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German Pages 334 [332] Year 2017
Caroline Klausing, Verena von Wiczlinski (Hg.) Die Napoleonischen Kriege in der europäischen Erinnerung
Mainzer Historische Kulturwissenschaften | Band 30
Editorial In der Reihe Mainzer Historische Kulturwissenschaften werden Forschungserträge veröffentlicht, welche Methoden und Theorien der Kulturwissenschaften in Verbindung mit empirischer Forschung entwickeln. Zentraler Ansatz ist eine historische Perspektive der Kulturwissenschaften, wobei sowohl Epochen als auch Regionen weit differieren und mitunter übergreifend behandelt werden können. Die Reihe führt unter anderem altertumskundliche, kunst- und bildwissenschaftliche, philosophische, literaturwissenschaftliche und historische Forschungsansätze zusammen und ist für Beiträge zur Geschichte des Wissens, der politischen Kultur, der Geschichte von Wahrnehmungen, Erfahrungen und Lebenswelten sowie anderen historisch-kulturwissenschaftlich orientierten Forschungsfeldern offen. Ziel der Reihe Mainzer Historische Kulturwissenschaften ist es, sich zu einer Plattform für wegweisende Arbeiten und aktuelle Diskussionen auf dem Gebiet der Historischen Kulturwissenschaften zu entwickeln. Die Reihe wird herausgegeben vom Koordinationsausschuss des Forschungsschwerpunktes Historische Kulturwissenschaften (HKW) an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.
Caroline Klausing, Verena von Wiczlinski (Hg.)
Die Napoleonischen Kriege in der europäschen Erinnerung
Gedruckt mit Mitteln des Forschungsschwerpunktes Historische Kulturwissenschaften der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.
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I NHALT I
EINFÜHRUNG
Kollektives Gedächtnis oder kollektives Vergessen? Perspektiven der Geschichts- und Erinnerungskultur zum Zeitalter der Napoleonischen Kriege ............................................... 13 CAROLINE KLAUSING UND VERENA VON WICZLINSKI
II
POLITISCHE UND NATIONALE ERINNERUNGSFORMEN
1812 und die Folgen: Russlands Sieg über Napoleon als Erinnerungsfigur(en)............................ 47 JAN KUSBER „Ein Beispiel gab uns Bonaparte“? Die Napoleonischen Kriege in der kollektiven Erinnerung der Polen .................................................. 65 CHRISTOF SCHIMSHEIMER „… die würdigen Vorläufer der großen Befreiungskriege“. Die Kämpfe gegen Napoleon in der österreichischen Geschichtskultur............................ 101 HANS-CHRISTIAN MANER
„An der Spitze des Fortschritts“? Die preußischen Reformer und die Bundeswehr ...... 121 MARTIN RINK Ein ruhmreicher Untergang? Die Niederlage des Helden und der Napoleon-Mythos in der französischen Erinnerungskultur ....................................................... 171 HANS-ULRICH THAMER Im Schatten des Risorgimento. Die Napoleonischen Kriege in der italienischen Erinnerung .................................................................... 191 MATTHIAS SCHNETTGER Kolberg – Tauroggen – Breslau: Rezeption und geschichtspolitische Deutung der Napoleonischen Kriege in den preußischen Ostprovinzen................................................................. 213 ROLAND GEHRKE
III KULTURELLE UND (TRANS-)NATIONALE ERINNERUNGSFORMEN „Leipzig! Leipzig! hören wir’s erschallen…“. Die literarische Rezeption der Völkerschlacht vom 19. bis zum 21. Jahrhundert................................ 245 NIKOLAS IMMER
Tschaikowskys Sieg und Beethovens Niederlage – Transnationale Rezeption der Napoleonischen Kriege in der Musik...................................................... 275 ANDREAS LINSENMANN Tirols Erhebung gegen Bayern und Franzosen im Jahre 1809 – Andreas Hofer: Vom „ehrwürdigen Helden“ zur „sympathischen Comic-Figur“ ................................... 301 NORBERT PARSCHALK
IV BILANZ Die Napoleonischen Kriege als europäischer Erinnerungsort – Eine Bilanz ..................................... 319 CAROLINE KLAUSING UND VERENA VON WICZLINSKI
Autorinnen und Autoren ............................................. 329
Detailaufnahme des Denkmals der Mainzer NapoleonVeteranen. Foto: Andreas Linsenmann
I
Einführung
Kollektives Gedächtnis oder kollektives Vergessen? Perspektiven der Geschichts- und Erinnerungskultur zum Zeitalter der Napoleonischen Kriege CAROLINE KLAUSING UND VERENA VON WICZLINSKI „Denn das Gedächtnis ist unausgesetzt dabei, das eine auszusondern, anderes an dessen Stelle zu rücken oder durch neue Einsichten zu überlagern. Der Prozeß hat kein Ende; blicke ich die lange Strecke zurück, drängt eine Flut von Bildern heran, alle wirr und zufällig. Im Augenblick des Geschehens verband sich kein Gedanke damit, und erst nach Jahren gelangte ich dazu, die verborgenen Wasserzeichen in den Lebenspapieren zu entdecken und womöglich zu lesen.“1
Die Funktion des Gedächtnisses ist es, wie Joachim Fest in seinen Lebenserinnerungen beschreibt, Eindrücke zu sortieren, auszusondern oder neu zu strukturieren, sprich: Vergangenheit zu konstruieren. Doch die Realität des Erinnerns ist trügerisch, wandelbar, selten eindeutig. Es sind dabei stets die gegenwärtig Lebenden, die über die Vergangenheit richten, ihre „Errungenschaften und Leistungen wie über Illusionen, Täuschungen und mörderische[n] Utopien.“2 Dennoch können Menschen nicht auf Erinnerung verzichten, denn sie ist sinnstiftend für die 1 2
FEST, 2006, S. 13. ASSMANN, 2014, S. 9.
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Gegenwart, selbst, wenn diese wie oben beschrieben erst ex post in die Geschichte hineingedeutet wird. Ganz unabhängig vom objektiven Gehalt dieser Erinnerung ist sie, und das gilt folglich auch für Mythen und Utopien, somit bedeutsam für Menschen; sie schaffen damit nicht nur ihr Bild der Vergangenheit als eine „Konstruktion“3, sondern auch das ihrer eigenen Gegenwart.4 Stellt man die disparaten und nicht selten widersprüchlichen Formen des Erinnerns an die Napoleonischen Kriege einander gegenüber, so lassen sich unterschiedliche regionale und nationale Versionen eines kollektiven Gedächtnisses aufspüren.5 Zu fragen ist, ob auch eine europäische Übersetzung dieser Bilder existiert. Dabei spielen mannigfache Auslegungen des kommunikativen und des kulturellen Gedächtnisses eine maßgebliche Rolle. Beide sind gemäß der kulturwissenschaftlichen Definition von Jan Assmann konstituierend für das kollektive Gedächtnis.6 Die historische Forschung hat in den letzten Jahren eine Fülle neuer, eindrucksvoller Studien hervorgebracht, die sich bewusst weniger mit der Ereignis- und Politikgeschichte jener Jahre beschäftigen als vielmehr mit der individuellen und gesellschaftlichen Verarbeitung des napoleonischen Zeitalters. Der Vergegenwärtigungsprozess historischer Prozesse, also erfahrungsgeschichtliche Ansätze und kulturhistorische Fragestellungen, stehen hier im Zentrum. In jüngster Zeit ziehen die weitreichenden Auswirkungen auf das Leben der einfachen Menschen, die sich in Briefen, privaten Lebenserinnerungen und Tagebüchern niederschlagen, verstärkt die wissenschaftliche Aufmerksamkeit auf sich.7 Die vorliegende Publikation geht auf eine wissenschaftliche Tagung des Historischen Seminars der Johannes Gutenberg-Universität Mainz in Kooperation mit der Stiftung Kulturwerk Schlesien e.V. Würzburg am 1./2. August 2014 in Mainz zurück. Zentral war dabei nicht die Ereignisgeschichte zwischen Leipzig und Waterloo; vielmehr ging es um Rezeptionen und Geschichtsbilder, die bis heute in regionaler, nationaler und internationaler Perspektive diskutiert werden. Im Rahmen der Tagung und der darauf basierenden Veröffentlichung kam ein weit über
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ASSMANN, 2002, S. 9. ASSMANN, 2014, S. 9-10. Siehe dazu den neueren Sammelband von GEHRKE, 2014. MOLLER, 2016. Siehe hierzu z.B. ULRICH, 2009.
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die Grenzen der Geschichts- und Kulturwissenschaften hinaus prominentes, bisweilen fast überstrapaziertes Paradigma der erinnerungskulturellen Forschung zur Anwendung: das Konzept des Erinnerungsortes, das auf geographische, künstlerische, bauliche oder auch personalisierte Motive bezogen werden kann. Die Übertragung des Erinnerungsortes auf das Beobachtungsfeld der Napoleonischen Kriege ist bisher nur vereinzelt erfolgt, obwohl gerade das frühe 19. Jahrhundert oft als Initialphase einer nationalen Identitätsfindung gelesen wird. In den letzten Jahren sind zudem auch Überlegungen zu einer europäischen Identität oder europäischen Identitäten immer mehr in den Fokus der Forschung gerückt. Daher adressiert dieser Band synthetisierend die Frage nach der Nutzbarkeit der Kategorie des europäischen Erinnerungsortes als Ergänzung zu nationalen oder auch regionalen Bezugnahmen. Der Tagungsband gliedert sich unter der Fragestellung Die Napoleonischen Kriege als europäischer Erinnerungsort? in die Kategorie des politischnationalen Erinnerns, zu der dezidiert auch regionale Formen gehören, und jene des kulturellen (trans-)nationalen Erinnerns. Drei thematische Schwerpunkte dienen dabei als Folie der vergleichenden Analyse: Es geht zunächst um nationale Erinnerungskulturen der Napoleonischen Kriege, um ihre Deutungen und Umdeutungen vor dem Hintergrund von Geschichtspolitik und Geschichtsbewusstsein und anschließend um Interpretationen und Instrumentalisierungen dieser Ereignisse im europäischen Kontext. Die Publikation verfolgt mithin multiperspektivische Zielsetzungen: Die einzelnen Beiträge stellen auf einer ersten Ebene den Ort der Napoleonischen Kriege in den jeweiligen Nationalgeschichten im diachronen Zugriff vor und analysieren auf einer zweiten Ebene die dahinter verborgenen nationalen Narrative und Deutungsmuster im Wandel der Zeit. Hierbei sind primär spezifische regionale, (trans-)kulturelle, soziale und politische Deutungsmuster und Erinnerungspraktiken von Wichtigkeit. Gefragt wird schließlich auf einer dritten Ebene nach der Instrumentalisierung des Gedenkens an die Napoleonischen Kriege im Wandel der verschiedenen Epochen und politischen Ideologien im europäischen Kontext, denn die Erinnerungspolitik diente nicht selten zur Identifikation und Abgrenzung von anderen Kulturen und Nationen. Es geht folglich auch hier um Betrachtungen von Nähe und Distanz, Verflechtung und Trennung. Ziel dieser Überlegungen ist es, die Hypothese
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von den Napoleonischen Kriegen als einem europäischen Erinnerungsort zugänglicher und damit handhab- und beantwortbar zu machen. Die Publikation versteht sich daher als Beitrag zu dem Diskurs darüber, inwiefern eine Übertragung des derzeit omnipräsenten Konzeptes des Erinnerungsortes in Bezug auf eine gemeinsame europäische Identität ohne seine gleichzeitige Überdehnung möglich ist. Ute Planert wendet sich in ihrer erfahrungsgeschichtlichen Studie Der Mythos vom Befreiungskrieg8 explizit Süddeutschland zu – gemeint sind die drei Rheinbundstaaten Baden, Württemberg und Bayern – und prüft, inwieweit der Begriff des Befreiungskriegs9 hier überhaupt am Platz ist und wie die unteren Schichten die kriegerischen Auseinandersetzungen wahrnahmen. Sie arbeitet entgegen der politikgeschichtlichen Zäsur vom Beginn der Neuzeit besonders die Verbindung von Kon8
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PLANERT, 2007. Im Rahmen des Tagungsbandes Krieg und Umbruch in Mitteleuropa um 1800 aus dem Jahr 2009 von UTE PLANERT wird der erfahrungsgeschichtliche Ansatz auf einer breiten Untersuchungsbasis eingesetzt. Neben Studien zu Herrschaft und Eliten, zur ländlichen Gesellschaft und zur religiösen Kriegsverarbeitung sowie konfessionellen Differenzen gibt es Beiträge zur Deutung und Tradierung der Epoche. Von besonderem Interesse für die zu behandelnde Thematik sind die Beiträge zur soldatischen Männlichkeit im Russlandfeldzug, zur Geschichtspolitik und Identität in Deutschland nach 1813, der sich mit dem identitätsstiftenden Charakter der süddeutschen Deutungsgeschichte der Napoleonischen Kriege auseinandersetzt. Darüber hinaus finden sich in GÜNTHERs Beitrag zur Napoleonischen Herrschaft und den Befreiungskriegen in der autobiographischen Erinnerung deutscher Bildungsbürger des Kaiserreichs wichtige Hinweise zum Thema. PLANERT, 2009; MURKEN, 2009; GÜNTHER, 2009. Es standen sich hierbei drei konkurrierende Deutungen der Kriege gegenüber: Im Zeichen einer borussisch-kleindeutschen Historiografie wurde im Sinne einer konservativen Auslegung von einem „Befreiungskrieg“ gesprochen: Das monarchisch gesinnte Volk sei dem Aufruf des preußischen Königs Friedrich Wilhelm des III. gefolgt und habe für die Befreiung von der napoleonischen Fremdherrschaft und die Ehre der preußischen Monarchie gekämpft; die Befreiungskriege seien damit v.a. „Fürstenkriege“ gewesen. Vgl. BOCK, 2013, S. 235. Diesem Ansatz stand eine liberale Interpretation gegenüber, die den Begriff der „Freiheitskriege“ aufbrachte. Dieser Deutung nach hatte vor allem das deutsche Bildungsbürgertum einen Freiheitskampf als „Volkskrieg“ im Dienste einer bürgerlichen Emanzipation nicht nur nach außen, sondern auch nach innen für die politische Partizipation und Etablierung bürgerlicher Rechte geführt. Eine marxistische Sicht sieht die Kriege ebenfalls in der Tradition der „Volkskriege“, hebt aber vorwiegend den Anteil des Volkes daran hervor. Vgl. HAGEMANN, 2002, S. 47.
Kollektives Gedächtnis oder kollektives Vergessen?
tinuität und Wandel zwischen dem 18. und 19. Jahrhundert heraus. Karen Hagemann setzt sich in ihrem Werk Mannlicher Muth und Teutsche Ehre mit den disparaten Geschlechtervorstellungen, ihren Brüchen und Wandlungen im Kontext der Kriege auseinander, wobei eindeutig definierte Rollenbilder scheinbar für die Festigung von Staat und Nation unabdingbar waren.10 Die „Nationalisierung der Geschlechterordnung“11 unterstützte den Siegeszug eines in Teilen höchst diffusen Nationalisierungskonzepts, denn der Entwurf von Nation und Staat wurde nachhaltig durch die Ideen klarer Geschlechterrollen mitkonstruiert.12 In einem Aufsatz über die Hamburger Patriotenfamilie Perthes im Krieg, der sich auf Ego-Dokumente stützt, untersucht Hagemann genderhistorisch die Rolle der Hanseatischen Legion sowie die verschiedenen Sichtweisen ihrer Protagonisten und Protagonistinnen.13 Anika Bethan widmet sich in ihrer Studie Napoleons Königreich Westphalen, dem Musterstaat nach französischem Vorbild, vorwiegend den Perspektiven der Militärs, der Beamten und der Aufständischen unter nationalen und westphälischen Vorzeichen.14 In aller Breite diskutiert der Sammelband Von Breslau nach Leipzig die Rezeptionsgeschichte der Napoleonischen Kriege; unter der Herausgeberschaft von Roland Gehrke beleuchten die Autoren, wie die Ereignisse im deutschen Osten, insbesondere in Preußen und Schlesien, aber auch auf dem Wiener Kongress, im Kino des 20. Jahrhunderts oder in der deutschen Geschichtswissenschaft aufgenommen wurden.15 Kirstin Schäfer fragt in ihrem Aufsatz zur Völkerschlacht bei Leipzig in einer längsschnittartigen Untersuchung, wie die Schlacht über die Jahrhunderte hinweg gedeutet wurde und inwiefern sie heute überhaupt noch als deutscher Erinnerungsort gelten kann.16 Eine ähnliche Fragestellung treibt auch Marianne Vogel um, allerdings konzentriert sie sich in ihrem Aufsatz zur Völkerschlacht und zum kollektiven Gedächtnis vorwiegend auf das Jubiläumsjahr 1913
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HAGEMANN, 2004, S. 515. EBD., S. 522. EBD., S. 521. HAGEMANN, 2004. BETHAN, 2012. Zur Erinnerung an die Napoleonischen Kriege siehe auch KOLLER, 2013; PETERS, 2012. 15 GEHRKE, 2014. 16 SCHÄFER, 2001.
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und die Erinnerungskultur rund um das Völkerschlachtdenkmal.17 Neben genuin erfahrungsgeschichtlich konzipierten Arbeiten richtet Ferdi Akaltin in seiner schon 1997 vorgelegten Publikation Die Befreiungskriege im Geschichtsbild der Deutschen im 19. Jahrhundert seinen Blick auch darauf, welche Auslegungen historische Schulbücher in Deutschland von den Ereignissen wiedergeben.18 Diese wenigen Hinweise allein aus der deutschen Literatur mögen genügen, um aufzuzeigen, wie zahlreich die unterschiedlichen Zugänge und methodischen Ansätze zum Thema in deutschsprachigen Regionen mittlerweile sind. Im Rahmen der Mainzer Tagung von 2014 und im vorliegenden Band wurden nun erinnerungskulturelle Narrative aus deutschen und weiteren europäischen Ländern vor dem Hintergrund ihrer jeweiligen Traditionen in den Blick genommen. Zunächst wird diese Einführung nun einige der oben bereits genannten aktuellen wissenschaftlichen Ansätze sowie ihre Erkenntnisse und Thesen zur regionalkulturellen bzw. nationalen Deutungsgeschichte der Napoleonischen Kriege in Deutschland näher erläutern. Dann wird das Konzept des Erinnerungsortes sowie das des europäischen Erinnerungsortes vorgestellt und diskutiert. So sollen die dynamischen Konzepte des regionalen, nationalen bzw. europäischen Erinnerungsortes, ihre Möglichkeiten und Grenzen zur Diskussion gestellt werden, um die Beiträge dieses Bandes in den gegenwärtigen Forschungskontext einzuordnen.
Regionale vs. nationale Erinnerung an die Napoleonischen Kriege in Deutschland „Wenn der König sich weigerte, die Mittel zu gebrauchen, die ihm seine Untertanen entsprechend dem allgemeinen Willen der Nation zur Verfügung gestellt haben, [...] halte ich die Revolution für unvermeidlich, und wahrscheinlich würde die Armee selbst das erste Beispiel und das Signal geben [...],“
so der hannoversche Offizier Christian Friedrich Wilhelm Freiherr von Ompteda an den hannoverschen Minister Graf Ernst Friedrich Herbert 17 VOGEL, 2005. 18 AKALTIN, 1997.
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zu Münster am 20. Februar 1813.19 Zumindest in der Beurteilung Friedrich Wilhelms III. ist sich die Geschichtswissenschaft heute weitgehend einig: Der preußische Monarch musste in den Krieg gegen Napoleon regelrecht von den eigenen Untertanen hineingezwungen werden.20 Damit endet jedoch die Einmütigkeit – inwieweit die Aufstände in den preußischen Herrschaftsgebieten und die Kriegsbeteiligung durch Freiwilligenverbände in den sogenannten Befreiungskriegen als ein Volkskrieg oder ein Fürstenkrieg21 zu bewerten sind und ob die sich nun regional etablierende deutsche Nationalbewegung tatsächlich als Initialzündung einer gesamtdeutschen Nationalisierung einzustufen ist, darüber gehen die Meinungen erheblich auseinander. Im Folgenden sollen vier Beispiele betrachtet werden, die die unterschiedlichen Perspektiven und Rezeptionen des Napoleonischen Zeitalters in deutschen Gefilden exemplifizieren. Preußen wird dabei Süddeutschland, Hamburg und dem Königreich Westphalen gegenübergestellt. Ute Planert betont in ihrer Untersuchung zu den süddeutschen Staaten, die in den Quellen mehrfach erwähnten Proteste seien in erster Linie als das Produkt einer Anhänglichkeit gegenüber dem preußischen Herrscherhaus zu interpretieren, weniger als Version des modernen Nationalismus. Die aufkommende nationale Bewegung sei vorwiegend durch die bildungsbürgerlichen Eliten und die Unterschichten getragen worden.22 Sebastian Dörflein hingegen identifiziert die Befreiungskriege als Existenzkampf der Hohenzollernmonarchie, aber auch der preußischen Bevölkerung.23 Jörg Echternkamp beschreibt den Anteil, den die Landwehr im Rahmen der Befreiungskriege hatte, als kaum wahrnehmbar und konstatiert, der Volkskrieg habe gar nicht stattgefunden.24 Ute Planert spricht gar von einem „Mythos Befreiungskrieg“ und lehnt mindestens für Süddeutschland das Bild des national motivierten Volkskriegs ab; sie unterstreicht für die Anfangsjahre des Rheinbundes die große Popularität Napoleons und seiner militärischen Siege.25 Weniger die Feindschaft gegenüber dem französischen Kaiser lässt sie für 19 20 21 22 23 24 25
Zit. n. BOCK, 2013, S. 235. DÖRFLER, 2014, S. 33. Siehe hierzu die Ausführungen in Anm. 9. PLANERT, 2007, S. 656. Vgl. DÖRFLER, 2014 S. 21. Vgl. ECHTERNKAMP, 1998, S. 217; 222. PLANERT, 2007, S. 646.
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Württemberg und Bayern als dominierendes Lebensgefühl der Menschen gelten, vielmehr das Bewusstsein, in einer Zeit des absoluten und radikalen Wandels, einer Zeitenwende, zu leben und sich einem „ungeheuren Andrang der Ereignisse“26 ausgesetzt zu sehen. Dabei seien die Jahre nach dem Ende der französischen Herrschaft in Süddeutschland als ebenso belastend empfunden worden wie die Jahre zuvor: Einquartierungen, Abgaben, Übergriffe, Hunger und Seuchen hätten auch danach die Lebenswirklichkeit der Menschen geformt.27 Erst 1813 hätten vorwiegend bürgerliche Protagonisten aus Bayern, Baden und Württemberg nationale Parolen aufgegriffen und seien mit den Freiwilligenbataillonen gegen die französische Besatzung in den Krieg gezogen.28 Diese kurzen Ausführungen deuten es bereits an: Der Blick der Forschung auf die Endphase der Napoleonischen Kriege in den Jahre 1813 bis 1815 im deutschsprachigen Raum könnte unterschiedlicher kaum sein. Wendet man den Blick den norddeutschen Küstenstädten zu, so dominierte nach anfänglichem friedlichem Arrangement mit der französischen Herrschaft die für die Küstenregionen besonders negativ zu Buche schlagende Kontinentalsperre die Sichtweise. Wilhelm Perthes, Hamburger Buchhändler, einer der führenden Köpfe der Hanesatischen Legion und Chronist der Befreiungskriege, notierte 1813 angesichts der französischen Besatzung seiner Stadt: „Am 24. Februar 1813 ging die in Hamburg gegen die Franzosenherrschaft bestehende Gärung in offenen Aufruhr über. Die Douane am Altonaer Tor wurde gestürmt, wobei mehrere Douaniers und Bürger ums Leben kamen, und als im Hafen eine Abteilung der aus Bürgersöhnen gebildeten Präfekturgarde […] nach Bremen zur großen Armee eingeschifft werden sollte, verhinderte das Volk dies mit Gewalt.“29
Die Hamburger Aufstände waren aber zunächst eher von den unteren Schichten als vom Bürgertum inspiriert, die sich Arbeitslosigkeit und Verarmung in besonderer Weise ausgesetzt sahen. In den Hansestädten Lübeck, Bremen und Hamburg wurde die Zeit der französischen Besat26 27 28 29
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Zit. EBD., S. 642. Vgl. EBD., S. 657. Vgl. EBD., S. 601. HAGEMANN, 2004, S. 72.
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zung von diesem Milieu durchaus kritisch aufgenommen; das lag, wie schon angedeutet, zu nicht unwesentlichen Teilen an der napoleonischen Kontinentalsperre gegen England sowie der Gegenblockade Englands, die diese Handelsstädte besonders empfindlich trafen. Auch die mit der Besatzungsherrschaft einhergehenden Belastungen wie Einquartierungen, Requisitionen, Zensur, Überwachungen und Verhaftungen hinterließen im kommunikativen Gedächtnis der Zeit ihre Spuren.30 Doch erst nach dem zeitweisen Rückzug der französischen Truppen aus Hamburg und der brutalen Bestrafung nach der französischen Wiedereinnahme der Stadt im Sommer 1813 veränderte sich die Atmosphäre nachweisbar auch im bürgerlichen Umfeld:31 Zwar schloss sich das traditionelle Bürgertum des Hamburger Senats nur zögerlich dem Widerstand gegen die Franzosen an, wie Karen Hagemann in ihrem Aufsatz über Kriegserfahrungen und -erinnerungen in Hamburg in der Franzosenzeit belegt. Aber die Verbände der Hanseatischen Legion, einer Bürgergarde, die sich zur Verteidigung Hamburgs berufen fühlte, speiste sich nun vorwiegend aus einer kleinen Gruppe nationalistisch gesinnter, junger, unverheirateter Männer, unterstützt durch den bürgerlichen Mittelstand, städtisches Kleinbürgertum, Handwerksgesellen und Dienstboten, die die negative Konnotation der sog. „Franzosenzeit“ festigten.32 Dieser Kohorte der Hamburger Patrioten, die überwiegend aus ähnlichen familiären und gesellschaftlichen Kontexten stammte und eine vergleichbare Sozialisation durchlaufen hatte, gelang es auch ex post, das kulturelle und damit auch das kollektive Gedächtnis Hamburgs anhaltend zu formen, es inkludierte in besonderem Maße „Opferwilligkeit, Zusammengehörigkeitsgefühl und Hilfsbereitschaft“.33 Offenbar identifizierten sich die Nachgeborenen wesentlich lieber mit dieser Narration als mit der Deutung der bis dato vorherrschenden, eher taktisch und zögerlich agierenden alten bürgerlichen Eliten der Stadt.34 Eine gänzlich andere politische Konstellation bot sich im 1806 gegründeten Königreich Westphalen unter der Herrschaft von Jerôme Bonaparte, dem jüngsten Bruder Napoleons. Die von Anika Bethan 2012 vorgelegte Arbeit rekonstruiert die von französischer Seite durch30 31 32 33 34
Vgl. EBD., S. 80. Vgl. EBD., S. 84-87. Vgl. EBD., S. 81f. EBD., S. 93. Vgl. EBD., S. 94.
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gesetzten Modernisierungen des Staatswesens und des Militärs und weist nach, dass diese von der Beamtenschaft und dem Militär zunächst wohlwollend rezipiert wurden, was auch mit der Tatsache zusammenhing, dass beide gesellschaftlichen Gruppen nicht unerheblich von der französischen Besatzung profitierten.35 Die Loyalität gegenüber ihrem obersten Dienstherren Jerôme Bonaparte blieb gegenüber den Aufständischen im Königreich bindend.36 Die Opposition wurden auch hier am ehesten von den unteren sozialen und kleinbürgerlichen Kreisen angestoßen; dazu gehörten Ackerleute, Handwerksmeister aus städtischen und ländlichen Regionen, Gastwirte, teilweise Amtsträger und Bedienstete, der Protest richtete sich vielfach gegen leitende Repräsentanten des Königreichs wie die verhassten Steuereintreiber. Nationale Deutungsmotive wurden hier von außen, will sagen Preußen, hereingetragen, bewirkten dann aber ebenfalls eine Politisierung. Diese Entwicklung fiel bezeichnenderweise mit jenen Jahren zusammen, in denen bereits der wirtschaftliche und politische Niedergang des Königreichs erkennbar wurde.37 Die genannten vier Beispiele veranschaulichen, wie disparat die Wahrnehmung der Napoleonischen Ära in den deutschen Herrschaftsgebieten ausfiel und zugleich, wie inhomogen die geografischen, regionalen, konfessionellen oder politischen Voraussetzungen sein konnten. Dennoch lassen sich auch Gemeinsamkeiten herausstellen. So schienen die antifranzösischen Erhebungen vorwiegend von sozial abstiegsgefährdeten landwirtschaftlichen sowie (klein-) und mittelbürgerlichen Kreisen, aber auch dem Bildungsbürgertum ausgegangen zu sein.38 Teile der traditionellen Eliten hingegen arrangierten sich mit den Franzosen, während eine Minorität national orientierter Bürgerlicher den Anschluss an die preußisch dominierte Nationalbewegung suchte; oftmals spielten hier auch landespatriotische Gesinnungen eine nicht unwesentliche Rolle.39 In welcher Weise die einzelnen regionalstaatlichen Folien in die preußisch beherrschte deutsche Gesamtnarration der Befreiungskriege einflossen, wie lange und wie intensiv sie sich im Kontext des 35 36 37 38
Vgl. BETHAN, 2012, S. 311. Vgl. EBD., S. 312. Vgl. EBD., S. 321, 323. Zur sozialhistorischen Differenzierung der Patrioten siehe PLANERT, 2007, S. 486. 39 Vgl. EBD., 2007, S. 487.
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sich etablierenden Mythos der Befreiungskriege durchzusetzen vermochten, sind Fragen, mit denen sich auch die Studie Planerts auseinandersetzt. Die Napoleonischen Kriege und ihre in Deutschland als Befreiungskriege gedeutete Endphase gelten für große Teile Europas als gleichsam epochale Zäsur.40 Mit diesem Ausgang war der endgültige Sieg über Napoleon besiegelt, die französische Hegemonie über den Kontinent gebrochen. Trotz der mit dem Wiener Kongress 1815 einsetzenden Restauration war nun nichts mehr wie vor 1789. Schon während der Zeit der Befreiungskriege kristallisierten sich in den deutschen Staaten elementar unterschiedliche Sichtweisen auf die Geschehnisse heraus. Hierbei wirkten disparat motivierte Deutungsmuster zusammen. Ein Erklärungsansatz für die Vielgestaltigkeit und multiperspektivischen Wahrnehmungen der deutschen Regionen liegt auch in der Heterogenität des Sprach- und Kulturraums des frühen 19. Jahrhunderts selbst. Deutsche Gebiete waren zu erheblichem Teil Kriegs- und Aufmarschgebiet, nicht nur Leipzig für die grausame und symbolträchtige Völkerschlacht, sondern auch Teile Norddeutschlands, Sachsens, Preußens, Schlesiens und Süddeutschlands. Trotz der im Laufe des 19. Jahrhunderts zunehmend dominierenden Mythenbildung gerade um die Leipziger Völkerschlacht als „Bestandteil einer deutschen Heilsgeschichte“41 und „Referenzpunkt einer borussisch geprägten gesamtdeutschen Identität“42 blieben darunter verschiedene Elemente dieser unterschiedlichen regionalen Erzählstränge sichtbar.43 Ob der pointierte Befund Ute Planerts, der den preußisch determinierten Urmythos der Befreiungskriege zu dekonstruieren und die süddeutschen Staaten bis zu ihrem offiziellen Übergang zu den Alliierten von der nationalen Kontaminierung in Teilen freisprechen zu können meint, zutreffend ist, bleibt zu diskutieren. In der Folge der Rheinbundstaatsgründungen setzten die Landesherren auf die Etablierung ihrer eigenen Erzählung und damit die Selbstlegitimation ihrer Herrschaft, der „Badisierung, Württembergisierung, Bajuwarisierung, Borussifizierung der Vergangen40 Vgl. WEHLER, 2008, S. 531. Das zeigte sich nicht zuletzt an der neuen Vielfältigkeit und -deutigkeit politisch-historischer Begrifflichkeiten, siehe KOSELLECK, 2004, S. 8. 41 VOGEL, 2005, S. 28. 42 BURGDORF, 2009, S. 344. 43 Vgl. PLANERT, 2004, S. 198f.
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heit.“44. Dies alles aber spricht für die Annahme, dass die Kriege bis 1945 – und im Falle der DDR bis 1990 – als wesentlicher deutscher Erinnerungsort gelten können, den sich Konservative, Liberale, Protestanten wie Katholiken gleichermaßen zu eigen gemacht haben.45
Das Konzept des Erinnerungsortes Mit dem Ende der Modernisierungsprozesse Mitte der 1980er Jahre begann sich eine vieldimensionale Sinn- und Orientierungskrise abzuzeichnen. Damit gewann die Vergangenheit als Begründungszusammenhang für die eigene Wertorientierung erheblich an Relevanz. Das Gedächtnis avancierte zur moralischen Instanz der Gegenwart. Neue Hypothesen rückten Reflexionen über Geschichtsbewusstsein, Gedächtnis und Geschichtspolitik in den Erkenntnismittelpunkt.46 Geschichtsbewusstsein sei, so Theodor Schieder, die „ständige Gegenwärtigkeit des Wissens, daß der Mensch und alle von ihm geschaffenen Einrichtungen und Formen seines Zusammenlebens in der Zeit existieren, also eine Herkunft und eine Zukunft haben, daß sie nichts darstellen, was stabil, unveränderlich und ohne Voraussetzungen ist.“47 Das Geschichtsbewusstsein, verstanden als Konstrukt einer Vergangenheitsdeutung, welches auf dem jeweiligen Gegenwartsverständnis und einer bestimmten Zukunftserwartung gründet, kann als basales Bedürfnis menschlicher Gesellschaften gelten, es dient der Orientierung, der Selbstvergewisserung und der Identitätsstiftung dieser Gemeinschaften.48 Nicht nur Individuen besitzen mithin ein Geschichtsbewusstsein, sondern auch die nationalen Kollektivaktanten entwickeln so etwas wie ein kollektives Gedächtnis.49 Problematisch bleibt die Tatsache, dass sich Gedächtnis und Identität nur schwer fassen lassen, sie unterliegen einem ständigen Wandel, sind auf vielerlei Weise kombinations- und anschlussfähig, variieren je nach Nation, Zeitalter und Perspektive erheblich. 44 45 46 47 48 49
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BURGDORF, 2009, S. 336. Vgl. BUSCHMANN, 2003, S. 102. UHL, 2009, S. 38f. Vgl. SCHIEDER, zit. n. JEISMANN, 1997, S. 42. Vgl. SCHMID, 2009, S. 7-9. Vgl. FRANÇOIS, 2013b, S. 542.
Kollektives Gedächtnis oder kollektives Vergessen?
Eine Möglichkeit, diesen Bereich der kollektiven Gedächtnisforschung zu kontextualisieren und somit fassbarer zu machen, bieten die zunächst für den französischen Kulturraum entwickelten Erinnerungsorte, les lieux de mémoire,50 des Historikers Pierre Nora.51 Sie gelten nach seiner Definition als „jede materielle oder ideelle Bedeutungseinheit, die der Wille der Menschen oder die Arbeit der Zeit in einen symbolischen Bestandteil des memoriellen Erbes einer Gemeinschaft verwandelt hat [...]“.52 Dazu zählen kollektive Erinnerungen, die sich an einem Ort, in einer Persönlichkeit, einem Mythos, einem Ritual oder einem Symbol manifestieren und in einer gemeinsamen Assoziation bündeln lassen.53 Die Erinnerungsorte entsprechen demnach dem menschlichen Verlangen nach Sinnstiftung und spiegeln in konzentrierter Weise eine Form von sinnbildlicher Bedeutung, dienen damit der Komprimierung und Institutionalisierung des nationalen Bewusstseins. In Form von „langlebige[n] Kristallisationspunkte[n] kollektiver Erinnerung und Identität“, wie sie Nora in seinem siebenbändigen Werk aus den Jahren 1984 bis 1992 beschreibt, können sie sowohl als „lebendige“ d.h. im öffentlichen Bewusstsein präsente, aber auch als „verschüttet[e], verdrängt[e] und überlagert[e], erkaltet[e]“, will sagen, als in der öffentlichen Sphäre der Gesellschaft nicht mehr unmittelbar wirkende Bilder vorhanden sein.54 Noras ursprüngliches Vorhaben, eine Nationalgeschichte der Dritten Republik Frankreichs zu schaffen, wandelte sich im Lauf des Projekts zu einer weitreichenden Darstellung der „symbolischen Topographie Frankreichs“.55 In den letzten Jahrzehnten hat das Konzept Noras eine große Popularität erreicht, es liegen Darstellungen vor, die diese Begrifflichkeit in vielfacher Weise verknüpfen. Die Idee wurde weit über die geschichtswissenschaftlichen Grenzen hinaus aufgegriffen, von zahlreichen Disziplinen adaptiert und weiterentwickelt. Die Veröffentlichungen zu Erinnerungsorten sowohl auf regionaler, nationaler, aber
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NORA, 1997. Vgl. FRANÇOIS, 2009, S. 23f.; 27. Zit. n. KONCZAL, 2013, S. 80. Vgl. FRANÇOIS, 2002, S. 7. CARL VON OSSIETZKY UNIVERSITÄT OLDENBURG, INSTITUT FÜR GESCHICHTE, 2016. 55 KONCZAL, 2013, S. 81.
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auch europäischer Ebene sind mittlerweile kaum noch zu überblicken.56 Nicht unwesentlich für die vielfache Rezeption scheinen gerade die Dynamik und Offenheit des Ansatzes sowie seine methodologische, interdisziplinäre Vielgestaltigkeit und das breite Verständnis des Erinnerungsortes an sich zu sein. Die Kritik gegen Noras Werk richtet sich u.a. gegen die starke Fokussierung auf Frankreich oder den noch immer durch eine nationalstaatliche Perspektive bestimmten Ansatz. Kritische Stimmen wenden sich gegen die geringe Integration von Gegennarrationen gesellschaftlicher Randgruppen, sie warnen vor einer Abkopplung der Geschichte von der historischen „Realität“ und einer gleichsam religiösen Überhöhung der französischen Nationalgeschichte.57 Mit Blick auf Deutschland scheint die Erinnerung an die jüngste Vergangenheit zwischen 1933 und 1945 eine Art absolute Deutungshoheit für sich zu reklamieren; einen regelrechten Paradigmenwechsel hat der Übergang vom integrationistischen zum partikularistischen Opfermodell mit sich gebracht.58 Dieser Prozess hat mittlerweile auch andere europäische Narrationen erfasst, das „Holocaust-Paradigm[a]“ sowie die sich hieraus ableitende Opferkonkurrenz haben einen Universalisierungsprozess durchlaufen, welcher zu einer Art Grundinterpretament der europäischen Geschichte aufgestiegen ist.59 Auch innerhalb der dreibändigen Publikation Deutsche Erinnerungsorte von Étienne François und Hagen Schulze, die die methodischen Überlegungen von Nora auf die deutsche Geschichte überträgt, werden die meisten Einträge dem 19. Jahrhundert als Epoche der nationalstaatlichen Genese sowie dem 20. Jahrhundert gewidmet. Zugrunde lagen dem Projekt sechs Überlegungen: 1. die stärkere Gewichtung von Sprache und Kultur gegenüber dem Staat, 2. das beständige Hinterfragen der deutschen Identität, 3. die große Bedeutung von „Brüchen und Diskontinuitäten“ innerhalb der deutschen Historiografie, 4. die verspätete Nationalstaatsgründung, 5. eine besondere Stellung der nachbarstaatlichen Beziehungen und 6. die große öffentliche Anteilnahme am Disput über die deutsche Geschichte. All diese Ansätze prägten Struktur und Konzeption der Bände nachhaltig. Grundsätzlich verzichtete der Herausge56 57 58 59
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Vgl. DUCHHARDT, 2013, S. 63. Vgl. KONCZAL, 2013, S. 82f. Vgl. GOSCHLER, 2005, S. 874. FRANÇOIS 2013b, S. 545.
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berkreis auf eine enge Definition der deutschen Identität zugunsten eines offeneren konzeptionellen Ansatzes unter besonderer Berücksichtigung der geteilten Erinnerungsorte, der auch der fragilen deutschen Identität besser entspricht.60 Es ging nicht wie im Falle Frankreichs um die Beschreibung einer Nationalgeschichte. Auch die Dominanz bildungsbürgerlich ausgerichteter Perspektiven sollte durch alltagsgeschichtliche Orte wie „Bundesliga“ oder „Schrebergarten“ ergänzt werden. Diese Heterogenität bot aber zugleich Anknüpfungspunkte für Kritik. Auch der weitgehende Verzicht auf minderheitshistorische Perspektiven, die DDR- und Gendergeschichte wurde moniert. Die fehlende separate Besprechung von Themen wie „Wehrmacht, Hitler und Drittes Reich“ erschien einigen Rezensenten als Desiderat, die Strukturierung des Bandes durch 18 Oberkategorien, die „Ordnung der Dinge“, wurde bisweilen als „willkürlich“ bezeichnet. Die grundsätzlichen Vorstellungen wurden mittlerweile vielfach in Form regionaler Studien und didaktischer Publikationen zur Gestaltung des Schulunterrichts aufgegriffen, letzteres stellt momentan noch ein deutsches Alleinstellungsmerkmal dar.61 Trotz der vielfach erhobenen These vom Verschwinden des Nationalstaates und nationaler Identitäten verdeutlicht der erinnerungspolitische Diskurs über die Bedingungen der kollektiven Erinnerungsgemeinschaften und ihrer Objekte, wie stark dieser nationale Bezugsrahmen noch zu wirken vermag: Die oftmals hochemotionalen und polarisierenden Debatten zeigen, dass hier weniger die Vergangenheit an sich im Zentrum steht, als vielmehr Verhandlungen über die gegenwärtige politische Kultur und die Re-interpretation politischer Werte offenbar werden, welche das eigene nationale Selbstverständnis zur Disposition stellen und damit mehr über die Situation des aktuellen politischen Systems aussagen, als sich hieraus Erkenntnisse über die gedeutete Vergangenheit ableiten lassen.62 Gleichwohl existieren keine geschlossenen nationalen Deutungen, auch die nationalen Erinnerungsgemeinschaften stellen vielmehr „Konfliktgemeinschaften“ dar, wie Étienne François betont.63 Die hohe Anzahl derjenigen Studien, die sich 60 61 62 63
KONCZAL, 2013, S. 86. EBD., S. 87f. Vgl. FRANÇOIS, 2013b, S. 542f. EBD., S. 544.
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dem vielfach ausgerufenen Ende der Nationalhistoriographie zum Trotz aus einem nationalgeschichtlichen Ansatz speisen, unterstreicht aber die noch immer bestehende Dominanz dieses Zugangs. In den letzten Jahrzehnten hat die Nationalismusforschung vielfach neue Impulse erhalten. Besonders die Integration von sozial- und kulturgeschichtlichen Perspektiven, die im Hinblick auf die Napoleonischen Kriege mit erfahrungs-, alltags- und gendergeschichtlichen Ansätzen operieren, verspricht neue Erkenntnisse,64 so wie sie in den genannten erfahrungsgeschichtlichen Untersuchungen von Ute Planert, Karen Hagemann oder Anika Bethan aufgegriffen werden.65 Daneben versprechen trotz zahlreicher methodischer Schwierigkeiten vor allem vergleichende Ansätze neue Perspektiven, die einzelne Nationalismen oder nationale Erinnerungskulturen einander gegenüberstellen, wie dies im vorliegenden Band geschehen soll.66
Europäische Erinnerungsorte Das Nora’sche Konzept der Erinnerungsorte hat einen Siegeszug angetreten, der seinesgleichen sucht – seit der genannten Publikation der Bände zu den französischen und deutschen Erinnerungsorten sind nicht nur Werke zu ostmitteleuropäischen, oberschwäbischen, antiken, sozialdemokratischen, deutsch-polnischen, französisch-pfälzischen, deutschkolonialen, ökologischen, sondern auch zu europäischen Erinnerungsorten erschienen.67 Supranationale Entwicklungen und Verflechtungen insbesondere seit 1989 sorgen dafür, dass die Bezugsrahmen auch innerhalb der erinnerungspolitischen Diskurse der einzelnen Länder miteinander verschränkt und auf komplexe Weise durch internationale und überstaatliche Gruppierungen aller Arten begleitet und ergänzt werden. 64 Vgl. KUNZE, 2005, S. 112. 65 PLANERT, 2009; HAGEMANN, 2002; BETHAN, 2012; siehe auch FREVERT, 1996. 66 Vgl. KUNZE, 2005, S.107f. 67 Vgl. zu den genannten Erinnerungsorten die Publikationen von WEBER u. a., 2011; STEIN-HÖLKESKAMP/HÖLKESKAMP, 2006; KIEßLING/SCHIERSNER, 2009; FRIEDERICH-EBERT-STIFTUNG, HAHN/TRABA, 2012-2015; KLIMM, 2008; ZIMMERER, 2013; UEKÖTTER, 2014; DEN BOER u. a. 2012a. Siehe dazu auch FREYTAG, 2014.
