverantwortung“ der Christen in der Tradition Dietrich Bonhoeffers behandelte der Hamburger Professor für Praktische Theologie Hans-Rudolf Müller-Schwefe das Thema „Theologie“ und „Politik“70. Dabei skizzierte er die theologische Entwicklung nach 1945, beginnend mit der von Martin Heidegger beeinflussten Theo­logie Rudolf Bultmanns, welche die Sprache (des Evangeliums) zum Medium der Seins- und damit Wirklichkeitserfahrung erklärte, über die „Theologie der Hoffnung“ Jürgen Moltmanns, welche postuliert hat, dass die christliche Theologie der gesellschaftlichen Wirklichkeit nicht länger die Schleppe nach­tragen dürfe sondern die Fackel vorantragen müsse71, bis zur Praktischen Theo­logie Wolfhart Pannenbergs und Karl Rahners, nach der das Wesen der Kirche „in ihrer Zeugenschaft“ liege72. Die Predigt habe in dieser Tradition, und damit wird ein weiteres wichtiges Merkmal des Politisierungsbegriffes erkennbar, vor allem bei der Jugend verstärkt die Bedeutung einer gesellschaftlichen Aktion bekommen. Kirche wirke vermehrt durch ihr Sein, „nicht nur durch Worte“. Müller-Schwefe brachte in seiner theologischen Standortbestimmung das im bisherigen Politisierungsdiskurs noch nicht genannte Konzept der „Gesellschaftsdiakonie“ ein. So habe die EKD bis 1955 ihre Seelsorge am Einzelnen orientiert, danach auf das Ganze der Gesellschaft. In dieser neuen Form des kirchlichen Dienstes verortete er die Praxis der Denkschriften, welche der Gesellschaft „vom Evangelium her den Weg der Erneuerung und Verwandlung“ ermöglichen sollten73.

4. Schluss und Ausblick Fasst man die Politisierungsdiskurse zusammen, ergeben sich unterschiedliche aufeinander verweisende Ebenen: 1. Das Thema einer „Politisierung“ der Kirche gärte bereits seit der 1965 erschienenen Ost-Denkschrift der EKD, welche unter dem Ratsvorsitz von Kurt Scharf entstand. Diese Denkschrift wurde vor allem von den Anhängern der Bekenntnisbewegung „Kein anderes Evangelium“ und konservativen Protestanten als politische Zumutung und Beleg für einen Linksruck der Kirche empfunden und führte zur Gründung der rechtskonservativen „Notgemeinschaft Evangelischer Deutscher“, die bis heute, nun als „­Evangelische 70 Müller-Schwefe, 71 Ebd.,

747. 72 Ebd., 749. 73 Ebd., 753.

Dienst.

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Not­gemeinschaft in Deutschland“, den ganz rechten Rand des protestantisch-nationalen Milieus bedient und für eine Entpolitisierung der Kirche plädiert. Ihr Slogan lautet: „Kirche muss Kirche bleiben“. Dass sie hier ausgerechnet Karl Barth zitiert, dessen Theologie der „Königsherrschaft Christi“ aufgrund der Erfahrung mit den Deutschen Christen im Dritten Reich auf der Eigen­ständigkeit und Parteilosigkeit der Kirche beharrte74 – mitnichten aber ein apolitisches Christentum behauptete – und dass sie gleichzeitig für die „Zwei-Reiche-Lehre“ votierte, zeigt die theologische Aporie dieses Lagers. 2. Auf der anderen Seite standen die hochschulpolitisch hochgeputschten Evangelischen Studentengemeinden, welche ihren „Marsch durch die Institutionen“ in ihrer eigenen Kirche begannen und dabei die Grenze zwischen Aktion und Agitation vermischten. 3. Gab es eine zunehmend als politisch, d. h. in der Regel als „links“ wahr­ genommene Generation von Pfarrern, welche, wie die Zeitschrift Junge Kirche zeigt, sich semantisch immer mehr den politischen Bewegungen, beginnend mit der Wiederbewaffnungsbewegung, der Kampf dem AtomtodBewegung, später der Friedens-, Dritte Welt- und Umweltschutz­bewegung annäherte und dabei die Kommunikationsebene von der kirchlich-religiösen immer weiter in die politische verschob. 4. Wurde die sogenannte „moderne Theologie“ medial kontrovers diskutiert: a)  die „Entmythologisierungstheologie“, die vor allem von Rudolf Bultmann entwickelt und erbittert von der Bekenntnisbewegung „Kein anderes Evangelium“ bekämpft wurde; b) die „Neue Politische Theologie“, zu deren profiliertesten Vertretern Jürgen Moltmann mit seiner „politischen Hermeneutik“ und auf katholischer Seite Johann Baptist Metz gehörten; c) die als radikalste politische Variante geltende „Theologie der Revolution“, welche seit der Genfer ÖRK-Konferenz 1966, wo sie von Richard Shaull vorgetragen wurde, entwickelt und in Deutschland mit dem Namen Helmut Gollwitzers verbunden wurde; und d) die aus den USA stammende u. a. von Dorothee Sölle prominent vertretene „Gott-ist-tot-Theologie“. Die Debatte um eine „Politisierung“ der Kirche, die, wie anhand der Berliner Gemeinden gezeigt wurde, sich an lokalen Ereignissen entfachte, sehr bald aber eine gesamtkirchliche Dimension entwickelte, stand in einer innerkirch­ lichen Konfliktkonstellation und -tradition, die seit der Barmer Theologischen Erklärung bestand. Die lutherische „Zwei-Reiche-Lehre“ und die „ReichGottes-Theologie“  – in Anlehnung an Dietrich Bonhoeffers Theologie des „dies­seitigen“ Auftrags der Kirche  – spalteten die Kirche. Von der Wieder­ 74 Barth,

Christengemeinde.

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bewaffnungsdebatte, der Friedensbewegung in den 1950er Jahren, der OstWest-Politik der 1960er Jahre, bis zu den sozialen Bewegungen der 1970er und 80er Jahre zog sich die Frage, „wie politisch darf die Kirche sein?“ als roter Faden durch die Nachkriegszeit. Eine neue Kategorie in diese Frage wurde aber durch den Prozessbegriff der „Politisierung“ Ende der 1960er Jahre eingebracht. Anhand dieses zumeist pejora­tiv gebrauchten Konzeptes ließen sich ‚Freund‘ und ‚Feind‘ unterscheiden. „Politisierung“ bekam die Dynamik eines Kampfbegriffes. Eine „politische Kirche“? Ja! Eine „Politisierung“ der Kirche? Nein!75 In den Jahren nach 1968 differenzierte sich dieser Diskurs aus und löste sich mehr und mehr von den konkreten Ereignissen. Dass die Unruhen in der Berliner Kirche aber kein singuläres Ereignis waren, zeigt die mediale Empörungskampagne über „Pfarrer, die dem ­Terror dienen“76 in den Jahren 1974/75. Auch hier gehörten Bischof Scharf und Helmut Gollwitzer zu den Verdächtigen, die sich einer konservativen Mehrheit in den Gemeinden und den Medien gegenübergestellt sahen. Die Erfahrung von 1968 wirkte sich dabei deutlich aus. Nicht wenige Argumente können nahezu wortgleich aus der einen in die andere Kontroverse übernommen werden.

Literaturverzeichnis Albertz, Heinrich/Böll, Heinrich/Gollwitzer, Helmut u. a.: „Pfarrer, die dem Terror dienen“? Bischof Scharf und der Berliner Kirchenstreit 1974. Eine Dokumentation. Hamburg 1975. Barth, Karl: Christengemeinde und Bürgergemeinde. Stuttgart 1946. Becker, Hans: Sie wissen was sie tun. Diskussion als eine Methode politischen Terrors. In: Zeitwende 39 (1968), 78 ff. Ein anderes Bewusstsein. Sollen Diskussionen Bestandteil des Gottesdienstes werden? In: Evangelische Kommentare 1 (1968), 121–127. Eitler, Pascal: „Gott ist tot – Gott ist rot“. Max Horkheimer und die Politisierung der Religion um 1968 (Historische Politikforschung 17). Frankfurt a. M. 2009. –, Politik und Religion: Semantische Grenzen und Grenzverschiebungen in der Bundesrepublik Deutschland (1965–1975). In: Frevert, Ute/Haupt, Heinz-Gerhard (Hg.): 75 In einer Stellungnahme der VELKD heißt es dazu: „Die Verkündigung des Evangeliums von Jesus Christus ist der eigentliche Auftrag der Christenheit. Je entschlossener sie diesen Auftrag wahrnimmt, desto stärker ist ihre überzeugende Kraft. Politische Verantwortung darf nicht zur Politisierung der Kirche führen. Solche Verwechslung verfälscht die Politik und die Kirche.“ (VELKD, „Kirche“ und „Politik“). 76 Das Zitat bezieht sich auf einen Artikel in der Illustrierten Quick vom 5. 12. 1974 und wurde zum Synonym für den sogenannten „Berliner Kirchenstreit“, vgl. Albertz, „Pfarrer“.

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Sven-Daniel Gettys

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Claudia Lepp

Ergebnisse der Diskussion

Im Mittelpunkt der lebhaften Diskussion über den Beitrag von Nicolai Hannig stand dessen These einer Koalition zwischen der konservativen und liberalen Massenpresse einerseits und konservativen Kirchenvertretern andererseits, wie sie sich Ende der 1960er Jahre gegen kirchliche und theologische Reformkräfte formierte. Hier wurde insbesondere die Frage gestellt, ob nicht durch die Hinzuziehung von Blättern wie Pardon, Konkret u. a. ein anderes Bild entstünde und ob nicht gerade solche Blätter jungen Protestanten Politisierungsimpulse gaben. Hannig entgegnete, dass er sehr wohl Zeitschriften wie Pardon, Konkret und Twen ausgewertet habe und gerade Pardon und Twen 1969 ohne kon­kreten Anlass große Reportagen über die Politisierung des Protestantismus veröffentlicht hätten, in denen sie durchaus konservative Positionen bezogen. Stärker als in solchen linksgerichteten Zeitschriften hätten kirchliche Reformkräfte in öffentlichen Rundfunkanstalten ein Forum erhalten, jedoch kein exklusives. Die Kirchenfunkabteilungen hätten sich bemüht, möglichst differenziert zu berichten und beide Positionen darzustellen. Presseorgane, welche die (Links-)Politisierung des Protestantismus vorangetrieben hätten, habe er im Bereich der Massenmedien nicht finden können. Indirekt, so wurde eingewandt, sei dies jedoch trotzdem erfolgt, da durch die Thematisierung der Poli­tisierung diese Positionen in der Gesellschaft bekannt gemacht worden seien und der Politisierungsdiskurs befördert wurde. Es wurde angeregt, die Politisierung des Protestantismus auch anhand alternativer Presseerzeugnisse zu untersuchen, die während der 1960er und 70er Jahre zunehmend entstanden. Auch wurde angeregt, die Rezeption der evangelischen Pressedienste durch die nichtkirch­ lichen Medien in den Blick zu nehmen. Welchen Einfluss hatte der neugegründete evangelikale Pressedienst Idea mit seinem prononcierten, eher konfliktorientierten Stil auf die Darstellung und Deutung kirchlicher Themen in den Massenmedien? Im Hinblick auf den Sekten-Diskurs der 1970er Jahre bejahte Hannig den Einfluss der kirchlichen Pressedienste. Angesichts einer zunehmend kritischen Kirchenberichterstattung, die vielfach an der kirchlichen Wirklichkeit vorbeiging, wurde vorgeschlagen, stärker die Bedeutung von Funktionslogiken des Mediengeschäfts in den Blick zu nehmen. Auch wurde angezweifelt, ob die Rolle der Massenmedien im Politisierungsdiskurs allein über die Haltung einzelner Akteure wie Springer und

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­ ugstein analysiert werden könne. Lediglich revolutionäre Tendenzen seien in A den Printmedien kritisiert worden, Reformkräfte hingegen seien massenmedial gefördert worden. Auch der Spiegel selbst habe kirchlichen Protestkräften eine Plattform gegeben. Dagegen betonte Hannig, dass seine Analysekategorie nicht die Bericht­ erstattung, sondern der Journalismus sei, wobei sich der Religionsjournalismus seit Mitte der 1960er Jahre deutlich professionalisiert habe und zu einer Fremdwahrnehmung von Religion und Kirche übergangen sei. Ihn interessiere vor allem die Frage, wann Journalisten ein religiöses oder kirchliches Thema als so relevant einstuften, dass sie Titelgeschichten oder Serien darüber schrieben und zu „Religions- und Kirchendeutern“ wurden. Ein weiterer Diskussionspunkt war die Frage, wie die Konfessionen in diesem medialen Politisierungsdiskurs wahrgenommen wurden. War Dorothee Sölle wirklich die einzige Protestantin, die von den Massenmedien im Bereich der Reformtheologen rezipiert wurde? Wurden nicht auch z. B. Jürgen Moltmann und auch die ökumenischen Konferenzen in Genf und Uppsala in der nichtkirchlichen Presse sehr wohl rezipiert? Und warum wurden erfolgreiche Reformen innerhalb der evangelischen Kirche von den Medien ignoriert? Hannig verwies auf eine überkonfessionelle Wahrnehmung des kirchlichen Feldes durch die Medien: Auf protestantischer Seite seien vor allem die konservativen kirchlichen Kräfte wahrgenommen worden: die „Bekenntnisbewegung ‚Kein anderes Evangelium‘“ und die „Notgemeinschaft evangelischer Deutscher“; die Reformkräfte habe man stärker über den Katholizismus rezipiert. Aus der Diskussionsrunde wurde hierzu eingeworfen, dass es eben Interesse der Medien sei, das nicht Offensichtliche sichtbar zu machen, d. h. auf protestantischer Seite konservative Tendenzen und auf katholischer Seite reformerische Aufbrüche. Nach dem Referat von Sven-Daniel Gettys wurde gefragt, ob die kirchlichen und nichtkirchlichen Medien nicht die Bedeutung von Gruppierungen wie der „Notgemeinschaft evangelischer Deutscher“ überschätzt hätten. Gettys konstatiert, dass die kirchlichen Medien die Politisierungsdebatte tatsächlich sehr stark auf die Studentengemeinden auf der einen Seite und die Notgemeinschaft auf der anderen Seite fokussiert hätten. In Zusammenhang mit der Notgemeinschaft wurde betont, dass das gesamte rechte kirchliche Lager in den 1960er Jahren eine massive Verfestigung und einen organisatorischen Ausbau erfahren habe und diese Entwicklung in der Forschung bislang weitgehend vernach­ lässigt worden sei. Ein weiterer Schwerpunkt der Diskussion war die Frage nach der Krisen­ diagnostik im Protestantismus. Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre sei es zu einer gesteigerten empirischen Selbstwahrnehmung der ­Kirche ge­

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Ergebnisse der Diskussion

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kommen; 1974 erschien dann die erste Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung. Vor dem Hintergrund der zahlreichen Kirchenaustritte wurde intensiv um Volkskirchenkonzepte gestritten. Das Programm des Hamburger Bischofs HansOtto Wölber „Volkskirche bleiben“ zielte darauf, alle Gruppierungen zu integrieren. Insofern hatte die Volkskirchendebatte selbst eine politische Konnotation. Jürgen Moltmann war beispielsweise ein entschiedener Gegner der Volkskirche im Sinne einer Überparteilichkeit. In diesem Zusammenhang wurde gefragt, wie intensiv die Krisendiagnostik in den Medien gewesen sei. Laut Gettys gab es durchaus eine mediale Krisen­ diagnostik. Hinsichtlich der Kirchenaustritte standen sich kontroverse Deutungen gegenüber: Die einen hielten die Politisierung für die Austritte verantwortlich, andere sprachen davon, gerade weil die Kirche nicht politisch genug sei, verließen die Enttäuschten die Kirche. Eine Frage zielte auf das Verhältnis von etablierter kirchlicher Presse und so genannter Oppositionspresse; so erschienen z. B. 1968 neben den Luthe­ rischen Monatsheften in Hamburg die Lutherischen Notstandsrechte. Nahm die kirchliche Presse Themen, Argumente oder Präsentationsformen der Oppositionspresse auf? Gettys verwies darauf, dass z. B. die Junge Kirche einige kleinere Zeitschriften in sich aufgenommen und Teile der Redaktion übernommen habe. Die katholische Zeitschrift Publik habe sich selbst zu einem oppositionellen Blatt entwickelt. Zu den Evangelischen Kommentaren wurde bemerkt, dass diese 1968 gegründete Zeitschrift in ihrer Frühphase Argumentationen und Begriffe aus der Wiederbewaffnungsdebatte der 1950er Jahre reaktiviert habe.

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Die Politisierung des Christentums – eine shared history?

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Pascal Eitler

Konziliare Aufbrüche und kontestative Umbrüche Die Politisierung des Katholizismus um 1968 – eine diskurshistorische Perspektive

Für die Wochenzeitung Die Zeit war es „das Treffen der protestantischen Katho­liken“  – der Katholikentag von 1968 in Essen1. „Essen“ wurde bereits zeitgenössisch zum Sinnbild der Politisierung des Katholizismus um 1968. Keinem anderen religiösen Großereignis kam in dem für die Politisierung der Religion in der Bundesrepublik Deutschland so entscheidenden Schlüsseljahrzehnt zwischen Mitte der 1960er und Mitte der 70er Jahre mehr öffentliche Aufmerksamkeit zu als diesem Katholikentag – für zahlreiche Beobachter war er schlicht ein Skandal. „Essen“, so Die Welt, liefere dabei „Antworten“ auf Probleme und Prozesse, welche die Katholische Kirche inzwischen nicht weniger beträfen als die Evangelische2. In und mit „Essen“, das illustriert oder besser suggeriert auch die Charakterisierung der Zeit, habe der Katholizismus endlich an den Protestantismus und dessen Politisierung aufgeschlossen. Nichtsdestotrotz widmet sich die Kirchengeschichtsschreibung häufiger dem Protestantismus als dem Katholizismus, wenn es darum geht, das Verhältnis der beiden großen Kirchen zu den Reformprojekten im Umkreis der Außerparlamentarischen Opposition und die Politisierungsprozesse der 1960er und 1970er Jahre zu untersuchen3. Sie verfolgt in dieser Hinsicht zumeist eine konfessions- und diesbezüglich auch organisationshistorische Fragestellung. Zum Skandal in und an „Essen“ wurde jedoch bezeichnenderweise nicht die – teilweise durchaus zu beobachtende – Politisierung auf der Ebene der Organisation, sondern die Politisierung der Religion auf der Ebene der Laien. Die Kirche, darauf kommt es hier an, war um 1968 gerade nicht allein oder vorrangig eine Organisation beziehungsweise eine Amtskirche. Dement­sprechend hatte John Robinson, ein in der Bundesrepublik Deutschland viel gelesener und engagiert debattierter anglikanischer Theologe, bereits 1963 erklärt: „Die Aufgabe der Kirche besteht nicht darin, die Religiösen zu organisieren“, die

1 Herbort,

Die linken Frommen. Katholikentag. 3 Siehe vor allem Hermle/Lepp/Oelke, Umbrüche; Hey/Wittmütz, 1968. 2 Nellesen,

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Kirche sei vielmehr „zum Dienst an der Welt bestimmt.“4 Die Politisierung der Religion, die es zwischen Mitte der 1960er und Mitte der 70er Jahre zu verzeichnen gilt, sowohl auf protestantischer als auch auf katholischer Seite, betraf die Mitglieder der beiden großen Kirchen gerade auch in – mehr oder weniger großer – Distanz zur Amtskirche und zu kirchlichen Hierarchieverhältnissen. Sie lässt sich daher nach meinem Dafürhalten organisationshistorisch nicht adäquat begreifen und gesellschaftlich kontextualisieren. Die Politisierungsprozesse und katholischen Reformprojekte, die im Folgenden in den Fokus treten, berühren nicht die Frage nach dem Einfluss der Amtskirche auf die Politik im herkömmlichen Verständnis als Parteien- oder Regierungssystem. Es geht mir daher auch nicht um den „Politischen Katholizismus“ im überlieferten Verständnis. Die „Rolle der [katholischen] Kirche und des Katholizismus im Regierungssystem“ der Bundesrepublik Deutschland zu untersuchen5, vermag die Breite und Tiefe dieser Politisierungsprozesse nur sehr bedingt zu erfassen. Die Frage, welche „Personen und Organisationen“ innerhalb des Katholizismus „politisch handel[te]n und Politik zu beeinflussen such[t]en“, kann an vielversprechende Entwicklungen innerhalb der neueren Politikgeschichtsschreibung, die sich der Politik in kommunikationssoziologischer oder diskurshistorischer Perspektive nähern, lediglich begrenzt anschließen6. Vor allem die Zielvorgaben und Gestaltungsversuche der Amtskirche geraten auf jene Weise in den Blick, nicht aber die Politisierung des Katholizismus und die sich stetig wandelnden und zumeist stark umkämpften Formen und Foren von Politik und vice versa Religion. Im Fall der Katholizismusforschung haben konfessionshistorische Fragestellungen in den vergangenen fünfzehn Jahren vor allem in der Gestalt von Milieustudien beeindruckend an Gewicht gewonnen7. Doch büßen diese Studien für die 1960er und 70er Jahre erkennbar an Überzeugungskraft ein, da das katholische Milieu in diesem Zeitraum ebenso markant erodiert ist wie das proletarische. Zwar sind konfessionshistorische Fragestellungen von Thema zu Thema nach wie vor erkenntnisförderlich, doch lassen sich die transkonfessionellen Problemkomplexe um 1968 auf diese Weise nicht ausreichend berücksichtigen. Auch wenn katholische und protestantische „Antworten“ vereinzelt überaus unterschiedlich ausfielen – die Problemkomplexe, denen diese „Ant

4 Robinson,

Gott, 137. Macht, 19. Vergleiche beispielsweise Gauly, Kirche; Springhart, Beitrag. 6 Siehe den neueren – aus diskurshistorischer Perspektive allerdings unbefriedigenden – Forschungsbericht von Kösters, Milieu, 493. Zur Politikgeschichtsschreibung siehe unter anderem Frevert/Haupt, Politikgeschichte; Steinmetz, „Politik“. 7 Vergleiche lediglich Arbeitskreis für kirchliche Zeitgeschichte, Katholiken. Siehe zudem die wichtige Arbeit von Damberg, Abschied.

5 Liedhegener,

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Konziliare Aufbrüche und kontestative Umbrüche

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worten“ begegnen sollten, waren doch insgesamt dieselben. Die Politisierung der Religion zwischen Mitte der 1960er und Mitte der 70er Jahre lässt sich so gesehen am ehesten im Sinne einer shared history begreifen8. In diskurshistorischer Perspektive betrachte ich den Katholizismus daher nicht als ein Milieu oder aus dem Blickwinkel einer Organisation, sondern als einen „diskursiven Tatbestand“  – als einen Kommunikationshaushalt, einen Argumentationsrahmen, eine Definitionssache9. Gerade in Bezug auf die shared history dieser Politisierungsprozesse gilt es, den Katholizismus stärker als ein Ergebnis und Ereignis der öffentlichen Auseinandersetzung in den Fokus zu rücken, die sowohl von Katholiken als auch von Protestanten, von Christen und von Nichtchristen vorangetrieben und wahrgenommen wurde10. Wenn dabei von einer Politisierung des Katholizismus die Rede ist, so begreife ich darunter einen realhistorischen Entwicklungsgang  – allerdings keineswegs im Gegensatz zu, sondern vielmehr als Folgewirkung einer zeitgenössischen, zwar umkämpften, aber breitenwirksamen Selbstbeschreibung in der religiösen Kommunikation um 1968. In dieser diskurshistorischen Perspektive treten, wie sich zeigen wird, vor allem Ähnlichkeiten und Überschneidungen zwischen protestantischen und katholischen Reformprojekten hervor – mitunter geraten aber auch erkennbare Unterschiede und Verschiebungen in den Blick. Vier nach meinem Dafürhalten zentrale Aspekte dieser Politisierung des Katholizismus rücken nachstehend ins Zentrum meines Interesses: Auf der Formebene lässt sich erstens eine neuartige Dialogisierung und zweitens eine kaum weniger signifikante Verwissenschaftlichung beziehungsweise Versachlichung des Katholizismus im engeren wie der religiösen Kommunikation im weiteren Sinne beobachten – zumindest, darauf kommt es hier an, innerhalb der öffentlichen Auseinandersetzung. Auf der Inhaltsebene gilt es davon ausgehend drittens eine lautstarke und vielstimmige Kritik gegenüber kirchlichen Hierarchieverhältnissen und einen Demokratisierungsprozess zu verzeichnen. Einschneidender und charakteristischer für die Politisierung der Religion um 1968 waren jedoch viertens das sich in beiden großen Kirchen deutlich wandelnde Verhältnis zur „Dritten Welt“ und ein diesbezüglich auch im Katholizismus erkennbar zunehmender Protest gegen Rassismus und Faschismus. Historisch zu kontextualisieren gilt es diese Politisierungsprozesse unter anderem in Bezug auf die – intendierte oder unintendierte – Wirkungsgeschichte des Zweiten 8 Siehe neben den frühen Aufrufen von Wolfgang Schieder nunmehr insbesondere Graf, Wiederkehr, 30–50. 9 Matthes, Suche, 129 f u. 141. Siehe auch Hölscher, Semantic Structures. 10 Einen medienhistorischen Schwerpunkt setzt diesbezüglich. Bösch/Hölscher, Kirchen.

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Pascal Eitler

­ atikanischen Konzils und die Etablierung und Radikalisierung der AußerparV lamentarischen Opposition im Allgemeinen und der Studentenbewegung im Besonderen: Die Politisierung des Katholizismus bewegte sich um 1968 zwischen konziliaren Aufbrüchen und kontestativen Umbrüchen11.

1. Der Dialogimperativ und die Informationshoheit der Sozialwissenschaften Auch wenn es noch immer an einer umfassenden und eingehenden Analyse der populären Rezeption des Zweiten Vatikanischen Konzils in der Bundesrepublik Deutschland mangelt12, lässt sich dessen wegweisende Bedeutung für die Politisierung des Katholizismus vielfach unschwer nachweisen. „Es kann nicht bestritten werden“, erklärte in diesem Sinne Karl Rahner, der Doyen katholischer Reformprojekte in den 1960er und 1970er Jahren, dass „das Konzil, seine Verhandlungen und Diskussionen […] in vielen Kreisen eine tiefe Verwunderung und Beunruhigung hervorgerufen“ haben13. In diskursgeschichtlicher Perspektive ist es zwar die öffentliche Auseinandersetzung über das Konzil, die im Mittelpunkt der Untersuchung steht, doch lässt sich diese nicht angemessen verstehen – ohne einen zumindest knappen Überblick über das Konzil und einige wichtige Konzilsdokumente. Das Zweite Vatikanische Konzil zwischen 1962 und 1965 gerät bislang vor allem organisationshistorisch in den Fokus der Katholizismusforschung – unter Verweis auf strategische Machtkämpfe, diplomatische Kunststücke und jene ebenso langjährige wie bewegende „Verhandlungen und Diskussionen“ unter den über zweitausend in Rom versammelten Kardinälen und Bischöfen14. Zweifelsfrei kann es in zahlreichen Zusammenhängen als das bedeutendste Großereignis der Kirchengeschichte der zweiten Hälfte des 20.  Jahrhunderts gelten15. Das Konzil prozessierte und repräsentierte einschneidende Veränderungen in der Geschichte des Katholizismus und der Katholischen Kirche − mit einer beträchtlichen Ausstrahlungskraft indes auch auf die Evangelische Kirche. Nicht zuletzt vor diesem Hintergrund konstatiert Kurt Nowak zu Recht, „dass 11 Siehe vor allem Grossbölting, Kontestation; ders., „Bieresel“. Vergleiche ebenfalls Damberg, Katholiken. Einen breiten Überblick zur Katholischen Kirche nach 1945 entwickelt beispielsweise Gatz, Bundesrepublik. 12 Siehe jedoch Wolf/Arnold, Länder; Pesch, Konzil. Vergleiche ebenfalls Kaufmann/Zingerle, Vatikanum II. 13 Rahner, Kirche, 437. 14 Einen breiten Überblick bietet vor allem Alberigo/Wittstadt, Geschichte. 15 Kaufmann, Einführung, 31; Pesch, Konzil, 43–47.

