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German Pages [426] Year 2015
Dominik Höink (Hg.)
Die Oratorien Louis Spohrs Kontext – Text – Musik
Mit zahlreichen Abbildungen
V& R unipress
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-8471-0416-2 ISBN 978-3-8470-0416-5 (E-Book) ISBN 978-3-7370-0416-9 (V& R eLibrary) Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Fritz Thyssen Stiftung für Wissenschaftsförderung. Ó 2015, V& R unipress GmbH, Robert-Bosch-Breite 6, 37079 Göttingen / www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Titelbild: Johann Friedrich Wilhelm Theodor Roux, Porträt Louis Spohr, 1838 (Privatbesitz) Druck und Bindung: a Hubert & Co GmbH & Co. KG, Robert-Bosch-Breite 6, 37079 Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.
Inhalt
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Dominik Höink Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Kontexte Clive Brown Spohr’s operas and oratorios: Two sides of the same coin . . . . . . . . .
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Martina Wagner-Egelhaaf Komposition und Aufführung. Louis Spohr’s Selbstbiographie (1860/61) .
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Volker Kalisch Das Oratorium als Profilierungsfeld bürgerlicher Musikkultur . . . . . .
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Eva Verena Schmid Musikfeste als Forum für Oratorien in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Klaus Wolfgang Niemöller Louis Spohr und die Musikfeste im Rheinland. Der Oratorien-Komponist und Musikfest-Dirigent in den musikkulturellen Kontexten der Aufführungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 Peter Schmitz Ein rentables Geschäft? Zum Stellenwert von Oratorien in Verlagsprogrammen des 19. Jahrhunderts am Beispiel von Louis Spohr . 131
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Inhalt
Das jüngste Gericht und Die letzten Dinge Kirstin Buchinger Antichrist und Heiland. Napol¦omanie, Endzeiterwartungen und Erlösermythen während der „bellizistischen Sattelzeit“ um 1800 . . . . . 153 Rebekka Sandmeier „…eine Zeit, wo kühn an die Geheimnisse göttlicher Offenbarungen, der Apokalypse, vor allem auch des jüngsten Gerichts gerührt wird“ – Louis Spohrs Apokalypse-Oratorien im Kontext des Oratorienrepertoires im frühen 19. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 Rüdiger Schmitt Louis Spohrs Oratorien Die letzten Dinge und Das jüngste Gericht in bibelwissenschaftlicher Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 Andreas Jacob „… daß der Componist … in der Entwickelung seiner musikalischen Ideen originell zu sein sich bestreben müsse“ – Aneignung und Neuformulierung in Louis Spohrs Oratorium Das jüngste Gericht . . . . 201 Daniel Glowotz Altklassische Polyphonie oder zeitgenössischer Tonsatz? Zur Rezeption älterer Kirchenmusikstile in den Chorsätzen von Louis Spohrs Oratorium Die letzten Dinge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235
Des Heilands letzte Stunden Jürgen Heidrich Des Heilands letzte Stunden von Louis Spohr und die Tradition der Passionsvertonungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 Hermut Löhr Die kanonischen Passionsgeschichten in Des Heilands letzte Stunden von Friedrich Rochlitz/Louis Spohr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 279 Markus Böggemann Großform und Harmonik in Louis Spohrs Oratorium Des Heilands letzte Stunden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295
Inhalt
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Karl Traugott Goldbach „… daß die dabei gehaltene Predigt großentheils gegen sein Oratorium gerichtet war“ – Zur Rezeption von Des Heilands letzte Stunden in Großbritannien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307
Der Fall Babylons Dominik Höink Louis Spohrs Der Fall Babylons und die ,Belsazardramen‘ seit Georg Friedrich Händel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 343 Johannes Schnocks Rezeptionshermeneutische Analysen zu Spohrs Der Fall Babylons und seinen biblischen Vorlagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 379 Michael Werthmann „Weiche Passivität“ und „Thatkräftiger Kriegerchor“. Analytische Beobachtungen zu Der Fall Babylons . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 393 Personenregister
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 421
Vorwort
Der vorliegende Band versammelt im Wesentlichen Beiträge, die im Rahmen der interdisziplinären Tagung „Die Oratorien Louis Spohrs. Kontext – Text – Musik“ vom 15. bis 17. November 2013 am Exzellenzcluster „Religion und Politik in den Kulturen der Vormoderne und der Moderne“ der Westfälischen WilhelmsUniversität Münster diskutiert worden sind. Das zentrale Anliegen der Tagung, die mit einer öffentlichen Aufführung von Die letzten Dinge durch den Kammerchor an der Herz-Jesu-Kirche unter der Leitung von Michael Schmutte ihren Abschluss fand, war es, alle vier Oratorien Spohrs, die in der bisherigen Forschung allenfalls ausschnitthaft beleuchtet worden sind, gleichermaßen mit Blick auf die Entstehungskontexte, die zugrundeliegenden Libretti sowie ihre musikalische Gestalt zu untersuchen. Die Tagung wurde überhaupt erst ermöglicht durch die großzügige finanzielle Förderung seitens der Fritz Thyssen Stiftung für Wissenschaftsförderung sowie des Exzellenzclusters „Religion und Politik“. Der Stiftung und dem Exzellenzcluster mit ihren jeweils Verantwortlichen sei daher mein größter Dank ausgesprochen. Der Fritz Thyssen Stiftung sei überdies sehr herzlich für die Übernahme der Druckkosten gedankt. Für die tatkräftige Unterstützung bei allen organisatorischen Belangen danke ich Katharina Dettmann MA und Henrik Oerding BA. Letzterem sei ebenso wie Dr. Andrea Ammendola und Dr. Theo Riches für die Unterstützung bei der redaktionellen Arbeit und Robert Memering M.A. (Prinzipalsatz Typographie Münster) für die Erstellung sämtlicher Notenbeispiele mein herzlichster Dank ausgesprochen. Dank gebührt darüber hinaus dem Verlag V& R unipress für die Bereitschaft, diesen Band in das Verlagsprogramm aufzunehmen. Schließlich möchte ich allen Autorinnen und Autoren für ihre Beiträge, aber auch für den äußerst gewinnbringenden Austausch und die Diskussionen während der Tagung und im Vorfeld dieser Publikation danken. Münster, im Januar 2015
Dominik Höink
Dominik Höink
Einleitung
Obschon die Oratorien Louis Spohrs nicht zu jenen Kompositionen gehören, die gänzlich vergessen sind und auf ihre Wiederentdeckung warten, wie dies für nicht wenige andere deutsche Oratorien des 19. und – nicht weniger – des 20. Jahrhunderts gilt, obschon also die Werke Spohrs nicht nur bekannt sind, sondern vereinzelt sogar in modernen Editionen oder auf CD verfügbar sind, hat eine wissenschaftliche Auseinandersetzung bisher lediglich vereinzelt und nur in Ansätzen stattgefunden. Vergleichen wir die Literatur zu Spohrs Oratorien beispielsweise mit der Fülle an Texten, die über diejenigen Felix Mendelssohn Bartholdys vorliegt, so zeigt sich eine immense Diskrepanz. Und sogleich stellt sich die Frage nach den Gründen für die geringe Berücksichtigung seitens der Forschung, die in einem Missverhältnis zur großen Bedeutung steht, die Spohr von seinen Zeitgenossen zuerkannt worden ist: „Denn in einem Zeitraum von über dreißig Jahren“, so hat Clive Brown es in seiner einschlägigen Spohr-Biographie ausgedrückt, „– vom Tode Beethovens 1827 bis zu seinem eigenen Tod 1859 – wurde Spohr von vielen Musikern und Musikliebhabern als der größte lebende Komponist angesehen, während nur wenige ihm eine herausragende Stellung in der ersten Reihe der großen Komponisten abgesprochen hätten.“1 Mit Spohrs Tod wurden viele seiner Werke nicht mehr gepflegt und gerieten in Vergessenheit. Eine fundierte wissenschaftliche Auseinandersetzung hat entsprechend erst spät eingesetzt und dabei – bis heute – einige Teile seines Schaffens vollkommen unberücksichtigt gelassen. Blickt man in die einschlägigen Schriften zur Oratoriengeschichte, ist der Befund entsprechend vielfach ernüchternd und unterstreicht damit jene Diskrepanz zwischen der Rezeption vor und nach 1859. Die Suche etwa in einer der frühen Monographien zur Gattungsgeschichte bringt in Bezug auf Spohr nicht viel zutage. Carl Hermann Bitter lässt seine 1870 publizierten Beiträge zur Geschichte des Oratoriums – die in Form von 22 Briefen gestaltet sind – mit Mendelssohn beginnen, um sodann zu den Anfängen der Gattung zurückzuspringen 1 Clive Brown, Louis Spohr – Eine kritische Biographie, Berlin 2009, S. 1.
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und deren Entwicklung zu schildern. Spohr spielt in dieser Geschichtserzählung keine Rolle und wird auch nicht im Zusammenhang mit den Werken Mendelssohns erwähnt, sondern lediglich in einer Aufzählung verschiedener Passionsmusiken seit Johann Sebastian Bach und Carl Heinrich Graun.2 Wenige Jahre nach Bitter publizierte Otto Wangemann seine Oratoriengeschichte, in der er in klassischer Weise die Entwicklungen von den ersten Anfängen bis zur Gegenwart nachzeichnet.3 Die Ausführungen zu Spohr beschließen das 15. Kapitel des Buches, in dem der Autor über „Oratoriencomponisten in den ersten Decennien des 19. Jahrhunderts“ berichtet.4 Wangemann sieht Spohr in den „Bahnen Mozart’s, die er in die romantische Schule“ gelenkt habe und verweist auf dessen „Weltruhm“.5 Die Beurteilung der Oratorien fällt jedoch ambivalent aus: Spohr sei zwar eine „Künstlernatur, der es mit der Sache Ernst ist“, dem aber dennoch „der Genius eines Beethoven [fehle], um wirklich Bedeutendes zu schaffen“.6 Wiederum einige Jahre später meldete sich Franz Magnus Böhme zu Wort, der jedoch eingangs seiner schmalen Monographie betont, es sei nicht sein Anliegen gewesen, „Detailforschung für die wenigen musikhistorischen Fachleute darzubieten“, sondern er „wende sich an das große Publikum, das nicht Zeit und Beruf hat, umfangreiche musikalische Bücher zu studiren“.7 Entsprechend kurz fallen die Beschreibungen und Beurteilungen der besprochenen Werke aus; wobei die Wertungen deshalb nicht weniger radikal sind. Zur Gattungsgeschichte im frühen 19. Jahrhundert bemerkt Böhme beispielsweise: „Alle Oratorien, die in diesem Zeitraum von 1800 – 1836 zu Tage treten, sind ohne große Kunstbedeutung und der Art, daß sie nicht lebensfähig sich erhalten konnten. Mehr oder weniger waren es Ausläufer des haydnschen Oratorienstyls, aber ohne Haydns Geist, – weniger Nachahmungen des Händelschen, und gar nicht von Bachs Werken.“8
Spohr wird von Böhme als „talentvolle[r]“ und „hochbegabte[r]“ Komponist gewürdigt, dessen Werke jedoch seit 1850 nur noch sehr selten in Deutschland aufgeführt würden.9 Stilistisch verwende Spohr auch in seinen Oratorien – bei deren Aufzählung Böhme Das jüngste Gericht nicht erwähnt – die für ihn typi2 Carl Hermann Bitter, Beiträge zur Geschichte des Oratoriums, Berlin 1872, S. 347. 3 Zu diesem Absatz vgl. Otto Wangemann, Geschichte des Oratoriums von den ersten Anfängen bis zur Gegenwart, Leipzig 31882. 4 Vgl. ebd., S. 418 – 442. 5 Ebd., S. 440. 6 Ebd. 7 Franz Magnus Böhme, Die Geschichte des Oratoriums für Musikfreunde kurz und faßlich dargestellt, Gütersloh 21887, S. Vf. 8 Ebd., S. 84. 9 Ebd., S. 88.
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sche „weichlich-seriöse, elegische Ausdrucksweise“, die in einer „zu reichlichen Verwendung des Chromatischen und Enharmonischen ihren Grund“ habe.10 Trotz des kritischen Blicks auf die musikalische Gestaltung werden „große Andacht und Religiosität“ gelobt.11 Die Kompositionen seien auch über ihre Zeit hinaus Werke, in denen die Zuhörer Erhebung finden könnten. Der kritische Ton in der Beurteilung des Spohr schen Oratorienschaffens verschärfte sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts, nämlich in Arnold Scherings – äußerst materialreicher – Geschichte des Oratoriums.12 Dieser erkennt zwar an, dass Spohr „als Oratorienkomponist Triumphe“ gefeiert habe, betont aber postwendend: „Ob er recht tat, sich diesem Gebiete zu nähern, mag heute bezweifelt werden; einst hielt man ihn für eine der festesten Stützen deutscher Oratorienkomposition.“13
Spohr sei kein Dramatiker, seine Stärke läge vielmehr in „elegischen, weichen Partien des Textes“. Die auch bei Böhme vorzufindende Zuschreibung kehrt somit an dieser Stelle wieder. Spohrs drittes Oratorium Des Heilands letzte Stunden entspräche daher seiner „wahre[n] Anlage“ am ehesten.14 Das dramatische Oratorium Der Fall Babylons hingegen wird mit kritischen Bemerkungen zu „Mißgriffen aller Art“ in den Chorteilen und dem Fugenstil versehen.15 Schering kann die englische Begeisterung für dieses Werk nicht recht teilen und verweist demgegenüber auf die deutsche Zurückhaltung: man habe das Werk zwar „aus Achtung vor dem großen Künstler nicht rundweg abgelehnt, habe aber doch seinem Zweifel an der inneren Wahrhaftigkeit Ausdruck“ verliehen.16 Respekt zollt Schering hingegen dem berühmtesten Gattungsbeitrag Spohrs, Die letzten Dinge: Die Komposition sei aus „gesundem natürlichem Empfinden heraus“ geschaffen und schließlich „ein im Ganzen edles Werk“.17 Auch im weiteren Verlauf des 20. Jahrhunderts wurde Spohrs Oratorien bisweilen kein Platz in der ersten Reihe der Gattungsgeschichte eingeräumt. Günther Massenkeil bespricht in seinem zweibändigen Überblickswerk zu Oratorium und Passion selbstverständlich die Werke Spohrs, der ihm als ein „künstlerisch hochrangige[r] Verbindungsmann zwischen dem alten aristokratischen und dem neuen bürgerlichen Oratorienwesen“ gilt und nimmt damit auch auf die besondere sozialgeschichtliche Rolle des Oratoriums im 19. Jahr10 Ebd. 11 Ebd. 12 Arnold Schering, Geschichte des Oratoriums (= Kleine Handbücher der Musikgeschichte nach Gattungen, 3), Leipzig 1911, Reprint Hildesheim 1966. 13 Ebd., S. 403. 14 Ebd. 15 Ebd., S. 404. 16 Ebd., S. 404 f. 17 Ebd., S. 405.
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hundert Bezug.18 Einen Platz in der Reihe der „bedeutenden Repräsentanten“ der Gattung – so die Überschrift eines Teilkapitels – weist er ihm jedoch nicht zu. Diese Plätze sind bereits an Friedrich Schneider, Carl Loewe, Felix Mendelssohn Bartholdy, Robert Schumann und Franz Liszt vergeben.19 Anders stellt sich die Situation bei einem Blick in die einschlägige englischsprachige Gattungsgeschichte von Howard E. Smither dar. Auch Smither geht auf einzelne Komponisten und ihre herausragenden Werke gesondert ein. Nur erscheint hier in der Reihe von Namen wie Schneider, Mendelssohn, Schumann und Liszt auch der Name Spohr, nämlich im Zusammenhang mit einer Detailuntersuchung zu dessen zweitem Oratorium Die letzten Dinge.20 Nicht zuletzt die stärkere Akzentuierung der besonderen Popularität Spohrs in England dürfte für die Auswahl von Bedeutung gewesen sein.21 Am Ende seiner Besprechung von Die letzten Dinge betont Smither zunächst die große Bedeutung, die gerade diesem Oratorium für Spohrs Reputation als Komponist zufalle, und weist dem Werk sodann eine besondere gattungsgeschichtliche, ja geradezu allgemein musikhistorische Position zu: Die letzten Dinge sei „so important in the oratorio repertoire that it deserves attention if one is to understand the composer, his period, and oratorio in that period“.22 Dieser kursorische Blick in die einschlägigen Oratoriengeschichten illustriert bereits einige Wandlungen, die die Beurteilung des Spohr’schen Oratorienschaffens durchlaufen hat. Um allerdings zu einer fundierten Beurteilung der musikhistorischen Wirkung zu gelangen, bedarf es freilich eines präziseren Verständnisses der Werke, als dies in den gattungsgeschichtlichen Überblickswerken geboten wird. Jedoch ist die darüber hinausgehende Forschungsliteratur knapp bemessen. Neben den biographischen Arbeiten, in deren Rahmen das Oratorienschaffen verschieden akzentuiert wird,23 oder gattungsbezogenen Schriften zur ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts24 stehen dezidiert analytische 18 Günther Massenkeil, Oratorium und Passion (= Handbuch der musikalischen Gattungen, 10/2), Laaber 1999, Bd. 2, S. 120. 19 Ebd., Bd. 2, S. 126 – 152. 20 Howard E. Smither, A History of the Oratorio. Bd. 4: The Oratorio in the Nineteenth and Twentieth Centuries, Chapel Hill/London 2000, S. 138 – 147. 21 Ebd., S. 138. Zur englischen Rezeption vgl. Clive Brown, The Popularity and Influence of Spohr in England, Phil. Diss. Oxford 1980. 22 Smither, History, Bd. 4, S. 147. 23 Vgl. zunächst und vor allem die Arbeit von Clive Brown, Louis Spohr. A critical biography, Cambridge u. a. 1984 (dt. Kassel 2009). Sodann finden die Oratorien verschiedentlich Erwähnung in: Alexander Malibran, Louis Spohr. Sein Leben und Wirken, Frankfurt a. M. 1860; Dorothy Moulton Mayer, The Forgotten Master. The Life and Times of Louis Spohr, London 1959; Herfried Homburg, Louis Spohr. Bilder und Dokumente seiner Zeit (= Kasseler Quellen und Studien, 3), Kassel 1968; H¦lÀne Cao, Louis Spohr ou Le don d’Þtre heureux, Drize 2006; Ugo Gangi, Spohr. Un musicista affogato nel Biedermeier e dimenticato, Milano 2007. 24 Vgl. Glenn Stanley, The Oratorio in Prussia and Protestant Germany : 1812 – 1848, Diss.,
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Studien, von denen einige das Gesamtschaffen Spohrs beleuchten und in diesem Zusammenhang Aspekte der musikalischen Faktur seiner Oratorien mit derjenigen der übrigen Werke in ein Verhältnis setzen,25 von denen andere sich einem bestimmten Werk zuwenden und dabei Besonderheiten herausarbeiten.26 Vereinzelt sind auch die Kontexte und deren Wirkung auf die Werkentstehung sowie die Zusammenarbeit Spohrs mit seinen Librettisten in Einzelstudien beleuchtet worden.27 Insgesamt jedoch muss nachdrücklich betont werden, dass die Literaturbasis äußerst schmal ist. Zahlreiche Hintergründe sind bisher nicht präzise dargestellt worden; eine Reihe von Fragen etwa zur Textkonzeption und deren religiösen Aussagewerten oder zur musikalischen Beschaffenheit blieb unbeantwortet. Mit den im vorliegenden Band versammelten Einzelstudien soll dem bislang äußerst fragmentarischen Bild vom Oratorienschaffen Spohrs eine präzisere Kontur verliehen werden. Bei der Konzeption der vorausgegangenen Tagung sowie dieser Sammelpublikation war es das Anliegen, jedes der vier Oratorien gleichermaßen zu berücksichtigen und es gemäß dem Untertitel hinsichtlich seines Kontextes, seiner Textgrundlage sowie der Musik zu untersuchen. Den unmittelbar werkbezogenen Studien ist eine Reihe von Beiträgen vorangestellt, die sich mit weiteren Kontexten des Spohr’schen Oratorienschaffens beschäftigen: Nach der einführenden Verhältnisbestimmung von Opern- und Oratorienschaffen bei Spohr, die vielfältige Verbindungslinien aufzeigt und unterstreicht, dass es zum Verständnis des Einen auch des Blicks auf das Andere bedarf (Clive Brown), folgt die Analyse der auf die Felder ,Komposition und Aufführung‘ konzentrierten autobiographischen Selbstinszenierung des Komponisten, die unter anderem den Rückgriff auf topische Episoden dieser Textgattung erweist, wie wir sie etwa aus Goethes Dichtung und Wahrheit kennen (Martina Wagner-Egelhaaf). Nachfolgend wird der Fokus auf die sozialgeschichtlichen Hintergründe der Oratorientheorie und -pflege, wie sie sich aus zeitgenössischen Texten in der musikalischen Presse ergeben, gewendet (Volker Kalisch). Anschließend wird das für Spohr als Dirigenten und Komponisten bedeutende Musikfestwesen zunächst mschr., Columbia University 1988. Darin v. a. das Kapitel „The strength of tradition: Louis Spohr’s collaborations with Friedrich Rochlitz“ (S. 113 – 154). 25 Vgl. Gerald Kilian, Studien zu Louis Spohr (= Wissenschaftliche Beiträge Karlsruhe, 16), Karlsruhe 1986. 26 Vgl. etwa Wolfram Steinbeck, „Eine edlere Apokalypse. Zu Spohrs Oratorium ,Die letzten Dinge‘“, in: Apokalypse. Symposion 1999 (= Studien zu Franz Schmidt, 13), hrsg. von Carmen Ottner, Wien/München 2001, S. 94 – 107. 27 Vgl. exemplarisch Ernst Rychnovsky, „Ludwig Spohr und Friedrich Rochlitz: Ihre Beziehungen nach ungedruckten Briefen“, in: Sammelbände der Internationalen Musikgesellschaft 5 (1903/1904), S. 253 – 313; Rebekka Sandmeier, „Oratorium im Zeichen des Weltendes – Friedrich Schneider und Louis Spohr“, in: Jahrbuch des Staatlichen Instituts für Musikforschung Preußischer Kulturbesitz (2010), S. 213 – 234.
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allgemein hinsichtlich seiner Bedeutung für das bürgerliche Musikwesen sowie für Spohrs Oratorienkomposition (Eva Verena Schmid) und schließlich mit Perspektive auf die bedeutenden Musikfeste im Rheinland und der dortigen Aufführungen beleuchtet (Klaus Wolfgang Niemöller). Die Darstellung der verlegerischen Ambitionen und merkantilen Erwägungen, die mit der Publikation der Musiken einhergingen, schließt den ersten allgemeinen Kontext ab (Peter Schmitz). In den nachfolgenden drei Sektionen werden die einzelnen Oratorien im Dreischritt von Kontext – Text – Musik betrachtet, wobei die Studien zu den beiden Apokalypse-Oratorien zusammengefasst sind, da sich sowohl die Entstehungskontexte als auch die Textgrundlagen gewinnbringender vergleichend betrachten lassen. Der Abschnitt über Das jüngste Gericht und Die letzten Dinge beginnt mit zwei einordnenden Texten: Während zunächst die politik- und geistesgeschichtlichen Hintergründe von Napol¦omanie und Endzeiterwartung im frühen 19. Jahrhundert, als Folie vor deren Hintergrund in verschiedener Form eine Auseinandersetzung mit der Apokalypse stattgefunden hat, vorgestellt werden (Kirstin Buchinger), erfolgt darauf die gattungsgeschichtliche Kontextualisierung mit Blick auf die Apokalypse-Oratorien anderer Komponisten (Rebekka Sandmeier). Die anschließende vergleichende Analyse der Libretti zu Spohrs ersten beiden Gattungsbeiträgen erfolgt aus bibelwissenschaftlicher Sicht und mit Blick auf die in den Texten aufscheinenden theologischen Positionen (Rüdiger Schmitt). Zwei analytische Studien zu verschiedenen Aspekten der musikalischen Faktur von Das jüngste Gericht (Andreas Jacob) und Die letzten Dinge (Daniel Glowotz) schließen diesen zweiten Teil des Bandes ab. Dabei werden sowohl die Fugengestaltung als auch die Beziehung des ersten Oratoriums zu Spohrs Faust-Oper untersucht, und damit Fragen nach dem seinerzeit ,relativ neuen Topos‘ der Originalität berührt, als auch die kompositorische Implementierung von stilistischen Elementen älterer Kirchenmusik herausgearbeitet, die wiederum wesentlich für eine Einordnung des Spohr’schen Oratorienstils ist. Im Zusammenhang von Des Heilands letzte Stunden werden zunächst Fragen der Einordnung des Spohr’schen Werkes in die Tradition der Passionsoratorien und dessen Verhältnis zur Oratorientheorie um 1800 behandelt (Jürgen Heidrich). Sodann folgt eine Untersuchung des aus der Feder des Theologen Friedrich Rochlitz stammenden Librettos hinsichtlich der Verarbeitung der kanonischen Passionstexte, seines theologischen Profils sowie antijüdischer Akzente (Hermut Löhr). Den Fokus auf die formale Konzeption und die Frage, wie diese durch die Verbindung der einzelnen Nummern erreicht wird, sowie die harmonische Disposition lenkt der folgende musikanalytische Beitrag (Markus Böggemann). Auf der Basis zahlreicher bisher nicht berücksichtigter Rezensionen in der englischen Presse wird anschließend die Rezeption in Großbritannien betrachtet und diskutiert, welchen Einfluss religiöse Vorbe-
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halte auf die Pflege gerade dieses Werkes hatten (Karl Traugott Goldbach). Mit der Beziehung von Spohrs letztem Oratorium, Der Fall Babylons, zu älteren Werken über das gleiche Sujet setzt sich der erste Beitrag des vierten Teils auseinander (Dominik Höink). Dabei steht das englische Originallibretto Edward Taylors im Zentrum, das weit weniger an das Textbuch zum berühmten Belshazzar-Oratorium Georg Friedrich Händels angelehnt ist, sondern vielmehr Anleihen bei englischen Belsazar-Dichtungen genommen hat. Die deutsche Übersetzung des Librettos durch Friedrich Oetker, und damit die Grundlage für Spohrs Musik, wird sodann aus bibelwissenschaftlicher Perspektive bezüglich der Komposition des Textbuchs aus verschiedenen biblischen wie nicht-biblischen Vorlagen untersucht (Johannes Schnocks). Dabei wird nicht zuletzt deutlich, wie die verschiedenen Textfassungen, ob englisch oder deutsch, andere Akzente setzen. Die kompositorische Ausgestaltung der konkurrierenden Gruppen von Juden und Persern, deren Entwicklung im Verlaufe des Stücks sowie die Wandlungen, die der Protagonist durchläuft, geraten schließlich im letzten Beitrag aus musikanalytischer Perspektive in den Blick (Michael Werthmann). In der Gesamtschau der Beiträge mag sich damit ein weitaus detaillierteres Bild vom Oratorienschaffen Spohrs und seiner musikhistorischen Bedeutung ergeben, das nicht zuletzt manche Fehleinschätzung der älteren Gattungsgeschichtsschreibung korrigieren könnte.
Kontexte
Clive Brown
Spohr’s operas and oratorios: Two sides of the same coin
For some four decades before his death in 1859 Louis Spohr enjoyed the reputation of ‘one already and surely canonized to immortality’,1 which rested on his influential achievements in all the major branches of composition from operas, oratorios, symphonies and concertos to chamber music and Lieder. The writer of an obituary in the Neue Berliner Musikzeitung characterised Spohr as ‘one of the greatest tone-poets of all time’, and among other justifications for this opinion, drew attention to the importance of his oratorios and operas, between which he evidently saw a direct relationship. “The impression created by Spohr’s major works, such as his oratorios, among which we would like to award the palm to Die letzten Dinge, is a serious and powerful one. An equally forceful, reverent and morally elevated spirit wafts through his operas.”2
Although Spohr’s early successes were primarily as a violinist, he showed an interest in composition from a young age and one of his first known attempts indicates that he had already developed an interest in dramatic music. As a child of about twelve years old he attempted to write a Singspiel (now lost) based on a story from Christian Felix Weisse’s Der Kinderfreund, although according to his own account he only completed an overture, chorus, and aria. To judge by his earliest surviving compositions (a set of three violin duets from 1796, WoO. 21) the musical style of the Singspiel will probably have reflected an awareness of music by such composers as Hiller, Dittersdorf, Weigl and Mozart. His growing skills as a violinist, however, soon introduced him to other musical idioms. He was among the earliest German violinists wholeheartedly to espouse the practices and style of the Viotti school, and his writing for his own instrument combined the best features of the models that had most strongly influenced him, 1 The Musical World 18 (1843), p. 228. 2 Neue Berliner Musikzeitung 13 (1859), p. 346: “[stempelt ihn zu] einem der grössten Tondichter aller Zeiten”, “Der Eindruck, den Spohr’s grosse Werke, wie sein Oratorien, von denen wir den ‘letzten Dingen’ den Preis zugestehen möchten, hervorrufen, ist ein ernster und gewaltiger. Auch durch seine Opern weht ein eben so mächtiger, kirchlich-sittlicher Geist”.
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which included not only the violin music of Viotti and his disciples, especially Pierre Rode, but also the operas of Mozart and Cherubini, and even the chamber music of the young Beethoven, whose op. 18 string quartets Spohr championed in central and northern Germany very soon after their publication in 1801. Out of these diverse influences he forged a new and distinctive Romantic idiom, the individuality and expressive power of which was recognised in December 1804 by Friedrich Rochlitz, one of the leading critics of the day, who was later to provide the librettos for two of Spohr’s oratorios. After Spohr gave two concerts in Leipzig, at the second of which he repeated his D minor Violin Concerto by demand, Rochlitz wrote a glowing review that explicitly linked Spohr’s excellence and individuality as a violinist with his mastery as a composer. “His concertos belong with the most beautiful that exist, and in particular, we know of no violin concerto that can surpass the one in D minor either in respect of invention, soul, and charm, or in respect of seriousness and profundity. – His individuality inclines him mostly towards grandeur and soft, dreamy melancholy. So does his masterly playing. Mr Spohr can do everything: but through that he moves us most strongly.”3
The rapid growth of Spohr’s reputation therefore undoubtedly owed as much to his gifts as a composer as to his exceptionally polished and expressive violin playing and it seems clear that he had from an early stage set his sights firmly on gaining a reputation not merely as a virtuoso violinist who composed well, but as a composer who was also a virtuoso violinist. The success of Spohr’s 1804 concert tour and Rochlitz’s enthusiastic review seems to have led directly to his appointment as Konzertmeister at the cultured ducal court of Gotha in 1805, where he met and married Dorette Scheidler, a virtuoso harpist and pianist in 1806. Soon his compositions included not only violin concertos, and potpourris or variations for violin and strings, but also works for solo harp and for harp and violin. At the same time he began to widen his compositional repertoire with his first string quartets (op. 4, 1804 – 5) and, although Gotha did not possess an opera house, his first completed dramatic composition, a scena for soprano and orchestra (WoO 75, 1805). He seems quickly to have come to the conclusion that his reputation as a composer, independent from his activities as a violinist, might best be advanced by the success of ambitious large-scale works, particularly opera. Thus, in July 1806 he 3 Allgemeine musikalische Zeitung (AmZ) 7 (1805), col. 202: “Seine Konzerte gehören zu den schönsten, die nur vorhanden sind, und besonders wissen wir dem, aus D moll, durchaus kein Violinkonz. vorzuziehen – sowohl in Absicht auf Erfindung, Seele und Reiz, als auch in Absicht auf Strenge und Gründlichkeit. – Sein Individualität neigt ihn am meisten zum Grossen und in sanfter Wehmuth Schwärmenden. So ist nun auch sein herrliches Spiel. Hr. Spohr kann alles: aber durch jenes reisst er am meisten dahin”.
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wrote his first independent orchestral work, a concert overture in C minor (op. 12), and between October and December completed a one-act operetta, Die Prüfung (WoO 48) consisting of an overture and eight numbers, which was performed in the court concerts but never staged. In 1808 he followed this first modest operatic attempt with a three-act ‘Große Romantische Oper’ Alruna (WoO 49), which was put into rehearsal and given a public trial at the court opera house in nearby Weimar ; but Goethe’s dissatisfaction with the rhyming dialogue and Spohr’s own growing dissatisfaction with the music prevented its production. Two years later, however, in recognition of his increasing reputation, Spohr received a commission from the director of the Hamburg theatre, Friedrich Ludwig Schröder, to compose a three-act opera, Der Zweikampf mit der Geliebten, which was staged in 1811 with some success and published in vocal score; but it did not gain a long-term place in the operatic repertoire. During the next two years Spohr broadened his experience by composing his First Symphony (op. 20) in 1811 and his first oratorio, Das jüngste Gericht, in 1812. These were written for successive music festivals in Frankenhausen, which Spohr also directed. The symphony was an immediate success and was published the same year; the oratorio, however, in the composition of which he clearly drew upon his earlier operatic experience, failed to establish itself despite a number of performances in Leipzig, Prague, and Vienna during 1812 and 1813. In Leipzig it seems that the performance was well prepared and enthusiastically received. In Prague, however, a reviewer remarked that the oratorio had ‘not particularly pleased as a whole’, adding that ‘the excessive mass of difficulties, which were not entirely successfully overcome in the performance, and the very imperfect choral singing, probably contributed to diminishing its success.’4 Two performances in Vienna on 21 and 24 January 1813,5 given for the benefit of the ‘Musikalische Wittwen- und Weisen-Gesellschaft’ were more successful. It was announced in advance that ‘apart from the usual complement of an orchestra of 200 this would be increased to 300 musicians, among whom, out of respect for the composer and good will towards the Widows Society all the leading instrumental as well as vocal professors who are here will take part’.6 Reference to these performances was made in a report from Vienna, in which 4 AmZ 15 (1813), col. 55: “im Ganzen nicht vorzüglich gefallen […] Die über Gebühr gehäuften Schwierigkeiten, die bey der Aufführung nicht überall glücklich besiegt wurden, und der sehr unvollkommene Chorgesang, wirkten wohl auch mit zur Verminderung des Erfolges”. 5 Allgemeines Intelligenzblatt zur Österreichisch-Kaiserlichen priviligierten Wiener-Zeitung No. 19, 13 February 1813. 6 Allgemeines Intelligenzblatt zur Österreichisch-Kaiserlichen priviligierten Wiener-Zeitung No. 5, 12 January 1813: “nebst ihrer gewöhnlichen Besetzung des Orchesters von 200, dasselbe bis 300 Tonkünstler vermehret; wobey aus Achtung für den Compositeur, und aus Wollwollen für die Wittwen-Societät, alle hiesigen ersten Professores, sowohl des Instrumentale, als auch der Singkunst mitwerken werden”.
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the choruses and fugues were characterised as having ‘true artistic worth’, but the critic considered that ‘the arias, duets, and individual vocal passages, however, depart too much from the true oratorio style; they repeat the words too often and lean more or less towards the Italian opera style. Some all too obvious reminiscences from [Haydn’s] Die Schöpfung and [Mozart’s] Die Zauberflöte diminish the worth of the piece with regard to originality. The chorus of devils at the end of Part I, graphically portrayed, would be appropriate in a ballet.’ the reviewer noted that the performances were poorly attended, the hall being barely half full for the first, with scarcely two hundred listeners for the second and, despite its operatic and dramatic aspects, he suggested that ‘a work of this kind should probably not have been performed in the carnival season in such a pleasure-loving city’.7 In fact, in its overall structure and scale Das jüngste Gericht corresponds broadly with Spohr’s two preceding operas, all three works being in three acts or parts, with almost the same number of individual pieces (fifteen in Alruna and sixteen in Der Zweikampf and Das jüngste Gericht). In the operas, however, the narrative is delivered primarily in dialogue, including one section of melodrama in Alruna; there is no recitativo secco, and recitativo accompagnato is used only for the dramatic highlights: in Alruna a short accompanied recitative (no. 12) for Alruna and her servant Tio, and the introduction to the prima donna Bertha’s Act 3 aria (no. 13), and in Der Zweikampf the introductions to three arias for the principal characters (nos. 4, 12, and 13), and a section of the second-act Finale (no. 9). In the oratorio, where dialogue was not used, the narrative is less intricate and is conveyed through a number of secco recitatives (accompanied by fortepiano)8 together with six accompagnato recitatives for the principal protagonists (Jesus, Maria, and Satan), the greater number of accompagnato recitatives reflecting the serious nature of the oratorio. The oratorio also differs from the operas in its greater use of chorus and, structurally, in lacking a fullydeveloped orchestral overture and Finales. The more prominent role of the chorus in the oratorio, however, functions to a considerable extent as a proxy for the missing structural features. The orchestral Introduction and first chorus are effectively a single number that resembles an 7 AmZ 15 (1813), cols. 116 – 117: “Die Arien, Duetten, und einzelne Gesangstellen weichen aber zu sehr von dem ächten Styl eines Oratortiums ab, und neigen sich mehr oder weniger zum italienischen Opernstyl. Einige gar zu auffallende Reminiscenzen, aus der Schöpfung und vorzüglich aus der Zauberflöte, vermindern den Werth des Werkes in Hinsicht der Originalität. Der Chor der Teufel am Ende des ersten Theils würde in einem Balette, anschaulich dargestellt, an seinem Platze sein. […] Ein Werk dieser Art sollte wol [sic] aber auch in einer so lebenslustigen Stadt nicht in der Carnivalzeit ausgefürt werden”. 8 See the original performance material in the Universitätsbibliothek, Kassel (http://orka.bibliothek.uni-kassel.de/viewer/search/-/DEFAULT%3A(arnold)+OR+FULLTEXT%3A(arnold)/1/-/ DOCSTRCT:manuscript/;jsessionid=4FFF0437AB2F4D21D199E76583AF460E).
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overture with a slow introduction; in the opening fugal Largo, the orchestra is joined at bar 37 by the Angels’ chorus (Chor der Engel) and, beginning at bar 57, an Allegro vivace completes the 286 bar number (the overtures in Die Prüfung, Alruna, and Der Zweikampf, each with a slow introduction are 359, 183, and 233 bars long respectively). Furthermore, the melodic material of the first choral entry, ‘Wehe! Wehe! Wehe!’, foreshadows the opening of the final number in Part I, thus providing the kind of dramatic link between overture and drama that Spohr was to explore much more intensively in his next opera Faust. The concluding numbers of the three parts of the oratorio assume the functions if not the forms of operatic Finales. The final section of Part I of Das jüngste Gericht has an obvious dramatic content; following a 207-bar Chor der Engel, consisting of an Adagio and an Allegro con fuoco ending with a fugue, the next section, for Satan and his demons, opens with a fifteen-bar orchestral introduction, beginning on a dissonance with the ‘Wehe!’ motif from the first chorus of the oratorio, which leads into a recitative accompagnato ‘Vollbracht ist nun der Kampf um die Herrschaft der Welt’ (The battle for the lordship of the world has been accomplished), preceding a 285-bar solo with the chorus of demons. The concluding number of Part II is a ‘Wechselchor der Engel und Seligen’ (Alternating chorus of angels and redeemed souls), which consists of an 86-bar Adagio dialogue between the angels and the redeemed souls and a 126-bar Allegro ma non troppo for the united choirs, which ends with a fugue. The whole of Part Three, which comprises an extended opening chorus (C minor), an accompagnato recitative for Maria, a Quartet for Maria and three archangels (G major), and the final obligatory fugal chorus (C major), functions almost like a Mozartian operatic Finale. The initial chorus in particular is characterised by the overtly operatic device of contrasting the lamenting souls of the damned with the rejoicing of the angels and the redeemed. In the Leipzig performance, Spohr ensured that this dramatic stroke was enhanced by an effective piece of staging. A reviewer (probably Johann Georg Eck) reported: “The most effective things were the first entry of the Chorus with Woe! Woe! And, in Part Three, the chorus of the damned, which Mr Spohr had placed in a closed box over the orchestra. The repeat of this chorus several times with its thundering timpani during the joyful song of the blessed, and together with a cheerful orchestral interlude, was extraordinarily astonishing and gripping, and the public expressed its thanks loudly at the end.”9
9 Morgenblatt für gebildete Stände 6 (12. Dezember 1812), p. 1192: “Am meisten und sichersten wirkte der erste Eintritt des Chores mit Wehe! Wehe! und im dritten Theile der Chor der Verdammten, den Hr. Spohr in einer verschlossenen Loge über dem Orchester placirt hatte. Das mehrmalige Wiederkehren dieses Chores mit seinem Pauken-Donner während dem Freuden-Gesange der Seligen, und zu einem fröhlichen Zwischenspiele des Orchesters,
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A review of the first Vienna performance that appeared in the Wiener Zeitung demonstrates clearly that the critic perceived direct connections between the music of the oratorio and its operatic models. In his lengthy article, he outlined his views of the style appropriate to oratorio, asserting that it required ‘the greatest elevation and dignity, perfect unity in the genre, with the greatest possible avoidance of all heterogeneous elements; therefore virile, powerful, serious, dignified content with well-calculated employment of the chamber style and complete elimination of the style that is proper to the theatre.’10 Although he praised many things, he clearly considered that the work contained numerous inappropriate theatrical elements. He objected to ‘Italian roulades’ in Jesus’s aria ‘Lieblich schwebt ich einst hernieder’, complained that the following number, ‘Doch was du gelitten’, for Gabriel with chorus was ‘in the manner of an Italian bravoura Finale, therefore not a serious oratorio composition’; and considered that the Allegro assai in the next piece, ‘Deutlich sprach der Herr zum Menschen’, a Terzetto for Jesus, Gabriel and Raphael ‘also appeared too operatic to us’.11 Referring to the final number of Part I, Satan’s ‘Doch vor allem mir süß’, he praised the opening section, but remarked: “From here, however, we are of the opinion that the music again takes a theatrical direction, which continues throughout the aria and chorus of demons. Notwithstanding the effectiveness and originality of these pieces […] one cannot escape the impression of a stage production in which the infernal spirits dance in circles with fire brands.”12
He was, nevertheless, particularly impressed by the opening piece in Part II, which he described as ‘an Allegro in F major (common time) of masterly construction, which announces the arrival of the severe Last Judgment in all its grandeur.’13 Ironically, this music had been taken directly from Spohr’s unpublished opera Alruna, where it functions as the Introduction to Act II, de-
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überraschte und ergriff ungemein, und laut sprach das Publikum seinen Dank am Schlusse aus”. Wiener allgemeine musikalische Zeitung 1 (1813), cols. 67 – 68: “die grösste Erhabenheit und Würde, volkommene Einheit in der Gattung, mit möglichsten Vermeiden aller heterogenen Theile; also männlichen, kräftigen, strengen, würdevollen Satz mit wohlberechneter Anwendung des Kammer- und völliger Ausschliesung des eigentlichen Theater-Styls”. Ibid, col. 71: “italienischen Rouladen” – “in der Manier der italienischen Bravour Finalen, also kein strenges Oratorien Stück’; ‘schien uns ebenfalls zu opernmässig”. Ibid, col. 72: “Von hier nimmt jedoch unsere [sic] Meinung nach, die Musik wieder eine mehr theatralische Richtung, welche sie während der Aria und des Chor der Teufel durchaus beibehält. So effektvoll und orignell diese Stücke […] gearbeitet sind, so kann man sich dabei des Gedankens einer Vorstellung auf den Brettern, wo die unterirrdischen Geister mit Feuerbranden im Kreise tanzen, nicht entschlagen”. Ibid, col. 72: “ein meisterhaft gearbeitetes Allegro in F dur (ganzer T[akt].) welches die Ankunft des strengen Weltgerichts in seiner ganzen Grösse verkundigt”.
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picting a storm in an enchanted forest (Einleitung: ‘Welch eine Nacht! voll Sturm und Graus’ / Introduction: ‘What a night! full of storm and dread’). With Maria’s Part II aria ‘Mit Wonn’ erfüllt mir das Herze (With joy my heart is filled), however, the reviewer again detected operatic influence, complaining that the Allegro section was ‘too much in the genre of an Italian Rondo and therefore not dignified enough.’14 And regarding the Duet for Jesus and Maria ‘Vor unser Herren Angesicht’ (In the presence of our Lord) he perceived an operatic plagiarism, complaining about ‘the passage so completely taken, note for note, from the Introduction in Die Zauberflöte […] with which this duet is interlaced and also concluded’.15 In Part Three the reviewer also remarked that the cries of the damned in the opening chorus were ‘somewhat theatrical’, although there is no suggestion that Spohr staged them in Vienna as he had in Leipzig. In a letter to the editor of the Wiener allgemeine musikalische Zeitung Spohr defended himself from some of this criticism, not with denial of the operatic elements, but by claiming that in Die Schöpfung, which the reviewer had held up as a model of modern oratorio composition, “he will also find concert and opera passages in more or less all the arias, and as far as a ‘galant’ style is concerned I cite the answering motif from the last duet in Die Schöpfung after the words ‘mit dir, mit dir geniess’ ich jede Freude’. In any case both works [his and Haydn’s] are intended not for the church but for the concert hall and the solo singers would not thank us if we had written them arias in the style of Handel.”16
He admitted, however, the plagiarism from Die Zauberflöte, but excused himself on the grounds that Gotha had no theatre and, having not heard Mozart’s opera for six years, he had not been able to separate his own ideas from Mozart’s. In fact, Spohr’s treatment of the solo voices throughout the oratorio seems closer to Mozart’s and his own operatic style than to Haydn’s oratorio (which he had directed at the Frankenhausen Music Festival in 1810). Several numbers have the typical tripartite form – a recitativo accompagnato followed by the characteristic Italianate slow-fast cantabile-cabaletta – employed for a principal character’s most important solo numbers in an opera, such as the Queen of Night’s first aria, ‘O zittre nicht’, in Mozart’s Die Zauberflöte. Each of Spohr’s 14 Ibid, col. 73: “zu sehr in der Gattung eines italienischen Rondo’s, und daher zu wenig würdig”. 15 Ibid, col. 73: “Die so ganz Note zu Note aus der Introduktion der Zauberflöte genommene Stelle, […] womit jenes Duett verwebt ist, und auch geschlossen wird”. 16 Ibid, col. 88: “wird er auch in allen Arien mehr oder weniger Conzert- und Opern-Passagen finden, und was das Galante des Styls anbetrifft, so zitire ich nur das Nachspiel aus dem letzten Duette in der Schöpfung nach den Worten ‘mit dir, mit dir geniess’ ich jede Freude’. Indessen sind beide Werke nicht für die Kirche, sondern für den Conzertsaal bestimmt, und die Solosänger würden es uns wenig Dank wissen, wenn wir ihnen Arien im Style der Händel’schen geschrieben hätten”.
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first three operas has a single aria of this type, given to the principal soprano: in Die Prüfung Natalie’s ‘Er hat gesiegt!’ (no. 6), in Alruna Bertha’s ‘Ich war vereint’ (no. 13) and in Der Zweikampf Mathilda’s ‘Ich bin allein’ (no. 4). In Das jüngste Gericht, however, perhaps reflecting the unremittingly serious nature of the subject, this tripartite form predominates not just for two solo arias, one each for Maria and Jesus, but also, though preceded by secco recitative, for a duet between Maria and Jesus, and a terzetto for Jesus, Gabriel, and Raphael. The slow-fast structure is also used for a chorus (Wechselchor der Engel und Seligen) following directly from an accompagnato recitative for Jesus. Retrospectively, Spohr acknowledged that there was a mismatch between the serious style of many of the choral numbers and the more operatic treatment of the solo sections, which he admitted were ‘written wholly in the cantata style of that time and over-laden with bravura passages and coloratura.’17 And he confessed that he later thought of rewriting these passages. For a while, however, he seems to have felt that the work had a viable future, for shortly after the Vienna performances he advertised manuscript copies of the score for sale to ‘all friends of music, musical establishments, and concert societies, who have large forces at their command for performing this work.’18 But there is no evidence that any copies were sold or that the piece was ever performed again. It would be more than ten years, after the composition of another four operas, before Spohr again turned his attention to oratorio; but the spirit of Das jüngste Gericht seems to hover over the first of the four operas, Faust, on which he began work a few months after the Vienna performances of the oratorio. In Faust (where the coloratura style of the day invited no criticism except perhaps for its technical difficulty) thematic repetition between numbers – a feature that had appeared sporadically in the earlier operas and the oratorios – assumed much greater significance; in fact this became one of the principal building blocks of the opera, with musical motifs that are introduced in the programmatic overture recurring symbolically throughout the drama.19 As Weber remarked in a notice 17 Louis Spohr’s Selbstbiographie, 2 vol., Kassel/Göttingen 1860 – 1861, vol. 1, p. 170: “ganz in dem damaligen Cantatenstyl geschrieben und mit Bravoursätzen und Coloraturen überladen”. 18 AmZ 15 (1813), Intelligenz-Blatt zur AmZ No. IV März 1813. Nachricht: “Da die Zeitumstände zu ungüngstig sind, um mein Oratorium “Das jüngste Gericht” durch den Stich bekannt zu machen, so biete ich allen Musikfreunden, Kapellen und Concertgesellschaften, denen zur Aufführung dieses Werks ein grosses Personale zu Gebothe steht, einen correkte Abschrift der Partitur für den Preis von dreyssig Ducaten (inclusive der Kopialgebühren) an. Doch behalte ich mir das Verkaufsrecht vor, und es muss daher ein jeder Käufer einen Revers ausstellen, in welchem er verspricht, dass von seinem Exemplar keine Abschrift weiter gemacht und verbreitet werde. Wien, am 20sten März 1813. Louis Spohr, Kapellmeister und erster Orchester-Director des Theaters an der Wien”. 19 See Clive Brown, Louis Spohr. A critical biography, Cambridge et al. 1984, pp. 76 – 85; Louis Spohr. Eine kritische Biographie, Kassel 2009, p. 93 – 103.
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that preceded his Prague production of Faust in 1816: ‘A few melodies, felicitously and aptly devised, weave like delicate threads through the whole and hold it together artistically.’20 Among these threads is a motif associated with the destructive influence of the dark powers, which corresponds with a figure from Satan’s aria at the end of Part I of Das jüngste Gericht, where it is introduced at the words ‘Nun zerstören die Welt’ (Now destroy the world).21 Spohr also recalled this motif in his last opera, Die Kreutzfahrer, where it is associated with evil arising from human actions.22 Another parallel between the oratorio and the operas may be reflected in Spohr’s decision to begin his next opera Zemire und Azor (1818 – 19) not with a self-contained overture, but with one that leads directly into a chorus of invisible spirits. Although there are different proportions in the Introduzione to the oratorio, where the chorus enters after thirtysix bars of Largo, and No. 1 in the opera, Overtura ed Introduzione, where the chorus does not enter until bar 67 of the Allegro that follows a forty-four-bar Larghetto, the effect of the unexpected entry of the off-stage chorus has a similar impact, which also recalls the Leipzig ‘staging’ of the chorus of damned souls in Part Three of the oratorio. In fact, Zemire und Azor indicates that the flow of influence between Spohr’s operas and oratorios was not all one way, for in No. 4 of the opera, Spohr seems to draw directly upon experience gained in composing his oratorio, for which, according to his own account, he first taught himself to write fugues, using Marpurg’s Abhandlung von der Fuge.23 It is not only that the number begins, after six bars of orchestral introduction, with cries of ‘Wehe!’ from the chorus of invisible spirits, similar to those in the Introduzione in Das jüngste Gericht, but that these lead into an oratorio-like choral fugue. In his later operas, all but one of which (Der Berggeist) include substantial religious elements, he increasingly utilised styles more normally associated with sacred music. This cross-fertilization did not go unnoticed by contemporaries. One, referring to his next and most enduringly successful opera, Jessonda, observed: “What, however, establishes this opera as a model of German art is its correct declamation, excellent dramatic treatment, fine balance in its use of the orchestra, and 20 Carl Maria von Weber : Writings on Music, trans. Martin Cooper, ed. John Warrack, Cambridge 1981, p. 193. Originally published in the Königliche kaiserliche priviligierte Prager Zeitung, No. 245, 1 September 1816: “Glücklich und richtig berechnet gehen einige Melodien wie leise Fäden durch das Ganze, und halten es geistig zusammen.” 21 This passage in Spohr’s autograph of Das jüngste Gericht can be seen at: http://orka.bibliothek.uni-kassel.de/viewer/image/1361537517808/175/#topDocAnchor. For the motif ’s use in Faust see Brown, Spohr (1984), p. 82 f, and Brown, Spohr (2009), S. 99 f . See also the analysis of the ‘Partie des Satans’ in Andreas Jacob’s contribution to this publication. 22 See Wolfram Boder, Die Kasseler Opern Louis Spohrs, Kassel 2007, Textband, pp. 272 – 282. 23 Louis Spohr’s Selbstbiographie, vol. 1, p. 169.
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technical perfection; indeed the contrapuntal oratorio style is often astonishingly conducive to the dramatic expression.”24
And Spohr’s pupil and friend, Moritz Hauptmann remarked in connection with Spohr’s third oratorio Des Heilands letzte Stunden that the church music and oratorio of the day was ‘only a modification of stage music just as the stage music of the Germans is only a modification of non-theatrical or merely instrumental music, and therefore ineffective on the stage.’25 Zemire und Azor was composed during the two years Spohr spent as director of the opera in Frankfurt. His experience there and as orchestra director at the Theater an der Wien in Vienna from 1813 – 15 had given him his first extended experience of working in a theatre since his early days as a violinist in Braunschweig, and it undoubtedly stimulated his thinking about the future of German opera, encouraging him to strike out boldly and innovatively in his Jessonda, composed between April and December 1822. He articulated his intentions in a challenging ‘Aufruf an deutscher Komponisten’ (Appeal to German Composers) contributed to the Leipzig Allgemeine musikalische Zeitung in 1823, shortly before the premiere of the new opera. The article, in addition to laying out the vision for German opera that Spohr believed he had embodied in Jessonda, made clear his conviction that (notwithstanding Beethoven’s example) success in opera was the surest means of establishing a composer’s reputation. He asserted: “Neither in the church nor in the concert hall does the composer have such a mass of resources for creating effects at his disposal. Many composers who did not have the talent to create something substantial for church and concert already knew how to use these resources, even without inventiveness of their own, to achieve great results. The charm, the scenic display, the contribution of almost all arts: these all support him. If in addition he has real talent, he is here offered an unparalleled opportunity to portray almost all human passions; and what renown, what appreciation when he succeeds with an opera! He may produce the most splendid things for the church and the concert hall, yet will only be known to a small portion of the public; but should he succeed in the theatre his name would be on everyone’s lips. Therefore arise you German composers! Let us act; the time has come where our efforts can be crowned with success.”26 24 Neue Berliner Musikzeitung 13 (1859), p. 346: “Was aber diese Oper als Muster deutscher Kunst hinstellt, ist die richtige Deklamation, treffliche dramatische Behandlung, richtiges Mass in der Orchesterverwendung und reiner Satz, ja, der gebundene Oratorienstyl ist dem dramatischen Ausdruck oft überraschend förderlich.” 25 Moritz Hauptmann, Letters of a Leipzig Cantor, trans. and arranged by A. D. Coleridge, London 1892, vol. I, p. 170. 26 AmZ 25 (1823), col. 461: “Weder in der Kirche, noch im Concertsaale bietet sich dem Komponisten eine solche Masse materieller Effektmittel dar. Schon mancher Theaterkomponist, dessen Talent nicht zureichte, etwas gehaltvolles für Kirche und Concert zu schaffen, wusste durch geschickte Benutzung jener Effektmittel, auch ohne eigene Erfindung, grosse
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For the time being therefore, opera remained the primary focus of Spohr’s ambition, and in Jessonda and Der Berggeist (1824), he made a number of important breaks from his earlier stage works. In both these operas he abandoned spoken dialogue in favour of continuous music; this enabled him to move smoothly from one scene to another without the inevitable separation of musical numbers that was entailed by the use of dialogue, which had hitherto been almost universal in German opera. Many of the numbers in Jessonda are linked in this way. There are still a few solo numbers with endings that might have encouraged the audience to applaud, although even in those cases the musical structure is clearly conceived to allow for continuous performance. Some numbers are cast in unconventional forms that strengthen a sense of unpredictability and therefore of continuity. Jessonda’s first-act aria ‘Die ihr Fühlende betrübet’ (No. 7), for example is preceded by a recitative for Jessonda and Amazili, accompanied only by strings; this leads into a recitative for Jessonda alone, accompanied by woodwind, horns, and strings, which begins in e minor (6/8) and contains short passages resembling secco recitative with string accompaniment, alternating with arioso sections in 6/8, in which the wind instruments participate. This flows seamlessly into a rapid Agitato in G minor (alla breve [cut C], 118 bars), which, reversing the usual procedure for a cantabilecabaletta aria, leads into a concluding Larghetto in A flat major (3/4, 33 bars); the quiet ending of this section is followed without a break by a short passage of recitative for Jessonda and Amazili, with offstage female chorus, and this in turn leads directly into the Finale of Act I. In Act II there is a succession of arias and duets for the principal characters, two of which (numbers 12 and 14) end with the kinds of cadences that might invite applause, though here too Spohr clearly envisaged no interruption to the dramatic action. In numbers 17 to 20 he created an extended, musically continuous scene complex encompassing an Aria for Nadori, a duet for Nadori and Amazili and an aria for Amazili, which leads uninterruptedly into the Act II Finale. The construction of Act III allows no breaks, for even at the scene change from the Portuguese camp to the interior of the town (nos. 25 – 6), the music continues without a break by means of a sustained note from the first horn. In Der Berggeist Spohr went even further with the creation of scene comWirkung hervorzubringen. Der Reiz der scenischen Darstellung, das Zusammenwirken fast aller Künste, alles unterstützt ihn. Hat er nun überdiess wirkliches Talent, so bietet sich ihm hier wie nirgends Gelegenheit zum Ausmalen fast aller menschlicher Leidenschaften dar ; und welcher Ruhm, welche Anerkennung, wenn es ihm mit einer Oper geglückt ist! Er liefere das Herrlichste für die Kirche und den Concertsaal, und er wird doch nur von einem kleinen Theile des Publikums gekannt seyn; glückt es ihm aber im Theater, so tönt sein Name bald von Aller Lippen. Daher auf! ihr Deutschen Komponisten, lasst uns thätig seyn; es ist der Zeitpunkt da, wo auch unser Bemühen, durch günstigen Erfolg gekrönt werden kann”.
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plexes, and increasingly blurred the distinction between formal musical numbers and connecting narrative by using a fuller orchestra for the recitative sections and giving the vocal lines a more arioso quality. His intention to create greater dramatic continuity was made explicit by the abandonment of numbers in favour of scenes; the first act is divided into seven, the second into eight, and the third into seven scenes, which flow into one another without distinct breaks in the music. He did not employ the term Finale for the concluding scenes of the acts, since the whole of each act functioned like a large-scale Finale. Also, in the quest for dramatic truthfulness, he persuaded his librettist, Georg Döring, to dispense with the convention of rhyming verse. A reviewer of the Kassel premiÀre considered this a benefit: ‘because rhyme often induces highly unmusical longueurs, thus making the expression of feelings and situations unclear and confused’.27 These procedures were also reflected in his oratorio Die letzten Dinge, begun in October 1825 and finished the following February. Spohr’s decision to compose an oratorio at that stage, however, did not arise directly from a predetermined plan to extend the range of his musical activity, but from the offer of an oratorio text from Friedrich Rochlitz, which appears quickly to have kindled Spohr’s enthusiasm. He seems to have realised immediately that this proposition answered both the needs of his musical instincts and his ambitions for the furtherance of his reputation. Rochlitz initially outlined his idea in a letter of 2 July, in which he assured Spohr that he was “absolutely and definitely the first to whom I have mentioned this whole thing: you will certainly be the last, even if you do not undertake it; for although I know several who would quickly jump at the chance and who could set all possible voices and instruments into motion, I know no one, apart from you, who could effectively enter into the idea so sympathetically and bring to its execution everything that is necessary.”28
Rochlitz’s suggestions for the musical treatment of the oratorio seem almost a reflection of Spohr’s own inclinations; he mentioned that it should be
27 AmZ 27 (1825), col. 253: “weil der Reim oft höchst unmusikalische Längen veranlasst, hierdurch den Ausdruck der Gefühle und der Situationen unklar macht und verwirrt”. 28 Ernst Rychnowsky, “Louis Spohr und Friedrich Rochlitz. Ihre Beziehungen nach ungedruckten Briefen”, in Sammelbände der Internationalen Musik-Gesellschaft 5 (1903/1904), pp. 253 – 313, p. 265: “Sie sind durchaus und zuverlässig der Erste, dem ich von der ganzen Sache sage: Sie werden wohl auch, selbst wenn Sie es nicht übernehmen, der Letzte seyn; denn, wiewohl ich Mehrere kenne, die schnell zur Hand seyn und alle erreichbaren Kehlen und Instrumente in Bewegung setzen würden, so kenne ich, außer Ihnen, doch Keinen, der wirklich in die Idee eingehen könnte, oder könnte er’s, dazu geneigt seyn und ihrer Ausführung alles das darbringen möchte, was dazu nöthig ist”.
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“in the most elevated church style, which is to say essentially in that of our ancestors, up to and including Handel, but at the same time using the technical and expressive means that have been so very much expanded and perfected since that time.”29
He also expressed his view that the text did not require arias or difficult solos, but only accompanied recitative, short ensembles and especially choruses. It seems possible that Spohr and Rochlitz had already engaged in general discussions about the proper nature of sacred music during one of Spohr’s visit’s to Leipzig in the previous four or five years, for Alexander Malibran’s biography of his master relates that Spohr’s experience of music in the royal chapel in Dresden in 1821 had profoundly affected him, reporting: “He was strongly enthralled by the imposing grandeur of the ritual; for here he found singing and ceremonial on the same magnificent and majestic level. The memory of this impressed itself so deeply on his imagination that it contributed greatly thereafter to giving his sacred compositions their truly religious stamp.”30
This influence had first been manifest in his remarkable Mass op. 54 for five soloists and five-part unaccompanied double chorus of 1821, and also in the opening funeral scene of Jessonda the following year; and it was to recur in later operas as well as oratorios. Another feature that is prominent in Die letzten Dinge is the extensive use of purely orchestral music. Once again drawing upon the evidence of Spohr’s operatic practice, Rochlitz reminded the composer that he could compensate for the relative shortness of the text by including substantial sections for orchestra alone, commenting: “You will easily see that I have left you scope for the most perfect orchestral music – which after all is the finest achievement of our music – to stand on its own (thus allowing the depiction of those innermost feelings that are beyond words) which has never been the case before in vocal music; and you, who along with Beethoven are without doubt the greatest master of this genre, will assuredly produce the most excellent effects with it.”31
29 Ibid.: “Im höchsten Kirchenstyl geschrieben werden müßte, d. h. Im Wesentlichen in dem, der Vorfahren, bis auf und mit Händel, doch allerdings mit Benutzung der seitdem so sehr vermehrten und vervollkommneten Kunst- und Ausdrucksmittel”. 30 Alexander Malibran, Louis Spohr, Frankfurt a. M. 1860, pp. 134 – 135: “Er wurde lebhaft ergriffen von der imposanten Größe des Cultes; denn hier fand er Gesang und Ceremoniell auf gleicher Höhe nebeneinander, was Pracht und Majestät anlangt. Die Erinnerung daran prägt sich seinem Geiste so tief ein, daß sie in der Folge mächtig dazu beitrug, seinen heiligen Compositionen ihren echt religiösen Stempel aufzudrücken”. 31 Rychnowsky, “Spohr und Rochlitz”, p. 266. Letter of 18 July1825: “Übrigens werden Sie leicht bemerken, daß ich dem, was doch eigentlich den Gipfel unserer Musik ausmacht – der vollendetsten Orchestermusik – Raum und Gelegenheit gegeben habe, so (auch für Ausmahlung der innigsten, den Worten nicht mehr zugänglichen Gefühle) selbständig aufzutreten, wie das in Gesangswerken noch nirgends geschehen ist; und Sie, mit Beethoven,
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In a letter to his close friend Wilhelm Speyer dated 3 August 1825, Spohr enclosed Rochlitz’s outline of his ideas for the oratorio and provided a list of his reasons for accepting the text: 1) In order to give my operas time to become more widely known, I ought not to write a new one straight away ; also I would tire and repeat myself if I continued with the same kind of composition. 2) I would probably have lost Rochlitz’s really excellent text if I had not immediately undertaken to set it to music. 3) I have the inclination and, I believe, the talent to write in the style outlined in the [enclosed] letter. 4) Finally, now, when there are so many vocal societies and festivals, it is also the right time to come forward with a work of this kind.32 In Die letzten Dinge, despite the lack of named characters in Rochlitz’s text, which most obviously differentiates this oratorio from opera as well as from Das jüngste Gericht, Spohr can clearly be seen to pursue the paths he was developing in Der Berggeist. As in that opera he did not divide the score into numbers (although numbers were added in later editions). The sections flow into one another with almost no ‘closed’ endings, creating continuity of action and ‘narrative’ through musical means; as in the operas, modulation and chromatic harmony were used in a highly distinctive manner to illustrate expressive nuances in the text, and repetition of musical material was employed to unify the work. Furthermore, as in Der Berggeist, the libretto lacked rhyming verse, since Rochlitz took it directly from the Bible rather than paraphrasing it as a poetic text. A connection between Die letzten Dinge and Spohr’s recent operas was clearly perceived by a writer in the Berliner allgemeine musikalische Zeitung who commented: “The overall impression was powerfully gripping, deeply moving, the most soulful tenderness and yet true German power. These are merely words for the wholly unindoch ganz gewiss der größte Meister dieser Gattung, werden zuverläßig die herrlichsten Wirkungen hervorbringen”. 32 Edward Speyer, Wilhelm Speyer der Liederkomponist, München 1925, p. 91: “1) Um meinen Opern Zeit zu lassen zu weiterer Verbreitung, darf ich nicht sogleich wieder eine neue schreiben; auch würde ich mich erschöpfen und wiederholen, wollte ich immer bei dembselben Genre von Komposition verweilen. 2) Das Rochlitzche sehr vorzügliche Gedicht würde ich, wenn ich mich nicht gleich bereit, es zu komponieren, erklärt hätte, warscheinlich verloren haben 3) habe ich Neigung, und wie ich glaube auch Talent, in dem in den Briefen näher bezeichneten Stile zu schreiben. 4) Endlich ist jetzt, wo so viele Gesangvereine und Musikfeste existieren, auch die rechte Zeit, mit einem solchen Werke hervorzutreten”.
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itiated. But those who properly understand Spohr’s earlier works, Jessonda and Der Berggeist, will already grasp what an abundance of melody and harmony, what vocality of treatment, what emotional seriousness, and finally what beauty of rich orchestration he has at his disposal for a subject such as this.”33
There is no doubt about the effect that the oratorio, so different from all other works in the genre at that time, made on its first audiences. The English musician Edward Holmes, writing in The Atlas in 1829, before the oratorio had been performed in England, obliquely acknowledged its kinship with Spohr’s dramatic music in recommending it to his compatriots with the comment: “We doubt whether […] any composer now living possesses the same knowledge of the secret affinities between matters of the external world and the invisible world of music or whether any can find utterance for human passion in music than Spohr.”34
When Die letzten Dinge was given at the Norwich Festival of 1830 (as The Last Judgment), it was hailed as ‘one of the greatest musical productions of the age’ and, once again with a reference to its dramatic qualities, was described as embodying ‘every passion, sentiment, and feeling, that the power of music is capable of expressing’.35 In some respects Der Berggeist and Die letzten Dinge marked Spohr’s furthest excursion in the direction of continuous music drama until his last opera Die Kreutzfahrer in 1845. For reasons that are not entirely clear, his next two operas and oratorios show a retrenchment towards more conventional forms. In the operas he reverted to spoken dialogue, rhyming verse, and more distinctly defined numbers with Pietro von Abano in 1827 and Der Alchymist in 1829 – 30, although he continued to weave the individual numbers into scene complexes. The inclusion of a bishop in the cast of Pietro von Abano and a clerical inquisitor in Der Alchymist may have been Spohr’s primary reason for employing dialogue rather than continuous music, since a clergyman singing on stage would offend the sensibilities of the time, especially in Catholic regions. Whether, had he continued to focus on opera during the 1830s, he would have again taken up the musical-dramatic path he had pursued during the first half of the 1820s remains uncertain. As it was, external circumstances intervened with the political upheavals of 1830 – 32 and the temporary closure of the Kassel opera. Already by 33 Berliner allgemeine musikalische Zeitung 3 (1826), p. 223: “Der Totaleindruck war mächtig ergreifend, tiefberürend, die seelenvollste Zartheit und doch eine wahrhaft deutsche Kraft. Wohl sind dies nur Worte für den völlig ungeweihten. Aber wer Spohrs früheren Werke, wer Jessonda und den Berggeist recht versteht, wird schon eher begreifen, welche Fülle von Melodie und Harmonie, welch Sangbarkeit der Behandlung, welcher gefühlvolle Ernst, endlich welche Schönheit der reichen Instrumentation bei einem Gegenstande , wie dieser, ihm zu Gebote stand”. 34 The Atlas 4 (1829), p. 749. 35 The Harmonicon 8 (1830), p. 466.
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the second half of the 1820s, the optimistic hopes of the first half of the decade, that a flourishing school of German opera might at last be established as a counterweight to Italian and French opera, seemed to have withered. Der Berggeist, after a success d’estime in Leipzig, had failed to hold the stage alongside Jessonda, and neither Pietro von Abano nor Der Alchymist entered the operatic repertoire outside Kassel. Among the activities that occupied Spohr’s attention during the theatre crisis were the composition of his first programme symphony Die Weihe der Töne (‘The Consecration of Sound’), of three Psalms for four-part double chorus, and a performance of Bach’s Matthäuspassion, first rehearsed in 1832 and finally performed in April 1833. In July of the same year, while passing through Leipzig, Spohr was offered a new oratorio text by Rochlitz, which he had originally published in 1806 under the title Das Ende des Gerechten. A setting by Johann Gottfried Schicht in 1806 had gained little notice outside Leipzig. Various misunderstandings between composer and librettist meant that in this case Rochlitz had no input into the musical shape of the work, and this led to considerable friction when, after the composition was finished, Rochlitz tried to persuade Spohr to incorporate extensive textual revisions and to recompose the part of Jesus for a male-voice chorus rather than a soloist.36 While Spohr was willing to make minor adjustments to incorporate some of Rochlitz’s improvements to the text, he refused to alter the part of Jesus, citing Bach’s Passion in his defence.37 In a letter to Rochlitz, Spohr justified his essentially operatic treatment of the oratorio with reference to the text as ‘a poem such as yours, in which the subject is very dramatically treated’.38 It is not surprising therefore that the oratorio is organised in a similar way to his operas from Jessonda to Der Alchymist, with extended, musically continuous scenes involving recitatives, arias, and choruses, some with solo sections; as in Der Berggeist and Die letzten Dinge Spohr did not divide the work into numbers, although these were added in later editions. The feature that distinguishes the oratorio most sharply from the operas is the number of choruses, although Pietro von Abano, with eight comes close. The choral sections in Des Heilands letzte Stunden, as the oratorio was re-titled before publication, are not, however, treated in the manner of a Greek chorus, commenting on the action; as in the operas they are participants in the drama throughout, either as disciples, Mary’s female companions, or priests and people. Unlike Mendelssohn in St Paul, Spohr did not follow Bach’s example by including chorales. 36 For further detail see Selected Works of Louis Spohr, vol. 5: Des Heilands letzte Stunden, with introduction by Clive Brown, New York 1987. 37 Rychnowsky, “Spohr und Rochlitz”, p. 289 letter of 24 January 1835. 38 Ibid.: “einem Gedicht wie das Ihrige, dessen Inhalt ganz dramatisch gehalten ist”.
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Contrapuntal writing, of course, plays a larger part in Des Heilands letzte Stunden than it does in the operas, but it does not dominate the work. In the overture, an extended, brooding fugue, Andante Grave with the time signature 2 (2/1), is overlaid three times by a motif in 3/2 that later appears towards the end of the oratorio. None of the choruses, however, is exclusively fugal. Passages of imitative counterpoint are integrated into three of the choruses ‘Der du mit Allgewahlt’, ‘Schmach! Schmach! Schmach!’, ‘Wir drücken dir die Augen zu’ and the female-voice Terzetto ‘Jesus, himmlische Liebe’, but the treatment in general is more freely contrapuntal than strictly fugal, and neither the concluding chorus of Part I, nor the final chorus of the oratorio, which like that of Pietro von Abano brings the work to a close over the body of the principal protagonist, contains a formal fugue. Spohr clearly drew musical inspiration from Bach at a number of points in the work.39 His contrapuntal treatment of the final chorus has clear affinities with the concluding chorus of Bach’s Passion, though it is not based on a chorale melody and has no thematic similarities. Sometimes he alludes to baroque practices and styles, as in Judas’s aria ‘Weh! Judas’, with its running bass, or in the first Chor der Priester und des Volkes ‘Arzt der Allen half ’ in Part II, with its Handelian figurations in the orchestra. At no point, however, is Spohr’s personal musical style subordinated to these influences and there are many points of comparison with his operatic writing, not least in his manner of matching his music to the emotional connotations of the words. Zelter’s comment to Goethe about Spohr’s Faust, after he had heard it in Berlin in 1829, might just as well apply to Des Heilands letzte Stunden: “Now as to the composer, who is clearly recognisable more as a tonal artist than as a musician or melodist, everything is carried out most artistically and, astonishingly enough, in the most minute detail, in order to overreach, to outbid the most alert ear. The finest Brabant laces are rough work in comparison. A copy of the libretto is almost indispensable to the performance, for the expression of the words in respect of high and low, light and dark, tense and lax, and so on, is worked out with hair’s-breadth precision like the honeycomb in a beehive.”40
In Des Heilands letzte Stunden, however, the employment of thematic repetition as a means of making musical connections between characters, ideas, or dramatic circumstances plays a much less prominent part than in Faust and Spohr’s 39 See Brown, Spohr (1984), p. 228ff, and Brown, Spohr (2009), p. 271 ff. 40 Briefwechsel zwischen Goethe und Zelter in den Jahren 1792 bis 1832, ed. by Friedrich Wilhelm Riemer, Berlin 1833 – 1834, vol. 5, p. 322: “Nun zur Arbeit des Komponisten der sich freilich mehr als Ton-Künstler denn als Musikus und Melodiste erkennen läßt. Alles ist mit größter Künstlichkeit, zum Erstaunen ins Kleinste geführt um das wachsamste Ohr zu überlisten zu überbieten. Die feinsten brabanter Blonden sind grobe Arbeit dagegen. Das Buch ist kaum bei der Vorstellung zu entbehren weil der Wortausdruck nach hoch und tief, hell und dunkel, fest und lose u.s.w. haarscharf, wie ein Bienenstock gearbeitet ist.”
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later operas; here it is evident only with regard to the reappearance of the thrice repeated theme in 3/2 that occurs in the overture, the signification of which is only revealed when it reappears just before the final chorus with the text: ‘Er war der Christ, der Sohn des Hochgelobten’ (He was the Christ, the son of the Almighty). Perhaps not surprisingly, Spohr’s quasi-operatic treatment of the passion story was found offensive by some religious groups, especially in England, where Die letzten Dinge had been, and remained so successful. Henry John Gauntlett complained: “The ‘Passione’ of Spohr is a dramatic representation, or rather misrepresentation of the apprehension trial, crucifixion, death, and burial of the Saviour. To such as consider the Messiah merely in the light of a benevolent regenerator of the morals of the degraded and captive Hebrews – a second Socrates, we presume the text of the poet may not prove unpalatable; and the language assigned to the male and female ‘friends of Jesus,’ may appear natural and proper. But we are inclined to believe the crucifixion of the God-Man (to use a quaint and expressive term of the olden divines) is far too solemn and awful a subject to be brought close to our senses in the fashion of a dramatic representation.”41
With his final oratorio Der Fall Babylons (1839 – 1840), Spohr tackled a biblical story that was less likely to raise objections on account of its subject matter. Its text, provided by his English friend Edward Taylor, was clearly modelled on those of Handel’s Old Testament oratorios, and just as in Handel’s Saul, Belshazzar, or Samson, or some nineteenth-century operas, such as Mehul’s Joseph or Poissl’s Athalia, it presented the composer with the libretto of a sacred drama. It is hardly surprising, therefore, that he again adopted an essentially operatic approach. The three opposed groups of Jews, Persians and Babylonians are each given their distinct musical characteristics, the music of the Jews is generally coloured by strings and mellow wind instruments, while the Persian army is symbolized by brighter-toned orchestration including the use of piccolo and side drum. Both these characteristics are employed in the overture together with thematic material that recurs in the body of the oratorio. In the music for the Babylonians, who first appear at the beginning of Part II, Spohr uses compound metres and dance-like figurations to suggest the effete nature of the Babylonian court, contrasting this with the squarer and more angular rhythms of the priests of Bel. The appearance of the writing on the wall is depicted by the unusual combination of piccolo and solo violin. After Daniel’s interpretation of the message, Spohr again evokes operatic convention, with an effect similar to ‘off stage’ music: the familiar march of the Persian army is heard in the distance while two of Belshazzar’s soldiers come in one after the other and announce in 41 The Musical World 2 (1836), p. 195.
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arioso that the Persians have diverted the river and entered the city ; after this announcement the march bursts out at full volume with the male-voice chorus of Persian soldiers. Alongside such obvious repetition of thematic material, there is a more subtle reference in Daniel’s ‘Vision’, No. 29, ‘Welche Bilder schaut mein Blick!’ (‘Boundless visions, glories bright’), in which the rippling accompaniment figuration, played by solo violin and cello bears a loose resemblance to the motif depicting the writing on the wall in No. 23; the connection is made explicit only at the end, after Daniel has extolled the almighty power of God, when violin and cello follow his final words with an exact reference to the writing on the wall motif. As in previous operas and oratorios, Spohr builds scene complexes in Der Fall Babylons, with continuous music connecting the constituent numbers. Thus the overture leads into the first chorus, which is based on the material of the overture’s Andante introduction, and Nos. 1 to 4 continue with no musical separation.42 A break occurs between this first scene on the ‘banks of the Euphrates near Babylon’ (An den Ufern des Euphrates bei Babylon) and the scene in ‘The Persian Camp’ (Im persischen Lager) that runs from Nos. 5 to 7, after which the orchestra links into the third scene of Part I, Nos. 8 – 10, which begins in ‘A House in Babylon’ (Haus in Babylon) with ‘A Jewish Mother, watching her sleeping child’ (Eine Jüdin an der Wiege ihres Kindes). The fourth scene again takes place in the Persian camp with a repetition of the martial music from the overture, and the final scene of Part I, among the Jews in Babylon, is again connected with what precedes by a typical Spohrish passage of modulation: beginning in cellos and basses alone, the root of the tonic chord of D major, with which the previous scene ended, rises by a semitone to E flat; after two more beats this is treated as the bass note of a diminished 7th chord that resolves to the dominant 7th of A flat major, and then proceeds to a dominant 7th of D flat with the A flat changing to an expressive B double flat before finally establishing A flat major for the entry of the chorus. Spohr’s employment of operatic procedures in Der Fall Babylons does not appear to have provoked objections in the German press, but it seems clear that there were still some, especially in England, who regarded Spohr’s musical style and treatment of the text as too theatrical for ‘sacred music’. Henry Chorley, no lover of Spohr’s music in general, referred in 1845 to ‘his oratorio-like operas, or his operatic oratorios’.43 Two years earlier when The Fall of Babylon was performed for the first time in England, he had based his objections to it on its theatricality : 42 Spohr’s reversion to numbers in this work probably reflects the numbering in Taylor’s original libretto. 43 The Athenaeum 18 (1845), p. 696.
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“The subject is one of dramatic effect, rather than of spiritual elevation […] The dignity essential to sacred composition has been lost sight of by Dr. Spohr. His Persians move in measures which recall the tinsel symbols of a stage pageant; his daughters of Zion suggest the timbrels and the dances of the Pagan ballet, in every note of their upspringing hope and cheerfulness. The stupendous vision of the handwriting on the wall has elicited nothing beyond such blue-fire music as befits the cloister scene in ‘Robert le Diable,’ but which is painfully startling when employed in illustration of holy writ. In short, for German music the work is more secular than (for Italian) the graver parts of Rossini’s ‘MosÀ,’ or the most mundane passages of his ‘Stabat,’ against which the idolaters of Spohr have railed by the hour.”44
In the rest of the article Chorley went on to identify other features that he regarded as essentially operatic, comparing the duet No. 10, ‘Judah, still the chosen nation’ (Juda, deines Vaters Liebe), with the duet ‘O lovely maiden stay’ (Ha! meine Mißgestalt), No. 11 from Spohr’s Zemire und Azor, and No. 16, ‘No longer shall Judah’s Children wander’ (Nicht länger wird die Herde Judas irren), with the ‘Tyrolienne’ from Rossini’s Guillaume Tell. The ellipsis in the above quotation from his review contains a digression contrasting Spohr’s theatrical style with the truly sacred character and ‘spiritual elevation’ of Handel’s oratorio music. Complaints of this kind about the inappropriate character of Spohr’s setting, however, called forth a robust rebuttal a couple of weeks later from James W. Davison, whose intense admiration for Spohr at that time was demonstrated by his description of him as ‘the great Spohr – the immortal while still living’.45 Showing greater perspicacity than most of his contemporaries, Davison pointed out that the notion of Handel’s music as a model for the true oratorio style did not derive merely from its capability for ‘awakening ideas of the sublime’, but also from the fact that ‘we have, for more than a century, been accustomed to its association with them’, adding that ‘Handel’s style, under all circumstances, for oratorios, for operas, for instrumental music was one and the same’.46 Thus, Davison did not deny the similarities between Spohr’s operas and oratorios, he merely rejected the notion that this should be regarded as detrimental, for he argued that oratorios were sacred drama, not liturgical music, and that Spohr’s style was in no sense irreverent or inappropriate. In the period of thirteen years that separated the composition of Spohr’s last two operas Der Alchymist (1829/30) and Die Kreuzfahrer (1843/44), therefore, his urge for dramatic expression found an outlet in oratorio, as well as in other vocal works, and Lieder, which he wrote in greater numbers during that period. All these works demonstrate the sensitivity with which he employed his dis44 The Athenaeum 16 (1843), p. 653. 45 The Musical World 18 (1843), p. 253. 46 The Musical World 18 (1843), p. 246.
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tinctive palette of melodic, rhythmic, and harmonic colours in responding to the meaning and underlying emotional connotations of the text. Also, since the conventions of oratorio excluded spoken dialogue, he reverted in Des Heilands letzte Stunden and Der Fall Babylons to the path he had pursued in Jessonda and Der Berggeist, utilising the formal and stylistic techniques he had developed to integrate the narrative as seamlessly as possible into the flow of the musical drama. Spohr’s later operas and oratorios reveal many similarities of treatment: he generally eschewed conventional aria types in favour of shorter, less formal solos, and blurred traditional divisions between recitative, arioso, aria, and ensemble; he employed the same kinds of extended scene complexes; he utilised musical reminiscence and motif for dramatic effect; and in both genres his expressive word setting and dramatic use of the orchestra are indistinguishable. All these features represent a continuation and development of the practices he was to employ for the last time, with great refinement, in Die Kreuzfahrer.
Martina Wagner-Egelhaaf
Komposition und Aufführung. Louis Spohr’s Selbstbiographie (1860/61)
Die Literaturwissenschaft hat auf die Autobiographie eines Komponisten einen etwas anderen Blick als die Musikwissenschaft oder auch die Geschichtswissenschaft. Musikwissenschaftlerinnen oder Historiker lesen einen autobiographischen Text in erster Linie, weil sie etwas über das Leben des Autobiographen bzw. der Autobiographin erfahren und die Persönlichkeit kennenlernen wollen. Die Literaturwissenschaftlerin interessiert sich für die Form der Autobiographie als solche, die Entwicklung der Gattung, ihre Grenzen und Möglichkeiten.1 Es geht der literaturwissenschaftlichen Autobiographieforschung also nicht so sehr um die Person, den Autor, die Autobiographin, sondern um den Text als literarische Form und als Medium der Selbstkonstruktion. In der Literaturwissenschaft geht man davon aus, dass die Form eines Texts nicht lediglich einen Inhalt wiedergibt, sondern dass der Inhalt wesentlich durch die Form geprägt ist. D. h.: in literaturwissenschaftlicher Perspektive bildet sich in einer Selbstbiographie eine historische Person nicht einfach ab, sondern der Blick richtet sich darauf, dass der Text mit seinen sprachlich-rhetorischen Mitteln ein autobiographisches Ich überhaupt erst hervorbringt und modelliert. Man darf den Louis Spohr im Text nicht mit dem historischen Louis Spohr gleichsetzen, allerdings kann man auch nicht behaupten, dass der Text-Spohr mit dem historischen Spohr nichts zu tun hat, denn letzterer hat ja schließlich den ersteren geschaffen. Der Text-Spohr ist gewissermaßen das Selbstbild des historischen Spohr und somit Teil seiner Lebensrealität. Und gerade dieses komplexe Wechselverhältnis, das heute auch unter dem Stichwort ,Autofiktion‘2 diskutiert 1 Über die Unterschiede literaturwissenschaftlicher und geschichtswissenschaftlicher Autobiographieforschung vgl. Volker Depkat, „Zum Stand und zu den Perspektiven der Autobiographieforschung in der Geschichtswissenschaft“, in: BIOS. Zeitschrift für Biographieforschung, Oral History und Lebensverlaufsanalysen 23/2 (2010), S. 170 – 187; Martina Wagner-Egelhaaf, „Zum Stand und zu den Perspektiven der Autobiographieforschung in der Literaturwissenschaft“, in: BIOS 23/2 (2010), S. 188 – 200. 2 Vgl. Claudia Gronemann, „,Autofiction‘ und das Ich in der Signifikantenkette. Zur literarischen Konstitution des autobiographischen Subjekts bei Serge Doubrovsky“, in: Poetica 31
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wird, bildet den Untersuchungsgegenstand literaturwissenschaftlicher Autobiographieforschung. Die Literaturwissenschaft interessiert sich mehr für das Selbstbild und seine mediale textuelle Form als für die außertextuelle Person des Autobiographen bzw. der Autobiographin. Der oft bemühte Referenztext in der germanistischen Autobiographieforschung ist Goethes Dichtung und Wahrheit, das unter dem Obertitel Aus meinem Leben zwischen 1810 und 1833 publiziert wurde. Dichtung und Wahrheit wurde deswegen gleichsam zum Modell in der Autobiographieforschung, weil Goethes Lebensbericht eine Programmatik der Autobiographie formuliert. In der häufig zitierten Vorrede heißt es: „Denn dieses scheint die Hauptaufgabe der Biographie zu sein, den Menschen in seinen Zeitverhältnissen darzustellen, und zu zeigen, in wiefern ihm das Ganze widerstrebt, in wiefern es ihn begünstigt, wie er sich eine Welt- und Menschenansicht daraus gebildet, und wie er sie, wenn er Künstler, Dichter, Schriftsteller ist, wieder nach außen abgespiegelt. Hiezu wird aber ein kaum Erreichbares gefordert, daß nämlich das Individuum sich und sein Jahrhundert kenne, sich, in wiefern es unter allen Umständen dasselbe geblieben, das Jahrhundert, als welches sowohl den willigen als unwilligen mit sich fortreißt, bestimmt und bildet, dergestalt daß man wohl sagen kann, ein Jeder, nur zehn Jahre früher oder später geboren, dürfte, was seine eigene Bildung und die Wirkung nach außen betrifft, ein ganz anderer geworden sein.“3
Hier wird, paradigmatisch für das 19. Jahrhundert, die hermeneutische Vorstellung des Individuums zum Ausdruck gebracht, das von seinen Zeitverhältnissen geprägt ist und diese zugleich beeinflusst. Man mag sich darüber wundern, dass Goethe seinen Lebensbericht ,Dichtung und Wahrheit‘ nennt, denn von einer Autobiographie erwartet man doch wohl, wenn schon nicht d i e Wahrheit, so doch in jedem Fall auch nicht ,Dichtung‘. Aber Goethe war natürlich klug genug zu reflektieren, dass das autobiographische Ich in Bezug auf sich selbst nicht unbedingt der zuverlässigste Wahrheitsgarant ist. Und außerdem sah Goethe sehr klar, dass die ,Wahrheit‘ eines Lebens nicht in der Wiedergabe aller Fakten liegt, sondern dass ein Symbol dessen höhere Wahrheit
(1999), S. 237 – 261; dies., Postmoderne/Postkoloniale Konzepte der Autobiographie in der französischen und maghrebinischen Literatur. Autofiction – Nouvelle Autobiographie – Double Autobiographie – Aventure du texte, Hildesheim u. a. 2002; Frank Zipfel, „Autofiktion. Zwischen den Grenzen von Faktualität, Fiktionalität und Literarität?“, in: Grenzen der Literatur. Zu Begriff und Phänomen des Literarischen, hrsg. von Simone Winko, Fotis Jannidis und Gerhard Lauer, Berlin/New York 2009, S. 284 – 314; Auto(r)fiktion. Literarische Verfahren der Selbstkonstruktion, hrsg. von Martina Wagner-Egelhaaf, Bielefeld 2013. 3 Johann Wolfgang Goethe, Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit, in: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche, Bd. 14, hrsg. von Klaus Detlef Müller (= 1. Abteilung: Sämtliche Werke, 14), Frankfurt a. M. 1986, S. 13 f.
Komposition und Aufführung. Louis Spohr’s Selbstbiographie (1860/61)
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oftmals sehr viel besser fassen kann. Und genau hier tritt die Dichtung in ihre Rechte.4 Die beiden Bände von Louis Spohr’s Selbstbiographie erschienen 1860 und 1861.5 Angeregt dazu, sein Leben aufzuzeichnen, wurde Spohr durch den Kasseler Publizisten Friedrich Oetker, der eine Schilderung der Feierlichkeiten anlässlich von Spohrs 25-jährigem Dienstjubiläum in Kassel vornahm und eine ausführliche Spohr-Biographie plante. Als er Spohr um die nötigen Unterlagen bat, beschloss dieser, die Niederschrift seines Lebens selbst in die Hand zu nehmen. Spohr kam damit zunächst bis zum Jahr 1822, also dem Beginn seiner Kasseler Zeit. Und er schrieb seinen Lebensbericht in der dritten Person, gleichsam als sein eigener Biograph. Als er nach einer fünfjährigen Arbeitspause im Frühjahr 1858 seine selbstbiographische Tätigkeit wieder aufnahm und sein Leben bis ins Jahr 1838 weiterschrieb, wechselte er in die erste Person und verfügte, dass bei einer späteren Herausgabe seiner Lebensaufzeichnungen alles in die Ich-Form überführt werden sollte. Nach Spohrs Tod machte sich seine zweite Frau, Marianne Spohr, geb. Pfeiffer, unterstützt von Spohrs Schwiegersohn, Johann Heinrich Wolff, an die Herausgabe der Selbstbiographie. Wolff verfasste auch ein Vorwort zum ersten Band. Für die Zeit nach 1838 wurde die Selbstbiographie in allererster Linie wohl von Marianne Spohr wieder in der ErForm, also als Biographie, unter Verwendung von Briefen, privaten Aufzeichnungen, Konzertprogrammen (vgl. Abbildung 1 auf der nächsten Seite) und Zeitungsberichten, bis zum Tod des Komponisten fortgeführt.6 Der 1860/61 erschienene Text ist also ein Hybrid. Der Titel „Selbstbiographie“ wurde von den Herausgebern gewählt; Spohr selbst hat von seinen ,Lebenserinnerungen‘ gesprochen. Unter diesem Titel brachte Folker Göthel 1968 dann auch eine kritische Ausgabe heraus, die sich um die Herstellung eines authentischen Texts bemüht und deshalb nur die Zeit bis 1822 umfasst, die Spohr tatsächlich selbst beschrieben hat. Schon für den Berichtszeitraum von 1822 bis 1838 waren, wie auch eine Fußnote in der Selbstbiographie festhält, starke redigierende Eingriffe der Herausgeber erfolgt.7 Göthel, der Spohrs Nachlass und auch das Originalmanuskript der Lebenserinnerungen eingesehen hat, kommt zu dem Urteil, „daß es sich bei dem bisher allen bekannten Druck der sogenannten ,Selbstbiographie‘ von 1860/61 um eine von den Vorlagen in vieler Hinsicht abweichende Bearbeitung handelt.“8 Wenn den folgenden Ausführungen dennoch die 4 Vgl. hierzu Martina Wagner-Egelhaaf, Autobiographie (= Sammlung Metzler, 323), Stuttgart/ Weimar 22005, S. 2 f. 5 Louis Spohr’s Selbstbiographie, 2 Bde., Kassel/Göttingen 1860 – 1861. 6 Vgl. dazu Folker Göthel, „Vorwort“, in: Louis Spohr, Lebenserinnerungen, erstmals ungekürzt nach den autographen Aufzeichnungen hrsg. von Folker Göthel, Tutzing 1968, S. IX – XX. 7 Vgl. Louis Spohr’s Selbstbiographie, Bd. 2, S. 156. 8 Göthel, „Vorwort“, S. XIII.
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Martina Wagner-Egelhaaf
Erstausgabe zugrundeliegt und die Edition von Göthel nur korrigierend herangezogen wird, so deshalb, weil sie ein kulturgeschichtliches Zeugnis darstellt, das ein Bild von Spohr vermittelt, wie es ein Jahrhundert lang rezipiert wurde und in dem Selbst- und Fremdbilder in ein sich gegenseitig beleuchtendes, konstruktives Wechselverhältnis treten.
Abbildung 1: Ausschnitt aus Louis Spohr’s Selbstbiographie (Bd. 2, S. 100)
Hier zeigen sich schon bemerkenswerte Unterschiede zum autobiographischen Modellfall von Goethes Dichtung und Wahrheit. Goethe, der Literat, stellt dezidiert die eigene Individualität in den Mittelpunkt, die in ihrer Eingebundenheit in ihre Zeit für die Leserschaft einen Bildungswert beanspruchte.9 Der Autor von Dichtung 9 Der fingierte Brief eines Freundes, den Goethe im Vorwort zu Dichtung und Wahrheit zur
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und Wahrheit wird gleichsam zum Schöpfer seiner selbst als literarischem Kunstwerk. Louis Spohr’s Selbstbiographie hat indessen mehrere Autoren und sie ist wohl auch eher das, was man heute eine Gebrauchsautobiographie nennen würde, die keinen künstlerischen Gestaltungsanspruch erhebt. Dass aber gerade auch hier natürlich kulturelle Muster, Topoi und Techniken der Selbstdarstellung zum Einsatz kommen, macht einen solchen sich eher unkünstlerisch gebenden Text zu einem sprechenden kulturgeschichtlichen Zeugnis. Nun beschäftigt sich die literaturwissenschaftliche Autobiographieforschung vornehmlich mit der literarischen Autobiographie, mit Texten also, die einen Kunstanspruch haben. Hingegen stellen sicherlich populäre Autobiographien bzw. Autobiographien von Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens aus Politik, Wirtschaft, Kultur, Sport und Showbusiness das quantitativ größere Segment auf dem Buchmarkt dar. Diese Autobiographien sind in der Regel sehr viel weniger literarisch ambitioniert und sie folgen mehr oder weniger unkritisch den Konventionen der Gattung, während die literarische Autobiographie häufig damit spielt und versucht, die Gattungsgrenzen zu durchbrechen bzw. zu erweitern. Und doch bildet eben die ,nichtliterarische‘ Autobiographie, wie sie der Einfachheit halber genannt sei, den Kernbestand des Genres, d. h. die Autobiographie, die ganz naiv einfach Einblick in gelebtes Leben geben möchte. Dass dabei der berufliche Tätigkeitsbereich des Autobiographen bzw. der Autobiographin eine zentrale Rolle spielt, liegt auf der Hand. Ja, der Beruf gehört sogar gattungshistorisch zu den begründenden Motiven der Lebensbeschreibung. So nennt der Autobiographieforscher Günter Niggl die Berufsautobiographie als zweite gattungsprägende Traditionslinie neben der religiösen Bekenntnisautobiographie.10 Und eine solche Berufsautobiographie, in der die be-
Begründung seines autobiographischen Projekts zitiert, reklamiert, dass die Reflexion des Schriftstellers auf das von ihm Hervorgebrachte „denen abermals zur Bildung gereiche, die sich früher mit und an dem Künstler gebildet haben“ (Goethe, Dichtung und Wahrheit, S. 12). Demgegenüber hält auch Göthel fest: „Wenn es nicht überhaupt Spohrs Veranlagung widersprach, zu einer Selbstbetrachtung im tiefern Sinne zu gelangen, so war es zumindest nicht seine Art, andern gegenüber davon Zeugnis abzulegen, das eigene Leben aus den Perspektiven seiner Zeit zu erkennen, Ursprung und Richtung seiner Entwicklung aufzudecken und zu begründen“ (Göthel, „Vorwort“, S. XIV f.). Dies scheint direkt gegen das Goethe’sche Modell gerichtet. 10 Günter Niggl, „Zur Säkularisation der pietistischen Autobiographie im 18. Jahrhundert“, in: Die Autobiographie. Zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung, hrsg. von Günter Niggl, Darmstadt 21998, S. 366 – 391, hier S. 372: „Die Tradition der religiösen Konfession will nach augustinischem Vorbild die Bekehrung als den Angelpunkt des eigenen Lebens darstellen und dieses von Anfang an auf jenes Hauptereignis hinordnen; sie wird durchkreuzt von der Tradition der Berufs-(meist Gelehrten-)Autobiographie, die den beruflichen Werdegang von den Studienjahren in die öffentliche Wirksamkeit mit ihren wechselnden Erfolgen und Konflikten als das eigentliche autobiographische Thema betrachtet und seit dem Ende des 16. Jahrhunderts durch mehrere umfangreiche, zunächst noch lateinisch geschriebene Werke, vor allem in Frankreich (Junius, Thuanus, Huetius), aber auch in
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rufliche Tätigkeit des Autobiographen im Zentrum steht, ist ganz zweifellos die Spohr’sche. Im Text läuft alles schnurstracks auf den Violinvirtuosen und späteren Komponisten hin. Dies ist natürlich auch konsequent. So fragt etwa Christa Wolf in ihrem autobiographischen Roman Kindheitsmuster von 1976: „Wie sind wir so geworden, wie wir heute sind?“11 und formuliert damit ein grundlegendes Erkenntnismotiv der Autobiographie, das gleichsam ein linear-progressives Gewordensein des autobiographischen Ichs voraussetzt. Entsprechend liest man gleich auf den ersten zwei Seiten von Louis Spohr’s Selbstbiographie das Folgende: „Die Eltern waren musikalisch; der Vater blies Flöte, die Mutter, Schülerin des Kapellmeisters Schwaneberger in Braunschweig, spielte sehr fertig das Clavier und sang die italienischen Bravourarien der damaligen Zeit. Da sie sehr oft des Abends musicirten, so wurde der Sinn und die Liebe zur Tonkunst schon früh bei mir geweckt. So begann ich, mit einer klaren Sopranstimme begabt, zu singen, und im vierten oder fünften Lebensjahre schon, durfte ich in Duetten mit der Mutter an den Abendmusiken Theil nehmen. Um diese Zeit war es, daß mir der Vater, meinem dringend geäußerten Wunsche nachgebend, auf einem Jahrmarkte eine Geige kaufte, auf der ich nun unaufhörlich spielte. Zuerst versuchte ich, die früher gesungenen Melodien herauszubringen und war überglücklich, wenn die Mutter dazu accompagnierte.“12
Dann erfährt man die Einzelheiten von Spohrs musikalischer Ausbildung,13 dem ersten Geigenunterricht bei dem Rektor Riemenschneider, dann ab 1790/91 bei Herrn Dufour, einem französischen Emigranten. In dieser Zeit beginnt der kleine Louis auch schon zu komponieren: „Während des Unterrichts bei Herrn Dufour machte ich auch meine ersten Compositionsversuche, bevor ich noch irgend einen Unterricht in der Harmonie erhalten hatte. Es waren Duette für zwei Violinen, die ich mit meinem Lehrer in den Abendmusikpartien vortrug und damit die Eltern im höchsten Grade überraschte. Noch erinnere ich mich des stolzen Gefühls, nun auch als Componist vor den Freunden des Hauses auftreten zu können. Als Honorar erhielt ich von den Eltern einen Prachtanzug, bestehend in einer rothen Jacke mit Stahlknöpfen und einem gelben Beinkleid nebst Schnürstiefeln mit Quasten, w[o]rum ich schon lange, wiewohl vergebens, sollicitirt hatte.“14
Damit sind die Hauptmotive von Spohrs Lebenserzählung gesetzt: Komposition und Aufführung. Der insgesamt linear-chronologisch verfahrende Lebensbericht informiert darüber, wann und unter welchen biographischen Umständen Spohr
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Deutschland (Ursinus, Andreä) vertreten ist und im 18. Jahrhundert eine neue Blütezeit erleben wird.“ Christa Wolf, Kindheitsmuster. Roman, Darmstadt/Neuwied 1979, S. 397. Louis Spohr’s Selbstbiographie, Bd. 1, S. 1 f. Spohr weist darauf hin, dass er in jungen Jahren viel zeichnete und malte und eine Zeitlang schwankte, „welche der beiden Künste, Musik oder Malerei, [er] als Lebensberuf erwählen wolle“. Ebd., Bd. 1, S. 16. Ebd., Bd. 1, S. 3.
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seine Werke komponierte und wann, wo, wie und mit welchem Erfolg sie aufgeführt wurden. Komposition und Aufführung sind zweifellos die Leitmotive dieses Lebens. Dabei fällt auf, dass der Vorgang der Komposition kaum vertieft oder gar problematisiert wird. Da gibt es keine Introspektion oder ein Ringen des Genies. Unzufrieden ist Spohr nur mit den ersten Opernversuchen und Quartetten15 und gegen Ende seines Lebens, als es mit dem Komponieren nicht mehr so richtig klappt.16 Ansonsten läuft das Komponieren aber wie am Schnürchen. Fast mehr Aufmerksamkeit als dem schöpferischen Akt der Komposition widmet der Selbstbiograph dem Aspekt der Aufführung. Genauso positiv überrascht und begeistert wie das frühe elterliche Publikum reagiert auch die spätere Zuhörerschaft der Spohr’schen Aufführungen.17 Da werden sehr genau der Rahmen der Aufführung und die Reaktionen der in der Regel begeisterten Zuhörer und Zuhörerinnen beschrieben. Zur Dokumentation der Aufführungserfolge, und vielleicht auch um sich nicht selbst permanent loben zu müssen, werden häufig Zeitungsberichte herangezogen und wörtlich wiedergegeben. So wird z. B. die Musikzeitung zu einem in Dresden im Herbst 1807 gegebenen Konzert mit den folgenden Worten zitiert: „Der dritte (unter den fremden Concertgebenden) war der rühmlichst bekannte Herzoglich-Sachsen-Gothaische Concertmeister, Herr Spohr, der sich auf der Violine, sowie seine Frau auf der Pedalharfe, hören ließ. Nicht sobald wird wieder ein Künstler Ursache haben, so vollkommen mit der Aufnahme zufrieden zu sein, die ihm hier zu Theil ward, als Herr Spohr, und gewiß wird jeder Freund der Kunst laut eingestehen, daß er diese Auszeichnung reichlich verdiente.“18
Die Stichwörter Komposition und Aufführung bilden nicht nur die Leitmotive in Louis Spohr’s Selbstbiographie, sondern sie stellen darüber hinaus auch geeignete Kategorien dar, um die Verfasstheit dieser Autobiographie in den Blick zu nehmen. Von ihrer zusammengesetzten ,Komposition‘, d. h. ihrer mehrstimmigen Autorschaft, war bereits die Rede. Die Vorrede des Schwiegersohns, die ein Charakterbild von Louis Spohr als besonders liebenswürdiger, bescheidener Persönlichkeit entwirft19, stellt eine Art Ouvertüre zu dieser Lebensaufführung dar und das von 15 Vgl. ebd., Bd. 1, S. 125 und 130. 16 Vgl. ebd., Bd. 1, S. 130 und Bd. 2, S. 379. 17 Zum ausführlich gewürdigten Komplex der Aufführung gehört auch das von Spohr eingeführte Dirigieren mit dem Taktstock, über dessen positive Resonanz er nicht ohne Stolz berichtet: „Durch diesen Erfolg überrascht und begeistert, gab das [Londoner] Orchester auch sogleich nach dem ersten Satze der Symphonie seine allgemeine Billigung der neuen Direktionsweise laut zu erkennen und beseitigte dadurch alle weitere Opposition von Seiten der Direktoren“. Ebd., Bd. 2, S. 87. 18 Louis Spohr’s Selbstbiographie, Bd. 1, S. 110 f. 19 Vgl. ebd., Bd. 1, S. vii. Dort liest man auch etwa: „Spohr war, wie alle edlen Naturen, streng sittlich und von einer fast mädchenhaften Züchtigkeit.“ (ebd., Bd. 1, S. xii) und gleich darauf: „Spohr zeigt sich überall muthvoll, entschlossen, tapfer, mit einem Worte echt männlich“ (ebd., Bd. 1, S. xiii).
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Marianne Spohr gezeichnete Lebensbild der Jahre von 1838 bis zum Tod Spohrs ist ein enthusiastisches Finale, das die monumentalen Erfolge des Meisters und die ihm allerorts entgegengebrachten Huldigungen in den Vordergrund stellt. Unter kompositionellen Gesichtspunkten ist des Weiteren festzuhalten, dass Spohr wie auch seine späteren Herausgeber nicht nur Kritiken, Konzertankündigungen und Briefe in den Text integriert, sondern immer wieder auf sein Tagebuch zurückgreift und ausführlich aus diesem zitiert. Das Tagebuch, das viel Anekdotisches enthält, aber über weite Strecken auch von einem eher uninspirierten aufzählenden Duktus bestimmt ist, stellte sicherlich eine wichtige Gedächtnishilfe für die Komposition der Lebensbeschreibung dar, widerspricht aber dem von Philippe Lejeune formulierten autobiographietheoretischen Kriterium, dass die Autobiographie eine „[r]ückblickende Prosaerzählung“ ist und Nachdruck auf die Geschichte der Persönlichkeit legt.20 Im hermeneutischen Verständnis der Autobiographie verbindet sich mit dem geschichtlichen Aspekt der Gedanke vom Lebenszusammenhang und der Entwicklung, ja der ,Bildung‘ im doppelten Wortsinn des autobiographischen Ichs.21 Das Tagebuch hingegen beschreibt aus der Situation heraus und hat keinen Entwicklungszusammenhang im Blick.22 Der Herausgeber der Lebenserinnerungen Folker Göthel moniert denn auch die Uneinheitlichkeit in der sprachlichen Gestaltung der Selbstbiographie.23 Man könnte hier aber auch – und dies passt in das historistische 19. Jahrhundert – ein dokumentarisches Bewusstsein der eigenen Historizität erkennen. In welcher Weise sich Spohr zu seinem Tagebuch verhält bzw. Gebrauch von ihm macht, exemplifziert die folgende Sequenz:
20 Philippe Lejeune, Der autobiographische Pakt, aus dem Französischen von Wolfram Bayer und Dieter Horning, Frankfurt a. M. 1994, S. 14. 21 In der eingangs zitierten Passage aus Goethes Dichtung und Wahrheit, ist der Bildungsgedanke zentral (vgl. Goethe, Dichtung und Wahrheit, S. 13; vgl. S. 12). Vgl. auch Wilhelm Dilthey, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, Einleitung von Manfred Riedel, Frankfurt a. M. 1981, S. 25 f.: „Die Selbstbiographie ist nur die zu schriftstellerischem Ausdruck gebrachte Selbstbesinnung des Menschen über seinen Lebensverlauf. […] Nur sie macht geschichtliches Sehen möglich. […] Zu den allgemeinen Kategorien des Denkens traten im Verstehen des Lebens die von Wert, Zweck und Bedeutung hinzu. Unter diesen standen dann umfassende Begriffe wie Gestaltung und Entwicklung des Lebens. […] Indem wir zurückblicken in der Erinnerung, erfassen wir den Zusammenhang der abgelaufenen Glieder des Lebensverlaufs unter der Kategorie ihrer Bedeutung.“ Die hermeneutische Konzeptualisierung der Autobiographie stellt in der literaturwissenschaftlichen Autobiographieforschung eine theoretische Basisreferenz dar, von der sich spätere Konzepte, etwa poststrukturalistische oder feministische, abgrenzen. 22 Zum Tagebuch vgl. Peter Boerner, Tagebuch, Stuttgart 1969; Manfred Jurgensen, Das fiktionale Ich. Untersuchungen zum Tagebuch, Bern 1979. 23 Vgl. Göthel, „Vorwort“, S. XV.
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„Nach der Ankunft in Leipzig am 29. November gibt das Tagebuch noch zwei kurze Berichte und verstummt dann gänzlich. Der erste bespricht eine Aufführung der Oper von Paer: „die Wegelagerer“. Der zweite erzählt von einem Besuche des GewandhausConcertes. ,Diese Concerte‘, heißt es, ,werden von einer Gesellschaft von Kaufleuten veranstaltet. Es sind aber keine Dilettanten-Concerte […]‘.“24
Tatsächlich bringen die Tagebuchaufzeichnungen, die zumeist unter dem frischen Eindruck des Erlebten stehen, einen – die musikalische Metapher sei erlaubt – anderen Ton in den Text, der gerade nicht einheitlich komponiert ist wie der Goethe’sche, sondern sich, um einmal mehr in der Sprache der Musik zu bleiben, durch eine gewisse Vielstimmigkeit25 auszeichnet. So besehen lässt sich auch die Kategorie der ,Aufführung‘ in einem spezifischen Sinn auf den Text der Spohr’schen Selbstbiographie beziehen. Wenn nämlich nicht nur eine Person spricht, die des Autobiographen, sondern auch dessen früheres alter ego des Tagebuchschreibers sowie Briefpartner und Musikkritiker zu Wort kommen, entsteht ein textueller Raum, der den Porträtierten aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet. Eine weitere Funktion der Zeitdokumente liegt in der szenischen Vergegenwärtigung der Vergangenheit, die den Zusammenhang des Lebensverlaufs in den Hintergrund treten lässt. Tatsächlich muss man sich in der Lektüre wiederholt zeitlich orientieren, wenn mit dem Wechsel der Genres auch zeitliche Sprünge einhergehen.26 Spohrs Selbstbiographie setzt sich also aus unterschiedlichen autobiographischen Genres zusammen. Neben der rückblickenden Erzählung, die es natürlich auch gibt, dem Gestus des Tagebuchs und des Briefs weist der Text Züge auf, die man eher dem Genre der Memoiren als dem der Autobiographie zuschreibt. Bernd Neumann hat bereits in den 1970er-Jahren die Unterschiede zwischen Autobiographie und Memoiren idealtypisch herausgestellt. Die Autobiographie ist Neumann zufolge eher die Gattung des innengeleiteten Individuums, das die Geschichte seiner Entwicklung bis zur Eingliederung in die Gesellschaft schildert. In der bürgerlichen Gesellschaft ist dieser Zeitpunkt in der Regel mit dem Eintritt in das Berufsleben und der Eheschließung gegeben. Memoiren, so Neumann, sind eher das Genre des außengeleiteten, Traditionen und Bräuchen verhafteten Individuums, das seine berufliche Stellung erreicht hat und aus dieser heraus Zeit und Mitmenschen beobachtet.27 Tatsächlich ist Spohr’s Selbstbiographie voll von sehr
24 Louis Spohr’s Selbstbiographie, Bd. 1, S. 78. 25 Besonders anschaulich beispielsweise ebd., Bd. 1, S. 47. 26 Vgl. etwa ebd., Bd. 2, S. 50, wo der Autobiograph bei der Lektüre seiner Tagebuchaufzeichnungen Dinge vermisst, die er nun beginnt nachzutragen. 27 Vgl. Bernd Neumann, Identität und Rollenzwang. Zur Theorie der Autobiographie, Frankfurt a. M. 1970; vgl. auch die überarbeitete und erweiterte Neuauflage Bernd Neumann, Von
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lebendigen Schilderungen von Begegnungen mit unterschiedlichen Zeitgenossen, Schülern, fürstlichen Dienstherren, Dichtern,28 aber insbesondere natürlich anderen Musikern und Komponisten, denen Spohr ein lebhaftes Interesse entgegenbringt, sowohl ihrer Person gegenüber als auch ihrem Werk und der Art und Weise ihrer Kunstausübung. So finden sich z. T. anrührende Porträts von Ludwig van Beethoven29, Felix Mendelssohn Bartholdy30, Richard Wagner31, Niccolý Paganini32 und anderen musikalischen Größen der Zeit. Auch politische und kulturelle Verhältnisse an den unterschiedlichen Orten von Spohrs Wirken und insbesondere seiner ausgedehnten Reisen werden mit Teilnahme geschildert. Ein memoirentypischer Zug ist der Hang zum Anekdotischen, der den Text streckenweise sehr unterhaltsam macht. So erzählt der Autobiograph etwa von einem Konzert, das ein reicher Altonaer Musikfreund im Jahr 1811 organisiert hatte. Vor dem Konzert lud er die Mitwirkenden, einschließlich des Ehepaars Spohr, zu einem luxuriösen Essen ein, bei dem so reichlich dem Champagner zugesprochen wurde, dass man das Konzert darüber völlig vergaß und erst, als das Publikum sich in Erinnerung brachte, in den Konzertsaal eilte. Mit viel Sinn für Situationskomik berichtet Spohr von einem mehr als leicht derangierten Auftritt: „[…] Man brach nun eiligst nach dem Concertsaale auf; doch war eigentlich Niemand mehr in der gehörigen Verfassung, um öffentlich auftreten zu können. Auffallend war dabei, daß die sonst Zaghaften nun die Muthigsten geworden waren. Das Altonaer Dilettanten-Orchester, dem die Hamburger Künstler als Kern und Stütze dienen sollten, war schon aufgestellt, und das Concert begann daher sogleich mit einer Ouvertüre von Romberg33, die er selbst leitete. Er, dem man nicht mit Unrecht vorwarf, daß er die Tempi seiner Compositionen stets zu langsam nehme, übereilte das Allegro seiner Ouvertüre diesmal dermaßen, daß die armen Dilettanten gar nicht mitkommen konnten. Es fehlte daher nicht viel, so wäre schon in der Ouvertüre umgeworfen worden. Nun folgten wir, meine Frau und ich, mit einer Sonate für Harfe und Violine, die wir, wie immer, ohne
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Augustinus zu Facebook. Zu Geschichte und Theorie der Autobiographie, Würzburg 2013 (zum Verhältnis von Autobiographie und Memoiren ebd. S. 79 – 119). 1807 zählen auch Goethe und Wieland in Weimar zu Spohrs und seiner Frau Dorettes Publikum: „Unter den Zuhörern im Hofconcerte befanden sich auch die beiden DichterHeroen Goethe und Wieland. Letzterer schien von den Vorträgen des Künstlerpaares ganz hingerissen zu sein und äußerte dies in seiner lebhaft-freundlichen Weise. Auch Goethe richtete mit vornehm-kalter Miene einige lobende Worte an uns“ (Louis Spohr’s Selbstbiographie, Bd. 1, S. 109). Zu Goethe und Wieland vgl. auch Bd. 1, S. 125. Im Jahr 1818 ist Jean Paul unter Spohrs Zuhörern in Frankfurt (vgl. Bd. 2, S. 60). Auch Begegnungen mit Immermann und Grabbe (vgl. Bd. 2, S. 203) sowie mit Alexander von Humboldt, Ludwig Tieck, Friedrich Carl von Savigny (vgl. Bd. 2, S. 298) finden statt. Vgl. insbesondere ebd., Bd. 1, S. 197 – 203. Vgl. ebd., Bd. 2, S. 306 – 308. Vgl. ebd., Bd. 2, S. 271 und 305. Vgl. ebd., Bd. 1, S. 299 und Bd. 2, S. 180. Andreas Romberg (1767 – 1821), Cousin des Cellisten Bernhard Romberg (1767 – 1841), Geiger und Komponist, vertonte u. a. Schillers Lied von der Glocke.
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Noten vortragen wollten. Als wir schon saßen, und ich eben zu beginnen dachte, flüsterte mir meine Frau, die sonst die Besonnenheit selbst war, ängstlich zu: „Um des Himmelswillen, Louis, ich kann mich nicht besinnen, welche Sonate wir spielen wollen, und wie sie anfängt!“ Ich sang ihr den Anfang heimlich in’s Ohr und brachte sie so wieder zu der nöthigen Ruhe und Besonnenheit. […] Am schlimmsten erging es aber dem armen Schwenke34. Ihm hatte das Diner die Hosenschnalle gesprengt, ohne daß er es bemerkt hatte. Als er nun bei einem Potpourri mit Quartettbegleitung, das ich zum Schluß des Concertes spielte, zur Uebernahme der Violapartie auf die Erhöhung des Orchesters getreten war, fühlte er bald nach Beginn der Musik, daß ihm durch die Bewegung der Bogenführung das Beinkleid zu sinken begann. Viel zu gewissenhafter Musiker, um von seinen Noten etwas auszulassen, wartete er ganz ruhig die Pausen ab, um das Beinkleid wieder heraufzuziehen. Seine Noth blieb dem Publikum nicht lange verborgen und erregte große Heiterkeit. Als ihn nun aber am Ende des Potpourris eine Sechzehntel-Bewegung dermaßen schüttelte, daß das Sinken des Beinkleids bedenkliche Fortschritte machte und ans Unanständige zu streifen drohte, da konnte das Publikum sich nicht mehr halten und brach in allgemeines Kichern aus.“35
Genauso anschaulich schildert Spohr seine ausgedehnten Reisen. Der Reisebericht ist ein weiteres autobiographisches Register, das die Spohr’sche Selbstbiographie maßgeblich bestimmt. Die Reise als Motiv und Gegenstand der Beschreibung ist in der autobiographischen Tradition häufig ein Bild für die Lebensreise36 und von daher schon strukturell autobiographisch kodiert. Dies ist z. B. ganz deutlich der Fall bei Goethes Italienischer Reise, die Goethe explizit als Zweite Abteilung von Aus meinem Leben in den Jahren 1816 und 1817 veröffentlichte und in der er u. a. seine ,Wiedergeburt‘ in Rom beschreibt.37 Auch Goethes Italienische Reise ist als Tagebuch angelegt, als ein Tagebuch, das für die Veröffentlichung gehörig überarbeitet wurde. Während Goethe vor allem die Werke der bildenden Kunst in Italien beschreibt, berichtet Spohr vordringlich – und zumeist sehr kritisch38 – über das italienische Musikleben. Und wie Goethe 1787 (mehrfach) den Vesuv besteigt, so 34 Christian Friedrich Gottlieb Schwencke (1767 – 1822), Komponist, Pianist, von 1788 – 1822 Kirchenmusikdirektor in Hamburg. Zur Freundschaft Spohrs mit Romberg und Schwencke vgl. Clive Brown, Louis Spohr. A Critical Biography, Cambridge u. a. 1984, S. 60. 35 Louis Spohr’s Selbstbiographie, Bd. 1, S. 166 – 168. 36 Vgl. Matthias Christen, to the end of the line. Zu Formgeschichte und Semantik der Lebensreise, München 1999. 37 Goethe entfloh dem Druck der Weimarer Amtsgeschäfte und wollte sich in Italien als Künstler, evtl. sogar als Maler und Zeichner, neu erfinden. Letztlich feierte er denn aber doch seine Wiedergeburt als Dichter. Vgl. Johann Wolfgang Goethe, Italienische Reise. Teil 1, in: Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche, Bd. 15/1, hrsg. von Christoph Michel und Hans-Georg Dewitz (= 1. Abteilung: Sämtliche Werke, 15/1), Frankfurt a. M. 1993, S. 158 – 160 und 556. 38 Italien ist ihm ein „Sibirien der Kunst“ (Louis Spohr’s Selbstbiographie, Bd. 1, S. 294, vgl. auch Bd. 1, S. 296, 322 f., 337 und Bd. 2, S. 38). In seinen Urteilen ist Spohr bisweilen recht drastisch, auch z. B. wenn er sich zu der Aussage versteigt, „daß die Franzosen ein unmusikalisches Volk sind“ (ebd., Bd. 2, S. 122; vgl. Bd. 2, S. 124, 136 und 139).
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auch Spohr dreißig Jahre später.39 Beide wagen sich, entgegen der Warnung ihrer touristischen Führer, bis zum Kraterrand vor. Und natürlich findet genau dann ein kleiner Ausbruch statt, so dass den verwegenen Reisenden Lava und Asche um die Ohren fliegen. „Wir waren aber kaum ein paar hundert Schritte gegangen, so warf der eine der Krater mit einem fürchterlichen Gekrach eine ungeheuere Menge glühender Steine aus, von denen einige nicht allzuweit von uns niederfielen. […] Nach vieler Mühe sahen wir uns indessen doch endlich oben und standen nun auf dem schmalen Rande des Kraters, der wie ein Trichter, etwa zweihundert Fuß an der oberen Oeffnung im Durchmesser, gestaltet ist. Nachdem wir einige Minuten hier verweilt und den Ausbrüchen des anderen Kraters, der unter’m Winde vor uns lag, zugesehen hatten, wurde der, bei welchem wir standen, plötzlich ganz von Rauch befreit, und wir konnten nun in die grause Tiefe hinabschauen. Da sahen wir in dem Grunde des Trichters zwischen Felsenmassen große Schlünde, aus denen die Flammen hervorbrachen; doch da gleich wieder Rauch darauf folgte, so war dieser Blick nur von kurzer Dauer. Einer der Engländer bekam sogar Lust, in einem Augenblick, wo der Rauch von dem Krater, auf dessen Rande wir standen, nicht stark war, auch zu dem anderen hinüber zu laufen, um einen Blick in dessen Tiefe zu werfen. Er hatte aber kaum den Rand erreicht, so erfolgte ein glücklicherweise nicht sehr starker Ausbruch, vor dem er kaum noch Zeit genug hatte, sich wieder zu uns zu retten. In demselben Augenblicke fing auch ein dritter Krater hinter uns an zu lärmen, und nun war es hohe Zeit, uns aus dem Staube zu machen. Jener warf zwar nur Asche aus, wurde aber durch den Schrecken, den er uns eingejagt hatte, unser Erretter vom völligen Untergange; denn kaum waren wir wieder auf unserem alten Lagerplatze, so warf der bis jetzt sehr ruhige Krater, an dessen Rande wir gewesen waren, eine solche Menge glühender Steine aus, und zwar gerade nach der Seite hin, wo wir gestanden hatten, daß wir sämmtlich erschlagen und verschüttet worden wären, hätten wir uns noch fünf Minuten dort oben verweilt. Nachdem sich die verwegene Gesellschaft von ihrem starren Schrecken erholt hatte, mußten wir unseren Vorwitz eingestehen, trotz der Warnung der Führer uns so weit hinaufgewagt zu haben.“40
39 Vgl. ebd., Bd. 2, S. 3 – 7. 40 Ebd., Bd. 2, S. 5 f. Bei Goethe liest sich der Vulkan-Besuch folgendermaßen: „Noch klapperten die kleinen Steine um uns herum, noch rieselte die Asche, als der rüstige Jüngling mich schon über das glühende Gerille hinaufriß. Hier standen wir an dem ungeheuren Rachen, dessen Rauch eine leise Luft von uns ablenkte, aber zugleich das Innere des Schlundes verhüllte, der ringsum aus Tausend Ritzen dampfte. Durch einen Zwischenraum des Qualmes erblickte man hie und da geborstene Felsenwände. Der Anblick war weder unterrichtend noch erfreulich, aber eben deswegen weil man nichts sah verweilte man um etwas heraus zu sehen. Das ruhige Zählen war versäumt, wir standen auf einem scharfen Rande vor dem ungeheuren Abgrund. Auf einmal erscholl der Donner, die furchtbare Ladung flog an uns vorbei, wir duckten uns unwillkürlich, als wenn uns das vor den niederstürzenden Massen gerettet hätte; die kleineren Steine klapperten schon, und wir, ohne zu bedenken daß wir abermals eine Pause vor uns hatten, froh die Gefahr überstanden zu haben, kamen mit der noch rieselnden Asche am Fuße des Kegels an, Hüte und Schultern genugsam eingeäschert“ (Goethe, Italienische Reise, S. 210; vgl. S. 203 f. und 209 f.).
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Das Erlebnis des Vulkanausbruchs gehörte offensichtlich zum touristischen Gruselprogramm und zum Topos der Italienreise. Dass Autobiographien in hohem Maße topisch und eben gar nicht so individuell sind, hat Stefan Goldmann herausgearbeitet.41 Man könnte sogar sagen, dass die Individualität des Lebensberichts gerade einer der klassischen Topoi der Autobiographik darstellt.42 Das sich DerTodesgefahr-Aussetzen und das Überstehen der Lebensgefährdung hat im autobiographiereflexiven Kontext nicht nur Unterhaltungswert, sondern kann zudem als Bestätigung des Lebensverlaufs und als Bekräftigung des Weiterlebens gelesen werden. Wenn im Folgenden dann vom Rückzug der Kraterschauer an einen sichereren Platz die Rede ist und Spohr berichtet, dass „[m]ehrere aus der Gesellschaft die Bemerkung [machten], daß es doch eine wahre Thorheit sei, sein Leben so dem Ungefähr anzuvertrauen, um eine eitle Neugierde zu befriedigen“43, ist ein alter autobiographischer Topos aufgerufen, derjenige nämlich der Besteigung des Mont Ventoux durch Francesco Petrarca im Jahr 1336. Auf dem Gipfel angelangt, greift Petrarca bekanntlich in Anbetracht der sich unter ihm ausbreitenden Landschaft einer plötzlichen Eingebung folgend zu der Taschenausgabe von Augustinus’ Confessiones, die er stets bei sich führt, um dort auf die in der Folge vielzitierten Worte zu stoßen: „Und es gehen die Menschen, zu bestaunen die Gipfel der Berge und die ungeheuren Fluten des Meeres und die weit dahinfließenden Ströme und den Saum des Ozeans und die Kreisbahnen der Gestirne und haben nicht acht ihrer selbst.“44 Spohr indessen bricht bewusst oder unbewusst diese traditionsmächtige Anspielung ironisch um, wenn er anfügt: „Diese Betrachtungen hinderten indessen nicht, daß wir die mitgebrachten Eier, welche die Führer zu unseren Füßen in der heißen Asche kochten, mit vielem Appetit verzehrten und uns dazu einen Trunk Lacrymae Christi trefflich schmecken ließen“.45 Dass Spohrs künstlerisches Ausdrucksmittel die Musik war und eben nicht das geschriebene Wort, zeigt sich in der Selbstbiographie nicht zuletzt in der Einschaltung zahlreicher Notenbeispiele46, die zum einen die intensive Auseinandersetzung des Autors mit seinen musikalischen Gegenständen dokumentieren und 41 Vgl. Stefan Goldmann, „Topos und Erinnerung. Rahmenbedingungen der Autobiographie“, in: Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert, hrsg. von Jürgen Schings, Stuttgart/Weimar 1994, S. 660 – 675; ders., Christoph Wilhelm Hufeland im Goethekreis. Eine psychoanalytische Studie zur Autobiographie und ihrer Topik, Stuttgart 1993. 42 Vgl. Gabriele Schabacher, Topik der Referenz. Theorie der Autobiographie, die Funktion ,Gattung‘ und Roland Barthes’ Über mich selbst, Würzburg 2007. 43 Louis Spohr’s Selbstbiographie, Bd. 2, S. 6. 44 Francesco Petrarca, „An Francesco Dionigi von Borgo San Sepolcro in Paris“, in: Francesco Petrarca, Dichtungen, Briefe, Schriften, hrsg. von Hanns W. Eppelheimer. Frankfurt a. M. 1980. S. 89 – 98, hier S. 96. 45 Louis Spohr’s Selbstbiographie, Bd. 2, S. 6. 46 Vgl. ebd., Bd. 1, S. 50, 207 f., 257, 307 – 309, 317, 330 f., 334 und 338 – 341; Bd. 2, S. 28 f., 38, 106 und 117.
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die autobiographischen Aufzeichnungen etwa des Tagebuchs auch zum Arbeitsdokument machen, zum anderen aber eine rhetorische Funktion im Hinblick auf die Leserinnen und Leser der Selbstbiographie erfüllen: Um ihnen die Gedanken und Probleme zu vermitteln, die ihn umtrieben, bedurfte es eines anderen Zeichensystems als der Buchstaben. Hier kommt dem Notenbild naheliegenderweise die größere Evidenz zu. Namentlich die Auseinandersetzung mit der fremden und von Spohr vielfach als mängelbehaftet befundenen Musik Italiens machte den Wechsel in das andere Notationssystem erforderlich.
Abbildung 2: Ausschnitt aus Louis Spohr’s Selbstbiographie (Bd. 1, S. 339)
Was die Oratorien anbelangt, so nehmen sie in der zweiten Hälfte des zweiten Bands von Louis Spohr’s Selbstbiographie vergleichsweise viel Raum ein. Spohr äußert sich beispielsweise ausführlich zur Komposition und den diversen Aufführungen seines Oratoriums Die letzten Dinge. Zur Erstaufführung zitiert er
Komposition und Aufführung. Louis Spohr’s Selbstbiographie (1860/61)
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einen Brief vom 26. März 1826, der einen anschaulichen Eindruck von der Art und Weise gibt, wie kalkuliert die Aufführung inszeniert wurde: „Der gestrige Tag war für die hiesigen Musikfreunde ein sehr festlicher; denn eine so solenne Musik-Aufführung, wie die meines Oratoriums, hat in Cassel noch nicht stattgehabt. Sie war Abends bei beleuchteter Kirche. Mein Schwiegersohn Wolff, der lange in Rom war, machte den Vorschlag, die Kirche wie in Rom am Charfreitage, durch Kreuzbeleuchtung zu erhellen und führte auch diese Idee aus. Ein vierzehn Fuß langes, mit Silberfolie überklebtes und mit 600 Glaslampen behängtes Kreuz, schwebte in der Mitte der Kirche und verbreitete ein so helles Licht, daß man allenthalben die Textbücher lesen konnte. Das Orchester- und Sängerpersonal, beinahe 200 Personen stark, war auf der oberen Emporkirche terrassenförmig aufgestellt und für die Zuhörer größtentheils unsichtbar. Das aus etwa 2000 Personen bestehende Auditorium beobachtete eine feierliche Stille. Meine beiden Töchter, die Sänger Wild, Albert und Föppel und noch ein Dilettant, sangen die Soli, und die Aufführung war fehlerlos. Die Wirkung war, wie ich mir selbst sagen mußte, außerordentlich.“47
Im wohl vorwiegend aus der Feder von Marianne Spohr stammenden (um nochmals die musikalische Metaphorik zu bemühen) „Finale“ von Louis Spohr’s Selbstbiographie, das als regelrechter Triumphzug Spohrs durch Europa angelegt ist,48 stellen die Oratorien einen passenden Rahmen für die Verklärung des Meisters.49 Das Publikum der europäischen Konzertsäle liegt Spohr zu Füßen und überschüttet ihn mit Huldigungen.50 Die Selbstbiographie zitiert den Monthly Chronicle, der zur Aufführung des Oratoriums Des Heilands letzte Stunden in Norwich schreibt: „,Man kann mit Recht von diesem Oratorium sagen, daß ein göttlicher Hauch es durchweht; mehr als irgend ein Werk der neueren Zeit ist es aus warmem Herzen hervorgequollen und kann nicht ohne Thränen gehört werden.…‘“.51
Und der Norwich Mercury beschreibt das Verklingen des letzten Akkords mit den Worten: 47 Ebd., Bd. 2, S. 171. 48 Vgl. ebd., Bd. 2, S. 397. 49 Wenn es im Hinblick auf die Fortsetzung der Selbstbiographie durch die Mitglieder von Spohrs Familie heißt, man wolle „ohne irgend welche schriftstellerische Gewandtheit zu beanspruchen, in einfach schmuckloser Wahrheitstreue, nach Spohr’s eignem Beispiel, seine Lebensbeschreibung zu Ende […] führen“ (ebd., Bd. 2, S. 224), ist zum einen ein Topos des autobiographischen Schreibens aufgerufen, der der Wahrhaftigkeit (vgl. Wagner-Egelhaaf, Autobiographie, S. 41 – 43), zum anderen das Inszenierungspotenzial der Schreibenden allzu klein geredet. Was freilich gegen Ende der Selbstbiographie ebenfalls herausgestellt wird, ist Spohrs politische Unterstützung der deutschen liberalen Nationalbewegung, die ihn sogar in die Frankfurter Nationalversammlung führte (vgl. Louis Spohr’s Selbstbiographie, Bd. 2, S. 323 – 329). 50 Vgl. ebd., Bd. 2, S. 282, 287 f., 292 – 295, 297 f., 313, 317 f., 320, 330 f. und 334 f. 51 Ebd., Bd. 2, S. 239.
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Martina Wagner-Egelhaaf
„Es war ein Moment heiliger Empfindung […] der Eindruck war zu überwältigend und ließ alles Irdische verschwinden“.52
Quartett und Chor Nr. 16 aus dem zweiten Teil seines Oratoriums Die letzten Dinge, das Spohr im Juli 1859 nochmals in Würzburg gehört hatte, wurden denn auch bei Spohrs Beisetzung am 25. Oktober 1859 gespielt und so legt Marianne Spohr ihren Mann auch in der Selbstbiographie mit den folgenden Worten zur letzten Ruhe, mit denen die Aufführung von Spohrs Leben endet: „Die frommen Töne, die einst in heiliger Begeisterung seiner reinen Seele entquollen – denen er selbst noch vor wenig Wochen in stiller Andacht gelauscht, – sie klangen trauernd nun an seinem Grabe, und schmerzvoll, doch tröstlich zugleich hallt‘ es nah und fern in allen Herzen wieder : Selig sind die Todten, die in dem Herrn sterben, von nun an in Ewigkeit. Sie ruhen von ihrer Arbeit, und ihre Werke folgen ihnen nach!“53
52 Ebd., Bd. 2, S. 245. 53 Ebd., Bd. 2, S. 407.
Volker Kalisch
Das Oratorium als Profilierungsfeld bürgerlicher Musikkultur
1.
Das „unpolitische“ Oratorium
Es gehört zu den heute wenig mehr nachvollziehbaren Merkwürdigkeiten eines großen Teils der Musikhistoriographie des 19. Jahrhunderts, insbesondere damals aktuelle musikalische Phänomene und Prozesse ihren kulturellen Kontexten zu entziehen und sie möglichst als Ergebnisse bzw. Stationen „rein musikalischer“ Entwicklungen erscheinen zu lassen; und das sowohl zu Beginn als auch am Ende des 19. Jahrhunderts, insofern erkennbar als eine grundsätzlich eingenommene Haltung „den Sachen selbst“ gegenüber, die ihre Erklärung in wenig mehr findet, als in dem hochfliegenden Bemühen, gerade der musikhistorischen Betrachtungs- und Erklärungsweise einen von anderen historischen Deutungsstrategien unabhängigen, eigenständigen – und damit grundsätzlich wissenschaftsfähigen – Status zu sichern. Dieser Bogen spannt sich von dem für die Etablierung der Musikhistoriographie so ungemein wichtigen Raphael Georg Kiesewetter, der deutlich der „Meinung“ ist, „dass die Kunst in ihren Schicksalen sich selbst ihre eigenen Geschichtsperioden bildet, welche in der Regel [!] mit jenen der allgemeinen Welt- und der besonderen Staatengeschichte nicht zusammen treffen, auch mit diesen in der That nichts gemein haben“.1 Und reicht hin bis zu dem nun für alle musikalischen Belange maßgeblichen und einflussreichen Hugo Riemann, der mit Kritik an einer „große führende Persönlichkeiten“-Geschichte zugunsten einer gesuchten Darstellung der „praktischen Entwickelung künstlerischer Ideen und dem Nachweise ihres Einflusses auf die Gestaltung der gesamten Musikübung und ihrer Stellung im Kulturleben der Nationen“2 nicht mit der Abgrenzung geizt:
1 Raphael Georg Kiesewetter, Geschichte der europaeisch-abendlaendischen oder unserer heutigen Musik. Darstellung ihres Ursprunges, ihres Wachstumes und ihrer stufenweisen Entwickelung; von dem ersten Jahrhundert des Christenthums bis auf unsre Zeit, Leipzig 21846, Neudruck Wiesbaden 1972, S. 10. 2 Hugo Riemann, Geschichte der Musik seit Beethoven (1800 – 1900), Berlin-Stuttgart 1901, S. 4.
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Volker Kalisch
„So naheliegend es auch erscheint, den merkwürdigen Umschwung im gesamten Musiktreiben, der sich besonders in Deutschland in den ersten Dezennien des 19. Jahrhunderts vollzieht, mit den politischen Verhältnissen in Zusammenhang zu bringen, so kann doch nicht genug gewarnt werden vor den Fehlschlüssen [!], welche bei dergleichen Kombinationen nur allzu leicht unterlaufen. Gewiß wäre es thöricht, zu leugnen, daß die Verlegung des Schwerpunktes der politischen Interessen von den Höfen und Herrscherpersönlichkeiten in die breiten Schichten des Volkes, die Verdrängung dynastischer Ambitionen durch nationale Ideale einen tiefgehenden Einfluß auch auf die äußere Gestaltung [!] des Kunstlebens ausüben mußte, aber bezüglich des Wirkungsweges dieser neuen Einflüsse muß man sich doch sehr vor plumpen Täuschungen hüten“.3
Wurde denn Riemanns Warnung vor „plumpen Täuschungen“ auch und insbesondere auf den verschiedenen Gebieten der instrumentalmusikalischen Gattungen bis hin zur gänzlich entpolitisierten Dogmatisierung mehr oder weniger bereitwillig Folge geleistet, so gilt es hier, sich ins Gedächtnis zu rufen, welchen historischen Berichts- und Darstellungsbereich er mit solchen Worten tatsächlich adressiert hat: „So bestechend der Gedanke ist“, erklärt sich Riemann, „das gewaltige Aufblühen des Chorgesanges nach langdauernder Vernachlässigung direkt auf das erstarkende Bewußtsein der Volksseele zurückzuführen und die Tendenz zu Vereinsbildungen in größerem Maßstabe, welche sich auf musikalischem Gebiete seit den Freiheitskriegen kundgiebt, mit den keimenden deutschen Einheitsbestrebungen in Konnex zu bringen, so würde doch eine solche musikalische Geschichtsschreibung auf politischer Grundlage Gefahr laufen [!], hochbedeutsame Momente der Entwickelung der Kunst selbst zu übersehen und die Fäden geflissentlich zu durchschneiden, welche die eigentliche Verbindung [!] der Gegenwart mit der Vergangenheit in der Kunstgeschichte bilden“.4
Man mag sich die Augen reiben ob solcher Sätze, aber diese sind tatsächlich einleitend ausgerechnet dem „Fünften Kapitel. Der Umschwung im Konzertwesen. § 1. Chorgesang, Musikvereine, Musikfeste“ seiner vielbeachteten, weil der die damals eigene bzw. unmittelbar miterlebte Gegenwart zusammenfassenden und auf Begriffe bringenden Geschichte der Musik seit Beethoven vorangestellt! Die Vehemenz, mit der Riemann solche Abgrenzung in die Runde ausbringt, lässt im übrigen geradezu das Gegenteil erahnen, nämlich, dass die hervorgehobene ,Zwei-Reiche-Lehre’: hier die politische, eventuell sogar republikanisch angehauchte Nationalgeschichte, dort die Musikkulturgeschichte mit einer der Chormusik neuen oder doch andere Bedeutung zubilligenden Funktion, zutiefst in- und miteinander zusammenhängen. Welcher vermeintlichen Gefahr aus der befürchteten „plumpen Täuschungen“ galt es also zu wehren? 3 Ebd., S. 209. 4 Ebd., S. 209 f.
Das Oratorium als Profilierungsfeld bürgerlicher Musikkultur
2.
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Die Ausgangslage für das Oratoriums zu Beginn des 19. Jahrhunderts5
Unerwartete Verständnishilfe für solche Enthaltsamkeitsforderungen erhalten wir durch Franz Brendel, der gleichsam in Fundamentalopposition zu aller entkontextualisierten Musikbetrachtung aufgrund seiner eigenen, hegelianischen Geist-Philosophie-Verpflichtung aus der Mitte des 19. Jahrhunderts heraus, nun geradezu darum „peinlich“ bemüht ist, alle musikkulturellen Phänomene in den ihm angemessen erscheinenden Erklärungs- und Bedingungsrahmen zu stellen. Bevor er sich dabei weiteren oder näheren Fragen nach Stellung und Bedeutung des Chorgesangs, ob nun innerhalb oder außerhalb des kulturellen Prägeorts „Kirche“, zuwendet, geht Brendel in seinen der Geschichte der Musik gewidmeten „Vorlesungen“ in der auch heute noch, wenn auch mit den üblichen Einschränkungen und Ergänzungen anzubringenden, insgesamt aber lesens- und bedenkenswerten sechzehnten u. a. auf die „Allgemeine[n] Entwicklungen des religiösen Geistes“ ein und zieht „Folgerungen hieraus bezüglich der Kirchenmusik“.6 „Das für die gegenwärtige Betrachtung wichtigste Resultat, welches wir aus diesen Zuständen [nämlich das durch den Rationalismus Ende des 18. Jahrhunderts aufgeweichte Religionsverständnis; Anm. d. Verf.] hervorgehen sehen, ist dies, dass die frühere Verklärung der Welt durch das Ueberirdische verloren ging, dass man in das platte Diesseits herabstürzte. Der frühere Glaube hatte Erde und Himmel zu einer Einheit verknüpft; das Diesseits war aufgenommen in jene Unendlichkeit, der Mensch wurzelte mit seinem tiefsten Inneren in derselben, sie durchdrang und verklärte das Irdische. Jetzt nahm man Wohnung im Diesseits, auf der Erde, baute sich hier wohnlich an und war unbekümmert um den Himmel. Die alte Zeit zeigt uns eine solche innere Unendlichkeit der Gesinnung, dass alles Aeussere, Irdische nur verschwindendes Moment darin ist […]. Die Neuzeit hängt ihr Herz an das Irdische […]“.7
Wenn auch Brendel in den mit den Namen Descartes, Cartesius, Kant verbundenen Rationalismus8 und der von ihm ausgehenden Religionskritik nur eine „Entwicklungsstufe“ und „nothwendigen Durchgangspunct“ begreift, so doch um „durch sie zu einem Höheren zu gelangen“.9 Der Weg sei dadurch frei ge5 Gerne weise ich in diesem Zusammenhang auf die Studie von Michael Zywietz, Adolf Bernhard Marx und das Oratorium in Berlin (= Schriften zur Musikwissenschaft aus Münster, 9), Eisenach 1996 hin, die der historischen Situation des Oratoriums genau während dieses geschichtlichen Zeitabschnitts gewidmet ist. 6 Franz Brendel, Geschichte der Musik in Italien, Deutschland und Frankreich. Von den ersten christlichen Zeiten bis auf die Gegenwart. Fünfundzwanzig Vorlesungen gehalten zu Leipzig, Leipzig [1851]; 31860. 7 Ebd., S. 350 f. 8 Vgl. ebd., S. 349. 9 Vgl. ebd., S. 351 f.
