Die Philosophie der Stoa: Logik, Physik und Ethik 9783534269754, 9783534743674, 9783534743681, 3534269756

Die Stoa zählt zu den wichtigsten philosophischen Schulen der Antike. Ihr kommt aber nicht nur eine historisch-geistesge

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German Pages 357 [359] Year 2018

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Title
Impressum
Inhaltsverzeichnis
Abkürzungsverzeichnis
Vorwort
I Die Geschichte der Schule
1. Zenon aus Kition
2. Kleanthes aus Assos
3. Chrysipp aus Soloi
4. Panaitios aus Rhodos
5. Poseidonios aus Apameia:
6. Die Stoa der römischen Kaiserzeit
II Die stoische Logik
1. Die Logik im Rahmen des Systems
2. Dialektik und Rhetorik; Phonetik, Grammatik, Semantik
3. Das Sagbare (lekton)
4. Die Aussage (axiōma)
5. Die Arten von Aussagen
6. Nicht-einfache Aussagen
7. Logik als Theorie und Kunst der Argumentation
8. Syllogismen im eigentlichen Sinn
9. Aristotelischer und stoischer Syllogismus
10. Komplexe Syllogismen
11. Die stoische Modallogik
12. Die Fähigkeit der Erkenntnis
13. Wahrnehmung und Begriff
14. Erkenntnis und Meinung
III Die stoische Physik
1. Pantheismus
2. Ontologie und Kosmologie
3. Die sogenannten Kategorien
4. Prinzipien und Elemente
5. Das Pneuma
6. Die Ursachen, das Fatum, die Vorsehung
7. Weltzyklus, Weltverbrennung
8. Die Theologie
8.1 Die Gottesbeweise
8.2 Kleanthes’ Hymnus an Zeus
IV Die stoische Ethik
1. Die Oikeiosislehre
2. Die Lehre vom Ziel: Das Gute und das Vorgezogene
2.1 Die Lehre vom Ziel
2.2 Das Gute (to agathon) und das Vorgezogene (to prohēgmenon)
2.3 Die Theorie des Guten (agathon)
3. Tugend und passendes Verhalten
3.1 Zum Begriff der Tugend
3.2 Die eine Tugend und die vielen Tugenden
3.3 Tugendhaftes Handeln (katorthōma) und passendes Verhalten (kathêkon)
3.4 Das Ideal des Weisen
4. Die Theorie der Affekte
4.1 Die Bestimmung des Affekts
4.2 Die Affektenlehre im Kontext: Platon und Aristoteles
4.3 Physisches Empfinden und Affekt
4.4 Die Klassifikation der Affekte und Gefühle
4.5 Poseidonios’ Revision der Lehre?
5. Die stoische Theorie des Politischen
5.1 Zenons Politeia: Die Gemeinschaft von Weisen
5.2 Das gemeinsame Gesetz: Die Bürgerschaft von Göttern und Menschen
5.3 Ideale Theorie und ‚normale‘ Praxis
6. Literaturverzeichnis
Textausgaben, Übersetzungen, Kommentare
Werk- und Fragmentausgaben und Kommentare von einzelnen Autoren
Sekundärliteratur
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Die Philosophie der Stoa: Logik, Physik und Ethik
 9783534269754, 9783534743674, 9783534743681, 3534269756

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Maximilian Forschner

Die Philosophie der Stoa Logik, Physik und Ethik

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. © 2018 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht. Satz: primustype Hurler GmbH, Notzingen Umschlaggestaltung: Peter Lohse, Heppenheim Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-534-26975-4 Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): 978-3-534-74367-4 eBook (epub): 978-3-534-74368-1

Inhaltsverzeichnis Abkürzungsverzeichnis Vorwort

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I

Die 1. 2. 3. 4. 5. 6.

Geschichte der Schule Zenon aus Kition Kleanthes aus Assos Chrysipp aus Soloi Panaitios aus Rhodos Poseidonios aus Apameia: Die Stoa der römischen Kaiserzeit

14 16 18 22 25 29

II

Die 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14.

stoische Logik Die Logik im Rahmen des Systems Dialektik und Rhetorik; Phonetik, Grammatik, Semantik Das Sagbare (lekton) Die Aussage (axiōma) Die Arten von Aussagen Nicht-einfache Aussagen Logik als Theorie und Kunst der Argumentation Syllogismen im eigentlichen Sinn Aristotelischer und stoischer Syllogismus Komplexe Syllogismen Die stoische Modallogik Die Fähigkeit der Erkenntnis Wahrnehmung und Begriff Erkenntnis und Meinung

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III Die 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.

stoische Physik Pantheismus Ontologie und Kosmologie Die sogenannten Kategorien Prinzipien und Elemente Das Pneuma Die Ursachen, das Fatum, die Vorsehung Weltzyklus, Weltverbrennung Die Theologie 8.1 Die Gottesbeweise 8.2 Kleanthes’ Hymnus an Zeus

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Inhaltsverzeichnis IV Die stoische Ethik 1. Die Oikeiosislehre 2. Die Lehre vom Ziel: Das Gute und das Vorgezogene 2.1 Die Lehre vom Ziel 2.2 Das Gute (to agathon) und das Vorgezogene (to prohēgmenon) 2.3 Die Theorie des Guten (agathon) 3. Tugend und passendes Verhalten 3.1 Zum Begriff der Tugend 3.2 Die eine Tugend und die vielen Tugenden 3.3 Tugendhaftes Handeln (katorthōma) und passendes Verhalten (kathêkon) 3.4 Das Ideal des Weisen 4. Die Theorie der Affekte 4.1 Die Bestimmung des Affekts 4.2 Die Affektenlehre im Kontext: Platon und Aristoteles 4.3 Physisches Empfinden und Affekt 4.4 Die Klassifikation der Affekte und Gefühle 4.5 Poseidonios’ Revision der Lehre? 5. Die stoische Theorie des Politischen 5.1 Zenons Politeia: Die Gemeinschaft von Weisen 5.2 Das gemeinsame Gesetz: Die Bürgerschaft von Göttern und Menschen 5.3 Ideale Theorie und ‚normale‘ Praxis 6. Literaturverzeichnis Textausgaben, Übersetzungen, Kommentare Werk- und Fragmentausgaben und Kommentare von einzelnen Autoren Sekundärliteratur Register

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Abkürzungsverzeichnis SVF = Stoicorum Veterum Fragmenta. Collegit Joannes ab Arnim, 3 Bde., Leipzig 1903-1905. Bd. 4 Register, erstellt von Maximilian Adler, Leipzig 1924, Nachdr. der 4 Bde., Stuttgart 1968. LS = Antony Arthur Long & David N. Sedley, The Hellenistic Philosophers, 2 vols., Cambridge 1987. Vol. 1: Translations of the Principal Sources with Philosophical Commentary. Vol. 2: Greek and Latin Texts with Bibliography. FDS = Karlheinz Hülser, Fragmente zur Dialektik der Stoiker. Neue Sammlung der Texte mit deutscher Übersetzung und Kommentaren, 4 Bde., Stuttgart-Bad Cannstatt 1987-1988. van Straaten = Panaetii Rhodii fragmenta. Collegit tertioque edidit Modestus van Straaten, Leiden 1962. EK = Posidonius: The Fragments. Ed. by Ludwig Edelstein and Ian Kidd, Cambridge 1972. Cicero, ND = Cicero, De natura deorum. DL = Diogenes Laertius: Leben und Meinungen berühmter Philosophen. Buch I-X. SE PH = Sextus Empiricus, Grundriß der pyrrhonischen Skepsis. SE AM = Sextus Empiricus, Gegen die Mathematiker. Galen PHP = Galen, De Placitis Hippocratis et Platonis. Aristoteles, NE = Aristoteles, Nikomachische Ethik. Weitere Abkürzungen sollten aus sich selbst verständlich sein. Alle griechischen und lateinischen Texte und Wendungen sind, soweit nicht anders vermerkt, vom Autor übersetzt.

Vorwort Epameroi· ti de tis; ti d’ ou tis; skiâs onar anthrōpos, Pindar, Ode VIII, 95. ... ipse autem homo ortus est ad mundum contemplandum et imitandum – nullo modo perfectus, sed quaedam particula perfecti, Cicero, ND II, 37.

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ie Stoa war eine der bedeutendsten philosophischen Schulen der Antike. Sie übte vom dritten vorchristlichen bis zum zweiten nachchristlichen Jahrhundert einen überragenden geistigen Einfluss auf die Welt des Hellenismus, der späten römischen Republik und des frühen Kaisertums aus. Auch die ersten christlichen Autoren konnten sich ihm in der Formulierung ihrer Botschaft und im Für und Wider des philosophischen und religiös-theologischen Diskurses nicht entziehen. Sie wirkte über das Mittelalter, verstärkt über Renaissance, Frühe Neuzeit und Aufklärung bis in die Moderne weiter, und dies, obwohl so gut wie alle Originalschriften der ersten drei Jahrhunderte verlorengegangen waren,1 und nur wenige stoische Texte eher popularphilosophischen Inhalts aus der späteren Phase der Schule den Zerfall des Imperium Romanum überdauert hatten. Sie entfaltete auf verzweigten, zum Teil recht unübersichtlichen Wegen, in mannigfachen Brechungen und Transformationen nicht nur auf den zentralen Gebieten der Sprachphilosophie und Logik, der Naturphilosophie und Theologie, der Ethik und Politik ihre Wirkung. Sie drückte namentlich seit der Wiedererweckung der antiken Kultur in Renaissance, Humanismus und Aufklärung ihre Spuren in die Werke der Literatur und Kunst, aber auch in die Projekte, Überlegungen und Entscheidungen der praktischen Politik. Wie neuere Publikationen eindrucksvoll belegen, ist das Interesse an der durchdringenden Wirkung der stoischen Philosophie in der abendländischen Geistesgeschichte ungebrochen.2 Mit dem Wort „stoisch“ verbinden wir heute Vorstellungen von Seelenstärke, Gefühlskontrolle und Schicksalsergebenheit. In der philosophischen und theologischen Ethik ebenso wie in der (kognitiven) Psychologie der Gegenwart finden Versuche Verbreitung und Zuspruch, die Philosophie der Stoa für die Anweisung und Einübung in eine aktuelle Lebenskunst fruchtbar zu machen.3 Dies hat insofern seine plausible Erklärung und Berechtigung, als die Stoiker selbst in ihrer Philosophie eine Kunst zu leben begründet sahen, und ohnehin aller Beschäftigung mit philosophischen Entwürfen der Vergangenheit auch ein Interesse daran innewohnt bzw. innewohnen sollte, was diese uns heute noch zu sagen haben. Dabei verwundert es nicht, dass die antike Vorstellung von Philosophie als Lebensform, die sich in Theorie und Praxis ausdrückt, in Zeiten wie unseren, die verstärkt nach Orientierung und Lebenshilfe verlangen, wieder an Attraktivität gewinnt.

1 vgl. dazu Gourinat 2005b, 13-28. 2 vgl. etwa Strange, Zupko (eds.) 2004; Neymeyr, Schmidt, Zimmermann (Hrsg.), 2 Bde. 2008. 3 vgl. etwa Pies 2008, Irvine 2009, Sellars 22009, Robertson 2013, Ernst (Hg.) 2016.

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Vorwort Eine direkte Umsetzung der stoischen Philosopie in unsere Alltagspraxis dürfte allerdings aus verschiedenen Gründen schwierig sein. Setzt die Praxis stoischer Lebenskunst doch einerseits ein Weltbild und Selbstverständnis voraus, das den meisten von uns etwas fremd erscheinen mag. Und fordert sie doch andererseits eine Einstellung zu den verlierbaren Gütern des Lebens, die so gut wie all dem widerspricht, was der globale Markt der vorherrschenden Gegenwartskultur an vermeintlich Notwendigem, Befriedigendem und Beglückendem anbietet. Zudem lastet auf ihr seit den Anfängen des Christentums die Diagnose, dass ihr praktisches Ideal der Weisheit den Menschen überfordert bzw. Ausdruck eines Stolzes ist, der in den Augen Gottes als überhebliche Torheit zu gelten hat.4 Jedenfalls dürfte auch vielen Heutigen, die zwar der christlich-eschatologischen Gnaden- und Erlösungsbotschaft fernstehen, den armen, leidenden und irrenden Menschen in diesem Leben aber in vielfacher Hinsicht als hilfs-, stützungs- und betreuungsbedürftig betrachten, die stoische Anforderung an geistig-charakterliche Selbstbildung als zu hart und abwegig, wenn nicht gar an die Grenze des Inhumanen rührend erscheinen. In der neueren Stoaforschung findet allmählich die Einsicht allgemeine Zustimmung, dass die Philosophie der Stoa in der (naturphilosophisch-pantheistischen) Theologie ihre geistige Mitte hat.5 Der Antike war dies, wie Plutarch es für Chrysipp nolens volens bezeugt,6 noch selbstverständlich. Die Theologie stützt ihren Gedanken einer kausal vollkommen vernetzten und teleologisch durchgeordneten Welt. Sie stützt das Vertrauen des Stoikers, als kleiner und doch privilegierter Teil des der Welt immanenten göttlichen Geistes durch dessen umfassende Vorsehung gefordert und geborgen zu sein. Sie stützt sein Vertrauen, dass alles Schlechte von der göttlichen Weltverwaltung letztlich in ein sinnvolles Gesamtgeschehen integriert ist oder wird. Dieses fundamentale Vertrauen setzt seine zuversichtliche Aktivität in der Welt frei und gibt ihm zugleich die völlige Gelassenheit gegenüber dem Erfolg oder Misserfolg seines Bemühens. Es motiviert seinen Versuch, über Sprachphilosophie, Logik und Erkenntnistheorie die Leistungsfähigkeit des menschlichen Geistes zu ergründen, die göttlichen Ordnungsmuster und Zeichen der Natur zu erforschen, und in Theorie und Praxis die Wirksamkeit des göttlichen Geistes in seiner Person und ihrem Leben darzustellen. Die stoische Philosophie als aktuelle Lebenskunst direkt fruchtbar zu machen, setzte voraus, dass die Grundzüge einer pantheistischen Weltsicht mit dem entsprechenden anthropologischen Selbstverständnis revitalisierbar sind. Die stoische Theologie war Teil einer weitgehend spekulativen Naturphilosophie, die freilich den Kontakt zur Naturwissenschaft ihrer Zeit nicht scheute, ja, in der Person des Poseidonios selbst auf breiter Ebene empirisch wissenschaftlich tätig war. Eine Wiederbelebung stoischer Philosophie und Lebensweise müsste jedenfalls der Möglichkeit entsprechen, die gesicherten Erkenntnisse unserer gegenwärtigen Naturwissenschaften mit einer pantheistischen Weltsicht in Einklang zu bringen. Man mag da4 vgl. Paulus, 1 Kor. 1, 18-31. 5 vgl. Forschner (1981) 21995, 245-261; D. Frede 2002, 112 ff.; Inwood 2002, 120; M. Frede 2005, 213; Dienstbeck 2015. 6 vgl. Stoic. rep. 1035 A-F.

Vorwort ran zweifeln oder darauf setzen, dass dies der Theorie und dem Lebensgefühl nach (noch oder wieder) möglich ist. Wie dem auch sei. Die Philosophie der Stoa verdient auch unabhängig davon unsere Aufmerksamkeit. Zunächst sollte ja auch allemal ein rein historisches Interesse für eine Philosophie und geistige Bewegung gerechtfertigt sein, die in der abendländischen Geschichte eine so bedeutende und nachhaltige Rolle gespielt hat. Ferner bieten viele ihrer Lehrstücke noch ganz umstandslos hochaktuelle Grundlagen systematischer philosophischer Diskussion, wie etwa zu Themen über Schicksal und Verantwortung, Determinismus und Willensfreiheit, Glück und menschliches Elend, natürliche und moralische Entwicklung, Emotionalität, Affektkontrolle oder Affektfreiheit, Naturverhältnis und Kulturkritik, Naturgesetz und praktisches Gesetz, Norm- und Situationsgerechtigkeit, Gottesbeweise und Theodizee, und, nicht zuletzt über Sprachphilosophie, Logik und Erkenntnistheorie. Sehr viele Beiträge gegenwärtiger philologisch-philosophischer Stoa-Forschung sind denn auch von systematischen Fragen und Gesichtspunkten und vorherrschender analytischer Methodik geleitet. Die Philosophie der Stoa lässt sich nur noch umrisshaft und in groben Zügen rekonstruieren. Nach dem Verlust der Originaltexte der frühen und mittleren Schulphase sind wir auf verstreute fragmentarische Zitate und auf doxographische Berichte und Auseinandersetzungen verwiesen. Die heute verfügbaren, durchaus verdienstvollen Fragmentsammlungen (und ihre Übersetzungen) bringen ihre eigenen methodischen Probleme der Identifikation, Selektion, Gewichtung und Anordnung mit sich.7 Den Originalzitaten fehlt allemal der ursprüngliche Textzusammenhang und nicht selten die Gewähr ihrer tatsächlich originalen Form. Die Zuverlässigkeit der doxographischen Berichte hängt ab von der Einstellung, der Intention und sachlichen Kompetenz des Autors. Vieles, was wir von der stoischen Philosophie wissen oder zu wissen meinen, stammt von Autoren, die sich einer konkurrierenden philosophischen Richtung verpflichtet fühlen oder gar gegen stoische Gedanken polemisieren. Man muss damit rechnen, dass ihre Berichte, Zusammenfassungen und Verarbeitungen die stoische Lehre verkürzen, einseitig darstellen und verformen. Das gilt in unterschiedlichem Maß von so gewichtigen Zeugen wie Plutarch, Galen, Sextus Empiricus, Alexander von Aphrodisias oder Clemens von Alexandrien. Ian Kidd hat etwa im Fall der Schrift De stoicorum repugnantiis für einige Stellen beispielhaft nachgewiesen, wie Plutarch hier Zitate aus stoischen Quellen für seine polemischen Zwecke manipuliert.8 Die breit gefächerte und intensive Forschung der letzten Jahrzehnte hat Eminentes zur Klärung und Differenzierung des Bildes der stoischen Philosophie beigetragen. Die vorliegende Abhandlung versucht, auf der Basis einer kritischen Sichtung dieser Forschung die über die ersten Jahrhunderte weitgehend im schulischen Konsens, zum Teil freilich auch kontrovers erarbeitete und vertretene stoische Doktrin in Logik, Physik und Ethik nachzuzeichnen. Dabei leitet mich die Überzeugung, 7 vgl. dazu Most (ed.) 1997; Burkert, Gemelli, Matelli and Orelli (eds.) 1998. 8 Kidd 1998, 288-302.

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Vorwort dass, auch wenn das Primärmaterial fragmentarisch ist und die doxographischen Berichte teilweise die authentische stoische Lehre verzerren, gleichwohl die Grenze zwischen sorgfältiger Interpretation und eigenmächtiger Rekonstruktion zu wahren möglich ist. Natürlich bleibt auch meine Darstellung von der gewaltigen Menge des Stoffes und der Begrenztheit der eigenen Perspektive und Kenntnisse nicht unbeeinträchtigt. Zum Ausgleich ist dem Text ein umfassendes und differenziertes Literaturverzeichnis beigefügt, das dem Leser den gegenwärtigen Stand der Stoa-Forschung bibliographisch dokumentiert und ihm anhand der Titel eine Hilfe für weiteres Studium bieten soll. Das einleitende Kapitel über die Geschichte der Schule ist bewusst kurz gehalten. Wer über sie und die noch fassbaren biographischen Details ihrer Vertreter mehr erfahren möchte, sei auf die eingehendere Darstellung von Peter Steinmetz 1994 und die ausführlichen Personenartikel des ‚Alten Pauly‘ verwiesen. Die Kollegen Christian Thiel und Gerhard Ernst haben Teile, Severin Koster hat das gesamte Manuskript gelesen. Ihnen sei herzlich für ihre wertvollen Hinweise gedankt. Gewidmet ist das Buch meiner Familie. Marloffstein/Erlangen im September 2017

I Die Geschichte der Schule

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ie Stoa gehört neben der Schule Platons (der Akademie), Aristoteles’ (dem Peripatos) und Epikurs (dem Kepos) zu den bedeutendsten philosophischen Schulen des Hellenismus. Ihre Anfänge gehen in die Zeit um 300 vor Christus zurück. Ihr Begründer ist Zenon aus Kition (dem heutigen Larnaka auf Zypern). Den Namen erhielt sie von der stoa poikilē, einer von Polygnot mit mythologischen Motiven bunt bemalten Säulenhalle am Markt von Athen, einem öffentlichen Gebäude, in dem Zenon zu lehren begann und sich mit seinen Hörern und Schülern traf.1 Zenon, seiner Abstammung nach wohl ein Phönikier,2 war kein Bürger Athens. Ja, er lehnte ebenso wie sein Nachfolger Kleanthes das ihm angebotene Bürgerrecht ab, „um seiner Heimatstadt nicht Unrecht zu tun“.3 Er konnte deshalb in Athen auch kein Grundstück erwerben und seine philosophische Schule rechtlich, wie dort üblich, nach Art eines religiösen Kultvereins konstituieren. Wie die Schule organisiert war, wissen wir nicht. Zwar bildete sich eine Tradition heraus, nach der Kleanthes, Chrysipp etc. als Oberhäupter bzw. Leiter der Schule galten. Doch allem Anschein nach war die Bindung und der Zusammenhalt in ihr weniger eng als etwa in der Akademie oder im Kepos.4 „Wir Stoiker“, so später Seneca, „werden nicht von einem König regiert; ein jeder steht für sich selbst ein“.5 Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts unterscheidet man zwischen alter, mittlerer und später bzw. kaiserzeitlicher Stoa. Zu den großen bzw. heute bekannten Figuren der alten Stoa zählen Zenon, Kleanthes und Chrysipp, zu denen der mittleren Panaitios und Poseidonios, zu denen der späten Stoa Seneca, Epiktet und Marc Aurel. Die Gliederung in die drei Phasen der Schulgeschichte ist etwas problematisch, da sich zwar gedankliche Eigenheiten einzelner Autoren, nicht aber eindeutige Zäsuren oder markante Entwicklungsschritte bezüglich des philosophischen Systems feststellen lassen, zumal sämtliche Originalschriften der hellenistischen, also der frühen und mittleren Phase verloren gegangen sind und die Autoren der Kaiserzeit sich verstärkt auf die Gründerfiguren zurückbezogen. Gleichwohl bedeutet die Wende des Blicks von Griechenland nach Rom im 2. vorchristlichen Jahrhundert ohne Zweifel eine gewisse Veränderung der praktischen Philosophie. Als sicher kann gelten, dass Chrysipp als drittes Schuloberhaupt eine überragende Rolle in der syste-

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vgl. DL VII, 5. vgl. DL VII, 1; 3; 15; 25. Plutarch Stoic. rep. 1034 A; vgl. DL VII, 12; 29. vgl. von Fritz 1972, 86 f. Ep. 33, 4.

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I Die Geschichte der Schule matischen Ausdifferenzierung und argumentativen Absicherung der stoischen Philosophie (vor allem gegenüber skeptischer Kritik) gespielt und durch seine gedankliche Leistung in gewisser Weise kanonisch gewirkt hat.6 Noch im 1. und 2. nachchristlichen Jahrhundert dienen seine Schriften als Grundlage der schulischen Unterweisung in stoischer Philosophie. Und „wer in dieser Zeit die stoische Schule als solche bekämpft, wie Plutarch, Galen, Alexander von Aphrodisias, pflegt seine Polemik in erster Linie gegen Chrysipp zu richten. Auch das Wissen von stoischer Philosophie, welches in dieser Zeit Gemeingut aller Gebildeten ist, bezieht sich im Wesentlichen auf die Chrysippsche Form der Lehre“.7 Doch seine Autorität im Rahmen der Schule war nie so, dass eine Kritik an einzelnen Stücken seiner Lehre und Abweichungen von ihr als unangebracht oder gar verpönt gegolten hätten. Und innerhalb wie außerhalb der Schule blieb Chrysipp keineswegs die einzige Autorität, auf die man sich zu berufen pflegte; Zenon, Ariston, Kleanthes, Panaitios, Poseidonios blieben neben ihm durchaus prominent.8

1. Zenon aus Kition Was das Leben des Schulgründers Zenon betrifft, so verfügen wir neben zahlreichen ‚sprechenden‘ Anekdoten über nur sehr wenige zuverlässige Informationen.9 Diogenes Laertius, der sich auf verschiedene Biographen stützt,10 überliefert den Wortlaut des Dekrets, mit dem das Volk von Athen unter dem Archontat von Arrhenides beschloss, „Zenon von Kition, den Sohn des Mnaseas . . . mit einem goldenen Kranz dem Gesetz gemäß zu bekränzen . . . und ihm auf dem Kerameikos auf öffentliche Kosten ein Grabmal zu errichten“.11 Die Begründung hebt hervor, dass er „viele Jahre um der Philosophie willen in der Stadt gelebt und in allem Übrigen sich beständig als rechtschaffener Mann (anēr agathos) erwiesen und die jungen Menschen, die der Bildung wegen zu ihm kamen, zur Tugend und Besonnenheit (ep’ aretēn kai sōphrosynēn) aufgefordert und zum Besten ermuntert habe, wobei er allen das eigene Leben zum Vorbild machte, da es konsequent dem entsprach, was er lehrte“.12 Von seiner Besonnenheit ist denn auch in einem von Antipater von Sidon verfassten Grabepigramm die Rede.13 Arrhenides bekleidete 262/61 das Amt des Archonten.14 Damit steht mit einiger Sicherheit die Zeit des Todes Zenons fest. Als historisch glaubwürdig bietet sich auch die Nachricht des Schülers Persaios an, Zenon sei als 22jähriger nach Athen gekommen und im Alter von 72 Jahren dort gestorben.15 6 vgl. DL VII, 183. 7 von Arnim 1899, 2506. 8 vgl. Cicero De fin. I, 6; Seneca Ep. 108, 36–38; Kidd 2002, 355. 9 vgl. SVF I, 1–44. 10 vgl. dazu v. a. Hahm 1992b. 11 DL VII, 11. 12 DL VII, 10 = SVF I, 7–8. 13 DL VII, 29. 14 vgl. von Fritz 1972, 83. 15 DL VII, 28 = SVF I, 458.

1. Zenon aus Kition Seine Geburt wäre also für das Jahr 333/32 anzusetzen. Er entstammte einer wohlhabenden Kaufmannsfamilie,16 ging zunächst vermutlich selbst Handelsgeschäften nach,17 ehe er sich ganz der Philosophie widmete. Seine körperliche Konstitution und sein Äußeres wird von der biographischen Tradition als etwas verwachsen, hager (ischnos), leidlich groß (hypomēkēs), dunkelhäutig (melanchrous), eher weich (apagēs) und kraftlos (asthenēs) beschrieben.18 Er schloss sich zuerst dem Kyniker Krates an, hörte dann auch den Megariker Stilpon,19 lernte, zusammen mit dem Dialektiker Philon, bei Diodoros Kronos,20 um schließlich als bereits fortgeschrittener Philosoph auch die Vorlesungen des Akademikers Polemon zu besuchen.21 Um das Jahr 300 dürfte er selbst zu lehren begonnen haben. Zenon war offensichtlich sehr lernbegierig, hat Anregungen aus verschiedenen Richtungen aufgenommen und Gedanken anderer verarbeitet. Dem Vorwurf mangelnder Selbstständigkeit22 soll er, in Abwandlung einer Hesiod-Sentenz23 mit dem Hinweis begegnet sein, es sei zwar schön, alle Dinge selbst herauszufinden, es sei aber das Beste, auf den zu hören und ihm zu folgen, der gut spricht.24 Das Aufnehmen und Befolgen richtiger Einsichten war ihm offensichtlich wichtiger als bloße Originalität.25 In Wahrheit hat Zenon vorsokratische und sokratische, kynische, dialektische, megarische und akademische Einflüsse rezipiert und zu einer durchaus eigenständigen Philosophie verarbeitet. Er begründete jedenfalls eine philosophische Strömung und Lehre, die zur bedeutendsten der hellenistischen Zeit werden sollte. Seine unmittelbaren Nachfolger in der Schulleitung verstanden sich als Interpreten und Verteidiger seiner Philosophie. In den Quellen ist von 27 ‚Büchern‘ (gemeint sind Buchrollen) die Rede, die er selbst verfasst hat. Die Titel zeigen,26 dass für ihn Themen der Naturphilosophie und Ethik im Vordergrund standen. Was die Logik betrifft, so lässt sich anhand einer beachtlichen Anzahl überlieferter Beweise zeigen, dass er zwar kein formales logisches System konstruiert hat, doch zur Begründung seiner philosophischen Thesen gültige Argumente benützte und sich ihrer Schlüssigkeit aufgrund ihrer logischen Form vermutlich bewusst war.27 Durch die Art und den Inhalt seines Philosophierens ebenso wie durch die Bescheidenheit und Konsequenz seiner Lebensweise band er einen breiten Hörer- und Schülerkreis an sich. Namentlich bekannt sind Persaios aus Kition, Ariston aus Chios, Herillos aus Karthago, Dionysios aus Herakleia, Kleanthes aus Assos, Sphairos vom Borysthenes, Philonides aus Theben, Kallippos aus Korinth, Poseidonios 16 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27

vgl. DL VII, 31–32. vgl. DL VII, 2; 4–5; 13. DL VII, 1. DL VII, 2; 24. DL VII, 16 und 25. DL VII, 2; 25. vgl. DL VII, 25. Werke und Tage 293 f. DL VII, 25–26. vgl. von Fritz 1972, 86. vgl. dazu Steinmetz 1994, 521 f. vgl. dazu Ierodiakonou 2002, 83–112.

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I Die Geschichte der Schule aus Alexandreia, Athenodoros aus Soloi und Zenon aus Sidon.28 Kleanthes aus Assos sollte ihm in der Leitung seiner jungen Schule nachfolgen. Wie die posthume Ehrung durch die Stadt belegt, war Zenon in Athen eine öffentliche Figur und als ursprünglich ‚Fremder‘ wohl bestens integriert.29 In tagespolitischen Fragen scheint er eher Zurückhaltung geübt zu haben. Der makedonische Machthaber Antigonos Gonatas suchte seine Nähe; eine Einladung an seinen Hof nach Pella lehnte er ab; er schickte stattdessen seine Schüler Persaios und Philonides.30 Auch in der anekdotisch bekundeten Freundschaft mit dem politischen Gegenspieler Chremonides legte er eine vergleichbare Zurückhaltung an den Tag.31 Bei dem von Diogenes Laertius überlieferten Briefwechsel zwischen Antigonos Gonatas und Zenon dürfte es sich um eine Fälschung handeln.32 Die erwähnte posthume Ehrung Zenons durch die Stadt könnte allerdings auf die Anregung von Antigonos Gonatas zurückgegangen sein.33 Von seinem Ende handeln verschiedene Anekdoten: Er soll seine körperliche Hinfälligkeit als Zeichen Gottes verstanden und sie dadurch selbst beendet haben, dass er sich auf einen Sturz hin ertränkte bzw. erhängte (apopnixas heauton)34 oder aber die Nahrung verweigerte (aposchomenon trophês teleutêsai ton bion).35 Die anekdotischen Varianten entsprächen stoischer Lehre vom vernünftigen Suizid. Ob sie auch auf Historisches verweisen, muss offen bleiben.36

2. Kleanthes aus Assos Nach dem Tod Zenons übernahm Kleanthes die Leitung der Schule. Er stammte aus der Stadt Assos, einer alten griechischen Siedlung an der Westküste Kleinasiens, der Insel Lesbos gegenüber gelegen. Sein Geburtsjahr und seine Lebensdauer sind unsicher. Viele nehmen die Angaben bei Pseudo-Lukian, Makrobioi 1937 und im Index Stoicorum Herculanensis38 ernst, schreiben ihm eine Lebenszeit von 99 Jahren zu, lassen ihn unter dem Archon Aristophanes 331/30 vor Chr. geboren sein und datieren seinen Tod unter dem Archon Iason um 232 vor Chr.39 Dies führt allerdings zu Unstimmigkeiten im Vergleich zu den Lebensdaten seines Lehrers Zenon. Dem Bericht bei Diogenes Laertius ist zu entnehmen, Kleanthes habe 19 Jahre bei Zenon 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39

vgl. DL VII, 37–38; SVF I, 39; Steinmetz 1994, 521. vgl. Brunschwig 2002, 13–27. vgl. DL VII, 6; 9. vgl. DL VII, 17. vgl. von Fritz 1972, 83–85; Steinmetz 1994, 519. vgl. DL VII, 15. DL VII, 28. DL VII, 31; Ps.-Lukian Macrobioi 19 = SVF I, 36. vgl. Mizuchi 1969, 39–44; Steinmetz 1994, 521. = SVF I, 475. = SVF I, 477. vgl. von Arnim 1922, 558; Sedley, Routledge Encyclopedia of Philosophy, vol. 2, 1998, Cleanthes, 382.

2. Kleanthes aus Assos gehört und (nach einer Lesart) 80 Jahre gelebt.40 Und im Index Stoicorum Hercula­ nensis steht, er sei 32 Jahre Scholarch gewesen.41 Nimmt man diese Angaben ernst und rechnet von der Zeit seines Todes zurück, dann wäre seine Geburt um 308 vor Christus anzusetzen.42 Kleanthes kam aus ärmlichen Verhältnissen. Er soll zunächst vom Faustkampf gelebt und, als er sich (vermutlich mit etwa 30 Jahren) für die Philosophie entschied, sein Studium mit schwerer Nachtarbeit verdient haben.43 Die Geschichte vom ehemaligen Faustkämpfer ist anekdotischer Natur; sie sollte seinen geistigen Habitus kennzeichnen. Er scheint jedenfalls körperlich robust, hart gegen sich selbst und fleißig, von etwas langsamer, doch nachhaltiger Auffassungsgabe gewesen zu sein.44 Den diesbezüglichen Spott der Mitstudenten habe er gelassen ertragen. Er, so seine (anekdotisch bekundete) Antwort, sei als Esel allein stark genug, die Last (der Lehre) Zenons zu tragen.45 Anders als die Schüler Ariston, Herillos und Dionysios46 blieb er den gedanklichen Vorgaben Zenons zeit seines Lebens treu.47 Mit den philosophischen Kritikern und Gegnern, insbesondere mit dem Skeptiker Arkesilaos, pflegte er offensichtlich ein kollegiales und faires Verhältnis.48 Kleanthes war ein fruchtbarer Schriftsteller. Dies kontrastiert etwas mit den Nachrichten von seiner gedanklichen Schwerfälligkeit. Er habe sehr schöne Schriften (biblia kallista) hinterlassen, so Diogenes Laertius.49 Die Überlieferung weiß von 57 Werken. Wie die Liste der Buchtitel zeigt,50 handelte er über alle Bereiche der Philosophie, nicht zuletzt auch über Themen der Logik, und verteidigte Zenons Gedanken gegen außerschulische und innerschulische Gegner (Pros Dēmokriton; Pros Hērillon). Ein besonderes Anliegen war ihm offensichtlich die Rezeption der Philosophie Heraklits (Tôn Hērakleitou exhēgēseis tessara) und die Verteidigung des geozentrischen Weltbilds gegen Aristarchs revolutionären Gedanken, die Erde drehe sich um sich und die Sonne (Pros Aristarchon).51 Sein erhaltener Hymnus an Zeus52 belegt sein Talent und seine Liebe für schnörkellos-kraftvolle philosophische Poesie und seine tiefe Religiosität. Als philosophischer Lehrer scheint er im Schatten von Ariston und Arkesilaos gestanden zu haben. Es war wohl durchaus offen, welche Entwicklung die Philosophie der Stoa in der Zeit seiner Leitung nehmen sollte. Sein ehemaliger Kommilitone Ariston aus Chios lehrte im Gymnasion Kynosarges. Dessen Gedanken gingen 40 41 42 43 44 45 46 47 48 49 50 51 52

DL VII, 176 = SVF I, 474. SVF I, 477. so durchaus plausibel Steinmetz 1994, 566. vgl. DL VII, 168 ff. vgl. DL VII, 170. DL VII, 170. vgl. DL VII, 160–167. DL VII, 168. DL VII, 171; SVF I, 470–472. VII, 174. DL VII, 174–175; vgl. Steinmetz 1994, 567–569. vgl. Plutarch De facie in orbe lunae 923 A = SVF I, 500. Stob. Ecl. I 1, 12 p. 25, 3 W. = SVF I, 537.

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I Die Geschichte der Schule in eine kynische Richtung. Er lehnte Physik und Logik als philosophische Disziplinen ab, Physik, weil sie von Themen handelte, die menschlicher Erkenntnis verschlossen seien und Logik, weil sie (wie ein subtiles Spinnennetz) weltabgehoben und von keinerlei praktischem Belang sei. Alles kam ihm auf die Ethik an. Und hier scheint er eine radikale Situationsethik und die völlige Indifferenz außermoralischer Dinge vertreten zu haben.53 Er lehrte so erfolgreich, dass er im Ruf stand, eine neue Schule zu begründen.54 Dabei war Arkesilaos, der skeptische Scholarch der Akademie, ein mindestens ebenso scharfsinnig-brillanter Kopf und erfolgreicher Lehrer. Kleanthes dürfte es schwer gehabt haben, in seiner bedächtigen Art neben Ariston und Arkesilaos in der Konkurrenz um Studierende und Anhänger zu bestehen. Über sein Ende berichtet Diogenes Laertius, er habe nach heftigen Zahnschmerzen die Nahrung verweigert.55 Von seinen Schülern sind uns nur zwei namentlich bekannt. Sphairos vom Borysthenes und Chrysipp aus Soloi. Sphairos ging zunächst an den Hof von Ptolemaios Philadelphos nach Alexandrien, war später Berater der Reform-Könige Agis IV und Kleomenes III in Sparta und floh nach der vernichtenden Niederlage von Kleomenes (in der Schlacht von Sellasia) mit diesem zu Ptolemaios Philopator ins ägyptische Exil. Vermutlich ist er dort auch gestorben. Trotz einer beachtlichen Liste von Schriften56 haben seine Gedanken in der Überlieferung nur wenige Spuren hinterlassen.57 Ganz anders Chrysipp. Dieser war nicht nur in der Lage, den innerschulischen Einfluss Aristons zurückzudrängen und dem akademischen Skeptiker Arkesilaos Paroli zu bieten. Er vermochte es auch, die Philosophie der Stoa so zu formen, dass sie bis ins 3. Jahrhundert nach Christus die konkurrierenden philosophischen Schulen überstrahlte. Er übernahm nach dem Tod seines Lehrers die Leitung der Schule.

3. Chrysipp aus Soloi Chrysipp ist nach dem glaubwürdigen Zeugnis Apollodors bei Diogenes Laertius58 in der 143. Olympiade (= 208–204 vor Chr.) im Alter von 73 Jahren gestorben. Seine Geburt ist also zwischen 281 und 277 vor Chr. anzusetzen. Er entstammte wie Zenon einer Kaufmannsfamilie; sein Vater Apollonios war von Tarsus nach Soloi übergesiedelt.59 Seine Muttersprache war nicht das Griechische, sein Griechisch auch späterhin nicht perfekt.60 Dass er, wie Diogenes Laertius vermerkt,61 vor seinem 53 54 55 56 57 58 59 60 61

vgl. DL VII, 160–161. DL VII, 161. DL VII, 176. vgl. DL VII, 178. vgl. dazu Steinmetz 1994, 580 f. VII, 184. Strabo SVF II, 1a; vgl. SVF II, 1 = DL VII, 179. vgl. Galen SVF II, 24; 894. VII, 179.

3. Chrysipp aus Soloi Studium der Philosophie Langstreckenläufer war, ist vermutlich eine Anekdote, die seine Persönlichkeit und sein Philosophieren kennzeichnen soll und in Parallele zur Anekdote vom vormaligen Faustkämpfer Kleanthes gebildet. Im Studium scheint er zwischen den philosophisch konkurrierenden Lehrern Kleanthes und Arkesilaos bzw. Lakydes gependelt zu sein. Von Kleanthes übernahm er die stoischen Dogmen, von den Skeptikern Arkesilaos und Lakydes lernte er das logisch-dialektische Geschick, sie präzise zu formulieren, überzeugend zu begründen und gegen skeptische Einwände zu verteidigen.62 Nach Plutarch ergriff er zunächst gar Partei für die Skeptiker, schrieb ein Werk in sechs Büchern gegen die Zuverlässigkeit der Erkenntnis über die Wahrnehmung, um später in einem Werk in sieben Büchern in stoischem Sinn deren Zuverlässigkeit zu verteidigen.63 Mit der Formulierung skeptischer Argumente gegen dogmatische Annahmen suchte er Arkesilaos noch zu überbieten,64 als Stoiker gelang es ihm, die stoische Philosophie „durch sorgfältige, begriffliche und logische Durchbildung gegen die skeptischen Gründe zu verschanzen und (ihr) nicht nur für seine Zeit das Übergewicht über die übrigen athenischen Schulen zu verleihen“.65 Später hieß es in der philosophischen Szene: „Wäre da nicht Chrysipp, gäbe es keine Stoa“.66 Angesichts seiner dialektischen Kompetenz ging das Sprichwort um, dass, wenn es bei den Göttern Dialektik gäbe, es nur die des Chrysipp sein könne.67 Die bei Diogenes Laertius nur in Teilen erhaltene Liste seiner Abhandlungen enthält immerhin 118 Titel zur Logik bzw. Dialektik.68 Chrysipp hat ungemein viel, und gleichgewichtig zu allen Themen der Philosophie geschrieben; die Überlieferung weiß von 705 ‚Büchern‘. Dabei legte er allem Anschein nach wenig Wert auf schöne sprachliche Form und korrekten Stil, scheute nicht Wiederholungen und Korrekturen und sparte nicht mit ausführlichen Zitaten aus Dichtung und Philosophie.69 An philosophischem Selbstbewusstsein mangelte es ihm offensichtlich nicht.70 Sein Leben scheint indes recht bescheiden und ohne äußere Höhepunkte verlaufen zu sein; er hat seine Zeit und Energie wohl ganz der Wissenschaft und philosophischen Sache gewidmet. Nach Auskunft seiner alten Gesellschafterin, so eine Anekdote, habe er täglich 500 Zeilen geschrieben.71 Seine Schriften widmete er keinem der hellenistischen Machthaber, wohl aber einigen seiner Schüler und Ver62 vgl. DL VII, 178; 182. 63 Stoic. rep. 1036 C; 1037 A-B; vgl. DL VII, 198 und 183 f., alles Hinweise, die Plutarch bestätigen; vgl. von Arnim 1899, 2502; Pohlenz 71992, 29. Vorsichtiger und angesichts der polemischen Einstellung Plutarchs vielleicht treffender Steinmetz 1994, 585, der ein gleichzeitiges Philosophieren Chrysipps in utramque partem ohne eine zeitweilige Neigung zur Skepsis für möglich hält. 64 Plutarch Stoic. rep. 1037 A. 65 von Arnim 1899, 2503. 66 DL VII, 183. 67 DL VII, 180. 68 DL VII, 189–202. 69 vgl. DL VII, 181–182. 70 vgl. DL VII, 182–183; 185. 71 DL VII, 181.

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I Die Geschichte der Schule wandten. Einer Einladung an den ptolemäischen Hof in Ägypten nachzukommen, überließ er seinem Kommilitonen Sphairos.72 Das Bürgerrecht, das ihm die Stadt Athen anbot, nahm er dagegen im Unterschied zu seinen Vorgängern an.73 Chrysipp wirkte nicht nur über seine Schriften; er war auch ein höchst erfolgreicher Lehrer. Diogenes Laertius vermerkt unter Berufung auf Demetrios von Magnesia,74 er habe es als erster gewagt, auch im Lykeion unter freiem Himmel (vermutlich für ein breiteres Publikum) vorzutragen. Namentlich bekannt sind uns nicht weniger als 60 seiner Schüler.75 Spuren in der Geschichte der stoischen Philosophie haben aber nur seine Nachfolger in der Leitung der Schule, Zenon aus Tarsus und Diogenes aus Seleukeia hinterlassen. Über sein Ende notiert Diogenes Laertius zwei verschiedene Versionen. Nach der einen sei er an einem Lachkrampf gestorben. Nachdem ein Esel seine Feigen weggefressen habe, habe er zur ‚Alten‘ gesagt, sie solle ihm doch unvermischten Wein zu trinken geben, damit er sie hinunterspüle, und habe sich über diesen seinen Scherz zu Tode gelacht. Diese anekdotische Version ist ersichtlich einer auf den Biographen Hermippos zurückgehenden historisch glaubwürdigeren Version nachgebildet. Diese besagt, Chrysipp sei nach einer Vorlesung im Odeion von seinen Schülern zu einer Opferfeier geladen worden, habe dort unvermischten Wein getrunken, einen Schwindelanfall erlitten und sei nach fünf Tagen verstorben.76 Sein Schüler Zenon aus Tarsus übernahm daraufhin die Leitung der Schule. Von ihm berichtet Diogenes Laertius, er habe „wenig Schriften aber sehr viele Schüler hinterlassen“;77 er war demnach stark und erfolgreich in der Lehre engagiert. Zweimal erwähnt ihn Diogenes noch im Zusammenhang der Einteilung der philosophischen Disziplinen.78 Und einem Fragment von Arius Didymus ist zu entnehmen, dass er sich in der kosmologischen Frage der periodischen Weltverbrennung (ekpyrōsis) des Urteils enthalten habe.79 Ungleich mehr ist von seinem (vermutlich wenig jüngeren) Kommilitonen, Schüler und Nachfolger Diogenes aus Seleukeia bzw. Babylon überliefert.80 Er ist bald nach 240 vor Chr. geboren und nicht lange vor 150 vor Chr. 88jährig gestorben.81 Im Jahr 156/5 nahm er, bereits hochbetagt, zusammen mit dem Akademiker Karneades und dem Peripatetiker Kritolaos an der von Athen nach Rom entsandten politischen Philosophen-Delegation teil, um dort einen Nachlass der Strafzahlung zu erreichen, die Rom Athen wegen der Plünderung von Oropos auferlegt hatte. Die drei Philosophen erregten mit ihren Reden in Rom im Senatorenkreis viel Aufsehen. Diogenes soll dort, anders als Karneades und Kritolaos, bescheiden, schmucklos und nüch72 73 74 75 76 77 78 79 80 81

DL VII, 185. Plutarch Stoic. rep. 1034 A = SVF I, 26. DL VII, 185. vgl. Crönert 1906, 79–81; Steinmetz 1994, 585. DL VII, 184–185. VII, 35. VII, 41 und 84. SVF III Zenon Tarsensis, 5. vgl. SVF III Diogenes Babylonius, 1–126. vgl. SVF III Diogenes Babylonius 4, 6, 8; Steinmetz 1994, 629.

3. Chrysipp aus Soloi tern gesprochen haben.82 Die verbliebenen Zeugnisse belegen, dass er sich intensiv mit Sprachphilosophie, Logik und Rhetorik,83 ebenso wie mit der Theorie der Wahrnehmung, sowie der Ästhetik und der psychisch-moralischen Wirkung von Musik befasst hat.84 Er argumentierte für das Herz als leitendem Zentrum der menschlichen Seele,85 räumte der astrologischen Mantik gewisse Erkenntnisse ein,86 vertrat anfangs die Lehre von der periodischen Weltverbrennung und enthielt sich später des Urteils über sie.87 Eine besondere Herausforderung stellte für ihn offensichtlich die Erklärung und Verteidigung der stoischen Ziel- und Wertlehre gegen akademische und peripatetische Angriffe und Einwände dar. Seine Bestimmung des Ziels des Lebens („Vernünftig entscheiden in der Wahl des Naturgemäßen“)88 entspricht (entgegen mancher Forschungsmeinung) durchaus stoischer ‚Orthodoxie‘. In kasuistischer Interpretation von Fragen der Versöhnung von persönlichem Nutzen und Anforderungen der Gerechtigkeit scheint er, anders als sein Nachfolger Antipater von Tarsus, nach Ciceros Darstellung eher einem Legalismus das Wort geredet zu haben.89 Diogenes hatte viele Schüler, unter ihnen, neben dem namhaften Mathematiker Dionysios von Kyrene die Philosophen Archedem aus Tarsus, Apollodor aus Seleukeia und Boethos aus Sidon. Sie zeichneten sich vor allem als Interpreten der Philosophie Chrysipps aus, die sie über Einführungen, zusammenfassende Handbücher und Spezialtraktate zu vermitteln suchten. Archedem hat in Babylon eine stoische Schule gegründet90 und besonderen Wert auf Sprachphilosophie und Dialektik gelegt. An den wenigen Testimonien zu den Schriften Apollodors91 zeigt sich am deutlichsten eine Verschulungstendenz des Philosophierens in der Nachfolge Chrysipps. Boethos von Sidon scheint sich auf erkenntnistheoretische und naturphilosophische Fragen konzentriert und in der Kosmologie durchaus eigenständig gedacht zu haben. Er verwarf die Ekpyrosislehre und lehrte die Ewigkeit des Kosmos, bezeichnete den Äther als Gott und lehnte es ab, den Kosmos selbst als belebt anzusehen.92 Nachfolger des Diogenes von Babylon in der Leitung der Stoa in Athen (um 150 vor Chr.) wurde Antipater von Tarsus. Er war der entscheidende Gegenspieler des Skeptikers Karneades und zeichnete sich dementsprechend vor allem als Dialektiker, aber auch als Ethiker aus. Cicero nennt Archedem und Antipater die principes dialecticorum.93 Mündlich war Antipater dem Karneades der Überlieferung nach nicht gewachsen; dafür bot er ihm in schriftlichen Erwiderungen und Angriffen 82 83 84 85 86 87 88 89 90 91 92 93

SVF III Diogenes Babylonius 8 = Gellius Noct. Att. VI 14, 8. vgl. SVF III Diogenes Babylonius 20–26 = DL VII, 55–62, 71. vgl. SVF III Diogenes Babylonius 54–90. SVF III Diogenes Babylonius 29, 30. SVF III, Diogenes Babylonius, 35–37. SVF III Diogenes Babylonius, 27. SVF III Diogenes Babylonius, 44, 45, 46. vgl. SVF III Diogenes Babylonius, 49 = Cicero De off. III, 50–55. SVF III Archedemus Tarsensis, 2. SVF III Apollodorus Seleuciensis, 1–18. SVF III Boethus Sidonius, 2, 3, 6, 7. Acad. prior. 143 = SVF III Antipater Tarsensis, 6.

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I Die Geschichte der Schule scharfsinnig Paroli.94 Beide haben sich bei aller philosophischen Gegnerschaft geschätzt. Der alte Karneades jedenfalls war, als er vom gelassenen Suizid des hochbetagten Antipater (129 vor Chr.) erfuhr, von dessen mutiger Konsequenz tief bewegt.95 Als Dialektiker befasste Antipater sich nachweislich mit den Wortarten, mit der Definition, mit Kettenschlüssen, mit Schlüssen aus nur einer Prämisse und mit dem Wahrheitskriterium.96 Als Ethiker beschäftigte ihn vor allem die Begründung und Verhältnisbestimmung von Lebensziel, außermoralisch Wertvollem und naturgemäßer Wahl.97 Seine Formel des Lebensziels („alles in seiner Macht Liegende tun, stetig und unabweichlich, um das naturgemäß Vorgezogene zu erreichen“)98 kommt Karneades’ Einwänden zweifellos geschmeidig entgegen, vermag aber gleichwohl das stoische Kerndogma („nur das sittlich Gute ist gut“)99 zu wahren. In einen merklichen Dissens zu seinem Lehrer und Vorgänger Diogenes scheint er in individual- und sozialethischer Hinsicht getreten zu sein: Der legal mögliche persönliche Vorteil habe dem Anspruch des moralisch Rechten zu weichen; der Einzelne finde im Einsatz für die Gemeinschaft seine Erfüllung.100 Nach Julia Annas101 war Antipater dabei an den moralischen Pflichten eines vir bonus interessiert, während Diogenes die (erzwingbaren) gesetzlichen Verpflichtungen und entsprechenden Rechte verteidigte. Andrew Dyck102 scheint es allerdings durchaus zweifelhaft, ob Ciceros literarische Darstellung der Kontroverse, auf die wir uns heute stützen, überhaupt auf systematisch konträren Positionen der historischen Dialogpartner fußt. Antipater schrieb auch über die Ehe und die Wahl der Ehefrau: Man solle in der Entscheidung für einen Lebenspartner nicht auf Reichtum, auf edle Abstammung oder leibliche Schönheit bedacht sein, sondern sich auf die sittliche Qualität der Person konzentrieren.103 Sein Nachfolger in der Leitung der Schule wurde (129 vor Chr.) Panaitios, der noch bei seinem Vorgänger Diogenes und dann bei ihm studiert und ihn im Alter in vielem unterstützt hatte. Mit ihm lässt man gemeinhin die mittlere, stark nach Rom orientierte Phase der Schulgeschichte beginnen.

4. Panaitios aus Rhodos Panaitios entstammte einer der vornehmensten, wohlhabendsten, politisch einflussreichsten Familien aus Rhodos. Er wurde zwischen 185 und 180 in Lindos auf Rhodos geboren. Er studierte zuerst bei Krates von Mallos am Attalidenhof in Pergamon 94 vgl. SVF III Antipater Tarsensis, 5, 6. 95 DL IV, 64 = SVF III Antipater Tarsensis, 7. 96 SVF III Antipater Tarsensis, 16–31. 97 vgl. SVF III Antipater Tarsensis, 52 = Stobaeus Ecl. II 83, 10 W. 98 SVF III Antipater Tarsensis 57 = Stobaeus Ecl. II 75, 11 W. 99 SVF III Antipater Tarsensis, 56. 100 vgl. SVF III Antipater Tarsensis, 61 = Cicero De off. III, 50–54. 101 1989, 158 ff. 102 1996, 559. 103 vgl. SVF III Antipater Tarsensis, 62–63.

4. Panaitios aus Rhodos und an der dortigen Bibliothek.104 Krates war seiner philosophischen Ausrichtung nach Stoiker, einer der angesehensten Grammatiker seiner Zeit, versierter Homerinterpret, Geograph und Astronom. Später (wohl in den frühen 150er-Jahren) wechselte Panaitios zu Diogenes von Babylon nach Athen und hielt dort auch unter dem Scholarchat des Antipater der stoischen Schule die Treue.105 Er soll, so Philodem, Antipater im Schulbetrieb durch Einführungskurse geholfen haben.106 Die Familie ebenso wie seine verschiedenen Lehrer hatten gute Kontakte nach Rom. Er selbst hielt sich längere Zeit (um die Mitte der 140er-Jahre) in Rom auf und pflegte dort, zusammen mit dem Historiker Polybios, freundschaftlichen Umgang mit P. Cornelius Scipio Aemilianus, mit Gaius Laelius und weiteren Persönlichkeiten der Führungselite Roms.107 Sein geistiger Einfluss auf die republikanische Aristokratie in Rom war groß. Cicero belegt ihn im Rückblick mit den erhabensten Prädikaten (erudissimus homo; homo in primis ingenuus et gravis; praecellens ingenio vir; mag­ nus homo; princeps Stoicorum), vermutlich auch deshalb, weil er ihm für sein eigenes philosophisches Verständnis von Staat, Gesellschaft und sittlichem Verhalten in führender Stellung viel verdankt. Panaitios begleitete Scipio auf dessen Einladung hin108 als persönlicher Berater im Jahr 140/139 auf einer diplomatischen Reise nach Ägypten, Syrien, Kleinasien und Griechenland. Bis Ende der 130er-Jahre lebte er abwechselnd in Rom und Athen. Nach 129, als er die Leitung der Schule übernommen hatte, dürfte er überwiegend in Athen gewirkt, gleichwohl aber seine engen Kontakte nach Rom weitergepflegt haben. Im Dunkeln liegt, wann und wie Panaitios gestorben ist. Einem Hinweis des Sprechers Crassus in Ciceros De oratore109 ist zu entnehmen, dass, als er, Crassus, im Rahmen seiner Quaestur in Makedonien (110 vor Chr.) nach Athen kam, Mnesarchos, der Schüler und Nachfolger des Panaitios in Kraft und Ansehen stand (vigebat Panaetii auditor Mnesarchos). Ob Panaitios selbst zu dieser Zeit noch lebte, ist nicht klar; jedenfalls dürfte er nicht mehr der Schule vorgestanden haben. Auch über ein Verzeichnis seiner Werke verfügen wir nicht. Gleichwohl wissen wir über Hinweise und Zitate Dritter mit Sicherheit von einigen Titeln bzw. Traktaten. So bestellt Cicero am 8. Juni 45 vor Chr. bei Atticus eine Schrift des Panaitios Über die Vorsehung (Peri pronoias).110 Nach eigenem Bekunden hat Cicero ferner in den ersten beiden Büchern seines Werks De officiis das entsprechende Werk des Panaitios Über passendes Verhalten (Peri toû kathēkontos) als Vorlage benützt.111 Einem Hinweis Ciceros in De legibus112 ist zu entnehmen, dass Panaitios über die 104 105 106 107 108 109 110 111 112

F 5 van Straten = Strabon XIV, C 676. vgl. Cicero De divin. I, 6. Dorandi 1994, col. 50. vgl. Cicero De rep. I, 34; Pro Murena 31, 66; Tusc. I, 81; De fin. IV, 23; De off. I, 90; Plutarch Moralia 814 C-D. vgl. Plutarch Moralia 777 A. I, 45. F 33 van Straaten. vgl. De off. III, 7. III, 13.

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I Die Geschichte der Schule (beste) Ordnung des Staates geschrieben hat.113 Verschiedentlich erwähnt Cicero eine Schrift des Panaitios in Briefform an Quintus Tubero über das Ertragen des Schmerzes.114 Diogenes Laertius nennt eine Schrift Über die Seelenruhe (Peri euthymias).115 Ferner sind Werke Über die Philosophenschulen (Peri tôn haireseōn)116 und Über Sokrates (Peri Sōkratous)117 bezeugt. Ob ihm auch ein Traktat Über die Proportionen und Intervalle der Töne gemäß der Geometrie und der Musik118 zuzuschreiben ist, ist unsicher. Cicero bemerkt De fin. IV, 79, Panaitios habe die Herbheit der stoischen Grundsätze und die Spitzfindigkeiten ihrer Argumente durch mehr Milde und Klarheit zu vermeiden versucht und stets Platon, Aristoteles, Xenokrates, Theophrast und Dikaiarch im Mund geführt. Dass er sich akademischem und peripatetischem Einfluss öffnete, bemerkt auch Philodem.119 Diese Öffnung dürfte bei ihm zur Differenzierung und Modifikation einiger Lehrstücke, allerdings nicht zur Aufgabe stoischer Kerndogmen geführt haben. Er bezweifelte die Ekpyrosislehre und plädierte (im Sinne einer frömmeren, weil der Göttlichkeit der Welt mehr entsprechenden Annahme) für die Unvergänglichkeit des Kosmos.120 Er bezweifelte die Leistungsfähigkeit der Praktiken der Weissagung und enthielt sich des Urteils darüber.121 Er hat Platons Gedanken individueller Unsterblichkeit abgelehnt,122 zwar die altstoische Seelenlehre modifiziert, sie aber nicht grundsätzlich verändert,123 in der Ethik mehr auf die sittliche Realität124 als auf das Ideal des Weisen geblickt, doch gleichwohl die stoische Bestimmung des Lebensziels (auf der Basis der Oikeiosislehre) bewahrt.125 Im Blick auf seine Theorie der vier personae,126 die für die richtige Lebenswahl nicht nur die allgemeine menschliche Natur, sondern auch die Zeitumstände und die persönliche Eigenart zu berücksichtigen betont, von einer „Revision“ der stoischen Philosophie zu sprechen,127 ist wohl übertrieben. Die nachhaltigste Wirkung erzielte Panaitios zweifellos über die politischen und ethischen Schriften Ciceros. Dabei fällt es notorisch schwer, in ihnen Panaitios’ Gedanken und Argumente von Ciceros eigenem Beitrag zu trennen. In De republica und De legibus dürfte Cicero noch eigenständiger gearbeitet haben als in den ersten beiden Büchern von De officiis. Auch in diesen schreibt Cicero freilich, zwar von Panaitios’ 113 114 115 116 117 118 119 120 121 122 123 124 125 126 127

vgl. auch De rep. I, 34. De fin. IV, 23; Tusc. IV, 2; vgl. Acad. Prior. II, 135. DL IX, 20 = F 45 van Straaten. vgl. F 49 van Straaten. Plutarch Moralia 335 D = F 50 van Straaten. F 51a van Straaten. Dorandi 1994, col. 51. F 64–69 van Straaten. Cicero Acad. prior. II, 107; De divin. I, 6; II, 88; DL VII, 149. Cicero Tusc. disp. I, 79. vgl. F 85–88 van Straaten. vgl. v. a. Cicero De off. I, 107–116. vgl. F 96 und 97 van Straaten. vgl. De off. I, 107–121. Puhle 1987, 5.

5. Poseidonios aus Apameia Schrift angeleitet, doch nach eigenem Urteil und aus eigener, römisch-republikanischaristokratischer Sicht über passendes Verhalten.128 Und De officiis hat über die lateinische Patristik, das Mittelalter und die Europäische Aufklärung für die philosophische Ethik der westlichen Welt eine überragende Wirkung entfaltet. In der Leitung der Stoa in Athen folgten ihm die Schüler Dardanos und Mnesarchos nach. Wir wissen zudem von zahlreichen Schülern, die zu ihrer Zeit eine Rolle im Geistesleben spielten, uns aber nur noch als Namen (Apollonios aus Nysa, Hekaton aus Rhodos, Sosos aus Askalon, Stratokles aus Rhodos etc.)129 bekannt sind, ohne dass man mit ihnen ein prägnantes geistiges Profil verbinden könnte. Das ist anders bei Poseidonios, der zweiten großen Figur der mittleren Stoa.

5. Poseidonios aus Apameia Poseidonios entstammte einer wohlhabenden Familie aus Apameia in Syrien. Er ist um 135 vor Chr. geboren und ging als etwa 20jähriger zum Studium nach Athen. Er schloss sich dort der Stoa und dem bereits betagten Panaitios an.130 Nach dessen Tod verließ er Athen, ließ sich auf Rhodos nieder, betrieb dort Geschäfte (chrēmatisas)131 und gründete eine eigene Schule, die bald jene in Athen an Bedeutung und Anziehungskraft überstrahlte. Er wurde Bürger von Rhodos, bekleidete als solcher das höchste politische Amt eines Prytanen und weilte in diplomatischer Mission für Rhodos zweimal in Rom (87/6 und 51 vor Chr.).132 Bereits in den 90erJahren unternahm er eine ausgedehnte Forschungsreise in die küstennahen Gebiete der ans westliche Mittelmeer grenzenden Länder.133 Dabei verfolgte er geologischmineralogische, geographische, biologische, ethnographische, klimatologische, meteorologische, astronomische und historiographische Interessen. Nach Strabon134 galt er als der gelehrteste (polymathestatos) Philosoph seiner Zeit, nach Galen135 als der wissenschaftlichste (epistēmonikōtatos) der Stoiker.136 Cicero hielt sich 77 vor Chr. auf Rhodos auf, um den Rhetoriker Apollonios von Molon und ihn zu hören.137 Pompeius beehrte ihn zweimal, im Jahr 66 und 62 mit seinem Besuch. Poseidonios hat sich dafür mit einer Schrift über dessen Feldzüge im Osten bedankt.138 Cicero war dagegen weniger erfolgreich mit seinem Versuch, vom berühmten Philosophen und Wissenschaftler eine entsprechende Schrift über seine ‚Rettung des Staates’ vor 128 129 130 131 132 133 134 135 136 137 138

vgl. Lefèvre 2001. vgl. Steinmetz 1994, 660–662. vgl. Posidonius T 1a, 9, 10 EK. T 2b EK. vgl. T 27–28 EK. vgl. T 14–26 EK. XVI 2, 10. PHP VIII, 1. vgl. Reinhardt 1953, 571. vgl. T 29 EK. vgl. T 35–39 EK.

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I Die Geschichte der Schule Catilina zu erhalten.139 Poseidonios litt wohl im Alter sehr stark an Gliederschmerzen (Rheuma oder Gicht).140 Nach Pseudo-Lukian soll er 84 Jahre alt geworden sein.141 Ein Enkel übernahm nach seinem Tod die Leitung seiner Schule, die allerdings nicht mehr allzu lange mit Leben erfüllt war. „Im ganzen blieb er (sc. Poseidonios) mehr von unterirdischer als von zutage tretender Wirkung“.142 Weder ist uns ein Werk noch ein Verzeichnis seiner Schriften überliefert, doch sind in Zitaten nahezu 30 Titel explizit bezeugt und lassen sich noch einige weitere über Hinweise mit mehr oder weniger plausiblen Gründen vermuten.143 Unter den explizit bezeugten sind Über den Ozean144, Geschichtswerk (in Fortsetzung von Poly­ bios) in 52 ‚Büchern‘145, Geschichte des Pompeius146, Ermunterungen (zur Philo­ sophie)147, Über das Kriterium148, Einführung über die Sprachform149, Naturlehre150, Meteorologie151, Meteorologische Elementarlehre152, Über die Seele153, Über die Göt­ ter154, Über Heroen und Dämonen155, Über das Schicksal156, Über die Weissagung157, Ethik158, Über den Unterschied der Tugenden159, Über passendes Verhalten160, Über die Affekte161, Gegen Zenon aus Sidon über die Prinzipien der Geometrie162. Die vor allem von deutschsprachigen Philologen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts betriebene ‚Quellenforschung‘ hat Poseidonios zu einer eminenten anonymen Text- und Gedanken-Quelle von so verschiedenen Autoren wie Cicero, Varro, Vitruv, Philon, Manilius, Vergil, Seneca, Plotin, Nemesius etc. und ihn selbst zu einer überragenden Figur mit ganz eigenständigem geistigen Profil erhoben. Ihre ausufernd spekulative Tendenz ist inzwischen einer nüchterneren Poseidonios-Forschung gewichen, die sich weitgehend auf namentlich bezeugte Testimonien und Fragmente beschränkt. 139 140 141 142 143 144 145 146 147 148 149 150 151 152 153 154 155 156 157 158 159 160 161 162

T 34 EK. vgl. T 38 EK. T 4 EK. Reinhardt 1953, 567. vgl. Steinmetz 1994, 672–677. T 1a EK; F 49 EK; vgl. F 50 EK. F 51–78; 252–284 EK. F 79 EK. F 1–3 EK. F 42 EK. F 44 EK. F 4–12 EK. F 16–17 EK. F 14–15; F 18 EK. F 28ab, 139–149 EK. F 20–23 EK. F 24 EK. F 25 EK. F 26–27; 106–111 EK. F 29; vgl. F 171, 173, 185 EK. F 32, 35, 38, 182 EK. F 39–41c; 177 EK. F 30; vgl. F 31, 34, 150ab-169. F 46–47 EK.

5. Poseidonios aus Apameia Über seine Leistungen auf dem Gebiet der Logik lassen sie nur Spärliches erkennen. Sicher ist allein dies, dass er, vielleicht als erster, die logische Basis relationaler Syllogismen untersucht hat.163 Hinsichtlich der Naturphilosophie gilt er mit gutem Grund als der Aitiologe unter den Stoikern. Ja, er wirft den ‚Seinigen‘ (insbesondere Chrysipp) vor, zu vieles erklärungsbedürftig belassen bzw. für der Erklärung unzugänglich ausgegeben zu haben.164 Ursachenforschung ist für ihn die Prärogative der Naturphilosophie; sie nur vermag die Phänomene aus Prinzipien bzw. sicheren Axiomen zu erklären. Denn sie untersucht die Substanz (ousia), die gestaltende Kraft (poiētikē dynamis), die daraus resultierenden Attribute und Relationen zu anderem, sowie das Entstehen und Vergehen (genesis kai phthora) einer Sache.165 Während die empirischen Wissenschaften deskriptiv und induktiv-hypothetisch vorgehen, mit Arithmetik und Geometrie als ihren Hilfsmitteln,166 verfährt die Philosophie deduktiv beweisend und erklärend. Doch die empirischen Wissenschaften sind für die philosophische Erklärung unentbehrlich; hat diese doch an den Phänomenen das zu ‚rettende‘, das unverrückbare Objekt dessen, was es (deduktiv) zu erklären gilt. Philosophie und Wissenschaften ergänzen sich gegenseitig.167 Poseidonios vereinte beides in sich und erforschte und erklärte die Größe und Entfernung der Sonne und des Mondes, ihre Auf- und Untergänge und Veränderungen von Gestalt und Aussehen, die Konstellation, Bewegung und Erscheinung der Gestirne, den Wechsel von Ebbe und Flut (in seiner Abhängigkeit von der täglichen, monatlichen und jährlichen Bewegung des Mondes,168 Sonnen- und Mondfinsternisse, Kometen, Regenbogen, Blitz und Donner, Hagel und Winde etc. Er betonte wie (vielleicht stärker als) seine Vorgänger das kausale Vernetztsein (die sympatheia) aller Phänomene, sah in ihm die göttliche Vernunft des Fatum (der heimarmenē) am Werk und wollte auf es (entgegen Panaitios) die Kunst erfolgreicher, an genaue Beobachtungsdaten als Zeichen gebundener Weissagung gegründet wissen.169 Eine gewisse Modifikation altstoischer Lehre nahm Poseidonios in der Psychologie und Ethik vor, war er doch als dezidierter Ursachenforscher der Überzeugung, „dass die Prüfung der Dinge von gut und schlecht, der Ziele und Tugenden von der korrekten Untersuchung der Affekte abhängt“.170 Er verband dies mit einer Kritik an Chrysipp, dessen (einseitig kognitivistische) Theorie der Emotionen den manifesten Phänomenen nicht gerecht werde.171 Der Schlüssel der Moralphilosophie liege in der korrekten Erkenntnis der Kräfte (dynameis) der Seele.172 Sie mache die Quelle verfehlter Entscheidungen deutlich, begründe die verschiedenen Methoden der Gewöhnung und Belehrung und erkläre die Probleme, die mit den Impulsen zum Handeln 163 164 165 166 167 168 169 170 171 172

F 191 EK; Commentary Kidd 1988, 694 ff. vgl. T 85 EK; Commentary Kidd 1988, 72 ff.; SVF II, 973, 351, 949. F 18 EK; Commentary Kidd 1988, 129–136. F 18 EK. T 73 EK; Commentary Kidd 1988, 58 f. F 138; 214–220 EK. F 104, 106, 107 EK. F 30 EK. F 156, 158, 159; 164, 165, 169 EK. F 150a EK.

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I Die Geschichte der Schule verbunden sind.173 Im Anschluss an Aristoteles174 unterschied er Kräfte des Begehrens (epithymeîn), des mutartigen Strebens (thymoûsthai) und des Denkens (logizesthai)175 mit ihnen eigenen naturwüchsig verschiedenen Zielen (des Vergnügens, der Macht und des objektiv Guten).176 Und anders als Chrysipp möchte er die vor- und nichtrationale Seite im Begehren und Streben nicht nur des Kindes, sondern auch des mündig Erwachsenen berücksichtigt sehen.177 Der je eigenen Wirkkraft entsprächen eigene Formen der Erziehung, der Bildung und Heilung. Der Bildungsprozess habe die Herrschaft der Vernunft zum Ziel.178 Der modifizierten Seelenlehre korrespondiert seine von Clemens von Alexandria notierte formelhafte Interpretation des Ziels: „Zu leben, die Wahrheit und Ordnung des Ganzen betrachtend und sie nach Möglichkeit mitgestaltend, in keiner Weise getrieben vom nichtvernünftigen Teil der Seele.“179 Allerdings hat Poseidonios, wie Galen glaubwürdig vermerkt, nicht von Teilen, sondern nur von verschiedenen Kräften der Seele gesprochen.180 Auch sein Geographie- und Geschichtswerk181 stellt eine Verbindung von wissenschaftlicher Beschreibung und philosophischer Erklärung dar. So dient etwa die Theorie klimatischer Erdzonen und der Ansatz geographischer Verhältnisse der Erklärung verschiedener beobachtbarer Merkmale von Völkerschaften, die diese Zonen und Landstriche bewohnen,182 und über sie auch der Erklärung konkreter historischer Handlungen.183 Die Geschichte der Stoa unmittelbar nach Poseidonios ist nicht mehr mit großen Namen verbunden. Wir wissen nicht, wer nach Mnesarchos und Dardanos in Athen die stoische Schule geleitet hat. Die Schule auf Rhodos ist nach Iason von Nysa, dem Enkel und Nachfolger des Poseidonios erloschen. Ein wachsendes Bedürfnis nach Kurzfassungen und doxographischen Darstellungen weist darauf hin, dass die stoische Philosophie im 1. vorchristlichen Jahrhundert zum Bestand höherer schulischer Ausbildung und Erziehung geworden ist. Für diese Tendenz der ‚Verschulung‘ stehen die uns erhaltenen Reste des doxographischen Werks von Arius Didymus aus Alexandreia. Auf der anderen Seite wirkten die Forschungen des Poseidonios in Richtung einer Verwissenschaftlichung der stoischen Naturphilosophie. Für diese Tendenz stehen (heute weitgehend unbekannte) Namen wie Geminos aus Rhodos, Diodoros aus

173 174 175 176 177 178 179 180 181 182 183

F 150b EK. F 145–146 EK. F 142–145. F 158–161 EK. F 33, 144, 148 EK. F 31, 160, 161, 169 EK. F 186 EK. vgl. F 146 EK. vgl. dazu v. a. Malitz 1983. vgl. F 49, 169 EK; Commentary Kidd 1988, 230 f. vgl. F 272 EK; Commentary Kidd 1988, 929.

6. Die Stoa der römischen Kaiserzeit Alexandria oder Athenaios aus Attaleia. Und schließlich ist eine verstärkte Hinwendung zu den Alten, zu Zenon, Kleanthes und Chrysipp festzustellen.184 Eine besondere Vermittlungsleistung für die Philosophie der Stoa in den lateinischen Sprach- und Kulturraum ist Marcus Tullius Cicero (106 – 43 vor Chr.) zuzuschreiben. Er ist zweisprachig, mit philosophischen Texten und Persönlichkeiten vertraut, versteht sich zwar als akademischer Skeptiker, ist aber gerade dadurch befähigt, in seinen (die Schulen vergleichenden) Schriften die schulmäßige und schulgerechte Lehre der Stoiker weitgehend unverfälscht darzustellen.

6. Die Stoa der römischen Kaiserzeit Diese ist dann von drei herausragenden, in ihren Texten nicht durch Schule und Verschulung geprägten Persönlichkeiten bestimmt, von Seneca, Epiktet und Marc Aurel. Annaeus Seneca ist um die Zeitenwende (wahrscheinlich in Corduba) in eine wohlhabende Ritterfamilie der Provinz Baetica geboren. Nach eigenen Angaben185 erfolgte seine Ausbildung in Rom. Unter der Regierung des Claudius war er in eine Hofintrige verwickelt, des Ehebruchs verdächtigt und (siebeneinhalb Jahre) nach Corsica verbannt. Politisch einflussreich, ja mächtig und überaus reich wurde er, im Zusammenspiel mit dem Prätorianerpräfekten Afranius Burrus, während der Herrschaft des Kaisers Nero. Als möglichen Mitwisser der Verschwörung von C. Calpurnius Piso zwang der Kaiser Seneca, der sich nach dem Tod von Burrus (62 nach Chr.) vom Hof und der Macht mehr und mehr ins Privatleben zurückgezogen hatte, im Jahr 65 zum Suizid. Seneca hat Trostschriften, philosophische Abhandlungen, Reden, Tragödien und Satiren geschrieben. Philosophisch gewichtige, zum Teil umfangreiche Texte (De beneficiis, De providentia, Epistulae morales [ad Lucilium], Na­ turales quaestiones) sind in den späten Jahren seines Lebens verfasst. Sie haben sämtlich (einschließlich der Naturales quaestiones) eine pädagogische und psychagogische Ausrichtung, basieren systematisch in allen wesentlichen Gedanken auf stoischer „Orthodoxie“, geben allerdings auch anderen Einflüssen (etwa kynischer, epikureischer und platonischer Provenienz) Raum und Gewicht. Über das Leben von Epiktet besitzen wir wenig verlässliche Information.186 Er dürfte zwischen 50 und 60 nach Chr. geboren und zwischen 120 und 140 nach Chr. gestorben sein. Er stammte aus Hierapolis in Phrygien, verbrachte längere Zeit (zeitweise als Sklave) in Rom, musste unter Domitian zwischen 89 und 95 Rom verlassen, ließ sich in Nikopolis, der Hauptstadt von Epirus nieder und lehrte dort (wohl in einer eigenen Schule) bis zu seinem Tod (stoische) Philosophie. Unter seinen Hörern waren junge Männer, die später ranghohe Amtsträger im Imperium werden sollten. Einer von ihnen war Lucius Flavius Arrianus, der es unter Kaiser Hadrian 184 vgl. dazu Steinmetz 1994, 706–714. 185 Ep. 108. 186 vgl. dazu v. a. Schmeller, Th., Einführung in die Schrift, in: Vollenweider (Hg.) 2013, 7 ff.

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I Die Geschichte der Schule und dessen Protektion zum Konsul und Provinzstatthalter brachte. Ihm verdanken wir die schriftliche Fassung mündlich vorgetragener Unterweisungen Epiktets, die Diatribai und ihre Kurzfassung, das Encheiridion, die zweifellos, in popularphilosophischer Form, authentische Gedanken des Lehrers zu ethischen Fragen wiedergeben. Neben Arrians Aufzeichnungen besitzen wir noch ca. 100 vor allem von Johannes Stobaeus überlieferte Fragmente. Epiktet selbst hat uns nichts Schriftliches hinterlassen. Er bezieht sich in seinen Diatriben, die psychagogisch auf Persönlichkeitsbildung und überzeugende Lebensführung der Schüler zentriert waren, vorwiegend auf die Tradition der alten Stoa, auf Zenon, Kleanthes und Chrysipp zurück. Seine schulische Lehre, die wohl auch Logik und Physik umfasste, dürfte vorwiegend in der Lektüre und Interpretation von deren Texten bestanden haben. Von Kaiser Mark Aurel (121–180 nach Chr.) wissen wir, dass er Epiktet/Arrian gelesen und sehr geschätzt hat. Er verstand sich selbst, wie sein (wenig bekannter) philosophischer Lehrer Iunius Rusticus als Stoiker. Seine tagebuchartigen Reflexionen (die in griechischer Sprache formulierten sog. Selbstbetrachtungen) sind wohl weitgehend im Heerlager während der kriegerischen Aufenthalte an der Donau ab 170 nach Chr. niedergeschrieben. Da sie offensichtlich der Selbstvergewisserung dienten und nicht zur Veröffentlichung bestimmt waren, ist ihnen ein hohes Maß an Glaubwürdigkeit eigen. Von den Werken der Stoiker aus dem dritten bis ersten vorchristlichen Jahrhundert sind uns nur Bruchstücke und Zitate erhalten; die Originale sind sämtlich verloren. Die Philosophie der alten und mittleren Stoa in ihrer systematischen Struktur und Entwicklung lässt sich nur rekonstruieren. Die Rekonstruktion muss sich, neben den überkommenen Texten der römischen Kaiserzeit (vor allem von Seneca, Epiktet und Mark Aurel) im Wesentlichen der Referate und kritischen Auseinandersetzungen von antiken Autoren bedienen, die noch mit Originalschriften und zeitnahen Handbüchern vertraut waren. Es sind dies insbesondere Cicero, Philodem, Arius Didymus (bzw. Johannes Stobaeus), Philon, Aëtius, Plutarch, Clemens von Alexandrien, Galen, Sextus Empiricus, Diogenes Laertius und Alexander von Aphrodisias.187 Probleme der adäquaten Rekonstruktion ergeben sich natürlich aus dem naheliegenden Umstand, dass diese Autoren ihren eigenen Ansätzen, Perspektiven und Interessen folgen. Das rekonstruierte Bild der stoischen Philosophie der hellenistischen Zeit ist so gesehen allemal mit einem gewissen Echtheitsvorbehalt zu betrachten. Work on doxographical material is a notoriously tricky and frustrating busi­ ness (Malcolm Schofield).

187 vgl. Mansfeld 1999b, 3–30; Banateanu 2001, 7–38.

II Die stoische Logik 1. Die Logik im Rahmen des Systems

D

ie Stoa gliedert ihre Philosophie, genauer: ihre schulmäßige philosophische Rede bzw. Lehre (ho kata philosophian logos), in Logik, Physik und Ethik.1 Dabei unterschied sie die Theorie von der Praxis (der askēsis bzw. epitēdeusis) des Philosophierens und des philosophisch geführten Lebens.2 Diese Gliederung der Lehre scheint bereits unmittelbar vor ihrer Gründung in der Akademie Platons im Gespräch gewesen zu sein.3 Zenon hat sie wohl von Polemon, einem seiner Lehrer übernommen.4 Die Stoa indessen gibt ihr, anders als die Akademie und der Peripatos,5 eine grundlegende systematische Bedeutung. Und wie keine andere Schule der Zeit betont sie die organische Verbindung der drei Disziplinen und befördert die sogenannte Logik vom bloßen Instrument zum wesentlichen Bestandteil des philosophischen Systems.6 Im Zentrum ihrer Philosophie steht denn auch (neben dem Begriff der Physis) der Begriff des Logos, der, als menschliche Sprachfähigkeit, als gestaltendes Prinzip des Kosmos und Naturgeschehens und als alle Praxis orientierende göttliche Weltvernunft verstanden, die verschiedenen Bereiche zur Einheit eines sinnvollen Ganzen verbindet. Von ‚Logik‘ spricht die Stoa im weiten Sinn der Wissenschaft von der vernünftigen Weise zu denken und zu reden. Sie umfasst nach heutigem Verständnis die Disziplinen der Sprachphilosophie, der Linguistik bzw. Grammatik und Semantik, der Rhetorik und der Logik im engeren Sinn. Zudem wird letztere noch mit erkenntnistheoretischen Fragen und Themen verwoben. Die grundlegende Leistung der Stoa auf dem Gebiet der Grammatik (im weiten Sinn) war immer bekannt. Geht doch der Grundbestand unserer Grammatik-Nomenklatur auf die Stoa bzw., in ihrem Gefolge, auf die alexandrinischen Philologen des zweiten und ersten vorchristlichen Jahrhunderts zurück. Eigenständigkeit und wissenschaftlicher Wert der stoischen Logik (im engeren Sinn) wurden dagegen erst im 20. Jahrhundert, insbesondere

1 DL VII, 39 = SVF I, 45; II, 37 = FDS 1; Ps.-Plutarch Placita I, 874 E = SVF II, 35 = FDS 15; Stoic. rep. 1035 A; SE AM VII, 16 = SVF II, 38. 2 vgl. Hadot 1991b, 205–219; Ierodiakonou 1993a, 57–74. 3 vgl. SE AM VII, 16; Cicero De fin. IV, 3 = FDS 252. 4 vgl. Cicero De fin. IV, 4; M. Frede 1974, 24; Gourinat 2000, 22 f. 5 vgl. SVF II, 49 = FDS 28. 6 vgl. SE AM VII, 17–19.

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II Die stoische Logik durch den polnischen Logiker Jan Łukasiewicz7 erfasst. Heute weiß man, dass es in der Antike neben der aristotelischen Syllogistik, die (einem Teil) der modernen Prädikatenlogik entspricht, eine stoische Logik bzw. Syllogistik gegeben hat, die in Teilen als Vorläufer der modernen Aussagenlogik anzusehen ist. Gleichwohl gilt es zu beachten, dass die Stoa ihre ‚Logik‘ als Einheit, und nicht, wie wir heute, Sprachwissenschaft, Sprachphilosophie, Erkenntnistheorie und formale Logik als eigenständige wissenschaftliche Disziplinen betrachtet hat. Logos als der eine Grundbegriff der stoischen Philosophie bedeutet sowohl Sprache als auch Geist und Vernunft. Und Sprache wird sowohl vom phonetischen und syntaktischen als auch vom semantischen Gesichtspunkt aus betrachtet. Ferner diskutiert die Stoa unter ‚Logik‘ die formalen Regeln des korrekten Denkens ebenso wie die Teile der Sprache, durch die Gedanken und Argumente ausgedrückt werden. Dadurch kommen Logik und Grammatik in enge Parallelität. Etwas wissen heißt für die Stoa, eine Aussage behaupten können, die nachweisbar wahr ist. So werden auch Fragen der Verifikation und mit ihr Fragen der Erkenntnistheorie in die ‚Logik‘ integriert. Für die Entwicklung der abendländischen Sprachwissenschaft bzw. Grammatik sind die Leistungen der Stoa bahnbrechend und bis in die Gegenwart von grundlegender Bedeutung. Die Stoa teilt ihre ‚Logik‘ (im weiten Sinn) als Wissenschaft vom rationalen Diskurs grob in zwei Disziplinen: Rhetorik und Dialektik.8 Was wir heute als Logik bezeichnen, wird in stoischen Texten unter dem Stichwort „Dialektik“ behandelt und der Rhetorik kontrastiert. Rhetorik ist ihr die Fachkunde vom guten Sprechen (eu legein) in fortlaufender Rede.9 Hinsichtlich kunstvoller Reden unterscheidet sie drei Redetypen: die politische Rede (in Foren der politischen Beratung und Entscheidung), die forensische Rede (der Anklage und Verteidigung vor Gericht) und die enkomiastische Rede (aus Anlass der Ehrung einer Persönlichkeit).10 Alle drei haben ihren Sitz im öffentlichen Leben, während der genuine Rahmen der Dialektik die Schule ist.11 Kunstvolle Reden zielen, im Unterschied zur Dialektik, die Generelles und Universelles erfasst, auf Einzelnes, das alle oder viele Menschen interessiert. Rhetorisch entscheidend ist nach Chrysipp die vernünftige Ordnung in fortlaufender Rede.12 Die Stoa gliedert das rhetorisch relevante Können nach den Bereichen des Auffindens thematisch wichtiger Gesichtspunkte (der Ausdrucksweise, der Anordnung und der Form des Vortrags) und sieht eine gelungene Rededisposition in der Abfolge von Einleitung, Erörterung, Antwort auf mögliche Einwände und resümierendem Schluss.13 Von der Fülle und Schmuckhaftigkeit des Ausdrucks, im Gefolge von Aristoteles und Theophrast anerkanntes, ja bewundertes Merkmal rhetorischen 7 1935, 111–131. 8 SE AM II, 6–7 = FDS 35. 9 vgl. DL VII, 41–44. 10 DL VII, 42. 11 vgl. FDS 43. 12 Plutarch Stoic. rep. 28. 1047 A = SVF II, 297. 13 DL VII, 41–44.

1. Die Logik im Rahmen des Systems Könnens, hielt die Stoa wenig,14 umso mehr von der Kürze und Prägnanz, von der Klarheit und Direktheit der Worte.15 Rhetorik ist ihr auch nicht, wie üblich, auf das (nur) irgendwie Plausible und plausibel Erscheinende, sondern auf das Wahre verpflichtet. Überzeugend wirke der gute Geist und Charakter eines Redners; gut reden könne nur der gute Mensch.16 Im Grunde ist, normativ gesehen, für die Stoa nur der Weise ein veritabler Redner.17 Die Stoa spricht von fünf Tugenden der Rede:18 von der Korrektheit der Sprache (hellēnismos, gemeint ist syntaktisch, grammatisch und semantisch richtiges und gehobenes Griechisch), von ihrer Klarheit und Verständlichkeit (saphēneia), von der Kürze der Rede (syntomia), die nicht mehr Worte verwendet als zur erhellenden Darstellung der Sache erforderlich ist, von der sachlichen Angemessenheit (prepeia) und von ihrer geordneten Eleganz (kataskeuē). Auch zwei Laster werden genannt (ebd.): der Barbarismus und der Solözismus, die offensichtlich im Kontrast zur ersten der genannten Tugenden stehen. „Barbarismus“ meint dabei eine Sprache, die vulgär ist bzw. „gegen das Ethos der geachteten Griechen“ verstößt; und „Solözismus“ besagt, dass die Sätze syntaktisch bzw. grammatisch falsch konstruiert sind. Unter Dialektik versteht die Stoa ganz allgemein die Fachkunde der korrekten dialogisch-argumentativen Rede im Wechselspiel von Frage und Antwort.19 Sie hat zwei umfassende Bereiche der Sprache zum Gegenstand: das Bezeichnende (to sēmainon) und das Bezeichnete (to sēmainomenon). Im Einzelnen behandelt sie jedoch eine Fülle von Themen, außer der Phonetik, Grammatik, Semantik und formalen Logik auch Fragen der Stilistik, Etymologie, Poetik und einiges mehr.20 Diogenes Laertius berichtet: „Chrysipp wurde unter den Dialektikern so berühmt, dass viele Leute der Überzeugung waren, dass, wenn es bei den Göttern eine Dialektik gibt, es nur jene von Chrysipp sein könne“.21 Cicero hält die Stoiker Antipater von Tarsus und Archedem für die principes dialecticorum;22 ihm galten ‚der Synkretist‘ Antiochus von Askalon und die Stoiker als „die Dialektiker“ schlechthin.23 Chrysipp erwies sich gegenüber seinen Vorgängern Zenon und Kleanthes als selbstständiger, ja überragender und ungemein produktiver Denker.24 Es spricht so gut wie alles dafür, dass er und seine unmittelbaren Nachfolger Diogenes von Babylon, Antipater und Archedem von Tarsus für die stoische Logik, insbesondere für die positive Schluss- und Beweislehre und ihren idealsprachlich-formalistischen Zug, aber auch für die Grammatik die originellen und prägenden Gestalten waren 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23 24

vgl. DL VII, 18; SVF III Diog. 125; Imbert 1975, 647. vgl. FDS 46. vgl. FDS 50. SVF III, Diog. 99. DL VII, 59; SVF III Diog. 24 = FDS 594. DL VII, 42; SE AM II, 6–7. vgl. DL VII, 55–62. DL VII, 180 = SVF II, 1 = FDS 154; vgl. oben S. 19. Acad. prior. II, 143 = SVF III Ant. 6. Acad. prior. II, 97 = SVF II, 219 = FDS 1212. DL VII, 179.

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II Die stoische Logik und für die spätere Schuldoktrin kanonisch wirkten. Zenon und Kleanthes scheinen sich noch stark an die Megariker bzw. ‚Dialektiker‘ Diodor und Philon angelehnt zu haben,25 während der ‚unorthodoxe‘ frühe Stoiker Ariston von Chios mit seinem Anhang (in kynischer Tradition) die (bevorzugt sich mit Sophismen befassende?) Dialektik für überflüssig und nutzlos, ja schädlich hielt.26 Elementare aussagenlogische Pionierleistungen wie die Unterscheidung einfacher und nicht-einfacher Aussagen und die wahrheitsfunktionale Definition bestimmter aussagenlogischer Junktoren gehen auf die ‚Dialektiker‘ Diodor und Philon zurück, von denen Zenon27 und über diesen Kleanthes und Sphairos lernten. Dabei scheint sich Kleanthes im Vergleich zu Zenon als der produktivere28 und präzisere29 Kopf erwiesen zu haben. Die Disputierkunst der ‚Dialektiker‘ hat sich offensichtlich auf die Behandlung von Fehl- und Trugschlüssen konzentriert. Die ersten Stoiker folgten ihnen darin, wenngleich nicht ohne gewisse Bedenken gegenüber ihren Haarspaltereien und Betreiben als l’art pour l’art.30 Jedenfalls schien ihnen ein Wissen von der Aufdeckung von Fehlschlüssen und die Lösung gängiger Sophismen wichtig zu sein, zumal man ihnen im disputierfreudigen Athen in Konkurrenz mit geschickten eristischen Philosophen31 sonst hilflos ausgesetzt war.32 Ariston hingegen (und sein Anhang) sah darin nur eine unnütze Beschäftigung mit dialektischen Spitzfindigkeiten. Auch von Physik riet er ab, da ihre Fragen (unter anderem zur Existenz und Seinsweise der Götter) menschliche Erkenntniskraft überstiegen. Er ließ als seriöse Philosophie allein die Ethik gelten.33 Nach Diogenes Laertius hat er in Büchern „Gegen die Dialektiker“ und „Gegen die Rhetoriker“ angeschrieben.34 Möglicherweise wäre die frühe Stoa den skeptischen Angriffen des Akademikers Arkesilaos erlegen, hätte Chrysipp ihre Philosophie nicht mit einem neuen und starken logischen Gerüst gestützt. Innerhalb der Schule war jedenfalls die Meinung verbreitet, die Vorsehung habe Chrysipp noch rechtzeitig als Retter vor der Skepsis des Arkesilaos und später des Karneades geschickt.35 Karneades seinerseits ging bei Diogenes von Babylon in die logische Schule36 und definierte sich dann selbst durch 25 DL II, 106 legt eine Identifizierung von Megarikern und Dialektikern nahe. Für eine eigene Schule der Dialektiker nach DL I, 17–20 plädiert dagegen im Gefolge von David Sedley mit nicht unplausiblen Gründen Theodor Ebert, Dialektiker 1991. Die bei Sextus AM VIII, 93–126, PH II, 145–167 und PH II, 229–259 referierten Lehren der ‚Dialektiker‘ wären demnach Lehren der Dialektischen Schule. 26 vgl. DL VI, 103; VII, 160; 163; Stob. Ecl. II, 8, 13 ff.; 22, 22; 23, 15; 24, 8; SE AM VII, 12; Seneca Ep. 89, 13. 27 vgl. DL VII, 25; vgl. VII, 16. 28 vgl. DL VII, 175; Epiktet Diss. II, 19, 9. 29 vgl. Cicero De fin. IV, 9; Ebert 1991, 308. 30 vgl. DL VII, 25; Plutarch Stoic. rep. 1034 E; M. Frede 1974, 13 f. 31 vgl. DL II, 106; 113. 32 vgl. DL VII, 182. 33 vgl. Stob. Ecl. II, 1, 24; FDS 207–215. 34 DL VII, 163. 35 vgl. Plutarch Com. not. 1059 B-D; Stoic. rep. 1033 E; DL VII, 183; M. Frede 1974, 27. 36 Cicero Acad. pr. 30, 98.

1. Die Logik im Rahmen des Systems seine Gegnerschaft gegen das Chrysippsche System.37 Die Bilder, mit denen die Stoa die Funktion der ‚Logik‘ im Ganzen des Systems verdeutlicht, entsprechen der unterstellten Rettungs- und Stabilisierungsleistung Chrysipps: Im Vergleich der Philosophie mit einem Ei entspricht die Logik der Schale, im Vergleich mit einem Garten dem Zaun, und in dem mit einer Stadt der Mauer,38 während in Poseidonios’ Bild vom Lebewesen die Logik die Stellung und Funktion der Knochen einnimmt. Dessen Vergleich wollte unmissverständlich die untrennbare Einheit der drei stoischen Disziplinen zum Ausdruck bringen.39 Die sog. mittlere und späte Stoa sah keinen Grund mehr, von der Logik Chrysipps in wesentlichen Punkten abzuweichen; der skeptische Gegner klagte ironisch, die Stoiker folgten Chrysipp wie dem Delphischen Orakel.40 Panaitios und Poseidonios41 zeigten, soweit aus den Fragmenten und Testimonien ersichtlich ist, keinerlei Aversion, jedoch auch kein gesteigertes Interesse an Logik. Gleichwohl hielten auch sie, wie das erwähnte Bild des Poseidonios belegt, die Logik für einen wesentlichen, ja integralen Teil der Philosophie. Poseidonios selbst scheint ein verstärktes Interesse an Rhetorik und Poetik entwickelt zu haben.42 Von Stoikern der Kaiserzeit wissen wir, dass man in der Schule Chrysippexegese betrieb und auf ein solides, wenngleich nicht übertriebenes Studium der Logik Wert legte.43 Die schulische Theorie sollte der rechten Praxis dienen; das Ziel des Unterrichts galt allem voran, im Alltag keinem Irrtum zu verfallen und nur Wahres zu sagen.44 Die schulische Theorie und Unterweisung war zu verinnerlichen und zu einer festen Disposition des Wissens, Wollens und Könnens auszuprägen. Und das bezog sich auf alle drei Disziplinen in gleicher Weise.45 Die Stoa sprach von der Tugend (aretē) der Dialektik ebenso wie von der Tugend der Physik und der Ethik.46 Diese fundamentalen Tugenden47 als Dispositionen des Geistes bedingen sich in ihren Augen gegenseitig;48 sie bekleiden alle denselben Rang; sie bilden eine untrennbare Einheit; man kann nicht in ethischer oder naturphilosophischer Hinsicht exzellent sein und in dialektischer Hinsicht nicht; wer eine der Tugenden besitzt, besitzt sie alle.49 Sie konstituieren das, was die Stoa Weisheit (sophia) nennt, eine Disposition, in der Theorie und Praxis sich untrennbar verbinden,50 und durch die, als wahre 37 38 39 40 41 42 43 44 45 46 47 48 49 50

DL IV, 64. DL VII, 40; SE AM VII, 17–18. SE AM VII, 19 = Posid. F 88 EK. SE AM VIII, 443. vgl. Kidd 1978b, 273–284. vgl. DL VII, 61. vgl. Barnes 1997a. vgl. Epiktet Diss. I, 4, 6 ff.; I, 17, 13; I, 17, 15; I, 7; II, 25; Ench. 49, 1; vgl. 52; Mark Aurel III, 16; IX, 1; Seneca Ep. 89, 9; Gourinat 2000, 24 ff. vgl. Plutarch Stoic. rep. 1035 E; DL VII, 40. vgl. Cicero De fin. III, 72–73. Ps.-Plutarch Placita I, 874 E. SVF II, 349. SVF III, 275; 280; 295; 299. vgl. DL VII, 126.

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II Die stoische Logik Lebenskunst (technē toû biou), das menschliche Leben vollendet geführt wird.51 Was die philosophische Unterweisung betrifft, so begann Chrysipp, nach dem Zeugnis von Diogenes Laertius52 und Plutarch53 mit der Logik,54 weil sie, nach genereller Überzeugung der Schule „alles Übrige prüft und beurteilt“55 und den Verstand in seinen Aussagen und Orientierungen sicher macht.56

2. Dialektik und Rhetorik; Phonetik, Grammatik, Semantik Die Stoiker haben als erste in ihrer Dialektik die äußere Gestalt der Sprache, ihre Teile, ihre Anordnung und ihre Geschichte zum Gegenstand detaillierter Untersuchung erhoben.57 Nach Diogenes Laertius’ Darstellung scheint Diogenes von Babylon mit seinem Werk Peri phōnês der wesentliche systematische Autor der stoischen Phonetik gewesen zu sein;58 Archedem, Antipater und Poseidonios folgten ihm mit ähnlichen Traktaten Peri phōnês bzw. Peri lexeōs. Die stoische Sprachentstehungslehre und etymologische Forschung (zu der für Chrysipp zwei Buchtitel überliefert sind59 und über deren Grundzüge uns Origenes, Contra Celsum I, 24, das sechste Kapitel von Augustinus’ Liber de dialectica sowie Varros Schrift De lingua latina unterrichten) leitet der Gedanke, dass zwischen dem Lautbild eines Wortes und seiner Bedeutung natürlicherweise eine (mimetische) Korrespondenz bestehe.60 Dies gilt im strengen Sinn allerdings nur für die Wörter, die am naturwüchsigen Ursprung der Bezeichnung einer Sache stehen. Ihre Lautgestalt wird dann auch auf die Symbole von Dingen übertragen, die den ursprünglich bezeichneten ähnlich, benachbart oder entgegengesetzt sind. Prozesse der Zusammensetzung und Verschiebung bestimmen die weitere Sprachentwicklung,61 die teilweise auch aufgrund fehlgeleiteter sozialer Verhältnisse als eine Geschichte der Sprachverderbnis anzusehen ist. Die Etymologie62 geht der ursprünglichen Form eines Wortes und den Gründen ihrer Veränderung nach, um seine wahre Bedeutung zu erfassen, die durch die Entwicklung verdeckt oder pervertiert wurde.63 Die Stoiker bewiesen in ihrer etymologischen Forschung zum besseren Verständnis der Wörter und Sachen ebenso viel Scharfsinn wie Fantasie. Manch kuriose Erklärung 51 52 53 54 55 56 57 58 59 60 61 62 63

SVF III, 202 Philon. VII, 40. Stoic. rep. 1035 A. vgl. auch SE AM VII, 22–23. Epiktet Diss. I, 17, 10–11 = SVF II, 54; Gourinat 2000, 34. SE AM VII, 23. vgl. DL VII, 55–62; Barwick 1957, Ax 1986; Mansfeld 1986, 366 ff. vgl. DL VII, 55; 57. DL VII, 200. Origenes Contra Celsum I, 24; Augustinus Liber de dial. 6. vgl. Barwick 1957, Kap. II und IV. DL VII, 200. vgl. Varro Lingua latina V, 2; Cicero De nat. deor. III, 62; Herbermann 1991, 356 ff.

2. Dialektik und Rhetorik; Phonetik, Grammatik, Semantik zog denn auch berechtigte Kritik auf sich. Galen etwa zeigt wenig Verständnis für den Stolz Chrysipps auf seine etymologischen Funde.64 Die stoische Lehre vom sprachlichen Zeichen65 dürfte, wie gesagt, von Diogenes von Babylon in eine systematische Form gebracht worden sein. Sie setzt an bei der stimmlichen bzw. akustischen Äußerung (phōnē), die als „geschlagene Luft“ (aēr peplēgmenos), und, als dessen eigentümliche Sinnesleistung, vom Gehör vernehmbar (to idion aisthēton akoês) beschrieben wird.66 In der tierischen Stimme bekundet sich der Trieb (hormē), beim Menschen der Verstand (dianoia). Ein stimmlicher Laut als bloßes Geräusch ist von einem gegliederten Lautgebilde (lexis) zu unterscheiden. Die Artikulierung leisten die mit Buchstaben (stoicheia) bezeichneten Laute; eine lexis lässt sich in einer geordneten Reihe von Buchstaben darstellen;67 sie ist eine phōnē engrammatos.68 Sie kann in isolierten Worten bestehen; sie kann bedeutungsvoll sein oder nicht. Auch Tiere (etwa Raben, Elstern, Papageien) äußern gegliederte Tonreihen, ohne dass man behaupten könnte, dass sie sprechen.69 Von der lexis als artikuliertem Lautgebilde unterscheidet sich der logos als bedeutungsvoller Satz bzw. bedeutungsvolle Rede, mit der der (menschliche) Verstand (über eine lexis) etwas zu verstehen gibt.70 Ein logos, so lautet die definitionsartige Bestimmung, „ist eine bedeutungsvolle stimmliche Äußerung, die vom Verstand ausgeschickt ist (phōnē sēmantikē apo dianoias ekpempomenē)“.71 Die Stoa spricht vom „geäußerten“ (prophorikos logos) und vom „im Innern bereitgestellten Satz“ (endia­ thetos logos).72 Kleine Kinder oder Papageien mögen Sätze ‚plappern‘, ohne dass sie „im Innern bereitgestellt“ sind und sein können. Nur der zum vollen Vernunftgebrauch fähige Mensch vermag etwas sprachlich zu äußern, „was er denkt“.73 Es ist der Verstand (dianoia) bzw. das leitende Zentralorgan (das hēgemonikon) des Menschen, das dem geäußerten Satz seinen Sinn einprägt und, wenn gehört, seinen Sinn versteht. Der Verstand ist der Ursprung des Denkens und das Denken der Ursprung der Sprache.74 Der Verstand bildet begriffliche Vorstellungen (ennoiai), organisiert sie zu einem System und versieht den Satz (seine Teile und die Verbindung seiner Teile) als Lautgebilde mit symbolischem Gehalt.75 „Geäußert wird Stimmliches, gesagt werden Sachen (pragmata)“.76 Das im Behauptungsmodus Gesagte ist wahr oder falsch. Das Wahre oder Falsche findet sich nicht im bedeutungsvollen Lautgebilde (der phonē sēmantikē) und nicht in den körperlichen 64 65 66 67 68 69 70 71 72 73 74 75 76

PHP 11. 2, 5–7; Schenkeveld-Barnes 1999, 182. vgl. dazu Ax 1986; M. Frede 1987, 301–337; Schenkeveld-Barnes 1999, 177–216. DL VII, 55; zum Ganzen FDS 479–492. DL VII, 56. FDS 500, 505, 506. SE AM VIII, 275 = FDS 529. DL VII, 57. DL VII, 57; vgl. Galen PHP II, 5 = SVF III Diog. 29. SE AM VIII, 275 = SVF II, 223 = FDS 529; Nemesius De nat. hom. 14, 208. Varro Lingua Latina VI, 56 = FDS 512; vgl. SVF II, 143; vgl. Gourinat 2000, 147. Chrysipp SVF II 894 = Galen PHP II, 5. Galen PHP II, 5 = SVF III Diog. 29. DL VII, 57.

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II Die stoische Logik Dingen bzw. Vorgängen (den tyngchanonta), sondern in dem, was in bedeutungsvoller Rede gedacht und zum Ausdruck gebracht wird (dem sēmainomenon).77 Vom sinnvollen Lautgebilde grenzt sich das ab, was dieses Lautgebilde besagt (dem lekton).78 Lekta sind also das, was wir Menschen sprachlich meinen und mitteilen (können), die Bedeutungen bzw. Bedeutungselemente von Sätzen. Das Lautgebilde ist etwas Körperliches,79 die durch es vermittelte Bedeutung etwas Unkörperliches. Die Bedeutungen sind allerdings nicht ohne die phonetischen (bzw. graphischen) Gebilde (und ihre Ordnung) identifizierbar. Dies erklärt die stoische Tendenz, Bedeutungsanalyse und grammatische Analyse zu verbinden. Ja, viele Unterscheidungen, die wir heute dem Bereich der Grammatik zuordnen würden, werden von der Stoa im Zusammenhang der Analyse der lekta getroffen. Die heute übliche Benennung der Teile der Rede, der Fälle der Nomina, der Zeitformen der Verben sind weitgehend eine stoische Leistung und wurden, soweit man dies noch erkennen kann, von Chrysipps Schülern und Nachfolgern, von Antipater von Tarsus, insbesondere von Diogenes von Babylon und von Archedem von Tarsus in eine kanonische Form gebracht. Und genau diese ihre Lehre von den Fällen der Nomina und den Zeitformen der Verben, gemeinhin als ihr bedeutendster Beitrag zur Grammatik betrachtet, entwickelt die Stoa aus einer Analyse der lekta.80 Die Unterscheidung von vier grammatischen Teilen (merē) bzw. Elementen (stoicheia) eines Satzes: Namen (onoma), Verbum (rhēma), Artikel (arthron) und Konjunktion (syndesmos) dürfte bereits auf Zenon zurückgehen.81 Chrysipp und Diogenes von Babylon fügten als Fünftes die Appellation (prosēgoria) hinzu.82 Von Antipater von Tarsus stammt das ‚Mittlere‘ bzw. die ‚Mitte‘ (mesotēs), das manche Forscher als Partizip, manche als Adverb, manche als beides umfassend verstanden wissen möchten.83 Was Antipater unter dem Titel mesotēs einführt, wurde ursprünglich jedenfalls nicht als eigenständiges Element eines Satzes betrachtet.84 Wesentlich ist die Unterscheidung zwischen Namen bzw. Appellativum einerseits und Verbum andererseits. Eigennamen bezeichnen die individuelle (idia poiotēs), Gemeinnamen bzw. Appellative die mit anderen Dingen gemeinsame Qualität (koinē poiotēs) eines Gegenstandes.85 Die Bedeutung von Gemeinnamen ist definierbar; Gemeinnamen sind also durch andere Namen ersetzbar. Dies gilt nicht für Eigennamen.86 Eigennamen bezeichnen Personen oder Sachen in ihrer Abwesenheit; mit Hilfe von Demonstrativa (wie hoûtos, toûto etc.) verweist man dagegen auf präsente, im (gemeinsamen) Wahrnehmungsbereich situierte Objekte.87 Den ver77 78 79 80 81 82 83 84 85 86 87

SE AM VIII, 11 ff.; vgl. VIII, 70; 137 ff.; DL VII, 63. vgl. DL VII, 43; 62. SE AM VIII, 11 ff. vgl. M. Frede 1978, 30 ff. vgl. FDS 537, 538. DL VII, 57–58 = SVF II, 147 und III Diog. 22 = FDS 536. DL VII, 57 = SVF III Ant. 22 = FDS 536. Gourinat 2000, 158. DL VII, 58. vgl. Brunschwig 1984. vgl. Gourinat 2000, 152.

2. Dialektik und Rhetorik; Phonetik, Grammatik, Semantik schiedenen grammatischen Formen eines Nomens (Nominativ, Genetiv, Dativ etc.) entsprechen auf der Bedeutungsebene die fünf Fälle (ptōseis). Die stoischen Fälle sind also nicht den phōnai, sondern den sēmainomena zuzurechnen.88 „Fälle“ werden sie genannt, weil sie unter einen Begriff ‚fallen‘89 bzw. (so die wohl bessere Erklärung), weil sie ‚auf die Dinge fallen‘90. Die Fälle sind Bezeichnetes im Sinne von Referenzgegenständen.91 Nicht Begriffe, sondern Fälle sind konstitutive Elemente der lekta. Allgemeinbegriffe (ennoēmata) für sich genommen sind in stoischem Verständnis rein fiktionaler Natur (die Stoiker sind waschechte Nominalisten), abstrakte Hilfskonstrukte für die Wissenschaft und alltägliche Verständigung, nützlich für den gedanklichen Umgang mit den Dingen, doch ohne reale Subsistenz,92 während lekta und ihre Konstituentien ebenso wie Raum, Zeit und Ort als reales (unkörperliches) Etwas (ti) gelten.93 Im Gesagten ‚erlangen‘ die (körperlichen) Dinge einen Fall; daher ihre Bezeichnung als tyngchanonta.94 Die Fälle konstituieren ein lekton auf verschiedene Weise, je nachdem, in welcher Beziehung oder Verbindung sie zu den anderen Konstituentien der Bedeutung des Satzes stehen.95 Auf die Qualitäten der Dinge beziehen wir uns im Gesagten stets unter einem bestimmten Aspekt; und dieser Aspekt ist im ‚Fall‘ des Nomens benannt. Leitend ist hier für die Stoa (wie in all ihren grammatischen Reflexionen) die Frage, wie, auf welche Weise die Dinge unter dem übergeordneten Gesichtspunkt von Sprachform und Stil (lexis) auf korrekte, d. h. fehlerlose und gekonnte Weise (technikôs) benannt und gesagt werden (können und sollen).96 Vergleichbares gilt für das Zeitsystem, in dem das Verbum zu stehen kommt, das sich auf eine Handlung bzw. einen Vorgang bezieht. Die Stoa gliedert, wie üblich, Zeitliches nach Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft; sie (Chrysipp) spricht wiederholt von Gegenwarts-, Vergangenheits- und Zukunftsprädikaten.97 Doch worauf sie in ihrer Bedeutungsanalyse der verschiedenen Zeitformen des Verbums achtet, ist nicht primär die zeitliche Nähe und Distanz des Vorgangs zur Gegenwart, sondern dies, ob der besagte Vorgang bzw. die Handlung abgeschlossen oder unabgeschlossen, vollständig oder unvollständig ist. Daher die Benennung der Zeitformen des Verbums in „Imperfekt“ und „Perfekt“ und ihre Gliederung in „imperfektes Präsens“, „präsentisches Perfekt“, „imperfekte Vergangenheit“, „perfekte Vergangenheit“.98 88 89 90 91 92 93 94 95 96 97 98

Schubert 1994, 81. Stob. Ecl. I, 137, 1 W; FDS 773; M. Frede 1978, 32. vgl. FDS 780, 783, 784, 785. vgl. DL VII, 192, 190; Schubert 1994, 81. sie sind outina; FDS 860, 763, 316; Schubert 1994, 33, 90 f. vgl. Stob. Ecl. I. 137, 4; I. 136, 21 ff.; DL VII, 60; Simplicius In cat. 105, 8 ff. Stob. Ecl. II. 97, 22–98, 6 = LS 33 J; Schubert 1994, 52. M. Frede 1978, 32. vgl. DL VII,59. vgl. SVF II, 96 ff. vgl. etwa Schol. In Dion. Thr. 250, 26 ff.; M. Frede 1978, 33; vgl. SVF II, 96 ff.

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II Die stoische Logik Das Verbum ist ohne Kasus (aptōton), bezeichnet ein isoliertes Prädikat (asynthe­ ton katēgorēma) und kann mit einem oder mit mehreren Subjekten verbunden werden.99 Das Verbum hat Vorgänge, Ereignisse, bzw. Handlungen zum Inhalt, während der Name den Träger des Vorgangs bzw. den Handelnden (mit seinen Qualitäten) bezeichnet. Die Stoiker sprechen von Vorgängen und Handlungen (meist, aber nicht immer) als Unkörperlichem (asōmata),100 während die Bedeutungen von Namen, die gemeinsamen bzw. individuellen Qualitäten, (durchweg) als etwas Körperliches verstanden werden. Nun sind Vorgänge, Ereignisse bzw. Handlungen ebenso wenig wie materielle Objekte abstrakte Sachverhalte,101 sondern konkrete raum-zeitlich identifizierbare Gegenstände. Doch Vorgänge, Handlungen sind auf andere, auf wesentlichere Weise zeitliche Phänomene als Dinge mit ihren Eigenschaften. Handlungen ‚konstituieren sich in der Zeit‘, während Dinge ‚eine Zeit lang‘ ‚in der Zeit bestehen‘.102 Handlungen, Vorgänge entspringen aus Dingen, hängen an Dingen, spielen an Dingen, kommen an Dingen vor, sind also (unlösbar) an Materielles gebunden und von ihm abhängig. Doch sie stehen ontologisch auf einer anderen Stufe als ein (relativ konstantes) materielles Etwas. Für ein Ding als so und so geartetes Ding ist seine Zeitlichkeit akzidentell; ein Vorgang bzw. Ereignis dagegen ist etwas wesentlich Zeitliches. Auf ein Ding (mit seinen Eigenschaften) kann man problemlos deiktisch verweisen; es fällt in die unmittelbare Wahrnehmung. Dies ist bei Vorgängen bzw. Handlungen nicht ohne Weiteres möglich. All das und nur das ist nach stoischem Verständnis körperlich, was etwas tun oder erleiden kann. Materielles ist kausal wirksam und kausal affizierbar; die Dinge stehen in einem ‚Netzwerk‘ kausaler Beziehungen, die für alles Werden ‚verantwortlich‘ zeichnen. Im stoischen Verständnis von Kausalität bewirkt stets etwas Körperliches etwas Unkörperliches an etwas Körperlichem.103 Die Wirkung, das Unkörperliche, das wesentlich Zeitliche ist das, was Verbalprädikate (katēgorēmata) bedeuten.104 „Die Konjunktion (syndesmos) ist ein undeklinierbarer Teil eines Satzes, der die Teile des Satzes verbindet“.105 Unter syndesmos verstehen die Stoiker einerseits die Konjunktionen im modernen Sinn; andererseits aber auch das, was wir mit dem Ausdruck „Präposition“ (prothetikos syndesmos) belegen.106 Während im Peripatos nur Namen und Verben als Bedeutungsträger galten,107 wohl deshalb, weil sie und nur sie Seiendes benennen, betont die Stoa, dass auch Konjunktionen „etwas aufzeigen“.108 Für sie „gibt es wahre Verbindungen zwischen den Zuständen in der Natur der Dinge, Implikation, Disjunktion, Inkompatibilität, die sich in der Sprache 99 DL VII, 58 = SVF Diog. 22 = FDS 536. 100 DL VII, 64; anders etwa SVF II, 318; 848; III, 97. 101 vgl. FDS 808; 892. 102 Schubert 1994, 71. 103 vgl. SE AM IX, 211; FDS 763. 104 so die m. E. plausibelste Erklärung bei Schubert 1994, 52, 121. 105 DL VII, 58. 106 FDS 592, Gourinat 2000, 154. 107 vgl. Plutarch Quaestiones Platonicae 1009 D. 108 dēloûn FDS 583 = Poseidonios F 45 EK.; epangellein DL VII, 71.

3. Das Sagbare (lekton) in den verschiedenen, insbesondere den logisch wesentlichen Konjunktionen spiegeln.“109 Die Konjunktion hat demnach nicht nur syntaktische Funktion. Sie deckt, je nach Art der Konjunktion, bestimmte reale Verhältnisse und Beziehungen zwischen den Dingen auf.110 Vermutlich hat die Stoa, im Unterschied zur Beschäftigung mit der Prädikatenlogik im Peripatos, ihre Konzentration auf aussagenlogische Sachverhalte zur semantischen „Aufwertung“ der Konjunktion geführt. „Der Artikel (arthron) ist“, so Diogenes Laertius, „ein deklinierbares Element des Satzes, das das Geschlecht und die Anzahl der Namen bestimmt“.111 Als Beispiele führt er die (griechischen) Artikel ho, hē, to, hoi, hai, ta an. Nach allen übrigen Quellen unterscheiden die Stoiker zwei Typen von Artikeln, den definiten (hōrismenon arthron), von den Grammatikern dann Pronomen (antōnymia), und den indefiniten (ahoriston arthron), von den Grammatikern später Artikel (im eigentlichen Sinn) (arthron) genannt, wobei Letzterer sowohl den vorangestellten Artikel als auch das nachgestellte Relativpronomen umfasst.112 Eine sprachliche Artikulation ist im stoischen Sinn definit, wenn sie entweder direkt auf den präsenten Gegenstand zeigt („dieser da“) oder anaphorisch auf den bereits gezeigten Gegenstand zurückverweist. Sie ist indefinit, wenn etwa von „dem Menschen (ho anthrōpos)“, oder von „einem Menschen (anthrōpos tis)“ die Rede ist und dabei unklar bleibt, wer (konkret) gemeint ist.

3. Das Sagbare (lekton) Die Stoiker verbanden in ihrer Dialektik aufs Engste grammatische, semantische und logische Überlegungen. In ihrem Zentrum steht die Theorie des lekton 113 und in dieser wiederum die des axiōma. „To lekton“ kann man sowohl mit „das Gesagte“ als auch mit „das Sagbare“ übersetzen; doch „das Sagbare“ dürfte im Deutschen am besten die stoische Verwendung des Ausdrucks treffen. Für ein (vollständiges) lek­ ton steht häufig bedeutungsgleich „die (bezeichnete) Sache (to sēmainomenon prâgma)“. Die wichtigsten Quellen sind SE AM VIII, 69–74; 11–12 und DL VII, 57; 63–68. Zur Vermeidung von Missverständnissen gilt es, entsprechend der stoischen Theorie, die (physisch-akustische und mentale) Sprachebene, die Vorstellungs- bzw. Denkebene, die Bedeutungsebene und die Ebene der Dinge in der Welt genau zu unterscheiden. Das lekton gehört zur Bedeutungsebene, zu den sēmainomena. Funktionsbasis des Sprechens und Denkens ist die Sprachfähigkeit (der logos), die im Verstand (dianoia) gründet, der seinerseits eine Teilfunktion des menschlichen Zentralorgans (des hēgemonikon) darstellt. Sprechen und Denken zählen ebenso zum Bestand der materiellen Welt wie die (körperlichen) Dinge (ta ektos; ta tyngcha­ 109 110 111 112 113

M. Frede 1978, 64. vgl. Brunschwig 1978, 58–86. DL VII, 58. FDS 542, 543, 550, 551, 552, 556, 558; Gourinat 2000,155. vgl. dazu v. a. M. Frede 1994b, 109–128, Schubert 1994, 15–148; Gourinat 2000, 111– 136; 182–193.

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II Die stoische Logik nonta), über die gesprochen wird; das lekton allein ist unkörperlich.114 Die Stoiker wandten sich gegen eine mentalistische Semantik: ‚Das Wahre und Falsche‘ liege weder in einer bedeutungsvollen (satzhaften) stimmlichen Verlautbarung (phōnē sēmantikē) noch im mentalen Vollzug eines Gedankens (kinēma tês dianoias) bzw. einer in einem Satz formulierbaren Vorstellung (phantasia logikē bzw. noēsis), sondern im lekton, genauer: in einer Art des lekton, im axiōma, d. h. in einem lekton, das eine Behauptung zulässt (lekton apophanton).115 Ein lekton, so die Stoa, ist das, was der satzhaften Vorstellung entspricht, was ihr an (objektivem) Gehalt voraus- und zugrundeliegt (to kata logikēn phantasian hyphhistamenon).116 Lekta lassen sich demnach als das verstehen, was von etwas und zu jemandem sagbar ist, als Inbegriff von (über Gedanken fassbaren und in Sätzen formulierbaren) Bedeutungen, die einen geistigen Zugang zur Welt und eine geistige Kommunikation und (objektive bzw. intersubjektive) Verständigung mit anderen erst ermöglichen.117 Was ihre Immaterialität betrifft, so sahen die Stoiker sie möglicherweise darin begründet, dass sie nicht der sinnlichen Wahrnehmung zugänglich, wohl aber jedem verständlich sind, der über die entsprechende Sprache verfügt. Ist doch die über eine bedeutungsvolle stimmliche Verlautbarung ausgewiesene Sache etwas, „das wir als etwas Bestehendes mit unserem Verstand erfassen, die Nicht-Griechisch-Sprechenden (hoi barbaroi) jedoch nicht verstehen, auch wenn sie die stimmliche Verlautbarung hören“.118 Unkörperlich ist nach stoischem Verständnis, „was von Körperlichem eingenommen werden kann, aber nicht eingenommen ist“.119 Obgleich sich diese Bestimmung, wie wir sehen werden, primär auf das räumlich Leere (to kenon) bezieht, könnte die Gedankenbrücke so verlaufen: Wie alles mögliche Körperliche Leeres (als ‚Behälter‘ verstanden) ausfüllen kann, kann alles mögliche Materielle (natürlich vorzüglich Akustisches, ‚geschlagene und artikulierte Luft‘) als Symbolträger für lekta fungieren. Was die Arten von lekta betrifft, so werden ‚sprachpragmatisch‘ Aussagen bzw. Behauptungen (axiōmata), Fragen (erōtēmata bzw. pysmata), Befehle (prostaktika), Eide (horkika), Gebete (euktika), Bitten und Wünsche (oratika) sowie Hypothesen bzw. Ekthesen und Appelle unterschieden.120 Dabei sind lekta entweder Aussagen oder Fragen oder Bitten etc., somit nicht als Sachverhalte zu denken, die (als ein und dieselben) in den verschiedenen Sprechakten unterschiedlich verwendet werden. Vielmehr ist im jeweiligen lekton bzw. prâgma die Art der Verwendung, nicht zuletzt auch der Zeitumstand eingeschlossen.121

114 115 116 117 118 119 120 121

vgl. SE PH II, 81; AM VIII, 12; 69; 75–76; DL VII, 55. SE AM VIII, 12; 69; DL VII, 65. SE AM VIII, 70. vgl. Schubert 1994, 47. SE AM VIII, 12. DL VII, 140. vgl. DL VII, 65–68; SE AM VIII, 71–73; FDS 897, 899, 906. vgl. Schubert 1994, 22.

3. Das Sagbare (lekton) Entsprechend dem Verständnis von Dialektik als Kunst der Diskussion in Frage und Antwort122 erfährt die Frage besondere Aufmerksamkeit. Unter erōtēma ist eine Frage zu verstehen, die mit ‚Ja‘ oder ‚Nein‘ zu beantworten ist, während pysma eine Frage darstellt, die als Antwort einen Satz erfordert. Diogenes Laertius erwähnt (VII, 68) einen dritten Fragetypus (epaporētikon ti prâgma), der auf eine Aporie zielt und keine eindeutige Ja/Nein-Antwort zulässt (etwa: „Sind nicht Schmerz und Leben etwas Verwandtes?“). Besonderes systematisches Interesse richtet sich auch auf die Imperative. Versteht doch die Stoa genuin menschliche Impulse (hormai) als Selbstaufforderung, dahingehend, dass „die Vernunft des Menschen ihm zu handeln gebietet“.123 Ein Handlungsimpuls und ein Befehl sind der Struktur und der Funktion nach gleich, nur dass der Befehl sich an einen anderen, der Impuls aber an einen selbst richtet. Fragen und Befehle sind nicht wahr oder falsch. Die Eigenschaft, wahr oder falsch zu sein, kommt bei Befehlen erst ins Spiel, wenn sie von der (propositionalen) Vorstellung begleitet sind, dass es gut sei, diesen Befehl zu geben bzw. dem Impuls zu folgen.124 Eide können in gutem Glauben (euorkeîn) oder unaufrichtig (epiorkeîn) geleistet werden; und das, worauf man sich eidlich verpflichtet (to omnymenon), ist wahr oder falsch bzw. wird wahr oder falsch sein.125 Eine eigene Rolle spielen, vor allem im wissenschaftlichen Diskurs, Hypothesen und Ekthesen (bei geometrischen Gegenständen).126 Sie werden dort eingeführt, wo sich, im Rahmen eines dialektischen Gesprächs, die Partner, zum Zweck des Anfangs oder Fortgangs einer Argumentation, auf Prämissen einigen müssen, deren Wahr- oder Falschsein (zumindest ad hoc) nicht feststellbar ist. Ihr Wahrheitswert wird suspendiert, um über sie im Verlauf der Argumentation zu Aussagen zu gelangen, die wahr sind.127 Dies entspricht dem Gedanken, dass Teilsätze in Disjunktionen (Entweder-Oder) und Konditionalsätzen (Wenn-Dann) ohne behauptende Kraft verwendet werden, während der ganze komplexe Satz im Behauptungsmodus steht. Im Zusammenhang der Logik im engeren Sinn hat die Stoa neben den Aussagen nur den Hypothesen128 und den Imperativen129 ihre Aufmerksamkeit gewidmet. Die Stoa spricht vom vollständigen und unvollständigen lekton (lekton autoteles – lekton ellipes).130 Nur ein vollständiges lekton, in einem vollständigen Satz geäußert, ergibt ein sinnvolles Verständnis. Vollständige Lekta lassen sich entsprechend abgeschlossenen Sätzen und Gedanken in wesentliche Teile bzw. Elemente auflösen 122 123 124 125 126 127

DL VII, 42. Plutarch Stoic. rep. 1037 F. vgl. Gourinat 2000, 186. Stob. Flor. 28, 18 = SVF II, 197 = FDS 905 vgl. M. Frede 1974, 42 f. vgl. FDS 897, 900, DL VII, 66, 196, 197; SVF II, 535. vgl. Epiktet Diss. 1, 7, 22; I, 25, 11–13; SE AM III, 9; SVF II, 535, Gourinat 2000, 187– 190. 128 Bobzien 1997b, 299–312. 129 vgl. Barnes 1986, 19–29. 130 SE AM VIII, 12; DL VII, 63–64.

