Die Philosophie des Unvollendbar [Reprint 2020 ed.] 9783112353424, 9783112353417


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German Pages 638 [640] Year 1919

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Table of contents :
Vorwort
Inhaltsangabe
Die Aufgabe der Grundlegung
Das Problem der Wirklichkeit
Das Problem der Ursächlichkeit
Das Problem der Freiheit
Die Metaphysik des natürlichen Gegenstandes
Paradoxien
Kritik des Logismus
Erlebnis und Geltung
Die Methode der Psychologie
Die Gegenstände der Psychologie
Gesetze der allgemeinen Psychologie
Beschluß
Verzeichnis der Kunstworte
Verzeichnis der Autoren
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Die Philosophie des Unvollendbar [Reprint 2020 ed.]
 9783112353424, 9783112353417

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Die Philosophie des Unvollendbar von

Dr. Emanuel Lasker

Leipzig

a Verlag von Veit & Comp.

e> 1919

Alle Rechte, einschließlich des Übersetzungsrechts, vorbehalten.

Druck von Metzger & Wittig in Leipzig.

Vorwort Die alte Philosophie hat versagt, und wir bedürfen aufs nötigste einer neuen. Zu dieser Behauptung mich zu bekennen, bin ich gezwungen, wiewohl ich vor den schöpferischen Philosophen Ehrfurcht fühle. Ohne sie wäre der Mensch noch in der Barbarei. Sie haben Wissenschaft und Kultur gebracht, den Tiefblick in das Geheimnis des Seienden geschärft. Ihre Gedanken haben unsere Besten, Forscher, Künstler, Männer der Tat, durchschauert und befruchtet. Im einzelnen aufzuweisen, was sie geleistet, überstiege menschliche Kraft. Aber wir erleben jetzt einen großen Wandel, wir wenden uns um Rat, Hilfe und Besinnung an die Philosophie: und nun versagt sie uns. Dieses will ich nunmehr belegen. Philosophie, die ihren Namen von der Weisheit zieht, unterscheidet sich von Wissenschaft, Kunst und Technik, die auf Scharfsinn, Phantasie und Geschicklichkeit beruhn, durch ihr Ziel: diese befassen sich mit einzelnen, bestimmten, besondern, umgrenzten Gegenständen, der Gegenstand jener ist das All. Der Raum mit den Körpern darin: Kosmos, Weltenstoff; die Zeit, die von Ereignissen erfüllt ist: Ethos, Kampf, Geschichte; das Denken mit seinen Beziehungen: Logos, System der Erkenntnis; alles dieses ohne Einschränkung ist Gegenstand der Philosophie. Dies All nicht als ein Chaos, sondern als Einheit, als Gefüge, ist Zielpunkt der Gedankenarbeit des Philosophen. Philosophie wird gelehrt und mitgeteilt, denn sie ist ein System von Lehrsätzen und läßt sich in Worte fassen. Wohl an die Hunderttausende geht die Zahl der Bücher, die in der geschichtlichen Zeit der Philosophie gewidmet worden sind. Aber Quell der Philosophie sind natürlich nicht jene Bücher, sondern das Gemüt und der Geist des Menschen. Was der Philosoph in Worte faßt, stammt in seinem Ursprung aus des Menschen Innern. Aus Gründen, die nur schwer zu erleuchten sind, schöpft der Philosoph, bringt es ans Licht und gießt es in eine Form. In diesem Sinne hat jeder Mensch eine Philosophie, die er kaum zu stammeln weiß, die er aber mit völliger Sicherheit lebt. Seine Philosophie, würde er sie meisterlich zum Ausdruck zu bringen wissen, würde in Worten, in Begriffen, widerspiegeln, was er fühlt, denkt, erstrebt, betätigt. Diese

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Vorwort.

leine Philosophie wäre eine Ausprägung seines Könnens, seines Strebens, ¡einer unerschütterlichen Überzeugungen, der Parteilichkeit, die er Dingen, Menschen und Gedanken gegenüber offenbart. Die Philosophie hat die Aufgabe, aus den Gründen der menschlichen Seele eine Lehre über das All aufzustellen und zu vertreten und zu verbreiten. Sie soll ins Bewußtsein heben, in Begriffe fassen, in ein System bringen, was in den Tiefen der Seele unartikuliert wirkt und schafft. Man nennt das, was da wirkt und schafft, mit mancherlei Namen: den Glauben, die Vernunft, Gemüt und Geist: doch ist's im Grunde ein und dasselbe, was damit bezeichnet wird. Der Vernunft die Sprache zu verleihn, ist die Aufgabe des Philosophen. Die alte Philosophie nun ist an dieser Aufgabe gescheitert. Bevor ich dies begründe, rufe ich als Bürgen einen großen Philosophen an. In der Vorrede zur ersten Ausgabe seiner „Kritik der reinen Vernunft" sagt KANT: „Die menschliche Vernunft hat das besondere Schicksal in äiner Gattung ihrer Erkenntnisse: daß sie durch Fragen belästigt wird, die sie nicht abweisen kann; denn sie sind ihr durch die Natur der Vernunft selbst aufgegeben; die sie aber auch nicht beantworten kann, denn sie übersteigen alles Vermögen der menschlichen Vernunft." So spricht, man wird es wohl zugestehn, kein Siegesbewußter. So spricht eine ungeheure Offenheit, so spricht Reife des Urteils sich unerschrocken aus, wofern die Grundstimmung die der Resignation ist. KANT verleiht hier einer starken philosophischen Bewegung Stimme. Sehr viele Philosophen meinen, daß in der Vernunft selber ein Widerspruch stecke. Sie nennen den Widerspruch das Unendlich, das vollendete Unendlich, das Unbedingte, oder noch anders. Und sie führen Gründe an. warum man der Antinomie, dem Selbstwiderspruch, durchaus nicht entgehn könne. Die Gründe sind gute und gewichtig, nur folgt daraus nicht die Antinomie: diese ist aufhebbar. Doch ich will das hier nicht weiter ausführen. Hier zeige ich nur auf jene uralte Bewegung des Zweifels an der Vernunft hin, zu deren Wortführern neben vielen Philosophen auch ein K A N T gehört hat. Gewiß, KANT wollte kein Skeptiker sein und war es nicht. Auch hat er die Antinomie mit vieler Kunst wegerklärt. Aber war seine Erklärung, trotz aller Kunst, stichhaltig? Für den Unbefangenen sind die ersten Worte der Vorrede seines bedeutendsten Werkes, trotzdem er sie umgedeutet hat, Zeugnis für eine Resignation. Doch die Begründung des Satzes, daß die alte Philosophie versagt habe, will ich keineswegs auf dies Zeugnis stützen, sondern auf den alten Spruch, daß die Dinge an ihren Früchten erkannt werden. Ich will dartun, daß die alte Philosophie der Aufgabe, die ihr im Getriebe des menschlichen Lebers obliegt, nicht gerecht geworden ist. Man ziehe die Bilanz. Hat unsere Philosophie uns Vertrauen in die Welt geschenkt ? Alle geschichtlich gewordene Gläubigkeit wankt. Hat unsere Philosophie uns die Wissenschaften fest erbaut? Das Fundament aller unserer Wissenschaft ist vulkanisch: in Geschichte, "Psychologie, Biologie,

Vorwort.

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Physik — Chemie herrscht Streit ob der Grundlagen — die Krankheit der Paradoxie hat sogar die strenge Mathematik befallen —, keine einzige Frage ist geklärt; überall Kampf und Zweifel. — Und endlich, hat die alte Philosophie es wenigstens vermocht, uns eine glückliche, arbeitsfrohe Stimmung zu schenken? — Man schaue um sich: es klagen und spotten die Dichtungen; das Streben, welches schaffen und erhalten soll, zielt schamlos auf Zerstörung. — Wahrlich, die Arbeit, welche die Philosophie für die Menschheit zu leisten hat, ist noch ungetan. Die alte Philosophie hat nicht ohne eigene Schuld versagt. Das Welträtsel hat sie lösen wollen, als wäre es ein Rätsel gestellt von Menschenwitz. — Die Griechen haben die Fabel von den Göttern und den Titanen sicherlich als ein Gleichnis gemeint. Hatten sie dabei nicht die Philosophie im Auge? Die Philosophen, die den Himmel der Wahrheit ersteigen wollten, büßten ja diese Vermessenheit grade wie die Titanen. — Die heutigen Nachfolger der alten Philosophen haben den überheblichen Versuch noch immer nicht aufgegeben. Mit Hypothesen der Physik—Chemie wollen sie uns zeigen, wie der Weltenbau konstruiert ist, mit reiner Logik das Gefüge der Begriffe und allen Sinnes erkennen. In solchem hoffnungslosen und verderblichen Streben einen sich die verschiedensten Schulen, ihr Gegensatz kommt nur bei den Mitteln, wodurch sie dies Ziel erreichen wollen, zum Ausbruch. Durch dies Streben sind sie alle in gleicher Weise gekennzeichnet. Freilich, viele Philosophen bekennen, die Aufgabe der Philosophie sei ohne Ende; K A N T verurteilt den Ehrgeiz, die Welt vollends zu begreifen, und nennt das „Ding an sich" unerkennbar; SPINOZA und H E G E L deuten die Unvollendbarkeit der Erkenntnis durch ihre Auffassung des Unendlich an; NeuKantianer stellen eine Lehre von der Unvollendbarkeit des Systems der Erkenntnis ausdrücklich auf; andre unserer Philosophen betonen das „Irrationale", das .,Numinose", der Wirklichkeit, infolgedessen sie sich von der Vernunft nie vollends meistern lasse: aber sie Alle versuchen immer von neuem, ihren Bekenntnissen zum Trotz, dem Unvollendbar ein Schnippchen zu schlagen. Den Gegensatz des Unendlich und des Unvollendbar haben sie nicht festgehalten, darum haben sie das Wesen des Begriffs des Unvollendbar nicht getroffen und das Gesetz dieses Begriffs tausendfach übertreten. Ihnen hat das Unvollendbar kein ruhiges, leuchtendes Licht geworfen, sondern schwankendes Irrlicht: zum Verführer, nicht zum sichern Wegweiser ward es ihnen. Und zwar durch ihre Schuld, denn vor dem Unvollendbar haben sie das nüchterne Urteil, die gesunde Kritik, den stetigen methodischen Fortschritt aufgegeben. Grade da, wo die stärkste Waffe des Mannes der Wissenschaft am nötigsten war, haben sie zu dem alten, längst abgetanen Rüstzeug der romantischen Erdichtungen und der Spitzfindigkeiten gegriffen. Die jetzt notwendige Philosophie hat die Fehler der alten zu bezeichnen, zu beleuchten und meiden zu lehren. Sodann hat sie fruchtbar zu sein. Als Sprungbrett ist ein Gedanke dienlich, der in den letzten sechs Jahrzehnten gereift ist: der des Kampfes, der Entwicklung. Diese günstige

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Vorwort.

Gelegenheit, die sich den alten Philosophen nicht geboten hat, weil ja die Biologie lange Zeit auf einen DARWIN hatte warten müssen, muß die jetzt notwendige Philosophie ausnützen, indem sie DARWINS Gedanken zu Ende denkt. Sodann hat sie das Problem des Unvollendbar nach strenger Methode zu lösen. Auch hier wiederum hat die Neuzeit den Boden gedüngt durch die geniale Lehre CANTORS, die Mengentheorie. Nur wenige Begriffe und Sätze braucht der Philosoph zu borgen, das Gesetz des Begriffs des Unvollendbar wird dann einleuchtend und, abgerechnet die Denkgewöhnung, die erst erworben werden muß, selbstverständlich. Diese Bestrebungen, folgerecht fortgesetzt, leiten von selbst zu einem neuen Systeme der Philosophie. Denn diese Bestrebungen, systematisch entwickelt, führen zu einer Lehre des All, worin die Mystik, das Mysterium, des Daseins Licht empfängt vom Begriffe des Unvollendbar, und die Aufgabe des Begreifens in einer Theorie des Kampfes zusammengefaßt und erleichtert wird. Die alte Philosophie hat versagt, und die neue wird ihren Einzug .halten. Man lasse sich darüber nicht täuschen durch die Verblendung Jener, die alles Alte mit Glorienschein umgeben, noch durch die Verschwörung der Pedanten, die jedem neuen Gedanken ein Etikett anhängen, um ihn als. registriert hinzustellen und dann bei Seite zu rücken. Die kommende Zeit wird ihnen nicht mehr geduldig folgen. Die Zeit ist aufgewacht. Sie will alle Dinge, alle sonder Ausnahme, an deren Leistung messen. Vor dieser wachen, unerschrocknen Zeit kann die alte Philosophie nicht bestehn. Bei einem neuen Systeme der Philosophie ist nicht allein der Gehalt, den es predigt, wichtig. Im Leben mag man über die Form, den Stil, die Darstellungsweise urteilen, wie man will — es hat Verächter der Form gegeben, die Tüchtiges geleistet und sich durchgesetzt haben —, für den Philosophen ist der Stil von erheblicher Bedeutung, denn er muß sich mitteilen, er muß Gedanken und Gefühle zum Ausdruck bringen, so zwar, daß er verstanden wird und die Seelen ergreift. Vielleicht ist Philosophie nur als Kunstwerk zu begreifen: jedenfalls wirkt der Philosoph nicht anders denn als Künstler. In dieser Erkenntnis war die Frage für mich von Belang, an welches Publikum ich mich wenden solle. Zwar schreibt der Philosoph für die Menschheit, aber er braucht als Mittler ein kleines Publikum, das sich allmählich auszubreiten die Kraft hat. Daher fragte ich mich, ob ich für Philosophen oder Gelehrte oder die weite Menge des Volks schreiben solle? Daß ich mich einzig und allein an Fach-Philosophen wenden solle, kam für mich nicht ernstlich in Frage. Nicht, daß ich die Fach-Philosophen unterschätze: sie haben, wie ich sogleich zeigen werde, eine sehr wesentliche Aufgabe erfüllt. Aber sie sind mir nicht mit einer Gloriole umgeben, ich sehe sie mit nüchternen Augen an und schätze sie nur gemäß dem Guten

Vorwort.

VII

und Trefflichen, das sie geleistet, ohne daß ich imstande wäre, den Schaden, den sie stiften, zu vergessen. Die Philosophen von Beruf: jene, die die Katheder der Universitäten besteigen, und jene, die bei ihnen gehört haben, um sodann ihr Wissen in der Literatur auszuwerten: haben den großen Vorzug einer genauen Kenntnis der Logik. Sie sind geschult, die Voraussetzungen und die Schlußfolgerungen einer vorgetragenen Lehre zu entdecken, und zwar auch dort, wo der Vortragende sich dieser logischen Gliederung nicht bewußt wird und sogar, wo er sie verschleiert. Diese Kunst ist ebenso selten wie wertvoll. — Wenn, um ein Beispiel zu geben, Staatsmänner an ihre Reden und Kundgebungen den Maßstab der Logik anzulegen verständen, so würden die politischen Gedanken und also auch die politischen Maßnahmen in Voraussetzungen und Zielen klar erkannt werden und daher eines stetigen Fortschritts gewiß sein; bei den Staatsmännern Europas und Amerikas spürt man jetzt von solcher Kunst gar nichts; sie wenden andre Prinzipien auf Freund wie Feind an, verwickeln sich daher notgedrungen in Sophistereien, und die Menschheit, welche zwar nicht logisch zu denken gelernt hat, aber wohl Logik mit dem Herzen treibt, wird enttäuscht und muß leiden. — Und wiederum, wenn Physiker Logik verständen, würden ihnen die Voraussetzungen ihrer Theorie gegenwärtig sein und sie würden dadurch davor bewahrt, gegen diese Voraussetzungen zu verstoßen: heute aber begehn auch führende Physiker diesen Fehler, sehr zum Schaden der Wissenschaft. Ein fernerer Vorzug der Fach-Philosophen ist, daß sie für Fragen, die das All betreffen, einen eigenen Geschmack entwickelt haben. Ich rede hier nicht von ihrer K e n n t n i s : Kenntnis der philosophischen Systeme wäre kein Vorzug, wenn sie nur eine Sache des Verstandes bliebe, sie wird aber wertvoll, wenn sie einen fein sondernden und gesunden Geschmack hervorruft. Bei der Lehre HAECKELS etwa, daß das Leben auf Erden aus chemischen Eigenschaften des Kohlenstoffs zu erklären sei, überlaufen den Philosophen tausend Schauder, und daher bleibt er äußerst vorsichtig und zurückhaltend; das Publikum, da sein Geschmack nicht so empfindlich ist, hält die Gedanken HAECKELS für erwiesen, glaubt an die Lösung der Welträtsel, deren Zahl genau gleich sieben sein soll, und wird für eine Weile verführt. Nun aber werde ich einen starken Mangel der zeitgenössischen Philosophie aufweisen. Die Philosophen unserer Tage wissen zwar, was not tut, vermögen es aber nicht zu leisten, denn es ist leichter, die Aufgabe zu erkennen, als sie zu lösen. Aus diesem Gefühle ihrer Ohnmacht heraus sind sie enttäuscht, müde und abgebraucht und insofern ein Hemmnis für den Fortschritt. Bevor ich dies begründe, erkläre ich ausdrücklich, den menschlichen Charakter der Philosophen keineswegs angreifen zu wollen. SCHOPENHAUER hat die Berufsphilosophen beschuldigt, daß sie sich bei ihren Vorträgen von weltlichen Absichten, doch nicht vom ungetrübten Wahrheitsdurst leiten lassen; schon im griechischen Altertum wurden die Berufsphilosophen ähnlicher Motive angeklagt; aber ich kann mich diesen Anklägern durchaus

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Vorwort.

nicht anschließen. Beim persönlichen Verkehr mit Philosophen habe ich viele uneigennützig und anregend gefunden. Als Klasse sind sie ganz hervorragend. Daß sie neuen Lehren gegenüber vorsichtig sind, liegt i n der Natur der Dinge, kann man doch seine philosophische Ansicht nicht wechseln, ohne sich im Innersten zu reorganisieren und dabei wie an einem Wundlieber zu leiden. Aber daß sie eine neue Lehre aus Brotsorge oder Eifersucht bekämpfe p sollten, glaube ich nimmermehr. In ihnen ist der Drang nach Wahrheit lebendig. Nur sind sie, als Klasse, d. h. in ihrer Mehrheit, die jungen Leute und einige von der Natur Bevorzugte wie billig ausgenommen, fremden Gedanken gegenüber müde und blasiert. Es liegt dies an der Erfolglosigkeit unserer Philosophen und an der ungeheuren Produktion der philosophischen Literatur. Die Erfolglosigkeit unserer Philosophen ist eine zwiefache: den Problemen gegenüber und dem Publikum gegenüber. Sie haben die Probleme nicht meistern können und sich mit bloßen Versuchen bescheiden müssen; dies, wiewohl schmerzlich, war erträglich, denn die Probleme, die sie angriffen, waren schwierige; aber für ihre Versuche haben sie nicht einmal ein Publikum gewinnen können, und dies war unerträglich. Mögen auch Einige die Theorie Verfechten, daß der Autor für sich selber schreibt, er ist dennoch kein gefühlloser Automat. Der Mensch hat das unstillbare Bedürfnis, sich Andern mitzuteilen, und wenn die Andern nicht hinhören, so schleicht er beschämt fort. Das ist auch recht so, denn ein Autor, der für sich selber schreibt, wäre ein Ungeheuer von Hochmut. Der Autor, wie er im Fleische lebt, braucht Aufmerksamkeit wie die Pflanze Sonnenlicht. Die Philosophen unserer Tage aber haben vor dem Lärm des bunten Treibens verstummen müssen; Gedanken der Weisen von Jahrtausenden waren ihr Lehrgegenstand, und von der Welt da draußen hat Niemand gehorcht; die akademischen Kreise schrieben viele Jahrzehnte unter Ausschluß der Öffentlichkeit nur für sich selbst; ihre Abhandlungen in den philosophischen Zeitschriften und ihre Bücher über Logik und Ethik und Metaphysik blieben fast ungelesen — und mit Recht, denn die alten längst abgetanen Fehler wurden dort immer aufs neue begangen; und so ward die Zunft zuletzt müde und blasiert. Gewiß, Einige von den Fach-Philosophen, kräftige Naturen, haben ihre Frische und Freudigkeit behalten, aber auch Diese finden sich unter dem massenhaften Angebot mittelmäßiger und geradezu schlechter Bücher nicht mehr zurecht. Wer zeigt ihnen das Gute ? — Es gibt ja, ach, keine Methode, wie das Gute zu erkennen wäre, außer durch eifriges Sichversenken, durch eine vertrauensvolle Hingabe. Und sie waren so oft enttäuscht worden. Kurz, die Fach-Philosophen, wiewohl als Menschen höchst achtenswert, wiewohl Kenner der Logik und mit philosophischem Geschmacke begabt, sind in ihrer überwiegenden Mehrheit als Leser philosophischer Werke ein schlechtes Publikum. Sich einzig und allein an sie zu wenden, um sie als Mittler zur Verkündung eines neuen Gedankens zu gewinnen, wäre die Politjk eines in Wahn Befangenen.

Vorwort.

IX

Eher als für ein Publikum von Philosophen habe ich für eines von Gelehrten geschrieben. Männer der Wissenschaft, eben, weil ihre ganze Tätigkeit, Denkweise und Logik auf ein enges Gebiet eingeschränkt ist, haben vor den Philosophen einen großen Vorzug: sie 8ind mit der Wirklichkeit enge verwachsen. Ein Physiker, ein Biologe, ein Forscher der Geschichte richten sich nach Gegenständen. Diese Gegenstände haben im Laufe der Entwicklung der Menschheit die Aufmerksamkeit auf sich gelenkt, mit ihnen haben sich Viele beschäftigt, an ihnen hat die Forschung einen Leitfaden gehabt. Die Theorien, welche auseinanderstreben, haben an diesen Gegenständen eine Prüfung zu bestehn, und wertlose Theorien werden daran erkannt und sodann ausgeschieden. Daher haben Männer der Wissenschaft Sinn für das Wirkliche und einen Geschmack, der sich gegen das Phantastische, das Fingierte, mit Hypothesen Überladene erklärt. Freilich geht es nicht an, in einem philosophischen Werke einen bestimmten Gegenstand, etwa die elektrische Kraft oder das Skelett der Säugetiere oder die Geschichte KEPLERS, eindringend zu erforschen, aber auch in einem philosophischen Werke ist es statthaft, dem Geschmack der Männer der Wissenschaft Rechnung zu tragen. Dies zu tun, habe ich mich bemüht. Erläuternde Beispiele habe ich vorzugsweise dem Betriebe der Wissenschaft entnommen und meine Lehre so an Realitäten erprobt. Das Publikum, an das ich bei der Abfassung dieses Buches vor allem gedacht habe, ist das große Volk, das wie ein immerfort rinnender klarer Quell frisch, sauber, fruchtbar ist. Das Volk ist nicht eine Vielheit. In den Jahrhunderten ist es zu einer Einheit zusammengewachsen. Es ist ein Baum, an dem wir Einzelnen die Blätter und Blüten, noch weniger, die Zellen sind. Das Volk hat eine Seele. Und sie ist sehr, sehr weise. Wir Einzelnen dünken uns klug, aber diese armselige Klugheit ist einseitig. Das Volk, mag sein, hat nicht diese Art der Klugheit, die zuletzt nichts Andres ist als eine sehr besondre, sehr eingeschränkte Art von schnell erworbener Geschicklichkeit: Geschicklichkeit der Dressur. Das Volk dagegen hat Weisheit, die in Jahrtausenden organisch gewachsen ist. Ich hege Ehrfurcht vor jedem Volke. Darum schreibe ich für das Volk ehrfürchtig. Ich lege meinen Glauben, auch, wo er mich selbstverständlich dünkt, genau dar, ohne falsche Scham breite ich meine Gründe aus, auch wo sie in die Augen springen, ich drücke mich offen aus, ich spiegele keinen Tiefsinn vor: Alles dies geschieht im Gefühle meiner Beschränktheit; nicht geschieht es aus dem Glauben, daß man zum Volke „populär" oder „elementar" reden müsse, daß man also die Wahrheit verschminken müsse; diese Ansicht ist mir lächerlich. Wahrheit ist einfach. Und das Volk, wenn es sich erst die Mühe nimmt, versteht sie vollkommen: weit bessér und tiefer als irgendein Einzelner. Auch die fruchtbarste Wahrheit, scheine sie auch verborgen, läßt einen einfachen Ausdruck zu; man muß ihn nur suchen. Man muß nur

Vorwort.

X

seine Eitelkeit bekämpfen, die den geraden Weg nicht mag und nun im Streben, Andern und sich selber zu imponieren, Umwege macht. Die sogenannte „elementare" Schreibart täuscht Einfachheit nur vor, tatsächlich verdeckt sie den rechten Gesichtspunkt; sie ist unfähig, ein Ganzes einheitlich darzustellen, zerschneidet es vielmehr in lauter kleine Stücke und dabei zerschneidet sie das geistige Band. — Beispielsweise, die elementare Lehre von der Perspektive versenkt sich in viele Einzelfälle, das mathematische Prinzip ordnet das Vielfältige mit einem Schlage. — Die elementare Schreibart ist also immer Zeitverlust. Es gelingt ihr auch nicht, das Volk zu befriedigen. Das Volk verlangt nach Einsicht in den großen Zusammenhang. Verweigert man ihm die Wahrheit, die es sucht, so zeugt sein Schoß die Organe, fähig und befugt, die Wahrheit, welche bei aller Größe in ihrem Gefüge einfach ist, zu ergreifen und ihm zu überreichen. Zum Volke zu reden in der wundervollen Sprache des Volks, welche in den Jahrtausenden gereift ist, welche die Prägung der Weisheit erhalten hat, welche ein Abbild der Volksseele ist, habe ich mit heißem Bemiihn erstrebt. Die Schulsprache, die dazu angetan ist, den Gedanken eher einen akademischen Aufputz anzulegen als sie zu verdeutlichen, habe ich zu meiden versucht. Noch verweist dies Buch auf andre Bücher. Was zum Verständnis . und zur Kontrastwirkung seiner Sätze an Kenntnis der Geschichte der Philosophie vonnöten ist, steht im Buche selbst beschrieben, ausgeführt, zitiert. Gewiß, ich glaube keineswegs, das Volk werde nun zur Begutachtung dieses Buchs auf die Mitwirkung der Philosophen und der Gelehrten verzichten. Es ist mir klar, daß der Weg dieses Buchs zunächst einmal zu den Stätten der Pliilosophie und der Wissenschaft führt, um von da aus allmählich zu den Häusern des Volks zu leiten. Und ich erwarte, ja erhoffe, heftigen Widerstand durch Nichtbeachtung und lauten Widerspruch. Aber eine harte Kindheit macht einen starken Mann. Und nun, oh Buch, bereite dich, dein Eigenleben zu führen! Leben heißt zu leiden und zu wirken: sei beides dein Schicksal! Ich habe dich ausgestattet in der Voraussicht, daß du im ehrlichen Streite der Wahrheitsfeucher stehn wirst. Was innerhalb solchen Streits sich dir auch ereigne, ist gut und dienlich. Nur Eines wäre mir schmerzlich: wenn etwa deine Freunde jemals vermeinen würden, dich zu verstehn sei ein Vorrecht der Wenigen. Denn als ich dich schuf, habe ich gewollt, daß deine Sprache einfach, ohne Vorbehalt noch Hinterhalt noch Hochmut sei, wie die Rede eines Kindes zu Kindern. Im Juli 1918. Emanuel Lasker.

Inhaltsangabe. Seite

Die Aufgabe der Grundlegung 1—53 Sinn des Problems 1—15; über die Art, das Buch zu lesen 15—17; die Methode 17; Bewußtsein und Vorstellung 18—19; das Sein 19—20; Vielheit, Einheit, Bestimmtheit 20—21; das Grundgesetz 21—22; Tun und Leiden 22—23; die Verneinung 23—24; Bedingung 24—25; Abstraktion 25; Erinnerung 25—26; " Zeit und Kaum 26—49; Stetigkeit 27; Werden und Beharren 27—28; die Reihe 29—31; Begreiflichkeit 31—32; Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft 32; Erwartung 32—33; Möglichkeit 33; Suchen und Fliehen 34—35; Tasten und Begreifen 35—36; Empfindung und Gefühl 36; Zahl 36—44; Grenze 38—44; Kontinuum 40—41; Konvergenz und Divergenz 41—43; Unendlich 43—44; Geometrie 44—47; Bewegung 47—49; Begriff und Bild 49—52; die Bejahung 50; Prinzip der Schwelle 50—52; Problem und Lösung 52—53. Das Problem der Wirklichkeit 54—199 Stellung des Problems 54—60; das Wirkliche ein Einfluß 55—56; die' Vielheit der Einflüsse 56; der Gegenstand 56—60; die Voraussicht 57—58; Gedankendinge 58—59; die Erprobung 59—60; Methode der Erprobung 60—199; Wahrnehmung intellektual 60—64; der Widerspruch in den Wahrnehmungen 63; Geschichte der Frage der intellektualen Proben 64—68; Gegenstand und Gedankending 68—74; Wertung und Begründung 74—78; der Grenzgegenstand 78—81; das Urwirkliche 80—81; der Kampf 81—171; das Urteilsvermögen 82—85; die Existenzprobe 84—199; Metaphysik 85—199; Konstruktion der Wirklichkeit 85—103; das Leben 94—99; der Macheide — die Zweckmäßigkeit 99—171; der macheidische Kampf 103-*-171; Prinzipien des macheidischen Kampfes 106—171; Satz der Analogie 106—108; Satz der Eindeutigkeit 108—110; Prinzip der Wirksamkeit 110—114; die Wertungsreihe 111—124; Satz vom Grunde ¿ies Wertes 114—115; Prinzip der Ökonomie 124—126; Prinzip der Kompensation 126—128; Prinzip der Proportion 128—129; Zufall und Wahrscheinlichkeit 129—133; Organisation, Angriff und Verteidigung 133—153; Gleichgewicht, Vorteil und Nachteil 142—153; die Verknotung der Interessen 153—170; die Ionten 168—169; der Druck 169—.170; Vollständigkeit des Systems der Prinzipien 170; Stellung der Machologie zur Metaphysik 171; das Apriori 171—195; Pessimismus 182—186; Klassifikation des Apriori 192—195; der Vorgang des Erkennens 195—199. Das Problem der Ursächlichkeit 200—308 Der Begriff des Zustands 200—203; die Objektivität 204—206; der ideale Gegenstand 206—308; das Experiment am idealen Gegenstand 210—214; der Satz vom Grunde 212—213; Identitas indiscernibilium 213—214; die absolute Zeit, der absolute Kaum 216—217; der LEiBNizsche Satz vom zureichenden Grunde 217—219; Geschichtliches zum Kausalitätsprinzip 219—223; Der Prozeß der Umfassung, Erweiterung 223—225; die Zustandsgieichung existiert 225—226; Entwicklung und Kausalität 226—229; Prinzip der Stetigkeit 229—244; Geschichtliches zum Kausalitätsbegriff 244—253; GALILEIS Kraftbegriff 253—255; Prinzip der Differenzierbarkeit 255—261; der allgemeine Kraftbegriff 261—265; Skizze einer Geschichte des Kraftbegriffs 265—267; der allgemeine Begriff von Masse 267—271; die Relativitätstheorie 271—288; Prinzip der homogenen Verteilung 286—288; die unendlich ferne Zeit, der unendlich ferne Raum 288—291; Raum und Zeit in der Zustandsgleichung 291—295; Prinzip der Erhaltung der Energie 295—308; Logos der angestellten Betrachtungen 308.

