136 80 14MB
German Pages 153 Year 2001
MARIUS BOEWE
Die parlamentarische Befassungskompetenz unter dem Grundgesetz
Beiträge zum Parlamentsrecht Herausgegeben von Ulrich Karpen, Heinrich Oberreuter, Wolfgang Zeh in Verbindung mit Peter Badura, Wolfgang Heyde, Joachim Linck Georg-Berndt Oschatz, Hans-Peter Schneider Uwe Thaysen
Band 49
Die parlamentarische Befassungskompetenz unter dem Grundgesetz Eine Untersuchung zum allgemeinpolitischen Mandat von Volksvertretungen
Von Marius Boewe
Duncker & Humblot · Berlin
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme
Boewe, Marius:
Die parlamentarische Befassungskompetenz unter dem Grundgesetz : eine Untersuchung zum allgemeinpolitischen Mandat von Volksvertretungen / Marius Boewe. Berlin : Duncker und Humblot, 2001 (Beiträge zum Parlamentsrecht ; Bd. 49) Zugl.: Freiburg (Breisgau), Univ., Diss., 2000 ISBN 3-428-10358-0
Alle Rechte vorbehalten © 2001 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Selignow Verlagsservice, Berlin Druck: Werner Hildebrand, Berlin Printed in Germany ISSN 0720-6674 ISBN 3-428-10358-0 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 θ
Für Flavia
Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Wintersemester 1999/2000 von der Rechts wissenschaftlichen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i. Br. als Dissertation angenommen. Sie wurde für die Drucklegung überarbeitet und auf den Stand vom 31. Dezember 1999 gebracht. Mein Dank gilt an erster Stelle meinem Doktorvater, Herrn Prof. Dr. Thomas Würtenberger. Er hat diese Arbeit während ihres anderthalbjährigen Entstehens betreut und mit zahlreichen Anregungen den Fortgang derselben gefördert. Danken möchte ich auch Herrn Prof. Dr. Ulrich Karpen und Herrn Prof. Dr. Peter Badura für die Bereitschaft, diese Arbeit in die Schriftenreihe zum Parlamentsrecht aufzunehmen. Der Konrad-Adenauer-Stiftung möchte ich für die langjährige Förderung während des Studiums und der Promotion danken. Durch die großzügige Unterstützung des Deutschen Bundestages wurde die Drucklegung der Arbeit in der vorliegenden Fassung ermöglicht. Es ist mir ein inneres Anliegen, einige Personen hervorzuheben, ohne deren Hilfe diese Arbeit niemals entstanden wäre. Alexis von Komorowski verdanke ich die Anregung zur Bearbeitung dieses Themas. Er war und ist mir ein wertvoller und mit unbegrenzter Geduld ausgestatteter Diskurspartner. Dirk Schöneweiß nahm nicht nur die Mühen des Korrekturlesens auf sich, sondern war mir - nicht nur in dieser Zeit - ein wichtiger Ansprechpartner und eine große Stütze. Corinna Deufel danke ich ebenfalls für das kritische Durchsehen des Manuskriptes. Für dies und für ein gegenseitiges Antreiben in Motivationskrisen danke ich meinem Studien- und Promotionskollegen Sebastian Berger sowie meiner Lehrstuhlkollegin Ursula Seelhorst. Des weiteren gilt mein Dank Werner Finger, Dirk Schumann und Jan Wolters für manch tatkräftige, freundschaftlich-moralische Unterstützung sowie Thorsten Wölfle, dessen Computerkenntnisse mich vor manchem Unheil bewahrten. Anke möchte ich gerade auch an dieser Stelle von ganzem Herzen dafür danken, daß sie mein Leben mit Freude erfüllt. Besonderer Dank gilt meinen Eltern. Sie sind mir Zeit meines Lebens beigestanden und ermöglichten es, daß ich meine beruflichen Ziele nach eigenen Vorstellungen verwirklichen konnte. Ich hoffe, sie werden sich darüber freuen, daß ich diese Arbeit dem Andenken meiner Schwester Flavia widme. Badalucco, im Sommer 2000
Marius Boewe
Inhaltsverzeichnis Erster Teil
Problemdarstellung und Streitstand in Literatur und Rechtsprechung 1. Problemdarstellung und Untersuchungsgegenstand a) Beispiele aus der Praxis des Deutschen Bundestages b) Beispiele aus Debatten des Landtages von Baden-Württemberg c) Beispiele aus anderen Bundesländern 2. Darstellung des Streitstandes in der Literatur 3. Darstellung der Rechtsprechung
15 15 17 18 19 19 27
Zweiter Teil Kompetenzfreies Handeln von Staatsorganen 1. Die Entwicklung der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung zur Reichweite von Art. 30 GG a) Das erste Volksbefragungsurteil vom 30. Juli 1958 b) Das erste Femseh-Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 28. Februar 1961 c) Das Jugendhilfe-Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 18. Juli 1967 ... d) Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Öffentlichkeitsarbeit der Bundesregierung vom 2. März 1977 2. Die Behandlung von kompetenzfreien Räumen in der Literatur a) Die Lehre vom Verbandskompetenzfreien Raum b) Die Ansicht, von Art. 30 GG werde nur reinfiskalisches Handeln nicht erfaßt c) Die Ansicht, Art. 30 GG erfasse lückenlos die Gesamtheit aller staatlichen Tätigkeiten 3. Eigene Stellungnahme a) Auseinandersetzung mit den Argumenten der Vertreter eines verbandskompetenzfreien Raumes b) Das Verhältnis von Staat und Verfassung als Legitimation eines verbandskompetenzfreien Raumes? aa) Die von der Existenz eines präkonstitutionellen Staates ausgehende Ansicht bb) Die von dem aus der Verfassung geborenen Staat ausgehende Ansicht . cc) Eigene Stellungnahme c) Resümee: Keine Existenz verbandskompetenzfreier Räume
32
32 33 34 34 35 37 38 40 40 41 41 42 43 45 47 47
10
nsverzeichnis
Dritter Teil
Ungeschriebene Organkompetenzen im Geltungsbereich des Grundgesetzes
49
1. Keine explizite Kompetenzzuweisung 2. Die bisherige Auseinandersetzung mit ungeschriebenen Oigankompetenzen 3. The Doctrine of Implied and Resulting Powers a) Entstehung in den U. S. A b) Die Entwicklung ungeschriebener Bundeszuständigkeiten in Deutschland ... c) Ungeschriebene Bundeszuständigkeiten unter dem Grundgesetz aa) Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bb) Der Streitstand in der Literatur 4. Faktisch anerkannte stillschweigende Organkompetenzen unter dem Grundgesetz a) Das materielle Prüfungsrecht des Bundespräsidenten b) Weitere stillschweigende Kompetenzen des Bundespräsidenten c) Stillschweigende Aufgaben der Bundesregierung 5. Übertragbarkeit der Implied Powers-Grundsätze auf Organkompetenzen a) Diskussion in den U. S. A aa) Youngstown Sheet & Tube Co. v. Sawyer bb) United States v.Nixon cc) Goldwater v. Carter dd) In re Debs ee) Bewertung b) Ansätze in der deutschen Staatsrechtslehre und eigene Wertung
49 49 50 50 53 55 55 56
Vierter
58 58 60 62 63 63 63 64 66 67 67 70
Teil
Die parlamentarische Kompetenz zur Ausübung des allgemeinpolitischen Mandats
76
1. Verfassungsgewohnheitsrechtliche Kompetenz 2. Das allgemeinpolitische Mandat als stillschweigende Oigankompetenz a) Die in der Staatsrechtslehre vertretenen Repräsentationsmodelle aa) Die absorptive Repräsentation bb) Die responsive Repräsentation (1) Grundsätzliche Herleitung (2) Staatsfreie Volkswillensbildung in der responsiven Demokratie ... (3) Die werbend-responsive Repräsentation cc) Die koresponsive bzw. diskursive Repräsentation b) Das vom Bundesverfassungsgericht vertretene Repräsentationsmodell aa) Das dem ersten Volksbefragungsurteil vom 30. Juli 1958 (BVerfGE 8, 104 ff.) zugrundeliegende Repräsentationsmodell bb) Das Parteienfinanzierungsurteil vom 19. Juli 1966 (BVerfGE 20,56ff.) cc) Das Öffentlichkeitsarbeitsurteil vom 2. März 1977 (BVerfGE 44, 125 ff.)
76 79 80 80 82 82 84 84 85 87 88 89 90
nsverzeichnis dd) Weitere diesbezüglich relevante Äußerungen des Bundesverfassungsgerichts c) Auseinandersetzung mit den verschiedenen Repräsentationsmodellen unter Berücksichtigung klassischer Parlamentstheorien 3. Etwaige verfassungsrechtliche Grenzen des allgemeinpolitischen Mandats der Volksvertretungen a) Das allgemeinpolitische Mandat der Parlamente im Verhältnis zur Judikative (Art. 97 Abs. 1GG) aa) Die Ansicht des Bundesverfassungsgerichts bb) Art. 97 Abs. 1 GG als reines Weisungsverbot cc) Art. 97 Abs. 1 GG als Verbot auch rein faktischer Beeinflussungen dd) Vermittelnde Ansichten bezüglich der Reichweite von Art. 97 Abs. 1 GG ee) Eigene Stellungnahme b) Das allgemeinpolitische Mandat der Parlamente im Verhältnis zur Exekutive aa) Die auswärtige Gewalt bb) Der Verwaltungsvorbehalt cc) Zusammenfassung c) Das allgemeinpolitische Mandat der Parlamente und die föderale Kompetenzverteilung d) Das allgemeinpolitische Mandat von Volksvertretungen und Doppelkompetenzen unter dem Grundgesetz aa) Die Diskussion im Rahmen des Art. 31 GG bb) Grundsätzliches Verbot von Doppelkompetenzen unter dem Grundgesetz? e) Das allgemeinpolitische Mandat der Volksvertretungen und die verfassungsrechtlichen Treueprinzipien aa) Das Prinzip der Bundestreue bb) Die Verfassungsorgantreue f) Zusammenfassung der Mißbrauchsgrenzen
11
91 93 102 102 103 104 104 105 107 110 111 113 114 114 119 119 121 126 126 129 132
Fünfter Teil
Zusammenfassung
133
Literaturverzeichnis
135
Stichwortverzeichnis
151
Abkürzungsverzeichnis a. Α. Abs. a. F. AG AK AöR Art. Aufl. BaWü BayVBl Bay Verf BayVerfGHE Bbg VerfG BGB BGBl BGSG BK BremBürgerschaft bspw. BT BVerfG BVerfGE BVerfSG BVerwG BVerwGE bzw. CDU CSU DDR ders. d.h. dies. DÖV DP DRiZ Drs DSchG DVB1 EAC EG
andere Ansicht Absatz alte Fassung Aktiengesellschaft Kommentar aus der Reihe der Alternativkommentare Archiv des öffentlichen Rechts Artikel Auflage Β aden-Württemberg Bayerische Verwaltungsblätter Verfassung des Freistaats Bayern Entscheidungen des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs Brandenburgisches Verfassungsgericht Bürgerliches Gesetzbuch Bundesgesetzblatt Bundesgrenzschutzgesetz Kommentar zum Bonner Grundgesetz (Bonner Kommentar) Bremische Bürgerschaft beispielsweise Bundestag Bundesverfassungsgericht Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts Bundesverfassungsschutzgesetz Bundesverwaltungsgericht Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts beziehungsweise Christlich Demokratische Union Deutschlands Christlich-Soziale Union Deutsche Demokratische Republik derselbe das heißt dieselbe Die öffentliche Verwaltung Deutsche Partei Deutsche Richterzeitung Drucksache Denkmalschutzgesetz Deutsches Verwaltungsblatt Encyclopedia of the American Constitution Europäische Gemeinschaften
Abkürzungsverzeichnis EGV f. F.D.P. ff. FG Fn. FN. FS gem. GG GmbH HBdDStR
HBdVR
Hess hrsg. Hrsg. i. d. F. i.E. i.S.v. i.V.m. JA JöR Jura JuS JWG JZ LG Ls. LT M/D/H/S MDR MinÖlG m. w. N. n.fc NJ NJW NPD NRW NVwZ PDS
13
Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft folgende (Seite) Freie Demokratische Partei fortfolgende (Seiten) Festgabe Fußnote (in der angegeben Quelle) Fußnote (Verweis auf vorhergehende Belege) Festschrift gemäß Grundgesetz Gesellschaft mit beschränkter Haftung Handbuch des Deutschen Staatsrechts, hrsg. von Gerhard Anschütz und Richard Thoma, Bände I und II, Tübingen 1930/32 HbdStR Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, hrsg. von Josef Isensee und Paul Kirchhof, Bände I-IV,VII, Heidelberg 1987 ff. Handbuch des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, hrsg. von Ernst Benda, Werner Maihofer und Hans-Jochen Vogel, Berlin 1994 Hessen herausgegeben Herausgeber in der Fassung im Ergebnis im Sinne von in Verbindung mit Juristische Arbeitsblätter Jahrbuch des öffentlichen Rechts Juristische Ausbildung Juristische Schulung Gesetz für Jugendwohlfahrt Juristenzeitung Landgericht Leitsatz Landtag Theodor Maunz, Günter Dürig, Roman Herzog, Rupert Scholz u.a., Kommentar zum Grundgesetz, Loseblattsammlung Monatsschrift für Deutsches Recht Mineralölgesetz mit weiteren Nachweisen neue Fassung Neue Justiz Neue Juristische Wochenschrift Nationaldemokratische Partei Deutschlands Nordrhein-Westfalen Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht Partei des demokratischen Sozialismus
14 PIPr PolG RhP Rndnr. Rspr. S. SchlH Sec. sog. SPD StGB str. SWEG u. a. u. ä. u. a. m. U.S.A. u. U. v. v. a. Verf Verw VerwArch VGH vgl. vM Vorbem. VVDStRL z. ZaöR z.B. zit. n. ZParl ZRP
Abkürzungsverzeichnis Plenarprotokolle Polizeigesetz Rheinland-Pfalz Randnummer Rechtsprechung Seite Schleswig-Holstein Section sogenannte(r/n) Sozialdemokratische Partei Deutschlands Strafgesetzbuch strittig Südwestdeutsche Verkehrs-AG unter anderem und ähnliches und anderes mehr United States of America unter Umständen von vor allem Verfassung Die Verwaltung Verwaltungs-Archiv Verwaltungsgerichtshof vergleiche Grundgesetz-Kommentar, hrsg. von Ingo von Münch und Philip Kunig Vorbemerkung Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer zu Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht zum Beispiel zitiert nach Zeitschrift für Parlamentsfragen Zeitschrift für Rechtspolitik
Erster Teil
Problemdarstellung und Streitstand in Literatur und Rechtsprechung 1. Problemdarstellung und Untersuchungsgegenstand Am 28. Juni 1950 debattierte der Deutsche Bundestag über einen Antrag der SPD-Fraktion auf Entlassung des damaligen Bundeswirtschaftsministers Ludwig Erhard (CDU). Dieser hatte einem an ihn herangetragenen parlamentarischen Ersuchen, den Brotpreis weiterhin zu stützen, nicht entsprochen. Während dieser Debatte kam es u. a. zu einer Auseinandersetzung über die Frage der Verbindlichkeit schlichter Parlamentsbeschlüsse. Deren Bindungswirkung bejahend, führte der Abgeordnete Carlo Schmid (SPD) aus: „Wenn das Parlament einen Beschluß faßt," habe „die Regierung diesen auszuführen" 1. Dem trat der Abgeordnete Hans-Joachim von Merkatz (DP) mit der Anmerkung entgegen: „Beschlüsse des Parlaments sind meiner Ansicht nach nur dann bindend, wenn sie in Gesetzesform ergehen. Alles andere bedeutet eine Anregung zur Erwägung, wie im Rahmen des praktisch Möglichen die Dinge geordnet werden können"2. Besagter Streit über die Verbindlichkeit sogenannter schlichter Parlamentsbeschlüsse wurde kontrovers diskutiert 3 und gerichtlich entschieden4. Es dauerte jedoch fast fünfzig Jahre, bis die mit dieser Diskussion untrennbar verbundene Frage nach der parlamentarischen Befassungskompetenz erstmals Gegenstand eines Urteils wurde. Am 28. Januar 1999 entschied das Brandenburgische Verfassungsgericht 5, daß es nicht in den Kompetenzbereich der Landtage falle, unverbindliche Appelle, die jenseits des eigenen Regelungsbereichs liegen, direkt an die Abgeordneten des Deutschen Bundestags zu richten. Hierbei wurde erstmals explizit seitens der Rechtspraxis zu einer Frage Stellung bezogen, der bislang weder die Literatur noch die Rechtsprechung größere Aufmerksamkeit gewidmet haben. Die Frage, ob ein „allgemeinpolitisches Mandat" von Volksvertretungen existiert, wurde bis dato lediglich von wenigen Gerichten und Autoren jeweils nur am Rande gestreift. Dies, 1
BT PlPr 1/S.3029. BT PlPr 1/S.3036. 3 Vgl. hierzu die grundlegenden Arbeiten von Seilmann, Der schlichte Parlamentsbeschluß (1966); Obermeier, Die schlichten Parlamentsbeschlüsse nach dem BonnerGG (1965); Crie gee, Ersuchen des Parlaments an die Regierung (1965), jeweils m. w. N. 4 BVerwGE 12, 16ff. 5 NVwZ 1999, S. 868-870 = DÖV 1999, S. 385-388. 2
16
I. Teil: Problemdarstellung und Streitstand in Literatur und Rechtsprechung
obwohl sich Rechtsprechung und Lehre in den vergangenen Jahrzehnten kontinuierlich mit dem „allgemeinpolitischen Mandat" von kommunalen Vertretungen 6 und anderen Körperschaften des öffentlichen Rechts7 - insbesondere Studentenschaften8 - auseinandersetzten. Das Ziel dieser Arbeit ist, jener Frage nachzugehen. Es soll untersucht werden, ob Volksvertretungen ein solches, thematisch unbegrenztes Mandat innehaben oder ob aus den Zuständigkeitsbereichen anderer Organe und Verbände ein verfassungsrechtliches Verbot regelungskompetenzübergreifender Debatten resultiert. Die Frage nach der Existenz eines „allgemeinpolitischen Mandats" von Volksvertretungen9 stellt sich umso mehr, wenn man die Debattierpraxis des Deutschen Bundestages sowie der einzelnen Landtage betrachtet. Dieses Verhalten widerspricht gänzlich den Grundsätzen und Schranken, die das brandenburgische Verfassungsgericht für die parlamentarische Befassungskompetenz aufgestellt hat, da sich die Abgeordneten bei Parlamentsdebatten und unverbindlichen Empfehlungen an keine kompetenzielle Schranke - weder auf der horizontalen noch auf der vertikalen Ebene - gebunden fühlen, sondern grundsätzlich jedes Thema öffentlich diskutieren. Diese Arbeit untersucht das parlamentarische Debattierrecht im Spannungsfeld verschiedener horizontaler und vertikaler Kompetenzbereiche. Deshalb wird bewußt auf die Auseinandersetzung mit der hierauf quasi aufbauenden Frage von Grundrechtsverletzungen durch informelles Staatshandeln verzichtet. Die hierbei auftretenden Fragen des Eingriffsbegriffs 10 sowie des Gesetzesvorbehalts werden in der Literatur unter dem Stichwort „Warnkompetenzen im Bundesstaat" breit diskutiert 11 . Desweiteren wird darauf verzichtet, der Frage nachzugehen, ob die hier gewonnenen Erkenntnisse auf das Europäische Parlament übertragen werden können. Eine Untersuchung der zahlreichen hiermit zusammenhängenden Sonderprobleme auf europäischer Ebene, wie bspw. der europäische Volksbegriff sowie die be6 BVerwGE 87,228 ff.; Ott, Der Parlamentscharakter der Gemeindevertretung (1994); v. Konto rowski, Äußerungsrecht der kommunalen Volksvertretungen, Der Staat 1998, S. 122 ff.; //«ber, Die Erklärung des Gemeindegebiets zur „atomwaffenfreien Zone", NVwZ 1982, S.662ff.; Lehnguth, Allgemeinpolitische Erklärungen und Beschlüsse von Gemeinden, DÖV 1989, S. 665 ff., jeweils m. w. N. 7 Zu der - nach wie vor - umstrittenen Frage des Parlamentscharakters der Gemeindevertretungen vgl. statt aller die grundlegenden Arbeiten von Schröder, Grundlagen und Anwendungsbereich sowie Ott (FN. 6). 8 Ablehnend die Rechtsprechung, vgl. nur BVerwGE 34, S. 69ff.; BVerwGE 59, S. 231 ff.; aus jüngster Zeit Hess VGH Urteil vom 5.2.1998, DVB1 1998, S. 972; der Rspr. folgend etwa v.Mutius, Zum „politischen Mandat" der Studentenschaften, VerwArchiv 63 (1972), S.453; ablehnend v. a. Ridder/Ladeur, Das sogenannte Politische Mandat von Universität und Studentenschaft (1973). 9 Soweit ersichtlich, wurde dieser Begriff erstmals von Isensee, Idee und Gestalt des Föderalismus im Grundgesetz in: HBdStRIV, §98 Rndnr. 195, S.628, von der körperschaftlichen auf die parlamentarische Ebene übertragen. 10 Murswiek, Staatliche Warnungen, DVB1 1997, S. 1021 ff. 11 Vgl. statt aller Voitl, Warnkompetenzen im Bundesstaat, 1994.
1. Problemdarstellung und Untersuchungsgegenstand
17
schränkte Einzelermächtigung des Europäischen Parlaments, würden zu einer nicht beabsichtigten Schwerpunktverlagerung der am Grundgesetz orientierten Arbeit führen. Anhand der folgenden Beispiele aus Debatten des Deutschen Bundestages sowie verschiedener Landtage soll zunächst gezeigt werden, daß die Parlamente sich selbst seit jeher als befugt sehen, frei von jeder kompetenziellen Bindung zu debattieren. Für die Parlamentspraxis stellt die Ausübung eines allgemeinpolitischen Mandats selbstverständlichen Alltag dar.
a) Beispiele aus der Praxis des Deutschen Bundestages Am 16. Juni 1993 debattierte der Deutsche Bundestag ausführlich über das Urteil des Bundesverfassungsgerichts bezüglich der Verfassungswidrigkeit des § 218 StGB a. F. Die Redebeiträge bezogen sich nicht auf mögliche gesetzgeberische Konsequenzen, sondern hauptsächlich auf reine Kritik, wie ζ. B. die Äußerungen der Abgeordneten Petra Bläss (PDS/Linke Liste), die ausführte, daß das Urteil „in seiner historischen Dimension dem Edikt der Katholischen Kirche gegen die naturwissenschaftliche Erkenntnis, daß die Erde sich um die Sonne dreht" 12 gleiche, sowie die ihrer Kollegin Christina Schenk (Bündnis 90/Die Grünen), die das Urteil als einen „Skandal"13 bezeichnete. Solche „horizontalen Übergriffe" - also das Eindringen in den Zuständigkeitsbereich eines anderen, zum gleichen Verband gehörenden Staatsorgans - finden regelmäßig statt, wie die Ausführungen von Norbert Geis (CDU) 14 und Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (F. D. P.)15 in der Sitzung vom 13. Juni 1991 über das Urteil des Bundesverfassungsgerichts bezüglich der Verfassungswidrigkeit der bisherigen Ehenamens-Regelung in § 1355 I I BGB a. F. und die Anmerkungen des Abgeordneten Hans-Joachim Otto (F.D.P.)16 in der Sitzung vom 14. November 1991 über die Abwägung des Bundesverfassungsgerichts zwischen Persönlichkeitsrecht und Pressefreiheit zeigen. Diskussionen über Themen, die kompetenzrechtlich eigentlich auf einer anderen vertikalen Ebene angesiedelt sind, die also in den Zuständigkeitsbereich eines anderen Verbandes fallen, gehören ebenfalls zum Parlamentsalltag. So äußerten sich in der Sitzung vom 4. März 1993 die Abgeordneten Hans-Ulrich Köhler (CDU) 17 und Gudrun Weyel (SPD)18 über die Trinkwasserqualität in Thüringen, Günter Graf (SPD) am 25. September 1991 über die personelle und materielle Ausstattung der 12 13 14 15 16 17 18
BT PlPr 12/162 S. 13892 C. Ebenda S. 13895 D. BT PlPr 12/31 S.2406 D. Ebenda S. 2407 D. BT PlPr 12/57 S. 4723 B. BT PlPr 12/143 S. 12346 B. Ebenda S. 12347 C.
2 Boewe
18
I. Teil: Problemdarstellung und Streitstand in Literatur und Rechtsprechung
Polizei in den fünf neuen Bundesländern19 und Wolfgang Freiherr von Stetten (CDU) am 17. Juni 1993 über die Mietpreise in München20. Am 24. November 1993 wurde u. a. von Rudolf Scharping (SPD) über die Ministergehälter in Sachsen-Anhalt gesprochen21, Helmut Kohl (CDU) äußerte sich am 1. Juni 1978 zu den Vorwürfen gegen den damaligen Ministerpräsidenten Baden-Württembergs Filbinger 22 , die Abgeordneten Hans-Jochen Vogel (SPD)23 und Helmut Kohl (CDU) 24 am 22. November 1988 über die Abwahl von Ministerpräsident Bernhard Vogel als CDU-Vorsitzenden in Rheinland-Pfalz. Die Behebung der Strukturkrise Ostfrieslands durch die Landesregierung Niedersachsens wurde am 4. Dezember 1991 von Ernst Hinsken (CDU) 25 ebenso erörtert wie sich der Abgeordnete Meinrad Belle (CDU) am 23. September 1991 zu der Beschädigung und Besprühung der CDU-Kreisgeschäftsstelle im Schwarzwald-Baar-Kreis 26 und zu der Umsetzung der Jagd- und Naturschutzvorschriften der EG in Italien 27 äußerte.
b) Beispiele aus Debatten des Landtages von Baden-Württemberg Auch der Landtag von Baden-Württemberg beschäftigte sich mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu § 218 StGB, wie die Redebeiträge in der Debatte vom 11. November 1987 von Marianne Schultz-Hector (CDU) 28 und Waltraud Ulshöfer (Grüne) 29 belegen. Erwin Teufel (CDU) äußerte sich am 3. Februar 1988 zu der Stellungnahme des damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker bezüglich der Tschernobyl-Katastrophe 30, der Abgeordnete Wettstein (SPD) am 15. Juni 1994 über die Sozialpolitik Großbritanniens 31, der damalige Ministerpräsident Lothar Späth (CDU) am 26. November 1980 über die Strukturprobleme Nordrhein-Westfalens 32 ebenso wie Finanzminister Gerhard Mayer-Vorfelder (CDU) am 30. November 1994 über die Finanzlage des Saarlandes33 und die Abgeordnete Christine Muscheler-Frohne (Grüne) am 29. September 1988 über die Strombereitstellungsreserven in Japan34. 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28 29 30 31 32 33 34
BT PlPr 12/43 S. 3578 B. BT PlPr 12/163 S. 14031 C. BT PlPr 12/192 S. 16571 C. BT PlPr 8/93 S. 7313. BT PlPr 11/108 S. 7425 A. Ebenda S. 7443 D. BT PlPr 12/63 S.5350f. BT PlPr 12/43 S. 3580. BT Drs 12/2028 S. 35. LT BaWü PlPr 9/91 S.6709. Ebenda S. 6774. LT BaWü PlPr 9/85 S. 7071. LT BaWü PlPr 11/47 S. 3699. LT BaWü PlPr 8/13 S. 596. LT BaWü PlPr 11/54 S. 4356. LT BaWü PlPr 10/11 S.598.
2. Darstellung des Streitstandes in der Literatur
19
Auf horizontaler Ebene ist das klassische Beispiel einer kompetenzübergreifenden Diskussion eine Debatte über das Verhalten der Landesregierung im Bundesrat, wie ζ. B. der Redebeitrag des Abgeordneten Ulrich Lang (SPD)35 am 29. Januar 1986. Interessant im Zusammenhang mit der hier zu untersuchenden Problematik sind die Äußerungen des Abgeordneten Günter Oettinger 36 (CDU) aus jüngster Zeit. Während der Behandlung eines Antrags der SPD-Fraktion, die Landesregierung aufzufordern, die CDU zu bitten, Parteispenden der landeseigenen SWEG zurückzuzahlen, führte er aus, daß es seiner Ansicht nach eine unzulässige politische Einwirkung wäre, wenn sich der Landtag das Recht herausnehme, Appelle an politische Parteien zu richten. Hierin ist eine klare Absage an ein allgemeinpolitisches Mandat des Landtages enthalten37.
c) Beispiele aus anderen Bundesländern Da die bisher genannten Beispiele ausreichend dokumentieren, daß es sich bei der hier zu untersuchenden Frage um eine Angelegenheit mit praktischer Relevanz handelt, seien nur noch einige wenige signifikante Debattenthemen aus anderen Landtagen erwähnt. Hierzu gehört die Diskussion des Landtages von Rheinland-Pfalz über die geplante Einführung eines Tempolimits im Saarland38, die Debatten der Bremischen Bürgerschaft über den Golfkrieg 39 und die Wahlen in Nicaragua 40 sowie die im Landtag von Nordrhein-Westfalen geäußerte Kritik an der politischen Richtung der Universität Bremen 41.
2. Darstellung des Streitstandes in der Literatur Die Frage, ob Volksvertretungen ein allgemeinpolitisches Mandat besitzen, war bislang noch nicht Gegenstand einer umfassenden Untersuchung. Die wenigen Autoren, die zu der Frage ausführlicher Stellung beziehen, behandeln diesen Komplex als Nebenpunkt ihres eigentlichen Themas. Diese mit der hier zu untersuchenden Frage benachbarten Themen behandeln im Einzelnen v. a. die Verbindlichkeit von 35 LT BaWü PIPr 9/41 S. 3191/3199. 36 LT BaWü PIPr 12/62 S. 4905/4907. 37 Dies ist auch deshalb bemerkenswert, da sich damit ein Abgeordneter für eine thematische Eingrenzung des eigenen Rederechts ausspricht. Daß diese Überzeugung vom Redner selbst nicht immer konsequent befolgt wird (vgl. bspw. LT BaWü PIPr 11/51 S.4065), sei hier nur angemerkt. 38 LT RhP Drs 10/1924 sowie PIPr 10/57 S. 3177. 39 BremBürgerschaft PIPr 12/80 S.5392 B. 40 BremBürgerschaft PIPr 12/60 S.3961 D. 41 LT NRW PIPr 8/10 S. 375 A. 2*
20
I. Teil: Problemdarstellung und Streitstand in Literatur und Rechtsprechung
schlichten Parlamentsbeschlüssen42, die Einflußnahme des Bundestags auf die Bundesregierung 43, eine mögliche Einflußnahme von Landtagen auf das Verhalten der jeweiligen Landesregierung im Bundesrat 44, das Äußerungsrecht von kommunalen Volksvertretungen 45 sowie das Recht der Untersuchungsausschüsse46. Seilmann47 kommt in seiner Untersuchung zu dem Ergebnis, daß sich aus dem Grundgesetz keine Norm ableiten lasse, die eine allgemeine Zulässigkeit von verbindlichen oder unverbindlichen schlichten Parlamentsbeschlüssen begründe. Die Tatsache, daß das Grundgesetz nur einige wenige Anwendungsfälle für das Institut des schlichten Parlamentsbeschlusses regele, wie z.B. gem. Art.43 Abs. 1 GG das Verlangen der Anwesenheit eines Mitglieds der Bundesregierung, könne jedoch auch nicht zu dem Umkehrschluß führen, daß außer in den explizit geregelten Fällen keine weiteren - zumal unverbindliche - schlichte Beschlüsse zulässig seien. Vielmehr sei in jedem Einzelfall zu fragen, ob und inwieweit für den jeweiligen staatlichen Tätigkeitsbereich eine parlamentarische Befugnis, durch schlichte Beschlüsse auf das Verhalten der Exekutive einzuwirken, bejaht werden kann. Sollte sich hierfür keine verfassungsrechtliche Grundlage finden, wäre der Beschluß rechtswidrig, und der Bundestag dürfte über diese Materie vorab auch nicht beraten48. Die von ihm auf diese Feststellung folgende Untersuchung einzelner Fallgruppen kommt u. a. zu dem Ergebnis, daß expressis verbis unverbindlich gewollte Entlassungsvoten des Bundestages bezüglich einzelner Bundesminister rechtswidrig und damit unzulässig seien, da sie dem Sinn und Zweck der Art. 64, 67, 68 und 69 GG widersprächen und geeignet seien, die Geschlossenheit des Kabinetts zu beeinträchtigen49. Obermeier 50, der ebenfalls die Zulässigkeit schlichter Parlamentsbeschlüsse untersucht, kommt zu dem Ergebnis, daß der Grundsatz des parlamentarischen Systems die Gewährleistung einer Homogenität in der Anschauung von Bundestag und Bundesregierung verlange. Da das Parlament den Willen des Volkes repräsentiere, der letztendlich in der Staatsführung sowie der Verwaltung durchzusetzen sei, müsse eine Übereinstimmung zwischen Legislative und Exekutive erzielt werden. Die somit von der Verfassung geforderte Parallelität der politischen Richtungen setze voraus, daß das Parlament insgesamt eine politische Grundanschauung vertritt 51. 42 Seilmann (FN. 3); Obermeier (FN. 3); Klein, Zur rechtlichen Verbindlichkeit von Bundestagesbeschlüssen, JuS 1964, S. 181 ff. 43 Criegee (FN. 3); Linck, Zulässigkeit und Grenzen der Einflußnahme des Bundestages auf die Regierungsentscheidungen (1971); Magiern, Parlament und Staatsleitung (1979). 44 Konow, Zur Funktionsfähigkeit der bundesstaatlichen Verfassungsordnung, DÖV 1970, S. 22ff.; Linck, Zur Einflußnahme der Landesparlamente, DVB1 1974, S. 861 ff; Scholz, Landesparlamente und Bundesrat in: FS Carstens Band II, S. 831 ff. 45 v. Komorowski (FN. 6). 46 Masingy Parlamentarische Untersuchungen privater Sachverhalte (1998). 47 Seilmann (FN. 3) S.41 f. 48 Ebenda S.42. 49 Ebenda S. 88 f. 50 Obermeier (FN. 3) S. 125. 51 Ebenda S. 137ff.