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II Die stoische Logik und zusammenfügen (Fälle, Prädikate, Partikel, Konjunktiva).131 Ein Prädikat (katēgorēma) muss mit einem „geraden Fall“(orthē ptôsis), grammatisch gesehen einem Nominativ verbunden sein, um eine Aussage (axiōma) zu bilden.132 Und nur Aussagen sind wahr oder falsch.133 Die Stoiker entwickelten offensichtlich eine (semantische) Syntax der lekta.134 Manches spricht dafür, dass sie primär isolierte Prädikate in ihren verschiedenen semantischen Formen als unvollständige lekta betrachteten.135

4. Die Aussage (axiōma) Was die Stoiker unter einer Aussage (axiōma) verstanden, galt vielen in der Antike als dunkel.136 Eine mehrfach belegte Standarddefinition lautet: Eine Aussage sei „ein vollständiges lekton/prâgma, das, soweit es an ihm liegt, eine Behauptung zulässt (lekton autoteles apophanton hoson eph’ heautô)“.137 Diogenes Laertius erwähnt auch eine zweite, kürzere Formel: „Ein axiōma ist das, was, soweit es an ihm liegt, verneint oder bejaht werden kann (axiōma esti to apophanton ē kataphanton hoson eph’ heautô)“.138 In der Suda sind beide Formeln zu einer zusammengefügt: Ein axiōma sei „eine vollständige Sache, die, soweit es an ihr liegt, verneint oder bejaht werden kann (prâgma autoteles apophanton hoson eph’ heautô ē kataphanton)“.139 Die erste Formel hebt auf die Unterscheidung von vollständigem und unvollständigem lekton ab und betont seine Behauptbarkeit. Die zweite Formel löst die Behauptbarkeit in die Arten der Verneinung und Bejahung auf und scheint zu insinuieren, dass sich das Merkmal der Vollständigkeit bei dem, was bejaht oder verneint werden kann, von selbst versteht, sodass es nicht mehr explizit angeführt zu werden braucht. In allen drei Formeln taucht die Wendung „soweit es an ihm liegt“ (hoson eph’ heautô) auf. Ihre Bedeutung mag dunkel erscheinen; doch sie liegt bei adäquatem Verständnis dessen nahe, was ein lekton ist. Dieses ist etwas vom Verstand Erfassbares, Denkbares und Sagbares, ohne jedoch von einem Subjekt erfasst, gedacht oder gesagt werden zu müssen, um zu sein, was es ist.140 Ob man so weit gehen kann, das lekton „als etwas Nicht­Körperliches, das an verschiedenen Körpern besteht“ zu bestimmen,141 scheint fraglich, dürften die Stoiker doch rein logische oder mathematische Sachverhalte auch zu den lekta gezählt haben. Doch vielleicht haben auch sie für die Stoiker nur an Körperlichem ihren Anhalt. Ein lekton qua Aussage kann be131 132 133 134 135 136 137 138 139 140 141

vgl. DL VII, 58, 64, 67, 70–72; SE AM VIII, 79. DL VII, 64. SE AM VII, 12; DL VII, 65. vgl. DL VII, 193; Plutarch Adv. Colotem 1119 F; M. Frede 1978, 56. vgl. DL VII, 64; FDS 763; Schubert 1994, 108. vgl. Aulus Gellius Noct. Att. XVI, 8 = FDS 877. Aulus Gellius FDS 877; SE HP II, 104 = FDS 878; DL VII, 65 = FDS 874. DL VII, 65 = FDS 874. FDS 875. vgl. Schubert 1994, 27. so Wildberger 2006a, I, 162.

4. Die Aussage (axiōma) hauptet werden; es ist selbst keine Behauptung.142 Es ist etwas, was seiner objektiven Möglichkeit nach vorliegt und einem Subjekt zum Behauptetwerden zur Verfügung steht, falls dieses sich in den Umständen befindet, die Voraussetzungen erfüllt und die Leistungen erbringt, um es zu erfassen, zu denken und zu behaupten.143 Am Aspekt der subjektiven Leistung, am mentalen Akt richtet sich der Name für die Sache aus: ‚Axiōma‘ meint (positive) Schätzung; Aussagen werden positiv geschätzt (axioûsthai), d. h. bejaht, oder negativ geschätzt (atheteîsthai), d. h. verneint.144 Der Name könnte zum Missverständnis der Sache führen. Die Theorie unterscheidet präzise zwischen fünf verschiedenen Faktoren dessen, was eine Behauptung ausmacht: (a) die denk-, sag- und behauptbare Sache (axiōma, lekton, prâgma), die (b) einer verstandesmäßigen Vorstellung entsprechend vorliegt (kata phantasian logikēn hyphhistamenon)145 und sich (c) auf Dinge in der Welt (tyngchanonta, ta ektos hypokeimena)146 bezieht, die (d) den Gegenstand der Behauptung (des axioûn ē atheteîn) bildet, der Behauptung, die (e) vom Verstand in einem vernehmbaren, bedeutungsvollen (assertorischen) Satz geäußert wird (logos de esti phōnē sēmantikē apo dianoias ekpempomenē).147 Nicht leicht verständlich dürfte auch folgende, von Sextus referierte Kennzeichnung (gewesen) sein: „Sie sagen, ein wahres axiōma sei das, was vorliegt (hyparchei) und im Gegensatz zu etwas steht (antikeîtai tini), während ein falsches nicht vorliegt und im Gegensatz zu etwas steht“.148 Nun ist klar: Jeder Satz, der wahr ist, steht im Gegensatz zu einem anderen, nämlich demjenigen, der falsch ist, wenn er wahr ist; und jeder Satz, der falsch ist, steht im Gegensatz zu einem anderen, nämlich demjenigen, der wahr ist, wenn er falsch ist.149 Was aber besagt das ‚hyparchein‘? Ist mit ‚hyparchein‘ nur das Wahr-sein gemeint (der ‚veritative‘ Sinn von ‚sein‘)? Oder dies, dass im wahren Satz das Prädikat dem Subjekt zukommt (der ‚prädikative‘ bzw. kopulative Sinn von ‚sein‘)? Oder dies, dass wahre Sätze real Existentes darstellen, während falsche Sätze von nichts reden? (der Existenzsinn von ‚sein‘)? Nun ist in stoischen Texten hyparchein im Sinn von „existieren“ eigentlich dem Materiellen bzw. materiell Zugrundeliegenden (to hyparchon)150 vorbehalten, während Unkörperliches als ein Bereich von Entitäten eigener Art anzusehen ist, deren „Sein“ in der Regel mit hyphhistasthai beschrieben wird ;151 doch kommt hyparchein auch im prädikativen Sinn von „zukommen“152 ebenso wie im veritativen Sinn von „der Fall

142 143 144 145 146 147 148 149 150 151 152

vgl. Bobzien 2003, 86. vgl. Gourinat 2000, 195. DL VII, 65 = FDS 874. SE AM VIII, 70; DL VII, 63. SE AM VIII, 12. DL VII, 56. SE AM VIII, 85. vgl. E. Tugendhat, U.Wolf, Logisch-semantische Propädeutik, Stuttgart 1983, 212. SE AM VII, 248; 249; 424; 426; PH III, 242. Schubert 1994, 157. vgl. SE PH III, 256; AM VIII, 10; XI, 220.

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II Die stoische Logik sein“ vor.153 Ferner wird hyphhistasthai gelegentlich auch auf Materielles bezogen.154 Nun meint das obige Zitat, dass eine Aussage „vorliegt“ bzw. „existiert“, wenn das Prädikat (das katēgorēma) dem Träger „zukommt“, das Prädikat mag eine (episodische) Handlung, einen Vorgang, einen Zustand oder eine (relativ konstante) Qualität beinhalten. Doch während für Aristoteles das „Zukommen“ besagt, dass etwas unter einen Begriff fällt bzw. dass ein Begriff auf etwas zutrifft, ist das „Zukommen“ bzw. „Zutreffen“ von etwas für den Stoiker realistisch zu verstehen. Aristoteles spricht (zumeist) von Begriffsverhältnissen, die Stoa (immer) von Existenzverhältnissen. Eine Aussage „existiert“, wenn sie wahr ist, das heißt für die Stoa: Sie trifft Wirkliches, sie stellt etwas Reales in der Welt dar, während eine falsche Aussage „nicht existiert“, weil sie nichts sagt, was in der Welt da ist bzw. der Fall ist. So erklärt sich, was die Stoa meint, wenn sie sagt, Aussagen seien teils vergänglich, teils unvergänglich (phtharta kai aphtharta)155 und, es gebe Aussagen, die ihren Wahrheitswert ändern (metapiptonta).156 Wahrsein und Falschsein sind in stoischem Verständnis also zeitliche (permanente oder vergängliche) Eigenschaften von Aussagen.157 Wie ist das zu verstehen? Nun: Ausssagen sollen etwas sein, „was man meint, wenn man einen entsprechenden Satz verwendet, um eine Behauptung aufzustellen“.158 Und „eine Aussage ist das, was entweder wahr oder falsch ist“.159 Man kann nur etwas behaupten, was entweder wahr oder falsch ist. Aussagen können ihren Wahrheitswert ändern besagt dann: Die Aussage „es ist Tag“ ist wahr, wenn es Tag ist; sie ist falsch (geworden), wenn es Nacht ist.160 Die Aussage „Dion wird leben“ geht vom Wahr-sein ins Falsch-sein über, wenn Dion dabei ist, zu sterben. Die Veränderung des Wahrheitswerts einer Aussage ist das eine, der Untergang einer Aussage ist etwas anderes. Eine (deiktische) Aussage ist untergegangen, ist zerstört, wenn der (einzelne und einzige) Gegenstand, von dem in ihr die Rede ist, vernichtet ist bzw. sich aufgelöst hat. Deiktische Aussagen sind nach stoischem Verständnis als solche an die Existenz des Gegenstandes gebunden, auf den sie verweisen. Die Stoa scheint die Veränderung des Wahrheitswerts einer Aussage deshalb vom Zerstörtsein einer Aussage unterschieden zu haben. Die Aussage „dieser ist tot“, von Dion gesagt, solange er lebt, ist falsch; von ihm nach seinem Tod gesagt, ist zerstört, da der so Bezeichnete nicht mehr existiert.161 Deiktische Aussagen sind als wahre, als „existente“ daran gebunden, dass der Gegenstand, von dem die Rede ist, dem, der sie denkt und äußert (und vernimmt), im Wahrnehmungsfeld präsent ist und gezeigt werden kann. Sie sind als solche, als Gegenstände einer möglichen Be153 154 155 156 157 158 159 160 161

vgl. DL VII, 71. vgl. Schubert 1994, 246–260. SVF II, 182 = FDS 695. SE PH II, 231 = FDS 1200; SVF II, 206 = FDS 1025. vgl. Bobzien 2003, 87. M. Frede 1974, 35. DL VII, 65. vgl. DL VII, 65; vgl. SE AM VIII, 103. SVF II, 202a = FDS 994.

4. Die Aussage (axiōma) hauptung daran gebunden, dass das Objekt als Zeigbares existiert; sie sind zerstört, wenn der Gegenstand als solcher nicht mehr existiert. Aussagen mit Eigennamen dagegen sind, als solche, nicht an die deiktische Gebrauchssituation gebunden; sie können ihren Wahrheitswert ändern, insofern sie von Veränderlichem handeln. So ändert die Aussage „Dion lebt“ ihren Wahrheitswert, wenn Dion tot ist, doch sie bleibt, wenngleich als falsche und „inexistente“, als Gegenstand einer möglichen Behauptung, bestehen.162 Jemand, der vom Tod Dions noch nicht weiß, kann im Gespräch sinnvoll, wenngleich fälschlich behaupten, dass Dion noch lebt. Neben ihrer allgemeinen Bedeutung gehören für manche Aussagen also die Umstände der Äußerung zu ihrer Identität. Für manche Aussagen unterscheidet sich die Angabe der Wahrheitsbedingungen nicht von der Angabe ihrer allgemeinen Bedeutung. Solche Aussagen sind unvergänglich und immun gegenüber einer Veränderlichkeit des Wahrheitswertes. Nur solche sind einer möglichen Veränderung ihres Wahrheitswertes ausgesetzt, für die die Umstände ihrer Außerung zu ihrer Identität gehören. Doch wenn eine Aussage ihren Wahrheitswert ändern kann, dann können nicht alle Umstände der Äußerung, die neben ihrer allgemeinen Bedeutung für ihr Wahrsein oder Falschsein relevant sind, zu dem gehören, was sie als diese bestimmte Aussage ist. Alle Aussagen, von denen wir wissen, dass sie nach stoischer Auffassung ihren Wahrheitswert ändern können, sind solche mit „verwendungsreflexiven Zeitangaben“, die mittels der Tempusinflektion oder adverbieller Bestimmungen (wie „früher“, „später“, „morgen“ „gestern“ etc.) gebildet werden.163 Es sind dies Aussagen, die etwas besagen, was man mit einer verwendungsreflexiven Zeitangabe meinen könnte und „was man unter Verwendung desselben Aussagesatzes immer noch meinen könnte, falls man es einmal gemeint haben sollte“.164 So könnte jemand (wahrheitsgemäß) der Meinung sein, dass „in Bälde“ eine Seeschlacht stattfinden werde, und eben dieser Meinung, weil er von dem Ereignis nicht erfuhr, (fälschlicherweise) immer noch sein, auch wenn sie inzwischen bereits stattgefunden hat; es handelte sich um dieselbe Aussage, eine Aussage, die allerdings ihren Wahrheitswert geändert hat. „Die Aussage ist das, was wahr oder falsch ist“.165 Die Stoa vertritt das Prinzip der Bivalenz der Aussagen: Alle Aussagen sind entweder wahr oder falsch; ein Drittes gibt es nicht.166 Nach Cicero167 ist es für die Stoa ein fundamentum dialecticae. Was ihr ein Fundament war, schien manchen in der Antike durchaus zweifelhaft. Der Skeptiker Cicero liefert (ebd.) eines der Argumente gleich mit, die gegen das Prinzip ins Feld geführt wurden: das Paradox vom Lügner, der sagt, dass er lüge. Auf der anderen Seite stand da das Problem von Aussagen über Künftiges. Wird dieses als durch Gegenwärtiges nicht determiniert verstanden, müssen Aussagen über Künftiges dann nicht als offen, als weder wahr noch falsch erachtet werden? Genau so hat 162 163 164 165 166 167

SVF II, 202a = FDS 994; Gourinat 2000, 197. M. Frede 1973, 46 ff. M. Frede 1974, 36. DL VII, 65 = SVF II, 193 = FDS 874; SE AM VIII, 12. vgl. SE AM VIII, 73; DL VII, 66. Acad. prior. II, 95 = SVF II, 196 = FDS 880.

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II Die stoische Logik nach Auffassung der Stoiker Aristoteles in De interpretatione 9 die Sache gesehen. Für die Stoa galt das Bivalenzprinzip universell, also auch für Aussagen über Künftiges. Sie verband dies mit einem universellen Determinismus und einem starken Wahrheitsbegriff, nach dem die Wahrheit einer zukunftsbezogenen Aussage an das gegenwärtige Vorliegen zureichender (kausaler) Bedingungen für das Eintreten des prognostizierten Ereignisses gebunden ist.168 Menschliche Freiheit suchte sie gleichwohl über eine differenzierte Modalitätstheorie und Ursachenlehre zu retten.169 Das Lügner-Paradox hat Chrysipp offensichtlich intensiv beschäftigt; er widmete ihm eine Reihe von Abhandlungen.170 Der prägnante Wortlaut des Paradoxes dürfte bei Cicero171 wohl so gelautet haben: Si te mentiri dicis idque verum dicis, mentiris, , verum dicis.172 Man mag entscheiden, so man es könnte, ob der Lügner lügt oder die Wahrheit sagt. In beiden Fällen scheint die vom Lügner gemachte Aussage sowohl wahr als auch falsch zu sein. Dieser Auffassung war wohl Aristoteles.173 Auch gegen sie hat Chrysipp einen Text verfasst.174 Seine Argumentation ging dahin, dass Aussagen dieser Art keiner Erklärung zugänglich seien und für sie kein Kriterium zu finden sei, nach dem man entscheiden könne, ob sie wahr oder falsch seien;175 die Geltung des Bivalenzprinzips könnten sie nicht erschüttern.

5. Die Arten von Aussagen Die Stoa unterschied einfache (haplâ) von nicht-einfachen (ouch haplâ) Aussagen und hielt diese Unterscheidung offensichtlich für grundlegend.176 Mit der Definition und Klassifikation der Aussagen verband sie die Angabe der Wahrheitsbedingungen der verschiedenen Typen von Aussagen. Unter nicht-einfachen Aussagen verstand sie solche, bei denen zwei oder mehrere Aussagen durch eine oder mehrere Konjunktionen verbunden sind. Unter einfachen Aussagen verstand sie dagegen solche, bei denen dies nicht der Fall ist; einfache Aussagen sind „junktorenfrei“.177 Auch Aussagen, die mit sich selbst verbunden werden, subsumierte sie unter die nicht-einfachen Aussagen; es kommt ihr offensichtlich allein auf die logische Form an. „Es ist Tag“ ist eine einfache Aussage; „Wenn es Tag ist, ist es Tag“ ist eine nichteinfache, mit sich selbst verbundene Aussage; „Wenn es Tag ist, ist es hell“ ist eine nicht-einfache Aussage, bestehend aus zwei verschiedenen Teilaussagen.178 168 169 170 171 172 173 174 175 176 177 178

Schallenberg 2008 Kap. 2; siehe unten S. 122–136. vgl. Schallenberg 2008, Kap. 7; siehe unten S. 76–78; 122–136. vgl. DL VII, 196–197. Acad. prior. II, 95; der Text ist lückenhaft. FDS 880 nach Plasberg, Hülser; Gourinat 2000, 199. vgl. Sophistici Elenchi 25, 180 b2–7. DL VII, 196. Cicero Acad. prior. II, 95; FDS 880. SE AM VIII, 93; DL VII, 68. SE AM VIII, 94; vgl. Brunschwig 1986b, 287–310. vgl. DL VII, 68–69; SE AM VIII, 94–95; 108.

5. Die Arten von Aussagen Diogenes Laertius und Sextus Empiricus überliefern verschiedene Listen einfacher Aussagen.179 Die Klassifikation der Stoiker (genannt werden Chrysipp, Archedem, Athenodor, Antipater und Krinis), wie sie uns bei DL vorliegt, könnte aus einer Klassifikation der Dialektiker (Philon und Diodor), die Sextus referiert, entwickelt worden sein.180 Sextus’ Liste steht im Kontext einer Stoa-Kritik; er hält offensichtlich diese Einteilung auch für die Stoiker für verbindlich; Zenon war einst bei den Dialektikern in die Schule gegangen.181 Sextus’ Liste enthält drei Titel; sie unterscheidet ‚bestimmte‘ (hōrismena) Aussagen von ‚unbestimmten‘ (ahorista) und ‚mittleren‘ (mesa). Bestimmte Aussagen sind die deiktischen („Dieser geht umher“; „Dieser sitzt“). Unbestimmte Aussagen sind solche, „die von einem unbestimmten Teil regiert werden“ („Irgendjemand geht umher“; „Irgendjemand sitzt“). Mittlere (d. h. weder definite noch indefinite) Aussagen sind von der Art: „Ein Mensch sitzt“ oder „Sokrates sitzt“.182 Die Liste bei Diogenes Laertius enthält sechs Titel. Sie unterscheidet die ‚verneinende‘ (apophati­ kon), die ‚bestreitende‘ (arnētikon), die ‚privative‘ (sterētikon), die ‚kategorische‘ (katēgorikon), die ‚bestimmt aussagende‘ (katēgoreutikon) und die ‚unbestimmte‘ (ahoriston) Aussage. Verneinend wäre „Nicht: es ist Tag“; bestreitend: „Niemand geht umher“; privativ: „Unfreundlich ist dieser“; kategorisch: „Dion geht umher“; bestimmt aussagend (kategoreutisch): „Dieser geht umher“; unbestimmt: „Irgendjemand geht umher“, „Jener bewegt sich“.183 Die ersten drei Titel der Diogenes-Liste beinhalten verneinende Aussagen bzw. Aussagen mit negativem Charakter; solche fehlen in der Sextus-Liste; sie sind in den drei Titeln des Sextus wohl mitverstanden. Es fällt auf, dass der verneinende „Teil“ in den Stoa-Beispielen des Diogenes jeweils am Anfang des Satzes steht: Der Anfang eines Satzes signalisiert nach stoischer Praxis seine logische Form. Dies ist ein Hinweis darauf, warum die Stoiker die negativen Aussagen bzw. solche mit negativem Charakter in eigenen Titeln anführen; sie haben sie anders als die Dialektiker interpretiert.184 Die Dialektiker orientierten sich in ihrer Klassifikation am Subjektausdruck und verstanden die Sätze „Dieser sitzt“ vs. „Dieser sitzt nicht“, „Sokrates sitzt“ vs. „Sokrates sitzt nicht“ als kontradiktorische Sätze. Die Stoiker verstanden sie als (implizite) Existenzaussagen und damit als konträre Sätze, die beide falsch sein können (wenn die besagte Person nicht existiert); sie unterschieden zwischen „Dieser sitzt nicht“ bzw. „Sokrates sitzt nicht“ und „Es ist nicht der Fall, dass dieser sitzt“ bzw. „dass Sokrates sitzt“. Entsprechend der unterschiedlichen semantischen Deutung der Sätze änderten

179 DL VII, 69; SE AM VIII, 96; vgl. dazu Goulet 1978, 171–198; Ebert 1993, 111–127, Brunschwig 1995, 141–160. 180 Ebert 1991, 108–130. 181 DL VII, 16, 25. 182 SE AM VIII, 96–97. 183 DL VII, 69–70. 184 vgl. dazu A. C. Lloyd 1978b, 285–296 und Ebert 1991, 116–119, unter Berufung auf Apuleius De int. 177, 22–31 und Alexander v. Aphrodisias In An. prior. 402, 3–23 = FDS 921; vgl. FDS 920, 922.

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II Die stoische Logik sie die Klassifikation einfacher Aussagen und ihre Terminologie. Die genuin stoische Theorie einfacher Aussagen enthält die Liste des Diogenes. Eine verneinende (apophatikon) Aussage ist die Negation einer bejahenden; sie liegt dann vor, wenn ein ganzer Satz verneint wird.185 Die Negation muss vorangestellt sein, um die gesamte Aussage und nicht nur einen Teil zu regieren: „Nicht: Es ist Tag“ statt „Es ist nicht Tag“186 und „Nicht: Kallias sitzt“ statt „Kallias sitzt nicht“.187 Für Aristoteles wird in einer Negation lediglich die Beziehung zwischen dem Subjekt und Prädikat negiert;188 für ihn sind die angeführten Satzpaare jeweils bedeutungsgleich. Für einen Stoiker besagt der Satz „Nicht: Kallias sitzt“ entweder: „Es gibt Kallias nicht, und er sitzt (demzufolge) auch nicht“ oder „Es gibt Kallias, und es kommt ihm nicht zu, zu sitzen“, während der Satz „Kallias sitzt nicht“ für ihn nur Letzteres ausdrückt und ambivalenten Charakter hat, weil die Aussage ein bejahendes und ein verneinendes ‚Teil‘ enthält.189 Die bestreitenden und die privativen Aussagen sind für den Stoiker gleichfalls keine (eindeutig) verneinenden Aussagen und bilden deshalb jeweils eine eigene Klasse; das Bestreitende und das Privative macht in ihnen jeweils nur ein Element aus (arnētikon morion – sterētikon morion). Bei der bestreitenden Aussage wird die Existenz irgendeines Trägers eines Prädikats negiert („Niemand geht umher“); bei der privativen Aussage betrifft die Negation dagegen das Prädikat. Die Kennzeichnung der bestreitenden Aussage scheint klar zu sein, jene der privativen bereitet Verständnisprobleme; sie bestehe „aus einem privativen Teil“ und einer „Aussage der Möglichkeit nach“ (axiōma kata dynamin).190 Das Beispiel „Unfreundlich (aphilanthrōpos) ist dieser“ legt nahe, dass die Privation sich auf Dispositionsprädikate bezieht, deren Bedeutung Aussagen impliziert, die auf ein reguläres Verhalten unter bestimmten Bedingungen verweisen. Dem Subjekt wird in privativen Aussagen das Fehlen bzw. der Mangel einer Disposition (hexis) zugesprochen.191 Die restlichen drei Aussagenarten sind sämtlich affirmativ. In der editio princeps des Diogenes-Textes wird für die kategorische und die kategoreutische Aussage derselbe Beispielsatz („Dieser geht umher (hoûtos peripateî)“ angeführt. Dies ist wenig sinnvoll. Der Text wurde deshalb von den modernen Editoren korrigiert, teils in „Dion geht umher (Diōn peripateî)“, teils in „Ein Mensch geht umher (anthrōpos peripateî)“. Beides lässt sich sachlich vertreten, da für die Stoiker mit dem Gemeinnamen eine bestimmte Species und mit dem Eigennamen eine unterste Species bezeichnet192 bzw. mit dem Gemeinnamen die gemeinsame Qualität, mit dem Eigennamen die individuelle Beschaffenheit eines Subjektes,193 unabhängig von der Prä185 186 187 188 189 190 191 192 193

vgl. SE AM VIII, 89. vgl. SE AM VIII, 90. vgl. FDS 921. vgl. Cat. 10, 13 b12–35. vgl Gourinat 2000, 211 f. DL VII, 70 vgl. SVF II 178; FDS 937. vgl. DL VII, 61. vgl. DL VII, 58.

6. Nicht-einfache Aussagen senz des Gegenstandes für den Sprecher und Hörer angesprochen wird. Im Fall der indefiniten Aussage (ahoriston) ist das eine Beispiel („Irgendjemand geht umher“) klar, das andere („Jener bewegt sich“) nicht.194 Das zweite erscheint verständlich und treffend nur, wenn mit „Jener (ekeînos)“ anaphorisch auf ein unbestimmtes „Irgendjemand“ verwiesen sein soll. Völlig klar würden die beiden Beispielsätze, könnte man sie als (einfache) Teilaussagen eines Konditionals verstehen: „Wenn irgendjemand umhergeht, dann bewegt sich jener“.195 Doch diese Interpretation handelt von einer komplexen, nicht von einer einfachen Aussage, geht also über den Text, wenn er denn verlässlich ist, hinaus. Der Gesichtspunkt, nach dem die Stoa die einfachen affirmativen Aussagen gliedert, ist der, in welchem Maß die Aussage den Gegenstand bestimmt, dem das Prädikat zukommen soll.196 Deiktische (kategoreutische) Aussagen bieten die Gewähr der Identifikation des Gegenstandes. Indefinite Aussagen bestimmen den Gegenstand in keiner Weise. Sie besagen zwar, dass es überhaupt einen Gegenstand gibt, dem das Prädikat zukommt, doch sie lassen völlig offen, um welche Art von Gegenstand es sich handelt. Kategorische Aussagen bestimmen die gemeinsame oder individuelle Art des Gegenstandes, dem das Prädikat zukommen soll. Deiktische Aussagen beziehen sich direkt, kategorische indirekt über die Art auf einen Gegenstand. Der Eigenname beinhaltet die „Eigenart (idia poiotēs)“ eines Gegenstandes; je genauer wir sie kennen und zu kennzeichnen vermögen, umso sicherer erlaubt sie die Identifikation des Gegenstandes.

6. Nicht-einfache Aussagen Diogenes Laertius präsentiert eine stoische Liste nicht-einfacher Aussagen (tôn ouch haplôn), die sieben Arten enthält:197 die implikative bzw. konditionale Aussage (to synēmmenon), die subimplikative bzw. subkonditionale (to parasynēmmenon), die konjunktive (to sympeplegmenon), die disjunktive (to diezeugmenon), die kausale (to aitiôdes), schließlich die ein Mehr (to diasaphoûn to mâllon) und die ein Weniger aufweisende (to diasaphoûn to hêtton). Die implikative bzw. konditionale Aussage sei nach Chrysipp und Diogenes von Babylon mit der verbindenden Partikel „Wenn (ei)“ gebildet, und diese zeige an, dass das Zweite aus dem Ersten folge (akoloutheîn), wie z. B. „Wenn es Tag ist, ist es hell“. Die subimplikative bzw. subkonditionale Aussage sei nach Krinis mit der Partikel „Da (epei)“ gebildet, verkünde, dass das Zweite aus dem Ersten folge (ako­ loutheîn) und dass das Erste bestehe (hyphestanai), wie z. B. „Da es Tag ist, ist es hell“. Die konjunktive sei mit „Und“ bzw. „Sowohl als auch (kai­kai)“ verbunden („Und es ist Tag, und es ist hell“), die disjunktive mit „Entweder-Oder (ētoi­ē)“ („Entweder es ist Tag oder es ist Nacht“), die kausale mit „Weil“ bzw. „Deshalb-weil 194 195 196 197

DL VII, 70. so W. and M. Kneale 1962, 146. vgl. M. Frede 1974, 60. DL VII, 69, 71–73.

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II Die stoische Logik (dihoti)“ („Weil es Tag ist, ist es hell“), und die verknüpfenden Partikel der ein Mehr oder Weniger aufweisenden (der sog. dissertiven) Aussagen seien „Mehr-als (mâllon­ē)“ („Es ist mehr Tag als es Nacht ist“) und „Weniger-als (hêtton­ē)“ („Es ist weniger Nacht als es Tag ist“). Die Verbindungspratikel (aus einem oder mehreren Teilen bestehend), der „Junktor“ ist ein undeklinierbares Teil des Satzes, der seine Teile verbindet.198 Bei allen Aussagenarten ist, wie die Beispiele belegen, die regierende Verbindungspartikel an den Anfang des Satzes gestellt, um sprachlich-syntaktisch die spezifische logische Form der Aussage anzuzeigen und zu signalisieren, dass die Reichweite des logischen Operators sich auf die gesamte nicht-einfache Aussage bezieht. Damit werden Mehrdeutigkeiten vermieden.199 Auf Chrysipp geht, soweit dies erkennbar ist, die Bestimmung von nur drei der nicht-einfachen Aussagen (der konditionalen, konjunktiven und disjunktiven) zurück. Nicht-einfache Aussagen können aus mehr als aus zwei einfachen Teilaussagen zusammengesetzt sein.200 Zum einen können die konstitutiven Teilaussagen einer nicht-einfachen Aussage ihrerseits komplex sein, wie z. B. „Wenn es Tag ist und die Sonne über der Erde steht, dann ist es hell.“ Zum anderen können Konjunktionen und Disjunktionen aus mehr als zwei Gliedern bestehen: „Entweder Reichtum ist gut oder Reichtum ist schlecht oder Reichtum ist indifferent“.201 Die Implikation (die Konditionalaussage „Wenn-dann“) war zur Zeit der Alten Stoa unter ‚Logikern‘ ein vieldiskutiertes Thema.202 Umstritten war, wie die Folgebeziehung (das akoloutheîn) zwischen den konstitutiven Teilsätzen der Implikation zu interpretieren ist. Nach einem Epigramm des Kallimachos konnten die Raben auf den Dächern das Kriterium Diodors für eine gültige Implikation rezitieren.203 Uns sind drei verschiedene Kriterien aus dieser Diskussion überliefert; zwei sind mit den Namen der Dialektiker Diodor und Philon verknüpft, das dritte ist mit den Stoikern verbunden. Zenon von Kition hat mit Philon bei Diodor studiert; die stoische Auffassung lässt sich als (eigenständige) Antwort auf die Diskussion unter den Dialektikern verstehen. Philons These laute, dass die Konditionalaussage „gesund (hygies)“ bzw. „wahr (alēthes)“ sei, „wenn sie nicht mit Wahrem beginnt und mit Falschem endet“.204 Diodors Auffassung laute, eine Implikation sei wahr, wenn „es weder möglich war noch möglich ist, dass sie mit Wahrem beginnt und mit Falschem endet“.205 Eine dritte Position verträten jene, „die die Verbindung (synartēsis) einführen“. Nach ihrer Auffassung ist eine Konditionalaussage wahr, „wenn der kontradiktorische Gegensatz (to antikeimenon) des Succedens (lêgon) mit dem Antecedens (hēgoumenon) unverträglich ist (machetai)“.206 Genau diese Formel wird bei Dioge198 199 200 201 202 203 204 205 206

DL VII, 58. M. Frede 1974 198–201; Ebert 1991, 115; 130; Bobzien 2003, 92–93. vgl. Plutarch Stoic. rep. 1047 C-E. SE AM VIII, 434; Bobzien 1999b, 92. vgl. Bobzien 1999b, 83–92. vgl. SE AM I, 309–310. SE AM VIII, 113. SE AM VIII, 115. SE PH II, 111.

6. Nicht-einfache Aussagen nes Laertius (VII, 73) im Kontext der Auffassung der Stoiker (Chrysipp und Diogenes von Babylon) referiert. Philon und Diodor vertreten eine wahrheitsfunktionale Deutung der Implikation: Der Wahrheitswert der Implikation ist eine Funktion der Wahrheitswerte der einfachen Aussagen, die die Implikation bilden. Der Unterschied zwischen ihnen besteht darin, dass Philon bei wahren Implikationen eine Veränderung des Wahrheitswerts (in der Zeit bei gleichbleibendem Wortlaut der Implikation) akzeptiert und Diodor dies ablehnt. Die diodorisch wahre Implikation ist demnach eine zu jeder Zeit philonisch wahre Implikation.207 Was die Stoiker motivierte, ein eigenes Verständnis der Implikation zu entwickeln, machen die bei Diogenes Laertius (VII, 73) referierten Beispiele klar. Das positive Beispiel lautet: „Wenn es Tag ist, ist es hell.“ Der kontradiktorische Gegensatz des Succedens (ouchi phôs) wäre mit dem Antecedes (hēmera estin) unverträglich; die Konditionalaussage ist wahr. Das negative Beispiel lautet: „Wenn es Tag ist, geht Dion umher“. Hier ist der kontradiktorische Gegensatz des Succedens sehr wohl mit dem Antecedens verträglich; die Konditionalaussage ist demnach falsch. Was die Stoiker also für eine wahre Implikation verlangen, ist ein logischer bzw. sachlicher (oder auch ein manifester empirischer)208 Zusammenhang (synartēsis) zwischen Antecedens und Succedens, der bei einer bloß wahrheitsfunktionalen Interpretation der Implikation nicht bestehen muss. Sie wollten offensichtlich die Paradoxien des bloß wahrheitsfunktionalen Verständnisses vermeiden.209 Nach Philon (und dem heute üblichen Verständnis der materialen Implikation) sind drei der möglichen Wahrheitswertkombinationen wahr (WW, FF, FW) und nur eine falsch (WF). Nach alltäglichem Verständnis paradox erscheint dabei zum einen, dass ein falscher Antecedens einen beliebigen Succedens implizieren und zum anderen, dass eine wahre Aussage in einem beliebigen Antecedens impliziert sein soll. Dem stoischen Konzept der Konditionalaussage entsprechend „folgt das Wahre aus dem Wahren, wie z. B. aus „Es ist Tag“ das „Es ist hell“, das Falsche aus dem Falschen, wie z. B. aus „Es ist Nacht“ das „Es ist dunkel“ und das Wahre aus dem Falschen, wie z. B. aus „Die Erde fliegt“ das „Die Erde existiert“, während aus Wahrem nicht Falsches folgt; denn aus „Die Erde existiert“ folgt nicht „Die Erde fliegt“.210 Wenn hier davon die Rede ist, dass das Falsche aus dem Falschen folgt, so ist damit nicht gemeint, dass aus einer beliebigen falschen Aussage etwas beliebig Falsches folge. Vorausgesetzt ist vielmehr dies, dass der (bei Tag geäußerte) Satz „Es ist Nacht“ falsch ist. Aus dem falschen Satz folgt (korrekterweise) der Satz „Es ist dunkel“; entsprechend falsch ist er unter den Umständen seiner Äußerung. Die subimplikative Aussage (to parasynēmmenon) geht auf Krinis zurück. Dieser (sonst nicht weiter bekannte stoische Logiker) schrieb ein Buch über die Kunst der Dialektik.211 Nach seiner Bestimmung wird sie mit dem Junktor „Da (epei)“ gebildet 207 208 209 210 211

vgl. Mates 31973, 45; Ebert 1991, 98; Gourinat 2000, 221. Bobzien 1999b, 108; Bobzien 2003, 95. vgl. SE AM VIII, 309; Cicero De fato VI, 12 = FDS 960 = SVF II, 954. DL VII, 81. vgl. DL VII, 62, 68, 71, 76.

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II Die stoische Logik und ist genau dann wahr, wenn „Wenn p, dann q“ wahr ist und wenn „p“ wahr ist.212 Beansprucht ist hier ein Zweifaches: dass q aus p folgt (akoloutheîn) und dass p vorliegt (hyphestanai). Die Bestimmung der subimplikativen Aussage setzt die der implikativen voraus. Die stoische Interpretation der Implikation ist eng mit einer Theorie des Zeichens (sēmeîon) verbunden, versteht sie doch das Zeichen als den Antecedens einer gültigen Implikation.213 Der Antecedens, das Zeichen „enthülle“ den Succedens (es sei ekkalyptikon ebd.) bzw. weise ihn auf (es sei endeiktikon).214 Dass eine Frau Milch hat, ist ein Zeichen dafür, dass sie empfangen hat;215 dass Schweiß durch die Haut dringt, ist ein Zeichen dafür, dass die Haut Poren hat;216 dass Rauch zu sehen ist, ist ein Zeichen dafür, dass etwas brennt.217 Eine Mehrzahl der stoischen Beispiele ist dem medizinisch-biologischen Bereich entnommen. Dies spricht dafür, dass die stoische Identifikation des Zeichens mit dem Antecedens einer gültigen Implikation in der medizinischen Diagnostik (und dem Zusammenhang von Symptom und Krankheit) eine ihrer wichtigen Quellen hat.218 Was durch ein Zeichen aufgedeckt wird, sind Sachverhalte, die von Natur oder der Umstände wegen verborgen (adēla) sind.219 Das erinnert an Anaxagoras220 und Epikur.221 Doch Epikur versteht das Zeichen als etwas sinnlich Wahrnehmbares, während für die Stoiker das Zeichen der Antecedens einer implikativen Aussage ist, also etwas, was gedanklich erfasst werden muss, um als Zeichen für etwas gelten zu können.222 Die Poren der Haut sind von Natur nicht wahrnehmbar; wir müssen (sc. damals mangels eines Mikroskops) sie denken. Das Feuer kann ich nicht sehen, weil ich zu weit vom Ort des Geschehens entfernt bin. Im einen Fall spricht die Stoa vom aufweisenden (endeiktikon), im anderen Fall vom erinnernden (hypomnēstikon) Zeichen.223 Im einen Fall ist Nichtbeobachtbares als Voraussetzung hinzugedacht bzw. erschlossen, im anderen Fall verdankt sich das Wissen vom Zusammenhang von Beobachtbarem der Erfahrung. Aristoteles unterscheidet im Kontext rhetorischer Schlüsse (von sog. Enthymemen) zwei Arten von Prämissen, die Plausibilitäten (eikota) und die Zeichen.224 Das Zeichen ist nach ihm eine beweisende Aussage, die als solche entweder notwendig oder plausibel ist.225 Beweisend im eigentlichen Sinn sind nur notwendige Zeichen. So ist etwa der Sachverhalt, dass jemand Fieber hat, ein sicheres Indiz für das Vorliegen 212 213 214 215 216 217 218 219 220 221 222 223 224 225

vgl. DL VII, 71. SE PH II, 104 = FDS 1030; vgl. PH II, 132–133. SE PH II, 101 = FDS 1026. SE PH II, 106 = FDS 1030. SE AM VIII, 309 = FDS 1066. SE PH II, 100. Manetti 1987, 75 f. SE PH II, 98. Diels-Kranz B 21a. DL X, 32; vgl. SE AM VII, 140; 211–216. SE AM VIII, 177; Gourinat 2000, 232. SE PH II, 99–102. vgl. Rhetorik I, 3, 1359a 6–10; Anal. pr. II, 27, 70 a3–7. Anal. pr. II, 27, 70 a 7–8.

6. Nicht-einfache Aussagen einer Krankheit.226 Bei einem Enthymem nennt man nicht alle (beim Adressaten als selbstverständlich unterstellten) Prämissen eines Schlusses; man kann sie jedoch explizieren. Für Aristoteles ist das Zeichen der minor eines Syllogismus; für die Stoiker ist das Zeichen der Antecedens der Implikation, die die erste Prämisse eines Syllogismus ausmacht: (a) Wenn der Schweiß durch die Oberfläche der Haut dringt, gibt es nichtwahrnehmbare Poren. (b) Nun dringt der Schweiß durch die Oberfläche der Haut. (c) Also gibt es nichtwahrnehmbare Poren.227 Manche stoischen Beispiele finden sich auch bei Aristoteles; sein Einfluss auf die stoische Theorie des Zeichens liegt nahe. Die konjunktive Aussage (to sympeplegmenon) ist dadurch gekennzeichnet, dass die Teilaussagen, aus denen sie besteht, durch den Junktor „Und (kai)“ verbunden sind.228 Sie ist wahr genau dann, wenn alle mit „und“ verbundenen Teilaussagen wahr sind, und falsch, wenn auch nur eine von ihnen falsch ist.229 Die konjunktive Aussage wird also von der Stoa im Unterschied zur implikativen ausschließlich wahrheitsfunktional bestimmt. Diese Bestimmung erscheint uns selbstverständlich; sie wurde allerdings von der antiken Skepsis in Zweifel gezogen; ihr Argument: Eine konjunktive Aussage aus zwei Gliedern, deren eines wahr und das andere falsch ist, könne nicht mehr als falsch denn als wahr gelten; und eine Konjunktion aus vielen Teilsätzen, von denen nur einer falsch ist, müsste doch eher als wahr, und nicht als falsch anzusehen sein.230 Die Stoa berief sich für ihre Bestimmung auf alltägliche Praxis und Sprache (tê koinê synētheia): Ein Kleid gelte auch als gebraucht und abgenutzt, wenn es nur einen Fleck oder nur ein Loch aufweist. Die logische Festlegung besitzt ihr moralisches Pendant und ihre moralische Stütze: In einem Handlungszusammenhang zieht etwas partiell Schlechtes das Schlechtsein des Ganzen nach sich.231 Die disjunktive Aussage (to diezeugmenon) wird mit dem Junktor „Oder (ētoi)“ gebildet. Diogenes Laertius erklärt,232 die disjunktive Konjunktion zeige an, dass genau eine der beiden Teilaussagen falsch sei. Das ētoi meint also, im Unterschied zum einfachen ē das ausschließende Oder. Nach Sextus Empiricus233 sind in einer wahren Disjunktion die beiden Glieder miteinander unverträglich, und zwar sei bei den Stoikern eine vollständige Unverträglichkeit gemeint (meta machēs teleias), derart, dass sie weder zusammen wahr noch zusammen falsch sein können.234 Eine wahre Disjunktion hat also die Form „Entweder p oder nicht-p“. Oder es handelt sich bei ihr um zwei Teilaussagen, in denen einem Gegenstand zwei miteinander unverträgliche Prädikate zugeschrieben werden, von denen eines zutrifft.235 Dis226 227 228 229 230 231 232 233 234 235

vgl. Rhetorik I, 2, 1357b 14–17. SE AM VIII, 309 = FDS 1066; Gourinat 2000, 230. DL VII, 72. vgl. SE AM VIII, 125. SE AM VIII, 125–126. vgl. Brunschwig 1978, 79; Gourinat 2000, 234. DL VII, 72. SE PH II, 191. SE PH II, 162. vgl. M. Frede 1974, 96.

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II Die stoische Logik junktionen mit mehr als zwei Disjunktionsgliedern (dia pleionōn diezeugmenon) gelten den Stoikern nach Sextus als wahr, wenn ein Glied wahr und der Rest falsch ist; 236 sie müssen dabei vollständige Disjunktionen im Auge haben. Die spätere stoische Schullogik führte zur disjunktiven noch die subdisjunktive Aussage (to paradiezeugmenon) ein.237 Sie muss gegenüber der disjunktiven Aussage nicht die Bedingung der vollständigen Unverträglichkeit der Glieder erfüllen, sei es, dass sie nicht zusammen wahr, sehr wohl aber zusammen falsch sein können, sei es, dass sie nicht zusammen falsch, wohl aber zusammen wahr sein können. Schließlich wurde das „Oder“ der subdisjunktiven Aussage im (heute üblichen) nichtausschließenden Sinn verstanden. Als wahre subdisjunktive Aussagen wurden alle Aussagen der Form „p oder q“ betrachtet, in denen wenigstens eine Teilaussage wahr ist, selbst wenn alle wahr sind.238 Die ursächliche Aussage (to aitiôdes) wird durch das „Weil (dihoti)“ gebildet, wie z. B. „Weil es Tag ist, ist es hell“. Mit dieser Konjunktion wird angezeigt, dass „das Erste gewissermaßen ursächlich (hoionei aition) ist für das Zweite“;239 „gewissermaßen“ ursächlich, weil ursächlich im strikten Sinn das Erste für das Zweite nicht sein kann, da es sich um eine Teilaussage, also etwas Unkörperliches handelt, während nach stoischer Auffassung nur Körperliches (im gegebenen Beispiel die Sonne) kausal wirken kann.240 Eine ursächliche Aussage ist wahr, wenn die erste Teilaussage wahr ist und die zweite aus der ersten tatsächlich folgt; sie ist falsch, wenn die erste Teilaussage falsch ist, wenn keine Folgebeziehung zwischen den beiden Teilen besteht oder wenn die Reihung zwischen ihnen vertauscht ist; Kausalaussagen („Weil p, deshalb q“) sind nicht umkehrbar.241 Diogenes Laertius beschließt seine Liste nicht-einfacher Aussagen mit der dissertiven. Sie teilt sich in die ‚Mehr-als‘-Aussage (diasaphoûn to mâllon) („Es ist mehr Tag als es Nacht ist“ und die ‚Weniger-als‘-Aussage (diasaphoûn to hêtton) („Es ist weniger Tag als es Nacht ist“). Die Erläuterung des Diogenes242 enthält keinen Hinweis auf die Wahrheitsbedingungen solcher Aussagen. Sie spielen auch keine Rolle in den überlieferten Syllogismen. Gleichwohl verdienten sie systematisches Interesse. Sie beziehen sich offensichtlich auf inkompatible Prädikate („Tag“, „Nacht“), die in ihrem Realitätsbezug keine strikte Disjunktion des Entweder-Oder zulassen, sondern mögliche Überlappungen bzw. Mischverhältnisse bzw. Übergänge des Sowohl-Als-Auch in graduierbarer Form aufweisen. Unklar bleibt angesichts der Quellenlage, in welcher strategischen Stellung sie zur entgegengesetzten skeptischen Argumentationsfigur der Unentscheidbarkeit angesichts des „Nicht mehr dieses als dieses (ou mâllon tode ē tode)“ stehen. 236 SE PH II,191; vgl. Aulus Gellius Noct. Att. XVI, 8, 13; Bobzien 2003, 96. 237 Digestae 50, 16, 124 Proculus; Aulus Gellius Noct. Att. 16, 8, 14; Priscian Inst. III, 98, 3; Galen, Inst. Log. 12, 3. 238 Ammonius In an. pr. XI, 4, M. Frede 1974, 98–100. 239 DL VII, 72. 240 vgl. SVF II, 336; siehe unten S. 124. 241 DL VII, 74. 242 DL VII, 72–73.

7. Logik als Theorie und Kunst der Argumentation

7. Logik als Theorie und Kunst der Argumentation Die stoische Logik ist eine Theorie der (dialogischen) Argumentation und der Gültigkeit von Argumenten (und nicht ein System logischer Theoreme und Wahrheiten). Über ihre Ursprünge weiß man wenig Verlässliches. Von Zenon ist ein Buchtitel über Zeichen,243 doch kein eigener Buchtitel zur Dialektik überliefert. Kleanthes und Sphairos haben Traktate zu dieser Thematik verfasst.244 Erst Chrysipp gilt als derjenige, der eine eigenständige stoische Schlusslehre entwickelt hat. Von Zenon wird berichtet, dass er, als Schüler Diodors, sich mit der Lösung von Sophismen befasste,245 diese Arbeit allerdings nicht sonderlich schätzte.246 Er selbst bevorzugte kurze, prägnante syllogistische Argumente, vielleicht um die Aufmerksamkeit des philosophischen Publikums auf sich zu ziehen.247 Davon sind 20 auf uns gekommen,248 etwa dieses: „Das Vernünftige ist besser als das Vernunftlose. Nichts ist besser als der Kosmos. Also ist der Kosmos vernünftig“;249 oder dieses: „Man ehrt vernünftigerweise die Götter. Niemand ehrt vernünftigerweise das, was nicht existiert. Es gibt also Götter“.250 Die Mehrzahl ist von dieser (aristotelisierenden) Art: Die Beziehung zwischen Subjekt und Prädikat in den Prämissen soll den Schluss erlauben. Eines der Argumente, von Cicero ND II, 22 überliefert, bedient sich in induktiver Weise der Analogie und hat konditionale Prämissen: „Wenn auf einem Ölbaum wohltönende Flöten wüchsen, würde man dann etwa zweifeln, dass der Ölbaum über ein gewisses Können im Flötenspiel verfügte? Oder wenn Platanen kleine Harfen trügen, die rhythmisch klängen: Natürlich würde man gleichfalls annehmen, dass in den Platanen musikalisches Können vorhanden sei. Weshalb also sollte man das Weltall nicht für beseelt und weise halten, da es doch aus sich heraus beseelte und weise Wesen erzeugt?“ Ein weiteres schließlich, von Plutarch überliefert,251 ebenfalls mit konditionalen Prämissen formuliert, stellt einen ‚dilemmatischen‘ Schluss dar: „Wenn der erste Redner einen schlüssigen Beweis geliefert hat, muss man nicht mehr den zweiten sprechen hören. Denn das Gesuchte ist gefunden. Wenn er ihn nicht geliefert hat – so ist das wie wenn er einer Vorladung nicht gefolgt wäre oder aber ihr Folge leistend nur geträllert hätte. Entweder hat er den Beweis geliefert oder er hat ihn nicht geliefert. Man muss also den zweiten nicht sprechen hören“. Zenons Syllogismen, ihrem Inhalt nach wenig überzeugend, wurden vom Dialektiker Alexinos lächerlich gemacht, und zwar mithilfe von parallelen bzw. analogen 243 244 245 246 247 248 249 250 251

DL VII, 4. vgl. DL VII, 175; 178. Plutarch Stoic. rep. 1034 E = SVF I, 50; vgl. DL VII, 25. SVF I, 49 = FDS 206. vgl. Schofield 1983, 50. vgl. Schofield 1983, 31–58; Gourinat 2000, 246–248; Ierodiakonou 2002, 81–112. SE AM IX, 104; Cicero ND II, 21. SE AM IX, 133. Stoic. rep. 1034 E = SVF I, 78.

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II Die stoische Logik Prämissen, die zu absurden Schlüssen führen (parabolai), z. B.: „Was der Dichtkunst mächtig ist, ist besser als das, was ihrer nicht mächtig ist, und was der Sprachwissenschaft kundig ist, ist besser als was ihrer nicht kundig ist. . . Nichts aber ist besser als der Kosmos. Der Dichtkunst mächtig also und der Sprachwissenschaft kundig ist der Kosmos“.252 Es war offensichtlich nicht allzu schwierig, Zenons Schlüsse ins Lächerliche zu ziehen. Der stoischen Argumentationskunst musste inhaltlich und formal aufgeholfen werden, sollte sie im philosophischen Diskurs der Zeit ernstgenommen werden. Die Hilfe kam mit einer gegenüber Aristoteles und dem Peripatos neuartigen253 aussagenlogischen Syllogistik, die Chrysipp entwickelt hat. Der Ausdruck „logos“ ist vieldeutig. Die Stoa verwendete ihn auch im Sinn von „Argument“. Ein Argument sei „ein Gefüge von Prämissen und Schluss (systēma ek lēmmatōn kai epiphorâs)“.254 Nicht jedes Argument ist ein Syllogismus; ein Syllogismus ist eine spezifische Form von Argument, eben ein „syllogistikos logos“ aus Prämissen und Schluss.255 Was darunter genau zu verstehen ist, gilt es zu klären. Die Theorie syllogistischer Argumente verspricht jedenfalls großen Nutzen: Sie mache klar, was es heißt, etwas zu beweisen (to apodeiktikon emphainein). Und dies trage viel zur rechten Ordnung der Überzeugungen bei (symballesthai poly pros diorthōsin tôn dogmatōn).256 Eine genauere Bestimmung des genuin stoischen Beitrags zur Argumenttheorie bietet ein Referat des Diogenes Laertius über das, „was die Leute um Krinis“ sagen: Ein logos sei, was aus lêmma, proslēpsis und epiphora bestehe, wie z. B. „‚Wenn es Tag ist, ist es hell. Es ist Tag. Also ist es hell.‘ Lêmma nämlich ist das ‚Wenn es Tag ist, ist es hell‘, proslēpsis das ‚Es ist Tag‘, epiphora das ‚Also ist es hell‘“.257 Der maior (to hēgemonikon lêmma) ist eine nicht-einfache Aussage, der minor (mit „aber (de)“ bzw. „nun aber (alla mēn)“ eingeführt) eine einfache Aussage, die conclusio ist mit „also (ara)“ gekennzeichnet. Lêmma kann je nach Kontext Prämisse überhaupt,258 oder spezifisch nicht-einfache Prämisse bedeuten,259 während proslēpsis (wörtlich: zusätzliche Prämisse) so gut wie immer eine einfache Prämisse meint. Sowohl Diogenes als auch Sextus bestimmen das Argument (logos) als Gefüge aus Prämissen und Schluss. Sextus verdeutlicht den dialogischen Kontext, den die stoische Argumentationstheorie beachtet: Als Prämissen können nur solche Sätze fungieren, die der Gesprächspartner als einleuchtend (tô emphanê eînai) zugesteht,260 die man im Konsens (symphōnōs) akzeptiert, um die conclusio (epiphora) zu erzielen.261 Die con­ 252 253 254 255 256 257 258 259 260 261

SE AM IX, 108. Gourinat 2000, 255–261, gegen Barnes 1985a, 125–142. DL VII, 45 vgl. SE AM VIII, 301; PH II, 135. DL VII, 45. ebd. DL VII, 76. so SE AM VIII, 302. so DL VII, 76. SE AM VIII, 302. SE PH II, 136.

7. Logik als Theorie und Kunst der Argumentation clusio ist die aus den Prämissen erzielte bzw. gefundene und etablierte Aussage (to ek tôn lēmmatōn kataskeuazomenon axiōma).262 Was den Gesprächspartnern einleuchtend erscheint, muss nicht wahr, was als conclusio erzielt wird, muss nicht schlüssig sein. Der Konsens kann auch falsche Prämissen oder, um des Fortgangs des Arguments willen, ‚hypothetisch‘ angesetzte Prämissen beinhalten.263 Und was als Schluss gedacht ist, ist durch seine Stellung am Ende des Arguments mit „Also“ gekennzeichnet. Ein Argument muss nach stoischer Auffassung mehr als eine Prämisse enthalten; nur Antipater ließ auch Argumente mit einer Prämisse zu.264 Nach dem Referat des Sextus265 halten die Stoiker dafür, dass sie in ihrer Theorie des Beweises266 drei zu unterscheidende Argumenttypen miteinander verbinden: das bündige, gültige bzw. schlüssige (synaktikos) Argument, das wahre (alēthēs) und das beweisende (apodeiktikos).267 Diogenes Laertius verwendet für das schlüssige Argument statt synaktikos bedeutungsgleich das Wort perantikos;268 Sextus Empiricus spricht seinerseits269 statt von synaktikos von perainōn. Nach beiden Autoren hat das schlüssige Argument die Form der wahren Implikation entsprechend dem Verständnis von Chrysipp: Es beginnt mit einer Konjunktion der Prämissen (als Antecedens) und endet mit der conclusio (als Succedens). Es ist schlüssig, wenn die Negation der conclusio mit der Kombination der Prämissen unverträglich, es ist nichtschlüssig, wenn die Negation der conclusio mit der Kombination der Prämissen verträglich ist. Offensichtlich wird unterstellt, dass die conclusio aus den Prämissen eines schlüssigen Arguments genau in dem Sinn folgt wie der Succedens einer Implikation aus dem Antecedens.270 Als Beispiel für das nicht-schlüssige Argument führt Diogenes Laertius an: „Wenn es Tag ist, ist es hell. Es ist Tag. Also geht Dion umher“;271 die Negation der conclusio ist mit der Konjunktion der Prämissen vereinbar. Sextus’ Beispiel für das schlüssige Argument ist präziser formuliert: „Wenn: Es ist Tag und wenn: Wenn es Tag ist, ist es hell, (dann) also: Es ist hell“;272 die Negation der conclusio ist mit der Konjunktion der Prämissen unverträglich. Sextus Empiricus berichtet an zwei verschiedenen Stellen von vier Arten nichtschlüssiger (asynaktoi/aperantoi) Argumente.273 Im Passus PH II, 146–150 ist von „den Dialektikern“ die Rede, der Passus AM VIII, 429–434 ist eindeutig den Stoikern zuzuordnen.274 Die Einteilung ist in beiden Abschnitten die gleiche; gewisse 262 263 264 265 266 267 268 269 270 271 272 273 274

ebd. vgl. Epiktet Diss. I. 25, 11–13; Bobzien 1997b, 299–312. vgl. Bobzien 1999b, 121; 155. vgl. AM VIII 425, 428, 435. vgl. dazu Brunschwig 1995, 189–232. SE AM VIII, 411. vgl. DL VII, 77. in AM VIII, 428, 429 und 447. vgl. M. Frede, 1974, 120. DL VII, 77. SE PH II, 137. PH II, 146–150 und AM VIII, 429–434. vgl. AM VIII, 435.

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II Die stoische Logik sprachliche und sachliche Veränderungen sind innerhalb der Einteilung zu notieren. Ob mit „den Dialektikern“ die Stoiker gemeint oder mitgemeint oder nicht gemeint sind, ist in der Forschung umstritten. Mit Ebert275 kann man die eindeutig stoische Version als Präzisierung der dialektischen Vorlage verstehen. Nicht-schlüssig (aperantos) ist ein Argument (a) durch Zusammenhanglosigkeit (kata diartēsin), (b) durch Redundanz (kata parholkēn), (c) durch Folgern in falscher Form (kata to en mochthērô ērōtêsthai schēmati) oder (d) durch Auslassung (kata elleipsin).276 Nicht-schlüssig durch Zusammenhanglosigkeit sind Argumente, wenn zwischen den Prämissen untereinander und den Prämissen zur conclusio kein logischer bzw. sachlicher Zusammenhang besteht, z. B. „Wenn es Tag ist, ist es hell. Nun wird Weizen auf dem Markt verkauft. Also ist es hell“.277 Das Beispiel für das nichtschlüssige Argument aufgrund von Redundanz lautet: „Wenn es Tag ist, ist es hell. Nun ist es Tag. Und auch die Tugend ist nützlich. Also ist es hell“.278 Hier ist eine Prämisse überflüssig und hat mit den Sachverhalten, aus denen die conclusio abgeleitet werden kann, nichts zu tun. Man mag einwenden, dass eine überflüssige Prämisse einen Schluss noch nicht ungültig macht. Doch was die Stoiker offensichtlich bei ihrem Begriff eines schlüssigen Arguments im Auge haben, ist neben der Vermeidung der Redundanz die Relevanz und Sachdienlichkeit der Prämissen für die zu erschließende conclusio. Vielleicht waren sie der Meinung, redundante Prämissen verdunkelten die deduktive Struktur bzw. höben die Folgebeziehung zwischen Prämissen und Schluss auf.279 Bei den nichtschlüssigen Argumenten aufgrund von Auslassung fehlt „etwas an den erschließenden Prämissen (elleipē ti tôn synaktikôn lēmmatōn)“. Als Beispiel dieses Typs wird angeführt: „Entweder der Reichtum ist schlecht oder der Reichtum ist gut. Nun ist nicht der Fall, dass der Reichtum schlecht ist. Also ist der Reichtum gut“.280 Auch dieser Schluss wäre formal korrekt. Doch hier fehlt dem Stoiker etwas an der Disjunktion; sie muss vollständig, d. h. dreigliedrig sein; das Prädikatfeld einer möglichen Wertung zerfällt in gut, schlecht und indifferent. Ein derart nichtschlüssiges, weil defizientes Argument ist von einem falschen zu unterscheiden. Nach stoischer Lehre281 zwar schlüssig aber (inhaltlich) falsch wäre das Argument: „Entweder der Reichtum ist schlecht oder der Reichtum ist gut oder der Reichtum ist indifferent. Nun ist der Reichtum weder schlecht noch ist er indifferent. Also ist der Reichtum gut“;282 Reichtum ist nach stoischer Lehre etwas Indifferentes. Schließlich können Argumente nicht-schlüssig sein aufgrund einer fehlerhaften Form. Für korrekte und fehlerhafte Formen werden Beispiele in der (nach stoischer Praxis üblichen) Formulierung mit Ordinalzahlen als Variablen gegeben; für schlüs275 276 277 278 279 280 281 282

1991, 146–175. SE AM VIII, 429. SE AM VIII, 430. SE AM VIII, 431. vgl. Bobzien 1999b,125. SE AM VIII, 434. vgl. DL VII, 102–103. vgl. Gourinat 2000, 266 f.

7. Logik als Theorie und Kunst der Argumentation sige: „Wenn das Erste, dann das Zweite. Nun aber das Erste. Also das Zweite“ (modus ponens), „Wenn das Erste, dann das Zweite. Nun aber nicht das Zweite. Also nicht das Erste“ (modus tollens); für eine fehlerhafte: „Wenn das Erste, dann das Zweite. Nun aber nicht das Erste. Also nicht das Zweite“. Mit dieser letzteren Form kann man zwar durch die Einsetzung wahrer Prämissen wahre Konklusionen erzielen, doch mit der Einsetzung wahrer eben auch falsche. Und um die Form fehlerhaft zu machen, reicht ein einziges derart falsches Argument: „Wenn es Tag ist, ist es hell. Nun ist es nicht Tag, also ist es nicht hell“ – es kann auch andere Lichtquellen als das Tageslicht geben; es kann hell sein, auch wenn es nicht Tag ist.283 Bei Diogenes Laertius findet sich284 eine eigenartige, weil tautologisch klingende begriffliche Einführung des Syllogismus: „Ein Argument als solches ist ein Gefüge aus Prämissen und Schluss (systēma ek lēmmatōn kai epiphorâs); der Syllogismus ein Argument, das syllogistisch aus diesen (schließt) (ton de syllogistikon logon syllogis­ tikon ek toutōn).“ Für die Stoa ist offensichtlich nicht jedes (deduktive) Argument ein Syllogismus. Nach DL VII, 78285 unterteilt sie die schlüssigen Argumente in die syllogistischen und die nicht-syllogistischen. Ein Argument kann also schlüssig (pe­ rantikos) sein, ohne ein Syllogismus zu sein. Schlüssig ist ein Argument, wenn die Negation seiner conclusio unverträglich ist mit der Konjunktion seiner Prämissen. Um syllogistisch zu sein, muss es einer bestimmten kanonischen Form genügen, derart, dass an seiner Form unmittelbar seine Schlüssigkeit ablesbar ist. Kanonisch ist die Form, wenn sie einer der obersten unableitbaren stoischen Schlussformen entspricht oder (über bestimmte Regeln)286 auf eine von ihnen zurückführbar ist. Die Schlüssigkeit kanonisch formulierter Argumente ist durch ihre Form gesichert; die Schlüssigkeit nicht-kanonisch formulierter Argumente ist dagegen nur über den Inhalt der Aussagen entscheidbar. Schlüssige deduktive Argumente, ob syllogistisch oder nicht, können wahr oder falsch sein. Das Wahrsein der conclusio hängt am Wahrsein der Prämissen. Falsch sind deduktive Argumente, wenn in den Prämissen etwas Falsches oder wenn das Argument nicht schlüssig ist.287 Deduktive Argumente können zwar schlüssig und gleichwohl falsch sein, dann nämlich, wenn die Form korrekt, der Inhalt aber fehlerhaft ist. Die Transformation des deduktiven Arguments in eine Implikation bietet die Möglichkeit zu beurteilen, ob es schlüssig ist, seine Umwandlung in eine Konjunktion bietet die Möglichkeit zu beurteilen, ob es wahr ist.288 Argumente, ob syllogistisch oder nicht, können möglich, unmöglich, notwendig und nichtnotwendig sein.289 Aussagen können in ihrem Wahrheitswert zeitabhängig sein. Die Wahrheit eines Arguments hängt an der Wahrheit ihrer Aussagen. Es

283 284 285 286 287 288 289

SE AM VIII, 432–433. VII, 45. vgl. DL VII, 194. vgl. Mignucci 1993, 217–238. DL VII, 79. vgl. Gourinat 2000, 271. DL VII, 79; vgl. Bobzien 1999b, 126 f.

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II Die stoische Logik gibt demnach Argumente, die ihren Wahrheitswert ändern (metapiptontes logoi).290 Ein notwendiges Argument wäre ein schlüssiges Argument mit notwendig wahren Prämissen. Hinter der Einführung der Modalitäten von Argumenten steht wohl das Interesse an einem exakten Zugang zu Argumenten, die ihren Wahrheitswert nicht ändern. Die Schlüssigkeit eines Arguments ist nicht gleichzusetzen mit seiner Beweiskraft. Nicht alle schlüssigen, ja nicht alle schlüssigen und wahren Argumente sind auch beweiskräftig (apodeiktikoi).291 Von einem beweiskräftigen deduktiven Argument, von einem Beweis im strikten Sinn (apodeixis) spricht die Stoa erst dann, wenn es „aus dem klarer und sicherer Erfassten (ek tôn mâllon katalambanomenōn) das weniger klar und sicher Erfasste (to hêtton katalambanomenon)“292 bzw. wenn es Nicht-Manifestes (adēlon) aus Manifestem (dia prodēlōn)293 erschließt. Beispielhaft für ein beweiskräftiges Argument ist das der Existenz von Poren: „Wenn der Schweiß durch die Oberfläche der Haut dringt, gibt es nichtwahrnehmbare (noētoi) Poren. Nun dringt der Schweiß durch die Oberfläche der Haut. Also gibt es nichtwahrnehmbare Poren“.294 Wir haben einen klaren Vorbegriff (prolēpsis) davon, dass Flüssiges nicht durch Festes dringen kann. Die Evidenz dieses Vorbegriffs trägt die erste Prämisse. Argumente dieser Art erschließen die conclusio auf methodische (ephho­ deutikôs) und enthüllende Weise (ekkalyptikôs);295 sie tun dies im Ausgang von notwendigen und zwingenden Prämissen. Sind die Prämissen nicht von dieser Art, beruhen sie vielmehr auf Glauben und Erinnerung (pistis kai mnēmē), dann kann das Argument zwar als methodisch, aber nicht als enthüllend gelten. Ein Beispiel dieser Art wäre: „Wenn dir einer der Götter sagte, dass dieser reich sein wird, wird dieser reich sein. Nun sagte dieser Gott (angenommen ich zeige auf Zeus) dir, dass dieser reich sein wird. Also wird dieser reich sein“.296 Man glaubt an die Wahrhaftigkeit der Götter. Es gehört zum Erinnerungsbestand, dass ihre Zusagen (in der Regel) eintreffen. Doch gelegentlich täuschen uns die Götter auch. Die tragende Prämisse des Arguments ist nicht notwendig und zwingend, das Argument selbst also nicht beweiskräftig, weil nicht enthüllend kraft der Prämissen. Zudem handelt es sich beim derart erschlossenen Sachverhalt um etwas, das, so oder so, in Zukunft manifest sein wird, während ein Beweis uns prinzipiell Nicht-Manifestes erfassen lässt. „Beweis (apodeixis) wird deshalb ein Argument (logon) genannt, das aus konsensuellen Prämissen (di’ homologoumenōn lēmmatōn) deduktiv (kata synagōgēn) eine nicht-manifeste conclusio (epiphoran adēlon) enthüllend erschließt (ekkalyptōn)“.297

290 291 292 293 294 295 296 297

vgl. Epiktet Diss. I. 7, 1; III. 21, 10. vgl. SE PH II, 140. DL VII, 45. SE PH II, 135. SE PH II, 142 = FDS 1064; AM VIII, 309 = FDS 1066. SE PH II, 141 = FDS 1064; AM VIII, 308 = FDS 1066. ebd. SE PH II, 143; vgl. Cicero Acad. prior. II, 26.

8. Syllogismen im eigentlichen Sinn Im Anschluss an die Dialektiker haben auch die Stoiker, wenn auch weniger intensiv als diese, sich mit Trugschlüssen (sophismata) befasst.298 Eine den Dialektikern zugeschriebene Definition macht den Unterschied von Fehlschlüssen und Trugschlüssen deutlich: „Sie sagen, ein Sophisma sei ein Argument, plausibel und mit List so geformt (pithanon kai dedolieumenon), dass man eine conclusio annimmt, eine conclusio, die entweder falsch oder einer falschen ähnlich oder nicht-offenkundig oder anderswie inakzeptabel ist“.299 Die conclusio eines Sophismas besteht aus einer offensichtlich falschen oder dunklen oder irgendwie paradoxen Aussage, zu der man auf scheinbar schlüssige Weise gelangt. Ein Sophisma ist nicht nur ein mit einem Mangel oder Fehler behafteter Schluss. Es ist darauf angelegt, den Adressaten zu täuschen und zu einer unangebrachten Zustimmung zur conclusio (bzw. zur Ablehnung, weil sie, obgleich wahr, ‚einer falschen ähnlich‘ ist) zu verführen. Diese Definition der ‚Dialektiker‘ kann wohl auch für die Stoiker als verbindlich gelten. Nach Diogenes Laertius’ Stoa-Referat machen Sophismen sich zwei Quellen300 zunutze: Unklarheiten bzw. Mängel im Sprachgebrauch (para tēn phōnēn), etwa im Fall von Äquivokationen oder durch grammatischen Fehler, und Unklarheiten in den Aussagen (para ta pragmata), etwa im Fall des Wechsels des Wahrheitswerts einer Aussage oder bezüglich der Reichweite eines logischen Operators. Er führt eine Liste und eine Reihe von Sophismen an, mit denen die Stoiker bzw. Chrysipp sich befasst haben.301 Soweit man sieht, haben sie diese nicht selbst erfunden. Vielmehr haben sie vorgegebene Sophismen analysiert und sie aufzulösen bzw. zu parieren versucht. Dabei war ihr Anliegen nicht nur argumentationsstrategischer Art: nicht Opfer einer Täuschung zu werden. Sie wollten bei ihrer Analyse von Sophismen auch und vor allem in didaktisch-aufklärender Absicht über logisch-semantische Sachverhalte und Unterscheidungen belehren.

8. Syllogismen im eigentlichen Sinn Nicht jeder deduktive Schluss ist in stoischem Verständnis ein Syllogismus; nicht jeder Syllogismus ist von einerlei Art. Die Stoa unterschied zwischen ihrem Wesen nach schlüssigen Argumenten (perantikoi eidikôs) und Syllogismen im eigentlichen Sinn (syllogismoi; syllogistikoi logoi).302 Gültig bzw. schlüssig ist für die Stoa jedes Argument, wenn die Konjunktion seiner Prämissen den Antecedens und die conclusio den Succedens einer wahren Konditionalaussage bilden.303 Um ein Syllogismus zu sein, müssen gültige Argumente noch weitere Kriterien erfüllen. „Syllogistisch sind nun die Schlüsse, die entweder 298 vgl. DL VII, 43–44; 186–187; Ebert 1991, 176–208; Mignucci 1999, 157–176; Gourinat 2000, 276–281. 299 SE PH II, 229 = FDS 1200. 300 VII, 43. 301 VII, 44 = FDS 1203; 186–187 = FDS 1205. 302 DL VII, 78; zur stoischen Syllogistik vgl. v. a. Bobzien 1996, 133–192. 303 SE PH II, 113; 137; 138; 145; AM VIII, 304; 415; 417; DL VII, 77; M. Frede 1987, 101.

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II Die stoische Logik nicht zu beweisen sind oder die sich gemäß einem oder mehreren Themata auf die nicht zu beweisenden Schlüsse zurückführen lassen“.304 Syllogismen werden also nach Diogenes Laertius ihrerseits differenziert in ‚indemonstrable‘ Syllogismen (anapodeiktoi) und Syllogismen, die sich über bestimmte Regeln, themata genannt, auf die ‚indemonstrablen‘ zurückführen lassen. ‚Anapodeiktos‘ könnte unbewiesen, unbeweisbar oder keines Beweises bedürftig bedeuten; gemeint ist Letzteres. Es handelt sich um elementare Syllogismen, die keines Beweises bedürfen, deshalb weil „an ihnen ohne weiteres ersichtlich ist, dass sie schlüssig sind“.305 Das heißt wohl: Jeder Versuch, sie zu beweisen, würde Annahmen und Argumente in Anspruch nehmen müssen, die weniger einsichtig sind als das, was sie beweisen wollen.306 Sextus bietet eine zusätzliche (bzw. gegenüber Diogenes abweichende) Unterscheidung: „Von den ‚Indemonstrablen‘ sind die einen einfach (haploî), die anderen nicht-einfach (ouch haploî). Einfach sind diejenigen, an denen ohne weiteres klar ist, dass sie schlüssig sind . . . Nicht-einfach sind die, die aus den einfachen zusammengefügt sind und der Auflösung in sie bedürfen, damit erkannt werden kann, dass sie auch selbst schlüssig sind“.307 Die beiden unterschiedlichen Bestimmungen der ‚Indemonstrablen‘ lassen sich nur so einigermaßen bruchlos verbinden, dass die ‚einfachen Indemonstrablen‘ des Sextus mit den ‚Indemonstrablen‘ des Diogenes gleichzusetzen sind, und dass bei Sextus ein engerer und ein weiterer Begriff des Indemonstrablen vorliegt. ‚Indemonstrabel‘ wären dementsprechend die nicht-einfachen des Sextus nur in dem Sinn, dass sie keines Beweises, keiner weiteren Annahmen, wohl aber einer Analyse, einer Dekomposition in einfache ‚Indemonstrable‘ bedürfen, damit ihre eigene unableitbare Schlüssigkeit erkannt werden kann. Auf den indemonstrablen Syllogismen im engen Sinn soll die Gültigkeit aller anderen Syllogismen beruhen (di’ hôn pâs logos pleketai).308 Sie spielen (ihrer elementaren Form nach) die Rolle von Axiomen. Ihre grundlegende Funktion ist wohl auch gegen die skeptische Kritik stoischer Beweise gerichtet: Selbst die Skepsis muss sie benützen, um ihre Kritik schlüssig vorbringen zu können.309 Mit dem Ausdruck „indemonstrabel (anapodeiktos)“ ist das einzelne syllogistische Argument, nicht die Argumentform gemeint.310 Das syllogistische Argument ist aus Aussagen (axiōmata) zusammengefügt. Seine Form stellt die Stoa so dar, dass sie Ordinalzahlen an die Stelle der Aussagen in der Folge ihres Auftretens setzt, wobei jeweils dieselbe Zahl für dieselbe Aussage steht.311 Wie die Beispiele und definitionsartigen Erklärungen belegen, besteht die einfachste Form jeweils in einer leitenden nicht-einfachen Aussage (dem hēgemonikon lêmma), einer zusätzlichen einfachen Aussage (der proslēpsis) und einer einfachen Aussage als conclusio. 304 305 306 307 308 309 310 311

DL VII, 78. SE AM VIII, 223. vgl. M. Frede 1974,128. SE AM VIII, 228–229. DL VII, 79. vgl. M. Frede 1974, 127. vgl. M. Frede 1974, 167–171. vgl. Bobzien 1996, 134 f.

8. Syllogismen im eigentlichen Sinn Nach Chrysipp312 gibt es fünf elementare Formen bzw. Modi (tropoi) solcher ‚Indemonstrablen‘, die keines Beweises, aber auch keiner Analyse in eine Kette von ‚Indemonstrablen‘, bedürfen. Dabei ist ein tropos definiert als „eine Art schēma eines Arguments“:313 (1) Wenn das Erste, dann das Zweite; nun aber das Erste; also das Zweite. (2) Wenn das Erste, dann das Zweite; nun aber nicht das Zweite; also nicht das Erste. (3) Nicht: sowohl das Erste als auch das Zweite; nun aber das Erste; also nicht das Zweite. (4) Das Erste oder das Zweite; nun aber das Erste; also nicht das Zweite. (5) Das Erste oder das Zweite; nun aber nicht das Zweite; also das Erste. Spätere Stoiker fügten noch zwei weitere ‚Indemonstrable‘ hinzu. Die erste elementare Syllogismus-Form hat für die Syllogistik Chrysipps grundlegende Bedeutung. Es ist diejenige, „in welcher das ganze Argument zusammengesetzt ist aus einer Implikation und dem Antecedens, mit dem die Implikation beginnt und der zum Succedens führt“.314 Die mittelalterliche Logik bezeichnete diese Form als modus ponens. Sextus’ Beispiel ist anschaulich und logisch korrekt, doch es verdeutlicht nicht die epistemische Leistungsfähigkeit dieser Form, an der die Stoa eben auch interessiert war: „Wenn es Tag ist, ist es hell; nun ist es Tag; also ist es hell“.315 Die epistemische Leistungsfähigkeit hätte das markante Beispiel demonstriert, das aus dem Sachverhalt, dass der Schweiß die Haut durchdringt, die Existenz von Poren erschließt. Denn hier ermöglicht die Form den Beweis einer von Natur nicht-manifesten Tatsache aus manifesten Prämissen. Und genau dies ist nach stoischer Auffassung von einem veritablen Beweis (einer apodeixis) verlangt. Es wäre nach dem Diodorschen wahrheitsfunktionalen Verständnis der Implikation, das keinen logischen bzw. sachlichen Zusammenhang zwischen Antecedens und Succedens erfordert, nicht zu leisten. Nach ihm muss man die Wahrheitswerte der Teilaussagen der Implikation kennen, um ihren Wahrheitswert zu bestimmen; Diodor muss den Wahrheitswert der conclusio bereits kennen, um den Wahrheitswert der ersten Prämisse zu erfassen. Die (materiale) Implikation p → q erlaubt nicht die Ableitung einer conclusio, wenn p als falsch bekannt ist, und ebensowenig, wenn q bereits als wahr bekannt ist. Für Diodor besitzt die erste indemonstrable Form keinen epistemischen Wert; er könnte mit ihrer Hilfe keine conclusio erzielen.316 „Der zweite ‚Indemonstrable‘ ist der, welcher aufgrund der Implikation und des kontradiktorischen Gegenteils (to antikeimenon) des Succedens das kontradiktorische Gegenteil des Antecedens zur conclusio hat, wie z. B. ‚Wenn es Tag ist, ist es hell; nun aber ist es dunkel; also ist es nicht Tag‘“.317 Der zweite ‚Indemonstrable‘ entspricht dem modus tollens der mittelalterlichen Logik. Wesentlich ist hier zum einen, dass die Stoa in der Syllogistik von Aussagen und ihrem kontradiktorischen Gegenteil (nicht von negativen und positiven Aussagen) spricht, dass „das ‚nicht‘ in 312 313 314 315 316 317

DL VII, 79–81. DL VII, 76; vgl. SE AM VIII, 227; VIII, 234–236. DL VII, 80; SE AM VIII, 224. SE AM VIII, 224 = FDS 1131. vgl. Gourinat 2000, 284–286; 260. DL VII, 80; vgl. SE AM VIII, 225.

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II Die stoische Logik den Modi lediglich anzeigt, die Aussage sei das kontradiktorische Gegenteil der Aussage, auf welche sich das Zahlzeichen ohne das „nicht“ bezieht“.318 Wesentlich ist zum anderen, dass diese zweite Form zwar (mittels einer Schlusskonversionsregel) auf die erste Form zurückgeführt werden kann, dass diese Rückführung jedoch keine höhere Evidenz erzeugt als die zweite Form für sich besitzt. Deshalb wohl wird sie von Chrysipp als eigene Form geführt.319 „Der dritte ‚Indemonstrable‘ ist der, welcher aus einer negierten Konjunktion (di’ apophatikês symplokês) und einem Glied der Konjunktion auf das kontradiktorische Gegenteil des anderen Glieds schließt, wie z. B. ‚Nicht: Platon ist tot und Platon lebt. Nun aber ist Platon tot. Nicht also lebt Platon‘“.320 Viele Logiker der Antike, unter ihnen Galen und Alexander von Aphrodisias, betrachteten diese Schlussform als unnütz, weil die negierte Konjunktion als Prämisse eines Beweises zu schwach sei, vielmehr, um beweiskräftig zu sein, die Unverträglichkeit der Konjunktionsglieder ausdrücken müsse.321 Sie spielt allerdings eine wichtige Rolle in Chrysipps Reformulierung astrologischer Voraussagen. Dies deshalb, weil Chrysipp keine Äquivalenz von Implikation und negierter Konjunktion gegeben sehen wollte. Die Unverträglichkeit der Konjunktionsglieder ist hier nicht, wie bei einer Implikation, logischer bzw. sachlicher, sondern empirischer Art. Damit glaubte Chrysipp, im Zusammenhang von Aussagen über künftige Ereignisse dem Gedanken menschlicher Freiheit Rechnung zu tragen. „Nicht: jemand ist geboren im Zeichen des Hundes und wird im Meer sterben. Nun ist Fabius im Zeichen des Hundes geboren. Also wird er nicht im Meer sterben“.322 Das Wahrsein der conclusio wird sich erst beim Tod des Fabius erweisen. Der dritte ‚Indemonstrable‘ erlaubt die vorgängige Enthüllung von temporär Nicht-Manifestem bezüglich eines gegebenen Individuums im Ausgang von einer negierten Konjunktion.323 „Der vierte ‚Indemonstrable‘ ist jener, welcher aus einer Disjunktion und einem Glied der Disjunktion das kontradiktorische Gegenteil des Restes der Disjunktion als conclusio erschließt“.324 Während Diogenes die Definition durch den Modus erläutert, gibt Sextus ein Beispiel: „Entweder es ist Tag oder es ist Nacht. Nun ist es Tag. Nicht also ist es Nacht“.325 „Der fünfte ‚Indemonstrable‘ ist jener, in dem das ganze Argument aus einer Disjunktion und dem kontradiktorischen Gegenteil eines der Glieder der Disjunktion zusammengefügt ist und zum Rest (als conclusio) führt, wie z. B. ‚Entweder es ist Tag oder es ist Nacht. Nicht ist es Nacht. Also ist es Tag‘“.326

318 319 320 321 322 323 324 325 326

M. Frede 1974, 149. M. Frede 1974, 150. DL VII, 80 = FDS 1036; vgl. SE AM VIII, 226–227 = FDS 1134. vgl. M. Frede 1974, 151 f. vgl. Cicero De fato 8, 15. vgl. Gourinat 2000, 289; 223–224; anders Bobzien 1999b, 132. DL VII, 81 = FDS 1036. SE PH II, 158 = FDS 1128. DL VII, 81 = FDS 1036.

8. Syllogismen im eigentlichen Sinn Der vierte und der fünfte ‚Indemonstrable‘ gehören zusammen;327 sie können aufeinander zurückgeführt werden; sie entsprechen den im Mittelalter so genannten modus ponendo tollens und modus tollendo ponens. Die angeführten Beispiele sind zweigliedrig. Vorausgesetzt ist, dass die Disjunktionen jeweils vollständig sind, sämtliche Glieder sich gegenseitig ausschließen, demnach nur eines wahr sein kann. Über mehr als zweigliedrige Disjunktionen erfahren wir hier nichts. Allerdings war Chrysipp der Meinung, dass der fünfte ‚Indemonstrable‘ so natürlich sei, dass sogar Tiere ihn verwenden. Und hier ist sein Beispiel mehr als zweigliedrig: Ein Hund verfolgt die Spur eines Wildes; sie führt ihn an eine Kreuzung, die sich in drei Wege teilt; er prüft erfolglos den ersten und den zweiten Weg; ohne weitere Prüfung folgt er dem dritten.328 Die Lesart tô pemptō dia pleionōn anapodeiktō ist textkritisch unsicher und umstritten. Benson Mates 329 versteht das dia pleionōn so, dass bei einer mehr als zweigliedrigen Disjunktion der fünfte Modus mehrfach angewendet, die mehr als zweigliedrige Disjunktion von Chrysipp also als Kettenschluss behandelt würde: (1) p oder q oder r. Nun nicht p. Also q oder r. (2) q oder r. Nun nicht q. Also r. Andere330 sehen durch das dia pleionōn (wohl sprachlich korrekt) zum Ausdruck gebracht, dass die Disjunktion aus mehr als zwei sich ausschließenden Gliedern besteht, ein Syllogismus mit einer solchen Prämisse also einen elementaren Syllogismus der fünften Form darstellt. Chrysipp behandelt einen derartigen Syllogismus offensichtlich so, dass er lediglich auf den Wahrheitswert der Glieder der Disjunktion, von denen nur eines wahr sein kann, achtet: „Entweder p oder q oder r. Nun aber nicht p und nicht q. Also r.“ Ähnlich ließe sich seine Behandlung der Schlussform des vierten mehrgliedrigen ‚Indemonstrablen‘ darstellen: „Entweder p oder q oder r. Nun aber p. Also nicht q und nicht r.“ Mit den ‚Indemonstrablen‘ (hoi anapodeiktoi) sind die elementaren Schlüsse selbst, nicht ihre Form (tropos bzw. schêma) gemeint. Ihre Darstellung der sie konstituierenden Aussagen mit Ordinalzahlen und die Angabe elementarer Schlussfiguren scheint der Formalisierung und Schematisierung der modernen Aussagenlogik zu entsprechen. Doch die Ausdrücke „das Erste“, „das Zweite“ spielen eine unterschiedliche Rolle,331 etwa in der Analyse komplexer Argumente, oder zum Zweck der Darstellung der Form elementarer ‚indemonstrabler‘ Syllogismen, oder mit dem Ziel einer verkürzenden Darstellung eines konkreten Arguments,332 oder, ebenfalls in verkürzender Absicht, als Teil eines besonderen Argumenttyps (logotropos) („Wenn Platon lebt, atmet Platon. Nun das Erste. Also das Zweite“).333 Die Stoiker scheinen diese verschiedenen Funktionen nicht genau unterschieden zu haben; die wichtigste war für sie wohl die der Abkürzung konkreter Argumente.334 Doch die 327 328 329 330 331 332 333 334

vgl. SE PH II, 162. SE PH I, 69 = FDS 1154. 1961, 80. M. Frede 1974, 155 f., Gourinat 2000, 291 f. vgl. M. Frede 1974, 141–144; Bobzien 1999b, 129 ff.; Bobzien 1996, 138 f. SE AM VIII, 235–237. DL VII, 77. Bobzien 1996, 138.

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II Die stoische Logik Ordinalzahlen sind Symbole für Aussagen und Substitute der Funktionen, die Aussagen in Argumenten spielen. So gesehen entsprechen sie den Aussagenvariablen der modernen Aussagenlogik.335 Die ‚Indemonstrablen‘ sind ausgezeichnet durch ihre evidente Schlüssigkeit. Und ihre evidente Schlüssigkeit gründet nach stoischer Auffassung in ihrer Form. Bei der Auswahl der fünf Typen von ‚Indemonstrablen‘ scheinen Chrysipp folgende Gesichtspunkte geleitet zu haben. In den führenden (nicht-einfachen) Prämissen werden ausschließlich die Junktoren „und“, „entweder-oder“, „wenn-dann“ und der Negator „nicht“ verwendet. Unter den nicht-einfachen Aussagen zeichnete Chrysipp die modus-formenden336 aus. Darunter verstand er offensichtlich die Konditionale, die Disjunktionen und die negierten Konjunktionen. Alle ‚Indemonstrablen‘ haben als leitende Prämisse (hēgemonikon lêmma) eine solche modus-formende Aussage.337 Sie erlauben die Konstruktion eines formal gültigen Arguments. In den elementarsten Fällen ermöglichen sie es, mit einer einfachen Aussage als mi­ nor (proslēpsis) eine einfache Aussage als conclusio zu ziehen. Dadurch gelangt Chrysipp zu genau fünf Typen von ‚Indemonstrablen.338 Die Liste der ‚Indemonstrablen‘ umfasst gleichwohl ungleich mehr Arten elementarer Argumente als die Definitionen und Beispiele prima facie nahelegen. Im Fall der dritten, vierten und fünften ‚Indemonstrablen‘ etwa erlaubt die Beschreibung der Argumentform die Anwendung der Regel der ‚Vertauschbarkeit‘:339 d. h. es ist offen, welche konstitutive Aussage oder welches kontradiktorische Gegenteil einer konstitutiven Aussage der leitenden Prämisse als minor in Ansatz gebracht wird. So kann etwa das Beispiel in dieser Weise gewählt werden: „Entweder es ist Tag oder es ist Nacht. Nun ist es Tag. Also ist es nicht Nacht“, oder in dieser Weise: „Entweder es ist Tag oder es ist Nacht. Nun ist es Nacht. Also ist es nicht Tag“. Ferner werden die Beschreibungen der Argumente sämtlich in Begriffen von Aussagen und ihrem kontradiktorischen Gegenteil, nicht in Begriffen affirmativer oder negativer Aussagen gegeben. In allen fünf Fällen kann die leitende Prämisse eine der vier Kombinationen affirmativer und negativer Aussagen annehmen, etwa im Fall des ersten und zweiten ‚Indemonstrablen‘ (wenn man affirmative Aussagen mit p und q, negative Aussagen mit nicht: p und nicht: q symbolisiert): Wenn p, q Wenn nicht: p, q Wenn p, nicht: q Wenn nicht: p, nicht: q. Nimmt man die Kombinationsmöglichkeiten zusammen, ergeben sich so 32 Unterarten elementarer Syllogismen.340

335 vgl. Gourinat 2000, 292 f. 336 die tropika axiōmata, Galen Institutio Logica VII.1. 337 vgl. DL VII, 71–74; Aulus Gellius Noct. Att. XVI. 8, 9–14; Galen Institutio Logica III, IV und V. 338 so Bobzien 1999b, 132 f. 339 vgl. FDS 970. 340 so Bobzien 1999b,128 f.; Bobzien 1996, 136 ff.

8. Syllogismen im eigentlichen Sinn Nach Diogenes Laertius geht die kanonische Liste von fünf ‚Indemonstrablen‘ auf Chrysipp zurück. Galen vertritt dieselbe Ansicht.341 Cicero berichtet,342 die Logiker (dialectici) würden zu den fünf noch zwei weitere hinzufügen: „Nicht: sowohl dieses als auch jenes. Nun aber dieses. Also nicht jenes“ und „Nicht: sowohl dieses als auch jenes. Nicht aber dieses. Also jenes“.343 Die Liste von sieben ‚Indemonstrablen‘ dürfte nachchrysippisch sein. Cicero begründet mit ihr eine einmütige lateinische Tradition.344 Die Beispiele für den sechsten ‚Indemonstrablen‘ sind: „Nicht: sowohl Tag als auch Nacht. Nun aber ist es Tag. Also ist es nicht Nacht“. „Nicht: sowohl bei Verstand als auch schwachsinnig. Nun aber ist er bei Verstand. Also ist er nicht schwachsinnig“. Als Beispiele für den siebten ‚Indemonstrablen‘ werden angeführt: „Nicht: sowohl Tag als auch Nacht. Nun aber ist es nicht Tag. Also ist es Nacht“. „Nicht: sowohl Tag als auch Nacht: Nun aber ist es nicht Nacht. Also ist es Tag“. Die erweiterte Liste bereitet Verständnisprobleme, da prima facie der sechste Modus eine Dublette des dritten Chrysippschen darstellt, und der siebte Modus ungültig ist: Aus der schlichten Negation einer Konjunktion kann man nicht, wenn eines der Glieder falsch ist, auf die Wahrheit des anderen schließen.345 Michael Frede führt die zusätzlichen Modi auf die Einführung der subdisjunktiven Aussage (siehe oben S. 56) zurück, die neue Schlussmodi ergeben habe.346 Katerina Ierodiakonou weist nach,347 dass die beiden zusätzlichen Modi der lateinischen Texte nicht identisch sein können mit den Modi, die sich auf der Basis der subdisjunktiven Aussage konstruieren lassen. Ein überzeugendes Beispiel für einen Schluss aus einer subdisjunktiven leitenden Prämisse liege bei Galen vor: „Die Verteilung der Nahrung des Bauches auf die anderen Teile des Körpers geschieht durch ihren Ausstoß aus dem Bauch, oder durch die Zirkulation des Blutes, oder durch die Verdauung des Magens, oder aufgrund der Anziehung durch die Teile des Körpers oder durch die spontane Zirkulation der Nahrung. Nun aber ist es nicht der Fall, dass der Bauch die Nahrung ausstößt. Also geschieht die Verteilung der Nahrung des Bauches auf die anderen Teile des Körpers durch die Zirkulation des Blutes, oder durch die Verdauung des Magens, oder aufgrund der Anziehung durch die Teile des Körpers oder durch die spontane Zirkulation der Nahrung“.348 Die zusätzlichen Modi, die sich aus der Einführung der subdisjunktiven Aussage konstruieren lassen, hätten folgende Form: (6) „Das Erste oder das Zweite oder das Dritte oder das Vierte. Nun aber nicht das Erste. Also das Zweite oder das Dritte oder das Vierte“ und (7) „Das Erste oder das Zweite oder das Dritte oder das Vierte. Nun aber nicht das Zweite, nicht das 341 342 343 344 345 346 347 348

Institutio XV, 11; XV, 15; XXXII, 19–21; XXXIV, 24–25. Topica 54–57 = FDS 1138. Topica 57. Martianus Capella De nupt. Phil. et Merc. IV, 420 = FDS 1139; Boethius In Cic. Top. 358, 1 = FDS 1140; Cassiodor Institut. II, 3, 13 = FDS 1141; Isidor Etym. II, 28, 23–25 = FDS 1142; M. Frede 1974, 134, 162; Gourinat 2000, 311. M. Frede 1974,164; Gourinat 2000, 311, 313. 1974, 165. 1993b, 187–200. Galen Instit. Logic. XV, 1 = FDS 1153.

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II Die stoische Logik Dritte, nicht das Vierte. Also das Erste“.349 Die zwei zusätzlichen Modi der lateinischen Texte verdankten sich vielmehr dem Umstand, dass bestimmte Autoren der Überzeugung waren, die (ausschließenden) Disjunktionen ließen sich in der Form negierter Konjunktionen ausdrücken. Infolgedessen seien sie nichts weiter als Äquivalente des vierten und fünften Chrysippschen Modus.350

9. Aristotelischer und stoischer Syllogismus Der stoische Begriff eines Syllogismus unterscheidet sich vom peripatetischen. Für Aristoteles bestehen Prämissen und conclusio eines Beweises idealerweise aus universellen kategorischen Aussagen,351 obgleich er auch andere syllogistische Formen anerkennt und benützt.352 Für ihn sind (wahre) singuläre Aussagen nicht eigentlich Gegenstände von Wissen, Wissenschaft und wissenschaftlichem Beweis, obgleich in den Standardbeispielen peripatetischer Syllogismen, die Sextus anführt,353 sich durchaus Argumente mit singulären Termini finden.354 Für die Stoiker sind singuläre Aussagen sehr wohl angemessene Gegenstände der Erkenntnis und damit auch angemessene Kandidaten für Prämissen und Konklusionen von Syllogismen und syllogistischem Beweis.355 Ihr Interesse gilt nicht zuletzt Aussagen, die auf Einzelnes verweisen bzw. sich auf Einzelnes beziehen. Doch die Stoa arbeitet natürlich auch mit universellen Aussagen. Sie drückt universelle affirmative Aussagen in der Form der Implikation aus: „Wenn etwas ein Mensch ist, dann ist es sterblich“,356 und universelle negative Aussagen in Form der Negation einer Konjunktion: „Nicht: Jemand ist im Zeichen des Hundes geboren und wird im Meer sterben“. Das macht ihre Logik zur Aussagenlogik. Während in der aristotelischen Syllogistik die Subjekte der Prämissen quantifiziert sind, ist es bei Chrysipp die komplexe Prämisse, die eine Allaussage zum Ausdruck bringen kann.357 Man möchte meinen, dass sich die aristotelische Begriffslogik und die stoische Aussagenlogik in willkommener Weise ergänzen könnten. Doch nach dieser Unterscheidung verstanden sich die antiken Logiker ohnehin nicht. Wenn man den späten Quellen vertrauen darf, herrschte zwischen den Logikern der Stoa und des Peripatos ein Verhältnis der Rivalität, das zwischen gegenseitiger Nichtbeachtung und offener kritischer Ablehnung schwankte.358

349 350 351 352 353 354 355 356 357 358

Ierodiakonou 1993b,197–198. ebd.187–194. vgl. Anal. pr. 43 b 11–14. vgl. Anal. pr. 45 a 29–31. PH II, 196–197. vgl. dazu auch Aristoteles, Anal. pr. 47 b15 ff., 70 a 16 ff. vgl. M. Frede 1987, 117. vgl. SE AM XI, 8. Gourinat 2000, 294. M. Frede 1987, 99–124, Mueller 1969, 173–187, Gourninat 2000, 293–300.

9. Aristotelischer und stoischer Syllogismus Die kategorischen Syllogismen des Aristoteles waren für die Stoiker jedenfalls explizit keine Syllogismen.359 Und mit demselben Votum bedachten die orthodoxen Peripatetiker die hypothetischen Syllogismen der Stoiker.360 Dabei waren sich beide Schulen keineswegs in allem uneins. Sowohl für die Stoiker als auch für die Peripatetiker bildeten Syllogismen eine Unterklasse gültiger Argumente (logoi); für beide Parteien waren Syllogismen Schlüsse aus mindestens zwei Prämissen; nach beiden müssen alle für den Schluss relevanten Annahmen genannt sein; nach beiden muss die conclusio sich aus den Prämissen notwendig ergeben; nach beiden sollen bzw. dürfen die Syllogismen keine redundanten Prämissen aufweisen.361 Indes, die Stoiker beharrten, in den Augen der Aristoteliker geradezu ‚pedantisch‘, auf einer kanonischen Form. Dies deshalb, weil nach ihrer Vorstellung ein Syllogismus ein durch seine logische Form gültiger Schluss ist, und dieser Anspruch bereits an seiner äußeren sprachlichen Form erkennbar sein müsse. Das Beharren auf einer kanonischen Form verweist auf eine gewichtigere Differenz in der Sache. Nach dem aristotelischen Verständnis „ist ein Syllogismus ein Argument, in dem aufgrund dessen, dass bestimmte Dinge festgestellt sind, etwas, was von diesen festgestellten Dingen verschieden ist, mit Notwendigkeit folgt, kraft dessen, dass diese Dinge (der Fall) sind“.362 Aristoteles möchte logisch gültige Schlüsse von Syllogismen unterschieden wissen.363 In Syllogismen muss die conclu­ sio etwas gegenüber den Prämissen Verschiedenes besagen. Sein dominantes Interesse gilt dem argumentativen Gebrauch, der stringenten wissenschaftlichen Erklärung und Erkenntniserweiterung. Was die Stoa in vergleichbarer Weise von einem veritablen Beweis verlangt, fordert Aristoteles von einem Syllogismus. Für die Stoa hingegen ist „Wenn p, dann p. Nun aber p. Also p“ ein gültiger Syllogismus;364 für sie stand das Interesse, dass ein Syllogismus durch seine Form ein logisch gültiger Schluss ist, im Vordergrund. Nach Aristoteles ebenso wie nach stoischem Konzept ist ein Syllogismus ein Schluss aus zwei oder mehr Prämissen. Einzig Antipater von Tarsus anerkennt Syllogismen mit einer einzigen Prämisse.365 Was Antipater unter solchen verstanden wissen wollte, ist offensichtlich nicht mit Enthymemen gleichzusetzen. Enthymeme sind rhetorisch verkürzte Argumente mit stillschweigend (bei den Adressaten) als bekannt vorausgesetzten Prämissen.366 Alexander von Aphrodisias beharrt auf dem formellen Unterschied von Enthymem und Syllogismus und wirft Antipater vor, die Differenz zu verwischen. Antipaters Beispiele („Es ist Tag. Also ist es hell“; „Du at359 360 361 362 363 364

Alexander v. Aphrodisias In an. pr. 262, 28–29; 345, 15–16; 390, 16–18. Alexander v. Aphrodisias In an pr. 42, 27–31; 256, 20–25; 265, 19–20; 390, 17. M. Frede 1987, 116; Gourinat 2000, 299. An. pr. I, 1, 24 b18–20. Vgl. Topik I, 1, 100 a25–27; Soph. Elench. 1, 165 a1 f. vgl. An. pr. I, 32, 47 a22 ff. vgl. Alexander v. Aphrodisias In an pr. 18, 13 ff.; Philoponos In an. pr. 33, 23 ff.; Ammonios In an. pr. 27, 35 ff.; M. Frede 1987, 118 f. 365 Alexander v. Aphrodisias In an. pr.17,10 – 18,7 = FDS 1051; In top. 8,14 – 9,8 = FDS 1052; Apuleius, De int. 184, 16–23 = FDS 1050. 366 vgl. Aristoteles Rhetorik I, 2 1357a17–22.

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II Die stoische Logik mest. Also lebst du“; „Du siehst. Also lebst du“)367 könne man nur deshalb als Syllogismen (miss)verstehen, weil man die fehlenden Prämissen stillschweigend ergänzt: „Alles, was atmet, lebt. Du atmest. Also lebst du“.368 Nun sind die für Antipater überlieferten (wenigen) Beispiele so, dass zwischen Prämisse und Schluss ein offenkundiger sachlicher bzw. logischer Zusammenhang besteht, derart, dass die Negation der conclusio mit der Prämisse unvereinbar ist. Aristoteles dagegen setzt bei seinem Begriff eines Enthymems und der stillschweigend vorausgesetzten Prämisse lediglich auf deren Bekanntheit beim Adressaten. Antipater folgt der stoischen Idee, die Folgebeziehung (akolouthia) zwischen Antecedens und Succedens einer wahren Implikation und zwischen Prämissen und conclusio eines schlüssigen Arguments gleichzusetzen.369 Wenn er ein schlüssiges Argument mit einer Prämisse als Syllogismus anerkannt wissen wollte, dann weist dies darauf hin, dass er dessen formale Aspekte (jedenfalls in bestimmten Fällen) für vernachlässigbar hielt.370

10. Komplexe Syllogismen Die Stoa unterscheidet zwischen einfachen und nicht-einfachen bzw. komplexen (peplegmenoi) Syllogismen. Komplexe Syllogismen müssen, da ihre Schlüssigkeit nicht prima facie evident ist, auf ihre Gültigkeit hin geprüft werden. Eine semantische Prüfung bestünde in erster Linie darin zu untersuchen, ob ihre conclusio mit der Summe ihrer Prämissen vereinbar ist. Die Stoa entschied sich stattdessen für ein „syntaktisches Verfahren“, das dazu diente, die verborgene argumentative Struktur aufzudecken, die die Form einer Abfolge einfacher ‚indemonstrabler‘ Syllogismen bilden muss, um gültig zu sein.371 Die Stoa sprach dabei von Analyse (analysis).372 Die argumentative Verkettung komplexer Syllogismen bedarf der Auflösung; sie enthalten zwei oder mehr nicht-einfache Prämissen373 oder Argumente, in denen die conclusio sich nicht von einer der Prämissen unterscheidet (adiaphorōs perainontes).374 Die Themata bzw. Theoremata sind die Prinzipien bzw. Regeln, die eine solche Analyse komplexer Syllogismen leiten.375 Sextus referiert Beispiele der Auflösung komplexer Syllogismen in einfache, wobei er die komplexen in homogene und heterogene unterscheidet, homogen, weil sie aus gleichen, inhomogen, weil sie aus ungleichen ‚Indemonstrablen‘ zusammenge367 368 369 370 371 372 373 374 375

Apuleius, De int. 184, 16–23 = FDS 1050. Alexander v. Aphrodisias, In an. pr. 17 = FDS 1051. vgl. M. Frede 1974,103. vgl. Gourinat 2000, 315–320. vgl. SE PH II, 156; Gourinat 2000, 300. DL VII, 194, 195; SE AM VIII, 231. Galen PHP II. 3, 18 = FDS 1160. FDS 1170, 1174. DL VII, 78; SE AM VIII, 230–231; M. Frede 1974, 168; Bobzien 1996, 133, 162; Gourinat 2000, 301; zu dieser Thematik insgesamt: W. and M. Kneale 1984, 164–174, Mates 1961, 77–82, M. Frede 1974, 167–196; Mignucci 1993, 217–238, Bobzien 1996, 142– 180; Bobzien 1999b,137–148; Gourinat 2000, 300–310.

10. Komplexe Syllogismen setzt sind.376 Sein erstes Beispiel lautet: „Wenn es Tag ist, dann: Wenn es Tag ist, dann ist es hell. Nun ist es Tag. Also ist es hell“.377 Hier sind, nach der Form des ersten ‚Indemonstrablen‘ zwei einfache Syllogismen zu einem komplexen verwoben; sie lassen sich durch Analyse folgendermaßen trennen und explizieren: (1): „Wenn es Tag ist, dann: Wenn es Tag ist, dann ist es hell. Nun ist es Tag. Also: Wenn es Tag ist, dann ist es hell“. Diese conclusio ist „der Möglichkeit nach (dynamei)“ im komplexen Argument erzielt, doch nicht explizit zum Ausdruck gebracht. In der Analyse wird dieser Schritt nachgeholt. Sie dient nun als leitende Prämisse eines folgenden einfachen Syllogismus: (2) „Wenn es Tag ist, dann ist es hell. Nun ist es Tag. Also ist es hell“.378 Hier wird der minor „Nun ist es Tag“ ergänzend explizit wiederholt, um zu der conclusio zu gelangen, die den komplexen Syllogismus abschließt. Der komplexe Syllogismus ist in zwei einfache (derselben Form) aufgelöst, und zwar, wie Sextus erklärt, entsprechend dem „dialektischen Theorem (theōrēma dialektikon)“: „Wenn wir die Prämissen haben, die einen Schluss ermöglichen, dann haben wir der Möglichkeit nach auch diesen Schluss, auch wenn er nicht explizit gesagt wird“.379 Für einen inhomogenen komplexen Syllogismus wählt Sextus als Beispiel ein Argument, das der Skeptiker Aenesidemus gegen die Zeichen vorgebracht hat: „Wenn die sinnlich erfahrbaren Gegenstände (ta phainomena) allen gleich Disponierten gleich erscheinen und die Zeichen (ta sēmeîa) sinnlich erfahrbare Gegenstände sind, dann erscheinen die Zeichen allen gleich Disponierten gleich. Nun erscheinen die sinnlich erfahrbaren Gegenstände allen gleich Disponierten gleich. Die Zeichen aber erscheinen nicht allen gleich Disponierten gleich. Nicht also sind die Zeichen sinnlich erfahrbare Gegenstände“.380 Das komplexe Argument besteht aus dem zweiten und dem dritten ‚Indemonstrablen‘. Dies lässt sich nach Sextus am besten zeigen, wenn man die Analyse „an Hand des Modus (epi toû tropou)“ vornimmt. Der komplexe Syllogismus sieht unaufgelöst dann so aus: „Wenn das Erste und das Zweite, dann das Dritte. Nun aber nicht das Dritte. Vielmehr das Erste. Also nicht das Zweite“.381 Seine Auflösung in zwei einfache Syllogismen ergibt: (1) „Wenn das Erste und das Zweite, dann das Dritte. Nun aber nicht das Dritte. Also nicht: das Erste und das Zweite. (2) Nicht: das Erste und das Zweite. Nun aber das Erste. Also nicht das Zweite“. Die Auflösung erfolgt auf genau die gleiche Weise wie im ersten homogenen Beispiel. Die von Sextus angeführten Beispiele sind vergleichsweise einfach aufzulösen. Ungleich komplexer ist ein von Cicero überliefertes Argument, durch das Chrysipp, Diogenes von Babylon und Antipater von Tarsus die Existenz der Weissagung (divinatio) zu beweisen versucht haben:382 „Wenn es Götter gibt und sie den Menschen nicht im Voraus ankündigen, was kommen wird, sind sie den Men376 377 378 379 380 381 382

SE AM VIII, 229–230. AM VIII, 230 = FDS 1178. AM VIII, 232–233. AM VIII, 231. AM VIII, 234. AM VIII, 235. De divin. I, 82–83 = SVF II, 1192.

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II Die stoische Logik schen entweder nicht zugetan oder sie wissen (selbst) nicht, was kommen wird; oder sie sind der Meinung, es sei für die Menschen nicht von Bedeutung zu wissen, was kommen wird; oder sie halten es mit ihrer Würde für unvereinbar, den Menschen im Voraus anzuzeigen, was kommen wird; oder die Götter sind selbst nicht in der Lage dies anzuzeigen. Doch weder lieben die Götter uns nicht (sind sie doch die Wohltäter und Freunde des Menschengeschlechts) noch sind sie in Unkenntnis über das, was sie selbst entschieden und angewiesen haben; noch ist es für uns ohne Bedeutung zu wissen, was kommen wird (wir sind nämlich dann bedachtsamer, wenn wir es wissen); noch halten sie dies mit ihrer Hoheit für unvereinbar (gibt es doch nichts Großartigeres als Güte); noch sind sie nicht in der Lage, Künftiges im Voraus zu erkennen. Nicht also gibt es Götter und kündigen nicht Kommendes an. Es gibt aber Götter. Sie zeigen also die Zukunft an. Und es ist nicht so, dass sie, wenn sie sie anzeigen, uns keine Mittel und Wege geben zur Erkenntnis des Angezeigten (sonst wären nämlich ihre Hinweise unsinnig); noch ist es so, dass es, wenn sie uns diese Mittel geben, keine Weissagung gibt. Es gibt also die Weissagung.“ So komplex dieses Argument auch ist; es lässt sich nach demselben Verfahren in einfache Syllogismen auflösen wie die beiden von Sextus angeführten. Die in Klammern gesetzten Parenthesen dienen der Stützung der Prämissen eines Syllogismus; sie können hier bei der Darstellung der Argumentstruktur außer Betracht bleiben. Das gesamte komplexe Argument hat ‚nach dem Modus‘ folgende Struktur: „Wenn das Erste und nicht das Zweite, dann entweder das Dritte oder das Vierte oder das Fünfte oder das Sechste oder das Siebte. Nun aber nicht das Dritte, nicht das Vierte, nicht das Fünfte, nicht das Sechste und nicht das Siebte. Aber nicht: das Erste und nicht das Zweite. Nun aber das Erste. Also das Zweite. Wenn das Zweite, dann nicht: nicht das Achte. Wenn das Achte, dann nicht: nicht das Neunte. Also das Neunte.“ Die Auflösung des Arguments in eine Kette einfacher Syllogismen sieht so aus: „(1) Wenn das Erste und nicht das Zweite, dann entweder das Dritte oder das Vierte oder das Fünfte oder das Sechste oder das Siebte. Nun aber nicht das Dritte, nicht das Vierte, nicht das Fünfte, nicht das Sechste, nicht das Siebte. Also nicht: Das Erste und nicht das Zweite. (2) Nicht: Das Erste und nicht das Zweite. Nun aber das Erste. Also das Zweite. (3) Wenn das Zweite, dann nicht: nicht das Achte. Nun aber das Zweite. Also das Achte. (4) Wenn das Achte, dann nicht: nicht das Neunte. Nun aber das Achte. Also das Neunte“.383 Die wesentlichen Schritte der Auflösung bestehen zum einen darin, die conclusio aus zwei Prämissen explizit zu ziehen, wo dies nicht explizit geschieht, und zum anderen darin, diese conclusio mit der folgenden Prämisse zu verbinden, um wiederum zur folgenden conclusio zu gelangen, bis schließlich die conclusio des gesamten komplexen Syllogismus erreicht ist. Denn die Verkettung zu einem komplexen Syllogismus entsteht ja dadurch, dass eine Aussage, die die conclusio eines ersten Schlusses und zugleich die Prämisse eines zweiten Schlus-

383 Gourinat 2000, 304 f.

10. Komplexe Syllogismen ses ist, nicht genannt wird, weil sie „der Möglichkeit nach (dynamei)“ durch die Prämissen des ersten Schlusses als bereits gegeben behandelt wird.384 Nun hat Chrysipp vier Themata zur Analyse komplexer Syllogismen benützt.385 Die Überlieferung bezüglich dieser Themata ist äußerst spärlich. Was sie besagten, bedarf spekulativer Rekonstruktion.386 Das ‚dialektische Theorem‘ des Sextus ist eine Kettenschlussregel. Es ist, soweit man sieht, mit keinem der vier chrysippschen Themata identisch, könnte allerdings in seiner Funktion das zweite, dritte und vierte Thema Chrysipps ersetzt haben.387 Das erste Thema (thema) ist (in lateinischer Version) bei Apuleius überliefert; es handelt sich um eine Schlusskonversionsregel: „Wenn aus zwei Aussagen eine dritte folgt, dann folgt aus einer der beiden Aussagen in Verbindung mit dem kontradiktorischen Gegenteil der Folgerung das kontradiktorische Gegenteil der anderen Aussage“.388 Falls die drei anderen Themata dieselbe Funktion hatten wie das ‚dialektische Theorem‘, dann könnte man für Chrysipp dieselbe Methode unterstellen wie jene, die bei Sextus Anwendung findet.389 Nun ist uns nur das dritte stoische Thema überliefert, von Simplicius und Alexander von Aphrodisias, und zwar in voneinander abweichender Version. Bei Simplicius lautet es: „Wenn aus zwei (Aussagen) eine dritte folgt und aus der einen (sc. der dritten), die folgt, zusammen mit einer anderen, externen Annahme eine andere folgt, dann folgt diese andere aus den ersten beiden und der zusätzlichen externen Prämisse“.390 Die Version von Alexander lautet: „Wenn aus zwei (Aussagen) eine dritte folgt, und externe Annahmen eine der beiden (Prämissen) erschließen, dann folgt dieselbe (sc. die dritte) aus der anderen (Prämisse) und den externen Annahmen, die die eine (Prämisse) erschließen“.391 Die beiden Versionen weichen in logisch relevanten Punkten voneinander ab.392 Nach Alexander ist die Anzahl der Prämissen auf drei beschränkt; bei Simplicius bleibt sie unbestimmt. Bei Simplicius scheint die dritte Prämisse aus einer proslēpsis, d. h. einer einfachen Aussage zu bestehen; die Version von Alexander gibt dazu keinen sprachlichen Hinweis.393 Es könnte sein, dass sich die Version Alexanders der Anpassung der stoischen Regel an seinen peripatetischen Diskussionskontext verdankt.394 Für das zweite und das vierte Thema lässt uns die Überlieferung im Stich. Alexander von Aphrodisias meint, das zweite, das dritte und das vierte Thema seien nichts weiter als Spezifikationen eines ‚synthetischen Theorems‘, das (auf Aristoteles zurückgehe) und lautet: „Wenn eine bestimmte Aussage aus bestimmten anderen 384 vgl. M. Frede 1974, 176. 385 Alexander v. Aphrodisias In an. pr. 284, 12–17 = SVF II, 257 = FDS 1165; vgl. Galen PHP II, 3, 18–19 = SVF II, 248 = FDS 1160. 386 M. Frede 1974, 167–196; Ierodiakonou 1990a; Bobzien 1996. 387 M. Frede 1974, 191. 388 Apuleius De int. 191, 5–25 = SVF II, 239a = FDS 1161. 389 Gourinat 2000, 308. 390 Simplicius In Cael. 236, 33–237, 9 = SVF II, 256 = FDS 1168. 391 Alexander v. Aphrodisias In an. pr. 278, 11–14 = SVF II, 255 = FDS 1167. 392 vgl. Bobzien 1996, 145–151. 393 vgl. Gourinat 2000, 308. 394 so Bobzien 1996, 151.

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II Die stoische Logik erschlossen wird, und wenn die erschlossene Aussage, zusammen mit einer oder mehreren anderen, eine conclusio erschließt, dann erschließen die Aussagen, die jene zur Folge hat, in Verbindung mit dieser oder diesen anderen, die diese zur Folge haben, dieselbe Aussage“.395 Wie dem auch sei: Diese Regeln beschreiben jedenfalls die Art und Weise, wie eine conclusio indirekt aus bestimmten Prämissen und aus diesen zu ziehenden Konklusionen folgt, ohne dass diese Konklusionen explizit gemacht sind. Sie laufen im Verein auf das hinaus, was das dialektische Theorem zum Ausdruck bringt.396

11. Die stoische Modallogik Die Stoiker unterschieden verschiedene Arten von Aussagen (axiōmata). Das Erkennungszeichen der Art bildete ihre sprachliche Form. Doch jenseits ihrer sprachlichen Form klassifizierten sie Aussagen auch nach bestimmten Eigenschaften:397 nach wahr und falsch, nach möglich, notwendig, unmöglich und nicht-notwendig, nach plausibel und wahrscheinlich.398 Die Unterscheidung von plausibel und wahrscheinlich ist argumentationstheoretisch begründet. Plausibilität ist eine adressatenbezogene (subjektive) Eigenschaft: Eine Aussage ist plausibel (pithanon), wenn sie (unbeschadet ihres Wahr- oder Falschseins) geeignet ist, Zustimmung hervorzurufen. Wahrscheinlichkeit dagegen ist eine nicht-adressatenbezogene (objektive) Eigenschaft: Eine Aussage ist wahrscheinlich (eulogon), wenn überwiegende Gesichtspunkte für ihr Wahrsein denn für ihr Falschsein sprechen. Die stoische Modallogik399 steht im Kontext der Schicksalslehre und Mantik und der Diskussion um Determinismus und menschlicher Freiheit.400 Chrysipp scheint seine Definition der Modalitäten in Auseinandersetzung mit Philons und Diodors Verständnis entwickelt zu haben. Philon versteht unter dem Möglichen das, was fähig ist, ‚seiner eigenen Natur entsprechend‘ wahr zu sein bzw. zu werden.401 Etwas ist nach ihm also dann möglich, wenn das, was vom Gegenstand einer Aussage gesagt wird, dem Gegenstand aufgrund seiner ihm eigenen, internen Eigenschaften zukommen kann. Dieser Möglichkeitsbegriff ist weit, da er bezüglich einer Aussage die externen Umstände, denen das Subjekt der Aussage ausgesetzt ist, unberücksichtigt lässt: Ein Stück Holz kann brennen, auch wenn es allzeit am Meeresgrund liegt und demzufolge niemals brennen wird. Im Unterschied zu Philon vertritt Diodor 395 Alexander v. Aphrodisias In an. pr. 274, 7–25 = FDS 1166; vgl. 277, 37–278, 14 = FDS 1167; 283, 3–17 = FDS 1165. 396 Gourinat 2000, 309. 397 vgl. Bobzien 2003, 99 f. 398 DL VII, 75–76. 399 vgl. dazu v. a. Bobzien 1986 und 1993. 400 vgl. Bobzien 1998a, chap. 3.1; Schallenberg 2008, 114–172; siehe unten S. 122–136. 401 vgl. Alexander v. Aphrodisias In Arist. Anal. pr. 184.6–10 = LS 38B; FDS 992; Boethius In Arist. De interpr. III 9, 234.10–12 = FDS 988; Simplikios In Arist. Cat. 7, 195.33– 196.2.

11. Die stoische Modallogik einen engen Möglichkeitsbegriff: Möglich ist nach ihm nur das, was auch tatsächlich einmal eintreten wird, unmöglich das, was nie eintreten wird, in der Formulierung Ciceros: „Er nämlich sagt, nur das könne geschehen, was entweder (gegenwärtig) wahr ist oder (in Zukunft) wahr sein wird.402 Chrysipps Möglichkeitsdefinition kann man Passagen bei Diogenes Laertius403 und Boethius404 entnehmen: Möglich ist das, was wahr sein kann, und was von außen nicht daran gehindert wird, wahr zu sein. Im Unterschied zu Philon möchte Chrysipp in seinem Möglichkeitsbegriff die äußeren Umstände berücksichtigt sehen; im Unterschied zu Diodor hat für ihn auch solches als möglich zu gelten, was niemals geschehen wird. Aus den genannten (leider unvollständigen) Abschnitten bei Diogenes Laertius und Boethius lassen sich Chrysipps Bestimmungen auch der übrigen Modalitäten rekonstruieren:405 Unmöglich ist etwas, was entweder nicht wahr sein kann oder was zwar wahr sein kann, aber aufgrund äußerer Umstände daran gehindert wird, wahr zu sein. Notwendig ist etwas, was wahr ist und nicht falsch sein kann oder was zwar falsch sein kann, aber aufgrund äußerer Umstände daran gehindert wird, falsch zu sein. Nichtnotwendig ist etwas, was falsch sein kann und aufgrund äußerer Umstände nicht daran gehindert wird, falsch zu sein. Chrysipp möchte offensichtlich die Existenz kontrafaktischer, d. h. unverwirklichter Möglichkeiten annehmen. Damit stellt sich die Frage, wie diese Annahme mit der stoischen Naturphilosophie und Fatumslehre vereinbar ist, die eine mit Notwendigkeit sich vollziehende Kausalverkettung allen Geschehens in Ansatz bringt. Die antiken Gegner der Stoa sahen hier einen eklatanten Widerspruch. Moderne Interpreten versuchen, diesen Widerspruch durch die Unterscheidung von Perspektiven bzw. Beschreibungsebenen zu lösen: Die Perspektive des Fatums sei eine überzeitliche ‚göttliche‘ bzw. ‚kosmische‘ Perspektive; ‚Notwendigkeit‘ stelle die eine universale Modalität des Kosmos dar; in dieser (dem Menschen versagten) Perspektive fielen Möglichkeit, Wirklichkeit und Notwendigkeit in eins. Die eben skizzierten verschiedenen Modalitäten seien dagegen temporalisierte Modalitäten, seien zeitbezogen und im Rahmen der dem Menschen möglichen Betrachtungs- und Beschreibungsebene gültig.406

402 De fato VII 13; vgl. Plutarch Stoic. rep. 46, 1055e = SVF II, 202; FDS 1008; Boethius In Arist. De interpr. III 9, 234.22–24 = LS 38C; FDS 988 ; Alexander v. Aphrodisias In Arist. Anal. pr. 183.34–184.6 = LS 38B; FDS 992. 403 VII, 57. 404 In Arist. De Interpr. III 9, 234.27 – 235.1 = SVF II, 201; FDS 988. 405 vgl. M. Frede 1974, 107–117; Bobzien 1986, 42–103; 1993, 63–84; 1998a, chap. 3.1; 2003, 100 f. 406 vgl. Schallenberg 2008, 134 f.; ähnlich bereits Sambursky 1959, 71–80.