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die wichtigste Zäsur für die Kirchen im 20. Jahrhundert wohl am Beginn der sechziger Jahre liegt“16. Das Konzil  – ein theologischer beziehungsweise ekklesiologischer Disput über „die Kirche in der Welt von heute“17 – reagierte unmittelbar auf das Erste Vatikanische Konzil zwischen 1869 und 1870. Im mehr oder weniger tief­ gehenden und offensichtlichen Widerspruch zu diesem und dem Syllabus errorum von 1864 stand der Katholizismus mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil nicht länger grundsätzlich und unbesehen „der Moderne“ ablehnend gegenüber. Papst Johannes XXIII. rief das Konzil stattdessen als „Begegnung“ und „Dialog“ mit „der Moderne“ und „der Welt von heute“ aus. Der Begriff des „Dialogs“ entwickelte sich entsprechend sehr bald zu einem regelrechten „Hauptwort des Konzils“18. In der Zeitschrift Hochland war demgemäß bereits 1964, noch ein Jahr vor dem Ende des Konzils, von einem „dialogischen Selbstverständnis der [Katholischen] Kirche“ die Rede19. Wenig später präzisierte die Herder-Korrespondenz: „Eine neue Mentalität des Dialogs, eine Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit dem Andersdenkenden, mit dem weltanschau­ lichen Gegner scheint weitgehend an die Stelle der religiösen und weltanschaulichen Polemik getreten zu sein.“20 Eine wichtige Rolle spielten in dieser Hinsicht zuvörderst die Liturgie­ konstitution Sacrosanctum concilium und die Kirchenkonstitution Lumen gentium. Die Kirchenkonstitution begründete und begrüßte ein Verständnis der Katholischen Kirche weniger als „Leib Christi“, als corpus, sondern vor allem als communio und „Volk“, als „Gottesvolk“ beziehungsweise „Kirchenvolk“ auf der „Reise“. Vor dem Hintergrund scheinbar rein theologischer beziehungsweise ekklesiologischer Fachfragen ging es dabei tatsächlich um eine folgenreiche Neuausrichtung des Verhältnisses von Klerikern und Laien, die darauf zielte, innerhalb der Katholischen Kirche weniger zwischen Klerikern und Laien zu unterscheiden und zu gewichten21. Der Liturgiekonstitution zufolge wurde der Gottesdienst dementsprechend verstärkt in der Landes­sprache – statt auf Latein – abgehalten22. 16 Nowak,

Geschichte, 10. Konzil, 75–90. 18 Ebd., 60 und 325; Pottmeyer, Modernisierung, 132–139; Kaufmann, Einführung, 10 f und 19 f. 19 Höflich, Wir, 1; Seibel, Ende, 145. 20 Anonymus, Dialog, 201. Siehe auch Damberg, Entwicklungslinien, 178 f; Gabriel, Aufbruch, 529 f. 21 Pottmeyer, Modernisierung, 132 und 142 f; Damberg, acis ordinata, 177 f; Kaufmann, Einführung, 10 f und 27–30; Wiltgen, Rhein, 35–39; Pesch, Konzil,132–147 und 173–192. 22 Vergleiche lediglich Wittstadt, Perspektiven, 91–95; Pesch, Konzil, 105–121; Götz, Rolle, 23 ff. Siehe auch Kranemann, Gottestdienstformen. 17 Pesch,

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Man muss das Konzil und die Konzilsdokumente nicht heroisieren oder romantisieren, um zu dem Ergebnis zu gelangen, dass sie einen „Dialog“ innerhalb der Katholischen Kirche – einen kritischen und kontroversen „Dialog“ um die Gestalt und die Aufgabe der Katholischen Kirche in „der Moderne“ – nachdrücklich eingeklagt und entscheidend befördert haben, auch wenn sie die mit diesem „Dialog“ einhergehenden semantischen Grenzverschiebungen zwischen „Kirche“ und „Welt“ nicht allein getragen oder ursprünglich angestoßen haben. Zur pausenlos und massenhaft bemühten Referenzgröße katholischer Reformprojekte avancierte in diesem Kontext vor allem die Pastoralkonstitution Gaudium et spes über „die Kirche in der Welt von heute“. Die Katholizismusforschung begreift sie und den von Papst Johannes XXIII. eingeleiteten „Dialog der Kirche mit der Welt“ zu Recht als ein Hauptergebnis und Hauptereignis des Konzils. Kein Konzilsdokument erfuhr in den 1960er und 70er Jahren mehr öffentliche Aufmerksamkeit als die Pastoralkonstitution, das eindeutig umfangreichste und am stärksten umkämpfte Konzilsdokument, das von der Kurie ursprünglich gar nicht vorgesehen war23. Von entscheidender Bedeutung für die Politisierung des Katholizismus war dabei, dass die Pastoralkonstitution im Rahmen dieses „Dialogs der Kirche mit der Welt“ auch und nicht zuletzt einen „Dialog zwischen Christentum und Marxismus“ auf die Tagesordnung setzte24. Die Aufgabe der Katholischen Kirche sei es an dieser Stelle, im „Zeichen der Brüderlichkeit […] einen aufrichtigen Dialog“ zu ermöglichen und voranzutreiben25. Karl Gabriel spricht zu Recht von einer „tiefgreifenden Umcodierung“, die das Konzil ausgezeichnet und eingeleitet hat: Es „codierte von Dissoziation auf Dialog um.“26 Vor eben diesem Hintergrund möchte ich von einem Dialogimperativ innerhalb des Katholizismus um 1968 sprechen. Gebührend von der Forschung berücksichtigt, zeitgenössisch aber nicht gleichermaßen hervorgehoben, wird in diesem Zusammenhang bislang lediglich die Bedeutung der katholischen beziehungsweise evangelischen Akademien27. Getragen wurde dieser „Dialog zwischen Christentum und Marxismus“ in der Bundesrepublik Deutschland vor allem von der 1955 von dem katholischen Pfarrer Erich Kellner gegründeten Paulus-Gesellschaft. Die Paulus-Gesellschaft hatte sich bis Mitte der 1960er Jahre vorrangig dem möglichen Nutzen und 23 Wiltgen,

Rhein, 261–265; Pesch, Konzil, 60–63. Siehe auch Klinger, Aggiornamento. Das Zweite Vatikanische Konzil, 325–335; Wiltgen, Rhein, 282–287. 25 Gaudium et spes Nr.  21 u. 92. Siehe Rahner/Vorgrimler, Konzilskompendium, 466 ff, 550 f. 26 Gabriel, Aufbruch, 542; Ders., Christentum, 175. Siehe auch Klinger, Aggiornamento, 171 ff. 27 Vergleiche insbesondere Treidel, Akademien; Schütz, Begegnung; Mittmann, Formen. 24 Pesch,

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den denkbaren Gefahren der Naturwissenschaften gewidmet, seit 1964 indes und mit Bezug auf das Konzil geriet für knapp fünf Jahre – im Rahmen großer Tagungen und zahlreicher Veröffentlichungen  – das Verhältnis zwischen Christentum und Marxismus in den Fokus28. Historisch zu kontextualisieren gilt es den christlich-marxistischen Dialog dabei im Zusammenhang des Kalten ­Krieges oder besser des Kurzen Friedens zwischen Mitte der 1960er und Anfang der 1970er Jahre. Geprägt wurde dieser „Dialog“ im Rahmen der Paulus-Gesellschaft von zwei der zweifelsfrei einflussreichsten katholischen Theologen der 1960er und 70er Jahre: Karl Rahner und Johann Baptist Metz. Tatsächlich war der christlich-marxistische Dialog aber sehr bald ein – ausdrücklich und offensichtlich – transkonfessionelles Zusammentreffen und Zusammensprechen von katholischen und evangelischen Theologen, Christen und Nichtchristen. Zwar war es nicht die insgesamt noch überschaubare Anzahl an Theologen im engeren und Intellektuellen im weiteren Sinne, die der Politisierung des Katholizismus historische Relevanz verlieh, sondern die  – beeindruckende und unerwartete  – gesell­schaftliche Aufmerksamkeit, die deren Verhandlungen und Diskussionen zukam: nicht nur in der Tagespresse und auf dem Buchmarkt29. Doch waren es Theologen beziehungsweise Intellektuelle wie Metz oder Rahner, die der Politisierung des Katholizismus eine Gestalt und ein Gesicht gaben. Eingebettet war der „Dialog“ diesbezüglich allerdings in sehr viel umfassendere Politisierungsprozesse innerhalb der beiden großen Kirchen, die zumeist unter dem Begriff der Politischen Theologie etikettiert und diskutiert wurden  – zuweilen auch unter dem Begriff einer Theologie der Welt oder einer Theologie der Befreiung. Diese Begriffe gingen nicht selten wild durcheinander. Unter dem Dach der Konfessionshistorie lassen sich diese neuartigen und tiefgehenden Politisierungsprozesse nicht angemessen erfassen. In diesem Sinne stellte die HerderKorrespondenz zu Recht fest: „Die Politische Theologie artikuliert sich über die Konfessionsgrenzen hinweg.“30 Die Politisierung der Religion um 1968 trieb so gesehen eine schleichende Entkonfessionalisierung in den 1960er und 70er Jahren weiter voran. Auf der Formebene von zentralem Interesse ist in diskursgeschichtlicher Perspektive, dass dieser „Dialog“ um 1968 in ein regelrechtes Dialogtableau eingebettet war. Gegen Mitte der 1960er Jahre begann tatsächlich ein „Zeitalter des Dialogs“, wie Roger Garaudy, die bekannteste und tatkräftigste Referenz­

28 Vergleiche

nur Eitler, Politik. lediglich Eitler, „Gott ist tot“, 252–309. 30 Anonymus, Theologie?, 345.

29 Siehe

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figur unter den Marxisten innerhalb des „Dialogs“, es 1966 behauptet hatte31 – dieses erstreckte sich jedoch nicht allein auf das Zusammentreffen und Zusammensprechen von Christen und Marxisten. Der Dialogimperativ innerhalb des Katholizismus strukturierte oder tangierte die religiöse Kommunikation vielmehr ebenfalls im Gottesdienst und in der Gemeindearbeit, an Universitäten und auf Demonstrationen, in Priestergruppen und last but not least auf Katholikentagen. Er stand im Hintergrund der Neugründung von Zeitschriften wie Publik oder Concilium und sorgte für prosperierende Verkaufszahlen bei theologischen Fachbüchern. Politische Theologen, so Der Spiegel 1968 einiger­ maßen überrascht, „erzielen Auflagen von sonst selten erreichter Höhe und Zahl. […] Selbst konservative Kirchenführer beobachten mit liebevollem Auge die Denk-Rebellion ihrer zumeist jüngeren Brüder.“32 Auch hier – nicht nur im Fall der evangelischen oder katholischen Akademien – lässt sich eine „institutionalisierte Dauerreflexion“ beobachten und befragen33. Nicht zufällig spricht Thomas Küster in diesem Zusammenhang für die 1960er Jahre von einem permanenten und omnipräsenten „Erlernen des Dialogs“ − nicht nur in den beiden großen Kirchen, sondern auch in der Schule oder der Hochschule. Wenn Nina Verheyen an dieser Stelle ein um 1968 flächendeckend um sich greifendes „Diskussionsfieber“ diagnostiziert, so gilt es zu ergänzen, dass dieses nicht nur die politische, sondern eben auch die reli­giöse Kommunikation in der Bundesrepublik Deutschland mehr und mehr charakterisierte und transformierte34. Vielfach beschrieben wurde in diesem Kontext ein ebenso flächendeckender wie folgenreicher Demokratisierungsprozess, der in der Bundesrepublik Deutschland vor allem nach der „Spiegel-Affäre“ von 1962 erkennbar an Brisanz und Dynamik gewann – in der Schule wie in der Hochschule, in den Geschlechterverhältnissen wie in der Betriebsführung, in der Rechtsprechung wie in der Medienkultur. Gegen Mitte der 1960er Jahre erfasste dieser auch den Katholizismus, zumindest innerhalb der öffentlichen Auseinandersetzung und nicht allein im Fall derer, die diesen Demokratisierungsprozess befürworteten, sondern ebenfalls im Fall derer, die ihn ausdrücklich oder stillschweigend ablehnten35. „Die Diskussion“, so betonten in diesem Sinne 1968 die Veranstalterinnen und Veranstalter der ebenso berühmten wie berüchtigten – transkonfessionell positionierten – „Politischen Nachtgebete“ in Köln, „empfinden wir als inte 31 Garaudy,

Bannfluch, 33. Kirchensprache, 83. 33 Vergleiche lediglich Grossbölting, Laien, 147 ff. 34 Küster, Erlernen, 683 ff; Verheyen, Diskussionsfieber, 209 ff. 35 Siehe unter anderem Damberg, Kirche; Ders., Bernd Feldhaus. Vergleiche zudem Frese, Demokratisierung. 32 Anonymus,

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gralen Bestandteil unserer Gottesdienste. […] Die Diskussion […] verhindert, daß die Gottesdienste zu einer schlechten Schulstunde werden. Sie hebt die Trennung von Veranstaltern und Teilnehmern auf und zieht damit alle in die gleiche Verantwortung vor der diskutierten Sache.“36 In vergleichbarer Weise sprach auch Johann Baptist Metz vom „informatorischen Sprechen“ der Politischen Theologie und einer „Versachlichung der christlichen Selbstaussage“ um 196837. Dieses „informatorische Sprechen“ erschien dabei nicht als „nachträgliches und instrumentelles, sondern als wesentliches und fundamentales Moment“ der Katholischen Kirche „im Dialog mit der Welt“. Aus diesem Grund, so Fulbert Steffensky, einer der Veranstalter der „Politischen Nachtgebete“, „erlauben wir uns kein Gebet ohne Information“. Nicht allein die Diskutierenden der „Politischen Nachtgebete“ waren entsprechend dazu angehalten, „religiöse Gehalte weltlich auszusprechen“. In diesem Zusammenhang ging es nicht zuletzt um den Versuch, eine „kritische Öffentlichkeit innerhalb der [Katho­ lischen oder Evangelischen] Kirche“ aufzubauen38. Die gesellschaftlichen Pro­ blemkomplexe, die in dieser „kritischen Öffentlichkeit“ diskutiert wurden, sollten „möglichst präzise, begrenzt und konkret sein. Je begrenzter das Thema, desto besser die Möglichkeit, genau zu informieren“39. Die „Politischen Nachtgebete“ waren zwar keineswegs repräsentativ für die religiöse Kommunikation in der Bundesrepublik Deutschland der 1960er oder 70er Jahre – sie waren aber durchaus charakteristisch für die Politisierung der Religion im weiteren und die Politisierung des Katholizismus im engeren Sinne: Erst vor dem Hintergrund einer erkennbaren Versachlichung beziehungsweise Verwissenschaftlichung der religiösen Kommunikation lassen sich diese angemessen begreifen und historisch kontextualisieren – insbesondere in Hinsicht auf die stark an Prestige und Profil gewinnenden Sozialwissenschaften40. Nicht nur innerhalb der Neuen Linken, auch innerhalb der Politischen Theologie gewannen die Sozialwissenschaften in den 1960er und 70er Jahren nach und nach die Informationshoheit – unter anderem aus dem Umkreis oder im Einflussgebiet der „Frankfurter Schule“. Die letzte und letztlich entscheidende Bezugsgröße religiöser Kommunikation blieb zwar stets die Bibel, selten das Alte, meist das Neue Testament, doch ähnelten manche Tagungsvorträge oder Zeitschriftenbeiträge auf dem Feld der Politischen Theologie sehr bald soziologischen und politologischen Fachgutachten über wirtschaftliche Ungleich 36 Steffensky,

Arbeitsanleitung, 8 ff. 116 f. 38 Ebd., 116 und 126 f; Steffensky, Arbeitsanleitung, 12. 39 Ebd., 8. 40 Einen breiten Überblick bieten Nolte, Ordnung; Albrecht, Gründung.

37 Metz, Theologie,

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heit, staatliche Gewaltmaßnahmen, die Dependenztheorie oder den Imperialismus – im Fall des Protestantismus insgesamt noch ausgeprägter als im Fall des Katholizismus. Von großer Bedeutung ist diese Verwissenschaftlichung von religiöser Kommunikation nicht zuletzt, da sie um 1968 auch organisationshistorisch an sozialer Relevanz gewann, wie Benjamin Ziemann unlängst überzeugend für die Katholische Kirche oder besser Amtskirche und deren Aneignung sozialwissenschaftlicher beziehungsweise demografischer Untersuchungsverfahren aufgezeigt hat41.

2. Die „Autoritätskrise“ und der Protest gegen Rassismus und Faschismus Im Zentrum der gesellschaftlichen Aufmerksamkeit stand zwischen Mitte der 1960er und Mitte der 70er Jahre aber eigentlich nicht die Amtskirche, sondern die anhaltend wachsende Kritik gegenüber kirchlichen Hierarchieverhältnissen. Im Rahmen des „Dialogs der Kirche mit der Welt“ und im Hinblick auf die Informationshoheit der – vorrangig marxistisch ausgerichteten – Sozialwissenschaften zielte der Begriff der Welt dabei insbesondere auf ein besseres Verständnis der Gesellschaft und deren grundlegende Veränderung – im Sinne der Nächstenliebe. José Casanova spricht an dieser Stelle zu Recht von der Umstellung der Kirche „from a state-centered to a society-centered institution“42. Gefordert wurde dementsprechend eine „Orientierung in die Horizontale“43. Die Kirche sollte sich sehr viel stärker „auf die Welt als Gesellschaft und auf die weltverändernden Kräfte in dieser Gesellschaft beziehen“44. Johann Baptist Metz verkündete in diesem Zusammenhang ein „neues Theorie-Praxis-Verhältnis“ innerhalb des Katholizismus – offenherzig war auf Seiten der Politischen Theologie nicht nur von einer Veränderung der Gesellschaft, sondern ausdrücklich von einer „Revolution“ der bestehenden Verhältnisse die Rede45. Auf einer Tagung der Paulus-Gesellschaft von 1967 wunderte sich der katho­lische Theologe Giulio Girardi dementsprechend: „Muß wirklich zwischen Religion und Revolution gewählt werden?“46 Zwischen Ende der 1960er und Anfang der 41 Siehe

insbesondere Ziemann, Kirche. Public Religions, 71 ff. 43 Metz, Theologisches, 259; ders., Theologie, 85. 44 Ebd., 87. Siehe auch ders., Wille, 121–138. 45 Metz, „Politische Theologie“, 282 ff; ders., Theologie, 138 f, 104 und 90; ders., Religion, 34. Siehe auch Wiedenhofer, Theologie, 31–43. 46 Girardi, Friede, 319–322. 42 Casanova,

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70er Jahre war die Politisierung des Katholizismus diesbezüglich kaum weniger engmaschig in die öffentliche Auseinandersetzung um die Außerparlamenta­ rische Opposition verstrickt als die Politisierung des Protestantismus47. Überaus sichtbar und besonders lautstark traten Berührungspunkte und Schnittmengen zwischen der Außerparlamentarischen Opposition und katholischen Reformprojekten im Rahmen des Katholikentages von 1968 in Essen hervor. Die sich im Umfeld von „Essen“ formierende KAPO – die Katholische Außerparlamentarische Opposition – rekrutierte sich mehrheitlich aus Theologiestudenten und firmierte erklärtermaßen als Teil der Studentenbewegung. Sowohl auf der Form- als auch auf der Inhaltsebene hat die KAPO das Bild dieses Katholikentages entscheidend beeinflusst  – nicht allein, aber auch in der öffentlichen Berichterstattung48. Vor diesem Hintergrund gilt es die massive Kritik gegenüber Papst Paul VI. und der „Pillen-Enzyklika“ von 1968 zu verorten – denn in „Essen“ ging es nicht allein um die „Pillen-Enzyklika“ oder die „Pille“49. Es ging im Rahmen eines in der Bundesrepublik Deutschland Mitte der 1960er Jahre in ganz unterschiedlichen Gesellschaftsbereichen eingeleiteten Demokratisierungsprozesses vielmehr auch und vor allem um die überaus fraglich gewordene „Autorität“ des Papstes oder besser eine vielerorten vermutete „Autoritätskrise“ des Papsttums. Entsprechend selbstbewusst verkündete die KAPO: „Alle reden von der Pille, wir reden von der Autorität.“50 In diesem Sinne war die Außerparlamentarische Opposition in „Essen“ auch eine Innerkirchliche Opposition. Dieser Streit um die Frage der „Autorität“ beschäftigte die öffentliche Auseinandersetzung im Fall des Katholizismus – aus organisationshistorischer Perspektive geradezu notwendigerweise – noch sehr viel mehr als im Fall des Protestantismus. Jener Demokratisierungsprozess fand seinen Niederschlag in den späten 1960er und frühen 70er Jahren zwar ebenfalls – mehr oder weniger gebrochen und offensichtlich  – innerhalb der Amtskirche, zum Beispiel in der Gestalt von Laienräten51. Historisch noch sehr viel signifikanter und für die Politisierung des Katholizismus insgesamt bedeutsamer war in diesem Kontext jedoch die Herausbildung und Ausbreitung von Studentengemeinden und Priestergruppen, Diskussionsrunden und Aktionsbündnissen, die freimütig und medienpräsent für den „Klassenkampf“ – den Sozialismus oder Kommunismus, den Anarchismus oder Maoismus – Partei ergriffen und dabei gezielt Anschluss 47 Vgl.

Grossbölting, „Bieresel“. lediglich Eitler, „Gott ist tot“, 310–340. 49 Siehe unter anderem Silies, Lebensführung. 50 Gorlas, Katholikentag, 270. 51 Vergleiche lediglich Damberg, Macht.

48 Vergleiche

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an die Studentenbewegung und die Neue Linke suchten. In diesem Sinne begriffen und bewarben die Frankfurter Hefte die Politische Theologie als einen „natürlichen Verbündeten der Neuen Linken“52. Neben der KAPO gilt es dabei viele weitere konfessionell oder transkonfessionell ausgerichtete Akteursgruppen zu berücksichtigen – die Celler Konferenzen zum Beispiel oder den Freckenhorster Kreis, eine Vielzahl von nationalen und transnationalen Priestergruppen oder die katholischen Studentengemeinden53. Vielen dieser Akteursgruppen ging der Demokratisierungsprozess innerhalb wie außerhalb der beiden großen Kirchen nicht weit genug, sie kreisten weniger um konziliare Aufbrüche als um kontestative Umbrüche. Die Politisierung des Katholizismus drehte sich mithin nicht ausschließlich um das Ziel der Beteiligung und Mitbestimmung, die sogenannte „Autoritätsfrage“ zielte vielmehr ebenfalls auf die befürchteten Folgen beziehungsweise Spätfolgen der „Autorität“ per se. Mit Verweis auf die Neue Linke sprachen die Werkhefte daher von der KAPO als den „Antiautoritären in der Kirche“54. Vorrangig unterrichtet durch die „Frankfurter Schule“ richtete sich die Kritik gegenüber kirchlichen Hierarchieverhältnissen daher sehr häufig auf den vermeintlich „autoritären Charakter“ der Kleriker und Laien, die innerhalb dieser Hierarchieverhältnisse „strukturiert“ worden seien. Die innerhalb der öffent­ lichen Auseinandersetzung zumeist als „Sexualunterdrückung“ wahrgenommene „Pillen-Enzyklika“ wurde nicht nur für die KAPO zum Anstoß des Unmuts, insofern die „Sexualunterdrückung“ die „Grundlage für den auto­ritären Menschen“ bereite: Wer durch die „Unterdrückung von Sexualität […] zu einem autoritätsfürchtigen und lebensängstlichen Untertan strukturiert worden ist“, so eine entsprechende Diagnose im Kritischen Katholizismus, dem bekanntesten Sprachrohr der KAPO um 1968, „neigt dazu, sich von den Auto­ ritäten mehr diktieren zu lassen“55. Wenngleich derartige Befürchtungen oder besser Behauptungen sowohl innerhalb als auch außerhalb der Amtskirche nicht unwidersprochen blieben, durchlief die Sexualität zwischen Mitte der 1960er und Mitte der 70er Jahre demnach auch innerhalb des Katholizismus einen – von Dagmar Herzog unlängst für unterschiedliche Gesellschaftsbereiche herausgearbeiteten – Politisierungsprozess56. 52 Höflich,

Heilsverkündigung, 853.

53 Vergleiche insbesondere die wegweisenden Untersuchungen von Grossbölting, „Christsein“;

Schmidtmann, Studierende. 54 Konrads, Autoritäten, 15. Siehe auch Anonymus, Splittern und spalten. Zur „Autoritätsfrage“ in den fünfziger Jahren siehe bereits Rahden, Vati. 55 Wegener, Erziehungsregel, 7 f. Siehe auch Böckenförde/Wilhelmer, Sexualmoral, 135 und 145. 56 Vergleiche lediglich Herzog, Politisierung.

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Nicht allein die Forderung nach Beteiligung und Mitbestimmung, sondern auch der Protest gegen Faschismus und Rassismus prägte diesbezüglich zunehmend die Politisierung des Katholizismus um 1968. Insgesamt noch deutlicher als im Fall des Protestantismus wurde die Politisierung der Religion in diesem Fall in die zwischen Ende der 1950er und Mitte der 60er Jahre quantitativ und qualitativ stark intensivierte „Aufarbeitung“ des Nationalsozia­lismus verwoben. Angestoßen wurde diese „Aufarbeitung“ vor allem durch die seit 1963 sehr kontrovers geführte Debatte über das Verhältnis von Katholizismus und Nationalsozialismus in Rolf Hochhuths „Der Stellvertreter“, Heinrich Bölls „Ansichten eines Clowns“ und Carl Amerys „Kapitulation“ sowie die große Medienpräsenz des ersten Auschwitzprozesses in Frankfurt zwischen 1963 und 196557. An Vehemenz und Brisanz jedoch gewann der Protest gegen Faschismus und Rassismus vor allem in Hinsicht auf das sich um 1968 sowohl im Katholizismus als auch im Protestantismus nachdrücklich wandelnde Verhältnis zur „Dritten Welt“. Bereits das Zweite Vatikanische Konzil hatte der „Dritten Welt“ erkennbar größere Bedeutung zugesprochen – nicht nur im Rahmen der Liturgiekonstitution Sacrosanctum concilium, sondern auch im Zuge des Missionsdekrets Ad gentes58. Das Konzil „antwortete“ an dieser Stelle nicht zuletzt auf einen in den 1960er Jahren größtenteils abgeschlossenen Dekolonialisierungsprozess in Afrika und Asien. Es leitete wegweisende Veränderungen innerhalb der Katholischen Kirche ein – Veränderungen, welche die Evangelische Kirche im Rahmen der Vollversammlung des Weltkirchenrates in Delhi bereits 1961 voll­zogen hatte: In Delhi war die althergebrachte Unterscheidung und folgenschwere Gewichtung zwischen Kirchen und Missionskirchen auf Seiten des Protestantismus ausdrücklich verabschiedet worden59. Die öffentliche Auseinandersetzung um das Verhältnis zur „Dritten Welt“ radikalisierte und polarisierte sich jedoch in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre im Schatten des Vietnamkrieges und in Hinblick auf den zeitgleich fokussierten Antirassismus und Antifaschismus auf Seiten der Studentenbewegung – wobei die Begriffe Faschismus und Rassismus oftmals wechselseitig ineinander überführt wurden. Die „Wende zur Welt“, die innerhalb der Politischen Theologie propagiert und prozessiert wurde, zielte in diesem Sinne auch und vor allem auf eine Solidarisierung oder sogar Identifizierung mit der „Dritten Welt“ – nicht allein auf protestantischer, sondern auch auf katholischer Seite 57 Siehe nur Thamer, NS-Vergangenheit, 44 f; Wolfrum, Demokratie, 272 ff. Schon 1961 waren Ernst-Wolfgang Böckenfördes kritische Betrachtungen zum Katholizismus im Nationalsozialismus erschienen (Böckenförde, Katholizismus) 58 Pesch, Konzil, 303 ff; Wittstadt, Perspektiven, 91–95; Damberg, Entwicklungslinien, 178. 59 Vergleiche lediglich Spliesgart, Theologie, 189–209.

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sehr häufig unter Verweis auf die ebenso berühmten wie berüchtigten Versammlungen des Weltkirchenrates in Uppsala 1968 und in Genf 1966. Nicht nur mit Verweis auf die Neue Linke, auch in Hinsicht auf die Politische Theologie lässt sich an dieser Stelle – im Anschluss an Ingo Juchler – von der Konstruktion und Installation eines „Dritte-Welt-Standpunkts“ sprechen60. Erst vor diesem Hintergrund entfalteten die semantischen Grenzverschiebungen zwischen „Kirche“ und „Welt“ oder „Religion“ und „Politik“ ihre bemerkenswerte Tragweite und interne Dynamik. Zu einer kontrovers diskutierten Referenzfigur in der öffentlichen Auseinandersetzung um die Politisierung des Katholizismus wurde dabei allen voran der katholische Pfarrer Camilo Torres, der sich 1965 einer „Befreiungsbewegung“ in Kolumbien angeschlossen hatte und bereits wenig später im „Be­ freiungskampf“ ums Leben gekommen war. Er habe wie kaum ein zweiter, so Walter Dirks in den Frankfurter Heften, nicht nur den Christen in Kolumbien, sondern auch „den Christen in Europa die Frage der politischen Methode des Befreiungskampfes gestellt“61. Konrad Farner – einer der „Bahnbrecher des christlich-marxistischen Dialogs“62 – verglich dementsprechend wie selbstverständlich den „christlichen Guerillero Camilo Torres“ mit dem „marxistischen Guerillero Che Guevara“63. Dieser „Christen-Che“ habe „auf neue Weise nach dem Recht und der Grenze der Gewalt“ gefragt64. Im Kontext dieser Solidarisierung beziehungsweise Identifizierung mit der „Dritten Welt“ gerieten zwischen Ende der 1960er und Mitte der 70er Jahre auch die beiden großen Kirchen – rückblickend geradezu zielstrebig – in den diskursiven Hexenkessel der vor dem Hintergrund der Studentenbewegung sehr rasch an gesellschaftlicher Aufmerksamkeit gewinnenden „Gewaltfrage“65. Mehr oder weniger häufig und offen war dabei innerhalb der Politischen Theologie nicht nur von einer „Revolution“ der bestehenden Verhältnisse, sondern ausdrücklich von „revolutionärer Gewalt“ die Rede – von „revolutionärer Gewalt aus christlicher Verantwortung“, so Giulio Girardi, das häufig diskutierte enfant terrible des christlich-marxistischen Dialogs66. Wenngleich deutlich zurückhaltender erklärte diesbezüglich auch Johann Baptist Metz, neben ­Jürgen Moltmann ohne Zweifel der führende Kopf der Politischen Theologie in der Bundesrepublik Deutschland, dass die Liebe beziehungsweise Nächstenliebe 60 Juchler,

Studentenbewegungen, 81–93. King, 688. Siehe auch Hochman/Sonntag, Christentum, 129. 62 Anonymus, Farner, 12. 63 Farner, Theologie, 59 64 Anonymus, Sechs Päpste, 96; Dirks, King, 688. 65 Vergleiche insbesondere Lepp, Helmut Gollwitzer. Siehe auch Eitler, „Gott ist tot“, 293–309. 66 Girardi, Theologe, 650 und 653; ders., Philosophie, 462. Siehe auch ders., Gewalt.