XII

Inhaltsangabc.

Seite Das Problem der Freiheit 309—362 Die Stellung des Problems 309—311; Skizze einer Geschichte des Problems 311—335; der Begriff des Unvollendbar 336—349; der Begriff des mathematischen Universums 349—356; Es gibt keine Weltgleichvmg noch einen Weltzweck 356—362; der Wille ist frei, Entwicklung ist schöpferisch 362. Die Metaphysik des natürlichen Gegenstandes 363—386 Der Gegensatz des natürlichen und idealen Gegenstandes 363; Das Ding an sich 363—366; der leblose Stoff 366—367; E r ist unvollendbar 367—373; die Gleichungen von LAGRANGE 374—375; die verschiedenen Energieformen 375—386. Paradoxien . 387—409 Fruchtbare Paradoxien 387—388; ihr Thema das Unendliche 388—389; Paradoxien von BOLZANO 389; KANTS Antinomien 389—401; Paradoxie des Ansich 401—403; Paradoxon des RUSSELL 403—404; Paradoxien in der Mathematik 404—405; Paradoxie der deduktiven Wissenschaft 405 bis 406; Paradoxon des Ausdrucks 406—408; Lösung der Paradoxien durch strenge Handhabimg des Unvollendbar 408. K r i t i k des Logismus 409—436 Die transzendentale Methode 410; das System der Erkenntnis 411; E s ist unvollendbar 412; ebenso wie jede Stelle im System 412—413; die Entfaltung des Sinnes 413; die KANTische Idee 413—415; ist ohne eine Metaphysik unverständlich 414—415; die Logisten über das Sein 415—425; die Logisten über das Leben 425—429; der Logisten Logik ist unstreng 430—436. Erlebnis und Geltung 437—446 Der Gegenstand der Logik ist Ausdruck 437; Sinn des Ausdrucks Problfem der Logik 437; das Gefüge des Sinnes 438—445; die Triebkraft der logischen Entwicklung, das Axiom der Begreiflichkeit 441-—444; Unentscheidbare Urteile 446; Die Geltung von Wahrheit 446. D i e M e t h o d e d e r P s y c h o l o g i e . . . . . . . . . . . . . . . . . . 447—498 Mittel und Aufgabe der Psychologie 447—448; Psychologie und Physiologie 449; Zur Geschichte der Psychologie 449—455; die Seele 455—458; die Assoziation 458—460; Klassifikation der Seelenvermögen 460—466; das psychologische Experiment 466—470; Die .Form der Gesetzmäßigkeit in der Psychologie 470—478; Metaphysik der Wahrscheinlichkeit 479—483; der Satz vom zureichenden Grunde in der Psychologie 483—486; Geschichte 486—498. Die Gegenstände der Psychologie 499—507 Rechtmäßige und unrechtmäßige Bildung idealer Gegenstände der Psychologie an Beispielen erläutert 499—507. Gesetze der allgemeinen Psychologie 508—609 Begriff der allgemeinen Psychologie 508—511; Logos der allgemeinen Psychologie 511—512; Die unendlichen Gesellschaften 512—519; Statistik 516—519; der Einzelne 519—523; das Problem der Intuition 523—543; Vitalität 529—533; Funktion 533—536; Kompensation 536—537; Bedürfnis 537—540; das Genie 540—543; die Grenzgebilde 543—547; die Kurve der Entwicklung 547; Allgemeine Gesetze der dauernden Gebilde 547—609; das phylogenetische Grundgesetz 548—549; '(fas Gesetz von der Ermüdimg 549—550; die Erwartung 550—551; Allgemeine Physiologie 551—559; Wahrnehmung 559—562; Erkennen 562—569; Geschmack 569—602; das Handeln 602—609. Beschluß 610—621 Über die Wahrheit einer Metaphysik 610; der Prüfstein des Wertes einer Metaphysik 611; die Probleme "der Philosophie des Unvollendbar sind gegründet und fruchtbar 611—612; Probleme, welche die P h . d. Unv. nicht breit behandelt h a t : Erschaffung der Welt, des Realismus und Idealismus 612—619; Zweifel gegenüber aller Metaphysik 620 werden -zur Ruh gebracht am Unvollendbar 620—621. Verzeichnis der Kunstworte 623 Verzeichnis der Autoren . . . 625

Die Aufgabe der Grundlegung. 1. Sinn des Problems. Ein Problem ersten Ranges bietet sich dar, ja, zwingt sich auf, dem Theoretiker, der interessiert ist an Gebilden des Denkens, wie dem Manne der Tat, der in die Ereignisse seiner Zeit kräftig eingreift. Ich nenne es: Problem des Fundaments. Sein Sinn offenbart sich aus einem fühlbaren Notstand, der gegenwärtig unsere auf Philosophie wie auf Kultur gerichteten Bestrebungen bedroht. Setzen wir dies auseinander! Wir beginnen mit der Darlegung der ernsten Schwierigkeiten, auf welche der Theoretiker gestoßen ist. Seit langer Zeit haben die Männer der Wissenschaft ein Ideal für die Ordnung und die Darstellung ihrer Gedanken. Schon bei EUKLID findet man es, man trifft es wieder bei GALILEI, bei SPINOZA, bei LEIBNIZ und zuletzt bei allen ernsten Forschern. Es ist das Ideal der Klarheit, der Definition, der Begründung. ' Daß man Gedanken in einleuchtender Klarheit herausarbeiten, den unbekannten Begriff definieren, den Lehrsatz begründen könne und solle, ist eine Voraussetzung aller Wissenschaft. Und mit Recht, denn diese Voraussetzung ist es, deren Erfüllung eine Reihe von Kenntnissen zu einer systematisch geordneten Wissenschaft verbindet. Zur Vollendung ist dies Ideal gediehen in der Mathematik. Die Geometrie des EUKLID ist vorbildlich geworden. Von anerkannten Sätzen, den Axiomen, ausgehend, schreitet sie fort zu Definitionen, vermöge welcher die geometrischen Gebilde, z. B. eines Dreiecks oder eines Kreises, konstruiert werden, und gelangt von dort zu Lehrsätzen, welche ein fruchtbares Ergebnis aussprechen und es durch Beweis sicherstellen. Seit den Zeiten EUKLIDS hat sich der Umkreis der Gegenstände, mit denen sich die Mathematik beschäftigt, fast unbegrenzt erweitert, doch dies Ideal ist ihr geblieben. Man hat daher gesagt, sie sei die Wissenschaft der freien Schöpfungen des menschlichen Geistes, indem man ihr das Recht erteilt hat, nach freiem Ermessen Begriffe durch Definition zu konstruieren, um diese vom menschlichen Geiste erschaffenen Gegenstände in das Gespinst ihrer Lehrsätze zu weben. Auch die Geschichte, wiewohl sie durchaus anderer Art ist als die Mathematik, läßt sich nach dieser strengen Methode behandeln. Freilich wird LASKEB, Philosophie des VnvoUendbar.

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sie die geschichtlichen Tatsachen nicht aus Axiomen ableiten wollen, wohl aber diese Tatsachen nach strenger Methode sichten und ordnen. Der Glaube, daß sich die Philosophie auf die streng wissenschaftliche Art müsse darstellen und entwickeln lassen, ist, wiewohl nicht von jedermann geteilt, so doch weit verbreitet. Denn Philosophie, aus deren Schöße einst alle Wissenschaft entsprungen ist", wird von den allermeisten aufgefaßt als die Wissenschaft der Wissenschaften. Darum beginnen viele Lehrbücher der Philosophie und manche Systeme der Philosophie in Nachahmung der Geometrie mit Definitionen. SPINOZAS Ethik beginnt „Unter Ursache seiner selbst verstehe ich das, dessen Wesenheit die Existenz in sich schließt..." und gibt dann eine ganze Reihe von Definitionen. SIGWART nennt die Logik „eine Kunstlehre des Denkens". WUNDT sagt in seiner Logik vom Jahre 1906: „Die Logik hat Rechenschaft zu geben von denjenigen Gesetzen des Denkens, die bei der wissenschaftlichen Erkenntnis wirksam sind". „Durch die obige Begriffsbestimmung erhält die Logik ihre Stellung zwischen der Psychologie, als der allgemeinen Wissenschaft des Geistes, und der Gesamtheit der übrigen theoretischen Wissenschaften." Auch der klar und kritisch denkende JONAS COHN grenzt Logik ab und nennt sie eine Wissenschaft. In „Voraussetzungen und Ziele des Erkennens" 1908, S. 436, sagt er es: „Unter Logik verstehen wir die Wissenschaft, die das Wertgebiet der Wahrheit zum Gegenstande hat". Diesen Wert der Wahrheit wiederum will JAMES, der Begründer des Pragmatismus, definieren. Man hatte ihm entgegengehalten, daß Wahrheit nicht zu definieren sei; trotzdem aber erachtet er, wie er in seinem „The meaning of truth" ausdrücklich sagt, Wahrhöit zu definieren für eine wichtige Aufgabe des Pragmatismus. Kurz, von vielen, auch von hervorragenden Männern, wird der Versuch gemacht, die umschriebene Methode der Wissenschaft auf Philosophie und Logik zur Anwendung zu bringen. Aber haben die Vielen recht? Ist Philosophie in dem oben festgestellten Sinne eine Wissenschaft? Quillt sie nicht vielmehr dem Menschen zu in unklaren Gestaltungen, welchen eine feste, eine umrissene, eine „wissenschaftliche" Gestalt zu geben er sich vergeblich abmüht? Ist Philosophie nicht also etwas Anderes — nennen wir es einen Glauben oder ein Kunstwerk oder beides —, doch immerhin, wie man es auch betrachte, etwas von strenger Wissenschaft Verschiedenes? Und die Logik wiederum, darf man sie eine Lehre, eine Wissenschaft nennen? Gibt es so etwas wie einen Inbegriff, eine Gattung, unter dem alle einzelnen Wissenschaften, darunter auch Logik, umgriffen sind? Ist nicht vielmehr Logik eine Aufgabe, jene nämlich, die es mit Sinn, genauer mit der Klärung von Sinn zu tun hat? Denn dem Zweifler will es scheinen, als ob das Ideal der wissenschaftlichen Methode, das jedem Mann der Wissenschaft ins Blut gegangen ist und nach dem er vertrauend schafft, eine Grenze habe, die es nicht überschreiten kann, und als ob jedwede Wissenschaft diesseits, Philosophie und Logik aber jenseits dieser festgezogenen Grenzlinie liege. Dieser Zweifel läßt sich motivieren.

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Betrachten wir die Wissenschaften als Gebilde, die im geschichtlichen Leben sich entwickelt haben und schließlich ihre gegenwärtige Gestalt angenommen haben, z. B. die Mathematik, Physik, Sprachwissenschaft, Nationalökonomie usw., so erkennen wir an ihnen ein sich fort und fort steigerndes Streben nach Strenge und Bestimmtheit der Methode, während bei der Philosophie in ihrer gegenwärtigen Phase eher eine Mannigfaltigkeit der Methoden ins Auge fällt. Schon dieser geschichtliche Umstand ist geeignet, den Zweifel am Wissenschaftscharakter von Philosophie in etwas zu motivieren. Indessen erreichen geschichtliche Gebilde niemals die Vollkommenheit des Ideals, unser Zweifel geht auch auf die zunächst noch unfertige, nur in der Idee geschaute Vervollkommnung von Wissenschaft und Philosophie. Man hat das Recht, aus dieser Idee heraus eine Definition von Wissenschaft zu geben. Man darf erklären und fordern, daß eine Reihe fruchtbarer Erkenntnisse, um eine Wissenschaft zu bilden, auf eine systematische, durchaus begründete Art geordnet und dargestellt sein müsse. Die grundlegenden Sätze einer Wissenschaft, worunter ich auch den Komplex ihrer Grundbegriffe und ihrer Methoden verstehe, nenne ich ihr F u n d a m e n t . Und es ist, nach Obigem, der Charakter einer wqhlbestimmten, abgerundeten Wissenschaft, daß ihre Sätze nach wissenschaftlicher i Methode, d. h. klar, eindeutig, begründet, auf ihrem Fundament fußen. Ein solches Fundament muß von zwingender Gewißheit sein, so daß vor dessen Festigkeit der Zweifel verstummt; auch muß es eine genügende Breite haben, um das Gebäude der Wissenschaft im ganzen Umfange zu tragen. Erfüllt es diese Bedingungen, so steht das Gebäude wohlgefügt, und die Menschen vermögen darin zu hausen und zu schaffen. Vor diesem Ideal nun soll sich die Philosophie verantworten. Laut der Definition erfüllt jede Wissenschaft, sei sie bereits gegründet oder noch der Zukunft vorbehalten, die Bedingungen der Strenge, des systematischen Aufbaus, der Errichtung auf ein bestimmtes Fundament. Kann die Philosophie dies Ideal für sich aufstellen, ohne sich zur Unfruchtbarkeit zu verurteilen? Die Philosophie, darüber sind sich Alle einig, hat eine Aufgabe, welche alle Erkenntnis betrifft. Hätte nun die Philosophie ein Fundament von der Art, wie wir es von jeder Wissenschaft fordern, so fragen wir mit Recht, ob denn die Bestimmung dieses Fundaments nicht ebenfalls zur Philosophie. gehören müsse? Das Fundament soll klar und von genügender Breite tsein. Doch wer entscheidet über diese Klarheit und das Genügen ihrer Breite? Wollte man über sie auf systematische, begründete, folgerechte Art entscheiden, so würde man damit den Begriff einer neuen Wissenschaft aufstellen. Eine Wissenschaft jedoch muß ein Fundament haben, kann nicht über ihr eignes Fundament zu Gericht sitzen. Als Wissenschaft existiert sie ja erst nach dem Bau ihres Fundaments und durch die Tragfähigkeit ihres Fundaments. Es wäre eine Reihe, welche offenbar ins Unendliche geht, das Fundament dieser Disziplin zur Prüfung wiederum einem andern Gerichtshof zu überweisen. l*

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Die Aufgabe der Grundlegung.

Daher fällt die Erkenntnis, welche über Klarheit und Breite des Fundaments entscheidet, nicht unter die oben erläuterte, die wissenschaftliche Methode. Somit fällt Philosophie nicht unter diese Methode. Zu dem entsprechenden Schlüsse gelangen wir, wenn wir das Definieren betrachten. Eine Definition hat den Zweck, den Sinn eines Begriffs scharf zu umgrenzen. Wir erfinden Begriffe, z. B. der Mathematiker den der Ellipse oder, des Differentials, der Physiker den des Spiegels oder der absolut schwarzen Strahlen, der Nationalökonom den des geschlossenen Handelsstaats, der Philosoph den des absolut Bösen. Wir erfinden, indem wir konstruieren, aus bekannten Elementen aufbauen. Der Geschichtsschreiber findet Völkerschaften, Sitten, Gesetze, Ereignisse vor und, man darf es wohl so nennen, „definiert" sie, indem er strebt, sie genau zu beschreiben. Auch er erklärt das Unbekannte aus dem Bekannten. Obwohl er uns in ferne Räume und Zeiten und unter fremde Menschen versetzt, verstehen wir ihn, weil er seine Beschreibung an das uns Nahe und Vertraute und zu Beobachtende knüpft. Dieses ganze Verfahren der Definition scheint seinen Höhepunkt zu haben in der Enzyklopädie. Darin steht erläutert, was ein Name bedeutet. Dort lese ich z. B., Philosophie sei „die Wissenschaft, welche die letzten Gründe und Zwecke alles Seins . . . mit der bloßen Vernunft zu erforschen sucht". Nun ist es ja wahr, daß die Enzyklopädie häufig bloße Worte erklärt, als wäre sie ein Wörterbuch; aber die Vorstellung'ist doch Weit verbreitet, daß die Enzyklopädie ebensowohl jedweden Begriff dessen Sinne nach definieren könnte. Daß sie dies, tatsächlich nicht tut, scheint nur Zufall. Der Enzyklopädist, so scheint es, würde jeden Begriff zu definieren vermögen, einfach, indem er sich in einen Standpunkt versetzt, von dem aus dieser Begriff als unbekannt erscheint, und nun lehrt, das Unbekannte aus bekannten Elementen zusammenzufügen. Er könnte sich auf das Beispiel der Mathematiker berufen, in deren Schriften alles auf diese Art definiert wird, einschließlich der Begriffe der Zahl Eins, der geraden Linie, der Menge. Ja, selbst das Beispiel der Philosophen vermöchte er heranzuziehen. RICKERT in seinem „Zur Lehre von der Definition" 1915, stellt eine Theorie-auf, worin er ausführt, wie Begriffe definiert werden. Auf S. 32 sagt er, es „lassen sich selbstverständlich Begriffe bilden, ohne daß die zur Bestimmung verwendeten Elemente schon vorher in einer sogenannten allgemeinen Vorstellung zusammen vorhanden waren. Sie können zusammengestellt werden, gleichviel, woher man sie nimmt. Auch diese Zusammenstellung ist eine Definition, denn auch durch sie wird der Begriff genau bestimmt, indem sein Inhalt angegeben und dadurch gegen andere Begriffe scharf abgegrenzt wird, so daß er im wissenschaftlichen Denken gebraucht werden kann." Bei dieser Freiheit, die der Definierende hat, scheint es gewiß, daß er jeden Begriff aus „Begriffselementen", wie RICKERT sie nennt, wird zusammenstellen können. Und auch diese „Begriffselemente" werden sich, bei tieferer Forschung, auf die nämliche Art definieren lassen, denn sie haben doch gewiß „Konstanz", welches nach

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SIGWART und auch nach RICHERT „das charakteristische Merkmal" ist, „wodurch sich der Begriff von der allgemeinen Vorstellung unterscheidet". Wiederum, JONAS COHN sagt auf S. 125 seines „Voraussetzungen und Ziele der Erkenntnis", 1908: „wir nennen Relation, was, zwischen bestimmten Gegenständen gesetzt, mit diesen zusammen eine vollständige These ergibt". Und er fährt fort: „Aus dieser Begriffsbestimmung..." Er scheint hier also den Begriff von Relation definieren zu wollen. Genug,. aus dem, was führende Philosophen gesagt und getan haben, geht nicht klar hervor, was doch eine bedeutsame Wahrheit ist: daß es Begriffe gibt, die der Enzyklopädist nicht definieren kann, von welchem Gesichtspunkte immer er auch an das Geschäft dieser Definition treten will. Der Beweis davon ist unschwer wie folgt zu erbringen. Die Definition hat eine gewisse Form. Ein Kind mag ein Pferd definieren als einen Schimmel, der nicht weiß ist, wir verlangen aber eine andre Begriffsbestimmung; dem Kinde mögen Schimmel vertrauter sein als andre Pferde, wir aber können über seinen Standpunkt nur lächeln und beginnen: „ein Pferd ist ein Säugetier, welches..." Es genügt uns auch nicht, wenn man uns eine bloße Worterklärung gibt: ein Pferd ist ein Roß. Wir wollen den zu definierenden Begriff entweder von Grund aus kennen lernen, oder doch, haben wir bereits eine Kenntnis von ihm, ihn genauer kennen lernen, mit der Absicht, ihn mit eindeutiger Bestimmtheit aus uns vertrauten Elementen zu konstruieren. Der Enzyklopädist genügt der Form der Definition. Er hat eine gewisse Freiheit der Wahl, welche Begriffe er als unbekannt, welche Elemente er als vertraut ansehen wolle, und so gelingt ihm sein Unternehmen. Trotz dieser weitgehenden Wahlfreiheit aber gibt es eine Reihe von Begriffen, die allen Bemühungen des Enzyklopädisten widerstehen. Sie sind von keinem denkbaren Standpunkte aus definierbar. Sie sind schlechthin, durchaus, absolut undefinierbar. Versucht man sie zu definieren, so verstößt die zustande kommende Scheindefinition notwendigerweise gegen die Form, welche jeder rechtmäßigen Definition zukommen muß. Ich nenne einige solcher Begriffe: Bestimmtheit, Lpgik, Wahrheit. In der Form der Definition steckt bereits der Gedanke des Bestimmens, mithin wird bei der Ausführung einer Definition der Begriff der Bestimmtheit nicht als unbekannt angesehen werden können und daher läßt sich dieser Begriff auf keine Weise definieren. Sagt man etwa, Bestimmtheit sei eine Eigenschaft eines Gegenstandes oder eines Begriffs, derzufolge er eindeutig ist, so steckt der Gedanke der Bestimmtheit schon im Sinne, der dem „eindeutig" zukommt. Und wie man auch den Versuch anstellen mag, Bestimmtheit zu definieren, er gelingt nie, kann nie gelingen, welchen Standpunkt man auch einnehme, denn immer und immer muß der VeAuch den Mangel einer Wiederholung, einer Tautologie, eines Zirkels haben, indem er das zu Definierende schon als bekannt voraussetzt und so den jeder rechtmäßigen Definition gesetzten Zweck vereitelt. Wiederum

im Begriffe einer jeden Lehre, einer jeden Wissenschaft

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steckt der Gedanke der Logik. Folglich darf man nicht beginnen: Logik ist eine Lehre, w e l c h e . . . , man würde sich sonst mit dem Kinde, das Pferd' durch Schimmel definiert, auf eine Linie stellen. Auch dem Satz von SIGWART, daß Logik eine Kunstlehre des Denkens sei, haftet dieser selbe Mangel an.\ Und würde man SIGWARTS Satz als eine bloße Worterklärung hinstellen, er wäre noch immer zu tadeln, weil er den wahren Sinn von Logik gar nicht wiedergibt. Denn eine Kunstlehre des Denkens wäre eine Wissenschaft eigner Art, sie würde gewißlich Logik benutzen, aber Logik ist etwas Andres. Eine Kunstlehre des Denkens würde lehren, wie ein so und so beschaffener Mensch streben solle, zu denken, sie wäre aber, wenn zweckmäßig, durchaus verschieden, je nach Eigenart des Menschen, sie wäre also entweder höchst unzweckmäßig oder aber anders für den Australneger, anders für NIETZSCHE, anders für den Übermenschen, und in keinem Falle wäre sie Logik., Dieselbe Kritik, vielleicht in schärferem Maße, trifft die von WUNDT gegebene „Begriffsbestimmung". Man kann Logik überhaupt nicht übersetzen, es gibt durchaus kein gleichwertiges Wort in irgendeiner Sprache. Man darf sagen, wovon Logik handelt: vom Sinn. Logik,haftet immer und überall am Ausdruck von Sinn. Aber sie zu definieren, vermag man nicht, ohne einen augenscheinlichen Zirkel zu begehen. Denn Definition ist nur innerhalb einer Logik möglich, und also auf keinem Standpunkt, von dem aus Logik als etwas zu Definierendes erscheinen könnte, darf Definition als etwas Sinnhabendes angesehen werden. Und noch einmal, der Begriff der Wahrheit ist nicht zu definieren, denn er ist aus dem Begriff, der Form der Definition nicht wegzudenken. Ist unbekannt, was Wahrheit bedeutet, so ist durchaus nichts als wahr, gültig, bindend anzusehen. In der Form der Definition findet sich bereits der Begriff von Wahrheit umschlossen. Aus diesen Beispielen, mehr noch aus dem Gedankengange wird es klar, daß die Definition ihre Grenzen hat, die sie nicht überschreiten kann. Wenden wir uns endlich noch zum dritten der oben genannten Bestandteile der wissenschaftlichen Methode, der Begründung! Auch sie hat ihre Grenzen. Denn dürfte man immerfort Wieso? fragen, wieder und wieder, so würde die Reihe der Gründe ins Unendliche laufen müssen, und das kann sie nicht. Aus alledem erhellt, daß die wissenschaftliche Methode, so fruchtbar, so gegründet, so notwendig sie auch für den Fortgang einer jeden Wissenschaft sei, für die Philosophie nicht ausreicht. Die Philosophie unternimmt es, das Reich des Gedankens und des Seins zu erforschen; sie duldet daher keine Grenzen, und daher ist sie nicht Wissenschaft im toben abgesteckten Sinne. Dennoch aber besteht eine Philosophie. Sie ruht auf einem Fundament, das wir in uns vorfinden, das uns überwältigt. Wir wissen nicht, wie es da ist, aber es ist da. Wir finden es, wie wir die Welt finden. Trotz allem, was oben gesagt worden ist, finden wir uns wissend, was undefinierbare Begriffe bedeuten. Die schlichte Tatsache, daß wir wissen, erscheint dem Theoretiker plötzlich wie ein Wunder.

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Noch einmal, die Logik hat ein Fundament, welches die Fundamente aller Wissenschaften enthält; trotzdem aber ist Logik keine Wissenschaft, denn man vermag ja die Logik nicht zu definieren. Das Allereinfachste, Allergewisseste erscheint nun plötzlich unbegreiflich und paradox. Da ist es nicht verwunderlich, daß sich in unserer Zeit so viele Philosophen finden, welche ai\ aller Wahrheit verzweifeln. Alles sei so wahr wie sein Gegenteil, alles sei Fiktion, alle Wahrheit relativ — so oder so ähnlich sprechen sie. Dies ist ein Notstand, denn wir glauben ja doch an Wahrheit, und müssen daran glauben, um unsere Gesundheit zu bewahren. Es ist eine ernste und dringende Gefahr, die hier den Lebensquell aller Theorie bedroht. Und wiederum, auch vom Gesichtspunkte des Handelns aus stoßen wir auf die nämliche Schwierigkeit. Das kulturelle Leben, das die Werte des Tages schafft und für die Zukunft bewahrt, gerät in eine Sackgasse und scheint den Weg ins Freie nicht finden zu können. Um dies zu erläutern, müssen wir das Getriebe des öffentlichen Lebens in Augenschein nehmen. Erinnern wir uns bei diesem Beginnen des Wortes HERAKLITS: Streit sei der Vater aller Dinge. Nur sagen wir es behutsamer: Vater allen Fortschritts. Die Quelle allen Fortschritts der Gesellschaft, im politischen Leben sowohl wie in der wissenschaftlichen Forschung, ist der Disput; denn durch ihn kommen sich die widerstreitenden Meinungen nahe und finden schließlich ihren Ausgleich, durch ihn also wird eine Schwierigkeit behoben, ein Problem gelöst, kurz, ein Schritt nach vorwärts getan. Dieser Erfolg wird freilich nicht bei jedem Streit erreicht; ein Streit ohne Maß, Regel und Ziel vertut nur Kraft unnütz, weil er ins Weite führt; aber jeder geregelte und zur Entscheidung gelangte Streit bezeichnet einen unverlierbaren Fortschritt. D i e T a f e l r u n d e v o n PLATON, d i e S c h u l e v o n ARISTOTELES, d a s r ö m i s c h e

Forum haben für die Welt viel bedeutet, weil da nach festen Regeln und mit entscheidender Antwort oft und leidenschaftlich disputiert ward; was sich da im Redestreit durchgesetzt hat, ist schließlich in Buchform fixiert worden und hat Philosophie, Jurisprudenz uncj Politik befruchtet. Es ist nun allerdings nicht Sache irgendeines Einzelnen, Regel und Gesetz f ü i den öffentlichen Streit aufzustellen, denn wer hätte die dazu nötige Autorität? Regel und Gesetz müssen sich vielmehr aus dem geschichtlichen Leben als dessen Sinn und Forderung fühlbar herausstellen. Man kann nur versuchen, diesen Sinn, diese Forderung zu erfassen und vorzutragen. Die dafür zweckdienliche geistige Verfassung ist die vorurteilslose des Wahrheitssuchers, der über allen verwirrenden und verführenden Motiven des Augenblicks steht. Der Kämpfer selbst ist dafür schlecht gerüstet. Es gilt hier das REUTER sehe Wort: Vor der Hochtid mußt du 's wen'n, Nach der Hochtid ists zu En'n. Man muß Regeln vor dem Streit aufstellen. Disputanten binden sich an eine Regel, solange es ihnen scheint, daß dadurch ohne Bevorzugung einer

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Die Aufgabe der Grundlegung.