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12. Die Fähigkeit der Erkenntnis Die Stoa behandelte erkenntnistheoretische Fragen (nicht nur, aber auch) im Rahmen der Logik. Nach dem Diokles-Fragment bei Diogenes Laertius war es sogar allgemeine stoische Praxis, den Logiktraktat mit der Theorie der Erkenntnis, näherhin mit der Behandlung des Eindrucks, der Begriffsbildung und des Kriteriums zu beginnen.407 Doch dies mag das Zeugnis einer späteren Schulentwicklung sein. Sie diskutierte jedenfalls diese Themen über die gesamte Zeit ihrer Schulgeschichte in Auseinandersetzung mit Herausforderungen der (akademischen und pyrrhonischen) Skepsis. Fragen nach dem Wesen von Wissen, nach der Möglichkeit, der Genese und den Kriterien von Erkenntnis beherrschten die Diskussion. Die Antworten, die die Stoa gab, ja ihre Philosophie im Ganzen galten der Skepsis als ‚dogmatisch‘, da sie die Möglichkeit von Erkenntnis vehement gegen skeptische Einwände verteidigte. Dabei vertrat sie einerseits ein ‚normalsinniges‘ Verständnis der Leistungsfähigkeit von sinnlicher Wahrnehmung (aisthēsis), die jedermann offensteht, andererseits einen ungemein anspruchsvollen ‚holistischen‘ Begriff von Wissen (epistēmē), dem im Vollsinn des Wortes nur der Weise zu genügen vermag. Was im Einzelnen als veritable Erkenntnis zu gelten hat, muss eingebettet sein in ein umfassendes System wahrer, sich gegenseitig stützender und erhellender Überzeugungen über die Welt und den Menschen in ihr. Charakterisierungen ihrer Theorie als empiristisch408 oder rationalistisch409 greifen etwas zu kurz.410 Sowohl die Wahrnehmung bzw. Erfahrung als auch die Vernunft spielen eine konstitutive Rolle im stoischen Bau der Erkenntnis. Ähnlich verkürzend und missverständlich ist die (übliche) Kennzeichnung der Theorie als „physikalistisch“ oder „naturalistisch“. Gewiss versteht die Stoa sämtliche Akte menschlichen Erkennens als physikalische Ereignisse. Doch ebenso gewiss ist, dass für sie die Inhalte des Erkennens und ihr Zusammenhang nicht über eine ‚physiologische‘ Kausalgeschichte beschreibbar und erklärbar sind. Die Grundüberzeugung, die die stoische Theorie der Erkenntnis trägt, ist metaphysischer bzw. teleologischer Art: Die göttliche Natur hat den Menschen so eingerichtet, dass er zu Erkenntnissen befähigt ist, die ihm ein genuin menschliches und individuell gelingendes Leben zu führen ermöglichen. Die stoische Theorie der Erkenntnis ist verwoben mit ihrer Theorie der menschlichen Seele bzw. ihrer Theorie des Geistes. Als Seelenstoff galt ihr, im Anschluss an naturwissenschaftlich-medizinische Vorstellungen der Zeit, das materiell-gasförmig gedachte Pneuma, das in einem Lebewesen dessen gesamtes körperliches Substrat in vollkommener Mischung durchdringt. Das seelische Gebilde ist organisch gegliedert und hierarchisch strukturiert. Man unterschied sieben Teile der menschlichen Seele und ein leitendes Zentrum (das hēgemonikon). Den ‚Teilen‘ sind bestimmte Kräfte bzw. Funktionen und leibliche Organe zugeordnet. Genannt werden die fünf 407 408 409 410

vgl. DL VII, 49–54; Mansfeld 1986, 362 ff. vgl. Annas 1990, 185, Hankinson 2003, 63 f. vgl. M. Frede 1999b, 321. vgl. Dyson 2009, 145–151.

12. Die Fähigkeit der Erkenntnis Sinne, die Stimme und die Zeugungskraft.411 Das leitende Zentrum, das sich der Teile als Instrumente bedient, wird (nicht im Kopf, sondern) in der menschlichen Brust, im Herzen verortet. Es wird als logos bzw. dianoia bezeichnet und über die Sprachfähigkeit charakterisiert. Es bestimmt das gesamte seelische Leben des Menschen. Es ist, epistemologisch gesehen, das Rezeptions-, Koordinations-, Kontrollund Interpretationszentrum aller Informationen. Es zeichnet für alle kognitiven Leistungen des Menschen, ja für all seine (unwillkürlichen) Eindrücke bzw. Vorstellungen, für alle propositionalen Einstellungen und Akte verantwortlich (to poioūn tas phantasias kai synkatatheseis kai aisthēseis kai hormas).412 Nach einem Zeugnis des Calcidius hat Chrysipp diese umfassende und durchdringende Rolle des „leitenden Organs“ in Beziehung zu den anderen Teilen der Seele auch mit dem Stand und den Aktivitäten einer Spinne in ihrem Netz verglichen.413 Die Grundbegriffe der stoischen Erkenntnistheorie sind aisthēsis (Wahrnehmung), phantasia (Eindruck/Vorstellung), phantasia katalēptikē (ein Begreifen ermöglichender Eindruck), prolēpsis (Vorbegriff), ennoia (Begriff), dianoia (Verstand), noēsis (Gedanke), synkatathesis (Zustimmung), katalēpsis (Erfassen/Begreifen), doxa (Meinung) und epistēmē (Erkenntnis/Wissen). Es ist schwierig, das mit dem Wort ‚phantasia‘ Gemeinte ins Deutsche zu übersetzen. Englische Texte geben es abwechselnd mit ‚impression‘ (‚Eindruck‘) und ‚presentation‘ bzw. ‚representation‘ (‚Vorstellung‘) wieder; Bächli/Graeser414 sprechen durchgängig von ‚Erscheinung‘. Das Wort bezeichnet ein Vorkommnis im Leben eines Lebewesens, in dem in diesem etwas aufscheint, sich zeigt, zu ‚erkennen‘ gibt, zur Darstellung bringt bzw. etwas vorgestellt wird. Steine und Pflanzen können nicht Subjekte von phantasiai sein. Nur in Tieren, Menschen (und Göttern) wird die Welt über phantasiai ‚licht‘, scheinen die Dinge, Vorkommnisse und Sachverhalte auf; nur Tiere, Menschen und Götter werden über phantasiai der Dinge und ihrer selbst inne. Die Stoiker selbst haben die Bedeutung des Wortes über die Metaphorik des Lichts erklärt: „Das Wort ‚phantasia‘ ist abgeleitet von ‚Licht (phôs)‘. Denn so wie das Licht sich selbst und all das, was es umgibt, aufzeigt, so zeigt auch die phantasia sich selbst und seine sie bewirkende Ursache (to pepoiēkos auto) auf “.415 In der Regel bezeichnet ‚phantasia‘ das mentale Vorkommnis, das durch die Affektion und Aktivität eines oder mehrerer Sinnesorgane im Subjekt hervorgerufen wird. Doch mit ‚phantasiai‘ können (beim Menschen) auch Eindrücke/Vorstellungen gemeint sein, „die man durch den Verstand (dianoia) wie solche von Unkörperlichem und von den übrigen durch den sprachfähigen Geist (logos) erfassten Dingen empfängt“.416

411 412 413 414 415 416

vgl. Aëtius Plac. IV, 21, 1–4 = SVF II, 836. ebd. SVF II, 836. Calcidius In Tim. 220 = SVF II, 879. Cicero Lucullus 1995. Aëtius Plac. IV. 12 = SVF II, 54 = LS 39 B; vgl. SE AM VII, 161–163. DL VII, 51 = SVF II, 61; LS 39 A.

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II Die stoische Logik Phantasiai haben einen Inhalt, haben intentionale Struktur: Sie stellen etwas vor.417 Dies kann etwas sein, was in der Welt da ist bzw. der Fall ist (hyparchei) und die Vorstellung bewirkt (to poioûn tēn phantasian). Es kann sich aber auch um ein reines Phantasieprodukt (dokēsis dianoias) wie im Fall von Träumen oder ‚verrückten‘ Anfällen des Geistes handeln. Dann ist statt von phantasia von einem phan­ tasma die Rede.418 Entsprechend wird, was ihren Gegenstand betrifft, zwischen dem phantaston der phantasia und dem phantastikon eines phantasma unterschieden.419 Zur erklärenden Beschreibung von phantasia bedienten sie sich neben der Metaphorik des Lichts (wie wir auch heute noch) der Metaphorik des Eindrucks. Es heißt, „die phantasia sei ein Eindruck in der Seele (tēn de phantasian eînai typōsin en psychê)“.420 Dabei haben Zenon und Kleanthes offensichtlich die Rede vom Eindruck etwas zu wörtlich genommen und den mentalen Sachverhalt mit dem Eindruck eines Siegelrings in Wachs verglichen. Nach Chrysipp werde dieses Bild nicht der Beschreibung der Funktion des Geistes bei der Vielzahl verschiedenartiger gleichzeitiger (und kontinuierlich sich ablösender) Eindrücke gerecht. Er hat deshalb den Terminus typōsis durch alloiōsis bzw. heteroiōsis (Veränderung, Modifikation) ersetzt und ein neues Bild bemüht: Wie die Luft, wenn viele Menschen gleichzeitig sprechen, unzählig verschiedene Eindrücke aufnimmt und zugleich vielen Veränderungen unterliegt, so widerfährt dem hēgemonikon bei vielfachen Eindrücken Ähnliches.421 Nun besitzt der hochgenerelle Begriff der Veränderung zwar kaum noch einen positiven Erklärungswert.422 Doch man sollte bedenken, dass wir auch heute beim (vielleicht vergeblichen) Versuch der Erklärung des Zusammenhangs von physischem Prozess und mentalem Gehalt eines Eindrucks nicht allzu viel weitergekommen sind. Ob man Chrysipps Korrektur, der der Komplexität des Sachverhalts Rechnung trägt, als einen Wechsel vom indirekten (ein vermittelndes Abbild des extramentalen Objekts in der Seele bemühenden) Realismus zum direkten (das Objekt unmittelbar erfassend behauptenden) Realismus in der stoischen Analyse der (Ontologie der) Wahrnehmung verstehen kann, scheint zweifelhaft. Klar ist, dass für Zenon und Kleanthes in der Wahrnehmung kein direkter, sondern ein indirekter Bezug zum extramentalen Objekt über die phantasia besteht, und genau dies der Skepsis die Angriffsfläche bot.423 Reed meint, Chrysipp gebe den repräsentativen Charakter der phantasia auf und kennzeichne sie nur noch in kausalen Begriffen: Welche Veränderung auch immer im physikalischen Prozess der Wahrnehmung vor sich geht, sie ermögliche nach Chrysipp dem Subjekt, etwa einen weißen Gegenstand zu sehen und zu sagen, dass es dort einen weißen Gegenstand se-

417 418 419 420 421 422 423

vgl. DL VII, 51; Annas 1990, 191 ff. DL VII, 50 = SVF II, 55; LS 39 A. Aëtius Plac. IV, 12 = SVF II, 54; LS 39 B. DL VII, 46 = SVF II, 53; LS 39 A. SVF II, 56 = SE AM VII, 227–231; vgl. DL VII, 50 = LS 39 A = SVF II, 55. vgl. Hankinson 2003, 62. vgl. Annas 1990, 185.

13. Wahrnehmung und Begriff he.424 Dagegen spricht, dass die Stoa genuin menschliche phantasiai allemal als logi­ kai phantasiai bestimmt, und dies so erklärt, dass ihr Gehalt in sprachlicher Form sich ausdrücken lässt:425 Die phantasia selbst hat einen repräsentativen Inhalt, sie ermöglicht dem Subjekt der Wahrnehmung nicht nur, etwas Inhaltliches (direkt) zu fassen und zum Ausdruck zu bringen.

13. Wahrnehmung und Begriff Von Wahrnehmung (aisthēsis) ist bei den Stoikern nach doxographischem Bericht426 in unterschiedlicher Bedeutung die Rede: Zum einen ist das Seelensubstrat (to pneûma) gemeint, das sich vom Zentralorgan zu den Sinnen erstreckt, zum anderen das Erfassen von etwas durch die Sinne (hē di’ autôn katalēpsis), dann die Ausstattung mit Sinnen (hē peri ta aisthētēria kataskeuē), und schließlich deren Aktivität (hē energeia). Diese ist so gedacht, dass sie im Zentralorgan eine phantasia erzeugt, die ihre Ursache enthüllt.427 Wie das geschieht, deutet die Metapher des „Eindrucks“ (typōsis) an: Wohl so, dass die ‚Modifikation‘ des pneûma der Seele hinreichend Merkmale des Objekts reproduziert, das sie hervorrief und das hēgemonikon befähigt, durch sie das Objekt zu erfassen. Chrysipp hat offensichtlich ein krudes Abbildverständnis zurückgewiesen. Doch die im Wahrnehmungsprozess erzeugte phantasia soll jedenfalls repräsentativen Charakter haben und (auf welche Weise auch immer) als Analogon des externen Objekts fungieren.428 Nicht alle Wahrnehmungsprozesse führen indessen zum adäquaten ‚Erfassen‘ eines Objekts. Phantasiai können traum- bzw. wahnhaft, sie können täuschend oder ungenau sein. Nur eine erkenntnishafte, eine ‚kataleptische‘ Vorstellung (phantasia katalēptikē) ist auf klare und distinkte Weise repräsentativ, ermöglicht ein völlig korrektes Erfassen des Objekts. Sie ist bestimmt als eine solche, die (a) von etwas Vorliegendem (apo hyparchontos) verursacht ist bzw. stammt, die (b) eben diesem Vorliegenden gemäß eingeschrieben und eingedrückt ist (kat’ auto to hyparchon enapomemagmenē kai enapesphragismenē), und zwar (c) so, wie es von etwas Nichtvorliegendem nicht sein könnte (hopoia ouk an genoito apo mē hyparchontos).429 Mit ‚to hyparchon‘ kann sowohl das, was wahrnehmbar existiert, als auch das, was tatsächlich der Fall ist, gemeint sein.430 Durch die ersten beiden Bestimmungen sollen Traum- bzw. Wahnvorstellungen und Sinnestäuschungen ausgeschlossen sein; die dritte Bestimmung ist ein Nachtrag im Rahmen der Auseinandersetzung mit der Skepsis. Ihre Bedeutung, wenn sie denn über eine bloße Explikation bzw. Verstär424 vgl. Reed 2002, 168 f. unter Berufung auf Aëtius Plac. IV.12.1–5 = LS 39 B; SVF II, 54 und LS 53 G. 425 SE AM VIII, 70; LS 33 C. 426 DL VII, 52. 427 SVF II, 54 = Aëtius Plac. IV, 12.1. 428 vgl. Arthur 1983, 70. 429 SE AM VII, 248 = SVF II, 65; LS 40 E; vgl. Cicero Lucullus 18. 430 vgl. SE AM VII, 249–252 mit AM VIII, 85–86; M. Frede 1999b, 303 f.

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II Die stoische Logik kung des zuvor Gesagten hinausgeht, wird in der Forschung spekulativ und kontrovers diskutiert.431 Es spricht manches dafür, dass das apo mē hyparchontos nicht kausal, sondern repräsentativ gemeint ist und die Bestimmung demnach besagt, dass die phantasia katalēptikē einen bestehenden Sachverhalt so klar und deutlich darstellt, wie sie es nicht könnte, wenn der Sachverhalt nicht bestünde (so Sedley). Dies würde dem Umstand gerecht, dass die phantasia katalēptikē eben nicht nur Objekte der Wahrnehmung, sondern ganz allgemein etwas, was der Fall ist auf klare und distinkte Weise vorstellen kann. Es gibt, so das bei Diogenes Laertius zitierte lapidare Referat des Diokles von Magnesia, phantasiai, die seien logikai, und andere, die seien alogoi. Logikai seien die der sprachfähigen Lebewesen (hai tôn logikôn zōōn), alogoi die der nichtsprachfähigen Wesen. Die phantasiai sprachfähiger Wesen seien (sämtlich) Vorkommnisse des Geistes (noēseis).432 Dies besagt: Alle Vorstellungen sprachfähiger Wesen, auch die auf ‚bloßer‘ Wahrnehmungsebene, sind nach stoischer Lehre bereits begrifflichsprachlich strukturiert und lassen sich in sprachlicher Form, über Prädikate und Sätze zum Ausdruck bringen; jeder Eindruck eines sprachfähigen Wesens ist konzeptualisiert und hat propositionalen Gehalt, ist ein Eindruck, dass. . .433 Und natürlich nimmt jemand, der auf einem bestimmten Gebiet fachkundig und entsprechend sprachlich versiert ist, die Dinge dieses Gebiets anders (eben fachkundig) wahr, als ein Laie; seine diesbezüglichen phantasiai sind technikai.434 Es gibt Grade der sprachlichen Durchdringung und des sprachlich artikulierbaren Gehalts von Wahrnehmungen.435 Was die Entwicklung der Sprachfähigkeit beim Menschen betrifft, so scheinen die Stoiker auf gleicher Linie wie die Epikureer gedacht zu haben.436 Ursprünglich gleiche das hēgemonikon des Menschen einem unbeschriebenen Blatt Papier. In dieses werde jede einzelne begriffliche Vorstellung (mia hekastē tôn ennoiôn) eingeschrieben. Dies beginne durch die Wahrnehmungen. Denn wenn wir etwas, sagen wir Weißes wahrnehmen, hätten wir, wenn es weg ist, eine Erinnerung. Wenn viele gleichartige Erinnerungen entstehen, dann hätten wir Erfahrung (empeiria). Erfahrung sei nichts weiter als „die Menge gleichartiger phantasiai“.437 Der Gehalt solcher Erfahrung drücke sich der zur Sprache befähigten Seele ein als eine Allgemeinvorstellung (ennoēma), der allerdings nichts Allgemeines als genuines Objekt in der Welt entspricht. Sie sei so gesehen lediglich ein phantasma dianoias.438 Die Entwicklung des Verstandes (logos, dianoia) ist gekennzeichnet durch den Erwerb eines Vorrats durch Erfahrung gewonnener Allgemeinbegriffe (ennoiai bzw. prolēpseis).439 431 432 433 434 435 436 437 438 439

vgl. Reed 2002, 147–180; Sedley 2005c, 75–92. DL VII, 51 = SVF II, 61; LS 39 A. vgl. DL VII, 49; 63; Galen PHP V. 3; M. Frede 1987, 152–154. DL VII, 51; vgl. Cicero Lucullus 20. vgl. Lesses 1998, 7 Fn. 21. vgl. DL X, 33; Schofield 1980, 291–305. Aëtius Plac. IV, 11, 1–4 = SVF II, 83 = LS 39 E. ebd. vgl. dazu SVF II, 83 = Aëtius Plac. IV,11 = LS 39 E = FDS 277.

13. Wahrnehmung und Begriff Die Sprach- und Vernunftfähigkeit eines Menschen nimmt schrittweise zu und reift mit dem Stock solcher Begriffe im Alter von etwa 14 Jahren.440 Sie bilden die Basis allen Wissens in Wissenschaft, Kunst, Weisheit und tugendhaftem Verhalten.441 Mündige Menschen haben Eindrücke, deren Inhalt ihrer Natur nach propositional ist. Ob nach stoischer Auffassung auch tierische und kleinstkindliche Wahrnehmung propositionale Form besitzt bzw. besitzen kann, ist umstritten. Die generelle Bestimmung von Wahrnehmung als ein Widerfahrnis (pathos), das im Subjekt auf sich selbst und auf seine Ursache verweist,442 gibt zu verstehen, dass tierische Wahrnehmung Selbstwahrnehmung mentaler Zustände und ein Bewusstsein kausaler Relationen einschließt. Andererseits betont die Stoa allemal mit Nachdruck, dass Tiere und Kleinstkinder den Gehalt ihrer Wahrnehmung nicht in Form von Sätzen artikulieren und ausdrücken können.443 Die Stoa wollte, jedenfalls seit Chrysipp444 zwischen Begriff (ennoia) und Vorbegriff (prolēpsis) genau unterschieden wissen. Vorbegriffe sind eine besondere Art von Begriffen, und zwar jene, die nicht absichtlich und geplant bzw. im Rahmen von und im Blick auf fachkundiges Wissen (anepitechnētikôs), durch unsere eigene Lehre und Aufmerksamkeit (di’hēmeteras didaskalias kai epimeleias) gebildet sind, sondern, auf der Basis erkenntnishafter, ‚kataleptischer‘ Wahrnehmungseindrücke, auf natürliche Weise (physikôs) entstehen.445 Dies setzt voraus, dass auch die Unterscheidung von ‚kataleptischen‘ und nicht-kataleptischen Eindrücken auf elementarer Ebene „natürlich (physikôs)“ erfolgt. Bei Diogenes Laertius findet sich die definitionsartige Formel: „Der Vorbegriff ist der natürliche Begriff der Dinge im Ganzen (ennoia physikē tôn katholou)“.446 Mit „im Ganzen“ sind die generellen Merkmale einer Sache gemeint. Es geht also um naturwüchsige, über kausale Mechanismen entstehende allgemeine bzw. abstrakte Vorstellungen. Die Kennzeichnung ihrer Bildung als „natürlich“, „ohne Fachkunde“, „ohne Sorgfalt“, „ohne Belehrung“ besagt wohl, dass diese Prozesse sich weitgehend unbewusst und ohne jede kulturelle Deformation vollziehen.447 Sie sind so gesehen authentisch; mit ihnen treffen wir Wahres (und nicht durch ‚zivilisatorische‘ Interessen und ungesicherte bzw. falsche Meinungen Verzerrtes). Nach Diogenes Laertius habe Chrysipp im ersten Buch seiner Schrift Peri logou Wahrnehmung (aisthēsis) und Vorbegriff (prolēpsis) als Kriterien der Wahrheit genannt.448 Für den die Prolepsis kennzeichnenden Ausdruck „natürlich (physikos)“ können auch die Ausdrücke „mitgewachsen (symphytos)“ oder „eingewachsen (emphytos)“ stehen.449 Gemeint sind damit von der Stoa sicher nicht eingeborene Begriffe im cartesianischen Sinn, sondern Muster ‚instinktiver‘ zielge440 441 442 443 444 445 446 447 448 449

DL VII, 55. vgl. Cicero Lucullus 21–23; Schofield 1980a; M. Frede 1994a; Brittain 2005. Aëtius Plac. IV, 12, 1–3; SE AM VII, 161–163. vgl. Lesses 1998, 1–25. SVF II, 841 = Galen PHP V,3; SVF II, 33 = Plutarch De comm. not. 1059 B. Aëtius Plac. IV,11.3; vgl. dazu Sandbach 1971a, 22–37. DL VII, 54. vgl. M. Frede 1987, 168 f.; Dyson 2009, xxix f. DL VII, 54. Plutarch Stoic. rep. 1041 E = SVF III, 69; Comm. not. 1070 C.

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II Die stoische Logik richteter Aktions- und Reaktionsweisen, die auf unbewusst-kognitiven Leistungen beruhen. Vergleichbares kann man wohl bereits bei Tieren unterstellen.450 Sie zeigen jedenfalls auch und vor allem an, dass der Mensch von Natur dispositional auf den Erwerb von Begriffen ausgerichtet ist, die die zu ihm passende Lebensführung ermöglichen.451 Schließlich ist bei Alexander von Aphrodisias davon die Rede, dass wir nach Chrysipp von der Natur gemeinsame Begriffe (koinai ennoiai) als Kriterien der Wahrheit erhielten.452 Ein Teil der Vorbegriffe ist diesem Zeugnis entsprechend nach Chrysipp allen Menschen gemeinsam. Andere sind, so wäre der Gedanke wohl zu ergänzen, abhängig von den Besonderheiten der natürlichen Umwelt, in der ein Mensch aufwächst; und die gemeinsamen jedenfalls dienten als Kriterium treffender Erkenntnis. Vorbegriffe (grundlegender natürlicher Arten und moralischer Eigenschaften) entstehen nach unseren Texten aus der Erinnerung gleichförmiger Wahrnehmungseindrücke. Solche Eindrücke beziehen sich auf Einzelnes. Die Erinnerung bewahrt das dem gleichförmig Einzelnen Gemeinsame auf und fasst es als ‚Erfahrung‘ im Vorbegriff zusammen.453 Vorbegriffe ermöglichen es dem mündig Werdenden, in Wahrnehmungen bzw. Wahrnehmungsurteilen Einzelnes als Fall eines Allgemeinen zu erfassen. Der Ausdruck ‚ennoia‘ zeigt an, dass der Vorbegriff als Begriff eine Leistung des menschlichen Geistes (noûs) ist. Man nenne diese Leistungen Begriffe (ennoiai), wenn sie gespeichert (enapokeimenas), man nenne sie Gedanken (dianoēseis), wenn sie (in der einzelnen Wahrnehmung) aktiviert sind.454 Vorbegriffe entstehen aufgrund natürlicher ‚Mechanismen‘ unseres Geistes. Was alles für die Stoa unter solchen ‚Mechanismen‘ zu verstehen ist und was sie leisten, ist in den Quellen nur spärlich und uneindeutig belegt. Ciceros Lucullus unterscheidet zwischen dem, „was mit den Sinnen erfasst wird“ und dem, „was der Geist mit den Sinnen erfasst und begreift“. Letzteres gliedert er in Schritte, von singulären deiktischen Sätzen mit elementaren Wahrnehmungsprädikaten: „Dies ist weiß, süß, wohlklingend, wohlriechend, rauh“, über deiktische Sätze mit komplexeren Prädikaten: „Dies ist ein Pferd, dies ein Hund“, bis hin zur konditional formulierten abstrakten Definition des Menschen: „Wenn etwas Mensch ist, ist es ein sterbliches, der Vernunft teilhaftiges Sinnenwesen“.455 Nach anderen Quellen456 fallen auch der Begriff von Gott bzw. von Göttern, sowie die Begriffe des Guten, Schönen, Gerechten und Frommen unter die Vorbegriffe (prolēpseis), bzw. natürlichen Begriffe (physikai ennoiai) bzw. gemeinsamen Begriffe (koinai ennoiai). Bei Diogenes Laertius ist z. B. davon die Rede, dass „etwas Gerech450 451 452 453 454 455 456

vgl. Sorabji 1990, 307–314. vgl. Jackson-McCabe 2004, 340; Vogt 2008b, 165. SVF II, 473 = De mixtione p. 217, 2–4. vgl. Plutarch Comm. not. 1048 F – 1085 B; Aëtius 4. 11, 1–4 = SVF II, 83 = LS 39 E Plutarch De sollertia animalium 961 C; vgl. Brittain 2005, 170. Cicero Lucullus 21 = LS 39 C. vgl. DL VII, 53 = SVF II, 87; SE AM IX, 123 = SVF II, 1017; AM XI, 22 = SVF III, 75; AM IX, 196 = SVF II, 337; Plutarch Comm. not. 32; Stoic. rep. 38 = SVF III A 34; Stoic. rep. 17 = SVF III, 69; SVF II, 1052 = Origenes Contra Celsum I; SVF III, 218 = Origenes Contra Celsum VIII; SVF II, 964 = Origenes Comm. in Gen. II.

13. Wahrnehmung und Begriff tes und Gutes auf natürliche Weise gedanklich erfasst wird (physikôs noeîtai)“.457 Der Inhalt eines Vorbegriffs ist im Übrigen seiner logischen Form nach als eine (definitionsartige) Aussage zu verstehen: „Das Gute ist Nutzen oder nichts anderes als Nutzen“;458 „Gott ist ein seliges, unsterbliches, fürsorgliches, den Menschen wohltätiges Wesen“.459 Dies besagt wohl: Die Vorbegriffe implizieren (jedenfalls im Umriss) die Definitionen der entsprechenden Eigenschaften ihres Objekts. Die Entwicklung einer expliziten Definition ist dann Sache verfeinernder bzw. läuternder, fachkundig reflektierender Zergliederung (diarthrōsis) des Vorbegriffs. So stellen es jedenfalls Cicero und später Epiktet dar.460 Die Oikeiosis-Lehre (siehe unten S. 163– 177) etwa macht klar, wie aus dem Vorbegriff des Guten („Das Gute ist Nutzen“461 der reflektierte Begriff des Guten entsteht.462 Ob, wie Dyson glaubt nachweisen zu können, Chrysipp unter den koinai ennoiai nur die fachkundig zergliederten Vorbegriffe verstanden wissen wollte, sei dahingestellt. Die Vorbegriffe, von Chrysipp auch als physikai ennoiai bezeichnet, wären nach seinem Verständnis dann als Kriterien der Wahrheit im Alltag und die koinai ennoiai für Aussagen in Wissenschaft und Philosophie gedacht.463 Wenn Plutarch, Sextus und Alexander von Aphrodisias das stoische Verständnis von prolēpseis und koinai ennoia im Sinn allgemein verbreiteter, vortheoretischer Begriffe bzw. Meinungen darstellen, so verdanke sich dies einem polemischen Diskussionskontext, der auf vielleicht absichtlichem Missverständnis beruht.464 Waren diese Kritiker doch bestrebt, Kerndogmen der stoischen Philosophie als paradox darzustellen, obgleich diese für sich beanspruche, auf natürlichen und allgemein akzeptierten Vorstellungen zu basieren. Diogenes Laertius verdanken wir ein kurzes, mit Beispielen unterlegtes Referat über das, was die Stoa alles an verschiedenen Operationen des Geistes beim Denken von Objekten bzw. der Bildung von Begriffen ins Auge fasste.465 Zeitlich und sachlich primär ist danach, dass die Dinge uns über die Sinne unmittelbar begegnen und beeindrucken; sie werden in der Wahrnehmung gemäß dem, was begegnet, gedacht (kata periptōsin). Auf der Basis sinnlicher Eindrücke vergegenwärtigen wir uns imaginativ bzw. ‚gedanklich‘ ferner Reales und Fiktionales über bildhafte Darstellungen, über Operationen der Zusammensetzung (synthesis), Umstellung (metathesis), Entgegensetzung (enantiōsis) und Entfernung (sterēsis), der Vergrößerung (auxēsis) und Verkleinerung (meiōsis) von Merkmalen, der Analogisierung (kat’analogian), und schließlich der Abstraktion (kata sterēsin) und Transgression (kata metabasin). 457 458 459 460 461 462 463 464 465

DL VII, 53. SE AM XI, 22. vgl. Plutarch Stoic. rep. 1051 D-F; 1052 B; vgl. Comm. not. 1075 E. vgl. Cicero Lucullus 30; Tusc. disp. IV, 53 = LS 32 H; Epiktet Diss. I, 22, 1–3; II, 11.3–5; 15–17; II, 17. 7–14; alle Epiktetstellen zur prolēpsis­Lehre bei Dyson 2009, 193–207. SE AM XI, 21–24; DL VII, 103. vgl. Vogt 2008b, 155–174. vgl. Dyson 2009, xxvi; 110–144. Dyson ebd. xxv f. DL VII, 52–53 = LS 39 D = SVF II, 87; ähnliche Listen auch bei SE AM III, 40–42; VIII, 56–60; IX, 393–396; XI, 250–252 und bei Cicero De fin. III, 33–34.

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II Die stoische Logik An Sokrates denken wir anhand eines Bildes von ihm, einen Pygmäen stellt man sich durch die Operation der gedanklichen Verkleinerung der Menschen normaler Größe vor, einen Kentaur durch eine Kombination von Mensch und Pferd, den Tod durch Antithese zum (erlebten) Leben, den Erdmittelpunkt in Analogie zum Zentrum kleinerer (wahrnehmbarer) Kugeln, das Sagbare durch Abstraktion vom physischen Lautgebilde und den Ort durch Abstraktion vom Körperlichen, das ihn einnimmt. Der Text ist in mehrfacher Hinsicht unklar: Er unterscheidet nicht präzise zwischen Operationen des bildhaften Sich-Vorstellens-von-etwas und der Bildung eines abstrakten Begriffs-von-etwas.466 Und er sagt uns nichts über die Art der Beziehung von naturwüchsig-assoziativer und reflektiert-sachkundiger Begriffsbildung. Es ist schließlich kaum zu entscheiden, ob der Stoa die genannten Operationen der Imaginierung und Konzeptualisierung (jedenfalls zum Teil) sowohl bei der natürlichen und weitgehend unbewussten als auch bei der bewussten, geplanten und reflektierten Begriffsbildung im Spiel befindlich gelten.467 Ciceros Lucullus betont468 die Kunstfertigkeit, mit der die Allnatur jedes Sinnenwesen, auch den Menschen ausgestattet habe: Der menschliche Geist (mens) sei die Quelle der Sinne und selbst ein Sinn. Er gebrauche die Eindrücke teils unmittelbar, teils lege er sie zurück, woraus das Gedächtnis (memoria) entstehe. Die übrigen Eindrücke stelle er nach Ähnlichkeiten zusammen, woraus die (begrifflichen) Kenntnisse der Dinge (notitiae rerum) bewirkt würden, die die Griechen bald ennoiai, bald prolēpseis nennen würden. Wenn dann die Vernunft (ratio) und das schlussfolgernde Denken (argumenti conclusio) und die Menge unzähliger Dinge hinzukämen, dann trete das begreifende Erfassen (perceptio) all dieser Dinge in Erscheinung, und eben diese Vernunft gelange, über die genannten Stufen vollkommen (geworden), zur Weisheit. Ciceros Text setzt mit dem Auftreten der Vernunft eine deutliche Zäsur. Die Vorbegriffe entstehen ihr vorgängig in einem naturalen, kausal-teleologischen Prozess aufgrund der Zusammenstellung von gleichartigen sinnlichen Eindrücken.469 Wie die Vorbegriffe von Gott und dem Guten und Gerechten auf solch elementare und natural-kausale Weise sich bilden (können), wird hier nicht weiter erklärt. Doch man muss beachten, dass für die Stoiker alle Züge von Wirklichem (d. h. Körperlichem), auch die ästhetischen und moralischen, in den Bereich des Wahrnehmbaren fallen.470 So lernen wir, wahrzunehmen, dass etwas schön oder schlecht oder gerecht ist eben so, wie wir lernen, wahrzunehmen, dass es weiß oder rau oder trocken etc. ist. Und wie wir lernen, wahrzunehmen, dass etwas ein Baum, ein Fluss, ein Stern etc. ist, so lernen wir wahrzunehmen, dass etwas göttlich ist. Für ein erfahrenes

466 467 468 469 470

vgl. Brunschwig 1994, 99–103; Brittain 2005, 172 f. vgl. Vogt 2008b, 163. im Abschnitt 30. vgl. Striker 1990a, 153. vgl. Plutarch Comm. not. 1062 C; Stoic. rep. 1042 E-F; Cicero ND II, 145.

14. Erkenntnis und Meinung Auge sieht nach stoischem Verständnis ein tugendhafter Mensch eben entschieden anders aus als ein lasterhafter.471 Berücksichtigt man indessen, was die stoische Theologie in Form von Gottesbeweisen und die stoische Ethik in Form präziser Distinktionen, Definitionen und Schlüsse zu sagen hatte, so ist klar, dass die Stoa zwischen einem naturwüchsigen Begriff und dem entsprechenden philosophisch reflektierten und verfeinerten Begriff von etwas genau unterschieden wissen wollte. Und zudem gilt es zu beachten, dass die Stoa evidente, erkenntniskonstituierende Vorstellungen (phantasiai katalēptikai) sowohl durch die Wahrnehmung, als auch durch den Verstand vermittelt in Ansatz brachte. Bei Diogenes Laertius472 etwa ist davon die Rede, dass nach den Stoikern das Erfassen (katalēpsis) von Weißem, Schwarzem, Rauem und Weichem durch die Wahrnehmung (aisthēsei), das Erfassen der Konklusionen von Beweisen aber, z. B. dass es Götter gebe und dass sie fürsorglich planen, durch den Verstand (logō) erfolge.

14. Erkenntnis und Meinung Seit ihrem Beginn vertritt die Stoa epistemologisch einen vierstufigen Aufbau des Wissens: phantasia – synkatathesis – katalēpsis – epistēmē. Zenon pflegte die Struktur durch vier Handgesten zu veranschaulichen: Die rechte Hand mit ausgestreckten Fingern entspreche der Vorstellung/dem Eindruck (phantasia, visum), die Krümmung der Finger nach innen der Zustimmung (synkatathesis, adsensio, adprobatio), ihr Ballen zur Faust dem Erfassen/Begreifen (katalēpsis, perceptio, conprehensio) und das (feste) Umfassen der geballten Faust mit der linken Hand der Erkenntnis (epistēmē, scientia).473 Die Form des Zusammenhangs der Strukturelemente findet ihren markantesten Ausdruck in der Chrysippschen Definition des ‚Erfassens‘ von etwas: Erfassen (κatalēpsis) ist die Zustimmung (synkatathesis) zu einer erkenntnishaften Vorstellung (phantasia katalēptikē).474 Die (sc. sinnliche) phantasia ist von außen induziert; das Zustimmen liegt bei uns (adsensio – in nostra potestate sita).475 Dem erkenntnishaften, d. h. klaren und deutlichen Eindruck gibt der Geist spontan und unausweichlich nach (non potest obiectam rem perspicuam non adprobare).476 Erfassen (katalēpsis) ist für die Stoa also ein Erfolgsprädikat: Wer etwas erfasst, trifft das Wahre. Die Zustimmung erfolgt indessen häufig, mangels Bildung und aus Schwäche des Geistes,477 zu nicht-kataleptischen, d. h. unklaren bzw. ungenauen oder täuschen-

471 472 473 474 475 476 477

vgl. M. Frede 1987, 158. VII, 52. Cicero Lucullus 145 = SVF I, 66 = LS 41 A; vgl. Acad. post. I, 41. SVF II, 90 = SE AM VII, 151 = LS 41 C; SVF II, 91 = SE AM VIII, 397. Cicero Lucullus 37; vgl. Acad. post. I, 40. ebd. Lucullus 38; 88–90; vgl. SE AM VII, 257 = LS 40 K; AM VII, 403–408. vgl. LS 41 D = SVF II, 131; LS 41 G = SVF III, 548.

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II Die stoische Logik den bzw. falschen Eindrücken.478 Eine solche Zustimmung bedeutet kein Erfassen, sondern erzeugt generell das, was die Stoa unter einer Meinung (doxa) versteht. Sie gilt ihr als voreilig, wenn die Vorstellung zwar wahr, aber ungenau, sie gilt ihr als irrig, wenn sie falsch ist.479 Alles Meinen, selbst die im Einzelnen treffende katalēpsis des Nichtweisen ist ein Akt der Unwissenheit (agnoia).480 Das mag paradox klingen, erklärt sich indessen aus dem holistischen Verständnis von Wissen. Zu einer Erkenntnis im eigentlichen Sinn (epistēmē) ist nur der Weise in der Lage. Sie ist bestimmt als sicheres, beständiges und durch kein (Gegen-)argument erschütterbares Erfassen (von etwas).481 Der Weise hat keine Meinungen. Er verfügt über eine feste Disposition (hexis), nur ‚kataleptischen‘ Vorstellungen zuzustimmen. Seine sämtlich korrekten Überzeugungen bilden ein durch und durch stimmiges ‚System‘.482 Gewiss, auch der Nichtweise „erfasst“ bestimmte Sachverhalte; auch er hat gelegentlich klare und deutliche Eindrücke und Vorstellungen, denen er selbstverständlich zustimmt. Die katalēpsis ist schließlich Weisen und Nichtweisen gemeinsam.483 Sie steht, für sich betrachtet, zwischen bloßer Meinung und Wissen. Sie eröffnet dem Nichtweisen ja auch über die immer sorgfältigere Prüfung seiner phantasiai und die immer stärkere Kontrolle seiner Zustimmung die Möglichkeit, sich schrittweise dem Status eines Weisen zu nähern. Doch solange er diesen Status nicht erreicht hat, ist er subjektiv zu mehr als bloßen Meinungen kognitiv nicht befähigt. Denn seine Zustimmung selbst zu kataleptischen Vorstellungen bleibt schwach (synkatathesis asthenēs), da sie sich bei ihm allemal noch im Zusammenhang und Gefolge voreiliger und irriger Meinungen befindet und damit durch Gegenargumente angreifbar und erschütterbar erweist.484 Die Schwäche seiner Zustimmung depraviert sein (sc. korrektes) Erfassen von etwas zur bloßen (wahren) Meinung und damit zu einem Fall von Nichtwissen.485 Nur ‚kataleptische‘ Eindrücke/Vorstellungen sind glaubwürdig. Epistemisch grundlegend sind sinnliche ‚kataleptische‘ Eindrücke. Doch dies besagt nicht, dass ‚kataleptische‘ Eindrücke immer sinnliche Eindrücke sein müssen. In gewisser Weise gilt der Stoa der menschliche Geist ja selbst als Sinn. Und selbstverständlich können für ihn auch die Eindrücke abstrakter Gedanken (etwa mathematischer Art) schlagend und evident sein.486 Die Stoa war überzeugt davon, dass die göttliche 478 vgl. SVF II, 70 = Alexander v. Aphrodisias De anima. 479 vgl. SVF II, 993 = Plutarch Stoic. rep. 1056 E; SVF III, 172 = Galen De animi peccatis dignoscendis; SVF III, 548 = Stobaeus Ecl. II, 111, 18 W. 480 vgl. Cicero Acad. post. I, 41. 481 SVF II, 90 = SE AM VII, 151 = LS 41 C. 482 SVF III, 112 = Stobaeus Ecl. II, 74, 16 W; LS 41 H; vgl. SVF III, 213 = Plutarch Comm. not. 1061 C. 483 SVF II, 90 = SE AM VII, 151 = LS 41 C. 484 vgl. Görler 2004, 1–15. 485 vgl. Cicero Acad. post. I, 41; SE AM VII, 153; vgl. dazu treffend Arthur 1983, 69–78; Meinwald 2005, 215–231; anders Annas 1990, 184–203; LS 41 A-I, Kommentar p. 256–259. 486 vgl. Cicero Lucullus 21; 30; SE AM VII, 345; DL VII, 51; Brennan 1996, 318–334; M. Frede 1999b, 298.

14. Erkenntnis und Meinung Natur den Menschen nicht fehlkonstruiert, sondern so ausgestattet hat, dass er ein gutes Leben zu führen imstande ist. Sie war zudem im geistigen Gefolge des Sokrates davon überzeugt, dass der Mensch Wissen benötigt von dem, was für ihn wahrhaft gut ist, um ein gutes Leben zu führen. Sie musste also einen Leitfaden namhaft machen, den Natur uns zur Verfügung gestellt hat, der uns den Weg zum Wissen weist und vor Irrtum zu schützen vermag. Den Anker dieses Leitfadens bieten ihr die ‚kataleptischen‘ Eindrücke, die sie so gedacht hat, dass sie nicht falsch sein können und sich von allen nichtkataleptischen Eindrücken unterscheiden lassen.487 Es ist allerdings nur der Weise, der sie stets als solche identifiziert. Wie Epikur und der Epikureismus488 sprach sie von ‚Kriterien‘ der Wahrheit im Sinne von Instrumenten der Entdeckung elementarer Wahrheiten, die die Grundlagen veritabler Erkenntnis liefern.489 Dabei galt ihr (zumal im Kontext der Auseinandersetzung mit der Skepsis) der erfassende, erkenntnisermöglichende, klare und deutliche Eindruck, die phantasia katalēptikē als ‚das‘ Kriterium.490 Doch ein Bericht des Diogenes Laertius belegt, dass sie in ihr (im Lauf ihrer Geschichte) nicht das einzige Mittel zur Sicherung von Erkenntnis sah: „Sie sagen, Kriterium der Wahrheit sei der erfassende Eindruck (katalēpsis), d. h. der, welcher dem entspringt, was (der Fall) ist (tēn apo hyparchontos), wie Chrysipp im 12. Buch seiner Physik, sowie Antipater und Apollodor erklären. Boethos hingegen benennt mehrere Kriterien: Geist (noûs) und Wahrnehmung (aisthēsis) und Streben (orexis) und Erkenntnis (epistēmē). Chrysipp erklärt im Widerspruch zu sich selbst im ersten Buch Über Vernunft, Wahrnehmung (aisthēsis) und Vorbegriff (prolēpsis) seien Kriterien. Ist doch der Vorbegriff eine naturwüchsig-gedankliche Vorstellung der Dinge im Ganzen (physikē ennoia tôn katholou). Andere der älteren Stoiker machen die rechte Vernunft (ton orthon logon) zum Kriterium, wie Poseidonios in seinem Buch Über das Kriterium sagt“.491 Was hier wie verwirrende Vielfalt oder gar Selbstwiderspruch erscheint, lässt sich durch den Wechsel der Perspektive erklären, je nachdem, ob man einzelne konstitutive Schritte, Bausteine und Faktoren, oder das gesamte Konstrukt von veritabler Erkenntnis ins Auge fasst. Letztlich ist es seine rechte Vernunft (orthos logos), die beim Weisen auch den untrüglichen Sinn dafür umfasst, welche Eindrücke erkenntnishaft-erfassend sind und welche nicht.492 Es möchte allerdings auch sein, dass Boethos bzw. die mittlere Stoa unter peripatetischem Einfluss die Kriterienliste im Blick auf den Erwerb von Erkenntnis nichtweiser Menschen erweitert hat.493 Die Auseinandersetzung mit der Skepsis macht sich freilich an der Frage fest, ob es, wie die Stoiker behaupten, tatsächlich erkenntnishafte, erfassende Eindrücke (phantasiai kataleptikai) gibt, und ob sie sich von nicht-kataleptischen Eindrücken 487 488 489 490 491 492 493

vgl. SE AM VII, 259; 252; M. Frede 1987, 151 f. vgl. LS 17 A-E. vgl. Striker 1990a, 143–160. vgl. DL VII, 50; SE AM VII, 248; Cicero Lucullus 77. DL VII, 54 = LS 40 A = SVF II, 105; vgl. SE AM VII, 153. vgl. Kidd 1989, 137–150. so Tarrant 1987, 17–37.

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II Die stoische Logik eindeutig unterscheiden lassen. Derartige ‚kataleptische‘ Eindrücke müssten als Basis dessen, was wir wissen müssen, auch Eindrücke umfassen, die unser Streben auszulösen (hormētikai phantasiai) und das Handeln im Blick auf ein gutes Leben hinreichend zu orientieren vermögen.494 ‚Kataleptischen‘ Eindrücken stimmten wir von selbst zu. Die Ablehnung eindeutig falscher und die konsequente Zustimmungsenthaltung bei unklaren und undeutlichen Eindrücken ermöglichte uns dann, irrtumsfrei und gut zu leben. ‚Kataleptische‘ Eindrücke sind, so die Stoa, eine Gabe der Natur.495 Doch sie haben zu können, hängt von den äußeren Umständen und der mentalen Verfassung des ihnen begegnenden Subjektes ab. Wer etwa einen ‚kataleptischen‘ visuellen Eindruck eines realen Objektes gewinnen möchte, muss wach und bei Verstand sein, sich seiner Sehkraft versichern, dem Gegenstand sich entsprechend nähern, die günstigen Lichtverhältnisse prüfen, alles Entgegenstehende und Behindernde beseitigen etc.496 Es sind dies Erfordernisse der „Natürlichkeit“ und „Normalität“ der Entstehung eines Eindrucks, die seine „Unverzerrtheit“ gewährleisten. Eine schulmäßige Liste dieser Bedingungen ist überliefert: „Damit nach ihnen ein (sc. adäquater) Wahrnehmungseindruck, etwa des Sehens, entsteht, müssen fünf Faktoren auf passende Weise zusammenspielen: das Sinnesorgan, das Sinnesobjekt, der Ort, das Wie (des Sehens) und der Verstand“.497 Sind die entsprechenden Bedingungen erfüllt, dann ergibt sich dem Normalsinnigen ein Eindruck, der für sich selbst die Gewähr bietet (a) von einem wirklichen Objekt zu stammen, und (b), dieses Objekt (in seinen generischen und individuellen Eigenschaften) klar und deutlich zu repräsentieren.498 Sextus spricht so, als würde (nach stoischer Lehre) ein kataleptischer Eindruck alle Merkmale eines Objekts in exakter Weise beinhalten.499 Cicero dagegen erklärt, er würde alle und nur jene Merkmale des Objekts enthalten, die in den Bereich des Sinnes fallen, der den Eindruck vermittelt.500 Verwechslungen mit Wahn- und Traumeindrücken ebenso wie falsche Identifikationen und Subsumptionen sind jedenfalls ausgeschlossen. Eine spätere einschränkende Bestimmung, der ‚kataleptische‘ Eindruck sei das Kriterium des Wahren, „vorausgesetzt, ihm stehe kein Hindernis entgegen“,501 beruht wohl auf einem Missverständnis: Ein kataleptischer Eindruck kommt bei gegebenem Hindernis erst gar nicht zustande.502 Zenon, so Cicero,503 habe nur jenen Eindrücken Glaubwürdigkeit zugesprochen, die eine gewisse ihnen eigene, von allen anderen Eindrücken unterschiedene Bekundungs494 Dies hatte wohl Boethos im Sinn, wenn er das Streben (orexis) in die Liste seiner Kriterien aufnahm; Tarrant plädiert allerdings dafür, orexis durch prosdexis (phantasiôn) zu ersetzen. 495 vgl. SE AM VII, 259 = LS 40 K. 496 vgl. SE AM VII, 258 = LS 40 K; vgl. VII, 253 ff.; Cicero Lucullus 19. 497 SE AM VII, 424; vgl. Cicero Lucullus 19. 498 vgl. LS 40 C = DL VII, 46; LS 40 D = Cicero Lucullus 77–78; SE AM IX, 183. 499 vgl. SE AM VII, 248, 250, 251. 500 Acad. prior. I, 42; M. Frede 1987, 161. 501 SVF AM VII, 253 = LS 40 K; AM VII, 424. 502 vgl. Striker 1990a 152 f. Fn. 503 Acad. post. I, 41 = LS 40 B.

14. Erkenntnis und Meinung kraft (propriam quandam declarationem) bezüglich der Dinge besäßen, die erfahren würden.504 Diese ausgezeichnete Bekundungskraft wird in den Texten in der Regel mit den Ausdrücken „klar (tranēs)“ und „deutlich (ektypos)“505, „schlagend (plēktikos)“, „anschaulich (enargēs)“ 506 bzw. „offensichtlich (evidens, perspicuus)“ 507 gekennzeichnet. Sie kommt nach Zenons Definition eben jenen und nur jenen Eindrücken zu, die „so von dem eingedrückt und abgebildet sind, von dem sie stammen, wie sie es von dem, von dem sie nicht stammen, nicht sein könnten“.508 Zenon versuchte mit dieser letzten Bestimmung offensichtlich, den skeptischen Einwurf zurückzuweisen, es könnte falsche Eindrücke geben, die sich von wahren, klaren und distinkten nicht unterscheiden ließen, was schließlich nach skeptischer Sicht das Kriterium im Ganzen entwerten würde.509 Tatsächlich habe Arkesilaos, so Cicero, zeigen wollen, dass kein Eindruck „so vom Wahren sei, dass er nicht in gleicher Weise auch vom Falschen sein könne“. Und dies sei der einzige Streitpunkt, der bis heute nicht beigelegt sei.510 Der andauernde Streit scheint sich einerseits auf den Punkt der vermeintlich unhintergehbaren Subjektivität (und damit Fallibilität) der Evidenzerfahrung und andererseits auf den Gedanken objektiver (und damit ununterscheidbarer) Zwillingsphänomene konzentriert zu haben.511 Die Stoa hat in diesem Streit gegenüber der Skepsis auf einem Begriff objektiver Evidenz beharrt: Er trifft nach ihrer Sicht nur auf ‚kataleptische‘ Eindrücke zu. Sie und nur sie weisen diesen Charakter auf; und es ist möglich zu lernen, sie von allen nicht-kataleptischen Eindrücken zu unterscheiden.512 ‚Ausgelernt‘ hat bezüglich dieser Unterscheidungsfähigkeit freilich nur der Weise. Die Beispielfälle subjektiver täuschender Evidenz aus Trunkenheit oder mentaler Verdrehtheit, in der Lage des Traums oder Wahns etc., die Wahres für falsch und Falsches für wahr vorspiegelt, versuchte sie wohl, durch den Verweis auf normalsinnige genaue Erfahrung und ihre objektiven Entstehungsbedingungen zu neutralisieren.513 Heute würden wir (bei Wahrnehmungsurteilen) natürlich auch noch die Möglichkeit intersubjektiver Bestätigung und Kontrolle mit ins Spiel bringen. Das Problem liegt anders bei Zwillingsobjekten. Die Stoa vertrat das ontologische principium identitatis indiscernibilium, nach dem es keine zwei numerisch verschiedene, in allem sich gleichende Dinge geben könne.514 Sie musste allerdings dem Umstand Rechnung tragen, dass auch dem Normalsinnigen unter adäquaten Erfahrungsbedingungen scheinbar klar und deutlich kaum unterscheidbare, deshalb in 504 505 506 507 508 509 510 511 512 513 514

vgl. SE AM VII, 252 ti toioûton idiōma . . . para tas allas phantasias. DL VII, 46. SE AM VII, 403. Cicero Lucullus 17; vgl. Cicero Lucullus 77 = LS 40 D; Lucullus 83–85 = LS 40 J; SE AM VII, 252 = LS 40 E. Lucullus 18; vgl. ebd. 42, 112; SE AM VII, 152, 248, 252; DL VII, 50. vgl. Cicero Lucullus 77 = LS 40 D; Lucullus 83–85 = LS 40 J; SE AM VII, 252 = LS 40 E. Lucullus 77–78; vgl. SE AM VII, 164 f. vgl. SE AM VII, 402–10 = LS 40 H. vgl. M. Frede 1999b, 315 f. vgl. SE AM VII, 424 = LS 40 L. vgl. Plutarch Comm. not. 1077 C-E = LS 28 O.

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II Die stoische Logik ihrem Eindruck möglicherweise täuschende Objekte begegnen können.515 Sie empfiehlt hier zunächst Urteilsenthaltung, behauptet die prinzipielle Unterscheidbarkeit und betont die Fähigkeit Erfahrener, Fachkundiger und mit den betreffenden Dingen eminent Vertrauter (etwa der Mütter von eineiigen Zwillingen), das normalerweise gleich Erscheinende, gleichwohl individuelle Merkmale Aufweisende zweifelsfrei unterscheiden zu können.516 Obgleich die Stoa einen ungemein anspruchsvollen Begriff von Erkenntnis vertrat, setzte sie gegen alle philosophische Skepsis auf den ‚gesunden‘ Menschenverstand im Vertrauen auf die Weisheit und Fürsorge der Allnatur, die den Menschen kognitiv so ausgerüstet habe, dass er zur Erkenntnis all dessen befähigt ist, was er zu einer guten Lebensführung braucht. Erkenntnis zu besitzten, ist das Merkmal des Weisen. Für sich selbst haben die Häupter der Stoa nicht beansprucht, das Ziel der Weisheit erreicht zu haben.517 In ihrer Selbstbeurteilung trugen sie dem Anliegen skeptischer Bescheidung also durchaus Rechnung. Doch dass wir Menschen grundsätzlich zu Erkenntnis und Weisheit zu gelangen in der Lage sind, daran hielten sie gegen alle Einwände fest.

515 Cicero Lucullus 83–85 = LS 40 J. 516 Cicero Lucullus 57 = LS 40 I. 517 vgl. SE AM VII, 432–433.

III Die stoische Physik 1. Pantheismus

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ie stoische Naturphilosophie ist von gedanklichen Motiven der Vorsokratik, insbesondere von Heraklit und Diogenes von Apollonia,1 von der Dichtung Hesiods, von Platons Timaios und Nomoi X2 in der exegetischen Vermittlung über Xenokrates und vor allem Polemon,3 von Aristoteles’ Physik und Metaphysik,4 von deren Modifikation und Kritik durch Theophrast5 und (möglicherweise) Straton von Lampsakos, von Aristoteles’ Biologie, von der zeitgenössischen Medizin6 und von der ‚gebildeten‘ Diskussion über Natur und das Natürliche in der Sophistik7 beeinflusst. Was sie zu leisten beansprucht, ist die Erforschung, und über ihrer Erforschung eine begründete Erkenntnis „der Welt und dessen, was sie enthält“.8 Was sie im Ganzen gegenüber der naturphilosophischen Tradition kennzeichnet, ist zum einen ihr eindeutig pantheistischer Charakter: „Zenon sagt, die ganze Welt und der Himmel sei die Substanz (ousia) Gottes; ebenso (sagt das) Chrysipp im ersten Buch Über Götter und Poseidonios im ersten Buch Über Götter“.9 Ein besonderes Merkmal ist zum zweiten ihr durchgängiger Versuch, physikalisch-mechanistische, handwerklich-technische und biologisch-medizinische Modellvorstellungen in ihrer Theorie des Aufbaus der Welt und des Weltgeschehens im Ganzen zu verbinden. In thematisch gegliederter Ordnung untersucht die stoische Physik nach DL VII, 132 (a) die Körper, (b) die Prinzipien, (c) die Elemente, (d) die Götter, (e) die Grenzen, den Ort und das Leere. Dies, so die Quelle, sei eine Einteilung der Art nach (eidikôs). Der Gattung nach (genikôs) würde die Stoa die Physik thematisch in drei Bereiche gliedern: (a) die Welt (ton peri kosmou), (b) die Elemente (ton peri tôn stoicheiōn) und (c) die Lehre vom Ursächlichen (ton aitiologikon topon). Was die Untersuchung der Welt betrifft, so sei sie zweigeteilt: Mit dem einen Teil, nämlich astronomischen Fragen, würden sich auch ‚die Mathematiker‘ (hoi apo tôn 1 2 3 4 5 6 7 8 9

vgl. Long 1996a, 35–57; Sedley 2002, 41–83. vgl. Krämer 1971, 108–131; M. Frede 2005, 213–232. vgl. Sedley 2002, 41–83. vgl. Hahm 1977. vgl. Sedley 2002, 72 f. vgl. Lapidge 1978, 163. vgl. Forschner 1981, 9–24. LS 26 A = SVF II, 35 Aëtius. LS 43 A = SVF II, 1022 DL.

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III Die stoische Physik mathēmatōn) befassen; den anderen Teil, nämlich naturphilosophische Prinzipienfragen, behandelten nur die Naturforscher (hoi physikoi). Auch die Ursachenlehre sei zweigeteilt. Das eine Forschungsgebiet (Fragen der Organisation und Leistungen der Seele) teilten sich die Naturforscher mit den Medizinern, das andere (Fragen der Optik und der Meteorologie) mit den Mathematikern. Das Verhältnis dieser beiden von Diogenes Laertius referierten Einteilungen bleibt unklar.10 Vielleicht ist mit der Kennzeichnung der ersten Einteilung als eidikôs nur dies gemeint, dass sie sich auf das Feld philosophischer Prinzipienforschung beschränkt, während die zweite Einteilung weiter ausgreift (in diesem Sinn von ge­ nikôs) und auch Gebiete umfasst, die die Philosophie mit anderen Forschungsweisen teilt.11 In ihrem Verständnis des Universums unterscheidet sie das Ganze (to holon) vom All (to pân): „Sie sagen nämlich, etwas Ganzes sei der Kosmos, während das Leere außerhalb zusammen mit dem Kosmos das All sei; deshalb sei das Ganze begrenzt (denn der Kosmos ist begrenzt), das All aber unbegrenzt (denn das Leere außerhalb des Kosmos ist so)“.12 Der bestehende Kosmos ist ein einziges begrenztes Ganzes im Universum, von runder Gestalt,13 mit gestuften Sphären und der Erde als (stationärem) Zentrum,14 ein materielles Kontinuum ohne leeren Raum in sich, ein zweckmäßig organisiertes, von göttlicher Vernunft gestaltetes und geleitetes Lebewesen im Großen, mit einer Lebensbahn von der Zeugung und Geburt bis zur Auflösung (in Feuer) am Ende, und dies in endloser Wiederkehr.15 Naturphilosophische Erkenntnis ist für die Stoa aufs Engste mit der Ethik verbunden, setzt doch deren Grundmaxime („Im Einklang mit der Natur leben“)16 die Einsicht in die natürliche Ordnung und das natürliche Geschehen voraus. Diogenes Laertius bietet eine lehrbuchmäßige Erklärung des stoischen Begriffs von (universaler) „Natur“: „Mit ‚Natur‘ (physis) meinen sie manchmal das, was die Welt zusammenhält, manchmal das, was die Dinge auf der Erde wachsen lässt. Natur ist eine sich selbst bewegende feste Disposition (hexis), die das, was ihr entspringt, nach samenhaften Formeln (kata spermatikous logous) in bestimmten Zeiträumen ans Ziel bringt und zusammenhält und solches fortgesetzt tut, was die Dinge unterschieden macht. Sie ziele sowohl auf das Zuträgliche als auch auf Vergnügen, wie aus der fachkundigen Tätigkeit des Menschen ersichtlich ist.“17 Gott und Natur sind für die Stoa in gewisser Hinsicht identisch.18 Physik ist somit Erforschung und Betrachtung Gottes, Betrachtung der alles nach einem vernünftigen Plan gestaltenden göttlichen Natur. Weltbetrachtung und, der Ordnung der Na10 11 12 13 14 15 16 17 18

vgl. M. J. White 2003, 125. so Brunschwig 2003, 206 ff. LS 44 A Sextus; vgl. SVF II, 522–524. SVF II, 547 Aëtius. vgl. DL VII, 137. vgl. Furley 1999, 433 f. LS 63 B Stobaeus; LS 63 C D L. DL VII 148 f. vgl. SVF I, 160; II, 1076.

2. Ontologie und Kosmologie tur entsprechend, sich einfügende Welt(mit)gestaltung sind Ausdruck der genuinen Bestimmung des Menschen. „Den Menschen“, so heißt es bei Epiktet in altstoischem Geist, „hat Gott in die Welt gebracht als Betrachter seiner und seiner Werke, und nicht nur als ihren Betrachter, sondern auch als ihren (praktischen) Interpreten“.19

2. Ontologie und Kosmologie Körper sind für die Stoa durch dreidimensionale Extension (mêkos, bathos, platos) und Widerständigkeit (antitypia) definiert.20 Die Stoa anerkannte nur Körper (sōmata) als genuin Seiendes (onta);21 dies deshalb, weil ihrer Ansicht nach nur Körperliches (durch Berührung oder Durchdringung bzw. Mischung) etwas tun oder erleiden kann.22 Gott ist körperlich, insofern er etwas erwirken, die Materie ist körperlich, insofern sie etwas erleiden, Zusammengesetztes ist körperlich, insofern es etwas bewirken und erleiden kann.23 Kausal miteinander verbunden zu sein, zu agieren, zu interagieren und zu erleiden, ist das Kennzeichen des Realen.24 Dieses Kriterium lässt sie indessen auch Dinge wie die Seele, die Tugend, ja überhaupt Qualitäten als körperlich ansehen, die von vielen nicht zu den Körpern gerechnet werden. Die Wechselwirkung von Leib und Seele, so Kleanthes, ist manifest: Leibliches wirkt auf die Seele, Seelisches wirkt auf den Leib; wir empfinden Schmerzen, wenn unser Leib sich verletzt; wir erröten oder erblassen, wenn wir uns schämen oder fürchten.25 Qualitäten sind als etwas Körperliches anzusehen, weil sie Körper ‚in einem bestimmten Zustand‘ sind. Das Leitorgan des Menschen (sein hēgemonikon) etwa ist konzentriertes (materielles) Pneuma, Wissen ebenso wie Tugend sind ontologisch zu verstehen als ‚das Hegemonikon in einem bestimmten Zustand‘. Die Stoa vertritt keinen atomistisch-mechanistischen Materialismus wie ihr Gegenspieler Epikur, sondern einen vitalistisch-teleologischen,26 wenn man denn überhaupt von Materialismus und nicht besser von Korporalismus sprechen will. Seiendes (ta onta) bildet für die Stoa indessen nicht die umfassende Klasse dessen, ‚was es gibt‘.27 Nur Körperliches kann interagieren. Doch was derart geschieht, geschieht an bestimmtem Ort und zu bestimmter Zeit. Ort und Zeit sind offensichtlich notwendige Bedingungen körperlichen Geschehens. Sie sind, als solche, nichts Wahrnehmbares, sondern etwas ‚in einem gewissen Überstieg‘ (kata metabasin tina) Gedachtes.28 Ort und Zeit sind nichts Körperliches und gleichwohl in gewisser 19 Diss. I, 6 = LS 63 E; vgl. Poseidonios F 186 EK. 20 SVF II, 381 Galen = LS 45 F; SVF II, 501 = SE AM X, 12; vgl. SVF II, 315, 319; SVF III, Apollodoros 6, LS 45 E; Wildberger 2006a, I, 7 u. II, 464 Fn. 53. 21 vgl. SVF II, 329 Alexander v. Aphrodisias; LS 27 B; 45 A-D. 22 vgl. SVF I, 90 Cicero = LS 45 A; SVF II, 363 Sextus = LS 45 B; FDS 745. 23 Vogt 2009, 138. 24 vgl. die Texte in LS 27 und 54. 25 vgl. SVF I, 518 Nemesius; LS 45 C. 26 vgl. Brunschwig 2003, 211; M. J. White 2003, 128 ff. 27 vgl. Brunschwig 1994, 92–157. 28 vgl. DL VII, 53 = SVF II, 87 = FDS 255; Isnardi Parente 2005, 175–185.

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III Die stoische Physik Weise real.29 Zur Bezeichnung dieser alles Reale umfassenden Klasse verwendete die Stoa den Ausdruck „etwas (ti)“. So sind Zeit (chronos), Ort (topos), das Leere (to kenon) sowie Sagbares bzw. Gesagtes (to lekton) durchaus real, zwar nichts Körperliches, aber auch nicht nichts. Körperliches ebenso wie nichtkörperlich Reales erfüllt die Bedingung, ‚etwas‘ zu sein.30 Der unterschiedliche Realitätsstatus von Nichtkörperlichem und Körperlichem wird (in der Regel) auch im Ausdruck für „Sein“ (im Sinn von ‚Existenz‘) signalisiert: Eînai und ousia stehen für körperliches, hyphistasthai und hyphistasis für nichtkörperliches Sein.31 Nichtkörperliches ist etwas, was an Körperlichem bzw. in Bezug auf Körperliches ‚besteht‘. Oder anders: Man mag es mit einer Rolle bzw. einem Amt vergleichen, in das Körperliches ‚einrückt‘, das Körperliches ‚erfüllt‘.32 Im stoischen Weltbild ist (von Zenon an)33 der materielle Kosmos von grenzenlos Leerem umgeben. Das Leere (to kenon) bietet die Möglichkeit für seine periodische Expansion und Kontraktion.34 Es ist trivialerweise zu verstehen als etwas, das „von Körperlichem besetzt werden kann und nicht von Körperlichem besetzt ist“.35 Genauer gesagt: Es kann von Orten besetzt werden, die ihrerseits immer von Körperlichem besetzt sind.36 Als solches ist das Leere dimensionslos; Dimensionalität besteht nur an Körperlichem.37 Den Ort (topos) definierte Chrysipp als das, „was vollständig von Seiendem besetzt ist oder was von Seiendem besetzt werden kann und vollständig von einem oder mehreren Seienden besetzt ist“.38 Das stoische Konzept des Raumes enthält zwei Ausprägungen, die des innerkosmisch besetzten Ortes und die des extrakosmisch unbesetzten Leeren.39 Von einem Ort zu sprechen, ist sinnvoll nur in Bezug auf (körperlich) Seiendes, d. h. innerhalb des Kosmos. Seiendes ist irgendwo, nimmt an bestimmter Stelle einen bestimmten Raum ein. Dass es diesen Raum vollständig einnimmt, erklärt sich aus der Lehre vom Kosmos als materiellem Kontinuum. Jeder Ort ist vollständig erfüllt. Der zweite Teil der Erklärung bezieht sich auf die stoische Vorstellung der totalen Mischung von Substanzen (krâsis di’ holōn, siehe unten S. 120 f.): Zwei Körper, die sich total durchdringen, können denselben Raum einnehmen; doch derselbe Raum kann natürlich auch von einem einzigen Körper erfüllt sein. Der Ort bzw. der von einem Körper besetzte Raum ist etwas, nicht nichts, er ist mit der Existenz und Interaktion von Körpern, die als dreidimensional definiert sind, untrennbar verbunden. Ein (bestimmter) Körper kann von einem anderen Körper aus seinem Ort verdrängt werden und leistet dabei einen gewissen Widerstand (antitypia); der Ort selbst bleibt davon unberührt; er verän29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39

vgl. SE AM X, 121 = LS 50 F. vgl. SVF II, 329–335; LS 27 A-G; Brunschwig 1988, 19–127. vgl. SVF II, 322 Galen; LS 27 G; vgl. FDS 808 Arius Didymus und 809 Plutarch. vgl. dazu Bailey 2014, 253–309, v. a. 262 ff. vgl. SVF I, 99. vgl. Hahm 1977, 103 ff.; Brunschwig 2003, 207. SVF II, 543 Diogenes Laertius. vgl. Bailey 2014, 275. vgl. Wildberger 2006a, I, 100 f. SVF II, 503 Stobaeus = LS 49 A. Sedley 2002, 66.

2. Ontologie und Kosmologie dert sich nicht; er tut nichts und erleidet nichts; er ist lediglich das notwendige ‚Worin‘ des Geschehens.40 Die Zeit,41 die dritte unkörperliche Entität, ist ein Kontinuum, ist unendlich und unendlich teilbar. Diese Eigenschaften sind ihr mit dem Leeren gemeinsam.42 Doch das Verhältnis des Ganzen der Zeit zu ihren Teilen und der Teile zueinander ist einigermaßen komplex. Die Zeit teilt sich in die Vergangenheit, die Gegenwart und Zukunft. Grenzenlos (apeiros) im Vollsinn des Wortes ist nur die Zeit als Ganze. Vergangenheit und Zukunft haben nach einer Seite ihre Grenze an der Gegenwart. Zudem scheinen Vergangenheit und Zukunft weniger real zu sein als die Gegenwart. Die Vergangenheit ist entschwunden, die Zukunft noch nicht eingetreten; nur die Gegenwart „ist da (enhistatai)“. Chrysipp soll den ontologischen Status der drei Teile der Zeit denn auch terminologisch unterschieden haben: Die Gegenwart sei vorhanden (hyparchein), die Vergangenheit und Zukunft dagegen seien ‚subsistent‘ (hyphestanai).43 Zeit ist im Verständnis der Stoa die Dimension der Bewegung (von Körpern); und Bewegung gibt es nur in der Gegenwart. In der Vergangenheit bewegt sich nichts mehr und in der Zukunft bewegt sich noch nichts. So gesehen ist nur die Gegenwart ‚erfüllte‘ Zeit. Doch versucht man, die Gegenwart genau zu fassen, dann erweist sich auch ihr Dasein als problematisch, dann zeigt sich, dass es sich (im unendlich teilbaren Kontinuum) lediglich um eine Grenze zwischen Vergangenheit und Zukunft handelt, die ihrerseits ‚zeitlos‘ ist, d. h. keine zeitliche Größe, keine Extension der Dauer besitzt. So gesehen muss man sagen, „dass keine Zeit vollständig da ist (outheis holōs enhistatai chronos)“.44 Gleichwohl sprechen wir vom ‚Jetzt‘ (nŷn) im Sinne des ‚Augenblicks‘ als kleinster wahrnehmbarer Zeit, von ‚dieser (gegenwärtigen) Stunde‘, von ‚diesem (gegenwärtigen) Tag‘, ja von ‚der Gegenwart‘ überhaupt im Sinne einer (mehr oder weniger großen) Zeitspanne (kata platos), die um eine Grenze zentriert einen (mehr oder weniger bestimmten) Ausschnitt von Vergangenem und Künftigem in sich enthält45 und insofern ‚realer‘ ist als Vergangenheit und Zukunft für sich. Der als Gegenwart bezeichnete Ausschnitt besitzt einen Anfang und ein Ende und hat eine aktuale Bewegung (kinēsis) zum Inhalt. So sprechen wir von der ‚Gegenwart‘ des Sokrates im Blick auf die Zeitspanne, in der er sich bewegt, d. h. gelebt hat. Zeit ist an Bewegung gebunden, unser Verständnis von Zeit ist an der mehr oder weniger kurzen oder langen Dauer gegenständlicher, materieller Veränderungsprozesse ausgerichtet. Soweit es die vorhandenen Zeugnisse46 belegen, haben alle Stoiker die Zeit als ‚Intervall‘ bzw. ‚Dimension‘ von Bewegung (diastēma kinēseōs) verstanden, wobei die Extension des Intervalls 40 vgl. Brunschwig 2003, 214. 41 ausführlich dazu Goldschmidt 1953, Schofield 1988; Brunschwig 1988; Hoffmann 2005; stark zwischen den stoischen Autoren differenzierend Wildberger 2006a, I, 104–132. 42 vgl. Todd 1973, 21–29. 43 SVF II, 509 Stobaeus = LS 51 B; vgl. LS 51 C Plutarch; Goldschmidt 1972, 331–344; Bailey 2014, 261 f.; 265 f. 44 SVF II, 509; vgl. LS 51 E. 45 so Chrysipp, Archedem und Poseidonios; vgl. LS 51 C und E. 46 vgl. SVF II, 509–521; LS 51 A-H.

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III Die stoische Physik als Maß für die Schnelligkeit oder Langsamkeit eines Prozesses dient. Vorhanden (hyparchein), d. h. gegenwärtig, so Chrysipp, sei die Zeit im aktualen Prozess, so wie wir auch von (Prozess-)Prädikaten, die einem Subjekt aktual zukommen, sagen, sie seien da, nicht aber, wenn sie ihm (gerade) nicht zukommen, wie etwa das Spazierengehen.47 Zenon definierte die Zeit einfach als „Intervall jeder Bewegung“,48 während Chrysipp und Apollodor verdeutlichend vom „Intervall, das die Bewegung des Kosmos begleitet“,49 bzw. vom „Intervall der Bewegung des Kosmos“50 sprachen. Chrysipp und Apollodor denken wohl bei „der Bewegung des Kosmos“ an die kosmischen ‚Teile‘ der Zeit, die durch die zirkulären Bewegungen der Sonne und des Mondes bestimmt sind und den (vergangenen, gegenwärtigen oder kommenden) Tag, den Monat, das Jahr ausmachen, aber auch an die immensen Zeiten der Weltperioden.51 Nach stoischem Verständnis ist der Kosmos als solcher im genannten Sinn immer in Bewegung bzw. Veränderung. So gesehen wird verständlich, was Apollodor gelehrt haben soll: „Die gesamte Zeit sei gegenwärtig (enestanai) so wie wir auch vom Jahr in größerer Umschreibung sagen, es sei gegenwärtig (enestēkenai). Auch sagt man von der gesamten Zeit, sie sei vorhanden (hyparchein), während keines ihrer Teile genau bemessen vorhanden sei.“52 Fasst doch jede bestimmte Zeitspanne unendlich viele Zeitspannen als Teile in sich; und was innerhalb einer Zeitspanne die Gegenwart ist, ist genau genommen nichts weiter als die zeitlose Grenze zwischen vergangenen und künftigen Intervallen.53 Die Zeit als Ganze bewegt sich nicht; nur Körperlich-Materielles bewegt bzw. verändert sich in der Zeit: Die Zeit ist das Maß der Bewegung. Nur in Bezug auf Bewegung, auf Bewegendes und Bewegtes gibt es ‚Zeiten‘, gibt es Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Die Zeit ist einfach vorhanden als das, was als Intervall (diastēma) der Bewegung von Sich-Bewegendem und Bewegtem besteht. Zur kanonischen Liste der unkörperlichen Entitäten gehören neben Raum, Ort und Zeit schließlich noch die lekta. Über sie ist bereits oben (S. 41 ff.) im Rahmen der stoischen Philosophie der Sprache gehandelt. Die lekta ermöglichen gegenseitige Verständigung und die Objektivität unserer Erkenntnis. Fraglich ist, als was die Stoiker geometrische Grenzen (Oberflächen, Linien, Punkte) betrachtet haben. Nach Plutarch gehören sie für die Stoiker ontologisch zu den unkörperlichen Entitäten, näherhin wohl zum Ort.54 Diogenes Laertius betont, dass es sich bei ihnen um etwas handelt, das nicht nur in Gedanken, sondern auch in der Realität vorhanden ist.55 Dagegen glauben manche Forscher, dass die Stoiker sie für rein gedankliche Konstrukte ohne objektive Realität hielten.56 Klar ist jeden47 48 49 50 51 52 53 54 55 56

SVF II, 509 = LS 51 B. LS 51 A. LS 51 B. LS 51 D. vgl. Brunschwig 2003, 215. LS 51 D = SVF III, Apollodorus 8. vgl. Nolan 2006, 177 f. vgl. Comm. not. 1080 E. DL VII, 135. vgl. M. J. White 2003, 150; Ju 2009, 371–389.

2. Ontologie und Kosmologie falls, dass die Stoiker in ihrer Ontologie weder bezüglich des Raumes noch bezüglich der Zeit unteilbare Minima anerkannten, aus deren Sammlung und Reihung Räume und Zeiten bestünden.57 Darin grenzten sie sich entschieden vom Epikureismus ab. Die stoische Ontologie umfasst unter dem obersten Genus des Etwas (ti) Seiendes (ta onta bzw. sōmata) und Unkörperliches (ta asōmata). In der Forschung wird kontrovers diskutiert, ob diese dichotomische Gliederung erschöpfend ist. Die Kontroverse betrifft die Frage, als was, im Rahmen der stoischen Ontologie, über die Welt irrtümlich Vermeintes, rein Fiktionales, aber auch so etwas wie Allgemeinbegriffe und platonische Ideen zu gelten haben.58 Nun bezieht sich die stoische Rede von ‚Etwas‘ als oberstem Genus dessen, ‚was es gibt‘ auf den Sachverhalt, dass es das, was wir sprachlich-gedanklich als Gegenstand in der Welt vermeinen, in der Welt auch tatsächlich gibt. So gesehen fallen weder Fiktionales und Irrtümliches, noch auch Allgemeinbegriffe unter das stoische ‚Etwas‘.59 Was die genannten Texte prägnant besagen, ist ja nicht einfach dies, dass nach stoischer Gliederung Irrtümliches, Fiktionales und Allgemeinbegriffe neben den Körpern und den vier kanonischen Incor­ poralia ontologisch als dritte Gruppe unter das Etwas (ti) zu stehen kommen.60 Sie besagen auch nicht dies, dass sie den Incorporalia zuzurechnen sind. Vielmehr handelt es sich bei ihnen um etwas, das wir gleichsam wie etwas Seiendes behandeln, was allerdings kein Etwas und kein Beschaffenes (oute ti on oute poion), sondern ein Quasi-Etwas bzw. Quasi-Beschaffenes (hōsanei de ti on kai hōsanei poion) ist.61 Wir haben demnach neben das Etwas (ti) und das, was unter es fällt, ein Nicht-Etwassondern-Quasi-Etwas (ou ti, hōsanei de ti) und das, was unter es fällt, zu setzen. Die Stoa traf wohl in ihrer Ontologie eine Grundunterscheidung zwischen Realität und (aus welchen Gründen und mit welchem Recht auch immer) bloß Vermeintem, Gedachtem bzw. Vorgestelltem. Nach Aristoteles ist ein Allgemeines „das, was seiner Natur nach dazu geeignet ist, von mehrerem prädiziert zu werden“, Einzelnes „hingegen das, was seiner Natur nach hierzu nicht geeignet ist“.62 Allgemeines in diesem Sinn ist für die Stoiker ein Begriff, der auf vieles Einzelne in gleicher Weise zutrifft, ein intentionales, und nur ein intentionales Objekt des menschlichen Geistes. Davon strikt zu unterscheiden ist das, was ein Ding in der Welt zu dem macht, was es ist; und das ist allemal etwas Körperliches. Die Stoa hat keineswegs die Adäquatheit der begrifflichen Gliederung der Dinge in der Welt nach genera und spe­ 57 vgl. LS 50 F = SE AM X, 121–126; 139–142; LS 50 C = Plutarch Comm. not. 1078 E – 1081 A; Nolan 2006, 162–183. 58 vgl. Brunschwig 2003, 220–227; ders. 1994, 158–169; M. J. White 1992, 286, Caston 1999, 145–213; Sedley 1985, 87–92, Wildberger 2006a, I, 94–99; LS I, 163–166; Bailey 2014, 285–306. Sie beruht vor allem auf den (unterschiedlich interpretierten) Textstellen bei Seneca Ep. 58, 12–15, Stobaeus Ecl. I, 136. 21–137.6, Diogenes Laertius VII, 61 und SVF II, 83 Aëtius. 59 vgl. SVF II, 329 Alexander v. Aphrodisias. 60 so etwa LS I, 163. 61 DL VII, 61; vgl. Stob. Ecl. I, 136. 21 – 137.6. 62 De int. 7. 17 a 39–40 Übers. Weidemann.

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III Die stoische Physik cies geleugnet.63 Es gibt in den einzelnen Dingen etwas an ihrer Beschaffenheit, das der Beschaffenheit in anderen Dingen gleicht. Sie hat allerdings die sprachlich-begriffliche Ebene von der realen genau unterschieden und die akzidentellen und substanziellen Qualitäten eines Dinges kausal auf einen Fall des materiellen Pneumas in ihm zurückgeführt.64 Die Universalien sind rein intentionale Objekte, doch mit objektiven Korrelaten in der Welt, die sie von rein Fiktionalem unterscheiden. Sie sind wie Schatten, die die Dinge in unseren Geist werfen und die wir als solche fassen und im Umgang mit den Dingen verwenden.65

3. Die sogenannten Kategorien Die stoische (sogenannte) Kategorienlehre ist uns äußerst spärlich, und zwar im Kontext von Aristoteleskommentaren überliefert. Nur in zwei Fragmenten, bei Plotin66 und Simplicius67 liegen uns anerkannte Listen der stoischen Kategorien vor. Verschiedene andere Quellen bestätigen sie. Es spricht vieles dafür, dass die Lehre, jedenfalls die der beiden ersten Kategorien aus einer gegenüber der Skepsis kontrovers geführten Diskussion um die Identität von materiell sich ändernden Einzeldingen erwachsen ist.68 Vermutlich stammt sie in ihrer ausgearbeiteten Form von Chrysipp.69 Ihre moderne Benennung ist etwas missverständlich. Es handelt sich bei ihr wohl nicht in erster Linie „um die Auflistung verschiedener Möglichkeiten der Prädikation“,70 sondern um die ontologische Bestimmung materieller Objekte nach (vier) grundlegenden Aspekten: des Subjectum bzw. Substratum (hypokeimenon), der Qualität (poion), des Zustands (pōs echon) und des relativen Zustands (pros ti pōs echon).71 Den stoischen Titel für diese Liste kennen wir nicht. Simplicius spricht von „ersten Genera (prôta genē)“ und unterstellt damit wohl, dass die Liste die elementaren natürlichen Klassen von Seiendem benennt. Jedenfalls dürfte das Lehrstück primär in den (Groß-)Bereich der Physik gehören72 und nicht, wie A. C. Lloyd73 und andere zu zeigen versuchten, in den Bereich der Sprachphilosophie, näherhin der Grammatik, der Semantik und der lek­ ta.74 Allerdings hat die stoische Kategorienlehre sehr wohl etwas mit der (Analyse und) sprachlichen Darstellung der Wirklichkeit zu tun. Der Liste scheint der methodi63 64 65 66 67 68 69 70 71 72

vgl. DL VII, 43; 200. vgl. Caston 1999, 208–213. vgl. Bailey 2014, 302 ff. Enn. VI 1, 25. 1–3 = FDS 827 = SVF II, 371. In Aristot. Categ. p. 66, 32 – 67, 19 = FDS 832 = SVF II, 369. vgl. Sedley 1982b, 255–275; LS 28 A, B, D, O, P und Kommentar I, 172–176. vgl. Menn 1999, 215–147. Schubert 1994, 199. vgl. Pohlenz 71992, 69 f.; Kupreeva 2003, 297 ff. so Virieux-Reymond 1950, 65; Bochenski 1951, 87; Reesor 1957, 82; Sambursky 1959, 17–20; Kupreeva 2003. 73 1971, 58–74. 74 vgl. dazu Graeser 1978a,199–221.

3. Die sogenannten Kategorien sche Gesichtspunkt zunehmend konkreterer Bestimmung eines Objekts zugrunde zu liegen. Sie klassifiziert Seiendes nach Formen der Benennung und Beschreibung. Die stoische kategoriale Grundunterscheidung könnte der platonisch-aristotelischen Grundunterscheidung zwischen Substanz und Qualität oder aber der zwischen Materie und Form entsprechen. Mit der ersten ‚Kategorie‘ (‚hypokeimenon‘ ) könnte danach, ohne jede Qualifikation, ein externer materieller Gegenstand, genauer: eine (erste) Substanz, ein eigenständiges Objekt gemeint sein, auf das wir uns sprachlich mit deiktischen Zeichen bzw. Pronomina beziehen. Die zweite Kategorie würde mit Gemein- und Eigennamen ausgedrückt. Sie geben zu verstehen, wer bzw. was der substanziale Gegenstand im Allgemeinen und Besonderen ist (etwa ein Mensch bzw. Sokrates).75 Plutarch verwendet nun allerdings für die erste stoische Kategorie den Ausdruck ousia.76 Und ousia steht nach vielfach bezeugtem stoischem Sprachgebrauch für Materie (hylē)77 als der Materie eines bestimmten Objekts.78 Wir hätten es, falls mit ‚hypokeimenon‘, wie Plutarch wohl meint, die stoische ousia angesprochen ist, bei dem, worauf der Ausdruck ‚hypokeimenon‘ verweist, mit einem einzelnen materiellen (umgrenzten) Substratum eines Objekts, mit einem Stück (passiver) Materie zu tun.79 Beim noch unentfalteten Weltgeschehen, auf der Prinzipienebene wäre dies die erste, die bestimmungslose Materie (apoios hylē), bei Dingen in der entfalteten Welt das, woraus sie (materiell) bestehen, die materia pro­ xima, bei uns Menschen etwa Fleisch, Blut, Knochen.80 Das Substrat im entfalteten Kosmos ist immer die Materie von etwas, etwa eines Steines, eines Baumes, eines Menschen; sie ist geformt, sie ist so oder so qualifiziert. Die substanziale Qualität des Substratums bringe das Wort für die zweite Kategorie (das poion) zum Ausdruck. Der (skeptische und peripatetische) Diskussionskontext, in dem die stoische Lehre von den ‚Kategorien‘ offensichtlich stand81 sowie ihre systematische Reihung und ontologische Bedeutung sprechen eher dafür, dass unter ,hypokeimenon‘ die Materie von etwas Bestimmtem zu verstehen ist. Ob nun für die erste Kategorie das erste oder (wahrscheinlicher) das zweite Verständnis von ‚hypokeimenon‘ zutrifft – die Interpretation der zweiten Kategorie (sc. des poion) ist in der Forschung jedenfalls im Groben unkontrovers. Das poion, das Was­etwas­ist haben die Stoiker offensichtlich unter (untrennbar) zweifachem Aspekt betrachtet, insofern es die Artzugehörigkeit des Gegenstandes ausmacht (koi­ nôs poion) und insofern es den Gegenstand (für die Dauer seiner Existenz, bei sich ändernder Materie) als bestimmtes Individuum qualifiziert (idiōs poion).82 Dabei wird die dem Gegenstand immanente Qualität (poiotēs) als die Ursache dafür angesehen, dass der Gegenstand so und so beschaffen (poion) ist. Sie ist als „Pneuma in 75 76 77 78 79 80 81 82

so Sandbach 1985, 41; Menn 1999, 215. vgl. Comm. not. 1083 D; 1085 E = SVF II, 380; FDS 836. DL VII, 134,150; SVF I, 85 vgl. I, 86; 87; 92; FDS 841. vgl. M. Frede 2005, 219. vgl. Brunschwig 2003, 228; LS I, 172. vgl. Schubert 1994, 204. vgl. Sedley 1982b, 255–275; Kupreeva 2003, 297–344. vgl. SVF II, 374 Dexippos; FDS 835; Kupreeva 2003, 297 ff.

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III Die stoische Physik bestimmtem Zustand (pneûma pōs echon) definiert83 und als körperliche Substanz gedacht,84 da sie etwas bewirkt und bewirken kann. Das Pneuma ist (im Unterschied zur passiven hylē) das aktive materielle Prinzip in den Objekten, das mit dem passiven Substrat eine vollständige Mischung eingeht. Dieses Prinzip zeichnet als Kraftund Formquelle für das Sein und das qualitative wie quantitative Beschaffensein eines Objekts verantwortlich. So bezeugt Nemesius85 als stoische Lehre: „In den Körpern sei eine zugleich nach innen und nach außen gerichtete Spannungsbewegung (tonikē kinēsis) (sc. des Pneumas); und die nach außen gerichtete sei die, die Größen und Qualitäten zustandebringe, die nach innen gerichtete Einheiten und Substanzen.“ Simplicius spricht davon, die Stoiker würden eine lockere und straffe Kraft (dynamis) oder vielmehr Bewegung (kinēsis) in Ansatz bringen, die eine nach innen gerichtet, die andere nach außen; und die eine hielten sie für die Ursache des Seins (aitian toû eînai), die andere für die des Beschaffenseins (toû poion eînai).86 Die substanziale Qualität ist in stoischem Verständnis also die spezifizierende und individuierende Bewegungsverfassung des pneumatischen Körpers im materiellen Substratum. Sie zeichnet als allgemeine Qualität (koinē poiotēs) im Verein mit ihr als individuierende Qualität (idia poiotēs) kausal dafür verantwortlich, dass der Gegenstand, trotz der Veränderung seines Substrats in der Zeit, ein und derselbe bleibt und als solcher angesprochen werden kann.87 Beim Menschen ist es seine Seele.88 Um im Beispiel zu bleiben: Das Menschsein und das Sokratessein machen aus, dass es sich bei einem in der Zeit in seinem materiellen Substrat sich ändernden Gegenstand um ein und dasselbe ‚Ding‘, den Menschen bzw. die Person Sokrates handelt. Mit dem Ansatz der dem Gegenstand immanenten artbildenden und individuierenden Qualität haben die Stoiker der Skepsis geantwortet, die die Veränderungen des materiellen Substrats eines Gegenstandes zum Anlass nahmen, den Gedanken seiner Identität in der Zeit in Zweifel zu ziehen.89 Entsprechend wiesen die Stoiker die Versuche zurück, „die materielle Zusammensetzung als Identitätskriterium zu etablieren“.90 Die Qualität erfüllt die Rolle eines dem Gegenstand immanenten materiellen Formprinzips, das sein der Veränderung unterworfenes materielles Substrat (heute würden wir bei Belebtem sagen: im Sinne eines Programms) strukturiert und organisiert und ihm für die Dauer seiner Existenz sein substanziales artspezifisches und individuelles Beschaffensein verleiht. Sie kann, wenn man so will, als ‚materialistisches‘ Gegenbild zur aristotelischen, den Dingen immanenten (immateriellen) Form verstanden werden.91 83 84 85 86 87 88 89

SVF II, 379 Alexander v. Aphrodisias In Aristot. Top. = FDS 839. SVF II, 380 = Plutarch Comm not. 1085 E. De nat. hom. II: SVF II 451. In Arist. Cat.: SVF II, 452. vgl. SVF II, 395 = Simplicius In Aristot. De anima. vgl. Lewis 1995, 89–108. Plutarch Comm. not. 1083 A – 1084 A = FDS 843; vgl. SE PH 83 ff.; SVF II, 397 Philon; vgl. Brunschwig 2003, 229; Sedley 1982b, 255–275; Schubert 1994, 205–228; Bowin 2003, 239–251. 90 Schubert 1994, 217. 91 vgl. M. Frede 1994b, 123; Kupreeva 2003, 297–344.

3. Die sogenannten Kategorien Was die dritte ‚Kategorie‘ (das pōs echon) betrifft, so gilt es, einen unspezifischen vom spezifisch ‚kategorialen‘ Sprachgebrauch zu unterscheiden. Manch doxografischer Text erscheint wohl deshalb missverständlich, weil er diese Unterscheidung nicht beachtet oder verwischt. Unspezifisch ist, wie wir eben sahen, die Qualität (poiotēs) selbst als pneûma pōs echon definiert.92 Spezifisch ‚kategorial‘ ist dagegen etwa davon die Rede, dass die Faust eine Hand in einem bestimmten Zustand sei (tēn pygmēn cheîra pōs echousan eînai).93 Es geht also bei der dritten Kategorie (dem ‚sich wie verhaltend‘) um das dauernde oder temporäre zuständliche Bestimmtsein eines substanzial qualifizierten Objekts. Es wird sprachlich korrekt mit einer Partizipialkonstruktion zum Ausdruck gebracht („X ist laufend, sitzend, sprechend etc.“ bzw. „X ist ein Laufender, Sitzender, Sprechender etc.“). Die relative Eigenständigkeit des Seins in der dritten Kategorie scheint von manchen Stoikern derart betont worden zu sein, dass sie Zustände bzw. Vorgänge an Dingen wie Laufen, Denken etc. metaphorisch als Lebewesen (zôa) bezeichneten. Darüber macht Plutarch sich lustig.94 Stephen Menn hat über Textvergleiche festgestellt: Die Bedeutung eines Prädikats im Sinne des pōs echon und nicht des poion zu verstehen, heiße zu sagen „X ist F“, aber nicht, wie beim poion, „Ein Fall von (materieller) F-heit ist in X“.95 Das pōs echon ist demnach als ein Modus bzw. als eine Modifikation bzw. Differenzierung des poion zu denken und als solche(r) natürlich auch über eine Weise der Bewegung bzw. der Ruhe des dem Objekt immanenten materiellen Pneumas zu erklären. Mit dem ‚pōs echon‘ ist eine „zuständliche Bestimmtheit“96 angesprochen, in der sich ein über seine poia konstituierter Gegenstand episodisch oder längerfristig befindet. Damit werden auch Handlungen als Entitäten identifizierbar. Handelt es sich bei den poia und den pōs echonta um ein Beschaffen- und Bestimmtsein, dessen Ursache in der Eigentümlichkeit des Objekts selbst liegt (kata tēn enoûsan diaphoran), so sind die pros ti pōs echonta Bestimmungen, die dem Gegenstand allein aufgrund seiner äußeren Beziehung zu anderen Gegenständen (psilēn kata tēn pros heteron schesin) zukommen.97 Es geht also bei der vierten stoischen Kategorie um das relationale Bestimmtsein eines Gegenstandes, das so geartet ist, dass eine Änderung des Relats eo ipso eine Aufhebung des So-Bestimmtseins des Gegenstandes zur Folge hat, ohne dass der Gegenstand von sich aus sich ändert.98 Nach den Beispielen des Simplicius: Ein Vater hört auf, Vater-von-X zu sein, wenn X stirbt; ein Rechter-von-Y ist dies nicht mehr, wenn Y seine Stellung gewechselt hat; X hört auf, Freund-von-Y zu sein, wenn dieser ihm die Freundschaft kündigt. Nach dem oben herangezogenen Simplicius-Passus99 haben die Stoiker ‚kategoriale‘ Gliederungen vorgenommen, die mit der eben besprochenen kanonischen Vie92 93 94 95 96 97 98 99

SVF II, 379 = FDS 839. ebd.; vgl. SE PH II, 81; AM VII, 39. Stoic. rep. 19, Comm. not. 45; vgl. Seneca Ep. 113; Pohlenz 61990, Bd. II, 40. 1999, 221 ff., 242 ff. so bereits Pohlenz 1965, I, 10. SVF II, 403 = Simplicius In Aristot.Cat. CAG VIII 165,32–166,32 = FDS 833. vgl. LS I, 178; SVF II, 550; SE AM VII, 167–169. SVF II, 403.

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III Die stoische Physik rerliste nicht ohne Weiteres zur Deckung zu bringen sind: Das Relative, so der Text, hätten die Stoiker zweigeteilt, in das pros ti und das pros ti pōs echon; und die Dinge des pros ti stellten sie den kath’ hauta gegenüber, die pros ti pōs echonta den kata di­ aphoran. Ein pros ti nennten sie das Süße und das Bittere und dergleichen, ein pros ti pōs echon das Rechte, den Vater und dergleichen; kata diaphoran aber nennten sie das, was gemäß einem eîdos charakterisiert ist. Die verschiedenen Versuche, aus diesem Passus eine zweite stoische Kategorienliste mit eigener Gliederungsfunktion zu rekonstruieren,100 erwiesen sich in der Forschung als kaum haltbar. Erfolgversprechender scheint der Versuch zu sein, sie im Sinne einer interpretativ differenzierenden Betrachtung der kanonischen Liste (aus akademisch-peripatetischer Perspektive) zu verstehen.101 So haben die Stoiker das aristotelische Relative offensichtlich dahingehend unterschieden wissen wollen, ob es sich um ein bloß extrinsisch Relatives handelt (ein pros ti pōs echon), oder um etwas, was zwar einen wesentlichen Relationsaspekt aufweist (wie das Süße süß für jemanden, süß relativ zum Geschmack eines wahrnehmenden Subjekts ist), das aber diese Qualität aufgrund der ihm eigenen und eigentümlichen materiell-pneumatischen Verfasstheit besitzt, ganz unabhängig davon, ob es von einem Subjekt wahrgenommen bzw. empfunden wird oder nicht. In dieser Hinsicht gehören die pros ti zu den kata diaphoran, also jenen Dingen, die selbst eigentümliche, differenzierende Eigenschaften, ein sie charakterisierendes intrinsisches eîdos haben. Und unter den Dingen, die kata diaphoran sind (das wären wohl die hypokeimena, die poia und pōs echonta), wären die, die keinen für sie wesentlichen Relationsaspekt aufweisen (die kath’ hauta), von jenen zu unterscheiden, die einen solchen besitzen (den pros ti).

4. Prinzipien und Elemente Die vorhandenen Quellen zur kosmologischen Prinzipienlehre102 sind disparat; sie stimmen weder terminologisch noch gedanklich völlig überein; ja, sie vermitteln prima facie kein klares und konsistentes Bild der stoischen Doktrin.103 Das Verwirrende an ihnen dürfte sich primär dem Umstand verdanken, dass die späteren Kommentatoren und Doxographen (in ihrer Mehrheit) versuchten, die stoische Lehre in platonischer oder aristotelischer Begrifflichkeit zu rezipieren. Vielleicht aber waren die authentischen terminologischen Prägungen der Stoiker auch nicht immer ganz glücklich. Die Quellen lassen zwar nicht erkennen, dass zwischen den Häuptern der stoischen Schule in der Antwort auf die Frage nach den Prinzipien (den archai) der Welt ein bemerkenswerter Dissens bestanden hätte. Doch es spricht manches dafür, dass Chrysipp (in kosmologischer Adaption biologisch-medizinischer Vorstellungen) die ursprüngliche Lehre Zenons nicht unwesentlich differenziert hat. 100 101 102 103

etwa Krämer 1971, 84–88, Graeser 1978a, Isnardi Parente 1986. vgl. Schubert 1994, 237 ff., in Weiterführung von Rieth 1933, 70. vgl. v. a. SVF I, 85–114; II, 299–388; LS 43 und 44. vgl. Lapidge 1973, 240 ff.; Gourinat 2009a, 46–70.

4. Prinzipien und Elemente Die kosmologisch wie kosmogonisch gemeinte Frage nach dem Ursprung aller Dinge führt die Stoa (nach Diogenes Laertius übereinstimmend: Zenon, Kleanthes, Chrysipp, Archedem und Poseidonios) auf zwei Prinzipien (archai) zurück, auf das Passive, Erleidende, Unbestimmte (to paschon) und das Tätige, Formende, Belebende (to poioûn).104 Ersteres wird, wohl in Übernahme aristotelischer Begrifflichkeit,105 als Stoff bzw. Materie (hylē; ousia), das tätige Prinzip in Anlehnung wohl an heraklitische und platonische Redeweise als Vernunft (logos) bzw. Gott (theos) bezeichnet.106 Das Erleidende ist unqualifiziertes Substrat, Materie bzw. Stoff (apoios ousia), das Tätige ist göttlicher Geist (noûs bzw. pneûma noeron),107 der im Stoff „ganz durch ihn (hindurchgehend)“ (dia pasēs autês [diēkonta]) alles, d. h. den Kosmos und jedes einzelne Seiende in ihm schöpferisch gestaltend hervorbringt (dēmiourgeîn hekasta).108 Der Stoff qua apoios ousia ist, selbst völlig unbestimmt, fähig bzw. ‚bereit‘, auf alle mögliche Weise bestimmt zu werden; der Gott, der Nous bzw. das göttliche Pneuma ist das Prinzip aller Gestalt, Organisation, Bewegung und Form.109 Beide Prinzipien werden als körperlich gedacht, da nur Körperliches (über Berührung und Mischung bzw. Durchdringung) etwas tun oder etwas erleiden kann.110 Dabei scheint auf der Prinzipienebene von einem sehr schwachen Begriff von Körperlichkeit (im Sinne eines kontinuierlichen dreidimensonalen Ausgedehntseins ohne jede besondere Bestimmtheit) die Rede zu sein.111 Ferner wird sowohl vom formlosen Stoff als auch von dem ihn gestaltenden göttlichen Geist gesagt, sie seien ungeworden und ewig bzw. unzerstörbar (agenēton, aidion, aphtharton);112 sie konstituieren im Verein die eine Weltsubstanz. Weitere Stellen präzisieren die Rede von der Hyle: Mit dem Terminus kann einmal der allen Dingen zugrunde liegende Stoff (hē hylē tôn pantōn), zum anderen die jeweilige Materie eines Teils des Ganzen (hē hylē tôn epi merous) gemeint sein.113 Ersterer (ist begrenzt und) nimmt weder zu noch ab, während die zweite, die Materie einzelner Dinge, durch Teilung und Zusammenfügung quantitativer Veränderung unterliegt.114 Die Kennzeichnung „erste Materie“ (prōtē hylē bzw. ousia/silva) kommt nur der Materie in der ersten Bedeutung zu.115 Sie ist das vollkommen unbestimmte, passive „Woraus“ des Kosmos, während die jeweilige Materie eines Teils des Kosmos allemal bereits qualifiziert ist. Das Entstehen und Vergehen einzelner Dinge wird als Veränderung verstanden; der zugrunde liegende Stoff aller Dinge 104 105 106 107 108 109 110 111 112 113 114 115

DL VII, 134 = LS 44B. vgl. dazu v. a. Hahm 1977, 34–38. SVF I, 85, 98, 493, 495; II, 300, 301, 310, 312; III, Arch. 12; Calcidius In Tim. c. 289. SVF II, 302 Philon; SVF II, 310 Alexander v. Aphrodisias. DL VII, 134; SVF II, 310 Alexander v. Aphrodisias. SVF II, 303, 310, 311, 946,1168; Calcidius In Tim. c. 311. SVF II, 310 Alexander v. Aphrodisias; SVF II, 313 Plutarch; vgl. SVF II, 363 Sextus = LS 45B; II, 1051 Origenes. vgl. M. Frede 2005, 223. DL VII, 134; vgl. SVF II, 304 Origenes; II, 317 Stobaeus; SE AM IX, 75. SVF II, 316 = DL VII, 150; vgl. SVF II, 317 = Stobaeus Ecl. I p. 133, 6 W. vgl. SVF I, 88 Calcidius. SVF II, 317 Stobaeus; II, 323 Galen.

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III Die stoische Physik (modern gesprochen, die „Masse“) bleibe konstant.116 Aus der (passiven) Materie kann von sich aus nichts Bestimmtes, geschweige denn eine (geordnete) Welt entstehen; es bedarf dazu eines zweiten, eines aktiven, eines schöpferisch gestaltenden Prinzips, des göttlichen Logos.117 Schließlich wird nachdrücklich betont, der Gott sei (als Ursache aller Bewegung, Form und Qualifikation) im Stoff (en tê hylē), nicht ein Ursächliches außerhalb von ihm für sich bestehend (ti kath’ hauto aition para tēn hylēn),118 sondern mit diesem untrennbar verbunden (achōriston)119 bzw. untrennbar vermischt (memigmenon).120 In diesem Zusammenhang begegnet auch die am Organismusmodell orientierte Rede von der samenartigen Formel (spermatikos lo­ gos), die die ganze Weltentfaltung in sich enthält.121 Der Gott wirkt in der Materie „wie der Same im Mutterleib“;122 er vereinigt in sich die kausalen Funktionen der Beweg-, Form- und Zielursache für alles Bestimmte der Welt und in der Welt. Die beiden Prinzipien, das Wirkende und das, worauf es wirkt, sind untrennbar aufeinander verwiesen.123 Die stoische Prinzipienlehre lässt sich also nicht in dem Sinne als ‚materialistisch‘ verstehen, als bestimmungslose ‚Materie‘ (ousia/silva) der Grund aller bestimmten Dinge, Zustände und Vorgänge wäre. Der bestimmende Grund ist vielmehr ein zweites, vom ersten untrennbares Prinzip, das als Geist und Gott bezeichnet wird. Letzterer wird freilich seinerseits als etwas Körperliches gedacht. So gesehen kann man auch nicht einfach von einem Dualismus sprechen, wenn darunter (wie gemeinhin üblich) ein grundlegendes Zusammenspiel von Körperlichem und Unkörperlichem verstanden wird.124 Zudem erwirkt das geistige Prinzip auf ‚schöpferische‘ Weise (dēmiourgeîn) nicht, wie ein Handwerker, von außen, sondern „durch die Materie hindurch alles Einzelne (dia pasēs autês hekasta)“125 von innen, dem ein Stück Materie organisierenden Samen eines Organismus (sperma/semen) vergleichbar.126 In moderner Sprechweise mag man die stoische Lehre deshalb nicht als materialistisch, sondern eher als vitalistisch bezeichnen.127 Die Stoa vertritt denn auch die alte und verbreitete Vorstellung von der Welt als großem Lebewesen,128 wendet die aristotelischen Prinzipien der Entstehung von Lebendigem129 ins Kosmologische und verbindet sie mit Motiven von Platons Theorie der Weltentstehung und

116 117 118 119 120 121 122 123 124 125 126 127 128 129

vgl. Lapidge 1973, 249. vgl. M. Frede 2005, 225. SVF II, 306 Alexander v. Aphrodisias. SVF II, 307 Proklos; II, 308 Syrianus. SVF II, 310 Alexander v. Aphrodisias; vgl. SVF II, 313 Plutarch. DL VII, 136; vgl. LS 44E Calcidius; 46G Aristokles bei Eusebius. SVF I, 87 Arius Didymus; vgl. DL VII, 136. vgl. Dienstbeck 2015, 46–66. vgl. Gourinat 2009a, 47 f.; Cooper 2009, 97; 100. DL VII, 134. SVF I, 87. so Gourinat 2009a, 68. SVF II, 633–645; vgl. Platon Timaios 30 b; Hahm 1977, 63 f. vgl. etwa De gen. an. 729a9–11; 28–30.

4. Prinzipien und Elemente Weltseele.130 Die beiden Prinzipien spielen in der Weltvorstellung der Stoa eine zweifache, eine kosmologische und eine kosmogonische Rolle, die eine als Basis im Rahmen der Erklärung des Aufbaus der bestehenden Welt, die andere als Basis im Rahmen der Erklärung ihres periodischen Entstehens und Vergehens. Zweifellos nimmt die Stoa mit dem Begriff des Prinzips (der archē) vorsokratisches Erbe auf. Doch im Unterschied zu Thales’ Wasser, Anaximenes’ Luft und Heraklits Feuer setzt sie nicht eine archē, sondern zwei archai in untrennbarer Einheit an und entzieht sie, über konsequente Abstraktion, dem Bereich der letzten sinnlich erfahrbaren Elemente (Erde, Wasser, Luft, Feuer). In der Analyse der Welt als einer einzigen (lebendigen, vernünftigen) Substanz leiten sie die Gesichtspunkte des „Was etwas ist“, „Was etwas wird“, „Woraus etwas besteht“, „Wodurch etwas entsteht“, „Woraus etwas entsteht und wohinein es vergeht“. Die Letztantwort auf diese Fragen findet sie in der Einheit und im Zusammenspiel von bestimmungsloser Materie und schöpferisch tätigem, göttlichem Geist als elementaren, unvergänglichen (körperlichen) Konstituenten des Kosmos und des kosmischen Geschehens. Da sie den Kosmos als dynamisch-produktives Geschehen versteht, prägt sie die fundamentalen Prinzipien in Begriffen der untrennbaren Einheit von Aktivität und Passivität, von Tun (poieîn) und Erleiden (paschein).131 Sind doch diese beiden Aspekte in allem Geschehen im Spiel. Dabei ist die Vorstellung, dass die bestehende, erfahrbare Welt, in der wir leben, geworden und vergänglich ist, von fundamentaler Bedeutung:132 Die Welt entsteht aus einer ewigen göttlichen Substanz, die die (realen, jedoch nur in Gedanken trennbaren) Momente des Aktiven und Passiven, des Tuns und Erleidens an sich hat, und vergeht wieder in diese Substanz. Und die Welt „ist“ diese aus einem passiven und einem aktiven Prinzip konstituierte eine Substanz in einem vorübergehenden (und sich zyklisch fortzeugenden) kosmisch entfalteten und in sich differenzierten Zustand. In diesem Sinn ist der von Diogenes Laertius überlieferte Gedanke zu verstehen: „Zenon sagt, die ganze Welt und der Himmel sei die Substanz (ousia) Gottes; ebenso (sagt das) Chrysipp im ersten Buch Über Götter und Poseidonios im ersten Buch Über Götter“.133 Obgleich die Stoa die beiden Prinzipien jenseits der bekannten vier Elemente134 in Ansatz brachte, charakterisierte sie die gegenpoligen Prinzipien metaphorisch mit Prädikaten, die der Elementenlehre entnommen schienen. Um Missverständnisse, die zum Teil auch in den überkommenen Berichten ihren Niederschlag finden, zu vermeiden, gilt es zu beachten, dass (a) die Stoa (wohl durchgängig) zwischen Prinzip (archē) und Element (stoicheîon) unterschieden hat; dass (b) die beiden kosmologischen und kosmogonischen Prinzipien untrennbare, nur über Abstraktion isolierbare, in permanenter kausaler Interaktion befindliche Konstituenten 130 vgl. etwa Timaios 34b;50c; 53b; vgl. SE AM IX, 75–76; vgl. Hahm 1977, 46 f.; Sedley 1999b, 385 f.; Gourinat 2009a 51. 131 DL VII, 134 = LS 44 B. 132 vgl. Lapidge 1973, 242. 133 DLVII, 148 = LS 43 A = SVF II, 1022; vgl. dazu Plutarch Comm. not 1085B = SVF II, 313. 134 vgl. Empedokles DK 31 B 6.

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III Die stoische Physik und Faktoren des einen kosmischen Seins und Geschehens darstellen und als die beiden elementaren ‚Teile‘ der einen göttlichen Universalsubstanz anzusehen sind; und dass (c) die Stoa sich in der Beschreibung der kosmologischen Funktionen, des Zusammenspiels der gegensätzlichen Kräfte und der kosmogonischen Wirkungen der Interaktion der beiden Prinzipien modellhafter bzw. metaphorischer und allegorischer Rede bedient. Dabei verführt die v. a. der Physik und Biologie entnommene Metaphorik zum Missverständnis, einerseits, die beiden Prinzipien als getrennt und trennbar aufzufassen, und andererseits, die Ebene der Prinzipien mit der Ebene der Elemente und deren Verbindungen zu vermengen. Zusätzliche Schwierigkeiten des Verständnisses der Systematik bringt der Sachverhalt mit sich, dass die Stoa das Weltgeschehen auch in der Sprache überkommener Mythologie dramatisiert bzw. die überkommene Mythologie in ihre Kosmologie integriert hat. So wird Gott, wohl in heraklitischer Tradition,135 durchgängig als feurig beschrieben.136 Zenon habe ihn, so Aëtius, „den feurigen Geist des Kosmos (noûn kosmou pyrinon)“ genannt.137 Nach Plutarch ist Zeus für die Stoiker „ein einziges großes und zusammenhängendes Feuer (hen esti mega pŷr kai syneches)“.138 Und bei Eusebius ist zu lesen, dass „nach den Stoikern, wie sie sagen, die feuerartige und warme Substanz (tēn pyrōdē kai thermēn ousian) das leitende Organ (to hēgemonikon) des Kosmos sei, und der Gott ein Körper und er selbst der Schöpfer (ton dēmiourgon), und nichts anderes als die Kraft des Feuers (oud’ heteron tês toû pyros dynameōs)“.139 Mit Feuer verbindet sich die Vorstellung von Selbstbewegung, mit seinem Licht und seiner Wärme die von Leben und Wachstum, aber auch die von Verbrauch und Zerstörung. Gott ist das Prinzip von Bewegung, Gestaltung und Leben; und Gott ist mit Natur als Prinzip identisch.140 So erklärt sich die definitionsartige, Zenon zugeschriebene, vielfach bezeugte stoische Formel, nach der Natur (physis) ein kunstfertig tätiges Feuer (pŷr technikon) ist, das methodisch ins Erzeugen der Welt schreitet (hodộ badizon epi genesei kosmou).141 Bei Aëtius wird in der Formel das Wort „Natur“ durch „Gott“ (noeron theon) ersetzt.142 In manchen Quellen vertritt der Äther (aithēr) die Stelle des kunstfertigen Feuers und wird als höchster Gott und Prinzip von allem bezeichnet. Dabei ist nicht immer klar, ob von Äther auf der Prinzipien- oder der Elementenebene die Rede ist. So schreibt Cicero, dem Zenon und beinahe allen Stoikern erscheine der Äther als höchster, mit Geist ausgezeichneter Gott, durch den alles regiert werde.143 Galen bezeugt, dass für die Stoiker aus dem Ätherfeuer (to aitherion pŷr) die Elemente und 135 136 137 138 139 140 141

vgl. Herklit B 118 DK. vgl. Lapidge 1973, 253 f. SVF I, 157. De facie lunae SVF II, 1045. Praep. ev. SVF II, 1032. vgl. SVF I, 160; II, 1076. SVF II, 1027 Aëtius = LS 46 A; vgl. SVF I, 171 = Cicero ND II, 57 und DL VII, 156; SVF II, 1133 Galen; SVF II, 1134 Clemens. 142 vgl. zur Formel Pohlenz 61990, II, 38 f. 143 Acad. pr. II, 126; vgl. ND I, 36; 37; SVF I, 154; I, 530.

4. Prinzipien und Elemente der Kosmos entstanden seien,144 und Dion von Prusa bemerkt, die Weltauflösung in Feuer (ekpyrōsis) werde durch die Übermacht des Äthers verursacht.145 Bei Diogenes Laertius ist die stoische Gleichsetzung von Äther und (schöpferischem) Feuer belegt:146 In ihm als der Substanz der obersten Sphäre des Kosmos seien zuerst die Fixsterne erzeugt, und dann die Planeten. Der Äther gilt der Stoa als dünnster und reinster Körper (katharōtatos, eilikrinestatos, araiotatos), als göttlich und vernünftig, als schöpferischer Geist und Ursprung von allem.147 Er ist in der bestehenden, entfalteten Welt in graduierter Weise präsent und am Werk. Für Antipater, Chrysipp und Poseidonios bildet er ihr leitendes Organ (hēgemonikon), für Chrysipp ist das Hegemonikon der Welt „der reinere Teil des Äthers (to katharōteron toû aitheros)“.148 Doch bei alledem gilt es, Gott (neben unbestimmter Materie) als kosmologisches Prinzip alles bestimmt Seienden von den materiellen Formen zu unterscheiden, die er als aktive Welt-Seele annimmt, und in denen er sich in all den Phasen der Geschichte des Universums und in all den Teilen der Weltsubstanz auf verschiedene Weise verkörpert.149 Die entfaltete Welt in ihrer Form und Struktur (diakosmēsis) ist nach stoischer Vorstellung ein einziger begrenzter Körper von kugelförmiger Gestalt inmitten einer unbegrenzten Leere. Innerhalb des Kosmos gibt es kein Vakuum; hier hängt alles mit allem in einem bruchlosen Kontinuum zusammen (= sympatheia); jede Veränderung innerhalb des Kosmos betrifft auch das Ganze.150 Der Kosmos besteht aus vier Elementen bzw. Elementarstoffen (Erde, Wasser, Luft, Feuer), die in ihrem wesentlichen Bestand in konzentrischen Sphären um das Zentrum angeordnet sind. Die Hauptmasse der Erde ist eine ruhende Kugel im Zentrum des Kosmos. Sie ist umgeben von den Sphären aus Wasser und Luft. Die äußerste (rotierende) Sphäre besteht aus Feuer bzw. Äther; in ihr sind die Fixsterne und die Planeten verortet. Die Elemente sind ineinander transformierbar und weisen jeweils eine primäre taktile Qualität auf: Erde ist trocken, Wasser ist nass, Luft ist kalt und Feuer ist heiß.151 Erde und Wasser sind mit Schwere (baros) behaftete Elemente, Luft und Feuer gelten der Stoa als (nahezu?) schwerelos (abarê). Alle ‚Teile‘ des Kosmos tendieren „nach unten“, ins Zentrum des Kosmos, ganz besonders die schweren Elemente.152 Die schwerelosen indessen haben auch eine natürliche Tendenz „nach oben“, an die Peripherie.153 Diese gegenläufige Tendenz sichere den Bestand und die Stabilität des Kosmos. Der ausgewogenen Verteilung von schweren und schwerelosen, mit zentripetalen und zentrifugalen Kräften versehenen Elementen und des gleichzeitigen Drucks aller Elemente ins Zentrum ist es zu verdanken, dass der Kos144 145 146 147 148 149 150 151 152 153

SVF II, 327. SVF II, 601. DL VII, 137. SVF II, 302; 527; 642; 1029. DL VII, 139 = SVF II, 644. M. Frede 2005, 227 f.; Gourinat 2009a, 63 ff.; Cooper 2009, 93–134. vgl. Wildberger 2006a, I, 16 f. Hahm 1977, 91. vgl. SVF II, 554 Achilles. vgl. SVF II, 434, 435 Plutarch; SVF I, 99 Arius Didymus bei Stobaeus.

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III Die stoische Physik mos als Ganzer in Ruhe und schwerelos ist, und dass die Erde, obgleich schwer, sich nicht bewegt, da sie sich aufgrund der Form des Kosmos und ihrer eigenen Form und zentralen Stellung in einem Äquilibrium der Kräfte befindet (kathidrymenēs isokratikôs).154 Die (nahezu?) schwerelosen Elemente sind auf den gesamten Kosmos ausgebreitet, doch sie finden sich gedrängt an der Peripherie; sie bilden dort die Sphäre des Äthers mit den Fixsternen und Planeten.155 Das bei Stobaeus erhaltene Referat des Arius Didymus bezieht diese Lehre auf Zenon. Der Bericht Ciceros, der auf eine gemeinsame Quelle zurückgehen könnte, nennt keinen bestimmten Autor; Achilles156 spricht sie Chrysipp zu. Man kann also in dieser Hinsicht eine gewisse Einstimmigkeit altstoischer Lehre unterstellen.157 Der Kosmos in dieser entfalteten Struktur entsteht und vergeht, und dies in endlosen Perioden. Die Frage ist, wie sich die Stoa im Blick auf die durch Abstraktion erschlossenen Prinzipien die Weltentstehung (und die Weltverbrennung) dachte. Nach dem Zeugnis Ciceros hat Zenon Hesiods Theogonie (in allegorischer Deutung) im Sinne seiner Prinzipienlehre interpretiert.158 Nach einem Hinweis von Valerius Probus verstand Zenon Hesiods ursprüngliches Chaos (Theogonie 116) in etymologischer Manier (chaos über cheîsthai von cheesthai) als Wasser, und sah darin sein kosmologisches Prinzip der passiven Hyle angesprochen.159 In dieselbe Richtung weisen weitere Belege.160 Nach verbreiteter antiker Vorstellung entsteht Leben aus einer Verbindung von Wärme und Feuchtigkeit. Nach Aristoteles zeichnet für die Reproduktion animalischen Lebens die Verbindung des heißen männlichen Samens mit dem flüssigen und kalten weiblichen Sekret verantwortlich.161 Zenon hat diese Verbindung offensichtlich kosmologisch und kosmogonisch im Sinne seiner beiden Prinzipien ausgedeutet, das passive Prinzip mit Feuchtigkeit bzw. Wasser assoziiert und die Weltentstehung in einer Vereinigung von Feuer und Wasser gesehen. So notiert Arius Didymus als Lehre Zenons, der logos des Ganzen, den einige heimarmenē nennen, durchlaufe die prōtē hylē wie der Same den Mutterschoß (hoionper en tê gonê to sperma).162 Dasselbe bezeugt wörtlich Calcidius in seinem Timaioskommentar (deum . . . per silvam meare, velut semen per membra genitalia).163 Origenes notiert Chrysipps Allegorie vom Zusammenspiel der beiden stoischen Prinzipien als Vermählung von Zeus (qua theos) und Hera (qua hylē).164 Dion Chrysostomus’ Referat dieser Allegorie in seiner Oratio 36 ist differenzierter, wenngleich der Part der Materie bzw. des Weiblichen hier etwas unklarer erscheint: Zeus erinnert sich Aphrodites, macht sich sanfter und verwandelt sich, nachdem er viel von 154 155 156 157 158 159 160 161 162 163 164

vgl. ebd. SVF I, 99; Cicero ND II, 115–117; vgl. SVF II, 552 Alexander v. Aphrodisias. vgl. DL VII, 137 = LS 47 B. SVF II, 555. Näheres vgl. Hahm 1977, 107–126. ND I, 36 = SVF I, 167. SVF I, 103; 104; vgl. II, 564; Lapidge 1973, 259 f.; Hahm 1977, 79. Cornutus Comp. Theol. c. 17; SVF I, 104; 105; II, 437; 564. De gen. anim. 735a30–737b7. SVF I, 87 Stobaeus Ecl. I, 11.5a W. In Tim. c. 294 SVF I, 87. Contra Celsum IV, 48 SVF II, 1074.

4. Prinzipien und Elemente seinem Licht gelöscht hat, in warme Luft milderen Feuers, vereinigt sich mit Hera (Hera hier im ‚etymologischen‘ Sinn von aêr),165 gibt dabei den gesamten Samen des Ganzen von sich, nässt dadurch die ganze Substanz, ein Same für das Ganze, und geht selbst in ihm hindurch, wie das bildende und schaffende pneuma in der Samenflüssigkeit.166 Der römische Grammatiker Servius schließlich erklärt in seinem Äneiskommentar, die Stoiker würden ihrem einen Gott je nach seinen Funktionen und Handlungen verschiedene Namen geben; deshalb seien ihre göttlichen Wesen, wie sie sagen, auch männlichen oder weiblichen Geschlechts, je nachdem, ob ihre Wirkweise aktiver oder passiver Natur sei.167 Ein äußerst komprimiertes Referat des Diogenes Laertius setzt die stoische Prinzipienlehre mit der Elementenlehre über die Stufen einer kosmogonischen Anfangsgeschichte in eine ihr Verhältnis klärende genealogische Beziehung. „In den Anfängen ganz bei sich selbst seiend verwandle er (sc. der Gott) die ganze Substanz durch Luft in Wasser. Und wie (sc. bei der Zeugung) das Sperma von der Samenflüssigkeit umfasst wird, so bleibe auch dieser (sc. der Gott), der die samenartige Formel des Kosmos ist, als solcher in dem Feuchten zurück, indem er die Hyle für sich passend macht für das Entstehen der Dinge, die darauf folgen. Dann erzeuge er zuerst die vier Elemente: Feuer, Wasser, Luft, Erde.“168 Im unmittelbaren Anschluss nennt Diogenes als Autoren die Namen Zenon, Chrysipp und Archedem; der zitierte Passus dürfte also seinem Inhalt nach wohl auf Zenon zurückgehen. Vorausgesetzt ist in ihm die Ekpyrosis-Lehre mit ihrer Theorie einer zyklisch sich wiederholenden Weltentstehung. Er setzt ein mit der Phase zwischen einer untergegangenen und einer neu entstehenden Welt, in der Gott „ganz bei sich selbst (kath’ hauton onta)“, also noch nicht zu einer Welt entfaltet (und ‚entäußert‘) ist. Der Beginn der Weltentstehung soll analog animalischer bzw. menschlicher Befruchtung vor sich gehen. Der stoische (bipolare) ‚Monismus‘ muss den Vorgang nach dieser Metaphorik auf ‚androgyne‘ Art denken, derart, dass der aktive Gott auf die (d. h. auf seine) passive, bestimmungslose Materie so wirkt, dass sie für die weibliche Rolle bei der Welterzeugung geeignet wird. Beschrieben wird dies in der Weise, dass Gott „die ganze Substanz (tēn pâsan ousian) durch Luft in Wasser verwandle“, sich selbst aber in Form einer samenartigen Formel (spermatikos logos) des Kosmos im Feuchten (sc. des Samenflusses) „zurückbehalte (hypleipesthai)“ und durch dieses (auf die Hyle) nun so wirkt, dass aus ihr die vier Elemente (ta tessara stoicheîa) entstehen. Zwischen den beiden Prinzipien und den vier Elementen wird hier also klar unterschieden;169 die vier Elemente entspringen auf dem Weg der Weltzeugung aus der Verbindung von Gott und Hyle, nachdem diese vom aktiven Prinzip für die (damals so gedachte) passive Rolle bei der Zeugung zubereitet ist.170 165 166 167 168 169 170

vgl. bereits Platon Kratylos 404 c. SVF II, 622; vgl. Hahm 1977, 61 f. SVF II, 1070. DL VII, 135–6 = LS 46 B = SVF I, 102 part. vgl. auch SVF II, 299 = DL VII, 134. vgl. auch DL VII, 142 und Arius Didymus bei Stobaeus Ecl. I, 17,3 in SVF I, 102 sowie SE AM X, 312 = SVF II, 309.