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worden für die „moderne Philosophie“.10 Für jene, wie sie z. B. in Herders Denken und konkret in seinen „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit“ als „Philosophie der Geschichte“ Gestalt angenommen habe: „Hierdurch wurde die Einsicht in den unaufhaltsamen, ununterbrochenen, stufenweisen Fortschritt des Menschengeschlechts gewonnen, die Erkenntniss des Zieles der Weltentwicklung überhaupt, die Einsicht, wie alle Ereignisse, wie alle Völkerentwicklungen im inneren Zusammenhange stehen, alle Völker der Erde Bausteine herzubringen zu dem grossen Pantheon der Geschichte. Die Stellung des Christenthums musste dadurch für die Erkenntniss eine wesentlich andere werden. Jetzt erschien es als der Mittel- und Höhepunct der ganzen Geschichte, nicht mehr urplötzlich vom Himmel herabgefallen, sondern im tiefsten, inneren Zusammenhange mit allen Erscheinungen der früheren und späteren Zeit stehend, das Heidenthum erschien eben so berechtigt, erschien als eine wesentliche Vorstufe für dasselbe“.11 „Die grosse Einsicht, dass Poesie und Kunst, Religion und Philosophie wesentlich denselben Inhalt haben, wurde gewonnen. Diese auf allen Gebieten des Geistes erlangten Schätze kamen der Betrachtung des Christenthums zu Gute“.12
Kants Lehre, folgert Brendel weiter, „dass der Mensch das Uebersinnliche nicht erkennen könne“, stünde zwar „im schroffsten Widerspruch mit dem Christenthum, und der ersten Grundwahrheit desselben, dass Gott geoffenbart ist“, doch gebe dies im Gegenzug die Sicht auf jenes richtige Verständnis des „Geistes“ frei, der „alle Dinge […] durchdringt“ und „selbst die Tiefen der Gottheit […] erforscht“.13 So ginge schließlich „das unermessliche Bewusstsein auf, dass das Christenthum eine Offenbarung des Geistes ist, nichts Jenseitiges, sondern etwas dem Menschen Eingeborenes, die Offenbarung seines eigenen Wesens“.14 Das daraus abzuleitende neue Verständnis des „Christenthums“ sei ein wesentlich anderes, „und diejenigen, die sein Wesen nur in der bisherigen Form erfassen können, dürften es wieder zu erkennen kaum im Stande sein“.15 Und dies, wo doch selbst der durch „die speculative Philosophie und Theologie begründete“ und jetzt eingenommene „Standpunct“ durchaus „kein letzter, die Entwicklung abschliessender“ sei, und mancher sogar den Eindruck gewinnen könne, dass „die neueste Zeit in ihrem soeben bezeichneten Streben […] schon darüber hinausgegangen“ ist.16 „Aber es ist durch ihn zuerst die Fremdheit, mit welcher das Christenthum dem denkenden Geiste gegenüber stand, überwunden, die Kluft zwischen Diesseits und Jenseits 10 11 12 13 14 15 16
Vgl., S. 351. Ebd., S. 352. Ebd., S. 353. Ebd. Ebd. Ebd., S. 355. Ebd.
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beseitigt worden, und er hat daher auch thatsächlich die Grundlage gebildet für den grossen Umschwung, welcher sich anbahnt, für die menschlich freie Zeit, das Reich des Humanismus“.17
Das gewandelte Religionsverständnis gilt als „die Grundlage für den grossen Umschwung“ – Brendels im pathetischen Unterton vertretener Erklärungsrahmen ist wörtlich zu nehmen! Denn „gänzlich ausgeschlossen von der Kirche konnte die Tonkunst nicht werden; Kirchenmusik musste stattfinden. Jetzt aber waren auch diese äusseren Verhältnisse auf den inneren Kunstcharakter von Einfluss. Die Tonsetzer, an sich selbst schon nicht mehr von Begeisterung für die Kirche gehoben, mussten sich den gegebenen Verhältnissen anbequemen. So entstand [einerseits; Anm. d. Verf.] jene Unmasse hausbackener Compositionen, welche allein die praktische Zweckmässigkeit im Auge hatte. […]“.18
Die veränderten Rahmenbedingungen andererseits wirkten sich aber auch neubzw. umbestimmend auf die bereits eingeführten, gewissermaßen arrivierten kirchenmusikalischen Gattungen, wie z. B. das Oratorienschaffen, aus, wie Brendel in der anknüpfenden siebzehnten „Vorlesung“ auseinanderlegt: „[…] nach dem tiefen Falle in der zweiten Hälfte des vorigen [18.; Anm. d. Verf.] Jahrhunderts, nach der entschiedenen Verweltlichung der Kirche sehen wir jetzt eine erneute Erhebung, wenn schon in weiten Kreisen der althergebrachte Schlendrian noch gäng und gebe ist. […] Werke der alten, grossen Kirchenmusik hört man selten oder gar nicht; man ist befriedigt, wenn man Concertmusik in der Kirche hat. So sehr sind die Meisten von der rationalistischen Anschauung gefesselt, dass sie noch gar nicht wissen, wovon die Rede, dass sie nicht bemerken, was verloren gegangen ist, und das Bewusstsein, dass das letzte Jahrhundert nur ein grosser Durchgangspunct war, liegt ihnen fern. – Noch will ich bemerken, dass Sie keinen Widerspruch darin finden mögen, wenn ich einerseits von noch grösserer Weltlichkeit bei der Kirchenmusik der Zukunft, andrerseits von erhöhter Kirchlichkeit der Neuzeit spreche“.19
Noch größere Weltlichkeit bei der Kirchenmusik der Zukunft einerseits, erhöhte Kirchlichkeit der Neuzeit andererseits – wie löst sich aus Brendels Sicht diese Paradoxie? „Nur der Anschluss an die [musikalischen; Anm. d. Verf.] Bestrebungen der Zukunft vermag Erfolge zu gewähren“, ermahnt Brendel dem staunenden Leser. Man könne zwar niemandem sagen, räumt Brendel etwas verlegen ein, „dass er der Zukunft sich anschliessen solle, wenn er nicht schon mit seinem Inneren in derselben wurzelt. Solche Thätigkeit setzt ein kühn vorwärts dringendes Genie voraus, setzt voraus, dass man mit der [falschen; Anm. d. Verf.] Gegenwart vollständig gebrochen, seinen Standpunct in einer 17 Ebd. 18 Ebd., S. 360 f. 19 Ebd., S. 382 f.
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neuen Welt genommen habe, und zwar mit zweifelloser Sicherheit und unangefochten von störenden Einflüssen der unmittelbaren Umgebung“.20 Und so ist es das Oratorium, in dem Brendel u. a. ein solches geeignetes Betätigungsfeld erblickt. Nicht von ungefähr, wohlgemerkt, bilde doch das Oratorium schon von seiner Genese her eine Brücke, „einen Uebergang von der Kirchenmusik zur weltlichen“.21 In besonderer Weise verdanke es sich und trage in sich schon immer die Dialektik zwischen Weltlichkeit in der Kirchenmusik einerseits und erhöhter Kirchlichkeit in der einzufordernden neuen Tonsprache andererseits aus, und empfehle sich schon deshalb als der „Zukunft“ verheißende musikalische Austragungsort, um die in Widerspruch zueinander geratenen Ansprüche einer neuen Synthese zuzuführen. Die „Zukunft des Oratoriums“ sieht Brendel unter ausdrücklicher Bezugnahme auf einen gleichlautenden Artikel C. L. Hilgenfelds, den er ausgiebig in seiner 17. „Vorlesung“ zitiert, nicht dadurch gewährleistet, dass „man noch jetzt dem Publicum biblische Stoffe zumuthet, denen eine bleibende Wahrheit nicht innewohnt“.22 Verleiht aber ein nicht sorgfältig gewählter, die Maßgaben des eingeforderten „Humanismus“ erfüllender Stoff die „innere Berechtigung“ für das erst noch zu schaffende zeit-, besser geist-gemäße Oratorium, dann sei es „in der Gegenwart als einem überwundenen Standpunct angehörig zu bezeichnen, und man muss in der That jüngere Tonsetzer vor einer Thätigkeit warnen [!], die, weil sie im Widerspruch mit der Zeit steht, ihnen nie Erfolge verheisst“.23 Ernüchternd entlässt Brendel seine tatsächliche oder imaginierte Zuhörerschaft („Vorlesungen“!) mit der nochmaligen Bekräftigung und Ermahnung: „Darauf aber ist zu sehen, dass der Inhalt ein allgemein menschlicher sei. Das Biblische dagegen, wenn ihm nicht zugleich diese allgemein gültige Seite innewohnt, dürfte als für immer beseitigt [!] zu betrachten sein“.24
Das biblische Oratorium wird von „innen“ heraus für tot erklärt, es lebe das allgemein menschlichen Themen gewidmete weltliche im kirchlich-sakralen Tonfall! Dort vollziehe sich der Fortschritt, und wer die Zeichen der Zeit nicht verstanden hätte – und die stünden nun einmal eindeutig auf Säkularisierung! –, dem könne auch nicht geholfen werden. Ganz anders freilich die Chronisten und „Agenten“ des deutschen Männergesangwesens. Für sie war ohnehin klar, wie z. B. Otto Elben bereits im Vorwort 20 Ebd., S. 384 f. 21 Ebd., S. 386. 22 Ebd., S. 388. Gemäß dieser Sicht wird auch verständlich, warum Brendel, Felix Mendelssohn Bartholdy ansonsten als hervorragende Wegmarke für eine zukunftsweisende Oratorienentwicklung preisend, 1. Paulus Elias vorzieht, und 2. gerade in Elias kein Werk „bleibender Wahrheit“ erblickt. 23 Ebd. 24 Ebd., S. 389.
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zur ersten Auflage seiner Geschichte des deutschen Männergesangs 1854 betont, dass „der deutsche Männergesang […] innerhalb und außerhalb der Grenzen Deutschlands eine solche Verbreitung gefunden“ habe, „daß eine Geschichte desselben, eine Untersuchung seines gesellschaftlichen und nationalen Einflusses ihre Berechtigung im Umkreise deutscher Kulturgeschichte finden muß“. Der „deutsche Gesang, [verstanden als] ein volksthümlicher Ausfluß der Kunst, wie er sich bei keinem anderen Volke und in keinem anderen Gebiete künstlerisch-gesellschaftlichen Lebens findet, ist eine Erscheinung im deutschen Leben, auf die wir stolz sein dürfen. Die Kenntniß dieser Erscheinung in ihrer ganzen Entwicklung mag dazu dienen, das Sängerwesen auf seinem eigenthümlichen Boden zu erhalten und auf seine nothwendige Bahn zu leiten: auf die volksthümliche und nationale“.25
Was dabei der ersten Auflage noch eine Art kulturpolitisches Programm und Verpflichtung war, das war der Zweitauflage 1887 bereits Selbstverständlichkeit geworden, die sich jetzt nicht mehr programmatischen Wollens und Möchtens zu versichern brauchte, sondern archivalisch wie ideologisch aus dem in breiten Kreisen mitgetragenen Vollen schöpfen konnte! „Besonders lag“ Elben nun „am Herzen, den nationalen Inhalt unseres Männergesangs – auch jetzt nach Errichtung des Reichs [1871; Anm. d. Verf.] – aufzuzeigen“.26 Freilich bezogen sich solche markigen Bekundungen in erster Linie auf den „Männergesang“, indirekt aber auf alles, was dem (Männer-)Gesangsverein als Artefakte unter die Finger, besser in die Kehlen kam. Die (zeitgenössische) Oratorienliteratur freilich nicht ausgespart (wenn auch nicht im Zentrum des sich gerne allgemein gebenden musikalischen Volksbegehrens)! In das Vorbild des in Kränzen, Tafeln, Quartetten, Bünden usw. organisierten Männergesangs wurde vor allem der Vereinsgedanken implementiert, der sich in vereinbarten oder veranlassten Festen, Fahrten, Versammlungen, Jubiläen u. a. m. manifestierte. Dabei wurden Wege beschritten und Formen gesucht, in denen das „Volksleben“ „seine Freude zur Geltung bringen kann“.27 Als „bürgerliche“ Veranstaltungen („Feste“) dienten sie weder der „Verherrlichung“ der zugesprochenen oder ermittelten sängerischen Einzelleistung, noch gingen sie auf in den Zuständigkeitsbereich geistlicher oder weltlicher Hierarchien, sondern sie dienten einzig und allein der Selbstdarstellung, ja, der Selbstinszenierung des Bürgertums selbst sowie seiner kulturellen Ideen: „Unsere Zeit muß, wenn sie Volksfeste haben will, in denselben jene Gegensätze versöhnen: der Einzelne muß zu seiner Berechtigung gelangen, aber er kann nicht mehr 25 So derselbe im Vorwort zur 1. Auflage (1854) zitiert nach: Otto Elben, Der volksthümliche deutsche Männergesang. Geschichte und Stellung im Leben der Nation; der deutsche Sängerbund und seine Glieder, Tübingen 21887, S. VII [Hervorhebung im Original]. 26 Ebd., S. X. 27 Ebd., S. 154.
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das Gesammtinteresse für sich allein vorwegnehmen[;] an die Stelle des Einzelnen treten die vielen von der gleichen Idee Erfaßten, treten Gruppen, Massen, tritt das Volk. Die vielseitige Gestaltung der Verhältnisse drängt zur Vereinigung, der Einzelne tritt auf als Glied der Gesellschaft. So können unsere Volksfeste nicht mehr den Sieg eines Einzelnen feiern, ein solches wäre der Gesellschaft zu unbedeutend, sondern den Sieg von vereinten Kräften, den Sieg einer Idee“. Und weiter erläutert Elben den Vereinigungsgedanken ausdehnungsmäßig, indem er fordert: „Die Feier großer geistiger Gedanken, seien ihre Stoffe aus den Gebieten der Kunst oder des Erwerbslebens [!], vereinigen mit den Betheiligten eine große Menge von Angehörigen aller Stände [!] im gleichen Ziele [!]: hieher gehören Feste der Kunst und der Künstler, Musikfeste, große Theaterdarstellungen, Gemäldeausstellungen, die großen Ausstellungen der Industrie, der Landwirthschaft; auch die Versammlungen von Männern der Wissenschaft, wie der Naturforscher, der Land- und Forstwirthe bieten zu Festen den Anlaß. Aber weitere Kreise stellt das Gesanges-, Turn- und Schützenwesen dar. Sie dürfen zusammen genannt werden, weil sie auf das Allgemeine berechnet, weil sie Jedem [!] zugänglich sind. So bietet das 19. Jahrhundert, wie es in seiner inneren, geistigen Gestaltung alle seine Vorgänger überragt, auch reichliche Stoffe zur Verherrlichung des Volkslebens; es bietet Keime zu schönen Volksfesten. Freilich fehlte seither die Durchdringung dieser Stoffe durch einen nationalen Schwung, die geschichtlich nationale Berechtigung. Wir haben wohl auch vaterländische Ereignisse gefeiert: die Leipziger Schlacht, den Waterlootag – sie sind in der Unlust über die trostlosen Zustände des Vaterlandes verschwunden; wir haben in unserer Kulturgeschichte vaterländische Triumfe [sic!] gefeiert: die Erfindung der Buchdruckerkunst, unsere Dichter u.s.w., und diese Feste haben sich durch den vaterländischen, schwungvollen Inhalt zu Nationalfesten erhoben“.28
Einfluss geht auf jeden Fall von den die Gesangsvereinsbewegung formenden und tragenden Kräfte auf die mit ihnen in Wechselwirkung stehenden Oratorienvereine aus. Und dies nicht nur hinsichtlich der gewählten Vereinsform – erst zögernd, dann immer konkurrierender werdend treten sie den altehrwürdigen Kirchenchören an die Seite, ergänzen erst und übernehmen dann zunehmend auch deren Mitwirkungs- und Aufführungsrolle in der Kirche (Brendels „Kirchenconcerte“!) –, sondern auch auf das kulturelle Selbstverständnis und -bewusstsein, das sich in den diversen Selbstthematisierungen niederschlägt. „Unbestritten“ als eine „der bedeutendsten Kunstgattungen, die jetzt wie sonst viele Verehrer zählt“, rechtfertigt Franz Magnus Böhme sein sonst eher trockenes Unterfangen von 1861, das Oratorium in seiner historischen Genese zu würdigen. Den „Aufschwung des weltlichen Oratoriums“ eher beiläufig zur Kenntnis nehmend – Böhmes Augenmerk gilt der geradezu selbstverständlich mit biblisch bzw. kirchlich gleichgesetzten Gattung! –, preist er dessen Kulturbedeutung schon nicht mehr mit dem Verweis auf die möglicherweise erfüllte „Erwartung und Freude“ bei Kirchgängern, Gemeinden oder 28 Ebd., S. 154 f.
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– allgemeiner – der braven Christenleut’, sondern umschreibt die Zielgruppe soziologisch weitaus amorpher, aber mit den typisch „bürgerlichen“ Standeszuweisungen „bei Hoch und Niedrig“.29 Mit Heil-Rufen auf das bürgerliche, nämlich Stände-, Geschlechter- und Lebensalter-übergreifende Vereinsprinzip beendet denn auch Böhme seine „Studie“: „Darum dreimal Heil dem Lande und der Stadt, wo ungeheuchelte, hocherleuchtete, für edlen Gesang durchglühte Männer und Frauen, Jünglinge und Jungrauen bis auf den Knaben herab sich zusammenschaaren, zu singen von den großen Thaten des Herrn!“30
Dabei können wir davon ausgehen, dass Böhme tatsächlich den Sachverhalt des mittlerweile verbürgerlichten Kirchenlebens mit all seinen dazugehörigen Inhalten und auch Musikformen beobachtet und beschreibt. Angekommen und bestätigt wäre damit nur eine Entwicklung, die freilich als „bildungspolitische“ Maßnahme ungefähr schon eine Generation früher propagiert und auf den Weg gebracht worden ist. Ich erinnere hierbei nur an Hans Georg Nägeli, der ja die sich in unmittelbarer historischer Gleichzeitigkeit etablierenden „Singvereine“ mit der Forderung begleitet: „Ich mache daher an jeden städtischen Singverein folgende Anforderungen – und ich glaube, auch Vernunft und Christenthum, Moral und Menschenliebe machen sie. Sein Grundgesetz soll seyn: unbeschränkte Oeffentlichkeit“.31
Nun mag man fragen, was diese Forderung nach Partizipationschancen, prinzipiell „dem ganzen Volke“ „aufgeschlossen“ zu sein, für den bürgerlichen „Singverein“ mit der arrivierten Kirchenmusik und ihren Institutionen zu tun haben mag? Zumal zu Recht gemutmaßt werden darf, dass es sich in erster Linie wohl eher um eine vor allem politische Forderung an die staatstragenden Autoritäten handelt, die je nach obrigkeitsstaatlicher Einstellung die Vereinsbildungen mit gehöriger Skepsis beargwöhnten.32 Doch die Verbindung zwischen zutiefst bürgerlich-politischer Forderung und Rolle der Kirche stellt Nägeli selbst her. Er führt nämlich (fast schon ein wenig subversiv) aus: „Wo die Ortsbehörden zu solcher Verallgemeinerung der höhern Kunstbildung nicht ganz geneigt scheinen, da suche er [der ,Vorsteher‘ solcher Singvereine; Anm. d. Verf.] die Ortsgeistlichen, und jene durch diese zu gewinnen. Schwierig sollte dieß nicht seyn. Denn überall, wo ein Singverein existirt und im rechten Geiste geleitet wird, da er29 Franz Magnus Böhme, Das Oratorium. Eine historische Studie, Leipzig 1861, S. 1. 30 Ebd., S. 66. 31 Hans Georg Nägeli, Vorlesungen über Musik mit Berücksichtigung der Dilettanten (1826), mit einem Vorwort zum Neudruck von Martin Staehelin, Darmstadt 1983, S. 272. 32 Hierzu allgemein und nach wie vor unüberholt die gewichtigen Studien von Thomas Nipperdey zum „Verein als sozialer Struktur in Deutschland“ etwa in: ders., Gesellschaft, Kultur, Theorie (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, 18), Göttingen 1976.
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scheint der geistliche Chorgesang in seine Würde und Wirksamkeit eingesetzt. Dieser Wirksamkeit Vorschub zu thun, hält wohl jeder Geistliche für Berufspflicht; und wäre hie und da einer, der zwar den geistlichen Gesang schätzt, aber ihn nur unter der argen Mißgestalt des Chorals als Volksgesang gelten lassen will, so muß man ihn darüber aufklären, und da ist die Aufklärung die sicherste, wenn man ihm solche FiguralGesänge mit starker Besetzung zu hören giebt, die nicht im Fugenstyl, sondern in einem volksthümlichen und zugleich rythmisch lebendig gesetzt sind. Und sind einmal die Geistlichen allgemeiner für die Sache gewonnen, so wird auch der höchste Zweck der Oeffentlichkeit auf die edelste Weise erreicht werden können. Man wird endlich ein musikalisches Kirchenthum in’s Leben rufen, dessen die an Cultusmitteln so arme protestantische Kirche [!], wo alle besondern Gemüthswirkungen von der Individualität des Geistlichen, als Predigers, abhängig gemacht sind, und dieser nicht selten einem alle Poesie, und folglich allen kunstästhetischen Eindruck vernichtenden Rationalismus [!] huldiget, am allermeisten bedarf. Ich nenne es ein musikalisches Kirchenthum, wo man regelmäßige poetisch-musikalische Erbauungsstunden kirchlich organisirt, wie man im Weltleben zur ästhetischen Bildung und Unterhaltung Concerte, und sogar vom Staat aus die Oper organisirt hat. Eine solche Organisation ist, in Kunsthinsicht, gar nicht schwierig, sobald man nur eine volksthümliche Kirchenmusik haben will. Daß sie aber volksthümlich sey, ist in den Lebensaufgaben des Christenthums mitinbegriffen. Es ist ja die volksthümlichste Sache von der Welt. Und wenn wir eine Universal-Kunst [!] haben wollen, so wird ihr Wesen und ihre Verwirklichung mit dem Christenthum, als der Universal-Religion [!], im Einklang stehen müssen“.33
Nägelis Auffassung also entspricht es geradezu, dass Aufgabe und Wesen der Kirchenmusik erst durch eine Verbürgerlichung in „volksthümlicher“ Einkleidung zu sich selbst finden. Welche Konsequenzen aber ergeben sich daraus für das Oratorium im konkreten Sinne? Nägeli bedenkt auch diese Frage, indem er die Hinwendung und den Einsatz des Oratoriums zunächst an die gehobenen Anforderungen von Fest- und Feiertage rückbindet: „Außergewöhnlich bedarf ein musikalisches Kirchenthum seiner Festtage, wo die Kunst zu einer ,Anbetung im heiligen Schmuck’ ihrem Möglichsten und Höchsten aufbietet. Hier muß die Instrumentalmusik [im Sinne der Hinzuziehung und des Einsatzes eines Orchesters; Anm. d. Verf.], als der heilige Schmuck der Stimme, hinzukommen. Den Stoff dazu haben wir in den vielen herrlichen Cantaten und Oratorien [!] unserer deutschen Kirchen-Componisten. Und wenn wir dabey immer nur, wie wir sollen, den wahren und edeln Schmuck aussuchen, Prunk und Flitterstaat aber vermeiden, und daher Alles ausschließen [!], und wären es auch die vornehmsten Genie-Produkte, worin der Instrumentalgehalt die Menschenstimme verdunkelt und die Wirkung des Wortes schwächt, so fällt unsere Wahl auch nur auf solche Kirchenwerke, deren nicht schwierige Ausführung auch keinen großen Zeitaufwand und keine weitläufigen Zurüstungen erfordert. Das erfordern nur jene luxurierenden, mit 33 Nägeli, Vorlesungen über Musik, S. 272 f. [Hervorhebungen im Original].
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schwierigen Instrumentalzuthaten und obligaten Instrumenten aller Art, wie auch mit künstlichen und verwickelten Gesangsolos überladenen Produkte [!], wie deren mitunter in unserer modernen Kunstwelt vorkommen. […] Und so schließe ich mit dieser einfachen Frage die Vorschläge zur Beförderung der Vokalmusik, und erlaube mir jedoch noch die Behauptung: Nirgends in der ganzen cultivirten Welt findet das alte wahre Wort, ‘Lasset uns besser werden, gleich wird’s besser seyn’, eine unfehlbarere und fruchtbarere Anwendung, als hier. Lasset uns volksthümlicher werden, gleich wird mit dem musikalischen Volksthum auch das Christenthum zur noch segensreichern Volkswohlthat werden“.34
„Volksthum“ und „Christenthum“, Kirchenmusik und Vokalmusik, Religionsfragen und bürgerlicher Verein – von Nägeli werden diese Sachverhalte zueinander nicht nur in Beziehung gesetzt, sondern miteinander identifiziert. In diesem Sinne ist Nägeli das Oratorium eine gleichermaßen „weltliche“ wie „kirchliche“ Angelegenheit, schlägt er es keinesfalls ausschließlich der Kirchenmusik zu, was auch keinen Sinn ergeben würde, wo doch die These gilt, dass dieselbe erst durch die Verbürgerlichung zu sich selbst finden würde. Aber in noch einer weiteren Hinsicht wird uns Nägeli zum Anknüpfungspunkt nun für eine musikalische Forderung von kompositionsästhetischem Belang. Denn der von ihm geradezu kämpferisch erhobene Schlachtruf nach volksthümlich bzw. Volksthum, verknüpft ja mindestens vier ganz unterschiedliche Aspekte begrifflich miteinander. Denn 1. verleiht er dieser seiner Maxime einen soziologischen Ort, nämlich im damals gerade sich durchzusetzen beginnenden bürgerlichen Gesangsvereinswesen. Dieses verlangt 2. nach einer Musik, die a) sowohl den sozialen Träger anzusprechen vermag wie b) für ihn auch technisch und musikalisch-praktisch ausführbar ist. Denn 3. gilt es zukünftig eine Musikkultur, eine bürgerliche, anzustreben und zu errichten, in der die alte Scheidung: hier Aufführende, dort andächtig Zuhörende aufgehoben ist. Dem Oratorium kommt in diesem Programm 4. eine besondere Eignung zu, bietet es dem bürgerlichen Musik-/Musizierbedarf nicht nur eine Mitwirkungsmöglichkeit auf sowohl vokaler wie instrumentaler Ebene an, sondern verleiht ihm auch durch die Evokation eines feierlich-festlichen Gepräges eine auratische, quasi-religiöse Dignität – auch außerhalb des Kirchenraums oder anderer ritueller Orte. Welches Oratorium mag wohl solche Vorgaben in etwa umgesetzt und geradezu beispielhaft verwirklicht haben? Ganz unstrittig ist hier z. B. an Andreas Rombergs sowohl als „Kantate“ als auch als „Oratorium“ verkauftes Das Lied von der Glocke op. 25 (1808) auf die gleichnamige Ballade von Friedrich Schiller zu denken, das sich als eine Art „Hit“ der bürgerlichen Oratorienbewegung seit seiner ersten Aufführung bis auf unsere heutigen Tage nicht selten bis in die 34 Ebd., S. 276 f.
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kleinstädtischen Gesangsvereine hinein großer Beliebtheit erfreut. War schon bald Schillers 10-strophiges Gedicht zum – mehr gefürchteten, dann verballhornten, denn wirklich geliebten – selbstverständlichen Bildungsbestand ganzer Generationen von brav auswendig lernenden Schülerinnen und Schüler avanciert, so galt Schillers Ballade weiten Kreisen der Gesellschaft genau so als treffliches Sinnbild alles Irdischen wie Rombergs Vertonung als dessen kongeniale Vertonung. Geschätzt – und vor allem – fleißig einstudiert und aufgeführt wurde und wird es, weil dessen Musiksprache eingängig, die aufzuwendenden Mittel verhältnismäßig und seine Aufführbarkeit bewältigbar sind – ganz im Sinne Nägelis! Eine anonym erhaltene Handreichung35 – frühes Beispiel für die weltanschauliche Lenkung via geeignet empfundener und zielgerichtet eingesetzter „Unterrichtsmaterialien“36 – bestätigt denn auch den programmatischen Charakter für die bürgerliche Lebensführung. Schillers Gedicht bringe zur poetischen Anschauung „Das volle Menschenleben: in drei concentrischen Kreisen bewegt es sich; in einem engbegränzten: das ist die Familie; in einem weiteren: das ist die bürgerliche Gemeinde, und in einem weiten, umfassenden, der aber die beiden ersten Kreise zur nothwendigen Voraussetzung hat: das ist der Staat“.37 Sich allerdings der eingeschränkten, weil intellektuellen Wirkung der Botschaft nur per dichterischem Wort bewusst, wirbt der anonyme Autor für die affektuelle Vertiefung mittels Musik, konkret freilich durch Aufführung von Rombergs Vertonung. „Doch, Worte sind eben Worte; und sie reichen nicht zu, wenn es gilt, die Seele und den Inhalt eines Tonstücks zu erfassen und zu vermitteln. Gute Musik will eben gehört sein. Romberg’s Musik zu Schillers Glocke hat sich noch je und je erwiesen als ein wirksamer Hebel zum Wiederaufbau des vielfach verfallenen deutschen Volks- und Gemeindelebens [!], als ein Mittel zur Weckung und Befestigung fröhlicher Begeisterung für das große, unser Volk veredelnde und zur sittlichen Einheit verbrüdernde Kleinod des deutschen Hauses und der deutschen Familie, worauf Gemeinde- und Staatsleben ruhen“.38 An die Stelle der tatsächlich eingeschränkten Partizipationschancen des er35 Meditationen über Schiller’s Lied von der Glocke [24 S.], in: Schiller’s Lied von der Glocke in Bildern von Ludwig Richter (= Begleitheft zur Schallplatte), Bad Sassendorf 1982, [o. S.]. 36 Vgl. die mit den Initialen „D.B.“ gekennzeichnete lange, sehr aufschlussreiche Fußnote zum Titel der Meditationen, ebd., [S. 1 f.]. Dort wird zwar der ausschließliche Gebrauch für Schulen im weiteren Verlauf der Absichtserklärung eingeschränkt, aber zunächst heißt es u. a.: „[…] Weiter, als bis zu einem relativen Verständniß wird es die Schule bei derartigen Stoffen überhaupt nicht bringen. Man darf den reiferen Jahren auch noch etwas vertrauen. – Kurze, knappe Andeutungen, vor Allem das Anklingenlassen verwandter, bereits durch die Erfahrung näher gebrachter Gedanken und Gefühle wirken meist mehr, als breite Erklärungen der Gedichte. – Eine Grundbedingung für die fruchtbare Behandlung von Gedichten ist diese, daß der Lehrer poetisch gerichtet und daß ihm selber die Schönheit der Poesie aufgegangen sei […]“. 37 Ebd., [S. 7]. 38 Ebd., [S. 23].
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wachenden Bürgertums am politischen Leben treten kulturelle Werte wie Bildung und Tätigkeiten wie z. B. das sich Organisieren in Vereine, so zumindest sieht es Adolf Bernhard Marx. Letzteres umso mehr wie sich das Zusammenschließen vor allem als ein tatsächlich aktives Mitwirken und Mitbestimmen, als ein Mitsingen und Mitaufführen von Musik, als ein Mitbestimmen des Vereinslebens und Mitgestalten von z. B. Festaktivitäten ausmünzt. Keiner hat das übrigens so deutlich gesehen und wichtig gemacht, wie der nun nicht unbedingt für eine besonders revolutionäre Haltung bekannte Musiktheoretiker und -schriftsteller. Klar und deutlich spricht er das Ineinander von politischen Bedingungen und kulturellen Aktivitäten an. Auf die selbst gestellte Frage, warum es gerade „Volksgesang und Kirchenmusik“ gewesen seien, die „in Deutschland“ stets wahre Blüten getrieben hätten und noch immer die Gegenwart beflügelten,39 verweist er selbst auf deren soziale Verankerung mit folgenden markigen Worten: „[Seitdem] die Verkommenheit wahren Volkslebens, die Absperrung des Volks von aller bewussten und selbstbestimmten Theilnahme an den öffentlichen Angelegenheiten, die Knebelung freier Bewegung im Innern und nach aussen, der Verschluss der Meere, seitdem Autokratismus und Hofhalt nach Ludwigs XIV Manier in Deutschland soviel Gunst und Nachahmung gefunden [haben], seitdem Zersplitterung der Nationaleinheit mit ihren Wirkungen, dem dreissigjährigen Krieg’ und allem sonstigen Unheil, Freiheit Rechte Nationalbewusstsein des deutschen Volkes herabgedrückt hatte bis zum Grabesrand. Waren damit Thaten – grosse Bewegungen nach aussen abgeschnitten, selbst der Gedankenlauf der einzelnen Denker in das Innerliche gebannt: so arbeitete der unertödbare Geist des Volks nach Innen und im Innern weiter [!]; das Innen-Leben, Sehnsucht des Glaubens und Trost der Andacht, mit diesem InnerlichLeben und Innerlich-Brüten die Kunst der Innerlichkeit [!] – die Musik – wurden Hauptstätten der Thatkraft und Lebensinteressen. In der Zeit, wo Britannien seine Verfassung seine Seemacht seinen Welthandel befestigte, wo Frankreich seine Einheit vollendete und mit dreifachem Festungsgürtel umpanzerte, wo Russland zur Weltmacht und Pressung nach Westen sich zusammennahm, – in der Zeit war es, wo wir, schon eingeengt und dumpf umschränkt, unsre Gemüthskraft in Tonfluten dahingossen, wo wir sangen – bald gen Himmel empoströmenden Entzückungen bald der wortlosen Angst und Beklemmung bald der Süssigkeit des Selbstvergessens Stimme gebend“.40
Besser und zutreffender könnte dieser soziologisch relevante Befund zumal in Worten eines Zeitgenossen nicht gefasst werden! Marx selbst verknüpft diese kulturelle ,Wurzelleistung‘ mit der nun einsetzenden (Gegen-)Strömung einer immer stärker werdenden Säkularisierung41 39 Vgl. Adolf Bernhard Marx, Die Musik des neunzehnten Jahrhunderts und ihre Pflege. Methode der Musik, Leipzig 1855, S. 98. 40 Ebd., S. 99 f. 41 Vgl. ebd., S. 102.
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und beschreibt mit Sorge um das mögliche Wegbrechen der bisherigen Leistungen im Bereich der „Kirchenmusik“ auch die entsprechenden Veränderungen: „[…] dass der kirchlich-andächtige Inhalt des Textes und die nach ihm gewählte Form [z. B. das Oratorium; Anm. d. Verf.] nur zum Anlass dienen für künstlerisches Bilden, dass nicht Religion Kirche Gottesdienst, sondern künstlerischer Schaffensdrang oder äusserer Anlass (etwa für Singakademien) Zweck und Antrieb gewesen [sind]. […] In alle dem ist nicht besondre Schuld der Einzelnen, es ist der mächtige Zug der Zeit selbst in denen, die nicht Kraft oder Aufrichtigkeit haben, sich ihm bewusst und freudig anzuschliessen. Allein die Folgen sind darum nicht weniger entscheidend […] Dasselbe gilt von jener Kunstform, die man eine zeitlang mit mehr Beharrlichkeit als Recht ausschliesslich der Kirchenmusik zugezählt hat, vom Oratorium. […] Denn in einigen dieser Oratorien (z. B. Händels Messias) war allerdings der Inhalt ausschliesslich religiös, in andern aber (z. B. im Judas[,] Simson und Saul) hatten Freiheitssinn Heldenthum Liebe – wie in der Bibel selbst – mächtigen Ausdruck und breiten Antheil gefunden, so dass schwer zu entscheiden ist, welche Saite wohl am stärksten anklingt: die der Andacht und Gottgewärtigkeit oder die der menschlichen Selbstkraft und Leidenschaft“.42
Und nach Diskussion der Rolle und Bedeutung Haydns sowie der neueren Komponisten – einschließlich Schumann – resümiert Marx bitter : „[…] genug, der Austritt aus dem kirchlichen Kreis’ ist entschieden; auch die neueren Oratorien[,] die noch an biblischen Hergängen oder Mythen festhalten (z. B. Schneiders Weltgericht und Sündenflut) oder ihnen nahe bleiben (z. B. Spohrs Babylon [!], Hillers Jerusalem) sind jenem Kreise fremd, wollen [aber in Wirklichkeit; Anm. d. Verf.] künstlerisch, nicht kirchlich wirken“.43
„[…] welch ein Abfall von der Wahrhaftigkeit [hat] hier stattgefunden und wie tief [hat] die Unwahrheit des allgemeinen Standpunkts dieser jetzt so hochgefeierten Werke bis in ihre Einzelheiten – und in das Jetztleben der Kunst überhaupt eingegriffen…“, hält Marx der von ihm beschrieben Entwicklung entgegen, allerdings mit Worten, die dieselbe bereits als faktisch vollzogen beschreibt. Und trotzig warnt er vor den Negativ-Folgen für das allgemeine Musikleben, die Marx dort erblickt, wo die damit verbundene Zuständigkeitsfrage in der Trägerschaft von den „Kirchenchören“ auf die „Singvereine“ übergehe.44 Denn den Singvereinen fehle es bei allen aufgezählten Positiva an „technisch-musikalischer“ Tüchtigkeit, deren Mangel sich auf das zukünftige Komponieren negativ auswirken könnte.
42 Ebd., S. 102 – 105. 43 Ebd., S. 105. 44 Vgl. ebd., S. 106.
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„Mangel an technischer Tüchtigkeit macht zaghaft, scheu vor jeder Schwierigkeit; in der Kunst aber ist jedes Neue jeder Fortschritt doppelt schwierig, weil der neue Gedanke nothwendig auch neue Form mit sich führt. […] So schliessen sich die SingVereine gern in den Kreis des Leichten und Gewohnten ein und berauben sich selber und den Kreis der auf sie angewiesnen Hörer […] der Erfrischung Kräftigung und des Fortschritts. Dem Komponisten wird es gewissermassen zur Bedingung des Aufkommens, sich dem Standpunkte der Schwächern und ihrer Gewohnheiten anzubequemen. Hiermit sind Fortschritt Wahrhaftigkeit und Eigenthümlichkeit – diese Bedingungen ächten Künstlerthums – unverträglich, die Kunststätte wird zur bürgerlichen Ressource, zum Sitz des Philisterthums, im besten Fall zur Feste für irgend eine Manier oder einseitige Richtung“.45
Eine Warnung, die Marx aus seiner kritischen Haltung gegenüber der massiv ein- und durchgreifenden Verbürgerlichung jedenfalls der zukünftigen Gattung Oratorium mit auf den Weg gab. – Doch eines lässt sich mit Bestimmtheit festhalten: Alle bisher angezogenen Autoren und Zeitzeugen der damals zeitgenössischen Musikentwicklung(en) um die Jahrhundertmitte waren sich in diesem ihren Befund einig. Keine der an „äußeren“ wie „inneren“ Erscheinungen so reiche geschichtliche Dynamik lässt sich ohne Rückgriff auf deren Verschränkung in die soziokulturellen Bedingungen der Zeit erklären. Gerade die Vorgänge und Ereignisse im Bereich „Oratorium“ werden insbesondere mit der politisch konnotierten Emanzipation des Bürgertums in einen direkten Zusammenhang gebracht – ob nun im einzelnen begrüßt (wie etwa von Brendel, Elben, Nägeli) oder eher kritisiert (wie etwa von Böhme, Marx). Damit stehen die Zeitzeugen Mitte des 19. Jahrhunderts deutlich im Deutungswiderspruch zu maßgeblichen Autoren Anfang und Ende des 19. Jahrhunderts! Doch dieser Dissenz ergibt alles andere als zufällig und von ungefähr. Denn für Kiesewetter war die aufbrechende Verbürgerlichung angesichts der historischen Realität von „vaterländischen Befreiungskriegen“ und deren politischen Folgen in der sogenannten Restaurationszeit noch eine echte, die bisherige Gesellschaftsordnung revolutionär in Frage stellende Kraft, während Riemann auf ein Bürgertum blickte, das trotz seines erheblichen Zuwachses an politischer Bedeutsamkeit im deutschen Kaiserreich letztlich als schwacher dritter Stand im (preußischen) Dreiklassenwahlrecht vor allem „Untertan“ geblieben ist. Die Ästhetik der absoluten Musik jedenfalls, in der Riemanns Denken wesentlich wurzelt und auf der Riemanns ungemein einflussreiches musiktheoretisches „System“ fußt wie zurückgreift, ist eine, die nicht nur an der „reinen“ Instrumentalmusik Maß nimmt, sondern sich deren Artefakten umso mehr verpflichtet weiß, wie nur die es in etwa erlauben, Musik als etwas nahezu Unpolitisches zu betrachten, das seinen Sinn gleichzeitig mit der Verwirklichung der im musikalischen Material 45 Ebd., S. 107 f.
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inhärenten Erschließungs-Tendenzen und kompositorischen SublimationsForderungen erfüllt. Von solcher musikimmanenter, materialbasierter Logik gelenkt, richtet sich dann der Blick auf die (musik-)historischen Gegebenheiten durch jene Brille, in der alle anderen Faktoren und weiteren Aspekte außerhalb der Musikwerke nur mehr als Irritationen erscheinen oder von nebensächlicher Bedeutung sind.
3.
Spohrs Oratorienbeitrag
Vor dem auseinandergelegten Gattungshintergrund wird jetzt Spohrs eigener Beitrag, den ja manche schon als Lückenfüller zwischen Haydns Schöpfung (1798) bzw. seinen Jahreszeiten (1801) und Mendelssohns Elias (1846, bei freilich übergangenem Paulus von 1836) positionieren wollten, erst deutlich und verständlich. Tatsächlich hat sich Spohr ja mindestens viermal mit Werken in diesem Genre zu Wort gemeldet, nämlich mit dem Oratorium Das jüngste Gericht (1812), mit Die letzten Dinge (1825/26), mit Des Heilands letzte Stunden (1834/35) sowie mit Der Fall Babylons (1839/40), wobei Das jüngste Gericht schon aufgrund des dazwischen liegenden zeitlichen Abstands und der vom Komponisten entschiedenen Nichtdrucklegung gegenüber den anderen drei, allesamt mehr oder weniger erfolgreich aufgeführten Oratorienbeiträgen einen Sonderstatus genießt. Wenn es hier auch nicht um Würdigung und Diskussion des musikalisch-kompositorisch Verwirklichten und damit Erreichten geht, so soll doch hier wenigstens der Frage nachgegangen sein, mit welchem Oratorienangebot Spohr seinen hervorragenden Ruf gerade und insbesondere als Oratorienkomponist begründet und befestigt hat. Dazu soll er im wesentlich selbst befragt werden. Seine in vielen Hinsichten immer wieder ergiebige und mit der Fülle der Beobachtungen und Mitteilungen des (politisch liberalen) Zeitgenossen belohnende Selbstbiographie46 hilft – bei aller angebrachter Vorsicht und Distanz im Detail47 – dabei, auch den Einstieg in Spohrs Oratorienverständnis zu finden. Aus dieser erfahren wir, dass sich Spohr im Umfeld der Annahme der Kompositionseinladung zu seinem Oratorienerstling Das jüngste Gericht (1812) recht schwer getan hat. Nicht, weil es ihm an Selbstbewusstsein insgesamt gefehlt hätte, er über zu wenig kompositorische Erfahrung zumindest auf vokalen Gattungsgebieten verfügte oder ihm sich keine kompositorischen Ideen ein46 Zitiert nach Louis Spohr’s Selbstbiographie, 2 Bde., Kassel/Göttingen 1860 – 1861. 47 Mit Nachdruck sei auf die Interventionen und kritischen Hinweise verwiesen, die Clive Brown, selbst Beitragender in dieser Sammelpublikation, anlässlich der englischen Übersetzung der Spohr’schen Selbstbiographie ausgebracht hat. Vgl. Clive Brown, Louis Spohr. A critical biography, Cambridge u. a. 1984 (dt. Kassel 2009).
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stellen wollten, sondern er haderte – nach eigener Angabe – mit der zunächst gerne angenommenen Aufgabe, dass es ihm an Erfahrungen im „Oratorienstyl“ fehle – und das bedeutet: „Gewandtheit im Contrapunkte und im Fugiren“.48 Spohr selbst bekennt, dass er dem erkannten Mangel durch intensives Selbststudium insbesondere des einschlägigen Lehrwerks von Friedrich Wilhelm Marpurg entgegengewirkt haben will, und darauf erst seine Arbeit am Oratorien fortgesetzt und zu Ende gebracht habe.49 Mit dem erzielten Ergebnis scheint er selbst jedenfalls zunächst durchaus zufrieden gewesen zu sein, denn nach Fertigstellung der Partitur und selbst geleiteter Uraufführung hält er das Werk „nicht nur für das Beste, was ich bis dahin geschrieben hatte, sondern meinte auch, niemals etwas Schöneres gehört zu haben“.50 Nun ist hier nicht der Ort, der lockenden Frage nachzugehen, wie sich Spohrs eigene musikalische Sprache unter Einfluss des „strengen Satzes“ verändert haben mag, entscheidend ist vielmehr, dass er es akzeptiert, dass zu einem Oratorium eben solche Satztechniken, Stilistiken und entsprechend gestaltete Sätze gehören. Das entspricht auch genau der traditionellen Oratorienauffassung, und erst recht jener, die das Oratorium als Gattung selbstverständlich der Kirchenmusik zuschlägt. Genau dies ist aber auch der Punkt, von dem sich Spohr alsbald schon vom Geleisteten distanziert. Denn ausgerechnet an der freilich mit Solopartien bestückten großformalen Anlage des Werkganzen entzündet sich Spohrs Selbstkritik und er bekennt am Beispiel der für die Personen Jesus und Maria aufgesparten Arienlösungen, dass sie „ganz in dem damaligen Cantatenstyl geschrieben und mit Bravoursätzen und Coloraturen überladen“ seien. „Ich fühlte auch bald nachher das Ungehörige dieses Styles und faßte in späteren Jahren wiederholt den Vorsatz, diese Solopartien umzuschreiben. Wenn ich aber damit beginnen wollte, schien es mir doch, als könne ich mich nicht mehr hineinfinden, und so unterblieb es. Das Werk, so wie es war, zu veröffentlichen, konnte ich mich nicht entschließen. So ist es denn in späteren Jahren völlig unbenutzt liegen geblieben“.51
An einer Umarbeitung haben Spohr also weder kompositionstechnisches Unvermögen gehindert, noch ein mittlerweile gewachsenes Desinteresse am Oratorienstoff (denn an diesen knüpft er in verwandelter Gestalt in seiner nächsten Oratorienvertonung wieder an) oder ein Abrücken von den verwirklichten kompositorischen Lösung insbesondere seiner Chöre, sondern einzig und allein die miterlebte Erschütterung sowie kulturelle Neubestimmung der noch nicht
48 Ebd., Bd. 1, S. 169. 49 Vgl. hierzu auch den erhellenden Hinweis von Andreas Jacob, insbesondere auf den veranschlagten „Freud’schen Versprecher“ Spohrs, hier im Sammelband. 50 Ebd., Bd. 1, S. 170. 51 Ebd., Bd. 1, S. 170 f.
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einmal eine Generation zuvor geradezu selbstverständlich geltenden Oratorienauffassung. Was ist das nach Spohrs Ansicht Entscheidende beim Oratorium? Im Kontext der Komposition des Oratoriums Die letzten Dinge (1825/26) erklärt sich Spohr und betont, dass Oratorien „einen tiefen Eindruck sowohl auf die Mitwirkenden, als auf alle Zuhörer“ hinterlassen sollten.52 Man könnte meinen, eine nichtssagende, weil selbstverständliche Forderung. Doch spricht durch diese ein Musikverständnis hindurch, das zumindest den eigenen kompositorischen Beitrag nicht als eine Art künstlerische Visitenkarte versteht, also durch Komposition vor allem den Ausweis besonderer kompositorischer Fertigkeit und Finesse im Zweifelsfalle nur einem Fachpublikum gegenüber zu erbringen beabsichtigt, sondern das sich eben gemäß bürgerlichen Grundverständnisses an jenes Publikum richten will, das dem Komponieren und Musizieren – jetzt allgemein und wirkungsästhetisch gewendet – erst Sinn und Zweck verleiht. Spohrs Oratorien sind von nun an für „große“ Besetzungen konzipiert, die es mühelos vertragen und schaffen, in der Regel gut 200 Chor- und Orchester-Mitwirkende zu beschäftigen53 und das innerhalb eines Aufführungsrahmens, der durch Musikfeste – und somit große Zuhörermassen – bestimmt wird! Spätestens jetzt ist Spohr im bürgerlich geprägten Oratorienverständnis angekommen. Und insofern ist es auch nur konsequent, dass Spohr auf jenen „rechten Styl“ achtet, der anpeilt, „recht einfach, fromm und wahr im Ausdrucke zu sein und alle Künsteleien, alles Schwülstige und Schwierige sorgfältig“ vermeidet54 – dazu gehört auch, was als „Eigenheit“ in der Rezension extra vermerkt wird, nämlich der komplette Verzicht auf Arien!55 Ein echtes Wagnis allerdings, sich auf das Feld der Oratorienkomposition zu begeben, schien es für Spohr zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr zu sein. In seiner musikschriftstellerischen Betätigung, die zeitlich zwischen Das Jüngste Gericht und Die Letzten Dinge liegt, verfasste Spohr u. a. einen Aufruf an deutsche Komponisten56, in welchem er sich vor allem an Operninteressierte richtete. Darin disqualifizierte er bemerkenswerterweise die Herausforderung, z. B. Oratorien zu komponieren, zur Zweitklassigkeit: „Mein Aufruf gilt aber hauptsächlich einigen ausgezeichneten, allgemein geachteten Komponisten, die, abgeschreckt durch einen, oder ein Paar misslungene Versuche, der Theaterkomposition ganz entsagt zu haben scheinen und sich in neuerer Zeit nur auf
52 53 54 55
Ebd., Bd. 1, S. 171. Ebd. Ebd. So in den Nachrichten. London, den 12. April [1827], in: AmZ 29 (1827), Sp. 301 – 307, hier: Sp. 302. 56 Louis Spohr, „Aufruf an deutsche Komponisten“, in: AmZ 25 (1823), Sp. 457 – 464.
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Concert- und Kirchenkompositionen beschränken, wo sie freylich des Erfolgs im Voraus gewiss sein können“.57
Wirklich des „Erfolgs im Voraus“? – Spohr schreibt hier wider besserer Erfahrungen! Nicht unberücksichtigt bleiben werden darf, was Spohr bereits eineinhalb Jahre zuvor über die für die deutschen Gesangsvereine – und „ich meyne die jetzt fast in jeder deutschen Stadt bestehenden Gesang-Vereine“! – geschriebenen Werke explizit gefordert hat.58 Nämlich „mehr reine Vokal-Musik“ zu schreiben, die, „ohne die Schranken des ernsten gebundenen Styls zu überschreiten, doch mehr den Anforderungen der jetzigen Zeit“ – und das meint am neuen, wie z. B. von Nägeli formulierten „Volksthümlichkeits-“ und „Verständlichkeits“-Ideal ausgerichtet – „entspräche“.59 Keinem Oratorium sind dabei die Folgen der von Spohr gesuchten und verwirklichten Verbürgerlichung so entgegengeschlagen wie ausgerechnet in Des Heilands letzte Stunden (1834/35). Eigentlich zum biblischen Oratorium zurückgekehrt, standen Genese und Uraufführung des Werks von Anbeginn an unter einem schlechten Stern. 1831 verstarb Spohrs Bruder Ferdinand, 1835 erlag seine Schwägerin Wilhelmine Scheidler einer schweren Krankheit, aber zuvor, am 20. November 1834 nahm ihm der Tod seine über alles geliebte, ihm in vielerlei Hinsicht kongenial zur Seite stehende Partnerin und Frau, Dorette. Das Oratorium Des Heilands letzte Stunden trat demzufolge erst mit zeitlicher Verzögerung seinen „Siegeszug“ an und das über die sich für Spohr auch weiterhin als förderlich erweisenden, zunächst aber als Nebenweg erscheinenden englischen Musikfeste, hier das in Norwich von 1839. Von wegen „Siegeszug“ – fast wäre es über dieses Oratorium zu einem in der Musikgeschichte frühen Aufführungsboykott gekommen, wie nun Spohrs für die Selbstbiographie Federführung übernehmenden „Angehörigen“ zu berichten wissen. Eine große Aufführung war immerhin in der dortigen Kathedrale von Norwich geplant und vorbereitet. „Hätte Spohr die englische Sprache verstanden, so wäre vielleicht der Eindruck des Gottesdienstes bei ihm durch den Umstand gestört worden, daß die dabei gehaltene Predigt großentheils gegen sein Oratorium gerichtet war. Schon vor seiner Ankunft in Norwich hatten sich nämlich bedeutende Stimmen einer pietistischen Partei erhoben, die in Schrift und Predigt auf alle Weise darzuthun suchten, daß es sündlich und profanirend sei, einen so heiligen Gegenstand wie Christi Leiden und Sterben, zu einem musikalischen Kunstwerk zu benutzen. So hielt es denn auch an jenem Sonntag Morgen, wo Spohr die Kathedrale besuchte, ein frommer Priester für seine Schuldigkeit, eine vernichtende Rede gegen dessen Oratorium: ,Calvary‘ – wie es in der engli57 Ebd., Sp. 458. 58 Louis Spohr, „Einige Bemerkungen über die deutschen Gesang-Vereine, nebst Ankündigung eines neuen für sie geschriebenen Werkes“, in: AmZ 23 (1821), Sp. 817 – 820. 59 Ebd., Sp. 819.
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schen Uebersetzung heißt – zu schleudern und am Schluß seine Zuhörer zu beschwören, sie möchten, ,um nicht ihre Seelen für eines Tages Vergnügen hinzugeben,‘ von der Aufführung desselben hinwegbleiben“.60
Mag sein, dass die Zuhörer auch bei anderen Oratoriendarbietungen weggeblieben wären und nicht nur bei einer aus Spohrs Feder. Doch wie weit sich Spohr mittlerweile im Oratorienverständnis vorgewagt hatte, mag erahnen, wer Spohrs Oratorienlösung mit den durch Händel vorgegebenen und befestigten vergleicht. Allein die Abkehr vom reinen Bibeltext, der Auftritt von biblisch an ganz anderen Stellen erwähnten Personen z. B. in der zentralen Tribunalszene, die Einbeziehung menschlicher, ja sogar persönlicher Empfindungen in die biblischen Sujets, das gezielte Abrufen von religiöser Erbauung gekoppelt an eine dann ja doch dramatische Handlung etc. – wenn auch vielleicht ganz dem Zeitgeschmack des deutschsprachigen Raums geschuldet –, musste aber den pietistischen Kreisen in England erst recht wie ein Sakrileg vorkommen.61 Wie auch immer, die Wogen glätteten sich erst, als die Presse nach der Erstaufführung bestätigen konnte: „[…] Man kann mit Recht von diesem Oratorium sagen, daß ein göttlicher Hauch es durchweht; mehr als irgend ein Werk der neueren Zeit ist es aus warmem Herzen hervorgequollen und kann nicht ohne Thränen gehört werden…“62
Musik von Herzen zu Herzen, so schön ist eine auf Beethovens Missa solemnisMotto zurückgehende charakteristische Rezeptionsfloskel des 19. Jahrhunderts nie wieder bedient worden. Die Erfahrungen im Umfeld der Komposition des Oratoriums Der Fall Babylons (1839/40) bringen Spohr im Wesentlichen nur noch Erfolg und Bestätigung ein – allerdings in England; im deutschsprachigen Raum galt Spohrs neuestes Oratorienwerk vielen Kritikern nurmehr als zu „weitschweifig, monoton und sentimental“!63 Die von den „Angehörigen“ mitgeteilte Pressereaktion auf die Aufführung bestätigte dem Komponisten sorgfältige, dem Gegenstand angemessene Textwahl64 und kürte ihn mit dem Ausweis, mit dieser Oratorienkomposition „das größte Werk […] seit Händel“65 vorgelegt zu haben. In der Times soll festgestellt worden sein: 60 Louis Spohr’s Selbstbiographie, Bd. 2, S. 238. 61 Vgl. hierzu den sich auf eine neue, sorgfältig recherchierte Quellenbasis stützende Beitrag von Karl Traugott Goldbach in diesem Band. 62 Louis Spohr’s Selbstbiographie, Bd. 2, S. 239. 63 Nach Antonia Ronnewinkel, „Spohr, Louis: Der Fall Babylons. Oratorium in zwei Abtheilungen WoO 63“, in: Oratorienführer, hrsg. von Silke Leopold und Ullrich Scheideler, Stuttgart u. a. 2000, S. 684 – 685, hier : S. 685. 64 Louis Spohr’s Selbstbiographie, Bd. 2, S. 275. 65 Ebd., Bd. 2, S. 276.
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Es sei „ein Meisterwerk der Kunst, würdig neben den ,letzten Dingen‘ und ,des Heilands letzten Stunden‘ zu stehen. Dieser Lobspruch ist zwar emphatisch, aber er ist gerecht. Obgleich von derselben Hand[,] ist das Werk doch wesentlich von jenen verschieden. Jene erregen Gefühle tiefer Andacht und christlicher Frömmigkeit, in diesem erkennen wir den göttlichen Charakter mehr in seiner Allmacht und Majestät; Jehova enthüllt sich uns in gewaltigen Thaten, indem er ein Strafgericht über die Gottlosen verhängt. Das Werk erfüllt und verwirklicht alle Bedingungen eines ächten Oratoriums, und die Aufführung war ein Triumph englischer Kunst…“.66
Nach diesem Urteil hat Spohrs Oratorienkomposition den Kreis lyrisch-betrachtender Kontemplationsausrichtung definitiv verlassen und hat sich auf die Seite des sich dramatisch verstehenden Handlungsoratoriums geschlagen. Nicht lange, diskursive Auseinandersetzungen oder Betrachtungen sind Inhalt bzw. Gegenstand des Oratoriums, sondern ein handlungsbereiter und -fähiger „Jehova“, der an den handlungsbereiten und -willigen Bürger in Konfliktsituationen erinnert. Doch wird selbst Spohrs Hin-, vielmehr Rückwendung zu einem biblischen Stoffkreis nur noch als eine Art äußerliche Konvention betrachtet, von der aus der religiöse Nerv der Gesellschaft nicht mehr zu treffen, gar deren religiöse Durchdringung kaum mehr zu leisten sei. Einer der „deutschen“ Rezensenten der englischen Uraufführung 1842, Julius Becker, stellt ernüchtert fest: „Ueberdies dürfen wir uns nicht verhehlen, daß das kirchliche Oratorium, das dem Heut entsprossen, eben so wenig in dem Geiste vergangener Zeiten wurzeln kann, als diese den Standpunct bestimmen können, von dem aus die Gegenwart es zu betrachten hat“.67
4.
„Uns kann das Oratorium kein religiöses Drama mehr sein.“ (Gustav Heuser)
„[…] alle Bedingungen eines ächten Oratoriums!“ – dieser Befund entspricht durchaus nicht einer exklusiven Einzelmeinung, sondern wird bestätigt, sobald man das Prestigebild des u. a. von Spohr vertretenen und verwirklichten Oratorienkonzepts z. B. auch in der zeitgenössischen Fachpresse abfragt. Ich beschränke mich dabei auf Literatur aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Nägelis argumentative Engführung der Unterscheidung eines kirchlichen versus weltlichen Oratoriums gegen Null konnte freilich nicht auf allgemeine Zustimmung zählen. Georg Wilhelm Fink, der nahezu gleichzeitig in einer Ar66 Ebd., Bd. 2, S. 275. 67 J[ulius] B[ecker], „Neue Oratorien – Der Fall Babylons nach dem Englischen des Prof. Taylor von Fr. Oetker, componirt von Louis Spohr“, in: NZfM 17 (1842), S. 131 – 132, 137 – 138, hier: S. 131.
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tikelserie in der Allgemeinen musikalischen Zeitung (1827) die Frage nach Kantate und Oratorium anzog, zeigte sich darüber vergleichsweise entschieden: das Oratorium sei und bleibe bei allen bekannten und auch gar nicht zu leugnenden Einflüssen und Zugewinnen gerade und insbesondere aus dem Bereich der Oper letztlich und „eigentlich immer geistlich“.68 Es empfiehlt sich allerdings, sich nicht allzu sehr von Finks klarer Position beeindrucken zu lassen. Seine Artikelserie verbindet ja nicht nur „Cantate“ und „Oratorium“ im Aufsatztitel miteinander, sondern er greift dabei nur eine allgemeinere Sichtweise auf und fädelt sich in diese ein: „Da man nun aber in der Folge gewöhnlich von der Cantate und dem Oratorium im Ganzen dasselbe zu fordern beliebte, und beyde sich nur durch die Länge und durch einen grossartigern Stoff und Styl von einander unterscheiden sollten: so werden wir wohl am schicklichsten zuvörderst das Gemeinschaftliche beyder zu betrachten haben, um aus diesen Ergebnissen, und noch mehr aus dem Umrisse der Geschichte derselben, den Begriff und Unterschied beyder möglichst zu entwickeln“.69
Sein Festhalten an der „geistlichen“ Prägung beider Gattungen resultiert bei näherer Hinsicht dabei eher aus einer Verteidigungshaltung, die gegenüber einer Entwicklung eingenommen wird, die bereits Tatsachen geschaffen hat. Denn auf die selbst gestellte Frage, welche Personen bzw. deren Handlungen sich denn aus seiner Sicht einem kantaten- bzw. oratorienmäßigen Aufgriff anempfehlen, antwortet Fink: „[…] nur solche Personen aufführen dürfen, deren Charactere billigerweise einem Jeden als bekannt vorausgesetzt werden können. Dies würde also in der weltlichen Cantate [!] die vornehmsten mythologischen und allegorischen Wesen, oder auch allgemein bekannte weltgeschichtliche Personen [!], und in der geistlichen die vornehmsten Charactere der heiligen Schrift, der allbekannten christlichen Mythen, personificirten Tugenden und hauptsächlichsten kirchengeschichtlichen Personen seyn“.70
Den Empfehlungen Finks ist somit zu entnehmen, dass also die von Nägeli mit in Gang gesetzte Verbürgerlichung der Kirchenmusik mittlerweile schon Früchte getragen hat, und dass an die Stelle der „klassischen“ kirchlichen Vorbilder bereits die Helden des Bürgertums Eingang gefunden haben – was ja auch für Fink in Ordnung ist, soweit sie eben nur der bereits von Nägeli ausgestreuten Forderung entsprechen, allgemein bekannt und eben verallgemeinerungsfähig zu sein. Diesem Umstand trägt der Komponist nach Fink nicht zuletzt kompositi68 G[eorg] W[ilhelm] Fink, „Ueber Cantate und Oratorium im Allgemeinen I+II“, in: AmZ 29 (1827), Sp. 625 – 632, 641 – 649, hier: Sp. 643. 69 Ebd., Sp. 625. 70 Ebd., Sp. 629.
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onsästhetisch dadurch Rechnung, dass er auf Basis eines sorgfältig gewählten, im wesentlichen „lyrischen“ Textes seine Vertonung vor allem „Nicht zu lang!“ werden lässt:71 „mir wollen eine und eine halbe Stunde, die etwa zehn Minuten lange Pause […] mit eingerechnet, gerade lang genug erscheinen“.72 Eine merkwürdige Forderung, die allerdings nicht alleinige Erklärung etwa in dem begrenzten Fassungsvermögen des geschätzten Publikums findet, sondern Letzteres denkt sich Fink als eines aus „Musikern und Dilettanten“ zusammengesetztes, das nicht nur rezipieren will, sondern „alle Musik sehr bald langweilig finde[t], wenn [es] nicht auf irgend eine Weise mit dabey beschäftigt“ sei.73 Selbst hier wirkt jene auch von Nägeli bereits vorgebrachte und in der „Singvereins“-Idee begründete Kritik nach, der zufolge ja in der Darbietung z. B. eines Oratoriums die alte Dichotomie zwischen aktiver und passiver Musikbeteiligung aufgebrochen werden solle. Und in die Kürze-Forderung wird gleich noch ein dritter, sich auf die formale Gestaltung eines Oratoriums auswirkender Aspekt mit inbegriffen: 1. Das „Recitativ“?: „Im Allgemeinen sey es … kurz. […] Auch wird es wohlgethan seyn, wenn besonders nach Mozarts Vorbilde auf das eingestreute Arioso mehr Rücksicht genommen wird […]“.74 3. „Duetten, Terzetten usw.“?: „Auch diese müssen in den Melodien einfach erfunden, ohne reiche Figuren, ohne grossen Schmuck ausgeführt werden“.75 4. „Chöre“?: sie seien „[…] der höchste Glanzpunct dieses Gebietes. […] Ein Chor, der nur am unrechten Orte steht, oder wohl gar nichts weiter, als eine leere Schilderung äusserlicher Dinge enthält, oder Gefühlsdarstellungen behandelt, die wohl für einen Einzelnen sich schicken, aber nicht für die Masse, thut selbst bey aller Kunst musikalischer Bearbeitung dem Eindrucke, den das Ganze hervorbringen soll, so grossen Schaden, dass der Nachtheil gar nicht wieder gut zu machen ist. […] Der Componist hüte sich am meisten vor zu vielen und zu früh angebrachten Fugen […].“76
Und was ist mit den 2. „Arien“, jenem vielgepriesenen Herzstück der lyrischen Oratoriengrundhaltung, ob nun von Händel in seinen Oratorien zentral gestellt, ob in Bachs Passionen mit besonderer Aussagekraft auskomponiert, ob in Haydns Oratorien der Individualisierung des Solisten bzw. der von ihm verkörperten „Empfindungen“ dienend?
71 72 73 74 75 76
Ebd., Sp. 643. Ebd., Sp. 643 f. Ebd., Sp. 644. Ebd., Sp. 646 f. Ebd., Sp. 647. Ebd., Sp. 648.
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Was „die Arie betrifft, so wünschten wir sie, wie wir bereits bey anderer Gelegenheit geäussert haben, aus dem Oratorium … völlig verbannt. […] Die Arie, wie sie ist, gehört in den Concertsaal.“77
Man erinnere sich: schon Nägeli hatte sie ob ihrer „Künstlichkeit“ für die „Überladung“ des „Produkts“ (Oratorium) verantwortlich gemacht! Es mag durchaus sein, dass zwischen Nägelis und Finks eingenommener Position in manchen wichtigen Einzelfragen keine Übereinstimmung herrscht, hier aber besteht sie, und sie besteht, weil beide mit dem Oratorium eine musikalische Gestalt und Ausdrucksform begreifen, die zumindest zu ihrer Zeit der ausschließlichen Bestimmung durch die Kirche entwachsen und schon Bestandteil bürgerlicher Musikpraxis geworden war. Es gilt die visionäre Stoßrichtung in diesen argumentativen Auseinandersetzungen freizulegen und sie letztlich auf ein angestrebtes Ziel hin nachzuvollziehen. Insbesondere gerät zunächst unter dem Druck der zunehmenden Verbürgerlichung des Oratoriums dessen nicht länger mehr selbstverständlich hingenommene Zugehörigkeit zur Kirchenmusik ins Wanken. Nicht länger geht es nur noch um den Disput zwischen den Klassifikationen entsprechender Beiträge als biblisch, liturgisch, kirchlich, mehr dramatisch oder nicht doch mehr episch. Angesichts Carl Loewes Die Festzeiten stellt sich dessen Rezensent, G. A. Keferstein, in der Neuen Zeitschrift für Musik ganz grundsätzlich die Frage, worin denn überhaupt das „eigentliche Wesen des Kirchlichen in der Musik“ zu suchen und zu finden sei. Und er gibt zu, dass die Antwort auf diese Frage wohl „leichter [zu] fühlen als haarscharf [zu] definiren“ sei:78 Sein eigener Versuch führt in die Richtung, dass das „Kirchliche in aller christlichen Kunst und folglich auch in der Musik […] sich im Allgemeinen in der reinen und würdigen Ausprägung des eigenthümlichen Geistes und Lebens bewähren [muss], welches in der großen Heilsanstalt [!] des Christenthums hervorgetreten ist und dessen Bewahrerin, Trägerin und Pflegerin die Kirche ist oder doch sein soll. Das Kirchliche kann natürlich nicht sein Gegentheil, es kann nicht etwas anderes als die Kirche Wollendes, Erstrebendes und Repräsentirendes sein, sondern es muß in ihm der Geist des Christenthums, der ein Geist des Lichtes und der Wahrheit, des Glaubens, der Liebe, der Hoffnung und des ewigen Lebens in Christus ist, in reinster und würdigster Form hervortreten. […] Das Kirchliche soll von dem göttlichen Leben, das die Kirche gegründet und auferbaut hat, ganz durchdrungen sein, ihm ausschließlich huldigen, in ihm allein Anfang, Mitte und Ende suchen, und es in einfach würdigster, prägnantester, keuschester und über den Wechsel der Zeit und Mode erhabenster Gestaltung vergegenwärtigen“.79 77 Ebd., Sp. 647. 78 [G. A.] Keferstein, „Oratorium. Dr. C. Löwe, Die Festzeiten, Geistliches Oratorium in 3 Abtheilungen. Op. 66“, in: NZfM 21 (1844), S. 153 f., 157 f. und 165 f., hier S. 153. 79 Ebd., S. 153 f.
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Auf den gesuchten „Kirchencomponist“ müsse sich das so auswirken, dass er „die Kraft des Glaubens nicht vom bloßen Hörensagen kennen [darf], sondern er muß selbst von ihr erfüllt und durchdrungen, sich wenigstens in einzelnen Momenten heiliger Weihe zur Anschauung des Höchsten und Heiligsten erhoben haben“.80 Nicht entscheidend ist es, inwiefern Kefersteins von Rettungsbemühungen einer nahezu unbewältigbaren Forderung geprägter Definitionsvorschlag auf allgemeine Zustimmung stößt oder ob dieser überhaupt dem damaligen Stand theologischer Reflexion entspricht. Bemerkenswert ist es vielmehr, dass auch er das Bild des „Kirchencomponisten“ über den Mangel an „Glauben“ und dem Durchdrungensein von ihm kritisiert, sein Wirken aber nicht länger danach bemisst, inwiefern er nach den handwerklichen Maßgaben eines durch wen auch immer festgelegten „Kirchenstyls“ Musik liefert, bestellt oder auswählt. Oder um mit den Worten von Karl Borromäus von Miltitz zu sprechen: „Dass der wahre Kirchenstyl nicht blos in Bindungen und Fortschreiten von Dreiklängen besteht, ist ausgemacht, und Gottfr[ied] Weber sagt ganz richtig […], es stehe schlimm um die Würde der Kirchenmusik, wenn sie blos von grossen Noten, strenger Präparation der Dissonanzen, kurz allen den Satzungen abhinge, die man sonst unter dem Namen strenger Schreibart begriff, und die heut zu Tage nur als Gegenstände der musikalischen Grammatik, und hier mit unbestrittenem Werthe, betrachtet werden“.81
Man vergegenwärtige sich die Fallhöhe! Noch in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts entsprach es einem zentralen Anliegen z. B. Anton Friedrich Justus Thibauts in seiner viel gelesenen Schrift Über Reinheit der Tonkunst, die noch weitgehend geltende und befolgte Trennung der Stile in Abhängigkeit zu ihren zugeordneten Gattungen zu restituieren, somit der Kirchenmusik auch satztechnische Eigenart zu sichern, die sie um deren „Reinheit“ und Aussagekontext Willen nicht gleichzeitig mit z. B. der Oper teilen könne und umgekehrt.82 Jetzt aber – also ungefähr eine Generation später – stimmen beide, im übrigen durchaus konservative Autoren bei durchaus unterschiedlichen Sicht80 Ebd., S. 154. 81 K[arl] Borr[omäus] von Miltitz, „Die religiöse Gesinnung als unumgängliches [sic!] Erforderniss zur Kirchenkomposition“, in: AmZ 44 (1842), Sp. 105 – 109 und 136 – 138, hier : Sp. 108. 82 Vgl. Anton Friedrich Justus Thibaut, Ueber Reinheit der Tonkunst, mit einem Vorwort von K. Bähr, Heidelberg 31851. Thibaut kennt im Grunde genommen nur „drey Style“: „der Kirchenstyl, allein der Frömmigkeit gewidmet; der Oratorienstyl, welcher das Große und Ernste auf menschliche Art geistreich nimmt; und der Opernstyl, welcher Alles, was von den Sinnen und der Leidenschaft ausgeht, durch poetische Darstellung vergegenwärtigt. Ein vierter Styl, welcher diese sämmtlichen Elemente vereinigt, die Leidenschaft über sich selbst hinausführt, und alle andern Tollheiten mit der Musik verbindet, kann hier eben so unbeachtet bleiben, wie die Lehre vom Nervenkrampf bei der Aufzählung der Eigenschaften eines gesunden Menschen“ (S. 50).
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weisen darin überein, die Frage nach der „wahren Kirchenmusik“ der Haltung des Komponisten zuzuschlagen, oder – wie es in der Sprache des 19. Jahrhunderts u. a. heißt – der „Gesinnung“ oder dem „Gemüth“! Zum wahren „Kirchencomponisten“, fordert von Miltitz, gehöre neben einer „lebhaften Phantasie, ein Talent, glänzende und angenehme Melodien zu erfinden […] verbunden mit Geschicklichkeit und Erfahrung“, die „einen tüchtigen Kammer- und Theaterkomponisten bilden“, ein „frommes Gemüth, jene – wir möchten sagen – romantische Mischung von Andacht und reiner Liebe, die das Wesen eines religiösen Charakters ausmachen“!83 Die Auswirkungen des von Miltitz diagnostizierten „trostlosen religiösen Indifferentismus“84 lassen sich hier greifen, dessen Anfang bereits von Brendel im angesprochenen Rationalismus der Aufklärung verortet wurde. Beachtenswert ist, auf welche Mittel nun gesonnen wird, um diesen vermeintlich zersetzenden Tendenzen im Interesse einer Sicherung der „Zukunft des Oratoriums“85 entgegenzutreten: das gefundene Mittel wird in der Verwissenschaftlichung des Problems gesehen! Und ausgerechnet der bereits schon einmal aufgeführte G. A. Keferstein hält dazu in der Akademie der Wissenschaften zu Erfurt anlässlich des Geburtstags seiner allerhöchsten Majestät eine „Vorlesung“!86 – Das ist nicht nur so daher gesagt, sondern dies ist der Anspruch des Redners! Er tritt dem „schon vor längerer Zeit“ gefühlten „Ungenügenden, weil Unwahren und Unbelebten dieser Form“ – gemeint ist freilich die des Oratoriums! – durch ein Aufrufen seiner eigenen Geschichtlichkeit entgegen, um so mittels 1. „historischer Begründung“, 2. „schärferer Bestimmung“ seiner Traditionen und Charakteristika, 3. „weiterer“, d. h. gründlicherer „Auseinandersetzung“ letztlich „eine neue Begriffsbestimmung des Oratoriums“ „aufstellen“ zu können.87 Was er dabei allerdings tatsächlich leistet, ist genau das Gegenteil, ist schließlich die Aufweichung und Relativierung aller eventuell noch Halt gewährender Traditionsbezüge. Denn angesichts der Faktenlage und der Fülle historischer Werkbeispiele kann sich Keferstein nach längerem Anlauf nur zu folgender zusammenfassenden „Theorie des Oratoriums“ durchringen:
83 Miltitz, „Die religiöse Gesinnung“, Sp. 137. 84 Ebd., Sp. 106. 85 Ein kurzer Beitrag adressiert dieselbe just zum selben Zeitpunkt der Auseinandersetzung: Wilhelm Wauer, „Ein Wort über die Zukunft des Oratoriums“, in: AmZ 50 (1848), Sp. 721 – 723. 86 Veröffentlicht in der AmZ 45 (1843), Sp. 873 – 879, 897 – 902 und 921 – 926 als: „Das Oratorium. Eine Vorlesung, am 15. October, als am Geburtstagsfeste Sr. Majestät des Königs von Preussen Friedrich Wilhelm IV. vor der Academie der Wissenschaften zu Erfurt gehalten von Dr. G. A. Keferstein, als correspondierendem Mitgliede derselben“. 87 Ebd., Sp. 873.
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Das Oratorium „ist uns: ,die künstlerisch klare, vollgenügend lebenskräftige, dramatische Vergegenwärtigung einer gewichtvoll ansprechenden Idee, in ihrer Bewegung vom thatsächlichen Werden zur Vollendung, durch das Mittel des reinen Musikwortes, ohne Intention auf theatralische Darstellung und ohne Nothwendigkeit derselben zur Erzielung des vollen Eindrucks‘“.88
Es ist hier weder Raum noch besteht Anlass, Kefersteins wohl eher ,Begriffskonstruktion‘, denn Phänomenanalyse unter dem Gesichtspunkt seines induktiven Vorgehens zu diskutieren, noch dessen Strapazierfähigkeit einem argumentativen Tatsachentest zu unterziehen. Wichtig ist vielmehr, gelegentlich welcher Werke oder Werkgruppen Keferstein seine versuchte Definition „empirisch“ eingelöst sieht. Und dabei zieht er sein Fazit recht sachlich und nüchtern: „Factisch hat sich bereits längst schon das Oratorium in drei [!] Hauptzweige zertheilt. Den ersten bildet das neuerdings leider gar nicht mehr angebaute, kirchlich-gottesdienstliche, d. h. unmittelbar für den Cultus berechnete Oratorium. […] Den zweiten bildet das zwar nicht unmittelbar für den Cultus berechnete, aber doch insofern religiöse Oratorium, weil es entweder seinen Inhalt geradezu aus der heiligen Schrift oder aus der heiligen Sage und Geschichte entlehnt, oder doch sonst vorzugsweise eine religiöse Tendenz verfolgt. […] Drittens, welchen das weltliche, sich ausserhalb der Kirche und ihrer Urkunden, ganz frei, bewegende Oratorium bildet. Ihm steht das Universum offen. Es kann eine jede grosse sonst geeignete Idee ergreifen, welche die Weltgeschichte bietet […].“89
Das ,weltliche‘ Oratorium erscheint in dieser Klassifikation nicht länger als eine um ihre Akzeptanz kämpfende Sparte, sondern sie tritt nun gleichberechtigt neben den etablierten, traditionsreichen auf. Als jüngster Zweig steht ihm „das Universum offen“, und bietet sich inhaltlich somit an, ganz neue Formate, Aussagen und Ideen aufzunehmen und zu verbindlicher künstlerischer Aussage zu bringen.90 Die Verbürgerlichung greift und sie greift tief, denn eine, der von Keferstein erhobenen Gestaltungsforderungen richtet sich nun ebenfalls gleichermaßen an alle drei Oratorienzweige ohne Unterschied:
88 Ebd., Sp. 923. 89 Ebd. 90 Zu welcher weltanschaulichen Bedeutung sich das „weltliche“ Oratorium für die Selbstfindung des Bürgertums aufschwingen sollte, dieser Frage geht etwa am Beispiel der LutherOratorien im 19. Jahrhundert luzide und gründlich Linda Maria Koldau, „Träger nationaler Gesinnung: Luther-Oratorien im 19. Jahrhundert“, in: Musik zwischen ästhetischer Interpretation und soziologischem Verständnis, hrsg. von Tatjana Böhme-Mehner und Motje Wolf (= Musik-Kultur, 13), Essen 2006, S. 55 – 84, nach.
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„Für alle drei Gattungen des Oratoriums gilt ein Hauptverbot: das der Langweiligkeit, wogegen sie, bei Todesstrafe der Vergessenheit, so interessant, belebt und erweckend, als nur möglich, sein müssen“!91
Keferstein erhebt „für alle […] gleichermaßen“ dieselbe ästhetische Maxime – es ist nicht die einzige! Aber die einzige, die gleichsam nach bürgerlichem Standard über Erfolg und Misserfolg einer sich im freien Urteilswettbewerb behauptenden Komposition entscheidet, nicht länger deren funktionaler, kirchlich bestimmter Nutzen! Es ist dies die Orientierung am Interessanten, Originellen. Und der Nutzen gibt auch nicht weiter die Maxime vor, nach deren Maßgabe sich Gebrauch und Einsatz der kompositorischen Mittel und Satztechniken rechtfertigt. Sondern es ist die Frage, die zugleich den Bildungsprozessen der öffentlichen Meinung, und nicht denen der Experten, zugrunde liegt, nämlich nach denen des wiedererkennbaren Unterhaltungs- und Bildungswerts: „interessant, belebt und erweckend“! Von hier aus gesehen ist es nur mehr ein kleiner Schritt, der auch prompt von einem anderen Autoren, von Gustav Heuser, vollzogen wird, der unter der Forderung von Zeitgemäßheit schließlich in der (polemischen) Forderung gipfelt: „Uns kann das Oratorium kein religiöses Drama mehr sein. Wir schätzen die Bibel als ein Buch voll historischer, poetischer und allgemein menschlicher Wahrheit; aber sie hat nicht mehr den mystischen Heiligenschein einer übernatürlichen Offenbarung.“92
Es ist die Schlussfolgerung aus jener Sicht, die zugleich ein wenig endzeitlich angehaucht behauptet: „Die Kirchenmusik hat ihren Wirkungskreis beschlossen“.93 „Oratorium und Oper“ – einst als Aufmarschgebiete eigentlich entgegengesetzter Gattungsästhetiken deklariert, sind zwar für Heuser hinsichtlich ihres auf unterschiedliche Wirkung hin angelegten Einsatzes entsprechender musikalischer Mittel sehr wohl noch unterschiedlich in ihren voneinander auch typologisch bestimm- und abgrenzbaren Werkgestalten, ihrer musikalischen Repräsentationen, hinsichtlich aber ihrer zugrunde liegenden kompositionsästhetischen Bedingungen in ein und demselben Boot: „Beide, Oper und Oratorium, müssen vielmehr durch und durch dramatisch sein, wenn Musik und Poesie sich in der echten Weise durchdringen sollen“.94 Und insofern gilt auch von beiden:
91 Keferstein, „Oratorium“, Sp. 924. 92 Gustav Heuser, „Oratorium und Oper“, in: NZfM 21 (1844), S. 161 f., 177 f., 181 f., 185 f., 189 f., 193 f., 197 f. und 206 – 208, hier: S. 206. 93 Ebd. 94 Ebd., S. 162.
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„Das Erste und Letzte, was wir von dramatischer Musik verlangen, ist Wahrheit; Wahrheit im Ausdruck der Gefühle, Wahrheit in der treuen, seelevollen Declamation des Textes, Wahrheit in der Schilderung und einheitsvollen Durchführung der Charaktere, Wahrheit in den gewaltigen Momenten der Handlung, Wahrheit endlich in der Darstellung der äußeren Verhältnisse, der Scenerie, wenn diese unser besonderes Interesse beansprucht“.95
Wobei Heuser der künstlerischen Wahrheit ihr Eigenrecht zugesteht, die nichts mit der Übereinstimmung oder gar mit einem Aufgehen in unsere gesellschaftliche Wahrheit zu tun haben96 – sie hat es umso mehr nicht, als es dadurch dem „deutschen Volk“ in und durch seine Musik „bevor noch seine großen Dichter auftraten“ vorbehalten gewesen sei, „sein tief-innerliches Bewußtsein der Freiheit“ im Oratorium „niederzulegen“!97 Die Forderung nach Verwirklichung von künstlerischer „Wahrheit“ als Grundlage und Aufgabe sowohl im Oratorium als auch in der Oper, führt Heuser zu zwei weiteren, weitgreifenden Konsequenzen: 1. „Gehen wir noch tiefer auf den Inhalt unserer musikalischen Dramen [also Oratorium und Oper ; Anm. d. Verf.] ein, so zeigt sich die verschiedene Anschauungsweise auch in der Charakteristik der handelnden Personen. […] Die Helden des Oratoriums müssen große Menschen sein. Ihre Handlungen sind nicht die flüchtigen Eingebungen des Augenblicks… […] Welthistorische Ereignisse, die großartigen Schicksale der Völker, ihrer Führer und Helden: das sind würdige Stoffe für das Oratorium […]“98 – und damit ist die Fixierung auf biblische oder religiös-legendäre Personen aufgehoben! Der bürgerliche Held tritt auf und übernimmt auf lange Sicht deren Rolle. 2. Wenn es in Oratorium und Oper um die Verwirklichung künstlerischer „Wahrheit“ geht, dann wird die Forderung nach Einnahme oder Befolgung eines bestimmten, etwa überindividuellen, gar gattungsbezogen-angemessenen „Styls“ vollends obsolet: der „illusorische Gegensatz ihrer Style“ zerfällt „in Nichts“!99 Dem Oratorium „schrieb man den Kirchenstyl vor, weil es sich […] meistens auf religiösem Boden bewegte“.100 Heuser aber kommt es jetzt darauf an, den „musikalischen Dramen“ eine eigenständige, „vollendete Kunstform“ zu sichern, die er sich nur als Resultat vorstellen kann, aus „einer einheitsvollen, klaren, innerlich begründeten Gestaltung ihrer Schöpfungen. 95 Ebd., S. 181. 96 „Die Poesie hat ein Recht, die Wirklichkeit umzugestalten, sobald sie dieselbe dem Begriffe nach unwahr, ungerecht findet. In der Weltgeschichte kommt diese ideelle Wahrheit ebenfalls zur Anschauung, aber nur, wenn sie vom philosophischen Standpuncte in ihrem nothwendigen Zusammenhange erfaßt wird“; ebd., S. 161. 97 Ebd., S. 193. 98 Ebd., S. 182 [Hervorhebung im Original]. 99 Ebd., S. 181. 100 Ebd., S. 190.
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Es handelt sich nicht mehr um Werke, die schöne Einzelnheiten [sic!] aufweisen, sondern um solche, die durch und durch eins, fertig, abgerundet, ein geschlossenes Ganzes bilden“.101 Dies zu realisieren, dafür kommt nach Heuser jedoch nur und ausschließlich der Künstler, der Komponist als Einzelner, als Subjekt, in Betracht, „dem es wirklich darum zu thun ist, sich selbst, sein eigenes Inneres auszusprechen […]; und jedes Werk, das sich der Idee, die ihm zu Grunde liegt, gemäß gestaltet, hat seinen Styl, und das ist der Styl der Wahrheit“!102 Die der (Gattungs-)Frage nach dem Oratorium aufoktroyierte Stildiskussion, und damit die mehr oder weniger erhobene Unterordnungsforderung des künstlerischen Schaffens unter das Kuratell supraindividueller Merkmalkomplexe kann deshalb unmöglich Verständnis, gar Einverständnis und Zustimmung durch Heuser finden. Seine unbeirrt eingenommene Kampfansage lautet demgegenüber : „Ein Oratorium im Kirchenstyle zu componiren, selbst wenn wir dieses Wort in seiner wahren Bedeutung als die Weise, in welcher sich der religiöse Sinn einer Composition darlegt, auffassen, wäre also durchaus kunstwidrig.“103
Der Versuch, das Oratorienschaffen, wie jegliches Musikkomponieren, an die Kette eines verbindlichen, gar historisch legitimierten „Styls“ zu legen, fordert umgekehrt Heusers entschiedenes Bekenntnis zur „überreichen Innerlichkeit“ als einem „unversiegbaren Quell wahrer Tondichtung“ heraus, die der Maxime lebt: „Die Geschichte kennt keine Rückkehr. Das Einzige, was uns helfen kann, was uns erlösen wird von dem Uebel, ist: Vorwärts!“104
101 102 103 104
Ebd., S. 206 [Hervorhebung im Original]. Ebd., S. 194 [Hervorhebung im Original]. Ebd., S. 193. Ebd., S. 208 [Hervorhebung im Original].
Eva Verena Schmid
Musikfeste als Forum für Oratorien in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts
Louis Spohrs Oratorien entstanden in einer Zeit, in der die Veranstaltungsform Musikfest als Hauptaufführungsforum für Oratorien anzusehen ist.1 Musikfeste – so ein Rezensent der Allgemeinen musikalischen Zeitung – würden „das Meiste und Beste ihres einflussreichen Wirkens schlechthin verlieren, wenn nicht […] der erste Tag des Festes ausschliesslich einem e i n z i g e n grossen Oratorium gewidmet bliebe, zu dessen Auffassung die Mehrzahl allerdings erst herangebildet, ja wohl auch dafür empfänglich gemacht werden muss.“2
Zwei Aspekte lässt der Rezensent hier im Zusammenhang zwischen Musikfesten und Oratorien anklingen: Zum einen wird deutlich, dass man mit der Veranstaltung von Musikfesten deren Teilnehmer beeinflussen bzw. heranbilden wollte und zum anderen, dass gerade die Gattung Oratorium dieses einflussreiche Wirken am besten erzielen kann. In den folgenden Ausführungen soll der Zusammenhang der beiden genannten Aspekte näher erläutert werden. Ferner soll dargestellt werden, wie Spohrs Oratorien und seine Patriotische Kantate in diesem politischen und sozialhistorischen Kontext zu verorten sind. Die Entstehung der Musikfeste in Deutschland ist eng mit der Besatzung Deutschlands durch Napoleon bzw. den Befreiungskriegen (1813 – 1815) verbunden. Georg Friedrich Bischoff, der Initiator der Musikfeste, organisierte in dieser Zeit mehrtägige Feste, die die Menschen aus einem größeren Einzugsgebiet zusammenführen sollten, um ein Gemeinschafts- bzw. Oppositionsgefühl in der Bevölkerung zu schaffen. In seinem 1830 entstandenen Entwurf zu Musikfesten3 legt er einerseits ausführlich seine Motivation, Musikfeste zu veran1 Vgl. grundlegend Eva Verena Schmid, Oratorium und Musikfest: Zur Geschichte des Oratoriums in Deutschland in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts (= Hainholz Musikwissenschaft, 18), Göttingen 2012; Samuel Weibel, Die deutschen Musikfeste des 19. Jahrhunderts im Spiegel der zeitgenössischen musikalischen Fachpresse (= Beiträge zur rheinischen Musikgeschichte, 168), Kassel 2006. 2 Allgemeine musikalische Zeitung (AmZ) 31 (1829), Sp. 421 (4. Musikfest an der Elbe). 3 Georg Friedrich Bischoff, Entwurf zu Musikfesten, Autograph in Universitätsbibliothek Kassel. Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel (D-Kl) (innerhalb
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Eva Verena Schmid
stalten, dar, andererseits gibt er praktische Hinweise zur Organisation und Durchführung von Musikfesten. Seine Ausführungen zeigen unmissverständlich, dass das Ziel, ein Gemeinschaftsgefühl zu schaffen, nicht nur in den Konzertveranstaltungen, sondern ebenfalls durch das Rahmenprogramm erreicht werden sollte.4 Bischoffs Bestreben war es, die Bevölkerung eines größeren Einzugsgebietes näher zusammen zu bringen, indem er alle in irgendeiner Weise an der Organisation und Durchführung und somit am Gelingen eines Musikfestes beteiligt wissen wollte. Dazu war es einerseits geboten, die Gäste bei den Bewohnern der Stadt unterzubringen, ihnen gemeinsame Ausflüge in die nähere Umgebung zu ermöglichen und sie gemeinsam speisen zu lassen. Ihrem Bedürfnis, sich zu vergnügen, sollte durch die Veranstaltung von Bällen nachgekommen werden. Andererseits sollten sie in Konzerten gemeinsam groß-besetzte Werke gebührend zur Aufführung bringen.5 Vor diesem Hintergrund ist es nur allzu folgerichtig anzunehmen, dass sich die Musikfestteilnehmer näher kennenlernten und anfreundeten und somit Bischoffs Anliegen durch diese Struktur der Feste realisiert wurde. Erinnerungsbücher, die meist auch die Teilnehmerliste beinhalteten, sollten das Fest nach dessen Ende den Mitwirkenden wieder lebendig und gegenwärtig machen und dadurch eine Langzeitwirkung bedingen.6 Nach den Befreiungskriegen vereinte Bischoff die sich nicht wesentlich unterscheidenden Veranstaltungsformen der Siegesfeier7 und des Musikfestes zu einer Deutschen Siegesfeier der Tonkunst, die für die Musikfestveranstaltungen der Folgejahre Vorbildcharakter hatte. Er selbst schrieb die Ankündigung dieser Veranstaltung für den damals viel rezipierten Allgemeinen Anzeiger der Deutschen und kein Geringerer als Carl Maria von Weber tat dies für die Allgemeine musikalische Zeitung.8 Ohne die Ankündigungen und Berichterstattungen in der musikalischen und nicht musikalischen Presse wäre die Musikfestbewegung wohl nicht von einem so großen Erfolg gekrönt gewesen. Man könnte von einem Hand-in-Hand-Gehen sprechen, das die Rezensenten durch Aufrufe zu solchen Festen noch beförderten:
4 5 6 7 8
48 Ms. Hass. 278 – „Spohr-Nachlaß“). Vgl. hierzu auch Kap. 2.1. in Schmid, Oratorium und Musikfest. Bezeichnend ist, dass die Ausführungen zum Rahmenprogramm viel detaillierter sind als diejenigen zu den Konzerten. Vgl. Schmid, Oratorium und Musikfest, S. 65 – 71. Vgl. ebd., S. 68, FN 254. Zur Bedeutung der Siegesfeier in der Musikfestentwicklung vgl. ebd., Kap. I.2 sowie S. 58. G[eorg] F[riedrich] Bischoff, „Deutsche Siegesfeier der Tonkunst zu Frankenhausen in Thüringen, am Schluß der Gedächtnißtage der großen Völkerschlacht, den 19 und 20 October 1815, in: Allgemeiner Anzeiger der Deutschen, Jg. 1815 (2), Nr. 235 (8. September), Sp. 2465 – 2468. Carl Maria von Weber, „Musikfest zu Frankenhausen in Thüringen“, in: AmZ 17 (1815), Sp. 653 – 655.
Musikfeste als Forum für Oratorien in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts
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„Möchten doch recht viele sich zu solchen Festen eignenden Städte, eben so wie Potsdam, Brandenburg a. H. und Rathenow, bereit sein, grosse Musikfeste in ihren Mauern zu feiern; es würde der Gesammtzahl ihrer Einwohner nicht nur dadurch ein grosser u. schöner Genuss mehr bereitet, der ihnen sonst fremd bleibt, sondern es wird durch sie auch der Sinn für Musik und Gesang in allen Volksklassen rege gemacht u. gehoben, die Einwohner benachbarter Städte u. Dörfer werden inniger als sonst mit einander befreundet, von welcher schönen Aussaat recht bald eine reiche und schöne Ernte zu hoffen ist.“9
Wurde zu Beginn noch sehr ausführlich über die wenigen veranstalteten Musikfeste berichtet, verknappten die Rezensenten angesichts der im Laufe des Jahrhunderts zunehmenden Anzahl an abgehaltenen Festen ihre Beiträge beträchtlich. Ebenso durchstrukturiert und durchkonzipiert wie das Rahmenprogramm waren auch die Konzerte. Drei unterschiedliche Typen von Konzerten standen auf Musikfesten nebeneinander, und jeder einzelne Typ hatte seinen ganz individuellen Aussagewert in deren Gesamtkonzeption: Der Konzerttyp des gemischten Programms, der den Konzerten entsprach, die allgemein im 19. Jahrhundert veranstaltet wurden, zählt zum geselligen Teil der Musikfeste. Er sollte dem Verlangen der Bevölkerung nach Zerstreuung und Unterhaltung entgegenkommen. In das Programm fanden Symphonien, Konzerte, einzelne Arien und Duette aus Opern und Oratorien, Kammermusik sowie zuweilen das Singen patriotischer Lieder Aufnahme. Der Konzerttyp des allgemein-religiösen Programms umfasst die Aufführung von Messteilen, Motetten, Psalmen, Hymnen und Chorälen und offenbart dadurch eine verblüffende Ähnlichkeit mit dem auf Siegesfeiern abgehaltenen Gottesdienst. Dadurch kommt er dem Anliegen der Musikfestveranstalter entgegen, auf die religiöse Erfahrung in Gottesdiensten allgemein, aber vor allem auch während der Befreiungskriege zu rekurrieren. Der sonntägliche Gottesdienst war zu dieser Zeit der Ort, an welchem die Bevölkerung von den Predigern zum Durchhalten motiviert wurde10 und an dem sie Informationen zum Fortgang des Krieges erhielt.11 Er nimmt auch deshalb eine so exponierte Stellung ein, weil man die Menschen über eine religiöse Erfahrung im Gottesdienst in eine bestimmte politische Richtung zu bringen wusste. Die Musik und die damit verbundene ästhetische Erfahrung verstärkten diesen Effekt in einem großen Maße.12 9 10 11 12
AmZ 38 (1836), Sp. 460. Schmid, Oratorium und Musikfest, S. 32. Ebd., S. 24. Über die Auswirkungen von religiöser Erfahrung in Verbindung mit geistlicher Musik vgl. etwa Mandi M. Miller und Kenneth T. Strongman, „The Emotional Effects of Music on Religious Experience: A Study of the Pentecostal-Charismatic Style of Music and Worship“, in: Psychology of Music 30/1 (2002), S. 8 – 27.
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Wie bereits angedeutet, bildete den Höhepunkt eines jeden Musikfestes die Aufführung eines großbesetzten Vokalwerkes wie eines Oratoriums oder einer Kantate. Dass es diesen Platz einnehmen konnte, liegt vor allem an der Tatsache, dass sich die Teilnehmer in einem Massenchor zusammenfinden und im Singen ein Gemeinschaftsgefühl erfahren konnten. Bischoffs geäußertem Anliegen im Hinblick auf Musikfeste konnte dadurch Rechnung getragen werden.13 Die beschriebene Wirkung des Singens, insbesondere in einem Massenchor, war von Rezensenten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts bereits postuliert worden, wie etwa die AmZ-Rezension des Meissener Gesangfestes im August 1844 belegt: „[D]ie Fremdesten waren wie alte Bekannte und Freunde; einen solchen Zauber hatte die freundliche Muse des Gesanges über Alles verbreitet.“14
Im selben Jahr weist der Rezensent des Gesangfestes zu Nordhausen dem Singen sowohl eine Gemeinschaft stiftende als auch eine nationale Dimension zu: „Die edle Kunst des Gesanges hat von je her an den Bewohnern des Harzes und Thüringens vorzugsweise Freunde und Jünger gehabt und, zumal in unserer Zeit der Vereine, ihr bindendes Moment, bei der durch die vielen politischen Grenzen Thüringens und des Harzes ungefährdeten deutschen Gesinnung der Sänger […] geltend gemacht.“15
Eine solche Funktion des Singens kann jedoch mitnichten als neue Erkenntnis der Rezensenten der Zeit gesehen werden. Im Rahmen insbesondere des protestantischen Gottesdienstes hatte das Singen von Chorälen schon seit Jahrhunderten die Funktion inne, dass sich die Gläubigen als Einheit fühlen.16 Es liegt daher nahe anzunehmen, dass vor eben diesem Hintergrund die Zuhörerschaft auf Musikfesten des Öfteren in das Singen patriotischer Gesänge oder Choräle einstimmte, was dazu beitrug, die Grenze zwischen den Aufführenden und dem Auditorium aufzubrechen. Ebenso stellte die Presse eine Verbindung des Singens mit den Ereignissen der Befreiungskriege, vor allem deren glorreichem Ausgang her : Es sei das Mittel gewesen, das wesentlich zum Sieg beigetragen habe.17 Das Singen im Massenchor, das Bischoff bereits als wichtigen Bestandteil der Musikfeste ansah18, wurde ferner als Thema in der musikalischen Presse auf13 Vgl. Schmid, Oratorium und Musikfest, S. 72 – 79. 14 AmZ 46 (1844), Sp. 572. 15 AmZ 46 (1844), Sp. 460 (Gesangfest der Constantia (des Harzsänger-Vereins) zu Nordhausen am 29., 30. und 31. Mai 1844). 16 Vgl. Schmid, Oratorium und Musikfest, S. 121 und 127 f. 17 Davon zeugt ein Artikel in der Zeitung für die elegante Welt mit dem Titel „Die neue Kriegssprache“, der noch während des Wiener Kongresses am 14. November 1814 publiziert worden war. 18 Bischoff führt in seinem Entwurf zu Musikfesten (Kap. VI, § 6, S. 14) sogar einen „Vorschlag
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gegriffen. Im AmZ-Artikel „Über stark besetzte Musik“, der bezeichnenderweise direkt vor der Ankündigung des Musikfestes zu Frankenhausen abgedruckt wurde, spricht der Autor dem Massenchor eine Gemeinschaft stiftende Wirkung zu: „Was […] für eine recht gewaltige, vollzählige und vollstimmige Musik spricht, ist, dass der Chor […] immer das Volk, zuweilen die Kirche, die Menschheit, oder wol gar das ganze lebendige Universum darstellt, und, um einen dem gemässen Eindruck zu machen, gar wol mit überschwenglicher Macht auf unsere Sinne eindringen darf. Es soll gar kein anderer Gedanke, kein anderes Gefühl mehr in uns aufkommen, als das durch die Musik bezweckte; sie soll uns also überfallen, überwältigen, gefangen nehmen, und vollständig beherrschen: und diese grosse, sinnliche Gewalt übt sie am sichersten aus, wenn sie einige hundert Organe zu Hülfe nimmt, welche alle von dem einen Enthusiasmus erfüllt sind, und ihn in feuriger Harmonie offenbaren.“19
Um eine optimale Wirkung eines Musikstückes auf Musikfesten zu erzielen, wird darüber hinaus der Fokus auf die Aufstellung des Chors und des Orchesters gelegt: „Unstreitig ist diese Localität [Convent-Rempter des Marienburger Schlosses] massenhaften Darstellungen der Tonkunst besonders günstig. Aber dieser glückliche Umstand, wie sehr wurde er durch die zweckmässige Einrichtung und Stellung aller der vielfachen Vocal- und Instrumentalkräfte erhöht.“20
Sowohl die minutiösen Beschreibungen in der musikalischen Presse als auch der Abdruck der Aufstellung des Gesangs- und Orchesterpersonals in Erinnerungsbüchern wird als Anregung für künftig auszurichtende Musikfestkonzerte zu werten sein.21 Das für das allgemein-religiöse Konzert bereits angedeutete Rezeptionsverhalten gilt in noch größerem Maße für die Konzerte, in denen groß-besetzte Vokalwerke aufgeführt wurden. Carl Maria von Weber gibt in seinen Kunstansichten detailliert darüber Auskunft, wie seine Patriotische Kantate22 Kampf und
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zu einer Besetzung im Großen“ in Form einer Tabelle an, in der die einzelnen Teilnehmer genauestens vermerkt sind. Es darf angenommen werden, dass er diese Funktion des Massenchors bzw. Massenorchesters bereits für seine ersten Musikfeste im Hinterkopf hatte. Vgl. hierzu auch Schmid, Oratorium und Musikfest, S. 77 f. AmZ 17 (1815), Sp. 561. AmZ 45 (1843), Sp. 556 (Musikfest in Marienburg). Etwa: AmZ 45 (1843), Sp. 570, Beschluss des Musikfestes zu Marienburg. Erinnerung an das achte Elb-Musikfest zu Dessau den 11., 12. und 13. Juni 1835, Dessau: Hofbuchdruckerei, [1835]. Mit Patriotischen Kantaten hat sich Stefanie Steiner in ihrer Studie Zwischen Kirche, Bühne und Konzertsaal: Vokalmusik von Haydns „Schöpfung“ bis zu Beethovens „Neunter“, Kassel 2001, beschäftigt. Vgl. hierzu auch, Schmid, Oratorium und Musikfest, S. 156 – 175.
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Sieg auf einen Text von Gottfried Wohlbrück23, die er zur Feier der Schlacht bei Waterloo bzw. Belle-Alliance komponierte, zu rezipieren sei: „Als ich in den letzten Tagen des Juli 1815 zu München mit Wohlbrück den Entschluß faßte, obige Kantate zu schreiben, so waren wir beide so erglüht und erfüllt von den großen Weltereignissen der letzten Zeit, daß wir glaubten, diesen Stufengang der seltensten, wechselndsten Gefühle als die gewiß wir damals allgemein herrschenden in künftiger Zeit dem Hörer wieder vor die Seele führen, ihn gleichsam jene vergangene Epoche in gedrängtem Überblicke nochmals durchleben lassen zu können.“24
Die dargestellten Ereignisse sollen – Weber zufolge – dem Ausführenden und Zuhörer zu einer Vergegenwärtigung der während der Befreiungskriege erlebten Ereignisse und Gefühle im Konzert verhelfen. Dass die Rückbesinnung auf die Befreiungskriege sich auf das gesamte Jahrhundert und darüber hinaus erstreckte, zeigt nicht zuletzt die Tatsache, dass Webers Kantate Kampf und Sieg 1870 mit geringfügigen Änderungen nochmals publiziert wurde und eine Männerchorfassung des Werkes sogar im ersten Weltkrieg Verwendung fand.25 Wer mit einem groß-besetzten Werk wie einem Oratorium oder einer Patriotischen Kantate auf Musikfesten erfolgreich abschneiden wollte, der hatte die Aufgabe, durch die textliche und musikalische Struktur die Erlebnisse und das während der Befreiungskriege vorhanden gewesene Gemeinschaftsgefühl zu wecken. Mittel ersten Ranges war die Aufnahme von Motiven, die die Propaganda der Befreiungskriege bereits erfolgreich eingesetzt hatte. Es sollte ein nach-aufklärerisches Gottesverhältnis dargestellt werden, das auf der altchristlichen Vorstellung gründet, dass Gott durch einen Krieg das Volk für seine Sünde bestrafe. In dem Moment, in dem sich das Volk seiner Sünde bewusst wird und sich zur Buße umkehrt, greift Gott helfend in die Geschehnisse ein. Die Prediger stellten die Ereignisse nicht als bloßen historischen Bericht dar, sondern bezogen sie auf die aktuellen Ereignisse während des Krieges. Zur Motivation wurde mobilisiert, indem man zur Demut sowie zum absoluten Gottvertrauen aufrief und dies anhand von Antithesen veranschaulichte: Während man die positiven Aspekte 23 Carl Maria von Weber, Kampf und Sieg. Cantate zur Feier der Vernichtung des Feindes im Juni 1815 bei Bell-Alliance und Waterloo, Text von Wohlbrück, op. 44, Klavierauszug, Berlin: Schlesinger, [o. J.]. 24 Carl Maria von Weber, Kunstansichten: Ausgewählte Schriften (= Taschenbücher zur Musikwissenschaft, 23), Wilhelmshafen 1977, S. 93. 25 Carl Maria von Weber, Kampf und Sieg. Cantate zur Feier der Vernichtung des Feindes im Juni 1815 bei Bell-Alliance und Waterloo, Text von Wohlbrück (mit einigen auf das grosse Jahr 1870 passenden Textänderungen von L. R.), op. 44, Klavierauszug, Berlin : Schlesinger, 1870; Carl Maria von Weber, Kampf und Sieg, Kantate (zur Vernichtung des Feindes), Text von Gottfried Wohlbrück, Neue Ausgabe für Männerchor, gemischtes Solo-Quartett und Orchester (Klavier), bearbeitet von Hanns Mießner, Klavierauszug, Berlin: Schlesingersche Buch- und Musikhandlung, Rob. Lienau, [1915].
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auf einen selbst bezog, wies man die negativen dem Feind zu. Beispiele dafür sind die Gegensatzpaare Gerechtigkeit vs. Ungerechtigkeit, Licht vs. Finsternis, Wahrheit vs. Lüge, Glaube vs. Unglaube sowie die Verteufelung Napoleons.26 Mit der Passion Christi sollte ferner das totale Opfer begründet werden. Textdichter taten darüber hinaus gut daran, dem Lobpreis und Dank Gottes einen großen Platz im Werk einzuräumen, um den Festcharakter, d. h. die Situation, in der sich die Menschen während der Aufführung des Werkes bzw. auch auf Siegesfeiern befanden, zu manifestieren.27 Auf dieser Grundlage wird die deutlich ansteigende Anzahl von alttestamentarischen Oratorien, Passionsoratorien28 und Oratorien mit Weltgerichtsthematik29 verständlich, die Howard E. Smither in seiner History of the Oratorio30 aufzeigt. Es mag der Einwand erhoben werden, dass einige der oben genannten Aspekte traditionell in der Gattung Oratorium ihren Platz einnehmen und dadurch nicht als spezifisch musikfesttauglich einzustufen sind. Dies ist sicherlich nicht abzustreiten. Es muss in diesem Fall jedoch festgehalten werden, dass sich die Anliegen der Musikfeste und der Rückgriff auf traditionelle Vorbilder keineswegs ausschließen. In der Restaurationszeit wurden Bestrebungen zur nationalen Einheit unterdrückt, sodass man derartige Absichten unter einem Deckmantel zu transportieren hatte. Wurde die Veranstaltung von Musikfesten von 26 Zum Napoleonbild der Zeit vgl. den Beitrag von Kirstin Buchinger in diesem Band. 27 Vgl. hierzu Gerhard Graf, Gottesbild und Politik: Eine Studie zur Frömmigkeit in Preußen während der Befreiungskriege 1813 – 1815 (= Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte, 52), Göttingen 1993. Die Ergebnisse der Studie werden im Hinblick auf Musikfeste in Schmid, Oratorium und Musikfest, Kap. I.I. zusammengefasst dargestellt. 28 Es wird gewiss der Fall sein, dass Passionsoratorien ihrer Tradition gemäß auch für eine Aufführung am Karfreitag komponiert wurden. Ihre Aufführung auf Musikfesten konnte gleichwohl eine Rückbesinnung im oben genannten Sinne evozieren. 29 Die Offenbarungsoratorien werden in diesem Zusammenhang auf die Verteufelungswelle Napoleons während der Befreiungskriege bezogen, insbesondere auch die gelegentliche Einbeziehung des Teufels. Dadurch wird Abstand von der Interpretation der Oratorien als „supranaturalistische“ genommen, wie etwa bei Glenn Stanley, The Oratorio in Prussia and Protestant Germany : 1812 – 1848, Diss., mschr., Columbia University 1988, S. 93; Christine Blanken, Franz Schuberts ,Lazarus‘ und das Wiener Oratorium zu Beginn des 19. Jahrhunderts (= Schubert: Perspektiven: Studien, 1), Stuttgart 2002, S. 59 – 64; Howard E. Smither, A History of the Oratorio. Bd. 4: The Oratorio in the Nineteenth and Twentieth Centuries, Chapel Hill/London 2000, S. 128; Günther Massenkeil, Oratorium und Passion (= Handbuch der musikalischen Gattungen, 10/2), Laaber 1999, S. 125; Arnold Schering, Geschichte des Oratoriums (= Kleine Handbücher der Musikgeschichte nach Gattungen, 3), Leipzig 1911, Reprint Hildesheim 1966, S. 391. Zur Weltgerichtsthematik in Oratorien vgl. auch Rebekka Sandmeier, „Oratorium im Zeichen des Weltendes – Friedrich Schneider und Louis Spohr“, in: Jahrbuch des Staatlichen Instituts für Musikforschung Preußischer Kulturbesitz (2010), S. 213 – 234, sowie den Beitrag von Rebekka Sandmeier in diesem Band. 30 Zu den alttestamentarische Oratorien vgl. Smither, History, Bd. 4, S. 100 – 102; zu den Passionsoratorien, vgl. ebd., Bd. 4, S. 91 f.; zu den Weltgerichtsoratorien vgl. ebd., Bd. 4, S. 98.
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vielen Berichterstattern in der Presse in einem Bildungsrahmen verortet, wie etwa als „Veredelung und Bildung des Menschengeschlechtes, zu seiner sittlichen Erhebung“31, wie es der Rezensent des Meissener Gesangfestes 1844 formulierte, so wurde von den Textdichtern und Komponisten auf historische Vorbilder in der Gattung Oratorium zurückgegriffen. An erster Stelle stand hier nicht, wie dies zu vermuten wäre, Joseph Haydn, auch wenn dessen Schöpfung die ersten von Bischoff veranstalteten Musikfeste krönte, sondern es waren Georg Friedrich Händels Oratorien, die, vor allem ihres großen Choranteils wegen und weil Händels Kompositionen als deutsches Kulturerbe verstanden wurden, als Vorbilder fungierten. Sie selbst gehörten, jedoch meist nur in Bearbeitungen etwa von Ignaz Franz von Mosel oder Johann Heinrich Clasing, zum Repertoirekanon auf Musikfesten.32 Wichtig war in jedem Fall, dass die auf Musikfesten aufgeführten Oratorien Elemente enthalten, die das gewünschte Rezeptionsverhalten bei den Zuhörern auslösen. Ob diese, wie erwähnt, häufig religiösen Elemente, nun vor dem Hintergrund einer Aufführung des Oratoriums auf Musikfesten miteinbezogen wurden oder in der Gattungstradition verhaftet sind, ist oft nicht zu entscheiden. In jedem Fall gewinnt man bei der Beschäftigung mit Musikfestoratorien in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts den Eindruck, dass sich die Komponisten Händels Oratorien zum Vorbild nahmen und diese dann im Hinblick auf die Bedürfnisse auf Musikfesten optimierten. Als ein weiteres Vorbild für Kompositionen von Musikfestoratorien können ferner die speziell für Siegesfeiern komponierten Patriotischen Kantaten angesehen werden, die die vergangenen Ereignisse noch in einer direkten Art und Weise darstellen. So stehen sich etwa in Spohrs anlässlich der Siegesfeier der Leipziger Völkerschlacht 1815 komponierten Patriotischen Kantate Das befreyte Deutschland33 (auf einen Text von Caroline Pichler) am Ende des ersten Teils der Chor des französischen Heeres, der Chor des russischen Heeres sowie der Chor des deutschen Volkes gegenüber. Die Chöre unterscheiden sich durch jeweils eigenes thematisches Material und erzielen die beabsichtigte Wirkung auch insofern, als Spohr sie raffiniert überlagernd und auch räumlich getrennt einsetzt, was er durch eine Teilung des Orchesters noch unterstreicht.34 Dass auch 31 AmZ 46 (1844), Sp. 572. 32 Zur Pflege von Händels Oratorien generell und der Verwendung der jeweiligen Bearbeitungen im 19. Jahrhundert – auch über den Rahmen von Musikfesten hinaus – vgl. Aufführungen von Händels Oratorien im deutschsprachigen Raum (1800 – 1900). Bibliographie der Berichterstattung in ausgewählten Musikzeitschriften, hrsg. von Dominik Höink und Rebekka Sandmeier unter Mitarbeit von Maria Behrendt, Katharina Dettmann, Nicole D’Oliveira, Maike Gevers, Sarah Grossert, Marika Henschel, Robert Memering, Henrik Oerding, Itunu Ogunseitan und Kirstin Pönnighaus. Göttingen 2014. 33 Louis Spohr, Das befreyte Deutschland, Autograph, in: D-B, Mus. ms. autogr. Spohr 1. 34 Vgl. Steiner, Zwischen Kirche, Bühne und Konzertsaal, S. 199 f.
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Zeitgenossen das so empfanden, zeigt etwa die Rezension der Siegesfeier in der AmZ: Das befreyte Deutschland beinhaltet einen „grosse[n] Wechselchor der Franzosen, Russen und Deutschen; wo sich anfangs das Chor der fliehenden Franzosen immer weiter entfernt, worauf sich das Chor der Russen, anfangs auch in der Entfernung, alle Stimmen unisono und blos mit Militairinstrumenten begleitet, leise, aber immer stärker und endlich im stärksten fortissimo, mit dem ganzen Orchester, nebst Trompeten und Pauken und Posaunen, hören lässt.“35
Ebenso spricht der Rezensent die starke emotionale Wirkung der Musik, insbesondere die des russischen Chors, an, die sie auf die Mitwirkenden und Zuhörer gehabt haben soll, wobei freilich nicht jeder Musikfestbesucher in diese Interpretation eingeschlossen werden kann und solche Aussagen daher mit einer gewissen Vorsicht behandelt werden müssen: „Diese fremde, rohe und wilde Musik, die einen sehr charakteristischen, nationalen Ausdruck hat, steigerte die Empfindung des Zuhörers wirklich bis zu Furcht und Schaudern.“36
Mitfühlen konnten die Musikfestbesucher auch in den Solopassagen. Während Weber in seiner Patriotischen Kantate Kampf und Sieg die allgeorische Figur „Der Glaube“ auftreten lässt, kommentieren bestimmte Personentypen, wie beispielsweise die „Jungfrau“, die „Frau“ oder der „Alte Mann“, in Spohrs Das befreyte Deutschland das Geschehen und verweisen damit direkt auf die Rezeptionssituation der Musikfestbesucher, indem sie Gefühle ausdrücken, die für diese Situation nicht ungewöhnlich sind. So trauert etwa die Jungfrau über den Verlust ihres Freundes in einem „sanfte[n], rührende[n] Adagio“ mit den Worten „Er war so gut, er war so bieder“. Ebenso wird die Gefühlsäußerung des Weinens im anschließenden Rezitativ der ,Frau‘ mit „O stille diese Klagen, laß die Thränen versiegen“ ausgedrückt. Die Passage „O Dank dir, grosser Gott“ der ,Frau‘ und der ,Jungfrau‘ war anschließend, dem Rezensenten zufolge, die Stelle, die die Zuhörer in eben dieselben emotionalen Äußerungen zu versetzen wusste, indem sie „viele bis zu Thränen rührte“37. Der Berichterstatter scheint davon überzeugt gewesen zu sein, dass der Komponist diese Gefühlsäußerung beabsichtigt habe, da er die Passage als ,glücklichen Coup‘ bezeichnete.38 Die Teilnehmer konnten folglich in der Aufführung die vergangenen Ereignisse und Gefühle nochmals durchleben, jedoch dieses Mal mit dem Wissen, den
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AmZ 17 (1815), Sp. 768. Ebd. Ebd., Sp. 769. Ebd.
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Sieg davon getragen zu haben. Bischoff selbst spricht in seiner Ankündigung zur Siegesfeier in Frankenhausen eine derartige Rezeptionsweise an: „[D]er Kenner und Laie [möge] kräftig und muthig sich erhoben fühlen und ihm im feurigen Strome göttlicher Harmonien Moskaw’s heilige rettende Flamme entgegen blitzen, Gottes Gericht über das fliehende Heer der Franken vernehmlich erscheinen, Sieges=Donner der großen Völkerschlacht entgegen hallen […]. Das hochklopfende Herz, von Andacht und Begeisterung erfüllt und zum Throne des Ewigen emporgehoben, wird sich in Gefühlen des flammenden Dankes auflösen […].“39
Vor diesem Hintergrund verwundert die Feststellung nicht, dass Musikfestoratorien häufig keinen stringenten Bibelbericht aufweisen. In Anlehnung an die Gepflogenheiten der Prediger zu Zeiten der Befreiungskriege, von denen bereits im Rahmen des allgemein-religiösen Konzerttyps gesprochen wurde40, war es auch nur erforderlich, als assoziativen Ausgangspunkt einen passenden Bibelbericht zu wählen und diesen dann mit Elementen der Propaganda der Befreiungskriege auszuschmücken. In der Oratoriendiskussion der Zeit forderten die meisten Autoren indes eine stringente Oratoriengestaltung ein. Indem sie sich jedoch ausschließlich mit ihren Ausführungen auf ästhetischem Boden verorteten und sich auf poetologische Aspekte versteiften, stellten sie den Oratoriendichtern und -komponisten in ihren zuweilen polemischen Kritiken anheim, vor diesem Hintergrund ihre Werke konzipiert zu haben. In der Tat waren es gleichwohl nur wenige Komponisten, die sich auf einer Gratwanderung zwischen der Gattungsdiskussion und den Anliegen der Musikfeste bewegten.41 Bei allen anderen war eine so geartete Kritik nicht gerechtfertigt, da ihre Werke sowohl lyrische Aspekte, in denen die Gefühle der Personen ausgedrückt werden, als auch dramatische42 aufweisen, die häufig bei Schlachtdarstellungen oder bei der Darstellung des Konflikts beider Parteien Verwendung fanden. Seltener sind in den in Rede stehenden Oratorien indes epische Teile zu finden.43 Textdichter, wollten sie Oratorien speziell für deutsche Musikfeste schreiben, kompilierten nicht selten einzelne, häufig kriegerische Aspekte von sehr breit ausgeführten Bibelberichten – genannt sei hier etwa die Geschichte von David – oder schmückten sehr knapp gefasste Berichte wie beispielsweise den des Gideon mit weiteren Motiven der Propaganda aus. 39 Allgemeiner Anzeiger der Deutschen Jg. 1815 (2), Nr. 235 (8. September), Sp. 2467, „Deutsche Sieges-Feyer der Tonkunst zu Frankenhausen in Thüringen, am Schluß der Gedächtnistage der großen Völkerschlacht, den 19 und 20 October 1815“. 40 Vgl. hierzu Schmid, Oratorium und Musikfest, S. 30 – 34, bzw. Graf, Gottesbild und Politik, S. 38 – 40. 41 Vgl. Schmid, Oratorium und Musikfest , Kap. III, 2. 42 Die Bezeichnung „dramatisch“ wird von den Verfechtern des lyrischen Oratoriums anders aufgefasst als von denen des dramatischen. Vgl. hierzu ebd., Kap. III, 1.2.1 und 1.2.2. 43 Zur Gattungsdiskussion in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, vgl. ebd., Kap. III, 1.
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Wie es bereits für die Patriotische Kantate angedeutet wurde, findet man auch in Musikfestoratorien der Zeit des Öfteren Teile, die die aktuelle Situation der Rezipienten, d. h. die Siegesfeier oder das Musikfest, thematisieren. Vor allem der Musikfest erfahrene Friedrich Schneider hat in mehreren seiner zahlreichen Oratorien, unter anderem dem berühmten Weltgericht und der Sündflut – letztere schrieb Schneider eigens für das Niederrheinische Musikfest44 1824 – diesem Aspekt sehr viel Raum gelassen.45 Mit einer solchen Art der Gestaltung konnte man sich sowohl in der Gattungstradition verorten als auch den Anliegen der Musikfeste, der Schaffung eines Gemeinschafts- bzw. Nationalgefühls, entgegenkommen, ohne die Intention offenzulegen. Louis Spohr nimmt in dem dargestellten Kontext eine Sonderrolle ein. Als Musikfestkomponist und -dirigent der ersten Stunde wusste er um die Anliegen der Veranstaltungsform. Für die 1810, 1811, 1812 und 1815 veranstalteten Musikfeste betraute Bischoff Spohr – wohl aufgrund dessen bereits damals hohen Bekanntheitsgrads als Komponist und Geigenvirtuose – mit der musikalischen Leitung sowohl der Oratorienkonzerte als auch der Konzerte mit gemischtem Programm.46 Spohr lernte in diesem Rahmen die künstlerischen und sozialen Gegebenheiten dieser neuen Veranstaltungsform kennen. So bestand etwa der Kern des Orchesters jeweils aus Orchestermitgliedern der von Spohr in Gotha geleiteten Kapelle, mit der er die Musikfestprogramme und insbesondere auch seine für diese Konzerte neu komponierten Werke zuvor sehr gut einstudieren konnte, sodass die einzige angesetzte Gesamtprobe, in der dann weitere Berufsmusiker und eben auch Dilettanten, sowohl im vokalen als auch im instrumentalen Bereich hinzukamen, für eine gelungene Aufführung ausreichte.47 Ebenso wie er die Anzahl des ausführenden Apparats, die sich zwischen 200 und 300 bewegte, auf den Musikfesten kennenlernte, so wurde er auch bekannt mit den geselligen Unternehmungen und nicht zuletzt mit der patriotischen Note der Feste, die sich etwa an dem Ausflug zum Kyffhäuser zeigt, wo Albert Methfessel Kaiser Barbarossa ansang „und zu baldigem Erwachen und zur endlichen Befreiung Deutschlands ermahnt[e]“, wie Spohr selbst das Ereignis in seiner Selbstbiographie beschreibt.48 Spohr, der durch die Anwesenheit seiner 44 Zu den Niederrheinischen Musikfesten vgl. u. a. Julius Alf, Geschichte und Bedeutung der Niederrheinischen Musikfeste in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts, hrsg. von Gerd Högener und Fritz Kulins, Düsseldorf 1987; vgl. auch Klaus Wolfgang Niemöller, „Eine musikalische Freundschaft: Sibylle Mertens-Schaafhausen und Ferdinand Ries, Dirigent der Niederrheinischen Musikfeste“, in: Ries Journal, Ausgabe 2 (2012), S. 3 – 27. 45 Vgl. Schmid, Oratorium und Musikfest, S. 184 – 208. 46 Hans Eberhardt, Die ersten deutschen Musikfeste in Frankenhausen am Kyffh. und Erfurt 1810, 1811, 1812 und 1815: Ein Beitrag zur thüringischen Musikgeschichte, Jena 1934, S. 6 47 Ebd., S. 23. 48 Louis Spohr’s Selbstbiographie, 2 Bde., Kassel/Göttingen 1860 – 1861, Bd. 1, S. 160.
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Familie und durch das sängerische Dazutun seiner Schwiegermutter, der Gothaer Hofsängerin Scheidler,49 auf den Musikfesten unterstützt wurde, war das künstlerische Zentrum nicht nur in dirigentischer, sondern auch in kompositorischer Hinsicht, indem er etwa für den Klarinettisten Hermstedt ein Klarinettenkonzert50 komponierte, auf Bischoffs Bitte hin eine Symphonie.51 Anlässlich des Musikfestes zum Geburtstag Napoleons 1812, zu dessen Ausrichtung Bischoff durch das französische Gouvernement beauftragt worden war, gab dieser den Kompositionsauftrag an Spohr weiter, der daraufhin sein erstes Oratorium, Das jüngste Gericht, auf einen Text von August Arnold entstehen ließ. Wie bereits oben angesprochen, komponierte er für die Musikfestsiegesfeier der Leipziger Völkerschlacht 1815 zu Frankenhausen seine Patriotische Kantate Das befreyte Deutschland, die, wie gezeigt, kompositorisch so gestaltet war, dass das Rezeptionsanliegen der Musikfeste nahezu ideal einzulösen war. Spohrs zweites Oratorium Die letzten Dinge, das, wie bereits sein erstes, der Weltgerichtsthematik verpflichtet ist, weist allerdings eine formale und musikalische Gestaltung auf, die von denen seiner ersten oratorischen Werke erheblich differiert. Der Grund dafür dürfte in Friedrich Schneiders Weltgericht zu suchen sein, das nach seiner Uraufführung 1820 nach kürzester Zeit zum beliebtesten und meist aufgeführten Oratorium auf Musikfesten bis zu Mendelssohns Paulus avancierte.52 Seinen eigenen Angaben zufolge nahm der Textdichter des Weltgerichts, Johann August Apel, Spohrs Das jüngste Gericht als Anstoß für das Libretto des Weltgerichts: „Die Idee kam mir in Spohrs Weltgericht, wo mir das Klagen der Verdammten und das Jubeln der Seligen widrig vorkam und das ewige fortklingen dieser unendlichen Klage sehr unpoetisch.“53
Schneider stattete das Weltgericht Apels dann – ebenso wie seine weiteren Oratorien54 – mit effektvollen, für eine Aufführung auf Musikfesten geeigneten Mitteln aus55, derer sich auch Spohr in seinem Jüngsten Gericht und seiner Patriotischen Kantate bereits bedient hatte. Um nicht im Schatten von Schneider zu stehen oder sogar als dessen Nachahmer angesehen zu werden, musste Spohr in Die letzten Dinge einen anderen kompositorischen Weg einschlagen. Textlich 49 50 51 52 53
Eberhardt, Die ersten Deutschen Musikfeste, S. 8 und 12. Louis Spohr’s Selbstbiographie, Bd. 1, S. 162. Ebd., Bd. 1, S. 161. Vgl. auch Sandmeier, „Oratorium im Zeichen des Weltendes“. Johann August Apel an Carl Borromäus von Miltitz, Brief vom 25. Juli 1815, in: Otto Eduard Schmidt, Fouqu¦, Apel, Miltitz: Beiträge zur Geschichte der deutschen Romantik, Leipzig 1908, S. 154. 54 Zu Schneiders Oratorien vgl. Helmut Lomnitzer, Das musikalische Werk Friedrich Schneiders (1786 – 1853) insbesondere die Oratorien, Diss., mschr., Marburg 1961. 55 Vgl. hierzu Schmid, Oratorium und Musikfest, S. 184 – 204.
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kam ihm dabei die Zusammenstellung von Bibelstellen des Herausgebers der AmZ, Friedrich Rochlitz, entgegen, der sich um eine lyrische Gestaltung im Sinne von Ausdruck der Empfindungen bemühte und diese von unbestimmten Personen äußern lässt. Auch die Tatsache, dass das Oratorium von relativ kurzer Aufführungsdauer ist, zeigt, dass er sich mit dieser Gestaltung wohl in der Tradition des lyrischen Oratoriums verorten wollte, das damals vor allem durch den Artikel in Johann Georg Sulzers Allgemeine Theorie der Schönen Künste bekannt war.56 Jedoch wollte man diesen Typus weiterentwickeln, indem man eben kein Sujet wählte, das speziell einer Aufführung im Gottesdienst hätte gerecht werden können, so wie es Sulzer vorsah, sondern speziell auf ein Kirchenkonzert ausgerichtet war.57 Einen Schwerpunkt des Briefwechsels zwischen Spohr und Rochlitz bilden Diskussionen um die angemessene Vertonung des Textes, die ebenso Elemente der früheren Zeit mit aktuellen kompositorischen Neuerungen verbinden sollte. Rochlitz erlaubt sich etliche musikalische Hinweise, etwa, dass das Werk „im höchsten Kirchenstyl geschrieben werden müßte, d. h. im Wesentlichen in dem, der Vorfahren, bis auf und mit Händel, doch allerdings mit Benutzung der seitdem so sehr vermehrten und vervollkommneten Kunst- und Ausdrucksmittel.“58 Als auf Musikfesten Etablierter konnte Spohr sich diese ästhetische Dimension erlauben, nicht zuletzt auch deshalb, weil Die letzten Dinge genügend Momente enthält, die dem Rezeptionsanliegen auf Musikfesten entgegenkommen.59 Was Spohrs drittes Oratorium Des Heilands letzte Stunden (1835) anbetrifft, so ist es vor dem Hintergrund einer Aufführung am Karfreitag und daher in der Tradition der Passionsoratorien zu sehen.60 Gleichwohl wurde in der musikalischen Presse darauf hingewiesen, dass seine „beabsichtigte Wirkung wesentlich von grossen Massen und von einem Orchester“ abhänge61 und ihm dadurch eindeutig bescheinigt, auch auf Musikfesten seine Wirkung nicht zu verfehlen62, zumal das totale Opfer Jesu – wie bereits erwähnt – zur Moti56 Johann Georg Sulzer, Allgemeine Theorie der Schönen Künste in einzeln nach alphabetischer Ordnung der Kunstwörter auf einander folgenden Artikeln abgehandelt, Bd. 2, Leipzig 1775, S. 360 – 362. 57 Vgl. Friedrich Rochlitz an Louis Spohr, Brief vom 2. Juli 1825, in: Ernst Rychnovsky, „Ludwig Spohr und Friedrich Rochlitz: Ihre Beziehungen nach ungedruckten Briefen“, in: Sammelbände der Internationalen Musikgesellschaft 5 (1903/1904), S. 253 – 313, hier, S. 264. 58 Ebd. Zur Verarbeitung älterer kirchenmusikalischer Formen in Die letzten Dinge vgl. den Beitrag von Daniel Glowotz in diesem Band. 59 Vgl. Schmid, Oratorium und Musikfest, S. 224 – 234. 60 Zum Verhältnis von Des Heilands letzte Stunden zur Gattungstradition vgl. den Beitrag von Jürgen Heidrich in diesem Band. 61 AmZ 38 (1836), Sp. 40. 62 Vgl. hierzu auch den Aufsatz von Irmlind Capelle, „Kirche oder Musikfest? Zur Vertonung von Friedrich Rochlitz’ Oratorium Das Ende des Gerechten durch Johann Gottfried Schicht (1806) und Louis Spohr (1835)“, in: Festschrift Christoph-Hellmut Mahling zum 65. Ge-
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vation während der Befreiungskriege herangezogen wurde. Spohr selbst dirigierte Des Heilands letzte Stunden in Norwich und ebnete somit den Weg in England für sein viertes Oratorium Der Fall Babylons, das textlich – wie Dominik Höink gezeigt hat – ganz in der englischen Tradition bleibt.63 Dennoch ist darauf hinzuweisen, dass Der Fall Babylons in vielen Teilen eine Vergegenwärtigung mit den Ereignissen der Befreiungskriege geradezu herausfordert, sodass er sich dadurch auch als deutsches Musikfestoratorium ausweist.
burtstag, hrsg. von Axel Beer, Kristina Pfarr und Wolfgang Ruf (= Mainzer Studien zur Musikwissenschaft, 37), Bd. 1, Tutzing 1997, S. 211 – 221. 63 Vgl. dazu den Beitrag von Dominik Höink in diesem Band.
Klaus Wolfgang Niemöller
Louis Spohr und die Musikfeste im Rheinland. Der Oratorien-Komponist und Musikfest-Dirigent in den musikkulturellen Kontexten der Aufführungen
1.
Einleitung
Nachdem 1984 zum 200 Geburtstag von Louis Spohr Edmund Spohr in der Festschrift seinen Aufsatz „Louis Spohr und Amalie Sybel“ auch als einen Beitrag zur Musikgeschichte der Stadt Düsseldorf und zur Geschichte der Niederrheinischen Musikfeste anlegte,1 sind inzwischen aus verschiedener Sicht neue Forschungen vorgelegt worden, die es nahe legen, unter anderem auf ihrer Grundlage eine aktuelle Bestandsaufnahme dieser Aspekte vorzunehmen. Sie richtet ihren Fokus auf die Aufführungen in dem erweiterten Sinne der neueren Aufführungsforschung, wie sie Anno Mungen 2011 auch an einem Kölner Beispiel entworfen hat.2 Dazu gehören also nicht nur die Oratorienwerke als solche, sondern auch ihre Aufnahme in das Musikfestprogramm, die Rolle der Comit¦s, die Verpflichtung von Solisten, Proben, Chorzusammensetzung, die Mitglieder des Orchesters, der Konzertraum, die Aufstellung zur Aufführung, die Berichte und Kritiken in der Presse usw. Die Realitäten der Aufführungen spiegeln zugleich die tiefe Verankerung der Oratorien als Musikfest-Kompositionen in der musikliebenden Bürgergesellschaft, die durch Zusammenschluss in entsprechenden Vereinigungen Träger der Musikfestidee und ihrer Realisierung darstellt, das was Felix Mendelssohn Bartholdy, als Städtischer Musikdirektor in Düsseldorf (1833 – 1835) in einem Brief vom 7. April 1834 mit dem übergreifenden Wort „Musikwesen“ bezeichnete.3 Letztlich gehören dazu dann auch die 1 Edmund Spohr, „Louis Spohr und die Amalie von Sybel. Ein Beitrag zur Musikgeschichte Düsseldorfs und zur Geschichte der niederrheinischen Musikfeste“, in: Louis Spohr. Festschrift und Ausstellungskatalog zum 200. Geburtstag, hrsg. von Hartmut Becker und Rainer Krempien, Kassel 1984, S. 91 – 104. 2 Anno Mungen, „Kölner Paraden. Theatralität und Musik der Stadt“, in: Mitten im Leben. Musiktheater von der Oper zur Everyday Performance, hrsg. von Anno Mungen, Laaber 2011, S. 413 f. 3 Felix Mendelssohn Bartholdy, Sämtliche Briefe, Bd. 3 (August 1832 bis Juli 1834), hrsg. von Uta Wald unter Mitarbeit von Juliane Baumgart-Streibert, Kassel 2010, S. 388.
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Aufführbarkeit und die Aufführungsbestimmung, die in der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht nur für die Oratorien Konzertsaal und Kirche erstaunlich umfangreich übergriff und interkonfessionell orientiert war.4 Diese Untersuchung versteht sich deshalb auch als exemplarisch für das Verhältnis von Spohrs Oratorien und ihrer Aufführungsgeschichte insgesamt und nimmt damit Bezug auf die in den Beiträgen zu einzelnen Oratorien vorgetragenen Forschungsergebnisse. Die von Martina Wagner-Egelhaaf thematisierten aufführungsgeschichtlichen Aspekte von Spohrs Lebenserinnerungen werden einen Ausgangspunkt bilden.5 Bereits 2006 hat Samuel Weibel mit seinem Buch über die Musikfeste des 19. Jahrhunderts im Spiegel der musikalischen Fachpresse den Blick systematisch geweitet.6 Damit ist auch schon darauf hingewiesen, dass es für das Thema Spohr und die Musikfeste eben nicht nur um die Niederrheinischen Musikfeste geht, auf denen er 1826 in Düsseldorf und 1840 in Aachen eigene Werke dirigierte, sondern auch um das Beethovenfest 1845, freilich in der rheinischen Stadt Bonn. Wesentliche Grundlage dafür ist natürlich, dass Spohr bereits an den ersten Musikfesten in Deutschland maßgeblich beteiligt war. Bei den Thüringischen Musikfesten in Frankenhausen und Erfurt, die der Frankenhäuser Kantor Georg Friedrich Bischoff initiiert hatte, war der Gothaer Hofkapellmeister Louis Spohr nicht nur der Festdirigent.7 Bereits hier bürgerte sich der Brauch ein, dass von dem Festdirigenten auch eigene Werke aufgeführt wurden, die teilweise eigens für das Musikfest komponiert wurden. Schon beim ersten Fest 1810, das mit Haydns Die Schöpfung eröffnet wurde, war er mit drei Werken vertreten: Der Ouvertüre zur Oper Alruna, dem 2. Klarinettenkonzert und der Konzertante für 2 Violinen.8 1811 wurden seine 1. Symphonie und das 10. Violinkonzert aufgeführt. Beim vierten Musikfest 1812 schließlich stand sein Oratorium Das jüngste Gericht auf dem Programm des ersten Tages, dem in der Folge auch bei anderen Musikfesten immer ein großes oratorisches Werk gewidmet war. Das Wirken Spohrs auf den Musikfesten darf demnach nicht auf die Aufführungen seiner Oratorien verengt werden. Über die im Beitrag von Eva Verena Schmid darge-
4 Stefanie Steiner, Zwischen Kirche, Bühne und Konzertsaal. Vokalmusik von Haydns „Schöpfung“ bis zu Beethovens „Neunter“, Kassel 2001, besonders S. 181 ff. 5 Vgl. den Beitrag von Martina Wagner-Egelhaaf in diesem Band. 6 Samuel Weibel, Die deutschen Musikfeste des 19. Jahrhunderts im Spiegel der musikalischen Fachpresse (= Beiträge zur rheinischen Musikgeschichte, 168), Kassel 2006. 7 Ebd., S. 63 f. und 117 f.; Franziska Rinckens, „Louis Spohr und die deutschen Musikfeste“, in: Collegium musicum. Festschrift Emil Platen, hrsg. von Martella Guti¦erez-Denhoff, Bonn 1986, S. 134 – 152; Eva Verena Schmid, Oratorium und Musikfest. Zur Geschichte des Oratoriums in Deutschland in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts (= Hainholz Musikwissenschaft, 18), Götttingen 2012, S. 47 – 101. 8 Weibel, Die deutschen Musikfeste, S. 188.
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legten politischen Implikationen hinaus,9 die für den freiheitlich gesinnten Spohr nicht unerheblich waren bis hin zur Kantate Das befreite Deutschland (1815), ist festzuhalten, dass Spohr schon früh mit den musikalischen Gegebenheiten eines Musikfestes bestens vertraut war. Das gilt es vor allem für den zur Verfügung stehenden typischen großen Aufführungsapparat, über den es 1811 heißt „ein seltener Verein von Kennern der Musik der ersten [Hof]Kapellen des benachbarten Deutschlandes“ – nämlich „300 meisterliche Spieler und Sänger“.10 Als Spohr 1826 die Leitung seines Oratoriums auf dem Niederrheinischen Musikfest in Düsseldorf anvertraut wurde, hatte er bereits einen gefestigten Ruf als Festdirigent. 1819 hatte ihn Ferdinand Ries im Namen der Philharmonischen Gesellschaft nach London eingeladen. Er sollte im folgenden Jahr dirigieren oder drei oder vier Soli spielen. Außerdem musste er sich verpflichten, abwechselnd im Orchester mitzuspielen, was einer Regelung der Gesellschaft entsprach, für die es keine Ausnahme gab, „welche Viotti, Salomon, Baillot etc. ebenfalls befolgen mußten“.11 Spohr widmete daraufhin seine 2. Sinfonie der Philharmonic Society.12 Es war der erste Aufenthalt Spohrs in England, wo sich seine Oratorien seit 1830 großer Beliebtheit erfreuten.13
2.
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Natürlich wurden Spohrs Kompositionen auch im Rheinland publikumswirksam dargeboten. Schließlich hatte er sich 1817 auf seiner Reise in die Niederlande in Aachen, Köln und Krefeld selbst vorgestellt.14 Nachdem er Ende August bereits zwei Konzerte in Aachen veranstaltet hatte,15 stand für den 8. September 9 Vgl. den Beitrag von Eva Verena Schmid in diesem Band. 10 Weibel, Die deutschen Musikfeste, S. 192. 11 Ferdinand Ries, Briefe und Dokumente, hrsg. von Cecil Hill (= Veröffentlichungen des Stadtarchivs Bonn, 27), Bonn 1982, S. 145 f. 12 Ruth Heidemeyer, Konzepte romantischer Symphonik. Studien zu Spohrs symphonischen Werken, Göttingen 2009, S. 237 f. 13 Barbara Mohn, Das englische Oratorium im 19. Jahrhundert (= Beiträge zur Geschichte der Kirchenmusik, 9), Paderborn u. a. 2000, S. 269 f. 14 Louis Spohr, Lebenserinnerungen, hrsg. von Folker Göthel, 2 Bde., Tutzing 1968, hier Bd. 2, S. 45 und 227; Ronald Dürre, „Louis Spohr und Europa“, in: Mehrsprachigkeit und regionale Bindung in Musik und Literatur (= Interdisziplinäre Studien zur Musik, 1), hrsg. von Tomi Mäkelä und Tobias Robert Klein, Frankfurt a. M. 2004, S. 113 – 121; Christoph-Hellmut Mahling, „Die Reisen Louis Spohrs zur Ausbildung und zum ,Musikbetrieb‘ im 19. Jahrhundert“, in: Musiker auf Reisen, hrsg. von Christoph-Helmut Mahling, Augsburg 2011, S. 158 – 182. 15 Alfons Fritz, „Theater und Musik in Aachen seit dem Beginn der preußischen Herrschaft“, in: Zeitschrift des Aachener Geschichtsvereins 24 (1902), S. 176.