Partei eine vorauszusehende Hemmung beseitigt werde. Jede Regel aber, von der sie glauben, daß sie für die grade gebotene Gelegenheit eingeführt werde, erscheint ihnen schon aus diesem Grunde verdächtig und also als eine Hemmung. Man hat diese dem praktischen Leben entnommenen Sätze in der Theorie zu Ende gedacht und in vielfältiger Weise anerkannt und bekräftigt. Es ist eine Regel des juristischen Streits, daß jede von den Parteien vorgetragene Meinung durch Gründe belegt werden müsse, daß diese Gründe in klarer und deutlicher Sprache abzufassen und auf Tatsachen zu stützen seien. Eine zweite Regel besagt, daß die Beweisführung dem zur Last falle, der die Behauptung aufstellt, und nicht etwa die Mühe des Beweises der gegenteiligen Behauptung dem Zweifelnden aufgebürdet werde. Man hat das Recht zu zweifeln. Ein andrer Ausdruck für die Anerkennung der obigen Sätze ist das philosophische Prinzip, daß die Gültigkeit einer Behauptung durch Beweis gesichert werden kann nur, wofern sie sich auf ein bereits anerkanntes, dem Zweifel entrücktes System von Erkenntnissen gründe. Demgemäß setzt jeder philosophische Streit nicht bloß ein Problem und eine Meinungsverschiedenheit, sondern zugleich irgendeine Übereinstimmung der Streitenden notwendig voraus. Aber bei alledem hat man die Durchführung dieser Sätze im Lebensstreite nicht zu sichern verstanden. Die Dispute, die heutigentags im öffentlichen Leben Europas stattfinden, sind nahezu regellos. Mag es sich nun um den politischen Streit handeln, sei es zwischen den Nationen oder den verschiedenen Parteien eines Volks, oder um den wissenschaftlichen Streit, ein sehr großer Teil des Guten, da§ er bringen könnte, wird von vornherein dadurch ums Leben gebracht, daß die Streitenden auf keinem allgemein anerkannten, festen Fundamente fußen. Darum artet der Streit heutigentags so häufig in bloße Rechthaberei aus, die mit Finten und Fallen und Verdrehungen zum Ziele zu kommen strebt. Schon über die Bedeutungen der Worte herrscht Zweifel. Selbst im praktischen Leben oft angewandte und anscheinend klare Begriffe, wie Festung, Sieg, Angriff, Verteidigung, Niederlage werden in einer Mannigfaltigkeit von Bedeutungen gebraucht; bei philosophischen Begriffen steigert sich noch diese Unsicherheit; und Begriffe, die jm Brennpunkt des Streits stehen, wie etwa Gesetz, Gerechtigkeit, Wahrheit, Kultur werden auf die allerverschiedenste Weise gedeutet. Unglücklicherweise ist völlige Übereinstimmung in der Auffassung des Wortsinnes ein nimmer zu erzielendes Ideal; deshalb haben die Wortverdreher und Wortdeuter leichtes Spiel. Einen anscheinend klaren Satz in sein Gegenteil umzuwandeln, ist ihr Handwerk. Beispielsweise ist es für sie nicht schwer, das Gebot, den Nächsten zu lieben, mit der Praxis des Totschlags, der Marter, der Vergewaltigung zu versöhnen; wenn es ihren Zwecken dienlich ist, so behaupten sie, alles dies gehöre zum Begriff der „Liebe", natürlich, wenn „recht verstanden". In den Händen solcher Schriftsteller werden die anerkannten Grundsätze der Gerechtigkeit, wie sie in der Rechts-

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pflege zur Giltung kommen, verfälscht und verhöhnt. Klare Wahrheit selbst muß vor solchen Yerdrehern und Verleumdern erzittern. Dieser Notstand greift an den Nerv unserer Kultur. So treffen wir auch vom Standpunkt des Tatmenschen aus auf das Problem, das den Theoretiker bedrängt. Der Ausweg nun ist sicherlich nicht anders als durch Feststellung von Regeln für den Disput zu finden. Denn die theoretische Überlegung selber, in welcher Wissenschaft sie ,auch angestellt werde, führt zum Disput, vollzieht sich in Formen des Disputs. Glücklicherweise haben alle anständigen, alle ernsthaften Denker, Schriftsteller und Politiker das Bedürfnis, der Notlage zu entgehen. Mithin ist die Möglichkeit gegeben, daß ein Fundament anerkannt werde durch den Akt der Einigung und Übereinstimmung. Es steht zu hoffen, daß dies b a l d geschehe. Daß es überhaupt und irgendwann einmal geschehen muß, ist kein Zweifel, denn sonst, wie gezeigt, bleibt jedweder Förtschritt unterbunden und Kultur in einer verzweifelten Lage. Hier wird der Versuch unternommen, ein Fundament zu legen; aber ich behaupte keineswegs, daß dieser Versuch ausreichend ist. Der Anfang ist hier gemacht; das Problem ist hier gezeigt worden, im folgenden wird es näher umschrieben und ein erster Anlauf zur Lösung unternommen werden; mehr getan zu haben, behauptet der Autor nicht. Die Schwierigkeiten, die einer ausreichenden Lösung entgegenstehen, sind zu bedeutende. Die Aufgabe verlangt einen Künstler, der zugleich scharfer Denker und Philosoph sein muß, einen neuen PLATON. Kein Geringerer kann der Aufgabe voll gerecht werden. Der Künstler hat zum Volke zu reden, also in jener einfachen, sinnreichen Sprache, die ohne Prätention den Nagel auf den Kopf trifft. Als Denker und Philosoph hat er die Probleme vorherzusehen, aber nicht, um den Kampf zu führen, sondern nur, ihn vorzubereiten. So darf er hoffen, die Form und Methode des öffentlichen Streits zu regeln. Auch für den, der nur für ein kleines, an Schulphilosophie interessiertes Publikum schreibt, ist es von äußerster Erheblichkeit, daß er sein Fundament ins klarste und hellste Licht rücke. Wer den Sinn seiner Rede vor jedem Mißverständnis zu bewahren strebt, die Voraussetzungen seines Urteilens vorbehaltlos kundgibt und das Ziel seiner Forschung umschreibt, bezeugt durch diese Rücksichtnahme und diese Offenheit zumindest seine Redlichkeit. Und in der Philosophie, wo sich so viele der größten Interessen der Menschheit zum Worte melden — die Religion, die Wissenschaft, die Sittlichkeit, das Recht, die Politik, die Kunst, kurz alles, was das Menschenherz treibt und bewegt —, auf diesem heiß umstrittenen Boden ist ein Zeugnis der Ehrlichkeit von höchstem Belang. Für den Sophisten freilich, der nur Recht behalten will, aber an der Sache nicht interessiert ist, sind Regel und Maß beim Streite bloß Hemmungen. Durch Feststellung des Fundaments wird er gehindert, die Begriffe so zu wenden, die Grundsätze so zu deuten, wie es grade der Augenblick erheischt. Der ehrliche Forscher

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dagegen fürchtet nichts mehr als jene Flüssigkeit, Gestaltlosigkeit, Regellosigkeit der Begriffe und Grundsätze, nicht sowohl, weil sie dem Sophisten, als weil sie dem Irrtum günstig sind. Aus diesem Gegensatz des auf das Sachliche gerichteten Streiters und des bloßen Rechthabers und Machtstrebers ergibt sich deutlich, was ein Fundament soll und was es nicht darf. E s soll den Sinn der Grundbegriffe zwar nicht erklären, aber klären; es soll die allerersten Grundsätze zwar nicht beweisen, aber erhellen. E s soll feststellen, was nicht strittig ist, um Deutlichkeit des Sinnes, Klarheit der Zusammenhänge und Sparsamkeit im Ausdruck möglich zu machen. Dagegen darf es nicht Probleme angreifen, weil es ja nicht Partei nehmen darf. Es ist durchaus zur Vorbereitung und zur Regulierung des Streits da. Jeder Gegensatz von Begriffen, jeder scheinbare Widerspruch zwischen Lehrsätzen, jeder Antagonismus von Theorien, die so notwendig sind zum Stellen von Problemen, mindern die Gebrauchsfähigkeit eines Fundaments herab. Vergleicht man eine Philosophie mit einem Palast, so soll ihr Fundament eben das Fundament des Gebäudes sein, also in sich fest stehen und den Bau kräftig stützen. Man könnte nun freilich die Notwendigkeit eines Fundaments beim Disput zugeben und sie für den Aufbau einer Philosophie bestreiten. Man könnte darauf hinweisen, daß Philosophie ein Gefüge von Gedanken ist, 'deren Gültigkeit durchaus nicht abhängt vom Streit, sondern einzig von ihrem Sinn. Man könnte sagen, daß es eine Philosophie an sich geben muß, eine Wahrheit, die ja auch von einem einsamen Denker gesucht werben könnte und dann sicherlich nur durch die Intelligenz dieses Einsamen entstünde. Wird doch grade das Gleichnis des weisen Alten, der in die Wüste geht oder auf einem hohen Berge wohnt, gern für den Philosophen angewendet. Dem ist aber zu entgegnen, daß, wie es auch mit einer „Philosophie an sich" stehen mag, zugleich mit dem einsamen Denker auch dessen Philosophie sterben und spurlos verschwinden würde. Das aber will und soll Philosophie nicht, denn sie hat für den Wirbel des öffentlichen Lebens eine höchst notwendige Funktion auszuüben, und sie muß sich daher verbreiten. .Eine Philosophie will Anerkennung erringen, sich im geschichtlichen Leben als Macht erweisen. Dieser Wille ist lebendig in den Trägern der Philosophie. PLATON und ARISTOTELES haben Schulen gegründet, und sie haben eine Lehre aufgestellt, um zu lehren. Zu allen Zeiten haben die großen Philosophen Bücher geschrieben oder sich au£ andre A r t mitgeteilt. Zu allen Zeiten haben sie ihre großen Vorgänger angegriffen, um der Verbreitung von Irrtümern entgegenzutreten. Sie haben dialektisch gefochten, in der Form des Dialogs geschrieben, ihre Gedanken durch Argument verfestigt und bekräftigt; doch Dialektik, Dialog, Argument sind Formen des Disputs. Der Philosophie steckt der Disput im Blute. D a das Fundament keine Probleme angreifen soll, so wird es heraussuchen und hervorheben, worin bei aller Divergenz die verschiedenen Schulen

1. Sinn des Problems.

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übereinstimmen. Diese Aufgabe ist jedoch nicht ohne Schwierigkeit. Es gibt einen Standpunkt, von dem aus nichts als gewiß erscheint. Nennen wir, um diesen Standpunkt zu beleuchten, den Theologen, den Skeptiker, den Solipsisten. Die Theologie schließt von vornherein einen Disput über den Gottesbegriff aus, denn sie erachtet das menschliche Denken nicht für kompetent, die Attribute Gottes zu erforschen. Sie sagt: der Verstand ist endlich, Gott aber ist unendlich; was dem Verstand als Widerspruch erscheint, ist in der Unendlichkeit reine Harmonie. Wo sie es nicht sagt, fühlt sie das. Man darf und soll auf diesen Standpunkt Rücksicht nehmen. Aber dann soll auch über diese Inkompetenz des menschlichen Verstandes eine Regel vereinbart werden, die klar, eindeutig und für jede Partei gleich bindend ist, damit nicht der Theologe Rechte habe, die dem Widersacher versagt sind. Der Skeptiker kann vermöge seiner zweifelnden Haltung den Disput unmöglich machen, indem er den Aufbau eines Fundaments verhindert. Er kann es jederzeit tun, sobald es ihm nur paßt. Mit einem absoluten Skeptiker, der gar nichts zugesteht, zu streiten, ist gewiß verlorene Mühe. Aber auch der gemäßigte Skeptiker, der einige Zugeständnisse macht, muß vor Beginn der Diskussion erst einmal untersuchen, ob seine Zugeständnisse nicht lückenhafte sind; sonst ist die ungestörte Fortführung des Disputs nicht gesichert. Der Solipsist schließlich, da er sich für das einzig Reale und die ganze AVeit für seine Vorstellung hält, kann einen Gegner im Disput nur als einen Teil von sich ansehen. Ihm gegenüber darf man daher nicht von einem Disput zweier Gegner reden. Immerhin dürfte sich mit ihm eine Unterhaltung anbahnen lassen, wenn man übereinkommt, die Frage der Realität zunächst außer Spiel zu lassen und einfach die Ansicht A mit Ansicht B in Kontrast zu setzen. Auch der einsame Denker, solange er zwischen entgegengesetzten Meinungen noch schwankt, verfährt auf diese Art, mithin wird der Solipsist einem solchen Abwägen von A und B sich nicht widersetzen können. Für diesen Streit der Ansichten, mag er auch stumm im Kopfe vonstatten gehen, ist ein Fundament, das in aller Klarheit und Bestimmtheit festgestellt wird, grade so von Wert wie für den Redestreit, der laut und öffentlich geführt wird. Nach alledem stellt die Errichtung eines Fundaments keine unmögliche Aufgabe, sondern eine fruchtbare Aufgabe, die für jedweden philo-, sophischen Standpunkt wertvoll ist. Damit eine philosophische Gedankenreihe in nicht mißzuverstehender Weise mitgeteilt werde, damit Disput möglich sei, damit Kritik geübt werden könne, ist ein Fundament notwendig und genügend. Doch die Funktion des Fundaments ist hiermit noch nicht umgrenzt. Die Philosophie muß ihre Schüler aus unphilosophischen Kreisen suchen, um sie heranzubilden, daher muß ihr Fundament diesem Publikum angepaßt sein. Mit naiven, in Philosophie unbefangenen, intelligenten Men-

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Die Aufgabe der Grundlegung.

sehen unserer Zeit muß sie diskutieren, um sie aufzuklären. Das Fundament, welches den Spielraum des Disputs abstecken und die zum Streite nötigen Waffen beiden Gegnern unparteiisch und ohne Vorbehalt zur Verfügung stellen soll, muß außerdem also noch eine Struktur haben und in einem Vortrag dargelegt werden, die pädagogisch grade dem oben bezeichneten Publikum angepaßt ist. Überblickt man die bisherige Literatur der Philosophie, so findet man nirgends ein Werk, das sich das Problem des Fundaments in diesem Sinne gestellt, geschweige denn gelöst hätte. Zwar nach Klarheit des Ausdrucks und Bestimmung der letzten Voraussetzungen haben Viele gestrebt, aber es ist etwas so Dunkles, Verworrenes, fast Mystisches daraus geworden, wie es die Erkenntnistheorie jetzt ist. Das Hinabgehen auf den Standpunkt des naiven Menschen ist den Philosophen vielleicht als ihrer unwürdig erschienen. Vielleicht haben sie geglaubt, dazu diene das Katheder der Universität, und die Tätigkeit eines Lehrers, eines bloßen Erklärers, sei dafür genügend. Wenn sie dies geglaubt haben, so haben sie die Funktion des Publikums nicht eingesehen. Publikum und Philosoph sind wie Ozean und Sturm. Der Ozean bleibt immer rein. Der Schmutz, der einen Fluß verunreinigt und einen See verpestet, wird im Ozean aufgelöst und fällt zuletzt harmlos auf den Grund. Man schöpfe ein wenig Wasser aus dem Ozean und schau es an: man wird daran nichts Außergewöhnliches finden; aber dieses unscheinbare Wasser in seiner Gesamtheit macht den Ozean, der in seiner Größe, langen Dauer und der Mannigfaltigkeit seiner Schicksale schön, mächtig, fruchtbar ist. Die Lehre des Philosophen sei wie der Wind, der die Wellen des Ozeans erregt. Nicht wie der Föhn verfange er sich zwecklos in den Bergen, sondern erteile Bewegung den Wassern der Weite und blähe die Segel des wagenden Forschers. Der Ozean kennt die Winde. Er liebt sie alle: den lieblichen, der im Sonnenschein spielt, den ernsten, der die Wogen hebt, den von Leidenschaft erfaßten, der die Wellen türmt, nur nicht den wutentbrannten, den Wirbelwind. Der Bergwind aber, der aufs Meer hinausgelangt, wird dort erst seiner Kraft gewahr und mächtig. Das Publikum, will ich gagen, ist gesund, denn es überwindet jedwede .Krankheit, auch die einer philosophischen Geschmacklosigkeit und Verirrung. Es liebt den Philosophen, der es bewegt und aufwühlt, wofern er nur Richtung hält. Und es erzieht den Philosophen, indem es ihm Bewußtsein von Kraft und Gesundheit verleiht. ' Philosoph und Publikum sind aufeinander angewiesen. Für ihren Verkehr miteinander müssen die Regeln, die Methode, die Moral des Disputs noch vor dem Disput vereinbart und unverbrüchlich festgelegt werden. Diese Aufgabe ist lösbar, denn die -Not des Lebens stellt sie. Sie fordert, daß der Philosoph sein Publikum erfasse und für dieses Publikum ein Kunst*

1. Sinn des Problema.

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werk schaffe. Wie der Künstler den Stoff formt, bevor er noch imstande ist, sein Können zu erklären, einfach aus einer Intuition heraus, welche ihm sagt, was sein Publikum bewegen wird, so muß der Philosoph die Grundlegung der Regeln des öffentlichen Streits einer Intuition überlassen, welche ihm für sein Publikum den Weg der Verständigung weist. Und wie die Künstler Kunstwerke hervorbringen, so muß es möglich sein, daß der Philosoph seine Aufgabe der Grundlegung löse. Bisher ist das Problem des Fundaments in diesem Sinne nicht gestellt worden. Die Grundwerke der Philosophen, auch jener, die gute Schriftsteller gewesen sind, verwenden keine Mühe darauf, zunächst einmal die Punkte der Übereinstimmung festzustellen, sondern rücken sogleich das Problematische in den Vordergrund. Ich zitiere ein paar Beispiele. SCHOPENHAUERS Grundwerk „Die Welt als Wille und Vorstellung" hebt an: „Die Welt ist meine Vorstellung". Eine Fülle von Widerspruch wird dadurch erweckt, und durch spätere Aufklärung wird die Unruhe nicht leicht und niemals völlig besänftigt. Zwei Seiten weiter sagt SCHOPENHAUER: „Dasjenige, was Alles erkennt und von keinem erkannt wird, ist das Subjekt. Es ist sonach der Träger der W e l t . . . " Nun kennt aber niemand so etwas, und die Bestimmung, daß es unerkennbar sei, erhellt die Sache nicht. Der Leser wird also aufs neue beunruhigt. Er fragt sich verwundert, ob das Subjekt eine Person sei? Doch eine Person wird von jedermann als Objekt von Erkenntnis aufgefaßt. Oder, fragt er sich, ist das Subjekt der Verstand? Doch es gibt ja auch eine Theorie vom Verstände. Nun sagt zwar SCHOPENHAUER „als ein solches Subjekt findet jeder sich selbst"; daraus aber den Sinn des obigen Satzes, ja auch nur die Absicht SCHOPENHAUERS klar zu erschließen, wäre eine sehr schwierige Aufgabe. Und mag nun auch ein Interpret meinen, sie wäre lösbar, so war es doch unnötig, sie am Anfang erhellender Darlegungen dem Leser aufzuzwingen. PAULSENS Einleitung in die Philosophie, 20. und 21. Auflage, 1909, definiert Philosophie erst als „den stets wiederholten Versuch, ein Ganzes von Vorstellungen und Gedanken über Gestalt und Zusammenhang, über Sinn und Bedeutung aller Dinge zu gewinnen". Dieser „Versuch" wird bald nachher anders bestimmt als „Inbegriff wissenschaftlicher Erkenntnis", was wieder korrigiert wird in einen „Versuch . . . , den Schlüssel zu dem Mysterium magnum des Daseins zu finden". Ich kann nicht glauben, daß der Leser durch so schwankende, so "überhebliche Erklärungen erhellt wird. Und dem Kenner sind die obigen verschiedenen Erklärungen zuwider. Der „Versuch", von dem PAULSEN redet, schafft nicht Philosophie, sondern eine phantastische Dichtung; der „Inbegriff wissenschaftlicher Erkenntnis" ist wiederum keine Philosophie, sondern, wie später erhellen wird, ein Unsinn. Werfen wir auch einen Blick auf die Art, wie sich die neueste Philosophie darstellt, etwa die Transzendentalphilosophie des Jahres 1913. Dr. F R I T Z MÜNCH in „Erlebnis und Geltung" will versuchen, „eine systema-

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Die Aufgabe der Grundlegung.

tische Grundlegung der Transzendentalphilosophie, sofern diese zugleich eine Weltanschauung zu geben behauptet, zu entwickeln und zu begründen". Er fängt dies Unternehmen mit dem folgenden Satze an: „Worin liegt die epochale Bedeutung der Kritik der reinen Vernunft für die Geschichte der Philosophie, wenn man es ohne die Ausdrücke der KANTischen Schulsprache zu formulieren sucht? Darin, daß sie einen neuen Begriff des G e g e n s t a n d e s und damit einen neuen W a h r h e i t s b e g r i f f begründet." Wie gelehrt, aber ach, wie schwer nachzuprüfen! Und in diesem Tone geht es fort. Schon der zweite Satz bringt eine weitere Steigerung in den Ansprüchen, die an den Leser gestellt werden. Er lautet: „Das Grundproblem, um das sich die ganze kritische Erkenntnistheorie dreht, ist die Quaestio juris, worin die ,Dignität' besteht und gründet, die einem Inhaltskomplex durch die Beziehung auf den Gegenstand zuteil wird." Es ist, als ob jener Autor entschlossen wäre, sich, wenn überhaupt, nur ebenso gelehrten Männern, wie er einer ist, mitzuteilen. Eine „Begründung" aber sollte von jedem unverbildeten, intelligenten Menschen verstanden werden können, denn wir kommen ja nicht gelehrt in die Wiege. Mein Vorwurf' gegen diesen Stil richtet ihn nicht als schlechten Geschmack, sondern als fragwürdigen Träger von Sinn. So scharfsinnig die neuesten Werke über Logik auch sind, die Ebene, von der sie aufsteigen, liegt bereits zu hoch. Es ist unmöglich, sie zu kontrollieren; auch ihren eigenen Schriftstellern ist solche Prüfung bei bestem Willen unmöglich, denn die Mannigfaltigkeit der logischen Verknüpfungen ihrer Werke ist zu reich und verästelt. Ja, könnten sie ihre Gedanken mit der Eindeutigkeit bezeichnen, wie es die Mathematiker tun, so wäre mein Vorwurf hinfällig; aber solche Eindeutigkeit ist ganz und gar unerreichbar. Nur auf sein Publikum kann der Philosoph sich einstellen. In seinen Grundwerken also, worin er sich an ein unbefangenes Publikum wendet, das einzige, das er in einem Grundwerke voraussetzen darf, muß er die Sprache des Umgangs reden; in seinem Grundwerk muß er demnach, um der Klarheit und Deutlichkeit und Richtigkeit gewiß zu sein, vom Problem des Fundaments ausgehen. Ich begreife seine Begierde, das Problematische, das Verworrene, das Verschlungene und Undurchsichtige der Sprache des Umganges möglichst schnell und möglichst gründlich los zu werden, aber er muß diese Reinigung von Sprache und Gedanken sich erst einmal als Problem stellen und durch eigne Arbeit durchführen. Entweder muß er ein Fundament bauen oder er muß hinweisen auf ein Fundament, das er als fraglos anerkennt, und muß sich danach richten. Die Rücksicht auf sein Publikum, die der Philosoph walten lassen muß, bestimmt den Ausgangspunkt, den er nimmt, und die Art der Darstellung, die er verwendet, doch keineswegs braucht er zu fürchten, daß diese Rücksicht ihn dazu treiben könnte, seine wahre Weltansicht verschleiern zu müssen; er wird immer eine Form finden können, um sich mitzuteilen, nur ist er gehalten, in schlichter Sprache und ohne Gedankensprünge zu reden. Eine gesunde^ Philosophie wird ihr Fundament nimmermehr um-

2. Über die Art, das Folgende zu lesen.

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zustoßen brauchen; eine gesunde Philosophie wird also vor und mit diesem Publikum, welches der Born aller dauernden Gesundheit ist, ihr Leben auswirken können. Es ist ein drängendes, ein notwendiges Problem — zu diesem Schluß gelangen wir — der Philosophie ein Fundament zu bauen, das den Bedürfnissen sowohl des Theoretikers wie des Mannes der Tat genügt. Das Fundament kann sich nicht selbst stützen, aber wir finden uns wissend. Zudem, wiewohl wir einander oft mißverstehen, sprechen wir doch, die nämliche Sprache, haben wir doch die nämlichen Sinne und die nämliche Vernunft. Darum hegen wir die Zuversicht, daß sich ein Fundament nfiißse bauen lassen zum Zwecke der Mitteilung und des geregelten Disputs zwischen Publikum und Autor. Der Autor muß sich seinem Publikum, das Publikum seinem Autor anpassen können — diesen Glauben hegen wir. Ist das Problem gelöst, so werden Publikum und Autor instand gesetzt, miteinander klar, bestimmt, begründend zu reden und zu verhandeln. 2. Über die Art, das Folgende zu lesen.

Jedes Buch ist auf die Zusammenarbeit von Autor und Leser berechnet, keines mehr als ein Buch über das Fundament. Grade bei der Auseinandersetzung über das Fundament ist die sprachliche Schwierigkeit erheblich, weil dabei mit Worten geredet werden muß, während noch die Bedeutung einiger der Worte zu klären ist. Durch keinen Kunstgriff gelingt es, diese Klippe zu umschiffen, man muß darüber hinweg. Damit das Schiff nicht zerschelle, sind vom Autor wie Leser verschiedne Bedingungen zu erfüllen: der Autor muß einfach, ehrlich, sachlich reden, der Leser muß im Geiste der Einfalt, Ehrlichkeit und Sachlichkeit lesen. Um diese Bedingungen zu erfüllen, darf der Leser sich nicht verführen lassen, das Beispiel des Theologen, Skeptikers, Solipsisten nachzuahmen. Er muß also den Begriffen und Gesetzen einen und denselben festen Sinn, und diesen ohne jede reservatio mentalis beilegen; er muß in gutem Glauben Zugeständnisse machen und sich des Grundsatzes erinnern: was du nicht willst, daß man dir tu', das füg' auch keinem Andern zu; und schließlich muß er den Autor für einen gleichberechtigten Gegner halten. Wer auf andre Weise liest, wird nun zwar dem Autor Steine in den Weg rollen, aber viel mehr als Jenem sich selber schaden, denn er wird mißverstehen. Nur wer in ganz bestimmten, also in ihrer Bedeutung durchaus umgrenzten Begriffen und Gesetzen denkt, nur wer jene Zugeständnisse macht, die er selbst fordert, nur wer sich als Glied einer strebenden Gemeinschaft fühlt, wird als Autor, wie als Leser wie auch als Kritiker Förderliches wirken. Die Schwierigkeit der Verständigung ist um so größer, als termini technici geprägt werden müssen. Hätte die Philosophie jetzt, wie zur Zeit des Mittelalters, eine Schulsprache, so wäre die Aufgabe vereinfacht; aber

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Die Aufgabe der Grundlegung.

die Philosophen sind vom Besitz einer eindeutigen Sprache jetzt weiter entfernt denn je. Unzählige sind die Nuancierungen der Schlagworte, wie etwa Bewußtsein, Vorstellung, Gefühl, Freiheit, die den gedanklichen Verkehr der Philosophen vermitteln sollen. Dazu kommt noch, daß auch im Getriebe des Lebens diesen Bezeichnungen ein Sinn zukommt, ein verschwommener, schwer zu umgreifender Sinn, so daß die Gefahr des Mißverständnisses noch erheblich vergrößert wird. Trotz alledem muß die philosophische Sprache aus dem Material dieser Worte gebildet werden, denn in lauter fremd klingenden Kunstworten zu reden, würde den Leser abschrecken, oder bestenfalls veranlassen, durch Übersetzung in eine ihm gewohnte Ausdrucksweise das Fremdartige zu erläutern, wodurch dann für das Verständnis nichts gewonnen wäre. Die Schwierigkeit liegt nicht bloß auf seiten des Autors; auch der Leser hat zu kämpfen, vornehmlich gegen die Gewohnheit gebildeter Menschen, sich die Begriffe durch häufig benutzte Gleichnisse oder Beziehungen zu exemplifizieren. Die philosophischen Begriffe sind fast ausnahmslos abstrakter, stehen somit in weniger engen Relationen als die des Lebens. Zum Beispiel bedeutet das „Ich" der Philosophen keineswegs „meine Person", sondern so etwas wie „Ichheit", zudem mit Ausschluß des Leibes. An diese Abstraktionen muß sich der Leser gewöhnen, er muß sie erwarten ^ und darf daher nicht willkürlich oder aus Gewohnheit den Kunstworten einen engern Sinn beilegen, als ihrer ausdrücklichen Definition genau entspricht. Hier ist der Druck den Bedürfnissen eines nach Verständnis ringenden Lesers angepaßt worden, indem das Bedeutsame durch gesperrten Satz hervorgehoben ist. Erscheint ein Wort so hervorgehoben, so ist dies ein Zeichen, daß damit ein Kunstwort eingeführt wird; erscheint ein Urteil im Sperrdruck so heißt dies, daß damit ein Axiom oder Lehrsatz aufgestellt wird; alles Andre dient der Erläuterung, also etwa der Umgrenzung des Sinnes, dem Nachweis der geschichtlichen Einordnung des Hervorgehobenen. Diese erläuternden Bemerkungen sind als Vortrag eines Lehrers zu deuten, der das allein Wichtige und Bedeutsame, das in Sperrdruck Gesetzte, welches den logischen Sinn der Lehre trägt und darstellt, seinen Schülern zur möglichsten Klarheit bringen will. Der Leser philosophischer Werke gehe nicht unvorbereitet an seine Aufgabe. Er tut gut, sich für fremde Gedanken aufnahmefähig zu machen. Die meisten von uns sind außerstande, geduldig und aufmerksam zuzuhören oder zu lesen, weil wir uns feste Meinungen und Wertschätzungen gebildet haben, die bei jedem wirldichen oder auch bloß vermeintlichen Widerspruch oder auch, wenn das Gesagte uns als selbstverständlich und daher überflüssig dünkt, in Harnisch geraten und uns in der ruhigen, gerechten Auffassung des Gehörten oder Gelesenen empfindlich stören. Nun hat allerdings jeder von uns Phasen der Entwicklung durchlebt, wo seine Anschauungen durch eine plötzlich erworbene Einsicht ins Schwanken ge-

3. D i e Methode.

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rieten und er sieh in der Ratlosigkeit dieses Erlebnisses auf sein Fundament besann, um von da aus tastend die schwache Stelle seiner Erkenntnis zu entdecken; aber Wenige hegen jene aufrüttelnden Phasen ihrer Entwicklung deutlich in Erinnerung. Es ist ratsam, daß der Leser philosophischer Werke sich ein solches Erlebnis vorstelle, möglichst erschütternd vorstelle, damit sein Fundament ihm zweifelhaft und verwunderlich erscheine und er so an das philosophische Problem in der verstehenden Verfassung herantrete. 3. Die Methode. Beim Beginn der philosophischen Betrachtung ist die erste Frage, was aus aller Fülle, die dem Sinnenden das Weltgeschehen darbietet, zuerst herauszugreifen sei, um es in die Mitte der Erwägung zu stellend Die alten Philosophen haben mit Gedanken über den Kosmos begonnen. Solche Thesen waren: Alles ist Wasser; oder: Alles ist aus vier Grundelementen gemischt; wiederum: Alles besteht aus kleinsten Teilchen, den Atomen, deren Fallen die Veränderungen hervorbringt. Die Bibel beginnt mit der Erzählung von Gott und der Schöpfung des Universums. Gegen alle diese Versuche kann man den Einwurf erheben, es sei g u t e M e t h o d e , mit dem als g e w i s s e s t A n z u s e h e n d e n zu b e g i n n e n , erst dies f e s t z u s t e l l e n , und das mehr S p e k u l a t i v e erst s p ä t e r daran zu s c h l i e ß e n ; woraus folgen würde, daß die obigen höchst spekulativen Sätze nicht an den Anfang einer besonnenen, nach strengen Richtlinien verfahrenden Betrachtung gehören. Schon um sich über den Inhalt der obigen Sätze klar zu werden, bedarf es tiefen Denkens. Wenn THALES lehrte, Alles sei Wasser, so sprach er in einem Epigramm; er wollte damit eine ganze Reihe von Gedanken suggerieren, und sein Epigramm hat auch diese Wirkung; es deutet an, daß jede Erklärung einfach und einheitlich sein müsse und daß ein leicht beweglicher Stoff am ehesten die Vielgestaltigkeit und Veränderlichkeit der Dinge erklären könne. Aus diesen in dem Satze des THALES enthaltenen Hinweisen lassen sich nun wieder eine ganze Reihe andrer Sätze ableiten; der Satz ist daher trotz seiner Kürze und anscheinenden Einfachheit recht verwickelt und problematisch, also die Methode, damit Philosophie zu beginnen, sehr fragwürdig. Wiederum, wenn der Pentateuch sagt: „Am Anfang schuf Gott Himmel und Erde", so ist damit mancherlei zwischen den Worten gesagt, was der Erklärung bedarf, zum Beispiel, daß es einen Anfang gegeben habe, vor dem ein Wesen, das vielleicht zeitlos ist, existiert und dann am Anfang Himmel und Erde und vielleicht die Zeit aus Nichts gemacht habe. Unschwer könnte man diese Betrachtungen fortsetzen und so über die wenigen zitierten Worte des Pentateuchs recht Vieles sagen; daher darf man mit diesen Worten gewißlich nicht jene besonnene, vorurteilslose, nur der Erforschung der Wahrheit dienende Betrachtung beginnen, deren bisher nicht verwirklichtes, wohl aber ersehntes und geschautes Idealbild man Philosophie nennt. LASKER, Philosophie des Unvollendbar.