61 Dirks,

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unter bestimmten Umständen „so etwas wie revolutionäre Gewalt gebieten [könne]. Wo ein gesellschaftlicher Status quo ebenso viel Ungerechtigkeit enthält, wie eventuell entstehen mag, wenn er revolutionär abgeschafft wird, da kann die Revolution für die Gerechtigkeit im Namen der Liebe nicht unerlaubt sein“.67 Bereits 1968 stellten die Werkhefte dementsprechend fest: „Das Thema der revolutionären Gewalt ist enttabuisiert in der theologischen beziehungsweise kirchlichen Diskussion“.68 Zu Recht konstatierte Jürgen Moltmann, der vielleicht einflussreichste evangelische Theologe der 1960er Jahre, in diesem Sinne ein „neues Datum“ im Umgang der beiden großen Kirchen mit der „Gewaltfrage“ und dem Protest gegen Rassismus und Faschismus – wenngleich der „Gewaltfrage“ im Fall des Katholizismus insgesamt weniger Bedeutung zukam als auf Seiten des Protestantismus69. Nicht ausschließlich, aber spätestens mit Verweis auf die „Befreiungsbewegung“ in der „Dritten Welt“ zeigte sich, welche Konsequenzen und Ambivalenzen das „neue Theorie-Praxis-Verhältnis“ zeitigen konnte und wer vor diesen – denkbaren oder tatsächlichen  – Konsequenzen und Ambivalenzen letztlich zurückschreckte. Differenzen und Konflikte lassen sich an dieser Stelle sowohl zwischen der Amtskirche und der „kritischen Öffentlichkeit innerhalb der Kirche“ als auch zwischen konkurrierenden Fraktionen innerhalb der Politischen Theologie ausmachen. Johann Baptist Metz beispielsweise grenzte die Politische Theologie streng von „jeder Form einer direkt politisierenden Theologie“ ab. Die semantischen Grenzverschiebungen zwischen „Politik“ und „Religion“ dürften nicht unvermittelt in „Praxis“ umschlagen70. Karl Rahner unterschied vor genau diesem Hintergrund zwischen „wirklicher Praxis“ und „wildem Revoluzzertum“ und schrieb sich mit dieser Unterscheidung nahezu bruchlos in die um 1968 ebenso verbreitete wie grundlegende Kritik an der Außerparlamentarischen Opposition ein71. Die „Meisterdenker“ der Politischen Theologie auf Seiten des Katholizismus weisen in diesem Zusammenhang ein insgesamt stärker gebrochenes Verhältnis zur „Praxis“ auf als allen voran Helmut Goll­ witzer oder Dorothee Sölle im Fall des Protestantismus. Gerade insofern sich die konkurrierenden Fraktionen innerhalb der Poli­ tischen Theologie darin einig waren, dass die „Gewaltfrage“, so Walter Dirks, in erster Linie eine „Methodenfrage“ darstelle und die „Verhältnismäßigkeit der Mittel“ stets zu wahren sei, wurde klärungsbedürftig, unter welchen Um 67 Metz, Theologie,

111 f. Siehe auch Rahner, Humanismus, 146. Revolution, 222. 69 Moltmann, Rassismus, 253. 70 Metz, „Politische Theologie“, 268 und 280 f; Wiedenhofer, Theologie, 40 ff. 71 Rahner, Theologie, 76 f.

68 Hirschauer,

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ständen „revolutionäre Gewalt“ beziehungsweise „Gegengewalt“ diese „Verhältnismäßigkeit der Mittel“ verletze72. Als gerechtfertigt oder besser „nicht unerlaubt“ erachtet wurde „Gegengewalt“ dabei in der Regel allenfalls im Kontext der „Befreiungsbewegung“ in der „Dritten Welt“. Ausnahmen bestätigten zwar die Regel, machen aber deutlich, dass die Politische Theologie in der „Gewaltfrage“ – auch auf Seiten des Katholizismus – gespalten war. Mitte der 1970er Jahre zog Giulio Girardi in einem Beitrag im Neuen Forum folgerichtig „einen klaren Trennungsstrich zwischen […] einer Theologie, welche die revolutionäre Bewegung noch von außen betrachtet und über dem Schlachtgetümmel zu stehen meint, und einer Theologie, die an dieser Bewegung teilnimmt“ – wie im Fall der Theologie der Befreiung73. Ganz im Sinne der Neuen Linken drängten Akteursgruppen wie die KAPO an dieser Stelle nicht allein auf Diskussion und Information, sondern auch auf Kooperation und Aktion74. Es war sehr häufig die Radikalität und Provokativität dieser Akteursgruppen, welche die öffent­ liche Auseinandersetzung um die Politisierung des Katholizismus um 1968 auszeichnete und vorantrieb; nicht deren bescheidene Mitgliederzahlen, sondern deren enormes Konfliktpotential forderte die Amtskirche und deren „Autorität“ unaufhörlich heraus. Erst gegen Mitte der 1970er Jahre – nicht, wie häufig vermutet, gegen Ende der 60er Jahre – erfuhr die Politisierung des Katholizismus empfindliche Rückschläge und einen regelrechten roll back innerhalb der Amtskirche: Die Politische Theologie zerbröselte zusehends, der „Dialog zwischen Christentum und Marxismus“ brach ab, die KAPO im Besonderen hatte sich bereits ebenso wieder aufgelöst wie die APO im Allgemeinen. Die flächendeckend beteuerte Aufbruchstimmung nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil war inzwischen deutlich abgeklungen und Umbruchsbestrebungen wurden wieder weitgehend zurückgenommen – auch wenn die „Kirche von unten“ bis heute weiter besteht. Die Synode der Katholischen Kirche zwischen 1972 und 1975 in Würzburg, die dem Konzil – gemünzt auf die Bundesrepublik Deutschland – weiter an Gestalt und Gewicht verleihen sollte, verpuffte gemessen an den Ansprüchen und Erwartungen geradezu folgerichtig75. „Würzburg“ markiert so gesehen das Ende einer Politisierungsphase zwischen Mitte der 1960er und Mitte der 70er Jahre, die in „Essen“ zwar nicht ihren Ursprung, wohl aber ein Höchstmaß an gesellschaftlicher Aufmerksamkeit erfahren hatte. 72 Dirks,

King, 684; Hirschauer, Revolution, 223. Friede, 319–322; ders., Marx, 23; ders., Theologe, 650 und 653. 74 Verfehlt ist es allerdings, der Neuen Linken – pauschal und pejorativ – einen Willen zur Gewalt zu unterstellen. 75 Bertsch, Synode. Siehe auch Plate, Konzil. 73 Girardi,

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Der vorliegende Beitrag nimmt jenen roll back allerdings ebenso wenig in den Blick wie die Gegenbewegungen im Katholizismus sowohl innerhalb als auch außerhalb der Amtskirche. Die Amtskirche stand nicht im Mittelpunkt meines Interesses, da die Politisierung des Katholizismus ihre historische Signifikanz um 1968 weniger im Rahmen von Ansprachen oder Denkschriften von Bischöfen und Kardinälen gewann, sondern in der Gestalt der – in den 1970er Jahren allerdings zunehmend von internen Konflikten gezeichneten  – Politischen Theologie und der großen Beachtung, die ihr in der Bundesrepublik Deutschland knapp zehn Jahre lang zukam. Mehr noch als im vermeintlichen Zentrum, angestoßen durch das Zweite Vatikanische Konzil, erfuhr die Politisierung des Katholizismus ihre soziale Relevanz von den sogenannten Rändern her.

Fazit Zwar war die Politische Theologie im weiteren oder die KAPO im engeren Sinne in konfessions- oder organisationshistorischer Perspektive keineswegs repräsentativ für den Katholizismus in der Bundesrepublik Deutschland, doch lässt sich die soziale Relevanz der rekonstruierten Politisierungsprozesse in diskurshistorischer Perspektive  – auf der Ebene der gesellschaftlichen Aufmerksamkeit  – mannigfach nachweisen. Breitenwirksam zu beobachten war diese Politisierung des Katholizismus, insofern sie gerade nicht repräsentativ war für den Katholizismus in seiner Pluralität beziehungsweise Heterogenität: Diese Politisierungsprozesse stießen um 1968 durchaus und wiederholt auf Widerspruch oder Unverständnis  – sie tangierten und provozierten diesbezüglich allerdings ebenfalls die religiöse Kommunikation der Gegner und Zweifler. Die Politische Theologie, darauf kommt es hier an, besaß insbesondere zwischen Ende der 1960er und Anfang der 70er Jahre eindeutig die Deutungshoheit innerhalb der öffentlichen Auseinandersetzung um die Gestalt und Aufgabe der „Kirche in der Welt von heute“ zwischen konziliaren Aufbrüchen und kon­testativen Umbrüchen. Diese Politisierungsprozesse betrafen nicht allein die „kritische Öffentlichkeit in der Kirche“ – auch die Amtskirche konnte sich ihnen in diesem Zeitraum und Zusammenhang keineswegs achtlos verschließen. Der vorliegende Beitrag konnte lediglich versuchen, einen groben Überblick über die Politisierung des Katholizismus zu vermitteln und vereinzelte Schwerpunkte auszumachen. Ich habe mich dabei in diskurshistorischer Perspektive auf die semantischen Grenzverschiebungen zwischen „Kirche“ und „Welt“ beziehungsweise „Religion“ und „Politik“ konzentriert: Auch inner-

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halb der religiösen Kommunikation gilt es in diesem Sinne um 1968 eine „sprachgeschichtliche Zäsur“ zu verzeichnen76. Konfessions- oder organisa­ tionshistorische Fragestellungen wurden hingegen weitgehend vernachlässigt. Auf diese Weise sollte nicht zuletzt Anschluss an die inzwischen deutlich vorangeschrittene Zeitgeschichtsschreibung zu den 1960er und 70er Jahren gesucht werden77. Auch in diesem Sinne geriet die Politisierung des Katholizismus vorrangig als shared history in den Blick. Dementsprechend traten sehr viel mehr Ähnlichkeiten und Überschneidungen als Unterschiede oder Verschiebungen zwischen protestantischen und katholischen Reformprojekten in den Fokus. Die Frage, unter welchen Umständen die Politisierung des Katholizismus Mitte der 1970er Jahre wenn nicht ein jähes Ende, so doch jedenfalls einen deutlichen Einschnitt erfuhr, erscheint mir gegenwärtig noch weitgehend offen. Den roll back innerhalb der Amtskirche kurzerhand oder vorrangig auf die Radikalität und Provokativität bestimmter Akteursgruppen zurückzuführen und diesbezüglich die konziliaren Aufbrüche zwar zu begrüßen, die kontestativen Umbrüche aber zu verurteilen, greift zu kurz – nicht nur, aber auch, da man weder damals noch heute stets eindeutig zwischen Aufbrüchen und Umbrüchen unterscheiden konnte und kann. Auch wenn die Folgen dieses roll back und klerikale Sanktionen keineswegs unterschätzt werden sollten, erscheint es mir erheblich erklärungsbedürftiger, unter welchen gesellschaftlichen Bedingungen die Politische Theologie Mitte der 1970er Jahre nachdrücklich an öffentlicher Aufmerksamkeit verlor. Der vorliegende Beitrag nimmt auch in diesem Punkt eine diskurshistorische Perspektive ein: Wenn sich der Gewinn an öffentlicher Aufmerksamkeit, so die Behauptung, nur vor dem Hintergrund ganz bestimmter und erheblich umfangreicherer Politisierungsprozesse um 1968 angemessen begreifen lässt, dann, so die Annahme, lässt sich auch deren Verlust erst in diesem Zusammenhang adäquat rekonstruieren. Eingehender zu untersuchen gilt es demnach, in welcher Hinsicht und in welchem Umfang jene Politisierungsprozesse Mitte der 1970er Jahre auch außerhalb des Katholizismus ersichtlich an sozialer Relevanz einbüßten und ob beziehungsweise wie andere Politisierungsprozesse an deren Stelle traten.

76 Wengeler, 77 Vergleiche

„1968“. teilweise Hummel, Katholizismusforschung.

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Die Politisierung des Protestantismus – ein internationales Phänomen?

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Katharina Kunter

Zur Einführung

Den internationalen Charakter von 1968 haben ehemalige Aktivisten wie beispielsweise der Sprecher der Pariser Mai-Revolution, Daniel Cohn-Bendit, schon früh in ihren eigenen Rückblicken hervorgehoben: „Paris, Berlin, Frankfurt, New York, Berkeley, Rom, Prag, Rio, Mexico City, Warschau – das waren die Stätten einer Revolte, die um den gesamten Erdball ging, und Herzen und Träume einer ganzen Generation eroberte. Das Jahr 1968 war, im wahrsten Sinne des Wortes, internationalistisch.“1 Die neueren Veröffentlichungen in der Geschichtswissenschaft sprechen zwar nicht (mehr) vom „internationalistischen“ Charakter der 1968er Bewegung. Es herrscht aber Konsens, dass sowohl das Jahr 1968 als Ausdruck von Jugendrevolte und globalem Protest wie auch als Chiffre für die verschiedenen politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Transformationsprozesse der 1960er und 70er Jahre als internationale und transnationale Entwicklung zu deuten ist, der diesen Jahren seine besondere historische Prägung verliehen hat2. In der Forschung wird jedoch gleichzeitig darauf verwiesen, dass die Dynamik der Veränderungsprozesse trotz zahlreicher globaler Erscheinungsformen nur vor dem Hintergrund lokaler bzw. nationaler Faktoren nachvollziehbar wird3. Inwiefern dabei die zu dieser Zeit stattgefundene Politisierung verschiedener bundesdeutscher Milieus überwiegend ein nationales – oder doch internationales – Phänomen darstellt, ist bislang noch nicht eindeutig geklärt. Zweifellos spielt aber in der Bundesrepublik die NS-Vergangenheit und die gesellschaftliche Auseinandersetzung mit ihr ebenso wie das Defizit an politischer Partizipation und öffentlicher Diskussionskultur in der Nachkriegszeit eine besondere Rolle für die Politisierung. Ein ähnlich komplexes Bild ergibt sich, wenn man vor diesem Hintergrund auf die Politisierungstendenzen des westdeutschen Protestantismus der 1960er und 70er Jahre blickt. Auf den ersten Blick scheinen zahlreiche Themen und Diskurse nicht nur in einer sehr binnenkirchlichen, sondern auch spezifisch

1 Cohn-Bendit,

Revolution, 15. zum Beispiel Frei, 1968; Fink u. a. (Hg.), 1968; Gilcher-Holtey: 68er-Bewegung; Horn/Kenney, Transitional Moments. 3 Klimke: 1968.

2 Vgl.

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Katharina Kunter

bundesdeutschen Debatte verwurzelt zu sein. Auf den zweiten Blick jedoch sind der christlich-marxistische Dialog, die Befreiungstheologie oder die Feministische Theologie fest eingebettet in internationale Zusammenhänge. Lässt sich daraus auch auf eine vergleichbare internationale Politisierung des Protestantismus in Nordamerika und Europa schließen? Und wenn ja: Wie lassen sich solche Prozesse international vergleichen, auf kirchlichen Ebenen von Synoden, Gemeinden oder Theologien, aber auch in ihrem Verhältnis zu Politik, Medien und Gesellschaft? Gibt es unmittelbare historische transnationale Anknüpfungspunkte und Wechselbeziehungen? Haben sie langfristig das Verhältnis zwischen Religion und Politik in den unterschiedlichen Ländern und Kirchen verändert oder zu signifikanten politisch-kulturellen Transformationsprozessen geführt? Diesem Fragekomplex wollte die Tagung in einer eigenen Sektion exemplarisch nachgehen. Dazu wurden drei Länder mit unterschiedlichen, historisch gewachsenen konfessionellen Kulturen und staatsrechtlichen Strukturen ausgewählt: Großbritannien, Skandinavien und, um auch einen Blick in das Land des Prager Frühlings von 1968 zu werfen, die Tschechoslowakei. Zugleich er­ gaben sich drei unterschiedliche fachliche und methodische Zugänge. Sie beleuchteten das Thema aus historischer, kirchengeschichtlicher und theologiegeschichtlicher Perspektive, wobei letzterer leider nicht in Hannover persönlich vorgetragen und diskutiert werden konnte. Dabei machten sie deutlich, dass eine generelle Rede von einer „Politisierung des Protestantismus“ in den 1960er und 70er Jahren aus internationaler Sicht historisch problematisch ist, da bereits die strukturellen Staat-Kirche Beziehungen sehr stark vonein­ander ab­ weichen. Keith Robbins, Historiker an der University of Wales, Lampeter betont in seinem Beitrag, dass die Politisierung des Protestantismus ein internationales Phänomen war; zumindest des Westens, der in gewisser Weise bereits eine globale Gesellschaft darstellte. Wegen der Pluralität der britischen Kirchen, die sich nicht nur über England, Schottland und Wales erstrecken, sondern auch Anglikaner, Presbyterianer und freie Kirchen umfassen, sind generelle Aussagen über die Politisierung „des britischen Protestantismus“ aber schwierig; zumal Politisierung kein neues Phänomen sei. Dabei stellte sich jedoch die seit Mitte der 1950er Jahre einsetzende Dekolonisierung als eine besondere Herausforderung für die britischen Kirchen dar. Sehr viel homogener als die britischen Kirchen zeigen sich die lutherischen Volkskirchen in den nordischen Ländern, deren Weg in den 1960er und 70er Jahren der dänische Kirchenhistoriker Jens-Holger Schjørring von der Universität Aarhus schildert. Hier wurde vieles, was zur gleichen Zeit in der Bundes­ republik erst öffentlich eingefordert wurde, bereits in der Zwischenkriegszeit,

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Zur Einführung

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im Kontext einer relativ stabilen Demokratie und eines funktionierenden Wohlfahrtsstaates politisch und gesellschaftlich verankert. Die lutherischen Kirchen passten sich dem an, folgerichtig brachte 1968 auch nicht den gleichen Politisierungsschub wie in der Bundesrepublik. Wenn, wie Robbins und Schjørring in ihren Artikeln zeigen, Politisierung der Kirchen bedeutet, die politische Willensbildung in der Öffentlichkeit zu beeinflussen und so bestimmten Optionen zu mehr gesellschaftlicher und politischer Akzeptanz zu verhelfen, erscheint der Ansatz einer Theologie vom Ende des Konstantinischen Zeitalters, wie sie von dem tschechischen Theologen ­Josef L. Hromádka bis 1968, aber auch von zahlreichen anderen tschechischen Theologen vertreten wurde, zunächst als wenig politisch und lediglich für eine kleine intellektuelle Elite bestimmt. Peter Morée, Kirchenhistoriker an der Prager Karlsuniversität, arbeitet jedoch heraus, dass auch eine Theologie, die unter Ausschluss einer demokratischen Öffentlichkeit entstand, zutiefst politisiert sein konnte. Dass diese Geschichte des anderen 1968 ebenfalls in den Kontext der Politisierung des Protestantismus gehört, liegt auf der Hand – nicht nur, weil profilierte deutsche Protestanten seit den 1950er Jahren zu denjenigen gehörten, die besonders aufmerksam die tschechische Theologie und Kirche begleiteten und zahlreiche Elemente des Prager christlich-marxistischen Dialogs in ihr eigenes theologisch-politisches Programm aufnahmen.

Literaturverzeichnis Cohn-Bendit, Daniel: Wir haben sie so geliebt, die Revolution. Frankfurt a. M. 1987. Fink, Carole u. a. (Hg.): 1968: A World Transformed. New York 1998. Frei, Norbert: 1968. Jugendrevolte und globaler Protest. München 2008. Gilcher-Holtey, Ingrid: Die 68er-Bewegung: Deutschland, Westeuropa, USA. München 2001. Horn, Gerd-Rainer/Kenney, Padraic: Transitional Moments of Change. Europe 1945, 1968, 1989. Oxford 2004. Klimke, Martin: 1968 als transnationales Ereignis. In: Aus Politik und Zeitgeschehen 14–15/2008, 22–27.

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Keith Robbins

Politicization Tendencies in British Protestantism in the 1960s and 1970s

The ‘politicization of Protestantism’, whatever that expression is precisely taken to mean, was an international phenomenon. The trends and tendencies which have been discussed in detail in this volume in relation to German ­Protestantism in the Federal Republic were all present, to some degree, in ­British ­Protestantism. The ideas which stimulated thoughts of social transformation, and which would require political action to achieve it, transcended state frontiers. What almost all historians of ‘the long 1960s’ writing in ­Britain have emphasized is that the cultural, social, political and religious crisis of these years was one which engulfed ‘the Western world’. ‘Politicization’, therefore, was both an expression of and a response to that crisis. It could, however, take two contrary forms. It could either mean a conscious drive in a radical direction or, quite the contrary, the mobilization of that ‘silent majority’ in defence of the existing status quo (and the understanding of democracy which it embodied). What historians find difficult, however, is to decide the weighting to be attached to ‘culture’, ‘politics’ and ‘religion’ in their accounts of the turbulent upheavals which occurred in many places during these decades. One very recent author, for example, sees his task as being, in studying rebellion in Western Europe and North America in the two decades after 1956, the rescue of the experiments in ‘participatory democracy’, and the corresponding social struggles, from the historical distortion and condescension which he finds in much recent historiography.1 He contests the notion that a cultural, not a political and most definitely not a socio-economic revolution, headed the agenda of the time. He seeks to rescue the challenges to the late capitalist status quo from the interpretation that they were youthful follies devoid of major consequences or larger meanings. The most familiar account of this period, by Arthur Marwick, is explicitly a piece of comparative history (Britain, France, Italy and the USA). It appears that he would have included Germany in his survey were it not for the fact that his knowledge of German, he wrote, extended little beyond reading menus and ordering food and drink. He does, however, give little serious atten

1 Horne,

Spirit, 1–4.

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Politicization Tendencies in British Protestantism

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tion to religion in the crisis. He simply concludes in a few pages of a large book that “throughout the Sixties the Catholic Church tended to operate as a centre of opposition to all the great movements aiming towards greater freedom for ordinary human beings”. Protestantism as such does not feature in his account. Britain, he suggests, “with the lowest church attendance figures in ­Europe, was notably unaffected by Catholic Puritanism, bible belt evangelicalism or, for that matter, the bourgeois solidity of German Christian Democracy”. He proceeds to draw the conclusion that Britain was in many respects “the country best adapted to responding tolerantly, and even to absorbing the changes and challenges”2. A prominent historian of religion in contemporary Britain, Callum Brown, suggests that by the late 1950s British young people were starting to kick back against what he calls the hypocrisies and regimentation of Christian culture. A peaceful secular revolt had begun. Brown pictures much of the “organised Christian apparatus of the country” by the mid-1970s as ranting uncontrollably at the decline of discipline and Christianity3. His analysis led him to conclude that late-twentieth-century Britain had become the world’s paradigm of a new secular norm. In another book he has written about the “Death of Christian Britain”. It is not the purpose of this article to assess the extent to which such characterizations do indeed tell the full story. However, even at the time, some ­observers had little doubt that the country was in the process of moving away from the acceptance of a broad ‘Christian Civilization’ which had been ­endorsed during the war and survived during the post-war decade.4 It was in such a context that ‘politicization’ was perceived by some as at the very least a ‘survival strategy’ in the prevailing Zeitgeist – a view perceived by others to be little short of a simpleminded capitulation to its wilder enthusiasms. One might indeed almost say that its ‘internationalism’ was a defining characteristic of this upheaval, not only in the sense that broadly similar patterns can be identified in all these countries, but because prominent activists frequently explicitly aligned themselves with their counterparts elsewhere. There was a kind of identification by media as images flashed across television screens from country to country. Hugh McLeod, in another recent account, regards this common experience of crisis as marking a rupture in the religious history of ‘the West’ – taking this term to embrace the United States, Canada, Australia, New Zealand and at least Western Europe – as profound as that brought about



2 Marwick,

Sixties, 35. Religion, 249; Brown, Death. 4 Robbins, History, 213; Coupland, Britannia. 3 Brown,

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by the Reformation5. He and many other historians think it appropriate to consider ‘the West’, rather than any particular country, as the framework for an enquiry into this period of upheaval. From this perspective, a nation-­centred or state-centred historiography seems misconceived. For such writers, only if ‘the politicization of Protestantism’ is examined as an aspect or manifestation of a wider social, political and cultural upheaval which is essentially international can historians properly consider developments in one country, whether in the Federal Republic or the United Kingdom. Yet, all that having been said, and much more has been and could be said, the fact remains that while ‘the West’ was some kind of global society in the 1960s and 1970s, the world was still a world of states. The ‘politicization of Protestantism’, therefore, cannot be regarded as something which occurred, in country after country, according to a simple formula, regardless of national cultural, political and ecclesiastical heritages. To take one single year, 1968, a person living in London, Stockholm or Prague, not to mention Paris or Berlin, would have been having very different experiences. It scarcely needs to be emphasized that, in the Federal Republic, dealing with the recent German past, or not dealing with it, gave German ecclesiastical/ political life a particular edge. It was the occasion when the senior generation had again to revisit old issues and cope with the challenges of their children. What had or had not been done ‘politically’ in the Nationalist Socialist era was always in the background, and not only in the background. In addition, the division of Germany raised very specific issues for the structure of a ‘German Protestantism’ which now existed within two states. This was not something which British Protestantism had to deal with, though it should be pointed out that Irish Protestantism (Anglican, Presbyterian, Methodist) maintained in pan-Irish ecclesiastical structures though it too existed within two states, the Irish Republic and the United Kingdom. These two particular aspects of the situation in which German Protestants found themselves gave ‘politicization’ a specific context which makes it difficult, if not impossible, to argue that trends and tendencies within the Protestantisms of both countries were precisely ‘the same’, whatever the broad international picture identified at the beginning of this article. That is not to say that the United Kingdom did not have pasts to deal with, or fail to deal with, but they raised different kinds of issue. One of them, throughout the period under consideration, was the steady dismantling of  a British overseas empire which had been so much more part of its ‘national story’ than

5 McLeod,

Crisis, 1.

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that of any other European state6. The complex historical relationship between imperial expansion and Christian mission cannot be explored here. What was increasingly apparent, after the fiasco of the 1956 Suez campaign, was that Britain’s imperial era was drawing to a close. The Archbishop of Canterbury, speaking in the House of Lords, had attacked the expedition in strong terms, though not all church opinion supported him. The 1960s and 1970s were therefore the decades of accelerating decolonization – and also ones in which, in 1968, for the first time a narrow majority of the bishops worldwide attending the decennial Lambeth Anglican Conference were non-white7. It is not surprising that it was in respect of African issues that Church of England opinion became most ‘political’. The apartheid policy pursued by the South ­African government was strongly attacked. There were Englishmen, critical of the regime, in prominent positions in the South African church. Their stance received much attention back home, but despite the support offered in various ways, there was hesitation about taking too explicit a stance (for example, in relation to the level and nature of ‘sanctions’ which a British government should be urged to ­apply. Comparable questions applied when Rhodesia (now ­Zimbabwe) declared its independence unilaterally. The United Kingdom was a ‘world power’ – a permanent member of the ­Security Council of the United Nations, even if this membership reflected past rather than present power. As had been the case with the League of Nations, the Churches endorsed the idea of such a world body. The fact that the United Kingdom did have this status did not occasion disapproval. It was supposed that its government would exercise its role responsibly, whatever that precisely meant. The United Kingdom, however, did possess nuclear weapons. What should the British churches say or do? The British Council of Churches followed up earlier reports with “Christians and Atomic War” (1959). Its ­authors concluded that Christian pacifism could be defended as an act of individual obedience, but it was unrealistic to suppose that it would or could form the basis of a policy which a British government would or would adopt. Nuclear war was an appalling prospect, but all modern war was appalling. So was there a ‘nuclear deterrent’? Christians who did not think so joined the Campaign for Nuclear Disarmament when it was formed in 1958. One of its most prominent figures was Canon John Collins, now of St. Paul’s cathedral in London. Through ‘Christian Action’, he had been much involved in political campaigning on a variety of issues, most particularly in relation to South Africa8. Chris

6 Robbins,

Eclipse, 191–196. Anglican Church. 8 Collins, Faith. 7 Jacob,

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tian C. N. D. was an important element in the Campaign, but by no means all in the churches believed that the United Kingdom should act unilaterally, or that if it did, that would persuade the United States and the Soviet Union to give up nuclear weapons9. The United Kingdom had, or believed itself to have, a ‘special relationship’ with the United States and could still see itself as living within the world of the ‘English-speaking Peoples’. Membership of the North Atlantic Treaty Organization did not arouse significant opposition in the churches, though there remained, within all the churches, individuals who proclaimed their absolute pacifism and refusal to fight in any conceivable conflict. In this period the United Kingdom abolished compulsory military service and came to possess volunteer professional armed forces. So, ranging from general understandings of political behaviour to the particular content of politics, domestic or international, at any given time, there was an unmistakeable British ‘flavour’ or set of assumptions, spoken or un­ spoken, about how Protestants should conduct themselves in their country’s public arena. It should not be assumed, however, that the concern with ‘peace issues’ alluded to above represented a new politicization. They had featured in the 1930s, and at that time, too, with comparable fissures10. It is important to note, too, that the 1960s/70s do not constitute one single period in British ­political history. The Labour victory of 1964 brought to an end thirteen years of Conservative government, but the Conservatives returned in 1970. Labour came back in 1974. A new period (not considered here) started with the election of Margaret Thatcher in 1979 and the beginning of a long period of Conservative government. The ‘foreign’ issues which dominated were the Vietnam war, the Cold War in Europe and British possible membership of the European Economic Community. The domestic agenda centred around ‘the decline of British industry’, inflation and the role of trade unions. Against such a briefly sketched background, how are we to interpret the possible ‘politicization’ of ‘British Protestantism’? Politicization may mean the explicit mobilization of ‘Protestantism’ to campaign on certain issues as an aspect of national decision-making. It may also mean, however, the transformation of Protestantism itself, by applying, as it were, the ‘Protestant principle’ to the point even of self-destruction. At this point, however, it is necessary to stress the extreme difficulty of talking about ‘British Protestantism’ as if it were a homogeneous body. There was (and is) no Protestant Church and no British Church. This fact in itself, as in the past, makes any attempt to compare the situations in

9 Taylor/Pritchard,

10 Wilkinson,

Protest Makers. Dissent or Conform?