2. Darstellung des Streitstandes in der Literatur
21
Diese wiederum sei weder durch reine Parlamentsdebatten noch durch Erklärungen der Fraktionsvorsitzenden, sondern erst durch den typischen Weg der Willensbildung eines Kollegialorgans, nämlich durch förmlichen Beschluß, zu erreichen. Somit bejaht Obermeier eine ungeschriebene Zuständigkeit des Bundestages, zu Grundfragen der Politik Stellung zu nehmen, setzt dieser Befugnis jedoch Grenzen. Insbesondere Beschlüsse, die sich mit der Regelung eines konkreten Sachverhaltes beschäftigen, seien mangels staatspolitischen Momentes unzulässig. Als Beispiel nennt er das in der Bundestagsdebatte vom 16. März 1961 beschlossene parlamentarische Ersuchen52, in dem die Bundesregierung aufgefordert wird, „auf allen Bundesautobahnen und Bundesstraßen die weiße unterbrochene bzw. durchgehende weiße Linie auf der ganzen Länge der Straße" aufzutragen 53. Klein 54 unterscheidet in seiner Besprechung des BVerwG-Urteils bezüglich der Verbindlichkeit von nicht in Gesetzesform ergangenen Bundestagsbeschlüssen55 zwischen nicht adressierten und somit rein programmatischen Meinungsäußerungen und solchen, die sich an einen bestimmten Adressaten richten 56. Erstere könnten niemandem gegenüber rechtliche Verbindlichkeit beanspruchen, seien somit bedenkenlos zulässig57, bei adressierten Beschlüssen müsse man hingegen von einer zumindest rechtlich nicht unerheblichen Willensäußerung ausgehen. Aber gerade aufgrund der Tatsache, daß es sich hierbei um politische Pflichten begründende Bekundungen des politischen Willens des Parlaments handele, seien auch diese Beschlüsse zulässig58. Auch wenn Klein seine Untersuchungen mit dieser Aussage beendet, liegt es nahe, hieraus die Schlußfolgerung zu ziehen, daß auch für ihn das Parlament - ähnlich wie bei Obermeier - die Funktion habe, grundsätzlich politisch auf die Exekutive einzuwirken. Criegee59 behandelt die Frage, in welchem Rahmen Ersuchen des Parlaments an die Regierung zulässig und verbindlich sind. Da auch für ihn das geschriebene Verfassungsrecht keine hinreichende Legitimation zu einer (umfassenden) Einflußnahme beinhaltet, kommt seiner Ansicht nach nur noch ein Rückgriff auf Verfassungsgewohnheitsrecht in Betracht 60. Er sieht die hierfür erforderlichen Voraussetzungen - dauernde, langjährige Übung, verbunden mit der allgemeinen Überzeugung, das Geübte sei rechtens - erfüllt und bejaht somit die gewohnheitsrechtlich anerkannte Kompetenz des Bundestages, mittels (unverbindlicher) Beschlüsse auf die Regierung einzuwirken. Jedoch setzt auch er diesem Recht Grenzen, die sich aus der 52
BT PlPr 3/152 S. 8681. Ebenda S. 139 Fn. 1 i.V.m. S.21. 54 Klein (FN. 42). 55 BVerwGE 12, 16 ff. 56 Klein (FN. 42) S. 184. 57 Diese Schlußfolgerung ergibt sich aus den Ausführungen ebenda S. 184-186. s» Ebenda S. 190. 59 Criegee (FN. 3). 60 Ebenda S.46, 50ff. 53
22
I. Teil: Problemdarstellung und Streitstand in Literatur und Rechtsprechung
Existenz verschiedener Träger öffentlicher Aufgaben im gleichen räumlichen Gebiet ergeben sollen61. So ist es seiner Ansicht nach weder zulässig, wenn der Bundestag sich mit der allgemeinen kulturpolitischen Diskussion eines Bundeslandes befassen würde noch wäre es rechtmäßig, wenn Kritik an einem gefällten Urteil geübt werde, da hierdurch die richterliche Unabhängigkeit unzulässigerweise beeinflußt werde. Auch die parlamentarische Auseinandersetzung mit jeglichen in den Kompetenzbereich der Exekutive fallenden Themen läßt er nicht zu, da es eine „Sphäre der politischen Gestaltung für die Spitze der Exekutive"62 geben müsse, die sich unabhängig zu entfalten habe. Eine konkrete Lösung der Frage, wie weit die Legislative sich mit solchen in den Exekutivbereich übergreifenden Themenkomplexen befassen darf, bietet er nicht an, stellt jedoch fest, daß derartige Übergriffe eher zu rechtfertigen seien, als ein ähnliches Verhalten im Verhältnis zur Judikative bzw. einem Bundesland. Die Arbeit Lincks 63 , die sich ebenfalls mit der Einflußnahme des Bundestages auf Regierungsentscheidungen befaßt, lehnt den von Criegee vorgeschlagenen Lösungsweg explizit ab64 und greift - wie Obermeier - auf das parlamentarische Prinzip zurück. Anders als dieser kommt Linck aber zu dem Ergebnis, daß sich die Parlamentsbefugnis, auf die Bundesregierung Einfluß zu üben, mittels historischer Interpretation des vom Grundgesetz rezipierten parlamentarischen Prinzips begründen lasse. Diese Kompetenz stehe dem Parlament traditionell seit Beginn des Parlamentarismus zu und sei niemals in Zweifel gezogen worden. Somit sei davon auszugehen, daß das Grundgesetz das parlamentarische Prinzip mit der Parlamentsbefugnis zur politischen Einflußnahme auf die Regierungsarbeit als wesentlichen Bestandteil rezipiert habe. Dieses Recht finde seine Grenzen nur in Mißbrauchsfällen, insbesondere, wenn ein Ersuchen an die Regierung mit einer Drohung verbunden werde, welche die Regierung vernünftigerweise daran hindere, das Ersuchen abzulehnen. Abgesehen von solchen Extremfällen sei diese Parlamentskompetenz umfassend 65 zu bejahen. Wahrend sich Linck in besagten Abhandlungen allein mit horizontalen Grenzen des parlamentarischen Befassungsrechts befaßt, greift er später im Zusammenhang mit der Befassungskompetenz des Thüringischen Landtags die Frage auf, ob diesem Kontroll- und Debattierrecht durch die föderale Ordnung Grenzen gesetzt werden 66. Ausgehend von dem Grundsatz, daß auch rein unverbindliche Empfehlungen und Debatten ohne jegliche Beschlußfassung der grundgesetzlichen Kompetenzordnung unterfallen, stellt er fest, daß hieraus kein Βefassungsverbot bezüglich bundespolitischer Themen für 61
Hierzu und zu den folgenden Beispielen ebenda S.54ff. Ebenda S. 62. 63 Linck (FN. 43), ebenso ders., Zur Einflußnahme der Landesparlamente, DVB1 1974, S. 861, 863 ff. 64 Hierzu und zum Folgenden Linck (FN. 43) S. 86ff. 65 Ebenda S. 88, 92f. 66 Linck in: Ders./Jutzi/Hopfe, Die Verfassung des Freistaats Thüringen, Art. 48 Rndnr.48ff., ihm ausdrücklich folgend Jutzi, NJ 1999, S.243, 244. 62
2. Darstellung des Streitstandes in der Literatur
23
die Landtage resultieren müsse. Vielmehr stünde ihnen das Recht zu, die Arbeit ihrer Landesregierungen im Bundesrat zu kontrollieren und zwar auch im Wege der vorgängigen Kontrolle. Da aber dem Bundesrat quasi alle Bundesthemen offenstünden, ergäbe sich auf diesem Weg eine allumfassende (Annex-) Debattierkompetenz der Landtage. Allerdings betont Linck, daß seiner Ansicht nach dies nur solange zulässig sei, wie Adressat der Beschlüsse die eigene Landesregierung sei. Hingegen sei die parlamentarische Behandlung eines bundespolitischen Themas allein, um hierzu allgemein Stellung zu beziehen, unzulässig. Faßt man die Ausführungen Lincks zusammen, so ergibt sich ein auf horizontaler Ebene unbegrenztes parlamentarisches Debattierrecht. Für Landtage ergibt sich dies seiner Ansicht nach bezüglich bundespolitischer Bereiche aus der Parlamentsfunktion, die Arbeit der eigenen Regierung im Bundesrat zu kontrollieren. Verfolgt man diesen Gedanken zu Ende, so müßte man dem Bundestag hingegen ein solches, die föderale Ordnung umgehendes Recht verweigern, da es dem Bund verwehrt ist, auf die Ländergesetzgebung einzuwirken. Magiera greift in seiner Arbeit 67 ebenfalls auf den Ansatz Obermeiers zurück. Das verfassungsrechtliche Verfahren der Willensbildung und Entscheidungsfindung der Staatsorgane sei ein ständiger Prozeß des Suchens und Findens, des Festlegens und des wieder Infragestellens 68. Somit müsse dem Parlament die Kompetenz eingeräumt werden, auch außerhalb des eigenen Regelungsbereiches an diesem Prozeß teilzunehmen69, allerdings - hier greift er ausdrücklich auf Criegee zurück 70 - nur in Bereichen, in denen anderen Verfassungsorganen keine unabhängige Entscheidungsgewalt eingeräumt werde. Bei der grundsätzlichen Auseinandersetzung mit der Frage, in welcher Form Landtage Einfluß auf die Politik ihrer Landesregierung im Bundesrat nehmen können, untersucht Konow 71 , mit welchen Themen sich Parlamente überhaupt befassen dürfen. Hierbei gesteht er einer Volksvertretung das Recht zu, sich mit allem, was das von ihr repräsentierte Volk unmittelbar betrifft, auseinandersetzen zu dürfen. Diese Kompetenz sei auch allgemein anerkannt (schon Bismarck habe die einzelstaatlichen Parlamente aufgefordert, sich verstärkt mit der Reichspolitik zu befassen72). Allerdings existiere dieses Recht nur insoweit, wie eine unmittelbare Bedeutung für das repräsentierte Volk bestehe - ein Landtag dürfe sich deshalb beispielsweise nicht die atomare Bewaffnung der Bundeswehr diskutieren, sehr wohl aber die Stationierung von Atomwaffen im eigenen Bundesland73. Im Gegensatz zu den bislang erörterten Ansichten wird hier erstmals die parlamentarische Befassungs67 68 69 70 71 72 73
Magiera (FN. 43). Ebenda S. 39ff. Ebenda S.214ff. Ebenda S.216,Fn.271, 272. Konow (FN. 44). Ebenda S. 24. Beispiel in ebenda Fn. 22.
24
I. Teil: Problemdarstellung und Streitstand in Literatur und Rechtsprechung
kompetenz nicht aus dem Verhältnis zwischen Parlament und Regierung, sondern aus der Beziehung zwischen Volksvertretung und repräsentiertem Volk begründet. Die gleiche Thematik untersuchend, kommt Scholz74 zu dem Ergebnis, daß ein schlichter, unverbindlicher Parlamentsbeschluß nicht außerhalb des dem betroffenen Parlaments zugewiesenen Kompetenzbereichs ergehen darf. Wenn einem (Landes-) Parlament nach der grundgesetzlichen Ordnung keine Gesetzgebungsbefugnis zustehe, könne sich diese Volksvertretung nicht einer Quasi-Kompetenz über das Instrument des schlichten Parlamentsbeschlusses rühmen 75. Ein unverbindliches Empfehlungsrecht stehe den Länderparlamenten allerdings im Rahmen der konkurrierenden und Rahmengesetzgebung zu, da sie diesbezüglich kompetenziell von der Verfassung nicht vollkommen ausgeschlossen seien76. Für die hier zu untersuchende Frage bedeutet dies, daß nach dieser Auffassung einer Volksvertretung eine (ungeschriebene) Befassungskompetenz zusteht, soweit die grundgesetzliche Ordnung die jeweilige Materie nicht eindeutig und ausschließlich einem anderen Oigan zuordnet. In seiner Untersuchung des Äußerungsrechts kommunaler Volksvertretungen geht von Komorowski 77 auf das Debattierrecht der klassischen Parlamente ein. Seiner Ansicht nach besteht ein koresponsiver Zusammenhang zwischen parlamentarisch-organschaftlicher und außerparlamentarischer, politischer Willensbildung, aufgrund dessen das Parlament auf die Öffentlichkeit animierend einzuwirken habe78. Diese, aus dem parlamentarischen System resultierende Befugnis, durch Parlamentsdebatten auf die außerparlamentarische Öffentlichkeit einzuwirken, dürfe nicht aus (regelungs-) kompetenziellen Gründen beschränkt werden, da ansonsten die „Demokratie-vermittelnde politische Willensbildung" insgesamt in erheblichem Maße geschwächt werden würde. Somit stehe Parlamenten ein allgemeinpolitisches Mandat zu, das allenfalls durch die mißbräuchliche, störende Ausübung dieses Rechtes begrenzt sei79. Die bislang ausführlichste Auseinandersetzung mit der hier zu behandelnden Problematik nimmt Masing 80 in seiner Arbeit über die parlamentarischen Untersuchungen privater Sachverhalte vor. In einem ersten Schritt untersucht er den parlamentarischen Informationsbedarf zur Vorbereitung verbindlicher Beschlüsse, insbesondere für Gesetzgebungsverfahren und konstruktive Mißtrauensvoten. Hierbei kommt er zu dem Ergebnis, daß zumindest faktisch schon hieraus ein unbegrenztes Debat74
Scholz (FN. 44). Ebenda S. 845. 76 Unerheblich sei, ob der Bund von seiner Gesetzgebungszuständigkeit Gebrauch gemacht habe, ebenda S. 846ff. 77 v. Komorowski (FN. 6). 78 Ebenda S. 137 ff. 79 Ebenda S. 142. Zum selben Ergebnis kommt durch gleiche Überlegungen Menzel, DVB1 1999, S. 1385, 1388 ff. im Zuge der Besprechung des Urteils des brandenburgischen Verfassungsgerichts. 80 Masing (FN. 46), S. 87 ff. 75
2. Darstellung des Streitstandes in der Literatur
25
tierrecht resultiere. Theoretische Grenzen würden im Vorfeld des Gesetzgebungsverfahrens zum einen die Kernbereiche der anderen Gewalten81, zum anderen der föderale Staatsaufbau 82 bilden, letzteres könnte der Bundestag jedoch insbesondere durch die Möglichkeit verfassungsändernder Gesetze umgehen. Für Mißtrauensvoten könnten ebenfalls jegliche Vorgänge als Auslöser dienen und somit parlamentarisch behandelt werden - ungeachtet dessen, ob besagter Vorgang in den Kernbereich der Exekutive oder den Kompetenzbereich eines Landes falle. Allerdings müsse bedacht werden, daß bei einer solchen Herleitung dieser Kompetenz immer ein Gesetzesvorhaben bzw. ein Mißtrauensvotum notwendiges Ziel der Debatte sei, was aufgrund von zwingend notwendigen Verfahrensgängen eine hohe Hemmschwelle darstelle. Es wäre somit letztlich nicht zulässig, daß zur Vorbereitung verbindlicher Beschlüsse jeder Vorgang um seiner selbst Willen thematisiert werden könne83. Ein allgemeinpolitisches Mandat sei zwar mittels genannter Annexkompetenzen herleitbar, als solche müßten sie jedoch immer einen Zusammenhang mit der eigentlichen Befugnis bilden. Losgelöst von dem Annexgedanken sucht Masing in einem zweiten Schritt nach einer parlamentarischen Befassungsmöglichkeit als,»Forum der Nation" 84 . Hiernach komme dem Parlament als Mittler der demokratischen Legitimation aller Staatsorgane u. a. die Aufgabe zu, die gesamte Staatstätigkeit gegenüber dem Volk zu vertreten. Ein wechselseitiger Austausch zwischen Repräsentanten und Repräsentierten sei ständig zu betreiben, das Parlament fungiere als Transmissionsriemen zwischen Gesellschaft und Staat und nehme an der diskursiven Willensbildung teil. Deshalb sei es berufen, alle Fragen zu behandeln, die das Gemeinwesen bedrängen - es handele sich hierbei um ein originäres allgemeinpolitisches Mandat. Jedochfinde dieses seine Grenzen in Entscheidungskompetenzen anderer Organe, insbesondere der Judikative. Art. 92 i. V. m. Art. 97 GG verbiete nämlich, auf die Meinungsbildung der Richter während eines anhängigen Verfahrens durch bspw. einen schlichten Parlamentsbeschluß bezüglich dieses Prozesses einzuwirken. Ebenfalls begrenzt werde das Mandat durch die föderale Kompetenzaufteilung. Denn wo kein Anknüpfungspunkt im Gesetzgebungskompetenzbereich vorhanden sei, verbiete sich auch eine unverbindliche Stellungnahme. So könne der Bundestag z.B. nicht über die Schulpolitik eines einzelnen Bundeslandes debattieren. Da jedoch die Landesparlamente über die Landesmitwirkung im Bundesrat auch solche Themen debattieren könnten, die in den ausschließlichen Regelungsbereich der Bundesebene fallen, ergebe sich diese Begrenzung für Landesparlamente nicht. In praxi sei jedoch diese für den Bundestag bestehende Schranke letztlich dadurch zu umgehen, daß reine Ländersachen über ein bundesweites Koordinationsbedürfnis oder mögliche Subventionsvorhaben zum Gegenstand von Bundestagsdebatten gemacht werden 81 82 83 84
Ebenda S. 92. Ebenda S. 96ff. Ebenda S. lOOf. Ebenda S. 105ff.
26
I. Teil: Problemdarstellung und Streitstand in Literatur und Rechtsprechung
könnten85. Für Masing läßt sich somit ein allgemeinpolitisches Mandat der Parlamente grundsätzlich sowohl als Annexkompetenz als auch aus der Parlamentsfunktion selbst begründen. Dies sei theoretisch jedoch nicht unbegrenzt. Insbesondere ausschließliche Regelungsbereiche anderer Parlamente bzw. Vorbehaltsbereiche anderer Organe würden auch eine bloß unverbindliche Befassung verbieten. Allerdings seien diese Einschränkungen in praxi zu umgehen, so daß letztlich das informationelle Zugriffsrecht des Parlaments ohne Maß sei. Weitere ausführlichere Auseinandersetzungen mit der hier zu untersuchenden Problematik sind nicht ersichtlich. Einige sich nur knapp äußernde Autoren erkennen, daß das allgemeine Debattier- und unverbindliche Beschlußrecht der Parlamente vor allem eine kompetenzrechtliche Frage ist. So bejaht Achterberg 86 ein allgemeinpolitisches Mandat aufgrund einer stillschweigenden Oigankompetenz des Parlamentes, die es durch seine Funktion als Organ der Kontrolle und Kreation innehabe. Lerche 87 bejaht dies ebenfalls mit der Begründung, daß es nicht Sinne des Art. 30 GG sein könne, „Bundesorganen das Recht zu nehmen, [...] zu Lebensfragen das deutschen Volkes ihre Meinung zu sagen, Wünsche zu formulieren, wohl auch allgemeinere Empfehlungen zu äußern, Hinweise zu geben u. ä. m." 8 8 Pietzcker läßt für ein solches Tätigwerden keine Freistellung von den Kompetenzgrenzen zu, auch wenn „diese in dieser Hinsicht nicht zu eng abgezirkelt werden" sollten89. Isensee stellt hingegen explizit fest, daß es verfehlt wäre, Kompetenztitel zu bemühen, da sich hier die politische Natur des Bundes wie der Länder auswirke und „das Politische, soweit es sich noch nicht zu verbindlichen Entscheidungen verdichtet [...], kompetenzfrei" entfaltet werden könne90. Die übrigen Stellungnahmen zu dieser Materie erfolgen meist ohne nähere Begründung 91. Eine typische Aussage der Befürworter des allgemeinpolitischen Mandats findet sich bei Maunz92, der ausführt, daß sich dieses Recht bei einem Parlament von selbst verstehe93 und in den erwähnten Ausführungen Isensees94, wonach sich 85
Masing (FN. 46) S. 116ff. Achterberg, Parlamentsrecht, § 242. b) S. 742. 87 Lerche, Aktuelle föderalistische Verfassungsfragen, S.27ff. 88 Ebenda S. 28. 89 Pietzcker, HBdStRIV, § 99 Rndnr. 17, S. 701. 90 Isensee (FN. 9), S. 628. 91 Dieser „Vorwurf" findet sich bei allen oben genannten Autoren wieder, vgl. bspw. Achterberg, (FN.86), S.741; Magiera (FN.46) S.212; v.Komorowski (FN.6) S. 136. 92 Maunz, Deutsches Staatsrecht 23. Aufl. § 37 II 5. S. 367, abgeschwächt in der Neuauflage ders./Zippelius, Deutsches Staatsrecht, 29. Aufl. §30114. S.254f. 93 Ähnlich Grewe, Die auswärtige Gewalt der Bundesrepublik, VVDStRL 12 (1954) S. 129ff.; Menzel, Die auswärtige Gewalt, VVDStRL 12 (1954), S. 179ff.; Lerche, Bundestagsbeschlüsse ohne Gesetzesbefehl, NJW 1961, S. 1758ff.; Ridder, Besprechung von Bachof : Wehrpflichtgesetz, DÖV 1957, S.511f.; Friedrich, Bundesrat und Landesparlamente, ZParl 1975, S. 48 ff.; Bernzen, Einwirkungsmöglichkeiten des Landesparlaments, ZParl 1973, S. 92ff.; Schmelter, Rechtsschutz gegen nicht zur Rechtsetzung gehörende Akte der Legislati86
3. Darstellung der Rechtsprechung
27
das rein Politische - da unverbindlich - kompetenzfrei entfalten könne. Das klassische Argument derjenigen, die den Volksvertretungen dieses Recht aberkennen, findet sich beispielsweise bei Schmidt 9 5 , der darlegt, daß eine außerhalb des eigentlichen Zuständigkeitsbereichs getätigte parlamentarische Stellungnahme der bundesstaatlichen Kompetenzordnung und Interessenverteilung nach dem Grundgesetz widerspreche und so etwas „natürlich nicht geht" 9 6 .
3. Darstellung der Rechtsprechung Eine mögliche Erklärung für die bislang unterbliebene Behandlung des hier zu untersuchenden Themas seitens der Staatsrechtslehre kann sicherlich in der - zumindest bis vor kurzem - kaum vorhandenen Rechtsprechung zu diesen Fragenkomplexen gesehen werden. Soweit ersichtlich, gab es bis 1998 lediglich vier Urteile, die sich mit schlichten Parlamentsbeschlüssen bzw. der parlamentarischen Befassungskompetenz auseinandersetzten und auch hier ging es - wie bei den dargestellten Untersuchungen der Literatur - primär um die Frage der Verbindlichkeit schlichter Parlamentsbeschlüsse und die Einwirkungsmöglichkeiten von Landesparlamenten auf das Verhalten der Landesregierungen i m Bundesrat. Insofern kann das Urteil des Brandenburgischen Verfassungsgerichts vom 28. Januar 1999 97 als Novum in der ve, S. 32ff.; Leisner, Schwächung der Landesparlamente, DÖV 1968, S.391; Frowein, Gemeinschaftsaufgaben, VVDStRL 31 (1973), S. 13, 26; Herzog, Gesetzgeber und Verwaltung, VVDStRL 24 (1966), S. 189; Hesse, Bundesstaatsreform, AöR 98 (1973), S. 37f.; Böckenförde, Der Honnef-Fall, JuS 1968, S.376; Kratzer, Parlamentsbeschlüsse, BayVBl 1966, S.412; wohl auch Bachof Die Rechtsprechung des BVerwG, JZ 1962, S. 350ff.; Linck, Einflußnahme, DVB11974, S. 863 f.; Kratzsch, Verfassungsrechtliche Probleme, DÖV 1975, S. 115 f.; M osler, Die auswärtige Gewalt in: FS Bilfinger (1954), S.293, 295 f.; Eschenburg, Staat und Gesellschaft, S.632; Obermayer, Verwaltungsakt, S.65 Fn. 191; wohl auch Bullinger, Die Zuständigkeit der Länder, DÖV 1970, S. 767; Voitl, Behördliche Warnkompetenzen, S. 17; Kloepfer, Die Verfassungsmängel, ZRP 1978, S. 121 ff.; Maurer, Verfassungsrecht in: ders./Hendler, BadenWürttembergisches Staats- und Verwaltungsrecht, S. 60; Nawiasky, Die Verpflichtung in: FS Apelt (1958), S. 137ff.; Ipsen, Öffentliche Subventionierung, S.41; Zeh, Bund-Länder-Kooperation in: Klatt (Hrsg.), Baden-Württemberg und der Bund, S. 134, 140f. Für die wohl herrschende Ansicht der (Vor-)Weimarer Staatsrechtslehre Bilfinger, Der Einfluß der Einzelstaaten, S. 106 unter Berufung auf Bismarck; Thoma in: Anschütz/Thoma, Handbuch des Deutschen Staatsrechts 2. Band (1932) S.221 Anm. 1 \Heckel in ebenda S.407 Anm. 76; v. Rönne, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches 2. Aufl. (1876) Band 1 S.268; Laband, Staatsrecht 4. Aufl. (1901) 1. BandS. 284f. 94 Isensee (FN. 9) S. 628. 95 Schmidt, Zum Verhältnis von Bundesrat und Landesparlamenten, DÖV 1973, S. 469ff. 96 Ähnlich Leibholz, Strukturprobleme, 3. Aufl. (1967) S. 160ff.; Kern, Bundestag und Bundesregierung, MDR 1950, S.655; Zinn, Bemerkung zu Schäfer, Der Bundesrat, DÖV 1956, 5. 210; wohl auch Münch, Aussprache in VVDStRL 16 (1958) S. 135; Bismarck, Atomwaffenfreie Bundesländer?, DVB1 1983, S. 831 f.; Scholz, Krise der parteienstaatlichen Demokratie?, S. 22ff.; Münch, Die Bundesregierung, S. 179f.; Stern, Staatsrecht II. S.48. 97 NVwZ 1999, S. 868-870. Diese Entscheidung wurde bislang besprochen von Menzel, DVB1 1999, S. 1385-1393 sowie von Jutzi, NJ 1999, S. 243-244.
28
I. Teil: Problemdarstellung und Streitstand in Literatur und Rechtsprechung
Rechtsprechung bezeichnet werden. Zum ersten Mal hatte sich ein Gericht (u. a.) mit der Frage zu befassen, ob es einem Landtag verboten ist, sich mittels unverbindlicher Appelle an die Abgeordneten des Bundestages zu wenden, um diese zu einem bestimmten Abstimmungsverhalten zu bewegen. Konkret ging es hierbei um einen Antrag der PDS-Fraktion des Brandenburgischen Landtags aus dem Jahre 1997, nach dem dieser mittels unverbindlichen Beschlusses die Bundestagsabgeordneten auffordern sollte, sich gegen den Kauf von 180 Militärjagdflugzeugen des Typs „Eurofighter 2000" zu entscheiden und das so gesparte Geld in „zukunftsträchtige Arbeitsplätze" zu investieren. Neben der diesem Urteil eigentlich zugrunde liegenden Frage, ob dem Landtagspräsidium ein materielles Prüfungsrecht über beantragte Beratungsgegenstände zusteht, mußte das Verfassungsgericht darüber hinaus die Frage klären, welche Themenkomplexe überhaupt zulässigerweise in Landtagsdebatten behandelt werden können. Bereits in den Leitsätzen stellte das Gericht fest: „3. Eine Befassung des Landtags mit bundespolitischen Themen kommt in Betracht, wenn das Parlament hierdurch im Rahmen seiner ihm obliegenden Kontrolle der Landesregierung auf deren Verhalten im Bundesrat Einfluß nehmen will. 4. Appelle unmittelbar an die Mitglieder des Deutschen Bundestages, die zu einem bestimmten Abstimmungsverhalten veranlaßt werden sollen, stehen dem Landesparlament nach der Kompetenzordnung des Grundgesetzes nicht zu."
In der Urteilsbegründung führte das Gericht aus, daß dem Landesparlament nach der auch für rein unverbindliche Appelle gültigen Kompetenzordnung des Grundgesetzes keine Zuständigkeit für Fragen der Landesverteidigung zustehe. Eine parlamentarische Befassung mit bundespolitischen Themen sei daher nur mittelbar über die Kontrolle der Arbeit der eigenen Landesregierung im Bundesrat möglich. Dies setze jedoch voraus, daß Adressat des Appells nicht die Allgemeinheit oder der Bundestag, sondern ausdrücklich die eigene Regierung sein müsse98. Da im konkreten Fall diese Form nicht gewahrt wurde, verstieß nach Ansicht des Gerichts der (geplante) Appell gegen die Kompetenzordnung des Grundgesetzes. Da hierdurch Bundesorgane auch schon bereits vor rein politischem Druck geschützt würden 99, sei es unzulässig, dem verfassungsmäßig gebildeten Bundesstaatswillen einen eigenen Landesstaatswillen entgegenzusetzen. Ausdrücklich offen ließ das Gericht hingegen die Frage, ob ein parlamentarisches Debattierrecht unabhängig von der Bundesratskontrolle der eigenen Regierung dadurch entstehen könne, daß das besagte Bundesland von einer bundespolitischen Frage besonders betroffen werde. Dies sei nicht zu entscheiden, da die Verteidigungspolitik der Bundesrepublik Deutschland alle Länder gleich betreffe. Neben diesem Urteil, das sich als einziges grundlegend mit der hier zu behandelnden Thematik befaßt, existieren - wie bereits erwähnt - nur wenige Entscheidungen, die diese Problematik zumindest berühren. 98
Hier greift das Bbg VerfG ausdrücklich auf Linck (FN. 66) zurück - NVwZ 1999, S. 868,
870. 99
Zu diesem expliziten Rückgriff auf BVerfGE 8, 104, 117 f. vgl. unten, S.23f.
3. Darstellung der Rechtsprechung
29
Das Bundesverwaltungsgericht hatte die Frage zu entscheiden, ob sich das Bundesfinanzministerium beim Erlaß der Verordnung über die Verbilligung von Dieselkraftstoff für die See-, Küsten- und Binnenschiffahrt über einen zuvor ergangenen Beschluß des Bundestages hinwegsetzen und - entgegen dem Ersuchen des Parlamentes - der Fahrgastschiffahrt im Binnenbereich diese Betriebsbeihilfe verweigern durfte 100 . Das Gericht billigte das Vorgehen des Bundesfinanzministeriums. Der Beschluß des Bundestages vom 21. Februar 1952 sei für dieses nicht verbindlich gewesen, weil der Bundestag nicht die Form des Gesetzes gewählt habe101. Während sich das Bundesverwaltungsgericht somit eindeutig bezüglich der Verbindlichkeitsfrage festlegte, ist fraglich, ob dieses Urteil auch eine Aussage bezüglich der grundsätzlichen Zulässigkeit solcher parlamentarischer Betätigungen enthält. Die besagte Verordnung des Bundesfinanzministeriums erging aufgrund § 211 MinÖlG 102 , wonach die Bundesregierung oder der Bundesminister der Finanzen Vorschriften über die Verbilligung von Dieselkraftstoff erlassen konnte. Kompetenzübergreifend war der in diesem Urteil dargelegte Bundestagsbeschluß, da die dort behandelte Materie durch Bundesgesetz dem Regelungsbereich der Regierung zugewiesen wurde. Das Urteil läßt sich somit dahingehend interpretieren, daß einem Parlament das Recht zu unverbindlichen Beschlüssen insoweit zustehen soll, wie eine grundsätzliche Gesetzgebungskompetenz besteht - unabhängig, ob von ihr Gebrauch gemacht wurde 103 oder nicht. Die Frage, ob sich das Parlament nach Ansicht des Bundesverwaltungsgerichts darüber hinaus zu jeglichem Thema äußern darf, ist mit diesem Urteil nicht beantwortet worden. Der Bayerische Verfassungsgerichtshof mußte entscheiden, ob der Beschluß des Bayerischen Landtages, die dortige Staatsregierung aufzufordern, im Haushaltsplan für sozialen Wohnungsbau vorgesehene Mittel in einer bestimmten Art zu verwenden, verbindlich war 104 . In diesem Urteil stellte das Gericht fest, daß solche parlamentarischen Beschlüsse zwar als „Manifestation des politischen Willens" von politischer Bedeutung für die Staatsregierung seien105, mangels von der Verfassung hierfür eingeräumter Kompetenz seien solche Beschlüsse jedoch unverbindlich. Anders als in BVerwGE 12, 16 ff. wird hier - zumindest indirekt - dem Parlament das Recht eingeräumt, sich außerhalb des eigentlichen Regelungsbereiches einen eigenen politischen Willen zu bilden und diesen zu manifestieren. Hieraus läßt sich zumindest schlußfolgern, daß der Bayerische Verfassungsgerichtshof Parlamenten ein allgemeinpolitisches Mandat nicht von vornherein aberkennt 106. 100
BVerwGE 12, 16ff. = DÖV 1961, S. 426ff. = NJW 1961, S. 1785 ff. Vgl. hierzu auch die ausführliche Urteilsbesprechung von Klein (FN. 42). 102 Gesetz zur Aufhebung und Ergänzung von Vorschriften auf dem Gebiete der Mineralölwirtschaft vom 31.5.1951, BGBl. 1951 VS. 371. 103 Dies entspricht der Ansicht von Scholz (FN. 44). 104 BayVerfGHE Band 12 (1959) ILS. 119ff. 105 Ebenda S. 122. 106 Den gleichen Schluß zieht Seilmann (FN. 3), S. 28. 101
30
I. Teil: Problemdarstellung und Streitstand in Literatur und Rechtsprechung
Das Oberverwaltungsgericht Münster entschied - dem zitierten Urteil des Bundesverwaltungsgerichts folgend - ebenfalls, daß nicht in Gesetzesform ergangene Beschlüsse des Bundestages keine Verbindlichkeit beanspruchen könnten107. Auch hieraus lassen sich letztlich keine Schlußfolgerungen bezüglich der Kompetenz zur Ausübung eines allgemeinpolitischen Mandates von Parlamenten ziehen108. Im sogenannten ersten Volksbefragungsurteil vom 30. Juli 1958 entschied das Bundesverfassungsgericht, daß die hamburgischen und bremischen Gesetze betreffend eine (Landes-) Volksbefragung über die Bewaffnung der Bundeswehr mit Atomwaffen gegen das Grundgesetz verstießen 109. Dieses Urteil ist für die hier zu untersuchende Frage von grundlegender Bedeutung. Das Bundesverfassungsgericht nahm hier erstmals Stellung zur kompetenziellen Bindung von Staatsorganen110 und äußerte sich zum Verhältnis von Volks- und Staatswillensbildung111. Abgesehen von diesen, später zu erörternden Ausführungen, ging das Bundesverfassungsgericht ebenfalls auf Weisungen von Landesparlamenten an die Landesregierung bezüglich deren Verhalten im Bundesrat ein 112 . Wenn auch die Landesregierung zu Weisungen an ihre Mitglieder im Bundesrat befugt sei, so bedeute das auf keinen Fall, „daß das Landesparlament oder gar das Landesvolk" berechtigt seien, in die Bundesratsentscheidungen „hineinzuwirken" 113 . Dies würde ein Übergreifen in die Kompetenzen des Bundes darstellen. Soweit ein Landesparlament durch Landesverfassungsrecht legitimiert sei, die Landesregierung wegen ihrer Haltung im Bundesrat zur Rechenschaft zu ziehen, sei dies in der parlamentarischen Verantwortlichkeit der Regierung gegenüber dem Parlament begründet - das Parlament befasse sich in einem solchen Fall also mit der von ihr abhängigen Regierung, nicht mit Bundesangelegenheiten 114 . Eine Instruktion der Mitglieder der Landesregierung im Bundesrat „durch das Landesvolk" - auch in bloß unverbindlicher Weise als Orientierungsrichtlinie - sei nach der Struktur des Bundesrates ausgeschlossen. Diese Feststellungen des Bundesverfassungsgerichts werden weitgehend dahin interpretiert, daß es nicht nur dem Landesvolk, sondern auch den Landesparlamenten verwehrt sei, sich vorab mit Bundesratsangelegenheiten zu befassen und diesbezüglich unverbindliche Beschlüsse als „Orientierungshilfe" für die Landesregierung zu erlassen 115. Dies sei zwar so nicht ausdrücklich erklärt worden, jedoch sei „in recht deutlicher Form" zu erkennen gegeben worden, daß diesbezüglich keine Un107
DVB1 1962, S. 139f. Ähnlich VGH Kassel, VerwRspr 15, Nr. 278 S. 918/933, der 1962 feststellte, daß schlichte Parlamentsbeschlüsse mangels unmittelbarer Rechtsverbindlichkeit keine Leistungsermächtigung für die Verwaltung darstellen können. 109 BVerfGE 8, 104ff. 110 Vgl. S. 22ff. 111 Vgl. 87 ff. 112 BVerfGE 8, 104/120f. 113 Ebenda S. 120. 114 Ebenda S. 121. 115 Vgl. bspw. Scholz (FN. 44), S. 840 und Konow (FN. 44), S. 25. 108
3. Darstellung der Rechtsprechung
31
terschiede zwischen Landesvolk und Landesparlament bestünden - wenn dem Landesvolk bzw. der Staatsform der unmittelbaren Demokratie ein Hineinwirken in den Bundesrat untersagt sei, so müsse dies bei der Staatsform der mittelbaren Demokratie auch dem jeweiligen Landesparlament versagt sein 116 . Diese Schlußfolgerung läßt sich aus dem Urteil jedoch nicht ziehen. Das Bundesverfassungsgericht stellt Landesvolk und Landesparlament in seiner Begründung nur bei einer Frage gleich, nämlich bezüglich des nicht vorhandenen Rechtes, der Landesregierung in solchen Angelegenheiten verbindliche Weisungen zu erteilen. Nach dieser Feststellung trennt das Gericht in seinen Ausführungen zwischen der u. U. aus Landesverfassungsrecht resultierenden Kompetenz der Volksvertretung zur nachträglichen Diskussion des Bundesratsverhaltens der Regierung und dem nicht vorhandenen Recht des Landesvolkes, in den Staatswillensbildungsprozeß - sei es auch nur unverbindlich - einzugreifen. Letzteres untersage die Kompetenzordnung des Grundgesetzes, die Staatsorgane auch vor politischem Druck schütze117. Keine Äußerung tätigte das Bundesverfassungsgericht bezüglich der Frage, ob Landesparlamente vorab Bundesratsangelegenheiten behandeln und sich diesbezüglich eine Meinung bilden dürfen. Ebensowenig, wie das Gericht dieses Recht ausdrücklich bejaht, verneint es eine ungeschriebene Kompetenz des Staatsorgans Parlament, sich bezüglich aller politischer Themen eine Meinung zu bilden und diese auch zu manifestieren. Von einer in „recht deutlicher Form" erfolgten Gleichsetzung von Volk und Parlament in dieser Frage kann somit nicht gesprochen werden. Vielmehr wurde die Frage nach der ungeschriebenen Parlamentskompetenz zur Ausübung eines allgemeinpolitischen Mandates weder gestellt noch beantwortet.