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1817 in Köln ein Konzert auf dem Reiseplan, in dessen Rahmen er mit seiner Frau vier eigene Werke aufführte, allen voran das Violinkonzert in Form einer Gesangsszene, aber auch die Ouvertüre zur Oper Alruna.16 Unerwähnt ist in seiner Autobiographie, dass Spohr wenig später, nämlich am Sonntag, den 28. September 1817, in Krefeld „Ein Vocal- und Instrumental-Concert“ gab. Außer den in Köln erklungenen Kompositionen stand auch eine Sopran-Arie aus der Oper Faust auf dem Programm.17 Drei Jahre später spielte beim 3. Niederrheinischen Musikfest in Düsseldorf Joseph Kreutzer, Leiter des „Instrumentalvereins“, unter dem Dirigenten Norbert Burgmüller, ein Violinkonzert. 1823 traten zwei Schüler Spohrs beim Musikfest in Elberfeld mit dessen „Doppelkonzert“ auf: der Münsteraner Domkapellmeister Georg Schmidt und der Dortmunder Musikdirektor Kaspar Wilhelm Schaefer.18 Nachdem 1820 bei Simrock in Bonn Spohrs 2. Sinfonie (op.49) als „Partie pour la direction“ [Particell] mit Stimmen erschienen war, erfuhr das Werk, wie die 8 erhaltenen handschriftlichen Zusatzstimmen im Notenbestand des Düsseldorfer Musikvereins belegen, eine Aufführung in größerer Besetzung.19 Hier sind auch handschriftliche Stimmen zur Oper Jessonda erhalten,20 die 1824 konzertant aufgeführt wurde. Nachdem Spohr gerade in Kassel im neuen Amt kein Dirigat auf einem Musikfest übernehmen konnte, hatten sich wegen der Partitur die führenden Männer des Musikvereins brieflich an Spohr gewandt: Der Chorleiter und Gesangslehrer Friedrich d’Anthoin, der Appellations-Gerichtsrat Otto von Woringen, die beide beim Musikfest 1826 wieder in den Vordergrund traten, wie auch das Musikvereinsmitglied Hasse.21 Auch in Köln wurde Jessonda seit der erfolgreichen Premiere am 1. Mai 1825 zu einem Repertoirestück; das neue Theater in der Komödienstraße wurde etwa am 1. Januar 1829 mit dieser Oper eröffnet.22 Am 17. März 1822 spielte Johann Jakob Almenräder, zugleich Mu-
16 Sonate für Harfe und Violine; Potpourri für Violine und Pianoforte. Vgl. Karlheinz Weber, Vom Spielmann zum städtischen Kammermusiker. Zur Geschichte des Gürzenich-Orchesters (= Beiträge zur rheinischen Musikgeschichte, 169), Kassel 2009, hier Bd. 2, S. 233; Heinz Oepen, Beiträge zur Geschichte des Kölner Musiklebens 1760 – 1840 (= Beiträge zur rheinischen Musikgeschichte, 10), Köln 1955, S. 111. 17 Theodor Müller-Reuter, Festschrift zum Jubiläumskonzert des Singvereins Krefeld 1910. Ein Beitrag zur Musikgeschichte Krefelds, Krefeld 1910, S. 5 f. 18 Wilhelm Hauchecorne, Blätter der Erinnerung an die fünfzigjährige Dauer der Niederrheinischen Musikfeste, Köln 1868, Anhang S. 4 und 7. 19 Susanne Cramer, Die Musikalien des Düsseldorfer Musikvereins (1801 – 1929). Katalog (= Heinrich Heine Institut Düsseldorf. Archiv. Bibliothek. Museum, 6), Stuttgart 1996, S. 321. 20 Ebd., S. 319 f. 21 E. Spohrs Namensnennung (S. 95: „d’Anthoni, v. Woringen und Hasler“) wurde ergänzt, die des letzteren gemäß der Nennung als Comit¦-Mitglied 1826 als Lesefehler korrigiert. 22 Martina Grempler, „Köln hat ein Schauspielhaus, aber kein Theater (1813 – 1829)“, in: Oper
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sikdirektor der 1812 in Köln gegründeten Musikalischen Gesellschaft,23 in einem Konzert im Domhof ein Violinkonzert und als Erstaufführung „Introduktion und Rondo für Klavier und Violine“.24 Almenräder war seit 1822 Violinist der Kölner Domkapelle, die 1826, im Jahr des Düsseldorfer Musikfestes, mit Carl Leibl wieder einen Kapellmeister erhalten hatte, und steht als Protestant für das interkonfessionelle Musikwesen in Köln.25 Seit Beginn der preußischen Herrschaft im katholischen Rheinland stand namentlich das Musikleben der Regierungsstadt Düsseldorf im Zeichen dieser Interkonfessionalität bis hin zu den späteren städtischen Musikdirektoren Mendelssohn und Schumann. Das gilt dann auch für die Programmgestaltung der Niederrheinischen Musikfeste, wie zu zeigen sein wird.
3.
Das Niederrheinische Musikfest 1826 in Düsseldorf
In den Lebenserinnerungen haben wir von Spohr eine Schilderung seiner Leitung des Niederrheinischen Musikfestes 1826 in Düsseldorf, die viele wesentliche Informationen bietet, die dann aber auch zu ergänzen und zu vertiefen sind, um ein besseres Verständnis aller Umstände zu erlangen.26 Es war bereits das neunte der 1818 begründeten Musikfeste, die im jährlichen Wechsel zu Pfingsten in Düsseldorf, Elberfeld (bis 1823), Köln und Aachen (seit 1825) stattfanden.27 Als erste Folie dazu dient das Programm, das nicht nur die Namen der Komponisten, der Dirigenten und Gesangssolisten aufführt, sondern auch die der Mitglieder des Comit¦s (vgl. Abbildung 1 auf der nächsten Seite).28 Diese entschieden über alle Einladungen und vor allem über das Programm. „Im selben Jahr erhielt ich von meinem Londoner Freunde Ferdinand Ries, der nach Deutschland zurückgekehrt, damals in der Gegend von Godesberg wohnt, die Einladung mein neues Oratorium bei dem rheinischen Musikfeste in Düsseldorf, dessen Arrangement ihm von dem Komitee des Festes aufgetragen war, selbst zu dirigieren.“29
23 24 25
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in Köln. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, hrsg. von Christoph Schwandt, Berlin 2007, S. 47 und 88. Karl Wolf, Hundert Jahre Musikalische Gesellschaft, Cöln 1912, S. 15. Karlheinz Weber, Vom Spielmann zum städtischen Kammermusiker, S. 235. Klaus Wolfgang Niemöller, „Das Verhältnis von Kirchenmusik und bürgerlicher Musikkultur im Köln des 19. Jahrhunderts. Musik als Grundlage von Interkonfessionalität“, in: Musik – Stadt. Traditionen und Perspektiven urbaner Musikkulturen, hrsg. von Helmut Loos, Bd. 1, Leipzig 2011, S. 534 – 539. Spohr, Lebenserinnerungen, Bd. 2, S. 142 – 144. Julius Alf, Geschichte und Bedeutung der niederrheinischen Musikfeste in der ersten Hälfte des neunzehten Jahrhunderts, hrsg. von Gerd Högener und Fritz Kulins, Düsseldorf 1987. Hauchecorne, Blätter der Erinnerung, Anhang S. 10. Spohr, Lebenserinnerungen, Bd. 2, S. 142 f.
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Ries hatte 1825 beim Musikfeste in Aachen unter anderem mit der (Teil-)Aufführung der 9. Sinfonie von Beethoven eine neue Ära der Musikfeste eingeleitet, die er noch sieben Mal leitete.30 Aus den Briefen von Ries sind Einzelheiten zu erfahren. Am 14. Januar 1826 bedankte er sich, dass er wieder als „Anführer“ von den Liebhabern ausgesucht worden sei, nachdem die Düsseldorfer Liebhaber seine Leitung am vergangenen Musikfest in Aachen kennen gelernt hätten.31 Die Ankündigung des Comit¦s zum Musikfest, das ausnahmsweise im Theater begangen wurde, hatte die „erfreulichsten Auspicien“, „nachdem Herr Ferdinand Ries die Uebernahme der Direction bei den Aufführungen gütigst zugesagt hatte und hierdurch das Gelingen der letzteren im Voraus verbürgt war. Die höchst ehrenwerte Gefälligkeit des Herrn Capellmeisters L. Spohr, sein neuestes noch unbekanntes Werk durch den Niederrheinischen Musikverein zur Aufführung bringen zu lassen, so wie die Art, in welcher beide hochberühmte Meister in wechselseitiger Achtung und Anerkennung sich in die Leitung der Aufführungen getheilt haben, musste die Begeisterung der musikliebenden Welt für das bevorstehende Fest auf das Höchste steigern.“32
Auch der Berichterstatter Friedrich Deycks hebt in der Zeitschrift Cäcilia hervor, dass „zwei der ersten Meister des Vaterlandes, L. Spohr und F. Ries“ Anspruch auf den Dank der musikalischen Welt am Rhein hätten, „je seltener die Beispiele eines ähnlichen Zusammenwirkens hocherlauchter Talente ohne Neid und Parteiung von jeher gewesen.“33 Bei seiner Ankunft in Düsseldorf wurde Spohr „vom Festkomite, den Herren Ferdinand Ries, Herrn von Woringen und der Familie des Regierungsrat von Sybel, welche mich mit meinen Angehörigen bewirten wollten, feierlichst eingeholt und kaum in Düsseldorf angekommen, vom Gesangvereine mit einem Ständchen bewillkommt“.34 Otto von Woringen war Mitbegründer der Musikfeste und nicht nur über viele Jahre „ein Hauptpfeiler des ganzen musikalischen Wesens“ in Düsseldorf, wie es 1833 Abraham Mendelssohn formulierte,35 1826 Mitglied des Comit¦s, sondern auch zum siebten Mal Tenor-Solist. Er war ähnlich wie später sein Sohn Ferdinand das herausragende Beispiel für die musikalische Leistungsfähigkeit der Musikliebhaber. Spohrs Gastgeber, der 30 Klaus Wolfgang Niemöller, „Eine musikalische Freundschaft. Sibylle Mertens-Schaafhausen und Ferdinand Ries, Dirigent der Niederrheinischen Musikfeste“, in: Ries Journal 2 (2012), S. 3 – 16. 31 Ries, Briefe, S. 247. 32 Hauchecorne, Erinnerungen, S. 25. 33 [Friedrich] Deycks, „Das grosse Niederrheinische Musikfest 1826, in Düsseldorf“, in: Cäcilia 5 (1826), S. 61. 34 Spohr, Lebenserinnerungen, Bd. 2, S. 143. 35 Sebastian Hensel, Die Familie Mendelssohn 1729 – 1847: nach Briefen und Tagebüchern, Leipzig 1924, S. 317.
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Abbildung 1: Programm des Niederrheinischens Musikfestes 1926 (Hauchecorne, Blätter der Erinnerung, Anhang S. 10)
Regierungsrat Heinrich Philipp Ferdinand von Sybel und seine Frau Amalie, der Spohr als Dank für die Gastfreundschaft seine Sechs Deutschen Lieder op.72 widmete, führten ein Haus, das als musik- und kunstliebendes Kulturzentrum Unterstützung von Wilhelm von Schadow als Künstler sowie von Karl Immermann als Theaterdirektor erhielten. Mit den Musikverhältnissen in Düsseldorf war Spohr seit langem vertraut. Nachdem er auf seiner Reise 1817 mit seiner Frau in Düsseldorf ein Violinkonzert aufgeführt hatte,36 stand er in engem Kontakt mit dem Musikdirektor
36 Spohr, „Spohr und Sybel“, S. 94.
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Johann August Friedrich Burgmüller.37 Auf dem von Burgmüller geleiteten Musikfest 1820 spielte – wie bereits erwähnt – der Konzertmeister des Theaterorchesters Joseph Kreutzer ein Violinkonzert Spohrs. Höhepunkt in Burgmüllers Laufbahn als Dirigent war das 4. Niederrheinische Musikfest im Kölner Gürzenich mit der vielbeachteten Aufführung von Friedrich Schneiders Oratorium Das Weltgericht. Durch Burgmüllers Empfehlung kam 1822 der junge Johann Hermann Kufferath als Violinschüler zu Spohr nach Kassel.38 Er stammte aus einer großen Musikerfamilie, die in Mülheim die Konzerte des Instrumentalvereins führten.39 Als Musikdirektor in Bielefeld und seit 1830 in Utrecht wirkte der Violinvirtuose auch bei Niederrheinischen Musikfesten mit, so 1832 in Köln.40 Nachdem Burgmüller 1824 gestorben war, wurde erst 1833 mit der Verpflichtung von Felix Mendelssohn Bartholdy die Stelle eines städtischen Musikdirektors wieder besetzt.41 Die in Not geratene Familie Burgmüller wurde vom Grafen Franz von Nesselrode-Ehreshoven unterstützt, der es auch ermöglichte, dass der 16jährige Norbert Burgmüller nach dem Düsseldorfer Musikfest 1826 zur weiteren musikalischen Ausbildung bis 1830 zu Spohr nach Kassel gehen konnte.42 Während der Instrumentalverein weiterhin unter der Leitung des Konzertmeisters Joseph Kreutzer stand, werden in diesem Zeitraum als Dirigenten des Singvereins, der 1826 Spohr bei seiner Ankunft ein Ständchen brachte, Friedrich d’Anthoin und die Brüder (?) H. Wetschky I und Fr. Wetschky II genannt. D’Anthoin komponierte einen Männerchor Andenken an das Pfingst-Fest 1826.43 Ferdinand Ries berichtete später über die Novität: 37 Klaus Martin Kopitz, Der Düsseldorfer Komponist Norbert Burgmüller. Ein Leben zwischen Beethoven – Spohr – Mendelssohn, Kleve 1998. 38 „Verzeichniss der Schüler von Louis Spohr“, in: C. B., „Louis Spohr. Aus Meiningen“, Niederrheinische Musik-Zeitung 7 (1859), S. 150 – 152; Ronald Dürre, Louis Spohr und die „Kasseler Schule“ – Das pädagogische Wirken des Komponisten, Geigenvirtuosen und Dirigenten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, Diss. Magdeburg 2004 (online), S. 211. 39 Klaus-Ulrich Düwell, „Johann Hermann Kufferath“, in: Rheinische Musiker, 3. Folge (= Beiträge zur rheinischen Musikgeschichte, 58), hrsg. von Karl Gustav Fellerer, Köln 1964, S. 55; Günther Ochs, Studien zur Entwicklung des öffentlichen Musiklebens in Mülheim a. d. Ruhr (= Beiträge zur rheinischen Musikgeschichte, 71), Köln 1968, S. 118; Gerd Nauhaus, „Clara Schumann und die Musikerfamilie Kufferath“, in: Clara Schumann. Komponistin, Interpretin, Unternehmerin, Ikone, hrsg. von Peter Ackermann, Hildesheim 1999, S. 165 f.; Geerten Jan van Dijk, Johann Hermann Kufferath (1797 – 1864). Mziekdirecteur te Utrecht, Masterthesis Univ. Utrecht 2008, S. 13 f. 40 Niemöller, „Eine musikalische Freundschaft“, S. 20. 41 Bernd Kortländer, „Das musikalische Leben in Düsseldorf zu Mendelssohns Zeit“, in: „Übrigens gefall ich mir Prächtig hier“. Felix Mendelssohn in Düsseldorf, hrsg. von Bernd Kortländer, Düsseldorf 2009, S. 40 – 51. 42 Kopitz, Burgmüller, S. 133 f. 43 Ebd., S. 134. Das Exemplar im Heinrich Heine Institut ist z. Zt. wegen Auslagerung nicht verfügbar.
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„Die Directoren und Liebhaber haben uns abends einen Fackel Zug wohl 60 bis 80 gebracht, wo ein Gedicht abgesungen wurde, da das etwas Neues in Düsseldorf, so ist die ganze Stadt auf den Beinen gewesen.“44
Ähnlich wie die von Woringens waren die Wetschkys in der preußischen Regierung tätig. Während Wetschky II auf den Musikfesten 1818 – 1823 als Bassist Solo sang, wird 1826 Wetschky I dafür benannt (Wetschky II ist Comit¦-Mitglied). Die Angabe für Wetschky I auf den Programmen 1819 / 1822 / 1823 „am Flügel“ entsprach der Funktion, die er als „Chor-Dirigent“ 1830 unter Ries und 1833 unter Mendelssohn innehatte. Für Spohr und die Aufführung seines Oratoriums war also ein solch weitgespanntes Engagement dieser leistungsfähigen Musikliebhaber der maßgeblichen Gesellschaftsschicht von grundlegender Bedeutung.
4.
Die Aufführungen
Die näheren Umstände von Proben, Aufführung und Publikumsreaktion können aus der Gegenüberstellung der Mitteilungen von Spohr und Ries näher beleuchtet werden, aus denen sich, wie nicht anders zu erwarten, doch verschiedene Sichten herausschälen.45 Wie Deycks in seinem bisher weitgehend unbeachteten Bericht mitteilte, hatte man wie im Vorjahr in Aachen „das Orchester amphitheatralisch über den Sängern erhöht, und in zwei Chöre gesondert.“46 Der ausgezeichneten Tätigkeit des Comit¦s und den leitenden Bauverständigen verdankten es Sänger und Spieler, „dass in dem, in der That unbequemen und scheinbar engen Lokale, dem alten Schauspielhause, nicht nur niemand gedrängt wurde, sondern auch das Orchester dem Auge einen scenisch höchst erfreulichen Anblick darbot. Auch in akustischer Hinsicht war das Mögliche erreicht worden.“47 So einvernehmlich die Übernahme der geteilten Leitung auch war, ging sie doch einher mit der künstlerische Konkurrenz zwischen den befreundeten Komponist. Spohr erinnert sich: „In der am folgenden Morgen stattfindenden ersten großen Probe mit sämtlichen Sängern und dem ganzen Orchester hatte ich die Freude zu bemerken, daß mein Oratorium von den verschiedenen Vereinen mit Genauigkeit und Sorgfalt eingeübt war und mit Begeisterung für das Werk gesungen wurde. Nicht so zufrieden konnte ich mit dem Orchester sein, das aus vielen Orten zusammen gekommen war, und worin selbst Dilettanten, u. a. mein Freund Thomae aus Kleve (1. Fagott), bei den Blasinstrumenten 44 45 46 47
Ries, Briefe, S. 267. Spohr, Lebenserinnerungen, Bd. 2, S. 143 f.; Ries, Briefe, S. 266 ff. Deycks, „Musikfest“, S. 61. Ebd.
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mitwirkten. Es war dann schon eine schwierige Aufgabe, alle Instrumente in gleiche Stimmung zu bringen. Mit Geduld und öfterem Wiederholen ging es am Ende doch auch mit dem Orchester, wenn auch nicht so gut wie mit den Chören. Am Nachmittag desselben Tages war die Probe zur zweiten Aufführung, welche Ries dirigierte. […] Die Sopranpartie in den Gesangsachen mußte, weil die Solosängerin, Demoiselle Reiningen [später verheiratete Kufferath] aus Krefeld, plötzlich krank geworden, meine Tochter Emilie noch mit übernehmen.“48
Bei Ries hat dagegen die Probensituation zu Verärgerungen geführt: „In Düsseldorf ist alles gut und glücklich vorüber, aber zu meinem Vergnügen haben alle bemerkt, hätte ich wie S. gehandelt, so wäre vielleicht das ganze Musikfest durch Parthey Geist zu Grunde gegangen. Stelle dir vor, den Donnerstag vorher hatte ich S. Oratorium noch 5 Stunden lang probiert, damit man nicht sagen konnte, ich dachte nur an meinen Abend und vernachlässigte seine Komposition – Freytag Abend kamen erst alle Fremden an – dafür er Samstag morgen 6 Stunden – Nachmittag 5 Stunden, Sonntag morgen 5 12 Stunden nichts wie sein Oratorium probiert; und mir blieb nichts wie die montagige morgens, um abends alles aufzuführen. Glücklicherweise hat alles diese Ungerechtigkeit so sehr gefühlt, daß die Damen und Herren zu mir kamen, mich baten, nur ohne Rücksicht der Zeit zu probieren, […].“49
Noch zehn Jahre später 1836 warf Ries dem Düsseldorfer Comit¦, das Mendelssohn berief, „Kaballen vor“: „Ich hatte mir alle mögliche Mühe gegeben, daß, als Spohr sein Oratorium in Düsseldorf deregierte [sic], die Chöre tüchtig einzustudieren waren, und […] daß man mich zurücktreten lassen sollte, damit Sp: das Ganze deregieren mögte.“50
Nach Spohr hatte Ries „Not bei seiner Symphonie mit den Blasinstrumenten“, jedoch vermeldet Ries dann „Meine Sinfonie / die letzte aus D-dur / ist von allen Sachen, welche gegeben werden sind, am vorzüglichsten exekutiert und applaudiert worden.“51 Besonders der Effekt der „Türkischen Musik“ im Finale sei außerordentlich gewesen. Der junge Kunststudent Johann Wilhelm Lessing erfuhr schon bei der Probe „erstmals in [seinem] Leben die Wirkung eines Chores von 360 Stimmen, von einem Riesenorchester getragen“; der „überwältigende Eindruck“ ließ ihn in 48 Spohr, Lebenserinnerungen, Bd. 2, S. 143 f. 49 Ries, Briefe, S. 266 f. 50 Ebd., S. 707 f. Am 18. September 1837, als Ries das Notenmaterial von Mendelssohn Paulus Spohr nach Kassel übersandte, hatte er unter den Musikalien in der Bibliothek des Frankfurter Cäcilien Vereins, Kompositionen entdeckt, „die man selten oder nie gebraucht hat“: „Da fand ich mein Oratorium, mehrere andere gute, aber neuere Kompositionen, auch Ihre ,Letzten Dinge‘ und ein anderes Werk von Ihnen, ich tröstete mich, wenigstens, wie ich dachte, in guter Gesellschaft zu seyn.“ Ebd., S. 768 f. 51 Ries, Briefe, S. 266 ff.
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Tränen ausbrechen.52. Aus Mendelssohns Zeit ab 1833 wissen wir, dass Schirmer und Lessing nicht nur zu den Stützen im Bass des Chores zählten, sondern dass Schirmer auch als Cellist im Orchester mitwirkte.
5.
Spohrs Oratorium Die letzten Dinge
Im Zentrum des Interesses stand natürlich das neue Oratorium von Spohr, eine Herausforderung für Chor und Orchester, obwohl Spohr es als „einfach und leicht und doch nicht weniger reichhaltig, als die anderen [Werke]“ einstufte.53 Spohr hatte Die letzen Dinge erst am Karfreitag 1826 in der lutherischen Kirche in Kassel mit dem Cäcilienverein aufgeführt, an dessen Gründung 1822 er beteiligt war. „Die Wirkung“ sei, wie Spohr bemerkt, „außerordentlich“ gewesen.54 Der Bericht der Allgemeinen musikalischen Zeitung konstatiert „Wahrheit im Ausdruck der Empfindungen, tiefer Ernst, herrliche Instrumentirung und vor allem klare Einfachheit“.55 Um die Aufführungssituation einschließlich der Wirkung bei den Düsseldorfer Zuhörern abzuschätzen, ist zunächst auch ein Blick auf die besondere kompositorische Gestaltung des Oratoriums zu werfen, dann aber auch seine Stellung im Gesamtprogramm des Musikfestes anzusprechen. Aus zwei Blickwinkeln können die Ergebnisse der bisherigen Forschungen, die insbesondere auf die „symphonische Einheit“ verweisen,56 ergänzt werden, einmal durch den Einbezug der Überlieferungsform im „Vollständigen Clavierauszuges“ sowie durch das Erlebnis des Oratoriums durch Ferdinand Ries. Dieser hebt trotz aller Anerkennung hervor, dass es „nicht gehalten hätte“, wenn es nach den „Kraft Chören“ von Händels Messias aufgeführt worden wäre: „Spohrs Oratorium ,die letzten Dinge‘ ist sehr schön instrumentirt. Es ist weich und schön gehalten, allein es ist auch ganz spohrisch, immer während eine Harmonie und enharmonische Ausweichung nach der anderen, schwerfällig, wie alle seine Compositionen und er selbst etwas diesen Anstrich haben. Die meisten Chöre pp und Andante 52 53 54 55 56
Spohr, „Spohr und Sybel“, S. 96 f. Spohr, Lebenserinnerungen, Bd. 2, S. 142. Ebd. Allgemeine musikalische Zeitung (AmZ) 28 (1826), Sp. 507. Kenneth Nott, „Händels Vermächtnis im Deutschland des 19. Jahrhunderts: Die Oratorien von Louis Spohr“, in: Händel-Jahrbuch 44 (1998), S. 34 – 37; Ullrich Scheideler, „Louis Spohr : Die letzten Dinge. Oratorium nach Worten der Heiligen Schrift WoO 61“, in: Oratorienführer, hrsg. von Silke Leopold und Ullrich Scheideler, Stuttgart 2000, S. 680 f.; Wolfram Steinbeck, „Eine edlere Apokalypse. Zu Spohrs Oratorium ,Die letzten Dinge‘“, in: Apokalypse. Symposion 1999 (= Studien zu Franz Schmidt, 13), hrsg. von Carmen Ottner, Wien/München 2001, S. 94 – 107; Clive Brown, Louis Spohr. Eine kritische Biographie, Kassel 2009, S. 210 – 214; Schmid, Oratorium, S. 224 – 233.
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oder Adagio. Es sind sehr schöne Effekten darin, aber kein großer. Es paßt sich nach meiner Meinung nicht für solche Massen und ist auch viel zu kurz, obwohl er nicht einmal erlauben wollte, daß eine Ouverture seiner eigenen Komposition gemacht werden sollte, um es etwas zu verlängern. Es hat keine Aria, ein Duett, fast alles Rec: mit Orchester acommp. und Chöre. Es hat nur zwey Fugen, sehr schön gearbeitet, der erste Theil schließt mit einem Adagio Chor und pp. Also wurde nicht applaudiert – der zweyte und letzte Theil mit einem Halleluja und schließt auch wieder pp = wenn es neu und gut ist, so ist es gewiß nicht politisch – auch wäre ich mit dem Applaus nicht zufrieden gewesen, […].“57
Wenn Ries nach dieser Musikfestaufführung bezweifelte, dass das Oratorium in der breiten Öffentlichkeit Aufnahme finden würde – die Bemerkung „nicht politisch“ ist so zu verstehen –, so steht dem die weitere Erfolgsgeschichte im Zusammenhang mit der Edition eines Klavierauszuges, zunächst im Eigenverlag, dann bei N. Simrock in Bonn, gegenüber.
Abbildung 2: Titelblatt des im Eigenverlag publizierten Klavierauszugs
57 Ries, Briefe, S. 267.
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Die Bedeutung der Orchesterpartien, zugleich die „janusköpfige“ Gestaltung (Nott) werden bereits auf der ersten Seite mit dem Beginn der Ouverture deutlich, die wegen der symphonischen Ausgestaltung im Klavierauszug vierhändig gesetzt ist.
Abbildung 3: Primo [Pianoforte] zu Beginn der Ouverture des im Eigenverlag publizierten Klavierauszugs
Der „Kirchenstyl“, wie ihn Rochlitz durchweg forderte, prägt auch die beiden selbständigen Orchesterteile.58 Der feierliche punktierte Rhythmus einer französischen Ouvertüre im „Andante grave“ wird im Eröffnungschor „Preis und Ehre ihm“ verbalisiert. Das anschließende Allegro ist nach demselben Vorbild ein Fugato, beginnt freilich mit einem imitatorischen Thema, das mit dem diatonischen Aufstieg im Umfang einer Oktave, vor allem mit der Egalität von ganzen Noten pro Takt in fast cäcilianischer Manier auf die a cappella Sätze vorweg weist. Das eigentliche Fugato-Thema greift die Oktavskala in Umkehrung (abwärts) auf. Die Ouvertüre ist von ungewöhnlicher Ausführlichkeit, nimmt im Klavierauszug allein 15 von 98 Seiten ein. Ähnliches gilt für die Sinfonie, die den zweiten Teil einleitet. Sie beginnt wieder thematisch mit dem 58 Zur Gestaltung der Chorpartien im Rückgriff auf Formmodelle der älteren Kirchenmusik vgl. den Beitrag von Daniel Glowotz in diesem Band.
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feierlichen punktierten Rhythmus, das Fugato des „Andante“-Mittelteils setzt diesem Thema mit einem Anlauf im Umfang einer Oktave einen Takt voran und nimmt so Bezug auf die Ouverture. In dieser Form ist es die Orchestergrundlage (im Klavierauszug wiederum „ 4 mains“) für den Chor Nr. 10 „So ihr mich von ganzem Herzen suchet“ (vgl. Abbildung 4); eine Art „eschatologische Form der Instrumentalmusik“.59
Abbildung 4: Beginn des Chors „So ihr mich von ganzem Herzen suchet“ aus dem im Eigenverlag publzierten Klavierauszug
Die unisono-Führung der Stimmen verleiht dem Chor den melodischen Gestus einer „Hymne“, insgesamt eine außerordentliche Gestaltung.60 Das entspricht ganz der Intention von Rochlitz, der bewusst dem „eigentlichen Gipfel unserer Musik – der vollendetsten Orchestermusik Raum und Gelegenheit gegeben [hat], so […] selbständig aufzutreten, wie es in Gesangswerken noch nirgends geschehen ist.“61 Die Ablehnung Spohrs, wegen der Kürze des Oratoriums eine Ouvertüre aus seiner Feder voranzustellen, von der Ries berichtet, erscheint auf diesem Hintergrund konsequent. Hier seien aus dem Bericht von 59 Hermann Becker, „Deutung apokalyptischer Symbole“, in: Louis Spohr, Die letzten Dinge. Booklet zur CD Philips 416627 – 2 (1984), S. 8. 60 Steinbeck („Eine edlere Apokalypse“, S. 104) bezeichnet die Nr 10 als „Chorfuge“. 61 Ebd., S. 98.
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Deycks, der in der Cäcilia dem Oratorium nicht weniger als zehn Seiten eingehender Beschreibung widmet,62 wobei er kritisiert, dem Text ermangele „durchaus allen epischen Zusammenhangs“, die bemerkenswerte poetischhermeneutische Beschreibung seines Hörerlebnisses der beiden sinfonischen Stücke im Rahmen eines Oratoriums zitiert: „Mit einer solchen Weisheit und Mässigung behandelt keiner die Masse der verschiedensten Instrumente.“ „Erhaben und ernst […] beginnt die Eingangssymphonie. Edel gehaltene Bassgänge, sparsam aber höchst passend angebrachte Hörner, dann treffende Violinsätze wechseln ab.“ „Eine sehr ernste Symphonie macht den Anfang des Zweiten [Teils], und stimmt die Seele zu erhabenen, grossartigen Empfindungen. Hier hat der Meister alle Pracht der glänzenden Instrumentation aufgeboten, doch [die] feine Linie des Kirchlichen Geistes der Musik nicht überschritten.“ – „Man hört das dumpfe Toben des Bösen, aber Engellieder klingen, wie aus anderen Welten, herüber, und besonders ist es ein schöner tröstlicher Satz, der in tausendfacher Verwandlung immer wiederkehrt.“ Interessant ist auch der Orchester gestützte Unisono-Chor „So ihr mich von ganzem Herzen suchet“: „Ein kraftvoller Instrumentalgang eröffnet diesen Halbchoral. (Wenigstens in dem Sinne ist es Choral, dass die ganze Gemeine der die letzten Dinge erwartenden Christ singend gedacht wird)“.63
6.
Das Musikfest und die Problematik der Werkfolge
Der Begriff des „Hymnus“ („Halbchoral“) führt nun mitten hinein zu der Frage des Gesamtcharakters und damit des Gesamteindruckes des pfingstlichen Musikfestes. Am zweiten Tag gab es einen kontrastreichen Wechsel zwischen rein konzerthaften Orchesterwerken und geistlicher Musik, ja Kirchenmusik. Deycks kann „den inneren Gegensatz nicht unerwähnt lassen“,64 den der zweite Tag zum ersten bildete. Ries hatte seine Sinfonie, die 1822 in London schon erfolgreich aufgeführt worden war, für das Musikfest überarbeitet, um mit besonderen Effekten das Publikum zu beeindrucken. Dazu gehörte ein Kontrabass-Solo mit Läufen im da Capo des Minuet; Ries hatte sich brieflich eigens nach den Fähigkeiten des Düsseldorfer Spielers erkundigt und mit Hinweis auf Grabensee eine positive Antwort erhalten.65 Die für das Musikfest hinzukomponierte „türkische Musik“ mit Piccolo-Flöte, Triangel, Becken und großer Trommel im Finale der Sinfonie – nach Deycks „ein Schwarm lärmender Bacchanten“ – prallte allerdings unvermittelt auf zwei Sätze der Vokalmesse von Friedrich 62 63 64 65
Deycks, „Das grosse Niederrheinische Musikfest“, S. 63 – 72. Ebd. Ebd., S. 72. Ries, Briefe, S. 250.
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Schneider. Ihr Erfolg entsprach – folgt man dem Rezensenten – nicht den Erwartungen: „Man wollte diese ernste Musik hier nicht an ihrer Stelle, ja sogar trocken und reizlos finden“, d. h. diese wirkliche, weil liturgische Kirchenmusik war für viele an dieser Stelle im Musikfest nicht am Platze. Allerdings hatte auch Spohr 1821 ausdrücklich „zum Gebrauch der [Gesang-]Vereine eine Vokalmesse geschrieben“, das op. 54 für zwei fünfstimmige Chöre.66 Dass die „Anordnung der Chöre, ganz in den Vordergrund des Orchesters, die Ursache, dass die einzelnen Stimmen nicht mit der gehörigen Deutlichkeit und Kraft hervortraten“ war, tat ein übriges für den Eindruck: „Man mochte, ohne Orchester, etwas ängstlich seyn.“ Gloria und Sanctus sind im Programm als „Hymnen“ bezeichnet. Hierin folgte man vielleicht dem Vorbild einer Wiener Akademie am 7. Mai 1824, in der die Teilaufführung von drei Sätzen der Missa solemnis von Beethoven als „Drey große Hymnen“ angekündigt wurde.67 Während von Carl Maria von Webers Jubelouvertüre zu den Chören von Messias durch das „Grave“ seiner Ouvertüre übergeleitet wurde, übte der Biograph Friedrich Kempe 1859 heftige Kritik an der Düsseldorfer Aufführung von Friedrich Schneiders 1815 entstandener VokalMesse (mit Orgel ad. libitum), in die auch irrtümlich Spohr einbezogen wurde: „Den 15. Mai wurde in Düsseldorf (am zweiten Tage des Musikfestes des Niederrheinischen Musikvereins) ein Sanctus, Benedictus und Gloria aus einer Schneider’schen Missa ,nach einer befremdenden Anordnung der Direktion in deutscher Sprache‘ ausgeführt; Spohr dirigirte, dessen ,Letzten Dinge‘ den ersten Festtag ausfüllten. Nicht bringe ich diese Notiz, um Spohr zu verdächtigen, weil ich überzeugt bin, daß auch dieser Meister stets und überall ein wahrer Künstler, ein Ehrenmann war und blieb.“68
Eine ähnliche Problematik gab es in Köln 1836, als in einem Konzert von „sämmtlichen musikalischen Corporationen der Stadt“ zugunsten eines Beethoven-Denkmals aus der Messe op. 86 „das Kyrie und Gloria mit dem (ganz schlechten) deutschen Text“ aufgeführt wurde.69 So bildeten 1826 in Düsseldorf Anfang und Beschluss des Musikfestes zwar Oratorien, die dann aber im Gesamtprogramm mit sehr disparaten Werken konfrontiert wurden. Deycks vermittelt die damalige Sicht, dass es sich die Niederrheinischen Musikfeste zu eigen machten, „allemal zwei größere Werke, und zwar Kirchenmusik im grossen Stil, ein altes und ein neues“ aufs Programm 66 Louis Spohr, „Einige Bemerkungen über die deutschen Gesang-Vereine, nebst Ankündigung eines neuen für sie geschriebenen Werkes“, in: AmZ 23 (1821), Sp. 819. 67 Andreas Friesenhagen, Die Messen Ludwig van Beethovens, Diss. Köln 1996, S. 63. 68 Friedrich Kempe, Friedrich Schneider. Ein Lebensbild, Berlin 21864, S. 243. 69 Ausführende waren die Domkapelle, Dirigent Domkapellmeister Carl Leibl, der Sing-Verein, Dirigent der Domorganist Franz Weber, und der Instrumental-Verein, Dirigent der „Orchestervorsteher“ Jakob Almenräder. Vgl. August Julius Becher, „Aus Köln (Concert für Beethoven’s Denkmal)“, in: NZfM 5 (1836), S. 201 f.
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zu setzen.70 Die Oratorien zeichnen sich also nicht nur durch den „Kirchenstil“ aus, sondern werden als „Kirchenmusik“ empfunden.71 Friedrich Schneider sah 1820 für sein Oratorium Das Weltgericht auch die Möglichkeit, dass „einzelne Sätze zum Gebrauch bei Gottesdienst dienen können.“72 Das spiegelt auch die Aufführungskritik in der Allgemeinen musikalischen Zeitung, denn die Besprechung von Spohrs neuem Oratorium, das „durch Ideenreichthum, Tiefe, Ausdruck und kunstvolle Instrumental-Begleitung ungemein erfreute“, nimmt mehr als die Hälfte der Besprechung des gesamten Musikfestes ein.73 „Bewundernswürdige Instrumentalsätze“ im zweiten Teil werden dabei besonders hervorgehoben. Übereinstimmend mit Deycks werden die Stücke aus Händels Messias als „auch diesmal das Beste dieser genussreichen Tage“ bezeichnet. Die doch wohl problematische Aufeinanderfolge der Sinfonie von Ries, „welch[e] durch sprudelnde Munterkeit, die mit ernsten und tiefen Empfindungen abwechseln allgemein ergötzte“, und der Messe-Sätze von Schneider klingt hier an: „Dann das Sanctus, Benedictus, Gloria bis Amen aus der schönen Messe von Fr. Schneider ; nach einer befremdenden Anordnung der Direction mit deutschem Text gesungen.“ Dass in jedem Fall die Oratorien mit ihren Chören, Soli und Instrumentalsätzen auf das größte Publikumsinteresse stießen, bezeugt noch für die Jahrhundertmitte der Vorsitzende der Kölner Concert-Gesellschaft, Regierungsrat Victor Schnitzler, in seinen Erinnerungen: Es „stand die damalige Zeit unter dem Zeichen der Oratorien, während die Sinfonien – wie überhaupt reine Instrumentalwerke – weniger die Gunst des Publikums errangen. Man fand nichts dabei, vor den Sinfonien, die meist den zweiten Teil des Programms bildeten, nach Hause zu gehen.“74
7.
Spohrs Präsenz im Rheinland nach 1826
Für den weiteren Zusammenhang, namentlich mit dem von Spohr geleiteten Musikfest 1840 in Aachen, ist von Interesse, dass Spohr persönlich und seine Werke im Rheinland auf unterschiedliche Weise präsent blieben. Das Oratorium Die letzten Dinge wurde 1828, also zwei Jahre nach Düsseldorf, in Köln im Singverein aufgeführt.75 Dabei traten auch die jungen Musiker Franz Weber (Klavier) und Bernhard Breuer (Cello) auf, die später als Mitglieder der Domkapelle mit Spohr musizierten. Die neuartigen kompositorischen Wege, die 70 Deycks, „Das große Niederrheinische Musikfest“, S. 62 [Hervorhebungen im Original als Sperrdruck]. 71 Capelle, „Kirche oder Musikfest?“, S. 211 – 213. 72 Steiner, Zwischen Kirche, Bühne und Konzertsaal, S. 156. 73 „Das Niederrheinische Musikfest, Pfingsten 1826“, in: AmZ 28 (1826), S. 440 f. 74 Gisela Mettele, „Bürgerliches Musikleben in Köln in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts“, in: Musikstadt Köln (= musicolonia, 10), hrsg. von Arnold Jacobshagen, Köln 2013, S. 78. 75 Oepen, Kölner Musikleben, S. 86.
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Spohr in seinem Oratorium beschritten hatte, spalteten 1840 die musikalischen Kreise in Bonn zwischen dem katholisch-konservativen Altphilologen Friedrich Heimsoeth, der immer mehr zum Cäcilianismus neigte, und dem protestantischen Universitätsmusikdirektor Heinrich Carl Breidenstein.76 Letzterer führte am 20. März 1840 mit seinem städtisch-akademischen Singverein als Konzert zum Besten des Salzburger Mozartdenkmals Spohrs Die letzten Dinge auf.77 Während Heimsoeth die Werke Spohrs als „elenden Schund“ erklärte,78 erkannte Breidenstein die ungewöhnliche innere Einheit des Oratoriums und pries sie: „Was Gluck früher bei der Oper versucht und geleistet hatte, nämlich planvolle Einheit und festen Zusammenhang der einzelnen Teile und deren notwendige Entwicklung eines aus dem anderen, ohne hergebrachte Zerteilung und Abgrenzung in die besonderen Stückformen, das hatte nun Spohr, und zwar mit nicht minderem Glück, und ebenso sinnig und geistvoll auf das Oratorium angewendet.“79
In Düsseldorf fand der begabte Spohr-Schüler Norbert Burgmüller nach seiner Rückkehr aus Kassel in dem neuen Musikdirektor Mendelssohn einen selbstlosen Förderer. Am 3. Mai 1834 spielte Mendelssohn das 1. Klavierkonzert von Burgmüller, das dieser unter der Leitung seines Lehrers Spohr 1830 in Kassel uraufgeführt hatte.80 Am 13. November brachte Mendelssohn dann auch die 1. Symphonie von Burgmüller erfolgreich zur Uraufführung. Als der 26jährige Burgmüller am 7. Mai 1836 plötzlich in Aachen starb, komponierte Mendelssohn spontan den Trauermarsch zum Begräbnis (op. 103). Als Spohr 1835 auf der Reise von Kassel zum holländischen Seebad Zandvoort wieder Gast im Hause Sybel war, wo er auch Mendelssohn traf, der sich auf seine neue Aufgabe in Leipzig vorbereitete, konnte er auch als Ratgeber für Immermanns Theater fungieren, an dem Julius Rietz als Nachfolger von Mendelssohn zur Debatte stand.81 In Köln präsentierte sich der Spohr-Schüler Franz Hartmann im Februar 1834 in seinem ersten Konzertauftritt als Konzertmeister des Kölner Orchesters mit
76 Willi Kahl, „Friedrich Heimsoeth und die Musik. Ein Beitrag zur musikalischen Renaissancebewegung des 19. Jahrhunderts“, in: Gregoriusblatt 52 (1928), S. 83 – 92, 97 – 102 und 125 – 127; Siegfried Kross, „Heinrich Breidenstein. 1796 – 1876“, in: Bonner Gelehrte (150 Jahre Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität zu Bonn 1818 – 1968), Bonn 1968, S. 432 – 448. 77 Theodor Anton Henseler, Das musikalische Bonn im 19. Jahrhundert (= Bonner Geschichtsblätter, 13), Bonn 1959, S. 126. 78 Ebd. 79 Ebd. 80 Norbert Burgmüller, Konzert für Klavier und Orchester Fis-Moll op. 1 (= Denkmäler rheinischer Musik, 32), Köln 2009. 81 Spohr, „Spohr und Sybel“, S. 100.
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einem Violinkonzert seines Lehrers.82 Hartmann hatte seine erste Ausbildung im Musik-Institut in Koblenz erhalten. Das Protokoll vom 11. Oktober 1825 berichtet wie es zur Schülerschaft kam: „Aus dieser Schule sind bereits zwei ausgezeichnete Violin Schüler hervorgegegangen, wovon […] der andere (Franz Hartmann, 15 Jahre alt), ein braver Concertspieler geworden ist. Kapellmeister Spohr aus Cassel, der ihn bei seiner Durchreise dahier gehört hat, hat so viel Ausgezeichnetes in seinem Spiel gefunden, daß er ihm, was er sonst nicht leicht thut, unentgeldlich Unterricht gegeben, und ihn in das Höhere der Kunst einweihen will. Dieser junge Mensch wird daher mit Hülfe der Unterstützung von Seiten der hiesigen Musikfreunde nächstens nach Cassel abgehen.“83
Hartmanns junger Violin-Kollege Franz Derckum (geb. Köln 1812) hatte bereits im Januar 1834 kurz vor seiner Abreise zum Kompositionsstudium bei Friedrich Schneider in Dessau in seinem Konzert auch Spohrs Vater unser in Köln zur Erstaufführung gebracht.84 Beide, Hartmann und Derckum, spielten dann 1840 unter Spohr beim Musikfest in Aachen.
8.
Das Niederrheinische Musikfest in Aachen 1840
Nach 14 Jahren übernahm Spohr noch einmal die Leitung eines Niederrheinischen Musikfestes, nämlich 1840 in Aachen. Ferdinand Ries, der noch 1837 das Aachener Fest geleitet hatte, war 1838 gestorben. Als Oratorienkomponist war Spohr ein Jahr zuvor in Norwich mit Des Heilands letzte Stunde gefeiert worden. Als die Aachener erstmalig 1825 ein Fest ausrichteten fiel dieses mit der Eröffnung des neuen Theatergebäudes zusammen. Auch 1840 fand das Fest im Theater statt. Bereits 1825 hatte Ferdinand Ries eine keilförmige Aufstellung von Chor und Orchester sowie Solisten vorgenommen, die noch 1846 von Mendelssohn übernommen wurde. Um 1840 befand sich das Niederrheinische Musikfest in einer gewissen Krise. Anstelle der Musikliebhaber trat immer mehr die brillant-virtuose Seite durch entsprechende namhafte Künstler in den Vordergrund. Dadurch entstanden auch höhere Kosten und es wurde geklagt, dass es nur noch den Begüterten möglich sei, die erhöhten Eintrittspreise zu bezahlen.85 Spohr selbst hatte erst nach einem eindringlichen Gesuch des Comit¦s an den Kurprinzen Urlaub erhalten. Als er Ende Mai nach Aachen reiste, wurde er in Frankfurt und Köln mit Ständchen „festlich begrüßt“. Gerade durch die Mu82 Oepen, Kölner Musikleben, S. 88; Weber, Vom Spielmann zum städtischen Kammermusiker, Bd. 2, S. 243. 83 Hans Schmidt, Musik-Institut Koblenz, Koblenz 1983, S. 115. 84 Oepen, Kölner Musikleben, S. 88. 85 Weibel, Die deutschen Musikfeste, S. 285 – 290.
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sikfeste war er eine verehrte Berühmtheit geworden. Als nun in der Mai-Nummer der Allgemeinen musikalischen Zeitung das 22. Niederrheinische Musikfest am 7. und 8. Juni 1840 unter der Leitung von Spohr angekündigt wurde,86 stand noch nicht fest, welche Ouvertüre gespielt werden würde, ein quasi obligater Beginn des zweiten Tages. Es war dann Cherubinis Ouvertüre zu Medea (Abbildung 5). Händels Judas Maccabäus wurde in der Instrumentierung von Clasing aufgeführt,87 ungeachtet dessen, dass Mendelssohn bereits mehrfach Händel-Oratorien nach der Originalpartitur aufgeführt hatte, ohne Zusatz von Bläsern, aber mit Orgel. Hier wie bei den folgenden Werken vermerkt der Zeitungsbericht, dass das Oratorium eine „Wiederholung von Düsseldorf 1830“ war. Beethovens 7. Symphonie war schon 1823 und 1832 auf dem Programm der Musikfeste, Mozarts Cantate 1825 und 1836. Diese Wiederholungen erleichterten vor allem auch die Beschaffung des Notenmaterials, das sich die veranstaltenden Städte gegenseitig zur Verfügung stellten. Auch die Solisten standen im Mai noch nicht fest. So hoffte man laut der Allgemeinen musikalischen Zeitung auf die Zusage „der Herren Mantius (Tenor) und Staudigl (Bass)“. Wie man am Programm sieht, wurde schließlich ein Tenor aus Den Haag gewonnen. Die Lage Aachens im Dreiländereck drückt sich dergestalt in der Verpflichtung von Sängern aus Paris, Brüssel und Den Haag aus. Deutlich hat der Anteil renommierter Gesangskräfte zugenommen. Die ersten Partien in Sopran, Alt und Bass waren durch Mitglieder der Hofoper in Braunschweig besetzt, die unter Leitung von Albert Methfessel stand. Immerhin gab es noch drei Solisten, die aus den Reihen der Liebhaber kamen, zwei aus Aachen selbst, einer, der Tenor Dick, aus Krefeld. Sein Name erscheint dann auch unter den Mitgliedern des Comit¦es, ein Phänomen, das von Anfang an ein substantielles Element der Musikfeste in Organisation und Aufführung darstellte, zugleich auch zum Erfolg beitrug. Auch für Aachen wäre die genauere gesellschaftliche Stellung der Comit¦-Mitglieder aufschlussreich. Immerhin war die Familie des Tuchfabrikanten Ignaz van Houtem immer noch seit 1824 als Vorstände des Musikvereins vertreten. Ähnlich wie in Düsseldorf bei Sybels fand Spohr „in dem prachtvoll eingerichteten Hause des Notars Pascal“, ebenfalls Mitglied im Comit¦, überaus gastliche Aufnahme.88 Aber auch der Gymnasial-
86 AmZ 42 (1840), Sp. 450. 87 Vgl. Aufführungen von Händels Oratorien im deutschsprachigen Raum (1800 – 1900). Bibliographie der Berichterstattung in ausgewählten Musikzeitschriften, hrsg. von Dominik Höink und Rebekka Sandmeier unter Mitarbeit von Maria Behrendt, Katharina Dettmann, Nicole D’Oliveira, Maike Gevers, Sarah Grossert, Marika Henschel, Robert Memering, Henrik Oerding, Itunu Ogunseitan und Kirstin Pönnighaus. Göttingen 2014, S. 215 f. 88 Louis Spohr‘s Selbstbiographie, Bd. 2, Cassel 1861, S. 248.
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Abbildung 5: Programm des Niederrheinischen Musikfestes 1840 (Hauchecorne, Blätter der Erinnerung, Anhang S. 23)
Gesangslehrer Peter Baur wirkte im Comit¦ mit.89 Während der Probe von Beethovens 7. Symphonie kam es zu einer Kontroverse um Tempofragen mit dem Beethoven-Freund Anton Schindler, der selbst von 1835 bis Mai 1840 Musikdirektor in Aachen gewesen war.90 Sein Nachfolger Girschner ist als ChorDirektor im Programm ausgewiesen. Schindler erhob seine „tadelnde Stimme“, um seine Stellung als Wahrer der Beethoven-Überlieferung herauszustellen, was 89 Alfons Fritz, „Theater und Musik in Aachen seit dem Beginn der preussischen Herrschaft (Dritter Teil)“, in: Zeitschrift des Aachener Geschichtsvereins 36 (1917), S. 123. 90 Reinhold Sietz. „Die Niederrheinischen Musikfeste in Aachen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts“, in: Zeitschrift des Aachener Geschichtsvereins 72 (1960), S. 160.
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er dann 1844 auch bei Heinrich Dorn mit etlichem Eklat wiederholte. In der November-Nr. der Neuen Zeitschrift für Musik hat Schindler in einem langen Brief an die Redaktion das Ganze nochmals ausgebreitet, was Spohr zum Anlass nahm, „seines Tons und seiner Unwahrheit wegen“ eine Erwiderung abdrucken zu lassen.91 Der Festdirigent Spohr war selbst mit einem vokal-symphonischen Werk, dem Vater unser für Solostimmen, Chor und Orchester, vertreten, das bereits 1829 entstanden war, jedoch noch auf keinem Niederrheinischen Musikfest aufgeführt worden war. Nach Spohrs Vorstellung konnte es neben dem Oratorium Die letzten Dinge ein Chorprogramm passend kompletieren.92 Es hat im Programmablauf vergleichsweise die Stellung wie Schneiders Messe, wurde jedoch durch die Ouvertüre von Cherubinis Medea würdiger eingeleitet. Immerhin beschloss das Vater unser auch den dritten Tag, das sogenannte „Künstlerkonzert“, das nicht nur als gewisse Kuriosität ein Solo für zwei Posaunen mit Orchester vorsah, sondern auch zu harscher Kritik für den prominenten Bassisten Joseph Staudigl aus Wien führte, der überhaupt erst zum Künstlerkonzert dritten Tag eintraf.93 Die neue Stufe des professionellen Musizierens, auch mit neuen Veranstaltungsarten, brachte dann allerdings auch Spohr als Komponisten von Kammermusik zur Geltung. Die Zeitungsankündigung des Musikfestes hob ausdrücklich hervor, dass für das Orchester die Gebrüder Müller aus der Braunschweiger Hofkapelle gewonnen werden konnten. Der Bratscher Georg Müller trat dort später die Nachfolge Methfessels als Kapellmeister an. Die vier Brüder bildeten auch ein Streichquartett, das auf Konzertreisen bis Petersburg berühmt wurde; „Das meisterhafte Spiel“ des Quartetts blieb auch in Aachen „seit mehreren Jahren in lebhaftem Andenken“. So kam es zum Plan, das Musikfest noch um einen weiteren Tag auszudehnen und am Mittwoch eine „Morgenunterhaltung“ zu veranstalten, auf der das Müller-Quartett nicht nur Haydn und Beethoven spielen sollte, sondern auch mit vier Kölner Herren und Spohr dessen drittes Doppelquartett: „worin der Componist die erste Geige selbst spielte, und zwar mit so jugendlicher Frische und Vollendung, daß er Alle überraschte und zur Bewunderung hinriß.“94
Das Kölner Quartett stand ebenfalls an der Spitze des gerühmten Festorchesters von 134 Musikern. Es bestand allerdings zu einem Drittel aus Musikern aus Belgien, den Conservatoires von Lüttich und Brüssel, was der Berichterstatter 91 A. Schindler, „An die Redaction“, in: Neue Zeitschrift für Musik 13 (1840), S. 146 – 148; Louis Spohr, „Das Schreiben des Hrn. Schindler“, in: Neue Zeitschrift für Musik 13 (1840), S. 180. 92 Folker Göthel, Thematisch-bibliographisches Verzeichnis der Werke von Louis Spohr, Tutzing 1981, S. 426. 93 Hauchecorne, Blätter der Erinnerung, S. 38. 94 Alf, Musikfeste, S. 75.
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Rahles kritisierte, mit dem richtigen Bemerken, dass es der Tendenz des Festes durchaus entspräche, „wenn das Orchester nur aus den Musikern der Rheinlande zusammengesetzt würde.“95 Mit den Quartettspielern aus Köln hatte Spohr für sein Doppelquartett seinen ehemaligen Schüler Franz Hartmann, angesehener Konzertmeister des Kölner Konzertorchesters, an der Seite, ferner den bereits erwähnten Franz Derckum, inzwischen 1. Violinist in der Domkapelle, dazu Franz Weber an der Viola, der als Domorganist die Orgelparte spielte, die Mendelssohn für die Händel-Oratorien ausschrieb, und schließlich Bernhard Breuer, der 1. Cellist der Domkapelle und ehemaliger Lehrer von Jacob Offenbach.96 Spohr musizierte so mit vier zukünftigen Professoren des Kölner Konservatoriums (seit 1845). Während hier in Aachen 1840 noch ein Zusatzkonzert stattfand, hat Mendelssohn 1846 das Kölner Quartett erstmals mit einer eigenen Quartettkomposition in das vokal-orchestrale Künstlerkonzert integriert. Die erwähnte geographische Lage Aachens führte Spohr mit herausragenden Musikern aus den Nachbarländern zusammen. Aus Paris kamen der Klaviervirtuose Sigismund Thalberg und Francois Antoine Habeneck, Kapellmeister der Grand Op¦ra, der als Direktor der Conservatoire-Konzerte erstmal Beethoven-Sinfonien aufgeführt hatte, ferner aus Lüttich der Direktor des dortigen Konservatoriums Daussoigne.97 Die Kritik, die Friedrich Heimsoeth an der Leitung Spohrs übte, ist besonders aufschlussreich für die Mitwirkung von Sängern aus den verschiedenen rheinischen Städten, und zwar nicht nur aus den drei Festspielstädten, denn der schon erwähnte klassische Philologe Heimsoeth hatte in Bonn in seinem Singverein mit den Mitgliedern, die in Aachen mitwirkten, die Chorpartien eingeübt. Neben dieser Gruppe aus Bonn, nahm ferner ein Teil des Singvereins des Universitätsmusikdirektors – und Widerparts von Heimsoeth – Heinrich Carl Breidenstein teil. Die Briefadressatin Sybille Mertens-Schaaffhausen, eine als „Rheingräfin“ bekannte Bankiersgattin, war nicht nur Musikmäzenin, begabte Pianistin und Komponistin, sondern leitete auch in Vertretung des späteren (ungeliebten) Schwiegersohns Heimsoeth die Chorgruppe, die zu den Musikfesten reiste. Die Freundschaft des Ehepaar Mertens mit Ferdinand Ries spielt dabei eine wichtige Rolle.98 Liest man die Kritik Heimsoeths, so muss stets sein ästhetischer Standort hinsichtlich der Chorarbeit berücksichtigt werden, nämlich das Bestreben, die alte a cappella Polyphonie wiederzubeleben, ganz ähnlich wie Thibaut in Heidelberg. Heimsoeth schrieb:
95 Rahles (s. u.), S. 2: „Es standen an der Spitze es Orchesters das Quartett der Gebrüder Müller, so wie das Cölner Quartett (die Herren Hartmann, Dercum, Weber und Breuer)“. 96 Weber, Vom Spielmann zum städtischen Kammermusiker, Bd. 1, S. 452 f. 97 AmZ 40 (1840), Sp. 646. 98 Angela Streidele, Sibylle Mertens-Schaafhausen (1797 – 1857). Zum 150. Todestag der „Rheingräfin“, Bonn 2007, 47 f.
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„Die Direktion durch Spohr hat alle musikalisch unbefriedigt gelassen. Mit Achtung hat sich gewiß jeder unter seine Fahne gestellt. Seine Gestalt, ungewöhnlich groß und dick, fast kolossal, war geeignet, innere Würde zu unterstützen. Er dirigiert auch äußerlich sehr bestimmend und angenehm. Aber sei es, daß er von vornherein zu wenig gewollt hat, weil er unter uns zu wenig für möglich hielt, bei einem solchen Zusammenschluß von Orchester und Chor, sei es das Alter des Mannes, dem die rücksichtslose Energie, wie wir sie z. B. an Mendelssohn gewohnt sind, nicht mehr eigen sein kann. – Spohr hat nicht gut dirigiert.“99
Die Reaktion des Publikums war jedoch wohl anders. In den fortgesetzten Lebenserinnerungen Spohrs wird aus einem brieflichen Bericht von Teilnehmern des Musikfestes zitiert: „Einen würdigen Schluss des Ganzen bildete die Wiederholung des großartigen letzten Chors aus Spohr’s Vater unser, worauf sich noch einmal der Enthusiasmus der Zuhörer in lauten Ausbrüchen kundgab.“100
Ganz anders gegenüber Heimsoeth klingt auch die Besprechung des Musikfestes in der Neuen Zeitschrift für Musik.101 Hinsichtlich der Glaubwürdigkeit und Kompetenz ist anzumerken, dass der Verfasser Ferdinand Rahles seit 1835 städtischer Musikdirektor in Düren war, und seit 1842 scharfe Kritik an der Entwicklung der Niederrheinischen Musikfeste übte.102 Rahles war zugleich Lehrer am Stiftischen Gymnasium in Düren und komponierte auch. Nach seiner Übersiedlung nach Köln hielt er in Bonn und Aachen zudem musikgeschichtliche Vorlesungen.103 Nach Rahles war das Musikfest „so hervorragend, daß es als eins der schönsten Glieder in der Kette der rheinischen Musikfeste bezeichnet werden darf.“ – Es „bot einen so vielfachen hohen Genuß dar, wie wohl noch nie ein anderes vor ihm.“ Freilich machte Spohrs Vater unser „bei weitem nicht den Eindruck auf uns, den wir gehofft und erwünscht hatten.“ Kritik fanden vor allem die instrumentalen „Verbindungssätze ganz dramatischer Natur, ohne Einheit zum Ganzen“. Rahles resumiert: „Das Werk ist übrigens in seiner Aufführung sehr schwer, und that es uns für den Componisten leid, daß die bezeichneten Verstöße [Unaufmerksamkeit in den Blasinstrumenten; Anm. d. Verf.] statt fanden.“
99 Briefe an Sybille Mertens-Schaafhausen (= Veröffentlichungen des Stadtarchivs Bonn, 3), hrsg. von Theo Clasen und Walther Ottendorf-Simrock, Bonn 1974, S. 90. 100 Spohr, Lebenserinnerungen, S. 249. 101 Ferdinand Rahles, „Das Musikfest zu Aachen“, in: Neue Zeitschrift für Musik 13 (1840), S. 3 f. und 11 f. 102 Weibel, Die deutschen Musikfeste, S. 282 und 285. 103 Hildegard von Ratzibor, Untersuchungen zur Musikgeschichte der Stadt Düren (= Beiträge zur rheinischen Musikgeschichte, 79), Köln 1969.
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Insgesamt gab es aber „rauschenden Beifall im Ueberflusse von Seiten des Publicums“. Als Dank für das Gelingen der Aufführung wurde ihm durch eine der mitwirkenden Damen ein Lorbeerkranz aufs Haupt gesetzt.
9.
Das Beethoven-Fest Bonn 1845
Das letzte Fest, das Spohr als Dirigenten sah, das Beethoven-Fest 1845 in Bonn anlässlich der Einweihung des Beethoven-Denkmals am 11. August, hat vor allem durch die Kontroversen um Liszt öffentliches Aufsehen erregt.104 Bei diesem Musikfest kumulierten noch einmal die verschiedenen Aspekte der Aufführungssituation, die Spohr als Dirigent durchlebte: Parteienstreit um die Berufung, die Probleme einer Doppeldirektion, jetzt mit Liszt, die Herausforderungen bei den kurzfristig angesetzten Proben mit einem Chor von 343 Sängerinnen und Sängern sowie einem Orchester von 162 Musikern, die Unterstützung durch seinen Schüler Franz Hartmann, das Programm nach dem Vorbild der Niederrheinischen Musikfeste, einschließlich des ausdrücklichen Primats der Kirchenmusik. Die Ankündigungen der beiden Messen, der Missa solemnis unter Spohr und der C-Dur-Messe unter Heinrich Karl Breidenstein im Münster waren im Programm in Fettdruck angekündigt. Nach dem Fest schrieb Spohr an Breidenstein, den Vorsitzenden des Comit¦s, er sei mit ihm einer Meinung, „daß jeder Unbefangene sich wundern werde, daß unter solchen Umständen so viel geleistet [worden] sey.“105 In einem Brief vom 7. Juli 1845 hatte er zunächst die Leitung abgelehnt, da er die Missa solemnis und die 9. Sinfonie nicht liebe und die Anstrengungen der schwierigen Vorbereitungsarbeit scheute.106 Die vorgesehene Anwesenheit des kurhessischen Prinzen bewog ihn dann doch zur Annahme. Namentlich seitens Friedrich Heimsoeth und Anton Schindler hatte sich im Vorfeld eine Kritik an Liszt als Dirigenten von 104 Louis Spohr’s Selbstbiographie, Bd. 2, S. 299 – 301; Spohr, Lebenserinnerungen, Bd. 2, S. 194; H[einrich] K[arl] Breidenstein, Zur Jahresfeier der Inauguration des Beethoven Monuments. Eine actenmäßige Darstellung dieses Ereignisses, der Wahrheit zur Ehre und den Festgenossen zur Erinnerung, Bonn 1846, Faksimilenachdruck, Bonn 1983; Hans Josef Irmen, „Franz Liszt in Bonn oder Wie die Beethovenhalle entstand“, in: Studien zur Bonner Musikgeschichte des 18. und 19. Jahhrunderts (= Beiträge zur rheinischen Musikgeschichte, 116), hrsg. von Marianne Bröcker und Günther Massenkeil, Köln 1978, S. 79 – 65; Michael Ladenburger, „Als das ,neue Bonn‘ sich bewährte oder : Das Musikfest zwischen den Fronten. Das Beethoven-Fest 1845 im Kontext der Bonner Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts“, in: Monument für Beethoven. Zur Geschichte des Beethoven-Denkmals (1845) und der frühen Beethoven-Rezeption in Bonn, Katalog, hrsg. von Ingrid Bodsch, Bonn 1995, S. 135 – 155; Manfred van Rey, Die Beethovenfeste in Bonn 1845 – 2003, Bd. I: Geschichte (= Veröffentlichungen des Beethovenhauses Bonn, IV/17), Bonn 2003, S. 1 – 11. 105 Ladenburger, „Beethoven-Fest“, S. 294. 106 Spohr, Lebenserinnerungen, Bd. 2, S. 194.
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Beethoven-Werken und Komponist der Festkantate entzündet. Er hatte freilich den größten Betrag gespendet. Die Parteiungen hat vor allem der Kölner Jurist Karl Schorn in seinen umfangreichen Erinnerungen an die Teilnahme (als Bassist) am Beethoven-Fest beschrieben: „Es sei hier schließlich noch erwähnt, daß die zwischen Spohr und Liszt sowohl innerlich wie äußerlich bestehenden Gegensätze, und die bei Künstlern, Kritikern und Musikfreunden theils für jenen, theils für diesen laut gewordenen Sympathien und Antipathien schon in den vorhergehenden Tagen die Festgenossen in zwei getrennte Lager getheilt und statt Festesfreude Mißstimmungen hervorgerufen hatten. Das Comit¦ hätte es sich vorher sagen können, daß zwei so heterogene Naturen wie Spohr und Liszt nicht harmonisch zusammenwirken konnten und auf die Einheit und Einigkeit des Ganzen störend einwirken mußten. Einerseits der ernste, klassisch gediegene, schweigsame und in stolzer gravitätisch würdiger Haltung einherschreitende Spohr, andererseits der lebendige, leichtlebige, musikalisch moderne Kosmopolit Liszt, ein Ueberall und Nirgends, mit den langen Fortschrittsbeinen und dem fliegenden Mähnenhaar.“107
Unabhängig von den sonstigen Veranstaltungen, wie der Ausflug nach Nonnenwerth, der Ball oder das nachfolgende Konzert der Berliner Hofkapelle unter Meyerbeer in Schloss Brühl vor dem preußischen Königspaar und der englischen Königin Victoria (wozu auch Spohr eingeladen war), war der erste Tag des Festes mit dem Auftreten Spohrs ein unbestrittener Höhepunkt. Er dirigierte die Missa solemnis und die 9. Symphonie, was im Vorfeld Befürchtungen aufkommen ließ, die mitwirkenden Kräfte könnten überfordert sein. Dass die beiden für die 3.000 Gäste in der Festhalle neuen anspruchsvollen Werke „in solcher Vollendung ausgeführt“ wurden,108 erkannte auch Ignaz Moscheles an, indem er bemerkt es sei „fast untadelig“ gewesen.109 Auch Karl Schorn erinnert in ähnlicher Weise: „Beide Werke gelangen unter der sichern, festen und erprobten Leitung des ehrwürdigen Altmeisters Spohr.“110 Das Gelingen war nicht zuletzt Franz Weber zu verdanken, „welcher die Vorproben zu leiten gütigst übernommen hat“ (Einladung). Unermüdlich reiste der schon erwähnte Domorganist und Dirigent des Philharmonischen Chores von Köln mit den dortigen Sängerinnen und Sänger in Extrazügen nach Bonn, um als „Chordirector“ die Chöre für Spohr einzuüben. Spohrs alter Kontrahent Schindler hingegen kritisierte:
107 Schorn, Lebenserinnerungen, S. 193 – 214, hier S. 211 f. 108 Louis Spohr’s Selbstbiographie, Bd. 1, S. 300 (Zitat aus Pressebericht). 109 Aus Moscheles Leben. Nach Briefen und Tagebüchern, hrsg. von seiner Frau, Bd. 2, Leipzig 1873, S. 141; Emil F. Smidak, Isaak-Ignaz Moscheles. The Life of the Composer, Aldershof/ Hampshire 1989, S. 146 – 149. 110 Schorn, Lebenserinnerungen, S. 201.
Louis Spohr und die Musikfeste im Rheinland
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„Herr Spohr studierte sich selbst erst in den Proben in die 9. Sinfonie und die Missa solemnis ein. Letzteres Werk […] kannte Herr Spohr noch gar nicht und scheute sich nicht zu bekennen, daß er dessen Bekanntschaft erst auf der Reise nach Bonn gemacht“.111
In der Hauptprobe mit Spohr notierte Sir George Smart, Chef der Londoner Philharmoniker : „Die Messe zu schwierig und nicht wirksam, der Chor excellent, das Orchester auch“; die Sopranistin Tuczek und die Altistin Sophie Schloß eilten vor Nervosität.112 Die von Mendelssohn 1839 entdeckte ehemalige Schülerin des Kölner Domkapellmeisters Carl Leibl war international bekannt und wurde über ihren Vater aus London engagiert.113 Sie hatte ein Jahr zuvor beim Niederrheinischen Musikfest in Köln unter dem städtischen Musikdirektor Heinrich Dorn bereits die Solopartie in der Kölner Erstaufführung der Missa solemnis gesungen.114 So waren die Musiker aus Köln der gut vorbereitete Kern der Mitwirkenden. Dazu gehören auch die Herren des Kölner Quartetts mit dem Spohr-Schüler Franz Hartmann und den Mitgliedern der Domkapelle Derckum, Weber und Breuer. Sie spielten nicht nur als Exempel für Beethovens Kammermusik das Streichquartett op. 59, Nr. 3, sondern übernahmen auch die jeweilige Stimmführung im Orchester. Hartmann spielte als Konzertmeister „mit ebenso innigem Gefühle als vollendeter Technik“ auch die Solo-Violine im „Benedictus“ der Missa solemnis.115 Welche Schwierigkeiten trotzdem zu überwinden waren, zeigt die Notiz, dass es der Musikmäzenin, der„Rheingräfin“ Mertens-Schaaffhausen gelang, kurzfristig 12 Kontrabässe zu besorgen, über deren kräftigen Klang im Scherzo der 5. Sinfonie der angereiste Hector Berlioz entzückt war.116 Auch beim zweiten großen Konzert hatte Spohr auf Bitte von Liszt einen Teil des Dirigates übernommen, nämlich bei der Aufführung des Klavierkonzertes in Es-Dur, das Liszt selbst spielte, sowie bei der Darbietung einzelner Nummern aus dem Oratorium Christus am Ölberg. Insgesamt trifft sicherlich für das Bonner Beethovenfest der Toast zu, den Dr. Wolff beim skandalös verlaufenden Festmahl auf einen „Dreiklang“ ausbrachte: „der
111 Ladenburger, „Beethoven-Fest“, S. 261. 112 Henseler, Das musikalische Bonn, S. 197. 113 Ulrich Tank, Die Geschwister Schloss. Studien zur Biographie der Kölner Altistin Sophie Schloss (1822 – 1903) und zur Geschichte des Musikverlages ihres Bruders Michael Schloss (1823 – 1891) (= Beiträge zur rheinischen Musikgeschichte, 115), Köln 1976. 114 Klaus Körner, Das Musikleben in Köln um die Mitte des 19. Jahrhunderts (= Beiträge zur rheinischen Musikgeschichte, 83), Köln 1969, S. 175; Klaus Wolfgang Niemöller, „Zwischen Palestrina und Beethoven. Zur Kirchenmusik im Dom und im Gürzenich in der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts“, in: 1863. Der Kölner Dom und die Musik (= Musik-Kultur-Geschichte), hrsg. von Annette Kreutziger-Herr und Arnold Jacobshagen, Würzburg (im Druck). 115 Breidenstein, Zur Jahresfeier, S. 12. 116 Schorn, Lebenserinnerungen, S. 199.
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Grundton Spohr, die Terz, die alles mit Liebe verbindet, Liszt, die Dominante, die alles zur schönen Auflösung führt, Professor Breidenstein.“ Dass das Wirken Spohrs im Rheinland, speziell in Köln, nachwirkte, bezeugt der Entwurf des Musik-Reliefs am Reiterdenkmal Königs Friedrichs III. auf dem Heumarkt in Köln von 1874, das die Verbundenheit des Rheinlandes mit Preußen versinnbildlichen sollte (vgl. Abbildung 6). Unter der Kategorie „Klassische Musik“ steht Spohr mit der Violine neben Beethoven, der Zentralfigur. In dieser Figurenkonstellation hallte sicherlich noch Spohrs Dirigat auf dem Beethoven-Fest nach. In der endgültigen Bildfassung bei der Enthüllung 1878 ist dann allerdings an die Stelle des Kassler Hofkapellmeisters Spohr der rheinische Komponist und Dirigent Ferdinand Ries aufgenommen worden.117
Abbildung 6: Ausschnitt aus dem Bozzetto des Kölner Musik-Reliefs (Rheinisches Bildarchiv Köln, rba_005447)
117 Barbara Mülhens Molderings und Klaus Wolfgang Niemöller, „,Deutschlands musikalische Heroen‘ im Jahr 1878. Das Musik-Relief am Denkmal für König Friedrich Wilhelm III. auf dem Heumarkt in Köln“, in: Ries Journal 3 (2014), S. 2 – 29.
Peter Schmitz
Ein rentables Geschäft? Zum Stellenwert von Oratorien in Verlagsprogrammen des 19. Jahrhunderts am Beispiel von Louis Spohr
Das deutsche Musikverlagswesen nahm um 1800 bekanntermaßen einen enormen Aufschwung und expandierte in den folgenden Jahrzehnten beständig. Mit diesem Prozess ging die Schaffung berufsständischer und gesetzlicher Rahmenbedingungen ebenso einher wie eine zunehmende Professionalisierung von Editionsprinzipien, Drucktechniken, Vertriebsstrukturen und Werbestrategien. Freilich ist zu betonen, dass die Musikverlagslandschaft während des infrage stehenden Zeitraumes durch einen starken Konzentrationsprozess auf vergleichsweise wenige Standorte gekennzeichnet ist. Allen voran kam der Stadt Leipzig eine exponierte Stellung zu. Mitnichten kann also von einer topographisch homogenen Entwicklung gesprochen werden. Wenn hier v. a. das steigende Wachstum der Musikalienproduktion herausgestellt wird – selbiges findet in statistischen Berechnungen Bestätigung, wonach sich die Produktionszahlen zwischen 1820 und 1900 mehr als versechsfachten1 –, wenn also auf quantitativer Ebene der Nachweis für einen florierenden Handelszweig erbracht ist, so ist damit noch nichts über einzelne Verlagssegmente geschweige denn über eine gezielte – etwa an gesellschaftlichen Bedürfnissen orientierte – Programmpolitik der Verlage gesagt. Genau diese Frage soll uns aber im Folgenden mit Blick auf die Gattung Oratorium beschäftigen. War es – wie im Titel des Beitrags zur Diskussion gestellt wird – aus Verlagssicht überhaupt rentabel, Oratorien druckzulegen? Die Frage suggeriert zugegebenermaßen eine gewisse Skepsis. Doch wir wollen den Ergebnissen nicht vorgreifen. Begonnen sei zunächst mit einigen quantitativen – keineswegs Anspruch auf Vollständigkeit erhebenden – Informationen, wie sie den Monats- bzw. später Jahresberichten2 Friedrich Hofmeisters zu entnehmen sind. 1 Vgl. dazu Max Schumann, Zur Geschichte des deutschen Musikalienhandels seit der Gründung des Vereins der deutschen Musikalienhändler 1829 – 1929, Leipzig 1929, S. 52. 2 Musikalisch-Literarischer Monatsbericht über Neue Musikalien, Musikalische Schriften und Abbildungen (seit 1829). Eine Datenbank zu den Einträgen der Monatsberichte (Hofmeister XIV, 1829 – 1900) ist im Internet abrufbar unter : http://www.hofmeister.rhul.ac.uk/2008/index.html.
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Peter Schmitz
Grundsätzlich sollte zunächst einmal festgehalten werden, dass der Anteil von Oratorien in Verlagsprogrammen eher gering war. Er dürfte im ganzen 19. Jahrhundert immer unter 1 % der Gesamtproduktion, d. h. alle Ausgabentypen (Partitur, Klavierauszug, Stimmen) berücksichtigend, gelegen haben.3 Berlins Reputation als „überragende deutsche Oratorienstadt des 19. Jahrhunderts“4 ist für den Bereich der Aufführungs- und Institutionengeschichte gewiss gerechtfertigt, findet mit Blick auf den Publikationsort Berlin aber keine Entsprechung. Mit rund 70 Novitäten erschienen die meisten Oratorien – nach dem eingangs Gesagten kaum verwunderlich – nämlich in Leipzig5, gefolgt von Berlin mit ca. 20 Werken6 (wohl gemerkt, das ganze Jahrhundert in den Blick nehmend). Dem schließen sich in absteigender Reihenfolge die Verlagsorte Bonn7, Hamburg8, Braunschweig9, Mainz10 und Wien11 an. In Leipzig selbst fanden die meisten, nämlich etwa ein Drittel aller hier publizierten Oratorien im Welthaus Breitkopf & Härtel ihre Drucklegung:
3 Die gelegentlich separate Veröffentlichung der Textbücher bzw. Libretti ist dabei ausgeklammert. 4 Günther Massenkeil, Oratorium und Passion (= Handbuch der musikalischen Gattungen, 10/2), Laaber 1999, S. 117. Angaben zu Oratorien-Aufführungen in Berlin finden sich bei Martin Geck, Deutsche Oratorien 1800 bis 1840. Verzeichnis der Quellen und Aufführungen, Wilhelmshaven 1971, S. 42 – 47 und Christoph Helmut Mahling, „Zum ,Musikbetrieb‘ Berlins und seinen Institutionen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts“, in: Studien zur Musikgeschichte Berlins im frühen 19. Jahrhundert, hrsg. von Carl Dahlhaus, Regensburg 1980, S. 238 – 263. 5 Freilich hat Leipzig auch mit Blick auf die Aufführungsgeschichte von Oratorien einige Bedeutung erlangt. Aufführungsorte waren v. a. das Gewandhaus, die Paulinerkirche, die Thomaskirche und die Nikolaikirche. 6 Verlage: Trautwein, Wagenführ, Schlesinger, Bote & Bock, Stern & Co., Damköhler, Simrock (vormals Bonn), Simon, Challier & Co. und Fürstner. 7 Verlage: Simrock, Mompour. 8 Verlage: Niemeyer, Cranz, Böhme, Thiemer. 9 Verlage: Spehr, Litolff. 10 Verlag: Schott. 11 Verlage: Diabelli, Haslinger, Mechetti, Spina, Rebay & Robitschek.
Zum Stellenwert von Oratorien in Verlagsprogrammen des 19. Jahrhunderts
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Tabelle 1: Oratorien im Verlagsprogramm von Breitkopf & Härtel12 Joseph Haydn, Die Sieben letzten Worte unseres Erlösers am Kreuze, B& H 1801 Joseph Haydn, Die Jahreszeiten, B& H 1802 Joseph Haydn, Die Schöpfung, B& H 1803 (bereits 1800 in Wien im Selbstverlag) Ludwig van Beethoven, Christus am Oelberge, B& H 1811 Friedrich Schneider, Das Weltgericht, B& H 1821 („auf Kosten des Komponisten und in Kommission bei B& H“, Klavierauszug 1822 bei Hofmeister) Sigismund Neukomm, Christi Grablegung, B& H 1827 Heinrich Elkamp, Paulus, B& H 1836 Louis Spohr, Der Fall Babylons, B& H 1842 (Partitur 1843)13 Adolf Bernhard Marx, Mose, B& H 1844 Felix Mendelssohn Bartholdy, Christus, B& H 185214 Carl Martin Reinthaler, Jephta und seine Tochter, B& H 1857 Bernhard Molique, Abraham, B& H 1860 Martin Blumner, Abraham, B& H 1861 Johann Vogt, Die Auferweckung des Lazarus, B& H 1862 Julius Emil Leonhard, Johannes der Täufer, B& H 1865 Friederich Nuhn, Die Könige in Israel, B& H 1868 Michael Costa, Eli, B& H 1869 Michael Costa, Naaman, B& H 1870 Anton Deprosse, Die Salbung Davids, B& H 1870 Joachim Raff, Welt-Ende. Gericht. Neue Welt, B& H 1882 Jakob Rosenhain, Saul, B& H 1886 Ludwig Meinardus, Emmaus, B& H 1887 Konstanz Berneker, Christi Himmelfahrt, B& H 1887 Hermann Franke, Isaak’s Opferung, B& H 1887 Edgar Tinel, Franziskus, B& H 1890 Albert Becker, Selig aus Gnade, B& H 1890 Gustav Schreck, Christus, der Auferstandene, B& H 1892 Fritz Zierau, Christus der Tröster, B& H 1900
12 Die angeführten Werke von Ludwig Meinardus (Emmaus), Hermann Franke (Issaks Opferung), Konstanz Berneker (Christi Himmelfahrt), Albert Becker (Selig aus Gnade) und Fritz Zierau (Christus der Tröster) erschienen im Rahmen der 1886 begonnenen, von dem evangelischen Theologen Friedrich Zimmer herausgegebenen Sammlung von Kirchen-Oratorien und -Kantaten. Vgl. zu dieser Reihe Charlotte Ebenig, Die Kirchenoratorien Heinrich von Herzogenbergs. Zur Problematik der Erneuerung der evangelischen Kirchenmusik am Ende des 19. Jahrhunderts, Mainz 2002, S. 93 – 106. Hinzuweisen wäre sodann auf diverse Arien und Auszüge mehrerer Oratorien von Carl Loewe, die im Rahmen der Gesamtausgabe der Balladen, Legenden und Gesänge (17 Bde., 1899 – 1904) bei Breitkopf & Härtel erschienen. 13 Zu späteren bei Breitkopf & Härtel erschienenen Ausgaben (Textbücher und Chorstimmen) von Spohrs Die Letzten Dinge (TB 121) und Des Heilands letzte Stunden (ChB 623/24 und TB 116) vgl. Verzeichnis des Musikalien-Verlages von Breitkopf & Härtel in Leipzig, vollständig bis Ende 1902, Leipzig 1903, S. 1063. 14 Zu späteren bei Breitkopf & Härtel erschienenen Ausgaben von Mendelssohns Paulus op. 36 und Elias op. 70 vgl. Verzeichnis des Musikalien-Verlages, S. 652 – 653, 662 – 663, 683.
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Peter Schmitz
Darüber hinaus traten in der Messestadt die Firmen Hofmeister, Kistner, Kahnt, Senff, Rieter-Biedermann, Forberg, Gumprecht, Rhode, Leuckart, Schuberth jun., Merseburger und Klinner als Oratorien-Verlage hervor. Im Verlagsprogramm von C. F. Peters15 begegnen Oratorien im Grunde nur im Kontext der sogenannten Klassikerausgaben (ab Mitte der 1860er-Jahre), durch die nicht zuletzt die Gattungsbeiträge von Georg Friedrich Händel und Joseph Haydn weite Verbreitung fanden.
1.
Louis Spohr, Die Letzten Dinge WoO 61
Wenn in vorliegendem Beitrag nach dem Stellenwert von Oratorien in Verlagsprogrammen gefragt wird, so mag dies insofern irreführend sein, als es nur eine Publikations- und Vertriebsform in den Blick nimmt. Tatsächlich waren im Musikalienhandel des frühen 19. Jahrhunderts aber mehrere Veröffentlichungsformen gebräuchlich. Die Publikationsgeschichte von Louis Spohrs Oratorium Die Letzten Dinge WoO 61 etwa verweist auf gleich drei unterschiedliche Geschäftspraktiken bzw. Möglichkeiten der öffentlichen Verfügbarmachung von Musiziergut: 1. den Manuskripthandel, 2. die Druckveröffentlichung im Selbstverlag sowie 3. die Publikation in einem professionellen Musikverlag. Während Spohr von der Partitur seines 1826 vollendeten Oratoriums zunächst lediglich handschriftliche Kopien16 anfertigen ließ, bot er den Klavierauszug seinem Leipziger Verleger C. F. Peters zum Druck an. Dieser war jedoch nicht willens, die Honorarforderung in Höhe von 300 Reichstalern zu erfüllen. Auch habe sich Peters gegen eine Inverlagnahme entschieden, – so Spohr rückblickend – „weil ihm die Herausgabe geistlicher Musik überhaupt unbequem und fatal“17 gewesen sei. Dies ist auch insofern bemerkenswert, als Spohr – folgt man den Studien Axel Beers – zwischen 1818 und 1827 der wichtigste Komponist im Verlagsprogramm von C. F. Peters war. Der prozentuale Anteil (bezogen auf das Gesamtprogramm der Verlagshandlung) beläuft sich bei Spohrs Werkausgaben auf beachtliche 10,2 %.18 Jedenfalls veranlasste 15 Ab 1814, vormals Hoffmeister & Kühnel, Bureau de Musique. 16 Die Partitur des Jüngsten Gerichts WoO 60 hat Louis Spohr im Jahr 1813 lediglich in einer Abschrift zum Preis von 30 Dukaten per Inserat angeboten. Vgl. Allgemeine musikalische Zeitung (AmZ) 15 (1813), Intelligenz-Blatt 4, Sp. 24. 17 Louis Spohr an Franz Carl Anton und Peter Joseph Simrock, Brief vom 9. März 1833, in: Beethoven-Haus Bonn (D-BNba), NE 241, 22. 18 Axel Beer, Musik zwischen Komponist, Verlag und Publikum. Die Rahmenbedingungen des Musikschaffens in Deutschland im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts, Tutzing 2000, S. 425. Eine Auflistung der bei Hoffmeister & Kühnel, Amrosius Kühnel und C. F. Peters verlegten Spohr-Werke findet sich bei Folker Göthel, Thematisch-Bibliograhisches Verzeichnis der Werke von Louis Spohr, Tutzing 1981, S. 533 f.
Zum Stellenwert von Oratorien in Verlagsprogrammen des 19. Jahrhunderts
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der Verzicht des Leipziger Verlegers Spohr zur Veröffentlichung des Klavierauszugs im Selbstverlag (erstellt wurde dieser durch seinen Bruder Ferdinand). Um sich vom Aufgabenspektrum eines Selbstverlegers eine Vorstellung zu machen, seien hier einige allgemeine Bemerkungen zur Geschäftspraxis angeführt, die meinem Eindruck nach bei Oratorien länger als bei anderen Gattungen Anwendung fand: Die Selbstverlagspraxis war im Musikalienhandel des 17. und 18. Jahrhundert sehr verbreitet, wurde im frühen 19. Jahrhundert aber eigentlich weitestgehend ,überwunden‘, und zwar zugunsten von arbeitsteiligen Verleger-Autoren-Verhältnissen. Ein Druckvorhaben im Selbstverlag zu realisieren, ging mit z. T. erheblichen unternehmerischen Risiken sowie einem großen Arbeitsaufwand einher. U. a. galt es, eine Offizin für das Projekt zu gewinnen, die Auflagenhöhe zu kalkulieren, Kaufaufrufe und Vorankündigungen zu verfassen und zu veröffentlichen sowie Kollekteure oder auch Musikalienhandlungen respektive Verlage zwischenzuschalten, um möglichst viele Subskribenten bzw. Pränumeranten anzuwerben und das geographische Verbreitungsgebiet zu erweitern. Die einzelnen Subskribenten waren den meist beigedruckten, nicht zuletzt soziographisch hochinteressanten Namenslisten zu entnehmen. Indem Planung, Aufbereitung, Marketing und Distribution einer Edition zuvorderst im Verantwortungsbereich des Komponisten lagen (sofern man nicht anderweitige Firmen damit betraute), muss von einem immensen Arbeitspensum gesprochen werden. Gewiss konnte die Selbstverlagspraxis auch manches Positive mit sich bringen. Glückte der Absatz eines Werkes nämlich in kalkulierter Weise, blieb dem Komponisten – nach Abzug der zu entrichtenden Druckkosten, den Versand- und etwaigen Werbekosten sowie der Entlohnung der Kollekteure („Beförderer“) – der gesamte Reingewinn aus der Publikation. Zudem wahrte der Komponist alle Rechte an seinem Werk, was für mögliche weitere Auflagen nicht unerheblich war. In künstlerischer Hinsicht ist zu betonen, dass der Komponist weitgehend frei agieren konnte, also in merklich geringerem Maße zu Konzessionen gegenüber einer prüfenden Instanz wie einem Verleger genötigt war.19 Doch zurück zu Spohr : Der Klavierauszug von Die letzten Dinge wurde von ihm für 3 Preußische Reichstaler angepriesen. Beim Anwerben der Subskribenten erbat er unter anderem Unterstützung durch das Bonner Verlagshaus Simrock; für die Abnehmer der Novität wurden besondere Konditionen in Aussicht gestellt: 19 Zur Selbstverlagspraxis vgl. Peter Schmitz, „,Es ist eine Ehre vor unsere Nation, daß ein Breitkopff in diesem Seculo gebohren‘ – Johann Gottlob Immanuel Breitkopf und die Entwicklung des deutschen Musikalienhandels im 18. Jahrhundert“, in: Komponisten im Spannungsfeld von höfischer und städtischer Musikkultur. Bericht über die Internationale Wissenschaftliche Konferenz, Magdeburg, 18. bis 19. März 2010, anlässlich der 20. Magdeburger Telemann-Festtage, hrsg. von Carsten Lange und Brit Reipsch, Hildesheim u. a. 2014, S. 238 – 254, hier S. 248 – 251.
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Peter Schmitz
„Da mein Werk sich nicht bloß zur Übung der Vereine bey Pianoforte-Begleitung, sondern hauptsächlich zu einer starkbesetzen Ausführung mit Orchesterbegleitung eignet, so erbiethe ich mich, denjenigen Vereinen, die mein Unternehmen besonders wohlwollend unterstützen werden, eine Abschrift der Partitur, lediglich gegen Erstattung der Abschreibegebühren (die etwa zehn höchstens zwölf Thaler betragen werden) zukommen zu lassen.“20
Im Februar 1827 veröffentlichte Spohr im Intelligenz-Blatt zur Allgemeinen musikalischen Zeitung eine Anzeige, wonach „nach Ablieferung der Exemplare an die resp. Subscribenten des Werkes, noch eine kleine Anzahl Exemplare übrig geblieben“21 sei. Diese bot er nun zum alten Subskriptionspreis an – zu beziehen entweder bei ihm selbst oder im Bureau de Musique von C. F. Peters in Leipzig. Spohr hat aber wie erwähnt nicht nur das Vertriebsnetz des Leipziger Hauptverlegers genutzt, sondern auch andere Firmen mit der Abwicklung von Kundenbestellungen betraut. Über Simrock ließ er im Jahr 1829 beispielsweise eine von Edward Taylor erbetene Abschrift des Oratoriums zum Preis von 10 Pfund nach London schicken.22 Spohrs Kollekteure dürften – wie schon im 18. Jahrhundert üblich – in der Regel durch Freiexemplare entlohnt worden sein. In einem Subskriptionsaufruf zu Des Heilands letzte Stunden WoO 62 heißt es jedenfalls, dass er bei sechs eingegangenen Unterschriften, also sechs angeworbenen Subskribenten ein Freiexemplar bereitstelle.23 Dies war für den jeweiligen Kollekteur bzw. die vermittelnde Musikalienhandlung deshalb lukrativ, weil die Freiexemplare ohne Abzüge weiterverkauft werden konnten. Dass sich die Drucklegung im Selbstverlag für Spohr finanziell durchaus gelohnt zu haben scheint und dennoch eine Erfahrung war, die er „um keinen Preis noch einmal“ machen wollte, entnehmen wir einem Schreiben an Simrock vom März des Jahres 1833. Demnach hat Spohr „mehr wie 3 mal so viel damit gewonnen“ als er „Peters abverlangte“.24 Im Jahr 1835 erwarb schließlich Simrock die Rechte an 20 Louis Spohr an Peter Joseph Simrock, Brief vom 15. Oktober 1826, in: D-BNba, NE 241, 17. Zu weiteren Anweisungen bzgl. der Subskriptionsbestellungen siehe Louis Spohr an Joseph Simrock, Brief vom 28. Januar 1827, in: D-BNba, NE 241, 19. 21 AmZ 29 (1827), Intelligenz-Blatt 2, Sp. 6. 22 Louis Spohr an Peter Joseph Simrock, Brief vom 14. August 1829, in: D-BNba, NE 241, 20. Siehe dazu auch den Brief Spohrs an Edward Taylor vom 22. April 1836, in: Universitätsbibliothek Kassel. Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel (D-Kl), 48 Ms. hist. litt. 15[195. 23 Louis Spohr an den Verlag Simrock, Brief vom 15. Mai 1835, in: D-BNba, NE 241, 34. Im Subskriptionsaufruf zu Die letzten Dinge heißt es: „Sammlern von Unterschriften erbiethe ich mich, daß siebente Exemplar frei zu geben.“ Louis Spohr an Peter Joseph Simrock, Brief vom 15. Oktober 1826, in: D-BNba, NE 241, 17. 24 Louis Spohr an Franz Carl Anton und Peter Joseph Simrock, Brief vom 9. März 1833, in: DBNba, NE 241, 22. Von den 700 Exemplaren der im Selbstverlag erschienenen Auflage seien im Februar 1827 nur noch 150 übrig gewesen. Vgl. dazu Göthel, Thematisch-Bibliograhisches Verzeichnis, S. 402.
Zum Stellenwert von Oratorien in Verlagsprogrammen des 19. Jahrhunderts
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dem Klavierauszug des Oratoriums für 50 Taler und publizierte im darauffolgenden Jahr eine Neuausgabe.25 Für den englischen Markt war bereits 1831 eine Edition bei Novello in London erschienen, wo 50 Jahre später auch der PartiturErstdruck zur Veröffentlichung gelangte.26 Offenbar hat Spohr aber auch in den 1830er-Jahren weiterhin Abschriften seines Oratoriums nach England geschickt. Eine entsprechende Preisanfrage des Londoner Buchhändlers Boony wurde von ihm wie folgt beantwortet: „Wenn sie 3 oder 4 Abschriften zugleich nehmen, so soll jede inclusive des Honorars 5 Pfund kosten.“27 In pekuniärer Hinsicht war die Publikation von Die letzten Dinge für Spohr also – um dieses Fallbeispiel kurz zu bilanzieren – ausgesprochen erfolgreich, da er gewissermaßen doppelt bzw. dreifach kassiert hat. Die Veröffentlichung von Parallelausgaben in verschiedenen europäischen Ländern war im 19. Jahrhundert freilich aufgrund des sogenannten geteilten – d. h. räumlich aufgespaltenen – Verlagsrechts gang und gäbe. Der jeweilige in- und ausländische Verleger erlangte die Befugnis zur Herstellung und Verbreitung des erworbenen Werkes nur innerhalb des zugewiesenen Verlagsgebietes. Besonders gewinnbringend war dies natürlich v. a. für international gefeierte Komponisten wie Fr¦d¦ric Chopin oder Felix Mendelssohn Bartholdy. Mendelssohns Paulus op. 36 beispielsweise erschien zu Lebzeiten des Komponisten in mehreren deutschen, englischen, französischen und italienischen Ausgaben.28 Nicht zuletzt in philologischer Hinsicht stellen die hier angesprochenen Parallelausgaben ein interessantes Phänomen dar. Als Edward Taylor etwa im Jahr 1836 den Klavierauszug zu Spohrs Des Heilands letzte Stunden WoO 62 für England vorbereitete, wies ihn der Komponist an, mehrere Änderungen bzw. Korrekturen gegenüber der ein Jahr zuvor im Selbstverlag erschienenen deutschen Ausgabe vorzunehmen. Konkret äußert sich Spohr in 25 Die Ausgabe erschien mit deutschem und englischem Text. Vgl. dazu die Briefe Louis Spohrs an den Verlag vom 9. März 1836 und 29. April 1836, in: D-BNba, NE 241, 37 und 38. Zusätzlich zum Klavierauszug wurden hier auch die Vokalstimmen veröffentlicht. 26 Der Erstdruck der Orchesterstimmen erschien bei Novello im Jahr 1858. Vgl. zur Publikationsgeschichte und Quellenlage auch Louis Spohr, Die letzten Dinge, hrsg. von Irene Schallhorn und Dieter Zeh, Stuttgart 2008, S. 264. 27 Eigenhändige Bemerkung Spohrs unter einem von fremder Hand geschriebenen Brief, 14. Dezember 1833, zitiert nach Sammlung des schwedischen Konsuls Oskar Planer sowie einige Beiträge aus anderem Besitz […], Hellmut Meyer & Ernst, Autographenhandlung und Antiquariat Berlin / Antiquariat Adolf Weigel Leipzig, Berlin u. a. 1932, S. 100. Auf diesen Antiquariatskatalog bin ich freundlicherweise durch Dr. Karl Traugott Goldbach (Kassel) aufmerksam gemacht worden. 28 Bei dem italienischen – im Jahr 1844 durch den Typographen Martelli in Rom gedruckten – Klavierauszug handelt es sich jedoch um eine nicht von Mendelssohn autorisierte Ausgabe. Der Initiator und zugleich Übersetzer dieser Edition, der Marchese Domenico Capranica, hatte Mendelssohn im Vorfeld nicht kontaktiert, dem Komponisten später aber immerhin ein Freiexemplar der illegalen Ausgabe zukommen lassen. Vgl. dazu Pietro Zappal, „Felix Mendelssohn Bartholdys Beziehungen zu italienischen Verlegern“, in: Mendelssohn Studien 16 (2009), S. 187 – 210.
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einem Brief an Taylor vom 22. April 1836 über Textpassagen in der Partie des Evangelisten Johannes sowie über Stichfehler, die er in seiner Ausgabe zu verbessern bittet.29 Ein Vergleich dieser Ausgaben dürfte auch deshalb lohnend sein, weil die Übersetzungen bzw. Textunterlegungen punktuelle Eingriffe in die musikalische Faktur nach sich gezogen haben müssen. Silbenüberschüsse etwa führen häufig zur Teilung von Notenwerten, aber auch an Vokalverschleifungen u. Ä. wäre in diesem Zusammenhang zu denken.
2.
Louis Spohr, Der Fall Babylons WoO 63
Als zweites Fallbeispiel sei im Folgenden die Publikationsgeschichte von Spohrs Oratorium Der Fall Babylons WoO 63 etwas genauer betrachtet. Selbige beginnt im Januar des Jahres 1840, als der Komponist zunächst bei Simrock in Bonn anfragte, ob Interesse bestünde, das für das Musikfest in Norwich komponierte Werk zu verlegen. Spohr beabsichtigte, den Klavierauszug noch im Herbst des besagten Jahres erscheinen zu lassen, damit „die Gesang-Vereine es im nächsten Winter einüben und bey Aufführungen und Musikfesten bis Sommer 1841 aufführen können.“30 Dies relativierte er jedoch später, indem er darauf hinwies, dass das Oratorium mit Genehmigung des Festkomitees vor der Aufführung in Norwich nur einmal, nämlich am Karfreitag des Jahres 1841 in Kassel erklingen dürfe.31 Eine Publikation im Vorfeld der Aufführung in Norwich sei nicht ge29 Louis Spohr an Edward Taylor, Brief vom 22. April 1836, in: D-Kl, 48 Ms. hist. litt. 15[195. An Taylor leitete Spohr in den folgenden Jahren auch Notenbestellungen – etwa des Hamburger Musikverlegers Niemeyer – zu diesem Oratorium weiter. Vgl. Louis Spohr an Edward Taylor, Brief vom 30. August 1840, in: D-Kl, 48 Ms. hist. litt. 15[195. Taylor hat vereinzelt auch die Metronomangaben in seiner Ausgabe geändert. 30 Louis Spohr an Peter Joseph Simrock, Brief vom 4. Januar 1840, in: D-BNba, NE 241, 54. 31 Eine interne Werkaufführung fand bereits am 22. November 1840 mit dem Cäcilienverein statt. Vgl. dazu Göthel, Thematisch-Bibliograhisches Verzeichnis, S. 417. Über die Aufführung am Karfreitag des Jahres 1841 äußerte sich Spohr gegenüber Edward Taylor sehr positiv : „Die Beantwortung Ihres lieben Briefes vom 9. Februar habe ich absichtlich bis jetzt verschoben, um erst die Aufführung unseres Oratoriums vorher erlebt zu haben. Diese hat nun in voriger Woche am Charfreitag stattgefunden und die Theilnahme, die sich bey unserem musikalischen Publikum fand, hat meine kühnsten Erwartungen überschritten.“ Louis Spohr an Edward Taylor, Brief vom 13. April 1841, in: D-Kl, 48 Ms. hist. litt. 15[195. Zu dieser Aufführung siehe auch die Berichterstattung in der AmZ 43 (1841), Sp. 615. Offenbar hatte man ursprünglich auch an eine Pfingstaufführung gedacht, zu der es aber nicht kam. In der Neuen Zeitschrift für Musik hieß es dazu: „Gleich bei unserer Ankunft (am ersten Pfingstfeiertage d. J.) fanden wir uns in der Hoffnung, Spohr’s neues Oratorium: ,Der Fall Babylons‘ und ihn selber zu hören, unangenehm getäuscht. Die sonst immer an dem erwähnten Tage üblich gewesene und stattgehabte musikalische Akademie (Concert spirituel) unterblieb diesmal – wie es hieß: in Folge geistlicher Einmischung und einer gewissen Höchsten Mißlaune.“ „Ein Monat in Cassel. Spohr’s Oratorium: Babylons Fall“, in: Neuen Zeitschrift für Musik 15 (1841), S. 54.
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stattet.32 Seine Honorarforderung in Höhe von 600 Talern für den Klavierauszug, die Gesangsstimmen und die Partitur teilte er Simrock mit Schreiben vom 2. Oktober 1841 mit. Dem Brief ist darüber hinaus zu entnehmen, dass Spohr auf den Stich der Partitur nicht zwingend bestand; der Vertrieb von Abschriften erschien ihm offenbar ebenfalls akzeptabel: „Sollten Sie aber der Ansicht seyn, daß die Kosten des Partiturstichs durch den Verkauf desselben nicht zu decken sey, so gebe ich den Wunsch, die Partitur gestochen zu sehen, auf und wünsche dann zu wissen, ob Sie das Eigenthumsrecht der Partitur, zu Verkauf in Abschriften, zu erwerben wünschen oder ob mir der Verkauf derselben verbleiben soll. Das Honorar würde im letztern Fall das oben geforderte seyn und ich glaube damit eine billige Forderung zu stellen, da ich bey der Herausgabe meiner beiden andern Oratorien mit jedem, nach Abzug aller Kosten, mehr wie das Doppelte verdient habe.“33
Pikant ist freilich, dass Spohr vor dieser Offerte auch mit dem Leipziger Verlag Breitkopf & Härtel in Verhandlungen getreten war. In dem Traditionshaus war im Jahr 1803 bereits Spohrs op. 1, das A-Dur-Violinkonzert erschienen (diese Veröffentlichung musste jedoch noch vom Komponisten selbst finanziert werden).34 Danach riss die Verbindung abrupt ab. Erst mit dem E-Dur-Concertino für Violine op. 92 fand im Jahr 1837 wieder ein Werk Spohrs bei Breitkopf & Härtel seine Drucklegung.35 Das erwähnte Angebot von Der Fall Babylons datiert auf den 5. August 1841. Der Stich der Partitur wird in dem Brief wohlgemerkt noch zur „obersten Bedingung“ gemacht, was die Leipziger Verleger in Ihrem Antwortschreiben auch als „vollkommen sachgemäß“ bezeichnen. Gleichwohl weisen sie darauf hin, dass die Kauffreude des Publikums bei „Oratorien-Partituren in keinem Verhältniße zu den bedeutenden Herstellungskosten“ stehen würde. Daher appellierten sie an Spohr, dass er bei der „Feststellung des Honorars“ auf diesen Sachverhalt Rücksicht nehmen werde. Hier nun wird ein 32 33 34 35
Louis Spohr an Peter Joseph Simrock, Brief vom 26. Januar 1841, in: D-BNba, NE 241, 56. Louis Spohr an Peter Joseph Simrock, Brief vom 2. Oktober 1841, in: D-BNba, NE 241, 57. Vgl. dazu Göthel, Thematisch-Bibliograhisches Verzeichnis, S. 7. Ebd., S. 157. Offenbar haben sich nur recht wenige Briefe des Komponisten an das Leipziger Verlagshaus erhalten. Laut freundlicher Mitteilung von Dr. Karl Traugott Goldbach (Kassel) stellt sich die Überlieferung wie folgt dar : Louis Spohr an Breitkopf & Härtel, Brief vom 7. Juli 1803, in: Paris, BibliothÀque nationale de France (F-Pn), FRBNF39827730; Brief vom 2. August 1803, in: Staatsbibliothek zu Berlin, Musikabteilung mit Mendelssohn-Archiv (DB), Mus. Slg. Härtel 331; Brief vom 24. Februar 1807, in: D-B, Mus. Slg. Härtel 332; Brief vom 23. Juli 1836, Verbleib unbekannt (Privatbesitz); Brief vom 9. August 1836, in: New Haven, Yale University (US-NH); Brief vom 7. September 1836, in: D-Kl; Brief vom 1. Dezember 1836, in: D-Kl; Brief vom 6. Dezember 1836, in: Kassel, Spohr Museum (D-Ksp); Brief vom 14. Dezember 1836, in: Musik- och teaterbiblioteket, Stockholm / The Music and Theatre Library of Sweden (S-Skma). The Fryklund Collection of letters, Spohr, L.; Brief vom 16. April 1838, in: F-Pn, FRBNF39827732; Brief vom 22. November 1838, in: London, British Library (GB-Lbl), Add 33965 f321.
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immer wieder begegnendes Argument von Verlegern ausgesprochen, nämlich, dass sich der Verkauf von Oratorien-Partituren – im Unterschied zu Klavierauszügen – nicht rentieren würde. Mit Blick auf Spohrs Werk sehen die Verleger immerhin einen möglichen Ausweg: „Eine kleine Erleichterung dürfte hier eintreten, wenn unter die deutsche Partitur zugleich ein englischer Text gestochen würde, so daß die Ausgabe auch für England (wo der Stich der großen Partitur nicht möglich ist) brauchbar würde. So haben wir es auch bei den Mendelssohn’schen Psalmen und Lobgesang, in Uebereinstimmung mit dem englischen Verleger, gehalten.“36
Diese Möglichkeit diskutierte Spohr nun auch mit Edward Taylor, der für den englischen Klavierauszug verantwortlich zeichnete37 und – wie Spohr mit Bedauern feststellte – mit der „Rückübersetzung und Unterlegung des Textes“38, sehr viel Arbeit hatte.39 Im Kern schloss sich Spohr dabei Breitkopf & Härtels Argumentation an. Die doppelte Textunterlegung würde dem Absatz von Taylors Ausgabe gewiss nicht nachteilig sein: „Da Sie nur den Clavierauszug herausgeben und der Meinige keinen englischen Text enthalten wird, so würde dies dem Absatz Ihrer Ausgabe keinen Nachtheil bringen. Sind Sie damit einverstanden, so bitte ich um gefällige Mittheilung, des englischen Textes, damit ich ihn meiner Partitur unterlegen kann. Sollte dies an einigen Stellen besondere Schwierigkeit haben, so bitte ich die Noten beyzufügen, da der Text in meiner Partitur doch genau so unterlegt seyn muß wie in Ihrem Clavierauszug.“40 36 Breitkopf & Härtel an Louis Spohr, Brief vom 7. August 1841, in: Sächsisches Staatsarchiv. Staatsarchiv Leipzig (D-LEsta), Bestand Breitkopf & Härtel 21081. Kopierbuch Nr. 125. Auch die im Folgenden zitierten Briefe Breitkopf & Härtels an Louis Spohr werden gemäß der Überlieferung in den Kopierbüchern des Verlages wiedergegeben. Die 40 erhaltenen Originalbriefe (1830 – 1843) befinden sich in der Universitätsbibliothek Kassel. Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek, Ms. Hass. 287. 37 Bereits im März des Jahres 1840 schrieb Taylor an Spohr bezüglich der Publikation des Oratoriums: „Alles, was ich jetzt thun werde, ist, den Wunsch auszusprechen, Sie möchten für die Herausgabe desselben, sei es in Deutschland oder England, keine Anstalten treffen, ohne es mir vorher mitzutheilen. Mein Grund dafür ist, daß, würde es in Deutschland erscheinen, eine Abschrift dann nach England kommen und eine Uebersetzung desselben von irgendeiner unfähigen Person gemacht werden könnte, auf Speculation unserer Buchhändler, die sich nicht darum bekümmern wie ein Werk gethan wird, wenn es nur so schnell als möglich geschieht. Das beste Mittel, Ihr Werk gegen einen falschen Mißbrauch zu hüten, würde vielleicht dieses sein, mir zu erlauben, daß ich mit Ihnen des Verlagsrechtes wegen, in Unterhandlungen trete, worüber ich sehr glücklich sein würde.“ Edward Taylor an Louis Spohr, Brief vom 24. März 1840, in: D-Kl, 48 Ms. Hass. 287. Die Übertragung dieses Schreibens wurde mir dankenswerterweise durch Dr. Dominik Höink (Münster) zur Verfügung gestellt. 38 Louis Spohr an Edward Taylor, Brief vom 1. Oktober 1840, in: D-Kl, 48 Ms. hist. litt. 15[195. 39 Will heißen: Friedrich Oetkers deutsche Fassung seines englischen Originaltextes rückzuübersetzen, bereitete Taylor Schwierigkeiten. 40 Louis Spohr an Edward Taylor, Brief vom 19. August 1841, in: D-Kl, 48 Ms. hist. litt. 15[195.
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Seine konkrete Honorarforderung bezifferte der Komponist mit Schreiben vom 5. September 1841 an die Leipziger Verlagshandlung. Breitkopf & Härtel ließ sich bis Ende des Monats mit der Beantwortung Zeit und erteilte dem Komponisten dann eine Absage. Zwar unterstreichen die Verleger darin den „aufrichtigen Wunsch“, den Verlag des Oratoriums zu übernehmen, dies sei aber leider nicht mit den von Spohr „gestellten Bedingungen zu vereinigen“: „Solche Resultate gehen über diejenigen, welche wir Musikhändler, selbst in den allerglücklichsten Fällen, zu erzielen vermögen, so weit hinaus, daß wir schon im Voraus Bedenken tragen müssen, unsere Vermittlung in ähnlichen Fällen anzubieten. […] Es wird uns dieß [also der Verzicht auf das Oratorium] um so schwerer, als die Aussichten, bedeutende Werke von größerem Umfange für den Verlag zu gewinnen, jetzt im Allgemeinen so selten sind […].“41
Erst nach Eingang dieser Absage aus Leipzig hat Spohr Simrock das bereits erwähnte Angebot unterbreitet, aber auch dort eine negative Antwort erhalten. Spohr nahm daraufhin – zum Zeichen, dass er weiterhin verhandlungsbereit sei – erneut mit Breitkopf & Härtel Kontakt auf.42 Der Verlag reagierte nun prompt, zeigte sich freudig überrascht und schlug eine Vergütung in Höhe von 400 Talern vor.43 Das gegenüber der ursprünglichen Forderung um 200 Taler niedriger bemessene Honorar wurde vom Komponist nunmehr akzeptiert. Trotz aller merkantilen Erwägungen teilten die Verleger Spohrs Ansicht, dass nur ein Partiturstich der „Würde eines solchen Werkes allein ganz angemessen“ sei. Dabei spielten gewiss auch Prestigegründe eine Rolle. Jedenfalls erklärten die Verleger, dass sie nicht gern die Frage an sich „richten lassen möchten, warum die Partitur ungedruckt geblieben sey.“44 Dass Edward Taylor Spohr dahingehend beraten hatte, den englischen Text in der deutschen Ausgabe wegzulassen – möglicherweise befürchtete er eben doch, dass dies den Absatz seiner Ausgabe gefährden könnte –, bedauerten sie, da „bei Oratorien, welche in England zur Aufführung kommen der Absatz der Partitur dorthin verhältnißmäßig nicht unbedeutend zu seyn pflegt, wie namentlich Mendelssohn’s Werke dieser Gattung zeigen.“45 Ungeachtet dieser Erfahrungswerte der Verleger, folgte Spohr letztlich dem Rat Taylors: „Nachdem, was Sie mir über den geringen Absatz der Partitur in England geschrieben haben und da ich gesehen habe, daß sich Ihre englischen Werke meiner Partitur ohne 41 Breitkopf & Härtel an Louis Spohr, Brief vom 27. September 1841, in: D-LEsta, Bestand Breitkopf & Härtel 21081. Kopierbuch Nr. 125. 42 Der Brief datiert laut Antwortschreiben auf den 23. September 1841. 43 Vgl. Breitkopf & Härtel an Louis Spohr, Brief vom 26. Oktober 1841, in: D-LEsta, Bestand Breitkopf & Härtel 21081. Kopierbuch Nr. 125. 44 Ebd. 45 Breitkopf & Härtel an Louis Spohr, Brief vom 8. November 1841, in: D-LEsta, Bestand Breitkopf & Härtel 21081. Kopierbuch Nr. 125.
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ziemlich viele Veränderungen der Noten, nicht unterlegen lassen, bin ich mit den Verlegern meiner Ausgabe überein gekommen, daß nicht nur der Clavierauszug, sondern auch die Partitur lediglich mit deutschen Worten erscheinen soll.“46
Spohr führt in diesem Brief nochmals aus, welch „bedeutendes Opfer“ er für den Partiturstich seines Oratoriums, das er gegenüber Taylor als sein „bestes Werk“ bezeichnete, erbringen musste. Er habe sich mit einem „verhältnismäßig kleinen Honorar“ begnügt, da die Verleger „durch den Verkauf der Partitur, auch in Deutschland nicht so viel gewinnen“ könnten. Hätte er das Oratorium wieder im Selbstverlag herausgebracht, wäre der Gewinn – so Spohr nicht ohne Stolz – entschieden höher gewesen, doch habe ihn die „ungeheure Arbeit“ davor abgeschreckt.47 Diverse Aspekte eines Publikationsvorgangs (vom Erstellen der Korrekturabzüge bis hin zur Honorarauszahlung48) lassen sich der unveröffentlichten Verlagskorrespondenz mit Breitkopf & Härtel aus dem Jahr 1842 entnehmen. Für unsere Fragestellung ist v. a. von Belang, dass der Komponist mit Taylor und dem Leipziger Verlag die Vereinbarung getroffen hatte, dass der deutsche und der englische Klavierauszug am gleichen Tag erscheinen sollten.49 Bei Breitkopf & Härtel arbeitete man deshalb offenbar auf Hochtouren: 46 Louis Spohr an Edward Taylor, Brief vom 12. Dezember 1841, in: D-Kl, 48 Ms. hist. litt. 15 [195. Taylor bekräftigte Spohr in dieser Entscheidung einige Tage später nochmals, indem er argumentierte: „I think your publisher was right not to add the English words, as it would have caused much trouble & expence & some confusion in the notes, for which I am sure the sale in England would not recompense him. He will sell as many copies here without the English words as with them, because the full Score will be purchase by those who want the Instrumental parts. I think you will find that in the Recitatives alone, is the arrangement of the notes altered: as I have been very anxious to preserve every other note (both in the Airs & Chorusses) exactly as you wrote it.“ Edward Taylor an Louis Spohr, Brief vom 24. Dezember 1841, in: D-Kl, 48 Ms. Hass. 287. Die Transkription dieses Briefes wurde mir freundlicherweise durch Dr. Dominik Höink (Münster) zur Verfügung gestellt. Siehe in der Sache bereits Taylors Brief an Spohr vom 23. September 1841. 47 Ebd. 48 Vgl. dazu Breitkopf & Härtel an Louis Spohr, Brief vom 17. Mai 1842, in: D-LEsta, Bestand Breitkopf & Härtel 21081. Kopierbuch Nr. 126. Auch die autographe Partitur des Oratoriums hat sich im Verlagsarchiv erhalten: D-LEsta, Bestand Breitkopf & Härtel 21081. Sig. 6719 und 6720. Ferner findet sich unter Sig. 1650 eine autographe Reinschrift des Klavierauszugs von Des Heilands letzte Stunden. 49 Vgl. Louis Spohr an Edward Taylor, Brief vom 11. September 1842, in: D-Kl, 48 Ms. hist. litt. 15[195. Schon im August des Jahres 1841 schrieb Taylor diesbezüglich an Spohr : „Erschiene die deutsche Abschrift vor der englischen so würden sehr wahrscheinlich unsere Buchhändler sie in Bruchstücke zerschneiden […]“. In einem Brief an Spohr vom 23. August 1842 heißt es: „I should not have written again so soon but for a conversation I have just had with M. Cocks, a large Music importer & publisher here. He tells me that, in order to secure the copyright of your Oratorio to your publisher at Vienna (whom I presume to be Haslinger) I must take care not to publish the English edition before the German one, & that the best & safest way to prevent any piracy, or any improper use being made of your work, is to publish at Vienna & London on the same day. Acting upon this advice, I have requested Cocks, (who was writing to Vienna) to say that I should publish the English edition on the 12th Sept. that is
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„Es arbeiten unausgesetzt vier Stecher an Ihrem Werk, so daß wir hoffen dürfen, das Ganze bis zum Anfang der musikalischen Wintersaison fertig zu machen, zu welcher Zeit ja Ihren früheren Äußerungen nach, auch die Publication statthaft werden wird.“50
Mit Schreiben vom 27. September 1842 teilte man Spohr schließlich mit, dass der Klavierauszug und die Singstimmen soeben fertiggestellt seien. Die Arbeit an der umfangreichen Partitur war erst im Sommer des darauffolgenden Jahres51 abgeschlossen.52 Laut Titelblatt wurde der Klavierauszug für 6 Taler und 15 Neugroschen, die Partitur für 15, die Orchesterstimmen für 12 und die Singstimmen für 5 Taler angeboten.53 Da Spohr – wie wir festgestellt haben – kaum eine Gelegenheit ausgelassen hatte, auf den sehr guten Absatz seiner beiden zuvor im Selbstverlag veröffentlichten Oratorien hinzuweisen, ist folgende Anfrage der Verleger, in der diese um die Subskribentenlisten von Des Heilands letzte Stunden zwecks direkter Kontaktaufnahme mit potentiellen Käufern bitten, aus kaufmännischer Sicht durchaus nachvollziehbar : „Hierzu würde es uns; so wie für die Verbreitung des Werkes überhaupt sehr nur vortheilhaft sein, wenn wir eine directe Empfehlung durch gedruckte Circulation an einzelne sich dafür interessierende Personen bringen könnten, und wir erlauben uns daher anzufragen, ob Sie wohl noch die Liste Ihrer Subscribenten und sonstigen Abnehmer für Ihr Werk ,Des Heilands letzte Stunden‘ besitzen und uns gütigst Einsicht darin gestatten wollen.“54
Um den Verkauf darüber hinaus zu befördern, ließ man sich über Edward Taylor sodann diverse englische Pressestimmen über die triumphale Aufführung des
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the first day of the Festival week. I hope this will meet your & your publisher’s wishes on the subject, as I understood from one of your former letters that the Festival week was to be the time of publication; but I was not aware, till now, that it was desireable to publish on the same day. Will you have the kindness to inform your publisher ; & if he wihes to fix any other day (either earlier or later) I will conform to it. My edition is printed, but no published. The only copy at present completed will, I hope, be delivered to you by my eldest Brother, if you have not already received it from him.“ D-Kl, 48 Ms. Hass. 287. Auch die Übertragung dieses Schreibens wurde mir dankenswerterweise durch Dr. Dominik Höink (Münster) zur Verfügung gestellt. Breitkopf & Härtel an Louis Spohr, Brief vom 21. April 1842, in: D-LEsta, Bestand Breitkopf & Härtel 21081. Kopierbuch Nr. 126. Vgl. Breitkopf & Härtel an Louis Spohr, Brief vom 20. Juli 1843, in: D-LEsta, Bestand Breitkopf & Härtel 21081. Kopierbuch Nr. 126. „An der Partitur arbeiten fortwährend drei unserer besten Stecher, wir hoffen damit im Januar zu Stande zu kommen, sie wird 350 – 370 Platten stark werden und in ihrer Ausstattung der neuen Ausgabe unserer Don-Juan-Partitur gleichstehen.“ Breitkopf & Härtel an Louis Spohr, Brief vom 27. September 1842, in: D-LEsta, Bestand Breitkopf & Härtel 21081. Kopierbuch Nr. 126. Siehe dazu auch folgende Verlagsanzeigen: AmZ 44 (1842), Sp. 768 und AmZ 45 (1843), Sp. 536. Breitkopf & Härtel an Louis Spohr, Brief vom 27. September 1842, in: D-LEsta, Bestand Breitkopf & Härtel 21081. Kopierbuch Nr. 126.
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Oratoriums in Norwich, an der Spohr bekanntlich aufgrund der Verweigerung des Kurprinzen Friedrich Wilhelm von Hessen nicht teilnehmen durfte, zukommen. Die Berichte habe man „einer vertrauten Hand übergeben und von diesem bereits einen Aufsatz für unsere Zeitung erhalten, die Ihnen wohl gefallen wird. Sobald er abgedruckt ist, werden wir uns erlauben Ihnen einige Exemplare davon zu senden.“55 An diesem Beispiel wird einmal mehr deutlich, in welchem Maße Breitkopf & Härtel mitunter seine eigenen Interessen in die Berichterstattung der im Verlag erschienenen, vielbeachteten Allgemeinen musikalischen Zeitung einfließen ließ – ein Umstand, dem zumal in rezeptionsgeschichtlichen Untersuchungen meines Erachtens nach viel zu wenig Beachtung geschenkt wird. Dem Verlag eröffnete sich hier nämlich die Möglichkeit – etwa im Rahmen von Novitäten-Anzeigen, mehr noch aber bei Werk- und Konzertbesprechungen –, hauseigene Werke (darunter eben auch Oratorien) gezielt zu propagieren. Spohr zeigte sich in mehreren Briefen an Taylor übrigens gerührt von der glänzenden Aufnahme seines Oratoriums in England, insbesondere der wiederholte Vergleich mit Georg Friedrich Händel ehrte ihn. Spohr lobte „bey diesen Beurtheilungen“ v. a. das „detaillierte Eingehen in die Intentionen der Komposition. […] Mit einem Wort, ich bin recht glücklich über den Erfolg, den das Werk in England gefunden hat und kann nur wünschen, daß es sich in Deutschland eines gleichen zu erfreuen haben möge!“56 Tatsächlich war die publizistische Aufnahme von Spohrs Oratorium nicht nur in England, sondern auch in Deutschland zunächst weithin positiv. Der eben erwähnte – von der Verlagsleitung in Auftrag gegebene – Bericht in der AmZ hob das neue Oratorium gar mit großer Emphase in den Rang eines „Meisterwerks“: „[…] Soll ich Ihnen endlich über das Werk selbst meine eigene Meinung sagen, so kann ich mit der herzlichsten Freude in den allgemeinen und ausserordentlichen Beifall, welcher darüber von einem Ende Englands bis zum andern tönt und in welchem die Journale aller Farben sich überbieten, nur einstimmen. […] Und nun denken Sie sich noch dieses Ganze getragen durch den Zauber einer schwärmerischen, aus dem tiefsten Gemüthsleben hervordringenden Musik, einer Musik, welche, trotz der glanzvollsten und zugleich sinnigsten Instrumentation, so wie des reichsten Wechsels der Harmonien, dennoch den Charakter des Kirchlichen niemals verläugnet, vielmehr, wie die Dome der romantischen Vergangenheit, in ihrem sinnigen Verschlingen sich immer nur nach Oben baut und nach dem ewigen Jenseits deutet – alles das fassen Sie in eines 55 Breitkopf & Härtel an Louis Spohr, Brief vom 10. Oktober 1842, in: D-LEsta, Bestand Breitkopf & Härtel 21081. Kopierbuch Nr. 126. Spohr hatte Taylor zunächst persönlich gebeten, einen Bericht zu verfassen: „Auch wünschte ich sehr, daß Sie einen Bericht für eine unserer deutschen Musikalischen Zeitungen einsenden mögten, woraus unser deutsches Publikum erführe, warum ich dem Fest nicht beywohnet und das für dasselbe geschriebene Oratorium nicht selbst dirigiert habe.“ Louis Spohr an Edward Taylor, Brief vom 11. September 1842, in: D-Kl, 48 Ms. hist. litt. 15[195. 56 Louis Spohr an Edward Taylor, Brief vom 2. Dezember 1842, in: D-Kl, 48 Ms. hist. litt. 15[195.
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zusammen, und Sie werden gewiss die Bewunderung ermessen können, zu der dieses Meisterwerk, wie ohne Ausnahme fast Alle, so auch mich hinriss, und zu der ich noch jetzt, nachdem ich den ersten Eindruck in mir absichtlich habe verdrängen lassen, als Wirkung der wahren Schönheit dieses Werkes mich freudig bekenne.“57
Der hier angeschlagene schwelgerische Ton wird auch in einer weiteren, kurz darauf in der AmZ veröffentlichten Rezension der Novität wieder aufgegriffen.58 In der Neuen Zeitschrift für Musik wurde das Werk ebenfalls eingehend besprochen, wobei es dem Rezensenten erwähnenswert erschien, dass „Druck und Ausstattung […] des Werkes würdig“ seien.59 So viel zum wohlwollenden zeitgenössischen Pressecho. Ob der Absatz von der Fall Babylons für Breitkopf & Härtel indes befriedigend war, darf bezweifelt werden. Im Zuge von Verhandlungen mit Adolph Bernhard Marx im April 1845 über die Drucklegung von dessen Oratorium Mose ging die Verlagshandlung am Rande nämlich in einer Weise auf Spohrs Oratorium ein, die darauf schließen lässt, dass die Verkaufszahlen nicht zu ihrer Zufriedenheit ausfielen bzw. dass es gar zu finanziellen Einbußen kam. Auf den Druck der Orchesterstimmen hätten sie demzufolge jedenfalls lieber verzichtet: „[…] Indem wir Ihnen zu dem Beschluß einer großen Aufführung des Mose in Berlin unseren Glückwunsch bringen, glauben wir doch auf den Druck der Orchesterstimmen des Werkes verzichten zu müssen. In der That ist es allzu schwer, auch bei einem Werke, welches vielfach aufgeführt wird, diese Stimmen ohne Nachtheil zu verlegen, da der Bedarf zu unbedeutend ist. Während die Chorstimmen bei einer solchen Aufführung, wie Sie dieselbe beabsichtigen, vielleicht in 30, 40 und mehreren Exemplaren gebraucht werden, sind, selbst bei 30 Geigen, immer nur 10 – 15 Stimmen für dieses Instrument und für die anderen Instrumente natürlich noch viel weniger erforderlich. Es muß daher weit kommen, bis der Verleger für sich die Stich- und Druckkosten decken kann, wozu in der Regel 80 – 100 Exemplare gehören. Auch haben wir es schwer genug bereut, bei Spohrs Fall Babylon’s nicht vorsichtiger, oder richtiger! nicht standhafter gewesen zu seyn. […]“60
57 „Musikfest in Norvich. Erste Aufführung von Spohr’s neuestem Oratorium Babylons Fall“, in: AmZ 44 (1842), Sp. 862. 58 „Recensionen. Louis Spohr : Der Fall Babylons […]“, in: AmZ 44 (1842), Sp. 1043 – 1047. 59 J. B: „Neue Oratorien. Der Fall Babylons nach dem Englischen des Prof. Taylor von Fr. Oetker, componirt von Louis Spohr“, in: Neue Zeitschrift für Musik 17 (1842), S. 138. 60 Breitkopf & Härtel an Adolph Bernhard Marx, Brief vom 18. April 1845, in: D-LEsta, Bestand Breitkopf & Härtel 21081. Kopierbuch Nr. 128. Zur Publikationsgeschichte von Marx’ Moses-Oratorium siehe in jenem Bestand die Verlagsschreiben an den Komponisten und Theoretiker vom 9. Dezember 1843, 2. Januar 1844, 20. Februar 1844, 5. März 1844, 14. März 1844, 20. Mai 1844, 3. Juni 1844, 10. April 1845, 10. Mai 1845 und 15. August 1845. Marx, u. a. Verfasser einer 4bändigen, in mehreren Auflagen bei Breitkopf & Härtel erschienenen Kompositionslehre, beabsichtigte zunächst seinem Werk ein erläuterndes Vorwort voranzustellen. Der Verlag riet ihm davon jedoch mit Schreiben vom 20. Februar 1844 entschieden ab: „[…] Nun erlauben Sie uns noch ein Wort über die ,Vorrede‘. Es kommt uns, Ihren
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* Editionsprojekte wurden im 19. Jahrhundert wie auch heute von Verlagen in der Regel genau kalkuliert. Entsprechende Berechnungen stehen in unmittelbarem Zusammenhang mit Fragen der Preisgestaltung, der Auflagenhöhe und Ausstattung einer Edition.61 Dass sich die Veröffentlichung von Oratorien-Partituren und Orchesterstimmen nicht lohnen würde, ist in Verhandlungen mit Komponisten allerdings derart gebetsmühlenartig angeführt worden, dass man hier und da durchaus verlegerisches Taktieren argwöhnen kann. Der entsprechende Verweis auf die geringe Gewinnspanne sollte wohl allzu hohen Honorarforderungen vorbeugen. Generalisierend lässt sich dies natürlich nicht behaupten. Der Verlauf von Verlagsgeschäften war naturgemäß nämlich sehr vom jeweiligen Status des Komponisten abhängig. Als Mendelssohn etwa im Jahr 1836 sein Paulus-Oratorium bei Simrock veröffentlichte, überließ es der Verleger dem Komponisten, das Honorar festzusetzen. Mendelssohn hielt 60 Louis’dor für angemessen.62 Als im gleichen Jahr Heinrich Elkamp Breitkopf & Härtel hingegen die Partitur seines Paulus-Oratoriums zur Drucklegung anbot, lehnten die Verleger mit der bekannten Begründung ab, dass „die geringe Theilnahme, welche größere Werke dieser Art […] beim Publikum finden“, sie aus kommerziellen Erwägungen zum Verzicht zwinge.63 Auch eine wenige Tage später eingegangene neuerliche Anfrage des Hamburger Komponisten wurde zunächst abschlägig beschieden, da eine „Deckung der Druckkosten“64 nicht abzusehen
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Verlegern, freilich eigentlich nicht zu, über dergleichen mit Ihnen zu rechten, und wenn Sie wiederholen: Die Vorrede soll vorgedruckt werden, so versteht es sich von selbst, daß es geschieht. Aber wir können Ihnen nicht verhehlen, daß wir fürchten, diese Vorrede werde keinen guten Eindruck machen. Kunstwerke sollen selber für sich sprechen, das verlangt man ja schon allgemein. Nun finden Sie besondere Veranlassung, Ihr Werk, als ein neues, mit einer Erläuterung zu versehen. Sollte das aber nicht Ihren Gegnern eine erwünschte Gelegenheit bieten, sich an Ihnen zu reiben? Werden Sie nicht sagen, daß Sie das nöthig haben, was Andere nicht bedürfen, daß Sie Mittel anwenden, welche Andere als überflüßig verschmähen? Denn: findet das was Sie über die Erfordernisse des Vortrages Ihres Werkes sagen, nicht bei jedem eigenthümlichen Werk statt? […]“ Zur vernichtenden Besprechung des Werkes in der Neuen Zeitschrift für Musik 21 (1844), S. 2 f. vgl. Michael Zywietz, Adolf Bernhard Marx und das Oratorium in Berlin (= Schriften zur Musikwissenschaft aus Münster, 9), Eisenach 1996, S. 238 f. Vgl. dazu ausführlich Beer, Musik zwischen Komponist, Verlag und Publikum, S. 280 – 297. Vgl. Felix Mendelssohn Bartholdy an den Verlag N. Simrock in Bonn, Brief vom 30. Januar 1836, in: Felix Mendelssohn Bartholdy, Sämtliche Briefe Bd. 4 (August 1834 bis Juni 1836), hrsg. von Lucian Schiwietz und Sebastian Schmideler, Kassel 2011, S. 383 f. Breitkopf & Härtel an Heinrich Elkamp, Brief vom 25. April 1836, in: D-LEsta, Bestand Breitkopf & Härtel 21081. Kopierbuch Nr. 119. Brief Breitkopf & Härtel an Heinrich Elkamp, Leipzig, 3. Mai 1836, in: D-LEsta, Bestand Breitkopf & Härtel 21081. Kopierbuch Nr. 119.
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sei. Später entschied man sich dann immerhin zu einer Veröffentlichung des Klavierauszuges65, für die Elkamp jedoch kein Honorar erhielt – was keineswegs unüblich war. Oftmals mussten sich die Komponisten gar in Form von Druckkostenzuschüssen an den Herstellungskosten beteiligen. Aus Prestigegründen – nämlich um das eigene Werk in einem namhaften Verlag angeboten zu wissen – akzeptierten sie diese Geschäftspraxis. Die Vorschüsse ließen sich übrigens – je nach vertraglicher Regelung – durch Verkaufserlöse wieder amortisieren.66 Doch zurück zum vermeintlichen Absatzproblem: Tatsächlich dürften hohe Auflagen von Oratorien-Partituren nur schwer abzusetzen gewesen sein. Für den häuslichen Musizierbedarf war der Klavierauszug zentral, Chormitglieder benötigten v. a. Stimmenmaterial. Insbesondere von Musikvereinen, Singakademien und anderen Pflegestätten des Oratoriums wurden jedoch auch Partituren angeschafft. Wie diversen Subskriptionslisten zu entnehmen ist, stellten Musikdirektoren, Dirigenten, Kapellmeister, Kantoren und Musiklehrer die wichtigste Käuferschicht dar.67 Bei Proben und Aufführungen musste aber nicht zwangsläufig eine Partitur zum Einsatz kommen. Im Hinblick auf Der Fall Babylons fragte Spohr bei Taylor beispielsweise an, ob er für die Probenarbeit eine abschriftliche Partitur benötige, oder aber aus dem Klavierauszug dirigieren wolle.68 Auch wenn Breitkopf & Härtel im oben zitierten Brief an Marx argumentiert, dass sich der Absatz selbst bei vielfach aufgeführten Werken schwierig gestalte, muss die Quantität der Aufführungen (und zwar an unterschiedlichen Orten bzw. durch unterschiedliche Ausführende) ein entscheidender Faktor gewesen sein. Darum wies der Verlag, dem die Notwendigkeit werbender Maßnahmen natürlich vollends bewusst war, in späteren Jahren (d. h. ab 1876) in den verlagseigenen „Mittheilungen“ gern darauf hin, dass Kirchenoratorien „sowohl für Kirchen- wie für Koncertgebrauch“ geeignet seien.69 Durch Auflistungen bereits erfolgter Konzerte sowie durch Wiedergabe besonders positiver Pressestimmen wollte man möglichst viele Musikvereinigungen
65 In einer Besprechung desselben in der AmZ ließ man „beiläufig“ einfließen, dass von der Verlagshandlung auch die Partitur (wohl in Abschrift) bezogen werden könne. Vgl. „Paulus, Oratorium in zwei Theilen, in Musik ges. von Heinrich Elkamp“, in: AmZ 39 (1837), Sp. 537. 66 Vgl. zu diesem Prozedere Stefan Keym, „,Für den Verleger gerade die misslichste Gattung‘? Zum Symphonik-Repertoire der Leipziger Musikverlage und seiner Re-Internationalisierung im ,langen‘ 19. Jahrhundert“, in: Das Leipziger Musikverlagswesen. Innerstädtische Netzwerke und internationale Ausstrahlung, Symposiumsbericht Leipzig 20.–22. Juni 2013, hrsg. von Stefan Keym und Peter Schmitz [i. Vorb.]. 67 Siehe beispielhaft das Subsribentenverzeichnis zu Friedrich Schneiders Oratorium Das Weltgericht (1821). 68 Vgl. Louis Spohr an Edward Taylor, Brief vom 13. April 1841, in: D-Kl, 48 Ms. hist. litt. 15 [195. 69 Anzeige von Albert Beckers Kirchenoratorium Selig aus Gnade op. 61, in: Mittheilungen von Breitkopf & Härtel Nr. 30 (März 1891), S. 876.
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ansprechen und diese ebenfalls zu Aufführungen der angepriesenen Werke bewegen.70 Es wäre vermessen, die aufgeworfene Frage nach der Rentabilität von Oratorien mit einem eindeutigen ,Ja‘ oder ,Nein‘ zu beantworten. Zu heterogen sind die einzelnen Publikationsgeschichten und zu lückenhaft überliefert sind wirklich aussagekräftige Quellen. Obschon die verlagsgeschichtliche Materialbasis zum 19. Jahrhundert keineswegs ungünstig ist – allein die Bestände Breitkopf & Härtels im Sächsischen Staatsarchiv Leipzig haben einen Umfang von 310 laufenden Metern –, sind Dokumente, welche Aufschluss über Gewinne und Verluste von speziellen Editionsprojekten geben, nur spärlich auf uns gekommen. Einige derartige Archivalien konnten im Zuge der Recherchen für diesen Beitrag jedoch eingesehen werden: So findet sich im Bestand C. F. Peters des Sächsischen Staatsarchivs Leipzigs ein Druckbuch über die Jahre 1831 bis 186771, das präzise Angaben über Auflagen- und Nachauflagenhöhen enthält sowie die Zeitpunkte des Einschmelzens einzelner Platten datieren lässt. Hinsichtlich der Werke Louis Spohrs im Verlagsprogramm von C. F. Peters können wir dem Buch somit genaue Verkaufszahlen entnehmen, also ersehen, welche Ausgaben besonders profitabel waren, bzw. welche Platten (wohl mangels Absatz) eingeschmolzen wurden.72 Bekanntlich sind bei C. F. Peters aber keine Oratorien des Komponisten druckgelegt worden, so dass sich für unseren gattungsgeschichtlichen Fokus auch keine neuen Erkenntnisse ergeben. Im Archivbestand von Breitkopf & Härtel haben sich indes interessante Listen mit Angaben zu Verlagskosten sowie Daten zum kalkulierten Umsatz einzelner Musikalien erhalten.73 Die uns hier besonders interessierenden Berechnungen zu Spohrs Der Fall Babylons sind zwar leider nicht überliefert, wohl aber die Kalkulationen anderer bei Breitkopf & Härtel erschienener Oratorien. Dem hier gezeigten Beispiel zu Robert Schumanns Oratorium Das Paradies und die Peri op. 50 sind – jedenfalls für die Mitte des 19. Jahrhunderts – durchaus repräsentative Auflagenzahlen zu entnehmen: Die Partitur erschien demnach in einer Auflage von 75 Stück, der Klavierauszug mit Text wurde 300 mal, der Klavierauszug ohne Worte 200 mal, die Solostimmen ebenfalls 200 mal gedruckt, die Auflagenhöhe der einzelnen Chorstimmen bewegt sich zwischen 70 Siehe etwa die Anzeige von Edgar Tinels Oratorium Franciscus op. 36, in: Mittheilungen von Breitkopf & Härtel Nr. 30 (März 1891), S. 877. 71 Druckbuch Lra A gehalten von Carl Gotthelf Siegm. Böhme unter der Fa. C. F. Peters in Leipzig, in: D-LEsta, Bestand C. F. Peters 21070, 5157. 72 Viel verkaufte Werke Spohrs waren demnach u. a. die Drei Duos für zwei Violinen op. 39 und op. 67, das Konzert für Violine „in Form einer Gesangszene“ op. 47 sowie die Ouverture zur Oper Faust op. 60. 73 D-LEsta, Bestand Breitkopf & Härtel 21081. Sig. 6465/1 und 6465/2.
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Abbildung 1: Kalkulationsliste zu Robert Schumanns Das Paradies und die Peri op. 50 (D-LEsta, Bestand Breitkopf & Härtel 21081. Sig. 6465, Bl. 143). Siehe zum Thema auch Bl. 144.
100 und 900. Es darf angenommen werden, dass der Markt damit weitestgehend gesättigt war. Breitkopf & Härtels Kalkulation sah gemäß der Tabelle wie folgt aus: Entsprechend der angesetzten Ladenpreise konnte der Gesamtumsatz maximal 4.600 Taler betragen. Davon waren die Produktionskosten in Höhe von 1.894 Talern sowie Schumanns Honorar in Höhe von 566,20 Talern74 abzuziehen. Der maximale Gewinn würde sich hier also auf 2.139,80 Taler belaufen haben. Üblicherweise musste der Verlag vom Gesamtumsatz (in den Listen meist als „Ordinair“ bezeichnet) aber noch 33 % Rabatt abziehen, „der dem Musikalienhandel eingeräumt wurde […], um eine Bindung des Ladenpreises und Einnahmen für den Sortimenter zu gewährleisten.“75 Im vorliegenden Fall würde sich die Summe demnach um weitere 1.533 Taler reduzieren; bliebe ein maximaler Gewinn für den Verlag in Höhe von 606,8 Talern – vergleichbar also in etwa der Höhe des Komponistenhonorars. Ein zweites Beispiel, Ludwig van Beethovens Oratorium Christus am Ölberg op. 85, weist mit einer Partitur74 De facto waren es 550 Taler. Vgl. Margit L. McCorkle, Robert Schumann. Thematisch-Bibliographisches Werkverzeichnis, München 2003, S. 220. 75 Kathrin Kirsch, Von der Stichvorlage zum Erstdruck. Zur Bedeutung von Vorabzügen bei Johannes Brahms, Kassel u. a. 2013, S. 47. Axel Beer führt aus, dass die den Händlern gewährten Rabatte auch bis zu 50 % betragen konnten. Vgl. Beer, Musik zwischen Komponist, Verlag und Publikum, S. 282. Zur weiteren Entwicklung der Händler- und Kundenrabatte im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert sowie zur Differenzierung in „Ordinärartikel“ und „Nettoartikel“ vgl. Georg Jäger, „Der Musikalienverlag“, in: Geschichte des deutschen Buchhandels im 19. und 20. Jahrhundert. Das Kaiserreich 1871 – 1918, Teil 2, hrsg. von Georg Jäger, Frankfurt a. M. 2003, S. 17 – 19.