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Die Aufgabe der Grundlegung.

4. Bewußtsein und Vorstellung.

Es hat lange Zeit gedauert, bis die Menschheit für die philosophische Aufgabe den rechten Ansatz gefunden hat. Erst dem Philosophen, der die Neuzeit einweiht, KARTESIUS, ist ein Anfang geglückt: Dubito, cogito, ergo sum; ich zweifle, ich besinne mich, daher existiert ein Ich. Freilich ist es strittig, ob die Ausdrucksweise des KARTESIUS die glücklichste sei; vielleicht hätte er weniger anschaulich und weniger interessant reden müssen, um ein Mindestmaß von Voraussetzungen zu machen; vielleicht hätte er deswegen sagen sollen: es denkt, oder: es gibt ein Denken; aber es ist kaum zweifelhaft, daß die Tatsache des sich Besinnens an den Anfang gehöre, da sie für den Philosophen fast augenscheinlich die am wenigsten strittige ist. Natürlich läßt sich hierüber nichts beweisen, denn es soll doch am Anfang der Betrachtung erst das Fundament gelegt werden, auf das jeder Beweis sich stützen muß. Indessen müßte der ein streitsüchtiger Mensch sein, der die Tatsache des Nachsinnens^ dunkel finden wollte. Dieselbe Tatsache ward von den neueren Philosophen auf verschiedene Art ausgedrückt; am. gebräuchlichsten ist die Bezeichnung des S u b j e k t s und Objekts. Was erkennt, heißt das Subjekt; das Erkannte oder das zu Erkennende heißen Objekt. Statt Subjekt sagt man auch: Ich; statt Objekt: Nicht-Ich. Die Redeweise des Lebens wäre etwa: Ich und die Welt. Derlei Paare von Gegensätzen giebt es viele, die sich doch allesamt auf die nämliche fundamentale Tatsache beziehen. Hier wird sie durch die Gegenüberstellung von Bewußtsein und Vorstellung bezeichnet werden. B e w u ß t s e i n bezeichnet ein Denken, ein Wollen, ein Tun, aber kein leibliches Handeln, Vorstellung eine Empfindung, die sich aufdrängt, die auf dem Wege des Leibes zu uns hineinkommt. Allerdings muß man bei diesem Punkte der Überlegung nicht eine psychologische Untersuchung anstellen wollen, die mit mehr oder minder gelehrtem Apparate entscheiden will, ob es im Menschen so etwas wie ein reines Denken oder eine reine Empfindung gebe. Tatsächlich hat der Akt des Denkens immer etwas Leibliches und somit Vorgezeichnetes an sich, und der Akt des Empfindens immer etwas Intellektuelles; aber solche Probleme hier auch nur zu stellen, wäre verkehrt. Was oben behauptet wurde, ist ganz abstrakt zu nehmen; es will mit möglichst geringer Voraussetzung besagen, daß ein solcher Gegensatz wie Tun und Leiden, Denken und Empfindung, Ich und Welt, Subjekt und Objekt sich fühlbar mache. Dieser Gegensatz spiegelt sich in einem andern wieder, der recht zum philosophischen Handwerkszeug , gehört, da er bei philosophischen Problemen häufig wiederkehrt: logisch-anschaulich, oder logisch-erfahrungsgemäß. Nicht alles Denken ist gültig, das Gültige ist logisch. Nicht alles "Empfinden wird anerkannt, die anerkannte Empfindung heißt Wahrnehmung oder Erfahrung.

4. Bewußtsein und Vorstellung. — 5. Das Sein.

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Es wird nun klar sein, was mit dem folgenden Lehrsatze gemeint ist: E s e x i s t i e r e n B e w u ß t s e i n und Vorstellung. In dem Worte „Bewußtsein", wie es das Volk gebraucht, ist ein Anklang an den hier bezeichneten Sinn: das Denkende, Erkennende, das Tätige; denn das Volk bezeichnet mit diesem Wort in unbestimmter Weise ein denkendes, erkennendes, wollendes Agens. Anders beim Worte „Vorstellung", denn dessen gewöhnliche Bedeutung bezeichnet eine Summe von Empfindungen, die in uns gegenwärtig sind, ein „ B i l d " , wie es der philosophische Sprachgebrauch nennt. Daß das etwas fremdartige Wort „Vorstellung" hier dem des Objekts vorgezogen wird, geschieht nach dem Beispiele SCHOPENHAUERS, der dies Wort bereits eingeführt hat. Auch „Empfindung" wäre ein guter Name dafür. Falsch aber wäre es, dafür „Außenwelt" zu setzen. Es ist offenbar, daß wir Empfindungen haben und daraus auf Dinge und Sachen schließen. Nicht die Außenwelt, auch nicht unser Leib, sondern die Empfindung, die Vorstellung, ist das Fundamentale. 5. Das Sein. Wenn wir sagten, daß Bewußtsein und Vorstellung e x i s t i e r e n , so tritt uns damit der Begriff entgegen, der das unlösbarste Rätsel ist: der des Daseins. Niemand vermöchte diesen fundamentalsten Begriff irgendwie zu klären oder gar zu übersetzen. Das Dasein läßt sich erleben, empfinden, erfahren, doch in durchaus keiner Weise auf eine logische Formel bringen. Freilich wäre der ein kindlicher Philosoph, der ernsthaft daran ginge, das Dasein zu erklären. Man könnte seinen Optimismus neiden, muß ihm aber warnend zurufen, daß seine Aufgabe offenbar unfruchtbar ist, und in einer Welt, wo soviel lohnende Arbeit zu verrichten ist, niemand das Recht habe, sich in eine Utopie zu verrennen. Nichtsdestoweniger — vielleicht aus Absicht — ist aus diesem Begriffe des Daseins eine Art Philosophie gemacht worden, die schwachen Köpfen gefährlich geworden ist. Jede Art mystischer Philosophie geheimnißt in den Begriff des Daseins andre Begriffe hinein, um ein Knäuel von Begriffen herzustellen, das unentwirrbar und so recht geeignet ist, den Schwachkopf gefügig zu machen. Hier muß der gesunde Philosoph wie ALEXANDERS Schwert den Knoten durchhauen. Er muß entschlossen dekretieren: Sein ist nichts Andres als g e d a c h t oder v o r g e s t e l l t sein; es g i b t nur ein Sein i n n e r h a l b von B e w u ß t s e i n und Vorstellung. Damit erfährt der Begriff des Daseins eine gewisse Umgrenzung, und diese ist gegenüber mystischen Strebungen, die in der menschlichen Natur tief verai^ert sind, sehr nötig Wenn jemandes philosophische Meinung durch wirkliche oder scheinbare Schwierigkeiten ins Wanken gerät, ist er geneigt, zu allererst seinen Begriff vom Sein zu modifizieren. Wie HEINE am Nordseestrand grübelt er dann erneut dem Woher und Wohin des 9*

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Die Aufgabe der Grundlegung.

Lebens nach, fragt die Wolken, erhält keine Antwort, und dann fragt er die Geister der Mystik und verschreibt ihnen seine philosophische Seele. Wir legen uns gleich hier auf einen unabänderlichen Begriff von Welt fest. Alles und nur jenes, was in Bewußtsein und Vorstellung ist, hat für uns Dasein, und alles das in seiner Totalität und nichts Andres macht aus, was wir Welt nennen werden. Diese so aufgefaßte Welt ist der Gegenstand unserer Forschung, doch nicht ein Sein von irgend andrer, d. h. undenkbarer und unvorstellbarer Art. Die Unterscheidung zwischen Bewußtsein und Vorstellung überträgt sich also auf das Sein. Was immer ist, ist innerhalb Bewußtsein oder Vorstellung, es will sinnvoll oder wirklich sein, und man muß entscheiden, worin es sei. Freilich sprechen wir hier, wo wir erst das Fundament legen, noch keineswegs von jenem Sein der Dinge und Geschehnisse, das man Wirklichkeit nennt, noch von dem Sein jener Urteile, die man Erkenntnisse nennt und welche gültig sind. Was die besondre Art des Daseins ausmache, die Wirklichkeit und Wahrheit heißt, wie auch der Unterschied „real — ideal", werden später zur Diskussion stehen, und die Erwägung darüber wird einen breiten Baum einnehmen; das oben Gesagte ist weit weniger prätentiös, es läßt jedem noch sd phantastischen Bilde wie jedem noch so schiefen und regellosen Urteil, gleichgültig, ob das Bild der Wirklichkeit, das Urteil der Wahrheit entspreche, den Anspruch auf ein Sein. 6. Vielheit, Einheit, Bestimmtheit. In der Vorstellung befindet sich, wie man sagt, ein Bild, d. h. eine einheitliche Anschauung, z. B. das Bild eines Sternes oder eines bestimmten Geschmackes. Die Bilder wechseln, es gibt also eine V i e l h e i t von Bildern, während jedes Bild als eine E i n h e i t , ein Ganzes, empfunden wird. Die Begriffe von Vielheit, Einheit, dem Ganzen, sind uns deutlich, wiewohl auf keine Weise übersetzbar; sie sind also fundamental. Soviel aber läßt sich noch über den Begriff der Einheit, oder der Einheitlichkeit, des Ganzen ausmachen, daß er mit dem der B e s t i m m t h e i t aufs engste verknüpft ist. Jedes Bild wie jeder Gedanke ist das, was es ist, auf eine bestimmte Art. Erst diese Bestimmtheit macht uns das Bild und den Gedanken zu einer Einheit, einem Ganzem, einem Individuum. Man drückt diesen Satz gewöhnlich durch eine Art mathematischer Gleichung aus, nämlich durch a= a . Aber man würde die Bedeutung des Satzes weit unterschätzen, wenn man ihn mit einer solchen Gleichung auf dieselbe Stufe stellen wollte. Freilich, a = a ist einer der Grundsätze der Logik, heißt als solcher Satz der Ident i t ä t , und man kann mit ihm rechnen, jedoch sein tieferer Sinn bezieht sich auf Wirklichkeit und Wahrheit und drückt eine sehr wesentliche Bedingung für die wirklichen Gegenstände und Geschehnisse, für die sinn-

6. Vielheit, Einheit, Bestimmtheit. — 7. Das Grundgesetz.

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vollen Begriffe wie wahren Erkenntnisse a u s : sie sind b e s t i m m t ; das, was sie sind, sind sie e i n d e u t i g . Jeder Gegenstand und jeder Sinn sagen: ich bin der, der ich bin. Und der Philosoph, der den Gegenständen und dem Sinn Ausdruck verleiht, muß also eine eindeutige Sprache reden. 7. Das Grundgesetz. Jedes Bild, wie es auch wahrgenommen sei, wird als ein U n t e r s c h i e d empfunden. D i e V o r s t e l l u n g e n t h ä l t a l s o e i n e n U n t e r s c h i e d . Nicht das Bild allein ist in der Vorstellung, sondern zugleich ein Kontrast, das Bewußtsein von anders seienden Bildern. Wir empfinden den leuchtenden Punkt als unterschieden von nicht leuchtenden Punkten, und niemals enthält unsere Vorstellung allein das Bild des Leuchtens, ohne das Bewußtsein des Unterschiedes mit zu enthalten, der zwischen Leuchten und NichtLeuchten besteht. Indem wir wissen, daß das Bild der Vorstellung ein Leuchten sei, ist damit bereits das Wissen um das Vorhandensein nicht leuchtender Dinge vorausgesetzt. In einer analogen Weise enthält das Bewußtsein niemals einen Gedanken außer in der Form einer B e z i e h u n g . Was immer den Inhalt unseres Denkens ausmache, es sei noch so genau umrissen, stets findet sich darin eine Bewegung, also ein In-Beziehung-Setzen mehrerer Begriffe. Die stillstehende Betrachtung, ohne daß ein In-Beziehung-Setzen zugleich statthätte, würde, wenn so etwas verwirklicht werden könnte, als Vorgang kein Denken sein und als Inhalt keinen Gedanken haben. Denken heißt unabänderlich: Beziehen. Daß in der Vorstellung nur ein Unterschied, im Bewußtsein nur eine Beziehung sein könne, ist von vielen Philosophen an die Spitze ihrer Erwägungen gestellt worden. Der Satz ist bedeutend durch seine Folgerungen. Einmal bezeugt er, daß die Gedanken fließen} dies ist wichtig, weil es auf ein ewiges Werden der Dinge hindeutet. Sodann ist der Satz ein tüchtiges Werkzeug, um bei grundlegenden philosophischen Problemen verwendet zu werden. Man benutzt ihn, um darzutun, daß der Begriff eines Absoluten, eines durchaus Unbedingten, zum Beispiel einer unveränderlichen, ewig beharrenden Substanz, haltlos ist.. So sagt LOTZE (Der Zusammenhang der Dinge, Deutsche Bibliothek in Berlin, herausgegeben von FRISCHEISENKÖHLER) unter dem Kapitel 2, Das Sein der Dinge, ein Stehen in Beziehungen: „Dem ersten Blicke auf die Welt pflegen die Dinge, jedes eine zusammenstimmende Gruppe von Eigenschaften, im wesentlichen als rullige Ganze zu erscheinen, unberührt im Grunde von dem Wechsel, den einige ihrer minder wichtigen Merkmale erfahren. Die beginnende Untersuchung findet jedoch bald, daß die Unruhe, welche nur leichthin ihre Oberfläche zu streifen schien, weit tiefer in die Dinge eindringt und daß sie zuletzt alles ergreift, was wir in ihnen beständig und sich selbst gleich dachten. Jede ihrer Eigenschaften zeigt sich schließlich abhängig von Bedingungen, mit deren Änderung sie sich ändert, und alle diese Bedingungen bestehen in

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Die Aufgabe der Grundlegung.

wandelbaren Beziehungen mehrerer Dinge zueinander, in wechselweis ausgeübten und erlittenen Wirkungen. So erfahren wir im günstigsten Falle, wie die Dinge sich unter bestimmten Umständen verhalten und benehmen, aber nicht, was sie sind, um sich so verhalten und benehmen zu können. Doch nicht nur der Inhalt dessen, was ist, auch die Bedeutung seines Seins wird uns rätselhaft: es löst sich auf in lauter Geschehen." Ebenso wie an der zitierten Stelle findet man das Grundgesetz auch anderwärts eindringlich beschrieben und in seinen mannigfachen Konsequenzen beleuchtet. Beispielsweise bei SCHOPENHAUER. In seiner Doktordissertation „Über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde" heißt es wie folgt: „Nun aber findet sich, daß alle unsere Vorstellungen untereinander in einer gesetzmäßigen und der Form nach a priori bestimmbaren Verbindung stehen, vermöge welcher nichts für sich Bestehendes und Unabhängiges, auch nichts Einzelnes und Abgerissenes, Objekt für uns werden kann. Diese Verbindung ist es, welche +

? + %*),

31. Das Prinzip der Erhaltung der Energie.

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für den außerirdischen + a)2 + (y + bf + (* + c] 2 . Der letztere Ausdruck ist mathematisch gleich \ m [x2 + y2 + x2) + ^ m

[ax + by + c») +

m[a2 + b2 + c2).

Er zerfällt also in drei Teile. Der erste ist die kinetische Energie für den irdischen Beobachter, der letzte ist mathematisch gleich der Größe « 2 -)- ö2 + c2 mal der halben Summe aller Massen des Systems, die mit M bezeichnet sei. Für beide Beobachter ist die innere Energie die nämliche. Wenn nun das physikalische System seinen Zustand nicht ändert, also nicht unter dem Einfluß von äußern Kräften steht, so bleibt nach dem Energieprinzip sowohl für den irdischen wie für den außerirdischen Beobachter die Gesamtenergie des Systems unverändert. Mithin bleibt unter diesen Umständen die Differenz der Energien, wie sie dem irdischen und außerirdischen Beobachter erscheinen, ebenfalls unverändert. Diese Differenz* da ja die innere Energie des Systems für beide Beobachter die nämliche ist, beläuft sich aber auf den mittleren und den letzten der drei obigen Terme, also auf ^m{ax

+ by + c%) + y M{a2 + b2 + c2).

Das physikalische System bewegt sich daher derart, daß diese Größe konstant, unverändert, d. h. vom Ablauf der Ereignisse unabhängig bleibt. Und dies gilt, welches auch et, b, c seien. Somit müssen von der Zeit unabhängig sein Smx, Zmy, Emz, M. Die ersten drei dieser vier Größen sind aber mathematisch gleich dem Jlifachen der Komponenten der Geschwindigkeit des Schwerpunktes des Systems, und M ist die Masse des Systems. Es ergibt sich endlich also, daß ein physikalisches System, welches seinen Zustand nicht ändert, mit andern Worten, dessen Bewegungen nicht unter dem Einflüsse äußerer Kräfte stehn, im Verlaufe der Zeit weder seine Masse noch die Geschwindigkeit noch Richtung der Bewegung seines Schwerpunktes ändert. Dieses Gesetz ist zwar seit langem der Mechanik und Astronomie bekannt, und in der Chemie hat das Prinzip der Erhaltung der Masse geschichtlich eine große Rolle gespielt, aber ich glaube, daß es nicht in seiner vollen Allgemeinheit begründet worden war. Es vermittelt eine wertvolle Einsicht in die Bewegungen, die in einem physikalischen Systeme „von selbst", also ohne äußere Einwirkung vor sich gehn; mögen da langsame oder heftige chemische Umwandlungen stattfinden, elektrische Ströme fließen, Funken überspringen usf., mag auf die mannigfachste Art innere Energie sich kinetisch entladen oder umgekehrt kinetische die Form der innern Energie annehmen, solange dabei kein äußerer Einfluß waltet, bleiben die Gesamtmasse, die geradlinige und gleichförmige Bewegung des Schwerpunktes und natürlich auch die Energie des physikalischen Systems von all diesen Vorgängen unberührt. 20*

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Das Problem der Ursächlichkeit.

Aus dieser Betrachtung erkennt man, wie erheblich der Vorteil ist, welcher aus der Zerspaltung der Energie eines Systems in mehrere charakteristische voneinander gesonderte Teile folgt. PLANCKS Buch gibt fernere Aufklärung über den Nutzen, den der Physiker aus solcher Zerlegung ziehn kann. Darum erhebt sich nun die Frage, ob die Energie sich auf strenge Art in viele voneinander unabhängige Teile, etwa Energie der Wärme, der Elektrizität, der Elastizität usf. zerlegen lasse ? Und wieviel verschiedener Arten oder Formen von Energie man annehmen dürfe? Befragt man nun aber die geschichtlichen Zeugnisse, um zu erkunden, wie sich die großen physikalischen Forscher zu diesem Probleme stellen, so bemerkt man eine durchaus ungeschlichtete Unstimmigkeit. PLANCK entscheidet sich schließlich für wenige Energieformen, OSTWALD nimmt deren viele an, fast alle Forscher aber lassen es gegenüber diesem Probleme an der Entschiedenheit und Bestimmtheit, welche sonst die Arbeiten der Physiker auszeichnen, vermissen. Man lese in OSTWALDS „Die Energie", 1908, was er auf S. lOOf. über die „verschiedensten Energien" und das HELMSche Intensitätsgesetz sagt; der Leser bleibt im Dunkeln, welches denn die verschiedenen Energien seien, die Erklärung von Intensität und Extensität ist weder streng noch gründlich, OSTWALD spricht bloß mit der Autorität des berühmten experimentellen Forscherg, legt aber die logischen Zusammenhänge nicht scharf und strenge dar. Und doch ist diese Frage für den P h i l o s o p h e n OSTWALD eine äußerst erhebliche, denn er stützt ja seine gesamte Weltanschauung auf die „Energetik". Die Wahrheit nun ist, glaube ich, daß unser obiges Problem eine ganz und gar unerwartete Lösung hat, welche mit den bisherigen Mitteln der Physik nicht zu erweisen, ja, nicht einmal zu formulieren ist. Bevor hier daran gegangen werden kann, die Lösung dieses Problems auseinander zu setzen, ist es vonnöten, einen wichtigen Begriff zu definieren, den des „Unvollendbar". Dies wird zweckmäßig geschehn erst bei der Betrachtung eines andern, weit fundamentalem Problems, dem der Freiheit des Willens. Mithin wird auch unser obiges Problem bis dahin vertagt. Und damit gelangen wir an einen Haltepunkt. Zwar ließe sich das Prinzip der Kompensation noch auf vielerlei Arten physikalisch auswerten, liefert doch im Grunde jedwedes aus wirklicher Not entsprießende technische Problem eine Anwendung dafür, aber es drängt nicht, diesen Gedanken auszuführen; die Stelle der theoretischen Ausführung nimmt oftmals in durchaus genügender Weise ein anschauliches Beispiel, wie es in der obigen Behandlung des Energieprinzips gegeben ward. Die Quellen, aus denen physikalischchemische Ergebnisse über ideale Gegenstände fließen, sind im voranstehenden angezeigt: das Prinzip der Kausalität, das der Schwelle, das Axiom der Begreifbarkeit, die Prinzipien des macheidischen Kampfes, die mathematischen Beziehungen, z. B . die von Raum, Zeit, Masse, und zuletzt, als Einführung, Begründung, Auswertung individueller idealer Gegenstände: die Erfahrung. Damit ist für die philosophische Theorie der Ursächlichkeit ein erster Grenzstein erreicht. Und hier ruhn wir aus.

Das Problem der Freiheit. 1. Die Stellung des Problems. Sind die Entscheidungen des Willens verursachte Wirkungen? Entsprechen sie in diesem Betracht den Veränderungen der Gegenstände? Kann sich der Wille unter den nämlichen Bedingungen verschieden verhalten? Findet die Entwicklung der Lebewesen nach einem Gesetze statt, ebenso wie die Planeten sich in vorgeschriebnen Bahnen bewegen? Diese verschiedenen Fragen, die zuletzt den nämlichen Sinn haben, sind nie völlig geklärt worden. Die Mehrheit der Menschen hat immer an einen freien Willen, ein „liberum arbitrium indifferentiae", geglaubt. Die Ansicht der Wenigen war aber die der Auserwählten und wog schwer: sie verneinte den freien Willen und erklärte sich für den „Determinismus". Die praktische Bedeutung des Problems ist eine hohe. Theologen, Gesetzgeber, Biologen, Psychologen, Philosophen haben an ihm ein Interesse ersten Ranges. Der Sinn von Sünde, Reue, Pflicht, Gewissen, Zurechnungsfähigkeit, Lohn und Strafe, die Auffassung von Entwicklung, Geist und Leben hängen von der Beantwortung unsrer Frage ab. Daher ist das Problem ein Schlachtfeld geworden, auf dem mit Leidenschaft gekämpft ward. Jeder Kniff, Recht zu behalten, jede List, die Geister zu verwirren, sind da versucht worden. Bei einem Probleme, wo mannigfaltige Interessen zusammentreffen, ist Vorsicht geboten. Die Vorsicht des Philosophen aber drückt sich aus in Schärfe der Logik. Der Sinn eines solchen Problems also muß über allen Zweifel klar zum Ausdruck gebracht und die Antwort auf die Frage gegen jeden möglichen Angriff gesichert werden. Es genügt nicht, das Problem so lösen zu wollen wie etwa einen Rechtsstreit, indem man das Wahrscheinliche als wahr ansieht, oder wie eine politische Frage, indem man Meinungen zitiert und die Majorität oder Autorität entscheiden läßt; hier kann nur zwingende Logik entscheiden. An Versuchen, die Frage anders zu lösen, hat es nicht gefehlt, aber sie haben keinen nachhaltigen Erfolg errungen. Noch hat es an Versuchen gemangelt, durch Logik die Entscheidung zu bringen, sie waren indessen strenger Kritik nicht gewachsen. Bei aller Anerkennung des bisher Geleisteten darf man daher das Problem als unerledigt ansehn und muß es mit neuen Hilfsmitteln und ohne Rücksicht auf Vorgänger angreifen.

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Das Problem der Freiheit.

Die Aufgabe, weil sie den Willen, das Leben, den Geist betrifft, die man im Baum nicht berühren kann, übt auf den Denker eine starke Versuchung zur Mystik aus. Der Klarheit wegen sind wir gezwungen, dazu Stellung zu nehmen. Doch wollen wir das Problem nicht unnütz belasten. Daher erklären wir, daß wir bei dem gegenwärtigen Anlaß die Mystik weder stützen noch benützen noch auch angreifen wollen. Das Übersinnliche ist per definitionem nicht durch Wahrnehmung erprobbar, auch ist's nicht Logik, sondern ein Stück der Wirklichkeit, und zwar übersinnliche Wirklichkeit — diese betrachten wir jetzt und hier keineswegs. Unser Problem, wir erklären es von vornherein, soll in keiner Weise auf die Sphäre des Übersinnlichen übergreifen, noch irgendwie darauf Bezug nehmen. Wir f r a g e n nach den n a t ü r l i c h e n Erscheinungen am Lebewesen, z. B. ob für dessen Wachsen oder Denken ein Prinzip der Kausalität in Geltung sei. Alle andern Fragen gehn uns jetzt und hier noch nichts an. Ferner grenzen wir die Aufgabe ab gegen das Wunderbare. Mächte, welche die Fähigkeit haben sollen, Naturgesetze an einem Orte und für eine Zeit zu suspendieren, wie etwa Medien, Propheten, Engel, sollen nicht in den Kreis der folgenden Überlegungen hineinbezogen werden. Wir betrachten im folgenden also nicht die Ausnahme, deren Möglichkeit von Einigen behauptet wird, sondern nur die Regel, deren Geltung von Allen zugestanden wird. Auch nicht die Frage, ob es metaphysische Mächte der obigen Art, wie etwa Zauberer oder Medien, irgendwo und irgendwann gibt oder gegeben habe, geht unser Problem an; wir betrachten einfach ein Lebewesen unter Umständen, wo kein wunderbarer Einfluß geübt wird, z. B. ein Kind in der Schule, das sich an einer Bechenaufgabe abmüht, und wir fragen, ob das an äußern Kennzeichen erkennbare Tun sowohl wie das in der Seele verschlossene Wollen dieses Lebewesens zur Zeit der betrachteten Bestrebung nach einem Prinzipe der Kausalität geregelt sei, oder ob man so etwas nicht behaupten dürfe. Andere mögen das Problem erweitern, es in verwickelter, geheimnisreicher Art ausgestalten — wir folgen ihnen nicht. Wir wollen eine scharf umrissene Aufgabe stellen, mit vollem Bewußtsein, daß sie eine notwendige Vorarbeit sei für jede weitergehende Aufgabe. Unser Problem stellt sich bereits bei jeder Wahrnehmung. — Wir tasten den Tisch und haben Empfindung. Sie ist nun zwar von einem Kausalfluß, nämlich einer Änderung unseres Leibes, begleitet; der Anatom weist nach, daß von der tastenden Hand ein Impuls Nervenstränge entlang läuft und so nach dem Gehirn geleitet wird; hier mag sich die Spur schließlich verlieren, um wieder deutlich zu werden, wenn ein Impuls nun andre Nerven in umgekehrter Richtung entlang läuft, ein Muskel sich dann zusammenzieht und ein Kausalfluß in den Raum gesandt wird. Dieser Vorgang ist sicherlich zum Teil ein Kausalfluß, aber ist er es völlig? Bei der Wahrnehmung erhalten wir ja auch ein Wissen, wodurch wir ein Ding begreifen, sie macht uns gleichsam eine Mitteilung. Sie sagt, hier steht ein Tisch. Man kann diese Mitteilung nicht als Teil des Kausalflusses ansehn, denn

2. Skizze einer Geschichte des Problems.

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sie ist nichts Räumliches, während jeder Kausalfluß räumlich ist. Was also ist die Mitteilung, welche uns durch die Wahrnehmung gemacht wird? Gilt von ihr ein Prinzip, wonach sie von etwas außerhalb ihrer eindeutig bestimmt wird? Oder steckt in ihr etwas von jener Freiheit, die der Intellekt bei seiner Deutung der Empfindungen so fühlbar zu haben scheint ? — Wiederum, wir denken und werden uns eines U r t e i l s bewußt. Mag immerhin beim Denken ein Prozeß im Gehirn lebhaft- vor sich gehn, Phosphor verbrannt werden, eine wahrnehmbare Umsetzung stattfinden, der Sinn des Urteils ist nicht räumlich. — Schließlich, bevor wir eine Handlung ausführen, fassen wir «inen E n t s c h l u ß . Wie läßt der Entschluß sich in die kausale Reihe einordnen? Und wenn er nicht in die kausale Reihe paßt, wie begreifen wir ihn?