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Dies zeigt sich nicht nur an Hand der Durchsetzung des Holocaustparadigmas.68 Nationale Narrative zu den Napoleonischen Kriegen stellen folglich den Ausgangs-, nicht aber den Endpunkt der konzeptionellen Überlegungen dieses Bandes dar. Obgleich Étienne François der Übertragung des Konzepts auf europäische Erinnerungsorte skeptisch gegenübersteht, verspricht dieser Ansatz lohnenswerte Erkenntnisse. Nichtsdestotrotz steht am Anfang die Frage, ob solche Orte überhaupt existieren, Europa genug Konsistenz besitzt, um eine derartige Herangehensweise zu legitimieren.69 „Zentraleuropa“ könnte hierbei, einer Annahme von Moritz Csáky folgend, „als ein Mikrokosmos“ verstanden werden, „in dem bereits in der Vergangenheit, aufgrund der Heterogenität von sich konkurrenzierenden und überlappenden komplexen Kommunikationsräumen, Prozesse stattgefunden haben, die heute, im Makrokosmos einer sich globalisierenden Welt, auf allen sichtbar und von allgemeiner Relevanz geworden sind.“70 In dem entsprechenden 2012 erschienenen dreibändigen Werk wurde das ursprüngliche Konzept Noras für die europäischen Erinnerungsorte abgewandelt und angepasst: Den Herausgebern war erstens daran gelegen, solche Orte zu erfassen, deren europäische Dimension bereits den Zeitgenossen bewusst war. Zweitens sollten sie europäisch vermittelt werden, d.h. in andere europäische Kulturen ausstrahlen, und zwar über transnationale Vermittler und Vermittlungswege. Drittens ging es um Orte, deren Bedeutung sich nicht nur auf den westlichen, sondern auch den östlichen Teil des Kontinents erstreckte.71 Die Napoleonischen Kriege erfüllen diese drei Kriterien scheinbar mühelos. Dieter Langewiesche bezeichnet Europa als ein „Kriegsgeschöpf“ und nennt die Kriege der Revolutions- und Napoleonischen Ära die „Gründungskriege des modernen Europa“.72 Wendet man die drei genannten Kriterien an, lässt sich feststellen, dass erstens bereits der Russlandfeldzug der Grande Armée und sein Scheitern 1812, die Völkerschlacht bei Leipzig 1813 und die Schlacht bei Waterloo 1815 zeitgenössisch als Zäsuren wahrgenommen wurden. Dies schlug sich nicht
68 69 70 71 72
FRANÇOIS, 2013b, S. 545f. Vgl. DUCHHARDT, 2013, S. 64. Vgl. CSÁKY, 2013, S. 46. DEN BOER u. a., 2012b, S. 9. LANGEWIESCHE, 2012, S. 275.
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nur in der damaligen Publizistik, sondern auch in der Verarbeitung in Kunst und Literatur (insbesondere einer neuartigen Flut von persönlichen Quellen wie Veteranenerzählungen und veröffentlichten Augenzeugenberichten) nieder, denen allesamt der Eindruck zugrunde lag, man sei Zeuge eines unerhörten und historischen Geschehens geworden. Deutlich wird dies etwa in den Erinnerungen des Breslauer Professors und Philosophen Heinrich Steffens, der als Kriegsfreiwilliger am 16. Oktober 1813 bei Leipzig das Nahen der gegen Napoleon verbündeten Heere der Koalition beobachtete: „Immer kamen neue Scharen im Osten zum Vorschein und verschwanden die Vordersten im fernen Westen, während der Zug sich ununterbrochen fortbewegte. Man konnte glauben, ein wanderndes Volk zu erblicken. So mochten zur Zeit der Völkerwanderung die germanischen Stämme erschienen sein, als sie die deutschen Gaue überschwemmten. Der Anblick ergriff uns alle mit großer Gewalt. Lange blieben wir voll Erstaunen stehen, ihn zu genießen.“73
Auch der preußische Oberst Carl von Müffling beendete seinen Generalstabsbericht nach der Schlacht bei Leipzig am 19. Oktober 1813 in dem Bewusstsein der Einzigartigkeit dieses historischen Moments mit den Worten: „So hat die viertägige Völkerschlacht vor Leipzig das Schicksal der Welt entschieden.“ Er prägte damit bereits damals den bis heute gültigen Begriff der „Völkerschlacht“ bei Leipzig.74 Zweitens erfolgte insbesondere durch die Kunst eine transnationale Vermittlung dieser Ereignisse, sei dies durch die europaweit vielfach übersetzten Romane Vanity Fair (1847/48) von William Makepiece Thackeray, A Tale of Two Cities (1859) von Charles Dickens, Les Misérables (1862) von Victor Hugo, Krieg und Frieden (1868/69) von Leo Tolstoi oder Vor dem Sturm (1878) von Theodor Fontane, sei dies aber auch durch Lyrik wie Lord Byrons Childe Harold’s Pilgrimage (18121818) oder Heinrich Heines Die Grenadiere (1822).75 Das zunächst in polnischer Sprache in Paris veröffentlichte Versepos Pan Tadeusz (1834) von Adam Mickiewicz wurde nicht nur zum polnischen Natio73 STEFFENS, 1843, S. 295f. Siehe dazu LADENDORF, 1906. 74 Zit. n. LADENDORF, EBD. 75 Siehe dazu FRANÇOIS, 2012, S. 394.
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nalepos, sondern zwischen 1836 und 1907 in diverse europäische Sprachen übersetzt. Auch musikalisch wurden die Revolutions- und Napoleonischen Kriege europaweit vermittelt, und zwar durch eine große Zahl zeitgenössischer, heute weitgehend vergessener Märsche und Miniaturen, aber auch in bekannteren Werken wie Joseph Haydns als Paukenmesse bekannterer Missa in tempore belli (1796), Ludwig van Beethovens Eroica (1802/03) oder Peter Tschaikowskys deutlich später komponierter Ouverture solenelle 1812 (1882).76 Drittens gilt nicht zuletzt die umwälzende Bedeutung dieser Kriege für die östliche wie für die westliche Hälfte Europas. Sie wurden freilich ganz unterschiedlich wahrgenommen und verortet. Ein weitgehender Konsens besteht, wie oben bereits dargestellt, in der Forschung darüber, dass die Schlachten von den meisten zeitgenössischen Betrachtern schon als weit über die eigene Zeit hinausdeutender Umbruch wahrgenommen wurden. Innerhalb weniger Jahre hatte das Alte Reich aufgehört zu existieren, sich die französische Herrschaft über ganz Europa ausgedehnt, waren neue deutsche Mittelmächte entstanden und große Herrscherdynastien wie Preußen und Österreich regelrecht degradiert worden.77 Fundamentaler Natur waren die Modernisierungen, Reformen, Aufstände und Revolutionen, die diese Kriege begleiteten. Dazu zählte eine Totalisierung der Kriegsführung mit Einführung der levée en masse, eines Vorläufers der allgemeinen Wehrpflicht, die mit zunehmender Kriegsdauer dafür sorgte, dass tatsächlich nicht unwesentliche Teile der männlichen Bevölkerung partizipierten. Und die Umstellung auf Requisitionssysteme, welche die betroffenen Regionen zur Versorgung und Aufnahme der Soldaten nötigten, die durch die Einquartierungen begünstigte Ausbreitung von Seuchen und Krankheiten, die hohen Verluste bei den einzelnen Schlachten und die große Zahl an Witwen und Waisen unterstreichen diesen Eindruck.78 Sind diese Befunde jedoch nur prima facie zutreffend? Am Konzept des Erinnerungsortes wurde mannigfach Kritik geübt.79 Étienne François, der Doyen der deutsch-französischen und europäischen Erinnerungsforschung, wies darauf hin, dass der Begriff des Erinnerungsortes 76 77 78 79
Vgl. EBD., S. 392-394. Vgl. PLANERT, 2007, S. 15. Vgl. EBD., 2007, S. 16. Dazu bilanzierend BERGER/SEIFFERT, 2014.
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durch seinen inflationären Gebrauch an Schärfe verloren habe und eine klare und überzeugende Definition des Gegenstandes und Raumes Europa nicht möglich sei.80 Die Frage der Abgrenzbarkeit oder Unschärfe ist ein grundsätzliches Problem nicht nur des Konzeptes der Erinnerungsorte, sondern aller Ansätze einer transkulturellen Beziehungsgeschichte, sei es der Transfergeschichte, der transnationalen Geschichte, der Verflechtungsgeschichte oder der histoire croisée und der entangled history. Für alle gilt die „Grundannahme der Kulturtransferforschung, daß es letztlich kein Objekt der Geschichte gibt, das als isolierte Einheit existiert und nicht Phänomene der Verflechtung (des croisement) aufweist“.81 So ist von Vertretern der transnationalen Geschichte, insbesondere Sebastian Conrad, darauf hingewiesen worden, dass sich erst durch Verflechtungen im Laufe der Zeit die nationalen Einheiten herausgebildet haben, die später der Geschichtswissenschaft als selbstverständliche Basis dienten. Die Herausbildung von (National-)Geschichten geschah nicht ohne die Auseinandersetzung mit verschiedenen Modellen der Konstruktion von nationaler Vergangenheit.82 Andererseits bildeten selbst in der Phase des entwickelten Nationalstaats Völker und Nationen zu keinem Zeitpunkt einheitliche Erfahrungs- und Erinnerungskohorten aus, sondern sie blieben plurale Erinnerungsgemeinschaften bzw. wurden überhaupt erst jetzt zu pluralen Handlungsgruppen mit vielfältigen Formen der Erinnerung.83 Heinz-Gerhard Haupt betonte, dass es sich bei vielen vermeintlich europäischen lediglich um partielle Erfahrungen und Verallgemeinerungen handle. Andererseits habe sich spätestens seit dem 16. Jahrhundert die Geschichte Europas weltweit ausgedehnt, so dass europäische Erinnerungen immer auch eine globale Dimension haben84 – dies stellt zwei extreme Pole bzw. Probleme eines europäischen Erinnerungsraumes dar. Nicht zuletzt ergebe sich, so François, durch die alles überdeckende Bedeutung der traumatischen Ereignisse des 20. Jahrhunderts und die entsprechende Erinnerungspolitik und Geschichtskultur ganz ähnlich wie bei den deutschen Erinnerungsorten die Gefahr einer Über-
80 81 82 83 84
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FRANÇOIS, 2013c, S. 70. Vgl. MIDDELL, 2005. Vgl. EBD. CORNELIßEN, 2012. Vgl. FRANÇOIS, 2013c, S. 70.
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lagerung älterer Erinnerungsorte. Dies wurde etwa in dem Band Der Kampf um die europäische Erinnerung. Ein Schlachtfeld wird besichtigt von Claus Leggewie und Anne Lang deutlich, in dem von sieben „Kreisen europäischer Erinnerung“ die Rede ist, die allesamt im späten 19. und überwiegend im 20. Jahrhundert angesiedelt sind (vom Kolonialismus über den Kommunismus und den Holocaust bis hin zu Vertreibungen und der europäischen Erfolgsgeschichte nach 1945).85 Der nahezu legendäre Satz „Am Anfang war Napoleon“, den Thomas Nipperdey an den Beginn seiner dreibändigen Geschichte des 19. Jahrhunderts stellte,86 wurde wiederholt von Frühneuzeithistorikern kritisiert, die darin eine Vernachlässigung der Kontinuitäten aus der vornapoleonischen Epoche sahen. Thomas Bohrer sprach sogar von einer „Erinnerungslosigkeit“ und unzulässigen Verkürzung auf das 19. und 20. Jahrhundert.87 Trotz dieser Bedenken sehen viele Historiker ein großes Potential im Konzept europäischer Erinnerungsorte, unter anderem aufgrund der sozialen Nachfrage, die sich etwa in Projekten und Museumsgründungen oder auch gemeinsamen Schulbuchkonzepten wie dem deutschfranzösischen Histoire/Geschichte niederschlägt.88 Heinz Duchhardt wies mehrfach darauf hin, dass per se nichts dagegen spricht, wenn sich Historiker in ihren Fragestellungen von aktuellen Entwicklungen inspirieren lassen,89 wie es auch mit diesem Sammelband und der ihm zugrundeliegenden Tagung der Fall war.90 Nicht zuletzt betonen viele Forscher die Erschöpfung oder gar Aporie nationaler Zugriffe bei der Erfassung der Dynamiken memorieller Konstruktionen, so dass die Übertragung des Konzeptes der Erinnerungsorte auf neue Räume oder Gegenstände seine Frische und Innovationsfähigkeit wiederherstellen helfen kann. Da Europa, wie oben bereits unterstrichen, ein Kontinent
85 LEGGEWIE/LANG, 2011, S. 15-48. Zur oben bereits genannten Bedeutung der Opferkonkurrenz in der europäischen Erinnerungslandschaft siehe ASSMANN, 2013, S. 142-179, und die alle diesem Thema gewidmeten Aufsätze des zweiten Teils von FRANÇOIS, 2013a. 86 NIPPERDEY, 1983, S. 11. 87 Zit. n. SCHULZE, 2010, S. 40. Siehe dazu SCHULZE, EBD. 88 LE QUINTREC, 2006/07. 89 Vgl. DEN BOER u. a., 2012a, S. 8f., und DUCHHARDT, 2013, S. 64. 90 Zu Jubiläen als Ausdruck eines öffentlich geäußerten Geschichtsbewusstseins siehe KOLLMANN, 2014, S. 34f.
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des Konfliktes ist, lassen sich solche neuen Erkenntnisse vor allem dann gewinnen, wenn auch umstrittene oder konfliktuelle Erinnerungsorte Berücksichtigung finden.91
Zu Konzeption und Aufbau des Bandes Die weiter oben beschriebene exemplarische Vorstellung aktueller Forschungsperspektiven zu den Napoleonischen Kriegen allein für den deutschen Raum mag belegen, wie vielfältig und fruchtbar regionale, erfahrungs- und kulturhistorische Fragestellungen in diesem thematischen Kontext sind: Sie können bereits auf der Mikroebene aufzeigen, wie Geschichtsbilder entstehen, welchen Wandlungen und Aneignungen sie unterliegen. Der vorliegende Band soll nun in makrohistorischem Zugriff mehrere nationalstaatliche Deutungsmuster vergleichend nebeneinanderstellen – ein Vorhaben, das bisher nur vereinzelt umgesetzt wurde.92 Für diesen Vergleich soll der Ansatz des europäischen Erinnerungsortes als heuristisches Instrument nutzbar gemacht werden, um Parallelen und Gegensätze, unterschiedliche Wirkungsmechanismen und Instrumentalisierungen zu skizzieren. Zunächst wird im Themenfeld der politisch-nationalen Erinnerungsformen nach der Deutungsgeschichte in Ost-, Ostmittel- und Mitteleuropa gefragt. Jan Kusber zeichnet in seinem Beitrag „Russlands Sieg über Napoleon als Erinnerungsfigur(en)“ nach, wie sehr sich eine russisch-nationale Lesart des Jahres 1812, aber auch der Jahre 1813/14 durchsetzte, die europäische Dimension des Gedenkens hingegen weitgehend marginalisiert wurde. In Polen spielte die Erinnerung an Napoleon stets eine herausragende Rolle – gleich, ob als „weiße“ oder als „schwarze“ Legende diente sie stets als Folie für die Hoffnungen auf die nationale Befreiung Polens in Zeiten der Staatslosigkeit, wie Christoph Schimsheimer in seinem Aufsatz ‚Ein Beispiel gab uns Bonaparte‘? Die Napoleonischen Kriege in der kollektiven Erinnerung in Polen“ ausführt. Im Falle Österreichs sind es nicht die Kriege von 1813 bis 1815, die das kollektive Gedenken konnotieren, sondern die alliierte 91 FRANÇOIS, 2013c, S. 74. 92 Siehe dazu u.a. die bereits genannten Bände GEHRKE, 2014, HAGEMANN, 2002, und BLANNING, 2009.
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Niederlage des Jahres 1809 als Inbegriff des Kampfes. In seinem Beitrag „[…] die würdigen Vorläufer der großen Befreiungskriege‘. Die Kämpfe gegen Napoleon in der österreichischen Geschichtskultur“ zeigt Hans-Christian Maner auf, wie die Hauptleute Hensel und Hermann mit der Verteidigung der Alpenpässen Malborghet und Predil zum Synonym für den Heldentod avancierten. Unter dem Titel ‚An der Spitze des Fortschritts‘? Die preußischen Reformer und die Bundeswehr“ arbeitet Martin Rink im Anschluss die Bedeutung heraus, die die preußischen Militärreformer um Gerhard von Scharnhorst, die den Umbau des preußischen Militärwesens nach den verheerenden Niederlagen 1806 bei Jena und Auerstedt anstießen, für die Konzeption und Ausrichtung der Bundeswehr hatten. In seinen Ausführungen „Kolberg – Tauroggen – Breslau: Rezeption und geschichtspolitische Deutung der Napoleonischen Kriege in den preußischen Ostprovinzen“ skizziert Roland Gehrke schließlich anhand von Kohlberg 1807, Tauroggen 1812 sowie Breslau 1813, wie disparat und auf vielfältigste Arten anschlussund missbrauchsfähig die Erinnerung in den diversen regionalen und historischen Kontexten in den deutschen Ostgebieten war und ist. Für West- und Südeuropa unterstreicht Hans-Ulrich Thamer in seinem Aufsatz „Ein ruhmreicher Untergang? Die Niederlage des Helden und der Napoleon-Mythos in der französischen Erinnerungskultur“ die große Bedeutung der Schlacht von Waterloo als Signum des Endes der Herrschaft Napoleons und der revolutionären Veränderungen. Die Vielgestaltigkeit des Erinnerns an diese Ereignisse zeigt sich in der französischen Geschichte an zahlreichen Interpretationen und Bezügen; nicht selten diente die Niederlage hierbei den unterschiedlichsten politischen Lagern als Ausgangspunkt einer nationalen Erneuerung oder Revancheplänen. Im zweiten Beitrag dieses Abschnitts beleuchtet Matthias Schnettger die Konnotation, die die Kriege für Italien hatten, wobei er eine Interpretation als Befreiung mehr als eine Befreiung durch die, nicht von der napoleonischen Herrschaft verstanden wissen will. In seinem Beitrag „Im Schatten des Risorgimento. Die Napoleonischen Kriege in der italienischen Erinnerung“ stellt er exemplarisch einzelne italienische Erinnerungsorte vor, verdeutlicht aber, dass sie selten eindeutig positiv oder negativ aufgeladen waren und im Konkurrenzfall ohnehin immer hinter dem Gedenken an das Risorgimento zurückstanden.
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Innerhalb des zweiten Themenfeldes, kulturelle (trans-)nationale Erinnerungsformen, diskutiert Andreas Linsenmann in seinem Beitrag die musikalischen Bezüge zu den Napoleonischen Kriegen in Alberto Franchettis Oper Germania, Ludwig van Beethovens Wellingtons Sieg und Die Schlacht bei Vittoria (op. 91) sowie Peter Tschaikowskys Ouverture Solennelle 1812 (op. 49). Alle weisen starke transnationale Anlehnungen auf und waren in unterschiedlichem Maße durch Erinnerungsgehalte dieser Kriege aufgeladen. Ausgewählte literarische Beispiele der Völkerschlacht bei Leipzig rücken ins Zentrum der Untersuchung ‚Leipzig! Leipzig! hören wir’s erschallen…‘ Die literarische Rezeption der Völkerschlacht vom 19. bis zum 21. Jahrhundert“ von Nikolas Immer, der die Instrumentalisierungen und dahinterliegenden politischen Motive der Werke freilegt. Norbert Parschalks Studie „Tirols Erhebung gegen Bayern und Franzosen im Jahre 1809 – Andreas Hofer: Vom ,ehrwürdigen Helden‘ zur ,sympathischen Comic-Figur‘ “ führt dem Leser die wachsende Bedeutung von Comics und Graphic Novels anhand des Comics Andreas Hofer. Eine illustrierte Geschichte für die Erinnerung historischer Ereignisse vor Augen. Er belegt hierbei, wie nachhaltig methodisch neue Zugangsweisen zur Entmystifizierung und Historisierung von historischen Personen und Ereignissen beitragen können. In einer abschließenden Bilanz werden die Befunde noch einmal in den Zusammenhang des europäischen Erinnerungsortes eingeordnet und Sinn und Nutzen dieses Ansatzes anhand der Ergebnisse diskutiert. An dieser Stelle danken die Herausgeberinnen der Stiftung Kulturwerk Schlesien e.V. (Würzburg) als Mitveranstalterin der Mainzer Tagung.93 Sie entstand in Anknüpfung an eine Tagung vom 31. Mai bis 2. Juni 2013 in Würzburg zur Bedeutung Schlesiens als Ausgangspunkt und Schauplatz der Befreiungskriege. Die Stiftung unterstützte von Anfang an die Idee der Weitung hin zu einer europäischen Perspektive. Insbesondere sind hier die damalingen Vorstandsmitglieder Herr Dr. Dietrich Meyer und Herr Johannes Schellakowsky, der Geschäftsführer der Stiftung Herr Dr. Ulrich Schmilewski sowie die Sekretärin Frau Anja Weismantel zu nennen. Ein herzlicher Dank gilt den Arbeitsbereichsleitern des Historischen Seminars der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, die die Tagung und den Tagungsband von Anfang an nicht nur 93 Die Beiträge dieser Tagung sind abgedruckt im JAHRBUCH SCHE GESCHICHTE UND KULTUR 53/54 (2012/13).
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FÜR SCHLESI-
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finanziell durch Zuschüsse der Arbeitsbereiche Geschichtsdidaktik und Zeitgeschichte, sondern auch konzeptionell durch zielorientierte und inspirierende Gespräche mit Frau Professorin Meike Hensel-Grobe und den Herren Professoren Michael Kißener, Jan Kusber, Hans-Christian Maner, Jörg Rogge und Matthias Schnettger sowie thematisch durch ihre Mitwirkung an der Tagung und/oder am Tagungsband unterstützt haben. Besonders gedankt sei an dieser Stelle all den Referenten und Autoren, die durch ihre Beiträge die Tagung bzw. den Tagungsband bereichert haben.94 Ein besonderes Dankeschön geht an den Forschungsschwerpunkt Historische Kulturwissenschaften an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, der den Druck des vorliegenden Tagungsbandes großzügig finanziert und in seine Reihe ,Mainzer Historische Kulturwissenschaften‘ aufgenommen hat. An erster Stelle sind hier ihr Sprecher Herr Professor Dr. Jörg Rogge und die Mitarbeiterinnen der Geschäftsstelle Frau Katharina Müller-Bongard und Frau Davina Brückner zu nennen. Herrn Gero Wierichs vom Transcript-Verlag (Bielefeld) sind wir für die zuverlässige Betreuung in allen organisatorischen Fragen der Drucklegung ebenso verbunden wie Frau Ines Mergenhagen (München), die flexibel und kompetent den Satz des Bandes übernommen hat.
Quellen und Literatur BERGER, STEFAN/SEIFFERT, JOANA (Hg.), Erinnerungsorte. Chancen, Grenzen und Perspektiven eines Erfolgskonzeptes in den Kulturwissenschaften (Veröffentlichungen des Instituts für Soziale Bewegungen, Schriftenreihe A, Darstellungen 59), Essen 2014. AKALTIN, FERDI, Die Befreiungskriege im Geschichtsbild der Deutschen im 19. Jahrhundert, Frankfurt am Main 1997. ASSMANN, ALEIDA, Geschichte im Gedächtnis, Von der individuellen Erfahrung zur öffentlichen Inszenierung (Krupp-Vorlesungen zur Politik und Geschichte am Kulturwissenschaftlichen Institut im Wissenschaftszentrum Nordrhein-Westfalen 6), 2. Aufl., München 2014. 94 Zur Tagung selbst siehe die Berichte von FICHTNER/KRÄMER, 2015, und HANSTEIN/SCHMEHL, 2015.
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Caroline Klausing und Verena von Wiczlinski DIES.,
Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur. Eine Intervention, München 2013. DIES., Gedächtnis, in: Lexikon der Geschichtswissenschaft. Hundert Grundbegriffe, hg. von STEFAN JORDAN, Stuttgart 2002, S. 97-101. BETHAN, ANIKA, Napoleons Königreich Westphalen, Lokale, deutsche und europäische Erinnerungen (Die Revolutions- und napoleonischen Kriege in der europäischen Erinnerung 2), Paderborn 2012. BLANNING, TIM, 18. Juni 1815: Waterloo, in: Erinnerungstage. Wendepunkte der Geschichte von der Antike bis zur Gegenwart, hg. von ÉTIENNE FRANÇOIS/UWE PUSCHNER, München 2010, S. 163-186. BOCK, HELMUT, Napoleon und Preußen, Sieger ohne Sieg, Berlin 2013. BURGDORF, WOLFGANG, Der Kampf um die Vergangenheit. Geschichtspolitik und Identität in Deutschland nach 1813, in: Krieg und Umbruch in Mitteleuropa um 1800. Erfahrungsgeschichte(n) auf dem Weg in eine neue Zeit (Krieg in der Geschichte 44), hg. von UTE PLANERT, Paderborn 2009, S. 333-357. BUSCHMANN, NIKOLAUS, „Im Kanonenfeuer müssen die Stämme Deutschlands zusammen geschmolzen werden“. Zur Konstruktion nationaler Einheit in den Kriegen der Reichsgründungsphase, in: Der Krieg in den Gründungsmythen europäischer Nationen und der USA, hg. von DEMS., Frankfurt am Main/New York 2003, S. 99119. CSÁKY, MORITZ, Transnationales Erinnern – ein hybrides Phänomen? Kultur als Kommunikationsraum, in: Deutsch-Polnische Erinnerungsorte, Reflexionen, 4, hg. von HANS HENNING HAHN, Paderborn u. a. 2013, S. 31-48. DEN BOER, PIM u. a. (Hg.), Europäische Erinnerungsorte, 3 Bde., München 2012a. DIES., Einleitung, in: Europäische Erinnerungsorte 1: Mythen und Grundbegriffe des europäischen Selbstverständnisses, hg. von DENS., München 2012b, S. 7-12. DÖRFLER, SEBASTIAN, „Der reguläre Krieg ist vorüber – der Nationalkrieg möge gewinnen!“ Imaginationen der Befreiungskriege in Preußen und Russland 1806-1813, in: Von Breslau nach Leipzig Wahrnehmungen, Erinnerung und Deutung der Antinapoleonischen Befreiungskriege (Neue Forschungen zur Schlesischen Geschichte 24), hg. von ROLAND GEHRKE, Köln u. a. 2014, 11-47.
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Politische und nationale Erinnerungsformen
1812 und die Folgen: Russlands Sieg über Napoleon als Erinnerungsfigur(en) JAN KUSBER Einführung Der Plural im Titel meines Beitrages ist kein Fehler. Erinnerung ist kein eindimensionaler Prozess, wie die interdisziplinäre Diskussion zu diesem Forschungszweig der Geschichts- und Kulturwissenschaften in den letzten Jahrzehnten gezeigt hat.1 Sie in ihrer Wirkung und Reichweite zu beschreiben wird umso schwieriger, je größer die Gruppe ist, auf die diese Erinnerung bezogen wird. Konzepte, wie ein Sample der Erinnerungsorte einer Nation, bilaterale oder gar europäische Erinnerung sind durchgespielt und sicher auch zu Recht kritisiert worden,2 behalten aber als heuristisches Element ihren Wert. Er liegt nicht zuletzt darin begründet, dass Erinnerungskonstruktionen, ob staatlicherseits befördert oder auch nicht, auf ihre argumentative Funktion in jeweils spezifischen historischen und gegenwärtigen Kontexten befragt werden können. Um eine solche Befragung soll es nachfolgend gehen. Im Falle der russischen Siege über Napoleon in den Jahren 1812 und 1813/14 sind mehrere Schichten der Erinnerung zu berücksichtigen, die den Weg vom
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Überdruss und Kritik an dieser nunmehr jahrzehntealten und verzweigten Forschungsrichtung diskutiert u.a. bei: ASSMANN, 2013. BOER, 2012a, 2012b, 2012c; HAHN/TRABA, 2015a, 2014, 2012, 2013, 2015b.
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kommunikativen ins kulturelle Gedächtnis gefunden haben. Sie möchte ich in fünf Vorbemerkungen knapp skizzieren. 1. Die Ereignisse des Jahres 1812 bedeuteten, dass erstmals seit der „Zeit der Wirren“, ein Krieg in kernrussisches Gebiet und in die Hauptstadt Moskau getragen wurde. Zuletzt war Moskau zweihundert Jahre vor Napoleon und seiner Grande Armée besetzt worden. Während der Smuta, im Anschluss an das Ende des Rurikidenhauses, hatten bürgerkriegsähnliche Zustände und falsche Zaren dazu geführt, dass Ende 1611 polnische Truppen in den Kreml einzogen. Napoleons Strategie war also bekanntermaßen nicht originell. Auch der schwedische König Karl XII. hatte versucht seinen Gegner Peter I. in dessen eigenem Reich zu schlagen, war damit jedoch 1709 im ukrainischen Poltava, also bereits an der Peripherie gescheitert. Es ist schwer zu sagen, ob die Ereignisse in der „Zeit der Wirren“ oder die Siege über Karl XII. im historischen Gedächtnis größerer Gruppen der Bevölkerung jenseits der Bildungseliten 1812 noch präsent waren.3 2. Der Krieg von 1812 war vielleicht kein totaler, aber doch in großem Maße ein Volkskrieg, in dem nicht nur russische Heereskorps operierten, sondern auch irreguläre Verbände mit Partisanentaktik. Bauern und Städter kamen dem von den Franzosen und ihren Verbündeten geübten „Prinzip der verbrannten Erde“ teils zuvor und waren zivile Opfer und Kombattanten zu gleich. Smolensk, jene in der frühen Neuzeit so umkämpfte Stadt zwischen Polen-Litauen und Russland, und vor allem Moskau lagen in Schutt und Asche. Viktor Taki hat jüngst gezeigt, in welchem Maße dieser Krieg nach den Erfahrungen des 18. Jahrhunderts als ein Krieg ohne Regeln begriffen wurde.4 3. Mehr als 100.000 Soldaten des Zarenreiches nahmen die Verfolgung Napoleons auf. Sie fochten gegen Napoleon bei Leipzig, belagerten u. a. mehrere Wochen das französische Bollwerk Mainz und kamen bis nach Paris. Während für die multiethnischen Eliten des Zarenreiches, den verwestlichten Adel, ein „Europaerlebnis“ nichts Ungewöhnliches darstellte, war es für die sogenannten „Kosaken“, wie die russischen 3 4
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HAUSMANN, 2009/10. TAKI, 2014, S. 283-290.
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Soldaten in Hamburg, Mainz oder Kaub pauschal genannt wurden, in dieser Massierung neu und nicht ohne Wirkung. Nicht zu Unrecht hat der große Jurij Lotman von der „Generation von 1812“ gesprochen und meinte damit eine unhintergehbare Erfahrung, über deren Reichweite in der russischen Gesellschaft diskutiert und welche freilich auf ganz unterschiedliche Weise in Erinnerung übersetzt wurde.5 4. Diese ersten drei Kontexte wirkten natürlich auch auf Alexander I. und seine Beraterinnen und Berater selbst. Der Kaiser hatte ein ambivalentes Verhältnis zu seinem Gegner, und die Preisgabe Moskaus war eine Entscheidung, die ihm, wie wir nicht nur aus seinem Briefwechsel mit seiner einflussreichen Schwester Ekaterina Pavlovna wissen, schwergefallen war und ihn in eine Depression führte, von der er sich auch nicht erholen konnte, als er mit seinem Einzug in Paris sowie auf dem Wiener Kongress zum „Retter Europas“ wurde, oder besser, von seiner internationalen Beraterschar medial dazu gemacht wurde.6 5. Diese Berater begannen bereits im Moment der napoleonischen Invasion im Zarenreich das zu betreiben, was modern als Geschichtspolitik beschrieben wird. Alexanders Manifeste in Anbetracht der Eroberung Moskaus, verfasst durch den konservativ-romantischen Admiral Šiškov, setzten den Ton:7 Sie wandten sich an alle Untertanen, und zwar in einem Russisch, das historisch sein sollte und doch in Teilen die Fiktion seines Autors war. Dies war der Beginn einer differenzierten und differierenden medialen Inszenierung, an der viele Elitenmitglieder mitwirkten und die bis in die Gegenwart anhält. Diese Vorbemerkungen im Blick behaltend, möchte ich nun in zwei Schritten vorgehen: Ich werde in einem ersten Abschnitt nach den Schichten der Erinnerung an das Jahr 1812 in Russland fragen und im zweiten nach denen an die „Rettung Europas“ durch Alexander I. und seine Heere 1813/1814. In der Zusammenschau will ich kurz diskutieren, welche Zusammenhänge zwischen beiden bestehen.
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LOTMAN, 1997; KATZER, 2011. MARTIN, 1997; KUSBER, 2012b. Siehe: PALICYN, 1912.
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1812 Von einer Reise durch Zentralrussland zurückgekehrt, klagte A. A. Pisarev 1817: „Nirgends habe ich auf meinem Wege irgendein Denkmal für die gefunden, die im Krieg für das Vaterland gefallen sind, oder für die Helden, die sich den Klauen des gierigen Todes mit Ruhm entwunden haben, die viele Städte und Dörfer von den fremdländischen Frevlern der Heiligen Rus’ im Jahre 1812 befreit haben.“8 Für Pisarev war dieser Umstand im Lichte der Leistungen des russischen Volkes ein Unding.9 Der Kaiser hielt es jedoch für seine Hauptpflicht, nicht den Untertanen, sondern dem Himmel zu danken. Diese Sicht war in mancher Beziehung typisch für Alexander. Der Kaiser hing einer universal-christlichen Orientierung an, die der um sich greifenden national-patriotischen Richtung entgegenstand. Im Falle von Gottes Hilfe, d. h. im Falle des Sieges, hatte der Zar Gott versprochen, ein Denkmal zu errichten, das die Menschheitsgeschichte noch nicht gesehen habe. Er plante in Moskau den Bau einer gewaltigen Kathedrale in Form eines an das römische Pantheon erinnernden Tempels, die freilich zu seinen Lebzeiten nicht realisiert wurde. Formen und Symbolik des Tempels sollten die europäische Welt befestigt durch die „Heilige Allianz“ repräsentieren und in den Betrachtern die entsprechenden Gefühle und Zuschreibungen evozieren. Da der russische Monarch nach 1812 in Europa eine Art christliches Metaimperium zu errichten trachtete, sollte die ungewöhnliche Kathedrale, Christus dem Erlöser gewidmet, die kulturelle Komplexität und die Ideeneinheit des neuen Systems widerspiegeln.10 Die Errichtung von Kirchenbauten als Zeichen der Dankbarkeit für historische Siege war im Zarenreich eine jahrhundertealte Tradition: So wurde beispielsweise die Kasaner Kathedrale am Roten Platz um 1625 anlässlich der Vertreibung der polnisch-litauischen Besatzer errichtet; die ebenfalls am Roten Platz stehende Basilius-Kathedrale hatte Iwan der Schreckliche bis 1561 zum Andenken an seinen Sieg über das Khanat Kasan erbauen lassen.11 8 9 10 11
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Zitiert nach: TURČIN, 2001, S. 406. Zum Kontext: THADEN, 1990. VIŠLENKOVA, 2012, S. 127-131. Zu diesem Kirchenbau und dem architektonischen Ensemble des Roten Platzes: BRUNOV, 1998.
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Abb. 1: Entwurf der Kathedrale auf den Sperlingsbergen von Alexander Witberg, 1817. https://upload.wi kimedia.org/wiki pedia/commons/e /ed/Vitberg_Cath edral.gif, 2.1.2016 Ort des sakralen Pantheons sollten die 70 Meter hohen Sperlingsberge sein, wodurch die Kathedrale innerhalb Moskaus praktisch von überall aus sichtbar gewesen wäre. Für Entwürfe der Kirche wurde 1813 ein Ideenwettbewerb veranstaltet, den schließlich Alexander Witberg (1787-1855), ein junger und bis dato unbekannter Maler und Architekt schwedischer Abstammung, gewann. Sein Entwurf sah ein für Russland bis dahin einmaliges, mit ausgedehnten säulengestützten Portalen versehenes Kirchenbauwerk von fast 250 Metern Höhe vor, dessen Kuppelkonstruktion an den Petersdom in Rom und auch an die 1811 fertiggestellte Kasaner Kathedrale von St. Petersburg erinnern sollte. Unter den Portalen der Kathedrale sollten alle Gefallenen des Krieges von 1812 ihre letzte Ruhestätte finden. Im Oktober 1817 erfolgte die feierliche Grundsteinlegung. Allerdings konnte Witbergs Entwurf nicht verwirklicht werden. Zum einen erwies sich der Baugrund auf den Sperlingsbergen im Nachhinein als zu weich und instabil für ein Gebäude dieses Ausmaßes, zum anderen verzögerte Korruption den Bau. Alexander I. scheiterte schließlich mit seiner Vision, als sein Nachfolger den Bau abbrechen ließ. Nikolaus I. setzte auf eine andere Formensprache und ließ von seinem Architekten Konstantin Thon das Gedenken neu deuten und das „europäische Projekt“ Alexanders verabschieden. Das Projekt sah als Standort für die Kathedrale ein direkt am linken Moskva-Ufer und in fast unmittelbarer Nachbarschaft zum Kreml gelegenes Grundstück vor. Architektonisch unterschied sich der neue Entwurf vom alten erheblich: Die Kathedrale sollte an die traditionelle,
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russisch-byzantinische Bauweise für orthodoxe Sakralbauten anknüpfen und sich damit harmonisch in das Gesamtbild des Moskauer Stadtkerns einfügen. 1839 wurde am Moskva-Ufer der Grundstein gelegt. Finanziert wurde der Bau, der insgesamt bis zu 15 Millionen Rubel kostete, sowohl mit Mitteln aus dem Staatshaushalt als auch durch zahlreiche private Spenden von Gläubigen. Wegen der hohen Komplexität des Entwurfs und der schwierigen geologischen Bedingungen, dauerte es von der Grundsteinlegung bis zur Fertigstellung des Gotteshauses 44 Jahre. Die feierliche Einweihung der Christ-Erlöser-Kathedrale war ursprünglich für das Jahr 1881 geplant gewesen, da die Kathedrale zu dieser Zeit bereits weitgehend fertig war. Allerdings verhinderte die Ermordung Zar Alexanders II. im März jenes Jahres die Zeremonie. Am 20. August 1882 wurde in dem Gebäude Pëtr Čajkovskijs Ouvertüre 1812 mit großem Erfolg uraufgeführt. Erst danach, am 26. Mai 1883, fand die Einweihung zusammen mit der Krönung Alexanders III. statt. Begleitet wurde sie von einem Feuerwerk und einem Glockengeläut sämtlicher Moskauer Kirchen. Gab es zuvor keine Erinnerung an Helden des „vaterländischen Krieges“, wie Alexander Pisarev 1817 meinte? Schon um 1803 kam unter russischen Intellektuellen der Gedanke auf, den Führern des Volksaufgebotes gegen die polnische Besatzung im Kreml 1612/1613, dem Kaufmann Kuzma Minin und dem Fürsten Dmitrij Požarskij, ein Denkmal zu setzen,12 und ab 1808 kursierten erste Entwürfe des Denkmals von Ivan Martov.13 Das ohnehin große allgemeine Interesse am Denkmal erreichte nach dem Sieg gegen Napoleon 1812 ungeahnte Ausmaße. Die Russen sahen die Skulptur als Symbol des Sieges. Die Tagespresse erstattete regelmäßig Bericht über den Fortgang der Arbeiten und widmete dem Denkmal immer wieder große Artikel, in denen u. a. die Technologien beschrieben wurden, die bei der Arbeit am Denkmal zum Einsatz kamen. Fertiggestellt wurde das Denkmal in Sankt Petersburg und von dort über Nižnij Novgorod, wo Minin und Požarskij ihren Volksaufstand begannen, nach Moskau verschifft. Im Februar 1818 wurde das Denkmal schließlich in einer feierlichen Zeremonie mit Militärparade enthüllt. Es war das erste privat finanzierte 12 Und zum Folgenden: SOKOL, 1999, S. 31-33. 13 Zu seiner Person nicht ganz zuverlässig: KOVALEVSKAJA, 1938.
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Personendenkmal in Russland und kann in den Zuschreibungen durchaus als Kritik an den Plänen für das Pantheon Alexanders I. gelesen werden. Zugleich wurde der Bezug zur Smuta hergestellt, der in den großen Linien der vorrevolutionären, der sowjetischen und der postsowjetischen Historiografie, erst recht aber in den Medien bis in die Gegenwart immer wieder gezogen wurde. „Dem Bürger Minin und dem Fürsten Poscharski, das dankerfüllte Russland, 1818“, lautete die Inschrift auf dem Denkmal. Ausgehend von dieser Setzung des Gedenkens − nicht von unten, aber durch die Elite jenseits der Autokratie − wurden lokale und regionale Gedenksteine und Denkmäler gesetzt, und erste improvisierte Museen für Borodino und Orte, an denen sich etwa der russische Feldherr Michail KutusovSmolenskij aufgehalten hatte, entstanden. Staatliches und gesellschaftlich initiiertes Gedenken fanden schließlich in den Zeremonien um die Christ-Erlöser-Kathedrale zusammen, zugleich ging aber eine europäische Dimension des Gedenkens, wie sie Alexander I. auf christlicher Basis zu implementieren angedacht hatte, verschüttet. In den umfangreichen Feierlichkeiten zum 100. Jahrestag 1912 wurde dies großmaßstäbig sichtbar, und auch Feierlichkeiten (und historische Filmproduktionen) in der Sowjetzeit wurden ganz in diesen Kontext gestellt. Der deutsche Überfall auf die Sowjetunion steigerte die Erfahrungen nicht nur in der Rhetorik vom „Vaterländischen“ zum „Großen Vaterländischen Krieg“. Historiker beflügelten dies in ihren Texten, etwa wenn der berühmte Evgenij Tarle Napoleon zum Brandstifter Moskaus machte.14 Eine neue Dimension erreichte der Transport eines nationalen Geschichtsbildes im Rahmen der Feierlichkeiten zum 200. Jubiläum des russischen Sieges über Napoleon im Jahre 2012. Dieser „Vaterländische Krieg“ wurde stets in Beziehung zum „Großen Vaterländischen Krieg“ 1941 bis 1945 gesetzt, auch im staatlichen Gedenken. Die Feierlichkeiten überstiegen vielleicht sogar jene zum hundertjährigen Jubiläum 1912 und arbeiteten doch mit den gleichen Elementen, bis hin zum Reenactment.15
14 TARLÉ, 1951. 15 Zu den Feiern 1912: SCHNEIDER, 2001; TSIMBAEV, 2004.
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Der Plan der staatlichen Jubiläumsaktivitäten im Jahre 2012 war umfangreich.16 Er verzeichnete zahlreiche Projekte und ihre Ausführungsorte. Er war unterteilt in zehn Bereiche:
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die zentralen Jubiläumsmaßnahmen Gedenkstättenarbeit an Erinnerungsorten Rekonstruktion und kompletter Nachbau von verlorenen historischen und kulturellen Denkmälern Museumsaktivitäten Veröffentlichung von Dokumenten und Material, Herausgabe von wissenschaftlicher und belletristischer Literatur, Restauration archivierter Dokumente und deren Ausstellung wissenschaftliche, pädagogische und kulturelle Bildungsaktivitäten informationelle Unterstützung und Zusammenarbeit mit den Medien festliche Aktivitäten Festivals, Wettbewerbe, Paraden, Zusammenkünfte und Wiederaufbau sowie Aktivitäten im Ausland.
Das staatliche Gesamtbudget für diese Pläne betrug in den Jahren 2009 bis 2012 umgerechnet etwas mehr als 57 Millionen Euro. Die größten Investitionen entfielen auf die Arbeit an Gedenkstätten und Erinnerungsorten sowie auf die zentralen Jubiläumsmaßnahmen. Eine zentrale Rolle innerhalb der staatlichen Maßnahmen kam also der Restauration von historischen und kulturellen Erinnerungsorten zu, die oftmals mit einer Projektdokumentation verbunden wurde. Dazu gehörten teils neue Denkmäler, auch für Regimenter, Gedenkstätten für die Soldaten von 1812, Kriegsgräber sowie zivile und militärische Bauten, die für den Krieg 1812 eine wichtige Rolle gespielt hatten. So wurden neben Bauten in Borodino auch das von Bauern errichtete Denkmal in Tarutino oder die Kremlmauer in Smolensk restauriert. Zu den zentralen Jubiläumsmaßnahmen gehörte der Bau eines Ausstellungs-Pavillons am Staatlichen Historischen Museum in Moskau für Ausstellungsobjekte aus dem „Vaterländischen Krieg“, die Herausgabe einer dreibändigen Enzyklopädie unter dem Titel Der Krieg 16 Und zum Folgenden: MÜLLER, 2012.