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Peter Schmitz
Auflage von 525 und einer Klavierauszug-Auflage von 1.200 freilich andere Zahlen auf.76 Gerade dieses Beispiel mag Zweifel an der allseits konstatierten Unwirtschaftlichkeit von Oratorien-Editionen aufkommen lassen. Doch Vorsicht: Beethovens Oratorium kann in diesem Punkt schwerlich als repräsentativ gelten. Was man hingegen sicher sagen kann, ist, dass Verlage mit anderen verkaufsträchtigeren Verlagssegmenten, allen voran mit originärer Klaviermusik, Liedern, aber auch mit Klavierauszügen von Opern weitaus höhere Gewinne erzielen konnten.77
76 Breitkopf & Härtels Kalkulation ging von einem maximalen Gewinn in Höhe 3.248 Reichtalern aus, abzüglich des besagten Rabattes blieben 1.773 Reichtaler. Vgl. D-LEsta, Bestand Breitkopf & Härtel 21081. Sig. 6465, Bl. 148, 149. Zu Beethovens Honorarvorstellungen und den schwierigen Verlagsverhandlungen mit Breitkopf & Härtel um dieses Werk vgl. Nicole Kämpken, „,machen sie, daß wir doch einmal zusammen kommen, und zusammen bleiben‘ Die wechselvolle Geschäftsbeziehung zwischen Beethoven und Breitkopf & Härtel“, in: Beethoven und der Leipziger Musikverlag Breitkopf & Härtel „ich gebe Ihrer Handlung den Vorzug vor allen andern“. Begleitbuch zu einer Ausstellung des Beethoven-Hauses Bonn, hrsg. von Nicole Kämpken und Michael Ladenburger, Bonn 2007, S. 1 – 40, hier S. 10 – 14 und S. 19 – 20. 77 Dies geht aus den erhaltenen Kalkulationslisten in besagtem Bestand (D-LEsta, Bestand Breitkopf & Härtel 21081. Sig. 6465) deutlich hervor. U. a. finden sich hier Berechnungen zu folgenden Verlagsautoren: Ludwig van Beethoven, Vincenzo Bellini, Johannes Brahms, Friedrich Burgmüller, Fr¦d¦ric Chopin, Carl Czerny, Jean-Baptiste Duvernoy, Niels Wilhelm Gade, Jacques Fromental Hal¦vy, Fanny Hensel, Adolph Henselt, Johann Vesque von Püttlingen (Pseudonym J. Hoven), Franz Hünten, Friedrich Kalkbrenner, Theodor Kullak, Franz Liszt, Albert Lortzing, Hans Christian Lumbye, Felix Mendelssohn Bartholdy, Giacomo Meyerbeer, Carl Reinecke, Henri Rosellen, Robert Schumann, Sigismund Thalberg, Charles Voss. Eine systematische Auswertung dieses Bestandes durch den Verfasser ist derzeit in Vorbereitung.
Das jüngste Gericht und Die letzten Dinge
Kirstin Buchinger
Antichrist und Heiland. Napoléomanie, Endzeiterwartungen und Erlösermythen während der „bellizistischen Sattelzeit“ um 1800
„Auf den dampfenden Ruinen des Feldschlößchens stand ich und sah’ hinab in die mit blutigen Leichen, mit Sterbenden bedeckte Ebene. Das dumpfe Röcheln des Todeskampfes, das Gewinsel des Schmerzes, das entsetzliche Geheul wütender Verzweiflung durchschnitt die Lüfte, und wie ein ferner Orkan brauste der Kanonendonner, die noch nicht gesättigte Rache furchtbar verkündend.“1
1.
Einleitung
Will man die Entstehungsgeschichte von Spohrs Weltgerichtsoratorien verstehen, so heißt das, über den musikwissenschaftlichen Kontext hinaus, die Epoche zu betrachten, in der sie entstanden sind – und diese Epoche ist unauslöschlich mit dem Namen Napoleon Bonaparte verbunden, der, wie zu zeigen sein wird, mit dem Antichristen gleichgesetzt wurde. Ich werde im Folgenden über diese bewegte Zeit einen einführenden Überblick geben und die mit ihr verbundenen kollektiven „apokalyptischen“ Visionen der Zeitgenossen Spohrs an einigen Beispielen erläutern. Blicken wir zunächst auf die mikrokosmische Perspektive und damit auf Spohrs „Beziehung“ zu Napoleon verstanden als Signatur der Epoche2 : Spohr war, gerade fünfzehnjährig, 1799 als Kammermusiker am Braunschweiger Hof, als der fünfzehn Jahre ältere Napoleon Bonaparte im Namen der Revolution in Italien gegen die restaurativen Kräfte Europas gesiegt hatte und mit dem Staatsstreich von 1799 seinen unaufhaltsam scheinenden Aufstieg zur Macht eingeleitet hatte. Seltsam ergriffen waren viele Zeitgenossen von diesem ersten bebenden Auftreten des jungen Revolutionärs und späteren Medienkaisers. 1 E.T.A. Hoffmann, Die Vision auf dem Schlachtfeld bey Dresden, London 1813. Dazu Barbara Besslich, Der deutsche Napoleon-Mythos: Literatur und Erinnerung 1800 – 1945, Darmstadt 2007, S. 92 f. 2 Dazu Kirstin Buchinger, Napole´omanie, Berlin 2013, S. 15 – 28.
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Kirstin Buchinger
Für Spohr, so scheint es jedenfalls in seinen wenigen Äußerungen zu Napoleon und der Politik seiner Zeit in seiner später verfassten Autobiographie, war das weltpolitische Waffenklirren der Revolutions- und napoleonischen Kriege eher Hintergrundlärm während er an seiner eigenen Karriere als Musiker und Komponist wob. Nur vier Mal kommt er in diesem Selbstzeugnis auf Napoleon zu sprechen. So berichtet er etwa anekdotisch, wie er im Herbst 1806 anlässlich des Fürstenkongresses, wie viele Schaulustige, von Gotha aus zu Fuß mit einigen seiner Schüler in die Stadt Erfurt gepilgert war. Napoleon befand sich zu diesem Zeitpunkt nach der Niederlage Preußens in der Schlacht bei Jena und Auerstedt (14. Oktober 1806) im Zenit seiner Macht. An Spohrs Bericht fällt zweierlei auf: 1.) Ihn interessierte, wie er explizit in seiner späteren Autobiographie formuliert, weniger, den mächtigen Mann zu sehen, als vielmehr dessen Musiker, die er aus Frankreich mitgebracht hatte, zu hören. Das Primat der Kunst bzw. der superiore Stellenwert derselben für Spohr wird in diesen Ausführungen deutlich. 2.) Auch aus der Erinnerung heraus reflektiert er nicht die weltpolitische Bedeutung des Fürstenkongresses. Er gibt sich somit auch im Nachhinein gleichsam unpolitisch. Wenn folglich schwer zu beurteilen ist, inwiefern die militärpolitischen Verhältnisse der Zeit direkt auf Spohrs Arbeit an den Weltgerichtsoratorien wirkten, so kann doch davon ausgegangen werden, dass er, wenn auch indirekt, von kollektiven Wahrnehmungsmustern seiner Zeit beeinflusst war und dass damit der mit der Person Napoleon auf das Engste verbundene ,apokalyptische Zeitgeist‘ auch auf seine Oratorien wirkte. Fraglos sind apokalyptische Vorstellungen und Endzeiterwartungen, wie wir sie in den Weltgerichtsoratorien Spohrs in Musik gesetzt finden, so alt wie die Menschheit selbst. Von jeher verbanden sie sich mit Naturkatastrophen, mit Zeitenwenden, Herrscherwechseln, großen Kriegen sowie Auseinandersetzungen über Glaubensfragen – vor allem mit der (katholischen) Kirche. Visionen von Gut und Böse, vom Heiland und Antichrist banden sich an ,Epochenmenschen‘ wie Friedrich II. von Hohenstaufen einer war.3 Ihn, der im 13. Jahrhundert geherrscht hatte und dessen Person Gegenstand eines Jahrhunderte überdauernden Herrschermythos wurde, beschimpfte der Papst als Antichrist. Zu Antichristen erklärt wurden auch andere ,Epochenmenschen‘, die mit der Kirche in Konflikt geraten waren und ihre Zeit revolutioniert hatten. Diese Vorstellungen wirkten natürlich stets auf das künstlerische Schaffen der Menschen im Rahmen der medialen Möglichkeiten ihrer Zeit, man denke etwa an Albrecht Dürers Holzschnitte Apocalipsis cum figuris (1498) oder an Michelangelos berühmtes Fresko Das Jüngste Gericht (um 1540) in der Sixtinischen Kapelle in Rom. 3 Grundlegend zum Friedrich-Mythos: Ernst Kantorowicz, Kaiser Friedrich der Zweite, Nachdruck Düsseldorf/München 1963.
Antichrist und Heiland
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Abbildung 1: Satire des Freskos „Das Jüngste Gericht“ von Michelangelo (um 1540), [1815]. Dargestellt ist im Zentrum Napoleon im Kreise seiner Anhänger (Ó University of Washington Libraries, Special Collections, UW36552)
Napoleon war einer jener Epochenmenschen auf den sich uralte apokalyptische Visionen projizieren ließen – zumal die verheerenden Folgen der Revolutions- und napoleonischen Kriege die Zeitgenossen Spohrs zutiefst erschütterten. In diesem Zusammenhang sei in Anlehnung an einen Terminus von Reinhart Koselleck von einer „bellizistischen Sattelzeit“ gesprochen.4 Die Zeit um 1800 war zudem in vielen Bereichen eine historische Wasserscheide – so auch im Bereich der Medien. Diese Medienrevolution zeitigte tiefgreifende Reflexe auf das Schaffen der Künstler. Bereits die Zeit der Uraufführung beider Weltgerichtsoratorien Spohrs wirkt aus der Perspektive post ex menetekelhaft: Das Jüngste Gericht wurde an Napoleons Geburtstag 1812 und somit im Rahmen des zu Ehren des Kaisers ausgerufenen Napoleonfest im August in Erfurt am Beginn des russischen Feldzuges aufgeführt, der den Untergang der napoleonischen Herrschaft über Europa einleitete. Das zweite Apokalypse-Oratorium Die letzten Dinge von 1825/26 war nur wenige Jahre nach dem Tod des Feldherrn im Mai 1821 entstanden. 4 Zum Terminus der „bellizistischen Sattelzeit“ vgl. Buchinger : Napol¦omanie, S. 277, FN 16. Hier auch zahlreiche weiterführende Literatur, S. 277 f., FN 18; grundlegend für die folgenden Ausführungen auch: Kirstin Schäfer (= Buchinger), „Die Völkerschlacht“, in: Deutsche Erinnerungsorte, hrsg. Etienne Franc¸ ois und Hagen Schulze, 3 Bde., Mu¨ nchen 2001, hier Bd. 2, S. 187 – 201. Vgl. grundlegend zur Apokalypse in Deutschland: Klaus Vondung, Die Apokalypse in Deutschland, Mu¨nchen 1988.
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2.
Kirstin Buchinger
Apokalyptische Vorstellungen im Zusammenhang mit den Revolutions- und napoleonischen Kriegen bis 1812: Nationale Propaganda und schwarze Romantik
Als Spohrs Oratorium Das Jüngste Gericht zu Ehren von Napoleons Geburtstag am 15. August 1812 uraufgeführt wurde, um dem (französischen) Landesherren zu huldigen, hatte sich das Napoleonbild der europäischen Öffentlichkeit in den vorausgehenden Jahren von anfänglicher Affirmation und Jubel Vieler, cum grano salis, in blanken Hass auf den Feldherrn verwandelt. Einige Zeitgenossen Napoleons meinten in diesem den Antichristen zu erkennen. Gründe dafür sind neben der Auswirkung der vielen Kriege in unterschiedlichen Regionen Europas die Tatsache, dass Napoleon bei seiner Krönung in Paris im Dezember 1804, einem Medienspektakel5, den Papst gedemütigt hatte. Nicht nur zwang er ihn, anzuerkennen, dass die Kirche zur Staatskirche wurde, er nahm ihn 1806 auch gefangen, als Pius versucht hatte, Napoleon zur Wiederherstellung des Kirchenstaates zu bewegen. Der Papst blieb Gefangener des Kaisers bis zu seiner Befreiung durch die Alliierten im Jahre 1814. In diesem Verhalten gegenüber dem Papst mag auch ein wesentlicher Grund dafür zu erkennen sein, dass viele Zeitgenossen sich mit Texten aus der Bibel befassten. Zudem war gerade in einer von Kriegen geprägten Zeit die Suche nach Erklärungen und einem Sinn in der Brutalität der Gegenwart im Glauben naheliegend. Am 11. November 1805 schrieb etwa der Dresdner Maler Friedrich Meier an Wilhelm von Gerlach in Berlin, jeder lese zu dieser Zeit die Offenbarung des Johannes, in der alles prophezeit wäre über Napoleons Weg – bis ins kleinste Detail. Sein Name finde sich ebenfalls dort: „Apollyon oder der Zerstörer“ – das findet sich auch bei anderen zeitgenössischen Dichtern.6 Als etwa der russische Schriftsteller Sergej Glinka im Jahre 1806 bei einem hohen Beamten zu Besuch war, stellte er fasziniert fest, dass der Staatsdiener ein Exemplar der Offenbarung des Johannes in der Hand hielt.7 Ein weiterer wichtiger Grund für die Dämonisierung Napoleons vor dem russischen Feldzug von 1812 ist in seiner Judenpolitik zu suchen. Als der französische Kaiser 1806 den Sanhedrin einberief, um sich mit diesem zu beraten, sahen sich jene bestätigt, die in ihm bereits den Antichristen vermuteten, vor allem die Orthodoxe Kirche Russlands. Deren Petersburger Patriarch schrieb: 5 Zur Selbstdarstellung Napoleons und dessen Rolle als Medienkaiser etwa Buchinger, Napol¦omanie, S. 55 ff. 6 Karl Scheibenberger, Der Einfluss der Bibel und des Kirchenliedes auf die Lyrik der deutschen Befreiungskriege, Gelnhausen 1936, S. 57 f.; Vondung, Apocalypse, S. 124. 7 Adam Zamoyski, 1812: Napoleons Feldzug in Russland, Mu¨ nchen 2012, S. 46.
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„Zur größeren Schmach der Kirche Christi ließ er in Frankreich die Judensynagoge wieder zusammentreten und stellte das große Sanhedrin wieder her, dieselbe ruchlose Versammlung, die sich einst erkühnt hatte, unseren Herrn und Heiland, Jesus Christus, zum Kreuzestod zu verurteilen, und nun darauf aus ist, die durch den Zorn Gottes über das ganze Angesicht der Erde zerstreuten Judäer wieder zu vereinigen, um sie zum Umsturz der Kirche Christi und zur Ausrufung eines falschen Messias in der Person Napoleons zu bewegen.“8
Während des französisch-russischen Krieges 1806/07 und vor dem Tilsiter Frieden hatte der Heilige Synod Napoleon ex cathedra zum Antichristen erklärt. Die bellizistischen Auseinandersetzungen mit der Grande Arm¦e zwischen 1805 und 1807 hatten in Russland die kulturelle Hegemonie Frankreichs beendet und den Weg für eine Welle religiös konnotierten folkloristischen Patriotismus geebnet, der eine tiefgehende Spaltung der russischen Gesellschaft im gesamten 19. Jahrhundert zur Folge hatte. Den Bauern wurde von den Kanzeln gepredigt, der Franzosenkaiser sei der Leibhaftige, ein „apokalyptisches Tier“, ein „Gubitel“ (Weltschrecken), der 1^cY´ faYbc (Antichrist). Die Hure Babylons war Paris. Napoleon wurde zum „schwarzen Zaren“ – dem dunklen Gegenentwurf zur moralischen Lichtgestalt als die Zar Alexander für die unterschiedlichen ethnischen Gruppen der russischen Bevölkerung fungierte und damit eine einigende identitätsstiftende Wirkung hatte.9 Lew Tolstoj beschreibt die Wahrnehmung Napoleons durch seine Landsleute somit treffend, wenn er sein berühmtes Opus Krieg und Frieden mit folgender Aussage durch die Protagonistin Anna Pawlowa beginnen lässt: „Nun, Fürst, hat die Familie Bonaparte auch Genua und Lucca in Besitz genommen? Ich sage Ihnen, Sie sind nicht mehr mein Freund, mein getreuer Sklave, wie Sie sagen, wenn Sie noch ferner die Notwendigkeit des Krieges leugnen und noch länger die Greuel verteidigen wollen, welche dieser Antichrist begeht, denn es ist der Antichrist selbst, davon bin ich überzeugt […].“10
Auch angeregt vom Widerstand gegen die französische Besatzung in Spanien im Jahr 1808 und den darauf aus diesem Land kommenden Spott- und Flugschriften gegen Napoleon hatten sich die Stimmen der „Franzosenfresser“ in den 8 Stefan Rohrbacher und Michael Schmidt, Judenbilder. Kulturgeschichte antijüdischer Mythen und antisemitischer Vorurteile, Reinbek 1991, S. 192; Ulrich Wyrwa, Juden in der Toskana und in Preussen im Vergleich: Aufklärung und Emanzipation in Florenz, Livorno, Berlin und Königsberg i. Pr., Tübingen 2003, S. 178 f.; Simon Schwarzfuchs, Napoleon, the Jews, and the Sanhedrin, London 1979. 9 Marina Peltzer, „Pesants, cossacks, ,black Tsar‘. Russian caricatures of Napoleon during the wars of 1812 to 1814“, in: War memories: The Revolutionary and Napoleonic Wars in modern European culture, hrsg. von Alan Forrest, Etienne Franc¸ ois, und Karen Hagemann, Basingstoke 2013, S. 269 – 291, hier 281ff; Buchinger, Napol¦omanie, S. 80 – 87. 10 Lew Tolstoj, Krieg und Frieden, Bd. 1, Mu¨ nchen 2010, S. 1.
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deutschsprachigen Ländern lauter als zuvor erhoben, vor allem im bis in die militärischen Grundfesten erschütterten Preußen. Ludwig Börne hatte den provozierenden Ausdruck „Franzosenfresser“ im Zusammenhang mit dem glühenden Hass geprägt, den einige seiner Landsleute der französischen Nation entgegenbrachten und Heinrich Heine hatte den Terminus gerne weiterverwendet („Franzosenfresser, eine drollige Gattung Bluthunde“11). Der Dichter Heinrich von Kleist gehörte zu den militantesten Propagandisten des deutschen Patriotismus. Seine Frankophobie entlud sich in martialischen Kriegsgedichten und in seinem Katechismus der Deutschen (1809), der in hohen Auflagen verbreitet wurde. Darin lässt er ein Kind sagen, es halte den französischen Kaiser „für den Anfang alles Bösen und das Ende alles Guten; für einen Sünder, den anzuklagen die Sprache der Menschen nicht hinreicht, und den Engeln einst am jüngsten Tag der Odem vergehen wird“.12 Er wurde zum „König von Babel“. Napoleon wurde zum Höllensohn und der Kampf gegen ihn zum heiligen Krieg und zum protestantischen Kreuzzug. Auch der Dichter und Publizist Ernst Moritz Arndt zählt zu den wütendsten frühen ,deutschen‘ Nationalisten. Die Amalgamierung von apokalyptischen Visionen und Patriotismus13 findet in seinen Schlachtgesängen ein Ventil: „Zu den Waffen! Zu den Waffen! Komm Tod, und lass die Gräber klaffen, Komm Hölle, thu den Abgrund auf! Heut schicken viele tausend Gäste Wir hin zum düstern Satansneste, Heut hört die lange Schande auf.“14
Während in deutschen Landen die Zensurbestimmungen der französischen Besatzer die Verbreitung antinapoleonischer Propaganda immer wieder unterbanden, hatte die britische Propaganda schon seit Jahren, gerade auch mittels zahlreicher Karikaturen, eine Dämonisierung und Verspottung Napoleons in der europäischen Öffentlichkeit vorangetrieben. Es gab auf den britischen Inseln keine Zensur und so führten die Briten einen regelrechten Krieg der Bilder, der Napoleon zur ersten universalen Figur der Karikatur werden ließ.15 11 Heinrich Heine, „Geständnisse“, in: Sämtliche Werke. Bd. 2: Dichterische Prosa, Dramatisches, München 1969, S. 741 – 795, hier S. 753. 12 Heinrich von Kleist, Katechismus der Deutschen (= Zeitschrift Germania), Prag 1809; hier zitiert nach der online-Version auf Zeno Org Ausgabe Digital: http://www.zeno.org/Literatur/ M/Kleist,+Heinrich+von-/%C3%84sthetische,+philosophische+und+politische+Schriften/ Katechismus+der+Deutschen/7.+Kapitel.+Von+der+Bewunderung+Napoleons. 13 So auch Vondung, Apokalypse, S. 123 und 125. 14 Ernst Moritz Arndt, Schlachtgesang, zitiert nach: Deutschlands Krieges- und Siegesjahre. 1809 – 1815 im Liede deutscher Dichter, hrsg. von Hermann Kletke, Berlin 1859, S. 44. 15 Buchinger, Napol¦omanie, S. 57 f.
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Abbildung 2: Druckgraphik von Thomas Rowlandson, The flight of Bonaparte from Hell-Bay, 1815 (Ó The Trustees of the British Museum)
Die Zuschreibung „Boneys“ als Satan und Höllenhund oder Sohn desselben sowie die Darstellung des Franzosenkaisers im Sujet des Totentanzes waren dabei gern gewählte Motive, die auch in anderen Ländern, wie etwa Russland,
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bekannt waren und hier adaptiert wurden. In Österreich, das 1815 zum Zentrum der „Heiligen Allianz“ gegen Frankreich wurde, war Napoleons zweite Gemahlin Marie Louise (und Mutter des Königs von Rom, Napoleons legitimen Thronerben) erzogen, ihren späteren Gemahl den Korsen, Attila oder den Antichristen zu nennen.16 Die oben beschriebene Propaganda und die Kultur der Romantik, die auf das Engste mit dem erwachenden Nationalbewusstsein verwoben war, potenzierten die nationale Begeisterung der Bevölkerung. Gerade im protestantischen Preußen, in dem der Philosoph Johann Gottlieb Fichte in seinen Reden an die deutsche Nation (1808) auf wirkungsvolle Weise den Widerstandsgeist seiner Zeitgenossen aus dem Hörsaal der Berliner Universität heraus zu beschwören suchte, bildeten sich Gruppen patriotisch-,deutsch‘-gesinnter Intellektueller, nationale Vereinigungen und konspirative Gruppen, die das Ziel verfolgten, den Widerstand gegen Napoleon zu organisieren und die Staatsführung zum Kampf gegen den ,Zwingherrn‘ zu bewegen. Die ,dunkle‘ Seite der Romantik, die Schwarze Romantik, und ein mit ihr verbundener Kult um das Irrationale, beflügelten bis in das 20. Jahrhundert hinein düstere Bilder und apokalyptische Visionen.17 Der romantische Stil begann an der Wende zum 19. Jahrhundert als eine Rebellion gegen die Vernunft und den Geist der Aufklärung, der im Terror durch die französische Armee endete. Gleichwohl bot er auch nach 1815 die Möglichkeit, das Kriegserlebnis und damit den Schmerz einer Generation zu verarbeiten.18 Gedichte und Romane handelten von Teufelspakten, Wahnsinn, Gespenstern, Schuld und Tod – Motive, die sich auch in der bildenden Kunst finden. Man denke etwa an die romantischen Szenen Caspar David Friedrichs, die düsteren Bilder des Malers Johann Heinrich Füssli oder an die verstörenden Kriegsdarstellungen des spanischen Malers und Radierers Francisco de Goya, die den Geist des Aufstandes gegen die französischen Besatzer 1808 auf unheimliche Weise konservieren. In unserem Zusammenhang denke man etwa auch an die Weltgerichtsfresken (1836 – 1840) eines Peter von Cornelius in der Münchener Ludwigskirche. 16 Dazu etwa Gertrude Aretz (Getrude Kuntze-Dolton), Marie Louise, Erzherzogin von Österreich, Kaiserin der Franzosen, Herzogin von Parma, Piacenze und Guastalla, Wien 1936, S. 54. 17 Dazu grundlegend Mario Praz, Liebe, Tod und Teufel. Die schwarze Romantik, München 1963. Vom 5. März bis 23. Juni 2013 fand im Mus¦e d’Orsay Paris eine sehr gute Überblicksdarstellung zur Schwarzen Romantik in Europa statt: Der Engel des Wunderlichen. Schwarze Romantik von Goya bis Max Ernst, Paris 2013. Vgl. http://www.musee-orsay.fr/de/ veranstaltungen/ausstellungen/im–musee-dorsay/ausstellungen-im–musee-dorsay/article/ der-engel-des-wunderlichen-35136.html?no_cache=1. 18 Dazu für Frankreich ausführlich Buchinger, Napol¦omanie, S. 120 – 127, 149 – 155 und 163–183.
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Auch in der Literatur der Schwarzen Romantik sind Geister, Dämonen, dunkle Schatten und Wahnsinn omnipräsent. Der wohl bedeutendste Schriftsteller der (Schwarzen) Romantik in Deutschland, E.T.A. Hoffmann, veröffentlichte 1815/16 in Berlin, das neben Jena das Zentrum der deutschen Romantik war, seinen Roman Die Elixiere des Teufels, in dem ein Mönch mehrere Menschen ermordet. ,Gespenster-Hoffmann‘, wie er in Berlin genannt wurde, war offenbar vom Übersinnlichen mehr als fasziniert, denn er selbst hatte S¦ancen mit Mondsüchtigen und Besessenen besucht.19 Das Böse in der Literatur der Zeit finden wir auch in Goethes Faust oder Mary Shelleys Frankenstein or The Modern Prometheus (1818 zunächst anonym veröffentlicht). Nicht zufällig also thematisierten auch Komponisten wie Spohr ab dem beginnenden 19. Jahrhundert Stoffe, in denen Engel und Dämonen allgegenwärtig waren und in denen es um den finalen Kampf zwischen Gut und Böse, um den Sturz des Teufels und die Erlösung vom Bösen ging; Themen, in denen die Apokalypse und das Jüngste Gericht heraufbeschworen wurden, die als Sujet der Musik zwar schon im 18. Jahrhundert aufgegriffen worden waren, etwa von Telemann oder Gluck, im ersten Viertel des 19. Jahrhunderts aber mehr als zuvor dem Zeitgeist entsprachen.20 Eine romantische Dämonenoper wie der Freischütz (1821) von Carl Maria von Weber entspricht diesem politischen und künstlerischen Fluidum, in dem Spohrs Apokalypse-Oratorien entstanden sind.21
3.
Spohrs Oratorium Das Jüngste Gericht (1812) als ,apokalyptische Vision‘? Die Entwicklung des Bildes von Napoleon als Antichrist nach dem Russlandfeldzug
Die Napoleon-Feier in Erfurt, bei der Spohr am 14. August Das Jüngste Gericht in der Predigerkirche zu Ehren des Kaisers gab, war die letzte ihrer Art. Napoleon selbst befand sich zu diesem Zeitpunkt bereits auf russischem Boden. Am 24. Juni 1812 hatte er mit der bis dahin größten Streitmacht der Weltgeschichte den Grenzfluss Njemen überschritten und war in Russland eingefallen. Zum Zeitpunkt der Aufführung des Oratoriums war seine Armee bereits um ein Drittel dezimiert, ohne dass auch nur eine einzige Schlacht geschlagen worden war. 19 Dazu vor allem Rüdiger Safranski, E.T.A. Hoffmann. Das Leben eines skeptischen Phantasten, München 1984. 20 Zur Tradition der Apokalypse-Oratorien vgl. den Beitrag von Rebekka Sandmeier in diesem Band. 21 Dazu vor allem Vondung, Apokalypse, bes. 150 ff. Siehe auch Maja Galle, Der Erzengel Michael in der deutschen Kunst des 19. Jahrhunderts, München 2002, S. 42.
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Das Oratorium fiel bei den Kritikern durch und die Allgemeine musikalische Zeitung bewertete es als „ominös“.22 Spohr selbst distanzierte sich zu einem späteren Zeitpunkt bekanntermaßen von diesem Werk. Vielsagend im Zusammenhang mit der Rezeption des Oratoriums ist allerdings, dass es zu einem Zeitpunkt uraufgeführt wurde, der als historisches Omen zu deuten war. Ein Chronist der Stadt Erfurt, J. Philibert Müller, bemerkte in einer 1814 erschienen Schrift, der „große Konzertmeister Spohr habe gegen Napoleons Ruhm gesündigt, indem er im Jahre 1812 zu Napoleons Geburtsfeste seine Composition ,Das Jüngste Gericht‘ aufführte, und dadurch zu einer üblen Vorbedeutung des Ruhmes-Verfalls des gefeierten Tyrannen, Veranlassung gab“, die sich kein halbes Jahr später in dem verunglückten Feldzug gegen Russland bewahrheitet habe.23 Gleichwohl er damit das Oratorium kritisieren wollte, hatte er mit seinen Worten nicht Unrecht. Der Russlandfeldzug war in der Tat apokalyptisch und in seiner Grausamkeit unvorstellbar. Nach neusten Schätzungen hat „1812“ etwa eine Million Menschenopfer gekostet. Fast alle eingesetzten Pferde, ungefähr 200.000 Tiere, kamen in den Weiten Russlands ums Leben. Für die Russen wurde 1812 zur Urkatastrophe des 19. Jahrhunderts, allein das Brennen der Stadt Moskau war ein Menetekel für die Geschichte des Landes.24 Der Krieg Napoleons in Russland ließ die Überlebenden nie wieder los, was eine Unzahl an überlieferten Erfahrungsberichten ebenso erklärt, wie das Trauma einer ganzen Generation, das wiederum auch auf ihr künstlerisches Schaffen wirkte. Zudem waren die Weichen, die dieser Krieg stellte, von überragender Bedeutung für die Entwicklung der europäischen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Napoleons Herrschaft über nahezu ganz Europa war nach dem missglückten Russlandfeldzug wie ein Kartenhaus zusammengebrochen. Alle europäischen Großmächte hatten sich gegen ihn verbündet. Mit Beginn des Herbstfeldzuges war in vielen Regionen, in denen diese noch bestanden hatte, die Aufhebung der Zensur erfolgt. Eine Flut nationalistischer Publizistik, Gedichte, Lieder, Flugblätter und Aufrufe in Auflagen von hunderttausenden ergoss sich über die in Auflösung befindlichen Herrschaftsgebiete des französischen Empires. Spätestens seit der Katastrophe von 1812 hatte sich Napoleon mit angedrohten Bildverboten und rigider Pressepolitik in seinem Machtbereich nicht mehr vor dem Spott seiner kriegsmüden Zeitgenossen schützen können. Eine nach der Leipziger Völkerschlacht (Oktober 1813) in Berlin entstandene 22 Allgemeine musikalische Zeitung 38 (1836), Sp. 267 f. 23 J. Philibert Mu¨ller, Erfurt unter französischer Oberherrschaft vom 16. Oct. 1806 bis den 6. Jan. 1814: Ein actenmäßiges Gemälde der Leiden, Erpressungen, Misshandlungen und Betrügereien, die diese Provinz wa¨ hrend den sieben Jahren erduldete; in Briefen an einen Freund, Erfurt 1814, S. 236 f. 24 Zamoyski, 1812, passim; ebenso: Dominic Lieven, Russland gegen Napoleon. Die Schlacht um Europa, München 2011.
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Abbildung 3: Englische Variante des Leichkopfes mit Schmähtext auf Napoleon, um 1813/14 (mit freundlicher Genehmigung von zeno.org)
Napoleonkarikatur wurde zu einem der erfolgreichsten Propagandamotive des 19. Jahrhunderts überhaupt. Die kolorierte Zeichnung erschien im Gedenkblatt zum Triumph des Jahres 1813, das an den Ausgang der Völkerschlacht bei Leipzig erinnerte.25 Das Vorbild für den Napoleonkopf lieferte den Schöpfern der Ka25 Triumph des Jahres 1813. Den Deutschen zum Neujahr.
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rikatur, den Gebrüdern Henschel, Gottfried Arnold Lehmanns Napol¦on le Grand. Das Bild war 1806 anlässlich Napoleons Einzugs in Berlin entstanden. Später fertigten die Brüder Henschel eine Radierung der Karikatur an und kündigten am 9. Dezember 1813 ihr Blatt mit folgender ,Kunst-Anzeige‘ in den Berlinischen Nachrichten an: „Eine überraschende Allegorie in Brief-Format mit der Unterschrift ,Triumph des Jahres 1813. Den Deutschen zum Neujahr 1814‘ ist soeben erschienen und bei uns coleurt a 6 Gr. Courant zu haben. Gebr. Henschel, Werderstr. 4.“26
Allein in der Woche vom 9. Dezember 1813 verkauften sich 20.000 Kopien des Bildes. Dass Napoleons Gesicht aus unzähligen, verunstalteten Leichen besteht, signalisiert die Kritik an seinem menschenverachtenden Verhalten. „Der Hut“ des Leichenkopfes, so erklärten die Gebrüder Henschel symbolisiere „Preußens Adler, welcher mit seinen Krallen den Großen gepackt hat und ihn nicht mehr loslässt.“27 Dass dieser Adler, der seit Mitte des 18. Jahrhunderts als Hoheitszeichen des preußischen Staates galt, nun auf Napoleons Kopf thront und den Aigle selbst mit seinen Krallen unausweichlich packt, ist ein geniales Symbol des Sieges Preußens über den französischen Kaiser. Die Ikonografie des Frontispizes des Leviathans von Thomas Hobbes diente als Hauptinspirationsquelle für die Gebrüder Henschel, die damit die Tradition eines alten Propagandamotivs aufgriffen. Die Einnahme des caput des dargestellten Körpers erfolgte, um ihm die Züge eines Monsters zu geben oder, wie in unserem Beispiel, um ihn zu usurpieren. Im 18. und 19. Jahrhundert war dieses Bildmuster ein bevorzugtes Mittel der Verachtung despotischer Herrscher. Bis heute sind zahlreiche Varianten entstanden, die auf den Kompositionskörper von Hobbes reagieren (z. B. Bismarck, Napoleon III, Hitler, Osama Bin Laden etc.). In anderen europäischen Ländern erschienen zahlreiche Nachdrucke der Karikatur mit meist nur geringen Veränderungen. Das usurpierte Symbol der Napoleonlegende wurde jeweils mit nationalen Konnotationen versehen. Spohrs 1814 in Wien entstandene Kantate Das befreyte Deutschland ist im Zusammenhang mit der politischen Entwicklung in Europa seit dem Russlandfeldzug bedeutsam und soll darum hier nicht unerwähnt bleiben – sie steht ja gewissermaßen zwischen den beiden apokalyptischen Oratorien und hat, anders als diese, wie der Name schon sagt, konkrete Bezüge zum Zeitgeschehen. Spohr war zum Zeitpunkt der Entstehung der Kantate Kapellmeister am Theater an der Wien. Als dieser komponierte er die Kantate über den Russlandfeldzug und dessen Folgen nach dem Auftrag des Musikmäzens Tost, der ihm auch den
26 Berlinische Nachrichten von Staats- und gelehrten Sachen 09. 12. 1813. 27 Beiblatt zum Triumph des Jahres 1813.
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Text verschaffte.28 Caroline Pichler, die zu dieser Zeit literarische Salons in Wien veranstaltete, schrieb den Text, den Spohr in Musik setzte. Die Kantate, Reflex auf Pichlers hochpolitisches Libretto, beendete er zwischen Januar und März 1814. Wien war damals nicht allein eine Hauptstadt der musikalischen Welt, zudem war die Stadt auch ein Zentrum des Widerstandes gegen den französischen Kaiser.29 Spohr berichtete, bemerkenswert im Hinblick auf seine Rezeption des Zeitgeschehens, er habe Theodor Körner getroffen und mit diesem an einer Oper über die Rübezahl-Sage arbeiten wollen. Als Körner zu den Lützower Jägern habe gehen wollen, um „für die Befreiung Deutschlands“ zu kämpfen, versuchte Spohr ihm dieses auszureden.30 Körners Tod „vereitelte“, wie Spohr es ausdrückt, dann auch seine Hoffnung, von dem jungen, begabten Dichter ein Opernbuch zu bekommen. Es muss also angemerkt werden, dass es sich bei Das befreyte Deutschland in erster Linie um eine Auftragsarbeit handelte und nicht um Ausdruck von Patriotismus, Napoleon-Hass und Endzeitstimmung seitens Spohr. Und doch: Das Jüngste Gericht war nach 1812/13 keine transzendente Vision es war Zeitgeschichte. So war denn auch für den jungen Kronprinzen Friedrich Wilhelm IV. Napoleon der Satan Dresden. Am 10. April 1813 schrieb er, der sich immer wieder mit dem Erzengel Michael als Symbolfigur für den Befreiungskampf von den französischen Usurpatoren auseinandersetzte, an seinen Bruder Prinz Friedrich: „die entscheidende Schlacht [gegen Napoleon; Anm. der Verf.] werde nach der Vereinigung der 2 großen Corps erfolgen; wenn des Satans finstre Heerscharen nicht, durch einen Engel des Lichts geblendet, entfliehen“.
Weiter bemerkte er : „Doch ich glaube, sie werden die Augen so lange geschlossen halten, bis es den himmlischen Mächten, sie ihnen mit Gewalt zu öffnen, gelungen ist und sie bestürzt, die nächtgen Schwingen abwärts beugend, ins alte Graus, zur ewigen Nacht der Hölle zurückgeschleudert werden“.31
Am 3. Juli heißt es: „Der Herr hatte im Osten Gericht gehalten“, am 17. Juli: „Mein sehnlichster Wunsch war immer gewesen, einst einen solchen Kreutzzug mitzumachen“.
Diese Worte des Kronprinzen entsprachen einer durchaus tief empfundenen Überzeugung vieler Zeitgenossen Spohrs in vielen Regionen Europas. Nach dem 28 29 30 31
Louis Spohr’s Selbstbiographie, 2 Bde., Kassel/Göttingen 1860 – 1861, Bd. 1, S. 196. Ebd. Ebd., Bd. 1, S. 191. Zitiert nach Galle, Erzengel Michael, S. 44.
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Sieg bei Leipzig feierte die Avantgarde der deutschen Nationalbewegung den ersten Jahrestag „ihres“ Sieges über Frankreich. Am 18. Oktober 1814, dem Jahrestag der Völkerschlacht, zündeten die Menschen in vielen Orten Freudenfeuer an, bei denen sie Puppen verbrannten, die Napoleon darstellten: „Bei E… erzählt die Baireuther Zeitung, wurde ein Gemälde Napoleons im Schlitten auf der Lustfahrt von Moskau und ein Exemplar des Code Napoleon zum Feuer verdammt, und auf einer Stange im Holzstoß aufgestellt.“32
Auch in vielen Orten Frankreichs errichteten die Menschen Galgen und hängten daran einen Popanz, der Napoleon darstellen sollte. Auch in dieser Zeit gegen Ende der Kriege finden sich Bezüge zur Offenbarung des Johannes und zur Apokalypse. Der westfälische Schriftsteller Johann Heinrich Jung-Stilling33 hatte Napoleon zunächst im positiven Sinn als Werkzeug Gottes interpretiert und sich von eine Gleichsetzung des Feldherrn mit dem Antichristen distanziert, die er allerdings bei vielen seiner Zeitgenossen wahrnahm.34 Jung-Stilling wusste etwa eine Anekdote zu berichten, nach der Napoleon auf die Frage, ob er wisse, dass viele ihn für den Antichristen hielten, gesagt haben solle: „Das bin ich nicht, wohl aber sein Vorläufer“.35 Für Jung-Stilling hatte Napoleon nicht nachteilig auf die Religion gewirkt, sondern er habe im Gegenteil allgemeine Duldung und Religionsfreiheit eingeführt, „welches gewiß der Widerchrist nicht tun wird“.36 Nach dem Sieg der Alliierten über Napoleon und dessen Abdankung und Verbannung sah auch Johann Heinrich Jung-Stilling ähnlich wie Johann Adam Müller (1816) in „Apollyon“ (Napoleon) den Fürsten des Abgrundes, den Antichrist: „Dieser Abaddon Apollyon war also der geistliche König und Beherrscher der französischen Kreuzkrieger […] aber wir Teutsche sind blutweinende Zeugen. Dass der Engel des Abgrunds noch immer fort viele Macht und Gewalt durch die Armeen ausübt“.37
32 Zitiert nach So zerstieben getraeumte Weltreiche. Napoleon I. in der deutschen Karikatur, hrsg. von Sabine und Ernst Scheffler unter Mitarbeit von Gerd Unverfehrt, Stuttgart 1995, S. 319; Vgl. auch Buchinger, Napol¦omanie, S. 91 und 288. 33 Johann Heinrich Jung-Stilling, Erster Nachtrag zur Siegsgeschichte der Christlichen Religion: In einer gemeinnu¨ tzigen Erkla¨ rung der Offenbarung Johannis, Nürnberg 1805. Dazu etwa Vondung, Apocalypse, S. 104, 126 f und 236. 34 Dazu Gerhard Schwinge, Jung-Stilling als Erbauungsschriftsteller der Erweckung: eine literatur- und frömmigkeitsgeschichtliche Untersuchung seiner periodischen Schriften 1795 – 1816 und ihres Umfelds, Göttingen 1994, S. 110 f. 35 Zitiert nach ebd., S. 111, FN 262. 36 Zitiert nach ebd. 37 Jung-Stilling zitiert nach Galle, Erzengel Michael, S. 46.
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Im 28. Stück von Jung-Stillings Grauen Mann heißt es über Napoleon, dieser werde fast allgemein und mit Gewissheit für den Antichristen gehalten.38
4.
Schlussbemerkung
Die aufgeführten Beispiele haben deutlich gemacht, dass Spohrs apokalyptische Oratorien, vor allem das erfolgreiche zweite, Die letzten Dinge, am Höhepunkt einer Zeit uraufgeführt wurden, in der religiöse Vorstellungen mit dem politischen Geschehen der Gegenwart auf das Engste verschmolzen; es war entstanden in einer Epoche in der die Nationalismen des 19. Jahrhunderts sukzessiv den Stellenwert der Religion übernahmen und in der die Kultur der (Schwarzen) Romantik eine Hochphase erlebte. Die apokalyptischen Oratorien sind somit, wenn auch indirekt, als Reflex auf die historische Wasserscheide zu verstehen, die die Epochenschwelle um 1800 markiert. Sie sind unter dem Eindruck des kollektiven Traumas entstanden, das die Kriege gegen Napoleon in Europa hinterlassen hatten, und mit dem sich mannigfaltige künstlerische Impulse verbanden. Neue politische Entwicklungen, die Selbstfindung der europäischen Nationen im (langen) 19. Jahrhundert und der beginnende Napoleon-Mythos, der nach dem Tod des Feldherrn 1821 einzusetzen begann, würden neue Themen in der Kunst aufbringen.
38 Johann Heinrich Jung-Stilling, Der graue Mann, Nürnberg 1795. Dazu auch die Jung-Stilling Forschung: http://www.jung-stilling-forschung.de/ besonders: http://www.jung-stillingforschung.de/index.php/leben-/falsch-ist/125. Dazu auch Schwinge, Jung-Stilling, S. 111 und FN 262.
Rebekka Sandmeier
„…eine Zeit, wo kühn an die Geheimnisse göttlicher Offenbarungen, der Apokalypse, vor allem auch des jüngsten Gerichts gerührt wird“ – Louis Spohrs Apokalypse-Oratorien im Kontext des Oratorienrepertoires im frühen 19. Jahrhundert Das frühe 19. Jahrhundert war eine Zeit, die von „kollektiven apokalyptischen Visionen“ infolge der Kriege und napoleonischen Besatzung Deutschlands geprägt war.1 Arnold Schering beschreibt den Niederschlag dieses Zeitgeistes auf das Oratorienschaffen jener Zeit mit den im Titel zitierten Worten.2 Entsprechend nehmen auch in Louis Spohrs oratorischem Werk Themen zur Apokalypse einen großen Raum ein: Zwei seiner vier Oratorien fußen auf Texten, die auf der Offenbarung des Johannes basieren. Die folgenden Ausführungen stellen Spohrs Werke in den Kontext des Oratorienrepertoires ihrer Zeit. Dabei kann die Debatte um die Ästhetik des Oratoriums, die Anfang des 19. Jahrhunderts in der Musiktheorie geführt wurde keinesfalls ausgeklammert werden. Der vorliegende Beitrag knüpft somit an zwei frühere Aufsätze der Verfasserin an,3 deren Themen hier ausgeweitet und aufeinander bezogen werden, wobei der Fokus stets auf Spohrs Gattungsbeiträgen liegt. Den Ausganspunkt der Untersuchung bildet der Text. Die Offenbarung des Johannes und besonders die Abschnitte zur Apokalypse sind vielschichtig und komplex, sowohl im Verständnis als auch in ihrer Struktur. Zwar sind die Begebenheiten bisweilen äußerst dramatisch, die Dialoge jedoch sind berichtender und schildernder Natur. Dadurch entstehen viele dramatische Szenen in Berichtform – in Theater und Oper als „Mauerschau“ bekannt. In einem nicht-szenischen Medium wie dem Oratorium lassen sich solche Szenen nur sehr schwierig ausgestalten. Zudem bietet die Handlung keine zu charakterisierenden Personen. Die Kategorie des Charakter- oder Gefühlsgemäldes ist daher für die musikalische Ver1 Vgl. den Beitrag von Kirstin Buchinger in diesem Band. 2 Arnold Schering, Geschichte des Oratoriums (= Kleine Handbücher der Musikgeschichte nach Gattungen, 3), Leipzig 1911, Reprint Hildesheim 1966, S. 391. 3 Rebekka Sandmeier, „Oratorium im Zeichen des Weltendes – Friedrich Schneider und Louis Spohr“, in: Jahrbuch des Staatlichen Instituts für Musikforschung Preußischer Kulturbesitz (2010), S. 213 – 234, und Rebekka Sandmeier, „Kontrapunkt in der Oratorientheorie des 19. Jahrhunderts“, in: Philosophie des Kontrapunkts, hrsg. von Ulrich Tadday (= Musikkonzepte Sonderband), München 2010, S. 60 – 74.
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arbeitung nicht geeignet. Die handelnden Figuren bleiben im Text eher holzschnittartige Typen oder sie treten in entindividualisierten Massen auf. Der im Oratorium musikalisch zu verarbeitende Text fällt in keine der gängigen Formen, die Anfang des 19. Jahrhunderts zum Beispiel von Ferdinand Hand beschrieben wurden: „Entweder die Darstellung nimt [sic] die Handlung und den Kampf selbst in sich auf, oder es werden nur Momente zur Bezeichnung hervorgehoben, auf welchen in den Handelnden bestimmte Gemüthssituationen und bethätigende Gefühle obwalten, in einer mehr oder weniger eng verbundenen Reihe durch den Grundgedanken des Ganzen zusammengehalten.“4
Der apokalyptische Stoff aus der Offenbarung des Johannes ist allerdings weder typisch lyrisch-episch noch dramatisch. Aus diesen Überlegungen zu dem in den Oratorien vertonten Text ergeben sich zwei zentrale Fragen: Wie vertont man einen solcher Art gestalteten Text im Oratorium? Warum haben Komponisten – besonders am Anfang des 19. Jahrhunderts – diesen Text dennoch immer wieder in Oratorien gesetzt?
1.
Wie vertont man den Apokalypse-Stoff ?
Die Frage, wie ein solcher Text komponiert werden kann, gliedert sich in mehrere Teilfragen: Welche Teile der Offenbarung des Johannis werden als Text für ein Oratorium ausgewählt? Als zweite Frage stellt sich – da so gut wie nie der Bibeltext selbst vertont wird – wie der Text geformt wird. Und schließlich bleibt die Frage, wie die Musik selbst gestaltet wird. Aus diesen Entscheidungen des Komponisten bzw. Librettisten ergibt sich die Einordnung in die ästhetischen Kategorien der Oratoriendiskussion der Zeit; das heißt, ob das Oratorium eher dramatisch oder eher lyrisch-episch gestaltet ist. Im Folgenden werden im Detail zwei Oratorien aus dem 18. Jahrhundert, die Apokalypse-Oratorien von Spohr und Friedrich Schneider sowie zwei spätere Oratorien betrachtet. Diese Auswahl beleuchtet die gesamte Bandbreite der Apokalypse-Oratorien zwischen 1750 und 1850, wie die folgende Liste der um 1800 entstandenen Oratorien zum Thema Apokalypse zeigt:
4 Ferdinand Hand, Ästhetik der Tonkunst, Bd. 2, Leipzig 1847, S. 571.
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Tabelle 1: Apokalypse-Oratorien zwischen 1750 und 18505 Georg Philipp Telemann: Der Tag des Gerichts, 1761 Hardenack Otto Conrad Zinck: Das Weltgericht, um 1780 Johann Christoph Kühnau: Das Weltgericht, 1783 Johann Christoph Kühnau: Die Zurückkunft des Welterlösers zum Weltgericht, 1788 (verschollen) Ferdinand Kauer : Das letzte Gericht, um 1800 Joseph Leopold Eybler : Die vier letzten Dinge, 1810 Louis Spohr: Das jüngste Gericht, 1812 Friedrich Schneider : Das Weltgericht, 1820 Vincenz Tuczek: Das jüngste Gericht, um 1820 Louis Spohr: Die letzten Dinge, 1826 Johann Friedrich Fincke: Die Offenbarung Johannis, 1830 August Mühling: Abbadona, 1838 Simon Sechter : Die Offenbarung Johannis, 1845 Franz Krenn: Die letzten Dinge, 1848
2.
Vertonungen des Apokalypse-Stoffes im 18. Jahrhundert
Die früheste Apokalypsevertonung in der obigen Liste ist Georg Philipp Telemanns Der Tag des Gerichts aus dem Jahr 1761 nach einem Text von Christian Wilhelm Alers.6 Der Text ist eine Neudichtung und in vier Betrachtungen gegliedert. Die Handlung wird einer Mischung aus allegorischen Personen, Massen und Personen übertragen. Dabei stellt Alers den Kampf der Engel im Himmel sowie das letzte Gericht als verinnerlichten Kampf der Seele des gläubigen Christen dar. Tabelle 2: Benannte Personen und Personengruppen in Telemanns Der Tag des Gerichts Allegorien: Der Unglaube, Die Vernunft, Der Spötter, Die Religion, Die Andacht, Der Glaube Personen: Erzengel, Jesus, Gottlose, Johannes, drei Selige Chöre: Chor der Laster, Chor der Gläubigen, Chor der Engel und der Auserwählten, Chor der Seligen, Chor der Himmlischen
In der ersten Betrachtung wird die Frage aufgeworfen, ob es ein Gericht überhaupt geben wird, und die jeweiligen Konsequenzen werden diskutiert. Die Debatte 5 Die Liste erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Sie wurde nach Martin Geck, Deutsche Oratorien 1800 bis 1840. Verzeichnis der Quellen und Aufführungen (= Quellenkataloge zur Musikgeschichte, 4), Wilhelmshaven 1971; Howard E. Smither, A History of the Oratorio, Bd. 4: The Oratorio in the Nineteenth and Twentieth Century, Chapel Hill 2000, S. 98, und dem Verzeichnis der deutschen Oratorien 1800 – 1950, http://www.uni-muenster.de/oratorien, 10. 5. 2014, erstellt. 6 Georg Philipp Telemann, Der Tag des Gerichts, Partitur, hrsg. von Max Schneider (= Denkmäler deutscher Tonkunst, erste Folge, 28), Leipzig 1907.
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zwischen Unglaube, Vernunft, Spötter und Religion wird eingerahmt vom Chor der Gläubigen. Die zweite Betrachtung enthält die Ankündigung des Gerichts und die Beschreibung der Plagen. Hier wird der Gläubige durch die Andacht und den Glauben ermahnt und aufgerichtet. Die dritte Betrachtung schildert das Gericht. Jesus spricht zu den Gläubigen und zu den Gottlosen, die jeweils durch die Andacht und die Erzengel beziehungsweise durch den Unglauben und den Chor der Laster unterstützt werden. Im Zentrum dieser Betrachtung befindet sich der „Chor der Gläubigen“, der einen Choralsatz intoniert (vgl. Notenbeispiel 1). Die vierte Betrachtung ist der Siegesfeier und dem Lobpreis gewidmet. Sie enthält viele Chöre, in denen die Seligen sowie Johannes Zeugnis vom Geschehen ablegen.
Notenbeispiel 1: G. Ph. Telemann, Der Tag des Gerichts, S. 75 f., „Chor der Gläubigen“
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Alers’ Text ermöglicht Dialoge zwischen den allegorischen Personen und zudem die Darstellung von Typen. Die Beschreibung der Handlung wird meist dem Chor übertragen. Der Text eignet sich besonders für eine Ausdeutung im Sinne der barocken Affekten- und Figurenlehre. Auch die formale Anlage ist nach barockem Muster gestaltet: Es findet sich überwiegend die gängige Kombination von Rezitativ und da capo-Arie; die dramatischen Rezitative sind dabei als accompagnati vertont. Ungewöhnlich sind lediglich einige Passagen in der dritten und vierten Betrachtung: – Bei den Ariosi der Jesusworte fehlen die einleitenden Rezitative; zudem ist eines durchkomponiert. – Der Chor der Gläubigen singt den einzigen Choral im gesamten Oratorium. Er ist mittig in der dritten Betrachtung platziert. – Die Johannesworte schließlich sind in den Chor der Seligen integriert, der wiederum das deutsche Sanctus singt. Diese Kompositionstechnik ähnelt dem des englischen Anthem (vgl. Notenbeispiel 2).
Notenbeispiel 2: G. Ph. Telemann, Der Tag des Gerichts, S. 101 f., „Chor der Seligen“
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Etwa 20 Jahre nach Telemann komponierte Johann Christoph Kühnau Das Weltgericht auf den Text eines unbekannten Dichters.7 Im Titel des Klavierauszugs nennt er die Komposition „ein Singestück“. Der Text ist – wie der von Telemanns Oratorium – eine Neudichtung, enthält jedoch mehrere Choräle. Die Komposition ist zwar nicht in Abschnitte unterteilt, eine Abfolge von Themen ist aber dennoch klar erkenntlich: Zunächst wird vom Aufbrechen der Siegel und den Plagen berichtet, dann von der Wiederkunft Christi und der Auferstehung der Toten. Es folgt die Beschreibung des Gerichts und der Verbannung des Satan in die Hölle. Schließlich wird von der Erlösung der Gläubigen erzählt und der Lobpreis angestimmt. Der größte Teil des Textes besteht aus Berichten und ist dadurch dem Bibeltext sehr viel näher als Alers’ Text. Obwohl keine Personen von Kühnau benannt werden, können einige Nummern Personen oder Personengruppen wie den Gläubigen oder den Ungläubigen zugeordnet werden. In diesen Abschnitten ist der Text zunehmend reflektierend und steht häufig in der ersten Person. Die Berichte im Text sind als Rezitative mit Arien und als Chöre vertont. Der Chor übernimmt zudem die Choräle und den Lobpreis am Ende des „Singestücks“. Die reflektierenden Abschnitte sind als Arien ohne Rezitativ in einem eher ariosen Stil gesetzt. Alle Formen nutzen die Möglichkeiten der Textausdeutung nach der barocken Figuren- und Affektenlehre.
7 Johann Christoph Kühnau, Das Weltgericht, Klavierauszug, Berlin 1784.
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Notenbeispiel 3: J. Chr. Kühnau, Das Weltgericht , S. 11 – 13, Choral und Chorfuge
Ungewöhnlich in der Vertonung sind die vielen Choräle sowie die Kombination von Choral und Chorfuge (vgl. Notenbeispiel 3). Beides erinnert eher an Johann Sebastian Bachs Passionen als an Oratorien des 18. Jahrhunderts. Kühnau nennt im Vorwort zum Klavierauszug denn auch Carl Heinrich Graun, Carl Philipp Emanuel Bach und Johann Philipp Kirnberger als seine Vorbilder : „Es wird übrigens, was die Bearbeitung dieses Singestücks betrift [sic], von Kennern nicht unbemerkt bleiben, daß ich unserm in der Musik unsterblichen Graun, einem noch lebenden großen Bach und einem Kirnberger im Gesange und Sazze [sic], als würdigen Mustern nachzuahmen mich bemüht habe.“8
Bei einem Vergleich der Kompositionen zur Apokalypse von Telemann und Kühnau fällt sogleich auf, dass keiner der beiden Komponisten sein Werk der Gattung Oratorium zuordnet. Telemann beschreibt sein Werk als „vier Betrachtungen“, Kühnau nennt seine Komposition „ein Singestück“. Versucht man zudem eine Zuordnung zu einem der Pole episch-lyrisches oder dramatisches Oratorium, so fällt keines der Werke eindeutig der einen oder anderen Kategorie zu. Alers’ Text zu Telemanns „Betrachtungen“ scheint eher den ganz frühen Oratorien wie Emilio Cavalieris Rappresentazione di anima e di corpo verwandt, die Musik jedoch dem dramatischen Oratorium. Kühnaus Werk dagegen tendiert in Text und Musik mehr zu den Passionsvertonungen des 18. Jahrhunderts.
8 Kühnau, „Vorbericht“, in: Das Weltgericht, ohne Seitenangabe.
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3.
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Die Apokalypse-Oratorien von Louis Spohr und Friedrich Schneider
Anfang des 19. Jahrhunderts werden in kurzer Abfolge drei Apokalypse-Oratorien komponiert: Louis Spohrs Das jüngste Gericht und Die letzten Dinge sowie Friedrich Schneiders Das Weltgericht. Die drei Oratorien nehmen in Text und Musik aufeinander Bezug.9 Louis Spohrs Das jüngste Gericht entstand 1812 über einen Text von August Arnold.10 Der Text ist eine Neudichtung und nur lose am Bibeltext orientiert.11 Die handelnden Personen sind Jesus, die Erzengel Gabriel, Raphael, Uriel und Michael, sowie Maria und Satan. Dazu kommen Personengruppen mit Engeln, Seligen, Teufeln und Verdammten. Der Text gliedert sich in drei Teile: Der erste Teil kündigt das Gericht und die Erlösung durch Christi Tod an und beschreibt den Kampf mit Satan. Der zweite Teil behandelt die Auferstehung der Toten, während der dritte Teil das Gericht selbst und den Sieg Christi beschreibt. Der Text besteht eher aus einer Reihe von Tableaux, als dass er eine durchgehende Handlung liefert. Es gibt zudem mehr Monologe als Dialoge und bei den Personen handelt es sich um Typen, die häufig in Massenszenen auftreten, nicht um Individuen. Die Vertonung besteht aus fugierten Chorsätzen im sogenannten „Kirchenstil“ und opernhaften Koloraturarien.12 Spohr beschreibt diese Mischung rückblickend (in seiner Selbstbiographie) durchaus kritisch: „Noch jetzt habe ich für einige Chöre und Fugen, sowie für die Partie des Satanas, eine solche Vorliebe, daß ich sie fast für das Großartigste erklären möchte, was ich je zu Stande gebracht habe. Ein anderes ist es aber mit den übrigen Sätzen, besonders mit den Solopartien von Jesus und Maria. Diese sind ganz in dem damaligen Cantatenstyl geschrieben und mit Bravoursätzen und Coloraturen überladen.“13
Acht Jahre nach Spohrs Das jüngste Gericht komponierte Friedrich Schneider Das Welgericht auf einen Text von August Apel.14 Auch dieser Text ist eine 9 Ausführlich dazu vgl. Sandmeier, „Oratorium im Zeichen des Weltendes“. 10 Louis Spohr, „Das jüngste Gericht“, Partitur, mss, Universitätsbibliothek Kassel, 1. Abteilung: 28 Ms. Mus. 481[1, http://orka.bibliothek.uni-kassel.de/viewer/image/1361537517808/ 1/, 10. 5. 2014; 2. Abteilung: 28 Ms. Mus. 481[2, http://orka.bibliothek.uni-kassel.de/viewer/ image/1361538129628/1/, 10. 5. 2014; 3. Abteilung: 28 Ms. Mus. 481[3, http://orka.bibliothek. uni-kassel.de/viewer/image/1361538189228/1/, 10. 5. 2014. 11 Zur Verarbeitung der biblischen Vorlagen in beiden Apokalypse-Oratorien Spohrs sowie zu ihrer theologischen Ausrichtung vgl. den Beitrag von Rüdiger Schmitt in diesem Band. 12 Zur Gestaltung der Fugen in Das jüngste Gericht sowie zu einigen Solonummern vgl. den Beitrag von Andreas Jacob in diesem Band. 13 Louis Spohr’s Selbstbiographie, 2 Bde., Kassel/Göttingen 1860 – 1861, Bd. 1, S. 170. 14 Friedrich Schneider, Das Weltgericht, Partitur, hrsg. von Volker Kalisch (= Das Erbe deutscher Musik, 94), München 1981.
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Neudichtung und nur lose am Bibeltext, überwiegend an dessen Struktur, orientiert. Der Text gliedert sich in drei Teile, denen Apel die Titel „Tod“, „Auferstehung“ und „Gericht“ gibt.15 Der erste Teil befasst sich mit der Auferstehung der Gläubigen und der Rückkehr des Satan; der zweite Teil behandelt die Auferstehung der Toten; der letzte Teil enthält die Verbannung des Satans und der Verdammten in die Hölle sowie den Lobpreis im Himmel. Die Handlung wird durch typisierte Personen oder in Massenszenen vorangetrieben. Neben den Erzengeln, die vom apokalyptischen Geschehen berichten, treten Satan, Eva und Maria auf. Die Massen werden durch verschiedene Chöre dargestellt: Chor der Engel, Chor der Höllengeister, Chor der Eroberer und Chor der Menschen. Das Libretto enthält keine Handlung im eigentlichen Sinn, sondern lediglich Dialoge zwischen Massen und Reflektionen des berichteten Geschehens. Dementsprechend besteht die Musik aus wenigen Arien und vielen Chören. Der Zusammenhang im Oratorium wird – da dieser nicht durch eine geschlossene Handlung gewährleistet werden kann – durch musikalische Mittel hergestellt. Um größere Einheiten herzustellen, bedient sich Schneider wiederkehrender Motive und Überleitungen zwischen den einzelnen Nummern. Weitere sechs Jahre später entstand Louis Spohrs Oratorium Die letzten Dinge auf einen Text von Friedrich Rochlitz.16 Der Text besteht überwiegend aus Zitaten aus der Bibel – nicht allein aus der Offenbarung des Johannes, die – ähnlich dem Text des Messiah von Georg Friedrich Händel – vom Textdichter zusammengestellt und teilweise bearbeitet wurden. Der Text gliedert sich in zwei Teile, die sich wiederum in mehrere Untereinheiten einteilen lassen: 1. Anbetung und Mahnung sowie das Erlösungswerk Christi und 2. die Vorboten des Gerichts, das Gericht und die Vision über die neue Welt Gottes.17 Rochlitz stellt dabei schon im Text viele interne Bezüge zwischen beiden Teilen her, wie zum Beispiel die Erntemetaphorik in der Androhung des Endes Israels. Aufgrund des engen Bezugs zur biblischen Vorlage besteht der Text fast ausschließlich aus Berichten oder Prophezeiungen. Er ist sehr statisch gestaltet und zeigt eher ein Gemälde der Apokalypse denn eine Handlung. Lediglich ein Abschnitt des ansonsten völlig auf die Bezeichnung von Personen oder Chören verzichtenden Textes schildert die Geschehnisse aus der Sicht eines Gläubigen. Dieser Abschnitt basiert nicht auf Bibeltext, sondern stammt von Rochlitz selbst, und er wird als einzige eigenständige Solo-Nummer (Nr. 12: Duetto) im gesamten Oratorium vertont.
15 Kalisch, „Vorwort“, in: Schneider, Das Weltgericht, S. V. 16 Louis Spohr, Die letzten Dinge. The last judgement, hrsg. von Irene Schallhorn und Dieter Zeh, Stuttgart 2007. 17 Zur Textkomposition vgl. den Beitrag von Rüdiger Schmitt in diesem Band.
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„Sei mir nicht schrecklich in der Not, Herr, meine Zuversicht! Ich bin allein, bleibst du mir nicht. Verlassen bin ich, stehst du nicht zu mir! Der Freund vergisst, der Bruder weicht, ich schau auf dich, o Herr, auf dich, mein einzig Teil.“18
Alle anderen Soli sind in Chorsätze eingebunden, welche wiederum meist von Rezitativen eingeleitet werden. Beide kompositorischen Eigenarten weisen auf Händel als Vorbild hin, sowohl auf dessen Anthems als auch auf die Oratorien. Die beiden Teile des Oratoriums werden von großen Ouvertüren eingeleitet. Durch die sorgfältig auskomponierten Übergänge zwischen einzelnen Nummern sowie durch motivisch-thematische Bezüge und einen die zwei Teile überbrückenden Tonartenplan entstehen größere musikalische Einheiten und ein enger Zusammenhang im gesamten Oratorium. Betrachtet man die Bezüge zwischen diesen drei Oratorien, lässt sich zwar keine direkte Entwicklung, aber doch eine Auseinandersetzung mit den theoretischen Ideen zum Oratorium im frühen 19. Jahrhundert erkennen. In der Rezension zu Das jüngste Gericht in der Allgemeinen musikalischen Zeitung wird der Text als „unglückselig“ beschrieben.19 August Apel war vermutlich bei der Aufführung anwesend und wollte es anschließend besser machen,20 indem er einen Text zum Thema schrieb und Schneider zur Komposition anbot. Der Textdichter von Spohrs Die letzten Dinge, Friedrich Rochlitz, wiederum rezensierte die Uraufführung dieses neuen Oratoriums und kritisiert dabei Apels Text: „Das Gedicht hat eine ganz eigene, für die musikalische Composion sehr schwierige Form. […] Diese Schwierigkeit wurde viel grösser dadurch, dass die auftretenden, mehr oder weniger handelnden Personen bey weitem zum grössten Theile lauter Massen – für die Musik, lauter Chöre, sind.“21
Rochlitz entgeht diesem Problem im Text zu Spohrs Die letzten Dinge, indem er die Handlung und den Text ganz anders gestaltet. Während Das jüngste Gericht und Das Weltgericht in Musik und Text sehr opernhaft konzipiert sind, stellt Die letzten Dinge ein andere Art von Oratorium dar, die weder als lyrisch-episch 18 Spohr, Die letzten Dinge, S. X. 19 „Nachrichten. Leipzig“, in: Allgemeine musikalische Zeitung (AmZ) 14 (1812), Sp. 718 – 726, hier Sp. 723. 20 In einem Brief an Karl Borromäus von Miltitz vom 25. Juli 1815 entwirft Apel seine Ideen zum Weltgericht im Vergleich zu Spohrs Oratorium. Vgl. Otto Eduard Schmitt, Fouqu¦, Apel und Miltitz. Beiträge zur Geschichte der Romantik, Leipzig 1908, S. 152 ff. 21 Friedrich Rochlitz, „[Rezension] Das Weltgericht“, in AmZ 22 (1820), Sp. 173 – 182, hier Sp. 175.
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noch als dramatisch beschrieben werden kann. Hier wird eine Abkehr von den typischen Formen in Text und Musik notwendig. Schon im Jahr 1812, in einer Rezension von Grauns Der Tod Jesu, verwies Rochlitz auf einen „dritten Weg“ in der Oratorienkomposition – neben dem dramatischen und dem episch-lyrischen Oratorium –, den er direkt mit Händels Messiah und dem ApokalypseStoff in Verbindung brachte: „Eine dritte Behandlungsweise, die wir allerdings für die edelste und vollkommenste von allen halten, und die rein-biblische oder prophetische nennen möchten, da sie, wie wir nach reifer Überlegung und manchem vergeblichen Versuch gefunden haben, sich nur auf zwey Gegenstände anwenden lässt, und, gelingt die Ausführung des zweyten, wie die des ersten schon wirklich gelungen ist, auch bey beyden nie wieder statt haben kann: wir meynen die Behandlungsweise, wovon Händel im Messias das Vorbild und schönste Muster gegeben hat, und die sich nur noch auf das Weltende anwenden liess.“22
Rochlitz wies auch in seiner Korrespondenz mit Spohr auf die Oratorientradition seit Händel hin23 und Spohr griff diesen Bezug in der Komposition auf.24 Er berichtet in seiner Selbstbiographie: „Ich begann nun mit neuen [wie schon zur Vorbereitung auf die Komposition von Das jüngste Gericht; Anm. d. Verf.] Studien des Contrapunktes und des Kirchenstyles und machte mich mit großem Eifer an die Composition […]“25
Die Bezüge zu Händels Oratorien und besonders zu dessen Messiah sind demnach sowohl im Text als auch in der Musik des Oratoriums Die letzten Dinge intendiert. Musikalisch zeigen sie sich in den choralartigen Chorsätzen, die nicht so sehr auf die Bach’schen Passionen verweisen, sondern auf die Behandlung des Chores in Händels Oratorien. Der Kontrast zwischen Das jüngste Gericht und Die letzten Dinge in ihrer textlichen und musikalischen Gestaltung mag auch eine Antwort auf die Frage geben, warum Spohr zweimal den gleichen Stoff vertont. In den Passagen zu Die letzten Dinge in seiner Selbstbiographie26 verwirft er die musikalische Ausgestaltung von Das jüngste Gericht, die nicht auf die Oratorientradition Händels rekurriert: In den opernhaften Arien sieht er einen Mangel; nur die fugierten Chorsätze hält er für gelungen. Mit Die letzten Dinge präsentieren Spohr und 22 Rochlitz, „Recension Der Tod Jesu“, in: AmZ 14 (1812), Sp. 783 f. (Anm.). 23 Ernst Rychnovsky, „Louis Spohr und Friedrich Rochlitz: Ihre Beziehungen nach ungedruckten Briefen“, in: Sammelbände der Internationalen Musikgesellschaft 5 (1903/1904), S. 253 – 313, hier S. 264. 24 Zur Verwendung von Formen der älteren Kirchenmusik vgl. den Beitrag von Daniel Glowotz in diesem Band. 25 Louis Spohr’s Selbstbiographie, Bd. 2, S. 170. 26 Vgl. Zitat oben.
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Rochlitz nun einen ganz neu konzipierten Oratorientypus im Sinne des „dritten Weges“.
4.
Apokalypse-Oratorien nach Spohr
Nach dem Blick auf die Apokalypse-Oratorien von Spohr und Schneider stellt sich die Frage, ob die Abkehr von der opernhaften Vertonung des Stoffes in Spohrs Die letzten Dinge einzigartig ist oder eine generelle Entwicklung einleitet. Daher werden im Folgenden zwei spätere Kompositionen vorgestellt. August Mühlings Oratorium Abbadona entstand im Jahr 183827 und basiert auf Friedrich Gottlieb Klopstocks Messias. Der Text zitiert Klopstocks Dichtung teilweise wörtlich und könnte von Mühling selbst zusammengestellt worden sein.28 Die Handlung geht auf eine Legende, die im Zusammenhang mit der Apokalypse steht, zurück. Sie setzt die Kenntnis des Geschehens in der Offenbarung des Johannes voraus, berichtet aber nicht direkt davon. Das Oratorium ist in zwei Teile gegliedert: Im ersten Teil wird Abbadona von Adramelech verführt, was Abdiel, der Abbadona liebt, zu verhindert sucht. Nach dem Kampf der Engel im Himmel wird Abbadona mit den anderen abtrünnigen Engeln aus dem Himmel verbannt. Im zweiten Teil bereut Abbadona und erkennt den versöhnenden Tod Christi. Mit der Auferstehung Christi empfindet auch Adramelech Reue, und beiden wird daraufhin vergeben. Der Text gibt somit eine Liebesgeschichte zwischen echten Figuren – wenn auch Engeln – wieder. Es entstehen Dialoge, Kontraste und Konflikte, die sich gut zur musikalischen Charakterdarstellung eignen und zudem viele Möglichkeiten zur Reflektion und Entwicklung einzelner Charaktere geben. Das Personal des Oratoriums setzt sich denn auch ganz anders zusammen als in den bisher besprochenen Vertonungen des apokalyptischen Stoffes: Bei Mühling begegnet man weniger Massen und Typen, sondern neben den Engeln Abdiel, Eloa, Abbadona und Adramelech lediglich dem Chor der Engel und dem Chor der Gefallenen. Zehn Jahre später komponierte Franz Krenn die Kantate Die vier letzten Dinge auf einen Text von Christoph Kuffner.29 Der Text ist eine Neudichtung mit vielen Anlehnungen an Legenden um die Apokalypse, ähnlich dem Totentanz in der bildenden Kunst. Er gliedert sich in vier Teile: „Der Tod“, „Das jüngste Gericht“, „Die Hölle“ und „Der Himmel“:
27 August Mühling, Abbadona. Oratorium in zwey Handlungen, Libretto, Magdeburg 1838. 28 Vgl. Mühling, [Vorwort], in: Abbadona, S. 3 f. 29 Franz Krenn, Die vier letzten Dinge. Cantate, Libretto, Wien 1848.
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Tabelle 3: Personen und Personengruppen in Krenns Die vier letzten Dinge 1. Teil: Tod, Mädchen, Dulder, Held, Mädchen & Jüngling Chöre: der Fröhlichen, der Krieger, der Mädchen, der Qualgeister, der Freunde 2. Teil: Ithuriel, Abadonah, Richter Chöre: der Anbetung, der Engel 3. Teil: Männliche Stimme, Kindsmörderin, reuige Sünder, Qualgeist, Verdammte Chor der Verdammten 4. Teil: Seelen Chor
Im ersten und dritten Teil treten bestimmte Personentypen auf, denen wiederum Chöre zugeordnet sind. So können zwar Charakterbilder dargestellt werden, es kommt jedoch zu keinem Konflikt und somit zu keiner Entwicklung. Auch der zweite und vierte Teil verlaufen eher statisch: Sie enthalten den Bericht der Engel über das Gericht und den Lobpreis der Seelen. Auch hier entstehen eher „Gemälde“ als eine dramatische Handlung. Beide hier besprochenen späteren Oratorien zum Apokalypse-Stoff wählen Legenden als Basis für den Text und sind nur sehr lose an die Geschehnisse in der Offenbarung des Johannes gebunden. Musikalisch-dramatisch gehen sie allerdings ganz unterschiedliche Wege: Während Mühlings Abbadona individuelle Schicksale dramatisch darstellt, setzt Krenns Kantate auf eine holzschnittartige, statische Vertonung von Typen und Situationen. Somit scheint Spohrs erfolgreicher Umgang mit dem schwierigen Text der Apokalypse in Die letzten Dinge eher eine Ausnahme in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts darzustellen. In seinem Oratorium findet kein dramatischer Kampf zwischen Gut und Böse statt, es gibt keine musikalisch effektreichen Massenszenen und keine extreme textliche oder musikalische Charakterisierung von Gruppen oder Individuen. Spohrs Oratorium steht eher in der Tradition von Händel, Joseph Haydn und Graun, und bildet damit ein Bindeglied zu Felix Mendelssohns Oratorien.
5.
Der Apokalypse-Stoff und sein zeitgeschichtlicher Kontext
Nach diesem Überblick über das Repertoire der Apokalypse-Oratorien zwischen 1750 und 1850 kann nun die anfangs gestellte, zweite Frage erörtert werden: Warum ist der Stoff trotz der Schwierigkeiten in der musikalischen Umsetzung für Komponisten so attraktiv, dass in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts mindestens zehn neue Oratorien zu diesem Themenkomplex entstehen? Zwei miteinander verbundene Deutungsansätze sollen im Folgenden vorgestellt werden: die politische Situation in Deutschland in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und der Aufstieg einer bürgerlichen Musikkultur, die sich
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in Bezug auf die Gattung Oratorium besonders in den Laienchören und den Musikfesten manifestiert. Der Kampf zwischen Gut und Böse, der in der Apokalypse dargestellt wird, sowie die Schrecken der Vorboten des jüngsten Gerichts wie Krieg, Hunger und Verwüstung können Anfang des 19. Jahrhunderts in einen direkten Bezug zur französische Besetzung von weiten Teilen Deutschlands sowie zu den Koalitionsund Befreiungskriegen gestellt werden.30 Kirstin Buchinger beschreibt eindrücklich den Niederschlag, den Krieg und napoleonische Besetzung in Literatur und Kunst Anfang des 19. Jahrhunderts fanden.31 Die Koalitionskriege fanden ab 1806 vermehrt auf deutschem Gebiet statt, wie auch die darauf folgenden Befreiungskriege. Beide brachten Kriegsgreuel, Hunger und Not in die deutschen Städte. Nach dem Wiener Kongress wurden zwar die Kriegshandlungen eingestellt, doch folgten in Deutschland innenpolitische Unruhen, die 1848 in die Revolution mündeten. Die Oratorien zur Apokalypse entstanden in den ruhigeren Zeiten zwischen Kriegen und Revolution: Zwischen 1810 und 1812 schrieben Joseph Leopold Eybler und Spohr, in den 1820er Jahren Schneider, Vincenz Tuczek, Spohr und Johann Friedrich Fincke, und gegen Ende der 1840er Jahre Simon Sechter und Krenn Oratorien mit apokalyptischer Thematik. Hier könnten die Erfahrungen der Kriegs- und Revolutionsjahre verarbeitet worden sein. Manche Oratorien und ihr Aufführungskontext legen eine rückwirkende Interpretation in diesem Sinne nahe. So schreibt Spohr rückblickend in seiner Selbstbiographie zur Uraufführung von Das jüngste Gericht im Jahr 1812: „Da die erwähnte Feier des Napoleons-Tages kurz vor dem russischen Feldzuge die letzte war, die in Erfurt, sowie überhaupt in Deutschland stattfand, so hat man es ominös finden wollen, daß der Hauptbestandtheil desselben Das jüngste Gericht war.“32
Auch im Text von Schneiders Das Weltgericht können zeitgeschichtliche Bezüge gesehen werden: „Ohne den Satan des Oratoriums mit Napoleon gleichsetzen zu wollen, so wäre die Gestaltung dieser Figur zu einer anderen Zeit als 1814 zweifellos anders ausgefallen. Keine Frage: Die Weltgerichts-Thematik im Allgemeinen muss als Parabel auf die Zeitumstände verstanden werden und Apels von Schneider vertonter Text im Besonderen!“33
30 31 32 33
Ausführlich dazu vgl. Sandmeier, „Oratorium im Zeichen des Weltendes“. Vgl. den Beitrag in diesem Band. Louis Spohr’s Selbstbiographie, Bd. 1, S. 171. Ronald Müller, „Gedanken zu einer ,Weltgerichts‘-Dramaturgie“, in: Friedrich Schneider Ehrung der Stadt Dessau, Dessau 2004, S. 95 – 115, hier S. 97.
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Auch wenn Schneider sich nicht direkt dazu geäußert hat,34 ist die Frage nach einem politischen Bezug in Kompositionen zur Apokalypse-Thematik nicht ganz abwegig. Als Kuriosum sei die Oper Das Weltgericht oder der schwäbische Jupiter in seinem Grimm von Carl Borromäus Weitzmann aus dem Jahr 1826 erwähnt.35 Hierbei handelt es sich um eine politische Satire im schwäbischen Dialekt, in welcher die Befreiungskriege in das Geschehen der Apokalypse einbezogen sind: „Jupiter (träumend) Gottlobadank! Der Pla ist jez gemacht – Sobald’s bei de Kroistruppa dohinda kracht, So schwänkt si der General Grai Mit de Küraßreiter über da Bodasai So so – links gschwänkt – links Kinderla! – Halt! – Geand de Russa Pudelkappa – der Wind droht so kalt, – So ist’s reacht – Bravo! Der Blücher fällt em Boanapatle in d’Flanka, Und deviliert dot hinda fürre bez Konstantinopel in Franka; Noch laß i us meim Dampfschiff en reachta Pfuzger fahra, Noch deck i d’Franzosa nu zu mit meim Lerchagara – Und so sot es, wie i moi, uf ’s Düpfle na gau, Wie’s i und der Prinz Eugeni will hau. – Mars Jez macht er zum alta Krieg aist da Pla Und’s fangt bald wieder a nuier a. Hätt jez dear Ma nu au a Quintle Verstand, So könnt ma’n jez wohl braucha in Griachaland; Aber do ist Chrisam und Tauf verlaura, Sobald er geassa hot, leit er wieder uf d’Auhra. Gang Merkur, weck’en auf, Oder i vertlauf. – “36
Anders als Schneider hat Spohr zum Thüringer Musikfest 1815 die Kantate Das befreite Deutschland geschrieben und wurde später auch politisch aktiv.37 Hier scheint eine politische Deutung der Apokalypse-Oratorien vielleicht plausibler als bei Schneider, über dessen politische Meinung nicht viel bekannt ist. Zudem zeigt sich in Spohrs Oratorienschaffen auch der Zusammenhang mit 34 Lediglich sein Schüler Friedrich Kempe berichtet, dass Schneider die Revolution von 1848 interessiert verfolgt hätte. Vgl. Friedrich Kempe, Friedrich Schneider als Mensch und Künstler, Dessau 1859, S. 337 – 344. 35 Carl Borromäus Weitzmann, Das Welt-Gericht oder der schwäbische Jupiter in seinem Grimm, Libretto, Ehingen 1826. 36 Ebd. 37 Herfried Homburg, „Politische Äußerungen Louis Spohrs“, in: Zeitschrift des Vereins für Hessische Geschichte und Landeskunde 75/76 (1964/1965), S. 545 – 568.
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der im 19. Jahrhundert aufkeimenden bürgerlichen Musikkultur. Zwar war Spohr in Gotha und Kassel am Hof angestellt, er unterhielt jedoch enge Verbindungen zum liberalen Bürgertum.38 In Gotha gründete er die Thüringer Musikfeste mit, auf denen 1815 in Frankenhausen die Kantate Das befreite Deutschland uraufgeführt wurde. In Kassel gründete er 1822 den Cäcilienverein. Beide Institutionen wurden Orte der bürgerlichen Zusammenkunft und der Oratorienpflege. Die Apokalypse-Thematik scheint ideal geeignet für Kompositionen gewesen zu sein, die von bürgerlichen Vereinigungen musikalischer Laien aufgeführt worden sind, da die Massenszenen viele Möglichkeiten gaben, die Chöre einzubinden. Der Stoff wird – obwohl biblisch – weder als ausgeprägt kirchlich noch sehr weltlich wahrgenommen und kann daher in der musikalischen Ausformung beiden Stilen, dem der Kirchenmusik und dem der Oper gerecht werden. Diese Merkmale erlauben Aufführungen an typisch bürgerlichen Orten wie der Musikhalle und den Musikfesten. Außerdem eignet sich die Dramatik der Handlung, sofern sie in den Texten deutlich kontrastiert wird, in idealer Weise zur bildlichen Vertonung. Besonders das Böse kann in Text und Musik auf interessante Art dargestellt werden – oftmals fesselnder als das Gute. Dies wird auch in den zeitgenössischen Rezensionen wahrgenommen. So schreibt zum Beispiel Adolf Bernhard Marx in der Rezension der Partitur von Schneiders Das Weltgericht: „Satan ist ein kräftiger, wenn auch nicht eben konsequenter Charakter, den das ewige Lobsingen der Diener Gottes nicht befriedigen konnte, der selbst in sich den Drang fühlte, etwas zu thun, zu schaffen, der die Menschen werth hielt, von ihm zur Freiheit geführt zu werden und sich im Erfolge getäuscht sieht. Soweit Ref. [Marx] einen solchen Satan sich verlebendigen kann, so weit findet er ihn in der Scene der ersten Abtheilung vom Komponisten gut charakterisiert, findet namentlich die Behandlung des Basses und die stete Unruh malende Figur in der zweiten Violine vortrefflich. Leider ist Satan aber die einzige Figur von dieser Bedeutung im ganzen Gedichte und so hat der Komponist gar nicht Gelegenheit gehabt, seine Kraft noch einmal und wo möglich in einer anderen Sphäre zu bewähren.“39
Der dramatische Stoff ermöglicht zudem eine opernhafte Ausgestaltung in der Musik. Besonders die Massenszenen in Spohrs Das jüngste Gericht und Schneiders Das Weltgericht ähneln dem zeitgenössischen Opernrepertoire denn auch stark.
38 Vgl. Wolfram Boder, Die Kasseler Opern Louis Spohrs, Kassel 2007, S. 54 – 67. 39 Adolf Bernhard Marx, „Recensionen. Das Weltgericht“, in: Berliner allgemeine musikalische Zeitung 1 (1824), S. 106 – 109, 125 – 128, 134 – 137 und 142 – 145, hier S. 127.
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6.
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Schluss
Abschließend sei das Beziehungsgeflecht zwischen Apokalypse-Stoff im Oratorium, in der Oratorientheorie, der Politik und der bürgerlicher Musikkultur noch einmal am Beispiel von Spohrs Die letzten Dinge dargestellt. Die Oratorientheorie der Zeit arbeitet vornehmlich mit binären Gegensätzen: Die Behandlung ist entweder lyrisch-episch oder dramatisch, der Text besteht aus dem Bibeltext oder einer Neudichtung, die Musik enthält Choräle oder Chorfugen, die Gattung lehnt sich eher an die Passion oder das Oratorium (und damit an Johann Sebastian Bach oder Georg Friedrich Händel) an. In manchen theoretischen Schriften40 werden diese Gegensätze in den verschiedenen Kategorien miteinander verbunden. So entsteht eine Gegenüberstellung von lyrischepischem Oratorium, dessen Text auf Bibeltext basiert, das Choräle beinhaltet und die Passionen Bachs zum Vorbild hat, auf der einen und dem dramatischen Oratorium, dessen Text eine Neudichtung ist, das Chorfugen beinhaltet und die Oratorien Händels zum Vorbild nimmt auf der anderen Seite.41 Die kompositorische Praxis jedoch lässt sich nicht ganz so einfach darstellen. Zwar wurde Spohr bei der Komposition von Die letzten Dinge durch das Vorbild Händels zu Kontrapunktstudien angeregt und die Chorfugen bilden denn auch ein wichtiges Element in dem Oratorium, jedoch finden sich auch choralartige Chorsätze. Beide Arten von Chorsatz spiegeln das deutsche Nationalbewusstsein wider : Einerseits zeigt sich dieses musikalisch, und zwar durch die Orientierung an Bach und Händel, andererseits durch die ausführenden Laienchöre und deren Verbindung zur liberalen Politik. Händels Chorfugen werden in der Oratorientheorie immer wieder als Repräsentation des Erhabenen dargestellt.42 Doch erkennt Edmund Burke im Erhabenen gleichzeitig auch die Macht. Burke bringt hier die Beschreibung des Satans aus dem ersten Buch von John Miltons epischer Dichtung Paradise Lost als Beispiel.43 „[…] he, above the rest in shape and gesture proudly eminent stood like a tow’r : his form had yet not lost all her original brightness, nor appear’d less than Arch-Angel ruin’d, and th’ excess of glory obscur’d : […]“44 40 So zum Beispiel bei Carl Hermann Bitter, Beiträge zur Geschichte des Oratoriums, Berlin 1872. 41 Ausführlich dazu vgl. Sandmeier, „Kontrapunkt in der Oratorientheorie“. 42 So zum Beipsiel bei Hand, Ästhetik der Tonkunst, Bd. 2, S. 457 – 463. 43 Edmund Burke, A Philosophical Enquiry into the Origin of Our Ideas of the Sublime and the Beautiful (21759), hrsg. von Adam Phillips, Oxford 1990, S. 54 – 57. 44 John Milton, Paradise Lost, London 1738, 1. Buch, Zeile 589 – 594. Hier sei noch einmal
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Die Chorfuge im Händelschen Stil kann damit im 19. Jahrhundert als „Klang der Macht“ identifiziert werden.45 Dies erklärt sowohl die politische Stellung von Händels Oratorien im Repertoire der Vereine und Musikfeste, den Einfluss von Händels Chorstil im Oratorium am Anfang des 19. Jahrhunderts als auch die Popularität des Apokalypse-Stoffes am Anfang des 19. Jahrhunderts: Er bietet reichlich Möglichkeiten zu Chorfugen im Händelschen Stil, die in Spohrs Die letzten Dinge auch realisiert wurden.
besonders darauf hingewiesen, daß auch Burke einen Stoff aus der Offenbarung wählt als Beispiel für die Einheit von Erhabenem und Macht. 45 Nicholas Mathew, „Beethoven’s Political Music, the Handelian Sublime and the Aesthetics of Prostation“, in: 19th-Century Music 33 (2009), S. 110 – 150, hier S. 112 – 114.
Rüdiger Schmitt
Louis Spohrs Oratorien Die letzten Dinge und Das jüngste Gericht in bibelwissenschaftlicher Perspektive
Die Libretti der beiden Apokalypse-Oratorien von Louis Spohr, Die letzten Dinge und Das jüngste Gericht,1 basieren nicht einzig auf dem Material der Johannesapokalypse selbst, sondern zitieren bzw. nehmen Bezug auf zahlreiche Texte und Themen des Alten Testaments, sodass eine vergleichende Analyse aus gesamtbiblisch-theologischer Sicht am Platze scheint. Der vorliegende Beitrag gliedert sich in drei Teile: 1.) Eine Darstellung und Analyse des Textgebrauchs in Die letzten Dinge, 2.) eine Analyse des Librettos zu Das jüngste Gericht, und 3.) ein abschließender Vergleich beider Libretti.
1.
Zum biblischen Textgebrauch in Die letzten Dinge
Vorauszuschicken ist hier, dass der Dichter des Librettos von Die letzten Dinge, Friedrich Rochlitz, von Jugend auf als Schüler der Thomasschule zu Leipzig und als Student der Theologie natürlich bestens vertraut war mit den biblischen Texten, ihrer liturgischen Verwendung im lutherischen Gottesdienst und ihrer Rezeption im zeitgenössischen Oratorienschaffen. Rochlitz ist darüberhinaus – vor allem in seinen späteren Jahren – als Dichter geistlicher Lieder und als Herausgeber des Leipziger evangelischen Gesangbuches (1831) hervorgetreten.2 Die Entstehung des Librettos zu Die letzten Dinge ist außerordentlich gut do-
1 Friedrich Rochlitz, Die letzten Dinge. Oratorium nach Worten der Heiligen Schrift, Kassel 1826; August Arnold, Das jüngste Gericht. Oratorium in drei Abteilungen von August Arnold. In Musik gesetzt von Louis Spohr, Erfurt o. J. Die Textzitate sind diesen Ausgaben entnommen. Die Zählung der Nummern folgt einerseits der Pariturausgabe: Louis Spohr, Die letzten Dinge, hrsg. von Irene Schallhorn und Dieter Zeh, Stuttgart 2008, andererseits – für Das jüngste Gericht – der unter musikalischen Gesichtspunkten auf Grundlage der autographen Partitur vorgenommenen Zählung von Andreas Jacob. Siehe dazu dessen Beitrag in diesem Band. 2 Vgl. Woldemar von Biedermann, Art. „Rochlitz, Johann Friedrich“, in: Allgemeine Deutsche Biographie 30 (1890), S. 85 – 91.
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kumentiert, sowohl durch den Briefwechsel zwischen Spohr und Rochlitz,3 als auch in Spohrs Selbstbiographie.4 Das Libretto ist 1825 von Rochlitz, vormals Redakteur der Leipziger Allgemeinen musikalischen Zeitung (AmZ), Spohr zur Vertonung angetragen worden und Rochlitz hat auch im Hinblick auf die musikalische Gestaltung – wie im Briefwechsel zwischen Rochlitz und Spohr dokumentiert – Vorschläge unterbreitet. Wie bereits der Untertitel von Rochlitz Libretto, „Oratorium, nach Worten der heil. Schrift zusammengesetzt“, verrät, besteht Die letzten Dinge ausschließlich aus dem biblischen Text, diesen teils unmittelbar zitierend, teils ihn paraphrasierend zusammenfassend mit nur wenigen Eigenanteilen des Verfassers selbst. Rochlitz selbst hat seine Vorstellung in einem Brief an Spohr vom 2. Juli 1825 folgendermaßen zusammengefaßt: „Ich habe ein Oratorium – nicht gedichtet, denn, meiner Überzeugung nach, kann und soll ein Oratorium, im reinsten und höchsten Sinne des Wortes, überhaupt nicht gedichtet, sondern, wie ich hier gethan, blos aus den erhabensten und (auch für Musik) passendsten Stellen der heil. Schrift zusammengestellt werden; und frage an, ob Sie geneigt sind, es in Musik zu setzten.“ Und weiter : „Die Wahl und Anordnung der Stellen ist, wie im Ganzen, so in jedem Einzelnen, mit ganz bestimmter Hauptrücksicht auf Musik und deren Effekt getroffen.“5
Rochlitz Libretto gliedert sich in zwei Hauptteile (Nr. 1 – 10 und 11 – 19), wobei der erste Teil sich wiederum in zwei Untereinheiten, einmal Anbetung und Mahnung (Nr. 2 – 4) und dann dem Erlösungswerk Christi (Nr. 5 – 10) einteilen läßt. Die erste Untereinheit mit Anbetung und Mahnung (Nr. 2 – 4) speist sich in unmittelbarem Anschluß an die Reihenfolge in der Johannesapokalypse aus dem Briefeingang Offb 1,4 – 8, der Berufungsvision 1,9 – 20, aus den sieben Sendschreiben in Kapitel 2, sowie aus der Theophanieschilderung in Kapitel 4 (Nr. 3). Daran schließt sich die zweite Untereinheit mit der Schilderung des Erlösungswerkes Christi an (Nr. 5 – 10), das auf Kapitel 5 über das Lamm und der Vision über die große Schar aus allen Völkern in 7,9 – 17 basiert. Der erste Teil schließt in Nr. 9 mit einer freien Paraphrase aus den Versen 21,4 und 21,7 aus der Vision über das neue Jerusalem. Der zweite Teil des Oratoriums zeigt einen dreiteiligen Aufbau: 1. Die Vorboten des Gerichts (Nr. 11 – 13), 2. das Gericht selbst (Nr. 14 – 16) und 3. (Nr. 17 – 19) die Vision über die neue Welt Gottes. Der erste Abschnitt über die Vorboten des Jüngsten Gerichts besteht ausschließlich aus alttestamentlichen Zitaten. 3 Ernst Rychnovsky, „Ludwig Spohr und Friedrich Rochlitz. Ihre Beziehung nach ungedruckten Briefen“, in: Sammelbände der Internationalen Musikgesellschaft 5 (1903/1904), S. 253 – 313. 4 Louis Spohr’s Selbstbiographie, 2 Bde., Kassel/Göttingen 1860 – 1861, Bd. 2, S. 140 f. 5 Friedrich Rochlitz an Louis Spohr, Brief vom 2. Juli 1825, in: Rychnovsky, „Spohr und Rochlitz“, S. 264.
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Diese gehören allerdings nicht zum ersten Entwurf, sondern wurden von Rochlitz auf Spohrs Bitte hinzugefügt, um das Werk an die Dauer zeitgenössischer Oratorien anzugleichen:6 zuerst Nr. 11 mit einer kürzenden Bearbeitung von Ez 7,2 – 27 über das kommende Ende, gefolgt von dem Duett Nr. 12 mit einem Bekenntniss der Zuversicht angesichts des Gerichts aus Jer 17,17 („Sei mir nicht schrecklich in der Not, Herr, meine Zuversicht“), auch wenn Freund und Bruder weichen (Paraphrase aus Jer 9,3 f.), und beschlossen mit Nr. 13 von der Zusage des göttlichen Mit-Seins aus Jer 29,13 – 14 („So ihr mich von ganzem Herzen suchet, will ich mich finden lassen“) und Ez 37,27 („Ich will euer Gott sein“). Das Gedicht über das nahende Ende in Ez 7,2 ff. nimmt die Androhung des Endes Israels in Am 8,2 – insbesondere die Erntemetaphorik – auf7 und gestaltet sie zu einem großen Gedicht über das Ende Jerusalems und Judas. Zentral ist hier vor allem Vers 27b mit der Aussage, dass Jahwe Juda nach dem richten wird, wie es verdient hat, damit sie erkennen sollen, dass Jahwe der Herr ist. Den alttestamentlichen Texten kommt in der endgültigen Fassung eine Scharnierfunktion zwischen Teil 1 und 2 zu. Darüber hinaus reflektieren diese theologisch das Verhältnis von Altem und Neuem Testament – Verheißung und Erfüllung. An Ez 7,1 „das Ende kommt; von allen vier Enden der Erde kommt nun das Ende“ knüpft dann auch Offb 7,1 mit der Schilderung der vier Engel an den vier Enden der Erde an. Gerade die Ezechiel-Texte boten sich hier als alttestamentliche Referenzen an, da die Ezechiel-Visionen, insbesondere Kapitel 4, dem Autor der Johannesapokalypse als Vorlage dienten. Weiterhin nimmt z. B. Offb 10,9 ff. Ez 3,1 – 3 und Offb 19 Ez 38 – 39 auf.8 Rochlitz Libretto rekurriert hier jedoch keinesfalls auf eine platte Gegenüberstellung von Altem Testament als Gesetz und dem Evangelium, sondern betont mit der Aufnahme der Zuversichtsbekundungen aus Jer 9,3 f. und 17,17 gerade die Aufeinanderbezogenheit von Altem und Neuem Testament. Mit dem Zitat „Die Stunde des Gerichts, sie ist gekommen“ aus Offb 14,7 – 8 (Nr. 14) setzt Teil 2.2. mit dem Endgericht über Lebende und Tote an. Es folgt der Jubel über den Fall Babylons, der Großen, aus Kapitel 18,2 (Nr. 15). Auch hier wird die Metaphorik der Ernte (hier aus Offb 14,15) aufgenommen. Ausgespart wird von Rochlitz interessanterweise das Motiv der tausendjährigen Bindung 6 Vgl. Friedrich Rochlitz an Louis Spohr, Brief vom 1. November 1828, in: Rynovsky, „Spohr und Rochlitz“, S. 268 f. Schon in seiner Rezension zu Der Tod Jesu (in: AmZ 11 (1812), Sp. 783 f.) hat Rochlitz die rein „biblisch-prophetische“ Betrachtungsweise als einzige für die Apokalypse adäquate bezeichnet. 7 Vgl. Walther Zimmerli, Ezechiel 1 – 24 (= Biblischer Kommentar, XIII/1), Neukirchen-Vluyn 1969, S. 168 f. 8 Vgl. Karl-Friedrich Pohlmann, Der Prophet Hesekiel/Ezechiel Kap. 1 – 19 (= Das Alte Testament deutsch, 22/1), Göttingen 1996, S. 42.
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und des Endkampfes gegen den Satan aus Offb 20 – darauf wird unten noch einzugehen sein. Der ganze Vorgang des Weltgerichts wird in Die letzten Dinge nicht weiter ausgeführt, sondern lediglich am Ende von Nr. 15 mit „Es ist geschehen“ zusammengefaßt. Teil 2.2 endet entsprechend folgerichtig mit der Seligpreisung der Toten, die im Herrn sterben (Nr. 16) aus Offb 14,13. Teil 2.3 ist schließlich der neuen Welt Gottes gewidmet, eingeleitet mit Nr. 17 „Sieh einen neuen Himmel und eine neue Erde“ aus Offb 21,3, in der Gott unter den Menschen wohnen wird. Es folgen die Ankündigung des baldigen Kommens Christi und die Antwort „Ja komm, Komm Herr Jesu!“ aus Offb 22,12 und 22,20 in Nr. 18. Das Oratorium endet mit dem sogenannten ,Lied der Überwinder‘ Nr. 19 aus Offb 15,3 – 4 (seinerseits eine Art Pasticcio aus Jer 10,6 f.; 16,19 – 21; Ps 86,9 und Ps 145,17) und dem „Halleluja! Sein ist das Reich“. Auffallend an Rochlitz’ Libretto ist – wie bereits erwähnt – das völlige Fehlen der Thematik des Endkampfes gegen „die alte Schlange, das ist der Teufel und der Satan“ (Offb 20,2), sowie der nur äußerst kurze Rekurs auf das Gericht mit den Worten „Es ist geschehen“. Rochlitz konzentriert sich vielmehr völlig auf das göttliche Werk der Erlösung unter Ausschaltung aller mythologischen Elemente. Rochlitz ist hier ganz auf einer Linie mit den Aufklärungstheologen Johann Salomo Semler und Otto Justus Basilius Hesse, die im Kontext der sogenannten „Teufelsstreite“ die Existenz des Teufels als Person in Frage stellten.9 Für Semler ist der Teufel Bestandteil der antiken jüdisch-heidnischen Mythologie, die ein aufgeklärtes Christentum zu überwinden habe. Hesse schreibt dementsprechend in seinem Versuch einer biblischen Dämonologie: „GOtt höret auf GOtt zu seyn, wenn der Teufel das wäre, wofür er ausgegeben wird. Kan Satan noch immer die Werke GOttes zerrütten, hat er noch einen steten Einfluß auf die Erde und auf den Menschen, ist er noch immer der unsichtbare mächtige Verführer zur Sünde, der er seyn soll; so hätte ja der Sohn GOttes, der dazu erschien, die Macht des Teufels wegzuschaffen und seine Werke zu zerstören, seine Absichten nicht erreichet.“10
Auch Rochlitz Zeitgenosse, Friedrich Schleiermacher, stritt in seinem Christlichen Glauben jedwede Bedeutung einer persönlichen, widergöttlichen Macht ab: 9 Siehe Quellenband zum Teufelsstreit der Spätaufklärung mit Texten von He(i)nrich Martin Gottfried Köster, Christian Wilhelm Kindleben, Johann Christian Riebe und Johann Karl Bonnet, hrsg. von Dirk Fleischer (= Religionsgeschichte der frühen Neuzeit, 19), Nordhausen 2013. Zur Bedeutung Semmlers siehe Hans-Joachim Kraus, Geschichte der historischkritischen Erforschung des Alten Testaments, Neukirchen-Vluyn 41991, § 30; Henning Graf Reventlow, Epochen der Bibelauslegung Bd. IV: Von der Aufklärung bis zum 20. Jahrhundert, München 2001, S. 175 – 189. 10 Otto Justus Basilius Hesse, Versuch einer biblischen Dämonologie, oder Untersuchung der Lehre der heil. Schrift vom Teufel und seiner Macht. Mit einer Vorrede und einem Anhang von Johann Salomo Semler, Halle 1776, Nachdruck Waltrop 1996.
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„Die Schriften des neuen Bundes stellen nirgends eine eigentliche Lehre vom Teufel auf oder verweben ihn irgendwie in unsere Heilsordnung.“11
Dass Christus in erster Linie als Retter, nicht aber als Richter begriffen wird, ist gut lutherische Tradition und wird von Rochlitz in Nr. 13 auch eigens betont („So ihr mich von ganzem Herzen suchet, will ich mich finden lassen“, nach Jer 29,13 f.). Die altestamentlichen Scharniertexte mit dem Bekenntnis der Zuversicht aus Jer 9,3 f. und 17,17 und der Verzicht auf die Gerichtsschilderung mit seinen Strafen im freurigen Pfuhl zeigen zudem eine Tendenz zur Verinnerlichung des Eschatons. Rochlitz hat diese Absicht selbst gegenüber Spohr in einem Brief vom 18. Juli 1825 dargelegt und schreibt: „[…] daß es [das Oratorium; Anm. d. Verf.] nicht blos das Erzählende oder äußerlich Geschehende, sondern auch die nach und nach sich entwickelnden Gefühle anzeigt.“12
Dies geht zwar nicht soweit wie in Kants Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, wo der Mensch nur vor den inneren Richter, sein aufwachsendes Gewissen, tritt,13 trifft sich aber durchaus mit entsprechenden Tendenzen der zeitgenössischen Theologie, wie sie insbesondere Schleiermacher zum Ausdruck gebracht hat.
2.
Das jüngste Gericht von August Arnold
Die letzten Dinge war bekanntlich das zweite von Spohrs Apokalypse-Oratorien, diesem ging das Oratorium Das Jüngste Gericht auf der Textgrundlage des Pädagogen, Philosophen und Staatsrechtlers August Arnold14 voraus, das am 14. August 1812 zum Anlass des Geburtstages Napoleons in Erfurt uraufgeführt wurde. Spohr selbst war mit dem Werk später nicht mehr zufrieden, sodass er es zurückzog.15 Im Unterschied zu Die letzten Dinge handelt es sich bei Arnolds Libretto um eine freie Dichtung, die das Thema zwar auf dem Hintergrund der Johannesapokalypse entfaltet, von den biblischen Texten jedoch – bis auf wenige Zitate 11 Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Der Christliche Glaube Bd I, Berlin/New York 1984, § 57. 12 Friedrich Rochlitz an Louis Spohr, Brief vom 18. Juli 1825, in: Richnovsky, „Spohr und Rochlitz“, S. 265 f. 13 Vgl. Immanuel Kant, Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, in: Immanuel Kant, Werke in zehn Bänden, hrsg. von Wilhelm Weischedel (= Bd. 7: Schriften zur Ethik und Religionsphilosophie, 2), Darmstadt 1983, S. 732 f. 14 Siehe Arthur Richter, Art. „Arnold, August”, in: Allgemeine Deutsche Biographie 1 (1875), S. 584. 15 Siehe Louis Spohr’s Selbstbiographie, Bd. 1, S. 168 f. Vgl. überdies den Beitrag von Andreas Jacob in diesem Band.
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aus dem Matthäusevangelium und der neutestamentlichen Briefliteratur – keinen Gebrauch macht. Anders als in Rochlitz’ Libretto tritt hier ein Ensemble biblischer Personen auf, Jesus, Maria, die Erzengel Gabriel, Raphael, Uriel und Michael, Satan selbst sowie die Chöre der Engel, Teufel, Seligen und Verdammten, die die Thematik in ihren jeweiligen Partien vermitteln. Arnolds Libretto gliedert sich in insgesamt drei Teile: I. Nr. 1 – 6b Ankündigung des Gerichts, Christus und des Satans Werk II. Nr. 1 – 7b Das Los der Seeligen III. Nr. 1 – 3 Der Tag des Gerichts und die neue Welt Der erste Teil des Oratoriums beginnt mit dem Weheruf über die sündigen Erdbewohner (Nr. I/1), gefolgt von der Ankündigung Jesu (in Nr. I/2a) zu der „Frommen Heil“ und der „bösen Schreck“, um als strengrichtender Richter im Weltgericht den Willen des Vaters zu verkünden. Nr. I/3 thematisiert das Werk Christi in einem Dialog zwischen Christus und Gabriel. In Nr. I/4b sprechen Gabriel und die Engel zu Jesus, dass er die Schwachen nicht habe erlösen können, da diese zu tief im Bösen versunken waren. Das kommende Gericht wird sodann als unmittelbare Folge des Umstandes dargestellt, dass der Mensch die göttliche Gnade verschmäht habe: „Doch verschmäht es alle Gnade, Jenes Sternes arg Geschlecht, Abgelenkt vom rechten Pfade, Trifft die Straf ’es nun gerecht.“
In dem Rezitativ Nr. I/4a wird die Willensfreiheit des Menschen zum Guten und Bösen betont: [I/4a] Recitativ. Jesus „Es hat der Vater, gleich abwägend, Ins Herz des Menschen Den Keim des Guten wie des Bösen Ausgestreut. Es ward ihm Willensfreiheit; Der Geist, der Gottheit eignes Theil, Strebt immer hier herauf, Zu diesen ewig klaren Räumen; Der Sinne Lust Lockt ihn hinab In Satans mächt’ges Reich.“
Die Lehre vom freien Willen ist nun eben nicht gerade orthodox-protestantisch und wird von Luther vehement in seiner Schrift über den unfreien Willen (De servo arbitrio) gegen Erasmus von 1525 abgelehnt. Man wird hier jedoch sicher nicht an eine katholisierende Tendenz denken müssen, sondern vielmehr den
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Standpunkt der Aufklärung im Hinblick auf die Willensfreiheit erkennen können, wie ihn Kant in der Kritik der Praktischen Vernunft zum Ausdruck gebracht hat. Die hier formulierten Prinzipien der Willensfreiheit finden sich später in Arnolds Pädagogik, wenn er schreibt: „Wenn ein Strahl der Gottheit sich in die wunderbare, unendliche Mannigfaltigkeit und Harmonie der Natur verkörpert hat, so hat sich ein Weiteres in die vollendetsten Naturwesen gesenkt: der denkende, freie Geist des Menschen.“16
Dessen Existenz sei, so schreibt er weiter in seiner Pädagogik, definiert durch den Widerstreit zwischen Sinnlichkeit und Vernunft.17 Den platonischen Gedanken, dass der Geist als Gottes Anteil, wieder zu diesem zurückstrebt, führt Arnold auch in seiner Einleitung in die Philosophie, durch die Lehre Platons aus: „Die Zuordnung für unsere Handlungen, die auf dem Begriffe der Freiheit des Willens beruht, wird [bei Platon] mehrfach angedeutet. Die innere Freiheit, als dasselbe mit der Vernunft, die in sich die Gesetze des Guten, Rechten, hat, macht uns gottähnlich, und nach dieser Gottähnlichkeit haben wir zu streben. Wir haben das Vermögen dazu; aber wenn wir es nicht thun, so folgt darauf die Strafe.“18
Durch Jesu Stimme in Nr. I/4 hören wir damit wohl Arnolds eigene Stimme. Nr. I/5, der Chor der Engel, preiset sodann die Gnade des Herrn für die Frommen und seinen gerechten Zorn für die Sünder. In Nr. I/6 kommen mit Satanas und dem Chor der Teufel Christi Antagonisten zu Wort. Das Rezitativ des Satanas Nr. I/6a nimmt hier Bezug auf das Mythologem vom Engelsturz aus Offb 12,7 – 19. Anders als in Offb 10, wo der Engelsturz als Sieg Gottes gepriesen wird, wird Satan hier vorgestellt als der Herr der Welt („Vollbracht ist nun der Kampf um die Herrschaft der Welt“) und der Chor der Teufel preist Satanas Ruhm (Nr. I/6b). Der Topos des (scheinbaren) Scheiterns Christi mit seinem Tod (Nr. I/6) ist jedoch weder katholisch noch protestantisch. Nach der Lehre beider Konfessionen ist der auf den Tod Christi folgende descensus ad inferos vielmehr ein siegreiches Geschehen. In der Konkordienformel IX heißt es entsprechend, „daß Christus in die Hölle gefahren, die Hölle allen Gläubigen zerstöret und sie aus dem Gewalt des Todes, Teufels, ewiger Verdammnis des höllischen Rachens erlöset habe.“19 Der Topos des Scheiterns Christi ist wiederum Arnolds Tendenz zur Betonung der Willensfreiheit geschuldet: Die Menschheit hat die gute Lehre willentlich abgelehnt, und muß daher nun die Strafe für ihr unethisches Handeln gewärtigen. 16 August Arnold, Pädagogik, oder Erziehungs-Lehre nach den Anforderungen der Gegenwart, Königsberg in der Neumark 1837, S. 32. 17 Ebd., S. 33. 18 August Arnold, Einleitung in die Philosophie, durch die Lehre Platon’s vermittelt, Berlin/ Jüllichau 1841, S. 312. 19 Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche, Göttingen 121998, S. 813.
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Der zweite Teil beginnt in Nr. II/2a mit einem Rezitativ Jesu, das die Thematik der ersten Auferstehung der im Herrn Gestorbenen aus Offb 20,1 – 6 aufnimmt. Dies ist die einzige Nummer des Oratoriums, die unmittelbar neutestamentliche Zitate aufnimmt (1 Kor 15,42 über den unvergänglichen Leib der Auferstandenen; Mt 24,31 mit der Sammlung der Auserwählten durch die Engel unter Posaunenschall und 2 Petr 3,12 mit dem Vergehen des Himmels und der Elemente im Feuer), die auch in der Erfurter Textausgabe nachgewiesen sind. Alle drei Zitate fungieren hier als Verheißung des nahen Endes aus Jesu Mund, die ihre Erfüllung dann in Teil III mit dem Endgericht und der Vision vom Neuen Himmel und der Neuen Erde (Offb 21,1; hier in Nr. III/3) finden. Daneben zitiert Nr. 14 das Motiv der Engel und der vier Winde aus Offb 7,1 bzw. Ez 7,2. Eine zentrale Rolle nimmt im zweiten Teil die Figur der Gottesmutter ein, die in den Rezitativen Nr. II/4a und II/6a sowie im Duett mit Jesus in Nr. II/6b ausführlich zu Wort kommt. Betont wird hier insbesondere das Mitleiden Marias mit den Sündern. Auf den ersten Blick ist der Bezug auf die leibliche Himmelfahrt Mariens in Nr. II/4b–5, sowie ihre Bezeichnung als „Himmelskönigin“ in Nr. II/5 für prostestantische Hörer erst einmal irritierend. Wiewohl dieses Appellativ in der protestantischen Tradition nicht gebraucht wird, ist die Vorstellung von der assumptio und die Darstellung der humilitas Mariens jedoch durchaus konform mit der protestantischen Lehre, insbesondere Luthers christologischer Sicht Mariens, wie sie in seiner Magnifikat-Auslegung von 1521 zur Sprache kommt.20 Dem wird Arnold auch gerecht, wenn er in Nr. II/6b Maria sagen läßt: „Besänftigt ist der herbste Schmerz, Wen seine [Jesus] Gnad belehret.“
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Die Hervorhebung der Gestalt Mariens – ohne hierbei jedoch spezifisch katholische Elemente, wie ihre Funktion als Fürbitterin, zur Sprache zu bringen – sind m. E. dem Ort und dem Anlaß, also Erfurt als katholische Bischofsstadt und der Feier des Napoleonstages in der Stadt, die als domaine r¦serv¦ l empereur, direkt dem Kaiser unterstand, geschuldet. Als gut protestantisch kann wiederum ein Vers aus Nr. II/7b im Freudengesang der Seeligen gelten, der auf das Prinzip des sola fide verweist, wenn es heißt: „Und nun fühlen wir, verkläret, Wie die Lehre sich bewährt: Dem genügt allein der Glaube, der zum Vater hin begehrt.“
20 Vgl. Martin Luther, Das Magnificat, verdeutscht und ausgelegt (= Weimarer Ausgabe, 7), Weimar 1897, S. 554 ff.
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Im Unterschied zu Rochlitz’ Libretto wird die Endgerichts-Thematik vor allem im dritten Teil des Oratoriums breit und unter Ausmalung der apokalyptischen Schrecken ausführlich ausgemalt: Nr. III/1 beginnt mit dem Chor der Engel und dem auch am Schluß wiederholten Vers: „Furchtbar ist des Herren Zorn, Schrecklich der Tag des Gerichts!“
Arnold benutzt hier kein unmittelbares biblisches Zitat, sondern greift das in der mittelalterlichen Sequenz dies irae, die später fester Bestandteil der Totenmesse wurde, verwendete Motiv des Zornestages auf, das sich insbesondere aus den alttestamentlichen Traditionen vom Tag Jahwes (u. a. Jes 13,9; Joel 2,11.31; Zeph 2,3; Mal 4,5), der Jesaja-Apokalypse und der einleitenden Vision in Offb 4,1 ff. speist. Es folgen in Nr. III/1 der Klagegesang der Verdammten, die im Anschluss an Offb 20,12 nach ihren Werken gerichtet werden, und der Freudengesang der Seeligen, mit der bereits erwähnten sola-fide-Theologie. Das Kommen der neuen Welt Gottes aus Offb 21 wird in den Partien Marias und der Erzengel in Nr. III/2b thematisiert. Beschlossen wird das Oratorium in den Nr. III/3 vom Chor aller himmlischen Heerscharen: „Betet den Herrn ewig an, und preiset seine Werke. Hallelujah.“
3.
Zusammenfassender Vergleich von Die letzten Dinge und Das jüngste Gericht und ihres Schriftgebrauchs
Wie dieser kurze Durchgang durch die beiden Libretti zeigt, weisen beide Werke vor allem in der Art ihrer Gestaltung, aber auch hinsichtlich ihres theologischen Profils deutliche Unterschiede auf: Der Text zu Die letzten Dinge zeigt in seiner Konzentration auf den biblischen Text und auf das Erlösungswerk Christi ein dezidiert protestantisches Profil. Rochlitz’ Libretto knüpft mit seiner Verinnerlichung des Eschatons an entsprechende Tendenzen in der zeitgenössischen aufgeklärt-protestantischen Theologie an und dürfte von den Zeitgenossen damit als theologisch durchaus „modernes“ Werk wahrgenommen worden sein. Arnolds Libretto hingegen folgt als freie Dichtung auf dem Hintergrund der biblischen Apokalypse und durch den Einsatz unterschiedlicher „Erzähler“ eher den älteren Vorlagen. Obwohl auch Arnolds Libretto ein durchaus protestantisches Profil aufweist, ist es doch mit seiner Hervorhebung der Gestalt Mariens sozusagen zur katholischen Seite hin offen, was – wie dargestellt – wohl dem Ort und Anlass geschuldet ist. Arnolds Libretto zeigt, obwohl in der Gestaltung auf
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den ersten Blick konservativer, ebenfalls einen starken Einfluss aufklärerischer Positionen, hier insbesondere in der Betonung der Willensfreiheit, sowie den platonischen Gedanken des Wiederaufstiegs der Seele, die einen göttlichen Keim enthält. Arnold entfernt sich mit seiner Deutung des irdischen Scheiterns Christi und dem Konzept der Willensfreiheit zum Guten und Bösen deutlich vom protestantischen Dogma. Anders als bei Rochlitz findet sich bei Arnold jedoch keine Verinnerlichung des Eschatons, vielmehr betont er das Gericht und spitzt das Eschaton ethisch zu: Der Mensch trägt in sich den Keim des Guten wie des Bösen, wählt er das Gute, wird ihm Gnade zu Teil, wählt er das Böse, kommt es zur Strafe. Hier ist deutlich der Pädagoge Arnold erkennbar. Beiden Oratorien ist jedoch gemein, dass sie stark durch aufklärerische Grundpositionen geprägt sind, bei Rochlitz in Orientierung an der Aufklärungstheologie und wohl auch an Schleiermacher, bei Arnold hingegen an der aufgeklärten Position der Willensfreiheit, gepaart mit Einflüssen des Platonismus, die dem protestantischen Dogma ferner stehen als Rochlitz. Unmittelbare Bezüge zur politischen Gegenwart weisen beide Libretti m. E. nicht auf, auch wenn Spohr die Aufführung von Das Jüngste Gericht im Jahr 1812 in seiner Selbstbiographie durchaus treffend als „ominös“ beschrieben hat.21
21 Louis Spohr’s Selbstbiographie, Bd. 1, S. 171.
Andreas Jacob
„… daß der Componist … in der Entwickelung seiner musikalischen Ideen originell zu sein sich bestreben müsse“ – Aneignung und Neuformulierung in Louis Spohrs Oratorium Das jüngste Gericht
Das erste von Louis Spohrs vier Oratorien, Das jüngste Gericht aus dem Jahr 1812, ist ein Werk, das bereits zu Lebzeiten des Komponisten weniger intensive Rezeption gefunden hat als die anderen drei Beiträge Spohrs zur Gattung. Dies äußert sich nicht zuletzt darin, dass das Oratorium nicht zum Druck befördert wurde; auch unternahm der Komponist selbst offenbar in seinen späteren Lebensjahrzehnten keine Anstrengungen mehr, seinen Gattungserstling durch Aufführungen zu propagieren. Dafür mag eine Reihe von Gründen in Anschlag zu bringen sein, namentlich eine wahrgenommene Weiterentwicklung des eigenen Komponierens bzw. der stilistischen Normen der Zeit, aber auch nicht weiter zu beeinflussende äußere Umstände. Der vorliegende Beitrag setzt es sich zum Ziel, die Besonderheiten des Werks in Bezug auf Spohrs eigenes Schaffen wie auf die musikgeschichtlichen Rahmenbedingungen herauszuarbeiten, um damit zum einen die Gründe für die vergleichsweise spärliche Rezeption genauer fassen zu können und zum anderen die gleichwohl nicht gänzlich periphere Position der Komposition innerhalb der künstlerischen Entwicklung seines Autors herauszuarbeiten. Damit wird nicht zuletzt auf eine graduelle Veränderung im Denken über die Zielsetzungen eines musikalischen Produktionsprozesses abgehoben, für die Das jüngste Gericht exemplarisch als in einer Art Schwellenfunktion stehend interpretiert werden kann.
1.
Zum chronologischen Kontext der Komposition
Ohne an dieser Stelle die bekannten Daten und Fakten wiedergeben zu wollen und zu müssen, die das Umfeld von Das jüngste Gericht markieren (hierzu sei nur auf Spohrs Selbstbiographie verwiesen, umso mehr aber auf Clive Browns mittlerweile auch auf Deutsch vorliegende kritische Biographie1), sollen hier 1 Vgl. Louis Spohr’s Selbstbiographie, 2 Bde., Kassel/Göttingen 1860 – 1861; Clive Brown, Louis Spohr. A critical biography, Cambridge u. a. 1984 (dt. Kassel 2009).
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einige relevante Umstände in Erinnerung gerufen werden, die das Werden des Oratoriums beeinflusst haben dürften: So war Spohr zum Zeitpunkt der Komposition seit mehreren Jahren (seit 1805) als Konzertmeister in Gotha tätig und somit im kulturellen Leben der Residenzstadt und der umgebenden thüringischen Provinz mittlerweile fest verankert. Vorausgegangen (1802/03) war eine Reise, die Spohr bis ins Baltikum und nach St. Petersburg geführt hatte. Diese ist deswegen zu erwähnen, weil Spohr berichtete, bei dieser Gelegenheit in St. Petersburg erstmals eine Aufführung von Haydns Die Jahreszeiten erlebt zu haben, deren imposante Darbietung ihn sicherlich auch im Hinblick auf eigene Produktionen als Dirigent und/oder Komponist nicht unbeeindruckt ließ. So heißt es in der Selbstbiographie: „Das Orchester war so zahlreich, wie ich noch keins gehört hatte: Es bestand aus siebzig Violinen, dreißig Bässen und doppelten Blasinstrumenten. Die Wirkung war daher eine sehr großartige, und das Tagebuch spricht mit Entzücken davon, sowie auch von dem Werke selbst, das ich dort zum erstenmale hörte, obwohl ich ,die Schöpfung‘ doch noch höher stellte!“2
Neben der Erwähnung von Haydns Schöpfung als absolutem Referenzwerk für Oratorien zu jener Zeit (daneben wird aus dem Bereich der Oper von Spohr immer wieder auf Mozarts Zauberflöte hingewiesen) ist es natürlich jene Tendenz zur Monumentalität der Aufführung, die angesichts der Musikfestproduktionen der folgenden Jahre als mögliche ästhetische Zielvorstellung in den Blick gerät. In Spohrs Gothaer Zeit beschäftigte er sich weiterhin intensiv mit der Gattung Oper. Zwei Werke müssen an dieser Stelle genannt werden: die 1808/09 komponierte „Große Romantische Oper“ Alruna oder die Eulenkönigin sowie Der Zweikampf mit der Geliebten, ebenfalls eine dreiaktige Oper, die 1811 in Hamburg uraufgeführt wurde und Spohrs Ruhm auf diesem Gebiet begründete. Das erstgenannte Werk hatte jedoch keinen vergleichbaren Erfolg, vielmehr wurden die zahlreichen wahrnehmbaren Parallelen zu Mozart durchaus kritisch kommentiert – ein Umstand, auf den noch einzugehen sein wird. Für den sozialen Kontext der Konzeption von Das Jüngste Gericht ist nun besonders auf die Rolle Spohrs im Zusammenhang der ersten in Deutschland stattfindenden bürgerlichen Musikfeste hinzuweisen. Anders als die direkten Vorbilder in der Schweiz (erstmals Luzern 1808) oder den (lange eher vom finanzstarken Adel getragenen) Wiener Pendants ist hier eine starke regionale Orientierung festzustellen, fanden sie doch 1810, 1811 sowie 1815 auf Anregung des in Frankenhausen tätigen Kantors Georg Friedrich Bischoff dortselbst, also 2 Louis Spohr’s Selbstbiographie, Bd. 1, S. 51.
Aneignung und Neuformulierung in Spohrs Oratorium Das jüngste Gericht
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am Südhang des Kyffhäusergebirges statt. Bereits beim Ersten deutschen Musikfest wurde Haydns Schöpfung aufgeführt, Spohr trat als Dirigent in Erscheinung (seiner Erinnerung nach mit einer Papierrolle als Zeigeinstrument), aber mit seinem 2. Klarinettenkonzert auch als Komponist. Beim zweiten Musikfest 1811 war Spohr erneut mit einer Komposition vertreten (Erste Symphonie EsDur); und so schien es nur folgerichtig, dass Bischoff, der 1811 und 1812 in Erfurt (damals eine „domaine r¦serv¦ l empereur“, direkt neben dem Gebiet des als napoleonfreundlich geltenden Herzogs August von Sachsen-Gotha-Altenburg) für die Ausrichtung der Feiern anlässlich Napoleons Geburtstag zuständig war, für das Jahr 1812 auf Spohr mit der Bitte nach einer geeigneten Komposition im oratorischen Genre zukam. An dieser Stelle seien Spohrs Lebenserinnerungen in extenso wiedergegeben: „Bei der Rückkehr nach Gotha fand ich einen Brief von Bischoff vor, in welchem dieser mir mittheilte, er sei vom Gouverneur von Erfurt aufgefordert worden, dort im nächsten Sommer zur Feier des Napoleonstages, am 15. August, ein großes Musikfest zu veranstalten. Er sei auch bereits mit ihm über die Bedingungen einig geworden und bitte mich nun, die Leitung desselben zu übernehmen und für den ersten Tag ein neues Oratorium zu schreiben. Ich hatte mir längst gewünscht, mich auch einmal im Oratorienstyl versuchen zu können und ging gern auf diesen Vorschlag ein. Es war mir bereits von einem jungen Dichter in Erfurt der Text eines Oratoriums angetragen worden, in welchem ich großartige Momente für Composition gefunden hatte. Es hieß: ,Das jüngste Gericht‘. Ich erlangte das Buch und machte mich sogleich an die Arbeit. Bald fühlte ich jedoch, dass es mir für den Oratorienstyl noch zu sehr an Gewandtheit im Contrapunkte und im Fugiren fehlte und unterbrach daher meine Arbeit, um erst die nötigen Vorstudien dafür zu machen. Von einem meiner Schüler erborgte ich Marpurg’s ,Kunst der Fuge‘ und vertiefte mich sogleich in das eifrige unausgesetzte Studium dieses Werkes. Nachdem ich nach dieser Anleitung ein halbes Dutzend Fugen geschrieben hatte, von denen die letzteren ganz gut gerathen schienen, nahm ich die Composition meines Oratoriums wieder auf und vollendete es nun, ohne wieder davon abzulassen. Nach dem Verzeichnisse ist es im Januar 1812 begonnen und im Juni beendigt worden. […] Doch gefiel es dem ungeachtet allgemein und wurde in dem ausführlichen Berichte über das Musikfest in einem Thüringer Blatte höchst günstig beurteilt. Eine andere Kritik, die in einem süddeutschen, wenn ich nicht irre, Frankfurter Blatte erschien, hatte aber Vieles an dem Werke auszusetzen und war überhaupt in einem bittern, gehässigen Tone geschrieben. […3] Ich selbst hielt das Werk damals nicht nur für das Beste, was ich bis dahin geschrieben hatte, sondern meinte auch, niemals etwas Schöneres gehört zu haben. Noch jetzt habe ich für einige Chöre und Fugen, sowie für die Partie des Satanas, eine solche Vorliebe, daß ich sie fast für das Großartigste erklären möchte, was ich je zu Stande 3 Spohr äußert auch den Verdacht, der Verleger Andr¦ aus Offenbach sei der Autor des unliebsamen Texts gewesen – dieser habe sich aber wiederum positiv geäußert und selbst versichert, nicht der Verfasser zu sein.
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gebracht habe. Ein Anderes ist es aber mit den übrigen Sätzen, besonders mit den Solopartien von Jesus und Maria. Diese sind ganz in dem damaligen Cantatenstyl geschrieben und mit Bravoursätzen und Coloraturen überladen. Ich fühlte auch bald nachher das Ungehörige dieses Styles und faßte in späteren Jahren wiederholt den Vorsatz, diese Solopartien umzuschreiben. Wenn ich aber damit beginnen wollte, schien es mir doch, als könne ich mich nicht mehr hineinfinden, und so unterblieb es. Das Werk aber, so wie es war, zu veröffentlichen, konnte ich mich nicht entschließen. So ist es denn in späteren Jahren unbenutzt liegen geblieben. Da die erwähnte Feier des Napoleon-Tages kurz vor dem russischen Feldzuge die letzte war, die in Erfurt, sowie überhaupt in Deutschland stattfand, so hat man es ominös finden wollen, daß der Hauptbestandtheil desselben ,das jüngste Gericht‘ war.“4
In gebotener Kürze seien die Hauptargumentationsstränge dieser in Rückschau – und sicher nicht ohne apologetische Aspekte – geschriebenen Passage noch einmal akzentuiert: Spohr betrachtete es vor seinem Erfahrungshintergrund als konsequente Etappe seiner kompositorischen Entwicklung, sich auch dem „Oratorienstyl“ zuzuwenden, für das ihm die Verwendung kontrapunktischer Satztechniken (namentlich das „Fugiren“) als ein unerlässliches Element erschien. Aufgrund mangelnder diesbezüglicher Ausbildung griff er in bewährter autodidaktischer Manier zu einem Lehrwerk, nämlich demjenigen von Friedrich Wilhelm Marpurg. Dass hier irrigerweise in Anlehnung an Bachs Spätwerk von der „Kunst der Fuge“ die Rede ist und nicht – wie es wohl heißen müsste – der Abhandlung von der Fuge,5 dürfte unter die Kategorie „Freud’scher Versprecher“ fallen: Offenbar meinte Spohr, in Marpurg die geeignete Vermittlungsinstanz für das kompositorische Handlungswissen der als Verfasser von Fugen kanonischen Autorität eines Johann Sebastian Bach gefunden zu haben (der wiederum ja nicht zuletzt im Zuge national-patriotischer Bestrebungen kurz vorher durch Johann Nikolaus Forkel wieder ins Bewusstsein der Zeitgenossen gerückt worden war6). 4 Louis Spohr’s Selbstbiographie, Bd. 1, S. 168 – 171. 5 Vgl. Friedrich Wilhelm Marpurg, Abhandlung von der Fuge nach den Grundsätzen und Exempeln der besten deutschen und ausländischen Meister entworfen, 2 Bde., Berlin 1753 – 1754. 6 So heißt es in der Vorrede von Forkels Bachbiographie, der er den Untertitel „Für patriotische Verehrer echter musikalischer Kunst“ gegeben hatte, unzweideutig und programmatisch: „Die Werke, die uns Joh. Seb. Bach hinterlassen hat, sind ein unschätzbares National-Erbgut, dem kein anderes Volk etwas ähnliches entgegen setzen kann. Wer sie der Gefahr entreißt, durch fehlerhafte Abschriften entstellt zu werden, und so allmählig der Vergessenheit und dem Untergange entgegen zu gehen, errichtet dem Künstler ein unvergängliches Denkmahl, und erwirbt sich ein Verdienst um das Vaterland; und jeder, dem die Ehre des deutschen Nahmens etwas gilt, ist verpflichtet, ein solches patriotisches Unternehmen zu unterstützen, und so viel an ihm ist, zu befördern. An diese Pflicht unser Publicum zu erinnern, diesen edlen Enthusiasmus in der Brust jedes deutschen Mannes zu wecken, achtete ich für meine Schuldigkeit, und dieß ist die Ursache, weßwegen diese Blätter früher erscheinen, als sonst geschehen seyn würde. Auch hoffe ich, daß es mir auf diesem Wege möglich seyn wird, zu einem größern Theil meiner deutschen Mitwelt zu sprechen; was ich in meiner Geschichte der
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Spohr gratuliert sich selbst zu den Erfolgen seines Selbststudiums, denn er zählt „einige Chöre und Fugen“ (wobei es ja auch die Chorsätze sind, in denen die Fugenschreibweise verwandt wird) ebenso zu den Vorzügen des Oratoriums wie „die Partie des Satanas“. Als Schwachpunkte benennt er jene Stellen, die allzu sehr an den „damaligen Cantatenstyl“ (gemeint ist v. a. die Oper) angelehnt gewesen seien, insbesondere „die Solopartien von Jesus und Maria“. Als Kennzeichen dieses Stils hebt Spohr eine Überladenheit „mit Bravoursätzen und Coloraturen“ hervor.7 Trotz der Einsicht in die Inkompatibilität dieser Schreibart mit den unterstellten Gattungsnormen und den stilistischen Usancen späterer Jahrzehnte erfolgte keine Umarbeitung, wofür biographische Gründe angegeben werden; gleichfalls als „ominös“ erwähnt wird der Anlass der Entstehung, wenn das apokalyptische Sujet in Verbindung mit dem Russland-Feldzug (und die darauffolgende mangelnde Nachfrage nach Napoleons-Feiern) gebracht wird. Wie dem auch sei: Spohr verließ Gotha noch im Herbst 1812 und trat 1813 eine Anstellung als Kapellmeister am Theater an der Wien an, wo er sich im gleichen Jahr der Komposition der (zunächst noch zweiaktig konzipierten) Oper Faust widmete, die jedoch erst 1816 in Prag ihre Uraufführung erleben sollte. Ebenfalls 1812/13 (im Zusammenhang mit der von Spohr verfolgten Reise und seiner schließlichen Übersiedlung) erfolgten weitere Aufführungen von Das jüngste Gericht, so – nach Leipzig und Prag – auch in Wien (21. und 24. Januar 1813). Spohr lässt in seiner Selbstbiographie Teile von Rezensionen der Aufführungen abdrucken, die im Grundtenor sehr positiv sind, wenngleich einige Kritikpunkte ebenfalls genannt wurden: So wurden anlässlich der Leipziger Aufführung in der Musikalischen Zeitung auf die „originellen, einnehmenden, zum Theil wirklich hinreißenden […] Details“ hingewiesen, jedoch auch auf die Tatsache, dass diese sich in ihrer raschen Abfolge gegenseitig verdrängten.8 Die Rezension der ersten der beiden Wiener Aufführungen ist noch aufschlussreicher, hebt sie doch die Verdienste Spohrs im „strengen Styl“ in den „Chören und Fugen“ hervor, die „mit großem Fleiß bearbeitet“ und gut aufgenommen worden seien.9 Kritisch wurden jedoch – ganz wie in Spohrs eigener Beurteilung, die sich damit der Autorität der Musikalischen Zeitung anschließt – die Teile bewertet, die nicht dem unterstellten Gattungsstil des Oratoriums entsprachen, sondern Musik von Bach zu sagen habe, möchte vielleicht bloß von dem kleinen Kreise der Kunstgelehrten gelesen werden, und doch ist die Erhaltung des Andenkens an diesen großen Mann – man erlaube mir, es noch Ein Mahl zu wiederhohlen – nicht bloß Kunst-Angelegenheit – sie ist National-Angelegenheit.“ Johann Nikolaus Forkel, Ueber Johann Sebastian Bachs Leben, Kunst und Kunstwerke, Leipzig 1802, S. V f. 7 Angesichts der Tatsache, dass beispielsweise Rossini seine ersten Opern im gleichen Jahr zur Uraufführung brachte, scheint der Hinweis auf die Zeitgebundenheit des Fioriturwesens nicht von der Hand zu weisen. 8 Vgl. Louis Spohr’s Selbstbiographie, Bd. 1, S. 172. 9 Vgl. ebd., S. 176.
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Andreas Jacob
der Oper zuneigten. Überdies wurde die allzu enge Anlehnung an Haydns Schöpfung und Mozarts Zauberflöte als Verstoß gegen die im Diskurs der Zeit zunehmend wichtiger werdende Kategorie der Originalität gewertet: „Die Arien, Duetten und einzelnen Gesangsstellen weichen aber zu sehr von dem ächten Styl des Oratoriums ab, sind durchaus im Texte zu oft wiederholt und neigen sich mehr oder weniger zum italienischen Opernstyle. Einige gar zu auffallende Reminiscenzen aus der ,Schöpfung‘ und vorzüglich aus der ,Zauberflöte‘ vermindern den Werth des Werkes in Hinsicht der Originalität.“10
Auch wird hier Kritik an der Textvorlage geäußert und auf den Umstand einer nicht sehr hohen Publikumsresonanz insbesondere der zweiten Aufführung hingewiesen, die wiederum teilweise damit erklärt wird, dass im „lebenslustigen“ Wien während der Karnevalszeit keine innere Einstellung der Zuhörer zu einem apokalyptischen Sujet vorhanden gewesen sei. In der in Wien erscheinenden satirischen Schriftenfolge der sogenannten „Eipeldauer-Briefe“ wurde ebenfalls davon berichtet, dass die Benefiz-Darbietungen des Oratoriums zwar mit großem Apparat, aber mit nicht ganz so großem Publikumserfolg erfolgt seien:11 „Da ist also schon vor längrer Zeit zweymal in einer Wochen im großen Redutensaal zum Besten des musikalischen Wittwen- und Waisenfonds ein neus großs Oratori aufgführt worden, und das hat den Titl ghabt: das jüngste Gricht, und das hat der Sachsengothaische Konzertmaster, der Herr Spohr in Musik gsetzt. Da warn bey 300 Tonkünstler beysamm, und da warn unsre hiesigen ersten Musikprofessores drunter. Allein trutz der schönen Aufführung, und der eben so schönen Komposition hat sich’s Publikum nicht so im Redutensaal eingfunden, als ich mirs vorgstellt hab.“12
10 Zitiert nach ebd., Bd. 1, S. 176 f. Ein Zitat aus der Zauberflöte wird auch nachgewiesen in der kurzen Besprechung des Werks von Ullrich Scheideler in: Oratorienführer, hrsg. von Silke Leopold und Ullrich Scheideler, Stuttgart 2000, S. 679 f., hier S. 680: Das Material zum Allegro-Teil des Duetts aus der zweiten Abteilung sei entlehnt dem Terzett der drei Damen in der Introduction des Ersten Aufzugs der Zauberflöte, T. 87 ff. Die Ähnlichkeit ist tatsächlich sehr groß, ohne dass eine komplette Übernahme erfolgt wäre. 11 Für den Hinweis auf diese Textstelle danke ich Herrn Karl Traugott Goldbach, der mich ebenfalls darauf aufmerksam machte, dass sich im Archiv des Haydn-Vereins Wien (heute im Bestand der Österreichischen Nationalbibliothek) handschriftliches Aufführungsmaterial von Das jüngste Gericht befindet. 12 [Franz Xaver Gewey], Briefe des jungen Eipeldauers an seinen Herrn Vettern in Kakran. Mit Noten von einem Wiener. Jahrgang 1813. Viertes Heft, Wien 1813, Erster Brief, S. 3 – 12, hier S. 4. – Zur Begründung des mäßigen Erfolgs der Aufführung wird übrigens ein satirisch moralisierendes – allerdings mit einem unschönen, wohl antisemitisch gemeinten Seitenhieb versehenes – Argument angeführt: „Aber ich weiß schon, was d’Ursach seyn wird: der Titl hat halt viele abgschreckt; denn wir haben ein Menge Leut z’Wien, die von ein jüngsten Gricht nichts hörn wolln, weils um ihr Gwissen nicht gut ausschaut, und da ghört bsonders unser Wuchervölkerl drunter.“ Ebd.
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Das nächste Oratorium folgte in gehörigem zeitlichem Abstand, denn Die letzten Dinge wurde erst 1825/26 geschrieben – dazwischen lagen mit Zemire und Azor (UA 1819), Jessonda (UA 1823) und Der Berggeist (UA 1825) noch drei weitere Opern. Für den weiteren Gang der Untersuchung werden jene Leitlinien verfolgt, die Spohr selbst in gewisser Weise aufgezeigt hat, denn genauer betrachtet werden sollen eben die genannten Fugen sowie zum Teil auch andere Chöre und die Partie des Satanas auf der einen Seite, die als zeitgebunden und allzu opernhaft beschriebenen Partien von Jesus und Maria auf der anderen Seite. Schließlich gilt es auch das Verhältnis des Werks zu seinem ihn umgebenden Opern-Umfeld zu bestimmen, um Ansätze zu einer Deutung der musikästhetischen und -geschichtlichen Position Spohrs im Hinblick auf Das jüngste Gericht zu erhalten.
2.
Überblick über die musikalische Faktur
Das Titelblatt der autographen Partitur13 gibt Auskunft über die Besetzung und den grundsätzlichen Aufbau des Werks. Es handelt sich um ein „Oratorium in drey Abtheilungen von Arnold, in Musik gesezt von L. Spohr“. Zur Datierung heißt es: „Angefangen im Januar und geendigt im Juni 1812.“ Als „Personen“ werden genannt: die „Soprane“ Maria, Gabriel und Raphael, die „Tenore“ Jesus und Uriel sowie die „Bäße“ Michael und Satanas. Jesus wird also – anders als traditionell überkommen – nicht als Bass besetzt, die vier Erzengel bilden ein vierstimmiges Ensemble in herkömmlicher Chorstimmenverteilung SATB. Dazu kommen „Chöre von Engeln, Teufeln, Seeligen und Verdammten“. Die Besetzung umfasst ein Orchester mit doppelt besetzten Holzbläsern, Hörnern, Trompeten, 3 Posaunen, Pauken, Streichern sowie Orgel.14 Die Partitur ist im Wesentlichen modern notiert (die Gesangsstimmen also über den ersten Geigen), die Orgelstimme findet sich unter den Streichern bzw. wurde in einem Anhangsteil nach der dritten Abteilung separat notiert, die Pauken wurden zwischen Trompeten und Posaunen platziert. Die drei Abteilungen lassen fol13 Vgl. das Digitalisat, abrufbar unter http://orka.bibliothek.uni-kassel.de/viewer/search/-/ j%C3%BCngste%20gericht/1/-/. 14 In vorhandenen Stimmsätzen wird bei den Bläsern übrigens noch einmal differenziert zwischen solistischem und ripieno-Einsatz, also z. B. „Clarinetto 1mo Solo, Clarinetto 1mo, Clarinetto 2do Solo, Clarinetto 2do“, entsprechende ripieno-Zuweisungen finden sich auch bei den Streichern, so dass also von der vorgesehenen Möglichkeit eines sehr üppig besetzten Orchesterapparats ausgegangen werden darf; vgl. etwa die Auflistung des oben bereits angesprochenen Wiener Stimmsatzes, einsehbar unter : http://search.obvsg.at/primo_library/ libweb/action/dlDisplay.do?onCampus=false& docId=ONB_aleph_onb06000501677& vid =ONB& lang=ger& institution=ONB.