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the United Kingdom and Germany hazardous11. The ‘Protestant’ church structures of Britain were territorially specific – different in England, in Scotland and in Wales (not to mention Northern Ireland as part of the United Kingdom). Anglicans, Presbyterians and the Free Churches (Baptists, Congregationalists, Methodists) would all put a particular gloss upon ‘Protestantism’. Many Anglicans, of course, would have been uncomfortable with the notion that they were Protestants. This plurality makes it difficult for the historian to speak confidently about trends and tendencies in something called ‘British Protestantism’. It would be a mistake to suppose that Methodists in Northern Ireland, Anglicans in Wales, Presbyterians in Scotland or Baptists in England – to pick out some churches at random from each ‘territory’– were all moving in the same direction at the same time. It is true that these churches were members of the British Council of Churches, formed in 1942, and, since the Roman Catholic Church had no connection with it, the views it expressed from time to time on issues of the moment could be taken to represent ‘the voice of British Protestantism’. Even so, there were grave limitations on the extent to which its officers could speak with authority in a representative manner. The British Council was not to be a ‘super-Church’ and the extent to which its officers ‘acted politically’ was a contentious aspect12. Further, the formation of a British Council did not preclude the subsequent emergence of more ‘nationally’ based ecumenical bodies within the United Kingdom. This happened, for example, in Wales, where a Council of Churches was formed in May 1956. Such a development gave additional emphasis to the notion that ‘Welsh Protestantism’ could not be subsumed simply within ‘British Protestantism’. Prominent figures in Welsh religious life saw the struggle for a Welsh parliament as a liberation struggle. Writing in 1973, the then (Anglican) Archbishop of Wales argued that care for the heritage of Wales meant that “we” have to concern ourselves with political questions. Wales had to have whatever degree of autonomy was needed to “control vital decisions affecting the life of the nation”. Another Welsh theologian, however, was unhappy with the way in which churches had in the past so uncritically baptised national movements13. There were, therefore, tensions at various levels raised by the Britishness of British Protestantism. On the one hand, there was a current of opinion, both in Wales and Scotland, which wanted to place the churches firmly in the ‘devolu­ tion’ if not the ‘independence’ camp. The Church of Scotland possessed  a 11 Robbins,

England. Years. 13 Davies, History, 84–85.

12 Payne, Thirty

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‘Church and Nation Committee’ which had a remit to investigate and report to the General Assembly on matters of public interest. It could not be other than ‘political’ in the general sense of that term. In the absence of a Scottish Parliament (which had been dissolved as a result of the union with England in 1707) it – and the General Assembly itself – could present itself, perhaps with no ­little exaggeration, as ‘the voice of the nation’. It was the case that the Church of Scotland did connect distinctively with political issues in Central Africa during British decolonisation and had no hesitation in taking public stances. The future leader of Malawi, Hastings Banda, had spent many years in Scotland and had been an active Presbyterian in Edinburgh. When he had been arrested in 1959 the then Moderator of the General Assembly proclaimed that it was the duty of the Church of Scotland “to speak for the African”.14 There was a disposition, in some quarters, to see the political aspirations as they emerged in Scotland and Wales, as part of a global liberation struggle. It was difficult for English church leaders to perceive matters in the same light. This mood culminated in a referendum held in Scotland and Wales in 1979 on proposals for devolution put forward by the United Kingdom government. The majority obtained in Scotland was not sufficient to pass the hurdle which the legislation had laid down for implementation. In Wales, the proposals were heavily defeated. This outcome appeared to bring a particular political phase to an end. In so far as prominent church leaders had supported proposed changes they could be criticized not only for having been too ‘political’ but for mis­ judging – at least in Wales – the mood of the ‘nation’ on whose behalf they had been speaking. Decades later, however, the position looks rather different. It is misleading to talk about the politicization of British Protestantism in the 1960s and 1970s as if this represented a totally new orientation. It could not be said that before this period the Protestant churches, taken in the round, were ‘apolitical’ or ‘quietist’. They were all, in some sense of the word, ‘political’. Their relations with each other and their relationship to the state reflected past political struggles which still left a legacy in the present of the 1960s. So, whatever it was that happened in these decades, it could not mean that the churches changed from being ‘non-political’ to becoming ‘politicized’. ‘Politics’ was very much present in the complexity of ‘Protestantism’ as it existed within the United Kingdom state. In England, the Church of England remained the ‘established church’ of which the Crown was ‘the Supreme Governor’15. Given the dominance of England, there could be a sense in which the Archbishop of Canterbury was ‘the voice of British Protestantism’ and was taken in the ­media 14 Robbins, 15 Robbins,

England, 329–330. ‘Political Anglicanism’, 89–104.

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to be such, the reality was different. For decades, within the Church itself, there had been those who pressed for ‘disestablishment’, but without success, though in practice the Church of England gained ever greater control over its own ­affairs. The Church of Scotland was the ‘established church’ in Scotland, but as a non-episcopal reformed church it had no place for royal supremacy. In Wales, after the First World War, the UK state recognized no ‘established church’, the campaign for disestablishment which had been waged by Protestant Nonconformists having been successful. Outside the ‘established’ churches in England and Scotland there existed, in varying strength, the Free Churches – Baptists, Congregationalists, Methodists16. In the past, these churches had agitated for the disestablishment of the Church of England and still believed, in principle, that this should happen, but no longer agitated with any great vigour. The circumstances of Northern Ireland gave to its Protestantism, by and large, a very explicit political character in direct conflict with Irish republicanism/Catholicism. The outline which has been sketched reveals a continuing complicated set of adjustments and ‘compromises’. Those Church of England bishops who sat as of right in the House of Lords possessed no vast political influence, but it did give the most well-known among them a ‘voice’, should they choose to use it, on matters of political and social importance. The time had passed when such men were appointed by the Crown on the advice of the Prime Minister of the day on the basis of their party political allegiance. Their ‘national’ posi­tion by no means entailed automatic acquiescence in government policies, though naturally individuals varied in the extent of their outspokenness17. The other central political fact was that there was no place in the British ­political system for a party which attached to itself the label ‘Christian’18. There were identified ‘Protestants’ in the three main parties, sometimes in prominent posi­tions. No main party had an anti-clerical inheritance or strong ‘secularist’ agenda. Within the ‘Protestantism’ as found in the three main parties, however, there were still strands of difference from the past, though of much diminished vitality. The weakened, though perhaps reviving Liberal Party (and to some extent the Labour Party) inherited the Protestantism of Nonconformity. That had found classical formulation in such terms as “The Nonconformist Conscience” and the affirmation that what was morally wrong could never be ­politically right. There had, therefore, been previous phases in the twentieth-century UK in which some churches became intensely politicized. Pre-1914, with the ­electoral 16 Sell/Cross,

Protestant Nonconformity. Church. 18 Wilkinson, Christian Socialism.

17 Moyser,

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victories of the Liberal Party, that was substantially the case with Protestant Nonconformity. A strong emphasis on ‘the Social Gospel’, though by no means complete unanimity on what it meant, was to be found in all the churches. However, it did meet opposition from some quarters as being too ‘this-worldly’ and ‘reductionist’. This deep-rooted degree of political engagement, combined with a still lingering sense of having engaged, in the Second World War in a struggle to preserve a ‘Christian civilization’, makes it difficult to see ‘politicization’ as an unprecedented or unparalleled tendency within British Protestantism19. Yet there was something new about this period. We can understand it if we focus on the word ‘Establishment’. In the 1960s it came to be taken out of its original ecclesiastical setting and to be used to refer more generally to the nexus of institutions and individuals who were believed to be running the country – and doing so inefficiently and possibly corruptly. ‘The Church’ could then be mocked as a compromised element within this ‘Establishment’. It was an ­analysis shared from within, particularly but not exclusively, by the ‘post-war generation’. It expressed itself in impatience with structures and institutions. While one can detect denominational differences, the predominant sense is that this mood extended across all of them and was explicitly indifferent to all those distinctive aspects of their internal organization and procedures to which they attached such significance. The tone was therefore ecumenical, but also expressed suspicion that ‘the ecumenical movement’ was turning itself into another introverted bureaucratic industry. New periodicals, new books, new conferences all gave expression to these discontent and released apocalyptic aspirations. A National Evangelical Conference held in 1967 placed a more positive value on ‘Christian Worldliness’ than had come to be customary in conservative evangelical circles20. The common theme, expressed, more or less passionately, was that the Church had come to exist for itself. It should exist for the world. The ‘Protestant Principle’ had lost its challenging edge. The only possible solution for Britain, and indeed for the world, lay in Socialism. Whatever Socialism was, it had to be better than that offered by Harold ­Wilson’s ­Labour government. The time was ripe for general Christian-Marxist dialogue, for participation in the Prague ‘peace’ conferences as a way of improving EastWest relations in Europe. There were indeed individual churchmen who were engaged in these activities but it would be difficult to claim that these were mainstream in the life of the churches. There was something rather artificial in the promotion of ‘Christian-Marxist’ dialogue in a country where Marxism could not be said to form a major element in its culture or politics. 19 Reeves,

Christian Thinking. World; Bebbington, Evangelicalism, 263–267.

20 Anderson,

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There was, however, a fundamental tension with which individuals who felt the force of radical sentiments had to wrestle. Trying to ‘mobilize the churches for social and political action’ might be one thing, actually engaging in social and political action might be another. It might not be possible to do both. If so, it was judged to be clearly most important to ‘do’ something. Reforming the churches so that they focussed centrally upon the need for social and political change looked as though it would be an uphill struggle. That struggle might not be worth the effort. The debates, inevitably, centred on how ‘religion’ was to be understood. The mood of the 1960s was shaped by what men – and it was still, largely, men  – had been reading in the 1950s. Under the editorial guidance of the Scottish theologian Ronald Gregor Smith, himself deeply engaged with German thinking, the Student Christian Movement Press launched The Library of Philosophy and Theology, a series which brought together the most stimu­ lating work from ‘Continental’ and ‘Anglo-Saxon’ writers. Alongside its substantial volumes came the translation in the early 1950s of important memoir material from Germany – for example, by Hanns Lilje and Helmut Gollwitzer. It was about this time, too, that Dietrich Bonhoeffer was ‘discovered’ and began to make his posthumous impact. Amongst his other writing, his “Letters and Papers from Prison” was first published in 1953 (paperback 1959), Ethics was first published in 1955 and a complete edition of “The Cost of Discipleship” in 1959. There was no more potent idea in the 1960s than ‘religionless Christianity’, though no lack of diverse interpretations as to what it meant. John Robinson, Cambridge New Testament scholar and now a suffragan bishop in London, published as an S. C. M. paperback his “Honest to God” (1963), which became  a best-seller and attracted wide media coverage. The book attempted to deal with ‘the forbidding jargon’ of Bultmann and Tillich convinced that “for all their apparent difficulty and Teutonic origin [sic] they spoke not only to intelligent non-theologians but also to those in closest touch with the unchurched masses of our modern urban and industrial civilization”21. He thought, above all, that this was true of Bonhoeffer. Was the church a religious organization? Some writers apparently thought so. Robinson was appalled by such sentiments. Anything which turned his Church of England in on itself as a religious organization or ‘Episcopalian sect’ was something he suspected and deplored. Its charter was to be the servant of the world. In these circumstances, some remained ‘loyal’ to their churches but others left, either temporarily or permanently. It is difficult to attach numbers. What can be said is that some well-known Christian bodies felt substantial strain. The most ­conspicuous 21 Robinson,

Honest, 25.

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example of internal implosion was the Student Christian Movement itself which collapsed in circumstances which are still somewhat mysterious but which revolved around the extent of its ‘politicization’22. That all this happened is undoubted. Yet it would be wrong to suppose that these sentiments and aspirations ‘captured’ British Protestantism as  a whole. Although some politicians and some church people did argue that ‘religion’ and ‘politics’ occupied ‘separate spheres’, the majority, arguably, accepted that some interface was inescapable. The question for many, perhaps most, Protestants, therefore, was not whether ‘politicization’, as such, was acceptable but whether the political prescriptions which were being packaged as the result of inter­preting the Kairos of the time were in fact plausible. The outcome of intense debate, it was argued, should not be ‘depoliticization’ but rather, so it was claimed, a more nuanced and subtle understanding of the Zeitgeist than was to be found in the slogans of the time: in short, better politics. Such a search for a less ideologically-charged perspective, however, looked to enthusiasts to be another compromise. Even worse, for them, it was one which, for the moment, most British Protestants seemed content to make. It was later, in the 1980s, with the Labour Party in disarray, that the Church of England, under the leader­ship of Robert Runcie, gave the appearance of being, for a time, ‘the Opposition’ to the social and economic policies being followed by the Thatcher governments.

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Witness.

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Jens Holger Schjørring

Aufbruch und Polarisierung Die Volkskirchen in den nordischen Ländern in den 1960er und 70er Jahren

Betrachtet man jede einzelne Volkskirche in den nordischen Ländern1 für sich, von den nationalen Voraussetzungen her, treten die jeweils spezifischen Merkmale in den Vordergrund, wohingegen die Gemeinsamkeiten dieser Kirchen eher unbestimmt erscheinen. Ein ganz anderes Bild ergibt sich, sobald man die Volkskirchen in den nordischen Ländern aus einer internationalen, komparativen Perspektive untersucht. Dann kommen die Ähnlichkeiten hinsichtlich Geschichte und kultureller Eigenart deutlich zum Vorschein. Einige dieser Wesens­züge seien hier in gebotener Kürze angeführt: Alle Länder hatten (zumindest bis vor kurzem) eine volkskirchliche Ordnung, eine lutherische Mehrheitskirche mit bischöflicher Leitung. Ein Merkmal war ferner eine enge Beziehung zwischen Kirche und Staat, wobei sich alle Länder, bzw. Kirchen, sträuben würden, wenn man sie deshalb einfach staatskirchlich nennen würde. Der Prozentsatz von Mitgliedern der Kirchen war traditionell hoch, in den 1960er Jahren etwa 90 %, heute allerdings bedeutend weniger. Für alle Länder gilt, dass sie im zwanzigsten Jahrhundert – politisch gesehen – eine stabile freitheitliche demokratische Staatsordnung hatten, was wiederum eine entscheidende Voraussetzung für die Grundhaltung der Politiker war, das innere Leben der Kirche freiheitlich zu belassen. Hervorzuheben ist ferner, dass die nordischen Länder bereits in der Zeit zwischen den Weltkriegen mit dem Aufbau eines Wohlfahrtsstaates begonnen hatten, was unter anderem dazu führte, dass ein relativ friedliches Nebeneinander zwischen staatlicher, sozialer Fürsorge und kirchlicher Diakonie erfolgen konnte. Diese Entwicklung hing entscheidend damit zusammen, dass in allen nordischen Ländern ein modus vivendi zwischen Volkskirche und den sozial­ 1 „Skandinavien“ bezieht sich auf die skandinavische Halbinsel. Diese umfasst Norwegen und Schweden, dessen südlicher Teil, Skåne (lateinisch: Scandia), zusammen mit den Provinzen Halland und Blekinge bis 1658–1660 zu Dänemark gehörte. Deswegen wird das heutige Dänemark ebenfalls als ein Teil von Skandinavien gesehen ( z. B. SAS= Scandinavian Airlines). Der „Norden“ hingegen umfasst auch Finnland, Island, die Färöer Inseln und Grönland.

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demokratischen Parteien gefunden wurde. Dies geschah allerdings weder dramatisch noch schlagartig, sondern war von einer anhaltenden Dynamik geprägt. Es war aber umso bedeutsamer, weil in der gleichen Periode nach 1920 die sozialdemokratischen Parteien zu einer tragenden politischen Kraft in allen nordischen Ländern wurden2. Bevor auf die 1960er und 70er Jahre genauer eingegangen wird, sollen zunächst einige wesentliche Züge der Vorläuferzeit skizziert werden. Denn einiges von dem Konfliktpotential, das anderswo in Europa erst im Zuge der 68er-Bewegung aufloderte, stand in den nordischen Ländern bereits seit der Zwischenkriegszeit auf der Tagesordnung. Dies gilt zum Beispiel für die Auseinandersetzung mit Geschlechterrollen und Sexualmoral. Themen wie Prävention, Abtreibung, Aufwertung der Sexualität und anderes mehr wurden lebhaft in der Öffentlichkeit diskutiert. Dabei gab es vielfach Proteste aus konservativ-kirchlichen Kreisen. Zu einem Weltanschauungskampf mit extremistischen Ausschreitungen kam es aber nicht. Auch die Diskussion um Erziehung, Unterricht und Familienethik wurde schon lange vor den 1960er Jahren geführt. Ein antiautoritäres Ideal sowohl in Kindergärten und Schulen als auch in den Familien setzte sich zusehends durch. Wiederum gilt, dass es durchaus Gegenbewegungen gab, auch in den Kirchen; dennoch blieb das Drängen nach Reformen vorherrschend. Im Hinblick auf die wechselseitige Beziehung zwischen Kirche und politischer Ethik waren die Erfahrungen während des Zweiten Weltkrieges entscheidend. Traditionelle Merkmale im Protestantismus (etwa apolitischer Puritanismus und konservative Werte in der Familienethik) waren auch in den nordischen Ländern bestimmend gewesen, dergestalt, dass das kirchliche Interesse bezüglich Ethik vorwiegend auf die Individualsphäre gerichtet war, oft spezifisch auf Familien- und Sexualethik im viktorianischen Sinn. Die Konfrontation mit dem nationalsozialistischen Agressor, beziehungsweise im Falle Finnlands mit der sowjetischen „Roten Armee“, führte dazu, dass es zu einem Gebot für (fast alle) Einwohner eines Landes verpflichtend wurde, aktiv für die Erhaltung nationaler Integrität einzutreten, vielfach sich sogar aktiv am Widerstand gegen den Nationalsozialismus zu beteiligen. Auf alle Fälle kann man sagen, dass es zu einer kritischen Neubesinnung auf die herkömmliche lutherische Ethik kam3. Vereinfachend gesagt: Im Norden gab es eine andernorts existente lutherische Untertänigkeit nur begrenzt. Mit anderen Worten: Im Vergleich zu anderen lutherisch geprägten Ländern und Kulturen ist die differenzierte Wirkungsgeschichte des Luthertums in den nordischen Ländern zu 2 Vgl. das Kapitel in: Montgomery/Larsen (Hg.), Kirken; mit der Überschrift „Der Traum vom Wohlfahrtsstaat. Kirche und Arbeiterbewegung in Kollision und Zusammenarbeit“ (Ü.). 3 Vgl. Schjørring, Volkskirchen.

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berücksichtigen. Folglich wäre es verfehlt, würde man aufgrund der besonderen Wirkungsgeschichte der Zwei-Reiche-Lehre der deutschen Theologie auf andere Länder schließen in der Annahme, dass eine lutherische Ethik des Politischen überall gleich gewesen wäre. So ist beispielsweise auf den offenkundigen Widerspruch zwischen Deutschland und dem Norden hinzuweisen, wenn es um die wechselseitige Beziehung zwischen christlicher Ethik und Nationa­ lität geht. In Deutschland war es den Kirchen nach 1945 ein wichtiges Anliegen, sich vom extremen Nationalismus der Nationalsozialisten zu befreien und sich in neue internationale Strukturen einzufügen. In den nordischen Ländern war es eher umgekehrt: Hier meinten viele, dass es ein falsch verstandener Internationalismus und Pazifismus gewesen war, der die Länder gegenüber den machtgierigen Großmächten, Deutschland und Sowietunion, wehrlos gemacht hatte. Daher war nun die Perspektive der Unverletzbarkeit nationaler Identität besonders wichtig. Aus dieser Haltung heraus können damit im Übrigen auch die in kirchlichen Kreisen geäußerten Bedenken gegen die Europäische Union erklärt werden, zumindest teilweise. Zur Vorgeschichte gehört schließlich noch ein Hinweis auf das Thema der Frauenordination: Die international gesehen erste Ordination einer Frau fand im Jahr 1948 in Dänemark statt4. Die entsprechende Gesetzgebung war im Parlament mit großer Mehrheit durchgeführt worden, und so konnte dann Pfingsten 1948 die erste Ordinationshandlung stattfinden. Zuvor hatten Gemeinden drei Frauen (Johanne Andersen, Ruth Vermehren und Edith Brennecke Petersen) zum Pfarramt berufen und sich ein Bischof (Hans Øllgaard, Odense) bereit erklärt, die kirchliche Ordinationshandlung durchzuführen. Ohne Auseinandersetzung und Streit ging es damals allerdings nicht. Mehr als 500 Pfarrer hatten gedroht, von ihrem Amt zurückzutreten, sollte die in ihren Augen im Hinblick auf die Bibel, die kirchliche Tradition und ökumenische Gemeinschaft unzulässige, häretische Ordination dennoch stattfinden. Die anderen Bischöfe waren anfangs entweder zögerlich oder dezidierte Gegner. Dass es trotzdem gut ging, in dem Sinne, dass auf Schritt und Tritt immer mehr Frauen ordiniert wurden und der Widerstand abflaute, lag nicht zuletzt an der erfolgreichen und behutsamen Kirchenpolitik einer wichtigen politischen Persönlichkeit: Bodil Koch (1903–1972), sozialdemokratische Ministerin für kirchliche Angelegenheiten5. Ihr gelang es, ihre Partei zu einer immer deutlicheren Akzeptanz der volkskirchlichen Ordnung zu bringen. Zugleich beruhigte sie den kirchlichen Widerstand, indem sie die Möglichkeiten einer freiheitlichen Kirchenpolitik deutlich machte, z. B. so, dass ein Bischof, der Frauenordination

4 Pedersen, 5 Vgl.

Se min kjole. Lodberg, Bodil Koch, 151–153.

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ablehnte, seine amtliche Aufsicht über die Pfarrinnen einem anderen Bischof überlassen konnte. Kochs Begründung war stets ein Hinweis auf die freiheitliche Tradition, die sie als Wesensmerkmal der seit der Einführung des Grundgesetzes etablierten Kirchenpolitik betrachtete. In Norwegen fand die erste Frauenordination 1961 statt6. Hier blieb die Frage lange ein Streitthema und bedrohte die kirchliche Ordnung. Erst ab etwa 1980 wurden hier Frauen in einer größeren Zahl ordiniert. In Schweden war es ebenfalls zu schweren und langwierigen Auseinandersetzungen gekommen, bevor schließlich 1960 die ersten Frauen als Pfarrinnen eingeführt wurden. Die Frauenordination blieb in Schweden ein heikles Thema, da es eine große Anzahl hochkirchlicher und konservativer Theologen und Pfarrer gab, die die Frauenordination als schismatische Handlung ablehnten. Als 1983 ein Gesetz eingeführt wurde, das ein – und nur ein Pfarramt vorschrieb, das gleichermaßen für Frauen und Männner zugänglich sein sollte, wurde die Situation deutlicher. Denn nun war es unmöglich, sich von kolle­ gialer Zusammenarbeit mit weiblichen Pfarrern zu befreien. Langfristig wurde es jedoch vielleicht schwieriger, zumal dieser Streit mit seiner politischen Tendenz sicherlich einen wesentlichen Grund für die im Jahr 2000 erfolgte Trennung von Staat und Kirche darstellte. Island folgte 1974 nach, Finnland hingegen nach zähen und langjährigen Verhandlungen erst 1988. Ich komme damit zum nächsten Aspekt und frage, welche Kriterien bei einem sachgemäßen und konsistenten Vergleich zu beachten sind – Kriterien, die Gemeinsamkeiten und Unterschiede in Betracht ziehen und zugleich eine größere internationale Perspektive mitberück­ sichtigen? In den zwei bisher durchgeführten nordischen Gemeinschaftsprojekten, die sich mit dem zwanzigsten Jahrhundert befassen, bemühten wir uns, die Faktoren, die sich durch Zeit, Ort/Raum und Inhalt ergeben, auf einander zu beziehen. Was den Zeitfaktor anbetrifft, leiteten wir in den 1970er Jahren ein erstes Projekt in die Wege, das sich mit der Periode 1930–1945 befasste, und in den 90er Jahren ein anderes, das sich mit der Zeit von 1945 bis 1970, mit einem Ausblick auf die Jahre bis 1990, beschäftigte. Im Hinblick auf die Kategorie von Ort/Raum analysierten wir die einzelnen nordischen Länder für sich und in ihrer jeweiligen Beziehung zueinander sowie in ihren Beziehungen zu den Nachbarstaaten: Deutschland im Süden, England im Westen und Sowjetunion im Osten. Inhaltlich wurde eine repräsentative Reihe von Sachverhalten neben 6 Die kirchenpolitische Entwicklung in den einzelnen nordischen Volkskirchen ist im Rahmen eines internationalen Vergleichs dargestellt in Kapitel 3 des nordischen Sammelwerkes: Schjørring (Hg.), Nordiske folkekirker, [Nordische Volkskirchen im Aufbruch].

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einander gestellt, so dass sich ein durch Empirie belegter Vergleich ermöglichen ließ. Im Vordergrund standen dabei folgende Themen: 1. Die staatliche Religionspolitik und die kirchlichen Verhaltensmuster im Verhältnis zum Staat und zu den politischen Parteien. 2. Die Reaktionsmuster angesichts Faschismus und Nationalsozialismus; im Blick auf die Kriegsjahre „Kirchen im Krieg“, bzw. für die Nachkriegsperiode das übergreifende Thema Kirchen, Versöhnung, Wiederaufbau und Vergangenheitsbewältigung. Diese wurden unter der Überschrift „Wirklichkeitsbilder der Nachkriegszeit“ zusammengefasst. 3. Die Nothilfeleistungen und die Sozialpolitik des Staates sowie kirchliche Diako­nie und Sozialarbeit. 4. Die Entwicklung der kirchlichen Erweckungsbewegungen angesichts zunehmender Säkularisierung. 5. Kirche und Schule; Religionsunterricht in Schule und Gymnasium und kirchliche Unterweisung. 6. Ökumene in kirchlicher Praxis und in der Theologie; auf lokaler, nationaler und internationaler Ebene. 7. Wandlungen und Neuorientierung in den theologischen Positionen, be­ sonders hinsichtlich der unterschiedlichen Konzeptionen von Volkskirche.

Die nordischen Volkskirchen und die neue Ökumene in den 1960er und 70er Jahren In den 1960er Jahren tagten auf nordischem Boden zwei wichtige Konferenzen, die jede für sich den Transformationsprozess der Ökumene widerspiegelten. 1963 fand in Helsinki die vierte Vollversammlung des Lutherischen Weltbundes statt. Hier war der Aufbruch in der Ökumene deutlich erkennbar, nicht zuletzt wegen der wachsenden Beteiligung von Kirchen aus Afrika, Asien und Lateinamerika. Es war beabsichtigt, eine ausführlich begründete Resolution zum Herzstück lutherischer Tradition, der Rechtfertigungslehre, zu verabschieden. Dazu war ein Grundsatzdokument von der sachverständigen theologischen Kommission vorbereitet worden. Bei der Präsentation des Textes vor dem Plenum erwies sich jedoch zum Entsetzen des theologischen Sekretariatsleiters Vilmos Vajta, dass die Delegierten nicht willens waren, den Text anzunehmen. Einer der Gründe war, dass die Eindrücke von dem gleichzeitig eingeleiteten Zweiten Vatikanischen Konzil für viele eine ökumenische Neuorientierung nahelegten, nach der die lutherische konfessionelle Eigenart stärker mit ökumenischer Weite verbunden werden sollte. Außerdem forderten Vertreter aus den Kirchen der „Dritten Welt“, dass die traditionelle Lehre von der Freisprechung

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des Sünders mit einer Betonung der ethischen Verpflichung des Freigesprochenen und sozialer Gerechtigkeit verknüpft werden sollte. Hinzu kam ein bisher nicht gekannter Widerstand der Delegierten im Plenum. Sie waren nicht länger bereit, den Anweisungen der Bischöfe und theologischen Professoren Folge zu leisten. Kurzum: eine Neuorientierung war deutlich spürbar, wenn sie auch noch nicht dauerhafte Konturen hatte. Doch zog sie zusehends Polarisierung mit sich7. Die Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen in Uppsala 1968 erwies sich noch deutlicher als wesentlicher Bestandteil von „1968“ im weiten Sinn. Befreiungstheologie, Vietnam-Kritik, Anti-Rassismus-Aktivitäten, Jugend-Happenings, Demonstrationen gegen multinationale Konzerne und anderes mehr prägten den Verlauf8. Gleich im Anschluss an die Vollversammlung kam es zu Nachfolgeinitiativen in den einzelnen Mitgliedskirchen. Nicht zuletzt in der schwedischen Gastgeberkirche war die Resonanz so umfassend, dass Uppsala 1968 den Eindruck einer umfassenden Zäsur erweckte. Die Themen der Vollversammlung führten auch in den einzelnen nordischen Kirchen zu lebhaften Debatten.