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von 1812 und die Befreiungskampagne der russischen Armee von 1813 bis 1814, die Organisation der zentralen Feier des 200. Jahrestages, eine Parade von militärhistorischen Vereinen sowie die Produktion eines Spielfilms über 1812. Bei all diesen Aktivitäten war die Orthodoxe Kirche omnipräsent. Priester weihten die restaurierten Bauten und segneten die Paraden. All dies ging über die Nutzung des Religiösen im ausgehenden Zarenreich noch hinaus. Was hier auffällt, ist der machtvolle Auftritt der Orthodoxen Kirche als Identitätsstifterin und politische Akteurin in ihrem Schulterschluss mit Vladimir Putin als dem Repräsentanten der Nation, der bei den Feiern nach seiner Wiederwahl eine zentrale Rolle spielte.
1813/14 In Russland selbst ist mir kein Denkmal und kein Architekturensemble bekannt, das den Kämpfern des Europafeldzuges der Jahre 1813/14 gewidmet wäre. Während etwa in Bayern und Württemberg zahlreiche Denkmäler mit regionalem Bezug gesetzt wurden, fehlen solche in Russland. Es scheint als seien die Soldaten und Gefallenen umstandslos in die Erinnerung an 1812 inkludiert worden. Dafür hätte es ja auch manchen Anlass gegeben. Wer im Petersburger Winterpalast die Galerie von 1812 beschreitet und sich die Generäle des Jahres 1812 ansieht, erhält einen Eindruck davon, dass dieses „Who’s Who“ des Imperiums auch 1813/14 weiterkämpfte. Reguläre und Kosakenverbände, deren Verluste hoch gewesen waren, wurden jedoch neu zusammengestellt. Die russischen Soldaten, die in der Völkerschlacht von Leipzig kämpften, waren nur zu einem geringen Teil Veteranen der Schlachten von Smolensk, Borodino oder Tarutino. Für sie gab es in der Heimat jedoch kein eigenes Gedenken. Im Zuge der nahenden Fertigstellung des Völkerschlachtdenkmals in Leipzig entbrannte unter den Eliten des Zarenreiches und unter den zahlreichen Russen in Deutschland, vornehmlich den zahlreichen russischen Studierenden der Leipziger Universität, eine Debatte: Würde mit dem monumentalen Denkmal auch der russischen Soldaten bei Leipzig gedacht? 1813 hatte Alexander I. in einem generösen Akt, der seinem Selbstverständnis entsprach, das Oberkommando dem österreichischen
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Feldmarschall Schwarzenberg überlassen, nachdem Österreich kurz vor knapp die Seiten gewechselt hatte. Auch kein Kommandeur der drei Armeen Nord, Mitte oder Süd war Offizier des Zarenreiches.17 Die Debatte, die seit dem Vorschlag von Ernst Moritz Arndt, der Völkerschlacht ein Denkmal zu errichten, mit unterschiedlicher Intensität geführt wurde, war eine innerdeutsche. Während des Baus des Völkerschlachtdenkmals seit 1896 gab es Einlassungen, die nicht nur antifranzösisch waren, sondern vor dem Hintergrund der Medienschlacht gegen den Panslavismus auch antirussische Spitzen erhielten. So entstand die russische St.-Aleksij-Gedächtniskirche18 in Leipzig 1912/1913 in nur zehnmonatiger Bauzeit aus Anlass der Hundertjahrfeier der Völkerschlacht als Denk- und Ehrenmal. Mit der Entscheidung für einen Kirchenbau statt einer zunächst geplanten Siegessäule wurde die Erinnerung an die 22.000 gefallenen russischen Soldaten über die Demonstration des Waffensieges gestellt. Schon deshalb nimmt die Gedächtniskirche eine Sonderstellung unter den Denkmälern ein. Die Kirche ist eine freie Nachbildung der von 1530 bis 1532 erbauten Auferstehungskirche in Kolomenskoe, welches heute ein Stadtteil Moskaus ist. In Kolomenskoe wurde seinerzeit erstmals der Typus einer russischen Zeltdachkirche verwirklicht. Die Nachbildung wurde als verputzter Ziegelbau und der Turmhelm als Eisenbetonskelettbau ausgeführt. Der Architekt der Kirche war Vladimir Pokrovskij (1871-1931), der auch in Sankt Petersburg, Nižnij Novgorod und Moskau gebaut hatte. Der Bau der Leipziger Kirche mit sechzehnseitigem Zeltdach wurde am 28. Dezember 1912 begonnen. Nach zehnmonatiger Bauzeit fand genau 100 Jahre nach der Völkerschlacht, am 17. Oktober 1913, nota bene am Tage vor der Einweihung des Völkerschlachtdenkmals, die Konsekration und am 18. Oktober 1913 die Kirchenweihe statt. Die Baukosten betrugen eine Mio. Goldmark bzw. 250.000 Rubel, von denen mehr als die Hälfte aus Spenden finanziert wurde. Einen vereinfachten, verkleinerten und zur Ausführung bestimmten Entwurf nach Pokrovskijs Originalplänen realisierten die Leipziger Architekten Georg Weidenbach und Richard Tschammer am 7. Dezember 1912. Der 55 Meter hohe Turm mit 17 LIEVEN, 2009, S. 426-435. 18 FIEDLER/MAGIRIUS, 1995, S. 925-946; Angaben zur Geschichte auch auf der Homepage der Kirche: http://www.russische-kirche-l.de/deutsch/l-ho me-allesd.htm, 2.1.2016.
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Abb. 2: Die St.-Alexi-Gedächtniskirche zur Russischen Ehre, Ansicht von Süden, https://de.wikipedia.org/wiki/Russische_ Gedächtniskirche#/media/File:Leipzig_ Russische_Gedaechtniskirche.jpg, 2.1.2016. Foto: Dirk Goldhahn seiner vergoldeten Zwiebelkuppel nach altrussischem Vorbild ist weithin über Leipzig zu sehen. An die eigentliche Bestimmung der Kirche erinnern alte Kosakenstandarten und acht großen Tafeln: Die Standarten wurden in der Völkerschlacht mitgeführt; auf den Tafeln sind die an den Kämpfen beteiligten Regimenter verzeichnet. Ein Laubengang führt um die Kirche herum zu der an der Rückseite gelegenen Gruft, der eigentlichen Gedenkstätte für die Gefallenen. Ein Bild zeigt Marschall Michail Kutusov, der die russischen Truppen nach glänzenden Erfolgen über Napoleon nach Deutschland geführt hatte, aber noch vor der Völkerschlacht, im April 1813, in Schlesien verstarb. Nach dem Zweiten Weltkrieg brachten Angehörige der Roten Armee an der Kirchenmauer eine Tafel mit der Inschrift an: „Ewiger Ruhm den Helden, die für die Freiheit und Unabhängigkeit unseres Vaterlandes gefallen sind. 1813 bis 1945.“ Die Russische Kirche wurde 1981 – also in spätsozialistischer Zeit − als Kirchenraum (!) vollständig restauriert. Am linken und rechten Eingang zur Winterkirche befinden sich zwei Kriegsgedächtnistafeln, die in deutscher und russischer Sprache an die Völkerschlacht erinnern:19
19 Auf der Hompage der Kirche: http://www.russische-kirche-l.de/deutsch/lhome-allesd.htm, 2.1.2016.
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Dem Gedenken der 22000 russischen Krieger, gefallen für die Befreiung Deutschlands 1813 bei Leipzig. An der Völkerschlacht zu Leipzig vom 16-19 Oktober 1813 nahmen teil: Russen 127000 Oesterreicher 89000 Preußen 72000 Schweden 18000 In diesen Schlachten fielen: 22000 Russen 16000 Preußen 12000 Oesterreicher 300 Schweden. In der Inschrift wurde also aller Teilnehmer der antinapoleonischen Koalition gedacht, doch wurden das Überragende der russischen Truppen und ihre Opfer herausgestrichen. Es zeigt sich also, dass der Bau der Kirche zur Parallelisierung des Gedenkens benutzt wurde und dieses, schaut man auf Geschichtsschreibung sowie auf die (wenigen) Jubiläumskonferenzen zu den Befreiungskriegen, die dort immer als 6. Koalitionskrieg bezeichnet werden, hält an.
Fazit Woran liegt es nun, dass die nationale Lesart des Jahres 1812, aber auch der Jahre 1813/14 in Russland so stark geworden ist und bleibt? Die Ursachen sind vielfältig, manche habe ich bereits angedeutet. Einen wesentlichen Urheber habe ich jedoch noch nicht genannt: Lev Tolstoj, der weitaus größte Mythenschöpfer in Bezug auf das Jahr 1812. Für ihn
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sind in seinem monumentalen Epos Krieg und Frieden elementarer russischer Patriotismus und der Glaube an Gott die Elemente, welche die Verteidiger der Heimaterde zusammenhielten. Er zeichnete Kutusov als Verkörperung von Patriotismus und Weisheit der Russen und stellte diese der Idiotie sogenannter professioneller Militärexperten gegenüber, die für ihn Deutsche und Pedanten waren. Generäle wie Bagration, Barclay de Tolly oder Wittgenstein wurden durch Tolstoj, ebenso wie Zar Alexander I., aus der Geschichte des Jahres 1812 herausgeschrieben oder negativ markiert. In seinem Geschichtsbild findet sich wenig Raum für ein multiethnisches russisches Imperium. Stattdessen feierte er die moralische Stärke, die Tapferkeit und den Patriotismus der einfachen Russen. Am bedeutsamsten für die Erinnerung an 1812 ist in diesem Kontext, dass Tolstojs berühmter Roman bereits im Dezember 1812 endet, als der Krieg erst halb vorbei ist und manche der großen Herausforderung noch bevorstehen. Der lange, harte, am Ende aber siegreiche Weg von Wilna (Dezember 1812) über Leipzig (Oktober 1813) bis nach Paris (März 1814) spielt in Tolstojs Werk keine Rolle. Krieg und Frieden ist, um Nikolaus Katzer aufzunehmen, insofern ein europäischer Erinnerungsort, als er diese nationale Interpretation auch in die internationale Historiographie getragen hat. In einer jubiläumsbedingten Publikation von Anka Muhlstein dient Tolstoj als einzige „russische Quelle“.20 Auch im derzeitigen nationalen Gedenken ist 1813/14 völlig marginalisiert. Auf eine Publikation in russischer Sprache über die Jahre 1813/14 kommen etwa 100 über das Jahr 1812. Der jüngste Versuch, eine große Geschichte der gesamten Zeit von 1812 bis 1814 zu schreiben, die populär und unwissenschaftlich zugleich abgefasst sein soll, widmet ganze 490 Seiten dem Jahr 1812 und lediglich 50 den längeren und komplizierteren Feldzügen der beiden Folgejahre. Dies ist, schaut man auf die gegenwärtige Geschichtspolitik, nur allzu verständlich. Alexander I. konzipierte ein monarchisches, autokratisch dominiertes Europa, das zwar scheiterte, aber doch positiv konnotiert war.21 Für manche Intellektuelle Russlands im 19. Jahrhundert hatte Europa, gleichgesetzt mit dem Westen, durchaus eine Attraktion als Ort des
20 KATZER, 2012; MUHLSTEIN, 2009. 21 KUSBER, 2012a.
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Fortschritts und als Gegenbild zur Autokratie – etwa bei den Dekabristen oder den Westlern. In der gegenwärtigen Geschichtspolitik hat Europa den Stellenwert eines Feindes. Dazu tragen verschiedene Faktoren bei. Da ist zum einen der Umstand, dass, so eine russische Lesart aus der Perspektive der russischen Eliten der Ereignisse nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, die Europäische Union und die NATO Angebote eines gemeinsamen Weges ausgeschlagen hätten. Zum anderen zeichnet die Orthodoxe Kirche, die bei den Feierlichkeiten zu 1812 ja omnipräsent war, Europa gleichsam als Gegenbild zur sogenannten russischen Welt (Russkij mir) und als Ort des Verfalls.22 Damit greift sie alte Stereotype über Europa auf, die aber in der politischen Situation der Jahre 2012/13 gelegen kamen. Der russische Präsident Vladimir Putin und sein Ministerpräsident Dmitrij Medvedev haben das Gedenken an 1812 genutzt, um einen eigenen nationalen russischen Weg und ebenso ein integratives Narrativ zu postulieren, in das alles gehört, was die russische Geschichte „groß“ gemacht hat − also das Jahr 1612, das Jahr 1812, den Sieg im „Großen Vaterländischen Krieg“ und auch die Siege 1813/1814, aber nur insoweit, als sie national gedeutet werden können. In diesem Sinne ist das russische Gedenken an 1812 kein europäisches und in dieser Sicht das Jahr 1812, wie auch der Sieg über Napoleon 1813 in der Völkerschlacht bei Leipzig, kein europäischer Erinnerungsort.
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22 GASIMOV, 2012.
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„Ein Beispiel gab uns Bonaparte“? Die Napoleonischen Kriege in der kollektiven Erinnerung der Polen CHRISTOF SCHIMSHEIMER „[…] Wenn Ihr den Säbel nicht ergreift und kein Pferd besteigt, Wenigstens mit den Kameraden fröhlich trinken werdet Ihr doch Auf die Gesundheit Napoleons, auf Polens Hoffnungen!“1
Einleitung Napoleon I. Bonaparte nimmt in der kollektiven Erinnerung der Polen einen herausragenden Platz ein. Sein Name steht für eine ganze Epoche mit ihrer Kultur, ihren Umwälzungen und im Besonderen mit ihren Hoffnungen auf die nationale Befreiung Polens in Zeiten der Staatslosigkeit. Dass die Polen mit dem Vers „Ein Beispiel gab uns Bonaparte“ als weltweit einzige Nation Napoleon in ihrer aus dem Jahre 1797 stammenden Nationalhymne besingen, mag den hohen Stellenwert des französischen Kaisers unterstreichen, doch verdeutlicht die Geschichte des 1
Die Übersetzungen ins Deutsche stammen vom Verfasser dieses Artikels: „‚[…] Jeśli szabli nie weźmiesz i na koń nie siędziesz, / Przynajmniej z kolegami wesoło pić będziesz / Zdrowie Napoleona i Polski nadzieje!’” MICKIEWICZ, 1984, S. 341.
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Liedes auch, dass die polnische Wahrnehmung dieser historischen Figur bereits zu ihren Lebzeiten durch ein nationales Prisma gebrochen wurde. Vor einem solchen Hintergrund werden auch die Napoleonischen Kriege bewertet: Durch die Teilnahme polnischer Legionäre auf Seiten Frankreichs gelten diese kriegerischen Auseinandersetzungen zusammen mit dem Ersten Koalitionskrieg als Teil des Kampfes für die Befreiung Polens. Diese Sichtweise stellt daher auch eine entscheidende Voraussetzung für eine spätere Herausbildung der polnischen Erinnerungskultur dar. Andrzej Nieuważny fasst die für die napoleonische Epoche prägende Einstellung im Hinblick auf die Erlangung der ersehnten Unabhängigkeit folgendermaßen zusammen: „Und da man sie [die Unabhängigkeit] nur an der Seite Napoleons und nur mit der Waffe in der Hand erkämpfen konnte, wird die napoleonische Legende vor allem mit Krieg und polnischem Militär assoziiert.“2 Zwar gab es auch zu dieser Zeit den Plan, die Freiheit der Polen auf diplomatischem Wege zu erreichen, wie es der polnische Fürst und russische Außenminister Jerzy Adam Czartoryski (1770-1861) am russischen Hofe anstrebte, doch scheiterten solche Versuche ebenfalls.3 In der kollektiven Erinnerungskultur der Polen fanden sie zudem, ganz anders als der bewaffnete Kampf, schließlich keinen Widerhall. Wie entwickelte sich nun die Erinnerung an Napoleon, die napoleonische Epoche und die damit verbundenen Kriege im kollektiven Gedächtnis der Polen von der Teilungszeit bis hin zum heutigen demokratischen Polen? Welchen hauptsächlichen Konjunkturen unterlag dieser Erinnerungskomplex in Geschichtsschreibung, Literatur und Politik? Und handelt es sich dabei gleichzeitig um einen verbindenden europäischen Erinnerungsort oder trägt etwa eine abweichende polnische Wahrnehmung ebenfalls zur Existenz einer die Völker Europas gerade trennenden Erinnerung bei? Wenn der Schriftsteller und Philosoph Tzvetan Todorov über die europäische Identität nachdenkt, stellt er zunächst fest: „So einig sich Europa in der Verurteilung Hitlers ist, so uneins ist es über Napoleon, Held für die einen, Tyrann für die anderen. 200 Jahre nach den Ereignissen gedenkt man in Paris und London der 2 3
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„A że wywalczyć ją można było tylko u boku Napoleona i tylko z bronią w ręku, legenda napoleońska kojarzy się przede wszystkim z wojną i polskim wojskiem.“ NIEUWAZNY, 1999, S. 11. ALEXANDER, 2005, S. 173-175.
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Schlacht von Waterloo auf unterschiedliche Weise.“4 Zur Beantwortung letzterer Frage vermag der Aufsatz freilich nur die polnische Perspektive als Grundlage für weitere Vergleiche darzustellen, dennoch sollen hier auch die Schnittstellen mit den außerpolnischen Narrativen aufgezeigt werden, da sie zum Verständnis der nationalen Erinnerungskultur beitragen. Im Folgenden wird nun die Herausbildung und Entwicklung der polnischen Erinnerung an die napoleonische Epoche nachgezeichnet werden. Von kaum zu überschätzender Bedeutung ist dabei die nationale Frage für Polen als Kulturnation ohne eigenen Staat, wie auch die Verortung Polens auf der politischen Landkarte Europas eine große Rolle nach der Wiedererlangung der Unabhängigkeit im Jahre 1918 spielt. Immer wieder kulminiert die Erinnerung in der Figur Napoleons und in der damit verbundenen Frage nach ihrer Bewertung. Überhaupt bildete sich in der damaligen polnischen Rezeption sowie in der daran anschließenden Erinnerung an die napoleonische Epoche neben einer weißen und damit positiv besetzten Legende auch eine schwarze Legende heraus. Anhand des Gedenkens im öffentlichen Raum am Beispiel von Krakau sollen schließlich die Diskrepanzen zwischen den politischen und den zivilen Erinnerungskulturen bis in die jüngste Gegenwart aufgezeigt werden.
Die Bedeutung der weißen und schwarzen Legende Der Begriff der Leyenda negra, der schwarzen Legende, stammt vom Anfang des 20. Jahrhunderts und bezeichnet ursprünglich ein antispanisches Narrativ.5 Auch in der polnischen Historiographie findet sich diese Wendung, sie dient aber darüber hinaus, losgelöst von ihrer eigentlichen Bedeutung, der Kategorisierung im Rahmen einer Rezepti4
5
TODOROV, 2011, S. 220. „Si l’unanimité se fait en Europe pour condamner Hitler, elle disparaît quand on parle de Napoléon, héros pour les uns, tyran pour les autres. Deux cents ans après les faits, on ne commémore pas la bataille de Waterloo de la même manière à Paris qu’à Londres“, TODOROV, 2008, S. 249. EDELMAYER, 2010.
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onsanalyse unterschiedlicher historischer Phänomene. Eine schwarze Legende fasst dabei negativ aufgeladene Narrative über ein bestimmtes Ereignis, eine Person, eine Gruppe, eine geographische oder zeitliche Einheit zusammen; die weiße Legende als komplementärer Begriff meint jeweils die positive Erzählung über dasselbe Phänomen. Neben der weißen napoleonischen Legende, in der die napoleonische Epoche für die Entwicklung der polnischen Nation als richtungsweisend gilt und in der Napoleon nicht nur als genialer Feldherr verehrt, sondern mitunter als vergöttlichte Lichtgestalt transzendiert wird, entstand bald auch eine schwarze Legende. Den Widerstreit in der kollektiven Erinnerung der Polen hält der Historiker Dariusz Nawrot fest: „Es kam diese Frage auf, ob wir nur Kanonenfutter waren, vom Stern einer fremden Macht eingenommene Phantasten, oder ob wir dank Napoleons eine große nationale Auflehnung erlebten, die, obwohl sie eine Niederlage erlitt, über die Anerkennung der Existenz einer polnischen Nation entschied. […] Im gesellschaftlichen Bewusstsein in Polen blieb die napoleonische Legende in der schwarzen oder weißen Variante verhaftet – neben dem Einfluss der politischen Ansichten von Autoren, in hohem Maße in Abhängigkeit von den französisch-polnischen Beziehungen im 19. und 20. Jahrhundert. […] Einmal verwies man auf Napoleon als einen Erwecker Polens, einmal sah man in ihm einen großzügig polnisches Blut verschwendenden Tyrannen, der niemals seine gegenüber den Polen gemachten Schulden beglich. In ähnlicher Weise wurde die Epoche der Polnischen Legionen und des Herzogtums Warschau bewertet. Im Herzogtum sah man einmal den Beginn der Schaffung einer modernen Nation, die Periode fortschrittlicher gesellschaftlicher Veränderungen, ein andermal sah man in ihm hauptsächlich eine ungenierte, französische Ausbeutung.“6 6
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„Rodziło to pytanie, czy byliśmy tylko mięsem armatnim, fantastami zapatrzonymi w gwiazdę obcego władcy, czy też dzięki Napoleonowi przeżyliśmy wielki zryw narodowy, który choć poniósł klęskę zadecydował o uznaniu istnienia narodu polskiego. […] W świadomości społecznej w Polsce legenda napoleońska utrwaliła się w czarnym lub białym wydaniu, obok wpływu poglądów politycznych autorów, w dużej mierze w zależności od stosunków polsko-francuskich w XIX i XX wieku. […] Raz wskazywano na Napoleona jako na wskrzesiciela Polski, drugi raz widziano w nim tyrana szafującego hojnie polską krwią, który nigdy nie spłacił długu zaciągniętego wobec Polaków. W podobny sposób
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Das bedeutet freilich, dass ganz gleich, ob gerade die weiße oder die schwarze Legende Konjunktur hat, die jeweils andere abrufbar bleibt und sogar weiterhin in bestimmten gesellschaftlichen Kreisen gepflegt wird. Der Wandel in der Erinnerung lässt dabei im Besonderen Rückschlüsse auf das polnische, nationale Bewusstsein und dessen Verwerfungen nach innen, wie nach außen hin zu.
Die Entstehung der weißen Legende: Die Schaffung der Polnischen Legionen im Ersten Koalitionskrieg Bereits im Jahre 1793 und damit im Vorjahr des Kościuszko-Aufstandes, auf den dann die dritte Teilung Polens 1795 folgen sollte, hatten Teile der polnischen Eliten sich darum bemüht im Exil Armeeverbände aufzubauen. Die beste Möglichkeit dafür bot sich schließlich im französischen Machtbereich, zumal man in den französischen Kriegsgefangenenlagern polnisch-stämmige Angehörige der österreichischen Armee anzuwerben gedachte.7 Zu den bedeutenden Personen, die sich für die Aushebung polnischer Truppen an der Seite Frankreichs stark machten, gehörten der Schriftsteller und Politiker Józef Wybicki (1747-1822) sowie General Jan Henryk Dąbrowski (1755-1818). Ihre Bestrebungen waren von Erfolg gekrönt: Nachdem sich Dąbrowski in Mailand im Dezember 1796 mit General Napoleon erstmals getroffen hatte, willigte die französische Seite nach einigem Zögern ein, und am 9. Januar 1797 wurde am selben Ort ein Abkommen zur Schaffung „Polnischer Legionen zur Verstärkung der Lombardei“ unterzeichnet. Dąbrowski verlor daraufhin keine Zeit, und nach Ablauf von vier Monaten standen über sechstausend Mann, darunter vor allem polnische Kriegsgefangene und Deserteure, unter Waffen.8
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oceniano epokę Legionów Polskich i Księstwa Warszawskiego. W Księstwie raz widziano początek kształtowania się nowoczesnego narodu, okres postępowych zmian społecznych, innym razem widziano w jego dziejach głównie bezceremonialny wyzysk francuski.“ NAWROT, 2004, S. 86. BIELECKI/TYSZKA, 1984, S. 38. EBD., S. 39.
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Den nationalen Hoffnungen, die die Polen mit dieser Entwicklung verbanden, verlieh Wybicki in seinem im Juli 1797 in der Stadt Reggio nell’Emilia entstandenen Lied der Polnischen Legionen in Italien Ausdruck: „Noch ist Polen nicht gestorben, / Solange wir leben […] Marsch, marsch, Dąbrowski, / Nach Polen von der italienischen Erde aus / Unter Deiner Führung / Werden wir uns mit der Nation vereinigen. […] Ein Beispiel gab uns Bona Parte, / Wie wir zu siegen haben.“9 Wenn General Dąbrowski, Wybickis Weggefährte und Freund, hier als Führungsfigur und zukünftiger Befreier Polens dargestellt wird, gibt er damit eine polnische Identifikationsfigur ab, doch wird in den Versen zugleich auch Napoleon zum nationalen Orientierungspunkt stilisiert. Das sich als Mazurek Dąbrowskiego unter den Polen rasch großer Popularität erfreuende Lied wurde schließlich in modifizierter Form im Jahre 1927 zur offiziellen polnischen Nationalhymne erklärt.
Die Entstehung der schwarzen napoleonischen Legende im Ersten Napoleonischen Krieg Nach dem Ersten Koalitionskrieg, der 1797 mit einem Friedensabkommen zwischen Frankreich und Österreich beendet worden war, kamen die polnischen Truppen in Italien, wie etwa in Kämpfen gegen den Kirchenstaat, zum Einsatz.10 Der Erste Napoleonische Krieg (Zweiter Koalitionskrieg) geriet dann für die polnischen Verbände schon bald zum Desaster. Nach der Bildung einer zweiten antinapoleonischen Koalition fügten Russland und Österreich den Legionen in den Schlachten des Jahres 1799 erhebliche Verluste zu. Dies veranlasste die Franzosen jedoch die Bildung einer polnischen Donau-Legion zu billigen, die sich unter der Führung des polnischen Generals Karl Otto Kniaziewicz (1762-1842) vom Rhein über die Donau den Weg nach Polen bahnen sollte. Zwar kämpfte im Jahre 1800 dann auch die Donau-Legion mit 9
„Jeszcze Polska nie umarła, / Kiedy my żyjemy […] Marsz, marsz, Dąbrowski, / Do Polski z ziemi włoski / Za Twoim przewodem / Złączem się z narodem. […] Dał nam przykład Bona Parte, / Jak zwyciężać mamy.” [ANONYM], 1797. 10 NIEUWAŻNY, 1999, S. 20f.
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4.000 Mann im Rheinland, doch wurden die Polen anschließend in den Friedensverträgen von 1801 zwischen Frankreich, Österreich und Russland nicht einmal erwähnt. Stattdessen versicherte man einander, den „inneren Feinden“ der Gegenseite keine Unterstützung angedeihen zu lassen.11 Enttäuscht quittierten daraufhin Kniaziewicz und mit ihm einige Offiziere ihren Dienst, auch desertierten Soldaten. Zudem knüpften manche Offiziere Kontakte mit der antifranzösischen italienischen Opposition. Die Lösung dieser für Frankreich nun als Problem angesehenen polnischen Truppen sollte in ihrer Entsendung nach Santo Domingo (Haiti) zur Niederschlagung eines Aufstandes bestehen.12 Tatsächlich starben von den 6.000 verschifften polnischen Soldaten zwei Drittel im Kampf oder an Krankheiten. Von den Überlebenden gerieten die meisten in Gefangenschaft, manche siedelten sich auch auf den Inseln an, sodass insgesamt weniger als 350 Soldaten überhaupt wieder nach Europa zurückkehrten. Der Friedensvertrag von 1801, das Ende der Polnischen Legionen und die Tragödie auf Santo Domingo ließen in der Folge eine spezifisch polnische schwarze Legende Napoleons entstehen.13 „Verbitterung sowie mit Wut und einem zerbrochenen Glauben an den Sinn des Opfers vermischte Enttäuschung, lenkten den Hass auf den bis dahin strahlenden Stern des ‚kleinen Unteroffiziers‘ und machten den Anfang einer polnischen Version seiner ‚schwarzen Legende‘“14, fasst der Historiker Andrzej Pochodaj die Stimmung von Vertretern des polnischen Militärs zusammen. Doch in wie weit konnte sich diese Legende in der Folge bei den Polen überhaupt durchsetzen?
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EBD., S. 22f. EBD., S. 23. EBD., S. 26f. „Rozgoryczenie, zawód pomieszany z wściekłością i załamaniem wiary w sens ofiar rzuciły odium na dotychczas jaśniejącą gwiazdę ‚małego kaprala‘ i dały początek polskiej wersji jego ‚czarnej legendy‘.” POCHODAJ, 2002, S. 69.
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Die napoleonische Zeit auf dem Territorium der früheren Adelsrepublik Orientiert man sich an der Existenz des Herzogtums Warschau, so dauerte die napoleonische Zeit in den Gebieten der früheren Adelsrepublik von 1807, dem Gründungsjahr des Herzogtums, bis zu seiner Auflösung im Jahre 1815. Allerdings befand sich einerseits dieses politische Gebilde ab 1813 bereits unter russischer Besatzung, andererseits hatten Napoleons Truppen die polnischen Gebiete schon gegen Ende des Jahres 1806 erreicht. Während die napoleonische Zeit bereits 1812 mit der Niederlage der Grande Armée in Russland ihrem Ende entgegenging, ist es angebracht, aufgrund der Dynamik, die der Vormarsch Napoleons dort unter den Polen in Gang setzte, von ihr bereits mit dem Einmarsch französischer Truppen ins preußische Teilungsgebiet und damit vor der Proklamation des Herzogtums Warschau zu sprechen. Die französischen Truppen, die Posen (Poznań) am 4. November 1806 erreicht hatten, wurden voller Sympathie begrüßt.15 Gleichzeitig war dieses Jahr für die Entwicklung der nationalen Identität der Polen von großer Bedeutung. Wie die Literaturwissenschaftlerin Alina Aleksandrowicz hervorhebt, unterlag sie einschneidenden Veränderungen: „Seit dem Jahre 1806 konnte man einen Wandel in der Einstellung der deprimierten Bevölkerung sowie die Herauskristallisierung neuer Stile patriotischen Verhaltens, die gemeinsam ein eigenes Kulturmodell der Polen schufen, beobachten.“16 Es korrespondiert hier die Ausrichtung der Polen auf das napoleonische Frankreich mit dem gesellschaftlichen Wandel dieser Zeit. Damit wird erneut die Verflechtung und gegenseitige Bedingtheit von Napoleon-Rezeption und nationaler Identität deutlich. Die Polen hofften somit weiterhin auf Napoleon, der am 18. Dezember 1806 in Warschau eingetroffen war: „Late at night on the 18th, the Emperor reached Warsaw, where, notwithstanding the hour, there was the wildest enthusiasm amongst the Poles. Next day, he was besieged 15 ŚLIWIŃSKI, 2012, S. 7. 16 „[O]d roku 1806, obserwować można było przeobrażani się postaw zgnębionej ludności oraz krystalizację nowych stylów zachowań patriotycznych, współtworzących odrębny model kulturowy Polaków.” ALEKSANDROWICZ, 2011, S. 13.
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with petitions and deputations seeking the reconstitution of the Polish kingdom.”17 Die schwarze Legende Napoleons konnte sich also zu Beginn der napoleonischen Zeit im geteilten Polen trotz der tragischen Geschehnisse des Jahres 1801 nicht durchsetzen, obwohl die enttäuscht heimkehrenden Legionäre in den Jahren 1801 bis1806 das negative Bild noch weiter verbreiten sollten,18 und obwohl auch der Nationalheld Tadeusz Kościuszko (1746-1817) eine weitere Zusammenarbeit mit Napoleon abgelehnt hatte.19 Eine Erklärung dafür, dass Napoleon erneut von den Polen bejubelt wurde, gibt der Historiker Andrzej Nieuważny, indem er auf die weiterhin auf den Feldherren zählenden polnischen Aktivisten und Militärs verweist. Neben Dąbrowski und Wybicki gehörten dazu Offiziere der Polnischen Legionen, die „zur bedingungslosen Unterstützung des Kaisers aufforderten“20. Ein weiterer Grund bestand in dem Versprechen Napoleons, zukünftig den polnischen Adel an der Regierung im Lande zu beteiligen. Die Bauern hingegen zwangsrekrutierte man in der Folge für die Aufbringung der 30.000 von Napoleon bereits in Berlin geforderten polnischen Soldaten.21 Die Aussicht, dass sich durch Napoleon das politische Gefüge in Europa zu Gunsten der Polen ändern könnte, und dass die alten polnischen Eliten dabei wieder an der Macht partizipieren würden, spielte somit eine große Rolle. Unterstützt wurde dies sowohl durch Napoleons militärische Erfolge, der es mit den Teilungsmächten hatte aufnehmen können, als auch mangels einer Alternative zum französischen Kaiser.22 Während der napoleonischen Zeit in den Gebieten der früheren Rzeczpospolita (hier die Erste Adelsrepublik 1569-1795) setzten die Polen zwar weiterhin auf Napoleon, doch war der Enthusiasmus auch stets von Enttäuschungen begleitet: „Viele Polen nahmen es Napoleon übel, dass er trotz Aufopferungen und Entsagungen mit dem Frieden von Tilsit nur das Herzogtum Warschau gegründet hatte, und dass er im Jahre
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PETRE, 2001, S. 75f. POCHODAJ, 2002, S. 69. NIEUWAŻNY, 1999, S. 33. „Wzywali do bezwarunkowego poparcia cesarza“, EBD., S. 35. EBD., S. 35f. POCHODAJ, 2002, S. 120.
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1809 nicht ganz Galizien zusammen mit Lemberg [Lwów] anschloss.“23 Im Frieden von Schönbrunn vom 14. Oktober 1809 hatte Österreich nach dem verlorenen Fünften Koalitionskrieg nicht gänzlich auf Galizien und damit auf die durch die Teilungen annektierten Gebiete verzichten müssen. Napoleon blieb für die Polen somit ein ambivalenter Hoffnungsträger, dem freilich poetische Huldigungen anlässlich seines Geburtstags am 15. August in den Jahren der napoleonischen Zeit nicht versagt wurden.24 Unter den Texten verdient eine von Kazimierz Jaworski verfasste Ode an den Kaiser aus dem Jahre 1809 besondere Aufmerksamkeit, weil sie spätere romantische Apotheosen Napoleons vorwegnimmt: „Welcher ist unter den Menschen, der über jedem Throne schwebt? / Überschritt schon alle Grenzen menschlicher Angelegenheiten? / Der mit seiner Hand die Welt demütigte, / die schon seine mächtige Rechte erkannte? / Noch zu Lebzeiten schon der Große genannt, geht er hin den Himmelsbürgern gleichzukommen? ……. / Er, das ist … NAPOLEON … der Gott unserer Heimstätten … / Der Erwecker toter Völker, und der Erlöser der Nationen“25
Uneingeschränkte Begeisterung riefen bei den Polen jedoch die polnischen Soldaten hervor, die für die Wiederentstehung Polens kämpften. Das Jahr 1809 ist hierbei von zentraler Bedeutung, da zur Zeit des Französisch-Österreichischen Krieges, des Fünften Koalitionskrieges, Fürst Józef Poniatowski (1763-1813) bei seiner Offensive in Galizien polnische Städte, darunter Lublin und Lemberg, befreite.26 Die polnischen Einheiten, erkennbar an ihrer eigenen Uniform, wurden zum Symbol des Kampfes um die Wiederentstehung eines eigenen Staates: 23 „Wiele miało za złe Napoleonowi, że mimo poświęceń i wyrzeczeń pokojem w Tylży utworzył tylko Księstwo Warszawskie, a 1809 roku nie przyłączył całej Galicji wraz z Lwowem.“ EBD., S. 71. 24 EBD., S. 139. 25 „Któryz to z ludzi, co wyszszy nad Trony? / Wszelkie spraw ludzkich iuz przeszedł granice? / Którego Ręką świat upokorzony, / U znał iuż Jego potęzną prawicę? / Za zycia ieszcze, a iuz Wielkim zwany, / Idzie się równać z Niebiany? ....... / On to jest ... NAPOLEON ... Bóg naszych zagrodów ... / Wskrzesiciel martwych Ludów, i zbawca Narodów.” JAWORSKI, 1809. 26 ALEKSANDROWICZ, 2011, S. 13.
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„Ein Beispiel gab uns Bonaparte“? „Im Jahre 1809 strömte das Volk auf die Straße und, sich an den Händen haltend, bekundete es einträchtigen Beifall für die polnische Uniform, die Streitkräfte und den Adler. Es verstand und würdigte die Tatsache, dass das Herzogtum Warschau mit bescheidenen Kräften den Feind zurückgeschlagen hatte, und dass das der erste Feldzug seit den Zeiten Sobieskis gewesen war, der mit einem Sieg der polnischen Armee geendet hatte.“27
Dieser polnische Patriotismus, der prägend für die napoleonische Zeit auf polnischem Boden war, zeigte sich schließlich noch einmal in dieser Intensität, als die polnischen Truppen als Teil der Grande Armée 1812 gegen Russland zu Felde zogen. Und auch wenn die Hoffnungen durch die Niederlage schon bald bitter enttäuscht werden sollten, kämpften noch bei Waterloo auf Seiten Napoleons treu polnische Verbände.28
Die napoleonische Ära in der Rezeption der polnischen Romantik Die Epoche der polnischen Romantik ist nicht klar abgrenzbar und von fließenden Übergängen geprägt. Zunächst einmal stellt der Wiener Kongress des Jahres 1815 eine Zäsur dar: Er markiert das Ende der napoleonischen Ära und die Abkehr vom Klassizismus in Polen. Als weitere Orientierung dienen in der Literaturwissenschaft zur zeitlichen Eingrenzung der polnischen Romantik zwei bedeutende Ereignisse: Der Beginn wird am Erscheinungsjahr des ersten Bandes der Poezje des polnischen Nationaldichters Adam Mickiewicz (1798-1855) 1822 festgemacht; als Ende wird das Scheitern des Januaraufstandes im Jahre 1864 genannt, in dessen Folge sich ein Bruch mit dem romantischen Paradigma vollzog.29 Wie das letzte Datum bereits deutlich macht, han27 „W roku 1809 lud wyległ na ulice i, trzymając się za ręce, manifestował zgodny aplauz dla polskiego munduru, oręża, orła. Rozumiał i doceniał fakt, że Księstwo Warszawskie skromnymi siłami odparło nieprzyjaciela, że była to pierwsza od czasów Sobieskiego kampania zakończona zwycięstwem polskiego wojska.“ ALEKSANDROWICZ, 2011, S. 14. 28 NIEUWAŻNY, 1999, S. 126. 29 WITKOWSKA, 2009, S. 207; S. 646.
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delt es sich bei dieser Epoche nicht um eine lediglich auf Literatur und Kunst beschränkte Strömung, sondern sie ergriff vielmehr alle Teile der Gesellschaft bzw. stand in Wechselwirkung mit gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen. Von herausragender Bedeutung war in der Romantik einmal mehr die nationale Frage nach der Wiedererlangung eines polnischen Staates. Während die Vertreter des Klassizismus die Schaffung des Königreichs Polen (Kongresspolen) unter russischer Herrschaft im Jahre 1815 – ihr war die Liquidierung des Herzogtums Warschau vorausgegangen – freudig begrüßt hatten, konnten sich die Vertreter der Romantik mit einem solchen politischen Gebilde nicht abfinden. Mit ihrem neuen Nationsverständnis, das nun verstärkt eine Annäherung von Adel und Bürgertum und auch die Einbeziehung der Bauernschaft einschloss, setzten sie sich weiterhin für ein unabhängiges Polen ein.30 Welche Bedeutung kam nun in dieser Zeit der Erinnerung an die Napoleonischen Kriege zu? Oder wie der Historiker Andrzej Zahorski zugespitzt in Bezug auf die Person Napoleons fragte: „Wer wird er in der Erinnerung der Menschen sein – Prometheus oder Attila?“31 In der nachnapoleonischen Zeit waren nicht wenige Polen durch die Kriege, die wirtschaftliche Misere und die Enttäuschungen Napoleon gegenüber feindlich gesinnt; das Interesse an seiner Person erlosch allerdings mitnichten.32 Napoleon in seiner Deutung als Befreier Polens, nun in dieser Gestalt bis zum Ausbruch des Novemberaufstandes der Jahre 1830 bis 1831 aus dem öffentlichen Leben weitgehend verbannt, blieb jedoch Teil der Literatur und Kunst, wenn dies auch in ihrer Verbreitung vor allem heimlich oder im Privaten geschah.33 Im Königreich Polen wurde zudem gerade unter den polnischen Militärangehörigen als Gegenstück zur offiziellen Propaganda ein antizaristisches Narrativ kultiviert, das sich einer positiv aufgeladenen Erinnerung an die napoleonische Ära bediente.34 Die Sinnbilder des polnischen Heldentums und der Kämpfer für die Freiheit Polens in den Napoleonischen Kriegen, wie Dąbrowski und Poniatowski, rückten dabei ins Zentrum 30 PRZYBYLSKI, 2009, S. 197f. 31 „Czym będzie w pamięci ludzi – Prometeuszem czy Atyllą?” ZAHORSKI, 1974, S. 41. 32 NIEUWAŻNY, 1999, S. 141f. 33 POCHODAJ, 2002, S. 231. 34 ZAHORSKI, 1974, S. 87f.
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des Gedenkens. Der Verehrung Poniatowskis, der in der Völkerschlacht bei Leipzig 1813 in der Elster ertrunken war, verlieh man durch Trauermessen und künstlerische Verarbeitungen, etwa in Form von Bildnissen und Figuren, breiten Ausdruck.35 Sehr bald schon war also aus dem historischen Ereignis der Napoleonischen Kriege ein nationaler Erinnerungsort geworden. In den Jahren unmittelbar vor dem Novemberaufstand hatte außerdem die positive Napoleon-Rezeption noch einmal erheblich zugenommen: „Der mit der Unzufriedenheit der Regierung des Königreichs Polen und der Einschränkung der verfassungsmäßigen Freiheiten wachsende Napoleon-Kult wurde zu mehr als einer schwachen Erinnerung.“36 So kam etwa im Jahre 1829 Schmuck mit napoleonischen Motiven in Mode, was Aufschluss darüber gibt, wie sehr Napoleon mitsamt seiner Epoche in der Erinnerungskultur zur Ikone geworden war.37 Als dann der Aufstand im November 1830 losbrach, hofften Teile der Aufständischen erneut auf die Solidarität Frankreichs, die höheren Offizierskader hatten sogar noch unter Napoleon gedient.38 Dabei darf allerdings nicht vergessen werden, dass unter den Aufständischen die Intelligenz, die akademische Jugend und die Offiziere niederen Ranges Joachim Lelewel (1786-1861) als Autorität schätzten.39 Der bedeutende Historiker und politische Akteur in der Zeit des Aufstandes hatte sich aber gegen eine positive Rezeption der napoleonischen Zeit in Polen verwahrt. In seinem 1831 zur Zeit des Aufstandes erschienen Werk beschreibt er die im Herzogtum Warschau installierte Verfassung des Jahres 1807 folgendermaßen: „Die Verfassung des Herzogtums wurde mit geringer Rücksicht auf das polnische Volk durch die französische Besatzungsmacht, durch die ein kleiner Anteil des Volkes erneut erhoben wurde, im Jahr 1807 aufgezwungen“40. Nicht genug, dass Lelewel die Franzosen nicht als Befreier, sondern als Besatzer sieht; die Verfassung 35 NIEUWAŻNY, 1999, S. 148. 36 „Rosnący wraz z niezadowoleniem z rządów w Królestwie Polskim i ograniczenia wolności konstytucyjnych kult Napoleona stał się więcej niż czułym wspomnieniem.” EBD., S. 147. 37 EBD. 38 ZDRADA, 2014a, S. 598. 39 EBD. 40 „[K]onstitucia księstwa, była z małym na naród Polski względem, przez Francuskiego zaborcę; dźwignionéj przez niego cząstce narodu, w 1807 narzuconą […].” LELEWEL, 1831, S. 25.