2.

Skizze einer Geschichte des Problems.

Die Verworrenheit, in die das Problem der Freiheit geraten ist, macht selbst den geschichtlichen Bericht über die Fortschritte des Problems bedenklich. In den jetzigen Zeitläuften eine Geschichte des Problems zu schreiben, die nicht leidenschaftlich angefochten, ja, nur überhaupt ruhig gelesen würde, halte ich für unmöglich. Daher will ich mich dieser doch notwendigen Aufgabe im folgenden mit aller Behutsamkeit und Rücksicht entledigen. Ich benütze dabei im wesentlichen außer bekannten Geschichtsbüchern der Philosophie die historischen Angaben von SCHOPENHAUER (Über die Freiheit des menschlichen Willens, Ausgabe von 1881, S. 63f.), von Dr. LEO MÜFFELMANN (Das Problem der Willensfreiheit in der neuesten deutschen Philosophie, 1902) und zitiere bedeutsame Stellen aus deren Urtext. Das Problem ist sehr alt. In JEREMIAS (10, 23) heißt es: „Des Menschen Tun stehet nicht in seiner Gewalt, und stehet in Niemandes Macht, wie er wandele, oder seinen Gang richte." CICERO im Buche de fato, c. 10 und 17, legt das Problem ziemlich deutlich dar. Man findet in der Literatur des Altertums noch manche andern Ansätze, um zu unserm Problem zu gelangen und es zu erörtern, aber ein völlig entwickeltes Bewußtsein seines Sinnes, seiner Bedeutung, seiner Schwierigkeit wird zuerst vom Kirchenvater AUGUSTINUS an den Tag gelegt. Er hat drei Bücher de libero arbitrio verfaßt. Die wesentlichste Frage darin ist diese: Warum ist Gott, der Schöpfer der Welt und der die Welt beherrschenden Gesetze, nicht der Urheber der Sünde? — Es ist dies eine bedenkliche Frage, die viele Theologen in Verlegenheit gesetzt hat. Sie kehrt wieder bei SCOTUS ERIGENA, bei VANINI, auch bei HUME und KANT, und gewißlich noch vielen Anderen. Die Lösung, die der heilige AUGUSTIN vorschlägt, ist ein Kompromiß. Sie lautet: Des Menschen Wille ist frei, also ist er verantwortlich für seine Sünden; indessen ist seit dem Sündenfall der Wille nicht völlig frei und kann der Mensch daher nicht aus eigner Macht, sondern nur durch Gnadenwahl und Erlösung das Heil erhoffen. — Nun aber ist der Begriff des „nicht völlig frei" ein schwankender. Den obigen Lösungsversuch muß man daher abweisen, wie über-

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Das Problem der Freiheit.

haupt jeden andern, der nicht in bestimmten Begriffen bestimmbaren Sinn ausprägt. Mit schwankenden, flüssigen Begriffen kann man ohne Furcht vor-Widerlegung jede Meinung verfechten, weil man ja bei Benützung solcher Begriffe keine fest umrissene Lehre aufstellt. Diese Taktik ist aber eben deswegen ohne Wert. Der Macheide, der nichts eindeutig Bestimmtes zu sagen hat, schweigt. Wenn er aber redet, so redet er mit Bestimmtheit und weist nach, daß er mit Bestimmtheit redet. Eine wirkliche Leistung am Problem ward durch die Erdichtung einer Fabel vollbracht, die einem Pariser Gelehrten des 14. Jahrhunderts, dem BURIDANUS, zugeschrieben wird. Ein hungernder Esel, der mit absoluter Symmetrie zwischen rechts und links gebaut ist, steht verlangend zwischen zwei absolut gleichen Bündeln Heu, die zum Esel absolut symmetrisch gelagert sind, das eine rechts, das andre links. Nun möchte der hungrige Esel Heu fressen, hat aber bei der absoluten Symmetrie aller Verhältnisse keinen genügenden Grund, eher das Bündel rechts zu fressen als das auf der linken Seite, vermag sich daher nicht zu entscheiden und verhungert. — Diese Fabel ist ein Gedankenexperiment, wie es deren in der Physik zahllose gibt. Sie bringt mit Prägnanz die Aufgabe zum Ausdruck. — Die meisten Menschen weichen der Antwort auf eine unbequeme Frage aus, indem sie mißverstehn; manchmal absichtlich, oft aber unwillkürlich, legen sie der unbequemen Frage einen andern Sinn als den beabsichtigten bei und verbergen ihre Unfähigkeit, das Problem zu lösen, unter einem Schwall von Worten. Beim Probleme der Freiheit des Willens ist es nun der Begriff der Freiheit, der ihnen zum Rettungsanker wird; sie nennen Freiheit dies und das und verdrehn die ernste Frage, häufig in ein läppisches Problem, dessen Lösung nun zwar auf der Hand liegt, jedoch Niemanden interessiert. Die Fabel von BURIDANS Esel vollbringt die Leistung, daß sie ein Experimentum crucis schafft, um zu entscheiden, wer Determinist ist und wer nicht. Wer zugibt, daß BURIDANS Esel denkbar ist und unter den beschriebenen Umständen verhungern müßte, ist Determinist; wer dasselbe Zugeständnis macht, aber den Esel sich für eines der Bündel Heu entscheiden läßt, ist Indeterminist. Von einer dritten Kategorie, welche nicht zugeben würde, daß ein solcher Esel denkbar sei, stände die Entscheidung allerdings noch aus. Daß die in der Fabel beschriebenen Umstände ideale sind und daß in der Wirklichkeit die vorausgesetzte Symmetrie des Esels bisher nicht vorgekommen ist, ist kein stichhaltiger Einwand gegen die Brauchbarkeit der Fabel. Das Fallgesetz GALILEIS gilt ja auch nur unter unausführbaren Umständen, nämlich in einem Eaume, wo weiter nichts als eine homogene, gleichmäßig dicke, sich in die Unendlichkeit erstreckende, ebne Schicht und der fallende Körper sind. Unsre Theorien der Physik und Chemie insgesamt handeln von idealen Gegenständen und ihren Zuständen; wir fragen gar nicht, ob im wirklichen Geschehen die Bedingungen, die wir annehmen, realisiert werden, wir betrachten die Gesetze der Gegenstände, denen die wirklichen sich nur wie an Grenzen annähern und sind dadurch befriedigt. Ein solches Gesetz eines idealen Gegenstandes soll uns auch die Fabel vom

2. Skizze einer Geschichte des Problems.

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Esel vor Augen führen. Nun ist gar kein Zweifel, daß eine um eine Ebene rechts und links symmetrisch angeordnete Masse, auf die rechts wie links irgendwelche symmetrisch angeordnete Kräfte wirken, sich nach dem Satze des zureichenden Grundes symmetrisch zur Ebene verschieben wird. Unsre Verwunderung wird nur rege, weil BURIDANS Esel, wenn er sich nach den Gesetzen der Mechanik bewegt, zu keinem der Bündel Heu kommt und dies unsrer innigen Kenntnis von der Macht des Trieblebens zuwider ist. Und dann sehn wir das Dilemma vor uns: Entweder BURIDANS Esel widersteht dem übermächtigen Triebe des Hungers oder er benimmt sich anders als irgend ein denkbares physikalisch-chemisches System in gleicher Lage. Der nächste Fortschritt kam durch HOBBJES. E r führte aus, daß unser Selbstbewußtsein zwar aussagt, wir könnten handeln, wie wir wollen, dies aber auf die Frage der Freiheit des Willens nicht Bezug nimmt. Der Wille ist frei, heißt, sein Wollen ist nicht durch eine es bestimmende Notwendigkeit gerichtet. Der gestoßne Körper ist nicht frei, er bewegt sich nach den Gesetzen der Mechanik, seine Bewegung ist ihm dadurch vorgeschrieben; das Räumliche überhaupt ist an Kausalität gebunden; ist das Wollen durch eine eindeutige Gesetzmäßigkeit bestimmt? das ist die Frage. Dagegen ist keine Frage, daß unser Entschluß, sobald er endgültig gefaßt ist, sich in einem Kausalfluß, der vom Leibe ausgeht, entladen kann. Nicht die Verbindung zwischen Entschluß und dem entsprechenden Handeln ist zu untersuchen, sondern ob Entschlüsse durch Bedingungen, zum Beispiel durch Erinnerungen oder Wahrnehmungen, eindeutig determiniert sind. Ich kann zwar tun, was ich will. Aber kann ich auch wollen, wie ich will? Nachdem HOBBES die Frage so präzisiert hat, antwortet er, der Wille ist unfrei. Alles in der Welt sei durch seine Determinanten eindeutig bestimmt, das sei denknotwendig. Man muß die Leistung, die HOBBES durch seine Präzisierung des Problems vollbracht hat, anerkennen. Nicht so vorsichtig war SPINOZA. Er unterschied m e t a p h y s i s c h e und p s y c h o l o g i s c h e F r e i h e i t . Diese verstand er als Fähigkeit, dem Willen gemäß zu handeln; somit ist der Wille psychologisch frei, denn der Wille betätigt sich ja gewiß gemäß seiner selbst. Nun hat zwar SPINOZA bei Betrachtung der m e t a p h y s i s c h e n F r e i h e i t in seiner Ethik, unter Lehrsatz 32 erklärt: „Der Wille kann nicht eine freie Ursache genannt werden, sondern nur eine notwendige", aber für die Vielen war der Unterschied zu fein und bot bequemen Unterschlupf. Die spielerische Scheinlösung durch bloße Wortdeutung machte daher bei der Menge, auch der Menge der Durchschnittsphilosophen, ihren Weg. Solchen Gefahren ist HOBBES

ausgewichen.

KANT unterstrich die Lösung des HOBBES noch, indem er hinzufügte, daß der Entschluß von einem Forscher, der die Determinanten des Willens erkundet hat, vorausgesehn werden könne. Diese Erklärung trägt zur ferneren Präzisierung der Frage erheblich bei. Die Determination des Willens ist nach dieser Ansicht also nicht bloß vorhanden, sondern auch begreiflich

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Das Problem der Freiheit.

und bestimmbar. KANT nahm somit für den Willen nicht bloß eindeutige Bestimmtheit, sondern auch Bestimmbarkeit an. E r t a t dies mit folgenden deutlichen Worten: „Man kann also einräumen, daß. wenn es für uns möglich wäre, in eines Menschen Denkungsart, so wie sie sich durch innere sowohl als äußere Handlungen zeigt, so tiefe Einsicht zu haben, daß jede, auch die mindeste Triebfeder dazu uns bekannt würde, ingleichen alle auf diese wirkenden äußeren Veranlassungen, man eines Menschen Verhalten auf die Zukunft, mit Gewißheit, so wie eine Mond- oder Sonnenfinsternis ausrechnen könnte." (Kritik der praktischen Vernunft, S. 230 der Ausgabe von ROSENKRANZ.)

Diese Überzeugung, die KANT noch an mehreren Stellen seiner Schriften ausdrückt, ist eine notwendige Folge des Determinismus. Doch ehe dies begründet wird, sèi auf den Mut gewiesen, den KANT hier bekundet hat, denn ein Einwurf gegen seine These liegt sehr nahe und ist sehr bedénklich. Wenn jemand mir sagte, wie ich mich in der Zukunft verhalten werde, und zwar mit der Genauigkeit wie Astronomen eine Mond- oder Sonnenfinsternis vorhersagen, so würde ich seine Arroganz belächeln, und könnte keineswegs glauben, daß ich nicht anders, als wie der Prophet behauptet, zu handeln vermöchte. Dies Gefühl hat gewiß ein Jeder. Wurde der Einwand erhoben, daß zwar meine Handlungsweise berechnet werden könne, daß jedoch die Mitteilung an mich ein Motiv sei, welches mich zu einer andern Handlungsweise bestimmt, so kann man dem begegnen, indem man antwortet: Der Weise könnte ja sicherlich auch die Wirkung dieses Motives mit in seine Betrachtung und Berechnung ziehen. Dennoch aber — so möchte man fortfahren — könnte er mein zukünftiges Verhalten mir nicht einmal in irgend einer kleinen Einzelheit vorhersagen. E r versuche nur, mir mitzuteilen, wann ich morgen, auf die Sekunde genau, den ersten Bissen vom Mittagbrot in den Mund stecken werde. — Dieser Einwurf gegen KANTS Behauptung liegt so nah, daß ihn fast ein Jeder machen oder zumindest fühlen würde. Wohl nur Wenige würden den Mut haben, den KANT gehabt hat, zu erklären, daß ein Geist, der alle Triebfedern bis zu den kleinsten genau kennte, das obige Experiment erfolgreich durchführen könnte. Um so mehr ist die kühne Folgerichtigkeit anzuerkennen, die KANT hier gezeigt hat. Nicht alle Deterministen sind KANT darin gefolgt. Als Beispiel nenne ich WUNDT. E r schließt schon in seiner Definition von Freiheit den Indeterminismus aus, denn er beginnt seine Betrachtung über Willensfreiheit (Ethik, Bd. 3, 4. Aufl. 1912, S. 39): „Freiheit ist die Fähigkeit eines Wesens, durch b e s o n n e n e Wahl zwischen verschiedenen Motiven in seinen Handlungen bestimmt zu werden." Ihm ist „die freie Handlung in der hier definierten Bedeutung eine durch psychische Kausalität bedingte". So wäre ihm denn ..dieser ganze Streit um die Willenskausalität kaum begreiflich", wenn nicht „bei den Gegnern wie bei den Anhängern der Willensfreiheit ein Mißverständnis mit unterliefe". Diese sollen die „psychische Kausalität" mit der „mechanischen" verwechseln. Bei der mechanischen Kausalität gilt das „Prinzip der Äquivalenz von Ursache und Wirkung". Aber „Niemand wird die Meinung

2. Skizze einer Geschichte des P r o b l e m s .

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verfochten", daß „das letzte Ergebnis geistiger Tätigkeit" eines Dichters zu den Bedingungen seines Schaffens „im selben Verhältnis quantitativer Gleichwertigkeit" stehe. — Darin irrt WUNDT. Der Satz von der Erhaltung, z. B. der Energie, wird von Vielen auch für geistige Fähigkeit als gültig erachtet. „Eine unmittelbare Folge dieses Verhältnisses ist es, daß auf geistigem Gebiete eine einigermaßen zureichende Kausalerklärung immer nur in r ü c k l ä u f i g e r Richtung, d. h. in bezug auf die bereits abgelaufenen Kausalreihen, nie aber in vorwärtsgehender möglich ist." Diese erstaunliche Behauptung wird von W U N D T nirgends bewiesen; er gibt nur Beispiele aus der Geschichte, wonach die Versuche zur Voraussicht bisher gescheitert sind, das aber beweist nicht die behauptete Unmöglichkeit, und dann wiederholt er die Behauptung in andrer Form, womit wiederum nichts bewiesen wird. Eine Schwierigkeit der Frage ist die Widerlegung der weitverbreiteten Ansicht, daß das geistige Leben aus physikalisch-chemischen Prozessen im Gehirn zu erklären sei. W U N D T glaubt die Schwierigkeit zu heben, indem er die obige Ansicht einfach als einen Spaß auffaßt. „Man wird", so sagt er, „die Phantasien des physiologischen Determinismus von e i n e r . . . Mechanik der Hirnmolekule" nicht „im Ernst" für eine wissenschaftliche Erklärung nehmen wollen. ' "Wir brauchen W U N D T nicht weiter zu zitieren, denn, daß seine Thesen falsch sind, läßt sich erweisen. Besteht eine Kausalität, sei es eine mechanische oder physiologische oder psychologische oder andrer Art, so heißt dies nichts andres, als daß ein Zusammenhang besteht, so daß ein bestimmtes Ereignis, eine bestimmte Veränderung, ein bestimmter Entschluß, sagen wir ein bestimmtes A, notwendigerweise auf ein bestimmtes Ding derselben Art, nennen wir es ein bestimmtes B, folgt, erfolgt, geschieht. Ein bestimmtes B, eben weil es bestimmt ist, ist erkennbar, begreiflich, wiedererkennbar, läßt sich identifizieren. Ist es identifiziert, so darf man auf die Folge A schließen. Man kann sie vorhersehn. Und somit präzisiert K A N T S Behauptung, daß die Erscheinungen des Seelenlebens sich voraussehn lassen müssen, seine These des Determinismus, ohne auch nur im geringsten dabei eine neue Voraussetzung ins Spiel zu bringen. An dieser Folgerung kann nur vorbeigehn, wer mit unbestimmten Begriffen operiert. Das tut WUNDT. Welcher Mangel an Prägnanz eignet z. B. seinem Begriff einer „einigermaßen zureichenden Kausalerklärung"! Eine Erklärung ist entweder zureichend oder unzureichend, ebenso wie ein mathematischer Lehrsatz entweder wahr oder falsch ist. K A N T S Ausführung präzisiert die Begriffe, insofern er klar stellt, daß die Kausalität des Willens ein Zusammenhang sei zwischen Dingen verwandter Art: Entschlüssen und Motiven. Bei der Freiheit des Willens, dies geht aus K A N T S Erläuterung hervor, handelt es sich um den Zusammenhang eines Gebietes von Erscheinungen. Durch den Hinweis auf Astronomie schaltet er jeden unsachlichen Begriff von Kausalität aus der Betrachtung. Sonst könnte ich mit den Begriffen spielen und etwa sagen, der Entschluß sei verursacht durch einen Engel im Himmel. Andrerseits könnte ich be-

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Das Problem der Freiheit.

haupten, die Launenhaftigkeit des den Akt begehenden Wesens, oder der Einfall eines Geistes sei der Grund des Aktes, der also keine sachliche Ursache hätte. Kurz, zu sagen, das Wollen sei Folge von irgend etwas, oder sei nicht Folge, hieße noch gar nichts sagen. Wenn ich die Begriffe nicht präzisierte, könnte ich das nämliche Spiel sogar in der Astronomie treiben. Aber diese Wissenschaft vollbringt eine Leistung: sie kann vorausberechnen. Dadurch führt sie vor Augen, daß sie ein eindeutiger, regelmäßiger, notwendiger Zusammenhang räumlicher Dinge sein will. Sei es auch für uns irdische, recht beschränkte Wesen unmöglich, die Taten eines Menschen vorauszusagen, so ist es doch wichtig, zu betonen, daß das Problem der Freiheit die grundsätzliche Möglichkeit oder Unmöglichkeit einer solchen Voraussage festgestellt haben will. Durch den Hinweis auf Astronomie werde ich gehalten, die Art zu untersuchen, auf welche die Astronomen ihre Voraussagen machen, und indem ich frage, ob auf dieselbe Art die Taten der Menschen von einem Übermenschen voraussehbar seien, erfährt das Problem der Freiheit die ihm noch mangelnde Fixierung. Der entscheidende Punkt bei der Vorausberechnung der Astronomen ist ein eigentümlicher Gegensatz. Wenn man beim Problem der Freiheit diesen leugnet oder hinwegdeutet, so verliert es Prägnanz. Dieser Gegensatz ist der des Möglich—Wirklich. Die Physiker haben den Begriff des Möglich geschärft. Eigentlich ist es das Prinzip der Stetigkeit, das sie geleitet hat. Waren sie veranlaßt worden, einen Charakter einzuführen, z. B. Temperatur, Helligkeit, Elastizitätskoeffizient, und hatten sie den Charakter zweimal gemessen und dafür zwei, verschiedene Werte erhalten, so erklärten sie es von vornherein für „möglich", daß der Charakter einen Wert zwischen den beiden gemessenen Werten erhalten könne. Sie fragten nicht, ob denn jeder solche Zwischenwert bereits verwirklicht worden sei, sondern sie forderten diese Möglichkeit von der Welt ohne Zaudern. Auch in der Auswahl ihrer Zustandscharaktere nahmen sie das gleiche Recht in Anspruch. Sie werteten die Erscheinungen, erklärten diese für wesentlich, jene für unwesentlich, und stellten stillschweigend den Grundsatz auf: Es muß möglich sein, die wirklichen Erscheinungen so aufzufassen und so mit beliebiger Genauigkeit zu berechnen, daß man nur wesentliche Bedingungen als vorhanden ansieht, die unwesentlichen aber völlig vernachlässigt. Hatten sie nun auf diese Weise ein physikalisches System definiert, so war ihnen jeder denkbare Zustand des Systems, d. h. jeder in das Schema der Rubrizierung passende Zustand des Systems, auch möglich. Ihre Rechnungen gingen nun so vor sich, daß sie ein allgemeines Gesetz, gültig für alle „möglichen" Fälle aufstellten und die vorkommenden Fälle als Spezialfälle daraus ableiteten. Daß für diesen Modus operandi eine Notwendigkeit vorliegt, erhellt aus der Natur unserer Erkenntnis. Diese setzt in Beziehungen und führt auf Erinnerung. Ich erkenne einen Gegenstand, indem ich ihn wieder-

2. Skizze einer Geschichte des Problems.

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erkenne. Das Vereinzelte, Besondere, Einmalige erkenne ich nicht als solches. Diese Notwendigkeit ist absolut. Sie muß man auch beim Problem der Freiheit anerkennen, wenn dieses klaren Sinn haben soll. Ein Wollen sei verursacht, heißt demgemäß, daß man wesentliche Bedingungen für das Wollen zu entdecken imstande sei, während man unwesentliche Bedingungen ausschalten dürfe, und daß trotz dieser Ausschaltung das dadurch bestimmte Wollen nicht viel anders ausfällt, als wenn man auch unwesentliche Bedingungen mit berücksichtigt hätte. Die verschiedenen Determinanten des Willens müssen eine gewisse Spielbreite haben, und daß die Determinanten innerhalb dieser Breite sich nach Belieben bewegen können, muß „möglich" sein. Das Wollen wird vorausberechenbar sein dann und nur dann, wenn es gelingt, ein allgemeines Gesetz zu entdecken, das für alle „möglichen" Fälle gilt. Durch diesen der Physik entnommenen scharfen Begriff des Möglich wird die Zahl der zu untersuchenden Zusammenhänge also enorm über die Zahl der beobachteten Geschehnisse heraus gesteigert. Wer mit diesem Begriff arbeitet, erfindet gleichsam zahllose Welten, deren Ablauf nun nach bestimmten Gesetzen vor sich geht und dem Ablaufe der wahrgenommeuen Welt in einer einzigen, nämlich der untersuchten, Besonderheit nahe kommt. Das ist anscheinend eine unnötige Komplizierung, aber dieser Begriff des Möglich übt eine wesentliche Funktion. Wollte jemand diese „möglichen" Welten aus der Betrachtung entfernen und die Frage nur auf das „wahre", „individuelle", „einmalige" Geschehen einengen, so würde, er handeln wie Einer, der eine Frage stellt, aber jede erkennbare, also vernünftige, begründbare, erprobbare Antwort darauf verbietet. Denn eine begründete Beschreibung geben, ist in der Physik wie der Psychologie nur auf eine und dieselbe Art möglich, indem man Ähnlichkeiten hervorhebt, Abstraktionen erdichtet, das zu Beschreibende mit andern Dingen in eine Reihe setzt und diese Reihe ausfüllt, d. h. sie durch „mögliche" Glieder ergänzt. Grade bei der Frage des Determinismus droht der Gegensatz des Möglich—Wirklich schattenhaft zu werden. Das Mögliche wird per definitionem von mir als wirklich gedacht; der Determinist sagt nun aber, daß mein Denken einen bestimmten, unabänderlichen Ablauf nehme. Dadurch hört für mein Denken der Gegensatz des Möglich—Wirklich auf. Um trotz des Einspruchs des Deterministen diesen Gegensatz wieder wirksam zu machen, bin ich genötigt, mir ein Wesen vorzustellen, das über die Welt, einschließlich mein Empfinden, Denken, Wollen, Handeln nachdenkt und nun in Augensohein. nimmt, was von seinem Standpunkte aus mir möglich sei. Dies Wesen wird sich also vorstellen, welche Motive es auf mich wirken lassen könnte, nach seinem Ermessen, um mich zu den mir möglichen Entschlüssen zu veranlassen. Auf die Notwendigkeit einer solchen Auffassung des Problems weist KANT durch seine Präzisierung der Frage deutlich hin. KANT hebt nun aber seinen ausgesprochenen Determinismus wiedei auf, indem er auf eine „intelligible Welt" hinweist, welche nicht in der Zeil ist und worin die Dinge an sich sind. Auf S. 1 2 1 f. (Ausgabe von VORLÄNDER.

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Das Problem der Freiheit.

1906) seiner „Kritik der praktischen Vernunft" führt er es aus: „Der Begriff der Kausalität als N a t u r n o t w e n d i g k e i t zum Unterschiede derselben als F r e i h e i t betrifft nur die Existenz der Dinge, sofern sie in der Zeit b e s t i m m b a r ist, folglich als Erscheinungen im Gegensatze ihrer Kausalität als Dinge an sich selbst. Nimmt man nun die Bestimmungen der Existenz der Dinge in der Zeit für Bestimmungen der Dinge an sich selbst (welches die gewöhnlichste Vorstellungsart ist), so läßt sich die Notwendigkeit im Kausalverhältnisse mit der Freiheit auf keinerlei Weise vereinigen; sondern sie sind einander kontradiktorisch entgegengesetzt. Denn aus der ersteren folgt, daß eine jede Begebenheit, folglich auch jede Handlung, die in einem Zeitpunkte vorgeht, unter der Bedingung dessen, was in der vorhergehenden Zeit war, notwendig sei. Da nun die vergangene Zeit nicht mehr in meiner Gewalt ist, so muß jede Handlung, die ich ausübe, durch bestimmende Gründe, die nicht in meiner Gewalt sind, notwendig sein, d. i. ich bin in dem Zeitpunkte, darin ich handle, niemals frei" . . . „Will man also einem Wesen, dessen Dasein in der Zeit bestimmt ist, Freiheit beilegen, so kann man es sofern wenigstens vom Gesetze der Naturnotwendigkeit aller Begebenheiten in seiner Existenz, mithin auch seiner Handlungen nicht ausnehmen; denn das wäre so viel, als es dem blinden Ungefähr übergeben. Da dieses Gesetz aber unvermeidlich alle Kausalität der Dinge, sofern ihr D a s e i n in der Zeit bestimmbar ist, betrifft, so würdtf, wenn dieses die Art wäre, wonach man sich auch das Dasein dieser Dinge an sich selbst vorzustellen hätte, die Freiheit als ein nichtiger und unmöglicher Begriff verworfen werden müssen. Folglich, wenn man sie noch retten will, so bleibt kein Weg übrig, als das Dasein eines Dinges, sofern es in der Zeit bestimmbar ist, folglich auch die Kausalität nach dem Gesetze der N a t u r n o t w e n d i g k e i t bloß der Erscheinung, die Freiheit aber e b e n d e m s e l b e n Wesen als Dinge an sich selbst beizulegen. So ist es allerdings unvermeidlich, wenn man beide einander widerwärtigen Begriffe zugleich erhalten will . . .". „Wenn ich von einem Menschen, der einen Diebstahl verübt, sage: diese Tat sei nach dem Naturgesetze der Kausalität aus den Bestimmungsgründen der vorhergehenden Zeit ein notwendiger Erfolg, so war es unmöglich, daß sie hat unterbleiben können; wie kann dann die Beurteilung nach dem moralischen Gesetze hierin eine Änderung mächen und voraussetzen, daß sie doch habe unterlassen werden können, weil das Gesetz sagt, sie hätte unterlassen werden sollen. . . ? Eine Ausflucht darin suchen, daß man bloß die Art der Bestimmungsgründe seiner Kausalität nach dem Naturgesetze einem komparativen Begriffe von Freiheit anpaßt . . . ist ein elender Behelf, womit sich noch immer einige hinhalten lassen und so jenes schwere Problem mit einer kleinen Wortklauberei aufgelöst zu haben meinen, an dessen Auflösung Jahrtausende vergeblich gearbeitet haben, die daher wohl schwerlich so ganz auf der Oberfläche gefunden werden dürfte. Es kommt nämlich bei der Frage nach derjenigen Freiheit, die allen moralischen Gesetzen und der ihnen gemäßen Zurechnung zugrunde gelegt werden muß, darauf gar nicht an, ob die nach einem Naturgesetze be-