Beispiele des Aufbruches in den einzelnen nordischen Ländern und Kirchen 1. Dänemark Die Vollversammlung des Weltkirchenrates in Uppsala hatte unmittelbare Rückwirkungen in Dänemark9. Das wichtigste Forum für die ökumenische Neuorientierung war zunächst ein Kirchentag. Der erste wurde im Frühjahr 1968 einberufen, um die Teilnehmer auf die bevorstehende Vollversammlung in Uppsala vorzubereiten, damit sie die in Aussicht genommene Traditionskritik und Suche nach neuen Zielvorstellungen mitprägen konnten. Auf der Agenda standen vor allem Fragen, die mit der sogenannten „Dritten WeltTheologie“ verknüpft waren: Christlich begründete Parteinahme für die Unterdrückten und Unterpriviligierten, sei es in Afrika, Lateinamerika oder Asien, begleitet von der Forderung an den Weltkirchenrat, dass sich der Rat betont hinter solche Bestrebungen stellen solle. Es wurden aber auch Forderungen nach einer Neubesinnung im innerdänischen Kontext laut. Solche Reformwünsche wurden von dem Eindruck unterstützt, dass die von Bodil Koch 1964

7 Brandt,

Helsinki 1963, 324–329. Aufbrüche. 9 Larsen, Fra Christensen til Krarup; Lodberg, Evangelical Lutheran Church. 8 Frieling,

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gebildete „Strukturkommission“ am Widerstand der dominanten, kirchen­ politisch systemkonformen Gruppierungen (Grundtvigianer und Tidehverv) scheitern würde. Die bestehende Ordnung der Kirche sei bürokratisch und antiquiert, was sich besonders daran erweise, dass die Kirche nie eine Stimme in der Öffentlichkeit habe, wurde von den ungeduldigen Teilnehmern auf dem Kirchentag ausgerufen. Die vorherrschende Verkündigungstradition sei von einer individualistischen, von der Welt abgekehrten Theologie abhängig. Der erwünschte Aufbruch verdichtete sich in dem Aufruf: Weg von einer Kirche auf dem Balkon, hin zu einer Kirche auf dem Fußboden, wo sich die Leute faktisch befinden. Die Welt schreibt die Tagesordnung vor. Diese und ähnliche Slogans wurde von dem damaligen Dozenten für ökumenische Theologie, Johannes Aagaard (1928–2007), formuliert. Er und seine Frau, Anna Marie Aagaard (geb. 1935), Dozentin für Dogmatik, beide an der theologischen Fakultät der Universität Aarhus tätig, waren in der Ökumene sehr aktiv. Zur gleichen Zeit begannen politische Neuerungen, die den weiteren Verlauf der kirchlichen Debatte entscheidend beeinflussten. Paradoxerweise wurden die entsprechenden Gesetze von der bürgerlich-liberalen Regierung vorgelegt; jene Regierung, die bei den „68ern“ immer wieder verpönt war, nicht zuletzt wegen ihrer angeblich repressiven Toleranz, die letztendlich doch reaktionär sei. Wichtige Gesetze waren die Aufhebung des bisherigen Pornographie-Verbots und sowie die Legalisierung der Abtreibung. Auch andere Gesetze wurden angenommen, die mit der 68er-Studentenbewegung unmittelbar in Verbindung standen. Es war vor allem spektakulär, dass 1972 ein neues Gesetz über die Befugnisse der Leitungsorgane (dän.: styrelseslov) an den Universitäten durchgeführt wurde. Das Gesetz gab Studenten und administrativen Angestellten Mitbestimmung mit Stimmrecht im Fakultätsrat. Im Studienausschuss, der für Fragen der Lehrpläne und Studieordnung zuständig war, erhielten die Studenten sogar paritätische Mitbestimmung mit den Vertretern des Lehrkörpers. Das Gesetz führte zu Konfrontationen und turbulenten Auseinandersetzungen, so dass es wohl niemanden überraschen konnte, als dieses Universitätsgesetz nach ein paar Jahrzehnten rückgängig gemacht wurde. Unter den Theologiestudenten wurde unter anderem eine sogenannte fachkritische Gruppe gebildet, die für eine neue Studienordnung mit einer ideologiekritischen Basis eintrat. Gegenreaktionen ließen nicht lange auf sich warten. So kam es 1970 zur Bildung einer neuen politischen Partei, vor allem aus Protest gegen die genannten Pornographie- und Abtreibungsgesetze. Eine „Gemeindefakultät“ wurde gegründet, mit evangelikaler, biblizistischer Grundorientierung, und mit Stoßrichtung gegen die angeblich dominante politisierende Theologie an den beiden staatlichen Fakultäten. Eine hochkirchlich-pietistische Gruppe von Pfarrern, die schon lange gegen Frauenordination und andere Erscheinungen einer mo-

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dernen, liberalen Theologie war, die ihrer konfessionellen Verpflichtung von Kirche und dem Ordinationsgelübde der Pfarrer widersprach, formierte sich neu. Solchen Tendenzen einer zunehmenden Polarisierung schlossen sich weitere Themen an, die auch in der internationalen Ökumene diskutiert wurden. Hier sei nur der Streit um das Antirassismusprogramm des Weltkirchenrates genannt. Der Streit darüber schlug auch in Dänemark hohe Wellen, was für das Gesamtbild insofern bedeutsam war, weil nun eine große Zahl der Pfarrer und Theologen, die mit der Gemeindefakultät und den konservativen nichts gemeinsam hatten, sich an der Absage an die neue ökumenische, politisch an­ gefärbte Theologie beteiligten. 2. Schweden Das kirchliche Leben in Schweden wurde in der Nachkriegsperiode von einem umfassenden Umbruch in der Gesellschaft geprägt. Entsprechendes fand zwar in allen nordischen Ländern statt, aber nirgends so tiefgreifend wie in Schweden. Der Umbruch hing mit der blühenden schwedischen Wirtschaft zu­ sammen, vor allem mit dem Erfolg der großen Industrieunternehmen. Infolgedessen zogen viele Menschen aus den Dörfern und Kleinstädten weg und ließen sich in den Siedlungen und Vororten der Großstädte nieder. Die rapide Urbanisierung hatte drastische Rückwirkungen auf die Kirche, denn traditionell hatten eben die ländlichen Gegenden die meisten treuen Kirchenmitglieder, während die Bewohner der Neusiedlungen eher kirchenfremd waren. Die schwedische Theologie wurde in der gleichen Periode von einer eben so umfassenden Pluralisierung durchdrungen. Diese Transformation ging auf mehrere Aspekte zurück, die je für sich bedeutsam waren und zusammen eine epochale Veränderung der theologischen Landschaft bewirkten. In 1950 hatte ein Professor der Philosophie, Ingemar Hedenius, scharfe Angriffe gegen die Theologie gerichtet10. Professor Hedenius, der sich auf seinen einflussreichen Vorgänger Axel Hägerström berief, war von der analytischen Philosophie geprägt, und für ihn konnten nur wertfreie Aussagen, die entweder bestätigt oder entkräftigt werden konnten, als Wissenschaft gelten. Die Theologie konnte einem solchen Maßstab aber keineswegs standhalten, meinte Hedenius. Bekannte Theologen, etwa Anders Nygren, wurden namentlich angegriffen, weil ihre Bücher angeblich die Zugehörigkeit der Theologie zur Universität keineswegs recht­fertigen konnten. Nur wertfreie, objektive Aussagen konnten Anspruch auf wissenschaftliche Objektivität erheben. 10 I. Brohed, Religonsfrihetens och ekumenikens tid; J. Lundborg, När ateismen erövrade ­Sverige.

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Eine erregte Auseinandersetzung begann. Landesweit schlug der Streit hohe Wellen. So kann man diese Debatte durchaus als eine epochal bedeutsame Konfrontation zwischen einerseits Philosophen, die sich einer bestimmten Modernitätsauffassung zurechneten, und andererseits allen herkömmlichen Theologen betrachten. Bischöfe und Theologen waren gleichermaßen bemüht, sich gegenüber den Angriffen zu verteidigen. Im Nachhinein wird man aber fest­ halten müssen, dass die Angriffe in der entscheidenden Hinsicht siegten, dass die von Hedenius aufgestellten Kriterien weitgehend die Debatte bestimmten. Das Ergebnis war unter anderem, dass die Systematische Theologie als Disziplin der Universitätstheologie innerhalb weniger Jahre an vielen Orten durch die sogenannte „Glaubens- und Lebensanschauungsanalyse“ ersetzt wurde. Zugleich fand eine Neuorientierung auf anderen Ebenen statt. Unter dem Eindruck der Erneuerung innerhalb der katholischen Kirche, teilweise auch als Protest gegen Frauenordination, gewann die Katholizität (engl. „catholicity“) wachsenden Einfluss, wenn auch nicht immer im römisch-katholischen Sinn, sondern oft im Sinne eines hochkirchlichen Anglikanismus. Auch das Interesse für Befreiungstheologie und andere Aspekte der theologischen Neuorientierung der südlichen Erdhälfte waren wichtige Themen, die die Veränderung der Kirche andeuteten. Die Säkularisierung der Schule war vor allem darin ersichtlich, dass Christentumsunterricht nicht mehr als Fortsetzung des kirchlichen Taufunterrichts praktiziert werden konnte, sondern nunmehr grundsätzlich als Religionskunde definiert wurde. Insgesamt ist es also nicht zu hoch gegriffen, von einer Zäsur zu sprechen, im kirchlichen Alltag wie auch in der akade­mischen Theologie11. 3. Norwegen In Norwegen sah das Bild etwas anders aus. In der Zwischenkriegszeit hatte eine lebhafte Auseinandersetzung zwischen religionskritischen Kulturpersönlichkeiten und Schriftstellern (unter ihnen Arnuld Øverland)  stattgefunden. Eine Kluft zwischen einer kulturradikalen, intellektuellen Elite und den Linken in der Politik auf der einen Seite und der Kirche auf der anderen Seite bestimmte für viele ihr Bild von der Rolle der Kirche in der modernen Gesellschaft. Angesichts einer derartigen Polarisierung wurde es für die Liberalen in Theologie und Kirche zwangsläufig schwierig, eine differenzierende Position in der Öffentlichkeit zu verantworten. Ihre Bemühung um Vermittlung wurde ­indes infolge der Okkupation 1940–1945 erleichtert. Es gelang dem Bischof 11 Vgl. I Brohed, Religionens och ekumenikens tid; L. Tegborg, Svenska kyrkan och den svenska skolan; S.-E. Brodd, Från teologisk systembyggande till pragmatisk teologi; B. Ryman, Church of Sweden 1940–2000.

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in Oslo, Eivind Berggrav (1884–1959), eine breite kirchliche Sammlung zu erreichen. 95 % der Pfarrer und Theologen einigten sich auf ein bekenntnisähn­ liches Dokument „Kirkens Grunn“ [Grund der Kirche], das eine geschlossene Abwehr der akut drohenden Nazifizierung in der Kirche begründete. Die Gemeinden standen fast überall einmütig hinter ihren Pfarrern. Diese zugleich nationale und kirchliche Einheit ließ sich jedoch in der Nachkriegszeit nicht unterbrechungslos weiterführen. Die früher existierenden Gegensätze kehrten zurück. Polarisierung und Pluralisierung bestimmten zunehmend das Bild und waren an Fragestellungen wie Frauenordination, Sexualmoral und ökumenischer Neuorientierung sichtbar. Im Hinblick auf eine generelle Charakterisierung muss man aber feststellen, dass der Rückhalt der Kirche in der Bevölkerung gleichwohl relativ stark blieb12. 4. Finnland Die finnische Kirche weist wiederum andere, besondere Züge auf. Diese sind nicht zuletzt daran erkennbar, dass Tendenzen zu Polarisierung und Umbruch, die sonst überall in Europa in den Jahren um 1970 das Bild prägten, in Finnland eher als relativ belanglose Episoden erschienen. Es gab zwar durchaus Konfrontationen, vor allem, weil dezidiert religionskritische und links­orientierte Kreise und Kommunisten ihre bekannte Polemik gegen die Kirche verschärften. Sie erhofften sich – durch die Nachrichten auf der internationalen Bühne ermuntert – nun mehr Zustimmung in der Bevölkerung. Die Kirche blieb jedoch eher gefestigt. Dies hat im Falle Finnlands eindeutig historische Gründe. Vor allem war es in den Kriegsjahren zu einem besonders engen Zusammenwachsen zwischen Kirche, Volk und den politischen Parteien, einschließlich Sozialdemokraten gekommen. Nicht zuletzt dank der Militärseelsorge, einer weit verzweigten Diakonie und einem ebenso breiten Spektrum an pädagogischen Initiativen, blieb die finnische Kirche aufs Ganze gesehen un­erschüttert. Dieses Selbstbewusstsein trug dazu bei, dass die Kritiker und Rebellen im Lande unmittelbar als ideologieverdächtig oder gar unpatriotisch galten, mit klarem Hinweis auf den mächtigen Nachbarn im Osten, die Sowjetunion. Man kann deswegen die Schlussfolgerung ziehen, dass die lutherische Kirche in Finnland von allen nordischen Volkskirchen den stärksten Rückhalt im Volk behalten hat13. 12 Vgl. die einschlägigen Abschnitte in den nordischen Sammelwerken: Schjørring, Nordiske folkekirker, sowie B. Ryman, Nordic Folk Churches; vgl. ferner Heiene, Eivind Berggrav. 13 Vgl. Murtorinne, Kirchen; Ders., Förtryksperioden; vgl. die finnischen Abschnittte in Schjørring, Nordiske folkekirker.

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Jens Holger Schjørring

Zusammenfassung Als Grundlage für eine sachgemäße Einordnung der nordischen Volkskirchen aus einer internationalen Perspektive bietet sich vor allem die Kennzeichnung jener Jahre an, die Hugh McLeod vorgelegt hat14. McLeod hat die 1960er und 70er Jahre auf eine breite Basis von Ermessungskriterien gestellt und bezeichnet auf dieser Grundlage jene Jahrzehnte als epochale Übergangs- und Ver­ änderungsperiode. Demgegenüber erscheint die skizzierte Entwicklung in den nordischen Volkskirchen eher von Kontinuität geprägt, zumindest ist die Veränderung bei weitem nicht so grundlegend gewesen wie in den meisten anderen europäischen Ländern. Dies bedeutet allerdings nicht, dass die fundamentalen Indikatoren eines Transformationsprozesses an den nordischen Ländern und Kirchen gänzlich vorbeigegangen wären. Vielmehr kamen entsprechende Ansätze früher zum Tragen, zum Teil bereits in der Zwischenkriegszeit. Hinzu kommt, dass einige Herausforderungen im europäischen Vergleich die nordischen Kirchen erst später betroffen haben. Zu nennen wäre etwa die Frage der Anpassung einer streng nationalen Staatsordnung in die europäische Gemeinschaft, ein Reizthema, das die nordischen Völker ernsthaft zersplittert hat, mit Rückwirkungen auch auf die Orientierung der Kirchen. Ferner die Stellung der Kirche im Rahmen eines multikulturellen Staates, wo sich gezeigt hat, wie sehr sich die Bevölkerungen auch in homogenen Kleinstaaten mit den Folgen der Globalisierung schwer getan haben. Vor diesem Hintergrund ergibt sich die Frage, ob die vorhin angesprochene Kontinuität und relative Standfestigkeit nicht nur zeitlich begrenzt war, und die eigentlichen Transformationen, die andere Kirchen durch und durch verändert haben, im Norden noch bevorstehen.

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European Religion in the 1960s; ders., The crisis of Christianity in the West.

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Peter Morée

„Unsere Kirchen sind die Verkörperung, ein Extrakt der Kleinbürgerlichkeit.“ Die politische Funktion der Idee vom Ende des konstantinischen Zeitalters in der tschechischen Theologie

Einleitung Die Idee einer schicksalhaften Wende in der Geschichte der Kirche, die eng mit Konstantin dem Großen verbunden war, spielte in der zweiten Hälfte des 20.  Jahrhunderts bei der Suche nach dem Raum und der Sendung der Kirche in der modernen Gesellschaft eine wichtige theologische Rolle. Denn vor dem Hintergrund zunehmender Säkularisierung (hauptsächlich im Westen) und dem Verlust gesellschaftlicher Positionen und Privilegien (hauptsächlich in den sozialistischen Ländern) erschien die seit Konstantin begründete Periode der Verbundenheit der Kirche mit der Macht als nicht mehr glaubwürdig und zeitgemäß. In diesem Beitrag geht es hauptsächlich um den Diskurs über das so genannte Ende des konstantinischen Zeitalters, wie er unter den tschechischen Protestanten in den 1950er bis 1970er Jahren des 20. Jahrhunderts geführt wurde. Der Begriff vom „Ende des konstantinischen Zeitalters“ selber wurde in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg vor allem durch den Cottbusser Superintendent Günter Jacob (1906–1993) geprägt. In einer Rede auf der außerordentlichen Tagung der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland im Juni 1956 in Berlin entwickelte er von diesem Ende ausgehend weitere Überlegungen über die Zukunft der Kirche. Seine Abgrenzung des Begriffs war folgende: „Dieses Vorzeichen bedeutet, in rohen Umrissen skizziert, das enge Bündnis von Staatsmacht und Kirche (Thron und Altar), die Identifizierung von Gesamtbevölkerung und christlicher Gemeinde, die Formung und Gestaltung aller Lebensbereiche im Kraftfeld einer mit allen Privilegien ausgestatteten christlichen Religion, die praktisch die Monopolstellung einer den Staat untermauernden und die herrschende Gesellschaftsschicht unterstützenden Weltanschauung von allgemein-verbindlichem Charakter innehatte.“1

1 Jacob,

Raum, 16.

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Jacob entwickelte seine Sicht auf die veränderte Lage der Kirche schon im Zweiten Weltkrieg, wie sein Text „Die Zukunft der Evangelischen Kirche“ von 1944 deutlich machte. Demnach hänge die Zukunft der Kirche im Wesentlichen davon ab, ob sie im Stande sei, die Tatsache vom Ende des konstantinischen Zeitalters zu akzeptieren2. Mit diesem Gedanken war das Fundament für seine Berliner Rede gelegt, in der er die Konsequenzen dieses Vorübersein ausführlich diskutierte. Es ist klar, dass Jacob keine historische Analyse der Spätantike bot, sondern, dass es sich, wie Wolfgang Huber feststellte, „bei dieser These im Kern um eine geschichtstheologische Konstruktion [handelt], die ihre Plausibilität eher aus den zeitgeschichtlichen Erfahrungen des Autors als aus den geschichtlichen Bedingungen der konstantinischen Ära gewinnt.“3 Einer der ersten, der eine umfangreiche Kritik an Jacobs Begriffsverwendung formulierte, war der evangelische Kirchenhistoriker Wilhelm Kahle (1914– 1997)4. Er arbeitete heraus, dass in der Geschichte der Kirche viele Einzelpersonen und Gruppen eine problematische oder ablehnende Beziehung zu Konstantin hatten, wie beispielsweise die Albigenser, die Waldenser, die Franziskaner-Spiritualen, Dante, die Hussiten, die Täufer und andere5. Daher hielt er fest: „Die Auseinandersetzung der Christen mit der sie umgebenden Welt in Staat, Gesellschaft, Kultur und Volk begleitet ständig die Zusammensetzung der Kirche mit diesen Größen.“6 In dieser Auseinandersetzung ging es um die Frage, wie weit die Kirche in ihrem Welt-Sein im Gegenüber zum Nicht-vonder-Welt-Sein gehen will. Denn die Kritik der alternativen christlichen Bewegungen bestand oft in dem Vorwurf, dass sich die Kirche zu sehr an die Welt angepasst habe. Kahle wies darauf hin, dass es aber nicht nur die alternativen Stimmen aus der Kirchengeschichte des (Spät-)Mittelalters waren, die Konstantins Beitrag zur Kirchengeschichte negativ beurteilten, sondern auch Theologen und Philosophen wie Friedrich Schleiermacher, Søren Kierkegaard oder Karl Barth. So nahm Schleiermacher in seiner vierten Rede über die Religion sehr prägnant Stellung zur Frage von Privilegien, die die Kirche aufgrund ihrer Verbindung mit den Machthabern genieße. Damit fing seiner Meinung nach der Untergang der Kirche von innen heraus an.7 Auch Kierkegaard lehnte eine Bindung der Kirche an den Staat ab. „Die Bindung der Amtsträger der Kirche an den

2 Brakelmann

(Hg.), Kirche, 196–202. Nutzen. 4 Kahle, Begriff. 5 Ebd., 210 ff. 6 Ebd., 210. 7 Ebd., 217. 3 Huber,

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Staat ist wie für das Christsein, so auch für den Staat verderblich.“8 Und Karl Barth analysierte 1935 den Bund zwischen dem Christentum und den „natürlichen Kräften und Mächten der menschlichen Geschichte“, der, wie er meinte, die Kirche in eine Krise geführt habe9. Dem Christentum wurde in den dreißiger Jahren die Rechnung präsentiert „für die große Lüge, deren es sich, deutlich seit dem verhängnisvollen Zeitalter Konstantins, auf der ganzen Linie schuldig gemacht hat.“10 Barth spricht in dieser Hinsicht ebenfalls vom Ende eines Zeitalters: „Das christlich-bürgerliche oder bürgerlich-christliche Zeitalter ist abgelaufen, der Bund, d. h. aber das Christentum in seiner uns bisher bekannten Gestalt, ist zu Ende.“11 In seiner Rede 1956 betonte Günter Jacob nicht nur, dass diese Privilegierung des Christentums jetzt der Vergangenheit angehöre, sondern auch, dass die Kirche im Grunde genommen jetzt eine bessere Zukunft vor sich habe, wenn sie in die Zustände der Frühkirche zurückkehre. Kahle sah Jacobs Analyse der Kirchengeschichte als Resultat eines Programms12: „Dieses Programm lautet, auf eine kurze Formel gebracht, dass man alles tun müsse, um die oben aufgezeigten Beziehungen und Verbindungen zwischen Kirche und Staat, zwischen Kirche und Volk, zwischen Kirche und gesellschaftlicher Struktur zu zerschlagen. Erst von einem solchen Tun her erwachse eine neue Freiheit des christ­ lichen Glaubens, eine größere Klarheit des christlichen Verständnisses und eine bessere Möglichkeit des Dienstes der Kirche in der Welt.“13

Wie im Folgenden gezeigt werden wird, lassen sich Grundstrukturen dieses Programms auch im tschechischen Diskurs über das Ende des konstantinischen Zeitalters finden. Sie wurden allerdings ergänzt durch spezifische Denkfiguren, die auf die Akzeptanz des Sozialismus bei führenden Kreisen der Kirche und der Evangelischen Theologie hinausliefen. Eröffnet, und größtenteils auch bestimmt, wurde die tschechische Debatte von Josef L. Hromádka (1889– 1969)14. Er wurde kurz nach der Gründung der Tschechoslowakei und der Evangelischen Kirche der Böhmischen Brüder (EKBB) 1918 Professor für Systematik an der Prager theologischen Husfakultät, die damals von einer liberalen Theologie dominiert wurde. In den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts fand

8 Ebd.,

219. 223. 10 Barth, Evangelium, 32. 11 Ebd., 33. 12 Kahle, Begriff, 226 ff. 13 Ebd., 208. 14 Zu Hromádkas Leben und Theologie siehe Neumärker, Hromádka; Ruh, Geschichte; Kloppenburg/Smolík, Amsterdam.

9 Ebd.,

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Hromádka dann allerdings zur dialektischen Theologie. Aus dieser Zeit stammt auch seine Freundschaft mit Karl Barth, die international bekannt wurde durch Barths Brief an Hromádka vom September 1938. In ihm lehnte Barth die Teilung der Tschechoslowakei ab und rief die Tschechoslowaken auf, ihr Land gegen Hitler-Deutschland zu verteidigen15. Als Theologe und Kirchenmann hatte Josef Hromádka schon vor dem Zweiten Weltkrieg ein deutlich politisches Profil. Das zeigte seine Stellungnahme zum spanischen Bürgerkrieg, aber auch seine wissenschaftlichen Tätigkeiten. Seine wichtigsten theologischen Ausführungen aus dieser Zeit galten den philosophisch-politischen Überlegungen des ersten tschechoslowakischen Präsidenten, Tomáš G. Masaryk (1850–1937). Nach seiner Rückkehr aus den Vereinigten Staaten, wo Hromádka während des Zweiten Weltkrieges Exil fand, befürwortete er eine positive Haltung der Kirche gegenüber der kommunistischen Ideologie und Partei. In den Jahren bis zu seinem Tod 1969 bekleidete er viele Funktionen in seiner Kirche, an der Fakultät und in der Ökumene. Für das tschechoslowakische kommunistische Regime wurde er zu einer Schlüsselfigur in der Kirchenpolitik, vor allem gegenüber den tschechischen Evangelischen. Hromádkas weitgehende Legitimierung des Regimes, die er mit dem Kommunismus als Gottes Wirken in der Geschichte begründete, gab Anlass zum zweiten, ebenfalls international bekannt gewordenen Hromádka-Brief von Karl Barth16. 1958 gründete Hromádka die Christliche Friedenskonferenz (CFK), die als internationale Plattform seiner politisch-theologischen Auffassungen diente. 1968 lehnte Hromádka den Einmarsch der Warschauer Paktländer am 21. August in die Tschechoslowakei scharf ab. Seine Enttäuschung über dieses Ereignis drückte er in einem Memorandum aus, das im Westen weit verbreitet wurde. Seine CFK geriet in eine schwere Krise, was zu Hromádkas Rücktritt als Präsident der CFK führte. Er starb Weihnachten 1969. Auch nach seinem Tod blieb er eine wichtige Inspiration für die theolo­gische Orientierung seiner Schüler. Diese teilten sich allerdings in zwei Gruppen: Eine stellte die Leitung der Kirche und der Fakultät da, die andere war zu finden in dissidentischen Kreisen der späteren Charta 77. Beide voneinander entfremdeten Flügel in der EKBB beriefen sich auf Hromádkas Stellungnahmen zu theologisch-politischen Fragen. In der Zeit der so genannten Normalisierung zwischen 1970 und 1989 spaltete Hromádka also seine Kirche, er war aber zugleich auch Inspirator für beide Parteien.

15 Rohkrämer, 16 Brief

Freundschaft. Der Brief von 19. 9. 1938 ist abgedruckt 53 ff. vom 18. 12. 1962. In: Rohkrämer: Freundschaft, 212–217.

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Grundlegend für Hromádkas Verständnis der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg war die Idee einer Wende in der Weltgeschichte, die auch die Position und die Rolle der Kirche und der Christen in der abendländischen Welt tiefgehend änderte. Sie funktionierte als theologisch-geschichtliche Begründung seiner politischen Orientierung im geteilten Europa des Kalten Krieges. Die These, dass die alten liberalen westlichen Weltstrukturen zum Ende gekommen seien, und dass mit dem Erscheinen der Sowjet-Union und des Kommunismus eine neue Epoche angebrochen sei, sollte den Weg zum positiven Verständnis der volksdemokratischen Verhältnisse vorbereiten. Sie führte bei Hromádka dazu, dass er die Vorstellung ablehnte, dass der der Kommunismus antichristlich und antikirchlich sei. Das legitimierte letztlich auch seine An­näherung zum kommunistischen Regime nach der Machtergreifung in der Tschechoslowakei 1948. Diese theologisch-geschichtliche Lesart des Zeitgeschehens machte ihn akzeptabel für die kommunistische Behörde, die ihn als nützliche und effektive Hilfe in der Evangelischen Kirche der Böhmischen Brüder verstanden. Hromádka stand in einer Tradition des tschechischen Protestantismus, der die Idee der Epochen in der Weltgeschichte in direktem Bezug auf die eigene nationale Geschichte nicht fremd war. Er schrieb seine erste große wissenschaftliche Arbeit über Tomáš G. Masaryk, den Gründer der Tschechoslowakei, der großen Einfluss hatte auf das politische Konzept der tschechischen Nation. Unter Benutzung des Geschichtsverständnisses von František Palacký (1798– 1876), dem Stifter der tschechischen Nationalgeschichte, sprach Masaryk nach dem ersten Weltkrieg von einer Konfrontation zweier Zivilisationen, von West und Ost. Die östliche Zivilisation war in seiner Sicht auf autoritäre Gewaltausübung, und auf der Negation demokratischer Werte gegründet. Diese Welt­ anschauung war für ihn der gemeinsame Nenner der großen Imperien im Ersten Weltkrieg, die gegen die westlichen, modernen, aufklärerischen und demokratischen Staaten kämpften. Es war ein Krieg zwischen der autoritären Vergangenheit und der demokratischen Zukunft17. Gemäß Masaryk ging am Ende des Ersten Weltkrieges die alte, feudale Weltordnung zu Grunde, was durch den Sturz der Kaiserreiche in Europa sym­bolisiert wurde. Ein Zeitalter war vorbei und die Zukunft gehörte der westlichen Welt mit seinen modernen Werten, politisch geprägt im Versailler Friedensvertrag. Dass die Geschichte aber eine andere Wende nahm, hatte er offensichtlich nicht erwartet oder gehofft. Die Idee vom Ende einer Epoche in der Weltgeschichte war also nicht neu in der Zeit des Sturzes der Donaumonarchie. Es hing von der Art des Umbruchs 17 Masaryk,

Making, 287 ff und Kapitel X, Democracy and Humanity, 368 ff.