116 117
Scholz (FN.44), S. 840f. Vgl. hierzu Müller, Das imperative und freie Mandat, S. 232 ff.
Zweiter Teil
Kompetenzfreies Handeln von Staatsorganen Die Frage, ob Parlamenten eine ungeschriebene bzw. stillschweigende Organkompetenz zukommt, gesetzgebungs- und verbandskompetenzübergreifend zu debattieren, kann nur dann sinnvoll erörtert werden, wenn vorab eine Auseinandersetzung mit der Ansicht jener Stimmen in der Literatur stattgefunden hat, die dieses parlamentarische Handeln von den kompetenziellen Bindungen des Grundgesetzes - diskutiert insbesondere anhand dessen diesbezüglicher Grundnorm Art. 30 GG - befreien wollen 118 . Wenn sich beim Handeln von Staatsorganen das noch nicht zur verbindlichen Entscheidung Verdichtete, rein Politische kompetenzfrei entfalten darf 119 , wenn der Regelungsanspruch von Art. 30 GG „nicht in jeden Winkel staatlichen Handelns hineinreichen" soll, sondern zwischen den Kompetenzräumen im Bundesstaat Spielräume für „weiche Handlungsformen" läßt 120 , wenn man u. U. sogar davon ausgehen sollte, daß es ein „prinzipielles Mißverständnis" von Art. 30 GG wäre, dessen Reichweite über Maßnahmen, die nach außen mit rechtsverbindlicher Wirkung treten, auszudehnen121, muß folgerichtig die Existenz eines kompetenzfreien Raumes beim Handeln von Staatsorganen bejaht werden 122. Sollte dieser grundsätzlichen Annahme zugestimmt werden, müßte geklärt werden, ob das hier zu untersuchende Verhalten von Volksvertretungen eine Fallgruppe dieses Verbandskompetenzfreien Raumes wäre 123. Träfe dies zu, dann wäre die Frage hinfällig, ob sich diese Debattierpraxis etwa als ungeschriebene bzw. stillschweigende Organkompetenz rechtfertigen ließe.
1. Die Entwicklung der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung zur Reichweite von Art. 30 GG Das Bundesverfassungsgericht hat in verschiedenen Urteilen zur Frage der Existenz eines kompetenzfreien Raumes - wenn teilweise auch lediglich indi118
Vgl. FN. 89,90. Isensee (FN. 9) Rndnr. 195. 120 Voitl, Behördliche Wamkompetenzen, S. 18. 121 Lerche, Aktuelle föderalistische Verfassungsfragen, S.27f. 122 Heintzen, Hoheitliche Warnungen und Empfehlungen im Bundesstaat, NJW 1990, S. 1448 f. 123 So Voitl (FN. 120), S. 19, 24; Lerche (FN. 121), S. 28. 119
1. Die Entwicklung der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung
33
rekt - Stellung bezogen. Anhand einer chronologischen Aufarbeitung der hier relevanten Entscheidungen soll die Entwicklung der Rechtsprechung nachgezeichnet und zugleich der Versuch unternommen werden, die strittige Frage zu klären, ob es sich hierbei um eine konsequente Entwicklung hin zu der Ansicht handelt, daß Art. 30 GG alle staatlichen Tätigkeiten erfassen soll 124 oder ob sich aus einem obiter dictum die Ansicht ableiten läßt, daß in gewissen Grenzen ein verbandskompetenzfreier Raum existiert 125.
a) Das erste Volksbefragungsurteil vom 30. Juli 1958126 In dem bereits oben dargestellten Urteil 127 zur Verfassungswidrigkeit der bremischen und hamburgischen Volksbefragungsgesetze nahm das Bundesverfassungsgericht erstmals zur Reichweite von Art. 30 GG grundlegend Stellung. Es führte dazu aus128:
„Während die im gesellschaftlich-politischen Raum erfolgende Bildung der öffentlichen Meinung und die Vorformung der politischen Willensbildung des Volkes sich ungeregelt und durch alle verfassungsrechtlich begrenzten Kompetenzräume hindurch unter Mitbeteiligung aller lebendigen Kräfte nach dem Maße ihres tatsächlichen Gewichts und Einflusses vollziehen, ist das Tätigwerden als Staatsorgan - gleichgültig in welcher Form und mit we cher Wirkung es geschieht - im freiheitlich demokratischen Rechtsstaat durch Kompet normen verfassungsrechtlich begrenzt 129. Im Bundesstaat ist die Staatsgewalt der Länder und damit der Kompetenzbereich, im dem überhaupt das Staatsorgan Landesvolk tätig werden darf, durch die Verfassung des Gesamtstaates begrenzt."
Mit diesen Ausführungen stellte das Bundesverfassungsgericht klar, daß es bei staatlichem Handeln immer einer kompetenziellen Rechtfertigung bedarf. „Gleichgültig in welcher Form und mit welcher Wirkung" ein Staatsorgan tätig wird. Sei es also privat- oder öffentlich-rechtlich, sei es rechtsverbindlich, politisch anregend bzw. rein fiskalisch, darf nur aufgrund und im Rahmen einer verfassungsrechtlichen Kompetenznorm gehandelt werden, anderenfalls sei das Verhalten verfassungswidrig. Die Existenz eines Verbandskompetenzfreien Raumes läßt sich somit mit den Grundsätzen des ersten Volksbefragungsurteils des Bundesverfassungsgerichts nicht vereinbaren.
124
So Bleckmann, Zuständigkeitsverteilung zwischen Bund und Ländern, DVB1 1985,
S.832. 125 126 127 128 129
So Voitl (FN. 120), S. 18. BVerfGE 8, 104ff. Vgl. S. 19f. BVerfGE 8, 104, 115 f. Hervorhebungen durch den Verfasser.
3 Boewe
II. Teil: Kompetenzfreies Handeln von Staatsorganen
34
b) Das erste Fernseh-Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 28. Februar 1961130 Während im ersten Volksbefragungsurteil grundsätzlich Stellung zum Nichtvorhandensein eines kompetenzfreien Raumes bezogen wurde, ließ das Gericht die gleiche Frage im ersten Fernseh-Urteil explizit offen. Das Gericht wollte sich nicht festlegen, ob „die für die bundesstaatliche Struktur unserer Verfassungsordnung grundlegende Vorschrift des Art. 30 GG jede staatliche Tätigkeit schlechthin erfaßt" 131 . Unabhängig, ob der Staat öffentlich-rechtliche oder privatrechtliche Handlungsformen wähle, falle aber jedenfalls jede Betätigung unter die Kompetenzordnung des Grundgesetzes, die der Erfüllung öffentlicher Aufgaben diene. Jede andere (nur auf öffentlich-rechtliche Betätigungen beschränkte) Auslegung würde weder dem Sinn noch der Entstehungsgeschichte von Art. 30 GG gerecht werden. Das Bundesverfassungsgericht hat es in dieser Entscheidung unterlassen, eine grundlegende Definition des Begriffes der „öffentlichen Aufgabe" vorzunehmen. Es wurde lediglich festgestellt, daß die Organisation und Veranstaltung von Rundfunksendungen eine eindeutig öffentliche Aufgabe sei und somit - unabhängig, ob die Bundesregierung eine Deutschland-Fernsehen-GmbH gründen oder eine öffentlichrechtlich organisierte Körperschaft betreiben wolle - der Kompetenzordnung des Grundgesetzes unterliege. Auch wenn hier erstmals expressis verbis ausgesprochen wurde, daß privat-rechtliches Handeln des Staates unter Art. 30 GG fallen kann, so stellt das bewußte Offenlassen der Frage bezüglich der Reichweite der grundgesetzlichen Kompetenzordnung doch eine Relativierung des im ersten Volksbefragungsurteil aufgestellten Grundsatzes der lückenlosen Erfassung staatlichen Handelns dar. Wenn das Bundesverfassungsgericht feststellt, daß die Grenzen von Art. 30 GG dahingestellt seien, so macht es zumindest indirekt klar, daß durchaus Fallgruppen denkbar sind, die aus diesem Ordnungsrahmen herausfallen können132. Die Existenz eines Verbandskompetenzfreien Raumes wird somit durch dieses Urteil nicht mehr apodiktisch ausgeschlossen.
c) Das Jugendhilfe-Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 18. Juli 1967133 Das Bundesverfassungsgericht mußte in diesem Verfahren u. a. die Verfassungsmäßigkeit einzelner Regelungen des Gesetzes für die Jugendwohlfahrt in der Fas130
BVerfGE 12, 205 ff. Ebenda S. 244 f. 132 Dieser Grundsatz wurde von der Lehre aufgegriffen und dahingehend weiterentwickelt, daß reinfiskalische Besorgungsgeschäfte der öffentlichen Hand nicht an die Kompetenzgrenzen des Grundgesetzes gebunden sind - vgl. hierzu unten S.40 sowie bspw. Maunz in: M/D/H/S, Art. 30 GG Rndnr.4. 133 BVerfGE 22, 180 ff. 131
1. Die Entwicklung der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung
35
sung vom 11. August 1961134 beurteilen und dabei auch die Frage beantworten, ob §25 Abs. 1 JWG verfassungskonform sei, der die Bundesregierung ermächtigte, Bestrebungen auf dem Gebiet der Jugendhilfe anzuregen und zu fördern. Hierbei stellte das Gericht erstmals - in insofern konsequenter Weiterentwicklung des ersten Fernseh-Urteils - eine Fallgruppe heraus, die der kompetenziellen Bindung desGG entzogen sei und sich somit im kompetenzfreien Raum befinde. Im Einzelnen führte das Bundesverfassungsgericht aus135: „Wenn die Bundesregierung Bestrebungen auf dem Gebiet der Jugendhilfe anregt, so ist diese Tätigkeit unter dem Gesichtspunkt des Art. 30 GG ohne Bedeutung und kann hier außer Betracht bleiben. Anders verhält es sich aber mit der Förderung solcher Bestrebungen. [...] Die Bundesregierung, die gemäß § 25 Abs. 1 JWG Bestrebungen auf dem Gebiet der Jugendhilfe in der Weise fördert, daß sie dafür Haushaltsmittel zur Verfügung stellt, erfüllt eine staatliche Aufgabe im Sinne des Art. 30GG. Die Erfüllung der staatlichen Aufgaben ist aber Sache der Länder, soweit das Grundgesetz keine andere Regelung trifft oder zuläßt (BVerfGE 12, 205 [246f.])."
Die im ersten Fernseh-Urteil noch offengelassene und lediglich angedachte Frage der Existenz eines kompetenzfreien Raumes wird hier dahingehend beantwortet, daß nach Ansicht des Gerichtes ein solcher Raum besteht und hierunter rein anregende Äußerungen von Staatsorganen fallen. Gezielte Finanzierungsvorhaben hingegen würden den bloß anregenden Rahmen verlassen und sich zur öffentlichen Aufgabe verdichten.
d) Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Öffentlichkeitsarbeit der Bundesregierung vom 2. März 1977136 In diesem Urteil war die Frage zu klären, ob das Verhalten der damaligen Bundesregierung, während der Wahlkampfzeit in Tageszeitungen und Zeitschriften Anzeigen über die erreichten Erfolge und Leistungen der bisherigen Regierungszeit zu veröffentlichen, verfassungskonform war. Hierzu wurde im einzelnen ausgeführt 137: „Öffentlichkeitsarbeit von Regierung und gesetzgebenden Körperschaften ist in Grenzen nicht nur verfassungsrechtlich zulässig, sondern auch notwendig. [...] In den Rahmen der zulässigen Öffentlichkeitsarbeit fällt, daß Regierung und gesetzgebende Körperschaften - bezogen auf ihre Organtätigkeit - der Öffentlichkeit ihre Politik, ihre Maßnahmen und Vorhaben sowie künftig zu lösende Fragen darlegen und erläutern. [...] Es ist Aufgabe staatlicher Öffentlichkeitsarbeit, die Zusammenhänge offenzulegen, Verständnis für erforderliche Maßnahmen zu wecken oder um ein konjunkturgerechtes Verhalten zu werben. [...] Behält man die zulässigen Zwecke der 134 135 136 137
3*
BGBl. 19611/2 S. 1205. BVerfGE 22, 180, 216. BVerfGE 44, 125 ff. Ebenda S. 147 ff.
36
II. Teil: Kompetenzfreies Handeln von Staatsorganen
Öffentlichkeitsarbeit von Regierung und gesetzgebenden Körperschaften im Blick [...], ergibt sich für die Abgrenzung zulässiger Öffentlichkeitsarbeit der Bundesregierung von einem parteieingreifenden Einwirken auf den Wahlkampf folgendes: 1. Öffentlichkeitsarbeit ist nur zulässig, soweit sie sich im Rahmen des vom Grundgesetz der Bundesregierung zugewiesenen Aufgaben- und Zuständigkeitsbereiches hält.
a) Daraus folgt, daß auch in diesem Zusammenhang die föderale Kompetenzaufteilung zwischen Bund und Ländern zu wahren ist. Ebenso wie die Verfassungsorgane der Länder ihre Öffentlichkeitsarbeit auf den Aufgaben- und Kompetenzbereich des jeweiligen Landes zu schränken haben, muß sich die Bundesregierung - soweit sie nicht zuständig ist - jedes E griffs in den Länderbereich enthalten. Diese wechselseitige Schranke ist stets zu bea ten.™"
Dieses Urteil steht im klaren Widerspruch zu den Ausführungen des JugendhilfeUrteils. Da sich Öffentlichkeitsarbeit nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts hauptsächlich durch „darlegen", „erläutern" und „um Verständnis werben" auszeichnet, wäre dieses Verhalten der Bundesregierung nach den Grundsätzen des Jugendhilfe-Urteils als rein „anregende" Äußerung nicht an die kompetenzrechtlichen Schranken des Grundgesetzes gebunden gewesen. Dieses hier stattgefundene „Zurückholen" der rein anregenden Äußerungen von Staatsorganen in den Regelungsbereich des Art. 30 GG wird nicht nur für die besonders sensible Wahlkampfzeit bestimmt, sondern es wird festgestellt, daß bei der Wahrnehmung von Öffentlichkeitsarbeit stets die „wechselseitige Schranke" der verschiedenen Regelungsbereiche zu beachten ist. Staatsorgane dürfen sich also nur innerhalb ihres vom Grundgesetz zugewiesenen Regelungsbereiches auch darlegend, erläuternd und um Verständnis werbend - also rechtsunverbindlich anregend - äußern, ansonsten würde gegen Art. 30 GG verstoßen werden. Die Tatsache, daß das Bundesverfassungsgericht hier - ohne es explizit zu sagen - nach der Existenz und der Reichweite einer ungeschriebenen bzw. stillschweigenden Kompetenz zur Wahrnehmung von Öffentlichkeitsarbeit einzelner Staatsorgane sucht, ohne die Frage eines möglichen kompetenzfreien Verhaltens zu erörtern, legt die Schlußfolgerung nahe, daß man sich mit diesem Urteil stillschweigend von dem vorher eröffneten Weg eines verbandskompetenzfreien Raumes verabschiedet hat 139 . Bezeichnenderweise wird dieses Urteil von den Vertretern eines kompetenzfreien Raumes140 nicht erwähnt, sondern auf das obiter dictum des Jugendhilfe-Urteils zurückgegriffen, um diese Lehre als im Einklang mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bezeichnen zu können. Dies ist jedoch - wie dargelegt - verfehlt. Es läßt sich allerdings auch nicht behaupten, daß sich das Bundesverfassungsgericht in einer konsequenten Entwicklung seiner Rechtsprechung dahin bewegt hat, daß Art. 30 GG alle staatlichen Tätigkeiten erfassen soll 141 . 138 139 140 141
Hervorhebungen durch den Verfasser. So bspw. Bleckmann (FN. 124), S. 833. Heintzen (FN. 122), S. 1448; Voitl (FN. 120) S. 18. So Bleckmann (FN. 124) S. 832f.
2. Die Behandlung von kompetenzfreien Räumen in der Literatur
37
Vielmehr läßt sich lediglich feststellen, daß das Bundesverfassungsgericht die von ihm bislang einzige Fallgruppe von kompetenzfreiem Verhalten wieder stillschweigend zurückgenommen hat. Ob dies eine Rückkehr zu der grundsätzlichen Aussage des ersten Volksbefragungs-Urteils bedeutet und somit eine (wiederentdeckte) apodiktische Ablehnung kompetenzfreier Räume darstellt, oder aber ob dies lediglich eine Rückkehr auf die Stufe des ersten Fernseh-Urteils bedeutet, daß zwar prinzipiell solche Bereiche denkbar sind, jedoch - so die logische Fortführung nach dem Öffentlichkeitsarbeits-Urteil - auch rein anregende Äußerungen von Staatsorganen an die Kompetenzordnung gebunden sind, läßt sich nicht entscheiden142. Festzuhalten ist aber auf jeden Fall, daß sich einige wesentliche von den Vertretern des verbandskompetenzfreien Raumes geschaffenen Fallgruppen - nämlich bloße Anregungen, allgemeine Empfehlungen und Hinweise143 - nicht mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, wie sie sich nach dem Urteil über die Öffentlichkeitsarbeit der Bundesregierung darstellt, in Einklang bringen lassen.
2. Die Behandlung von kompetenzfreien Räumen in der Literatur Auch wenn die Lehre vom verbandskompetenzfreien Raum als solche erst in jüngster Zeit entwickelt wurde 144 , so ist die Frage nach der Reichweite des Art. 30 GG so alt wie das Grundgesetz selbst145. Die hierbei am meisten behandelte Problematik ist, ob rein fiskalische Geschäfte des Staates ebenfalls von Art. 30 GG erfaßt werden oder ob solche Erscheinungsformen von Staatstätigkeiten nicht der strengen Kompetenzbindung des Grundgesetzes unterliegen. Die hierzu vertretenen Meinungen lassen sich in drei Gruppen zusammenfassen. Die Kernaussagen dieser Ansichten lauten, Art.30GG erfasse jegliches Handeln staatlicher Organe 146, Art. 30 GG erfasse lediglich hoheitliches Verhalten, wobei einzig nicht-hoheitliches Tätigwerden reine Fiskalgeschäfte seien147, und schließlich, 142
Insofern kann man der Aussage in Leibholz/RincklHesselberger, GG, Art. 30 Rndnr. 1, daß das Bundesverfassungsgericht es bisher offengelassen habe, ob Art. 30 GG jede staatliche Tätigkeit schlechthin erfaßt, im Ergebnis zustimmen. 143 Vgl. Heintzen (FN. 122), S. 1449. 144 Die erste und bislang einzige ausführliche Behandlungfindet das Thema in der 1993 verfaßten Arbeit von Voitl (FN. 120), S. 17-29. 145 Vgl. Peters, Die Stellung des Bundes in der Kulturverwaltung nach dem Bonner Grundgesetz in: Festgabe für Erich Kaufmann (1950), S.281, 294. 146 Bleckmann, Staatsrecht I, S. 453 ff.; Bothe in: AK, Art. 30 GG, Rndnr. 17; Erbguth in: Sachs, Art. 30 Rndnr. 33; tendenziell auch Pietzcker, HBdStR IV, §99, Rndnr. 13 ff; Gramm, Rechtsfragen der staatlichen AIDS-Aufklärung, NJW 1989, S.2917, 2920, wohl auch Modell Müller, GG-Kommentar, Art. 30 Rndnr. 1. 147 Vogel in: Βenda/Maihofer/Vogel: HbdVR, § 22, Rndnr. 36; Kölble, Zur Lehre von den - stillschweigend - zugelassenen Verwaltungszuständigkeiten des Bundes, DÖV 1963, S.660, 661; Stern, Staatsrecht Bandii, §41 IV4.b)y), S.782f.; Gubelt in: vM, Art.30GG, Rndnr. 5; v. Mangolt/Klein, Art. 30GG, Illl.b); Maunz in: M/D/H/S, Art. 30GG, Rndnr. 4.
II. Teil: Kompetenzfreies Handeln von Staatsorganen
38
daß es neben den fiskalischen Tätigkeiten weitere Verbandskompetenzfreie Handlungsformen von Staatsorganen gibt148, die von Art. 30 GG nicht erfaßt werden.
a) Die Lehre vom Verbandskompetenzfreien Raum Bis zu der Untersuchung Voitls über die behördlichen Warnkompetenzen im Bundesstaat149 wurden vereinzelt Beispielsfälle diskutiert, die außerhalb des Regelungsbereiches von Art. 30 GG liegen könnten und sollten. Eine systematische Zusammenfassung in Fallgruppen (die hier ansatzweise wiedergegeben werden sollen) und dogmatische Aufarbeitung dieser Ausnahmen von der Kompetenzbindung fehlte aber in diesem Umfang. So wurde v. a. in älteren Stellungnahmen150 die These vertreten, Art. 30 GG beziehe sich „in Wirklichkeit nur auf solche Maßnahmen, die nach außen eine rechtsverbindliche (oder ihr gleichzustellende faktische) Wirkung äußern." Es könne nicht „Sinn des Art. 30GG sein, Bundesorganen das Recht zu nehmen, [...] zu Lebensfragen des deutschen Volkes ihre Meinung zu sagen, Wünsche zu formulieren, wohl auch allgemeine Empfehlungen zu äußern, Hinweise zu geben u. ä. m.". Desweiteren sollen schlichte Parlamentsbeschlüsse - seien sie adressiert oder allgemein-politischer Natur - von dem Anwendungsbereich des Art. 30 GG ausgenommen werden 151, denn „das Politische, soweit es sich noch nicht zur verbindlichen Entscheidung verdichtet und nicht Verwaltungsmittel beansprucht, kann sich kompetenzfrei entfalten" 152. Ebenfalls sollen Äußerungen im „freien Kommunikationszusammenhang des Bereichs der politischen Willensbildung" nicht ausnahmslos dem Regime des Art. 30 GG zu unterstellen sein 153 . Stelle beispielsweise ein Bundesminister in einer Talkshow oder bei einer Wahlrede seine politische Ansicht zu beliebigen Themen dar, so falle dies schon deshalb nicht unter die Kompetenzregeln des Art. 30 GG, da kein Bezug zur Erfüllung öffentlicher Aufgaben bestehe. Er dürfe solange kompetenzübergreifend im freien Kommunikationszusammenhang Ausführungen machen, wie diese nicht als amtliche Stellungnahmen zu verstehen seien - dann erst 148
Voitl (FN. 120) S. 17ff.; Heintzen, Staatliche Warnung als Grundrechtsproblem, VerwArch 1990, S. 532, 547 f.; ders. (FN. 122), S. 1449; Isensee (FN. 9), Rndnr. 191 ff.; Schmidt-Bleibtreu/Klein, Art. 30 GG, Rndnr. 3 f.; Jarass/Pieroth, Art. 30 GG Rndnr. 3; Fuchs, Verwalten durch Beauftragte, DÖV 1986, S.363, 371; Peters (FN. 145); Lerche, Aktuelle föderalistische Verfassungsfragen, S.28; ders. in: M/D/H/S, Art. 83GG, Rndnr.42, Fn. 154. 149 Voitl (FN. 120). 150 Lerche, Aktuelle föderalistische Verfassungsfragen, S. 28; ders. relativierend in M/D/H/S, Art. 83, Rndnr. 42, Fn. 154. 151 Heintzen (FN. 122), S. 1449; Isensee (FN.9) Rndnr. 195. 152 Isensee (FN. 9) Rndnr. 195, S. 628. 153 Heintzen, VerwArch 1990, S. 1447.
2. Die Behandlung von kompetenzfreien Räumen in der Literatur
39
greife Art. 30 GG 154 . Diese Kompetenzbindung gelte zwar grundsätzlich bei amtlichen Erklärungen, da es aber Eigenheit der Staatsrhetorik sei, die ausgewählten Themen nicht immer auf die grundgesetzliche Kompetenzverteilung zu begrenzen, sei „in diesem Bereich Art. 30 GG deshalb zwar nicht völlig ausgeschaltet, aber vom Politischen überlagert und deshalb weniger rigide 155 zu verstehen" 156. Schließlich sollen Regierungsberichte 157 als institutionalisierte Form vorbereitenden Nachdenkens über eine Gesetzes- oder Verfassungsänderung eine Fallgruppe des verbandskompetenzfreien Tätigwerdens sein. Da es einen Zirkelschluß darstelle, daß man dem Bund solche Berichte als Annexzuständigkeit zu Art. 79 Abs. 1 GG zugestehe, sich aber der Regierungsbericht u. U. wegen einer Verletzung von Art. 79 Abs. 3 GG in einer ex-post Betrachtung als unzulässig erweise, wäre es „vorteilhafter,, die Zulässigkeit dieser Berichte der Bundesregierung über die Lehre vom verbandskompetenzfreien Raum und nicht als Annex zu Art. 79IGG abzusichern" 158. Die dogmatische Begründung, die es rechtfertige, alle genannten Fallgruppen außerhalb des Kompetenzgehäuses von Art. 30 GG zu stellen, leitet Voitl daraus ab, da es hierbei jeweils an Rechtsverbindlichkeit oder einer ihr gleichzustellenden faktischen Wirkung fehle und eine solche der Natur des Verhaltens nach auch gar nicht intendiert sei 159 . Die Grenzen des Art.30GG seien aber erreicht, wenn durch dieses Verhalten solch faktischer Druck entstehe, daß im Ergebnis den Ländern die Ausübung ihrer staatlichen Befugnisse und die Erfüllung ihrer staatlichen Aufgaben abgeschnitten seien. Wo genau diese Grenzen lägen, sei ungeklärt. Als Kriterien dienten einmal die Planmäßigkeit des staatlichen Verhaltens, wenn sich beispielsweise gelegentliche statements zu einer systematisch angelegten Politik verdichten würden, des weiteren die Zielgerichtetheit des staatlichen Verhaltens, der Finanzierungsaufwand und die konkrete Form des Handelns. Schließlich sei der verbandskompetenzfreie Raum desto eher verlassen, je mehr sich das staatliche Verhalten zur Verwaltungstätigkeit verdichte. Letztlich müsse bei der Abgrenzung von Fall zu Fall entschieden werden und es finde das erkenntnistheoretische Prinzip aus dem angloamerikanischen Rechtskreis Anwendung: J can't define it, but I can tell you when I see if l6 0.
Voii/(FN.120)S.21. Hervorhebung durch den Verfasser. Voitl (FN. 120) S. 22. 157 Kloepfer, Die Verfassungsmängel des „Mängelberichts", ZRP 1978, S. 121,123; Isensee (FN. 9), Rndnr. 195. 158 Voitl (FN. 120) S. 22 - Hervorhebungen durch den Verfasser. 159 Ebenda S. 23 m.w.N. 160 Voitl (FN. 120) S.23ff. 155
40
II. Teil: Kompetenzfreies Handeln von Staatsorganen
b) Die Ansicht, von Art. 30 GG werde nur rein fiskalisches Handeln nicht erfaßt Vertreter dieser Meinung stellen in erster Linie auf den Wortlaut des Grundgesetzes ab 161 . Staatliche Aufgaben des Art. 30 GG seien nur solche, die dem Staat eigentümlich, also im weitesten Sinne Angelegenheiten des Staates seien. Demgegenüber sei die fiskalische Tätigkeit des Staates dadurch gekennzeichnet, daß sie jeder Bürger ebenfalls ausüben könne, wie ζ. B. Hilfsgeschäfte zur Ausstattung der Verwaltung mit sachlichen Mitteln oder die Erwerbswirtschaft 162. Würde Art. 30 GG auch für rein fiskalische Staatstätigkeiten gelten, so sei es ausschließlich den Ländern vergönnt, Erwerbsunternehmen zu betreiben, Kapital zu besitzen und sich am wirtschaftlichen Wettbewerb zu beteiligen163.
c) Die Ansicht, Art. 30 GG erfasse lückenlos die Gesamtheit aller staatlichen Tätigkeiten Nach Auffassung der Vertreter dieser Meinung besteht kein Bedürfnis für eine Auflockerung der kompetenziellen Bindung der Staatsorgane in den dargestellten Bereichen. Rein fiskalische Beschaffungsgeschäfte seien als Annex zu der jeweiligen Verwaltungskompetenz zulässig164, dieses somit legitime erwerbswirtschaftliche Handeln unterliege jedoch der Zweckbindung an die grundgesetzlich vorgesehene Verwaltungstätigkeit 165. Es bestehe darüber hinaus keinerlei Veranlassung, das betreffende Staatsorgan von dieser verfassungsmäßig vorgegebenen Zweckbindung zu befreien 166. Auch die erwerbswirtschaftliche Betätigung des Bundes sei durch diese Ansicht nicht unmöglich gemacht, da das Grundgesetz davon ausgehe, daß der Bund eigenes Vermögen besitze (Art. 134,135 GG), und somit ebenfalls eine ungeschriebene Kompetenz bestehe, dieses Vermögen wirtschaftlich sinnvoll zu nutzen 167 . Das „Wortlaut-Argument" 168 sei insofern nicht durchgreifend, da jedes staatliche Verhalten, auch fiskalische Hilfsgeschäfte, zumindest mittelbar auf die Erfüllung öffentlicher Aufgaben gerichtet sei - ohne dementsprechende Ausstattung mit 161 Kölble, DÖV 1963, S. 660f.; Klein, Verwaltungskompetenzen von Bund und Ländern in: Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz II, S.277, 279; Maunz in: M/D/H/S Art. 30 GG Rndnr. 4; weitere Nachweise bei Pietzcker (FN. 89) Rndnr. 14, Fn. 18.; Gubelt in: vM, Art. 30 Rndnr. 5. 162 Gubelt (FN. 161). 163 So Isensee (FN. 9) Rndnr. 192, der zwar darüber hinaus weitere Fallgruppen außerhalb des Regelungsbereiches des Art. 30 GG sieht, jedoch ausdrücklich die Argumentation der hier dargestellten Ansicht aufgreift und bejaht. 164 Pietzcker (FN. 89), Rndnr. 15. 165 Erbguth (FN. 146), Rndnr. 33. 166 Bothe in: AK, Art. 30GG Rndnr. 17. 167 Ebenda Rndnr. 17 f. 168 Vgl. oben S. 31.
3. Eigene Stellungnahme
41
finanziellen, sachlichen und personellen Mitteln könne keine staatliche Stelle ihren eigentlichen Aufgaben nachkommen169. Auch bestehe darüber hinaus kein kompetenzfreier Raum, da sogenannte anregende und informelle Tätigkeiten vorwirkenden Charakter im Vorfeld von Festlegungen rechtlicher und faktischer Art hätten und somit eine Befreiung von der Kompetenzbindung nicht gerechtfertigt sei 170 .
3. Eigene Stellungnahme a) Auseinandersetzung mit den Argumenten der Vertreter eines verbandskompetenzfreien Raumes Eine nähere Auseinandersetzung mit der Lehre der verbandskompetenzfreien Räume zeigt, daß es letztlich an einer dogmatischen Begründung für diese Freistellung von der kompetenziellen Bindung desGG fehlt. Auch wenn Voitl eine einheitliche Linie in den von ihm geordneten Fallgruppen der verschiedenen Vertreter dahingehend abstrahiert, daß letztlich die Ansicht Lerches zutreffend sei, daß nur Verhalten mit rechtsverbindlichem oder dem faktisch entsprechendem Charakter dem Regime des Art. 30 GG 1 7 1 unterliege, so überwiegt bei ihm wie auch bei allen anderen Autoren das Argument der Zweckmäßigkeit zur Begründung dieser Ansicht. Lerche selbst begründet die zitierte Aussage dadurch, daß es „nicht Sinne des Art. 30 GG sein kann", Bundesorganen das genannte Äußerungsrecht zu nehmen. Voitl erklärt, es erscheine „vorteilhafter, die Zulässigkeit" von Regierungsberichten „über die Lehre vom verbandskompetenzfreien Raum [...] abzusichern 112" 113. Auch seine Ausführungen zu amtlichen Reden zeigen die Schwierigkeit, die von ihm selbst als nicht genau definierbar bezeichnete Grenze des verbandskompetenzfreien Raumes zu ziehen, soll hier doch grundsätzlich Art. 30 GG „zwar nicht völlig ausgeschaltet, aber [...] weniger rigide zu verstehen" sein 174 . Heintzen begründet die Existenz eines verbandskompetenzfreien Raumes damit, daß „freilich nicht jede staatliche Tätigkeit schlechthin" von Art. 30 GG erfaßt werde 175 und beispielsweise „bei staatlichen Äußerungen" ein solcher Raum vorliege 176. Isensee177 bezeichnet 169 So auch Lerche in: M/D/H/S, Art. 83 GG, Rndnr. 42; Bleckmann, Staatsrecht I, Rndnr. 1005, S.454. 170 Erbguth (FN. 146) Rndnr. 33. 171 Voitl (FN. 120) S. 23 unter ausdrücklicher Bezugnahme auf Lerche, Aktuelle föderalistische Verfassungsfragen, S. 28. Lerche selbst revidierte diese Ansicht 15 Jahre später (in: M/D/H/S, Art. 83 GG, Rndnr. 42, Fn. 154) ausdrücklich als zu weitgehend und bezeichnet die Annahme von kompetenzfreien Räumen - auch wenn er sie bejahte - als nicht unproblematisch. 172 Hervorhebung durch den Verfasser. 173 Voitl (FN. 120) S. 22. 174 Ebenda S. 22. 175 Heintzen, NJW 1990, S. 1448f. 176 Ders., VerwArch 1990 S.532, 547.