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Andreas Jacob
gende, vom Verfasser nach musikalischen Prinzipien vorgenommene15 Binnengliederung erkennen: Teil Nr. Besetzung I
1
Titel
Chor der Engel, Orch. Introduzione: Wehe! Sündigen Erdenbewohnern
2a, Jesus, Orch.
Recitativo: Genahet ist die Stunde, die lang verkündete
2b
Ton-/ Taktart/ Tempo g-Moll / C / Largo -16/ C / Adagio
Arie: Lieblich schwebt ich einst hernieder 3a, Gabriel, B.c.
Recitativo: Gewaltig war o Herr! -/ C / -
3b
Doch was Du gelitten
a-Moll – B-Dur / 6/8 / Andante
4a, Jesus, Raphael, B.c.
Recitativo: Es hat der Vater / Und wenn des Schwachen Kräfte
-/ C / -
4b
Terzetto: Deutlich sprach der Herr zum Menschen Chor : Erquickender Sinn
As-Dur / 2/4 / Larghetto C-Dur / 12/8 / Adagio c-Moll / C / Allegro con fuoco Tempo primo
(Fuge): Laut preiset und singet die Macht des Herrn
C-Dur / C / Allegro
6a, Satanas, Orch.
Recitativo: Vollbracht ist nun der Kampf
(-) – fis-Moll / C / Adagio – Presto
6b
Doch vor allem mir süß war das Fis-Dur / 3/4 / Blut Allegro ma non troppo A-Dur / C / Allegro molto Fis-Dur / Tempo primo / Piu presto
5
Gabriel, Chor, Orch.
Gabriel, Raphael, Jesus, Orch. Chor der Engel
Satanas, Chor der Teufel, Orch.
A-Dur / 3/8 / Larghetto
15 Die Gliederung nach dem Textverlauf, wie sie sich aus dem Textbuch ergibt, kennt keine Zusammenstellung einer Nummer mit den Teilen a und b, die hier gemäß der üblichen Gliederung „Rezitiativ + X (Arie, Duett, Ensemble etc.)“ vollzogen wurde. 16 In den Rezitativen findet sich meist keine Vorzeichnung, was aber vielfach eher auf den tonartlich instabilen, modulierenden Charakter verweist und nicht auf eine etwaige gemeinte Tonart C-Dur.
Aneignung und Neuformulierung in Spohrs Oratorium Das jüngste Gericht
Teil Nr. Besetzung
Titel
II
Introduzione
1
Orch.
2a, Jesus, Orch. / (Blechbläser)
2b
3
Recitativo: Gott der Herr der Himmel/ Aufthun soll’n nächt’gen Schoß die Gräber
Hinab nun eilt ihr Engel des Herrn (mit Einschüben „quasi recitativo“) Gabriel, Raphael, Uriel, Chor & Quartett: Aufrufen die Michael, Chor der Frommen Engel, Orch.
Jesus, Orch.
209
Ton-/ Taktart/ Tempo F-Dur / C / Allegro vivace -/ C / Andante grave
C-Dur / C / Allegro As-Dur / 3/4 / Larghetto con moto
4a, Maria, Orch.
Recitativo: Wie ist bewegt
c-Moll / C / Allegro agitato
4b
Maria, Orch.
5
Chor der Engel, Orch.
Mit Wonn’ erfüllt mir das Herze c-Moll / 6/8 / Larghetto Chor : O süße Himmelskönigin A-Dur / 6/8 / Allegretto grazioso
6a, Jesus, Maria, B.c.
Recitativo: Des Himmels reine Klarheit
-/ C / -
6b
Duetto: Wer unsers Herren Angesicht
Es-Dur / 4/8 / Adagio ma non troppo Es-Dur / C / Allegro B-Dur / C / Vivace
Jesus, Maria, Orch.
7a, Jesus, Orch. 7b
Chöre der Engel und Seeligen (Doppelchor im Wechsel)
Rezitativo: Sie rufen der Getreuen Schaaren Bald vor des Herren Angesicht (NB: Engel fugiert)
Des-Dur – E-Dur / 4/8 / Adagio
Beide Chöre: Anbetend stürzen B-Dur / C / wir nieder Allegro ma non Darin doppelthematige Fuge (ab troppo S. 219): Wir preisen die Wege der Allmacht
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Teil Nr. Besetzung
Titel
III
Introduzione et Choro: Furchtbar ist des Herren Zorn
1
Orch., Chor der Engel /
Ton-/ Taktart/ Tempo c-Moll / C / Allegro molto
Chor der Verdammten / O der jammervollen Peinlichen f-Moll / C / – Strafe Chor der Verdammten / Schwer muß ich büßen die Schuld
f-Moll / 3/4 / Adagio
Im Gesang muß sich ergießen
F-Dur / C / Allegretto
2a, Maria, Orch.
Recitativo: So ist geendet nun das große Werk
-/ C / Andante
2b
Quartetto: Mächtig herrscht auch meist auf Erden Schlußchor : Gebunden ist alles am Wechsel
Es-Dur / C / Allegro vivace C-Dur / C / Maestoso
Chor der Seeligen
3
Maria, Uriel, Michael, Raphael, Orch. Chor aller himmlischen Heerschaaren
(Fuge): Betet den Herrn ewig an C-Dur / Alla breve
Wenn man also von insgesamt 16 Nummern ausgeht (6+7+3), so ist an der Hälfte der Chor beteiligt, wobei auch Doppelchöre zum Einsatz gelangen – ein klarer Hinweis auf die nach Monumentalität strebende Anlage des Ganzen. Jede Abteilung schließt mit einem Chorsatz – in Abteilung II und III stehen Fugen am Schluss, in Abteilung I folgt nach der Fuge in Nr. 5 (Chor der Engel) noch eine dramatisch angelegte Schlussnummer mit Satanas und (unfugiertem) Chor der Teufel. Tonartlichen Variantenreichtum, der bereits auf Konstellationen verweist, wie sie bei Spohr v. a. aus der Kammermusik geläufig sind, zeigen die Finalsätze von Abteilung I und II, wohingegen gerade die kontemplativen Sätze, aber auch einige Fugen in dieser Hinsicht überaus stabil sind (vgl. die folgenden Einzelanalysen).
3.
Einzelanalysen
a)
Das Duetto „Wer unsers Herren Angesicht“ (II/6b: Jesus, Maria; Es-Dur)
Das insgesamt 217 Takte umfassende Duett gliedert sich in zwei Teile (T. 1 – 61 im 4/8-Takt, Adagio ma non troppo; B-Teil ab T. 62 im 4/4-Takt, Allegro). Im ATeil finden sich – nach einem Orchestervorspiel, welches das Material der ersten Einsätze von Jesus bzw. Maria in der solistischen ersten Geige bzw. Klarinette
Aneignung und Neuformulierung in Spohrs Oratorium Das jüngste Gericht
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exponiert – drei Durchgänge der duettierenden Sänger, die durch kurze instrumentale Zwischenspiele abgetrennt werden. Der tonartliche Bereich pendelt zwischen Es-Dur (samt Dominate B-Dur) und g-Moll mit einer gelegentlichen chromatischen Eintrübung in der zweiten der besagten duettierenden Einsatzgruppen.17 Der B-Teil lässt sich wiederum in drei Abschnitte unterteilen, denn T. 64 – 131 sowie T. 132 – 201 sind deutlich aufeinander bezogen (mit jeweils zwei strophischen Durchgängen, die erneut von Orchesterzwischenspielen voneinander abgehoben werden), während mit einer Orgelpunkt-Passage (T. 202 – 212) und einem kurzen Orchester-Nachspiel (T. 213 – 217) ein Schlussteil ausgeprägt wurde. Tonartlich bewegt sich dies im Wesentlichen in den Bereichen von Esund B-Dur sowie der Doppeldominante F-Dur, um im zweiten Abschnitt g-Moll einzubringen, das jedoch bald wieder zugunsten von Es-Dur verlassen wird. So entsteht ein tonartlich relativ homogener Raum, der auch thematisch kaum auf Überraschungseffekte angelegt erscheint und an vielen Stellen weiten Gebrauch von dem von Spohr selbst angesprochenen Koloraturwesen macht.18
17 Im Einzelnen gliedert sich dieser Teil in: Orchestervorspiel T. 1 – 17 (Tonartenverlauf: Es–B–Es), drei duettierende Einsatzgruppen T. 18 – 33 (Es–g), T. 34 – 48 (g–es–B–Es) sowie T. 49 – 61 (g–B–Es–g). 18 Die Binnengliederung dieses Teils lässt sich stichwortartig wie folgt zusammenfassen: T. 62/ 63 Orchester-Überleitung (B7); erster Abschnitt T. 64 – 131 unterteilt in zwei strophische Durchgänge: T. 64 – 95 zwei imitierende Einsatzpaare Jesus/Maria (T. 64 – 71/72 – 77 sowie T. 78 – 81/82 – 86), letzter Einsatz (T. 87 – 89) als gemeinsame Bestätigung (Es–B); T. 90 – 95 Orchesterzwischenspiel und Pause (Es–B–Es–F7); T. 96 – 131 Jesus/Maria meist in Parallelen mit kurzen imitatorischen Einschüben (Einsatzabstand 1 bis 1/2 Takt, Quint- bzw. Quartverhältnisse der Imitation), dazu tretende Klarinettenfigurationen (Triolen), regelmäßige Phrasenbildung, einige chromatische Durchgänge, auch in Parallelenbewegung (F–B); zweiter Abschnitt T. 132 – 201 analog unterteilt in erneut zwei strophische Durchgänge: T. 132 – 163 sowie T. 164 – 201; T. 132 – 163 gewonnen aus T. 64 – 95 (g–Es), zwei Einsatzpaare Jesus/Maria (T. 132/140, T. 146/150), T. 155 letzter Einsatz als gemeinsame Bestätigung; ab T. 158 Orchesterzwischenspiel (g–Es–As–B–B7); T. 164 – 201 zunächst gewonnen aus Passage T. 96 – 110 als wörtliche Transposition in der Unterquint (B–Es), dann aber Ausweichung nach g-Moll, ab T. 179 Variante von Passage T. 111ff. (=> Es); Schlussteil: T. 202 – 212: T. 202 und 206 zwei Einsatzpaare (Maria/Jesus, Jesus/Maria) mit Orgelpunkt auf es (mit Quartsextakkord As-Dur), T. 210 gemeinsame Bestätigung über Orgelpunkt auf b (=> Es); T. 213 – 217 Orchesternachspiel (Es).
212
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Aneignung und Neuformulierung in Spohrs Oratorium Das jüngste Gericht
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Notenbeispiel 1: L. Spohr, Das jüngste Gericht, „Wer unsers Herren Angesicht“, T. 192 – 195
b)
Fugen
Exemplarisch und in Übersichtsform sei demgegenüber auf einige Fugensätze eingegangen, von denen Spohr selbst ja durchaus eine vergleichsweise hohe Meinung gehabt zu haben schien. Dabei lassen sich Monumentalfugen (wie insbesondere die Schlussfuge) mit schlichterer tonartlicher Verlaufsform von durchaus elaborierten und eher kammermusikalisch ausdifferenzierten Formen unterscheiden. Ein Merkmal, das Spohrs Fugen auch später begleiten sollte, ist die mindere Ausprägung von Zwischenspielteilen.19 Vielmehr scheint der Komponist besonderes Gewicht auf eine möglichst hohe Anzahl von Themeneinsätzen gelegt zu haben, selbst wenn dies zu Lasten des kontrapunktischen Begleitsatzes (namentlich eines anfangs angelegten Kontrasubjekts) gehen 19 Auf diesen Umstand weist auch Daniel Glowotz im vorliegenden Band hin, der darin eine der „Eigenschaften des Spohr’schen Personalstils“ erblickt.
214
Andreas Jacob
sollte. Weiterhin erweckt es den Anschein, als hätte für Spohr zu diesem Zeitpunkt der Einbau mindestens einer fugierenden Engführungspassage einen unabdingbaren Bestandteil der Fugenform dargestellt. Nimmt man diese drei Beobachtungen zusammen, so erklärt sich die vergleichsweise hohe Anzahl von Durchführungen bzw. Themenphasen auch bei Sätzen, die von der strukturellen Verlaufsform her nicht sonderlich differenziert sind. Über die Gründe für diese allgemein festgestellten Idiosynkrasien der Fugen in Das Jüngste Gericht kann hier nur spekuliert werden; doch folgt man Spohrs Hinweis auf sein MarpurgStudium, könnten hierin Anhaltspunkte enthalten sein. Denn Marpurg widmet in seiner Darstellung in der Abhandlung von der Fuge den Zwischenspielen (den „Zwischenharmonien“) die allergeringste Aufmerksamkeit und auch der Begleitsatz (die „Gegenharmonie“) wird nicht besonders eingehend besprochen. Vielmehr fokussiert er die Möglichkeiten kontrapunktischer Verdichtung und das Verhältnis von Dux und Comes in den einzelnen Durchführungen (dem „Wiederschlage“ des Themas) in großer Ausführlichkeit.20 Diese von Spohr verfolgte Verfahrensweise, die darauf abzuzielen scheint, in einer Fuge möglichst viele Themeneinsätze unterzubringen und Engführungen einen besonders hohen Stellenwert zuzuweisen, hat Konsequenzen für die Behandlung des Themas selbst (umso mehr bei den in manchen Sätzen eingeführten Kontrasubjekten): Die Länge der Themeneinsätze wird regelmäßig nach der ersten Durchführung (der „Exposition“) verkürzt, so dass vor allem der Themenkopf häufig wiederholt wird. Dies führt in einigen Fugen zu einer wohl nicht immer beabsichtigten Statik des Satzes, da harmonische Vielfalt durch diese Arbeitsweise eher erschwert wird: Es bleibt hier wenig Raum für modulierende Fortspinnungen oder Zwischenspiele, auch findet kaum motivisch entwickelnde Arbeit mit den unterschiedlichen Teilen des Fugenthemas statt, wie sie gerade für Johann Sebastian Bach typisch gewesen war. Wird anfangs ein Kontrasubjekt eingeführt, so hat es innerhalb dieser auf mannigfache Wiederholung des Themenkopfes angelegten Struktur kaum ,Überlebenschancen‘ im weiteren Verlauf. 20 Um das Gesagte in seiner Tragweite zu verdeutlichen, sei nur auf das Inhaltsverzeichnis der ersten Bandes von Marpurgs Abhandlung und die in den Seitenzahlen der einzelnen Kapitel ausgedrückte Gewichtung verwiesen: I. Hauptstück „Von den verschiedenen Gattungen der Nachahmung und der Fuge überhaupt“, S. 1; II. Hauptstück „Von der Beschaffenheit eines Fugensatzes, oder dem Führer“, S. 27; III. Hauptstück „Von dem Gefährten“, S. 31; IV. Hauptstück „Vom Wiederschlage, und dem Verfolg eines Fugensatzes“, S. 93 (hier finden sich auch ab S. 113 die möglichen Einsatzfolgen bei zwei- bis vierstimmigen Fugen); V. Hauptstück „Von der Gegenharmonie“, S. 147; VI. Hauptstück „Von der Zwischenharmonie“, S. 151; VII. Hauptstück „Vom Contrapuncte überhaupt“, S. 153; VIII. Hauptstück „Vom doppelten Contrapunct“, S. 161. Die Zwischenspiele werden also mit lediglich zwei Seiten bedacht und als nicht eigentlich zum engeren Gegenstand eines Lehrwerks über eine kontrapunktische Satztechnik gehörig betrachtet.
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Diese letztgenannten Beobachtungen lassen sich exemplarisch an der Chorfuge aufzeigen, die im „Chor der Engel“ aus der ersten Abteilung des Oratoriums enthalten ist: Nach dem dreiteiligen homophonen Chorsatz „Erquickender Sinn“ (mit 18 Takten Adagio-Teil in C-Dur und 12/8-Takt, 83 Takten Allegro con fuoco in c-Moll und 4/4-Takt C sowie Rückführung zu 6 Takten Tempo primo) steht hier eine 100 Takte lange Fuge „Laut preiset und singet die Macht des Herrn“ (Allegro, C-Dur, 4/4-Takt C). Das Thema selbst ist viertaktig und wird in der Einsatzfolge Bass (B), Tenor (T), Alt (A), Sopran (S) vorgestellt – die erste Durchführung umfasst also 16 Takte. Dazu gesellt sich in allen drei möglichen Fällen ein Kontrasubjekt. Bereits die nächste Durchführung (ebenfalls in der Einsatzfolge B–T–A–S) ist mit lediglich 9 Takten deutlich kürzer, da die Einsätze in dichterem zeitlichem Abstand erfolgen (2 Takte, 3 Takte, 1 Takt, 3 Takte). Bei den letzten beiden Einsätzen wird das Thema im Wesentlichen auf den Oktavsprung im Themenkopf reduziert, was motivisch zwar markant ist, jedoch eine relativ unspezifische Konstellation darstellt. Immerhin erscheint auch hier das Kontrasubjekt noch an drei Stellen. Auch wird eine Ausweitung des Bereiches tonartlicher Regionen21 vollzogen, denn während die erste Durchführung (erwartungsgemäß) vor allem die Tonika C-Dur umschrieb (jeweils mit der einer tonalen Beantwortung entsprechenden Bewegung C!F in der Dux- und F!C in der Comes-Formulierung des Themas), erfolgt hier eine Verschiebung der vorherrschenden Tonregion nach e-Moll. In der dritten Durchführung (T–S–B–A, 11 Takte, Tonregion e-Moll) erscheint das Kontrasubjekt lediglich einmal, um in den folgenden Durchführungen gänzlich fallen gelassen zu werden und erst in der finalen, neunten Durchführung (B–T–A–S, 14 Takte inklusive einer sechstaktigen Schlusskadenzbildung, Tonregion C-Dur) wieder zweimal in Erscheinung zu treten. Dazwischen liegen Durchführungen, die das kontrapunktische Repertoire Spohrs zu dieser Zeit gut beschreiben: Die Anzahl der themenführenden Einsatzstimmen wird variiert (in den Durchführungen 4 – 6 erscheinen fünf, zwei bzw. drei Themeneinsätze), es kann (wie im Fall der Durchführung 5, aber auch bereits in Durchführung 3) auf einen Themeneinsatz eine fortspinnende Fortführung ohne thematische Bindung erfolgen, Varianten des Themenkopfes werden vorgestellt (mit Sext- bzw. Septsprüngen statt des Oktavsprunges: Durchführungen 7 – 9), eine Durchführung (die siebte) bringt Engführungen von Stimmpaaren, schließlich tritt auch der auf monumentalere Wirkung zielende Fall auf, dass das
21 Mit „tonartlicher Region“ oder später „Tonregion“ ist die zwischenzeitliche tonikale Verfestigung einer Tonart bzw. Tonstufe gemeint, die wiederum ein Bezugssystem korrespondierender Nebenstufen mit sich führt. Letztere sind bei einer Fuge, die auf tonal reflexiven Beantwortungsverfahren beruht, von vornherein als mehrwertig vorzustellen.
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Thema akkordisch gestützt verstärkt wird, um es von einer Gegenstimme beantworten zu lassen (Durchführung 8). Der tonartliche Verlauf dieser Fuge ist durchaus abwechslungsreich und ambitioniert, treten doch neben der Grundtonart C-Dur und dem bereits erwähnten e-Moll mit Es-Dur (bzw. c-Moll), d-Moll und B-Dur noch weitere Tonregionen in Erscheinung – was für die einzelnen Themeneinsätze noch weiterreichende Konsequenzen hat, erscheinen hier doch Einsätze mit Bezügen zu den korrespondierenden Nebenstufen, so in As, A oder h. Die nachfolgende tabellarische Auflistung gibt einen Eindruck von der Vielfalt der angelegten Konstellationen in einer Fuge, die innerhalb von 100 Takten nicht weniger als 37 Themeneinsätze bringt. Durchführung Einsatzfolge, Länge der Einsätze (Takte; NB: sind Taktzahlen in Klammern zusammengefasst, handelt es sich zunächst um einen Themeneinsatz, der dann nicht thematisch gebunden fortgeführt wird), vorherrschende Tonregion, Tonorte der Einsätze, weitere Besonderheiten bzw. Merkmale 1 B–T–A–S, 4+4+4+4 = 16 T., Tonregion: C-Dur ; Themengestalt: jeweils C!F (Dux), F!C (Comes), 3x mit Kontrasubjekt; Besonderheit des Themas: in Dux leittöniges fis (sofort wieder abgeschafft) 2
3 4 5 6 7
8 9
B–T–A–S, 2+3+1+3 = 9 T., Verschiebung der Tonregion: von C nach e; Einsätze C!F (wie Anfang), F!a, a!d, d!e, 3x mit Kontrasubjekt, Besonderheit: in letzten beiden Einsätzen wird das Thema auf den Oktavsprung seines Anfangs reduziert T–S–B–A, 2+3+(2+2)+1 = 11 T., Tonregion: e-Moll; Einsätze auf e, e, h, d, 1x mit Kontrasubjekt S–B–T–B–S, 2+3+1+3+(2+3) = 14 T., Tonregion: Es-Dur/c-Moll; Einsätze Es, c, g, As, Es A–B, (1+3) + (2+3) = 9 T., Verschiebung der Tonregion zu: d-Moll/ B-Dur, Einsätze d, B T–S–A, 1+3+3 = 7 T., Verschiebung der Tonregion d-Moll zu C-Dur, Einsätze A, d, C Engführungen: T/B (je 1 Takt, mit Variante im Bass: Sept- statt Oktavsprung), S/A (je 1 Takt), T (3 Takte) A/S (je 1 Takt, mit Variante im Alt: Sext- statt Oktavsprung, danach 4 Takte Kadenz), also 2+2+3+2+4 = 13 T., Tonregion: „Umgebung der Tonikastufe C“; Einsätze G, d, F, B, F, G, a; folgt Kadenz C Akkordische Einsätze SAT + B, SAT + B, (1+1)+(1+2)+3 (Kadenz) = 7 T., Tonregion: C-Dur, Einsätze C, G, C, G (jeweils Variante im Bass: Sept- statt Oktavsprung), Kadenz C-Dur B–T–A–S, 1+2+1+4+6 (Kadenz) = 14 T., Tonregion: C-Dur ; Einsätze C, G, C, F (Variante im Alt mit Sept- statt Oktavsprung), 2x mit Kontrasubjekt
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Auch die am Schluss der zweiten Abteilung des Oratoriums stehende Fuge „Wir preisen die Wege der Allmacht“ meldet hohe Ansprüche an die verwendete kontrapunktische Satztechnik an, denn hier wird ein mehrstimmiges Thema zum Einsatz gebracht, das sich aus Haupt- und Gegenstimme zusammensetzt. Die Fuge selbst wird als Abschluss einer mehrteiligen und doppelchörig besetzten („Chor der Seeligen und der Engel“) Formanlage gesetzt, die in der beschriebenen Tonartenfolge Des-E-B auf analoge Bildungen von Komponisten der gleichen Generation – wie Franz Schubert (oder auch die ambitionierteren Werke eines Carl Czerny22) – verweist: Zunächst stehen 42 Takte eines Doppelchores „Bald vor des Herren Angesicht“ in Des-Dur (Adagio, 4/8-Takt); es folgen weitere 42 Takte in E-Dur (untergliedert in 15 und noch einmal 27 Takte) mit erneuten, teilweise sehr kleingliedrigen Wechseln von doppelchörigen Passagen. Interessanterweise wird bereits in diesen Teilen der Chor der Engel weitgehend durch eine imitative Struktur charakterisiert. Der kontrastierende Teil der Großform in B-Dur (Allegro ma non troppo, 4/4-Takt, beide Chöre zusammen) beginnt mit einem homophonen Abschnitt „Anbetend stürzen wir nieder“ von 16 Takten Länge, bevor die Fuge mit dem Textincipit „Wir preisen die Wege der Allmacht“ einsetzt. Der homophone Anfangsabschnitt erscheint innerhalb der Fuge wieder als Episode zwischen den Durchführungen 5 und 6 – gerahmt von 3 Takten Orchesterüberleitung vorher und 2 Takten danach erfolgt ein 13 Takte langer Choreinschub, erneut mit dem Text „Anbetend stürzen wir nieder“, der jedoch von B-Dur nach Des-Dur moduliert. Das besagte Doppelthema der Fuge wird fast durchweg in Stimmkoppelungen ausgeprägt, nur bei sechs von insgesamt 25 Einsätzen der Hauptstimme des Themas entfällt die Gegenstimme. Charakteristischerweise lassen sich zwei dieser Fälle aus der verdichteten Situation einer Engführungspassage erklären, die keinen Raum für den Einsatz auch der Gegenstimme ließ, weitere zwei Fälle sind dem Finalcharakter der letzten Durchführung geschuldet: Die Einsätze der Hauptstimme im Sopran erzielen ohne kontrapunktisches Beiwerk eine markante Schlusswirkung, die durch die Bestätigung der Ausgangstonart B in allen Einsätzen noch weiter unterstrichen wird. Dagegen sind in der vorletzten Durchführung sogar Tripelkopplungen von Hauptstimme, Gegenstimme und einem verstetigten Kontrasubjekt anzutreffen. Bemerkenswerte Stringenz zeigt auch die tonartliche Anordnung der Fuge, denn neben den Haupttonarten B und F werden eine Reihe von Nebenstufen (d, g, Es), Tongeschlechtswechsel (b, f, G) oder auf den Anfangsteil verweisende Stufen Des bzw. E/A vorgestellt. Derartig weite Modulationswege werden unter 22 Vgl. dazu Andreas Jacob, „Carl Czernys überlieferte Streichquartette“, in: Carl Czerny – Pianist, Komponist, Pädagoge. Symposiumsbericht Berlin 2007, hrsg. von Heinz von Loesch (= Klang und Begriff, 3), Mainz 2009, S. 227 – 242.
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Andreas Jacob
anderem durch Verwendung chromatischer Einfärbungen erzielt, wie sie etwa in der Form des „Neapolitaners“ durchaus geläufig waren. Aber auch neuartig wirkende Bildungen kommen vor, so etwa im Übergang von einer Passage, die von B-Dur über Es-Dur sowie dann in rascher chromatischer Bewegung zu einem As7-Akkord geführt wird, dessen Grundton (!) dann leittönig in einen verminderten Septakkord auf a mündet, dessen Basiston wiederum wenig später dann zum Grundton des zwischenzeitig erreichten A-Dur umfunktioniert wird. Soprano -
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Notenbeispiel 2: L. Spohr, Das jüngste Gericht, „Wir preisen die Wege der Allmacht“, Durchführung 3, T. 52 – 56 der Fuge: Modulationswege
Die tabellarische Übersicht zeigt, dass der – im Vergleich zur oben beschriebenen Fuge aus der ersten Abteilung – geringeren Anzahl von Einsätzen bei erhöhter Taktzahl und durchaus zunehmendem Umfang von ZwischenspielPassagen eine enorme Steigerung der kontrapunktischen Dichte und des tonartlichen Reichtums gegenüber steht.
Aneignung und Neuformulierung in Spohrs Oratorium Das jüngste Gericht
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Durchführung Einsatzfolge (Gegenstimme in Klammern), Länge der Einsätze (Takte), vorherrschende Tonregion, Tonorte der Einsätze, weitere Besonderheiten bzw. Merkmale 1 B(T)–S(B)–A(S)–T(A), 3+3+3+3 = 12 T., Tonregion: B-Dur (+F); Einsätze auf F, B, F, B 2 3 4 5 (Einschub) 6 7
B(T)–S(B)–A(S)–B(T), 3+3+(3+1)+4+2 (sequenzierendes Zwischenspiel) = 16 T., Verschiebung der Tonregion: über d-g-Es nach Des-Dur ; Einsätze auf B, d, g, Es B(S)–T–B(A), (2+4)+2+3 = 11 T., Verschiebung der Tonregion: über Des-As-Es-A zu (dominantischem) E-Dur, Einsätze auf Des, F, A (auch mit Variante Themenkopf: Halbton-„ansprung“ c-des bzw. gis-a) Engführungen: S(A)/T(A)–B/A, 1+2+1+2+6 (sequenzierendes Zwischenspiel) = 12 T., Tonregion: „um G-Dur“; Einsätze auf e, D, G, C S–B(A)–T(S)–A(S), 1+2+(3+4)+(3+4)+3 (Orchesterzwischenspiel) = 20 T., Verschiebung der Tonregion von As/Es nach F-Dur (über „Neapolitaner“ auf ges), Einsätze auf g, B, As, d Homophone Episode: Chor + Orchesterzwischenspiel 13+2 = 15 T., Des-Dur Tripelkoppelungen B(T,A)–S(B,T)–T(S,B), 4+4+(6+4) = 18 T., Verschiebung der Tonregion von B/b nach f/F, Einsätze Des, Es, f S (homophon)–B(T,A)–S, (6+4)+2+(5+2) = 19 T., Tonregion B-Dur, erster Einsatz mit Eintrübungen g-Moll (D-Dur), Einsätze B, B, B
Demgegenüber wirkt die Schlussfuge der dritten Abteilung (und damit des gesamten Oratoriums) deutlich reduziert in den aufgewandten Mitteln, was der Funktion als eindeutiger Schluss- und Ruhepunkt der Gesamtanlage geschuldet ist: Weniger Komplexität als vielmehr monumentale Simplizität ist hier angestrebt. In diesem „Chor aller himmlischen Heerschaaren“ folgt die Fuge erneut als zweiter Teil auf einen kontrastierenden ersten Abschnitt (in diesem Fall ist dies eine 20-taktige Einleitung mit dem Text: „Gebunden ist alles am Wechsel“, Maestoso, in C-Dur und im 4/4-Takt). Diese Fuge (Textincipit „Betet den Herrn ewig an“) deutet bereits in seiner Tempo- wie Taktkennzeichnung als Alla breveStück in Richtung traditionalistisch beeinflusster Kirchenmusik sowie auch – nicht exakt hiervon zu unterscheiden – ins Umfeld einer stile antico-Rezeption protestantischer Komponisten nicht erst seit Bach.23 Dieser Eindruck verfestigt sich durch die Häufung typischer kontrapunktischer Merkmale dieser bezogenen Traditionslinie wie des Ligaturensatzes oder der hier erscheinenden rhythmischen Augmentationen (Durchführung 3). Das Thema selbst ist mit 8 Takten Längen (allerdings im Alla breve) ver23 Vgl. hierzu Siegfried Oechsle, „Johann Sebastian Bachs Rezeption des stile antico: Zwischen Traditionalismus und Geschichtsbewußtsein“, in: Bach und die Stile. Bericht über das 2. Dortmunder Bach-Symposion 1998, hrsg. von Martin Geck in Verbindung mit Klaus Hofmann, Dortmund 1999, S. 103 – 122.
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Andreas Jacob
gleichsweise ausgedehnt, was durch die besagten Augmentationen noch verstärkt wird. Ein anfangs eingeführtes Kontrasubjekt wird schnell wieder fallen gelassen. In tonartlicher Hinsicht werden keine größeren modulatorischen Abweichungen von der Grundtonart C-Dur vorgenommen, denn neben C und G erfahren lediglich die Paralleltonart a in Durchführung 2 sowie die Subdominant-Tonart F in Durchführung 3 eine gewisse Verfestigung. Zur harmonischen Bereicherung erfolgen jedoch in Durchführung 5 chromatische Sequenzen, was als gewisse Vorbereitung dafür gesehen werden kann, dass in Durchführung 6 ein Orgelpunkt über (dem ,neapolitianisch‘ zu G stehenden) As gesetzt wird. Dieser Orgelpunkt wiederum wirkt vorbereitend auf die beiden großen Orgelpunktbildungen des Schlussabschnitts von 25 Takten, von denen 16 Takte über einen Orgelpunkt auf G und dann 9 Takte über einen Orgelpunkt auf der Tonika C stehen. Betrachtet man die Ausgangsformulierung des Themas von 8 Takten Länge, so sind die Reduktionen auf Einsätze mit teilweise nur einem Takt aus dem Themenkopf, wie sie nicht nur in der Engführungspassage (Durchführung 4a), sondern auch in den daran anknüpfenden sequenzierenden Fortspinnungsteilen (Durchführung 4b) oder im eben genannten Orgelpunkt-Schlussteil zuhauf auftreten, fast schon als Unterlaufen der kontrapunktischen Arbeit zugunsten mottoartiger Prägnanz zu werten. (Immerhin könnte in den Terzparallelen aus Durchführungsteil 4b mit etwas Fantasie ein Rekurs auf den canon sine pausis gesehen werden, wie ihn bereits Samuel Scheidt in seiner Tabulatura nova verwandte; dies verfängt jedoch nicht mehr bei den in Oktaven geführten Paralleleinsätzen des Themas in Durchführung 6, die eindeutig auf markante Schlussvorbereitung abzielen.) In den 144 Takten der Alla breve-Fuge kommen also über 30 Einsätze des Themas bzw. des Themenkopfes zu stehen, was angesichts der geringen tonartlichen Varianz und letztlich auch der sehr unspezifischen Formulierung des Themenkopfes (die auf nichts anderem beruht als den ersten vier Tönen einer aufsteigenden Tonleiter) die Gefahr der Ermüdung des Hörers in sich birgt, der gegen Schluss mit Mitteln wie den beschriebenen chromatischen Einfärbungen und den wuchtigen Orgelpunkten zu begegnen gesucht wird.
Aneignung und Neuformulierung in Spohrs Oratorium Das jüngste Gericht
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Durchführung Einsatzfolge (Gegenstimme in Klammern), Länge der Einsätze (Takte), vorherrschende Tonregion, Tonorte der Einsätze, weitere Besonderheiten bzw. Merkmale 1 S–A–T–B, 8+8+8+8 = 32 T., Tonregion C-Dur (+G), Einsätze G!C (Dux), C!F (Comes), 2x mit Kontrasubjekt (in Violinen bzw. Alt / Clarinetti) 2
3 4a 4b
5 6 7
c)
S–A–B, 8+3+2+5 (sequenzierendes Zwischenspiel) = 18 T., Tonregion a-Moll (nach chromatischem, sequenzierendem Zwischenspiel Verschiebung nach C), Einsätze G!C, C!F, E!a, Einsatz S mit Kontrasubjekt (im Bass) T–B (Augmentation)–S–A (Augmentation), 7+10+(4+2)+9 = 32 T., Tonregion F-Dur, mit Einsatz Alt Verschiebung nach c, Besonderheit: Augmentationen Engführungen T/B-S/A, 1+3+1+3 = 8 T., Tonregion C-Dur, jeweils Dux/Comes, Einsätze G!C, C!F Sequenzierende Fortspinnung mit Einsätzen des Themenkopfes, jeweils Stimmpaare in Terzparallelen, T/B–S/A–T/B–S/A–T/B, 1+1+1+1+1+3 (Kadenz) + 3 (Orchesterzwischenspiel mit Fortführung der Sequenz) = 11 T., Tonregion G-Dur, Kadenz auf G S–A–T–B, 1+1+1+(2+1)+ 4 (chromatische Sequenz) = 10 T., Tonregion „um C“, Einsätze G!C, C!F, G!C, C!F B (+ Parallelführung A/S)–S (+ Parallelführung T/A), 4+4 = 8 T., Verschiebung der Tonregion von C zu Orgelpunkt As (Neapolitaner zu G), Einsätze C!F, h-Es a) Orgelpunkt G, 16 T., b) Orgelpunkt C, 9 T., 16+9 = 25 T.; a) Orgelpunkt G: 1 Takt Vorbereitung, dann Einsätze A–T–S–A–T–S, (1+1)+1+2+1+1+(2+7) = 16 T.; Tonregion C-Dur, Einsätze G!C, C!F, d!G, G!C, d!G, dann Fortspinnung; b) Orgelpunkt C: 1 Takt Vorbereitung, dann Einsatz T, (1+4)+4= 9 T., Tonregion C-Dur, Einsatz C!F
Die Partie des Satanas
Der Auftritt des Höllenfürsten, von dessen Partie Spohr ja immerhin schrieb, dass er „sie fast für das Großartigste erklären möchte, was ich je zu Stande gebracht habe“24, besteht aus dem Finale der ersten Abteilung des Oratoriums: einem immerhin 48 Takte umfassenden accompagnato-Rezitativ sowie einer Arie mit Chor von 286 Takten Länge. Das Rezitativ beginnt mit einer kurzen Einleitung (3 Takte, Adagio, kein Vorzeichen), die nach drei chromatisch aufwärts verschobenen verminderten Septakkorden (über b, h und c) in einen CisDur-Akkord (mit Quartvorhalt) mündet. Daraufhin setzt das Orchester wieder 24 Louis Spohr’s Selbstbiographie, Bd. 1, S. 170.
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Andreas Jacob
in fis-Moll ein, in einem insgesamt 45 Takte langen Presto. Zunächst ohne den Gesangssolisten wird in den Takten 4 – 14 ein in Oktaven unisono vorgetragenes Motiv exponiert, das auf einer anapästischen Sechzehntel-Figuration in aufbzw. abwärts gerichteter, kreisender Bewegung beruht, in die Orgelpunkte (zunächst auf fis, später auf cis) bzw. Stützakkorde eingebaut werden. Satanas selbst setzt dann mit seiner triumphierenden Feststellung „Vollbracht ist nun der Kampf“ (T. 15) ein, wobei er sein Rezitativ zunächst unbegleitet vorträgt, unterbrochen jeweils von Orchesterzwischenspielen (T. 17 – 20 bzw. T. 22 – 23 mit der drehenden Figuration aus T. 4 ff., T. 26 f., 28 f. mit akkordischen Orchester-colpi). Auch die späteren accompagnato-Passagen (T. 31 – 37, 42 – 45) beruhen im Orchestersatz auf diesem hier vorgestellten Material. Interessant ist nun der tonartliche Verlauf dieses Rezitativs, bei dem in T. 21 die drei KreuzVorzeichen vorübergehend abgeschafft, in T. 37 jedoch wieder retabliert werden: Als Eckpunkte dienen die im Quartverhältnis zueinander angeordneten Tonarten fis–h, f–b und A–d, um wiederum in fis/Fis zu schließen. Als Mittel der Modulation in teilweise entlegene Tonarten werden gerne chromatische Verschiebungen bzw. verminderte Septakkorde verwendet, aus denen dann jeweils durch chromatische Tiefalteration des untersten Tones ein Dominantseptakkord entsteht. Weiterhin wird (v. a. in den colpi-Akkorden) verschiedentlich von der harmonischen Bindungskraft von Bassdurchgängen Gebrauch gemacht – so etwa, wenn in den Takten 27 – 31 von b-Moll über A-Dur nach d-Moll moduliert wird: Nach einem b-Moll-Dreiklang (T. 27) setzt das Orchester (T. 28) mit einem verminderten Septakkord auf ais (= enharmonisch b) wieder ein, zu dem jedoch ein akzentuiertes dissonierendes c im Bass erklingt, das als Ausgangspunkt des Bassdurchganges c–h–b–a dient, um so (zusammen mit den festgehaltenen Tönen cis–e–g aus dem verminderten Septakkord) zu einem A-Dur-Dominantseptakkord mit Zielrichtung auf das nachfolgende d-Moll (T. 31) hinzuführen. Das Rezitativ birgt also bereits – den Entstehungszeitpunkt in Betracht nehmend – eine große harmonische Avanciertheit. Dieses Moment wird in der darauffolgenden Arie „Doch vor allem mir süß war das Blut“ noch durch einen starken Zug ins Dramatische verstärkt, der die zeitgenössische Kritik veranlasst hatte, hier von einer nicht gattungsgemäßen Affinität zum Ballett zu sprechen.25 Die Anlage der Arie mit „Chor der Teufel“ ist dreiteilig: zunächst in Fis-Dur, 3/4-Takt und Allegro ma non troppo, mit einem Mittelteil in A-Dur und im 4/4-Takt sowie Allegro molto, woraufhin die Wiederaufnahme des ersten Teil (Tempo primo, Fis-Dur) samt einem Stretta-Schluss 25 In der von Spohr in seiner Selbstbiographie wiedergegebenen Rezension der Musikalischen Zeitung von den Wiener Aufführungen heißt es: „Der Chor der Teufel am Ende des ersten Theils würde in einem Ballette anschaulich dargestellt an seinem Platze sein.“ Louis Spohr’s Selbstbiographie, Bd. 1, S. 177.
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(Piu presto) folgt. Das Verhältnis der Tonarten der jeweiligen Teile (Kleinterzabstand der Grundtöne) weist also Analogien zu dem oben besprochenen Chorsatz II/7b auf. Dass mit Fis-Dur die im Hinblick auf den Quintenzirkel weitest mögliche Entfernung von der vorzeichenlosen Tonart C-Dur bzw. mit fis ein Grundton im Tritonus-Verhältnis zu c (das als Referenzpunkt der Notation fungiert) gewählt wurde, hat sicherlich semantische Gründe, indem hier topisch auf eine Entfernung von einem natürlichen und gottesnahen Zustand bzw. den diabolus in musica verwiesen wird. Der A-Teil der Arie beginnt mit einem 20-taktigen Orchestervorspiel, dessen Hauptmotive in den Schlussabschnitten dieses Teils wieder aufgegriffen werden. Das Anfangsmotiv prägt ein „chromatisches Pendel“ aus (T. 1 – 4), das in den Takten 67 ff. im vierten Einsatz des Satanas erneut erscheint (und dann erneut zu Beginn der Rekapitulation des A-Teils sowie in der Stretta). Weiterhin sind Orgelpunkte (zunächst auf fis, später auf ais) für diesen Abschnitt ebenso konstitutiv wie eine durch auf- bzw. abwärts gerichtete Dreiklangsbrechungen geprägte Motivik. Schließlich wird hier auch mit chromatischen Sequenzen gearbeitet, ein chromatischer Bassgang (T. 11ff.: fis–eis–e–dis–d–cis–h) verweist auf analoge Bildungen im Rezitativ. Satanas erhält vier Einsätze (T. 21, 41, 52, 65), bevor T. 77 der Chor einsetzt, der durch Rückbezug auf das Material des Orchestervorspiels (hier T. 5 – 20) eine Bogenform für diesen Teil herstellt. Innerhalb der Einsätze des Satanas wird einerseits immer wieder auch auf das Dreiklangsbrechungsmotiv des Anfangsteils Bezug genommen, ebenso wie Orgelpunkte häufig – insbesondere vor Ende der jeweiligen Abschnitte – eingefügt werden. Charakteristisch ist andererseits das Kopfmotiv des ersten Einsatzes, das einen abwärts gerichteten Sextsprung (h–dis) beinhaltet. Weiterhin erhält der Sänger jedoch auch mit Koloraturen Gelegenheit, seine technische Brillanz zu zeigen. Im zweiten Einsatz des Satanas, der vor allem von einer abwärts gerichteten Skalenbewegung zu Anfang bestimmt ist, erscheint in der Orchesterbegleitung ein melodisch um den Ton c kreisendes Motiv (c–h–d–c etc.), das im weiteren Verlauf in verschiedenen Konstellationen nutzbar gemacht und verarbeitet wird. Der dritte Einsatz zeigt wiederum eine Umkehrung von zuvor verwendetem Motivmaterial, wenn chromatische Sequenzen ebenso aufwärts gerichtet erscheinen wie Sextsprünge. Der vierte Einsatz schließlich, der zunächst auf der Fortführung der während des vorherigen Einsatzes vorgenommenen Ausweitung der Achtelbewegung auf die komplette Dreiklangsbrechungsmotivik beruht, mündet nach dem besagten Wiederaufgreifen des chromatischen Pendels des Orchestervorspiels in einen orgelpunktartigen Paukenwirbel auf cis, der spannungsaufbauend vor dem Choreinsatz (T. 77) mit der Weiterführung des Materials aus dem Orchestervorspiel eingesetzt wird. Besagter Choreinsatz endet mit einem Cis-Dur-Dominantseptakkord, der mit einer Fermate und Generalpause deutlich als Abschnittsgrenze kenntlich ge-
224
Andreas Jacob
macht wird, um entgegen der aufgebauten Erwartung einer Auflösung nach FisDur mit dem Beginn des Mittelteils in A-Dur einen dramaturgisch motivierten harten Schnitt wirksam werden zu lassen. Die Rekapitulation dieses Teils bringt neben wörtlichen Wiederholungen auch verschiedene Varianten und motivische Weiterentwicklungen, wie überhaupt der Grad motivischer Arbeit in diesem Satz sehr hoch ist. Zur Orientierung sei hier eine tabellarische Übersicht mit einigen wesentlichen Gliederungsmerkmalen eingefügt. Arie mit Chor I/6b: Allegro ma non troppo, Fis-Dur, 3/4-Takt 1 – 20
21 – 40
41 – 51
52 – 64
65 – 76 77 – 99
Orchestervorspiel: 20 T. = 4 (chromatisches Pendel: cis–d–cis–dis–cis–e–cis–eis–cis–fis) + 16 [= (2+2+2) (Orgelpunkt fis, Dreiklangsbrechungsmotiv auf- und abwärts) + 6 (chromatische Sequenz, Bassgang fis–eis–e–dis–d–cis–h, Fortführung Dreiklangsbrechungen) + 4 (Orgelpunkt ais, weiter Dreiklangsbrechungsmotiv] Erster Einsatz Satanas: 20 T. = 4 (Kopfmotiv mit Sextsprung abwärts) + 8 (4 T. Orgelpunkt fis + 4 T. Bass fis–es–fis–gis, Dreiklangsbrechungsmotiv) + 4 (Koloratur + colpi) + 4 (Orchesterzwischenspiel: Orgelpunkt cis, Dreiklangsbrechungsmotiv) Zweiter Einsatz Satanas: 11 T. = 4 (fis-Moll, absteigende Skala) + (6+1) (Orgelpunkt e, Dreiklangsbrechungsmotiv, kreisendes Motiv um c: c–h–d–c, 1 Takt Orchester mit Dreiklangsbrechungsmotiv : G-Dur-Quartsextakkord) Dritter Einsatz Satanas: 13 T. = 7 (4+3, chromatische Sequenz aufwärts cis-fis, mit Sextsprüngen aufwärts Vc/Cb, Oktavsprung Satanas, Dreiklangsbrechungen zu durchgehender Achtelbewegung geführt) + 2 (Orgelpunkt gis) + 4 (Orchesterzwischenspiel, Orgelpunkt cis, Dreiklangsbrechungen) Vierter Einsatz Satanas: 12 T. = 2 (Fortführung Achtelbewegung im Orchester, Cis-Dur) + (6+4) (chromatisches Pendel aus Anfang): durchgehender Paukenwirbel cis Einsatz Chor : 23 T. = (4+4) (Orgelpunkt fis) + 6 (Bassfortschreitung fis–eis–e– dis–cis–h–his) + 4 (Orgelpunkt cis) + (2+3) (Dreiklangsbrechung Cis-Dur, Fermate Cis7): vgl. T. 5 – 20
Allegro molto, A-Dur, 4/4-Takt 100 – Erster Einsatz Chor + Satanas: 118 19 T. = 12+7 = (3+3) (1 T. Chor, 2 Satan, Sequenz A–h–cis) + 6 (! E-Dur), Figuration aus Rezitativ in Streichern; (2+2)+3 (Orgelpunkt e, 16tel-Figur, danach Pendel E-Dur – verm. 7 auf a, Fermate E-Dur) 119 – 133
Zweiter Einsatz Satanas + Chor : 15 T. = 8+7 (Satanas mit Sextsprüngen abwärts, Chor + Orchester mit chromatisch verschobenen Akkorden)
Aneignung und Neuformulierung in Spohrs Oratorium Das jüngste Gericht
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(Fortsetzung) Arie mit Chor I/6b: Tempo 1mo, Fis-Dur 134 – 155 156 – 174 175 – 185 186 – 200
Einsatz Chor : 22 T. = 8+(6+4)+4 (Orgelpunkt fis, dann chromatisierter Gang abwärts wie im ersten Teil, Orgelpunkt ais): vgl. T. 1 – 20 bzw. T. 77 – 99 Einsatz Satanas: 20 T. = (4+8)+4+4: vgl. T. 21 – 40 Einsatz Satanas: 11 T.: vgl. T. 41 – 51 Einsatz Satanas+ Chor: 15 T., 186 – 198: vgl. T. 52 – 64; NB: T. 196 – 200 Choreinsatz (statt nur Orchester wie in T. 62 ff.), andere Fortführung (chromatischer Bassgang cis–h–ais)
201 – 211
Einsatz Satanas + Chor : 11 T., Transposition (Terz tiefer) aus 52 ff., 186 ff.: Satan wie 52 ff., Bassgang ohne Sextsprünge (ais–h–his–cis–d–cis) Piu presto 212 – 235 236 – 251 251 – 270 271 – 286
Einsatz Satanas + Chor : 24 T. = 16 (Satanas) + 8 (Choreinsatz); Satanas: Kombination Kopfmotiv T. 21 ff. (Terz tiefer als dort) mit chromatischem Pendel auf fis; Einsatz Chor : chromatisch verschobene Akkorde (4 T.) und Orgelpunkt cis (4 T.) Wdh. T. 212 – 227 Satanas + Chor : 20 T.= 4+4+4+(4+4); 4 T. d-Moll (zu Cis-Dur), 4 T. Orgelpunkt cis, 4 T. Fis! Cis, (4+4) T. kreisendes Motiv um cis (verm7 auf cisis–H–Gis7–Cis7) Orchesternachspiel: 16 T. (Fis-Dur, mit Dreiklangsbrechungsmotiv)
Der Mittelteil hingegen bringt zunächst einen akkordischen Choreinsatz, der mit der charakteristischen 16tel-Figuration aus dem Rezitativ in den Streichern kombiniert wird. Der Einsatz des Satanas beschreibt eine von (teilweise verminderten) Quartsprüngen abwärts gekennzeichnete Linie, die als Eckpunkte den Raum einer Sept markiert (T. 101: cis’–gis–a–eis–fis–cis–d; T. 104: d’–ais–h–fisis–gis–dis–e). Die hier angelegte, chiastische Figur wird im zweiten Einsatz mit Sextsprüngen intervallisch noch augmentiert.
226
Andreas Jacob
Die erstgenannte Formulierung legt nun die Spur zu einem Umstand, der wesentlich für die Einordnung des ganzen Oratoriums in Spohrs Schaffen sein dürfte: Hier handelt es sich um nichts anderes als um das von Clive Brown zu Recht als leitmotivisch erkannte, die gesamte Oper Faust durchziehende und von ihm als „,hell‘ motif“ bezeichnete Motiv.26 Clarinetti in a Fagotti
Satanas Nun
Chor der Teufel
8
zer
wir,
Violino I Violino II Viola Violoncello C. Basso
26 Vgl. Brown, Louis Spohr, S. 81.
stö
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die
Welt,
treu
er fül
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227
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nun
8
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Welt
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der ge-
nen
Be-
Notenbeispiel 3: L. Spohr, Das jüngste Gericht, „Doch vor allem mir süß war das Blut“, Mittelteil, T. 101 – 106: das „hell motif“ vor dem Faust
3.
Das jüngste Gericht und Faust
Verfolgt man diese Spur weiter, so ergeben sich eine Fülle von Bezügen allein aus dieser Nummer I/6 zur wenig später geschriebenen Oper Faust, die einen Meilenstein in Spohrs Schaffen wie auch in der Geschichte der Opernkomposition darstellt: So lässt sich das kreisende Motiv, wie es beim zweiten Einsatz des Satanas vorkommt – und dort insbesondere in seiner in Terzparallelen angelegten Begleitsatz-Form (Fagott I/II, Violine II/ Bratsche) –, im Faust verschiedentlich wiederfinden, vor allem im Finale des Ersten Akts (verstärkt ab T. 200). Chromatische Verschiebungen von Akkorden bzw. chromatisch geführte bzw. angereicherte Linien in Bass oder auch Melodiestimmen sind sowohl im Faust
228
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als auch in der Partie des Satanas – und dies mit dem Beginn des Rezitativs, umso mehr aber in der Arie – das Mittel der Wahl, um eine infernale Gegenwelt zu kennzeichnen. Und schließlich werden Orgelpunkte als probates Mittel angesehen, um ein dramatisch aufgeladenes, vielfach dissonierendes Geschehen darüber zu entfalten. Dass hierbei gewagte Modulationen vorkommen können – und dies nicht allein in der hier betrachteten Nummer –, wurde bereits gesagt und ist auch naheliegend, wenn die Erschütterung der Welt in ihren Grundfesten (sei es durch Überhandnahme des Bösen und damit der Abkehr von der göttlichen Ordnung, sei es durch das darauffolgende apokalyptische Strafgericht) geschildert werden soll. Die Mittel, um Modulationen zu erzielen, sind in Das jüngste Gericht teilweise sehr elaboriert, wie anhand des Rezitativs I/6a (T. 27 ff.) bereits gezeigt wurde. Ähnliches lässt sich aber auch an anderen Stellen des Oratoriums beobachten, so im ersten Satz der dritten Abteilung, wo – dort z. B. in T. 125 ff. – Vorhalte mit Septakkorden (verminderten Septakkorden wie Dominantseptakkorden) kombiniert werden, um ambivalente und unerwartete Strebewirkungen der harmonischen Fortschreitung zu entwickeln. Überhaupt birgt dieser Satz – und dies nicht allein in seinem späteren Teil mit „Chor der Verdammten“ – überraschende Parallelen zum Faust, denn bereits der Anfang mit Orchesterintroduktion und „Chor der Engel“ prägt bis hin zum Phänotyp exakt die gleiche Satzweise aus wie der Schluss des Finales des dortigen letzten Akts (also der ganzen Oper) mit dem „Chor der Geister“. (Neben der im Notenbeispiel 4 abgebildeten Stelle mit Orgelpunkten, Terzketten, und Läufen wäre auf andere Passagen des Satzes zu verweisen, bei denen diese Läufe überdies noch chromatisch angereichert werden.) An diesem ganzen Satz, der keine Fuge beinhaltet, sondern vom dramatischen Kontrast zwischen dem „Chor der Engel“ bzw. (später) der „Seeligen“ einerseits und dem der „Verdammten“ andererseits lebt, ließen sich erneut viele Beobachtungen anstellen, die auch für das bisher Geschriebene gelten. Verwiesen sei nur auf den tonartlichen Verlauf, der mit c-Moll beginnt (Allegro molto, 4/4-Takt C), um dann durch mannigfache modulatorische Verfahren folgende Tonregionen zu prononcieren: g, es/Es, B, es, G, As, es, G, es, G, Des, As, b, c/C, f, C, f (T. 219: a-cappella-Satz des „Chor der Verdammten“, Adagio, 3/4-Takt), F (T. 245: „Chor der Seeligen“ / „Chor der Verdammten“, Allegretto, 4/4-Takt C), As, C, F. Hier wird ein großes mehrchöriges Tableau entworfen, das sowohl dramatische Zuspitzung (samt einem gewissen Hang zum Plakativen) wie avancierte harmonische Verfahren einsetzt.
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Notenbeispiel 4: L. Spohr, Das jüngste Gericht, Introduzione et Choro III/1, „Furchtbar ist des Herren Zorn“, T. 25 – 28
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Eine weitere, vielleicht nicht ganz marginale Parallele zwischen dem Oratorium und der wenig später geschriebenen Oper ist schließlich der Umstand, dass in beiden die Orgel eingesetzt wird. Dies ist in Das jüngste Gericht ganz zwanglos aus dem Rahmen der Aufführung herzuleiten wie aus dem sakral verankerten Sujet. In Faust erfolgt dies lediglich an Stellen, die eine Assoziation zur Kirche nahelegen (v. a. der Hochzeitsszene). Die Art und Weise, wie die Orgel behandelt wird (meist in einfacher, parallel geführter Bewegung und ohne Pedal), spricht für ein kleines, pedalloses Instrument, das auch im Konzertsaal bzw. Opernhaus ohne große Umbauten platziert werden konnte. Zumindest mag die Idee, in Faust ebenfalls eine Orgel einzusetzen, von kürzlich gemachten Erfahrungen mit der Wirkung des Instruments bei den Oratorienaufführungen inspiriert worden sein. Zusammenfassend lassen sich also eine Fülle von Parallelen zwischen Spohrs Oratorium Das jüngste Gericht und seiner Oper Faust nachweisen, die von der Verwendung ähnlicher satztechnischer Modelle und harmonisch-modulatorischer Verfahrensweisen bis hin zum wörtlichen Zitat eines für die Oper zentralen Motivs reichen. Zwar hatte der Komponist in der Zwischenzeit Fortschritte im ,diabolischen‘ Genre gemacht, das nunmehr ja konstitutiv für das ganze Werk wurde, die Ähnlichkeiten sind jedoch nichtsdestoweniger frappierend.
4.
Originalität: ein relativ neuer Topos um 1800
Diese festgestellten Parallelen zweier kurz hintereinander entstandener Werke aus unterschiedlichen Gattungen liefern wiederum einen weiteren Hinweis darauf, warum Spohr sich nicht mehr entschließen mochte, das frühe Oratorium später umzuarbeiten: Nicht allein die inkriminierten Passagen und Nummern, die dem Opernstil der Klassik bzw. den direkten Vorbildern Haydn und Mozart verpflichtet waren, hätten geändert werden müssen. Auch und gerade die dramatisch zündenden Nummern – wie die als sehr gelungen empfundene Partie des Satanas oder der besagte Eingangschor zum dritten Teil – wären wohl in ihrer Ähnlichkeit und Vorbildfunktion für die bekanntere Oper sehr klar erkannt worden, was dem zu jener Zeit verstärkt geäußerten Postulat der Originalität nicht entsprochen hätte. Mit dieser hier geäußerten Unterstellung hat es seine Bewandtnis für das Verständnis des ganzen Werks, denn die Schwellenposition zwischen Orientierung an älteren Vorbildern und Neuformulierung von kompositorischen Verfahrensweisen, die selbst bald wieder zum Muster für sein eigenes Werk wurden, wirkt erst dann problematisch, wenn Originalität als unstrittige Leitkategorie etabliert ist. Dies war zu jenem Zeitpunkt aber nur bedingt der Fall: Spohr musste um 1812 feststellen, dass er von Kritikern seines Oratoriums Das jüngste
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Andreas Jacob
Gericht dafür gerügt wurde, sich allzu sehr an den von ihm so geschätzten Vorbildern Haydn (Schöpfung) und Mozart (Zauberflöte) orientiert zu haben. Eine derartige Kritik war ihm nach eigenen Aussagen hier nicht das erste Mal begegnet, und in Rückschau auf sein früheres Werk Alruna oder die Eulenkönigin (von dem lediglich die Ouvertüre aufgeführt worden war) geht er ausführlich darauf ein, dass ihm das Nachbilden vorhandener Muster zu jener Zeit durchaus nicht ehrenrührig erschienen sei, da die Forderung nach Originalität des Künstlers und des Kunstwerks eine gerade erst Neuaufgekommene gewesen sei, die noch nicht den Grad allgemeiner Verbindlichkeit beanspruchen konnte: „Von der Ouvertüre zu ,Alruna‘ sagt jener Breslauer Berichterstatter, ,sie sei nicht frei von Reminiszenzen.‘ Er hätte geradezu sagen können, sie sei der Ouvertüre der Zauberflöte ganz und gar nachgebildet; denn dies war die Aufgabe, die ich mir gestellt hatte. Bei meiner Verehrung für Mozart und der Bewunderung, die ich dieser Ouvertüre zollte, schien mir eine Nachbildung derselben etwas sehr Natürliches und Lobenswerthes, und ich hatte in jener Zeit der Entwickelung meines Compositionstalentes schon mehrere ähnliche Nachbildungen Mozart’scher Meisterwerke versucht, unter anderem die einer Arie voller Liebesklagen in Alruna nach der wundervollen Arie der Pamina: ,Ach ich fühl’s es ist verschwunden.‘ Obwohl ich nun bald nach jener Zeit zu der Einsicht kam, daß der Componist auch in der Form seiner Musikstücke, sowie in der Entwickelung seiner musikalischen Ideen originell zu sein sich bestreben müsse, so hat sich doch eine Vorliebe für jene Nachbildung der Zauberflöten-Ouvertüre noch bis in die neueste Zeit bewahrt, und noch jetzt halte ich sie für eine meiner besten und wirksamsten Instrumental-Compositionen. Sie ist auch nicht so sclavisch nachgeahmt, wie z. B. die auffallenden Modulationen in dem Einleitungs-Adagio und das zweite Fugenthema, womit die zweite Hälfte des Allegro beginnt und das dann mit dem Hauptthema recht glücklich verbunden ist. Auch die Instrumentirung, obwohl noch ganz in Mozart’scher Weise, hat doch schon einiges Eigenthümliche.“27
Das Aufgreifen von Modellen bis hin zur wörtlichen Entlehnung schien Spohr folglich im ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts noch als legitimes Mittel der Aneignung, insbesondere bei den von ihm mehrfach akzentuierten Notwendigkeiten autodidaktischen Kompositionsstudiums. Dass nunmehr – nicht zuletzt durch das Aufkommen von geschmacksbildenden und als Autorität auftretenden Periodika (wie z. B. der Allgemeinen musikalischen Zeitung28) – vor dem Hintergrund einer sich wandelnden Ästhetik Originalität zum unverzichtbaren Element einer Musik bzw. des Komponisten deklariert wurde, musste Spohr selbst erst lernen anzuerkennen. Gerade die besagten Partien mit har27 Louis Spohr’s Selbstbiographie, Bd. 1, S. 139 f. 28 Vgl. hierzu Sarah Grossert, Zum Zusammenhang ästhetischer Urteile und sozialer Klassifikation – Praktiken der Grenzziehung in der Allgemeinen Musikalischen Zeitung (1798 – 1848), Masterarbeit HU Berlin 2013. Hier wird auch in einer empirischen Untersuchung die Nennung von Topoi wie eben Originalität aufgelistet, womit die erfolgreiche Etablierung dieses Topos gut nachvollziehbar wird.
Aneignung und Neuformulierung in Spohrs Oratorium Das jüngste Gericht
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monischen und motivischen Neuformulierungen aus Das jüngste Gericht legen Zeugnis davon ab, auf welche Weise und in welchem Ausmaß ihm das gelungen war. Diese Neuformulierungen selber wieder zum Ausgangspunkt bzw. Bestandteil eines anderen Werks (noch dazu in einer anderen Gattung) zu nehmen, spricht allerdings ebenso wie die noch virulente Bezugnahme auf ältere Komponisten in den Arien des Oratoriums dafür, dass ihm jenes Postulat nach Originalität jedes einzelnen Werks um 1812/13 noch keine selbstverständliche Grundvoraussetzung des Komponierens war. Das jüngste Gericht ist somit in vielerlei Hinsicht ein Werk des Übergangs – stilistisch wie im Denken über den musikalischen Produktionsprozess. Dass dieses Oratorium offenbar – allen Bemühungen und Erfolgen im „strengen Styl“ des Fugenwesens zum Trotz – für die Gattungsgeschichte der Oper eine nachhaltigere Rolle spielen sollte als für diejenige des Oratoriums, gehört sicherlich zu den ironischen Seitenaspekten, die derartige Transformationsprozesse beinhalten können.
Daniel Glowotz
Altklassische Polyphonie oder zeitgenössischer Tonsatz? Zur Rezeption älterer Kirchenmusikstile in den Chorsätzen von Louis Spohrs Oratorium Die letzten Dinge1
In seinem Brief vom 2. Juli 1825 an Louis Spohr wies Friedrich Rochlitz darauf hin, dass die Musik zur Vertonung seines Textbuchs zum Oratorium Die letzten Dinge „[…] nothwendig im höchsten Kirchenstyl geschrieben werden müßte, d. h. im Wesentlichen in dem, der Vorfahren, bis auf und mit Händel, doch allerdings mit Benutzung der seitdem so sehr vermehrten und vervollkommneten Kunst- und Ausdrucksmittel.“2 Diese klar definierte Stilvorgabe des Librettisten wirft nicht nur ein bezeichnendes Licht auf Art und Umfang der Einflussnahme von Rochlitz auf den Entstehungsprozess des gemeinsam mit Spohr geschaffenen Oratoriums,3 sondern lässt auch grundsätzlich eine rückschauende Sicht des Musikkritikers und Schriftleiters der Leipziger Allgemeinen musikalischen Zeitung in der Frage nach einer angemessenen Stilistik für die Kirchenmusik seiner Zeit erkennen.4 Spohr teilte mit Rochlitz diese konservative Haltung zur Musica sacra. Auch seine ästhetischen Über1 Der Verfasser dankt Herrn Dr. Karl Traugott Goldbach (Kassel) sehr herzlich für wertvolle Hinweise zu Louis Spohrs Rezeption älterer Kirchenmusik und vor allem für die freundliche Bereitstellung von Reproduktionen der drei erhaltenen Briefe Spohrs aus der Korrespondenz mit Friedrich Rochlitz zum Oratorium Die letzten Dinge, die für den vorliegenden Beitrag von zentraler Bedeutung sind. 2 Friedrich Rochlitz an Louis Spohr, Brief vom 2. Juli 1825, in: Ernst Rychnovsky, „Ludwig Spohr und Friedrich Rochlitz. Ihre Beziehungen nach ungedruckten Briefen“, in: Sammelbände der Internationalen Musikgesellschaft 5 (1903/1904), S. 264. Es handelt sich bei diesem Brief um die erste Anfrage von Rochlitz bei Spohr zur Vertonung des Textbuches von Die letzten Dinge. Vgl. dazu auch Clive Brown, Louis Spohr. Eine kritische Biographie, Kassel 2009, S. 210, und Winfried Kirsch, „Oratorium und Oper. Zu einer gattungsästhetischen Kontroverse in der Oratorientheorie des 19. Jahrhunderts (Materialien zu einer Dramaturgie des Oratoriums)“, in: Beiträge zur Geschichte des Oratoriums seit Händel. Festschrift Günther Massenkeil zum 60. Geburtstag, hrsg. von Rainer Cadenbach und Helmut Loos, Bonn 1986, S. 229. 3 Vgl. Brown, Louis Spohr, S. 210 f. 4 Vgl. Glenn Stanley, The Oratorio in Prussia and Protestant Germany 1812 – 1848, Diss., Columbia University 1988, Ann Arbor (Michigan) 1994, S. 115 f. Es ging Rochlitz mit dieser Stilvorgabe letztlich um eine aktualisierte Form des barocken Oratorienstils aus dem 18. Jahrhundert, wie sie Spohr in Die letzten Dinge schließlich auch realisiert hat.
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Daniel Glowotz
zeugungen von einer stilistisch angemessenen Kirchenmusik sind wie diejenigen von Rochlitz deutlich vom Historismus des frühen 19. Jahrhunderts geprägt – und dem damit verbundenen Interesse an einer Wiederbelebung älterer Kirchenmusikwerke aus der vorklassischen Ära sowie an der Integration und Rezeption archaischer Kompositionstechniken und Stilelemente in eine zeitgenössische Kirchenmusik mit religiös adäquatem Stilgestus.5 Als Einflüsse für die Entstehung dieser konservativen Grundhaltung Spohrs lassen sich mehrere Faktoren benennen. Zunächst ist hier auf die guten Kontakte des Komponisten zu Personen zu verweisen, die für eine Wiederbelebung vorklassischer Formen und Stile in der Kirchenmusik des frühen 19. Jahrhunderts stehen. Unter diesen ist wiederum an erster Stelle Rochlitz zu nennen, daneben vor allem der Jurist, Kirchenmusikreformer und -ästhetiker Anton Friedrich Justus Thibaut sowie der Spohr-Schüler und Thomaskantor Moritz Hauptmann, die wie der Komponist sämtlich zu den Vorkämpfern der Bach-Renaissance ihrer Zeit gehörten.6 Spohr selbst hatte seit 1822 als Chorleiter des Kasseler Cäcilienvereins auch praktische Erfahrungen mit der Aufführung der Kirchenmusikwerke Johann Sebastian Bachs und Georg Friedrich Händels gesammelt.7 Dabei sollte jedoch nicht unerwähnt bleiben, dass sich sein Interesse an vorklassischer Kirchenmusik nicht allein auf das Barockzeitalter beschränkte, sondern auch auf Werke im stile antico bzw. der klassischen a cappella-Vokalpolyphonie der italienischen Renaissance erstreckte.8 5 Vgl. Gerald Kilian, Studien zu Louis Spohr (= Wissenschaftliche Beiträge Karlsruhe, 16), Karlsruhe 1986, S. 59 und 325. 6 Vgl. ebd., S. 59 f. und 70 f. Spohr gehörte zu den Mitbegründern der Bach-Gesellschaft (1850) und hatte bereits vor der Wiederaufführung der Matthäuspassion Johann Sebastian Bachs durch Felix Mendelssohn Bartholdy (1829), teilweise sogar gegen den Widerstand des Kurhessischen Hofs, in Kassel Werke Bachs zur Aufführung gebracht – wenn auch nicht nach den Maßstäben historischer Aufführungspraxis, sondern entsprechend der Musikpraxis seiner Zeit. Zur Begegnung Spohrs mit den Werken J. S. Bachs schon in seiner Jugendzeit siehe vor allem Hartmut Becker, „Einflüsse musikalischer Traditionen in Louis Spohrs Braunschweiger Jugendjahren“, in: Louis Spohr. Festschrift und Ausstellungskatalog zum 200. Geburtstag (= Staatsbibliothek Preussischer Kulturbesitz, Ausstellungskataloge, 22), hrsg. von Hartmut Becker und Rainer Krempien, Kassel 1984, S. 19 – 26, bes. S. 19. 7 Vgl. Kilian, Studien, S. 59 und siehe dazu auch Herfried Homburg, „Louis Spohr und die Bach-Renaissance“, in: Bach-Jahrbuch 47 (1960), S. 69: Nach dem Alten Repertorium des Kasseler Cäcilienvereins, in: Universitätsbibliothek Kassel. Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel (D-Kl), 28 Mus 1500, Sp. 28, befanden sich in dessen Musikalienbestand unter Spohrs Leitung noch weitere Sakralwerke von Komponisten aus dem 17. und 18. Jahrhundert, nämlich das Miserere Gregorio Allegris, ein vierstimmiges Magnificat Francesco Durantes und eine doppelchörige Miserere-Vertonung Leonardo Leos. 8 Siehe dazu Louis Spohr an Friedrich Rochlitz, Brief vom 9. Juli 1825, in: D-Ngm Archiv Autographen K. 27: „Denn längst hatte ich, angeregt durch tieferes Eingehn in den Geist Händel’scher und alt-Italiänischer Musik (die ich in unserm, von mir vor 3 Jahren gestiftetem Gesang=Verein fast ausschließlich singen lasse,) den Vorsatz gefaßt, ein Oratorium in einem einfach ernsten Sty¨l zu schreiben und nur der Mangel eines guten Textes hielt mich bisher
Altklassische Polyphonie oder zeitgenössischer Tonsatz?
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Das gilt nicht nur für seine Funktion als musikalischer Leiter des Kasseler Cäcilienvereins: Ähnlich wie E.T.A. Hoffmann gehörte auch Spohr zu den Zeugen der karfreitäglichen, zeremoniellen Aufführungen von Gregorio Allegris Vertonung des 50. (51.) Psalms Miserere in der Cappella Sistina und zeigte sich nach dem entsprechenden Bericht in seiner Selbstbiographie von diesem Ereignis trotz des aus seiner Sicht harmonisch zu schlichten und daher kritikwürdigen Charakters des Allegrischen Werks nicht weniger überwältigt als seine Zeitgenossen.9 Doch obwohl Spohr dieses Schlüsselerlebnis, das in seiner Vita zugleich die erste Begegnung mit Kompositionen der altklassischen Vokalpolyphonie gebildet zu haben scheint, bereits während seiner Italienreise im April des Jahres 1817 zuteil geworden war, führte erst der seit 1820 bestehende Kontakt mit Thibaut zur intensiveren Beschäftigung mit Formen und Werken aus diesem Repertoire. Spohr lernte laut seiner Selbstbiographie in diesem Jahr Thibaut kennen und erhielt Zugang zu dessen umfangreicher Sammlung von klassischen a cappella-Werken des 16. Jahrhunderts. Er nutzte diese Gelegenheit intensiv zum Studium von Kompositionen aus diesem Fundus10 und scheint sogar Aufführungen entsprechender Stücke durch Thibaut erlebt zu haben.11 Zwar inspirierten die Studien von Werken der Renaissancepolyphonie aus Thibauts Sammlung Spohr im Jahre 1821 zur Komposition seiner a cappellaMesse Op. 54,12 doch entwickelte er sich keineswegs zu einem ausgesprochenen Anhänger der italienischen Kirchenmusik der Renaissance. Im Gegensatz zu Thibaut und E.T.A. Hoffmann vertrat er auch nicht die Ansicht, dass sie der
9 10
11 12
davon ab.“ Unter den im Alten Repertorium des Kasseler Cäcilienvereins (s. Anm. 7) verzeichneten Werken von Komponisten des 16. Jahrhunderts befanden sich zur Zeit von Spohrs Leitung Motetten von Jacob Gallus (Handl), Dominique Phinot und Cristobl de Morales, vgl. Homburg, „Spohr und die Bach-Renaissance“, S. 69. Siehe dazu Louis Spohr, Lebenserinnerungen, hrsg. von Folker Göthel, 2 Bde., Tutzing 1968, Bd. 2, S. 30 – 32. Vgl. dazu Spohr, Lebenserinnerungen, Bd. 2, S. 96: „doch machte der einfach-grandiose Stil jener Werke damals einen großen Eindruck auf mich, und ich erbat mir daher die Erlaubnis, die Partituren derselben durchstudieren zu dürfen. Nach einigem Zögern wurde mein Wunsch in der Weise erfüllt, dass ich zu bestimmten Stunden Thibauts Musiksaal besuchen und die Werke am Piano durchgehen durfte; ein Mitnehmen derselben nach Hause war aber nicht erlaubt. Ich benutzte diese Vergünstigung täglich und lernte dadurch die Stimmführung und die Harmoniefolge der alten Meister recht genau kennen. Es kam mir dabei die Lust an, mich auch einmal in einer vielstimmigen Kirchen-Musik alla Capella zu versuchen und ich führte dies im folgenden Sommer in Gandersheim durch die Komposition der zehnstimmigen Messe, op. 54, aus. Freilich war es mir nicht gegeben, mich in den einfachen Dreiklang-Fortschreitungen der alten Meister zu bewegen; im Gegenteil habe ich in der reichen Modulation der späteren Mozart’schen Weise für die Ausführbarkeit wohl des Guten zu viel getan.“ Vgl. Kilian, Studien, S. 61 f. Vgl. Anm. 10.
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Musica sacra der Klassik und Romantik überlegen sei. Aus der Sicht Spohrs waren die musikhistorisch bis zu seiner Zeit gewonnenen Mittel und Standards der Kompositionstechnik auch im Bereich der Kirchenmusik unverzichtbar.13 Zu nennen sind hier insbesondere die vokal-instrumentale Vertonung und die durch den harmonischen Reichtum der Klassik und Romantik gewonnene Vielfalt der satztechnischen Ausdrucksmöglichkeiten.14 Als kompositorisches Ideal eines Kirchenmusikwerks schwebte Spohr nach den entsprechenden Äußerungen in seiner Selbstbiographie eine Verbindung zwischen dem strengen Satz des gebundenen Stils der Musica sacra des 18. Jahrhunderts und den Errungenschaften des klassisch-romantischen Tonsatzes vor.15 In Übereinstimmung mit der gängigen Auffassung seiner Zeit repräsentierte nach seiner eigenen Auffassung vor allem die Verwendung polyphoner Techniken das sakrale Element einer Komposition bzw. des Kirchenstils.16 Als notwendige Elemente einer stilistisch angemessenen Vertonung von Kirchenmusikwerken verstand er daher vor allem eine kanonische Stimmführung und die Integration von Fugen – also klassische polyphone Techniken, die allerdings nicht unbedingt nur für die Vokalpolyphonie der Renaissance typisch sind. In diese Richtung weist auch das von Spohr zum Selbststudium herangezogene Lehrbuch Abhandlung von der Fuge von Friedrich Wilhelm Marpurg (1753), das den polyphonen Satz in der Lesart des 18. Jahrhunderts darstellt und mit dessen Hilfe sich Spohr die Satztechnik der älteren Kirchenmusikstile autodidaktisch angeeignet hat – nach seiner Selbstbiographie ausdrücklich auch vor dem Hintergrund der Komposition des Oratoriums Die letzten Dinge.17 Dass ihm die älteren kontrapunktischen Kompositionstechniken attraktiv erscheinen mussten, erklärt sich auch mit seiner generell konservativen Haltung in kompositorischen Fragen bzw. mit seiner engen Traditionsbindung, wie sie auch in seinen weltlichen Werken in Form der Einhaltung von durch die Tradition legitimierten Stilkriterien und formalen Merkmalen der Klassik zu beobachten ist.18 13 Siehe dazu Louis Spohr an Friedrich Rochlitz, Brief vom 9. Juli 1825: „Es scheint mir, als würde ich für diese Arbeit [Die letzten Dinge, Anm. d. Verf.] erst noch einen besondern, aus altem und neuem gemischten Sty¨l, mir schaffen müßen; denn bey¨ aller Vorliebe für alte, besonders Händel’sche Musik, kann ich mir doch auch nicht verhehlen, daß die neuere noch Höheres leisten könne und wirklich geleistet habe, wie denn (um nur gleich das Beste anzuführen) in allen, mir bis jetzt bekanntgewordenen Werken älterer Zeit doch nichts so reich an Musik und zugleich so erhaben und ächt kirchlich mir zu sey¨n dünkt als einzelne Sätze des Mozart‘schen Requiems, […].“ 14 Vgl. Kilian, Studien, S. 61 f. 15 Vgl. Spohr, Lebenserinnerungen, Bd. 2, S. 110 – 112 und 199. 16 Vgl. Kilian, Studien, S. 63 – 65. 17 Vgl. ebd. und siehe dazu Louis Spohr’s Selbstbiographie, 2 Bde., Kassel/Göttingen 1860 – 1861, Bd. 2, S. 170 sowie Rychnovsky, „Ludwig Spohr und Friedrich Rochlitz“, S. 265. 18 Vgl. Kilian, Studien, S. 22 – 28 und 64.
Altklassische Polyphonie oder zeitgenössischer Tonsatz?
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Bedingt durch die dramaturgische Struktur des Librettos bot sich Spohr in diesem Werk eine Integration von Formen und Kompositionstechniken der vorklassischen Kirchenmusik geradezu an.19 Die letzten Dinge sind bekanntermaßen kein dramatisches Oratorium, sondern zeichnen sich durch einen kontemplativen Charakter aus,20 so dass eine Vertonung in einem eher dramatisch-theatralischen Stil, wie er im Falle von Friedrich Schneiders thematisch vergleichbarem Werk Das Weltgericht vorliegt und wie ihn Spohr im Jahre 1821 an der Aufführung einer Messe von Charles-Henri Plantade in der Pariser Hofkapelle als kirchenmusikalisch unangemessen kritisiert hatte,21 von ihm a priori ausgeschlossen worden sein dürfte. In Übereinstimmung mit der Grundkonzeption des Rochlitzschen Librettos befindet sich auch der von Spohr bewusst vorgenommene Verzicht auf Arien und längere virtuose Solostücke, die für ein dramatisches Bühnenwerk obligatorisch, für ein Oratorium mit Stilelementen der klassischen Vokalpolyphonie und des gebundenen Stils dagegen störend gewesen wären.22 Stattdessen liegt der eigentliche Akzent in Die letzten Dinge auf den Chorsätzen und Ensembles – sowohl in der Konzeption des Librettos, als auch in dessen Vertonung.23 Dabei griff Spohr zur 19 Vgl. Stanley, Oratorio in Prussia and Protestant Germany, S. 122. 20 Vgl. ebd., S. 115 f. Zur dramaturgischen Konzeption des Librettos von Die letzten Dinge siehe auch den Beitrag von Rebekka Sandmeier im vorliegenden Band. 21 Vgl. Spohr, Lebenserinnerungen, Bd. 2, S. 110; Kilian, Studien, S. 68 f. und 325. Stanley, Oratorio in Prussia and Protestant Germany, S. 115 f. und 122, interpretiert den von Spohr bei der Vertonung von Die letzten Dinge gewählten Stil sogar als vom Komponisten bewusst gesetzten Kontrast zum Weltgericht Friedrich Schneiders. 22 Vgl. Stanley, Oratorio in Prussia and Protestant Germany, S. 115 f.; Brown, Louis Spohr, S. 212. Siehe dazu auch Friedrich Rochlitz an Louis Spohr, Brief vom 2. Juli 1825, S. 264: „[…] da eigentliche Arien und sonst schwierige Soli gar nicht vorkommen, sondern bloß begleitete Recitative, kurze mehrstimmige Soli und vor allem Chöre, doch keine doppelten oder sonst sehr künstlichen, wie sie jetzt nun einmal nicht mehr wirken würden“ und Louis Spohr an Friedrich Rochlitz, Brief vom 9. Juli 1825: „Was Sie mir über die Form Ihrer Dichtung mittheilen, läßt mich wünschen, daß das Oratorium aus zwei Theilen bestehen und so lang sey¨n mögte [sic!], daß die Musik zwei Stunden dauern könnte; ferner, daß es nicht ganz der einstimmigen Solis (wenn auch nicht in Form von Arien) entbehren mögte [sic!], da Chöre und mehrstimmige Gesangstücke in zu großer Menge gar zu leicht ermüden, wie man das z. B. bey¨ m Anhören des Schneider’schen Weltgerichts empfindet.“ 23 Stanley, Oratorio in Prussia and Protestant Germany, S. 115 – 117, wollte im Grundsatz in der formalen Gestaltung von Die letzten Dinge die für Oratorien des Barockzeitalters typische Folge von Rezitativen, Arien und Chören erkennen. Ein solcher Formverlauf lässt sich jedoch nicht schlüssig nachweisen. An seine Stelle treten vielmehr Nummern oder Stücke, die ganze Komplexe von Wechseln zwischen Solo- und Chorpassagen enthalten, wie Stanley selbst richtig bemerkte. Nach seiner Ansicht ging diese Konzeption auf die Absicht Spohrs zurück, dieses Oratorium auch für Gesangvereine und Amateurchöre aufführbar zu gestalten. Virtuose Soloarien, in denen üblicherweise die Affekte der Protagonisten reflektiert werden, hätten dagegen professionelle Sänger vorausgesetzt und wären noch dazu in der dramaturgischen Konzeption dieses Oratoriums sinnlos gewesen, da Protagonisten oder Solorollen in Die letzten Dinge fehlen.
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Daniel Glowotz
Besetzung der Singstimmen auf eine Technik zurück, wie sie auch aus der älteren Musik vertraut ist, nämlich aus der norditalienischen Mehrchörigkeit des ausgehenden 16. Jahrhunderts: Trotz der von Rochlitz in dem eingangs zitierten Brief ausgesprochenen Mahnung, keine doppelten oder virtuosen Chorsätze für das gemeinsame Oratorium zu komponieren,24 besetzte Spohr dessen Singstimmen doppelchörig mit einer Solistengruppe als Favoritchor und einem chorisch besetzten Ensemble als Kapellchor.25 Beide Klangkörper erscheinen dabei als anonymisierte Einheiten und tragen entsprechend der dramaturgischen Konzeption des Oratoriums keine Rollennamen, sondern lediglich ihre vier Stimmenbezeichnungen Sopran, Alt, Tenor und Bass.26 Auf der dramaturgischen Seite lässt sich dabei eine eindeutige Rollenverteilung zwischen beiden konzertierenden Gruppen beobachten: Das rudimentäre Handlungsgerüst ist der über weite Strecken als Ensemble geführten Solistengruppe in Form von ruhigen Accompagnati und Ariosi anvertraut, während der Hauptchor die Aufgabe des Vortrags von Gebeten und Glaubensbekenntnissen übernimmt. In gewisser Weise kann man also auch beim dramaturgischen Modell des Haupt- oder Kapellchors in Die letzten Dinge von der bekannten Funktion eines kommentierenden Chors sprechen, wie er in der klassischen Tragödie der griechischen Antike und zuweilen auch im barocken Oratorium Händels begegnet.27 Auf der formalanalytischen Ebene zeichnen sich die Letzten Dinge durch die Integration von vier verschiedenen Satztypen der älteren Kirchenmusik aus : Zu nennen sind hier als idealtypische Beispiele erstens der motettische Satz in doppelchöriger Anlage in den Chören „Heil, dem Erbarmer“ und „Selig sind die Toten“ sowie zweitens in einfacher Besetzung im Chor „Gefallen ist Babylon die Große“, drittens die Choralbearbeitung im Chor „So Ihr mich von ganzem Herzen suchet“ und viertens die Chorfuge als Schlusssatz des ge24 Vgl. Friedrich Rochlitz an Louis Spohr, Brief vom 2. Juli 1825, S. 264, und Kirsch, „Oratorium und Oper“, S. 229. 25 Spohrs Vertonung von Siegfried August Mahlmanns Vater unser, einer poetischen Meditation über den Text des bekanntesten christlichen Gebets, weist die von ihm in Die letzten Dinge verwendete Technik des Wechsels von Solistenquartett und vierstimmigem Kapellchor ebenfalls auf. Kilian, Studien, S. 126, verstand die Anwendung dieser mehrchörigen Technik in Die letzten Dinge als Übernahme aus den Oratorien Händels. Hier wird dagegen die Ansicht vertreten, dass es sich dabei um die Rezeption einer Technik aus der Vokalpolyphonie des 16. und 17. Jahrhundert handelt. 26 Vgl. Wolfram Steinbeck, „Eine edlere Apokalypse. Zu Spohrs Oratorium ,Die letzten Dinge‘“, in: Apokalypse. Symposium 1999 (= Studien zu Franz Schmidt, 13), hrsg. von Carmen Ottner, Wien/München 2001, S. 94 – 107, hier S. 97. 27 Vgl. Kilian, Studien, S. 126. Heinz Meier, Typus und Funktion der Chorsätze in Georg Friedrich Händels Oratorien (= Neue musikgeschichtliche Forschungen, 5), Wiesbaden 1971, S. 121 – 123, bezeichnet die in dieser dramaturgischen Funktion in den Oratorien Händels begegnenden Chöre treffend als „Sentenzchöre“.
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Altklassische Polyphonie oder zeitgenössischer Tonsatz?
samten Oratoriums, „Groß und wunderbarlich sind Deine Werke, Herr, allmächtiger Gott“. Tabelle 1: Historische Satztypen in den Chorsätzen von Die letzten Dinge Reihenfolge28 Motettisch doppelchörig
Nr. 9
Nr. 13
Heil, dem Erbarmer
Fuge
Nr. 16
Nr. 19
Selig sind die Toten Gefallen ist Babylon die Große
Motettisch einchörig Choralbearbeitung
Nr. 15
So ihr mich von ganzem Herzen suchet Groß und wunderbarlich sind Deine Werke, Herr, allmächtiger Gott
Da die Orchesterbegleitung in den hier genannten Chorsätzen des Oratoriums in der Regel motivisch unabhängig von den Singstimmen verläuft, lassen sich die von Spohr verwendeten historischen Satzweisen und Chortypen weitgehend ohne Berücksichtigung des Orchestersatzes analysieren. Reine a cappella-Sätze sucht man in Die letzten Dinge allerdings vergebens, so dass man im Falle des Stils der altklassischen Polyphonie lediglich von einer Annäherung oder von einer nur indirekten Rezeption sprechen kann. Kompositorisch am nächsten kommen der Vokalpolyphonie der Renaissance in diesem Oratorium noch die doppelchörigen Chorsätze im motettischen Stil, „Heil, dem Erbarmer“ und „Selig sind die Toten“, in denen sich Spohr an der Ausprägung der Gattung Motette aus dem ausgehenden 16. und frühen 17. Jahrhundert orientiert hat.29 Beide Chorsätze sind konsequent antiphonal mit regelmäßigen Wechseln der Einsätze von Chor und Solistengruppe angelegt, weisen eine nur schwach besetzte Orchesterbegleitung auf und stehen in Ges-Dur. Lässt sich in der Wahl dieser eher unsanglichen b-Tonart für ein 28 Die hier angegebene Reihenfolge derjenigen Chorsätze aus Die letzten Dinge, welche historischen Satztypen folgen, bezieht sich auf die aktuelle kritische Edition dieses Werks, die auch für die hier vorgelegten Analysen dieser Chorsätze verwendet wurde: Louis Spohr, Die letzten Dinge. The Last Judgment, hrsg. von Irene Schallhorn und Dieter Zeh, Stuttgart 2008. 29 Vgl. Kilian, Studien, S. 106 – 114.
242
Daniel Glowotz
Vokalstück ebenso ein Element des Spohr’schen Personalstils erkennen wie in der bisweilen avancierten Harmonik seiner Chorsätze, so verweisen in beiden doppelchörig vertonten Stücken die formelhafte Melodiebildung mittels knapper, nicht mehr als zwei Takte umfassender Soggetti und der blockweise Wechsel zwischen Passagen in homophoner und polyphoner Satztechnik auf das von Spohr gewählte Modell aus der älteren Kompositionspraxis der Kirchenmusik.30 Bemerkenswerterweise erweisen sich dabei die regelmäßig zwischen Chor und Solistengruppe wechselnden Einsätze für die Chöre „Heil, dem Erbarmer“ und „Selig sind die Toten“ zugleich auch als formal konstitutiv, da sie im Gegensatz zur Kompositionspraxis von antiphonalen Chorsätzen in der Renaissance sämtlich auch formal abkadenziert werden, und zwar auf der Tonika, der Dominante oder deren Stellvertreterstufen. Im Falle des Chorsatzes „Heil, dem Erbarmer“ übernimmt darüber hinaus die ritornellartige Wiederholung der vier Hauptmotive eine formbildende Funktion. Somit kann man hier von der Anwendung einer klassischen konzertierenden Technik sprechen, wie sie aus dem barocken Instrumentalkonzert des 18. Jahrhunderts vertraut ist.31 Am einfachsten lässt sich der hier aufgezeigte Formbau des Chores „Heil, dem Erbarmer“ anhand einer Tabelle verdeutlichen.32
30 Vgl. ebd. 31 Vgl. ebd., S. 110 f. Entgegen der Ansicht von Kilian, Studien, S. 109, lässt sich im Chorsatz „Heil, dem Erbarmer“, der den Schluss des ersten Teils von Die letzten Dinge bildet, keine Steigerung der Besetzung mittels einer systematischen Einsatzfolge der Stimmen erkennen. Es handelt sich bei diesem Chor lediglich um einen konsequent antiphonal, im Wechsel zwischen Solistengruppe und Hauptchor geführten Abschnitt, dessen Orchesterbegleitung wegen der Beschränkung auf die Streicher und die tiefen Holzbläser eher schwach ausfällt. 32 Vgl. dazu auch das von Kilian, Studien, S. 110 f., vorgelegte Formschema.
1–5
54 – 56
Chor
–
Motiv a
Ges Motiv a
Heil, dem Erbarmer Homophon –
Ges Motiv a
Noch Schmerz noch Klage Homophon
56 – 58
Ges Motiv d
Der Herr ist unser Gott Homophon
–
58 – 62
Ges Motiv a
Ges Motiv a
52 – 54
Heil, dem Erbarmer Homophon –
Kein Leid ist mehr Solisten Homophon –
Takte
Chor
41 – 46
–
Ges Motiv d
Der Herr ist unser Gott Homophon
62 – 66
–
b Motiv c
Ges Motiv d
Heil, dem Erbarmer Homophon
–
66 – 70
Ges Motiv d
Der Herr ist unser Gott Homophon
Ges Motiv b
33 – 41
Ges Motiv b
25 – 33 Er selbst wird Kein Leid ist mehr, trocknen noch Schmerz Polyphon Polyphon –
21 – 25
Er selbst wird trocknen Polyphon –
5 – 21
Heil, dem Erbarmer Homophon –
Solisten –
Takte
Tabelle 2: Chorsatz „Heil dem Erbarmer“, Formbau
–
Ges Motiv e
Kein Leid ist mehr noch Schmerz Homophon
67 – 72
–
Ges Motiv d
Der Herr ist unser Gott (…) Homophon
46 – 50
Motiv a
Ges
Homophon
Heil, dem Erbarmer
72 – 80
Ges Motiv a
Heil, dem Erbarmer Homophon
–
50 – 52
Altklassische Polyphonie oder zeitgenössischer Tonsatz?
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Daniel Glowotz
Der typologisch dem Chorsatz „Heil, dem Erbarmer“ verwandte Chor „Selig sind die Toten“ verläuft erwartungsgemäß formal sehr ähnlich und entspricht, abgesehen von der auf die beiden Klarinetten reduzierten Orchesterbegleitung, stilistisch und analytisch weitgehend dem erstgenannten, wie sich anhand der folgenden Tabelle erkennen lässt. Tabelle 3: Chorsatz „Selig sind die Toten“, Formbau Takte
1–8 Selig sind die Toten Solisten Homophon
8 – 16 Sie ruhen von ihrer Arbeit Polyphon
Ges Motiv a
Chor
17 – 24
24 – 25 Selig sind die Toten Homophon
–
Des Motiv b
–
B Motiv a Selig sind die Toten Homophon
–
–
Ges Motiv a Takte
25 – 27
Solisten –
27 – 28 Die in dem Herrn sterben
28 – 30
29 – 31 30 – 35 Von nun an in Ewigkeit
Homophon Es
–
Homophon Ges
Motiv a Von nun an in Ewigkeit Chor
Homophon Ges Motiv a
Motiv a Von nun an in Ewigkeit
–
–
Homophon Ges Motiv a
Von nun an in Ewigkeit –
Homophon Ges Motiv a
In Die letzten Dinge findet sich der motettische Satz des ausgehenden 16. und frühen 17. Jahrhunderts jedoch nicht nur in seiner doppelchörigen Form, sondern auch in einfacher Besetzung. Ein gutes Beispiel bildet der Chor „Gefallen ist Babylon die Große“. Sieht man vom Orchestersatz ab, folgt der formale Aufbau dieses Stücks ebenfalls dem Prinzip des mehr oder weniger regelmäßigen Wechsels zwischen polyphonen und homophonen Abschnitten. Formal zu beachten ist außerdem, dass die beiden letzten, textlich mit den Abschnitten 5 und 6 (Takte 34 – 91) identischen Passagen des Chors (Takte 94 –
245
Altklassische Polyphonie oder zeitgenössischer Tonsatz?
157) eine um eine Sekund von g-Moll nach a-Moll gerückte Wiederholung der beiden unmittelbar vorausgegangenen Abschnitte bilden. Tabelle 4: Chorsatz „Gefallen ist Babylon die Große“, Formbau Takte Text
9 – 12 Gefallen ist Babylon die Große Polyphon (Imitation)
13 – 20 Gefallen ist Babylon die Große Homophon
20 – 33 Gefallen ist Babylon die Große Homophon (Madrigalstil)
Orchester s. Chor
s. Chor
s. Chor
s. Chor
Takte Text
47 – 91 Sie ringen nach ihm (…) sie zagen, sie beben Homophon (Kantionalstil)
92 – 113 Sie suchen den Tod und finden ihn nicht Polyphon (Fugato)
113 – 157 Sie ringen nach ihm (…) sie zagen, sie beben Homophon (Kantionalstil)
Polyphon (unabhängig vom Chor)
s. Chor
Polyphon (unabhängig vom Chor)
Chor
Chor
5–8 Gefallen ist Babylon die Große Unisono
34 – 47 Sie suchen den Tod und finden ihn nicht Polyphon (Fugato)
Orchester s. Chor
Einen interessanteren Aspekt für die Untersuchung der Rezeption älterer Kirchenmusikstile in Die letzten Dinge stellen die im Chor „Gefallen ist Babylon die Große“ von Spohr angewandten Techniken einer tonsymbolischen Textausdeutung aus der Hypotyposis-Lehre des 17. Jahrhunderts dar. Nachweisen lassen sich in diesem Satz die Figuren der Antithese, der Circulatio und des Passus duriusculus. Antithesen, also unmittelbare Gegenüberstellungen von Abschnitten in unterschiedlichen Tonarten und Tongeschlechtern, Klanglagen, Satzarten und dynamischen Stufen finden sich in zwei Passagen, nämlich in der Vertonung der unmittelbar aufeinander folgenden Textabschnitte „das Grab gibt seine Toten“ bis „das Buch wird aufgetan“ (Takte 72 – 91) sowie „sie zagen, sie beben“ (Takte 138 – 157).33 Hier treten zu einem relativ schlichten homophonen Chorsatz mit einer Rhythmik in Halben und Viertelnoten Begleitfiguren mit einem eher dramatischen Gestus wie ostinate Akkordfolgen und Tremoli in den Streichern.
33 Vgl. ebd., S. 82 f.
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Daniel Glowotz
Altklassische Polyphonie oder zeitgenössischer Tonsatz?
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Notenbeispiel 1: L. Spohr, Die letzten Dinge, „Gefallen ist Babylon die Große“: Antithesen
Eine gewisse Dramatik ist unverkennbar auch der zweiten von Spohr verwendeten Hypotyposis-Figur der Circulatio eigen, die sich im gleichen Satz in der Melodieführung des Chores zur Vertonung der Textpassage „Sie suchen den Tod und finden ihn nicht“ (Takte 34 – 47, Buchstabe B und 94 – 113, Buchstabe E) erkennen lässt – in Gestalt einer auf- und absteigenden Skala im Sextraum, die mit ihrem schweifenden Melodiegestus offenbar zur musikalischen Darstellung von Unruhe und Vergänglichkeit dienen sollte.34
34 Vgl. ebd., S. 91 f.
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Notenbeispiel 2: L. Spohr, Die letzten Dinge, „Gefallen ist Babylon die Große“: Circulatio
Altklassische Polyphonie oder zeitgenössischer Tonsatz?
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Die dritte und letzte von Spohr in demselben Chorsatz verwendete Figur der Musica poetica betrifft ein skalares Motiv, nämlich den Passus duriusculus in Form des Quart- oder Lamentobasses als Topos der Klage, der hier in dreimaliger Wiederholung zur Unterlegung der aufeinander folgenden Textpassagen „Das Grab gibt seine Toten“, „das Meer gibt seine Toten“ und „das Siegel wird gebrochen“ (Buchstabe D, Takte 72 – 87 und Buchstabe G, Takte 138 – 153) in den Chorbässen als Fundament eines Harmonieverlaufs in Septakkorden erscheint.35
Notenbeispiel 3: L. Spohr, Die letzten Dinge, „Gefallen ist Babylon die Große“: Passus duriusculus
Außerhalb des Chors „Gefallen ist Babylon die Große“ findet sich im Chorsatz „Heil, dem Erbarmer“ die dem Passus duriusculus semantisch entgegengesetzte Hypotyposis-Figur der Anabasis, einer einfachen, aufsteigenden Skala zur musikalisch-symbolischen Darstellung des Erhabenen oder des Göttlichen. Hier dient sie zur Vertonung der Textpassage „Der Herr ist unser Gott und wir sind sein“ im Kapellchor (Takt 42 – 46, s. Notenbeispiel 4).36 Bereits am Anfang des Chorsatzes „Heil, dem Erbarmer“ findet sich im Kapellchor die musikalische Figur einer Klimax, der sequenzierenden, steigernden Wiederholung eines kurzen Soggettos.37
35 Vgl. ebd., S. 92 – 94. 36 Vgl. ebd., S. 85 f. 37 Vgl. ebd., S. 88 f.
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Daniel Glowotz
Notenbeispiel 4: L. Spohr, Die letzten Dinge, „Heil, dem Erbarmer“: Anabasis
Notenbeispiel 5: L. Spohr, Die letzten Dinge, „Heil, dem Erbarmer“: Klimax
Ein weiteres Element der Kirchenmusik des 17. Jahrhunderts, das Spohr neben dem motettischen Satz und ausgewählten Figuren der HypotyposisLehre in Die letzten Dinge integrierte, bildet die Vertonung im Stil einer schlichten Choralbearbeitung. Interessanter als der Aspekt des Rückgriffs auf diesen Satztypus selbst stellt sich der historische Hintergrund für seine Verwendung dar. In diesem Kontext ist erneut die während des Entstehungsprozesses vom Librettisten mit dem Komponisten geführte Korrespondenz von Bedeutung. Als zentral erweist sich dabei der Brief von Rochlitz an Spohr vom 1. November 1825, der sich ursprünglich auf die Ergänzung zusätzlicher Texte bezog, um dem gemeinsamen Werk eine größere Zeitdauer oder sogar eine dreiteilige Anlage zu verleihen.38 In seinem Schreiben regte Rochlitz darüber 38 Vgl. Brown, Louis Spohr, S. 211 und Friedrich Rochlitz an Louis Spohr, Brief vom 1. November 1825, in: Rychnovsky, „Spohr und Rochlitz“, S. 267 f.
Altklassische Polyphonie oder zeitgenössischer Tonsatz?
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hinaus an, den Chor „So ihr mich von ganzem Herzen suchet“ im „altrömischen Kirchenstyl“39 zu vertonen, nämlich in Gestalt eines Satzes, der „alle Singstimmen in ganzen und halben Noten unisono“40 führt und „vielleicht bloß männliche Stimmen“41 mit einer Unisono-Begleitung durch die Streichoder Blasinstrumente des Orchesters vorsieht. Spohr setzte diese Vorgabe recht genau um, indem er sich für eine Unisono-Führung des Chors mit Oktavverdopplung der beiden hohen durch die beiden tiefen Stimmen und eine Colla parte-Begleitung der drei Unterstimmen Alt, Tenor und Bass mit dem in den identischen Stimmlagen besetzten, dreistimmigen Posaunensatz entschied.42
Notenbeispiel 6 L. Spohr, Die letzten Dinge, „So ihr mich von ganzem Herzen suchet“: Choralbearbeitung
Wie von Rochlitz vorgeschlagen, sind der Chorsatz und die ihn begleitenden drei Posaunen vorwiegend in langen Notenwerten wie Vierteln, Halben und Ganzen geführt, so dass auf der Ebene der Rhythmik der Eindruck einer Vertonung im Stylus gravis bzw. im Stile der altklassischen Polyphonie entsteht, wie ihn auch seine Idee einer Vertonung „im altrömischen Kirchenstyl“43 suggerieren könnte. Allerdings fehlt zur Vervollständigung dieser stilistischen Vorgabe und des zugehörigen Klangeindrucks eine polyphone Führung des eigentlichen Chorsatzes einschließlich seiner Colla parte-Begleitung durch die 39 40 41 42
Ebd., S. 268. Ebd. Ebd. Vgl. Brown, Louis Spohr, S. 211, und Stanley, Oratorio in Prussia and Protestant Germany, S. 122 f. 43 Friedrich Rochlitz an Louis Spohr, Brief vom 1. November 1825, in: Rychnovsky, „Spohr und Rochlitz“, S. 268.
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Posaunen. Für Chor und Posaunensatz wählte Spohr vielmehr eine einstimmige, teilweise in Oktaven geführte Vertonung im Stil eines Chorals, der er im Orchester einen polyphonen Begleitsatz in Gestalt einer Paraphrase von Motiven aus der Sinfonia des zweiten Teils gegenüberstellte.44 Diese kompositorische Lösung entspricht zwar bis in den instrumentalen Begleitsatz den Vorgaben des Librettisten, sie erinnert aber weniger an den Stil der römischen a cappella-Vokalpolyphonie des 16. Jahrhunderts oder des gregorianischen Chorals als vielmehr an eine Vertonung in Form eines schlichten evangelischen Choral- oder Kantionalsatzes aus dem 17. bis 18. Jahrhundert. Das konkret von Rochlitz in seiner Korrespondenz mit Spohr benannte Kompositionsmodell stellt dann auch der Gesang der geharnischten Männer aus Wolfgang Amadeus Mozarts Zauberflöte dar.45 Als relativ einfach gehalten erweisen sich dementsprechend Spohrs Wahl der Grundtonart e-Moll und der formale Aufbau dieses Chorsatzes. So wird der Choraltext vom Chor zeilenweise mit Unterbrechungen durch kurze, viertaktige Zwischenspiele des Orchesters vorgetragen. Als Einleitung des Satzes dient ein kurzes Fugato mit einer Dauer von neun Takten. Näheres lässt sich dem folgenden Formschema entnehmen.46 Tabelle 5: Chorsatz Nr. 13 „So ihr mich von ganzem Herzen suchet“, Formbau Takte
9
19
Chor (unisono mit Posaunen)
–
1. Choralzeile: So Ihr mich von ganzem Herzen suchet (…)
Orchester (polyphon, ohne Posaunen)
Fugato Begleitung
23
31
–
2. Choralzeile: Und so ihr euch – redlich zu mir kehret (…)
ZwischenBegleitung spiel
34
46 3. Choralzeile: Ich will euer Gott sein und ihr sollt mein Volk sein (…)
ZwischenBegleitung spiel
44 Vgl. Kilian, Studien, S. 117, und siehe dazu Louis Spohr an Friedrich Rochlitz, Brief vom 8. Dezember 1825, in: D-Kl, 28 Mus 1500, Sp. 75, Nr. 10: „[…] der Chor ,So ihr mich von ganzem Herzen‘ pp., den ich Ihrer Andeutung gemäß bearbeitet habe und nun seines ernsten kräftigen Charakters wegen, nicht anders als sehr stark instrumentiren [sic!] kann (selbst nicht ohne Posaunen, die mit den Singstimmen im Einklange gehen müssen, da ich das übrige Orchester zu dem, über einen Cantus firmus der Singstimme, gebauten Fugato gebrauche) […]“. 45 Siehe dazu Friedrich Rochlitz an Louis Spohr, Brief vom 18. Juli 1825, in: Rychnowsky, „Spohr und Rochlitz“, S. 268: „[…] ohngefähr wie Mozarts Gesang der Geharnischten vor der Feuer- und Wasserprobe in der Zauberflöte“. 46 Vgl. Kilian, Studien, S. 90 und 117.
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253
Den einzigen genuinen Satztypus des 18. Jahrhunderts, den Spohr als Ausdrucksform des gebundenen Sakralstils in Die letzten Dinge übernahm, stellt die Fuge in Gestalt der Chorfuge „Groß und wunderbarlich sind deine Werke, Herr, allmächtiger Gott“ dar. Ihre Verwendung als Schlusssatz seines Oratoriums entspricht einer häufig in den Oratorien Händels gewählten Funktion dieses Satzmodells – dort werden Chorfugen bevorzugt zur Vertonung dramatischer Höhepunkte verwendet, oder um Schlusswirkungen zu erzielen.47 Wie die meisten anderen Fugen Spohrs zeichnet sich auch das Finale von Die letzten Dinge durch einen recht schematischen Aufbau aus: Es handelt sich um eine Bassfuge mit der für sie charakteristischen Exposition mit einer sukzessiven Folge der Einsätze von der tiefsten zur höchsten Stimme des Satzes.48 Spezifische Eigenschaften des Spohr’schen Personalstils bilden das Fehlen von Überleitungsabschnitten in den drei Durchführungen und die sehr knappe Disposition der Zwischenspiele mit einer Dauer von nur drei bis sechs Takten.49 Interessant ist dabei die für Spohrs Verhältnisse relativ enge harmonische Bandbreite, die sich mit der Schlussfunktion dieser Fuge erklärt, denn an dieser Stelle des Oratoriums hätte eine weite harmonische Ausdifferenzierung die Rückleitung zur Tonika C-Dur deutlich erschwert.50 Alle vier Durchführungsabschnitte der Schlussfuge weisen unterschiedliche Themen auf und schließen mit homophonen Abschnitten, die zur besonderen Betonung der hier vertonten Textabschnitte „Herr, allmächtiger Gott“ und „du König der Heiligen“ mit vollem Orchestersatz unterlegt sind und im Fortissimo in Vollkadenzen oder Trugschlüsse münden. Offenbar benutzte Spohr diese dynamische und harmonische Differenzierung bewusst zur Erzeugung von Klangkontrasten, die wegen des Verzichts auf Zwischenspiele in dieser Fuge sonst gefehlt hätten.51
47 48 49 50 51
Vgl. ebd., S. 126. Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 132. Vgl. ebd., S. 127 f. Vgl. ebd., S. 127 und 135.
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Tabelle 6: Chorfinale „Groß und wunderbarlich sind deine Werke“, Formbau T. 1 – 15, Groß und T. 16 – 40, Groß und wunderbarlich sind wunderbarlich sind T. 40 – 42 deine Werke (…) deine Werke (…) Introduktion 1. Thema Homophon C/G
T. 59 – 62
Zwischenspiel
C
Exposition 1. Thema Einsatzfolge B–T–A–S G/C/a
Zwischenspiel a
T. 62 – 94, Wer sollte dich nicht fürchten T. 94 – 99, Halleluja (…) Durchführung
Zwischenspiel
3. Thema
Fanfarenmotiv
Einsatzfolge S/A–T/B
Homophon
C/G/B/g
G
T. 42 – 59, Gerecht und wahrhaftig sind deine Wege (…) Durchführung 2. Thema Einsatzfolge B–T–S–A e/a/C T. 100 – 192, Sein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit (…) Halleluja Durchführung 4. Thema, Fanfarenmotiv Einsatzfolge B–T–A–S G/C
Charakteristischer für den Personalstil Spohrs als für die Rezeption älterer Kirchenmusikstile erweist sich in den Chorsätzen von Die letzten Dinge die Themenbildung. Als wesentlichste Spezifika der Kompositionsweise Spohrs werden in der Forschungsliteratur nämlich eine klassische Melodiebildung in Verbindung mit einem Tonsatz des frühen 19. Jahrhunderts, einer besonders farbigen Harmonik, weiten Modulationen und einer ausgeprägten Mittelstimmenchromatik beschrieben.52 Dementsprechend verwendete der Komponist für die thematisch-motivische Arbeit in seinem Oratorium weder die Melodietypik der altklassischen Polyphonie noch die barocke Fortspinnungsmelodik, sondern vor allem klassische Modelle. Bei den vier Themen der Schlussfuge etwa handelt es sich durchweg um sechstaktige Phrasen mit einem kantablen Duktus, die sich periodisch in zwei Hälften gliedern, von denen die zweite als Sequenzierung der ersten ausgeführt ist.53 Obwohl sie nicht der
52 Vgl. ebd., S. 5, 130, 135 f. und 139 – 144. Siehe dazu auch Folker Göthel, „Der Romantiker Louis Spohr“, in: Louis Spohr. Festschrift und Ausstellungskatalog zum 200. Geburtstag, S. 13 f.; Stanley, Oratorio in Prussia and Protestant Germany, S. 131; Steinbeck, „Eine edlere Apokalypse“, S. 95; Brown, Louis Spohr, S. 311. 53 Vgl. Kilian, Studien, S. 83 f. und 118 – 120: Außerhalb der beschriebenen Themenbildung bewegt sich in der Schlussfuge lediglich das letzte Soggetto (Buchstabe K, Takte 171 – 172),
Altklassische Polyphonie oder zeitgenössischer Tonsatz?
255
Melodik des Barockzeitalters entsprechen, werden sie den Anforderungen der Musiktheoretiker dieser Epoche an die Thematik von Fugen – Kürze, Prägnanz und Charakter – gerecht und eignen sich wegen ihrer flüssigen Agogik und energetischen Motorik gut für klassische polyphone Verarbeitungstechniken.54 * Abschließend stellt sich die Frage, wie die Rezeption älterer Kirchenmusikstile in Die letzten Dinge zusammenfassend beschrieben werden kann und welche Gründe Spohr – außer den Stilvorgaben von Rochlitz – dazu bewogen haben könnten, gerade in den Chorsätzen dieses Oratoriums so verhältnismäßig oft auf ältere Formen und Techniken der Musica sacra zurückzugreifen.55 In diesem Zusammenhang ist zunächst festzustellen, dass die Chorsätze in Die letzten Dinge keine unveränderte Rezeption von Originalelementen der altklassischen Vokalpolyphonie des 16. Jahrhunderts, des gemischten Stils der Kirchenmusik des 17. Jahrhunderts oder des gebundenen Kirchenstils aus dem 18. Jahrhundert erkennen lassen. In diesem Oratorium erscheinen vielmehr polyphone Techniken der Kirchenmusik aus vergangenen Epochen in der Interpretation des frühen 19. Jahrhunderts. Die von Spohr dabei gewählte, nahtlose Integration dieser Stilelemente stellt also letztlich beides dar – altklassische Polyphonie und zeitgenössischen Tonsatz oder, anders formuliert, ältere Kirchenmusik im Gewand der Satztechnik des frühen 19. Jahrhunderts. Es ist demnach offensichtlich, dass Spohr mit der Verwendung älterer Kompositionstechniken in seinen Kirchenmusikwerken nicht die Absicht einer Imitation oder Wiederbelebung des Stils von Giovanni Pierluigi da Palestrina, Michael Praetorius, Dietrich Buxtehude oder Händel verfolgt haben kann – nur um einige der prominentesten Vertreter derjenigen Epochen zu nennen, aus denen Spohr Techniken und Formen der Kirchenmusik entlehnte.56 Spohr verstand diese in der Forschungsliteratur bereits treffend als „kompositorische Archaismen“57 bezeichneten Elemente wie eine Tonsymbolik nach dem Muster der barocken Figurenlehre, eine doppelchörige Besetzung oder eine Integration historischer Gattungen und Satztypen wie
54 55 56 57
das entsprechend dem freudigen Charakter der abschließenden Halleluja-Rufe in Fanfarenidiomatik gesetzt ist. Vgl. Kilian, Studien, S. 122. Vgl. Brown, Louis Spohr, S. 211, und Friedrich Rochlitz an Louis Spohr, Brief vom 18. Juli 1825, in: Rychnovsky, „Spohr und Rochlitz“, S. 265 – 267. Vgl. Kilian, Studien, S. 63 f. und 114. Ebd., S. 64.
256
Daniel Glowotz
der Motette, der Choralbearbeitung und der Fuge einerseits sicherlich als willkommene Erweiterungsmöglichkeiten seiner kompositionstechnischen Mittel. Andererseits galten sie ihm aber vor allem auch schlicht als spezifische Ausdrucksformen des Sakralstils.58 Das gilt für keines der von Spohr in Die letzten Dinge verwendeten archaisierenden Elemente mehr als für die Fuge, die zu seiner Zeit als selbständige Gattung bereits außer Gebrauch gekommen war, in Kirchenmusikwerken aber noch immer Verwendung fand.59 Nach eigener Einschätzung Spohrs, wie sie uns aus seiner Selbstbiographie entgegentritt, sollte Kirchenmusik „tiefe Andacht, […] christliche Auffassung und fromme Hingebung des Gemüts“60 evozieren und damit in ähnlicher Weise Forderungen nach religiöser Erbauung genügen,61 wie sie von den kirchenmusikalischen Reformkräften bereits zur Zeit des Konzils von Trient (1545 – 1563) erhoben worden waren.62 Dass Spohr diese Postulate insbesondere im ersten Teil von Die letzten Dinge realisiert sah, lässt sich mit seinem Brief vom 30. November 1825 an seinen Freund Wilhelm Speyer belegen, in dem er darauf hinweist, dass er sich in diesem Oratorium besonders bemüht habe, „recht einfach, fromm und wahr im Ausdrucke zu sein und alle Künsteleien, alles Schwülstige und Schwierige sorgfältig zu vermeiden.“63 Neben den subjektiven Kriterien der Einfachheit, Abgeklärtheit und Würde verstand Spohr aber vor allem die Verwendung polyphoner, zu seiner Zeit bereits archaischer Satztechniken als das objektiv wichtigste Element eines angemessenen Kirchenstils.64 Dass eine solch konservative ästhetische Konzeption von Kirchenmusik im Gewand eines undramatischen Oratoriums mit extensiven Rückgriffen auf Formen und Techniken der älteren Kirchenmusik dennoch den Zeitgeschmack treffen konnte, belegen nicht nur die zahlreichen Aufführungen dieses Werks in den Jahren 1826 – 1840,65 sondern auch die 58 59 60 61 62
Vgl. ebd., S. 325. Vgl. ebd., S. 126. Louis Spohr’s Selbstbiographie, Bd. 2, S. 260. Vgl. Kilian, Studien, S. 67 – 69. Vgl. Daniel Glowotz und Gabriel-David Krebes, „Carlo Borromeo, Vincenzo Ruffo und die Mailänder Reformmesse. Kontext, Werte, Symbolisierungen“, in: Polyphone Messen im 15. und 16. Jahrhundert. Funktion, Kontext, Symbol, hrsg. von Andrea Ammendola, Daniel Glowotz und Jürgen Heidrich, Göttingen 2012, S. 187 – 217, hier S. 188. 63 Louis Spohr’s Selbstbiographie, Bd. 2, S. 171. Vgl. dazu auch Spohr, Lebenserinnerungen, Bd. 2, S. 255, Anm. 60; Rychnovsky, „Spohr und Rochlitz“, S. 269; Kilian, Studien, S. 66 f.; Brown, Louis Spohr, S. 210. 64 Vgl. Kilian, Studien, S. 66 f. und 135. 65 Vgl. Rychnovsky, „Spohr und Rochlitz“, S. 281; Stanley, Oratorio in Prussia and Protestant Germany, S. 132 und S. 135; Edmund Spohr, „Louis Spohr und Amalie von Sybel. Ein Beitrag zur Musikgeschichte der Stadt Düsseldorf und zur Geschichte der Niederrheinischen Musikfeste“, in: Louis Spohr. Festschrift und Ausstellungskatalog zum 200. Geburtstag, S. 95 – 97; Spohr, Die letzten Dinge. The Last Judgment, S. V.
Altklassische Polyphonie oder zeitgenössischer Tonsatz?
257
Beliebtheit seiner Klavierauszüge, Partituren und Einzeldrucke bei Laienchören und Chorvereinigungen, auf die Spohr und Rochlitz als Adressaten bei der Komposition von Anfang an auch gezielt hatten.66
66 Vgl. Friedrich Rochlitz an Louis Spohr, Brief vom 5. Dezember 1825, in: Rychnovsky, „Spohr und Rochlitz“, S. 270; Stanley, Oratorio in Prussia and Protestant Germany, S. 19; Brown, Louis Spohr, S. 210 und 214. Diese Zielrichtung betrifft nicht nur die bewusst auf Laien zugeschnittene Ausführbarkeit der Singstimmen, sondern auch die zumindest von Spohr bei der Komposition von Die letzten Dinge verfolgte Absicht, mit diesem Werk auch kommerziell erfolgreich zu sein, siehe dazu Louis Spohr an Friedrich Rochlitz, Brief vom 9. Juli 1825: „Sie bemerkten bereits in Ihrem Schreiben, daß bey¨ einer Arbeit, wie die, in Rede stehende, wenig auf pecuniären [sic!] Gewinn zu rechnen sey¨ ; müste [sic!] ich daher jetzt bey¨ meinen Arbeiten zuerst an Gewinn denken, so dürfte ich sie vieleicht [sic!] nicht einmal unternehmen! Dem ohngeachtet hoffe ich, daß das Werk, wenn es bey¨ seinem Erscheinen einige Aufmerksamkeit erregt, uns auch auf die eine oder andere Weise etwas eintragen werde.“ Noch bezeichnender sind in dieser Hinsicht die Ausführungen in Louis Spohr an Friedrich Rochlitz, Brief vom 1. März 1826, in: D-Ngm Archiv Autographen K. 27: „Jetzt, da das Werk nun ganz fertig ist, denke ich daran, es bekannt zu machen und dardurch [sic!] einen pekuniären Gewinn herbey¨ zu führen. […] Ich denke aber im Herbst einen Clavierauszug herauszugeben, der vieleicht [sic!] den Verkauf der Partitur an einige reichere Vereine, wie die in Wien und Frankfurt und Hamburg veranlassen wird. […] Wenn das Werk nur erst sich einigen Ruf erworben hat, so wird sich auch wohl Gelegenheit finden, etwas damit zu gewinnen und ich dann im Stande sey¨n, Ihnen einen Antheil zu offeriren.“ Ob Rochlitz in diesem Punkt mit Spohr übereinstimmte, lässt sich zwar nicht mehr feststellen, bemerkenswert ist jedoch seine bereits zu Beginn der Korrespondenz mit Spohr über Die letzten Dinge getätigte Aussage „Ich weiß, daß mit solchen Arbeiten jetzt schwerlich Geld verdient wird: so will ich denn für meinen Antheil daran gar nichts haben“, siehe Friedrich Rochlitz an Louis Spohr, Brief vom 2. Juli 1825, in: Rychnovsky, „Spohr und Rochlitz“, S. 264 f. Zur Geschäftspraxis Spohrs beim Verlag von Die letzten Dinge siehe den Beitrag von Peter Schmitz im vorliegenden Band.
Des Heilands letzte Stunden
Jürgen Heidrich
Des Heilands letzte Stunden von Louis Spohr und die Tradition der Passionsvertonungen
1.
Einführung
Louis Spohrs Oratorium Des Heilands letzte Stunden (nach einem Libretto von Friedrich Rochlitz) entstand ab dem Frühjahr 1834; die Erstaufführung fand am Karfreitag 1835 in Kassel statt. Wir wollen die Spurensuche im Blick auf die Traditionsbindung dieses Werks im Kontext der Passionsoratorien mit der Frage nach der Aktualität einschlägiger Sujets zur Spohrzeit beginnen. Martin Geck weist in seinem noch immer unverzichtbaren, gewiss aber auch nicht vollständigen Verzeichnis deutscher Oratorien zwischen 1800 und 1840 von 1971 für diesen Zeitraum rund 170 Werke nach, von denen sich 57 christologischen Themen widmen.1 Davon wiederum 22 behandeln die Passion Christi: Die Darstellung des Leidens und Sterbens Christi ist damit der am häufigsten gewählte Themenbereich, etwas geringer ist der Anteil der Auferstehungs- und Himmelfahrtsoratorien und jener Kompositionen, die eine eher allgemeine Christus-Perspektive zum Inhalt haben. Alles in allem fällt damit aber dennoch die Oratorienproduktion im frühen 19. Jahrhundert ausgesprochen gering aus: Ein Grund dafür ist sicher der durch zahlreiche Dokumente belegte geringe Absatz seitens der Verlage.2 Immerhin erschien das Rochlitz’sche Libretto den Zeitgenossen einigermaßen attraktiv : Der Komposition durch Spohr war eine weitere Vertonung des – abgesehen von geringen Veränderungen – identischen Librettos durch den späteren Leipziger Thomaskantor Johann Gottfried Schicht schon im Jahre 1806 vorausgegangen, unter dem Titel Das Ende des Gerechten. So weit zu sehen, ist die nachmalige Änderung des Titels durch Spohr willkürlich: Jedenfalls lassen sich diesbezüglich nur marginale Änderungen und Kürzungen, jedenfalls keine einschlägigen theologisch-textrelevanten Eingriffe nachweisen. Und unter dem 1 Martin Geck, Deutsche Oratorien 1800 bis 1840. Verzeichnis der Quellen und Aufführungen (= Quellenkataloge zur Musikgeschichte, 4), Wilhelmshaven 1971. 2 Vgl. dazu den Beitrag von Peter Schmitz in diesem Band.
262
Jürgen Heidrich
Titel Des Heilands letzte Stunden komponierte darüber hinaus Karl Ludwig Drobisch im Jahre 1836, also ein Jahr nach Spohr, ebenfalls ein Oratorium, allerdings nach einem komplett anderen Text des Passauer Schulmanns Theodor Mühlbauer. Wie lässt sich vor diesem Hintergrund Des Heilands letzte Stunden von Rochlitz/Spohr in der Tradition der Passionsoratorien positionieren?
2.
Tendenzen der Passionsvertonung im 18. Jahrhundert
Es ist weniger die musikalisch-stilistische Auseinandersetzung, als vielmehr das Ringen um die angemessene Gestaltung der Libretti, die im Zentrum der Oratorientheorie um 1780 stand; insofern fokussieren die folgenden Überlegungen mehr das Libretto von Friedrich Rochlitz als die Komposition von Louis Spohr.3 Die Oratorientheorie vor 1800 also war geprägt durch eine mannigfaltige textbezogene Diskussion: Prononciert traditionelle Vorstellungen, wie etwa die Beibehaltung oder Abschaffung biblischer Historie als Textgrundlage bzw. die Anwendung oder Zurückweisung opernhaft dramatischer Formelemente kollidierten mit solchen Ideen, die auf der Grundlage von „Simplizität“, „Erbauung“, „Empfindung“ die Bereitstellung geeigneter ,zeitgemäßer‘ Libretti verlangten. Kaum präzise herausgearbeitet wurde freilich, welches eigentlich um 1780 die Implikationen der Pole ,traditionell‘ und ,modern‘ sind. Die gattungstheoretischen und textbezogenen Überlegungen konzentrierten sich bekanntermaßen maßgeblich auf die Frage, ob sich ein Oratorientext im „lyrischen“ oder im „dramatischen“ Zuschnitt zu präsentieren habe. So erscheint in dem vom Göttinger Akademischen Musikdirektor Johann Nikolaus Forkel herausgegebenen Musikalischen Almanach von 1783 ein wichtiger Artikel Ueber die Beschaffenheit der musikalischen Oratorien, nebst Vorschlägen zur veränderten Einrichtung derselben.4 Der Autor, vermutlich Forkel selbst, leitet seine Argumentation aus der Beobachtung aktueller kompositorischer Tendenzen ab, denen – seiner Meinung nach – entgegenzuwirken sei. Nachdrücklich tritt der Verfasser für jenen „älteren“, seit Mitte der fünfziger Jahre etablierten und um 1780 bereits als „traditionell“, jedenfalls kaum „modern“ zu nennenden lyrischen Typus ein, der insbesondere durch Carl Heinrich Grauns Tod Jesu, nach einem Libretto von Karl Wilhelm Ramler, repräsentiert wird. Zugleich 3 Die folgenden Abschnitte fassen die ausführliche Darstellung zusammen in: Jürgen Heidrich, Protestantische Kirchenmusikanschauung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Studien zur Ideengeschichte ,wahrer‘ Kirchenmusik (= Abhandlungen zur Musikgeschichte, 7), Göttingen 2001, S. 184 ff. 4 Musikalischer Almanach für Deutschland 1783, hrsg von Johann Nikolaus Forkel, S. 166 ff.
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bezieht er Stellung gegen das wegen seiner seinerzeitigen Popularität vergleichsweise wieder „moderne“ dramatische Oratorium Johann Heinrich Rolles. Die enorme Popularität des Passionsoratoriums in der zweiten Jahrhunderthälfte, zugleich die Entwicklung namentlich des lyrischen Typus ist tatsächlich eng mit Ramler/Grauns Der Tod Jesu verknüpft, einer Komposition die schon relativ bald als stilbildendes Exempel nachhaltige Wirkung entfaltete und gleichsam modell- und vorbildhaften Charakter besaß. Die Ausbildung dieses Prototyps vollzog sich unter konkreten ideengeschichtlichen Voraussetzungen: Berlin entwickelte sich nach dem Regierungsantritt Friedrichs des Großen im Jahre 1740 zum Zentrum der deutschen Aufklärung; bekanntlich gestattete der König umfängliche konfessionelle Freiheiten bei freilich gleichzeitiger eigener Ablehnung aller religiösen, erst recht christlichen Ideen.5 Dieser radikal atheistischen Haltung standen aufklärungstheologische Positionen der Berliner Geistlichkeit gegenüber, die aus höchsten Kreisen des Königshauses, namentlich von Königin Elisabeth Christine und Prinzessin Anna Amalia Unterstützung erhielten.6 Vor allem die Forderungen und Ideen des Hofpredigers und Neologen August Friedrich Wilhelm Sack scheinen in Ramlers Der Tod Jesu besonders klar eingelöst, insbesondere im Hinblick auf das gegenüber der traditionellen Auffassung gewandelte Passionsverständnis:7 War die Passion nach orthodoxer Anschauung als zentraler Vorgang der Erlösung der Welt und des Menschen „durch das stellvertretende Leiden des Gottessohnes und die im Kreuzestod Christi vollendete Versöhnung der Menschheit mit Gott“8 verstanden worden, so geschah nunmehr eine Relativierung dieser Anschauung zugunsten einer anderen Christusvorstellung. Demzufolge rückte das menschennahe „irdische Schicksal und dessen Bewältigung“ (König)9 ins Zentrum, unter Akzentuierung der gefühlsmäßig wirkungsvollen passiven Duldsamkeit und der – philanthropisch nutzbaren – vorbildlichen Tugendhaftigkeit: Christus wird im anthropologischen Sinne als „Bester aller Menschenkinder“ verstanden.10 Eine andere Voraussetzung für die enorme Popularität des Ramler/Graun5 Literatur dazu: Walter Wendland, Siebenhundert Jahre Kirchengeschichte Berlins, Berlin/ Leipzig 1930; Elke Axmacher, „Aus Liebe will mein Heyland sterben“. Untersuchungen zum Wandel des Passionsverständnisses im frühen 18. Jahrhundert (= Beiträge zur theologischen Bachforschung, 2), Neuhausen-Stuttgart 1982, S. 206ff 6 Zu dem hier nur stichwortartig – soweit zum Verständnis nötig – referierten Komplex ausführlich: Ingeborg König, Studien zum Libretto des „Tod Jesu“ von Karl Wilhelm Ramler und Karl Heinrich Graun (= Schriften zur Musik, 21), München 1972, S. 42 ff. und 76 ff. 7 Umfänglich dazu: Ebd., S. 59 ff. Vgl. überdies: Wolfgang Gericke, „Von Friedrich II. zu Wöllner“, in: Beiträge zur Berliner Kirchengeschichte, hrsg. Günther Wirth, Berlin 1987, S. 97 ff. 8 König, Studien, S. 47. 9 Ebd., S. 50 f. 10 Vgl. diese Formulierung im Rezitativ Nr. 3 des Tod Jesu.
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schen Modells lag sodann in der Person des Librettisten selbst: Ramler galt als „deutscher Metastasio“11, und als Folge seiner zahlreichen Oden auf Friedrich den Großen genoss er als ,patriotischer Nationaldichter‘ große Beliebtheit.12 Ramlers Dichtungen erschienen mehrfach in zeitgenössischen Ausgaben und waren allgemein verbreitete geistliche Lektüre: Obschon auf anderen geistigen Grundlagen stehend und in Dimension und poetischer Ausformung prinzipiell unterschiedlich,13 ist Ramlers Messias-Trilogie durchaus als populäres Gegenstück zu Klopstocks Messiade aufzufassen.14 Und schließlich dürfte der Aspekt der „tugendhaften“ Christusdarstellung in Der Tod Jesu dazu beigetragen haben, dass sich der Text, wenigstens in Teilen, einer anderen wichtigen geistigen Strömung zugänglich zeigte: dem – wie bereits angedeutet – Philanthropismus. Einzelne Stücke aus Der Tod Jesu erschienen jedenfalls für die pädagogische Verwendung im „philanthropinischen Betsaale“ geeignet und wurden damit von einer Bewegung rezipiert, die in gewissem Sinne das zeitgenössische Erziehungsideal repräsentierte. Tatsächlich also wurde Der Tod Jesu von der Kunstkritik als gattungstheoretisches exemplum classicum begriffen: Er wird als „Meisterstück“15 beurteilt, er erscheint vorbildhaft für die Trennung von theatralischer und wirklicher Kirchenmusik16, auch als Lösung des textspezifischen Problems der Eliminierung von Bibelprosa aus Passionsvertonungen17, überhaupt als Ideal der Vereinigung von Religion, Dichtkunst und Musik.18 Folge war die Beliebtheit der Graun’schen Komposition bis weit ins 19. Jahrhundert: Es kam nicht nur zu alljährlich wiederkehrenden, regelrecht institutionalisierten 11 Bibliothek der schönen Wissenschaften 1761, 1. Stck., S. 194. Vgl. König, Studien, S. 31 f. 12 Freilich war Ramler die entsprechende Anerkennung durch den König versagt geblieben. Vgl. Theodor Heinsius, „Versuch einer biographischen Skizze Ramlers […]“, in: Denkwürdigkeiten und Tagesgeschichte der Mark Brandenburg, 10. Stück (1798), Sp. 1168 – 1201. 13 König, Studien, S. 73 ff. 14 Gemeint sind damit Ramlers Hirten bey der Krippe, Der Tod Jesu sowie Die Auferstehung und Himmelfahrt Jesu. Förmlich als „Messiade“ wird Ramlers Trilogie aufgefasst durch Georg Valentin Röder in seinem alle drei Teile einbeziehenden Oratorium von 1831; vgl. Geck, Oratorien, S. 27. 15 Joseph Martin Kraus, Etwas von und über Musik fürs Jahr 1777, Frankfurt a. M. 1778, S. 98. 16 Samuel Christlieb Fiedler, Zufällige Gedanken über den wahren Werth […] einer harmonischen und zweckmässigen Kirchenmusik […], Friedrichstadt 1790, S. 8. 17 Musikalische Korrespondenz der deutschen Filarmonischen Gesellschaft, hrsg. von Heinrich Philip Carl Bossler, Speyer 1792, S. 85 ff. 18 J. von Boguslawski (Magdeburg) hatte dies in der Berlinischen Monatsschrift (April 1796, S. 386) poetisch wie folgt zum Ausdruck gebracht: „Einst sagte die Religion: / ,Mit Wehmut seh ich lange schon / Daß viele Menschen sich vor meinem Ernste scheuen, / Als wär ich stets mit wahrer Lust im Krieg, / Als wäre nicht mein Zweck die Herzen zu erfreuen. / So kommt dann, Dichtkunst und Musik. / Kommt Freudegeberinnen! lasst uns Hand in Hand / Vom Sitz der Engel niedersteigen, / Uns im vertrauten Band den Sterblichen zu zeigen!‘ / Geschlossen ward der Bund, durch ihn entstand / Das hohe Himmelslied, das jedes Herz durchdrungen, / Von Ramler und von Graun gesungen.“
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Aufführungen, sondern auch dazu, dass Grauns Passionsoratorium außermusikalische Konnotationen als „Nationalmusik“19, ja, als „heiliges Nationaleigenthum“20 beigelegt wurden. Dementsprechend orientierten sich etliche Folgekompositionen an diesem Exemplum. Hingewiesen sei einerseits auf bloße Parallelvertonungen desselben Ramlerschen Textes,21 die man – zum Teil mit erheblichen Textmodifikationen – etwa von Johann Christoph Friedrich Bach (1769),22 Christian Ernst Graf (1780?), Silvester Julius Krauß (1800) oder Georg Anton Kreusser (1783) kennt.23 Auch Johann Ernst Bachs Passionsoratorium Jesu meine Passion von 1768 wäre hier zu nennen. Doch zurück zum Text im Musikalischen Almanach: Vor dem Hintergrund der zuvor skizzierten gattungsgeschichtlichen „lyrischen“ Entwicklung kritisiert der Autor die zur Zeit der Abfassung des Textes zu beobachtende Tendenz zum älteren, nämlich dramatischen Oratorientyp „beynahe ganz in ihrer alten unveränderten Gestalt“: Wie aus etlichen beispielhaften Verweisen deutlich wird, sind es insbesondere die außerordentlich erfolgreichen sogenannten „musikalischen Dramen“ Johann Heinrich Rolles, denen der Autor eine unzweckmäßige „Beschaffenheit“ vorwirft. Seiner Auffassung nach seien zwei „Regeln“ zu berücksichtigen: „1) daß die Begebenheit, welche zum Stoff eines Singstücks dienen soll, allgemein wichtig sey, und durch ihre Einwirkung auf unsere christliche oder moralische Tugenden die ganze Menschheit interessiere; 19 AmZ 4 (1802), Sp. 556 f. 20 AmZ 6 (1804), Sp. 482 ff. 21 Die Erstvertonung des Ramlerschen Tod Jesu stammt von Telemann; seine Komposition, die freilich weitgehend wirkungslos geblieben ist, wurde nur wenige Tage vor der Graunschen in Hamburg uraufgeführt; vgl.: Herbert Lölkes, „Der Tod Jesu“ in den Vertonungen von Graun und Telemann: Kontext – Werkgestalt – Rezeption (= Marburger Beiträge zur Musikwissenschaft, 8), Kassel u. a. 1999; sodann: König, Studien, S. 34 ff. 22 Vgl. Ulrich Leisinger, „Die geistlichen Vokalwerke von Johann Christoph Friedrich Bach – Aspekte der Entstehungs- und Überlieferungsgeschichte“, in: Bach-Jahrbuch 81 (1995), S. 115 – 143, bes. S. 125 ff. 23 Nach König, Studien, S. 37 ff. Eine späte, stark gekürzte Vertonung stammt von C. P. Schobacher (1830); Haydn bediente sich des Textes in Ausschnitten für Die sieben letzten Worte. Joseph Martin Kraus verwendete hingegen – unter gleichem Titel – eine andere Vorlage; vgl. Bertil van Boer, „Der Tod Jesu von Joseph Martin Kraus – ein Oratorium der Sturm und Drang-Bewegung“, in: Joseph Martin Kraus in seiner Zeit, hrsg. von Friedrich Wilhelm Riedel, München/Salzburg 1982, S. 65 ff., dort auch Bemerkungen zur Abhängigkeit des Librettos von Ramler bzw. Klopstock. Schließlich ist auch die Praxis nachweisbar, ,unbetitelte‘ Passionsvertonungen nach dem berühmten Vorbild Ramler/Grauns als Der Tod Jesu zu bezeichnen; vgl. etwa ein gedrucktes Textbuch zu einer Breslauer Aufführung von C. Ph. E. Bachs Passionskantate (H 776): Der Tod Jesu/ Ein Paßions-Oratorium/ nach folgendem/ Text/ in Musik gebracht/ von/ Herrn C. P. E. Bach […]. Zitiert nach Anette Nagel, Studien zur Passionskantate von Carl Philipp Emanuel Bach (= Europäische Hochschulschriften, XXXVI/146), Frankfurt a. M. u. a. 1995, S. 231.
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2) daß die Begebenheit nicht förmlich erzählt, sondern durch kurze lyrische Schilderungen und Erzählungen nur gleichsam in Erinnerung gebracht werde.“
Wichtige Sujets sind danach jene, die sich aus der christlichen Heilsgeschichte herleiten, mehr aber noch solche, die nicht so sehr geistliche als vielmehr moralische Begriffe zum Inhalt haben; die Tendenz zu moralischen, humanen, die sittliche oder patriotische Gesinnung behandelnden Stoffen verweist deutlich auf philanthropisches Ideengut. Der nationale Aspekt spielt ebenfalls eine Rolle: analog zur griechischen und römischen Mythologie seien geeignete Themen aus der „vaterländischen Geschichte oder Götterlehre“ heranzuziehen. In diesem Sinne wird der Ramler/Graun’sche Ansatz nochmals explizit bekräftigt: Die Darstellung des Materials habe sich nicht in einer fortlaufend-narrativen, sondern eben lyrischen Weise zu vollziehen: Ausschweifende umständliche Erzählungen seien ungeeignet, sie erzeugten allenfalls eine „kalte Moral“, während die lyrische Schilderung eine „empfundene Moral“, daher „nichts anders, als eine aus der vorhergehenden rührenden Schilderung entstehende concentrirte Empfindung selbst“ ist. Tatsächlich drängt sich der Eindruck auf, dass der Forkel’sche Text nicht nur als Reaktion auf die um 1780 zu beobachtende breite publizistische Zustimmungen zum musikalischen Drama Johann Heinrich Rolles lanciert wurde, darunter emphatische Konzert- und Werkkritiken,24 sondern insbesondere auch 24 Zu erwähnen wären die anlässlich der Uraufführung vom 30. November 1776 verfasste begeisterte Stellungnahme Niemeyers, abgedruckt als „Schreiben das musikalische Drama Abraham auf Moria betreffend“, in: Deutsches Museum I (1777), S. 147 – 158, sowie der anonyme, in der Diktion noch überschwänglichere Beitrag in: Der Teutsche Merkur (1777), I, S. 185 ff.: „Ueber Herrn Music-Director Rollens neuestes Drama: Abraham auf Moria. An einen Freund“. Der zweite Text äußert sich freilich ausschließlich zur musikalischen Komposition: „Jeder Ton war Gebet!“, in: ebd., S. 189. Verfasser ist offenbar Johann Gottlieb Schummel; vgl. Waldemar Kawerau, Aus Magdeburgs Vergangenheit. Beiträge zur Litteraturund Culturgeschichte des achtzehnten Jahrhunderts, Halle 1886, S. 233, und Karl Menne, August Hermann Niemeyer. Sein Leben und Wirken (= Beiträge zur Geschichte der Universität Halle-Wittenberg, 1), Halle (Saale) 1928, S. 98. Ein anderer Rolle-Anhänger kritisiert den großen publizistischen Aufwand um den Abraham („Weit hinaus tönte der Fama Trompete den Ruhm des Tonkünstlers […]“) mit dem Hinweis auf poetische und musikalische Schwächen des Werks (den bisweilen „wässerigen“ Ausdruck sowie den „falsche[n] Deklamator“) – um dann desto emphatischer den Lazarus zu preisen, der „so weit alles aus derselben Hand bisher hervorgegangene übertrift“. Deutsches Museum (1780), I, S. 178 ff. Der letztgenannte Text schließt übrigens mit der Aufforderung, dem vergessenen kirchenmusikalischen Schaffen eines anderen berühmten Magdeburgers, nämlich Telemanns(!), wieder mehr Aufmerksamkeit zu schenken und regt eine Auswahlausgabe an. Sodann hatte auch der sonst eher bissig urteilende Joseph Martin Kraus den Abraham als „wahrschön“ gelobt, vgl. „Etwas von und über Musik“, S. 98. Sehr subjektiv die eigenen Empfindungen schildernd, dabei allerdings auch Kritik formulierend, ist ein anonymer „Auszug eines Schreibens aus Magdeburg, Rollens Komposition des Niemeyerschen Lazarus betreffend“ gehalten, in: Miscellaneen artistischen Inhalts (1779), I, S. 53 ff. Und noch postum bricht ein anderer Anonymus eine Lanze für Rolle, indem er auf eine barsche Kritik in der Allgemeinen
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auf eine fünf Jahre zuvor publizierte gattungstheoretische Abhandlung rekurriert, die Rolles Librettist August Herrmann Niemeyer unter dem Titel Ueber das religioese Drama so fern es für die Musick bestimmt ist 1778 veröffentlichte. Dessen Apologie nun des älteren dramatischen Gattungstypus lässt sich wie folgt zusammenfassen: Seine „religiösen Dramen“ seien (1.) prinzipiell nicht für die Kirche bestimmt, sie eignen sich (2.) vor allem für die Gebildeten, weshalb (3.) die „Nothwendigkeit der durchgängigen Simplicität“ entfällt.25 Originell ist insbesondere sein Plädoyer geben das allgegenwärtige Simplizitätsideal mit der ästhetischen Polarisierung der Kategorien ,Kunst‘ und ,Natur‘: „Giebt es denn nicht eine Kunst, die sich unter der Natur verbirgt? Kann es nicht der Natur erlaubt seyn, auch die Kunst zu Hülfe zu rufen, wenn sie sich nicht allein stark genug fühlt, gewisse Wirkungen hervorzubringen? Kommt nicht auch oft viel auf den Reitz der Neuheit an? Verdient nicht der grosse Hauffe derer, welche nun einmahl für die oft zu einfache Sprache der Natur kein Ohr mehr haben, doch einige Rücksicht? Und ist nicht endlich der ganze Begriff von Kunst und Natur bey iedem ein andrer, und genau nach dem Verhältniß der iedesmaligen Empfindung verschieden?“26
Für eine dramatisch-poetisierende Darstellung eigneten sich demzufolge vor allem Stoffe des Alten Testaments, auch Heiligenlegenden, und zwar wegen ihrer „allgemeineren“ Begebenheiten. Besonders im Alten Testament seien Eingriffe zur Realisierung der kontrastierenden Personencharakterisierung möglich, und mit Blick auf eine effektvolle musikalische Umsetzung sind überdies Textmanipulationen und Ausschmückungen denkbar, etwa die Einführung neuer Personen oder Personengruppen (z. B. das Auftreten der Pilger im Oratorium Abraham auf Moria – offenbar geht diese Idee auf eine Anregung Klopstocks zurück).27 Auch der Vorgang, außerbiblische poetische Namen – wie in einer anderen Komposition Thirza und ihre Söhne – zu verwenden (die in diesem Fall ebenfalls aus Klopstocks Messiade übernommen sind28), erscheint praktikabel. Im Neuen Testament seien diese Eingriffe nicht angebracht: „wir kennen den Ton iener Zeit genauer, und haben auch wahrlich nicht nöthig ihn zu verbessern“.29 Das Neue Testament enthalte mehr „Außerordentliches und Göttliches“, da „meistentheils sehr erhabne Menschen handeln“. Respekt vor der Heiligkeit
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Deutschen Bibliothek reagiert und in einer glühenden „Antikritik“ den Vorwurf zurückweist, in Rolles Chören herrschten „Schlendriane“, die Arien näherten sich dem „gewöhnlichen Operngesang“ und die Rezitative seien „wegen der Naktheit der Begleitung und der kaltblütigen oft falschen Declamation, herzlich mager und elend.“ Musikalische Real-Zeitung (1790), S. 17 f. August Hermann Niemeyer, „Ueber das religioese Drama, so fern es für die Musick bestimmt ist“, in: August Hermann Niemeyers Gedichte, Leipzig 1778, S. 31. Ebd., S. 19 f. Kawerau, Magdeburg, S. 229. Niemeyer, „Religioese Drama“, S. 45. Vgl. in diesem Sinne auch schon Patzkes Tod Abels. Ebd., S. 34.