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stimmte Kausalität durch Bestimmungsgründe, die im Subjekte oder außer ihm liegen . . . notwendig sei; wenn diese bestimmenden Vorstellungen nach dem Geständnisse eben dieser Männer selbst den Grund ihrer Existenz doch in der Zeit und zwar dem vorigen Zustande haben, dieser aber wieder in einem vorhergehenden usw., so mögen sie, diese Bestimmungen, immer innerlich sein, sie mögen psychologische und nicht mechanische Kausalität haben, d. i. durch Vorstellungen und nicht durch körperliche Bewegung Handlung hervorbringen: so sind es immer Bestimmungsgründe der Kausalität eines "Wesens . . ., die also zwar psychologische Freiheit, aber doch Naturnotwendigkeit bei sich führen, mithin keine transzendentale F r e i h e i t übrig lassen . . „Eben um deswillen kann man.auch alle Notwendigkeit der Begebenheiten in der Zeit nach dem Naturgesetze der Kausalität den Mechanismus der Natur nennen, ob man gleich darunter nicht versteht, daß Dinge, die ihm unterworfen sind, wirklich materielle Maschinen sein müßten. Hier wird nur auf die Notwendigkeit der Verknüpfung der Begebenheiten in einer Zeitreihe, so wie sie sich nach dem Naturgesetze entwickelt, gesehen, man mag nun das Subjekt, in welchem dieser Ablauf geschieht, Automaton materiale, da das Maschinenwesen durch Materie, oder mit Leibniz spirituale, da es durch Vorstellungen betrieben wird, nennen, und wenn die Freiheit unseres Willens keine andere als die letztere . . . wäre, so würde sie im Grunde nichts besser als die Freiheit eines Bratenwenders sein, der auch, wenn er einmal aufgezogen worden, von selbst seine Bewegungen verrichtet." „Um nun den scheinbaren Widerspruch zwischen Naturmechanismus und Freiheit in ein und derselben Handlung an dem vorgelegten Falle aufzuheben, muß man sich an das erinnern, was in der Kritik der reinen Vernunft gesagt war oder daraus folgt: daß die Naturnotwendigkeit, welche mit der Freiheit des Subjekts nicht zusammen bestehen kann, bloß den Bestimmungen desjenigen Dinges anhängt, das unter Zeitbedingungen steht, folglich nur denen des handelnden Subjekts als Erscheinung . . . Aber ebendasselbe Subjekt, das anderseits auch seiner als Dinges an sich selbst bewußt ist, betrachtet auch sein Dasein, sofern es nicht unter Zeitbedingungen s t e h t , sich selbst aber nur als bestimmbar durch Gesetze* die es sich durch Vernunft selbst gibt, und in diesem seinen Dasein ist ihm nichts vorhergehend vor seiner Willensbestimmung . . . In diesem Betracht nun kann das vernünftige Wesen von einer jeden gesetzwidrigen Handlung, die es verübt, ob sie gleich als Erscheinung in dem Vergangenen hinreichend bestimmt und sofern unausbleiblich notwendig ist, mit Recht sagen, daß er sie hätte unterlassen können." In dieser Betrachtung Kants ist nur ein einziger schwacher Punkt. Die „bestimmenden Vorstellungen" sollen den Grund ihrer Existenz in einem „vorigen Zustande" haben, „dieser wieder in einem vorhergehenden usw." Dieses eine Moment der Beweisführung von Kant ist angreifbar. Der Begriff eines Zustandes, in welchem die bestimmenden Vorstellungen den Grund ihrer Existenz haben, ist er scharf umrissen, klar definiert, eindeutig be-

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stimmt? Das ist noch die Frage, und diese Frage erheischt eine gründliche Untersuchung. Das Motiv, wclches K A N T antrieb, der intelligiblen Welt eine Art von Realität zuzuschreiben, erhellt mit aller Deutlichkeit bereits aus seiner Vorrede zur „Kritik der praktischen Vernunft". Dies Motiv stammt aus seiner Lösung des Problems der Freiheit. Da er glaubte, den Determinismus der Erscheinungen unabwendbar bewiesen zu haben, für seine Ethik aber der Freiheit bedurfte, so fand er die Freiheit im Dinge an sich. Er sagt: „Mit diesem (dem praktischen) Vermögen steht auch die transzendentale Freiheit nunmehr fest, und zwar in derjenigen absoluten Bedeutung genommen, worin die spekulative Vernunft beim Gebrauche des Begriffs der Kausalität sie bedurfte, um sich wider die Antinomie zu retten, darin sie unvermeidlich gerät, wenn sie in der Reihe der Kausalverbjndung sich das U n b e d i n g t e denken will." Wenn es uns nun gelingen sollte, darzutun, d a ß der D e t e r minismus der E r s c h e i n u n g e n nicht bewiesen i s t , ja, d a ß er n i c h t b e s t e h t , so besteht auch die Antinomie, welcher K A N T auszuweichen strebt, nicht zu Recht, und damit wird sein Motiv zur Konstruktion des Begriffs einer intelligiblen Welt hinfällig. Überhaupt dürfen wir uns ablehnend verhalten gegen jeden Versuch, unser Problem durch den Spruch „Du kannst, denn du sollst" oderNvon der Seite der Ethik aus zu lösen. Wer vom Standpunkte der Ethik oder vom Begriffe des Sollens her das Problem der Freiheit entscheiden will, handelt wie ein Baumeister, der das Haus von den oberen Stockwerken aus zu bauen befiehlt. Die Klärung des Begriffs der Ethik oder des Sollens ist ein Geschäft, das erst einsetzen kann,, nachdem unser Problem erledigt worden ist. Denn, was wir Ethik oder ein Sollen zu nennen haben, gewährt einen verschiedenen Anblick, je nachdem wir den Willen als einem Prinzipe von Kausalität unterworfen erachten oder nicht; im einen oder andern Falle hat z. B. der Begriff der Pflicht einen andern Sinn; welcher Anblick von Ethik, welcher Sinn z. B. von Pflicht, der rechte sei, diese Frage zu entscheiden, gibt es kein andres Mittel als die Entscheidung des Problems der Freiheit; in dem Gefüge der Betrachtungen über den Begriff und die Aufgabe der Ethik läßt sich keine Direktive entdecken, die mit aller Macht auf eine bestimmte Lösung des Freiheitsproblems hinwiese, weil Ethik möglich ist, wie man die Frage der Freiheit auch löse. Wenn das Phänomen der Welt in der Zeit determiniert ist, also die Ereignisse nach einem Kausalnexus einander in der Zeit mit eindeutiger Bestimmtheit folgen, so ist „Pflicht" ein Gesichtspunkt, von dem aus Handlungen betrachtet werden, um deren Zusammenhang zu verstehen. Und wenn der Determinismus nicht im Rechte ist, so ist auch dann und trotz alledem „Pflicht" ein Gesichtspunkt, um den Zusammenhang von Handlungen zu begreifen. Das Problem der Ethik ist eine wohldefinierte Aufgabe im einen wie im andern Fall Auf derti Umwege über die Ethik das Freiheitsproblem wie durch einen Prozeß einer reduetio ad absurdum zur Entscheidung bringen zu wollen, ist daher ein hoffnungsloses Beginnen. Nichtsdestoweniger ist dieser Versuch oft unternommen worden, in

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jüngster Zeit von WINDELBAND und JONAS COHN. In des Letzteren „Voraussetzungen und Ziele des Erkennens", 1908, S. 488, heißt es: „Fordern kann man mit Sinn nur, wenn die Erfüllung denkbar ist. Dazu aber gehört, daß in der Macht des Wesens, an das sich die Forderung richtet, die Möglichkeit steht, den Ausfall eines Ereignisses irgendwie zu beeinflussen. Damit ist die Frage nach der Willensfreiheit in ihrem allgemeinsten Sinne gestellt. In diesem Probleme begegnen sich Logik und Ethik." Und wiederum: „Im Begriffe . . . des Ziels . . . ist der der Freiheit mitgesetzt." Andrerseits „Was in den einen Zusammenhang der Wirklichkeit hineingestellt gedacht wird, ist aus diesem Zusammenhang heraus auch eindeutig bestimmt." „Derselbe Zusammenhang also, der jedes besondere Auftreten der Freiheit als eines aufweisbaren Gegenstandes unmöglich macht, fordert geradezu die allgemeine Möglichkeit der Freiheit." „Hiermit ist das Problem der Willensfreiheit gestellt, wie es sich von der Logik her ergibt." Ist das Problem der Freiheit auf diese Art zu stellen? In den Jahrhunderten hat es Niemand so gesehn. JONAS COHN spricht hier zu abstrakt, zu unbestimmt. Beim Probleme der Freiheit handelt es sich um den Willen. Daß der Wille im Zusammenhange der Wirklichkeit steht, ist eine Tatsache, die das Auftreten der Freiheit noch nicht unmöglich macht. Gibt es doch einen wohldefinierten Zusammenhang nach Art der Wahrscheinlichkeitsrechnung, welcher in sich eindeutig ist, dennoch aber das zukünftige Verhalten nicht eindeutig vorbestimmt. Die Frage der Freiheit macht aus der Tatsache des Zusammenhangs kein Problem, sondern sucht zu erkunden, ob der fraglos vorhandene Zusammenhang der Entschlüsse denselben Charakter der eindeutigen Voraussehbarkeit habe, wie in der Physik-Chemie. In ihrer Analyse des Problems erkennen WINDELBAND und JONAS COHN das entscheidende Moment heraus und heben es kräftig hervor, ziehn daraus aber einen anfechtbaren Schluß. Wir werden das entscheidende Moment erst später auseinandersetzen, und zwar nach einer durchaus andern und, wie ich glaube, bei weitem strengern Methode als der von WINDELBAND und JONAS COHN befolgten. Den Schluß, den sie sodann ziehn, kann ich jedoch nicht anerkennen. Um dies an einer ihrer Schlußfolgerungen zu belegen, zitiere ich, was JONAS COHN auf S. 497 sagt: „Wenn der Indeterminist dem Deterministen vorwirft, daß er jedes Handeln unmöglich mache, so wendet dieser wohl das aufgefangene Geschoß gegen den Angreifer zurück. Gerade wenn man annehme, daß das Handeln der Menschen nicht bestimmt sei, werde jede sichere Wirkung auf andere und damit jedes eigene Handeln unmöglich. Unzweifelhaft haben beide Gegner recht." Nein, der Determinist hätte mit seiner Entgegnung unrecht. Die Versicherungsgesellschaften sehn ja die Handlungen der Menschen nicht mit sicherer Wirkung voraus, und dennoch handeln sie klug und wirksam. Handlungen mit eindeutiger Bestimmtheit vorauszusehn, verlangt der Determinist, vielleicht auch der Psychologe, doch nicht der Mann der Praxis. Noch inniger als KANT hat sich SCHOPENHAUER für das Problem der Freiheit interessiert, ohne Zweifel, weil des Letzteren Philosophie auf den LASKEB, Philosophie des TJnvoUendbar.

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Willen eingestellt ist. Für SCHOPENHAUER hat jedes Ding, Belebtes und nicht Belebtes, Willen, und dieser Wille ist das Wesentliche, das Charakteristische, Unveränderliche, das wahre Innere des Dings, das Ding an sich. Sonach war für ihn die Frage der Freiheit des Willens das Grundproblem. Wohl aus diesem Motive, vielleicht auch aus dem ihn beherrschenden Triebe nach Klärung, Läuterung und Ordnung heraus, hat SCHOPENHAUER unser Problem breit ausgeführt. Schon in seiner Doktordissertation „Über die vierfache Wurzel des Satzes vom Grunde" 1813, sodann wieder in einer von der Akademie zu Drontheim gekrönten Preisschrift „Über die Freiheit des menschlichen Willens" 1839, geht er auf unser Problem ein. In seiner Doktordissertation, 4. AufL 1875, führt SCHOPENHAUER aus (S. 34): „Alle in der Gesamtvorstellung, welche den Komplex der erfahrungsmäßigen Realität ausmacht, sich darstellenden Objekte sind, hinsichtlich des Ein- und Austritts ihrer Zustände, mithin in der Richtung des Laufes der Zeit, durch ihn (den Satz vom zureichenden Grunde des Werdens, das Gesetz der Kausalität) miteinander verknüpft." „Demnach also muß jeder eintretende Zustand aus einer ihm vorhergegangenen Veränderung erfolgt sein." Und S. 45: „Ursache und Wirkung sind die zu notwendiger Succession in der Zeit verknüpften Veränderungen: die Naturkräfte hingegen, vermöge welcher alle Ursachen wirken, sind von allem Wechsel ausgenommen, daher in diesem Sinne außer aller Zeit, ebendeshalb aber stets und Uberall vorhanden, allgegenwärtig und unerschöpflich, immer bereit, sich zu äußern, sobald nur, am Leitfaden der Kausalität, die Gelegenheit dazu eintritt." In diesem Satze ist schon das Dogma vom Ding an sich, das Wille oder Naturkraft heißt, angedeutet. Noch deutlicher S. 46f.: „Die Kausalität also, dieser Lenker aller und jeder Veränderung, tritt nun in der Natur unter drei verschiedenen Formen auf: als Ursach im engsten Sinn, als Reiz und als Motiv. Eben auf dieser Verschiedenheit beruht der wahre und wesentliche Unterschied zwischen unorganischem Körper, Pflanze und Tier; nicht auf den äußern anatomischen, oder gar chemischen Merkmalen." „Die Ursache im engsten Sinne ist die, nach welcher ausschließlich die Veränderungen im unorganischen Reiche erfolgen, also diejenigen Wirkungen, welche das Thema der Mechanik, der Physik und der Chemie sind." . . . „Die zweite Form der Kausalität ist der Reiz: sie beherrscht das organische Leben als solches, also das der Pflanzen, und den vegetativen, daher bewußtlosen Teil des tierischen Lebens, der ja eben ein Pflanzenleben ist." . . . „Die dritte Form der Kausalität ist das Motiv: unter dieser leitet sie das eigentlich animalische Leben, also das Thun, d. h. die äußern, mit Bewußtsein geschehenden Aktionen aller thierischen Wesen. Das Medium der Motive ist die Erkenntnis: die Empfänglichkeit für sie erfordert folglich einen Intellekt. Daher ist das wahre Charakteristiken des Thiers das Erkennen, das Vorstellen." . . . „Die Wüjkungsart eines Motivs aber ist von der eines Reizes augenfällig verschieden: die Einwirkung desselben nämlich kann sehr kurz, ja sie braucht nur momentan zu sein: denn ihre Wirksamkeit

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hat nicht, wie die des Reizes, irgend ein Verhältnis zu ihrer Dauer, zur Nähe des Gegenstandes und dergleichen mehr; sondern das Motiv braucht nur wahrgenommen zu sein, um zu wirken; während der Reiz stets des Kontaktes, oft gar der Intussuszeption, allemal aber einer gewissen Dauer, bedarf." In seiner Preisschrift führt SCHOPENHAUER die Frage weiterhin aus (Die beiden Grundprobleme der Ethik, 3. Aufl. 1881, S. 47): „Jene Art der Ursachen, die man Motiv nennt, ruft nur die Äußerung einer nicht weiter auf Ursachen zurückführenden, folglich nicht weiter zu erklärenden Kraft hervor, welche Kraft, die hier Wille heißt, uns aber nicht bloß von außen, wie die andern Naturkräfte, sondern, vermöge des Selbstbewußtseins, auch von innen und unmittelbar bekannt ist. Nur unter der Voraussetzung, daß ein solcher Wille vorhanden und, im einzelnen Fall, daß er von bestimmter Beschaffenheit sei, wirken die auf ihn gerichteten Ursachen, hier Motive genannt. Diese speciell und individuell bestimmte Beschaffenheit des Willens, vermöge deren seine Reaktion auf dieselben Motive in jedem Menschen eine andere ist, macht Das aus, was man dessen C h a r a k t e r nennt und zwar, weil er nicht a priori, sondern nur durch Erfahrung bekannt wird, empirischen C h a r a k t e r " . . . „Und wie die Naturkräfte, so ist auch er ursprünglich, unveränderlich, unerklärlich." Diese Ansicht SCHOPENHAUERS empfiehlt sich beim ersten Eindruck durch ihre Folgerichtigkeit. Eine Handlung, die ein Mensch begeht, ist eine Veränderung und untersteht daher dem Satze vom zureichenden Grunde des Werdens, der a priori gewiß ist. Dies scheint überwältigend. Aber halten wir einen Augenblick inne! Es war ja nicht unsre Absicht, die Handlung, wie sie sich im Räume ausbreitet, zu untersuchen, sondern die Mitteiluüg, das Wissen, den Entschluß. Sind dies Änderungen? Was ändert sich denn, wenn ich einen Entschluß fasse und bevor ich noch handle ? Oder wenn ich eine Mitteilung verstehe? Diese Fragen, man mag sie nun beantworten, wie man wolle, sind strittige. Es ist gar nicht ausgemacht, daß man angeben oder bezeichnen könne, was sich da ändert. Soll man sagen, es ändert sich der Zustand der Nerven? Aber wir wollten ja von der Änderung des räumlichen Zustandes absehn. Oder soll man sagen, es ändert sich der Zustand der Seele ? Aber auch dies leuchtet nicht unmittelbar ein, zumindest hat noch Niemand verschiedene Zustände der Seele beobachtet, sondern nur verschiedene Zustände des Leibes. Für den Raum konnten wir den Satz aufstellen, daß dort das Zuständliehe in Reihen darstellbar sei. Ist für den Geist, die Seele, das Bewußtsein eine solche Reihendarstellung vorhanden? Die Frage ist erlaubt. Und wenn nicht bewiesen wird, daß die Frage zu bejahen ist, so darf man für die Dinge des Bewußtseins nicht ohne weiteres, ohne fernere Untersuchung, bloß aus Begriffen heraus von Ursach und Wirkung reden, weil die Analogie mit den räumlichen Dingen dann noch problematisch ist. Auf S. 45 f. betrachtet SCHOPENHAUER die Sachlage von einem andern Punkte aus. Er sagt dort: „Unter Voraussetzung der Willensfreiheit wäre jede menschliche Handlung ein unerklärliches Wunder, — eine Wirkung 21»

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ohne Ursache. Und wenn man den Versuch wagt, ein solches liberum arbitrium indifferentiac sich vorstellig zu machen; so wird man bald inne werden, daß dabei recht eigentlich der Verstand stille steht; er hat keine Form so etwas zu denken. Denn der Satz vom Grunde, das Princip durchgängiger Bestimmung und Abhängigkeit der Erscheinungen von einander, ist die allgemeinste Form unsers Erkenntnisvermögens, die, nach Verschiedenheit der Objekte desselben, auch selbst verschiedene Gestalten annimmt. Hier aber sollen wir etwas denken, das bestimmt, ohne bestimmt zu werden, das von nichts abhängt, aber von ihm das Andere, das ohne Nöthigung, folglich ohne Grund, jetzt A wirkt, während es ebenso wohl B, oder 0, oder D wirken könnte, und zwar ganz und gar könnte, unter den selben Umständen könnte . . ." „Ich wiederhole es: dabei steht ganz eigentlich der Verstand stille, wenn man nur vermag ihn daran zu bringen." Aus der Voraussetzung der Willensfreiheit will SCHOPENHAUER alle diese Folgerungen ziehn, aber tatsächlich macht er noch eine zweite Voraussetzung. Wo er nämlich nahe dem Schlüsse der obigen Stelle sagt, unser Verstand müsse stille stehn, wenn man denken solle, daß unser Entschluß ohne Grund so oder anders ausfallen könne, setzt er die bedeutsamen Worte „unter den selben Umständen" hinzu. Unter den selben Umständen, das heißt beim selben Zustande, und wieder erhebt sich unsre Frage nach dem Begriffe des Zustands des Bewußtseins. Freilich, wenn das Bewußtsein einen bestimmten Zustand hat, so hat SCHOPENHAUER durchaus Becht, denn dann gilt für die Zustandsänderung das Prinzip der Kausalität; aber es steht nicht von vornherein, und gewißlich nicht a priori fest, daß das Bewußtsein eines Menschen sich jederzeit als ein Zustand Habendes müsse auffassen lassen. Auf S. 48 seiner Doktordissertation drückt SCHOPENHAUER seine Behauptung in sinnfälliger Sprache aus: „Der Intellekt des Menschen ist doppelt: er hat, zur anschaulichen, auch noch die abstrakte Erkenntnis, welche nicht an die Gegenwart gebunden ist, d. h. er hat Vernunft. Daher hat er eine Wahlentscheidung, mit deutlichem Bewußtsein: nämlich er kann die einander ausschließenden Motive als solche gegen einander abwägen, d. h. sie ihre Macht auf seinen Willen versuchen lassen; wonach sodann das stärkere ihn bestimmt und sein Thun mit eben der Nothwendigkeit erfolgt, wie das Bollen der gestoßenen Kugel." Auch anderwärts beschreibt SCHOPENHAUER den Vorgang, wie die Motive zunächst als Wünsche einen Kampf miteinander ausfechten, wie dann jenes, das unter den gegebenen Umständen des Charakters, der Erkenntnis und der äußern Bedingungen das „stärkste" ist, gewinnt und den Entschluß mit Notwendigkeit bestimmt. Abgesehn davon, daß hier wieder von „Umständen" die Rede ist, welche, wie oben gezeigt, problematisch sind, weil sie vom Charakter und dem Erkenntnisvermögen handeln, liegt ein zweiter Einwand nahe. SCHOPENHAUER führt den Entschluß auf den Ausgang eines Kampfes zurück, und das war gut gesehn; jedoch bestimmt er den Ausgang des Kampfes nach einer Formel, die nur scheinbar Inhalt hat. Das „stärkere" Motiv ge-

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wiimt? Also war David „stärker" als Goliath? Vor dem Kampfe der Beiden hätte Niemand so etwas vermutet. Vielleicht aber hätte der LAPLACESche Geist, der die verborgenen Bewegungen sieht, vorher gewußt, daß David den Goliath erschlagen werde? Ja, wenn der LAPLAOESche Geist die Entschlüsse der Beiden hätte voraussehn können. Bei einem solchen Kampfe, wo die kleinste Bewegung, die Geschicklichkeit, die Entschlußkraft entscheidend eingreifen, hätte der LAPLA.CE sehe Geist zu seiner Voraussicht einer genauen Kenntnis des Zustandes der Seelen von David und Goliath bedurft. Und ob jene Seelen einen Zustand haben, ist wiederum die Frage. Das Problem der Freiheit blieb lange Zeit an dem Punkte stehn, wo K A N T und SCHOPENHAUER es hingeführt hatten. Nicht, daß es an Versuchen zur Weiterentwicklung gefehlt hätte, aber dabei kam nichts sachlich Neues zutage. Am beliebtesten ward das Hilfsmittel, den Begriff von Freiheit so umzudeuten, daß er sich mit dem Determinismus vertrug, und durch diese Interpretation nun den Determinismus einen Indeterminismus zu taufen. Frei, so sagten viele dieser Schriftsteller, sei der Wille, der sich seinen eigenen Gesetzen gemäß bestimmt. Diese Wendung ward in der mannigfachsten Art ausgesprochen, als käme es bei unserm Probleme auf Konstruktion von Begriffen an. Überhaupt hat bei unserm Problem die Kunst, mit Worten zu streiten, sieh in geradezu vorbildlicher Weise blamiert. Fast Alle stimmen überein, daß Charakter und Motive nach einer Phase des Wägens und der Überlegung den Entschluß determinieren, glauben, das stärkste Motiv müsse notwendig überwiegen, trotzdem aber wollen Viele von diesen nicht wahr haben, daß sie Deterministen sind, und biegen daher den anschaulichen Sinn der Begriffe des Charakters, des Motivs, des Überlegens, zuletzt auch den des Determinierens in naturwidriger Weise um. Führen wir ein paar Beispiele an! K N E I B (Die Willensfreiheit und die innere Verantwortlichkeit. Mainz 1898): „Einsichtsvolle Selbstbestimmung oder Selbstursächlichkeit, das eben ist Freiheit und Ursächlichkeit zugleich, und das allein erklärt und rechtfertigt die Erscheinungen im Gewissensleben." (55.) „Freiheit ist Selbstbestimmung aus der begründenden Erkenntnis." (4.) Der Gegensatz von Freiheit und Ursächlichkeit oder Freiheit und eindeutiger Bestimmung wird also von K N E I B geleugnet. Die Selbstbestimmung braucht nur „einsichtsvoll" zu sein, dann ist sie auf einmal frei. F. J. MACH (Die Willensfreiheit des Menschen, Paderborn 1887): „Die Motive necessitieren nicht, nötigen nicht; sie regen nur an, sie inklinieren nur." (14.) Gut, das läßt sich hören. SCHOPENHAUER wird so ins Unrecht gesetzt, der die Motive als Ursachen auffaßt. Doch wie kommt der Entschluß zustande? MACH sagt es nicht. Und wie beweist er seinen Satz? Aus der Erfahrung läßt sich so etwas durchaus nicht beweisen, denn in der Erfahrung läßt sich einem Entschluß auf keine Weise ansehn, ob er eindeutig erzwungen oder bloß empfohlen ward. ÖLZELT-NEWIN (Weohalb das Problem der Willensfreiheit nicht zu lösen ist, Leipzig 1900): „Das Kausalgesetz besitzt höchstens Wahrscheinlichkeit." (15.) Inwiefern läßt sich da noch von einem „Gesetze" reden? Doch es komme auf die Ausdrucksweise

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nicht an; Aber auch ^dann wird man die These nicht zugeben, weil das Prinzip der Kausalität axiomatisch gewiß ist und alle Physik-Chemie darauf gründet. WENTSCHER (Ethik, Leipzig und Hamburg 1902) spricht von einem „allgemeinen Zusammenhange des Wirklichen" (285), bestreitet aber die Allgemeingültigkeit des Kausalgesetzes. Gegen solche Ansicht könnte man die ganze Physik-Chemie als Instanz anführen, bei denen doch der Zusammenhang des "Wirklichen als Kausalität erscheint, und zwar in einer a priori gewissen, allgemeingültigen Art. FERDINAND TÖNNIES (Gemeinschaft und Gesellschaft, Berlin 1912, S. 173) sagt: „Freiheit und Wille ist einerlei." Man sollte nun glauben, er meinte, daß der Wille frei sei, aber weit gefehlt, denn aus seiner Ausführung geht hervor, daß er Determinist ist. Er sagt (S. 174): „Daß aber nichts . . . in dem Sinne frei könne genannt werden, als ob es durch die Vollkommenheit seiner inneren und äußeren Bedingungen nicht in jedem Zeitteilchen auf vollkommene Weise bedingt und bestimmt wäre: dies wird hier als verstandene logisch-apriorische Wahrheit vorausgesetzt." Manche, unter ihnen sogar auch LOTZE, suchten dem Probleme von seiten der Psychologie beizukommen. Sie verwiesen auf Gefühle, etwa das Bewußtsein unserer Freiheit oder das der Eeue, und schlössen von da aus auf den Indeterminismus. Nun muß man aber, um durch Psychologie zu begründen, zunächst einmal einen systematischen Aufbau von psychologischen Erkenntnissen voraussetzen; ein solches systematisches Gefüge wiederum setzt eine Verknüpfung der psychologischen Gebilde voraus, und die Natur dieser Verknüpfung zu bestimmen, ist nichts anderes, als das Problem der Willensfreiheit. Folglich geht in der logischen Ordnung unser Problem aller Psychologie grade so voran wie das Problem der Kausalität aller Physik; und wie man die Kausalität nicht durch Physik erweisen kann, so kann man auch nicht das Freiheitsproblem lösen durch Psychologie. Wie schwierig die Frage sei und wie intensiv sie die Geister aufrührt, ersieht man aus dem Buche JOELS „Der Freie Wille" 1908. Dort wird auf 724 Seiten in der Form eines Dialoges das Problem betrachtet. Der „Naive" wird zuerst durch die Argumente des Determinismus bezwungen, kehrt aber sodann um und ringt sich zum Indeterminismus duroh. Von der JoELSchen Gedankenreihe einen kurzen Überblick zu geben, kann nicht gelingen, denn sie enthält nirgends überflüssige Längen. Sie ist scharf und geistreich, hat aber bei alledem einen Mangel, den man leicht aufweisen kann: sie ist nicht zwingend. Der Indeterminismus, da er den Determinismus entwurzeln soll, hat doch zumindest den Materialismus zu widerlegen, welcher eine spezielle Gestaltung des Determinismus ist. Dies nun kann auf strenge Art nur zufolge der Voraussetzungen des Materialismus geschehn. Wer strenge verfahren will, muß aus der These des Materialismus heraus, ohne irgend welche Hilfsmittel als die vom Materialismus selbst benützten, einen Widerspruch aufdecken. Wer nicht so verfährt, widerlegt den Materialismus nur infolge von Erwägungen, die der Materialismus bestreitet. Einerseits führt dies logisch keine Notwendigkeit bei sich, andrerseits ist es psychologisch ohne Kraft der Überzeugung, denn Manner der Wissenschaft, die am Materialismus

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hängen, werden ja alle Voraussetzungen, die ihrer Lehre entgegenstehn, mit Mißtrauen ansehn. JOEL nun entwurzelt den Materialismus auf diese einzig strenge und erfolgreiche Weise nicht. Um ein Beispiel zu geben: ALBERT LANGE, der Geschichtsschreiber des Materialismus, hat als schwachen Punkt dieser Lehre hervorgehoben, sie könne nicht erklären, wie aus dem Stoß der Atome Empfindung stamme. Das Argument ist gewiß ein gutes, denn es scheint glaubhaft und stellt zumindest ein Problem. Aber es führt den Materialismus nicht ad absurdum. Erstlich nicht beim Publikum. Es hat z. B. nicht gehindert, daß HAECKEL Millionen von Lesern gefunden hat. Sodann fehlt dem Argument logische Notwendigkeit. Der Materialismus kann sich dagegen verteidigen, indem er sagt, daß er ja nicht Alles zu erklären brauche. „Genug", so möchte er sagen, „wenn durch meine Formel die Vorgänge in der Welt samt und sonders vorausgesehn und berechnet werden können." „Übrigens wird Empfindung", so mag er hinzusetzen, „wohl eine Naturkraft sein, die dem Prinzipe der Erhaltung der Energie folgt." Diese Anschauung zu entkräften, hat das Argument LANGES nicht die genügende Wucht; und auch das Argument JOELS nicht. Es ist aber nötig, diese Anschauung zu entwurzeln, um für den Indeterminismus Baum zu schaffen. Auch die jüngsten Erörterungen des Problems, wofern ich nur mein „Begreifen der Welt" 1913 ausnehme, scheitern an dieser Klippe. Sie weisen darauf hin, daß die physikalisch-chemische Naturauffassung im Systeme der Erkenntnis doch nicht ein Letztes sei, und wollen daraus schließen, daß die Welt nicht durch die physikalisch-chemische Auffassung begreiflich sein kann. Beispielsweise LIEBERT, Problem der Geltung, 1914, S. 148: „So führt gerade die Einsicht, daß die „Natur" selbst/wenn sie lediglich als Mechanismus begriffen wird, in der Einheit, im System der Erkenntnis ihre Begründung hat, dazu, nicht bei der bloß mechanischen Interpretation stehen zu bleiben." Was LIEBERT hier hervorhebt, ist aber gar nicht Problem. Natürlich kann man jedwede Erkenntnis, da sie begründet ist, in ein System bringen, dazu braucht man nur hinter sie ein Warum zu setzen. Wenn LAPLACE eine Weltgleichung gefunden hätte, so wäre damit der Determinismus auf festeste Grundlage gestellt worden, und doch hätte man noch fragen können, warum die Welt grade solcher Gleichung genüge? Daß man hinter den Determinismus ein Warum stellen kann, widerlegt ihn nicht. Noch besagt diese Tatsache irgend etwas über die Leistungsfähigkeit der Theorie des Mechanismus. Gilt diese für die Physik-Chemie? Gilt sie nur dafür oder auch für die Seele? Diese Kardinalfragen beantwortet die Philosophie, auch jene der neuesten Zeit, nicht mit Schärfe. Um so weniger gelingt es ihr, das Problem der Freiheit zu lösen. Nicht von der Fachphilosophie, sondern von der Wirklichkeitsforschung her kam dem Probleme der Freiheit ein fruchtbarer Anstoß. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts bildete sich eine Meinung, die sich als ungeheuer stark erwies und die Angriffe ihrer Antagonisten so leicht abschüttelte wie ein Elephant einen Pfeil. Der Block, der diese so feste Meinung verbreitete,