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III Die stoische Physik Im unmittelbaren Anschluss referiert Diogenes Laertius eine (den genannten Autoren gemeinsame?) Definition von Element: „Es ist aber stoicheîon das, woraus als erstem (all) das Entstehende entsteht und wohinein es als letztem sich auflöst“.171 Und dann folgt der Satz: „Die vier Elemente seien zusammen die unbestimmte Substanz, die Hyle“.172 Zwischen den vier Elementen und dem Element (schlechthin) als dem Anfang und Ende alles Entstehenden dürfte wohl ein Unterschied zu sehen sein. Und dass die vier bestimmten Elemente zusammen die unbestimmte Substanz, die Hyle ausmachen sollen, ist schwer zu verstehen. Es sei denn, es ist hier nur von den bestimmten einzelnen materiellen Objekten der erfahrbaren (entfalteten) Welt und dem die Rede, woraus sie actualiter unmittelbar entstehen und wohinein sie sich actualiter unmittelbar auflösen, um wieder neue Verbindungen zur Konstitution bestimmter Dinge einzugehen. Hier wären allemal die vier Elemente im Verein im Spiel. Dies entspräche dem, was bei Stobaeus als Teil der Lehre Chrysipps (im Gefolge von Zenon) bezeugt ist: „Er sagt, es gebe vier Elemente Feuer, Luft, Wasser, Erde, aus denen alles bestehe, Tiere und Pflanzen und der ganze Kosmos und alles, was er in sich enthält, und in welches es sich auflöse“.173 Wir haben es jedenfalls mit einer Zwei-Ebenen-Theorie und einer vermittelnden Stufe zu tun: Der Ebene der Interaktion von aktivem und passivem Prinzip, als real gedacht, doch einem rein theoretischen Konstrukt, jenseits aller Empirie, und der Ebene der (erfahrungsnahen) Elemente als der ersten bestimmten, qualitätstragenden Substanzen, aus deren Interaktion und Verbindung alle komplexen Körper und ihre Eigenschaften entstehen, bestehen und vergehen.174 Und eine vermittelnde Rolle spielte so etwas wie ein primordiales Feuer, das durch primordiale Luft die ganze Substanz in primordiales Wasser verwandelt, aus dem durch Urzeugung die vier Elemente entstehen.175 Die sexuell-embryonale Analogie war in kosmogonischen Vorstellungen der Griechen fest verankert.176 Doch mehr als dies, dass die gesamte Weltentfaltung (hē toû holou diakosmēsis) aus der (Ur-)Substanz entsteht, „wenn eine Verwandlung des Feuers in Wasser durch Luft geschieht“,177 erfahren wir hier über die kosmogonische Anfangsphase nicht.178 Als Vorbild könnte Zenon eine Spekulation Heraklits gedient haben („Wandlungen des Feuers: erstens Meer, vom Meer aber die eine Hälfte Erde, die andere Hälfte feuriges Wasser“179). Die Aussage dieses Spruchs wurde später jedenfalls, wie seine Interpretation bei Clemens v. Alexandria belegt, mit dem Gedanken der stoischen Kosmogonie gleichgesetzt.180 171 172 173 174 175 176 177 178 179 180

DL VII, 136. DL VII, 137. Ecl. I, 129.2 = SVF II, 413 = LS 47 A. vgl. Sedley, 2002, 57 ff. vgl. M. Frede 2005, 228 f. vgl. Platon, Timaios 49 a; 50 d; Hahm 1977, 65. SVF I, 102 Arius Didymus. vgl. dazu auch SVF I, 497. Heraklit B 30 DK. SVF II, 590; vgl. Pohlenz Stoa 71992, I, 78; Hahm, 1977, 59; 81.

4. Prinzipien und Elemente Wenn im Referat von Diogenes Laertius VII, 136 bezüglich des kosmogonischen Anfangs von Feuer, Luft und Wasser die Rede ist, dann können mit ihnen jedenfalls nicht die Elemente gemeint sein, die erst nach der Verwandlung der Hyle in Wasser durch „Urzeugung“ entspringen, und aus denen jetzt (in verschiedenen Mischungsverhältnissen und Konzentrationsgraden) alles besteht. Tatsächlich scheint eine genaue Unterscheidung bezüglich des kosmogonisch relevanten Feuers und des Feuers als erzeugtem Element einen Nachhall in der Unterscheidung von zwei Arten bzw. Wirkweisen von Feuer im entfalteten kosmischen Geschehen zu finden, eine Unterscheidung, die für Zenon und Kleanthes gut belegt ist. Das Feuer, das häufig mit Gott gleichgesetzt wird, ist schöpferisch, produktiv, belebend, nährend und bewahrend (pỹr technikon, ignis vitalis et salutaris), das zu den vier Elementen zählende Feuer dagegen ist als solches auch destruktiv (pỹr atechnon), d. h. seine Nahrung zerstörend und verbrauchend. In der entfalteten Welt wirkt Feuer jedenfalls auf zweifache Weise und ist für den Stoiker auf zweifache Weise präsent. So bestehe die Substanz der Sonne, des Mondes und der Sterne aus dem schöpferischen Feuer. Und im sublunaren Bereich sei dieses als belebende Kraft in differenzierter Form, als physis in den Pflanzen, als psychē in den Sinnenwesen (und als logos in den Menschen) präsent.181 Zenon und Kleanthes könnten diese Unterscheidung von schöpferischem und destruktivem (Aspekt von) Feuer von Aristoteles übernommen haben,182 freilich ohne dessen Konsequenzen in der Elementenlehre zu teilen und zwei substanziell verschieden wirkende feurige Elemente in Ansatz zu bringen.183 Doch beide in der aktuellen Welt unterschiedlich wirksamen Arten bzw. Aspekte von Feuer sind nicht identisch mit dem Feuer, das am Ursprung der Erzeugung der Elemente steht. Für eine vergleichbare Unterscheidung bezüglich Luft und Wasser, sieht man von Zenons Identifikation der Hyle mit Hesiods Chaos ab, fehlen Belege. Wichtig ist jedenfalls, dem Zeugnis von Diogenes Laertius entsprechend,184 zwischen den vier Elementen und dem kosmogonischen Feuer, sowie der Luft und dem Wasser, die als primordiale Faktoren für die Erzeugung der vier Elemente verantwortlich zeichnen, genau zu unterscheiden.185 Wir haben verschiedene Zeugnisse, die uns zumindest im Umriss verstehen lassen, wie sich Zenon und Chrysipp die Entstehung der Elemente näherhin dachten.186 „Der eine (sc. Bestandteil des Wassers) komme unten zu stehen und bilde Erde, vom Rest bleibe der eine Teil Wasser, aus dem verdunstenden Teil werde Luft, aus einem Teil der Luft entzünde sich Feuer“, so Arius Didymus.187 „Der dickere Teil der Feuchtigkeit verdichte sich zu Erde, der leichtere Teil wandle sich in Luft und die weiter verdünnte Luft erzeuge Feuer. Dann (entstehen) durch Mischung aus diesen

181 182 183 184 185 186 187

SVF I, 120 Arius Didymus; SVF I, 504 Cicero ND II, 41. vgl. Aristoteles De caelo 269 a 18–32, b 13–17; De gen. anim. 736 b 33 – 737 a 7. vgl. Hahm 1977, 92 f. DL VII, 136 und 142. vgl. M. Frede 2005, 228 f. vgl. Lapidge 1973, 265 ff. SVF I, 120 = Stobaeus Ecl. I, 25.3 p. 213, 15 W.

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III Die stoische Physik Pflanzen und Tiere und die übrigen Arten“, so Diogenes Laertius.188 Beide Berichte beziehen sich auf Zenon. Plutarch referiert die Erklärung Chrysipps: „Er sagt im ersten Buch über die Natur: ‚Die Verwandlung des Feuers verläuft so: Es verwandelt sich durch Luft in Wasser; und wenn aus diesem Erde sich nach unten setzt, verdampft Luft. Wenn die Luft sich verdünnt, ergießt sich kreisförmig um sie der Äther. Die Sterne entzünden sich aus dem Wasser in Verbindung mit der Sonne‘“.189 Auch wenn die Texte nicht in allem übereinstimmen, so scheint doch klar, dass sowohl Zenon als auch Chrysipp sich die Differenzierung der Ursubstanz in Elemente über physikalische Prozesse der Verdünnung und Verdichtung von Wasser verständlich machten. Als Paten für diesen Gedanken dürften Archelaos,190 vor allem aber Platon gedient haben.191 In Platons Timaios (49 b-c) ist eindrücklich von der Transformation der Elemente die Rede: „Wasser, wenn es sich verdichtet hat, wird zu Gestein und Erde; wenn es sich aufgelöst und zerstreut hat, wird es Wind und Luft; und Luft, wenn sie entzündet ist, wird Feuer“. Die Elemente sind demnach nicht, wie etwa bei Aristoteles, permanente basale „Bausteine“ des Universums, sondern auf die jeweilige Weltzeit begrenzte Qualifikationen der bestimmungslosen Materie; sie sind zudem grundsätzlich veränderlich; sie können sich durch Prozesse der Verdünnung und Verdichtung in das jeweils andere verwandeln; das Entstehen und Vergehen einer Welt ist durch solche Wandlungsprozesse gekennzeichnet. Bei Chrysipp scheint im Blick auf Kosmogonie und aktuelle Welt eine gewisse Differenzierung bzw. Klärung von Zenons Lehre vorzuliegen. Ein Fragment von Arius Didymus bei Stobaeus bezeugt, für Chrysipp sei Feuer das Element (stoicheîon kat’exochēn), weil aus ihm die übrigen Elemente hervorgingen, und diese sich in es auch wieder auflösten. Es bezeugt zudem, dass er ‚stoicheîon‘ sowohl zur Bezeichnung des Urfeuers als auch zur Bezeichnung der vier Elemente verwendet hat. Und schließlich ist davon die Rede, Chrysipp habe von Element (stoicheîon) in dreifacher Bedeutung gesprochen.192 John Cooper möchte (nach einer peniblen Analyse des Textes) diese Differenzierung so verstanden wissen, dass Chrysipp mit dem Feuer als dem stoicheîon kat’ exochēn den (periodisch eintretenden) Zustand der Weltsubstanz nach der Weltverbrennung und vor der Weltentstehung meinte, der von ihm auch als augē (Lichtglanz) bezeichnet wurde.193 Dieser Zustand sei zu unterscheiden vom Protofeuer, das den Anfang des Prozesses der Weltentstehung ausmache, an dessen Ende die vier (ihrerseits auf gleicher Ebene befindlichen aktuellen) Elemente stünden.194 Das Zeugnis lasse folgende kosmogonische Stufen bzw. Etappen erkennen: Aus der augē (Strahlen- bzw. Lichtglanz) führe die erste Veränderung zum Proto-Feuer, aus diesem entstehe in weiterer Veränderung durch Proto-Luft die Proto-Feuchtigkeit, aus der schließlich durch Prozesse der Verdichtung und Ver188 189 190 191 192 193 194

DL VII, 142 = SVF I, 120. Stoic. rep. 153 A = SVF II, 579. DK Archelaos 60 A 1. vgl. Hahm 1977, 59. Stobaeus Ecl. I p. 129, 1 W = LS 47 A = SVF II, 413. Philo De aeternitate mundi 90 = SVF I, 511 = LS 46 M. Cooper 2009, 96; 107.

4. Prinzipien und Elemente dünnung die vier Elemente entspringen.195 Dass Gott in der augē, im Zustand zwischen den Welten „ganz bei sich“ sei und alle Substanz in sich absorbiert habe, bedeute nicht, dass er die erste, die unbestimmte Materie, sondern dass er alle bestimmte Substanz in sich aufgelöst hat und in der unbestimmten Materie nur noch so ‚bestimmend‘ wirkt, dass die Weltsubstanz als augē (Lichtglanz; modern gesprochen: als Energie?) da sei.196 Die Differenz von Prinzip und Element wäre damit nicht aufgehoben. Coopers Interpretation ist meines Erachtens stimmig und bringt eine gewisse Klärung in die Texte. Chrysipp scheint auch den biologisch-medizinischen Begriff des pneûma zum dominanten Grundbegriff stoischer Kosmologie gemacht und damit die von Zenon initiierte typisch stoische Synthese physikalischer und biologischer Vorstellungen vollendet zu haben:197 Was das pneûma im menschlichen Körper leistet, das leiste es auch im Kosmos, nämlich vollständige Durchdringung, Kohäsion und Belebung. Für Zenon fehlen Belege einer kosmologischen Verwendung des Pneuma-Begriffs; so gut wie alle derartigen Zeugnisse beziehen sich auf Chrysipp. Nach medizinischem Verständnis ist pneûma der den Leib durchdringende belebende Atem, bestehend aus einer Verbindung von kalter Luft und heißem Feuer. So definierte es nun auch die Stoa.198 Es übernimmt für sie die Funktionen des schöpferischen, belebenden Feuers (pneûma pyroeides kai technoeides);199 es zeichnet für die Stabilität des Kosmos, für die Verbindung all seiner Teile untereinander, für die Gestalt und den Bestand aller Dinge, für das Leben von Pflanzen, Tieren und Menschen, für das Leben des Kosmos im Ganzen verantwortlich. Ja, vom Gott selbst wird gesagt, er sei geistbegabtes, ewiges feuriges Pneuma;200 oder anders formuliert: Pneûma in seiner höchsten Konzentration macht die Substanz des menschlichen und des göttlichen Geistes aus.201 Zenons und Chrysipps Kosmologie war wohl nicht so ganz leicht nachzuvollziehen. Alexander von Aphrodisias benennt das theoretische Paradox: Die Stoiker sprächen von zwei Prinzipien, von Gott (logos) als dem aktiven und von formlosem Stoff (hylē) als dem passiven Prinzip. Gott sei ferner etwas Körperliches, nämlich ewiges, geistbegabtes pneûma; doch das pneûma sei seinerseits etwas, was aus einer VerbindungvonElementen(stoicheîa)bestehe.Wiekönnedaszusammenstimmen?202 Ein vergleichbares Problem stellt sich für die Ekpyrosis-Lehre. Der Kosmos entsteht nach ihr periodisch aus Feuer und löst sich wieder in Feuer auf. Man möchte meinen, dass am kosmogonischen Anfang wie am Kosmosende die gleiche Art von Feuer im Spiel ist. „Zenon, Kleanthes und Chrysipp gefällt der Gedanke, dass die Substanz sich wandle wie das Feuer zu Sperma, und dass wiederum aus diesem die 195 196 197 198 199 200 201 202

ebd. 112. ebd. 102 ff. vgl. Lapidge 1973, 271; 273–278; Lapidge 1989, 169 ff.; vgl. Hahm 1977, 78. vgl. SVF II, 310; II, 442; II, 786 Alexander v. Aphrodisias. DL VII, 156. SVF II, 310 Alexander v. Aphrodisias; SVF II, 1009; II, 1027 Aëtius. vgl. SVF II, 458 Philon. SVF II, 310; ähnlich SVF II, 389 Simplicius.

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III Die stoische Physik Weltentfaltung so vollendet wird, wie sie vorher war“.203 Und Zenon soll erklärt haben, „dass das erste Feuer wie ein Sperma sei, das die logoi aller Dinge in sich habe und die Ursachen dessen, was geworden ist, was wird und was sein wird“.204 Doch es sei dann nicht recht zu verstehen, wie das schöpferische, nichts verbrauchende pỹr technikon Zenons die Auflösung des Kosmos bewirken soll. Tatsächlich beschreibt Plutarch nach Chrysipp den Vorgang der Ekpyrosis so, dass die Weltseele kontinuierlich wächst, indem sie ihren Leib „verbraucht“, d. h. sich von den anderen Elementen nährt und sie allmählich ganz in Feuer verwandelt,205 sodass am Ende, wenn der „Stoff “ aufgezehrt und der Kosmos durch und durch feurig ist, er mit seiner Seele bzw. deren Hegemonikon identisch geworden ist.206 Dieser feurige Zustand ist allerdings nicht so zu denken, dass in ihm keinerlei Materie mehr vorhanden wäre; auch er ist durch die zwei Prinzipien konstituiert; nur alle Bestimmtheit des Stoffes in verschiedenen Dingen wäre aufgehoben.207 Chrysipp scheint das Ende des Weltgeschehens ähnlich dem Anfang in Begriffen der Transformation der Elemente gedacht zu haben, wobei das Feuer die Rolle des Basiselements spielt und der Prozess der Kontraktion und Expansion von der Peripherie zum Zentrum und vom Zentrum zur Peripherie einer symmetrischen Figur folgt: „Die erste Verwandlung erfolgt durch Verdichtung (kata systasin) aus Feuer in Luft, die zweite aus dieser in Wasser, die dritte, wenn das Wasser sich entsprechend noch mehr verdichtet, zu Erde. Dann wiederum erfolgt, wenn verdünnt und verflüssigt, eine Auflösung (chysis) von Erde in Wasser, die zweite von Wasser in Luft, und die dritte und letzte in Feuer . . . (Von diesem als Element sagte Chrysipp), dass es als das aus sich selbst Bestbewegliche und das Prinzip und die samenartige Formel und die ewige Kraft eine derartige Natur habe, dass es sich selbst nach unten bewegt bis zur Wende (pros tēn tropēn) und von der Wende hinauf in einem ganzen Kreis, indem es alles in sich auflöst und aus sich alles wieder herstellt auf geordnetem Weg“.208 Dies macht deutlich, dass Chrysipp im Blick auf Weltentstehung, entfalteter Welt und Weltverbrennung Zenons trennende Unterscheidung von schöpferischem Feuer und von verzehrendem Feuer wohl zurückgenommen und nur verschiedene Aspekte, Funktionen und Manifestationen des einen Feuers unterschieden haben muss. Dazu fügt sich, dass, wie späte Belege nahelegen, nach Chrysipp die Differenz von aktivem und passivem Prinzip auf die Elemente übergegangen ist: Luft und Feuer gelten (ihm) als aktive, Wasser und Erde als passive Elemente.209 Nach Diogenes Laertius VII, 137 ist für die Stoiker Feuer das Heiße, Wasser das Nasse, Luft das Kalte und Erde das Trockene. Diese einfache Lehre geht auf den Sizilischen Arzt Philistion von Locri zurück und ist in der Hippokratischen Medizin 203 204 205 206 207 208 209

SVF II, 596 Arius Didymus; vgl. II, 618; 619. SVF I, 98 Aristokles; vgl. I, 497 Arius Didymus zu Kleanthes; II, 1027 zu ‚den Stoikern‘. LS 46E, SVF II, 604. LS 46F, SVF II, 605; vgl. SVF II, 1032; 1052. vgl. dazu Wildberger 2006a, I, 70. SVF II, 413 Arius Didymus; vgl. Hahm 1977, 81 f. LS 47D = SVF II, 418 Nemesius; vgl. LS 47E = SVF II, 406 Galen; LS 47F; SVF II, 439 Galen.

5. Das Pneuma verbreitet.210 Demnach zeichneten Heißes und Kaltes für Aktivität, Nasses und Trockenes für Passivität verantwortlich. Die stoischen Elemente lassen sich (entsprechend der Prinzipienlehre) als ein Gemisch aus Gott und Materie in einem bestimmten Volumenverhältnis verstehen; und dieses fungiert als Ursache für ihre unterschiedlichen Eigenschaften.211 Galen bringt diese Verteilung der elementaren Eigenschaften mit der stoischen Pneumalehre und ihrer Theorie der Spannungsverhältnisse in Verbindung.212

5. Das Pneuma Der Kosmos als Inbegriff der Dinge und Ereignisse bildet nach stoischem Verständnis ein lückenloses Kontinuum, eingebettet in das unendlich Leere.213 Die Stoa versteht diese Kontinuität physikalisch als dynamische Kohäsion. Pneûma ist nach stoischer Vorstellung das alles durchdringende feinst-körperliche Substrat, dessen Dynamik für die synchrone und diachrone Verbindung von allem verantwortlich zeichnet.214 Der Begriff des pneûma hat biologische Wurzeln und bedeutet Atem, Lebenskraft, Seele. Nach physikalischer Vorstellung ist unter dem pneûma eine Verbindung aus Luft und Feuer, von Kaltem und Heißem zu verstehen.215 Es dürfte, wie bereits bemerkt, Chrysipp gewesen sein, der dem Pneûma-Begriff (wohl unter dem Einfluss zeitgenössischer Medizin) in der stoischen Philosophie Prominenz verliehen hat. Feuer und Luft gelten der Stoa, wie gesagt, als aktive, Erde und Wasser als passive Elemente.216 Die Pneumasubstanz (pneumatikē ousia), eine Verbindung von Luft und Feuer, hält zusammen, die Hylesubstanz (hyletikē ousia), eine Verbindung von Erde und Wasser, wird zusammengehalten.217 Alles, was sich nährt und wächst, so das Zeugnis Ciceros, enthält in sich eine Wärmekraft (vis caloris), ohne die es sich weder nähren noch wachsen könnte.218Schwindet diese Kraft aus dem Leib, beginnt der Prozess seines Zerfalls. Ihr Vorhandensein ist Prinzip des Lebens und sorgt für die Einheit, den Zusammenhalt und Bestand des Ganzen (sie ist die synhektikē aitia).219 Die Konnotation der zusammenhaltenden Kraft des Pneumas wird vom biologischen Kontext auf alle materiellen Konglomerate und den Kosmos als Ganzen übertragen. Das Pneuma, das das materielle Universum durchdringt, bindet dieses zu einer organischen Einheit zusammen und begründet die Interdependenz und Kommunikation aller Teile (= sympatheia) ebenso wie die Selbstempfindung 210 211 212 213 214 215 216 217 218 219

vgl. Hahm 1977, 99. so Wildberger 2006a, I, 66–73. vgl. SVF II, 406. vgl. Plutarch Stoic. rep. 1054 B; SVF I, 99; II, 534–546. vgl. SVF II, 441; Alexander v. Aphrodisias; LS 47 L. vgl. SVF II, 442 Alexander v. Aphrodisias; LS 47 I. vgl. SVF II, 418 Nemesius = LS 47 D. SVF II, 439 Galen = LS 47 F. ND II, 23; LS 47 C. SVF II, 440 Galen.

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III Die stoische Physik des Ganzen.220 Das Pneuma ist die (göttliche) Seele des Kosmos. Die Stoa spricht hier von Gott auf zweifache Weise. Im engeren Sinn ist Gott das hēgemonikon, das leitende Organ der Welt; im weiteren Sinn ist Gott die Seele, das pneûma der Welt, das vom hēgemonikon ausgeht, die Welt als Ganze belebt und erhält und alles in ihr durchdringend gestaltet.221 Die bemerkenswerteste Eigenschaft, die die Stoa dem Pneuma zusprach, ist die der Spannung (tonos).222 Die verschiedenen Elemente weisen einen unterschiedlichen Grad der Spannung auf; sie ist besonders hoch im Feurigen und besonders schwach im Erdigen. Je höher die Spannung in einem einzelnen Körper, umso kohärenter und beweglicher ist er. Sie spielt in organischen und anorganischen Körpern eine je eigene Rolle.223 Die Pneumaspannung (pneumatikos tonos) durchdringt den Kosmos und hält ihn zusammen.224 Die Spannungsbewegung (tonikē kinēsis) bindet den Kosmos zur Einheit und die einzelnen Körper in ihm zu Ganzheiten.225 Das Pneuma ist Ursache der Einheit ebenso wie der Strukturierung und Differenzierung des Ganzen. Ihm verdanken alle Dinge ihre Gestalt, ihre Eigenart und Wirkungsweise.226 Es durchzieht zwar kontinuierlich die ganze Hyle, doch in sehr verschiedenem Grad der Dichte, der Reinheit und Stärke. Es ist damit die Ursache aller Spezifikation und Individuation im Rahmen des Kosmos. Der spezifische und individuelle Charakter eines (materiellen) Gegenstandes verdankt sich der besonderen energetischen Verfassung, in der sich das Pneuma im jeweiligen Ausschnitt der Welt befindet. Der Begriff der Spannung (tonos) und Spannungsbewegung (tonikē kinēsis) spielt für die Stoa eine besondere Rolle zur Klärung der Spezifikation und Individuation der Dinge. In Gegenständen, die als bestimmte körperliche, von anderen abgegrenzte Dinge zu bezeichnen sind, liegt ein kohärenter Spannungsbereich mit gegenwendiger Bewegungsenergie vor, der den Zusammenhalt, die Konstanz und Eigenart des einzelnen Dinges bewirkt.227 Im Unterschied zum Zustand des Pneumas, der eine Veränderung, etwa das Einnehmen oder Verlassen eines Ortes bewirkt (me­ tabatikôs kineîsthai),228 ist hier an einen Zustand des Pneumas gedacht, der eine gleichzeitige gegenwendige Bewegung (eis to enantion hama kinēsis)229 von einem Zentrum zur Peripherie und wieder zurück (und somit eine Spannung und einen Spannungsbereich) erzeugt und dadurch die Einheit, die Qualitäten, die Gestalt und die Konstanz eines Körpers bewirkt.230 „In seinem Buch über dispositionale Verfasstheiten (hexeis) sagt er (Chrysipp), die Verfasstheiten seien nichts anderes als 220 221 222 223 224 225 226 227 228 229 230

vgl. SE AM IX, 127. vgl. Vogt 2009, 140. vgl. Sambursky 1959, 5 f.; Wildberger 2006a, I, 73 f. vgl. SVF II, 876 Galen; Plutarch Stoic. rep. 1034 D; Comm. not. 1085 D; SVF II, 444. SVF II, 447 Clemens v. Alexandria. SVF II, 448 Alexander v. Aphrodisias. vgl. SVF II, 449 Plutarch = LS 47 M. SVF II, 442 Alexander v. Aphrodisias = LS 47 I. SVF II, 453 Philo. SVF II, 442 Alexander v. Aphrodisias = LS 47 I. SVF II, 451 Nemesius; LS 47 J; SVF II 458 Philo = LS 47 Q; vgl. SVF II, 471 Stobaeus.

5. Das Pneuma Luftströme (aeres): ‚Von diesen nämlich werden die Körper zusammengehalten. Der zusammenhaltende Luftstrom ist verantwortlich für die Qualität (to poion) eines jeden der durch die Verfasstheit zusammengehaltenen Körper; im Eisen nennt man diese Qualität Härte, im Stein Festigkeit, im Silber weißen Glanz . . .‘ Und sie (sc. die Stoiker) erklären allenthalben, dass die Materie (hylē), die von sich aus träge und unbewegt ist, überall als Substrat für Qualitäten dient, und die Qualitäten Luftströme (pneumata) und luftförmige Spannungen (tonoi aerōdeis) sind, die den Teilen der Materie, in denen sie auftreten, Form und Gestalt verleihen.“231 Ein konkreter Körper konstituiert sich durch die Verbindung, Konzentration und Umgrenzung verschiedener Pneumaströme zu so etwas wie einem ‚Kraftfeld‘,232 das in einem räumlichen und zeitlichen Kontinuum einen Teil der Materie durchdringt und zu einem relativ konstanten, in sich strukturierten, von anderem abgegrenzten und gegen anderes widerständigen Ding formt. Ein Körper ist so eine besondere Einheit von dynamischem Charakter, eine Einheit, deren Eigenschaften in besonderer gegenseitiger Abhängigkeit und Verbindung stehen (symphyēs pros allēlas henōsis).233 Die strukturelle Verschiedenheit der Einheit derartiger dynamischer Bereiche bedingt die unterschiedliche Art der Einheit (und der Qualitäten) von Körpern. Der Terminus hexis meint in diesem Zusammenhang die (natürliche) Art der Einheit anorganischer, physis diejenige organischer, und psychē diejenige animalischer Körper.234 Diese Verschiedenheit begründet den Stufenbau des Seienden, der so geartet ist, dass die höherstehende Art von Ding die Qualitäten der niederen in sich hat und durch neue überformt. Die Stufung erfährt eine teleologische Interpretation. Die höchste, die endzweckhafte Stufe ist dort erreicht, wo das pneûma sich in einer Seele zum logos, und damit zum sprachfähigen Wesen verdichtet, das von sich selbst und seiner Stellung im Ganzen wissen und theoretisch ebenso wie praktisch die Ordnung des Ganzen nachbilden kann.235 Die Einheit materieller Dinge, die relativ konstante Einzeldinge darstellen, unterscheidet sich grundsätzlich von der additiven Einheit abzählbarer Einzeldinge (etwa eines Getreidehaufens, eines Chores, eines Heeres), auch wenn diese durch koordiniertes Zusammenspiel eine einheitliche Wirkung erzielen.236 Hexis meint, im Unterschied zu physis und psychē, eben die unterste, die anorganische Stufe der interndynamischen Einheitsverfassung eines materiellen Gegenstandes. Die Stoiker „möchten, dass die psychē ein bestimmtes pneûma sei ebenso wie die physis, doch dass das pneûma der physis feuchter und kälter, das der psychē dagegen trockener und wärmer sei. Sodass dieses pneûma eine gewisse der Seele eigentümliche Materie sei, und die besondere Qualität dieser Materie einer abgestimmten Mischung (krâsis en symmetria genomenē) der luftartigen und der feurigen Substanz 231 232 233 234 235 236

SVF II, 449 Plutarch = LS 47 M. Sambursky 1959, 39. Simplicius In Aristot. Cat CAG 214, 24 ff. SVF II, 716; LS 47 N; SVF II, 458; LS 47 P. vgl. Cicero ND II, 37; SVF II, 726 Philo; SVF II, 527 Stobaeus. vgl. SE AM, IX, 78.

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III Die stoische Physik entspringe“.237 Das Zeugnis Galens belegt den engen Zusammenhang von hexis, physis bzw. psychē und pneûma und den Gedanken, dass sich die Differenz der vegetativen und animalischen Verfasstheit und der entsprechenden Qualitäten dem Mischungsverhältnis der ‚aktiven‘ Elemente verdankt.238 Neben dem Begriff der Spannung (tonos) ist offensichtlich der Begriff der Mischung (mîxis) in der stoischen Pneumalehre grundlegend.239 Er spielt in ihr eine zweifache Rolle: Einerseits ist das Pneuma selbst eine Mischung aus Luft und Feuer, andererseits führt die Mischung des Pneumas mit den passiven Elementen Wasser und Erde die bestimmungslose Materie zu qualitativer Bestimmtheit. Wie beim Begriff der Einheit legt die Stoa auch beim Begriff der Mischung auf präzise Unterscheidungen Wert. „Über Mischung (peri kraseōs) denkt Chrysipp folgendes: Er unterstellt, dass die gesamte Substanz durch ein Pneuma, das es insgesamt durchdringt, geeint wird; dass durch dieses das Ganze zusammengehalten wird, zusammen bleibt und (sc. in allen Teilen) mit sich selbst interaktiv (sympathes hautô) ist. Dann erklärt er, was die in ihr zusammengemischten Körper betrifft, dass Mischungen (mixeis) entstehen durch Zusammenstellung (parathesei) von zwei oder mehr Substanzen an einem Ort, ‚in Verbindung (kath’ harmēn)‘, wie er sagt, zusammengelegt, wobei jede von ihnen in dieser Zusammenlegung bei diesem Oberflächenkontakt ihre eigene Substanz und Qualität bewahrt, wie es, sagen wir, bei Bohnen und Feuerhölzern vorkommt, wenn sie zueinander gelegt werden. Andere Mischungen entstehen aufgrund einer vollständigen Fusion (synchysei di’ holōn) der Substanzen selbst und ihrer internen Qualitäten, die zusammen zerstört werden. Das kommt, wie er sagt, im Fall medizinischer Drogen vor, wenn die Dinge, die gemischt werden, sich (sc. in ihrer Natur) gegenseitig destruieren und aus ihnen ein neuer Körper erzeugt wird. Wieder andere Mischungen, so sein Argument, entstehen, wenn bestimmte Substanzen und ihre Qualitäten sich in ihrer gesamten Extension vollständig durchdringen, wobei die Ausgangssubstanzen und ihre Qualitäten in dieser Mischung erhalten bleiben. Diese Art von Mischung nennt er speziell krâsis . . ., denn die Fähigkeit, wieder voneinander getrennt zu werden ist eine Besonderheit (derart) vermischter Substanzen (tôn kekramenōn), und das kommt nur vor, wenn sie ihre eigenen Naturen in der Mischung bewahren“.240 Parathesis, synchysis und krâsis sind also die drei wohl zu unterscheidenden Arten von Mischung. Krâsis, bevorzugte Beispiele für sie sind die Mischung von Wein und Wasser, von Licht und Luft, von Feuer und Holz, krâsis ist für die Stoa in mehrerlei Hinsicht von besonderem Interesse. Sie sichert ihre Vorstellung von der Welt als einem geschlossenen Kontinuum; sie erklärt ihre Vorstellungen der Durchdringung materieller Substrate durch das Pneuma, und hier insbesondere ihre Vorstellung des Verhältnisses von Leib und Seele in beseelten Organismen. In jedem Volumen dieser Art von Mischung sind in jedem beliebigen seiner Teile seine Komponenten jeweils in der237 SVF II, 787 Galen. 238 vgl. Sambursky 1959, 10. 239 vgl. SVF II, 473 Alexander v. Aphrodisias = LS 48 C; DL VII, 151 = SVF II, 479, LS 48 A; SVF II, 480 Plutarch = LS 48 B; SVF II, 471 Stobaeus = LS 48 D; LS 48 E u. F. 240 SVF II, 473 Alexander v. Aphrodisias = LS 48 C; vgl. DL VII, 151 = LS 48 A.

5. Das Pneuma selben Proportion vorhanden. Das Pneuma durchdringt bzw. ‚mischt sich‘ auf solche Weise auch mit dem massigsten oder ausgedehntesten materiellen Substrat und bewahrt gleichwohl seine eigene Natur. Chrysipp verdeutlicht diesen Gedanken mit einem extremen Vergleich: „Nichts hindert, dass ein Tropfen Wein sich mit dem gesamten Meer vermischt“.241 Soweit man sieht, erfassten nur die Stoiker in der Antike den Sachverhalt, dass es die gleiche Substanz entspechend verschiedenen physikalischen Randbedingungen in unterschiedlicher Dichte geben kann.242 Zudem begegnete ihr Konzept einer ‚vollständigen Mischung‘ (krâsis di’ holōn) in anderer Hinsicht nahezu einhelligem Unverständnis. Nach stoischer Vorstellung ist bei ‚vollständiger Mischung‘ jeder noch so kleine Teil des betreffenden gemischten Volumens homogen bezüglich der vermischten Substanzen. Niemals löst sich diese Homogenität in eine mosaikartige Struktur auf, derart, dass auf einer Minimumebene ein Minimum der einen Substanz (unvermischt) neben dem Minimum der anderen zu liegen käme, und damit eine parathesis, keine krâsis darstellte.243 Genau dieser Gedanke verletzte in den Augen der meisten das Prinzip, dass verschiedene Körper nicht zugleich ein und denselben Raum einnehmen können.244 Gegenwärtige Autoren schließen sich zum Teil dieser Kritik an und beurteilen die stoische Theorie der krâsis als zwar einfallsreich, doch unhaltbar bzw. paradox oder logisch schief,245 andere schätzen sie auf der Basis einer modernen nicht-atomaren Mereologie als kohärent und wegweisend ein.246 Die Stoiker dachten also die natürlichen Verfasstheiten der hexis, physis und psychē, der anorganischen, organischen und animalischen Dinge im Sinne einer ‚vollständigen Mischung‘, wobei das überaus feine (materielle) pneûma ein (in der Regel) ungleich massiveres materielles Substrat durchdringt und gestaltet. Die Gegner dieses Konzepts beriefen sich entweder auf eine atomistisch-materialistische Ontologie und leugneten die Möglichkeit einer vollständigen Mischung oder sie favorisierten den Gedanken, dass die Seele im Fall einer totalen Mischung etwas Immaterielles sein müsse, das die Kraft habe, Materielles vollständig zu durchdringen und zu formen. Physikalische Körper besitzen Kohärenz und bestimmte Eigenschaften kraft einer dauernden gegenwendigen wellenartigen247 Bewegung eines äußerst feinen und elastischen Mediums, des pneûmas, das sie vollständig durchdringt.248 Das Medium, eine Mischung aus Luft und Feuer, verdankt seine Elastizität der Luft und seine Aktivität dem Feuer. Seine immerwährende, allgegenwärtige, schöpferisch gestaltende Kraft wird als göttlich betrachtet. Sie differenziert und koordiniert alle Teile des Kosmos in ihrem Neben- und Nacheinander. Das göttliche Pneuma verbindet alle Teile 241 242 243 244 245 246 247 248

SVF II, 480 Plutarch = LS 48 B. vgl. Sambursky 1959, 14. vgl. Nolan 2006, 171. Sambursky 1959, 15. Long 1974, 160; Gould 1970, 112; Todd 1976, 46. Nolan 2006, 162–183; vgl. M. J. White 1986, 379–389. vgl. SVF II, 425 Aëtius. vgl. Sambursky 1959, 31.

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III Die stoische Physik zu einem synchronen und diachronen Kontinuum. Dies ist die Basis einer umfassenden Sympathie (sympatheia), d. h. der bruchlosen Verbindung, Affinität und Interaktion aller Teile des Kosmos.249 Den überzeugendsten Beleg dieser Interaktion sahen die Stoiker im Einfluss der Gestirne auf irdische Vorgänge.250 Die periodischen Bewegungen von Ebbe und Flut galten Poseidonios als bevorzugtes Beispiel für die sympatheia zwischen Mond und Meer.251

6. Die Ursachen, das Fatum, die Vorsehung Aus ihrem Begriff des Kontinuums, der Dynamik des Pneumas, der Verbindung aller Teile des Kosmos entwickelte die Stoa eine Theorie der Kausalität, die den Gedanken eines lückenlosen kausalen Zusammenhangs aller Dinge und Ereignisse enthielt (heirmos aitiôn),252 die überkommene Vorstellung einer Kluft zwischen sublunarer und translunarer Welt überbrückte und so dem (späteren) Gedanken einheitlicher Zustands- und Verlaufsgesetze im Kosmos Raum gab. Die subtile Differenzierung kausaler Faktoren zur Erklärung bestimmter Phänomene dürfte dem Einfluss der Ursachenforschung der Hippokratischen Medizin,253 aber auch der im Hellenismus virulenten Auseinandersetzung um menschliche Schicksalsverhaftung und sittliche Verantwortung zu danken sein.254 Im Vordergrund der Suche nach der Ursache eines Zustands oder Geschehens stand für die alte Stoa jedenfalls die Frage, was bzw. wer für sein Entstehen verantwortlich ist.255 Und die Praxis in Recht, Moral und Medizin hat der philosophischen Reflexion zum Leitfaden gedient. Dies führt die Stoa zur Verabschiedung der aristotelischen Ursachenlehre und zur Konzentration auf den Aspekt des aktiven Bewirkens von etwas. Unter ihrem Einfluss entstand in der späteren Antike ein Konsens, dass zwar (unter Philosophen) so etwas wie platonische Ideen und aristotelische Ursachen auch als ‚Ursachen‘ firmierten, dass allerdings nur Entitäten, die ‚tätig‘ sind, die etwas aktiv bewirken, als Ursachen im eigentlichen Sinn zu gelten haben. Die Stoiker waren, modern gesprochen, agent causalists. So notiert etwa Sextus, Ursache sei das, durch dessen Aktivität der Effekt entsteht (di’ ho energoûn ginetai to apotelesma).256 Und Clemens von Alexandrien schreibt, „wir sagen . . ., das Ursächliche werde im Machen und Aktivsein und Tun gedanklich erfasst (phamen . . . to aition en tô poieîn kai energeîn kai drân noeîsthai).257 Was in der Ursachenfrage nunmehr interessiert, ist die ‚Autorschaft‘ und Kraft einer tätigen Entität, die an sich oder an einer anderen Entität eine Wirkung erzeugt. Dies 249 Chrysipp SVF II, 473 = LS 48 C; vgl. Gourinat 2005c, 254 f. 250 vgl. SE AM IX, 79. 251 F 214–220 EK; vgl. Cicero ND II, 19; De divin. II, 34; Aëtius III, 17, 5; II, 25, 5; Plutarch De facie in orbe lunae 921 P. 252 SVF II, 918. 253 vgl. dazu eingehend Schröder 1989, 1990. 254 vgl. Cicero De fato 41. 255 vgl. M. Frede 1987, 130 f.; LS 1987, I, 340. 256 PH III, 14. 257 Strom. I, 17, 82, 3; vgl. M. Frede 1987, 126.

6. Die Ursachen, das Fatum, die Vorsehung unterscheidet das stoische und spätantike Konzept von Kausalität von neuzeitlichen und modernen Theorien, die, im Anschluss an Hume und Kant, den Schwerpunkt auf die Regularität bzw. Gesetzlichkeit zeitlich gerichteter Ereignisfolgen legen.258 Die stoische Prinzipienlehre macht klar, dass es im Grunde nur eine Ursache gibt, nämlich Gott, das aktive Prinzip, das die Materie durchdringt und alles formt und gestaltet.259 Zusammengesetzte Körper sind Ursachen nur kraft dessen, dass das aktive Prinzip sie durchdringt und zu etwas Bestimmtem mit aktivem Potenzial qualifiziert.260 Im Gedanken, dass einerseits Gott der Autor des gesamten Weltgeschehens ist,261 dass andererseits die Menschen aufgrund ihres göttlichen Geistes als ‚autonome‘, für ihr Tun verantwortliche Handlungssubjekte zu gelten haben,262 liegt eine Spannung in der stoischen Ursachenlehre begründet, die auch ihre Ethik kennzeichnet. Die Quellenlage für die Rekonstruktion der altstoischen Lehre bilden ein Passus bei Stobaeus (Ecl. I. 138, 14–139, 4), Ciceros De fato (41–45) und Kap. 47 von Plutarchs De stoicorum repugnantiis. Unverzichtbar ist auch die Berücksichtigung von Quellen, die wohl einen späteren Entwicklungsstand der Theorie repräsentieren, zum Teil eklektischen Charakters sind, zum Teil Lehrstücke verschiedener schulischer Herkunft addieren oder vermengen oder doxographisch vereinheitlichen, zum Teil aber auch klare Hinweise und Anhaltspunkte für die altstoische Lehre bieten. Zu nennen sind hier vor allem verschiedene Texte von Galen, Sextus’ Grundriss der pyrrhonischen Skepsis Buch 3 und Gegen die Mathematiker Buch 9, Clemens’ Stromata Buch 8. 9, und Alexander von Aphrodisias’ De fato 192. 18–19.263 Die Lehre von den Ursachen und die Theorie des Fatums legen die Begriffe bereit, um das, was die Stoa unter Natur als einheitlichem Ordnungsgefüge und Gesamtgeschehen verstand, in seiner Struktur zu erfassen, in seine Komponenten zu zerlegen und in seinem je bestimmten Zusammenhang darzustellen. Kennzeichnend ist zum einen, dass die Stoa sich um die Erstellung eines generischen Begriffs von Ursache bemühte; kennzeichnend ist zum anderen, dass sie mehrere Arten des aition beim Erzeugen einer Wirkung unterschieden wissen wollte. Wir verfügen über verschiedene Zeugnisse, die uns eine einigermaßen klare Information über ihre allgemeine Bestimmung von Ursächlichkeit bieten. Ein Passus im 65. Brief Senecas ad Lucilium gibt uns zu verstehen, wie die Theorie der Kausalität in der Prinzipienlehre verankert ist. „Unsere Stoiker sagen, wie Du weißt, dass es zwei Dinge in der Natur gibt, aus denen alles wird, die Ursache (causa) und die Materie (materia). Die Materie liegt untätig vor, eine Sache, die für alles bereit liegt (res ad omnia parata), aber so bleiben würde, wenn niemand sie bewegte. Die Ursache aber, d. h. die Vernunft (ratio), formt die Materie und dreht und wendet sie, wohin immer sie will; aus ihr schafft sie die verschiedenen Werke. Es muss also 258 259 260 261 262 263

vgl. S. S. Meyer 2009, passim; Botros 1985, 296–304. vgl. Seneca Ep. 65, 12. vgl. SVF I, 158 Themistius; Vogt 2009, 139. vgl. Plutarch Stoic. rep. 1050 D. vgl. Aulus Gellius Noctes Atticae VII, 2; Botros 1985, 301–304. vgl. Bobzien 1999a, 196.

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III Die stoische Physik etwas sein, woraus etwas entsteht (unde fiat aliquid) und ferner, von wem es entsteht (a quo fiat): dies ist die Ursache, jenes die Materie“.264 Der kausale Ursprung all dessen, was (als bestimmtes materielles Etwas) da ist und was geschieht, ist der göttliche Logos bzw. das göttliche Pneuma, das die bestimmungslose Materie durchdringt und formt und in verschiedene Entitäten ausdifferenziert. Es zeichnet als bestimmte und bestimmende Kraft in jeder einzelnen materiellen Entität für ihr Sein, ihr Sosein und ihre Wirksamkeit kausal verantwortlich. Der Gott ist überall wirksam. In der ausdifferenzierten Welt gibt es nichts, was unverursacht wäre.265 Dies gilt für Dinge ebenso wie für Vorgänge, für Bewegungen (kinēseis) ebenso wie für qualitative Zustände (scheseis).266 Eine allgemeine Bestimmung dessen, was namentlich Zenon und Chrysipp unter Ursache verstanden wissen wollten, bietet ein von Stobaeus überlieferter Bericht des Arius Didymus: „Zenon sagt, Ursache (aition) sei ‚das, aufgrund dessen (di’ ho)‘, das aber wovon es die Ursache (ist) (hoû de aition) sei Attribut (symbebēkos); und die Ursache sei Körper (sôma), das hingegen, wovon es die Ursache ist, sei Prädikat (katēgorēma); es sei unmöglich, dass (zwar) die Ursache da sei (pareînai), dass das (aber), wovon es die Ursache ist, nicht vorliege (mē hyparchein). Das Gesagte hat folgende Bewandtnis. Eine Ursache ist das, aufgrund dessen etwas vorkommt, wie aufgrund der Klugheit (dia tēn phronēsin) das kluge Denken (to phroneîn) und aufgrund der Seele (dia tēn psychēn) das Leben (to zên) und aufgrund der Besonnenheit (dia tēn sōphrosynēn) das Besonnensein (to sōphroneîn). Chrysipp sagt, Ursache sei ‚das, aufgrund dessen (di’ ho)‘, und die Ursache sei Seiendes und Körper (on kai sôma), das hingegen, wovon es Ursache ist, sei weder Seiendes noch Körper. Und die Ursache sei ‚weil (hoti)‘, das, wovon es die Ursache ist, sei ‚warum? (dia ti)‘; die Ursache sei der Logos des Ursächlichen, oder der Logos betreffend des Ursächlichen als Ursächlichen (aitian d’ eînai logon aitiou, ē logon ton peri toû aitiou hōs aitiou)“.267 Die Interpretation dieser äußerst gedrängten Stobaeusstelle bereitet einige Schwierigkeit und fällt denn auch in der Forschung strittig aus. Die Bestimmung der Ursache als „das ‚aufgrund dessen (di’ ho)‘“ ist hochgenerell und in ihrer Allgemeinheit unproblematisch. Dass es sich bei Ursachen um Körper handelt, bekundet genuin Stoisches. Es versteht sich dahingehend, dass für die Stoiker nur Körperliches etwas tun oder erleiden kann,268 und eine Ursache im engeren Sinn für sie dadurch gekennzeichnet ist, dass sie etwas tut und bewirkt. Dunkel erscheint hingegen die Bemerkung, die (körperliche) Ursache sei Ursache eines (unkörperlichen) Prädikats (katēgorēma). Unter katēgorēma verstand die Stoa den Sinn eines (nicht aus Kopula und Nomen zusammengesetzten) Prädikats, das Aktivitäten, Widerfahrnisse, Vorgänge und Relationen von, an und zwischen Dingen zum Ausdruck bringt. Klar scheint zu sein, dass die Stoa unter Ursachen körperliche Entitäten und unter ihren Wirkungen Prädikate verstanden hat, also etwas, was nur im Rahmen einer Aussage 264 265 266 267 268

Ep. 65, 2 = LS 55 E. vgl. Plutarch Stoic. rep. 1054 C. vgl. Plutarch Stoic. rep. 1050 C-D, 1056 C; Comm. not. 1076 E; Bobzien 1999a, 202. Stob. Ecl. I. 138, 14 – 139, 4 = SVF I, 89 und II, 336 = LS 55 A. vgl. Plutarch Comm. not. 1073 E = SVF II, 525; LS 45.

6. Die Ursachen, das Fatum, die Vorsehung zu stehen kommt. Mit deiktischen Zeichen und Namen beziehen wir uns auf (körperliche) Dinge. Diese lassen sich zeigen und benennen. Vorgänge an Dingen, Handlungen von Dingen, und Beziehungen zwischen Dingen können von diesen nur ausgesagt werden. Wirkungen stellen für die Stoa als solche etwas dar, was von etwas (Körperlichem) ausgesagt wird und nur in Form einer Aussage erfasst, vermittelt und verstanden werden kann. Es hat den Anschein, dass die Stoa zwischen dem bloßen Zeigen und Benennen einer Ursache und dem Feststellen einer UrsacheWirkungsrelation (d. h. eines Sachverhalts) bzw. einer kausalen Erklärung unterschieden hat. Dies könnte der Sinn des letzten Satzes des zitierten Stobaeus-Passus sein, in dem Chrysipp zufolge offensichtlich zwischen aition und aitia unterschieden wird, wobei mit ‚aition‘ die wirkende (körperliche) Entität und mit ‚aitia‘ ihr Begriff als Ursache einer (bestimmten) Wirkung gemeint wäre. Das aition wäre ein Körper, die aitia und das katēgorēma, die Relata einer Kausalrelation und die Kausalrelation selbst, wären propositionale Gegenstände. So jedenfalls verstehen M. Frede und Long/Sedley den Satz; sie übersetzen ‚logos‘ mit ‚account‘ bzw. ‚statement‘.269 Anders Susanne Bobzien, die in stoischen Texten keine Bedeutung von ‚aitia‘ im Sinne eines propositionalen Gegenstandes ausfindig machen kann und mit ‚aitia‘ bzw. ‚logos‘ das im ursächlichen Körper formgebende (ebenfalls körperliche) Prinzip angesprochen sieht („an individual portion of the world-pneuma in an object“).270 Der systematische Erklärungswert spricht für Fredes und Long/Sedley’s Interpretation; sie stellt beide Relata der Kausalrelation auf die Ebene des Gesagten (lekton); die (durchaus gewichtigen) philologischen Argumente hingegen sprechen eher für Bobziens Verständnis. Die Beispiele im Stobaeus-Passus sind solche einer ‚intrinsischen‘ Kausalrelation. In jedem Körper ist es das Stück göttlichen Pneumas, seine jeweilige Dichte und Spannung im Verhältnis zu seiner Materie, die ihn zu dem machen, was er ist und was ihn charakterisiert. Sie machen ihn zum anorganischen Ding, zur Pflanze oder zum Sinnen- bzw. Vernunftwesen; sie konstituieren seine (körperlich gedachten) Qualitäten und sind kausal für das verantwortlich, was er tut und wie er wirkt. So gesehen ist die Pneumaverfassung in einem Körper die Ursache dafür, dass es sich bei ihm um einen Menschen handelt. Und so gesehen sind die Besonnenheit, die Klugheit, die Intelligenz etc. von jemandem die Ursache seines besonnenen, klugen, intelligenten etc. Denkens und Verhaltens. Sextus und Clemens hingegen bringen Beispiele für eine ‚extrinsische‘ Kausalrelation. „Die Stoiker sagen, jede Ursache sei ein Körper, der für einen Körper die Ursache von etwas Unkörperlichem wird. Wie das Messer, ein Körper, für das Fleisch, einen Körper, die Ursache des Geschnittenwerdens, eines unkörperlichen Prädikats, wird; und (wie) wiederum das Feuer, ein Körper, für das Holz, einen Körper, die Ursache des unkörperlichen Prädikats ‚Verbranntwerden‘ wird“.271 Zu beachten ist allerdings, dass das Prädikat eines Gegenstandes, das ihm aufgrund der Einwirkung eines anderen Gegenstandes (‚Geschnittenwerden‘) zukommt, an die 269 M. Frede 1987, 129; Long/Sedley 1987 I, 333 F 55 A. 270 1999a, 199–201. 271 SE AM IX, 211 = SVF II, 341 = LS 55 B; vgl. Clemens Strom. 8. 9, 26, 3–4 = LS 55 C.

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III Die stoische Physik ihm immanente wesentliche Verfassung gebunden ist: Der Gegenstand muss für das entsprechende Erleiden geeignet (epitēdeios) sein.272 Clemens führt schließlich auch Beispiele für Wechselwirkung an: „ . . . die Tugenden sind füreinander die Ursache des nicht voneinander Getrenntwerdens . . . und die Steine an einem Gewölbe sind füreinander die Ursache des Prädikats ‚Bestehenbleiben‘, doch nicht die Ursache voneinander, und der Lehrende und der Lernende sind füreinander die Ursache des Prädikats ‚Fortschritte machen‘“.273 Cicero berichtet, Chrysipp habe, da er sowohl die Notwendigkeit (menschlichen Handelns) verwarf als auch darauf bestand, dass sich nichts ohne voraufgehende Ursachen ereigne, Arten von Ursachen (causarum genera) unterschieden, um sowohl der Notwendigkeit zu entrinnen als auch das Fatum zu erhalten.274 Ciceros Bericht und seine Unterscheidungen in De fato gilt es vor Augen zu haben, um angesichts des „Schwarms von Ursachen“,275 die spätere Autoren referieren, den Überblick zu bewahren. Alexander selbst nennt prokatarktika, synaitia, hektika und syn­ hektika. Sextus unterscheidet synhektika, synaitia, synerga, erwähnt aber auch die prokatarktika.276 Plutarch notiert Chrysipps Unterscheidung von prokatarktikē aitia und autotelēs aitia.277 Bei Clemens von Alexandrien finden sich die gleichen Differenzierungen wie bei Sextus, er bemerkt aber zudem, dass das synhektikon aition gleichbedeutend dem autoteles aition sei.278 Galen schließlich nennt prokatarktika, prohēgoumena, synhektika, autotelê, synaitia, synerga.279 Cicero stellt De fato 41–42,1 Chrysipps Unterscheidung der ‚Arten von Ursachen‘ als dessen Antwort auf ein Argument (De fato 40) dar, das seine Theorie des Fatums angriff. Chrysipps These, so der ‚libertarische‘ Gegner, dass alles dem Fatum unterliege, unterwerfe auch unsere Impulse, Zustimmungen und Handlungen dessen Unausweichlichkeit und mache so unsere Praxis von Lob und Tadel, von Belohnung und Strafe unsinnig, da unser Handeln nicht in unserer, sondern in der Macht des Fatums liege. Da dies jedoch absurd ist, müsse man wohl schließen, dass nicht alles durch das Fatum geschehe.280 Chrysipps Antwort besteht einerseits in der These, dass alles Geschehen, jede Veränderung, jede Bewegung einer vorausgehenden Ursache (causa antecedens bzw. prae­ bzw. anteposita) bedarf,281 dass man aber, was die das Geschehen bestimmende Leistung von Ursachen betrifft, unterscheiden müsse zwischen vollkommenen und hauptsächlichen (causae perfectae et principales) und helfenden und nächstliegenden (causae adiuvantes et proximae)282 bzw. causae pro­ 272 273 274 275 276 277 278 279 280 281 282

vgl. SE AM IX, 250–251; Clemens Strom. 8.9, 100.20–101.3. Strom. 8. 9, 30, 1–3 = SVF II, 349 = LS 55 D. De fato 41. Alexander v. Aphrodisias De fato cp. 22, p. 191, 30 f. Bruns = SVF II, 945 = LS 55 N. vgl. PH III, 13–16. Stoic. rep. 47, 1056 B = SVF II, 997 = LS 55 R. vgl. Strom. 8. 9 = SVF II, 351 = LS 55 I. vgl. SVF II, 354–356; LS 55 F, H. vgl. Bobzien 1998a, sect. 6.2.2; 1999a, 207; Schallenberg 2008, 229–238. vgl. Cicero De fato 21, 40, 41, 43. De fato 41.

6. Die Ursachen, das Fatum, die Vorsehung ximae et continentes283. Während erstere die Wirkung notwendig erzeugen, spielen letztere zwar eine unerlässliche, aber keineswegs zureichende, ja nicht die gewichtigste kausale Rolle. So bedürfen zwar eine Walze oder ein Kreisel des Anstoßes oder der Drehung von außen, dann aber bewegen sie sich aufgrund ihrer Form ‚aus eigener Kraft‘ (suapte vi et natura).284 So sind wir in unserem Bestreben und Handeln auf äußere Eindrücke (phantasiai/visa) angewiesen, doch liegen Zustimmung und Handlungsimpuls bei uns. Unter dem Fatum wollte Chrysipp also die ununterbrochene Kette voraufgehender Ursachen allen Geschehens verstanden wissen; daran hielt er fest. Die Verantwortung des Menschen für sein Wollen und Tun schien ihm indessen durch den Umstand gewahrt, dass der Ursprung des Handelns, die Zustimmung zu den Vorstellungen ‚bei uns‘ liegt. Chrysipp behauptet also, man könne das Fatum (modern gesprochen: die uneingeschränkte Gültigkeit des Kausalitätsprinzips) beibehalten, ohne damit menschliches Handeln der Notwendigkeit des Geschehens zu unterwerfen.285 Die Frage, in welchem Verhältnis die von Cicero verwendeten Ausdrücke für die Chrysippschen Ursachenarten zu den in den griechischen Quellen genannten Bezeichnungen stehen, wird in der Forschung kontrovers diskutiert und recht unterschiedlich beantwortet.286 Cicero spricht wohl nicht von zwei, sondern von vier Ursachenarten, da sich perfecta und principalis einerseits, adiuvans und proxima andererseits kaum als Synonyma (bzw. principalis und proxima als bloße Epitheta) verstehen lassen. Dabei entspricht die causa perfecta recht eindeutig dem, was im Griechischen das autoteles aition bezeichnet: eine hinreichende Ursache, die (ohne weitere Bedingung) die Wirkung mit Notwendigkeit erzeugt. Unsicherheit besteht darüber, ob principalis mit „anfänglich“, „ursprünglich“ oder „hauptsächlich“ zu übersetzen und dem lateinischen Ausdruck das griechische prokatarktikon, oder das prohēgoumenon oder ein (freilich nicht belegtes) kyrion zuzuordnen ist. Ob das lateinische Wort einem griechischen entspricht und wenn ja, welchem, lässt sich philologisch kaum noch entscheiden. Doch systematisch spricht vieles dafür, dass mit causa principalis einem kausalen Faktor die Hauptverantwortung für ein Geschehen zugesprochen werden soll, der allerdings nicht zureichend die Wirkung erzielt, sondern auch noch anderer Faktoren zu ihrer Erzeugung bedarf.287 Mit causa adiuvans könnte sprachlich das griechische synaition oder das synergon gemeint sein. Doch zwischen notwendigem (synaition) und bloß unterstützend mitwirkendem (synergon) Beitrag wird sachlich unterschieden. Und in den von Cicero zitierten Beispielen (externer Anstoß, Eindruck) ist von einem notwendigen, nicht von einem bloß mitwirkenden Beitrag die Rede, sodass mit causa adiuvans bei Ci283 284 285 286 287

De fato 44. De fato 43. vgl. D. Frede, 2008, 154 ff.; Schallenberg 2008, 239–261. vgl. den Überblick bei Schallenberg 2008, 240–245; ferner D. Frede 2008, 144–151. so Sedley 1993, 323 f.; Ioppolo 1994, 4515, 4522; Bobzien 1999a, 227, D. Frede 2003, 190; Schallenberg 2008, 243; anders Görler 2004, 40–59.

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III Die stoische Physik cero wohl das synaition gemeint ist.288 Causa proxima bezeichnet eine ein Geschehen unmittelbar auslösende Ursache, „eine notwendige Bedingung, die dem Effekt räumlich und zeitlich am nächsten steht“;289 sie wird von den meisten Interpreten mit dem prokatarktikon aition identifiziert. In den von Cicero referierten Beispielen lässt sich ein und dasselbe (der externe Anstoß bzw. Eindruck) sowohl als causa proxima als auch als causa adiuvans bezeichnen, wobei zum einen der notwendige Beitrag, zum anderen die unmittelbar auslösende Rolle betont würde.290 Aufschlussreich ist Clemens’ Bemerkung, das synhektikon aition sei gleichbedeutend dem au­ toteles aition.291 Mit synhektikon aition dürfte mit einiger Sicherheit die einem Gegenstand immanente Verfassung des Pneumas gemeint sein, die den Gegenstand zu dem macht, was er ist und was er an (wesentlichen) Qualitäten aufweist.292 Das dem Gegenstand immanente Pneuma, so der Gedanke, wirkt als causa perfecta, als notwendige und zureichende kausale Bedingung seines Seins und Charakters. Davon zu unterscheiden ist, was an einem Gegenstand oder durch einen Gegenstand in der Welt geschieht. Geschehnisse in der Welt verdanken sich allemal dem Zusammenspiel verschiedener kausaler Faktoren. Alle Fälle von Veränderung geschehen auch aufgrund vorausgehender Ursachen. Andererseits gibt es keine vorausgehende Ursache, die das, was an einem Gegenstand oder durch einen Gegenstand geschieht, im Sinne einer zureichenden Ursache bewirkt. Geschehnisse erfolgen aufgrund eines Zusammenspiels externer und interner Faktoren. Dies gilt auch für all das, was einem Objekt dabei lediglich widerfährt. Im Fall etwa des Geschnittenwerdens ist nicht nur ein externer aktiver kausaler Faktor im Spiel. Die Beschaffenheit des Gegenstandes selbst spielt gleichfalls eine Rolle; und diese wird durch die Aktivität des ihm immanenten Pneumas bewirkt.293 Die stoische Schule begriff das Fatum bzw. das Schicksal als immerwährende, lückenlose und notwendige Verkettung der Ursachen allen Geschehens.294 Vom Zufall zu sprechen, sei uneigentliche Rede, die nur menschliches Unwissen über die wirkenden Kräfte zum Ausdruck bringe.295 Diese Lehre wurde bereits in der Antike mit dem Vorwurf bedacht, den Menschen seiner Willensfreiheit zu berauben,296 einem Vorwurf, den die Vertreter der Stoa ihrerseits heftig zurückwiesen. Die Quellen lassen keinen Zweifel, dass die Stoa von einem lückenlosen Kausalzusammenhang der Dinge und Ereignisse sprach. Zenon lehrte, das Schicksal sei eine „verkettende Ursache dessen, was ist (aitia tôn ontōn eiromenē)“.297 Chrysipp sprach von ihm als von einem „Zusammenhang aller Dinge, in dem seit Ewigkeit die einen auf die anderen folgen und voneinander abgelöst werden, nach einer unverän288 289 290 291 292 293 294 295 296 297

vgl. Schröder 1989, 219 f.; Schallenberg 2008, 244. Schallenberg 2008, 244. vgl. Görler 1987, 268. vgl. Strom. 8. 9 = SVF II, 351 = LS 55 I. vgl. Plutarch Stoic. rep. 1053 F; Alexander v. Aphrodisias De mixt. 223–224. vgl. Bobzien 1999a, 236–241. vgl. Alexander v. Aphrodisias De fato 22. vgl. SVF II, 965–971. vgl. Cicero De fato 20, Alexander v. Aphrodisias De fato cap. 27. DL VII, 149 = SVF I, 175.

6. Die Ursachen, das Fatum, die Vorsehung derlichen Verbindung“.298 Die Annahme, etwas im Weltgeschehen könne nichtverursacht sein (to anaition), vergewaltige die Natur und löse ihre Einheit auf.299 Die alltägliche Rede vom Zufall (to automaton, hē tychē) bedeute nichts weiter, als dass eine Ursache vorliege, die der menschlichen Einsicht (noch) verborgen sei.300 Die Stoa spricht also zum einen von einer ewigen, ununterbrochenen Reihe von Ursachen bzw. von einem kontinuierlichen (wohl netzartig gedachten, unterschiedliche Elemente mit unterschiedlichen Funktionen und Wirkkräften umfassenden) Bewegungszusammenhang.301 Sie spricht zum anderen davon, dass dieser Zusammenhang von Ursachen und Wirkungen nach einer unverbrüchlichen Ordnung bzw. mit Notwendigkeit (ex anankēs) sich vollziehe.302 Sie hat also mit dem Begriff des Schicksals offensichtlich etwas formuliert, was dem entspricht, was wir heute das Prinzip des universellen Determinismus nennen: Jedes Ereignis folgt nach Kausalgesetzen aus vorgängigen Ereignissen.303 Die Stoa interpretiert schließlich im Begriff des Schicksals (fatum, heimarmenē, peprōmenē) die Einheit der Verbindung aller Dinge und Ereignisse als Leistung einer einzigen vernünftig strebenden, vorsorgenden, gestaltenden und verwaltenden Kraft (pneûma), des (göttlich-providentiellen) Logos des Kosmos, „nach dem alles wurde und wird, was war, was ist und was sein wird“.304 Daraus ergibt sich der Gedanke eines kausal (und teleologisch) vollkommen durchgeordneten, von göttlicher Vorsehung (pronoia) geleiteten Weltgeschehens.305 Die stoische Rede von der Ursache eines Ereignisses wird dabei nach dem Begriff der kausalen Erklärung gedacht, der den Vorgang bzw. die Veränderung an einem Ding auf relevante externe und interne Haupt-, Mit- und Nebenursachen als tätige (materielle) Entitäten zurückführt. Die Quellen bezeugen, wie gezeigt, verschiedene, nicht ohne Weiteres zur Deckung zu bringende Listen stoischer Ursachengliederung. Wesentlich scheint dabei die Unterscheidung von auslösender, mitwirkender und ‚hauptverantwortlicher‘ Ursache gewesen zu sein. Die Ursache wirke gesetzlich, und notwendig heißt dann, dass bei Gegebenheit der gleichen relevanten „Ursachen“ zu verschiedenen Zeiten das gleiche Ereignis sich einstellen muss.306 Die Geltung des Kausalprinzips erstreckt sich in stoischer Sicht nicht nur auf alle Naturereignisse, sondern auch auf alles Geschehen im menschlichen Bereich. Stütze dieser Auffassung war ihr ihre Einschätzung der Mantik. Nach Cicero definierte Chrysipp die Kraft bzw. Kunst der Weissagung „als die Fähigkeit, die Zeichen zu erkennen, zu beobachten und zu erklären, die den Menschen von den Göttern be298 vgl. Aulus Gellius Noct. Att. VII, 2 = SVF II, 1000 = LS 55 K. 299 vgl. SE AM IX, 196 = SVF II, 337; Plutarch De fato 574 D = SVF II, 912; Alexander v. Aphrodisias De fato cap. 22 = SVF II, 945 = LS 55 N; vgl. Cicero De fato 22; 46 f. 300 vgl. SVF II, 965–973; Hankinson 1988a 155 f. 301 vgl. SVF II, 916; D. Frede 2008, 159. 302 D. Frede ebd.; SVF II, 945. 303 vgl. SVF II, 945 = LS 55 N. 304 SVF II, 913 = Stobaeus Ecl. I, 79 = LS 55 M. 305 vgl. SVF II, 928–933. 306 vgl. Alexander v. Aphrodisias De fato cap. 22 = SVF II, 945; ebd. cap. 13; Nemesius De nat. hom. cap. 35; Salles 2003, 253–272.

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III Die stoische Physik deutet werden“.307 Und die Praxis erfolgreicher Weissagung weiser Menschen wäre nicht möglich, vollzöge das naturale und menschliche Geschehen sich nicht nach kausalen Gesetzen.308 Reichweite und Erfolg der Weissagungspraxis innerhalb der Stoa waren zwar nicht unumstritten; bezog sie sich doch auf zufällige Ereignisse, d. h. auf Ereignisse, deren Ursache menschlicher Einsicht verborgen ist. Panaitios soll ihren Erfolg bezweifelt haben;309 Poseidonios hat sie, jedenfalls für die prognostische Traumdeutung und im Rahmen der Theorie des Fatums, verteidigt.310 Es ist schließlich, über naturphilosophisch-kausale Erklärungen hinaus, die Überzeugung von der Vernunft göttlicher Weltverwaltung und der fürsorglichen Güte göttlicher Mitteilung, die für die Mehrheit der Stoiker die grundsätzliche Möglichkeit treffender divinatorischer Aussagen für die Menschen sichern.311 Kurz gesagt: Wir haben genügend Belege für die stoische Auffassung, dass das gesamte Weltgeschehen den Charakter des strikten, unausweichlichen kausalen Zusammenhangs an sich hat. Plutarch zitiert unmissverständliche Sätze aus Chrysipps Werk Peri physeos: „Es gibt nichts, was von außen die Organisation stören könnte noch ist eines ihrer Teile fähig, anders bewegt zu werden oder sich zu verhalten als gemäß der Gesamtnatur.312 Das leitende Interesse des stoischen Plädoyers für ein geschlossenes System des Weltgeschehens ist zweifellos teleologischer und theologischer Natur, der Wunsch, alle Dinge und Ereignisse einer vernünftigen göttlichen Gestaltungskraft zu integrieren, sich selbst und alles andere in einer vernünftigen Weltverwaltung aufgehoben zu wissen.313 Im Rahmen einer derartigen Weltsicht scheint es keinen guten Sinn zu ergeben, von einem Ereignis zu sagen, dass es hätte anders geschehen können, als es tatsächlich geschah. Für objektiv Kontingentes ist da kein Platz. Plutarch verweist polemisch darauf, dass die Stoa damit den Gott auch zum Ursprung des Schlechten mache.314 Alexander von Aphrodisias erklärt, dass nach der stoischen Theorie niemand das Gegenteil dessen tun könne, was er tatsächlich tut.315 Für Calcidius hebt die Stoa die menschliche Freiheit auf: „Alles ist von Anfang an geordnet und beschlossen, sowohl das, wovon man sagt, es sei in unserer Macht, wie das, wovon man sagt, es sei zufällig oder notwendig.“ Dann aber gelte doch wohl auch dies: „Die Bewegungen unserer Seelen sind nichts anderes als Ausführungen göttlicher Dekrete, wenn wirklich es notwendig ist, dass das Fatum durch uns handelt“.316 So allerdings wollte die Stoa ihre Theorie nicht verstanden wissen. Eine Reihe von Fragmenten zeugen eindeutig vom stoischen Versuch, die durch die Schicksalslehre 307 De div. II, 130 = SVF II, 1189; vgl. auch SE AM IX, 132 = SVF II, 1018; Stobaeus Ecl. II, 67, 13 = SVF III, 654. 308 vgl. SVF II, 912; 939–944; Bobzien 1998a, 144–179; Gourinat 2005c, 247–273. 309 vgl. DL VII, 149. 310 vgl. Cicero De divin. I, 64; I, 126–129; Brittain 2011, 213–236. 311 vgl. Cicero De divin. II, 101–102; ND II, 161–168; Hankinson 1988a, 123–160. 312 Plutarch Stoic. rep. 1050 C–D; vgl. 1050 A. 313 vgl. D. Frede 2002a, 95–117. 314 Comm. not. 1076 C-D; Stoic. rep.1050 C. 315 De fato 15 = SVF II, 982. 316 Calcidius ad Timaeum cap. 160 u. 161 = SVF II, 943.

6. Die Ursachen, das Fatum, die Vorsehung problematisierte menschliche Freiheit zu retten und ihren Begriff philosophisch zu klären.317 Von Kleanthes wissen wir, dass er zwischen göttlicher Verfügung (heimarmenē) und göttlicher Voraussicht und Vorsorge (pronoia) unterschieden wissen wollte: Der Gott sehe voraus, was immer durch das Zusammenspiel von Natur und menschlichem Handeln sich ereignen wird. Der Ursprung des Schlechten gründe in der Unvernunft (anoia) des Menschen. Die Voraussicht ermögliche es dem Gott, die Wirkungen guter und schlechter Handlungen der Menschen in einen harmonischen Zusammenhang einzubinden, ohne selbst der Autor von Schlechtem zu sein.318 Chrysipps Bestimmung der menschlichen Freiheit basiert auf einer Unterscheidung des Sinnes, in dem die Griechen (und wir) in Bezug auf ein Geschehen von „notwendig“ sprechen. „Notwendig“ kann einmal „gewaltsam“, „außenbestimmt“, zum anderen „aus der eigenen Natur (oikeia physis) sich notwendig ergebend“ bedeuten. Wer nicht außenbestimmt, gezwungen, sondern auf der Basis seiner Natur, seines Charakters und des Standes seiner Einsicht „aus sich selbst heraus“ etwas erstrebt und tut, ist ein frei tätiges Wesen, auch wenn es selbst als Teil bzw. ‚Knoten‘ in einem kausalen Netz göttlicher Verfügung zu betrachten ist. Nun differieren allerdings die Quellen in ihrer Auskunft darüber, wie Chrysipp sich die besagte Unterscheidung zunutze machte. Nach der Darstellung Ciceros suchte er das Problem ‚Fatum versus Freiheit‘ durch die Unterscheidung äußerer (voraufgehender, veranlassender) und innerer (durch die Natur des jeweiligen Gegenstandes gegebener) Ursachen zu lösen.319 Äußere Einflüsse und Umstände seien nur notwendige, nicht zureichende Bedingungen menschlicher Handlungen. Cicero erklärt, dass Chrysipp das Fatum nicht mit der vollständigen Reihe der Ursachen, sondern nur mit der Reihe jener wirkenden Ursachen identifiziert, die dem handelnden Subjekt äußerlich sind und als notwendige, nicht aber als zureichende Bedingungen seines Handelns fungieren.320 Auch Plutarch hat, nicht ohne auf die innere Widersprüchlichkeit zu pochen, als mögliche Interpretation der stoischen Schicksalslehre notiert, dass sie mit der Notwendigkeit des Fatums nur die (göttliche) Anordnung der veranlassenden Ursachen meine.321 Diesem Verständnis scheinen nun allerdings all jene Quellen zu widersprechen, die von der Lückenlosigkeit und Notwendigkeit des Fatums reden und sie auf das Gesamtgeschehen ebenso wie auf jedes Einzelereignis in ihm beziehen. Nemesius verweist denn auch darauf, dass nach Chrysipps Ansicht nicht nur die äußeren Umstände, sondern auch der innere Handlungsimpuls (hormē) sich dem Schicksal verdanken.322 Nach Plutarch ebenso wie nach Aulus Gellius macht Chrysipp die Natur eines Gegenstandes ihrerseits zu 317 vgl. dazu v. a. Long 1971, 173–199; Sorabji 1980b, 250–282; Bobzien 1998a, 136–143, 173–174, 217–230, 234–329. 318 vgl. SVF I, 537 = Stobaeus Ecl. I, 1, 12 = LS 54 I; II, 932. 319 De fato 39–45; vgl. Alexander v. Aphrodisias De fato cap. 13–14; Aulus Gellius Noct. Att. VI, 2; Plutarch Stoic. rep. 1055 F – 1056 D. 320 vgl. Cicero Topica 59. 321 Stoic. rep. 1956 B = SVF II, 997 = LS 55 R. 322 De nat. hom. cap. 35 = SVF II, 991.

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III Die stoische Physik einer Gabe der Heimarmene: Der besondere Charakter eines Gegenstandes als Quelle seiner spezifischen Bewegungen könne nicht aus der gesetzlichen Verbindung von Ursache und Wirkung herausgenommen werden.323 Was Chrysipps Differenzierung der Ursachen auf jeden Fall leistet, macht Alexander von Aphrodisias deutlich: die Unterscheidung notwendiger Bewegungen eines Gegenstandes, die als gewaltsam anzusprechen sind, von notwendigen Bewegungen, die aus einem Zusammenspiel externer und dem Gegenstand immanenter Kräfte resultieren, die hauptursächlich dem Wesen des Gegenstandes entspringen und somit als charakteristische Bewegungen des Gegenstandes zu gelten haben. Was im letzteren Sinn durch einen Gegenstand geschieht, geschehe aufgrund der ihm eigenen Natur und könne sich nicht anders verhalten (ouden dynasthai allōs echein) – aber diese Notwendigkeit sei nicht gewaltsam (kat’ anankēn ou tēn ek bias).324 Neuere Interpretationsvorschläge325 nehmen die Differenz der Zeugnisse bezüglich der Chrysippschen Fatumsvorstellung ernst und argumentieren, dass Chrysipp theoretisch wohlüberlegt einen zweifachen Schicksalsbegriff verwendet habe: einen starken, wenn er die Welt aus der Totalperspektive des göttlichen Logos beschreibt,326 einen schwachen, wenn es ihm um die Partialperspektive des menschlichen Handlungssubjekts in seiner Handlungssituation geht.327 Der starke Schicksalsbegriff führe alles auf das göttliche Prinzip zurück und sehe alle Weltzustände auf die voraufgehenden Weltzustände mit kausaler Notwendigkeit folgen. Der schwache Schicksalsbegriff beschränke die Rolle des Fatums auf den Kausalzusammenhang für die äusseren Handlungsumstände des Menschen, während er die Art und Weise, wie das handelnde Subjekt mit der impuls- und handlungsbestimmenden Zustimmung (synkatathesis) zu seinen Vorstellungen agiert, in der Hand des Handelnden in seiner Handlungssituation belasse. Nach diesem schwachen Fatums-Begriff seien „zu keinem Zeitpunkt . . . menschliche Entscheidungen zu reduzieren auf kausale Faktoren, die zu diesem Zeitpunkt außerhalb des Handelnden liegen“.328 Und der Mensch ist ein frei handelnder aufgrund seiner Vernunft, die ihn befähigt, seine Bestrebungen und die in ihnen wirksamen Vorstellungen und Gedanken zu überdenken, zu prüfen, zu sistieren, zu bestätigen oder zu korrigieren und entsprechend zu wählen.329 Der Mensch ist in diesem Sinn (im Unterschied zum Tier) seines Handelns mächtig (autexousios) und selbstbestimmt (autonomos), wie Epiktet es dann ganz in der Tradition Chrysipps formuliert.330 Nun bleibt allerdings auch nach die323 vgl. Aulus Gellius Noct. Att. VII, 2, 7 = SVF II, 1000; Plutarch Stoic. rep. 1049 F – 1050 D. 324 De fato cap. 13 = SVF II, 979. 325 Jedan 2004, 141–164, in Weiterführung von Gedanken von Hankinson 1999, 513 – 541; ähnlich D. Frede, 2003, 179–205, 198 ff. 326 vgl. etwa Aulus Gellius Noct. att. VII, 2. 3; Plutarch Stoic. rep. 1055 F – 1056 D; Stobaeus Ecl. I, 79, 1–12: Alexander v. Aphrodisias, De fato cap. 22, 191. 32–192. 8. 327 vgl. Cicero De fato, 39–45; Topica 59; Plutarch Stoic. rep. 1055 F – 1056 D: PseudoPlutarch De fato 574 D. 328 Jedan 2004, 157. 329 vgl. Epiktet Diss. I, 1. 330 vgl. Diss. IV, 1, 56; Graver 2003, 354 ff., Forschner 2013a, 97–118.

6. Die Ursachen, das Fatum, die Vorsehung sem Interpretationsvorschlag noch unklar, was die Wendung „außerhalb des Handelnden“ genau besagen soll. Trifft Chrysipp die Unterscheidung nur zwischen äusseren „situativen Faktoren und Faktoren innerhalb des Handelnden, etwa Charakter, Überzeugungen und Intentionen“,331 oder trifft er sie dahingehend, dass mit „äußeren Faktoren“ auch all jenes innerhalb des Handelnden (etwa vererbte oder fest eingeprägte Charakterzüge) gemeint ist, was nicht (mehr) in der Hand des Handelnden liegt? Und versteht er die Zustimmungssouveränität so, dass sie dem keineswegs indeterministisch sich entwickelnden Charakter und Informationsstand des Subjekts entsprechend entscheidet oder aber situationsbezogen auch die Möglichkeit einer offenen Wahl von Alternativen einschließt, derart, dass aus solcher Wahlfähigkeit objektiv Kontingentes in der Welt resultiert? Die Frage, ob Chrysipp und damit die Stoa in ihrer klassischen Gestalt so etwas wie einen kompatibilistischen Determinismus vertreten haben oder ob sie aus einer Totalperspektive streng deterministisch, aus einer Partialperspektive hingegen indeterministisch argumentierten und beides als miteinander vereinbar hielten, ist (nach den Vorschlägen von Hankinson und Jedan) noch nicht beantwortet. Die Welt im Ganzen wie in allen Einzelheiten ist nach stoischer Vorstellung vernünftig und gesetzlich voranschreitende Entfaltung der alles durchdringenden und providentiell gestaltenden göttlichen Kraft; der Mensch ist nur ein integraler Bestandteil dieses göttlichen Geschehens. Der Mensch ist andererseits ein Teil, in dem das göttliche Pneuma sich auf vorzügliche, auf ‚reine‘ Weise konkretisiert, der deshalb als bewusstes und selbstständiges Subjekt sich zum Ganzen in ein Verhältnis zu setzen vermag. Das Problem von Freiheit und Determiniertheit ist so gesehen das Problem der Verhältnisbestimmung der einen göttlichen Kraft zu den vielen Dingen und Ereignissen und der Dinge und Ereignisse zueinander, in die hinein sich die göttliche Kraft in vernünftig und gesetzlich geordneten Schritten ausdifferenziert und konkretisiert. Und das Entscheidende in diesem Zusammenhang ist die Frage nach Status, Rolle und Möglichkeit, die der einzelne vernunftbegabte Mensch sowohl in Bezug zu anderem auf ihn einwirkendem Einzelnem als auch in Beziehung zur einen göttlichen Substanz besitzt. Wir sind, so Chrysipp, frei in unserer Zustimmung zu den Vorstellungen, die unser Handeln auslösen, und somit für unser Handeln verantwortlich. Doch die Zustimmung erfolgt über unseren Charakter, unsere Intentionen und unseren (unter Umständen auch über Mantik vermittelten) Informationsstand, die ihrerseits in einem kausal-teleologischen Generierungsnetz verankert sind. So gesehen ist, was von uns stammt (to ex hēmôn), zugleich mitdeterminiert (synkatheimarthai).332 Was von uns stammt und zu verantworten ist, ist zugleich notwendig-dienend-mitwirkender Bestandteil der Realisierung des von göttlicher Vernunft geplanten und gelenkten Schicksals; der Mensch ist nicht mehr und nicht weniger als ein (verantwortlicher) fati minister.333 331 Jedan 2004,161. 332 vgl. SVF II, 998 = Eusep. Praep. ev. VI, 8; Gourinat 2005c, 249. 333 vgl. Seneca Quaest. nat. II, 38, 1–4; Alexander v. Aphrodisias De fato 31–32; Cicero De fato 30 = SVF II, 956; Gourinat 2005c, 267–273.

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III Die stoische Physik Wie immer die Logik dieser Verhältnisbestimmung ausgesehen haben mag: Chrysipp hat sich jedenfalls mit Entschiedenheit dagegen verwahrt, die Rolle des Menschen im Gesamtgeschehen lediglich als die eines fremdbestimmten (möglicherweise mit Freiheitsillusion behafteten und funktionierenden) Bindeglieds in der kausalen Verkettung der Ereignisse zu sehen. Zur Charakterisierung der Stellung des Menschen im Kosmos spricht Chrysipp von einer aus Göttern und Menschen bestehenden politischen Gemeinschaft mit all den Dingen, die ihretwegen geworden sind,334 einer Gemeinschaft, in der die Menschen den Göttern untergeordnet (hypotetagme­ noi), aber gleichwohl selbstständige Bürger und Partner (politai) sind.335 Gewiss gibt es Zeugnisse, die die stoische Form der Selbstständigkeit des Menschen auf die Alternative des Zustimmens oder Sichverweigerns verkürzen, wobei Letzteres nichts an dem vom göttlichen Fatum beschlossenen Gang der äußeren Ereignisse auf einen Zielpunkt hin zu ändern vermag. Bekannt sind die diesbezüglichen Formulierungen von Kleanthes und Seneca: „Ich will folgen und nicht wanken. Wenn ich aber, schlecht geworden, nicht will, werde ich gleichwohl folgen (müssen)“336 bzw. „den Wollenden führt das Schicksal, den Nichtwollenden zieht es“.337 Ein drastisches Bild, das Zenon und Chrysipp zugeschrieben wird und für die Handlungssituation des Menschen stehen soll, veranschaulicht den Sinn des hier Gesagten: Wie ein Hund, der an einen Wagen gebunden ist, das in seiner Macht Stehende mit dem Unausweichlichen versöhnt, wenn er freiwillig mitläuft, so wird er umgekehrt ganz und gar gezwungen, wenn er sich weigert.338 Nun ist gerade im Blick auf dieses sprechende Bild die Frage, ob die von der Stoa dem Menschen zugesprochene Freiheit nur jene Freiheit der inneren Einstellung ist, sich dem Zwang des äußeren Geschehens willentlich zu fügen oder zu verweigern. Oder sieht die Stoa im Rahmen des dem Menschen als unveränderbar vorgegebenen Seins und bestimmter vom Schicksal verfügter äußerer Lebensdaten Spielräume des Handelns, in denen sich die „Freiheit der Innerlichkeit“ in alternativen (und damit kontingenten?) Handlungswirkungen in der Welt manifestieren kann?339 Das Bild vom Hund, der an einen Wagen gebunden ist, enthält jedenfalls eindeutige Hinweise, die auf eine Behauptung (und Wertung) eines möglichen Unterschieds der „welthaften“ Handlungen und nicht nur des inneren Zustands des Vernünftigen und Unvernünftigen schließen lassen.340 Gewiss, das Ende der Ereignisabfolge ist vom Schicksal bestimmt und vom Menschen nicht beeinflussbar. Der Lenker des Wagens allein verfügt, wohin die Reise geht. Gleichwohl ist die Form des Bewegungsverlaufs des willig sich Fügenden objektiv anders als diejenige des mit Gewalt Gezogenen. Der eine vermag sich seiner Natur gemäß zu bewegen, der andere wird zum mitgeschleiften Ding, 334 335 336 337 338 339

SVF II 527 = Stobaeus Ecl. I, 184, 8. SVF II, 528 = Arius bei Eusebius praep. evang. XV, 15. als Kleanthes-Zitat bei Epiktet Encheiridion 53 = SVF I, 527. Seneca Ep. 107, 10: ducunt volentem fata, nolentem trahunt. SVF II, 975 = Hippolytos Refutatio omnium haeresium 121. vgl. dazu Bobzien 1998a, 55 f., 217 ff., 351 ff. im ersten Sinn; dagegen Jedan 2004, 145, 154. 340 vgl. hierzu Long 1971,192 f.

6. Die Ursachen, das Fatum, die Vorsehung wobei sein Belebtsein und die Art seines Bewusstseins vollkommen gleichgültig wird. Der eine kann ferner, um im Bild zu bleiben, den Bewegungsspielraum nutzen und ausschreiten, den die Länge der Leine seiner Willkür bietet; der andere begibt sich dieses Spielraums und wird völlig gezwungen (pantōs anankasthēsetai). Wenn die Stoa aus der Perspektive des handelnden Menschen vom Fatum als alles beherrschender Macht spricht, so sind mit dem „Alles“ nur die unverfügbaren Momente der dem Menschen vorgegebenen Wirklichkeit seiner eigenen Natur und Geschichte wie der des Gesamtgeschehens gemeint, die es in Rechnung zu stellen und denen es sich zu fügen gilt. Der Hund des Gleichnisses steht nicht nur vor der Alternative entgegengesetzter Stellungen seines Gemüts, sondern auch vor jener verschiedener ‚welthafter‘ Bewegungsformen, seiner spezifischen Natur gemäßer oder solcher, die für ihn gewaltsam sind und ihn zum bloßen Objekt des verfügenden Fatums machen. Dem Hund wird in dem Gleichnis also zweifellos ein Spielraum „freien“ Verhaltens zugesprochen, den er ergreifen, oder dessen er sich begeben kann. Doch das Gleichnis enthält keinen Hinweis darauf, ob das Ergreifen bzw. Nichtergreifen der Möglichkeit seinerseits (beim Menschen) deterministisch oder indeterministisch zu verstehen ist. Dass die Stoa im Rahmen der menschlichen Handlungsperspektive einen Indeterminismus zugestanden hätte, scheint aber im Blick auf die Quellen insgesamt doch ganz unwahrscheinlich zu sein. Vielmehr spricht alles dafür, dass sie den Menschen grundsätzlich kraft seiner Vernunft für selbstbestimmt hielt, und dies in einem strikten kausalen Kontinuum allen Geschehens.341 Der Spielraum naturgemäßer Bewegungen kann in bestimmten Situationen für den Menschen auf ein Minimum reduziert werden.342 Ja, es kann Situationen geben, in denen so gut wie kein Handlungsspielraum (mehr) gegeben ist. Und sicher erwartet den Menschen diese Situation beim Eintritt seines Todes. Im Blick auf diese Situationen bleibt dem vernünftigen Menschen nur die willentliche Ergebung in das Geschick und die Freiheit des Bewusstseins, sich mit der Vernunft des Ganzen zu identifizieren. Es sind diese Situationen, für die der (pantheistische) Gedanke des einen vernünftigen und gesetzlich geordneten Ganzen formuliert und die Einnahme der Totalitätsperspektive gedacht sind. Die Totalitätsperspektive muss allerdings das gesamte Leben des Menschen im Blick auf seine Endlichkeit und seinen Tod begleiten und durchdringen, damit der Mensch dieses sein Leben seiner spezifischen Natur gemäß im Rahmen des Ganzen besonnen und vernünftig zu führen vermag. Zugleich aber macht eine Theorie, die das Weltgeschehen im Ganzen wie in allen Einzelheiten zum providentiell-gesetzlichen Wirkungs- und Entfaltungsprozess einer einzigen göttlichen Substanz macht, für das Selbstverständnis des Menschen den Begriff sittlicher Freiheit und Verantwortung unausweichlich zum Problem. Die stoische Philosophie kann uns darüber belehren, dass der Determinismus ein wie auch immer motiviertes metaphysisches Konstrukt ist, das die lebensweltlich selbstverständliche Freiheit des Menschen erst zum Problem macht. Die Stoa hat, wie gezeigt, dieses Problem über die Differenzierung ihrer Ursachenlehre und wohl 341 vgl. Graver 2003, 355. 342 vgl. Plutarch Stoic. rep. 1056 D = SVF II, 935.

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III Die stoische Physik auch über einen zweifachen Fatum-Begriff zu lösen versucht. Diese Problemlösung scheint in die Richtung einer Theorie zu weisen, die wir heute mit dem Titel „weicher, kompatibilistischer Determinismus“ bezeichnen.343 Sie sichert jedenfalls Handlungsfreiheit im Sinne des ungehinderten bzw. ungezwungenen Verhaltens, nicht aber Willensfreiheit im Sinne einer offenen Wahl zwischen verschiedenen Handlungsmöglichkeiten.344 Den philosophischen Gegnern war diese Lösung nicht einleuchtend; die stoische Position erschien ihnen, wie an Plutarchs und Alexander von Aphrodisias’ Ausführungen überdeutlich wird, schlicht abwegig und widersprüchlich. Dass der Mensch nicht nur Herr seines Denkens und Gestalter seines Begehrens ist, sondern zumeist oder zumindest gelegentlich auch anders handeln kann als er tatsächlich handelt, schien ihnen Voraussetzung der Praxis von moralischem Lob und Tadel und des moralischen und rechtlichen Zur-VerantwortungZiehens zu sein.345 Und sie interpretierten den Sinn des im moralischen Lob und Tadel implizierten Satzes „du hättest auch anders handeln können als du tatsächlich gehandelt hast“ im Sinne einer (wo auch immer situierten) Indeterminiertheit des Subjekts, der grundsätzlichen Fähigkeit zu Handlungsalternativen und damit der objektiven Kontingenz seiner Handlungen in der Welt. Dass den Gegnern der stoischen Philosophie ihre Position widersprüchlich erschien, ist ihnen nicht zu verdenken. Erscheint doch auch heute noch vielen eine Position schwer verständlich, die zwar zugesteht, dass der Mensch frei ist, wenn er Argumenten zugänglich ist und sein Verhalten an Gründen auszurichten vermag, die aber nicht zugesteht, dass, um frei zu sein, auch seine Entscheidungen und die Entwicklung seines Charakters, seines Informations- und seines Bildungsstandes, aufgrund dessen er entscheidet und handelt, ein Moment an Indeterminiertheit (durch Vorausliegendes) und Kontingenz enthalten müssen.

7. Weltzyklus, Weltverbrennung Aristoteles hielt unsere Welt(gestalt) für immerwährend.346 Den Stoikern war sie ein großes Lebewesen, das in gewaltigen zeitlichen Lebensphasen einem periodisch sich wiederholenden Entstehen und Vergehen unterliegt. Für die Erklärung der Stufen der Entstehung benützten sie ihre Prinzipienlehre, die Theorie der Generierung der Elemente aus göttlichem Feuer, sowie die Rede vom göttlichen Samen (spermatikos logos) und der Zeugung im Feuchten, einem Samen, der das genaue Programm der Weltgestaltung (diakosmēsis) in sich birgt.347 Für die Erklärung des Vergehens be343 so Sorabji 1980b, 280 ff.; Bobzien 1998a, 234–313; D. Frede 2003, 179–205; anders Botros 1985, 274–304. 344 vgl. Schallenberg 2008, 298–305. 345 vgl. SVF II, 998; 1000. 346 vgl. Meteor. 352a28–32, b17–18. 347 vgl. DL VII, 135 f.; 142 = SVF I, 102 = LS 46 B; SVF I, 98 Aristocles apud Eusebium; SVF I, 497 Stobaeus Ecl. I, 17.3; SVF II, 1027 Aëtius = LS 46 A; Seneca Ep. 90, 29; Salles 2003, 266 f.; Wildberger 2006a, I, 205 ff.

7. Weltzyklus, Weltverbrennung mühten sie den Gedanken, dass die Weltseele, die mit göttlichem Feuer (mit Zeus, mit Vernunft und Vorsehung) identisch ist,348 sich von der (begrenzten) Materie des Kosmos nährt, allmählich alles aufzehrt und sich anverwandelt, bis sie ganz sie selbst und bei sich selbst ist.349 Den terminus ad quem der Weltverbrennung (ekpyrōsis), den auf sie folgenden Zustand und die Regenerierung (palingenesis) der Welt möchte Chrysipp nach dem Zeugnis Plutarchs so verstanden wissen: „Wenn die Welt durch und durch feurig (geworden) ist, ist sie direkt sowohl Seele ihrer selbst als auch leitendes Organ. Wenn sie aber, in Feuchtigkeit und die in ihr zurückgelassene Seele verwandelt, sich auf bestimmte Weise in Leib und Seele transformierte, sodass sie (nunmehr) aus ihnen besteht, dann besitzt sie eine andere Formel“.350 An anderer Stelle bemerkt Plutarch: „Chrysipp sagt, Zeus und der Kosmos gleiche einem Menschen, die Vorsehung (pro­ noia) der Seele. Sobald nun Weltverbrennung eintritt, ziehe Zeus sich, da er als einziger der Götter unvergänglich ist, in die Vorsehung zurück, worauf beide, eins geworden, in der einen Substanz des Äthers existieren“.351 Und Seneca meint zum Leben und Tun Jupiters: „In der Zeit, wenn die Welt aufgelöst ist und die Götter sich in einen (Gott) vermischt haben, wenn die Natur für eine Weile zu einem Ende gekommen ist, ruht er in sich, seinen Gedanken hingegeben“.352 Nach Epiktet353 ist Gott in dieser Phase mit der Betrachtung der Gedanken seiner Vorsehung und Weltgestaltung beschäftigt.354 Zuletzt, wenn die Welt „durch und durch feurig geworden“ und mit Zeus und der Vorsehung identisch geworden ist, gibt es nach dem Bericht Plutarchs auch kein Übel mehr, „das Ganze ist in dieser Zeit klug und weise“.355 Doch Gott, das schöpferisch tätige Prinzip356 erzeugt, „nachdem er (betrachtend) bei sich selbst war“, wieder eine neue Welt, „indem er die gesamte Substanz durch Luft in Wasser verwandelt; und wie in der Zeugung der Samen vom Feuchten umgeben wird, so behält sich auch dieser, als samenartige Formel der Welt, im Feuchten zurück, indem er sich den Stoff für die Erzeugung des Folgenden tauglich macht“.357 Nichts entsteht aus Nichts; nichts vergeht in Nichts. Dieses trivial erscheinende Prinzip galt auch der Stoa als selbstverständlich. Ja, die Welt stirbt nicht eigentlich im Prozess der Weltverbrennung. Es könnte sein, dass Kleanthes vom Sterben und Tod der Welt gesprochen hat.358 Chrysipp jedenfalls hat mit Nachdruck betont: Man solle nicht sagen, dass der Kosmos stirbt (ou rhēteon apothnēskein ton kosmon). 348 vgl. Plutarch Comm. not. 1075 A = SVF I, 536; Stoic. rep. 1077 D = SVF II, 1064. 349 vgl. SVF I, 87 Stobaeus Ecl. I, 11.5; SVF I, 88 Calcidius in Tim. c. 292; Plutarch Stoic. rep. 1052 C-D = SVF II, 604 = LS 46 E; Stoic. rep. 1053 B = SVF II, 605 = LS 46 F; Seneca Ep. 9, 16 = SVF II, 1065. 350 Stoic. rep. 1053 B = SVF II, 605 = LS 46 F. 351 Comm. not. 1077 E = SVF II, 1064. 352 Ep. 9, 16 = SVF II, 1065 = LS 46 O. 353 Diss. III, 13. 354 vgl. Long 1985, 23 f. 355 Comm. not. 1067 A = SVF II, 606 = LS 46 N. 356 SVF II, 300 = DL VII, 134. 357 DL VII, 136. 358 vgl. Salles 2009, 118–133.

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III Die stoische Physik Denn es finde beim kosmischen Lebewesen keine Trennung von ‚Leib‘ und ‚Seele‘ statt; vielmehr „wächst die Weltseele kontinuierlich, bis sie die Materie in sich aufgelöst hat“.359 Die Seele des Kosmos ‚verzehrt‘ ihren Leib, d. h. wohl: Sie hebt die in einzelne Dinge und Ereignisse gegliederten Konkretionen (aus den Elementen) wieder auf. Die in eine Vielzahl materieller Entitäten ausdifferenzierte Welt verwandelt sich zurück in reines Feuer bzw. Lichtglanz. Und diese göttlich-feurige bzw. ätherische Substanz differenziert sich wieder und erzeugt aus sich selbst erneut eine gegliederte Welt (palingenesia; apokatastasis). Die Welt als Ganze ist, ‚physikalisch‘ gesehen, ein Ergebnis der anfang- und endlosen, untrennbaren Verbindung von aktivem göttlichem Feuer und passiver Hyle und alternierender Prozesse graduierender Verdichtung und Verdünnung. Die gegenwärtige Welt ebenso wie ihre zahllosen Vorgänger und Nachfolger fungieren als Zustände zwischen den Extremen.360 Der Prozess der Weltverbrennung wird von Chrysipp denn auch als allmähliche Verwandlung der Welt in einen (sc. äußerst verdünnten) Zustand von Strahlung und Licht (augē) charakterisiert.361 Das Entstehen und Vergehen einer Weltgestalt vollzieht sich in unablässigen und gleichen Zyklen des „größten Jahres“ (megistos eniautos), d. h. der gewaltigen Zeitspanne zwischen den beiden Momenten, in denen Sonne, Mond und die fünf bekannten Planeten wieder dieselbe relative Position einnehmen.362 In der Ausgestaltung dieser Theorie der periodischen Weltverbrennung und Weltentfaltung gab es innerschulische Differenzen; ja, sie blieb als Ganze innerhalb der Stoa nicht unumstritten. Nach einem Zeugnis Philons363 hätten Boethos von Sidon und Panaitios die Lehre vom periodischen Entstehen und Vergehen zugunsten des ‚göttlicheren‘ Dogmas der Unvergänglichkeit des Kosmos aufgegeben. Und Diogenes von Babylon hätte sie als junger Mensch zwar unterschrieben, in reiferen Jahren jedoch sich des diesbezüglichen Urteils enthalten.364 Urteilsenthaltung soll auch Zenon von Tarsos geübt haben.365 Die Argumente, nach denen diese (außer Panaitios eher zweitrangigen) Stoiker das Theoriestück nicht mehr akzeptierten, sind uns nicht überliefert; nur der Gedanke, dass Unvergänglichkeit als Prädikat des Göttlichen zu gelten hat, ist bezeugt. Das ausführlichste Referat der Lehre bietet Nemesius.366 Es dürfte im Wesentlichen den von Zenon, Kleanthes und Chrysipp geprägten, für alle drei Schuloberhäupter gut bezeugten dogmatischen Inhalt wiedergeben. Dieser setzt sich aus fünf Thesen zusammen:367 (a) der These der Verbrennung der Welt, (b) der These der 359 360 361 362 363 364 365 366 367

Plutarch Stoic. rep. 1052 C-D = SVF II, 604 = LS 46 E. vgl. Long 1985, 20. SVF II, 611 = Philon De aet. mund. 90; vgl. SVF II, 622 = Dion or. 36, 55–57. vgl. SVF II, 599 Eusebius = LS 52 D; SVF II, 625 Nemesius = LS 52 C; Platon Timaios 39 d; Aristoteles Protreptikos frg. 19 Ross; Hahm 1977, 185; Mansfeld, 1979, 129–188; Furley 1999, 439. De aet. mund. 76 f. = LS 46 P. vgl. Cicero ND II, 118; zu Panaitios F 64–69 van Straaten. SVF III Zeno Tarsensis 5. SVF II, 625 De nat. hom. 38 = LS 52 C. vgl. Barnes 1978, 3 f.

7. Weltzyklus, Weltverbrennung Wiederentstehung der Welt, (c) der These der anfang- und endlosen Wiederholung der Verbrennung und Entstehung der Welt, (d) der These der Periodizität des Entstehens und Vergehens in exakt bemessener gleicher Zeit, (e) der These der Gleichheit aller Weltgestalten. Der letzte Punkt ist von besonderem Interesse. Nach ihm wiederholen sich alle Dinge und Ereignisse in allen Phasen der Weltentfaltung auf genau die gleiche, ununterscheidbare Weise (aparallaktōs). Dazu in anschaulicher Prägnanz Nemesius: „Es werden Sokrates und Platon und jeder der Menschen wieder sein mit denselben Freunden und Mitbürgern; sie werden dasselbe erleiden, demselben begegnen, dasselbe anfassen; und jede Stadt und jedes Dorf und jedes Stück Land wird in gleicher Weise wieder da sein . . . alles genau so ununterscheidbar bis ins kleinste Detail“.368 Die These der Wiederholung von allem in allen Einzelheiten impliziert den anthropologischen Aspekt, dass in den großen Weltperioden sich das Leben der einzelnen Menschen in all seinen Details ad infinitum wiederholen wird. Frühe christliche Autoren (Tatian, Clemens, Hippolytus) sahen in der stoischen Ekpyrosislehre denn auch eine willkommene, wenn auch verzerrte und irrige Version ihrer eigenen eschatologischen Botschaft von der (Reinigung der Seelen und der) leiblichen Wiederauferstehung enthalten.369 Die Lehre erscheint, wenn nicht bizarr, so doch einigermaßen befremdlich. Die Stoa entnimmt die einzelnen Motive der philosophischen Tradition, von Aristoteles, von Platon, von Heraklit, von Empedokles und dem Pythagoreismus.370 Doch ihr Anspruch ist, die Theorie mit logischer Notwendigkeit zu entwickeln.371 Dass die (entfaltete) Welt zugrundegeht, nimmt sie deshalb an, „weil sie nach demselben Prinzip wie die durch Wahrnehmung erfassten Dinge generiert ist, und weil, wo die Teile vergänglich sind, dort auch das Ganze vergänglich ist. Nun sind die Teile der Welt vergänglich, da sie sich ineinander verwandeln. Deshalb ist die Welt vergänglich“.372 Der zweite Teil des Arguments ist alles andere als zwingend. Er setzt zu offenkundig eine Theorie (sc. der Entstehung der Elemente aus Feuer und der Verwandlung der Elemente in Feuer) voraus, die es zu beweisen gilt. Zudem folgt logisch aus dem Sachverhalt, dass die Elemente eines Ganzen vergänglich sind, nicht der Sachverhalt, dass das Ganze vergänglich ist.373 Ungleich stärkere Überzeugungskraft musste für die Stoiker die bloße Analogie zwischen erfahrbaren Lebewesen und der als großes Lebewesen gedachten Welt besitzen. Was die Art des Vergehens, die Auflösung der Welt in Feuer bzw. feurige Strahlung betrifft, so berichtet Alexander von Lykopolis vom Argument Zenons:374 „Alles, was brennt und etwas zum Verbrennen hat, wird dies vollständig verbrennen. Nun ist die Sonne Feuer und soll nicht alles verbrennen, was sie hat?“ Daraus schloss Zenon, so Alexander, „dass das 368 369 370 371 372 373 374

SVF II, 625 = LS 52 C. vgl. Mansfeld 1983a, 218–233. vgl. v. a. Hahm 1977, 185–199; Mansfeld 1979, 129–188. SVF II, 626 = Origenes Contra Celsum. DL VII, 141 = SVF II, 589 = LS 46 J. vgl. SVF I, 106 Philon De aet. mund. 143; Barnes 1978, 5. Contra Manichaeos XII, 19 Brinkmann = LS 46 I.

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III Die stoische Physik ‚All‘ der Verbrennung unterliegen wird.“ Plutarch bemerkt,375 Kleanthes habe zur Verteidigung der Theorie der Weltverbrennung erklärt, dass die Sonne den Mond und die übrigen Sterne sich anverwandle und einverleibe. Und Alexander von Aphrodisias meint,376 die Stoiker hätten im Schluss vom Kleinen auf das Große beobachtbare Phänomene der Austrocknung und ‚Verwüstung‘ von Landstrichen zu der These benützt, dass das Ganze verbrennen werde. Wir besitzen keinerlei Belege dafür, wie die Stoiker für all die übrigen Thesen der Theorie argumentiert haben. Jonathan Barnes hat versucht,377 im Blick auf das kosmologische System, die Argumente zu rekonstruieren. (a) Der (materiell gedachte) Kosmos ist begrenzt.378 Die Ereignisse sind nichts anderes als Anordnungen bzw. Ausprägungen der Materie des Kosmos. Daraus dürften die Stoiker (illegitimerweise) auf eine zahlenmäßige Begrenztheit der Typen der Ereignisse geschlossen haben, die das Weltgeschehen konstituieren. (b) Die Stoa vertrat einen strikten Determinismus: Jedes Ereignis ist durch eine Ursache determiniert, die sich unter den voraufgehenden Ereignissen findet. Die Welt ist durch den göttlichen logos gestaltet, ist vernunftdurchdrungen. Dies prägt sich (im Sinne einer vollständigen Ordnung) in einer ununterbrochenen Verkettung von Ursachen (und Wirkungen) aus, ohne Anfang und Ende. Jedes Ereignis ist bruchlos in diese Verkettung eingebunden.379 (c) Jede bestimmte Ursache zeitigt die gleiche Wirkung.380 Aus diesen Prämissen lässt sich, wie Barnes überzeugend dartut, die Theorie der ewigen ‚Wiederkehr des Gleichen‘ beweisen.381 Was die Pointe dieser Theorie betrifft, so sind die Zeugnisse nicht eindeutig. Der oben herangezogene Bericht des Nemesius referiert die These, dass die Welt sich bis in alle Einzelheiten auf genau die gleiche Weise periodisch wiederholt. Dasselbe bestätigen Eusebius,382 Tatian383 und Origenes.384 Nun findet sich bei Alexander von Aphrodisias385 eine unwesentlich erscheinende Modifikation dahingehend, dass zwar hinsichtlich sämtlicher Individuen sich alles wiederholt, dies allerdings mit geringfügig-akzidentellen Abweichungen (wie etwa einem Flecken im Gesicht), die ihre Identität nicht berührt. Für die Identitätsthese verweist Alexander auf Chrysipp, für die Einschränkung steht bei ihm ein anonymes „sie sagen (legousin)“. Origenes meint,386 diejenigen unter den Stoikern, die sich der Lehre schämten, hätten eine geringfügige Abweichung (oliga kai sphodra bracheîa parallagē) zwischen den Dingen der einen und der anderen Periode behauptet. Dabei scheint Origenes das 375 376 377 378 379 380 381 382 383 384 385 386

Comm. not. 1075 D = SVF I, 510 = LS 46 L. In Aristot. meteor. 90 a = SVF II, 594. 1978, 5–7. SVF II, 534; 535; 539; 543 u. ö. SVF II, 917; 918; 995 u. ö. vgl. SVF II, 982; 991 u. ö. vgl. dazu auch Salles 2003, 253–272. LS D 52 = SVF II, 599. SVF I, 109. SVF II, 628. In Aristot. Anal. prior = SVF II, 624 = LS 52 F. Contra Celsum = SVF II, 626 = LS 52 G.

7. Weltzyklus, Weltverbrennung ‚orthodoxe‘ Dogma hier so zu verstehen, dass es (er weiß nicht wie) die Ununterscheidbarkeit, doch nicht die numerische Identität der wiederkehrenden Dinge und Ereignisse lehrt. Ein Hinweis bei Simplicius bestätigt, dass die Frage der numerischen Identität in der innerstoischen Diskussion der Ekpyrosis- und Palingenesislehre eine Rolle gespielt hat:387 „Denn wenn jene (sc. die Stoiker) sagen, dass dasselbe Ich in der erneuten Welt wieder auftrete, suchen sie mit Recht eine Antwort auf die Frage, ob Ich jetzt und Ich dann der Zahl nach einer bin, da ich der Substanz nach (tê ousia) derselbe bin, oder ob ich durch die Einreihung in die eine und die andere Weltschöpfung zerteilt werde (diaphoroûmai).“ Nun fordert der stoische Determinismus die strikte Gleichheit der sich wiederholenden Ereignisse und die stoische Ontologie die numerische Identität von hinsichtlich all seiner Bestimmtheiten Unterschiedslosem. Die Theorie einer ‚ewigen Wiederkehr des Gleichen‘ impliziert demnach, dass ein und derselbe Sokrates sein Leben in jeder Weltperiode in genau der gleichen Phase auf genau die gleiche Weise lebt und erlebt.388 Nemesius dürfte die Position Chrysipps korrekt wiedergeben.389 Was die Frage der Identität der Person betrifft, so besagt dies jedenfalls, dass die Stoa, genauer, ihre Vertreter der Ekpyrosislehre, sie einzig an die Identität der Seele, nicht aber (auch) an die Kontinuität des Bewusstseins und an den Gesichtspunkt raum-zeitlicher Kontinuität des Individuums gebunden hätten. Denn die Seele des Menschen entsteht und vergeht. Sie entsteht, wenn die vegetative physis des Embryos bei der Geburt durch die kühlende und härtende Luft zur Seele (psychē) sich wandelt.390 Und „sie sagen, dass die Seele dem Entstehen und Vergehen unterliegt. Nicht sogleich nach der Trennung vom Leib freilich gehe sie zugrunde, sondern sie überdauere eine gewisse Zeit für sich, die Seele der Tugendhaften bis zur Auflösung des Ganzen in Feuer, die Seele der Unvernünftigen nach bestimmt bemessenen Zeiten. Mit dem Überleben der Seelen meinen sie, dass wir als Seelen, nunmehr getrennt vom Leib und in die geringere Substanz der Seele verwandelt, überdauern, die Seelen der nichtvernünftigen Lebewesen jedoch mit ihren Körpern zugrundegehen“.391 Diese differenzierte Auffassung war jene Chrysipps. Nach Zenon überdauert die Seele die Trennung vom Leib, doch nur für eine gewisse Zeit,392 während Kleanthes das Überleben jeder Seele bis zur Weltverbrennung zugesprochen haben soll.393 Die Theorie periodischer Wiederkehr exakt gleicher Welten bereitet jedenfalls dem Gedanken der Identität der Person ein dorniges Problem, das Simplicius genau benannt hat.394 Barnes glaubt nun, nach stoischem Verständnis erhalte die Zeit ihre Identität durch das Ereignis, das in ihr abläuft. Sind die Ereignisse gleich, dann fallen ihre 387 388 389 390 391 392 393 394

In Aristot. physic. = SVF II, 627 = LS 52 E. vgl. Barnes 1978, 11; Long 1985, 26. vgl. Salles 2003, 258 ff. Hierokles 4.39 f. = LS 53 B. SVF II, 809 = LS 54 W = Eusebius praep. ev. 15.20.6; vgl. SVF II, 810; Lewis 1995, 96 ff. vgl. SVF I, 146 Epiphanius. DL VII, 157 = SVF II, 811. vgl. dazu Romeyer-Dherbey 2005a, 290–292.

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III Die stoische Physik Zeiten in eins. Dies heißt aber, so Barnes, dass sich die vermeintlich unzähligen völlig gleichen sukzessiven Weltgestalten als nur eine einzige Weltgestalt herausstellen, und die Theorie der ‚Wiederkehr des Gleichen‘ in sich zusammenfällt. Einen derartigen Bruch in ihrer Theorie kann man indessen den Stoikern bei ihrer anerkannt großartigen logischen Kompetenz kaum unterstellen. Tatsächlich stellt die Zeit für sie etwas Objektives in der Welt dar, etwas einsinnig Gerichtetes, das ‚gleichzeitig‘ mit den Ereignissen in ihr besteht. Barnes scheint bei seinem paradoxen Ergebnis eine lineare Vorstellung der Zeit vorauszusetzen. Ihre Verlaufsgestalt wird jedoch von den Stoikern wohl nicht nach der Vorstellung einer einsinnig gerichteten anfang- und endlosen Linie gedacht, derart, dass jeder einzelne Zeitpunkt eindeutig vor oder nach jedem anderen Zeitpunkt zu liegen kommt, sondern als geschlossener Kreis, in dem sich die Augenblicke und Zeitabschnitte nach einsinnig gerichteter Umkreisung realiter wieder treffen und decken. Dem entspricht genau das stoische Bild der Zeitgestalt, das uns Cicero (im Kontext der WeissagungsThematik) überliefert: „Dinge, die kommen werden, treten nicht plötzlich auf, sondern die Entwicklung der Zeit ist wie das (sc. wiederholte) Entrollen eines Seils; sie bewirkt nichts Neues und entrollt es erstmalig“.395 So gesehen wird wieder sein, was einmal war und ist schon gewesen, was jetzt der Fall ist: nichts Neues unter der Sonne. Die Theorie der ekpyrōsis hat gewichtige theologische Aspekte. Jaap Mansfeld bringt sie mit der generellen Frage der Theodizee in Verbindung:396 Wie lässt sich ein so harter Sachverhalt wie die (periodische) Destruktion von Himmel und Erde und aller in ihnen befindlichen Wesen durch die verzehrende Kraft des göttlichen Feuers mit dem Begriff eines alles gestaltenden und lenkenden vernünftigen, guten und wohlwollenden Gottes vereinbaren? Die Frage verschärft ihr Gewicht, wenn man bedenkt, dass Platon im Timaios zwar den Untergang der Welt für möglich hält, sie aber faktisch für unvergänglich erklärt, weil ihr göttlicher Former gut ist und sie deshalb niemals vernichten wird,397 und Platons Timaios ganz offensichtlich als eine entscheidende Vorlage für die Entwicklung der stoischen Physik fungiert hat.398 Die Antwort, so Mansfeld, sei darin zu sehen, dass der Prozess der Auflösung des Kosmos in Feuer bzw. Äther und Strahlenglanz keineswegs in Begriffen von Destruktion und Tod, sondern als ‚eine Form finaler Apotheose‘ zu verstehen ist,399 als Transformation des ausdifferenzierten, und zugegebenermaßen auch mit Übeln durchsetzten Kosmos in einen Zustand homogener Göttlichkeit und vollkommener Vernunft der Weltsubstanz, die (als augē) ganz Gott ist und in der Gott ganz bei sich ist. Nach der Darstellung des christlichen Presbyters Hippolytus haben die Stoiker die ekpyrōsis denn auch als einen Prozess der Reinigung des Kosmos (katharsis) verstanden.400 Nun mag man beim Ziel der ekpyrōsis, die von Chrysipp als völliges 395 396 397 398 399 400

De divin. I 56, 127 = SVF II, 944; vgl. Long 1985, 29; LS I, 312 f. 1979, 136. Timaios 32c, 38b, 41a-b, 43d. vgl. Sedley 2002 41–83. 1979, 174; 180. SVF II, 598; ähnlich bereits Clemens Strom. V,1 = SVF II, 630.

7. Weltzyklus, Weltverbrennung Einswerden von Zeus und Pronoia beschrieben wird,401 weniger an christlich verstandene Reinigung als an den Höhepunkt eines Hieros Gamos denken.402 Es ist dies jedenfalls, so Mansfeld, der bestmögliche Zustand des Ganzen der Wirklichkeit. Nicht die ekpyrōsis, vielmehr die palingenesis bedürfe der Rechtfertigung. Der Zustand, in dem das göttliche Feuer verlöscht und die Substanz mittels Dampf bzw. Luft in Wasser verwandelt, wobei es selbst, „wie der Samen in der Samenflüssigkeit“ als spermatikos logos in der feuchten Masse übrig bleibt,403 sei gewissermaßen der ontologische Tiefstand des kosmischen Zyklus.404 Für eine Begründung bzw. ‚Rechtfertigung‘ des Übergangs (oder gar Abfalls?) Gottes vom höchsten in den vermeintlich tiefsten Zustand fehlen freilich Belege. Er ist, wie Mansfeld meint, in stoischer Sicht als physikalischer Prozess genauso unvermeidlich wie der Prozess der ekpyrōsis, da der Gott der Stoa ein körperlich gedachter Gott und als solcher den Gesetzen der Physik (und Biologie) nicht enthoben sei.405 Seneca betont in verschiedenen Zusammenhängen, dass Gott in seinem Wirken durch die ihm vorgegebene ‚Materie‘ Beschränkungen unterliegt.406 Tatsächlich wird der Wechsel von ekpyrōsis und palingenesis allenthalben in ‚erklärender‘ physikalisch-biologischer Sprache beschrieben. Für Mansfelds wertende Auszeichnung des Zustands zwischen den Weltgestalten spricht, dass in ihm, wie es heisst, „keinerlei Übel zurückbleibt, vielmehr das Ganze in dieser Phase klug und weise ist“.407 Allerdings würde durch sie auf die Ausdifferenzierung der homogenen, alles in sich fassenden göttlichen Substanz in immer gleiche Welten und auf Gott als schöpferisch gestaltendes Feuer (pŷr technikon) ein merklicher Schatten fallen, der, jedenfalls in den uns überkommenen Zeugnissen, nirgendwo als solcher thematisiert wird. Vielmehr wird die prozessuale Ausdifferenzierung der Welt, als Werk Gottes, der Vollkommenheit Gottes gemäß, als durchaus vollkommen gepriesen.408 Der Gott ist in allem, was er tut und erwirkt, völlig vernünftig; von einer Entäußerung Gottes in einen schlechteren Zustand ist nirgendwo die Rede. Die stoische Teleologie scheint vielmehr so zu verstehen, dass die Welt in jedem ihrer Zustände und in jeder ihrer Phasen vollkommen ist, und dies, obgleich es in ihrer entfalteten, ausdifferenzierten Form törichte, unglückliche Menschen gibt, die sich ihr Unglück selbst bereiten.

401 402 403 404 405 406 407 408

SVF II, 1064 = Plutarch De comm. not. 1077 E. Mansfeld 1979, 180. vgl. DL VII, 135 f. = SVF I, 102. 1979, 162. 1979, 161. vgl. Wildberger 2006a, I, 51 f. Plutarch Comm. not. 1067 A = SVF II, 606 = LS 46 N. SVF I, 100 = SE AM IX, 107; SVF I, 111 = Cicero ND II. 21; vgl. Cicero ND II, 18; II, 86 f.; vgl Wildberger 2006a, II, 555 f. Fn. 310, 313; 570 f. Fn. 354.

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8. Die Theologie Theologie ist, wörtlich verstanden, der Versuch, den Gott, die Götter, das Göttliche und die Beziehung des Göttlichen zur Welt und zum Menschen begrifflich zu fassen und rational zu reflektieren. Sie ist seit ihrem Beginn elementarer Bestandteil philosophischen Denkens. Zu gelebter Religion und Religiosität steht sie in eigenartigem Verhältnis und unvermeidlicher Spannung. Sie setzt sie als das voraus, was sie gedanklich zu durchdringen, zu erklären und zu verstehen versucht. Sie wird als Unternehmen von Verstand und Vernunft zur korrektiven Kritik und findet ihre unüberschreitbare Grenze an dem, was in Religion und Religiosität seinem Wesen nach nichtrational oder irrational ist. Die stoische Theologie fügt sich in eine breite Tradition von ‚Selbstverständlichkeiten‘ und Fragen, die durch die Vorsokratik, durch Platon und Aristoteles sowie durch die zeitgenössischen Konkurrenten des Epikureismus und der Skepsis vorgeprägt sind. Sie betreffen Fragen der Existenz oder Nichtexistenz des Gottes bzw. der Götter, Fragen nach ihrer Natur bzw. nach den göttlichen Eigenschaften, Probleme der Erkenntnis und des Wissens von ihnen, und Fragen ihres Verhältnisses zur Welt und zum Menschen. Der agnostische Sophist Protagoras hatte das gesamte Unterfangen philosophischer Theologie herausgefordert: „Was die Götter betrifft, so vermag ich nicht zu wissen, sei es dies, dass sie sind oder nicht sind, sei es dies, wie beschaffen sie nach Form und Charakter (idea) sind; denn vielfältig ist, was (uns) zu wissen hindert: die Unzugänglichkeit (hē t’ adēlotēs) (sc. der Sachverhalte) und die Kürze des menschlichen Lebens“.409 Platon hält, jedenfalls um der Sittlichkeit der politischen Gemeinschaft willen, dagegen. Er meint, vernünftige politische Gesetzgebung und entsprechenden Gesetzesgehorsam durch einen soliden Gottesglauben und die Widerlegung dreier Thesen stützen zu müssen: (a) dass es keine Götter gebe, (b) dass, wenn es sie gebe, sie sich nicht um die Menschen kümmern, (c) dass, wenn es sie gebe und sie sich um die Menschen kümmern, sie durch Gebet und Opfer beeinflusst, umgestimmt, versöhnt werden können.410 Die Stoa folgt in vielem Platon. So ist sie sich mit Platon einig, dass Sittlichkeit und Religiosität zusammengehören. Sie stimmt Platon auch darin zu, dass die krausen und unappetitlichen Mythen der Polisreligion zum Unglauben und Aberglauben Anlass geben411 und der allegorischen Interpretation und moralischen Revision bedürfen.412 Ihre Theologie ist, bezogen auf den poetischen Mythos und die städtische Kultpraxis wie diejenige Platons ausgesprochen revisionär. Doch während Platon über das Meiste der vorhandenen religiösen Dichtkunst, insbesondere über das, was sie über das Leben der Götter verkündete, sein Ana409 DL IX, 51. 410 Nomoi 885 b; 888 c; vgl. Mansfeld 1999b, 454. Die Stoa folgt in manchem Platon; vgl. Sedley 2002, 41–83; D. Frede 2002a, 85–117; M. Frede 2005, 213–232; Ademollo 2012, 217–243. 411 vgl. Nomoi 887 d; Cicero ND II, 63–72. 412 vgl. Politeia 377 d5 – 378 d8; Cicero ND II, 63–71.