42
II. Teil: Kompetenzfreies Handeln von Staatsorganen
die Suche nach ungeschriebenen Kompetenzen als „müßig", von den anderen Vertretern dieser Ansicht wird auf eine Begründung weitestgehend verzichtet 178. Auch der Einwand, daß durch die Entwicklung zum modernen (Steuer-)Staat ein Rückgriff auf die bundesstaatliche Kompetenzverteilung in manchen Feldern anachronistisch sei 179 , vermag nicht zu überzeugen.
b) Das Verhältnis von Staat und Verfassung 180 als Legitimation eines Verbandskompetenzfreien Raumes? Auch wenn die Begründungen der Vertreter eines Verbandskompetenzfreien Raumes nicht überzeugen können, wäre es doch denkbar, staatliches Handeln ohne verfassungsrechtliche Ermächtigung - sei sie explizit oder ungeschrieben - zu legitimieren, wenn man den Staat als ein der Verfassung vorgelagertes Phänomen begreifen würde und diesem präkonstitutionellem Staat quasi wesensimmanente Kompetenzen zuschriebe, die unabhängig von der jeweils durch die Verfassung gegebenen konkrete Staatsform existierten. Wenn dieses Argument bislang auch noch nicht zur Legitimation verbandskompetenzfreier Räume angeführt wurde, werden doch dem Staat genau solche Kompetenzen in der Diskussion um das Verhältnis zwischen Staat und Verfassung zugeschrieben. So vertritt Isensee181 die Ansicht, der Staat sei die vorgegebene Materie, die Verfassung hingegen dessen Form, wobei die staatliche Materie nicht „schlechthin formlos, nicht materia prima im Sinne der klassischen Ontologie, sondern materia secunda: partiell vorgeformte" Materie sei. Deutlicher noch äußert sich Bleckmann182, der ausführt, daß „in normalen Zeiten" aus dem der Verfassung vorgegebenen Staatsbegriff keine Kompetenzen abzuleiten seien, welche das Grundgesetz ausdrücklich gerade nicht gewähren möchte. Allerdings gäbe es „notwendige Staatsaufgaben", die den zuständigen Organen auch dann zustehen würden, wenn sie sich nicht aus der Verfassung herleiten ließen, bspw. sei vor der ausdrücklichen Regelung der Wehrverfassung durch das GG notwendig davon auszugehen gewesen, daß die Bundesrepublik zur Verteidigung eine Armee aufstellen durfte 183 . 177
Isensee (FN. 9), Rndnr. 195. Vgl. bspw. Schmidt-Bleibtreu/Klein, Art. 30 GG, Rndnr. 3; Jarassi Ρ ieroth, Art. 30 GG, Rndnr. 3. 179 Isensee (FN. 9) S. 625, Rndnr. 192. 180 Zu den verschiedenen Verfassungsbegriffen vgl. die Übersicht bei Stern, Staatsrecht I § 3 II 3, S. 74ff., wobei die unterschiedlichen Ansatzpunkte für die hier zu behandelnde Frage letztlich von keiner Bedeutung sind, weshalb auf ein Differenzierung des Begriffes „Verfassung" verzichtet wird. 181 Isensee, Staat und Verfassung in: HBdStRI, § 13, Rndnr. 8. 182 Bleckmann, Staatsrecht I, S.5, Rndnr.4ff. 183 Auf die Tatsache, daß sich Bleckmann durch diese Ausführungen in einen deutlichen Widerspruch zu seinen im gleichen Buch aufgestellten Gegenargumenten gegen die Existenz eines verbandskompetenzfreien Raumes verwickelt (vgl. unten bb)), sei hier nur hingewiesen. 178
3. Eigene Stellungnahme
43
Da man durch diese Argumentation Kompetenzen des Staates begründen kann, die ihm durch präkonstitutionelle Existenz staatsformunabhängig zustehen, wäre eine Legitimation verbandskompetenzfreier Handlungen dergestalt möglich, daß sich das staatliche Verhalten auf einen nicht aus der Verfassung ableitbaren und in diesem Sinne „verbandskompetenzfreien" Titel zurückführen ließe. Solche mögliche wesensimmanente Kompetenztitel würden „notwendige Staatsaufgaben", die unabhängig von der durch die Verfassung gegebenen Staatsform für das Funktionieren jedes Staatswesen zwingend vorhanden sein müßten, beinhalten. Da die in dieser Arbeit zu untersuchende Frage letztlich das Recht des Staates auf Äußerung und Kommunikation mit den Bürgern betrifft - ein Recht, das sicherlich ebenso notwendig wie die staatliche Selbstverteidigung ist und somit unter die präkonstitutionellen Staatsfunktionen fallen könnte - , ist an dieser Stelle auf die Auseinandersetzung zum Verhältnis von Staat und Verfassung einzugehen184.
aa) Die von der Existenz eines präkonstitutionellen ausgehende Ansicht
Staates
Nach Carl Schmitt 185 bestimmt der Akt der Verfassungsgebung durch einmalige Entscheidung die besondere Existenzform der politischen Einheit d. h. des Staates, dessen Bestehen bei dieser konkreten Formgabe vorausgesetzt wird. Die Verfassung beinhalte nur die bewußte Entscheidung über die Gesamtgestalt des Staates, wobei sich diese Gestalt ändern könne, fundamental neue Formen eingeführt und alte Strukturen abgeschafft werden könnten, ohne daß der Staat aufhöre zu existieren. Trotz Änderungen und Wechsel der Verfassung bliebe der Staat als politische Einheit des Volkes unverändert bestehen186. Auch für Georg Jellinek 187 ist der Staat kraft seines inneren Wesens Staat, der nicht das Recht für seine eigene Entstehung festsetzen könne, der somit zuerst vorhanden sein müsse, um dieses Recht schaffen zu können. Wie jeder andere dauernde Verband bedürfe auch der Staat einer Ordnung, dergemäß sein Wille gebildet und vollzogen, sein Bereich abgegrenzt und die Stellung seiner Mitglieder in ihm und zu ihm geregelt werde. Diese Grundordnung sei die Verfassung. In diesen zur Weimarer Zeit entstandenen Schriften wurde diese Ansicht zwar mitbegründet, ein konsequentes „Zuendedenken" unter dem Gesichtspunkt der verfassungsunabhängigen Handlungsrechte des Staates erfolgte hingegen noch nicht. 184
Aufgrund der Fülle der Äußerungen zu diesem Thema sollen im Folgenden nur einige wenige Autoren aufgeführt werden, die entweder besonders deutlich Stellung beziehen oder aber als klassisch bezeichnet werden können. 185 Schmitt, Verfassungslehre (1928), 6., unveränderte Auflage 1983, S.21. 186 Ebenda S. 93. 187 Jellinek, Allgemeine Staatslehre (i.d.F. 1928), 3. Auflage, S.273, 505.
44
II. Teil: Kompetenzfreies Handeln von Staatsorganen
Diesen Schritt vollzieht Isensee188 in einer Weiterentwicklung der Lehre Jellineks. Für ihn existiert schon aus Sicht der grundgesetzlichen Präambel der Staat vor der Verfassung, da nur ein Staatsvolk handlungsfähig und damit in der Lage sei, sich eine Verfassung zu geben. In der Verfassungsgebung werde folglich kein Staat geschaffen, sondern der Wille betätigt, die staatliche und nationale Einheit zu wahren. Der Beginn des Staates, das primum principum, von dem die staatliche Einheit ihren Ausgang nehme, sei der Rütlischwur: „Wir wollen sein ein einzig Volk von Brüdern, in keiner Not uns trennen und Gefahr" 189. Hierin liege konzis das Wesen aller staatlicher Einheit: eine dauerhafte und unauflösliche Schicksals- und Gefahrengemeinschaft, gegründet auf der gegenseitigen Pflicht, füreinander einzustehen. Diese so geschaffene Staatsgewalt bedürfe durch die Verfassung nicht der Gewährleistung, sondern der Domestizierung 190. Die Verfassung selbst folge praktischen Regelungsinteressen, innerhalb derer staatliche Strukturen als Selbstverständlichkeit vorausgesetzt seien, die nicht der Artikulation bedürften. Die durch die Verfassung normierten Strukturen seien somit immer mit unnormierten Strukturen „älterer Entwicklungsstufen" (also präkonstitutioneller Art) verbunden, weshalb die von der Verfassung geschaffene Ordnung immer nur einen Teil der zu regelnden Materie erfasse. Deshalb sei die Verfassung auch zwingend darauf angewiesen, an vorgefundene Ordnungselemente anzuknüpfen. Die apriorischen Strukturen des Staates bilden nach dieser Ansicht wesentliche Bestandteile der materiellen Verfassung als „reale Geltungsbedingungen und juristischer Horizont" der grundrechtlichen und staatsorganisatorischen Institutionen191. Für die hier relevante Frage läßt sich die Lehre vom präkonstitutionellen Staat in folgender These zusammenfassen: Da der Staat vor dem Akt der Verfassungsgebung existiert, ist es Aufgabe der Verfassung, staatliche Macht zu domestizieren, nicht hingegen, diese zu kreieren. Aus den apriorischen (präkonstitutionellen) Strukturen des Staates lassen sich Ordnungselemente und Handlungsrechte ableiten, die unabhängig von der jeweils konkreten Verfassung bestehen.
188
Isensee (FN. 181) Rndnr. 6 ff. Ebenda Rndnr. 112, zitiert nach Schiller, Wilhelm Teil, zweiter Aufzug, zweite Szene, letzter Auftritt Rösselmann. Allerdings scheint gerade der Rütlischwur eher unpassend, um die These des präkonstitutionellen Staates zu untermauern, sagt doch Werner Stauffacher in besagter Szene: „Wir stiften keinen neuen Bund: es ist ein uralt Bündnis nur von Väter Zeit, das wir erneuern!" [S. 585]. Erst nachdem dieser alte Bund erneuert und sogar ein erstes Landsgesetz verabschiedet wurde, kommt es zu besagtem Schwur. Die ganze Szene erscheint daher viel mehr als verfassungsgebende/-erneuernde Versammlung denn als Staatsgründungsakt. 190 Ebenda Rndnr. 15 ff.; in dieser Deutlichkeit unter Bezugnahme auf Isensee auch Kirchhof \HBdStRI, § 19, Rndnr. 18,51; ebenfalls Murswiek, Maastricht und der pouvoir constituant, Der Staat 1993, S. 161, 162. 191 Ebenda Rndnr. 174. 189
3. Eigene Stellungnahme
45
bb) Die von dem aus der Verfassung geborenen Staat ausgehende Ansicht Für Rudolf Smend192 ist der Staat nicht ein reales Wesen an sich, sondern überhaupt nur Wirklichkeit, sofern er Sinnverwirklichung ist. Sei dies der Fall, bestehe Identität zwischen dieser Sinnverwirklichung und dem Staat. Außerhalb der Substanz dieser Wert- und Sinnverwirklichung sei der Staat nicht durch teleologische Beziehungen auf außer ihm liegende Zwecke zu rechtfertigen. Die Verfassung sei die Rechtsordnung, in der der Staat seine Lebenswirklichkeit erhält, nämlich seinen Integrationsprozeß. In deutlicher Abgrenzung zu Jellinek stellt Smend fest, daß die Staatsverfassung einen anderen Gegenstand und Inhalt als die Verfassung üblicher Verbände und Vereine habe, da die Staatsverfassung die Gewähr des Bestandes des (Staats-)Verbandes immanent in ihrem Integrationssystem garantieren müsse, während die Festlegung des staatlichen Zwecks oder Tätigkeitsbereichs und der Stellung seiner Mitglieder - anders als bei den sonstigen Verbänden - keine wesentlichen Erfordernisse seien. Schließlich sei das „formale Dasein und Leben des Staates und die Gewährleistung dieses Daseins und Lebens zunächst Selbstzweck und damit einzige wesentliche Aufgabe der Verfassung" 193. Ganz in diesem Sinne können auch für Konrad Hesse194 Staat und staatliche Gewalt nicht als etwas Vorfindliches vorausgesetzt werden, sondern gewinnen nur dann Wirklichkeit, wenn es gelingt, politische Einheit zu bilden, d.h. die bestehende Vielfalt menschlicher Interessen u. ä. zu einheitlichem Handeln zu verbinden. Diese Einheits- und Integrationsbildung sei Aufgabe und Funktion der Verfassung. Die Isolierung des Staates von seinem „soziologischen Substrat" und das daraus resultierende Übergehen der Probleme der Bildung von politscher Einheit sei mit heutigem Staats Verständnis nicht zu vereinbaren. Weder von einem vorgegebenen Staat noch von einem vorbefindlichen Recht könne somit ausgegangen werden. Für Ernst-Wolfgang Böckenförde 195 ist das Modell des Gesellschafts- bzw. Staats(gründungs-)vertrages Ausgangspunkt für die Beurteilung der Bedeutung der Verfassung. Hieraus folge, daß die Verfassung nicht eine bereits vorhandene Macht ausforme und begrenze, sondern diese zuallererst konstituiere. Aufgrund dieser konstituierenden Funktion der Verfassung existierten keine Rechtstitel „vor" und „außerhalb" der Verfassung, die zu rechtmäßigem Handeln staatlicher Organe ermächtigen könnten. In der Demokratie bedürfe jegliches staatliche Handeln einer Rechtsgrundlage in der Verfassung, weil es erst dadurch seine Basis und Legitimation erhalte. 192 Smend, Verfassung und Verfassungsstaat (1928) in: Staatsrechtliche Abhandlungen, 3. Auflage 1994, S. 136, 160ff. 193 Ebenda S. 197. 194 Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts Rndnr. 5 ff., sowie ders., Verfassung und Verfassungsrecht in: HbdVR § 1, S.4f. 195 Böckenförde, Staat, Verfassung, Demokratie, S.42f.
46
II. Teil: Kompetenzfreies Handeln von Staatsorganen
Einen anderen Ansatz wählt Haverkate 196. Er setzt sich hauptsächlich mit den Argumenten der von ihm so genannten „Einseitigkeitstheorie" (die letztlich identisch ist mit der Meinung, es gäbe einen präkonstitutionellen Staat) auseinander. Seines Erachtens sei das vielfach vorgetragene Argument, der Staat müsse schon deshalb der Verfassung vorgelagert sein, da es Staaten als historische Gebilde schon lange vor geschriebenen Verfassungen gab 197 , nicht durchgreifend, da es gerade das Wesen des „modernen Staates" sei, diese alte Ordnung zu ersetzen und durch die Verfassung den modernen Staat zu schaffen. Der Staat müsse konstituiert werden und „wodurch anders sollte dies geschehen als durch die Konstitution?"198. Würde man versuchen, auf angeblich apriorische Strukturen des Staates zurückzugreifen, so hätte dies zur Folge, daß die Gefahr einer Verzeichnung der Verfassung erwachsen würde. Die Merkmale einer solchen apriorischen Staatlichkeit wären letztendlich solche eines absoluten Staates. Auch das Argument, ein Staat könne nicht aufhören zu existieren, denke man sich die Verfassung hinweg 199 , sei unzutreffend, da für einen solchen Fall nicht der Staat als solcher, sondern ein Staat in einer Verfassung, die nicht die Merkmale der Verfassungsstaatlichkeit erfülle, übrigbleiben würde. Entscheidende Schwäche dieser Theorie sei aber, daß sie das Phänomen der Bundesstaatlichkeit nicht erklären könne. Ein Staat, der sich aus nichtsouveränen Staaten zusammensetze, sei für die Vertreter dieser Ansicht ein „Unding", denn Wesensmerkmal eines Staates solle ja gerade dessen „Einzigkeit der souveränen Staatsgewalt"200 sein. Auf ein und demselben Gebiet sei somit ein Staat neben einem Staat undenkbar. Da eine quasi doppelte vollkommene Einigung ein contradictio in adiecto darstelle 201, hafte dem Bundesstaat nach dieser Theorie immer etwas „modellwidriges" an 202 . Dies sei aber ein untragbares Ergebnis. Es sei ein sinnwidriges Modell vom Staat, nach dessen Maßgabe dem Bundesstaat etwas modellwidriges anhaften solle 203 . Zusammenfassend läßt sich festhalten, daß für die Vertreter des aus der Verfassung geborenen Staatsbegriffes keine präkonstitutionellen, staatsimmanenten Kompetenzen jenseits der Verfassung bestehen können.
196
Haverkate, Verfassungslehre, S.40ff. So bspw. Isensee (FN. 181) Rndnr. 174 und passim. 198 Ebenda S. 41. 199 So bspw. Bleckmann (FN. 182) Rndnr. 5 f. 200 So bspw. Krüger, Allgemeine Staatslehre, S.848f. 201 So v.SeydeU Staatsrechtliche und politische Abhandlungen, 1893, S.5. 202 Krüger (FN.200). 203 Diesem Argument ist einiges Gewicht beizumessen, wäre doch ansonsten quasi die Geburt des modernen Staates am 17.9.1787 in den U. S. A. gleichsam modellwidrige Kreation des Modells „moderner Staat". 197
3. Eigene Stellungnahme
47
cc) Eigene Stellungnahme Eine grundlegende Auseinandersetzung mit der Problematik des präkonistitutionellen Staates kann in der hier gebotenen Kürze nicht erfolgen. Die Argumente der unter bb) genannten Ansicht, insbesondere die dort vorgebrachten Gegenargumente gegen die unter aa) aufgeführte Meinung erscheinen jedoch überzeugend. Auf keinen Fall erscheint es gerechtfertigt, aus einem der Verfassung vorgelagerten Staat, der nicht mehr als ein Minimalkonsens aller denkbaren Staatsformen sein kann 204 , Handlungsermächtigungen abzuleiten, die sich nicht aus der Verfassung selbst ergeben. Logische Konsequenz der Annahme solcher Rechte wäre die Nichtabänderbarkeit derselben durch den Verfassungsgeber 205. Volkssouveränität wäre somit in letzter Konsequenz Souveränität in einem vom Urstaat vorgegebenen Rahmen - eine Konsequenz, die nicht mit dem Demokratieprinzip vereinbar ist. Wenn dem präkonstitutionellen Staat tatsächlich Rechte qua Existenz zustehen sollten, dann wären diese als „überlebensnotwendige" Kompetenzen geschriebene oder ungeschriebene Bestandteile einer jeden rechtsstaatlichen Verfassung und aus dieser mit den unten206 zu erörternden Methoden herleitbar - ein Rückgriff auf den Rütlischwur erscheint daher überflüssig. Im Übrigen müßten auch die Vertreter der unter aa) aufgeführten Meinung aus dem präkonstitutionellen Staat die vermeintlichen Kompetenzen nach den allgemein gültigen Methoden herleiten und dürften sie nicht intuitiv kreieren. Wenn sich aber schon aus dem Staatsbegriff als solchem eine Kompetenz ableiten ließe, ließe diese sich auch aus jeder Staatsverfassung herleiten. Im Ergebnis kann daher die Frage offenbleiben, ob es einen Staat vor der Verfassung gibt. Nach der hier vertretenen Ansicht können aus einem vermeintlich präkonstitutionellen Raum jedenfalls keine zusätzlichen Kompetenzen abgeleitet werden, die sich nicht schon aus der Verfassung ergeben würden.
c) Resümee: Keine Existenz verbandskompetenzfreier Räume Im Gegensatz zu Individuen kann sich der Staat bei keiner Tätigkeit auf die aus Art. 2 Abs. 1 GG resultierende allgemeine Handlungsfreiheit und Privatautonomie berufen. Somit bedarf es zwingend notwendig einer Handlungsermächtigung aus der Verfassung 207, die in den Kompetenznormen zu finden ist. Ein Großteil dieser Handlungsermächtigungen besteht als Annexkompetenz oder als ungeschriebenes Verfassungsrecht 208. Es besteht daher immer die Aufgabe, bei einem nicht explizit 204 205 206 207 208
Isensee (FN. 181, Rndnr. 9) selbst nennt ihn einen Torso. Diese Konsequenz zieht Isensee (FN. 181) Rndnr. 24. Vgl. S. 49ff. Bleckmann, Staatsrecht I, S.454, Rndnr. 1005. Vgl. hierzu gleich Kapitel III. 1.
48
II. Teil: Kompetenzfreies Handeln von Staatsorganen
geregelten Verhalten von Staatsorganen in der Verfassung nach einer ungeschriebenen Kompetenz hierfür zu suchen. In den meisten Fällen der oben von den Vertretern des Verbandskompetenzfreien Raumes aufgeführten Fallgruppen gelingt dies auch ohne weiteres 209. Sollte eine solche grundgesetzliche Ermächtigung jedoch nicht gefunden werden, ist das zu untersuchende Verhalten nicht etwa im verbandskompetenzfreien Raum anzusiedeln, sondern verfassungswidrig und damit nicht zulässig. Die Lehre vom Verbandskompetenzfreien Raum verkennt, daß der Staat, mangels der Möglichkeit, sich auf Art. 2 Abs. 1 GG zu berufen, immer einer Kompetenzgrundlage für jegliches Verhalten bedarf. Abgesehen von den dogmatischen Unsicherheiten, die durch die Schaffung eines solchen Raumes aufkommen, besteht hierfür auch kein praktisches Bedürfnis. Volksvertretungen bewegen sich somit bei schlichten Parlamentsbeschlüssen und regelungskompetenzübergreifenden Debatten nicht im kompetenzfreien Raum. Dieses Verhalten kann daher nur als verfassungsmäßig gelten, wenn das GG eine Kompetenz zur Ausübung des allgemeinpolitischen Mandates beinhalten sollte.
209
Bleckmann, Staatsrecht I, S. 453 ff., Rndnr. 1003 ff.
Dritter Teil
Ungeschriebene Organkompetenzen im Geltungsbereich des Grundgesetzes 1. Keine explizite Kompetenzzuweisung Aus dem bislang Ausgeführten ergibt sich die Notwendigkeit, im GG eine Kompetenz zur Ausübung eines parlamentarischen allgemeinpolitischen Mandats ausfindig zu machen. Gelänge dies nicht, würde sich die in Deutschland eingangs skizzierte gängige Parlamentspraxis als verfassungswidrig erweisen. Eine ausdrückliche, geschriebene Kompetenzzuteilung ist dem Wortlaut des Grundgesetzes nicht zu entnehmen. Es stellt sich somit die Frage, ob und bejahendenfalls unter welchen Voraussetzungen im deutschen Verfassungsrecht ungeschriebene Organkompetenzen existieren.
2. Die bisherige Auseinandersetzung mit ungeschriebenen Organkompetenzen Die Problematik der Existenz ungeschriebener Organkompetenzen war bislang weder Gegenstand einer gerichtlichen Entscheidung noch einer grundsätzlichen Behandlung im Schrifttum. Wenn die Frage überhaupt als problematisch erkannt wurde, so wurde sie lediglich beiläufig untersucht 210. Üblich ist hingegen, von der Existenz bzw. grundsätzlichen Zulässigkeit solcher stillschweigender Kompetenzen auszugehen und im konkreten Einzelfall zu untersuchen, ob ein Recht zur Wahrnehmung einer solchen Kompetenz vorliegt 211 . Die Problematik ungeschriebener Zuständigkeiten im Rahmen des Grundgesetzes wird traditionell im Zusammenhang mit der Frage ungeschriebener Gesetzgebungskompetenzen212 sowie ungeschriebener Verwaltungskompetenzen213 disku210 Am ausführlichsten Achterberg, Probleme der Funktionenlehre, S. 220 ff.; sowie Böckenförde, Organisationsgewalt, S. 87 ff., darüber hinaus noch angedacht bei Jesch, Gesetz und Verwaltung, S.205. 211 Vgl. hierzu unten 4.). 212 Vgl. Vogel 'm: HBdVR, §22 Rndnr.69ff.; Stein, Staatsrecht, § 14II5., S. 124f.; Schramm, Staatsrecht I, § 11 VI C, S. 206ff.; LeibholzfRincklHesselberger, vor Art. 70-82 GG, Rndnr. 171 ff.; Maunz in: M/D/H/S; Art. 30GG Rndnr. 19ff.; von Mangoldt/Klein/Pestalozza,
4 Boewe
50
III. Teil: Ungeschriebene Organkompetenzen im Geltungsbereich des GG
tiert. Da das Grundgesetz die Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern dergestalt vornimmt, daß dem Gesamtstaat Kompetenzen ausdrücklich zugewiesen werden, nicht festgelegte Zuständigkeiten aufgrund der Generalklausel des Art. 30 GG aber den Gliedstaaten zustehen, wird die Diskussion weitestgehend im Zusammenhang mit ungeschriebenen Gesetzgebungs- und Verwaltungskompetenzen des Bundes geführt 214. Da der föderative Bezug dieser Kompetenzbereiche und der für eine Länderkompetenz sprechende Art. 30 GG Hauptstreitpunkte des noch darzustellenden Meinungsstandes sind 215 , eine solche Zuweisung bei der Problematik ungeschriebener Organkompetenzen aber fehlt, sollen zunächst die historischen Grundlagen ungeschriebener Kompetenzen dargestellt werden, um die Möglichkeit zu eröffnen, aus diesen Grundsätzen etwaige Rückschlüsse auf die hier zu untersuchende Frage zu ziehen.
3. The Doctrine of Implied and Resulting Powers Die Lehre der ungeschriebenen Bundeszuständigkeiten geht in ihren Ursprüngen und Grundsätzen auf die im U.S.-amerikanischen Verfassungsrecht entwickelte doctrine of implied powers zurück 216 . Da zur Frage der Reichweite dieser Kompetenzen auch in der aktuellen bundesrepublikanischen Diskussion auf die Entstehungsgeschichte in den U.S.A. zurückgegriffen wird 217 , erscheint es geboten, den Ursprung dieser Lehre in groben Zügen darzustellen.
a) Entstehung in den U.S.A. Da der U. S.-amerikanische Bundesstaat nach der ihm zugrundeliegenden Verfassung keine ursprünglichen, sondern lediglich von den Gliedstaaten verliehene Kompetenzen besitzt, stellte sich schon sehr bald nach Inkrafttreten der Constitution am 17. September 1787 die Frage, ob dem Bund neben den ausdrücklich verliehenen Art.70GG Rndnr.90ff.; Hamann/Lenz, Art.30GG B5.; Kunig in: vM, Art.70GG Rndnr.22; Jarass/Pieroth, Art.30GG Rndnr. 5; vgl. auch Currie y The Constitution, S.35 Fn.7. 213 Vgl. bspw. BVerwG NJW 1989, S.2272,2274; ausführlich Voitl (FN. 120) S.47ff.; Vogel in: HBdStR IV, § 87 Rndnr. 25; Pietzcker in: ebenda § 99 Rndnr. 15; Blümel in: ebenda § 101 Rndnr. 116ff.; v. Arnim in: ebenda § 103 Rndnr. 54 jeweils m. w. N.; zur Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts vgl. Klein (FN. 161); Dittmann in: Sachs, Art. 83 GG Rndnr. 16ff.; Broß in: vM Art. 83 GG Rndnr. 4ff.; Stern, Staatsrecht II § 41IV5.b), S. 784f. 214 Bullinger, Ungeschriebene Kompetenzen im Bundesstaat, AöR 96 (1971), S.237. 2,5 Vgl. unten 3. c) S. 55 ff. 216 Grundlegend Triepel, Die Kompetenzen des Bundesstaates und die geschriebene Verfassung in: Festgabe Laband II (1908) S. 249ff; vgl. außerdem Kiichenhoff, Ausdrückliches, stillschweigendes und ungeschriebenes Recht, AöR 82 (1957) S. 413 ff.; Achterberg, Zulässigkeit und Schranken stillschweigender Bundeszuständigkeiten, AöR 86 (1961), S.63ff.; v.Mutius, „Ungeschriebene" Gesetzgebungskompetenzen, Jura 1986, S.498, 499.; Bullinger (FN.214) S. 238f.; Dennewitz, BK Art. 30II 2.; Bothe, AK Art. 30 Rndnr. 13, jeweils m. w. N. 2,7 Vgl. statt vieler Bothe, ebenda Rndnr. 13.
3. The Doctrine of Implied and Resulting Powers
51
Kompetenzen (express powers) weitere, aus diesen quasi implizit hervorgehende Rechte zustehen würden (implied powers) m. Secretary of the Treasury Alexander Hamilton und Secretary of State Thomas Jefferson waren die sich gegenüberstehenden Hauptvertreter in dem 1790/91 entbrannten Streit, ob die Gründung der ersten Bank der Vereinigten Staaten zulässig sei. Präsident George Washington hegte hieran mangels explizit zugewiesener Kompetenz zur Verabschiedung eines solchen Gründungsgesetzes durch den Congress Zweifel und bat die Mitglieder seines Kabinetts um Stellungnahmen219. Thomas Jefferson wandte sich gegen eine mehr als unbedingt notwendige Ausdehnung der express powers und berief sich als Vertreter der strict constitution ν. a. auf das 10. Amendment der U. S.-Verfassung 220, das er als tragendes Prinzip derselben betrachtete, und verwies auf die Gefahr, daß eine laxe Handhabung dieses Grundsatzes letztlich dessen faktisches Ende bedeuten würde:
„ If such a latitude of construction be allowed to this phrase as to give any non-enumerat power, it will go to every one" 221.
Alexander Hamilton berief sich in seinem diesbezüglichen Brief an den Präsidenten ebenfalls auf das 10. Amendment, wies jedoch daraufhin, daß auf das Wort expressly im Zusammenhang mit den powers not delegated bewußt verzichtet wurde, um eine weitergehende, flexible Anwendung dieser Norm zu ermöglichen 222. Sein Hauptargument zur Begründung der Lehre der implied powers lautete, daß dem hinsichtlich der expliziten Befugnisse souveränen Bund alle zur Erreichung dieser Zwecke notwendigen Mittel implizit zustehen müssen:
„That every power vested in a government is in its nature souvereign, and includes, by f of the term, a right to employ all the means requisite and fairly applicable to the attainme of the ends of such power" 223.
Darüber hinaus existieren nach Hamilton sogenannte resulting powers , die im Unterschied zu den implied powers nicht in Anlehnung an eine konkrete Kompetenz abgeleitet werden, sondern sich vielmehr aus der Natur des politischen Gemeinwesens an sich ergeben 224: resulting „from the whole mass of the powers of the government" 225. In der sogenannten necessary and proper clause 226 des Article I, 218
Achterberg, AöR 86 (1961), S. 71 f. Joswig, Die implied-powers-Lehre, S. 23 f. 220 The powers not delegated to the United States by the constitution, nor prohibited by it to the States, are reserved to the States respectively or the people. 221 Jefferson, , Writings, S.419. 222 Achterberg, Funktionenlehre, S. 215. 223 So Hamilton in seinem Brief vom 23. Februar 1791 an den Präsidenten George Washington in: Smith/Murphy: Liberty and Justice, S. 92-94. 224 So die Übertragung von Triepel (FN. 216) S.271. 225 Hamilton (FN. 223). 226 Dieser Abschnitt der amerikanischen Verfassung wird auch als „sweeping clause" bezeichnet, vgl. bspw. Becker, Die Anwendbarkeit der Theorie, S. 5.; für die Bezeichnung als necessary and proper clause " bspw. Joswig (FN. 219) S. 29. 219
4*
52
III. Teil: Ungeschriebene Organkompetenzen im Geltungsbereich des GG
Section 8, clause 18 sieht Hamilton 227 die verfassungsrechtliche Bestätigung seiner Theorie:
„The Congress shall have Power to make all Laws which shall be necessary and proper fo carrying into Execution the foregoing Powers, and all other Powers vested by this Co tution in the Government of the United States, or in any Department or Officer thereof
Necessary bedeutet hierbei für Hamilton - im Gegensatz zu Jefferson - mehr als das absolut Notwendige: „[...] necessary often means no more than needful, requisite, incidential, useful, or conductive to" 22* Auch wenn George Washington sich hierdurch von der Verfassungsmäßigkeit der Bundesbankgründung überzeugen ließ 229 , stellte die Unterzeichnung des umstrittenen Gesetzes noch keinen Schlußpunkt in der Debatte um Existenz und Umfang von implied and resulting powers dar. Der endgültige Durchbruch gelang Hamiltons Lehre mit der Entscheidung des Supreme Court McCulloch v. Maryland 130 im Jahre 1819231. Der Staat Maryland verklagte den cashier (Zweigstellenleiter) McCulloch der Bank der Vereinigten Staaten in Baltimore/Maryland, da dieser sich weigerte, eine Steuer zu entrichten, die in diesem Staate von jeder nicht durch den besagten Bundesstaat gegründeten Bank verlangt wurde. In dieser Entscheidung des Supreme Court übernahm der Vorsitzende Richter John Marshall die von Hamilton entwickelten Grundsätze zu den implied powers und verwarf die Einwände der Gegenseite, die sich auf eine Interpretation der necessary and proper clause im Sinne Jeffersons beriefen 232. Die doctrine of implied powers , die seit diesem Urteil fester Bestandteil der amerikanischen Rechtsprechung ist 233 , stellt sich in ihren Grundsätzen wie folgt dar: Eine implied power muß notwendiges Mittel zur Erfüllung einer explizit oder wiederum implied eingeräumten Befugnis sein, wobei die herzuleitende power niemals ihren Charakter als Hilfskompetenz verlieren darf. Die Deutung des Wortes necessary übernahm John Marshall quasi wörtlich von Hamilton 234 - notwendig im Sinne von nützlich, angemessen und hilfreich, nicht hingegen als unerläßliche Vor227
(FN.223) S.93. Ebenda S. 94. 229 Joswig (FN. 219) S. 29. 230 4 Wheat. (17 U.S.) 316 [1819]. 231 Die erste Bestätigung fand die implied powers-Lebie bereits in der Supreme Court Entscheidung United States v.Fisher [6 U.S. 358 (1805)], die den Streit um deren Gültigkeit jedoch nicht endgültig beilegen konnte, zumal dieses Urteil in die Präsidentschaftszeit Jeffersons fiel - vgl. hierzu Joswig (FN. 219) S. 33 f. 232 4 Wheat. (17 U. S.) 316, 367f. [1819], wo zum einen Bezug auf das Wort „and" anstatt eines „or " in der necessary and proper clause genommen wurde und ein kumulatives Vorliegen beider Merkmale gefordert wurde; zum anderen wurde wie folgt aigumentiert: Jo give it" [dem Wort necessary]"a more lax sense, would be to alter the whole character of the govern ment as a sovereignty of limited power". 233 Triepel (FN. 216) S.264. 234 4 Wheat. (17 U.S.) 316, 413f. [1819]. 228
3. The Doctrine of Implied and Resulting Powers
53
235
aussetzung . Die bis heute als gültiger Test für das Vorliegen einer implied power geltende Passage des Urteils lautet 236 :
„Let the end be legitimate, let it be within the scope of the constitution, and all means wh are appropriate, which are plainly adapted to that end, which are not prohibited, but con with the letter and spirit of the constitution, are constitutional" 73 1.