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ward gebildet von Physikern, Chemikern, Medizinern, Mathematikern und der Hauptmasse der Biologen, kurz, den Naturforschern. Sie neigten mit außerordentlicher Kraft der Überzeugung zum Determinismus, erklärten die Welt für ein Phänomen, eine Reihenfolge bestimmter Geschehnisse, und hielten die Sache damit für abgetan und erledigt. Freilich gingen aus den Reihen der Naturforscher Einige, vornehmlich Biologen, zu den Indeterministen über, und ihnen entstanden philosophisch gebildete Wortführer, hauptsächlich BERGSON, JAMES, DRIESCH und R E I N K E ; ferner schloß sich diesen Stürmern eine große Schar von. Künstlern an, aber der große Block der Naturforscher steht noch heute fast unerschüttert für den Determinismus ein, und seine Argumente beherrschen die Hochschulen, die wissenschaftliche Literatur, die Methode der biologischen Forschung und den bei weitem größten Teil der Fachphilosophie. In dem Kampf der beiden Parteien ist die Schlachtordnung diese. Die Deterministen bilden ein riesiges Heer, das sich fest verschanzt hat und wenig Beweglichkeit zeigt; der konservative Flügel die Physiker, Chemiker, Mathematiker, die eher zur Vermittlung geneigte Mitte die Darwinisten, def zur Diskussion bereite Flügel die Psychologen und Philosophen; die Gegenpartei numerisch schwach, aber angriffslustig und äußerst beweglich, reitet Attacken, deren Wucht sich auf die biologische Gruppe des Feindes richtet, dagegen die mathematische Gruppe ängstlich in Ruhe läßt. Bei dieser schiefen Schlachtordnung haben die Angreifer beachtenswerte Erfolge erzielt, wiewohl sie auf den konservativen Flügel des Gegners so gut wie gar keinen Eindruck gemacht haben. Von den Spekulationen der Metaphysiker halten die Männer der Wissenschaft sich fern; Wenige von ihnen, die wissen, was intelligible Welt bedeuten soll; aber das kümmert sie nicht. Sie stehn mit beiden Füßen in der Wirklichkeit und treiben Wirklichkeitsforschung mit Enthusiasmus. Sie sind Männer von wenig Worten, die ihren Blick auf Tatsachen richten und am ehesten durch Tatsachen zu überzeugen sind. Und rein aus ihrer Auffassung der Tatsachen heraus sind sie Deterministen; denn sie glauben voraussetzungslos an die Herrschaft des Naturgesetzes. Daß jedweder Vorgang, sei es ein physikalischer, chemischer, physiologischer, psychologischer, welcher Art er immer sei, durch Bedingungen festzulegen und in seinem Verlaufe zu bestimmen sei, ist ihnen ein Axiom, ein Rühr mich nicht an. Verfolgt man, wie sich die deterministische Meinung in den Jahrhunderten gebildet hat, so stößt man auf ihre Spuren schon im Altertum. Der Materialismus war ihre erste Form. ALBERT LANGE hat eine vorzügliche Geschichte dieser Bewegung geschrieben. Nach dessen Buche hat der Materialismus eine Reihe von Wandlungen durchgemacht und stellt sich daher in einer Anzahl von Abwandlungen dar, hat jedoch unveränderliche Kennzeichen, die ihn wie folgt charakterisieren: er faßt das Geschehn als Phänomen auf, als wäre die Welt ein physikalisches System. Von ihm macht er sich ein anschauliches Bild, etwa das eines dreidimensionalen unendlichen Raumes, der mit Masse erfüllt ist, welche sioh nach Gesetzen des Druckes und Stoßes

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bewegt. In diesem Bilde fehlen nicht die Empfindung und der Geist. Die verschiedenen Vermögen der Dinge, welcher Art sie auch seien, sucht der Materialismus durch mechanische Konstruktionen verständlich zu machen, und glaubt, daß so jedes Vermögen, zum Beispiel auch das des Wollens, wie verwickelt es auch scheine, in Mechanik auflösbar sei. Diese Anschauung hat unter den Gelehrten viele Anhänger gewonnen, vorzugsweise unter Physikern und Ärzten, trotz des naheliegenden Einwandes, wie es möglich sein solle, das Phänomen des Empfindens und Denkens mechanisch nachzubilden. Unter der Führung von OSTWALD hat man dem entgegnet, Empfinden und Denken seien'Formen einer eigenartigen Energie, auf jeden Fall sei die Welt als physiko-chemisches System begreifbar. Seit LAGRANGE und GAUSS und HAMILTON gelehrt hatten, die Bewegungen eines physikalischen Systems, dessen Definition und Anfangszustand und Anfangsgeschwindigkeiten gegeben sind, durch Variationsrechnung und Differentialgleichungen für alle Zukunft festzulegen, schien es ja auch, daß die Änderungen jeden Gegenstandes der Natur berechenbar seien. Und wenn nun auch der Materialismus wegen seiner zu einseitigen Stellungnahme zugunsten des Stoffes und Stoßes auf Schwierigkeiten stieß, so schien es den Physikern doch sonnenklar, daß an der eindeutigen Bestimmbarkeit des Weltgeschehens, sei es durch Mechanismus, Energetik oder anderswie, nicht mehr zu zweifeln sei. Man sprach von der Weltgleichung, worunter man sich ein System von Beziehungen nach Art der LAGRANGE sehen Differentialgleichungen dachte, nun nicht mehr auf ein wohldefiniertes physikalisches System, sondern die Welt angewandt. Taub gegen KANT, dessen Antinomien vor der Gefahr, die Welt als wohldefiniertes System aufzufassen, eindringlich hätten warnen müssen, beriefen sich Naturforscher darauf, daß die Welt ja weiter nichts sei als ein System von Massen und Kräften und daher den Gleichungen von LAGRANGE unterworfen. Freilich blieb nach LAGRANGE noch geraume Zeit die Frage offen, wie denn nun die offenbare Zweckmäßigkeit der Pflanzen und Tiere, im Bau des Menschen, beim Lebendigen überhaupt in dies Schema der Weltgleichung passe. Da aber trat ein Ereignis ein, das auch die Lehre vom Leben in den Bannkreis dieser deterministischen Anschauungen machtvoll hineinzog: DARWIN stellte seine Lehre von der Entwicklung der Arten auf und begründete damit eine Theorie der Entwicklung, die die Zweckmäßigkeit auf physikalisch-chemische Art zu erklären schien. Damit ward der Determinismus unter den Gebildeten fast alleinherrschend. Unter Darwinismus versteht man die Lehre, welche Entwicklung zurückführt auf Kampf ums Dasein und diesen Kampf auf Naturgesetze. Er lehrt insbesondere, daß die Jungen der lebenden Geschöpfe (vermöge Vererbung) ihren Eltern sehr ähnlich sind, jedoch kleine Veränderungen zeigen, deren Zweckmäßigkeit im Kampfe ums Dasein erprobt wird, und daß in diesem Kampfe nach langen Perioden der Erprobung das Angepaßte erhalten bleibt. Die kleinen Veränderungen erklärt er als anscheinend dem Zufall entsprossen, tatsächlich einer Gesetzmäßigkeit unterworfen, die für

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Das Problem der Freiheit.

uns nur zu verwickelt ist, um sie zu begreifen. Er hat aber keinen Zweifel, daß diese Gesetzmäßigkeit von einem intelligenten Wesen mit mikroskopischteleskopisch unbegrenzt genauer Wahrnehmung auf eine Formel gebracht und so der Gesamtverlauf des Kampfes vorherbestimmt werden könnte. Als der Darwinismus sich in raschem Laufe die wissenschaftliche Welt eroberte, erhob sich der erste Widerspruch gegen den Determinismus aus den Reihen der Naturforscher. Zwar ward die Lehre von der Entwicklung, soweit sie sich auf die Auslese durch den Kampf ums Dasein bezog, von fast allen Biologen angenommen, jedoch einige verfochten die These, daß die kleinen Änderungen (Variationen, Mutationen) der Nachkommen einem Wunsche, einer Sehnsucht entstammen und keineswegs allein durch die Zufälligkeiten eines Kampfes ums Dasein zur Vollendung gebracht werden. Wenn ein Geschöpf, so argumentierten sie, ein neues Organ entwickelt, wenn etwa ein Eeptil fliegen lernt, so sind die ersten geringen Modifikationen seines Leibes, die jene neue Entwicklung anbahnen, für die gesamten Lebensinteressen des Geschöpfes zunächst höchst unzweckmäßige und bleiben es in hohem Grade eine sehr lange Zeit. Ein Flügel, mit dem man beinahe fliegen kann, dient zu nichts, und es ist nicht abzusehn, wie die Reptilien, die beinahe Vögel sind, es aber noch nicht sind, den Kampf ums Dasein überleben können. Anders, wenn man annimmt, daß ein Verlangen, eine Sehnsucht, ein unbewußtes Ziel den Fortschritt leite. Wie etwa die Zugvögel manchmal eine neue Straße ziehn, um überm Meere nach langer Fahrt ein neues Heim zu finden, und wie sie dabei Erfolg haben, weil sie trotz aller Leiden und Opfer dieselbe Richtung innehalten, so haben die Geschöpfe auch bei der Bildung neuer Organe nur Erfolg, weil sie trotz der Verluste ihrer ersten Pioniere unentwegt ein Ziel, eine Richtung innehalten. Dies Geschehen kann man sich nicht anders vorstellen als von einem Willen geleitet. Dieser Wille ist nicht ohne Grund so, wie er sich betätigt; seine Tendenzen sind gewiß ererbt. Folglich haben die Urkeime bereits jene ererbten Tendenzen gehabt. Die geringen Modifikationen und die Not, die der Kampf ums Dasein bringt, sind somit für die Bildung des neuen Organs nicht die genügende Ursache, sondern bloß die auslösende Gelegenheit gewesen. Den obigen Argumenten, die d s Vorhandensein einer eigentümlichen Substanz, des Willens, nachweisen wollten, entgegneten Darwinianer, daß ja wohl Dispositionen vererbt sein könnten, daß man aber unter einer solchen Disposition keineswegs ein Wollen zu verstehn brauche, sondern einen verwickelten Mechanismus. Dieser Mechanismus mag, von „innen" gesehn, zweckfolgend erscheinen, aber er ist dennoch kausal bedingt und bestimmt. Um die Möglichkeit eines solchen Mechanismus darzutun, wurden von mehreren Forschern Modelle dafür konstruiert, wobei die Enzym-Wirkung und andre chemische Wirkungen geschickt verwendet wurden, um Vererbung und andre Lebensprozesse, wenigstens im groben, physikalisch-chemisch nachzuahmen. Kurz, es entbrannte ein lebhafter literarischer Streit der Biologen um die Lehre DARWINS, der mit vielerlei Argumenten der obigen Art geführt

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ward und in dessen Verlaufe der Darwinismus manche Zugeständnisse machen mußte, ohne jedoch geschlagen zu werden. Von den Prozessen des Wachstums und organischer Betätigung wandte sich der Streit auch den geistigen Vorgängen zu, dem Denken, Fühlen und Wollen, bei denen eine mechanistische Erklärung den Meisten unmöglich schien. Aber es gab auch in dieser Frage eine extreme Partei, die das Bewußtsein physiko-chemisch auffaßte. Deren Leitsatz war: ohne Nerven kein Bewußtsein; Nerven erzeugen geistige und seelische Vermögen durch Leitung von Energien, die dem elektrischen Strome sehr nahe stehn. Die „geistigen" Vorgänge, so sagten sie, seien tatsächlich rein körperlicher Natur und genügen dem Grundsatze der Erhaltung der Energie sowie überhaupt allen Gesetzen der Physik und Chemie. Die Partei dieser Extremisten ward vornehmlich von Medizinern gebildet und zählt auch heute unter diesen sehr viele Anhänger. Doch die weitaus größte Majorität der Biologen und Philosophen einigte sich auf eine Formel, die dem Einwurfe, welchem der Materialismus ausgesetzt war, gewachsen schien: sie gestanden dem Geiste eine ¡Sonderstellung gegenüber der Materie zu,-nur ließen sie der Reihe der geistigen Vorgänge eine Reihe körperlicher Vorgänge parallel laufen. Diese Lehre des „psycho-physischen Parallelismus" wird in mannigfacher Art vorgetragen. Alle sind darin einig, daß uns die Erfahrung zwischen den psychischen Vorgängen, also etwa einem Denken oder Streben, und den physischen Vorgängen ein Band, ein Entsprechen enthülle: beim Denken verbrennt Phosphor, beim Wollen läuft eine Erregung Nerven entlang usw. Nur in den weiteren Folgerungen sind sie sich nicht völlig einig. — Nun ist aber so viel klar, daß ein Vorgang, dem kein physischer entspricht, nicht wahrnehmbar wäre. Nimmt man an, daß jeder Vorgang, der in Wirklich^ keit statthat, auf irgend eine Weise zu erproben ist, so muß man mit logischer Notwendigkeit jedwedem psychischen Geschehn ein physisches zuordnen. Die obige Annahme wird von den Gelehrten gemacht, und auch wir ordnen jedem Entschluß eine Handlung zu. — Es scheint also die einzig folgerechte Theorie eines psycho-physischen Parallelismus die zu sein, daß jedwedem psychischen Geschehn auf eindeutige Art ein bestimmtes physisches Geschehn entspricht, an dem das psychische Geschehn wahrnehmbar, erkennbar, eindeutig bestimmbar wird. — Und wenn wir den psycho-physischen Parallelismus nicht annehmen wollen, so kann dies nur sein, weil wir ihn in jedweder seiner Gestalten verneinen, indem wir wieder darauf hinweisen, daß psychisch nichts geschieht, sich psychisch nichts ändert, psychisch kein ,,Zustand" ist. Durch die Annahme des psycho-physischen Parallelismus war die gelehrte Welt unvermerkt zu SPINOZA zurückgekehrt. Freilich hatte dieser gelehrt, Geist und Körper seien zwei verschiedene Daseinsformen oder Auffassungen einer und derselben Substanz, die er sowohl Welt wie Gott nennt, während der Parallelismus nur ein eindeutiges Entsprechen von Geist und Körper behauptet, indessen ist dieser Unterschied nur ein scheinbarer. Jedes eindeutige Entsprechen zweier Reihen ist Schlüssel zu einer Sprache, die

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Das Problem der Freiheit.

jede der Reihen eindeutig in die andere übersetzt, so daß die Reihen, die physische und die psychische, zufolge des psycho-physischen Parallelismus bei gehöriger Übersetzung als im Sinne SPINOZAS identische anzusehn wären. Um diese Theorien entbrannte Ende der 80er Jahre ein Streit, der noch jetzt fortdauert. BEBGSON, JAMES, die Partei der NEO-VITALISTEN • unternahmen den Angriff. Im Verlaufe dieses Streits ist sehr viel geschrieben worden, Vieles davon nicht klar umrissen, und es wäre ein sehr schwieriges Unternehmen, über alle Argumente, die darin vorgebracht wurden, Bericht zu erstatten. Doch ist für unsern Zweck ein so eingehendes Referat keineswegs nötig. In keinem Punkte werden wir uns die Argumente der Parteien zu eigen machen, weil der im folgenden Kapitel verfolgte Angriffsplan ein ganz andrer ist und hier mit ganz andren Waffen gefochten werden soll wie in jenem Streit. Unser Zweck ist vielmehr, durch diese summarische Übersicht die Schwierigkeit und Bedeutung des Problems der Freiheit darzulegen und dafür genügt es, nur einige wenige der hauptsächlichsten Argumente der Gegner hervorzuheben. JAMES griff die physikalisch-biologische Ausgestaltung der Lehre des Parallelismus an. Da das körperliche Geschehn im Leibe eines Geschöpfes stetig den Raum erfüllt, so kann der Verteidiger des Parallelismus kaum umhin, den in sehr kleinen Bezirken des Gehirns vorkommenden physiologischen Änderungen solche geistigen Vorgänge entsprechen zu lassen, die nur sehr wenig Aufmerksamkeit erregen, und daher muß er etwas dem Atom Ähnliches auch im Gebiete des Seelischen komponieren, z. B. muß er gewisse Empfindungen von sehr geringem Wirkungsgrad in Punkten der Gehirnrinde lokalisieren und überhaupt alles Geistige atomisieren. Als einige Vertreter des Parallelismus diesem Zwange oder dieser Verführung erlegen waren, wurden sie von JAMES bespöttelt, der für die Seelenatome den ironischen Namen „mind dust" (Geiststaub) einführte und von einer mind dust-Theorie sprach. Der Hieb saß wohl, aber nicht sehr tief. Offenbar glaubten die Parallelisten, daß bei der Ausgestaltung ihrer Lehre im einzelnen wohl Vorsicht geboten sei, daß dabei wohl auch Fehler begangen werden könnten, daß dadurch aber die Richtigkeit ihrer Lehre im ganzen nicht in Frage gestellt werden würde, zumindest nicht auf die Dauer. Die Angriffe von BEBGSON waren wuchtiger. Zunächst wies der französische Philosoph darauf hin, daß eine Gleichheit zweier lebender Wesen niemals realisiert werden könnte; sollen Peter und Paul gleiche Fähigkeiten haben, so müssen sie auch die nämlichen Erinnerungen haben, also überhaupt identisch sein. Daher, so schloß er, ist jedes lebende Geschöpf nur einmalig. Überhaupt ist alles, was Erinnerung hat, nur einmalig. Anders der Stoff. Bei ihm sehn wir tausendfach Prozesse, wobei die Zustände einen Kreislauf beschreiben. Stoff altert nicht, er bleibt ewig derselbe und vermag daher bei geeigneten Vorrichtungen reversible Reihen von Veränderungen zu durchlaufen; das Lebendige jedoch erleidet Vorgänge, die durchaus irreversibel sind.

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Hieraus folgert BERGSON, daß ein lebendes Wesen nicht „gegeben" sein könne; was nur einmal vorhanden sein kann, ist ja in der Tat nicht beschreibbar. BERGSON beweist aber seine Thesen nicht streng. Wenn es richtig ist, daß ein Geschöpf sich erinnert, so ist es doch ebenso richtig, daß das Geschöpf vergißt. Mithin ist, rein theoretisch betrachtet, die Möglichkeit vorhanden, daß Entwicklung lebender Wesen ein reversibler Vorgang sei, wenigstens, solange der Beweis nicht auf andre als BERGSON s Art geführt wird. BERGSONS bestes Werk ist wohl E v o l u t i o n Créatrice. Schon dessen Titel ist ein Programm, deutet er doch auf die These, die Evolution sei schöpferisch. Es ist ein Werk voller Phantasie. Allerdings schreibt er in einer Sprache, die an entscheidenden Punkten, wo man eine scharfe Definition erwartet, bloß ein farbiges Gleichnis bietet. Infolgedessen sind seine Argumente von einer Art, daß ein geschickter Routinier nach solcher Methode alles Mögliche beweisen könnte. Aber seine Thesen sind interessant. Sie lauten hauptsächlich (S. 49): „Dieselbe konkrete Realität wiederholt sich nie. Die Wiederholung ist nur möglich in der Abstraktion: was sich wiederholt, ist dieser oder jener Eindruck, den unsere Sinne, diese oder jene Ansicht, die unsere Intelligenz aus der Wirklichkeit herausgegriffen haben, eben weil unser Handeln, auf das sich alle Anstrengung unserer Intelligenz richtet, sich nur in Wiederholungen entladen kann. So, aufmerksam auf was sich wiederholt, wendet sich die Intelligenz von dem Anblick der Zeit ab. Sie stößt das Fließende von sich und läßt alles, das sie berührt, zu Stein werden. Wir denken nicht die wirkliche Zeit, aber wir leben sie, weil das Leben die Intelligenz umfaßt und überragt." Und wiederum (S. 179): „Die Intelligenz ist dadurch charakterisiert, daß es ihr natürlich ist, das Leben durchaus nicht begreifen zu können. Der Instinkt dagegen hat die Form des Lebens selbst. Während die Intelligenz alles als Mechanik bfehandelt, geht der Instinkt sozusagen organisch vor. Wenn das in ihm schlummernde Bewußtsein erwachen würde, wenn es sich nach innen in Kenntnis anstatt nach außen in Handlung umsetzen würde, wenn wir verstünden, ihn zu befragen, und er zu antworten wüßte, so würde er uns die verborgensten Geheimnisse des Lebens überliefern." — Ferner (S. 192): „ I n t u i t i o n , d. h. der Instinkt, der seine Interessiertheit abgestreift hat, seiner selbst bewußt, fähig über seinen Gegenstand nachzudenken und ihn beliebig zu vergrößern." BERGSON schwebt es offenbar vor, daß die Intelligenz allen Dingen einen Zustand zuschreibe, während das Leben keinen Zustand habe. Nur sagt er es nicht. Ja, er spricht oft vom „état de Tarne" und ,,état psychologique", uneingedenk dessen, daß er sich damit dem Argument von SCHOPENHAUER überliefert. Der „temps" ist ihm die mathematische Zeitreihe, „durée" ist ihm geschichtliche Zeit — doch er arbeitet den Unterschied nicht klar heraus. Leider ist seine Sprache vieldeutig, wo nicht geheimnisvoll. Und seine Art der Beweisführung ist nicht zwingend. Es ist fast, als ob er von seinen Lesern verlangte, sie müßten sich durch Intuition in seine Absichten hineinfühlen. Immer wieder und wieder redet er in Gleichnissen und wieder-

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Das Problem der Freiheit.

holt dieselben Behauptungen ohne scharfe Begründung in einer Mannigfaltigkeit von Wendungen. Eine These BERGSONS ist, wie erwähnt, daß jeder physikalisch-chemische Vorgang umkehrbar sei, das Leben aber nicht. Die Schwäche in seiner Begründung ward schon hervorgehoben. Es ist klar, daß sein Beweis keinen Mechanisten überzeugen kann. Von dessen Standpunkte aus ist nicht einzusehn, warum bei Umkehrung der bestimmenden Kräfte die Atome des Leibes nicht die rückwärtige Bewegung ausführen und so die Entwicklungsreihe im umgekehrten Sinne durchlaufen müßten. Welches nun auch der Wert oder Unwert des Mechanismus sein mag, er ist eine große geschichtliche Bewegung gewesen und er hat ein Recht auf Bücksicht, also zumindest auf eine scharfe Widerlegung. Auch für Jene, die an die Möglichkeit der Urzeugung glaubten, konnten BERGSONS Argumente offenbar nicht zwingend sein; ebensowenig für Darwinisten, die die Zweckmäßigkeit im Leben auf ihre Art genügend erklären. BERGSON hat wohl am meisten auf Künstler eingewirkt, denn diese sind am ehesten geneigt, an die Einmaligkeit eines Geschöpfes zu glauben; auch gefällt ihnen BERGSONS vornehmer, farbiger Stil. BERGSON hätte vielleicht durchschlagendem Erfolg gehabt, wenn er sich auf das Problem des Geistes konzentriert und es folgerichtig durchgeführt hätte. Eine Reihe von Gedanken ist sicherlich nicht umkehrbar, ohne daß sie ihren logischen Charakter, ihren Sinn, verlöre. Schon der Syllogismus: Jeder Mensch ist sterblich, Cajus ist ein Mensch, also ist Cajus sterblich, widersteht der Umkehrung. Denkt man etwa Cajus ist sterblich, Cajus ist ein Mensch, jeder Mensch ist sterblich, so fehlt hier das so bedeutungsvolle Also, abgesehen davon, daß auch die einzelnen Sätze bei der Umkehrung ihres Logos verlustig gehn würden. Für einen Mechanisten würde es ¿so eine peinliche Frage sein, was bei der Umkehrung der Denkbewegung als Äquivalent für den verlorengegangenen Sinn entstehen soll. Bloßer Schall oder bloße Nervenschwingung wären dafür doch sicherlich kein genügender Gegenwert. Bei alledem aber ist das Problem nicht auf diese Art endgültig zu lösen. Argumente dieser Art wenden sich an den Geschmack, aber bei einer so wichtigen Frage wird nur die Schärfe des Schwertes der Logik den Widerstrebenden zwingen. In Deutschland sind REINKE und DRIESCH die Wortführer des Indeterminismus gewesen. Sie haben sich freilich am meisten gekümmert um die Lebensprozesse, z. B. die Ernährung und das Wachsen der Organe, und nicht so sehr um den Geist; aber das Problem des Lebens und des Geistes ist an der Wurzel das nämliche, Ihre These war, daß die Zielstrebigkeit der lebenden Wesen mit einer rein kausalen Erklärungsweise unvereinbar sei, und daß im Lebendigen etwas sei, das die stummen und blinden Kräfte der Natur richte, leite, verwerte. Demgemäß hat DRIESCH den Begriff der „Entelechie" geschaffen, und REINKE den der „Dominante", um das richtunggebende Wesen darzustellen. Die Gedankenreihe dieser beiden Forscher, wieviel innere Wahrscheinlichkeit man ihr auch zusprechen mag, führte aber

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nicht zu logisch zwingenden Ergebnissen, und konnte es auch nicht, denn ihre Methode ist dafür ungeeignet; keine biologische Theorie kann das Problem der Freiheit lösen. Naturgemäß erhebt sich gegenüber biologischen oder psychologischen Gebilden jeder Art die Frage, ob sie frei seien oder determiniert; eine Theorie, welche mit biologischen Gebilden, die vom Geiste des Forschers konstruiert sind, operiert, setzt also das Problem der Freiheit schon voraus, vermag demnach zum Entscheide des Problems kein Titelchen beizutragen. Front'gegen DRIESCH und REINKE macht EISLEB in seinem „Der Zweck" 1914. Zweckmäßigkeit ist nur die innere Seite des kausalen Geschehns — dies ist eines der Motive von EISEER, der mithin durchaus zum Determinismus neigt. Jüngst hat DRIESCH den Angriff von einer neuen Seite geführt. In seinem „Leib und Seele" 1916, vergleicht er den „Grad der Mannigfaltigkeit" des Physischen mit dem des Psychischen. Er zählt die bestimmenden Momente des Physischen auf, vergleicht sie mit jenen des Psychischen, findet für die letztern eine größere Mannigfaltigkeit und schließt, daß der psycho-physische Parallelismus in seiner historisch gegebenen Form nicht haltbar sei. Dieser Modus des Beweises von DRIESCH nähert sich in etwas dem meinen, den ich im „Begreifen der Welt" 1913 auseinandergesetzt habe. Freilich aber läßt die Mannigfaltigkeit des Physischen sich nicht aufzählen, ebensowenig wie die des Psychischen. DRIESCH hat, so scheint es, nicht das Problem der Freiheit im Sinne, sondern eine speziellere Frage, die als Beitrag zur geschichtlichen Entwicklung des Problems hohen Wert hat, jedoch die Entscheidung der Hauptfrage erst vorbereiten soll. Aus diesem ganzen Streite hat sich eine Übereinstimmung aller Parteien und ein Problem ergeben. A l l e stimmen iiberein, daß die F o r m e n des Lebens ebenso wie die F o r m e n des Geistes durch E v o l u t i o n entstehn. Die Formel für die Evolution ist immer die nämliche: Anpassung durch Kampf. Wir haben sie ausgedrückt durch die Theorie von Gedächtnis, Gestaltung, Auslese; Andere, z. B. die Darwinianer, mögen sie etwas anders ausdrücken — doch gleichgültig, der Inhalt des Begriffes der Evolution ist klar umrissen und seine Bedeutung für die Lehre der Funktionen des Lebens, das Wachsen ebenso wie das Denken, ist von allen Parteien anerkannt. Das P r o b l e m ist, zu entscheiden, ob die E v o l u t i o n schöpferisch sei. Diese Frage läßt sich in vielerlei Gestalten bringen. Ist Entwicklung nur die innere, die konvexe Seite des kausalen Geschehens ? Sind die Richtkräfte der Lebensprozesse physiko-chemische ? Haben psychische Gebilde einen Zustand, dessen Änderungen eindeutig bestimmt sind durch Ursachen? Ist der Wille frei? Im Grunde wollen diese verschiedenen Fragen alle die nämliche Dunkelheit erhellen.

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Das Problem der Freiheit.

3. Der Begriff des Unvollendbar. Der Begriff des Zustandes führt geradeswegs auf den Begriff der Menge oder Reihe. In diesem Begriffe nun steckt ein tiefes Problem. Freilich ist der Begriff einer Menge der einer Vielheit und daher fundamental Der Begriff der Vielheit ist klar durch die Macht der Anschauung. Eine Menge ist eine Vielheit, und eine bestimmte Menge ist eine bestimmte Vielheit. An alledem ist nichts fragwürdig. Das darin steckende Problem wird aber deutlich, wenn man fragt, ob denn jede Vielheit bestimmbar sei. Freilich, auch unendliche Vielheiten lassen sich begreifen, nämlich durch ihr Gesetz, Bildungsgesetz, Reihengesetz, durch ihren Begriff, welcher die Folge der Glieder der Vielheit regelt, kurz, durch ihren Sinn. Indessen steht es noch dahin, ob jede beliebige Vielheit, die wir zu bilden befehlen, wie etwa der Inbegriff aller Wahrheiten oder der Inbegriff aller Naturgesetze, auch Sinn habe; und dies ist eine schwierige, aber fruchtbare Frage. Der Deutlichkeit halber ist es dienlich, den Begriff der Reihe zunächst zu veranschaulichen. Beginnen wir mit den bekanntesten Reihen! Das sind die „endlichen", die eine angebbare Zahl von Stellen haben. Zwei solche Reihen heißen „äquivalent", wenn man ihre Stellen einander „zuordnen" kann; so, daß je einer Stelle der einen Reihe eine und nur eine Stelle der andern Reihe entspricht. In der Praxis des Lebens ordnen wir sehr oft Reihen einander zu, nämlich bei jedem Zählen. Finde ich, daß eine Reihe von Gegenständen der Reihe der Zahlen 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7 äquivalent ist, was ich durch Zählen feststelle, so sage ich, die Zahl der Reihe der Gegenstände sei 7. Das besagt, daß ich die Gegenstände mit den Zahlen 1, 2 , 3 . . . 7 bezeichnen und danach vom ersten, zweiten . . . siebenten Gegenstand der Reihe reden darf. Zwei endliche Reihen sind dann und nur dann äquivalent, wenn die Anzahlen ihrer Stellen einander gleichen. Jeder sieht die Richtigkeit dieser Sätze ohne weiteres ein. Der Begriff der Äquivalenz bleibt fruchtbar, wenn er auf „unendliche" Reihen ausgedehnt wird. Die einfachste unendliche Reihe ist die Progression 1, 2, 3, 4, 5, 6

(ohne Ende).