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hält er zudem für einen oktroyierten Rechtstext, der nur die schmale Oberschicht, nicht aber die breite Masse des polnischen Volkes begünstigte. Zahorski vermutet überdies, dass Lelewel, „die größte damalige Autorität unter den Historikern“,41 die negative Napoleon-Rezeption in der Wissenschaft begründete: „In der allgemeinen Bewertung Napoleons und seines Vorgehen gegenüber Polen, war J. Lelewel sehr kritisch, sogar ungerecht, und wohl beginnend mit seinen Ausführungen, verfestigten sich in der polnischen Wissenschaft Elemente der schwarzen napoleonischen Legende.“42 Die Frage, aus welchem Grund Zahorski annimmt, Lelewel habe Napoleon zu Unrecht verurteilt, lässt er an dieser Stelle allerdings unbeantwortet. Vielmehr verweist er auch auf Lelewels Abrechnung mit dem Kaiser hinsichtlich dessen „gnadenloser Vernichtung der Polnischen Legionen auf Santo Domingo in einem den Polen fremden und abstoßenden Krieg.“43 Wenn jedoch die Literaturwissenschaftlerin Krystyna Szayna-Dec konstatiert: „Der Napoleon-Kult der Polen war eine Art nationaler Religion und die polnischen Patrioten eine Glaubensgemeinschaft. Die literarisch Begabten unter ihnen schufen als erhebendes Ritual ihres Kults pathetische Werke zu Ehren ihres Kultgegenstandes“,44 dann gehörte Lelewel, wenn auch kein romantischer Poet, so doch mit der Literatur bestens vertraut, zweifellos zu den Ketzern unter den Patrioten. Dennoch muss auch im Falle der polnischen Romantiker ein differenziertes Bild gezeichnet werden. Deren literarische Vertreter wie die drei Dichterfürsten Mickiewicz, Zygmunt Krasiński (1812-1859) und Juliusz Słowacki (1809-1849) beeinflussten die kollektive Erinnerung der Polen an Napoleon und die Napoleonischen Kriege in herausragender Weise. Diese Prägekraft ihrer Poesie reicht dabei bis in die Gegenwart. Die Bewertung der Person Napoleons war bei ihnen aber durchaus ambivalent. 41 „[N]ajwiększy ówczesny autorytet historyczny Joachim Lelewel.” ZAHORSKI, 1974, S. 96. 42 „W ocenie generalnej Napoleona i jego poczynań wobec Polski J. Lelewel był bardzo krytyczny, aż niesprawiedliwy, i chyba od jego wywodów poczynając w nauce polskiej utrwalają się elementy czarnej legendy napoleońskiej.“ EBD. 43 „Wypominał więc Napoleonowi bezlitosną zagładę Legionów Polskich na San Domingo w obcej Polakom i odpychającej wojnie.” EBD. 44 SZAYNA-DEC, 2009, S. 152.
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Zahorski hält fest: „Der Verfechter der Legende war vor allem Adam Mickiewicz, in dessen Werken überdauerte sie am besten.“45 Doch mag diese Behauptung nicht nur eine Reproduktion der napoleonischen Legende durch Mickiewicz belegen, sondern zudem seinen prägenden Einfluss auf die weitere Rezeptionsgeschichte. Am Beispiel von Mickiewiczs nach dem Novemberaufstand in der Emigration in Paris verfasstem und 1834 dort auch erschienenem Versepos Pan Tadeusz (Pan Tadeusz oder Der letzte Einritt in Litauen), dessen Handlung in den Jahren 1811 und 1812 unmittelbar vor Napoleons Russlandfeldzug angesiedelt ist, wird die napoleonische Legende in ihrer Möglichkeit einer literarischen Konstruktion deutlich. Trotz seiner fiktiven Handlung ist der Text im konkreten historischen Geschehen eingebettet und diente später als Identifikationsmedium zur Generierung nationaler Identitäten durch den Verweis auf historische Kontinuitäten. Für Mickiewicz, der sich in zahlreichen Schriften mit Napoleon auseinandergesetzt hatte, „blieb Napoleon ein Heilsbringer der Revolution, obwohl er sie am Ende verriet, und die Verkörperung einer verwirklichenden Kraft, ohne die die zeitgenössischen Ideen einer Revolution nur leeres Geschwätz von Theoretikern bleiben werden.“46 Trotz des literarisch überhöhten Denkmals, das Mickiewicz Napoleon in Pan Tadeusz gesetzt hat, schuf der Schriftsteller somit ein ambivalentes Bild des Generals und dessen Umgangs mit der polnischen Frage. Während Pan Tadeusz unter seinen ersten Lesern zunächst Kritik hervorrief und durch dessen Verbot im österreichischen und im russischen Teilungsgebiet nur bedingt in der Illegalität seine Verbreitung fand, wurde er dennoch zunehmend als nationale Identität stiftender Text rezipiert.47 Napoleon kommt in diesem nationalpolnischen Zusammenhang eine zentrale Bedeutung zu, wie Pochodaj ausführt: „Ähnlich wie in der Literatur der Periode des Herzogtums Warschau ist der Kaiser geschaffen als Werkzeug in den Händen der Vorsehung, des45 „Głosicielem legendy był przede wszystkim Adam Mickiewicz, w dziełach którego przetrwała ona najpełniej.“ ZAHORSKI, 1974, S. 90. 46 „Napoleon pozostawał dla Mickiewicza opatrznościowym mężem rewolucji, choć ją w końcu zdradził, i uosobieniem siły realizacyjnej, bez której współczesne idee rewolucji pozostaną czczą gadaniną teoretyków.“ WITKOWSKA, 2007, S. 315. 47 STEFANOWSKA, 1985, S. 138.
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Christof Schimsheimer sen Taten einzig die Verwirklichung des göttlichen Willens sind, nach dem sich die Schicksale der Welt und der Völker ereignen. Und was ist denn seine Hauptaufgabe, die ihm zur Verwirklichung durch die Vorsehung zugewiesen ist? Selbstverständlich der Wiederaufbau einer starken und mächtigen Republik Polen.“48
Der Kaiser gilt somit nicht nur als Hoffnungsträger und Retter; Gott selbst scheint ihn gesandt zu haben, wie an einer Passage des Epos deutlich wird: „Eine Schlacht? wo? in welcher Richtung? fragen die jungen Männer, Greifen zur Waffe; die Frauen werfen die Arme in die Luft; Alle des Sieges sicher, rufen unter Tränen: ‚Gott ist mit Napoleon, Napoleon mit uns!‘“49
Aber Mickiewicz stilisiert dabei nicht nur Napoleon, er inszeniert auch die Rede über den Kaiser, die die polnische Gesellschaft hoffnungsvoll in sich aufsog: „Mickiewicz […] zeigt uns, wie die napoleonische Propaganda und Agitation wirken konnten und wie sie sicherlich wirkten und welche ihre Effekte sein konnten.“50 Eine zentrale Rolle nimmt dabei in Pan Tadeusz die Figur des Priesters Robak ein, der dank seiner Überzeugungskraft Napoleon zum Hoffnungsträger seiner Zeitgenossen macht. Ihn lässt Mickiewicz voller Pathos ausrufen: „[…] Krieg um Polen! Bruder! Wir werden Polen sein! […] Napoleon sammelt schon eine riesige Armee, 48 „[…] [P]odobnie jak w literaturze okresu Księstwa Warszawskiego Cesarz kreowany jest na narzędzie w rękach Opatrzności, którego czyny są jedynie realizacją woli Bożej, zgodnie z którą dzieją się losy świata i narodów. / A cóż jest jego głównym zadaniem wyznaczonym do wypełnienie przez Opatrzność? Oczywiście odbudowa wielkiej i potężnej Rzeczypospolitej.“ POCHODAJ, 2002, S. 228. 49 „Bitwa! gdzie? w której stronie? pytają młodzieńce, / Chwytają broń; kobiety wznoszą w niebo ręce, / Wszyscy pewni zwycięstwa, wołają ze łzami: / ‚Bóg jest z Napoleonem, Napoleon z nami!‘“ MICKIEWICZ, 1984, S. 304. 50 „Mickiewicz […] pokazuje nam jak mogła działać i jak zapewne działała propagandowa i agitacja napoleońska oraz jakie mogły być jej efekty.” POCHODAJ, 2002, S. 230.
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„Ein Beispiel gab uns Bonaparte“? Wie sie der Mensch noch nicht gesehen und die Geschichte ihrer nicht gedenkt; Neben den Franzosen zieht er die ganze polnische Armee ein, Unser Józef, unser Dąbrowski, unsere weißen Adler! Sie sind schon auf dem Weg; auf das erste Zeichen Napoleons Überschreiten sie die Memel und – Bruder! Das Vaterland wird auferstanden sein!“51
In der Ansprache Robaks rekonstruiert Mickiewicz zwanzig Jahre nach dem katastrophalen Russlandfeldzug die Atmosphäre des damals bevorstehenden Aufbruchs. Mit der Formulierung „Wir werden Polen sein!“ verweist er auf Wybickis Mazurek Dąbrowskiego (Dabrowski-Marsch) und nennt auch die auf Seiten Napoleons stehenden polnischen Helden des Unabhängigkeitskampfes: General Dąbrowski und Fürst Poniatowski. Im Pariser Exil traf Mickiewicz auch auf den Mystiker Andrzej Towiański (1799-1858), der sich dort von 1840 bis 1842 aufhalten sollte. Towiańskis Version eines erneuerten Christentums machte einen tiefen Eindruck auf Mickiewicz, aber auch umgekehrt hatte Mickiewiczs dritter Teil der Dziady (Die Ahnenfeier) von 1832 wiederum den Messianismus Towiańskis beeinflusst, der Napoleon für den unmittelbaren Vorgänger einer christlichen Erlösergestalt hielt.52 In diesem Zusammenhang muss auch das sich ursprünglich im Besitz Towiańskis befindende Ölgemälde Walenty Wańkowiczs (1799-1842) Die Apotheose Napoleons des Jahres 1841 gesehen werden, „als der Künstler sich in Paris aufhielt und dort glühender Anhänger der Idee der auf Towianski zurückgehenden Lehre des Towianismus war: Napoleon tritt dabei als verchristlichter Märtyrer und Erlöser auf.“53 Wie auch der Titel des Bildes deutlich macht, wird hier der Akt der Vergöttlichung Napoleons illustriert. Der Feldherr scheint bereits gen Himmel zu schweben, und 51 „‚[…] Wojna o Polskę! bracie! Będziem Polakami! / […] Napoleon już zbiera armiję ogromną, / Jakiej człowiek nie widział i dzieje nie pomną; / Obok Francuzów ciągnie polskie wojsko całe, / Nasz Józef, nasz Dąbrowski, nasze orły białe! / Już są w drodze; na pierwszy znak Napoleona / Przejdą Niemen i — bracie! Ojczyzna wskrzeszona!‘“ MICKIEWICZ, 1984, S. 174f. 52 WALICKI, 1985, S. 489. 53 KOŁODZIEJCZAK, 1998, S. 115.
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seine Kleidung in strenger, militärischer Schlichtheit reproduziert das Bild eines einst ganz seiner Mission verschriebenen Feldherren – so trägt er etwa keine Schulterklappen oder zahlreiche Orden, wie dies auf anderen Darstellungen durchaus der Fall ist. Sein göttlicher Ruhm wird durch den Lorbeerkranz symbolisiert, und dessen Träger, im Moment der endgültigen Überwindung seiner menschlichen Existenz, blickt entrückt gen Himmel und hat seine offenen Arme nach oben ausgerichtet. Allerdings, so schließt Pochodaj, „[…] konnte diese mystische Version der [napoleonischen] Legende aus politischen Gründen keinen breiten Einfluss im Land unter der Herrschaft der Teilungsmächte haben. Die Legende erlangte jedoch durch die Memoirenliteratur die Bedeutung von Erinnerung an Siege und Reiterangriffe. Napoleon war in ihr eine zweitrangige Gestalt und in selbiger durch die Teilungsmächte akzeptabel.“54
Die Erinnerungen an dessen Jugendjahre erfuhren dabei häufig eine Mythologisierung, wie sie sich auch in privaten Erzählungen vollzog.55 In der nachnapoleonischen Zeit war also insgesamt trotz der verlustreichen militärischen Niederlagen und der teils katastrophalen Folgen eine positive Rezeption der Napoleonischen Kriege, in der die Polen für die Freiheit ihres Landes kämpften, weit verbreitet. Sie wurde als Gegenmodel zum geteilten Polen unter der Herrschaft fremder Mächte konstruiert. Während des Novemberaufstandes fungierte eine solche Erinnerungskultur zudem als Anknüpfungspunkt an die Hoffnung auf eine französische Intervention. Auch die Niederschlagung des Aufstandes führte zu keinem grundlegenden Wandel, und die polnischen Romantiker verstärkten die weiße Legende Napoleons noch weiter, auch wenn dies nun vor allem im Exil geschah. Es gab aber auch schon in dieser Zeit bedeutende Persönlichkeiten, wie Lelewel, die die napoleonische Zeit in Polen kritisch bewerteten und dadurch zur Genese einer schwar-
54 „Ta mistyczna wersja legendy z przyczyn politycznych nie mogła mieć szerokiego oddziaływania w kraju pod władzą zaborców. Legenda nabierała natomiast znaczenia, poprzez literaturę pamiętnikarską, pamięć zwycięstw i szarż. Napoleon był w niej postaćią drugoplanową, a tym samym do zaakceptowania przez zaborców.” POCHODAJ, 2002, S. 341. 55 NIEUWAŻNY, 1999, S. 175-177.
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zen Legende Napoleons beitrugen. Uneingeschränkte Verehrung genossen aber die polnischen Helden der Napoleonischen Kriege, allen voran Dąbrowski und Poniatowski. Die Romantik schuf insgesamt den Grundstock der Rezeption der napoleonischen Ära in Polen, er dient bis heute als Referenzrahmen. Dennoch stellt sich die Frage, inwiefern sich die Rezeption der Napoleonischen Kriege nach dem Scheitern des Januaraufstandes, der auch das Ende der polnischen Romantik einläutete, änderte. Abb. 1: Walenty Wańkowicz, Die Apotheose Napoleons, Öl, Warschau, Muzeum Literatury im. Adama Mickiewicza, 1841. Foto: Łukasz Neca
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Die napoleonische Ära in der Zeit vom Januaraufstand bis zum Ersten Weltkrieg Der Januaraufstand der Jahre 1863 und 1864 stellt aus Sicht der polnischen Historiographie eine besondere Zäsur dar: „Der Januaraufstand 1863-1864 war der am längsten andauernde Unabhängigkeitskampf in der Epoche nach den Teilungen, in den unmittelbaren Kampf wurden alle Schichten der polnischen Gesellschaft hineingezogen, […] und schließlich führte er zu einem riesigen gesellschaftlichen und ideellen Wandel in der Nationalgeschichte, was einen entscheidenden Einfluss auf die Entwicklung einer modernen polnischen Gesellschaft ausübte.“56
Dieser Wandel konnte wohl auch in den kommenden Jahrzehnten nicht folgenlos für die Erinnerungskultur und damit für die Rezeption der napoleonischen Epoche bleiben. Der Erste Weltkrieg, durch den schließlich ein freies Polen wiederentstanden war, änderte den Rahmen erneut grundlegend. Nach der Niederschlagung des Aufstandes 1864 wich die Periode der Romantik der des Positivismus, der ebenfalls die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit erfasste. In der Literatur ist unter Positivismus auch der Realismus zu verstehen, der erst an der Schwelle zum 20. Jahrhundert von einer neuen Generation junger Literaten abgelöst wurde, dem Jungen Polen.57 Auch ein weiterer Generationenwechsel vollzog sich bereits zu Beginn der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts: Die Erlebnisgeneration und damit die Autoren der Memoirenliteratur sowie die Vertreter der polnischen Romantik starben aus. Nach der massiven gesellschaftlichen Krise, verbunden mit den als Reaktion auf den Januaraufstand von russischer Seite eingeleiteten Repressalien, wurde das 56 „Powstanie 1863-1864 było najdłużej trwającym zrywem niepodległościowym w epoce porozbiorowej, do bezpośredniej walki wciągnęło wszystkie warstwy społeczeństwa polskiego, […] a wreszcie spowodowało ogromny przełom społeczny i ideowy w dziejach narodowych, co wyrwało decydujący wpływ na rozwój nowoczesnego społeczeństwa polskiego.” ZDRADA, 2014b, S. 603. 57 MARKIEWICZ, 2006, S. 9.
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Aufstandparadigma von der Idee der „Organischen Arbeit“ überlagert. Gesellschaftlicher Fortschritt und die nationale Unabhängigkeit als Fernziel sollten nun durch Bildung und Fortschritt erreicht werden.58 „Der durch die Niederlage des Januaraufstandes ausgelöste Schock und die Ideologie des Positivismus führten zu einer Abkehr von den Unabhängigkeitsbestrebungen und zu einem Blick ohne Sympathie auf die napoleonische Epoche – eine Zeit enttäuschter Hoffnungen“,59 fasst Nieuważny die gesellschaftliche Stimmung zusammen. Von Bedeutung ist in diesem Zusammenhang auch die politische Annäherung Frankreichs und Russlands, die wiederum den traditionellen französischpolnischen Beziehungen ein Ende bereitete. Nun blieb die polnische Sache „bis zum Ende des Jahres 1917 für die Franzosen eine innere Angelegenheit des zaristischen Imperiums.“60 Nieuważny hält an anderer Stelle aber auch für die nachromantische Zeit fest, dass viele, jedoch ohne Erfolg, versucht hätten, die napoleonische Legende zu entzaubern.61 In der Tat blieb es lediglich beim Versuch einer dauerhaften Überwindung der romantischen Erinnerung an die napoleonische Zeit, die weiterhin in der Gesellschaft verwurzelt war. Diese Auseinandersetzung spiegelt sich auch in den Entwicklungen innerhalb der Literatur. Bolesław Prus (1847-1912) thematisiert in seinem Roman Lalka (Die Puppe), der im Jahre 1890 erstmals als Buch erschienen war, „die Niederlage und die Verkümmerung zweier großer Ideologien – die der romantischen und die der positivistischen vor dem Hintergrund ihrer historisch-gesellschaftlichen Bedingtheit.“62 In diesem Zusammenhang wird auch der Streit um die romantische napoleonische Legende zum Gegenstand der Auseinandersetzung. Im Roman wird einer der fiktiven Helden, Ignacy Rzecki, als unverbesserlicher Idealist dargestellt, der an seinem Glauben an Napoleon festhält und 58 EBD., S. 19. 59 „Szok spowodowany klęską powstania styczniowego i ideologia pozytywizmu prowadziły do odżegnania się od działań niepodległościowych i patrzenia bez sympatii na epokę napoleońską – czas zawiedzionych nadziei.“ NIEUWAŻNY, 1999, S. 180. 60 „Aż do końca 1917 r. pozostanie ona dla Francuzów wewnętrzną kwestią imperium carów.” EBD. 61 EBD., S. 183. 62 „[U]kazał […] pisarz klęskę i skarlenie dwóch wielkich ideologii – romantycznej i pozytywistycznej, na tle ich historyczno-społecznego uwarunkowania.” MARKIEWICZ, 2006, S. 144.
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dabei an die idealisierten Vorstellungen seines Vaters anknüpft. Die Wirklichkeit seiner Gegenwart kann er hingegen nicht annehmen. Seine Hoffnungen setzt er stattdessen auf die Napoleoniden, von denen einer letztendlich Polen befreien werde. Während schon ein Gesprächspartner von Rzeckis Vater beklagt hatte, unter den Jüngeren gebe es bereits einige, die sich Napoleons schon nicht mehr erinnern könnten,63 hält Rzecki sogar noch an Prinz Louis Napoléon fest. Selbst dessen Tod in Afrika will Rzecki zunächst als Gerücht abtun, bevor er kurz vor seinem Tode schließlich doch bekennen muss: „Die Napoleoniden werden die Welt nun nicht mehr verbessern, und niemand wird sie verbessern, wenn wir weiterhin wie Schlafwandler vorwärtsschreiten werden.“64 Wie sehr die Erinnerung an die napoleonische Zeit im Positivismus gespalten war, lässt sich auch am Beispiel der Gattung des historischen Romans illustrieren. Sie war in dieser Epoche für die Literatur prägend und sollte nicht nur unterhalten, sondern sie nutzte die Geschichte auch zur Auseinandersetzung mit aktuellen Fragen zur Gesellschaft und deren Entwicklung. Überhaupt trat Literatur mit einem erzieherischen Anspruch auf. Nun wurde allerdings das Thema der Napoleonischen Kriege in den speziell für Kinder und Jugendliche verfassten historischen Romanen am häufigsten verwandt.65 Diese Ausrichtung stieß freilich auf Kritik: „Der historische Roman für die Jugend, nur mit Widerwillen von positivistischen Pädagogen […] behandelt, war tatsächlich im Allgemeinen weit von den positivistischen ideellen Inhalten entfernt, neigte eher zu romantischen Traditionen und konservativer Orientierung.“66 Die weitverbreitete Ablehnung in der Literatur und in der Geschichtsschreibung, sich mit der napoleonischen Epoche auseinanderzusetzen, wie es Zahorski beschreibt,67 stand also stets in einem Spannungsverhältnis mit einer Gegenöffentlichkeit und mit dem privaten Gedenken jenseits der Zensur. 63 PRUS, 1890a, S. 26. 64 „Napoleonidzi już nie poprawią świata i nikt go nie poprawi, jeżeli i nadal będziemy postępować jak lunatycy…” PRUS, 1890b, S. 429. 65 MARKIEWICZ, 2006, S. 345. 66 „Powieść historyczna dla młodzieży, dość niechętnie traktowana przez pedagogów pozytywistycznych (np. Dygasińskiego), istotnie odległa była na ogół od pozytywistycznych treści ideowych, ciążyła raczej ku tradycjom romantycznym i orientacji konserwatywnej.” EBD., S. 346. 67 ZAHORSKI, 1974, S. 148.
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Nicht zuletzt erfreute sich Mickiewiczs Pan Tadeusz in der Zeit des Positivismus wachsender Popularität. Nach dem Krimkrieg hatte Russland auch in Kongresspolen die Zensurbestimmungen gelockert, und das Epos konnte nun 1858 legal erscheinen.68 Das vergrößerte den Rezeptionskreis, und das wegen seines Realismus geschätzte „Poem ging in den Kanon der Meisterwerke der Nationalliteratur ein“69 – damit auch dessen Darstellung der napoleonischen Ära in Polen. Letzterer widerfuhr in der Erinnerungskultur in allen drei Teilungsgebieten noch einmal eine besondere Aktualisierung, als sich die Ereignisse der Napoleonischen Kriege zum hundertsten Mal jährten. Während das Gedenken im russischen Teilungsgebiet zwar weiterhin durch die Zensur eingeschränkt war und es sich hingegen im österreichischen freier entfalten konnte, wurde die Thematik in Kunst und Literatur nun wieder verstärkt aufgegriffen. Gedacht wurde etwa im Jahre 1897 des Mazurek Dąbrowskiego und schließlich der Ereignisse des Jahres 1812. Juliusz Kossak (1824-1899) beispielsweise, der zu den berühmtesten polnischen Historienmalern zählt, fertigte zahlreiche Gemälde mit Motiven der Napoleonischen Kriege an. „Auch führte in den polnischen Gebieten […] der Zeitraum 1901-1914 zu einer Explosion der napoleonischen Thematik in der Literatur allen Typs. In diesen Jahren erschienen 83 Geschichtsbücher, 31 Memoiren und sogar 108 belletristische Werke.“70 Die Faszination für die napoleonische Zeit blieb bestehen, wenn auch viele der Werke schon bald wieder in Vergessenheit geraten sollten. Zu den wichtigsten allerdings, die in dieser Zeit entstanden, gehört Stefan Żeromskis (1864-1925) Roman Popioły (In Schutt und Asche), erstmals komplett erschienen im Jahre 1904. Für Nieuważny ist Żeromski im Hinblick auf die napoleonische Legende der Polen essenziell.71 „Die Haltung Żeromskis der Napoleonlegende gegenüber war ambivalent und distanziert“72, stellt die Literaturhistorikerin Aneta Ma68 STEFANOWSKA, 1985, S. 138. 69 „[P]oemat wszedł do kanonu arcydzieł literatury nar.”EBD. 70 „[N]a ziemiach polskich […] okres 1901-1914 także zaowocował eksplozją tematyki napoleońskiej we wszelkiego typu piśmiennictwie. W latach tych ukazały się 83 książki historyczne, 31 pamiętników i aż 108 dzieł beletrystycznych”. NIEUWAŻNY, 1999, S. 207. 71 EBD., S. 209. 72 MAZUR, 2008, S. 311f.
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zur in ihrer Untersuchung zu Popioły fest. Das Bild Napoleons wird im Roman in Bezug zu den Polen gesetzt: „Sie werden von Napoleon instrumentalisiert, dennoch sind sie von seiner ‚übermenschlichen Macht‘ hingerissen.“73 Somit strickt Żeromski an der Legende Napoleons weiter – allerdings an der schwarzen. In seiner romantisierten Beschreibung der Napoleonischen Kriege mit seinen tragischen polnischen Helden führt Żeromski die Erinnerung an den damaligen Freiheitskampf der Polen fort, die schließlich von den Franzosen verraten werden. In der Geschichtswissenschaft wurde die schwarze napoleonische Legende ebenfalls kultiviert: „Auch in Polen verwurzelte sich die schwarze Legende und trug Früchte. In der polnischen Geschichtswissenschaft wurde ihr Anhänger einer der hervorragendsten polnischen Historiker dieser Epoche, Tadeusz Korzon (1839-1917).“74 Der Historiker Szymon Askenazy (1865-1935) war es dann, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Abkehr zum Positivismus nun in oft pathetischer Weise damit begonnen hatte, die weiterhin bestehenden großen Lücken in der Geschichtsschreibung zur napoleonischen Epoche zu schließen. In seinem 1914 verfassten, aber aufgrund des Ersten Weltkrieges erst 1918 publizierten Buch Napoleon a Polska (Napoleon und Polen) macht er dann auch gleich am Anfang seiner Einleitung den emotionalen Bezug der Polen zu Napoleon deutlich, damit die Notwendigkeit einer historischen Auseinandersetzung unterstreichend: „Polen bewahrte sich ein Herz für Napoleon.“75 Der Erste Weltkrieg aktualisierte das Gedenken an die Napoleonischen Kriege noch einmal. Die Aussicht, einerseits als Folge des Krieges endlich die Unabhängigkeit wiedererlangen zu können, und andererseits das Dilemma, dass die Polen in den Heeren der Teilungsmächte nicht nur für fremde Interessen kämpfen mussten, sondern auf den Schlachtfeldern auch einander gegenüberstanden, führte zur Frage nach einer nationalen Strategie. Dabei zogen die politischen Akteure historische Vergleiche: Einmal wurde Kościuszko bemüht, der sich gegen eine militärische Zusammenarbeit mit Napoleon ausgesprochen hatte, 73 EBD., S. 326. 74 „W Polsce legenda czarna też zakorzeniała się i owocowała. W polskiej nauce historycznej wyznawcą jej stał się jeden z najwybitniejszych historyków polskich tej epoki Tadeusz Korzon (1839-1917).” ZAHORSKI, 1971, S. 109. 75 „Polska zachowała serce dla Napoleona.“ ASKENAZY, 1918, S. 11.
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und einmal Fürst Poniatowski, der mit den Polnischen Legionen auf Seiten Frankreichs gekämpft hatte. Je nach Standpunkt wurde das Ausheben polnischer Truppen auf Seiten der Mittelmächte gegen Russland historisch begründet abgelehnt oder unterstützt.76 Insgesamt lebte auch in der Zeit nach dem gescheiterten Januaraufstand die Erinnerung an die Napoleonischen Kriege fort. Trotz des Schocks der Niederlage und des damit verbundenen Paradigmenwechsels, der Hinwendung zu einem positivistischen Gesellschaftsentwurf, ließ sich das zuvor in der Romantik kultivierte heroische Bild des polnischen Freiheitskampfes der napoleonischen Epoche nicht tilgen, wenn auch die schwarze Legende Napoleons verstärkt in Literatur und Historiographie Einzug hielt. Im Gedenken und in der damit teils verbundenen politischen Instrumentalisierung der Napoleonischen Kriege blieb die Sehnsucht nach einem unabhängigen Polen ungebrochen. Dieses sollte schließlich durch den Untergang der drei Kaiser wiederentstehen.
Von der Unabhängigkeit zur Unabhängigkeit: Napoleon und seine Zeit in der Erinnerungskultur von 1918 bis 1989 Als Polen 1918 wiederentstanden war, fand es sich mit Problemen konfrontiert, die als Erbe der Teilungszeit eine Konsolidierung des Staates erschwerten. 1939 wurde Polen, das sich mittlerweile zu einem autoritären Regime gewandelt hatte, nach dem deutschen und anschließend dem sowjetischen Einmarsch erneut geteilt. Das Ende des Zweiten Weltkrieges bedeutete für Polen zwar die Befreiung von der nationalsozialistischen Herrschaft, nicht jedoch die Wiedererlangung seiner Unabhängigkeit; als Volksrepublik Polen in neuen Grenzen nun dem sozialistischen Ostblock zugeschlagen, verblieb es im Einflussbereich Moskaus. Erst das Jahr 1989 brachte den Polen einen demokratischen, unabhängigen Staat. Zum Erbe der 123 Jahre, in denen die Polen zwar als Kulturnation existierten, nicht aber als Staatsnation, gehörte die Frage nach den Grenzen. Die prekäre Situation, in der sich Polen, bedingt auch durch 76 NIEUWAŻNY, 1999, S. 223.
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den polnisch-sowjetischen Krieg, befand, und der Wunsch Frankreichs, zur zukünftigen Eindämmung Deutschlands einen starken Partner im Osten zu haben, begünstigte die Wiederbelebung der französischpolnischen Beziehungen. Zur Festigung dieser Bande knüpfte man nun nur allzu gerne an die historische Waffenbruderschaft an. Wie kein anderer prägte außerdem Marschall Józef Piłsudski (1867-1935), der erste Staatschef Polens, das Bild der Zweiten Polnischen Republik. Er war ein großer Verehrer Napoleons. Polen konnte als souveräner Staat nun seine eigene Geschichtspolitik betreiben, und so wurde der hundertste Todestag Napoleons im Jahre 1921 zu einer staatlich organisierten, landesweiten Inszenierung französisch-polnischer Freundschaft und des Gedenkens an den historischen Freiheitskampf des polnischen Volkes. Erneut dominierte die weiße Legende Napoleons, sie konnte nun seit dem Ende der napoleonischen Zeit erstmals von offizieller Seite gefördert werden.77 Am Beispiel einer am 5. Mai 1921, dem hundertsten Todestag Napoleons, in Warschau im National- und im Militärmuseum eröffneten Ausstellung soll diese Dimension deutlich gemacht werden. Im Ausstellungkatalog sind von Ölgemälden über Medaillen und Waffen bis zu Eintrittskarten und Büchern insgesamt 1.277 Exponate verzeichnet, die Napoleon, die Polnischen Legionen und die napoleonische Zeit in Polen behandeln.78 Teil der staatlichen Erinnerungskultur waren die Benennung von Straßen und Plätzen nach den polnischen militärischen Führern der Napoleonischen Kriege und nach Napoleon selbst, die Errichtung von Denkmälern, das Abhalten von Feierlichkeiten oder etwa das Prägen von Banknoten mit dem Konterfei Poniatowskis.79 Zahlreiche Veröffentlichungen zur napoleonischen Epoche, darunter historische Abhandlungen, trugen zur Verfestigung dieses nationalen Erinnerungsortes bei.80 1926 wurde dann auch der Mazurek Dąbrowskiego zur polnischen Nationalhymne erhoben. Dennoch blieb das offizielle Gedenken stark von der politischen Konjunktur, das heißt vom Verhältnis zu Frankreich, abhängig. In dem Moment, als sich ab Mitte der zwanziger
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ZAHORSKI, 1971, S. 145f. GEMBARZEWSKI, 1921. NIEUWAŻNY, 1999, S. 229-253. ZAHORSKI, 1971, S. 153, 158-167.
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Jahre die Beziehungen beider Länder verschlechterten, wirkte sich das auch auf die staatlich zelebrierte Erinnerungskultur aus.81 Durch die Extremerfahrungen, die Polen unter zwei Totalitarismen nach dem Beginn der Okkupation im Zweiten Weltkrieg machte, diente die Bezugnahme auf die Napoleonischen Kriege in der Propaganda der polnischen Untergrundpresse vor allem als historischer Anknüpfungspunkt an den heroischen Freiheitskampf.82 Anders jedoch nach 1945: Der bittere Eindruck, der Westen habe Polen im Stich gelassen, förderte bei manchen den Gedanken, als Kanonenfutter für fremde Interessen wie einst unter Napoleon missbraucht worden zu sein.83 Zudem bestimmten die sowjetischen Machthaber nun das offizielle Gedenken, in dem Hitler mit Napoleon verglichen worden war und sich die polnischen Aufstände im russischen Teilungsgebiet wohl kaum für propagandistische Zwecke ausschlachten ließen: „It is worth noting that this form of official propaganda between 1918 and 1939 is not comparable with communist attempts post-1945 to force upon Poles the very opposite sentiment to the collective memory, expressed in the slogan: ‚eternal brotherhood of the Polish and Russian nations‘.“84 Dennoch blieb die Erinnerung an die napoleonische Ära auch nach 1945 verwurzelt – trotz Diskussionen hatte man die Nationalhymne nicht ausgetauscht – und brach sich in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung ab dem Jahre 1956 in einer Zeit politischer Lockerungen Bahn. Die zuvor radikalisierte schwarze Legende zeigte sich erneut in ihrer gemäßigteren Form oder die Historiker versuchten sich ihrer gänzlich zu entledigen. Unter veränderten ideologischen Rahmenbedingungen hob man nun verstärkt auf den patriotischen Kampf der polnischen Soldaten ab.85 Die weiterhin durch Heroismus geprägte, positiv konnotierte Erinnerung im Volk belegen etwa die erfolgreichen Theateraufführungen und Verfilmungen, die sich im sozialistischen Polen die Napoleonischen Kriege zum Thema gemacht hatten.86 Die Beibehaltung der Hymne und der Umstand, dass Adam Mickiewiczs Pan Tadeusz nie verboten wurde, illustrieren die Ambivalenz, die in der Volksrepublik 81 82 83 84 85 86
EBD., S. 168. EBD., S. 172. NIEUWAŻNY, 1999, S. 260. CZUBATY, 2016, S. 183. NIEUWAŻNY, 1999, S. 262. EBD., S. 263, 266-269.
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gegenüber einer Epoche herrschte, die sich nicht nur für eine patriotische Erinnerungskultur eignete, sondern auch antirussische Stimmungen bedienen konnte. Das 1918 wiederentstandene Polen hatte also im Rahmen staatlicher Geschichtspolitik die Erinnerung an die Napoleonischen Kriege massiv gefördert; Konjunkturen im Gedenken waren dabei stets auch Ausdruck des Bündnisses mit Frankreich und damit außenpolitischen Kalküls. In der Volksrepublik Polen war nun erneut das Gedenken massiv staatlich reglementiert, diesmal jedoch zunächst unter scheinbar umgekehrten Vorzeichen, tatsächlich blieben die Napoleonischen Kriege als polnische Befreiungskämpfe weiterhin teil staatlicher Geschichtspolitik. Wie wirkten sich nun die Umwälzungen von 1989 auf die Erinnerung an die Napoleonischen Kriege aus?
Die Transformation der Erinnerung nach 1989 bis heute Als Polen 1989 seine Unabhängigkeit wiedererlangte, fand im Zuge der gesellschaftlichen Umwandlungsprozesse auch eine Transformation innerhalb der Erinnerungskultur statt. Zwei Aspekte sind dabei von entscheidender Bedeutung: zum einen der Wegfall der Zensur, der nun wieder eine breite öffentliche Debatte zuließ, und zum anderen die Erosion einer bestimmten übergeordneten, historischen Erzählung, die in der Gesellschaft zentral verankert gewesen war. Bereits in den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts hatte die wissenschaftliche Auseinandersetzung erneut an Fahrt aufgenommen, und es erschienen bedeutende Biographien zu Vertretern der napoleonischen Epoche. In den neunziger Jahren waren Bücher, die historische Themen behandelten, Verkaufsschlager; Geschichte diente in einer Zeit der Neuorientierung als identitätsstiftender Faktor. Endlich konnte frei und ohne ideologische Zwänge über sie geschrieben werden. Das Interesse, speziell an der napoleonischen Epoche, ebbte jedoch nach einigen Jahren wieder ab und reihte sich nun neben andere historische Narrative ein. Dennoch haben sich jenseits staatlicher Direktive auch private Interessengemeinschaften gebildet, die etwa durch die beliebten Nachstellungen von Schlachten die Erinnerung kultivieren. Das Internet bietet
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zudem eine wichtige Plattform für den Austausch, wie die Seite http://www.napoleon.org.pl/ eindrucksvoll belegt. Sie informiert über Veranstaltungen und Publikationen und ermöglicht in einem Forum den Austausch zum Thema. Dass die Seite nicht nur auf Polnisch, sondern auch auf Englisch und Deutsch einsehbar ist und man sich im Forum ebenfalls über die historischen Nachstellungen in Russland austauscht, unterstreicht noch einmal die zunehmende Internationalisierung, das heißt Europäisierung des Gedenkens an die Napoleonischen Kriege, das sich im Zuge dieser Verflechtungsprozesse von einer vornehmlich nationalen Erinnerungskultur zu lösen beginnt. Zu den Inszenierungen an historischen Orten reisen Enthusiasten aus unterschiedlichen Ländern Europas als Teilnehmer und Zuschauer an. Gleichzeitig wiederfährt der Verehrung Napoleons eine gesellschaftliche Marginalisierung, verbunden mit der Infragestellung des romantischen, nationalen Opfermythos, wenn man auch von offizieller Seite diesem Vergessen entgegenzuwirken versucht. So lassen sich beispielsweise drei große Ausstellungen, eine im Krakauer Nationalmuseum aus dem Jahr 2004 und zwei im Warschauer Königsschloss der Jahre 2012 und 2015, nennen. Zu allen wurde jeweils ein ansprechend gestalteter Ausstellungskatalog herausgegeben, und während die Ausstellung von 2012 1812-2012. Napoleon – die Grande Armée – die Polen an das zweihundertjährige Jubiläum des Russlandfeldzuges anknüpfte, widmete sich jene von 2015 unter dem Titel Napoleon und die Kunst verstärkt der Rezeptionsgeschichte. Hatten diese Ausstellungen die Person Napoleons zum Ausgangspunkt gemacht, akzentuiert man an anderer Stelle die polnischen Soldaten als nationale Freiheitskämpfer. Doch ist auch deren Anschlussfähigkeit im nichtstaatlichen kollektiven Gedächtnis nur begrenzt und wird mitunter von einer regionalen Erinnerungskultur überlagert, wie das Beispiel eines 2012 in Krakau nach der Grande Armée Napoleons benannten Platzes belegt.87 So hätte der Krakauer Stadtrat zunächst gern einer Grünfläche im Stadtteil Zwierzyniec diesen Namen gegeben, doch scheiterte das am Widerstand der Anwohner, die diesen Ort lieber nach der mit dem Viertel eng verbundenen Folklorefigur des Krakauer Laj87 http://krakow.naszemiasto.pl/galeria/opis/krakow-plac-pod-wawelem-imwielkiej-armii-napoleona-zdjecia,1578507,galeria,3666939,t,id,tm,zid. html, 11.3.2016.
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Abb. 2: Platz der Grande Armée Napoleons unterhalb des Wawels in Krakau (2015). Foto: Christof Schimsheimer konik benannt sehen wollten. Man einigte sich schließlich auf einen anderen Platz in der Nähe des Wawels, der im Beisein des früheren französischen Präsidenten Valéry Giscard d’Estaing und des Krakauer Oberbürgermeisters Jacek Majchrowski feierlich eingeweiht wurde. Dieser Akt war Ausdruck einer europäisch orientierten Geschichtspolitik, denn man wollte durch die Namensgebung vor allem an die Angehörigen der Grande Armée erinnern. Somit wurde an das Bild eines Polen angeknüpft, das gemeinsam mit Frankreich, einem westeuropäischen Land, vereint im Kampf für die Freiheit einsteht. Der Systemwechsel von 1989 hat Prozesse in Gang gesetzt, die durch die wiedergewonnene Freiheit Platz bieten für heterogene Deutungsangebote in Fragen kollektiver Identitäten. Doch ist dies zugleich mit einer Relativierung historischer Narrative verbunden, so auch im Falle der Napoleonischen Kriege, als Teil des romantischen Paradigmas, das kritisch hinterfragt wird. Die nationale Integration erfährt zudem durch die europäische Integration eine Umwertung bei gleichzeitiger Regionalisierung von Identitäten als ebenfalls europäisches Phänomen.
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Fazit Die Erinnerung an die Napoleonischen Kriege, an Napoleon, an die napoleonische Epoche nimmt insgesamt in der polnischen Geschichte, Literatur und Kultur einen herausragenden Platz ein. Die Entstehung dieses Erinnerungsortes bzw. Erinnerungskomplexes, seine Konjunkturen und seine Ambivalenzen lassen sich nur in Zusammenhang mit der Herausbildung und dem Wandel des nationalen Selbstverständnisses der Polen vor dem Hintergrund ihrer staatlichen Souveränität deuten. In der longue durée, das heißt über den Zeitraum von Beginn der napoleonischen Ära bis heute, ist die Erinnerung an die Napoleonischen Kriege durchaus positiv konnotiert. Die als Helden verehrten Kämpfer für Polens Freiheit, wie Poniatowski und Dąbrowski, stehen außerdem für Tapferkeit und Treue. Die Sinnhaftigkeit ihres Handelns und der Aufopferung der Polnischen Legionen wurden immer dann in Frage gestellt, wenn die Polen als Kulturnation in der Zeit der Staatslosigkeit mit ihren Versuchen, die staatliche Unabhängigkeit wiederzuerlangen, gerade gescheitert waren. Nach dem Januaraufstand war mit der Hinwendung zum Positivismus sogar ein gesamtgesellschaftlicher Paradigmenwechsel verbunden, doch verschwand der romantische Blickwinkel auf die Napoleonischen Kriege niemals gänzlich. Er wurde stets, sei es in der Illegalität, kultiviert und wiedererneuert, wenn es darum ging, die nationale Identität generieren zu können, beziehungsweise als Instrument politischer Propaganda zu dienen. Das gilt auch für die Volksrepublik Polen. Im unabhängigen Polen der Zwischenkriegszeit griff man hingegen auf eine positive Erinnerung an die napoleonische Ära von Seiten des Staates mit Nachdruck zurück, auch als Ausdruck der politischen Verbundenheit mit Frankreich, wie schon in der Romantik und wie man es nun seit 1989 gelegentlich versucht. In der Zwischenkriegszeit wurde auch die weiße Legende Napoleons noch einmal massiv propagiert. Die Frage, ob Napoleon nun ein Freund oder ein Verräter der polnischen Sache war, hatte die Polen bald nach dessen Auftreten beschäftigt, und die Rezeption seiner Person blieb dabei ambivalent. Bereits Kościuszko hatte sich von Napoleon distanziert, und Mickiewicz war der Ansicht, der Kaiser habe letztendlich Verrat an den Polen geübt, obwohl der Autor von Pan Tadeusz Napoleon, der in der Romantik in seiner Darstel-
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lung sogar mitunter vergöttlicht wurde, ebenfalls verehrte. Lelewel gilt wiederum als Verbreiter, wenn nicht gar als Initiator der schwarzen Legende Napoleons in der Geschichtswissenschaft. Selten jedoch wurde der Mythos des genialen Feldherrn in Frage gestellt, und der schwarzen Legende Napoleons widerfuhr vor allem dann besondere Konjunktur, wenn sich die Polen von Frankreich beziehungsweise dem Westen im Stich gelassen und verraten fühlten. Seit 1989 findet nun noch einmal eine neue Entwicklung statt: Im Hinblick auf die nationale Identität sind die Napoleonischen Kriege trotz einer Geschichtspolitik, die das Gedenken auch zur Konsolidierung der polnischen Westbindung nutzt, in den Hintergrund getreten und funktionieren innerhalb der Gesellschaft neben oder als Teil weiterer Deutungsangebote, was auch als Folge einer Abkehr vom romantischen Diktum verstanden werden kann. Wenn man also nach der Europäizität dieses auch aus polnischer nationaler Perspektive umstrittenen Erinnerungsortes fragt und die Nachstellung der Schlachten mit Statisten aus unterschiedlichen Ländern einmal beiseite lässt, dann kann man vielleicht erneut auf Todorov verweisen, der die Uneinigkeit Europas in Bezug auf die Figur Napoleons als charakteristisches Beispiel für ein zumeist heterogenes europäisches Gedenken anführt. Macht man sich diesen Gedanken der Vielfalt zu eigen, dann könnte vor dem Hintergrund der innerpolnischen Divergenzen in der Rezeptionsgeschichte dieser polnische Erinnerungsort einerseits gleichsam europäischer kaum sein. Auf der anderen Seite ist es aber auch gerade seine Heterogenität, die dem polnischen Gedenken Anknüpfungsmöglichkeiten an die unterschiedlichen Erinnerungskulturen in Europa ermöglicht.