Ungeschriebene Bundeszuständigkeiten in föderalen Staaten lassen sich von den U.S.A. ausgehend in der gesamten Welt 238 ausmachen. Dieses verfassungsrechtliche Phänomen ist mit jeweiligen nationalen Besonderheiten in der Schweiz239 ebenso anerkannt wie in den von britischem Recht geprägten Verfassungen des Commonwealth240, wobei insbesondere der Bundesstaat Australien hervorzuheben ist, der in seiner Verfassung die necessary and proper clause sinngemäß241 übernommen hat (Chapter I, Part V - See. 51(39)), mit der Abweichung, daß anstelle des Wortes necessary der Begriff incidental benutzt wurde 242 . Die Aussage Madisons, wonach es keinen etablierteren Grundsatz im Recht als den der implied powers gäbe243, scheint somit auch noch nach 200 Jahren Gültigkeit zu haben.
b) Die Entwicklung ungeschriebener Bundeszuständigkeiten in Deutschland Die Beratungen des Verfassungsentwurfes durch den Reichstag des Norddeutschen Bundes 1867 hatten bereits ungeschriebene Bundeskompetenzen zum Gegenstand. Während der Verhandlungen schlug der Abgeordnete Zachariae vor, Art. 2 dergestalt zu formulieren, daß den im Bunde vereinten Staaten alle Rechte verbleiben, die nicht ausdrücklich der Bundesgewalt übertragen werden 244. Diese Formu235
Vgl. hierzu auch Achterberg, AöR 86 (1961), S.74. Zur Bedeutung gerade dieses Abschnittes vgl. u. a. Nowak! Rotunda: Treatise on Constitutional Law: vol. 1, § 3.2, S. 301 ff.; Schwartz , Commentary on the constitution, Part I. S. 91 ff.; Lockhart/Kamisar/ Choper: Constitutional law, S. 162 ff., sowie die wörtlichen Wiedergaben bei Triepel (FN. 216) S. 260; Becker , Anwendbarkeit, S. 6; Joswig (FN. 219) S. 42. 237 4 Wheat. (17 U.S.) 316, 421 [1819]. 238 Zu Art. 235 EGV als Kompetenzabrundungsklausel der EU vgl. Fehling, Mechanismen der Kompetenzabgrenzung, S. 31, 35f. 239 Achterberg, Funktionenlehre, S.219f. 240 Vgl. hierzu die Übersicht bei Sawer, „implied powers" in bundesstaatlichen Verfassungen, ZaöR 20 (1959/60), S. 562ff.; insbesondere für Canada vgl. Bothe, Die Kompetenzstruktur, S. 172 Fn. 281. 241 Vgl. bspw. The King v. Kidman and others [zitiert aus Sawer , Cases on the constitution, S. 486f.]:" wherever any such power is given, there is given with it by implication every an lary power that is necessary [...]". 242 Zum australischen Recht vgl. Lane, The australian federal system, S.226; Howard , australian federal constitutional law, S.6f. 243 ,JVo axiom is more clearly established in law [...] than that wherever the end is requ the means are authorized; wherever a general power to do a thing is given, every particu power necessary for doing it is included" Madison, The Federalist, Nr. 44, S. 231. 244 Stenographische Berichte der Verhandlungen des Reichstages des Norddeutschen Bundes 1867, Band II, Anlage Nr. 21 S.45. 236
54
III. Teil: Ungeschriebene Organkompetenzen im Geltungsbereich des GG
lierung, die eine Übertragung der doctrine of implied powers unmöglich gemacht hätte, wurde jedoch mit großer Mehrheit abgelehnt und fand sich weder in Art. 2 S. 1 der Verfassung des Norddeutschen Bundes noch in derselben Passage der Reichsverfassung von 1871 wieder 245 . Während es in den ersten Jahren des Deutschen Reiches noch Stimmen gab, die - ganz im Sinne Jeffersons - eine Ausdehnung geschriebener Kompetenzen auf ungeschriebene nur unter der Voraussetzung billigen wollten, daß dies unerläßliche Voraussetzung zur Wahrnehmung der ausdrücklichen Befugnisse sei 246 , war es Heinrich Triepel, der in seiner bis heute als grundlegend zitierten 247 Abhandlung über „Die Kompetenzen des Bundesstaates und die geschriebene Verfassung" 248 die doctrine of implied powers im deutschen Verfassungsrecht für anwendbar erklärte. Wenn die Verfassung dem Reich ausdrücklich eine Zuständigkeit gewähre, so sei damit automatisch die Ausübung all der Mittel erlaubt, die bei „pflichtgemäßer Erwägung des Notwendigen und Nützlichen" 249 zur Wahrnehmung der expliziten Kompetenz geeignet seien. Triepel selbst bezeichnete dies als die sweeping clause des deutschen Staatsrechts, durch die dem Deutschen Reich in genau demselben Sinne wie in den U. S. A. implied powers zustehen würden 250 . Ausdrücklich bezog er in seine Ausführungen die von Hamilton als resulting powers entwickelte Fallgruppe als ebenfalls anwendbar mit ein, da es neben den impliziten Rechten auch solche gebe, die von allen als selbstverständlich betrachtet und sich aus der Natur des politischen Gemeinwesens ergeben würden 251. Diese Ansicht setzte sich im Kaiserreich durch und wurde in der Weimarer Republik von der Staatsrechtslehre übernommen 252. Hierbei wurde teilweise wörtlich Bezug auf Triepel genommen, indem seine Bezeichnung für implied powers als Kompetenz kraft Konnexität 253 sowie die von ihm aufgestellten Kriterien, die ungeschriebenen Rechte müßten als Hilfskompetenzen der ausdrücklich gewährten erforderlich für eine sachgemäße und zweckentsprechende Handhabung sein, übernommen wurden 254 . Parallel zu den Verfassungsberatungen des Norddeutschen Bundes wurde auch in den Beratungen des Parlamentarischen Rates ein Antrag des Abgeordneten Seebohm (DP) mit 12 zu 8 Stimmen abgelehnt, Art. 30 GG dergestalt zu formulieren, daß alle Rechte, die nicht dem Bund „übertragen sind" 255 , den Ländern verbleiben 245
Voitl (FN. 120) S.48. Haenel, Das Gesetz im formellen und materiellen Sinne, S.222. 247 Vgl. bspw. Bullinger, (FN.214) S.237. 248 Festgabe für Paul Laband Band 2 (1908), S. 249-335. 249 Ebenda S. 289. 250 Ebenda S. 292. 251 Ebenda S. 272. 252 Anschütz/Thoma, Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Band 1, § 32 III 2., S. 367. 253 Triepel (FN.216) S.282f. 254 Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs, Schlußbem. Art. 6-11, S. 95 f., m. w. N. in Fn.2) auf S.96. 255 Parlamentarischer Rat: Verhandlungen des Hauptausschusses 1948/49, 6. Sitzung vom 19. November 1948, S. 69,74/75, wobei der Abgeordnete Laforet (CSU) bei der Unterstützung 246
3. The Doctrine of Implied and Resulting Powers
55
sollten - ein Antrag, der ähnlich dem Anliegen Zachariaes eine Fortführung der implied powers doctrine im deutschen Verfassungsrecht erheblich eingeschränkt hätte. Die schließlich verabschiedete Fassung des Art. 30 GG mit der negativen Kompetenzzuweisung zugunsten der Länder, soweit das Grundgesetz keine andere Regelung trifft oder zuläßt, wird allgemein so verstanden, daß der Verfassungsgeber sich zumindest nicht gegen eine Existenz ungeschriebener Bundeskompetenzen ausgesprochen habe256.
c) Ungeschriebene Bundeszuständigkeiten unter dem Grundgesetz Sowohl das Bundesverfassungsgericht 257 als auch die heutige Literatur 258 gehen grundsätzlich von der Existenz ungeschriebener Gesetzgebungs- und Verwaltungskompetenzen aus. Wahrend früher noch vereinzelt vertreten wurde, die Kompetenzverteilung des Grundgesetzes sei lückenlos und somit kein Raum für ungeschriebene Befugnisse 259, konzentriert sich der heutige Streit vor allem auf terminologische Feinheiten. Die Zulässigkeitsdiskussion wurde beendet, als Achterberg 260 darauf hinwies, daß die Annahme einer Lückenlosigkeit des Grundgesetzes dazu führen würde, die Verfassung als Vollverfassung zu sehen, was aber nachweislich nicht der Fall sei. aa) Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Im Rechtsgutachten des Bundesverfassungsgerichts-Plenums vom 16. Juni 1954 über die Zuständigkeit des Bundes zum Erlaß eines Baugesetzes erkannte das Gericht ungeschriebene Gesetzgebungskompetenzen des Bundes an und definierte dedes Antrages Seebohms daraufhinwies, daß der jetzige Staat die gleiche Rechtspersönlichkeit wie der durch die Novemberverträge 1870 gegründete besitze und damals die Gründungsstaaten lediglich unter Teilverzicht auf ihre Staatenhoheit all die Kompetenzen behielten, die nicht durch die Verfassung an das Reich abgegeben wurden. 256 Vgl. bspw. Voitl (FN. 120) S. 49. 257 Vgl. als Beispiel für eine Regelungskompetenz des Bundes kraft Natur der Sache BVerfGE 84, 133,148 sowie kraft Sachzusammenhang BVerfGE 22, 213; vgl. darüber hinaus BVerfGE 3, 421; 11, 96f.; 15, 20; 26, 256, 300 sowie die zahlreichen Hinweise bei Becker (FN.236) S. 13 Fn.31) und Bleckmann (FN. 124) S.457ff. 258 v.Mutius, Jura 1986, S.498, 499; Erichsen, Verteilung der Gesetzgebungszuständigkeiten, Jura 1993, S.385ff.; Blümel in: HBdStRIV § 101 Rndnr. 116ff. S.930ff.; Pernthaler, Allgemeine Staatslehre, S.298; Gusy, Die Offenheit des Grundgesetzes, JöR Bd. 33 (1984), S. 105, 124; Achterberg, Einwirkung des Verfassungsrechts, JA 1980, S. 210, 215; Pietzcker, (FN. 89) S.704 Rndnr.23; v.Arnim, HBdStRIV, § 103 Rndnr.54 S. 1011; Stern, Staatsrecht Bandi, § 19 III 3.a) S. 676; Gubelt in: vM, Art. 30 Rndnr. lOff.; Bothe, AK, Art. 30 Rndnr. 13ff.; Schmidt-Bleibtreu/Klein, Art. 30 Rndnr. 7; Dennewitz, BK Art. 30 II 2.; Erbguth in: Sachs, Art. 30 GG Rndnr. 38 f., jeweils m. w. N. 259 Ringelmann (Diskussionsbeitrag) in: Partsch (Red.), Bundesrecht und Bundesgesetzgebung, S. 25, 131. 260 AöR 86 (1961), S.80f.
56
III. Teil: Ungeschriebene Organkompetenzen im Geltungsbereich des GG
ren Voraussetzungen, auf die in der Folgezeit immer wieder zurückgegriffen wurde 261 . Eine Sachzusammenhangskompetenz wurde für den Fall bejaht, daß eine ausdrücklich zugewiesene Kompetenz nur dann verständigerweise geregelt werden könne, wenn zugleich eine nicht ausdrücklich zugewiesene Materie mit geregelt werde, wobei dieses Übergreifen in den ungeschriebenen Bereich unerläßliche Voraussetzung zur Regelung des explizit zugewiesenen Bereiches sein müsse. Ebenfalls anerkannt sind für das Bundesverfassungsgericht ungeschriebene Gesetzgebungskompetenzen aus der Natur der Sache262. Mit der wörtlichen Übernahme einer von Anschütz263 aufgestellten Formel definiert es solche Kompetenzen als begründet „nach dem ungeschriebenen, im Wesen der Dinge begründeten, mithin einer ausdrücklichen Anerkennung durch die Reichsverfassung nicht bedürftigen Rechtssatz[es], wonach gewisse Sachgebiete, weil sie ihrer Natur nach eigenste, der partikularen Gesetzgebungszuständigkeit a priori entrückte Angelegenheiten des Reichs darstellen, vom Reiche und nur von ihm geregelt werden können" 264 . Insbesondere für die Rechtsprechung kraft Sachzusammenhang führte Bullinger 265 den Nachweis, daß das Bundesverfassungsgericht diese von ihm „strenge Formel" genannte Definition des Baurechtsgutachtens nur dann anwende, wenn es i.E. eine Kompetenz des Bundes verneine - der viel häufigere Anwendungsfall sei der „formelfreie Sachzusammenhang", bei dem auf das Kriterium der Unerläßlichkeit verzichtet und meist auf die größere Sachnähe abgestellt werde 266.
bb) Der Streitstand in der Literatur Unmittelbar nach Inkrafttreten des Grundgesetzes kam die Diskussion auf, ob der Begriff der Ungeschriebenheit der in Frage stehenden Kompetenz einen Rückgriff auf ungeschriebenes Verfassungsrecht, überpositives Recht und Verfassungsgewohnheitsrecht ermöglichen solle 267 oder ob das Wort ungeschrieben nicht vielmehr durch stillschweigend zu ersetzen sei.
261
Vgl. bspw. BVerfGE 12, 205, 237; 15, 1, 20. So wurde bspw. eine Gesetzgebungskompetenz des Bundes aus der Natur der Sache für die unaufschiebbaren gesetzgeberischen Aufgaben zur Schaffung der Voraussetzungen des Beitritts der ehemaligen DDR gem. Art. 23 S.2GG (a.F.) anerkannt, vgl. BVerfGE 84, 133, 148. a* HBdDStR Band 1 (1930) S.367. 264 BVerfGE 11,89, 98 f. 265 (FN.214) S. 242ff. 266 So bspw. das Jugendhilfeurteil BVerfGE 22, 181, 212f. Zu den Fallgruppen, in die Bullinger die einzelnen Entscheidungen einordnet, vgl. FN.214, S.261 f. 267 So bspw. Voigt, Ungeschriebenes Verfassungsrecht VVDStRL 10 (1952), S.41; im Gegensatz zu Maunz, Ungeschriebene Bundeszuständigkeiten, DÖV 1950, S. 628 ff. 262
3. The Doctrine of Implied and Resulting Powers
57
Erich Kiichenhoff wird das Verdienst zugeschrieben268, mittels terminologischer Schärfe klargestellt zu haben, daß die sogenannten ungeschriebenen Zuständigkeiten in Wahrheit mittels Auslegung des geschriebenen Verfassungsrechts zu ermitteln und somit schon stillschweigend im Verfassungstext mit enthalten seien. Ein Rückgriff auf ungeschriebenes Recht sei nicht nur überflüssig, sondern verbiete sich vielmehr. Die implied powers des deutschen Verfassungsrechts - überwiegend als Kompetenzen kraft Sachzusammenhang bezeichnet - sollten als stillschweigendimpliziert (mit-) geschriebene Bundeszuständigkeiten, die resulting powers - oder Zuständigkeiten kraft Natur der Sache - sollten als stillschweigend-evident (mit-)geschriebene Bundeszuständigkeiten bezeichnet werden 269. Die Ansicht, daß es sich bei ungeschriebenen Rechten tatsächlich um stillschweigende Kompetenzen handelt, ist heute absolut herrschend 270. Auch wenn dies in der Sache mittlerweile von allen Autoren vertreten wird, scheint die alte Terminologie, implied powers als Kompetenzen kraft Sachzusammenhang271 sowie resulting powers als solche aus der Natur der Sache zu bezeichnen, nach wie vor herrschend zu sein 272 . Ein Kompetenz kraft Sachzusammenhang wird daher sowohl von der Rechtsprechung als auch von der Literatur als dann gegeben anerkannt, wenn eine dem Bund zugewiesene Materie nur geregelt werden kann, wenn zugleich eine nicht erwähnte Materie mit geregelt wird. Dieser Übergriff wird als unerläßlich bezeichnet, im Einzelfall aber eine Abwägung nach flexiblen Gesichtspunkten, insbesondere der größeren Sachnähe zu der Materie, vorgenommen 273. 268
Kiichenhoff, AöR 82 (1957), S. 413 ff. - zur Bedeutung dieser Abhandlung Achterberg, DÖV 1966, S. 695f. 269 Kiichenhoff (FN.216) S. 451, 473. 27 0 Stern, Staatsrecht I § 19 III 3., S. 676; Wipfelder, DVB1 1982, S.477, 478; Maunz in: M/D/H/S, Art. 30 GG Rndnr. 21; Schmidt-Bleibtreu/Klein Art. 30 GG Rndnr. 7; Erichsen (FN. 258) S. 387; Bothe, AK, Art. 30GG Rndnr. 13; Erbguth in: Sachs, GG, Art. 30 Rndnr. 39; Achterberg, AöR 86 (1961), S.84; ders., Funktionenlehre, S.223; ders., Annex-Kompetenz, DÖV 1966, S. 695ff.; ders., Einwirkung des Verfassungsrechts, JA 1980, S.210ff.; so auch schon früher Kiichenhoff, Ungeschriebene Bundeszuständigkeiten und Verfassungsauslegung, DVB11951, S. 585 ff.; ebenfalls Gubelt in: vM, Art. 30GG Rndnr. lOff., der allerdings der Ansicht ist, insbesondere Achterberg wolle einen Rückgriff auf überpositives Recht zulassen; für die im Ergebnis dem ebenfalls zustimmende Rechtsprechung vgl. ausführlich Bullinger (FN.214) S.247ff., 283. 271 Zu der hier bedeutungslosen Frage, ob Annexkompetenzen eine Untergruppe der Kompetenzen kraft Sachzusammenhang darstellen oder vielmehr eine dritte, selbstständige Fallgruppe der stillschweigenden Zuständigkeiten vgl. statt vieler Voitl (FN. 120) S.50f. 272 Weder der Vorschlag Küchenhoffs (FN. 216) noch der Achterbergs, DÖV 1966, S. 698, die Kompetenzen kraft Sachzusammenhang als solche „kraft Verfassungsauslegung" und die kraft Natur der Sache als solche „kraft Verfassungsergänzung" zu bezeichnen (wobei Ergänzung i. S. v. Evidenz und Analogie zu verstehen sei), konnten sich durchsetzen. 273 Ob dies durch Bildung von Fallgruppen (so Bullinger [FN. 218] S. 261 ff.), durch eine Analogie zu Art. 72GG [so Achterberg, AöR 86 [1961], S.90ff.], durch abweichende Auslegung des Begriffs „unerläßlich" (so Stern, Staatsrecht II, S. 611.) oder durch schlichtes Über-
58
III. Teil: Ungeschriebene Organkompetenzen im Geltungsbereich des GG
Eine Kompetenz kraft Natur der Sache liegt vor, wenn eine sinnvolle Regelung durch die Länder unmöglich ist, da schon begriffsnotwendig eine bundeseinheitliche Lösung zwingend notwendig sei 274 . Über 200 Jahre nach dem Brief Alexander Hamiltons an George Washington läßt sich daher feststellen, daß die von Hamilton begründete Lehre der implied and resulting powers inklusive seiner Interpretation des Wortes necessary in Deutschland fast wortgenau Gültigkeit besitzt.
4. Faktisch anerkannte stillschweigende Organkompetenzen unter dem Grundgesetz Auch wenn es keine grundsätzlichen Abhandlungen zu der Frage gibt, ob die anhand der Gesetzgebungskompetenzen entwickelte doctrine of implied and resulting powers auch auf Organkompetenzen übertragbar ist 275 , so scheint hieran in der Staatsrechtslehre kein Zweifel zu bestehen. Die Zulässigkeit stillschweigender Organkompetenzen wird vielmehr „stillschweigend" angenommen und im Einzelfall diskutiert, ob ein solches Recht aus der Verfassung ableitbar ist. Beispielhaft soll hier anhand einiger diesbezüglicher Streitstände aufgezeigt werden, daß faktisch die Kriterien der doctrine of implied powers angewandt werden - auch wenn es nicht ausgesprochen wird.
a) Das materielle Prüfungsrecht des Bundespräsidenten Als Bundespräsident Carstens 1981 das Staatshaftungsgesetz ausfertigen sollte, entschied er sich, an seinen früher geäußerten Grundsätzen festzuhalten, daß das Staatsoberhaupt den Vollzug solcher Akte nur ablehnen dürfe, wenn ansonsten die freiheitlich demokratische Grundordnung gefährdet würde. Jedes weitergehende Recht würde das Prinzip von check and balances übertreiben 276. Er unterzeichnete das besagte Gesetz - obwohl er von dessen Verfassungswidrigkeit mangels Gesetzgebungskompetenz des Bundes überzeugt war - und legte dem ein Begleitschreiben 277 an den Bundeskanzler, den Bundestags- und den Bundesratspräsidenten bei, worin er seine Zweifel äußerte und eine Überprüfung durch das Bundesverfassungsgehen der Baurechtsgutachtens-Definition (BVerfGE [FN. 261]) geschieht, ist für das hier bedeutsame Ergebnis irrelevant. 274 Vgl. statt aller Pernice in: Dreier, GG, Art. 30 Rndnr. 32ff.; Gubelt in: vM, Art. 30 GG, Rndnr. lOff.; sowie v.Mutius, Jura 1986, S.499f.; zum Begriff „Natur der Sache" vgl. Gern, JuS 1988, S. 534ff. 275 Lediglich Achterberg (FN. 222) geht hierauf etwas genauer ein, vgl. unten b). 27 6 Carstens, Politische Führung, S. 103 ff. 277 Bulletin der Bundesregierung, Nr. 64 vom 2.7.1981, S.545.
4. Faktisch anerkannte stillschweigende Organkompetenzen
59
gericht anriet. Fast alle anderen Bundespräsidenten nahmen dieses Verwerfungsrecht für sich in Anspruch und machten hiervon auch Gebrauch 278. Die Frage, ob dem Staatsoberhaupt das in der Verfassung nicht ausdrücklich erwähnte Recht zusteht, aufgrund einer materiellen Prüfung die Ausfertigung eines Gesetzes zu verweigern, ist seit jeher in der Staatsrechtslehre umstritten 279. Kernaussage der Befürworter ist, daß es der Vorrang der Verfassung gebiete, daß kein Staatsorgan gezwungen werden könne, bei Teilnahme an einer Staatswillensbildungshandlung „sehenden Auges" einen Verfassungsverstoß ausfertigen zu müssen280. Wenn das Grundgesetz einerseits den Bundespräsidenten wie alle Staatsorgane gem. Art. 20 Abs. 3 GG auf die Einhaltung der Verfassung verpflichte und andererseits gem. Art. 82 Abs. 1 GG die Unterzeichnung aller Bundesgesetze durch das Staatsoberhaupt fordere, könne die Verfassung gar nicht anders ausgelegt werden, als daß dem Präsidenten ein Unterzeichnungs-Verweigerungsrecht für den Fall zustehe, daß er das Gesetz für verfassungswidrig halte 281 . Unabhängig von dem verfassungsrechtlichen Anknüpfungspunkt - sei es die Verfassungsbindung gem. Art. 1 Abs. 1, 20 Abs. 3 GG 282 , sei es die Ausfertigung gem. Art. 82 Abs. 1 GG 283 oder der Amtseid gem. Art. 56 GG 2 8 4 - bleibt diese Kernthese 285 der Befürworter immer gleich. Auch der zweite bejahende Ansatzpunkt greift auf stillschweigende Kompetenzen zurück. Ausgehend vom unstreitig gegebenen formellen Prüfungsrecht wird ausgeführt 286, daß eine formelle Prüfung ohne Berücksichtigung der materiellen 278 Vgl. Epping, JZ 1991, S. 1102ff.; lediglich Bundespräsident Herzog machte nach Auskunft des Bundespräsidialamtes keinen Gebrauch von dieser Befugnis. 279 Für die Existenz u. a. Herzog, in: FS Carstens II, S. 605; Stern, Staatsrecht II, S. 234; Lehnguthy DÖV 1992, S.439, 442; Schiaich HBdStRII, §49 Rndnr. 35f.; Bauer, in: Dreier, Art. 82GG, Rndnr. 12f.; Hesse, Grundzüge, Rndnr. 667; Nierhaus in: Sachs, Art.54GG, Maunz in: M/D/H/S Art. 82GG Rndnr. 2; Herzog in: ebenda Art.54GG Rndnr. 75; Schmidt-Bleibtreu/ Klein, Art. 82 GG, Rndnr. 2; differenzierend bspw. Pieroth in: Jarass/Pieroth, Art. 82 GG Rndnr. 3; zumindest gegen eine gewohnheitsrechtliche Anerkennung Epping, JZ 1991, S. 1102; gegen die Existenz u. a. Lücke in: Sachs, Art. 82GG Rndnr. 3 f.; Carstens (FN. 276); Jekewitz in: AK, vor Art. 54GG, Rndnr. 16; Friauf in: FS Carstens II, S. 560ff.; Byrde in: vM, Art. 82GG Rndnr. 6; gegen ein Prüfungsrecht des Reichspräsidenten: TriepeU AöR 39 (1920) S.456,537. 280 Vgl. bspw. Nierhaus in: Sachs, Art. 54 GG Rndnr. 11. 281 Herzog (FN. 279) S. 605. 282 So bspw. Nierhaus (FN. 279) Rndnr. 13. 283 Maunz (FN. 279) Rndnr. 2. 284 Arndt, DÖV 1958, S.604, 605. 285 Der Ansatz, das materielle Prüfungsrecht verfassungsgewohnheitsrechtlich anzuerkennen (Biehly Die Gegenzeichnung im parlamentarischen Regierungssystem der Bundesrepublik Deutschland, S. 113 ff.), überzeugt nicht, da es bislang lediglich zwei Fälle gab, in denen aufgrund echter materieller Gründe eine Ausfertigung unterblieb, so daß von consuetudo nicht gesprochen werden kann (vgl. Epping, Das Ausfertigungsverweigerungsrecht, JZ 1991, S. 1102), ebenso, wie es bis heute an einer Beurteilung durch das Bundesverfassungsgericht fehlt, so daß es auch an der opinio iuris scheitern würde (Friauf FN. 279 S. 551 Fn. 32). 286 Maunz in: M/D/H/S, Art. 82 Rndnr. 2 m. w. N.
60
III. Teil: Ungeschriebene Organkompetenzen im Geltungsbereich des GG
Verfassungsmäßigkeit unmöglich sei, denn ein inhaltlich mit dem Grundgesetz unvereinbares Gesetz wäre nur dann formell verfassungskonform, wenn es das Grundgesetz abändern würde (Art. 79 Abs. 1 GG). Auch hier wird die ausdrücklich zugestandene Kompetenz zur formellen Überprüfung mittels Auslegung um ein hierin vermeintlich impliziertes Recht zur materiellen Prüfung ausgeweitet. Auch wenn von den Befürwortern ausgeführt wird, daß dieses Prüfungsrecht mangels expliziter Regelung eines verfassungsrechtlichen Anknüpfungspunktes bedarf 287 , fehlt es an Darstellungen, unter welchen Voraussetzungen ein solches ungeschriebenes Recht aus den Verfassungsnormen abgeleitet werden kann. Vielmehr erscheint es selbstverständlich, daß mittels Auslegung solche nicht erwähnten Befugnisse hergeleitet werden können. Teilweise wird hierbei - wohl unbewußt - faktisch eine Prüfung anhand der Kriterien zu stillschweigenden Gesetzgebungskompetenzen durchgeführt 288, indem festgestellt wird, daß es sich bei dem materiellen Prüfungsrecht um keine Begründung einer neuen Befugnis handele, sondern daß dieses Recht vielmehr bereits in der Verfassung enthalten sei (also implied) und mittels Auslegung konkretisiert werde. Dieses Recht müsse existieren, da ansonsten der Bundespräsident seinem Auftrag zur Verfassungswahrung nicht nachkommen könne (es hierfür somit necessary sei). Gegner 289 einer solchen präsidialen Befugnis verneinen die Notwendigkeit, eine stillschweigende Kompetenz abzuleiten, da es eines solchen Rechtes durch die allumfassenden Normenkontrollverfahren - im Unterschied zu Weimar - nicht mehr bedürfe 290. Unter grundsätzlicher Anerkennung der Zulässigkeit ungeschriebener Kompetenzen wird somit - mangels necessarity - eine solche Verfassungsauslegung im konkreten Fall verneint. Es läßt sich somit festhalten, daß sowohl Befürworter als auch Gegner einer präsidialen Verwerfungsbefugnis aufgrund eines materiellen Prüfungsrechts von der grundsätzlichen Existenz stillschweigender, organimmanenter Kompetenzen ausgehen und sich bei der Beantwortung dieser Frage von den Kriterien der doctrine of implied powers leiten lassen.
b) Weitere stillschweigende Kompetenzen des Bundespräsidenten Abgesehen von diesem bekanntesten Beispiel einer stillschweigenden Organkompetenz werden weitere Befugnisse des Bundespräsidenten diskutiert, die trotz 287
Vgl. bspw. Schiaich, HBdStRII, § 49 Rndnr. 3. Stern, Staatsrecht II, §30IIINr.4. S.234. 289 Friesenhahn, Zum Prüfungsrecht des Bundespräsidenten in: FS Leibholz, Band 2 1966, S. 679ff.; Friauf(FN. 279); Jekewitz, AK, vor Art. 54 Rndnr. 16, jeweils m. w. N. 290 FriaufÇFN. 2Ί9) S. 562. 288
4. Faktisch anerkannte stillschweigende Organkompetenzen
61
fehlender positiver Normierung vorhanden sein sollen. Anknüpfungspunkt hierfür ist die Stellung als Staatsoberhaupt291, aus der sich stillschweigende, auch historisch gewachsene Aufgaben ableiten lassen sollen. Beispielsweise wird dem Bundespräsidenten teilweise (Mit-) Zuständigkeit bezüglich der Staatssymbolsetzungsgewalt zugesprochen. Soweit nicht gesetzlich anders geregelt, fallen in diesen diskutierten Kompetenzbereich die Nationalhymne, die Fahnen, Feiertage und Staatsbegräbnisse292. Des weiteren sieht man den Bundespräsidenten als Schlüsselfigur der Staatspflege an, da er als Staatsoberhaupt quasi die Personifizierung des Staates darstelle 293 und aufgrund des hieraus resultierenden gesamtstaatlichen Repräsentationscharakters diese zentrale Rolle wahrzunehmen habe294. Einzelne Stimmen in der Literatur wehren sich gegen die Ableitung „ungeschriebener Kompetenzen" des Präsidenten aus dessen Stellung als Staatsoberhaupt295. Hauptanliegen der Vertreter dieser Ansicht ist es, Position gegen die Meinung zu beziehen, daß der Bundespräsident alles tun dürfe, was ihm die Verfassung nicht ausdrücklich verbiete bzw. einem anderen Organ zuweise296. Auch wenn die Wortwahl grundsätzlich stillschweigende Präsidialkompetenzen verbieten würde, so führen die Autoren selbst diese strenge Auslegung nicht konsequent zu Ende, da sie gleichwohl dem Präsidenten das Recht zuerkennen, die Ausfertigung eines Gesetzes, das er für nicht verfassungsmäßig hält, zu verweigern 297 bzw. eine stillschweigende (Mit-) Zuständigkeit auf dem Gebiet der Staatssymbolik298 bejahen. Dies legt die Schlußfolgerung nahe, daß die Vertreter dieser Ansicht sich zwar gegen ungeschriebene, nicht aber apodiktisch gegen stillschweigende Präsidialkompetenzen aussprechen wollen, wobei das Anliegen, einer extensiven Anwendung einer solchen Auslegung entgegenzuwirken, durchaus den Grundsätzen der doctrine of implied and resulting powers entspricht. Die grundsätzliche Möglichkeit der Existenz stillschweigender Kompetenzen des Staatsoberhauptes entspricht somit der allgemeinen Ansicht.
291
Stern, Staatsrecht II, §301112. S.217. Im Einzelnen str., ausführlich Schiaich, HBdStR II, § 49 Rndnr. 3; Stern, Staatsrecht II, S. 219; Tomuschat, Verfassungsgewohnheitsrecht?, S. 34 Fn. 35 m. w. N. 293 Jarass, DÖV 1975, S. 117,119. 294 Stern, Staatsrecht II, § 30III 3. S.218f., der im Folgenden weitere stillschweigende Präsidialkompetenzen behandelt. 295 Kimminich, BK, Vorbem. z. Art. 54-61, Rndnr. 22; Jekewitz, AK, vor Art. 54 Rndnr. 16. 296 Kniesch, Die Stellung des Bundespräsidenten, NJW 1960, S. 1325 ff., auf den die in FN. 279 genannten Autoren explizit Bezug nehmen. 297 Kimminich (FN. 295) Rndnr. 42. 298 Jekewitz (FN. 295) Rndnr. 16. 292
62
III. Teil: Ungeschriebene Organkompetenzen im Geltungsbereich des GG
c) Stillschweigende Aufgaben der Bundesregierung Ebenso wie der Aufgabenbereich des Bundespräsidenten gilt der Kompetenzbereich der Bundesregierung als nur teilweise normiert bzw. normierbar 299. Das Grundgesetz trifft nach allgemeiner Ansicht für dieses Staatsorgan300 nur dort eine ausdrückliche Regelung, wo sich die Befugnisse nicht schon aus der verfassungsmäßig vorausgesetzten Gesamtaufgabe der Bundesregierung als Staatsleitungsorgan ableiten lassen301. Die sich aus den positiv normierten Kompetenzvorschriften ergebenden Regierungsbefugnisse 302 sind somit ausfüllungsbedürftig, zeigen sie doch nur einen geringen Teil der umfassenden Exekutivkompetenzen auf 303 . Wichtige Teile dieses „stillschweigenden" Kompetenzkataloges werden mit Begriffen wie Anstoß- und Initiativfunktion, Planungs- und Integrationsbefugnis umschrieben 304 . Ein weiteres Beispiel für eine stillschweigende Regelung - konkret in Form einer Verpflichtung - ist die Antwortpflicht der Bundesregierung auf parlamentarische Fragen, die sich aus der parlamentarischen Verantwortlichkeit der Regierung ergeben soll 305 . Es läßt sich somit auch bei diesen Fallgruppen feststellen, daß dem Verfassungsorgan Bundesregierung eine Vielzahl von stillschweigenden Befugnissen bzw. Verpflichtungen zugeschrieben werden (und es diese auch ausübt), die sich aus ihrer Funktion als Organ der Staatsleitung306 ableiten lassen und die letztlich wohl als so selbstverständlich angesehen werden, daß sie keiner positiven Normierung bedürfen sollen, also stillschweigend evident mitgeschrieben 307 seien. Die doctrine of implied powers ist somit auch auf die Herleitung dieser Kompetenzen übertragbar.
299
Vgl. bspw. Schröder, HBdStRII, § 50 Rndnr. 6 ff. 300 Zur Organstellung der Bundesregierung Hesse, Verfassungsrecht, Rndnr. 626 ff. 301
So die gängige Formulierung, vgl. Hesse (FN. 300) Rndnr. 649f.; Scheuner, Der Bereich der Regierung in: Staatstheorie und Staatsrecht, S. 455 ff.; Oldiges in: Sachs, Art. 62 GG Rndnr. 23 f.; Schneider in: AK, Art. 62 GG Rndnr. 7; Hermes in: Dreier, Art. 62 GG Rndnr. 32 m.w.N. inFn. 110. 302 Zum sog. Regierungsvorbehalt vgl. Schröder, HBdStRII, § 50 Rndnr. 12; Hermes in: Dreier, Art. 62GG Rndnr. 34 ff.; ders. in ebenda, Art. 64GG Rndnr. 21 ff.; grundlegend Böckenforde, Organisationsgewalt, 1964; Schenke in: BK, Art.64GG Rndnr. 64 ff. 303 Schröder (FN. 302) Rndnr. 8. 304 Hermes (FN. 302) Rndnr. 32. 305 Hierzu ausführlich Weis, Parlamentarisches Fragerecht, DVB1 1988, S. 268 ff. 306 Zum Komplex Staatsleitung und Regierung vgl. umfassend Magiera (FN.46) S.44ff. 307 So die Terminologie Küchenhoffs (FN.216) S.451,473.