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des Neuen Testaments ist die zentrale Begründung für dessen Ablehnung als Textgrundlage. Die Reserve insbesondere gegenüber christologischen Stoffen kommt in der ausdrücklichen Weigerung zum Ausdruck, den Heiland poetischmusikalisch darzustellen30 ; gleichzeitig wird offene Kritik an der traditionellen Oratorien- und Passionspraxis und der Beibehaltung einer förmlichen ChristusPartie geübt: „Die Person des Erlösers ist viel zu Heilig, als daß man sie von einem Sänger, unter denen man so wenig wählen kann, und bey welchen die gute Stimme oft das einzige Gute ist, könnte vorstellen lassen.“31
Respektvolle Selbstbeschränkung aus Furcht vor Profanierung christologischer Themen sowie die Transformation des traditionell hohen Gattungsanspruchs des literarischen Dramas auf das Oratorium sind demnach Niemeyers zentrale Motive.32 So deutlich der zeitgenössische ästhetische Diskurs durch die plakative Polarisierung „dramatisch/lyrisch“ einerseits geprägt war, so markant lassen sich 30 Im Lazarus etwa wird Christi Wirken in der Weise dargestellt, dass Martha durch indirekte Rede das Geschehen referiert. Vgl. Niemeyer, Gedichte, S. 102 ff. 31 Niemeyer, „Religioese Drama“, S. 35. Dass sich diese Argumentation mit voller Wucht vor allem gegen die Tradition der oratorischen Passionsvertonung richtet, versteht sich von selbst. Ähnlich wie im Lazarus ist etwa auch in Berger/Weinligs Oratorium Der Christ am Grabe Jesu wörtliche Rede des Heilands mittelbar realisiert, nämlich durch eine jeglichen Verdacht der unmittelbaren Identifikation ausschließende Sopranstimme. Offenbar wurde Niemeyers Intention der diskreten Christusbehandlung von den Zeitgenossen nicht durchgängig so aufgefasst, denn der Vorwurf, dass Jesus im Lazarus „singend eingeführt“ wird, war trotz allem ziemlich verbreitet, wie aus einer originellen Rechtfertigung Christian Friedrich Daniel Schubarts hervorgeht: „Nur haben es die Hyperkrittler tadeln wollen, dass er [Rolle] Jesum singend eingeführt hat. Allein fürs erste musste er hier dem Dichter folgen; und zweytens, ist aus der Geschichte gewiss, dass Jesus in seinem Leben wirklich gesungen hat.“ Vgl. dessen Ideen zu einer Ästhetik der Tonkunst, Wien 1806, S. 117; zitiert nach: Rudolf Kaestner, Johann Heinrich Rolle: Untersuchungen zu Leben und Werk (= Königsberger Studien zur Musikwissenschaft, 13), Kassel 1932, S. 55 f. Übrigens wurde in den wenigen Lübecker Abendmusiken, die auf neutestamentlichen Texten basieren, die Figur des Heilands mit viel weniger Sensibilität behandelt: In Königslöws Der Jüngling zu Nain trägt Christus sogar Arien vor; Vgl. Howard E. Smither, A History of the Oratorio, Bd. 3: The oratorio in the classical era, Oxford 1987, S. 359. 32 Freilich herrschte in der Praxis nicht jene dogmatische Starre, wie sie die Diskussion vielleicht vermittelt: Häufiger trifft man eine Orientierung der Komponisten nach beiden Seiten an: Johann Christoph Friedrich Bach etwa wandte sich neben der Ramler-Trilogie auch dem alttestamentlichen Stoff Mosis Mutter (Text von Gottlieb Daniel Stille) zu, und Rolle selbst berücksichtigte in der Vertonung etlicher Klopstock-Libretti auch den lyrischen Typus, vgl. etwa Der leidende Jesu (1771), David und Jonathan (1766) oder auch Messias (1764). Zur Bedeutung Klopstocks für Rolle vgl. Kawerau, Magdeburg, S. 204. Überhaupt haben sich die Oratorientextlieferanten aus dem Kreise des Magdeburger Gelehrten Clubbs beiden Typen gewidmet. Vgl. Smither, History, Bd. 3, S. 466. Niemeyer hat jedenfalls den Tod Jesu sehr geschätzt; vgl. Kawerau, Magdeburg, S. 253.
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andererseits sowohl in der Kompositionspraxis als auch in der theoretischen Reflexion diverse Formen der Ausdifferenzierung belegen. Insbesondere unter den Parteigängern der „lyrischen“ Variante regte sich alsbald Widerspruch gegen die normierende Dominanz des Ramler/Graun’schen Typus, insbesondere wegen der als zu dogmatisch empfundenen Ausrichtung von Der Tod Jesu. Denn im Gegensatz zur radikalen Auffassung der neologischen Theologie Sacks und Ramlers, in der der Versöhnungs- und Erlösungsgedanke zweitrangig erschien, wird in etlichen Kompositionen ein deutlicher Widerspruch zum ,Berliner Modell‘ erkennbar, ja, es scheint sich überhaupt eine ausgesprochen gegenläufige Tendenz im Passionsoratorienschaffen abzuzeichnen: Eine Rezension zu Johann Abraham Peter Schulz’ Maria und Johannes (Maria og Johannes) von 1787/88 auf eine Dichtung Johann Ewalds etwa hebt ausdrücklich hervor, daß der Text „frei von Dogmatik“ sei und hierin besser als die Ramlerschen Libretti.33 Sodann findet sich die Betonung des Versöhnungsgedankens nicht nur bereits in Telemanns Messias34, einer Komposition, die aufgrund ihrer zeitlichen Nähe (entstanden 1758/59) zu Der Tod Jesu vielleicht sogar als Reaktion auf diesen verstanden werden kann, sondern auch in Christian Ehregott Weinligs Passionsoratorien wird schon äußerlich der Versöhnungs- und Erlösungsgedanke geradezu exponiert, wie aus etlichen Titeln erkennbar ist.35 Ferner ist selbst in der Graun-Nachfolge dieses Phänomen faßbar : Auch Ernst Wilhelm Wolfs bereits erwähnte Passionskantate Jesu, meine Passion (Schmidt)36, eine, wie Peter Wollny gezeigt hat, klar auf Der Tod Jesu rekurrierende Schöpfung, betreibt die Eliminierung der Versöhnungsvorstellung nicht mit der gleichen Konsequenz wie die Vorlage: Namentlich durch die Texte in den Chören wird die ursprüngliche ,anti-orthodoxe‘ Haltung Ramlers verwässert. Und ein weitverbreitetes späteres, von der Kritik hochgerühmtes37 Passionsoratorium Wolfs Die 33 Carl Friedrich Cramer, Musik, Kopenhagen 1789, S. 152. Dort auch Textabdruck und detaillierte Beschreibung; vgl. sodann die ausführliche Rezension in: Musikalisches Wochenblatt, S. 92 f. und S. 99 f. Nur am Rande sei erwähnt, dass die Partitur von Maria og Johannes in „Chiffern“, also einer Art Tabulatur erschien. Wie erwähnt, hatte auch Herder Ramlers Text als „so kalt! so scholastisch!“ bezeichnet. Siehe: Von Deutscher Art und Kunst, hrsg. von Bernhard Suppan, in: Herders Sämmtliche Werke, 33 Bde., Berlin 1877 – 1913, hier Bd. 5, S. 206. 34 Vgl. Günther Godehardt, „Telemanns ,Messias‘“, in: Die Musikforschung 14 (1961), S. 143: Zentrales Thema der Verse 1 – 41 des ersten sowie 472 – 515 des zehnten Gesangs sei die Erlösungstat Christi. 35 Zu erwähnen wären etwa: Die Erlösten auf Golgatha, Der Versöhnungstod Jesu, Der Erlöser, Die Erlösung, Der Versöhner, schließlich Jesus Christus, der Welterlöser. 36 Ein Brüsseler Textbuch führt den Titel Der sterbende Heyland; vgl. Peter Wollny, „Eine apokryphe Bachsche Passionsmusik in der Handschrift Johann Christoph Altnickols“, in: Leipziger Beiträge zur Bach-Forschung 1 (1995), S. 68. 37 Johann Abraham Peter Schulz etwa hielt die Komposition für ein „Meisterstück“. Magazin der Musik, II,1, S. 349. Das gleiche Periodikum hatte an anderer Stelle eine ausführliche
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letzten Stunden des leidenden Erlösers am Creutze (wohl um 1783, Text vom Eisenacher Generalsuperintendenten Schneider) scheint in jedem einzelnen seiner Elemente den Erlösungsgedanken zu betonen. Knapp erwähnt sei abschließend noch, dass Librettisten und Komponisten zwischen den ideologisch manifestierten Polen „lyrisch/dramatisch“ auch synthetische Ideen verfolgten, gleichsam also einen lyrisch-dramatischen Mischtyp entwickelten. Selbst der Verfasser des Textes im Musikalischen Almanach hatte die Möglichkeit einer lyrisch, zugleich dialogischen Konzeption eingeräumt: „Diese Beobachtungen oder Aeusserungen können zwar von mehrern Personen wechselsweise, oder auch bisweilen durch Duette oder Chöre zugleich hervorgebracht werden […]; Wenigstens muß dieses nicht durch Dialogen oder förmliche Handlung unmöglich gemacht werden […].“38
3.
Des Heilands letzte Stunden und die Gattungstradition
Die so in Umrissen hier nur zu skizzierenden kompositorischen Entwicklungen bzw. deren ästhetische Diskussion und polarisierende Motivation dauert im frühen 19. Jahrhundert, zur Zeit der Entstehung von Rochlitz’ Libretto, fort. Nur auf zwei wichtige Stellungnahmen aus dem frühen 19. Jahrhundert sei hier verwiesen: (1.) E.T.A. Hoffmann rezensiert [wohl 1814] August Bergts Oratorium Christus, durch Leiden verherrlicht39und nutzt diesen Text zu einer grundsätzlichen kunstästhetischen Positionierung. Als Referenzwerk diente ihm dazu allerdings nicht etwa Ramler/Grauns Der Tod Jesu, sondern, in der Diktion und Begrifflichkeit den apologetischen Texten der „lyrischen Fraktion“ des 18. Jahrhunderts vergleichbar, Händels Messias. Danach habe Händel solche Texte, „die später komponiert wurden, [und] recht eigentlich ins Drama gefallen“ seien, „verschmäht […] und sich streng an die kräftigen Sprüche der Bibel“ gehalten: Besprechung eingerückt und zur Pränumeration aufgerufen: „Reichthum an Gedanken ohne Verschwendung, Ernst ohne Trockenheit, Richtigkeit ohne Pedanterey, Ausdruck ohne Schwärmerey, Hoheit ohne Schwulst, natürlicher, edler, herzeindringender Gesang, der sich nie dem Opernstil nähert, kräftige Begleitung, neue harmonische und melodische Schönheiten, alle Eigenschaften finden sich im ganzen Stück ausgebreitet […].“ Magazin der Musik I,2, S. 984 und II,1, S. 263 f. Außer dieser allgemeinen Charakterisierung besteht die große Rezension nur noch aus Textauszügen mit knappen Kommentaren: Offenbar hat tatsächlich die spezifische Textgestalt Aufsehen erregt. 38 Forkel, Almanach 1783, S. 180. 39 E.T.A. Hoffmann, Gesammelte Werke in Einzelausgaben, Bd. 9, hrsg. von Hans-Joachim Kruse, Berlin/Weimar 1988, S. 184 ff.
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„Es gibt darin keine bestimmten Personen, die, in dramatischer Handlung zusammentretend, sprechen, und ebensowenig werden die Begebenheiten, die das große Werk in sich schließt, auf frostige Weise erzählt.“
Und weiter : „Rezensent ist überzeugt, daß nur auf diese Weise das Heiligste würdig gesungen werden kann, alles Dramatisieren dagegen, wenn nicht ganz wider die religiöse Tiefe des Gegenstands ist, doch sehr leicht auf Abwege leitet, in welchen sich das Heilige bis zum Gemeinen und Alltäglichen verirrt. […] Nur die Einrichtung des Textes, wie sie der Messias hat, ist nach Rezensenten Meinung die einzig wahrhafte für Oratorien, die unmittelbar von dem höchsten Geheimnisse unserer Religion sprechen.“
(2.) Ein Plädoyer für eine durchaus „dramatische“ Anlage formulierte demgegenüber Friedrich Rochlitz selbst, und zwar im Jahre 1831 (also unmittelbar vor der Vertonung von Des Heilands letzte Stunden durch Louis Spohr) in der emphatischen Rezension des bei Trautmann in Berlin erschienenen Klavierauszugs der Bach’schen Johannespassion unter dem Titel: Grosse Passions-Musik nach dem Evangel. Johannis, von Joh. Seb. Bach.40 Wie zuvor Hoffmann nutzt Rochlitz seine Rezension zur Darlegung umfänglicher gattungshistorischer und ästhetischer Gedanken. Es ist hier nicht nötig, die oratoriengeschichtlichen Positionen Rochlitz’ en Detail zu verhandeln. Verwiesen sei allein auf seine zurückhaltenden, gleichwohl einschlägigen Einwände gegen das Ramler/Graun’sche Modell: „Wie gross nun auch und wie gerecht der Antheil war, mit welchem diese Oratorien [nämlich des „lyrischen“ Typs, Anm. d. Verf.] aufgenommen wurden: Eines musste nach und nach von den Achtsamern bemerkt und empfunden werden: eine gewisse Kühle, die durch das Ganze, etwa mit Ausschluss einiger Hauptmomente, sich hindurchzog. Sie hatte ihren Grund – wenigstens den nächsten – in der Gattung selbst: in dem Hinwegheben des Stoffs aus dem Historischen in das Ideelle, aus dem eigentlich Darstellenden in das blos Ausdrückende. Man blickte umher, um, was man vermisste, vielleicht anderswo zu finden, und ohne dass man nöthig hätte, sich durch Kenntnisse, Bemühungen und mancherley Verzichtleistungen in jene Vorzeit zurückversetzen zu müssen. Man fand es in den italienischen Oratorien, wie sie von Apostolo Zeno und Metastasio (in ihrer Art) trefflich, von einigen Anderen minder vorzüglich, doch ausreichend, gedichtet, und von grossen Meistern Italiens und Deutschlands gleichfalls trefflich in Musik gesetzt worden sind. Wie bekannt, sind diese ganz dramatisirt; wie nicht weniger bekannt, regt alles Dramatische, ist es von Werth, lebendig an. Das thaten nun auch diese Werke […].“41
Der Text ist – vor dem Hintergrund der eigenen Begeisterung für das oratorische Modell Bachs – ein klares Bekenntnis für die „dramatische“ Variante. Eine ge40 AmZ 33 (1831), Sp. 265 – 271, 285 – 298 und 301 – 311. 41 Ebd., Sp. 297.
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nauere Untersuchung des Librettos von Des Heilands letzte Stunden offenbart indes einige nicht unwesentliche Differenzierungen. Diese sollen dazu beitragen, die schließlich drängende Frage zu beantworten: Wo positioniert sich Rochlitz im Spektrum „lyrisch/dramatisch“? Werfen wir dazu einen genaueren Blick auf das Libretto, dies anhand eines Textdruckes von 1843: Beispiel 1: Personentafel Singende. Maria. Jesus.
Soprano. Tenore.
Johannes. Joseph von Arimathia.
” ”
Judas Ischarioth. Kaiphas.
Basso. ”
Nikodemus. Petrus.
” ”
Philo. Erster Zeuge.
” Tenore.
Zweiter Zeuge. Chor der Freunde und Freundinnen Jesu.
Alto.
Chor der Priester und des Volks.
Die Liste der zahlreichen beteiligten Personen bzw. Personengruppen deutet zunächst klar auf eine dramatische Anlage. Es handelt sich – nicht unerwartet – um die typischen biblischen Protagonisten (auffälligerweise ohne die Figur des Pilatus), eine gewisse Erweiterung bedeutet einerseits der Chor der Freunde und Freundinnen Jesu, andererseits und insbesondere aber die Einführung der nichtbiblischen Figur des Philo. Dieser ist als historische Figur belegt: Er war ein jüdischer Religionsphilosoph und lebte in Alexandria (ca. 20 vor bis 45 nach Christus). Diesen mit Pilatus gleichzusetzen, wie in der Forschungsliteratur gelegentlich geschehen, ist allerdings kaum plausibel.42 Stattdessen dürfte hier eine Tradition fortleben, die auf Klopstock und dessen Messias-Dichtung zurückgeht. Festzuhalten ist jedenfalls, dass Rochlitz die zuvor erwähnte Idee August Herrmann Niemeyers aufgreift, wonach zusätzliche Protagonisten als belebendes Element durchaus willkommen seien. Bezeichnend ist außerdem,
42 Glenn Stanley, The Oratoria in Prussia and Protestant Germany : 1812 – 1848, Diss., Columbia University 1988, S. 71.
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dass beide, Niemeyer und Rochlitz, sich in ihren Oratorienlibretti auffällig solcher Figuren bedienten, die Klopstock in seiner Messiade geschaffen hatte. Ist nun das Libretto vor dem Hintergrund des Personentableaus uneingeschränkt dramatisch? Eine Antwort auf diese Frage lässt sich nicht so selbstverständlich formulieren, wie es zunächst scheint. Denn ein förmliches, zumal emotional aufgeladenes Dialogisieren der Beteiligten, im Sinne von Rede und Gegenrede, von Frage und Antwort, von Aktion und Reaktion, wie sie elementar der Evangelistenbericht vorhält, findet sich in Rochlitz’ Libretto, wie der nachfolgend beispielhaft gewählte Ausschnitt nahelegt, allenfalls in Ansätzen: Beispiel 2: „No. 13. […] Zweiter Zeuge. Er hat den Sabath verletzt, Hat an ihm Kranke geheilt, Mit verfänglicher Rede Seine Unthat beschönet; Hat Juda’s Herrscher geschmäht, Sündern Sünden vergeben, Was der im Himmel nur darf. Ich bekräft’ge mit heil’gem Eid, Dass ich’s vernommen aus seinem Munde. Philo. Läugne, wenn Du’s vermagst, Was die Wahrheit hier zeugt! – Ruhig blickst Du umher, Schweigend, wie mitleidsvoll? Mienen Kannst Du erheucheln; Doch auf der Lippe erstirbt Dir das frevelnde Wort. Ich bekräft’ge mit heil’gem Eid, Was sie gezeuget mit ihrem Munde. Zeugen und Priester. Wir schwören! No. 14. Recitativ. Johannes. Maria! ach, sie sinkt erblassend nieder! Ihr Auge schliesst sich zu, ihr Herz zerbricht! Ja er wird sterben!, sie mit ihm erblassen! Lehr’ uns, o Heil’ger, Deinen Rathsschluss fassen! Freunde Jesu. Bosheit seh’n wir siegen, Unschuld erliegen! Gott, lehr’ uns schweigen,
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Nicht von Dir weichen! Wie auch Dein Rath mag walten, Fest an Dir halten! No. 15. Recitativ. Nikodemus. Treu bin ich dem Gesetz, ihr wisst’s! Und treu dem Gotte uns’rer Väter ; D’rum darf ich reden über diesen Mann, Für den kein Anwald, doch sein Leben spricht. Nicht wag ich zu verschmäh’n, was ihr gezeugt; Doch dunkler Worte nur klagt ihr ihn an! Verzeiht sie ihm, merkt auf sein ganzes Handeln, Er lebt’ in Gott, und göttlich war sein Wandeln.“
Genau genommen kommunizieren die Figuren gar nicht miteinander, sondern liefern – mehr oder weniger – lyrische Betrachtungen im Blick auf die ihnen zugedachte Rolle bzw. einzelne, heilsgeschichtlich relevante Situationen der Passionsgeschichte: Man könnte in diesem Zusammenhang von alternierenden „lyrischen Reflexionsfeldern“ sprechen, die im Verlauf des textlichen und musikalischen Geschehens evoziert werden. Und in gleicher Weise bloß eingeschränktes dramatisches Potenzial findet sich auch in jenen Abschnitten, in denen sich „unbestimmte“ Personen äußern, eine Technik der Darstellung, die gleichsam prototypisch in Ramler/Grauns Der Tod Jesu entwickelt wurde und in der nachfolgenden Kunstkritik als signifikantes Kriterium lyrischer Gestaltung schlechthin bewertet wurde: Beispiel 3: „Zweiter Theil. No. 22. Chor der Freunde und Freundinnen Jesu. Blicke du, strahlende Sonne, Nicht so freundlich auf uns herab; Wir begleiten den Heil’gen Auf seiner letzten qualvollen Bahn! Tenore-Solo. Mit verschüchtertem Staunen Drängt dumpfen Sinnes das Volk, Rufet heute das Kreuz’ge, Wie vor drei Tagen Hosanna es rief! Alto-Solo. Wie die Freude des Sieges Aus den Augen der Priester blitzt! Werth sind sie, als die Götzen Wetterwendischen Pöbels zu steh’n. Soprano-Solo. Stillet den Zorn! entweihet Nicht durch Rache den heiligen Tag!
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„Segnet, die euch verfolgen“ Lehrte und übte der Gottessohn! Soprano, Tenore und Basso. Auf dem blutigen Rücken Trägt er willig den Todespfahl, Matt und zitternd und wankend! Ach, er erliegt der schmächlichen Last! Chor. Hülle Dich ein, o Sonne, Blicke trauernd vom Himmel herab! Wir geleiten den Heil’gen Auf seiner letzten qualvollen Bahn!“
Auch wenn die Passionsgeschichte vermittels der erwähnten „lyrischen Reflexionsfelder“ im Ganzen nachvollziehbar ist, wobei die Figuren der Maria und des Johannes verhältnismäßig stark gewichtet sind, so unterbleibt genau genommen dennoch eine förmliche handlungsbasierte bzw. narrative Darstellung des Geschehens. Erinnert sei vor diesem Hintergrund an einen weiteren, ebenfalls bereits erwähnten „Klassiker“ des empfindsam-lyrischen Oratoriums aus dem 18. Jahrhundert, nämlich an Maria und Johannes von Johann Abraham Peter Schulz von 1787/88. Dieses rückt die beiden in den biblischen Evangelienberichten als Handlungsträger allenfalls peripher behandelten Figuren unmittelbar in das Zentrum: Als an der förmlichen Handlung im Grunde Unbeteiligte sind sie geradezu ideal geeignet, per se eine gewisse reflektierende Distanz zu erzeugen und damit dem „lyrischen“ Bedürfnis der Zeit Rechnung zu tragen. Dass Rochlitz in seinem Libretto diesen dezidiert „lyrischen“ Kunstgriff ebenfalls anwendet, erschwert zusätzlich die Einordnung von Des Heilands letzte Stunden als uneingeschränkt dramatischen Text:43 Tatsächlich scheint es sich um jenen lyrisch-dramatischen Mischtyp zu handeln, von dem bereits knapp die Rede war und dem Christian Friedrich Michaelis 1805, also etwa zu der Zeit, als Rochlitz sein Libretto dichtete, in seinem Artikel Kirchenkantate und Oratorium neue Aufmerksamkeit widmete; der Text erschien in der von Rochlitz redigierten Allgemeinen musikalischen Zeitschrift44 und akzentuiert oratoriengerechte Dichtungen idealiter ausdrücklich als „lyrisch-dramatisch“. Zwei Beobachtungen zum Schluss: In einem weiteren Punkt scheint sich Rochlitz an den gattungstheoretischen Darlegungen August Herrmann Nie43 Vgl. dazu die Einleitung zur Edition von Clive Brown (New York 1987, mit zeitgenössischen Quellen), sodann auch Irmlind Capelle, „Kirche oder Musikfest? Zur Vertonung von Friedrich Rochlitz’ Oratorium ,Das Ende des Gerechten‘ durch Johann Gottfried Schicht (1806) und Louis Spohr (1835)“, in: Festschrift Christoph-Hellmut Mahling zum 65. Geburtstag, hrsg. von Axel Beer, Kristina Pfarr und Wolfgang Ruf, Tutzing 1997, S. 211 – 221: Beide argumentieren ohne nähere Prüfung im Sinne einer dramatischen Anlage. 44 AmZ 7 (1805), Sp. 461 ff. und Sp. 493 ff.
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meyers zu orientieren, nämlich im Blick auf die Gestaltung der Jesus-Partie. Niemeyer hatte, wie zuvor dargestellt die singende Darstellung Christi aus Respekt vor einer möglichen Profanierung des Heilands ausgeschlossen. Rochlitz mag sich dieser Aussage erinnert haben, als er mit Louis Spohr um die angemessene Vertonung rang:45 Bekanntlich hatte er die chorische und nicht-solistische Ausführung der Christus-Worte gefordert, einem Anliegen, dem sich Spohr entschieden widersetzte. Wichtig ist insbesondere der Hinweis, dass Rochlitz hier einen gattungstheoretischen Aspekt aufgreift, der seine Wurzeln in der Diskussion des 18. Jahrhunderts hat. Vor dem Hintergrund des durch die Bach’sche Johannespassion mitgeprägten Oratorienbegriff Rochlitz’ wäre abschließend noch die Überlegung anzustellen, ob nicht das Libretto von Des Heilands letzte Stunden noch stärker durch Bachs Hauptwerk beeinflusst wurde; einige Indizien deuten in diese Richtung. Zunächst weist Rochlitz’ Libretto etwa den gleichen Handlungsrahmen auf wie Bachs Johannespassion, orientiert sich somit erkennbar am JohannesEvangelium: So kennt man etwa die von Rochlitz eingeführte Figur des Nikodemus allein aus dem Passionsbericht des Johannes. Und vor dem Hintergrund der stark gewichteten Figuren des Johannes und der Maria in Des Heilands letzte Stunden ließe sich noch die Beobachtung anführen, dass diese im Kontext von Christi Passion nur bei Johannes überhaupt genannt sind: Die Worte Jesu „Dies ist dein Sohn, […] dies ist deine Mutter“ finden sich dementsprechend nur dort. Schließlich, man mag diesen Aspekt nicht überbewerten und als gängigen Topos bezeichnen, erinnert auch der Text des Schlusschores an denjenigen der Bach’schen Johannespassion:
45 Folker Göthel, Thematisch-Bibliographisches Verzeichnis der Werke von Louis Spohr, Tutzing 1981, S. 409. Vgl. dazu auch Ernst Rychnovsky, „Ludwig Spohr und Friedrich Rochlitz. Ihre Beziehungen nach ungedruckten Briefen“, in: Sammelbände der Internationalen Musikgesellschaft 5 (1903/1904), S. 253 – 313.
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Beispiel 4: Nr. 36. Chor der Freunde und Freundinnen Jesu
J.S. Bach, Johannespassion, Schlusschor
Wir drücken Dir die Augen zu, Und bringen Dich zu Deiner Ruh’, Heiland der Welten! Dein Gott, der Dich dem Tod geweiht, Hebt Dich zu seiner Herrlichkeit Und wird vergelten! Dein Geist, der hier nur Schmerzen fand, Kehrt nun zurück in’s Vaterland, Rein wie ihn Gott gegeben! Ihr Thränen sinkt ihm nach in’s Grab, Bald trocknet seine Hand euch ab In einem bessern Leben!
Ruht wohl, ihr heiligen Gebeine Die ich nun weiter nicht beweine, Ruht wohl und bringt auch mich zur Ruh. Das Grab, so euch bestimmet ist Und ferner keine Not umschließt, Macht mir den Himmel auf und schließt die Hölle zu.
Auffällig ist, dass beide, Bach respektive (vielleicht) Picander einerseits und Rochlitz andererseits, der Zähren- und Ruhemetapher breiten Raum gewähren; überdies wäre auch auf das – freilich ebenfalls poetisch-topische – Motiv des „blutigen Rückens“ zu verweisen (s. o., Nr. 22). Gewiss ist das letzte Wort im Blick auf eine mögliche Inspiration Rochlitz’ durch das Libretto der Johannespassion Bachs noch nicht gesprochen: Indes mögen die hier vorgetragenen Überlegungen zu einer weiteren Beschäftigung mit dieser Frage anregen.
Hermut Löhr
Die kanonischen Passionsgeschichten in Des Heilands letzte Stunden von Friedrich Rochlitz/Louis Spohr
1.
Einführung
Die mir übertragene Aufgabe ist klar bestimmt und begrenzt: Aus der Sicht der neutestamentlichen Exegese ist das Oratorium Des Heilands letzte Stunden zu beleuchten. Diese Fragestellung verweist uns ganz auf den Text, das Libretto, des Oratoriums und seine biblischen Prä- und Inter-Texte, während die musikalische Gestaltung der Szenen und Charaktere, die natürlich ganz wesentlich den Erzählvorgang, die musikalische Narration, des Oratoriums prägen, der Gegenstand anderer Analysen sein muss. Das Libretto zum Oratorium stammt von Friedrich Rochlitz. Zu ihm findet sich ein recht ausführlicher Eintrag in der Allgemeinen deutschen Biographie von Woldemar Freiherr von Biedermann1 aus dem Jahr 1890. Aus dem Artikel von Biedermanns über Rochlitz2 sind hier nur wenige Informationen mitzuteilen: Johann Friedrich Rochlitz war Schüler der berühmten Thomasschule seiner Heimatstadt Leipzig; aus dieser Zeit sind erste Kompositionsversuche überliefert. Nach der Schulzeit begann Rochlitz jedoch ein Theologiestudium, war kurzfristig Hauslehrer in Crimmitschau, kehrte aber bald wieder nach Leipzig zurück und entschloss sich, als Schriftsteller zu leben. In den folgenden Jahrzehnten entfaltete er tatsächlich eine beträchtliche, und durchaus einträgliche, dichterische publizistische Tätigkeit. Eine ökonomisch glückliche Heirat mit Henriette Winkler, geb. Hansen, machte Rochlitz finanziell zudem unabhängig.
1 Von Biedermann (1817 – 1903) war Jurist, sächsischer Bahnbeamter und Literaturhistoriker, der für die Goethe-Forschung von erheblicher Bedeutung war; vgl. A. Elschenbroich, „Biedermann, Freiherren von 2)“, in: Neue deutsche Biographie 2 (1955), S. 223. 2 Vgl. Woldemar von Biedermann, „Rochlitz, Friedrich“, in: Allgemeine deutsche Biographie 30 (1890), S. 85 – 91. Vgl. auch Adolph Bernhard Marx, „Friedrich Rochlitz. Eine biographische Skizze“, in: Jahrbücher des Deutschen Nationalvereins für Musik und ihre Wissenschaft 2 (1840), 370 – 372.
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Hermut Löhr
Goethe, mit dem Rochlitz eine seiner zahlreichen Brieffreundschaften verband,3 vermittelte ihm den Ehrentitel eines herzoglich sächsischen Rates, was seinem gesellschaftlichen Ansehen weiter half. Von 1798 bis 1818 gab Rochlitz die Allgemeine musikalische Zeitung heraus und entfaltete so auch musiktheoretisch und -kritisch eine reiche Wirksamkeit. Seinem Einfluss wird unter anderem die Berufung Felix Mendelssohn Bartholdys zum Direktor der Leipziger Gewandhauskonzerte zugeschrieben. Das literarische Œuvre von Rochlitz ist umfangreich und umfasst sehr verschiedene Genres. Rochlitz dichtete und bearbeitete auch für das Musiktheater (unter anderem schuf er eine lange Zeit maßgebliche deutsche Fassung des Librettos von Don Giovanni); drei Gedichte von Rochlitz wurden von Schubert vertont; von ihm gedichtete Kirchenlieder fanden Aufnahme in das Leipziger Gesangbuch von 1831, jedoch nicht in das evangelisch-lutherische Gesangbuch für das Königreich Sachsen von 1883. Schon für das Oratorium Die letzten Dinge hatte Spohr auf ein Libretto von Rochlitz zurückgegriffen.4 Bei einem Besuch Spohrs in Leipzig im Jahr 1833 bot Rochlitz dem Komponisten ein weiteres Libretto, mit dem Titel Das Ende des Gerechten, an. Ohne zunächst den Dichter zu informieren, begann Spohr mit der Neuvertonung.5 Das Werk erlebte seine Uraufführung im Jahr 1835 in Kassel. Eine englische Übersetzung und Bearbeitung des Librettos unter dem Titel Calvary aus dem Jahr 1836 stammt von Edward Taylor, der auch andere Oratorien Spohrs übersetzte und mit diesem eine persönliche Bekanntschaft pflegte.
2.
Story und Text von Des Heilands letzte Stunden
Das Libretto von Rochlitz6 stellt eine Neudichtung und Neudramatisierung der Passion Jesu dar. Dabei greift der Text vielfach auf biblische Texte und Motive zurück, übrigens nicht nur aus der Passionserzählung. Die fünf Worte Jesu sind direkte, nur leicht angepasste Zitate aus den kanonischen Passionsgeschichten.7 Um sich die szenische Gestaltung des Librettos deutlich zu machen, sei eine Erinnerung an den Aufbau der kanonischen Passionsgeschichte vorangestellt. 3 Der Briefwechsel wurde veröffentlicht in: Goethes Briefwechsel mit Friedrich Rochlitz, hrsg. von Woldemar von Biedermann, Leipzig 1887. 4 Zum Libretto von Die letzten Dinge und seinem theologischen Gehalt vgl. den Beitrag von Rüdiger Schmitt in diesem Band. 5 Schon 1806 wurde das Libretto durch Johann Gottfried Schicht vertont; siehe dazu den Beitrag von Jürgen Heidrich in diesem Band. 6 Ich zitiere im Folgenden nach: Des Heilands letzte Stunden. Oratorium in zwei Abtheilungen, gedichtet von Friedrich Rochlitz [,] in Musik gesetzt von L. Spohr. Aufgeführt am 4ten Juni 1837, Detmold 1837. 7 Rochlitz dürfte die Luther-Übersetzung von 1545 verwendet haben.
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Ich orientiere mich dabei an ihrer vermutlich ältesten erhaltenen literarischen Fassung im Markus-Evangelium (um 70 n. Chr.). Das Passionsgeschehen stellt hier den Höhepunkt der evangelischen Erzählung dar, die mit Johannes dem Täufer beginnt und offen – nämlich mit der Szene am leeren Grab (Mk 16,1 – 8) – endet8. Andeutungen und Ansagen im Evangelium bereiten das Geschehen schon früh vor,9 das dann in auffälliger Ausführlichkeit entwickelt wird: Nur die Passionsgeschichte lässt eine zeitliche Feingliederung erkennen,10 welche die Dramatik des Erzählten verstärkt und in der Exegese sogar zu der – m. E. nicht haltbaren – Vermutung geführt hat, in Wahrheit sei die Passionserzählung das Skript eines Passionsspiels oder einer Passionsliturgie aus frühchristlicher Zeit.11 Folgende wesentlichen Szenen sind innerhalb dieses Erzählzusammenhangs zu erkennen: 1. Todesbeschluss der Hohenpriester12 und Schriftgelehrten (Mk 14,1 f.); 2. Salbung in Bethanien (14,3 – 9); 3. Verrat des Judas (14,10 f.); 4. Das letzte Mahl (14,12 – 25); 5. Ankündigung der Verleugnung des Petrus (14,26 – 31); 6. Jesu Gebet und die Verhaftung im Garten Gethsemane (14,32 – 52); 7. Jesus vor dem Hohen Rat und dem Hohenpriester (14,53 – 65); 8. Die Verleugnung des Petrus (14,66 – 72); 9. Jesus vor Pilatus (15,1 – 16); 10. Verspottung Jesu durch die Soldaten (15,16 – 20a); 11. Kreuzigung und Tod (15,20b – 41); 12. Grablegung (15,42 – 47). Das Libretto konzentriert sich auf nur drei Szenen und Orte, in welche weitere Erzählzusammenhänge anspielend und erinnernd eingebaut sind. Die Abfolge folgt der chronologischen Ordnung, die auch der biblischen Passionserzählung ihre Grundstruktur gibt.
8 Auf die textkritischen Probleme des Schlusses Markus-Evangeliums ist hier nicht einzugehen. Vgl. dazu Kurt Aland, „Bemerkungen zum Schluß des Markusevangeliums“, in: Neotestamentica et Semitica. Festschrift für Matthew Black, hrsg. von Edward Earle Ellis und Max Wilcox, Edinburgh 1969, S. 157 – 180. 9 Zu nennen sind besonders die drei sog. Leidensweissagungen (die in Wahrheit auch Weissagungen der Auferstehung Jesu sind) in Mk 8,31 – 33; 9,30 – 32 und 10,32 – 34, aber auch die Todesbeschlüsse der Pharisäer und Herodianer in Mk 3,6, der Hohenpriester und Schriftgelehrten in Mk 14,1, oder das Gleichnis Mk 12,1 – 12. 10 Vgl. Mk 14,1.12.17; 15,1.33 f.42; 16,1. 11 Vgl. Etienne Trocm¦, The Passion as Liturgy. A Study in the Origin of the Passion Narratives in the Four Gospels, London 1983. 12 Gemeint sind vermutlich die (männlichen) Mitglieder des hohepriesterlichen Hauses.
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Ein erster Akt des Oratoriums scheint nachts in Gethsemane zu spielen, der Ort wird im Eingangschor Nr. 1 A13 ausdrücklich genannt, und das Leitmotiv der Nacht ist präsent. Innerhalb dieser Szene wird auf den Todesplan der Priester und Oberen des Volkes geblickt (Nr. 2) und es wird ausführlich der Verrat des Judas Iskariot thematisiert. Mit dem Rezitativ des Johannes Nr. 7 wird ein Szenenwechsel zum Palast des Hohenpriesters14 eingeleitet. Der Verrat des Petrus wird reflektiert, die Verhandlung wird inszeniert, Gegner und Freunde Jesu treten auf, am Ende steht das Urteil des Hohenpriesters und die Reaktion der Priester und des Volkes, mit denen der erste Teil des Oratoriums schließt. Der zweite Teil des Oratoriums führt die Hörer auf den Weg nach Golgatha und zur Kreuzigung dort. Mit dem letzten Rezitativ des Joseph (Nr. 35) wird abschließend die Grablegung Jesu fokussiert. Im Vergleich mit dem biblischen Erzählzusammenhang fällt sofort auf, dass der Erzählfaden im Oratorium nicht gleich zu Beginn der Passionsgeschichte aufgenommen wird, sondern erst nach dem letzten Mahl Jesu mit seinen Schülern. Damit lässt sich die Nachdichtung nicht nur die Einsetzung des Sakraments, sondern auch die dramatische Konfrontation von Judas und Jesus beim gemeinsamen Essen entgehen, auch wenn im Rezitativ des Johannes (Nr. 2) deutlich wird, dass Judas zum engsten Kreis um Jesus gehörte. Mit dem letzten Mahl Jesu ist die ganze Passa-Szenerie, die in der einen oder anderen Weise sowohl die synoptische wie die johanneische Version der Passionserzählung prägt, gestrichen. Sie klingt zwar in der Rede von Jesus als dem „Lamm“ (Rezitativ des Johannes Nr. 23) noch an,15 wird aber nicht entfaltet. Vor allem aber fällt das Stichwort „Passa“ nirgends. Nach den Konsequenzen dieser Streichung wird noch zu fragen sein. Auffällig ist ferner das Fehlen des Verhöres vor Pilatus; der Präfekt und andere Römer kommen in der deutschen Fassung des Oratoriums gar nicht vor. Wir werden auf die Auswirkung dieser Auswahl ebenfalls noch zurückkommen. Der Erzählgestus wechselt zwischen Rückschau und Reflexion einerseits, der dramatischen Schilderung gegenwärtigen Geschehens andererseits, dies besonders ausführlich in der Szene vor dem Hohen Rat. Dadurch, dass bei Rochlitz kein Evangelist auftritt, entfällt die Stimme des auktorialen Erzählers der Evangelien; das Geschehen wird nun grundsätzlich aus den verschiedenen 13 Die Zählung folgt dem Erstdruck der Partitur von 1884, wie er vorliegt in: Louis Spohr, Des Heilands letzte Stunden (= Selected Works of Louis Spohr, 5), hrsg. von Clive Brown, New York/London 1987. 14 In der englischen Fassung von Taylor handelt es sich dagegen ausdrücklich um „Pilate’s judgment-hall“. 15 „Wir steh’n am Altar, wo das Lamm soll bluten“ – eine Anspielung auf das Pesach-Opfer im Jerusalemer Tempel.
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Blickwinkeln der am Geschehen beteiligten Figuren beleuchtet. Dies bewirkt eine leichte Verfremdung des biblischen Stoffes, zugleich erscheint das Geschehen stärker dramatisiert. Allerdings ist zu bemerken, dass die Rolle des Apostels Johannes Funktionen des Erzählers mit übernimmt und das Geschehen vorantreibt. Jesus steht im Mittelpunkt des Geschehens, doch tritt er als eigene Rolle kaum hervor;16 er spricht die Antwort auf die Frage des Hohenpriesters sowie fünf der sieben letzten Worte, welche in die Nr. 19 („Ich, der auf Moses heil’gem Stuhle thront“), 24 („Arzt, der allen half“), 25 („Maria, höre auf ihn“), 29 („Blick hin, die letzte Stunde naht“) und 31 („Seht: Gott verlässt den nicht, der ihm vertraut“) eingebunden sind. Die im Oratorium auftretenden Personen und Personengruppen sind überwiegend den verschiedenen Fassungen der biblischen Geschichte entnommen, teils hinzugedichtet. Zum biblischen Personal gehören natürlich Jesus, Petrus und Judas sowie Maria, die Mutter Jesu. Der im Oratorium eine bedeutende Rolle spielende Johannes dürfte den Zebedäus-Sohn meinen, der ausdrücklich in keinem der vier kanonischen Evangelien im Passionsgeschehen von Bedeutung ist. Allerdings gehört zu den Figuren der Erzählung im Johannes-Evangelium ein namenloser Jünger, den „Jesus lieb hatte“, wie es mehrfach heißt. Diese Jüngergestalt, welche die altkirchliche Tradition spätestens im 2. Jahrhundert mit dem Zebedäus-Sohn identifizierte,17 ist durch die besondere Nähe zu Jesus, z. B. beim letzten Mahl, ausgezeichnet. Für das Johannes-Evangelium wird dieser Jünger zum Zeugen, zum Autor des Evangeliums und so zum Garanten der Tradition (Joh 13,23; 19,35; 21,24 f.). Dieser Zusammenhang dürfte die Rolle erklären, die Johannes im Oratorium zukommt. Was die Gestalt des Judas Iskariot angeht, so nehmen Rezitativ und Arie (Nr. 3 und 4) die Erzählung des Mt-Evangeliums auf, das anders als die Seitenreferenten auch vom Ende des Judas erzählt (Mt 27,3 – 10; vgl. Apg 1,15 – 20). Auch für die Petrus-Gestalt folgt das Libretto besonders dem Mt-Evangelium, wenn es im Rezitativ der Maria (Nr. 10) das Wort von Petrus als dem Felsen aus Mt 16,18 in verkürzter Form aufnimmt. Die Tragik des Geschehens wird bei Rochlitz nicht durch die ausführliche Schilderung der Szene selbst oder durch die direkte Konfrontation Petri mit Jesus herausgearbeitet, sondern einerseits durch die explizite Selbstbezichtigung des Petrus (Nr. 9), die in der biblischen Erzählung fehlt, andererseits aber auch dadurch, dass durch Rezitativ und Arie (mit Chor) der Maria (Nr. 5 und 6) das Thema von Treue und Treulosigkeit im 16 In der verwendeten deutschen Fassung des Librettos wird – anders als in der englischen Version – die Rollenbezeichung „Jesus“ nicht verwendet; die Jesus zuzuschreibenden Passagen sind im Druck durch Asterisk und Sperrung hervorgehoben. 17 Vgl. hierzu ausführlich Martin Hengel, Die johanneische Frage (= Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 67), Tübingen 1993.
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Anschluss an den Verrat des Judas schon reflektiert war. Auch formuliert das Rezitativ des Johannes (Nr. 8) die Hoffnung auf den guten Ausgang des Geschehens, eine Hoffnung, die durch die Verleugnung des Petrus sogleich dramatisch enttäuscht wird. Hier stellt das Libretto eng zusammen, was im kanonischen Zusammenhang nicht direkt aufeinander bezogen ist. Während Petrus, dem kanonischen Erzählzusammenhang entsprechend, dann bis zur Kreuzigung keine Rolle mehr spielt, begegnet die Gestalt der Maria wieder. Hier nimmt das Libretto die in Joh 19,25 – 27 erzählte Szene unter dem Kreuz auf, wo der Lieblingsjünger und Maria vom bereits Gekreuzigten selbst aufeinander verwiesen werden als Mutter und Sohn. Biblische Gestalten sind auch der Hohepriester Kaiphas (hier folgt der Text wiederum Mt; der Hohepriester ist bei Mk und Lk namenlos, während bei Joh Hannas das Verhör führt18), die Jesus-Anhänger Nikodemus (aus Joh 3; 7,50 und 19,39) und Josef von Arimathia, der, wiederum in Anschluss an Joh (19,41 f.), sein Gartengrab zur Verfügung stellt (Nr. 35 Rezitativ des Joseph). Sie werden, dies entgegen dem biblischen Bericht,19 zu Fürsprechern Jesu schon beim Verhör vor dem Hohen Rat. Wieder arbeitet das Libretto mit der Technik der letztlich enttäuschten Hoffnung: Konnte die Tatsache, dass Joseph neben dem Hohenpriester Platz nimmt und auch Nikodemus am Rat teilnimmt (Nr. 12), auf einen glimpflichen Ausgang des Verfahrens hoffen lassen, so entfällt diese Hoffnung in dem Augenblick, als die beiden innerhalb des Hohen Rates als Verräter identifiziert werden (Nr. 17 – 19). Dagegen ist die Figur des Philo in der Verhörszene nicht biblisch, sie gibt den in der kanonischen Erzählung namenlosen Gegnern Jesu im Hohen Rat einen Namen.20 In den Chorstücken werden einerseits die Freunde Jesu, darunter auch Frauen (vgl. Lk 23,27 – 31), andererseits „die Priester und das Volk“ als Jesu Gegner zusammengeführt. Diese Gegenüberstellung ist in den Passionserzählungen des Neuen Testaments zwar durchaus angelegt, wird aber hier deutlicher inszeniert. Andere aus den kanonischen Erzählungen bekannte Figuren wie Herodes Antipas oder Simon von Kyrene werden nicht in das Libretto übernommen. Es 18 Es schließt sich in Joh eine kurze Begegnung mit Kai(a)phas an (Joh 18,24). 19 Nach Mk 15,43 par. Lk 23,50 gehört Josef von Arimathia zum Synhedrion. 20 Der Vermutung von G. Stanley, The Oratoria in Prussia and Protestant Germany : 1812 – 1848, Diss., Columbia University 1988, S. 71, hinter der Gestalt des Philo verberge sich Pilatus, vermag ich nicht zu folgen; sowohl die Worte Philos im Oratorium wie auch diejenigen des Pilatus in den kanonischen Prätexten lassen eine solche Identifikation nicht zu (den Hinweis auf die Arbeit von Stanley verdanke ich Jürgen Heidrich, Münster). Ob mit der Namensgebung auf den (alexandrinischen!) jüdischen Religionsphilosophen Philo angespielt werden soll, ist mir ebenso fraglich. Zur altkirchlichen Philo–Legende vgl. D. T. Runia, Philo in Early Christian Literature. A Survey (= Compendia Rerum Iudaicarum ad Novum Testamentum, 3/3), Assen 1993.
Die kanonischen Passionsgeschichten in Des Heilands letzte Stunden
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findet also gegenüber den an sich schon nicht personalreichen kanonischen Passionserzählungen eine weitere Reduktion statt; die Personen werden nicht aus geschichtlichem oder anekdotischem Interesse eingeführt (was in den biblischen Texten durchaus eine Rolle spielen kann), sie fungieren auch nicht als Garanten von Zeugenschaft und Tradition, sondern sie werden ganz auf ihre Funktion als Repräsentanten unterschiedlicher Einstellungen zum Gottessohn fokussiert. Dabei ist der Text natürlich parteiisch zugunsten Jesu, was unter anderem dadurch unterstrichen wird, dass die Position der Gegner als inkonsistent gezeichnet wird. Im Chorstück Nr. 32 werden die Priester und das Volk nicht nur zu Erzählern des kosmischen Geschehens, das auf die Rache Gottes zurückgeführt wird. Aus der Selbstverfluchung des Volkes vor Pilatus aus Mt 27,25 („Sein Blut komme über uns und unsere Kinder“), die im Schlusschor des ersten Teils (Nr. 21) ausgesprochen war, wird hier das Abschieben der Verantwortung auf den Hohenpriester : „Ueber dich riefst du sein Blut / Und über deine Kinder!“. Furcht und Reue führen, pointiert formuliert, zum Gebet um die Auferstehung Jesu: „Wir wollen vor ihm knieen, / Verzeihung fleh’n. / Gieb ihn uns wieder, gieb!“. Doch wird deutlich, dass diese Meinungsänderung nicht, wie bei Judas und Petrus, echter Reue, sondern der Furcht vor der Strafe Gottes entspringt. Ein happy ending gibt es für die Priester und das Volk also nicht.
3.
Die fünf letzten Worte
Wie bereits erwähnt, ist die Rolle Jesu im Oratorium auf fünf (bzw. sechs) Worte begrenzt, von denen eines im ersten Teil, die anderen vier im zweiten Teil eingefügt sind. Rochlitz nimmt damit die oratorienmusikalische wie liturgische Tradition der Sieben letzte Worte Jesu am Kreuz21 auf, verkürzt, ergänzt und verändert sie aber. Die sieben letzten Worte sind traditionell die Worte, welche Jesus nach den Berichten der vier kanonischen Evangelien am Kreuz spricht. Von diesen sieben Worten nimmt das Libretto fünf auf, nämlich: Lk 23,34 varia lectio22 („Vater, vergib ihnen, sie wissen nicht was sie tun“), Joh 19,26 f. („Meine Mutter, sieh’, das ist nun dein Sohn. – Jüngling, das ist deine Mutter“), Mk 15,32 par. Mt 27,46 („Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen“), 21 Zur Exegese dieser Worte vgl. Michael Theobald, „Der Tod Jesu im Spiegel seiner ,letzten Worte‘ vom Kreuz“, in: Theologische Quartalschrift 190 (2010), S. 1 – 30; Anna Maria Schwemer, „Jesu letzte Worte am Kreuz (Mk 15,34; Lk 23,46; Joh 19,28 ff.)“, in: Theologische Beiträge 29 (1998), S. 5 – 29. 22 Zum textkritischen Befund vgl. Novum Testamentum Graece, hrsg. vom Institut für Neutestamentliche Textforschung Münster (Westfalen) unter der Leitung von Holger Strutwolf, Stuttgart 282012, app. ad loc.
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Hermut Löhr
Lk 23,46 („Vater, in deine Hände befehl’ ich meinen Geist“), Joh 19,30 („Es ist vollbracht“),
wobei die letzten beiden Worte zu einem verbunden werden. Ausgelassen werden Lk 23,43 („Heute noch wirst du mit mir im Paradies sein“), das Jesus zu einem der beiden mit ihm Gekreuzigten spricht, sowie Joh 19,28 („Mich dürstet“). Diese Auswahl ist also eine Folge der szenischen Reduzierung des Passionsgeschehens im Libretto; andere inhaltliche Gründe sind nicht erkennbar. Abweichend von der Tradition der letzten Worte greift der Oratorientext aber auch ein Wort Jesu aus dem Verhör vor dem Hohenpriester auf, die Antwort auf die Frage des Hohenpriesters, ob der Verklagte der Christus, der Sohn des Hochgelobten sei (Mk 14,62 par. Mt 26,64). Gegenüber dem biblischen Text ist das Wort noch um den Aspekt der Wiederkunft des Menschensohnes zum Gericht ergänzt, möglicherweise in Erinnerung an den Textzusammenhang in Dan 7, der die Vorstellung vom himmlischen Menschensohn ursprünglich entnommen ist und der auch vom Gericht spricht (Dan 7,26). Diese Ergänzung gegenüber der Tradition trägt zur Erweiterung des Fokus über die Kreuzigungsszene bei. Zugleich ist mit dem Wort vor dem Hohen Rat eine Szene ausgewählt, die jedenfalls für den erzählerischen Zusammenhang des Mk von entscheidender Bedeutung ist, ja ihren Höhepunkt darstellt: Jesus bejaht die Zuschreibung der Hoheitstitel „Christus“ und „Sohn Gottes“, die zuvor im Evangelium schon in unterschiedlicher Weise besprochen worden waren,23 und ergänzt sie gegenüber der Frage durch den Titel des Menschensohns, der schon mehrfach zuvor (nur) (Mk 2,10.28; 8,31.38; 10,33 u. a.) im Munde Jesu Verwendung fand – übrigens wie hier stets in der dritten Person, nicht in Form einer Ich-Aussage –, dessen intertextueller Bezug und autoritativer Prätext aber erst jetzt deutlich werden. Auch in der Disposition des Librettos trägt dies dazu bei, die Verhörszene aufzuwerten, ja zum dramatischen Höhepunkt des Geschehens zu machen. Die Worte Jesu sind in unterschiedlicher Weise in ihren Kontext eingebettet. Das erste Wort ist eine direkte Antwort auf die Frage des Hohenpriesters Nr. 19: „Ich – bei’m lebend’gen Gott beschwör ich dich, dass du uns sagest, ob du seist der Christ und einz’ge Sohn des ewig Hochgelobten“, und diese Antwort wird dann vom Hohenpriester wieder kommentiert. Das zweite Wort folgt nach dem Chor der Priester und des Volkes Nr. 24, der die Lästerung des Gekreuzigten ausspricht: „Arzt, hilf dir selber“ (nach Lk 4,23), „Steig nun vom Kreuz herab“ (vgl. Mk 15,29 – 32), verändert also die Reihenfolge des lukanischen Erzählzusammenhangs, in dem das Kreuzeswort den Lästerungen vorausging (Lk 23,33 – 41). Das nachfolgende Rezitativ des Johannes (Nr. 25) bereitet dann das Wort Jesu zu diesem und zu seiner Mutter Maria vor, indem es Maria anredet und 23 Zum „Sohn Gottes“ vgl. Mk 1,11; 5,7; 9,7; 12,6 – 8; zum Motiv des „Christus“ bzw. Messias vgl. Mk 11,1 – 11; 12,35 – 37; s. auch Lk 7,18 – 23 / Mt 11,2 – 6.
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schon die Gemeinschaft von Maria und Johannes als gegeben ausspricht. Das Rezitativ der Maria Nr. 26 stellt dann wiederum einen Kommentar aus der Perspektive der Mutter dar. Das vielleicht eindrucksvollste Jesus-Wort, welches mit Zeilen aus Ps 22 die Verzweiflung des Sterbenden zum Ausdruck bringt, wird durch ein Rezitativ des Johannes (Nr. 29) eingeführt, welches das nahe Ende des Gekreuzigten signalisiert. Der Chor der Freunde Jesu (Nr. 30) antwortet im Kanon mit einem Gebet um ein seliges Ende. Gleich darauf beschreibt ein Rezitativ des Johannes (Nr. 31) das Sterben Jesu, das nun tatsächlich als seliges Sterben erscheint: „Sein Blick erheitert sich“, „Ein himmlisch Lächeln, heiliges Genügen im Anschau’n Gottes, spricht aus seinen Zügen“. Das Stichwort vom „Geist“ wird in dem auf das Jesus-Wort folgenden Chor aufgegriffen, der Tod wird konstatiert. So dienen die Jesus-Worte einerseits dazu, das Fortschreiten des Geschehens zu signalisieren und auch zu dramatisieren, andererseits sind sie gewissermaßen der Kondensationspunkte für die Reflexion des Geschehens.
4.
Theologisches: Zu Christologie und Soteriologie des Librettos
Schon die kanonischen Passionserzählungen beschränken sich nicht darauf, das Ende eines bedeutenden Menschen zu beschreiben, um so ein anekdotisches oder historisch-biographisches Interesse zu befriedigen. Sie stellen vielmehr den Höhepunkt einer theologisch interessierten und fokussierten Erzählung dar, d. h. sie interpretieren das Geschehen in seiner überzeitlichen Bedeutsamkeit. Dabei, dies sei knapp bemerkt, gehen die vier kanonischen Erzählungen trotz des gemeinsamen Grundbestands der Erzählung durchaus je eigene Wege; es gibt also aus neutestamentlicher Sicht nicht die eine Theologie der Passion Jesu, sondern unterschiedliche Versuche, die Bedeutsamkeit des Geschehens für die Textrezipienten auszusagen. Und auch innerhalb der jeweiligen Textzusammenhänge begegnen unterschiedliche Deutungsangebote. Auch das Libretto des Oratoriums schlägt eine theologische Deutung des Geschehens vor. Um dies exemplarisch darzustellen, wähle ich die eng miteinander verbundenen Aspekte der Christologie und der Soteriologie aus, die für die Passionserzählung ja schon im kanonischen Zusammenhang von besonderer Bedeutung sind. In Hinsicht auf die Christologie wurde bereits darauf hingewiesen, dass das Libretto die für die kanonische Erzählung zentrale Szene der Befragung Jesu durch den Hohenpriester auswählt. Damit werden auch die traditionell wichtigen Hoheitstitel „Christus“, „Sohn Gottes“ und „Menschensohn“ aufgenommen, einschließlich des Ausblickes auf die Wiederkunft des Menschensohns mit
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den Wolken und die Erwartung des endzeitlichen Gerichts. Die Funktion des Gerichts wird später noch deutlicher werden. Die Rede vom Christus, dem „Sohn des Hochgelobten“, wird auch im Rezitativ des Josef Nr. 33 und im Chorstück Nr. 34 aufgenommen und weiter profiliert: „Wie er starb nie ein Mensch – wie er lebt keiner“. Das im Libretto fehlende Bekenntnis des römischen Hauptmanns unter dem Kreuz wird so ersetzt durch ein Bekenntnis, das „Erd und Himmel“ sprechen. Die sonst im Text verwendeten christologischen Hoheitstitel sind weit überwiegend biblischen Ursprungs, allein die Bezeichnungen Jesu als „Dulder“ oder „heiliger Dulder“, als „himmlische Liebe“ und als „Heiland der Welten“ gehen über diesen intertextuellen Bezug deutlich hinaus und stellen so etwas wie eine behutsame Neuinterpretation seiner Bedeutung in der Frömmigkeitssprache der Zeit dar. Nicht ungeschickt ist, wie gerade im Munde der Gegner das Zeugnis über Jesus narrativ-erinnernd entfaltet wird. Geht der erste Zeuge in der Verhörszene dem biblischen Erzählrahmen folgend auf das Wort Jesu über den Tempel ein und verbindet damit die Erinnerung an die Tempelreinigung, so spricht eine zweite Stimme (Nr. 13): „Er hat den Sabbath verletzt, / Hat an ihm Kranke geheilt, / Mit verfänglicher Rede seine Untat beschönt, / Hat Juda’s Herrscher geschmäht, / Sündern Sünden vergeben, / Was Der im Himmel nur darf.“
Damit ist, wenn auch in feindlicher Absicht, ja Wahres ausgesprochen; deutlich ist die Konzentration auf das Tun, nicht so sehr auf die Lehre Jesu. In der Perspektive des Josef von Arimathia erscheint Jesus zwar als ein Prophet: „Auch mir erschien er ein Prophet des Herrn – / Im Geiste Jesajas sprach sein Mund“ (Nr. 16), zugleich aber auch als Wundertäter „wie vor Zeiten Moses“. Einmal wird ein Wort Jesu über die Feindesliebe zitiert.24 In der Zeichnung der Persönlichkeit Jesu treten diejenigen Züge hervor, die seine Souveränität und Duldsamkeit betonen. Schon der Eingangschor macht das deutlich: Jesus wird als „heiliger Dulder“ bezeichnet, er „wandelt ruhig dahin“, im Kreis der zwölf Apostel erscheint er wie der von Sternen umgebene „sanfte Mond“. Vor dem Hohen Rat erscheint Jesus entsprechend: „Und, o wie heiter in der Unschuld Glanz / Steht vor den Schranken unser Jesus da.– / Sie fühlen reines Herzens Uebermacht“ (Nr. 12, Rezitativ des Johannes) 24 Nr. 22: „Segnet, die euch verfolgen / Lehrte und übte der Gottessohn“; vgl. Mt 5,44; Röm 12,14.
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Im Sterben schließlich bewährt sich das Gottvertrauen sichtbar : „Ein himmlisch Lächeln, heiliges Genügen / Im Anschau’n Gottes, spricht aus seinen Zügen“ (Rezitativ des Johannes, Nr. 31)
Sein Sterben, wiewohl am Kreuz, ist zuletzt ein seliges Sterben, wie es sich jedermann wünscht. Der Blick darüber hinaus, auf die Wiederkunft des Herrn oder die Aufrichtung der Gottesherrschaft auf Erden, unterbleibt. Worin kann die rettende Bedeutung einer solchen Figur bestehen? Diese Frage ist schon für die kanonischen Passionserzählungen nicht einfach und vor allem nicht einlinig zu beantworten. Im markinischen Passionsbericht steht nach übereinstimmender exegetischer Einsicht die biblisch-jüdische Vorstellung vom leidenden Gerechten im Vordergrund, die jedoch kaum in Richtung eines stellvertretenden Leidens und nur sehr zurückhaltend im Sinne einer Vorbildethik profiliert wird. Das Motiv versucht eher, die Erfahrung menschlichen Leidens mit dem Vertrauen auf Gott konzeptionell zu vermitteln. Durch die Abendmahlsüberlieferung wird daneben der Aspekt der stellvertretenden Lebenshingabe, vielleicht auch derjenige der kultisch gedachten Sühne, in den Erzählzusammenhang eingebracht. Die anderen Evangelien setzen, von dieser Basis ausgehend, je eigene Akzente, am deutlichsten das Joh-Evangelium, aber auch hier nicht im Sinn einer einlinigen Erläuterung der Heilsbedeutung des Todes Jesu am Kreuz. Wichtig ist festzuhalten, dass die Vorstellung eines den göttlichen Zorn besänftigenden Opfertodes nirgendwo in der kanonischen Passionsüberlieferung begegnet. Das Konzept des leidenden Gerechten ist auch dasjenige, welches die theologische Deutung des Oratoriums prägt; ich erinnere hierzu an den ursprünglichen Titel, den Rochlitz dem Libretto gegeben hatte. Zweimal wird Jesus als der Gerechte bezeichnet,25 während er für die Gegner ein „Lästerer“26 ist. Hatten seine Gegenwart und sein Wirken der Nähe Gottes versichert (Nr. 1 A), so bedeutet sein Leiden und Sterben ein Erliegen gegenüber der Übermacht der Gegner, aber auch der Treulosigkeit seiner Freunde: „Bosheit seh’n wir siegen, / Unschuld erliegen“, singt das Quartett der Freunde Jesu (Nr. 14). Trost gewährt die Hoffnung auf die „himmlische Ruhe“ und die Gemeinschaft mit Gott für den Leidenden (Nr. 31 und 36). Ob in der Bezeichnung Christi als Lamm (Nr. 23; vgl. Joh 1,36) auf die Passalammtypologie oder auf die Gestalt des Gottesknechts (Jes 53,7) angespielt werden soll, ist fraglich; die Rede vom „Altar“ (gemeint ist das Kreuz) deutet eher auf kulttypologische und sühnetheologische Zusammen-
25 In Rezitativ des Johannes Nr. 7 und im Chor Nr. 11. 26 Vgl. Nr. 13 (Philo und Chor); 18 (Chor der Priester und des Volks).
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hänge, die auch kurz im letzten Rezitativ des Joseph kurz anklingen (Nr. 35).27 Weiter wird die Opfermetaphorik nicht entfaltet, vor allem wird der Tod Jesu nicht als Besänftigung göttlichen Zornes interpretiert. Gerade umgekehrt ruft das Zu-Tode-Bringen den Zorn Gottes hervor, wie die letzten Chorstücke der Priester und des Volkes (Nr. 32) sowie der Freunde Jesu deutlich aussprechen (Nr. 36). Hier wird ein Erzählfaden nicht zu Ende geführt; theologisch-soteriologisch bleibt ein unversöhnter Rest. Darüber hinaus finden sich keine Passagen, die deutlich das Motiv der Stellvertretung durch Leiden und Tod herausarbeiten würden. Der noch vom Kreuz ausgehende Trost liegt eher in der persönlichen Beziehung. In einem Rezitativ der Maria (Nr. 26), das u. a. die Szene Joh 19,25 – 27 verarbeitet, wird formuliert: „Er denkt an mich. Er hat auf mich geblickt, / Und unter Todesschmerzen mich getröstet. / Ich bin erquickt! / Kein Tod, kein Grab kann uns’re Liebe trennen.“
Damit verbindet sich transzendent-eschatologische Hoffnung und vielleicht ein subtiler ethischer Appell: „Es zieht mich fort, wohin der Schmerz nicht reicht, / Wo Schuld nicht wohnt und jede Klage schweigt; / Wo Alle, die in Treu’ sich hier geeint, / In seiner Lieb sich fühlen neu verbunden.“
Und mit dem Ausblick auf ein „besseres Leben“ für den Gestorbenen endet auch das ganze Oratorium. In ähnlicher Weise formuliert das Frauenterzett der Freundinnen Jesu (Nr. 28). Jesus wird als „himmlische Liebe“ angesprochen und identifiziert, seine Treue und sein Nicht-Vergessen werden gepriesen, sein Blick ist Quelle des Lebens, um sein Gedenken und sein Geleit beim eigenen Tod wird gebetet. Die Heilsvorstellung wird auf diese Weise personalisiert und individualisiert, Erwirken und Zuteilung des Heils, mit der dogmatischen Tradition: gratia efficax und gratia applicatrix, werden auf diese Weise verschmolzen. Hier wird m. E. ein Impuls aufgenommen, den im Neuen Testament schon die Deutung des Passionsgeschehens im vierten Evangelium enthielt. Zugleich wird hier ein Verständnis von Erlösung im Ansatz erkennbar, welches die Vorstellung von einem vergangenen, supranaturalen Heilswerk und seiner Applikation in Wort und Sakrament ergänzt und teilweise ersetzt durch ein Erklärungsmuster, das dem persönlichen Leben entnommen ist. 27 „Und all’ die Deinen, / Gereinigt durch dein Blut, / Vor dir erscheinen“.
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5.
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Der Antijudaismus des Librettos
Dadurch, dass aus dem Passionsstoff die Begegnung Jesu mit Pilatus gestrichen ist, wird das Geschehen szenisch vereinfacht und zugespitzt. Ein Aspekt, der für die kanonische Passionserzählung, insbesondere die Fassung des Joh, von erheblicher Bedeutung ist, entfällt so: Die Konfrontation des Herrschaftsanspruchs Jesu mit demjenigen der politischen und militärischen Autoritäten. Vielleicht kann man sagen, dass der Stoff ent-politisiert wird. So fehlt auch der Bezug auf den Kreuzes-titulus „König der Juden“. Scheiden der römische Präfekt (und seine Soldaten oder der Hauptmann unter dem Kreuz), aus dem Geschehen aus, so wird die Passion Jesu de facto zu einer innerjüdischen Angelegenheit. Tatsächlich fallen die Stichwörter „Jude“ oder „Israel“ im Libretto aber nirgends. Doch ist hier und da zu beobachten, dass die Bearbeitung des biblischen Stoffes anti-jüdische Elemente, die dieser selbst schon enthält, eher verstärkt als zurückdrängt. Dies wird schon in der Einleitung zur Szene im Hohen Rat deutlich, wenn im Rezitativ des Johannes Nr. 12 der (biblisch natürlich nicht belegte) schwarze Talar des Hohenpriesters als Ausdruck seines schwarzen Herzens interpretiert oder die Versammlung oder ihre Beschlussfassung gleich zu Beginn als „Blutrath“ bezeichnet wird. Der Text verzichtet allerdings auf billige antisemitische Stereotype, die Zeichnung der äußeren Gestalt des Kaiphas oder auch des Philo dienen nicht offensichtlich ihrer polemischen Desavouierung. Man kann natürlich fragen, welche Wirkung die Anklage des greisen Philo gegen Jesus, den er als „gleißenden Verbrecher“ bezeichnet, bei den Hörern hinterlässt: Ein weiser Alter ist dieser Philo jedenfalls nicht. Im Chor der Priester und des Volkes Nr. 17 wird die Konfrontation zwischen den „Nazarenern“ (zu ihnen gehören auch die Ratsmitglieder Joseph und Nikodemus) und „Abrahams Saamen“, der der göttlichen Verheißung im Leben und Sterben treu ist, formuliert. Dabei greift das Chorstück auf die allegorische Auslegung der biblischen Gestalten von Hagar und Ismael zurück, die Paulus in Gal 4,21 – 31 gerade gegen das nicht-christliche Judentum gewendet hatte: „Wir sind Abraham’s Saamen,/ Treu der hohen Verheißung / Im Leben und Sterben. Sie sind Söhne der Magd – Stoß’ sie aus! sie sollen / Nichts mit uns erben“.
Die pragmatische Raffinesse – oder muss man hier nicht doch sagen: Perfidie? – dieser Passage besteht nun darin, dass den vom Autor vorgestellten Hörern der ursprüngliche, anti-judaistische Kontext dieser Aussagen im Rahmen paulini-
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scher Theologie geläufig gewesen sein dürfte. Die Priester und das Volk sprechen hier also vom Standpunkt des Erzählers aus eine theologische Wahrheit aus, die sie selbst vom Heil ausschließt, und ein Urteil nicht über die Nazarener, sondern über sich selbst. Das Libretto nimmt damit eine Erzählfigur auf, die auch in den kanonischen Evangelien hier und da zu finden ist. Das Rezitativ des Nikodemus (Nr. 20) spielt direkt auf die biblisch-jüdische Prophetenmordtradition an, der zufolge Israel die ihm von Gott gesandten Propheten immer wieder getötet habe, eine Tradition, die im Neuen Testament in Mt 23,37/Lk 13,34 im Munde Jesu aufgenommen ist. Eine ganz ähnliche Technik wie in Nr. 17 wird im Rezitativ des Kaiphas (Nr. 19) angewendet: Es spielt auf die wesentliche kultische Aufgabe des Hohenpriester an, der „jährlich mit dem Opferblut allein / In’s Heiligste sich wagen darf, / Um zu entsünd’gen das erwählte Volk“, ein Vorgang, der für den Kenner der biblischen Tradition, hier konkret: des Hebräerbriefes, als überholte und soteriologisch nur begrenzt wirksame kultische Begehung bekannt ist (vgl. Hebr 9,7 – 9). Und aus der Antwort des Kaiphas auf das Bekenntnis Jesu wird deutlich, dass er schuld ist am Tod Jesu: „Wie ich dies priesterliche Kleid zerreiße, / So reiß’ ich dieses Läst’rers Leben ab, / Und seine Pforten öffnet ihm der Tod.“
Dass Jesus auf Veranlassung des römischen Statthalters gekreuzigt wurde, ist hier unterschlagen. Die Reue der Priester und des Volkes im Chor Nr. 32 ist von Furcht getrieben. Sie ist moralisch fragwürdig durch den Versuch, die Schuld allein auf Kaiphas und seine Familie abzuwälzen. In dieser Perspektive erscheint auch ihr Gebet um die Wiederkunft Christi nicht als wirkliche Bekehrung, sondern als zu spät kommende Einsicht. Und die Flucht zum Tempel und zum „Gnadenstuhl“ wird im folgenden Rezitativ des Joseph sogleich kommentiert: „Entflöht ihr auch dem Rächer in den Wolken / Dem Rächer in der Brust entflieht ihr nicht!“
Zugleich dürfte sich in dem Wort vom „Gnadenstuhl“ eine weitere Anspielung auf einen paulinischen Aussagezusammenhang verbergen: Nach Röm 3,25 wird der „Gnadenstuhl“28 (gedacht ist wohl an die Bundeslade, die ja tatsächlich nicht im Jerusalemer Tempel der Zeit Jesu stand) mit Jesus und seiner Heilsbedeutung selbst metaphorisch identifiziert; wiederum sprechen also die Gegner Jesu eine theologische Wahrheit aus, ohne es zu wollen. 28 Die Wortbildung findet sich erstmals in Luthers Bibelübersetzung, vgl. J. und W. Grimm, Deutsches Wörterbuch. 16 Bände in 32 Teilbänden, Band 8 (= IV/I/5), Leipzig 1958, Sp. 591.
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Im Schlusschor schließlich wird die Vergeltung Gottes für das Geschehene kurz angesprochen; wem sie gilt, kann nach dem, was vorausgeht, nicht zweifelhaft sein. Demgegenüber erscheint das Wort der Selbstverfluchung aus Mt 27,25, das der Ausgangspunkt einer reichen Rezeptions- und Wirkungsgeschichte christlichen Antijudaismus wurde, entschärft, wenn es zuletzt, wie erwähnt, auf Kaiphas und seine Familie bezogen wird. So bleibt in der Schwebe, ob es als Prophezeiung noch Gültigkeit für die Gegenwart besitzt. So setzt das Libretto durchaus auch über den biblischen Prätext hinausgehend hier und da antijüdische Akzente und rekurriert dazu unter anderem auf biblisch-theologische Motive und Argumente auch außerhalb der Passionserzählungen. Die Tatsache, dass das jüdische Kolorit des Geschehens weitgehend gestrichen ist (vom Passa ist nicht die Rede; Jesus wird nicht beim Mahl und seinen jüdischen Tischsitten gezeigt), bewirkt, dass hinter der Gegenüberstellung von Jesus, seinen treuen Freunden, den Nazarenern und seinen Gegnern, auch die Gegenüberstellung von Christen und Juden aufscheint, ohne je ausgesprochen zu werden, und ohne dass damit der Bezug auf die biblisch-jüdische – und das heißt auch: alttestamentliche – Tradition und ihren Gott aufgegeben wäre. So erscheint das von Rochlitz geschaffene Libretto als durchaus geschickte Montage, Ergänzung und dialogische Umgestaltung biblischer Prätexte: Einerseits ist der für das Publikum und das Sujet wichtige Wiedererkennungseffekt bis in den Duktus der Sprache hinein gewährleistet, andererseits wird eine behutsame Neuinterpretation des biblischen Stoffes in Hinsicht auf die heroische Zeichnung des Heilands wie auch einer auf persönlicher Beziehung und individuellem Trost zielenden Soteriologie geleistet, die dem zeitgenössischen Verständnis entgegengekommen sein dürfte. Theologischer und ästhetischer Geschmacklosigkeit entgeht der Text des Oratoriums zumal dadurch, dass der „Heiland“ aus der Perspektive der Anderern beleuchtet wird und sich selbst nur in seinen (biblisch-kanonischen) „letzten Worten“ ausspricht.
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Großform und Harmonik in Louis Spohrs Oratorium Des Heilands letzte Stunden
1. Bevor er 1842 zum Leipziger Thomaskantor ernannt wurde, verdingte sich der Komponist und Musiktheoretiker Moritz Hauptmann 20 Jahre lang als Orchestergeiger in Kassel. Zwar hatte er die Stelle aus dem Wunsch heraus angetreten, seinem Lehrer Louis Spohr nahe zu sein, „um unter Ihrer Leitung und Schutz meine Kräfte zu versuchen und zu üben“1, solche Anhänglichkeit scheint aber einem freien Urteil über die Leistungen und Grenzen seines Mentors nicht im Wege gestanden zu haben. Das jedenfalls geht aus den Briefen Hauptmanns an seinen Leipziger Freund Franz Hauser hervor, in denen regelmäßig Neuigkeiten aus dem Kasseler Musikleben zur Sprache kommen – so auch die anstehende Aufführung von Des Heilands letzte Stunden im Frühjahr 1835: „Charfreitag wird Spohrs neues Oratorium gegeben […]. Ich habe die Musik noch nicht im Zusammenhange gehört und von den Solostücken manche noch gar nicht, aber von dem was ich kenne ist vieles sehr schön und manches wird so frei, wie ich von Spohr wenig kenne. Es wird gewiß eine recht schöne Wirkung machen. – Daß viel Sentimentales darin ist, muß man zugeben und auf sich beruhen lassen, das ist nun einmal Individuen- und Zeitindividualität […]; das Gedicht ist auch nicht frei davon.“2
Nicht der Vorwurf der Sentimentalität verdient besondere Aufmerksamkeit, sondern wie beiläufig diese als etwas hier nun einmal Hinzunehmendes der Kritik entzogen wird: So gewiss es einen individuellen Spohr’schen „Ton“ zu geben scheint, so unzweifelhaft schlägt er ins Sentimentale – auch und gerade für einen Spohr nahe stehenden Musiker mit einem Sachverstand wie Hauptmann. Ihm erschließen sich aber nicht nur allgemeine Charakteristika der Musiksprache Spohrs, der langjährige Umgang mit dem Komponisten und seinem 1 Moritz Hauptmann an Louis Spohr, Brief vom 6. Februar 1822, in: Briefe von Moritz Hauptmann an Louis Spohr und andere, hrsg. von Ferdinand Hiller, Leipzig 1876, S. 3. 2 Moritz Hauptmann an Franz Hauser, Brief vom 3. April 1835, in: Briefe von Moritz Hauptmann an Franz Hauser, hrsg. von Alfred Schöne, Leipzig 1871, Bd. 1, S. 154 f.
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Schaffen erlaubt ihm darüber hinaus den Vergleich mit früheren Werken, zumal bei so repräsentativen Gattungen wie dem Oratorium: „Heut’ wird Spohrs Oratorium ,Des Heilands letzte Stunden‘ gegeben, Abends bei erleuchteter Kirche; ich meine daß es den ,letzten Dingen‘ die Wage hält. Das Dramatische des Gedichts hat manches anders herbeigeführt als es dort ist, namentlich förmlichere Arien, der Styl ist aber doch derselbe.“3
Was mit den „förmlicheren Arien“ in Des Heilands letzte Stunden gemeint ist, zeigt ein Blick in Spohrs einige Jahre zuvor entstandenes Oratorium Die letzten Dinge, das von Hauptmann zum Vergleich herangezogen wird. Dort dominieren in der Tat die Chorsätze, während selbständige, fest geformte Solonummern bis auf das Duett des zweiten Teils „Sei mir nicht schrecklich in der Not“ (Nr. 12) fehlen.4 An ihrer Stelle stehen Rezitative, teils kurz und bloß die folgenden Chöre motivierend, teils zu umfangreichen Szenen erweitert, in denen auch der Instrumentalpart zum dramatischen Gegenüber aufgewertet wird.5 In Des Heilands letzte Stunden hingegen gibt es regelrechte Auftrittsarien für die Figuren des Judas, der Maria und des Petrus (Nr. 4, 6, 9), außerdem im zweiten Teil des Oratoriums noch eine ausgesprochen konzertante Arie der Maria (Nr. 27) und ein Terzett der Freundinnen Jesu (Nr. 28).6 Die Möglichkeit einer solchen Gestaltung beruht ganz offenkundig auf der grundlegenden Struktur des Textes und seiner biblischen Vorlage: Anders als die Apokalypse präsentiert sich die Passionsgeschichte von vornherein als ein von Personen und ihrem individuellen Handeln geprägter Verlauf. Die Darstellung dieser Personen und dieses Handelns macht das von Hauptmann konstatierte „Dramatische des Gedichts“ aus, das dann auch die musikalische Großform von Des Heilands letzte Stunden bestimmt. Einerseits sind also die formal geschlossenen Gesangsnummern des Oratoriums Ausweis und Folge seines dramatischen Charakters; andererseits aber fungieren sie in dramaturgischer Hinsicht in Oper und Oratorium als ein retardierendes Moment: Sie stellen traditionell Orte der Reflexion und Innenschau dar, statt die Handlung voranzutreiben. Damit ergibt sich ein Spannungsverhältnis zwischen lokaler Formgebung und übergeordnetem Verlauf, das als kompositorisches Problem zugleich die Frage nach seiner je individuellen Lösung aufwirft. Wie Louis Spohr unter den Bedingungen jener „förmlicheren 3 Moritz Hauptmann an Franz Hauser, Brief vom 17. April 1835, in: ebd., S. 158. 4 Die Zählung folgt Louis Spohr, Die letzten Dinge. The Last Judgment, hrsg. von Irene Schallhorn und Dieter Zeh, Stuttgart 2008. 5 Insbesondere Nr. 8, „Und siehe, eine große Schar“ und Nr. 11, „So spricht der Herr“. 6 Die Zählung folgt dem Erstdruck der Partitur von 1884, wie er vorliegt in: Louis Spohr, Des Heilands letzte Stunden (= Selected Works of Louis Spohr, 5), hrsg. von Clive Brown, New York/London 1987.
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Arien“ in Des Heilands letzte Stunden eine Großform organisiert, soll deshalb im Folgenden näher betrachtet werden. Im Mittelpunkt stehen dabei zunächst die verschiedenen Möglichkeiten, Teile unterschiedlich aneinander anschließen zu lassen und so einer bloßen Reihung von Nummern oder Sätzen entgegenzuwirken.
2. Der erste Teil von Des Heilands letzte Stunden umfasst nach der Zählung des Erstdrucks der Partitur ohne die Ouvertüre 21 Nummern.7 Eine Zäsur nach Nr. 11, dem Chor „Der Du mit Allgewalt“, untergliedert ihn seinerseits in zwei deutlich voneinander abgesetzte Teile, von denen der zweite (Nr. 12 – 21) den Prozess und die Verurteilung Jesu durch Kaiphas und die Hohenpriester darstellt und in Form einer einzigen großen Szene durchkomponiert ist.8 Kontinuität stiftet hier neben der durchgehenden Handlung die dichte musikalische Verbindung der einzelnen Teile: häufig leitet eine Kadenz direkt in den neuen Satzzusammenhang über, wie beispielsweise zwischen Nr. 12 und 13.
Notenbeispiel 1: L. Spohr, Des Heilands letzte Stunden, Übergang Nr. 12 – 13
7 Diese Unterteilung geht auf den englischen Klavierauszug Edward Taylors von 1836 zurück, während der deutsche, 1835 bei Breitkopf & Härtel erschienene und 1846 bei Schuberth in Hamburg wieder aufgelegte Klavierauszug keine Nummerierung aufweist. Er teilt stattdessen die einzelnen Sätze durch dünne doppelte Taktstriche voneinander ab. Da sich aber die Nummerierung an diesen Unterteilungen orientiert, also keine eigenmächtigen Zäsuren setzt, sondern bereits vorhandene markiert, kann sie als Orientierungshilfe für die hier unternommene Analyse dienen. 8 Glenn Stanley sieht, ausgehend von den Orten der Handlung, eine weitere Zäsur zwischen Nr. 6 und 7. Vgl. Glenn Stanley, „Religious Propriety versus Artistic Truth. The Debate between Friedrich Rochlitz and Louis Spohr about the Representation of Christ in ,Des Heilands letzte Stunden‘“, in: Acta Musicologica 61 (1989), S. 66 – 82. Kritisch zu dieser Arbeit: Irmlind Capelle, „Kirche oder Musikfest? Zur Vertonung von Friedrich Rochlitz’ Oratorium ,Das Ende des Gerechten‘ durch Johann Gottfried Schicht (1806) und Louis Spohr (1835)“, in: Festschrift Christoph-Hellmut Mahling zum 65. Geburtstag, hrsg. von Axel Beer, Kristina Pfarr und Wolfgang Ruf, Tutzing 1997, Bd. 1, S. 211 – 221.
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Die Kadenz überführt das rhythmisch amorphe und harmonisch instabile Rezitativ in einen fest gefügten Satz, analog der traditionellen Paarbildung von Rezitativ und Arie. Zusammen mit dem deiktischen, hinweisenden Charakter des Textes von Nr. 12, der die Szene beschreibt und auf das vorbereitet, was sich in Nr. 13 ereignen wird, entsteht auf mehreren Ebenen ein Gestus des Einlösens, der die beiden Nummern dramaturgisch eng miteinander verknüpft. Derlei kadenzielle Verklammerungen sind jedoch nicht an das Modell Rezitativ/Arie bzw. locker gefügte Form/fest gefügte Form gebunden.9 Sie finden sich auch in umgekehrter Folge, in ein Rezitativ hineinleitend (Nr. 13 – 14) oder zwischen zwei Rezitativen (Nr. 15 – 16). In jedem Fall aber realisieren sie einen deutlichen und direkten Anschluss zweier distinkter Teile. Vergleichbar in der Funktion, das heißt, ähnlich explizit, jedoch weniger direkt, erscheinen demgegenüber auskomponierte Überleitungen wie zwischen Nr. 14 und 15. Dass der zweitaktige Orchestereinwurf in Motivik und Bewegungsmuster keinerlei Bezüge zu seiner Umgebung aufweist, macht seine Funktion als Überleitung dabei nur um so deutlicher.
Notenbeispiel 2: L. Spohr, Des Heilands letzte Stunden, Übergang Nr. 14 – 15
Neben diesen allgemein geläufigen Verfahren einer dichten und deutlich artikulierten Verbindung von Teilen finden sich in Des Heilands letzte Stunden auch verschiedene Strategien, kleine und kleinste Übergänge zwischen Nummern zu schaffen, minimale Anschlüsse, die sich oft nur auf der Ebene eines einzelnen Parameters ereignen. Mit ihnen ist es möglich, auch geschlossene Lied- oder Arienformen in den dramaturgischen Gesamtzusammenhang zu integrieren, ohne ihre Formgrenzen aufzulösen, wie sich an einigen Beispielen aus dem Oratorium zeigen lässt. Der Auftrittsgesang der Maria (Nr. 6) – eine Arie mit Frauenchor im langsamen 6/8-Takt, dessen durchgehend wiegender Rhythmus ihr den Charakter einer Berceuse verleiht – folgt formal einer konventionellen Dreiteiligkeit, wobei die Reprise des Anfangs zugunsten einer breit ausgeführten Coda verkürzt ist. Der Gesang läuft unter Wiederholung immer kleinerer Einheiten über einem 9 Zu den Kategorien des locker bzw. fest Gefügten vgl. Erwin Ratz, Einführung in die musikalische Formenlehre, Wien 1973, S. 21 ff.
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siebentaktigem Tonika-Orgelpunkt mit abschließender plagaler Kadenz aus (T. 45 – 55). Mit diesem harmonischen und motivischen Verrinnen korrespondiert die Reduktion des charakteristisch wiegenden Bewegungsmodells: Auf seinen abstrakten rhythmischen Umriss zurückgeführt, ragt es über den eigentlichen Schlusstakt der Arie (T. 54) hinaus und vermittelt allein durch seine interne Auftaktigkeit zum folgenden Satz:
Notenbeispiel 3: L. Spohr, Des Heilands letzte Stunden, Nr. 6, T. 52 ff.
Dasselbe Verfahren des minimalen Anschlusses durch Reduktion auf einen Parameter oder ein Element findet sich auch zwischen den Nummern 7 und 8 – hier aber auf der Ebene der Harmonik, als Herauslösen und enharmonisches Umdeuten eines Einzeltones (ais/b) aus einem Schlussakkord – sowie zwischen den Nummern 18 und 19, auf der Ebene der Instrumentation, als in den nächsten Satz überhängender instrumentaler Rest. Die umfangreiche Auftrittsarie des Petrus, „Ewig fließet, meine Zähren“ (Nr. 9), nutzt dagegen in ihrem Nachspiel die harmonische Offenheit ihrer ersten, halbschlüssigen Melodiephrase, um deutlich zur nächsten Nummer hinüber zu kadenzieren. Besonders interessant ist schließlich die Einbindung der Arie „Weh! Judas, weh über dich!“ (Nr. 4): Ihre Bassfigur, das zentrale Motiv des Stücks, erscheint intermittierend bereits in den beiden vorausgehenden Rezitativen des Johannes (Nr. 2) und des Judas (Nr. 3), wodurch die drei Nummern im Sinne der Paarbildung von Rezitativ und Arie zusammengefasst werden.10 Die Arie selbst ist wiederum dreiteilig mit einer ausführlichen Coda über einem Tonika-Orgelpunkt. Ihr Schluss erfolgt definitiv und vollkommen unzweideutig; ein Auslaufen der Tonika a-Moll im pianissimo, morendo, mit einem aus metrischen Gründen angefügten Leertakt am Ende. Der 10 Die beiden Rezitative bilden musikalisch ohnehin einen durchgehenden Zusammenhang. Ihre getrennte Zählung ist offenkundig nur durch den Wechsel der Person motiviert.
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durch diesen Schluss geforderte Neuansatz der folgenden Nummer wird jedoch von einer Harmonik konterkariert, die ihre retrospektive Deutung über die Satzgrenze hinweg erzwingt: Der verminderte Septakkord am Beginn des Rezitativs „Wer bleibet sein“ (Nr. 5) postuliert einen Akkord, aus dem er hervorgeht, er ist an dieser Stelle sowohl aufgrund seines Dissonanzcharakters als auch in seiner trugschlüssigen Fortschreitung nur als abgeleiteter Klang – hier : als Alteration und Erweiterung eines a-Moll-Akkords – verständlich.11
Notenbeispiel 4: L. Spohr, Des Heilands letzte Stunden, Nr. 5, Beginn (harmonischer Auszug)
Die elliptische Akkordfolge, mit der Nr. 5 anhebt, erklärt also den vorausgegangenen Schlussakkord von Nr. 4 nachträglich zu ihrem Bestandteil und überbrückt so die Zäsur zwischen den Sätzen.12 Eine solche retrospektive Verknüpfung kann selbstverständlich auch über größere zeitliche Strecken Zusammenhänge stiften, insbesondere dann, wenn mit motivischen Entsprechungen, Allusionen oder direkten Übernahmen gearbeitet wird. Das ist beispielsweise der Fall zu Beginn des zweiten Teils von Des Heilands letzte Stunden, in dem Chor „Blicke, Du strahlende Sonne“ (Nr. 22), der sich, zunächst andeutungsweise, ab T. 17 dann wörtlich, auf die Nr. 7 des ersten Teils, das Accompagnato-Rezitativ „Wer naht sich dort?“ bezieht. Eine starke formale Klammer ergibt sich aus einer solchen punktuellen Entsprechung allerdings nicht, eher schon mögen in diesem Fall szenische Übereinstimmungen der Grund gewesen sein, denn beide Male evoziert der Text einen langsamen Zug von Personen in einer Atmosphäre von Bedrohung und Angst.13 Anders verhält es sich hingegen mit den Nummern 29, 31 und 33, die durch ein gemeinsames, sehr charakteristisches Motiv der Begleitung aufeinander bezogen sind.
11 In genau dieser Form ist der Akkord bereits bekannt: Er erscheint über dem Orgelpunkt am Ende von Nr. 4 mehrfach als die aus der Tonika abgeleitete Zwischendominante zur Subdominante (T. 104, 108). 12 Dass mit dem Schlussakkord von Nr. 4 die Basslinie zu einem fallenden Tetrachord a-g-f-e vervollständigt wird, ist ein weiterer Zusammenhang stiftender Aspekt. 13 Nr. 7: „Seht, welch düstre Schar mit Wehr und Waffen langsam näher zieht!“ Nr. 22: „…wir geleiten den Heil’gen auf seiner letzten schmachvollen Bahn.“
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Notenbeispiel 5: L. Spohr, Des Heilands letzte Stunden, Nr. 29, T. 2
Ihre motivische Verklammerung integriert auch die dazwischen liegenden Chöre „In seiner Todesnoth dich zu ihm wende“ (Nr. 30) und „Welch drohend Ungewitter“ (Nr. 32), die beide eine klar umgrenzte Form mit einem definitiven Schluss aufweisen. Sie werden dadurch zum Bestandteil einer überwölbenden Dramaturgie, ohne ihre formale Geschlossenheit aufgeben zu müssen. Dass es sich bei der Verknüpfung der einzelnen Nummern in Des Heilands letzte Stunden tatsächlich um eine Reaktion auf die Struktur des Textes und dessen Exponierung bestimmter Einzelcharaktere handelt, verdeutlicht schließlich ein weiterer vergleichender Blick auf Die letzten Dinge. Wie eingangs gesagt, dominieren in diesem Oratorium die Chorsätze bei weitem; überdies tendieren sie zu klaren Paarbildungen mit den ihnen vorausgehenden Rezitativen bzw. Ariosi und weisen sämtlich definitive, einen Neuansatz fordernde Schlüsse auf. So ergibt sich insgesamt eine sehr kleinteilige Anlage – der erste Teil von Die letzten Dinge umfasst ohne die Ouvertüre fünf voneinander abgesetzte Einheiten, während der keineswegs kürzere erste Teil von Des Heilands letzte Stunden aus nur zwei großen Szenen besteht. Die gezeigten Verfahren der Anschlussbildung, die dabei zur Anwendung kommen, operieren jedoch allesamt auf lokaler Ebene, sie lösen das kompositorische Problem formaler Integration nicht mithilfe einer die Gesamtanlage des Stücks überwölbenden Strategie, sondern sozusagen ad hoc, im Moment und am Ort seines Entstehens. Für ausdrückliche Überleitungen wie zwischen Nr. 14 und 15 oder für harmonische Ellipsen wie am Beginn von Nr. 5 ist das unmittelbar einsichtig, es gilt aber auch für die erwähnte motivische Verbindung der Nummern 29, 31 und 33. Denn auch sie ist nur von beschränkter Reichweite, das fragliche Motiv taucht vor Nr. 29 noch nicht und nach Nr. 33 nicht mehr auf, es entfaltet seine vereinheitlichende Wirkung also innerhalb eng gesteckter Grenzen. Und dass schließlich in der Ouvertüre als Kulminationspunkt das hymnische Choralthema der Nr. 34, „Er war der Christ, der Sohn des Hochgelobten!“ erscheint, folgt eher allgemeinen Gepflogenheiten in Oper und Oratorium des 19. Jahrhunderts als dem ausdrücklichen Streben nach formaler Verklammerung.
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3. Diese Fixierung auf das Lokale bedeutet auch, dass das vielleicht stärkste, sicherlich aber am weitesten verbreitete Mittel zur Schaffung von Zusammenhang, nämlich eine um einen bestimmten Tonartenbereich zentrierte harmonische Disposition, in Spohrs Oratorium nicht zur Anwendung kommt. Im ersten Teil des Werks beispielsweise ergeben die tonal stabilen Nummern nach der in c-Moll stehenden Ouvertüre eine Abfolge von Tonarten meist im Kleinterzverhältnis und mit einem zumindest statistischen Schwerpunkt auf der Region c/ C–Es: (Nr.) (Tonart)
1 c
1a As
4 a
6 A
7 fis
9 Es
11 C
13 h
17 d
18 f
21 a
Dieses mögliche tonale Zentrum wird aber nicht auskomponiert, das zwischen die Tonartenpaare c-As (Nr. 1, 1a) und Es-C (Nr. 9, 11) eingefügte, sechs Quinten entfernte A-Dur bzw. fis-Moll blockiert eine mögliche Bezugnahme, so dass sich kein bewusst inszeniertes Verwandtschaftsverhältnis ergibt. Auch schließt die Kette der terzverwandten Tonarten ab Nr. 13 nicht ans Vorangegangene an. Der durch die Zäsur nach Nr. 11 motivierte Halbtonschritt nach h-Moll ist eine tonale Verwerfung, die nicht nachträglich vermittelt wird. Noch deutlicher wird der Verzicht auf einen kohärenten Tonartenplan im zweiten Teil, dessen Stationen sich weder um eine tonale Region zentrieren noch erkennbare harmonische Entwicklungsrichtungen ausprägen: (Nr.) (Tonart)
22 fis
24 g
27 As
28 E
29 a/Des
30 Des
31 E
32 c
34 H
36 C
Schon diese Übersicht zeigt: In Des Heilands letzte Stunden übernimmt die Harmonik keine formbildende Funktion. Stattdessen folgt sie einer Logik der Überraschung, die auf der Detailebene wirksam ist, sowohl innerhalb der Sätze wie in der Verbindung der Nummern untereinander. Ihr Ziel ist das Impr¦vu, der einzelne frappante, weil gerade nicht naheliegende Harmonieschritt, und ihre dazu genutzten Mittel sind eine gesteigerte Chromatik und vor allem – die Tonartenfolge der Nummern 27 bis 32 illustriert das – die Möglichkeiten der Enharmonik. Der oben bereits erwähnte Übergang vom fis-Moll der Nr. 7 in den Bereich von Es-Dur durch die enharmonische Umdeutung ais–b ist dabei ein noch recht unspektakuläres Beispiel. Enharmonik tritt auch dort auf, wo wegen der Nähe der zu verbindenden Tonarten solch drastische Mittel gar nicht nötig wären. Das kurze Rezitativ Nr. 5 („Wer bleibet sein“), von dem bereits die Rede war, stellt inhaltlich eine Verbindung zwischen Judas’ Einbekennen seines Verrats und dem Treuegelöbnis Marias her. Harmonisch vermittelt es zwischen dem
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a-Moll der Judas-Arie (Nr. 4) und dem A-Dur der Nr. 6 („Und wenn sie alle weichen“). Der eingeschlagene Weg führt dabei über die Stationen f-Moll und esMoll mit ihren jeweiligen Dominanten, um durch Umdeutung eines verminderten Septakkords die Kadenz nach A-Dur zu erreichen.
Notenbeispiel 6: L. Spohr, Des Heilands letzte Stunden, Nr. 5, harmonischer Auszug
Ein Verfahren wie die Enharmonik inszeniert keine Nähe, sondern gerade umgekehrt eine Distanz, die es dann handstreichartig überbrückt. Gemäß seiner Eigenlogik zielt es nicht auf eine möglichst plausible Herleitung von Verwandtschaftsverhältnissen, sondern auf das Unvorhersehbare und Überraschende, auf die plötzliche Verbindung diametral entgegengesetzter oder doch weit voneinander entfernter Elemente. Deshalb wird für den Weg von a-Moll nach A-Dur ein Umweg eingeschlagen, um die Ziel- von der Ausgangstonart abzurücken und als etwas gänzlich Neues, wider alle Erwartung Erreichtes zu etablieren. Diesen drastischen Mitteln zur Distanzierung entsprechen freilich auch solche zur Verbindung entfernter harmonischer Stationen. Als Beispiel sei der Kontrastteil der Nr. 6, „Und wenn sie alle weichen“, herangezogen.
Notenbeispiel 7: L. Spohr, Des Heilands letzte Stunden, Nr. 6, T. 20 – 30
Der Modulationsgang erscheint ausgehend von cis-Moll in T. 20 als eine Folge von IV–V–I–Kadenzen im Kleinterzabstand, deren Zieltonarten konsequent vermollt sind (e-Moll, g-Moll, b-Moll), so dass innerhalb von sieben Takten eine Spanne von neun Quinten durchschritten wird. Mit dieser harmonischen Abwärts- korrespondiert eine melodische Aufwärtsbewegung. Der sich daraus entwickelnde Spannungsbogen löst sich in T. 27 zunächst in einen Des-Dur-
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Quartsextakkord auf, dem zwei Takte später eine weitere Auflösung in einen E-Dur-Quartsextakkord folgt. Diese zweite Auflösung fungiert als Überbietung und Potenzierung der ersten, und ihre Mittel müssen dementsprechend stärker sein: An der Stelle der größten Entfernung, 10 Quinten unterhalb der Ausgangstonart cis-Moll, hebt in T. 28 der enharmonische Schritt von Ges-Dur nach Fis (als Fundament des verminderten Septakkords) die zuvor auskomponierte Distanz auf und macht den zurückgelegten Weg gleichsam ungeschehen. Enharmonik, das zeigen die angeführten Beispiele, steht in gewisser Weise quer zu einer Zusammenhang stiftenden Funktion von Harmonik, weil sie gerade Nicht-Zusammenhang zu ihrer Voraussetzung hat. Wer wie Spohr das Detail einer außergewöhnlichen Akkordverbindung und den Klangreiz starkfarbiger Fortschreitungen favorisiert, der ist mehr oder weniger zwangsläufig auf lokale Strategien zur Herstellung eines großformalen Zusammenhangs angewiesen, weil ihm die Harmonik als globaler formkonstitutiver Parameter nicht zur Verfügung steht. Oder, umgekehrt formuliert: Weil die Harmonik bei Spohr keine formbildende Funktion übernimmt, kann sie sich darauf beschränken, lokale Reize zu setzen und immer wieder von Neuem im Detail zu frappieren. Enharmonik ist dabei eines der bevorzugt angewendeten Mittel, das allerdings seinen Preis hat: denn es tendiert dazu, das von Distanzen, von näheren und entfernteren Verwandtschaften bestimmte System der Dur-Moll-Tonalität zu unterminieren. Es lässt Entfernungen zwischen Tonarten radikal schrumpfen und entzieht sie dadurch der musikalischen Erfahrung – mit durchaus praktischen Konsequenzen, wie der mittlerweile zum Thomaskantor berufene Moritz Hauptmann 1844 feststellt: „Wir wollen nächstens den Fall Babylons von Spohr aufführen als Kirchenkonzert der Thomasschule: ich kann aber, unter uns, sagen, daß ich’s in den Proben oft ganz ärgerlich finde, wenn ein Mann in Spohr’s Jahren, der nun doch schon so viel für den Gesang geschrieben, und von sich hat singen hören, immer noch, ganz wie im Anfang, und in diesem letzten wohl ärger als je, unverständig für die Chorstimmen schreibt. Es sind manche unter den Schülern, die alles treffen sonst und hier bei dicht nebeneinander liegenden Tönen oft nicht einen zu finden wissen: eine Stelle wie sie sehr oft vorkommen als Beispiel
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Da meint Spohr, weil das auf dem Clavier alles nebeneinander liegt, hätt’s keine Schwierigkeit – hier ist aber b moll und h moll neben einander gelegt, da gehören dem Peter Schlemihl seine 7Meilenstiefeln dazu um sich über alles Zwischenliegende wegzudenken zu dem dis e fis. Ohne einen bewußten Modulationsproceß ist es aber gar nicht zu treffen, hier müssen die Instrumentalbässe die Sänger mit herüberschleppen, denn die treffen’s nicht, Spohr träf ’s auch nicht. Der Sänger hat die Töne nicht fertig daliegen, er muß sie erst machen und sich ein Verbindendes dabei denken können…“14
Was Hauptmann kritisiert, ist letztlich nicht eine ungeschickte Stimmbehandlung, sondern ein harmonisches Denken, das nicht die Herstellung und den Nachvollzug von Zusammenhängen ins Zentrum stellt. Hierin mag auch ein Grund liegen für die Reserve, mit der Felix Mendelssohn Bartholdy Spohrs Kompositionen begegnet. Anläßlich eines Besuchs in Kassel im Herbst 1834 – Spohr steckt mitten im Kompositionsprozess von Des Heilands letzte Stunden – lernt er kennen, was von dem Oratorium bereits fertig ist: „Jetzt habe ich eben mit Spohr ein halbes neues Oratorium von ihm durchgespielt, und wir haben dazu gesungen, daß es einen Stein erbarmen sollte. Namentlich die enharmonischen Stellen.“15
Einen knappen Monat später resümiert Mendelssohn seine Eindrücke ausführlicher : „[…] und dann machte mich Spohr befangen; er hatte mir den Morgen sein neues Oratorium vorgesungen, ohne daß mir warm dabey geworden wäre, und da denk ich immer, es müsste ihm bey meinen Sachen noch schlimmer gehen, sie müssten ihm mißfalln. Denn er schreibt doch seine Überzeugung hin, das muß wahr seyn, und lügt nicht dem Publikum zu Liebe; drum bin ich ihm auch gut, obgleich ich das wenigste von seiner Kirchenmusik und gar keine enharmonische Verwechslung leiden kann.“16
Sympathie für die Person trifft sich hier mit ästhetischer Distanz, vor allem aber mit kompositorisch-technischer Kritik, die durch die quasi metonymische Erwähnung der Enharmonik noch an Nachdruck gewinnt. Und sowohl aus Hauptmanns Einwänden als auch aus Mendelssohns Bemerkungen klingt heraus, dass der Gegenstand ihrer Kritik nichts Beiläufiges, sondern ein zentraler Aspekt von Spohrs künstlerischer Physiognomie ist. In der Tat ließe sich, was hier an seiner Harmonik und ihrem Verhältnis zur 14 Moritz Hauptmann an Franz Hauser, Brief vom 13. September 1844, in: Briefe von Moritz Hauptmann an Franz Hauser, hrsg. von Alfred Schöne, Leipzig 1871, Bd. 2, S. 22. Das Notenbeispiel: Louis Spohr, Der Fall Babylons, Nr. 17, „He shall reign forever“, T. 112 – 122. 15 Felix Mendelssohn Bartholdy an die Familie in Berlin, Brief vom 6. Oktober 1834, in: Felix Mendelssohn Bartholdy, Sämtliche Briefe, Bd. 4 (August 1834 bis Juni 1836), hrsg. und kommentiert von Lucian Schiwietz und Sebastian Schmideler, Kassel u. a. 2011, S. 66 – 67, hier S. 66. 16 Felix Mendelssohn Bartholdy an Franz Hauser in Leipzig, Brief vom 1. November 1834, in: ebd., S. 78 – 81, hier S. 80.
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Markus Böggemann
Form in Des Heilands letzte Stunden gezeigt wurde, beliebig verlängern: Ein harmonisches Denken, das auf das Detail der überraschenden Klangverbindung fokussiert ist, das bei aller Gesuchtheit zur Stereotypie neigt und das sich in den späteren Werken zur Manier abnutzte, wurde denn auch von den Zeitgenossen wahrgenommen. Auch Moritz Hauptmanns ungeschmälerte Sympathie für den Komponisten konnte darüber nicht hinwegsehen: „Zum Charfreitag geben wir ein neues Oratorium von Spohr, Babylons Fall. Es ist eigen, das Spohrs Oratorien bis jetzt immer Untergänge waren: 1) das jüngste Gericht, 2) die letzten Dinge, 3) der Heilands letzte Stunden, 4) Babylons Untergang. Das zweite ist doch am Ende das beste gewesen; es ist wirklich zu verwundern, wie Spohr jetzt eine 3stündige Musik schreiben kann, daß auch nicht eine neue Wendung oder Harmoniefolge darin vorkommt; ich meine nicht neu als ungehört, sondern eine wo nicht jeder gleich Sp. hören muß; er muß es nicht wollen, sonst wär’s nicht zu begreifen […].“17
17 Moritz Hauptmann an Franz Hauser, Brief vom 19. März 1841, in: Briefe von Moritz Hauptmann an Franz Hauser, hrsg. von Alfred Schöne, Leipzig 1871, Bd. 1, S. 291 (Hervorhebung im Original gesperrt).
Karl Traugott Goldbach
„… daß die dabei gehaltene Predigt großentheils gegen sein Oratorium gerichtet war“ – Zur Rezeption von Des Heilands letzte Stunden in Großbritannien
„Hätte Spohr die englische Sprache verstanden, so wäre vielleicht der Eindruck des Gottesdienstes bei ihm durch den Umstand gestört worden, daß die dabei gehaltene Predigt großentheils gegen sein Oratorium gerichtet war. Schon vor seiner Ankunft in Norwich hatten sich nämlich bedeutende Stimmen einer pietistischen Partei erhoben, die in Schrift und Predigt auf alle Weise darzuthun suchten, daß es sündlich und profanirend sei, einen so heiligen Gegenstand wie Christi Leiden und Sterben, zu einem musikalischen Kunstwerk zu benutzen. So hielt es denn auch an jenem Sonntag Morgen, wo Spohr die Kathedrale besuchte, ein frommer Priester für seine Schuldigkeit, eine vernichtende Rede gegen dessen Oratorium […] zu schleudern und am Schluß seine Zuhörer zu beschwören, sie möchten, ,um nicht ihre Seelen für eines Tages Vergnügen hinzugeben‘, von der Aufführung desselben hinwegbleiben.“1
Dieser Bericht über das Musikfest in Norwich 1839 stammt aus dem von Spohr nicht mehr selbst verfassten Teil seiner Selbstbiographie. Die meisten SpohrBiographen erwähnen diesen Aufenthalt nur knapp.2 Die einzige ausführlichere Diskussion geschah bislang auf einigen Seiten in Clive Browns Dissertation, auf die der Autor im Nachweis einiger Quellen dankbar zurückgreift.3 Vor diesem Hintergrund wendet sich der vorliegende Beitrag der Rezeption des Oratoriums ab 1837 zu. Neben einem Vergleich des Berichts der Selbstbiographie über die Aufführung in Norwich 1839 mit weiteren vorliegenden Quellen steht eine Analyse der Änderungen, die der Übersetzer Edward Taylor am Oratorium vornahm. Schließlich folgen Beobachtungen zur Rezeption des Oratoriums von seiner englischen Erstaufführung 1837 bis ins frühe 20. Jahrhundert. 1 Louis Spohr’s Selbstbiographie, 2 Bde., Kassel/Göttingen 1860 – 1861, hier Bd. 2, S. 238. 2 Alexander Malibran, Louis Spohr. Sein Leben und Wirken, Frankfurt a. M. 1860, S. 167; Herfried Homburg, Louis Spohr. Bilder und Dokumente seiner Zeit (= Kasseler Quellen und Studien, 3), Kassel 1968, S. 47; Dorothy Moulton Mayer, The Forgotten Master. The Life and Times of Louis Spohr, London 1959, S. 152; H¦lÀne Cao, Louis Spohr ou Le don d’Þtre heureux, Drize 2006, S. 105; Ugo Gangi, Spohr. Un musicista affogato nel Biedermeier e dimenticato, Milano 2007, S. 172. 3 Clive Brown, The Popularity and Influence of Spohr in England, Phil. Diss. Oxford 1980, S. 72 – 77.
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1.
Karl Traugott Goldbach
Die Aufführung 1837 in Norwich
Nachdem Spohr in seiner Selbstbiographie über den Tod seiner jüngsten Tochter Therese berichtet hatte, brach er die Niederschrift ab. Die Berichte über die Zeit nach 1838 ergänzte seine Familie, vermutlich hauptsächlich seine Witwe Marianne, nach seinem Tod für die 1860/61 veröffentlichte Buchausgabe.4 Zwischen der Abfassung des oben wiedergegebenen Textes um 1860 und den geschilderten Ereignissen 1839 liegen also über zwei Jahrzehnte. Obwohl Marianne Spohr Zeitzeugin war, müssen wir bei dieser Zeitspanne mit Erinnerungsfehlern oder -lücken rechnen. Daneben beruft sich die Darstellung über das Musikfest 1839 aber auch auf schriftliche Quellen: „Wenn hier und ferner zuweilen Stellen aus den von Spohr’s Angehörigen geschriebenen Reiseberichten angeführt werden, so mag dabei zur Entschuldigung dienen: daß er selbst auf diesen Reisen weder Muße noch Neigung zum Briefschreiben hatte, dagegen es aber sehr gern sah, wenn seine Begleiterinnen fleißig nach der Heimath berichteten (was natürlich immer in seinem Sinne geschah), – und daß er selten einen solchen Brief abgehen ließ, ohne ihn vorher mit voller Zustimmung gelesen zu haben.“5
Falls diese eingeschobenen Briefe tatsächlich authentisch sind, ist die Wahrscheinlichkeit unbewusster Erinnerungsfehler niedriger als bei Passagen, die erst um 1860 verfasst wurden. Beide Quellenschichten könnten freilich zugunsten einer vorteilhaften Darstellung Spohrs verändert sein. Ein eingefügter Brief enthält tatsächlich eine merkwürdige Fehlstelle: „Von einem solchen Gottesdienst, obgleich er an drei Stunden dauert, kann man nicht leicht ermüdet werden; die himmlische Musik, womit er auf die mannichfachste Weise durchwebt ist, vermag ich nicht zu beschreiben, und ausgeführt wurde sie – in einer Reinheit und Vollendung, daß auch Spohr sich davon ganz hingerissen fühlte. Die Gemeinde sang gar nicht, las aber immer nach in ihren Gesang- und Gebetbüchern, deren schönen Text (lauter Bibelworte) ich vollkommen, und zwar besser als die Predigt verstehen konnte. Der weißgekleidete Chor mit seinen zarten Tönen machte einen unwiderstehlichen Eindruck; Text, Musik und Vortrag, Alles stimmte so herrlich überein, daß ich meinte, ich könnte mir selbst im Himmel keine schönere Verehrung Gottes denken. Als wir uns am Schlusse mit der ganzen Versammlung auf den Rückweg durch die weiten Hallen des Prachtgebäudes begaben, stellten sich die Menschenmassen zu beiden Seiten, um uns durchgehen zu lassen, und Spohr wie ein Wunder anzustaunen […].“6
Marianne Spohrs Reisetagebuch gibt unter dem Datum 15. September denselben Sachverhalt wieder : 4 Vgl. Loius Spohr’s Selbstbiographie, Bd. 2, S. 224. 5 Ebd., S. 236, Anm. *. 6 Ebd., S. 237.
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„Um 10 gingen wir, v. H. Marshall geleitet, Alle in die herrliche große Cathedralkirche zum Gottesdienst, der 3 Stunden dauerte, mir aber über alle Maßen gut gefiel. Er bestand großentheils aus Gesang, woran aber die Gemeinde nicht Theil nahm, sondern der von einem weißgekleideten Chor von Knaben und Männern, ganz unübertrefflich vorgetragen wurde, und einen höchst erbaulichen ergreifenden Eindruck machte. Den Text, fast lauter Bibelworte, liest man in kleinen Büchern nach. Außerordentlich entzückten mich auch die Antworten des Chors (während der Priester singend die Gebete und Glaubensartikel u.s.w. nacheinander vorlas) die wunderlieblich mit den zartesten Piano’s dazwischen klangen. Die ganze Einrichtung war mir so neu und schön, Alles viel feierlicher als bei uns. Von der Predigt verstand ich nicht sehr viel, aber doch gerade das Auffallendste, daß er nämlich das bevorstehende Musikfest tadelnd erwähnte, indem es unpassend sei, die heiligsten Gegenstände, wie z. B. die Kreuzigung zu einem Fest zu benutzen, und dgl. – Als wir hinausgingen durch die weiten Hallen der Kirche, stellte sich die ganze Menschenmenge zu beiden Seiten, um Spohr anzusehen, was uns sehr amüsierte.“7
Beide Texte stimmen in vielen Punkten überein: die dreistündige Dauer des Gottesdienstes, die durch den weißgekleideten Chor perfekt gesungene Liturgie, die Gemeinde, die nicht mitsingt, sondern die Texte im Gebetbuch mitliest, schließlich die Menschenmenge, die am Schluss des Gottesdienstes Spohr anschaut. Doch wir lesen im Tagebuch auch, dass sich die Predigt gegen das Musikfest im Allgemeinen und gegen Spohrs Oratorium im Besonderen richtete. Wieso fehlt diese Information im Brief ? Wäre der Inhalt der Predigt hier bereits wiedergegeben, entstünde durch die im Eingangszitat wiedergegebene Passage eine unnötige inhaltliche Dopplung. Dies könnte ein Hinweis sein, dass der Brief gekürzt worden ist. Im Brief wirkt alles etwas ausführlicher als im Tagebuch. Aus den „weiten Hallen der Kirche“ werden „die weiten Hallen des Prachtgebäudes“. Stellt sich im Tagebuch noch eine Menschenmenge zu beiden Seiten auf, staunen im Brief Menschenmassen Spohr wie ein Wunder an. Dem erhabenen Charakter eines Wunders entsprechend amüsiert sich das Ehepaar Spohr im Brief nun auch nicht mehr (wie im Tagebuch) über die Situation. Der Brief erscheint daher wie eine stilistische Überarbeitung des Tagebucheintrags. Da die Tagebuchautografe vorliegen, die Briefe jedoch nur im Druck der Selbstbiographie, lässt sich nicht ausschließen, dass die Briefe eine für die Selbstbiographie verfasste literarische Fiktion sind. Die wörtliche Wiedergabe aus der Predigt stammt offensichtlich nicht aus dem Reisetagebuch, sondern aus einer anderen, ebenfalls in der Selbstbiographie zitierten Quelle:
7 Marianne Spohr, Tagebuch von der Reise nach England im September 1839, in: Kassel, Spohr Museum (D-Ksp) Sign. Sp. ep. 2.1.07, Bl. 8r.
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Karl Traugott Goldbach
„Das ,Monthly Chronicle‘ erzählt hierüber weiter : ,Wir erblicken nun auf der Emporkirche dem fanatischen Eiferer gerade gegenüber sitzend den großen Componisten, mit glücklicherweise englisch taubem Ohr, aber in so würdiger Haltung, mit dem Blick voll reinen Wohlwollens, und soviel Demuth und Milde in den Zügen, daß sein bloßer Anblick wie eine gute Predigt zum Herzen spricht. Wir machen unwillkürlich einen Vergleich und können nicht zweifeln, in welchem von Beiden der Geist der Religion wohnt, die den wahren Christen bezeichnet!‘“8
Wie der Vergleich mit dem Bericht im Monthly Chronicle zeigt, stammt nicht nur die Wiedergabe der Predigt aus dieser Zeitschrift, sondern auch der Inhalt des Eingangszitats: „I have been used to attacks on musical festivals by atrabilious Methodists; I know the sin of being happy ; I am aware that we shall all in fact, I have heardt Mawworm preach; but used as I have been to the expression of this vulgar sectarian feeling by the lower tribes of Dissenters, I never imagined till this present Sunday morning that it could be admitted into a cathedral pulpit, and find utterance in a building that owed every thing to the arts, and whose ,embowed roof‘ is more upheld by the imagination of mankind than even by the mighty pillars of the architect. Yes, a clergyman of the true Exeter Hall stamp thought fit in his sermon to fulminate a diatribe against the most interesting portion of the festival — to animadvert upon the orthodoxy of Professor Taylor’s English version of Spohr’s new oratorio — ,Calvary,‘ part of the words of which he quoted — words put into the mouths of the unbelievers; and finally proceeded to conjure his hearers that if they would not give their souls in exchange for a morning’s pleasure — such was his charitable inference — they would mark their sense of the impropriety committed by staying away from ,Calvary‘ on Thursday. This oratorio you know is precisely the greatest attraction of the festival. Now picture to yourself the choir of the cathedral, and see in the gallery opposite to this flaming divine, the great composer himself with a deaf English ear fortunately, but with a face and deportment so mild, so humble, so saddened with the humanity of years, that even its aspect reads a lesson to the heart: compare the two, and decide in which resides the spirit of that religion on which the true Christian is modelled.“9
Die als Übersetzung wiedergegebene Passage ist – um Spohr positiv darzustellen – als Zitat günstiger, weil es für die Familie unbescheiden gewirkt hätte, den 8 Louis Spohr’s Selbstbiographie, Bd. 2, S. 238. 9 „The Musician at Norwich. The Norwich Musical Festival“, in: Monthly Chronicle 4 (1839), S. 355 – 368, hier S. 355 f. – Legge und Hansell schmücken den Bericht in ihrer Chronik des Norwicher Musikfests noch deutlich aus: „During the sermon, which was preached by a certain Mr. Storr, vicar of Otley, in Suffolk, Spohr repeateldly heard the name of his oratorio, and being himself free from Puritanical prejudice and possenssing no small idea of his own importance, he imagened altogether unnaturally that the reverend gentleman was speaking favourably of his work; and he smiled approvingly.“ (Robin H[umphrey] Legge und W[alter?] E. Hansell, Annals of the Norfolk & Norwich triennal music festivals, London 1896, S. 79). Die Darstellung dieser Chronik ist an diesem Punkt aber so unzuverlässig, dass ich sie hier nicht weiter verfolge. Die Unzuverlässigkeit zeigt sich auch an der Behauptung, die Aufführung in Norwich 1839 sei die englische Erstaufführung gewesen (ebd., S. 77).
Zur Rezeption von Des Heilands letzte Stunden in Großbritannien
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großen Komponisten auf diese Weise als den im Gegensatz zum intoleranten Prediger wahren Christen zu charakterisieren.10 Dagegen wären die Informationen zuvor für das deutsche Lesepublikum um 1860 nicht ohne weiteres verständlich. So werden aus den „atrabilious Methodists“ in der Selbstbiographie „Stimmen einer pietistischen Partei“, während der Schlusssatz des Eingangszitats weitgehend eine Übersetzung aus dem Englischen ist. Drei Formulierungen im Bericht des Monthly Chronicle erstaunen jedoch: „I have been used to attacks on musical festivals by atrabilious Methodists“ und später „but used as I have been to the expression of this vulgarian sectarian feeling by the lower tribes of dissenters“ gegenüber „I never imagened till this present Sunday morning that it could be admitted into a cathedral pulpit“. Der Autor wundert sich, dass nicht nur Angriffe aus Dissenter-Kirchen vorliegen, sondern auch aus der anglikanischen Kirche. Dies steht im Widerspruch zu einer These in Barbara Mohns lesenswerter Dissertation zum englischen Oratorium des 19. Jahrhunderts: „Die Nonkonformisten alter Prägung, vor allem die Unitarier, Kongretionalisten, Presbyterianer und Baptisten, sowie viele Methodisten standen im allgemeinen hinter dem Oratorium, ja, der Nonkonformismus entwickelte sich sogar zu einer der großen Triebkräfte, die hinter der Chorbewegung des 19. Jahrhunderts standen.“11
Sie stützt sich dabei unter anderem auf einen in zeitlicher Nähe zur englischen Erstaufführung von Des Heilands letzte Stunden 1837 und dem Musikfest in Norwich 1839 publizierten Text: „An increased love of music abounds, and Choral Societies are springing up on every side, many of them consisting entirely of members who are dissenters from the Church of England.“12
Dieser Text bestimmt jedoch nicht genauer, um welche Dissenter-Kirchen es sich handelt. Zudem weist Mohn selbst an anderer Stelle auf die Ablehnung von Oratorien durch die Methodisten hin.13 Möglicherweise handelt es sich hier um einen Stichprobenfehler. Mohn zieht in ihrer Arbeit neben Musikzeitschriften vorrangig Schriftgut aus dem Umfeld der anglikanischen Kirche heran. Eine gezielte Auswertung von Texten im Umfeld der verschiedenen Freikirchen würde vermutlich das Bild differenzieren. Ein Bericht im Spectator charakterisiert den religiösen Widerstand gegen das Norwicher Musikfest jedenfalls als „nasal concert of canting puritanism“: 10 Zur Verwendung der Pressezitate zur Verherrlichung Spohrs vgl. auch den Beitrag von Martina Wagner-Egelhaaf in diesem Band. 11 Barbara Mohn, Das englische Oratorium im 19. Jahrhundert. Quellen, Traditionen, Entwicklungen (= Beiträge zur Geschichte der Kirchenmusik, 9), Paderborn u. a. 2000, S. 111. 12 Musical World 4 (1837), S. 163; vgl. Mohn, Das englische Oratorium, S. 111. 13 Ebd., S. 41.
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Karl Traugott Goldbach
„This festival, like all entertainements of the same kind in our highly enlighted and most moral country, did not want amongst its other ,notes of preparation‘ the nasal concert of canting puritanism. For many days previously the husky hypocrites were rehearsing their dull and stupid chorus. Drawling blockheads dwelt on the enormity of a meeting where charity, religion, and good music were to be essential features; snivelling saints bewailed over the decay of national virtue as implied in the popularity of such an institution; ranting preachers denounced the terrors of their tub against all who should take part in it; to love Handel and serve God was declared impossible. How many Evangelical under-house-maids or ,serious cooks‘ in Norwich may have been moved by these preachements, we cannot say, but we think we may venture to pronounce from our own observation, that every person of sound mind and average sense was moved by them – in such a sort, that if the drivellers take the field another time, it will not be because the public has failed to mark the contempt it entertained for their proceedings, but simply because, as all the world knows, dullness is immortal.“14
Die Predigt in der Kathedrale ist demnach keine Einzelmeinung; die „husky hypocrites“ and „ranting preachers“ bezeichnen offensichtlich mehrere Personen. Puritaner gehören kirchenhistorisch betrachtet zu den calvinistischen Strömungen der englischen Reformation, die sich in Freikirchen wie die Presbyterianer und die Kongretionalisten zersplitterten. Damit kann der Begriff „puritanism“ eigentlich weder Anglikaner noch die vom Referenten des Monthly Chronicle als Gegner von Musikfesten bezeichneten Methodisten meinen; das 19. Jahrhundert verwendete diesen Begriff jedoch häufig als Synonym für „Engstirnigkeit“. Dies zeigt auch eine spätere Passage im gleichen Text: „We ought to inform the reader, that the religious prejudices sought to be raised against the Norwich Festival were not confined, as might be supposed, to a few ranting Methodists, but issued from the Cathedral walls, as from headquarters. Within those walls a sermon was preached on Sunday last, in which a parson of the name of Storr (,Mortimer and Co.’s‘ Storr, we understand) delivered a critique on Spohr’s new Oratorio, which, in sum, was this – that all people who should go on Thursday, the day of its performance, to St. Andrew’s Hall, would be eternally damned!“15
Nicht die Predigt selbst ist ungewöhnlich, sondern dass sie ein Anglikaner und kein Methodist hält und dies auch noch in der Bischofskirche. Ähnlich argumentiert auch der Kritiker der Musical World: „There is nothing uncommon in sermons against musical festivals being preached on the eve of their commencement; but the singularity in the present instance was, that the 14 „The Norwich Music Festival“, in: Spectator 12 (1839), S. 897 ff., hier S. 897 f. 15 Ebd., S. 898, Anm. *. Der Autor dieses Berichts spielt auf die Gold- und SilberschmiedeFirma Storr and Mortimer an, die Paul Storr und John Mortimer 1822 gründeten und die Paul mit Eintritt in den Ruhestand 1839 verließ (Norman Mosley Penzer, Paul Storr. The last of the goldsmiths, London 1954, S. 64). Bei dem Prediger handelt es sich um Pauls Sohn Francis (zu seiner Biografie vgl. ebd., S. 45 – 49).
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sermon was preached in the cathedral, and before the Bishop of Norwich, who (along with many other clergymen) is one of the vice-presidents of the festival.“16
Während dieser Bischof zum Festausschuss gehörte, weigerte sich der Bischof von London 1834 die Patronage für die Händel-Gedenkfeier in der Westminster Abbey zu übernehmen, weil er diesen Kirchenraum nicht als geeigneten Aufführungsort ansah.17 Den Bischof von Norwich erwähnt auch die Selbstbiographie: „Der Bischof von Norwich, welcher seiner religiösen Richtung nach ebenfalls zu den Gegnern des Oratoriums gehörte und daher auf gespanntem Fuße mit dem Mayor stand, wünschte doch die persönliche Bekanntschaft von dessen berühmten Gast zu machen, und ließ wiederholte schriftliche Einladungen zum Diner an denselben ergehen; da diese aber in englischer Sprache abgefaßt waren, so fielen sie zunächst dem Mayor als Dollmetscher in die Hände, der dann jedesmal eine ablehnende Antwort in Spohr’s Namen ertheilte.“18
Offensichtlich widerspricht diese Einschätzung der Darstellung der Musical World.19 Auch das Reisetagebuch informiert nur über eine Einladung des Bischofs und weder über seine Gegnerschaft gegen das Oratorium noch über abgefangene Briefe.20 Tatsächlich galt der Norwicher Bischof Edward Stanley in seiner Diözese als nicht zu konservativ, sondern vielmehr als zu liberal. Dies war 1839 auch schon der deutschen Presse bekannt: „In Norwich hielt ein Prediger in der Kathedrale eine Kanzelrede gegen das Oratorium und nannte diesen Zweig der Kirchenmusik eine Blasphemie, und zwar in Gegenwart Spohr’s. Der gute Bischof von Norwich, einer der liberalsten und aufgeklärtesten englischen Priester, wagte nicht in der Kirche zugegen zu sein.“21
Lassen wir einmal die Frage beiseite, ob Bischof Stanley in diesem Gottesdienst fehlte oder ob die Predigt gegen Spohrs Oratorium in seiner Anwesenheit stattfand. Wieso galt er aber als besonders liberal? Zur Zeit des Norwicher Musikfestes war Stanley erst seit zwei Jahren im Amt. Und gleich seine Antrittspredigt als Bischof löste massive Kritik aus: Erstens forderte er Toleranz für Dissenter, zweitens eine säkulare Schulbildung. Da die Predigt in den Druck 16 17 18 19
„The Norwich Festival“, in: Musical World 12 (1839), S. 338 – 342, hier S. 339 f. Vgl. Mohn, Das englische Oratorium, S. 99. Louis Spohr’s Selbstbiographie, Bd. 2, S. 239. Dorothy Mayer Moulton behauptet sogar, der Bischof habe die Opposition gegen das Oratorium angeführt (The Forgotten Master, S. 153). Glenn Stanley zufolge löste erst die Aufführung den Widerstand des Bischofs aus („Religious Propriety versus Artistic Truth. The Debate between Friedrich Rochlitz and Louis Spohr about the Representation of Christ in Des Heilands letzte Stunden“, in: Acta Musicologica 61 (1989), S. 66 – 82, hier S. 82). 20 Marianne Spohr, Tagebuch von der Reise nach England, Bl. 9v. 21 „Spohr in England. Brieflich aus London“, in: Zeitung für die elegante Welt 39 (1839), S. 948; vgl. „Vermischtes“, in: Neue Zeitschrift für Musik 6 (1839), S. 200.
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kam, reichte die Diskussion der „häretischen“ Gedanken des Bischofs über die Grenzen der Diözese hinaus.22 Kaum hatte sich die Aufregung gelegt, erschien ein Artikel in einer theologischen Zeitschrift, in dem er erneut angegriffen wurde, weil sein Name auf der Subskriptionsliste einer Predigtsammlung des unitarischen Pfarrers William Turner stand.23 Dies führte neuerlich zu Empörung innerhalb und außerhalb der Diözese.24 Bereits Stanleys Vorgänger Henry Bathurst empfing 1822 eine Abordnung der Unitarier unter der Leitung von Edward Taylor,25 der später Spohrs Oratorien Die letzten Dinge und Des Heilands letzte Stunden übersetzte und das Libretto zu Der Fall Babylons verfasste. Dieses Gespräch fand in einer Zeit der politischen Emanzipation der Unitarier in Großbritannien statt. Erst 1813 erlaubte der Trinity Bill den Unitariern offiziell die Ausübung von Gottesdiensten; zuvor war dies untersagt, da die unitarische Ablehnung der Trinitätslehre den Strafbestand der Blasphemie erfüllte.26 Und erst ab 1828 durften Nicht-Mitglieder der Church of England offiziell öffentliche Ämter bekleiden.27 Edward Taylor war zudem nicht nur irgendein Mitglied der unitarischen Gemeinde in Norwich. Sein Urgroßvater John Taylor war presbyterianischer Pfarrer der Octagon Chapel in Norwich, aus der die unitarische Gemeinde dieser Stadt entstand.28 Seine theologischen Ansichten gingen dabei bereits so stark in eine unitarische Richtung, dass John Wesley, einer der Begründer des Methodismus, ihm in einer ausführlichen Replik auf eines seiner theologischen Werke vorwarf, es verbreite alten Deismus in neuen Kleidern.29 Im Übrigen verfasste 22 Arthur Perhyn Stanley, Adresses and Charges of Edward Stanley, D.D. (Late Bischop of Norwich), London 1851, S. 57 – 60; Druck der Predigt: Edward Stanley, A Sermon by Edward, Lord Bishop of Norwich, preached at his Installation on Thursday, August the 17th, 1837, Norwich 21837. 23 „To the Right Rev. the Lord Bishops of Durham and Norwich“, in: Gospel Magazine and Theological Review 3 (1838), S. 520 ff., hier S. 520. 24 Stanley, Adresses, S. 61 f. 25 Henry Bathurst, Memoirs of the Late Dr. Henry Bathurst, Lord Bishop of Norwich, London 1837, Bd. 1, S. 212 (diese Publikation ist keine Autobiografie, sondern eine durch den gleichnamigen Sohn des Protagonisten verfasste Biografie). 26 Frank Schulman, Blasphemous and Wicked. The Unitarian Struggle for Equality, 1813 – 1844, Oxford 1997, S. 15. 27 Timothy Larsen, Contested Christianity. The Political and Social Contexts of Victorian Theology, Waco 2004, S. 146. Edward Taylor bekleidete allerdings bereits 1819 das Ehrenamt des Scheriffs (stellvertretender Bürgermeister) von Norwich (Norfolk Lists from the Reformation to the Present Time, Norwich 1837, S. 70). 28 Zur Geschichte der unitarischen Gemeinde vgl. John Taylor und Edward Taylor, History of the Octagon Chapel, Norwich, London 1848; zur Biografie und Theologie John Taylors vgl. William Turner, The Lives of Eminent Unitarians. With a Notice of Dissenting Academies, Bd. 1, London 1840, S. 299 – 346. 29 John Wesley, The doctrine of Original Sin, according to Scripture, Reason, and Experience, Bristol 1757, S. v.
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Edward Taylors Vater, ebenfalls mit dem Vornamen John, für den Gebrauch im unitarischen Gottesdienst mehrere Hymnen.30 Vor dem Hintergrund der Auseinandersetzungen um Bischof Stanley erscheint die Predigt eines evangelikalen Pfarrers in Anwesenheit des Bischofs in einem anderen Licht. Offensichtlich war die religiöse Stimmung in Norwich stark aufgeladen. Hinzu kamen Vorbehalte, die evangelikale Kreise gegen Musikfeste und Oratorien ohnehin hatten. Diese Vorbehalte fasste der Herausgeber der Musical World ein gutes Jahr nach dem Musikfest in Norwich wie folgt zusammen: „No sooner is a festival announced than, many weeks before its occurrence, the various churches in the town – not excepting the cathedral, the scene of the coming performance – resound with fulminations against the contemplated ,profanity :‘ – the temple of God is declared desecrated by such mortal attempts to alleviate the distresses of his suffering creatures – the music to be performed is most coarsely libelled in the attempt to prove it a wanton mockery of the Holy Writings which it humbly, but still beautifully, illustrates – the characters of public singers and players are mercilessly assailed, and with equal bigotry and falsehood declared to unfit them for any office within the sacred precincts of the church […].“31
Dieser Quelle zufolge glaubten die Evangelikalen, dass Musikfeste und Oratorienaufführungen den Kirchenraum und die Heilige Schrift entweihten. Es störte viele gläubige Menschen, dass sittlich verdächtige Opernsänger in Oratorienaufführungen zur Unterhaltung des Publikums Worte der Heiligen Schrift sangen.32 Dieser Punkt klang bereits in einem der oben zitierten Berichte über Storrs Predigt in der Norwicher Kathedrale an. Die Entweihung des Kirchenraums war hingegen in Norwich kein Problem, weil die Musikfeste dort in der St. Andrew’s Hall stattfanden, einem säkularisierten Klostergebäude; dabei standen offensichtlich räumliche Vorteile im Vordergrund, nicht eine Verweigerung der Geistlichkeit, die Kathedrale zu nutzen.33 Dies erwähnte auch ein Autor in der Musical World.34 Eine Entweihung des Kirchenraums sah er dagegen in Storrs Predigt: „On the Sunday immediately preceding the festival, the cathedral was really desecrated by a sermon which, for downright uncharitableness, was perhaps never surpassed. Here, in addition to the old topics – pomps, vanities, & c. – a new field was opened for the exercise of bigotry in an attack on Spohr’s oratorio Calvary : which, being an 30 Vgl. Edward Taylor, „Obituary – Mr. John Taylor“, in: The Monthly Repository of Theology and General Literature 21 (1826), S. 482 – 494. 31 [Editorial], in: Musical World 14 (1840), S. 209 – 212, hier S. 210. 32 Vgl. Mohn, Das englische Oratorium, S. 96; insgesamt zum Thema englische Evangelikale und Oratorium ebd., S. 93 – 99. 33 Vgl. ebd., S. 99. 34 [Editorial], in: Musical World 14 (1840), S. 210.