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„… die würdigen Vorläufer der großen Befreiungskriege“ Die Kämpfe gegen Napoleon in der österreichischen Geschichtskultur HANS-CHRISTIAN MANER
Hinführung – Die Kriegsereignisse in Malborghet und Predil Der Befreiungskrieg gegen Napoleon beginnt für das Kaisertum Österreich nicht erst im Jahr 1813. Bereits das Jahr 1809 erscheint im Bewusstsein der Nachwelt als Höhepunkt, ja geradezu als Inbegriff des Kampfes gegen den französischen Kaiser und übt bis in die Gegenwart eine starke Faszination aus. Denn wenn auch in der Vorstellung die militärische Kampagne für die Monarchie insgesamt ungünstig verlief, so brachte der Sieg in der Schlacht bei Aspern die erste Niederlage des bis dahin als unbesiegbar geltenden Korsen. Doch bevor der Umgang mit den kriegerischen Ereignissen des Jahres 1809 in der Erinnerung analysiert wird, sollen zunächst die Hintergrundinformationen sowie Fakten und Ereignisse präsentiert werden. Das Kriegsjahr 1809 zeichnete sich bereits länger vorher ab. Nach der Zerschlagung der preußischen Streitmacht durch die Franzosen in der Doppelschlacht von Jena und Auerstedt (1806) und dem Sieg Napoleons über Russland in den Schlachten von Eylau und Friedland (1807)
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stand dem französischen Kaiser nur noch die Habsburgermonarchie als europäische Großmacht gegenüber.1 Die Monarchie hatte inzwischen, trotz der ihr durch den Pressburger Frieden (1805) auferlegten Lasten, viel für den Wiederaufbau ihrer Armee getan. Im Jahre 1808 schien der Aufstand in Spanien, der dort starke französische Kräfte band, einen neuerlichen Waffengang gegen Napoleon zu begünstigen. So entschloss man sich im Februar 1809 zum Krieg. Der Feldzug wurde auf drei Kriegsschauplätzen geführt: mit einer Hauptarmee in Süddeutschland und zwei Nebenarmeen in Italien und Polen. Nach anfänglichen Erfolgen der Südarmee verwandelte sich die mit viel Optimismus ausgelöste Offensive sowohl bei der Hauptarmee unter Erzherzog Carl in Süddeutschland als auch bei der unter Erzherzog Johann stehenden Südarmee in einen verlustreichen Rückzug zur Deckung der Reichshaupt- und Residenzstadt Wien. Napoleon gelang es am 13. Mai, Wien fast ohne Gegenwehr in Besitz zu nehmen. Erzherzog Carl hatte trotz anstrengender, drei Wochen dauernder Gewaltmärsche die Hauptstadt nicht mehr zu retten vermocht.2 Auch auf dem südlichen Kriegsschauplatz fielen während der zweiten Maihälfte fast alle festen Plätze, darunter auch Malborghet, Predil und Tarvis sowie die obersteirischen Sperren, an die französische Südarmee. In Malborghet im Kanaltal war man seit 1808 gerade erst dabei, eine Befestigungsanlage zu bauen. Der 27-jährige Ingenieur-Hauptmann Friedrich Hensel hatte dabei die Leitung inne. Durch den Rückzug der Südarmee nach Innerösterreich erhielt dieser Platz plötzlich besonders große Bedeutung für die Sicherung des Rückzugs und für eine Behinderung des Nachrückens der napoleonischen Armee. Zwischen dem 14. und 17. Mai 1809 gab es heftige Kämpfe mit den französischen Truppen. Nach großen Verlusten, auch Hauptmann Hensel fiel, gelang es den Franzosen am 17. Mai, das Fort einzunehmen. Einen Tag später nahmen die französischen Truppen auch die Festung am Predilpass ein (im heutigen Dreiländereck Italien, Österreich, Slowenien). Dabei starb
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„… die würdigen Vorläufer der großen Befreiungskriege“
auch der Kommandant der Festung, der 28-jährige Johann Hermann von Hermannsdorf.3 Am 21./22. Mai schien der Sieg des Erzherzogs Carl über Napoleon bei Aspern das Blatt noch einmal zu wenden, doch wurde dieser Erfolg durch die schwere Niederlage bei Deutsch-Wagram am 5./6. Juli wieder zunichte gemacht.4 Am 10./11. Juli kam es zu einem letzten Gefecht bei Znaim, das für die habsburgische Armee ebenfalls unglücklich verlief. So endete der Feldzug am 14. Oktober 1809 im Frieden von Schönbrunn mit der Auferlegung neuerlicher empfindlicher Kriegslasten und mit erheblichen Gebietsverlusten für die Monarchie. Kärnten wurde dabei geteilt: der „Klagenfurter Kreis“ verblieb bei Österreich, und der „Villacher Kreis“ wurde den neugeschaffenen „Illyrischen Provinzen“ zugeschlagen.5 Die Kriegsereignisse des Jahres 1809, im Folgenden konzentriert auf die Verteidigung der innerösterreichischen Festungswerke gegen die französischen Truppen von Eugene de Beauharnais in Malborghet und am Predilpass sowie den Sieg von Erzherzog Carl bei Aspern gegen Napoleon, nahmen ihren Platz im Gedächtnis Österreichs ein.6 Die Betrachtungen der Ereignisse des Jahres 1809 in geschichtskultureller Perspektive orientieren sich an den von Jörn Rüsen entfalteten kognitiven, politischen und ästhetischen Dimensionen.7
Malborghet und Predil in der Memorialliteratur „Alle Werkskommandanten auffordern, ihre Werke bis zum letzten Atemzug halten. Lieber als Held untergehen, als die anvertraute Position als Feigling übergeben oder verlassen. Zäheste Ausdauer wird von mir ganz besonders anerkannt und belohnt werden. An Malborghet und 3 4 5 6 7
Siehe hierzu den neu aufgelegten Sammelband von WOINOVICH, 2009; vgl. auch FRÄSS-EHRFELD, 2009, S. 11-22; WEBERNING, 2009, S. 23-38; RAUCHENSTEINER, 2009, S. 111-148; STARZACHER, 2009, S. 109-116. RAUCHENSTEINER, 1969; DERS., 1983. GUTKAS, 1973. Die Erinnerung an 1809 in Tirol wird in diesem Beitrag nicht thematisiert. Siehe zu diesem Thema die Ausführungen von NORBERT PARSCHALK im vorliegenden Band. RÜSEN, 1997, S. 39-41.
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Predil denken.“8 Mit diesen Worten feuerte der Kommandant der Südwestfront die Truppen im Bereich des Landesverteidigungskommandos Tirol am 2. Juni 1915 an.9 Die Erinnerung – „an Malborghet und Predil denken“ – war mehr als 100 Jahre nach Verteidigung und Fall der beiden Anlagen unter den österreichisch-ungarischen Soldaten wohl noch so wach, dass deren Erwähnung als psychologisches Mittel dienen konnte, um aufzubauen und Mut zu machen. Dabei sollte weniger an ein militärhistorisch und taktisch interessantes Manöver eines vergangenen Krieges erinnert werden. Vielmehr wurde eine auf der emotionalen Ebene angesiedelte, vorbildstiftende „Heldengeschichte“ präsentiert.10 Diese Deutung des Geschehens findet sich bereits in dem Brief von Erzherzog Johann am 30. November 1809 an den Vater des Gefallenen Hauptmanns Johann Hermann von Hermannsdorf:11 „Lieber Herr Hofrath! […] Ihr Sohn starb eines Helden Tod; er fiel für seine Pflicht, für seinen Fürsten und Vaterland!‘ – Ich hatte ihm die Vertheidigung des Blockhauses auf dem Predil anvertraut. Eingetretene Verhältnisse brachten die Folge nach sich, daß dieser feste Punkt seinem eigenen Schicksale überlassen werden mußte; der Feind näherte sich zum Angriff desselben, und des Vertheidigers Vernehmen war, mit Ehre den Kampf zu bestehen, lieber auf dem Felde des Ruhmes zu fallen, als dem Feinde den Sieg zu erleichtern, – Auf keine Aufforderung hörend, keine Drohung des Feindes achtend, eiferte er durch sein Beispiel seine Untergebenen an; – Jeder der Seinigen war so, wie er bereit, lieber zu sterben, als ihren Posten dem Feinde unvertheidigt zu überlassen. […] Ausserhalb noch fechtend fiel Ihr Sohn mit dem Degen in der Faust erst dann, nachdem der Feind Überzahl ihn überwältigte, – So fiel Ihr braver edler Sohn für die Rechte seines Fürsten und Vaterlandes,
8 9
Zitiert nach ROSNER, 2009, S. 153. In der Berichterstattung während des Ersten Weltkrieges wird im Fall von Malborghet und Predil die Verbindung zu den Napoleonischen Kriegen gemacht. Vgl. Der Weltkrieg, 1915, S. 371f. Im Zusammenhang mit Darstellungen zum Ersten Weltkrieg finden Malborghet und Predil ebenfalls Erwähnung. Vgl. JORDAN, 2008, S. 131. 10 Hierzu ROSNER, 2009, S. 153f. 11 Brief zitiert in VELTZÉ, 2015 (Nachdruck von 1905), S. 77f.
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„… die würdigen Vorläufer der großen Befreiungskriege“ welches ihm Dank und Achtung nicht versagen kann; Jeder Soldat wird theilnehmend seinen Namen nennen, der in der Kriegsgeschichte zur Nachahmung aufgestellt bleiben wird.“
Bereits 1813 verfasste der Wiener Universitätsbibliothekar Johann Wilhelm Ridler einen Beitrag über „die Erstürmung des Forts von Malborghetto 1809“ und erweiterte dabei das Heldenepos. Dieses erstreckte sich nicht nur auf die beiden Offiziere Hensel und Hermann, sondern bezog die gesamte Mannschaft in Malborghet mit ein, die – obwohl in der Unterzahl – das Fort verteidigt hatte.12 Die Geschichtsschreibung reagierte demnach also recht bald, so dass gleich nach den Feldzügen die ersten Schilderungen dieser Waffentaten geschrieben wurden, zunächst von den Zeitgenossen, noch ganz im Banne eigener Erlebnisse, so etwa von dem Wiener Hofbibliothekar, Magistratsbeamten, Geschichtsschreiber und Historiker Anton Ferdinand Reichsritter von Geusau (1746-1811), vor allem aber von dem politischen Publizisten, Historiker, Archivdirektor und Freiheitskämpfer Joseph Hormayr Freiherr zu Hortenburg (1781-1848). Die umfangreiche Darstellung Hormayrs über Das Heer von Inneroestreich unter den Befehlen des Erzherzogs Johann im Kriege von 1809 in Italien, Tyrol und Ungarn gehört zu den ersten Werken, die in der nachnapoleonischen Zeit erschienen. Die Abschnitte in Hormayrs Rechtfertigungswerk von 1817, 1848 wiederaufgelegt, blieben allerdings lange die einzige analytische, wenn auch problematische Behandlung des Themas. Die Abhandlung beruht, wie der Titel es schon nahelegt, auf dem Material, das Erzherzog Johann zur Verfügung gestellt hatte. Seine massive Einflussnahme ist daher wohl auch nicht von der Hand zu weisen. Neben dem Heldenmut der österreichischen Soldaten wird zudem ihre Opferbereitschaft besonders herausgestellt.13 Erst ab etwa 1890 begann man, sich dann „Malborghet und Predil“ – allerdings unter vorrangig militärhistorischen Aspekten – eingehender zu nähern. So verfasste Adolf von Horsetzky, Feldmarschall-Leutnant und Kommandant der 12. Infanterie-Truppen-Division in Krakau, 1888 die strategischen Zielen dienende Schrift Kriegsgeschichtliche Über-
12 RIEDLER, 1835, S. 270-272. 13 [HORMAYR (ZU HORTENBURG)], 1817, S. 137-142.
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sicht der wichtigsten Feldzüge seit 1792. Darin schließt er sich früheren Bildern an, wenn er schreibt, dass u.a. „Hauptmann Hermann in todesmutiger Verteidigung den Heldentod“ starb.14 Die wichtigsten Darstellungen des Feldzuges des Jahres 1809 entstanden 1909 zum 100-Jahr-Jubiläum im k. und k. Kriegsarchiv, denn dem Kriegsarchiv oblag als militärischem Zentralarchiv und Zentrum der Militärgeschichtsforschung zugleich die „amtliche“ Militärgeschichtsschreibung der Habsburgermonarchie. Das „amtliche“ Feldzugswerk zum Kriegsjahr 1809 ist eine anhand von Originalquellen erarbeitete wissenschaftliche Publikation in vier Bänden: Krieg 1809 (Kriege unter der Regierungszeit des Kaisers Franz. Im Auftrag des k. und k. Generalstabes herausgegeben von der Direktion des k. und k. Kriegsarchivs). Nach den Feldakten und anderen authentischen Quellen bearbeitet in der kriegsgeschichtlichen Abteilung des k. und k. Kriegsarchivs, Wien 1907-1910. Die Reihe blieb allerdings unvollendet und berücksichtigte daher nicht alle Aspekte des Feldzuges.15 Parallel zu diesem ausführlichen, mit wissenschaftlichem Anmerkungsapparat und zahlreichen Akten- und Kartenbeilagen ausgestatteten Werk ist vom nahezu gleichen Autorenkreis eine reich illustrierte populäre Darstellung erschienen, die weite Verbreitung fand und sich großer Beliebtheit erfreute: Das Kriegsjahr 1809 in Einzeldarstellungen. Unter Leitung Seiner Exzellenz des Feldmarschalleutnants Emil von Woinovich herausgegeben von einem Kreise von Offizieren des k. und k. Heeres. Redigiert von Hauptmann Alois Veltzé, Wien und Leipzig 1905-1910. Die Gesamtausgabe umfasst elf Bände und berücksichtigt alle Schauplätze des Feldzuges.16 14 HORSETZKY, 1905, S. 203; vgl. auch ROSNER, 2009, S. 154, Anm. 6. 15 1. Regensburg. Von EBERHARD MAYERHOFFER VON VEDROPOLJE. Nebst Kartenband. Mit einer politischen Vorgeschichte von OSCAR CRISTE. 1907. 2. Italien. Von MAXIMILIAN RITTER VON HOEN und ALOIS VELTZE. 1908. 3. Neumarkt, Ebelsberg, Wien. Von MAXIMILIAN RITTER VON HOEN, EBERHARD MAYERHOFFER VON VEDROPOLJE und HUGO KERCHNAWE. 1909. 4. Aspern. Von MAXIMILIAN RITTER VON HOEN und HUGO KERCHNAWE. 1910. Pressburg. Vgl. hierzu TEPPERBERG, 2009, S. 5f. 16 1. Österreichs Thermopylen. Von Hauptmann Alois Veltzé. Illustriert von J. Karger. 1905, 3. und 4. Aufl. 1909.
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Aus Anlass des 200-Jahr-Jubiläums 2009 wurden vier Bände in einer Reprintausgabe wieder abgedruckt.17 Im ersten Band, der außergewöhnliche Popularität erlangte, schilderte Alois Veltzé den verbitterten Kampf um die festen Plätze Innerösterreichs im Mai und Juni 1809. Der 1864 in Ungarn geborene und 1927 in Wien verstorbene, besonders produktive und erfolgreiche Militärhistoriker Alois Veltzé verfasste umfangreiche Arbeiten über die Kriegsjahre 1809 und 1813 bis 1815, die von besonderer Bedeutung sind. Das Werk über 1809 trägt den bezeichnenden Titel Österreichs Thermopylen 180918. Das Vorwort wird mit dem Satz eingeleitet: „1809 ist das Heldenjahr in der Geschichte Österreichs“.19 Im weiteren Verlauf heißt es: „Gerade jenes Österreich, welches Napoleon nur zu oft so geringschätzend behandelte und dessen Fortbestand er nur so lange dulden wollte, als es seiner Laune paßte, dasselbe Österreich, welches nach dem Ausspruch seiner zahlreichen Feinde reif war beim ersten Windhauch zusammenzustürzen, um in tausend Stücke zu zerschellen, gerade dieses
2. Der Volkskrieg in Tirol. Von Oberleutnant Rudolf Bartsch. 1905. 3. Aspern. Von Maximilian Ritter von Hoen, Major des Generalstabskorps. 1906. 4. Napoleon und seine Marschälle. Von Hauptmann Oscar Criste. 1906. 5. Erzherzog Karl und die Armee. Von Hauptmann Oscar Criste. 1906. 6. Kämpfe in der Lika, in Kroatien und Dalmatien. Von Feldmarschalleutnant Emil von Woinovich. 1906. 7. Die Schill‘schen Offiziere. Von Oberleutnant Rudolf Bartsch. 1909. 8. Wagram. Von Oberstleutnant Max Ritter von Hoen. 1909. 9. Der Friede von Schönbrunn. Von Hauptmann Dr. Gustav Just. 1909. 10. Die Landwehr anno neun. Von Major Ferdinand Strobl von Ravelsberg. 1909. 11. Kriegsbilder aus Polen, Steiermark und Ungarn. Von Hauptmann Alois Veltze mit teilweiser Benützung von Aufzeichnungen aus dem Nachlasse des Hauptmanns Dr. Gustav Just. 1910. Vgl. hierzu TEPPERBERG, 2009, S. 6f. 17 Band 1: Österreichs Thermopylen; Band 2: Der Volkskrieg in Tirol; Band 3: Aspern; Band 8: Wagram. Vgl. Das Kriegsjahr in Einzeldarstellungen, 2009. 18 Der Ausdruck „Österreichs Thermopylen“ ist bis in die Gegenwart präsent, vgl. FRANKHAUSER, 2002. 19 VELTZÉ, 2009 (Nachdruck von 1909), S. 7.
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Hans-Christian Maner Reich stand 1809 allein auf, wie ein Mann, zum verzweiflungsvollen Kampf gegen den Unterdrücker des Gesamtvaterlandes, der gemeinsamen Monarchie.“20
Zwar sei Österreich im Jahr 1809 in Wagram schließlich besiegt worden, doch was Österreich in diesem Jahr vollbracht habe, sei letztendlich Europa zugute gekommen. Veltzé pointiert, dass in Russland und auf den Feldern von Leipzig das Gebäude Napoleons zusammengestürzt sei. Doch dies sei nicht voraussetzungslos passiert. Er betont: „Sind mithin Österreichs Kämpfe im Jahre 1809 die würdigen Vorläufer der großen Befreiungskriege, so sind sie uns besonders noch weit mehr als eine Aneinanderreihung glorreicher Waffentaten, weit mehr als selbst ein siegreicher Feldzug.“21 Auf der Suche nach den Ursachen für dieses Heldenjahr stellt Veltzé fest, es sei das „Herzensband“ zwischen „Volk und Dynastie“, das Napoleon entgegenschlug. Der Patriotismus der Völker, die Liebe zum Herrscherhaus und die Erinnerung an die Vergangenheit konnten, so Veltzé, mit Bajonetten nicht unterdrückt werden. Dieser „wertvolle Geist“ von 1809 müsse daher vom Verblassen gerettet werden. Die Klammer, die außerdem den Adel, das Bürgertum und die Stände zusammenhielt, war schließlich die Armee: „Die Armee war kein Fremdkörper mehr im Staate, sie ward Fleisch vom eigenen Fleische: Österreich hatte das herrlichste Bündnis geschlossen – das des eigenen Volkes mit seiner braven Armee!“22 Das Jahr 1809 sah Veltzé schließlich auch als Anlass, mit Begeisterung „die Wiedergeburt des alten Kaiserstaates zu erwecken.“23 Darüber hinaus hätte 1809 bewirkt, dass „die Völker des weitausgedehnten, vielsprachigen Reiches“ treu „zu Kaiser und Thron“ gestanden seien: „die Deutschen in Tirol und in den österreichischen Erbländern, die Böhmen und Polen, gleichwie die Ungarn, Kroaten, Slovenen, Rumänen und Serben.“24
20 21 22 23 24
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EBD., S. 8f. EBD., S. 8. EBD., S. 10. EBD. EBD.
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Abb. 1: Albrecht Adam, Die Verteidigung des Blockhauses von Malborgeth und der Heldentd des Kommandanten der Besatzung k.k. Hauptmann Friedrich Hensel am 17. Mai 1809, Öl auf Leinwand, Heeresgeschichtliches Museum Wien, 1843. Foto: https://de.wikipedia.org/wiki /Friedrich_Hensel_(Hauptmann)#/media/File:Albrecht_Adam_Malbor geth_1809.jpg, 13.7.2016 Dieses populärwissenschaftliche Werk sah Österreich als Vorreiter gegen Napoleon und in gewisser Weise als Schutzschild und als Alleinkämpfer sowie auch als mögliches Opfer: „Schwer war die Aufgabe, welche Österreich auf seine Schulter genommen hatte. Nicht nur der gigantische Arm des napoleonischen Frankreich erhob sich drohend zum vernichtenden Schlage, auch Italien, Polen, Holland, alle Rheinbundstaaten – das will heißen, außer Preußen ganz Deutschland – mußten mit in den Krieg, indes die Truppen Rußlands nur eines Winkes harrten, um in Ostgalizien einzurücken, und sogar den Türken wurden Hoffnungen gemacht auf Erweiterung ihres Besitzstandes.“25
25 EBD., S. 10f.
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Und deswegen hätte Österreich nach „allen Weltgegenden hin […] Front machen“ müssen.26 Diesem Bild entsprechend seien Malborghet und Predil die Thermopylen Österreichs gewesen, und die Helden waren Hermann und Hensel: „Gleich Leonidas bei Thermopylä, gleich Zrinyi bei Szigeth haben Hermann und Hensel die eigene Ehre, das Wohl der Armee und des Vaterlandes, über das eigene Leben gestellt.“27 In der Gestaltung des Helden konnte Veltzé zudem auf Vorbilder zurückgreifen. In der Malerei war Hensel längst kein Unbekannter mehr. Der deutsche Historien- und Schlachtenmaler Albrecht Adam legte 1843 ein monumentales Gemälde vor, das sich im Militärhistorischen Museum in Wien befindet. Eine weitere sehr bekannte Abbildung ist die Lithographie von Matthias Trentsensky, die den dramatisch zugespitzten Heldentod Hauptmann Hensels zeigt. Das Vorwort Veltzés endet schließlich mit dem Hinweis auf die Denkmäler der beiden Kämpfer; doch dazu weiter unten. Die Erinnerung an den Mai 1809 war allerdings, wie schon erwähnt, jenseits von Wissenschaft und Kriegskunst bereits seit der Mitte des 19. Jahrhunderts sehr lebhaft; neben hagiographischen und populärwissenschaftlichen Publikationen28 ging man daran, an den historischen Orten ab 1848 Fortifikationen neu zu erbauen, und schließlich wurden in der Truppenausbildung die Helden als vorbildliche Beispiele österreichischen Soldatentums wachgehalten.29 Eine erste diesbezügliche Erwähnung findet sich schon im Juni 1809, als Erzherzog Johann empfahl, den Hauptmann Hermann den Truppen als besonderes Beispiel bekannt zu geben. Die erste Gedenktafel für Hensel und Hermann wurde 1834 gestiftet. Zunächst war sie in Klosterbruck bei Znaim, dem damaligen Standort der Akademie, dann in der Wiener Stiftskaserne und zuletzt in der neuen Technischen Militärakademie in Mödling angebracht. Heute befindet sie sich in der Theresianischen Militärakademie in Wiener Neustadt. Sie ist es auch, die den berühmten Satz „Ihnen strebet nach, erreichen könnt Ihr sie, übertreffen nie!“ enthält.30 Malborghet und Pre26 EBD., S. 11. 27 EBD., S. 12. 28 Hierzu ROSNER, 2009, S. 155, Anm. 12: u. a. KRONER, 1853; [Anonym], Die Vertheidigung der Blockhäuser Malborghet und Predil, 1901. 29 Vgl. ROSNER, 2009, S. 155, Anm. 13. 30 Ehrentafel im Speisesaal der Theresianischen Militärakademie, 2016.
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dil bzw. Hermann und Hensel waren und sind im militärischen Bereich in der Zeit noch vor dem Ersten Weltkrieg, dann in der Zwischenkriegszeit und nach 1945 als Namensgeber von Gedenktagen, von Bataillonen, von Offiziersjahrgängen oder Kasernen gegenwärtig. Zur Förderung des Volkspatriotismus im Kaiserstaat dienten außerdem auch populäre Darstellungen. Ein Beispiel für die Popularisierung der Ereignisse von Malborghet und Predil und für die Verankerung der Taten von Hermann und Hensel im Gedächtnis der Monarchie ist die bildhafte Erwähnung von Hermann und Hensel zu Beginn der Darstellung von Veltzé. Des Weiteren findet sich eine Abbildung des Denkmals für Hauptmann Hermann auf dem Predilpass in dem achten Band zu Kärnten und Krain aus der Reihe der österreichisch-ungarischen Monarchie in Wort und Bild aus dem Jahr 1891.31
1809 in der Denkmalskultur Aus der Reihe von Denkmälern zur Erinnerung an die napoleonischen Kriege sollen hier die drei Schlachtendenkmäler von Malborghet, Predil und Aspern angesprochen werden. Die Denkmäler in Malborghet und auf dem Predilpass wurden 1848 im Auftrag Kaiser Ferdinands I. errichtet und 1851 in der heute bekannten Form vollendet.32 Der Form nach sind die Denkmäler gleich: Am Fuß einer klassizistischen Wandpyramide, die die Inschrift trägt, liegt ein bronzener sterbender Löwe, der die französischen Embleme, ein Lektorenbündel und einen römischen Schild unter sich begraben hat. 1858 folgte ein ähnliches Denkmal, das am Asperner Heldenplatz (heute ein Stadtteil Wiens, 22. Wiener Gemeindebezirk Donaustadt) errichtet wurde. 1850 hatte Erzherzog Albrecht, der Sohn von Erzherzog Carl, den Auftrag erteilt, ein Denkmal in Erinnerung an die Gefallenen der Schlacht bei Aspern und insbesondere in Erinnerung an die Verdienste seines Vaters zu errichten. Enthüllt wurde das Denkmal am 22. Mai 1859 anlässlich des fünfzigjährigen Jubiläums der Schlacht bei Aspern.33 31 VELTZÉ, 2009, S. 7; AELSCHKER, 1891, S. 86. 32 LESKOVAR, 2008; PIRKER, 2005. 33 TELESKO, 2008, S. 108-112.
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Abb. 2: Kriegerdenkmal zum Heldentod von Hauptmann Friedrich Hensel und seinen Kampfgefährten – am 17. Mai 1809, Malborghet. Foto: Johann Jaritz. https://commons.wikimedia.org/w/index.php? curid=2389106, 21.3.2016 Die Errichtung der Denkmäler in Malborghet und Predil zum Gedenken an 1809 hing eng zusammen mit dem Neubau der Werke 1848/50. 1882 bekam das neuerrichtete Panzerfort den Namen „Fort Hensel“, während das erst 1900 fertiggestellte Panzerwerk am Predil nach Hermann benannt wurde. Beide Denkmäler blieben ein Ausflugsziel oder ein Gedenkort für Militärs, wie das Beispiel des Denkmals am Predilpass zeigt. Die Jahrhundertfeier 1909 fand allerdings vor einer größeren Öffentlichkeit statt.34
Das Gedenken in der Presse Die Presse spielte beim Gedenken an das Jahr 1809 eine zentrale Rolle. So wird überliefert, dass sie es war, die darauf gedrängt hatte, Denkmäler für Hensel und Hermann zu errichten, noch bevor diese dann Mitte 34 Vgl. hierzu EBD., S. 400-402.
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Abb. 3: Kriegerdenkmal „Schlafender Löwe“ zum Gedenken an Hauptmann Johann Hermann von Hermannsdorf (Heldentod am 18. Mai 1809) am Fort Predel am Predil Pass. Foto: Johann Jaritz. https://upload. wikimedia.org/wikipedia/commons/1/19/Hauptmann_Hermann_Kriegs denkmal_Predil_30092005_02.jpg, 21.3.2016 des 19. Jahrhunderts verwirklicht wurden. Für die Rezeption in der Presse waren die Jubiläumsjahre 1909 und 1913 von besonderer Bedeutung. Darauf soll abschließend die Aufmerksamkeit gelenkt werden. Im Mittelpunkt stand das Gedenken an die Schlacht von Aspern, diesen zentralen österreichischen Gedächtnisort, der nicht nur in der Presse Erwähnung fand, sondern auch in zahlreichen Publikationen, Gemälden und Denkmälern. Allerdings erfolgt hier eine Konzentration ausschließlich auf einige Zeitungsberichte. Während im Jubiläumsjahr 1909 die Erinnerungen an Malborghet und Predil eher „nach innen“ gerichtet waren, beinhaltete das Memorieren der Schlacht von Aspern auch eine Reihe weiterer Aspekte. Die Innsbrucker Nachrichten oder Die Neue Zeitung stellten die Schlacht bei Aspern in einen weiten historischen Kontext. Die historische Legitimation reichte bis zu Rudolf von Habsburg, der, so die Aussage, die Herrschaft in der Ostmark auf dem Marchfeld erkämpft habe,
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indem er „König Ottokars von Böhmen Heerscharen zertrümmerte und die Macht seines Hauses begründete“.35 Erzherzog Karl avancierte gar zum „würdigen Enkel“ Rudolfs.36 Der Leitartikel des Neuen Wiener Journals vom 22. Mai 1909 widmete sich einer anderen Seite; er beschwor geradezu die Einheit von „Kaiser und Volk“: „nicht nur die Armee, sondern die ganze Bevölkerung“ feiere im Andenken an den Sieg von Aspern und gewähre so „tiefen Einblick […] in die Psyche dieser so komplizierten Monarchie“. Der „Geist von Aspern“ erfülle die „alte Monarchie“, wie es heißt, „mit unverwüstlicher Lebenskraft“ und lasse sich auch nicht durch „kleinlichen Hader“ vertreiben. Die Beschwörung der Geschlossenheit ist geradezu ein dringender Appell an den Zusammenhalt in der Monarchie jenseits nationaler oder politischer Grenzen. So hätten in Aspern auch „fünfzigtausend Ungarn heldenmütig für das gemeinsame Vaterland“ gekämpft. Zugleich sollte die Hundert-Jahr-Feier auf eine friedliche Zukunft hinweisen, ebenso wie dies bereits 1809 in Aspern der Fall gewesen sei: „auf dem blutgetränkten Boden des Marchfeldes wurde der Friede gesät, der schließlich die napoleonische Kriegsepoche beendete“.37 Die Kommemorierung des Jahres 1809 wird also 1909 unabdingbar mit dem Bestand und der künftigen Existenz der Monarchie verknüpft.38 Darüber hinaus habe Österreich mit Aspern „Deutschland das große Beispiel gegeben, ohne das der Befreiungskrieg nicht emporgestammt wäre“. Österreich habe damit Deutschland, wie es weiterhin heißt, „wahre Nibelungentreue bewiesen“. Dieser Aspekt findet sich auch während der „Aspernfeier“, wie sie in Wien bezeichnet wurde, wieder. In seiner Ansprache hob der Wiener Bürgermeister Karl Lueger „die Macht des Bündnisses mit dem Deutschen Reiche“ hervor.39 Aber nicht nur gegenüber Deutschland habe sich Österreich behauptet; das Ereignis habe „ganz Europa“ die unverwüstliche Vitalität der Habsburgermonarchie“ bewiesen. 35 BERNDT, 21. Mai 1909, S. 1; vgl. auch Berichte in Die Neue Zeitung, 20. Mai 1909, S. 1, 7f. 36 Die Neue Zeitung, 20. Mai 1909, S. 2. 37 Neues Wiener Journal, 22. Mai 1909, S. 1; vgl. auch die Darstellung im Volksblatt, 23. Mai 1909, S. 2, 5f. 38 Die Neue Zeitung, 20. Mai 1909, S. 8f. 39 Neues Wiener Journal, 22. Mai 1909, S. 2.
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Eine besondere Note enthielt noch die Ansprache des Thronfolgers, des Erzherzogs Franz Ferdinand, der seinen Blick über die Monarchie hinaus richtete. Erzherzog Karl habe „durch seinen unvergleichlichen Heldenmut das unter das Joch eines furchtbaren Gegners gebeugte Europa mit neuen Hoffnungen belebt“.40 In einer weiteren Diktion wird ebenfalls die Bedeutung des Geschehens bei Wien im Jahr 1809 für den europäischen Kontinent herausgestellt. In der Neuen Zeitung heißt es, dass durch Aspern trotz Wagram „die Saat der Begeisterung hochsproß“, „die vier Jahre später seine [Napoleons] Macht niederzwang und Europa von Napoleon befreite.“41 Diese Tendenzen sind auch 1913 während der Jahrhundertfeier der Befreiungskriege des Jahres 1813, auf die hier nicht näher eingegangen werden kann, festzustellen, als auch des Jahres 1809 erneut mitgedacht wurde. So wird in der Festschrift anlässlich der Jahrhundertfeier der Gemeinde Wien 1913 im Zusammenhang mit dem Kriegsjahr 1809 und der Schlacht von Aspern Erzherzog Karl mit den Worten zitiert: „Die Freiheit Europas hat sich unter unsere Fahnen geflüchtet.“ Doch der Gedanke bleibt hier nicht stehen; es geht nicht allein um Österreich als Beschützer europäischer Werte. Der Blick richtet sich auf die, wie es heißt, „deutschen Brüder“, die „auf ihre Erlösung“ harren.42 Neben dieser nationalen Komponente steht außerdem das Selbstverständnis, mit „Kühnheit“ und „Mut“ allein gegen Napoleon und das „halbe“ unter seinem Befehl stehende „Europa“ marschiert zu sein. Daher sei der Sieg von Aspern viel höher einzuschätzen als „alle folgenden Siege der Befreiungskämpfe“, da Österreich eben ganz auf sich allein angewiesen gewesen sei.43
Fazit Die Erinnerung an 1809 hat zunächst eine deutliche militärische Konnotation. So werden bestimmte Verhaltensweisen von Militärs in krie40 EBD. 41 Vgl. auch Arbeiter-Zeitung, 22. Mai 1909, S. 1, 3; Grazer Volksblatt, 20. Mai 1909, S. 2. 42 KRALIK, S. 51. 43 EBD., S. 52f.
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gerischen Situationen als ehrenhaft honoriert. Die Verteidigung der österreichischen Forts an den Alpenpässen Malborghet und Predil, bei der die Hauptleute Hensel und Hermann und nahezu die gesamte Mannschaft fielen, hielt den Vormarsch der französischen Südarmee um vier Tage auf, was schließlich den ungefährdeten Rückzug der österreichischen Südarmee ermöglichte. Die Zuhilfenahme des Mythos von den Thermopylen ist hier bezeichnend: es geht um eine Riegelstellung an einem militärisch-strategischen Punkt gegen eine feindliche Invasion sowie um eine Rückzugsdeckung. In beiden Fällen werden die prinzipielle Bereitschaft für das Vaterland zu sterben, das fachliche Können und die militärische Notwendigkeit betont. Und in beiden Fällen steht am Ende eine Niederlage. Hensel und Hermann werden allerdings nicht nur als militärische Vorbilder rezipiert. Sie verkörpern darüber hinaus einen identitätsstiftenden Kärntner Landesmythos. Schließlich werden sie als überregionale Helden interpretiert, die für den Zusammenhalt der Monarchie bereit waren, selbst ihr Leben zu opfern. Und erst fern am Horizont leuchtet das Bild Europas auf, das dann durch die Völkerschlacht bei Leipzig eine universelle Deutung erhält.
Quellen und Literatur AELSCHKER, EDMUND, Zur Geschichte, in: Die österreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild, Bd. 8: Kärnten und Krain, Wien 1891, S. 61-86. [ANONYM], Die Schlacht bei Aspern, in: Arbeiter-Zeitung, 22. Mai 1909, S. 1-3. [ANONYM], Der Weltkrieg, in: Allgemeine Schweizerische Militärzeitung Nr. 40, 2.10.1915, S. 371-375. [ANONYM], Karl und Aspern, in: Grazer Volksblatt, 20. Mai 1909, S. 1f. [ANONYM], Die Aspernfeier, in: Die Neue Zeitung, 20. Mai 1909, S. 2. [ANONYM], Die Schlacht bei Aspern, in: EBD., S. 7f. [ANONYM], Die Vertheidigung der Blockhäuser Malborghet und Predil im Jahre 1809. Zwei Ruhmesblätter österreichischer Kriegsgeschichte, in: Mittheilungen über Gegenstände des Artillerie- und Geniewesens 1/1901, S. 1-23.
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„… die würdigen Vorläufer der großen Befreiungskriege“
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„An der Spitze des Fortschritts“? Die preußischen Reformer und die Bundeswehr MARTIN RINK Einleitung: „An der Spitze des Fortschritts“. Preußische Militärreformen und ein Zitat Am Anfang war die Katastrophe. Buchstäblich zerschlagen hatte Napoleon die preußische Armee am 14. Oktober 1806 bei Jena und bei Auerstedt. Mit dem Untergang des altpreußischen Staates als Großmacht endete auch die norddeutsch-preußische Friedenszeit, die seit dem Basler Frieden von 1795 im Hintergrund der kulturellen Blüte von Spätaufklärung und Weimarer Klassik gestanden hatte. Auf Jena folgten sieben Jahre Besatzung, dazu einschneidende Staats-, Finanz-, Gesellschafts-, Wirtschafts- und Militärreformen. Als drastischste Einzelmaßnahme erwies sich die allgemeine Wehrpflicht. Nach ihrer Einführung in Preußen 1813/14 und zuvor in einigen Rheinbundstaaten blieb sie, abgesehen von kurzen Unterbrechungen, für zwei Jahrhunderte strukturbestimmendes Element der Armeen in den größeren deutschen Territorien – bis zu ihrer ‚Aussetzung‘, also faktischen Abschaffung, im Juli 2010. Dem Zusammenbruch Altpreußens hat der preußische Militärtheoretiker und Heeresreformer Carl von Clausewitz (1780-1831) in seinen um 1823/24 niedergeschriebenen Nachrichten über Preußen in seiner
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großen Katastrophe ein beredtes Denkmal gesetzt.1 Der erste Satz – des keineswegs vorurteilsfreien Autors – lautete: „Alle vorurtheilslosen Männer, welche Preußen vor und im Jahre 1806 beobachtet, haben von ihm das Urteil gefällt, es sei in seinen Formen untergegangen.“ Und weiter: „Man hörte die Maschine noch klappern, und so fragte niemand, ob sie auch ihre Dienste noch leiste.“2 Ganz als Reformer argumentierend – deren Stern zehn Jahre nach Ende der Befreiungskriege wieder gesunken war – machte Clausewitz sein Fortschrittsideal gegenüber dem altpreußischen Militärsystem geltend: In der preußischen Kampagne von 1806 hätten chaotische Führungsstruktur, unfähige ältliche Generale, mangelhafte Bewaffnung, unzureichende Logistik und eine veraltete Taktik nahezu zwangsläufig ins Desaster geführt. Dies blieb vorherrschende Meinung der nachfolgenden Historiographie.3 Clausewitz schilderte die altpreußischen Gefechtsübungen als „unpassend, in ewiger steriler Nachbildung des Alten und Veralteten“, den „Geist des Heeres [als] in höchstem Grade unkriegerisch“. Auch bestand „zu alle dem ein seltener Dünkel, der sogar die Besorgnisse natürlicher Furchtsamkeit einschläferte“.4 Mit den anderen Reformern teilte er die Kritik am altpreußischen „Schlendrian eines geistlosen Details“.5 Hierin mischte sich Kritik an den Vertretern der friedliebenden Spätaufklärung: Das Streben nach wirtschaftlicher Landeswohlfahrt und die damit verbundene Arbeitsteilung – besonders die Abtrennung der „Militärmaschine“ vom Rest der Gesellschaft – habe ein dysfunktionales Militärwesen hervorgebracht; dies in einer Zeit, „wo man geglaubt hatte, durch die höchste Ausbildung der Finanzen und der stehenden Heere zu einem Gipfel der Zivilisation gelangt zu sein, bei welchem die wahren Volkskräfte ganz von der Mitwirkung ausgeschlossen wären“.6 Als Kernforderung der preußischen Reformer formulierte Clausewitz, „zwei 1 2 3
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CLAUSEWITZ, 1823/24, S. 303-492, hier insbes. S. 311, S. 315. In ähnlicher Diktion: Gneisenau in FÖRSTER/GUDZENT, 1984, S. 62; BOYEN, 1990, 1, S. 127-129. CLAUSEWITZ, 1823/24, S. 303. GOLTZ, 1883; HERRMANN, 1968, S. 134-183; WOHLFEIL, 1964, S. 81-153; REGLING, 1979, S. 180-327 (zu Jena EBD., S. 257-280); FIEDLER, 1988. Vgl. dagegen die Neubewertungen bei JESSEN, 2007; LANGE, 2009, S. 1531; RINK, 2009, S. 33-60; TELP, 2005. CLAUSEWITZ, 1823/24, S. 315. EBD., S. 308. Zur „alten Schlendrianstaktik“ auch BOYEN, 1990, 1, S. 266. CLAUSEWITZ 1823/24, S. 376.
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Dinge als Hauptsachen anzusehen […]. Das eine ist die Wirksamkeit der Regierungsmaschine, wodurch die Menge zur Einheit wird, und das andere der Geist des Volkes“.7 Insofern huldigte Clausewitz den Umgestaltungsidealen der Französischen Revolution. Deren militärische Wirkung beruhte zum einen auf der „Kraft und Energie ihrer Prinzipien“ und zum anderen auf dem „Enthusiasmus, worin sie das Volk fortriß“ und alle seine Kräfte „in die Wagschale“ [sic] warf.8 Wie sein Mentor, der Organisator der preußischen Heeresreform Gerhard von Scharnhorst (1755-1813), erhob Clausewitz die Forderung nach „einer ganz allgemeinen Verpflichtung zum Kriegsdienst“.9 Dieses Kernanliegen der preußischen Reformer bildete die Brücke, über die nahezu alle Verfechter späterer deutscher Wehrpflichtkonzeptionen gingen – von den verschiedenen politischen Gruppierungen des 19. Jahrhunderts bis zum Zeitalter der Weltkriege und dann bis zur DDR und zur Bundesrepublik.10 Die preußischen Militärreformen markierten einen bewusst vollzogenen Bruch mit der Vergangenheit. Am 1. Dezember 1806 deklarierte der weitgehend seiner Armee und seines Landes beraubte preußische König Friedrich Wilhelm III. durch das Ortelsburger Publicandum eine Abrechnung mit seiner geschlagenen Armee und initiierte deren Neuaufstellung. Im Wesentlichen forderte das Dokument die Bestrafung derjenigen Offiziere, die im vorangegangenen Feldzug versagt hatten, das Verbot der Ausländerwerbung sowie die Beförderung von Offizieren nach Leistung und Bildungsvoraussetzungen statt wie bisher nach Stand.11 Am Anfang stand die Katastrophe ebenso für die Bundeswehr. Auch die Angehörigen ihrer Gründergeneration fühlten sich als Reformer und
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EBD., S. 318. EBD., S. 376. EBD., S. 310. Zu Scharnhorsts Aktendokumenten über die Planung der Wehrpflicht siehe KUNISCH u. a., 2002-2014. Hierzu die Stichwörter „Truppenergänzung, Mobilmachung“/„Allgemeine Wehrpflicht“, in: EBD. 5 (2009), S. 843; ebd. 6, (2012), S. 827. 10 Zur Bundesrepublik steht noch eine umfassende Studie des Verhältnisses der Geschichtspolitik gegenüber den preußischen Reformern aus. WOLFRUM, 1999, S. 164-185. Zur Bundeswehr: LIBERO, 2006, S. 50-56; zur DDR: WENZKE, 2010, S. 369-381. 11 Ortelsburger Publicandum wegen Abstellung verschiedener Mißbräuche bei der Armee (01.12.1806), abgedr. bei NEUGEBAUER, 1993, 2, S. 116f.
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nutzten das historische Stichwort ,Jena‘ als Argument zum Neuanfang, so formuliert im Handbuch Innere Führung vom Herbst 1957: „Auch die Scharnhorstsche Reform war alles andere als eine bloße Reaktion auf Jena und Auerstedt […]; das Versagen der Preußischen Armee und die Desorganisation des Preußischen Staates ließen nur die Notwendigkeit grundlegender politischer und sozialer Reformen offenkundig werden. Allein aus diesem Grund ist der Einwand, wir hätten eine zeitgemäße Reform nicht nötig, weil wir kein Jena und Auerstedt erlebt hätten, kein überzeugendes Argument. Abgesehen davon sollten Namen wie Stalingrad, Dresden oder Berlin oder die Jahreszahl 1945 uns daran erinnern, dass unser ‚Jena und Auerstedt’ überreichlich stattgefunden hat, wenn auch unter anderen Vorzeichen.“12
Beide Male, 1806 wie 1945, war die totale Niederlage nicht bloß ‚rein militärisch‘ zu verstehen. Wie die preußischen Reformer empfanden die Bundeswehrgründer die Notwendigkeit, die Militärreform in den gesellschaftlich-politischen Rahmen einzubetten. So wurde die Wahlverwandtschaft zwischen Bundeswehr und preußischen Reformern von Anfang an als traditionsstiftend verankert.13 Es war folglich eine glückliche Fügung, dass der offizielle Tag des Einkleidens der ersten Bundeswehrsoldaten – recht improvisiert – auf den 12. November 1955 gelegt werden konnte,14 den 200. Geburtstag Gerhard von Scharnhorsts. Als Ausgangspunkt für die Traditionsvorstellung der Bundeswehr rangierten die preußischen Reformer indessen nur an zweiter Stelle. Zu übermächtig war die Erfahrung von Nationalsozialismus und Krieg, zu augenscheinlich das Erfordernis, das Personal der künftigen westdeutschen Streitkräfte (erst ab Februar 1956 etablierte sich die offizielle Bezeichnung ‚Bundeswehr‘) von ihrer Vergangenheit zumindest soweit abzulösen, dass sie in einem demokratisch konstituierten Staatswesen Gewähr für den Schutz dieses Staates böten, statt den von vielen
12 HANDBUCH INNERE FÜHRUNG, 1957; verwendete Fassung: 2. Aufl. 1960, S. 19. Weitere identische Auflagen: 3. Aufl. 1964; 4. Aufl. 1966; 5. Aufl. 1970. Zum Verweis auf Jena vgl. ECHTERNKAMP, 2014, S. 357. 13 ZIMMERMANN, 2007, S. 115-129; NÄGLER, 2010, S. 449; KÖSTER, 2010, S. 317-330; LIBERO, 2011; BIRK u.a., 2012; RINK, 2015a, S. 85-105. 14 THOSS, 1998, S. 147f.; MEIER-DÖRNBERG, 1994, S. 107-118.