5. Übertragbarkeit der Implied Powers-Grundsätze auf Organkompetenzen
63
5. Übertragbarkeit der Implied Powers-Grundsätze auf Organkompetenzen a) Diskussion in den U.S.A. Während in der deutschen Staatsrechtslehre bislang noch keine grundsätzliche Auseinandersetzung über die Frage, ob die Grundsätze der doctrine of implied powers auch auf Organkompetenzen übertragbar sind, geführt wurde 308 , ist in den U. S. A. die Frage der vermeintlich stillschweigenden Kompetenzen309 des Präsidenten seit jeher Gegenstand breiter Diskussion und höchstrichterlicher Entscheidung gewesen310. Auch wenn es keine der Vielzahl zu den implied powers des Congress vergleichbare Jurisdiktion bei der hier zu untersuchenden Frage gibt, so existieren doch immerhin einige Urteile, die sich mit dieser Problematik auseinanderzusetzen hatten. Beachtlich ist freilich, daß sich hierbei keine klare Linie abzeichnet, die Rechtsprechung vielmehr situativ entscheidet und somit - ohne expressis verbis von den jeweils anderen Entscheidungen abzuweichen - quasi alles zur Frage der ungeschriebenen Kompetenzen des U.S.-Präsidenten entschieden und vertreten wurde. Die vier hieraus resultierenden Ansätze zur Lösung dieser Problematik sollen anhand der nachfolgenden Supreme Court-Urteile kurz skizziert werden 311. aa) Youngstown Sheet & Tube Co. v. Sawyer
In der Entscheidung Youngstown Co. v. Sawyer 312 wurde mit der apodiktischen Ablehnung solcher Kompetenzen der restriktivste Standpunkt des Supreme Courts bezogen. Präsident Truman hatte im Zuge des Koreakrieges bestreikte Betriebe der Stahlindustrie beschlagnahmen lassen, da hiervon die Kriegsführung der Armee maßgeblich beeinflußt wurde. Mangels expliziter Ermächtigung hierzu erklärte der Supreme Court dieses Verhalten für unzulässig. Lediglich explizit durch Verfassung oder Gesetz zugewiesene Rechte könne der Präsident innehaben, ansonsten handele er verfassungswidrig. Die Beschlagnahme der Stahlindustrie sei deshalb verfassungswidrig gewesen, weil „ it is not claimed that express constitutional 308
language
Ausnahmen s. u. b). Teilweise werden die implied powers von Nicht-Gesetzgebungsorganen auch als inherent powers bezeichnet - vgl. bspw. Loewenstein, Verfassungsrecht, S. 295. Da es sich aber letztlich um eine reine Umbenennung ohne praktische Auswirkungen handelt, wird bewußt an der Bezeichnung implied powers auch für den hier zu untersuchenden Bereich festgehalten. 310 Interessanterweise war Thomas Jefferson, ursprünglich dezidierter Gegner ungeschriebener Kompetenzen, der erste Präsident, der beim Ankauf Louisianas von einer implizierten Präsidialkompetenz Gebrauch machte - vgl. hierzu Loewenstein, (FN. 309) S. 296. 311 Vgl. hierzu und zum Folgenden ausführlich Joswig (FN. 219) S. 164ff. 312 343 U.S.579 (1952). 309
64
III. Teil: Ungeschriebene Organkompetenzen im Geltungsbereich des GG
grants this power to the President " 3 1 3 . Vielmehr führte Justice Black bei der Darstellung des Mehrheitsvotums des Gerichts aus, daß dem Präsidenten Kompetenzen nur auf zwei Arten übertragen werden könnten. Zum einen explizit aus der Verfassung, zum anderen durch den Congress, wobei im letzteren Fall auch stillschweigend weitere Kompetenzen beinhaltet sein könnten:
„The President's power; if any, to issue the order must stem either from an act of Congres from the Constitution itself There is no statute that expressly authorizes the President t possession of property as he did here. Nor is there any act of Congress to which our attent has been directed from which such a power can fairly be implied" 314.
Implied powers des Präsidenten sind somit nach dieser Passage nur denkbar, wenn sie sich durch Auslegung einfacher Gesetze ermitteln lassen, eine Anwendung dieser Grundsätze auf Verfassungsrecht hingegen verbiete sich 315 . Diese Ansicht wurde von Justice Jackson316 damit begründet, daß die Verfassungsväter sich bewußt gegen ein Staatsoberhaupt aussprechen wollten, das im Sinne George III. über quasi nach Belieben auszudehnende Befugnisse verfüge:
"The example of such unlimited executive power that must have impressed the forefathe was prerogative exercised by George III, and the description of its evils in the Declaration Independence leads me to doubt that they were creating their new Executive in his image " 317.
Vielmehr spreche die bewußte Aufzählung einzelner Kompetenzen dafür, daß diese abschließend die präsidialen Befugnisse darstellen sollten.
bb) United States v. Nixon Im Zuge der Watergate-Affäre wurde gegen den damaligen Justizminister Mitchell ein Strafverfahren eingeleitet, in dessen Verlauf Präsident Nixon gerichtlich aufgefordert wurde, von ihm angefertigte Tonbänder, die Mitschnitte von Gesprächen des Präsidenten mit u. a. dem angeklagten Minister beinhalteten, dem Gericht auszuhändigen. Nixon weigerte sich unter Berufung auf das sogenannte executive privilege , wodurch ihm seiner Ansicht nach die Befugnis zustehe, selbst und abschließend darüber zu entscheiden, ob er solche vertraulichen Gespräche anderen Staatsorganen zur Verfügung stelle oder aber aus Staatsschutzgründen diese zurückhalten könne. Diese Entscheidung sei seiner Ansicht nach als political question 313
Ebenda S. 587. 343 U. S. 579, 585 (1805). 315 Anders Joswig (FN. 219), der i.E. aus der zitierten Textpassage keine durch einfachgesetzliche Auslegung zu ermittelnden implied powers für zulässig erachtet. 316 Zu der sog. Jackson-Analyse [343 U.S. 579, 635ff.] vgl. ausführlich Joswig (FN. 219) S. 165 ff. 317 343 U.S.579, 640f. 314
5. Übertragbarkeit der Implied Powers-Grundsätze auf Organkompetenzen
65
nicht gerichtlich - auch nicht vom Supreme Court - überprüfbar 318. Die Existenz eines gerichtlich nicht überprüfbaren Raumes lehnte der Supreme Court in der mit dieser Frage befaßten Entscheidung unter Berufung auf die eigenen Befugnisse ab:
yMany decisions of this Court, however, have unequivocally reaffirmed the holding [... it is emphatically the province and duty of the judicial department to say what the law is
Allerdings sei der Ansicht des Special Prosecutor nicht zu folgen, der meinte, daß mangels expliziter Ermächtigung ein solches executive privilege nicht existieren könne. Vielmehr seien die Grundsätze von McCulloch v. Maryland 1320 auch auf die hier zu untersuchende kompetenzrechtliche Frage zu übertragen: „The silence of the Constitution on this score is not terpretation announced in McCulloch v. Maryland, reasonably appropriate and relevant to the exercise as accompanying the grant, has been so universally it" 321.
dispositive . The rule of constitutiona 4 Wheat. 316, that that which was of a granted power was to be conside applied that it suffies merely to s
Vielmehr ergäbe sich aus der Funktion des Präsidenten auch die Berechtigung, frei und ohne Befürchtung einer späteren Überprüfung mit seinen politischen Beratern zu debattieren:
„A President and those who assist him must be free to explore alternatives in the proces shaping policies and making decisions and to do so in a way many would be unwilling to press except privately. These are the considerations justifying a presumptive privilege Presidential communications. The privilege is fundamental to the operation of Governm and inextricably rooted in the seperation of powers under the Constitution" 322.
Da dieses Privileg allerdings in Einklang mit den Befugnissen anderer Organe gebracht werden müsse, sei im Einzelfall eine Abwägung zu treffen, welches Interesse als höherrangig zu bewerten sei. Da sich im konkreten Fall Nixon nur auf die allgemeine Unzulässigkeit solcher Überprüfungen berief und nicht argumentierte, daß es sich bspw. um militärische oder geheimdienstliche Details handele323, sei das Interesse „on the fair administration of criminal justice" 324 höher zu bewerten. Bedeutend ist diese Entscheidung für die hier zu behandelnde Frage insofern, als der Supreme Court eine Anwendung der implied powers- Lehre auf Organkompetenzen bejaht und für den Konfliktfall bezüglich Kompetenzen anderer Organe eine Inter-
318 319 320 321 322 323 324
Joswig (FN. 219) S. 169 ff. United States v. Nixon, 418 U. S. 683, 703 (1974). Vgl. FN. 230. 418 U.S.683, 705f. Fn. 16 (1974). 418 U.S.683, 708(1974). Ebenda S. 710. Ebenda S. 712.
5 Boewe
66
III. Teil: Ungeschriebene Organkompetenzen im Geltungsbereich des GG
essenabwägung vornimmt, somit den grundsätzlich ermittelten Befugnissen eine horizontale Grenze setzt. cc) Goldwater v. Carter In der Entscheidung Goldwater v. Carter 325 hatte der Supreme Court die Frage zu entscheiden, ob ein Präsident - im konkreten Fall Präsident Carter - , der einseitig ohne den Congress völkerrechtliche Verträge kündigt, verfassungswidrig handelte. Anders als in United States v. Nixon 326 ging das oberste Gericht hier von einer political question aus, die gerichtlich nicht überprüfbar sei.
„Prudential consideration persuade [...] that a dispute between Congress and the Preside is not ready for judicial review unless and until each branch has taken action asserting constitutional authority. Differences between the President and the Congress are comm place under our system. The differences should , and almost invarably do, turn on politi rather than legal considerations. The Judicial Branch should not decide issues affecting allocation of power between the President and Congress until political branches reach constitutional impasse " 327.
Wenn man diesen Freiraum nicht unangetastet lassen würde, so das Gericht weiter, könnten einzelne Abgeordnete den normalen politischen Prozeß durch Anrufung des Gerichts lähmen, was nicht im Sinne der Verfassung sei. Als weiteres Argument für die Unüberprüfbarkeit solcher Fälle wird ausgeführt:
"A question that might be answered in different ways for different amendments must s be controlled by political standards rather than standards easily characterized as judicia manageable " 328.
Da es sich bei der betreffenden Handlung des Präsidenten um keine geschriebene Kompetenz seinerseits handelte, läßt sich diese Entscheidung nur so interpretieren, daß dem Präsidenten nicht nur ungeschriebene Kompetenzen zustehen, sondern er diese auch329 in ihrer faktischer Reichweite durch ein „Kräftemessen" mit dem Congress mitbestimmen könne - die verfassungsrechtliche Herleitung bleibt hiervon freilich unberührt. Nach dieser Entscheidung stehen dem Präsidenten teilweise faktisch umfassende, auch ungeschriebene Befugnisse zu.
325 326 327 328 329
444 U.S.996 (1979). 418 U.S.683 (1974). 444 U.S.996 (1979). 444 U.S.996, 1003 (1979). Gerichtlich nicht überprüfbar, da es sich um political questions handele.
5. Übertragbarkeit der Implied Powers-Grundsätze auf Organkompetenzen
67
dd) In re Debs Als Beispiel für eine Entscheidung, die quasi grenzenlos implied powers des Präsidenten bejaht, gilt das Urteil des Supreme Courts im Fall In re Debs330. Hierbei ging es um die Frage, ob Präsident Cleveland das Recht zustand, Truppen der Armee einzusetzen, um den Eisenbahnerstreik von 1894 - des sogenannten PullmanStreiks - zu beenden. Der Supreme Court bejahte dies mit der Begründung:
„that the government of the United States may [...] execute on every foot of American soil powers and functions that belong to it . This necessarily involves the power to command dience to its laws, and hence the power to keep the peace to that extent " 331.
Selbst eine mögliche Kollision mit einer Befugnis des betroffenen Gliedstaates solle hieran nichts ändern.
„This power to enforce its laws and to execute its functions in all places does not derog from the power of the state to execute its laws at the same time in the same place. The does not exclude the other" 332.
Um in diesem Fall den freien Handel zwischen den einzelnen Gliedstaaten sowie den Postverkehr zu erhalten, könne die Regierung notfalls mittels der Armee jegliches Hindernis entfernen:
„The strong arm of the national government may be put forth to brush away all obstructio to the freedom of interstate commerce or the transportation of the mails" 333.
Bedeutsam ist dieses Argumentationsmuster für die hier zu untersuchende Frage insofern, als der Supreme Court hiernach beim Vorliegen einer implied power des Präsidenten diese nicht durch Kompetenzbereiche anderer Organe begrenzen will. Auch die Überlegung, daß hierdurch u. U. Doppelzuständigkeiten entstehen könnten, ändere hieran nichts. Soweit aus der Verfassung eine ungeschriebene Kompetenz ableitbar sei, gelte diese grenzenlos 334. ee) Bewertung Aufgrund der verschiedenen Ansätze in der Rechtsprechung des Supreme Courts fehlt in den U.S.A. eine der einheitlichen Ansicht zur ungeschriebenen Gesetzgebungskompetenz vergleichbare, gefestigte Auffassung. Um die Frage der Anwendbarkeit der doctrine of implied powers auf Organkompetenzen beantworten zu kön330
158 U.S.564ff. (1895). 158 U.S.564, 578f. (1895). 332 158 U.S.564, 579(1895). 333 1 58 U.S.564, 582 (1895). 334 A. A. Joswig (FN. 219), der diese Entscheidung so deutet, daß der Präsident immer schon dann handeln dürfe, wenn die Verfassung schweige, und nicht, daß - wie hier vertreten - lediglich die Grenzen der ungeschriebenen Kompetenzen, deren Begründung nach wie vor notwendig erscheint, ausgedehnt werden. 331
5*
6 8 I I I . Teil: Ungeschriebene Organkompetenzen im Geltungsbereich des GG
nen, muß daher eine kurze Auseinandersetzung mit den einzelnen Aigumentationslinien des Supreme Courts stattfinden 335. Die in Youngstown Sheet & Tube Co. v. Sawyer geäußerte Meinung, aufgrund der Erfahrungen mit der britischen Krone hätten die Verfassungsväter implied powers der Exekutive ausschließen wollen, ist mit den Grundsätzen, wie sie John Marshall in McCulloch v. Maryland erarbeitet hatte, nicht vereinbar. Die dort aufgestellten Grundsätze sind bereits von der Formulierung stets auf alle drei Gewalten, nicht lediglich auf den Congress anwendbar 336. Der hinter der doctrine of implied powers stehende Gedanke ist vielmehr ein allgemeiner Grundsatz der Verfassungsinterpretation, der die Frage beantwortet, ob ein Verfassungstext so auslegbar ist, daß sich unter ganz bestimmten Voraussetzungen aus explizit zugewiesenen Kompetenzen notwendigerweise diese ergänzende ungeschriebene Kompetenzen ergeben können bzw. daß nicht ausdrücklich geregelte Kompetenzbereiche durch logisch zwingende Schlüsse einem Staatsorgan zugeordnet werden können337. Die Tatsache, daß faktisch die meisten Anwendungsfälle die Zuordnung der Gesetzgebungskompetenzen in einem föderalen Staat betreffen, kann jedoch nicht bedeuten, daß eine allgemein formulierte Auslegungsregel ihren allgemeinen Charakter verliert. Unterstützt wird diese Ansicht durch die Ausführungen John Marshalls, der darlegte, daß es der sweeping clause des Art. I See. 8 der Verfassung der U. S. A. gar nicht bedürfe, sondern daß dort nur ohnehin selbstverständliche Interpretationsregeln formuliert würden 338 . Das Argument der Gegner der Übertragbarkeit der implied powers- Lehre auf Organkompetenzen, daß die necessary and proper clause ausdrücklich nur den Congress hierzu ermächtige 339, verliert somit an Gewicht und kann letztlich nicht überzeugen. Wenn man sich den in der doctrine of implied powers formulierten Grundsätzen in der von John Marshall vorgegebenen Weite der Verfassungsinterpretation anschließt, ist kein Argument ersichtlich, das diese Art der Verfassungsauslegung für Nicht-Gesetzgebungskompetenzen ausschließt. Die erstgenannte Ansicht des Supreme Courts ist daher nicht mit der klassischen implied powers Lehre vereinbar. Nicht beantwortet ist dadurch jedoch die Frage, ob dieser breiten, von Marshall und Hamilton intendierten Anwendung gefolgt werden muß. Diese Frage soll bei den folgenden Ausführungen zu ungeschriebenen Organkompetenzen unter dem Grundgesetz erörtert werden. Nicht überzeugend erscheint es, die implied powers des Präsidenten soweit auszudehnen, daß solche Kompetenzen ihre Grenzen nicht einmal am Zuständigkeitsbereich anderer Staatsorgane finden, wie bspw. in In re Debs vertreten wurde. Selbst wenn man die doctrine of implied powers ihres föderalen Bezugs entkleidet 335
Vgl. hierzu ausführlich Joswig (FN. 219) S. 179ff. Vgl. bspw. 17 U.S.316, 403 (1819). 337 Vgl. oben S.45 ff. 338 Vgl. hierzu Achterberg, Funktionenlehre, S. 216ff. 339 van Alstyne, Implied powers, in: Levy/Karst/Mahoney: Encyclopedia of the American Constitution, S. 962ff. 336
5. Übertragbarkeit der Implied Powers-Grundsätze auf Ogankompetenzen
69
und sie statt zur Lösung von Kollisionen im Bundesstaat zur Lösung von Kollisionen zwischen den einzelnen Gewalten heranzieht, so bleibt es doch eine Auslegungsregel, deren Kernaussage ist, daß nur dann ungeschriebene Kompetenzen existieren können, wenn dies letztlich zwingend notwendig oder rein logisch nicht anders lösbar erscheint. Sobald die Verfassung jedoch eine Frage ausdrücklich geregelt und einem anderen Organ kompetenziell zugeordnet hat, ist diese zwingende Notwendigkeit - ungeachtet der Problematik von Doppelkompetenzen340 - kaum zu bejahen. Eine Anwendung der doctrine of implied powers , wie in In re Debs vorgenommen, weicht die strengen Kriterien der Lehre auf und würde letztlich zu einer nicht tragbaren Verwischung der Kompetenzordnung führen 341. Dieser Ansatz ist daher abzulehnen. Die in United States v.Nixon sowie in Goldwater v. Carter vertretenen Ansichten gehen jeweils von einer grundsätzlichen Übertragbarkeit der implied powers-Lékre auf Präsidialkompetenzen aus. Während in der Nixon-Entscheidung dezidiert auf die Marshall/Hamilton-Grundsätze zurückgegriffen wird, steht in der GoldwaterEntscheidung mehr die Überprüfbarkeit solcher in Anspruch genommenen implied powers im Vordergrund. Auch wenn der Verzicht auf gerichtliche Kontrolle faktisch eine immense Ausweitung der Reichweite dieser Kompetenzen je nach Kräfteverhältnis der an der Lösung dieser political question Beteiligten bedeuten kann, so betrifft diese Entscheidung vielmehr die Kompetenzen des Supreme Courts als die des Präsidenten 342. Für die hier zu untersuchende Frage kann dieses Problem daher offengelassen werden, da beide Entscheidungen von einer Übertragbarkeit der Grundsätze der doctrine of implied powers auf Organkompetenzen ausgehen. Daß diese Anwendung zulässig ist, entspricht auch der herrschenden Ansicht der U.S.-amerikanischen Staatsrechtslehre 343. Bereits Alexander Hamilton sprach sich für implizierte, über die explizit aufgeführten Kompetenzen des Präsidenten hinausgehende Befugnisse aus: 'T he authority vested in the President is not limited to the specific cases of executive delineated in Article 7/" 344.
Vielmehr seien die gleichen Grundsätze wie bei ungeschriebenen Gesetzgebungszuständigkeiten ausschlaggebend:
"What is a power but the ability or faculty of doing a thing? What is the ability to do a t but the power of employing the means necessary to its execution?" 345
340
Vgl. dazu unten Kapitel IV. 2. d). So bspw. die Kritik von Pestalozza in: v. Mangoldt/Klein/Pestalozza, Art. 70 GG Rndnr. 112f. 342 Fisher , Constitutional Conflicts, S. 92, 279. 343 Vgl. van Alstyne , EAC - Vol. 2, S. 964ff.; Stone , Constitutional Law, S. 402; Fisher (FN. 342) S. 14ff.; jeweils m. w.N. 344 Zitiert nach Stone , Constitutional Law, S. 381 f. 345 Hamilton , The Federalist, No. 33. 341
7 0 I I I . Teil: Ungeschriebene Organkompetenzen im Geltungsbereich des GG
Grundsätzlich wird allgemein anerkannt, daß jedes Staatsorgan zur Wahrnehmung der ausdrücklich zugewiesenen Kompetenzen auf hierfür notwendige ungeschriebene Befugnisse zurückgreifen darf 346 . Unabhängig von den so nach den gleichen Kriterien wie bei der Gesetzgebungsfrage zu ermittelnden implied powers der Staatsorgane besteht allerdings eine Stellung des Congress als „primus inter pares" 347 , da dieser aufgrund eines legislativen Zugriffsrechts die Kompetenzordnung zu seinen Gunsten verändern kann bzw. dem Präsidenten die Ausübung einer an sich gegebenen ungeschriebenen Kompetenz gesetzlich untersagen kann. Zusammenfassend läßt sich festhalten, daß sowohl die neuere Rechtsprechung des Supreme Courts als auch die Staatsrechtslehre der Vereinigten Staaten von der Anwendbarkeit der doctrine of implied powers bei der Ermittlung ungeschriebener Organkompetenzen ausgehen.
b) Ansätze in der deutschen Staatsrechtslehre und eigene Wertung Während in den U.S.A. die Übertragbarkeit der doctrine of implied powers auf Nicht-Gesetzgebungskompetenzen wie dargelegt seit jeher Diskussionsgegenstand in Literatur und Rechtsprechung ist, wird diese Frage in Deutschland weitestgehend als selbstverständlich vorausgesetzt348. Lediglich einige wenige Autoren haben sich bislang mit dieser Frage zumindest am Rande auseinandergesetzt und die Übertragbarkeit im Ergebnis bejaht. Achterberg 349 geht von einer Anwendbarkeit aus, weil seiner Ansicht nach Kompetenzen nicht nur als Verbandszuständigkeiten, sondern ebenfalls als Funktionszuständigkeiten fungierten und somit auch hinsichtlich dieser Befugnisse implied powers relevant werden könnten. Es bestehe kein Grund, vor allem die Figur des Sachzusammenhangs nur in der föderalen Ordnung, nicht jedoch im horizontalen Bereich zwischen den drei Gewalten gelten zu lassen. Bei der Übertragung der doctrine of implied powers von der vertikalen auf die horizontale Ebene müsse jedoch darauf geachtet werden, daß es im Unterschied zur Gesetzgebung bei der Herleitung stillschweigender Funktionszuständigkeiten kraft Sachzusammenhang meist an einem ausdrücklichen Verfassungssatz fehle, auf den zurückgegriffen werden könne 350 . Die Ableitung einer ungeschriebenen Organkompetenz kraft Sachzusammenhang könne daher meist nur an eine wiederum stillschweigende Zuständigkeit anknüpfen - dies deshalb, da die Verfassung keine abschließende Definition der Begriffe Legislative, Exekutive und Judikative beinhalte. Um jedoch eine Veränderung 346 347 348 349 350
van Alstyne, EAC - Vol. 2, S. 964. Ebenda S. 965. Vgl. oben S. 52ff. Achterberg, Probleme der Funktionenlehre, S.220ff. Achterberg (FN. 222) S. 223.
5. Übertragbarkeit der Implied Powers-Grundsätze auf Organkompetenzen
71
der Verfassungsstruktur zu vermeiden, bspw. durch eine Ausdehnung des Exekutivbereichs mittels der doctrine of implied powers , sei diese nur mit der „erforderlichen Behutsamkeit" anzuwenden351. Der Wille des Verfassungsgebers dürfe hierdurch nicht verletzt werden. Wie eine praktikable Begrenzung der stillschweigenden Organkompetenzen aussehen könne, läßt Achterberg bewußt offen 352 , möchte eine Anwendung jedoch nur unter strengen Voraussetzungen zulassen. Kein Argument gegen die Übertragbarkeit auf die horizontale Ebene ist seiner Ansicht nach der in der föderalen Diskussion gängige Einwand, aus Art. 30 GG ergebe sich der abschließende Charakter der enumerativ genannten Bundeszuständigkeiten und verbiete sich somit eine stillschweigende Erweiterung dieses Kompetenzkataloges. Dieses Argument könne hier nicht gelten, da in der grundgesetzlichen Funktionenordnung Funktionskompetenzen nicht enumerativ bestimmt seien. Auch wenn man im Ergebnis eine Übertragbarkeit der doctrine of implied powers auf die Organkompetenzen bejaht, so erscheint das letztgenannte Argument doch nicht überzeugend. Genauso, wie Art. 30 GG eine Zuständigkeitsvermutung zugunsten der Länder ausspricht, könnte das legislative Zugriffsrecht 353 der Volksvertretungen auf horizontaler Ebene eine zugunsten des Parlaments bestehende „Generalklausel" darstellen. Achterberg selbst wendet sich gegen die Anerkennung eines exekutiven Kernbereiches und spricht sich somit indirekt für eine prinzipielle Allzuständigkeit des Parlamentes aus354. Diese Omnipotenz der Legislative355 kann indes nicht nur mit Art. 30 GG verglichen werden, man könnte sogar unter der Prämisse einer Höherrangigkeit des Parlamentes gegenüber den anderen obersten Staatsorganen356 zu dem Schluß kommen, daß nur für die Legislative die Notwendigkeit der Inanspruchnahme von ungeschriebenen Kompetenzen besteht - ist das Parlament doch das Organ, das grundsätzlich jeden von ihm als regelungswürdig erachteten Bereich an sich ziehen kann. Alle anderen Gewalten dürften dann nur aufgrund unmittelbar verfassungsrechtlicher oder aber gesetzlicher Ermächtigung handeln. Dieser gegen eine Übertragbarkeit der implied powers- Lehre auf den Exekutiv- und Judikativ-Bereich sprechende Einwand wäre nur insoweit haltbar, als man sich gegen die Existenz eines Kernbereichs und für eine primus inter pares-Stellung des Parlaments aussprechen würde. Das Bundesverfassungsgericht 357 und weite Teile der Literatur 358 beja351
Ebenda S. 224. Ebenda S. 223 Fn. 142. 353 Vgl. hierzu Stern, Staatsrecht II, § 37 I I 4.b) S. 575ff. 354 Achterberg (FN. 222) S. 230f. 355 Herzog in: M/D/H/S Art. 20 GG Abschnitt VI Rndnr. 44. 356 Ebenda, Art. 20 GG Abschnitt II Rndnr. 76. 357 BVerfGE 68, 1, 87. 358 Kühl, Kernbereich der Exekutive, S. 118 ff. mit umfassenden Nachweisen S. 128 Fn. 175; Schnapp, VVDStRL 43 (1985) S. 172, 185 ff.; Hesse, Verfassungsrecht Rndnr. 478; Stern, Staatsrecht II, S. 541 m. w. N. 352
7 2 I I I . Teil: Ungeschriebene Organkompetenzen im Geltungsbereich des GG
hen das Vorhandensein eines solchen unantastbaren Bereichs für jedes Staatsoigan und sprechen sich gegen ein von der Verfassung nicht vorgesehenes Übergewicht des Parlaments aus359. Als Hauptargument hierfür wird angeführt, daß ansonsten die Gefahr eines Parlamentsabsolutismus bestehe und die in Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG garantierte Gewaltenteilung ausgehöhlt werden könne360. Ansatzpunkt der Kernbereichsgegner 361 hingegen ist die Tatsache, daß sich das Parlament als einziges Staatsorgan auf ein unmittelbares Mandat des Staatsvolks berufen könne 362 und aus dieser besonderen demokratischen Legitimation eine Vorrangstellung resultiere 363. Außerdem sei der Begriff des Kernbereichs letztlich undefinierbar und hierunter denkbar zu subsumierende Fallgruppen wie bspw. die Geschäftsordnungsautonomie der Bundesregierung könnten vernachlässigt werden, da sie vom Grundsatz des unbegrenzten Zugriffsrechts der Legislative lediglich minimale Ausnahmen ohne nennenswerte Substanz bilden würden 364. Eine Ablehnung der Übertragbarkeit der implied powers- Lehre auf andere Staatsorgane als die Legislative ließe sich folglich nur begründen, sollte man mit den Kernbereichsgegnern eine Sonderstellung des Parlaments bejahen. Sobald man jedoch die Existenz eines exekutiven oder judikativen Kernbereiches annehmen würde, gäbe es kein Argument, das eine Anwendung dieser Verfassungsauslegungsregel zumindest innerhalb dieses Kernbereichs ausschließen könnte. Die Akzeptanz eines von legislativen Zugriffen sicheren Bereiches führt notwendigerweise zu dem Ergebnis, daß innerhalb dieses Bereiches auch ungeschriebene Kompetenzen zur Ausübung einer hierunter fallenden Aufgabe benötigt werden können. Je größer dieser Kernbereich ist, desto breiter wird hierin die Anwendungsmöglichkeit der doctrine of implied powers. Nicht beantwortet hingegen wäre damit die Frage der Existenz ungeschriebener Organkompetenzen außerhalb dieses Bereiches. Böckenförde 365 bejaht die Existenz eines exekutiven Kernbereichs, und kommt darüber hinaus zu dem Ergebnis, daß auch außerhalb dieses unantastbaren Raumes die doctrine of implied powers Anwendung finde, wenn man sie nur aus ihrem föderalen Bezugsrahmen löse 366 . Mittels dieser Auslegungsregel lasse sich die Organisationsgewalt der Regierung als ungeschriebene Kompetenz derselben ermitteln, sei sie doch notwendiges Element zur Schaffung der Vorbedingungen für die kor359
Vgl. bspw. Stern, Staatsrecht II, S. 542. Kühl (FN. 358) S. 118 ff. 361 Vogel, VVDStRL 24 (1966), S. 125, 175; Becker, Gewaltenteilung im Gruppenstaat, S.76f.; Maurer, VVDStRL 43 (1985), S. 135,150fAchterberg (FN.222) S.230f.; Ossenbühl in: HBdStR III, § 62 Rndnr. 59; Schröder in: ebenda § 67 Rndnr. 24; Krebs in: ebenda § 69 Rndnr. 84; Herzog in: M/D/H/S Art. 20 GG Abschnitt V Rndnr. 79 jeweils m. w. N. 362 Herzog in: M/D/H/S Art. 20 GG Abschnitt VI Rndnr. 35. 363 Ebenda, Art. 20 GG Abschnitt II Rndnr. 77 ff. 364 Ossenbühl in: HBdStR III, §62 Rndnr. 59. 365 Böckenförde, Organisationsgewalt im Bereich der Regierung, S. 85 ff., 103 ff. 366 Ebenda S. 87. 360
5. Übertragbarkeit der Implied Powers-Grundsätze auf Organkompetenzen
73
rekte Ausführung ihrer eigentlichen Aufgaben. Da dies aber nicht unabdingbar sei, somit außerhalb des exekutiven Kernbereichs liege, würden solche organisatorischen Maßnahmen ihre Grenzen an diesbezüglichen Gesetzen finden. Die funktionelle Überlegenheit der Legislative sei durch das Demokratieprinzip gerechtfertigt, müsse doch dem eigentlichen Repräsentationsorgan des Volkes der Zugriff auf alles diesem als wichtig Erscheinende möglich sein 367 , zumal hierin ein notwendiges Äquivalent zur faktischen Überlegenheit der Exekutive gesehen werden könne. Schranken für das legislative Zugriffsrecht seien neben dem Kernbereich und dem Verbot, einen neuen präventiven Gesetzesvorbehalt zu statuieren, vor allem die grundgesetzlich vorgegebene Verfassungsstruktur 368. Ansonsten stünden dem Gesetzgeber quasi alle Bereiche offen. Kernaussage für die Anwendbarkeit der doctrine of implied powers auf Organkompetenzen ist somit, daß diese innerhalb des Kernbereichs immer, außerhalb des Kernbereichs solange gegeben sei, wie der Gesetzgeber noch nicht von seinem legislativen Zugriffsrecht Gebrauch gemacht habe. Auch diesem im Ergebnis überzeugenden Ansatz kann jedoch nicht die Antwort auf die Frage nach dem warum der Anwendbarkeit entnommen werden. Überzeugend ist, daß innerhalb eines vermeintlichen Kernbereiches die gleichen Auslegungsregeln gelten müssen wie bei legislativer Kompetenzermittlung. Da aber dieser - wenn überhaupt existierende - Kernbereich lediglich einen Minimalbereich umfaßt 369, der in praxi jedoch weitaus wichtigere Teil unbestrittener Maßen außerhalb dieses Raumes liegt, wäre eine Anwendung der doctrine of implied powers für nicht legislative Kompetenzen lediglich innerhalb des Kernbereiches gleichzusetzen mit der faktischen Nicht-Anwendbarkeit. Als Argument für eine Ausdehnung des hier zu untersuchenden Auslegungsgrundsatzes auf alle Bereiche staatlicher Organhandlungen vermag letztlich nur die aus dem Gewaltenteilungsgrundsatz abzuleitende Funktionalität der Gewalten (bzw. Funktionalität der Funktionen370) zu überzeugen. Es kann an dieser Stelle offen bleiben, ob man die Dreiteilung der Gewalten als aprioristische Wahrheit 371 im Sinne des Artikels 16 der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 sieht („Toute Société dans laquelle la garantie des Droits n'est pas assurée, ni la séparation des Pouvoirs déterminée , n'a point de constitution ") oder aber mehr als ein rational überzeugendes Prinzip, das bisher (nur) noch durch kein anderes übertrof367
Ebenda S. 105. Ebenda S. 106f. 369 Vgl. nur die Fallgruppen bei Kühl (FN. 358) S. 141 ff. 370 Zur Thematik Gewaltenteilung als Funktionenordnung vgl. bspw. Zimmer, FunktionKompetenz-Legitimation, S.54f.; Jestaedu Demokratieprinzip und KondominialVerwaltung, S. 168 f., der ausführt, daß das Prinzip der Volkssouveränität, die Einheitlichkeit des Trägers und des Legitimationsgrundes für jegliche Ausübung von Staatsgewalt dazu führen, daß nicht verschiedene originäre Gewalten, sondern lediglich differenzierbare, aufeinander zugeordnete Funktionen existieren, denen jeweils Teilbereiche der ursprünglichen Staatsgewalt zugeordnet seien. 371 In diesem Sinne Imboden, Montesquieu und die Lehre der Gewaltentrennung, S. 12ff. 368
7 4 I I I . Teil: Ungeschriebene Organkompetenzen im Geltungsbereich des GG
fen wurde 372 . Auf jeden Fall ist der Gewaltenteilungsgrundsatz als Bestandteil des Rechtsstaatsprinzips eines der maßgeblichen grundgesetzlichen Prinzipien der verfassungsmäßigen Ordnung mit Verankerung in Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG und aufgrund von Art. 79 Abs. 3 GG der Dispositionsbefugnis des verfassungsändernden Gesetzgebers entzogen373. Der von Locke und insbesondere Montesquieu herausgearbeitete Telos der Gewaltenteilung, durch die Trennung einen Mißbrauchsschutz zur Freiheitsbewahrung der Menschen zu schaffen 374, ist nach wie vor eine der Hauptfunktionen der Separation 375. Die verfassungsrechtliche Entscheidung für eine Teilung der Staatsgewalt und deren Zuweisung an verschiedene Staatsorgane sowie die Wahrnehmung verschiedener Funktionen durch verschiedene Funktionsträger und die Entscheidung gegen den „gewaltenmonistischen Absolutismus" 376 der volonté générale Rousseau'scher Prägung 377 kann aber nur dann verwirklicht werden, wenn die einzelnen Gewalten bzw. Funktionen mit den Kompetenzen ausgestattet sind, die zur Bewältigung ihrer verfassungsrechtlich vorgegebenen Aufgaben erforderlich sind. Mit anderen Worten setzt die Schaffung verschiedener Gewalten auch ihre Funktionalität voraus. Die der doctrine of implied and resulting powers zugrundeliegenden Gedanken verfolgen aber genau dieses Anliegen. Der Verfassungstext soll so ausgelegt werden dürfen, daß ausdrücklich zugewiesene Aufgaben auch tatsächlich und gegebenenfalls unter Zuhilfenahme von stillschweigenden Kompetenzen ausgeführt werden können. Wenn ein Staatsorgan eine ihm zugewiesene Funktion tatsächlich ausüben können soll, muß ihm die Kompetenz zustehen, all das miteinzubeziehen, was zur Ausübung dieser Funktion notwendig ist - so stellt sich die ihres föderalen Bezugs entkleidete doctrine of implied powers als Auslegungsregel zur Ermittlung stillschweigender Organkompetenzen dar. Dies ist insofern notwendig, da nur hierdurch die Funktionalität der Gewalten bzw. Funktionen garantiert werden kann. Sofern hingegen der Gesetzgeber von seinem legislativen Zugriffsrecht Gebrauch macht und einen Regelungsbereich einer anderen Gewalt entzieht, besteht für letztere weder die Notwendigkeit noch die Möglichkeit, diese Materie über den Umweg der stillschweigenden Kompetenzen wieder an sich zu ziehen. Solange der Gesetzgeber hingegen eine Materie nicht an sich zieht, können alle Staatsorgane die ihnen übertragenen Aufgaben gegebenenfalls unter Zuhilfenahme von implied powers ausüben. 372
Stern, Staatsrecht II, § 36II l.b) S.524f. Aus dieser unbestreitbaren Aussage ergibt sich im übrigen die Konsequenz, daß man bei Anerkennung eines allumfassenden legislativen Zugriffsrechtes dem Gesetzgeber zwar die Kompetenz einräumen kann, jeden beliebigen Gegenstand gesetzlich zu regeln, daß hieraus jedoch kein Parlamentsabsolutismus dergestalt resultieren darf, daß den übrigen Gewalten faktisch ihre Funktionen genommen werden. Die diesbezügliche Soige der Kernbereichsbefürworter- erscheint daher überflüssig. 374 Hierzu ausführlich Becker, Gewaltenteilung im Gruppenstaat, S.23ff. 375 Vgl. statt aller BVerfGE 5, 85, 199; Hesse (FN.300) Rndnr. 476ff. 376 Stern, Staatsrecht II, § 36 III 2. a) S. 528 f. 377 Zu Rousseau vgl. FenskeiMertens!Reinhard!Rosen, Geschichte der politischen Ideen, S. 339 ff. 373
5. Übertragbarkeit der Implied Powers-Grundsätze auf Organkompetenzen
75
Es ist somit als Ergebnis festzuhalten, daß die doctrine of implied powers als Auslegungsregel für die Ermittlung von stillschweigenden Kompetenzen sämtlicher Staatsorgane Gültigkeit besitzt. Innerhalb des vermeintlichen Kernbereichs gilt dies ohnehin, außerhalb dessen solange, wie der Gesetzgeber nicht die betreffende Materie an sich zieht 378 . Die Übertragung dieser Auslegungsregel auf nichtlegislative Bereiche ist notwendig, da nur durch sie dem aus dem Gewaltenteilungsgrundsatz resultierenden Gebot der Funktionalität der Funktionen Rechnung getragen werden kann.