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attempt to put to beautiful and soul-stirring music the closing scenes of the Redeemer’s mortal existence, the preacher, with most saintly wrath, chose to denounce as little less than blasphemous. All this is so much in accordance with clerical usage that we should not have specially noticed it but for two circumstances; – the first is that the preacher literally and emphatically urged his hearers to avoid the performance, and thus sought to injure the prospects of the charity ; and the second is, that in his damnatory haste he overshot his mark – he altogether forgot that, although the crucifixion, as related in the Gospels, is not ordinarily set to music and sung in churches, those of the Psalms of David which obviously contain prophetic allusions to the atoning sacrifice and even to some of the minutest circumstances preceding it, are so sung at this day, and undeniably were so sung at the time of their production, by David and his ,chief musicians,‘ and in what, we would ask, consists the difference between the two cases?“35
Zu den gegen Oratorien und Musikfeste üblichen Einwänden kommt in Storrs Predigt also noch der Vorwurf der Blasphemie wegen der Darstellung der Passion. Die Formulierung in dieser Quelle ist widersprüchlich. Zunächst stellt der Autor fest „a new field was opened“, um anschließend zu behaupten, dies sei „in accordance with clerical usage“. Da Passionsoratorien auf Musikfesten selten sind, gehören theologische Einwände gegen sie auch nicht zu den üblichen Predigten gegen Musikfeste. Gleichzeitig sind die geäußerten Einwände gegen Darstellungen der Passion aus der zeitgenössischen englischen Theologie bekannt. Aus diesem Diskurs stammt vielleicht auch das Gegenargument des Autors: es gebe zwar keine liturgische Tradition von Passions-, jedoch von Psalmvertonungen; die Psalmen verweisen nun einerseits prophetisch auf die Passion, sind jedoch gleichzeitig durch David selbst zur Vertonung legitimiert. Da der Autor unterstellt, dass zwischen Psalmen, welche bereits auf die Passion verweisen, und neutestamentlichen Passionstexten kein Unterschied bestehe, seien also auch Passions-Vertonungen erlaubt. Marianne Spohr berichtet in der Selbstbiographie von mehreren Stimmen einer bedeutenden „pietistischen“ Partei, die sich gegen das Oratorium erhoben hätten. Auch mehrere Zeitungsberichte deuten an, dass außer Storr noch andere Geistliche das Musikfest angriffen. Dies belegt ein Brief der an der Aufführung beteiligten Sängerin Margarete Stockhausen: „Gegen [Calvary ; Anm. d. Verf.] haben mehrere Geistliche gepredigt mit Hinsicht auf die Worte des Textes. Sogar noch am letzten Sonntag hat ein Prediger in der Kathedrale dagegen gesprochen, während Spohr sich unter den Zuhörern befand. Man hat gefürchtet, daß es den Verkauf der Eintrittskarten beeinträchtigen würde, aber der Sal war so voll wie ein Ei, und man bot fünf Schilling für ein Textbuch.“36
35 Ebd., S. 211. 36 Margarete Stockhausen an Franz Stockhausen, Brief vom 19. September 1839, in: Julia Wirth, Julius Stockhausen. Der Sänger des deutschen Liedes, Frankfurt a. M. 1927, S. 42 f.,
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Während Stockhausen diese Befürchtungen aufmerksam registrierte, scheint das Ehepaar Spohr diese Aufregung nicht mitbekommen zu haben. Zumindest berichtet Marianne Spohr in ihrem Reisetagebuch nur über die feierliche Stimmung bei der Aufführung.37 Edward Taylor kannte die theologischen Vorbehalte gegenüber Oratorien im Allgemeinen und Passionsoratorien im Besonderen. Im Vorwort des englischen Klavierauszugs verteidigt Taylor entsprechend den Stoff des Oratoriums: „The original title of this Oratorio is ,Des Heilands Letzte Stunden‘ (The Last Hours of the Saviour). The awful and interesting event which Spohr has selected for musical expression, has given birth to several Oratorios of great celebrity, particularly the ,Tod Jesu‘ of Graun, the ,Sieben Worte des Erlösers am Kreuze‘ of Haydn, the ,Christus am Oelberg‘ of Beethoven, the ,Grosse Passionsmusik‘ of Sebastian Bach, and the ,Messiah‘ of Handel; but in none of these has it assumed the usual form of the Oratorio,—that is, a sacred drama set to music. This form Spohr has adopted, and thus interposed an additional difficulty in the way of his English translator. The Continental nations, Protestant as well as Catholic, are not conscious of any violation of propriety, still less of any irreverence, when they introduce the Saviour among the personages of an Oratorio, and set to music the words which he uttered. Regarding vocal music as the most perfect mode of giving expression to the strongest emotions of the soul, as well as of calling them into action, they attach no more impropriety to singing, than to reading them aloud. The feeling on this subject is very different in England, in deference to which the present translation has been made. The words of Jesus are supposed to be repeated by the Apostle John. I suggested this to the highly gifted Author of the Work as the fittest mode of obviating the difficulty ; and it not only received his sanction, but he had the kindness to make all the musical additions and alterations which were thus required.“38
Taylor weist zunächst auf die kontinentaleuropäische Tradition der ChristusOratorien hin und stellt fest, Spohrs Gattungsbeitrag biete für einen englischen Übersetzer besondere Probleme, weil es im Gegensatz zu den anderen Werken wirklich in der „üblichen“ Form eines Oratoriums als geistliches Drama mit Musik konzipiert sei. Oberflächlich wirkt Taylors Darstellung, als ob er hier Des Heilands letzte Stunden als neuen Beitrag zu einer im britischen Konzertbetrieb etablierten Untergattung des Oratoriums einführen wolle. Doch mit Ausnahme des beliebten und auch in England komponierten Messiah erklangen diese Oratorien selten und dann meist nur in Auszügen.39 hier S. 43. Ergänzung des Titels Calvary im Zitat wie im Druck. Dieser Edition zufolge ist der Brief im Original französisch. 37 Marianne Spohr, Tagebuch von der Reise nach England, Bl. 9r. 38 Edward Taylor, „Preface“, in: Louis Spohr, Calvary. An Oratorio, London 1852, S. 3 f., hier S. 3. Dieses Vorwort war schon dem Erstdruck des Klavierauszugs London 1837 vorangestellt, ist in den beiden Exemplaren des Spohr Museums aber nicht mit eingebunden. 39 Vor diesem Hintergrund erstaunt der Plan des King’s Theatre in der Fastenzeit 1832 gleich mehrere Passionsoratorien aufzuführen: Bachs Matthäuspassion, Beethovens Christus am
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Und bereits den Messiah prägen Vorbehalte gegen Christus als handelnde Figur und gesungene Bibeltexte. Zur Gestaltung des neutestamentlichen Stoffs verwendete der Librettist vorwiegend Texte aus dem Alten Testament, die den Messias verheißen. Nur am Ende des ersten Teils zitiert der Librettist JesusWorte, die er aber von der ersten in die dritte Person überträgt: „Come unto me/ him“ und „My/His yoke is easy“. Diesen Pronomen-Wechsel finden wir auch in alttestamentlichen Texten, die als Jesus-Worte verstanden werden: „I/He gave my/his back to the smiters“, „All they that see me/him laugh me/him to scorn“, „Thy rebuke hath broken my/his heart“ und „Behold and see, if there be any sorrow like unto my/his sorrow“.40 John Roberts stellt weiterhin fest, dass die wenigen im London des 18. Jahrhunderts aufgeführten Oratorien mit neutestamentlichem Stoff betrachtend und nicht dramatisch seien. Gemeinsam sei diesen Werken, dass sie häufig Jesus-Worte von der ersten in die dritte Person setzten; bei Textstellen in der ersten Person gebe es gewöhnlich keinen Hinweis, wer gerade spricht.41 Dieser Tradition folgte auch die Aufführung von Beethovens Christus am Ölberg 1814 durch George Smart. Die Librettoübersetzung verzichtet auf die Figur des Jesus; stattdessen berichtet ein Erzähler die Jesusworte in indirekter Rede.42 Im Klavierauszug zu dieser Bearbeitung begründete der Übersetzer diese Textänderungen ähnlich wie Taylor : das Auftreten Jesu als handelnde Person würde das religiöse Empfinden verletzen.43 Auch Taylor verpackte die JesusWorte in einen Erzählerbericht, indem er sie in die Partie des Johannes einfügt. Dazu stellte er ihnen jeweils Formulierungen wie „he saith“ voran44 und schlug
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Ölberg, Haydns Sieben letzte Worte, daneben Spohrs Die letzten Dinge („New Management of the King’s Theatre“, in: Harmonicon 10 (1832), S. 29 ff., hier S. 30). Offensichtlich kam in dieser Saison jedoch keines der angekündigten Oratorien auf die Bühne (vgl. Mohn, Das englische Oratorium, S. 37). John H. Roberts, „Christ of the Playhouse. Indirect Narrative in Handel’s Messiah“, in: Händel-Jahrbuch 55 (2009), S. 107 – 124, hier S. 111. Ebd., S. 122 f. Vgl. Mohn, Das englische Oratorium, S. 128. [S.J. Arnold], Vorwort zu Christ on the Mount of Olives, Klavierauszug, London 1815, zitiert nach Mohn, Das englische Oratorium, S. 128; Identifkation des Übersetzers nach ebd., Anm. 408. Die Vorsicht im künstlerischen Umgang mit Christus reicht in Großbritannien bis weit in das 20. Jahrhundert. Das 1913 gegründete British Board of Film Classification erließ in seinem ersten Jahresbericht ein Verbot, Jesus im Film bildlich darzustellen; dieses Verbot wurde erst 1961 aufgehoben (James C. Robertson, The Hidden Cinema. British Film Censorship in Action 1912 – 1975, London 1989, S. 32 f.). In James Sloans Film Barabbas (1935) ist in der Verhörszene vor Pilatus Jesus nicht zu sehen, sondern nur seine Stimme zu hören (Manfred Tiemann, „Bibelfilme (NT)”, in: WiBiLex, hrsg. von Michaela Bauks, Klaus Koenen und Stefan Alkier, (erstellt Juni 2012, eingesehen 17. 04. 2014)). Die Übersetzungen von Beethovens Christus am Ölberge durch Thomas Oliphant (1840) und William Batholomew (1855) ersetzen ebenfalls die Rolle des Christus durch den Apostel
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diese Änderungen Spohr im April 1836 vor.45 Der Brief, mit dem Spohr seine Zustimmung zu diesen Änderungen gab, ist verschollen; dafür liegt Taylors Brief ein Notenautograf Spohrs mit den gewünschten Änderungen bei. Diese Lösung wird Rochlitz’ Libretto aus zwei Gründen gerecht: Erstens hat die Partie des Johannes schon im deutschen Original die Funktion eines Erzählerberichtes; beispielsweise berichtet er die Leiden Jesu am Kreuz in Form einer Mauerschau. Zweitens schrieb Spohr das Oratorium für den von ihm geleiteten Cäcilienverein, einen Laienchor, der die Solistenrollen aus den eigenen Reihen besetzte. Bei Aufführungen auf Musikfesten sangen hingegen meist professionelle Sänger die Solopartien. Die extrem kurze Partie des Jesus übernahm dabei häufig der Sänger des Johannes.46 Hier helfen die Texteinschübe „Jesus saith“ dem Hörer zu verstehen, wer gerade spricht. Die Eingriffe in den Notentext sind gering; nur einmal fügt Spohr einen zusätzlichen Takt eines unbegleiteten Rezitativs ein. Der direkte Vergleich einer Passage im deutschen Original mit Taylors englischer Übersetzung zeigt: Eingriffe in Melodiebildung und Rhythmus sind unerheblicher als die Änderungen, die aus den unterschiedlichen Spracheigenschaften des Deutschen und des Englischen folgen.
Johannes (Mohn, Das englische Oratorium, S. 128). Dies könnte bereits eine Reaktion auf Taylors Spohr-Bearbeitung sein. 45 Edward Taylor an Louis Spohr, Brief vom 14. April 1836, in: Universitätsbibliothek Kassel. Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel (D-Kl), 48 Ms. hist. litt. 15 [195. 46 Kritik an dieser Aufführungspraxis übt Matthias Stubenvoll, Die Oratorien Louis Spohrs. Einführung – Kontext – Analyse, Saarbrücken 2008, S. 41, Anm. 177. In einem Stubenvoll vermutlich unbekannten Brief betont Spohr: „Besonders muß zu der Parthie von Jesus eine wohlklingende Stimme gewählt werden und diese darf dann ja nichts wie das Solo singen.“ Louis Spohr an Adolph Hesse, Brief vom 17. September 1836, in: D-Ksp, Sp. Ep. 1.1 .
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Notenbeispiel 1: Gegenüberstellung nach dem deutschen Klavierauszug (Kassel [1835], S. 59 f.) und dem englischen Klavierauszug (London 1852, S. 60)
Änderungen an Rochlitz’ stark am Leiden Jesu orientierten Wortschatz47 betreffen die Vertonung indirekt. Die Häufung verminderter Akkorde deutet im deutschen Bericht der Kreuzannagelung den Text sinnvoll aus, wirkt in der gemilderten englischen Version aber übertrieben (vgl. Notenbeispiel 2). Bei einer ähnlich sinnverschiebenden Übersetzung charakterisiert eine leidverheißende, abfallende kleine Sexte nicht mehr den „Bedrängten“, sondern den „Rechtschaffenden” (vgl. Notenbeispiel 3). Hier scheint die Änderung aber nicht theologisch, sondern ausschließlich durch die Übersetzung begründet.
47 Vgl. Taylor, „Preface“, S. 3.
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Notenbeispiel 2: Gegenüberstellung nach dem deutschen Klavierauszug (Kassel [1835], S. 75) und dem englischen Klavierauszug (London 1852, S. 75)
Notenbeispiel 3: Gegenüberstellung nach dem deutschen Klavierauszug (Kassel [1835], S. 34) und dem englischen Klavierauszug (London 1852, S. 34)
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Neben diesen subtilen Abweichungen gibt es einen sehr massiven Eingriff in den Text: „I will not attempt to conceal that in some places I have, designedly, departed from the original text, particularly in the Chorus of the Disciples, at the commencement of the Second Part, which in the German refers (I think inappropriately at that moment) to the supposed language and demeanour of the Priests. In this case I have substituted passages from the Prophetic writings of the Old Testament, referable to the sufferings and death of the Messiah.“48
Die letzten vier Zeilen unterstreichen wieder die Grausamkeit der Kreuzigung. Der Rest des Textes wirkte Taylor vermutlich nicht erhaben genug: „Mit verschüchtertem Staunen drängt sich, dumpfen Sinnes, das Volk, rufet heute das Kreutzge, wie vor drei Tagen Hosanna es rief! Wie die Freude des Sieges aus den Augen der Priester blitzt! werth sind sie, als die Götzen wetterwendischen Pöbels zu stehn! Stillet den Zorn! entweihet nicht durch Rache den heiligen Tag! segnet, die euch verfolgen, lehrte und übte der Gottessohn. Auf dem blutenden Rücken trägt er willig den Todespfahl, matt und zitternd und wankend ach! erlieget der schmählichen Last!“
Indem Taylor diesen Text durch Zitate aus dem Alten Testament ersetzt, bindet er das Oratorium stärker in die englische Tradition ein; denn er montiert seinen Text größtenteils aus Jes 53. Dabei entsprechen die ersten vier Zeilen dem DaCapo-Teil einer Alt-Arie in Händels Messiah, die beiden nächsten Zeilen dem Beginn des folgenden Chors:49
48 Ebd. 49 Für den Hinweis auf Messiah und die Bedeutung der alttestamentlichen Texte danke ich einem Diskussionsbeitrag von Johannes Schnocks im Anschluss an mein Münsteraner Tagungsreferat.
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Calvary He is despised and rejected of men, a man of sorrows and aquainted with grief. (Jes 53,3a) He hath carried our sorrows and borne our grieves. (Jes 53,4a) It hath pleased the Lord to bruise him He hath put him to shame. (Jes 53,10a) Weep ye daugthers of Jerusalem! (Lk 23,28a) he is numbered with transgressors, (Jes 53,12b) he is wounded for our sins. (~Jer 30,14) As a lamb to the slaughter, (Jes 53,7) so the saviour is led to death. (?) Our shepherd is smitten, (Jes 53,4b?) and his sheep are scattered abroad: (Mt 26,31) he is bruised for our transgressions. (Jes 53,5a)
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Messiah He was despised and rejected of men, a man of sorrows and aquainted with grief. (Nr. 23) Surely He hath borne our griefs, and carried our sorrows! (Nr. 24)
Eine kleine, theologisch jedoch bemerkenswerte Änderung erwähnt Taylor nicht: Aus dem „Chor der Freunde und Freundinnen Jesu“ wird in seiner Übersetzung ein „Chorus of the Disciples“, die nicht an ihren Freund, sondern an ihren Meister denken. Damit wird Jesus von den anderen Handelnden stärker entrückt. Der Begriff „Freund“ ist auch in den weiteren Nummern gestrichen oder ersetzt, so in Petrus’ Arie „Ewig fließet meine Zähren, / ich entsagte meinem Freund“ (Nr. 9): „Tears of sorrow, shame and anguish, / Oh how vain to tell my grief!“. Stehen bleibt der Begriff nur in einem Chor (Nr. 11): „Wende dich zum Bedrängten, den auch sein Freund verräth!“ („Regard thou the oppressed, whom even his friend betrays!“). Und eingefügt ist er unerwartet am Schluss von Marias Arie (Nr. 27), wo aus „Eins in dir und ewiglich“ – wohl dem Metrum geschuldet – unversehens „One in thee, our Father, friend“ wird. Während Jesus durch die Streichung des Wortes „Freund“ und die Integration der Jesus-Worte in den Erzählerbericht von den anderen Handelnden entfernt wirkt, erscheint Maria durch die direkte Anrede stärker ins Geschehen einbezogen als in der deutschen Vorlage. Vielleicht soll dies einer als katholisch empfundenen Marienfrömmigkeit entgegenwirken:50 Maria! ach, sie sinkt erblassend nieder! Ah! Mary! Thou, o’erwhelm’d with grief and Ihr Auge schliesst sich zu, ihr Herz anguish, zerbricht! hast sunk beneath the stroke! Thy heart is broken!
50 Zu Vorbehalten gegenüber katholischen Elementen in der Kirchenmusik vgl. Mohn, Das englische Oratorium, S. 125 ff.
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Die Änderungen in Taylors Bearbeitung waren offensichtlich vornehmlich Glättungen, um den für den englischen Geschmack schwierigen Stoff annehmbar zu machen.51
2.
Rezeption vor Norwich
Die Kritik an der Handlung des Oratoriums begann schon vor der englischen Erstaufführung 1837. Henry Gauntlett stützte sich in seiner Rezension ausdrücklich auf das deutsche Original.52 Er warf Spohr einerseits vor, er schreibe mehr und mehr von sich selber ab.53 Andererseits sei die Darstellung von Christi Leiden und Tod zu heilig und furchtbar für „a dramatic representation, or rather misrepresentation“.54 Daneben störte ihn vor allem, dass sich der Librettist nicht an den originalen Bibeltext halte; er habe Pilatus herausgestrichen, dafür in die Verhörszene die Figuren des Philo und des Joseph von Arimathia hineingeschrieben.55 Er hält dem Librettisten aber zugute, er habe sich bei der Partie des Jesus einzig an den Text der Bibel gehalten.56 Gauntletts Text ist kein Verriss, sondern eine argumentativ abgewogene Kritik. Seine Bearbeitung einzelner Nummern für Orgel zeigt, dass er zumindest Teile der Musik schätzte.57 Dagegen behauptete der Rezensent des englischen Klavierauszugs im Analyst: „Spohr’s genius is not fitted for the Oratorio“, wenngleich er einzelne Nummern wie die Arie des Petrus lobend hervorhob. Theologische Kritik klang nur beiläufig an: „The subject is the least possible adapted for music“.58 Der Kritiker der Musical World über die englische Erstaufführung am 27. März 1837 in den Vocal Concerts zitierte eine längere Passage aus Gauntletts Analyse, führte dann jedoch mehrere Nummern an, die musikalisch beeindruckend seien und stellte abschließend fest: „If the whole oratorio do not become a stock piece at the festivals, many of the movements in it assuredly will“.59 Ob 51 Ob darüber hinaus Änderungen Taylors eigenem unitarischen Glauben geschuldet waren, lässt sich nur schwer feststellen, da die im deutschen Original vertretene neologistische Theologie vom englischen Unitarismus nicht sehr weit entfernt ist. 52 Henry John Gauntlett, „Louis Spohr’s second Oratorio ,The Last Hours of the Saviour‘“, in: Musical World 2 (1836), S. 193 – 199 und 3 (1836), S. 17 – 22, hier S. 193, Anm. *. 53 Ebd., S. 195; vgl. zu diesen Vorwürfen Brown, Popularity, S. 72. 54 Gauntlett, „Louis Spohr’s second Oratorio”, S. 195. 55 Zu dieser Anlage des Librettos vgl. den Beitrag von Hermut Löhr in diesem Band. 56 Ebd., S. 195 f.; zur theologischen Kritik Gauntletts vgl. auch Mohn, Das englische Oratorium, S. 130. 57 „Overture and Choruses in Spohr’s Oratorio ,The Crucifixion‘, by H.J. Gauntlett. 12 Nos. (Weekly List of New Publications)“, in: Musical World 7 (1837), S. 80. 58 „The Crucifixion, an Oratorio by Louis Spohr ; the English version by Edward Taylor“, in: Analyst 6 (1837), S. 154. 59 „Vocal Concerts“, in: Musical World 5 (1837), S. 44 f., hier S. 45.
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diesem Autor Taylors Vorwort zum Klavierauszug bekannt war, ist unklar. Genauso wie Taylor stellt er jedenfalls als Problem des Oratoriums heraus, es sei im Gegensatz zu anderen Passionsoratorien zu dramatisch: „The integral character of ,The Crucifixion‘ we take to be not strictly epic, as regards the true school of Oratorio composition; but dramatic, if not melodramatic, although not in the depricanting sense in which that term is frequently applied“.60
Anders als Gauntlett sieht der Kritiker des Spectator in Spohrs neuem Oratorium keine Kopie früherer Werke, sondern einen ausgeprägten Personalstil: „As in The Last Judgement, so in The Crucifixion, Spohr has followed in no prescribed track – here is no imitation of Handel or of Haydn. He is a law unto himself. The total absence of operatic passages, or of anything which can break the religious feeling which such a composition ought to inspire, is, therefore, not the consequence of following any given model, but the nessecessary result of its influence on his mind […] It is true that those who are familiar with Spohr’s other compositions will trace the same hand in this. But this is equally the case with those of his great predecessors.“61
Während der Rezensent des Analyst in Spohrs Stil den Beweis sieht, der Komponist könne keine Oratorien schreiben, wird hier Spohrs Personalstil geradezu zum Garant, dass nichts das religiöse Empfinden stört, welches diese Komposition auslösen solle. Denn auch dieser Autor ist sich religiöser Einwände gegen das Oratorium bewusst, wobei er nicht in erster Linie auf das konkrete Sujet zielt, sondern zunächst auf allgemeine Vorbehalte gegenüber Oratorien: „There is a question which will arise in the minds of many persons in this country who regard music as a mere sensual gratification, and who consider a concert merely a place of amusement – Ought The Crucifixion to be the subject of an oratorio intended for public performance?“62
Nachdem bereits zu Beginn der Kritik Taylors Anmerkungen zu den wichtigsten Textänderungen zitiert werden, folgt nun Taylors Verteidigung: Musik sei in der Geschichte von Christen- und Judentum zu allen Zeiten Bestandteil des Gottesdiensts gewesen. Danach fügt er als neues Argument hinzu: „And why, it may be asked, should music alone, of all arts, be shut out from the service of religion? The subject of this oratorio has been versified by poets innumerable of the Christian church in every age and country, with an express reference to a musical employment of what they wrote. […] The preacher who uses the arts of rhetoric and invokes the powers of eloquence on such a subject as the Crucifixion, is but a fellow
60 Ebd., S. 44. 61 „The Crucifixion“, in: Spectator 10 (1837), S. 303 f., hier S. 303. 62 Ebd., S. 304.
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labourer with the musician, and there is no objection to the labours of the latter which may not be urged with equal justice against those of the former.“63
Dieser Vergleich zwischen Musik und Predigt beantwortet freilich nicht die vom Autor zuvor gestellte Frage, ob die Passionsgeschichte für ein Oratorium „intended for public performance“ statthaft sei. Unabhängig davon ist der Vergleich hier schief; eine Predigt, die nicht der Erbauung, sondern nur der Unterhaltung diente, hätten die Evangelikalen wohl genauso abgelehnt wie Oratorien. Und genau an dieser Stelle hat auch dieser Autor Probleme mit der Erstaufführung: „But we felt on this occasion, that a concert-room is not the proper place for the performance of an oratorio. You are sure to be annoyed with the impertinent intrusion of applauders. […] For this reason, among others, we desire to hear this oratorio elsewhere.“64
Die beiden langen Zitate aus Taylors Vorwort erwecken den Eindruck, nur die ausdrückliche Betonung Taylors hätte diesen Autor auf die Problematik des Stoffes verwiesen. Auch die Kritiker der Times65 und des Morning Chronicle66 scheinen nur wegen Taylors Vorwort theologische Vorbehalte zu erwähnen. Dagegen empfindet der Rezensent der Literary Gazette die Darstellung aller Umstände der Kreuzigung als geschmacklos. Abgesehen davon hält er das Oratorium für wertvoll, wenn auch nicht so gut wie Die letzten Dinge.67 Der Kritiker des Monthly Magazine, der die Änderung der Partie des Jesus nur beiläufig erwähnt, sieht in der Aufführung eine neue Ära der britischen Musik anbrechen.68 Am schärfsten beurteilte Henry Chorley die Stoffwahl: Allerdings nicht aus religiösen Gründen, sondern weil Spohr so in die für ihn unvorteilhafte direkte Konkurrenz zu den Passionsvertonungen von Händel, Haydn und Beethoven tritt. Die Jesus-Darstellung streift Chorley nur, hält die Textänderungen aber für notwendig.69 Obwohl kaum ein Kritiker es näher ausführt, scheinen sich alle einig zu sein, dass die Passionsgeschichte in England ein problematischer Oratorienstoff ist. Während 1839 mehrere Quellen über Proteste gegen Spohrs Oratorium berichten, ist bisher der Hinweis auf zwei nicht abgedruckte Leserbriefe an die Musical World der einzige Beleg für Proteste aus 63 64 65 66 67 68
Ebd. Ebd. „Vocal Society“, in: Times 28. 03. 1837, S. 5. „The Vocal Society’s Concerts“, in: Morning Chronicle 28. 03. 1837. Q., „Vocal Society“, in: Literary Gazette 21 (1837), S. 211. H.H.D., „The present State and Prospects of Music in England“, in: Monthly Magazine 24 (1837), S. 501 – 509, hier S. 507. 69 [Henry Chorley], „Vocal Concerts. Spohr’s Crucifixion“, in: Athenaeum 10 (1837), S. 235 f., hier S. 235. Die Behauptung, Des Heilands letzte Stunden bleibe hinter Die letzten Dinge zurück, auch in: H[enry] F. C[horley], „Art. III”, in: London and Westminster Review 27 (1837), S. 53 – 77, hier S. 62.
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dem Jahr 1837: „,A minor canon‘ and ,A man with tender ears‘ have sent us wicked epigrams upon the new oratorio, which was performed last Monday evening.“70 Clive Brown schließt aus dem ersten Pseudonym, es handle sich bei diesem Autor um einen Kleriker, der theologische Fragen aufwarf.71
3.
Rezeption nach Norwich zu Spohrs Lebzeiten
Eine 1840 in Liverpool geplante Aufführung von Des Heilands letzte Stunden kam wohl, wie von Spohr vorausgesehen, wegen einer zu kurzen Vorbereitungszeit nicht zustande.72 Dafür erklang im gleichen Jahr eine Auswahl beim Musikfest in Hull. Ein Bericht in der Musical World tadelt vor einem lobenden Bericht über die gelungene Interpretation der „masterly intricacies of Spohr’s great genius“ das Publikum: „[…] but still the spirit of politics and heterodoxy was in the ascendant, and the assembly totally unworthy of the feast.“73 Die Vorwürfe bleiben sehr allgemein, der Kritiker ordnet die Gegner aber konfessionell zu: „the overpowering influence of dissenting religious tenets“.74 Ein späterer Text in der gleichen Zeitschrift zeigt jedoch, dass sich die religiösen Proteste nicht speziell gegen Spohrs Oratorium, sondern gegen das ganze Musikfest richteten: „We have repeatedly called attention to the warfare which religious partizanship in this country is constantly waging against the cultivation of music in common with that of other liberal arts, and scarcely a month passes without something occuring to render this more conspicious and intolerable. The last demonstration of saintly humbug which has been made on a large scale, is the total failure of the late Hull festival. […] It is idle to attribute this failure to any other cause than which we have assigned. […] It seems, then, that party politics and party religion contrived to abstract at least one-half from the number of persons expected to be present at the Hull performances.“75
Die Musical World ist jedoch derzeit die einzige Quelle, die über religiöse Widerstände gegen dieses Festival Auskunft gibt. Der Leeds Mercury berichtet zwar auch über fehlende Einnahmen wegen fehlender Zuhörer ; Grund hierfür seien aber die überhöhten Preise für die billigeren Plätze gewesen, weshalb viele potentielle Hörer aus der Mittelklasse fernblieben.76 Für eine Aufführung 1845 wieder beim Norwicher Musikfest beschränken 70 71 72 73 74 75 76
„Notice to correspondents“, in: Musical World 5 (1837), S. 47. Brown, Popularity, S. 74. Louis Spohr an Edward Taylor, Brief vom 30. August 1840, in: D-Kl, 48 Ms. hist. litt. 15[195. „Hull Festival“, in: Musical World 14 (1840), S. 244 – 248, hier S. 248. Ebd., S. 244 f. Musical World 14 (1840), S. 269 ff., hier S. 269. „Hull Musical Festival“, in: Liverpool Mercury 17. 10. 1840.
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sich die ausgewerteten Berichte auf den spärlich gefüllten Zuschauerraum und bestenfalls noch auf Vergleiche mit Spohrs eigener Interpretation von 1839.77 Eine Anmerkung in der Times zielt wohl eher auf die fehlende Begeisterung des Publikums als auf Proteste: „The audience separated quietly – that is to say, without making any demonstration“.78 Allerdings zitieren Legge und Hansell aus einer nicht näher angegebenen Quelle: „,There was still a remnant of the feeling against Calvary which was so potent in 1839. It was then preached against, and the work has again been denounced from the same source.‘ But it was significant that ,our Diocesan, soaring above the narrow opinions of those who still maintain their objections,‘ was present at the performance.“79
Für Spohrs London-Aufenthalt 1847 haben wir wieder einen Bericht in der Selbstbiographie: „Die an jedem Freitage angesetzten Oratorien-Aufführungen in Exeter-Hall gingen in gewohnter Vollkommenheit von Statten; das vorher beabsichtigte Programm hatte jedoch in soweit eine Abänderung erlitten, daß man an die Stelle von ,Calvary‘, womit man auch hier wieder bei der Geistlichkeit Anstoß zu erregen befürchtete, eine zweite Aufführung des ,Fall Babylons‘ gesetzt hatte, während im dritten Concert, so wie es im Voraus bestimmt gewesen, ,die letzten Dinge‘, ,das Vaterunser‘ und der erst neuerlich von Spohr componirte ,84ste Psalm‘ nach Miltons metrischer Uebersetzung zur Ausführung kamen.“80
Dagegen berichtet Marianne Spohr in ihrem Reisetagebuch weder über eine Programmänderung noch über religiöse Vorbehalte.81 Ein Blick in die Korrespondenz zwischen Spohr und Taylor zeigt eine etwas komplexere Situation. Taylor antwortete auf einen derzeit nicht bekannten Brief von Spohr : „To your first question they reply ,The Comittee intend having three performances viz. on one either ,the Fall of Babylon‘ or the ,Crucifixion‘ – the second performance to be the ,Last Jugdement,‘ with the addition of some other piece to be thereafter determined on. The third performance to be a repetition of one the preceding‘.“82 77 „Norwich Music Festival“, in: Spectator 18 (1845), S. 908; S., „The Norwich Festival“, in: Musical World 20 (1845), S. 541 ff., hier S. 542; „The Norwich Musical Festival“, in: Illustrated London News 7 (1845), S. 186. 78 „Norwich Musical Festival“, in: Times 20. 09. 1845, S. 5. 79 Legge und Hansell, Annals, S. 109. Aus dem Zusammenhang des Kapitels wirkt diese Passage wie ein Zitat aus dem Spectator, dort finden sich diese Sätze jedoch nicht (vgl. „Norwich Musical Festival“, in: Spectator (1845), S. 908). 80 Louis Spohr’s Selbstbiographie, Bd. 2, S. 319. 81 Vgl. Marianne Spohr, Tagebuch von der Reise nach England im Sommer 1847, in: D-Ksp, Sp. ep. 2.2.05. Eine knappe Notiz über Spohrs bevorstehenden Englandbesuch gibt als mögliche Programmpunkte sowohl Des Heilands letzte Stunden als auch Der Fall Babylons an („Miscellaneous“, in: Musical World 22 (1847), S. 351). 82 Edward Taylor an Louis Spohr, Brief vom 11. Dezember 1846, in: D-Kl, 48 Ms. Hass. 287.
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Spohr antwortete darauf unmissverständlich: „Zu der Wahl der zu gebenden Oratorien kann ich keinen Rath ertheilen, da ich nicht weiß, ob und wie oft ein jedes derselben in London gehört worden ist. Wäre dieß gleich, so würde ich den Fall Babylons vorziehen, da dieß Oratorium leichter und zugleich imposanter als ,Des Heilands letzte Stunden‘ ist.“83
Sowohl Spohr und Taylor als auch das Komitee der Sacred Harmonic Society sehen demnach eine Aufführung von Des Heilands letzte Stunden für dieses Jahr grundsätzlich als unproblematisch. Weder hier noch in Taylors Brief, in dem er Spohr den Vorschlag für die Aufführungen 1847 überbringt84, finden wir religiöse Vorbehalte. Offensichtlich gab es aber Mitglieder der Sacred Harmonic Society, die Des Heilands letzte Stunden dem Fall Babylons vorgezogen hätten: „After much & repeated discussion, the Comittee of the Sacred Harmonic Society have decided to perform ,The Fall of Babylon‘ twice, the ,Last Jugdement‘ once, the ,Vater unser‘ & the ,Milton’s Psalm‘ – There was a great desire on the part of some of the Committee to have the ,Crucifixion‘ – but you know the prejudice against making this event the subject of an Oratorio, and it was, at last, decided that it would be more prudent not to encounter it, and provoke an angry invection against it in the Newspapers.“85
Obwohl sich Spohr bereits für Der Fall Babylons entschieden hatte, möchte ein Teil des Komitees doch lieber Des Heilands letzte Stunden aufführen. Die „befürchteten religiösen Einwände“ beziehen sich in diesem Text auf eine bestimmte Quelle: Beschimpfungen in Zeitungen. Die in diesem Aufsatz zitierten Zeitungsartikel berichten zwar über Angriffe gegen das Oratorium, enthalten selbst aber keine. Die erwähnten Befürchtungen sind nur sinnvoll, wenn es solche Beschimpfungen in früheren Fällen gab. Folglich müssten für weitere Untersuchungen über die Oratorienrezeption in England auch Zeitungen systematisch ausgewertet werden, welche die Musikwissenschaftler bislang noch nicht herangezogen haben. Diese Quellen würden vielleicht auch einen bisher nur dunkel erkennbaren Einwand gegen Der Fall Babylons erhellen, der gleichzeitig auch erklären könnte, warum 1847 Des Heilands letzte Stunden als Alternative diskutiert wurde. Denn auch gegen Spohrs letztes Oratorium gab es religiöse Einwände: „[…] we cannot perceive the force of the objection which, for the last few days, it has been the fashion to urge against it, – namely that ,it is not church music‘“.86 Der Autor des Zitats, der Des Heilands letzte Stunden übrigens für Spohrs großartigstes Werk 83 Louis Spohr an Edward Taylor, Brief vom 20. Dezember 1846, in: D-Kl, 48 Ms. hist. litt. 15 [195 84 Edward Taylor an Louis Spohr, Brief vom 10. November 1846, in: D-Kl, 48 Ms. Hass. 287. 85 Edward Taylor an Louis Spohr, Brief vom 4. Juni 1847, in: D-Kl, 48 Ms. Hass. 287. 86 „The Fall of Babylon“, in: Musical World 18 (1843), S. 245 f.
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hält, verteidigt Spohr, dieser behalte seinen Personalstil bei und orientiere sich daher nicht ausschließlich am durch die Werke Händels definierten Oratorienstil. Was sich oberflächlich wie eine Diskussion der Gattungszugehörigkeit liest, hat im Rahmen der Sacred Harmonic Society, deren Mitglieder zu einem großen Teil nonkonformistischen Kirchen angehören, eine religiöse Seite, die auch in der Satzung der Gesellschaft formuliert ist: „That the Music to be practised by the Society be exclusively Sacred“.87 1847 gab es also tatsächlich Befürchtungen über Vorbehalte gegen Des Heilands letzte Stunden, die – soweit die derzeitige Quellenlage erkennen lässt – aber erst diskutiert wurden, als Spohr schon längst vorgeschlagen hatte, besser Der Fall Babylons aufzuführen. In den „großen“ englischen Blättern gibt es jedenfalls keine weiteren Hinweise darüber. Spohrs oben zitiertem Urteil über die größere Wirkung von Der Fall Babylons gegenüber dem Passionsoratorium schließt sich die Times an.88 Dagegen erklärt die Daily News, Der Fall Babylons sei zwar ein großartiges Werk, bleibe aber hinter Die letzten Dinge und Des Heilands letzte Stunden zurück.89 Auch der Autor in den Illustrated London News hielt dieses Oratorium für das schwächste der Spohr’schen Oratorien.90 Hinweise auf theologische Vorbehalte finden wir in diesen Texten nicht. Beim Musikfest in Hereford 1849 erklangen Ausschnitte aus Des Heilands letzte Stunden. Der Korrespondent der Musical World kritisierte, dass nicht das ganze Werk erklang. Und wie in dieser Zeitschrift häufig, diskutierte er auch mögliche religiöse Vorbehalte, jedoch nicht mehr gegenüber Spohrs Oratorium, sondern gegenüber zwei anderen Werken: „The weakest selection at the Cathedral was that of Thursday, which might have been made a strong day, had the whole of Spohr’s Calvary (Crucifixion) been performed, instead of a few fragments, bolstered up by Haydn’s Seven Last Words, Beethoven’s Mass in C, and Rossini’s hacknied Stabat. By the way, we did not hear a single objection made to the two last-named works being introduced into a Cathedral – a fact worth noting, as a sign of progress where progress has to long been checked by mistaken intolerance.“91
Dass der Autor hier gegen die Kompositionen Beethovens und Rossinis Vorbehalte erwartet, gegen das Werk Spohrs jedoch nicht, liegt nicht an der Darstellung von Christi Leiden. Denn die fünf Nummern aus Des Heilands letzte Stunden, die in Hereford erklangen, enthalten diese Darstellung nicht.92 Dagegen 87 „Rules of the Sarcred Harmonic Society“, in: Eighth Annual Report of the Sacred Harmonic Society, London 1841, S. 48 – 52, hier S. 48. 88 „Exeter Hall“, in: Times 12. 07. 1847, S. 8. 89 „Sacred Harmonic Society“, in: Daily News 10. 07. 1847, S. 2; vgl. Brown, Louis Spohr, S. 303. 90 „Spohr’s ,Fall of Babylon‘“, in: Illustrated London News 04. 02. 1847, S. 42. 91 „Hereford Musical Festival“, in: Musical World 24 (1849), S. 580 – 583 und 593 ff., hier S. 595. 92 Vgl. ebd., S. 583.
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sind die Messe und das Stabat Mater liturgisch gebundene katholische Kirchenmusik, deren Aufführung in einer anglikanischen Kirche nach Meinung des Autors Vorbehalte wecken könnte.93 1852 führte die Sacred Harmonic Society dem anwesenden Spohr zu Ehren Des Heilands letzte Stunden auf. Die Konzertkritiken verweisen auf die theologisch begründeten Textänderungen Taylors, jedoch nicht auf Proteste gegen diese Aufführung.94
4.
Rezeption nach Spohrs Tod
In den folgenden Jahren fehlen zunächst Aufführungsnachweise in Großbritannien. Ein Rezensent merkt zur Publikation des Klavierauszugs bei Novello 1864 an: „The subject of the first of these works would of itself almost forbid its becoming popular in England“.95 Diese Einschätzung scheint Mohns These zu stützen, dass das Oratorium zwischen 1852 und 1887 nicht mehr zu hören war.96 Im für diese These angeführten Bericht über eine Londoner Aufführung 1887 steht allerdings keineswegs, das Werk sei nicht mehr zu hören gewesen, sondern vielmehr : „the work was nearly ignored until the occasion under notice“.97 Welche Aufführungen gab es also zwischen 1852 und 1887? Für eine Aufführung durch „Mr. Frank Bodda’s Amateur Vocal Reunion“ in London am 17. April 1867 ist derzeit nur eine Ankündigung bekannt.98 Die Kritik an der Aufführung einer Auswahl beim Gloucester Music Festival im Folgejahr zielt nicht mehr auf den Stoff, sondern auf den nicht mehr zeitgemäßen oder zu opernhaften Stil.99 Soweit die Auswahl überliefert ist, spart sie sowohl den singenden als auch den leidenden Jesus aus. Dennoch klingt vereinzelt der religiöse Vorbehalt gegen das Oratorium noch durch: 93 Vgl. Mohn, Das englische Oratorium, S. 125 ff. 94 Vgl. „Sacred Harmonic Society“, in: Musical World 28 (1852), S. 435 f., hier S. 435; „The Sacred Harmonic Society“, in: Musical Times 5 (1852), S. 45; „Sacred Harmonic Society“, in: Times 06. 07. 1852, S. 8. 95 „Musical and Dramatic Notes“, in: Reader 4 (1864), S. 650. Das von Folker Göthel angegebene, vermutlich dem Erscheinungsjahr der Novello-Partitur angeglichene Datum für die Publikation des Novello-Klavierauszugs 1884 ist demnach zu korrigieren (Thematisch-bibliographisches Verzeichnis der Werke von Louis Spohr, Tutzing 1981, S. 409). 96 Mohn, Das englische Oratorium, S. 129. Auch Legge und Hansell kennen nur die Aufführungen 1839 und 1845 in Norwich und 1852 und 1887 in London (S. 81, wie Anm. 9). 97 „Novello’s Oratorio Concerts“, in: Musical Times 28 (1887), S. 151 [Hervorhebung durch den Autor]. 98 Times 13. 04. 1867, S. 1. 99 Henry C. Lunn, „The Gloucester Musical Festival“, in: Musical Times 13 (1868), S. 535 – 538, hier S. 536.
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„Spohr’s Calvary will never be popular in this country as a whole, a great portion of its effect being lost through the modifications required by English notions of propriety. However charming the music of the pieces selected, and they were very well performed, they produced no effect on their hearers, who were utterly unappreciative. It can hardly be denied that the effect was somewhat monotonous and wearying.“100
Die Äußerung, die Änderungen in der englischen Fassung schadeten dem Effekt des Werks, zeigt, dass dem Berichterstatter nicht bewusst war, wie gering diese Änderungen waren. Weitere Kritiken reichten von der Einschätzung, die Musik sei übermäßig süß101 bis zur Feststellung, die Ausschnitte aus Spohrs Oratorium seien neben Mendelssohns Lobgesang und Beethovens C-Dur-Messe der Höhepunkt des Festivals gewesen.102 Die Veranstalter hielten sich offensichtlich an letztere Einschätzung, als sie drei Jahre später wieder Ausschnitte auf das Programm setzten. Wieder finden wir in einer Kritik einen Hinweis auf die religiösen Vorbehalte: „,Calvary‘ has never obtained, nor is it likely to obtaine, the favourable consideration that Spohr’s ,Last Judgement‘ and ,The Fall of Babylon‘ have obtained. This is not on account of the music, for ,Calvary‘ (the composer’s second oratorio) contains some of his finest compositions. The main objection raised is to the introduction of the Saviour, as in Beethoven’s ,Mount of Olives‘, Graun’s ,Tod Jesu‘, and Bach’s ,Passione‘. The substitution of the Apostle John for Christ, by the late Prof. Taylor, was never liked. In ,Calvary‘ the details of the Crucifixion are closely followed, but not more so than in the Passione plays in Spain and Bavaria.“103
Joseph Barnby bezieht sich 1871 in der Ankündigung für eine geplante Aufführung dann wohl eher auf die hier anklingenden Vorbehalte gegen Spohrs Stil: „The unaccountable neglect with which the masterpieces of Spohr have been treated in this country, has induced the Directors to present his Oratorio Calvary during the season.“104
Eine kurze Notiz legt nahe, dass Barnby von diesem Plan Abstand nahm.105 Trotzdem schlug er 1873 auf einer Kirchentagung Des Heilands letzte Stunden als 100 „The Gloucester Musical Festival“, in: Orchestra 10 (1868), S. 389 ff., hier S. 390. 101 „The Gloucester Musical Festival“, in: Musical World 46 (1868), S. 632 – 635 und 650 – 653, hier S. 650. 102 „The Gloucester Musical Festival“, in: Pall Mall Gazette 12. 09. 1868, S. 11 f., hier S. 11; Nachdruck in: Musical World 46 (1868), S. 645. 103 „Gloucester Musical Festival“, in: Athenaeum (1871), S. 346 f., hier S. 346; vgl. Henry C. Lunn, „The Gloucester Musical Festival“, in: Musical Times 15 (1871), S. 231 – 235, hier S. 234. 104 Ankündigung „S. James’s Hall. The Oratorio Concerts“, in: Musical Times 14 (1871), S. 735; dass., in: ebd., S. 767; vgl. „Musical Gossip“, in: Athenaeum (1870), S. 768. 105 „Musical Notes“, in: Monthly Musical Record 1 (1871), S. 150 f., hier S. 151.
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eines der Werke vor, die in Passions-Gottesdiensten erklingen sollten.106 Diese Aufführungen ließen wohl zunächst noch auf sich warten, in den nächsten Jahren gab es aber dennoch in der Passionszeit einige Konzertaufführungen des Oratoriums. 1874 machte die Philharmonic Society Liverpool den Anfang.107 1875 schloss sich die Brixton Choral Society unter William Lemare in der Angell Town Institution in London an und wiederholte die erfolgreiche Aufführung 1880.108 Für 1880 kündigte auch die Plymouth Vocal Association eine jedoch nicht belegte Aufführung an.109 Es folgten Produktionen an der St. Luke’s Church Chelsea 1882110, durch die St. Patrick’s Oratorio Society Dublin 1882 und 1885111, zu Ehren von Spohrs 100. Geburtstag 1884 in Bradford112 und durch die St. Leonard’s and Hastings Choral Society113 sowie in der St. John’s Church in Edinburgh 1885114. In Spohrs 100. Geburtsjahr 1884 erfolgte dann eine Bearbeitung des Oratoriums für den liturgischen Gebrauch: „It was a happy thought of the Rev William Covington, Rector of Brompton, to arrange for a performance of selections from ,Calvary‘ in his church on the afternoon of Good Friday. A suppliced choir sang the music, and a small band played the accompaniments, with Mr. Barrett at the organ. Thirty-five excerpts were made from the oratorio. Some of the choruses, intensely dramatic in style, were effectively rendered, and the solos were assigned to fairly efficient vocalists. […] The roll of the drum in the recitative of John, when the beloved disciple repeats the last words of our Lord on the Cross, made a sensible impression upon a very full congregation.“115 106 Joseph Barnby, „Church Music. A Paper read at the Church Congress, Bath, 1873“, in: Musical Times 16 (1873), S. 267 – 272, hier S. 271; dass. als „Church Music“, in: Musical World 51 (1873), S. 779 und 805, hier S. 805; dass. als „Music at the Church Congress“, in: Musical Standard 5 (1873), S. 238 – 242, hier S. 241. 107 „Liverpool“, in: Musical Times 16 (1874), S. 462; „Provincial“, in: Musical World 21 (1874), S. 355. Bei dieser Aufführung wurden offensichtlich die Rezitative deutlich gekürzt (vgl. „Oratorio at St. Peter’s Pro-Cathedral“, in: Liverpool Mercury 25. 03. 1887, S. 5). 108 „Brixton Choral Society“, in: Musical Times 17 (1875), S. 52; „Passion Week Music“, in: Athenaeum (1875), S. 434; Musical Standard 8 (1875), S. 202; Musical Times 21 (1880), S. 232; „Brixton Choral Society“, in: Musical Standard 18 (1880), S. 275 f., hier S. 275; „Musical Gossip“, in: Athenaeum (1880), S. 546 f., hier S. 547. 109 Musical Times 20 (1879), S. 484; „Plymouth“, in: Musical World 57 (1879), S. 522. Ein deutlich späterer Text scheint zumindest irgendeine Aufführung zu einer nicht genau bestimmten Zeit zu belegen („Mr. Frederic N. Löhr“, in: Musical Herald 2 (1889), S. 26 ff., hier S. 26). 110 „Passion Music in Lent“, in: Pall Mall Gazette 08. 04. 1882, S. 4 f., hier S. 5; Reginald Blunt, Memoirs of Gerald Blunt of Chelsea, His family and Forebears, London 1911, S. 135. 111 „Passing Events“, in: Musical Standard 23 (1882), S. 365 f., hier S. 366.; „Dublin. March 24“, in: Magazine of Music 2 (1885), S. 29. 112 „Bradford“, in: Magazine of Music 1 (1884), S. 13. 113 „St. Leonard’s and Hastings Choral Union“, in: Orchestra Musical Review 127 (1884), S. 52. 114 G.G., „Edinburgh“, in: Musical Standard 28 (1885), S. 226 f., hier S. 226. 115 „Spohr’s ,Calvary‘“, in: Musical Standard 26 (1884), S. 244; vgl. A.M., „The Norwich Festival“, in: Musical Standard 27 (1884), S. 225 f., hier S. 225.
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Obwohl es sich um eine Bearbeitung handelt, zeigt der letzte Satz dieses Zitats eindeutig, dass die in den 1830/40er-Jahren anstößigen Jesus-Worte hier beibehalten sind. Diese Bearbeitung ist nicht die erste Verwendung in einem anglikanischen Gottesdienst; bereits 1879 hieß es: „Spohr’s Oratorio ,Calvary‘ was the work selected for the special Lenten Services at St. Stephen’s, South Kensington, and so great has been the interest taken in these services, that the church has been crowed on each occasion. […] Mr. Albert Lowe conducted with much care and ability, and every credit is due to him for the introduction of this great work into the service of the English Church.“116
Der Wortlaut dieser Quelle spricht dafür, dass es sich hier um Taylors Bearbeitung handelt und nicht um eine weitere Bearbeitung für liturgische Zwecke. Vor allem deutet das „each occasion“ auf mehrere aufeinanderfolgende Aufführungen. Diese Aufführungen wiederholten sich 1884 und 1893.117 Aufführungen im Rahmen von Passionsandachten scheint es um 1880 bereits einige gegeben zu haben, denn um diese Zeit mahnt ein Artikel in einer Kirchenzeitschrift: „The teaching from the pulpit has its special function during the Forty Days, and although such music as the ,Passion‘ settings of Bach and Handel, the ,Calvary‘ of Spohr, the ,Seven Words‘ of Haydn, and even the more sensous ,Stabat Mater‘ of Rossini, may touch many a heart, the ought to form the supplement to, and not the substitute for, the Lenten service proper, with its meditation or instruction.“118
In der Parish Church in Leeds gab es 1886 zwei Aufführungen.119 Vermutlich handelte es sich wie 1887 um Aufführungen im Rahmen von „special Lenten services“,120 wobei hier eine Kritik zeigt, dass diese Aufführung als Konzert wahrgenommen wurde.121 Für 1893 lesen wir, dass erneut Calvary statt Bachs Matthäuspassion gegeben worden sei.122 Es gab demnach bereits eine kleine Aufführungstradition, als am 1. Februar 1887 das Werk auf den Spielplan der Novello’s Oratorio Concerts kam. Diese Aufführung spaltete – wie bei Spohr-Aufführungen in Großbritannien häufig – 116 „Spohr’s Oratorio ,Calvary‘“, in: Musical Times 20 (1879), S. 269; vgl. „Passing Events“, in: Musical Standard 16 (1879), S. 170 f., hier S. 171. 117 Church of England Pulpit 17 (1884), S. 107; „Miscellaneuos Notes“, in: Musical News 4 (1893), S. 222 f., hier S. 223; „Other Concerts“, in: Musical Standard 44 (1893), S. 191 f., hier S. 192. 118 Literary Churchman 26 (1880), S. 80. 119 „Leeds“, in: Musical Standard 30 (1886), S. 259; die Aufführungsdaten in: „Leeds“, in: Lute 4 (1886), S. 70. 120 „Leeds“, in: Musical Standard 32 (1887), S. 230; „Leeds“, in: Musical World 65 (1887), S. 201. 121 „Performance of Spohr’s ,Calvary‘ at the Leeds Parish Church“, in: Leeds Mercury 02. 03. 1887, S. 6. 122 „Notes from Leeds“, in: Magazine of Music 10 (1893), S. 95.
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die Kritik. Neben „Had Spohr written nothing but this oratorio his name would live in the history of music“123 und „Spohr’s best Oratorio“124, lesen wir auch: „Of all the composers of modern time regarded as great masters during their lives none has so completely fallen out of date as Louis Spohr.“125 Die früher geäußerten religiösen Vorbehalte sind nun offensichtlich nur noch eine undeutliche Erinnerung: „At this last performance Spohr’s design of the libretto was restored, the fear of offending a general audience having passed away.“126 Die Wiederherstellung des Librettos scheint sich jedoch auf die Streichung der „Jesus saith“-Stellen zu beschränken; der Sänger des Johannes singt weiterhin auch noch die Rolle des Jesus. Ausgerechnet hier entfaltet sich dann doch noch Kritik: „Mr. Barton McGucken sang well, although he did not satisfy us in his conception of the music assigned to the Saviour“.127 Im gleichen Jahr 1887 folgen weitere Aufführungen in London, die erste davon nur drei Wochen später bei der Hackney Choral Association am 21. Februar.128 Offensichtlich ebenfalls Konzertaufführungen in London waren die Interpretationen durch „Miss Holland’s well-known choir“ im Grovenor House am 17. März129 sowie eine Auswahl von Nummern in einem Konzert durch Studenten der Hyde Park Academy of Music am 31. März.130 An der St. Margaret Pattens Church erklang der erste Teil des Oratoriums am 23., der zweite am 30. März.131 Für den 6. April war Spohrs Komposition für die St. Nicholas ColeAbbey Church angekündigt.132 In der Pfarrkirche von Brompton erklang in diesem Jahr vermutlich die oben erwähnte Bearbeitung.133 Eine beiläufige Bemerkung über diese Gemeinde deutet auf regelmäßige Aufführungen dieser Bearbeitung hin.134 Eine regelrechte Aufführungstradition gab es auf jeden Fall bei St. Andrew’s, Wells Street. 1889 ist eine Aufführung für den 11. April ange123 „The Week“, in: Athenaeum (1887), S. 199 ff., hier S. 201. 124 „Musical Life in London“, in: Magazine of Music 3 (1887), S. 245 (hier auch Anmerkungen zu der folgend erwähnten Aufführung in Hackney). 125 „Novello’s Oratorio Concerts“, in: Musical World 65 (1887), S. 97. 126 „Spohr’s Oratorio Calvary“, in: Monthly Musical Record 18 (1887), S. 68 f., hier S. 68; vgl. die vergleichweise ausführliche Darstellung der früheren Vorbehalte in: „Novello’s Oratorio Concerts“, in: Musical Times 28 (1887), S. 151. 127 „Recent Concerts“, in: Academy (1887), S. 101. 128 „Borough of Hackney Choral Association“, in: Musical Times 28 (1887), S. 154; „Musical Gossip“, in: Athenaeum (1887), S. 297 f., hier S. 297. 129 „London“, in: Musical World 65 (1887), S. 220. 130 „Music Notes“, in: Academy (1887), S. 264. 131 Musical Times 28 (1887), S. 235; zu den Aufführungsdaten vgl. „Coming Events“, in: Musical Standard 32 (1887), S. 186 und 205. 132 „Coming Events“, in: Musical Standard 32 (1887), S. 221. 133 „Passing Events“, in: Musical Standard 32 (1887), S. 254 f., hier S. 255. 134 „Notes“, in: Musical World 70 (1890), S. 168. Zumindest für 1893 liegt noch eine Aufführungsankündigung vor („To-Day“, in: Daily News 31. 03. 1893, S. 2).
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kündigt.135 In den „five o’clock Evensong on Thursdays during Lent“ werden 1890 Ausschnitte gespielt.136 Vier Jahre später heißt es: „At St. Andrew’s, Wells Street, in addition to the usual selection from Spohr’s ,Calvary,‘ the choir will during the Lent season perform a Stabat Mater by Schubert“.137
Und noch weitere fünf Jahre später erfahren wir : „The version of words of ,Calvary‘ used at St. Andrew’s Church, Wells Street, is by Miss Etheldreda Webb, daughter of the late Rev. Benjamin Webb“.138
Gemessen an der Zahl der Aufführungen scheint Des Heilands letzte Stunden auch an der pro-cathedral Church St. Peter in Liverpool beliebt gewesen zu sein, mit je zwei Aufführungen 1887, 1888, 1890 und 1895 sowie mindestens einer weiteren Aufführung 1889.139 In diesen Jahren gibt es neben den oben genannten weitere Aufführungen sowohl in London (St. Luke’s Church Chelsea 1891140, 3 Aufführungen in St. Anne’s, Poole Park, Holloway 1892141, St. Stephens 1893142 und 1900143, Christ Church, Black Friars Road 1895144, St. Nicholas Cole-Abbey 1899145, Auszüge in St. Alphage 1899, 1900 und 1903146, St. Gabriel’s Church, 135 „Musical Items“, in: Pall Mall Gazette 03. 04. 1889, S. 6. 136 „Detached Notes“, in: Musical Standard 38 (1890), S. 178 f., hier S. 178; „Facts, Rumours, and Remarks”, in: Musical Times 31 (1890), S. 147 – 150, hier S. 150. 137 „Notes in brief“, in: Musical Opinion 17 (1894), S. 349. 138 „Answers to correspondents“, in: Musical Times 40 (1899), S. 414. 139 „Music in Liverpool“, in: Musical Times 28 (1887), S. 219 f., hier S. 220; „Liverpool“, in: Musical Standard 32 (1887), S. 214; J.J.M., „Liverpool“, in: Musical Standard 32 (1887), S. 101; „Oratorio at St. Peter’s Pro-Cathedral“, in: Liverpool Mercury 25. 03. 1887, S. 5; J.J.M., „Liverpool“, in: Musical Standard 33 (1888), S. 182; „Liverpool“, in: Musical Times 29 (1888), S. 243; „Spohr’s ,Calvary‘“, in: Liverpool Mercury 17. 03. 1888, S. 6; „,Calvary‘ at the Pro-Cathedral“, in: Liverpool Mercury 19. 03. 1888, S. 6; „Musical Notes“, in: Liverpool Mercury 26. 03. 1888, S. 7; „Local News“, in: Liverpool Mercury 22. 03. 1890, S. 6; dass., in: Liverpool Mercury 31. 03. 1890, S. 6; vgl. J.J.M., „Liverpool“, in: Musical Standard 38 (1890), S. 297; „Day to Day in Liverpool“, in: Liverpool Mercury 14. 03. 1895, S. 6; „Liverpool“, in: Musical News 8 (1895), S. 251; „Music in Liverpool“, in: Musical Times 36 (1895), S. 252; J.J.M., „Liverpool“, in: Musical Standard 43 (1895), S. 314 f., hier S. 315; „Liverpool“, in: Musical Herald (1895), S. 142; „Liverpool. Oratorio at the Pro-Cathedral“, in: Musical Standard 34 (1889), S. 273. 140 Blunt, Memoirs, S. 147. 141 „Performance of Spohr’s ,Calvary‘“, in: Musical Opinion 15 (1891), S. 295; „Miscellaneuos Notes“, in: Musical News 2 (1892), S. 246 f. 142 „Miscellaneuos Notes“, in: Musical News 4 (1893), S. 222 f., hier S. 223; „Other Concerts“, in: Musical Standard 44 (1893), S. 191 f., hier S. 192. 143 „Service Lists“, in: Musical News 18 (1900), S. 239, 287 und 335. 144 „London N. and NW.”, in: Musical Herald (1895), S. 140. 145 „Preachers for Tomorrow“, in: Daily News 25. 03. 1899, S. 5. 146 „Service Lists. Fifth Sunday in Lent“, in: Musical News 16 (1899), S. 294; „Church Music“, in: Musical Times 40 (1899), S. 172; „Among the Churches“, in: Musical News 18 (1900), S. 235.; „Service Lists“, in: Musical Standard 19 (1903), S. 140, 204 und 220.
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Pimlico 1904147, Brixton 1907148, „Mr. Munro Davison’s Choral Society“ 1909149 und zumindest angekündigt Acton Choral and Orchestra Society 1910150) als auch außerhalb (Blackburn 1890151, Chelmesford 1890152, Hastings 1891 und 1898153, York 1892 sowie Auszüge in Passionsgottesdiensten 1896154, Newcastle 1895155, Dublin 1897, 1901 und 1904156, Guernsey 1901157, Birmingham 1904158, Bristol 1905159, Bradford 1905160 sowie Huddersfield 1906161). Ein Höhepunkt dieser Serie hätte eine vollständige Aufführung beim Musikfest in Hereford 1891 sein können, wäre die Interpretation nicht offensichtlich schlecht vorbereitet gewesen.162 Befürchtungen wegen Widerständen des Klerus gegen dieses Oratorium gibt es nicht mehr, dafür aber wegen der Aufführung anderer Werke: „Spohr’s ,Calvary‘ is likewise in the scheme, and the clerical authorities have happily raised no objection to the performance in the Cathedral of Beethoven’s ,Eroica‘ Sym-
147 „Cathedral and Paris Church Musical Services“, in: Musical Times 45 (1904), S. 240 f., hier S. 241. 148 Musical Times 48 (1907), S. 661 149 „London, N. and N.W. “, in: Musical Herald (1909), S. 139; „Suburban Concerts“, in: Musical Times 50 (1909), S. 389 f., hier S. 390. 150 „London, W. and W.C.“, in: Musical Herald (1909), S. 363. 151 „Music in Blackburn“, in: Musical Times 31 (1890), S. 286. 152 „Chelmsford“, in: Musical Herald 17 (1890), S. 395. 153 F.H.H., „Hastings and St. Leonards“, in: Musical News 1 (1891), S. 47 f.; „Hastings“, in: Musical Times 32 (1891), S. 237; „Miscellaneuos Notes“, in: Musical News 14 (1898), S. 353. 154 Max, „York Notes“, Magazine of Music 9 (1892), S. 75; A.P. Purey-Cost, „York Minister“, in: Official Year-book of the Church of England (1897), S. 45. 155 „Newcastle-on-Tyne“, in: Musical News 8 (1895), S. 372 f., hier S. 373. 156 „Music in Dublin“, in: Musical Times 38 (1897), S. 327; „Music in Dublin”, in: Musical Times 42 (1901), S. 332; „Music in Dublin“, in: Musical Times 45 (1904), S. 319. 157 Dieses Datum zeigt, wie vollständige und teilweise Aufführungen des Oratoriums sich ergänzen können: „Spohr’s ,Calvary‘ was given as the Lenten oratorio in St. Stephen’s Church, on the 13th and 14th ult., with a selection on the Sunday following“. „Guernsey”, in: Musical Times 42 (1901), S. 267. 158 „Music in Birmingham“, in: Musical Times 45 (1904), S. 317. 159 „Music in Bristol“, in: Musical Times 46 (1905), S. 333. 160 „Other Yorkshire Towns“, in: Musical Times 46 (1905), S. 336. 161 „Lenten Services“, in: Musical Times 47 (1906), S. 326. 162 Vgl. „The Hereford Festival“, in: Musical Standard 41 (1891), S. 238 f., hier S. 238; S.S.S., „Hereford Music Festival“, in: Monthly Musical Record 21 (1891), S. 223 ff., hier S. 224; „The Festival of the three Choirs“, in: Athenaeum (1891), S. 394 f., hier S. 395; „Hereford Festival“, in: Musical Standard 41 (1891), S. 209 ff., hier S. 210. Andere Kritiker bezweifelten allerdings, dass eine perfekte Aufführung den langweiligen Schönheiten von Spohrs Komposition hätte Leben einhauchen können (vgl. „The Hereford Music Festival“, in: Saturday Review 72 (1891), S. 333 f., hier S. 334; „The Hereford Festival“, in: Musical News 1 (1891), S. 578 ff., hier S. 579.
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phony, Schubert’s Unfinished Symphony in B minor, and the prelude to Wagner’s opera ,Parsifal.‘“163
Und noch ein Jahrzehnt später bezieht sich eine theologische Kritik an Des Heilands letzte Stunden endgültig nicht mehr auf die Frage, ob ein Passionsoratorium überhaupt erlaubt ist, sondern auf sehr spezifische Details: „John continues the narrative, and the scene ends with the two last words of our Lord: ,Father, into thy hand I commend my spirit,‘ and ,It is finished.‘ The order thus given is not correct, as the commendation came last and was a private meditation, while the other was a loud triumphant cry uttered.“164
Viele der aufgelisteten Aufführungen sind nur in jeweils einem der durchgesehenen Periodika erwähnt. Dies betrifft nicht nur Aufführungen in kleinen Orten wie Chelmsford, Blackburn oder Bradford oder in kleinen Kirchgemeinden der Londoner Außenbezirke, sondern auch in Metropolen wie Newcastle, Edinburgh und Dublin. Dies weckt den Verdacht, hier könnten weitere Aufführungen noch nicht erfasst sein. Außerdem führten einzelne Nummern ein Eigenleben. Hier sei exemplarisch auf einige Pflichtstücke bei den Wettbewerben beim walisischen Eisteddfod hingewiesen: 1877 in Caernafon die Petrus-Arie „Tears of Sorrow“ in der Kategorie Bass165, 1885 in Aberdare der Schlusschor „Beloved Lord, thine eyes we close“ in der Kategorie Chor166, 1886 in Caernafon „When this scene of trouble closes“ in der Kategorie Sopran167, 1893 in Crumlin „O where, where shall I flee“ in der Kategorie Bass168 sowie 1900 in Liverpool „When this scene of trouble closes“ in der Kategorie Mezzo-Sopran169.
5.
Ausblick
Des Heilands letzte Stunden war einerseits sicherlich kein Erfolgsoratorium des 19. Jahrhunderts. Andererseits widerlegt die Zahl der belegten Aufführung die These, dieses Werk habe sich wegen der religiösen Widerstände zu Spohrs Lebzeiten nicht durchsetzen können und habe, als die Bedenken entfielen, kein Interesse mehr gefunden. An einigen Orten scheinen sich zudem Aufführungstraditionen gebildet zu haben; mit Sicherheit im Falle der Gottesdienst163 „The Hereford Festival“, in: Musical Standard 41 (1891), S. 127. 164 J.T. Lawrence, „Spohr’s ’Calvary’ “, in: Musical Opinion 25 (1902), S. 365 und 602, hier S. 602. 165 „The National Eisteddfod“, in: Liverpool Mercury 23. 08. 1877. 166 „Eisteddfod Genedlaethol Cymru“, in: Y Genedl Cymreig 28. 01. 1885, S. 1. 167 „The Royal National Eisteddfod“, in: North Wales Chronicle 18. 09. 1886, S. 8. 168 „Musical Eisteddfod in Crumlin“, in: Western Mail 07. 11. 1893, S. 6. 169 „Liverpool Eisteddfod 1900“, in: Liverpool Mercury 08. 07. 1900, S. 7.
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Bearbeitungen der Londoner Gemeinden Brompton und St. Andrew’s, vielleicht auch St. Alphage und St. Stephens. Die wiederholten Konzertaufführungen in Liverpool, Leeds und Dublin deuten ebenfalls in diese Richtung. Möglicherweise war der ursprüngliche Nachteil des Oratoriums für eine Rezeption im Vereinigten Königreich – der Passionsstoff – später ein Vorteil, da das Werk so leichter in die Liturgie eingefügt werden konnte. Um dies zu untersuchen wären zwei Vergleiche notwendig: Zum einen müssten auch die späteren Aufführungen von Die letzten Dinge und Der Fall Babylons erhoben werden, um festzustellen, ob sie tatsächlich häufiger aufgeführt wurden als Des Heilands letzte Stunden. Zum anderen wäre in Bezug auf die Rezeption in den Passionsgottesdiensten interessant, welchen Anteil Spohrs Oratorium hier wirklich hatte, gerade auch im Vergleich mit weiteren hier eingesetzten Kompositionen wie Bachs, später auch Schütz’ Passionen, Grauns Der Tod Jesu, Haydns Die sieben letzten Worte, Beethovens Christus am Ölberge, aber auch britischen Passions-Kompositionen. Ein ausführlicher Vergleich mit der Rezeptions-Geschichte von Beethovens Christus-Oratorium dürfte ebenfalls ein neues Licht auf die Rezeption Spohrs werfen. Daneben gibt es weitere Desiderata: Zur Einschätzung der religiösen Widerstände gegen das Oratorium würde die Auswertung von Schrifttum aus dem Umkreis der Dissenter-Kirchen und von kleineren (noch) nicht in den einschlägigen Datenbanken vorhandenen Tageszeitungen vermutlich zusätzliche Erkenntnisse bieten. Auch über die Spohr-Forschung hinaus wären systematische Darstellungen beispielsweise des Norwicher Musikfestes und der Sacred Harmonic Society London institutionengeschichtlich wertvoll. Doch auch die hier ausgewerteten Quellen haben gezeigt: die in der Spohr-Forschung für viele Fragestellungen häufig als wichtigste Quelle herangezogene Selbstbiographie ist inhaltlich höchst unzuverlässig.
Der Fall Babylons
Dominik Höink
Louis Spohrs Der Fall Babylons und die ,Belsazardramen‘ seit Georg Friedrich Händel
Der Fall Babylons ist das einzige Oratorium Spohrs, das auf einem alttestamentlichen Sujet fußt. Den Gegenstand des Oratoriums bildet jene Geschichte von der Eroberung Babylons durch die Perser und damit von der Befreiung der Juden aus der babylonischen Gefangenschaft. Die Oratorienhandlung schließt die bekannte Szene von der unsichtbaren Schrift an der Wand ein, die während eines Festgelages im Palast des Belsazar erscheint, nachdem dieser den Gott Israels provozierte, indem er sich im Spott der jüdischen Tempelgefäße als Trinkgefäße bedient hat. Das Oratorium Spohrs ist als dramatisches Werk konzipiert. Entsprechend liegt sogleich die Frage auf der Hand, in welchem Verhältnis Spohrs Oratorium zu den für die Gattungstradition so prägenden dramatischen, alttestamentlichen Beiträgen Georg Friedrich Händels steht. Bereits Spohrs Zeitgenossen brachten seine Komposition mit den Oratorien Händels in Verbindung. Ein Rezensent des Morning Chronicle sah darin beispielsweise „das größte Werk seiner Art […], das seit den Tagen Händels erschienen ist“1 und überdies verband sich damit der Wunsch, „daß Spohr […] für das englische Volk ein zweiter Händel“ werde.2 Auch in der einschlägigen Oratorienliteratur ist Händels Werk als Maßstab nur allzu präsent; bisweilen jedoch vor allem, um die Spohr’sche Vertonung zu diskreditieren. Für Arnold Schering etwa diente der Verweis auf einen „gewaltigen Abstand“, den Spohrs Oratorium von Händels Belshazzar trenne, dem Unterstreichen seiner Verwunderung über die positive Aufnahme in England.3 Die deutsche Rezeption sei – nach Schering – da bereits deutlich reflektierter und gebe seinem „Zweifel an der inneren Wahrhaftigkeit unumwunden Ausdruck.“4 Diese Einschätzung Scherings bezieht sich einerseits auf den „unge-
1 Zitiert nach Clive Brown, Louis Spohr. Eine kritische Biographie, Kassel 2009, S. 308. 2 Jahrbücher des Deutschen Nationalvereins für Musik und ihre Wissenschaft 4 (1842), S. 341 f. 3 Arnold Schering, Geschichte des Oratoriums (= Kleine Handbücher der Musikgeschichte nach Gattungen, 3), Leipzig 1911, Reprint Hildesheim 1966, S. 404 f. 4 Ebd.
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schickten Text vom Engländer Taylor“, aber andererseits ebenso auf einen Spohr zugeschriebenen Mangel an Fertigkeiten bei der Komposition von Fugen. Der zweite Aspekt, nämlich die Beurteilung der musikalischen Faktur dieses Werkes, soll nicht Gegenstand des vorliegenden Beitrags sein. Vielmehr wird der Fokus nachfolgend auf das englische Originallibretto aus der Feder Edward Taylors gelenkt. Der aus Norwich stammende Edward Taylor ist zentral für die englische Spohr-Rezeption gewesen. Taylor hat nicht allein dessen Oratorien für den Gebrauch in England übersetzt und sich maßgeblich für die Aufführung seiner Musik eingesetzt – vor allem im Zusammenhang mit den von ihm mitbegründeten Musikfesten in Norwich –,5 sondern er hat überdies auch für andere Komponisten Oratorienlibretti verfasst, wie beispielsweise für George Fredrick Perry oder Henry Rowley Bishop; wobei es sich stets um Zusammenstellungen aus existierenden Textvorlagen handelt.6 Noch im frühen 20. Jahrhundert ignorierte Hermann Kretzschmar in seinem Führer durch den Konzertsaal die Autorschaft Taylors am Libretto zu Spohrs Der Fall Babylons und schrieb stattdessen dem „als Volksmann bekannte[n] Fr[iedrich] Oetker“ die Verantwortung für manch sonderbaren Einschub „anmutig idyllischer Szenen“ zu, die ihm als „weich[e] Zutaten“ im biblischen Drama galten;7 gemeint ist vor allem die dritte Szene des ersten Teils, in der ein jüdisches Paar an der Wiege ihres Kindes um Gottes Beistand bittet und die bevorstehende Erfüllung der prophetischen Vision von der Befreiung erwartet. Durch den ausschließlichen Verweis auf Oetker ist sogleich jede Verbindung zur englischen Tradition beiseite geschoben. Aber auch in der jüngeren Literatur ist bisweilen, obschon dort stets Taylor als Textdichter erwähnt wird, der vergleichende Blick bei der Einordnung in eine Sujettradition auf die deutsche Oratoriengeschichte gelenkt worden.8
5 Die Begeisterung Taylors für Spohr und seiner Musik spiegelt die Schilderung seines Neffen: „My uncle made the acquaintance of Spohr on the occasion of a visit to Mendelssohn and his family at Düsseldorf, and became his intimate friend. He held him in high esteem, and placed him in the foremost rank of great musicians. When I looked at the stolid German countenance and burly frame, I felt some difficulty in believing him to be a great composer, but my uncle laced Spohr in the first rank of great musical writers.“ Philip Meadows Taylor, A Memoir of the Family of Taylor of Norwich, London 1886, S. 27. 6 Vgl. Barbara Mohn, Das englische Oratorium im 19. Jahrhundert. Quellen, Traditionen, Entwicklungen (= Beiträge zur Geschichte der Kirchenmusik, 9), Paderborn u. a. 2000, S. 424 und 473. 7 Hermann Kretzschmar, Führer durch den Konzertsaal. II. Abteilung, Band II: Oratorien und weltliche Chorwerke, Leipzig 31915, S. 321. 8 Vgl. Eva Verena Schmid, Oratorium und Musikfest. Zur Geschichte des Oratoriums in Deutschland in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts (= Hainholz Musikwissenschaft, 18), Göttingen 2012, S. 180.
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Bevor jedoch die Genese des englischen Textes samt seiner Verbindungen zur literarischen Tradition beleuchtet wird, sei mit einer kurzen Rekapitulation der Entstehungshintergründe des Oratoriums begonnen: Spohr reiste Anfang September 1839 nach England, um auf dem Musikfest in Norwich sein Oratorium Des Heilands letzte Stunden zu dirigieren. Im Rahmen dieser Reise habe ihm Taylor einen von ihm gedichteten Oratorientext angeboten und Spohr gebeten, diesen für das nächste Musikfest 1842 zu vertonen. Nachdem Spohr den englischen Originaltext erhalten hatte, beauftragte er den ebenfalls in Kassel ansässigen Politiker, Publizisten und Dichter Friedrich Oetker, eine deutsche Übersetzung zu verfertigen.9 Spohr vertonte diesen deutschen Text schließlich, sandte das Neukomponierte stückweise zu Taylor nach London, der wiederum für die englischen Aufführungen und für die englische Ausgabe eine Rückübersetzung anfertigte.10 Nach ersten Aufführungen in Kassel, die das Komitee in Norwich erlaubte, wurde das Werk schließlich 1842 im Rahmen des dortigen Musikfestes in der englischen Fassung dargeboten und im selben Jahr die englische Ausgabe mit einer Rückübersetzung Taylors publiziert. Soweit die bekannten Rahmendaten. Wenden wir uns nun der Entstehung des englischen Originallibrettos zu und versuchen, mögliche Vorlagen oder Inspirationshilfen, die Taylor beim Verfassen des englischen Textes beeinflusst haben könnten, aufzuspüren.11 Zunächst soll daher der Blick auf die Konzeption von Händels Belshazzar als möglichem Ideengeber gelenkt werden.12 Händels Librettist Charles Jennens, der zuvor bereits das Libretto zu Messiah zusammengestellt hatte, gestaltete die Textvorlage zu Belshazzar nach Daniel 5, Jeremia 29 und Jesaia 44 und 45 sowie nach Xenophon und Herdot. Auch in Taylors Text finden sich neben den entsprechenden Episoden aus dem für diese 9 Zur Vita Oetkers vgl. Karl Wippermann, „Oetker, Friedrich“, in: Allgemeine Deutsche Biographie 24 (1887), S. 541 – 546; Wilhelm Mommsen, „Friedrich Oetker“, in: Lebensbilder aus Kurhessen und Waldeck 1830 – 1930 (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen und Waldeck, 20), hrsg. von Ingeborg Schnack, Bd. 3, Marburg 1942, S. 308 – 320. 10 Zu den Details und den Problemen, die mit der Rückübersetzung verbunden waren vgl. den Briefwechsel zwischen Spohr und Taylor in: Universitätsbibliothek Kassel. Landesbibliothek und Murhardsche Bibliothek der Stadt Kassel (D-Kl), 48 Ms. hist. litt. 15[195 sowie 48 Ms. Hass. 287. 11 Das englische Originallibretto ist einem Brief Edward Taylors an Louis Spohr vom 1. Oktober 1839 beigefügt, in: D-Kl, 48 Ms. Hass. 287. 12 Das Händel-Oratorium ist bereits im 18. Jahrhundert zweifach gedruckt worden: einerseits in der Ausgabe von John Walsh 1745 sowie in der Arnold-Ausgabe 1790. Vgl. Hans Joachim Marx, Händels Oratorien, Oden und Serenaten. Ein Kompendium, Göttingen 1998, S. 59. Aus dem Bibliothekskatalog der Sacred Harmonic Society in London geht hervor, dass diese im Besitz der Arnold-Edition, der Walsh-Ausgabe sowie der späteren Mosel-Bearbeitung von Belshazzar war. Entsprechend ist davon auszugehen, dass das Werk im Londoner Umfeld Taylors bekannt war. Vgl. Catalogue of the Library of the Sacred Harmonic Society, London 1862, S. 1 – 4.
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Thematik zentralen Daniel-Buch auch Zitate aus Jeremia und Jesaia sowie aus den Psalmen.13 Bei einem Blick auf die Personenkonstellation wird überdies deutlich, dass auch Taylor der üblichen Verbindung von biblischer Geschichte mit historischen Quellen folgte, indem er beispielsweise die nicht-biblische Figur der Nitocris, die bei Herodot erscheint, aufnahm. Die Vermischung biblischer und historischer Berichte geht bei Jennens auf die in England seit Händels Zeit und bis in das 19. Jahrhundert verbreitete Ancient History von Charles Rollin zurück.14 Tabelle 1: Personenkonstellationen in Jennens/Händels Belshazzar und Taylor/Spohrs The Fall of Babylon Belshazzar Belshazzar Nitocris
The Fall of Babylon Belshazzar Nitocris
Cyrus Daniel
Cyrus Daniel
Gobryas Arioch
– –
Messenger –
– Israelitish Man
– –
Israelitish Woman Priests of Bel
Chorus of Babylonians Chorus of Jews
Babylonish Soldiers Israelites
Chorus of Medes and Persians
Persian Soldiers
Auch Taylor verbindet die im biblischen Daniel-Buch als Königin bezeichnete Frau mit der bei Herodot erwähnten Nitocris. In beiden Fällen kommt ihr die Rolle der Mahnerin zu. Im Vergleich zum Personentableau bei Jennens entfallen bei Taylor einerseits die Figur des assyrischen Edelmanns Gobryas, des Gegenspielers von Cyrus im Händelschen Oratorium, und andererseits die Figur des Arioch, der im dritten Akt bei Jennens der Königin berichtet, Belsazars Sakrileg sei lediglich dem Einfluss hinterlistiger Hofleute geschuldet gewesen. Jenseits dieser Unterschiede in der Personenkonstellationen finden sich ebensolche auch mit Blick auf die dramaturgische Ausgestaltung des Geschehens: Gleich der Auftakt der beiden Oratorien zeigt große Differenzen. Während bei Jennens zunächst Nitocris allein über menschliche Schwäche und göttliche 13 Zu den biblischen Vorlagen und deren Verarbeitung vgl. den Beitrag von Johannes Schnocks in diesem Band. 14 Vgl. Ruth Smith, Handel’s oratorios and eighteenth-century thought, Cambridge 1995, S. 153.
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Beständigkeit reflektiert und damit – wie Jan Assmann es ausgedrückt hat – „gleich zu Anfang das Hauptthema des Danielbuches, der Übergang der Weltherrschaft von einem auf das andere Reich“, thematisiert wird,15 beginnt Taylor sein Libretto mit einem Klagechor der Juden, der von einer Solonummer unterbrochen wird und anschließend in den Auftritt Daniels mündet. Strukturell sind die Oratorienanfänge somit deutlich verschieden. Taylors Konzeption ähnelt vielmehr dem Beginn von Händels Judas Maccabaeus – sofern man im Fall Babylons den Auftritt des Perserkönigs Cyrus in der zweiten Szene mit einschließt: Tabelle 2: Vergleich der Anfänge von The Fall of Babylon und Judas Maccabaeus16
Leid, Bitte um Beistand Rhetorische Frage Prophezeiung Berufung des Helden
The Fall of Babylon Chorus: God of our fathers Israelitish Woman: Shall our feet no more thy sacred courts attend?
Judas Maccabaeus Chorus: Mourn, ye afflicted children Duet (Is. Man & Woman): Ah! wither shall we fly?
Cyrus-recitative: Judea’s God hath spoken Cyrus-recit (cont’d): Cyrus, my shepherd, my annointed
Simon-recitative: Judas shall set the captive free Simon-accomp. recit: Judas shall set the captive free
Bitte des Helden Cyrus-song: um Beistand Mighty God, thy awful mandate teach, O teach me tu fulfill! Schlachtrufe Cyrus: Haughty Babylon
Judas-air : Call forth thy pow’rs my soul, and dare the conflict of unequal war. Chorus: Lead on, lead on
Neben dieser strukturellen Parallele zu Beginn ist aber ebenso auf eine Ähnlichkeit zwischen den Belsazar-Texten von Jennens und Taylor hinzuweisen: Die dritte Szene des ersten Teils ist in beiden Fällen in einen intimen häuslichen Rahmen verlegt. Bei Jennens tritt Daniel auf, hat die prophetischen Texte des Jeremia und Jesaja vor sich liegen und besingt, dass die Prophezeiung von der Befreiung und Rückkehr in das Heimatland bald in Erfüllung gehen werde. Taylor wählte als Ort ein jüdisches Haus in Babylon, lässt zunächst eine jüdische Frau auftreten, die in verzweifelter Klage über die derzeitige Situation den Beistand Gottes für ihr Kind erbittet, woraufhin der Ehemann die Kunde von der 15 Jan Assmann, „Händels Belshazzar – musikalische Form und geschichtliche Hintergründe“, in: Musik & Ästhetik 13 (2009), S. 5 – 24, hier S. 15. 16 Die Tabelle ist entnommen aus: Kenneth Nott, „Händels Vermächtnis im Deutschland des 19. Jahrhunderts: Die Oratorien Louis Spohrs“, in: Händel-Jahrbuch 44 (1998), S. 34 – 41, hier S. 40.
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Vision des Propheten überbringt, die Vernichtung der Feinde und somit die Befreiung seien nahe. Tabelle 3: Die Prophezeiung der Befreiung in Jennens/Händels Belshazzar und Taylor/ Spohrs The Fall of Babylon Belshazzar Daniel’s house. Daniel, with the prophecies of Isaiah and Jeremiah open before him. Other Jews. Accompagnato – Daniel Rejoice, my countrymen: the time draws near, the long expected time herein foretold. Seek now the Lord your God with all your heart, and you shall surely find him. He shall turn your long captivity ; he shall gather you from all the nations whither you are driven, and to your native land in peace restore you.
The Fall of Babylon A Jewish house in Babylon Recitative – Jewish man Joy, joy to her I bring who shares my woes! The day is come – the hour’s at hand – is here! In vision hath our holy Prophet seen The long-delay’d redemption of our race At length fulfill’d. Jehovah’s arm uprais’d Shall crush our haughty & tyrannic foes.
Wenngleich die Botschaft somit identisch ist, ergibt sich durch die veränderte Figurenkonstellation eine nicht unerhebliche Verschiebung in der Bedeutung. Genau auf diesen Aspekt wird später zurückzukommen sein. Trotz dieser und weniger weiterer Vergleichspunkte sind die Ähnlichkeiten des Taylor’schen Textes mit dem des Händel’schen Belshazzar insgesamt zu gering, um hierin das entscheidende Modell für den von Spohr komponierten Text zu sehen. Es gilt folglich, nach weiteren möglichen Vorlagen für Taylors Libretto zu suchen. Der Themenkomplex um die jüdische Gefangenschaft, Belsazars Fest, die unsichtbare Hand und den Propheten Daniel erfreute sich nicht allein zu Händels Zeit großer Beliebtheit und zählte ebenso nicht allein im 18. Jahrhundert zu jenen Stoffen, die sich vermittels allegorischer Auslegung auf die jeweilige politische Gegenwart in England beziehen ließen. Entsprechend lassen sich eine Reihe von Oratorienvertonungen dieses Sujets für das 19. Jahrhundert in England nachweisen:17
17 Vgl. Mohn, Das englische Oratorium, S. 133 – 145, bes. S. 137.
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Tabelle 4: Englische Oratorien des 19. Jahrhunderts zum Themenkreis Babylonische Gefangenschaft, Prophet Daniel, Belsazar18 William Crotch, The Captivity of Judah, 1. Version: 1789; 2. Version: 1834 / „Words selected by the Rev. A. C. Schomberg […] and the Rev. John Owen“ George Perry, Belshazzar’s Feast, 1834? Marmaduke Miller, Israel in Babylon, 1840 Charles Edward Horn, Daniels Prediction or The Vision of Belshazzar, 1847 / „the words selected principally from Hannah More’s Sacred Drama, with additions from the Scripture, & c. compiled and partly written by Charles H. Purday“ Jackson, The Deliverance of Israel from Babylon, 1844 / „words by Thomas Carter Jun.“ William Russel, The Deliverance of Israel (1. Hälfte 19. Jh.) George Handy Lake, Daniel, 1852 / „Words selected from the Holy Scriptures, and from H. More’s Sacred Drama“ John Henry Griesbach, Daniel, 1854 / Librettist: William Ball Francis Howell, The Captivity, 1862 / Bibeltext; vermutlich vom Komponisten zusammengestellt George William Torrance, The Captivity, 1864 / „Words written by W. H. Craig“ Charles Swinnerton Heap, The Captivity, 1870 / nach Oliver Goldsmith Joseph Nicholds, Babylon, 1868 Henry Plumridge, Daniel, 1884 / „Word from various sources“ (Bible, Kebles The Christian Year, English Psalter by Whicting) Joseph Cox Bridge, Daniel, 1884 / weitgehend Bibeltext George Shinn, The Captives of Babylon, 1887 / zusammengestellt und geschrieben von James Shepherd
Bei der Suche nach Oratorien, die Taylor bei seinem 1839 fertig gestellten Libretto inspiriert haben könnten, kommen aufgrund der Chronologie zunächst lediglich Wiliam Crotchs The captivity of Judah und George Perrys Belshazzar’s Feast in Frage. Das Libretto zu Crotchs Oratorium ist eine Collage verschiedener Bibelzitate. Die Ausschnitte sind zwar vornehmlich den Prophetenbüchern Jesaia und Jeremiah sowie den Psalmen entnommen, allerdings wird ein Bezug zu der für Taylors Text zentralen Geschichte aus Daniel 5 nicht hergestellt. Die Kompilatoren des Textes haben dabei auf handelnde Figuren sowie auf Szenenanweisungen verzichtet. Ähnlich wie Händels Messiah ist dieses Oratorium somit als ein betrachtendes zu bezeichnen.19 In welchem Verhältnis Taylors Libretto zu George Perrys 1836 uraufgeführtem Oratorium steht, ist derzeit nicht zu beurteilen. Die einzige nachweisbare Kopie des Librettos wird in der British Library in London verwahrt, wo sie jedoch auf Anfrage als „verlegt“ gilt und 18 Zu den hier aufgeführten Werken vgl. Verzeichnis englischer Oratorien 1800 – 1914, in: ebd., S. 411 – 500. 19 Zu diesem Werk vgl. ebd., S. 245.
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daher nicht zugänglich ist. Ein Vergleich wäre überdies lohnenswert, da Perry von Taylor gefördert wurde und dieser ihm das Libretto zu seinem dritten Oratorium The Fall of Jerusalem zusammengestellt hat.20 Bei einem Blick auf die Übersicht fällt sodann auf, dass zwei Oratorienlibretti des 19. Jahrhunderts – nämlich diejenigen von Charles Edward Horn und George Handy Lake – auf demselben Drama fußen: auf Hannah Mores Belshazzar. Die 1745 geborene Dichterin publizierte im frühen 19. Jahrhundert ihr Drama, welches in England eine große Popularität erlangte. Entsprechend ergibt sich die Frage, ob auch Taylor sich von Mores Drama hat beeinflussen lassen, wie dies Peter Skrine 1986 bereits vermutet hat – wobei Skrine bei seinem äußerst knappen Hinweis lediglich mit der Rückübersetzung Taylors argumentiert hat und die Originalvorlage unberücksichtigt blieb.21 Legt man das Drama Mores neben das Taylor’sche Originallibretto, so ergibt sich folgendes Bild: Tabelle 5: Vergleich des Aufbaus von Taylors The Fall of Babylon und Mores Belshazzar The Fall of Babylon
Belshazzar22
Part I Scene on the banks of the Euphrates near Babylon Scene – Near the Palace of Babylon Chorus of Jews and Daniel Daniel and the captive Jews Scene – Camp of the Persian army Scene – A Jewish house in Babylon Scene – The Persian Camp Scene – The plain between the City & the Camp Part II Scene – The Banquet hall of the Palace
Scene – The Court of Belshazzar Part III Scene – The Court of Belshazzar
Während im Drama Mores jeder Teil nur an einem Ort, der zweite und dritte Teil sogar an demselben spielen, wechselt Taylor mit jeder Szene den Ort des Geschehens. Vergleichbar ist dennoch die erste Szene: Beide Texte lassen hier ausschließlich Daniel und die gefangenen Juden auftreten. Überdies ergibt sich eine Parallele im zweiten Teil. In beiden Fällen ist die Handlung ausschließlich an einen Ort, nämlich den Hof Belsazars, verlegt. Entsprechend lässt sich vermuten, dass Mores Drama einen Einfluss auf die Gestaltung von Taylors Text gehabt hat. Und auch bei genauerer Analyse des Textes ergeben sich Ähnlichkeiten. Einige 20 Vgl. ebd., S. 473. 21 Vgl. Peter Skrine, „English nightmares and German aspirations. The background to Spohr’s ,Fall of Babylon‘“, in: Spohr Journal 39 (Winter 2012), S. 9 ff. 22 In: The Works of Hannah More, Bd. 6, New York 1836, S. 323 ff.
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Textzeilen in Taylors Libretto sind nämlich mit dem Text von More identisch oder sind diesem sehr ähnlich. Tabelle 6: Textliche Übereinstimmungen oder Ähnlichkeiten in Taylors The Fall of Babylon und Mores Belshazzar (Auswahl) The Fall of Babylon Part I Rezitativ – Daniel … Thy power for hard captivity exchang’d! The galling chain of bondage crushes the free born soul, …
Belshazzar First Jew … Thy joys for hard captivity exchang’d The galling chain / Of bondage crushes then the free-born soul …
Part II Chorus … To great Belshazzar be the goblet To great Belshazzar be the goblet crowned! crowned, Belshazzar’s name let echoing roofs Belshazzar’s name the echoing roofs rebound! rebound! Recitative – Belshazzar Fill me the massy goblet to the brim! … (The hand writing appears on the wall)
Belshazzar Fill me that massy goblet to the brim. … (As the king is going to drink, thunder is heard; he starts from the throne ….) … Ye mystic symbols, ye illusive forms Ye mystic words! … … Explain your dark intent! reveal your dark intent! … …
Möglicherweise hat Taylor bewusst einige Passagen wörtlich zitiert, damit das englische Publikum sogleich eine Verbindung zum berühmten Drama herstellt.23 Insgesamt ist es somit durchaus plausibel, von einem Einfluss des More’schen Dramas auf die Genese des Oratorientextes zu schließen. Dennoch kann Mores Text nur partiell als Inspirationshilfe gelten. Insbesondere die von Kretzschmar – wie eingangs erwähnt – als „weich[e] Zutaten“ bezeichnete dritte Szene des ersten Aktes,24 in der zwar biblische Motive aufscheinen, die aber nicht direkt auf einem bestimmten biblischen Text beruht,25 ist nicht auf Hannah More zurückzuführen. Gerade im Zusammenhang mit dieser Szene kommt jedoch ein 23 Vgl. Skrine, „English nightmares“. 24 Kretzschmar, Führer durch den Konzertsaal, S. 321. 25 Vgl. den Beitrag von Johannes Schnocks in diesem Band.
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weiterer Autor ins Spiel, der die gesamte Textgenese in ein neues Licht rückt: der unitarische Pastor Hugh Hutton.26 Im Jahr der Uraufführung von The Fall of Babylon 1842 publizierte der in Birmingham tätige Reverend Hutton ein Textbuch mit dem aufschlussreichen Titel: The Fall of Babylon. A sacred musical drama on which is founded Spohr’s grand oratorio of the same title […]
Aus dem Taylor gewidmeten Büchlein geht somit scheinbar nichts weniger hervor als die Klarstellung der tatsächlichen Grundlage des Textbuches zu Spohrs Oratorium. Im Vorwort der Ausgabe erläutert Hutton, wie es – freilich aus seiner Sicht – zur Entstehung des Oratorienlibrettos gekommen sei.27 Mitte April 1834 habe sich Taylor mit der Bitte an ihn gewandt, ein Oratorienlibretto zu verfassen; denn sein Freund, der im Vorwort lediglich als „Mr. B–“ bezeichnet wird, sei bereit, ein Oratorium zu komponieren. Hinter der Abkürzung B. verbirgt sich der englische Komponist Henry R. Bishop, für den Taylor ebenfalls ein Oratorienlibretto in den 1830er Jahren zusammengestellt hatte.28 Als Stoff schlug Taylor eine Begebenheit aus der jüdischen Geschichte vor, nämlich die babylonische Gefangenschaft, das Versprechen Gottes an Cyrus, das Fest Belsazars und schließlich der Dank der Juden für die Aussicht auf eine Rückkehr in das gelobte Land. Orientieren solle sich Hutton bei der Umsetzung der biblischen Vorlage an seinem bereits verfassten Gedicht Prophecy of Babylon, in dem er eine glückliche Hand bei der Versifikation des Bibeltextes bewiesen habe. Jenes 1830 publizierte Gedicht29 war von Sigismund Neukomm komponiert,30 Taylor gewidmet und von diesem als Sänger nachweislich aufgeführt worden.31 Taylor war somit spätestens seit der Vertonung Neukomms mit dem lyrischen Werk Huttons vertraut und schätzte dieses offenbar sehr. Neben der Bitte, den Text möglichst nah am Bibeltext zu orientieren, sandte Taylor 26 Hutton wirkte von 1822 bis 1851 als Reverend am Old Meeting-House in der unitarischen Gemeinde in Birmingham. Vgl. John Reynell Wreford, Sketch of the history of Presbyterian nonconformity in Birmingham, Birmingham 1832, S. 26. Vgl. zudem Memorials of the Old Meeting House and Burial Ground Birmingham, copied, collected, and illustrated by Catherine Hutton Beale, Birmingham 1882, S. 55; zur Biographie S. 50. 27 Die Schilderungen in den nachfolgenden Abschnitten beziehen sich auf die Preliminary Notice, in: Hugh Hutton, The Fall of Babylon. A Sacred Musical Drama on which is founded Spohr’s Grand Oratorio of the same title: also, Saul at Endor, A Scene designed for Music. London 1842, S. V – XI. 28 Vgl. Mohn, Das englische Oratorium, S. 424. 29 Hugh Hutton, Poetical Pieces, chiefly on Devotional and Moral Subjects, Birmingham 1830, S. 45 – 47. 30 Sigismund Neukomm, The prophecy of Babylon: a sacred cantata, words by H. Hutton (= Neukomm’s Sacred Works, 9), London 1832. 31 Vgl. exemplarisch The Harmonicon (1832), S. 250.
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Hutton Ideen, wie das Oratorium in Rezitative, Arien und Chöre gegliedert werden könne. Hutton machte sich, seiner eigenen Schilderung zufolge, umgehend an die Arbeit, ohne dafür eine Entlohnung zu erwarten – es sei vielmehr ein Freundschaftsdienst gewesen. Am 18. April 1834 erhielt Hutton einen zweiten Brief von Taylor. Dieser machte in seinem Schreiben weitere Vorschläge zur Gestaltung des Textes, die allerdings weniger eine grobe Skizze darstellten als vielmehr eine detaillierte Beschreibung der Szenenfolge, der musikalischen Formen, die vorgesehen seien, sowie geeigneter Bibelstellen, die als Grundlage für die Versifikation dienen könnten. Hutton nahm diese Anregungen Taylors auf, betont aber im Vorwort der Ausgabe, dass er damit, zum Zwecke einer besseren dramaturgischen Gestaltung, durchaus frei umgegangen sei und eigene Szenen ergänzt und Verbindungen verändert habe. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang der Hinweis darauf, dass die bereits erwähnte dritte Szene im ersten Teil, die interessanterweise eine Ähnlichkeit zur Konzeption in Händels Belshazzar aufweist, von Hutton selbst eingefügt worden sei. Dieser gibt im Vorwort seiner Ausgabe zugleich Auskunft über die Beweggründe, diese Szene zu integrieren: „Thus, the whole of the Third Scene in the First Part (that of the Jewish family), was added by me to the original scheme, to illustrate the intensity of the patriotic feeling, which was always cherished with a pious fidelity in the breasts of the Hebrew Mothers during the captivities of their nation, and to indicate the powerful influence which such a spirit in the Jewish women must have exerted over their husbands, brothers, and children, in kindling and keeping alive in their hearts an irrepressible longing for their father-land.“32
Hutton hebt mit dieser Szene also auf eine besondere Rolle der Mütter während der Zeit der Gefangenschaft ab und betont sogleich deren fundamentale Bedeutung für die Nation. Man mag die Szene daher einerseits als Beispiel einer typischen Rollenzuschreibung in patriotisch-nationalen Texten lesen oder einen Hinweis auf starke biblische Frauenfiguren erkennen, die ebenfalls mit der Diaspora verbunden sind, wie etwa Esther oder Judith. Offensichtlich war der Einschub dieser Szene sehr bewusst platziert, wie Hutton weiter berichtet: Es sei seine Absicht gewesen, gewaltsam eine Begebenheit zu integrieren, die mit der Geschichte der babylonischen Gefangenschaft in Verbindung stehe. Mit Blick auf die Textgenese ist zunächst aber interessant in Erinnerung zu rufen, dass gerade diese Szene für spätere Rezensenten, wie beispielsweise Kretzschmar, ein Stein des Anstoßes war, da sie quer zum sonstigen Geschehen steht. Im weiteren Verlauf seines Vorwortes schildert Hutton, dass der zweite Teil 32 Hutton, The Fall of Babylon, S. VII.
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des Oratoriums viel weniger präzise von Taylor skizziert worden sei. Entsprechend habe Hutton selbst einige Nummern ergänzt, um den Text zu einem sinnvollen Schluss zu führen. Am 24. Mai 1834 habe Hutton den Oratorientext fertig gestellt und diesen umgehend an den Komponisten Bishop geschickt; der den Text wiederum sogleich an Taylor zur Prüfung weitergeleitet habe. Taylor übermittelte Bishop am 20. Juni 1834 die Antwort: „I confess I am very much pleased with the composition; you may trace in it, throughout, the writer’s perfect familiarity with Hebrew poetry and imagery […].“33
Die wenigen Anmerkungen, die Taylor gemacht habe, betrafen nach Hutton lediglich triviale Dinge. Er habe die Änderungen sogleich eingearbeitet und die Endfassung, die er schließlich 1842 publizierte, erstellt. Das Manuskript Huttons blieb jedoch zunächst ungenutzt. Erst im September 1839 – und somit über fünf Jahre nach dem Verfassen des Textes – habe Taylor ihn informiert, dass er den Text seinem „illustrious friend, Spohr“ angeboten habe und bat um eine Kopie. Diese Kopie wiederum ist zum Ausgangspunkt für Taylors Libretto geworden. Was Hutton schließlich bewogen hat, den Oratorientext gesondert zu publizieren und dabei unmittelbar im Titel den Hinweis aufzunehmen, dass dieser Text die Grundlage für Spohrs Oratorium sei, wird deutlich, wenn wir uns die folgende Wirkungsgeschichte vor Augen führen. Tatsächlich wurde im Zusammenhang mit Spohrs Werk fortwährend lediglich auf Taylor als Librettisten hingewiesen. Taylor selbst hat diese Rezeptionsweise entsprechend gelenkt. In einem am 18. Dezember 1841 in der Zeitung The Spectator publizierten Brief an den Herausgeber erläuterte Taylor seine Sicht auf die Entstehungsgeschichte des Oratorientextes. Anlass für diese Darstellung ist ein eine Woche zuvor erschienener Artikel, in dem darüber berichtet wurde, dass Spohr derzeit an einem neuen Oratorium arbeite. In seinem Brief schließlich hat Taylor die Genese des Textes in einer Weise dargestellt, die Hutton wiederum lediglich eine Nebenrolle zuweist. Das Sujet habe Taylor bereits lange Zeit beschäftigt und er habe dann ein Libretto in Prosaform verfasst, welches von Hutton versifiziert worden sei, dann aber einige Jahre ungenutzt blieb: „For my own amusement, some years since, I had drawn out the libretto of an oratorio founded on this subject, in prose; and, with the assistance of my friend the Reverend H. HUTTON of Birmingham, a poetical version of it was afterwards completed.“34
Hutton beklagt sich im Vorwort seiner Textbuchausgabe bitterlich darüber, lediglich als ,Versifikator‘ der Prosafassung eines anderen Autors angeführt worden zu sein. Er habe sich bemüht, Taylors Wunsch nach einem Oratorien33 Ebd., S. VIII. 34 The Spectator (18. Dezember 1841), S. 12.
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libretto zu erfüllen und sei in der Korrespondenz mit Taylor und auch in den Briefen zwischen Taylor und Bishop stets explizit als Autor bezeichnet worden. Die Verbitterung darüber, nun im Zusammenhang mit dem Spohr’schen Oratorium nicht genannt zu werden, war somit der Anlass, das Textbuch gesondert zu publizieren. Nach dieser Vorgeschichte gilt es nun, das Oratorienlibretto Huttons mit demjenigen Taylors und damit mit dem englischen Vorlagentext zu Spohrs Vertonung zu vergleichen. Hinsichtlich der Szenenfolge ergibt der Vergleich folgendes Bild: Tabelle 7: Vergleich des Aufbaus der Oratorientexte von Taylor und Hutton Taylor, The Fall of Babylon Part I Scene on the banks of the Euphrates near Babylon Scene – Camp of the Persian army Scene – A Jewish house in Babylon Scene – The Persian Camp
Hutton, The Fall of Babylon Scene 1. – The Banks of the Euphrates, near Babylon – A large multitude of Israelites engaged in deploring the captivity of their nation Scene 2. – Camp of the Persian Army. Cyrus, having received a communication from Daniel, is meditating on its import. Scene 3. – Habitation of a Jewish Family Scene 4. – The Persian Camp Scene 5. – The Banks of the Euphrates between the Camp and the City ; Babylon in distance
Scene – The plain between the Scene 6. – The Plain near the City, as in the First Scene City & the Camp Part II Scene 1. – On the Walls of Babylon. – Distant music, intimating the march and approach of the Persian Army Scene – The Banquet hall of the Scene 2. – The Banquet Hall of the Palace – InstruPalace mental Music – approach of Belshazzar and his Court to the Feast Scene 3. – A Street in Babylon at midnight, filled with Persian Soldiers, who have gained possession of the city, and put the greater part of the inhabitants to the sword Scene 4. – The Banquet-Hall in desolation Scene 5, and last. – The Grand Area before the Palace: early morning.
Augenfällig ist zunächst die Nähe der Szenenabfolge im ersten Teil des Oratoriums. Während sich Taylor im zweiten Teil mit lediglich einem Schauplatz begnügt, wird die Handlung bei Hutton an verschiedene Orte verlegt. Der wesentliche Grund für diese Differenz mag darin zu finden sein, dass Taylor Hutton
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bereits einen sehr genauen Plan des ersten Teils geschickt hat (wie dieser berichtet hat) und sich dieser Ablaufplan weitgehend mit seinem endgültigen Text deckt. Erkennbar ist aber in jedem Fall, dass Taylor die von Hutton eingefügte Szene im Haus der jüdischen Familie übernommen hat. Ein genauer Vergleich der Texte in der entsprechenden Szene ergibt überdies, dass Taylor (sofern die Szene tatsächlich von Hutton stammt) sie in Teilen wörtlich von Hutton übernommen hat: Tabelle 8: Vergleich der dritten Szene des ersten Teils in Taylors und Huttons Oratorientexten Taylor, The Fall of Babylon Scene – A Jewish house in Babylon Song – Jewish Mother (watching her sleeping Child) Dear Child of bondage, nurs’d in sorrow, In tears thy mother watcheth o’er thee; An hour of peace in slumber borrow, For years of anguish are before thee. Yes, sleep, my Child, ’tis thine to sleep; Thy mother’s eyes their watch must keep. May Zion’s guardian God protect thee, To view her light & strength returning; And to that long lost home direct thee, Where thou shalt know nor bonds nor mourning. Lord, let my child before thee stand, A freeman in his father’s land.
Hutton, The Fall of Babylon Scene 3. – Habitation of a Jewish Family Air – Mother, watching her child asleep. Dear Child of bondage, nurs’d in sorrow! In tears thy mother watcheth o’er thee – An hour of peace in slumber borrow, For years of anguish are before thee! Yes! sleep, my child, – ’tis thine to sleep: Thy mother’s eyes their watch must keep. [An dieser Stelle folgen zwei weitere Strophen] May Zion’s guardian God protect thee, To view her light and strength returning; And to that long-lost home direct thee, Where thou shalt know nor bonds nor mourning. Lord! let my child before Thee stand, A free-man, in his fathers’ land!
Recitative – Jewish man Recitative – Father, entering Joy, joy to her I bring who shares my woes! Joy! joy to her I bring who shares my woes! The day is come – the hour’s at hand – is The day is come – the hour’s at hand – is here! here! In vision hath our holy Prophet seen In vision hath our holy Prophet seen The long-delay’d redemption of our race The long-delayed redemption of our race At length fulfill’d. Jehovah’s arm uprais’d At length fulfill’d. Deliverance comes with Shall crush our haughty & tyrannic foes. speed. Even now the arm is raised, to burst our chains. Duet – Jewish woman & man Duet – Father and mother Israel, thy fathers love [keine Übereinstimmung] Shall shield thee from thy foes; …
Louis Spohrs Der Fall Babylons und die ,Belsazardramen‘ seit Händel
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Die hier erkennbaren Übereinstimmungen sind die auffälligsten im gesamten Werk. Weitere massive Berührungspunkte zwischen Taylor und Hutton finden sich in der letzten Szene des ersten Teils. Unterschiedlich ist in dieser Szene jedoch der Schlusschor, der allerdings dadurch wiederum vergleichbar wird, dass beide Chöre Bibelverse zur Grundlage haben, wobei Hutton ausschließlich auf Psalm 147 zurückgegriffen hat, während Taylor neben Psalm 146 auch Verse aus Jeremia verwendet hat: Tabelle 9: Vergleich der Schlusschöre des ersten Teils in Taylors und Huttons Oratorientexten Taylor, The Fall of Babylon Chorus Jeremia 51,25 „Behold I am against thee“, saith the Lord: I will stretch out my hand upon thee, & roll Thee down from the rocks: thou shalt be desolate for ever! Jeremia 50,15 Shout against her! Her foundations shall Fall, her walls shall be thrown down; for It is the vengeance of the Lord! Psalm 146,10 The Lord shall reign for ever, even thy God, O Zion. Praise ye the Lord!
Hutton, The Fall of Babylon Grand Chorus, of the Whole Assembly Psalm 147 1 The Lord doth build up Jerusalem! He gathered together the outcasts of Israel! 2 He healeth the broken in heart, and bindeth up their wounds! 5 Great is the Lord, and of great power ; his understanding is infinite! 6 The Lord lifteth up the meek! 7 Sing unto the Lord with thanksgiving! Sing praises upont the harp unto our God! 11 The Lord taketh pleasure in them that fear him, In those that hope in his mercy. 12 Praise the Lord, Oh Jerusalem! Praise thy God, Oh Zion! 20b Praise ye the Lord!
Im weiteren Verlauf des Taylor-Librettos finden sich wenige Nummern oder auch nur einzelne Verse wortgleich bei Hutton. Ein interessantes Beispiel in diesem Zusammenhang, welches zugleich einen guten Einblick in die Komposition des Taylorschen Textes gewährt, ist der Auftritt Daniels im ersten Teil. Zu sehen ist hier, wie in Taylors Libretto Verse aus den Texten von More und Hutton erscheinen und wie Taylor wiederum Bibelzitate integriert hat (vgl. Tabelle 10 auf der folgenden Seite):
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Tabelle 10: Taylors Oratorientext und die verarbeiteten Vorlagen (ausgewähltes Beispiel; vgl. die Synopse im Anhang dieses Beitrags) Taylor, The Fall of Babylon Rezitativ – Daniel Oh how familiar to mine ear are these deep sounds Of woe! My nation’s degradation penetrates My soul. Judah, thy glory’s fallen! Thy power for hard captivity exchang’d! The galling chain of bondage crushes the free born soul, While the big tear bespeaks the anguish’d spirit. O thou almighty One, to whom alone We look for succour, stretch forth thine arm And sane, o sane thy chosen nation. Air – Daniel Remember, O Lord, what is come upon us: Our inheritance is given to strangers Wherefore dost thou forget us for ever, & forsake thy people? Turn unto us, O Lord, renew our strength as in days of old.
Hutton, The Fall of More, Belshazzar Babylon Recitative – Daniel First Jew Familiar to mine ear are those deep sounds Of woe! My nation’s anguish penetrates My soul, and feeds upon my age’s strength.
King James Bible
Judah, thy glory is fallen! Thy joys for hard captivity exchang’d …the galling chain / Of bondage crushes then the free-born soul
Lamentations 5 1 Remember, O LORD, what is come upon us: consider, and behold our reproach. / 2 Our inheritance is turned to strangers, our houses to aliens. / 20 Wherefore dost thou forget us for ever, and forsake us so long time? / 21 Turn thou us unto thee, O LORD, and we shall be turned; renew our days as of old
Louis Spohrs Der Fall Babylons und die ,Belsazardramen‘ seit Händel
(Fortsetzung) Taylor, The Fall of Babylon Chorus of Jews The Lion from his lair hath sprung, To roam our pleasant fields among, And desolate our land: The Lord in anger hides his face, In whirlwinds smites our fallen race, Oh who can bear his hand!
Hutton, The Fall of Babylon
More, Belshazzar
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King James Bible
Chorus – Israelites The lion from his lair hath sprung, To roam our pleasant paths among, And desolate our land! The Lord in anger hides His face, In whirlwinds smites our fallen race, Oh, who can bear His hand!
Die Nähe des Taylorschen Librettos zu Huttons Text ist offenkundig, wobei zu bemerken ist, dass das Oratorientextbuch Huttons deutlich umfangreicher ist als das schließlich von Spohr vertonte. Angesicht der großen Unterschiede im zweiten Teil scheint es, dass Taylor dort gerade nicht den Vorschlägen Huttons gefolgt ist, sondern sein eigenes Konzept verwirklicht hat. Dies wird zudem dadurch unterstützt, dass Taylor in einem Brief an Spohr vom 10. November 1840 betonte, gerade der zweite Teil eines dramatischen Werkes dürfe nicht an Spannung verlieren.35 Man könnte nun mutmaßen, dass die Konzeption Huttons mit ihren vielen Szenen gerade diesem Ideal Taylors nicht entsprochen hat und er sie daher unberücksichtigt ließ. Einige Fragen müssen jedoch an dieser Stelle offen bleiben. Zunächst ist nicht gesichert, ob die windungsreiche Vorgeschichte des Taylor-Librettos tatsächlich in der Weise stattgefunden hat, wie Hutton sie in seinem Vorwort beschreibt. Erst die Kenntnis des Briefwechsels zwischen Taylor und Hutton samt der entsprechenden Skizzen Taylors würden diesbezüglich zuverlässigen Aufschluss bringen. Somit ist es momentan nur schwer zu beurteilen, wie groß der Anteil von Huttons geistigem Eigentum am englischen Originallibretto zu Der Fall Babylons wirklich gewesen ist. Die Tatsache allerdings, dass Taylor in seinem Brief an die Zeitschrift The Spectator Hutton namentlich erwähnt, belegt zumindest dessen (wie auch immer geartete) Beteiligung an der Entstehung des Textbuches. Neben dieser Episode zur Textgenese sind aber im Hinblick auf das Libretto
35 Edward Taylor an Louis Spohr, Brief vom 10. November 1840, in: D-Kl, 48 Ms. Hass. 287.
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noch weitere Aspekte von Interesse. Werfen wir daher einen genaueren Blick in den Briefwechsel zwischen Spohr und Taylor : Zusammen mit dem Brief vom 1. Oktober 1839 hat Taylor die englische Textvorlage an Spohr geschickt und gestand diesem große Freiheit im Umgang mit dem Text zu: Taylor erwähnte, er habe diesen an einigen Stellen neu zusammengestellt, um die Vertonung desselben zu erleichtern. Auch habe er das Metrum variiert, um die Feierlichkeit der verschiedenen Chöre zu erhöhen. Schließlich sprach er die Hoffnung aus, der Text möge Gefallen finden und unterstrich die Freiheit, die er Spohr im Umgang mit dem Text zugestehe.36 Wie bekannt ist, wurde der Text anschließend von Friedrich Oetker ins Deutsche übertragen. In seinen Lebenserinnerungen berichtet Oetker, er sei „bereitwillig auf den Vorschlag“ eingegangen, habe allerdings zur Bedingung gemacht, „eine freie Umdichtung vornehmen und [sich] namentlich von den einförmigen englischen Versmaßen überall da befreien [zu] dürfe[n], wo [ihm] der Sinn oder der Geist der deutschen Sprache eine größere Mannigfaltigkeit zu erfordern scheine.“37 Die Übersetzungstätigkeit war geprägt durch den Wunsch, einem biblischen Sprachduktus zu entsprechen und eine orientalische Färbung zu erreichen. Auch Taylor betonte mit Bezug auf seine Rückübersetzung, er wolle sich in gleicher Weise darum bemühen.38 In einem Brief vom März 1840 überbrachte Taylor den Wunsch des Komitees aus Norwich, Spohr möge sein neues Oratorium zunächst im Rahmen des dortigen Musikfestes aufführen. Taylor selbst nutzte diese Anfrage, um seine eigenen Ambitionen in Bezug auf das Werk auszudrücken, indem er Spohr bat, bezüglich der Publikation des Werkes keine Schritte zu unternehmen, ohne diese mit ihm abzusprechen. Taylor wollte gewährleistet haben, dass er die 36 Edward Taylor an Louis Spohr, Brief vom 1. Oktober 1839, in: D-Kl, 48 Ms. Hass. 287. 37 „Ich war mit dem berühmten Manne in den ersten Jahren meines Aufenthaltes in Kassel nicht näher bekannt geworden. Da trug er mir um 1838 die Bearbeitung eines Textes zu einem Oratorium – ,Der Fall Babylon’s‘ – an, welches er auf Anregung einer Gesellschaft in Norwich komponiren wollte. Man hatte ihm einen vollständigen Text zugesandt; aber Spohr verstand kein Englisch und wünschte daher eine deutsche Bearbeitung. Ich ging bereitwillig auf den Vorschlag ein, jedoch unter der Bedingung, daß ich eine freie Umdichtung vornehmen und mich namentlich von den einförmigen englischen Versmaßen überall da befreien dürfe, wo mir der Sinn oder der Geist der deutschen Sprache eine größere Mannigfaltigkeit zu erfordern scheine. Damit war Spohr einverstanden; ja er nahm selbst noch Aenderungen vor, die weiter gingen, als meine Abweichungen und mir nicht einmal überall zusagten.“ Friedrich Oetker, Lebenserinnerungen, 3 Bde., Stuttgart 1877 – 1885, hier Bd. 1, S. 272 f. 38 „Was Ihre Sorgfalt betrifft, in der deutschen Uebersetzung die Bibelsprache, so wie die Orientalische Färbung des Textes beizubehalten, so habe ich mich gewissenhaft bemüht, dieses ebenfalls in der Englischen Uebertragung Ihrer Oratorien wiederzugeben. Welch’ eine Schwierigkeit das ist, weiß ich aus Erfahrung, u. es kann diese Arbeit nur einem Solchen gelingen, der die eigenthümliche Sprache der Bibel und den Character der Hebräischen Poesie gleich gut kennt.“ Edward Taylor an Louis Spohr, Brief vom 17. Dezember 1839, in: DKl, 48 Ms. Hass. 287.
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Rückübersetzung für die englische Ausgabe übernehmen könne, bevor die deutsche Ausgabe nach England gelange und dort „eine Uebersetzung desselben von irgendeiner unfähigen Person gemacht werden könnte.“39 Taylor versuchte somit bereits vor der Fertigstellung des Werkes ein Mitspracherecht bei der Publikation zu erlangen und damit zugleich sicherzustellen, dass seine eigene Rückübersetzung Verwendung findet. Einige Monate später nahm Taylor Bezug auf diese Bitte. Er echauffierte sich über die Praxis, nicht die gesamten Werke Spohrs, sondern lediglich Ausschnitte aufzuführen, und betonte, dass es sein Anliegen sei, die Oratorien „vollständig herausgegeben zu sehen, und sie wenigstens einmal so aufgeführt zu wissen“ wie Spohr sie komponiert habe.40 Vor dem Hintergrund der Entstehung des Oratorienlibrettos scheint es Taylor aber sicherlich auch darum gegangen zu sein, sicherzustellen, dass keine Irritationen bezüglich der Autorschaft des Librettos aufkommen. Der Briefwechsel zwischen Taylor und Spohr ist auch weiterhin mit Blick auf die Übersetzungsprobleme aufschlussreich: Dass die Erstellung der Rückübersetzung ins Englische mit einigen Problemen verbunden war, schilderte Taylor verschiedentlich. Er hoffe, seine Worte mögen der Musik genügen und wünsche sich eigentlich, nicht den Originaltext zu kennen, denn dieser komme ihm oft in Erinnerung und verwirre dabei lediglich.41 Spohr selbst ging auf das Lamento Taylors nicht weiter ein, sondern sprach ihm lediglich sein eigenes und das Vertrauten Oetkers aus.42 Zugleich übersandte er im Oktober 1840 die Noten des zweiten Teils seiner Komposition und fügte den Hinweis an, dass seine Frau diesen für den gelungeneren hielt.43 In seinem Antwortschreiben lobte Taylor die Komposition und nahm das Urteil von Spohrs Gemahlin als Anlass, über die richtige Struktur eines Oratorientextes zu referieren. Es sei notwendig, das In39 Edward Taylor an Louis Spohr, Brief vom 24. März 1840, in: D-Kl, 48 Ms. Hass. 287. 40 Edward Taylor an Louis Spohr, Brief vom 15. September 1840, in: D-Kl, 48 Ms. Hass. 287 [Hervorhebung im Original]. Dass ihm allerdings keineswegs stets an der Realisierung von vollständigen Aufführungen gelegen war, unterstreicht nicht zuletzt die Tatsache, dass Taylor selbst eine Teilausgabe zu Des Heilands letzte Stunden veröffentlicht hat. Select pieces from Spohr’s oratorio The Crucifixion, hrsg. von Edward Taylor, London : E. Taylor, [o. J.]. 41 Vgl. Edward Taylor an Louis Spohr, Brief vom 24. Juni 1840, in: D-Kl, 48 Ms. Hass. 287. Auch der weitere Briefwechsel zeugt von den Schwierigkeiten bei der Übersetzung. Im September 1840 formulierte Taylor es beispielsweise wie folgt: „Den größten Theil der Übersetzung habe ich fertig – theilweise zu meiner Zufriedenheit, theilweise nicht. Bitte sagen Sie meinem Bruder Dichter, daß er mir eine höchst schwierige Arbeit aufgegeben hat. Ich habe zuweilen mehrere Stunden damit zugebracht nur zwei Zeilen zu schreiben, obwohl am Ende meine Beharrlichkeit siegen wird.“ Edward Taylor an Louis Spohr, Brief vom 15. September 1840, in: D-Kl, 48 Ms. Hass. 287. 42 Louis Spohr an Edward Taylor, Brief vom 1. Oktober 1840, in: D-Kl, 48 Ms. hist. litt. 15[195. Für die Zusendung einer Transkription des Briefes danke ich Herrn Dr. Karl Traugott Goldbach (Kassel). 43 Ebd.
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teresse am Fortgang der Geschichte stetig zu steigern und selbst die beste Musik – selbst Händel – sei nicht in der Lage, einen schwachen Text auszugleichen.44 Am 9. Februar 1841 berichtete Taylor schließlich, er habe die Übersetzung beinahe abgeschlossen und lässt sogleich eine Bescheidenheitsfloskel folgen: „Ich habe meine Uebersetzung des Falles von Babylon beinahe beendigt. Obgleich ich gethan habe, was ich vermochte, dennoch muß ich sagen: ich wünsche sie der Musik würdiger. Ihr Glanz, lieber Freund, zwingt mich, ,to pale my ineffectual light‘ (Shakespeare).“45
Im erwähnten Brief bemerkte Taylor überdies, dass er gezwungen gewesen sei, einige Eingriffe in den Notentext vorzunehmen, die sich durch die unterschiedliche Aussprache des Namens Belsazar ergeben. Im September 1841 sandte Taylor Spohr schließlich den ersten Teil seiner Rückübersetzung und erläuterte, dass er an einigen Stellen bewusst einen älteren Sprachstil gewählt habe, um den Duktus der biblischen Texte nachzuahmen.46 Bei einem Vergleich des englischen Originallibrettos mit der Taylor’schen Rückübersetzung ist sogleich augenfällig, dass die beiden Fassungen bisweilen erhebliche Unterschiede aufweisen, wie bereits am Eingangschor ersichtlich wird: Tabelle 11: Textvergleich zwischen Originallibretto und Rückübersetzung Originallibretto47 Chorus of Jews God of our fathers, hear our prayer! From home estrang’d & far from thee, Enslav’d, opprest, thy captive sons Before thy throne for succour free.
Rückübersetzung48 No. 1. Chorus of Jews God of our fathers, hear thy people, In sorrow and abasement who implore thee! Forsaken, captive, and of hope bereft, They fly to thee; To thee, O Jehovah, thy children cry in trouble; O bow thine ear and hear us,49 while in bondage We mourn and languish!
Durch diese Unterschiede in den beiden englischen Fassungen ist an einigen Stellen der Bezug zu Huttons Libretto beinahe nicht mehr erkennbar :
44 45 46 47 48
Edward Taylor an Louis Spohr, Brief vom 10. November 1840, in: D-Kl, 48 Ms. Hass. 287. Edward Taylor an Louis Spohr, Brief vom 9. Februar 1841, in: D-Kl, 48 Ms. Hass. 287. Edward Taylor an Louis Spohr, Brief vom 11. September 1841, in: D-Kl, 48 Ms. Hass. 287. Edward Taylor, The Fall of Babylon a Sacred Oratorio, in: D-Kl, 48 Ms. Hass. 287. Novello’s Original Octavo Edition, The Fall of Babylon: An Oratorio, The Word written by Edward Taylor (Gresham Professor of Music), The Music composed by Louis Spohr, London/ New York [o. J.]. 49 „bow down thine ear, O Lord, to hear us“, Baruch 2,16.
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Tabelle 12: Exemplarischer Textvergleich zwischen Originallibretto, Rückübersetzung und Huttons Oratorientext Taylors Originallibretto
Taylors Rückübersetzung
Rezitativ – Daniel … Of woe! My nation’s degradation penetrates My soul. Judah, thy glory’s fallen!
Recitative – Daniel … Of sorrow! Jerusalem, the stranger hath despoil’d Judah, thy glory is departed!
Hutton, The Fall of Babylon Recitative – Daniel … Of woe! My nation’s anguish penetrates My soul, and feeds upon my age’s strength.
Gerade diese Tatsache wiederum hat Hutton dazu bewogen, sich 1858 bei der erneuten Publikation seines Textes explizit von der Rückübersetzung zu distanzieren. Er beschreibt zunächst, dass der Text ursprünglich für Henry Bishop bestimmt war, von diesem aber nicht vertont worden sei. Danach heißt es wörtlich bei Hutton: „[…], the manuscript was some years afterwards employed by another person, with the author’s permission, to supply the matter for the Libretto in German, to which Spohr composed the Music. Spohr’s Oratorio, of the same title, was performed for the first time at Norwich in the autumn of 1842. In forming the English version used on that occasion, the author of this volume took no part: it was entirely the production of a different hand.“50
Während Hutton also zunächst vor der Aufführung in Norwich 1842 noch rasch seine Textfassung publiziert hat, um deutlich auf die Beziehung zum Spohr’schen Oratorientext hinzuweisen, so sah er sich nach der Publikation der englischen Rückübersetzung genötigt, explizit deutlich zu machen, dass dieser englische Text wiederum nicht aus seiner Feder stammt. Mit der Rückübersetzung und der Publikation der englischen Ausgabe war der endgültige englische Text fixiert, womit auch dessen Entstehungsgeschichte abgeschlossen ist. * Die detaillierte Betrachtung der englischen Textgrundlage zu Louis Spohrs Oratorium Der Fall Babylons hat zunächst gezeigt, dass der Text keineswegs zuerst und ausschließlich für Spohr verfasst worden ist. Vielmehr geht das Libretto auf eine Zusammenarbeit zwischen Hugh Hutton und Edward Taylor zurück, die bis in das Jahr 1834 reicht. Der Text war ursprünglich für Henry Bishop bestimmt. Obschon derzeit nicht genau zu bestimmen ist, welche Teile 50 Hugh Hutton, „The Fall of Babylon. A sacred musical drama“, in: Gathered leaves of many seasons: being the collected poems of Hugh Hutton, London 1858, S. 29 – 57, hier S. 29.
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des ursprünglichen englischen Librettos, das schließlich von Friedrich Oetker ins Deutsche übertragen worden ist, aus der Feder Hugh Huttons stammen, so sprechen der von Taylor veröffentlichte Brief und Huttons Publikationen dafür, dass dessen Anteil dabei nicht unerheblich gewesen ist. Insbesondere der dritten Szene des ersten Teils kommt dabei eine besondere Rolle zu. Diese Vorgeschichte des Oratorientextes bekommt eine weitere Facette, wenn wir uns die von Clive Brown in seiner Dissertation dargestellte Taylor-Affäre vor Augen führen.51 1842 hatte nämlich Taylor einen Wettbewerb der Western Madrigal Society für sich entschieden. Taylor hatte für den Wettbewerb ein von ihm komponiertes Madrigal eingereicht, welches allerdings einen Abschnitt von zwölf Takten enthielt, der aus einer Vertonung Luca Marenzios stammte. Ein etwas eigenwilliger Umgang mit der Musik und den Texten anderer scheint somit in der Biographie Taylors kein Einzelfall gewesen zu sein. Im Hinblick auf die Konzeption des Librettos konnte in Teilen sodann ein Bezug zu Georg Friedrich Händels Belshazzar sowie dessen Judas Maccabaeus hergestellt werden. Auch wurde deutlich, dass Hannah Mores Drama sowohl in konzeptioneller Hinsicht inspirierend war als auch, dass einige Zeilen in Taylors Text wörtlich dem Drama entnommen sind, welches auch späteren Oratorienlibrettisten als Vorlage diente. Noch mehr als der Bezug zu Händel ist aber die Verwendung wörtlicher Zitate aus Mores Drama ein Beweis dafür, dass der Originaltext (und entsprechend die deutsche Übersetzung) richtig nur aus dem englischen Kontext heraus zu verstehen sind. Mutmaßung über die Rolle von deutschen ,Belsazardramen‘ bei Taylors Konzeption des Librettos sind somit wenig plausibel. Mit der rückübersetzten Fassung, The Fall of Babylon, hat sich Spohr in die englische Oratorientradition eingereiht und neben Händels Belshazzar eine zentrale Vertonung dieses Sujets vorgelegt, die für nachfolgende Komponisten zum Maßstab geworden ist: Von Charles Edward Horn ist beispielsweise die Geschichte überliefert, dass er mit seinem Librettisten darüber diskutiert habe, ob es angesichts der Belsazar-Oratorien Händels und Spohrs nicht vermessen sei, dieses Sujet erneut zu vertonen.52 Der aus der englischen Oratorientradition stammende Text ist mit seiner über den deutschen Text komponierten Musik und der anschließenden Rückübersetzung ein für vielfältige Anschlussfragen aufschlussreicher Grenzgänger zwischen der deutschen und der englischen Gattungsgeschichte.
51 Vgl. Clive Brown, The popularity and influence of Spohr in England, Diss. Oxford 1980, Appendix A. 52 „Horn’s Oratorio – Daniel’s Prediction“, in: The Critic of books, society, pictures, music and decorative arts 8 (1849), S. 584.
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Louis Spohrs Der Fall Babylons und die ,Belsazardramen‘ seit Händel
Anhang: Synopse der verschiedenen Oratorientexte und Vorlagen Edward Taylor The Fall of Babylon a Sacred Oratorio in: D-Kl, 48 Ms. Hass. 287
Der Fall Babylons Oratorium in zwei Abtheilungen Nach dem Englischen des Professor Taylor von Friedrich Oetker Musik von Louis Spohr, [Berlin 1845]
Novello’s Original Octavo Edition The Fall of Babylon An Oratorio The Word written by Edward Taylor The Music composed by Louis Spohr
Hugh Hutton, Gathered Leaves of Many Seasons, London 1858 The Fall of Babylon A Sacred Musical Drama
The Works of Hannah More, Vol. VI, New York 1836, S. 323 ff. Belshazzar. A Sacred Drama
Part I
Part I
Part I
Erster Theil
Part The First
Scene on the banks of the Euphrates near Babylon
Am Ufer des Euphrat bei Babylon
The banks of the Euphrates, near The Banks of the Euphrates, near Scene – Near the palace of Babylon Babylon – A large multitude of Babylon Israelites engaged in deploring the captivity of their nation
Chorus of Jews
Nr. 1. Chor der Juden
No. 1. Chorus of Jews
God of our fathers, hear our prayer! From home estrang’d & far from thee, Enslav’d, opprest, thy captive sons Before thy throne for succour free.
Gott unsrer Väter, hör’ die Bitten Der Deinen, die im fremden Land, Gefesselt, unterdrückt, gefangen, Um Hülfe fleh’n von Deiner Hand!
God of our fathers, hear thy people, In sorrow and abasement who implore thee! Forsaken, captive, and of hope bereft, They fly to thee; To thee, O Jehovah, thy children cry in trouble; O bow thine ear and hear us,53 while in bondage We mourn and languish!
Solo – Jewish woman Lov’d Zion, shall our feet us more Thy sacred Courts with joy attend, No more shall praise to Israel’s God From grateful hearts & tongues ascend?
Eine Jüdin Geliebtes Zion, bleiben ewig Uns deine heil’gen Tempel fern? Erschallet dort aus frohen Herzen Nie wieder mehr das Lob des Herrn?
Solo – Israelitish Woman Beloved Zion, shall our feet No more thy sacred courts attend? No more shall praise to Israel’s God From grateful hearts and tongues ascend?
Chorus Oh hear our prayer, Jehovah, Lord! From bondage set us free; Thy mighty arm alone can sane, Our refuge is in Thee!
Chor. Hör’ unser Fleh’n, Jehova! Herr! Brich unsre Ketten hier! Erretten kann allein Dein Arm, Und Zuflucht ist bei Dir!
Chorus Arise in wrath, Almighty Lord, Strike our oppressors down! To Israel, trusting in thy word, Let mercy still be shown.
Men and Women (S. 34) …
Rezitativ – Daniel Oh how familiar to mine ear are these deep sounds Of woe! My nation’s degradation penetrates My soul.
Nr. 2. Daniel – Rezitativ O wie vertraut sind meinem Ohr diese Schmerzenslaute! Die Erniedrigung meines Volks durchdringt meine Seele. Juda, dein Ruhm, dein Glanz ist gefallen, In tiefe Schmach verwandelt deine Macht! Der Knechtschaft Fessel drückt den freigebornen Geist, Und herbe Thränen künden der bangen Seele Angst.
No. 2. Recitative – Daniel O how familiar to mine ear are these deep sounds Of sorrow! Jerusalem, the stranger hath despoil’d thee:
Recitative – Daniel (S. 34) First Jew (S. 327 f.) Familiar to mine ear are those deep sounds Of woe! My nation’s anguish penetrates My soul, and feeds upon my age’s strength. Judah, thy glory is fallen!
Judah, thy glory’s fallen! Thy power for hard captivity exchang’d! The galling chain of bondage crushes the free born soul, While the big tear bespeaks the anguish’d spirit. O thou almighty One, to whom alone We look for succour, stretch forth thine arm And save, o save thy chosen nation.
Judah, thy glory is departed! Thy power For hard captivity exchanged: from heaven to earth The Lord hath cast thee down. Abroad the sword bereaveth, and within is death! O Du allmächt’ger Gott, zu O thou Almighty God, to dem allein whom alone Wir schau’n nach Hülfe, We look for succour, strecke Deinen Arm stretch forth thine arm Und rette, o rette Dein Of power, and save thy erwähltes Volk! chosen nation!
Lamentation of the Israelites
From bondage set us free; At home is death – the sword abroad – Our refuge is in Thee!
Thy joys for hard captivity exchang’d …the galling chain / Of bondage crushes then the free-born soul
53 Baruch 2: 16bow down thine ear, O Lord, to hear us. Dieses und alle folgenden englischen Bibelzitate entstammen der King James Bible.
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(Fortsetzung) Air – Daniel (Lamment. Chap. V)54 Remember, O Lord, what is come upon us: Our inheritance is given to strangers Wherefore dost thou forget us for ever, & forsake thy people? Turn unto us, O Lord, renew our strength as in days of old.
Nr. 3. Arie – Daniel
No. 3. Song – Daniel
Gedenke, Herr, was über uns gekommen! Den Fremden ist der Väter Erbe worden. Warum verläss’st, vergissest Du Dein Volk? – O wende uns Dein Antlitz wieder zu Und wecke neu die alte Kraft!
Remember, Lord, what thou hast laid upon us; our inheritance thou hast given to strangers. O wherefore dost thou forsake thy people, and why dost thou forget us for ever? Return unto thy servants, and their strength do thou renew as in time of old.
Nr. 4. Chor der Juden Der Löwe ist vom Lager gesprungen; Durch unsre lachenden Fluren zu streifen, Und rings zu verheeren das blühende Land: The Lord in anger hides Der Herr verbirgt sein his face, Antlitz im Zorn, In whirlwinds smites our Zerschlägt mit dem Sturm fallen race, unser gefall’nes Oh who can bear his hand! Geschlecht, Denn Keiner erträgt Jehova’s Hand!
No. 4. Chorus The lion roused from slumber is springing, His roar through the forest and mountain is ringing, And desolate mourneth Judea’s fair land; In darkness, O Lord, thou veilest thy face: In storm and in whirlwind thy judgements are known; And tempest and darkness encompass thy throne, Oh save us – save our fallen race!
Chorus – Israelites (S. 35) The lion from his lair hath sprung, To roam our pleasant paths among, And desolate our land! The Lord in anger hides His face, In whirlwinds smites our fallen race, Oh, who can bear His hand!
Scene – Camp of the Persian army
Persisches Lager
Scene – The Persian Camp
Scene II: Camp of the Persian Army. Cyrus, having received a communication from Daniel, is meditating on its import.
Recitative – Cyrus Judea’s God hath spoken, and by his holy prophet
Nr. 5. Rezitativ – Cyrus Juda’s Gott hat geredet; durch seinen heiligen Propheten Hat er verkündet seinen allmächt’gen Willen. Zu dem zerstörten Jerusalem spricht er: „Freue dich! deine gefang’nen Söhne sollen dich wiedersehn!“ Und zu Juda’s Städten: „ihr sollt neu erstehn!“ Und zur Tiefe: „sei trocken!“ – Er hat verkündet: „Cyrus, mein Hirt, mein Gesalbter, Dich hab’ ich erwählt, zu vollzieh’n meinen Willen, Auf daß die Welt erkenne, ich sei der Herr!“
No. 5. Recitative – Cyrus Judea’s God hath spoken, and by his holy Prophet
Recitative – Cyrus (S. 36 f) Jehovah’s mandate can I disobey, Which by His Prophet to mine ear is brought! …
Chorus of Jews The Lion from his lair hath sprung, To roam our pleasant fields among, And desolate our land:
Thus declar’d his sovereign will: To desolate Jerusalem he saith “Be glad: thy captive sons again shall see thee”; To Judah’s Cities “Straight shall ye be built” – And to the deep “Be dry!” He hath declared55 “Cyrus, my shepherd, my anointed,56 Thee have I chosen my decrees to execute, That all the world may know I am the Lord.
Air – Cyrus Great Spirit, to thy will I bow, Thy dread command must I obey,
Nr. 6. Arie – Cyrus Großer Geist, vor Deinem Willen Beug’ ich mich; Dein schweres Wort
thus made known his sovereign will: To desolate Jerusalem he saith, “Be thou glad; thy captive children yet once more thy walls shall see.” To Judah’s cities, – “Straight shall ye be built!” and to the deep, – “Be dry!” He hath declared, “Cyrus, my shepherd, my anointed, thee have I chosen my will to execute, That all the world may acknowledge I am the Lord
No. 6. Song Mighty God, thy awful mandate Teach, O teach me to fulfill!
To desolate Jerusalem He saith, “Be glad! thou soon shalt be inhabited;” To Judah’s cities, “Straight shall ye be built;” And to the deep, “Be dry!” – He hath declared, “Cyrus, my Shepherd, my anointed, is; Though me thou hast not known, thee will I guide, All these my purposes to execute: And all the earth shall know, that I am God.” Air – Cyrus (S. 37) Great Spirit! to Thy will I bow! Thy dread command hath fired my soul; …
54 Lamentations 5: 1 Remember, O LORD, what is come upon us: consider, and behold our reproach. / 2 Our inheritance is turned to strangers, our houses to aliens. / 20 Wherefore dost thou forget us for ever, and forsake us so long time? / 21 Turn thou us unto thee, O LORD, and we shall be turned; renew our days as of old. 55 Vgl. Isaiah 44: 27That saith to the deep, Be dry, and I will dry up thy rivers. 56 Vgl. Isaiah 45: 1Thus saith the Lord to his anointed, to Cyrus.
Louis Spohrs Der Fall Babylons und die ,Belsazardramen‘ seit Händel (Fortsetzung) The power which earth & heaven controuls [sic] Direct my path & point my way.
O’er Babylon my conquering sword Like heaven’s own thunderbolt shall fall; Israel restor’d & Israel’s foes Shall own thee King and Lord of all.
Dein Gebot will ich erfüllen, Lenke mächtig meinen Pfad!
Israel’s foes in vain defy thee, And resist thy sovereign will.
Nr. 7. Arie – Cyrus mit Chor Über Babylon soll flammen, Gleich des Himmels Blitz, mein Schwert, Israel soll neu erstehn, Seine Feinde untergehn!
No. 7. Solo – Cyrus, and Chorus of Persian Soldiers Haughty Babylon, heaven’s vengeance Like the thunderbolt shall fall! Children of your Maker’s care, Hail the hour of freedom near!
Chorus of Persian soldiers Chor der persischen Soldaten The haughty city boasts Es rühmt sich die eitle her might, Stadt ihrer Macht, Invincible in fiercest fight: Als unbesiegbar in wildester Schlacht; Her vaunting children all Das prahlende Volk wähnt, proclaim stolz sich im Glück, Her destiny[,] eternal Ein ewiger Ruhm sei ihr fame; Geschick, And dream not of the Und denkt des drohenden uplifted blow, Armes nicht, That soon shall strike her Der ihren Glanz so bald glory low. zerbricht.
Scene – A Jewish house in Babylon
Jüdische Wohnung in Babylon
Song – Jewish Mother (watching her sleeping Child) Dear Child of bondage, nurs’d in sorrow, In tears thy mother watcheth o’er thee; An hour of peace in slumber borrow, For years of anguish are before thee. Yes, sleep, my Child, ’tis thine to sleep; Thy mother’s eyes their watch must keep.
Nr. 8. Eine Mutter an der Wiege ihres Kindes. Lied
O’er Babylon my conquering sword, Like heaven’s consuming fire, shall glide; …
Chorus of Persian Soldiers Recitative – Gobryas, entering (S. 37) Proud monarch, arise! The haughty city boasts prepare for the fight, her might, The sword of the Mede is Invincible in fiercest fight; uplifted to smite: … Secure in thy strength thou hast armies defied, The arm of our Chief shall Duet – Cyrus and Gobryas quell thy pride. She thinks not of the Aloud thy crimes for uplifted blow, vengeance call, The lightning gleams, – the Which soon shall strike her glory low: bolt shall fall.
Scene – A House in Babylon
No. 8. Song – Jewish Mother, watching her sleeping child Mein süsses Kind, genährt Dear child of bondage, in Kummer nursed in sorrow, In Thränen bewacht dich Thy mother’s love shall der Mutter Blick; guard thy sleep: O borg’ eine Stunde des An hour of peace from Friedens vom Schlummer, slumber borrow, Denn Jahre der Angst sind While she thy couch will dein Geschick; watch, and weep. Drum schlaf mein Kind, Then sleep, my child, in der Schlaf ist dein, peace repose, Das Mutter-Auge wird Unconscious of thy wachsam sein. parent’s woes.
Scene III – Habitation of a Jewish Family Air – Mother, watching her child asleep (S. 38)
Dear Child of bondage, nurs’d in sorrow! In tears thy mother watcheth o’er thee – An hour of peace in slumber borrow, For years of anguish are before thee! Yes! sleep, my child, – ’tis thine to sleep: Thy mother’s eyes their watch must keep. … May Zion’s guardian God O liess dich Zions gnäd’ger May Zion’s God his May Zion’s guardian God protect thee, Gott einst schau’n, watchful care extend, protect thee, To view her light & Wie Glanz und Macht ihr His arm of power To view her light and strength returning; neu erstanden, outstretched o’er thee, strength returning; And to that long lost home Und lenkt, befreit von And to thy father’s land And to that long-lost home direct thee, Gram und Banden, restore thee, direct thee, Where thou shalt know Dich zu der neuen Heimat There in his courts with Where thou shalt know nor bonds nor mourning. Au’n! joy to bend. nor bonds nor mourning. Lord, let my child before O Gott, lass mein Kind an When earthly friends and Lord! let my child before Deiner Hand thee stand, hopes are gone, Thee stand, A freeman in his father’s In Freiheit betreten der He is our refuge, – He A free-man, in his fathers’ land. Väter Land! alone! land!
Recitative – Jewish man
Nr. 9. Recitativ. Der Mann Joy, joy to her I bring who Freude, Freude bring’ ich shares my woes! dir, die meine Leiden theilte: The day is come – the Ja, der Tag ist gekommen, hour’s at hand – is here! – die Stunde naht, – sie ist In vision hath our holy da! Prophet seen Unser heiliger Prophet The long-delay’d hat die langersehnte redemption of our race Auferstehung At length fulfill’d. Unsres Volks endlich Jehovah’s arm uprais’d erfüllt gesehen. Shall crush our haughty & Jehova’s erhobener Arm tyrannic foes. wird unsre Stolzen, grausamen Feinde vernichten.
No. 9. Recitative – Israelitish Man Joy, joy to thee I bring, dear partner of my sorrows, The hour of freedom so oft desired, is At hand. In vision hath our holy Prophet seen The long-delay’d redemption of our race At length fulfill’d. Jehovah in his wrath Shall rise, his mighty arm our proud oppressor Shall humble.