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„An der Spitze des Fortschritts“?
befürchteten ‚Staat im Staate‘ zu bilden. Die Bundeswehr musste einen bewussten Bruch mit der Vergangenheit vollziehen. Ein vollständiger Neuanfang war aber rein biologisch kaum möglich: Um 1960 dienten im Offizierkorps der Bundeswehr 12.360 vormalige Offiziere der Wehrmacht; 300 kamen aus der Waffen-SS.15 Als wesentliche Stellschraube der Veränderung verblieb also die innere Neuausrichtung. Diese sollte, zunächst als ‚Inneres Gefüge‘, dann als ‚Innere Führung‘ bald zum Markenzeichen der Bundeswehr avancieren. Mit Scharnhorsts Namen verband sich die Bundeswehrtradition nicht nur wegen seines Geburtsdatums. Vielmehr konnte mit ihm ein Beispiel aus der (etwas ferner liegenden) Geschichte gewählt werden, das es erlaubte, sich von der (soeben beendeten) Geschichte zu distanzieren. Die Verdammung des Alten zur Proklamation des Neuen bildete die Brücke auf dem Weg zu einem angemessenen Traditionsverständnis der Bundeswehr: „Kein geschichtliches Leben ohne Tradition! ‚Lebendig‘ aber kann Tradition nur in der Wandlung bleiben. Erst wo Tradition erstarrt, tritt sie in Widerstreit mit dem Leben und entzieht sich damit der Zukunft. ‚An der Spitze des Fortschritts stehen‘ (Scharnhorst) meint eine Haltung, die sich an den immer neuen Aufgaben mißt und dabei stetig Kraft zu neuer Entfaltung entwickelt.“16
Das Handbuch Innere Führung, in dem diese Konzeption hervortrat, war ein zentrales Dokument der jungen Bundeswehr. In seinen fünf Auflagen von 1957 bis 1970 war es die maßgebliche Referenzquelle, aus der sich die ersten Soldatengenerationen zur Konzeption der Inneren Führung informieren konnten und sollten. Das Handbuch versammelte einschlägige Vorträge, die der maßgeblich für den Aufbau der Bundeswehr und das Innere Gefüge zuständige Militärexperte Wolf Graf Baudissin (1907-1993; seit 1951 als Mitarbeiter und Referent, zwischen 1955 und Mitte 1958 als Unterabteilungsleiter tätig) und seine Mitarbeiter im Mai und Juni 1956 vor den ersten Vertretern des künfti15 STUMPF, 2005; WEHLER, 2008, S. 213-215, S. 307-310, S. 377-384, S. 431f. 16 HANDBUCH INNERE FÜHRUNG, 1960, S. 51 (Hervorhebung des Namens Scharnhorsts im Original fett).
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gen Bundeswehr-Führungspersonals in Sonthofen gehalten hatten.17 Die gedankliche Unterscheidung zwischen äußerlicher Konvention und Tradition im Sinne einer bewussten Auswahl aus der Vergangenheit blieb kennzeichnend für das Traditionsverständnis der Bundeswehr. Bei dem in Rede stehenden Textabschnitt handelte es sich um einen leicht umgearbeiteten Aufsatz, den Baudissin im September 1956 in der Zeitschrift Wehrkunde veröffentlicht hatte.18 Dabei besteht freilich ein Problem: der Verweis auf Scharnhorst erfolgte in wörtlicher Anlehnung an die zur Zeit der Bundeswehraufstellung aktuellste Fachpublikation zum Protagonisten der preußischen Heeresreform: „Fortschritt und Tradition sind keine Gegensätze. Sie werden nur von den Dogmatikern künstlich dazu gemacht. Beide gehören im Grunde zusammen und ergänzen sich. Der Fortschritt bedarf, um sich nicht zu verlieren, der Tradition als Anknüpfungspunkt, als Grundlage, von wo er innerhalb einer Lebenseinheit wirken und weiterbauen kann. Echte Tradition aber bedarf des fortschrittlichen Geistes, um in ihren Formen lebendig, wandlungs- und anpassungsfähig sein zu können. Tradition aber in der Armee muß es sein, in Form zu bleiben und an der Spitze des Fortschritts zu marschieren.“19
Der Autor dieser Passage, Reinhard Höhn (1904-2000), hatte sein Buch Scharnhorsts Vermächtnis 1952 veröffentlicht. Im Handbuch Innere Führung erfuhr er zwar keine namentliche Erwähnung, doch muss er – bei Kenntnis der ebendort nachgewiesenen Literatur – den Herausgebern bekannt gewesen sein.20 Bei Höhn handelt es sich um einen inte17 NÄGLER, 2010, S. 265-268. 18 BAUDISSIN, 1956. Das Originalzitat lautet hier (ohne den Klammerverweis auf Scharnhorst): „Kein geschichtliches Leben ohne Tradition! ‚Lebendig‘ aber kann Tradition nur in der Wandlung bleiben. Erst wo sie erstarrt und abgestorben ist, tritt sie in Widerstreit mit lebendiger Entwicklung und entzieht sich damit der Zukunft. ‚An der Spitze des Fortschritts stehen‘ ist recht verstanden, wenn es eine Haltung meint, die sich an den immer neuen Aufgaben mißt und dabei genügend Kraft zu neuer Entfaltung entwickelt.“ (S. 430). Auszugsweise wieder abgedruckt in SCHUBERT, 1969, S. 79-86, hier S. 79-82; vgl. HANDBUCH INNERE FÜHRUNG, 1960, S. 49-53. 19 HÖHN, 1952, S. 89. Zitat im Wortlaut identisch in der dritten Auflage unter anderem Titel: DERS., 1981, S. 89. 20 Mit dem Hinweis auf die fehlerhafte Entlehnung bei Scharnhorst: ABENHEIM, 1989, S. 35.
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Abb. 1: Oberst Wolf Graf von Baudissin, Dezember 1954. Foto: Bundespresseamt/Bundesbildstelle, Fotograf: Rolf Unterberg. https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/2/2b/Wolf_von_ Baudissin_4843214038.jpg. 13.7.2016
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ressanten und schillernden Autor, über dessen Biographie noch manches zu forschen wäre.21 Der 1904 geborene und 1934 habilitierte Jurist stieg im September 1934 zum Leiter des Instituts für Staatsforschung an der Berliner Universität auf. Als „Prototyp des SS-Intellektuellen“ avancierte er in den Anfangsjahren des NS-Regimes zum Abteilungsleiter des Sicherheitsdienstes (SD) im Reichssicherheitshauptamt. Nachdem er 1939 aus dem aktiven Dienst des SD ausschied, erreichte er als Direktor des Instituts für Staatsforschung an der Universität den Rang eines SS-Oberführers (zwischen den Dienstgraden Oberst und General).22 Hier verfasste er in sehr rascher Folge eine Fülle von Publikationen zur Militärgeschichte.23 Dabei ragt das im papierknappen Jahr 1944 publizierte, über 700 Seiten starke Werk Revolution – Heer – Kriegsbild zur Wandlung von Taktik und Kriegsbild zwischen Französischer Revolution und preußischer Reformzeit zweifellos durch Umfang und Quellenfülle heraus.24 Nach dem Krieg publizierte Höhn weitere militärgeschichtliche Werke.25 Im März 1956 – nach zwischenzeitlichem Untertauchen und Entnazifizierung – gründete er die Akademie für Führungskräfte der Wirtschaft in Bad Harzburg, wo er im Jahr 1962 das bekannte Harzburger Modell entwickelte.26 In diesem Institut entstan-
21 Zur Kritik an der unkritischen Übernahme von Höhns militärhistorischen Auffassungen in der Bundesrepublik: KROENER, 1989, S. 45, sowie insbesondere MÖNCH, 1999. 22 Eine Biographie zu Reinhard Höhn steht noch aus. Einordnung und Biogramm in: REICHHERZER, 2012, S. 394, S. 433f. WILDT, 2003, S. 161, Fußnote 51 (Zitat); DERS., 2011. Zur generationellen und weltanschaulichen Verortung ferner: MÖNCH, 1999, S. 82; HERBERT, 1996. Eintrag zur Sonderausstellung zum Institut für Staatsforschung in der Königstraße 71 der Gedenk- und Bildungsstätte im Haus der Wannsee-Konferenz: http://www. ghwk.de/fileadmin/user_upload/pdf-wannsee/sonderausstellungen/institutfuer-staatsforschung.pdf, 20.1.2014. 23 HÖHN, 1936; DERS., 1938; DERS., 1940a; DERS., 1940b; DERS., 1941. 24 DERS., 1944. 25 DERS., 1963; DERS., 1964; DERS., 1959-1969. 26 Ohne Verweis auf Höhns Vorleben: www.die-akademie.de/die-akademie/ historie-der-akademie, 17.2.2016. Eine Erforschung dieser dreifachen Schnittstelle von Verfassungsgeschichte, Militärgeschichte und Management im Kontext der (Dis-)Kontinuitäten vor und nach 1945 wäre lohnend. Hierzu: WILDT, 2011; SALDERN, 2009.
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den zahlreiche Publikationen zu den Themen Führung, Management, Organisation und Motivation.27 Gewissermaßen war dies die ‚Verwirtschaftlichung‘ und ‚Bundesrepublikanisierung‘ seiner zuvor im geistigen Zentrum des NS-Regimes betriebenen Tätigkeit. Die Anlehnung eines zentralen Bundeswehrdokuments an einen vormaligen NS-Intellektuellen wirft Fragen auf, zumal es der von Baudissin selbst in die Welt gesetzte Ausdruck „an der Spitze des Fortschritts“ zum geflügelten Wort innerhalb der Bundeswehr brachte. Dass Höhns Name im Handbuch Innere Führung keine Erwähnung fand, mag noch ein der Quellengattung als Arbeitsdokument geschuldetes Versehen sein; immerhin war der im Verteidigungsministerium herrschende Zeit- und Arbeitsdruck just um die Jahreswende 1956/57 unter dem neuen Bundesminister der Verteidigung Franz Josef Strauß (19151988) immens. So mag es erklärbar sein, dass hier neben zeitgenössischen Eigentümlichkeiten wie den Literaturangaben mit „a.a.O.“ (teils ohne entsprechende Erstnennung28) ein Literaturverzeichnis fehlte – abgesehen von einer kleinen Literatursammlung zum Kapitel „Staatsbürger in Uniform“.29 Damit wurde die Zuschreibung des Höhn-Zitats auf Scharnhorst vor-angelegt. Eigentlich aber musste die Kette der Verweise den in der einschlägigen zeitgenössischen Literatur Bewanderten geläufig sein: Das Handbuch stützte sich ausgiebig auf die 1955 erschienene Anthologie des sozialdemokratischen Pädagogen und Geschichtsdidaktikers Georg Eckert (1912-1974), die ihrerseits dezidiert auf Höhns Werk von 1944 verwies.30 Bezeichnenderweise kam auch die von Baudissin betriebene Formung eines inneren Leitbildes vom Soldaten in der Demokratie – und zwar in Abkehr von der NS-Vergangenheit – nicht ohne konzeptionelle Anleihen bei eben dieser Vergangenheit aus. Ein guter Teil der Baudissin’schen Konzeption der Inneren Füh-
27 Nur eine Auswahl der reichhaltigen Managementliteratur: HÖHN, 1964a; DERS., 1964b; DERS., 1966; DERS., 1970; DERS./BÖHME, 1970; DERS., 1971; DERS., 1973; DERS., 1979; DERS., 1981; DERS./BÖHME, 1986; DERS., 1988. 28 HANDBUCH INNERE FÜHRUNG, 1960, S. 69: Verweis auf „RITTER a.a.O.“ Gemeint ist mit Sicherheit: RITTER, 1954, 1970. 29 HANDBUCH INNERE FÜHRUNG, 1960, S. 46. 30 ECKERT, 1955. Vgl. HANDBUCH INNERE FÜHRUNG, 1960, S. 65-68.
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rung beruhte auf einer neugefassten Version vom „modernen Soldaten“ als „politischen Soldaten“.31 Mitte der 1960er Jahre hatte sich das angebliche Scharnhorstzitat längst verselbstständigt. Auch Heinz Karst (1914-2002),32 bis 1957 Mitarbeiter Baudissins und später dessen (indirekter) Nachfolger als Referatsleiter (von 1959 bis 1963) und inhaltlicher Kontrahent, paraphrasierte in seinem 1964 erschienenen Buch zum Bild des Soldaten den von Höhn vorgegebenen und von Baudissin übernommenen Absatz. Auch Karst empfahl unter Bezug auf Scharnhorst eine Verzahnung von Fortschritt und Tradition für die Bundeswehr.33 Während Karst im Verlauf der 1960er Jahre zunehmend als Wortführer der Konservativen in der Bundeswehr auftrat, etablierte sich im selben Zeitraum das Amt des Wehrbeauftragten der Bundeswehr des Deutschen Bundestages als Garant der Inneren Führung in der Truppe. Lange Zeit wurden deren Grundsätze von einem großen Teil des wehrmachtgedienten Führungspersonals der jungen Bundeswehr teils offen, teils subkutan abgelehnt.34 Angesichts eklatanter Mängel in der Menschenführung, insbesondere bei der Fallschirmjägertruppe, sah sich der Wehrbeauftragte Hellmuth Heye (1895-1970) zum Gang an die Öffentlichkeit veranlasst.35 In seiner Philippika verurteilte Heye das elitäre Gebaren der Nagolder Fallschirmjäger – unter indirekter Anlehnung an das angebliche Scharnhorst-Zitat: „Diese Supermänner fühlen sich mehr ihrem eigenen Korps verpflichtet als dem Staat dem sie dienen sollen. Sie kapseln sich ab. Die konsequente Anwendung der Grundsätze der Inneren Führung schließt diese Art von Elitedenken aus. […] Wir sollten uns von dem, was in der Vergangenheit überflüssig war, trennen. Darin kann ich keinen Bruch mit einer Tradition sehen. Tradition ist vor allem etwas Geistiges. Sie bedeutet: An der Spitze des Fortschritts marschieren.“36 31 NÄGLER, 2010, S. 15f., S. 234, S. 487-492. Zu gesellschaftlichen Diskursen um die (Dis-)Kontinuitäten der Vergangenheit und ihrem Eingang in die Führungsphilosophie der Bundeswehr: ECHTERNKAMP, 2014, S. 239-415. 32 Biogramm in: NÄGLER, 2010, S. 33f. 33 KARST, 1964, S. 259 (hier unter Bezug auf die Fundstelle bei Höhn). 34 ZIMMERMANN, 2014, S. 295-310. 35 SCHLAFFER, 2006. Zur Nagold-Heye-Affäre: EBD., S. 160-180. 36 HEYE, 1964, S. S. 63f.
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Wehrpflicht und „Volkskrieg“. Das politisch-semantische Erbe der Reform Infolge der Begegnung mit der Französischen Revolution und Napoleon wurde auch in Deutschland die Idee einer Einheit von „Volk und Heer, Bürger und Soldat, Kriegsstand und Ehre, Militär und Begeisterung für das Vaterland“ formuliert.37 Auch diese 1978 getroffene Aussage im monumentalen Werk Geschichtliche Grundbegriffe stützte sich auf Reinhard Höhn. Ihr folgte die historische Zunft in der Bundesrepublik, soweit sie sich mit dem nach 1945 anrüchig gewordenen Thema der Militärgeschichte überhaupt noch befasste. Trotz der proklamierten Einheit stellte sich jedoch die Frage, wem die tonangebende Rolle zukam – dem „Volk“ oder dem „Heer“. Das war das große Thema im 19. Jahrhundert.38 Das Kampflied der Französischen Revolution, die Marseillaise, beschwor den Bürgersoldaten, der sich den ausländischen Söldlingen entgegenstellte.39 Auf diesem Gedankenmodell bauten die preußischen Reformer auf – daher rührte das ihnen zur Last gelegte Attribut des ‚Jakobinertums‘. Und deren Kernleistung, die Wehrpflicht, fand eine Umschreibung in Scharnhorsts berühmtem Diktum von 1807: „Alle Bewohner des Staats sind geborne Verteidiger desselben“. Genau so sagte es vorher Lazare Carnot (1753-1823), einer der wichtigsten Befürworter der als Voräuferin der preußischen Wehrpflicht geltenden levée en masse.40 Ein Ausgangspunkt der preußischen Heeresreform war zweifellos die – in der bürgerlich-liberalen und dann bundesrepublikanischen Geschichtserzählung meist nachrangig behandelte – taktisch-organisatorische Reform. In der Aufbauorganisation wurden die verschiedenen Waffengattungen in gemischten Brigaden (später: Divisionen) zusammengefasst, was eine flexiblere taktische Führung der Truppenverbände ermöglichte. In der taktischen Reform hielten neben der Kombination von Linien- und Kolonnenaufstellung Elemente des kleinen Krieges 37 CONZE u. a., 1978, S. 14. 38 WALTER, 2003. 39 Chant de guerre pour l'armée du Rhin dédié au Maréchal Lukner (= Rouget de Lisle: Marseillaise), zit. nach der Faksimilewiedergabe des Erstdrucks, Straßburg, 7. Juli 1792, in: HOCHEDLINGER, 1990, S. 9. 40 SCHARNHORST, Mémoire zur Verfassung der Reservearmee vom August 1807. In: GERSDORFF, 1983, S. 235-241, hier S. 235 (Zitat); OPITZ, 1999, S. 5.
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(wie die Schützentaktik, Sicherungstätigkeiten sowie Gefechtshandlungen wie Handstreiche und Hinterhalte) Eingang in die Gefechtsformen aller regulären Truppen. All diese erfolgten analog zu ähnlichen Reformen in der französischen Armee. Doch blieb der kleine Krieg in seiner Spielart als Guerilla nur eine von zwei Möglichkeiten des ‚Volkskrieges‘. Die Ausbildungsreform folgte einerseits, hinsichtlich der Aufstiegschancen zum Offizier, dem bürgerlichen Leistungs- und Bildungsideal.41 Damit entstand aber nicht allein der (zeitweilige) Trend zur Verbürgerlichung des (Landwehr-)Offizierskorps, sondern auch zur Professionalisierung des Offizierberufs. Überdies bestand im 19. Jahrhundert die Armee nun dauerhaft als Volltruppe und wurde nicht mehr, wie zuvor die altpreußische Armee, lediglich zu den ein bis zwei Exerziermonaten im Jahr zusammengefasst. So wurden nun nicht mehr aktive Soldaten für die Masse ihrer Dienstzeit beurlaubt, sondern umgekehrt Zivilisten qua Wehrpflicht für einen – theoretisch für alle Staatsbürger verbindlichen – Lebensabschnitt als aktive Soldaten eingezogen und hernach als Reservisten bereitgehalten.42 Diese Institutionalisierung des Militärs bildete indessen die Kehrseite der von den Reformern beschworenen bürgernahen Armee. Die allgemeine Wehrpflicht ermöglichte die enorme Mobilisierungsleistung in Preußen von 1813: Jeder fünfte Mann wurde aufgeboten.43 Dabei war die Wehrpflicht genau besehen weder „allgemein“ noch ausschließlich „wehrhaft“ noch durchweg „verpflichtend“. Vielmehr wurden zwischen Februar und April 1813, zeitlich und nach Zielgruppe gestaffelt, fünf Mobilisierungsformen initiiert: Die Linienverbände wurden vermehrt. Dies und die Neuschaffung der Landwehr als Reserveformation bildete den Kern der preußischen Mobilisierung von 1813. Nicht zufällig erfolgten die Proklamation zur Landwehr und der königliche Aufruf „An Mein Volk“ zur gleichen Zeit. Davor war die Bildung von Freiwilligenverbänden deklariert oder vom König gebilligt worden: Preußische, bisher nicht militärdienstpflichtige junge Männer aus wohlhabenden und gebildeten Haushalten sollten sich den Freiwilligen Jägerdetachements anschließen. Für nicht-preußische, aber deutsche ‚Ausländer‘ wurden gleichzei41 SIKORA, 2010, S. 43-64. 42 HOPKIN, 2013, S. 125-185. 43 GROSSER GENERALSTAB, 1914, S. 327.
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tig Freikorps errichtet – wie die berühmten Lützower.44 Einen Monat nach der Landwehr wurde der Landsturm aufgeboten. Proklamiert wurde er als eine Art Guerilla, faktisch endete er jedoch als Mobilisierungsreserve und Ordnungsformation.45 Im Folgejahr wurde dies reguliert zur Skala von Linie, Landwehr Ersten und Zweiten Aufgebots, Landsturm sowie dem besonderen Modus der Einjährig-Freiwilligen.46 Mit der Wehrpflicht korrespondierten die Reformen des Militärrechts sowie die neugefassten Richtlinien zu dem Themenkomplex, den die Bundeswehr zwei Jahrhunderte später unter dem Begriff „Inneres Gefüge“ fasste. So forderte der preußische Militärreformer August Neidhardt von Gneisenau (1760-1831) schon 1808 mit einem Zeitschriftenaufsatz die „Freiheit der Rücken“ und eine ehrenvolle Behandlung eines jeden Soldaten. Dies stand im Zusammenhang des Ziels einer „Verallgemeinerung der Waffenpflichtigkeit“ – in deutlicher Abgrenzung von dem als Barbarei verurteilten Militärstrafsystem Altpreußens.47 Neben der pragmatisch-militärischen Zielsetzung betonten die preußischen Reformer stets auch die politischen Größen – teils als Ausfluss ihrer in der Zeit von Militäraufklärung und Revolution geprägten Geisteshaltung, teils aber im Rahmen einer politischen Mobilisierungsrhetorik. Daher blieben die Symbole der Befreiungskriege im weiteren Verlauf so doppeldeutig wie die Bezeichnungen „Befreiungskriege“ in monarchischer und „Freiheitskriege“ in liberaler Diktion.48 Dazwischen oszillierten die zunächst dynastische, dann patriotisch-deutsche Denkmalsbewegung, die sich unter dem schwarz-rot-goldenen Banner sammelnden Burschenschaftler und später die Revolutionäre von 1848/49. Die weitreichendste Wirkung entwickelte jedoch das Eiserne Kreuz. Dieser Orden war das einzige greifbare Ergebnis aus den Gedankenspielen Gneisenaus, der seinem König im Jahr 1811 (wie zuvor schon 1808) einen Volkskrieg nach Art der Guerilla angetragen hatte.49 Der im März 1813 gestiftete Orden für alle Klassen wurde zum Symbol der 44 45 46 47
RINK, 2016; DERS., 2013. RINK, 2010, S. 65-87. WALTER, 2003, S. 235-324. GNEISENAU, Freiheit der Rücken. In: Volksfreund, 9.7.1808. In: NEUGEBAUER, 1993, 2, S. 89f. Hierzu: STÜBIG, 1971, S. 91; KESPER-BIERMANN, 2010, S. 131-152, hier S. 131-136, S. 150. 48 Siehe dazu den Beitrag von KLAUSING/WICZLINSKI im vorliegenden Band. 49 RINK, 2015, S. 99-122; THIMME, 1901, S. 78-110.
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preußisch-deutschen Militärgeschichte schlechthin.50 Über alle tiefen Brüche und Kehrtwendungen in den zwei Jahrhunderten danach blieb das Eiserne Kreuz eine der sehr wenigen symbolischen Klammern der deutschen Militärgeschichte. Das galt insbesondere für die Armee, die sich mit gutem Grund von der Vergangenheit vor 1945 zu distanzieren suchte: Die ansonsten schmucklos-prosaische Geburtsstunde der Bundeswehr am 11. November 1955 erfolgte unter einem großen Eisernen Kreuz. Mit der Verwendung dieses Signums in der Bundeswehr bleiben die preußischen Reformer symbolisch präsent bis heute – und damit indirekt die Idee vom Volkskrieg. Die Idee des Volkskrieges nährte sich aus der Kritik an den stehenden Heeren, die bereits das aufgeklärte Schriftgut durchzogen hatte – von der französischen Encyclopédie bis zu dem preußischen Philosophen Immanuel Kant (1724-1804).51 Auch Gneisenau behauptete, es habe „zur Entnervung und Entartung der Völker nichts mehr beigetragen“ als die stehenden Heere.52 Damit verknüpfte sich die Wehrpflicht mit der Ablehnung des „Söldners“ als Inbegriff des „Fremden“. Semantische Verschiebungen erfolgten so vom wertneutral auch als „Söldner“ bezeichneten Soldaten zum „Söldner“ als gesinnungslosem Fürstenknecht. Diesem wurde nun der ideell motivierte Vaterlandsverteidiger als Antipode gegenübergestellt.53 Kurz nach Beendigung der Befreiungskriege definierte der Staatswissenschaftler Karl von Rotteck (17751840) in frühliberaler Diktion: „Nationalstreiter sind, Welche [sic] ihren eigenen Krieg, Soldaten, Welche den Krieg eines Heren [sic] führen.“ Entsprechend kontrastierte er die „Volkskriege“ mit den „Soldatenkriegen“.54 Die im weiteren 19. Jahrhundert in Preußen und dem Deutschen Reich um die Rolle von Heeresverfassung, -gliederung und -finanzierung ausgefochtenen politischen Kämpfe verbanden sich mit dem politischen Partizipationsstreben des Bürgertums. Für dieses hatten die „Freiheitskriege“ die Aussicht auf Statuserhöhung über die Teilhabe am adlig konnotierten Offizierskorps ermöglicht. Freilich war dies auch dazu geeignet, nach Vollendung der erstrebten (klein-)deutschen Eini50 WERNITZ, 2013, S. 49-133; VELTZKE, 2014. 51 DIDEROT/D’ALEMBERT 15, 1765, S. 311 („soldat”); EBD., 10. 1765, , S. 369 („mercenaire“); KANT, 1795/96. 52 GNEISENAU, Denkschrift August 1808, in: THIMME, 1901, 92f. 53 SIKORA, 2003, S. 210-238; RINK, 2010a; DERS., 2010b. 54 ROTTECK, 1816, S. 56-58 (Zitat S. 56).
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gung ab 1871 in einen Integrationsmilitarismus umzuschlagen. Längst hatte sich die Wehrpflicht als doppeldeutige Angelegenheit erwiesen: zwischen der (von Konservativen befürchteten) Verbürgerlichung des Militärs einerseits und der (von Liberalen und Sozialisten befürchteten) Militarisierung der Gesellschaft andererseits. Letztere erfolgte qua Wehrpflicht – und erneut unter Berufung auf die preußischen Reformer – im Zeitalter der Weltkriege in ihrer Extremform.55 In der Bundesrepublik verkomplizierte es die Haltung zur ‚deutschen Vergangenheit‘ (wie die Zeit von Ambivalenz, Mitläufertum, Indoktrination und rassenideologischem Vernichtungskrieg zwischen 1933 und 1945 oft verschämt genannt wurde) außerordentlich, dass das NS-Regime selbst aktiv die propagandistische (Um-)Inszenierung der deutschen Geschichte betrieben hatte: Das im 19. Jahrhundert zur Schau gestellte militärische Gepränge wurde unter Vereinnahmung des preußischen Erbes vom nationalsozialistischen Staat derart weitergeführt, dass die militärische Fassade des NS-Staates am Ende das Militär selbst als dessen Inbegriff erscheinen ließ. In der Tat hatten sich seine Führungskräfte ab 1933 dem Regime empfohlen; und spätestens ab 1944 ließ sich – sieht man von den Beteiligten des militärischen Widerstandes 20. Juli 1944 ab – die Wehrmacht zur nationalsozialistischen „Volksarmee“ umformen.56 Trotz der offenen Distanzierung blieben dadurch Ideologeme, die einst im NS-Regime gepflegt worden waren, in der Bundesrepublik gültig – und zwar in inhaltlicher Negation unter Beibehaltung des Argumentationsmusters. In besonderer Weise galt dies für die Konzeption Höhns vom Enthusiasmus als militärischer Ressource. In seinem Werk Revolution – Heer – Kriegsbild hob der Autor den Wert der moralischen Größen hervor. In den Ideen der Französischen Revolution „zeigt sich deutlich, daß Ideen eine Großmacht sind, deren richtiger Einsatz in einem Kriege entscheidend sein kann. Hier ward deutlich, was wir heute [1944] vielleicht erst richtig verstehen können, daß es nicht möglich ist, gegen eine neue Ideenwelt vom Boden eines alten Staats- und Denksystems aus Krieg zu führen.“57
55 KROENER, 2008, S. 83-107; FÖRSTER, 1985; BECKER, 2003, S. 125-141. 56 DEIST u. a. , 1979; Förster, 2007. 57 HÖHN, 1944, S. 148.
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Die Ablösung der Armee von der Pedanterie beschrieb Höhn unter Verweis auf den durch Scharnhorst initiierten „Geist des Fortschritts“58. Unter der Überschrift „Der Enthusiasmus in Scharnhorsts Deutung“59 stand Höhns Kapitel zur Entwicklung des Kriegsbildes im Gefolge der Französischen Revolution. Zu diesem stilisierte er die Tirailleurs – also die in aufgelockerten Schützenformationen kämpfenden Soldaten – der französischen Revolutionstruppen. Für ihre Erfolge in den 1790er Jahren sei ihr Enthusiasmus ausschlaggebend gewesen. In der Tat erlangten sie die Aufmerksamkeit in der zeitgenössischen Militärliteratur.60 Wenn Höhn den Volksaufstand als „Allheilmittel in Gneisenaus Denkschriften von 1808“ feierte, waren Bezüge in seine eigene Gegenwart festzustellen, ebenso wie die geplante „gesetzliche Entfesselung des Chaos“ mittels der Landsturmkonzeption von 1813 – deren Nichtverwirklichung im Sinne eines totalen Krieges er dann auch bedauerte:61 In Wirklichkeit blieb die militärische Erfolgsbilanz der französischen Revolutionstruppen oft durchwachsen – wie auch die ihrer Gegner.62 Mit der Betonung des enthusiasmierten Volkskrieges lag der SSIntellektuelle auf der Linie seines „Reichsführers“. Die von Reichsführer-SS Heinrich Himmler (1900-1945) betriebene Vereinnahmung des preußischen Königs Friedrichs des Großen (1712-1786) für seine Ziele steigerte sich insbesondere nach dem 20. Juli 1944, als er die Chance ergriff, neben der (Waffen-)SS nun auch das Ersatzheer der Wehrmacht in seinem Sinne zum „nationalsozialistischen Volksheer“ umzuprägen: „Tradition erscheint mithin als ein Prozeß permanenter Erneuerung, dessen wichtigste Stufen in der Vergangenheit das Werk der preußischen Soldatenkönige, die Heeresreformen Scharnhorsts und Gneisenaus, die ‚Befreiungskriege‘, der Erste Weltkrieg und die Freikorpsbewegung waren […]. Das politische Soldatentum der SS verstand sich folglich als nichts anderes denn als die zeitgemäße Verkörperung alter
58 EBD., S. 485. 59 EBD., S. 502-505, S. 508-514. 60 HÖHN, 1944, S. 120-131; dagegen: DOEPNER, 1975. Zur Geschichte der Schützentaktik und des damit verbundenen kleinen Krieges: HAHLWEG, 1962; PARET, 1966; RINK, 1999, S. 245-265. 61 HÖHN, 1944, S. 624-656. 62 BLANNING, 1996, S. 116-128.
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So kam der Figur Gneisenaus eine tragende Rolle im Propagandafilm Kolberg zu, dessen Uraufführung bezeichnenderweise am 30. Januar 1945, dem zwölften Jahrestag der NS-„Machtergreifung“, erfolgte. So wurde er zwar nicht mehr für das Publikum wirkmächtig, illustriert aber um so klarer die Bezugnahme der NS-Ideologie auf die preußischen Reformen. In die Worte des während der Befreiungskriege gefallenen Nationspoeten Theodor Körner (1791-1813) kleidete der Propagandaminister Joseph Goebbels (1897-1945) seine berüchtigte Rede im Berliner Sportpalast am 18. Februar 1943, als er den totalen Krieg ausrief: „Nun, Volk steh auf und Sturm brich los!“
Preußische Reform und Bundeswehr. Essenz oder Stichwort? Die erste Sitzung zur möglichen Gestalt künftiger westdeutscher Streitkräfte erfolgte auf einer Geheimtagung im abgelegenen Himmeroder Kloster im Oktober 1950. Die markante und für das weitere Vorgehen kennzeichnende Devise zum Inneren Gefüge lautete: „[Es] sind die Voraussetzungen für den Neuaufbau von denen der Vergangenheit so verschieden, daß ohne Anlehnung an die Formen der alten Wehrmacht heute grundlegend Neues zu schaffen ist.“64 Das seit dieser Tagung beschworene Ziel blieb gleichzeitig, eine Gleichberechtigung der Bundesrepublik mit den anderen Westmächten, zumindest aber Mitsprache auf den Ebenen Staat, Streitkräfteführung und der einzelnen Soldaten zu erlangen: weitestgehende Souveränitätsrechte der Bundesrepublik, militärische Gleichrangigkeit in Form der Ausstattung mit modernen Panzern sowie die Rehabilitierung des ‚deutschen Soldaten‘. Das Streben nach professioneller Anerkennung sowie das bis 1960 in die Bundeswehr einströmende vormalige Wehrmachtpersonal machten die junge westdeutsche Streitmacht anfangs in mancher Hinsicht zu einer 63 WEGNER, 1997, S. 63-65 unter Verweis auf zwei Reden Himmlers vom März und Juli 1944 (Zitat S. 65). 64 RAUTENBERG/WIGGERSHAUS, 1985, S. 53.
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„BundesWehrmacht“.65 Als Gegengewicht dazu verfolgten die Gründungsväter der Bundeswehr das Ziel, den „politisch blinden Professionalismus“, der die früheren preußisch-deutschen Armeen angeblich gekennzeichnet habe, auszuschalten. Die zeitgenössische Memoirenliteratur sowie die seit 1950 aktiver hervortretenden Soldatenverbände betonten die vermeintliche politische Nichtbeteiligung der Wehrmacht am NS-Regime und hoben die Kriegsverbrechen von SS und SD hervor.66 Adenauers Sicherheitsbeauftrager, der spätere erste Verteidigungsminister Theodor Blank (1905-1972), beschwor gegenüber dem Bundestag im Juni 1955 das Ziel, eine „demokratische Volksarmee“ aufzubauen;67 ein Jahr bevor die DDR am 1. März 1956 ihre „Nationale Volksarmee“ aus der Taufe hob. Der Preis für die beanspruchten Mitspracherechte der westdeutschen Soldaten war in Form mehrfacher Integration zu entrichten.68 Die beabsichtigte Gesamtstreitkräftegliederung sollte eine Abkehr vom Egoismus der Wehrmachtteile oder Teilstreitkräfte bezwecken, zudem aber auch die Streitkräfte einhegen, da diesen eine ‚zivile Bundeswehr‘ für Administrations-, Rechts- und Rüstungsangelegenheiten an die Seite gestellt wurde. Diese intendierte Straffung konnte indirekt auch als Erbe der Reformer verstanden werden. Dagegen ließ sich der Primat der Politik klar an Clausewitz, die Wehrpflicht klar an Scharnhorst koppeln. Die einschlägigen – und über 150 Jahre hinweg – variantenreich wiedergegebenen Verweise auf beide Reformer gehörten zu den wenigen unstrittigen Anlehnungspunkten in der Tradition der Bundeswehr. Die von den preußischen Reformern betriebene Neugestaltung der Offizierauswahl nach Bildungskriterien wurde noch unter der sozialliberalen Koalition zu Beginn der 1970er Jahre propagiert. Eine solche Anlehnung boten die preußischen Reformer auch für das Menschenbild der Inneren Führung: im Sinne 65 SCHLAFFER, 2010, S. 342. 66 SEARLE, 2003, S. 139-175, insbes. S. 174f.; WROCHEM, 2009, S. 282-392; ECHTERNKAMP, 2014, S. 412f. 67 ABENHEIM, 1989, S. 11 (erstes Zitat), S. 51 (zweites Zitat); zur Anlehnung der im Entstehen begriffenen Bundeswehr an die preußischen Reformer EBD., S. 12f. 106f., S. 204f. 68 So die späteren Generalinspekteure der Bundeswehr de Maizière (19661972, ab 1952 bereits Mitarbeiter im Amt Blank) und Wellershoff (19861991): MAIZIÈRE, 2005; RAUTENBERG/WIGGERSHAUS, 1985, S. 40. Zu den inhärenten, aber bislang zu wenig thematisierten Zielkonflikten dieser Mehrfach-Integration: RINK, 2015a, S. 11-14, S. 202-208.
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des Dreiklanges vom „modernen Soldaten“, der „freier Mensch, guter Staatsbürger und vollwertiger Soldat zugleich ist“.69 Die offiziellen Dokumente der Bundeswehr betonten den Neubeginn, so die vom Verteidigungsministerium herausgegebene Schrift Vom künftigen deutschen Soldaten. Ganz im Sinne Baudissins, aus dessen Bereich sie stammte, koppelte die Schrift die Neuausrichtung des Inneren Gefüges an das Bekenntnis zur Demokratie, an eine zeitgemäße Menschenführung und an die Totalität der Auseinandersetzung im „Zeitalter des totalen Krieges“.70 Analog zur Höhn-ScharnhorstParaphrase forderte das 1955 erschienene Werk: „Es kommt also darauf an, das Gute einer bewährten Tradition zu übernehmen, um es mit dem als zweckmäßig erkannten Neuen zu verbinden – zur Schaffung einer Truppe, die schlagkräftig genug ist, unser demokratisches Staatswesen zu schützen!“71 Unter Verweis auf Clausewitz wurde der moderne Volkskrieg angesprochen,72 unter Verweis auf Scharnhorst die Fähigkeit zum selbständigen Denken.73 Die Schrift proklamierte das „Ziel Scharnhorsts, den Bürger für sein Vaterland zu interessieren und als Soldaten für die Verteidigung seiner eigenen Sache zu gewinnen“.74 In besonderer Weise bezog sich das Handbuch Innere Führung auf die preußischen Reformer. Die Baudissin‘sche Konzeption verband mit ihnen die Absage an das überholte, überkomplex gewordene und in äußere Formen erstarrte Militärsystem vor 1945 bzw. vor 1806. Wenn Baudissin den Paradesoldaten der stehenden Heere im Zeitalter des Absolutismus kritisierte, meinte er damit auch die Schleiferei nach Art der Wehrmacht im Stile der Chiffre 08/15: Vorbild der Bundeswehr sei, eingekleidet in die Worte des SPD-Mitbegründers August Bebel (18401913), der „Kriegssoldat“.75 Stattdessen forderte die Schrift die Bewährung des Soldaten im „Heißen Gefecht“ und suchte der konservativen Kritik entgegenzutreten, die Freiheit mit Verweichlichung gleichsetz-
69 Theodor Blank nach Vorarbeit durch Baudissin am 10. Januar 1953, zit. nach NÄGLER, 2010, S. 15. Vgl. HANDBUCH INNERE FÜHRUNG, 1960, S. 17. 70 DIENSTSTELLE BLANK, 1955 S. 20f. 71 ELBLE, 1957, S. 18. 72 EBD., S. 37-39. 73 EBD., S. 42. 74 EBD., S. 57. 75 HANDBUCH INNERE FÜHRUNG, 1960, S. 58f.
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te.76 Wesentlich – und durchaus auf der Linie der preußischen Reformer – war die Forderung des Handbuchs, im Untergebenen den Menschen ernst zu nehmen und daher Gehorsam aus Einsicht zu erzeugen.77 Zentrale Passagen galten der Ablehnung der „Söldner“. Diese Kritik am „Ewigen Landsknecht“78 war ein Leitmotiv, das unter regem Verweis auf die preußischen Reformer wiederholt wurde: „Das klare Verhältnis zum Dienstherrn gehört […] zu den Eckpfeilern der deutschen soldatischen Tradition. Diese Tradition wird verlassen, wenn man den Dienstherrn innerlich ablehnt und sein Soldatenethos daraus herleiten zu können meint, daß, man seinen Dienst um des Dienstes willen tut, die Haltung des Landsknechts. Er wurde als ‚Söldner‘ nicht wegen des Geldes verachtet […]. Das Geld ist es nicht, aber die Bindungslosigkeit, die den Landsknecht vom Soldaten scheidet.“79
Mit der Wendung gegen die „Funktionäre des Tötens“ verband sich das Werben um Verständnis für „Frondeure aus Gewissenszwang“.80 Als „eidgetreuer ‚Nur-Soldat‘“ war ein Dienst in der Bundeswehr nicht denkbar; so das – anfangs hoch umstrittene – Konzept Baudissins und des Handbuchs. Hintergrund war die aktuelle Spannung zwischen den vormaligen Wehrmachtsoldaten, die sich in Ablehnung des Widerstandes vom 20. Juli 1944 auf den von ihnen geschworenen Eid auf ihren „Führer“ beriefen; erst zum 15. Jahrestag von 1959 erließ der erste Generalinspekteur der Bundeswehr Adolf Heusinger (1897-1982) einen Tagesbefehl, in dem er die Bundeswehr klar in die Tradition des Widerstandes stellte.81 Allerdings blieb auch das Handbuch selbst nicht ohne Doppeldeutigkeiten: Zwar bekannte es sich explizit zum Widerstand, doch fielen die Namen seiner Protagonisten nicht.82 Zwar wurden Grenzen des Ge76 77 78 79 80 81 82
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Ebd., S. 42. EBD., S. 113, S. 119. EBD., S. 18f. EBD., 1960, S. 69. EBD., S. 64f. LIBERO, 2011, S. 192 (Zitat). HANDBUCH INNERE FÜHRUNG, 1960, „Gedanken zum Widerstand“: S. 7985. Ludwig Beck wurde ohne direkten Zusammenhang zum Attentat auf Hitler erwähnt (EBD., S. 61, S. 74). Die später von der Bundeswehr so prominent vereinnahmten Namen Claus Schenck Graf von Stauffenberg und
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horsams am Beispiel des „Bandenkampfs“ gegen die Partisanen und den daraus resultierenden Kriegsverbrechen im Zweiten Weltkrieg klar aufgezeigt.83 Keine Erwähnung aber fanden in diesem Kontext Gneisenaus Pläne zum totalen Widerstand nach Art der Guerilla von 1808 und 1811. Diese aber wurden prominent präsentiert in der Anthologie Eckerts, und auf diese wiederum verwies das Handbuch ausgiebig.84 Den historischen Ausgangspunkt für das Eiserne Kreuz bildete letztlich genau die Kriegskonzeption, den die Wehrmachtveteranen an ihren früheren Kriegsgegnern in den besetzten Gebieten so vehement ablehnten. Zum anderen aber lieferte der Verweis des Handbuchs auf unbequeme Vertreter des alten Preußentums – so Friedrich August Ludwig von der Marwitz (1777-1837) und Johann David Ludwig Yorck von Wartenburg (1759-1830),85 beide Gegner einer die Privilegien des Adels gefährdenden preußischen Reformpolitik – eine klare Brücke vom preußisch-deutschen Soldatentum zum mitdenkenden Soldaten der Bundeswehr. An der Spitze befanden sich nach dieser Konzeption die preußischen Reformer. Unter Berufung auf Clausewitz betonte das Handbuch den Zusammenhang von Militär und Politik: „Die wirklichen Veränderungen der Kriegskunst sind eine Folge der veränderten Politik.“ Wenn der geforderte „Staatsbürger in Uniform“86 auf die freiheitliche Grundordnung und die Demokratie zu verpflichten war, dann unter Ablehnung des „Bolschewismus“ und – extrem häufig genannt – des „Totalitären“87. Entsprechend erfolgte die Nennung des Widerstandes vom 20. Juli 1944 in einem Atemzug mit dem DDR-Regime „in Pankow“, wie man in der Bundesrepublik der fünfziger Jahre die politische Führung in Ost-Berlin nannte. Unter Berufung auf zahlreiche Scharnhorst- und Gneisenau-Zitate wurden die von den preußischen Refor-
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Henning von Tresckow sucht man im HANDBUCH vergebens (vgl. Namensregister EBD., S. 189-191). Zur Eidfrage: EBD., S. 9-13; LANGE, 2002, S. 184-223. HANDBUCH INNERE FÜHRUNG, 1960, S. 62f. Diese wurden so prominent präsentiert in der Anthologie Eckerts, dass sie für die Urheber des HANDBUCHS INNERE FÜHRUNG nicht übersehbar gewesen sein kann. HANDBUCH INNERE FÜHRUNG, 1960, S. 160-227. EBD., 1960, S. 66. EBD., S. 7 (Zitat), S. 41-43 (Abschnitt, ‚Staatsbürger in Uniform‘). EBD., S. 11, S. 20-25, S. 38, S. 42, S. 50, S. 72-74, S. 84f., S. 143-156, S. 170.