378
Im Ergebnis übereinstimmend mit Böckenförde
(FN. 365) S. 85 ff.
Vierter
Teil
Die parlamentarische Kompetenz zur Ausübung des allgemeinpolitischen Mandats 1. Verfassungsgewohnheitsrechtliche Kompetenz Ein zumindest auf den ersten Blick naheliegender und von Criegee vertretener Weg 379 begründet das Recht der Volksvertretungen, sich zu außerhalb ihres explizit zugewiesenen Kompetenzbereichs liegenden Materien zu äußern, durch Verfassungsgewohnheitsrecht. Dieses regele vor allem das Verhältnis der obersten Staatsorgane untereinander und stelle von allen ungeschriebenen Regelungen das am meisten „fließende Element" 380 dar. Verfassungsgewohnheitsrecht bilde sich wie einfachgesetzliches Gewohnheitsrecht durch dauernde, langjährige Übung, verbunden mit der allgemeinen Überzeugung, das Praktizierte sei rechtens. Bezüglich der consuetudo müsse man jedoch aufgrund der „Kurzlebigkeit der geschriebenen Verfassungen" das durative Element verkürzen. Wenn sich aus einer Betrachtung der Zeit unter dem Grundgesetz noch keine Gewißheit ergebe, so sei ein Rückgriff auf Weimar und das Kaiserreich unerläßlich. Mittels dieses historischen Bogens bejaht Criegee das Element der Dauer, und auch die opinio juris liege vor, da sowohl Legislative und Exekutive sowie die Staatsrechtswissenschaft letztlich nur über die Frage, ob schlichte Parlamentsbeschlüsse verbindlich seien, streiten würden. Somit lasse sich eine gewohnheitsrechtliche Begründung des allgemeinpolitischen Mandats der Parlamente bejahen381. Auch wenn diese Ausführungen Criegees einen relativ ergebnisorientierten Eindruck hinterlassen, so reiht er sich doch in eine Phalanx von Autoren ein, die quasi ungeprüft die gewohnheitsrechtlichen Grundsätze des einfachgesetzlichen Rechts auf die Verfassungsebene übertragen. Mittels Verfassungsgewohnheitsrecht begründet wird u. a. die materielle parlamentarische Diskontinuität382, die aus einem materiellem Prüfungsrecht resultierende Verwerfungskompetenz des Bundespräsidenten 383 , die Koordinationsrechtsordnung zwischen Kirche und Staat384 sowie die 379
Criegee (FN.3) S. 46-53. Criegee (FN.3) S.50. 381 Zu den Grenzen, die Criegee zieht, vgl. oben FN. 3 sowie Masing (FN.46) S. 113 f. 382 Hömig/Stoltenberg, Probleme der sachlichen Diskontinuität, DÖV 1973, S.689, 691; Achterberg, Soziokonformität, DVB11972, S.821,827; a. A. Leinemann, Die parlamentarische Diskontinuität, JZ 1973, S.618, 620. 383 Ipsen, Staatsrecht I, § 8 Rndnr. 415; im Ergebnis anders, in der Bejahung der grundsätzlichen Möglichkeit jedoch gleich auch Epping (FN. 278) S. 1102, 1106. 380
1. Verfassungsgewohnheitsrechtliche Kompetenz
77
Pflicht des Bundestages, bei einem „bedeutsamen Gesetzgebungsverfahren" 385 den Rechtsausschuß einzuschalten386. Abgesehen von der wohl am häufigsten vertretenen Ansicht 387 , daß sich Gewohnheitsrecht auf Verfassungsebene unter den gleichen Voraussetzungen bilden kann wie im einfachgesetzlichen Bereich, wird von anderen Autoren entweder eine Existenz von Verfassungsgewohnheitsrecht aufgrund des Wortlauts von Art. 79 Abs. 1 GG 3 8 8 beziehungsweise der umfassenden Prüfungskompetenz des Bundesverfassungsgerichts 389 vollständig ausgeschlossen, oder eine Bildung von Verfassungsgewohnheitsrecht nur in den Bereichen für möglich erklärt, in denen das Bundesverfassungsgericht de facto von der Verfassungsentwicklung ausgeschlossen ist 390 . Das Bundesverfassungsgericht selbst anerkennt die Möglichkeit der Entstehung von Verfassungsgewohnheitsrecht ausdrücklich (ohne sich zu dessen Voraussetzungen zu äußern), wobei jedoch bislang noch keine Entscheidung erging, in welcher ein Verhalten aus verfassungsgewohnheitsrechtlichen Gründen gerechtfertigt wurde. Es findet sich lediglich des öfteren der Verweis, daß die zu überprüfende Organhandlung auch nicht aus Gründen des Verfassungsgewohnheitsrechts rechtens sei 391 . Die erstmals von Tomuschat392 und darauf aufbauend von Bryde 393 geäußerten Einwände gegen eine unkritische Übertragung der einfachgesetzlichen Gewohnheitssätze auf die Verfassungsebene lassen zumindest erhebliche Zweifel an der Existenz von Verfassungsgewohnheitsrecht im uneingeschränkten Sinn entstehen394. Ausgehend von den klassischen Voraussetzungen consuetudo und opinio juris zeigt Tomuschat auf, daß sich ein Rückgriff auf prä-grundgesetzliche Zeiten zur Herleitung der langen Gewohnheit verbiete 395. Eine neue Verfassung markiere einen Neu384
Hollerbach, Die Kirchen unter dem Grundgesetz, VVDStRL 26 (1968), S. 57, 78. Konrad, Parlamentarische Autonomie, DÖV 1971, S.80, 84. 386 Weitere Beispiele vgl. Tomuschat, Verfassungsgewohnheitsrecht?, S.29ff. 387 Peine, Systemgerechtigkeit, S. 191 ff.; Pieroth, Rückwirkung und Übergangsrecht, S. 272ff.; Hanikel, Die Organisation des Bundesrats, S. 69ff.; Nachweise u. a. bei Menget, Die Verfassung der V. Republik Frankreichs, JöR 30 (1981), S. 21, 60f. 388 So Ridder in: AK, Art.79GG Rndnr. 17; Bleckmann, Staatsrecht I, Rndnr. 42; i.E. auch Achterberg, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 16 Rndnr. 73 S. 306, bei und in Fn. 85. 389 So grundlegend Tomuschat (FN. 389) S. 140 und passim; wohl auch Schenke, Verfassung und Zeit, AöR 103 (1978), S.566, 589, der darüber hinaus anführt, daß sich Verfassungsgewohnheitsrecht schon allein aufgrund der Schnellebigkeit der Zeit sowie den immer häufiger stattfindenden politischen Veränderungen nicht bilden könne und für diefließende Weiterentwicklung des Verfassungsrechts nur hinderlich wäre. 390 So Bryde, Verfassungsentwicklung, S.446, in konsequenter Weiterentwicklung der Aussagen Tomuschats-, Stern, Staatsrecht I, § 46. c) S. 111 f.; Dreier in: ders., Art. 79IGG Rndnr. 38. 391 Vgl. bspw. BVerfGE 29, 221, 234; 20, 56, 61; 48, 1, 13; zurückhaltender BVerfGE 91, 148, 171. 392 Tomuschat (FN.389). 393 Bryde (FN. 390) S.446 ff. 394 So auch Stern, Staatsrecht I, § 416. c) S. 111 f. 395 Tomuschat (FN. 389) S. 83 ff. 385
78
IV. Teil: Die parlamentarische Kompetenz als allgemeinpolitisches Mandat
beginn, der sich zum Ziel setze, das bislang Bestehende zu überwinden und nicht den „guten alten Rechtszustand" zu konservieren. Verfassungsvergangenheit sei auch unter einer neuen Verfassung ein wichtiger Interpretationstopus, da auf anderem Wege die Intentionen der Verfassungsgeber nicht ermittelbar seien. Dies dürfe jedoch nicht dazu führen, daß vermeintliches Gewohnheitsrecht aus früheren Epochen unabänderbar in den Geltungsbereich des Grundgesetzes hineinwirke 396 . Während somit die Fortgeltung von präkonstitutionellem Gewohnheitsrecht ausgeschlossen ist, wird als ein Hauptargument gegen die Bildung von Verfassungsgewohnheitsrecht Art. 79 Abs. 1 GG angesehen397. Der dort normierte Grundsatz, daß Verfassungsänderungen nur durch Verfassungstextänderungen geschehen dürfen, verbiete die Bildung von Verfassungsgewohnheitsrecht „contra constitutionem"398. Verfassungsergänzendes Gewohnheitsrecht (intra constitutionem) hingegen widerspreche zumindest dann nicht Art. 79 Abs. 1 GG, wenn das Offenlassen der strittigen Frage in der Verfassung keine bewußte, negative Entscheidung des Grundgesetzes bedeute399. Für den somit noch offenbleibenden Teil des postkonstitutionellen Gewohnheitsrechts intra constitutionem bestehe ein Spannungsverhältnis zwischen opinio iuris und der umfassenden Prüfungskompetenz des Bundesverfassungsgerichts 400 . Da das Bundesverfassungsgericht unbestritten der wichtigste Interpret des Grundgesetzes sei und die letztverbindliche Interpretationsmacht innehabe, könne eine Frage bis zur höchstrichterlichen Entscheidung niemals als entschieden betrachtet werden. Sobald ein solcher Richterspruch jedoch ergehe, befinde man sich auf dem Gebiet des verfassungsgerichtlichen Richterrechts, das - im Gegensatz zum Verfassungsgewohnheitsrecht - fortentwickelt werden könne 401 . Daß somit einerseits das Bundesverfassungsgericht an eine dauernde Übung oberster Staatsorgane gebunden sei (schließlich hätte Verfassungsgewohnheitsrecht den Rang von Verfassungsrecht und wäre somit für das Bundesverfassungsgericht bindend), zu der es noch keine Gelegenheit hatte, sich zu äußern, andererseits hingegen eine höchstrichterlich getroffene Grundentscheidung letztlich jederzeit höchstrichterlich revidiert werden könne, sei nicht nachvollziehbar. Raum für die mögliche Bildung von Verfassungsgewohnheitsrecht sei daher letztlich nur dort, wo das Bundesverfassungsgericht „de facto von der Verfassungsentwicklung ausgeschlossen" sei 402 .
396
Tomuschat (FN. 389) S. 85. Ebenda S. 88 ff.; Bryde (FN. 390) S. 447f. 398 Bryde (FN. 390) S.454f. 399 Tomuschat (FN. 389) S. 88ff. 400 Ebenda S. 140ff.; Bryde (FN.390) S.451 ff. 401 Tomuschat (FN. 389) S. 140f.; Bryde (FN. 390) S.447,451 f.; hierin sehen Gegner dieser Argumentation einen Zirkelschluß, vgl. Friauf, JZ 1974, S. 399,400, der zeigt, daß die Freiheit des Bundesverfassungsgerichts zur Billigung oder Verwerfung einer Frage gerade davon abhängt, ob sie zu Verfassungsgewohnheitsrecht erstarkt sei. 402 So Bryde (FN. 390) S.452, der den Ansatz Tomuschats insofern weiterentwickelt, jedoch für eine solche Fallgruppe kein Beispiel nennt. Das von ihm angeführte materielle Prüfungsrecht des Bundespräsidenten ließe er jedenfalls nur mit einer Stütze des Bundesverfassungs397
2. Das allgemeinpolitische Mandat als stillschweigende Ogankompetenz
79
Auch wenn dieser Ansicht zurecht zumindest bei der Frage der Bindung des Bundesverfassungsgerichts an Gewohnheitsrecht aufgrund einer ohne sein Zutun entstandenen opinio iuris ein gewisser Zirkelschluß vorgeworfen wird 403 , bleibt doch festzuhalten, daß gewohnheitsrechtlich höchstens verfassungsrechtliche Lücken ausgefüllt werden könnten. Weitergehendes Gewohnheitsrecht würde an den Erfordernissen des Art. 79 Abs. 1 GG scheitern. Ein Klärung dieser Streitfrage kann hingegen an dieser Stelle unterbleiben, da selbst nach der weitestgehenden Ansicht, die Verfassungsgewohnheitsrecht unter gleichen Voraussetzungen wie im einfachen Recht zuläßt, keine gewohnheitsrechtlich zustande gekommene Kompetenz vorläge. Zwar kann kaum bestritten werden, daß die Parlamente der Bundesrepublik Deutschland seit ihrem Bestehen ein allgemeinpolitisches Mandat ausüben404, von einer opinio iuris kann jedoch nicht gesprochen werden. Bis auf das Urteil des Brandenburgischen Verfassungsgerichts 405 sowie die Ausführungen der wenigen oben aufgeführten Autoren 406 fehlt es bislang an Stellungnahmen zu der Frage des allgemeinpolitischen Mandats von Volksvertretungen. Ein Schweigen von Wissenschaft und Rechtsprechung zu einer fünfzigjährigen Übung mit einer allgemeinen Rechtsüberzeugung gleichzusetzen407, würde bedeuten, daß die fehlende Auseinandersetzung mit dieser Frage bewußt nicht geführt werde, da das Ergebnis ohnehin offensichtlich sei. Dieser Schluß ist unzulässig, denn unter den oben408 aufgeführten Autoren, die sich bislang zumindest am Rande der hier zu untersuchenden Problematik annahmen, halten sich Befürworter und Gegner eines allgemeinpolitischen Mandats in etwa die Waage. Selbst nach dieser Ansicht kann somit mangels opinio iuris nicht von einer verfassungsgewohnheitsrechtlichen Rechtfertigung der regelungskompetenzübergreifenden Debattierpraxis der Parlamente ausgegangen werden. Zur Herleitung einer möglichen Kompetenz muß daher untersucht werden, ob den Parlamenten eine stillschweigende Organkompetenz zusteht.
2. Das allgemeinpolitische Mandat als stillschweigende Organkompetenz Die Frage nach der Existenz eines allgemeinpolitischen Mandats der Volksvertretungen ist untrennbar mit den verfassungsrechtlichen Aufgaben der Parlamente in gerichts zu Gewohnheitsrecht erstarren - vgl. S. 454 mit der bemerkenswerten Fn. 133; in diesem Sinne auch Stern, Staatsrecht I, S. 111. 403 Vgl. Friauf (FN. 278); Pieroth, Rückwirkung und Übergangsrecht, S. 272ff. 404 Vgl. allein die Beispiele oben, S. 17 ff. 405 Vgl. oben S. 27. 406 Vgl. oben S. 19ff. 407 So Criegee (FN.3) S.52. 408 Vgl. S. 19 ff.
80
IV. Teil: Die parlamentarische Kompetenz als allgemeinpolitisches Mandat
einer repräsentativen Demokratie verbunden 409. Wahrend die meisten Parlamentsaufgaben positiv normiert bzw. unstrittig akzeptiert sind 410 , ergibt sich aus dem Spannungsverhältnis zwischen repräsentativer Demokratie und Volkssouveränität die Frage nach dem Repräsentationsmodell des Grundgesetzes, der Rolle des Volkes als oberstem Souverän in diesem System und der möglichen Aufgabe der Parlamente als repräsentative Volksvertretungen im Brennpunkt zwischen Staat und Gesellschaft 411. Je nachdem, ob die repräsentative Vertretung des Volkes dazu führt, daß das Parlament als Volk en miniature zwischen den Wahlperioden fungiert, ob dem Volk auch zwischen den Wahlen eine zu beachtende und u.U. zu berücksichtigende Rolle zugestanden wird oder aber ob Parlament und Staatsvolk als zwei sich gegenseitig beeinflussende Größen in der staatlichen Gesamtheit betrachtet werden, muß man entweder die Notwendigkeit zur Ausübung eines allgemeinpolitischen Mandates verneinen, die Kompetenz zugestehen, „in eigener Sache" um Akzeptanz zu werben oder aber das Recht zum allgemeinpolitischen Diskurs zwischen Staatsorgan und Gesellschaft bejahen. Da sich die Antwort auf die Frage nach der Existenz eines allgemeinpolitischen Mandats der Volksvertretungen nur aus dem Repräsentationsverständnis des Grundgesetzes ergeben kann, muß zunächst eine Auseinandersetzung mit den verschiedenen hierzu vertretenen Modellen stattfinden, um dann in einem zweiten Schritt nach der Reichweite eines etwaigen allgemeinpolitischen Mandates zu fragen.
a) Die in der Staatsrechtslehre vertretenen Repräsentationsmodelle aa) Die absorptive Repräsentation
412
Die Vertreter des absorptiven Repräsentationsmodelles entscheiden sich im Spannungsfeld zwischen Repräsentation und Volkssouveränität uneingeschränkt für erstere. Ihrer Ansicht nach findet durch die Schaffung eines Repräsentationsorgans eine vollständige Absorption und Mediatisierung des Volkes statt, so daß es repräsentationswidrig sei, wenn sich das Parlament in irgendeiner Weise über die Meinungen des Volkes unterrichten würde oder gar bei seinen Entscheidungen den empirischen Volkswillen berücksichtigen sollte 413 . Absorptive Repräsentation setzt das Parlament vollkommen an die Stelle des Volkes und läßt einen Meinungsaustausch zwischen den Wahlgängen nicht zu. Die Volksvertretung wird für die Dauer ihrer 409
So auch der Ansatz bei v. Komorowski (FN. 6) S. 127 und Masing (FN. 46) S. 105. Vgl. nur Achterberg, Parlamentsrecht, S. 322 ff.; Schneider/Zeh, Parlamentsrecht, §48 ff., jeweils m. w. N. 411 Zeh in: Schneider/ders., Parlamentsrecht, §32 Rndnr. 11. 412 Soweit erkennbar, wurde diese Bezeichnung erstmals von Müller, Das imperative und freie Mandat, S.223 verwandt. 413 Krüger, Allgemeine Staatslehre, S. 242f.; ders., Verfassungsauslegung, DVB1 1961, S. 685 ff. 410
2. Das allgemeinpolitische Mandat als stillschweigende Ogankompetenz
81
Wahl zum Volk „en miniature " 4 1 4 . Das Volk hat innerhalb des parlamentarischen Kompetenzbereiches keinen eigenen relevanten Willen außer dem des zuständigen Organs 415. Da das Parlament hiernach nicht nur das Volk repräsentiert, sondern das Volk ersetzt, besteht somit überhaupt keine Notwendigkeit der Rückkoppelung an konkrete Vorstellungen der Repräsentierten. Vielmehr sehen die Vertreter dieser Ansicht in einem solchen Vorgang die Gefahr der Beeinflussung der Parlamentarier durch die unstrukturierte und leicht beeinflußbare öffentliche Meinung 416 . Ein Repräsentant müsse hiernach, um seinem verfassungsrechtlichen Auftrag gerecht werden zu können, absolut frei von Willensbekundungen und Einflüssen dritter, selbst der repräsentierten Personen sein 417 , ansonsten verliere der Parlamentarismus seine Legitimität 418 . In diesem Sinne ist auch folgender Satz Leisners zu verstehen: „Die Herrschenden mögen sich der Ramme des Volkes soweit nähern, daß sie erleuchtet werden, sie dürfen sie nicht berühren, sonst verbrennt die Freiheit" 419 . Volksvertreter seien hiernach nicht nur klügere, besser informierte und einsichtigere Beurteiler politischer Fragen als die Volksmasse, sie müßten sich auch selbst als solche erkennen 420 , ansonsten bestünde die Gefahr einer Flucht vor der Verantwortung hin zu - ohnehin repräsentationswidrigen 421 - (konsultativen) Referenden. Solche Formen der Partizipation des Volkes an der Staatswillensbildung führen aber, selbst im rein konsultativen Fall, zu einem Verlust der Entscheidungsfähigkeit des Parlamentes und bergen darüber hinaus die Gefahr in sich, daß aus einem rein parlamentarischen Wettstreit um das bessere Sachargument ein Kampf um die bessere, propagandistischere Suggestivformel entsteht422. Absorptive Repräsentation bedeutet selbstverständlich keine Einschränkung der Meinungsfreiheit der Bevölkerung, kein Befassungsverbot bezüglich bestimmter staatlicher Themenkomplexe. Nach dem Modell der absorptiven Repräsentation stellt der Volkswille jedoch keine relevante Größe neben dem Staatswillen dar und 414 Dieser Terminus dient seit über 150 Jahren als Schlagwort zur Beschreibung der absorptiven Repräsentation: so zuletzt Leisner (1998), Demokratie, S. 13; bereits Karl Marx interpretierte das Hegeische Repräsentationsmodell in diesem Sinne, vgl. ders., Kritik des Hegeischen Staatsrechts (1843), S.272. 415 Greife Id, Volksentscheid durch Parlamente, S.23; tendenziell auch Drath, Entwicklung der Volksrepräsentation, S. 294. 416 Vgl. Hennis , Meinungsforschung und repräsentative Demokratie, S.54ff. 417 Leibholz, Das Wesen der Repräsentation, S.72ff. 418 Hennis (FN. 416) S. 58. 419 Leisner (FN. 414) S. 17. 420 Hennis (FN. 416) S. 58. 421 So Krüger (FN. 413) S. 242f. 422 Schäuble, Das personale Element in der repräsentativen Demokratie in: FS Benda (1995) S. 226. Dieses streng absorptive Repräsentationsverständnis läßt sich allerdings kaum mit der von Schäuble nur drei Jahre später als Oppositionsführer und CDU-Bundes Vorsitzender ins Leben gerufenen Unterschriftenaktion gegen die Pläne der „rot-grünen" Bundesregierung zur Einführung der doppelten Staatsbürgerschaft vereinbaren, war hier doch erklärtes Ziel, einen so massiven Druck durch die Bevölkerung zu organisieren, daß die Regierung von ihren Plänen ablassen müsse.
6 Boewe
82
IV. Teil: Die parlamentarische Kompetenz als allgemeinpolitisches Mandat
Meinungen sowie Strömungen innerhalb der Gesellschaft sind für staatliche Entscheidungen irrelevant, wenn nicht gar gefährlich. Es besteht somit keine Notwendigkeit, auf den gesellschaftlichen Willensbildungsprozeß in irgendeiner Weise einzuwirken. Ein Recht auf Herstellung eines kommunikativen Zusammenhangs zwischen parlamentarisch-organschaftlicher und außerparlamentarischer Diskussion, ein allgemeinpolitisches Mandat der Volksvertretungen ist daher eine Parlamentsfunktion, die sich aus einem absorptiven Repräsentationsverständnis nicht herleiten läßt.
bb) Die responsive Repräsentation (1) Grundsätzliche Herleitung Einigkeit zwischen den Vertretern des absorptiven und responsiven Repräsentationsbegriffs besteht in der Notwendigkeit von Repräsentation zur Verwirklichung von Demokratie. Nicht lediglich aufgrund der Großräumigkeit der Gemeinschaft als faktisch-technische Gegebenheit der Machtorganisation, sondern vielmehr als einzig demokratie-vermittelnde Staatsform wird das Repräsentationssystem betrachtet 423 . Hermann Heller arbeitete erstmals heraus, daß das politische Zusammenleben von Menschen nur durch ein Handlungsgefüge und eine Wirkungseinheit entstehen könne, die wiederum von der Existenz leitender Organe abhänge424. Dies gelte für jeden Verein genauso wie für einen demokratischen Staat mit gleichen sozialen Chancen, da Organisation der Autorität bedürfe und Machtausübung grundsätzlich dem Gesetz der kleinen Zahl unterliege 425. Zwingende Notwendigkeit hieraus sei die Bildung eines Führerringes, womit Demokratie nur repräsentativ verwirklicht werden könne. Während für die Vertreter des absorptiven Modells jedoch hierin die Legitimation zur Mediatisierung des Volkes liegt, unterscheiden die Vertreter des responsiven Ansatzes zwischen formaler und inhaltlicher Repräsentation. Während erstere den Legitimationszusammenhang zwischen Repräsentanten und Repräsentierten herstellt - die Macht, durch das eigenen Handeln das Volk zu verpflichten 426 - bedeutet materielle Repräsentation, daß die Repräsentierten sich mit dem Handeln der Repräsentanten auch inhaltlich identifizieren können. Denn nur die Einsicht in die Richtigkeit des Handelns der Repräsentanten kann Folgebereitschaft kreieren 427, die in einer von der Volkssouveränität ausgehenden repräsentativen Demokratie gegeben sein muß. Um dies zu erreichen, wird in Anlehnung an das neuere angelsächsische Demokratieverständnis der dort zentrale Begriff der „responsive423 Böckenförde, Demokratie und Repräsentation, S. 14ff.; ders., HBdStR II, § 30 Rndnr. 17 ff.; ders. mittelbare/repräsentative Demokratie in: FS Eichenberger, S. 306ff. 424 Heller, Staatslehre, in: ders., Gesammelte Schriften Band 3, S. 177. 425 Ebenda S. 359. 426 Böckenförde y Demokratie und Repräsentation, S. 18 ff. 427 Ebenda S. 20.
2. Das allgemeinpolitische Mandat als stillschweigende Oigankompetenz
83
ness" m übernommen, wonach Repräsentation die Notwendigkeit der ständigen Rückkoppelung an die Gesellschaft sowie der „Aufnahmebereitschaft und Sensibilität für die politischen Präferenzen und Hoffnungen der Repräsentierten" 429 beinhalten muß. Nur dann kann inhaltliche Repräsentation auch demokratische Repräsentation sein, wenn Bezugspunkt des staatlichen Handelns das wirkliche, nicht ein hypothetisch idealisiertes Volk ist 430 . Ständige Kommunikation zwischen Wählern und Gewählten führt hiernach somit nicht nur zur Effektivität der Repräsentation 431, sie ist zugleich akzeptanzschaffendes Werben für staatliche Entscheidungen432 und führt zu einem Heranreifen und Formen des Gemein willens 433 . Dieser ständige Rückkoppelungsvorgang garantiert auch, daß das Volk politische Entscheidungen akzeptiert, die den „Fieberkurven des Volkswillens" 434 und der Demoskopie435 zuwider laufen und vermeintliche Mindermeinungen durchsetzen, fühlt sich doch das Volk in der responsiven Demokratie als ernsthafter Faktor und vertraut auf die Weitsicht der Repräsentanten. Die Konsequenz dieses Verständnisses von der Notwendigkeit inhaltlicher Repräsentation ist jedoch zwangsläufig ein Bruch mit der Ansicht, das Parlament sei eine Gesellschaft en miniature. Dadurch, daß der gesellschaftliche Wille als relevanter Faktor im Staatswillensbildungsprozeß betrachtet wird, ist eine tatsächliche Diskrepanz zwischen Volkswillen und Staatswillen möglich 436 . Nicht in der Negation des ersteren, sondern vielmehr in der Kommunikation mit der Gesellschaft und dem Erkennen großer Willensströmungen des Volkes437, in der Auflösung des „Grunddilemmas" 438 von Quantität des Konsenses und Qualität der Entscheidungsinhalte liegt die Aufgabe staatlicher Entscheidungsträger. Das repräsentative System ist hiernach kein Ersatz für Kommunikation, diese stellt vielmehr eine ständig einzulösende Bringschuld der repräsentativen Demokratie dai 439 . Während in diesen Grundfragen unter den Vertretern der responsiven Repräsentation Einigkeit besteht, wird die weiterführende Frage der Staatsfreiheit des Volkswillensbildungsprozesses unterschiedlich beantwortet. 428 Vgl. hierzu Uppendahl/Kleef Popp, Responsive Demokratie, S.2ff.; Rommelfanger, Das konsultative Referendum, S.99f. 429 Würtenberger, Akzeptanz von Recht in: Eisenmann/Rill, Jurist und Staatsbewußtsein, S.90f. 430 Böckenförde, Demokratie und Repräsentation, S.22. 431 Saladin, Verantwortung als Staatsprinzip, S. 176 f. 432 Würtenberger, Akzeptanz durch Verwaltungsverfahren, NJW 1991, S. 261. 433 Stern, Staatsrecht I, § 22III S. 1006ff. 434 Würtenberger, Zeitgeist und Recht, S.203. 435 Böckenförde (FN.423) S.22. 436 Stern, Staatsrecht II § 26 S. 37ff. 437 Herzog, Allgemeine Staatslehre, S. 338 ff. 438 Rommelfanger (FN.428) S. 109ff. 439 Sarcinelli, Öffentlichkeitsarbeit der Parlamente, S. 26 ff.
6*
84
IV. Teil: Die parlamentarische Kompetenz als allgemeinpolitisches Mandat
(2) Staatsfreie
Volkswillensbildung
in der responsiven Demokratie
Ausgehend von der „demokratischen Kernidee" 440, daß sich Herrschaft immer von unten nach oben zu konstituieren habe, wird gelegentlich die Ansicht vertreten, daß der Willensbildungsprozeß der Gesellschaft frei von staatlichen Übergriffen zu sein habe441. Der Willensbildungsprozeß verlaufe vom Volk zum Staat und nicht umgekehrt, anderenfalls bestünde die Gefahr staatlicher Lenkung und Manipulation. Hiergegen würden Grundrechtsgarantien und politische Freiheiten einen Schutzwall errichten und die Unabhängigkeit der gesellschaftlichen Willensbildung garantieren. Konsequenz dieser Meinung ist, daß ein Werben des Staates für die Akzeptanz seiner Entscheidungen unzulässig wäre, würde hierdurch doch Einfluß auf den gesellschaftlichen Willensbildungsprozeß genommen werden. Ein Parlament hat in diesem System somit die Aufgabe, seine Entscheidungen unter Berücksichtigung des gesellschaftlichen Willens zu treffen und ihm steht auch das Recht zu, sich hiergegen zu entscheiden. Es ist ihm jedoch untersagt, „aktiv" auf den gesellschaftlichen Willensbildungsprozeß dergestalt Einfluß zu nehmen, daß die Gesellschaft diese ihrer eigenen Ansicht widersprechende Entscheidung als die eigentlich richtige Lösung akzeptiert.
(3) Die werbend-responsive
Repräsentation
Dieses Ergebnis kritisieren Vertreter der folgenden Ansicht als wirklichkeitsfremd und akzeptanzverhindernd 442. Die Volkssouveränität verbiete nicht eine gegenseitige Beeinflussung und somit auch nicht eine staatliche Beeinflussung gesellschaftlicher Willensbildung, sondern sie untersage lediglich eine obrigkeitliche Einschnürung der Volkswillensbildung443. Es könne schon rein technisch keinen von den Einwirkungen staatlicher Organe freien Raum der politischen Meinungsbildung des Volkes geben444, dies sei auch vielmehr verfassungsrechtlich überhaupt nicht gewollt, könne doch nur ein Werben für die eigenen Überzeugungen zur Akzeptanz und damit letztlich zur demokratischen Legitimation führen 445. 440
Schmitt Glaeser, HBdStRII, § 31 Rndnr. 29. Jestaedt, Demokratieprinzip und KondominialVerwaltung, S. 186ff. 442 Kempen, Zwischen Gemeinwohlpostulat und demokratischen Verfahrensgarantien, Der Staat 18 (1979), S. 88 f. 443 Kempen, Grundgesetz, amtliche Öffentlichkeitsarbeit, S. 165 f. 444 Scheuner, Staatstheorie und Staatsrecht, S.295. 445 Zippelius, Allgemeine Staatslehre, S. 179ff.; Hill, Integratives Verwaltungshandeln in: Blümel/Pitschas, Reform des Verwaltungsverfahrens, S. 346f.; Mössle, Regierungsfunktionen des Parlaments, S. 105 ff.; Loewenberg, Parlamentarismus, S.451 ff.; Rommelfanger (FN.428) S. 109 ff. 441
2. Das allgemeinpolitische Mandat als stillschweigende Ogankompetenz
85
Nach diesem Repräsentationsverständnis besteht somit eine Interdependenz zwischen Volks- und Staatswillensbildung. Diesen Gedanken aufgreifend und weiterführend wurde ein hiermit eng verbundenes drittes Repräsentationsmodell geschaffen: Das Modell der koresponsiven bzw. diskursiven Repräsentation. cc) Die koresponsive
446
bzw. diskursive Repräsentation
Das dieser Ansicht zugrunde liegende Repräsentationsmodell sieht die Parlamente neben ihrer Funktion als „Transmissionsriemen" 447 auch gleichzeitig als „Marktplatz der Ideen" 448 , als meinungsbildende Kraft der Gesellschaft 449, als Akteur, der die Bevölkerung zur „Demokratie anstiftet" 450. Läßt sich das Dogma der Willensbildung „von unten nach oben" mit der rein responsiven Demokratie noch vereinbaren, sprechen sich die Vertreter der koresponsiven Demokratie dezidiert gegen diese Einseitigkeit aus451. Willensbildung des Staates wie der Gesellschaft sind dieser Ansicht nach vielmehr miteinander verzahnte, aufeinander einwirkende, einander beeinflussende Bereiche. Integration erfordert hiernach Kommunikation452, konsensuale Demokratie 453 erfordert einen permanenten Dialog mit der Öffentlichkeit. Die bewußte Einflußnahme auf den gesellschaftlichen Willensbildungsprozeß wird nicht als verfassungswidriger Grundrechtseingriff, sondern vielmehr als neues Rollenverständnis gesehen454, in welchem das unaufhörliche Fluktuieren der gegenseitigen Einwirkungen als Prozeß der Angleichung zwischen dem Inhalt der staatlichen Entscheidungen und den Meinungen der Regierten gilt 455 , und letztlich hierdurch die bestmögliche politische Lösung gefunden werden soll. Die repräsentative Demokratie als unabdingbare Notwendigkeit akzeptierend, geht mit dem neuen Rollenverständnis der Parlamente zugleich eine Abkehr von „idealistisch überhöhten Repräsentationslehren" 456 einher. Die Volksvertretungen werden wieder auf ihre Rolle als „Volks-Vertretung" 457 hingewiesen, und zur Legitimation der Repräsentation wird auch auf die Notwendigkeit aufgrund technischer Machbarkeit verwiesen 458. 446
Der Neologismus „Koresponsivität" stammt von v.Komorowski (FN.6) S. 138. Kissler in: Schneider/Zeh, Parlamentsrecht § 36 Rndnr. 12. 448 Klein, HBdStRII §40 Rndnr.9. 449 Scheuner (FN. 444) S. 330f. 450 Hill (FN. 445) S. 346 f. 451 So ausdrücklich v.Komorowski (FN.6) S. 139. 452 Hesse, Verfassungsrecht, Rndnr. 573. 453 Würtenberger, Zeitgeist und Recht, S. 112ff., 206. 454 Hill (FN.445) S.346f. 455 Grundlegend hierzu Müller (FN.412) S.229ff. 456 Würtenberger, Akzeptanz von Recht in: Eisenmann/Rill, Jurist und Staatsbewußtsein, S.90. 447
457 458
v. Komorowski (FN. 6) S. 138. Habermas, Faktizität und Geltung, S.224.