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ab, welches Zeitalter als vorbei, beendet und abgeschlossen galt. Dabei ging es darum, das Einzigartige und Einmalige der neuen Epoche zu betonen, das, wo die Geschichte einen radikal anderen Weg gewählt hatte. Dazu kamen weitere Motive, wie z. B. der Aufruf zu einer neuen Orientierung, die die „alte“ Ordnung diskreditierte, oder auch zu befreien von der Angst vor dem Neuen, das jetzt die Wirklichkeit bestimmte. Sowohl Palacký, Masaryk als auch Hromádka beriefen sich dabei häufig auf Petr Chelčický († ca. 1460), der als theologischer Gründer der Böhmischen Brüder gesehen wird. Er lehnte die Teilhabe eines Christen an den Machtstrukturen absolut ab, was sich auch in einem gewissen Pazifismus äußerte. In seiner wichtigsten Schrift, Das Netz des Glaubens18, behandelte er ausführlich und sehr kritisch die Machtposition der Kirche im Spätmittelalter. Er suchte die Hauptverantwortlichkeit für die Krise der Kirche bei Konstantin, der die Kirche mit seiner Zuwendung zum christlichen Glauben schwer verletzt hatte. Die Wurzeln des Verderbens der Kirche lagen demnach bei Konstantin. Der Glaube der Kirche verlor seine Glaubwürdigkeit, weil sie ihre Freiheit verlor, so meinte Chelčický. Der Gedanke eines konstantinischen Zeitalters und dessen Ende ist also ein wesentlicher Traditionsbestandteil der tschechischen Theologie und Kirche. Es geht hierbei um eine theologische Geschichtsinterpretation, die darauf abzielt, die neue Position und die neuen Aufgaben der Kirche in der neuen Ge­sellschaft zu verdeutlichen. Daher ist eine historische, politische und gesellschaftliche Analyse der Gegenwart in Bezug auf die Vergangenheit aus dem Blickwinkel der Theologie und der Kirche nötig. In der tschechischen protestantischen Theologie nach 1945 wird oft auf die kirchliche Situation in der Donaumonarchie hingewiesen. Die Allianz zwischen Altar und Thron machte die Kirche zu einem Teil der weltlichen Macht, weshalb die Kirche daran interessiert war, die Gesellschaftsordnung aufrecht zu erhalten. Sie verloren dabei aber ihre Autonomie und Eigenständigkeit, und damit ihre Glaubhaftigkeit. Das Ende der konstantinischen Epoche ist deshalb terminologisch eine politische Aussage über Theologie, Kirche und Gesellschaft. Inwiefern diese auf Kirche, Theologie und die politische Situation der Zeit einwirkte, soll im Folgenden herausgearbeitet werden.

18 Die

tschechische Schrift wurde auf Deutsch übersetzt: Cheltschizki, Netz.

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Josef L. Hromádka Die Terminologie vom Ende der konstantinischen Welt tauchte im tschechischen Diskurs das erste Mal in einem Sammelband mit Aufsätzen von Josef L. Hromádka aus den Jahren zwischen 1927 und 1939 auf19. Der Band wurde 1949 herausgegeben, etwa ein Jahr nach der Machtergreifung der tschechoslowakischen Kommunisten. In einem Schlusswort verband Hromádka seine Texte aus der Vorkriegszeit mit der Lage seit 1945: „Als ich nach dem Krieg zurück nach Hause kam (erstmals Ende August 1945), konnte ich nicht verstehen, dass so viele Menschen tun, als wäre nichts passiert, und als könne man weiter gehen in den politischen und sozialen Formen aus der Zeit vor München. Schreckliche Dinge sind passiert, die Situation war sehr, sehr ernsthaft. Die Kirche Christi befand sich am Ende des konstantinischen Zeitalters – und die Menschen haben es nicht gesehen.“20

Für Hromádka war es deshalb wichtig, die Heilige Schrift zu lesen, zu verstehen und zurückzukehren zu der apostolischen Kirche, die zu Pfingsten den Geist Gottes bekam. Alles musste seiner Meinung nach neu gelesen und verstanden werden, weil die alten Weltstrukturen am Ende waren: „Alles, was uns teuer ist, muss aufs Neue erobert werden auf den Trümmern der alten, konstantinischen Welt, mitten in einer Gesellschaft, die von einer anderen Ideologie geleitet wird, als die, die offizielle Gesellschaft für 1600 Jahre führte.“21

Die Kirche sollte sich jetzt nicht durch menschliche Ängste und persönliche Präferenzen leiten lassen. Gerade in dieser revolutionären Zeit sollte sich die Kirche auf die Verheißung des Herrn verlassen, der durch den Heiligen Geist den Glauben unterstützt. Terminologisch spielte also der Begriff vom Ende des konstantinischen Zeitalters eine zentrale Rolle in Hromádkas Zeitverständnis. Allerdings taucht er in späteren Schriften nicht mehr auf. Erst 1958, d. h. nach der Rede von Günther Jacob auf der EKiD-Synode in Berlin, wurde er von dem Theologen Jan Milíč Lochman wieder aufgenommen. Nazi-Deutschland, das Münchner Abkommen, der Zweite Weltkrieg als Symbol des Scheiterns der alten Ordnung bildeten Grundkonstanten in Hromádkas theologischem Denken nach dem Zweiten Weltkrieg. Hinzu kam eine stärker in den Fokus rückende Auseinandersetzung mit der historischen Rolle der 19 Hromádka, Theologie. 20 Ebd., 21 Ebd.,

366. 367.

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Sowjetunion, die für Hromádka mit ihrer dynamischen Entwicklung seit der Russischen Oktoberrevolution zu einer Stütze der neuen Ordnung in Europa wurde. Auch, wenn er große Unterschiede zwischen Christentum und Kommunismus sah, wurde die Russische Revolution für ihn zu einer attraktiven Antwort auf die Krise des Westens. Im August 1948 war Hromádka als Delegierter der EKBB auf der Gründungsversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen in Amsterdam vertreten. Dort hielt er, neben dem Vortrag von John Forster Dulles, dem späteren Außenminister der Vereinigten Staaten, einen der Hauptvorträge in der Sektion, die sich mit der internationalen Lage und dem Weltkirchenrat beschäftigte. Auch hier betonte er die chaotische, instabile und unsichere Lage der Nachkriegswelt: „Die alte internationale Ordnung ist dahin. Keine große Frage ist gelöst, kein Bereich unserer Erde hat Stabilität und Sicherheit gewonnen. In der Geschichte des Menschengeschlechtes ist das eine einzigartige Lage ohne Vorgang. Niemals ist früher die Welt als Ganzes so tief erschüttert worden wie während der letzten dreißig Jahre.“22

Für Hromádka ging es in der Nachkriegszeit nicht nur um die Konkurrenz zweier Machtblöcke, sondern viel mehr noch um den Verlust alter Sicher­ heiten und Prinzipien. „Der moderne Mensch des Westens wie des Ostens hat das wirkliche Verständnis der höchsten Autorität und des höchsten Gerichtshofes verloren.“23 Damit ist die Hegemonie der westlichen Welt vorbei, und die Welt ist nun in zwei „Orbits“, mit eigenen politischen und wirtschaftlichen Systemen, geteilt. Da der Westen nach Hromádka viel von seinem Prestige und seiner moralischen Kraft verloren hat, und nicht mehr in der Lage ist, breite Schichten in der Welt zu überzeugen. Gerade seine Furcht und Ängstlichkeit geben der Vermutung Raum, dass der Glauben des westlichen Menschen sehr dünn und unsicher geworden ist, im Gegenteil zum sowjetischen Menschen, der sehr dynamisch und stark auf der Bühne der Welt steht. In den folgenden Jahren wurde Hromádkas Kritik an der westlichen Welt immer schärfer und grundsätzlicher. Immer ausdrücklicher betonte er, dass die westliche Welt aus innerer Schwäche und Angst ihrem Ende zugehe. So erklärte er 1951 auf einem Kongress des Weltfriedensbundes: „Yes, it is, in many ways, a great time of our history. At this very juncture, I wish to emphasize two aspects of our situation. First, we are standing on the ruins of the old world. The last war and the nazi occupation of Czechoslovakia brought  a ­terrible 22 Hromádka, 23 Ebd.,

183.

Geschichte, 181. Kursiv-Auszeichnung im Original.

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time ot our national life, to our material and cultural treasures. It is impossible to build up without first, carrying away the ruins. This situation complicates our world but, simultaneously, makes it more inspiring and responsible. Second, we are to do our work in the spirit of the greatest ideals and movements of our history, of the old Hussites, who had had a deep concern exactly for the common, poor, exploited, unprivileged man. The great heritage of our religious and social history gives us a social power which would we otherwise be lacking.“24

In dieser Zeit tauchten bei Hromádka auch Motive auf, die die Verknüpfung der Kirche mit traditionellen gesellschaftlichen Ansichten ablehnten. Das korrespondierte mit der religionspolitischen Gesetzgebung des Staates: Denn genau in diese Zeit fiel das Ende der bisherigen Kirchengesetze von 1949. Jetzt wurden die Kirchen völlig abhängig vom Staat gemacht und die staatliche Genehmigung für geistliche Arbeit als Pflicht eingeführt. Hromádka selber beteiligte sich für die Evangelische Kirche am Formulieren dieser Gesetze25.

Nach 1953 In der ersten Hälfte der 1950er Jahre war es Vertretern der EKBB kaum erlaubt, zu kirchlichen oder theologischen Veranstaltungen ins Ausland zu reisen. Hromádka selber konnte fast nur zu Kongressen des Weltfriedensbunds reisen. Die vom Staat auferlegte Kontrolle und die Beschränkungen waren also deutlich spürbar im Leben der Kirche und der theologischen Fakultät, wo Hromádka arbeitete. Diese Situation änderte sich 1954, als das kommunistische Regime auf eine neue Strategie mit den Protestanten setzte. Die staatlichen Behörden sahen nun in dem internationalen Netzwerk der Evangelischen Kirche eine reiche Quelle, die als Sprachrohr der Propaganda über die ideale sozialistische Gesellschaft dienen könnte. Nachdem auch die Kommunistische Partei der Tschechoslowakei auf ihrem X. Kongress im Juni 1954 diese neue Strategie bestätigt hatte, wurden erste Re-

24 (ETF

UK Prag, Nachlass Hromádka, 3–28). dazu im ZA EKBB Prag, Bestand Synodalrat, Karton XXI/1, Mappe Církevní zákony und im Nationalarchiv (NA Prag, Bestand ÚAV NF, Karton 36). Hromádka charakterisierte später sein Bemühen in diesem Prozess folgenderweise: „Ich war auch bei der Behandlung der Vorschläge der neuen Gesetze und ich bemühte mich darum, dass die Evangelische Kirche der Böhmischen Brüder von dem Gesetz ausgenommen würde, dass bestimmte Pfarrer vom Staat bezahlt werden. Leider war ich nicht erfolgreich.“ (Interview mit Prof. J. L. Hromádka, Zeitschrift Quick, am 26. 11. 1964 [ETF UK Prag, Nachlass Hromádka, 3–29a]). 25 Dokumente

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sultate bald sichtbar26. Die evangelischen Theologen der Comenius-Fakultät konnten eine Reihe von Broschüren auf Englisch, Deutsch und Französisch veröffentlichen, die zum Ziel hatten, die Kritik aus verschiedenen westlichen Kirchen zur Religionsfreiheit zu widerlegen27. Ab 1954 gingen die Grenzen für die Evangelischen allmählich weiter auf. Martin Niemöller kam nach Prag28, eine offizielle Delegation der EKD besuchte Prag, ein Gegenbesuch fand statt29. Studenten aus Bonn kamen nach Prag und Prager Studenten gingen nach Bonn. 1954 wurde das internationale Bulletin mit Nachrichten über die Kirche in der Tschechoslowakei gegründet30 und die Fakultät konnte die Zeitschrift Communio Viatorum herausgeben31. Und schließlich entstand 1958 die Christliche Friedenskonferenz (CFK)32. Kern dieser Aktivitäten war zu zeigen, dass die Kirche in der Tschechoslowakei nicht verfolgt, sondern im Wesentlichen frei war. Hromádka sah die kirchenpolitischen Veränderungen von 1953/1954 als eine Bestätigung seiner Überzeugung, dass das kommunistische Regime und die Kirche keine Gegner sind. Er glaubte, dass die Kommunisten nach einer Anfangsperiode einsehen würden, dass sie die Kirche bei der Suche nach einer Antwort auf die Leere, die der Materialismus hervorrief, brauchen würden. So lautete seine Botschaft schon in Amsterdam 194833, und diese Position ver­ teidigte er auch gegenüber Vertretern des Regimes, wenn diese in seiner Sicht die Kirche zu sehr einzuschränken versuchten34.

26 Materialien zum Entwurf dieser neuen Strategie im Nationalarchiv (NA Prag, Bestand SÚC, Karton 3, „Nejdůležitější úkoly v církevní politice vyplývající z vládního prohlášení ze dne 15. 9. 53“ und Karton 15, 47. porada kolegia 16. 12. 1953, materiál Č.j. 265/53-S „Církve v boji za mír“ z 10. 12. 1953). Dokumente zu der neuen Kirchenpolitik bestätigt vom X. Kongress der Tschechoslowakischen Kommunistischen Partei im Juni 1954 sind im Nationalarchiv (NA Prag, Bestand SÚC, Karton 1, usnesení kolegia č.  17/54 „Směrnice pro další práci SÚC, na základě závěrů z X. sjezdu KSČ“). 27 Z. B. Molnár, Protestantismus; Brož, Gestern; Hromádka, Kirche. 28 Hromádka erwähnte Niemöllers Besuch in Prag in einem Brief an Karl Barth vom 3. 5. 1954 und nahm dies als Anlass auch Barth einzuladen. Brief in Rohkrämer: Freundschaft, 131. 29 Dokumente dazu im EZA Berlin, Bestand 71, Nr. 856 (1955–56, 1958). 30 Die Protestantischen Kirchen in der Tschechoslowakei, zwischen 1954 und 1964 publiziert vom Ökumenischen Rat der Kirchen in der Tschechoslowakei. 31 Siehe dazu Morée, Communio Viatorum, 126–146. 32 Dazu Lindemann, Sauerteig. 33 Hromádka, Geschichte, 156 ff. 34 Z. B. in einem Brief an K. Hrůza, Haupt der Abteilung für Kirchenfragen des Kulturministeriums, von 26. 3. 1963, wo Hromádka zur Frage dieser Strategie in Bezug auf die eigenen Gemeinden schrieb: „Sie kennen mein Konzept, dass es darum geht, dass wir auf die Gemeinden nicht nur für geistliche Vertiefung und Erweckung, aber auch für ein offenes Verständnis unserer inneren und internationalen Lage. Auch Ihnen ist klar, dass wir keinen Einfluss auf Gemeinden haben

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Einige Theologen an der Comenius-Fakultät wurden aktive Mitarbeiter an Hromádkas Konzept der Theologie im Realsozialismus. Sie gehörten zu seinen Schülern unmittelbar aus der Nachkriegszeit: Luděk Brož (1922–2003), ­Amedeo Molnár (1923–1990) und Jan Milíč Lochman (1922–2004). Unter der älteren Generation der Professoren der Fakultät gab es einige, die Bedenkungen hatten gegen Hromádkas Auffassungen. Dazu gehörte zum Beispiel der Neutestamentler Josef B. Souček (1902–1972). In einem anonymen, Souček zugeschriebenen, an W. Visser ’t Hooft adressierten Brief vom März 1948 (unmittelbar nach der kommunistischen Machtergreifung vom Februar 1948) wird die Frage nach der Rolle der Kirche im Kommunismus gestellt: „Ich meine, dass die Kirche die Zusammenarbeit mit dem neuen Regime so gut vermeiden soll, wie den Versuch der Bildung eines politischen Widerstandes.“35 Die Kirche solle das Wort verkündigen, ohne apolitisch zu werden, stattdessen zurückhaltend bleiben in ihren Schlussfolgerungen. Diese Haltung dem neuen Regime gegenüber unterschied sich bedeutsam von der Hromádkas, gerade weil sie der neuen Gesellschaftsordnung keine Legitimierung verschaffen wollte. In einem späteren Brief an Karl Barth vom 23. Juli 1954 kam Souček zurück auf die unterschiedlichen Positionen zwischen ihm und Hromádka. Hier deutete er an, dass er im Laufe der Zeit Hromádkas Position mehr und mehr akzeptierte. Hromádka „sagt oft, dass wir weder ‚Kollaboranten‘ sein, noch zu ‚überwintern‘ versuchen dürfen, sondern dass wir in der Freiheit, im Freimut, in der Hoffnung des Glaubens zu versuchen haben, die ganz neue, unvorausgesehene, uns ungewohnte Lage zu meistern. […] Meine persönliche Versuchung ist gewiss die zweite, d. h. ich bin in Gefahr ‚überwintern‘ zu wollen, d. h. der konkreten Lage zu entweichen. Deshalb ist mir Hromádka mit seiner Schau der Dinge und mit seinen Wegweisungen eine wichtige Mahnung und Hilfe, ob ich ihn völlig verstehe und gutheiße oder nicht. Und ich kann sagen, dass ich ihn mit der Zeit immer besser zu verstehen und mit ihm zu übereinstimmen meine.“36

können, wenn wir ihnen die Problematik des öffentlichen Lebens nicht vorlegen im Licht unserer reformatorischen Tradition und mit einer tüchtigen theologischen Begründung.“ (ETF UK Prag, Nachlass Hromádka, 3–29a). 35 Brief in: Rohkrämer, Freundschaft, 98 ff, Zitat 108. 36 Ebd., 138, Zitat 140.

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Kirche als Communio Viatorum Die Evangelische Kirche reagierte auf die Änderung der kommunistischen Kirchenpolitik mit Loyalitätserklärungen zugunsten des Regimes, allerdings in einem theologischen Mantel. Verschiedene theologische Elemente wurden zum Komplex des späteren Post-Konstantinismus hinzugefügt. Dazu gehörte erstens die Behauptung, dass Ablehnung des Kommunismus von christlicher Seite (Antikommunismus) an sich einen Defekt des Glaubens zeige, und zweitens der Gedanke von Kirche als eine Pilgergemeinschaft. Die Synode der EKBB richtete 1953 eine Botschaft an die evangelischen Kirchen im Ausland. Aus dem Wortlaut wird deutlich, dass diese primär für die Kirchen im Westen gedacht war. In der Botschaft sollte erklärt werden, warum sich die Evangelische Kirche in der kommunistischen Tschechoslowakei wohl fühle und warum sie dem Regime vertraue: Dazu wurde die geschichtliche Lage theologisch erklärt und legitimiert: „Die Ereignisse um uns herum während der letzten zwei oder drei Jahrzehnte haben uns davon überzeugt, dass der Abzug alter Mächte von dem Schauplatz der Geschichte und der Auftritt neuer Kräfte zu tätiger Verantwortlichkeit für das öffentliche Leben tief in der Sünde und in der Sehnsucht nach höherer Gerechtigkeit begründet ist. Es ist nicht leicht, dies zu begreifen und anzuerkennen. Wir Christen haben tätigen Anteil an dem Aufbau der Machtgruppen, der Wirtschaft und der Kultur gehabt. Deshalb lösen wir uns innerlich nur schwer von weltlichen Interessen und halten den Druck der Ereignisse auf unsere politischen Gebilde, auf gesellschaftliche und moralische Formen für einen Angriff auf das Wesen der Kirche und des Glaubens. Dies wird darum leichter, weil weltliche und materielle Interessen bis in das Innere unseres Heiligtums eingedrungen sind und die Reinheit unseres Glaubens verdorben haben.“37

Die Botschaft rief die westlichen Kirchen dazu auf, die kommunistische Gesellschaft und die Kirchen im Osten mit einer offeneren Haltung zu betrachten, d. h. das „Wesenhafte zu verstehen.“ Sie sollten aber nicht nur eine „Art von modus vivendi“ suchen, sondern auch damit aufhören, „im vornherein das Bestreben dieser [östlichen] Welt für etwas im Grund Böses und zu Verurteilendes zu halten und erklären.“ Den Text der Botschaft hatte Hromádka im Auftrag der Synode geschrieben und war für seine internationalen Aktivitäten von Bedeutung. Auf der gleichen Synodensitzung hielt er auch eine Rede zur verantwortlichen Rolle der Kirche. Hier entfaltete er zum ersten Mal den Gedanken von Kirche als Pilgergemeinschaft. Demnach solle die Kirche nicht nur mit einer Gesellschaftsordnung ver 37 Ein

Exemplar mit Kommentar von Hromádka befindet sich in seinem Nachlass, 3–29.

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bunden sein, sondern zugleich auch eine Bekenntniskirche von Pilgern38. Kurz darauf führte er diesen Gedanken weiter aus: „Wir haben eine ungewöhnlich ernsthafte Aufgabe vor uns: die Kirche befreien von äußerlichem Institutionalismus. Die Kirche kann kein Institut sein. Die Kirche ist eine Gemeinschaft von Pilgern, die durch diese Welt gehen und die ganze Zeit in eine neue Lage geraten. Es ist wahr, dass die Kirche dauernd in statu nascendi ist. Die Kirche wird dauernd geboren, sie ist nie gegeben als Institution.“39

Für Hromádka war die Pilgerkirche die Alternative zu der mit der westlichen, angeblich christlichen Zivilisation verbundenen und verwachsenen, sich auf Machtstrukturen stützenden Kirche. Die theologische Vorstellung der Pilger­ gemeinschaft wurde zur Basis der von Hromádka und J. B. Souček 1958 gegründeten Zeitschrift Communio Viatorum, die die theologischen Ansichten aus Prag in der Welt verbreiten sollte. Für Hromádka gab es keine christliche Zivilisation, und „jeder Versuch, in ihrem Namen sogenannte unchristliche Bestrebungen, soziale und politische Ideale zu bekämpfen, ist Selbstbetrug und für die Kirche selbst eine schwere Gefahr“ hielt er 1956 fest40.

Augustinisches Zeitalter 1956 führte Hromádka einen zweiten Begriff für denselben Sachverhalt, der bislang durch das Schlagwort vom „Ende des konstantinischen Zeitalters“ bezeichnet wurde, ein: In einem Beitrag unter dem Titel „Von der Reformation zum Morgen“ sprach er über das Ende des augustinischen Zeitalters, das er mit dem Untergang des Corpus Christianum gleichsetzte: „Mit seiner erstaunlichen Arbeit schuf er [Augustin, der Verf.] eine Atmosphäre, in welcher alle individuellen irdischen Gebiete sich mit dem Staat, der Wissenschaft, der Philosophie um die Kirche gruppieren und mit ihr eine Einheit darstellten. Das ist der Anfang dessen, was später die Christliche Gemeinde – das Corpus Christianum – genannt wurde.“41

Nach Hromádka sei diese Zeit jetzt vorbei. Die Kirche könne  – und solle  – sich nicht mehr auf ein Bündnis mit weltlichen Herrschern berufen, sondern 38 Der Text seines Beitrags wurde veröffentlicht im Wochenblatt der tschechischen protestantischen Kirchen „Kostnické Jiskry“: Odpovědný úkol církve. In: Kostnické jiskry 38 (1953), Nr. 47, 1. 39 Poslání církve dnes. In: Kostnické jiskry 40 (1955), Nr. 28, 2. 40 Hromádka, Kirche, 97. 41 Dobiáš (Hg.), Od reformace, 235.

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sich auf ihre wirkliche Sendung oder Aufgabe konzentrieren. In einer Publikation des Ökumenischen Kirchenrates in der Tschechoslowakei von 1955 (die von den Theologen der Comenius-Fakultät zusammengestellt wurde)  wurde diese Idee eines neuen Zeitalters weiter ausgeführt. Die Kirche könne in dieser neuen Situation besser verstehen, was in den Beziehungen zwischen Staat und Kirche schief gelaufen sei. „Der große gesellschaftliche Fortschritt erfüllt sie [die protestantischen Kirchen] mit Freude, ebenso wie die Tatsache, dass sie sich aktiv an der Schaffung einer neuen gerechteren Welt beteiligen können.“42 Jetzt müsse die Verbindung von christlichen Idealen und Institutionen mit der „Weltanschauung von Gestern“ überprüft werden. In der neuen Gesellschaft führt der Herr die Kirche dahin, „dass wir von neuem das wahre Wesen der Kirche und der Kirchengemeinde erkennen. Er befreit uns von Institutionalismus, eingeführten technischen Methoden und verlockenden Privilegien, mit denen uns die versinkende Welt für sich zu gewinnen gewohnt war.“43 Hier findet also eine weitgehende Identifikation der neuen Gesellschaft mit Christi Handeln in der Welt statt. Im kommunistischen Regime spricht letztendlich der Herr der Welt zu den Kirchen und ruft sie auf, die bequemen Wege der alten, verschwindenden Welt zu verlassen. Diejenigen Kirchen, die die Herausforderung Pilgerkirchen zu werden, nicht ernst nehmen, stehen unmittelbar vor ihrem Ende: „… [W]ährend eine, wenn auch mechanisch vollkommene Organisation, eine unlebendige Organisationstechnik und ein durch einen Apparat als Selbstzweck geleiteter Kirchenbetrieb, das Ende der wahren Kirche bedeutet.“44 Die Kirchen sollen für ihre Beteiligung am Unrecht und der Unterdrückung, wie sie die westliche Zivilisation verübt hat, büßen. Nur so kann die Kirche ihren Platz in der neuen Gesellschaft finden. Mit der Gründung der CFK 1958 hatte Hromádka ein weiteres Instrument, um diese Perspektive durchzusetzen. So formulierte er zur ersten Allchristlichen Friedensversammlung der CFK 1961: „Auf dem Boden der Christlichen Friedenskonferenz wollen wir den schweren Kampf mit diesem Geist der Unbußfertigkeit und Selbstzufriedenheit der christlichen Gesellschaft aufnehmen, d. h. einen Kampf mit uns selbst, mit dem, was die Wurzeln der christlichen Gemeinschaft und der internationalen Zusammenarbeit so tief zermürbt.“45

42 Brož,

Gestern, 60. 61. 44 Ebd., 67. 45 (ETF UK Prag, Nachlass Hromádka, 3–28).

43 Ebd.,

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Jan Milíč Lochman Bei Hromádka kämpfte die CFK also um die oft erstarrte Kirche, die mit irdischen Interessen und Traditionen verknüpft ist. In diesem Kontext wurde der Begriff der konstantinischen Kirche erneut verwendet, nämlich von Jan Milíč Lochman, einem Schüler Hromádkas, und späteren Professor für Systematische Theologie in Basel. 1958 berichtete er an verschiedenen Stellen über seine Erfahrungen an der Bonner Theologischen Fakultät, wo er 1957 als Gast­dozent gewesen war. In einer kirchlichen Zeitschrift – auf Tschechisch – äußerte er kaum Kritik an der kirchlich-gesellschaftlichen Lage in der Bundesrepublik.46 Im Communio Viatorum stellte er jedoch sofort fest, dass die Kirche in West-Deutschland in einer Situation lebe, welche „die konstanti­ nische Epoche“ kennzeichne. „Sie lebt unter den Bedingungen des organisierten Christentums, des einflussreichen Konkordates zwischen dem Staate und der Kirche.“47 Lochman fragt sich dann, woher die Kirche ihre ökonomische Macht bekomme. „Die Antwort ist einfach: aus einem typisch ‚konstantinischen‘ Steuersystem.“ Es gäbe zwar in der Evangelischen Kirche in Deutschland eine Alternative, die sich auf die Bekennende Kirche stütze, und auf Theo­ logen wie Niemöller, Wilm, Iwand, Vogel und Gollwitzer, und die von der biblischen-reformatorischen Theologie von Karl Barth inspiriert werde. Dabei handele es sich aber um eine Minderheit. In den späten 1960er Jahren entfaltete Lochman seine Ideen über die post-konstantinische Kirche ausführlicher. Sein Buch „Church in a Marxist Society“ brachte Ergebnisse und Erfahrungen der Kirche und Theologie aus dem Dialog mit den Marxisten zusammen und formulierte zum Konstantinismus: „In all essentials, however, the Constantinian solution for the relationship between church and state is over. The church is no longer one of the official pillars of society. The opposite, rather, is true: in the context of the fundamental aspirations of this society the church is ultimately regarded as a relic a past epoch; for pragmatic political reasons it is to be tolerated, but it (…) is intrinsically foreign to the future of a socialist society.“48

Die Kirche solle sich aber nicht defensiv verschließen, sondern positiv auf die neue Situation und ihre neuen Möglichkeiten reagieren. Hier taucht wieder die Idee der Kirche als Pilgergemeinschaft auf, was als die bessere Alternative ge­ sehen wird: 46 Lochman,

Lístky z Bonnu, 2; Ders., Setkání v Německu, 3. Konstantinische Kirche, 40. 48 Lochman, Church, 56–59.