Recitative – Father, entering (S. 39) Joy! joy to her I bring who shares my woes! The day is come – the hour’s at hand – is here! In vision hath our holy Prophet seen The long-delayed redemption of our race At length fulfill’d.
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(Fortsetzung) Duet – Jewish woman & man Israel, thy fathers love Shall shield thee from thy foes; Beneath the shadow of his wings In sacred peace repose.
Nr. 10. Duett. Mann und Frau Juda, deines Vaters Liebe Leiht dir Schutz vor deinen Feinden, Beut im Schatten ihre Flügel Dir in heil’gem Frieden Ruh. Ev’n the hour that darkest Deiner Jahre trübste seemeth Stunde Will his ceaseless Zeugt von seiner Güte nur; goodness prove: From the cloud his Aus den Wolken strömt brightness streameth sein Glanz; Gott ist Wahrheit, Gott ist God is wisdom – God is love.57 Liebe!
No. 10. Duet – Israelitish Man and Woman Judah, still the chosen nation, Though by earthly friends forsaken, Call Jehovah thy salvation, Trust in Him with faith unshaken. When the clouds of sorrow gather, And when darkness veils thy face, Teach us still thy love to trace, God of mercy, Israel’s father!
Scene – The Persian Camp
Scene – The Persian Camp, without the walls of Babylon
Persisches Lager
Chorus of Persian Soldiers Nr. 11. Chor der Soldaten Aloft raise our conquering standard, And wave Persia’s banner on high! Behold them, proud City, & tremble, Thy hour of destruction is nigh! Secure in thy strength thou art sleeping; Arise! for thy end is at hand! When Cyrus his arm hath uplifted What power can its terrors withstand? Recitative – Cyrus Great Queen of Cities, do I gaze upon thee Throned in might, in majesty and beauty? Thy walls Rear’d unto heaven, impenetrable, vast, Thy hundred gates of brass – thy zone of waters! While his broad & ample tide Euphrates Rolls across thy bosom, all bedeckt [sic]
No. 11 – Chorus of Persian Soldiers Raise aloft the Persian Hoch empor, du banner, Siegesfahne! Perserbanner, in die Luft! Wave on high the faulchion bright; Vengeance, Babylon, Fürcht’ es, tapfre Stadt, awaits thee, und zittre: Cyrus dares thee to the Die Vernichtungsstunde fight! ruft. Schläfst noch, deiner Kraft Sleep’st thou in thy fancied safety? vertrauend; Rise, awake! thy hour is Wache auf, dein Ende come! droht! See the mighty tempest Cyrus, seinen Arm gather erhebend, Sendet Schrecken dir und Which shall hurl thee to Tod. thy doom.
Nr. 12. Recitativ. Cyrus Grosse Königin der Städte, die du thronst in Unermesslicher Macht, in Majestät und Schönheit! Deine Wälle reichen bis zum Himmel, Undurchdringlich sind deine hundert Thore von Erz, Deine Umgürtung von Wasser! Schützend wältz der Euphrat seinen grossen Weiten Strom durch dein Innres, und rings With groves & towers & Bist du geschmückt mit palaces! Gärten, Thürmen und Palästen. At man’s unaided arm well Ja, der Menschen may’st thou laugh. kraftlosen Arm kannst du verachten; But God, the God of Israel Aber Gott, der Gott Israels hath decreed hat dein Verderben Thy doom! He hath said beschlossen. “Thy day is come; the time that I will visit thee”58
Scene IV – The Persian Camp Chorus of Persian Soldiers (S. 40) [singen ebenfalls vom „banner“ und davon, dass Cyrus sie führen wird zum Ruhm]
No. 12. Recitative – Cyrus Great Queen of Cities! do I gaze upon thee Throned in might, in majesty and beauty, Thy massy walls to heaven uprear’d, Thy hundred gates, thy towers that seem to frown Defiance, and thy zone of waters; while Across thy bosom his broad and ample tide Euphrates rolls, bedeck’d with verdant groves And costly palaces? At man’s unaided power Well mayst thou laugh.
But God, The God of Israel, thy doom hath now decreed:
57 Taylor griff hier auf die vierte Strophe der bekannten Hymne „God is love: His mercy brightens“ von John Bowring (1792 – 1872) zurück: „E’en the hour that darkest seemeth / Will His changeless goodness prove; / From the cloud His brightness streameth: / God is wisdom, God is love.“ 58 Jeremiah 50: 31 Behold, I am against thee, O thou most proud, saith the Lord GOD of hosts: for thy day is come, the time that I will visit thee.
Louis Spohrs Der Fall Babylons und die ,Belsazardramen‘ seit Händel (Fortsetzung) Er hat gesagt: „dein Tag ist gekommen, Und die Zeit ist da, wo ich dich heimsuchen will“.
He hath said, “The day approacheth, yea the hour Is near, that I, the Lord, will visit thee!”
Air – Cyrus Strong in Jehovah’s might I go: His arm impels & guides the blow: Hark! thunders pealing thro’ the sky Proclaim the God of Israel nigh! Roll on in might, thou stream of pride, Ere long to mourn thy wasted tide; Thy lowest deep shall be my path To execute Jehovah’s wrath.
Chor der Soldaten Hoch empor, du Siegesfahne!
Chorus repeated Raise aloft the Persian banner & c.
[Wiederholung der vorletzten Nummer]
[Wiederholung von Nummer 11]
Scene – The plain between the City & the Camp
Thal bei Babylon
Scene – Babylon
Scene VI. – The Plain near the City, as in the First Scene
Jewish Hymn (Choral)
Nr. 13. Gebet der Juden
No. 13. Chorus of Jews
Hymn and Chorus – Israelites (S. 42) In trouble, Lord, we cry to Thee! For Thou hast power, alone, To raise the weak, the oppress’d to free, And ease the prisoner’s groan.
Roll on in might, thou stream of pride! Ere long to mourn thy wasted tide: Thy lowest depths shall be my path To execute Jehovah’s wrath.
In trouble, Lord, we cry to Herr, wir fleh’n in tiefen thee, Leiden For thou hast power alone Deine ew’ge Allmacht an;
Lord, before thy footstool bending, Teach us to adore thy ways! To raise the weak, Du allein kannst uns Heart and voice in rapture th’oppress’d to free, erretten, blending, And still the prisoners Brechen der Gefang’nen And in strains of joy groan. Ketten, ascending, Stillen der Gequälten Swell the hymn of ardent Schmerz! praise. Though cloud & darkness Ob Dein Antlitz Nacht Darkness long thy throne veil thy face umhüllet, surrounding Be every murmur still: Schweige jede Klage doch; Veil’d the brightness of thy Teach us to feel thy Lehr’ uns Deinen heil’gen face; boundless grace, Willen Now thy power our foes Submissive to thy will. Mit Ergebung stets confounding, erfüllen, And thy mercy still Deiner Gnade fromm abounding vertrau’n! Speak the fullness of thy To thee, our fathers God Gott der Väter, sieh, wir grace. we come, nahen, Thou, whose temple is O hear our servant prayer; Höre unser heiß Gebet! creation Recall thy supplicant Führe zu der Heimath Throned in everlasting exiles home, Landen power, Wieder hin die lang And meet, O meet them Lord of every land and there. Verbannten, nation, Und sei ihnen dort auch We proclaim thy great nah! salvation, And thy majesty adore! Air – Daniel The day is near – the wrathful day! Th’Avenger hastens on his way – And kings & armies from the north Like ocean’s tides are pouring forth. Proud Babylon, thy day is near! The bow is bent & rais’d the spear: The power that humbled Ashur’s might Shall all thy cruelties requite!
Scene V. The Banks of the Euphrates between the Camp and the City; Babylon in distance Air – Cyrus (S. 41)
Nr. 14. Rezitativ – Daniel Der Tag ist gekommen, der Tag des Zorns; Der Rächer beschleunigt seinen Weg;
Der Bogen ist gespannt, der Speer erhoben: Die Gewalt, die Assors Macht einst beugte, Wird all’ deine Gräuelthaten vergelten.
No. 14. Recitative – Daniel The day approacheth – the day of wrath! The Lord hath made bare his mighty arm: on Babylon the sword shall fall, the spoiler is upon her. Her sins have reached unto heaven, and God hath remembered her iniquities.
Air – Daniel (S. 42) The day is near – the wrathful day! The Avenger hastens on his way – And kings and nations from the north, Like roaring seas, are pouring forth. … The bow is bent, and raised the spear: The pow’r that smote proud Ashur’s might, Shall cruel Babylon requite!
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(Fortsetzung) Duet or Trio
Nr. 15. Terzett der Juden
No. 15. Terzetto
Loud proclaim the great salvation God for Israel hath prepar’d; Once again his chosen nation Hath his love & mercy shar’d. Lord, thou hast remember’d Zion; O’ver her champion spread thy hand; Then before the mighty lion Gates of brass in vain shall stand.
Kündet laut die große Rettung, Die der Herr uns zugesandt! Einmal nur hat seine Hand, Seine ungetheilte Liebe Sich von Juda abgewandt. Gott, du dachtest noch an Zion, Wirst den Kämpfern Sieg verleih’n; Denn vor jenem starken Leu’n Werden alle ehrnen Thore Eine eitle Schutzwehr sein.
Loud proclaim the great salvation God for Israel hath prepared! Lo, his Shepherd hath appear’d. And again our favour’d nation His paternal mercy shared. Lord, thou hast remember’d Zion Fall’n beneath th’ oppressor’s blow, Sunk in bondage and in woe; Now before the mighty Lion Bel shall stoop and Nebo bow.
Air – Jewish Woman
Nr. 16. Arie – Jüdin
The flocks of Judah shall no longer stray In thirsty lands, their Shepherd far away : He comes, to guide them to their peaceful home, To verdant pastures, where no wolf shall roam: In plenty shall they feed, in safety lie, Beneath the shelter of his wakeful eye.
Nicht länger wird die Heerde Juda’s irren Vom Führer fern, auf durst’gem Wüstensand; Es kommt der Hirt, sie wieder heimzuführen Zu grünen Au’n, in friedlich stilles Land. Dort streift kein Wolf, in Fülle wird sie weiden, In Wohlsein ruh’n auf sonnighellen Haiden, Von seinem Aug’ bewacht, beschirmt von seiner Hand.
No. 16. Song – Israelitish Woman No longer shall Judea’s children wander From home estranged, loved Zion, far from thee; Lo, Cyrus comes! God’s holy will fulfilling, To quell the proud, to set the captive free. O long-lost joys, are ye indeed returning? Shall years of peace succeed to days of mourning? What hopes, what visions bright Enchant my raptur’d sight!
Chorus (Jeremiah Chap. 51, ver. 25)59 „Behold I am against thee“, saith the Lord:
Nr. 17. Chor
Semichorus – Women (S. 43) Loud proclaim the great salvation, God for Israel hath prepared! Once again His chosen nation Hath His kind compassion shared! … Lord! Thou hast remembered Zion! O’er her champion spread Thy hand – Then before the mighty lion Gates of brass in vain shall stand!
Duet – Daniel and Priest (S. 44) The flocks of Judah shall no longer stray In thirsty lands, their Shepherd far away : He comes, to guide them to their peaceful home, To guarded pastures, where no wolf shall roam: In plenty shall they feed, in safety lie, Beneath the shelter of His wakeful eye!
No. 17. Chorus of Jews
Siehe, ich will dich „Come down, and in the heimsuchen, sagt der Herr, dust be humbled“, saith the Lord. I will stretch out my hand Meine Hand will ich über „My hand is outstretched upon thee, & roll dich ausstrecken against thee, the sword of thee down from the rocks: Und dich herabstürzen vengeance shall overtake thee, thou shalt be desolate thou shalt be desolate for von dem Felsen, ever! Daß du auf ewig verwüstet for ever.“ seist. (Jeremiah Chap. 50 Thus saith the Lord of ver. 15)60 Hosts. Shout against her! Her Babylon shall fall: her Jauchzet über sie! Ihre Grundfesten sollen fallen, foundations shall be foundations shall fall, her walls shall be destroyed, and her walls Ihre Mauern thrown down; for zusammenbrechen: into dust shall crumble. it is the vengeance of the Das ist der Zorn des This is the wrath of God. Lord! Rejoice, and triumph in Herrn. your God! (Psalm 146 ver. 10)61 Er regiert auf ewig, The Lord shall reign for Für und für, dein Gott, o He shall reign for ever, Zion, even the mighty God of ever, even thy God, O Zion. Praise ye the Lord! Hallelujah! Israel. Hallelujah – Amen!
59 Jeremiah 51: 25Behold, I am against thee, O destroying mountain, saith the LORD, which destroyest all the earth: and I will stretch out mine hand upon thee, and roll thee down from the rocks, and will make thee a burnt mountain. 60 Jeremiah 50: 15Shout against her round about: she hath given her hand: her foundations are fallen, her walls are thrown down: for it is the vengeance of the LORD: take vengeance upon her ; as she hath done, do unto her. 61 Psalm 146: 10The LORD shall reign for ever, even thy God, O Zion, unto all generations. Praise ye the LORD.
Louis Spohrs Der Fall Babylons und die ,Belsazardramen‘ seit Händel
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(Fortsetzung) Part II
Zweiter Theil
Part the Second
Scene – The Banquet hall of the Saal im Palast zu Babylon Palace
Scene – Babylon, Banquet Hall in the Palace
Chorus The festal board with joy is crown’d, Quick pass the mantling goblet round, Belshazzar hail! all hail! Princes & nobles round him throng, And swell the bacchanalian song; Ye nymphs of Babylon advance, And weave the wild voluptuous dance; To great Belshazzar be the goblet crowned, Belshazzar’s name let echoing roofs rebound!
Nr. 18. Chor der Hofleute Die festliche Tafel ist freudegekrönt, Schnell wandert der Becher die Runde, Und Fürsten und Edle jubeln vereint, Lobpreisend mit Herzen und Munde: Heil Belsazar! Heil! Und reizende Mägdlein laden zum Tanz, Erhöhend des Festes entzückenden Glanz; Dem Herrscher: der solche Lust uns beut, Sei donnernd der schäumende Becher geweiht: Heil Belsazar! Heil!
No. 18. Chorus Haste, haste to the banquet where pleasure presides, With wine be our goblets o’erflowing; Belshazzar appears at our revels to-night, With joy every bosom is glowing: Hail, Belshazzar, hail! While Beauty’s sweet smiles beaming brightly around Awaken new joys and give zest to our wine, The Gods, when beholding our festive delights, May envy ev’n mortals such pleasure divine: Hail, Belshazzar, hail!
Song – Babylonish Man
Nr. 19. Chor der Priester
(A grand concert of music, after which an ode) (S. 336)
To great Belshazzar be the goblet crowned! Belshazzar’s name the echoing roofs rebound!
No. 19. Chorus of Priests of Bel Immortal Belus, whom the O ew’ger Bel, dem alle O mighty Bel, great ruler of nations own, Völker eigen, the nations, Let richest offerings thy Laß Deine Tempel reich With songs of triumph altars crown, mit Gaben kränzen! now thy sons adore thee! Earth’s mighty ruler, we Allmächtigster, vor dem Our enemies beneath thy invoke thy power, sich Kön’ge beugen; stroke are humbled And in our deep libations Wir rufen Deine Allmacht And in the dust all thus adore. an und neigen prostrate lie before thee: Zum Staube uns, Dir Attend our rites, great heil’ge Opfer bringend. monarch of the skies! And while with festive mirth and wine We meet before thy sacred shrine, Accept our sacrifice! Song – Babylonish Woman Now begin our festive rites Music’s joys & love’s delights: Jocund dance & mirthful song Lead the happy hours along.
Nr. 20. Chor der Babylonierinnen Auf, laßt uns die festlichen Bräuche beginnen! Ertöne, Gesang, aus jubelnder Brust! Laßt klingen die Harfen zu Scherzen und Minnen, Zu fröhlichem Tanz zu seliger Lust!
Immortal Belus, whom the nations own … To-night his deity we here adore, And due libations speak his mighty power.
No. 20. Chorus of Women Haste, haste, gallant youth, O what pleasure awaits us! No cares shall intrude on our revels to-night; Hark! music invites us, her strains how entrancing! The joys of the dance shall crown our delight.
Festive Music, which is interrupted by the solemn Hymn oft he Jews heard at a distance
Festive Music commences; which is interrupted by the
Choral
Chor der Juden
Chorus of Jews
Arm of the Lord, awake, awake! Beneath whose touch the mountains quake; Shall idols vain thy glory share? Shall gods of earth with thee compare?
Erwache, Arm des Herrn, erwache! Vor dem die Berge zitternd steh’n! Die Götzenopfer schrei’n um Rache, Die ruchlos auf zum Himmel weh’n.
Arise, O Lord, array’d in terror! O thou to whom creation bows; Shall idol gods, thy name usurping, Receive thy creatures’ impious vows?
Solemn Hymn of the Jews (heard at a distance) – Air (S. 47) Arm of the Lord! awake, awake! Beneath whose touch the mountains quake! Shall idols vain Thy glory share? Shall gods of earth with Thee compare?
Who trust in thee shall never droop – But Bel shall bow & Nebo stoop; Like fading mists their power shall fly, Before the terrors of thine eye.
Soll Dir ein irdisch Bildniß gleichen, Von Frevler-Hand mit Trug erfüllt? Dein zürnend Auge wird’s erreichen, Wie Sturm ein leichtes Nebelbild.
Shall rebel mortals dare deny thee, Whose power the universe sustains? Shall Babylon’s proud king defy thee, And Abraham’s sons retain in chains?
Who trust in Thee shall never droop – But Bel shall bow, and Nebo stoop; Like fading mists their pomp shall die, Before the terrors of Thine eye.
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Dominik Höink
(Fortsetzung) Lord, let thy awful glories shine, As when they blazed o’er Egypt’s host; Till impious hand their prey resign, And Zion hails her children lost!
Lass Deinen heil’gen Glanz erscheinen Wie einstens in Aegyptenland, Dass er gen Zion führ’ die Deinen, Errettend sie aus Feindeshand.
Great God of uncontroll’d dominion, Who art through endless years the same, While sinners tremble at thy judgements, We’ll triumph in thy holy name.
Lord! let Thy awful glories shine, As when they blazed o’er Egypt’s host; Till impious hand their prey resign, And Zion hails her children lost!
Recitative – Belshazzar
Nr. 21. Rezitativ – Belsazar O die verhaßten Sclaven, so unverschämt als niedrig! Die mit frevelndem Eifer und hartnäckigem Stolze Es wagen, der Macht zu trotzen, die mit einem Worte Sie schleudern kann in den Staub! Hat ihr Gott sie Nicht längst verlassen und hülflos In meine Hand gegeben? –
No. 21. Recitative – Belshazzar Slaves! do ye dare my vengeance, and thus With frantic folly defy the mighty arm That crush’d and hold ye captive? Let Babylon’s great monarch give the mandate, And ye are dust beneath his feet. Hath not your God forsaken,
Recitative – Belshazzar (S. 47) Detested slaves! and insolent as base – Who thus with frantic zeal and stubborn pride, Dare to provoke the ire, which, with a word Can crush them into dust!
Detested slaves, and insolent as base! Who thus with frantic zeal & stubborn pride, Dare to provoke the power, which, with a word Can crush them into dust! Hath not their God Forsaken them, and left them in my hands a helpless prey?
Hath not their God Forsaken them, and left them in my hand, A helpless prey? … And left you in my hands a Free let the revels flow! And, that our joys be full, helpless prey? Free let the revels flow, and be hither brought The golden vessels, taken hither bring The rich and sacred vessels in the Temple’s spoil … That once adorn’d his temple, Hear, ye detested Hebrews, thus we deride Your God!
Free let the revels flow! And now, to grace our board, he hither brought The precious vessels which adorned their temple: Hear, captive Hebrews – thus we deride your God!
Laßt dem Jubel freien Lauf! Bringt, uns’re Tafel zu zieren, die köstlichen Gefäße, Die einst ihren Tempel schmückten! – Hört, ihr gefang’nen Hebräer: so spotten wir eures Gottes!
Duet Nicotris Forbear, my son, with impious rage Jehovah’s power to dare!
Nr. 22. Duett Nikotris Du trotzest mit verruchter Wuth, Mein Sohn, Jehova’s Macht!
No. 22. Duet Nitocris Forbear, my son, with impious rage, Jehovah’s power to dare.
Belshazzar His power I scorn – his threats defy, Belshazzar knows not fear
Belsazar Ich spotte deiner Macht; sein Droh’n Wird kühn von mir verlacht
Belshazzar I scorn his power – his threats defy, Belshazzar knows not fear.
Nicotris Think on the judgements that of old Declar’d his sovereign might.
Nikotris O sei gedenk des alten Spruchs Von seiner Herrschermacht!
Nitocris O think what judgements here of old Declared his sovereign might!
Belshazzar You plead in vain – his Temple’s spoils Shall grace our pomp tonight
Belsazar Vergebens! Seines Tempels Raub Verherrlicht diese Nacht!
Belshazzar You vainly plead – his temple’s spoils Shall grace our pomp tonight
Trio or Chorus of Men As long as Bel shall rule the day With bright & quenchless flame, And light & life, his gifts, convey To lands of every name, Great Babylon, thy splendour vast, Unchang’d by time or fate shall last.
Chor der Babylonier So lange Bel die Tage lenkt Und seine Gaben spendet, Zu Licht und Leben ew’ge Gluth Durch alle Lande sendet: So lange gönnt dir das Geschick, O Babylon, dein reiches Glück.
Chorus of Priests So long as Bel shall rule the day, On earth his brightness pouring, And light and life, his gifts, convey To realms his power adoring, Thy mighty name, thy splendor vast, Great Babylon, unchanged shall last.
Air – Men (S. 49) As long as Bel shall rule the day, … And light and life, his gifts, convey To lands of every name;
Trio or Chorus of Women Chor der Babylonierinnen Chorus of Babylonish Air – Women (S. 49) Women So lange Nebos bleicher So long as Nebo, queen of As long as Nebo’s paler Schein night, fire Der stillen Nacht gebietet, Heaven’s starry vaul Und sorgsam rings die ascendeth,
As long as Nebo’s paler fire Shall rule the subject night,
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Louis Spohrs Der Fall Babylons und die ,Belsazardramen‘ seit Händel (Fortsetzung) Shall rule the subject night, And mortal eyes those hosts admire,
And mortal eyes those hosts admire That gem the heavens with light, While stars shall canopy the plain, Thy power, great City, shall remain.
Sternelein Am weiten Himmel hütet, Die wandelnd auf- und niedergeh’n: So lang’ wird deine Macht besteh’n!
And thence her everchanging light O’er silent earth extendeth, The prostrate nations shall obey, And own, Great Babylon, thy sway.
Recitative – Belshazzar
Nr. 23. Rezitativ – Belsazar Jetzt füllt mir den weiten Becher bis zum Rande! Ihr armen, gefangenen Hebräer, wo ist nun euer Gott? Der, welchem ihr dient, ist ohnmächtig, Laßt ihn erscheinen und seine Macht behaupten! –
No. 23. Recitative – Recitative – Belshazzar Belshazzar (S. 50) Fill me to the brim the massy goblet! Ye vanquish’d slaves, ye vassal Hebrews, where Is now your God? Say why delays the power Ye call so mighty? Let him appear, his name to vindicate!
Fill me the massy goblet to the brim! Pour captive Hebrews, where is now your God? Him whom ye serve is impotent to save; Let him appear, & vindicate his might.
(The hand writing appears on the wall)
(Eine schreibende Hand erscheint an der Mauer.)
Ye mystic symbols, ye illusive forms Ye wild & fearful images, whence come ye? Dread shadows speak – reveal your dark intent! What viewless power guides the mysterious hand Beneath whose touch leaps out the dazzling flame That glares upon my sight & palsies all my strength! Call hither my Chaldeans, Soothsayer, Magicians And all expert in magic charms.
Weh! Was seh’ ich! Welche unsichtbare Macht führt die geheimnisvolle Hand? Welch’ glühendes Licht! Mein Gesicht wird geblendet und meine Kraft gelähmt! Ihr mystischen Symbole, trügerischen Gestalten, Wilde, fürchterliche Bilder, woher kommt ihr? Schreckliche Flammen, redet! offenbart euren dunklen Sinn! – Ihr meine Chaldäer, meine Wahrsager und Alle, Die ihr in magischen Künsten erfahren seid: redet!
Recitative – Chaldean Soothsayer Great King of men, were these the mystic fires
Ha! what meteor before my dazzled sight appears? What power directs that hand, beneath whose touch Leaps out a dazzling flame? My joints are all Unloosed, and my strength is gone. Ye strange And mystic symbols, why do ye thus appal me? Wild and terrible forebodings, say whence come ye? Horrible vision, glaring on my sight, Reveal your dark intent. Say, ye Chaldean Soothsayer, what language, What hidden meaning have these burning characters? Answer!
Rezitativ – Ein chaldäischer Wahrsager O grosser König, wäre dieses geheimnisvolle Feuer That rise around our God, Von unserm Gotte their hidden meaning, ausgegangen, so würde Unto thy servants known, dessen verborgener Sinn should be reveal’d: Von deinen Dienern But this portent baffles erkannt und offenbart dir werden; Chaldean skill: No art or wisdom less than Aber diese Zeichen that of Belus, verwirren die Kunst der Can tell its awful import. Chaldäer; Nur die Weisheit des Belus könnte ihre schreckliche Deutung verkünden.
Soothsyer
Recitative Belshazzar Accurs’d deceivers, base impostors, Avoid my sight, or swift shall be your doom!
Belshazzar Accurst deceivers, base impostors, Avoid my sight, or swift and signal vengeance Shall overtake ye!
Belsazar Freche Betrüger! niedrige Lügner! Aus meinem Angesicht! oder schnell wird euer Urtheil gefällt sein.
Recitative – Nicotris Nikotris O mighty King, let not thy O mächtiger König! lass thoughts be troubled; Dich nicht also erschrecken! Among the captive tribes Unter dem gefangenen
Belshazzar (S. 338) Fill me that massy goblet to the brim. … Now will they see the God they vainly serve Is impotent to help;
(As the king is going to drink, thunder is heard; he starts from the throne ….) … Ye mystic words! Thou semblance of a hand! illusive forms! Ye wild, fantastic images, what are ye? Dread shadows, speak! Explain your dark intent!
Let my Chaldeans hither come, Astrologers, magicians, soothsayers, And all expert in secret arts!
Recitative – Chaldean Soothsayer (S. 51) O mighty Sovereign, were these the flames That in his temple bespeak the presence of great Belus Thy servants, mighty in Chaldean lore, At thy command their language would unfold: But here all knowledge fails; no human skill Hath power to fathom, nor Which art or wisdom, less art, save that of Belus, than Bel’s, can read. To reveal their meaning, or make known Their mystic import. Air – Belshazzar (S. 51) Deceivers, traitors are ye all, And swift shall be your shameful doom!
Nitocris Mighty Belshazzar, let not thy soul be troubled;
Queen (S. 341)
Among the subject tribes
Among the captive tribes
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Dominik Höink
(Fortsetzung) Stamme, der dir unterthan, Wirst du nicht vergebens nach einem Dollemtscher suchen; To Daniel power is given Der Jude Daniel ist mit der To read the secret page of Macht begabt, dim futurity’s mysterious Im geheimnisvollen Buche der dunklen Zukunft zu volume. lesen.
of Judah That own thy sway, thou shalt not vainly seek The power to solve this fearful mystery. The Hebrew Daniel is by Heaven endow’d, And ev’n the page of dark futurity Before his sight lies open.
Recitative – Belshazzar
Belshazzar
that own thy sway, Thou shalt not seek in vain for an interpreter Of this dread mystery.
Rezitativ – Belsazar
Art thou the prophet of the Er trete näher! – captive tribe, Bist du der Prophet des gefangenen Stammes, Endued, ’tis said, with Von dem sie sagen, dass knowledge more than ihm übermenschliche human? Kenntniss eigen? Behold those characters So sieh diese Zeichen, die that blaze before me, vor mir auflodern, Tell me their import: and Und sage mir ihre honours such as Kings Deutung; und Ehren, wie sie Könige Alone can give await thee. Allein nur spenden können, sollen deiner Thou shalt be great warten, beyond thy souls Und Macht und Reichthümer sollst du ambition, And rich above thy wildest besitzen, dream of wealth. Dass die kühnsten Träume deiner Seele übertroffen werden. Recitative – Daniel
Rezitativ – Daniel
Daniel Thy gifts be to thyself, O King? At His command who ruleth heaven and earth I come. The great Jehova, whom I worship, He bids me speak. Him, bold and impious man, Thou hast reviled. The vessels of His holy temple thou hast dared profane, And God, eternal and omnipotent, the King Of kings, defied. Hear him pronounce thy doom. Thy days, proud man, are number’d, Thy kingdom hastens to its end; Thou art weighed in the balance, and Heaven’s Eternal majesty by me declares thee wanting: Thy power is departed – thy destiny fulfill’d!
Recitative – Belshazzar I scorn thy threats, & mock thy false predictions, Against the power of Cyrus & the Mede Our City is secure.
Belshazzar I scorn thy empty menace, and I mock Thy false predictions. Our city’s strength Derides the vaunted power of Cyrus:
Belsazar Ich verachte deine Drohung und spotte deiner falschen Weissagung; Denn diese Stadt ist gesichert vor der Macht des Cyrus; Her brazen gates Ihre ehernen Thore Defy the vaunted power of trotzen der prahlenden Persia’s army. Gewalt While proud Euphrates Der persischen Armee. So rolls his ample tide lange der Euphrat seinen Belshazzar shall be King of Babylon.
A youth named Daniel, favored by high Heaven With power to look into the secret page Of dim futuritts mysterious volume.
Recitative – Belshazzar (S. 52) Bid him approach me! Art thou the Daniel of the Art thou the Prophet of the captive tribe? captive Hebrews, To whom, ’tis said, the knowledge of man’s destiny Is given? Behold yon fiery omen Thus on my sight intruding: Declare its mystic language, and honours such As kings alone have power to offer Shall now await thee. With wealth and station thou shalt be rewarded, And ev’n thy wildest dreams of greatness shall Be far exceeded.
Behalte deine Gaben für dich, o König, Und wende Andern deine Belohnung zu! Der Gott des Himmels, dem ich diene, befiehlt mir zu reden. Him, bold & impious Ihn, tollkühner, gottloser man, thou hast defied. Mann, hast du Bending to idol gods, the herausgefordert, work of hands; Da du deinen Götzen die Gefässe seines heiligen Thou hast abjured the Tempels geschenkt; King of Kings & Lord of Du hast den König der Könige, den Herrn der Lords! Hear him pronounce thy Herrn gelästert; doom! Vernimm sein Urtheil über Mene – Tekel – Upharsin dich: „Du wirst vernichtet Thy days, O King, are werden, numbered! Deine Tage, o König, sind Weighed in the balance of gezählt; gewogen unerring justice, Auf der Wage untrüglicher Thou art found wanting! Gerechtigkeit, bist du zu leicht befunden, Thy power is gone – thy Deine Macht ist vorüber, destiny fulfill’d! dein Schicksal erfüllt!“ Thy gifts be to thyself, O King, And thy rewards let others share. The God of heaven I serve – Jehovah bids me speak.
which hither came …
Her gates of brass, her lofty towers, Her massy walls, defy th’ aussaults Of Persia’s countless host.
Belshazzar (S. 342) Art thou that Daniel whom niy great forefather Brought hither with the captive tribes of Judah?
And honors, such as kings can give, await thee.
Thou shalt be great beyond thy soul’s ambition, And rich above thy wildest dream of wealth
Recitative – Daniel (S. 52 f.) Thy gifts be to thyself, and thy rewards Let others take! God’s will, unbrided I speak!
Mene – Mene – Tekel – Upharsin … Thy reign is number’d … Weigh’d in the balance, thou art wanting found: Thy kingdom’s gone, by Medes and Persians shared. Belshazzar (S. 346) I mock the prophet. Third Court (S. 345) Against the power of Cyrus and the Mede is Babylon secure. Her brazen gates Mock all attempts to force them.
Louis Spohrs Der Fall Babylons und die ,Belsazardramen‘ seit Händel (Fortsetzung)
(The distant March of the Persian army is heard) Recitative – Soldier O mighty King, great Babylon is fall’n! The victor Cyrus, like a mighty torrent, Comes rushing on! Euphrates hath forsak’n his bed, And Persia’s conquering army is at hand.
weiten Lauf vollbringt, wird Belsazar König von Babylon sein.
Long as Euphrates rolls his mighty flood, Belshazzar king of Babylon shall reign!
Nr. 24. (Marsch der persischen Armee aus der Ferne) Ein Soldat O mächtiger König, die Perser stürmen heran; Cyrus bricht hervor gleich einem mächtigen Strom!
No. 24. (The March of the Persian army is heard) Babylonish Soldier O King Belshazzar, the foe is at thy gates, Cyrus and his host come like a mighty stream!
Ein anderer Soldat O rette dich, König! das große Babylon ist gefallen! Der Euphrat hat sein Bett verlassen, und Persiens eroberndes Heer ist nahe!
Another Soldier O gracious Sovereign, great Babylon is fall’n! Euphrates hath his bed forsaken, And Persia’s conquering host thy palace hath Encompassed!
Chorus of Persian soldier Chor der persischen Soldaten Jubelt auf! Der Sieg ist gewonnen, Und das mächtige Babel erstürmt! Seine Tempel, so stolz gethürmt, Seine Paläste werden zerfallen.
Rejoice, for the triumph is won! Great Babylon now thou art ours! Thy palaces soon shall be dust, Thy Temples, thy trophies, thy towers. See Persian ghosts, in battle slain, For vengeance call, now call in vain: Revenge, revenge! their spirits cry, Revenge, revenge! our swords reply!
Hört! die Geister gefallener Brüder Rufen um Rache, zu Kampfeswuth; Rache! Rache! schreit ihr Blut, Rache! hallen uns’re Schwerter wieder. Allgemeiner Chor Jubelt auf! der Sieg ist gewonnen, Und das mächtige Babel erstürmt! Seine Tempel, so stolz gethürmt, Seine Paläste werden zerfallen.
Chorus of Persian Soldiers Shout aloud! the conflict is ended; Haughty Babylon, bend to the yoke! The power thou hast dared to provoke, On thy head hath in thunder descended. Semi-Chorus Hark, the ghosts of our slaughter’d warriors: “Persians, avenge us, avenge thy valiant sons.” “Vengeance, vengeance!” their spirits cry ; Vengeance shall our gleaming swords reply. Chorus of Jews and Persians Shout aloud! the conflict is ended; Haughty Babylon, bend to the yoke! The power thou hast dared to provoke, On thy head hath in thunder descended.
Recitative – Cyrus Great God of Israel, I feel, I own thy power! Man, feeble man is but thy instrument! Thy arm was here!
Nr. 25. Rezitativ – Cyrus Erhab’ner Gott von Israel, ich fühle, ich bekenne Deine Macht! Ein Mensch, ein schwacher Mensch, bin ich nur Dein Werkzeug; Dein Arm war hier.
No. 25. Recitative – Cyrus Almighty God of Israel, the glory and the victory are thine! For man, thy creature man, without Thee is nothing: Thy arm was here!
Air – Cyrus O what is man in all his pride? The loftiest boast of kingly power, The pomp of state, the victor’s crown Are but pageants of an hour. Teach me to own thy power divine, And bend, O bend my will to thine.
Nr. 26. Arie – Cyrus Was ist der Mensch in seinem stolzen Wahne? Der höchste Ruhm und königliche Pracht, Des Siegers Krone und der Völker Macht Sind Schaugepränge nur für eine Stunde. O lehre, Herr, mich Deine Macht bekennen, Lass Deinen Glanz auf meinem Weg erscheinen Und beuge meinen Willen vor dem Deinen!
No. 26. Song O what is man, by all his pomp attended, The pride of birth, the boast of princely might, The victor’s laurel, and the monarch’s height? Thy mandate given, at once the dream is ended. All gracious Power, thy aid alone imploring, To Thee I bend, thy just decrees adoring: Great source of light divine, O bend my will to thine!
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Dominik Höink
(Fortsetzung) Air or Duet – Jewish woman Tune, tune the harps which on the willows hang, Break the long silence of the tuneful chord: He reigns, of whom the son of Amos sung, Cyrus the great, the shepherd of the Lord.
Nr. 27. Quartett der Juden Laßt tönen die Harfen zu festlichen Klängen, Die traurig an stillen Weiden hängen! Laßt jubeln die Saiten, es kam von fern, Zu weiden sein Volk, der Hirt des Herrn.
Hymn of the Jews (Choral) Thee, Lord, thy tribes assembled fear: Thee thine attendant hosts severe; Lord God of armies, King alone, Thy raiment truth, & strength thy zone. Lord, spread thy name thro’ heathen lands, Their idol deities dethrone: Subdue the world to thy commands, And reign, as thou art, God alone.
Nr. 28. Chor der Juden Herr, Dich fürchten Deine Völker, Dich verehret jeder Stamm; Dein Gewand ist ew’ge Wahrheit, Und Dein Antlitz Himmels-Klarheit, Und Dein Walten ew’ge Kraft. Breite Deinen heil’gen Namen In der Heiden Lande aus! Zeige Deine Herrschaft Allen, Daß die falschen Götter fallen, Denn nur Du allein bist Gott!
No. 28. Chorus of Jews Lord, thy arm hath been uplifted, Israel triumphs o’er her foes: By thy mighty power defend, By thy ceaseless love attended, Zion shall in peace repose. Lord, reveal thy awful glory As when Egypt felt thy rod; Soon the heathen shall adore thee, And their idols fall before thee, – Thou, and thou alone, art God!
Song – Daniel What visions pass before me, And glad my wond’ring sight! What dreams of future glory All permanent & bright! Again Jehovah’s Temple In Zion shall arise: The tribes shall there adore him, And grateful inscense rise. Ye captive Sons of Judah Exulting strike the chord; Rejoice in your salvation, And praise your sovereign Lord!
Nr. 29. Daniel – Vision Welche Bilder schaut mein Blick! Welch’ glückliche Zukunft! Ewigen Glanz und Ruhm Seh’ ich mein geliebtes Volk umgeben, Jehova’s alleiniges Heiligthum Sich neu und herrlich auf Zion erheben. Die Stämme nahen und beten dort an, Die Flammen lodern, Die Opfer harren, Lobpreisende Sänge berühren mein Ohr, Und dankender Weihrauch steigt empor!
No. 29. Song – Daniel Boundless visions, glories bright, before me are fleeting! Ages of joy and peace again await the chosen nation. The Lord hath redeemed his people, and glorified himself in Israel. Thy walls, O Zion, once more shall we see, and with rejoicing thy courts revisit. Almighty Father, what mortal praise, what songs of angels, can speak thy power, or who can celebrate all thy love?
Recitative – Jewish Woman (Isaiah chap. 35, ver. 10)62 The ransomed of the Lord shall return, and come to Zion with songs: they shall obtain joy & gladness, & sorrow & sighing shall flee away.
Nr. 30. Rezitativ – Jüdin
No. 30. Recitative – Israelitish Woman
Die Erlös’ten des Herrn werden wiederkommen, Gen Zion werden sie ziehen mit Jauchzen, Und ew’ge Freude wird über ihrem Haupte sein, Und Schmerz und Seufzen werden enden.
The ransomed of the Lord shall return, and come to Zion with songs of gladness. Everlasting joy shall be upon their heads, and sorrow and sighing shall flee away.
Arie – Jüdin Ja, Freude wird bald die Stille beleben, Die Wüste wird prangen mit Blumen geschmückt,
Song O Zion, how bright the hope that attend thee! The wilderness now shall its verdure resume, The desert rejoicing
Song – Jewish woman The wilderness soon shall be glad, The solitudes break into mirth, The desert with blossoms be clad,
No. 27. Quartett Strike the harp! for the Lord in his might hath descended; O Judah, be glad, thy mourning is ended; Rejoice, ye redeemed, exulting bring Thanksgiving and praise to God our King!
Air – Jewish woman (S. 56) The wilderness soon shall be glad, The solitudes break into mirth; The desert with blossoms be clad,
62 Isaiah 35: 10And the ransomed of the LORD shall return, and come to Zion with songs and everlasting joy upon their heads: they shall obtain joy and gladness, and sorrow and sighing shall flee away.
Louis Spohrs Der Fall Babylons und die ,Belsazardramen‘ seit Händel
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(Fortsetzung) Und Alles wird jubeln in Lust entzückt, Und dankend den Herrn And there shall a highway des Himmels erheben. be found For the ransom’d of God to return, With the garland of joy on their head, No more for their Zion to mourn.
with roses shall bloom; The Lord is thy Shepherd, – he shall defend thee.
Chorus (Psalm 47, ver. 1.2.3.4.6)63 O clap your hands all ye people! shout unto God with the voice of triumph.
Nr. 31. Chor der Juden
No. 31. Chorus
Frohlocket mit Händen, alle Völker, Und jauchzet Gott mit fröhlichem Schall! Denn der Herr, der Allerhöchste, ist erschrecklich; Ein großer König auf dem ganzen Erdboden! Er wird die Völker unter uns zwingen, Er erwählt uns zum Erbtheil die Herrlichkeit Jacobs, Lobsinget, lobsinget Gott! lobsinget unserm Könige!
Give thanks unto God, O house of Judah, and talk of all his wonderful works. O praise Him, all ye people, and declare his salvation. Shew forth all his loving-kindness unto Israel, for He is gracious, He alone is mighty. The Lord hath been thy refuge, O Zion! He hath been thy salvation and thy sure defence. Hosanna! Jehovah reigneth in majesty, in power and glory, and He shall reign for evermore. He alone is mighty – He alone is holy!
As when roses rejoin in their birth.
For the Lord most high is terrible: He is a great King over all the earth. He shall subdue the people under us, and the nations under our feet. He shall choose our inheritance for us – the excellency of Jacob whom he loved. Sing praises to God: sing praises unto our King! Amen!
As when roses rejoin in their birth! And there shall a high-way be spread, For the ransom’d of God to return, With the garland of joy on their head, No more for their Zion to mourn.
63 Psalm 47: 1 (To the chief Musician, A Psalm for the sons of Korah.) O clap your hands, all ye people; shout unto God with the voice of triumph. / 2 For the LORD most high is terrible; he is a great King over all the earth. / 3 He shall subdue the people under us, and the nations under our feet. / 4 He shall choose our inheritance for us, the excellency of Jacob whom he loved. Selah. / 5 God is gone up with a shout, the LORD with the sound of a trumpet. / 6 Sing praises to God, sing praises: sing praises unto our King, sing praises.
Johannes Schnocks
Rezeptionshermeneutische Analysen zu Spohrs Der Fall Babylons und seinen biblischen Vorlagen
1.
Einleitung
Der evangelische Alttestamentler Rainer Albertz beginnt sein Lehrbuch „Die Exilszeit“ mit Sätzen, die Horizonte sichtbar machen: „Unter allen Epochen der Geschichte Israels stellt die Exilszeit den tiefsten Einschnitt und den folgenschwersten Umbruch dar, deren Bedeutung für die Folgezeit kaum zu überschätzen ist. Mit ihr geriet die Religion Israels in ihre schwerste Krise, aber in ihr wurde der Grundstein für ihre durchgreifendste Erneuerung gelegt. […] Es gehört zu den großen Wundern der Menschheitsgeschichte, daß die Geschichte Israels mit dem Exil, das heißt dem Verlust der staatlichen und territorialen Integrität Israels, nicht abbrach, sondern, getragen von seiner Gottesbeziehung und in ständigem Bezug auf das Land, aus dem es teilweise vertrieben war, weiterging.“1
Diese Einschätzung gewissermaßen zum Thema von Louis Spohrs Der Fall Babylons aus der Perspektive meines Faches könnte man noch dahingehend ergänzen, dass die historisch analogielose Krise wohl auch der Auslöser für eine große und vielfältige Literaturproduktion und -redaktion war, was sich ganz wesentlich auf die Gestalt dessen ausgewirkt hat, was Christen heute das Alte Testament nennen. Die Thematik im weiteren Sinn, um die es in Spohrs Oratorium geht, ist also aus exegetischer Sicht nicht einfach irgendeine Geschichte, sondern sie hat Anteil an einer langen Reihe von literarischen Verarbeitungen eines historischen Ereignisses, die bereits in der Bibel selbst beginnt. Der Ausgangspunkt für die folgenden Überlegungen ist der Text, den Spohr zur Grundlage seiner Komposition gemacht hat, also die Übersetzung des Taylor-Textes durch den in Kassel tätigen Juristen, Publizisten und späteren Politiker Friedrich Oetker, der wohl von Spohr selbst für diese Aufgabe angefragt worden war. Der Beitrag schließt so an den Aufsatz von Dominik Höink in diesem Band an. Es soll nicht um die Hintergründe der Entstehung der engli1 Rainer Albertz, Die Exilszeit. 6. Jahrhundert v. Chr. (= Biblische Enzyklopädie, 7), Stuttgart 2001, S. 11.
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Johannes Schnocks
schen Vorlage oder um andere Verarbeitungen des Belschazzar-Stoffes2 in Oratorien gehen. Vielmehr soll das deutsche Libretto gegenüber den biblischen und nichtbiblischen Vorlagen profiliert werden. Nur gelegentlich ergeben sich hier Seitenblicke auf die beiden englischen Fassungen. Dabei wird sich zeigen, dass Texte im Hintergrund stehen, die den „Stoff“ des Oratoriums ganz unterschiedlich erzählen, also sich widersprechende Entwürfe über Israels Situation im Exil und das Ende Babylons bieten. Das Ziel besteht darin, hermeneutisch zu fragen, wie der Taylor-Text in Gestalt der Oetker-Übersetzung mit diesen Texten umgeht, wo durch Kombinationen oder Veränderungen neue Sinnzusammenhänge geschaffen werden. Um insbesondere die antiken Texte besser einordnen zu können, gehen dieser Arbeit einige historische Bemerkungen über das sechste vorchristliche Jahrhundert voraus. Dabei soll es nicht darum gehen, einen Text des 19. Jahrhunderts als nach heutigen Maßstäben historisch fehlerhaft zu kritisieren. Historische Fehlerhaftigkeit müsste man dann den antiken Texten in gleicher Weise bescheinigen. In allen Fällen haben wir es mit Literatur zu tun, die nicht in erster Linie an nüchternen Fakten interessiert ist. Die Unterschiede zur historischen Rekonstruktion sollen daher gerade den literarischen Charakter des Oratorientextes und seiner Vorlagen in einem ersten Schritt unterstreichen. Im folgenden Abschnitt geht es dann um konzeptionelle Übernahmen und Abweichungen des Librettos gegenüber den biblischen Vorlagen. Hier stellt sich auch die Frage, ob bei sichtbar werdenden Abweichungen, etwa von einer sonst textlich wichtigen Vorlage, nicht doch Konzepte sichtbar werden, die sich anderen biblischen Vorbildern entnehmen lassen und die dann für die Rezeption leitend geworden sind.
2.
Zur historischen Rekonstruktion der erzählten Zeit
In der historischen Erforschung des sechsten vorchristlichen Jahrhunderts haben sich in den vergangenen Jahrzehnten einige Verschiebungen ergeben, die auch für die biblischen Texte von großer Bedeutung sind. An dieser Stelle können nur die wichtigsten Ergebnisse genannt werden.3 Die Jerusalemer Oberschicht war in einer großen Deportation 597 und vermutlich zwei weiteren kleineren Wellen 586 und 572 nach Babylonien gebracht und dort in eigenen 2 Die Schreibweise der biblischen Eigennamen richtet sich außerhalb der Zitate in diesem Aufsatz einheitlich nach den heute üblichen Loccumer Richtlinien, um der Vielfalt der historischen Schreibweisen auszuweichen. 3 Für detailliertere Zusammenfassungen der Forschungsergebnisse vgl. Albertz, Die Exilszeit; Christian Frevel, „Grundriss der Geschichte Israels“, in: Erich Zenger u. a., Einleitung in das Alte Testament (= Studienbücher Theologie, 1/1), Stuttgart 82012, S. 793 – 815.
Rezeptionshermeneutische Analysen zu Spohrs Der Fall Babylons
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Kolonien angesiedelt worden. Eine ganze Reihe von Ortsnamen wird in der Bibel und bei Flavius Josephus genannt. Diese und andere tauchen ebenso wie judäische Personennamen in einer großen Zahl von Dokumenten aus babylonischpersischer Zeit auf. Das Bild, das sich heute aus diesen Dokumenten rekonstruieren lässt, hat nichts mit der Vorstellung von Gefangenen oder Sklaven zu tun. „Eine Unterdrückung aus ethnischen oder religiösen Gründen ist nicht erkennbar.“4 Vielmehr erscheinen die Exulanten sozial, rechtlich und wirtschaftlich gut integriert. Sie treiben Handel und schließen Verträge. Auch scheinen sie nicht nur untereinander geheiratet zu haben. Das bedeutet aber nicht, dass die Gruppe ihre eigene Identität nicht gepflegt oder auch symbolisch kommuniziert hätte: Die Beschneidung und die Beachtung des Sabbats sind in dieser Zeit offenbar als Zeichen der Gruppenzugehörigkeit wichtig geworden. Dieses Bild erklärt, warum wir biblische Texte finden, in denen mit deutlichen Worten für eine Rückkehr aus Babylon geworben werden musste (vgl. Jes 48,20; Sach 2,10 – 13), als diese unter den Persern möglich wurde. Offenbar war das längst nicht für alle eine attraktive Perspektive. Der letzte Babylonische König war Nabonid. Er hat wohl auch aus politischen Überlegungen im Blick auf sein Reich die Verehrung des Mondgottes Sin von Haran gefördert, was ihn freilich bei der konservativen Marduk-Priesterschaft in Babylon selbst in Verruf gebracht hat. So hielt er sich jahrelang außerhalb seiner Hauptstadt auf, wo er seinen Sohn Belschazzar als Regenten eingesetzt hatte. Als dann der Perserkönig Kyros II., der Große, 539 Babylonien angriff, wurde ihm die Stadt vermutlich auf Betreiben der Marduk-Priesterschaft kampflos übergeben. Die Ereignisse werden auf dem sogenannten Kyros-Zylinder theologisch gedeutet. Dabei handelt es sich um einen Propagandatext, nach dem der babylonische Hauptgott Marduk Nabonid verworfen und sich Kyros erwählt habe, um ihm alle Türen seiner Stadt Babylon zu öffnen.5 Damit lassen sich gravierende Unterschiede gegenüber dem Oratorientext und, wie sich zeigen wird, einem wichtigen Teil der biblischen Tradition festhalten: Zunächst stellt sich das babylonische Exil nicht als eine Zeit der tagtäglichen Unterdrückung dar, also nicht als eine Situation von „Gram und Banden“, wie es das Lied der Mutter in der 3. Szene des 1. Aktes ausdrückt. Dann ist Babylon kampflos übergeben und nicht erstürmt worden. Es war wohl auch nicht so, dass seine Tempel und Paläste zerfielen, wie in der Schlussszene der Chor der Soldaten es feiert. Das relativiert zumindest die Deutung, die Stadt habe die Vergeltung für die eigene Zerstörungs- und Deportationspolitik erfahren müssen. Dass Nabonid und nicht Belschazzar König von Babylon war, 4 Albertz, Die Exilszeit, S. 89. 5 Eine Übersetzung des Textes von Rykle Borger findet sich in: Texte aus der Umwelt des Alten Testaments, Bd. 1/4, Gütersloh 1984, S. 407 – 410.
382
Johannes Schnocks
kann man notieren, fällt aber weniger ins Gewicht, da Belschazzar ja doch in Babylon selbst regiert hat. Über das Schicksal beider gibt es kaum verlässliche Angaben. Immerhin sprechen Indizien dafür, dass Nabonid nach Flucht und Kapitulation ins Exil nach Karmanien verschleppt wurde, während man bei Belschazzar vermuten kann, dass er bei der Einnahme Babylons umgekommen sei, zumindest wenn man in Dan 5,30 eine zutreffende Tradition sehen möchte.6 Dieser Befund der Differenz ist insofern interessant, als auch die biblischen Bezugnahmen auf das Exil eine gewisse Bandbreite an Nähe oder Ferne zu den mutmaßlichen historischen Fakten zeigen. Offenbar handelt es sich um ein Ereignis, das literarisch immer wieder verarbeitet wurde, ohne dass man sich allzu sehr an Unterschieden gegenüber anderen Traditionen oder den Tatsachen selbst, wo sie noch bekannt waren, gestört hätte. Das Exil bekommt damit den Status eines Mythos, an dessen immer neuer Erzählung sich Aspekte der jeweiligen eigenen Gegenwart verstehen lassen.
3.
Das Libretto und seine Vorlagen
Wenn wir nun auf das Verhältnis des Librettos zu seinen Vorlagen schauen, muss auch auf eine außerbiblische Vorlage hingewiesen werden, die offenbar verarbeitet wurde: die Passagen aus den Historien des Herodot, die die babylonische und frühe Perserzeit behandeln. Greifbar wird die Herodot-Rezeption an drei Punkten: 1.) Die Stadtbeschreibung Babylons im Rezitativ des Kyros Nr. 12 lehnt sich eng an die Beschreibung durch Herodot an. 2.) Der im deutschen Text merkwürdig geschriebene Name der weisen Königsmutter Nikotris verweist auf die ebenso weise und betriebsame Königin Nitokris – so auch die Schreibweise im englischen Text –, der Herodot bedeutende wassertechnische Baumaßnahmen, Verteidigungsanlagen und die innerstädtische Euphrat-Brücke zuschreibt. 3.) Und schließlich gelingt Kyros die Eroberung Babylons nach Herodot, indem er den Euphrat umleitet und seine Truppen durch das trockene Flussbett in die ahnungslos Feste feiernde Stadt bringt, was ein plausibler sachlicher Hintergrund für die Nr. 24 des Oratoriums ist. Blicken wir nun auf die rezipierten biblischen Texte. Zunächst sei vorweg geschickt, dass der Text des Librettos generell um eine Art „Bibelsprache“ bemüht ist. So erscheinen auch solche Stellen irgendwie ,biblisch‘, die sich nicht mithilfe der Konkordanz eindeutig einer bestimmten Bibelstelle zuordnen lassen oder die zwar biblische Vorstellungen transportieren, ohne dabei aber bestimmte Texte breiter zu rezipieren. Ein Beispiel wäre etwa die Aussage „Gott ist 6 Vgl. Eckart Frahm, Geschichte des alten Mesopotamien, Stuttgart 2013, S. 226; Albertz, Die Exilszeit, S. 65.
Rezeptionshermeneutische Analysen zu Spohrs Der Fall Babylons
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Liebe“ am Ende der 3. Szene des 1. Aktes, die sich in 1 Joh 4,8.16 findet, ohne dass auf diesen Brief weiter eingegangen würde, wie überhaupt diese Szene durch biblische Motive7 geprägt ist, ohne erkennbar auf einen bestimmten Text zu zielen. Bei der Übersetzung des Librettos scheint sich Oetker mit den biblischen Referenzen an die Lutherübersetzung angelehnt zu haben. Ich beschränke mich bei der folgenden Übersicht auf offensichtliche oder doch zumindest sehr deutliche Anspielungen, die auch konzeptionell für das Oratorium prägend sind: Tabelle 1: Die biblischen Vorlagen von Der Fall Babylons Spohr, Der Fall Babylons 1. Akt, 1. Szene (Ufer des Euphrat) 1. Akt, 2. Szene (Persisches Lager)
Quellen (Bibel/Herodot) Ps 137,1 – 4; Jer 4,7 f.; Klgl 5,1 – 2.20 – 21
1. Akt, 3. Szene (Jüdische Wohnung) 1. Akt, 4. Szene (Persisches Lager)
Biblische Motive
1. Akt, 5. Szene (Thal bei Babylon) 2. Akt, 1. Szene (Saal im Palast zu Babylon)
Jer 50,18 f.; Ps 23,1 f.; Jer 51,25 f.
Jes 44,24 – 45,7 (Ps 137,8)
Herodot, Historien I,178 – 181; Jer 50,31
Dan 5
2. Akt, 2. Szene (Marsch der Jer 51,36 und Herodot, Historien I,191; Ijob 7,17; Ps 137,2; pers. Armee) Ps 122,4; Jes 35,1 – 2.10; Ps 47
Auf vier der hier erwähnten Texte möchte ich vergleichend eingehen und beginne mit Dan 5, dessen Umsetzung fast den ganzen zweiten Akt bestimmt. In der Erzählung, die zum aramäischen Kernbestand des Danielbuches gehört,8 gibt Belschazzar ein rauschendes Fest, in dessen Verlauf er die aus dem Jerusalemer Tempel geraubten Tempelgeräte holen lässt, um auch aus ihnen zu trinken. Darauf erscheint eine Schrift an der Wand, die nur der weise Judäer Daniel deuten kann. Er verkündet Belschazzar, dass Gott sein Königtum beenden werde, dass er als zu leicht befunden wurde und dass sein Reich an die Meder und Perser übergehen werde. Die Erzählung endet in der Bibel mit dem lapidaren Satz: „In derselben Nacht wurde Belschazzar, der chaldäischen König, 7 Vgl. etwa die Rückkehr des Volkes aus dem Exil als „Auferstehung“ (Ez 37,1 – 14), der „erhobene Arm“ Gottes (als Exodusmotiv in Dtn 4,34; 5,15; 7,19; 9,29; 11,2; 26,8 u. ö.) oder die Rede vom Schutz im Schatten der Flügel Gottes (Ps 17,8; 91,4). 8 Die Datierung dieser Texte ist der Forschung sehr umstritten. Vgl. zu den verschiedenen Ansätzen Herbert Niehr, „Das Buch Daniel“ in: Erich Zenger u. a., Einleitung in das Alte Testament (= Studienbücher Theologie, 1,1), Stuttgart 82012, S. 614 f.
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getötet.“ (Dan 5,30) Im Danielbuch schließt sich direkt daran eine Episode unter der Herrschaft des Darius, also des dritten Perserkönigs, an. Biblisch wird damit zwar ein Zusammenhang zwischen dem Ende Belschazzars und dem Beginn der Perserherrschaft hergestellt, aber es bleibt offen, ob der Tod des Königs unmittelbar mit der Eroberung Babylons zu tun hatte oder anders zustande kam. Eine andere berühmt gewordene Verarbeitung dieses Kapitels aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist Heinrich Heines Belsatzar. Heine verzichtet auf die Gestalt Daniels und konzentriert sich auf die Konstellation von König und Knechten, also auf das Hofleben, und kommt zu einer eigenwilligen, aber vom biblischen Text her durchaus möglichen Lösung für den offenen Schluss. Er endet mit den Versen: „Und sieh! und sieh! an weißer Wand Da kam’s hervor wie Menschenhand; Und schrieb, und schrieb an weißer Wand Eine leuchtende Flammenschrift, und schwand. Der König stieren Blicks da saß, Mit schlotternden Knien und todtenblaß. Die Knechtenschar saß kalt durchgraut, Und saß gar still, gab keinen Laut. Die Magier kamen, doch keiner verstand Zu deuten die Schrift an Saaleswand. Belsatzar ward aber in selbiger Nacht Von seinen Knechten umgebracht.“9
Heines Gedicht belegt so einmal mehr, wie attraktiv der Stoff in dieser Zeit war und wie frei mit ihm umgegangen werden konnte. In Spohrs Der Fall Babylons bleiben die Babylonier eindeutig auf der Seite Belschazzars. Dafür wird die Opposition Belschazzar – Hebräer/Juden bzw. Daniel bestimmend, die auf göttlicher Ebene eine Entsprechung in der Opposition Götter Babylons – Gott Israels findet. Gleichzeitig wird mit Blick auf das gesamte Oratorium Belschazzar als Kontrastfigur zu dem im ersten Akt eingeführten und charakterisierten Kyros aufgebaut. Auf dieser – gewissermaßen königlichen – Ebene des Oratoriums sind sie die Hauptkontrahenten, ohne dass sie sich allerdings einmal begegnen würden. In der biblischen Erzählung in Dan 5 wird die Unfähigkeit des Königs betont, der sich trotz des abschreckenden Beispiels seines Vaters zum Sakrileg der Entweihung der Tempelgefäße hinreißen lässt, der der Hilfe der Königin oder Königsmutter bedarf, um durch Daniel eine Deutung der Schrift zu erhalten und damit seine Inkompetenz als Herrscher beweist. Auch dass er Daniel mit Eh9 Heinrich Heine, „Belsatzar“, in: Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke, hrsg. von Manfred Windfuhr, Bd. 1, Hamburg 1975, S. 94.
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rungen überschüttet, ändert nichts an seinem Schicksal. Er wurde eben im Sinne des Menetekels als zu leicht befunden und daran ist nichts zu ändern. Im Oratorium dagegen bleibt Belschazzar bei seiner Hybris. Er verachtet die Worte Daniels und vertraut auf die Stärke Babylons. Auf der göttlichen Ebene wird die Opposition Götter Babylons – Gott Israels zunächst in den Chören der verschiedenen babylonischen Gruppen und der Juden Nr. 18 – 20 zu Beginn der ersten Szene des zweiten Teils aufgebaut. Dabei wird deutlich, dass es sich um eine asymmetrische Opposition handelt, da die babylonischen Götter als ohnmächtige Götzenbilder der Mächtigkeit des Gottes Israels gegenüberstehen. Unmittelbar nach Belschazzars Befehl, die heiligen Tempelgeräte zu bringen, bestätigt der Sache nach Nikotris im Duett mit ihrem Sohn Nr. 22 den Chor der Juden. Dieser Aspekt der Geschichtsmächtigkeit des Gottes Israels zeichnet auch die Rezeption des nächsten Textes aus. Es ist der wohl theologisch interessanteste Text, den das Oratorium aufnimmt: das Kyros-Orakel aus dem zweiten Teil des Jesajabuches.10 Wohl anders als das Danielkapitel ist das Kyros-Orakel in unmittelbarer zeitlicher Nähe zu den Ereignissen entstanden. Darauf verweist schon die auffällige textliche Nähe zum Kyros-Zylinder, der den kampflosen Einzug des Kyros in Babylon auf das Eingreifen des babylonischen Hauptgottes Marduks (im Oratorium unter dem Namen „Bel“) zurückführt. Dieser Propagandatext zeichnet Kyros als von Marduk eingesetzten neuen König von Babylon. Man wird dahinter konservative babylonische Kreise oder direkt die Mardukpriesterschaft vermuten, die in den Auseinandersetzungen mit Nabonid und Belschazzar auf die neue Karte des Perserkönigs gesetzt und ihm wohl die Tore geöffnet haben. So gesehen hatte also Heine gar nicht so unrecht mit seiner Aussage, Belschazzar sei von seinen Knechten umgebracht worden. Jes 44,24 – 45,7 greift nun den Duktus des Kyroszylinders auf. Dabei fließt mit ein, dass die Kapitel 40 – 55 des Jesajabuches von einem systematischen, oft polemisch formulierten Monotheismus geprägt sind: Es gibt nur den Einen Gott Israels und nur dieser ist geschichtsmächtig. Entsprechend ist es niemand anderes als der Gott Israels, der Kyros zur Macht bringt, und zwar um Israels willen. Erstaunlich ist nun aber, wie Kyros hier angesprochen wird: er ist Gottes Hirte, sein Gesalbter, also auf Hebräisch der „Messias“. Gott hat ihn bei der rechten Hand gefasst und ihm einen Ehrennamen verliehen. Das Orakel endet schließlich mit den Worten: „5a Ich bin JHWH und es gibt sonst keinen, b außer mir gibt es keinen Gott. c Ich gürte dich, obwohl du mich nicht kanntest. 10 Vgl. zum Text Jes 44,25 – 45,25 Ulrich Berges, Jesaja 40 – 48 (= Herders theologischer Kommentar zum Alten Testament), Freiburg 2008, S. 363 – 441.
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6a Damit sie erkennen vom Aufgang der Sonne und vom Untergang, b dass keinen gibt außer mir. c Ich bin JHWH und es gibt sonst keinen“ (Jes 45,5 f.)11
Das Oratorium ist hier sehr nah am Bibeltext und nimmt nur zwei – allerdings gewichtige – Anpassungen vor : Es ist Kyros selbst, der das Orakel ausspricht. Es ist also nicht so, dass er den Gott Israels nicht erkannt habe, sondern er tritt in der Arie Nr. 6 gewissermaßen als Konvertit in die ihm zugedachte Rolle ein und führt sie aus. Die zweite Anpassung betrifft den Propheten, der dieses Orakel verkündet. Von Jesaja ist nicht die Rede, und im Kontext des Oratoriums kann hier nur Daniel gemeint sein, der gewissermaßen alle Propheten in sich vereinigt. Die Frage, die sich an dieser Stelle stellt, ist die nach der gewaltsamen Eroberung Babylons, im Sinne einer Bestrafung der Stadt, die so deutlich das Oratorium bestimmt, aber weder aus Dan 5 und erst recht nicht aus Jes 44 f. ableitbar ist. Auch bei Flavius Josephus findet sich in den Antiquitates (X,11,4) lediglich die Gefangennahme Belschazzars im Zuge der Einnahme der Stadt durch Kyros, nicht aber die Zerstörung der Paläste oder die rachsüchtige „Kampfeswuth“, von denen der Chor Nr. 24 singt. Selbst wenn man auf Herodot verweist und hier immerhin eine militärische Eroberung der Stadt findet, erklärt das die Aussagen von Vergeltung und Zerstörung noch nicht. Schließlich berichtet Herodot gewissermaßen als Augenzeuge eindrücklich von Babylon als intakter Stadt, deren Bauwerke sowohl auf die babylonische als auch auf die persische Herrschaft zurückgehen. Muss man also annehmen, dass der Aspekt des gewaltsamen Untergangs dem Bedürfnis nach höherer Dramatik des Textes geschuldet ist? Der Schlüssel für diese Frage sind m. E. zwei biblische Texte, von denen der eine deutlich, der andere mehrfach in kleineren Anspielungen in das Oratorium eingebaut ist. Ich beginne hier mit dem unbekannteren Text: dem großen Gerichtswort gegen Babel am Ende des Jeremiabuches in Jer 50 f. Es handelt sich um ein riesiges Konglomerat von poetischen Texten, die in unterschiedlicher Intensität Babylon die Vernichtung androhen als Vergeltung für alle Gräueltaten, die es an Israel/Juda und anderen Völkern verübt habe. Im neuesten JeremiaKommentar von Werner H. Schmidt wird m. E. mit einer gewissen Berechtigung darauf verwiesen, dass zumindest ein Kernbestand dieser Texte, die auch unter den Völkerorakeln des Jeremiabuches eine Sonderstellung einnehmen, den Fall Babylons noch nicht voraussetzen, sondern als eine Erwartung ankündigen,12 11 Übersetzung Berges, Jesaja 40 – 48, S. 365. 12 Werner H. Schmidt, Das Buch Jeremia. Kapitel 21 – 52 (= Das Alte Testament deutsch, 21), Göttingen 2013, S. 328; anders Georg Fischer, Jeremia 26 – 52 (= Herders theologischer Kommentar zum Alten Testament), Freiburg i. Br. 2005, S. 569.
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die theologisch und angesichts der sich verändernden Machtkonstellationen wohl auch politisch plausibel war. Jer 51,34 – 36 kann hier einen Eindruck vermitteln: 34 „,Gegessen hat uns, ausgesaugt hat uns Nebukadnezzar, der König von Babel, er hat uns hingestellt als leeres Gefäß. Er hat uns verschlungen wie eine Schlange, er hat gefüllt seinen Bauch mit meinen Köstlichkeiten, er hat uns ausgespült.‘ – 35 ,Die an mir begangene Gewalttat und mein Fleisch über Babel!‘, soll sagen die Bewohnerin Zions, und ,Mein Blut über die Bewohner Chaldäas!‘ soll sagen Jerusalem.“ 36 Deswegen, so spricht JHWH: „Siehe, ich bin kämpfend deinen Kampf, und ich gleiche aus deinen Ausgleich, und ich lasse austrocknen ihr Meer, und ich mache versiegen ihre Quelle. 37 Und Babel wird zu Steinhaufen sein, eine Wohnung von Schakalen, Entsetzen und Gezisch, ohne Bewohner.“13
Ich halte Jer 50 f. für einen Text, der im Hintergrund der Konzeption des Oratoriums steht: Es reicht dieser Geschichtsdeutung offenbar nicht aus, dass das babylonische Weltreich als Konsequenz seiner aggressiven Politik instabil wurde und dem Perserreich weichen musste, sondern Babylon muss in seiner Hybris zerstört werden – auch wenn das so historisch und von anderen biblischen Texten her gar nicht der Fall ist. Mit Jer 50 f. ist auch diese Konzeption biblisch, so dass man nicht auf andere Erklärungsmodelle ausweichen muss. Ein weiterer Text, der einerseits einen konzeptionell wichtigen Aspekt beiträgt und den gerade genannten verstärkt ist Ps 137, der mit den bekannten Zeilen beginnt: „1 An Babylons Kanälen, dort saßen/wohnten wir, und wir weinten, wenn wir Zions gedachten. 2 An die Pappeln in seiner Mitte hängten wir unsere Leiern auf. 3 Ja, dort forderten von uns die uns weggeführt hatten Lieder, Und unsere Peiniger Freude: ,Sing für uns eines der Zionslieder!‘ 4 Wie hätten wir singen sollen das Lied JHWHs auf einem Erdboden der Fremde?“14
Schon durch die Benennung der ersten Szene mit „Am Ufer des Euphrat bei Babylon“ verweist das Oratorium auf diesen Psalm, um ihn dann auch inhaltlich anzuspielen. Das „Quartett der Juden“ Nr. 27 knüpft in der Schlussszene wieder an den Psalm an, indem die zuvor in die Pappeln – nach Luther : Weiden – gewissermaßen „an den Nagel“ gehängten Harfen nun wieder zum Einsatz kommen: 13 Übersetzung: Fischer, Jeremia 26 – 52, S. 595. 14 Übersetzung: Frank-Lothar Hossfeld und Erich Zenger, Psalmen 101 – 150 (= Herders theologischer Kommentar zum Alten Testament), Freiburg i. Br. 2008, S. 685 (Zenger).
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„Laßt tönen die Harfen zu festlichen Klängen, Die traurig an stillen Weiden hängen! Laßt jubeln die Saiten, es kam von fern, Zu weiden sein Volk, der Hirt des Herrn.“
Damit kommt dem Psalm eine rahmende Funktion um das ganze Oratorium zu. Hier ist es interessant, dass die Rückübersetzung ins Englische dieses Signal, das auch im Original zu finden war, wieder zurücknimmt.15 Das Original lautet: „Tune, tune the harps which on the willows hang, Break the long silence of the tuneful chord: He reigns, of whom the son of Amos sung, Cyrus the great, the shepherd of the Lord.“
Dieser Text verbindet kurz vor Ende gewissermaßen die Aufhebung der Klage von Ps 137 mit dem Verweis auf den Propheten Jesaja, den Sohn des Amos, und das oben besprochene Kyros-Orakel in Jes 44 f., also einen weiteren zentralen Referenzpunkt des Oratoriums. Die Rückübersetzung weicht hier deutlich ab: „Strike the harp! for the Lord in his might hath descended; O Judah, be glad, thy mourning is ended; Rejoice, ye redeemed, exulting bring Thanksgiving and praise, to God our King!“
Der Bezug zu Ps 137 ist nur noch durch das Stichwort „harp“ erhalten und so eigentlich nicht mehr aussagekräftig. Der Bezug auf das Kyrosorakel fehlt nun völlig und ist durch eine Lobaufforderung auf den göttlichen König ersetzt worden. Damit verbleibt nun der Text ganz in einer allgemeinen Psalmenmotivik, ohne aber auf bestimmte biblische Texte durchsichtig zu sein. Der an den beiden älteren Fassungen gewonnene Eindruck, dass Ps 137 den Text des Oratoriums konzeptionell durchzieht, verstärkt sich, wenn man an einer Stelle ebenfalls die verschiedenen Fassungen vergleicht. In der zweiten Szene des ersten Aktes folgt auf Rezitativ und Arie des Kyros die Arie mit Chor Nr. 7, in der Kyros zusammen mit seinen persischen Soldaten den Untergang Babylons antizipiert. Im englischen Original singt Kyros hier : „O’er Babylon my conquering sword Like heaven’s own thunderbolt shall fall;“
Die Soldaten besingen dazu die Dekadenz und Sorglosigkeit Babylons und enden mit den Zeilen:
15 Zum Wortlaut der verschiedenen Textfassungen vgl. den Anhang zum Beitrag von Dominik Höink in diesem Band.
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„And dream not of the uplifted blow, That soon shall strike her glory low.“
Im deutschen Text heißt es: „Ueber Babylon soll flammen, Gleich des Himmels Blitz, mein Schwert“
Die Soldaten antworten darauf mit: „Und denkt des drohenden Armes nicht, Der ihren Glanz so bald zerbricht.“
Das englische Original und der deutsche Text folgen damit der Linie, dass Kyros mit starkem Arm Israel befreit, sie ziehen also den Gedanken des vorangegangenen Rezitativs weiter aus. Taylors Rückübersetzung weicht hier signifikant ab: „Haughty Babylon, heaven’s vengeance Like the thunderbolt shall fall!“
Die Soldaten knüpfen mit Aufnahme des neu eingebrachten Stichwortes „vengeance“ und der Blitz-Metapher daran direkt an: „Aloud thy crimes for vengeance call, The lightning gleams,–the bolt shall fall.“
Der jüngere englische Text betont so, dass Babylon die göttliche Vergeltung seiner Verbrechen erleiden werde und gibt damit eine theologische Deutung für das folgende Geschehen der Eroberung. Wie in der zuvor besprochenen Stelle wird die Geschichtsdeutung im Sinne des Kyrosorakels hier zugunsten einer stärker theozentrischen Deutung abgeschwächt. Im Zusammenhang der unmittelbar vorher rezipierten Verse von Ps 137 kann man darin vielleicht eine Anspielung an den vorletzten Vers des Psalms sehen. Ps 137,8 lautet: „Tochter Babylon, du zur Verwüstung Bestimmte: Selig, wer dir vergilt deine Tat, die du uns getan hast.“16
Im Duktus des Psalms ist es recht klar, dass die Vergeltungswünsche für die auf das Äußerste gesteigerte Erniedrigung, die hier ausgedrückt wird, letztlich an Gott selbst delegiert werden. Daher ist die Rede von einer „Vergeltung des Himmels“, die hier in der Unwettermetapher der Rückübersetzung in ein gelungenes Bild gekleidet wird, durchaus auf der Linie des Psalms. Die Deutung des Exils als Gefangenschaft, als elender und trauriger Zustand, für den Babylon die Vergeltung empfangen soll, und umgekehrt die Forderung der Sehnsucht nach Jerusalem als Grundhaltung der Exilierten sind Elemente 16 Übersetzung: Hossfeld und Zenger, Psalmen 101 – 150, S. 686 (Zenger).
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des Psalms, die das Oratorium breit aufgreift und verarbeitet. Die wichtige Stellung dieses Psalms in unserem Werk ist dabei nicht ohne Parallelen – man denke nur an den Chor „Va, pensiero“ aus Verdis Nabucco, einer Oper, die 1842, also im selben Jahr wie die englische Version des Oratoriums, uraufgeführt wurde.
4.
Fazit
Wohl unter dem richtigen Eindruck, dass Spohr mit Der Fall Babylons an die Tradition der ,Belschazzar-Dramen‘ und, im Blick auf England, speziell an Händel anknüpfte, wird in der wenigen Literatur lediglich auf Dan 5 als biblische Vorlage des Oratoriums verwiesen und ansonsten eine freie Behandlung des Stoffes vermutet.17 Der Durchgang durch das Libretto hat über die zu konstatierende Freiheit hinaus aufgewiesen, dass auf eine ganze Reihe biblischer Texte neben Dan 5 angespielt wird und dass die dahinterstehenden Konzepte im Oratorientext durchaus stimmig ausgearbeitet werden. Für die Figurenkonstellation des Oratoriums ist zentral, dass dem Belschazzar, der entsprechend Dan 5 als dekadenter, gotteslästerlicher, inkompetenter und letztlich von Gott verworfener Herrscher dargestellt wird, mit Kyros unter direkter Bezugnahme auf Jes 44 f. ein von Gott erwählter, frommer und so auch erfolgreicher Herrscher gegenübergestellt wird. Während Kyros offenbar die an ihn ergangene Prophetie sehr ernst nimmt und sich fortan als Gottes Werkzeug begreift, reagiert Belschazzar auf Daniels Worte am Ende von Nr. 23 mit den Worten: „Ich verachte deine Drohung und spotte deiner Weissagung“, was deutlich von der Vorlage abweicht. Damit baut das Oratorium auf zwei sehr unterschiedlichen biblischen Texten auf und verbindet sie durchaus innovativ. Der Einsatz der Psalmen und der Jeremiapassagen ist nicht einfach ornamental zu erklären, sondern hier werden Konzeptionen übernommen, die für das ganze Oratorium ausschlaggebend sind. Neben den beiden Texten Jes 44 f. und Dan 5, die vor allem für die Figurenkonstellation und den zweiten Teil so ausschlaggebend sind, geht es hier um eine gänzlich negative, das Feindbild Babylons verstärkende Interpretation des Exils. Damit wird – vielleicht besonders deutlich in der englischen Rückübersetzung – der Gedanke, dass Babylon in einem göttlichen Strafgericht untergegangen sei, biblisch fundiert. Die rahmende Aufnahme von Ps 137 lässt es vielleicht sogar angemessen erscheinen, hier eine Art biblischen roten Faden für das Oratorium zu sehen. 17 Vgl. etwa Eva Verena Schmid, Oratorium und Musikfest. Zur Geschichte des Oratoriums in Deutschland in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts (= Hainholz Musikwissenschaft, 18), Göttingen 2012, S. 237.
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Der Rückgriff auf Herodot ist demgegenüber eher der auf einen Materialfundus, der Taylor/Oetker mit Realien wie der Stadtbeschreibung, dem Namen der Königin oder einem Modell für den Hergang der Eroberung versorgt. Insgesamt erscheint nach dem hier angestellten Vergleich Spohrs Der Fall Babylons als ein Oratorium, das eine Reihe der biblischen Babylon-Texte mit guter Detailkenntnis aufnimmt und in ein Gespräch miteinander bringt. Zumindest die offensichtlicheren Abweichungen bei der Rezeption erklären sich aus dem Zusammenspiel der Texte und sind aus meiner Sicht weniger einer künstlerischen Willkür bei der Entstehung des Librettos geschuldet. Gleichzeitig zeigt sich hier, wie sehr die Lektüre biblischer Texte, gerade da, wo sie verschiedene biblische „Stimmen“ zu Wort kommen lässt, ein höchst polyphones Unternehmen ist. Bereits die verschiedenen Textfassungen lassen hier unterschiedliche Schwerpunktsetzungen erkennen.
Michael Werthmann
„Weiche Passivität“ und „Thatkräftiger Kriegerchor“. Analytische Beobachtungen zu Der Fall Babylons
Louis Spohrs in den Jahren 1839 – 1840 entstandenes Oratorium Der Fall Babylons ist für Soli, Chor und Orchester komponiert.1 Die zentralen solistisch besetzten Personen sind Daniel (Tenor) als Vertreter des jüdischen Volkes, Cyrus (Bariton) als Anführer der Perser sowie Belsazar (Bass) als Herrscher Babylons.2 Die wichtigsten Chöre sind – den jeweiligen Vertretern zugeordnet – der Chor der Juden (Sopran, Alt, Tenor und Bass) und der Chor der persischen Krieger (Tenor 1 und 2, Bass 1 und 2). Belsazar zuzuordnen sind diverse babylonische Chöre.3 Demnach gibt es in Der Fall Babylons drei verschiedene Interessengruppen mit ihrem jeweiligen Anführer: Die Gruppen der Juden und Daniel sowie der Perser und Cyrus sehen sich ihrem gemeinsamen Feind Belsazar als Herrscher der Babylonier gegenüber. Die Juden und Perser sind zwar durch ihr gemeinsames Anliegen Verbündete, werden im Libretto Edward Taylors aber dennoch auf höchst unterschiedliche Weise dargestellt.4 So klagen die Juden über ihre Unterdrückung, verhalten sich aber abgesehen von Gebeten eher passiv. Vielmehr setzen sie ihr ganzes Vertrauen auf Gott und überlassen ihr Schicksal vollständig ihm. Die Perser dagegen berufen sich zwar auch auf Gott, geben sich allerdings allzeit kämpferisch und siegessicher. Ein Rezensent der Allgemeinen musikalischen Zeitung schreibt im Dezember 1842 zu diesem Gegensatz:
1 Grundlage der analytischen Erörterungen dieses Aufsatzes ist die 1843 bei Breitkopf & Härtel erschienene Druckausgabe des Oratoriums. Louis Spohr, Der Fall Babylons. Oratorium in zwei Abtheilungen, Leipzig [o. J.]. Zur Publikationsgeschichte von Der Fall Babylons vgl. den Beitrag von Peter Schmitz in diesem Band. 2 Weitere solistisch besetzte Personen sind außerdem Belsazars Mutter Nicotris (Alt), ein Wahrsager (Tenor), zwei Jüdinnen (Sopran und Alt), zwei Juden (Tenor und Bass) sowie zwei Soldaten (Bass und Tenor). 3 Chor der Hofleute (Sopran, Alt, Tenor und Bass), der Priester (Tenor und Bass), der Babylonierinnen (Sopran und Alt) sowie der Jungfrauen (Sopran und Alt). 4 Vgl. auch Eva Verena Schmid, Oratorium und Musikfest. Zur Geschichte des Oratoriums in Deutschland in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts (= Hainholz Musikwissenschaft, 18), Göttingen 2012, S. 240.
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„In dem gegenwärtigen Oratorium ist durch den Gegenstand das kriegerische Element, Cyrus mit seinem Heer, der Trauer der unterdrückten Juden zum grossen Vortheile des Komponisten entgegengesetzt und Spohr hat dasselbe mit so anmuthiger Kraft heraustreten lassen, dass es, wo es zum Vorschein kommt, allezeit eine sehr belebende Wirkung hervorbringt.“5
Darüber hinaus bemerkt der Rezensent zur Darstellung der Juden: „Eine so weiche Passivität gibt sich und das Volk Gottes der Unterdrückung selbst, und wohl zu willig hin: Hilf dir selbst, so wird Gott dir helfen, ist man versucht hier zu sagen und wendet sich gern dem thatkräftigeren Kriegerchore zu.“6
Im Verlauf der Handlung werden die Juden zunehmend selbstbewusster und hoffnungsvoller, bis schließlich Babylon fällt und sie mit den Persern gemeinsam jubeln und Gott preisen. Vor dem Hintergrund der bereits in der zeitgenössischen Presse vorzufindenden Hinweise auf die unterschiedliche musikalische Gestaltung soll im Folgenden der Frage nachgegangen werden, wie sich dies konkret kompositorisch äußert: Wie werden die Gegensätzlichkeiten der Juden und der Perser in Spohrs Komposition musikalisch umgesetzt? Inwieweit wirkt sich dies „zum großen Vortheile des Komponisten“ aus, wie werden dadurch Kontraste geschaffen? Zentral ist überdies die Frage, wie sich Veränderungen, insbesondere die der Juden bis zu ihrer Befreiung, musikalisch bemerkbar machen. Darüber hinaus soll untersucht werden, wie der dritte zentrale Charakter, Belsazar als Herrscher der Babylonier, der im Verlauf der Handlung eine große Wandlung vollzieht, dargestellt wird. All diesen Aspekten soll analytisch an einigen ausgewählten Beispielen nachgegangen werden. Das Oratorium Der Fall Babylons besteht aus zwei Teilen. Der erste Teil besteht aus fünf Szenen. In ihm wird zunächst die Ausgangslage der Juden und Perser dargestellt. Die erste Szene „An den Ufern des Euphrat bei Babylon“ (Nr. 1 – 4) hat die an Gott gerichteten Klagen und Hilfegesuche der unterdrückten Juden und des Propheten Daniel zum Inhalt, musikalisch umgesetzt durch den Chor der Juden sowie durch Rezitativ und Arie des Daniel. In Szene 2 „Im persischen Lager“ (Nr. 5 – 7) verkündet Cyrus, er sei von Gott auserwählt worden, das jüdische Volk zu retten (Rezitativ und Arie), und findet die Bestätigung der persischen Krieger (Arie mit Chor). In der dritten Szene „Haus in Babylon“ (Nr. 8 – 10) sorgt sich eine jüdische Mutter um die Zukunft ihres Kindes (Arie). Ihr Mann berichtet ihr von der Prophezeiung Daniels (Rezitativ) und beide danken Gott in einem Duett. Szene 4 „Persisches Lager“ (Nr. 11 – 12) thematisiert wieder den bevorstehenden Krieg der Perser gegen die Babylonier (Chor und Rezitativ). Die fünfte Szene 5 AmZ 44 (1842), Sp. 1045. 6 Ebd.
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(Nr. 13 – 17) wird in der Partitur nicht bezeichnet, es treten aber wieder die Personen der ersten Szene, also Daniel und die Juden, auf. Sie sprechen über den bevorstehenden Fall Babylons und bekunden ihr Vertrauen in Gott in mehreren Nummern, darunter auch in einem Terzett. Der zweite Teil (Nr. 18 – 31) enthält nur eine Szenenbezeichnung, und zwar direkt zu Beginn: „Saal im Pallaste zu Babylon“. Zunächst wird das Festmahl am Hof Belsazars mit verschiedenen Chören (Hofleute, Priester, Juden, etc.) dargestellt. In einem Rezitativ (Nr. 23) kommt es schließlich zur Herausforderung Gottes durch Belsazar, die das Erscheinen der Schrift an der Wand zur Folge hat. Schließlich stürmen die Perser die Stadt, was in einer Chornummer (Nr. 24) solistisch von zwei Soldaten lediglich berichtet und anschließend von den Persern und den Juden bejubelt wird. Nach Dankesbekundungen an Gott durch Cyrus (Nr. 25 und 26) treten schließlich nur noch die Juden auf, feiern den Sieg und danken Gott in mehreren Nummern (Nr. 27 – 31).7 Der erste Teil des Werks widmet sich also ausgiebig den Befindlichkeiten und Hoffnungen der Juden und der Perser. Bereits die Ouvertüre ist im Hinblick auf die musikalische Darstellung der beiden Völker von großer Bedeutung. In ihr werden zwei zentrale Themen, ja ganze Chor- bzw. Instrumentalpassagen vorgestellt, die jeweils den Juden respektive den Persern zugeordnet sind. Die Ouvertüre beginnt in es-Moll, das vorgegebene Tempo ist Andante. Dieser einleitende Andante-Teil ist den Juden zuzuordnen, denn er wird später im ersten Chor der Juden (Nr. 1) fast vollständig wiederverwendet. Einzelne Bläserstimmen werden dort von je einer der vier Gesangsstimmen unisono mitgesungen. In der zu Beginn der Ouvertüre von den Bläsern piano vorgetragenen Passage nehmen zunächst die Klarinetten die Stimmen von Sopran und Alt, die Fagotte jene von Tenor und Bass vorweg. Die kantable Hauptmelodie wird in der ersten Klarinette wiedergegeben. Die aus Halben und Vierteln bestehende Seufzerfigur in den ersten beiden Takten weist einen klagenden Charakter auf, was durch den Halbtonschritt – bezogen auf den Grundton ein Wechsel von der Quinte zur kleinen Sexte – noch verstärkt wird. Ein ähnliches Motiv folgt sodann eine Quarte höher und steigert diese Wirkung. Im zweiten Fagott erklingt in diesen ersten vier Takten ein vorwiegend aus Halben bestehender, chromatisch abwärts schreitender Quartgang, ein Passus duriusculus – wie üblich auf der Tonika beginnend und auf der Dominante innehaltend –, der das Leid und das Klagen des unterdrückten jüdischen Volkes widerspiegelt.8
7 Für eine vollständige Übersicht über das Libretto und seine verschiedenen Fassungen vgl. den Beitrag von Dominik Höink in diesem Band, zu den biblischen Vorlagen den Beitrag von Johannes Schnocks. 8 Zum Rückgriff auf die Hypotyposis-Lehre des 17. Jahrhunderts, etwa auch die Figur des Passus duriusculus, in Spohrs zweitem Oratorium Die letzten Dinge vgl. den Beitrag von Daniel Glowotz in diesem Band.
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Notenbeispiel 1: L. Spohr, Der Fall Babylons, Beginn der Ouvertüre, T. 1 – 4
Im Anschluss daran wird die Phrase mit kürzeren Notenwerten auf der Dominante zu Ende geführt. Auffällig ist hier wieder ein abschließendes Seufzermotiv in der ersten Klarinette, das sodann – von Pausen unterbrochen und weiterhin auf der Dominante verharrend – zweimal von der ersten Flöte und der ersten Oboe wiederholt wird. Diese Seufzerpausen, ein Rückgriff auf die musikalisch-rhetorische Figur der Suspiratio, vermitteln einen flehenden Charakter.9 Das zögerliche Anstreben der abschließenden Kadenz verdeutlicht ebenso die Verzweiflung der unterdrückten Juden. Nachdem die Kadenz unter Beteiligung der Streicher diesen ersten Abschnitt beendet hat, folgt ein Fugato, das an entsprechender Stelle im folgenden Chor der Juden erneut auftreten wird. Dabei nimmt nun das erste Fagott die spätere Tenorstimme, die erste Klarinette den Alt, die erste Oboe den Sopran, sowie wiederum das erste Fagott den Bass vorweg. Das Thema wirkt durch die Sekundmelodik ausgesprochen sanglich und enthält zu Beginn einen Wechsel von der Quinte zur kleinen Sexte und zurück, ist also auf das Seufzermotiv der Anfangstakte zurückzuführen. Das Fugato wird von Achtelnoten mit eingeschobenen Achtelpausen in den Streichern begleitet. Auch hier erzeugt die Figur der Suspiratio eine Imitation des Seufzens.
9 Vgl. auch Gerald Kilian, Studien zu Louis Spohr (= Wissenschaftliche Beiträge Karlsruhe, 16), Karlsruhe 1986, S. 92.
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Notenbeispiel 2: L. Spohr, Der Fall Babylons, Ouvertüre, Fugato, T. 12 – 17
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Nach der vierten Wiedergabe des Themas wird eine Coda angeschlossen, in der über einem vom Kontrabass gespielten Orgelpunkt auf B abschließend das Thema unisono in den Klarinetten und der zweiten Violine, dann noch einmal im zweiten Fagott und im Violoncello erklingt. Nach einem Halbschluss endet der einleitende Teil der Ouvertüre. Die Coda birgt den einzigen strukturellen Unterschied zum späteren Chor der Juden, in dem sich der kompositorische Verlauf ab dieser Stelle anders weiterentwickelt. Ansonsten ist der Ablauf der Ouvertüre bis zu dieser Coda (abgesehen von einer zweitaktigen Einleitung in Nr. 1) weitestgehend identisch. Das folgende Allegro moderato in Es-Dur wirkt im Vergleich zum vorangegangenen Andante-Teil sehr bewegt und feierlich. Es ist nach der Sonatenhauptsatzform konzipiert, deren strukturelle Analyse hier aber nicht im Einzelnen vorgenommen werden soll. Mehrfach eingewoben ist das leitmotivisch aufzufassende viertaktige Thema der Perser. Insgesamt erklingt es viermal in der Ouvertüre und wird im weiteren Verlauf des Oratoriums immer wieder erneut deutlich auftreten. Nach einer motivisch vorbereitenden Passage mit Streichern und Bläsern wird das Thema der Perser ganz plakativ im Gestus einer Militärkapelle ohne Streicher von Fagotten, Hörnern, Klarinetten, Flöten sowie Piccoloflöte wiedergegeben, rhythmisch begleitet von der ebenfalls militärisch wirkenden kleinen Trommel. Die Motivik des Themas basiert zu Beginn auf Quartaufwärtssprüngen, was ihm einen marschartigen Charakter verleiht. Die abgesetzten Punktierungen tragen ebenfalls dazu bei. Das Fagott und die Hörner spielen durchgängige, „marschierende“ Viertel, die Tonart ist Des-Dur.
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Notenbeispiel 3: L. Spohr, Der Fall Babylons, Ouvertüre, Thema der Perser, T. 62 – 67
Der erste Eindruck, der musikalisch von den Persern vermittelt wird, ist mit Attributen wie diszipliniert und siegessicher zu umschreiben. Die Verwendung der Trommel und der Piccoloflöte lässt dabei eine von Spohr intendierte exotistische Darstellung mit Mitteln des zu seiner Zeit modischen alla turca-Stils der Wiener Klassik vermuten. Derartige Exotismen wurden unter anderem durch die Instrumentierung mit Rhythmusinstrumenten wie Becken, großer Trommel oder Triangel erzeugt10, die der mehterhne, der authentischen türkischen Janitscharenmusik11 entlehnt worden waren. Die Piccoloflöte wurde in Anlehnung an die türkische zurna eingesetzt12, so etwa auch in Wolfgang Amadeus Mozarts berühmter Oper Die Entführung aus dem Serail.13 In den 1820er Jahren klang die alla turca-Mode wieder ab und die Benutzung der charakteristischen Instrumente wurde in der Oper und der Symphonik immer weniger mit Exotismen konnotiert, die Instrumente wurden zum festen Bestandteil des Orchesterapparates.14 Weiterhin üblich war der Begriff „Janitscharenmusik“ oder auch „Türkische Musik“ in der europäischen Militärmusik15, in der bereits seit Ende des 18. Jahrhunderts entsprechende Rhythmusund Blasinstrumente standardmäßig eingesetzt wurden, darunter neben den 10 Vgl. Ralf Martin Jäger, „Janitscharenmusik“, in: MGG2 Sachteil Bd. 4, Kassel 1996, Sp. 1326 f. 11 Zur Begriffserläuterung siehe ebd., Sp. 1316 f. 12 Vgl. Matthew Head, Orientalism, Masquerade and Mozart’s Turkish Music (= Royal Musical Association Monographs, 9), London 2000, S. 60. 13 Vgl. ebd., S. 57 f. 14 Vgl. Jäger, „Janitscharenmusik“, Sp. 1327. 15 Vgl. ebd., Sp. 1328.
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bereits genannten Instrumenten auch die kleine Trommel.16 Aufgrund dieser militärischen Konnotation wurde die besagte Instrumentierung in der Orchestermusik nach Abklingen der alla turca-Mode weiterhin häufig verwendet, allerdings nicht, um wie vorher das Orientalische, sondern einfach das Martialische und Kriegerische darzustellen.17 Oft verschwimmen hier aber die Grenzen, sofern es neben der Instrumentation nicht noch Merkmale in der Komposition selbst gibt, die auf einen intendierten Exotismus hinweisen.18 Im Perser-Thema finden sich neben der Instrumentierung tatsächlich auch charakteristische, die authentische Janitscharenmusik imitierende Eigenschaften des europäischen alla turca-Stils:19 Eine Parallele stellt etwa die Tatsache dar, dass die Hauptmelodie unisono von der Piccoloflöte und der ersten Klarinette gespielt wird, wodurch zudem eine Oktavierung erreicht wird. Die Melodie ist recht verziert und enthält trillerähnliche Wendungen und zum Teil Vorschläge, die leichte Dissonanzen hervorrufen und auf die Mikrotonalität der türkischen Musik verweisen. Auch die vorhandenen Sequenzierungen kurzer Motive, die Punktierungen sowie die ungewöhnliche Akzentsetzung sind typisch. Ein weiteres Merkmal ist ferner, dass die ornamentierte Hauptmelodie in ihrem Grundgerüst eine einfache, abwärtsführende Linie ergibt, die in dieser reduzierten Form von anderen Instrumenten, hier den Hörnern, mitgespielt wird. Auch Repetitionen, bei Spohr die repetierten Viertel in den Begleitstimmen, sind charakteristisch. Das Spielen in hoher Lautstärke ist ebenso eine Eigenschaft, die bei den späteren Wiedergaben des Perser-Themas zum Einsatz kommt. Beim zweiten Einsatz des Themas – diesmal in B-Dur – wird es sodann lauter gespielt sowie zusätzlich mit Oboen, Posaunen und Trompeten begleitet. Letztere spielen fanfarenartige Tonrepetitionen. Die Hauptmelodie wird nun unisono nicht nur von Piccoloflöte und erster Klarinette, sondern auch von erster Flöte und erster Oboe wiedergegeben. Es ist zu vermuten, dass Spohr die Perser durch die Instrumentierung und die musikalischen Mittel nicht nur militärisch, sondern eben auch „persisch“ bzw. orientalisch darstellen wollte. Die Verwendung des alla turca-Exotismus’ war in den 1840er Jahren zwar schon aus der Mode gekommen, war aber gerade für den Opern-Komponisten Spohr dennoch ein gebräuchliches Stilmittel. So griff er auch in seiner Oper Die Kreuzfahrer WoO 59 (1843/44) auf den alla turca-Stil zur 16 Vgl. Head, Orientalism, S. 58; Jäger, „Janitscharenmusik“, Sp. 1326. 17 Vgl. Anke Schmitt, Der Exotismus in der deutschen Oper zwischen Mozart und Spohr (= Hamburger Beiträge zur Musikwissenschaft, 36), Hamburg 1988, S. 69 f. 18 Vgl. ebd., S. 70. Sowie Eric Rice, „Representations of Janissary Music (Mehter) as Musical Exoticism in Western Compositions, 1670 – 1824“, in: Journal of Musicological Research 19 (1999), S. 41 – 88, hier S. 81. 19 Vgl. hier vor allem die Auflistung in: Ralph P. Locke, Musical Exoticism. Images and Reflections, Cambridge 2009, S. 118 – 121. Außerdem: Schmitt, Exotismus, S. 301 – 336.
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Erzeugung von Lokalkolorit zurück.20 Wurde in anderen Werken, wie etwa auch in Spohrs 4. Sinfonie „Die Weihe der Töne“ von 1832, dieses Instrumentarium genutzt, um lediglich das Militärische zu evozieren21, so ist bei Der Fall Babylons (nicht zuletzt auch aus dramatischen Gesichtspunkten) davon auszugehen, dass die Verwendung der exotistischen Darstellung dienen sollte. Dies ist auch der Fall in weiteren Oratorien der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in denen Exotismen zur Erzeugung eines biblischen Lokalkolorits in die Kompositionen eingebracht wurden.22 Dass Spohr aber auf weitere alla turca-typische Instrumente wie Becken, große Trommel oder Triangel verzichtete, zeigt wiederum, dass er eine zu übertriebene und klischeehafte Darstellung vermeiden wollte. Es wird deutlich, dass bereits in der Ouvertüre der Gegensatz der Juden und der Perser musikalisch herausgestellt wird: Zunächst ganz allgemein durch die unterschiedlichen Tempoangaben und die Tonarten, aber auch durch die erwähnten spezifischen stilistischen Mittel werden die Verzweiflung und Passivität auf der einen, sowie die muntere Kampfbereitschaft auf der anderen Seite dargestellt. Auch in den folgenden Nummern setzt sich der in der Ouvertüre etablierte Gegensatz fort. Wie schon erwähnt, findet das Andante aus der Ouvertüre im Klagechor der ersten Nummer Verwendung, hier in der Tonart c-Moll. Nach einer zweitaktigen, an den ersten beiden Takten der Ouvertüre orientierten instrumentalen Einleitung setzt der Chor analog zur entsprechenden Passage in der Ouvertüre unisono mit den jeweiligen Bläsern (und auch den Streichern) ein. Die flehenden Worte der Juden „Gott unsrer Väter, hör’ die Bitten der Deinen“ werden, als homophoner Satz angelegt, deutlich hervorgehoben.
20 Vgl. ebd., S. 499 – 502. 21 Vgl. ebd., S. 70. 22 Vgl. ebd., S. 77.
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Notenbeispiel 4: L. Spohr, Der Fall Babylons, Nr. 1, Chor, T. 3 – 6
Mit dieser viertaktigen Phrase hat Spohr ganz offensichtlich den Beginn einer vierstimmigen Passage aus seiner Oper Jessonda WoO 53 (1822) wiederverwendet, die dort zwei Mal in Nr. 20 im zweiten Akt erklingt. Auch diese hat, vorgegeben durch den Text, einen klagenden Charakter.
Notenbeispiel 5: L. Spohr, Jessonda WoO 53, Nr. 20, T. 294 – 29723
Die folgenden Worte „die in fremdem Land gefesselt, unterdrückt, gefangen, um Hilfe flehn von deiner Hand!“ werden von Pausen unterbrochen, in welche die Streicher und Bläser wie auch in der Ouvertüre die Seufzermotive hineinspielen. Das Innehalten der Sänger nach den Worten „gefesselt“, „unterdrückt“ und „gefangen“ verdeutlicht die Verzweiflung des jüdischen Volkes. Harmonisch findet hier, wie bereits in der Ouvertüre, ein zögerliches Verharren auf der Dominante 23 Louis Spohr, Jessonda. Oper in drei Akten, hrsg. von Gustav F. Kogel, Leipzig [o. J.].
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statt, bevor über eine Kadenz die Tonika erreicht wird. Das anschließende Fugato, in dem der gleiche Text wiederholt wird, lässt das Flehen noch dringlicher wirken, der sukzessive Stimmeinsatz suggeriert das Herantreten einzelner Personen und bewirkt dadurch eine Intensivierung. Zu den Worten „gefesselt“, „unterdrückt“ und „gefangen“ wird im weiteren Verlauf in einem wieder eher homophonen Abschnitt abermals auf abwärts führende Chromatik im Bass sowie auf Achtelpausen nach jedem Wort zurückgegriffen. Es handelt sich also erneut um eine plakative Anwendung des Passus duriusculus und der Suspiratio – letztere speziell in diesem Fall als ein „Symbol der Knechtschaft“.24
Notenbeispiel 6: L. Spohr, Der Fall Babylons, Nr. 1, Passus duriusculus im Bass, T. 22 – 25
Nach einer Reprise endet der erste Chor in C-Dur. Das die Juden repräsentierende thematische Material findet, bis auf wenige Ausnahmen25, im Gegensatz zum Perser-Thema im weiteren Verlauf des Stücks keine zentrale Verwendung mehr. Die zweite Szene widmet sich sodann der Darstellung der Perser. Ein Rezitativ (Nr. 5) eröffnet die Szene „Im persischen Lager“ mit einem Fanfarenmotiv in den Trompeten, gefolgt von einer schrittmelodischen, punktierten Aufwärtsgeste in den Streichern. Beides wird im pianissimo gespielt und zweimal wiederholt bzw. in einigen Streichern sequenziert. In Verbindung mit der Tonart A-Dur wird ein geradezu heroischer Effekt erzielt.
24 Kilian, Studien, S. 94. 25 Rückbezug auf das Fugenthema in Nr. 10, Verwendung des einleitenden Seufzermotivs in Nr. 23 (s. u.).
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Notenbeispiel 7: L. Spohr, Der Fall Babylons, Beginn von Nr. 5, T. 1 – 6
Alsbald setzt das in der Ouvertüre bereits vorgestellte Thema der Perser im forte ein, wieder nur von Bläsern und der kleinen Trommel gespielt. Nach einem Übergang erklingt schließlich das Rezitativ des Cyrus, in dem er berichtet, Gott habe ihn dazu berufen, sein Volk zu retten. Der Gesang fällt durch eine recht sprunghafte Melodik auf, die unter anderem aufwärtsführende Quartsprünge enthält. Ähnlich wie im Perser-Thema verleiht die Konnotation zum Marsch Cyrus einen militärischen Charakter, spiegelt aber auch seine Siegessicherheit wider.
Notenbeispiel 8: L. Spohr, Der Fall Babylons, Nr. 5, Rezitativ Cyrus, T. 19 – 23
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Die häufige Verwendung der Quarte setzt sich in der folgenden Arie (Nr. 6) und der Arie mit Chor (Nr. 7) – hier auch in den Chorstimmen – fort. Die Nummer beginnt zunächst mit dem solistischen, nur von Streichern begleiteten Gesang des Cyrus „Über Babylon soll flammen gleich des Blitzes Strahl mein Schwert!“. Darauf setzt in antwortender Weise der homophone, nahezu homorhythmische und von Punktierungen geprägte Chor der persischen Krieger ein, begleitet vom bereits bekannten Perser-Thema – also ohne Streicher. Dadurch stehen sich die beiden musikalischen Abschnitte blockhaft gegenüber. Dies steht in Analogie zur gegenwärtigen Situation: Das kampfbereite, persische Heer steht seinem Anführer Cyrus gegenüber, der zu ihnen spricht, und antwortet ihm im wahrsten Sinne des Wortes ,im Chor‘. Hier wird daher ein Eindruck von Organisation und Disziplin vermittelt. Musikalisch entsteht eine äußerst opernhafte Wirkung.26 Der Chor ist mit zwei Bässen und zwei Tenören besetzt, was die kriegerische und martialische Wirkung noch steigert (vgl. Notenbeispiel 9 auf den folgenden Seiten).
26 Vgl. auch Clive Brown, Louis Spohr. Eine kritische Biographie, Kassel 2009, S. 307.
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Notenbeispiel 9: L. Spohr, Der Fall Babylons, Nr. 7, Arie mit Chor, T. 1 – 8
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Der Chor der Perser (Nr. 11) in der vierten Szene setzt den Text „Hoch empor du Siegesfahne, Perserbanner in die Luft“ mit ähnlichen Mitteln um. Allerdings steht er nun im Dreivierteltakt und ist mit „Marziale“ überschrieben, soll also ausdrücklich kriegerisch wirken. Nach der dem Rezitativ Nr. 5 entnommenen Einleitung mit Trompetenfanfaren folgt ein homorhythmischer Chorsatz im forte, anfangs a-cappella, dann instrumental begleitet, der den Zusammenhalt und die Kampfbereitschaft der Perser zum Ausdruck bringt. Auch das Thema der Perser findet wieder Verwendung, hier etwas stärker abgewandelt und dem Dreivierteltakt angepasst. Eine kontrastive, choralartige, nur von Streichern begleitete Passage im Pianissimo zu den Worten „Schläfst noch, deiner Kraft vertrauend“ ist ebenso Bestandteil dieser Nummer. Auch in der fünften Szene werden die vielfach verwendeten Mittel der chromatischen Abwärtsmelodien weiterhin zum Ausdruck des Leids des jüdischen Volkes eingesetzt, so wie im Chor der Juden (Nr. 13), der ansonsten aber bereits in der Grundtonart As-Dur steht. Hier begegnet dem Hörer auch ein solistisch vorgetragener vierstimmiger a-cappella-Abschnitt, in dem die Juden homorhythmisch deklamatorisch Gott anbeten. Bald gewinnt das jüdische Volk aufgrund der Prophezeiung des Daniel aber an Zuversicht. So tauchen im Terzett (Nr. 15) „Kündet laut die grosse Rettung“ wesentlich mehr punktierte Motive in den Instrumenten und den Gesangsstimmen auf. Die Worte „Kündet laut“ werden mit einer punktierten, aufwärts führenden Dreiklangsbrechung in DesDur im Bass umgesetzt; die später folgenden Worte „Sieg verleihn“ mit einem gleichen Motiv in E-Dur im Tenor. Die Nummer endet hoffnungsvoll mit den Worten „Gott, du dachtest noch an Zion!“ in Des-Dur.
Notenbeispiel 10: L. Spohr, Der Fall Babylons, Nr. 15, Dreiklangsbrechung im Bass, T. 10 – 13
Der den ersten Teil des Oratoriums abschließende Chor der Juden (Nr. 17) beginnt zwar Andante in c-Moll, vermittelt aber durch den unisono vorgetragenen und von Tonrepetitionen in den Streichern begleiteten Text „Siehe, ich will dich heimsuchen, sagt der Herr, meine Hand will ich über dich ausstrecken und dich herabstürzen von dem Felsen, dass du auf ewig verwüstet seist“ alles andere als einen verzweifelten Eindruck. Die Moll-Tonart vermittelt hier vielmehr eine ernste Entschlossenheit, das einstimmige Singen Zusammenhalt. Das folgende Allegro steht dann in C-Dur, der Text „Jauchzet über sie! Ihre Grundfesten sollen fallen, ihre Mauern zusammenbrechen!“ wird nicht nur homorhythmisch in den Gesangsstimmen umgesetzt, sondern zudem auch weitestgehend homorhyth-
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misch von den Instrumenten begleitet. Der folgende Text „Er regiert auf ewig für und für, dein Gott, o Zion, Halleluja! Amen“ wird sodann fugiert gestaltet. Das „Amen“ wird zum Teil mit chromatischen Abwärtsläufen melismatisch gesungen, was dem Textinhalt eigentlich entgegensteht. Dies veranlasste Arnold Schering, der ohnehin der Ansicht war, dass „Spohr und die Fuge schlechte Freunde waren“27, zu der Frage: „Und hätte je Händel zum Abschluß eines Hallelujachors folgendes unglückliche Thema gewählt?“28 Die Nummer und somit der erste Teil des Oratoriums endet dann in hoffnungsvollem C-Dur. Die angeführten Beispiele zeigen, wie die durch das Libretto bedingte kontrastive Gegenüberstellung der Juden und der Perser im ersten Teil des Oratoriums auch musikalisch umgesetzt wird, und darüber hinaus, wie sich die Darstellung der Juden mit wachsender Hoffnung im Verlauf ändert. Wie aber wird nun – im Hinblick auf den zweiten Teil – ihr Unterdrücker musikalisch präsentiert? Für Belsazar selbst existiert kein bereits in der Ouvertüre vorgestelltes Material. Zudem tritt er in nur drei Nummern des Oratoriums auf (Nr. 21 – 23), die aber umso entscheidender für den weiteren Verlauf der Handlung sind. Nachdem Belsazar in den Nummern 18 bis 20 von seinem Hofstaat ausschweifend geehrt wurde, selbst aber noch gar nicht aufgetreten ist, erscheint er erstmals im Rezitativ Nr. 21. Über die an Gott gerichteten Hilfegesuche der anwesenden Juden spottend, beinhaltet seine von Achteln und Sechzehnteln dominierte Gesangsmelodie zahlreiche Tritonus-Sprünge, die ihn als schrecklichen Despoten erscheinen lassen. Begleitet werden seine verachtenden Worte von furiosen Tremoli in den Streichern. Schließlich verlangt er nach den aus dem jüdischen Tempel gestohlenen Bechern. Dem Rat seiner Mutter Nicotris, Jehova nicht zu verhöhnen, trotzend (Nr. 22), steigert Belsazar – unterstützt von den Chören der Jungfrauen und der Priester – seine Überheblichkeit noch weiter und lässt die herbeigebrachten Becher füllen (Nr. 23). Selbstbewusst fragt er die Juden „Wo ist nun euer Gott? Der, welchem ihr dienet, ist ohnmächtig; lasst ihn erscheinen, und seine Macht behaupten!“ und fordert damit den Gott Israels direkt heraus. Die Sätze werden durch kurze dramatische Zwischenspiele im Dreivierteltakt unterbrochen, die vor allem punktierte Aufwärtsmelodien und fanfarenartige Motive enthalten. Die Phrasierung seiner Worte und die musikalische Untermalung stellen Belsazar als selbstsicheren Herrscher dar. Auch die Bass-Stimmlage unterstreicht sein gebieterisches Auftreten. Das letzte Wort seiner Forderung „behaupten“ wird harmonisch mit einer Kadenz untermalt, die von der Dominante E-Dur (mit Quartsextvorhalt) nicht, wie zu erwarten 27 Arnold Schering, Geschichte des Oratoriums (= Kleine Handbücher der Musikgeschichte nach Gattungen, 3), Leipzig 1911, Reprint Hildesheim 1966, S. 404. 28 Ebd.
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gewesen wäre, nach a-Moll führt, sondern jäh in einen verminderten Septakkord mündet. Dies ist der Moment, in dem die Schrift an der Wand erscheint. Die selbstsicheren Worte Belsazars werden durch die plötzliche Reaktion Gottes gewissermaßen nichtig gemacht, die die Tonika anstrebende Kadenz abgebrochen. Das Erscheinen der Schrift wird textlich zunächst nicht kommentiert, sondern durch rein musikalische Mittel dargestellt. In den Streichern erklingen im Pianissimo die Töne des verminderten Septakkords (e, b, cis’ und g’) im Tremolo. Darüber spielen Piccolo-Flöte und Flöte (um eine große Sexte versetzt) einen raschen, sich vom Piano zum Forte steigernden Zweiunddreißigstel-Sekundaufgang, der jeweils auf den Tönen des verminderten Septakkords mit punktierten Achteln innehält. Dieser schillernde Melodieaufgang verbildlicht sehr plakativ das plötzliche und mysteriöse Erscheinen der Hand und der Schrift an der Wand. Die tonale Unsicherheit verleiht dem Ganzen dabei einen nahezu unheimlichen Charakter. Im nächsten Takt wird das e im Cello und im Bass zum es herabgesenkt. In der zweiten Hälfte dieses Taktes hat der Sekundaufgang in den Flöten seinen Höhepunkt erreicht und verharrt auf einer Halben. Genau hier erklingt der erschrockene Ausruf „Ha!“ Belsazars auf b. Auch die Streicher und Bläser spielen eine Halbe – hier ist vor allem die tiefe Lage des Horns auffällig, die den paralysierenden Schreckensmoment Belsazars verdeutlicht. Im Folgenden erklingt über die gehaltenen Töne der Hörner ein chromatischer, tritonusversetzter Viertelabgang in den Flöten sowie eine ebenfalls abwärts strebende Sechzehntelmelodie in der Solovioline. Diese besteht im Wesentlichen aus jeweils einmal repetierten Tönen, die abwechselnd in kleinen Sekunden bzw. in Tritonus-Intervallen auf und ab springen. Die etwas unruhige, sich abwärts windende Melodiebewegung versinnbildlicht die Schreibbewegung der Hand. Die Tritonus-Intervalle und die harmonische Untermalung erzeugen ebenfalls einen unheimlichen und mysteriösen Charakter. Zweimal wird eine Viertelpause eingeschoben, in der die tiefen Streicher ein pizzicato gespieltes es einwerfen. Dadurch wird ein Innehalten bzw. ein Absetzen der Hand während des Schreibens suggeriert. Die Passage endet mit Streicher-Tremoli auf einem verminderten Septakkord mit den Tönen es, a, c’ und fis’, über dem Belsazar sein Erstaunen über die Erscheinung zum Ausdruck bringt. Der Beginn dieser Melodie ist an der vorangegangenen Solopassage der Violine orientiert, enthält anfangs also auch das Intervall des Tritonus. Zudem erinnert sie motivisch an den Beginn des Rezitativs, wo Belsazar mit einem Quintsprung abwärts einsetzt. Dort noch voller Sicherheit, deutet die Verminderung der Quinte nun seine Furcht und die Erahnung von Unheil an. Im Gegensatz zu den Tritonus-Intervallen seiner die Juden verspottenden Rede, die ihn als schrecklich erscheinen ließen, spiegelt das gleiche Intervall nun seine eigene Angst wider. Während-
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dessen werden die Streicher-Tremoli um einen Halbton erhöht, und damit auch die tonale Orientierungslosigkeit (vgl. Notenbeispiel 11).
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Notenbeispiel 11: L. Spohr, Der Fall Babylons, Nr. 23, Erscheinen der Schrift, T. 11 – 18
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Die Szene setzt sich in ähnlicher Weise fort. Während Belsazar erst den Wahrsager, dann Daniel auffordert, die Schrift zu deuten, erklingen wieder die besagten Motive, die die Schrift verkörpern. Nachdem Daniel die Bedeutung der Schrift erläutert und das Schicksal Belsazars verkündet hat, erklingt während der Abschlusskadenz seines Rezitativs ein Seufzermotiv in der ersten Oboe, das einen leitmotivischen Rückbezug auf das Seufzermotiv der ersten Takte der Ouvertüre bzw. der Nr. 1 darstellt. Diese Reminiszenz spielt nochmals auf das Leid der Juden an, das aber ab diesem Punkt – dem Fall Babylons – vollends schwinden wird. Schließlich endet die Nummer mit der Behauptung Belsazars, er werde König bleiben. Kurz darauf wird die Stadt Babylon aber von den Persern eingenommen (Nr. 24), der kurz zuvor noch selbstsichere Herrscher zu Fall gebracht. Es lässt sich resümieren, dass sich die musikalische Darstellung Belsazars nach dem Wendepunkt der Handlung ändert. Die Art der Melodiebildung seines Gesangs bleibt dabei grundsätzlich gleich, vielmehr wird seine Verunsicherung in harmonischer Hinsicht deutlich. Die besagten instrumentalen motivischen Besonderheiten in den Flöten und der Solovioline zielen vor allem auf eine lebhafte Illustration der Geschehnisse ab, haben daher so etwas wie eine programmatische Funktion. Auch ein Rezensent der Neuen Zeitschrift für Musik misst der Instrumentalbegleitung eine wesentliche Bedeutung bei und schreibt: „Da, als Belsazar höhnend den Becher erhebt, erblickt er schaudernd Jehova’s geheimnißvolle Feuerschrift. Dem declamirten Gesange des Tyrannen giebt die reiche und charakteristische Instrumentalbegleitung in dieser Scene den höchsten Ausdruck.“29 Schering bemerkt in seiner Geschichte des Oratoriums, dass die „koloristisch sehr interessante Instrumentalschilderung des feurigen Wunders“30 deutlich den Opernkomponisten Spohr erkennen lasse. Auch Clive Brown attestiert dieser Nummer sowie der folgenden daher auch eine „größere dramatische Wirkung“31. Mit Blick auf Georg Friedrich Händels Belshazzar HWV 61 ist noch zu erwähnen, dass seine Vertonung der entsprechenden Stelle durchaus als Vorbild gedient haben könnte. Auch bei Händel wird die Schrift durch eine aufsteigende Melodielinie – hier als repetierte, chromatisch fortschreitende Achtel in den Violinen – musikalisch dargestellt, gefolgt von dem überraschten Ausruf Belsazars.
29 NZfM 17 (1842), S. 137 f. 30 Schering, Geschichte des Oratoriums, S. 404. 31 Brown, Spohr, S. 307.
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Notenbeispiel 12: G. F. Händel, Belshazzar, Erscheinen der Schrift in „Wo ist der Gott, dess Allmacht Juda rühmt?“, T. 7 – 932
Schließlich ist noch der Fokus auf die Darstellung der Juden und Perser im weiteren Verlauf des Oratoriums und im Moment des Sieges zu richten. In Nr. 24 wird zunächst das Anrücken der Perser musikalisch evoziert. Die mit „Marzia“ überschriebene Nummer beginnt sehr leise mit jener vorbereitenden Passage, die in der Ouvertüre dem Perser-Thema vorangestellt war, bis schließlich im Pianissimo das eigentliche Thema der Perser erklingt. Durch die Anbringung dieser dem Hörer mittlerweile wohlbekannten Passage wird leitmotivisch das Heranrücken der persischen Krieger suggeriert. Ein Soldat berichtet daraufhin seinem König vom nahenden Heer, ein zweiter Soldat rät Belsazar, sich in Sicherheit zu bringen. Währenddessen ertönen Paukenschläge, die ebenso das Heranrücken des Heeres und die angespannte Situation darstellen. Schließlich erreichen die persischen Krieger die Szene und brechen direkt in einen im Forte gesungenen Chor in F-Dur mit dem Text „Jubelt auf! Der Sieg ist gewonnen, und das mächtige Babel zerstört“ aus. Mit dieser Passage orientiert sich Spohr am „Typus des Händelschen Jubelchors“33, wie Gerald Kilian bemerkt hat, indem er „kurzgliedrige punktierte Motive paarig imitieren läßt, um sie schließlich in den homophonen vierstimmigen Satz einmünden zu lassen.“34 Auffällig sind hier auch wieder die fanfarenartigen Quartsprünge. Der Chor wird zudem von Pauken und kleiner Trommel begleitet, was den feierlichen und überschwänglichen Charakter noch verstärkt.
32 Georg Friedrich Händel, Belsazar, hrsg. von Friedrich Chrysander (= Georg Friedrich Händel’s Werke, 19), Leipzig [o. J.]. 33 Kilian, Studien, S. 84. 34 Ebd.
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Notenbeispiel 13: L. Spohr, Der Fall Babylons, Nr. 24, Chor der persischen Krieger, T. 32 – 38
Musikalisch baut dieser Jubelchor auf der besagten, dem Perser-Thema in der Ouvertüre vorangestellten Passage auf. Begleitet von der Musik des eigentlichen Perser-Themas wird dann der Chor nach einer zweitaktigen Pause weitergeführt. Die Juden, erlöst von ihrer Unterdrückung, vollziehen sodann eine große Wandlung in ihrer musikalischen Darstellung. Nach dem Wendepunkt der Handlung – dem Erscheinen der Schrift – bisher noch nicht zu Wort gekommen, erreichen sie nun eine absolute musikalische Annäherung an die Perser, indem sie in deren Jubelchor einstimmen, beide Chöre also mit der gleichen Stimme singen. Ab diesem Punkt gibt es keine Handlung im eigentlichen Sinne mehr, das Libretto lässt nur noch „Moralisieren und Feiern“35 zu. Nach einem Rezitativ und einer Arie des Cyrus (Nr. 25 und 26), in der er Gott preist, treten nur noch die Juden auf, die den Sieg über Babylon feiern und ebenfalls Gott danken. Zu nennen ist etwa das Quartett der Juden in A-Dur (Nr. 27), in dem ein homorhythmischer a-cappella-Satz enthalten ist. Auch der Chor der Juden (Nr. 28), mit einer Fuge beginnend, in der die Instrumente colla voce spielen, enthält choralartige, homorhythmische Passagen, die die Gottesverehrung angemessen vermitteln sollen. Der Schlusschor (Nr. 31) fällt vor allem durch den UnisonoBeginn nicht nur in den Gesangsstimmen, sondern auch in den Instrumenten auf. Auch hier folgen im weiteren Verlauf sowohl homophone, als auch imitatorische Passagen. In den letzten Nummern nach dem Sieg tritt neben das triumphierende somit auch wieder das gottesfürchtige Element. Das Oratorium
35 Brown, Spohr, S. 307.
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endet dann mit einem Unisono-Chor in Es-Dur und schließt damit tonartlich den Kreis zur Ouvertüre. * Es ist deutlich geworden, wie verschieden – schon bedingt durch das Libretto Taylors – die Juden und die Perser trotz ihres gemeinsamen Zieles musikalisch dargestellt werden. Dieser zentrale Gegensatz wird bereits in der Ouvertüre vorbereitet, die zunächst in „ihrem elegischen Ausdrucke“36 des Andante-Teils das Volk der Juden, sodann durch das kriegerische Perser-Leitmotiv im Allegro moderato-Teil das Volk der Perser vorstellt. Das Leid der Juden wird vor allem zu Beginn oftmals durch die Anwendung der Figur der Suspiratio oder mit dem Mittel der Chromatik, insbesondere durch Verwendung des Passus duriusculus, dargestellt. So benutzt Spohr in Der Fall Babylons auch mehr chromatische Figuren als in vorangegangenen Oratorien.37 Grundsätzliche Parameter wie die Wahl der Tonarten spielen vor allem zu Beginn des Werks eine entscheidende Rolle für die konträre Charakterisierung der Juden und der Perser. So erklingen der den Juden zuzuordnende Andante-Teil der Ouvertüre sowie die beiden ersten Chöre der Juden hauptsächlich in Moll, in der fünften Szene hingegen dominieren aufgrund der gewonnenen Zuversicht bereits die Dur-Tonarten: im dritten Chor der Juden, im Terzett und der folgenden Arie. In den abschließenden Nummern der Juden im zweiten Teil steht nur noch der Allegro moderato-Teil in Nr. 28 in d-Moll, alle anderen Nummern haben, analog zur errungenen Freiheit und dem Jubel, Dur-Grundtonarten. Die Nummern der Perser dagegen stehen im gesamten Oratorium fast ausschließlich in Dur-Tonarten. Die musikalische Darstellung der Juden erfährt also eine graduelle Veränderung, während die militärische und optimistische Darstellung der Perser vorwiegend konstant bleibt. Dies wird nicht zuletzt durch die Tatsache unterstrichen, dass das in der Ouvertüre vorgestellte Perser-Thema im Verlauf des Stücks immer wieder leitmotivisch mehr oder weniger unverändert auftaucht, während der Andante-Teil aus der Ouvertüre nur in Nr. 1 in Gänze wiederverwendet wird und auch einzelne motivische Rückbezüge im weiteren Ablauf eher selten sind. Ebenso bezeichnend ist die herausgestellte musikalische Annäherung der Juden an die Perser, beginnend mit der Verwendung ähnlicher musikalischer Gesten in Nr. 15, bis hin zur synchronen Verwendung identischen Materials in Nr. 24. Dass sich die Juden aber nicht zu einer militärisch determinierten Gruppierung gewandelt haben, zeigt die musikalische Gestaltung in den abschließenden Nummern. 36 NZfM 17 (1842), S. 131. 37 Vgl. Brown, Spohr, S. 306.
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Auch die Darstellung Belsazars ändert sich, wie gezeigt wurde, durch das Erscheinen der unheilvollen Schrift an der Wand. Wenngleich es sich um eine entscheidende Szene voller Dramatik handelt, macht die musikalische Umsetzung Belsazars – obwohl er ja als Auslöser der Ausgangssituation zu sehen ist – nur einen kleinen Anteil des Oratoriums aus. Daher ist der kompositorische Verlauf des Werks deutlich stärker durch die Darstellung der Juden und der Perser bestimmt – und das sicherlich auch, um noch einmal den Rezensenten der Allgemeinen musikalischen Zeitung zu zitieren, „zum großen Vortheile des Komponisten“38. Denn schließlich ist der musikalische Kontrast zwischen den beiden Völkern als ein wesentlicher Bestandteil des Oratoriums zu sehen. Dass es dabei „einen bunten, etwas äußerlich theatralischen Eindruck“39 hinterlässt, wie Hermann Kretzschmar dem Werk vorwirft, ist wohl aufgrund der Opernhaftigkeit einiger Nummern, insbesondere jener mit plakativ militärischer und exotistischer Darstellung der Perser oder jener, in denen Belsazar auftritt, nicht abwegig. Ob man das Oratorium Der Fall Babylons aber deshalb wie Kretzschmar für keine „rechte Darstellung eines Ereignisses, bei welchem die Geschicke von ganzen Völkern entschieden wurden“40 halten kann, ist dabei sicherlich diskutabel.
38 AmZ 44 (1842), Sp. 1045. 39 Hermann Kretzschmar, Führer durch den Konzertsaal. II. Abteilung, Band II: Oratorien und weltliche Chorwerke, Leipzig 31915, S. 321. 40 Ebd., S. 321 f.
Personenregister
Albert, Sänger 57 Alers, Christian Wilhelm 171, 173 f., 178 Alexander I. (Zar) 157 Allegri, Gregorio 236 f. Almenräder, Johann Jakob 106 f., 118 Anna Amalia von Braunschweig-Wolfenbüttel (Herzogin von Sachsen-WeimarEisenach) 263 Anthoin, Friedrich d’ 106, 110 Apel, Johann August 100, 179, 181, 185 Arndt, Ernst Moritz 158 Arnold, August 100, 179, 195 – 200, 207 August von Sachsen-Gotha-Altenburg (Herzog) 203 Augustinus 47, 55 Bach, Carl Philipp Emanuel 178, 265 Bach, Johann Christoph Friedrich 265, 268 Bach, Johann Ernst 265 Bach, Johann Sebastian 12, 36 f., 81, 178, 182, 188, 204, 214, 219, 236, 271, 276 f., 317, 332, 334, 339 Baillot, Pierre 105 Ball, William 349 Barnby, Joseph 332 Barrett, Organist 333 Bathurst, Henry 314 Baur, Peter 123 Becker, Albert 133, 147 Becker, Julius 79 Beethoven, Ludwig van 11 f., 22, 30, 33, 52, 108, 118, 122 – 125, 127 – 130, 133, 149f., 317 f., 326, 330, 332, 337, 339
Bellini, Vincenzo 150 Berger, Benjamin 268 Bergt, August 270 Berlioz, Hector 129 Berneker, Konstanz 133 Bischoff, Georg Friedrich 89 f., 92, 96, 98 – 100, 104, 202 f. Bishop, Henry Rowley 344, 352, 354 f., 363 Bitter, Carl Hermann 11 Blumner, Martin 133 Bodda, Frank 331 Böhme, Franz Magnus 12 f., 66 f., 73 Börne, Ludwig 158 Brahms, Johannes 150 Breidenstein, Heinrich Carl 120, 125, 127, 130 Brendel, Franz 61 – 64, 73, 84 Breuer, Bernhard 119, 125, 129 Bridge, Joseph Cox 349 Burgmüller, Friedrich 150 Burgmüller, Johann August Friedrich 110 Burgmüller, Norbert 106, 110, 120 Burke, Edmund 188 Buxtehude, Dietrich 255 Capranica, Domenico 137 Carter, Thomas jun. 349 Cavalieri, Emilio 178 Cherubini, Luigi 22, 122, 124 Chopin, Fr¦d¦ric 137, 150 Chorley, Henry 39 f., 326 Clasing, Johann Heinrich 96, 122 Cornelius, Peter von 160
422 Costa, Michael 133 Covington, William 333 Craig, W. H. 349 Crotch, William 349 Czerny, Carl 150, 217 Daussoigne-M¦hul, Joseph 125 Davison, James W. 40 Deprosse, Anton 133 Derckum, Franz 121, 125, 129 Descartes, Ren¦ 61 Deycks, Friedrich 108, 111, 117 – 119 Dittersdorf, Carl Ditters von 21 Döring, Georg 32 Dorn, Heinrich 124, 129 Drobisch, Karl Ludwig 262 Dürer, Albrecht 154 Dufour, Hr. 48 Durante, Francesco 236 Duvernoy, Jean-Baptiste 150 Eck, Johann Georg 25 Elben, Otto 64 f., 73 Elisabeth Christine von BraunschweigWolfenbüttel-Bevern (Königin von Preußen) 263 Elisabeth Ludovika von Bayern (Königin von Preußen) 128 Elkamp, Heinrich 133, 146 f. Ewald, Johann 269 Eybler, Joseph Leopold 171, 185 Fichte, Johann Gottlieb 160 Fincke, Johann Friedrich 171, 185 Fink, Georg Wilhelm 79 – 81 Flavius Josephus 381, 386 Föppel, Heinrich 57 Forkel, Johann Nikolaus 204, 262, 266 Franke, Hermann 133 Franz von Nesselrode-Ehreshoven, Graf 110 Friedrich I. (Barbarossa, Kaiser des Heiligen Römischen Reiches) 99 Friedrich II. (Kaiser des Heiligen Römischen Reiches) 154
Personenregister
Friedrich II. (der Große, König von Preußen) 263 f. Friedrich Wilhelm I. (Kurfürst von HessenKassel) 121, 144 Friedrich Wilhelm III. (König von Preußen) 130 Friedrich Wilhelm IV. (König von Preußen) 128, 165 Friedrich, Caspar David 160 Füssli, Johann Heinrich 160 Gade, Niels Wilhelm 150 Gauntlett, Henry John 38, 324 f. Gerlach, Wilhelm von 156 Girschner, Christian Friedrich Johann 123 Glinka, Sergej 156 Gluck, Christoph Willibald 161 Goethe, Johann Wolfgang von 15, 23, 37, 44, 46 f., 51 – 54, 161, 280 Goldsmith, Oliver 349 Goya, Francisco de 160 Grabbe, Christian Dietrich 52 Graf, Christian Ernst 265 Graun, Carl Heinrich 12, 178, 182, 184, 262 – 266, 269 f., 274, 317, 332, 339 Griesbach, John Henry 349 Habeneck, FranÅois Antoine 125 Händel, Georg Friedrich 12, 17, 27, 33, 37 f., 40, 72, 78, 96, 101, 113, 122, 125, 134, 144, 180 – 182, 184, 188 f., 236, 238, 240, 253, 255, 270, 312 f., 317, 326, 330, 334, 345 – 349, 353, 364, 390, 415 Hal¦vy, Jacques Fromental 150 Hand, Ferdinand 170 Hartmann, Franz 120 f., 125, 127, 129 Hauptmann, Moritz 30, 236, 295 f., 305 f. Hauser, Franz 295 Haydn, Joseph 12, 24, 27, 72, 74, 81, 96, 104, 124, 133 f., 184, 202 f., 206, 231 f., 265, 317, 326, 330, 334, 339 Heap, Charles Swinnerton 349 Heimsoeth, Friedrich 120, 125, 127 Heine, Heinrich 158, 384 Henschel, Gebrüder 164
423
Personenregister
Hensel, Fanny 150 Henselt, Adolph 150 Herder, Johann Gottfried 62, 269 Hermstedt, Johann Simon 100 Herodot 346, 382, 386, 391 Hesse, Otto Justus Basilius 194 Heuser, Gustav 79, 86 – 88 Hilgenfeld, C. L. 64 Hiller, Ferdinand 72 Hiller, Johann Adam 21 Hobbes, Thomas 164 Hoffmann, Ernst Theodor Amadeus 161, 237, 270 Hofmeister, Friedrich 131 Holmes, Edward 35 Horn, Charles Edward 349 f., 364 Houtem, Ignaz van 122 Hoven, J., s. Vesque von Püttlingen, Johann Howell, Francis 349 Hünten, Franz 150 Humboldt, Alexander von 52 Hutton, Hugh 352 – 359, 362 – 364 Immermann, Karl
52, 109, 120
Jackson, William 349 Jennens, Charles 345 – 348 Jung-Stilling, Johann Heinrich
166 f.
Kalkbrenner, Friedrich 150 Kant, Immanuel 61 f., 195, 197 Kauer, Ferdinand 171 Keferstein, Gustav Adolf 82 – 85 Kempe, Friedrich 118, 186 Keusser, Georg Anton 265 Kiesewetter, Raphael Georg 59 Kirnberger, Johann Philipp 178 Kleist, Heinrich von 158 Klopstock, Friedrich Gottlieb 183, 264 f., 267 f., 272 f. Körner, Theodor 165 Kraus, Joseph Martin 265 f. Krauß, Silvester Julius 265 Krenn, Franz 171, 183 – 185 Kretzschmar, Hermann 344, 351 Kreutzer, Joseph 106, 110
Kühnau, Johann Christoph 171, 174 – 178 Kufferath, Johann Hermann 110 Kuffner, Christoph 183 Kullak, Theodor 150 Kyros II. (der Große) 381 Lake, George Handy 349 f. Lehmann, Gottfried Arnold 164 Leibl, Carl 107, 118, 129 Lemare, William 333 Leonhard, Julius Emil 133 Lessing, Johann Wilhelm 112 Liszt, Franz 14, 127 – 130, 150 Loewe, Carl 14, 82 Lortzing, Albert 150 Lowe, Albert 334 Lumbye, Hans Christian 150 Luther, Martin 196, 198, 387 Mahlmann, Siegfried August 240 Malibran, Alexander 33 Mantius, Eduard 122 Marenzio, Luca 364 Marie-Louise von Österreich 160 Marpurg, Friedrich Wilhelm 29, 203 f., 214, 238 Marx, Adolf Bernhard 71 – 73, 133, 145, 147, 187 McGucken, Barton 335 M¦hul, Êtienne-Nicolas 38 Meier, Friedrich 156 Meinardus, Ludwig 133 Mendelssohn, Abraham 108 Mendelssohn Bartholdy, Felix 11 f., 14, 52, 64, 74, 100, 103, 107, 110 – 113, 120 – 122, 125 f., 129, 133, 137, 141, 146, 150, 184, 236, 280, 305, 332, 344 Mertens-Schaaffhausen, Sybille 125, 129 Methfessel, Albert 99, 122, 124 Meyerbeer, Giacomo 128, 150 Michaelis, Christian Friedrich 275 Michelangelo 154 Miller, Marmaduke 349 Miltitz, Karl Borromäus von 83 f., 181 Molique, Bernhard 133 More, Hannah 349 – 351, 364
424 Moscheles, Ignaz 128 Mosel, Ignaz Franz von 96 Mozart, Wolfgang Amadeus 12, 21 f., 24 f., 27, 122, 202, 206, 231 f., 252, 399 Mühlbauer, Theodor 262 Mühling, August 171, 183 f. Müller, Gebrüder 124 Müller, Georg 124 Müller, J. Philibert 162 Müller, Johann Adam 166 Nabonid 381 f. Nägeli, Hans Georg 67 – 70, 73, 79, 81 Napoleon Bonaparte 95, 100, 153 – 167, 185, 198, 203 – 205 Neukomm, Sigismund 133, 352 Nicholds, Joseph 349 Niemeyer, August Hermann 266 – 268, 272 f., 275 f. Nuhn, Friedrich 133 Oetker, Friedrich 17, 45, 344 f., 360 f., 364, 379 f., 391 Offenbach, Jacob 125 Owen, John 349 Paganini, Niccolý 52 Palestrina, Giovanni Pierluigi da 255 Paul, Jean 52 Perry, George Fredrick 344, 349 f. Peters, Carl Friedrich 134, 136, 148 Petrarca, Francesco 55 Pfeiffer, Marianne, s. Spohr, Marianne Pichler, Caroline 96, 165 Pius VII. (Papst) 156 Plantade, Charles-Henri 239 Plumridge, Henry 349 Poißl, Johann Nepomuk von 38 Praetorius, Michael 255 Purday, Charles H. 349 Raff, Joachim 133 Rahles, Ferdinand 125 f. Ramler, Karl Wilhelm 262 – 266, 268 – 270, 274 Reinecke, Carl 150
Personenregister
Reinthaler, Carl Martin 133 Riemann, Hugo 59 f., 73 Riemenschneider, Johann Andreas 48 Ries, Ferdinand 105, 107 f., 110 – 114, 116 f., 119, 121, 125, 130 Rietz, Julius 120 Rochlitz, Friedrich 16, 22, 32 – 34, 36, 101, 115 f., 180 – 183, 191 – 196, 199 f., 235 f., 239 f., 250 f., 257, 261 f., 270 – 273, 275 – 277, 279f., 282, 289, 293, 320 Rode, Pierre 22 Rolle, Johann Heinrich 263, 265 – 268 Rollin, Charles 346 Romberg, Andreas 52, 69 Romberg, Bernhard 52 Rosellen, Henri 150 Rosenhain, Jakob 133 Rossini, Gioachino 40, 330, 334 Rowlandson, Thomas 159 Russel, William 349 Sack, August Friedrich Wilhelm 263, 269 Salomon, Johann Peter 105 Savigny, Friedrich Carl von 52 Schadow, Wilhelm von 109 Schaefer, Wilhelm 106 Scheidler, Dorothea, s. Spohr, Dorette Scheidler, Susanne 100 Scheidler, Wilhelmine 77 Schering, Arnold 13, 169, 343, 415 Schicht, Johann Gottfried 36, 261, 280 Schiller, Friedrich 69 f. Schindler, Anton 123 f., 127 f. Schleiermacher, Friedrich 194 Schloß, Sophie 129 Schmidt, Georg 106 Schneider, Christian Wilhelm 270 Schneider, Friedrich 14, 72, 99 f., 110, 117 – 119, 121, 124, 133, 170 f., 179 – 183, 185 – 187, 239 Schnitzler, Victor 119 Schobacher, Caspar Paul 265 Schomberg, A. C. 349 Schorn, Karl 128 Schreck, Gustav 133 Schröder, Friedrich Ludwig 23
425
Personenregister
Schubart, Christian Friedrich Daniel 268 Schubert, Franz 217, 280, 336, 338 Schulz, Johann Abraham Peter 269, 275 Schumann, Robert 14, 72, 107, 148 – 150 Schummel, Johann Gottlieb 266 Schwencke, Christian Friedrich Gottlieb 53 Sechter, Simon 171, 185 Semler, Johann Salomo 194 Shelley, Mary 161 Shepherd, James 349 Shinn, George 349 Simrock, Franz Carl Anton 134 – 136 Simrock, Nikolaus 114 Simrock, Peter Joseph 134 – 136, 138 f., 141 Smart, George 129, 318 Speyer, Wilhelm 34, 256 Spohr, Dorette (Dorothea) 22, 49, 52 f., 77, 106, 109 Spohr, Emilie 57, 112 Spohr, Ferdinand 77, 135 Spohr, Ida (Johanna Sophia Louise) 57 Spohr, Marianne 45, 50, 57 f., 308, 317, 328 Spohr, Therese 308 Stanley, Edward 313 – 315 Staudigl, Joseph 122, 124 Stille, Gottlieb Daniel 268 Stockhausen, Margarete 316 f. Storr, Francis 312, 316 Sulzer, Johann Georg 101 Sybel, Amalie von 103, 108 f., 120, 122 Sybel, Ferdinand von 108 f., 120, 122 Taylor, Edward 17, 38 f., 136 – 138, 140 – 144, 147, 280, 297, 307, 310, 314, 317 – 319, 322, 324 – 326, 328 f., 331 f., 334, 344 – 364, 379 f., 391, 393 Taylor, John 314 f. Telemann, Georg Philipp 161, 171 – 174, 178, 265 f., 269 Thalberg, Sigismund 125, 150
Thibaut, Anton Friedrich Justus 236 f. Tieck, Ludwig 52 Tinel, Edgar 133 Tolstoi, Lew 157 Torrance, George William 349 Tuczek, Leopoldine 129 Tuczek, Vincenz 171, 185 Turner, William 314
83, 125,
Verdi, Giuseppe 390 Vesque von Püttlingen, Johann 150 Victoria (britische Königin) 128 Viotti, Giovanni Battista 21 f., 105 Vogt, Johann 133 Voss, Charles 150 Wagner, Richard 52, 338 Wangemann, Otto 12 Weber, Carl Maria von 28 f., 90, 93 f., 97, 118, 161 Weber, Franz 118 f., 125, 128 f. Weigl, Joseph 21 Weinlig, Christian Ehregott 268 f. Weiße, Christian Felix 21 Weitzmann, Carl Borromäus 186 Wesley, John 314 Wetschky, Fr. 110 f. Wetschky, H. 110 f. Wieland, Christoph Martin 52 Wild, Franz 57 Winkler, Henriette 279 Wohlbrück, Gottfried 94 Wolf, Christa 48 Wolf, Ernst Wilhelm 269 Wolff, Johann Heinrich 45, 49, 57 Woringen, Ferdinand von 108, 110 Woringen, Otto von 106, 108, 110 Zelter, Carl Friedrich 37 Zierau, Fritz 133 Zinck, Hardenack Otto Conrad
171