86
IV. Teil: Die parlamentarische Kompetenz als allgemeinpolitisches Mandat
Wenn auch nicht ihren Ursprung 459, so doch eine umfassende Ausformulierung 460 findet die koresponsive Repräsentation in der Habermas'sehen Diskurslehre 461 . Nach dieser richte sich und legitimiere sich die Ausübung politischer Herrschaft an den Gesetzen, die sich die Staatsbürger in einer diskursiv strukturierten Meinungs- und Willensbildung selbst geben würden. Es bestehe die Notwendigkeit, die parlamentarische Meinungs- und Staats Willensbildung unter Zuhilfenahme der politischen Parteien durch eine allen Staatsbürgern offenstehende informelle Meinungsbildung in der politischen Öffentlichkeit zu ergänzen. Das demokratische Verfahren institutionalisiere die hierfür erforderlichen Kommunikationsformen und -foren, müsse aber auch den notwendigen Kommunikationsbedingungen Rechnung tragen. Die repräsentativ geführten Diskurse dürften keinesfalls als abschließende Stellvertretermodelle interpretiert werden, sondern bilden vielmehr den organisierten Mittelpunkt bzw. Fokus der gesellschaftsweiten Kommunikationskreisläufe einer insgesamt nicht organisierbaren Öffentlichkeit. Die Bedingung einer gleichmäßigen Teilnahme aller Beteiligten an den repräsentativ geführten Diskursen sei aber nur dann erfüllbar, wenn diese Diskurse durchlässig, sensibel und aufnahmefähig für Anregungen und Kritik aus einer ihrerseits diskursiv strukturierten Öffentlichkeit seien. Anderenfalls würde die Staatswillensbildung die zivilgesellschaftliche Basis ihres eigenen Funktionierens zerstören, führe die Abkapselung gegenüber den spontanen Quellen der Öffentlichkeit zur eigenen Austrocknung. Das Verhältnis von Parlament und Öffentlichkeit stellt sich hiernach somit anders dar als in der plebiszitären Theorie, wo hypothetischer und empirischer Volkswille unter demokratischen Verhältnissen weitgehend kongruent erscheinen, und auch anders als in der reinen Repräsentationstheorie, wonach allein eine vom empirischen Volkswillen abgehobene Vertretungskörperschaft den hypothetischen Volkswillen ermitteln kann. Es wird vielmehr geprägt von der Ineinandergreifen der institutionalisierten und öffentlichen Meinungsbildungskreisläufe, in denen der Pluralismus der Überzeugungen und Interessen nicht unterdrückt wird, sondern Teile des Gesamtdiskurses darstellen und nicht zuletzt aufgrund der Revidierbarkeit der parlamentarischen Mehrheitsentscheidungen die dort gefundenen Kompromisse anerkannt werden. Das Parlament in einem koresponsiv bzw. diskursiven Repräsentationsmodell hat somit die Aufgabe, aktiv auf die gesellschaftliche Willensbildung einzuwirken, nicht nur für „eigene Angelegenheiten" zu werben, sondern den gesamtgesellschaftlichen Diskurs auch themenbildend voranzutreiben, mündige Staatsbürger zu einer 459
Zur Herkunft des koresponsiven Verständnisses vgl. unten S.94ff. Der Einfluß der Diskurstheorie auf das hier dargestellte Repräsentationsmodell läßt sich allein anhand der Nachweise bei Achterberg, Parlamentsrecht S. 564; Würtenberger, Zeitgeist und Recht, S. 132 Fn. 105; v.Komorowski (FN.6) S. 142 Fn. 136 belegen. Vgl. auch die umfassenden Nachweise bei Ladeur, Rechtliche Ordnungsbildung, Rechtstheorie 27 (1996), S. 385 ff., sowie bei Neumann, Interpretation, in: ebenda S. 415 ff. 461 Vgl. hierzu und zu folgendem Habermas (FN.458) S. 209ff. 460
2. Das allgemeinpolitische Mandat als stillschweigende Ogankompetenz
87
eigenen Meinungsbildung zu animieren, um durch diesen Diskurs sowohl Akzeptanz als auch eine gesamtpolitische Weiterentwicklung zu erreichen 462. Aus diesem Repräsentationsmodell kann sich auch ein allgemeinpolitisches Mandat der Parlamente ableiten lassen463. Wie oben 464 ausgeführt, hat die doctrine of implied powers auch jenseits der Gesetzgebungskompetenzen Gültigkeit. Stillschweigende Organkompetenzen sind zulässig, wenn sie zur Ausübung einer verfassungsrechtlich zugewiesenen Aufgabe notwendig sind. Da nach diesem Modell zu effektiver Repräsentation Kommunikation mit den Repräsentierten erforderlich ist, muß dem Repräsentativorgan die Kompetenz hierzu zustehen. Das Recht, aktiv auf den gesellschaftlichen Willensbildungsprozeß einzuwirken, kann ein Parlament aber nur dann ausüben, wenn ihm grundsätzlich ein allgemeinpolitisches Mandat zuerkannt wird. Dies beinhaltet das Recht, unabhängig von Gesetzgebungsvorhaben - insbesondere durch Debatten und Beschlüsse - politische Meinungen zu diskutieren und bislang von der Gesellschaft vernachlässigte Themenkomplexe in das Bewußtsein der Bevölkerung zu rücken. Dieses Recht wäre somit keine Annexkompetenz465, sondern vielmehr ein eigenständiges, originäres Recht der Parlamente, resultierend aus ihrer Funktion als Repräsentativorgan.
b) Das vom Bundesverfassungsgericht vertretene Repräsentationsmodell Anhand einer Darstellung der hier relevanten Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts soll gezeigt werden, wie sich dessen Repräsentationsverständnis in den letzten 50 Jahren gewandelt hat. Die hierfür entscheidenden - teilweise bereits oben dargestellten - Urteile sind das erste Volksbefragungsurteil 466, das Parteienfinanzierungsurteil 467 sowie das Öffentlichkeitsarbeitsurteil 468, wobei die dort getroffenen Grundentscheidungen hier ergänzt werden durch Ausführungen aus weiteren Entscheidungen. 462 Dieses Modell wird - mit jeweils unterschiedlicher Betonung einzelner Komponenten - in seiner Gesamtheit vertreten u. a. von Müller (FN. 412) S. 223 ff.; Würtenberger, Zeitgeist und Recht, S.206; Kempen, Grundgesetz, amtlichen Öffentlichkeitsarbeit, S. 165ff.; ders., Der Staat (1979) S. 96; Scheuner, Staatstheorie, S. 295; Ehmke, Staat und Gesellschaft in: FG Smend, S.23, 44; Hill, Staatskommunikation, JZ 1993, S.331f.; Sarcinelli, Öffentlichkeitsarbeit der Parlamente, S. 26ff.; Czerwick in: Sarcinelli, Politikvermittlung, S. 254ff.; Stern, Staatsrecht I § 22III S. 1006ff.; Stein, Staatsrecht, § 121. S. 89ff.; Zeh in: Schneider/Zeh, § 32 Rndnr. 13; Kissler in: ebenda, § 36 Rndnr. 6; Masing (FN. 46) S. 105 ff.; v. Komorowski (FN.6) S. 138ff.; wohl auch Hesse, Verfassungsrecht Rndnr. 572ff.; auch Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, S. 154 f. 463 So für die kommunale Ebene erstmals v.Komorowski (FN. 6) S. 143ff. 464 Vgl. S. 72. 465 Zu einem faktisch schon fast umfassenden Debattierrecht der Parlamente qua Annexkompetenz vgl. ausführlichst Masing (FN.412) S.89ff. 466 BVerfGE 8, 104ff. 467 BVerfGE 20, 56 ff. 468 BVerfGE 44, 125 ff.
88
IV. Teil: Die parlamentarische Kompetenz als allgemeinpolitisches Mandat
aa) Das dem ersten Volksbefragungsurteil vom 30. Juli 1958 (BVerfGE zugrundeliegende Repräsentationsmodell
8,104ff.)
Das Bundesverfassungsgericht stellte in der Urteilsbegründung zur Verfassungswidrigkeit der beiden Volksbefragungsgesetze der Länder Hamburg und Bremen (betreffend eine unverbindliche Befragung der jeweiligen Bevölkerung über deren Ansicht bezüglich der Wiederbewaffnung der Bundeswehr und gedacht als Richtschnur für das eigene Verhalten im Bundesrat) fest, daß diese Gesetze „die Rechtsgrundlage für eine Betätigung des Bürgers im status activus, für eine Teilnahme des Bürgers als Glied des Staatsvolkes bei der Ausübung von Staatsgewalt"469 schaffen würden. Weiter wurde klargestellt, daß die hier angenommene Teilnahme des Volkes an der Staatswillensbildung nicht dadurch zur Gesellschaftswillensbildung werde, daß es sich um eine lediglich unverbindliche Entscheidung handele, setze Staatshandeln doch nicht immer Verbindlichkeit voraus 470. Während die Verfassungswidrigkeit der betreffenden Gesetze schon allein damit begründet wurde, daß jegliches Staatshandeln, auch das Handeln des hier angenommenen Staatsorgans Landesvolk, durch Kompetenznormen geregelt ist und die dort zur Abstimmung gestellte Frage in den Kompetenzbereich des Bundes fällt, wurden weitere, für die hier zu untersuchende Frage grundlegende Ausführungen über das Verhältnis Volks- und Staatswillensbildung gemacht. Es sei nämlich, so das Bundesverfassungsgericht, unzulässig 471 , daß von Seiten des Landesvolkes (auch rein) politischer Druck auf die Bundesorgane ausgeübt werden solle, denn die Kompetenzordnung schütze die Staatsorgane bereits vor solchen unverbindlichen Einmischungs- und Beeinflussungsversuchen. Somit sei auch eine unverbindliche Instruktion der Mitglieder der Landesregierung bezüglich ihres Verhaltens im Bundesrat (selbst wenn dies von der Regierung gewünscht werde) nach der Struktur (hier) des Bundesrates ausgeschlossen. Da nicht mehr entscheidungsrelevant, wurde die Frage, ob konsultative Referenden im „Widerspruch zur repräsentativen Ausprägung der demokratischen Ordnung im Grundgesetz" 472 stünden, offen gelassen. Die Antwort ergibt sich jedoch bereits aus den bis dahin erfolgten Ausführungen. Die Kompetenznormen sollen bereits vor politischem Druck schützen. Es ist dem Volk folglich nicht nur verwehrt, als Staatsorgan außerhalb des verfassungsrechtlich normierten Bereichs tätig zu werden. Parlamente und Regierungen - so der Entscheidungshintergrund - dürfen sich einer gesellschaftlichen Beeinflussung gar nicht aussetzen, dürfen eine Rückkoppelung an den Willen der Repräsentanten nicht suchen473. Dies entspricht der klassischen absorptiven Repräsentationslehre 474 mit einem vom empirischen Volkswillen abgekoppelten, völlig unabhängigen Parlament. 469 470 471 472 473 474
BVerfGE 8, 104, 114. Ebenda S.114f. Ebenda S.llóff. Ebenda S. 121 f. So auch die Interpretation bei Müller (FN. 412) S. 234. Vgl. hierzu ausführlich Müller (FN.412) S.234.
2. Das allgemeinpolitische Mandat als stillschweigende Oigankompetenz
89
Als weiteres Indiz für die Richtigkeit dieser Interpretation mag ein Blick auf die Besetzung des dieses Urteil fällenden Zweiten Senats dienen. Wesentlichen Einfluß auf die Entscheidungen dieses Senates hatte der damalige Verfassungsrichter Gerhard Leibholz 475 . Die Ausführungen Leibholz' zur Stellung der Repräsentanten sind denen des Bundesverfassungsgerichts äußerst ähnlich: Der Repräsentant „muß vor allem innerhalb seines konkreten Zuständigkeitsbereiches frei von Einflüssen und Willenskundgebungen dritter Personen seine Entscheidung fällen können" 476 . Nach Leibholz ' Modell übernehmen die Parteien die Rolle des Sprachrohrs des organisierten Volkes477, das eigentliche Volk hingegen wird durch die Parteien mediatisiert, da der Parteienmehrheitswille vom Volk mit der volonté générale gleichgesetzt werden muß und somit der Bevölkerung jenseits der Parteien keinerlei Rolle im politischen Alltag zukommt 478 . Auch hier wird das Volk - wenn auch nicht nur vom Parlament, sondern v. a. von den Parteien - zwischen den Wahlgängen komplett absorbiert, so daß Leibholz zwar ein modifiziertes, letztlich jedoch ebenso absorptives Modell vertritt wie die oben erwähnten Autoren. Da sich die These der Notwendigkeit von absoluter Freiheit von jeglichem, auch nur rein faktischen Druck auf die Repräsentanten seitens der Repräsentierten, der Notwendigkeit, gegenüber dem empirischen Volkswillen Augen und Ohren zu verschließen, sowohl bei den Vertretern der klassisch-absorptiven Lehre, bei Leibholz wie auch beim Bundesverfassungsgericht als Kernsatz herauskristallisiert, ließe es sich nur schwer begründen, die Ausführungen in diesem Urteil des Bundesverfassungsgerichts anders als in letzter Konsequenz als Bekenntnis zur absorptiven Repräsentation zu deuten479. bb) Das Parteienfinanzierungsurteil
vom 19. Juli 1966 (BVerfGE
20,56ff.)
Eine Kehrtwendung nahm das Bundesverfassungsgericht im Parteienfinanzierungsurteil vor, das von den Vertretern des Modells der responsiven Repräsentation, die eine staatsfreie gesellschaftliche Willensbildung propagieren 480, als verfassungsgerichtliche Bestätigung ihrer Ansicht genannt wird. Das Bundesverfassungsgericht stellte hier bereits in den Leitsätzen fest: „Den Staatsorganen ist es grundsätzlich verwehrt, sich in bezug auf diesen Prozeß [den offenen und freien Prozeß der Meinungs- und Willensbildung des Volkes] zu betätigen." Denn „dieser Prozeß muß sich vom Volk zu den Staatsorganen, nicht umgekehrt von den Staatsorganen zum Volk hin, vollziehen"481. 475
Wiegandt, Norm und Wirklichkeit, S. 66. Leibholz, Das Wesen der Repräsentation, S.73. 477 Vgl. Leibholz (FN.477) S. 118 ff. 478 Vgl. ausführlich Müller (FN. 412) S. 218 ff., insb. S. 229 und dort Fn. 89; Böckenförde in: HBdStR § 30 Rndnr. 20 Fn. 30; Wiegandt (FN. 475) S. 162ff. 479 In diesen Sinne auch v.Komorowski (FN.6) S. 136; wohl auch Masing (FN.416) S. 120 Fn. 153. 480 Jestaedt (FN. 441) S. 188 Fn. 44. 481 BVerfGE 20, 56, Ls. 2. 476
90
IV. Teil: Die parlamentarische Kompetenz als allgemeinpolitisches Mandat
Neben diesem eindeutigen Bekenntnis zur Staatsfreiheit der gesellschaftlichen Willensbildung wurde jedoch festgestellt, daß das Volk seinen politischen Willen nicht nur in der Stimmabgabe bei Wahlen zu äußern habe, „sondern auch in der Einflußnahme auf den ständigen Prozeß der politischen Meinungsbildung"482. Die Willensbildung des Volkes und die staatliche Willensbildung seien im Verfassungsalltag auf vielfältige Weise miteinander verschränkt, wobei der Prozeß der gesellschaftlichen Willensbildung grundsätzlich „staatsfrei" bleiben müsse483. Während für die Vertreter der oben unter IV.2.a)bb)(2) angeführten Meinung hier die Darstellung des Urteils endet, finden sich jedoch in den darauffolgenden Ausführungen bereits einige Hinweise, die auf ein koresponsives Modell hindeuten. Die Staatsfreiheit wird vom Bundesverfassungsgericht nämlich nur solange als notwendig erachtet, wie kein besonderer, verfassungsrechtlich legitimierender Grund zum staatlichen „Übergriff* vorliege. Solche Gründe seien insbesondere die Öffentlichkeitsarbeit von Regierung und Parlament, soweit sie ihre Politik und Vorhaben sowie künftig zu lösende Fragen darlegen und erläutern würden 484. Das Bundesverfassungsgericht hat sich somit in diesem Urteil eindeutig vom absorptiven Modell des ersten Volksbefragungsurteils gelöst und eine responsive Repräsentation als Modell des Grundgesetzes bejaht. Aufgrund der Betonung der Staatsfreiheit des gesellschaftlichen Willensbildungsprozesses und der Betonung der Tatsache, daß sich in einer Demokratie die Willensbildung vom Volk zu den Staatsorganen hin zu bilden habe, läßt sich dieses Urteil zwischen der staatsfrei-responsiven und werbend-responsiven Ansicht (vgl. oben a)bb)(2) bzw. (3)) einordnen. cc) Das Öffentlichkeitsarbeitsurteil
vom 2. März 1977 (BVerfGE
44,125ff.)
Das Bundesverfassungsgericht verabschiedete sich in diesem Urteil mit gleicher Deutlichkeit von der Staatsfreiheits-Doktrin, wie im Parteienfinanzierungsurteil vom absorptiven Modell. „Willensbildung des Volkes und Willensbildung in den Staatsorganen vollziehen sich in vielfältiger und tagtäglicher Wechselwirkung. Politisches Programm und Verhalten der Staatsorgane wirken unablässig auf die Willensbildung des Volkes ein und sind selbst Gegenstand der Meinungsbildung des Volkes; Meinungen aus dem Volk, sehr häufig vorgeformt und gestaltet vor allem in den politischen Parteien, aber auch z. B. über Verbände und über Massenmedien, wirken auf die Willensbildung in den Staatsorganen ein. Die Regierung und die sie tragenden politischen Kräfte im Parlament ebenso wie die Opposition werden bei ihrem Verhalten stets auch den Wähler im Blick haben. Dies alles ist Teil des politischen Prozesses einer freiheitlichen Demokratie, wie das Grundgesetz ihn versteht 482 483 484 485 486
Ebenda S. 98. Ebenda S. 99. Ebenda S. 99 ff. Hervorhebungen durch den Verfasser. BVerfGE 44, 125, 139f.
485
2. Das allgemeinpolitische Mandat als stillschweigende Oigankompetenz
91
Das klare Bekenntnis zur Staatsfreiheit der gesellschaftlichen Willensbildung knappe elf Jahre zuvor läßt sich mit diesen eindeutigen Aussagen nicht mehr vereinbaren. Es hat schon fast die Qualität eines Kunstgriffes, wenn das Bundesverfassungsgericht die Leitsätze des Parteienfinanzierungsurteils aufgreift und durch eine minimale, aber die Bedeutung grundlegend verändernde Hinzufügung ergänzt: Jm Wahlakt muß sich - dieser Sinn ist in Art. 20 Abs. 2GG angelegt - die Willensbildung vom Volk zu den Staatsorganen vollziehen, nicht umgekehrt. So sehr von dem Verhalten der Staatsorgane Wirkungen auf die Meinungs- und Willensbildung des Wählers ausgehen und dieses Verhalten selbst mit Gegenstand des Urteils des Wählers ist, so sehr ist es den Staatsorganen in amtlicher Funktion verwehrt, durch besondere Maßnahmen darüber hinaus auf die Willensbildung des Volkes bei Wahlen 487 einzuwirken, um dadurch Herrschaftsmacht in Staatsorganen zu erhalten oder zu verändern" 488.
Durch diese Ergänzung wird aus einem Grundsatz der staatsfreien Volkswillensbildung ein Mißbrauchsverbot, ein Mißbrauchsverbot auch dergestalt, daß der parlamentarischen Opposition die Chance gegeben wird, durch Darstellung der eigenen Ansichten zur Mehrheit von morgen zu werden, weshalb vor jeder Wahl grundsätzlich gleiche Chancen im Wettbewerb um die Wählerstimmen existieren müßten489. Dieses Mißbrauchsverbot soll somit nicht die Interdependenz von Volks- und Staatswillensbildung, den Diskurs zwischen allen staatlichen und gesellschaftlichen Gruppen, das werbende, themenschaffende, zur Demokratie anstiftende, aktive staatliche Eingreifen in den gesellschaftlichen Willensbildungsprozeß unterbinden - Öffentlichkeitsarbeit von Regierung und Parlament ist nicht nur zulässig, sondern auch notwendig490 - , das Mißbrauchsverbot möchte vielmehr garantieren, daß dieser Diskurs mit fairen Mitteln und unter Beachtung der Chancengleichheit geführt wird. Das Bundesverfassungsgericht bekennt sich somit in diesem Urteil eindeutig zur koresponsiven bzw. diskursiven Repräsentation und erklärt dies als das dem Grundgesetz entsprechende Modell.
dd) Weitere diesbezüglich relevante Äußerungen des Bundesverfassungsgerichts Während sich in den drei dargestellten Urteilen grundsätzliche Aussagen zum Repräsentationsmodell des Grundgesetzes finden, hat das Bundesverfassungsgericht in einer Vielzahl von Entscheidungen einzelne, diesbezüglich relevante Aspekte aufgegriffen bzw. betont, ohne jedoch dort eine grundsätzliche Modelldiskussion zu führen. 487 488 489 490
Hervorhebungen durch den Verfasser. BVerfGE 33, 125, 140f. Ebenda S. 142, 145. Ebenda S. 147.
92
IV. Teil: Die parlamentarische Kompetenz als allgemeinpolitisches Mandat
So wird häufig ausgeführt, daß Kommunikation einerseits zwischen den Bevölkerungsgruppen bzw. innerhalb der Parlamente, aber andererseits auch zwischen den Staatsorganen und der Gesellschaft quasi Lebenselement491 der freiheitlich-demokratischen Staatsordnung sei 492 . Der Weg zur staatlichen Willensentscheidung führe durch einen Prozeß von trial and error zu den richtigen politischen Leitlinien und Entscheidungen. Durch ständige geistige Auseinandersetzung, durch gegenseitige Kontrolle und Kritik würde sich der Kampf der Meinungen als Lebenselement dieser Staatsform entfalten können493. Wiederholt wird auch darauf hingewiesen, daß werbende Eingriffe seitens des Staates, insbesondere bei unpopulären Entscheidungen, deren Notwendigkeit nicht unmittelbar einsichtig sei, zulässig und sogar notwendig seien494. Daß bei diesem Prozeß die Massenmedien einen maßgeblichen Einfluß besitzen und sowohl den gesellschaftlichen wie auch den staatlichen Willensbildungsprozeß beeinflussen können, wird ebenfalls hervorgehoben495. In die gleiche Richtung zielen auch einige Ausführungen des Bundesverfassungsgerichts im sogenannten zweiten Abtreibungsurteil aus dem Jahre 1993496. Dort stellte das Gericht fest, daß der verfassungsrechtliche Schutzauftrag den Staat verpflichte, „den rechtlichen Schutzanspruch des ungeborenen Lebens im allgemeinen Bewußtsein zu erhalten und zu beleben"497. Der Staat müsse deshalb erkennbar für den Schutz des Lebens eintreten und über Lehrpläne, öffentliche Aufklärungsaktionen u. ä. dergestalt auf die öffentliche Meinung einwirken, daß der allgemeine Wille zum Schutz des ungeborenen Lebens gestärkt werde. Im Sinne echter Koresponsivität betont das Gericht einerseits, daß der Staat auf den gesellschaftlichen Willensbildungsprozeß Einfluß zu nehmen habe (in diesem Urteil werden staatliche Stellen sogar dazu verpflichtet), andererseits aber auch der gesellschaftliche Wille auf das staatliche Handeln Einfluß habe: „Der Gesetzgeber ist bei der Entwicklung eines neuen Schutzkonzepts nicht nur berechtigt, sondern auch verpflichtet, die Erfahrungen der bisherigen Rechtspraxis zu bewerten und hieran sein Schutzkonzept auszurichten. [...] Unterschiedliche Formen eines weitgreifenden strafrechtlichen Schutzes für das ungeborene Leben auf der normativen Ebene [...] haben nicht zu verhindern vermocht, daß Abtreibung eine Massenerscheinung gewesen und geblieben ist. [...] Soweit solche Umstände als kontinuierliche Erscheinung feststellbar sind, besteht vielmehr gerade Anlaß, nach den Ursachen hierfür zu fragen und sich dem darin zu Tage tretenden Problem zu stellen"498. 491 492 493 494 495 496 497 498
So schon in BVerfGE 7, 198, 208. BVerfGE 10, 4, 13; 12, 113, 125; 57, 295, 319f.; 59, 231, 257ff.; 89, 155, 185. BVerfGE 69, 315, 345 ff. BVerfGE 63, 230, 242 f. BVerfGE 44, 125, 139f.; 59, 231, 257ff.; 69, 315, 345ff. BVerfGE 88, 203 ff. Ebenda S. 261. Ebenda S. 265.
2. Das allgemeinpolitische Mandat als stillschweigende Oigankompetenz
93
Zusammenfassend läßt sich somit feststellen, daß das Bundesverfassungsgericht von der Notwendigkeit eines ständigen geistigen Austausches zwischen allen am staatlichen Leben beteiligten Gruppen, seien es Staatsorgane oder Bevölkerungsgruppen, ausgeht. Bestmögliche politische Entscheidungen lassen sich nur durch einen größtmöglichen Diskurs finden. Eine Abkehr von den grundlegenden Ausführungen im Öffentlichkeitsurteil ist daher nicht erkennbar, vielmehr sprechen die besagten Passagen für ein Festhalten an dem koresponsiv bzw. diskursiven als das dem Grundgesetz eigene Repräsentationsmodell.
c) Auseinandersetzung mit den verschiedenen Repräsentationsmodellen unter Berücksichtigung klassischer Parlamentstheorien Das Verhältnis zwischen Repräsentanten und Repräsentierten ist seit jeher Gegenstand der staatsrechtlichen Diskussion. Im 18. Jahrhundert herrschte weitestgehend Einigkeit bezüglich des absorptiven Charakters der (vordemokratischen) Repräsentation. So führte beispielsweise Charles Fox zu dieser Zeit aus: "Ich nehme auf die Stellung des Volkes nicht die mindeste Rücksicht; unsere Pflicht ist es, zu tun, was richtig ist, ohne in Rechnung zu stellen, ob es allgemein gefällt; ihre Angelegenheit ist es, uns zu wählen; unsere Aufgabe ist es, verfassungsmäßig zu handeln und die Unabhängigkeit des Parlaments aufrechtzuerhalten" 499.
Die absorptive deutsche Staatslehre berief sich hauptsächlich auf Georg Friedrich Hegel 500 . Seiner Staatstheorie nach war das Organ der Stände Vermittler zwischen Regierung und dem in die besonderen Sphären und Individuen aufgelösten Volk. Vermittlung war für ihn jedoch nur dann gewährleistet, wenn sie sich nicht auf „die wesentlichen Elemente des Staatsorganismus, sondern auf speziellere und gleichgültigere Dinge" 501 beschränkte. Die insbesondere durch die Öffentlichkeit der Verhandlungen stattfindende Vermittlung war rein edukatorisch gedacht, sollte hierdurch doch bewirkt werden, daß der Bürger sich Gedanken über öffentliche Dinge und relevante Gesichtspunkte machte. Daß sich hierin, also in der reinen Erziehung, schon die Vermittlungsfunktion erschöpfte, wird dadurch deutlich, daß Hegel betont: „Gott gibt das einem nicht im Schlaf und auf den Bierbänken wird viel Verkehrtes und Unnützes räsoniert" 502. Das Volk spielt zur Entscheidungsfindung keine Rolle, soll vielmehr erzogen werden, ohne daß ein Rückfluß vom Volk zu den Ständen denkbar oder notwendig erscheint. Der Aussage, die Stände bei He499
Zitiert nach Fraenkel, Deutschland und die westlichen Demokratien, S.207f. 500 Vgl. hierzu ausführlich Müller (FN.412) S. 224ff. 501 Hierzu und zum Folgenden Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, § 302. 502 Ders., Philosophie des Rechts, S.270f.
94
IV. Teil: Die parlamentarische Kompetenz als allgemeinpolitisches Mandat
gel seien ein „Volk en miniature" daher zuzustimmen.
503
und das Hegersche System rein absorptiv 504, ist
Dieses Repräsentationsverständnis war jedoch nicht unumstritten. Gegner eines absorptiven Modells 505 führen bis heute folgende Passage aus „Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte" von Karl Marx 506 als klassisches Zitat für ihre Ansicht an: „Das parlamentarische Regime lebt von der Diskussion, wie soll es die Diskussion verbieten? Jedes Interesse, jede gesellschaftliche Einrichtung wird hier in allgemeine Gedanken verwandelt, als Gedanken verhandelt, wie soll irgendein Interesse, irgendeine Einrichtung sich über dem Denken behaupten und als Glaubensartikel imponieren?507 Der Rednerkampf auf der Tribüne ruft den Kampf der Preßbengel hervor, der debattierende Klub im Parlament ergänzt sich notwendig durch debattierende Klubs in den Salons und in den Kneipen, die Repräsentanten, die beständig an die Volksmeinung appellieren, berechtigen die Volksmeinung in Petitionen ihre wirkliche Meinung zu sagen."
Marx unternimmt hier nicht nur eine Zustandsbeschreibung, er spricht von der notwendigen Ergänzung parlamentarischer durch gesellschaftliche Diskussionen, von der faktischen und gewollten gegenseitigen Beeinflussung sowie dem Rückfluß von der Gesellschaft in die Repräsentationskörperschaft. Hierin wird zurecht ein Bekenntnis zur diskursiven Repräsentation gesehen. Die Richtigkeit der von den meisten Anhängern eines nicht-absorptiven Modells vorgenommenen Verweise auf die Verfassungsrealität, auf die Weltfremdheit der Annahme einer völlig unbeeinflußbaren Repräsentationskörperschaft läßt sich schon durch Beobachtungen im England des frühen 19. Jahrhunderts belegen508. Durch eine forcierte Publizität der parlamentarischen Geschäfte und eine kontinuierliche Zeitungsberichterstattung wuchs das Parlament in seine Rolle als Plattform, von der aus sich Abgeordnete direkt an die Bevölkerung wenden konnten. Die hieraus resultierende ständige und ungehinderte Kommunikation mit der Öffentlichkeit führte letztlich dazu, die Stimme des Volkes auf- und ernstzunehmen und faktisch sogar über das souveräne Parlament zu stellen. Allein die Öffentlichkeit der Verhandlungen erreichte somit, faktische Responsivität zu erzeugen. 503
Marx (FN.414) S.272. Müller (FN.412) S.224f. 505 Vgl. hierzu bspw. Habermas (FN. 458) S. 227f.; Heller, Europa und der Fascismus in: ders.: Gesammelte Schriften II, S.468f.; v.Komorowski (FN.6) S. 139 Fn. 112. 506 Marx, Der achtzehnte Brumaire, Mörjt-£/zge/.y-Gesamtausgabe 1 la S. 96, 135. 507 Bis zu dieser Stelle zitiert Carl Schmitt, Verfassungslehre, S. 315 f. die Passage als Beleg für seine These, daß allein das Parlament darauf angelegt sei, die vernünftige Wahrheit und die gerechte Norm zufinden, anders als das diskussionsunfähige Volk. Daß sich aus besagtem Zitat ein der Schmittschen Lehre diametral gegenüberstehendes Modell der Interdependenz von staatlicher und gesellschaftlicher Willensbildung ergibt, wenn man nur weiterliest, wird von den Autoren in FN.505 mit angemessenem Erstaunen vermerkt. 508 Vgl. hierzu und zu Folgendem Wirsching, Parlament und Volkes Stimme, S. 82 ff. 504
2. Das allgemeinpolitische Mandat als stillschweigende Oigankompetenz
95
Diese gegenseitig bestehende Einflußnahme wurde auch von den klassischen Parlamentarismus-Theorien erkannt und als wünschenswert bzw. für verfassungsrechtlich notwendig erachtet. Aus den Parlamentsfunktionen ergibt sich bereits nach Walter Bagehot509 die Wechselwirkung zwischen Volks- und Staatswillensbildung. Unter seinen fünf Parlamentsfunktionen finden sich zwei derselben, die die Auswirkungen öffentlicher parlamentarischer Debatten auf das Volk beschreiben, die sog. teaching sowie die informing function. Zu ersterer führt Bagehot aus:
„A great and open council of considerable men cannot be placed in the middle of a socie without altering that society. It ought to alter it for the better. It ought to teach the na what it does not know
Die darauf aufbauende informing function beinhaltet für Bagehot, daß das Volk nun ebenso wie früher der König informiert werde. Die Auswirkungen solcher „ great debates in Parliament " beschreibt er wie folgt:
i yAny notion , any creed, any feeling, any grievance which can get a decent number of Engl members to stand up for it, is felt by almost all Englishmen to be perhaps a false and pe nicious opinion, but at any rate possible - an opinion within the intellectual sphere, an op nion to be reckoned with" 510.
Daß dieses Unterrichten des Volkes nicht rein edukatorisch gemeint ist, läßt sich anhand zweier Belege verdeutlichen. Der von Bagehot aufgezeigte Wechsel des Empfängers der informing function - weg von der Krone, hin zum Volk - wird damit begründet, daß das Volk nun der neue Souverän sei. Und diesem Souverän komme nicht nur eine rein empfangende Rolle in einer absorptiven Repräsentation zu, sondern die Vertretungskörperschaft habe die Aufgabe, der Regierung gegenüber die Ansichten und Empfindungen der Bevölkerung zu artikulieren (