8. Die Theologie thema sprach,413 war die Stoa in allegorisierendem und moralisierendem Gestus dem Bildungsgut der griechischen Poesie durchaus interessiert, wenn auch kritisch zugetan (Zenon pflegte in Wort und Schrift die Dichter zu zitieren414). Ihre Kritik scheint (etwa bei Ariston) in eine Einteilung nach Komposition, Inhalt und pädagogischem Nutzen gute, schlechte und weder gute noch schlechte Dichtung geflossen zu sein.415 Vor allem gegen Epikur legte sie Wert auf die erzieherische Bedeutung der Beschäftigung mit Poesie.416 In ihrem philosophischen Anspruch restloser Auflösung von Nichtrationalem in Rationales geht sie dagegen weit über Platon hinaus (und trifft sich darin mit dem gleichlautenden Anspruch des epikureischen Gegners). Sucht man nach konkreteren Motiven, die die stoische Theologie von Vorgängern aufnahm und umprägte, so wird man insbesondere bei Heraklit,417 in Platons Ti­ maios, Kratylos418 und den Nomoi419 und bei Aristoteles420 fündig. In den Augen der Stoa hat die Dichtung Homers und Hesiods die ursprüngliche Gottesvorstellung der Menschen421 mit viel Unsinnigem, Absurdem und Unappetitlichem bedeckt und verunstaltet. Gleichwohl sind, so ihre Ansicht, hinter dem Schleier überkommener Mythen treffende Einsichten erheblichen (naturphilosophischen) Gewichts verborgen, die aus unverdorbenen Zeiten stammen und über etymologische und allegorische Deutung zu fassen sind.422 So weiß etwa Chrysipp die bildliche Darstellung der Fellatio Heras mit Zeus so zu deuten, dass sie als Aufnahme der Keime göttlicher Vernunft (logoi spermatikoi) durch die Materie zu verstehen sei.423 Auf ähnlich naturphilosophische Weise haben Zenon, Kleanthes und Chrysipp den Mythos von der Kastration des Uranos interpretiert.424 Die Stoa spricht in verschiedener Bedeutung von Gott. Gott kommt neben Stoff bzw. Materie als kosmologisches und kosmogonisches Prinzip des Kosmos in Ansatz; zum anderen wird der entfaltete Kosmos selbst Gott genannt; schließlich werden die Seele, der Äther, das leitende Organ, gar die Sonne der Welt als Gott bzw. Zeus bezeichnet. Dazu kommt die persönliche Gebets-Anrede für Zeus als Vater und die mythologische Rede von Göttern, die allegorisch in bestimmte Naturkräfte übersetzt werden. Die Quellenlage ist zu lückenhaft, um die verschiedenen Bedeutungen, Ebenen 413 414 415 416 417 418 419 420 421 422

vgl. v. a. Politeia II-III. vgl. DL VII, 1–35. vgl. Ioppolo 2005, 121–151. vgl. SVF I, 487; DL VII, 201; Seneca Ep. 108.7–12; dazu Blank 2011, 237–264. vgl. Long 1996a, 35–57. vgl. Ademollo 2012, 217–243. vgl. D. Frede 2002, 88–95. vgl. Long 1974, 155. vgl. dazu Seneca Ep. 90. vgl. Cicero ND II, 63; 70–71; Long 1996a, 58–84; 1997b, 198–210; Boys-Stones 2001, 28–59; Goulet 2005a, 93–119. 423 vgl. Origenes Contra Celsum IV, 48 = SVF II, 1074; DL VII, 187 = SVF II, 1071; SVF II, 1072 Clemens; SVF II, 1073 Theophilus. 424 vgl. Cicero ND II, 63–64 = SVF II, 1067; Mansfeld 1979, 181.

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III Die stoische Physik und Kontexte, in denen die Stoa von Gott, den Göttern und dem Göttlichen spricht, in ein systematisch völlig konsistentes und überzeugendes Bild einzuzeichnen. Der Versuch, die Lücken mit identitätsphilosophischen Mitteln des Deutschen Idealismus zu schließen,425 dürfte (jedenfalls aus philologisch-hermeneutischer Sicht) im Blick auf den Quellenbestand als etwas zu spekulativ erscheinen. Die Stoa identifiziert den Kosmos bzw. dessen aktives Prinzip bzw. sein leitendes Organ426 mit Gott; sie integriert Theologie damit in ihre Lehre von der Natur. Diese Integration hat faszinierende, aber auch gewagte und für manche verstörende Aspekte. Ist sie doch mit dem Anspruch verbunden, dass Gott in allem gegenwärtig und wirksam ist, in den erhabensten Dingen und Vorgängen ebenso wie in den kleinsten und niedrigsten. Alexander von Aphrodisias drückt aus, was vor allem ein Platoniker als abstoßend empfinden musste: Wenn, wie die Stoiker meinen, der Gott in allem gestaltend wirksam ist, dann ist er, absurd genug, auch der Schöpfer von Maden und Steckmücken.427 Kleanthes hat die stoische Dreigliederung der Philosophie in eine Sechsgliederung (Dialektik und Rhetorik, Ethik und Politik, Physik und Theologie) ausdifferenziert428 und der Theologie so, vielleicht in Anlehnung an Aristoteles, eine gewisse disziplinäre Eigenständigkeit eingeräumt. Zenon dagegen scheint Theologie vor allem in seinem Werk Peri toû Holou (Über das Ganze) behandelt zu haben. Doch in der Auffassung von Theologie als Teil der Physik bzw. Kosmologie dürften beide sich einig gewesen sein. Im Vordergrund der theologischen Betrachtung stehen denn auch bei allen Stoikern grundlegende kosmologische Fragen wie die der Prinzipien des Kosmos, der vernünftigen Gestalt und Anordnung der Dinge, der teleologischen Ausrichtung und Vernetzung der physischen Prozesse, Fragen nach der Stellung des Menschen im Kosmos und in göttlicher Weltverwaltung und des physisch und moralisch Schlechten im kosmischen Ordnungsgefüge. Zur stoischen Theologie gehören indessen auch epistemologische und ethische Themen, die Behandlung der Art bzw. der Formen der Erkenntnis des Göttlichen, die Klärung des Zusammenspiels von göttlicher Vorsehung, von Schicksal und menschlicher Verantwortung, die Theorie adäquater Frömmigkeit im Spannungsfeld von Philosophie und traditioneller, vom poetischen Mythos und städtischen Kult geleiteter Religiosität. Unter den großen Figuren der stoischen Philosophie scheint lediglich Panaitios sich zur Behandlung theologischer Fragen etwas distanziert und kritisch geäußert zu haben.429 Welche Art der Behandlung er dabei meinte, ist freilich unklar. Jedenfalls lehnte er die Praxis der Weissagung (divinatio) und wohl auch die Integration traditioneller mythischer Religiosität in die philosophische Theologie ab.430 Über die eminente Bedeutung der Theologie für das philosophische System als Ganzes ebenso wie für die Lebensführung war man sich einig. Nach Plutarchs Zeug425 426 427 428 429 430

vgl. etwa Dienstbeck 2015. vgl. DL VII, 139. De Mixtione p. 226. 24–29 = SVF II, 1048; vgl. Bénatouïl 2009a, 23 f. DL VII, 41. vgl. F 68 van Straaten. vgl. F 70–74 van Straaten; Algra 2003a, 154.

8. Die Theologie nis hat Chrysipp jeden Traktat über Ethik mit einem Vorwort über Zeus, über Schicksal und Providenz begonnen. Er pflegte zu sagen, dass es keinen anderen oder geeigneteren Weg zur Theorie des Guten und Schlechten oder der Tugend oder des Glücks gebe als den im Ausgang von der Universalnatur und der göttlichen Weltverwaltung.431 Dasselbe bezeugt Cicero: Um naturgemäß zu leben, müsse man von der Gesamtnatur und ihrer Vorsorge ausgehen; „denn niemand kann über Gutes und Schlechtes wahr urteilen ohne eine Kenntnis der gesamten vernünftigen Ordnung der Natur und sogar des Lebens der Götter“.432 Die Stoa übersetzt den überkommenen religiösen Mythos über Allegorese in ihre als völlig rational behauptete Naturphilosophie und Ethik. Andererseits versteht sie es gerade damit, ihre rationale Kosmologie und Ethik theologisch zu stützen und zu färben433 und, wie der Zeushymnus des Kleanthes eindrucksvoll belegt, sie mit religiöser Einstellung und entprechendem poetischen Ausdruck zu verbinden.

8.1 Die Gottesbeweise Skepsis und skeptischer Agnostizismus, ja auch förmlicher Atheismus (eines Prodikos von Keos, Diagoras von Melos und Theodoros von Kyrene)434 provozieren das philosophische Bemühen um den Aufweis der Existenz und Klärung der Beschaffenheit des Göttlichen.435 Doch auch die Verfälschung natürlicher Vorbegriffe von Gott und dem Göttlichen durch Poesie und aktuelle Kultpraxis verlangen nach kritischer Analyse und rationaler Rekonstruktion. Man war der Überzeugung, dass im Ausgang von ‚naturgemäßen‘ Ursprüngen im Verlauf der zivilisatorischen Entwicklung eine Art geistig-moralischer Korruption stattgefunden hat, die es durch Philosophie zu korrigieren gilt.436 Während Platon für seine Darlegung der Existenz Gottes nur eine gewisse Plausibilität (pithanotēs tis)437 beansprucht, behauptet die Stoa, Existenz und Eigenschaften des Gottes bzw. einer Pluralität von Göttern auf logisch stringente Weise darzutun.438 Was wir von ihren Beweisen wissen, verdanken wir vor allem Buch II von Ciceros De natura deorum und Sextus Empiricus’ Buch I Pros physikous (= Adversus Mathematicos IX). Dabei ist zwischen Beweisen für die Existenz der überkommenen 431 432 433 434 435

Stoic. rep. 1035 B-D. De fin. III, 73. vgl. Mansfeld 1979, 183. vgl. Winiarczyk 1984 und 1992. zur Skepsis und ihren Argumenten auf dem Gebiet der Theologie vgl. Burnyeat 1982a, 315–338; Schofield (ed.) 1983a; Long 1990, 279–291. 436 vgl. SE AM IX, 27 f.; Schofield 1980a, 305; Algra 2009, 229; 236. 437 Nomoi 887 b. 438 Zu den stoischen Gottesbeweisen vgl. in neuerer Zeit. v. a. P. Boyancé 1962, 45–71; Dragona-Monachou 1976; Burnyeat 1982a, 315–338; Schofield 1983b, 31–58; Long 1990, 279–291; Brunschwig 1994a, 170–189; Mansfeld 1999b, 452–478; D. Frede and A. Laks (eds.) 2002, darin v. a. Sedley, 41–85; Algra 2003a, 153–178; Sedley 2005b, 461–487; Gelinas 2006, 49–73; Meijer 2007; Powers 2012.

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III Die stoische Physik Götter und solchen für die Existenz des einen kosmischen Gottes zu unterscheiden. Allerdings hängen beide Beweistypen der Sache nach insofern zusammen, als die traditionellen Götter von der Stoa zwar als eigene (Zeus deutlich nachgeordnete) personale Entitäten angesprochen und verehrt, zugleich aber (auf zum Teil etwas krude etymologische Weise) zu Kräften, Funktionen bzw. Manifestationen und herausgehobenen ‚Expressionen‘ des einen kosmischen Gottes ‚naturalisiert‘ wurden. Zu unterscheiden ist ferner zwischen Argumenten für die Existenz Gottes und Argumenten für die Identifikation von Gottes wesentlicher Natur mit der Welt.439 Adressaten ihrer Beweise sind nicht nur Ungläubige und Andersgläubige, sondern auch Gegner, die die Stoa selbst des Unglaubens bezichtigten. Für die Stoiker waren die Götter von körperlicher Natur. Durch ihre naturalisierende Allegorisierung der traditionellen Götter zu Naturkräften bzw. Naturobjekten gerieten sie, wie schon ihre vorsokratischen Vorgänger, in den Verdacht, ihre durch kultische Verehrung beglaubigte Existenz im Grunde aufzulösen. So dienten die Beweise wohl auch dazu, sich gegen diesen Vorwurf abzusichern.440 Wichtig war ihnen die Unterscheidung von Aberglaube und „wahrer“ Religion. Der Aberglaube bestand nach der Diagnose von Zenon, Kleanthes und Chrysipp in der Projektion von Menschlichem, ja Allzumenschlichem auf das Göttliche,441 die „wahre“ Religion in der Verehrung der Göttlichkeit des Kosmos in seinen verschiedenen (mythologisch zum Teil verfremdeten) Kräften und Erscheinungen: „Doch auch wenn man diese Götterfabeln verwirft und zurückweist, wird man gleichwohl den Gott, der sich durch die Natur jeder Sache erstreckt, Ceres durch die Erden, Neptun durch die Meere, andere durch anderes, erkennen können, wer und wie beschaffen sie sind und mit welchem Namen man sie üblicherweise bezeichnet hat. Diese müssen wir als Götter pfleglich ehren. Die Verehrung der Götter ist die beste, will sagen die reinste, heiligste und pietätvollste, wenn wir sie stets mit reinem, integrem, unverdorbenem Herzen und ebensolcher Stimme verehren“.442 Echte Religiosität hat mit Erkenntnis und der Qualität des Charakters zu tun; wahre Frömmigkeit bestimmte die Stoa als „wissendes Sichverstehen auf die Verehrung der Götter (epistēmē theôn therapeias)“.443 Worauf die Argumente im lehrhaften Ergebnis zielten, macht ein komprimierter doxographischer Passus bei Diogenes Laertius deutlich: „Gott sei ein Lebewesen, unsterblich, sprachfähig bzw. vernünftig, vollendet im Glück, allem Schlechten gegenüber unduldsam, vorsorglich für die Welt und die Dinge in ihr, allerdings nicht von Menschengestalt. Er sei der Schöpfer des Ganzen und gleichsam der Vater von allem, sowohl im Ganzen als auch der Teil von ihm, der alles durchdringt, der entsprechend den Kräften mit vielen Namen genannt wird: Denn Dia nennt man ihn, weil durch ihn alles besteht, Zeus (Zêna) nennt man ihn insofern, als er Grund des Lebens ist oder weil er alles Leben durchdringt. Athena heißt er, weil sein leitendes 439 440 441 442 443

vgl. Gelinas 2006, 49–73. vgl. Meijer 2007, 207. vgl. Cicero ND II, 63; 70. Cicero ND, II, 71. SE AM IX, 123 = SVF II, 1017.

8. Die Theologie Organ sich in den Äther erstreckt, Hera wegen seiner Ausdehnung in die Luft, He­ phaistos wegen seiner Erstreckung ins kunstfertig gestaltende Feuer, Poseidon wegen seiner Ausdehnung ins Feuchte, und Demeter wegen der Ausdehnung in die Erde“.444 Der Passus verdeutlicht einerseits das allegorisierende und etymologisierende Verfahren und andererseits den sowohl monotheistischen als auch polytheistischen Aspekt der stoischen Theologie. Sie ist monotheistisch im Blick auf den Urgrund, den schöpferischen Gestalter und Lenker von allem (und den einen Kosmos); sie ist polytheistisch im Blick auf seine verschiedenen Manifestationen in den Elementen, Kräften und glänzendsten Dingen (sc. den Gestirnen) des entfalteten Kosmos. Da der Kosmos in seiner entfalteten, ausdifferenzierten Form vergeht, sind die Götter (entgegen dem Volksglauben) vergänglich. Unvergänglich ist nur Zeus, d. h. der immerseiende göttliche Grund des Ganzen.445 Und der göttliche Grund, so das übergeordnete Ziel aller Argumente der stoischen Theologie, sichert die durchdringende Rationalität der Weltordnung und ermöglicht es dem Menschen, aufgrund seiner Rationalität sich passend in das vernünftige Weltgeschehen einzufügen. Die Beweise für die Existenz eines kosmischen Gottes sind monotheistisch ausgerichtet. Sie zielen darauf, dass der Kosmos belebt, höchst rational, weise, vollkommen und so gesehen Gott ist.446 Es sind dies vor allem auf Zenon zurückgehende Argumente:447 Die Welt hat ein leitendes Organ, einen Geist, der Gott ist, der als logos spermatikos ‚demiurgisch‘ wirkt und mit den aus ihm hervorgehenden logoi spermatikoi aller Lebewesen, insbesondere denen der Menschen materiell verbunden ist. Neben Heraklit, Platons Timaios und Kratylos und Xenophons (auf Sokrates verweisender) Theologie448 dürfte nicht zuletzt auch Aristoteles’ Peri philosophias für Zenons durchaus eigenständiges Konzept Anregungen geboten haben.449 Die gesamte Struktur des Beweises für die Lebendigkeit, Rationalität und Göttlichkeit des Kosmos lässt sich anhand von Cicero ND II, 18–21 und II, 23–30 sowie SE AM IX, 102–103 und 119–120 rekonstruieren. Der erste Schritt besteht in Argumenten für die These,450 dass es eine physis (natura) ist, die den gesamten Kosmos eint und erhält,451 dass der Kosmos also ein einziger lebender Organismus ist. Die Gründe für diesen uns heute seltsam erscheinenden Gedanken sieht die Stoa zum einen darin, dass alle Teile des Kosmos unter sich harmonisch zusammenstimmen und zusammenwirken, was nicht möglich wäre, wenn sie nicht durch einen einzigen, beständigen belebenden Atem (pneûma/spiritus) zusammengehalten würden,452 zum anderen darin, dass sich in allen Dingen eine (verschieden ausgeprägte) Wärmekraft (vis caloris) findet, und dass diese Wärme eine Lebenskraft (vis vitalis) in 444 DL VII, 147; LS 54 A; SVF II, 1021; FDS 651. 445 vgl. Plutarch Comm. not. 1066 A; Pohlenz 71992, I, 96 ff.; Algra 2003a, 166; Wildberger 2006a, I, 24 ff. 446 vgl. Powers 2012. 447 vgl. Sextus AM IX, 133, 104, 110, 101; Cicero ND II, 21 f. 448 vgl. Memorabilia I, 4 ff. 449 vgl. Meijer 2007, 31. 450 ND II, 19 und II, 23–28. 451 ND II, 29. 452 ND II, 19.

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III Die stoische Physik sich birgt, die sich durch den gesamten Kosmos erstreckt.453 Die Stoa vertritt, in deutlichem Anschluss an Platon, kosmologisch so etwas wie einen rationalen Animismus.454 Der zweite Schritt besagt, dass, wie jeder (aus Teilen bestehende) Organismus, so auch der Kosmos ein leitendes Organ (ein hēgemonikon) besitzt, das als Prinzip für seine organische Struktur und all seine Lebensfunktionen kausal verantwortlich zeichnet.455 Der dritte Schritt besteht in dem Gedanken, dass in jedem Organismus der leitende Teil unter allen anderen seiner Teile der herausragende und beste ist, kommt ihm doch der kausale Primat für die Entfaltung, Erhaltung und das gelingende Zusammenwirken all seiner Teile zu.456 Der vierte Schritt schließlich besagt, dass das leitende Organ des Kosmos das beste und vollkommenste von allem ist. Es ist rational, ja weise, weil einige Teile des Kosmos vernunftfähig sind und das gründende und leitende Prinzip alle Fähigkeiten seiner Teile enthält.457 Und es ist in umfassender Weise besser als das jeweils Beste in allen seinen Teilen, weil es all deren Fähigkeiten in sich schließt.458 Der stoische Sprecher Balbus in Ciceros De natura deorum begründet seine breite, mit Beispielen unterlegte Darstellung des Gedankengangs mit dem Hinweis, Zenons aüßerst gedrängte Argumente seien allzu leicht böswilliger Kritik vonseiten der (skeptischen) Akademiker ausgesetzt.459 Zenons Präsentation einer Reihe pointiert kurzer Argumente, zum Teil in strikte logische Form gebracht,460 könnten freilich als Versuch zu werten sein, auf sich und seine Eigenständigkeit im Kreis der konkurrierenden Philosophen aufmerksam zu machen.461 Ihre Kürze, Prägnanz und formale Schlüssigkeit462 ging indessen zu Kosten ihrer inhaltlichen Überzeugungskraft. Für den Dialektiker Alexinos boten sie die willkommene Folie zur Konstruktion absurder Parallelargumente (parabolai). Diogenes von Babylon hat dann später versucht, sie durch Differenzierung gegen Alexinos zu retten.463 Nicht völlig klar scheint, wie Zenon sich das Verhältnis von Gott und Kosmos genau gedacht hat: Die Quellen belegen einerseits einen strikten Monismus, die Vorstellung, der Kosmos sei ein göttliches Ganzes, und zum anderen die Vorstellung, im Kosmos sei eine göttliche Entität, die mit dem Äther bzw. dem feurigen Geist identifiziert und als animus Iovis bezeichnet wird.464 Das Leib-Seele Modell mit dem Gedanken der Einheit des kosmischen Organismus macht die Verbindung beider Vorstellungen freilich plausibel.465 Doch diesem Modell, mehr noch der Ver453 454 455 456 457 458 459 460 461 462 463 464 465

ND II, 24; 23–28. vgl. D. Frede 2002a, 90. ND II, 29. ND II, 29. SE AM IX, 102–103. ND II, 29–30; vgl. zum Ganzen Powers 2012, 245–269. ND II, 20. vgl. ND II, 21–22. vgl. Schofield 1983b, 49–57. vgl. dazu Ierodiakonou 2002, 83–112. vgl. Schofield 1983b, 38–40; Mansfeld 1999b, 457 f. vgl. SVF I, 160, 162; Meijer 2007, 32. vgl. Dienstbeck 2015, 142.

8. Die Theologie wendung des Demiurgen-Modells466 scheint noch eine Form von Dualismus innezuwohnen. Die Gegner jedenfalls machten eine gewisse Ambivalenz von Monismus und Dualismus aus; ihr diesbezüglicher Vorwurf richtete sich nicht nur gegen Zenon, sondern auch gegen Kleanthes und Chrysipp.467 Zenon hat, wie vielfach bezeugt, Hesiod interpretiert. Dabei beanspruchte er offensichtlich, was die traditionellen Götter betrifft, mit seiner allegorisch-naturphilosophischen Erklärung der Hesiodschen Theogonie468 die Intentionen des Dichters ebenso wie die Erfordernisse der traditionsgebundenen Frömmigkeit zu erfüllen.469 Einer seiner vier Gottesbeweise setzt den sinnvollen Vollzug überkommener religiöser Praxis als Basisprämisse voraus: (a) Es ist vernünftig, die Götter zu verehren; (b) das Nichtexistente zu verehren, ist nicht vernünftig; (c) also existieren die Götter.470 Kleanthes’ genuiner Beitrag zur Formation stoischer Theologie bestand wohl vor allem darin, aitiologisch die Gesichtspunkte zu benennen, die die Menschen zur Bildung der Vorstellung Gottes als der höchsten Macht bewogen haben und bewegen. Vier solcher Gründe machte er namhaft: (a) die (erfolgreiche) Vorausahnung bzw. Voraussage künftiger Ereignisse, (b) das gemäßigte Klima, die Fruchtbarkeit der Erde, die Fülle der Lebensmittel (für den Menschen), (c) Erstaunen, Furcht und Schrecken erregende Naturphänomene, (d) die wunderbare Ordnung und uniforme Bewegung im Umlauf der Gestirne.471 Für ihn bilden die mit ihnen verbundenen Erfahrungen die Basis einer ursprünglichen und natürlichen Formation des Gottesbegriffs ebenso wie die Ausgangspunkte formeller Gottesbeweise.472 Da alle vier Gesichtspunkte auch in Aristoteles’ Peri philosophias473 bei dessen historischer Rekonstruktion der Entstehung der Vorstellung vom Göttlichen genannt und erörtert sind, kann man eine gewisse Abhängigkeit des Kleanthes von Aristoteles’ Schrift mit einiger Berechtigung vermuten.474 Das bekannteste systematische Argument des Kleanthes ist das e gradibus enti­ um.475 Es schließt aus dem Umstand, dass es unter den Entitäten im Kosmos im Sinne einer ontologischen Hierarchie „Besseres/Stärkeres/Vollkommeneres“ und weniger Gutes (also eine scala naturae) gibt, darauf, dass es ein Bestes geben muss, das nicht der in vielem mit Mängeln behaftete Mensch zu sein beanspruchen kann, das vielmehr die Welt im Ganzen sein muss. Es diente primär nicht zum Beweis der Existenz Gottes, sondern zum Beweis der Identifizierung der Welt mit Gott. Das Argument hat in den Neuplatonismus hineingewirkt; es weist zweifellos Ähnlichkeiten mit Anselm von Canterbury’s Gedanken auf; doch es nimmt nicht, wie manche 466 467 468 469 470 471 472

DL VII, 137; Cicero ND II, 58. vgl. Cicero ND I, 36–41. SVF I, 100, 103, 104, 105, 167, 276; vgl. Steinmetz 1986, 273–296. vgl. Algra 2001, 562–581; Meijer 2007, 34. vgl. Sextus AM IX, 133. vgl. Cicero ND II, 13–15. vgl. Pohlenz 71992, I, 94; Algra 2003a, 160; Schofield 1980a, 305; Wildberger 2006a, I, 26 ff. 473 Buch I Ross fr. 12a, 12b, 13. 474 vgl. Meijer 2007, 41; 52. 475 Sextus AM IX, 88–91; vgl. Cicero ND II, 18–21; 33–36; Gelinas 2006, 49–73.

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III Die stoische Physik meinten, dessen ontologisches Argument vorweg, das vom Begriff Gottes auf seine Existenz schließt.476 Es hängt vielmehr an dem Gedanken, dass, wo es mehr oder weniger Vollkommenes gibt, ein schlechthin Vollkommenes geben muss, „da solche Dinge so geartet sind, dass sie nicht ins Grenzenlose verlaufen“.477 In Kleanthes’ Theologie steht die Sonne im Zentrum;478 er lokalisierte sie im Äther, der für ihn wie für Zenon Gott war. Sein Interesse für die Sonne und ihre verschiedenen Funktionen dienten der Explikation von Zenons Lehre. Seine Stellung zu den traditionellen Göttern wich wohl nicht von jener Zenons ab. Vielmehr versuchte er nachdrücklich, sie namentlich in ihren verschiedenen Eigenschaften und Funktionen ins stoische System zu integrieren. Ein Rest von Zweideutigkeit scheint in Kleanthes’ Theologie unaufgelöst. In seiner naturphilosophischen Theologie ist Zeus das hēgemonikon, verkörpert in der beherrschenden Stellung, Gestalt und Funktion der Sonne, doch in seinem Zeushymnus479 herrscht Zeus über alle Gestirne und Lichtquellen, einschließlich der Sonne; dieser Zeus kann also nicht identisch mit der Sonne sein.480 Die Zweideutigkeit ließe sich freilich beheben, wenn man in Zeus den göttlichen Urgrund von allem, und in der Sonne das göttliche Hegemonikon der entfalteten Welt sieht. Kleanthes’ religiöse Kosmologie ist ausgesprochen heliozentrisch; in seiner Astronomie verteidigt er dagegen vehement die Geozentrik; auch darin möglicherweise Aristoteles verpflichtet.481 Aristarch von Samos (3. Jh. vor Chr.) vertrat die These, die Erde drehe sich um die Sonne und um ihre eigene Achse. Ihn wollte Kleanthes schlicht wegen Gottlosigkeit (asebeia) verklagt sehen, weil er die Erde, den heiligen Herd (hestia) des Kosmos, nicht in Ruhe ließe.482 Für ihn stellt die in direkter Beobachtung fassbare geordnete Stellung der Fixsterne und die reguläre Bewegung der Sonne, des Mondes und der Planeten das wohl stärkste Motiv für seinen Glauben an die Götter dar.483 Chrysipp nimmt Kleanthes’ Argument e gradibus entium auf seine Weise auf.484 Sein Interesse zielt auf die Existenz, aber auch, ja vor allem auf die Eigenschaften des kosmischen Gottes. Da der Kosmos alles umfasst, ist er ihm das in jeder Hinsicht Vollständige. Da er alles umfasst, besitzt er auch das, was in ihm das Höchste ist: Geist, Vernunft, Tugend, und zwar auf vollkommene Weise. Chrysipp identifiziert am eindeutigsten die Welt mit Gott.485 Dies bedingt, dass im kosmischen Gesamtorganismus der göttliche Geist einen bestimmten materiellen Sitz und Träger erhält, den Äther. Ein Rest an systematischer Ambivalenz scheint auch bei ihm bestehen zu bleiben: Die Welt ist Gott, und Gott ist in der Welt. Auch hier lässt sich die Ambiva476 477 478 479 480 481 482 483 484 485

vgl. Brunschwig 1994c, 170–189. Sextus AM IX, 88; vgl. Meijer 2007, 63 f.; Gelinas 2006, 66–73. vgl. SVF I, 499 Arius Didymus. SVF I, 537 Stobaeus. vgl. Meijer 2007, 77. vgl. De caelo 296a24–297a8. vgl. DL VII, 174 = SVF I, 481; SVF I, 500 Plutarch; Isnardi Perente 1993, 50–54. vgl. Cicero ND II, 15; Thom 2005, 70. vgl. Cicero ND II, 16; 37–39; III, 25; Meijer 2007, 78–84. vgl. Cicero ND I, 39.

8. Die Theologie lenz wohl auflösen, wenn man die Prinzipienebene (Gott vs. unbestimmte Hyle) von den Konkretionen Gottes und der Götter im entfalteten Kosmos und kosmischen Geschehen unterscheidet. Auch für Chrysipp scheint die Anerkennung des Sinnes religiösen Kultes (die Errichtung von Heiligtümern, Altären und Statuen, der Vollzug religiöser Riten, die Einrichtung von Festen, die Komposition und der Vortrag von Hymnen etc.) eine Basis der Argumentation für die Existenz der (traditionellen) Götter gewesen zu sein. Zum Verständnis dessen, was sie sind und tun, bediente auch er sich der Methode der Allegorese und Etymologie.486 Dabei scheute er sich nicht vor Provokationen. Seine naturphilosophisch-theologische Interpretation sexueller Praxis von Zeus und Hera etwa487 erschien Zeitgenossen und Späteren einigermaßen anstößig. Doch Chrysipp meinte, die (anthropomorphen) Darstellungen dieses sexuellen Götteraktes (wie sie etwa in Argos oder auf Samos zu finden waren) seien so zu verstehen, dass mit ihnen die Befruchtung der Hyle durch die göttlichen spermatikoi logoi zum Ausdruck gebracht sei.488 Er war jedenfalls überzeugt davon, dass es der stoischen Physik bedarf, um den (ansonsten undurchdringlichen und befremdlichen) Schleier der mythologischen Götterwelt zu lüften.489 Sextus490 und Cicero491 versuchen, die stoischen Beweise nach Typen zu ordnen. Beide nehmen eine Viergliederung vor, weichen allerdings inhaltlich voneinander ab. Sextus’ Liste scheint authentischer, Ciceros Liste dagegen stark auf den Verständnishorizont seiner römischen Adressaten zugeschnitten zu sein.492 Für Cicero stützt argumentativ an erster Stelle die Ordnung und geordnete Bewegung der Phänomene am Himmel die stoische Theologie. „Denn was kann, wenn wir zum Himmel blicken und die Dinge am Himmel betrachten, so offen und einleuchtend sein wie dies, dass da ein göttliches Wesen mit überragendem Geist ist, durch das dies gelenkt wird.“493 Der zweite Argumenttyp, der des sog. consensus omnium, stützt sich darauf, dass die Überzeugung von der Existenz von Gott bzw. Göttern und die Praxis der Gottesverehrung unter allen Menschen verbreitet ist und sich (in der Geschichte) verstärkt, während irrige Überzeugungen und die entsprechende Praxis sich erfahrungsgemäß wieder auflösen. „Denn Hirngespinste zerstört der Tag, naturgemäße Urteile bekräftigt er“.494 Die dritte Argumentform bezieht sich nach Cicero auf glaubhafte Berichte von Göttererscheinungen (visae formae deorum), auf den Sachverhalt, dass „die Götter oft durch ihre Gegenwart ihre Kraft bezeugen“.495 An vierter Stelle nennt er die erfolgreiche Praxis der Weissagung (divinatio; vaticina­ tio; augurum et haruspicumi disciplina). „Was anderes bekunden in der Tat die Vor486 487 488 489 490 491 492 493 494 495

vgl. SVF II, 1076. vgl. SVF II, 1071–1074; Origenes Contra Celsum 4, 48; Mansfeld 1979, 181. vgl. Algra 2009, 239. vgl. Meijer 2007, 106; 100–110. AM IX, 60. ND II, 4–12. vgl. Algra 2003a,161. ND II, 4. ND II, 5. ND II, 6.

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III Die stoische Physik aussagen und Vorausahnungen von Künftigem als dies, dass den Menschen von den Göttern das, was geschieht, aufgezeigt, angezeigt, prophezeit, vorausgesagt wird“.496 Nach Sextus versuchen jene, die von der Existenz von Göttern überzeugt sind (sc. die Stoiker), ihre Überzeugung durch vier Beweistypen zu stützen: „erstens aus der Übereinstimmung aller Menschen, zweitens aus der Ordnung des Kosmos, drittens aus den absurden Konsequenzen der Leugnung des Göttlichen, viertens und letztlich aus der Widerlegung der gegenteiligen Argumente“.497 In zwei Punkten stimmen Sextus und Cicero überein. Was das Consensus omnium-Argument betrifft, ist Sextus’ Erklärung498 differenzierter und prägnanter als jene Ciceros. Sie verweist auf die prolēpsis als Ausgangspunkt der Übereinstimmung. Unter prolēpseis (‚Vorbegriffe‘) versteht die Stoa (ähnlich wie Epikur) begriffliche Vorstellungen, die sich auf der Basis einer gleichen, gemeinsamen Vernunftanlage und wiederholter unverzerrter Erfahrungen natürlicherweise bilden.499 Eine prolēpsis ist definiert als „natürlicher Begriff der allgemeinen Merkmale (eines Objekts) (ennoia physikē tôn katholou)“.500 Ihre universale Verbreitung ist, in Verbindung mit dem Gedanken ihrer naturwüchsigen Bildung für die Stoa ein Index ihrer Wahrheit. Doch solche Vorbegriffe sind höchst allgemein und umrisshaft; sie bedürfen der methodischen Präzisierung und Differenzierung; sie können sich im Zusammenhang irreleitender Einflüsse mit falschen Vorstellungen füllen. Dies erklärt, warum zwar alle Völkerschaften von der Existenz von Göttlichem überzeugt sind, in der Interpretation seiner Natur (peri tês physeōs autoû)501 aber voneinander abweichen. Über den Vergleich von naiver populärer Meinung (idiōtikē hyponoia) mit den Vorstellungen der Verständigsten und Begabtesten in Dichtung und Philosophie502 werde das inhaltlich Zutreffende ersichtlich: die überragende Macht, die Unsterblichkeit, die vollkommene Weisheit, das providentielle und wohltätige Wesen des Gottes.503 Das Vertrauen gebühre den geistig Klarsten und Verständigsten, so wie bei abweichender Sinneswahrnehmung das Zutreffende ja auch von jenen mit den erfahrungsgemäß und anerkannt schärfsten Sinnen bestimmt wird.504 Der von Sextus an zweiter Stelle genannte Argumenttyp (der sog. ex operibus dei bzw. der ‚physikotheologische‘) ist der bei Weitem wichtigste. Er beruft sich auf die Ordnung, die Schönheit und die (insbesondere auf den Menschen zugeschnittene) Zweckmäßigkeit der Natur. Platons Gottesbeweis in Nomoi X, der auf die Existenz einer Weltseele zielt, die die Erstursache kosmischer Bewegung darstellt, und Aristoteles’ Gottesbeweis,505 der auf Gott als unbewegten Beweger alles Bewegten ab496 497 498 499 500 501 502 503 504 505

ND II, 7. AM IX, 60. AM IX, 61–74. vgl. SVF II, 83 Aëtius = LS 39 E; vgl. Plutarch Comm. not. 1060 A; Cicero Acad. II, 20–22, 30–31; ND II, 13; Forschner 1981,150–159; Hankinson 2003a, 62 ff. DL VII, 54. Sextus AM IX, 61 SE AM IX, 63–65. vgl. Plutarch Stoic. rep. 1051 D-F. SE AM IX, 65. in Physik VIII und Metaphysik Lambda.

8. Die Theologie hebt, bemühen vergleichsweise abstrakte Gedankengänge. Die Stoa verwies dagegen bevorzugt auf konkrete Ordnungsmuster, auf Beispiele komplexer, schöner, gewaltiger und zweckmäßiger Naturphänomene, die Gefühle des Staunens, der Bewunderung, der Scheu, der Ehrfurcht und Dankbarkeit erwecken. Das Göttliche, so ihre dabei leitende Idee, ist zwar nicht direkt fassbar, wohl aber seine unverkennbare Manifestation in den Phänomenen der Natur. In ihnen bekundet es sich unmittelbar; es bedarf (von Natur) nur geringer Reflexion, um sein Dasein und Wesen zu fassen.506 Wie gering ihrer Ansicht nach die Reflexion sein muss, belegen Zenonische Argumente, die sich der Figuren der Analogie und der Ähnlichkeit bedienen, etwa dieses: „Nichts, was der Geistseele (animus) und Vernunft (ratio) entbehrt, kann aus sich heraus etwas Geistbeseeltes und Vernunftbegabtes hervorbringen. Die Welt bringt indes geistbeseelte und vernunftbegabte Wesen hervor. Also ist die Welt geistbeseelt und im Besitz der Vernunft“;507 oder dieses: „Das, was Samen von Vernünftigem (sperma logikoû) auswirft, ist auch selbst vernünftig. Der Kosmos aber wirft Samen von Vernünftigem aus. Vernünftig also ist der Kosmos“.508 Die ‚dogmatische‘ Stoa rieb sich an den Herausforderungen der Skepsis. Sie sah sich gezwungen, den Einwänden gegen ihre Argumente überzeugend zu begegnen. Alexinos, ein Schüler des Megarikers Eubulides und Zeitgenosse Zenons, zielte mit parodistischen ‚Spiegel-Argumenten (parabolai) auf die stoischen Beweise, dass der Kosmos beseelt ist und Geist besitzt. Er versuchte, mit Gegenargumenten derselben formalen Struktur die konzisen Argumente Zenons ad absurdum zu führen: „Das Poetische ist besser als das Nicht-Poetische und das Grammatische als das NichtGrammatische . . . Doch nichts ist besser als der Kosmos. Poetisch also und grammatisch ist der Kosmos“;509 dies als absurde Parallele zu Zenons Argument: „Das Vernünftige ist besser als das Nichtvernünftige. Nichts ist besser als der Kosmos. Also ist der Kosmos vernünftig“.510 Die stoische Antwort bestand in diesem Fall darin zu zeigen, dass das Wort „besser (kreîtton)“ von beiden in unterschiedlicher Bedeutung verwendet wird. Zenon spreche vom Besseren im absoluten Sinn: dem Vernünftigsein gegenüber dem Nichtvernünftigsein, dem Intelligentsein gegenüber dem Nichtintelligentsein, dem Beseeltsein gegenüber dem Nichtbeseeltsein, während Alexinos nur von einem relativ Besseren rede: Ein Grammatiker mag besser sein als ein anderer Grammatiker, doch der Poet Archilochos sei nichts Besseres als der Nichtpoet Sokrates und der Grammatiker Aristarch sei nichts Besseres als der Nichtgrammatiker Platon.511 Zenons Argument: „Die Götter mag jemand vernünftigerweise ehren. Diejenigen, die nicht existieren, mag man nicht vernünftigerweise ehren. Also gibt es Götter“ parodiert Alexinos mit dem (listigen) Argument: „Die Weisen mag jemand vernünfti506 507 508 509 510 511

vgl. Algra 2003a, 161 f. Cicero ND II, 22. SE AM IX, 101. Sextus AM IX, 108; vgl. Cicero ND III, 22, 23; Meijer 2007, 129–132. SE AM IX, 104. SE AM IX, 109–110; vgl. Gelinas 2006, 62.

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III Die stoische Physik gerweise ehren. Diejenigen, die nicht existieren, mag man nicht vernünftigerweise ehren. Also gibt es Weise.“ Erklärten doch die Stoiker selbst, es habe sich bislang kein Weiser gefunden; ihr Weiser sei primär ein Ideal.512 Diogenes von Babylon antwortet mit einer Präzisierung der zweiten Prämisse des Zenonschen Arguments: „Diejenigen, die nicht von solcher Natur sind, zu sein, mag man nicht vernünftigerweise ehren“. Dann sei das Argument schlüssig und treffe nicht auf den Weisen zu; denn die Götter seien (wie Epikurs Atome) ihrem Begriff nach von solcher Natur, die Weisen aber nicht.513 Diogenes arbeitet mit dem traditionellen Begriff der Götter als der Unsterblichen, der Ungewordenen und Unvergänglichen. Gleichwohl schließt er nicht, wie das sog. ontologische Argument, vom Begriff auf das Sein der Götter; die leitende Prämisse ist vielmehr die wohlbegründete Praxis der Götterverehrung.

8.2 Kleanthes’ Hymnus an Zeus Ein herausragendes Dokument (alt)stoischer Religiosität und Theologie stellt Kleanthes’ Hymnus an Zeus dar. Von Johannes Stobaeus überliefert,514 ist dies der einzige so gut wie vollständig auf uns gekommene Text eines frühen Stoikers.515 Er lautet:516 „Erhabenster der Unsterblichen, mit vielen Namen bedachter, immer allmächtiger Zeus, Gründer der Natur, der mit Gesetz alles lenkt, sei gegrüßt! Denn Dich (feierlich) anzureden geziemt allen Sterblichen. Sind wir doch Deines Geschlechts, wir, die Gottes Bild (zu sein) erlangten, als einzige von all dem Sterblichen, was lebt und sich regt auf der Erde. Deshalb will ich Dich lobpreisen und Deine Stärke immer besingen. Dir gehorcht dieser ganze Kosmos, der sich um die Erde dreht, wohin Du ihn auch führst, und läßt sich willig von Dir beherrschen. Einen solchen Gehilfen hältst Du in Deinen unbesiegbaren Händen, den zweischneidig scharfen, feurigen, immer lebendigen Blitz. Denn unter seinem Schlag sind alle Werke der Natur zur Vollendung gelangt. Mit ihm richtest Du gerade die allgemeine Vernunft, die alles durchdringt, vermischt mit dem großen und den kleinen Lichtern. [Durch ihn bist Du so groß, der oberste König in allem.]

512 vgl. dazu SVF III, 662 Plutarch; SVF III, 668. 513 Sextus AM IX, 134–135; vgl. dazu Brunschwig 1994c, 170–189; Algra 2003a, 163–165; Meijer 2007, 133–137. 514 Ecl. I. 25, 3–27 = SVF I, 537 = LS 54 I; vgl. dazu auch SVF I, 527 = Epiktet Ench. 53 und Seneca Ep. 107.10. 515 zur Detailinterpretation vgl. Pohlenz 1940a, 117–123; Zuntz 1958, 289–308; Sier 1990, 93–108; Glei 1990, 577–597; Steinmetz 1994, 576 ff., Thom 2005. 516 in Übersetzung des griechischen Textes, wie er in LS 54 I steht.

8. Die Theologie Kein Werk geschieht auf der Erde ohne Dich, göttlicher Geist, auch nicht im göttlichen Umkreis des Äthers, und nicht im Meer, außer all dem, was Schlechte in ihrer Unvernunft tun. Doch Du weißt auch das Krumme gerade zu machen und das Ungeordnete zu ordnen; und was nicht lieb ist, machst Du Dir lieb. Und so hast Du alles in eins zusammengefügt, das Gute mit dem Schlechten, sodass eine Vernunft in allem entsteht, immer während. Diese fliehen und lassen außer Acht all jene Sterblichen, die schlecht sind, die Unglückseligen, die immer im Verlangen nach dem Besitz von Gütern das gemeinsame Gesetz Gottes weder erkennen noch befolgen. Würden sie ihm mit Verstand gehorchen, hätten sie ein gutes Leben. Sie aber streben, ohne Verstand, der eine nach diesem, der andere nach jenem Übel; die einen mit unüberwindlicher Gier nach Ruhm behaftet, die anderen von hemmungsloser Gewinnsucht getrieben, wieder andere auf Entspannung und Vergnügungen des Leibes bedacht. [. . .] hierhin und dorthin werden sie getrieben im heftigen Bemühen, dass das Gegenteil davon eintrete. Doch Du, Zeus, Allesgeber, Dunkelwolkiger, Hellblitzender, löse die Menschen aus ihrer unseligen Unwissenheit, verjage sie, Vater, aus ihrer Seele, gib, dass ihnen Einsicht zuteil werde, auf die vertrauend Du alles mit Gerechtigkeit lenkst, auf dass wir geehrt Dir die Ehre erwidern, indem wir unablässig Deine Werke besingen, wie es sich dem Sterblichen geziemt; haben doch weder die Menschen noch die Götter eine größere Ehrengabe, als stets das umfassende Gesetz in Gerechtigkeit zu lobpreisen.“ Die Kommentierung des Hymnus würdigt einmütig die Verbindung poetischer, religiöser und philosophischer Qualität. Form und Gedankenmotive entsprechen denen eines Kulthymnus. Der Text ist formgerecht gegliedert in Anrufung, Argument bzw. Lobpreis und (Bitt-)Gebet.517 Die Anrufung initiiert traditionellerweise die Beziehung zu einer bestimmten Gottheit; sie ruft sie bei ihrem Namen, nennt ihre Attribute, und eröffnet so die Kommunikation mit ihr. Der Argumentteil nimmt Bezug auf ihre Kräfte und Handlungen, auf ihre früheren Wohltaten und ihre Geschichte. In Verbindung mit wiederholten Anreden soll ihre Präsenz evoziert und eine Basis für die abschließende Bitte geschaffen werden.518

517 vgl. Thom 2005, 8; 13 ff. 518 vgl. Furley and Bremer 2001, I, 52–60; Thom 2005, 8.

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III Die stoische Physik Der Hymnus des Kleanthes enthält philosophische Gedanken, ist allerdings kein philosophischer Hymnus im engeren Sinn. Philosophische Hymnen wandten sich seit der Klassik an Personifikationen abstrakter Prinzipien oder Kräfte wie die Tugend, den Eros, die Gesundheit, die Freundschaft etc.; bei ihnen fehlt häufig das abschließende Bittgebet.519 Tatsächlich scheint es wenig sinnvoll, sich im Rahmen einer pantheistischen und deterministischen Philosophie wie der stoischen in Form eines ernsthaften Bittgebets an eine (transzendente) personale Gottheit zu wenden.520 Manche Interpreten bestreiten denn auch dem Hymnus eine derartige religiöse Funktion. Sie sehen in ihm die allegorische Projektion des Lobpreises der kosmischen Ordnung und der Selbstaufforderung, sich in Einklang mit Zeus als dem mythisch personalisierten Prinzip der göttlichen Weltvernunft zu bringen, deren herausgehobener Teil wir selbst sind bzw. sein können.521 Doch in Kleanthes’ Hymnus spielt das an einen Gott gerichtete Gebet eine ganz wesentliche Rolle; der Sprecher bzw. Sänger bittet um etwas, was (viele) Menschen von sich aus nicht zu leisten vermögen, wozu es vielmehr göttlichen Einsatzes und göttlicher Hilfe bedarf.522 Und in der Tat verbindet die orthodoxe Stoa mit Bittgebeten (als confatalia) sehr wohl einen guten Sinn: Zeus bzw. die Götter binden nach dieser Vorstellung providentiell Ereignisse kausal an menschliche Gebete; diese sind Teile im Ursache-Wirkungszusammenhang der natürlichen Welt.523 Die Verwendung des Hymnus zu religiös gestimmten, vielleicht auch öffentlichkeitswirksamen Anlässen der Schule kann als wahrscheinlich gelten.524 Inhaltlich dominiert der Lobpreis auf Zeus und die gesetzliche Vernunft seiner alles durchdringenden und ordnenden Herrschaft über die Welt. Der überragenden immerwährenden Führungsgewalt des Zeus entspricht als gebührende Antwort aufseiten der Götter und Menschen der immerwährende hymnische Lobpreis. An zentraler Stelle, dem Angelpunkt des Ganzen, ist von den schlechten Menschen (den kakoi) die Rede und dann ausführlich davon, welche Bewandtnis ihre Schlechtigkeit für sie selbst und die Ordnung des Ganzen hat: Das Schlechte stört die kosmische Harmonie. Der Hymnus gipfelt in der Bitte an Zeus, die Menschen aus ihrer unheilvollen Torheit zu erretten und endet mit dem versichernden Hinweis, dass weder die Götter noch die Menschen zum Dank eine größere Ehrengabe (geras) besäßen, als „stets das umfassende Gesetz in Gerechtigkeit zu lobpreisen (koinon aei nomon en dikē hymneîn)“. Man hat die an Zeus gerichteten Gedanken, dass kein Werk auf Erden ohne ihn geschieht, „außer was Schlechte in ihrer Unvernunft tun“, dass „Du aber verstehst, auch das Krumme gerade zu machen und das Ungeordnete zu ordnen“ im Sinne einer pointierten Theodizee verstanden: Schlechtes gebe es nur aufgrund menschlicher Unvernunft; doch es biete dem Gott die „willkommene Gelegenheit, die 519 520 521 522 523 524

vgl. Furley and Bremer 2001, I, 47; Parker 1996, 235. vgl. Pohlenz, 71992, I, 93. vgl. Glei 1990, 589–591; Sier 1990, 106; Algra 2003a,174–176. vgl. Thom 2005, 10 f.; ganz anders noch Pohlenz 71992, I, 109. vgl. Seneca Quaest. nat. II, 37–38; Inwood 2002, 154; vgl. oben S. 133. vgl. Steinmetz 1994, 569; 576; Sier 1990, 93.

8. Die Theologie überlegene Organisation seines Kosmos zu beweisen“.525 Nun ist das Theodizeemotiv zweifellos präsent. Der Text betont in der Tat, dass Schlechtes in der Welt nur durch törichte bzw. schlechte Menschen geschieht, und dass sie sich damit selbst ihr zerstreutes, zerrüttetes, unglückliches Leben bereiten, während die gesamte übrige Natur dem göttlichen Gesetz willig entspricht. Doch er ‚rechtfertigt‘ nicht das Schlechte als ‚willkommenen‘ Anlass zur Demonstration höherer göttlicher Macht. Er besagt nur, dass Zeus (in seiner Macht und Weisheit) den Grund dafür gelegt hat und es fürderhin zu leisten in der Lage ist, das Ungeordnete (wieder) zu ordnen und das Schlechte mit dem Guten so zu verbinden, dass daraus für alles eine immerwährende vernünftige Ordnung entsteht. Zeus’ Ordnungsleistung scheint nicht als bereits vollendet, sie scheint vielmehr als ‚im Werden‘ befindlich behauptet (sodaß eine Vernunft in allem entsteht/ hōst’ hena gignesthai pantōn logon).526 Die törichten Menschen konterkarieren sie; das wird im Folgenden mit Nachdruck betont. Sie streben in ihrer Glücksuche nach Ehre, Wohlstand und Vergnügen, fehlen gegen das umfassende Gesetz göttlicher Vernunft, haften und zerstreuen sich in ihrem Verlangen an verschiedene Dinge, die nicht in ihrer Hand sind und verfehlen so die Harmonie mit sich selbst. Der Ordnung der willig ‚gehorsamen‘ Natur kontrastiert die Unordnung der ‚eigensinnigen‘, unvernünftigen Menschen. Deshalb zielt alles auf die abschließende Bitte, die Schlechten aus ihrer unheilvollen Torheit zu erretten, ihnen die rechte Einsicht zu geben, „auf dass wir (alle), so geehrt, Dir im Gegenzug Ehre erweisen mögen, indem wir ohne Unterlass Deine Werke preisen, wie es sich für einen Sterblichen gehört“. Der Hymnus besingt nicht eine harmonische abstrakte Weltordnung, er wendet sich vielmehr an Zeus als eine persönliche Macht, die menschliche Unwissenheit und Unordnung so zu verwandeln vermag, dass schließlich alle ihn und seine Werke preisen und damit eins mit sich selbst und der Welt leben.527 Die feierliche Anrufung des Zeus zu Beginn des Hymnus erfolgt mit Attributen, die sämtlich den Homerischen und Hesiodschen Mythen entnommen sind und populäre religiöse Vorstellungen ausdrücken, doch zugleich der stoischen Philosophie entsprechen.528 Die Sprache des Hymnus ist personalistisch und theistisch, ihr Ton von Vertrauen in Gottes Macht, Weisheit und Wohlwollen geprägt. Zeus ist König und Herrscher der Welt. Er ist der göttliche Vater, dem die Menschen entstammen, dessen Abbild sie sind und an den sie sich um Hilfe wenden können. Er ist der Herrscher über den gesamten Kosmos, über die Götter, die Menschen, die Natur. Er hat die Macht und Fähigkeit, die Fehler der Menschen zu berichtigen, aus Unordnung Ordnung zu schaffen. Ihn zu ehren, ist Privileg und Verpflichtung (der Götter und) der Menschen. Der rationale stoische Pantheismus, in dem Gott mit der Welt bzw. dem immanenten Prinzip ihrer Ordnung in eins fällt, wird hier im religiös-philosophischen Hymnus in eine Beziehungsgeschichte zwischen Gott auf der einen Seite, der Natur, den Menschen und Göttern auf der anderen Seite ausgefaltet. Der Perso525 526 527 528

Sier 1990, 105. vgl. Thom 2005, 107–112. vgl. Thom 2005, 19 f.; 142–163. vgl. Thom 2005, 43.

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III Die stoische Physik nalismus des Hymnus geht so weit, dass der Blitz, das mythisch-ikonographische Symbol des göttlichen Feuers, zum Diener und Instrument in Zeus’ Händen wird und die Natur zum Untergebenen, der sich willig seinem Gesetz fügt. Zeus erscheint im Hymnus als ein von der Welt unterschiedenes und sie beherrschendes personales Wesen.529 Wie kein zweiter Stoiker hat später Epiktet diese personale Anrede an Gott aufgenommen und in eine Sprache persönlicher Frömmigkeit ausgeprägt.530 Allerdings weicht seine kosmologische Sicht des Schlechten wieder deutlich von der des Kleanthes ab. Signifikanterweise zitiert er ein Gebet des Kleanthes, in dem göttliche Vorausbestimmung und schicksalhafte Fügung den unverrückbaren Rahmen bilden für das, worum man sinnvollerweise betet: „Führe Du mich, o Zeus, und Du, Schicksal, wohin auch immer ich von Euch bestimmt bin, damit ich ohne Zögern folgen werde. Wenn ich aber, schlecht geworden, nicht will, werde ich nichtsdestoweniger folgen.“531 Der Zeushymnus des Kleanthes ist zweifellos stoisch, obgleich man ihn aufgrund seiner traditionellen Motive auch ohne prägnante Kenntnis der stoischen Philosophie verstehen konnte.532 Poetisch scheint vor allem das Vorbild der religiösen Gründungsdichter Homer und Hesiod durch.533 Als philosophischer Inspirator wird in Kommentaren häufig Heraklit genannt.534 Dafür spricht das mythische Symbol des Blitzes in Zeus’ Händen; dafür spricht die verwendete philosophische Grundbegrifflichkeit (logos; koinos nomos); dafür spricht natürlich auch, dass Kleanthes Heraklits Philosophie einen vierbändigen Kommentar gewidmet hat.535 Dessen Einfluss auf Kleanthes ist unbestreitbar. In der Mitte des Hymnus sieht man denn auch Heraklits zentralen ontologischen und ethischen Gedanken des Logos als Einheit von Gegensätzen am Werk. Danach stehen Gegensätze (gerade-ungerade, Ordnung-Unordnung, gut-schlecht, freund-feind) logisch, epistemologisch und sachlich in einem wechselseitigen Bedingungsverhältnis: Das eine ist nicht ohne das andere möglich und verständlich.536 Insbesondere der Vers „Und so hast Du alles in eins zusammengefügt, das Gute mit dem Schlechten, sodass eine Vernunft in allem entsteht, immer während (hōsth’ hena gignesthai pantōn logon aien eonta)“ scheint diesen Gedanken auszudrücken. Der unmittelbare Kontext dieses Satzes spricht allerdings gegen eine Heraklitsche Interpretation.537 Gut und schlecht sind in unserem Hymnus nicht notwendige, sich gegenseitig bedingende Aspekte bzw. Faktoren einer höheren vernünftigen Ordnung. Gesagt wird lediglich, Zeus habe es bereits ins Werk gesetzt und sei in der Lage, Schlechtes zu korrigieren, auszugleichen und in 529 530 531 532 533 534 535 536 537

vgl. Thom 2005, 22. vgl. Long 2002a, 147–152; Thom 2005, 20; Vollenweider 2013, 150–152. SVF I, 527 = Epiktet Ench. 53. Thom 2005, 21. vgl. etwa Hesiod Werke und Tage 5–9; Theogonie 506. vgl. Zuntz 1958, 296–298; Long 1996a, 46–52; Steinmetz 1994, 576. DL VII, 174 = SVF I, 481. vgl. dazu Heraklit, Fragmente 22 B 1, 2, 10, 50, 51, 102 Diels-Kranz. vgl. Sier 1990, 104 f.; Thom 2005, 22–27.

8. Die Theologie eine vernünftige Ordnung zu integrieren. Die menschliche Dummheit und ihre Folgen stören die Ordnung; das Gebet zielt eindeutig auf eine definitive Beseitigung des Schlechten; Zeus wird um seine Hilfe gebeten bei der Überwindung der Torheit und ihrer Folgen. Die anvisierte endgültige Harmonie enthält nichts Schlechtes mehr. Kleanthes vertritt also hier keinen epistemologischen, ontologischen und ethischen Heraklitismus. Ausgesprochen heraklitisch dagegen scheint in dieser Hinsicht Chrysipp gedacht zu haben. Dies belegt jedenfalls ein bei Aulus Gellius erhaltenes Zeugnis aus dem 4. Buch von Chrysipps Schrift Über die Vorsehung: „Nichts, sagte er, sei törichter als jene, die denken, es habe Gutes geben können, wäre da nicht ebendort Schlechtes. Denn da Gutes dem Schlechten entgegengesetzt ist, müssen die beiden notwendig in Opposition zueinander stehen und gewissermaßen in entgegen gesetzter Bewegung sich wechselseitig stützend Stand haben. Es gibt also keinen Gegensatz ohne das entsprechende Gegenüber . . . Wenn man das eine beseitigt, beseitigt man auch das andere“.538 Und ähnlicher Auffassung scheint schließlich auch Epiktet wieder gewesen zu sein: „Er (sc. Gott) verfügte, dass sowohl Sommer sei als auch Winter, sowohl Fülle als auch Not, sowohl Tugend als auch Laster und alle derartigen Gegensätze, um der Harmonie des Ganzen willen“.539 Vergleicht man diese Heraklitischen Gedanken mit jenen des Zeushymnus, so kommt man nicht umhin, auch gewichtige systematische Unterschiede bei den Autoren und Vertretern der stoischen Theologie in Rechnung zu stellen. Doch selbst wenn man bei genauerer Betrachtung anscheinende Differenzen lediglich unterschiedlichen Perspektiven (etwa der tröstlichen Vorsehung oder der moralischen Besserung) zugeordnet wissen möchte, bleiben offene Fragen. Wir verfügen über eine Fülle von Material für die stoische Theologie, und die Forschung der letzten Jahrzehnte hat viel zur Klärung beigetragen. Gleichwohl ist das Bild ihrer systematischen Struktur noch etwas unscharf. Die verschiedenen philosophischen Linien und Gesichtspunkte oszillieren zwischen personalistischem Theismus und apersonalem Kosmismus, zwischen philosophisch-pantheistischem Immanentismus und in Texten religiös-kultischer Praxis unterstellter Transzendenz. Zwischen der Theologie der stoischen Physik und dem Lobpreis Gottes im Zeushymnus des Kleanthes besteht eine gewisse Spannung. So ganz geklärt ist die Logik der stoischen Theologie noch nicht; und auf die Konsistenz ihrer Philosophie legten sie doch größtes Gewicht.

538 LS 54 Q1 = SVF II, 1169. 539 Diss. I, 12. 16.

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IV Die stoische Ethik 1. Die Oikeiosislehre (1) Mehr als anderen Lehrstücken des stoischen Systems ist der Theorie der Oikeiosis seit geraumer Zeit die konzentrierte Aufmerksamkeit der Stoaforschung sicher. Nimmt sie doch eine Schlüsselstelle zwischen Physik und Ethik ein und trägt einen Großteil der Begründungslast für die Grundsätze stoischer Lebensführung.1 Die Oikeiosislehre hat im Rahmen der stoischen Anthropologie und Ethik die systematische Funktion, zwischen dem Menschen als Naturwesen und dem Menschen als Vernunftwesen, zwischen seinem vormoralischen Streben und seinem vernünftigen, tugendhaften Handeln zu vermitteln.2 Sie versucht, auf methodisch verschlungene Weise in apriorischer und empirischer Argumentation, aus der unpervertierten Natur des Menschen, ihren natürlichen Bestrebungen und ihrer natürlichen Entwicklung das Ziel des menschlichen Lebens als eines Daseins in sittlicher Konstanz, vernünftiger Selbstständigkeit und bedingungsloser Gottzugehörigkeit darzutun. Für die Stoa ist dieses Ziel, in dem Tugend und Glück in eins fallen, nur über Bildungsprozesse erreichbar. Doch zugleich zeichnet sie es als Ergebnis einer natürlichen Entwicklung.3 Die Stoiker sprechen sowohl auf animalischer als auch auf menschlicher Ebene von oikeiōsis und von passendem Verhalten (kathêkon). Sie argumentieren für den Primat von Wahrnehmung und Selbst- bzw. Mitwahrnehmung (der eigenen Verfassung) in der Erklärung zielgerichteten tierischen Verhaltens. Dies vor allem deshalb, weil sie auch beim Menschen passendes Handeln durch kognitives Erfassen der ei-

1 Zur breiten Literatur siehe Philippson 1932b, 445–466; Pohlenz 1940b; Brink 1955/6, 123–145; Pembroke 1971, 114–149; Kerferd 1972a, 177–196; Forschner 1981, 142–159; Görgemanns 1983, 165–189; Inwood 1983, 190–201; Striker 1983, 145–167; Inwood 1984, 151–184; Brunschwig 1986a, 113–144; Engberg-Pedersen 1986, 145–183; Isnardi Parente 1989, 2201–2226; Schönrich 1989, 34–51; Engberg-Pedersen 1990; Blundell 1990, 221–242; Striker 1991, 1–73; Long 1993, 93–104; Schütrumpf 1993, 48–63; Inwood 1996, 243–264; M. Frede 1999a, 71–94; Radice 2000; Lee 2002; Reydams-Schils 2002a, 221–251; Algra 2003b; Bees 2004; Forschner 2004a, 126–150; 2004b, 55–69; Gill 2004, 101–125; Zagdoun 2005, 319–334; Forschner 2008, 169–191; Alesse 2008a, 441–455; Klein 2016, 143–200. 2 vgl. Zagdoun 2005, 333. 3 vgl. M. Frede 1999a, 71.

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IV Die stoische Ethik genen Konstitution und durch die Perfektion der sie leitenden Instanz (des hēgemonikon) realisiert sehen wollen.4 Die natürliche Entwicklung des Menschen ist durch zwei markante Zäsuren gekennzeichnet; zum einen durch die Geburt, in der (über eine Verwandlung des pneûmas durch den Kontakt mit der Luft) eine vorgeburtlich-pflanzenähnliche Lebensphase des menschlichen Foetus durch eine tierähnliche des (Klein-)Kindes abgelöst wird,5 und zum anderen durch das Mündigwerden, das das tierähnliche Dasein der Kindheit beendet und zum Erwachsensein überleitet, in dem das menschliche Leben durch Sprachfähigkeit und selbstständigen Vernunftgebrauch geprägt und geleitet ist. Die Lehre zeigt, wie wir im Mündigwerden zum Begriff des wahrhaft Guten (zum principium diiudicationis) gelangen und durch den Besitz des Begriffs zum Tun des Guten bewegt werden (principium executionis). Sie bildet so gesehen die narrative Grundlage der stoischen Ethik. Als solche steht sie in einem philosophischen Diskussionskontext um das Ziel des menschlichen Lebens und die Frage, inwiefern dieses als „naturgemäß“ anzusehen ist. Die stoische Ethik demnach als naturalistisch zu kennzeichnen, wäre freilich etwas missverständlich; ist doch ihr erklärter Gegner der Naturalismus Epikurs. Doch sie richtet sich auch und nicht zuletzt gegen ihr verwandtere Positionen der Akademie und des Peripatos. Natur und sittliche Norm waren durch die Aufklärung des 5. vorchristlichen Jahrhunderts in einen Gegensatz getreten. Der sophistischen Zersetzung des EthischPolitischen begegnen Kynismus und Sokratik mit der grundlegenden Unterscheidung zwischen dem Guten und den Gütern, die den Begriff des sittlich Guten aus seiner engen Verschränkung mit den (nicht sittlich zu nennenden) Gütern des Lebens löst. Die Folge war eine radikale Entwertung der kulturell anerkannten außersittlichen Werte und Ziele des Lebens in der sokratisch-kynischen Tradition. Die stoische Oikeiosislehre ist im Kontext jenes die hellenistische Zeit beherrschenden Versuchs zu sehen, den radikalen Gegensatz zwischen natürlicher, in der Polissittlichkeit verankerter Güterethik und sokratisch-kynischer Moral zu vermitteln. Die stoische Variante dieses Vermittlungsversuchs bestand darin, den sokratisch-kynischen Grundsatz (dass allein die Tugend uneingeschränkt gut genannt werden kann und Glück verbürgt) gegenüber jeder ‚Aufweichung‘ (in Akademie und Peripatos) zu retten und gleichwohl dem natürlichen Streben nach den außermoralischen Lebensgütern (gegenüber radikal-kynischen Tendenzen) einen bestimmten, genau zu benennenden Stellenwert im Rahmen eines vernunftgeprägten Lebens zuzuerkennen. (2) Das griechische Wort oikeiōsis ist ein nominalisiertes Verbum. Das ihm entsprechende Adjektiv oikeîos ist abgeleitet von oîkos, dem Wort für Haus, und bedeutet ganz allgemein „zum Haus gehörig“. Es bezieht sich auf Personen, die zum Hauswesen gehören, ebenso wie auf solche, die durch Verwandtschaft oder persönliche Freundschaft mit ihm verbunden sind. Es bezieht sich ferner auf lebendes und totes 4 vgl. Klein 2016, 148 f. 5 vgl. Plutarch Stoic. rep. 1052 F-1053 A; Hierokles Eth. Element. col. I, 15–34.

1. Die Oikeiosislehre Inventar. Das Verbum oikeioûn bedeutet in Bezug auf Sachen „aneignen“, in Bezug auf Personen aktiv „auf seine Seite bringen“, passiv „mit jemandem vertraut bzw. bekannt (gemacht) sein bzw. werden“. Den Gegensatz zu oikeîos bildet gemeinhin das Wort allotrios, zu Deutsch „was einem anderen gehört“, bzw. in einem weiteren Sinn „was einem fremd ist“. Oikeîos bezeichnet also ursprünglich einfach das, was zum Haus gehört: das Angehörige, Verwandte, Eigene, Nahe, Vertraute, Liebe im Gegensatz zum Fremden. Damit verbindet sich sehr früh eine zweite Bedeutung: das „Eigene“ im Sinne des nächsten Interessen-, Wirkens- und Aufgabenkreises des Einzelnen, dem die Polissittlichkeit gebietet, „das Seine zu tun“ und es nicht über „Fremdem“ zu vernachlässigen.6 In dieser Bedeutung steht oikeioûn bzw. das mediale oikeioûsthai in enger Beziehung zum sokratischen epimeleîsthai,7 dem Interessenehmen, Sichsorgen um etwas, und zwar um das, was einen angeht (seinen Leib, seine Seele, seine Tugend, sein Hauswesen, das Leben und Wohl der Polis). Oikeioûn kann ferner (und zwar in stoischen Texten häufig) „etwas mit etwas bzw. jemanden mit jemandem bzw. mit etwas vertraut machen“, oikeioûsthai „mit etwas/jemandem (bekannt und) vertraut sein bzw. werden bzw. sich mit etwas/jemandem bekannt, vertraut machen und befreunden“ bedeuten.8 Der Terminus oikeiōsis bedeutet also eine spezifische Beziehung von Etwas/Jemandem zu Etwas/Jemandem, die als Vertrautmachen, Vertrautsein bzw. Vertrautwerden mit, interessiertes Gerichtetsein auf, Besorgtsein um etwas/jemanden charakterisiert werden mag. Oikeiosis hat im Rahmen stoischer Lehre zwei Aspekte: einen innengerichteten und einen außengerichteten. Der Innenaspekt bezieht sich auf etwas, was geschieht bzw. was getan wird in Bezug auf das Selbst; der Außenaspekt betrifft eine Änderung in der Beziehung des Selbst zur äußeren Welt. Oder anders gesagt: Oikeiosis ist zum einen ein Wirken der Allnatur, durch das sie ein Lebewesen sich selbst, seiner eigenen Verfassung geneigt macht und sein Streben auf Funktionen und Ziele ausrichtet, die seiner Verfassung entsprechen. Sie ist zum anderen ein Prozess, durch den ein Lebewesen schrittweise seiner selbst inne und dadurch mit sich selbst vertraut, sich selbst freund, mit sich selbst eins und einig wird.9 Die Natur, so die Lehre, stattet alle Lebewesen mit Selbstliebe, d. h. der Liebe zur eigenen Verfassung und einem Muster instinktiver Verhaltensformen und Verhaltensimpulse aus, die der Wahrung der eigenen Verfassung, näherhin der Selbst- und Arterhaltung dienen. Dabei berücksichtigt die Theorie den Gedanken der gestuften Entwicklung eines Lebewesens. Sie betont einmal, dass jeder Stufe des Lebens eine eigene seiner spezifischen Natur gemäße Verfassung und ein Muster des passenden Verhaltens entspricht. Sie betont in Bezug auf den Menschen zum anderen, dass die jeweils spätere und höhere Stufe entsprechend ihrer Verfassung in Bewusstsein und Verhalten die voraufgehenden integriert und integrieren muss, soll die qualitative Einheit des Menschen mit sich selbst gesichert sein. Bei den bloßen Sinnenwesen leistet alles die Natur über Instinkte und instinktgebundene Erfahrung. Die menschliche Selbstliebe, die ihr 6 7 8 9

vgl. Grumach 1966, 76; Pembroke 1971, 137. vgl. SVF I, 236. vgl. Liddell-Scott 1202; etwa auch Platon Nomoi 738 d. vgl. zu diesen beiden Aspekten v. a. Lee 2002, 34–39, u. ö.

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IV Die stoische Ethik entsprechenden Einstellungen und das ihr gemäße Verhalten ist neben naturalen Ausrichtungen und Impulsen an Erfahrung und Gewöhnung, an Erziehung und selbstständige Vernunftleistungen gebunden. Die von der Allnatur gewirkte Oikeiosis bezieht sich beim Menschen in prädisponierender Weise auf ein vernünftiges, freies, integrales Ichbewusstsein: „Denn nicht den Knaben oder den Jüngling oder den Greis, sondern mich vertraut die Natur mir an“.10 Die wichtigsten Texte zur stoischen Oikeiosislehre finden sich bei Cicero,11 Diogenes Laertius,12 Seneca13 und Hierokles.14 Das peripatetische Pendant von Arius Didymus überliefert Stobaeus.15 Cicero bietet, wenngleich auch skizzenhaft, die philosophisch genaueste und informativste Darstellung; Diogenes Laertius betont den naturphilosophisch-metaphysischen Rahmen der Theorie; Seneca zeichnet den Weg von biologischer Selbsterhaltung zur Selbsterhaltung der Vernunft und bringt den Ziel- und Leitgedanken der Einheit und Stimmigkeit des Lebens am prägnantesten zum Ausdruck. Manche Kommentatoren privilegieren, wenn auch nicht so ganz überzeugend, das Referat des Diogenes Laertius als genuin chrysippeisch und sehen in Ciceros Darstellung der Lehre eine spätere (vielleicht an Diogenes von Babylon oder Panaitios orientierte) Version.16 Hierokles bietet eine späte, für die animalische Oikeiosis besonders beobachtungsreiche und sensible, auch in ihren sozialen Aspekten wohl weitgehend orthodoxe Variante der stoischen Doktrin.17 (3) Den Ausgang nimmt die Lehre nach übereinstimmendem Zeugnis der Quellen von einer komplexen Theorie über den primären Impuls (prōtē hormē) eines neugeborenen Lebewesens.18 Das erste Streben (prōtē hormē), so Diogenes Laertius, richte sich beim Lebewesen darauf, sich selbst zu erhalten (epi to tēreîn heauto), da die Natur es von Beginn an sich selbst zueigen und zugeneigt mache (oikeiousēs hautô tês physeōs ap’ archês). Der erste Gegenstand der Zueignung und Zuneigung (prôton oikeîon) jedes Lebewesens sei sein eigener Bestand (hē hautoû systasis) und dessen Mitwahrnehmung (hē tautēs synaisthēsis bzw. syneidēsis). Es sei unsinnig anzunehmen, die Natur habe das Lebewesen so geschaffen, dass es sich selbst fremd sei bzw. dass es sich weder fremd noch nah sei.19 Das Streben nach Selbsterhaltung drücke sich darin aus, dass das Lebewesen (instinktiv) nach dem auslangt, was seinem eigenen Bestand gemäß und zuträglich ist und das flieht, was ihm schädlich ist.20 Dieses Verhalten zeige sich vom Augenblick der Geburt an, noch ehe es aus 10 11 12 13 14 15 16 17 18

Seneca Ep. 121, 17. De finibus III, 16–18; 20–22; 62–68. DL VII, 85–86. Epistula ad Lucilium 121. Eth. Elementarlehre und bei Stobaeus Ecl. IV. Ecl. II, 116–128. vgl. etwa Klein 2016, 151. vgl. Zagdoun 2005, 319–334. DL VII, 85; Cicero De fin. III, 16; Seneca Ep. 121, 17–24; Hierokles Eth. Elementarlehre col. 1. 19 DL VII, 85 = LS 57 A = SVF III, 178. 20 DL VII, 85.

1. Die Oikeiosislehre eigener Erfahrung Nützliches und Schädliches kennengelernt hat.21 Das primäre Aussein-auf-etwas, das sich in zielgerichteten Bewegungen der Sinne, der Nahrungssuche, der Körperentfaltung, des Selbstschutzes etc. äußert und die Umgebung in Nahes, Vertrautes, Schützendes, Lebensförderndes einerseits, Fremdes, Gefährliches, Schädliches andererseits unterscheidet, lässt sich in stoischer Sicht nur so verstehen, dass das erste, worum es jedem Lebewesen geht, sein eigenes Sein und dessen integrer Bestand (systasis, constitutio) in seiner bestimmten organischen Struktur mit verschiedenen Teilen, Merkmalen und Funktionen ist. Das zeitlich und sachlich vorgängige geneigte Gerichtetsein auf den eigenen Bestand wiederum setzt voraus, dass das Lebewesen sein Sein und Sosein als etwas Gutes, und zwar als das ihm eigene Gute wahrnimmt. Das strebende Gerichtetsein auf das eigene Sein gründet nicht in freier Zwecksetzung – es ist aller Erfahrung und jedem Entschluss vorgeordnet –, sondern wird durch die schöpferische Natur gestiftet.22 Das Leben eines Sinnenwesens ist immer schon ein Innesein, ein Erleben des Lebens. Nach dem stoischen Begriff der hormē ist der strebend tätige Organismus in ein Verhältnis zu sich selbst gesetzt; d. h. das Streben wird verstanden nicht als einsinniger Prozess, sondern als zielgerichtete Aktivität, die eine kognitive (bewusste, vor- oder unbewusste) Rückbeziehung des tätigen Wesens auf sich selbst enthält und im integren Zustand des eigenen Seins sein Ziel und seine Befriedigung findet. Dass alle Lebewesen bestimmte Dinge suchen und andere meiden und es ihnen in diesem Suchen und Meiden ständig um ihr eigenes Sein geht, wäre nicht möglich, wenn sie nicht je schon, in welch rudimentärer Form auch immer, eine ‚propriozeptive‘ bzw. kognitive Beziehung zu sich selbst hätten.23 Mit der äußeren Wahrnehmung ist von Geburt an eine innere „Mitwahrnehmung“, eine Selbstaffektion verbunden;24 und mit der Selbst- bzw. Mitwahrnehmung ist eine Selbstliebe verknüpft: Durch die Struktur der aisthēsis, die wesentlich auch eine synaisthēsis ist, ist das Lebewesen in seiner Natur mit ihren Funktionen sich selbst gegeben, und durch die oikeiōsis ist es sich selbst als etwas Nahes, Vertrautes, Befreundetes, Eigenes, als Gegenstand der Zuneigung gegeben. Man kann sagen: Mit der stoischen Oikeiosislehre beginnt in der Geschichte der Philosophie das Interesse an Subjektivität (auf den verschiedenen Stufen des Lebens).25 Die das eigene Sein miterfassende Struktur der aisthēsis und die durch die oikeiōsis gestiftete Selbstliebe bedingen, dass es für das Lebewesen so etwas wie „Eigenes“ und „Fremdes“ gibt. Und nur wer etwas als Eigenes wahrnimmt und annimmt und etwas als Fremdes erfährt, kennt Nutzen und Schaden, Passendes und Unpassendes, Förderung, Hilfe, Bedrohung und Verletzung. Nur weil das Lebewesen sich selbst 21 vgl. Cicero De fin. III, 16; Seneca Ep. 121, 19. 22 diesen Aspekt betont Bees 2004, 200–258. 23 vgl. Long 1996a, 257 ff.; Diogenes Laertius benennt diesen Sachverhalt mit dem Terminus syneidēsis bzw. synaisthēsis (die Lesart VII, 85 ist unsicher), Cicero De fin. III, 16 übersetzt mit sensus sui; Seneca Ep. 121, 5 spricht davon, dass das seelische Leitorgan sich zum Leib verhält. 24 vgl. Hierokles Eth. Elementarlehre col. VI, 1; VI, 3 ff.; LS 57 C. 25 vgl. Romeyer-Dherbey 2005a, 277–292.

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IV Die stoische Ethik „von Natur aus“ wahrnimmt, annimmt und liebt, gibt es für es so etwas wie das für es passende Verhalten sowie Güter und Übel des Lebens, das seiner Natur Gemäße (to kata physin) und das seiner Natur Widersprechende und Abträgliche (to para physin). Das Wahrnehmen, so ein Bericht des Porphyrios,26 ist nach den Schülern Zenons der Ursprung des strebenden Unterscheidens von Eigenem und Fremdem, und die Oikeiosis ist der Ursprung der Gerechtigkeit – Ursprung der Gerechtigkeit wohl zunächst in dem Sinn, als nur bei einem wahrnehmenden, sich selbst empfindenden und liebenden Wesen von Eigenem und Fremdem, von zu ihm und für es Passenden und Unpassenden und demgemäß von dessen ‚naturgemäßer‘ Wahrung und Verletzung gesprochen werden kann. Eine erste systematische Funktion der Lehre in Auseinandersetzung mit Gegenpositionen wird im Textverlauf bei Diogenes Laertius unmittelbar deutlich: Das, worauf der ursprüngliche Trieb (die prōtē hormē) zeitlich und sachlich vorgängig zielt, ist nicht die Lust (hēdonē), sondern das eigene Sein, dessen Wahrung und Entfaltung.27 Lust und Schmerz seien Begleiterscheinungen (epigennēmata), die sich einstellen, wenn das Lebewesen in naturgemäßem Zustand und naturgemäßer Tätigkeit das ihm eigene Zuträgliche erreicht bzw. realisiert oder in dieser seiner naturgemäßen Verfassung beeinträchtigt wird.28 Der Gegner, auf den dieses Verständnis von Lust und Schmerz antwortet, ist bekannt: Epikur spricht von der Lust als dem prôton oikeîon, dem ersten und letzten Gegenstand des Strebens, dem Prinzip allen Tätigseins.29 Der Trieb zur Selbsterhaltung und Selbstentfaltung ist allen Lebewesen gemein. Er kann allerdings nicht, wie Epikur dies sah, als ausschließlich selbstbezogen verstanden werden. In der eigenen Verfassung sind Tendenzen des Geneigtseins zu anderen und des Wohlwollens für sie mitgegeben. Der lebende Organismus ist naturwüchsig auf Fortzeugung aus. Es wäre widersinnig, „wenn die Natur die Zeugung beabsichtigte und um das Geliebtwerden des Gezeugten sich nicht kümmerte“.30 Die von der Natur gestiftete Zuneigung betrifft also nicht nur das eigene Sein, sondern (etwa) auch das der eigenen Nachkommenschaft.31 Wenn wir, so die Darstellung Ciceros, die Anstrengung der Tiere beim Gebären und Aufziehen der Jungen beobachten, so glauben wir die Stimme der Natur selbst zu vernehmen.32 Die instinktive Liebe zur eigenen Nachkommenschaft kann die auf Selbsterhaltung bezogene Liebe sogar unter Umständen überwiegen. Bei einigen Tierarten ist dieser für den anderen wie für sich selbst sorgende Trieb auf die eigene Nachkommenschaft und die Zeit ihrer Aufzucht beschränkt – sie leben vereinzelt. Bei anderen finden sich Formen instinktiver Vergemeinschaftung: der engen Assoziation von artgleichen Tieren, deren Tätigkeiten wesentlich auf den 26 27 28 29 30 31 32

De abstinentia III, 19 = SVF I, 197. vgl. dazu auch Seneca Ep. 121, 17. DL VII, 85–86. DL X, 34; vgl. X, 128 f. Cicero De fin. III, 62 = SVF III, 340. vgl. Plutarch Stoic. rep. 1038 B = SVF III, 179. De fin. III, 62.

1. Die Oikeiosislehre Bestand und das Wohl des so gebildeten Ganzen zielen oder der Symbiose von Tieren verschiedener Species zu gegenseitigem Vorteil.33 Der Mensch erscheint in dieser Sicht der Stoa eindeutig als ein Lebewesen, das naturwüchsig auf ein Leben in Gesellschaft ausgerichtet ist.34 Die empirischen Belege für den Selbsterhaltungstrieb und die spezifischen Verhaltensmuster ebenso wie für die Verschränkung von Selbst- und Arterhaltungstrieb und die mannigfachen Symbiosen bzw. Gemeinschaften im Tierreich fand die Stoa im gewaltigen zoologischen Material, das während des Alexanderzugs und im Anschluss an ihn angehäuft und ausgewertet wurde.35 Die Lehre von der Oikeiosis zu den Mitmenschen (als ‚Ursprung der Gerechtigkeit`) könnte auf Zenon zurückgehen.36 Die ausführlichste Quelle zur stoischen Lehre vom menschlichen Sozialtrieb bietet Cicero,37 das detailreichste Bild der Ausweitung der Oikeiosis in konzentrischen Kreisen vom Selbst bis zu allen Menschen bietet Hierokles.38 Der erste von Cicero angeführte Punkt ist die natürliche Liebe der Eltern zu ihren Kindern.39 Diese hat der Mensch mit den Tieren gemein. Dass er mit einigen Tieren auch noch den Herdentrieb bzw. den Trieb zur Gemeinschaftsbildung teilt, ist der zweite Gedanke. Für beide Triebe gilt, dass das einzelne Lebewesen hier von Natur aus, aufgrund seiner natürlichen Verfassung zu Tätigkeiten tendiert, die auf etwas abzielen, was sich von dem für das tätige Individuum jeweils Zuträglichen unterscheiden kann bzw. dieses übersteigt. Dies mag ‚altruistisch‘ bis zum Einsatz, ja gar bis zum Opfer des eigenen Lebens für die Nachkommen bzw. die Gemeinschaft gehen. Dann schlägt Cicero einen gewaltigen Bogen mit dem Satz, hieraus erwachse eine natürliche Wohlgeneigtheit (naturalis commendatio = oikeiōsis) zwischen allen Menschen, derart, dass der Mensch dem Menschen gerade deshalb, weil er Mensch ist, nicht als etwas Fremdes erscheinen sollte.40 Nach Cicero kulminiert also die stoische Oikeiosis in einem Punkt, in dem alle Menschen in einer Gemeinschaft der Interessen einander so nahe, lieb und vertraut sind bzw. sein sollen, wie der Einzelne sich selbst und seinen unmittelbaren Angehörigen zugeneigt ist und wohl will.41 Für Chrysipp und seine Vorgänger ist die menschliche Gattung als Gegenstand der Oikeiosis nicht explizit bezeugt. Die Lücke zwischen Selbstliebe, Elternsorge, Geselligkeitstrieb und Gattungszuneigung schließen (für uns) zeitlich später zu datierende stoische oder von der Stoa beeinflusste Texte mit dem Gedanken einer allmählichen konzentrischen Ausweitung des Gegenstands naturwüchsiger Zuneigung vom Selbst zu den Kindern bzw. Eltern, Verwandten, Freunden, Mitbürgern, 33 vgl. Cicero De fin. III, 63. 34 vgl. Cicero De fin. III, 63 u. 65; SVF III, 346; 686; Hierokles Eth. Elementarlehre col. XI, 14. 35 vgl. Pohlenz 71992, I, 84. 36 vgl. SVF I, 197; Pohlenz 1940b, 11; Pembroke 1971, 122. 37 De fin. III, 62–68. 38 bei Stobaeus IV, 671.7–673.11 WH. 39 vgl. auch Plutarch Stoic. rep. 1038 B = LS 57 E. 40 De fin. III, 63. 41 vgl. hierzu v. a. Algra 2003b.

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IV Die stoische Ethik Stammes- bzw. Volksgenossen bis hin zur Menschheit insgesamt.42 Andererseits ist die kosmologische Perspektive und die mit ihr verbundene Vorstellung von der Welt als Kosmopolis, als einer durch gemeinsame Vernunft gestifteten universalen Gemeinschaft von Göttern und Menschen von Anfang an, zumindest jedenfalls von Chrysipp an in der Philosophie der Stoa präsent.43 Es spricht vieles dafür, dass Ciceros Darstellung der ‚sozialen‘ Oikeiosis altstoische Gedanken referiert, zumal sie mit den Referaten von Diogenes Laertius und Hierokles bzw. Stobaeus zusammenstimmt und Plutarch ganz generell betont, Chrysipp habe die Theorie in fast jedem Buch über Ethik bemüht.44 (4) Die durch die Oikeiosis begründete naturwüchsige Selbstliebe ist beim Menschen zunächst auf seine Konstitution als Sinnenwesen gerichtet. Er gleicht dem Tier. Das ändert sich mit der Mündigkeit, wenn seine Sprach- und Vernunftfähigkeit gereift ist. Nun kann sich seine Selbstliebe auf sein Vernünftigsein zentrieren. Die Texte45 beschreiben die Entwicklung der Sprach- und Vernunftfähigkeit (des logos) des Menschen als einen Prozess, für dessen naturgemäße Reifung ein Zeitraum von (jeweils) sieben Jahren (vom ersten bis zum siebten bzw. vom siebten bis zum 14. Lebensjahr) in Rechnung gestellt wird. Im Abschnitt zur Oikeiosislehre bei Diogenes Laertius werden die Organismen in Pflanzen, Tiere und Menschen gegliedert. Für alle drei hat die Natur Bewegungsformen eingerichtet, die auf Selbst- und Arterhaltung zielen. Die Tiere unterscheiden sich von den Pflanzen durch Wahrnehmung und Trieb. Was diese über aisthēsis und hormē in gewisser Weise selbst leisten, wird bei den Pflanzen aufgrund einer vegetativen Kraft (phytoeidôs) ganz von der Natur erbracht. Im Menschen tritt zu Wahrnehmung und Trieb die Sprachfähigkeit hinzu. Zunächst in seinem Zentralorgan nur keimhaft vorhanden und sich schrittweise entwickelnd, wird sie im mündigen Menschen zum Bildner und Gestalter des Triebs (technitēs tês hormês).46 Ciceros komprimiertes Referat47 gibt uns noch am deutlichsten zu verstehen, was diese Entwicklung und Veränderung nach stoischer Lehre im Menschen genau besagt: „Die erste angemessene Leistung eines Lebewesens (primum officium) – so übersetze ich das kathēkon – ist demnach, sich in der natürlichen Verfassung zu erhalten (ut se conservet in naturae statu); daraus ergibt sich die zweite, dass es die Dinge sich aneignet und hält, die seiner Natur gemäß sind, und die gegenteiligen Dinge sich fernhält. Wenn dann das Verfahren der Auswahl (selectio) und Abwahl (reiectio) von Dingen gefunden und erfasst ist, folgt als drittes die verantwortliche Wahl (cum of­ ficio selectio); dann folgt diese in Beständigkeit (ea perpetua); schließlich in einer Höchstform der Konstanz und der Übereinstimmung mit der Natur (tum ad extre­ 42 vgl. Cicero De fin. III, 65; Stobaeus Ecl. II, 143, 11–14 W; Cicero De off. I, 12; 53 f.; Hierokles Eth. Elementarlehre col. IX, 2 ff.; LS 57 D; ausführlich LS 57G = Hierokles bei Stobaeus IV, 671.7–673.11 WH; vgl. Algra 2003b 286 ff. 43 vgl. Schofield 1991; Reydams-Schils 2002a, 221–251. 44 Stoic. rep. 1038 B. 45 SVF I, 149; II, 83; 764; 835. 46 DL VII, 86 = LS 57 A. 47 De fin. III, 20–21.

1. Die Oikeiosislehre mum constans consentaneaque naturae). In diesem Zustand nun beginnt das, was wahrhaft gut genannt zu werden verdient, (im Menschen) anwesend zu sein und erkannt zu werden. Denn die erste Zueignung und Verbundenheit (prima concilia­ tio) des Menschen geht auf das, was der Natur gemäß ist. Sobald er aber Geist oder vielmehr begriffliche Erkenntnis gefasst hat (simul autem cepit intelligentiam vel no­ tionem potius), was jene ennoia nennen, und er die Ordnung und sozusagen den Zusammenklang der Dinge, die (von ihm) getan werden (bzw. zu tun sind), sieht (viditque rerum agendarum ordinem et, ut ita dicam, concordiam), schätzt er sie viel mehr als alles, was er zuerst geliebt hat, und kommt so durch intuitive Erkenntnis und vergleichendes Überdenken zum Ergebnis (et ita cognitione et ratione collegit), dass darin das höchste Gut des Menschen liegt, das für sich Lob verdient und uneingeschränkt zu erstreben ist, dass es in dem liegt, was die Stoiker homologia nennen, wir aber, wenn es recht ist, convenientia nennen wollen –, da also darin jenes Gute liegt, auf das alles zu beziehen ist, die sittlich guten Taten und das sittliche Gute selbst (honeste facta ipsumque honestum), das allein zu den wahrhaft guten Dingen gerechnet wird, so ist dieses, obgleich es später entsteht, doch allein aufgrund eigener Kraft und Würde absolut zu erstreben (expetendum). Von jenen Dingen aber, die zuerst naturgemäß sind, ist nichts um seiner selbst willen absolut zu erstreben . . . Es ist dies gleichwohl naturgemäß und fordert uns ungleich mehr zu seiner Erlangung auf als alles Frühere.“ Diese Cicero-Passage enthält in äußerst konzentrierter doxographischer Form die stoische Zielbestimmung des Menschen. Man mag sie, wenngleich einseitig akzentuiert, mit dem Begriff personaler Identität kennzeichnen.48 Qualitative Identität, so die implizite Ausgangsthese, erreicht der Mensch nur durch eine naturgemäße Einstellung und Verhaltensweise zu sich und der Welt. Dem Menschen ist wie allen Lebewesen von Natur ein Muster von Einstellungen und Verhaltensweisen vorgezeichnet. Dieses Muster realisiert er teils spontan; teils wird er schrittweise mit ihm durch Selbst- und Welterfahrung vertraut. Es ist zunächst den übrigen Sinnenwesen ähnlich. Es ändert sich mit seinem Eintritt in die Mündigkeit. Dinge, die ihm in seinem frühen Entwicklungsstadium angemessen sind, verlieren den Charakter des (im Allgemeinen) Passenden nicht, aber ihre Stellung im Gesamtgefüge der Selbstliebe wandelt sich grundlegend. Jetzt gilt seine Liebe uneingeschränkt dem eigenen Vernünftigsein und der Vernunftqualität des Handelns. Jetzt gilt, was Seneca in den Satz kleidet: „Der Mensch ist sich aufgrund des Teils teuer, durch den er Mensch ist“.49 Das ‚erste Naturgemäße‘ (physische Selbst- und Arterhaltung und das ihnen Dienliche) hat nun Wert nur im Rahmen eines vernünftigen Umgangs mit ihm. Sein Wert ist ganz und gar abgeleitet und bedingt; an ihm selbst ist nichts, was um seiner selbst willen erstrebenswert wäre.50 Bleibt das erste Naturgemäße im Status der Mündigkeit unbedingtes Strebensziel eines Menschen, dann ist Uneinigkeit mit sich und der Welt die Folge. Die Einstellungsänderung, so die Theorie, ergibt sich sowohl aufgrund natürlicher Ausrichtung als auch aufgrund eigener Leistung: Die begriff48 vgl. Kerferd 1972. 49 Ep. 121, 14. 50 Cicero De fin. III, 21.

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IV Die stoische Ethik lich-gedankliche Erfassung und Durchdringung dessen, was man, zur Konsequenz gesteigert, der Vernunft gemäß tut, führt wie in einem Umschlag zur bedingungslosen Liebe zum eigenen Vernünftigsein (im Denken, Fühlen und Handeln). Doch diese bedingungslose Liebe ist dem Menschen gemäß, weil wir von Natur zur Sprachfähigkeit veranlagt und zu einem ganz und gar durch Vernunft bestimmten Leben zielhaft ausgerichtet sind. Blickt man auf Ciceros (stark interpretationsbedürftige) Darstellung im Einzelnen, dann markiert die Fähigkeit der selectio den Übergang vom Tier zum Menschen. Mit ‚selectio‘ und ‚reiectio‘ übersetzt Cicero die stoischen Termini eklogē und apeklogē. Bei ihnen zeigt noch der Wortlaut an, dass ein Wählen und Verwerfen von Dingen angesprochen ist, das durch die Sprachfähigkeit bestimmt wird. Die weitere (ideale) Entwicklung folgt dem Schema einer gleichsam natürlichen Entwicklung der sprachlich bestimmten Wahlfähigkeit und des korrespondierenden Fortgangs des mit ihr verbundenen Innewerdens und Zueignens von Eigenschaften der Person, die im rationalen Wählen im Spiel sind. (a) Im Wählen und Abwählen konkreter Dinge und Handlungen werden wir einer gewissen Unabhängigkeit von Naturzwängen und anderen Personen inne und eignen uns diese Eigenschaft des Freiseins als wesentlich zu unserer Natur gehörig zu. (b) Im Wählen und Abwählen konkreter Dinge und Handlungen wählen wir uns selbst und werden gewahr, als wie beschaffene wir unser Leben führen und erfahren möchten. Das sprachlich artikulierbare Selbstverständnis bekundet sich ja in den Prämissen unserer praktischen Entscheidungen, und wird in diesen und nirgendwo sonst konkret. Erste Akte des Wählens beziehen sich auf vergleichsweise Geringfügiges, sind bei Heranwachsenden stark tentativ und noch nicht strengen Rechtfertigungszumutungen vonseiten anderer ausgesetzt. Das Mündigwerden ist gekennzeichnet durch den Erwerb von Fähigkeiten und die Tendenz, insbesondere gewichtigere Entscheidungen so zu treffen, dass sie sich gegenüber Mitgliedern der eigenen Lebensgemeinschaften, denen man sich zugehörig weiß, mit guten Gründen verteidigen lassen. Dies entspricht der Natur des Menschen als eines rationalen und sozialen Lebewesens. Der Mensch wird zum Subjekt, das sein Leben nach eigener Wahl durch Überlegung und Entschluss führt, nur im Rahmen einer Meinungs-, Handlungs- und Erlebnisgemeinschaft, in die er hineinwächst und von der er im Maß der Graduierung seiner Selbstständigkeit auch argumentativ in Anspruch genommen wird. Die Rechtfertigung des Wählens bezieht sich zunächst auf einen gemeinsamen Fundus von Erfahrung, von Zielen, Wertungen und Normen, die einem Menschen in der Art der Besorgung des Lebensnotwendigen, in Sitte und Recht, in Kunst und Religion und den von ihnen getragenen Institutionen einer Polis- oder Stammesgemeinschaft gegeben sind. Wir befinden uns hier auf der Stufe der Entwicklung, die Cicero mit der äußerst kurzen Formel „cum officio selectio“ beschreibt. Officium steht für das stoische ka­ thêkon. Kathēkonta sind Handlungen, die als intersubjektiv zugängliches Verhalten dem Menschen im Blick auf die Stufe seiner Entwicklung und seiner Stellung im sozialen Ordnungsgefüge gemäß sind und angesichts der konkreten Situation zu ihm passen. Eine der gut überlieferten Definitionen für das mit ‚kathêkon‘ Gemeinte unterstreicht den Aspekt erfolgreicher Rechtfertigung derartiger Handlungen: „Pas-

1. Die Oikeiosislehre sendes Verhalten ist aber, was so getan ist, dass es, als Tat, eine gut begründete Rechtfertigung für sich hat“.51 Der (in der Definition verwendete) Ausdruck ‚of­ ficium‘ weckt die Konnotationen von politisch-gesellschaftlichen Rollen und Ämtern und den mit ihnen verbundenen Aufgaben, Befugnissen und Verpflichtungen. Der Ausdruck ‚eulogos apologismos‘ erinnert in Ciceros (problematischer) Übersetzung (‚probabilis ratio‘) an das (von Aristoteles entwickelte) topisch-dialektische Verfahren der Begründung von Handlungen unter Bezugnahme auf den Traditionsund Erfahrungsbestand eines sensus communis in praktischen Angelegenheiten. Dieses hat Cicero bei seiner leitenden Perspektive der Entwicklung des Menschen hin zur Sittlichkeit vielleicht auch im Auge.52 Die nächsten Etappen einer naturgemäßen Entwicklung des Menschen hin zu einer vernünftigen Persönlichkeit beinhalten offensichtlich eine Steigerung des seligere cum officio in mehrfacher Hinsicht. Zunächst wird verantwortliches Handeln durch wiederholtes Tun zum Ausdruck einer dauerhaften, alles Verhalten bestimmenden Disposition: cum officio selectio perpetua. Eine Person kann freilich durchgängig ihrer politisch-sozialen Verantwortlichkeit gemäß sich verhalten, ohne dass die Regelsysteme, denen sie folgt und denen sie sich verantwortlich weiß, dieselben bleiben. Um mit Aristoteles zu sprechen: Ein guter Bürger sein definiert sich relativ zum Typus der Polisordnung und impliziert andere Eigenschaften in einer Demokratie als etwa in einer Erbaristokratie. Und diese Bezugssysteme können in einem Menschenleben bekanntlich mehrfach sich ändern. Vollendete Konstanz angemessenen und verantwortbaren Verhaltens gewinnt eine Person nach stoischer Überzeugung deshalb nur, wenn sie die bestehenden Sitten und Gesetze, die Befugnisregeln und Verpflichtungsansprüche einer politisch-sozialen Ordnung einem Maßstab kritischer Prüfung und praktischer Orientierung unterwirft, der universale Dignität und Verbindlichkeit besitzt. Dies ist ihr der Maßstab der (göttlichen) Natur, wobei ‚physis/natura‘ sowohl die Allnatur als auch die besondere Natur des Menschen und ihre Stellung im Rahmen des Ganzen meint. Jetzt ist die Stufe erreicht, die Cicero mit der Wendung ‚ad extremum constans consentaneaque naturae‘ beschreibt. In ihr erst beginnt im Verhalten und Erleben des Menschen da zu sein und erkannt zu werden, was wahrhaft gut genannt zu werden verdient: homologia/convenientia. In De fin. III, 21 steht als Ziel „Übereinstimmung“ für sich, in III, 26 ist das „Äußerste“ als ‚congruenter naturae convenienterque vivere‘ bestimmt. Gemeint ist mit ‚homologia/convenientia‘ als dem wahrhaft Guten demnach einerseits interne Ordnung und Konsistenz des Handelns und damit vollständige theoretische, emotionale und praktische Übereinstimmung mit sich selbst. Gemeint ist andererseits (und doch wohl primär, weil die Voraussetzung benen51 Cicero De fin. III, 58; DL VII, 107. 52 Man kann nach sonstigem stoischen Sprachgebrauch das ‚eulogos‘ allerdings auch im starken Vernunftsinn des orthos logos des Weisen verstehen und alle kathēkonta an den eindeutigen Maßstab der Vernunft des Weisen bzw. der göttlichen Natur gebunden sehen, vgl. SVF III, 510 = Stob. Flor. 103.22; Brennan 1996, 318–334; doch Cicero hat an unserer Stelle noch nicht die Position und Perspektive des Weisen, sondern die des Voranschreitenden im Auge; mehr dazu unten S. 209, 213 ff.; 217.

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IV Die stoische Ethik nend), dass diese in sich konsistente und stimmige Form des Denkens, Fühlens und Handelns sich in die Ordnung des Kosmos bzw. dem vernünftigen Willen Gottes bewusst und willentlich fügt, dass sie auf ihre (begrenzte) Weise die alles gestaltende und ordnende Vernunft der Allnatur spiegelt und darstellt, und dass sie das verwirklicht, was die Allnatur uns Menschen im Allgemeinen und dem Individuum im Besonderen zu leisten vorgibt. Beides zusammen macht den „Wohlfluss“ des menschlichen Lebens (euroia biou) aus.53 Dieses wahrhaft Gute, das Vernünftigsein, wird nun als etwas erfahren und erstrebt, was dem Menschen in einer profunderen Weise eigen und naturgemäß ist als alles, was ihm als endlichem Sinnenwesen einer bestimmten Art mit einer erst keimhaften und noch unselbstständigen Vernunft eigen und naturgemäß war. Letzteres sinkt in den Rang des für sich genommen Gleichgültigen (adiaphoron) herab. (5) Nun hat diese uneingeschränkte Liebe zur Vernunftqualität des Handelns im Menschen zu Beginn und bis zum angestrebten Status des vollendet Weisen eine eigenartige Struktur. Einerseits bezieht der Mensch sich in ihr reflexiv auf etwas, was er bereits realisiert hat und verwirklicht, und was im Vollzug als das Ureigenste, als das für ihn absolut Gute erfahren, verstanden und bejaht wird. Andererseits bezieht er sich auf etwas, was als noch keineswegs vollständig erreichtes Ziel gesehen, ja was als möglicherweise oder tatsächlich teilweise verfehlt erfahren und von eigenen nichtvernünftigen Gedanken, Wünschen und Handlungen konterkariert wird. Es ist diese Struktur der uneingeschränkten Liebe zum eigenen Vernünftigsein als erfahrbares Faktum und erstrebtes Ziel, das die Vernunft im Menschen zum Gewissen macht, zum Zeugen, Ankläger Anwalt und Richter über die eigene Stellung und die eigenen Schritte in Richtung des Ziels vollkommenen Vernünftigseins.54 In Ciceros Referat der Oikeiosislehre in De finibus kommt diese Struktur auf sprachlich unscheinbare und gleichwohl signifikante Weise zum Ausdruck. Er verwendet an entscheidender Stelle in dem Satz vidit rerum agendarum ordinem et concordiam das Gerundiv als Verbaladjektiv. Als solches ersetzt es im Lateinischen das fehlende Partizip Passiv Praesens. Daran orientiert sich die primäre Bedeutung. Der Satz besagt also zunächst: „Er sieht die Ordnung und den Einklang der Dinge, die von ihm getan werden.“ Und das heißt im Kontext: Die uneingeschränkte Liebe zum eigenen Vernünftigsein ist gebunden an die (beglückende und motivierende) Erfahrung tatsächlichen eigenen Vernünftigseins im (Denken, Fühlen und) Handeln. Das Gute ist ja etwas, was, analog der Süße des Honigs, in seiner eigenartigen Qualität erfahren werden muss.55 Sodann hat das Gerundiv in dieser Form auch einen prospektiv-finalen Sinn, etwa die Bedeutung des verpflichtenden „Müssens“ bzw. der zu leistenden Aufgabe, und der Satz besagt demnach auch: „Er sieht die Ordnung und den Einklang der Dinge, die es zu tun gilt“. Ähnlich drückt sich Cicero denn auch im Abschluss-Passus der Oikeiosis-Lehre aus, der von der Liebe zur gesamten Menschheit handelt. Er beschreibt die Selbstentfaltung des menschlichen Logos in der Ausweitung der Sympathie vom Selbst über Familie und Staat bis zur Menschheit als 53 DL VII, 88. 54 vgl. Forschner 2004a, 126–150; 2014, 153–168. 55 vgl. De fin. III, 34: propria vi sua sentimus.

1. Die Oikeiosislehre Prozess einer natürlichen, über Erfahrung vermittelten „natürlichen Aneignung und Zuneigung“ (naturalis commendatio) und zugleich als sittliche Aufgabe (ut oporteat ab homine ob id ipsum, quod homo sit, non alienum videri).56 (6) Die Erkenntnis des wahrhaft Guten ist ebensosehr an den eingeübten Vollzug konsequenter Praxis wie an den Abschluss der kindhaft-natürlichen Entwicklung des Vernunftvermögens bis zum selbstständigen Gebrauch gebunden. Und mit dem Erwerb des Begriffs des Guten ist (natürlicherweise) seine auf beglückender Attraktion und uneingeschränkter Liebe basierende motivierende Kraft gegeben. Dieser Gedanke ist gutes sokratisches Erbe. Cicero sagt in epistemologischer Hinsicht wenig, wie es zur Erkenntnis des Guten kommt; er setzt ein mit dem Erreichen des Status der Mündigkeit (simul autem cepit intelligentiam vel notionem potius, quam appellant ennoian illi).57 Der Mensch unterscheidet sich vom Tier nach stoischer Lehre von Anfang an durch eine keimhafte, sich allmählich entwickelnde Vernunftanlage. Diese ist von Natur so ausgerichtet, dass das heranwachsende Kind im ständigen Wahrnehmungskontakt mit seiner Umwelt von selbst (physikôs) einen wachsenden Bestand umrisshafter, auf weitere Erfahrung verwiesener Begriffe (prolēpseis) des seinem Leben Nützlichen und Schädlichen entwickelt, die ihm eine zunehmend sicherere Orientierung in der Welt ermöglichen. Wir gelangen so zu einem gewissen Bestand von Begriffen, den wir mit unseren näheren Mitmenschen, zum Teil mit allen Menschen teilen (koinai ennoiai/notiones communes).58 Der Status der Mündigkeit, den Cicero anspricht, ist durch den Besitz eines hinreichenden Bestandes solcher, insbesondere allen Menschen gemeinsamer naturwüchsiger Begriffe gekennzeichnet, die die natürliche Voraussetzung dafür sind, eine verstandesgeleitete, eigenverantwortliche und erfolgreiche Lebensführung zu ermöglichen.59 Er ist aber auch gekennzeichnet durch die nunmehr erreichte Fähigkeit und Tendenz, aktiv und überlegt über diesen Bestand von Begriffen, ihre Bildung und ihren Zusammenhang zu reflektieren, sie zu sammeln, zu vergleichen, kritisch zu zergliedern, zu prüfen, zu schärfen, zu korrigieren und zu erweitern. Diese Fähigkeit und Tendenz ist wohl angesprochen, wenn Cicero erklärt, der Mensch würde so durch intuitive und diskursive Erkenntnis(tätigkeit) zu dem Schluss kommen, dass in der homolo­ gia, in der Vernunftqualität all seiner Handlungen das höchste Gut beschlossen liegt (atque ita cognitione et ratione collegit, ut statueret in eo collocatum summum illud per se laudandum et expetendum bonum).60 Ein Passus bei Diogenes Laertius61 listet die mentalen Prozesse auf, die nach stoischer Lehre bei begrifflicher bzw. gedanklicher Vorstellung von Objekten im Spiel sind: Elementar sind jene Begriffe, die durch wiederholte gleichförmige Wahrneh56 De fin. III, 63. 57 De fin. III, 21. 58 vgl. Sandbach 1971a, 22–37; Schofield 1980a, 283–308; LS 39 E = SVF II, 83; LS 40 R = Plutarch Comm. not. 1060 A; LS 40 S = Epiktet Diss. I, 22,1–3,9–10; LS 40 T = Sextus AM VIII, 337; SVF III, 69 = Plutarch Stoic. rep. 1041 E. 59 vgl. M. Frede 1999a, 74. 60 De fin. III, 21. 61 DL VII, 53 = LS 39 D = SVF II, 87.

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IV Die stoische Ethik mung „von selbst“ (physikôs) entstehen und der gedanklichen Interpretation entsprechender Wahrnehmungen dienen. Auf ihrer Basis bilden wir (teils „von selbst“, teils in methodischer Reflexion) über Analogie, über Umstellung, Synthese, Entgegensetzung, Abstraktion und Privation gedankliche Objekte, die mit der Wirklichkeit zu tun haben und ihrem adäquaten Verständnis dienen oder aber rein fiktionaler Natur sind. So bilden wir die Vorstellung vom Mittelpunkt der Erde über Analogie im Ausgang vom Zentrum kleinerer Kugeln, die Vorstellung vom leeren Raum durch Abstraktion von den Körpern, die ihn einnehmen, die Vorstellung von Kentauren durch eine Zusammensetzung der Gestalt von Mensch und Pferd, die Vorstellung vom Totsein durch Antithese zum Leben. Prolēpseis bzw. koinai ennoiai sind (nach dem Zeugnis des Aëtius) generische Vorstellungen, die sich auf natürlichem Weg über wiederholte Wahrnehmungen bilden. Wir erwerben sie in den ersten sieben Lebensjahren; ihre allgemeine Verbreitung ist Index ihrer Wahrheit. Von ihnen werden jene Begriffe unterschieden, die „künstlich (epitechnētōs)“ gebildet sind und „durch unsere Unterweisung und Sorgfalt (di’hēmeteras didaskalias kai epimeleias)62 erworben werden. Nun wird bei Diogenes Laertius als stoische Lehre referiert, dass „etwas Gerechtes und Gutes auf natürliche Weise gedanklich erfasst wird (physikôs de noeîtai dikaion ti kai agathon)“.63 Und bei Plutarch64 ist davon die Rede, Chrysipp bestehe darauf, dass seine Theorie des Guten und Schlechten am meisten sich an die in unserer Natur wurzelnden Vorbegriffe anhefte (malista tôn emphytōn haptesthai prolēpseōn). Heisst dies, dass der Begriff des Guten sich wie die Begriffe von Farben oder von gängigen Erfahrungsgegenständen wie Wasser, Wind, Feuer, Bäumen etc. ganz natürlich über wiederholte gleichförmige Wahrnehmungen bildet? Tatsächlich stellen für Chrysipp Affekte, Wohltaten und Vergehen ebenso wie Tugenden und Laster etwas Körperliches und Wahrnehmbares dar. Das ist bei Plutarch durch ein wörtliches Zitat und bei Seneca durch ein genuin stoisches Argument eindeutig bezeugt:65 Was gut ist, ist wirksam; nur Körperliches kann etwas bewirken und erleiden. Andererseits ist bei Cicero im Stoa-Referat von De finibus explizit davon die Rede, dass der Begriff des Guten durch eine collatio rationis, also durch Sammeln, Vergleichen, Analogisieren und Schlussfolgern gebildet ist (collatione rationis . . . notitia boni facta est).66 Dies bestätigt Seneca in einer noch differenzierteren Antwort auf die Frage, „wie die erste Kenntnis des Guten und Ehrenvollen zu uns gelangt ist“. Dies, so Seneca,67 konnte uns nicht die Natur lehren; die Keime des Wissens gab sie uns, nicht aber das Wissen selbst (semina nobis scientiae dedit, scientiam non dedit). Man könne nicht glauben, der Begriff der Tugend sei jemandem durch Zufall gekommen; uns scheint vielmehr, die sammelnde Beobachtung und der Vergleich von vielen Taten untereinander habe ihn gebildet. Durch Analogie, so die Unseren, sei 62 63 64 65 66 67

LS 39 E = Aëtius 4.11.1–4 = SVF II, 83. DL VII, 53 = LS D 39. Stoic. rep. 1041 E = SVF III, 69. LS 60 R = Plutarch Stoic. rep. 1042 E-F = SVF III, 85; LS 60 S = Seneca Ep. 117, 2. De fin. III, 33. Ep. 120, 4.

2. Die Lehre vom Ziel: Das Gute und das Vorgezogene das Lobenswerte und Gute erkannt worden. Der Begriff menschlicher Vollkommenheit, die sich in erstaunlich gütigen, humanen, tapferen Handlungen manifestiert, sei in Analogie zu großartiger leiblicher Stärke und Vollkommenheit gebildet. Die Auskunft Senecas fügt sich zu den Aussagen Ciceros im Oikeiosis-Passus von De finibus. Dort wird auch der über (meditative) Reflexion vermittelte Erwerb des Begriffs des Guten mit der zustimmenden Feststellung des Erwerbenden verbunden, dass in ihm das höchste Gut für den Menschen beschlossen sei (ut statueret in eo collocatum summum illud . . . bonum).68 Natürlich knüpft, wie Plutarchs Chrysippzitat bezeugt, das Verständnis des wahrhaft Guten eng an die von selbst sich bildenden Vorbegriffe des Förderlichen, Gesunden, Starken, des Abträglichen, Kranken und Schwachen an. Doch die treffende Analogisierung von Leib und Seele und die entsprechend präzise Unterscheidung des wahrhaft Guten von den gut und schlecht gebrauchbaren Gütern des Lebens ist nicht Ergebnis einer von selbst sich vollziehenden Entwicklung, sondern von natürlicher Entwicklung und mündiger Reflexion. In der Erkenntnis des wahrhaft Guten ebenso wie in der motivierenden Liebe des wahrhaft Guten, so muss man den Befund der Texte wohl verstehen, spielen Spontaneität und Reflexion, naturale Ausrichtung, unmittelbare Erfahrung und bewusste Zustimmung zusammen. Wenn Diogenes Laertius referiert, dass nach stoischer Lehre etwas Gerechtes und Gutes natürwüchsig erfasst würde, so ist dies nur die halbe Wahrheit. Chrysipp bestimmte die prolēpseis als naturwüchsige Begriffe, die die Dinge im UnbestimmtAllgemeinen erfassen (estin d’hē prolēpsis ennoia physikē tôn katholou).69 Der naturwüchsige unbestimmt-allgemeine Begriff des Guten bedarf der sorgfältigen Zergliederung (diarthrōsis),70 um seine verschiedenen Bedeutungen genau zu verzeichnen und zur kardinalen Unterscheidung von absolut gut und relativ bzw. abgeleitet gut zu gelangen. Die Stoa vertrat keinen kruden ethischen Naturalismus. Die vernünftige Person konstituiert sich nicht rein naturwüchsig, sondern durch reflexive Klärung und willentliche Aufnahme von durch die Natur vorgegebenen, teleologischprovidentiell interpretierten Anlagen und Tendenzen.

2. Die Lehre vom Ziel: Das Gute und das Vorgezogene 2.1 Die Lehre vom Ziel Die Stoa teilt mit so gut wie allen antiken Ethiken ein teleologisches Verständnis der menschlichen Natur. Dem menschlichen Leben ist ‚von Natur‘ ein Ziel vorgegeben, in dem sein Bestreben und Tun seine Erfüllung findet. Aristoteles bot den hellenistischen Schulen seine konsensfähige formale Definition: Ziel (aller Ziele), das höchste Gut, sei das, was um seiner selbst willen, und alles andere um seinetwillen 68 De fin. III, 21. 69 DL VII, 54. 70 vgl. DL VII, 189 = SVF II, 16.

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IV Die stoische Ethik getan werde.71 In der Benennung dessen, was es sei, war man sich einig: das Glück (eudaimonia). In seiner inhaltlichen Bestimmung war man sich uneins. Und die Stoa vertrat hier eine extreme Position, die zu ihrer Zeit zum Gegenstand heftiger philosophischer Diskussion und Kontroverse wurde und den meisten gegenwärtig Philosophierenden wohl nicht minder paradox erscheinen mag. Heute, doch nicht erst heute stellt sich die Frage, ob das Ziel, wie die Stoiker es verstehen, für Menschen überhaupt realisierbar sei.72 Die Lehre selbst ist uns, von Ciceros Darstellung abgesehen, nur noch in knappen doxographischen Referaten und definitionsartigen Formeln überliefert. Da diese Formeln von Zenon, Kleanthes und Chrysipp, über Diogenes von Babylon, Antipater und Archedem bis Panaitios und Poseidonios mannigfache Variationen und Abweichungen aufweisen,73 hat sich in der Forschung des vergangenen Jahrhunderts die unterschiedliche Rekonstruktion der Entwicklung der stoischen Ethik vor allem an der Interpretation dieser Zielformeln festgemacht.74 Die Betonung von Unterschieden und Brüchen ist inzwischen dem Eindruck von weitgehender Kontinuität der schulischen Doktrin (in Auseinandersetzung mit gegnerischen Einwürfen) bis in die römische Kaiserzeit gewichen. Die Grundthesen der altstoischen Teloslehre, die von Chrysipp in eine präzise Form gebracht worden sein dürfte, werden von Stobaeus in einer summarischen Darstellung wie folgt wiedergegeben: Das Telos, so sagten die Stoiker, sei das gut Leben (to eudaimoneîn), und zwar das gut Leben, „um dessentwillen alles getan wird, es selbst aber um keines anderen willen“. Dies bestünde im Leben gemäß der Tugend (toûto de hyparchein en tô kat’ aretēn zên), im in Übereinstimmung leben (en tô homologoumenōs zên), und, was dasselbe sei, im Leben gemäß der Natur (en tô kata physin zên). Zenon habe das Glück mit „Wohlfluss des Lebens (euroia biou)“ definiert, und diese Definition hätten auch Kleanthes, Chrysipp und all ihre Nachfolger benützt.75 Diogenes Laertius verwendet in seinem entsprechenden Referat für den Ausdruck ‚hyparchein en‘ den Ausdruck ‚eînai en‘: In der Tugend sei das Glück (beschlossen).76 Durch diese beiden Ausdrücke ist nicht eine völlige Identifikation von Tugend und Glück vollzogen.77 ‚Eudaimoneîn‘ besagt sowohl gut handeln als auch glücklich leben; eudaimonia hat sowohl den Aspekt des objektiven Gutseins als auch den Aspekt des (subjektiven) Wohlbefindens. Tugenden sind nach stoischem Verständnis Gutes sowohl im Sinne dessen, was Gutes schafft (poiētika agatha) als auch im Sinne dessen, was (zielhaft) Gutes ist (telika agatha). Insofern Tugenden das Glück zustandebringen (apoteloûsin), sind sie poiētika agatha, insofern sie es ‚mit71 72 73 74

vgl. NE I, 1094 a 1–21. vgl. Ierodiakonou 2015, 183–196. vgl. dazu Mansfeld 1986, 330–342. vgl. Bonhoeffer (1894) 1968, 7–15, 163–177; Rieth 1934, 13–45; Pohlenz 1939b, 1–33; ders. 71992, I, 186 ff.; van Straaten 1946, 140–200; Reesor 1951b, 102–110; Long 1967, 59–90; Kidd, 1971b, 150–172; Rist 1977, 161–174. 75 Stob. Ecl. II 77, 16–27 = SVF III, 16 = LS 63 A. 76 DL VII, 89 = SVF III, 39. 77 vgl. Rist 1977, 163.

2. Die Lehre vom Ziel: Das Gute und das Vorgezogene anfüllen‘ (symplēroûsin), sind sie telika agatha (DL VII, 97). Tugenden erzeugen eo ipso tugendhafte Handlungen (tas kat’ aretēn praxeis); sie haben aber auch „die Freude, Heiterkeit und Ähnliches im Gefolge (epigennēmata de tēn te charan kai tēn euphrosynēn kai ta paraplēsia)“.78 Tugend ist notwendige und hinreichende Bedingung für Glück (autarkē te eînai autēn pros eudaimonian); das hätten Zenon, Chrysipp und Hekaton vertreten;79 das ist unbestritten gemeinstoische Lehre; und genau dies erschien und erscheint heute vielen paradox. Die nähere Explikation des Ziels durch die Formeln kat’ aretēn zên, homo­ logoumenōs zên und kata physin zên dürfte gemeinsames altstoisches Gedankengut darstellen. Zwar vermerkt Stobaeus, die Nachfolger hätten Zenons Formel (homo­ logoumenōs zên) für unvollständig gehalten; Kleanthes habe an sie noch tê physei angefügt, wohl um klarzustellen, wem primär die Übereinstimmung und der Gleichklang gilt. Und Chrysipp habe dies noch weiter präzisiert mit der Formel „Leben gemäß der Erfahrung dessen, was von Natur sich ereignet (zên kat’ empeirian tôn physei symbainontōn)“, wohl um zu verdeutlichen, was es theoretisch und praktisch heißt, in Übereinstimmung mit der Natur zu leben.80 Doch Diogenes Laertius notiert für Zenon bereits die volle Formel „in Übereinstimmung mit der Natur leben“ und schreibt sie genau so auch Kleanthes, Poseidonios und Hekaton zu, während auch er Chrysipp als Autor der letzten, der Erfahrungs-Formel nennt.81 Auch für Cicero ist Zenon der Autor der vollen Formel convenienter naturae vivere, während er das vivere adhibentem scientiam earum rerum, quae natura evenirent summarisch den Stoicis attestiert.82 Nun klingt die kurze Formel ‚in Übereinstimmung leben‘ entschieden anders als die erweiterte. Sie wird erläutert mit der Wendung: „nach einem Logos und zusammenklingend leben“ und begründet mit dem Satz: „da die in Konflikt Lebenden unglücklich leben“.83 Das ganze Gewicht scheint hier auf das stimmige, konsistente, mit sich selbst sich im Einklang befindende Leben des Menschen gelegt zu sein. Dieser Eindruck verstärkt sich, wenn man zur Interpretation Stellen und Passagen von Seneca heranzieht, in denen davon die Rede ist, dass nur derjenige mit sich einig, gleichmäßig und konsequent zu leben vermag, der seiner Vernunft(natur) gemäß lebt.84 Nun besagt die kurze Formel gewiss auch dies. Doch überall dort, wo der Begriff der homologia bzw. convenientia eine zentrale Rolle spielt,85 wird klar, dass der Schwerpunkt nicht auf der Übereinstimmung mit sich selbst, auf der qualitativen Identität des Menschen, dem Eins- und Einigsein des Menschen mit sich und seinem Leben liegt, sondern auf der Übereinstimmung mit Gott, mit seiner Vernunft und seinem Willen. Dies erhellt völlig eindeutig aus den Erläuterungen, die Diogenes Laertius zum stoischen Telosverständnis gibt. Dabei 78 79 80 81 82 83 84 85

DL VII, 94–95. DL VII, 127 = SVF III, 49. Stob Ecl. II, 75, 11 – 76, 8 = LS 63 B; SVF III, 12. DL VII, 87 f. = LS 63 C; SVF I, 179. De fin. IV, 14 = SVF III, 13; vgl. De fin. II, 34 = SVF III, 14 ; De fin. III, 31 = SVF III, 15. LS 63 B. vgl. De vita beata III, 3; Ep. 20; 120, 9–22; 23, 6–8; 41, 8–9; 75, 18; 89, 14 u. ö.. wie etwa in Cicero De fin. III.

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IV Die stoische Ethik scheint Kleanthes ausschließlich die Übereinstimmung mit Gott betont zu haben, während Chrysipp auch die (daraus resultierende) Übereinstimmung mit sich und der eigenen Natur vermerkt sehen wollte. Doch nichts deutet darauf hin, dass Zenon und Kleanthes nicht mit Chrysipps Interpretation des Ziels hätten einverstanden sein können: Wir müssen entsprechend der Erfahrung der Dinge leben, die von Natur sich ereignen; denn, so das zu ergänzende Argument, was ‚von Natur‘ geschieht, ist Ausdruck und Zeichen göttlicher Vernunft und göttlichen Willens. „Unsere Naturen nämlich sind Teile der Natur des Ganzen. Deshalb wird zum Ziel das der Natur nachfolgend Leben, was sowohl gemäß der eigenen Natur als auch gemäß der Natur des Alls (nachfolgend leben) heißt, indem wir nichts (von all dem) tun, was das gemeinsame Gesetz (ho nomos ho koinos) zu verbieten pflegt, (das gemeinsame Gesetz), das die rechte Vernunft ist (ho orthos logos), die alles durchdringt, die identisch ist mit Zeus, diesem Haupt der Verwaltung der seienden Dinge. Eben dies sei die Tugend des Glücklichen und der Wohlfluss des Lebens, wenn alles getan wird gemäß der Übereinstimmung (symphōnia) des einem jeden eigenen Daimons mit dem Willen dessen, der das All verwaltet“.86 Cicero bietet als gemeinstoisch noch eine komplexere Formel, die Chrysipps Erfahrungs-Formel weiter bestimmt und auf die Wahl der naturgemäßen und das Verwerfen der naturwidrigen Dinge abhebt: vivere cum intelligentia rerum earum, quae natura evenirent, eligentem ea, quae essent secundum naturam, reicientem contra­ ria.87 Er nimmt damit offensichtlich Formeln auf, die für Diogenes von Babylon und Antipater von Tarsus bezeugt sind. Sie betreffen den vernünftigen Umgang mit den Dingen, die ‚von Natur‘ geschehen, die nicht uneingeschränkt in unserer Hand sind, und die in bestimmtem Sinn als naturgemäß und naturwidrig, als wählenswert und verwerfenswert zu gelten haben. Eine der bei Stobaeus referierten Antipater-Formeln lautet: „Leben in der Wahl der naturgemäßen, der Abwahl der naturwidrigen Dinge (zên eklegomenous men ta kata physin, apeklegomenous de ta para physin)“.88 Die Diogenes-Formel bei Stobaeus lautet: „Verständig sein in der Wahl und Abwahl der naturgemäßen Dinge (eulogisteîn en tê tôn kata physin eklogê kai apeklogê)“.89 Bei Diogenes Laertius und Clemens von Alexandreia findet sich dieselbe Formel ohne das Wort ‚apeklogê‘;90 ähnlich bei Plutarch.91 Ihnen bzw. ihrer Quelle schien wohl der Gedanke unverständlich oder anstößig oder zu kompliziert, dass man unter besonderen Umständen vernünftigerweise auch in bestimmtem Sinn „Naturgemäßes“ verwerfen kann, und dies dann für den Menschen sehr wohl auch „naturgemäß“ ist. Ciceros Wendung scheint da verständiger: Der Einsichtige trifft und wählt, was in der gegebenen Situation als naturgemäß zu gelten hat.