47 Lochman,

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Die politische Funktion der Idee vom Ende des konstantinischen Zeitalters 317 „Consequently, the Constantinian church form, in the light of the gospel, is in no way the only possible or promised and promising mode of its being. Rather, the ­opposite is true. The Constantinian church appears in many respects as  a rather ­problematic form of being. (..) The post-Constantinian church need not merely weep over lost opportunities; rather, it can imaginatively and joyfully seek and use the possibilities still present, and especially, those newly open.“49

Für Lochman stellte sich Lage der Kirche in der ČSSR also keineswegs hoffnungslos dar. Die Kirche hatte jetzt neue Möglichkeiten, weil ihre Autorität und Glaubwürdigkeit in der post-konstantinischen Situation wesentlich besser gesichert war. Sie brauchte sich nicht mehr auf die Macht des Staates zu stützen, sondern konnte ihre Botschaft in den verschiedenen Bereichen der Gesellschaft überzeugend verbreiten.

Der Prager Frühling Nach den ersten politischen Lockerungen in der Tschechoslowakei 1968 beanspruchte die EKBB eine legale Beteiligung am öffentlichen Leben. Bis 1969 wurden eine Reihe von Aufrufen, Petitionen und Erklärungen an das DubčekRegime adressiert, die sich für die Beseitigung der Diskriminierung von Religionsgemeinschaften, für Seelsorge in Gefängnissen und Krankenhäusern und für die Ermöglichung von Religionsunterricht in Schulen aussprachen50. Wenig bekannt ist, dass Hromádka Zweifel an diesem neuen Kurs der Kirche hatte. Seine Haltung im Prager Frühling wird bestimmt von seiner Ablehnung des Einmarsches vom 21. August 196851 und der Spaltung der CFK 196952. Hromádkas Ambivalenz gegenüber der Haltung seiner Kirche 1968 wird aber in einem langen Gespräch aus dem Sommer 1968 deutlich – noch vor der Invasion. Hier beschwerte sich Hromádka über die Tendenzen, in der Kirche wieder Machtansprüche zu erheben. In der Tat stellte die Evangelische Kirche die Grundlagen der kommunistischen Gesetzgebung zur Kirche aus 1949 in die Frage. Aus seiner Sicht war das nicht im Sinne der post-konstan­ tinischen Kirche. „Die ganze Denkweise in der sozialistischen Gesellschaft, im Unterschied zur liberalen, zur bourgeois Gesellschaft, geht nicht aus vom Interesse des Einzelnen. Das 49 Ebd.,

64–65. dazu Morée, Jak ČCE nabyla, 29–49. 51 Hromádkas Memorandum zur Intervention am 21. 8. 1968. In: Hromádka, Geschichte, 302 ff. 52 Casalis u. a. (Hg.), Christliche Friedenskonferenz. 50 Siehe

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Bewusstsein des Menschen, das ist ja anders, das Bewusstsein des sozialistischen Menschen und des liberalen, kleinbürgerlichen Menschen. Und das ist bei uns den Kommunisten nicht gelungen. Es ist nicht gelungen die Leute zu verändern. Unsere Kirchen sind gerade die Verkörperung, ein Extrakt der Kleinbürgerlichkeit.“53

Für Hromádka war es eine Enttäuschung, dass die Kirche jetzt, in der ge­ lockerten Situation von 1968, nicht weiter im Geiste des Post-Konstantinismus handelte. Das Gehäuse sei zwar seit 1948 verändert, aber der Mensch bliebe doch der Gleiche. Daran zu arbeiten ist jetzt die große Aufgabe der Theo­logen, meinte er. Die Ereignisse von 1968 in der Evangelischen Kirche machten deutlich, dass Hromádkas Auffassung einer post-konstantinischen Kirche nicht funktionieren konnte, weil dieser Kirche die Freiheit genommen wurde. In der relativen Freiheit des Prager Frühlings ging es vielen in der Kirche darum, dass sich die Kirche an den gesellschaftlichen Prozessen beteiligen konnte. Hromádka verstand dies als Rückkehr zum alten, liberalen Model einer privilegierten Kirche, weil er in seiner Kritik an diesem Modell die Dimension der verlorenen Freiheit nicht thematisierte.

Nach 1968 Bis 1968 war das Modell der post-konstantinischen Kirche für manche in tschechischen evangelischen Kreisen mehr oder weniger akzeptabel als Versuch, die neue Lage der Kirche zu verstehen. Das war sicherlich in der jüngeren Generation von Theologen der Fall, die in den Jahren nach dem Krieg ausgebildet worden waren. Ein Teil dieser Generation vereinigte sich in einem theologisches Forum mit dem Namen „Neue Orientierung“. Ausgangspunkt der Neuen Orientierung war ebenfalls der Gedanke, dass die Kirche ihre gesellschaftliche und politische Macht unter dem Kommunismus verloren habe. Die Gruppe, die nur wenig formal organisiert war, führte im Grunde genommen eine hermeneutische Debatte über die Frage, wie in dieser Lage in der Gesellschaft über Gott zu reden sei. Hier entwickelte sich der Gedanke der zivilen Interpretation, d. h. ein theologisches Sprechen in nicht-theologischen Kategorien54. Die Neue Orientierung wurde schon in den 1960er Jahren von den Behörden aus politischem Argwöhn verfolgt. Nach 1968 wurde einige ­Angehörige 53 (ETF

UK Prag, Nachlass Hromádka, 3–29a); das Gespräch wurde nicht publiziert. zur Neuen Orientierung: Bula, Interpretation; und ders., Orientierung, ­89–98 und 99–103; und Pfann, Nová Orientace. 54 Weiterführend

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der Neuen Orientierung immer kritischer gegenüber der Husák-Führung, aber auch gegenüber der eigenen Kirchenleitung. Für sie war der Verlust der Machtposition der Kirche als positive Herausforderung nicht mehr das Thema, sondern der Verlust der Freiheit als Diskriminierung des Glaubens und der Gläubigen. Damit verlor in ihren Augen das kommunistische Regime seine Legitimität, die es in Hromádkas Auffassung nachdrücklich hatte. 1977 unterschrieben einige wichtige Theologen der Neuen Orientierung die Charta 77, einige verloren ihre Staatsgenehmigung für die Ausübung des geistlichen Amtes55. Die ersten theologischen Auseinandersetzungen über die Orientierung der Kirche in der Zeit nach der Dubček-Ära fanden um die Synode von 1973 statt. Der Kirchenleitung stand unter schweren Druck des Regimes, nun die theo­ logische und politische Linie der beiden früheren Synoden zu verlassen, weil diese im Geiste des Prager Frühlings gesprochen hatten. Dazu sollte auch der Einfluss der Neuen Orientierung ernsthaft beschränkt oder sogar eliminiert werden. Im Rahmen dieser Spannung entstand ein Dokument, das von der Synode angenommen wurde. Es trug den Titel „Die Sendung der Kirche in der Gegenwart“ und wurde von den Professoren der Comenius-Fakultät vorbereitet. Sein besonderer Stellenwert zeigte sich auch daran, dass es auf Englisch in der Fakultätszeitschrift Communio Viatorum veröffentlicht wurde. Wesentlich ging es in dem Dokument darum, ob und wie die Kirche politische Aussagen machen dürfe: „The Church cannot be neutral with regard to the struggle for peace and justice. But it is equally impossible for it to create a front, to let its attitudes be determined by its institutional interests and moods, or to let itself be limited by its confessional, national or political programmes. The Church’s ministry in the world does not involve attempts to create political programmes and become engaged in their implementation. Such attempts constitute the roots of the Constantinian error.“56

Die Kirche solle also keine politische Lobby-Gruppe werden, die irgendein politisches Programm durchzusetzen versuche. Das hätten die Synoden im Prager Frühling gemacht, aber gerade deshalb waren ihre theologischen Resultate unreif. Der Vorwurf des Konstantinismus wurde hier also gegen die Kritiker in der eigenen Kirche benutzt, primär gegen die Neue Orientierung. Diese teilte 55 Die Kritik dieser Gruppe am Regime ist zu finden in der Petition von 31 Angehörigen der Evangelischen Kirche der Böhmischen Brüder an die Tschechoslowakische Bundesversammlung in Prag, 7. 5. 1977, publiziert in: ČSSR, 7 ff. Ausführlicher zur Repression der Kritiker in der EKBB: Dinuš, Českobratrská církev. 56 The Mission of the Church Today, 281.

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zwar die theologische Ausgangspunkte Analyse Hromádkas, zog daraus aber nicht die Schlussfolgerung, dass die Kirche nicht politisch sprechen solle. Unter Druck der Behörden wählte die theologische Führungsschicht der Kirche das Modell einer Kirche, die nur das sagt, was die Macht von ihr verlangt. Hier wird deutlich, dass der Post-Konstantinismus genauso wie der Konstantinismus im Stande war, ein Bündnis mit der staatlichen Macht zu schließen. Einige Jahre später wurden mit ähnlichen Argumenten diejenigen aus der Kirche, die die Charta 77 und eine Petition zur Religionsfreiheit unterschrieben hatten, scharf von der Kirchenleitung kritisiert. Einer der Nachfolger Hromádkas, der Systematiker und Praktische Theologe an der Prager Fakultät, Josef Smolík (1922–2009), nahm später noch einmal das Thema des Post-Konstantinismus auf. Er sah in der Atmosphäre der politischen Entspannung nach den Helsinki-Verträgen von 1975 eine Herausforderung für die Kirche, jetzt den Konstantinismus zu überwinden. Dieser sei zwar keine relevante Alternative mehr, aber noch immer in breiten Schichten der Kirche verwurzelt: „Die tausendjährige Auffassung der christlichen Abendlandes als Corpus Christianum hat zwar heute keine Hoffnung mehr, trotzdem überlebt sie in den Massen des Kirchenvolkes und ihre Reste werden dort oft künstlich ernährt, wobei der Anti­ kommunismus noch immer eine bedeutende Rolle spielt. Die Ideologie des Corpus Christianum verwurzelte sich sehr tief ins das europäische Bewusstsein.“57

Jetzt aber, wo die Kirchen überall in Europa ihre Machtpositionen verloren hätten und auch wegen der Entspannung auf die Verteidigung des eigenen politischen Systems verzichten könnten, sei die richtige Zeit, der Wahrheit in die Augen zu sehen. „Die Kirchen Europas sind in dieser Lage ihrer eigenen Sendung näher als vorher.“58 Für sie sei das Ende des konstantinischen Zeitalters eine Befreiung, weil sie glaubwürdiger, echter und aufrichtiger Kirche sein können, ohne Rücksicht nehmen zu müssen auf die politische Verantwortlichkeit. Hier brachte Smolík ein weiteres Element in die Debatte, nämlich die escha­ tologische Dimension der kirchlichen Existenz als das Gegenteil der konstantinischen Existenz. „Zum konstantinischen Erbe gehört die Tatsache, dass zwischen der Kirche als der Institution im juristisch-politischen Komplex und der Kirche als der Gemeinschaft des Glaubens fast kein inneres Bindeglied besteht. Die Kirche ist nur dann wirklich frei, wenn ihre juristisch-institutionelle Gestalt in eine direkte Abhängigkeit zum escha-

57 Smolík, 58 Ebd.,

Überwindung, 133. 135.

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Die politische Funktion der Idee vom Ende des konstantinischen Zeitalters 321 tologischen Geschehen des Wortes gebracht wird. Werden die Kirchen Europas fähig sein, ihre Sicherheit in den Verheißungen Gottes, nicht in den erfolgreichen Investitionen, in der Hoffnung auf die Parusie, nicht in der Gunst der Welt, in der Liebe, nicht in äußerlicher Effektivität zu suchen?“59

Fazit Wie relevant Smolíks Frage auch war, sie war erst glaubwürdig in einem Kontext ohne Verfolgung der Kirche. Das gilt allerdings genauso für Hromádka und seine Auffassung vom Umbruch der Geschichte und der Theologie. Die Realität der Verfolgung der Religionsgemeinschaften in der Tschechoslowakei oder in anderen Ostblockstaaten wird nicht in dieser „Theologie im Sozialismus“ thematisiert, sondern blendet diese vor dem Hintergrund, Neuanfänge für die Kirche zu formulieren, aus. Hromádkas, Lochmans und Smolíks Anliegen bestand darin, darauf hinzuweisen, dass die Kirche, gerade weil sie ihre politische Macht verloren hatte, in eine bessere Lage geraten war, und dafür ihre Freiheit zurück bekommen hatte. Im Endeffekt aber wurden Kirche und die Theologie weiter einbezogen in ein politisches Kraftfeld, wo sie notwendig und absichtlich eine legitimierende Funktion zugunsten des kommunistischen Regimes bekamen. Hromádka verzichtete auf eine öffentliche kritische Stellungnahme den kommunistischen Machthabern gegenüber. Kritik übte er nur in Privatbriefen an die Staatsführer60. In der Unterdrückungssituation hatte der theologische Ausgangspunkt des Post-Konstantinismus allerdings auch eine positive Bedeutung. Er regte die Theologen und die kirchliche Öffentlichkeit an, sich nicht aufzugeben und sich der Meinung auszuliefern, dass es mit der Kirche zu Ende gehe. Was sind die Möglichkeiten einer Kirche ohne Macht? Die Bestrebungen des Kreises Neue Orientierung machen diese Tatsache besonders deutlich. Übrigens gab es auch auf römisch-katholischer Seite eine ähnliche Reflexion über die Lage der verfolgten Kirche ohne Macht. Statt von Post-Konstantinismus zu reden, sprach man hier über den Kairos als Herausforderung für die Kirche. Die Unterdrückung wurde jedoch nicht bagatellisiert oder legitimiert. Das führte dazu, dass eine Untergrundkirche fast ohne die typischen hierar 59 Ebd.,

138. der Brief an Jiří Hendrych vom 18. 9. 1957. Veröffentlicht in: Hromádka, Geschichte, 258 ff. Siehe auch Aufsätze zu Hromádkas Interventionen bei Staatsbehörden zugunsten verhafteter Pfarrer. In: Hlaváč (Hg), Cesta církve II.; oder anonyme Briefe an Hromádka in seinem Nachlass (noch unverzeichnet). 60 Z. B.

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chischen Aspekte gegründet wurde. Diese Kreise – eine Art Basisgemeinden – funktionieren bis heute61. Hromádka wurde wegen seines Geschichtsverständnisses und dessen Verknüpfung mit seiner Theologie scharf von Theologen aus westlichen Ländern kritisiert. Für sie war er zu einseitig und zu positiv dem Kommunismus gegenüber. Für manche war seine Stellungnahme zum Ungarnaufstand von 1956 symptomatisch für die Weise, wie seine geschichtlich-politische Sympathie für das kommunistische Experiment seine theologische Urteilskraft blendete und in die Irre führte. 1962 und 1963 kritisierte ihn auch Karl Barth zweimal wegen seiner Geschichtstheologie. In seinem ersten Brief äußerte Barth, dass Hromádka eigentlich eine ähnliche Geschichtsauffassung benutze wie die Theologen, die er wegen ihres angeblichen Antikommunismus kritisiere. „Lieber Joseph, bist du dir denn gar nicht klar darüber, dass Emil Brunner, Reinhold Niebuhr und unsere anderen westlichen Kirchenväter genau mit derselben Methode und im demselben Stil nun eben ihre westliche Geschichtsschau begründen – und begründen können und von da aus ihren Kreuzzug gegen den Kommunismus in Szene setzen, dass du also im umgekehrten Sinn genauso kalten Krieg führst wie jene?“62

Schon 1958 sprach Charles West eine ähnliche Vermutung aus. Er behauptete, dass sich Hromádka im Grunde genommen nach wie vor für eine kulturchristliche Einheit zwischen Religion und sozialpolitischen Mächten63 ausspreche. Der tschechische Theologe Jindřich Halama drückte diese Analyse ­Hromádkas Theologie so aus: „Hromádka was still attached to the liberal concept to the extent that, in spite of preaching vigorously about the end of the Constantinian era, he needed a social structure that would carry on the meaning of the world’s history.“64 Hromádkas Auffassung vom Ende des konstantinischen Zeitalters, die grundlegend war für die nächsten beiden Generationen, setzte die Vorstellung und Ideologie des Kommunismus voraus. Sie hatte nur in der sozialistischen Welt Bedeutung und Funktion. Die Kirche ohne Macht sollte freier sein, wurde aber wegen des Verzichts auf ihre kritische Funktion gegenüber der Macht zu einer Legitimierung eines Regimes, das Religionsgemeinschaften und 61 Siehe

dazu Fiala/Hanuš, Skrytá církev. Barth an J. L. Hromádka am 18. 12. 1962, in: Rohkrämer, Freundschaft, 215. Der zweite kritische Brief von Barth an Hromádka vom 10. 7. 1963. 63 West, Communism, 77. 64 Halama, Faith. 62 Karl

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Die politische Funktion der Idee vom Ende des konstantinischen Zeitalters 323

Andersdenkende unterdrückte. Hromádkas Post-Konstantinismus war nicht weniger „konstantinisch“ als der Konstantinismus selber, nur zeigte er sich in einer anderen Gestalt.*65

Quellen- und Literaturverzeichnis I. Unveröffentlichte Quellen und Darstellungen Evangelisch-Theologische Fakultät der Karlsuniversität (ETF UK) Prag Nachlass Hromádka, 3–28, 3–29a Zentralarchiv der Evangelischen Kirche der Böhmischen Brüder (ZA EKBB) Prag Bestand Synodalrat, Karton XXI/1 Tschechisches Nationalarchiv [Národní archiv] (NA) Prag Bestand ÚAV NF, Karton 36 Bestand SÚC, Karton 1, 3, 15. Evangelisches Zentralarchiv (EZA) Berlin Bestand 71, Nr. 856

II. Veröffentlichte Quellen und Darstellungen Barth, Karl: Das Evangelium in der Gegenwart (Theologische Existenz heute 25). München 1935. Brakelmann, Günter (Hg.): Kirche im Krieg. Der deutsche Protestantismus am Beginn des Zweiten Weltkriegs. München 1979. Brož, Luděk (Hg.): Gestern und heute: ein Überblick über den tschechoslowakischen Protestantismus. Prag 1955. Bula, Miroslav: Die neue Orientierung. In: Ruys, Bé/Smolík, Josef: Stimmen aus der Kirche der ČSSR. München 1968, 99–103. –, Zivile Interpretation. In: Ruys, Bé/Smolík, Josef: Stimmen aus der Kirche der ČSSR. München 1968, 89–98. Casalis, Georges u. a. (Hg.): Christliche Friedenskonferenz 1968–1971. Dokumente und Berichte. Wuppertal 1971. Cheltschizki, Peter: Das Netz des Glaubens, aus dem Alttschechischen ins Deutsche übertragen von Carl Vogt. Dachau bei München 1923.

* Dieser Aufsatz ist das Ergebnis des Forschungsprojekts „Josef Lukl Hromádka (1889–1969) und der Tschechische Protestantismus 1945–1989“ (I AA 801 830 801), unterstützt von der Tschechischen Akademie der Wissenschaften.

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Peter Morée

ČSSR. Zur Lage der Evangelischen Kirche der Böhmischen Brüder. Eine Dokumentation. In: G2W 6 (1978), H. 2, 7–18. Dinuš, Peter: Českobratrská církev evangelická v agenturním rozpracování StB, Sešity Úřadu dokumentace a vyšetřování zločinu komunismu, 11. Prag 2004. Dobiáš, František M. (Hg.): Od reformace k zítřku. Prag 1956. Fiala, Petr/Hanuš, Jiří: Skrytá církev, Felix M. Davídek a společenství Koinótés. Brno 1999. Halama, Jindřich: Faith And History – Hromádka’s Public Theology. In: Religion in Eastern Europe XXIV (2004), H. 5, 15–37. Hlaváč, Pavel (Hg): Cesta církve II. Prag 2010 (in Vorbereitung). Hromádka, Josef L.: Der Geschichte ins Gesicht sehen. Evangelische und politische Interpretationen der Wirklichkeit. Ausgewählt und herausgegeben von Martin Stöhr. München 1977. –, Kirche und Theologie im Umbruch der Gegenwart: Ein tschechoslowakischer Beitrag zu den ökumenischen Gesprächen. Prag 1956. –, Poslání církve dnes. In: Kostnické jiskry 40 (1955), Nr. 28, 2. –, Odpovědný úkol církve. In: Kostnické jiskry 38 (1953), Nr. 47, 1. –, Theologie a církev. Prag 1949. Huber, Wolfgang: Vom Nutzen und Nachteil von Traditionen für das Leben. Die Kirchenväter und die Kirche von morgen. Vortrag, gehalten am 4. Januar 2001 in der Evangelischen Stadtakademie „Meister Eckhardt“ im Predigerkloster in Erfurt zum Abschluss der Jahrestagung der Patristischen Arbeitsgemeinschaft. http://www.ekd. de/vortraege/huber/5668.html (Abruf: 6. 2. 2010). Jacob, Günter: Raum für das Evangelium in Ost und West. In: Gottes Wort ist nicht gebunden. Vom Auftrag und Dienst der Evangelischen Kirche in Deutschland. Berlin 1956. Kahle, Wilhelm: Über den Begriff „Ende des konstantinischen Zeitalters“. In: Zeitschrift für Religions- und Geisteswissenschaften 17 (1965), 206–234. Kloppenburg, Heinz/Smolík, Josef: Von Amsterdam nach Prag. Hamburg 1969. Lindemann, Gerhard: „Sauerteig im Kreis der gesamtchristlichen Ökumene“: Das Verhältnis zwischen der Christlichen Friedenskonferenz und dem Ökumenischen Rat der Kirchen. In: Besier, Gerhard u. a. (Hg.): Nationaler Protestantismus und Ökumenische Bewegung. Berlin 1999, 654–932. Lochman, Jan Milič: Church in  a Marxist Society,  a Czechoslovak View. New York/ Evanston/London 1970. –, Eine Konstantinische Kirche? In: Communio Viatorum 1 (1958), 40. –, Lístky z Bonnu. In: Kostnické jiskry 42 (1957), Nr. 30, 2. –, Setkání v Německu. In: Kostnické jiskry 42 (1957), Nr. 31, 3. Masaryk, Tomáš G.: The Making of a State: Memoires and Observations 1914–1918. New York 1927. The Mission of the Church Today. In: Communio Viatorum 16 (1973), 279–287. Molnár, Amedeo: Der Tschechoslowakische Protestantismus der Gegenwart. Prag 1954. Morée, Peter: Jak ČCE nabyla ducha svobody a jak o něj přišla, Roky 1968–1977. In: Hlaváč, Pavel (Hg.): Cesta církve I. Praha 2009, 29–49.

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Die politische Funktion der Idee vom Ende des konstantinischen Zeitalters 325 –, Fifty years Communio Viatorum: from a Theological Program into a Platform for Theology. In: Communio Viatorum 50 (2008), 126–146. Neumärker, Dorothea: Josef L. Hromádka, Theologie und Politik im Kontext des Zeitgeschehens. München 1974. Pfann, Miroslav: Nová Orientace v Českobratrské církvi evangelické. Středokluky 1998. Rohkrämer, Martin (Hg.): Freundschaft im Widerspruch. Der Briefwechsel zwischen Karl Barth, Josef L. Hromádka und Josef B. Souček. Zürich 1995. Ruh, Hans: Geschichte und Theologie, Grundlinien der Theologie Hromádkas. Zürich 1963. Smolík, Josef: The Church in a Post-Constantinian Era. In: Communio Viatorum 21 (1978), 133, 135, 138. –, Die Überwindung des Konstantinismus als die Aufgabe der Kirchen Europas. In: Communio Viatorum 16 (1973), 133–138. West, Charles C.: Communism and the Theologians. Philadelphia 1958.

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Katharina Kunter

Ergebnisse der Diskussion

Die Diskussion ging von den beiden Vorträgen von Keith Robbins und JensHolger Schjørring aus und konzentrierte sich auf die folgenden Aspekte: 1. Konkrete vertiefende Einzelfragen: Gefragt wurde nach der Rolle der akademischen Theologie für die öffent­ liche Meinungsbildung in Großbritannien. Diese habe, so Robbins, eine andere Funktion in Deutschland, weil sie nicht konfessionell gebunden sei und daher keine große Theologie zur Meinungsbildung brauche. Das wichtigste Forum für politische Voten ist das House of Lords, in dem die Erzbischöfe eine all­gemein akzeptierte Stimme haben. Eine andere Frage richtete sich auf die, im Vergleich zum Kontinent unterschiedliche Rolle der Studentenbewegung bei der Politisierung des Protestantismus. Robbins konstatierte eine partielle Sympathie der Kirchen für die Forderungen der Studentenbewegung, insbesondere bei Afrika betreffenden Fragen. Wie sich die Beziehungen zwischen der skandinavischen Theologie und der deutschen Theologie bzw. des protestantischen Kirchenbaus darstellen, wollte ein anderer Teilnehmer wissen. Denn in den 1960er Jahren pilgerten deutsche Architekten gerne nach Skandinavien, da sie den schlichten, selbstbewusst sakralen Raum schätzten. Das brach 1968/69 ab, da waren die gemeinschaftlichen Räume in den Niederlanden das Ziel. Schjørring bestätigte dies und wies auf den dramatischen Rückgang der Beziehungen zwischen der skandinavischen und deutschen Theologie hin. Er ergänzte dazu, dass es den Widerspruch gab, dass sehr viel mehr neue Kirchen gebaut wurden seit die Kirchenaustritte zunahmen. Schließlich wurde nach der Diakonie in Finnland gefragt und ihrem Unterschied zur Diakonie zu den anderen skandinavischen Ländern. 2. Einige Aspekte der Referenten wurden ergänzt oder noch einmal besonders hervorgehoben: Für die Theologie wurde darauf hingewiesen, dass die Zuwendung zu einem neuen Wissenschaftsverständnis, das nun empirisch begründete, einen Wendepunkt bedeutete. Schjørring stimmte dieser Beobachtung zu und wies darauf hin, dass die neue empirische Theologie, die auch anti-metaphysischen Charakter hatte, die Tradition der schwedischen Theologie ablöste.

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Ergebnisse der Diskussion

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3. Schließlich bestimmten grundlegende strukturelle Nachfragen und Beiträge die Diskussion. So wurde beispielsweise gefragt, wie sich begründen lässt, dass es im nor­dischen Volkskirchenkonzept, wo doch Kirche und Staat eng miteinander verbunden sind und das Establishment somit eine größere Angriffsfläche bietet, nur zu einem geringen Wandel kam. Schjørring verdeutlichte, dass Kirche und Volk in den nordischen Ländern nicht den gleichen negativen Klang wie in Deutschland haben. Für sie bedeutet „völkisch“ die freiheitliche Tradition, die im 19. Jahrhundert die demokratische Tradition mit aufgebaut hat. Insofern wurde manches von dem, was sich in den 1970er und 80er Jahren durchgesetzt hat, bereits viel früher in der Zwischenkriegszeit, verwirklicht. Eine Frage lautete, wie man methodisch mit Studien wie von Hugh ­McLeod, Grace Davie oder der European Value Study umgehen wolle, wenn diese nur eine begrenzte Makroperspektive aufwiesen und die deutsche Literatur nicht zur Kenntnis nähmen. Schjørring betonte, dass es auch aus deutscher Sicht wichtig sei, internationalen Ausblick zu haben und gleichzeitig gewagtere Thesen aufzustellen. Historische Tiefenschärfe sei wichtig und solle angestrebt werden, aber die Forschung käme nicht weiter, wenn keine gewagten Thesen mehr aufgestellt würden. Ein Teilnehmer hob hervor, dass durch die internationale Perspektive mögliche Faktoren, die die Politisierung bewirkten, nun deutlicher hervorträten. Dazu gehöre zum Beispiel als ein Faktor die Wohlfahrtsentwicklung. Das Beispiel Schweden habe deutlich gezeigt, dass in dem Moment, wo diese einsetze, die Mitgliederbestände der Kirchen zusammenbrächen und es zur Urbanisierung komme. Dieser Prozess sei auch aus Deutschland bekannt. Ein weiterer Faktor sei die Zivilgesellschaft. In den skandinavischen Ländern, wo es stärkere Diskussionen und Aushandlungsprozesse zwischen den verschiedenen Gruppierungen gibt, radikalisierte sich die politische Bewegung nicht so sehr. Das würde für Deutschland heißen, dass möglicherweise zu Beginn der 1960er Jahre die zivilgesellschaftlichen Strukturen noch nicht so weit entwickelt waren, und sich aus diesem Mangel an Vermittlungsmedien etwa die politische Kraft der Studentenbewegung erklären lasse. Ein dritter Faktor lasse sich in der jeweiligen Staatslehre der Kirchen herauslesen, wie das Beispiel Wales und Schottland in Robbins Vortrag gezeigt habe. Gäbe es dann einen Zusammenhang zwischen Politisierung auf der einen Seite und den Austrittsbewegungen auf der anderen Seite? Dann wäre die Frage: „Treten die Leute aus, weil die Kirche zu politisch ist oder zu wenig?“ In diesem Zusammenhang ließe sich die These formulieren, dass, je näher die Kirchen zum Beispiel an den Staat gebunden sind, desto wahrscheinlicher ist es, dass man von der Kirche erwartet, dass sie sich stärker politisiert und der umgekehrte Fall könnte eintreten,

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Katharina Kunter

wenn die ­Kirche nicht dieses Establishment besitzt. Robbins bestätigte die Bedeutung dieses letzten Aspektes und erläuterte, dass sich die Church of Scotland historisch immer als die Stimme des Volkes präsentiert habe; auch, weil es keine eigene Regierung gab. Die Kirche unterstützte in den 1960er Jahre eine politische Bewegung, die mehr konstitutionelle Rechte haben wollte, eine Art „constitutional revolution“. Das führte zu dem kuriosen Problem, dass, je mehr die Kirche die Idee eines eigenständigen schottischen Parlaments unterstützte, umso mehr Gefahr lief, ihre Rolle als Sprecherin für Schottland zu verlieren. Wales da­gegen besaß niemals eine Schottland vergleichbare Struktur des Nationalstaates, hatte keine Regierungsinstitutionen. Es waren also Sprache und Religion, die die Walisische Identität formten. Mit der Kampagne gegen die etablierte Kirche in Wales protestierte man daher auch gegen eine als englisch dominiert wahrgenommene Kirche. Die Politisierung der Walisischen Kirchen verlief daher ganz anders als die der Schottischen Kirchen; wobei Wales immer versuchte, die politische Identität Schottlands zu kopieren.