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mern hervorgehobenen moralischen Größen herausgestellt. Die beiden Kernelemente der Inneren Führung waren laut Handbuch erstens die „geistige Rüstung“88, zweitens die „zeitgemäße Menschenführung“. Während letzteres auf eine menschenwürdige Behandlung der Soldaten abzielte, bezog sich ersteres auf die ideelle Dimension: auf die Erzeugung einer im Sinne der Zeit politisch korrekten Grundhaltung als antitotalitärer Indoktrination. Daraus ergab sich die Baudissin‘sche Verknüpfung von Fortschritt und Tradition: „Innere Führung ist keine Erfindung der Bundeswehr.“89 Darauf fußte die für die weitere Entstehung des Traditionsverständnisses der Bundeswehr maßgebliche Unterscheidung zwischen Konvention und Tradition: „Verwechseln wir Tradition und Konvention, d.h. Inhalt und Form, verbauen wir uns die lebendige Verbindung sowohl zur Vergangenheit als auch zur Gegenwart.“90 So wie die preußischen Reformer mit dem Verbot der Ausländerwerbung die Figur des durch seine Unzuverlässigkeit geradezu definierten Söldners stigmatisierten, fanden sie einerseits einen Sündenbock, andererseits beanspruchten sie die Landeskinder als Rekrutierungsreservoir für den Staat. Ebenso verurteilten die Gründungsväter der Inneren Führung den ‚ewigen Landsknecht‘. Beiden Konzeptionen gemeinsam war der politische Soldat. Problematischerweise war diese Auffassung aber 13 Jahre vor Gründung der Bundeswehr vom NS-Intellektuellen Höhn proklamiert worden – quellenkundig, doch mit klarer Zielsetzung. In Ablehnung des NS-Ungeistes wie in Fortführung von dessen antibolschewistischer Grundhaltung bedienten sich die Bundeswehr-Reformer ähnlicher Formen und Sprachanlehnungen – nun aber mit der Forderung nach dem politischen Soldaten in der Demokratie.
88 Zum Begriff unter Verweis auf die Entstehungszeit im Rahmen der bellizistischen Konzeptionen im Gefolge des Versailler Vertrages: REICHHERZER, 2012, S. 75. 89 HANDBUCH INNERE FÜHRUNG, 1960, S. 67, S. 85 („Pankow“), S. 169 (Zitat). 90 EBD., S. 52.
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Die Preußische Reformzeit in der bundesrepublikanischen Historiographie „Am Anfang war Napoleon“; so Thomas Nipperdeys Zitatenklassiker.91 Die frühe deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert stand im Schatten des Mannes, den Carl von Clausewitz als den „Kriegsgott selbst“ bezeichnete.92 Angesichts dessen muss es erstaunen, dass just die militärischen Aspekte der Epoche Napoleons in der bundesrepublikanischen Geschichtswissenschaft wenig Berücksichtigung fanden,93 wenn diese nicht, wie bis in die 1960er Jahre hinein, der traditional-nationalen Erzählungsbahn folgte.94 Seit den 1970er Jahren pflegte die westdeutsche Historiographie die in der preußischen Geschichtserzählung weitgehend ausgeblendete Perspektive des ‚Dritten Deutschland‘ der Rheinbundstaaten. Bei dieser sehr angebrachten Ehrenrettung blieben indessen militäraffine Gegenstände weitgehend ausgeklammert.95 Ironischerweise blieb dadurch der Rheinbund als genuines Militärbündnis ohne eingehende Studie seines Daseinszwecks. Ungewollterweise behielt dadurch der borussische Erzählungsstrang seine Persistenz. Die DDR-Historiographie beschwor mit dem antiimperialistischen „Volkskrieg“ die „deutsch-russische Waffenbrüderschaft“.96 Auch hier erschien Preußen als „Deutschland“. Die noch Mitte der 1990er Jahre beklagte „Ghettoisierung der Militärgeschichte“97 ist seitdem einer umfassenden Erforschung der militärgeschichtlichen Aspekte der Gesell91 NIPPERDEY, 1987, S. 11. 92 CLAUSEWITZ [1832], 8. Buch, Kap. 3 A, S. 959; SCHMIDT, 1995, S. 167186. 93 DEMEL, 2005, S. 220f., 241, 253f.; HAHN/BERDING, 2010, S. 88-95. Keine Strukturgeschichte des Militärwesens bietet MÖLLER, 1989; oberflächlich streift sie WEHLER, 1989. 94 ANDREAS, 1955; WOHLFEIL, 1964, S. 17-26. Neueren Datums, doch in traditioneller Diktion: KANDIL, 2011. 95 HOFFMANN, 2013, S. 30-42. 96 So ausgeprägt HEITZER, 1959. Vgl. aber die durchaus brauchbaren Publikationen und Editionen der DDR-Forschung zur Militärgeschichte der preußischen Reformzeit: zu Boyen siehe BOYEN 1990; zu Scharnhorst GUDZENT/USCZECK, 1986. 97 KROENER, 1996, S. 23. Umfassendere Werke zur Militärgeschichte der Zeit um 1800: WALTER, 2003; HAGEMANN, 2002; PLANERT, 2007; DIES., 2009; ASCHMANN, 2013; HOFBAUER/RINK, 2016.
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schafts-, Gender- und Kulturgeschichte gewichen.98 Aspekte von Strategie und Taktik bleiben demgegenüber oft unterbelichtet, ganz im Gegensatz zur britischen, aber auch französischen und spanischen Forschung.99 Gleichwohl erlauben es Untersuchungen zu den gesellschaftlich-kulturellen Rahmenbedingungen in der Umbruchszeit um 1800 erst, überkommene Vorstellungen zum ‚Kriegsbild‘ kritisch zu hinterfragen. In der jungen Bundesrepublik lebten ältere historische Mythen fort. Unter dem Titel Deutschland ein Rheinbund? versammelte der SpiegelHerausgeber Rudolf Augstein (1923-2002) im Jahr 1953 wiederbewaffnungskritische Artikel in Buchform, garniert mit protestantisch-norddeutscher Skepsis gegenüber dem Staatswesen, das sich im Kern um die „rheinisch-katholische Landschaft im Verbund mit Bayern“ gruppierte.100 Die Frage nach dem Militarismus bildete eine Leitfrage im einflussreichen Werk des Historikers Gerhard Ritter (1888-1967) Staatskunst und Kriegshandwerk, dessen erster Band 1954 erschien.101 Diesen Militarismus – im Sinne einer professionellen Isolierung des Militärs von Politik und Gesellschaft – galt es zu überwinden. Die klassische Lanze für den wehrpflichtigen Bürgersoldaten brach schon im Januar 1949 der spätere erste Bundespräsident Theodor Heuss (1884-1963), als er im Parlamentarischen Rat das geflügelte Wort von der allgemeinen Wehrpflicht als legitimem Kind der Demokratie prägte.102 Auch der Staatsrechtler Ernst Rudolf Huber (1903-1990) betonte in seinem wirkungsmächtigen Werk zur deutschen Verfassungsgeschichte 1957: „Die staatsbürgerliche Freiheit mußte das Fundament der politischen wie der 98 Allgemein: Nowosadtko, 2002; Echternkamp u. a., 2010; Kühne/Ziemann, 2000; Müller/Rogg, 2013; Echternkamp, 2013; DERS., 2015. 99 So die gelungene Synthese im Band von CHICKERING/FÖRSTER, 2010. Dabei stammt bezeichnenderweise keiner der sechs Beiträge zur Sektion zu den „growing dimensions of battle“ aus der Feder der deutschsprachigen Autorenschaft. Bisweilen beklagt auch die britische Forschung das Desinteresse der universitären Forschung an Militärdingen: LIEVEN, 2009, S. 4. Vgl. NEITZEL, 2007. 100 DANIEL [AUGSTEIN], 1953, S. 2 (Klappentext). Und noch im August 1960 polemisierte der Bundestags-Vizepräsident Thomas Dehler (FDP): „Die Bundesrepublik, der Rheinbund-Staat, die erweiterte Rheinische Republik, sie ist nicht das deutsche Vaterland.“ Zit. nach WOLFRUM, 1999b, S. 55. 101 RITTER, 1954/1970. 102 MEIER-DÖRNBERG, 1994, S. 107f.
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militärischen Ordnung werden. Ja, das neue Bild des Soldaten setzte die verfassungsmäßige Freiheit des Bürgers geradezu voraus.“103 Und der Generalstabsoffizier a. D. und Militärexperte der Frankfurter Allgemeinen Zeitung Adelbert Weinstein (1916-2003) betonte 1955: „Die Allgemeine Wehrpflicht ist die demokratischste Form einer Bewaffnung – dieser Satz steht wie ein rocher de bronze.“104 Teils indirekt, teils durch direkte Bezugnahme (wie auf Ritter) beeinflussten diese Werke die Diktion im Handbuch Innere Führung – und somit der Bundeswehr. In den genannten Werken der 1950er Jahre wurden wesentliche Anliegen der Reformer quellenkundig nachgezeichnet, teilweise aber auch so umformuliert, dass sie in die Zeit passten: Schließlich entspannen sich zur Zeit ihrer Veröffentlichung erbitterte Debatten um die westdeutsche ‚Wiederbewaffnung‘ oder ‚Remilitarisierung‘. Dabei wurden nicht nur liberale Topoi überliefert, welche die preußischen Reformer einst selbst propagiert hatten. Vielmehr wurden auch Ideen weitergetragen, die sich im bürgerlichen Militarismus der Kaiserzeit verfestigt hatten und bis in die Weimarer Republik hineingetragen wurden.105 Höhns Berufung auf die preußischen Reformer ließ sich in den breiten Korridor dieser Entwicklungsstränge einordnen, nun in systemkonformer NS-Deutung. Somit war es nur plausibel, dass auch in der bundesrepublikanischen Geschichtsforschung – und auch in der Bundeswehr – die komplexe Erbschaft eines Gedankenguts zu Tage trat, in dem auch (aber nicht nur) ein Teil des NS-Erbes eingewoben war. Die in der Nachkriegszeit von einstigen Wehrmachtgrößen betriebene Dekontextualisierung der Wehrmacht vom politischen Zweck, dem der militärische Einsatz im Zweiten Weltkrieg gegolten hatte, geriet nun zu Recht auf den Prüfstand: Der Soldat der Bundeswehr hatte seine Tätigkeit in den Kontext der ihn umgebenen politischen (demokratischen) und gesellschaftlichen (pluralistischen) Größen zu stellen und diese neue Verortung zu bejahen. Dieser geforderten Erweiterung des professionellen Denkhorizonts entsprach die thematische und methodische Erweiterung der Disziplin der Militärgeschichte. Im von der Bundeswehr seit 1957
103 HUBER, 1957, S. 240. Zu Hubers Einfluss auf die frühbundesrepublikanische Staatsrechtslehre GROTHE, 2015, zu seinem intellektuellen Vorleben vor 1945 ECHTERNKAMP, 2015. 104 WEINSTEIN, 1955. 105 WETTE, 1994, S. 91-106; WEITZDÖRFER-HENK, 2010, S. 312f.
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unterhaltenen Militärgeschichtlichen Forschungsamt wie in der universitären Geschichtsschreibung verblieben semantisch-konzeptionelle Minen verborgen: Lange noch sprach man von „Wehrgeschichte“. Deren Konzept hatte allerdings schon im Jahr 1940 der damals junge Historiker Gerhard Oestreich (1910-1978) als integrierte Geschichtsschreibung umrissen, womit dezidiert die militärischen Größen in diejenigen von Politik und „Volk“ einzuordnen waren.106 Die klassisch-nationalstaatliche deutsche Historiographie betonte den krassen Gegensatz zwischen Vormoderne vor dem Jahr 1789 und der darauffolgenden „Moderne“; dieser erwies sich im Licht der jüngeren Frühneuzeitforschung seit den 1990er Jahren oftmals als Konstruktion nachfolgender Zeitalter.107 Mehr noch: Das namentlich in den 1930er und 1940er Jahren gepflegte Interesse an den historiographischen Konzepten von Sozialdisziplinierung und Konfessionalisierung sollte in der Nachkriegszeit durch Forscher wie Oestreich weitergepflegt werden. Neben wichtigen Impulsen für die Sozial- und Militärgeschichte wurzelte aber dieses Forschungsinteresse ursprünglich im Faszinosum für soziale Beherrschungssysteme. Auch hier verweisen bundesrepublikanische Forschungsparadigmen auf national(sozial)istische Belastungen.108 Demgegenüber blieb die bereits durch die preußischen Reformer geprägte – und danach von Liberalen wie Rotteck ebenso wie von Nationalkonservativen oder Nationalsozialisten wie Höhn weitergetragene – Kennzeichnung der altpreußischen Armee als hoffnungslos unzeitgemäße Maschine bis Ende der 1980er Jahre bezeichnend für die bundesdeutsche Forschung. Die Akzentuierung des vormodernen Charakters der altpreußischen Monarchie verband sich nach 1945 mit der Erzählung von einer Militarisierung der Gesellschaft und mit dem Konzept der Sozialdisziplinierung, das nun gesellschaftskritisch gelesen werden konnte.109 So wie die Schriften der preußischen 106 OESTREICH, 1940. Vgl. dazu die scharfe Entgegnung ebenfalls im NSGeist: SCHMITTHENNER, 1940. 107 Zu diesen Kontinua vor und nach 1800 vgl. insbesondere die Forschungen von PLANERT, 2007; DIES., 2009. 108 Vgl. die subtile Erörterung der historiographischen Paradigmen von „Konfessionalisierung“, „Sozialdisziplinierung“ und „Modernisierung“ durch ZWIERLEIN, 2007, 498-511. 109 OESTREICH, 1969, S. 187 (Zitat), S. 191. Vgl. REICHHERZER, 2012, S. 393, S. 436 (Biogramm Oestreichs).
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Reformer die Trennung von Militär und Gesellschaft geißelten, kennzeichnete Oestreich die Armee als einen „bedrohlichen Fremdkörper in der Hand des Herrschers“ gegenüber der Gesellschaft. In liberal-progressiver Umprägung von Ritters Militarismusthese kennzeichnete der Historiker und Preußenkenner Otto Büsch (1928-1994) 1961 das preußische Sozialsystem als vom Militär derart durchdrungen, dass eine „Militarisierung der Agrargesellschaft“ erfolgt sei.110 Es musste der Eindruck entstehen, dass sich eine soziale Isolierung des Militärs und eine Militarisierung der Gesellschaft gleichzeitig ausgeprägt habe. Eine solche Doppelentwicklung entsprach wohl den obrigkeitlichen Normen der Zeit, musste sich jedoch in praktischer Hinsicht gegenseitig ausschließen. Offensichtlich wurden die Begriffe ‚Disziplinierung‘ und ‚Militarisierung‘ synonym gebraucht. Dem widersprach aber die Klage von Reformern wie Clausewitz über den Mangel an ‚kriegerischem Geist‘ im alten Preußen vor 1806. Von einer pauschalen ‚Militarisierung der Gesellschaft‘ konnte offenbar nicht die Rede sein. Vieles beruhte auf späteren semantischen Umprägungen; auch durch die Reformer selbst. Die Geschichte des im Jahr 1957 als Bundeswehrdienststelle etablierten Militärgeschichtlichen Forschungsamtes (MGFA) erweist sich als Brennspiegel der Geschichte der bundesdeutschen Militärgeschichtsschreibung und gleichzeitig der inneren Geschichte der Bundeswehr und somit der bundesrepublikanischen Gesellschaft.111 Auch hier dauerte der Kampf gegen die – nicht zuletzt von der ‚Militärgeschichtsschreibung in Uniform‘ im 19. Jahrhundert für sich reklamierte – professionelle Isolierung bis in die 1970er Jahre (und lebte in mentalen und methodischen Weiterungen noch Jahrzehnte länger fort). Erbitterte Debatten entspannen sich um die Konzeption des monumentalen Werks Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg (1979-2008):112 In der Tat bot der vom NS-Regime geplante und von der Wehrmachtführung unterstützte Vernichtungskrieg kaum Anlass, dessen historiographische Darstellung auf das ‚rein militärische‘ Operationsgeschehen zu reduzieren. Nach erbitterten internen Kontroversen setzte sich die 110 BÜSCH, 1981, S. 72, S. 167. 111 Hierzu: ECHTERNKAMP, 2010; DERS., 2013; DERS., 2015; THOß, 2010; RINK, 2007. 112 DEIST u. a., 1979.
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Definition durch, die Rainer Wohlfeil als langjähriger – und zuletzt leitender – MGFA-Historiker prägte: „Der Gegenstand der militärgeschichtlichen Betrachtung ist die bewaffnete Macht als Institution und aller ihrer Erscheinungsformen in ihren Beziehungen zueinander und zu den Gegenständen der allgemeinen Geschichte – oder anders ausgedrückt, die Militärgeschichte fragt nach dem Militär als Mittel der Politik in der Hand der Staatsgewalt und nach der bewaffneten Macht als Faktor und politischer Kraft im Rahmen des Staates.“
Gemäß dieser erweiterten Auffassung sei „der Soldat in allen seinen Lebensbereichen“ zu betrachten.113 Diese Konzeption zeigte zugleich die empfundene Isolierung der Militärhistoriker von der akademischen Wissenschaft. Die Parallele zur Ablehnung des aufs „rein Militärische“ reduzierten „Nursoldaten“ im Handbuch Innere Führung war offenkundig. Zwar galt das erste Reihenwerk des MGFA, das sechsbändige Handbuch zur Militärgeschichte 1648 bis 1939,114 der Darstellung der Militärgeschichte von 1648 bis 1939 – also vom (so identifizierten) ersten Aufkommen stehender deutscher Militärverbände bis zum Beginn des Zweiten Weltkrieges. Bezeichnenderweise aber erschien der Band zur „militärischen Kriegführung“ erst mit Verzögerung. Das bedeutete zwar keine Verbannung der „militärischen“ Aspekte aus der wissenschaftlichen Disziplin der Militärgeschichte; wohl aber deren Einhegung. Die im MGFA betriebenen Forschungen zur Militärgeschichte im Zeitalter Napoleons kamen ab 1970 weitgehend zum Erliegen115; abgesehen von kleineren Schriften,116 Editionen117 und den einschlägigen Abschnitten in den Lehrwerken.118 Das vordringliche For113 114 115 116 117
WOHLFEIL, 1967, S. 21-29. MILITÄRGESCHICHTLICHES FORSCHUNGSAMT, 1983. WOHLFEIL, 1964; DERS., 1965; GROOTE/MÜLLER, 1968; GROOTE, 1969. KROENER, 1989. Zahlreiche vom MGFA betreute Editionen von Quellen zur preußischen Reformzeit erfolgten bis Anfang der 1970er Jahre, um Mitte der 1980er Jahre zu enden, so GERSDORFF, 1983; CLAUSEWITZ, 1823/24; SCHARNHORST/MARWEDEL, 1980; NIEMEYER, 1985. Erst um die Jahrtausendwende unterstützte die Bundeswehr (vertreten durch das MGFA) erneut die Edition der ersten drei Bände von KUNISCH u. a., 2002-2014. 118 OTTMER, 1993, 1, S. 77-127; HUCK, 2009, S. 122-215; DERS., 2004.
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schungsinteresse galt der aktengestützten Erforschung des Zeitalters der Weltkriege sowie der Militärgeschichte in den beiden deutschen Staaten nach 1945.119 Die Fokussierung auf die militärhistorische Zeitgeschichte der Zeit vor und nach 1945 hat, zumal seit der Jahrtausendwende, die lange in den Hintergrund gerückten personellen – und auch ideellen – Kontinuitäten der (west- und teils auch ost-)deutschen Militärgeschichte herausgestellt.120 Letztlich basiert auch diese Forschungspräferenz auf einem Erkenntnisinteresse, das dem in der Vor- und Frühgeschichte der Bundeswehr beschrittenen Pfad folgt: der Abkehr vom ‚Totalitären‘ (also vom NS-Staat), gepaart mit einer Absage an militärisch-isolierte Fragestellungen. Erst dadurch ist es möglich gewesen, die zahlreichen ‚Verstrickungen‘ aufzudecken, von denen die ‚alte‘ Bundeswehr durchaus noch geprägt war. Abgesehen vom frühen offiziösen Schriftgut auf wissenschaftlicher Basis121 oder Sonderausgaben der Zeitschrift zur Truppeninformation Information für die Truppe122 wurde den preußischen Reformern kaum Beachtung zuteil. Mehr noch: Die in Vorbereitung um die Neufassung der Traditionsrichtlinien tobende Debatte um 1980 befasste sich im Kern mit der Frage, ob die Wehrmacht traditionswürdig sei oder nicht. Die Gruppe um den langjährigen Leitenden Historiker des MGFA, Manfred Messerschmidt (Jahrgang 1926), war aufgrund ihrer eigenen Forschungen zum Ergebnis gelangt, dass diese Anknüpfung weniger denn je eine Option darstellen könne. Dagegen beriefen sich konservative Geister, aber auch ausgleichende Naturen wie der vormalige Generalinspekteur Ulrich de Maizière (1912-2006) auf die preußischen Reformer als Traditionsquelle. Diese dürfe man nicht dem „Pantheon der DDR überlassen“.123 Beides war wohl wahr. Doch konnte der Eindruck entstehen, die Verfechter der progressiven Richtung verurteilten die preußischen Reformer als Militaristen,124 119 So die seit 2001 erschienene Reihe Militärgeschichte der DDR. Zur Bezugnahme der bewaffneten Organe der DDR auf die preußischen Reformer hier NIEMETZ, 2006, S. 6, 135. 120 HAMMERICH/SCHLAFFER, 2011; NÄGLER, 2010; WROCHEM, 2009; ZIMMERMANN, 2014; SCHLAFFER, 2010. 121 SCHICKSALSFRAGEN DER GEGENWART; hier die relevanten Beiträge zur Sicht auf die Preußischen Reformer: GÖHRING, 1957; OESTREICH, 1957; HERZFELD, 1958; BUSSMANN, 1958; GABLENTZ, 1958. 122 SCHARNHORST, 1985; GNEISENAU, 1987. 123 Zit. nach ABENHEIM, 1989, S. 204f. (Zitat S. 205). 124 HORNUNG, 1997, S. 291, 329 (hier die Anmerkung).
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während Traditionalisten Ablenkungsmanöver von der Befassung mit der eigenen, NS-durchwirkten Vergangenheit bezweckten. Genau diese zweite Tendenz war im Handbuch Innere Führung greifbar – initiiert von Baudissin und seinen Mitstreitern, gebilligt durch Heusinger, gelesen und weiterverbreitet durch die ersten Führungsgenerationen der Bundeswehr.
Bundeswehr im 21. Jahrhundert: Tradition und die Reformer Die Bundeswehr verankerte das Leitbild vom Soldaten in der Demokratie und somit ihr Selbstbild als Reformarmee. Beides war kein geringes Verdienst Baudissins, berücksichtigt man die ihm entgegengebrachten Widerstände. Gegen diese verfochten die Bundeswehr-Reformer eine strenge Unterscheidung zwischen „Konvention“ und echter „Tradition“. Letztere wurde von den Richtlinien von 1982 als „wertbewusste Auswahl aus der Geschichte“ bezeichnet. Nun erst brachte ein offizielles Bundeswehrdokument indirekt, doch vernehmbar zum Ausdruck, dass die Wehrmacht als Gesamtorganisation nicht traditionswürdig sei. Somit wurde ein Schlussstein auf den Bogen gesetzt, den Baudissin ein Vierteljahrhundert zuvor im Handbuch zu errichten begonnen hatte: die Verurteilung einer Haltung, die „sich wertneutral auf das militärische Handwerk zu beschränken“ glaubte.125 Die preußischen Reformer traten im Dokument von 1982 nicht mehr explizit hervor – anders als im Erlass von 1965, der die Reformer als Vorbilder für „[p]olitisches Mitdenken und Mitverantwortung“ herausgestellt hatte.126 Das Bekenntnis zur Wehrpflicht sowie zum mit dieser verbundenen Eisernen Kreuz blieb jedoch über zwei Jahrhunderte preußisch-deutscher Militärgeschichte bestehen. Freilich verbleiben vier Problembereiche, die zumindest für eine historiographische Neubewertung der Bundeswehrgeschichte gegenüber den preußischen Reformern in Betracht zu ziehen sind:
125 Richtlinien zum Traditionsverständnis und zur Traditionspflege in der Bundeswehr, in: ABENHEIM, 1989, S. 230-234, hier S. 230 (erstes Zitat), S. 231 (zweites Zitat). 126 Bundeswehr und Tradition, in: ABENHEIM, 1989, S. 225-229, hier S. 227.
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Erstens: Die Instrumentalisierung der Geschichte war zeitgebunden. Das Handbuch Innere Führung war keine wissenschaftliche Abhandlung, sondern eine Arbeitsgrundlage für die Aufbauzeit der Bundeswehr. Erst im August 1972 erschien mit der Zentralen Dienstvorschrift 10/1 Hilfen für die Innere Führung eine verbindliche Dienstvorschrift.127 Bis dahin galt das Handbuch als Ersatz – mit dem entsprechendem Anspruch auf Verbindlichkeit. Dadurch verfestigte sich das vermeintliche Scharnhorstzitat. Dieses war aber durchaus systemisch: Die Abkehr vom ‚verzopften‘ Alten – ausgesprochen: von Altpreußen; gemeint: von der Wehrmacht – diente zur Verfolgung sehr gegenwärtiger Interessen. Insofern zeigt die Abstützung auf die preußischen Reformer eine erstaunliche Parallele zur Instrumentalisierung der preußischen Reformer durch das NS-Regime. Zweitens: Möglicherweise unbewusst, zumindest aber wissenschaftlich unredlich, bezogen sich die Bundeswehrreformer auf die Diktion des SS-Intellektuellen Höhn. Dessen NS-Ungeist war getarnt im quellenmäßig fundierten Werk Revolution – Heer – Kriegsbild. In der historischen Bewertung wurde der Enthusiasmus des politischen Soldaten als Brücke von den preußischen Reformern zur eigenen Zeit betont. Höhn beschwor, wie auch die offizielle Diktion im Amt Blank und in der DDR zwölf Jahre später, das Ideal einer ‚Volksarmee‘. Das bedeutete die Abkehr vom abgeklärt-professionellen Soldaten. Der damit geforderte ‚politische Soldat‘ erwies sich somit nahezu zwangsläufig als Wiedergänger von Ideen vor 1945, nun aber mit dem Ziel, sich von eben jener Vergangenheit zu distanzieren. Dies belegt, wie erfolgreich es den vormaligen Protagonisten der Wehrmacht bis Mitte der 1950er Jahren gelungen war, diese Vergangenheit aus ihrem politischen Kontext zu lösen. Das sich als „rein militärisch“ ausgebende Expertentum für Operationsführung und Taktik nahm ein ebensolches Expertentum für die Militärgeschichte in Anspruch.128 Damit verband sich indirekt, doch nachhaltig eine Entkontextualierung der Wehrmacht von ihrem politischem Zweck. Der absolute Befehlsgehorsam erschien so als Ausdruck eines als ‚ewig‘ gedachten Soldatentums. Dagegen nun kämpfte 127 NÄGLER, 2010, S. 488f. Die Dienstvorschrift wurde 2008 in die Zentrale Dienstvorschrift A-2600/1 Innere Führung überführt. Als Anlage verweist sie auf die nach wie vor gültigen Traditionsrichtlinien von 1982. 128 MANSTEIN, 1955. Dazu WEGNER, 1995.
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Baudissin an; durchaus aber auch Karst und andere Offiziere, die in den 1960er Jahren als Konservative den Reformern um Baudissin entgegentraten.129 Dessen ‚moderner‘, ‚fortschrittlicher‘, politischer Soldat war das Gegenteil des von Wortführern der Wehrmachtveteranen beschworenen ‚missbrauchten‘ Militärhandwerkers. Kaum zufällig ähnelte daher die Baudissin‘sche Diktion zumindest unbewusst derjenigen Höhns. Drittens: Die offizielle Bundeswehrdiktion folgt(e) einem eng gefassten Traditionsbegriff, der sich bewusst nicht auf die äußerlichkonventionalen Aspekte bezog.130 Dabei ging es nicht bloß um die Absonderung bloßer Konvention von (vermeintlich) echter Tradition. Die Ablehnung einer ‚Paradearmee‘ bot Bezugspunkte zu den preußischen Reformern. Dass auch deren Auswahl um einen wertbewussten Kern kreiste, bezeugt die teils mit außerordentlicher Heftigkeit geführte Debatte um diese ‚Äußerlichkeiten‘, die deshalb keine Nebensächlichkeiten waren. Insofern ging es hierbei durchaus um divergierende Traditionsvorstellungen – zwischen Anknüpfung an die militärische Vergangenheit und völligem Neubeginn. Mit dem von Baudissin proklamierten Ziel der Abgrenzung von der Wehrmacht, die anfangs noch nicht genannt, aber gemeint war, dienten die preußischen Reformer als Traditionsquelle für die Bundeswehr, aus der sich ableiten ließ, wie eine Ablösung vom überkommenen Traditionalismus möglich sei. Die Schuld wurde dadurch von der Wehrmacht abgewälzt auf die (Waffen-)SS.131 Die Ironie der Geschichte besteht nun darin, dass die Abgrenzung von der Vergangenheit unter Bezug auf die Vergangenheit vorgenommen wurde. Genau das aber zeigt das Höhn-Scharnhorst-Zitat bezüglich der „Spitze des Fortschritts“. Viertens: Das bundesrepublikanische Erkenntnisinteresse fokussierte sich seit den 1970er Jahren auf die Erforschung der NS-Vergangenheit. Der Bezug auf die preußischen Reformer in den frühen offiziösen Dokumenten der Bundeswehr diente zunächst der Bemäntelung der Rolle des deutschen Militärs als Instrument der NS-Politik. Diese „Verstrickung“ führte einerseits zur Akzentuierung der „Frondeure aus Gewissenszwang“. Andererseits blieben diese namentlich unerwähnt. Der Aufarbeitung dieser komplexen Vergangenheit hatten sich sowohl die 129 NÄGLER, 2010, S. 24, S. 27, S. 483. 130 KÖSTER, 2010, LIBERO, 2006; BIRK u. a., 2012. 131 WROCHEM, 2009, S. 293.
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Militärgeschichtsforschung als auch die Verantwortlichen für die Tradition der Bundeswehr zu stellen. Die Rückwirkung der Militärgeschichtsforschung auf die Bundeswehr beflügelte die Traditionsdebatten bis in die 1990er Jahre – so angesichts der Ausstellung Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht.132 Der um das Jahr 2000 gefundene Kompromiss mündete in einer Neubewertung der deutschen militärischen Vergangenheit. Dabei wurden die Kontinuitäten des militärischen Personals vor 1945 und nach 1955 nun auch von Seiten der Bundeswehr zunehmend kritischer beurteilt. Die preußische Reformzeit blieb damit als – vermeintlich – ausgeforschtes Themengebiet am Rande des Interesses. Damit verbleibt ein Problem: Denn was wir über die preußischen Reformer wissen oder zu wissen glauben, beruht zum großen Teil auf einer älteren Historiographie, die ihrerseits keineswegs als ideologiefrei zu bezeichnen ist. Abgesehen davon fiel ein großer Teil der einschlägigen Archivalien im Potsdamer Heeresarchiv dem britischen Bombenangriff vom 14. April 1945 zum Opfer. Seit den 1990er Jahren hat sich Militärgeschichte als Kulturgeschichte der Gewalt zur respektierten Teildisziplin gewandelt. Dabei ermangelt es allerdings noch der Erforschung des Krieges selbst133 – einschließlich der Faktoren von Motivation und Gefechtswert.134 Blieben diese Aspekte weiterhin unberücksichtigt, bestünden auch die alten Mythen vom Höhn‘schen Enthusiasmus weiter fort. Dessen Zitat von der „Spitze des Fortschritts“ erweist sich indessen als typisch bundesrepublikanische Geschichte: Im Gewand der preußischen Reformer konnte das verzopfte Altpreußen kritisiert werden, wobei immer die jeweilige vorangegangene jüngere Vergangenheit mitgedacht werden konnte. In für die bundesrepublikanischen Vergangenheitsbewältigungsprozesse typischer Weise wurden – in klarer Abgrenzung von ebendieser Vergangenheit – Teile ihrer vormaligen Ideologeme weitertradiert. Solche semantischen Umformungen erscheinen als typisch für die diskursive Verständigung über die Vergangenheit innerhalb der Nachkriegsgesellschaft, die wohl auch deswegen letztlich „auf eine vergleichsweise friedliche Weise“ erfolgte.135 132 HAMBURGER INSTITUT FÜR SOZIALFORSCHUNG, 1996; DASS., 1999; 2002. 133 NEITZEL, 2007; FÖRSTER, 2008; KROENER, 2007, S. 20f. 134 MÖBIUS, 2007. 135 ECHTERNKAMP, 2014, S. 414.
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Das Höhn-Zitat beruht somit auf einer Aneignung Scharnhorsts im Lichte der frühen Bundesrepublik. Diese würde dem preußischen Reformer sogar partiell gerecht werden: Schließlich verstand er die Wehrpflicht als patriotische Verpflichtung, basierend auf dem Bündnis von Nation und Regierung. Freilich müsste eine quellenkritische und die semantischen Umformungen berücksichtigende Forschung die komplexe Zielstellung der preußischen Reformer noch näher herausarbeiten. Das Potential für eine solche Forschung zeigen jüngere Publikationen, etwa zu Scharnhorst. Diese lassen ein weitaus differenziertes Bild zutage treten, als es die national(istisch)e Historiographie nahelegte.136 Dagegen stehen rezente Studien zu zentralen Persönlichkeiten wie Gneisenau, dem preußischen Kriegsminister und Heeresreformer Hermann von Boyen (1771-1848) oder dem preußischen Generalstabschef und Reformer Karl von Grolman (1777-1843) noch aus. Das gilt letztlich auch für Clausewitz. Eine Neubewertung der Kriegführung um 1800 wäre auch von zeithistorischem Nutzen: Sie könnte zwei Jahrhunderte währende Umdeutungs-, Verformungs- und Vereinnahmungsprozesse aufzeigen. Nicht zuletzt dadurch genossen und genießen die preußischen Reformer einen guten Ruf – so lange wie sie als Verfechter von Wehrpflicht und ‚Volksheer‘ auf der politischen und historiographischen Seite ihrer Epigonen zu stehen schienen und scheinen.
Quellen und Literatur ABENHEIM, DONALD, Bundeswehr und Tradition. Die Suche nach dem gültigen Erbe des deutschen Soldaten (Beiträge zur Militärgeschichte 27), München 1989. ANDREAS, WILLY, Das Zeitalter Napoleons und die Erhebung der Völker, Heidelberg 1955. ASCHMANN, BIRGIT, Preußens Ruhm und Deutschlands Ehre. Zum nationalen Ehrdiskurs im Vorfeld der preußisch-französischen Kriege des 19. Jahrhunderts (Beiträge zur Militärgeschichte 72), München 2013.
136 So beispielsweise: SIKORA, 2008; DERS., 2010; JESSEN, 2007; FRIE, 2001.
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Ein ruhmreicher Untergang? Die Niederlage des Helden und der Napoleon-Mythos in der französischen Erinnerungskultur HANS-ULRICH THAMER Einleitung Kaum war die Schlacht von Waterloo geschlagen, da begannen die Schlachtenberichte und Mythenbildung und damit der politische und mediale Kampf um die Deutung der Schlacht. Daran sollte sich für mehrere Jahrzehnte nichts ändern. Kaum eine Schlacht, so hat Johannes Willms bemerkt, wurde „nachträglich so oft geschlagen wie die von Waterloo,“1 nicht nur, weil die beteiligten Heerführer ihre Erinnerungen an die siebenstündige Schlacht, die der Höhepunkt einer insgesamt viertägigen kriegerischen Auseinandersetzung war, mit der Frage verbanden, wer die Verantwortung für die Niederlage trage und wer den Lorbeer des Sieges verdiene. Auch war Siegern wie Besiegten bald bewusst, dass der Schlacht eine besondere europäische Bedeutung zukäme. Es war nicht nur im militärisch-strategischen Sinn eine Entscheidungsschlacht, sondern auch in politischer Hinsicht. Militärgeschichtlich war sie die letzte Schlacht des Ancien Régime, wenn man vom Stand der Militärtechnik und Kommunikation sowie der operativen Führung ausgeht. Das gilt allerdings weniger für die Massenhaftigkeit 1
WILLMS, 2001, S. 185.
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des soldatischen Aufmarsches und für die Massenhaftigkeit des Sterbens, die schon ähnlich wie bei der Völkerschlacht von Leipzig fünfzehn Monate zuvor auf das Zeitalter der Moderne verweisen. Vor allem bedeutete die Schlacht von Waterloo das definitive militärische und politische Ende der Herrschaft Napoleons und der revolutionären Umbrüche bzw. Umgestaltung Europas im Gefolge der Französischen Revolution. Sie bedeutete auch das Ende der französischen Vormachtstellung in Europa und eröffnete ein Jahrhundert britischer Dominanz. Zusammen mit dem Wiener Kongress eröffnete sie ebenso den Übergang zu einer langen Epoche einer relativen politischen Stabilität und Friedens in Europa, in der nichtsdestotrotz auf allen Seiten nationale Mythen und Heldenerzählungen blühten.
Der Mythos Waterloo Dass Waterloo bei Siegern und Besiegten – allerdings auf sehr unterschiedliche Weise – zum Mythos wurde, hatte noch andere Gründe. Schon bald begann ein ausgeprägter und über Jahrzehnte anhaltender „Schlachtfeldtourismus“2, zunächst von Frauen und Familienangehörigen, die ihre Toten bestatten oder Verwundeten versorgen wollten, dann vor allem von britischen Zivilisten, die schon immer gerne auf den Kontinent reisten; später von Malern, Schriftstellern, Historikern und auch von Monarchen, die die Schlacht nachempfinden wollten. Noch entscheidender für die Wirkungsgeschichte war die mediale Repräsentation, die in einen regelrechten Krieg der Bilder mündete. Kupferstiche und Gemälde, Gedichte und Romane, Memoiren und Denkmäler verbreiteten massenhaft und auf Dauer die Erinnerung an die Schlacht und bestimmten deren Deutung. Diese war, auch wenn die Schlacht heute als ein europäischer Erinnerungsort verstanden wird, während des gesamten 19. Jahrhunderts und auch noch Jahre danach fest in die jeweilige nationale Identitätsstiftung und Erinnerungskultur eingebunden. Nationale Differenzen gab es bereits innerhalb der jeweiligen Erinnerungskultur der Sieger und noch mehr für die der Besiegten. Allein schon der Name deutete das an. Die Terminologie des Ortes, die der
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FÜSSEL, 2015, S. 98.
Ein ruhmreicher Untergang?
Schlacht seinen Namen geben sollte, wurde sehr bald zum Bestandteil der nationalen Mythenbildung: Der britische Oberbefehlshaber Arthur Wellesley, der Herzog von Wellington (1769-1852), der sich von Anfang an als der eigentliche militärische und strategisch-politische Sieger verstand und darstellte, benannte schon Tage nach der Schlacht den Schlachtort nach dem Weiler Waterloo, obwohl der einige Kilometer nördlich von dem Schauplatz der eigentlichen militärischen Auseinandersetzung entfernt lag. Aber einmal war der flämische Name ,Waterloo‘ für englische Zungen leichter auszusprechen. Was noch wichtiger war: Wellington, der „Eiserne Herzog“, hatte in der Poststation Waterloo sein Hauptquartier errichtet und von dort aus am Abend des 18. Juni die Sieges-Nachricht an seine Regierung abgeschickt. Für ihn war das Gehöft Ort seiner strategisch-logistischen und politisch-diplomatischen Leistung, mit der er seinen Anteil am Sieg hervorheben wollte. Für den preußischen Generalfeldmarschalll Gebhard Leberecht von Blücher (1742-1819) hingegen zählten allein militärische Kategorien, und mit der Ortsbezeichnung ,Belle Alliance‘ wurde der Ort des Sieges über Napoleon ausgewählt, der für die preußische Erinnerung zugleich der Ort der Rache für die demütigende Niederlage von Jena und Auerstedt von 1806 war. Diese Entscheidung Blüchers, die im Gegenzug zu Wellingtons Vorgriff fiel, sollte die preußische Erinnerungskultur und Geschichtsschreibung für mehr als ein Jahrhundert prägen und zur Errichtung einer „Friedenssäule“ auf dem „Belle-Alliance-Platz“ in Berlin führen. Der Sieg von Sedan von 1870 sollte mehr als fünfzig Jahre später allerdings die Erinnerung an Waterloo allmählich in den Hintergrund treten lassen. Nun besaß allein die Erinnerung an die Völkerschlacht bei Leipzig und an den Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 eine identitätsstiftende Funktion. Sie wurde zum festen Bestandteil eines preußisch-deutschen nationalen Mythos.3 Für sie wurde noch hundert Jahre danach in Leipzig ein monumentales Denkmal errichtet, während die Erinnerung an Waterloo in Preußen – im Unterschied zu Hannover mit seiner Waterloo-Säule – lediglich am Rande denkmalswürdig war. Nur auf dem Schlachtfeld selbst, inmitten einer großen Ansammlung von Monumenten unterschiedlichen Typs, gestiftet von allen beteiligten Nationen, hatte Karl Friedrich Schinkel ein kirchturmähnliches Monument errichtet, auf dessen Spitze kein christ3
Dazu THAMER, 2013, S. 87 ff.
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liches Symbol, sondern ein Eisernes Kreuz prangte.4 Ganz anders gestaltete sich die englische Erinnerungskultur an Waterloo, die bis heute von Dutzenden von Straßen- und Bahnhofsnamen und neuerdings auch von Pop-Songs bestimmt ist.5 Aber auch im Land der Besiegten blieb die Erinnerung an Waterloo wach und erhielt unterschiedliche und sich rasch verändernde Ausprägungen. Dass sich die napoleonischen Niederlagen von Moskau und Leipzig weniger in das kollektive Gedächtnis der Franzosen einprägten als die Erinnerung an Waterloo, hatte damit zu tun, dass sich mit Waterloo definitiv das Ende der napoleonischen Herrschaft verband und sich daran ein heftiger politischer und kultureller Gegensatz zwischen unterschiedlichen Herrschafts- und Verfassungsformen sowie Geschichtsbildern anschloss. Die Erinnerung an Waterloo wurde zum Symbol für Aufstieg und Fall eines Helden und fester Bestandteil der nationalen französischen Mythenbildung. Die Niederlagen ihres Kriegshelden und Kaisers fügte sich für viele Franzosen bald in den Katalog großer nationalgeschichtlicher Ereignisse und Gefühle ein. Daran änderte auch die Tatsache nichts, dass in den politischen Erinnerungen unterschiedliche, fast sogar gegensätzliche Bilder von Napoleon existierten und meistens auch Bezugspunkt divergierender politisch-kultureller und ideologischer Lagerbildungen waren. Wie ambivalent und in sich auch widersprüchlich die Wahrnehmung von der endgültigen Niederlage Napoleons sein konnte, zeigen schon sehr früh die Erinnerungen des Schriftstellers François-René de Chateaubriand (1768-1848). Er war Anhänger des royalistischen Lagers und musste befürchten, dass ein Sieg Napoleons bei Waterloo für ihn ewiges Exil bedeuten könnte. Er hatte am 18. Juni 1815 selbst bei einer Fahrt durch die Ebene südlich von Brüssel aus der Ferne das Grollen der Kanonen von Waterloo miterlebt und war sich über den militärischen Ausgang der Schlacht, wie andere Beobachter auch, zunächst unsicher. Der Sieg der alliierten Truppen unter Wellington musste ihn schließlich erleichtern, doch sein Fühlen galt ganz der Sache der Nation: „Wiewohl ein Erfolg Napoleons mir ein ewiges Exil verhieß, überwog in diesem Moment das Gefühl für das Vaterland in meinem Her4 5
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Einen Überblick über die Denkmalslandschaft von Waterloo gibt PELZER, 2003, S. 150 ff. Dazu ausführlich BLANNING, 2010, S. 163-185.