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DL VII, 87–89 = LS 63 C. De fin. II, 34 = SVF III, 14. Ecl. II, 75, 11 W = SVF III Antipater 57. Ecl. II, 75, 11 W = SVF III Diog. 44. DL VII, 88 bzw. Strom. II, 21 = SVF Diog. 45 und 46. Comm. not. cap. 27 = SVF III Antipater 59.

2. Die Lehre vom Ziel: Das Gute und das Vorgezogene Für Antipater ist eine Formel bezeugt, die manchem Stoa-Interpreten bereits als nicht mehr so ganz orthodox erscheint:92 „Alles, was an einem selbst liegt, zu tun, durchgängig und unabweichlich, im Blick darauf hin, das naturgemäß Vorgezogene zu erreichen (pân to kath’ hauton poieîn diēnekôs kai aparabatōs pros to tyngchanein tôn prohēgoumenōn kata physin)“.93 Poseidonios hat sie offensichtlich als missverständlich kritisiert.94 Clemens referiert sie in etwas abgeschwächter Form, nämlich alles an einem selbst Liegende zu tun, durchgängig und unabweichlich, um das Naturgemäße zu wählen und das Naturwidrige abzuwählen.95 Doch in beiden Formeln ist nicht davon die Rede, dass zum Gück auch das tatsächliche Erreichen bzw. Besitzen der naturgemäßen Dinge gehört. Erst eine derartige Aussage hätte als unorthodox zu gelten. Dasselbe trifft auf Archedems Formel zu, die besagt, das Ziel bestehe darin, so zu leben, dass man in allem, was man tut, in Vollendung das naturgemäß Passende tut (panta ta kathēkonta epiteloûntas zên).96 Auch dies liegt auf der Linie der Orthodoxie. Wir werden sehen: Nur der Weise ist in der Lage, sich in allem passend zu verhalten, stets das Naturgemäße zu treffen, alle kathēkonta/officia vollendet zu erfüllen.97 Etwas anders stellt sich dem Anschein nach das Problem der Orthodoxie im Fall von Panaitios und Poseidonios dar. Diogenes Laertius glaubt feststellen zu können, dass für beide Tugend nicht mehr notwendige und zureichende Bedingung des Glücks sei, sondern dass ihrer (aristotelisierenden) Auffassung nach ein vollendetes menschliches Leben auch der Gesundheit, der Stärke, der materiellen Güter etc. bedürfe (ouk autarkē legousi tēn aretēn, alla chreîan eînai phasi kai hygieias kai chorēgias kai ischyos).98 Nun kann man Diogenes Laertius dort, wo er nicht wörtlich zitiert, kaum für einen allseits zuverlässigen Vermittler stoischer Theorie halten. Wenn zudem keiner der antiken Kommentatoren und Kritiker auf diese Abweichung hinweist und sie in der meist polemischen Diskussion verwertet, muss man wohl Diogenes Laertius’ Bemerkung mit erheblicher Vorsicht begegnen. Gewiss haben Panaitios und Poseidonios Chrysipps monistisches Seelenmodell modifiziert und in Rückwendung auf Platon und Aristoteles für den Menschen die Annahme diskreter (auch nichtrationaler) Seelenteile bzw. Kräfte favorisiert. Das kommt auch in ihrer Formulierung des Telos zum Ausdruck, etwa in der von Clemens dem Poseidonios zugeschriebenen Formel: „Leben in der Betrachtung der Wahrheit und Ordnung des Ganzen, und in der nach Kräften erfolgten Zurüstung seiner selbst daraufhin, nichts unter der Leitung des nichtvernünftigen Teils der Seele zu tun (zên theōroûnta tēn tôn holōn alētheian kai taxin kai synkataskeuazonta hauton kata to dynaton kata

92 93 94 95 96 97 98

vgl. Tsekourakis 1974, 33 f. SVF III Antipater 57 = Stob. Ecl. II, 57, 11 W. Galen, PHP 5.6.10–14 = LS 64 I; E.-K. F 187. SVF III Antipater 58 = Clemens Strom. II, 21. SVF III Archedem 20 = Stob. Ecl. II, 75, 11 W. vgl. Cicero De off. III, 14. DL VII, 128; vgl. DL VII, 103

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IV Die stoische Ethik mēden agomenon hypo toû alogou merous tês psychês)“.99 Nach Diogenes Laertius100 hat Poseidonios auch die überkommene Formel vom „Leben in Übereinstimmung mit der Natur“ verwendet. Ähnlich gebrauchte nach Clemens101 Panaitios die alte Telosdefinition und fügte eine eigene hinzu: „Leben gemäß den uns von der Natur gegebenen Ausgangspunkten (zên kata tas dedomenas hēmîn ek physeōs aphor­ mas)“.102 Doch von einer Leugnung der Autarkie der Tugend ist hier nicht die Rede. Wenn schließlich für Panaitios der Grundsatz bezeugt ist, dass allein das sittlich Gute gut genannt werden kann (honestum solum bonum est)103 und wenn von Poseidonios berichtet wird, er habe Pompeius unter Schmerzen dargelegt, dass es kein anderes Gut gebe als die Tugend,104 so muss wohl bei Diogenes Laertius ein Irrtum in Rechnung gestellt werden. Ian Kidd hat denn auch in plausiblen Schritten dargetan, wie es zu diesem Irrtum gekommen sein mag.105 Die Autarkie der Tugend gehört zu den zentralen Dogmen der stoischen Ethik. Ihre Leugnung hätte den Bruch mit dem stoischen System als Ganzem bedeutet. Eine Schule mag in vielen Punkten differierende Ansichten einräumen, aber nicht in diesem.106 Und Panaitios ebenso wie Poseidonios haben sich selbst und wurden trotz mancher Abweichungen als Anhänger und Interpreten von Zenon, Kleanthes und Chrysipp verstanden. Die verschiedenen Telosformeln, die für Diogenes und Antipater bezeugt sind, dürften als Reaktionen auf die kritische Debatte mit der akademischen Skepsis, insbesondere mit Karneades zu verstehen sein.107 Das elementare Problem bestand für die Stoiker dabei darin, argumentativ die Vernunft des Handelns auf bestimmte ‚naturgemäße‘ Ziele in der Welt zu verpflichten, ohne in eins damit das Erreichen dieser Ziele bzw. das Besitzen der ‚Güter‘ auch zum Bestandteil des Lebensziels machen zu müssen.108 Für Karneades hat jede Fachkunde ihren Ursprung und ihr Ziel in etwas außerhalb ihrer selbst,109 die Heilkunst etwa in der Linderung und Heilung von Krankheit. Den Stoikern war Tugend die Kunst zu leben; für sie war die Tugend eine technē bzw. epistēmē, die zugegebenermaßen auch auf etwas außerhalb ihrer selbst zielt. Diesem Zielbezug trägt Antipaters Formel Rechnung, beständig und konsequent alles in seinen Kräften Liegende zu tun, um das (jeweils) Naturgemäße zu erreichen. Ciceros Sprecher Cato verwendet das Bild vom Bogenschützen, der seine gesamte Kunst aufbietet und ins Werk setzt, um das Ziel zu treffen. Dies sei das Endziel. Dass er tatsächlich trifft, sei nicht das Endziel, sondern lediglich etwas, was 99 Clemens Strom. II, 21 = F 186 EK. 100 VII, 87 = F 185 EK. 101 Strom. II, 21. 102 = F 96 van Straaten. 103 Cicero De off. III, 11–13. 104 Cicero Tusc. II, 61. 105 Kidd, 1971b,157–163. 106 vgl. Cicero De fin. V, 14; Klein 2015, 230. 107 vgl. Plutarch Comm. not. 1072 E-F = SVF III, Antipater 59; LS 64 D; Cicero De fin. III, 16–20 = LS 64 E und G. 108 vgl. Cicero De fin. V, 20. 109 vgl. De fin. V, 16.

2. Die Lehre vom Ziel: Das Gute und das Vorgezogene er wählt bzw. seinem Gegenteil vorzieht.110 Das Bild vom Bogenschützen mag noch zu Missverständnissen Anlass geben. Was es besagen soll, ist dies: Die stoische Lebenskunst ist, auch wenn sie sich vernünftig wählend und verwerfend auf ‚welthafte‘ Sachverhalte bezieht und beziehen muss, nicht ergebniszentriert, sondern vollzugszentriert. Sie realisiert ihr Ziel voll und ganz, indem sie vernünftig wählt und das Gewählte (mit allen Kräften) zu erreichen trachtet, ob sie es nun tatsächlich erreicht oder nicht.111 So gesehen ist sie, wie Ciceros Sprecher unmittelbar danach betont, nicht der ergebniszentrierten Navigations- und Heilkunst vergleichbar, sondern der vollzugszentrierten Schauspiel- und Tanzkunst. Doch auch das Modell dieser Künste treffe noch nicht ganz das Wesen und die Struktur der Tugend als Lebenskunst: Während nämlich in einem Schauspiel oder einem Tanz eine bestimmte Darbietung vollkommen sein kann, ohne dass alles, was diese Kunst erfordert und bietet, in sie eingeht, sind in einer vollkommenen Handlung (katorthōma) der Lebenskunst stets „alle Anteile der Tugend enthalten (omnes numeros virtutis continent)“.112 Damit ist gemeint: Dass die vollkommene Handlung nicht nur von einem Wissen und Können davon geleitet ist, was hic et nunc zu tun ist, sondern auch, wie, im Bewusstsein welcher Prinzipien, in welcher Gesinnung es zu tun ist. Was den akademisch-skeptischen und peripatetischen Gegnern als schwer verständlich, als inkonsistent, ja als absurd erschien, war der Gedanke, einerseits bestimmte Dinge als naturgemäß bzw. naturgemäßer und wählenswert bzw. wertvoll und ihr Verfolgen als passend zu bezeichnen, andererseits aber ihr Erreichen und Besitzen nicht für gut, vielmehr für gleichgültig zu erklären und vom Endziel auszuschließen.113 Alles hängt davon ab zu verstehen, was es für einen Stoiker heißt, jenseits der Tugend und des tugendhaften Handelns etwas für wählenswert zu halten, auch wenn dieses nicht uneingeschränkt in der Hand des Wählenden ist.

2.2 Das Gute (to agathon) und das Vorgezogene (to prohēgmenon) Den Stoikern ist der Kosmos als Ganzer das Göttliche.114 Cicero stützt sich in seinen diesbezüglichen Darlegungen115 auf Chrysipp. Das Weltall in seiner statischen und prozessualen Form gilt diesem als in jeder Hinsicht passend (aptum), vollkommen (perfectum) und in all seinen Details vollständig (expletum omnibus suis numeris et partibus).116 Es ist von Anfang an als weise und als Gott anzusehen (et sapiens a

110 111 112 113

De fin. III, 22 = SVF III, 18 = LS 64 F. vgl. De fin. V, 20 = LS 64 G. De fin. III, 24 = LS 64 H. vgl. Cicero De fin. IV, 39 = LS 64 K; Alexander v. Aphrodisias De anima II, 164,3–9 = LS 64 B ; Plutarch Comm. not. 1070 F – 1071 E = LS 64 C. 114 vgl. SVF II, 641 = Cicero ND II, 38–39. 115 ND II, 36–39. 116 ND II, 37; 38.

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IV Die stoische Ethik principio mundus et deus habendus est).117 Es gibt nichts Vollkommeneres und nichts Tugendhafteres als die Welt (est autem nihil mundo perfectius, nihil virtute melius).118 Die Dinge in der Welt sind in ihrer Zweckbestimmung aufeinander bezogen und letztlich auf (die Götter und) den Menschen hingeordnet.119 „Der Mensch selbst aber ist entstanden, um die Welt zu betrachten und nachzuahmen – in keiner Weise vollkommen, sondern ein wahrhaft kleiner Teil des Vollkommenen (ipse autem homo ortus est ad mundum contemplandum et imitandum – nullo modo perfectus, sed quaedam particula perfecti)“.120 Nach Plutarchs Zeugnis121 hat Chrysipp, wie bereits erwähnt, jeden Traktat über Ethik mit einem Vorwort über Zeus, über Schicksal und Providenz begonnen. Er pflegte zu sagen, dass es keinen anderen oder geeigneteren Weg zum Auffinden des Ursprungs der Gerechtigkeit und zur Theorie des Guten und Schlechten oder der Tugend oder des Glücks gebe als im Ausgang von der Allnatur und der göttlichen Weltverwaltung. Cicero wiederum betont,122 dass nach dem Urteil der Stoiker jeder, „der im Einklang mit der Natur leben will, seinen Ausgang von der ganzen Welt und von ihrer Verwaltung nehmen muss. Es kann aber niemand über das Gute und Schlechte treffend urteilen, ohne die gesamte Art der Natur und auch des Lebens der Götter erkannt zu haben, und (so zu wissen), ob die Natur des Menschen mit der Allnatur zusammenstimmt oder nicht.“ Nach ihm bestimmt die Stoa das Schätzenswerte (aestimabile) danach, ob es der Natur gemäß ist oder etwas der Natur Gemäßes bewirkt (aestimabile esse dicunt … id quod aut ipsum secundum naturam sit aut tale quid efficiat).123 Mit „Natur“ kann nun die Allnatur (koinē physis) oder die spezifische natürliche Struktur und Verfassung einzelner Dinge (hē kata meros physis) gemeint sein. In diesem letzteren Sinn hat alles, was mit der Verfassung, dem ‚Wesen‘ des einzelnen Dinges zusammenstimmt, einen bestimmten Wert für das Ding.124 Wenn wir von einer Pflanze oder einem Tier sagen, sie seien gesund oder krank oder defizient, bzw. etwas sei für sie zuträglich oder abträglich, so verstehen wir, was wir meinen. Wir unterstellen einen bestimmten Maßstab der organischen Einheit, des gedeihlichen Wachstums und des passenden Verhaltens (ihre ‚Natur‘, ihr ‚Wesen‘), in Bezug auf den wir ihren Zustand als gut oder schlecht und bestimmte Dinge, Situationen und Einflüsse als gut oder schlecht für sie bezeichnen. Dabei sind natürliche Ausstattung, natürliche Bewegung und natürliches Verhalten teleologisch auf die Erhaltung und Entfaltung von Individuum und Art bezogen.125 Nun erreichen viele einzelne Organismen nicht jene Gestalt und Lebensform, die ihre besondere Natur ihnen vorgibt; es kann „für die Einzelnaturen und ihre Bewegungen viele Blockaden 117 118 119 120 121 122 123 124 125

ND II, 36. ND II, 39. vgl. ND II, 133. ND II, 37. Stoic. rep. 1035 B-D = SVF III, 68 = LS 60 A. De fin. III, 73 De fin. III, 20. vgl. Long 1974, 179 ff. vgl. Cicero ND II, 120–133; Seneca Ep. 124, 7–24.

2. Die Lehre vom Ziel: Das Gute und das Vorgezogene und Behinderungen geben“.126 Im Blick auf die besondere Natur eines Dinges können defiziente Zustände, Bewegungen, Umstände und Einwirkungen als naturwidrig bezeichnet werden; dies allerdings nur aus einer Perspektive, die das Einzelne im Blick auf sein besonderes Wesen ohne Rücksicht auf seine Beziehung (zur Arterhaltung oder) zum Weltganzen betrachtet.127 Aus einer Sicht des Ganzen sind alle natürlichen Dinge und Vorgänge ‚naturgemäß‘, d. h. Elemente eines stimmigen und sinnvollen Gefüges. Das Universum als Ganzes ist gut und vollkommen, und seine Vollkommenheit ist vereinbar mit dem Umstand, dass eine Anzahl einzelner Dinge nicht die ihnen eigene, naturgemäße Vollendung erreicht. Ja, ein gewisses Maß an ‚Bitterkeit‘ und Defizienz im Einzelnen ist (jedenfalls für manche Stoiker) notwendig für die Ökonomie und Wohlfahrt des Ganzen.128 So gesehen kann nichts, was einem einzelnen Ding (auch einem Menschen) widerfährt, als schlecht und naturwidrig bezeichnet und bewertet werden. Gleichwohl ‚rettet‘ die Stoa die Verwendung des Prädikats „schlecht“ auch in kosmischer Sicht; es betrifft die Torheit und das aus ihr resultierende schlechte Handeln der Menschen.129 Was für sich genommen als absolut schlecht oder naturwidrig zu gelten hat, kann freilich die Harmonie des Ganzen nicht beeinträchtigen. Nach Kleanthes vermag der Gott auch die schlechten Handlungen der Menschen und deren Folgen in ein harmonisches Gesamtgeschehen einzufügen (siehe oben S. 158 f.). Nach Chrysipp und Epiktet konstituiert sich gar die Harmonie des Ganzen notwendig aus Gegensätzen; Tugend, so Chrysipp, könne nicht sein ohne Laster.130 Die Stoa führt den Aufbau und die Gliederung des Universums, wie oben (S. 104 ff.) gezeigt, auf zwei Prinzipien zurück, den aktiven Logos und die bestimmungslose, passive Hyle. Der Logos durchdringt den amorphen Stoff in einem endlosen periodisch gegliederten Prozess mit gestufter Intensität und Dichte. Er konstituiert so eine Vielzahl von Dingen von unterschiedlicher Form, verschiedener Dauer, verschiedenem Rang. Er spezifiziert sich in verschiedene Weisen des Seins und Selbstseins, in anorganischen Dingen zur bloß gestaltgebenden und zusammenhaltenden Spannung (hexis), in Organismen zu Stoffwechsel und immanentem, zielgerichtetem Wachstum (physis), in Sinnenwesen zu Wahrnehmung, Empfindung, (Vorstellung) und Trieb (psychē), im Menschen zu sprachfähigem Bewusstsein und Willen (logos), wobei die höheren Seinsstufen die niederen implizieren und integrieren.131 Im Menschen ist das göttliche Prinzip in seiner höchsten Form als selbstbewusste und selbsttätige Vernunft individuiert. Das Prinzip der Einheit und des Selbststandes des Menschen (sein ‚Geist‘) ist mit Gott, dem leitenden Prinzip des Weltorganismus wesensgleich. Ja, unsere Naturen sind Teile der Natur des Ganzen (merē gar eisin hai hēmeterai physeis tês toû holou).132 Aber der Mensch ist bzw. hat 126 127 128 129 130 131 132

Plutarch Stoic. rep. 1056 D = SVF II, 935; vgl. Cicero ND II, 35. vgl. Plutarch, ebd. vgl. Marc Aurel V, 8. vgl. Kleanthes, Zeushymnus SVF I, 537. vgl. SVF II, 1169 und 1170 = Aulus Gellius Noct. att. VII, 1; vgl. Epiktet Diss. I, 12, 16. vgl. SVF II, 708–716; 458; Sambursky 1959, 7 ff. DL VII, 88.

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IV Die stoische Ethik diese Seinsform (als bloßes ‚Teilchen‘ des Göttlichen) in einer unhintergehbar begrenzten und für viele prekären Weise: Er ist auch eine besondere, mit Grenzen und Bedürfnissen versehene Natur neben anderen Naturen. Und er ist bzw. hat diese seine göttliche Form in einer Weise, die ihm selbst aufgegeben ist, und die sich selbst unterbieten, depravieren und verfehlen kann. Er erreicht die ihm mögliche Vollendung, wenn sein Geist in richtiger Verfassung ist (als orthos logos), d. h. wenn er sich (als Teil eines Ganzen) vollkommen am Geist und umfassenden Gesetz (koinos no­ mos) dessen ausrichtet, der das All regiert und verwaltet.133 Dies besagt umgekehrt: Der Mensch ist so lange nicht am Ziel (seiner naturgemäßen Entwicklung) oder verfehlt so lange sein Ziel, als sein Geist sich das Gesetz seines unbedingten Strebens und Handelns von der besonderen (bedürftigen und abhängigen) physischen und psychischen Konstitution vorgeben lässt, in die er eingebettet ist. Der menschliche Logos ist solange in seiner Entwicklung noch unvollkommen bzw. im Irrtum (und Unglück) befangen, solange er ganz auf seine besondere, endliche und bedürftige Natur setzt, solange sein Streben begrenzt, partikulär und abhängig ist, d. h. seine Strebensziele (jedenfalls auch, sei es gleichgewichtig, sei es bevorzugt) in Güter (Dinge, Zustände, Ereignisse) setzt, deren Besitz, Herbeiführung, Verfügung nicht absolut in seiner Macht liegen. In diesen Zusammenhang gehört eine von Diogenes Laertius notierte Unterscheidung, die für die stoische Güterlehre von besonderer Relevanz ist: die Unterscheidung einer Lebensweise des Menschen, die sich auf seine besondere Natur zentriert (ho kata physin bios), von einer Lebensweise, die sich ganz dem göttlichen Willen anheimgibt (ho homologoumenos bios).134 Das naturgemäße Leben (ho kata physin bios), im Unterschied zum völlig konsistenten und mit dem Willen Gottes übereinstimmenden Leben (ho homologoumenos bios), scheint ein Leben zu sein, das noch in seiner besonderen Natur verfangen ist; es ist jedenfalls ein Leben, das die naturgemäßen Dinge wählt, aber noch nicht vom Begriff des wahrhaft Guten geleitet wird.135 Vorvernünftiges, undifferenziertes menschliches Streben ist geneigt‚ auf mehr aus zu sein, als es aus eigener Kraft zu erreichen und zu besitzen vermag. Es kann dieses ‚Überschießen‘ nur beheben, indem es sich von seiner möglichen Fixierung an das Erreichen bzw. Besitzen solcher Dinge befreit und jedes Ergebnis, das aus dem Zusammenspiel eigener zielgerichteter Anstrengung und unverfügbarer Umstände entspringt, willkommen heißt, d. h. sich mit dem göttlichen Willen identifiziert. Menschliches Streben wird vernünftig gerade dadurch, dass es all das, was ihm unverfügbar vorgegeben ist und widerfährt, als auf göttlichem Plan beruhend versteht und bejaht und damit zum Gegenstand eigenen Wollens macht. Vernünftigwerden menschlichen Wollens heißt bewusste Ausrichtung und Integration eigenen Wollens am und in den göttlichen Willen. Dies besagt zum einen, dass es sich von den Zielen, die es verfolgt, doch über die es im handelnden Ausgriff nicht 133 DL VII, 88. 134 DL VII, 105 = SVF III, 126; vgl. Alexander v. Aphrodisias De anima libri mant. 167, 13 Bruns = SVF III, 145. 135 vgl. Menn 2007/8, 175–184.

2. Die Lehre vom Ziel: Das Gute und das Vorgezogene völlig verfügt, im Modus des Strebens zurücknimmt und gegenüber dem tatsächlichen Erfolg oder Misserfolg des Handelns reserviert. Der Weise erstrebt alles Welthafte „unter Vorbehalt (meth’ hypexhaireseōs)“.136 Ihm geschieht deshalb nichts gegen sein Streben und seinen Plan, weil er stets unter Vorbehalt handelt und das mögliche Scheitern seines Bemühens mitbedenkt und (als gottgewollt) mitbejaht.137 Dies besagt aber auch, dass er die Objekte vorvernünftig-natürlichen Strebens, über die er nur begrenzt verfügt, in ihrem Besitzwert neutralisiert und nur, insofern es Objekte natürlichen Strebens sind, in ihrem Orientierungs­ und Aus­ wahlwert gut heißt. Die stoische ‚Entwertung‘ dessen, was man gemeinhin ‚Güter des Lebens‘ nennt, ist wohl einschneidender, als dies vielfach angenommen wird.138 Der Weise hält sich in seinem Bemühen an die Objekte natürlichen Strebens, solange und insofern ihm unklar ist, was kommen wird.139 Doch er bedenkt das mögliche Scheitern seines Bemühens allemal mit140 und erstrebt diese Objekte unter dem (stillschweigenden) Vorbehalt (tacita exceptione), dass die nicht voll überschaubaren Umstände so sind, dass sie sein Bemühen um etwas Bestimmtes zwar nahelegen, doch möglicherweise auch konterkarieren können und das Schicksal bzw. der Gott etwas anderes, ja Gegenteiliges für ihn bereithält.141 Dieser Vorbehalt ermöglicht ihm, auf das Scheitern seines Bemühens locker und gelassen zu reagieren, das tatsächliche Ergebnis willkommen zu heißen, das Streben in die vom Schicksal gewollte Richtung zu wenden (hormēn peritrepein), eine andere Tugend einzusetzen und vom „Hindernis“, etwa von Krankheit, Verlust von Gütern und Freunden etc. ‚einen guten Gebrauch zu machen‘.142 Bedingtes, vorbehalthaftes, entspanntes Streben (meth’ hypexhaireseōs, kouphōs, aneimenōs) zum einen,143 und bereitwillige Umwendung des Strebens (peritropē) im Fall des Scheiterns zum anderen144 kennzeichnen die Art, wie ein Stoiker sich praktisch um Sachverhalte in der Welt bemüht und zum tatsächlichen Ergebnis seines Bemühens stellt.145 Worauf es ihm dabei uneingeschränkt ankommt, ist die Übereinstimmung mit dem göttlichen Willen. Über die stoische Rede von Dingen, die Wert haben bzw. Wertschätzung verdienen (ta axian echonta) und ihre Unterscheidungen informieren uns Passagen im

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vgl. Epiktet Ench. cap. 2; Seneca De tranquill. an. 13, 2–3. vgl. SVF III, 564 = Stob. Ecl. II, 115, 5 W; Brennan 2000, Brunschwig 2005, Sorabji 2011. vgl. Brennan 2000, 149–177. Chrysipp bei Epiktet Diss. II, 6. 9. Seneca De tranquill. an. XIII, 2–3. vgl. Seneca De benef. IV, 39. vgl. Mark Aurel IV, 1; V, 20; VI, 50; VIII, 32; 35. Epiktet Ench. 2. Mark Aurel V, 20. vgl. dazu v. a. Brunschwig 2005, 357–380.

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IV Die stoische Ethik Abriss der stoischen Ethik bei Stobaeus,146 im Referat des Diogenes Laertius147 und in Ciceros Werk De finibus.148 Stobaeus und Diogenes Laertius überliefern schulmäßige stoische Distinktionen verschiedener Bedeutungen von axia, wobei das Wort in seiner Bedeutung zwischen „Wertschätzung“ und „Wert“ oszilliert.149 Alles, so wird einleitend bei Stobaeus150 erklärt, was naturgemäß ist, habe im Sinne der Stoiker Wert (axia), und was naturwidrig ist, Unwert (apaxia). In einer ersten Bedeutung sei von „Wert/Wertschätzung an sich (dosis kai timē kath’ hauto)“ die Rede. Mit ‚dosis‘ ist nach Diogenes von Babylon151 die Entscheidung (krisis) gemeint, insofern etwas naturgemäß oder der Natur dienlich ist. Das ‚kath’ hauto‘ besagt vermutlich, dass der Gegenstand für sich genommen und sein Wert nicht im Vergleich zu etwas anderem bestimmt wird. Spricht die Stoa doch zweitens vom „Tauschwert des prüfenden Fachmanns (amoibē toû dokimastoû)“, nach dem (von einem Sachkundigen) etwas mit etwas anderem verglichen und verrechnet wird.152 Im Sinne dieser beiden Werte/Wertschätzungen wird gesagt, etwas werde dem Werte nach vorgezogen.153 Die Dinge, die so gesehen (viel) Wert hätten, würden deshalb „Vorgezogenes (prohēgmena)“, die (viel) Unwert hätten, „Zurückgewiesenes bzw. Zurückgesetztes (apoprohēgmena)“ genannt. „Ein Vorgezogenes, sagen sie, sei das, was wir, obgleich es etwas Gleichgültiges ist, nach einem Vorzugsgrund wählen (ho adiaphoron on eklegometha kata prohēgoumenon logon)“.154 Bei Cicero wird dieser Sprachgebrauch auf den Schulgründer Zenon zurückgeführt: „Unter den schätzenswerten Dingen sei in den einen von ihnen genügend Grund, dass man sie einigem vorziehe, wie in der Gesundheit, der Unversehrtheit der Sinne, dem Freisein von Schmerz, dem Ruhm, dem Reichtum und Ähnlichem. Anderes sei nicht von dieser Art. Und ebenso gebe es unter den Dingen, die keine Wertschätzung verdienen, teils Grund genug, sie zurückzusetzen, wie beim Schmerz, der Krankheit, der Armut, der Schande und Ähnlichem, teils nicht so. Daher stammt das, was Zenon prohēgmenon und im Gegensatz dazu apoprohēgmenon nannte“.155 Diogenes Laertius bringt, entsprechend der traditionellen Gliederung der Lebensgüter in äußere, leibliche und seelische, Beispiele für im stoischen Sinn Vorgezogenes in allen drei Bereichen: gutes Naturell (euphyia), Sachkunde (technē), Gedeihen (prokopē) und Ähnliches für Seelisches; Leben (zōē), Gesundheit (hygi­ eia), Stärke (rhōmē), Wohlbefinden (euhexia), gerader Wuchs (artiotēs), Schönheit 146 vgl. Stob. Ecl. II, 7 p. 79, 18–80, 13 W; 82, 20 f. = LS 58 C; SVF III, 124 und 125 = Stob. Ecl. II, 7 p. 83, 10–84, 17 W; LS 58 D; SVF III, 128 = Stob. Ecl. II, 7 p. 84, 18–85, 11 W = LS 58 E. 147 DL VII, 101–103 = LS 58 A; DL VII, 104–105 = SVF III, 104 = LS 58 B; DL VII, 105 = SVF III, 126. 148 III, 20; 34; 50–54. 149 vgl. Grumach 21966, 21; Rieth 1933, 95 f. 150 SVF III, 124. 151 SVF III, 125. 152 SVF III, 124. 153 SVF III, 125. 154 SVF III, 128 = Stob. Ecl. II, 84, 18 = LS 58 E. 155 De fin. III, 51.

2. Die Lehre vom Ziel: Das Gute und das Vorgezogene (kallos) für Leibliches; Reichtum (ploûtos), guter Ruf (doxa), edle Herkunft (eu­ geneia) und Ähnliches für Äußeres.156 Von Antipater von Tarsos schließlich, so Stobaeus, stamme die Rede vom Auswahlwert (eklektikē axia), „dem gemäß wir, wenn die Dinge gegeben sind, das eine statt des anderen wählen, wie Gesundheit statt Krankheit und Leben statt Tod und Reichtum statt Armut“.157 Antipater hatte offensichtlich methodisch eine isolierte Wahlsituation im Auge, in der konträre Paare von Sachverhalten zur Wahl stehen, und in der natürliche Neigung und gesunder Verstand sich intuitiv für eine Seite entscheiden. Ein solches Gedankenexperiment diente wohl (gegen skeptische Einwände) zur Begründung einer natürlichen Güterlehre. Die angeführten Beispiele weisen darauf hin, dass Antipater das Argument im Kontext der Begründung von Vorgezogenem verwendet hat. Die Begründung diente dem Aufweis von Unterschieden im Bereich dessen, was grundsätzlich als gleichgültig (adiaphoron) zu gelten hat. Auf Unterscheidungen im Bereich des Gleichgültigen legte die Stoa in der Auseinandersetzung mit dem innerschulischen Gegner Ariston und den phyrrhonischen Skeptikern besonderen Wert. Diapheron und adiaphoron gehören kategorial zu den Relativa; und es kommt darauf an, wofür etwas gleichgültig ist oder einen Unterschied macht, für das glückliche Leben, oder für das (in gewissem Sinn) naturgemäße Leben und das natürliche Bestreben.158 Als schlechterdings gleichgültig (kathapax adiaphoron bzw. haplôs adiaphoron) ist das anzusehen, was nicht nur für das sittliche und glückliche Leben, sondern auch für das naturgemäße Leben ohne jede Relevanz ist, was in keiner Hinsicht menschliches Streben zu erregen, anzuziehen oder abzustoßen vermag.159 Gleichgültig ist zweitens das, was zwar Begehren und Abneigung erwecken kann, wo aber die Wahl keinen Unterschied macht, d. h. etwas, was in seinem Wert relativ zu etwas anderem gleichviel gilt.160 Gleichgültig ist schließlich das, was zwar zur Tugend und zum glücklichen Leben nichts beiträgt, was aber für ein naturgemäßes Leben von Bedeutung ist und unser natürliches Streben bewegt: die naturgemäßen und naturwidrigen Dinge. Würde man, wie Ariston dies (nach den doxographischen Berichten) tat,161 diese letzte Unterscheidung aufgeben, so Ciceros Stoiker, „dann würde das ganze Leben in Verwirrung gebracht . . . noch irgend eine Aufgabe oder Leistung für die Weisheit sich finden, da zwischen den Dingen, die zur Lebensführung gehören, keinerlei Unterschied bestünde und man keinerlei Auswahl treffen müßte“.162 Ähnlich ein vermutlicher Chrysippeinwurf bei Plutarch: „Welchen Ausgangspunkt (archē) passenden Verhaltens und welchen Stoff (hylē) für die Tugend kann ich nehmen, wenn ich die Natur und das der Natur Gemäße aufgebe?“163 156 157 158 159 160 161 162 163

DL VII, 106 = SVF III, 127. SVF III, 124 = LS 58 D. SVF III, 140 = Stob. Ecl. II, 79, 18 W. vgl. DL VII, 104 = SVF III, 119; Stob. Ecl. II, 79,1 W = SVF III, 118; SVF III, 121; SE AM XI, 59 = SVF III, 122. vgl. SE AM XI, 59 = SVF III, 122. vgl. DL VII, 160 = SVF I, 351. Cicero De fin. III, 50. De comm. not. 1069 E = SVF III, 491.

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IV Die stoische Ethik Wir Menschen leben und handeln in der Welt; unsere Mittel und Ziele sind dabei immer auch welthafte Dinge und Sachverhalte; sie machen das aus, was wir benützen, womit wir handelnd umgehen und was wir mit unserem Tun zu bewirken trachten. Adiaphora sind diese Dinge, weil sie für uns zum Nutzen wie zum Schaden gereichen können,164 weil wir gut oder schlecht mit ihnen umgehen, weil wir sie gut oder schlecht gebrauchen können. Was uns schaden, wessen man sich gut oder schlecht bedienen kann, dies ist für sich genommen weder gut noch schlecht, sondern indifferent (hô gar esti eû kai kakôs chrêsthai tout’ an eiē adiaphoron).165 Die Tugend betrifft primär das Wie, die Form des Umgangs mit diesen Dingen, die Art ihres Einsatzes und Gebrauchs. Doch dies kann und darf nicht besagen, dass man mit ihnen alles machen kann, dass das Was ein Material und Spielfeld reinen Beliebens ist. Die Natur muss von sich aus Ausgangspunkte setzen und Hinweise geben, welche Unterschiede zu treffen sind und wie mit ihnen umzugehen ist. Für Ariston gibt es bei den Dingen, „die zwischen Tugend und Laster liegen, keinerlei Unterschied; noch sind einige von ihnen natürlicherweise Vorgezogenes, einiges Zurückgesetztes; vielmehr sind sie dies dank der unterschiedlichen Umstände der Situationen (para tas diaphorous tôn kairôn peristaseis)“.166 Die stoische Orthodoxie wehrte sich offensichtlich gegen die Gefahr eines Libertinismus der Tugend und gegen eine radikale Situationsethik, wie sie nach unseren Quellen Ariston zu vertreten schien.167 Sie wollte die unpervertierten, vorvernünftig-natürlichen Bestrebungen des Menschen und ihre Ziele in der Welt in ihrer Orientierungsfunktion für die praktische Lebensführung bewahrt wissen. Für Ariston macht es keinen Unterschied, ob man etwas als vorzugswert oder gut schätzt.168 Die Orthodoxie denkt da ganz anders. Vom Wert bzw. der Wertschätzung von Vorgezogenem strikt unterschieden werde, so Diogenes von Babylon nach Stobaeus, jener Wert, „dem gemäß wir sagen, etwas besitze eine Wertschätzung und einen Wert, der bei Indifferentem nicht auftritt, sondern nur bei sittlich Schönem (kath’ hēn phamen axiōma tina echein kai axian, hēper peri adiaphora ou ginetai, alla peri mona ta spoudaîa).169 Dieser strikten Unterscheidung entspricht, was Diogenes Laertius bekundet: „Als Wert bezeichnen sie zum einen einen Beitrag zum übereinstimmenden Leben (homologoumenos bios), der alles Gute umfasst; der andere, sagen sie, sei ein mittlerer Wert (mesē dynamis) bzw. ein nützlicher Beitrag zum naturgemäßen Leben (kata physin bios), was etwa den Wert meint, den Reichtum oder Gesundheit zum naturgemäßen Leben beisteuern“.170 Dasselbe betont der Stoiker Cato bei Cicero: „Da aber, wie wir sagen, alles, was gut (bonum) ist, die erste Stelle einnimmt, ist notwendigerweise das weder gut noch schlecht, was wir bevorzugt 164 vgl. DL VII, 103. 165 SE AM XI, 59 = SVF III, 122; so bereits Platon Euthydemus 278e–281e; vgl. Barney 2003, 309. 166 SE AM XI, 63 = SVF III, 361. 167 vgl. Seneca Ep. 94, 2. 168 vgl. ebd. 169 SVF III, 125. 170 DL VII, 105 = SVF III, 126.

2. Die Lehre vom Ziel: Das Gute und das Vorgezogene (praepositum) oder vorzüglich (praecipuum) nennen; und wir definieren es so: dass es indifferent ist mit reduzierter Wertschätzung (quod sit indifferens cum aestimati­ one mediocri)“.171 Die Unterscheidung des sittlich Guten vom Vorgezogenen spiegelt sich in jenen Prädikaten, die die Strebe-Beziehung des vernünftigen Menschen zum einen wie zum anderen zum Ausdruck bringen. Vorgezogenes ist etwas, was man nimmt und nehmen darf, wenn das Bemühen um es sinnvoll und erfolgreich ist; diese Dinge sind lēpta/sumenda.172 Man nimmt sie, wenn sie sich bieten und einstellen, doch man hängt nicht an ihnen. Das sittlich Schöne hingegen ist etwas, was es unbedingt zu erstreben gilt (haireton, orekton, boulēton, expetendum).173 Die von Stobaeus gebotene Erklärung dieser terminologischen Unterscheidung zwischen lēpton und haireton ist aufschlussreich: Als haireton gilt das, was ein Streben bewegt, das dieses sein Ziel aus sich selbst erreicht (to hormês autoteloûs kinētikon), während die Einstellung des Annehmens dem gegenüber angebracht ist, was man vernünftigerweise unter Verschiedenem auswählend erstrebt (ho eulogistōs eklegometha), dessen Erreichen und Besitzen aber nicht durch das gewählte Bemühen gesichert ist.174 Dies entspricht der Definition des Guten, die Diogenes von Babylon zugeschrieben wird: Das Gute sei das, was von Natur aus absoluten Wert und absolute Geltung hat (id quod esset natura absolutum).175 Cicero, dessen Kritik ganz auf der Linie der akademisch-peripatetischen Gegner liegt, sieht in der stoischen Theorie keine rechte Verbindung zwischen naturgemäßem Wählen und sittlichem Streben. Die Stoiker „lassen uns zwei Aufgaben statt einer übrig, nämlich dass wir das eine annehmen, das andere erstreben, statt beides in einem Ziel zusammenzuschließen“.176 Indem sie den ‚ursprünglichen‘ Zielen natürlichen Bestrebens, den prima naturae einen Vorzug zusprechen, „damit eine Auswahl der Dinge stattfinden kann, folgen sie offensichtlich der Natur; wenn sie hingegen bestreiten, dass diese Dinge in irgend einer Weise zum glücklichen Leben gehören, lassen sie die Natur hinter sich“.177 Man könnte, so Cicero, den Stoikern zustimmen, wenn der Mensch reiner Geist wäre. Doch da die Leiblichkeit wesentlich zu seiner Natur gehört, heiße ihre Bestimmung des höchsten Gutes gerade, sich von der Natur zu trennen (a natura discedere).178 Tatsächlich bestand die Antwort der Stoa darin, das Ziel des Menschen, dessen Geist Teil des göttlichen Geistes ist, in seinem völligen Zusammenklang mit dem göttlichen Geist zu sehen und sein Verhältnis zu den partikulären welthaften Dingen ganz von dieser Idee der Homologie her zu bestimmen. Das Gute ist ihr in der Tat „die naturgemäße Vollendung eines vernünftigen Wesens als eines vernünftigen 171 172 173 174 175 176 177 178

De fin. III, 53. SVF III, 142 = Stob. Ecl. II, 80, 22; Cicero De fin. IV, 39. vgl. Cicero De fin. III, 21. SVF III, 131 = Stob. Ecl. II, 75,1 W. Cicero De fin. III, 33. De fin. III, 39. De fin. III, 43. De fin. III, 41.

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IV Die stoische Ethik Wesens (to teleion kata physin logikoû hôs logikoû)“.179 Der Wert welthafter Dinge, der Wert des Vorgezogenen sinkt damit für den vernünftigen Menschen zu einem bloß epistemischen Wert herab; ansonsten handelt es sich um Gleichgültiges.180 Das Erreichen bzw. der Besitz von Vorgezogenem ist weder Bestandteil des höchsten Guts noch instrumentell auf das höchste Gut bezogen. Die prima naturae bieten uns vielmehr nur primäre Gründe im Rahmen der Überlegung, was zu tun ist. Die natürlichen Bestrebungen und ihre Ziele sind uns mit unserer besonderen Natur von Gott gegeben; in ihnen meldet sich die göttliche Natur in unserer partikulären Natur zu Wort. Sie bieten uns deshalb die primär leitenden Gesichtspunkte für unser Handeln in der Welt. Wer sich (vernünftigerweise) gegen sie entscheidet, ist begründungspflichtig. Dafür müssen, was durchaus sein kann, ganz besondere Umstände vorliegen, die ihrerseits dann als Zeichen göttlichen Willens zu verstehen sind. Genau dies ist der Sinn des bemerkenswerten Chrysippzitats:181 „Solange mir das Kommende unklar ist, halte ich mich daran, das von Natur Passendere (ta euphyes­ tera) des Naturgemäßen zu erlangen; der Gott selbst hat mich so gemacht, dies zu wählen. Wüßte ich hingegen, dass mir jetzt krank zu sein bestimmt ist, würde ich auch nach diesem streben; denn auch der Fuß, hätte er Geist, würde (sc. wenn es geboten ist) danach streben, sich zu beschmutzen.“ Die Allnatur, so das Argument, hat mich mit einer bestimmten Natur und ihr entsprechenden natürlichen Neigungen ausgestattet; dies ist Ausdruck ihres vernünftigen Plans und Willens und für mich der Anhaltspunkt dafür, was es im Allgemeinen an Sachverhalten in der Welt zu wählen und (unter Vorbehalt) handelnd zu erstreben gilt.182 Es kann allerdings auch Lebensumstände geben, die diese Prima­facie­Orientierung außer Kraft setzen, vielmehr deutliche Hinweise enthalten, dass etwas Gegenteiliges zu wählen und im Sinne des göttlichen Willens zu erstreben geboten ist. Dann ist dies zu tun das für mich als vernünftigem Wesen Naturgemäße und Passende.

2.3 Die Theorie des Guten (agathon) „Nur das sittlich Schöne ist gut (monon to kalon agathon)“.183 Dies ist eherner Grundsatz stoischer Theorie des Guten. Die göttliche Welt in ihrer Leitung und Struktur ist vollendet sittlich schön. Menschliche Tugend besteht in der Betrachtung und Nachahmung der Welt. Die Realisierung von Tugend (aretē) macht für die Stoa im Blick auf den Menschen das aus, was überhaupt gut genannt zu werden verdient.184 Sie verteidigte diesen Grundsatz in drei verschiedene Richtungen: einmal gegen den epikureischen Antipoden, der das sittlich Schöne als faktisch unverzicht179 DL VII, 94. 180 vgl. Seneca Ep. 92, 11–12 = LS 64 J; dazu v. a. Klein 2010; Brennan 2014, 41–70; Klein 2015, 227–281. 181 bei Epiktet Diss. II.6, 9. 182 vgl. Barney 2003, 310 f. 183 vgl. SVF III, 29–37. 184 vgl. LS 61.

2. Die Lehre vom Ziel: Das Gute und das Vorgezogene bares Mittel zur Realisierung eines lust- und freudvollen Lebens behandelte;185 zum zweiten gegen die akademischen und peripatetischen Gegner, die das sittlich Schöne als objektiv vorzüglichstes Gut unter Gütern verstanden wissen wollten;186 und schließlich gegen Ariston von Chios, den Opponenten aus den eigenen Reihen und eine radikale pyrrhonische Skepsis, die in ihren Augen die Exklusivität der Tugend dahingehend deuteten, dass aus ihr eine völlige Gleichgültigkeit welthafter Dinge und Sachverhalte folgt.187 Die Stoa bestimmte das Gute (agathon) einerseits ganz allgemein als das, von dem irgendein Nutzen kommt und speziell als das, „was entweder dasselbe wie Nutzen oder nichts anderes als Nutzen ist (ētoi tauton ē ouch heteron ōpheleias)“, und wollte andererseits das Wertprädikat „gut“ ausschließlich auf „Tugend und das, was an Tugend teil hat (aretē kai to metechon aretês)“ angewandt wissen.188 Das eine scheint trivial zu sein, das andere keineswegs. Zu nützen ist das Spezifikum, das idion des Guten, ist das, was das Gute definiert.189 Doch dass ausschließlich Tugend nützt, erscheint etwas seltsam. Die prima facie paradoxe, für den Weisen indessen ganz natürliche Verbindung von beidem,190 verdankt sich sokratischem Erbe, das die Analogie zwischen leiblicher und seelischer Gesundheit zog und den Begriff des Guten auf die Seele zentrierte: Der ‚wahre‘ Nutzen bezieht sich auf das Wohl und Heil des menschlichen Geistes. Der Gedanke, der der Stoa die Gleichsetzung von „nützlich“ und „sittlich gut“ erlaubt, ist der, dass wahrhaft nützlich nur das ist und sein kann, was den Menschen bzw. seinen Geist gut macht, gut sein lässt und als gut erweist. Dabei kommt das moralisch Gute und das ‚aussermoralisch‘ Nützliche in der Praxis in einer ganz bestimmten Beziehung zu stehen: Sittlich gut (kalon/hones­ tum) ist ein Handeln, das primär das Gemeinwohl (auch im aussermoralischen Sinn sogenannter natürlicher Güter) im Auge hat und zu bewirken versucht. Antipater meinte nun, dass im sittlich Guten der allgemeine Nutzen und der Nutzen für den Einzelnen zusammenfinde.191 Doch nur wenn alle sittlich handeln, wäre gewährleistet, dass sittliches Handeln des Einzelnen ihm eo ipso auch im aussermoralischen Sinn zugute käme.192 Diogenes Laertius notiert einen dreifachen Sinn, nach dem hinsichtlich des Nutzens „Tugend und was an ihr teilhat“, gut bzw. das Gute genannt wird: nämlich (a) im Sinne dessen, woraus der Nutzen entspringt (der Tugend/aretē), (b) im Sinne dessen, was der Quelle gemäß eintritt (der tugendgemäßen Handlung/prâxis kat’ aretēn) und (c) im Sinne des Subjekts der Tugend und der tugendgemäßen Handlung (des tugendhaften Menschen/spoudaîos). Von der tugendhaften Handlung und 185 vgl. Cicero De fin. II; De off. III, 12. 186 vgl. Cicero De fin. IV-V; De off. III, 11; 20. 187 vgl. etwa SVF I, 360 = Clemens Strom. II; SVF I, 361 = SE AM XI, 64–67; SVF I, 351– 403. 188 DL VII, 101; vgl. SE AM XI, 22–26 = LS 60 G; SVF III, 75. 189 vgl. DL VII, 103; SE AM XI, 27. 190 vgl. dazu Vogt 2008b, 155–186. 191 Cicero De off. III, 52. 192 vgl. dazu Barney 2003, 335.

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IV Die stoische Ethik dem tugendhaften Menschen wird gesagt, sie seien metechonta aretês, sie hätten an der Tugend teil, während „die Freude und die Wohlgestimmtheit und das Ähnliche“ als epigennēmata, als (aus der Tugend) hinzukommend sich Ergebendes bezeichnet werden, also so etwas wie ein Epiphänomen der Tugend bzw. des Guten im Gemüt des Menschen darstellen.193 Sextus referiert dieselbe stoische Nutzen-Formel wie Diogenes: „Gutes sei Nutzen oder nichts anderes als Nutzen“.194 Tugend als feste Disposition des leitenden Organs und tugendhafte Handlung als entsprechende Aktivität seien ganz und gar Nutzen; der tugendhafte Mensch und der Freund hingegen seien jeweils etwas Ganzes, von dem Tugend und tugendhaftes Handeln einen (wesentlichen) Teil ausmachen; dies besage (‚nach den Söhnen der Stoiker‘) das zweite Glied der Formel. Schließlich gebe es für die Stoiker, so Sextus, eine Bestimmung des Guten, die alle genannten umfasst: Gut sei das, was nützlich zu sein fähig ist (to hoîon te ōpheleîn). Diese Formel schließe die Tugenden, die tugendhaften Handlungen, die Freunde, die tugendhaften Menschen, die Götter und die guten Geister ein.195 Eine sowohl von Diogenes Laertius als auch von Sextus und von Stobaeus überlieferte Einteilung, die mit den bisher genannten Unterteilungen ohne Weiteres vereinbar ist, gliedert das Gute in Seelisches, Äußeres und weder Seelisches noch Äußeres: Seelisch Gutes seien die Tugenden, die guten Haltungen, Einstellungen und tugendhaften Handlungen, Äußeres die Freunde, die guten Eltern und Kinder, die (wahrhaft) Vornehmen, das gute Vaterland und deren Glück, und weder Seelisches noch Äußeres der gute Mensch im Verhältnis zu sich selbst (denn er bestehe aus Leib und Seele).196 Weitere einmütig bezeugte Differenzierungen sind geeignet, das Verständnis der bereits angeführten zu vertiefen. So werde das sittlich Gute (ta agatha) in bewirkendes (poiētika), zielhaftes (telika) und sowohl bewirkendes als auch zielhaftes (poiētika kai telika) gegliedert.197 Der Gesichtspunkt der Einteilung ist dabei der, ob etwas die Weisheit und Glückseligkeit erzeugt bzw. zur Hervorbringung beiträgt oder ob es Bestandteil der Glückseligkeit selbst ist. So erzeuge der gute Mensch die Weisheit und trage der Freund mitwirkend zu ihr bei; so seien Tugenden, tugendhafte Handlungen und gute Stimmungen und Gefühle das, was die Glückseligkeit ausmacht; so brächten Tugenden die tugendhaften Handlungen hervor und seien Bestandteil der Weisheit in eins. In engem Zusammenhang mit dieser Gliederung steht der Gedanke, dass die Guten sich in ihrem Gutsein gegenseitig nützlich sind. Man könnte versucht sein, dem Autarkieideal des stoischen Weisen so etwas wie einen ‚sittlichen Egoismus‘ zu un-

193 194 195 196

DL VII, 94 = SVF III, 76. SE AM XI, 22 = SVF III, 75 = LS 60 G. ebd. SE AM XI, 27; vgl. SE PH III, 169–171. SE AM XI, 46 = SVF III, 96; DL VII, 95 = SVF III, 97a; Stob. Ecl. II, 70, 8 W = SVF III, 97. 197 Stob. Ecl. II, 71, 15 W = SVF III, 106 = LS 60 M; DL VII, 96 = SVF III, 107; Cicero De fin. III, 55 = SVF III, 108.

2. Die Lehre vom Ziel: Das Gute und das Vorgezogene terstellen, der nur an der eigenen Tugend ein Interesse nimmt.198 Dagegen spricht die explizite stoische These, dass das Gute etwas Gemeinschaftliches ist (koina ta agatha), dass jeder, der irgend jemandem nützlich ist, den gleichen Nutzen für sich selbst empfängt, dass alle sittlich Guten sich gegenseitig nützen.199 Die Alternative Egoismus versus Altruismus hebt sich in einem System gegenseitigen Nutzens auf.200 Die Freundschaft der Weisen und der nach Weisheit Strebenden bekleidet eine wichtige Stelle im stoischen System.201 Von Diogenes Laertius202 und Johannes Stobaeus203 ist uns der stoische Gebrauch der Termini diathesis, hexis und energeia als Gliederungen des seelisch Guten überliefert. Ferner setzt Simplicius’ Kategorienkommentar auseinander, wie ‚die Stoiker‘ die Begriffe hexis, diathesis, schesis und kinēsis verwenden.204 Für Aristoteles, so Simplicius,205 ist hexis ein dauernder, diathesis ein unbeständiger Zustand.206 Für die Stoa ist hexis ein Zustand, welcher Lockerung und Anspannung (anesis und epita­ sis) verträgt, während diathesis einen vollendeten Zustand meint, der keine Gradunterschiede mehr zulässt. Tugend, verstanden als spoudaîa hexis, ist den Stoikern eine diathesis.207 Versteht Aristoteles unter Tugend einen Habitus, durch den der Mensch im Handeln sicher und ohne Wanken wird,208 ohne damit auch zu sagen, dass dieser Zustand, wenn ein Mensch ihn erreicht, ein unüberbietbares Maximum darstellt, das nicht aufgrund habitusbildender Tätigkeit weiter verstärkt oder wieder geschwächt werden könnte, so nimmt die Stoa in den Begriff der Tugend qua diathesis Bestimmungen auf, die der platonischen Idee eigentümlich waren: Diathesis ist ein Habitus im Status der Vollkommenheit, der sowohl dem Begriff als auch der Wirklichkeit nach keine Graduierung bzw. Veränderung kennt.209 Dazu fügt sich der Gedanke, dass das Erreichen der Tugend nicht als das Resultat eines kontinuierlichen Übergangs bzw. einer approximativen Annäherung, sondern nur als instantaner qualitativer Umschlag (metastrophē bzw. metabolē) zu verstehen ist.210 Im Kontext dieser Diathesis­Lehre stehen denn auch jene Theoreme, die die Einteilung der Handlungen in gute und schlechte, der Menschen in Weise und Toren211 ebenso wie der Urteile in wahre und falsche als vollständige Disjunktion auffassen, und eine

198 199 200 201 202 203 204 205 206 207 208 209 210 211

vgl. etwa Tsekourakis 1974, 90. Stob. Ecl. II, 95, 6 W = SVF III, 94; Ecl. II, 101, 21–102, 3 = LS 60 P = SVF III, 626. vgl. LS 1 p. 377. vgl. Banateanu 2001; siehe unten S. 250 f. DL VII, 98 = SVF III, 105. Ecl. II, 70, 21 = SVF III, 104. vgl. dazu v. a. Rieth 1933, 22–35; 92–133. In Arist. Cat. CAG 237, 25 = SVF II,393. vgl. Aristoteles Cat. 8 b 27, 8 b 37. In Arist. Cat. CAG 287, 8; SVF II, 393. vgl. NE 1105 a 27. vgl. Plutarch De virt. mor. 441 C = SVF III, 459; DL VII, 89–90 = SVF III, 197. vgl. Clemens Strom. IV, 6 = SVF III, 221. vgl. DL VII, 127.

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IV Die stoische Ethik qualitative Gleichheit aller guten Handlungen einerseits, aller schlechten Handlungen andererseits behaupten.212 Die Bedeutung der stoischen Unterscheidungen von diathesis, hexis, schesis, kinēsis und ihre Anwendung auf die Theorie der Tugend und des Glücks macht den Unterschied zu den entsprechenden akademisch-peripatetischen Vorstellungen über das Gute besonders deutlich. In seinem Kategorienkommentar stellt Simplicius eine eigenartige stoische Verwendung der Kategorie poion (wie beschaffen) heraus.213 Poion in seiner weitesten Bedeutung gehe auf alle Differenzierungen (pân to kata diaphoran), die einem Subjekt zugesprochen werden, umfasst also auch dessen einzelne Bewegungen. In einer engeren Bedeutung beziehe es sich nur noch auf das Subjekt, um eine Haltung zum Ausdruck zu bringen (ischomenon). In seiner speziellsten Bedeutung meine poion ein Beschaffensein, das dem Subjekt aus sich heraus eignet, unabhängig von Bewegungen und Haltungen, die dem Subjekt in Bezug zu oder aufgrund äußerer Umstände und Verhältnisse zukommen. Dieser Dreiteilung der Kategorie poion korrespondiere die Dreiteilung des Seelischen in kinēsis, schesis und hexis bzw. diathesis. Mit hexis bzw. poiotēs werde ein Beschaffensein des Subjekts bezeichnet, das nicht von dem Haben bzw. Vorhandensein von Dingen abhängt, die außer dem Subjekt liegen. Sage ich von jemandem, er trinke, bzw. er sei ein Trinker, so verwende ich das poion in der ersten und zweiten Bedeutung; sage ich hingegen, er sei trunksüchtig, so bezeichne ich eine Beschaffenheit im speziellsten Sinn. Diathesis nun ist eine Beschaffenheit im Status der Vollendung. Stobaeus überliefert eine analoge Einteilung des Guten.214 Danach unterscheidet die Stoa Gutes, das in vorübergehenden Bewegungen besteht (ta men en kinēsei), von solchem, das eine Habe darstellt (ta de en schesei). Dieses differenziert sich in solches, das (ganz) von äußeren Gegebenheiten abhängt (ta de en schesei monon), und solches, das von äußeren Gegebenheiten unabhängig ist (ta kai en hexei). So ist eine Freude über etwas (chara) oder eine vernünftige Unterredung (sōphrōn homi­ lia) etwas Gutes in der ersten Bedeutung, ein unerschrockenes Ausharren in der Gefahr (monē atarachos) und eine tapfere Haltung in der Schlacht (prosochē epan­ dros) etwas Gutes in der zweiten Bedeutung, der Besitz von Tugenden (aretai), Fachkunden (technai) und Liebhabereien (epitēdeumata) (zur Literatur, zur Musik, zur Mathematik etc.) etwas Gutes in der dritten Bedeutung. Fachkunden und Liebhabereien werden von der Tugend des Subjekts zu Gutem assimiliert. Nun wird die poiotēs bzw. hexis eines Subjekts ‚physiologisch‘ als energetischer Spannungszustand des pneumatischen Substrats verstanden, der seinerseits eine gegenwendige Bewegung vom Zentrum zur Peripherie und zurück (tonikē kinēsis) darstellt.215 Die hexis bzw. diathesis wird also von der Stoa in Begriffen der kinēsis bzw. energeia interpretiert. Davon zu unterscheiden sind die Bewegungen bzw. Tätigkeiten, die aus dem Zusammenspiel des Beschaffenseins des Subjekts und äußerer 212 213 214 215

vgl. SVF III, 657–670. In Arist. Cat. CAG 212 = SVF II, 390; Rieth 1933, 22 ff. Ecl. II, 73, 1–13 = SVF III, 111 = LS 60 J. vgl. oben S. 102; 118.

3. Tugend und passendes Verhalten Gegebenheiten resultieren. Der Tugendhafte wird sich den jeweils gegebenen Sachlagen gegenüber stets in bestimmter Weise verhalten; doch die gegebenen Umstände sind nicht konstitutive Faktoren seines Tugendhaftseins. Wenn also die Stoa nach Stobaeus lehrt, notwendige Bestandteile des Glücks seien „alle die Tugenden und die Tätigkeiten, die von ihnen Gebrauch machen (tas te aretas pasas kai tas energeias tas chrēstikas autôn)“,216 so ist damit nicht gemeint, der Tugendhafte benötige äußere Bedingungen und Gelegenheiten der Bewährung, um aktuell tugendhaft zu sein. Das wäre aristotelisch gedacht. Die Stoa spricht bereits dort von kinēsis und energeia, wo die aristotelisch-peripatetischen Gegner von Möglichkeit, Fähigkeit, Disposition bzw. habituellem Zustand sprechen, die erst dann zur Erfüllung kommen, wenn sie sich im raum-zeitlichen Handeln aktualisieren, in einem Handeln, das sich je aus einem Zusammenspiel subjektinterner und -externer Faktoren zusammensetzt. Wie die Stoa über das Verhältnis von Disposition und Akt im Zusammenhang des Guten dachte, zeigt die von Antiochos von Askalon dem Zenon zugeschriebene Lehre: „. . . nicht nur der Einsatz der Tugend wie die Früheren (meinten), sondern bereits der Habitus selbst sei herrlich; doch sei niemandem die Tugend eigen, der sie nicht immer einsetzt (. . . nec virtutis usum modo ut superiores, sed ipsum habitum per se esse prae­ clarum, nec tamen virtutem cuiquam adesse, quin ea semper uteretur).217 Die Stoa macht die Disposition der Tugend zu einer aktualen Entität, die von den Bedingungen, in die sie eingelassen ist, und in denen sie sich nach außen realisiert, nicht mehr in ihrem Sein und Bestand betroffen ist. Tugend ist nach ihr das menschliche Zentralorgan in einer bestimmten (idealen) Verfassung; sie soll sie sogar als Lebewesen bezeichnet haben (pâsan aretēn zôon eînai).218 Es wäre unzutreffend, deshalb von einer Verinnerlichung der stoischen Tugendvorstellung zu sprechen; da sie sich ja in allen Lebensumständen äußert; doch es liegt in der Konsequenz dieses Gedankens, dass das Gute des Lebens in bestimmter Hinsicht aus den Bedingungen der Zeitlichkeit herausgenommen wird: Das Glück des Tugendhaften ist unabhängig von der zeitlichen Extension und dem Wandel der Ereignisse seines Lebens; das Gute lässt sich durch die Länge der Lebensdauer nicht erhöhen.219

3. Tugend und passendes Verhalten 3.1 Zum Begriff der Tugend Der Begriff der Tugend (aretē) steht, wie bereits deutlich wurde, bei den Stoikern, wie schon bei Platon und Aristoteles, im Zentrum ihrer Ethik. Gleichwohl unterscheidet sich das stoische Konzept in wesentlichen Zügen von dem der großen philosophischen Vorgänger, obgleich es viele ihrer Motive aufnimmt und integriert. 216 217 218 219

Stob. Ecl. II, 77, 6 W = SVF III, 113. Cicero Acad. post. X, 38 = SVF I, 199. Stob. Ecl. II, 65, 1 W. = SVF III, 306. vgl. Plutarch Comm. not. 1061 F.

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IV Die stoische Ethik Man hat neuerdings, mit gewissem Recht, wie ich meine, den wesentlichen Grund des Unterschieds in der dominant theologischen Ausrichtung der stoischen Ethik gesehen.220 Darin ist sie ungleich mehr Platon als Aristoteles verpflichtet. Ihr ausgeprägter Intellektualismus ist sokratisches Erbe; ebenso der Gedanke der „Einheit“ der Tugenden. Tugend ist für die Stoiker eine Sache der rechten Vernunft, einer Vernunft, die, ob richtig oder falsch, alle genuin menschlichen Lebensäußerungen prägt. Tugend ist wesentlich eine erkenntnisbezogene Disposition.221 Die verschiedenen Tugenden sind untrennbar miteinander verwoben: Man kann nicht in einer Hinsicht bzw. in einem Lebens- und Handlungsbereich tugendhaft sein und in anderen nicht. Die Stoa folgt Platon im Gliederungsschema der vier Kardinaltugenden:222 Weisheit/Klugheit, Besonnenheit, Tapferkeit und Gerechtigkeit (auch in der Subsumtion von Frömmigkeit unter Gerechtigkeit). Der theologischen, ins Idealtypische gesteigerten Orientierung verdanken sich elementare Dogmen, die nicht nur uns heute paradox erscheinen: Der (im stoischen Sinn) Tugendhafte ist vollendet glücklich, die Lebensumstände mögen sein wie sie wollen. Tugend ist eine Sache des Alles oder Nichts,223 ist zu verstehen als vollkommene, nichtgraduierbare geistig-charakterliche Verfasstheit des Menschen, die keine kontinuierlichen Übergänge, keine Steigerung ins Bessere, keinen Verfall ins Schlechtere mehr zulässt. Der stoische Weise ist frei von affektiven, d. h. nichtvernünftigen emotiven Einstellungen und Regungen des Gemüts; sein seelisch-geistiger Zustand gleicht dem eines sterblichen Gottes; er teilt (im Grundsätzlichen) die Perspektive und den Willen des Zeus im Blick auf die Welt, auf sein Schicksal, auf sein eigenes Leben und Handeln. Tugend, so die Stoa, ist notwendige und zureichende Bedingung des Glücks; der stoische Weise ist vollendet glücklich. Paradox erscheint uns dies, weil wir disponiert sind, die condicio humana in der Tradition Hiobs zu verstehen, nach der Gutsein und Wohlbefinden auseinanderfallen können, weil wir die unlösliche Verbindung von Tugend und Glück in der Tradition des Christentums nur dem Heiligen im Himmel bzw. dem Erlösten in einer anderen, der kommenden Welt zugestehen mögen. In der Einschätzung des normativen Status von Regeln des Verhaltens zeigt die Stoa eine gewisse Nähe zu Aristoteles. Das jeweils zu tun Passende, das einem Zukommende und Gebührende (das kathēkon) ist abhängig von der Konstellation und der treffenden Sicht und Bewertung der gegebenen Umstände. Regeln, die in empfehlender oder fordernder Weise Situations- mit Handlungstypen verbinden, sind als mehr oder weniger erfahrungsgesättigte Faustregeln zu betrachten; sie gelten meistens, aber nicht immer. Man muss, da menschliche Lebensverhältnisse und -umstände ins Unabsehbare variieren, mit außergewöhnlichen Situationen rechnen, in denen gerade das Gegenteil dessen zu tun vernünftig sein kann, wozu die Regeln gemahnen (kathēkonta peristatika). Es ist sehr die Frage, ob die Stoiker überhaupt neutral beschreibbare Handlungstypen ins Auge fassten, von denen zu sagen wäre, 220 221 222 223

vgl. Jedan 2009. vgl. Tsouna 2016, 130. vgl. SVF II, 95; III, 262. vgl. Jedan 2009, 51.

3. Tugend und passendes Verhalten dass man sie niemals tun darf. Ob man allerdings behaupten kann, die stoische Moraltheorie könne einem Handelnden schwerlich in einem brauchbaren Sinn sagen, was in einem konkreten Fall zu tun ist,224 scheint mir fraglich. Die Stoiker, vor allem die frühen, bewahren jedenfalls kynischen Sinn für Provokation: Es kann Situationen geben, in denen es vernünftig ist, seinen Besitz zu verschleudern, Menschenfleisch zu essen, fremdes Gut an sich zu reißen, sich selbst zu verstümmeln, die Eltern zu töten, Inzest zu begehen etc. (siehe unten S. 212; 259). Tugend als ‚Bestheit‘ des Menschen als Menschen ist eine Form des Wissens, des Erkennens, des Könnens. Tugend als solche ist das Wissen davon, was gut und schlecht (zu tun) ist.225 Die stoische Psychologie ist monistisch; sie betont die Einheit der menschlichen Geistseele. Dieser Monismus bedingt, dass das Wissen, das für den Stoiker die Tugend bzw. die Tugenden definiert,226 nicht bloß theoretisch ist, sondern den uneingeschränkten Impuls zur Umsetzung des Gewussten in die Praxis einschließt.227 Platons Theorie der Seelenteile228 lehnen die frühen Stoiker ab. Phänomene wie Willensschwäche oder Unbeherrschtheit erklären sie nicht in Begriffen des Kampfes bzw. der Disharmonie von Seelenteilen und ihren unterschiedlichen Bestrebungen, sondern in Begriffen der Instabilität der seelisch-geistigen Verfassung, in der konträre Meinungen sich überlagern und ablösen und propositionale Einstellungen schnellem, kaum merklichem Wechsel unterliegen. Affektiven Gefühlen und Handlungsimpulsen liegen irrige Meinungen zugrunde: Man hält in Schwermut, Trauer und Verzweiflung, in Hass, Neid, Eifersucht und Zorn, in Furcht, Sehnsucht, Begierde und überschwänglicher Lust etwas für uneingeschränkt gut oder schlecht, was es in Wahrheit nicht ist. Selbst der Verlust eines nahestehenden Menschen gibt keinen vernünftigen Anlass zur Trauer: Man weiß, dass man es unter Menschen allemal mit Sterblichen zu tun hat. Es gibt als naturgemäß geltende Güter, gewiss: das Leben selbst, Gesundheit, Stärke, Schönheit, Intelligenz, edle Herkunft, Angehörige und Freunde, Wohlstand, Ehre und Macht.229 Es sind dies Güter, zu denen der Mensch von Natur (und in als ‚gesund‘ empfundenen Institutionen) neigt. Doch diese Güter sind keineswegs „gut“ unter allen Umständen: Man kann sie gut oder schlecht gebrauchen; sie können ihrem Besitzer (und anderen) zum Nachteil und Unheil ausschlagen. Uneingeschränkt gut ist nur die gute Verfassung des Geistes. Es kennzeichnet die stoische Philosophie, wie Cicero erklärt, dass sie (die Stoiker), was wahrhaft gut zu nennen ist, ganz in den Geist verlegen (in animo reponunt omnia).230 Der Mensch ist so beschaffen wie sein Geist.231 Tugend meint Geist in Perfektion (orthos logos, mens perfecta, ratio 224 225 226 227 228 229 230 231

vgl. Inwood 1999a, 125; Barney 2003, 304. vgl. Galen PHP 5.5.38–40 De Lacy, SVF III, 262; vgl. III, 265, 266. vgl. SVF III, 262. vgl. dazu Gourinat 2000, 82. vgl. Politeia 4, 435 a – 441 c. vgl. DL VII, 102 = LS 58 A; DL VII, 106. Tusc. disp. V, 119. Tusc. disp. V, 47.

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IV Die stoische Ethik absoluta), vollendetes Vernünftigsein, Weisheit. Und der Geist umfasst die Dimension und Fähigkeit des Erkennens, des Strebens und des Fühlens. Moralität ist nur ein Aspekt menschlicher Tugend. Eine dominant oder gar exklusiv moralische Interpretation des stoischen Tugendkonzepts greift viel zu kurz. Weisheit hat eine kognitive, emotive und willentlich-praktische Seite. Die Stoa hat eine Teilung und Trennung der zielhaften Lebensform in eine theoretische und praktische, wie sie Aristoteles in der Nikomachischen Ethik vorschwebt, abgelehnt und einer einheitlichen ars vivendi, die sie als logikos bezeichnete,232 das Wort geredet. Die Stoa spricht von der Einheit der Tugend und gleichwohl von einer Mehrzahl von Tugenden (Galen233 sieht darin eine Inkonsistenz der stoischen Theorie). Für Tugend schlechthin steht das Wort ‚phronēsis‘ bzw. ‚sophia‘; der Weise (ho sophos) ist der vollendet Tugendhafte. Weisheit wird in Begriffen des Wissens (epistēmē) von den göttlichen und menschlichen Dingen bestimmt, und dieses Wissen entsprechend den (philosophischen) Kompetenzen der Physik, der Logik und der Ethik gegliedert.234 Physik ist die Erforschung, die Erkenntnis und Betrachtung der Welt (und in ihr vornehmlich der göttlichen Dinge am Himmel), Logik die Erforschung und Erkenntnis der Möglichkeiten und des richtigen Gebrauchs der Sprachfähigkeit, Ethik die Erforschung und Erkenntnis der menschlichen Angelegenheiten. Die Stoa spricht von der Tugend der Logik bzw. Dialektik ebenso wie von der Tugend der Physik und der Ethik und meint damit, dass der Weise sich auf die Kunst der richtigen sprachlichen Bezeichnung der Dinge, der Gesprächsführung, des Schlussfolgerns, des korrekten Argumentierens versteht, dass er über die göttliche Ordnung und Verwaltung der Welt Bescheid weiß und dass er, was die menschlichen Angelegenheiten betrifft, sowohl im Allgemeinen weiß als auch im Besonderen, ja Einzelnen erfasst, was gut und schlecht, was zu erstreben und zu meiden, was zu tun und zu lassen ist. Menschliches Leben und Erleben des Lebens ist entscheidend durch die Sprachfähigkeit geprägt. Durch seine Sprachfähigkeit ist der Mensch in der Lage, ein in Sätzen formulierbares theoretisches Selbst- und Weltverständnis sowie praktisches Selbst- und Weltverhältnis auszubilden. Unser bestes und herrscherliches Vermögen unter allen Vermögen ist, so Epiktet, die Vernunft (hē dynamis hē logikē). Denn sie allein ist es, die sich selbst und alles andere betrachtend erkennt (hē kai hautēn theōroûsa kai talla panta), die die Vorstellungen gebraucht (hē chrēstikē dynamis taîs phantasiais), die alle anderen Vermögen beurteilt, ihren Gebrauch bewertet und über ihren situationsgerechten Einsatz befindet (tas allas dynameis diakrînon, doki­ mazon tas chrēseis autôn kai tous kairous paradeiknyon). „So war es denn durchaus der Götter würdig, dass sie uns nur das Beste von allem und das Herrscherliche (to kratiston hapantōn kai kyrieûon) in unsere Hand gegeben haben, den richtigen Gebrauch der Vorstellungen, alles andere aber nicht“.235 Wie keine andere philosophi232 DL VII, 130. 233 PHP 5.5.38–40. 234 vgl. Aëtius Placita I Prooemium = SVF II, 35; Cicero De fin. III, 72–73; Tusc. disp. V, 66–72; v. a. V, 68; DL VII, 83. 235 Diss. I, 1, 1–7.

3. Tugend und passendes Verhalten sche Schule der Antike hat die Stoa die mit der Sprachfähigkeit und Vernunft gegebene Eigenschaft des menschlichen hēgemonikon betont, zu Gedanken, Bestrebungen und Wünschen ein souveränes Verhältnis einzunehmen, die Fähigkeit, sie von sich zu distanzieren und zu prüfen, ehe man sie sich zu eigen macht oder verwirft oder bis auf Weiteres in der Schwebe hält. Wir können aufgrund unserer Sprachfähigkeit Sachverhalte fassen, ohne zu ihnen im Sinne von wahr/falsch, schön/hässlich, gut/schlecht, erstrebenswert/meidenswert Stellung zu beziehen. Die Stellungnahme (synkatathesis) und nur sie ist absolut in unserer Hand. Durch sie machen wir uns Sachverhalte zu eigen oder weisen sie von uns. Durch unsere Stellungnahmen bilden wir uns selbst und wirken in die Welt. Diese Fähigkeit eröffnet der Möglichkeit nach ein freies, souveränes Selbst- und Weltverhältnis. Die Art ihrer Bildung und ihres Einsatzes bestimmt unser Denken, Fühlen und Streben. Die Tugend der Logik und Dialektik sichert die formale Korrektheit des Gebrauchs unserer Vorstellungen. Und der rechte Gebrauch unserer Vorstellungen entscheidet über alles. Er allein ist das, was als uneingeschränkt gut bezeichnet werden kann. Die Stoa setzt also das Gute des Menschen ganz in den Vollzug ihrer selbst bewusster, ihrer selbst mächtiger, sich selbst beurteilender und sich selbst gestaltender rechter theoretischer und praktischer Vernunft und Personalität. Durch seinen Logos und die Fähigkeit zur Stellungnahme zu Sachverhalten ist der Mensch, wie es bei Diogenes Laertius heißt, Gestalter seiner Gefühle und Bestrebungen.236 Die Stoa war der Überzeugung, dass man nur über Theoria, über eine Erkenntnis der Natur und der Einrichtung der Welt zur Einsicht in gut und schlecht gelangt.237 Diese Erkenntnis gipfelt in der Erkenntnis der Weltordnung und des Weltgeschehens als eines Ausdrucks göttlicher Vernunft, der sich die menschliche Vernunft als Abkömmling und Fragment der göttlichen Vernunft einzufügen und anzugleichen vermag. Der Mensch ist geboren, um die (göttliche) Welt zu betrachten und nachzuahmen, heißt es bei Cicero unter explizitem Bezug auf Chrysipp (ipse autem homo ortus est ad mundum contemplandum et imitandum).238 Gott hat den Menschen in die Welt gebracht, um ein Betrachter Gottes und seiner Werke zu sein, und nicht nur ein Betrachter (theatēs), sondern auch ein Interpret (exēgētēs), so lesen wir bei Epiktet.239 Mit „Interpret“ ist wohl die praktische Seite des Tugendhaften angesprochen, nämlich dies, dass sich aus seiner prinzipiellen Weltsicht und richtigen Situationsdiagnose auch das entsprechende Verhalten in der Welt ergibt. Die Stoa sieht im Zusammenspiel der Elemente, in der Verteilung von Land und Wasser, im Wechsel der Jahreszeiten, in der Fülle von Flora und Fauna, in der Gunst klimatischer Verhältnisse etc. eine teleologische Ordnung der irdischen Verhältnisse, die auf den Menschen als Wohnstatt ausgerichtet sind. Doch die Göttlichkeit dieser Ordnung wird ihr vor allem durch den Blick zu den Sternen erkennbar. 236 technitēs tôn hormôn DL VII, 86. 237 vgl. Cicero De fin. III, 72 f.; Plutarch Stoic. rep. 1035 C-D = SVF III, 68; Seneca Quaest. nat. I praef. 5–13. 238 ND II, 37. 239 Diss. I, 6, 19–20.

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202

IV Die stoische Ethik Cicero erläutert in den Tusculanen240 die epistemisch-genetische Ordnung, in der sich die stoische Weisheit aufbaut und betätigt: An die erste Stelle setzt der Text die Erforschung und Betrachtung der Sphärenbewegung, des Fixsternhimmels und der Planetenbewegung, also im Wesentlichen Astronomie. An ihr entzündet sich zwei­ tens die Prinzipienforschung, die sich auf die Ausgangspunkte und „Samen“ (initia et tamquam semina)241 von allem, was entstanden ist, bezieht, den Ursprung und die kosmische Stellung der Erde erfasst und die generisch verschiedenen Formen des Entstehens, Seins und Vergehens der Dinge auf ihr nachzeichnet. Der intensiven Meditation (haec tractanti animo et noctes et dies cogitanti)242 über die Einheit und Vielheit des Seins und seine schöne gesetzliche Ordnung (die auch die kosmologische Stellung des Menschen betrifft) entspringt drittens die Selbsterkenntnis des menschlichen Geistes, der sich nach Ursprung und Natur dem göttlichen Geist als wesensgleich erfasst, sich mit ihm verbunden weiß und aus diesem Bewusstsein ein Gefühl unerschöpflicher Freude bezieht. Dem Bewusstsein, Geist vom göttlichen Geist zu sein, verdankt sich im Menschen als einem endlichen Vernunftwesen vier­ tens das Bestreben zur imitatio dei. Die Verwirklichung dieses Wunsches hat verschiedene Aspekte:243 Zunächst einen theoretischen Aspekt (die Frucht der sapientia im engeren Sinn): Der Mensch stellt in seinem Geist in sprachlich-gedanklicher Form die kausale Kraft und strukturelle Ordnung der göttlichen Weltverwaltung dar und hebt sich selbst durch die meditative Verinnerlichung dieser erkennenden Darstellung über die Begrenztheit seines Lebens in die Dimension göttlicher Ewigkeit.244 Dann einen emotiven Aspekt (sc. die Frucht der stoischen Affektfreiheit, der apatheia und eupatheia): Mit dem Eintritt in diese Dimension gewinnt der Mensch die Heiterkeit göttlicher Ruhe, Distanz und Gelassenheit gegenüber den menschlichen Angelegenheiten;245 er blickt nun geringschätzig auf sie herab (despicere). Und schließlich den ethisch-praktischen Aspekt (sc. die Frucht der prudentia): Er erkennt, was (im Kosmos und) für seine Natur das höchste Gut und das äußerste Übel ist, worin Tugend, die Vollendung seiner Disposition zur Aktualisierung dieses Gutes besteht und worauf letztlich alle officia des täglichen Lebens zu beziehen sind (quo referenda sunt omnia).246 Bislang war von Physik und Ethik im Rahmen der philosophischen Erkenntnis der göttlichen und menschlichen Dinge die Rede. Der Abschnitt 72 handelt dann offensichtlich auch davon, was sich daraus praktisch für die Lebensführung des Weisen ergibt (quae degendae aetatis ratio deligenda).247 Er spricht ausdrücklich davon,

240 241 242 243 244 245 246 247

Tusc. V, 69–72. Tusc. V, 68. Tusc. V, 70. vgl. hierzu v. a. Cicero Lucullus 23; auch Seneca Quaest. nat. I praef. 6–17. vgl. Tusc.V, 70. Tusc. V, 71. Tusc. V, 71. vgl. Tusc. V, 71.

3. Tugend und passendes Verhalten dass es für den Weisen die Vollendung seines Selbstverständnisses darstellt zu sehen, dass der Nutzen der Bürger in seiner prudentia eingeschlossen ist.248

3.2 Die eine Tugend und die vielen Tugenden Die Stoa betont die Einheit der Tugend, sie kennt einen Schwarm von Tugenden (smênos aretôn),249 und sie behauptet ihre unlösliche wechselseitige Verbindung.250 Nach Plutarch folgte Zenon Platon in der Gliederung der Tugenden.251 Er anerkenne wie dieser verschiedene Tugenden, z. B. Klugheit, Tapferkeit, Besonnenheit und Gerechtigkeit. Sie seien für ihn untrennbar verbunden (achōristous men oûsas), aber gleichwohl voneinander verschieden (diapherousas allēlōn). Er habe sie in Begriffen der phronēsis definiert, bezogen auf verschiedene Handlungsbereiche. „Wo er sie wiederum einzeln bestimmt, erklärt er, die Tapferkeit sei phronēsis in Dingen, die es auszuhalten gilt (en hypomeneteois), die Besonnenheit sei phronēsis in Dingen, die man (unter Selbstkontrolle) vorziehen muss (en haireteois), die Klugheit im engeren Sinn sei phronēsis in Dingen, die es ins Werk zu setzen gilt (en energēteois), die Gerechtigkeit sei phronēsis in Dingen, die zuzuteilen sind (en aponemēteois).“252 Kleanthes, so Plutarch, habe in seinen Physikalischen Abhandlungen (sc. in naturphilosophischer Perspektive) erklärt, die Spannung sei ein Feuerstoß. Wenn sie in der Seele geeignet geworden sei, das, was einem gebührt, zu realisieren, spreche man von Kraft und Stärke (ischys kai kratos). Wörtlich habe er gesagt: „Wenn diese Kraft und Stärke in den Dingen auftritt, die offensichtlich ein Durchhalten verlangen, ist sie Selbstbeherrschung, wenn in den Dingen, die es auszuhalten gilt, ist sie Tapferkeit, bezüglich der Verdienste Gerechtigkeit, bezüglich der Dinge, die es zu ergreifen und zu verwerfen gilt, Besonnenheit“.253 In einer relativ frühen Phase der Schule kam es zu einer kontroversen Diskussion dieser Thematik, ausgelöst durch die Frage, wie stark die Einheit der Tugend, wie stark ihre Pluralität zu verstehen ist.254 Menedemos von Eretria, dann v. a. Ariston von Chios wollten die Beziehung der einzelnen Tugenden auf ihre je eigenen Handlungsbereiche lediglich im Sinne einer relativen Disposition (pros ti pōs echon) der einen Tugend verstanden wissen, d. h. einer extrinsischen Relation, die ihr Wesen nicht berührt. Die eine Tugend besitzt nach diesem Verständnis nur verschiedene Namen, je nach dem Handlungsbereich, in dem sie sich betätigt, ähnlich einem Messer, das zu verschiedenen Gelegenheiten verschiedene Gegenstände schneidet oder dem Feuer, das auf verschiedene Materialien wirkt. Für sich sei sie stets ein und 248 Tusc. V, 72. 249 vgl. Plutarch De virtute morali 440 E – 441 D = LS 61 B. 250 vgl. Galen PHP 5.5.38–40; Plutarch Stoic. rep. 7, 1034 C-E = LS 61 C; De virtute morali 440 E – 441 B = LS 61 B; vgl. Schofield 1984, 83–96; Jedan 2009, 76 f. 251 Stoic. rep. 7, 1034 C-E = LS 61 C; vgl. Schofield 2013a. 252 Stoic. rep. 7, 1034 C-E = LS 61 C. 253 Stoic. rep. 7, 1034 C-E = LS 61 C. 254 vgl. Jedan 2009, 76 ff.

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IV Die stoische Ethik dieselbe: konsistente, feste, unerschütterliche Vernunft, Gesundheit des Geistes bzw. Wissen von den guten und schlechten Dingen.255 Chrysipp nun glaubte mit diesem Vorschlag Aristons die Ansicht der Vorgänger Zenon und Kleanthes einseitig, ja falsch interpretiert: Die Pluralität und Differenz der Tugenden schien ihm in Aristons Konzept nicht zu ihrem Recht zu kommen. Er wollte den verschiedenen Tugenden eine ihnen eigene, sie in ihrer Verschiedenheit konstituierende Qualität zuerkannt wissen.256 Er schrieb einen Gegentraktat, mit dem er bereits im Titel signalisierte, dass die Tugenden kategorial als Qualitäten, nicht als bloße Relationen anzusehen sind (Peri toû poias eînai tas aretas).257 Die bestimmte Beschaffenheit definiert nach diesem Verständnis das je eigene Wesen der einzelnen Tugend. Das Problem, wie man zu Recht von der Tugend des Menschen als Menschen im Singular, zu Recht von den Tugenden im Plural und zu Recht von der Einheit bzw. dem unlöslichen Zusammenhang der Tugenden sprechen kann, sucht Chrysipp offensichtlich über den Begriff fundierten Wissens und Erkennens (epistēmē) zu lösen. Er knüpft darin an den Sprachgebrauch seiner innerschulischen Gegner an. Darüber war man sich einig, dass Zenons Begriff der phronēsis über den Begriff fundierten Wissens und Könnens (der epistēmē kai technē) zu interpretieren sei.258 Doch im Unterschied zu seinen Gegnern glaubt Chrysipp, mit einem adäquaten Verständnis von epistēmē der Einheit der Tugend, der Vielheit der Tugenden und deren unlöslichem Zusammenhang zugleich gerecht werden zu können. Statt, wie Zenon, von phronēsis, bezogen auf verschiedene Handlungsbereiche, spricht Chrysipp also von den Tugenden als Wissenschaften und Fachkunden (epistēmai kai technai),259 wobei die Rede von Wissenschaften und Fachkunden hier wohl nicht nur, aber auch Modellcharakter besitzt. Fachkunden und Wissenschaften gibt es viele; ihre jeweilige Eigenart ist manifest; sie wird durch einen partikulären Objektbereich definiert; sie umfasst eigene methodische Verfahren; sie zielt auf ein partikuläres Gut des Lebens. Doch eine Fachkunde bzw. eine Wissenschaft repräsentiert (nach stoischem Verständnis) nicht fundierte Erkenntnis, wenn sie sich nicht als Teil eines systematisch engstens vernetzten Wissensgebäudes versteht, die eigenen Grundlagen in dieses Gebäude einzuordnen weiß und über gemeinsame Prinzipien und Theoreme mit allem verbunden ist, was zu Recht den Anspruch auf wahre Erkenntnis erheben kann. Tugenden sind Formen des Wissens und Könnens, bezogen auf „Bereiche des Lebens“. Doch dieser Bezug ist von wesentlich anderer Art als der Bezug einer einzelnen Fachkunde auf den ihr eigenen Bereich. Der Fachkundige versteht sich auf einen Ausschnitt der Welt und ein partikuläres, relatives Gut. Die Erkenntnis, die mit einer Tugend verbunden ist, ist allemal umfassend, und das Gute, das sie realisiert, ist uneingeschränkt gut. Wer tugendhaft ist, versteht sich darauf, wie, als 255 256 257 258 259

Plutarch De virtute morali 2/3, 440 E – 441 D = LS 61 B. Plutarch De virtute morali 440 F = LS 61 B. Galen, PHP 7.1; DL VII, 202. Plutarch De virtute morali 440 E – 441 D = LS 61 B. Stobaeus Ecl. 2.63.6–24 = LS 61 D und 63 G; vgl. Plutarch Stoic. rep. 1046 E – 1047 A; DL VII, 125–126; Seneca Ep. 67.10; SVF III, 295–304; Jedan 2009, 77 ff.

3. Tugend und passendes Verhalten Mensch unter Menschen, in allen Lebenslagen vollendet zu leben und zu handeln ist. Im Ziel, dem guten, vollendeten Leben, dem eû zên und eudaimoneîn, konvergieren die Tugenden. Doch in dem, worauf sie bei der Verfolgung und Realisierung des einen Ziels besonders achten und sich verstehen, in ihrer „Hauptsache“ (ihren kephalaia), unterscheiden sie sich. In der Konzentration auf das ihnen Eigene bei der Verwirklichung des gemeinsamen Ziels haben sie indessen, als Tugenden, auch die leitenden Gesichtspunkte der anderen Tugenden im Auge; andernfalls verfehlen sie, was eine Tugend ausmacht. Wer, als tapferer Mensch, sich in einer gefährlichen Lebenslage befindet, wer ‚gekonnt‘ erfasst, was in ihr zu tun ist und sie auf tapfere Weise besteht, der tut nichts, was den Maximen der Gerechtigkeit oder Besonnenheit widerspricht; berücksichtigt er doch in dem, was im Sinne der Tapferkeit zu tun ist, die Gesichtspunkte der Gerechtigkeit und Besonnenheit mit. Bei Stobaeus260 findet sich ein Referat, das diese, d. h. Chrysipps kanonisch gewordene Lösung der Frage nach Einheit und Pluralität der Tugenden klar beschreibt: „Alle die Tugenden (aretai), die Wissenschaften (epistēmai) sind und Fachkunden (technai), haben (sc. aus dem Ziel abgeleitete) Grundsätze (theōrēmata) gemeinsam, und, wie gesagt, dasselbe Ziel (telos). Deshalb sind sie auch untrennbar. Der nämlich, der eine hat, besitzt alle; und der, der gemäß einer handelt, handelt allen gemäß. Sie unterscheiden sich jedoch voneinander durch die Hauptsachen (toîs kephalai­ ois). Die Hauptsache nämlich der phronēsis ist, zuvörderst betrachtend zu erkennen und zu tun, was zu tun ist, in zweiter Hinsicht auch zu betrachten, was es zuzuteilen und wofür sich zu entscheiden und was es auszuhalten gilt, um unfehlbar zu tun, was man tun muss. Die der sōphrosynē eigene Hauptsache ist, in erster Linie den Bestrebungen Ruhe (und Festigkeit) zu verschaffen und sie betrachtend zu erkennen, in zweiter Hinsicht aber (zu erkennen), was unter die anderen Tugenden fällt, um sich unfehlbar seinen Impulsen gegenüber zu benehmen. Und ähnlich ist das Primäre der andreia, das (zu erkennen), was man alles aushalten muss, in zweiter Linie das, was unter die anderen Tugenden fällt. Und das Primäre der dikaiosynē ist, das zu erfassen, was jeder verdient, in zweiter Hinsicht auch das Übrige. Denn alle Tugenden blicken auf das, was allen Tugenden entspricht und auf das, was jeweils unter die anderen fällt.“ Das Zeugnis von Stobaeus deckt sich mit dem, was Cicero in De officiis (im Anschluss an Panaitios’ Peri toû kathēkontos)261 über die Einheit und Vielheit der Tugenden schreibt: „Diese vier (sc. Kardinaltugenden) sind zwar miteinander verbunden und verschlungen; gleichwohl erwachsen aus jeder einzelnen von ihnen bestimmte Klassen passenden Verhaltens (quae quattuor quam­ quam inter se colligata et implicata sunt, tamen ex singulis certa officiorum genera nascuntur)“.262 Ariston vertritt die These, Tugend sei das einzig Gute, alles andere sei indifferent. Dies ist auch die Position der ‚orthodoxen‘ Stoa. Doch im Unterschied zu Ariston wollte sie im Bereich des Indifferenten Naturgemäßes, Naturwidriges und schlechterdings Indifferentes unterschieden wissen. Tugendhaftes Verhalten besteht nach 260 Ecl. 2.63.6–24 = LS 61 D. 261 vgl. dazu Ciceros Brief an Atticus 16.11.4 = 420 Sh. B., 4. 262 De off. I, 15.

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IV Die stoische Ethik ihr auch und wesentlich im vernünftigen Umgang mit indifferenten Dingen, in der Wahl des Naturgemäßen und Abwahl des Naturwidrigen. Dazu bedarf es eines Wissens von dem, was naturgemäß und naturwidrig ist. Die verschiedenen Tugenden werden konstituiert durch verschiedene Gehalte des Wissens (kephalaia). Und diese machen eine intrinsisch differenzierte Beschaffenheit der Person aus.263 Ariston verwarf nach Auskunft der Quellen Physik und Logik264 und beschränkte auch die Ethik auf die Lehre vom höchsten Gut.265 Er leugnete, dass die Tugenden sich durch verschiedene Wissensgehalte bezüglich Indifferentem unterscheiden. Ja, er scheint die Möglichkeit des Wissens bezüglich Indifferentem, aber (jedenfalls in seiner Orientierungsfunktion) wertmäßig zu Unterscheidendem überhaupt in Frage gestellt zu haben. Dagegen wendet sich Chrysipp.

3.3 Tugendhaftes Handeln (katorthōma) und passendes Verhalten (kathêkon) Zenon, so Diogenes Laertius, „sagte in seinem Buch ‚Über die Natur des Menschen‘ als erster, Ziel sei das: ‚In Übereinstimmung mit der Natur leben‘, was dasselbe ist wie ‚Leben gemäß der Tugend‘; denn zu ihr führe uns die Natur . . .; das ‚Leben gemäß der Tugend‘ ist wiederum dasselbe wie das ‚Leben gemäß der Erfahrung der Dinge, die von Natur sich ereignen‘ wie Chrysipp im ersten Buch seiner Schrift ‚Über Ziele‘ sagt; denn unsere Naturen sind Teile der Natur des Ganzen. Deshalb wird ‚Der Natur nachfolgend leben‘ zum Ziel, was besagt: der eigenen Natur und der des Ganzen, und nichts tun, was das gemeinsame Gesetz verbietet, das die rechte Vernunft ist, die alles durchdringt, die mit Zeus identisch ist, dem Leiter der Verwaltung der wirklichen Dinge. Eben dieses aber sei die Tugend des glücklichen Menschen und sein guter Fluss des Lebens: Stets alles zu tun auf der Basis des Zusammenklangs des eigenen, jeden einzelnen leitenden Geistes mit dem Willen dessen, der das Ganze verwaltet.“266 Die Stoa spricht vom Gesetz (nomos) der Natur; sie begründet eine normative Naturgesetz-Theorie. Sie formuliert (erstmals) mit Konsequenz die entscheidenden Prämissen aus, die die Theorie tragen: Die Welt weise eine rationale Ordnung auf, sei synchron und diachron ein teleologisch durchstrukturiertes Gefüge, das sich rechter menschlicher Vernunft als Entfaltung und Manifestation göttlicher Vernunft erschließt. Und diese Weltordnung stelle ethisch und politisch so etwas wie eine Kosmopolis dar unter der Herrschaft des Zeus, an der alle vernunftfähigen Wesen partizipieren. Das Gute für den Menschen bestehe darin, diese Ordnung und seine Stellung in ihr zu erkennen, zu betrachten, und sich ihr fühlend, strebend und handelnd einzufügen. 263 264 265 266

vgl. Menn 1999, 235. DL VII, 160. vgl. SE AM VII, 12; Seneca Ep. 94, 2. DL VII, 87–89.

3. Tugend und passendes Verhalten In der stoischen Ethik sind Gesetzes- und Tugendvokabular ineinander verwoben. Gesetz und Tugend sind über den Begriff rechter Vernunft (orthos logos – recta ratio) verbunden, ja, sie fallen über diesen Begriff in eins. Zeus verwirklicht in seiner Weltgestaltung und -verwaltung idealiter rechte Vernunft. Der stoische Weise will, was Zeus will; sie verbindet ein gemeinsames Gesetz (koinos nomos), die rechte Vernunft. Der Mensch kommt über die Ausbildung rechter Vernunft zur Vollendung und Erfüllung seiner Natur; der stoische Weise lebt in völligem Gleichklang (homo­ logia) mit der Vernunft der Allnatur. Doch die Stoa entwickelt keine Gesetzesethik im biblischen oder neuzeitlichkantischen Sinn, sondern eine Tugendethik. Die Stoa vertritt keine Pflichtethik, sondern eine Glücksethik, und zwar eine Glücksethik für den Menschen in diesem seinem begrenzten Leben. Gleichwohl wird ein Grundbegriff der stoischen Ethik, der Begriff des kathêkon, im Sinne einer Ursprungsgeschichte häufig mit dem neuzeitlichen Begriff der Pflicht in enge Verbindung gebracht. Und dies nicht ohne historischen Grund. Zenon verfasste eine Schrift Peri toû kathēkontos.267 Er scheint den Begriff von Xenophon übernommen zu haben.268 Dieser verwendet ihn im Sinne dessen, „was einem zu tun obliegt“,269 und zwar sowohl in einem militärisch autoritären als auch in einem politisch-sozial autoritären Kontext (des Perserreichs), in dem bestimmten Gruppen der Armee bzw. Alterskohorten der Gesellschaft im Rahmen einer zentralen Befehlsgewalt und unter obrigkeitlicher Aufsicht bestimmte Aufgaben obliegen und Verhaltensweisen zukommen. Xenophons Sprachgebrauch scheint noch in Zenons schwer verständlicher Etymologie des Wortes ‚kathêkon‘ nachzuklingen.270 Auch Platons Sokrates verwendet vor Gericht zur Verteidigung seiner philosophischen Lebensform ein militärisches Bild: Der Gott habe ihm eben so wie die Befehlshaber in der Schlacht eine Stellung im Leben zugewiesen (toû de theoû tattontos), und er könne diese Stellung (taxis) nicht verlassen.271 Kleanthes bittet Zeus und Pepromene, ihn an den Platz zu führen, zu dem er von ihnen abgeordnet ist (hopō pot’ hymîn eimi diatetagmenos).272 Ein wesentliches Brückenglied vom stoischen Begriff des Zukommenden, Passenden und Gebührenden (kathêkon) zum neuzeitlichen Begriff der Pflicht (obligatio) liefert dann Cicero, der das stoische kathêkon mit dem Ausdruck ‚officium‘ in die Vorstellungs- und Begriffswelt eines römischen Bürgers und republikanischen Aristokraten übersetzt und mit den Verpflichtungen der sozialen Standes- und politischen Ämterordnung verbindet. Das stoische kathêkon ist unlöslich mit dem Begriff der Natur (physis) und des Naturgemäßen (ta kata physin) verwoben. Plutarch referiert Chrysipp: „Woher nun, sagt er, nehme ich den Anfang? Und welches Prinzip des Passenden (archē toû 267 268 269 270

DL VII, 4. vgl. Gourinat 2014, 17. vgl. etwa Kyropädie II, 2, 5. apo toû kata tinas hēkein DL VII, 107 = SVF III, 493 = LS 59 C; mit kata tinas könnten, ihrer bestimmten ‚Natur‘ entsprechend, bestimmte Gruppen gemeint zu sein, vgl. Gourinat 2014, 18. 271 Apologie 28 e. 272 Zitat bei Epiktet Diss. IV, 1. 131 und Ench. 5, 3, 1; Brennan 2014, 62 f.

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IV Die stoische Ethik kathēkontos) und welche Materie der Tugend (hylē tês aretês) nehme ich, wenn man die Natur und das Naturgemäße (ta kata physin) aufgibt?“273 Es geht um ein Verhalten, das, aufbauend auf naturgegebenen Trieben und Bestrebungen, einer (beim Menschen) über Vernunft vermittelten Verwirklichung der menschlichen Natur im Einklang mit der Allnatur entspricht. Cicero folgt der Stoa darin, dass er die officia auf die Natur des Menschen, auf seine natürlichen Bestrebungen (nach Forschung und Erkenntnis, nach Selbsterhaltung, Arterhaltung und Gemeinschaft, nach Selbstbehauptung, Geltung und Führung, nach Maß, Ordnung und Harmonie) gründet.274 Der Bezug zur göttlichen Allnatur ist bei ihm zwar als umfassender Horizont noch gegeben, doch die menschliche Natur und ihre soziale Seite rückt verstärkt in den Vordergrund. Neben den Begriff der (menschlichen) Natur tritt bei ihm (im Anschluss wohl an Panaitios) der Begriff der Rolle (persona) (als Mensch, als Glied eines sozialen Standes, als Abkömmling und Glied einer Familie, als Ausübender eines Berufes, als Inhaber eines öffentlichen Amtes, als Bürger der politischen Gemeinschaft etc.).275 Durch Ciceros Übersetzung von kathêkon in officium entscheidet nun nicht nur der Begriff der Natur, sondern auch der ganz im Sozialen beheimatete Begriff der Rolle (und der sinnvollen, vernunftgeprägten Integration der verschiedenen Rollen in einer Person) über die Interpretation dessen, was es für den Einzelnen zu tun und zu lassen gilt.276 Zudem erscheint diese Rolle auf das Gemeinwohl der politisch organisierten (und republikanisch interpretierten) Gemeinschaft zentriert. Das Christentum schließlich schließt wieder an Gedanken altorientalischer Herrschaft an, und zwar dahingehend, dass alle Verbindlichkeit (obligatio), der der Mensch unterliegt, letztlich im herrschaftlichen (und vernünftigen) Willen eines transzendenten Gottes gründet, dem der Mensch als Geschöpf und sprachfähiges Ebenbild verbunden ist, und der über das (jenseitige und endgültige) Heil des Menschen entscheidet. Der systematische Ort des Begriffs kathêkon ist die Lehre von der Oikeiosis,277 in der die Stoa, im Ausgang von der Natur und den natürlichen Impulsen eines Lebewesens, dessen Lebensgüter, und, für den Menschen, zuletzt auch dessen Streben nach einer sittlichen Lebensführung begründet.278 Nach einem Zeugnis des Diogenes Laertius versteht die Stoa unter kathêkon jedes energēma, das den natürlichen Zurüstungen eigen und zugehörig ist (energēma de outo eînai taîs kata physin katas­ keuaîs oikeîon).279 Welches Verhalten für ein Lebenwesen als passend zu gelten hat, bestimmt sich nach dem, was seiner Natur eigen und gemäß ist. Gemeint ist jede Bewegung des Lebens, die auf die Erhaltung und Entfaltung des der jeweiligen belebten Entität eigenen Wesens gerichtet ist bzw. dieses aktualisiert. In dieselbe Richtung weist eine zweite Bestimmung, die das kathêkon als spezifisches 273 274 275 276 277 278 279

Comm not. 1069 E = SVF III, 491 = LS 59 A. vgl. De off. I, 10–17. vgl. De off. I, 107–121. zur Theorie der vier personae vgl. Gill 1988, 169–200; Forschner 2005, 293–318. vgl. Forschner 1995, 184–196. vgl. Forschner 2008, 169–192. DL VII, 107 = SVF III, 493; LS 59 C.

3. Tugend und passendes Verhalten energēma erläutern soll: Das kathêkon sei das Folgerichtige im Leben.280 Das Folgerichtige bezieht sich auf die Natur des Belebten. Gedacht ist an das Wesen eines belebten Dinges im Sinne eines natürlich vorgegebenen, durch Erfahrung ausdifferenzierten Musters an Bewegungen, in die die als kathēkon qualifizierte einzelne Bewegung sich ‚folgerichtig‘ fügt. Dabei wird, so Stobaeus, zwischen dem Folgerichtigen im nicht-vernünftigen, rein biologischen Leben (to akolouthon en zōê) und dem Folgerichtigen in einer (menschlichen) Lebensweise (to akolouthon en biō) unterschieden.281 Das Prinzip der Bewegung im Menschen ist seine Seele als wählende Vernunft, die dem Trieb (hormē) das Maß bestimmt, die Richtung weist, und, in Wahrnehmung und Einschätzung der Gegebenheiten, seine Bewegungskraft freisetzt.282 Was beim Tier unmittelbar durch Instinkt sowie Wahrnehmung, Erinnerung und situationsbezogene Unterscheidungskraft geschieht, ist beim Menschen durch die Herrschaftsinstanz des Logos vermittelt. So gesehen können die kathēkonta der Tiere schlicht in Begriffen des Triebes (ta kath’ hormēn energoumena),283 die der Menschen in Termini des wählenden Logos bestimmt werden. Eine der Definitionen lautet denn auch, ein kathêkon, ein passendes Handeln sei all das, was der Logos zu tun wählt (hosa logos haireî poieîn).284 ‚Das Folgerichtige in einer Lebensweise‘ meint also nicht, jedenfalls nicht primär, dass eine als kathêkon geltende Handlung sich in ein konsistentes Bild aller anderen Handlungen eines Menschen fügt, sondern dass diese Handlung seiner rationalen Natur entspricht.285 Eine weitere, mit dieser verwandte Formel erklärt: Kathēkonta seien das, was, wenn es getan ist, eine wohlbegründete Verteidigung für sich hat (ho prachthen eu­ logon ischei apologismon).286 Sie ist es, die Cicero für die Bestimmung des officium übernimmt, wobei er eulogos problematischerweise, doch vielleicht in seinem akademisch-skeptischen Sinn mit probabilis übersetzt: Est autem officium, quod ita fac­ tum est, ut eius facti probabilis ratio reddi possit.287 Inhalt derartiger Handlungen ist entsprechend der Oikeiosislehre all das, was die Erhaltung und Entfaltung der spezifischen menschlichen Natur umfasst: Für die Gesundheit, die Sauberkeit und die Funktionsfähigkeit des Leibes sorgen,288 die Eltern ehren, den Brüdern, den Freunden, dem Vaterland dienen,289 um Wohlstand und gesellschaftliche Anerkennung sich bemühen,290 eine Familie gründen und politisch 280 281 282 283 284 285 286 287 288 289 290

DL VII, 107 = SVF I, 230; III 493. Stob. Ecl. II, 85, 13 = SVF III, 494 = LS 59 B. zur stoischen Handlungstheorie vgl. v. a. Inwood 1985b, 18–101. DL VII, 108 = SVF III, 495 = LS 59 E. DL VII, 108 = SVF III, 495 = LS 59 E. vgl. Gourinat 2014, 21 ff. DL VII, 107 = SVF III, 493; SVF III, 494 = Stob. Ecl. II, 85, 13 = LS 59 B. De fin. III, 58 = SVF III, 498 = LS 59 F. vgl. SVF III, 514 = Fronto Epistulae p. 140, ed. Naber. SVF III, 495 = DL VII, 108 = LS 59 E; vgl. SVF III, 516 = Sextus AM XI, 200 = LS 59 G. vgl. Plutarch Stoic. rep. 30, 1047 F = SVF III, 688; 5, 1034 B = SVF III, 698; DL VII, 104 = SVF III, 119; Sextus AM XI, 59 = SVF III, 122.

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IV Die stoische Ethik tätig sein,291 die Ausbildung des Geistes betreiben und auf die Erkenntnis der Dinge sich richten.292 Aus alledem ist ersichtlich, dass unter kathēkonta Handlungen zu verstehen sind, die auf die Entfaltung, Beschaffung und Bewahrung der naturgemäßen Dinge (ta kata physin) gerichtet sind, wobei unter „Natur“ hier die spezifisch menschliche Natur zu verstehen ist. Menschliches Streben und Handeln ist ferner durch die durch den Logos konstituierte Gemeinschaft des Sprechens und Handelns vermittelt.293 Naturgemäßes Handeln steht immer schon im Horizont einer Sprach- und Handlungsgemeinschaft, von der her es einen wesentlichen Teil seine Orientierung bezieht. Der die kathēkonta wählende Logos ist von der Stoa nicht monologisch konzipiert. Die kathēkonta sind verstanden als Handlungen im Rahmen eines gemeinsamen Bestandes an Erfahrungswissen und im Rahmen von Regeln und Vorschriften (praecepta), die in den Gebräuchen, Sitten, Institutionen und Gesetzen einer Sprachund Handlungsgemeinschaft in Geltung stehen.294 Nun ist der Vollzug eines kathêkon allerdings keineswegs mit sittlich gutem Handeln gleichzusetzen. Die Stoa unterscheidet die kathēkonta von den katorthōmata. Nur Letztere sind Handlungen, die aus einer Disposition der Tugend heraus geschehen (kat’aretēn energēmata).295 Sittlich gutes Handeln ist alles, was durch rechte Vernunft getan wird (pant’ hosa kata ton orthon logon prattetai).296 Tugendhafte Handlungen (katorthōmeta) werden auch teleia kathēkonta (vollkommen passende Handlungen) genannt, während die kathēkonta simpliciter als mesai praxeis bzw. mesa kathēkonta (mittlere Handlungen, media officia) eingestuft werden.297 Es sind mesa kathēkonta, weil sie bezüglich ihres Inhalts nicht falsch sind, sondern ‚passen‘ und dem entsprechen, was auch der Weise in der entsprechenden Situation tun würde; sie sind richtig, tugendgemäß, aber sie sind (noch) nicht tugendhaft. Es fehlt ihnen etwas Wesentliches. „Chrysipp erklärt: Der zum Äußersten Voranschreitende vollzieht ganz und gar all das Passende und unterlässt keines. Doch sein Leben ist noch nicht glücklich, vielmehr kommt zu ihm die Glückseligkeit hinzu, wenn diese mittleren Handlungen das Beständige und Charakterhafte und eigenartig Feste annehmen“.298 Sich im Einzelnen (gelegentlich oder gar häufig) richtig verhalten kann auch der Nichtweise. Sittlicher Fortschritt besteht unter anderem ja genau darin, immer häufiger korrekt zu handeln, d. h. im Handeln das zu treffen, was auch der Weise tun würde. Doch solange er noch nicht weise ist, ist das korrekte Handeln des sittlich Vorankommenden ein meson und kein teleion kathêkon, kein katorthōma. 291 DL VII, 121 = SVF III, 697; Plutarch Stoic. rep. 5, 1034 B = SVF III, 698; vgl. Cicero De off. I, 11; SVF III, 727. 292 vgl. Cicero De off. I, 13. 293 vgl. Cicero De off. I, 13. 294 vgl. Cicero De off. I, 7; SVF III, 729 und 743 = Origenes Contra Celsum VII, 63 und IV, 45; Seneca Ep. 94 und 95. 295 Stob. Ecl. II, 85, 13 W. = SVF III, 494 = LS 59 B. 296 Stobaeus Ecl. II, 96, 18 W. = SVF III, 501. 297 Stobaeus 5. 906.18–907.5 = SVF III, 510 = LS 59 I; LS 59 B; Sextus AM XI, 3 = SVF III, 71; Cicero Acad. post. X, 37 = SVF I, 231; Cicero De fin. III, 58 = SVF III, 49 = LS 59 F). 298 LS 59 I.

3. Tugend und passendes Verhalten Sittlich vollkommen handeln kann man nur, wenn die Selbstliebe in der absoluten Liebe zu Zeus und zum eigenen (vollkommenen) Vernünftigsein gipfelt, und man alles in fester, unfehlbarer Beständigkeit aus dieser Liebe und Einsicht heraus tut. Ein Mensch kann alle kathēkonta erfüllen und gleichwohl nicht tugendhaft sein. Als solche werden die kathēkonta bzw. die officia denn auch weder zu den sittlich guten noch zu den sittlich schlechten Handlungen gezählt (id officium nec in bonis pona­ mus nec in malis).299 Ein kathēkon ist in seiner abstrakten Bestimmung ausschließlich am Was des Tuns orientiert, und an den Umständen und voraussehbaren Folgen gemessen.300 Was einem kathēkon fehlt, um eine sittlich gute, eine tugendhafte Handlung (ein katorthōma) zu sein, ist die Disposition der Weisheit, aus der heraus es getan wird. Handlungen werden von der Stoa vorwiegend unter zwei Gesichtspunkten betrachtet: nach der Disposition des Handelnden, aus der sie entspringen, und nach dem (welthaften) Inhalt, auf den sie zielen bzw. den sie realisieren. Die Disposition ist es, die über die sittliche oder unsittliche Qualität der Handlung entscheidet, der Inhalt ist es, der eine Handlung zu einer passenden, unpassenden oder neutralen macht. Die Inhalte gliedern sich, für sich betrachtet, in naturgemäße (ta kata phy­ sin), naturwidrige (ta para physin), und solche, die weder unter die eine noch unter die andere Klasse subsumierbar sind. Naturgemäßes wäre Gesundheit, Stärke, Leistungsfähigkeit der Sinne etc., Naturwidriges Krankheit, Schwäche, Blindheit etc.; weder das eine noch das andere wäre etwa die Verfassung des Leibes und der Seele, für Verletzungen und falsche Vorstellungen empfänglich zu sein.301 Dabei wären Gesundheit, Stärke, Schönheit etc. unmittelbar naturgemäß, Reichtum, Ruhm etc. mittelbar, insofern sie unmittelbar Naturgemäßes bewirken bzw. befördern.302 Naturgemäßes ist in der Lage, unser Streben zu erregen und erregt es auch; wie das Naturwidrige umgekehrt unser Widerstreben bewegt; Naturgemäßes und Naturwidriges sind hormês bzw. aphormês kinētika.303 Und Naturgemäßes ist in stoischer Sicht, wie Cicero es formuliert, der Wahl wert (selectione dignum), weil es ein bestimmtes Gewicht hat, das der Schätzung würdig ist.304 Antipater von Tarsus habe, so Stobaeus, vom Auswahlwert (eklektikē axia) gesprochen, „demgemäß wir, wenn die Umstände gegeben sind, das eine statt des anderen wählen, wie Gesundheit statt Krankheit und Leben statt Tod und Reichtum statt Armut“.305 Diese Dinge gelten (unter ceteris paribus­Bedingungen) als etwas, was ihrem Gegenteil vorgezogen wird; sie sind prohēgmena.306 Wir können, ja sollen sie nehmen, wenn sie sich den Umständen entsprechend bieten (sie sind lēpta),307 299 300 301 302 303 304 305 306 307

Cicero De fin. III, 58 = SVF III, 498. vgl. Seneca De benef. IV, 33, 1–2. Stob. Ecl. II 79, 18 W. = SVF III, 140; LS 58 C. Stob. Ecl. II 82, 20 W = SVF III, 142. Stob. SVF III, 142; DL VII, 104–105 = SVF III, 104 = LS 58 B. De fin. III, 20 = SVF III, 143. Ecl. II 83, 10 – 84,2 = SVF III, 124 = LS 58 D. DL VII, 101–103 = LS 58 A. Stob. Ecl. II 82, 20 = SVF III, 142.

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IV Die stoische Ethik doch dies in einer reservierten Form des Erstrebens und Besitzens. Denn ihr Wert ist im Vergleich zur Tugend gleichgültig; es sind adiaphora.308 Vom Gleichgültigen (adiaphoron) spricht die Stoa also in zweifacher, genau zu unterscheidender Weise: Zum einen im Rahmen der sog. außermoralischen Dinge und Sachverhalte bezüglich dessen, was weder naturgemäß noch naturwidrig ist; zum anderen von allem Naturgemäßen, Naturwidrigen und Neutralen zusammen genommen im Vergleich zur Tugend und zu tugendhaftem Handeln.309 Das kathēkon bemisst sich nach dem Umgang mit diesen naturgemäßen, naturwidrigen und indifferenten Dingen.310 Eine Handlung gilt nicht nur dann als kathēkon, wenn sie etwas simpliciter Naturgemäßes realisiert, sondern auch dann, wenn sie im Fall entsprechender Umstände eine indifferente oder naturwidrige Sache verfolgt, um ein (höheres) ‚naturgemäßes‘ Ziel herbeizuführen bzw. zu realisieren. Zwischen passendem Verhalten unter normalen Umständen (kathēkonta aneu peristaseōs) und passendem Verhalten in außergewöhnlichen Umständen (kathēkonta peristatika)311 ist zu unterscheiden. Außergewöhnliche Umstände rechtfertigen ein Tun (etwa: sich selbst verstümmeln oder seinen Besitz verteilen), das unter normalen Umständen als unpassend zu gelten hätte. Wie ist nun das Verhältnis der inhaltlichen Bestimmung einer Handlung zu ihrer sittlichen Qualität genau zu denken? Nach Stobaeus ist jedes unpassende Handeln (para to kathēkon), das von einem normalsinnigen, für sein Tun verantwortlichen Menschen ausgeführt wird, auch ein hamartēma, eine sittlich schlechte Handlung (pān de to para to kathēkon en logikô ginomenon hamartēma eînai).312 Ein kathēkon indessen, von einem Nichtweisen vollzogen, ist zwar als solches kein hamartēma, wohl aber, aufgrund des Fehlens der richtigen Disposition, etwas, was auf schlechte Weise (kakôs) getan ist.313 Zenon scheint ihm eine Mittelposition zwischen einer Verfehlung (hamartēma) und einer sittlich guten Handlung (katorthōma) zugewiesen zu haben. Ob er auch, wie Cicero meint, dem unterlassenen kathêkon diese Zwischenstellung eingeräumt hat (officia autem et servata praetermissaque media putabat),314 sei dahingestellt. Der Weg sittlichen Fortschritts hin zur Tugend führt jedenfalls über das verstärkte Treffen und Tun von Passendem. Zunehmende inhaltliche Korrektheit und Konsistenz und nur sie führen zur richtigen Disposition. Das Tun des Weisen ist stets angemessen. Bei ihm stimmen Inhalt und Form, das, was er tut und das, wie er es tut, auf ideale Weise zusammen.315 Sein Handeln ist immer ‚naturgemäß’, d. h. seiner Bestimmung als Mensch in der Welt entsprechend. Sein Handeln ist jederzeit „sachkundig“ und situationsgerecht, unter normalen ebenso wie unter außergewöhnlichen Umständen. Er interpretiert die Zeichen Gottes, die 308 309 310 311 312 313 314 315

LS 58 A. DL VII, 104–105 = SVF III, 104 = LS 58 B. Stob. Ecl. II 86, 10 W. = SVF III, 499. vgl. DL VII, 108–109 = SVF III, 495–469 = LS 59 E. Stob. Ecl. II, 86, 10 W. = SVF III, 499. Stob. Ecl. II 7, 99.5–12 W = SVF I, 216. Acad. post. I, 37. vgl. SE AM XI 200–201 = SVF III, 516 = LS 59 G.

3. Tugend und passendes Verhalten eine adäquate Beschreibung seiner Handlungssituation zum Inhalt hat, richtig. Und diese korrekte Interpretation schließt ein Wissen von den Grenzen menschlichen Wissens über Künftiges ein. Wenn ich wüsste, so das bekannte Chrysippzitat bei Epiktet, dass mir vom Schicksal Krankheit bestimmt ist, so würde ich selbst nach ihr streben. Denn selbst der Fuß, hätte er Verstand, würde danach streben, beschmutzt zu werden. Solange mir aber das Kommende (ta hexēs) verborgen ist (adēla), strebe ich immer danach, das zum natürlichen Gedeihen der naturgemäßen Dinge Geeignetere (ta euphyestera) zu erreichen; denn der Gott selbst hat mich so gemacht, dass ich diese Dinge wähle.316 Der Weise deutet die Gegebenheiten richtig; er handelt in vollem Wissen situationsgerecht auch unter Bedingungen des Nichtwissens über Künftiges. Ein kathêkon ist korrektes Tun, ist das, was der Weise in der entsprechenden Situation tun würde. Es ist ferner das, „was, als Tat, eine wohlbegründete Rechtfertigung für sich hat (ho prachthen eulogon apologian echei)“.317 Das eulogon in dieser Formel bereitet Interpretationsschwierigkeiten. Bezieht es sich auf die Perspektive und Argumentationskraft des Weisen oder des Nichtweisen oder übergreifend auf beide? Meint ‚eulogos‘‚ probabilis’ im Sinne von „objektiv wahrscheinlich und intersubjektiv plausibel“, wie es Ciceros Übersetzung insinuiert, und wie es nach einer breiten philosophischen Tradition der Handlungssituation des Menschen entspricht, die kein sicheres Wissen über das Passende zulässt, sondern schwächer im Voraus, stärker im Nachhinein nur eine plausible und allgemein überzeugende Rechtfertigung erlaubt? Signifikanterweise benützte ja der Skeptiker Arkesilaos, der mit Zenon bei Polemon studierte und konkurrierte,318 genau diese Formel, um das kluge und vernünftige Handeln des skeptischen Weisen zu beschreiben, der keine absolut sicheren Wissensansprüche für sich geltend macht und anderen zugesteht. Praktische Weisheit (phronēsis), so Arkesilaos, bestehe in den vernünftigen Handlungen (en toîs katorthōmasin), die vernünftigen Handlungen aber seien das, was, wenn getan, die vernünftige Rechtfertigung besitzt (hoper prachthen eulogon echei tēn apo­ logian).319 Doch Arkesilaos hat offensichtlich die Differenz zwischen kathêkon und katorthōma negiert und den epistemischen Status der Rechtfertigung auf Plausibilität reduziert.320 Der skeptische Gebrauch von eulogos kann hier wohl kaum auch der stoische sein. Kennzeichnet dann eulogos in der stoischen Formel das Ergebnis eines richtigen Vernunftgebrauchs im starken stoischen Sinn?321 Sicher ist, dass für die Stoa kathēkonta des Menschen allemal das sind, „was der Logos zu tun wählt“.322 Sicher ist auch, dass kathēkonta Weisen und Nichtweisen als Handelnden zugesprochen werden.323 Sicher ist schließlich, dass auch der Nicht316 317 318 319 320 321 322 323

Epiktet Diss. II, 6, 9 = SVF III, 191 = LS 58 J. Stob. Ecl. II 85, 13 = SVF III, 494 = LS 59 B. vgl. SVF I, 12 Numenius. SE AM VII, 158 = LS 69 B. vgl. Gourinat 2014, 17 f., 25. vgl. Brennan 1996, 326. DL VII, 108 = SVF III, 495 = LS 59 E. vgl. Cicero De fin. IV, 15 = SVF III, 13.

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IV Die stoische Ethik weise kataleptische Vorstellungen haben kann und wohl auch gelegentlich, doch keineswegs immer auf der Basis kataleptischer Vorstellungen seine praktischen Entscheidungen trifft, wärend der Weise nur kataleptischen Eindrücken zuzustimmen und zu folgen scheint. Wenn der Nichtweise (gelegentlich oder häufiger) richtig handelt, so ist anzunehmen, dass er dies freilich nicht nur auf der Basis kataleptischer Eindrücke, sondern auch nach lediglich plausiblen Gesichtspunkten oder aber rein intuitiv tut. Cicero schildert in De finibus aufsteigend die Entwicklung des Fortschreitens zur Weisheit über den anfänglichen und immer konsistenteren Vollzug von kathēkonta.324 In De officiis bestimmt er das kathêkon absteigend im Ausgang von einer Analyse der (kardinalen) Tugenden.325 Signifikant ist Panaitios’ deduktiv vorgehende Lehre von den vier Rollen (personae) eines Menschen, die eine Spezifikation seiner officia ermöglichen sollen:326 Aus seiner Natur als Mensch und Vernunftwesen, seiner persönlichen Eigenart, den schicksalhaften Umständen seiner Lebenslage und der selbstgewählten Lebensform lasse sich ersehen, was ihm zu tun und zu lassen obliegt. Ähnliche Gedanken finden sich bei Epiktet, der sich fragt, „wie man im Ausgang von den Namen die kathēkonta finden kann“.327 Man müsse beachten, wer man ist. An erster Stelle ein Mensch, d. h. jemand, der nichts Beherrschenderes besitzt als seine moralische Bestimmung, dann ein Weltbürger mit seinen Privilegien und Verpflichtungen im und gegenüber dem Ganzen. „Danach vergegenwärtige Dir, dass Du Sohn bist, . . . danach wisse, dass Du auch Bruder bist, danach, wenn Du Mitglied des Rates einer Stadt bist, dass Du Ratsherr bist, wenn Jugendlicher, dass Du Jugendlicher, wenn Alter, dass Du ein Alter, wenn Vater, dass Du Vater bist. Denn jeder dieser Titel, wenn rational erwogen (eis epilogismon ercho­ menon), schreibt die ihm eigenen Leistungen vor.“ Seneca schließlich betont, dass Philosophie sowohl theoretische Lehren (decreta) als auch praktische Vorschriften (praecepta) bietet. Einzelne praktische Vorschriften ohne umfassende theoretische Fundierung seien schwach und befähigten den Menschen nicht, „in jeder Sache alle Regeln der officia zu erfüllen“.328 Die Vernunft (sc. der stoischen Philosophie) enthalte das Gerechte und Ehrbare der Vorschriften. Sie sei deshalb ihre notwendige Bedingung. Darum müsse man theoretische Lehre und praktische Vorschriften vereinen; „denn ohne Wurzel nützen die Zweige nichts, und die Wurzeln ihrerseits werden durch das, was sie erzeugt haben, unterstützt“.329 Die kathekonta/officia sind, so der vorherrschende Eindruck, den die Texte vermitteln, aus der Perspektive der Weisheit bestimmt. Die Eulogos­Formel stellt allein auf die vollendete Tat (ho prachthen) ab; d. h. sie abstrahiert von der intentionalen und motivationalen Einstellung des Täters, der sie entspringt; das Prädikat, eulogos zu sein, kommt über seine Rechtfertigung der objektiven Tat als solcher zu. Diese absolut korrekt zu beurteilen, ist allein Sache eines idealen menschlichen Richters. 324 325 326 327 328 329

De fin. III, 17, 20–22 = LS 59 D. vgl. LS 1, p. 368; Cicero De off. 1. 15, 152 = LS 59 P. De off. I, 107–111, 114–117 = LS 66 E. Diss. II. 10, 1–12 = LS 59 Q. Ep. 95. 12. Ep. 95. 63–64.