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Die Politisierung des westdeutschen Protestantismus in den 1960er und 70er Jahren – Ergebnisse und offene Fragen

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Detlef Siegfried

Ein kurzes Statement

Aus zeitgeschichtlicher Perspektive scheint es mir nach den Vorträgen und Diskussionen dieser Tagung wichtig, folgende Aspekte des Politisierungsprozesses und seiner historiographischen Analyse hervorzuheben: 1. Zeitgenössisch war der diffuse Begriff der „Politisierung“ ein Kampfbegriff, der unterschiedliche politische Positionen gegeneinander in Stellung brachte. Das Postulat der „apolitischen“ Kirche verlängerte die Legende von ihrer antipolitisch-kulturbewahrenden Rolle in Abgrenzung von Nationalsozialismus und Kommunismus. Ihre „Politisierung“ wurde von den einen als Bedrohung, von den anderen als notwendige Modernisierung betrachtet. Historiographisch interessant ist in erster Linie die Frage, wie der Begriff der „Politisierung“ von welchen Gruppen gebraucht wurde und wie sich dieser Gebrauch wandelte. Es spricht also vieles dafür, ihn in seiner zeitgenössischen Funktion konsequent zu historisieren. Nichtsdestoweniger können die Quellen auch analytisch fruchtbar gemacht werden, und es macht Sinn, den Begriff der „Politisierung“ bei aller Vorsicht auch als analytische Kategorie zu verwenden. 2. Mit der politischen wurde in den 1960er und 70er Jahren eine generationelle Konfrontation analogisiert. „Politisierung“ meinte in erster Linie Politisierung von links und galt als Projekt der postnationalsozialistischen Generation. Ein genauerer Blick zeigt, dass in den frühen 1960er Jahren eine zunehmende politische und kulturelle Polarisierung einsetzte, die z. T. tatsächlich generationell bestimmt war, allerdings von beiden Seiten ausging, wobei die eine Seite traditionelle Werte und Normen aufrechterhalten wollte, die von der anderen in Frage gestellt wurden. Indikatoren sind z. B. der Aufstieg der NPD und die Aktion Saubere Leinwand auf der einen, Ostermärsche, Anti-Vietnamkriegs-­ Demonstrationen und lebensweltlicher Nonkonformismus auf der anderen Seite. Diese Polarisierung ist auch auf der internationalen Ebene zu beobachten, was westdeutsche Spezifika hervortreten lässt. Während etwa in Dänemark die Gründung der Konservativen Volkspartei eine Reaktion auf die Politisierung des Privaten, die Aufhebung des Pornographie- und des Abtreibungsverbots darstellte, ging die seit Ende der 1960er Jahre in der Bundesrepublik lancierte konservative „Tendenzwende“ innerhalb des bestehenden Parteien­

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Detlef Siegfried

systems vonstatten. Wie der Protestantismus auf die teilweise Rücknahme des Demokratisierungsversprechens in den 1970er Jahren reagierte, gehört zu den mit dieser Periode verbundenen Fragestellungen. 3. Um die Politisierung des Privaten in den 1960er und 70er Jahren zu erfassen, muss die Fixierung auf die Studentenbewegung und die mit der Unschärfeformel „1968“ verbundenen Phänomene aufgebrochen und der Blick zur Gesellschaft hin erweitert werden. Auch hier macht ein Seitenblick auf die Nachbarländer deutlich, dass es erhebliche Ungleichzeitigkeiten gab: z. T. wurde der innerkirchliche Wandel von den radikalen Thesen der Studentenbewegung kaum berührt (so etwa in Großbritannien), z. T. waren Grundsatzfragen des gesellschaftlichen Wandels schon in der Zwischenkriegszeit liberaler entschieden worden als in Deutschland – so etwa im Hinblick auf die Geschlechterordnung, Sexualität und ein antiautoritäres Ideal in Dänemark. In der Bundesrepublik ging die Politisierung des Privaten unter nachholendem Vorzeichen vonstatten. Besonders polarisierende Kraft gewannen gesellschaftliche Richtungsentscheidungen dadurch, dass sie häufig zugleich als Teil der NS-Bearbeitung figurierten, wie am Beispiel der „Politisierung der Lust“1 zu studieren ist, die als antifaschistisches Konzept verstanden wurde, aber in erster Linie auf die unter christlichem Vorzeichen erfolgte Wiedererrichtung traditioneller Sexualnormen in den 1950er Jahren reagierte. Die hier entstehende Polarisierungsenergie rührte nicht allein aus ihrer offensichtlichen politischen Brisanz, sondern insbesondere aus der Tatsache, dass hier private und politische Faktoren verschmolzen und sich in die Lebensweisen einlagern. 4. Wie schreibt man eine sozial- und gesellschaftsgeschichtlich fundierte – nicht nur kontextualisierte – Kulturgeschichte der Politisierung des Protestantismus? Wichtig wäre es, nicht nur auf der Ebene der Diskurse zu verharren, die internen und externen Medien und Kommunikatoren zu untersuchen, sondern sie in Beziehung zu setzen zu den Wahrnehmungen, Deutungen und Praktiken der Akteure  – der Kirchenmitglieder von unterschiedlichem Aktivitätsgrad, auch der Nichtmitglieder. Diskurse sollten nicht mit der Wirklichkeit kirchlichen Lebens verwechselt werden, sondern es wären gerade die widersprüchlichen Momente herauszuarbeiten. So ist es beispielsweise unbefriedigend, die Theologien der Hoffnung, der Befreiung etc. als theologische Positionen zu beschreiben, wenn nicht gleichzeitig die von ihnen ausgelösten Diskussionen und praktischen Umsetzungsversuche ebenso einbezogen werden wie ihre Resonanz 1 Dagmar Herzog: Die Politisierung der Lust. Sexualität in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts. München 2005.

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Ein kurzes Statement

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in Kirche und Öffentlichkeit. Erst in der Korrelation mit Wahrnehmungen und Praktiken lässt sich etwas über die Tiefenwirkung zeitgenössischer Diskurse erfahren, kann der Wandel der Gesellschaft zum Wandel des Protestantismus in Beziehung gesetzt werden. Dabei sollten insbesondere auch Externalisierungsprozesse einbezogen werden: Die Welle der Kirchenaustritte war nicht zuletzt Teil des Politisierungsprozesses, der den Rahmen der bekannten Institutionen in Frage stellte und andere, zum Teil neugebildete Organisationsformen hervorbrachte – insbesondere die Neuen sozialen Bewegungen. So verlagerte sich der „Weltveränderungsoptimismus“ (Harry Oelke) auf der Suche nach anderen Sinnstiftungsmustern und Formen des Engagements zum Teil aus der Kirche hinaus, während gleichzeitig die Individualisierung des Glaubens zunahm. 5. Empirisch ergiebig ausloten lässt sich die Wechselwirkung zwischen Politisierung der Gesellschaft und Politisierung des Protestantismus durch Fragen wie: Inwiefern wirkte die Politisierung der Gesellschaft auf die Politisierung des Protestantismus ein, inwiefern strahlt die Politisierung des Protestantismus auf die Gesellschaft ab? Ging die Politisierung des Protestantismus „von unten“, „von oben“ oder von einer komplexeren Wechselwirkung beider Pole aus? Welche spezifischen Formen nahm die Politisierung der Gesellschaft im Protestantismus als einer nicht per se „politischen“ und von manchen als dezidiert apolitisch betrachteten religiösen Bewegung an? Inwieweit wurden Politisierung und Säkularisierung als Konnex wahrgenommen und entsprechend behandelt? Welche Rolle spielte die globale Dimension des rasanten gesellschaftlichen Wandels für die Diskussion in der Bundesrepublik – insbesondere der Aufstieg der Befreiungsbewegungen in der „Dritten Welt“? Wie reagierte der Protestantismus auf die von der Gegenkultur der späten 1960er Jahre lancierte „Neue Subjektivität“, die über Selbsterfahrungsgruppen, neureligiöse Vereinigungen und popkulturelle Formen Alternativen zur kirchlich gebundenen Religiosität anbot?

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Claudia Lepp

Ergebnisse der Schlussdiskussion

In der ausführlichen Diskussion am Ende der Tagung wurden einerseits methodische Fragen erörtert und andererseits versucht, den Politisierungsprozess in Bezug zu setzen zu den vielfältigen gesellschaftlichen und kirchlichen „Auf­ brüche“ und „Umbrüche“ während der 1960er und 70er Jahre. Die Diskussion setzte ein mit Überlegungen zur wissenschaftlich-analytischen und zeitgenössischen Unterscheidung von „Religion“ und „Politik“. Es wurde dafür plädiert, sich in der Forschung insbesondere auf die Mischverhältnisse zu konzentrieren und Veränderungen sowie neue Abgrenzungen zu untersuchen. Dabei sollte man aber grundlegend zwischen Akteursperspektive und wissenschaftlicher Perspektive unterscheiden, mahnte ein anderer Diskutant. Weitgehend einig war man sich darin, unter dem Begriff „Politisierung“ sowohl eine Analysekategorie als auch einen zeitgenössischen Kampfbegriff zu verstehen. Eine weitere Diskussionsrunde drehte sich um die Frage, wie während der 1960er Jahre das Verhältnis von Kirche und Gesellschaft gedeutet wurde und warum es zu neuen Interpretationsmustern kam. Eine These ging dahin, dass der Grund für die Politisierung in der Angst um die öffentliche Existenz der Kirche lag und somit eine Plausibilisierungsfrage im existenziellen Sinne dahinter stand. Einige Fragen und Anregungen richteten sich auf Veränderungen in der Theologie und deren Hintergründe. Inwiefern, so wurde gefragt, setzte nicht schon die historisch-kritische Methode einen Veränderungsimpuls frei und welche Dauerkonflikte kristallisierten sich an ihr? Welchen Einfluss die Frankfurter Schule auf die politische Theologie hatte, wurde kontrovers beurteilt. Ein Teil  der Abschlussdiskussion war der Wirkungsgeschichte der politischen Theologie gewidmet. Wie wurden die theologischen Entwürfe – etwa die Moltmanns – von ihren Anhängern interpretativ angeeignet und welche Rolle spielten sie in deren politischer und privater Praxis? Wie viel blieb von diesen Konzepten in der praktischen Rezeption übrig? Hier wurde ein deutlicher Forschungsbedarf ausgemacht. Erhöhtes Augenmerk wurde auf die Bezüge des Politisierungsprozesses zu anderen Zeitströmungen gelegt. Dabei wurde für die 1970er Jahre insbesondere auf Individualisierungsprozesse, auf ein neues Subjektivitätskonzept, auf

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Ergebnisse der Schlussdiskussion

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den Trend zur Authentizität, auf Institutionenkritik sowie auf therapeutische Ansätze hingewiesen. Wie verhielten sich diese Tendenzen, die mit neuen Formen von Religiosität einhergingen, zur Politisierung? Sind sie als Depolitisierungsprozess oder als eine andere Form von Politisierungsprozess zu begreifen? Als ein Beispiel wurde die kirchliche Jugendarbeit angeführt, in die Ende der 1960er Jahre psychologische Methoden Eingang fanden. Hier hatte die Institution selbst Anteil an der Entwicklung der neuen Subjektivität. Diese konnte durchaus auch politisierend wirken, wenn z. B. Jugendliche, gestärkt durch Selbsterfahrungsgruppen, Eltern und Lehrer nach ihren autoritären Prägungen und ihrem eigenen Verhalten während des Nationalsozialismus befragten. In diesem Kontext wurde betont, dass die Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit als Teil des Politisierungsprozesses der 1960er und 70er Jahre noch stärker in den Focus rücken sollte. In der unmittelbaren Nachkriegszeit sei eine „Politisierung der Kirche“ mit den Entwicklungen unter den Nationalsozialisten gleichgesetzt worden. In den 1960er Jahren wurde dann daraus ein Kampfbegriff gegen linke Strömungen im Protestantismus. Die linkspolitisierten Protestanten verstanden sich wiederum selbst explizit als antifaschistisch. Auch wurde darauf hingewiesen, dass der „Kirchenkampf“ und die Bekennende Kirche von beiden Seiten als geschichtspolitisches Argument genutzt wurde: sowohl von den Befürwortern einer Politisierung als auch von ihren Gegnern. In Zusammenhang mit der Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit wurde noch einmal die Bedeutung der Generationenzugehörigkeit unter­ strichen. Hier sind die einzelnen Generationskohorten und ihre Rolle im Poli­ tisierungsprozess der 1960er und 70er Jahre noch genauer in den Blick zu nehmen.

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Autorinnen und Autoren

Eitler, Pascal Jg. 1973, Dr. phil., Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Forschungsbereich „Geschichte der Gefühle“ am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in ­Berlin. Fitschen, Klaus Jg. 1961, Dr. theol., Professor für Neuere und Neueste Kirchengeschichte an der Theologischen Fakultät der Universität Leipzig; Mitglied der Kommission der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte. Gettys, Sven Daniel Jg. 1977, M. A., Doktorand am Lehrstuhl Neuere Geschichte III (Prof. Dr. ­Lucian Hölscher), Ruhr-Universität Bochum. Hannig, Nicolai Jg. 1980, Dr. phil., wissenschaftlicher Mitarbeiter am Historischen Seminar der Ludwig-Maximilians-Universität München. Hermle, Siegfried Jg. 1955, Dr. theol., Professor für Theologie und ihre Didaktik an der Philosophischen Fakultät der Universität zu Köln; Stellvertretender Vorsitzender der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte. Kunter, Katharina Jg. 1968, Dr. phil., Wissenschaftliche Mitarbeiterin in der DFG-Forschergruppe „Transformation der Religion in der Moderne“ der Ruhruniversität Bochum; Privatdozentin für Neuere und Neueste Geschichte am Institut für Geschichte des Karlsruher Instituts für Technologie. Lepp, Claudia Jg. 1965, Dr. phil., Leiterin der Forschungsstelle für Kirchliche Zeitgeschichte, München; Privatdozentin für Neuere und Neueste Geschichte am Historischen Seminar der Ludwig-Maximilians-Universität München.

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Autorinnen und Autoren

Linck, Stephan Jg. 1964, Dr. phil., Wissenschaftlicher Angestellter beim Nordelbischen Kirchenarchiv in Kiel. Morée, Peter Jg. 1964, Dr. theol., Dozent für Kirchengeschichte an der Theologischen Fakultät der Karlsuniversität Prag. Oehlmann, Karin Jg. 1973, Dipl. Theol. und M. A. Zeitgeschichte, Wissenschaftliche Angestellte am Institut für Evangelische Theologie an der Universität zu Köln. Robbins, Keith Jg. 1940, Ph. D. D. Litt., Professor für Neuere Geschichte, ehemaliger ViceChancellor of the University of Wales, Lampeter. Roggenkamp-Kaufmann, Antje Jg. 1962, Dr. theol., Studienrätin am Theodor-Heuss-Gymnasium Göttingen, Privatdozentin für Praktische Theologie an der Theologischen Fakultät der Universität Göttingen, Mitglied der Kommission der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte. Sammet, Kornelia Jg. 1963, Dr. phil., Diplom-Soziologin, Leitung des DFG-Projekts: „Fallrekonstruktionen der biographischen Einbettung und der sozialen Bezüge von religiösen und nicht-religiösen Weltsichten in prekären Lebenslagen“ am Institut für Kulturwissenschaften der Universität Leipzig. Schilling, Annegreth Jg. 1981, M. A., Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Geschichte des Karlsruher Instituts für Technologie im DFG-Forschungsprojekt „Auf dem Weg zum globalen Christentum: Die europäische Ökumene und die Ent­ deckung der ‚Dritten Welt‘ zwischen 1966 und 1973“. Schjørring, Jens Holger Jg. 1942, Dr. theol., Emeritus für Kirchengeschichte der Universität Aarhus, ständiger Gast der Kommission der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft für Kirchliche Zeitgeschichte.

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Autorinnen und Autoren

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Schlag, Thomas Jg. 1965, Prof. Dr. theol., Professor für Praktische Theologie an der Theologischen Fakultät der Universität Zürich. Siegfried, Detlef Jg. 1958, Dr. phil., Associate Professor am Department of English, German and Romance Studies der University of Copenhagen. Widmann, Christian A. Jg. 1978, M. A., Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Theologischen Fakultät der Ludwig-Maximilian-Universität München im DFG-Forschungsprojekt „Kontroversen über Gewalt und gesellschaftlichen Wandel. Der Protestantismus und die politisch motivierte Gewaltanwendung in den 1960er und 70er Jahren“.

© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525574515 — ISBN E-Book: 9783647574516

Personenregister Aagaard, Anna Marie  296 Aagaard, Johannes  296 Adenauer Konrad  13–16, 34, 37, 52, 71, 155, 166 Adorno, Theodor W.  100 Albertz, Heinrich  228 Albrecht, Susanne  78 Alves, Rubem  162 Amery, Carl  261 Andersch, Alfred  32 Andersen, Johanne  292 Augstein, Rudolf  35, 39, 198, 200, ­205–209, 211–214, 216, 244 Bahr, Egon  37 Bahr, Hans- Eckehard  134 Baldermann, Ingo  103 Bannach, Horst  208, 213 Barth, Karl  15, 119, 124, 126, 128, 181, 239, 303 ff, 311 f, 316, 322 Baumann, Richard  67 ff Beauvoir, Simone de  181 Becker, Hans  229 f Beckmann, Joachim  212, 235 Beer, Wolfgang  78 Berggrav, Eivind  299 Bergmann, Ingmar  36 Bloch, Ernst  90, 126, 133, 152 f, 155, 164 Böckenförde, Ernst-Wolfgang  261 Böckle, Franz  204 Böll, Heinrich  32, 261 Bonhoeffer, Dietrich  119, 128, 201, 238 f, 287 Brandt, Willy  18, 37, 44, 58, 71, 115 Braun, Herbert  127 Brecht, Bertolt  90 Brill, Siegfried  98 Brown, Callum  279

Brož, Luděk  312 Bultmann, Rudolf  201 f, 204, 238 f, 287 Calvin, Johannes  129 Canterbury, Anselm von  281, 284 Casanova, José  258 Chelčický, Petr  307 Cohn-Bendit, Daniel  275 Collins, John  281 Congar, Yves  204 Daly, Mary  173 Davie, Grace  327 Dellwo, Karl-Heinz  78, 81 Deschner, Karlheinz  210 Dibelius, Otto  71 Diem, Hermann  72, 124 Dietzgen, Joseph  125 Dipper, Theodor  64 f Dirks, Walter  262 f Döpfner, Julius  202 f Dörger, Hans Joachim  90 Drenkmann, Günter von  83, 113 Dubček, Alexander  317, 319 Dulles, John Forest  309 Dümlein, Christine  78 Dutschke, Rudi  71, 133 f, 225, 227 ff Eckes, Christa  78 Eichmann, Adolf  52 Eitler, Pascal  9, 19, 122, 138 Ennslin, Gudrun  80 Enzensberger, Hans Magnus  35, 52 Eppler, Erhard  42 Erhard, Ludwig Wilhelm  35 ff, 71 Evertz, Alexander  200 Farner, Konrad  262 Fliege, Jürgen  81

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Personenregister Freire, Paulo  161 Fuchs, Ernst  202 Gabriel, Karl  254 Gagarin, Juri  34 Garaudy, Roger  122, 129, 133, 255 Gettys, Sven Daniel  196, 244 f Girardi, Giulio  138, 205, 258, 262, 264 Göldner, Horst  87 Gollwitzer, Brigitte  128 Gollwitzer, Helmut  16, 27, 119, 121, 127 f, 137–140, 204 f, 225, 227 ff, 239 f, 263, 287, 316 Graber, Rudolf  211 Graf, Friedrich, Wilhelm  122 Grässer, Erich  231 Grass, Günther  35, 52 Greiffenhagen, Martin  45 Greiffenhagen, Sylvia  45 Grell, Wolfgang  80, 85 Grimme, Adolf  139 f Gross, Johannes  210 Gutiérrez, Gustavo  161 f Haag, Herbert  204 Habermas, Jürgen  40, 58, 115, 188 Hägerström, Axel  297 Halama, Jindřich  322 Halbfas, Hubertus  204 Hammelsbeck, Oskar  95 f, 114 Hannig, Nicolai  196, 243 f Hartenstein, Karl  66 Haug, Martin  66, 71 f Hauschild, Wolf-Dieter  27, 57, 223 f Havemann, Robert  129 Hedenius, Ingemar  297 f Heidegger, Martin  238 Heinemann, Gustav  15 f, 27, 229 Heintze, Gerhard  236 f Helbich, Hans-Martin  225, 228 ff, 232 Hendrych, Jiří  321 Henkys, Reinhard  226 Hennis, Wilhelm  43 Hetzel, Ina  206

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Hitler, Adolf  71, 305 Hochhuth, Rolf  261 Hoepfner, Erich  207 f Horkheimer, Max  122, 133 Hornung, Peter  202 Hromádka, Josef L.  119, 124, 126 ff, 134 f, 145, 277, 304–323 Hrůza, K.  311 Huber, Wolfgang  81, 303 Husák, Gustáv  319 Husserl, Edmund  223 Hutten, Kurt  210 Inacker, Michael J.  16 Iwand, Hans-Joachim  124, 127, 316 Jacob, Günter  302 ff, 308 Janssen, Heinrich Maria  211 Johannes XXIII.  253 f Juchler, Ingo  262 Jüngel, Eberhard  140 Kahle, Wilhelm  303 f Käsemann, Ernst  223, 229 Kästner, Alexander  87 f Kaufmann, Ekkehard  69 Kaufmann, Hans Bernhard  96 Kellner, Erich  129, 254 Kennedy, John F.  36, 52, 70 Kierkegaard, Søren  303 King, Martin Luther  85, 101 Kittel, Helmuth  94 f, 114 Kliemann, Peter  107 Kloppenburg, Heinz  127 Klumpp, Oskar  64 f Koch, Bodil  292 f, 295, 301 Kock, Manfred  81 Koeppen, Wolfgang  32 Kohl, Helmut  52 f Kraushaar, Wolfgang  107 Kriechbaum, Friedel  99 Küng, Hans  202, 204 Künneth, Walter  16, 140, 200, 214, 237 Kunst, Hermann  13

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Personenregister

Kunter, Katharina  9, 151 Küster, Thomas  256 Langer, Heidemarie  185 Lenz, Siegfried  35 Leo, Walter  201, 203 Lilje, Hanns  9, 71, 287 Linck, Stephan  59 Lott, Jürgen  90 Lubac, Henri de  204 Lukatis, Ingrid  171 Luther, Martin  132, 227 Machovec, Milan 119, 127, 131, 135 f, 138 Mahnke, Horst  208, 211 Marsch, Wolf-Dieter  115, 133, 154 Marwick, Arthur  278 Marx, Karl  132, 137 Masaryk, Tomáš G.  305 ff Mattmüller, Hans-Dieter  212 McLeod, Hugh  279, 305, 327 Meinhof, Ulrike  80 Meins, Holger  78, 81, 83, 113 Metz, Johann Baptist  19, 119, 138, 150, 202, 204 f, 239, 255, 257 f, 262 f Metzke, Erwin  125 Müller-Fahrenholz, Geiko  153 f, 231 Müller-Schwefe, Hans-Rudolf  86, 238 Mojzes, Paul  122 Molnár, Amedeo  312 Moltmann, Jürgen  19, 119, 126 f, 130, 152–156, 163 f, 205, 231, 238 f, 244 f, 262 f, 334 Morée, Peter  9, 277 Motschmann, Klaus  200 Nannen, Henri  198 Nave-Herz, Rosemarie  172 Nenning, Günther  134 Niemöller Martin  15, 27, 124, 127, 311, 316 Nipkow, Karl Ernst  107 Nowak, Kurt  252 Nygren, Anders  297

Oehlmann, Karin  19, 58, 111 f Oelke, Harry  333 Oestreicher, Paul  132 Ohnesorg, Benno  71, 73, 132, 224 Otto, Gert  90, 115 Øverland, Arnuld  298 Pahlavi, Reza  43, 73, 224 f Palacký, František  306 f Pannenberg, Wolfhart  140, 238 Paul VI.  259 Petersen, Alfred  84 Petersen, Edith Brennecke  292 Picht, Georg  133, 233 Pike, James A.  201 Pinochet, Augusto  80 Platon  122 Pohl, Gerhard  227, 229, 232 Pollack, Detlef  57 Posser, Diether  80 Pressel, Wilhelm  81 Rahner, Karl  138, 202, 204 f, 238, 252, 255, 263 Rasker, Albert  127 Ratzinger, Joseph  204 Rawls, John  115 Reller, Horst  230 f Rendtorff, Trutz  130 Rickers, Folkert  92 Röhm, Fritz  66 Rohe, Karl  44 Rossmann, Erich  33 Rössner, Bernhard  78 Robbins, Keith  276 f, 326 ff Robinson, John A. T.  201, 249, 287 Roth, Roland  45 Rothschuh, Michael  69 Rothschuh, Regula  69 f Rucht, Dieter  45 Rücker, Kristin  181 f Ruether, Rosemary R.  173 Runcie, Robert  288 Rupp, Hartmut  107

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Personenregister Saller, Martin  208, Sammet, Kornelia  19, 120 Schaff, Adam  129 Scharf, Kurt  17, 71, 112, 225 f, 228, 232 f, 238, 240 Schillebeeckx, Edward  202, 204, 208 Schilling, Annegreth  19, 120, 123, 191 Schjørring, Jens Holger  276 f, 326 f Schlag, Thomas  59, 113 f Schleiermacher, Friedrich  303 Schmid, Anne-Lore  72 Schmithals, Walter  140 Schmitt, Carl  151 Schoonenberg, Piet  204 Schüssler Fiorenza, Elisabeth  173 Schwarz, Hans-Peter  206 Shaull, Richard  157 ff, 164, 239 Siegfried, Detlev  27, 29, 51 ff, 331 Smith, Ronald Gregor  287 Smolík, Josef  320 f Sölle, Dorothee  19, 119, 139 f, 162, 204 f, 212 f, 239, 244, 263 Souček, Josef B.  312, 314 Spieker, Manfred  122 Spieker, Martin  135, 137 Springer, Axel  112, 198, 200, 205–208, 211 ff, 216, 228, 234, 243 Stalin, Josef  125 Stammler, Eberhard  198, 235 f Steck, Karl Gerhard  95 Steffensky, Fulbert  257 Sternebeck, Sigrid  78 Stöhr, Martin  128 Strauß, Franz Josef  39 Studnitz, Hans-Georg von  210, 213 Süsterhenn, Adolf  36 Sywottek, Arnold  32 Tenbruck, Friedrich  33 Teufel, Fritz  225, 227 Thatcher, Margaret  282, 288 Thiede, Simone  122 Thielicke, Helmut  87, 200

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Thier, Erich  95 Tillich, Paul  128, 201, 287 Tödt, Heinz-Eduard  133, 137, 141 Togliatti, Palmiro  128 Torres, Camilo  262 Trible, Phyllis  173 Tschombé, Moishe  43 Tse-tung, Mao  90 Vajta, Vilmos  294 Verheyen, Nina  256 Vermehren, Ruth  292 Vierzig, Siegfried  97 Visser ’t Hooft, Willem Adolf  312 Vogel, Heinrich  316? Volz, Lenore  178 Voss, Jutta  68 Vrijdaghs, Bartholomeus  101 Walser, Martin  35, 52 Wallraff, Hans-Günter  101 Waltermann, Leo  202 Wegenast, Klaus  97, 101 Wendland, Heinz-Dietrich  126, 158 West, Charles  127, 322 Widmann, Christian  19, 119, 191 Wiedenmann, Wolfgang  81, 83 f Wilkens, Erwin  234 Wilm, Ernst  316 Winde, Hartmut  83 f Wisniewski, Stefan  78 Wölber, Hans-Otto  85, 234–237, 245 Wolf, Ernst  124 f Wolff, Hans Walter  231 f Wuermeling, Franz-Josef  33 Wurm, Theophil  66 Zahrnt, Heinz  214, 227 Zehrer, Hans  206 Ziegenrücker, Joachim  86 f Ziemann, Benjamin  258 Zimmermann, Wolf-Dieter  227 Zundel, Rolf  215

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