Sie läßt sich nicht auf dieselbe Art anschaulich machen wie eine endliche Reihe, die man sich bildlich vorstellen kann, vielmehr begreift man sie vermöge ihres Begriffes, ihres Gesetzes. Man konstruiert die Dinge, die zu ihr gehören (nämlich die ganzen Zahlen) durch den Akt der wiederholten Vermehrung um die Einheit, dessen Ausführbarkeit so gewiß ist wie ein fundamentaler Satz. Unendliche Reihen überhaupt lassen sich nur durch eine Regel, eine Vorschrift der Konstruktion, als eine Einheit erfassen und begreifen, denn die sinnliche Anschauung einer Reihe von Dingeh bewältigt nur Reihen mit wenigen Gliedern. Eine Reihe, die mit der Progression äqaivalent ist, hat gewiß ein Gesetz. Denn jede Stelle von ihr muß durch eine Vorschrift auf eine und nur eine

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3. Der Begriff des Unvollendbar.

Stelle der Progression bezogen sein, und keine zwei Stellen von ihr dürfen auf dieselbe Stelle der Progression bezogen sein —, sonst wären ja die Reihen nicht äquivalent. Die Vorschrift, die die Äquivalenz vermittelt, ist nun selbst schon das Gesetz dieser Reihe, denn vermöge dieser Vorschrift vermögen wir ja die entsprechende Reihe zu begreifen. Ist eine Reihe von Dingen der Progression äquivalent, so lassen sich diese Dinge durch einen Index bezeichnen, in dieser Art

Du D2, D3

Dn

wo nun Z>i das der Zahl 1 entsprechende Ding der Reihe ist, und Dn das der Zahl n entsprechende. Wird eine solche Bezeichnung vom Mathematiker verstanden, und ist sie eindeutig, so ist die Reihe der Dinge äquivalent der Progression. Es gibt nun aber unendliche Reihen, die begreifbar uud dennoch nicht der Progression äquivalent sind. Beispielsweise ist die stetige Zahlenreihe, das Kontinuum, obwohl durchaus begreiflich, nicht der Progression äquivalent. Das heißt, man kann nicht von der Iten, 2ten, 3ten . . . . nten Zahl des Kontinuums reden, welche künstliche Konstruktionen man, um dies möglich zu machen, auch versuchen mag. Dieser Satz läßt sich auf mehrfache Art zur Evidenz bringen, indessen sind die dazu nötigen Hilfsmittel und Betrachtungen rein mathematischer Art, und es mag daher gestattet sein, den Leser auf die Literatur zu verweisen. Zudem folgt dieser Satz leicht aus einem allgemeineren Satze, der bald dem Leser dargelegt werden wird. Lassen wir uns daher die obige Behauptung vorläufig auf Autorität hin anerkennen. Es hat keine Schwierigkeit, sich Reihen vorzustellen, die dem Kontinuum äquivalent sind. Eine Menge von Dingen ist dann und nur dann dem Kontinuum äquivalent, wenn jedes Ding der Menge durch eine und nur eine Zahl der stetigen Reihe auf eindeutig bestimmte Weise bezeichnet werden kann. Am einfachsten ist es, solche Reihen aus Zahlen zu bilden. Beispielsweise ist die Reihe der Zahlen zwischen 0 und 1 der stetigen Reihe äquivalent. Aber anstatt der Zahlen, wie im obigen Falle, lassen sieh auch andre Dinge verwenden, z. B. Farben oder Punkte des Raumes, oder mathematische Sätze, oder physikalische Charaktere. Unterbrechen wir nun die Aufzählung uns bekannter Reihen und gehn wir dazu über, uns eine „Reihe überhaupt" vorzustellen! Eine Reihe wird gedacht, wenn eine Menge von Dingen gedacht wird. Damit die Reihe begriffen werde, ist nötig, daß jedes Ding der Menge an einem Merkmale als zur Menge gehörig erkennbar sei. Verstehe ich eine Reihe, so kann ich dann, wird mir irgend ein Ding vorgewiesen, sagen, ob dies Ding zur Reihe gehört oder nicht. Das Vorhandensein eines solchen Merkmals ist sicherlich eine conditio sine qua non für das Verständnis einer Menge. Indessen steht dahin, ob diese Bedingung die einzige sei oder nicht. Wenn ich z. B. die „Menge aller Dinge" bilde, habe ich da wirklich eine bestimmte, prägnante Idee? Steht wirklich fest, ob ich die Menge aller Dinge unter einer Regel erschöpfend, LABKBB, Philosophie des Unvollendbar.

22

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Das Problem der Freiheit.

vollständig, restlos begreifen, sie unter einem Gesetze verstehn kann? Denke ich dabei nicht vielmehr an die paar Dinge der irdischen Umgebung, die paar Begriffe der irdischen "Wissenschaft? Und würde ein höher organisiertes Geschöpf als ich jenen Begriff prägnant denken können? — Solch ein Begriff wäre ein Absolutes. Ein Nicht ihm anzuhängen wäre unmöglich, da er doch alles, das Vorgestellte und Gedachte, umfassen müßte. — Uns wird gewiß der Zweifel an der Denkbarkeit dieser Reihe gestattet sein, so lange, bis die Untersuchung den Entscheid endgültig bringt. Da es nun Reihen gibt, die wir begreifen, und andre, von denen wir nicht sicher sind, daß sie einem Geschöpfe, wie hoch entwickelt es auch sei, begreifbar sind, so sind wir berechtigt und ist es angebracht, einen Namen für von Geschöpfen begreifbare Reihen einzuführen. Sie sollen „vollendbar" heißen. Der Name soll andeuten, daß die Evolution intelligenter Wesen jene Reihen schließlich begreifbar macht, daß die Anpassung des Intellekts an eine solche Reihe also vollendbar ist. Sollte es Reihen geben, die nicht „vollendbar" sind, so werden wir sie passend „unvollendbar" nennen. Doch steht es an diesem Punkte der Untersuchung dahin, ob es unvollendbare Reihen gibt. Mit der Einführung dieses Namens setzen wir nichts voraus, erschleichen wir keinen Satz. Denn daß der Name einen Sinn hat, folgt ja bereits aus den Beispielen begreiflicher Reihen, die wir kennen. Und daß es unvollendbare Reihen gibt, haben wir ja oben nicht behauptet, sondern bloß für den Fall, daß es solche Reihen gibt, dafür einen Namen vorgeschlagen. Wenn es keine unvollendbaren Reihen geben sollte, so genügt zur Definition einer Reihe bereits die Angabe aller Dinge, die zu ihr gehören sollen, z. B. die Angabe, alle Punkte des Raumes oder alle Theoreme der Algebra oder alle Begriffe sollten je eine Reihe konstituieren. Gibt es aber unvollendbare Reihen, so genügt die Angabe der Elemente einer Reihe oder des Merkmals, das die Elemente gemeinsam tragen, zu ihrer Definition noch nicht, denn dann bleibt noch immer fraglich, ob dif Reihe als eine einzige begriffliche Einheit verständlich, ob die Vorschrift der Bildung der Reihe auch ausführbar sei, ob die Reihe ein „Gesetz" oder „Bildungsgesetz" habe. Betrachten wir nun eine Reihe, von der es feststeht, daß sie vollendbar ist. Gewiß lassen sich auf viele Arten aus ihren Elementen einige absondern, auswählen und zu einer neuen Reihe vereinigen. Diese ist dann in der ursprünglichen Reihe als Teil enthalten. Sie sei daher eine „Teilreihe" oder „Teilmenge" genannt. Für solche Reihen gilt nun der fundamentale Satz: Jede Teilreihe einer vollendbaren Reihe ist vollendbar. Einem Mathematiker gegenüber würde dieser Satz als eine Forderung, vielleicht sogar als Axiom aufgestellt werden, und man würde sich damit begnügen, die Berechtigung dieser Forderung dadurch zu stützen, daß man erweist, sie sei mit allen seinen mathematischen Ergebnissen verträglich, führe also innerhalb des ganzen Bezirks der Mathematik zu keinem Widerspruch. Bei philosophischen Betrachtungen dagegen ist es Pflicht, zu zeigen, auf welchen philosophischen Prinzipien die Gültigkeit des Satzes beruht.

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3. Der Begriff des Unvollendbar.

Wenden wir. der Deutlichkeit halber, den Satz auf die Progression an und begründen wir ihn zunächst für diesen speziellen Fall! Es sei eine unendliche Reihe ganzer Zahlen aufgeschrieben, unter denen keine Zahl beliebig oft vorkommt. Wie sie auch beschaffen sein mag, wir behaupten, sie sei begreifbar, vollendbar. Einer solchen Reihe läßt sich nämlich eine Zahl der stetigen Zahlenreihe zuordnen. Ordnet man die Reihe, so daß die kleinste ihr zugehörige Zahl vorne an steht, dann eine ihr gleiche oder die zweitkleinste folgt, und so fort, bezeichnet man sodann die so geordnete Reihe mit 9i, 92, 9a

(ohne Ende),

so ist die Zahl - +

9i

-

9i9t

+ ..—L_ 9i9t9z

+

(ohne Ende) '

eine irrationale Zahl, wie der Mathematiker leicht sieht. Und jede positive irrationale Zahl,* die kleiner als 1 ist, läßt sich umgekehrt auf diese Art in eine Reihe entwickeln, bestimmt also, wenn sie gegeben ist, die Reihe g l t gr2, g 3 . . . . . , ein unschwer zu beweisender mathematischer Satz. ließe sich nun eine Reihe dieser Art nicht begreifen, so wäre auch die entsprechende irrationale Zahl unbegreiflich. Mit einer solchen Erkenntnis aber könnten wir die Forschung nicht abschließen, sie würde uns sicherlich in Unruhe versetzen, wir würden nach weiterer Erklärung verlangen und fragen, welches denn jene Irrationalzahlen seien, die kein begreifliches Bildungsgesetz haben? Darauf müßte die Natur uns notgedrungen die Antwort schuldig bleiben — denn die Antwort auf unsre Frage würde letzten Endes jene Zahlen ja begreiflich machen. Nun aber haben wir erklärt, daß unser Erkennen durch keine absolute Schranke eingeengt ist. Wenn wir einen intellektuellen Notstand erfahren, so ist er behebbar. Die Voraussetzung, daß die Reihe g v g t , g 3 . . . unvollendbar sei, würde aber sicher zu einem Notstand führen, der für einen Mathematiker quälend, also durchaus real wäre. Die Voraussetzung, daß die betreffende Teilreihe dennoch unbegreiflich wäre, widerstreitet also dem Axiome der Begreifbarkeit und muß aufgegeben werden. Ebenso schließen wir allgemein. Ist eine Reihe vollendbar, so hat ein intelligentes Geschöpf, das hoch genug gezüchtet worden ist, Verständnis für ihr Gesetz. Kann es nun eine Teilreihe nicht begreifen, so ist dies Faktum fiir seine Intellektualität sicher nicht bedeutungslos, denn es will von den ihm bekannten Dingen jede Eigenheit, jeden Charakter erforschen. Es hat einen Anspruch, zu ergründen, welches der Charakter jener Teilreihen ist, die nicht vollendbar sind, und woran es zu erkennen vermag, daß eine Teilreihe unvollendbar sei. Zu diesem Zwecke müßte es auf die Teilreihe einen Prozeß anwenden und aus dem jedesmaligen Ergebnis dieses Prozesses schließen, diese Teilreihe ist vollendbar, jene unvollendbar. Aber auf eine untollendbaie Reihe ist überhaupt kein Prozeß anwendbar, denn ein Prozeß ist bloß auf eine gegebene Reihe anwendbar; wie aber sollte eine unbegreifliche Reihe gegeben sein können, außer stückweise, also unvollständig?

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Das Problem der Freiheit.

Alles vollständig Gegebene muß ja gewiß als eine Einheit, eine Gesamtheit begreiflich sein. Die Frage also nach dem Charakter jener Teilreihen, die unvoüendbar sind, obwohl sie sich aufdringen würde, wäre notgedrungen unlösbar. Und dies widerstreitet wiederum unserm Axiome der Begreiflichkeit. Also sind die Teilreihen einer vollendbaren Reihe vollendbar, und unsre erste These damit begründet. Jede vollendbare Reihe von Dingen ist einer vollendbaren Reihe von Zeichen äquivalent. Um dies einzusehen, muß man sich klar machen, was ein „Ding" ist. Es entstammt entweder der realen Welt oder dem Denken und ist somit entweder ein Realbegriff oder ein Gedankending. Die Realbegriffe nun sind immer an idealen Gegenständen gebildet und beziehn sich daher auf Zustände, die durch Zustandscharaktere und Maßzahlen bestimmbar sind. Die Zustandscharaktere sind entweder unabhängig voneinander oder durch Gleichungen verknüpft. In jedem Falle lassen sie sich durch Buchstaben, etwa «i, x t usw. ersetzen, die, soweit sie unabhängig sind, unabhängige Veränderliche bezeichnen, und soweit sie abhängig sind, denselben Gleichungen genügen wie ihre Vorbilder, die realen Charaktere. Denn damit ist ja nur eine andere Namengebung für die realen Charaktere eingeführt, ich schreibe etwa fy statt Elektrizitätsmenge, x2 für Masse und so weiter, und eine gute Namengebung konstituiert gewiß eine eindeutig-umkehrbare Zuordnung, d. h. eine Äquivalenz der beiden Reihen. — Die Gedankendinge andrerseits, da sie dem Denken entspringen, konstituieren Beziehungen, denen Grundformen, Kategorien, intuitiv erfaßte Begriffe zugrunde liegen. Wird eine Reihe solcher Dinge gebildet, so lassen sich die Grundformen wiederum durch irgendwelche,Zeichen ersetzen, was ja wiederum nur auf einen Wechsel des Namens hinausläuft. So wird die ursprünglich gegebne Reihe der Dinge umgeformt in eine äquivalente Reihe von Zeichen. Allerdings haben die Dinge dieser Reihe von Zeichen nicht mehr die lebendige Bedeutung wie die Dinge der ursprünglichen Reihe, und die letzteren werden, indem ich sie in Zeichen verwandle, gleichsam bloß gezählt, als wäre die gegebne Reihe der Dinge eine endliche, wobei ich tatsächlich auf die obige Art das Zählen ausführe. Indessen, indem ich eine Menge von Dingen nur als Menge, als eine einheitliche Sammlung, betrachte, will ich grade von ihrem Sinn und Inhalt und jeglicher Bezogenheit und Verflechtung abstrahieren und nur das herauslösen, was ihr als Menge, und nur in diesem Betracht, eigentümlich ist. Daß ich die Dinge durch Zeichen ersetze, erleichtert mir also grade den Prozeß der Abstraktion, den ich durchführen soll. Es fragt sich dabei nur noch, wie ich es denn machen kann, einer unendlichen Reihe von unabhängigen Dingen auf eine eindeutige Art Zeichen, die jedem der Dinge einen und nur einen Namen geben sollen, auf begreifliche Weise zuzuerkennen. Die Antwort ist: indem ich die vollendbare Menge von Dingen begreife, von den Beziehungen der Dinge sodann absehe und die Reihe zuletzt einem Teil einer Menge von Zahlzeichen zuordne. Dies alles sind ausführliche Operationen, wobei das Gebiet der vollendbaren

3. Der Begriff des Unvollendbar.

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Reihen nicht verlassen wird. Zahlzeichen aber haben eine Bedeutung, einen Charakter, der gestattet, eine endliche und sogar eine unendliche Menge von Dingen nach einer Regel, einer verständlichen Vorschrift, zu benennen. Schließlich also wird jede Menge von Dingen, die begreiflich, vollendbar ist, durch eine Bezeichnung, die sicherlich eine eindeutig-umkehrbare Beziehung ist, auf eine Reihe von Zeichen bezogen. Die Reihe der Zeichen, die einer Reihe von Dingen zugeordnet wird, ist keineswegs eindeutig bestimmt. Irgend eine andre äquivalente Reihe von Zeichen könnte zu diesem Zwecke ebenfalls benützt werden. Denn es gilt offenbar, daß zwei Reihen, die einer dritten äquivalent sind, auch einander äquivalent sind. Ist nämlich das Element a der ersten Reihe einem Element c der dritten Reihe zugeordnet, dieses dem Elemente b der zweiten Reihe, so sind damit a und b einander zugeordnet, und augenscheinlich eindeutig-umkehrbar, d. h. das a nur dem b, das b nur dem a. Diese Verhältnisse werden zwar von den Nicht-Mathematikern nicht theoretisch erkannt, jedoch vielfach praktisch benützt. Die Bücher einer Bibliothek werden geordnet, indem man sie durch Buchstaben und Zahlen bezeichnet. In einigen Ländern werden die Straßen einfach nach Zahlen benannt. Die Chemiker benennen ihre Stoffe durch Formeln, worin Buchstaben und Zahlen eine Rolle spielen. Und von gewissen Verbindungen, insbesondere denen der Kohle, bilden sie Reihen, die ohne Ende sind. Jedes Ding dieser Reihe ist eine Verbindung, die durch gewisse ganze Zahlen charakterisiert ist, die Reihe dieser Verbindungen ist daher der Progression äquivalente Allerdings sind nur eine endliche Zahl der Stoffe dieser Reihe dargestellt und untersucht worden, aber Chemiker der Zukunft werden vielleicht einmal das Gesetz der physiko-chemischen Eigenschaften aller Stoffe dieser der Progression äquivalenten Reihe entdecken. Die Physiker benennen die Charaktere, mit denen sie operieren, gewöhnlich durch Buchstaben. Mit p bezeichnen sie Druck, mit v ein Volumen, mit t die Zeit, und so fort, nach einem eingebürgerten Schema. Und sie nehmen es als selbstverständlich an, daß jedes physiko-chemische System sich durch eine Reibe von Charakteren müsse darstellen lassen. Die Notwendigkeit, mit unendlich viel Charakteren zu operieren, umgehn sie geschickt, indem sie mit Funktionen der Zeit rechnen. Jede Funktion der Zeit enthält eine Reihe von Charakteren, wie man bei Entwicklung der Funktion in eine „TAYLoitsche" oder „FouRiERsche" Reihe sieht, wobei eine unendliche Zahl von Koeffizienten auftritt, die einen ganzzahligen Index haben und voneinander unabhängig sind. Kurz, die Praxis des Lebens wie der Wissenschaft hat unsern obigen Satz über die Mengen benützt, ohne ihn indes in voller Allgemeinheit ausgesprochen und bestimmt präzisiert zu haben. Ein fernerer wichtiger Satz ist dieser: Eine v o l l e n d b a r e Menge von Dingen, von denen jedwedes eine vollendbare Menge i s t , ist vollendbar. Zum Beweise stelle man sich eine vollendbare Menge A vor. Sie bestehe nun aus Dingen, die selbst vollendbare Mengen sind. Dadurch wird

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also eine neue Menge gebildet, die Menge der verschiednen Mengen. Die letztere heiße C. Sie ist vollendbax dann und nur dann, wenn jedem ihrer Dinge auf eindeutige Art ein sinnvolles Zeichen zugeordnet werden kann. Greifen wir nun aus C ein Ding e heraus! Es gehört laut der Definition der Menge von Mengen zu einer der Mengen, die in A enthalten sind, z. B. zu derjenigen, die wir B nennen wollen, und hat in B eine gewisse Bezeichnung, z. B. b. Zudem hat die Menge B in A eine Bezeichnung, z. B. a. Bezeichnen wir, was wir ja dürfen, e mit ab, so ist c eindeutig gezeichnet, denn a deutet sinnvoll und eindeutig auf eine Stelle in der Menge der Mengen A, nämlich jene Stelle, wo grade die Menge B steht, und b deutet sinnvoll und eindeutig auf eine Stelle in B, nämlich jene, wo grade c steht. Das Zeichen ab ist sinnvoll und eindeutig und auf diese Art ist jedes Ding in C charakteristisch zu benennen und seine Stelle eindeutig auffindbar. Also ist C vollendbar. Die folgende Anwendung dieses Satzes ist für Jene von Wert, die lieber anschaulich als logisch überlegen. In der Betrachtung der Natur greift man oft zum Hilfsmittel der Koordinatensysteme. Beim idealen Gegenstande heißen die Koordinaten nach unsrer oben eingeführten Terminologie Zubtandscharaktere (in der Physik Zustandsgrößen). Diese Zustandscharaktere sind stetige Reihen, laut dem Prinzipe der Stetigkeit. Ein idealer Gegenstand hat nun eine Menge von Zustandscharakteren; wie groß diese Menge sei, steht nicht von vornherein fest, sie muß aber jedenfalls vollendbar sein, weil ein idealer Gegenstand ja begreiflich sein muß. Irgend eine Kombination von möglichen Werten der Zustandscharaktere bezeichnet einen möglichen Zustand des Gegenstandes. Die Menge aller möglichen Zustände des Gegenstandes erweist sich nach dem oben abgeleiteten Satze als vollendbar. weil diese Menge ja hervorgeht aus der vollendbare 11 Menge aller Zustandscharaktere, innerhalb deren jedes Ding, nämlich jeder Zustandscharakter, eine stetige, also vollendbare Reihe durchläuft. Geht man noch weiter und zieht auch die Zeit in die Betrachtung, so erweist sich auch die Menge aller möglichen Änderungen des Gegenstandes als vollendbax; denn man braucht ja nur jedem Zeitpunkt einen möglichen Zustand des Gegenstandes zuzuordnen und erhält so eine eindeutige Bezeichnung für jede nur denkbare Reihe von Änderungen, denen der Gegenstand unterworfen werden mag. Ein räumlich-anschauliches Bild von den möglichen Änderungen des Gegenstandes wird wie folgt entworfen. Man stelle sich Raum vor, aber nicht von drei Dimensionen, sondern von jener Menge von Dimensionen, die den Zustandscharakteren des Gegenstands entspricht. Zu diesem Zwecke genügt eine verschwommene Vorstellung von Räumlichem zusammen mit dem Begriffe der vollendbaren Menge von Zustandscharakteren. Ein Punkt dieses Zustandsraumes stellt dann bildlich einen möglichen Zustand des Gegenstandes dar, und eine stetige Linie jenes Raumes ist das Diagramm für eine stetige Reihe von Veränderungen des Gegenstandes — sagen wir, für eine „Bahn" des Gegenstandes. Unsre obigen Thesen, in der geometrischen

3. Der Begriff des Unvollendbar.

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Weise ausgesprochen, besagen dann, daß die Reihe der Punkte ebenso wie die Mannigfaltigkeit aller Bahnen jenes Raumes vollendbar sind. Für den mathematisch geschulten Leser wird es nun hinlänglich klar sein, daß man unschwer eine ganze Reihe von Lehrsätzen, wo nicht eine ganze Theorie, über die vollendbaren Mengen entwickeln könnte. Es würde dies um so leichter sein, als eine Theorie der Mengen schon seit etwa vierzig Jahren vorliegt. Nach BOLZANOS tastenden Versuchen hat GEORG CANTOR dazu den kräftigen Anstoß gegeben. Er hat in genialer Weise jene Begriffe konstruiert, welche im Mittelpunkte der Mengenlehre stehn. Und wenn auch CANTOR die Symbole der Mengenlehre leider als Unendliche oder Überendliche aufgefaßt hat, anstatt, wie es naturgemäß ist, in ihnen Arten der Registrierung, Rubrizierung, Bezeichnung zu sehn, wenn daher auch dit neue Wissenschaft unnötigerweise manche Krisen erlitten hat, so hat sie doch bereits Tausende von Forschern angezogen, eine mächtige Literatur erzeugt, und ist bestimmt, lebendig zu werden. Der Begriff des Yollendbar scheint ein neuer zu sein; indessen ist es schwer, historische Behauptungen Mar zu erweisen; CANTORS Begriff des Konsistent, ZERMELOS Begriff des Definit sind sicherlich mit unserm Vollendbar nahe verwandt; auf jeden Fall aber harrt die Aufgabe, die historisch gegebene Mengenlehre mit dem Vollendbar-Begriff innig verwachsen zu lassen, noch ihrer Lösung. Und es steht zu erwarten, daß die Lösung dieser Aufgabe die mathematische Theorie reich befruchten werde. Für die unmittelbaren Zwecke unsrer Untersuchung aber steht nicht die zukünftige Entwicklung der Mengenlehre in Frage, sondern ist hauptsächlich das Gegenstück zum Vollendbar, das Unvollendbar, von Belang. Tst der Begriff des Unvollendbar eindeutig und scharf bestimmt? Gibt es Mengen, die nicht vollendbar sind? In welchem Sinne darf man sagen, daß es solche Mengen „gibt"? Das sind die Fragen, die uns unmittelbar und vornehmlich interessieren müssen. Um zur Antwort zu gelangen, wollen wir'zunächst einen CANTOR sehen Begriff, den der Mächtigkeit, analysieren. Für den Begriff der Mächtigkeit einer Menge sind wir vorbereitet durch den Begriff der Zahl, oder Anzahl, einer endlichen Menge. Zwei endliche Mengen, die einander äquivalent sind, haben dasjenige miteinander gemein, das Anzahl der Dinge jeder dieser Mengen heißt. Zwei unendliche äquivalente Mengen haben auch ein Gemeinsames. Dieses, was allen einer bestimmten Menge M äquivalenten Mengen gemeinsam ist, die Invariante der Gruppe aller zu M äquivalenten Mengen, wird die Mächtigkeit von M genannt. Im Augenblicke, wo ich die Dinge einer Menge bloß auf ihre Bezeichnung, ihre Bezeichenbarkeit hin untersuche, abstrahiere ich von allen Eigenschaften der Dinge und betrachte so an der Menge nur deren Mächtigkeit. Zwar weiß ich von dieser Mächtigkeit nur, daß äquivalente Mengen die nämliche Mächtigkeit haben, aber dieses Wissen genügt. Denn ich kann nun die Menge von Dingen durch eine äquivalente Menge von Zeichen ersetzen, betrete damit

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Das Problem der Freiheit.

das der Mathematik eigentümliche Gebiet und definiere den Begriff der Mächtigkeit auf rein mathematische Art, d. h. als ein bloßes Zeichen. Der Sinn dieses Zeichens ergibt sich mit aller Deutlichkeit daraus, daß es Funktion einer Menge ist und für alle einander äquivalenten Mengen denselben eindeutig bestimmten Sinn und Wert hat. Beispielsweise ist 7 das Zeichen der Mächtigkeit aller Mengen, die der Menge 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7 äquivalent sind. Und nenne ich etwa fl die Mächtigkeit der Progression 1, 2, 3

in infinitum,

so ist dieses selbe Zeichen a auch die Mächtigkeit aller der Mengen, welche der Progression äquivalent oder, wie man sagt, ,,abzählbar" sind. Mit diesen Zeichen, welche Mächtigkeit vorstellen, kann ich nun zu rechnen versuchen. Eine solche Rechnung ist weiter nichts als eine Verknüpfung von Zeichen, wobei die Verknüpfungen einen Sinn haben, der sich wiederum durch Zeichen ausdrückt und sich so kontrollieren läßt. Beispielsweise, wenn a und b Mächtigkeiten sind, so bedeutet a = b, daß a und b die nämliche Mächtigkeit darstellen. Und damit ist das Gleichheitszeichen, = , für die Rechnung mit Mächtigkeiten definiert. Es ist leicht, zu zeigen, daß auch bei dieser Interpretation das Zeichen = die Eigenschaft hat, daß a = b und a = c nach sich zieht b = c. Sind also etwa a, b, c die Mächtigkeiten dreier Mengen A, B, C, und sind B sowohl wie C dem A äquivalent, so findet sich o = b, a = c, also b = c, und B äquivalent C. Ferner aber kann man noch andre Verknüpfungen an den Mächtigkeiten definieren. Man kann ja an Mengen gewisse Konstruktionen ausführen, z. B. aus einer Menge Teilmengen herausheben, oder verschiedne Mengen zu einer einzigen vereinen, um so Mengen von Mengen zu bilden, auch solche Operationen wiederholt durchführen und nun diese Menge betrachten, dann wiederum jene Menge von Dingen bestimmen, welche in verschiednen Mengen zugleich vorkommt, und alle diese Operationen ließen sich in geeigneter Weise auf Mächtigkeiten übertragen. Die Rechnung mit Mächtigkeiten wird dann weiter nichts als ein Ausdruck, ein Zeichen, für Operationen an Mengen, und die Logik der Rechnung mit Mächtigkeiten nur ein Abbild der Logik, welche den Operationen mit Vielheiten oder Klassen oder Inbegriffen oder Mengen innewohnt, übersetzt in eine Sprache von Zeichen, eine Art Stenographie. Die Rechnung mit Mächtigkeiten hat demnach nichts Geheimnisvolles an sich. Es handelt sich hierbei gar nicht um das Begreifen der Unendlichkeit, oder etwa, wie HEGEL es wollte, einen Unterschied zwischen schlechten und dem währen Unendlich. Sie ist nicht etwa eine Rechnung mit unendlichen Zahlen, wie sie auch von Mathematikern mißverstanden worden ist, sondern eine solche mit Arten der Bezeichnung. Daß ich z.B. die Punkte

3. Der Begriff des Unvollendbar