3. Tugend und passendes Verhalten Nach dem Zeugnis Ciceros hat Panaitios der bestehenden öffentlichen Praxis forensischer Verteidigung von Taten Rechnung getragen und den anwaltlichen Einsatz für einen möglicherweise auch schuldigen Klienten, wenn er nur kein großer Verbrecher ist, gerechtfertigt. Der Anwalt mag sich dabei rhetorischer Mittel bedienen und mitunter auf Plausibles bzw. der Wahrheit Ähnliches (veri simile) setzen, „auch wenn es weniger wahr ist (etiam si minus sit verum). „Die Menge will es, die Gewohnheit duldet es, die Menschlichkeit trägt es.“ Doch der Richter ist strikt der Wahrheit verpflichtet (iudicis est semper in causis verum sequi).330 Panaitios’ Schrift Peri toû kathēkontos, die Cicero für De officiis als Vorlage dient, enthielt wohl nicht, wie manche Forscher meinen, eine ‚zweitbeste‘ Moral für nichtweise ‚Anständige‘;331 Cicero jedenfalls geht aus von den Tugenden und scheint (gewiss aus seiner höchsteigenen römisch-republikanischen Sicht) praxisnahe praecepta auf der Basis ‚orthodoxer‘ stoischer Lehre zu formulieren. Begründete Zweifel an ‚orthodoxem‘ Verständnis dessen, was ein officium ist, bestehen hingegen bei Seneca. „Niemals erwarten wir ein ganz und gar sicheres Erfassen der Dinge (certissimam rerum comprehensionem), da die Erforschung der Wahrheit im Steilen geschieht, sondern wir gehen auf dem Weg, auf dem uns die Wahrscheinlichkeit (veri simili­ tudo) führt; jedes officium schreitet auf diesem Weg voran: so säen wir, so fahren wir zur See, so leisten wir Kriegsdienst, so heiraten wir, so ziehen wir Kinder auf; da der Ausgang von all diesem unsicher ist, nehmen wir das in Angriff, bezüglich dessen wir guter Hoffnung sein zu dürfen glauben.“332 Dies klingt, als habe Seneca die stoische Lehre im akademisch-skeptischen Sinn interpretiert.333 Jedenfalls bestimmt er das officium nicht aus der Perspektive des stoischen Weisen. Was uns Senecas Text lehren kann, ist dies, dass, was sich in der Theorie strikt unterscheidet, für die Praxis nicht notwendig unterschiedlich auswirkt. In summa: Es spricht sehr vieles dafür, dass das ‚eulogos‘ der Zenonschen Formel im Sinne der rechten Vernunft des Weisen zu verstehen ist: Ein kathêkon ist das, was, als Tat, eine (im starken Sinne) vernünftige Rechtfertigung besitzt.334 Eine vernünftige Rechtfertigung eignet einer Tat dann, wenn sie so ist, dass sie aus einer vernünftigen Entscheidung resultieren würde. Die vernünftige Entscheidung eines Weisen basiert nach stoischer Sicht ausschließlich auf korrekten Gedanken, nicht auch auf bloßen Meinungen. Ein Weiser hat keine Meinungen. Nach Stobaeus benützt er die Erfahrungen bezüglich des menschlichen Lebens (kai ton men spou­ daîon taîs peri ton bion empeiriais chrōmenon . . .).335 Eine vielfach bezeugte Zielformel Chrysipps für den Menschen lautet, nach der Tugend zu leben sei identisch damit, nach der Erfahrung der Dinge zu leben, die von Natur sich ereignen (kat’ empeirian tôn physei symbainontōn zên), wobei unter ‚Natur‘ die eigene Natur und 330 331 332 333 334 335

De off. II, 51. vgl. Veillard 2014, 71–109. De benef. IV, 33. vgl. Gourinat 2014, 37. vgl. Tsekourakis, 1974, 25–30. Ecl. II 7, 99.5–12 = SVF I, 216.

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IV Die stoische Ethik die Universalnatur zu verstehen sei.336 Cicero benützt als Übersetzung von empeiria die epistemisch starken Ausdrücke ‚intelligentia‘337 und ‚scientia‘ und erklärt das stoische summum bonum mit den Worten: vivere scientiam adhibentem earum re­ rum, quae natura eveniant, seligentem quae secundum naturam, et, quae contra natu­ ram sint, reicientem.338 Der Weise wendet in der Wahl des Naturgemäßen sein Wissen an über das, was von Natur geschieht. In De fin. III, 60 ist davon die Rede, all unsere Erwägungen (cogitationes) bezögen sich auf die officia und diese auf die Wahl des Naturgemäßen und das Verwerfen des Naturwidrigen. Dabei spielt in concreto die Abwägung unterschiedlicher und gegenteiliger Gesichtspunkte häufig eine zentrale Rolle. Das Beispiel in De fin. III, 60 ist der Fall des Suizids. „In dem Menschen, in dem mehr Naturgemäßes da ist, dessen officium ist es im Leben zu bleiben; in dem aber mehr Gegenteiliges da ist oder unmittelbar zu kommen ersichtlich ist (fore videntur), dessen officium ist es, aus dem Leben zu scheiden.“ Den Akt des Abwägens fasst Cicero mit dem Verbum metiri (messen).339 Dies entspricht genau dem parametreîsthai, mit dem Stobaeus das Erfassen des kathêkon beschreibt:340 „Das meson kathêkon wird durch gewisse gleichgültige Dinge ermessen (parametreîsthai), die als naturwidrig oder naturgemäß ausgewählt werden und einen solch guten Wuchs (euphyia; Konjektur Hense euroia: Wohlfluss) des Lebens verschaffen, derart, dass wir, wenn wir sie, außer in besonderen Umständen, nicht annehmen oder verwerfen, nicht glücklich leben würden.“ Das Verbum scheint mit Bedacht gewählt: Zählen, Messen und Wiegen sind die sichersten Arten, um unter Erfahrungsbedingungen Fragliches eindeutig zu bestimmen. Doch auch der stoische Weise ist keineswegs allwissend; er sieht nicht in die Zukunft. Wie ist es möglich, angesichts der menschlichen Handlungssituation, die kein sicheres Wissen über Künftiges erlaubt, bezüglich der kathēkonta dem Weisen ein sicheres Erfassen des Richtigen zuzusprechen, das dem exakten mathematischen Verfahren des Messens analog ist? Es ist möglich dadurch, dass das Erfassen des Richtigen sich nicht auf Aussagen bezieht darüber, was tatsächlich kommen wird, sondern auf Aussagen über die vorhandenen Evidenzen bezüglich des Auswahlwerts der Objekte gegebener Handlungsoptionen und der für einen Menschen wissbaren Anzeichen dafür, was kommen wird. Der stoische Weise ist ein idealisierter Mensch, kein Gott. Er überlegt; er sammelt, wägt ab und „ermisst“ alle verfügbaren Evidenzen. Er stimmt schließlich einem kataleptischen Eindruck zu, dass das Übergewicht der Evidenz zeigt, dass es vernünftig (eulogos) ist anzunehmen, dass p (der Fall ist bzw. zu tun das Richtige ist).341 Es geht um die Prüfung und Beurteilung des (menschen)möglichen Wissensstands im Zeitpunkt der Zustimmung bzw. Entscheidung. Ein solches kataleptisches Urteil wird auch nicht dadurch zur bloßen Vermutung oder Meinung, dass sich p als falsch erweisen kann. Die Stoa hat offen336 337 338 339 340 341

DL VII, 87; Stobaeus Ecl. II 76, 3 W. De fin. II, 34. De fin. III, 31. De fin. III, 61. Ecl. II 7, 86. 12–16 = SVF III, 499. vgl. Brennan 2014, 51 Fn.

3. Tugend und passendes Verhalten sichtlich das kataleptische Urteil darüber, dass es vernünftig ist, anzunehmen, dass p vom plausiblen Urteil, dass p genau unterschieden, und dadurch beidem, dem Wissensanspruch des Weisen und der grundsätzlichen Falsifizierbarkeit menschlicher Aussagen über Unabsehbares Rechnung getragen. „Ein plausibles Urteil (eulogon axiōma) ist ein solches, das mehr Anhaltspunkte aufweist, wahr zu sein (to pleionas aphormas echon eis to alēthes eînai) wie z. B. ‚ich werde morgen leben‘“.342 Das Urteil ‚ich werde morgen leben‘ kann sich (aus unabsehbaren Gründen) als falsch erweisen, das (all­things­considered­)Urteil über die Vernunft der Annahme, dass ich morgen leben werde, bleibt davon unberührt.343 Dies ist wohl auch der Sinn der Antwort, die, nach einer Anekdote, Sphairos vom Bosporus dem Ptolemaios Philopator gab: Sphairos, ein Schüler von Zenon und Kleanthes, habe sich, nach großen Fortschritten in der Argumentationskunst, an den Hof von Philopator in Alexandrien begeben. Eines Tages habe man dort über die Frage diskutiert, ob der (stoische) Weise Meinungen habe. Sphairos verneinte dies. Philopator wollte ihn widerlegen. Er ließ ihm täuschend echte Granatäpfel aus Wachs servieren. Dieser griff nach ihnen, um sie zu essen. Der König meinte, er habe einer falschen Vorstellung zugestimmt. Sphairos antwortete treffend (eustochōs), seine Zustimmung sei so gewesen, „nicht, dass es Granatäpfel sind, sondern, dass es vernünftig ist (anzunehmen), dass es Granatäpfel sind (eipōn houtōs synkatatetheîsthai, ouch hoti rhoai eisin, all’ hoti eulogon estin rhoas autas eînai); die kataleptische Vorstellung und die plausible Vorstellung sind verschieden.“344

3.4 Das Ideal des Weisen Das Ideal des Weisen (sophos) leitet Theorie und Praxis altstoischer Ethik.345 In ihm zentriert sich der Gedanke, dass nicht nur, ja nicht so sehr der Maßstab eherner Gesetze und traditionsgestützter Regeln, sondern situationsbezogene Vernunft über richtiges Verhalten entscheidet. In ihrem Begriff von Weisheit (sophia) ist sie volkstümlicher ebenso wie philosophischer Tradition verpflichtet. Volkstümlich galten sowohl Meister ihres Fachs und Handwerks346 als auch überragende, reflektierte Persönlichkeiten der Politik und Naturforschung347 als weise. Philosophisch hatte Platon Philosophie als liebendes Streben nach Weisheit verstanden und diese zielhaft in der umfassenden, alle Praxis orientierenden Wirklichkeitserkenntnis des Philosophen-Königs verkörpert gesehen.348 Aristoteles grenzt praktische Vernunft von theoretischer ab und möchte den Begriff der Weisheit für die theoretische Er-

342 343 344 345 346 347 348

DL VII, 75–76. vgl. Brennan 2014, 56 f.; anders Gourinat 2014, 36. DL VII, 177; vgl. SVF I, 624 Athenaeus. vgl. DL VII, 119–131. vgl. etwa Homer Ilias 15. 410–413. vgl. das Ansehen und Spruchgut der ‚Sieben Weisen‘. vgl. Politeia V, 473b – VI, 504a.

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IV Die stoische Ethik kenntnis der ersten Prinzipien und Ursachen der Wirklichkeit reserviert wissen.349 Die Stoa nimmt diese Abgrenzung wieder zurück. Ein ganz der philosophisch-wissenschaftlichen Kontemplation gewidmetes, dem praktischen Alltag enthobenes Leben ist nach Chrysipp zu selbstbezogen.350 Das stoische Ideal der Weisheit gilt denn auch für alle Stände und Berufe.351 Der Kern stoischen Weisheitsverständnisses ist in zwei Definitionen fassbar.352 Die erste ist uns in den Placita bei Plutarch überliefert, die als ein Abriss eines Werkes von Aëtius gelten.353 Die zweite findet sich in Ps.-Galens Schrift Über die Ge­ schichte der Philosophie.354 Die erste bestimmt Weisheit als „Erkenntnis göttlicher und menschlicher Dinge (tēn men sophian eînai theiōn te kai anthrōpinōn epistēmēn)“,355 die zweite als „nützliche Sachkompetenz (epitēdeia technē)“, wobei diese zweite Bestimmung ihrerseits über die Formel „d. h. erkennendes Erfassen göttlicher und menschlicher Dinge (katalēpsis theiōn te kai anthrōpinōn pragmatōn)“ erläutert wird.356 Die beiden Definitionen sind also miteinander verwoben. Dass die Stoiker Weisheit im Sinne der Erkenntnis göttlicher und menschlicher Dinge verstanden haben, ist auch in anderen Quellen vielfach bezeugt.357 Die von Ps.-Plutarch bzw. Aëtius überlieferte Definition steht im Kontext stoischer Gliederung von Tugend und Philosophie: „Die Stoiker sagten, die Weisheit sei Erkenntnis göttlicher und menschlicher Dinge, die Philosophie aber Ausübung nützlicher Fachkompetenz. Nützlich aber sei als einzige und zuhöchst die Tugend, und Tugenden der obersten Gattung nach gebe es drei: die der Physik, der Ethik und der Logik. Aus diesem Grund ist auch die Philosophie dreigeteilt, deren einer Teil die Physik, der andere die Ethik, der dritte die Logik ist. Und Physik ist, wenn wir über den Kosmos und die Dinge im Kosmos forschen, Ethik die (forschende) Beschäftigung mit dem menschlichen Leben, Logik die mit der Sprache (logos), welch letztere sie (sc. die Stoiker) auch Dialektik nennen“.358 Gegenüber Aristoteles fällt auf, dass die stoische Weisheit die göttlichen und die menschlichen Dinge umfasst. Für Aristoteles ist Weisheit (sophia) nur auf die ihrer Natur nach ehrwürdigsten und höchsten Dinge im Kosmos, nämlich die göttlichen bezogen.359 Die menschlichen Angelegenheiten fallen ihnen gegenüber ihrer ontologischen Dignität nach deutlich ab. Sie sind für ihn Sache praktischer Vernunft und

349 350 351 352 353 354 355 356 357

vgl. NE VI, 7 und Met. I, 1–2. vgl. Plutarch Stoic. rep. 1033 C-D; Annas 2008, 17 f. vgl. Liu 2008, 271. vgl. dazu v. a. Brower 2014, 8–50. vgl. Mansfeld und Runia, Aetiana I, 1997. in: Diels (ed.)1879, 595–648. SVF II, 35 = LS 26 A = FDS 15. 5, 602.19–603.2 Diels. vgl. Seneca Ep. 89.5 = FDS 2 = LS 26G; SE AM IX, 125 = SVF II, 1017; AM IX, 13 = SVF II, 36 = FDS 5; Clemens v. Alexandreia Paidagōgos 2.25.3 = FDS 9; Strōmata 1.30.1 = FDS 6; Cicero De fin. II, 12. 37. 358 SVF II, 35 = LS 26 A = FDS 15. 359 NE 1141b3.

3. Tugend und passendes Verhalten Urteilskraft (der phronēsis).360 Die Stoa hat offensichtlich zwischen ihrem Wesen nach theoretisch-kontemplativer Naturforschung und auf menschliche Praxis bezogener Ethik auch klar unterschieden; sie betrachtet und behandelt sie schließlich als verschiedene philosophische Genera. Doch sie nimmt die Hierarchisierung der Bereiche, der Disziplinen und der entsprechenden kognitiven Tugenden wieder zurück und möchte Weisheit, ähnlich wie Platon, umfassend (und integrativ) verstanden wissen: Das sprachfähige Wesen sei von der Natur zu Theorie und Praxis geeignet und würdig gemacht (epitēdes pros theōrian kai prâxin).361 Die drei Elemente ihrer Definition von Weisheit (Erkenntnis – göttliche Dinge – menschliche Dinge) entsprechen der Dreiteilung der Tugend und der Philosophie. Die Logik hat es mit den Fähigkeiten und Möglichkeiten von Erkenntnis, die Physik mit dem (als göttlich betrachteten) Kosmos und die Ethik mit der Ordnung der menschlichen Angelegenheiten zu tun.362 Dabei legen manche Stoiker, wie Diogenes Laertius bemerkt, besonderes Gewicht darauf zu betonen, dass die Disziplinen nicht voneinander abgetrennt sind, sondern in engster Verbindung miteinander stehen.363 Der gemeinstoische Gedanke ihrer organischen Verbindung hatte zur Folge, dass es über die didaktische Reihung ihrer Behandlung, ob etwa die Physik oder die Ethik am Ende stehen sollte, verschiedene Ansichten gab.364 Dabei ist klar: Der stoische Begriff von Weisheit umfasst theoretische und praktische Vernunft; die Ethik steht nicht, wie bei Aristoteles, auf eigenen Füßen, sondern ist engstens mit der Physik verwoben. Der stoische Weise, der ans Ziel philosophischen Bemühens gelangt (gedacht) ist, versteht die wesentlichen Züge der Ordnung des Kosmos und des kosmischen Geschehens und findet sich gedanklich, willentlich und emotiv im Einklang mit der als göttlich verstandenen (Universal-)Natur.365 Er ist schließlich, was das dritte Element der Definition von Weisheit betrifft, das leuchtende Paradigma eines Trägers für das, was die Stoa unter veritabler Erkenntnis verstand. Anders als Aristoteles behandelt sie Logik und Theorie wissenschaftlichen Erkennens nicht als bloßes Organon, sondern als integralen Teil der Philosophie. Stoische Logik bzw. Dialektik befasst sich ganz allgemein mit menschlicher Sprachfähigkeit und Vernunft und ihrem richtigen Gebrauch, der vor Irrtümern schützt und die wesentlichen Einsichten verbürgt. Der Weise hat keine Meinungen;366 vielmehr „hat im Weisen jedes (zustimmende) kognitive Erfassen (katalēpsis) das Sichere und Beständige an sich und ist sogleich Erkenntnis (epistēmē) und großes und größtes Gut“.367

360 361 362 363 364

NE 1141b8–9. DL VII, 130. vgl. Brower 2014, 22 ff. DL VII, 40 = SVF II, 41 = LS 26B = FDS 1. vgl. Plutarch Stoic. rep. 1035 A-F = SVF II, 42 = FDS 24 = LS 26C, SE Pyrrh. Hyp. II, 13, AM VII, 22 mit DL VII, 40. 365 vgl. DL VII, 87 und VII, 89; Cicero De fin. III, 73 = SVF III, 282. 366 Stobaeus Ecl. 2.112,1–5 = SVF III, 548 = LS 41G = FDS 89. 367 Plutarch Comm. not. 1061C = SVF III, 213.

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IV Die stoische Ethik Zugegeben: Er ist nicht allwissend.368 Er ist wie alle Menschen den ‚Zufällen‘ des Lebens ausgesetzt.369 Wir nehmen ihn nicht von den Zufällen aus, so Seneca an dieser Stelle, wohl aber von den Irrtümern. D. h. der Weise begegnet dem, was in einer Handlungssituation nach menschlichem Ermessen zwar grundsätzlich, doch nicht erwartbar geschehen kann, in einer Einstellung, die ihn vor Irrtum schützt (und vor Frustration bewahrt). Er erstrebt ein Ziel in der Welt allemal unter Vorbehalt, bedenkt das mögliche Scheitern seines Bemühens mit, bejaht das tatsächliche Ergebnis als gottgewollt, auch wenn es seiner ursprünglichen Intention zuwiderläuft und immunisiert sich so gegenüber dem Schmerz der Enttäuschung (vgl. oben S. 187; 192; 212) Der Weise ist auch nicht durch Vielwissen ausgezeichnet.370 Doch er weiß, worauf es im Leben generell und in jeder konkreten Situation entscheidend ankommt. Seine Erkenntnisse bilden ein stabiles Gefüge (systēma), seine Vernunft ist in der Reaktion auf Vorstellungen, im ‚Gebrauch‘ der Vorstellungen (phantasiai) so disponiert, dass sie nur solchen Eindrücken zustimmt, die durch kein Gegenargument mehr zu erschüttern sind.371 Gewiss, er kann nicht alles zugleich und glänzt nicht auf allen Gebieten. Doch er kann, wenn die ihm zugewiesene Lebensrolle es erfordert und er es als sinnvoll oder geboten erkennt, ein Wissen von den (sc. abgeleiteten) Prinzipien eines Gebietes (theōrēmata) erwerben und auf diesem Gebiet der Experte, ja (im Unterschied zu allen Nichtweisen) der wahre Könner sein. „Sie sagen, nur der Weise sei ein guter Seher (mantis) und Dichter (poiētēs) und Redner (rhētor) und Logiker (dialektikos) und Kritiker (kritikos), aber nicht alles (in eins), und zwar deswegen, weil es zuvor erforderlich ist, für bestimmte dieser Dinge gewisse Grundlagen zu erwerben“.372 Der Gedanke, nur der (stoische) Weise sei wahrer König, Arzt, Geschäftsmann, General etc. geriet zum Gespött der Gegner.373 Als paradoxa bzw. mirabilia galten die Prädikate des stoischen Weisen allemal.374 Doch das Gespött macht sich ein Missverständnis zunutze. Der stoische Weise ist kein sophistischer Alleskönner. Gemeint ist vielmehr dies: In ihm (und einzig in ihm) verbinden sich moralisch-eudaimonistisches Tugendwissen, gegebenenfalls bereichsbezogene Fachkompetenz und adäquates Situationsverständnis. Von welcher Fachkunde und Kunst auch immer die Rede sein mag, nur der Weise ist aufgrund der Disposition seines Geistes in der Lage, sie optimal auszuüben und einzusetzen. Seine Erkenntnisse und seine Könnerschaft sind zurückgebunden an ‚wahre‘ Selbsterkenntnis: Er weiß von seiner Natur und Eigenart und seiner Stellung in der Welt; er entspricht

368 vgl. Stobaeus Ecl. 2. 67, 13–16 = SVF III, 654; Seneca Ep. 109, 3–5; Ep. 88, 33–45; Brower 2014, 33 f.; Kerferd 1978a, 125–136; anders Reesor 1989b, 114; Horn 2006, 348. 369 vgl. Seneca De tranquill. anim. 13, 2–3. 370 vgl. Liu 2008, 247–275. 371 vgl. Stob. Ecl. 2.73, 19–74, 3 = SVF III, 112 = LS 41H = FDS 385. 372 Stob. Ecl. 2. 67, 13–16 = SVF III, 654. 373 vgl. Annas 2008, 19. 374 vgl. Cicero Acad. pr. II, 136 = SVF III, 599; Viano 2005b, 351.

3. Tugend und passendes Verhalten der Weisung des Delphischen Orakels: ‚Erkenne dich selbst‘;375 er findet, bejaht und erfüllt die ihm zugedachte Rolle auf der Bühne des Lebens.376 Der eingangs zitierte Aëtius-Passus377 setzt Weisheit (sophia) und Philosophie (philosophia) in enge Verbindung und bestimmt Letztere als „Ausübung nützlicher Sachkompetenz (askēsis epitēdeiou technēs)“. In Ps.-Galens Text ist Weisheit selbst als „nützliche Sachkompetenz (epitēdeia technē)“ definiert. Die Bedeutung von „Philosophie“ in stoischen Texten schwankt zwischen „Streben nach Weisheit“ und „Vollzug von Weisheit“, je nachdem, ob die entsprechende Praxis dem Weisen oder dem Nichtweisen zugesprochen wird. Für das, was die Stoa unter Sachkompetenz bzw. Fachkunde (technē) verstand, finden sich in den Quellen verschiedene Formeln, die ein eindeutiges und einmütiges Verständnis bekunden: Fachkunde ist einerseits eine Sammlung und ein System von Erkenntnissen (systēma kai hathroisma katalēpseōn),378 die durch Erfahrung und Übung auf ein für die Dinge des Lebens nützliches Ziel hin verbunden und ausgerichtet sind.379 Fachkunde ist andererseits eine feste ‚Habe‘ bzw. Disposition (hexis), die alles, worauf sie sich versteht, ‚methodisch‘, d. h. in geordneten Schritten bewerkstelligt.380 Weisheit in Begriffen des Sachbzw. Fachkundigseins zu definieren, bedeutet, das Technē­Modell umzuinterpretieren, den einer technē eigenen begrenzten Objektbereich zu entschränken, die ergebnisorientierte Fixierung auf das Erstellen eines bestimmten ‚welthaften‘ Gutes aufzulösen, Weisheit vielmehr als wissendes Sichverstehen auf ein gutes Leben (eudaimonia), als wahrhafte ‚Lebenskunst‘ zu bestimmen. Die Differenz von Fachkunde (technē) und Tugend (aretē) wird damit aufgehoben; wissendes Sichverstehen auf ein gutes Leben meint Leben „gemäß der Tugend“ (kat’ eretēn zên). Dieses erklärte Chrysipp als gleichbedeutend mit „leben entsprechend der Erfahrung dessen, was von Natur sich ereignet: denn unsere Naturen sind Teile der Natur des Ganzen“.381 Der Weise weiß nicht nur von den wesentlichen Aspekten der Allnatur und der eigenen Natur, er handelt ähnlich „methodisch“ und konsistent wie die Allnatur, indem er deren geordnetes Schaffen, deren Ordnung und Verlauf durch ‚Erfahrung‘ erfasst, deren vorbildliches Schaffen nachahmt382 und sich situationsgerecht passend in ihre Ordnung einfügt. Er ist vollkommen vernünftig im ‚Gebrauch‘ seiner Eindrücke; er ist nicht voreilig (proptōtos) und leichtfertig in seinen Urteilen, sondern stimmt nur ‚kataleptischen‘ Vorstellungen zu;383 entsprechend bedacht und vernünftig ist sein Handeln. Wie wird man weise? Die Quellen vermitteln den Eindruck, dass der Weg zur Weisheit einerseits eine lange und mühsame Phase seelischer Bildung und Einübung 375 376 377 378 379 380 381 382 383

vgl. Cicero De fin. III, 73; Tusc. disp. V, 70; De leg. I, 58–61. vgl. De off. I, 107–121. LS 26 A. SE AM VII, 373 = FDS 403. vgl. SVF I, 73 = LS 42 A = FDS 392; FDS 393 A. SVF I, 490 = FDS 392; SVF I, 72 = FDS 410. DL VII, 87 = SVF III, 4 = LS 63C. vgl. Cicero ND II. 57 = SVF I, 171. vgl. Plutarch Stoic. rep. 1065 E = SVF II, 993; Stob. Ecl. 2. 111, 18 = SVF III, 548; Cicero Acad. prior. 57; 77; DL VII, 47.

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IV Die stoische Ethik erfordert (post multa incrementa),384 dass der Eintritt in den Status des Weisen andererseits plötzlich und unmerklich erfolgt und eine radikale Veränderung der geistig-moralischen Verfassung darstellt.385 Der Eintritt wird terminologisch als metabolē (Veränderung im Sinn von Umschlag, Verfassungswechsel) bezeichnet,386 die neue Verfassung der Seele mit dem Ausdruck ‚diathesis‘ belegt, womit eine unerschütterliche, nicht mehr steigerungsfähige und nicht mehr depravierbare, eine gottgleiche Disposition gemeint ist.387 Der Umschlag erfolgt unversehens, plötzlich, in kürzester Zeit (aphnō; exaiphnēs; akareî chronou).388 Und er erfolgt ins jeweils Konträre: vom Armen zum Reichen, vom Sklaven zum König, vom Häßlichen zum Schönen, vom Schwachen zum Starken, vom Törichten zum Klugen, vom Elenden zum Glücklichen etc., und dies, obgleich der weise Gewordene nach landläufiger Meinung (weiterhin) als arm, als häßlich, als verunstaltet, als schwach, als unklug etc. erscheinen und gelten mag.389 Was für die Prädikate der Schönheit, des Reichtums, der Stärke, des Königtums etc. verantwortlich zeichnet, ist allein die Exzellenz der Disposition seiner Seele.390 Diese ist göttlich.391 Ob man den Umschlag auch ‚physikalisch‘ so verstehen kann,392 dass die Seele des weise Gewordenen, zuvor eine Mischung aus Luft und Feuer, nun reines (göttliches) Feuer ist, sei (als nicht ganz unplausible Spekulation) dahingestellt. Der weise Gewordene ist sich zunächst seiner Weisheit nicht bewusst. Dass die Stoa so dachte, ist mehrfach bezeugt.393 Plutarch fand diesen Gedanken besonders absurd. Weisheit, so seine Überzeugung, ist notwendig mit dem Bewusstsein ihrer selbst verbunden. Die Stoa verwies offensichtlich394 auf die Differenz zwischen Disposition und Akt: Jemand, der eine Disposition in Vollendung erreicht hat, dürfte sich dieses Sachverhalts erst bewusst werden, wenn er wiederholt die entsprechenden Akte vollzieht. Galten die großen Schuloberhäupter der Stoa innerhalb der Schule als weise oder hielten sie sich selbst dafür? Die Beantwortung der Frage ist wichtig. Betrifft sie doch den epistemischen Status, den sie für ihre Lehre beanspruchten und beanspruchen konnten. Sextus gefällt es, auf diese Konsequenz zu verweisen: Wenn „nach ihnen (kat’ autous) jede Annahme eines Schlechten (phaulou) Unwissenheit ist und nur der Weise Wahrheit sagt (alētheuei) und sichere Erkenntnis des Wahren (bebaian 384 385 386 387 388 389 390 391 392 393 394

Seneca Ep. 118, 16. vgl. Brouwer 2014, 51–91. SVF III, 221 Clemens v. Alexandria; SVF III, 539 Plutarch. Plutarch Synopsis 1058 B. Plutarch Synopsis 1057 E-1058 B; Profectus 75 C = SVF III, 539 = LS 61S = FDS 1233; vgl. Comm. not. 1062 B = LS 61U. vgl. Plutarch Profectus 75 C-F; Synopsis 1057 E-1058 C. vgl. Cicero De fin. III, 75 = SVF III, 591; DL VII, 122 = SVF III, 617. vgl. Stobaeus Ecl. 2. 68.3 = SVF III, 604; SE AM VII, 423; DL VII, 119 = SVF III, 606. wie Brower 2014, 75 ff. meint. Plutarch Stoic. rep. 1042 F-1043 A = FDS 1234; Comm. not. 1062 B = FDS 1235; Stobaeus Ecl. 2. 113.12–16 = FDS 1231 = SVF III, 540; Philo De agricultura 160–1 = FDS 1232 =SVF III, 541. vgl. Stobaeus Ecl. 2. 113.16–17.

3. Tugend und passendes Verhalten epistēmēn t’alēthoûs) besitzt, folgt daraus mit Notwendigkeit, wenn sich bislang noch kein Weiser gefunden habe, dass auch das Wahre nicht gefunden sei“.395 Tatsächlich dürften nach dem Ausweis der Quellen Zenon, Kleanthes und Chrysipp sich selbst nicht als weise bezeichnet und auch innerhalb der Schule nicht als weise gegolten haben.396 Die Quellenbefunde zusammengenommen bestärken den Eindruck, dass sie das Ideal primär im regulativen, (schulische) Theorie und (alltägliche) Praxis leitenden und motivierenden Sinn verstanden wissen wollten, ohne die Möglichkeit auszuschließen, dass ein Mensch letztendlich dem Ideal faktisch entspricht. Die Rede ist davon, bislang habe noch niemand Weisheit erreicht, bislang sei kein Weiser gefunden worden,397 bzw., ein Weiser werde „niemals, oder zumindest selten gefunden“,398 doch wie er beschaffen sei, wenn er einmal da sein sollte, sei beschrieben.399 Dass es sich um ein Ideal handelt, wird durch den Bezug auf mythologische Figuren wie Herkules oder Odysseus400 oder den sagenhaften Vogel Phoenix unterstrichen: Der Weise sei „so selten wie der Phoenix“, bzw. „seltener als der äthiopische Phoenix“, der dem Mythos entsprechend nur alle 500 Jahre auftritt.401 Es ist ein erfahrungsfernes, ein hehres, um nicht zu sagen ein ‚weltfremdes‘ Ideal, obgleich es für jedermann gemeint war. Für jemanden, der sich (in stoischem Sinn) auf den Weg zur umfassenden Tugend macht, könnte es entmutigend wirken. Um ihn zu motivieren, war es wohl auch nicht primär gedacht. Vermutlich sollte es jene, die sich selbstgefällig schon nahe der Weisheit oder gar in ihrem Besitz wähnten, an die Größe des Abstands und der noch ausstehenden Anstrengung gemahnen.402 Alles spricht dafür, dass die Stoa sich, in Konfrontation mit Epikur, der sich und seine Lehre umstandslos mit dem Prädikat der Weisheit belegte,403 am konträren sokratischen Ideal des Strebens nach Weisheit orientiert hat. Auch in ihrer inhaltlichen Bestimmung von Weisheit, dem Wissen von den göttlichen und menschlichen Dingen, wusste sie sich mit Sokrates (sc. wie Platon und Xenophon bzw. ‚kleine Sokratiker‘ ihn darstellten) einig. Die Stoiker wollten Sokratiker genannt werden.404 Sokrates erhält vom Orakel in Delphi das Zeugnis, niemand sei weiser als er;405 er hält sich selbst keineswegs für weise,406 sondern strebt unermüdlich und unerbittlich nach Weisheit.407 Sokrates wird zu einem, wenn nicht ‚dem‘ Vorbild für den 395 SE AM VII, 432 = SVF III, 657 = FDS 360 A; vgl. SE PH III, 240. 396 vgl. Sextus ebd. AM VII, 432–435; IX, 133; II, 43–45; Cicero ND III, 79; vgl. De fin. IV, 65; De divin. II, 61; Tusc. Disp. II, 51; De amicit. 18; Seneca De tranquill. an. 7. 4; De constant. 7.1; Plutarch Stoic. rep. 1048 E = SVF III, 662, 668; Comm. not. 1076 B); SVF I, 44 Quintilian = FDS 127. 397 SE AM VII, 432; Cicero ND III, 79. 398 SE AM II, 45. 399 Cicero Tusc. disp. II, 51. 400 vgl. dazu Brower 2014, 111 f. 401 Alexander v. Aphrodisias De fato 199.14–22 = SVF III, 658 = LS 61N; Seneca Ep. 42.1. 402 vgl. Annas 2008, 25 f. 403 vgl. Cicero De fin. II, 3. 7; Cato maior 13. 43. 404 vgl. Philodem De Stoicis col. XIII.3 Dorandi. 405 vgl. Platon Apologie 21a. 406 Apologie 21b; 23a-b. 407 Apologie 28e; 29d.

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IV Die stoische Ethik stoischen prokoptōn, d. h. für jemanden, der in Richtung Weisheit voranschreitet und ihr ziemlich nahe kommt. Poseidonios nimmt für einen Beweis der Existenz von Tugend, dass Sokrates, Diogenes und Antisthenes in einem Zustand des Fortschritts zur Tugend waren.408 Der frühchristliche Theologe Tatian berichtet sogar,409 Zenon habe in seiner Rede über die Weltverbrennung Sokrates und Herakles und einige andere derartige unter die (wenigen) Gerechten eingereiht. Wenn hier eine historische in umstandsloser Verbindung mit einer mythischen Figur genannt wird, so mag Sokrates für den Gedanken der prinzipiellen Möglichkeit stehen, dass ein Mensch das Ideal erreichen kann. Dass der historische Sokrates tatsächlich dem Ideal entsprochen hat, haben die Stoiker, nach allen übrigen Zeugnissen zu urteilen, wohl nicht behauptet. Doch er verkörperte für sie zweifellos das Ringen um eine seelische Disposition, die sie für vorbildlich hielten für das, was sie als Weisheit verstanden wissen wollten.

4. Die Theorie der Affekte Die Theorie der Affekte ist jenes Lehrstück der stoischen Philosophie, das in den vergangenen Jahren wohl die größte Aufmerksamkeit der Forschung auf sich gezogen hat. Die Liste neuerer Literatur ist umfangreich.410 Die Beschäftigung mit klassischen Emotionstheorien ist philosophisch zurzeit en vogue; die Theorie der Stoa spielt dabei eine nicht unbedeutende Rolle.411 Und das Wort „stoisch“ verbindet sich im allgemeinen Bewusstsein seit Langem ganz dominant mit der Vorstellung einer markanten Gefühlsverfassung, der ‚Apathie‘ (apatheia), die von manchen als Ideal betrachtet, von manchen aber auch als über- oder gar unmenschlich angesehen wurde und wird.412 Schließlich scheint innerhalb der stoischen Schultradition kein anderes Lehrstück so umstritten gewesen zu sein wie dieses. Vor allem Poseidonios wird, auf das Zeugnis Galens hin,413 eine Abkehr vom altstoischen Verständnis zugeschrieben. Doch Galen dürfte die Position von Poseidonios und ihr Verhältnis zu der Chrysipps eher ‚kreativ‘ interpretiert haben.414 Sicher ist jedenfalls, dass die 408 genesthai en prokopê, DL VII, 91 = F 29 EK. 409 Oratio ad Graecos 3.2, ed. Whittacker 1982. 410 vgl. Forschner 1980, 258–280; K. Bormann 1981, 79–102; Gill 1983, 136–149; Abel 1983, 78–97; M. Frede 1986, 93–110; Nussbaum 1987, 129–177; Brunschwig/Nussbaum (eds.) 1993; Nussbaum 1994, 316–483; Sihvola/Engberg-Pedersen (eds.) 1998; darin: Brennan, 21–70; Cooper, 71–112; Gill 113–148; Sorabji 149–170; Irwin, 219–241; Engberg-Pedersen, 305–338; ders. (ed.) 1998; Sorabji 1998b; 2000; Graver 2002; Tieleman 2003; Guckes (Hg.) 2004, darin: Halbig 30–68; Vogt 69–93; Papadi 2004; Salles (ed.) 2005a, darin: Gill 445–470; Price 471–488; Graver 2007; Buddensiek 2008, 69–94; Lorenz 2011, 189–212; Krewet 2013. 411 vgl. Knuuttila 2004; Landweer/Renz (Hrsg.), 2008; darin v. a. Buddensiek, 69–94; Gill, 97–117; Newmark 2008; Habsmeier/Möckel (Hrsg.) 2009. 412 vgl. Nussbaum 1987, 129–177; Irwin 1998b, 219–241; Halbig 2004, 30 f. 413 v. a. PHP Buch 4 und 5. 414 vgl. Tieleman 2003, 198–287; anders Lorenz 2011, 189–211.

4. Die Theorie der Affekte Lehre den Kern der stoischen Ethik berührt, da mit ihr nichts Geringeres als die stoische Lehre vom Guten und mit ihr die Form des stoischen Weltbezugs zur Debatte steht.415 Missverständlich wäre, den zentralen Terminus ‚pathos‘ einfach mit „Gefühl“ bzw. „Emotion“ zu übersetzen und das stoische Ideal der Apathie mit Gefühllosigkeit zu verbinden. Unter pathē versteht die Stoa falsche Gefühle und Impulse, also Affekte, und stellt sie den richtigen Gefühlen, den eupatheiai gegenüber.416 Nicht für Gefühllosigkeit, sondern für philosophische Aufklärung und Prävention, für Heilung und Befreiung von falschen Gefühlen und Impulsen plädiert die Stoa.

4.1 Die Bestimmung des Affekts In ihrer Bestimmung dessen, was einen Affekt wesentlich ausmacht, spielt der Begriff der krisis (Entscheidung, Urteilsakt)417 eine tragende Rolle. Dabei ist mit krisis der aitiologische Akt einer kognitiven Einstellung, einer Annahme (hypolēpsis),418 einer Meinung bzw. Überzeugung (doxa kai krisis,419 opinio et iudicium420), gemeint, die ein schlechtes bzw. falsches Werturteil (doxa ponēra bzw. phaulē)421 beinhaltet. Die Stoa vertrat eindeutig das, was man heute eine kognitivistische Theorie der Emotionen nennt, d. h: In Gefühlen sind wir (Menschen) intentional auf Sachverhalte bezogen, die wir in Form von Sätzen zum Ausdruck bringen können; in Gefühlen halten wir etwas für gut oder schlecht, für schön oder häßlich, für schrecklich oder erfreulich etc. Affekte sind für die Stoa durch falsche Meinungen und Werturteile konstituiert.422 Insofern es so etwas wie ‚objektfreie‘ Gefühlslagen geben mag – die moderne Psychologie spricht da von Stimmungen –, dürfte der stoische Begriff des pathos bzw. der eupatheia nicht alle Gefühle erreichen.423 Unklar ist, ob die Stoa das pathos mit dem falschen Werturteil identifiziert oder als Wirkung eines solchen angesehen hat. Galen jedenfalls meint, Chrysipp habe den Affekt mit dem Urteil gleichgesetzt, während Zenon in ihm die Ursache für (gefühlte) affektive physiologische Regungen, nämlich „Zusammenziehungen, Ausdehnungen, Hebungen und Senkungen“ der Seele ausgemacht habe.424 Nun macht 415 vgl. Buddensiek 2008, 69–94. 416 vgl. SVF III, 431 = DL VII, 115; LS 65 F; SVF III, 432 = Andronicus peri pathôn 6; SVF III, 438 = Cicero Tusc. 4, 12–13; SVF III, 434 = Alexander v. Aphrodisias Comm. in Arist. Top. II; Plutarch De virtute morali 9, 499 B. 417 vgl. Vogt 2004, 81–85. 418 DL VII, 111 = SVF III, 456. 419 Plutarch De virtute morali 7, 447 A = SVF III, 459. 420 Cicero Tusc. III, 61. 421 SVF III, 459. 422 vgl. DL VII, 111 = SVF III, 456. 423 vgl. Buddensiek 2008, 77 f. 424 Galen PHP 4.2.5–6 = SVF III, 463; LS 65 D; Galen PHP 4.3.1; 5.1.4 = SVF III, 461; vgl. Stob. Ecl. II.90.7–18; Nussbaum 1987, 142 ff.; Pohlenz 71992, I, 89 ff.; 1965, I, 15 ff.; Price 2005, 471–488.

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IV Die stoische Ethik es einen erheblichen Unterschied, ob man den Affekt mit der Ursache oder der Wirkung von etwas identifiziert. Doch Galens Bemerkung über diese Differenz der Schuloberhäupter dürfte insofern kein allzu großes Gewicht haben,425 als Zenon ebenso wie Chrysipp der Auffassung war, dass als Subjekt eines Affekts nur das leitende Organ des Menschen (sein hēgemonikon) infrage kommt und dieses, wie auch Galen weiß,426 nach stoischer Sicht mit seinem Logos gleichzusetzen ist, der einerseits als körperlich gedachtes Pneuma zu verstehen ist und andererseits die Funktionen des Denkens, Fühlens und Strebens in sich vereint. Ein Affekt hat so gesehen für die Stoiker allemal einen physiologischen und einen intentionalen Aspekt. Bei der Interpretation dieser Aspekte konnten sie an naturphilosophisch-medizinische ebenso wie an philosophische ‚Vorarbeiten‘ anschließen. Sie distanzierten sich allerdings in gewisser Weise von der platonischen und aristotelischen Lehre von Seelenteilen bzw. getrennten Seelenvermögen oder Seelenformen. Sie schrieben alle genuin menschlichen seelischen Funktionen dem sprachfähigen Geist (logos) zu. Sie hätten, so das Referat Plutarchs, das Affekthafte und Unvernünftige der Seele nicht vom Vernunftfähigen ausgegrenzt, sondern all dieses dem hēgemonikon zugesprochen. Nach ihnen sei demzufolge „das pathos schlechte und ungezügelte Vernunft, die aus schlechtem und irrigem Urteil (ek phaulēs kai dihamartēmenēs kriseōs) ungestüme Kraft mit aufnimmt“.427 Mit ‚hēgemonikon‘ qua Logos428 meinen die Stoiker jenes Prinzip, das den Menschen zum Menschen macht, und das als einigende, gestaltende und leitende Kraft all seine genuin menschlichen Eigenschaften, Zustände, Regungen und Handlungen bestimmt. Der Terminus steht für die anthropologische Grundthese der Stoa, dass der Mensch eine spezifische Einheit darstellt, die sich in einer spezifischen Form seiner kognitiven Leistungen, seines Fühlens, Strebens und Verhaltens manifestiert. Das Spezifische des menschlichen Hegemonikon gegenüber dem tierischen ist der Logos, d. h. die Sprachfähigkeit, die Fähigkeit, Begriffe, Sätze, Satzzusammenhänge zu bilden, konkrete und abstrakte Sachverhalte zu erfassen, Mögliches, Faktisches und Notwendiges, Vergangenes, Gegenwärtiges und Künftiges zu unterscheiden, in Hypothesen und Alternativen zu denken und entsprechend abwägend und schlussfolgernd zu handeln. Dies gibt menschlichem Bewusstsein gegenüber dem tierischen eine spezifische Form; sie prägt sein gesamtes Vorstellen, Fühlen, Streben und Verhalten auf essenzielle Weise. Wenn die Stoa in ihrer Bestimmung des Affekts dem Urteil (krisis) bzw. der Meinung (doxa) die tragende Rolle zuspricht, dann ist damit zunächst nicht mehr und nicht weniger gesagt, als dass sie den Affekt als genuin menschliches, durch sein sprachliches Bewusstsein geprägtes und vermitteltes Phänomen verstanden wissen möchte. Diogenes Laertius spricht so, als hätte Chrysipp bei pathē an dispositionale (irrige) Werthaltungen, an feste, dauerhafte (propositionale) Einstellungen und nicht so sehr an episodische Regungen gedacht. Er nennt im Kontext der stoischen Defi425 426 427 428

vgl. Price 2005, 473 f. PHP 4.4 = SVF III, 462. De virtute morali 441 C = SVF III, 459. vgl. dazu SVF II, 834–849; Graver 2007, 21–28.

4. Die Theorie der Affekte nition des pathos als Beispiele Geldgier (philargyria), Trunksucht (methē) und Zügellosigkeit (akolasia); denn Geldgier sei die Annahme, dass Geld (absolut) Gutes sei (hē te gar philargyria hypolēpsis esti toû to argyrion kalon eînai).429 Nun handelt es sich hier ersichtlich um ‚pathologische‘ Dispositionen, um Laster (kakiai) bzw. Krankheiten, Schwächen und Geneigtheiten (nosēmata, arrōstēmata, euemptōsiai) der Seele430 und nicht um Affekte. Einer ‚Krankheit‘ des Gemüts wie der Geldgier liegt die dispositionale Überzeugung von Geld als etwas sehr Schönem und Wichtigem zugrunde. Plutarch hingegen macht hinreichend deutlich, dass die Stoa unter pathē episodische seelische Regungen und nicht Dispositionen verstanden hat. Er bemerkt, dass das Urteil, die zustimmende falsche Bewertung eines Sachverhalts, die den Kern des Affekts ausmacht, ein kurzfristiger Akt (energeia) des (ungefestigten) menschlichen hēgemonikon ist, dem schnell eine andere Sicht der Dinge folgen kann. Sein Referat verdeutlicht auch, dass mit der Bestimmung des Affekts als falschem (Wert-)Urteil nicht alles gesagt ist, was einen Affekt ausmacht. „In der Tat, sie sagen, dass Begierde und Zorn und Furcht und alles derartige Meinungen seien und schlechte Urteile (doxas kai kriseis ponēras), die nicht in einem bestimmten Teil der Seele entstehen, sondern Neigungen und Nachgebungen und Zustimmungen und Impulse (rhopas kai eixeis kai synkatatheseis kai hormas) des ganzen hēgemonikon sind, in einem Wort, bestimmte Akte (energeias tinas), die in kurzer Zeit sich ändern können, wie die Anfälle von Kindern das Ungestüme und Heftige aus Schwäche auf prekäre und unbeständige Weise an sich haben“.431 Zenon spricht vom Affekt als einem Flattern (ptoia) der Seele.432 Affekte sind episodische ‚krisenhafte‘ seelische Regungen und Impulse, die einer schwachen, ‚unfertigen‘ bzw. defekten seelischen Disposition entspringen. Und sie sind nicht nur als Akte des Verstandes, sondern auch in Begriffen zu verstehen, die wir dem Fühlen und Streben zuordnen. Meinungen bzw. Urteile haben, im Unterschied zu Dingen und Vorgängen, die Eigenschaft, wahr oder falsch zu sein. In Affekten sind urteilende Stellungnahmen zu uns selbst, zu anderen, zu Dingen und Ereignissen enthalten. Wer zornig ist, meint (implizit oder explizit), dass ein ihn berührendes Unrecht geschieht bzw. geschehen ist. Das in der Meinung enthaltene Urteil unterliegt dem Kriterium von wahr oder falsch. Im Blick darauf definiert die Stoa den Affekt als schlechtes (Wert-) Urteil bzw. schlechte Meinung (krisis kai doxa ponēra). Die Definition steht im Kontext des dreigliedrigen Schemas ihrer Handlungstheorie:433 phantasia – synkatathe­ sis – hormē. Mit ‚phantasia‘ ist ein durch ein Ereignis bedingter Eindruck gemeint, der im Sinnenwesen eine Vorstellung evoziert. Dies macht die passive Seite des Affekts aus. Die in der menschlichen Seele entstehende (sprachlich artikulierbare) Vorstellung (logikē phantasia) eines Sachverhalts434 lässt sich daraufhin prüfen bzw. 429 430 431 432 433 434

DL VII, 111 = SVF III, 456. vgl. SVF III, 421–430; SVF 480 = Galen PHP 4.5.21; LS 65 L; Brennan 1998, 40–50. Plutarch De virt. morali 447 A = SVF III, 459. SVF I, 206 = Stob. Ecl. II, 39, 8–10 W. vgl. dazu v. a. Inwood 1985b, 42–102; Graver 2007, 24–28. vgl. SVF II, 52, 55, 61 = DL VII, 49–51; LS 39 A.

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IV Die stoische Ethik bewerten, ob sie wahr oder falsch ist bzw. ob der Sachverhalt für den Betroffenen etwas Gutes oder Schlechtes darstellt bzw. erstrebenswert oder meidenswert ist. Das bejahende oder verneinende Urteil ist ein Akt der Zustimmung (synkatathesis, adsensio).435 Die Zustimmung ist willentlich; sie liegt bei uns (eph’ hēmin; volunta­ ria). Wird von mir etwas als für mich gut oder schlecht, erstrebens- oder meidenswert beurteilt, so enthält dieses Urteil ein Gefühl und einen Verhaltensimpuls (hormē).436 Die Zustimmung setzt einen Impuls frei, der das entsprechende Handeln auslöst, wenn externe Umstände dies nicht verhindern. Alles menschliche Tun (to poieîn) wird auf einen Impuls (hormē) zurückgeführt, der im Menschen nicht ohne ein Stellung beziehendes, ein entscheidendes, d. h. ein bejahendes oder verneinendes Urteil über den im Tun anvisierten Sachverhalt zustandekommt. Chrysipp hat denn auch, nach dem Zeugnis Plutarchs, den menschlichen Verhaltensimpuls geradezu als Imperativ, als einen das Subjekt zum Tun auffordernden Satz definiert (logos prostaktikos autô toû poieîn).437 Eine affektive Gemütsbewegung ist (typischerweise) ein Fehlurteil, ein falsches Gefühl und ein schlechter Impuls in einem. Ein stoischer Affekt ist deshalb ganz wesentlich zu verstehen als falsches Handlungsmotiv.438 Wenn die Stoa den Affekt in Begriffen des Urteils bzw. der Meinung definiert, wenn das Urteil besagt, dass in ihm einem Sachverhalt zugestimmt wird, und wenn die Zustimmung etwas ist, was „bei uns liegt“, so heißt dies, dass sie den Affekt dem unmittelbaren menschlichen Verantwortungsbereich eingeordnet439 und ihren aufklärenden philosophisch-therapeutischen Bemühungen zugewiesen sehen möchte. Im Affekt reagieren wir auf die Wahrnehmung einer bestimmten Situation unmittelbar auf bestimmte Weise, und dies aufgrund unseres Charakters und des Inbegriffs der Überzeugungen, die wir haben. Vorstellungen (phantasiai), die unwillkürlich durch Wahrnehmung oder Erinnerung oder durch willkürliche Reflexion hervorgerufen sein mögen, werden (nur) durch Urteilszustimmung angeeignet und dadurch für unser verantwortliches Fühlen, Streben und Tun von Bedeutung. Die Zustimmung zum Eindruck ergibt eine Meinung. Der sprachlich formulierbare Eindruck (logikē phantasia)440 hat etwas Sagbares (ein lekton bzw. axiōma) zum Inhalt; die Zustimmung bezieht sich auf die Aussage; der unmittelbar zugehörige Impuls als Zustimmung auf das Prädikat der Aussage.441 Doch nicht jede Zustimmung zu einer Aussage bzw. einem Sachverhalt ist mit Gefühlen und Impulsen verbunden. Es gibt Eindrücke, die geeignet sind, Impulse auszulösen (phantasiai hormētikai)442 und solche, die keinerlei Impulse 435 vgl. Cicero De fato 42–43; SVF I, 61 = Cicero Acad. post. I, 40; Alexander v. Aphrodisias De fato 14 = SVF II, 980–981. 436 vgl. Plutarch Stoic. rep. 1037 F = SVF III, 175. 437 ebd. 438 vgl. Brennan 1998, 34. 439 vgl. Cicero Acad. post. I, 38; Graver 2007, 62–66. 440 SVF II, 187 = SE AM VIII, 70; LS 33 C; SVF II, 52, 55, 61 = DL VII, 49–51; LS 39 A. 441 SVF III, 171 = Stobaeus Ecl. II, 88, 2–6; LS 33 I; vgl. Brennan 1998, 29; Buddensiek 2008, 78. 442 vgl. Stob. Ecl. II, 86, 17–19; M. Frede 1986, 103–107.

4. Die Theorie der Affekte hervorrufen. Gibt es doch Sachverhalte, die für den Menschen völlig Gleichgültiges betreffen (etwa, ob die Anzahl der Sterne oder der Haare auf dem Kopf gerade oder ungerade ist).443 Die Stoa unterteilt die außermoralischen Sachverhalte in solche, deren Beurteilung keinerlei emotiv-impulsive Bewegung erwecken kann444 und in solche, die zwar objektiv gesehen nichts zur Eudaimonie (dem homologoumenos bios) beitragen, deren Beurteilung und Gebrauch indessen mit dem ‚guten‘ Leben in Zusammenhang steht: Es sind dies jene Dinge, die dem Menschen in gewisser Weise entsprechen oder widersprechen, die seiner Natur gemäß (kata physin) oder entgegen (para physin) sind, die zu wählen oder zu verwerfen er eine natürliche Neigung besitzt, und die er ergreift oder meidet, wenn die Wahl ihm offensteht, wie Leben statt Tod, Gesundheit statt Krankheit, Stärke statt Schwäche, Wohlstand statt Armut, Ehre statt Unehre etc. Die Stoa spricht hier von Dingen, die Wert (axia) bzw. Unwert (apaxia) haben, von Vorzugswertem (prohēgmena) und Verwerfenswertem (apoprohēgmena), bezogen auf ein naturgemäßes Leben (pros ton kata physin bion),445 von Dingen, deren Beurteilung immer eine emotiv-praktische Seite hat, insofern mit ihr eine natürliche Form der Attraktion (hormē) und Aversion (aphhormē) verbunden ist.446 Gleichgültig (adiaphora) werden die vorzugswerten ebenso wie die verwerfenswerten Dinge gleichwohl genannt, weil zum einen ihr Vorhandensein oder Nichtvorhandensein, ihr Gewinn, Besitz oder Verlust nicht über die Eudaimonie entscheidet,447 weil sie zum anderen sowohl gut als auch schlecht gebraucht werden und zum Nutzen und Schaden gereichen können.448 Von Bedeutung sind diese ‚außermoralischen‘ Güter und Übel für den Menschen, weil die Art des Umgangs mit ihnen, die Art ihres Gebrauchs (chrêsis) über das gute oder schlechte Leben entscheidet.449 In einer affektiven Regung wird diese ihre Bedeutung verkannt: Das Gute und Schlechte wird nicht in die Art der Wahl und des Umgangs mit ihnen, sondern in sie selbst bzw. ihren Besitz, Nichtbesitz oder Verlust gesetzt. Im falschen Urteil eines Affekts halten wir etwas (für uns) für uneingeschränkt (äußerst) gut450 oder schlecht, für absolut erstrebenswert451 oder verwerfens- bzw. meidenswert, was es in Wahrheit nicht ist. Das bislang Gesagte reicht in stoischer Sicht allerdings noch nicht für eine befriedigende Charakteristik des Affekts. Als weitere Bestimmung fügt sie hinzu: Es muss sich um eine frische Meinung handeln (doxa prosphatos; opinio recens).452 Was mit 443 444 445 446 447 448 449 450 451 452

vgl. SVF III, 121; 122. SVF III, 118 = Stobaeus Ecl. II, 79, 1 W; SVF III, 119 = DL VII, 104. SVF III, 126 = DL VII, 105. vgl. SVF III, 126, 127 = DL VII, 105, 106; SVF III, 128 = Stobaeus Ecl. II, 84, 18; SVF III, 129 = Cicero De fin. III, 50. SVF III, 104 = DL VII, 104. SVF III, 122 = Sextus, AM XI, 59; SVF III, 123 = Plutarch Stoic. rep. 1048 C. SVF III, 119 = DL VII, 104. kalon SVF III, 456 = DL VII, 111; megiston agathon SVF III, 480 = Galen, PHP 4. 5. haireton, vgl. SVF III, 123 = Plutarch Comm. not. 1070 A. SVF III, 463 = Galen PHP 4. 2; LS 65 D; SVF III, 481 = Galen PHP 4. 7; SVF III, 391 = Andronicus Peri pathôn 1; SVF III, 394 = Stobaeus Ecl. II, 90; SVF III, 393 = Cicero Tusc. IV, 14; vgl. Tusc. III, 25, III, 75.

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IV Die stoische Ethik dem wohl bereits von Zenon formulierten Merkmal prosphatos (frisch) gemeint war, ist prima facie nicht eindeutig ersichtlich. Denn die bei Galen und Stobaeus angeführten Definitionen des (seelischen) Schmerzes (lypē = doxan eînai prosphaton toû kakon autô pareînai bzw. lypē = doxa prosphatos kakoû parousias) lassen im Unklaren, ob prosphatos als nähere Bestimmung der Meinung oder des Übels oder als Bestimmung von beidem anzusehen ist. Die von Galen notierte Exegese, prosphatos bedeute „zeitlich naheliegend“ (to hypogyion kata ton chronon),453 legt das Verständnis nahe, die zeitliche Nähe des beurteilten Ereignisses sei für die Entstehung bzw. die Existenz eines Affekts konstitutiv. Ciceros Erklärung macht indessen hinlänglich deutlich, dass mit ‚prosphatos‘ primär die doxa gekennzeichnet wird, und das Wort nur im übertragenen Sinn auf das Ereignis zu beziehen ist.454 Denn ein Gut oder Übel kann „frisch“ nur genannt werden, sofern es vom vorstellenden und beurteilenden Subjekt aktuell als Gut oder Übel eingeschätzt wird. Die ‚Frische‘, die ‚Lebendigkeit‘ der Überzeugung, genauer: die ‚Frische‘ der Zustimmung zum Sachverhalt entscheidet, ob ein wann auch immer eingetretenes oder möglicherweise eintretendes Ereignis zum aktuellen Gut oder Übel für den Menschen wird. Dies ist ja stoische Grundansicht, dass ein Gut bzw. ein Übel immer ein vermeintes Gut oder Übel ist (ein opinatum bonum oder malum), im Fall eines Affekts (typischerweise) zu Unrecht vermeint. In der affektiven Regung wird etwas ad hoc für schlimm oder erfreulich bzw. begehrenswert gehalten. Cicero erinnert an den affektiven Gram der Königin Artemisia, deren Trauer um den Tod ihres Gatten kein Ende fand und sie schließlich zerbrach. Bei ihr, so Cicero, war die Überzeugung (opinio) je neu und frisch (recens), dass der Verlust ihres Mannes für sie das größte Übel sei.455 Die den Affekt konstituierende falsche Meinung über etwas als Gut oder Übel muss frisch und lebendig sein. Sie ist zudem, so die Stoa, mit der Überzeugung verbunden, dass es verständlich, ja in Ordnung und angebracht sei, auf diese Weise seelisch erregt bzw. bedrückt zu sein; d. h. man identifiziert sich implizit oder explizit mit der Erregung. Auf dieses Merkmal verweisen übereinstimmend mehrere Quellen.456 Seelischer Schmerz und Lust/Vergnügen etwa sind definiert als „frische Überzeugung von der Gegenwart eines Übels bzw. eines Gutes, bezüglich dessen sie bedrückt, erregt oder entzückt sein zu müssen glauben (eph’ hô oiontai deîn systellesthai bzw. epairesthai). Statt des „müssens (deîn)“ bei Andronicus steht bei Stobaeus kathēkein; Cicero übersetzt mit rectum esse videtur bzw. opportet. Nun mag man diese Bestimmung so verstehen, dass sie nichts anderes besagt als dies, dass es sich beim Affekt nicht um ein theoretisches, sondern ein praktisches Urteil handelt. Nach dieser Auffassung wäre in dem Werturteil „X ist sehr gut bzw. sehr schlecht“ das Urteil „Man muss X verfolgen, bewahren bzw. vermeiden, beseitigen“ ebenso wie das Urteil „Es gehört sich, gegen453 454 455 456

SVF III, 481. so richtig Bonhoeffer (1890) 1968, 267; anders Lorenz 2011, 197–211. Tusc. III, 75; vgl. Bonhoeffer (1890) 1968, 267–269. SVF III, 391 = Andronicus Peri pathôn 1; SVF III, 394 = Stobaeus Ecl. II, 90; LS 65 E; SVF III, 393 = Cicero Tusc. IV, 14.

4. Die Theorie der Affekte über X so und so zu empfinden“ analytisch enthalten.457 Andererseits scheint sich die Stoa „in ihrer therapeutischen Praxis sehr wohl der Unterscheidung zwischen Werturteil und Urteil über die angemessene Reaktion bedient zu haben“.458 Nach Cicero hat Chrysipp (gegenüber Kleanthes) den ersten ‚heilenden‘ Ansatz zur Korrektur einer affektiven Trauer nicht über die Korrektur des Werturteils gesucht, sondern über die Korrektur der Meinung des Betroffenen, man dürfe bzw. müsse über den Verlust eines Nahestehenden so bestürzt und traurig sein.459 Der über eine Beleidigung Erzürnte460 oder der über den Verlust eines Nahestehenden Trauernde461 ist in seinem krisenhaften affektiven Zustand nicht der geeignete Adressat einer philosophischen Belehrung über das, was wahrhaft gut und schlecht ist. Mit Worten beeinflussbar ist er, wenn überhaupt, zunächst über seine (stark an gesellschaftlichen Erwartungen und Üblichkeiten ausgerichtete) Meinung, welche emotiven Reaktionen auf welche Lebenssituationen passend (und für ihn zuträglich) sind. Hier greift zunächst ein therapeutisches Instrumentarium der Mäßigung des Affekts, wie es etwa von Vertretern eines Metriopatheia­Ideals empfohlen wird.462 Erst in einem beruhigten Zustand der Seele wirke philosophische Belehrung über das, was wahrhaft gut und schlimm ist.463 Diese Empfehlung Chrysipps hängt zusammen mit einer vielfach bezeugten Bestimmung des Affekts, die die stoische Theorie intern zu sprengen und sie der platonisch-aristotelischen ebenso wie alltäglichen Auffassung des Phänomens anzunähern scheint: Der Affekt sei ein exzessiver Impuls (hormē pleonazousa),464 „gewaltsam“ (biaios),465 der „(rational) wählenden Vernunft gegenüber ungehorsam (apeithê tô hairoûnti logō)“,466 eine „vernunftwidrige und widernatürliche Bewegung der Seele (alogos psychês kinēsis kai para physin)”.467 Plutarch und Galen benützen diese Bestimmung bereitwillig, um Chrysipp zu attestieren, er habe mit ihr, von der Evidenz der Sachverhalte gezwungen, entgegen dem behaupteten psychologischen Monismus die Differenz und Andersartigkeit zweier Seelenteile, des urteilenden (to krînon) und des empfindenden (to paschon) anerkannt.468 Doch unter „alogos psy­ chês kinēsis“ kann in stoischem Kontext nicht die Bewegung einer Seeleninstanz gemeint gewesen sein, die mit Vernunft qua Sprachfähigkeit nichts zu tun hat, die 457 vgl. Graeser 1975,168; Long 1968b, 338. 458 Halbig 2004, 38; vgl. Sorabij 2000, 32 f.; Tieleman 2003, 322; anders Buddensiek 2008, 79 ff. 459 Tusc. III, 76. 460 Tusc. IV, 78. 461 Tusc. IV, 63. 462 vgl. SVF III, 474 = Origenes Contra Celsum 1. 64; Gill 1998a, 123. 463 vgl. Tieleman, 2003, 305–317. 464 vgl. SVF III, 377 = Clemens Strom. II; SVF III, 378 = Stobaeus Ecl. II, 88; LS 65 A; SVF III, 384 = Plutarch De virt. mor. 449 C ; SVF III, 391 = Andronicus Peri pathôn 1; SVF III, 412 = DL VII, 110. 465 SVF III, 384. 466 SVF III, 378; LS 65 A; vgl. III, 462 = Galen PHP 4. 2; LS 65 J. 467 SVF III, 391; 412. 468 SVF III, 384 Plutarch; vgl. SVF III, 462 Galen.

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IV Die stoische Ethik unabhängig von ihr, ja möglicherweise wider deren besseres Wissen zu agieren vermag. Die Belege, dass die Stoa Gefühl und Impuls (hormē) in Begriffen der Zustimmung des Verstandes,469 des zum Tun auffordernden Geistes470 beschrieben hat, sind zu eindeutig. Jedenfalls kommt nach stoischer Ansicht kein zum Handeln drängender und das Handeln tragender Impuls zustande ohne eine affirmative Bestätigung des axiologischen Wahrheitsgehalts des Handlungsziels.471 Nach Stobaeus betrachtet sie die hormē als „Drang des Verstandes nach etwas im Bereich des Handelns (phora dianoias epi ti tôn en tô prattein)“.472 Eine Menge weiterer Quellen belegt, dass die Stoa unter der hormē des Menschen eine Funktion der vernunftbegabten Seele, des hēgemonikon verstanden wissen will.473 Mit ‚hormē‘ ist also keineswegs der Trieb im Sinn einer der Vernunft selbstständig nebengeordneten oder gegenüberstehenden, nichtvernünftigen Seelenkraft gemeint, sondern der Geist des Menschen in einer Weise seines Verhaltens: Es ist das auf die Verwirklichung des Gebilligten und Begehrten gerichtete Streben, das sich in Handlungen äußert, falls externe Umstände diese Äußerung nicht verhindern.474 Im Wort ‚pathos‘ ist dabei mehr der Empfindungs- und Gefühls-, im Wort ‚hormē‘ mehr der Strebensaspekt konnotiert. Die Stoa hat zwischen Fühlen und Streben nicht bestimmt unterschieden. Dies wohl deshalb, weil beide Phänomene untrennbar ineinander verwoben sind und es ihrer Ansicht nach in beidem um Bewegungsformen der Seele geht: im Fall des Strebens um eine Bewegung auf einen Gegenstand hin (orexis) oder von ihm weg (ekklisis), um eine Bewegung des Übergangs (metabatikôs kineîsthai), im Fall des Fühlens um eine Veränderung der immanenten seelischen Spannung, um eine ‚stationäre‘ Bewegung (tonikē kinēsis), bei ‚positivem‘ Gefühl um eine Lockerung und Schwellung (eparsis), bei ‚negativem‘ Gefühl um eine Kontraktion und Verkrampfung (systolē) des Seelenpneumas.475 Und ein Affekt ist gefühls- und strebensmäßig eine unvernünftige Bewegung der Seele (alogos psy­ chês kinēsis). Die Stoa hat den Affekt eben nicht nur in ethischen und psychologischen, sondern auch in physiologischen Begriffen beschrieben. Unter physiologischem Aspekt stellt sich ihr der Affekt als gestörte, unnatürliche, das rechte Maß überschreitende Bewegung des körperlich gedachten Seelenpneumas dar. Dieses Seelenpneuma ist beim mündigen Menschen essenziell durch seine Sprachfähigkeit geprägt.476 Sie formt sein Fühlen und Streben zu Funktionen seiner Vernunft. Im Affekt ‚funktioniert‘ seine Vernunft falsch; sie agiert ‚pervers‘. Affekte sind widernatürliche Bewegungen der Vernunft; die Vernunft hält sich in ihnen nicht an das ihr eigene Maß der Wahrheit, und zwar an das Maß der Wahr469 470 471 472 473 474 475

SVF III, 171; SVF III, 169. SVF III, 175. vgl. Graeser 1975, 148. Ecl. II, 86 = SVF III, 169. vgl. etwa DL VII, 159; SE AM VII, 237. vgl. Bonhoeffer (1890) 1968, 250 ff. vgl. SVF II, 451 = Nemesius De nat. hom. 2; Symbursky 1959, cap. II, 2; SVF III, 391 = Andronicus Peri pathôn; SVF III, 393; 394; 412; 464; DL VII, 111–114. 476 vgl. SVF III, 178 = DL VII, 85–86; LS 57 A; Cicero De fin. III, 17 = 59 D.

4. Die Theorie der Affekte heit, das dem Menschen in seiner Beziehung zu ‚welthaften‘ Dingen und Ereignissen gesetzt ist .477 Eine widernatürliche Bewegung der Vernunft liegt freilich auch beim rein theoretisch falschen Urteilen vor. Doch von Affekt kann nur die Rede sein im Blick auf eine widernatürlich fühlende, strebende und handelnde Vernunft. Stobaeus macht auf den Umstand aufmerksam, dass ein theoretischer Irrtum nach erfolgter Belehrung ohne Weiteres aufgegeben werde, dass bei dem im Affekt Befindlichen hingegen die bloße Belehrung nichts ausrichte.478 Eine bezüglich der Güter und Übel des Lebens falsch urteilende Vernunft hat zur Folge, dass ihr eigenes Fühlen und Bestreben der vernünftigen Kontrolle entgleitet. Es hört nicht mehr auf die rechte Vernunft (apei­ thes tô logō),479 obgleich sie von deren Weisung Kenntnis, ja ihr auch ‚halbherzig‘ zugestimmt haben mag. Es wird zwanghaft (pân gar pathos biastikon estin)480 und tyrannisch gegenüber deren Gesichtspunkte und Argumente: „Die im Affekt Befindlichen, auch wenn sie zur Kenntnis nehmen und ihnen ein besserer Weg gezeigt wird, dass man nicht betrübt sein oder sich fürchten oder überhaupt affektiv reagieren muss, werden gleichwohl nicht davon abgehalten, sondern von den Affekten in ihre sie beherrschende Tyrannis geführt“.481 Chrysipp hat sich in diesem Zusammenhang mit dem Beispiel von Euripides’ Me­ dea (1078–1080), die im Bewusstsein ihres Unrechts mit der Tötung ihrer Kinder dem (überlegten) Bestreben nach Rache an ihrem Gatten Jason nachgibt, intensiv auseinandergesetzt.482 Um zu illustrieren, was mit diesem Aspekt „gewaltsam“ bewegter Seele gemeint ist, verwendet er folgendes Gleichnis: Eine Person, deren Gefühle und Impulse nicht affektiv sind, ist wie ein Mensch, der spazieren geht; seine Beine gehorchen seiner Absicht, sind Schritt für Schritt unter Kontrolle. Eine Person, deren Gefühle und Impulse exzessiv sind, ist wie ein Läufer. Dieser, einmal in schneller Bewegung, vermag nicht mehr anzuhalten, wann er will, er schießt übers Ziel hinaus.483 Was hier unwillentlich zu sein scheint, weil nunmehr gegen den Willen anzuhalten gerichtet, hat seinen Grund im anfänglichen Willen zu rennen.484 Plutarch referiert ein anderes Bild, das den Affekt mit den unsteten und unbeholfenen Bewegungen eines kleinen Kindes vergleicht.485 Chrysipp charakterisiert diese affektive Bewegungsform als „Überschreiten des vernunftgemäßen Maßes (to tēn kata logon hyperbainein symmetrian)“.486 In ihm manifestiert sich eine strukturelle Schwäche im Überzeugungssystem der Person. 477 478 479 480 481 482 483 484 485 486

vgl. Nussbaum 1987, 154. SVF III, 389 = Ecl. II, 89; LS 65 A. SVF III, 389 = Stob. Ecl. II, 89; SVF III, 462 = Galen PHP 4. 2; LS 65 J. SVF III, 389 = Stob. Ecl. II, 89. ebd. vgl. Galen PHP 3.3.13–22; 4.2.27; 4.6.19–23; Gill 1983, 136–149; Joyce 1995, 315–335; Graver 2007, 70 ff. SVF III, 462 = Galen PHP 4.2.10–18; LS 65 J. vgl. Cicero Tusc. 4.42; Seneca De ira 1.7. SVF III, 459 = De virt. mor. 447 A; LS 65 G. SVF III, 462 = Galen PHP IV 2.

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IV Die stoische Ethik Das vernunftgemäße Maß menschlichen Fühlens und Strebens bietet die stoische Güterlehre. Uneingeschränkt gut ist nach deren Sicht nur das sittlich Gute: Tugend und tugendhaftes Verhalten. Dies und nur dies ist unbedingt erstrebenswert. Die ‚welthaften‘ Güter, d. h. all das, worüber wir nicht absolut verfügen, was gut oder schlecht gebraucht werden kann, was schicksalsabhängig ist und auch wieder verlorengeht, ist nicht uneingeschränkt gut und erstrebenswert.487 Wer sein Streben unbedingt auf solches richtet, und das tun de facto zumindest zeitweise so gut wie alle Menschen, überschreitet das vernunftgemäße, seiner Natur entsprechende Maß. Sein Verhältnis zu den Gütern und Übeln des Lebens wird affektiv; er wird von deren Anziehungs- und Abstoßungskraft ‚gewaltsam‘ bewegt.488 Der Weise dagegen ist ihnen gegenüber ‚gelassen‘. Er richtet sich auf diese Güter nicht intentione recta, sondern intentione obliqua. Er erstrebt, besitzt und behandelt sie im Modus des distanzierten „als ob“, bzw. „als ob nicht“. Der Weise, so Chrysipp, wird in der Öffentlichkeit sprechen und an privaten wie öffentlichen Geschäften sich beteiligen, als ob Wohlstand, Ruhm, Gesundheit etc. wahre Güter wären.489 Er weiß, stellt in Rechnung und bejaht (rückhaltlos), dass diese Dinge vom Willen Gottes und seiner (völlig vernünftigen) Weltverwaltung abhängen. Er weiß: Gott plant und lenkt alles zum Besten. Er weiß: Seine menschliche Sicht dessen, was in der Welt kommen wird, ist begrenzt. Er wird deshalb die prima facie naturgemäßen Güter nehmen, wenn sie sich bieten; doch er wird, im Wissen von der Begrenztheit seiner Perspektive und der Vernunft göttlicher Vorsehung, sie stets reserviert, unter Vorbehalt erstreben, pflegen und lieben. „Solange das Kommende mir unklar ist, halte ich mich an die Dinge, die zur Erreichung des Naturgemäßen besser passen. Denn der Gott selbst hat mich so gemacht, dass ich diese bevorzuge. Doch wenn ich wüsste, dass es mir bestimmt ist, krank zu sein, würde ich mein Streben auf dieses richten“.490 Bezüglich welthafter Dinge unter Vorbehalt streben und handeln („wenn Gott bzw. das Schicksal es so will“) macht uns unverletzlich, schützt den Menschen vor Sorgen und Ängsten, vor Enttäuschung, Erschütterung und Verzweiflung. „Sie (sc. die Stoiker) sagen, dem Weisen widerfahre nichts gegen sein Streben . . ., weil er alles unter Vorbehalt tut (dia to meth’ hypexhaireseōs panta poieîn) und nichts, was sich an seinen Plänen Widersprechendem einstellt, ohne seinen Vorgriff ereignet“.491 Ein ‚gemessener‘ Fluss des Lebens (euroia biou)492 in Harmonie mit sich und der Welt ist für den Menschen nur möglich, wenn er all das, was er in der Welt durch sein Tun und Lassen erreichen will, unter dem Vorbehalt der Übereinstimmung mit dem Willen des Zeus erstrebt und im Voraus auch die Möglichkeit des Scheiterns seiner jeweiligen Absicht mitbedenkt und mitbejaht. So gesehen geschieht dem Weisen nichts gegen seine Erwartung; er wird immun gegen seelisches Leid.493 Und nicht nur dies: 487 488 489 490 491 492 493

vgl. LS 58; Cicero De fin. III, 20–22 = LS 59 D. vgl. Tieleman 2003, 178. SVF III, 698 = Plutarch Stoic. rep. 1034 B. SVF III, 191 = Epiktet Diss. 2. 6. 9–10; möglicherweise ein Wort Chrysipps. SVF III, 564 = Stobaeus Ecl. II, 115; vgl. SVF III, 565 = Seneca De benef. IV, 34. DL VII, 87–89 = LS 63 C. vgl. Seneca De tranquill. an. 13,2–14,1; Inwood 1985b, 120 ff.

4. Die Theorie der Affekte Mit diesem Streben unter Vorbehalt gewinnt er in seinem Handeln auch größtmögliche Leichtigkeit und Anpassungsfähigkeit gegenüber den Wendungen des Schicksals, während der Nichtweise auf seinem partikulären Wollen beharrt und vergeblich gegen sie anrennt.494 Die Stoa denkt menschliches Glück im Sinne eines Optimums des Lebens radikal und konsequent. Ohne die gelassen-distanzierte Form des Bezugs zu den Dingen bzw. Sachverhalten in der Welt, die schicksalsabhäng sind, und ohne die vorbehaltlose Einstimmung mit dem Willen Gottes ist ein affektfreier „Wohlfluss“ des Lebens nicht möglich. Das Ideal der Affektfreiheit (apatheia) zu realisieren, ist das Privileg des Weisen.495 Doch Weise hat es zugegebenermaßen bislang kaum gegeben. Die Stoa wusste also, dass dem Ideal der Apathie die Menschen faktisch kaum gewachsen sind. Sie hat es gleichwohl, um (ihrer Überzeugung von) der Vernunft der Weltordnung und des Menschen willen, so formuliert und auf der Basis ihrer Wertlehre für grundsätzlich realisierbar gehalten. Dies ist anders im aristotelischen Ideal der met­ riopatheia, das zwar wie die Stoa die Bildungsmöglichkeit menschlichen Fühlens und Strebens betont, doch im Unterschied zu dieser dessen Natur- und Widerfahrnisseite im menschenmöglichen Ideal berücksichtigt, ja integriert wissen wollte. Mögen Plutarch und Galen die Differenz der stoischen Bestimmung menschlicher Affektivität zu Platon und Aristoteles überbetont haben; in der Sicht eines wesentlichen Unterschieds haben sie recht. Und es ist natürlich die Frage, ob mit dem stoischen Ideal der apatheia, der radikalen Gelöstheit gegenüber dem, was nicht uneingeschränkt in unserer Hand ist, nicht Züge des menschlichen Lebens aufgegeben werden, die es auf ihre Weise human und lebenswert machen.496

4.2 Die Affektenlehre im Kontext: Platon und Aristoteles Die Stoa weiß sich mit ihrem Ideal in sokratischer Tradition.497 Ihr Konzept hat die akademisch-peripatetische Kritik dieser Tradition zum Widerpart. Sokrates habe, so der Verfasser der Magna Moralia, die Tugend mit dem Wissen identifiziert, den alogischen Seelenteil aufgehoben und damit auch das Phänomen des Affekts (pa­ thos) und der sittlichen Gewöhnung (êthos) beseitigt.498 Er habe, so die Kritik, mit seinem Konzept des Tugendwissens und des Glücks weder selbstständig tätige, dem Wissen vorausliegende und zum Handeln drängende Anlagen, Triebe und Impulse in Rechnung gestellt noch das Phänomen jener seelischen Konfliktsituation bedacht, in der das Verfolgen des Schlechten von einem Wissen vom Guten begleitet wird. Nun hatte bereits (der mittlere) Platon die sokratische Vorstellung von Tugend korrigiert. Entscheidend (und abweichend) im Blick auf das sokratische und stoi494 495 496 497 498

vgl. Halbig 2004, 48 f. vgl. M. Frede 1986, 93 ff. vgl. Nussbaum 1987, 174. vgl. SVF III, 424 = Cicero Tusc. IV, 24. vgl. MM 1182 a7 ff.; vgl. dazu EE 1216 b 15 ff.; NE 1144 a 18 ff.

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IV Die stoische Ethik sche Konzept ist seine Annahme diskreter Seelenteile (to epithymētikon, to thymoei­ des, to logikon), die über eine eigenständige naturwüchsige Dynamik verfügen und im Blick auf ihr Ziel nicht von selbst eine harmonisch agierende Einheit bilden.499 Die emotional-impulsive Seite des sittlichen Ziels wird von ihm ähnlich formuliert wie in der Stoa: eine vernünftige und ruhige Gemütsverfassung, die annähernd (sic!) sich selbst gleich bleibt.500 Etwas anders jedoch als die Stoa spricht Platon den Affekten (pathē) eine Art Existenz zu, die es zu mäßigen und zu kontrollieren gilt,501 die aber, insofern und solange wir Menschen sind, nicht völlig (paraplēsion)502 zu eliminieren sind. Sein Ansatz stellt im Menschen konstitutiv antinomisch wirkende Seelenteile in Rechnung, einen auf Erkenntnis und praktische Darstellung des wahren, bleibenden Seins gerichteten gesetzlichen Logos (logos kai nomos), und einen (sehr wohl auch sprachfähigen) Teil, der Erhaltung, Steigerung und Genuss des vergänglichen menschlichen Lebens betreibt, und dessen Tun als Leiden bzw. Widerfahrnis (pathos) gekennzeichnet wird, weil seine Aktivität und Befindlichkeit gebunden ist an naturwüchsige (und kulturell überformte) Triebe und an den Gewinn, Besitz, die Verhütung und Beseitigung von Dingen und Zuständen, die uns widerfahren, und die vergänglich sind.503 Bei Aristoteles ist der Begriff des menschlichen pathos nicht eo ipso negativ konnotiert. Ein pathos gilt für ihn nur dann als schlecht, wenn es das von rechter Vernunft gesetzte Maß unter- oder überschreitet. Seine Theorie der menschlichen Seele operiert, grob gesagt, mit einer Dreiteilung: mit einem vernunftlosen Prinzip (to phytikon),504 das für die unbewussten Funktionen des Stoffwechsels, der Ernährung, der Zeugung und des Wachstums verantwortlich zeichnet, mit einem zweiten Prinzip, ganz allgemein Streben (to orektikon) genannt,505 das als Prinzip bewusster, durch Empfindung, Wahrnehmung bzw. Vorstellung vermittelter begierde- und muthafter Gefühle und Impulse fungiert, und mit einem Prinzip der Sprachfähigkeit bzw. Vernunft (to logikon), dem wir die Begriffs- und Satzbildung, das Urteilen und logische Schließen, die praktische Überlegung, Abwägung und Entscheidung verdanken. Das vernunftlose Streben teilen wir mit allen Sinnenwesen; alles Tätigsein erhält von ihm seine Kraft. Doch im Unterschied zu tierischem ist menschliches Streben von Natur nicht geordnet,506 vielmehr einer Formung durch Gewöhnung und einer Leitung durch Belehrung und Überlegung offen und bedürftig.507 Aristoteles sieht bei Tier und Mensch gleichermaßen durch Trieb und Wahrnehmung ausgelöste seelische Regungen. Doch der menschliche Affekt im engeren Sinn beruht für ihn wie in der Stoa auf einer Meinung, auf einer Annahme, dass etwas der 499 vgl. Politeia 413 b f.; 434 d ff.; 436 a ff. – 441 c ff.; 580 d ff.; vgl. Phaidros 253c – 254e; Timaios 69c – 71d. 500 Politeia 604 e. 501 Politeia 603 e. 502 Politeia 604 e. 503 vgl. Politeia 604 a 10 ff. 504 vgl. De anima II, 4, 416 a 18 ff. 505 De anima II, 4, 416 a 18 ff., vgl. III, 10, 433 a 21–25. 506 vgl. NE 1103 a 19 ff.; 1166 b7 ff., De anima 433 b 5 ff. 507 vgl. v. a. NE II, 1.

4. Die Theorie der Affekte Fall ist.508 Allerdings ist er eine spontane, unwillkürliche Reaktion (aprohairetōs)509 und nicht ein durch (Überlegung und) Entscheidung vermitteltes Streben. Charakterliche Tugend ist (über Bildungsprozesse) dann erreicht, wenn die spontanen Regungen habituell auf Reflexion hin tendieren und dem entsprechen, was rechte Vernunft als adäquate Antwort auf die gegebene Situation erachtet.510 Das Streben denkt nicht, das Denken fühlt und strebt nicht; es bedarf des richtigen Zusammenspiels. Aristoteles insistiert darauf, dass alles menschliche Handeln aus einem Zusammenspiel heterogener seelischer Momente, von Denken, Empfinden und Streben resultiert.511 Das Zusammenspiel kann gestört sein. Klassischer Fall der Störung ist der der Unbeherrschtheit bzw. Willensschwäche.512 Hier haben wir es nach Aristoteles mit dem Sachverhalt zu tun, dass das sittliche Urteil in gewisser Weise richtig ist und das Streben nicht gehorcht. Er löst das theoretische Problem mit einer Differenzierung der Wissenselemente, die in einem praktischen Syllogismus im Spiel sind und dem Gedanken, dass die von der Wahrnehmung der konkreten Situation ausgelöste affektive Regung eine korrekte Erfassung und Verbindung der Elemente konterkariert.513 Nun dürfte für Platon ebenso wie für Aristoteles die seelische Konfliktsituation und das bekannte Phänomen, dass man vom Guten wissen und gleichwohl das Schlechte tun kann, genau den Anlass zur Bildung der Theorie separater Seelenteile geboten haben. Seelischer Konflikt wurde mit ihr erklärbar als Kampf gleichzeitig agierender Strebungen und Meinungen, Willensschwäche als Sieg affektiver Regung über die Weisung der Vernunft.514 Der Stoa ist der Gedanke einer affektiven Regung, die von einer Meinung ausgelöst ist und gleichwohl unwillkürlich sein soll, ein Unding, ebenso wie die aristotelische Vorstellung eines (muthaften) Strebens, das zwar auf Vernunft hören kann, aber nicht selbst vernunftfähig ist. Sie denkt ‚holistisch‘. Für sie sind menschliches Denken, Fühlen und Streben Funktionen eines einheitlichen sprachfähigen Hegemonikon.515 Wesentlich ist darin die urteilende Stellungnahme des Menschen. Die stoische hormē wird nicht mehr in der Weise Platons und Aristoteles’ unterschieden in sinnliches Begehren (epithymia), muthaftes Streben (thymos) und reflektiertes Wollen (boulēsis), je nach dem Ziel (Lust und Angenehmes, Macht und Ehre, das Gute für den Menschen) und der Rolle der Vorstellung bzw. der Vernunft für das Streben: Jedes menschliche Streben ist ein zum Handeln drängender Impuls, der aus einem Akt der Zustimmung (synkatathesis) zu einem als gut bzw. schlecht qualifizierten Sachverhalt resultiert.516 Seelischer Konflikt und Willensschwäche lassen sich dann nicht mehr nach dem Modell des Kampfes verschiedener seelischer Ver508 509 510 511 512 513 514 515 516

vgl. Rhet. II, 2–11; De anima 427 b 21 f.; Ricken 1976, Kap IV und V. NE 1106 a 3; Rhet. 1378 a 20. vgl. NE 1102 b 27 ff.; 1104 b 24 ff.; 1106 b 18 ff.; 1151 b 34 ff. vgl. NE 1147 a 24 – b 19; Joachim 1951, 228 f. vgl. NE 1102 b 13 ff. u. NE Buch VII. NE 1145 21 – 1147 b 19 und Joachim 1951, 226 ff. vgl. Plutarch De virt. moral. 449 B. vgl. SVF II, 823 = Alexander v. Aphrodisias De anima libri mant. vgl. SVF III, 171 = Stobaeus Ecl. II, 88; SVF III, 177 = Plutarch Stoic. rep. 1057 A.

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IV Die stoische Ethik mögen und Kräfte mit ihren Zielen und, im Fall der Selbstbeherrschung als Sieg, im Fall der Willensschwäche als Niederlage der Vernunft gegenüber Nichtrationalem erklären. Die Stoa kennt nur eine schwache, schwankende, unstete und unstimmige oder eine starke, unerschütterliche und einstimmige Vernunft.517 Das platonischaristotelische Modell des Kampfes verschiedener seelischer Instanzen wird in der Stoa einerseits abgelöst vom Gedanken des Wechsels, des Umschlags, der Veränderung (tropē, metabolē, alloiōsis) der einen Instanz, des Hegemonikon. (Und für deren Zustand und ihre Akte sind wir verantwortlich.) Was für Platon und Aristoteles Zeichen einer Antagonie verschiedener Vermögen, ist für die Stoa Zeichen eines zeitlichen Nacheinanders, eines Wechsels der Perspektiven und Maßstäbe, einer Abfolge von widersprüchlichen Vorstellungen, gar Meinungen und Strebungen einer labilen leitenden Instanz, die so schnell sich vollziehen kann, dass sie dem Bewusstsein als Gleichzeitigkeit erscheint.518 Affekte sind denn auch für sie durch schwache, jederzeit der Veränderbarkeit ausgesetzte Annahmen (hypolēpsis asthenēs) gekennzeichnet.519 Willensschwäche und Unbeherrschtheit lassen sich jedoch andererseits (etwa im Fall der Euripideischen Medea) im Rahmen stoischer Psychologie auch so verstehen, dass die Person (in sich uneins) verschiedenen unvereinbaren Vorstellungen gleichzeitig zustimmt und die Zustimmung zur falschen sich als die stärkere, die handlungsbestimmende erweist.520 Die Tugend (und Affektfreiheit) des Weisen wird jedenfalls als mit sich übereinstimmender, fester und unwandelbarer Logos (mit völlig konsistenten Überzeugungen) definiert.521 In den Affekten sind wir in stoischer Sicht vorbehaltlos auf welthafte, schicksalsabhängige Güter und Übel bezogen. Ein solcher Bezug stürzt uns unausweichlich in seelische Verwirrung. Nur die Tugend, über die wir selbst verfügen, vermag Gelassenheit gegenüber schicksalsabhängigen Dingen und eine vollkommene Harmonie menschlichen Lebens zu gewähren.522 Wer, wie Aristoteles, zwar Tugend für das höchste, nicht aber das einzige Gute hält, wer welthaften Gütern zwar eine nachgeordnete doch unverzichtbare Rolle für menschliches Glück zugesteht, kann nicht einer Eliminierung, sondern nur einer Mäßigung menschlicher Affektivität durch Vernunft das Wort reden. Ob sein Konzept menschlicher Autarkie dann noch stimmig und tragfähig ist, muss aus stoischer Sicht mehr als zweifelhaft erscheinen.523

517 518 519 520 521 522

vgl. Plutarch De virt. mor. 441 C. SVF III, 459 = Plutarch De virt. mor. 446 F; vgl. Gosling 1987, 186–191. vgl. Stobaeus Ecl. II, 88 = SVF III, 378; LS 65 C; Vogt 2004a, 85–88. so mit plausiblen Argumenten Joyce 1995, 315–335. vgl. Plutarch De virt. mor. 441 C; LS 61 G, S-U. vgl. LS 60 K = Stob. Ecl. II, 58, 5–15; SVF III, 95; LS 60 E = Seneca Ep. 120, 3–11; LS 63 F = Seneca Ep. 92, 3. 523 vgl. Irwin 1998a, 151–192; Halbig 2004, 67.

4. Die Theorie der Affekte

4.3 Physisches Empfinden und Affekt Chrysipps Ansicht ist gut verbürgt, dass die menschliche Seele acht Funktionen hat (die fünf Sinne, die Stimmkraft, die Zeugungskraft und das hēgemonikon qua Logos), dass sie alle in der Einheit des Hegemonikon gründen, und dass das Hegemonikon in ihnen allen auf spezifische Weise fungiert.524 Zu unterscheiden ist dabei seine Wirksamkeit auf rein naturale von einer Wirksamkeit auf genuin menschliche Weise. Vegetative Prozesse geschehen in uns „von selbst“; unsere Sinne sind zu einem nicht unerheblichen Teil „von Natur“ tätig, ohne unsere Stellungnahme. So kann ‚Lust (hēdonē)‘ bzw. ‚Schmerz (lypē)‘ in stoischer Terminologie schlicht einen rein physischen Vorgang bzw. Zustand der Seele denotieren.525 Stobaeus referiert Chrysipps These, dass der Weise Schmerz empfinde, aber sich ob dieser Qual nicht quält, da er der Seele nicht nachgibt (elegen de ho Chrysippos algeîn men ton sophon, mē basanizesthai de. mē gar endidonai tê psychê).526 Cicero gebraucht die stoische Unterscheidung zwischen desiderium naturae und cupiditas.527 Die Stoa wollte also zwischen rein naturalen bzw. unwillkürlichen seelischen Zuständen und Vorgängen im Menschen und psychischen Zuständen und Bewegungen, die von der Zustimmung bzw. Einstellung der Person selbst abhängen, eine strikte Grenze ziehen.528 Von den (wahren) Philosophen sagt denn auch Seneca, „dass sie alles, was nötig ist erfreut und den Geist in ihrer Gewalt haben“.529 Plutarch hat diese Grenzziehung wohl nicht recht verstanden oder verstehen wollen und den Stoikern mit ihren Unterscheidungen bezüglich der rein physisch-unwillkürlichen und der frei-personalen Ebene sophistische Wortrabulistik und Flucht vor den Tatsachen vorgeworfen, wenn sie, wie er sagt, von ihren Tränen, ihrem Zittern, ihrem Erröten und Erbleichen überführt, statt von Schmerz (lypē) und Furcht (phobos) und Begierde (epithy­ mia) von Marter (dēgmos), Verwirrung (synthroēsis) und (naturalem) Verlangen (prothymia) sprechen.530 Natürlich empfindet auch der stoische Weise physischen Schmerz und physische Lust, hat Hunger und Durst, spürt Hitze, Wärme und Kälte, hat sexuellen Drang, wird zu Tränen gerührt und erbleicht vor Schrecken.531 Er hat sogenannte propatheiai, prärationale Reaktionen auf Eindrücke bzw., wie Seneca sich ausdrückt, bloße Schatten affektiver Regungen, die wie Narben an vorrationale Wunden erinnern.532 Die Stoa weigert sich jedoch, diese unwillkürlichen Phänomene einer wie auch immer gearteten Aktion oder Reaktion der Person zuzuschreiben. Es sind dies rein naturale Vorgänge und Zustände, und damit „Gleichgültiges 524 525 526 527 528 529 530 531

vgl. SVF II, 823–874; LS 53 F = SE AM VII, 234. vgl. SVF III, 70 = Stob. Ecl. II, 57; SVF III, 136 = Stob. Ecl. II, 80. SVF III, 574 = Flor. 7, 21. De fin. II, 27. vgl. Haynes 1962, 412–419; Long 1968a, 72–85. De benef. II, 18 = SVF III, 573. De virt. moral. 449 A. vgl. Seneca De ira 2.3.1 – 2.4 = LS 65 X; De ira 1.16.7 = SVF I, 215; Aulus Gellius 19.1.14–21 (= Epiktet fr. 9) = LS 65 Y. 532 vgl. Gosling 1987, 184–186.

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IV Die stoische Ethik (adiaphora)“ an ihr.533 Zu Faktoren des genuin menschlichen Fühlens, Strebens und Handelns werden sie erst dadurch, dass der Mensch sich zu ihnen verhält, dass er zu ihnen Stellung bezieht, dass er mit ihnen auf bestimmte Weise umgeht und sie damit (wie auch immer) in seine Person integriert. Als pathos bedeutet ‚lypē‘ also nicht physischer Schmerz, sondern (mentaler) Schmerz über etwas, ‚hēdonē‘ Vergnügen an etwas, ‚phobos‘ Furcht vor etwas und ‚epithymia‘ Begierde nach etwas, wobei das „etwas“, das (intentionale) Objekt des Affekts nicht als Ding bzw. Vorgang, sondern als Sachverhalt zu verstehen ist, der in Form eines Dass-Satzes zum Ausdruck gebracht werden kann, und zu dem die Person (auf falsche Weise) urteilend Stellung bezieht.

4.4 Die Klassifikation der Affekte und Gefühle Die Stoa suchte die Affekte systematisch zu ordnen. Als Gliederungsgesichtspunkte dienten ihr die Zeit und die Einschätzung des intentionalen Objekts als gut oder schlecht bzw. erwünscht oder unerwünscht.534 Die Gesichtspunkte ergaben eine grundlegende Vierteilung in Vergnügen (hēdonē/voluptas gestiens, laetitia) und Leiden (lypē/aegritudo), Begehren (epithymia/cupiditas vel libido) und Fürchten (pho­ bos/metus).535 Diesen generischen Affekten wurden die verschiedenen Arten definitorisch zugeordnet: Zorn (orgē) etwa als Begehren nach Rache an jemandem, der einem vermeintlich Unrecht zugefügt hat,536 Schadenfreude (epichairekakia) als Vergnügen am negativen Schicksal anderer,537 Scham (aischynē) als Furcht vor Ehrlosigkeit,538 Neid (phthonos) als Schmerz über die Güter anderer.539 Die uns überlieferten Listen der Untergliederungen der generischen Affekte in verschiedene Arten belegen den stoischen Eifer an detaillierter Klassifikation ebenso wie das große Interesse an genauer Differenzierung der Phänomene.540 Zudem wird durch sie die Gefühlsqualität der verschiedenen Affekte auf einigermaßen prägnante Weise namhaft gemacht.541 Die Stoa verwahrte sich mit Entschiedenheit dagegen, ihr Ideal der Apathie als Gefühllosigkeit auszulegen. Der stoische Weise ist affektfrei, aber nicht hartherzig (sklēros) und ohne Rührung (atengktos).542 Der Lehre von den falschen Gemütsre533 vgl. SVF III, 70 = Stobaeus Ecl. II, 57; DL VII, 102; SVF III, 136 = Stobaeus Ecl. II, 80. 534 vgl. dazu Vogt 2004a, 71–75. 535 vgl. SVF III, 385 = Cicero Tusc. III, 24; vgl. Tusc. IV, 14; SVF III, 386; 387; 388; SVF III, 391 = Andronicus Peri pathôn 1; LS 65 B; SVF III, 392; SVF III, 394 = Stobaeus Ecl. II, 90; SVF III, 395 = Stobaeus Ecl. II, 91. 536 SVF III, 396 = DL VII, 113; SVF III, 397 Andronicus Peri pathôn 4. 537 SVF III, 400 = DL VII, 114; SVF III, 402 = Stobaeus Ecl. II, 91; SVF III, 401 Andronicus Peri pathôn 5. 538 SVF III, 407 = DL VII, 112; SVF III, 408 = Stobaeus Ecl. II, 92. 539 SVF III, 412 = DL VII, 111; SVF III, 413 = Stobaeus Ecl. II, 92. 540 vgl. Vogt 2004, 75 f. 541 vgl. Buddensiek 2008, 84 f. 542 DL VII, 117; vgl. Seneca Ep. 71, 27; Epiktet Diss. III, 2. 4.

4. Die Theorie der Affekte gungen korrespondiert die Lehre von den richtigen und guten, den eupatheiai.543 Dabei gilt von den eupatheiai ebenso wie von den pathē: Es handelt sich nicht um etwas, was am bzw. mit dem Menschen geschieht, sondern um (verantwortliche) Bestimmungen seines Tuns. Dem generischen Affekt des widervernünftigen Begehrens (epithymia) entspricht die boulēsis, die als vernünftiges Streben (eulogos orexis) bestimmt ist.544 Ihm sind als Arten nach Diogenes Laertius und Andronicus Wohlwollen (eunoia), Güte und Entgegenkommen (eumeneia), Herzlichkeit (aspasmos) und Liebe (agapēsis) zugeordnet. Dem widervernünftigen Vergnügen (lypē) entspricht die vernünftige Form der Freude (chara). Unter sie fallen als Arten terpsis, die angemessene Freude über das für einen selbst Förderliche, euphrosynē, die Freude über die Taten des Besonnenen und euthymia, die Freude über die Führung und fraglose Güte des Alls. Der widervernünftigen Furcht (phobos) korrespondiert die vernünftige Vorsicht (eulabeia); sie hat als Arten die sittliche Scheu und Ehrfurcht (aidôs) und die Keuschheit (hagneia) unter sich.545 Für den affektiven seelischen Schmerz (lypē), der lebhaften, das Gemüt erschütternden und bedrückenden Überzeugung von der Gegenwart eines Übels, fehlt ein vernünftiges Pendant. Dies ist systematisch insofern konsequent, als die eupatheiai ja als seelische Regungen des Weisen, d. h. als seelische Begleit- bzw. Folgeerscheinungen (epigennēmata) der Tugend zu verstehen sind,546 und der Weise selbst sittlich vollkommen, den Wendungen des Schicksals gegenüber immun und somit gegenüber dem Weltverlauf allemal heiter-gelassenen Gemüts ist, weil er alle moralischen und außermoralischen Übel der Welt, die er nicht verhindern oder beseitigen kann, in der Vernunft der göttlichen Weltverwaltung aufgehoben weiß.547 Dies betrifft auch die schlechten Taten, die der Weise selbst begangen hat, ehe er weise wurde. Er kann sie nicht ungeschehen machen; er kennt keine ihn belastende Reue oder erschütternde Zerknirschung mehr.548 Systematisch schwieriger zu fassen sind dagegen Emotionen des Toren, die ihm seinen schlechten Zustand bewusst machen und ihn sich gezielt auf den Weg zur Tugend zu machen motivieren.549 Hier kann es sich jedenfalls nicht um falsche seelische Regungen und damit um das handeln, was die Stoa typischerweise unter einem Affekt verstanden wissen wollte. Doch auch eupatheiai sind sie nicht, da diese nur der Weise besitzt und besitzen kann. Irritierend mag sein, dass dem stoischen Weisen auch Mitleid (eleos), seelischer Schmerz und affektive Teilnahme am unverdienten Leid anderer fehlen.550 Gleichwohl ist zu bedenken, dass sein vernünftiges Streben, d. h. das Wohlwollen in seinen verschiedenen Ausprägungen gerade den Einsatz für den anderen „um des anderen 543 544 545 546 547 548 549 550

vgl. DL VII, 115–116 = SVF III, 431; LS 65 F. SVF III, 431; SVF III, 432 = Andronicus Peri pathôn 6. SVF III, 432; vgl. SVF III, 431. vgl. DL VII, 94; Stobaeus Ecl. II, 58. vgl. Cicero Tusc. IV, 14; IV, 64. vgl. Stobaeus Ecl. II, 102; 113; Epiktet Diss. II, 22, 35; Marc Aurel VI, 32; VIII, 10. vgl. Cicero Tusc. III, 77–78; Brennan 1998, 51 f. SVF III, 433 = Clemens v. Alex. Strom. II.

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IV Die stoische Ethik willen (eunoia = boulēsis agathôn [heterō]autoû heneka ekeinou)“ zum Inhalt und Ziel hat.551 Natürlich zielt das aktive Wohlwollen für den anderen primär auf dessen sittliches Wohl,552 doch sekundär wohl auch auf seine naturgemäßen Güter des Lebens in einer Weise, die dem reservierten Verfolgen indifferenter, aber vorzugswerter Dinge für sich selbst entspricht (der eklogē und apeklogē).553 Der Vorwurf der Inhumanität trifft das stoische Ideal nicht.

4.5 Poseidonios’ Revision der Lehre? Galen behauptet wiederholt, Poseidonius habe Chrysipps Psychologie (zugunsten der Platonisch-Aristotelischen) revidiert und seine Theorie der Affekte abgelehnt.554 Die Geschichtschreibung der Philosophie der Stoa ist seiner Ansicht lange Zeit weitgehend gefolgt.555 Erst neuerdings wird das von Galen vereinfacht gezeichnete Bild substanziell differenziert.556 Sicher ist aufgrund wörtlicher Zitate bei Galen, dass Poseidonios Chrysipps Psychologie und Handlungstheorie zugunsten Platonischer Aspekte modifizieren bzw. anders akzentuieren zu müssen glaubte. Er war daran interessiert, emotionalen Phänomenen sinnlichen und sinnlich-geistigen Lebens in ihrer ganzen Breite gerecht zu werden. Die Theorie der Affekte betrifft allerdings den Kern der stoischen Ethik. Hätte Poseidonios diese aufgegeben, könnte er kaum noch als Stoiker gegolten haben. Tatsächlich meint Diogenes Laertius,557 Poseidonios habe (ebenso wie Panaitios) Gesundheit und Wohlstand als veritable Güter (agatha) betrachtet und Tugend als unzureichend für menschliches Glück erklärt.558 Träfe dieser Bericht des Diogenes zu, wird kaum noch verständlich, warum Poseidonios inner- und außerschulisch einhellig als Stoiker galt. Senecas Zeugnis559 scheint deshalb entschieden glaubwürdiger, wonach Poseidonios Gesundheit und Wohlstand den vorzugswerten Adiaphora (den commoda)560 zugerechnet und diese Ansicht durch einen prägnanten Syllogismus gestützt habe: „Dinge, die weder Größe des Geistes noch Zuversicht noch Sicherheit gewähren, sind keine Güter. Reichtum aber und Gesundheit und ähnliches gewähren nichts von alledem. Also sind sie keine Güter“.561 Poseidonios hat wohl weder die Güterlehre Chrysipps noch dessen 551 vgl. SVF III, 432 Andronicus; vgl. McCabe 2005, 413–443. 552 anders Nussbaum 1994, 399. 553 vgl. SVF III, 119 = DL VII, 104; LS 58 B; SVF III, 190–196; Inwood 1985b, 175; Brennan 1998, 36; 54 ff.; Vogt 2004a, 76–80; Graver 2007, 173–190. 554 PHP (De Lacy) 4. 3.3; 4. 38; 5. 1.5–6; 6. 42; 7. 1.9; 8. 1.14. 555 vgl. v. a. Pohlenz 1898; Die Stoa 71992, I, 224–228. 556 Cooper 1998, 71–112; Gill 1998a, 113–148; Gill 2005a, 445–470; Graver 2007, 75–81; kritisch Sorabji 1998a, 149–170; Tieleman 2003, 198–287; Lorenz 2011, 189–211; Ranocchia 2012, 74–92. 557 DL VII, 103; 128. 558 vgl. dazu Kidd, Posidonios 1988, 638–641. 559 Ep. 87. 560 Ep. 87, 36. 561 Ep. 87, 35.

4. Die Theorie der Affekte Bestimmung des Affekts als solchen revidiert. Er interessierte sich für in seinen Augen offene Probleme der Chrysippschen Theorie, etwa für das Phänomen ungewollter Tränen, für emotive Rührung durch (wortlose) Musik, für die unterschiedliche Wirkung von Einbildungskraft und Verstand auf das Gemüt, für affektanaloge Gefühle und Impulse von Tieren und Kindern.562 Vor allem vermochte für ihn Chrysipp nicht zureichend zu erklären, wie die irrige Vernunft im Affekt sich selbst in eine exzessive Erregung bringt (und halten kann), derart, dass (selbst eigene) Gesichtspunkte rechter Vernunft gegen sie nichts auszurichten vermögen.563 Wie kann Vernunft etwas in sich selbst auslösen, was ihrer eigenen Kontrolle entgleitet? Nach Poseidonios nur so, dass sie sich im Affekt selbst mit der Energie vorrationaler Bewegungen (pathētikai kinēseis, bzw. kinēseis tou pathētikoû) verbindet564 und so eine ‚gewaltsame‘ Eigenbewegung erzeugt, in der Gesichtspunkte rechter Vernunft machtlos werden. Und für die pathētikai kinēseis bemühte Poseidonios das epithymētikon und thymoeides Platons als seelischer Quelle (ohne freilich von Seelenteilen zu sprechen; er insistierte vielmehr auf dem (an Aristoteles orientierten) Gebrauch von dynameis).565 Doch diese naturalen (und verführerischen, weil im Menschen täuschende Vorstellungen erzeugenden)566 emotiv-impulsiven Regungen, bezogen auf erregende Objekte (pathētikē holkē),567 sind keine widervernünftigen Gefühle und Strebungen der Person (hormai). Sie werden für ihn zu veritablen Affekten, zu handlungswirksamen Impulsen und Motiven nicht eigenmächtig und gegen die Vernunft (wie bei Platon und Aristoteles), sondern nur durch die Zustimmung der (schwachen, labilen) Vernunft in Form einer falschen Meinung,568 wobei mit Zustimmung eben nicht nur ein entschieden-bewusstes Urteil, sondern angesichts eines erregenden Eindrucks ein eher spontan-passiv-unartikuliertes ‚Nachgeben‘ (eikein bzw. endidonai) gemeint ist.569 Für Poseidonios zählt eben auch als Zustimmung, wenn eine Person sich einer gegebenen vorrationalen Regung bewusst ist und sich ihr nicht widersetzt.570 Durch sie lassen sich freilich Phänomene erklären, bei deren Behandlung Chrysipp noch Schwierigkeiten hatte. So mag der Affekt der Trauer schwinden, ohne dass das Urteil über den Verlust der Person sich ändert; dies eben deshalb, weil die Energie der mit dem Urteil verbundenen pathētikē kinēsis sich mit der Zeit erschöpft hat.571 Poseidonios wollte Chrysipps Theorie wohl nicht 562 vgl. PHP 4.7.37 = fr. 165 D EK; 5.6.20–22 = fr.168 EK; 4.7.35 = fr. 158 EK; 5.6.37–38 = fr.33 EK; 5.1.10 = fr. 159 EK. 563 PHP 4.3.4, De Lacy 248, 6–8; 5.6.13–39, De Lacy 328, 23 ff.; Cooper 1998, 81, 89. 564 PHP 5.5.26, De Lacy 322, 13–14 = fr. 153 EK; 5.5.21, De Lacy 320, 27–28; 4.7.28, De Lacy 286, 23–26; Cooper 1998, 106 Fn. 31. 565 vgl. F 146 EK. 566 PHP 5.5.19, De Lacy 320, 18–19. 567 PHP 5.5.21. 568 vgl. PHP 5.5.21, De Lacy 320, 23–28 Cooper 1998, 85–90, 107 f. Fn. 37; Gill 2005a, 459; vgl. Tielman 2003, 284; anders Sorabji 1998a, 155–160. 569 vgl. Galen, PHP 5.5.19–21; 4.6.2–9; vgl. dazu Lorenz 2011, 197–202. 570 Lorenz 2011, 192. 571 vgl. PHP 4.7.12–17 = LS 65 O; vgl. fr. 165 EK, Kidd, Posidonios 1988, 598–607; Sorabji 1998, 155; Gill 2005a, 446 f.

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IV Die stoische Ethik revidieren, sondern differenzieren bzw. ergänzen und dadurch plausibler und verteidigbarer machen.572 Ja, ihm lag vermutlich daran, die stoische Theorie in gewisser Weise als Vollendung der platonischen Tradition zu erweisen.573 Durch seine (verstärkte) Integration platonischer Aspekte menschlicher Psychologie in die stoische wird der Gedanke der (durchdachten und geplanten,) auf Gewöhnung basierenden Bildung der nicht- und vorrationalen Seite des Menschen (durch die passende Umgebung, durch Diät, durch Leibesübung, durch geeignete Musik, durch bildhafte Prämeditation etc.) mit dem Ziel der Prävention (proendēmeîn) und Heilung (thera­ peuein; iasis) von Affekten gestärkt. Philosophische Aufklärung und verstandesmäßige Meditation sind essenziell; doch sie allein genügen nicht.574 Umstritten ist, ob Poseidonios vorrationalen emotiven Regungen (pathētikai kinēseis), über Gewöhnungsprozesse ins rechte Maß gebracht, auch im Leben eines Weisen einen Platz und eine Funktion einräumte,575 oder ob er sie nur noch den (einigermaßen erfolgreich) zur Tugend Strebenden zugesprochen, sie im Grunde also abgetötet wissen wollte.576 Die Argumente, die Lorenz für seine Position ins Feld führt,577 dürften überwiegen. Nach Ian Kidd578 hat Poseidonios den Gedanken einer Prädisposition bzw. Neigung (euemptōsia, eukataphoria, proclivitas) zu Affekten und Laster in die stoische Psychologie eingeführt; er verdanke sich seiner (platonisierenden) Reform der stoischen Psychologie; als Belegquelle dient ihm Galen.579 In Poseidonios’ Sinn sei er dann bei Cicero,580 Diogenes Laertius581 und Stobaeus582 in die doxographische Tradition gelangt. Tatsächlich lässt sich eine differenzierte Analogisierung von leiblicher und seelischer Gesundheit, Labilität und Krankheit auf Chrysipp,583 möglicherweise bei Ariston von Chios bis auf die stoische Gründergeneration zurückführen.584 Aus dieser differenzierten Analogie resultieren wichtige Unterscheidungen, die die Struktur und Genese von Affektivität betreffen: Zum einen wird die (ererbte) Natur (natura) und/oder der (durch vorherrschende Sitten bzw. Erziehung) geformte Charakter (mores) für eine Prädisposition zu Affekten verantwortlich gemacht;585 zum anderen wird die bloße Prädisposition vom einzelnen (ein falsches situationsbezogenes Werturteil enthaltenden) Affekt und vom fest eingewurzelten 572 vgl. Gill 1998a, 126 f.; Tieleman 2003,198–287; Gill 2005a, 457; zurückhaltend Graver 2007, 76. 573 vgl. Tieleman 2003, 285. 574 PHP 5.5.22–29, De Lacy 322, 3–26; 5.6.22, De Lacy 330, 20–21; Gill 1998a, 128; vgl. Tieleman 2003, 196 f.; Lorenz 2011, 202–211. 575 so Lorenz 2011, 208–211. 576 so Cooper 1999, 476–479. 577 unter Berufung auf PHP 5.5.34 f. und 5.6.4 f. 578 1983, 107–113. 579 PHP V 2, 432–5 = F 163 EK; PHP IV 5, 31 = F 164 EK. 580 Tusc. IV, 27–28 = SVF III, 423 z. Teil; Tusc. IV, 81. 581 DL VII, 115 = SVF III, 422. 582 Ecl. II, 93.1 W = SVF III, 421. 583 vgl. Cicero Tusc. IV, 23. 584 vgl. Seneca De benef. IV, 27; Ep. 94, 13 = SVF I, 359; Ranocchia 2012, 86–90. 585 vgl. Seneca De benef. IV, 27.

5. Die stoische Theorie des Politischen (allemal schuldhaften) Laster abgegrenzt. Entsprechend differenziert hat auch die Vorsorge bzw. Therapie anzusetzen. Dem Zeugnis von Galen ist zu entnehmen, dass Poseidonios gegenüber Chrysipp die strikte Analogie leiblicher und seelischer Gesundheit relativiert und im Fall der Nichtweisen (phaûloi) eine stärkere Differenzierung der Sachverhalte der Nähe und Entfernung zur Tugend bzw. absoluten seelischen ‚Gesundheit‘ berücksichtigt sehen möchte. Seneca586 macht denn auch die Unterschiede namhaft zwischen einem Menschen vollendeter Weisheit, einem Menschen, der ihr schon recht nahe ist, einem anderen, der nach schwerer und langer (seelischer) Krankheit sich erholt hat, doch der Gefahr des Rückfalls ausgesetzt ist, einem Menschen in der Mitte zwischen Fortschritt und Absturz, und einem ganz unerfahrenen und grobschlächtigen, der ohne Ende ins Nichts stürzt. Ob Seneca hier auf bereits altstoische Gedanken oder auf Poseidonios zurückgreift, ist unklar. In Ep. 94, 13 jedenfalls dürfte er sich auf eine Unterscheidung Aristons beziehen, wenn denn der Abschnitt 94, 2–17 auf Gedanken des hier am Anfang und Ende genannten Ariston zurückgeht.587 Hier ist von zwei Ursachen der Verfehlung die Rede; zum einen von der durch falsche Überzeugungen hervorgerufenen seelischen Schlechtigkeit (malitia), zum anderen von einer Seele, die noch nicht von falschen Überzeugungen besetzt ist, aber zu solchen neigt (ad falsa proclivis) und rasch durch die Verführung einer ungebührlichen Vorstellung verdorben wird. Vieles spricht also dafür, dass bezüglich des Gedankens der Prädisposition eine lange schulische Kontinuität besteht und Galen im Unrecht ist, wenn er versucht, die differenzierende, keineswegs substanzielle Kritik des Poseidonios an Chrysipps Verwertung der Analogie für einen tiefgehenden psychologischen Dissens der beiden Stoiker in Anspruch zu nehmen.

5. Die stoische Theorie des Politischen Auf keinem Gebiet der (alt)stoischen Philosophie macht sich der Verlust der Originalschriften so nachteilig bemerkbar wie auf dem Gebiet des Politischen. Die noch vorhandenen Testimonien und Fragmente sind ungewöhnlich spärlich, thematisch äußerst selektiv, erheblich durch Polemik und Ideologie vermittelt und uneindeutig. Die Rekonstruktion der Grundzüge der politischen Philosophie der Stoa ist dementsprechend schwierig und in der Forschung umstritten. Dies betrifft die Gedanken als solche, es betrifft ihre Gewichtung und Einordnung in das gesamte theoretische System und ihre Verortung im Kontext der politischen Verhältnisse und historischen Ereignisse. Die Epoche des Hellenismus war eine Zeit beträchtlicher sozialer und politischer Veränderungen in der griechisch sprechenden Welt. Die meisten Quellen entstammen der Zeit politischer Prädominanz Roms. Es möchte sein, dass die ‚Logik‘ der philosophischen Gedanken nicht für sich, sondern nur vor dem Hintergrund ihres historischen Kontexts einigermaßen verständlich wird. Die politi586 Ep. 72, 6–11. 587 vgl. Ranocchia 2012, 86–90.

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IV Die stoische Ethik sche Theorie der leitenden Vertreter der Schule hat dem Anschein nach sich von der Zeit des dritten bis zum ausgehenden ersten vorchristlichen Jahrhundert nicht unwesentlich verändert. Im zweiten vorchristlichen Jahrhundert, unter Diogenes von Babylon, vor allem aber unter Panaitios von Rhodos wendet sich der Blick der stoischen Philosophie nach Rom. Was als „paradoxe“ Theorie des gesellschaftlich Natürlichen und Vollkommenen und radikale Kritik des Bestehenden im vorherrschenden Blick auf griechische Verhältnisse beginnt, scheint, wie manche meinen, mit einer theoretischen Stützung der römisch-republikanischen imperialen Ordnung zu enden.588 Als sicher jedenfalls kann dies gelten, dass Zenon, Kleanthes und Chrysipp die klassische politische Philosophie im Sinne Platons und Aristoteles’ verabschieden und die Grundlagen legen für eine Theorie des natürlichen Gesetzes und natürlicherweise Rechten, an der alle konkreten politisch-gesellschaftlichen Ordnungen sollten gemessen werden.589 Dabei hat das natürliche Gesetz auf der Basis der stoischen theologisch imprägnierten Naturphilosophie von Anfang an eine zweifache Funktion: Es begründet die Ordnung der Natur, und es dient, als or­ thos logos/recta ratio menschlichem Verhalten zur Norm.590

5.1 Zenons Politeia: Die Gemeinschaft von Weisen Der Schulgründer Zenon hat eine Schrift mit dem Titel Politeia verfasst, die in der Antike innerhalb und außerhalb der Schule mit großer Beachtung, manchem Lob und viel verschämter bis empörter Kritik bedacht wurde und in den wenigen uns überkommenen Informationen über ihren Inhalt noch heute manches Rätsel aufgibt. Der Epikureer Philodem und nicht nur er bezeichnen sie als scham- und pietätlos.591 Dabei steht Zenons Politeia nicht isoliert da. Kleanthes und Chrysipp haben ganz offensichtlich ähnliche Gedanken wie Zenon vertreten.592 Ja, Chrysipp scheint mit seiner gleichnamigen Schrift Peri Politeias Zenons Gedanken argumentativ gestützt zu haben.593 Spätere Stoiker versuchten, sich von diesem in der philosophischen Auseinandersetzung zum Teil als anstößig bezeichneten und empfundenen Erbe mit verschiedenen Strategien zu distanzieren.594 Philodem595 und Diogenes Laertius stellen Zenons Politeia als Frühwerk dar, in dem der Autor noch ganz unter kynischem Einfluss stand. „Für eine gewisse Zeit hörte er Krates; und als er damals seine Politeia geschrieben hatte, sagten einige im Scherz, er habe sie auf dem Schwanz des Hundes geschrieben“.596 In Diogenes Laer588 589 590 591 592 593 594 595 596

vgl. dazu v. a. Erskine 1990. vgl. dazu v. a. Schofield 1991. vgl. Mitsis 1994a 4812–4850; Kullmann 2010, 38–51. De Stoicis col. XI, 10–11; col. XIV, 23–24 Dorandi. vgl. Philodem De Stoicis col. XV, 6 Dorandi; DL VII, 33; 131; SE PH III, 192–194; 199– 200; 246–248; LS 67G; Plutarch Stoic. rep. 1044 F – 1054 A = LS 67F; SVF III, 753. vgl. DL VII, 131; 121; 188; SE AM XI, 192; PH III, 246. vgl. DL VII, 34; Erskine 10 ff. De Stoicis col. IX, 1–6 Dorandi. DL VII, 4.

5. Die stoische Theorie des Politischen tius’ Doxographie steht die stoische Philosophie bzw. Ethik genealogisch in unmittelbarer und enger Beziehung zum Kynismus.597 Dass die frühe Stoa auch kynische Gedanken aufnahm, ist unbestreitbar, von ihr selbst zugestanden, und in der Forschung hinreichend gewürdigt.598 Doch die Qualifikation der Politeia als Frühwerk ebenso wie die Betonung größter philosophischer Nähe zum Kynismus entspringen wohl apologetischem oder polemischem Interesse späterer inner- und außerschulischer Darstellung.599 Ungleich mehr spricht für die These, dass die Schrift eine eigenständige und, ob frühe oder reife, jedenfalls der (alt)stoischen, konsequent rationalistischen Philosophie konforme Antwort auf Platon ist.600 Seine Entstehung verdankt sich möglicherweise der kritischen Auseinandersetzung mit dem skeptischen Akademiker Arkesilaos.601 Selbst die scherzhafte Wendung vom „Schwanz des Hundes (kynos oura)“ lässt sich als (vielleicht gezieltes) doxographisches Missverständnis verstehen. Mit ‚kynosoura‘ könnte ursprünglich nicht die kynische Herkunft, sondern das Sternbild des Kleinen Bären gemeint gewesen sein, das im Unterschied zum Großen Bären am nächtlichen Himmel zwar weniger hell erscheint, doch aufgrund seiner Bewegung eine genauere Navigation ermöglicht.602 Das Bild würde anfänglich dann eine positive Würdigung der Schrift beinhalten. Immerhin finden sich noch bei Plutarch durchaus anerkennende Prädikate für Zenons politiktheoretisches Werk.603 Als gesichert kann gelten, dass es sich bei dieser Schrift um eine spekulative Theorie über die Form der weder zeitlich noch örtlich fixierten politischen Gemeinschaft von Weisen gehandelt hat.604 Methodisch hat Zenon hier offensichtlich von allem abstrahiert, was unter Menschen in bloßer Konvention gründet.605 Als alleiniger Maßstab sollte gelten, was dem „gemeinsamen Gesetz der Natur“ bzw. „rechter Vernunft des Weisen“ entspricht. Die Theorie beschrieb wohl, wie das Leben eines Weisen unter Weisen (im Kosmos) aussieht und im Verbund mit Zeus und den Göttern die wahre Polis im Sinne einer veritablen Bürgergemeinschaft konstituiert. Die Welt, so der Gedanke, ist Wohnstätte von Göttern und Menschen und wird von einem gemeinsamen Gesetz rechter Vernunft regiert. Vor dem Hintergrund der ‚Dogmen‘ der pantheistischen Kosmologie, insbesondere der stoischen Theologie lässt sich dann sagen, dass der Kosmos als Polis für Zenon (Kleanthes und Chrysipp) keine bloße Utopie darstellt, sondern realiter existiert, und dies unabhängig davon, ob es de facto (auch) weise Menschen gibt oder was Menschen überhaupt einrichten, tun 597 vgl. dazu Mansfeld 1986, 295–382, v. a. 317–351. 598 vgl. DL VII, 121; 131; 188; SE AM XI, 192 = PH III, 246; Plutarch Stoic. rep. 1044B-E; Schofield 2000, 445; Goulet-Cazé 2003. 599 anders Vander Waerdt 1994b, 279. 600 vgl. Plutarch Stoic. rep. 1034 E = SVF I, 260; Numenius ap. Eusebius praep. ev. 14. 732c; Rowe 2002, 293–308. 601 vgl. Erskine 1990, 15; SE PH III, 198–294. 602 vgl. Arat Phainomena 36 ff., Bees 2011, 8 ff.; anders Mansfeld 1986, 321: „no doubt an obscene joke“. 603 vgl. De virt. Alex. 329 A-B; In Lyc. 31; Quaest. conv. 653 E. 604 vgl. Baldry 1959, 6–8. 605 vgl. Plutarch De virt. Alex. 329 A-B; Cicero, Rep. 3. 33.

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IV Die stoische Ethik und lassen.606 Doch die Theorie enthält Aussagen über den weisen Menschen als Bürger einer kosmischen Gemeinschaft. So gesehen weist sie natürlich auch idealutopische Züge auf. Und insofern das Erreichen des Zustands der Weisheit das Ziel menschlichen Bemühens ist, besaß die Theorie wohl ganz wesentlich auch Aspekte, aus denen sich für Nichtweise, die zur Weisheit streben, also für die ‚gewöhnlichen‘ Menschen praktische Empfehlungen und Anforderungen ergeben. Letzteres kann immerhin für den Fall als gesichert gelten, dass Plutarch die Hauptsache (to kepha­ laion) der Schrift korrekt erfasst und referiert: „Die vielbewunderte Politeia Zenons . . . richtet sich hauptsächlich auf dieses eine aus, dass wir nicht gemäß Poleis und Gemeinden wohnen, alle durch das je eigene Rechte (idiois dikaiois) getrennt, sondern dass wir alle Menschen für Gemeindemitglieder (dēmotas) und Bürger (poli­ tas) halten (hēgōmetha), damit eine Lebensweise und eine Ordnung sei, wie die einer Herde, die durch ein gemeinsames Gesetz zusammen weidet und sich nährt.“607 Plutarchs Identifikation der ‚Hauptsache‘ schließt eng an die soziale Dimension der stoischen Oikeiosislehre an.608 Hier wäre denn ein erster theoretischer Ansatz der später ausdifferenzierten Lehre vom (praktischen) natürlichen Gesetz bzw. Naturrecht fassbar. Ob Zenon zudem auch über eine ‚vernünftige‘ politische Verfassung nichtweiser Menschen bzw. über das Verhalten von Weisen in einer Gesellschaft von Nichtweisen geschrieben hat, ist unklar. Plutarch jedenfalls referiert, Zenon habe „über Verfassung und das Beherrschtwerden und das Herrschen und das Recht sprechen (di­ kazein) und (geschickte) Reden (rhētoreuein)“ gehandelt.609 Rechtsprechung hätte in einem Staat von Weisen keinen Platz, da keine Vergehen vorkommen, es keine Konflikte zu lösen gibt und deshalb auch keine Gerichte vorgesehen sind. Ähnlich ergäbe eine Anweisung zu geschicktem Reden unter Weisen, die ohnehin gut sind im Reden und sich gegenseitig, falls sie sich begegnen, bestens verstehen, wenig Sinn. Sie hätte allenfalls der effektiven Unterweisung Heranwachsender zu dienen. Man hat versucht, für die alte und mittlere Stoa eine gestufte Entwicklung zu zeichnen, die sich von Zenons exklusiver Stadt der Weisen über Chrysipps Konzeption des Kosmos als politischer Gemeinschaft von Göttern und weisen Menschen bis zu Panaitios/Ciceros natürlichem Gesetz für Götter und alle Menschen erstreckt.610 Doch es spricht wohl Gewichtiges dafür, dass bereits Zenons Politeia diese drei Aspekte aufwies,611 die dann im Verlauf der Schulgeschichte schrittweise und mit unterschiedlicher Akzentuierung ausdifferenziert wurden. Der theoretische Gedanke, dass nur Weise, bzw. nur Götter und weise Menschen als (im emphatischen Sinn) Bürger im Kosmos eine wahre Polis konstituieren, schließt ja den unsere Praxis bestimmenden Gedanken nicht aus, dass wir alle Menschen, weil sie vernunftfä­ 606 vgl. Vogt, 2008a, 67. 607 De virt. Alex. 329 A-B = SVF I, 262 = LS 67 A; kritisch allerdings zu dieser Quelle Schofield 1991, 104–111. 608 vgl. Cicero De fin. III, 62–71; LS 57 G; Vogt 2008a, 71 f.; 99–110. 609 Stoic. rep. 1033 B = SVF I, 262. 610 vgl. Vander Waerdt 1994b, 276; Obbink 1999, 178. 611 vgl. Vogt 2008a, 86–110.

5. Die stoische Theorie des Politischen hig und damit mit uns ‚verwandt‘ sind, so zu sehen und zu behandeln haben, als wären sie, unter der Herrschaft der Götter, unsere (im Normalsinn des Wortes) Mitbürger in einer einzigen allumfassenden Polis.612 Das wichtigste Zeugnis, das wir zum Inhalt von Zenons Politeia besitzen, bietet Diogenes Laertius. Es referiert die wesentlichen Punkte, zwar aus der Perspektive von Gegnern, unter anderen von einem gewissen Skeptiker Cassius, doch (anders als beim Epikureer Philodem) ohne ersichtliche polemische Verzerrung.613 Als erstes lege Zenon dar, dass das offizielle Bildungsprogramm (die enkyklios paideia) unbrauchbar sei. Eine Begründung für diese kritische Stellungnahme fehlt. Doch kann man sich denken, dass Zenon in diesem Programm die in seinen Augen richtige Zielvorstellung vermisste, und dass sich für ihn aus der richtigen Zielvorstellung andere, vom eingespielten Programm abweichende Schwerpunkte für den vernünftigen Bildungsprozess ergeben mussten. Chrysipp jedenfalls hält die enkyklia mathēmata unter der Bedingung richtiger Zielvorstellung später für sinnvoll.614 Zweitens sage Zenon, alle, die nicht sittlich tüchtig seien (pantas tous mē spouda­ ious) seien einander persönliche Feinde (echthrous), öffentliche Feinde (polemious), Sklaven (doulous) und Fremde (allotrious), auch Eltern gegenüber den Kindern, Brüder gegenüber Brüdern, Verwandte gegenüber Verwandten. Dieser zweite Punkt manifestiert eine gravierende, ja provozierende Umprägung üblicher Vorstellungen und Begriffe. So wird etwa alles unter den Begriff der Sklaverei subsumiert, was nicht im Sinne sittlicher Selbsttätigkeit (autopragia) vollzogen wird und werden kann.615 Chrysipp hat denn auch ein eigenes Werk über Zenons Umprägungen verfasst.616 Der Punkt liefert die richtige Zielvorstellung des Bildungsprogramms nach und macht klar, worin Zenon die Substanz seiner idealen politischen Gemeinschaft begründet sehen will: in der Tugend, in der sittlichen Exzellenz seiner Menschen. Wo immer diese nicht bzw. noch nicht vorhanden ist, ist das aktuelle Potenzial für Fremdheit und Entfremdung, Unterdrückung, Herrschaft, Knechtschaft und Feindschaft der Menschen gegeben. Dieses Potenzial nimmt ab, je näher die Menschen der Tugend kommen; es gibt nach einem Zeugnis Chrysipps Grade der Entfremdung und Feindschaft ebenso wie es Grade der Annäherung üblicher Freundschaft an wahre Freundschaft gibt.617 Der dritte Punkt verdeutlicht den zweiten und bestimmt, wer in Zenons Politeia tatsächlich Bürger (politēs) ist: Er stelle als Bürger, Freunde, Verwandte und Freie nur die sittlich Tüchtigen hin, sodass den Stoikern die Eltern und Kinder (füreinander) Feinde seien; „denn sie sind (ja) nicht weise (ou gar eisi sophoi)“. Nun war in einer griechischen Polisgemeinschaft die Zahl der Bürger allemal begrenzt und gegenüber der Gesamtzahl der (erwachsenen) Mitglieder und Bewohner eine Minderheit. In der Forschung sind die Meinungen geteilt, ob Zenons ideale 612 613 614 615 616 617

kritisch hierzu Clark 1987, 63–80. DL VII, 32–33 = LS 67B; vgl. Schofield 1991, 3–21. vgl. DL VII, 129 = SVF III, 738. vgl. DL VII, 121 f. = SVF III, 355. DL VII, 122 = LS 67M. vgl. Plutarch Stoic. rep. 13, 1039 B = SVF III, 724.

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IV Die stoische Ethik Politeia auch Nichtweise, und das sind de facto so gut wie alle Menschen, zwar nicht als Bürger, wohl aber als Mitglieder und Bewohner vorgesehen hat.618 Tatsächlich scheint ein Zeugnis von Arius Didymus diese Meinung zu stützen. Es referiert summarisch als altstoische Lehre: „Man sagt, der Kosmos sei sowohl die Wohnstätte (to oikētērion) von Göttern und Menschen . . . als auch das Gefüge (to systēma) der Dinge, die ihretwegen geworden sind. Denn wie man auf zweifache Weise von einer Polis spricht, im Sinne der Wohnstätte und im Sinne des Gefüges aus den Bewohnern im Verein mit den Bürgern, so ist auch der Kosmos gleichsam wie eine Polis (hoionei polis), bestehend aus Göttern und Menschen, wobei die Götter die Führung innehaben, die Menschen aber die Untergebenen (hypotetagmenōn) sind. Es bestehe aber eine Gemeinschaft untereinander (koinōnia pros allēlous) wegen der Teilhabe an Vernunft, die von Natur Gesetz ist.“619 Das Zeugnis passt zu dem, was Plutarch als ‚Hauptsache‘ von Zenons Schrift bekundet. Es formuliert in praktischer Absicht die Situation und Perspektive des Nichtweisen, des den Göttern Untergebenen, der alle Menschen aufgrund der elementaren Gemeinsamkeit in der Vernunftfähigkeit so sehen und behandeln soll, als gehörten sie alle einer Polis an, und als seien sie, wie es ja in der Tat nach dem gemeinsamen Gesetz der Vernunft der Fall ist, alle aufgerufen, auf den Erhalt, die Eintracht, die Gerechtigkeit und Freiheit dieser Polis hinzuwirken. Der Schwerpunkt des Zeugnisses liegt hier nicht auf dem Sein, sondern dem Sollen. Andererseits sprechen jedoch gewichtige Zeugnisse dafür,620 dass Zenons Politeia auch und primär Aspekte einer idealen Gemeinschaft beschreibt, die nur aus (männlichen ebenso wie weiblichen) Weisen besteht, dies allerdings im Verein mit einer nachwachsenden Generation, die erst (mit Hilfe des Eros) zur Weisheit herangeführt wird. Der vierte Punkt des Diogenes-Referats betrifft denn auch den Ausschluss wichtiger Institutionen: Er lege fest, dass die Frauen gemeinsam seien, und dass in den Städten weder Heiligtümer noch Gerichte noch Gymnasien gebaut würden. Gerichte sind, wie oben bereits gesagt, aus ersichtlichen Gründen in einer Gesellschaft von Weisen überflüssig. Für die Frauengemeinschaft reicht Diogenes Laertius an späterer Stelle621 die begründende Zielvorstellung nach: „Wir werden alle Kinder auf gleiche väterliche Weise lieben, und die durch Ehebruch bedingte Eifersucht wird beseitigt werden.“ Offensichtlich möchte Zenon in seiner Polis von Weisen alle durch exklusive Besitz- und Verfügungsansprüche gezogenen Grenzen zwischen den Bürgern aufgehoben wissen. Führen sie doch erfahrungsgemäß zu Konkurrenz und Streit, zum Streben nach Vorrang, zu Ressentiment, Missgunst, Eifersucht und Neid. Möglicherweise soll es die Institution des Eigentums überhaupt nicht geben. Nach Athenaios622 habe Zenon in der Politeia gesagt, dass der Eros ein Gott sei, der als Helfer (synergos) da sei zur Erhaltung und dem Wohlergehen (pros tēn sōtērian) der Stadt. Denn er habe Eros als einen Gott aufgefasst, der zu Freundschaft 618 619 620 621 622

so mit Nachdruck Vogt 2008a, 10 ff.; 65–110; dagegen Clark 1987. bei Eusebius Praep. evang. 15.15.3–5 = SVF II, 528 part. = LS 67 L. wie gerade DL VII, 32–33. DL VII, 131. XIII, 561c = SVF I, 263 = LS 67D.

5. Die stoische Theorie des Politischen (philia), Freiheit (eleutheria) und Einmütigkeit (homonoia) zurüste, und zu nichts anderem. Freunde, so der wohl leitende Gedanke, lieben den anderen wie sich selbst; Freunde sehen im anderen ein alter ego;623 sie stützen und nützen einander; ihnen ist alles gemeinsam.624 Sie schätzen sich in ihrer Tugend gegenseitig als Freie und Gleiche; sie instrumentalisieren den anderen nicht;625 sie konkurrieren nicht; sie sind in den Fragen des Lebens im Wissen vom Guten eines (gemeinschaftlichen) Sinnes.626 Dies dürfte auch erklären, warum Zenon für seine Poleis keine Gymnasien vorsieht. In den (meist prunkvoll ausgestatteten) Gymnasien wird dem Körperkult gefrönt. Hier wird um Gestalt, Kraft und Schönheit konkurriert und gebuhlt. Dies trägt nicht zur Bildung von genereller Freundschaft und zur Eintracht im Gemeinwesen bei. Was die Tempel und Götterbilder betrifft, so berichtet Clemens von Alexandreia von Äußerungen Zenons in seiner Politeia:627 Es handle sich um das Werk von Baumeistern und Handwerkern, also um etwas, was nicht sonderlich wertvoll oder gar heilig sei (ouden de polloû axion kai hagion). Kein solches Werk sei in Wahrheit der Götter würdig.628 Und Stobaeus berichtet, Zenon habe gesagt, man müsse die Städte nicht mit Weihegeschenken schmücken, sondern mit den Tugenden der Bewohner.629 Gott, so der leitende, in stoischen Quellen vielfach bezeugte Gedanke, wird nicht mit Dingen, sondern durch den Geist der Bürger geehrt. Tugend allein ist wahrhaft wertvoll und gottgefällig. In der Tugend vollendet sich das Göttliche in uns; in ihr kommt der Mensch den Göttern nahe und gleich. In seinem Gemeinwesen, so das Referat bei Diogenes Laertius weiter, habe Zenon auch die Institution des Geldes für überflüssig erklärt; es sei weder für den Handel noch für das Reisen nötig. Wahre Freunde brauchen und benützen kein Geld für die Übermittlung bzw. den Tausch von Gütern. Sie überlassen einander, was sie erübrigen können und was der andere braucht oder mag. Zenons Politeia ist offensichtlich im Sinne einer Gemeinschaftsordnung als weltumspannend (in vielen Poleis verwirklicht) gedacht.630 Ist der Weise (einer Polis) auf Reisen, begegnet er (in einer anderen Polis) nur Weisen. Und Weise sind einander freund; als tugendhafte schätzen und lieben sie sich (nicht der Lust oder des selbstbezogenen Nutzens wegen, sondern) um ihrer selbst willen.631 Dem entspricht, dass Chrysipp nach einem Hinweis bei Philodem632 in seiner Schrift Peri poleōs kai nomou, dem Kyniker Diogenes 623 SVF I, 324, DL VII, 23. 624 vgl. Stobaeus Ecl. II, 93.19–94.6; Ecl. II, 95.3 W = SVF III, 94; SVF III, 625 und 626; DL VII, 124 = LS 67P = SVF III, 631. 625 vgl. DL VII, 130. 626 vgl. Stob. Ecl. II, 108. 15–18; SVF III, 625; Stob. Ecl. II, 74. 3 = SVF III, 112; Banateanu 2001, 39–44; 155–182. 627 Strom. 5.11.76.1 = SVF I, 264. 628 vgl. dazu weitere Zeugnisse bei Plutarch und Theodoret SVF I, 264. 629 Ecl. IV, p. 27. 12 ff. H = SVF I, 266. 630 vgl. den Plural DL VII, 33: en taîs polesin; anders Schofield 1991, 105 ff. 631 vgl. Banateanu 2001, 48 ff.; 82. 632 De Stoicis col.XV, 6.

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IV Die stoische Ethik von Sinope zustimmend, auch von der Nutzlosigkeit der Waffen gesprochen habe. Man braucht sie nicht mehr, wenn die Bürger aller Poleis weise sind. Der letzte Punkt des Diogenes-Referats bezieht sich auf die Kleidung: Männer und Frauen sollen die gleiche Kleidung tragen; und kein noch so kleiner Teil des Körpers soll den Blicken grundsätzlich entzogen sein. Gedacht ist wohl daran, dass durch die Kleidung keine soziale Ungleichheit der Geschlechter signalisiert, dass Kleidung vielmehr allein nach ihrer Schutz- und Hilfsfunktion benützt wird, und dass sie keinerlei Tabuisierung von Körperpartien, insbesondere etwa der Sexualorgane zu dienen hat. Die frühen Stoiker waren der Überzeugung, dass Frauen genauso wie Männer zur Tugend befähigt sind. Kleanthes hat eine Schrift darüber verfasst, dass die Tugend bei Männern und Frauen die gleiche ist.633 In der idealen Politeia ist die soziale und politische Gleichstellung der Geschlechter verwirklicht.634 Und Zenon ebenso wie Chrysipp haben in ihrer Politeia offensichtlich einen nicht durch Konventionen und Tabus ‚verzerrten‘, einen ‚unverdorbenen‘ Natur- und Vernunftzustand sexueller Beziehungen der Menschen ins Auge gefasst. Diogenes Laertius notiert, dass nach Zenon und Chrysipp die Frauengemeinschaft unter den Weisen darauf hinauslaufe, dass beliebig bzw. zufällig sich Begegnende sich sexuell zu Diensten sind (hōste ton entychonta tê entychousē chrêsthai),635 natürlich, nach allem bisher Gesagten unter Weisen in Freiheit und gegenseitigem Einverständnis.636 Dabei spielen weder Inzestschranken noch Verbote homosexueller Praktiken eine Rolle.637 Zenon vermochte in der Geschichte von Ödipus und Iokaste denn auch nichts Tragisches und Schreckliches zu sehen: „Wenn sie am Leib (an einer Stelle) erkrankt war und er ihr durch Reiben mit den Händen half, war daran nichts schändlich. Wenn er sie aber an einem anderen Teil rieb, dadurch, ihren Schmerz beseitigend, erfreute, und mit der Mutter wohlgeborene Kinder erzeugte, was war daran schändlich?“638 Chrysipp hat Zenons Ansichten ausdrücklich zugestimmt: „Es scheint mir richtig, dies so zu handhaben, wie es auch jetzt noch bei vielen nicht schlechte Sitte ist: dass die Mutter mit dem Sohn Kinder zeugt, der Vater mit der Tochter und der Bruder mit der Schwester“.639 Ja, selbst in der Jugenderziehung soll nach Zenon freie Sexualität herrschen: „Sie sollen nicht mehr und nicht weniger mit einem jugendlichen Geliebten oder Nicht-Geliebten, einem Mädchen oder Jungen schlafen; denn es ist nichts anderes bei Geliebten oder Nicht-Geliebten, bei Mädchen oder Jungen; denn dasselbe geziemt sich und ist ziemlich.“640 Ganz anders dann, allerdings generell auf die Stoa bezogen, Cicero.641 633 vgl. DL VII, 175; Philodem De pietate col. V, 8–11 Obbink; Laktanz Divinae institutio­ nes III, 25. 634 vgl. Schofield 1991, 43 f. 635 DL VII, 131. 636 vgl. SE AM XI, 190; DL VII, 130. 637 vgl. SE AM XI, 190–192, PH III, 245–246; Philodem De Stoicis col. XVIII, 7 Dorandi. 638 SE AM XI, 191; PH III, 246. 639 SE AM XI, 192; PH III, 246. 640 SE PH III, 245, AM XI, 190. 641 De fin. III, 68.

5. Die stoische Theorie des Politischen Zenons Sprache war in diesen Dingen recht unverblümt, direkter und offener jedenfalls als selbst für Wohlmeinende goutierbar. So erklärt bei Plutarch in den Qaestiones convivales ein Sprecher:642 „Ich meinerseits, beim Hunde, hätte mir gewünscht, Zenon hätte seine Bemerkungen über das ‚Oberschenkel-Spreizen (diamērismos)‘ im spielerischen Zusammenhang eines Symposion-Textes niedergelegt und nicht in einem so ernsthaften Werk wie der Politeia.“ Doch die frühen Stoiker waren, wie Cicero bemerkt, darauf bedacht, ganz unverbogen „jede Sache mit ihrem Namen anzusprechen“.643 Chrysipps Texte waren da nicht minder unverblümt als jene Zenons. Mehr noch: Auch er stellt offen und provokativ die Selbstverständlichkeit gesellschaftlich elementarer sittlicher Konventionen, Riten und Verbotsnormen in Frage. Plutarch berichtet, in seinen Ermunterungen erkläre er, dass Beischlaf mit Müttern, Töchtern oder Schwestern, der Verzehr bestimmter Speisen, und der Gang zum Tempel unmittelbar vom Kindbett oder der Totenbare zu Unrecht diskreditiert seien.644 Ähnlich soll er Diogenes den Kyniker für sein öffentliches Masturbieren gelobt haben.645 Besonders empörend dürften für viele seine Aussagen über die Bestattung der Angehörigen und den Verzehr von Menschenfleisch gewesen sein. Sextus zitiert aus Chrysipps ‚Peri dikaiosynēs‘: „Wenn von Lebenden ein Teil amputiert wird, der zur Nahrung geeignet ist, dann sollen wir ihn nicht begraben oder auf andere Weise beseitigen, sondern verzehren, so dass aus unseren Teilen ein anderer Teil entsteht“; und aus seiner Schrift Peri toû kathēkontos: „Wenn die Eltern gestorben sind, ist das einfachste Begräbnis anzuwenden, so als bedeutete der Körper wie die Nägel oder Zähne oder Haare nichts für uns und als müßten wir derartigem keine Aufmerksamkeit und besondere Sorgfalt widmen. Deshalb wird man auch, wenn das Fleisch zum Verzehr geeignet ist, es benützen, so wie es auch gebührte, die eigenen Teile, etwa einen abgetrennten Fuß und dergleichen zu verwenden“.646 Nach Plutarch erklärte Chrysipp in diesem Zusammenhang, man sollte auf die Tiere schauen und aus ihrem Verhalten schließen, dass nichts von dieser Art abwegig und unnatürlich sei.647 Es verwundert deshalb keineswegs, wenn philosophische Gegner Zenon und Chrysipp vorwarfen, sie würden mit ihren Entwürfen eine Rückkehr aus der Zivilisation in einen tierähnlichen Urzustand und die Lebensweise von Hunden propagieren.648 Oder wenn christliche Autoren vermuteten, Zenon und seine Anhänger hätte ein böser Geist und wilder Dämon befallen, da sie in ihren Schriften über Staat und Gesetze die Grundlagen der Sittlichkeit bekämpften und die Ordnung der Natur verdrehten.649

642 643 644 645 646 647 648 649

653E = SVF I, 252. Ad fam. IX, 22 = SVF III, 77. Stoic. rep. 1044F-1045 A = LS 67F; SVF III, 753. Stoic. rep. 1044B = SVF III, 706. PH III, 247 = LS 67G. Stoic. rep. 1044F-1045 A = LS 67F; SVF III, 753. vgl. Philodem De Stoicis XVIII, 7 und XXI, 8 Dorandi. Joh. Chrysostomus Homilia in Mathaeum I.4, Bees 2011, 339 f.

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IV Die stoische Ethik Nun wusste man innerhalb der Schule selbst, dass die als anstößig empfundenen Aussagen zu Missverständnissen Anlass geben konnten. Clemens von Alexandrien berichtet, ‚die Stoiker‘ erklärten, Zenon, der Gründer der Schule, habe manches geschrieben, was sie nicht leicht den Schülern zur Lektüre anvertrauen, wenn sie nicht zuvor den Beleg erbracht hätten, dass sie in Wahrheit zu philosophieren verstünden (ei gnēsiōs philosophoîen).650 Zenons Politeia muss also methodisch, inhaltlich und funktional ein Werk gewesen sein, das man nach der Überzeugung der Schule nur als fortgeschrittener Philosoph, näherhin als theoretisch ausgebildeter und charakterlich gefestigter Stoiker adäquat verstehen konnte. Die Gefahr von Missverständnissen resultierte vermutlich daraus, dass nicht ohne Weiteres ersichtlich war, welche praktischen Konsequenzen sich für Nichtweise aus dem Bild der Gemeinschaft der Weisen ergaben. Zentral waren in Zenons Schrift zweifellos die idealen Vorstellungen von Freundschaft (philia), Freiheit (eleutheria) und Einmütigkeit (homo­ noia). Und eine wesentliche Rolle spielte der Gott Eros als Helfer der (ohne gesetzlichen Zwang erfolgenden) Realisierung dieser Ziele.651 Zweifellos setzte Zenon auf intensive erotische, d. h. für ihn freundschaftliche Beziehungen zwischen den Bürgern seiner idealen Gemeinschaft.652 Ob dasselbe auch für die Sexualität gilt, ist mehr als fraglich. Die vertrauenswürdigen Zeugnisse laufen sämtlich auf den Gedanken hinaus, dass Sexualität als solche als ein Adiaphoron anzusehen ist und zum Glück nichts beiträgt.653 Zudem vertraten die Stoiker, bei aller fehlenden Leibfeindschaft, einen ausgesprochen herben Umgang mit leiblichen Bedürfnissen654 und erklärten, dass die Bürger der idealen Politeia „nichts um der Lust willen täten“.655 Vom Gott Eros wird gesagt, er wirke mit zur Freundschaft, Freiheit und Einmütigkeit, „und zu nichts anderem (allou d’ oudenos)“.656 Diogenes Laertius referiert die explizite Aussage von Zenon in der Politeia, von Chrysipp im ersten Buch der Schrift Über Lebensformen und von Apollodor in dessen Ethik, „der Weise würde ein Liebhaber der jungen Leute sein (erasthēsesthai), die ihrer Erscheinung nach eine gute natürliche Veranlagung zur Tugend bekunden“.657 Die stoische Erotik ist völlig affektfrei. Sie ist natürlich an leibliche Attraktion, aber durch sie auch und vor allem an sittliche Schönheit und Tugend gebunden.658 Nach (alt)stoischer Lehre ist der Charakter eines Menschen sinnlich wahrnehmbar.659 Ganz offensichtlich stand Sexualität in Zenons Politeia unter dem Gebot der Vergeistigung bzw. der ausschließlichen Erziehung der Jugend zur Tugend. Die Berichte von Philodem über all die 650 651 652 653 654 655 656 657 658 659

Strom. 5.9.58.2 = SVF I, 43. vgl. dazu v. a. Boys-Stones 1998, 168–174. vgl. Babut 1963, 55–63; Schofield 1991, 22–56; Vogt 2008a, 148–160. SE PH I, 160; III, 200; Origenes Contra Celsum IV, 5. vgl. DL VII, 117 = SVF III, 637; Stobaeus Ecl. II, 114, 22 W = SVF III, 638; Clemens Strom. VII, 7 = SVF III, 639. Plutarch Stoic. rep. 1044B = SVF III, 706. Athenaios XIII, 561c = SVF I, 263; vgl. DL VII, 130. DL VII, 129 = SVF I, 248; vgl. Plutarch Comm. not. 1073B. vgl. Plutarch Comm. not. 1073C; Stobaeus Ecl. II, 66, 11–13. vgl. DL VII, 173.

5. Die stoische Theorie des Politischen „Schändlichkeiten“, die die alten Stoiker lehrten,660 weisen manifeste Anzeichen verzerrender Polemik auf. Ähnliches gilt für die Aussagen zum Verzehr von Menschenfleisch und zu anderen Verbotsnormen, deren Nichtbeachtung als besonders schrecklich und schändlich galt. Worauf es Zenon und seinen Nachfolgern ankam, war ersichtlich der Nachweis, dass es sich bei der deskriptiv fassbaren Sache selbst, bei der Sexualität, beim toten menschlichen Leib und seinen Teilen und dessen Begräbnis oder Verzehr, bei Geburtsvorgang und Sterbeprozess und dem nachfolgenden Gang in ein von Menschen errichtetes ‚heiliges‘ Gebäude etc. um schlichte Adiaphora handelt, um Dinge, die für sich genommen neutral sind, die erst im Rahmen menschlicher Einstellungen und von ihnen geleiteter Praxis ihre sittliche Qualifikation erhalten. Wenn Chrysipp in der Gemeinschaft der Weisen essbare tote Teile von uns zum Verzehr empfohlen haben soll, derart, „dass aus unseren Teilen ein anderer Teil entsteht (hopōs ek tôn hēmeterōn heteron meros genētai)“,661 so könnten dem vielleicht Vorstellungen vom Kreislauf des Lebens und Gedanken der Oikeiosis zugrunde gelegen haben: Der eigene Leib, der von Angehörigen, ja der von Menschen steht uns näher als Tiere und Pflanzen und Anorganisches; und dies wird auf die Nahrung übertragen, durch die Menschen sich regenerieren.662 Doch davon bleibt unberührt, dass es sich bei der Nahrung selbst ebenso wie bei der Sexualität um ein Adiaphoron handelt,663 das ein Weiser (und nur er treffsicher) in allen Lebenslagen in rechter Gesinnung und Weise zu gebrauchen versteht. Auf der anderen Seite sieht ein Weiser im Blick auf bestehende Institutionen wie Gerichte, Tempel und Kulte, Gymnasien, kurrikulare Erziehung, Ehe, Kleidung etc., dass sie das nicht sind und leisten, wofür man sie gemeinhin hält, und was sie im Blick auf das sittlich Gute und das Lebensziel zu sein und zu leisten vorgeben.664 Für Zenon sind die bestehenden politischen Gesellschaften sämtlich mehr oder weniger verdorben. Er entwirft eine ideale Gemeinschaftsordnung von Weisen. Dies unterscheidet ihn, bei aller Adaption einzelner Motive665 vom Kynismus. Dieser bleibt im Grunde bei der provozierenden Kritik des Bestehenden stehen. Der Protokyniker Diogenes versteht sich als kritischer Einzelner inmitten einer als korrupt, dekadent und lächerlich empfundenen Gesellschaft.666 Für Zenon und seine Nachfolger ist der Mensch dagegen wesentlich ein Gesellschafts- und Gemeinschaftswesen. Der sittlich Tüchtige wird nicht in innerer oder äußerer Distanz zur Gemeinschaft leben, da wir von Natur auf Gemeinschaft und Praxis ausgerichtet sind (koinōnikos gar physei kai praktikos).667 Den Weisen ist denn auch alles gemeinsam;

660 661 662 663 664 665 666 667

vgl. v. a. De Stoicis col. XVIII-XXI Dorandi. PH III, 247 = LS 67G. so Bees 2011 passim. vgl. SE PH III, 199–200 = SVF I, 585. vgl. Vogt 2008a, 61. vgl. Schofield 1991, 3–21. vgl. DL VI, 85; Erskine 1990, 27 ff. DL VII, 123 = SVF III, 628; vgl. Banateanu 2001, 125–153.

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IV Die stoische Ethik sie sind in Freundschaft verbunden; sie nützen sich gegenseitig;668 und dies ist, im Sinne der sympatheia und des Zusammenhangs von allem mit allem im Kosmos durchaus auch physisch gedacht. Vor Zenon hatte Platon eine ‚ideale Polis in Gedanken‘669 entwickelt, um den Begriff der Gerechtigkeit zu klären. Nach dem Zeugnis Plutarchs hat Zenon sich kritisch mit Platons Politeia auseinandergesetzt, ja gegen sie angeschrieben (ante­ grapse).670 Seine Vorstellung von ‚natürlicher‘ Gerechtigkeit grenzte sich offensichtlich in wesentlichen Teilen von derjenigen Platons ab. In Zenons Politeia dominieren die Gesichtspunkte der (freundschaftlichen) Gleichheit, Freiheit und Einmütigkeit. Prinzipiell steht allen Menschen der Weg zur Tugend offen. In seiner idealen politischen Gemeinschaft gibt es denn auch, im Gegensatz zu Platon, keine Klassen und kein durch geistige und charakterliche Überlegenheit und durch herrschaftlichen Zwang oder Gewalt oder Täuschung gesichertes Zusammenspiel der sozialen Schichten und Kräfte. Zenons Weiser lässt sich ohnehin, anders als der zur Rückkehr in die Höhle genötigte Philosoph bei Platon,671 zu nichts zwingen.672 Wie er sich das ideale Wirtschaften (vielleicht im Sinne eines durchdringenden Kommunismus) vorstellte, ist schwer zu sagen. Jedenfalls ist die Institution des Geldes nicht vorgesehen. Und exklusive Eigentumsansprüche sind nicht nur, wie bei Platon, für die herrschende Schicht aufgehoben. Das Leben und Zusammenleben der Weisen wird von (stoischen) Grundsätzen geleitet, die jeder in Freiheit auf die konkrete Situation umzusetzen versteht. Ein komplexes System von Gesetzen, Vorschriften, Kontrollen und Sanktionen, wie Platon es in der Politeia und den Nomoi (als Ersatz für die fehlende Weisheit der Einzelnen) entwickelt, ist damit obsolet. Ein solches, das weiß auch Platon, vermag ohnehin nicht jeder menschlichen Handlungssituation gerecht zu werden. Zenons Vorstellung vom Erfassen und Befolgen des natürlicherweise Rechten folgt eher einem dispositionalen Modell, der Vorstellung von (situationsbezogener) Weisheit und Tugend des Einzelnen, nicht so sehr dem Modell der Befolgung von Regeln.673 Das System der Bedürfnisse entspricht den natürlichen Vorgaben; es gibt kein Verlangen nach Eitlem und Überflüssigem. Im äußeren Verhältnis der Poleis ist das Freund-Feind-Verhältnis beseitigt; für Militär und Waffen besteht demnach kein Bedarf. Zenon hat in seiner Politeia ganz offensichtlich eine universale Gemeinschaft der Menschen vor Augen, die frei von Egoismen, von sich widersprechenden Interessen, von jeder Zwietracht und jedem Konfliktpotenzial ist. Er war wohl der Meinung, dass dieses Ziel auch, auf eine einzelne Polis beschränkt, Platons Politeia vorschwebt,674 aber mit dessen theoretischen Vorschlägen verfehlt wird, dass es vielmehr eines Zustands bedarf, in der alle Menschen weise sind und mit rechter Vernunft dem gemeinsamen Gesetz der Natur bzw. 668 669 670 671 672 673 674

Stobaeus Ecl. II, 7 p. 101, 21 W = SVF III, 626; DL VII, 24 = SVF III, 631. Politeia 592a-b; 472d. Stoic. rep. 1034E = SVF I, 260. Politeia 499b-c; 500d; 519c-520e. SVF I, 218 Philon. vgl. Vander Waerdt 1994b, 287. vgl. Schofield 1991, 25 f.

5. Die stoische Theorie des Politischen Vernunft folgen. Ob Zenons Politeia im Stil noch der politischen Philosophie von Platons Politeia ähnlich war und eine Antwort auf den Sokrates der Politeia im (spartanischen) Geiste Lykurgs darstellte,675 ist fraglich. Die Hinweise auf den Universalismus ihres Inhalts, vor allem die Aufnahme kynischer Motive sprechen für eine weit größere Distanz. Chrysipps Kosmopolis dürfte denn auch ganz auf der Linie von Zenons politischer Gemeinschaft der Weisen gelegen haben. Doch haben Zenon und Chrysipp mit einer derartigen Vision nicht ihrerseits die Dimension des Politischen, das allemal die Bedingungen seiner Verwirklichung mitreflektiert, gänzlich verfehlt? Nach Philodem676 erklärte Zenon am Beginn der Schrift, er habe in ihr das Zuträgliche für die Orte, an denen er sich aufhielt, und die Zeiten, in denen er lebte, dargelegt. Dem setzt Philodem entgegen, er habe mit unmöglichen Prämissen (adynatoi hypotheseis) für nicht existente Menschen gearbeitet und die existenten übergangen. Tatsächlich dürfte es sich, wie Plutarch es formuliert, unter realpolitischem Gesichtspunkt um so etwas wie die Nachbildung eines Traums oder Schattenbilds einer philosophisch wohlgeordneten Verfassung (hōsper onar ē eidōlon eunomias philosophou kai politeias anatypōsamenos)677 gehandelt haben, um eine literarische Philosophenutopie, der jeder Bezug zu bestehenden Verhältnissen zu fehlen schien. Worin sollte dann ihr Nutzen bestehen? Nicht jedenfalls darin, als orientierendes Vorbild und Muster für unmittelbar anzugehende praktisch-politische Reformen in einzelnen Poleis zu dienen.678 Wohl aber vermutlich darin, im idealen Bild die realen Verhältnisse kritisch zu spiegeln und den Anspruch bestehender Gesetze, Sitten und Konventionen darauf, evidentermaßen richtig und gerecht zu sein, moralisch zu unterlaufen. Stellte sie doch gerade theoretisch auch das in Frage, was in der Praxis (aus konventionellen Gründen) ausnahmslos als ganz besonders schändlich, abstoßend und abscheulich galt. Vielleicht ist Zenons Botschaft in seiner Politeia, wie Schofield meint,679 als direkte Aufforderung (an sich und seine philosophischen Schüler, an die zur Weisheit Strebenden) zu verstehen: Macht, mit euren eigenen Freunden, eure eigene Polis, wann und wo immer ihr lebt! Jedenfalls enthielt sie auch, was Plutarch für die Hauptsache hielt, in kosmopolitischer Sprache für alle Nichtweisen universalistische ethische Maximen von beachtlicher politischer Tragweite. Sie enthielt neben dem Bild der einzig wahren politischen Gemeinschaft von Weisen auch die Aufforderung an alle Nichtweisen, obgleich sie de facto verschiedenen politischen Gemeinschaften mit unterschiedlichem Recht und Gesetz angehören, die sie nach innen und außen mehr Sklaven und Feinde als Freie und Freunde sein lassen, sich als Bürger einer einzigen universalen Polis unter dem gemeinsamen Gesetz rechter Vernunft zu betrachten und entsprechend zu handeln. Die Zeugnisse geben indes wenig Auskunft darüber, was diese Aufforderung für die Praxis konkret zu bedeuten hat. Spätere Stoiker, vor allem Panaitios (und in seinem Gefolge Cicero) haben auf ihre Weise an diesen Aspekt der 675 676 677 678 679

so Schofield 1991, 56; 94;104. De Stoicis col. XII, 2 Dorandi. De virt. Alex. 329B = SVF I, 262. vgl. Cicero De legibus III, 14; Pohlenz 71992, I, 137. 2002, 313 ff.

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IV Die stoische Ethik Theorie angeknüpft und bestehende Verhältnisse unter universalistisch-naturrechtlichen Gesichtspunkten zu würdigen versucht. Zenon und seine Nachfolger propagierten jedenfalls nicht, im Sinne radikaler kultureller Revisionisten und gesellschaftlicher Revolutionäre, in den bestehenden Poleis die Abschaffung allen Privateigentums, die Beseitigung jeglicher Kultpraxis, die Rückkehr zum verabscheuten Kannibalismus, die Pflege des enttabuisierten Inzests etc. Dies wäre absurd gewesen. Und dies bestätigte ihnen, auf seine Weise, auch der skeptische Gegner: „Von solcher Art ist das meiste, was die (sc. stoischen) Philosophen sagen. Dieses würden sie nicht in die Praxis umzusetzen wagen, wenn sie nicht im Staat der Kyklopen oder Laistrygonen lebten. Wenn sie aber ganz und gar nicht in der Lage sind, dies zu tun, wenn vielmehr das, was sie tun, mit dem gemein ist, was ‚die normalen Leute‘ tun, dann gibt es keine spezifische Leistung derer, von denen angenommen wird, sie verfügten über die Kunst zu leben“.680 Der Skeptiker meint also, es gebe die von den Stoikern behauptete Lebenskunst (hē peri ton bion technē) überhaupt nicht. Dies erweise sich gerade darin, dass ihre paradoxen Thesen keinerlei Früchte in ihren Taten bekunden. Angesichts dessen, dass die Sitten und Gesetze der verschiedenen Staaten und Zeiten derart divergierten, und angesichts dessen, dass sich für alles, was wir tun (gleichgewichtige) Gründe dafür und dagegen finden ließen, sei höchst zweifelhaft, dass es das von Natur Gute und Schlechte gebe, bzw. dass es, wenn es dies gäbe, von uns erkennbar sei. Wer sich im Besitz des Richtigen wähnt, fürchte dessen Verlust; wer eifrig nach ihm trachtet, sei in schmerzlicher Unruhe. Der Dogmatiker verwirke so allemal das seelische Gleichgewicht, das er sucht.681 Der Skeptiker enthalte sich deshalb (nach genauer Prüfung alternativer Gesichtspunkte) des Urteils darüber, was von Natur gut oder schlecht oder überhaupt zu tun und zu unterlassen sei. Vielmehr folge er undogmatisch der üblichen Lebenspraxis (tê biōtikē tērēsei)682 und erfahre so das von allen erstrebte Ziel seelischer Ruhe. Nun folgt freilich der Stoiker gleichfalls (in vielem) der üblichen Lebenspraxis. Er behauptet indes dagegen, das Rechte (to dikaion) sei von Natur und nicht Ergebnis bloßer Konvention.683 Und er behauptet, der Erwerb der Lebenskunst, ein allemal sicheres Wissen von dem, was von Natur gut und schlecht zu tun und zu lassen ist, sei dem Menschen trotz aller Divergenz und Problematik realer sittlicher Verhältnisse (hē tosautē anōmalia tôn pragmatōn)684 grundsätzlich möglich. Und er behauptet, es sei möglich, auch unter mehr oder weniger korrupten Lebensverhältnissen richtig zu entscheiden, was unter normalen Umständen zu tun angemessen ist (kathêkon aneu peristaseōs) und was es unter außergewöhnlichen Umständen zu tun gilt (kathêkon peristatikon).685 Die Figur des Weisen und der Traum einer politischen Gemeinschaft von Weisen dienen offensichtlich dazu, genau dieser Möglich680 681 682 683 684 685

SE PH III, 249. vgl. SE PH I, 26–27. SE PH III, 235. DL VII, 128. SE PH III, 235. vgl. DL VII, 109; SE AM XI, 66.

5. Die stoische Theorie des Politischen keit in idealtypischer Form maßstäblichen Ausdruck zu verleihen: Der Weise wird, wie ein Skeptiker, in vielem das gesellschaftlich Übliche tun, wenn er es, rebus sic stantibus, zu tun für richtig findet. Doch er wird, wie ein Kyniker, auch etwas gemeinhin als schändlich Geltendes tun, wenn die außergewöhnliche Situation es erfordert, weil hier die Gründe für das Befolgen des Üblichen nicht mehr greifen. Er weiß stets um das Situationsgerechte; er weiß, was jeweils zu tun angebracht ist. Eben dies verdeutlicht ein Passus bei Diogenes Laertius: „Der Weise wird, wenn ihn nicht etwas daran hindert, einen aktiven Part in der Polis spielen, wie Chrysipp im ersten Buch Über Lebensformen sagt. Denn er wird Schlechtes zurückdrängen und zur Tugend anspornen. Und er wird heiraten, wie Zenon in der Politeia sagt, und Kinder zeugen. Ferner wird der Weise keine (bloße) Meinung vertreten, d. h. er wird nichts Falschem zustimmen; und sich an die Kyniker halten (kynieîn); denn der Kynismus sei der kurze Weg zur Tugend, wie Apollodor in der Ethik sagt; er wird denn auch Menschenfleisch essen, wenn die Umstände es erfordern“.686 Und was für den stoischen Weisen gilt, dürfte auch als Orientierung und Aufforderung für den zur Weisheit Strebenden (den prokoptōn) gelten und gedacht sein. Es spricht vieles dafür, dass die pointierte Auflistung und Überlieferung von Thesen provozierender ‚Schändlichkeiten‘, die Zenon und Chrysipp vertraten,687 die vielfach an paradoxen bzw. monströsen Beispielen orientierte agonale Diskussionspraxis mit den Skeptikern spiegeln, in der die Stoa die Lebenskunst des Weisen gegen die Skepsis verteidigte;688 eines Weisen, der unter allen möglichen, eben auch unter extremen Umständen weiß, was zu tun passend ist; und der sich, als Weiser, natürlich vom Tun des situativ Richtigen auch dann nicht abbringen lässt, wenn dies konventionell als skandalös empfunden wird. Und es spricht auch vieles dafür, dass die harten Angriffe auf die ‚unmoralisch-kynischen‘ Aspekte ‚früher‘ stoischer Ethik und Politik ursprünglich von epikureischer Seite geführt wurden, die sich damit publikumswirksam für die scharfe stoische Kritik an Epikur rächten.689 Doch es wäre sicher abwegig, von dem aus, was die Stoiker in extremen Umständen möglicherweise zu tun für passend hielten, die Leitgedanken stoischer Lebenskunst sowie die normativen Schwerpunkte und den wesentlichen Inhalt des altstoischen Konzepts einer idealen Ordnung politischer Gemeinschaft zu rekonstruieren.690

686 DL VII, 121; ähnlich Origenes Contra Celsum IV, 45 = SVF III, 743; vgl. Cicero De fin. III, 68; Stobaeus Ecl. II, 94, 13–15; vgl. v. a. Vander Waerdt 1994b, 300 ff. 687 vgl. DL VII, 32–34; 187–189; SE AM XI, 188–196; PH III, 243–249. 688 vgl. dazu Tsouna 2016, 161–208. 689 vgl. Mansfeld 1986, 347 f. 690 vgl. dazu Vogt 2008b, 8; 29; 37 ff.; Schofield 1991, 3–21; Vander Waerdt 1994b, 286; anders Bees 2011.

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IV Die stoische Ethik

5.2 Das gemeinsame Gesetz: Die Bürgerschaft von Göttern und Menschen Der Kyniker Diogenes verstand sich als kosmopolitēs;691 für ihn war die Gesellschaftsordnung im Kosmos die einzig wahre (monēn te orthēn politeian eînai tēn en kosmō).692 Zenon nahm auf seine Weise den kynischen ‚Kosmopolitismus‘ in seinen ‚Traum‘ von der Gemeinschaft der Weisen auf. Die wohl von Chrysipp entwickelte klassische stoische Lehre von der kosmischen als der einzig wahren Polis dürfte als eine konsequente Entfaltung von Zenons Entwurf zu verstehen sein. In ihr ist die traditionsreiche Theorie des natürlichen Gesetzes (lex naturalis) und des natürlichen Rechts (ius naturale) angelegt.693 Der Kyniker Diogenes hielt nichts von den menschlichen Konventionen und alles vom Naturgemäßen (ta kata physin).694 Er soll auch überzeugt gewesen sein, dass ohne Gesetz kein Bürgersein möglich ist, dass man ein Bürger nur in einer Stadt sein kann, und dass der Nutzen und das ‚feine‘ (im Unterschied zum chaotisch-wilden) Leben mit dem Gesetz und dem gesetzestreuen Dasein in einer Polis einhergeht.695 Ja, er hat offensichtlich sein Selbstverständnis als gesetzestreuer Bürger der kosmischen Stadt auch mit dem Gedanken der Herrschaft der Götter und der Freundschaft mit den Göttern gestützt und daraus so etwas wie den Gebrauchsanspruch auf alles und die ‚Gütergemeinschaft‘ der Weisen abgeleitet: „Alles gehört den Göttern; die Götter sind den Weisen freund; die Dinge der Freunde sind ihnen gemein; den Freunden also gehört alles“.696 Die stoische Theorie reflektiert die kynischen kosmopolitischen Motive. Ciceros Sprecher erklärt in De natura deorum II die stoische Theologie und referiert zum einen, „dass die Welt und alle Teile der Welt durch die Vorsehung der Götter sowohl anfänglich eingerichtet worden seien als auch alle Zeit verwaltet werden“.697 Er erklärt zum anderen, dass die Welt und alles in ihr um der Lebewesen willen, die das Beste in ihr, d. h. die Vernunft besitzen, also um der Götter und Menschen willen ‚geschaffen‘ sei.698 Und er erklärt schließlich „Die Welt ist nämlich gewissermaßen das gemeinsame Haus von Göttern und Menschen oder die Stadt von beiden; sie allein nämlich leben, die Vernunft gebrauchend, nach Recht und Gesetz“.699 Ciceros Darlegung findet ihre Parallele bei Arius Didymus:700 „Die Welt werde auch die Wohnstätte (oikētērion) von Göttern und Menschen genannt und das Ordnungsgebilde (systēma) aus Göttern und Menschen und der Dinge, die ihretwegen entstanden sind. Denn so, wie man in zweifacher Bedeutung von ‚Polis‘ spricht, im Sinne 691 692 693 694 695 696 697 698 699 700

DL VI, 63. DL VI, 72. vgl. Mitsis 1994a; Brown, E. 2009a, 331–363; Kullmann 2010, 38–51. DL VI, 71. DL VI, 72. DL VI, 72. ND II, 75. ND II, 133. ND II, 154. in Eusebius Praep. ev. XV, 15 = LS 67 L.

5. Die stoische Theorie des Politischen der Wohnstätte und im Sinne des Ordnungsgebildes, das aus den Bewohnern zusammen mit den Bürgern besteht, so ist auch der Kosmos gleichsam eine Polis, bestehend aus Göttern und Menschen, wobei die Götter die Leitung innehaben, die Menschen untergeordnet sind. Es bestehe aber eine Gemeinschaft miteinander aufgrund ihrer Teilhabe an Vernunft, die von Natur Gesetz ist. Alles andere aber ist ihretwegen entstanden.“ Die in Schritten geordnete, prägnanteste Argumentation für den Gedanken einer gemeinsamen Bürgerschaft (civitas) von Göttern und Menschen unter dem Gesetz rechter Vernunft bietet Cicero in De legibus I, 23: „Was aber, ich möchte nicht sagen nur im Menschen, sondern im ganzen Himmel und auf Erden ist göttlicher als die Vernunft (ratio)? Sie wird, wenn sie erwachsen und vollendet ist, zurecht Weisheit (sapientia) genannt. Es besteht demnach, da nichts besser ist als die Vernunft und sie sowohl im Menschen als auch in Gott ist, eine primäre Vernunftgemeinschaft des Menschen mit Gott (est igitur . . . prima homini cum deo rationis societas). Die aber, die die Vernunft gemeinsam haben, haben auch die rechte Vernunft (recta ratio) gemeinsam. Da diese Gesetz (lex) ist, müssen wir annehmen, dass die Menschen auch durch das Gesetz mit den Göttern verbunden sind. Bei denen ferner eine Gemeinschaft des Gesetzes besteht, unter denen besteht auch eine Gemeinschaft des Rechts (ius). Die aber, denen diese Dinge gemeinsam sind, sind auch für Mitglieder einundderselben Bürgerschaft (civitatis eiusdem) zu halten . . . So ist diese eine umfassende Welt für eine gemeinsame Bürgerschaft von Göttern und Menschen zu erachten.“ Rechte Vernunft sagt uns, was gut und schlecht ist und was wir tun und lassen sollen.701 Sie ist identisch mit dem Gesetz.702 Von diesem soll Chrysipp in der Einleitung seines Buches Peri nomou in feierlicher Programmatik gesagt haben: „Das Gesetz ist König aller menschlichen und göttlichen Dinge; es muss Vorsteher sein des sittlich Schönen und Hässlichen und Herrscher und Führer und demgemäß Richtschnur für das Rechte und Unrechte und Gebieter für die von Natur ‚politischen‘ Lebewesen, was sie zu tun, und Verbieter, was sie zu lassen haben“.703 Wir Menschen sind nach stoischer Auffassung Wesen, die von Natur auf Gemeinschaft ausgerichtet sind (koinōnikon).704 Die rechte Vernunft konstituiert unter vernunftfähigen und von Natur auf Gemeinschaft ausgerichteten Wesen veritable Gemeinschaft. Sie ist die maßstäbliche Quelle aller legitimen politischen und sozialen Normen, sie sagt, was unter von Natur sozialen Wesen einem jeden zukommt und gebührt.705 Diejenigen, die über rechte Vernunft verfügen, und nur sie machen eine wahre (politische) Gemeinschaft aus. Clemens referiert als stoische Lehre:706 „Das Universum (ouranos) ist im eigentlichen Sinn Polis. Das aber, was da hier auf Erden ist, das sind nicht gleichfalls Poleis. Man nennt sie zwar so, sie sind es aber nicht. 701 702 703 704 705 706

vgl. Mark Aurel Med. IV, 4; SVF III, 332 Clemens. vgl. DL VII, 128. Marcianus Inst. I, 11.25 = SVF III, 314 = LS 67 R. Stob. Ecl. II, 109.17; DL VII, 123. vgl. Schofield 1991, 71 f. Strom. IV, 26 = SVF III, 327.

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IV Die stoische Ethik Denn die Polis und das Volk sind etwas sittlich Tüchtiges (spoudaîon) und ein feines Ordnungsgebilde (asteîon ti systēma) und eine Menge durch das Gesetz verwalteter Menschen“.707 Und „fein (asteîon)“ möchte Kleanthes (nur) eine Wohnstätte genannt wissen, die so zugerüstet ist, dass man in ihr Gerechtigkeit geben und empfangen kann.708 Wenn Clemens das Universum bzw. den Himmel zur eigentlichen Polis erklärt, so gilt es zu bedenken, dass die Stoiker Sonne, Mond und Sterne für (sterbliche) Götter hielten709 und, wie Plutarch es sich ausmalt, die These vertraten, „dass der Kosmos eine Polis und die Sterne Bürger seien, wenn aber dies, dann offensichtlich auch Genossen einer Phyle und Archonten und die Sonne Ratsherr und der Abendstern Prytane oder Vorsteher der Polizei“.710 Dass in Chrysipps idealer Kosmopolis noch (hierarchisch geordnete) politische Ämter vorgesehen sind, scheint prima facie etwas überraschend. Der Tugend nach sind hier ja alle vernünftigen Wesen, Götter und Menschen, ununterscheidbar gleich. Doch es ist wohl so, dass Zeus das Werk der Providenz, das für die von Menschen nicht verantworteten Lebensumstände und Handlungsfolgen sorgt, auf verschiedene Schultern verteilt und den astralen Subjekten die entsprechenden Rollen zugewiesen hat. Und die göttliche Providenz betrifft alle Menschen, weise wie nichtweise. Dies dürfte Plutarchs Verständnis der stoischen Lehre hier durchaus ins Recht setzen. Die Stoiker unterschieden offensichtlich von ihren Anfängen in Athen bis in die Zeit des römischen Kaiserreichs zwei politische Gemeinwesen, jenes partikuläre, in das die besonderen Lebensumstände einen versetzt haben, und das universale, in dem Götter und Menschen als Bürger leben und dessen Grenzen ‚durch die Reichweite der Sonne bestimmt wird‘.711 Unbeschadet dessen, dass die Kosmopolis mit ihren weisen Subjekten die wahre Stadt ist, gilt es, als Mensch auch dem partikulären, nichtidealen Gemeinwesen auf Erden dienlich zu sein. „Denn dies wird vom Menschen verlangt, dass er Menschen nütze: wenn möglich, vielen; wenn nicht, wenigen; wenn nicht, den Nächsten; wenn nicht, sich selbst“.712 Es geht allemal darum, ‚Schlechtes zurückzudrängen und zur Tugend anzuspornen‘.713

5.3 Ideale Theorie und ‚normale‘ Praxis Der stoische Weise ist als Bürger zweier Gemeinwesen gedacht. Kritiker der politischen Lehre der Stoa monierten, dass das, was sie vom Leben in der idealen Gemeinschaft sagt, nicht zu dem passe, ja vielfach dem widerspreche, was sie den Weisen bzw. den zur Weisheit Strebenden in der realen Gemeinschaft tun lässt. Der Radikalität im Idealen kontrastiere auf theoretisch absurde Weise die bejahte und 707 708 709 710 711 712 713

vgl. auch Dion Chrysostomus, or. 36, § 20 = SVF III, 329. vgl. Stobaeus Ecl. II, 7 = SVF III, 328. vgl. Plutarch Stoic. rep. 1052 A; Comm. not. 1074D-1075D. Plutarch Comm. not. 1076F = SVF II, 645. vgl. Seneca De otio 4; Epiktet Diss. II, 5. 26; III, 22. 4. Seneca De otio 3. DL VII, 121.

5. Die stoische Theorie des Politischen praktizierte Normalität, ja Banalität im wirklichen Leben. Die Stoiker, so Plutarch, stimmten Zenons Ablehnung des Baus von Tempeln zu, und nähmen doch an Mysterienfeiern teil, gingen zur Akropolis, bezeugten Statuen ihre Verehrung, bekränzten die Schreine und opferten auf Altären.714 Wenn Chrysipp in seiner Rhetorik erkläre, der Weise werde in der Öffentlichkeit sprechen und sich politisch betätigen so als wären Reichtum, Ehre und Gesundheit ein Gut, dann gebe er doch (implizit) zu, dass die eigene Theorie apolitisch und praxisfern und die Lehrsätze unbrauchbar seien.715 Chrysipp hat, wie mehrfach bezeugt ist, in seiner Schrift Über Lebensform und Einkommen für den Weisen drei Arten des Lebensunterhalts für passend erklärt: dass er einen König begleitet und dieser ihn unterhält, dass er sich der Zuwendung von (wohlhabenden) Freunden versichert, dass er durch Unterricht sein Geld verdient.716 Die Schrift dürfte in dezidiertem Gegensatz zu kynischen ebenso wie zu platonischen Vorstellungen gestanden haben. Die Einwände von diesen Seiten lagen denn auch auf der Hand: Einem König habe man Folge zu leisten; Freundschaft würde käuflich und Weisheit als Ware für Geld feilgeboten.717 Chrysipp predige einerseits bis zum Überdruss, der Weise würde den Verlust eines Vermögens wie den einer einzelnen Drachme hinnehmen und reduziere ihn andererseits auf einen Schulmeister, der auf seinen billigen Lohn bedacht ist.718 Doch diese Kritik greift zu kurz; sie bleibt an der Oberfläche und dringt nicht zu den stoischen Unterscheidungen von Gutem und Vorzugswertem, von passendem und sittlich gutem Verhalten, von normalen und besonderen Umständen durch. Diese bestimmen ein Weltverhältnis, das zugleich eine Nähe und Distanz zur Normalität des Lebens freisetzt. Zudem verkennt sie das kritische und gesellschaftlich reformerische Potenzial der altstoischen politischen Utopie. Von Zenon wird berichtet, er habe keinen Sklaven besessen; mit ihm habe die rigide und virile Weisheit der Stoiker ihren Anfang genommen.719 Er hat sich offensichtlich einer zu seiner Zeit bedeutenden institutionellen Praxis verweigert und damit ein Zeichen gesetzt. Nach Diogenes Laertius720 unterschied die (alt)stoische Lehre drei Formen von Sklaverei: „Er (der Weise) allein sei frei, die Schlechten (seien) Sklaven. Denn Freiheit sei das Vermögen der Selbsttätigkeit (exousia auto­ pragias), Sklaverei ihre Ermangelung. Es gebe aber auch eine andere Sklaverei, die der Unterordnung (tēn en hypotaxei) und als dritte die des Besitzes und der Unterordnung (tēn en ktēsei te kai hypotaxei); ihr antithetisches Korrelat sei die despotische Herrschaft; auch diese sei schlecht.“ Man kann die drei Formen als moralische Sklaverei, als politisch-soziale Sklaverei und als Besitzsklaverei identifizieren.721 Im 714 715 716 717 718 719 720 721

Stoic. rep. 1034 B-C. Stoic. rep. 1034 B. DL VII, 188–189; Plutarch Stoic. rep. 1043 E. DL VII, 189. Plutarch Stoic. rep. 1043 E-1044 A. so Seneca Ad Helviam 12, 4 = SVF I, 15. VII, 121 f. = SVF III, 355 = LS 67 M. Griffin 1976, 459; Erskine 1990, 43–63.

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IV Die stoische Ethik moralischen Sinn ein Sklave ist jeder, der sich nicht am göttlichen Gesetz orientiert, der nicht aus rechter Vernunft handelt.722 Was Besitzsklaverei besagt, ist klar. Chrysipp soll den Besitzsklaven im Unterschied zum ad hoc engagierten Lohnarbeiter (sarkastisch?) als „dauerhaften Mietling (perpetuus mercenarius)“ bestimmt haben.723 Für die Stoa entspricht der Gebrauch alles Subrationalen göttlicher Vorsehung, nicht aber die (völlige) Instrumentalisierung eines Menschen durch den Menschen.724 Der gute Mensch nötigt niemanden, zwingt niemanden, übt keine despotische Herrschaft über jemanden aus.725 Und niemand ist Sklave von Natur; die Besitzsklaverei widerspricht göttlichem Gesetz.726 Mit der „Sklaverei der Unterordnung“ dürfte die Struktur jeder politisch organisierten Gesellschaft gemeint gewesen sein, deren hierarchische Beziehungen zwischen den Mitgliedern und Gruppen durch Zwänge und nötigende Abhängigkeiten gekennzeichnet sind.727 Nun lässt sich der Weise zu nichts zwingen;728 er handelt stets aus rechter Vernunft und bleibt gegenüber jeder Form von Sklaverei immun.729 Doch dies besagt nicht, dass man, um weise zu sein oder zu werden, nur seine innere Freiheit zu pflegen und die gegebenen Verhältnisse hinzunehmen hat, die die verschiedenen Formen von Sklaverei fördern oder legitimieren. Der Weise wird sich, wie es heißt, politisch betätigen, sofern ihn nichts daran hindert, und bevorzugt dort engagieren, wo sich Anzeichen eines (möglichen) Fortschritts zur vollkommenen politischen Ordnung finden.730 Er wird, was nur äußerst selten vorkommen dürfte, König sein und seine Herrschaft zum Wohl der Menschen ausüben. Oder er wird, wozu eher die Gelegenheit sich finden könnte, einen wohl disponierten König begleiten und ihn in seinen Maßnahmen beraten.731 Dabei geht es in allem um den Abbau von Schlechtigkeit und die Förderung von Tugend.732 Dort, wo eine konstitutionelle Ordnung gegeben ist, wird er, wenn möglich, selbst ein Amt übernehmen oder seinen Einfluss über machthabende Freunde geltend machen und sich an Gesetzgebung und Erziehung beteiligen.733 Welche Form der gegebenen politischen Ordnungen die Stoiker im Allgemeinen bevorzugten, ist schwer zu sagen. Die Betonung der Unabhängigkeit der Tugend von Herkunft, Stand und Geschlecht lässt an eine Vorliebe für Demokratie denken. Persaios, Kleanthes und Sphairos schrieben Werke über das Königtum;734 doch über 722 723 724 725 726 727 728 729 730 731

vgl. Philon SVF III, 360. Seneca De benef. III, 22 = SVF III, 351. vgl. Cicero De fin. III, 67. vgl. Stobaeus Ecl. II, 99 = SVF III, 567. vgl. Philon SVF III, 352. vgl. Stobaeus Ecl. II, 108. 20–23 = SVF III, 630. vgl. Stobaeus Ecl. II, 99 = SVF I, 216. vgl. Plutarch De audit. poet. 33 D = SVF I, 219. Stobaeus Ecl. II, 94.7 = SVF III, 611; DL VII, 121. vgl. Plutarch Stoic. rep. 1043 B-C = SVF III, 691; Stobaeus Ecl. II, 111.3–5 = SVF III, 690. 732 DL VII, 121. 733 vgl. Stobaeus Ecl. II, 109.14–20 = SVF III, 686; Ecl. II, 94.11–17 = SVF III, 611. 734 vgl. DL VII, 36; 175; 178.

5. Die stoische Theorie des Politischen ihren Inhalt wissen wir nichts. Diogenes Laertius notiert, die Stoiker hielten eine Mischung aus Königtum, Aristokratie und Demokratie für das Beste;735 doch er sagt uns nicht, welche Stoiker welcher Epoche dieser Meinung waren. Die ‚orthodoxe‘ stoische Ethik betont zwar, im Gegensatz etwa zum ‚Abweichler‘ Ariston, den Sinn und die Dienlichkeit allgemeiner materialer Gesetze und Vorschriften,736 doch sie betont auch ihre Unzulänglichkeit für sämtliche Lebensumstände und Situationen. Ihr gemäßigter ethischer ‚Situationismus‘ lässt als ihre politische Überzeugung vermuten, dass die beste Verfassung für eine politische Gemeinschaft von ihren Menschen und deren Lebensumständen abhängig und für sie passend sein muss, und sich nicht in einem universal gültigen Konzept formulieren lässt.737 In diese Richtung weisen denn auch die (wenngleich spärlichen) Zeugnisse über die politischen Aktivitäten von Stoikern der frühen und mittleren Stoa. Plutarch wirft Zenon, Kleanthes und Chrysipp vor, sie hätten zwar viele Bücher über Regierung, über Herrschen und Beherrschtwerden und ähnliche Themen geschrieben, doch keiner von ihnen sei bereit gewesen, selbst politisch aktiv zu werden.738 Der Vorwurf trifft nur mit gewissen Einschränkungen zu.739 Die althistorische Forschung kann nachweisen, dass die Stoa des 3. vorchr. Jahrhunderts für ein unabhängiges und demokratisches Athen eintrat und sich gegen die Makedonische Hegemoniepolitik wandte.740 Zenon lehnte mehrfach eine Einladung von Antigonos Gonatas ab und schickte schließlich seine Schüler Persaios und Philonides an den Makedonischen Hof.741 Persaios stand dann im zweifelhaften Ruf, nicht das Leben der Philosophie, sondern das des Hofes gewählt zu haben.742 Ptolemaios III. bat Kleanthes, an den ägyptischen Hof zu kommen oder einen seiner Schüler zu senden. Kleanthes ebenso wie sein Schüler Chrysipp lehnten ab; sein zweiter Schüler Sphairos unternahm schließlich die Reise.743 Sphairos von Borysthenes dürfte ohnehin der politisch aktivste der frühen Stoiker gewesen sein. Er ist eng mit dem Reformprogramm der spartanischen Könige Agis IV. und Kleomenes verbunden. Er scheint insbesondere Kleomenes bei seinen sozial-revolutionären Schritten der egalitären Landverteilung, des Schuldenerlasses, der Ausweitung der Bürgerschaft und der Reform des Erziehungswesens im stoisch unterfütterten ‚Geist von Lykurg‘744 unterstützt und, nach dessen Niederlage in der Schlacht von Sellasia (222 vor Chr.) gegen die verbündeten Truppen Makedoniens und des Achaiischen Bundes, auch dessen Schicksal im Exil zu Alexandria geteilt zu haben.745 735 736 737 738 739 740 741 742 743 744 745

DL VII, 131 = SVF III, 700 = LS 67 U. vgl. Seneca Ep. 94 und 95; Mitsis 1994a 4844–4850. vgl. Brown, E. 2009a 355 f. Stoic. rep. 1033 B-C. vgl. dazu Scholz 1998, 315–357. vgl. Erskine 1990, 77; 80–95. DL VII, 6–9. SVF I, 441; 449. DL VII, 185. vgl. DL VII, 178 = SVF I, 620; Plutarch Vitae, Lykurg, 8–9. vgl. Plutarch Vitae, Kleomenes, 2 und 11.

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IV Die stoische Ethik Plutarch stellt in seinen Vergleichsbiographien dem Agis und Kleomenes als römische Pendants die Gracchenbrüder gegenüber. Und hier ist es wieder ein Stoiker, Blossius aus Cumae, der mit dem Philosophen Antipater von Tarsus und der Scaevola-Familie freundschaftlich verkehrte und Tiberius Gracchus zu dessen Vorhaben einer Agrarreform ermutigte.746 Seine Verbindung zu Tiberius Gracchus war eng. Für Cicero, der in Gracchus’ Eigentumsverständnis und Umverteilungsplänen eine Erschütterung des römischen Gemeinwesens sah, stellt sie ein Beispiel irregeleiteter Freundschaft dar, „denn er (sc. Blossius) folgte nicht dessen Verwegenheit, sondern ging ihr voran, und er bot sich nicht als Begleiter seines Furors, sondern als dessen Führer an“.747 Sphairos, Antipater und Blossius vertraten offensichtlich die altstoische Ansicht, dass Eigentum nicht ‚von Natur‘, sondern konventionell und im Sinn der Eintracht der politischen Gemeinschaft und der Gleichheit und Freiheit der Bürger sozialpolitisch disponibel sei. Cicero, hier748 wohl kaum im Anschluss an Panaitios von Rhodos und dessen Schüler Hekaton,749 sieht die Dinge entschieden anders. Er ist bemüht, den (stoischen) Gedanken, dass von Natur der Gebrauch von Grund und Boden und seiner Früchte allen Menschen zugewiesen ist, mit dem (römisch-aristokratischen) Gedanken zu verbinden, dass das angestammte und durch bürgerliches Recht beglaubigte und geschützte Privateigentum gewahrt werden muss: In der universalen Gemeinschaft der Menschen „ist die Gemeinsamkeit aller Dinge, die die Natur zum gemeinsamen Gebrauch hervorgebracht hat, zu wahren, derart, dass man das, was durch Gesetze und bürgerliches Recht distributiv festgeschrieben ist, so hält, wie es durch die Gesetze selbst festgelegt ist, dass man mit dem Übrigen so verfährt, wie es im Sprichwort der Griechen heißt: ‚Freunden ist alles gemeinsam‘“.750 Wer nach dem rechtmäßigen Besitz des anderen trachtet, „verletzt das Recht der menschlichen Gemeinschaft“.751 „Mit dem Übrigen“, das allen gemeinsam sein soll und man niemandem verwehren darf, meint Cicero dann nicht mehr als den Zugang zu „unerschöpflichen Dingen“ wie Luft, Licht, Feuer, Wasser.752 In direktem Bezug auf König Agis und die Gracchen formuliert er: „Diejenigen aber, die sich als Vertreter des Volkswillens geben und aus diesem Grund sich an der Verteilung von Grund und Boden versuchen, derart, dass die Besitzer aus ihrem Besitz vertrieben werden, oder der Meinung sind, dass den Schuldnern ihre Schulden erlassen werden müssen, erschüttern die Fundamente des Gemeinwesens“, sei doch dies das Proprium von Bürgerschaft und Stadt, „dass jedem die Wahrung seines Besitzes frei und unbehelligt (möglich) sei“.753 Den Gedanken, die primäre Funktion politisch organisierter Gesellschaft sei der Schutz des Privateigentums, hat wohl kaum Panaitios für Cicero 746 747 748 749 750 751 752 753

Plutarch Vitae, Tiberius Gracchus, 8, 17, 20; Cicero Laelius. De amicitia XI, 37. Laelius. De amicitia XI, 37. De off. II, 72–85. vgl. Lefèvre 2001, 123 ff.; anders Erskine 1990, 107 f. De off. I, 51; vgl. De off. I, 20–21. De off. I, 21. De off. I, 51–52; vgl. Dyck 1996, 168 ff. De off. II, 78; vgl. II, 79–80.

5. Die stoische Theorie des Politischen vorformuliert;754 das dürfte Ciceros eigener Gedanke sein. Jedenfalls findet sich kein Beleg für einen Autor, der ihn vor ihm vertreten hätte. Panaitios, einer vornehmen Familie aus Rhodos entstammend, stand in Rom in freundschaftlicher Verbindung mit P. Cornelius Scipio Aemilianus und C. Laelius.755 Doch dies besagt nicht, dass er seine Auffassungen von Recht, Gerechtigkeit und Politik römisch-aristokratischen Überzeugungen einfach angepasst hätte. Dass Ciceros Staatsverständnis und seine traditional-legalistisch imprägnierte Auffassung von Gemeinbesitz und Privateigentum den altstoischen Begriff von Gerechtigkeit einigermaßen stark modifiziert, ist klar. Dieser ist bestimmt als Einstellung, jedem das zukommen zu lassen, was er (braucht und) verdient (hexis aponemētikē kat’ axian hekastō).756 Gerechtigkeit hat, wie Diogenes Laertius als stoische Auffassung notiert, Gleichheit (isotēs) und wohlwollende Fairness (eugnōmosynē) im unmittelbaren Gefolge,757 bzw. ist nach dem Zeugnis von Stobaeus mit Gemeinschaftssinn (eukoinōnēsia), d. h. mit einem Wissen von Gleichheit in der Gemeinschaft verbunden758 und drückt sich in einem wenn nicht vollkommen gleichen,759 so doch angemessenen und maßvollen Besitz (symmetros ktêsis) für alle aus.760 Kleomenes scheitert mit dem Versuch, altstoische Gerechtigkeitsvorstellungen auf revolutionäre Weise unmittelbar politisch durchzusetzen. Er provoziert damit den dauerhaften Niedergang Spartas. Mag sein, dass vor dem Hintergrund dieser Erfahrung Panaitios einen stoischen Gerechtigkeitsbegriff formuliert hat, der dem Umstand Rechnung trägt, dass so gut wie niemand vollkommen weise ist. Sein stärkerer ‚Realismus‘761 scheint Gerechtigkeit mehr an Institutionen und geltendes Recht gebunden und deren mögliche Härten durch einen universalistischen Rückgriff auf ergänzende Maximen der Billigkeit (epieikeia/ae­ quitas) und Humanität (philanthrōpia/humanitas) ausgeglichen zu haben. Wenn Cicero im Projekt, Wirken und Schicksal der Gracchen eine ähnliche Erfahrung sieht, so dürfte er jedoch Panaitios’ Position mit seinen praktisch-politischen Grundsätzen bei Weitem überboten haben. Die Alte Stoa wandte sich eindeutig gegen Herr-Knecht-Verhältnisse unter Individuen und Staaten. Ob sich dies in der mittleren Stoa geändert hat, ist einigermaßen fraglich. Cicero hält in De officiis sowohl Besitzsklaverei als auch imperiale Herrschaft für gerechtfertigt, wenn sie zum Wohl der Beherrschten ausgeübt wird bzw. wenn die Maximen der Humanität beachtet werden. Manche Forscher glauben, Cicero schreibe in diesem (seinem letzten) Werk lediglich Panaitios für römische Verhältnisse aus und ziehe dabei auch Poseidonios zu Rate; seine Überzeugungen würden sowohl für Panaitos als auch für Poseidonios gelten.762 Genauere quellen754 755 756 757 758 759 760 761 762

vgl. De off. II, 73. vgl. Cicero De fin. IV, 23. SVF III, 266 Andronicus; vgl. Stobaeus Ecl. II, 84. 13–17. DL VII, 125 = SVF III, 295. Ecl. II, 60. 9 = SVF III, 264. vgl. Plutarch Vitae, Kleomens 10–11, 18. Stobaeus Ecl. II, 81, 5–6 = SVF III, 136. vgl. Cicero De leg. III, 14. vgl. Erskine 1990, 192–204.

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IV Die stoische Ethik analytische Untersuchungen zeigen jedoch, dass Cicero bereits im ersten Buch von De officiis gegenüber seiner Vorlage recht eigenständig gearbeitet hat, und im zweiten und dritten Buch „von Panaitios’ Ethik . . . nicht viel übrig (bleibt)“.763 Es ist ja auch genuin aristotelische, nicht stoische Argumentation, die es Cicero erlaubt, die Besitzsklaverei zu rechtfertigen. Und er mag durchaus panaitianische Vorstellungen von Humanität und sozialer Gerechtigkeit aufgenommen haben, wenn er empfiehlt, „Sklaven wie Tagelöhner zu behandeln, Leistung zu verlangen und die Gegenleistung zu erbringen“.764 Falls sie sich der Kontrolle entziehen, schließt er freilich ebenso wie im Blick auf die von Rom unterworfenen Völker die Anwendung von Gewalt nicht aus.765 Für das Verständnis der korrekten Beziehung von Rom zu den von ihm unterworfenen Völkern möchte er nicht so sehr den Begriff des Imperium wie vielmehr das genuin römische Modell von Patron und Klient und das Treueverhältnis (die fides) zwischen beiden angewandt wissen.766 Und seine Figur Laelius antwortet in De re publica767 auf den (skeptischen) Einwand, dass eine politische Gemeinschaft sich nur durch Unrecht ausdehnen könne und dass es unrecht sei, wenn Menschen über Menschen herrschen und diese ihnen dienen (müssen): „Dies sei deshalb gerecht, weil solchen Menschen die Knechtschaft nützlich sei, und ihnen zum Nutzen gereiche, wenn sie richtig sei, d. h. wenn Ruchlosen die Möglichkeit zum Unrechttun genommen wird und es den Beherrschten besser geht, weil es ihnen als Nichtbeherrschte schlechter ergangen ist . . . oder erkennen wir etwa nicht, dass jedem Besten durch die Natur selbst die Herrschaft zum höchsten Nutzen des Schwachen gegeben worden ist. Warum hat Gott über den Menschen, die Vernunft über die Begierde und den Zorn und die übrigen zum Laster disponierten Teile derselben Seele Befehlsgewalt?“768 Weil dies, so das (aristotelische) Argument, zum Wohl des Untergebenen gereicht, der nicht zur vernünftigen Selbstherrschaft fähig ist. Man kann mit gutem Grund unterstellen, dass Ciceros Laelius hier ganz im Sinn seines Autors, kaum aber im Sinn von Panaitios spricht. Und wenn Cicero zu Beginn der Diskussion769 die zentrale Gesprächsperson Scipio Aemilianus mit dem Hinweis einführt, dieser sei nicht nur ein herausragender Staatsmann, sondern habe häufig mit Panaitios und Polybios, den kompetentesten Griechen in staatstheoretischen Fragen diskutiert und dabei viele Gesichtspunkte gesammelt, die belegen, dass die überkommene Ordnung der römischen Bürgerschaft die beste sei, so wäre es sicher vorschnell, aus diesem rhetorischen Hinweis auf die gelehrten Autoritäten ohne Weiteres zu schließen, dass sie auch für Ciceros politische Überzeugungen einstehen. In De republica und De legibus entwickelt Cicero staatstheoretische Vorstellungen, in die zugegebenermaßen gewichtige Motive griechischer politischer Philoso763 764 765 766 767 768 769

Lefèvre 2001, 125. De off. I, 41. vgl. De off. II, 24. De off. II, 26–27. III, 24, 36. Text ergänzt aus Augustinus De civitate dei XIX, 21. De rep. I, 21, 34.

5. Die stoische Theorie des Politischen phie, insbesondere solche platonischer, peripatetischer und stoischer Herkunft eingegangen sind. Doch er verarbeitet sie zu höchst eigenen Vorstellungen. Dies gilt in Vielem auch für De officiis und die Panaitios-Vorlage. Gewiss, wir verdanken Cicero dort, wo er in akademisch-skeptischer Methodik die verschiedenen philosophischen Positionen und Lehren hellenistischer Schulen gegeneinander antreten lässt, wie etwa in De natura deorum und De finibus authentische Informationen über die stoische Philosophie. In De officiis liegt der Fall deutlich anders. Diese letzte Schrift ist in pädagogischer Absicht an seinen Sohn Marcus gerichtet. Sie enthält philosophische Anweisungen und Lehren (praecepta et instituta),770 die dieser beherzigen soll, um später im politischen Geschehen Roms die Rolle eines vir bonus zu spielen. Cicero schreibt durchaus in eigenem Namen und im ausschließlichen Blick auf Rom. Er bekennt sich gedanklich zur sokratisch-platonischen und peripatetischen Tradition.771 Es handelt sich um eine auf politische Lebensform und Praxis zielende Ethik für die aristokratisch-republikanische römische Führungsschicht; sie im Wesentlichen als panaitianisch anzusehen, wäre verfehlt. De officiis ist bis in die Zeit der Europäischen Aufklärung in ihrer Wirkung die bedeutendste Ethik des Abendlandes; doch es ist, trotz mancher stoischer Motive, keine genuin stoische, es ist Ciceros Ethik.

770 De off. I, 1. 771 De off. I, 2.

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Literaturverzeichnis Das Literaturverzeichnis enthält zu den einzelnen antiken Autoren eine Vielzahl von Textausgaben und Übersetzungen und, was die Sekundärliteratur betrifft, zur weiteren thematischen Information eine Auflistung der Beiträge zu einschlägigen Sammelbänden und viele Titel, auf die in meiner Darstellung nicht explizit Bezug genommen wird oder werden kann. Intendiert ist eine umfassende, wenngleich nicht auf Vollständigkeit bedachte Bibliographie zum aktuellen Stand der Stoa-Forschung.

Textausgaben, Übersetzungen, Kommentare Übergreifende Doxographie­ und Fragmentsammlungen: Doxographi Graeci: Collegit, recensuit, prolegomenis indicibusque instruxit Hermannus Diels, Berlin 1879, 41979. Die Fragmente der Vorsokratiker. Hg. von Hermann Diels und Walther Kranz, 3 Bde., Berlin 81956; Nachdr. Dublin-Zürich 121996. Socratis et Socraticorum reliquiae, collegit, disposuit, apparatibus notisque instruxit Gabriele Giannantoni, 4 Bde., Neapel 1990–1991. Michelangelo Giusta, I dossografi di etica I, Turin 1964. Michelangelo Giusta, I dossografi di etica II, Turin 1967. Stoiker­Fragmentsammlungen: Alfred C. Pearson, The fragments of Zeno and Cleanthes with introduction and explanatory notes, London 1891. I frammenti degli Stoici antichi, ordinati, tradotti e annotati da Nicola Festa, vol. 1: Zenone, Bari 1932; vol. 2: Aristone, Apollofane, Erillo, Dionigi d’Eraclea, Perséo, Cleante, Sfero, Bari 1935. Stoa und Stoiker. Die Gründer: Panaitios, Poseidonios, eingeleitet und übertragen von Max Pohlenz, Zürich 1950, 21964. Les Stoïciens. Textes traduits par Émile Bréhier, édités sous la direction de Pierre-Maxime Schuhl, Paris (Bibl. de Pléiade vol. 156), 1962. Stoicorum Veterum Fragmenta. Collegit Joannes ab Arnim, 3 Bde., Leipzig 1903–1905. Bd. 4 (Register) erstellt von Maximilian Adler, Leipzig 1924; Nachdr. der 4 Bde., Stuttgart 1968. Mariano Baldassarri, La Logica Stoica. Testimonianze e frammenti. Testi originali con introduzione e traduzione commentata, 8 Bde., Como 1984–1987. Karlheinz Hülser, Die Fragmente zur Dialektik der Stoiker. Neue Sammlung der Texte mit deutscher Übersetzung und Kommentaren, 4 Bde., Stuttgart-Bad Cannstatt 1987–1988. Stoici antichi. Tutti i frammenti raccolti da Hans von Arnim. Introduzione, traduzione, note e apparati a cura di Roberto Radice, Mailand 21999. Stoici antichi. A cura di Margherita Isnardi Parente, 2 Bde., Turin 1989. Stoiker, in: Antony Arthur Long & David N. Sedley, The Hellenistic Philosophers, 2 vols., Cambridge 1987. Vol. 1: Translations of the Principal Sources with Philosophical Commentary. Vol. 2: Greek and Latin Texts with Bibliography. Stoiker, in: A. A. Long/D. N. Sedley, Die hellenistischen Philosophen. Texte und Kommentare. Übersetzt von Karlheinz Hülser, Stuttgart-Weimar 2000.

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Werk- und Fragmentausgaben und Kommentare von einzelnen Autoren Aëtius: Diels, H., Doxographi Graeci, Berlin 1879, 41979, 1–263; 267–444. Mansfeld, J. and Runia, D. T, Aëtiana: The Method and Intellectual Context of a Doxographer, vol. I: The Sources, Leiden 1997. Mansfeld, J. and Runia, D. T, Aëtiana: The Method and Intellectual Context of a Doxographer, vol. II, 1–2: The Compendium, Leiden 2009. Mansfeld, J. and Runia, D. T., Aëtiana: The Method and Intellectual Context of a Doxographer. Vol. III: Studies in the Doxographical Tradition of Ancient Philosophy, Leiden 2010. Alexander von Aphrodisias: Alexandri Aphrodisiensis praeter commentaria scripta minora: De anima liber cum mantissa. Edidit Ivo Bruns, Berlin 1887 (CAG Supplementum Aristotelicum 2.1). Alexandri Aphrodisiensis praeter commentaria scripta minora: Quaestiones, De fato, De mixtione. Edidit Ivo Bruns, Berlin 1892 (CAG Supplementum Aristotelicum 2.2). Alexander of Aphrodisias On Fate. Text, translation, commentary by Robert W. Sharples, London 1983. Alexandre d’Aphrodise, Traité du destin. Texte établi et traduit par Pierre Thillet, Paris 1984. Alexander of Aphrodisias, De anima libri mantissa: A new edition of the Greek text with introduction and commentary by Robert W. Sharples, Berlin 2008. Alessandro di Afrodisia, L’anima. A cura di Paolo Accattino e Pierluigi Donini. Traduzione, introduzione e commento, Rom-Bari 1996. Alessandro di Afrodisia, De anima II (Mantissa). Testo greco a fronte, a cura di Paolo Accattino e Pietro Cobetto Ghiggia, Alessandria 2005. Alexandre d’Aphrodise, De l’âme. Texte grec introduit, traduit et annoté par Martin Bergeron et Richard Dufour, Paris 2008. Andronicus: Pseudo-Andronicus de Rhodes, Peri pathôn. Édition critique du texte grec et de la traduction latine médiévale. Par Anne Glibert-Thirry, Leiden 1977. Aulus Gellius: Carl Hosius (Hg.), Auli Gellii Noctium Atticarum libri XX, 2 Bde., Leipzig 1903; Nachdruck 1981. Peter K. Marshall (ed.), Auli Gellii Noctes Atticae, 2 Bde., Oxford 1968, 21990. Aulu-Gelle, Les nuits attiques. Texte établi et traduit par René Marache, Bd. 1–3, Paris 1967– 1989; Texte établi et traduit par Yvette Julien Bd. 4, Paris 1998. Georg Fritz Weiß, Aulus Gellius: Die attischen Nächte, 2 Bde., 1875–6, Nachdr. Darmstadt 1981.

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Literaturverzeichnis 1960; Bd. 6, Fasc. 1 (Curt Hubert, Hans Drexler) 1959; Bd. 6, Fasc. 2 (Max Pohlenz, Rolf Westmann) 1959; Bd. 6, Fasc. 3 (Max Pohlenz, Konrat Ziegler) 1966; Bd. 7 (Francis H. Sandbach) 1967. Plutarch’s Moralia in seventeen vols., with an English translation, Loeb Classical Library, Cambridge, Mass.-London 1927–1969, reprints. Plutarch’s Moralia in seventeen vols., vol. 13.1 and 13.2, with an English translation by Harold Cherniss, Cambridge (Mass.)-London 1976. Plutarch’s Moralia in seventeen vols., vol. 14, with an English translation by Benedict Einarson and Phillip H. DeLacy, Cambridge, Mass. 1967. Plutarque. Oeuvres morales, Edition critique, traduction, commentaires, 15 vols., Paris 1972– 2012. Plutarque. Oeuvres morales. 15.2: Traité 72: Sur les notions communes, Contre les Stoïciens. Texte établi par Michel Casevitz. Traduit et commenté par Daniel Babut, Paris 2002. Plutarque. Œuvres morales. 15.1: Traité 70: Sur les contradictions stoïciennes. Traité 71: Synopsis du traité «Que les stoïciens tiennent des propos plus paradoxaux que les poètes». Texte établi par Michel Casevitz. Traduit et commenté par Daniel Babut, Paris 2004. Plutarch, Vitae parallelae. Recognoverunt Claes Lindscog et Konrat Ziegler 10 Bde., Leipzig 1914–1973. Plutarch, Große Griechen und Römer. Aus dem Griechischen übertragen, eingeleitet und erläutert von Konrat Ziegler, z. T. übersetzt von Walter Wuhrmann, 6 Bde., Zürich und München 1954–1965. Pseudo­Plutarch: Placita Philosophorum, Hg. J. Mau, (Teubner: Plutarch, Moralia 5,2,1), Leipzig 1971. Plutarque. Œuvres morales 12.2: Opinions des philosophes, Texte établi et traduit par Guy Lachenaud, Paris 1993, 22003. Poseidonios: Posidonios: Vol. I: The Fragments. Ed. by Ludwig Edelstein and Ian Kidd, Cambridge 1972, 21988. Posidonios: Vol. II: The Commentary. II (i): Testimonia and Fragments 1–149; II (ii): Testimonia and Fragments 150–293, by I. G. Kidd, Cambridge 1988. Poseidonios: Die Fragmente. Hg. von Willy Theiler, 2 Bde., Berlin 1982. Posidonio. Testimonianze e frammenti. Testo latino a fronte. Introduzione, traduzione, commentario ed apparati a cura di Emmanuele Vimercati, Mailand 2004. Seneca: L. Annaeus Seneca, Ad Lucilium epistulae morales. Recensuit Leighton Durham Reynolds, 2 Bde., Oxford 1965. L. Annaeus Seneca, Dialogorum libri XII. Recensuit Leighton Durham Reynolds, Oxford 1977. L. Annaei Senecae Naturalium quaestionum libri. Recognovit Harry M. Hine, Stuttgart-Leipzig 1996. L. Annaeus Seneca, Naturales Quaestiones. Curavit, transtulit, annotationibus instruxit M. F. A. Brok (Lat.-Deutsch), Darmstadt 1995. L. Annaeus Seneca, Moral and Political Essays. Edited and translated by John M. Cooper and J. F. Procopé, Cambridge 1995. Sénèque, Dialogues, Bd. 4: De la providence. De la constance du sage. De la tranquillité de l’âme. De l’oisiveté. Texte établi et traduit par René Waltz, Paris 41959. L. Annaei Senecae De brevitate vitae – Sénèque: Sur la brièveté de la vie. Édition, introduction et commentaire de Pierre Grimal, Paris 1959, 21966.

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Register Sachregister Aberglaube 144, 148 Affekt (pathos) 83, 224-244 Akademisch-peripatetisch 21, 24, 31, 104, 183, 191, 193, 196, 235 Allegorese, allegorisch 108, 110, 144, 145, 147, 151, 153, 158 Apathie (apatheia) 202, 224, 225, 235, 240 Äther 21, 108-110, 114, 137, 138, 142, 145, 148, 150, 152, 157 Atheismus 147 Aussage (axiōma) 32, 41, 42, 44-56, 58, 59, 63, 64, 66, 68, 69, 74-76, 85, 124, 125, 228 Aussagearten 48-57, 76 Aussagenlogik 32, 67, 68, 70 Auswahlwert 187, 189, 211, 216 Autarkie 181, 182, 194, 238 Bewegung 97, 98, 102, 103, 105, 106, 108, 118, 121, 151-154, 161, 184, 196, 208, 209, 231233, 243 Beweis 57, 62, 63, 65, 70, 71, 151, 224 Bildung 10, 28, 30, 87, 163, 201, 221, 235, 237, 244, 249 Billigkeit 267 Bittgebet, Gebet 145, 157-160 Bürger, Mitbürger 13, 25, 134, 139, 169, 173, 203, 208, 248-252, 254, 257, 260, 262, 266 Confatalia, Mitdeterminiertes 133, 158 Determinismus 11, 48, 76, 129, 133, 135, 136, 140, 141 Dialektik 19, 21, 32-36, 41, 43, 53, 57, 146, 200, 201, 218, 219 Dialektiker 15, 34, 49, 52, 57, 60, 63, 150 Eigentum, Privateigentum 250, 256, 258, 266, 267 Einheit 31, 35, 107, 117-120, 129, 150, 160, 165, 166, 184, 185, 189, 199, 200, 202-205, 226, 236, 239 Einmütigkeit 251, 254, 256 Element (stoicheîon) 104-117

Epikureismus 89, 99, 144 Eros 158, 250, 254 Etymologie 33, 36, 37, 110, 111, 145, 148, 149, 153, 207 Eupathie (eupatheia) 202, 225, 241 Feind, Feindschaft 160, 249, 256, 257 Frauengemeinschaft 250, 252 Freiheit 48, 66, 76, 130, 131, 133-135, 250-252, 254, 256, 263, 264, 266 Freund, Freundschaft 103, 164, 194, 195, 249251, 254, 256, 260, 263, 264, 266 Geld 227, 251, 256, 263 Gemeinwohl 193, 208 Gemeinsames Gesetz (koinos nomos) 206, 207, 247, 248, 250, 256, 257, 260-262 Gerechtigkeit 250, 256, 262, 267, 268 Gewissen 174 Glück, Unglück 143, 147, 157, 159, 163, 164, 174, 178-181, 184, 186, 189, 191, 194, 197, 198, 206, 207, 210, 216, 235, 238, 242, 254 Gottesbeweis 147-156 Grammatik 31-33, 36, 38, 41, 100 Handlung 39, 40, 46, 103, 125-127, 131, 132, 183, 193, 194, 209, 211, 212, 227, 228, 232 Handlungsfreiheit 136 Hippokratische Medizin 117, 122 Homologie 173-175, 179, 186, 190-192, 207 Humanität 242, 267, 268 Hymnus 156-161 Identität 91, 100, 101, 102, 118, 140, 141, 171, 179 Implikation 40, 66, 52-55, 59, 61, 65, 70, 72 Indemonstrable 64, 65-69 Kataleptische Vorstellung 79, 81-83, 87-91, 214, 217 Kategorien 100-104 Kausalität 40, 122, 123, 127

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Register Körper, körperlich 38, 40, 42, 44, 56, 86, 93, 95, 96, 98, 99, 102, 105, 106, 108, 109, 118-121, 123-125, 143 Kommunismus 256 Konvention 247, 252, 253, 257-260, 265 Kosmos 21, 24, 31, 57, 58, 77, 94, 96, 98, 101, 105, 107-112, 115-118, 121, 122, 129, 137, 138, 140, 142, 145, 146, 148-156, 159, 174, 183, 218, 219, 247, 248, 250, 256, 260-262 Kosmopolis, kosmopolitisch 170, 206, 257, 260, 262 Kriterium (der Wahrheit) 22, 48, 52, 84, 85, 89, 90, 91, 227 Kynismus, kynisch 18, 29, 34, 164, 199, 247, 255, 257, 259, 260, 263, 264, 267 Lebenskraft 117, 149 Lebenskunst 9, 10, 36, 182, 183, 221, 258, 259 Lebensunterhalt 263 Lebenswahl 24, 172 Lebensziel 21, 22, 24, 28, 165, 177-182, 255 Leeres 42, 93, 94, 96, 109, 117 Logik (allgemein) 9-11, 15, 17-19, 21, 27, 3033, 35, 36, 57, 78, 200, 201, 218, 219 Materie, Materialismus 95, 101, 102, 105-107, 109-111, 114-116, 119-121, 123-125, 137, 138, 140, 143, 145, 208 Meinung 79, 87-92, 154, 199, 215, 216, 225231, 236, 237, 243, 259 Metriopathie (metriopatheia) 231, 235 Mischung 78, 95, 96, 102, 105, 113, 119-121, 222 Mitleid 241 Modallogik 76 Monismus-Dualismus 106, 111, 150, 151, 199 Mündigkeit, 28, 84, 164, 170, 171, 175, 177 Mythos, mythologisch 108, 144-148, 153, 158, 160, 223 Natürliches Gesetz, Naturrecht 11, 206, 207, 246, 248, 258, 260-262 Natur (physis) 10, 24, 78, 84, 89, 90, 93, 94, 108, 123, 129, 131, 137, 147, 149, 155, 156, 159, 160, 165-173, 177-182, 184-186, 189-192, 201, 206-210, 215, 216, 219, 221, 229, 246 Naturalismus 78, 164, 177 Oikeiosis(lehre) 24, 85, 163-177, 208, 209, 248, 255 Ort 96, 98, 120 Pantheismus 93-95, 159 Passendes Verhalten (kathȇkon) 197-217 Pflicht (officium) 170, 172, 173, 207-209, 211, 214-216

Pneûma 78, 81, 95, 99, 101-103, 105, 111, 115, 117-122, 124, 125, 128, 129, 133, 149, 164, 196, 226, 232 Prinzip (archē) 104-117, 189, 207 Propatheia 239 Pythagoreismus 139 Raum 39, 94, 96, 98, 99, 121, 176 Rhetorik 21, 31-33, 35, 36, 146 Rechte Vernunft (orthos logos) 89, 173, 180, 186, 199, 206, 207, 210, 233, 237, 246, 261 Rolle (persona) 24, 96, 133, 134, 173, 208, 220, 221, 269 Sagbares (lekton) 38, 39, 41-45, 96, 98, 100, 125, 228 Samen, göttlicher (logos spermatikos) 94, 106, 110, 111, 116, 136, 137, 143, 145, 149, 153, 155, 202 Schicksal (heimarmenē, fatum) 11, 27, 76, 77, 122-136, 146, 147, 160, 184, 187, 198, 213, 234, 240 Selbsterhaltung 165, 166, 168, 170, 171, 208 Selbstliebe 165, 167, 169, 170, 171, 211 Sexualität 252, 254, 255, Skepsis 14, 18, 19, 29, 34, 35, 47, 55, 56, 64, 78, 80, 81, 89, 91, 92, 100-102, 123, 144, 147, 150, 155, 182, 189, 193, 213, 258, 259 Sklave, Sklaverei 29, 249, 263, 264 Sokratik, Sokratiker 164, 223 Sophistik 93, 164, 220 Sozialtrieb 168, 169 Spannung, Spannungsbewegung 102, 118, 120, 125, 185, 196, 203, 232 Spiegelargumente (parabolai) 58, 150, 155 Streben (unter Vorbehalt) 18, 89, 90, 163-167, 186, 187, 189, 191, 192, 201, 208, 210-212, 227, 232, 234-237, 241 Suizid 16, 22, 29, 216 Syllogismus 32, 55, 58-72, 237, 242 Syllogismus, komplexer 72-76 Sympathie (sympatheia) 27, 109, 118, 120, 122, 174, 256 Themata 64, 72, 75 Theodizee 131, 142, 158, 159 Tugend 14, 35, 60, 95, 147, 152, 158, 161, 163165, 176, 178-185, 187, 189, 190, 192-224, 234, 235, 237, 238, 241, 242, 244, 245, 249, 251, 252, 254, 256, 259, 262, 264 Tugendhaftes Handeln (katorthōma) 183, 206217 Trugschluss (sophisma) 34, 63 Überleben (der Seele) 24, 141

Sachregister Unkörperliches 38, 39, 40, 41, 44, 45, 56, 79, 96, 98, 99, 106, 124, 125 Ursachen (aitiai) 27, 40, 42, 48, 56, 116, 122136, 140, 218, 245 Utopie 247, 263 Verantwortung 11, 79, 122, 126, 127, 133, 135, 136, 146, 173, 175, 212, 228, 238, 241 Vorbegriff (prolēpsis) 62, 79, 83-86, 89, 154, 175, 176, 177 Vorsehung (pronoia) 10, 23, 34, 122, 129, 131, 133, 135, 137, 143, 146, 161, 234, 260, 262, 264 Wahrheitswert 43, 46, 47, 53, 62, 65, 67 Wahrnehmung 19, 21, 40, 42, 78, 79-87, 89-91, 139, 163, 167, 170, 185, 209, 228, 236, 237 Weiser 33, 78, 88, 89, 91, 92, 156, 217-224, 254, 255, 256, 257, 259, 260 Weisheit 10, 35, 83, 86, 92, 154, 159, 181, 189, 194, 195, 198, 200, 202, 210, 211, 213, 214, 217-224, 239, 241, 245, 248, 250, 251, 256, 257, 259, 261-264

Weissagung, Mantik 21, 24, 27, 66, 73, 74, 76, 129, 130, 133, 146, 151, 153 Weltseele 107, 109, 116, 137, 138, 154 Weltverbrennung (ekpyrōsis) 20, 21, 24, 110, 111, 114-116, 136-143, 224 Weltzyklus 107, 110, 111, 114, 136-143 Wert (axia) 188, 189, 211, 229 Willensfreiheit 11, 128, 136 Willensschwäche 199, 237, 238 Wohlfluss (des Lebens) 174, 178, 180, 206, 216, 234, 235 Wohlwollen (eunoia) 159, 241, 242, 267 Zeichen 10, 16, 27, 54, 55, 57, 66, 70, 73, 101, 125, 129, 180, 192, 212 Zeit 39, 40, 96, 97, 98, 99, 141, 142 Zentralorgan (hēgemonikon) 37, 41, 78, 79, 80, 82, 95, 108, 109, 116, 118, 150, 152, 170, 197, 201, 226, 237, 239 Zufall 128, 129, 130, 176 Zustimmung (syngkatathesis) 63, 76, 79, 87, 88, 90, 126, 127, 132, 133, 177, 201, 216, 217, 228, 230, 232, 237-239, 243

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Register

Personenregister Antike Achilles 109, 110 Aëtius 30, 79, 80, 81, 82, 83, 84, 93, 94, 99, 108, 115, 121, 122, 136, 154, 176, 200, 218, 221 Aenesidemus 73 Agis IV 18, 265 Alexander von Aphrodisias 11, 14, 30, 49, 66, 71, 72, 75, 76, 77, 84, 85, 88, 95, 102, 105, 106, 110, 115, 117, 118, 120, 123, 126, 128, 129, 130, 131, 132, 133, 136, 140, 146, 183, 186, 223, 225, 228, 237 Alexander von Lykopolis 139 Alexinos 58, 150, 155 Ammonios 56, 71 Anaxagoras 54 Anaximenes 107 Andronicus 225, 230, 231, 232, 240, 241, 242, 267 Antigonos Gonatas 16, 265 Antiochus von Askalon 33 Antipater von Sidon 14 Antipater von Tarsus 21, 22, 23, 24, 33, 36, 38, 49, 59, 71, 72, 73, 89, 109,178, 180, 181, 182, 189, 193, 211, 266 Antisthenes 224 Apollodor aus Seleukeia 18, 21, 89, 95, 98, 254, 259 Apollonios (Chrysipps Vater) 18 Apollonios aus Nysa 25 Apollonios von Molon 25 Apuleius 49, 71, 72, 75 Archedem von Tarsus 21, 33, 36, 38, 49, 97, 105, 111, 178, 181 Archelaos 114 Archilochos 155 Aristarch (Grammatiker) 155 Aristarch von Samos 17, 152 Aristokles 106, 116 Ariston von Chios 14, 15, 17, 18, 34, 145, 189, 190, 193, 203, 205, 206, 244, 245, 265 Aristophanes (Archon) 16 Aristoteles 13, 18, 24, 28, 32, 46, 48, 50, 54, 55, 58, 70, 71, 72, 75, 93, 99, 110, 113, 114, 136, 138, 139, 144, 146, 149, 151, 152, 154, 173, 177, 181, 195, 197, 198, 200, 217, 218, 219, 235, 236, 237, 238, 243, 246

Arius Didymus 20, 28, 30, 96, 106, 109, 110, 111, 112, 113, 114, 116, 124, 152, 166, 250, 260 Arkesilaos 17, 18, 19, 34, 91, 213, 247 Arrhenides 14 Arrian 29, 30, Athenaios aus Attaleia 28, 250, 254 Athenodoros 16, 49 Atticus 23, 205 Augustinus 36, 268 Aulus Gellius 44, 56, 68, 123, 129, 131, 132, 161, 185, 239 Blossius 266 Boethius 69, 76, 77 Boethos aus Sidon 21, 89, 90, 138 Burrus 29 Calcidius 79, 105, 106, 110, 130, 137 Cassiodor 69 Cassius 249 Catilina 26 Chremonides 16 Chrysipp 10, 13, 14, 18-20, 27, 28, 29, 30, 32, 33, 34, 35, 36, 37, 38, 39, 48, 49, 51, 52, 53, 57, 58, 59, 65, 66, 67, 68, 73, 74, 76, 77, 79, 80, 81, 83, 84, 85, 87, 89, 93, 97, 98, 100, 104, 107, 109, 110, 111, 112, 113, 114, 115, 116, 119, 120, 121, 122, 124, 125, 126, 127, 130, 131, 132, 133, 134, 137, 138, 140, 142, 145, 146, 148, 151, 152, 153, 161, 169, 170, 176, 177, 178, 179, 180, 182, 183, 184, 185, 187, 201, 204, 206, 207, 210, 215, 218, 221, 223, 225, 226, 228, 231, 233, 234, 243, 244, 245, 246, 247, 249, 251, 252, 253, 254, 255, 257, 259, 260, 261, 263, 264, 265 Cicero 9, 14, 21, 22, 23, 24, 25, 26, 29, 30, 33, 47, 48, 57, 73, 77, 79, 81, 82, 83, 84, 85, 86, 87, 88, 89, 90, 91, 95, 108, 110, 113, 117, 119, 122, 123, 126, 127, 128, 129, 131, 132, 133, 138, 142, 143, 144, 145, 147, 148, 149, 151, 152, 153, 154, 155, 166, 167, 168, 169, 170, 171, 172, 173, 174, 175, 176, 179, 180, 181, 182, 183, 184, 185, 188, 189, 190, 191, 193, 194, 197, 199, 200, 201, 202, 205, 207, 208, 209, 210, 211, 212, 213, 214, 215, 216, 218, 219, 220, 221, 222, 223, 225, 228, 229, 230, 231, 232, 233, 234, 235, 239, 240, 241, 244, 247, 248, 252, 253, 257, 259, 261, 264, 266, 267, 268, 269

Personenregister Claudius 29 Clemens von Alexandrien 11, 28, 30, 108, 112, 118, 122, 123, 125, 126, 128,139, 142, 145, 180, 181, 182, 193, 195, 218, 222, 231, 241, 251, 254, 261, 262 Cornutus 110 Crassus 23 Dardanos 25, 28 Demetrios von Magnesia 20 Dexippos 101 Diagoras von Melos 147 Dikaiarch 24 Diodoros Kronos (Dialektiker) 15, 34, 49, 52, 53, 57, 65, 76, 77 Diodoros aus Alexandria 28 Diogenes von Apollonia 93 Diogenes von Babylon 20, 21, 22, 23, 33, 34, 36, 37, 38, 51, 52, 73, 138, 150, 156, 166, 178, 180, 182, 190, 191, 246 Diogenes (der Kyniker), 224, 251, 253, 255, 260 Diogenes Laertius 14, 16, 17, 18, 19, 20, 24, 30, 33, 34, 36, 41, 43, 44, 49, 50, 51, 53, 55, 56, 58, 59, 61, 63, 64, 66, 77, 78, 82, 83, 85, 87, 89, 91, 94, 96, 99, 105, 107, 109, 111, 112, 113, 114, 116, 148, 166, 167,168, 170, 176, 177, 178, 179, 180, 181, 182, 186, 188, 190, 193, 194, 201, 206, 208, 219, 226, 241, 242, 246, 249, 250, 251, 252, 254, 259, 265, 267 Diokles von Magnesia 78, 82 Dion (Chrysostomus) von Prusa 109, 110, 138, 262 Dionysios aus Herakleia 15, 17 Dionysios von Kyrene 21 Domitian 29 Empedokles 107, 139 Epiktet 13, 29, 30, 34, 35, 36, 43, 59, 62, 85, 95, 132, 134, 156, 160, 161, 175, 185, 187, 192, 200, 201, 207, 213, 214, 234, 239, 240, 241, 262 Epikur 13, 54, 82, 89, 95, 145, 154, 168, 223, 259 Epiphanius, 141 Eubulides 155 Euripides 233 Eusebius 106, 108, 134, 138, 140, 141, 247, 250, 260 Fronto 209 Galen 11, 14, 18, 25, 28, 30, 37, 56, 66, 68, 69, 72, 75, 82, 83, 88, 95, 96, 105, 108, 116, 117, 118, 120, 123, 126, 181, 199, 203, 204, 224,

225, 226, 227, 229, 230, 231, 232, 233, 235, 242, 243, 244, 245 Geminos aus Rhodos 28 Hadrian 29 Hekaton aus Rhodos 25, 179, 266 Heraklit 17, 93, 107, 108, 112, 139, 145, 149, 160, 161 Herillos aus Karthago 15, 17 Hermippos 20 Hesiod 15, 93, 110, 113, 151, 160 Hierokles 141, 164, 166, 167, 169, 170 Hippolytos 134 Homer 160, 217 Iason (Archon) 16 Iason von Nysa 28 Isidor von Sevilla 69 Iunius Rusticus 30 Johannes Chrysostomus 253 Kallimachos 52 Kallippos 15 Karneades 20, 21, 22, 34, 182 Kleanthes 13, 14, 16-18, 19, 29, 30, 33, 34, 57, 80, 95, 105, 113, 115, 116, 131, 134, 137, 138, 140, 141, 145, 146, 147, 148, 151, 152, 156, 158, 160, 161, 178, 179, 180, 182, 185, 203, 204, 207, 217, 223, 231, 246, 247, 252, 262, 264, 265 Kleomenes III 18, 265, 266, 267 Krates (der Kyniker) 15, 246 Krates von Mallos 22, 23 Krinis 49, 51, 53, 58 Kritolaos 20 Laelius 23, 267 Laktanz 252 Lykades 19 Lykurg 265 Manilius 26 Mark Aurel 13, 29, 30, 35, 185, 187, 241, 261 Marcianus 261 Martianus Capella 69 Menedemos von Eretria 203 Mnaseas 14 Mnesarchos 23, 25, 28 Nemesius 26, 37, 95, 102, 116, 117, 118, 129, 131, 138, 139, 140, 141, 232 Nero 29 Numenius 213, 247 Origenes 36, 84, 105, 110, 139, 140, 145, 153, 210, 231, 254, 259

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Register Panaitios 13, 14, 22-25, 27, 35, 130, 138, 146, 166, 178, 181, 182, 205, 208, 214, 215, 246, 248, 257, 266, 267, 268, 269 Paulus 10 Persaios 14, 15, 16, 264, 265 Philodem 23, 24, 30, 223, 246, 249, 252, 253, 254, 257 Philon (der Dialektiker) 15, 34, 49, 52, 53, 76, 77 Philon Judaeus 26, 30, 102, 105, 114, 115, 118, 119, 138, 139, 256, 264 Philonides 15, 16, 265 Philoponos 71 Pindar 9 Piso 29 Philistion von Locri 117 Platon 13, 24, 31, 93, 106, 111, 112, 114, 138, 139, 142, 144, 145, 147, 150, 165, 181, 190, 197, 198, 203, 217, 219, 223, 235, 236, 237, 238, 243, 247, 256 Plotin 26, 100 Plutarch 10, 11, 17, 19, 30, 36, 52, 57, 77, 83, 84, 85, 86, 88, 91, 96, 97, 99, 101, 102, 103, 105, 106, 107, 108, 109, 114, 116, 117, 118, 119, 120, 121, 122, 123, 124, 126, 128, 129, 130, 131, 132, 135, 137, 138, 140, 143, 149, 152, 154, 156, 164, 168, 169, 170, 175, 176, 180, 182, 183, 185, 189, 195, 197, 201, 203, 204, 207, 209, 210, 218, 219, 221, 222, 223, 225, 227, 228, 229, 231, 232, 233, 234, 235, 237, 238, 239, 246, 247, 248, 249, 250, 251, 253, 254, 257, 262, 263, 264, 265, 266, 267 Polemon 15, 31, 93 Polybios 23, 26 Polygnot 13 Pompeius 25 Porphyrios 168 Poseidonios 10, 13, 14, 25-29, 35, 36, 89, 93, 95, 97, 105, 107, 109, 122, 130, 178, 179, 181, 182, 224, 244, 245, 267 Poseidonios aus Alexandrien 15 Prodikos von Keos 147 Proklos 106 Protagoras 144 Pseudo-Lukian 16, 26 Ptolemaios III Euergetes 265 Ptolemaios Philadelphos 18, 217 Ptolemaios IV Philopator 18 Scipio Aemilianus 23, 267, 268 Seneca 13, 14, 26, 29, 30, 99, 123, 156, 158, 166, 167, 168, 171, 176, 179, 184, 187, 190, 192, 201, 202, 204, 206, 210, 211, 214, 215, 218,

220, 222, 223, 233, 234, 235, 238, 239, 240, 244, 245, 262, 263, 264, 265 Servius 111 Sextus Empiricus 11, 30, 45, 49, 55, 58, 59, 60, 64, 66, 70, 73, 74, 75, 85, 90, 94, 95, 105, 122, 123, 125, 126, 147, 149, 151, 153, 154, 155, 156, 175, 194, 209, 210, 222, 223, 229, 253 Simplicius 39, 75, 76, 100, 102, 103, 115, 119, 141, 195, 196 Sokrates 24, 89, 149, 207, 223, 224, 235, 257 Soson aus Askalon 25 Sphairos 15, 18, 20, 34, 57, 217, 264, 265, 266 Stilpon 15 Stobaeus 17, 22, 30, 34, 39, 43, 99, 105, 110, 111, 112, 113, 114, 118, 119, 120, 123, 124, 125, 129, 130, 131, 132, 134, 136, 137, 152, 156, 166, 169, 170, 173, 178, 179, 180, 181, 187, 188, 189, 190, 191, 194, 195, 196, 197, 204, 205, 209, 210, 211, 212, 213, 215, 216, 219, 220, 221, 222, 225, 227, 228, 229, 230, 231, 232, 233, 234, 238, 239, 240, 241, 244, 251, 254, 256, 259, 261, 262, 264, 267 Strabo 18, 25 Stratokles aus Rhodos 25 Straton von Lampsakos 93 Syrianus 106 Tatian 139, 224 Thales 107 Themistius 123 Theodoret 251 Theodoros von Kyrene 147 Theophilus 145 Theophrast 24, 32, 93 Tiberius Gracchus 266 Tubero 24 Valerius Probus 110 Varro 26, 36, 37 Vergil 26 Vitruv 26 Xenokrates 24, 93 Xenophon 207, 223 Zenon von Kition 13, 14-16, 29, 30, 31, 33, 34, 38, 49, 52, 57, 58, 80, 87, 90, 91, 93, 96, 98, 104, 105, 107, 108, 110, 111, 112, 113, 114, 115, 116, 124, 128, 134, 138, 139, 141, 145, 146, 148, 149, 150, 151, 152, 155, 169, 178, 179, 180, 182, 188, 197, 203, 204, 206, 207, 212, 213, 217, 223, 224, 225, 226, 227, 230, 246, 247, 248, 249, 250, 251, 252, 258, 259, 260, 263, 265 Zenon aus Sidon 16, 26 Zenon aus Tarsus 20

Personenregister

Moderne Abel, K. 224 Ademollo, F., 144, 145 Alesse, F. 163 Algra, K. 146, 147, 149, 151, 153, 155, 156, 158, 163, 169, 170 Annas, J. 22, 78, 80, 88, 218, 220, 223 Arnim, H. von 7, 14, 16, 19 Arthur, E. P. 81, 88 Ax, W. 36, 37 Babut, D. 254 Bächli, C. 79 Bailey, D. T. J. 96, 97, 99, 100 Baldry, H. C. 247 Banateanu, A. 30,195, 251, 255 Barnes, J. 35, 37, 43, 58, 138, 139, 140, 141, 142 Barney, R. 190, 192, 193, 199 Barwick, K. 36 Bees, R. 163, 167, 247, 253, 255, 259 Bénatouïl, Th. 146 Blank, D. 145 Blundell, M. W. 163 Bobzien, S. 43, 45, 46, 52, 53, 56, 59, 60, 62, 63, 65, 66, 67, 68, 69, 72, 75, 76, 77, 123, 124, 125, 126, 127, 128, 130, 131, 134, 136 Bochenski, J. M. 100 Bonhoeffer, A. 178, 230, 232 Bormann, K. 224 Botros, S. 123, 136 Bowin, J. 102 Boyancé, P. 147 Boys-Stones, G. R. 145, 254 Bremer, J. M. 157, 158 Brennan, T. 88, 173, 187, 192, 207, 213, 216, 217, 224, 227, 228, 241, 242 Brink, C. O. 163 Brittain, C. 83, 84, 86, 130 Brower, R. 218, 219, 220, 222, 223 Brown, E. 260, 265 Brunschwig, J. 16, 38, 41, 48, 49, 55, 59, 86, 94, 95, 96, 97, 98, 99, 101, 102, 147, 152, 156, 163, 187, 224 Buddensiek, F. 224, 225, 228, 231, 240 Burkert, W. 11 Burnyeat, M. 147 Caston, V. 99, 100 Clark, St. R. L. 249, 250 Cooper, J. 106, 109, 114, 115, 224, 242, 243, 244 Crönert, W. 20 Dienstbeck, St. 10, 106, 146, 150 Dragona-Monachou, M. 147

Dyck, A. R. 22, 266 Dyson, H. 78, 83, 85 Ebert, Th. 34, 49, 52, 53, 60, 63 Engberg-Pedersen, T. 163, 224 Ernst, G. 9, 12 Erskine, A. 246, 247, 255, 263, 265, 266, 267 Forschner, M. 10, 93, 132, 154, 163, 174, 208, 224 Frede, D. 10, 127, 129, 130, 132, 136, 144, 145, 147, 150 Frede, M. 10, 31, 34, 38, 39, 41, 43, 44, 46, 47, 51, 52, 56, 59, 64, 66, 67, 69, 70, 71, 72, 75, 77, 78, 81, 82, 83, 87, 88, 89, 90, 93, 101, 102, 105, 106, 109, 112, 113, 122, 125, 144, 163, 175, 224, 229, 235 Fritz, K. von 13, 14, 15, 16 Furley, D. 94, 138, 157, 158 Gelinas, L. 147, 148, 151, 152, 155 Gemelli, M. L. 11 Gill, C. 163, 208, 224, 231, 233, 242, 243, 244 Glei, R. 156, 158 Görgemanns, H. 163 Görler, W. 88, 127, 128 Goldschmidt, V. 97 Gosling, J. 238, 239 Gould, J. B. 121 Goulet, R. 49, 145 Goulet-Cazé, M.-O. 247 Gourinat, J.-B. 9, 31, 35, 36, 37, 38, 40, 41, 43, 45, 47, 48, 50, 53, 54, 55, 57, 58, 61, 62, 63, 65, 66, 67, 68, 69, 70, 71, 72, 74, 75, 76, 104, 106, 107, 109, 122, 130, 133, 199, 207, 209, 213, 215, 217 Graeser, A. 79, 100, 104, 231, 232 Graver, M. 132, 135, 224, 226, 227, 228, 233, 242, 244 Grumach, E. 165, 188 Guckes, B. 224 Habsmeier, M. 224 Hadot, P. 31 Hahm, D. E. 14, 93, 96, 105, 106, 107, 109, 110, 111, 112, 113, 114, 115, 116, 117, 138, 139 Halbig, C. 224, 231, 235, 238 Hankinson, R. J. 78, 80, 129, 130, 132, 133, 154 Haynes, R. P. 239, Herbermann, C.-P. 36 Hoffmann, P. 97 Horn, C. 220 Hülser, K. 7, 48 Ierodiakonou, K. 15, 31, 57, 69, 70, 75, 150, 178 Imbert, C. 33

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Register Inwood, B. 10, 158, 163, 199, 209, 227, 235, 242, Ioppolo, A. M. 127, 145 Irvine, W. B. 9 Irwin, T. H. 224 Isnardi Parente, M. 95, 104, 163 Jackson-McCabe, M. 84 Jedan, C. 132, 133, 134, 198, 203, 204 Joachim, H. H. 237 Joyce, R. 233, 238 Ju, A. 98 Kerferd, G. B. 163, 171, 220 Kidd, I. 7, 11, 14, 27, 28, 35, 89, 178, 182, 242, 243 Klein, J. 163, 164, 166, 182, 192 Kneale, W. und M. 51, 72 Knuuttila, S. 224 Koster, S. 12 Krämer, H.-J. 93, 104 Krewet, M. 224 Kullmann, W. 246, 260 Kupreeva, I. 100, 101, 102 Laks, A. 147 Landweer, H. 224 Lapidge, M. 93, 104, 106, 107, 108, 110, 113, 115 Lee, Ch. U. 163, 165 Lefèvre, E. 25, 266, 268 Lesses, G. 82, 83 Lewis, E. 102, 141 Liu, J. 218, 220 Lloyd, A. C. 49, 100 Lorenz, H. 224, 230, 242, 243, 244 Long, A. A. 7, 93, 121, 125, 131, 134, 137, 138, 141, 142, 145, 147, 160, 163, 167, 178, 184, 231, 239 Łukasiewicz, J. 32 Malitz, J. 28 Manetti, G. 54 Mansfeld, J. 30, 36, 78, 138, 139, 142, 143, 144, 145, 147, 150, 153, 178, 218, 247, 259 Matelli, E. 11 Mates, B. 53, 67, 72 Meijer, P. A. 147, 148, 149, 150, 151, 152, 153, 155, 156 Meinwald, C. 88 Menn, St. 100, 101, 103, 186, 206 Meyer, S. S. 123 Mignucci, M. 61, 63, 72 Mitsis, P. 246, 260, 265 Mizuchi, M. 16 Möckel, S. 224

Most, G. 11 Mueller, I. 70 Newmark, C. 224 Neymeyr, B. 9 Nolan, D. 98, 99, 121 Nussbaum, M. 224, 225, 233, 235, 242 Obbink, D. 248, 252 Orelli, L. 11 Papadi, St. 224 Parker, R. 158 Pembroke, S. G. 163, 165, 169 Philippson, R. 163 Pies, R. 9 Plasberg, O. 48 Pohlenz, M. 19, 100, 103, 108, 112, 149, 151, 156, 158, 163, 169, 178, 225, 242, 257 Powers, N. 147, 149, 150 Price, A. W. 224, 226 Puhle, A. 24 Radice, R. 163 Ranocchia, G. 242, 244, 245 Reed, B. 80, 81, 82 Reesor, M. 100, 178, 220 Reinhardt, K. 25, 26 Renz, U. 224 Reydams-Schils, G. 163, 170 Rieth, O. 104, 178, 188, 195, 196 Ricken, F. 237 Rist, J. M. 178 Robertson, D. 9 Romeyer Dherbey, G. 141, 167 Rowe, C. 247 Runia, D. T. 218 Salles, R. 129, 136, 137, 140, 141, 224 Sambursky, S. 77, 100, 118, 119, 120, 121, 185 Sandbach, F. H. 83, 101, 175 Schallenberg, M. 48, 76, 77, 126, 127, 128, 136 Schenkeveld, D. M. 37 Schmeller, Th. 29 Schmidt, J. 9 Schönrich, G. 163 Schofield, M. 30, 57, 82, 83, 97, 147, 150, 151, 170, 175, 203, 246, 247, 248, 249, 251, 252, 254, 255, 256, 257, 259, 261 Scholz, P. 265 Schröder, St. 122, 128 Schubert, A. 39, 40, 41, 42, 44, 45, 46, 100, 101, 102, 104 Schütrumpf, E. 163 Sedley, D. 7, 16, 34, 82, 93, 96, 99, 100, 101, 102, 107, 112, 125, 127, 142, 144, 147 Sellars, J. 9

Personenregister Sier, K. 156, 158, 159, 160 Sihvola, J. 224 Sorabji, R. 84, 131, 136, 187, 224, 242, 243 Steinmetz, P. 12, 15, 16, 17, 18, 19, 20, 25, 26, 29, 151, 156, 158, 160 Straaten, M. van 7, 23, 24, 138, 146, 178, 182 Strange, St. K. 9 Striker, G. 86, 89, 90, 163 Tarrant, H. 89, 90 Tieleman, T. 224, 244 Thiel, C. 12 Thom, J. C. 159, 160 Todd, R. B. 97, 121 Tsekourakis, D. 181, 195, 215 Tsouna, V. 198, 259 Tugendhat, E. 45

Vander Waerdt, P. A. 247, 248, 256, 259 Veillard, C. 215 Virieux-Reymond, A. 100 Vogt, K. 84, 85, 86, 95, 118, 123, 193, 224, 225, 238, 240, 242, 248, 250, 254, 255, 259 Vollenweider, S. 29, 160 Weidemann, H. 99 White, M. J. 94, 95, 98, 99, 121 Wildberger, J. 44, 95, 96, 97, 99, 109, 116, 117, 118, 136, 143, 149, 151 Winiarczyk, M. 147 Wolf, U. 45 Zagdoun, M.-A. 163, 166 Zimmermann, B. 9 Zuntz, G. 156, 160 Zupko, J. 9

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Über den Inhalt Maximilian Forschners neue große Gesamtdarstellung zur Geschichte und Philosophie der Stoa schließt eine empfindliche Lücke in der Forschungs- und Studienliteratur. Souverän und quellennah geschrieben, bietet das Werk einen hervorragend lesbaren Überblick über das Denken der Stoa auf aktuellstem Forschungsstand.

Über den Autor Prof. Dr. Maximilian Forschner, geb. 1943, war von 1982–1985 Ordinarius für Philosophie an der Universität Osnabrück. Bis 2008 war er dann Inhaber des Lehrstuhls für Praktische Philosophie an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Er ist Autor zahlreicher Publikationen zur Philosophie der Antike.