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zen; meine Wünsche galten dem Unterdrücker Frankreichs, sofern er uns, unsere Ehre rettend, der Fremdherrschaft entrisse.“6 Napoleon blieb für die Anhänger von Restauration und Monarchie ein ewiges Dilemma. Trotz seiner Annährungen an monarchische Formen der Repräsentation war und blieb er für sie ein Gewächs der Revolution, und was noch wichtiger war: die Wiederbegründung der bourbonischen Monarchie 1814/15 verdankte sich einem Sieg der alliierten Truppen gegen Frankreich und dessen Grande Armée.7 Die aber war und blieb das Symbol für die französische Nation, und Napoleon verkörperte – auch nach seinen Niederlagen von 1813 bis 1815 – das Idealbild eines Soldaten dieser Armee, deren Produkt und Gestalter er war. Gegen das heroisch-virile Männlichkeitsbild, das Napoleon noch immer repräsentierte, verkörperte Ludwig XVIII. in den Bilderkämpfen der Restauration immer den dicken, verweichlichten und hilflos erscheinenden König; das galt vor allem für die Bilder, die als Karikaturen auch während seiner Regierungszeit von ihm und seiner Monarchie verbreitet wurden. Die Erinnerung an Waterloo blieb im Frankreich des 19. Jahrhunderts demnach an die Bilder von Napoleon gebunden, und das erklärt den scheinbaren Widerspruch, dass eine folgenreiche militärische Niederlage am Ende von der Erinnerung an die Triumphe des Heerführers überlagert wurde. Sein Bild blieb trotz alledem immer vom Image eines Helden bestimmt. Diese Vorstellung war allerdings nicht statisch und in ihrer Wirkung und Ausprägung von den jeweiligen historisch-politischen Rahmenbedingungen abhängig. Diese sollen für das 19. Jahrhundert in zwei Etappen nachgezeichnet werden. Ihren Höhepunkt erlebten sie seit den späten 1820er Jahren und endgültig nach 1840, dem Jahr der innen- und außenpolitischen Krise der Julimonarchie, aber auch dem Jahr der feierlichen Überführung der sterblichen Überreste Napoleons nach Paris8. Als bewusster Akt des Krisenmanagements wurden die inszenatorisch aufwändigen Überführungs- und Bestattungszeremonien des toten Kaisers im Dezember 1840 zum auslösenden Akt des neu erwachten und entfachten Napoleon-Kultes.
6 7 8
CHATEAUBRIAND, 1968, S. 399; zit. nach BLANNING, 2010, S. 164. Dazu SCHOLZ, 2006, S. 215 f. TULARD, 1986, S. 81-110.
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Nicht nur in Frankreich hatte die napoleonische Herrschaft ein nationales Bewusstsein entfacht. Doch im nachrevolutionären Frankreich stellte sich mit der militärischen Niederlage des Kaisers und der Restauration der Monarchie zusätzlich die Frage nach dem Verhältnis von Monarchie und Nation. Diese war vor allem von der Erinnerung an die Siege der Grande Armée und Napoleons geprägt und weniger von der Erinnerung an die Bourbonen. Chateaubriand hatte schon früh von einer zusammengesetzten Legende gesprochen.9 Sie beruhte auf einer gespaltenen Erinnerung, die neben den unterschiedlichsten Deutungen und Zuschreibungen von der gemeinsamen Sehnsucht nach einem großen Mann und Helden sowie nach nationaler Größe und Rettung getragen wurde. Diesen Platz in der nationalen Legende nahm Napoleon auch deswegen ein, weil sein Name mit einem schichtenübergreifenden Kult verbunden war: Neben einem Napoleon-Kult der Eliten gab es schon immer einen Napoleon-Kult des Volkes. Beide Ausprägungen waren zwar mit unterschiedlichen politischen und sozialen Erwartungen verbunden, aber durchaus auch mit gemeinsamen romantischen Verklärungen aus der Feder von Literaten und Künstlern. Die Bilder und Projektionen, die die Erinnerung an Napoleon weckte, lebten in allen politischen Familien fort und sagten mehr über die politische Kultur Frankreichs im 19. und frühen 20. Jahrhundert aus als über Napoleon selbst.
Die Entstehung der Legende 1815 bis 1848 Insbesondere die Napoleonischen Kriege bildeten den Stoff für die politischen Erzählungen und die nationale Identitätsstiftung. Nicht nur die siegreichen Schlachten, sondern auch die Schlacht von Waterloo wurde zu der napoleonischen Schlacht und zum identitätsstiftenden Mythos. Zwar veränderten sich in den hundert Jahren seiner Wirkungsgeschichte in der französischen Erinnerungskultur die Ausformungen dieser nationalen Erzählung von Niederlage, Emotionen und Heldentum 9
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Daran hat sich bis heute nur wenig geändert. Repräsentative Umfragen zu den großen Männern Frankreichs, die aus Anlass des Bicentenaire der Französischen Revolution angestellt wurden, sehen Napoleon meistens auf dem Spitzenplatz, gefolgt von anderen Persönlichkeiten aus ganz unterschiedlichen Regimen. Dazu KAPLAN, 1993.
Ein ruhmreicher Untergang?
immer wieder, aber der Mythos von Napoleon und Waterloo sollte sich über alle Zeiten halten. Dass aus dem Desaster von Waterloo (und nicht von Leipzig oder Moskau) eine Erzählung von Heldentum und Untergang, von nationaler Größe und Opferbereitschaft wurde, hat mit der engen Verflechtung der Erinnerung an die eintägige Schlacht mit dem nach 1815 neu geformten Napoleon-Kult zu tun. Es war die kürzeste, aber auch besonders verlustreiche und für das Regime Napoleons definitiv letzte Schlacht, und sie passte sehr gut in die romantische Gefühlslage des 19. Jahrhunderts, die von Heldentum und Opferbereitschaft bestimmt war. Die Verbannung auf Sankt Helena ließ sich darum gut als Martyrium darstellen. Mit ihm konnten sich viele Franzosen identifizieren. Auf der einsamen Insel im Atlantik hatte Napoleon genügend Zeit zur „Inszenierung der eigenen Apotheose“10; hier wurden seine Begleiter Emanuel de Las Cases (1766-1842), Gaspard Gourgaud (1783-1852), Charles Tristan de Montholon (1783-1853) und HenriGatien Bertrand (1773-1848), die alle Tagebuch führten, zu den „Evangelisten“11 des neuen Kultes. Die Erinnerungen von Las Cases, 1823 erstmals in acht Bänden unter dem Titel Mémorial de Sainte-Hélène publiziert, wurden zu einem großen publizistischen und erinnerungskulturellen Erfolg. Seit den Anfängen seiner militärischen Karriere hatte Napoleon an seiner Fama gearbeitet;12 auf Sankt Helena verwandelte er überdies noch die eigene Niederlage nachträglich zu einem Heldenepos. Napoleon selbst hatte bereits kurz nach seiner Ankunft auf Sankt Helena am 30. November 1815 gegenüber Las Cases bemerkt: „Wir werden zu Märtyrern einer unsterblichen Sache.“13 Ein Jahr später war er sich sicher: „Der Sturz lässt sie (die anderen Menschen) für gewöhnlich klein werden, mich hat er unendlich emporgetragen. Jeder Tag befreit mich von meinem Anstrich eines Tyrannen, eines Mörders, eines Wilden.“14 Später musste auch Chateaubriand, der alles andere als ein Verehrer Napoleons war, feststellen: „Sein Ansehen wurde uns durch sein Unglück zurückgegeben; sein Ruhm nährte sich von seinem Unglück.“15 10 11 12 13 14 15
WILLMS, 2005, S. 673. EBD., S. 663. Dazu THAMER, 2005. LAS CASES, [um 1832], 1, S. 274. Dt. Übers. nach WILLMS, 2005, S. 674. LAS CASES, [um 1832], 2, S. 495. Dt. Übers. nach WILLMS, EBD. CHATEAUBRIAND, 1951, S. 1005. Dt. Übers. nach WILLMS, EBD.
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Die Erinnerung an Napoleons Triumph und Niederlage verband sich mit starken und gegensätzlichen Assoziationen von ‚gloire‘ und ‚défaite‘, von ‚grandeur‘ und ‚chute‘, von ‚Heroismus‘ und Trauer‘. Zu dem Heldenepos gehörte aber auch die Erzählung vom Versagen und vom Verrat, an der Napoleon auf Sankt Helena selbst fleißig strickte, um die Niederlage zu erklären und einige seiner Generäle, vor allem Michel Ney (1769-1815) und Emmanuel de Grouchy (1766-1847), die nach Waterloo das politische Lager gewechselt hatten, der Unfähigkeit und Untreue zu beschuldigen. Gefühle von nationaler Größe und von Heroismus ließen sich vor allem an der Grande Armée festmachen und verschränkten sich insbesondere mit den Emotionen, die in der Erinnerung an Waterloo mitschwingen. Sie wurden in der romantischen Bewegung des 19. Jahrhunderts, vor allem in Literatur und Malerei, erfunden und in der republikanischen Schulerziehung noch der Dritten Republik verbreitet. Er habe in der Schule gelernt, über Waterloo zu weinen, erinnerte sich der 1921 geborene Soziologe Edgar Morin.16 Es bildete sich eine „culture de la défaite“17, die bei aller Melancholie immer vom Traum von nationaler Größe und Regeneration bzw. der Chance eines Neubeginns bestimmt war und die mindestens bis 1940 Bestand hatte. Die ersten Wahrnehmungen der Niederlage von 1815 und des endgültigen Sturzes zeigen bei näherem Hinsehen mehrere und vielschichtige Wege der Deutung und der Konstruktion von Bildern und Mythen. Auch wenn Napoleon sich noch darum bemühte, die Nachricht von der Katastrophe von Waterloo als erster zu verbreiten und zu erklären, waren die Gerüchte schneller. Die militärische Niederlage öffnete nach einer kurzen Pause der Ratlosigkeit und des zögerlichen Abwartens bald die Bühne für politische Manöver. Die Truppe erklärte sich den jähen Sturz des Helden mit Verrat, die Offiziere waren vorsichtiger. Schließlich wurde Napoleon in die Schuldfrage hineingezogen; es wurde über seine militärischen Fähigkeiten und seine Herrschaft diskutiert. Diese Debatte sollte über Jahrzehnte andauern und sich immer wieder mit zeitgenössischen Wahrnehmungen und Einstellungen, vor allem auch mit der Erzählung von Waterloo verbinden.
16 MORIN, 2006, S. 354. 17 LARGEAUD, 2006.
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Abb. 1: Paul Delaroche, Napoleon I. zu Fontainebleau am 31. März 1814 nach Empfang der Nachricht vom Einzug der Verbündeten in Paris, Öl, Paris, Musée de l‘Armée, 1840. Bild: http://uplo ads4.wikiart.org/images/hippolyte-delaroche/ napol-on-bonaparte-abdicated-in-fontainebleau1846.jpg, 1.12.2016 Es war eingetreten, was der Maler Paul Delaroche (1797-1856) in seinem Gemälde von 1840 (Napoleon I zu Fontainebleau am 31. März 1814) mit dem Bild des besiegten Eroberers gemeint hatte: Auf den ersten Blick schien er die körperliche Erschöpfung, die gebrochene, eines Helden unwürdige Haltung Napoleons ins Bild setzen zu wollen; den bedrohlichen Ernst der militärischen Lage und auch den politischen Machtverfall. Doch eignete sich das Bild wirklich nur als bloßes Illustrationsmittel für eine Niederlage oder wollte es mehr? Wenn man im Rückblick weiß, dass Delaroche mit seinen Gemälden insgesamt die posthume ‚Napoleonikonografie‘ beeinflusst hat, stellt sich umso mehr die Frage, was er mit diesem Bild beabsichtigte, das 35 Jahre später entstanden ist und danach in mehreren Fassungen verbreitet wurde. Es ist nach der Interpretation des Kunsthistorikers Rainer Schoch kein herkömmliches Ereignis- oder Historienbild, das zudem noch den Erwartungen der Sieger entspricht (obwohl die anderen Fassungen tatsächlich nach England und Deutschland verkauft wurden), sondern es stellt ein „historisches Denkbild“ dar, das allgemeine menschliche Erfahrungen und Empfindungen wie Sympathie, Mitleid, aber auch Aufbegehren zeigt und eine Brücke zwischen Gegenwart und Geschichte herstellen soll.18 Heinrich Heine hat richtig erkannt, dass „dieser Maler keine Vorliebe für die Vergangenheit selbst hat, sondern für ihre Darstellung, für die Veranschaulichung ihres Geistes, für Geschichtsschreibung mit Farben.“19 Wir müssen das Bild aus der Wahrnehmung und romantischen Gefühlswelt der 1840er Jahre lesen. Zurück zu den Deutungs- und Bilderkämpfen der Jahre 1815 bis 1830. In dieser Zeit entstanden Diskurse und Bilder, die die Wahrneh18 SCHOCH, 2013, S. 141-156. 19 Zit. EBD.
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mung von Waterloo und auch von den Napoleonischen Kriegen lange geprägt haben. Zunächst hatten Anhänger der Bourbonen versucht, in einer schwarzen Legende Napoleon allein für die Niederlage von Waterloo (und in Leipzig) verantwortlich zu machen, und dieser Vorwurf griff bald von militärischen Zirkeln auf die Öffentlichkeit über – auch weil es den geschichtspolitischen Interessen der Restauration zu entsprechen schien. Napoleon erschien als Schatten des Jakobiners Maximilen de Robespierre (1758-1794), der dem ‚wahren‘ Frankreich genauso fremd und feindlich gegenüberstanden habe wie der Advokat aus Arras. Frankreich schien sich in einer allgemeinen Abneigung oder in einer Art Hass auf Napoleon zu vereinen. Die Schriftstellerin Madame de Staël (1766-1817) sprach von einem Usurpator, von einem Condottiere ohne Heimat, einem Souverän ohne Moral; der liberale Politiker und Autor Benjamin Constant (1767-1830) geißelte den schrankenlosen Ehrgeiz des Eroberers. Die schwarze Legende war nicht nur Thema der Intellektuellen und Schriftsteller,20 sondern auch ein verbreitetes Gefühl unter den kleinen Leuten. Denn nach den langen Jahren blutiger Kriege und hohen Opfern versprachen sie sich von der Rückkehr der Bourbonen zunächst Ruhe und Frieden, und die Propaganda der Legitimisten tat alles, um diese Erwartungen aufzugreifen und zu nähren. Vor allem der Hass der Ultras schien grenzenlos. Die Wurzel allen Übels läge in der Revolution und in der Tyrannei des Empire, die das Wesen der Armee zutiefst pervertiert hätten.21 Die Armee nahm dadurch eine doppelte Rolle ein: Sie war Akteur und Opfer. Das hatte auch damit zu tun, dass für die Restauration die Armee ein ständiger Hort der Beunruhigung war, die man am liebsten nur unter der weißen Fahne der Bourbonen und nicht länger – in der Erinnerung – unter der Trikolore sehen wollte. Die Legitimisten wollten – auch noch nach 1830 – der Niederlage von 1815 trotz der vielen Opfer etwas Positives abgewinnen: Die Niederlage habe den Sturz Napoleons herbeigeführt, und Frankreich sei 1814/15 nicht erobert, sondern befreit worden. Dadurch hätte es letztlich auch gewonnen. Im politischen Lager der Trikolore und auch in weiten Teilen der französischen 20 Dazu SCHOLZ, 2006, Kap. II und VII. 21 Zur weißen und schwarzen Legende in der napoleonischen Erinnerungskultur Polens siehe den Aufsatz von CHRISTOF SCHIMSHEIMER im vorliegenden Band.
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Gesellschaft bildete sich mit wachsender Enttäuschung über die Regierung der Bourbonen bald eine immer stärkere Gegenströmung und Opposition aus. Auch der Tod Napoleons auf Sankt Helena 1821 trug zum Umschwung der Stimmung bei. Der Vorwurf des Despotismus, der zunächst die Erinnerung an Napoleon bestimmte, geriet mehr und mehr in Vergessenheit; an seine Stelle traten der Ruhm und die Glorifizierung der Vergangenheit des Empire, das nun von den Handwerkern und Bauern, aber auch von den Soldaten, nachdem sie sich allein schon aus materiellen Gründen von der Bourbonenherrschaft enttäuscht fühlten, fast zum goldenen Zeitalter stilisiert wurde. Denn im Unterschied zur schlechten Gegenwart erschien das Empire als eine Zeit des Wohlstandes, und die Unzufriedenheit über die Politik der Restauration wuchs überall. Darum gab es bald eine andere Interpretationslinie, die die Napoleonischen Kriege und auch die Niederlage von Waterloo in Verbindung mit den Revolutionskriegen seit 1792 und dem Totenkult um Napoleon als Erbe der Revolution brachte. Der Tod der Soldaten der Revolutionsarmeen und auch der napoleonischen habe nichts anderes bewiesen als den heroischen Glauben an die Nation, die nicht mehr (oder nicht mehr allein) durch den Kaiser repräsentiert werde. Die Ehre der Armee und die Pflichterfüllung einzelner Einheiten und Soldaten rückten als Denkund Gefühlsmuster in den Mittelpunkt der Erinnerungskultur und -literatur, auch von Denkmälern und Bildern. Auch die kaiserliche Garde habe 1815 einen starken Beweis für eine patriotische Pflichterfüllung geliefert. Ein Ausspruch von General Pierre Cambronne (1770-1842) sollte zur zentralen Botschaft der folgenden Jahre und Jahrzehnte werden. Er soll am Ende der Schlacht von Waterloo auf die Aufforderung eines britischen Offiziers, sich zu ergeben, im Namen dieser Garde geantwortet haben: „Die Garde stirbt und ergibt sich nicht“ („La Garde meurt et ne se rend pas“).22 Daran änderte auch nichts, dass dieser Ausspruch ebenso unbestätigt blieb wie die andere Variante aus den angeblichen Kommentaren des besiegten Generals, der sich nur auf den Fluch „merde“ beschränkt haben soll.23 Am Ende der 1830er Jahre war Napoleon wieder der populärste Held in der Geschichte Frankreichs.
22 Zit. nach BLANNING, 2010, S. 180. 23 Dazu LARGEAUD, 2006, S. 73
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Wieder haben Gemälde wie das von Hippolyte Bellangé (18001866) von 1849 (La garde meurt et ne se rend pas), das bis 1865 immer wieder reproduziert wurde und die heldenhafte Antwort Cambronnes massenhaft ins Bild setzte, und vor allem die emphatischen Worte von Victor Hugo (1802-1885) in Les Misérables diese Heroisierung zunächst der kaiserlichen Garde, später auch Napoleons verstärkt. Victor Hugo hatte die Niederlage umgedeutet: „Der Mann, der die Schlacht bei Waterloo gewann, ist nicht Napoleon auf der Flucht, nicht Wellington, der um vier Uhr wich und um fünf verzweifelt war, und auch nicht Blücher, der sich nicht schlug: der Mann, der die Schlacht bei Waterloo gewann, ist Cambronne. Mit einem solchen Wort den Blitz schleudern, der einen tötet, heißt siegen.“24
Das heldenhafte Opfer der Garde wurde zu einem Akt des Widerstandes stilisiert und sollte das Selbstbild der Nation prägen – freilich nur des Teils der Nation, der lesen konnte und wollte. Drei Meistererzählungen gab es seit der Julimonarchie in der französischen Geschichtskultur, die in einem heftigen Streit lagen: Die gegenrevolutionäre der Schriftsteller Joseph de Maistre (1753-1821) und Louis de Bonald (1754-1840), die das Ancien Régime als Goldenes Zeitalter verstanden; die Legende der Revolution, bis hin zum Kult um die radikalen Revolutionäre Maximilien de Robespierre und François Noël Babeuf (1760-1797), die seit 1840 wieder aufkam und schließlich zum Thema der Republikaner, vor allem in der Dritten Republik, werden sollte; last not least die napoleonische Legende, die mit der Veröffentlichung des Mémorial de Sainte-Hélène von Las Cases ihren Ausgang nahm und Napoleon dauerhaft zum Märtyrer und auch zum Helden machte. Die napoleonische Legende sollte sich in der Julimonarchie stärker entfalten, und auch Napoleon kehrte nun in die Erinnerung zurück. Er wurde mit der Trikolore in Verbindung gebracht. Die Julirevolution von 1830 war nach den Worten des Schriftstellers Alexandre Dumas d. Ä. (1802-1870) „le dernier coup de fusil de Waterloo.“25 Die Revolution von 1830 brachte, und das meinte Dumas wohl, zum ersten und einzi24 HUGO, 1998, S. 404f. 25 Zit. bei LARGEAUD, 2006, S. 127.
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gen Mal die Erinnerung an Waterloo in Verbindung mit der aktuellen Politik. Die Erinnerung nahm kämpferische Züge an, denn viele Veteranen der Napoleonischen Kriege füllten die Kader der Revolutionäre der Julitage 1830, als Kompensation für die 1814/15 erlittene Schmach und Erniedrigung wie die Entlassungen aus der Armee und die Schikanen der Behörden während der Restauration.26 Kurz vor und vor allem nach 1830 hatten auch Autoren der politischen Linken die Napoleonischen Kriege und auch Waterloo in Verbindung mit der revolutionären Erinnerung gebracht und in dem Mobilisierungsregime Napoleons und auch in seinen Kriegen eine Chance der sozialen Emanzipation gesehen. Waterloo und Napoleon sollten darum seit der Julimonarchie zu einem Fixpunkt für die unterschiedlichsten bisherigen politischen Minderheiten und Oppositionsgruppen, für die Verlierer der bisherigen politischen und sozialen Entwicklungen und Auseinandersetzungen werden.
Nationale Erinnerung und Versöhnung: Von der Julimonarchie zum Zweiten Kaiserreich Sicherlich bedeuteten die Parolen der Revolutionäre „A bas les Bourbons“ bzw. „Vive la Charte“ nicht den Ruf nach einer Wiederherstellung des Empire; aber Napoleon wurde nun zum Helden des revolutionären Frankreichs stilisiert, das 1815 besiegt worden war. 1830 war die Revanche gegen den inneren und den äußeren Feind. Als schließlich erkennbar wurde, dass die Revanche gegen den äußeren Feind wenig erfolgreich war, setzte die Julimonarchie aus Gründen der Selbsterhaltung und Legitimation ganz auf die napoleonische Legende. Die Erinnerung an die Ereignisse der Schlacht von Waterloo selbst rückte hingegen an den Rand. König Louis-Philippe wollte sich vielmehr der Legende von Sankt Helena und des populären Kaisers der kleinen Leute, des aufkommenden Bonapartismus von unten versichern. Die Julimonarchie setzte darum auf nationale Versöhnung. Das Bild des Helden wurde nun friedlich, nicht mehr in grellen Tönen, sondern in Halbtönen
26 EBD., S. 126 ff.
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gemalt. Das gilt für die Bildergalerie in Versailles27 wie für die Standbilder, die nun errichtet wurden. Vor allem die Rückführung der Asche Napoleons sollte den Höhepunkt der politischen Instrumentalisierung des Kaisers bedeuten. Exhumierung und Überführung wurden sorgfältig geplant und in Bildern festgehalten: einmal um alle Zweifel daran zu beseitigen, dass es sich bei dem Leichnam nicht um Napoleon handele, andererseits, um durch den triumphalen Leichenzug mit den Umzügen der Revolution und des Empire konkurrieren zu können. Die Julimonarchie stellte sich als den einzigen und legitimen Erben aller französischen Herrscher dar, und einer davon, ein ebenso legitimer, war Napoleon. Er verkörperte nun die Prinzipien von 1789, aber auch die Tradition der Nation, was alle national-liberalen Bewegungen akzeptieren mussten. Dementsprechend prunkvoll war die Zeremonie im Dezember 1840, angefangen mit dem Wagen, der den Katafalk durch die Straßen von Paris zum Arc de Triomphe und dann schließlich zu den Invalides bringen sollte. Dort nahmen die gesamte königliche Familie und alle Würdenträger an der Zeremonie teil. Man hatte den Invalidendom gewählt, weil er erinnerungspolitisch neutraler war als das Panthéon oder die Königsgräber von Saint-Denis.28 So wurde der Invalidendom zum Panthéon Napoleons und des Bonapartismus. In dem Zeitraum zwischen der Überführung im Dezember 1840 und der Öffnung der Krypta im Invalidendom für die Öffentlichkeit im April 1861 konnte sich die napoleonische Legende, geformt und verstärkt durch die Romantik, vollends entfalten, aber auch in ihrer politischen Aussage verändern. Als die britische Königin Victoria 1855 Paris besuchte, wünschte sie in stiller Andacht vor dem Sarkophag Napoleons zu verweilen. Vierzig Jahre nach Waterloo sollte diese Geste die Zeit der britisch-französischen Kriege symbolisch beenden und die Entente Cordiale des Britischen Empire mit dem französischen Empire bekräftigen.29 Die Restauration der bonapartistischen Herrschaft seit 1851 bedeute für die Soldaten wie die Anhänger Napoleons eine Entschädigung für die vielfachen Formen der Erniedrigung, die sie seit 1815 erlitten hatten. Die Politik und die Legitimation Napoleons III. stützten sich auf 27 Vgl. GAETHGENS, 1984. 28 Vgl. KÜMMEL, 2014, S. 192. 29 Dazu SAVOY/POLTIN, 2010, S. 346.
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die napoleonischen Legenden, doch der neue Kaiser war bei aller Kontinuität zur Politik seines Onkels darum bemüht, dessen Fehler zu vermeiden. Gleichwohl vollzog er eine Reihe von materiellen Entscheidungen und symbolischen Handlungen, um die Veteranen der Revolutionskriege und der Napoleonischen Kriege zu ehren bzw. zu entschädigen. Eine Sankt-Helena-Medaille wurde eingeführt, und vor allem wurde 1854 das Testament Napoleons vom 15. und 21. April 1821 geöffnet, um Auszeichnungen und Entschädigungen auf Staatskosten zu gewähren. Zu der Verleihung der Medaillen kam eine Reihe von Feiern in Erinnerung an das Erste Empire und zum höheren Ruhm des Zweiten Kaiserreichs. In die allgemeine Statuomanie (Maurice Agulhon) des 19. Jahrhunderts passte es, dass nun verdiente napoleonische Generäle in Paris und anderswo mit Standbildern geehrt wurden, dass Straßen in Paris bonapartistisch umbenannt wurden. Auffällig ist freilich, wer von den Generälen Napoleons nicht geehrt wurde, wie etwa Grouchy und Jean-Baptiste Drouet d’Erlon (1765-1844), die ins Lager der Orléanisten gewechselt waren oder als royalistische Verräter gebrandmarkt wurden. Die Erinnerung an Napoleon und an seine Kriege blieb gespalten. Die Erinnerung an Waterloo passte bald nicht mehr in die offizielle Politik des Second Empire, sie wurde seit den 1860er Jahren mit dem Anwachsen der Opposition deren Sache. Damit hatte sich die Erinnerung an die napoleonische Herrschaft und ihre Kriege in die historischpolitische Identitätsfindung und die innenpolitischen Kämpfe aller politischen Familien eingeschrieben: von der liberalen Kritik an der Restauration bis hin zu demokratischen Forderungen. Für alle politischen Lager war die Erinnerung an Napoleon und an die Schlacht von Waterloo eng verbunden mit bestimmten Aspekten ihres politischen Selbstverständnisses, mit Themen, mit denen man sich vorzugsweise identifizierte: mit der Verteidigung von Religion und Monarchie, von Napoleon oder der Republik. Die Royalisten und Napoleon III. haben sich jeweils auf ihre Weise der Erinnerung an Krieg und Niederlage zu bedienen versucht, ohne sich mit dem Ereignis selbst zu identifizieren. Die Ablehnung des Kaisers konnte sich aber genauso gut im Denken der Liberalen oder der Monarchisten finden; die Erinnerung an die Niederlage konnte jedoch auch zum Stoff für nationalpädagogische Erziehungsprogramme, vor allem in der Dritten Republik, werden, um
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Abb. 2: William Turner, The Field of Waterloo, Öl, London, Tate Gallery, 1818. Bild: http://www.tate.org.uk/art/artworks/turner-thefield-of-waterloo-n00500, 1.12.2016 aus der Erinnerung an die Niederlage in den Jahren von 1871 bis 1914 die Hoffnung für eine nationale Regeneration oder eine Revanche zu ziehen. Waterloo und die Napoleonischen Kriege wurden dann zum Symbol für eine Nation in Waffen (wie übrigens die Befreiungskriege in Deutschland auch). Vor allem wurden die Napoleonischen Kriege und Niederlagen nun auch verstärkt zu Gegenständen von Literatur, von Epos und Theater, wie auch der bildenden Kunst. Das zeigen nicht nur die großen literarischen Erfolge von Victor Hugo und Stendhal (1783-1842), sondern auch die zunehmende Zahl von Historienbildern, von denen sicherlich das Gemälde von Hippolyte Bellangé von 1849 zu den populärsten gehörte, während das von William Turner von dem Schlachtfeld von Waterloo (von 1818) das älteste und das ästhetisch beeindruckendste ist. Literatur, Theater und Malerei wurden seither zu den eigentlichen Medien der Erinnerung. Waterloo wurde nach 1871 zur Angelegenheit der Militärgeschichte, die die europäischen Aspekte der Napoleonischen Kriege stärker betonte und nun auch die Völkerschlacht von Leipzig erwähnte. Der Siegeszug einer modernen, quellengestützten und tendenziösen Geschichts-
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schreibung führte auch zu einer Entmythologisierung der Erinnerung an Waterloo und die Feldherrenkunst Napoleons. Die eigentliche Erinnerung an Waterloo wurde nun mehr und mehr Sache visueller Medien und des Museums. In den 1920er und 1930er Jahren hielten bedeutende Stummfilme die Erinnerung an Waterloo und Napoleon wach. Sie entstanden zuerst in Frankreich und in Deutschland und dann in England. Ihre Rolle als Stoff für eine Mythenbildung hatte Napoleons letzte Schlacht im Laufe des 20. Jahrhunderts allerdings allmählich verloren, und auch als Signatur für einen Epochenwechsel wurde sie von anderen Einbrüchen abgelöst, wie etwa von Sedan 1870. Die Niederlage der französischen Nation unter Napoleon III. erinnerte die Franzosen zwar an 1815, während Sedan für die deutsche Nationalbewegung das wurde, was man 1815 nicht erreicht hatte. Sedan reihte sich aus französischer Sicht allerdings in die Erfahrungen ein, die zur Kultur der Niederlage gehörten, aus der man immer wieder auch Hoffnung auf Regeneration und Neuordnung zog, was 1918 noch einmal erfüllt zu sein schien. Mittlerweile war man sich immer stärker bewusst geworden, dass 1814/15 in den langen Entwicklungslinien der Moderne keineswegs eine so tiefe Zäsur darstellte, wie man das in den Deutungs- und Bilderkämpfen des 19. Jahrhundert noch angenommen hatte.
Fazit Auch wenn die französische Erinnerungskultur sich im 20. Jahrhundert weiter verändert hatte und nicht mehr so stark von der Erinnerung an Napoleon und an seine Kriege bestimmt war,30 hatte sich in dem häufigen Wechsel der Perspektiven der Erinnerung immer wieder das Bedürfnis erwiesen, in Momenten tiefer Krisen und Umbrüche Ausschau nach einer starken Hand eines Helden zu halten. Zudem hatte sich dabei gezeigt, wie groß und wie widersprüchlich das Potential der verschiedenen Erzählungen und Mythen zur politischen Instrumentalisierung sein kann, was allerdings eine transnationale Erfahrung darstellt.
30 Die Veränderung der Erinnerung an Waterloo hin zu einem Ereignis einer europäischen Erinnerungskultur beschreibt HEINZEN, 2014, S. 39-74.
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lust und Machtverfall, hg. von PETER HOERES u. a., München 2013, S. 141-156. SCHOLZ, NATALIE, Die imaginierte Restauration. Repräsentationen der Monarchie im Frankreich Ludwigs XVIII., Darmstadt 2006. THAMER, HANS-ULRICH, Die Völkerschlacht bei Leipzig. Europas Kampf gegen Napoleon, München 2013. DERS., Napoléon. La construction symbolique de la légitimité, Ostfildern 2005. TULARD, JEAN, Le „retour des cendres“, in: Les Lieux de mémoire 3: La nation, hg. von PIERRE NORA, Paris 1986, S. 81-110. WILLMS, JOHANNES, Triumph der Defensive. Waterloo, 18. Juni 1815, in: Schlachten der Weltgeschichte. Von Salamis bis Sinai, hg. von STIG FÖRSTER u. a., München 2001, S. 185-199. DERS., Napoleon. Eine Biographie, München 2005.
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Im Schatten des Risorgimento Die Napoleonischen Kriege in der italienischen Erinnerung MATTHIAS SCHNETTGER Einführung Gegenstand dieses Sammelbands sind die Napoleonischen Kriege. Anders als in Deutschland gab es in Italien keine Befreiungskriege im eigentlichen Sinne. Zum einen stellte die Apenninenhalbinsel während der entscheidenden Jahre 1813/14 nur einen Nebenkriegsschauplatz in den Kämpfen der europäischen Mächte gegen das französische Empire dar, zum anderen ist gerade im italienischen Fall höchst zweifelhaft, ob und inwieweit die Beseitigung der napoleonischen Herrschaft tatsächlich als eine Befreiung zu verstehen war und verstanden wurde. Der Begriff Guerra di liberazione ist im Italienischen zwar nicht unbekannt, wird jedoch im Allgemeinen nicht auf die Ereignisse in Italien am Ende der napoleonischen Zeit, sondern auf die Schlussphase des Zweiten Weltkriegs bezogen. Gebräuchlicher ist für die hier interessierenden Ereignisse die vergleichsweise neutrale Bezeichnung Sechster Koalitionskrieg (Guerra della Sesta Coalizione). Gleichwohl erscheint ein Blick auf Italien im Rahmen eines Sammelbands zu den Napoleonischen Kriegen nicht nur sinnvoll, sondern sogar geboten. Galt und gilt doch traditionell in Italien das Zeitalter der Französischen Revolution und Napoleons als die Geburtsstunde eines italienischen Nationalbewusstseins und damit als wichtige Etappe, ja geradezu als Ausgangspunkt des Weges hin zur endgültigen Befreiung 191
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von der Fremdherrschaft und Gründung des Nationalstaats in den Jahren nach 1859. Anders gesagt: Mit „Befreiung“ wird Napoleon durchaus in Verbindung gebracht, allerdings mehr als der Befreier denn als der, von dessen Fremdherrschaft es sich zu befreien galt. Das Risorgimento, der nationale Befreiungskampf und die Bildung des Nationalstaats, ist in der italienischen Geschichtsschreibung des späteren 19. und des 20. Jahrhunderts der dominierende Interpretationshintergrund auch für das napoleonische Zeitalter: Der 1861 als Königreich Italien gegründete Nationalstaat ist in dieser Perspektive das Ziel jedenfalls der italienischen Geschichte, als Ende einer jahrhundertelangen Epoche der Fremdherrschaft und nationalen Erniedrigung. Viel weniger als in der deutschen Geschichtswissenschaft, in der die Erfahrungen von Nationalsozialismus und Zweitem Weltkrieg zu einer grundlegenden Umwertung der nationalen Geschichtsbilder geführt haben, hat nach 1945 ein derartiger Umbruch in Italien stattgefunden. Indem eine starke Verbindungslinie vom Risorgimento zum Widerstand gegen die deutsche Besatzung im Zweiten Weltkrieg gezogen wurde, war es möglich, die Zeit des Faschismus als Ausnahmephase zu betrachten und als einen Irrweg, den die Italiener, anders als die Deutschen, eigenständig verlassen hätten. Erst in den letzten Jahren und Jahrzehnten deutet sich eine Revision des Risorgimento-Geschichtsverständnisses an, das aber insbesondere außerhalb des im engeren Sinne wissenschaftlichen Diskurses immer noch eine beachtliche Resistenz besitzt.1 Zu zeigen, wie sehr die Erinnerung an die Napoleonischen Kriege in Italien durch den übergeordneten Bewertungshorizont Risorgimento geprägt war (und zum Teil immer noch ist), ist das Ziel dieses Beitrags. Um sich diesem Ziel anzunähern, wird er zunächst einen knappen Überblick über Entwicklungen und Strukturen im napoleonischen Italien sowie im Übergang zur Restauration geben. Anschließend werden einige Erinnerungsorte, die diesen Kontexten zuzuordnen sind, näher betrachtet, und zwar Erinnerungsorte, die zum einen mit Napoleon Bonaparte, zum anderen mit dem König von Neapel Gioacchino Murat verknüpft sind. Als Erinnerungsorte betrachtet werden dabei gemäß der Definition von Etienne François und Winfried Schulze in den Deutschen Erinne1
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Zum Risorgimento-Geschichtsbild vgl. GALASSO, 2002; LYTTELTON, 2001.
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rungsorten „langlebige, Generationen überdauernde Kristallisationspunkte kollektiver Erinnerung und Identität, die in gesellschaftliche, kulturelle und politische Üblichkeiten eingebunden sind und sich in dem Maße verändern, in dem sich die Weise ihrer Wahrnehmung, Aneignung, Anwendung und Übertragung verändert“.2 Schon angesichts der Unterschiedlichkeit der betrachteten Erinnerungsorte, aber auch, weil es – ohne Vollständigkeit anzustreben – darum gehen soll, verschiedene Formen und Medien der kollektiven Erinnerung zu skizzieren, ist die Materialbasis dieses Beitrags heterogen. Unter anderem sollen Hervorbringungen der Bildenden Künste, Musik und Literatur, aber auch Museen und Ausstellungen und Internetseiten Berücksichtigung finden.
1. Das napoleonische Italien. Ein Überblick Italien ist nach Frankreich vielleicht dasjenige europäische Land, das am engsten mit Napoleon verbunden ist. Als er 1769 in Ajaccio geboren wurde, war Korsika, das bis 1768 unter genuesischer Herrschaft gestanden hatte, noch eine viel mehr zum italienischen als zum französischen Kulturraum tendierende Insel. Napoleon selbst führte bis in die 1780er Jahre den Namen Buonaparte und verwendete erst ab dann die französisierte Variante Bonaparte.3 Vor allem aber war die Apenninenhalbinsel derjenige Kriegsschauplatz, auf dem er seine ersten militärischen Triumphe feierte, denen er seinen Aufstieg zum Ersten Konsul ganz wesentlich verdankte. Durch die Siege von Mondovì über die Piemontesen und Lodi über die Österreicher erzielte er 1796 den entscheidenden Durchbruch für die in den Anfangsjahren des Ersten Koalitionskriegs hier nicht sonderlich erfolgreichen Revolutionstruppen und zwang 1797 Österreich zum Frieden von Campo Formio und zum Verzicht auf seine lombardischen Besitzungen. Ebenfalls im Jahr 1796 begann das sogenannte Triennio Rivoluzionario, die drei Revolutionsjahre, in deren Verlauf auf Betreiben und zum Teil unter direkter Beteiligung Napoleons fast überall auf der Halbinsel teils dauerhafte, teils auch nur ephemere französische Toch2 3
FRANÇOIS/SCHULZE, 2008, 1, S. 18. Vgl. etwa FAUTRIER, 2011, S. 64.
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terrepubliken errichtet wurden. Papst Pius VI. wurde ins Exil nach Frankreich verschleppt und starb 1799 in Valence.4 Während der Ägyptenexpedition Napoleons und in den Anfangsjahren des Zweiten Koalitionskriegs brach die französische Herrschaft in Italien weitgehend zusammen. Russische und österreichische Truppen errangen beachtliche Erfolge, und im Mai 1799 brach in der Toskana die nach dem Kampfruf der Aufständischen benannte gegenrevolutionäre Viva-Maria-Bewegung aus, die auch die angrenzenden Gebiete des Kirchenstaats erfasste. Auch in anderen Regionen, die von den Truppen der Koalition kontrolliert wurden, kam es zur Verfolgung der Jakobiner, an denen teils blutige Rache genommen wurde. Infolge der Schlacht von Marengo am 14. Juni 1800 und des Friedens von Lunéville (1801) konnte Napoleon die französische Herrschaft über große Teile Oberitaliens aber wiederherstellen.5 Eine mittelbare Folge dieser Entwicklungen war es, dass Napoleon, seit Ende 1799 Erster Konsul der französischen Republik, im Januar 1802 die bisherige Repubblica Cisalpina in die Repubblica Italiana transformieren ließ und deren Präsidentschaft übernahm. Erstmals seit der schleichenden Auflösung des Regnum Italiae im späten Mittelalter bestand wieder ein Staatswesen, das Italien im Namen führte. Die symbolische Bedeutung dieses Faktums ist keineswegs zu unterschätzen. Ein Schritt von mindestens ebenso großer Relevanz erfolgte drei Jahre später. Nachdem er, entsprechend den verfassungspolitischen Entwicklungen in Frankreich, die Repubblica Italiana in das Regno d’Italia hatte umwandeln lassen, krönte sich Napoleon am 26. Mai 1805 mit der sagenumwobenen Eisernen Krone der Langobarden im Mailänder Dom zum König von Italien.6 Wenige Monate später wurden die Österreicher im Zuge des Dritten Koalitionskriegs aus Venetien vertrieben sowie die Bourbonen in Neapel abgesetzt, und in den folgenden Jahren gelangte das gesamte italienische Festland unter die direkte oder indirekte Herrschaft Napoleons. Am spektakulärsten waren die Zerschlagung des
4 5 6
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Vgl. zum ersten Italienfeldzug Napoleons FUGIER, 1947, S. 17-71; AMIOT, 1996; BÉRAUD, 1996; GREGORY, 2001, S. 17-44; DE FRANCESCO, 2011, S. 3-26. Vgl. FUGIER, 1947, S. 86-101; BENOIT/CHEVALLIER, 2000; DE FRANCESCO, 2011, S. 26-42. Vgl. FUGIER, 1947, S. 159-164; DE FRANCESCO, 2011, S. 69-80.
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Restkirchenstaats 1809 und die Deportation Papst Pius’ VII. nach Frankreich 1812.7 Vom Krieg des Jahres 1809 wurde Italien eher am Rande betroffen, im Friaul und in Südtirol. Spektakulär waren dann allerdings die Haft und Hinrichtung des Tiroler Volkshelden Andreas Hofer in Mantua. Auch war für die spätere nationale Erinnerung nicht unwichtig, dass infolge des Friedens von Schönbrunn das Trentino und Südtirol dem Königreich Italien zugeschlagen wurden, das somit die Brennergrenze erreichte.8 In allen Teilen Festlandsitaliens, gleich ob sie unmittelbar zum französischen Kaiserreich oder zum Königreich Italien gehörten oder unter der Herrschaft von Napoleoniden standen, wurden zahlreiche Reformen nach französischem Vorbild durchgeführt, die das Ancien Régime auch auf der Halbinsel unwiderruflich beseitigten. Die französische Herrschaft band einen Teil der einheimischen Führungsschichten ein, die, geprägt durch die Ideale der Aufklärung, das neue Herrschafts- und Gesellschaftssystem mittrugen. Andere Bevölkerungsgruppen standen abseits. Insbesondere die weniger gebildeten Unterschichten dürften die französische Herrschaft, die in einigen Regionen mit rücksichtsloser Repression einherging, weniger als Befreiung denn als Zumutung erlebt haben. Umgekehrt galten auf französischer Seite „die“ Italiener als faul und renitent, was aus Pariser Perspektive manche Zwangsmaßnahmen rechtfertigte. Auch ihretwegen und weil die Schlüsselpositionen allenthalben in französischen Händen blieben, wird der napoleonischen Herrschaft in Italien zumindest von Teilen der Forschung (z.B. Michael Broers) ein halbkolonialer Charakter zugesprochen. In jedem Fall bewirkte sie eine irreversible Veränderung der politischen Kultur Italiens, die fortan dadurch geprägt war, dass große Bevölkerungsteile unabhängig vom gerade herrschenden System, dauerhaft in einer von Misstrauen geprägten Staatsferne verharrten, während ein Teil der Eliten in der napoleonischen Zeit einen positiv besetzten Referenzpunkt erblickte.9 Es waren aber genau diese zunehmend nationalbewussten Führungs7 8 9
Vgl. FUGIER, 1947, S. 180-206; zum spannungsreichen Verhältnis zwischen französischem Staat und katholischer Kirche BROERS, 2002. Vgl. FUGIER, 1947, S. 209-212; BOUDON, 2006, S. 221-227. Vgl. hierzu allgemein FUGIER, 1947, S. 272-293; L’Italia nell’età napoleonica, 1997; DICKINSON, 2001, S. 158-175, 186f.; GRAB, 2001, S. 181186; BROERS, 2005.
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schichten, die im Zeitalter des Risorgimento und des italienischen Nationalstaats zunehmend die Deutungshoheit über die italienische Geschichte und auch den Stellenwert der napoleonischen Zeit errangen. Im Sechsten Koalitionskrieg war Italien, wie schon eingangs angedeutet, lediglich ein Nebenkriegsschauplatz. Dass der König von Neapel Gioacchino Murat nach der Abreise Napoleons im Dezember 1812 das Kommando über die Reste der Großen Armee übernahm und dass ihm zwei Monate später der Vizekönig von Italien Eugène Beauharnais in dieser Position nachfolgte, hat für die italienische Geschichte kaum eine unmittelbare Bedeutung. In der Zeit bis zum Ersten Pariser Frieden beschränkten sich die Kampfhandlungen auf der Apenninenhalbinsel auf einige Gefechte an der Grenze zu Österreich. Am spektakulärsten war die Schlacht am Mincio am 8. Februar 1814, in der Beauharnais den Sieg für sich beanspruchte. Nach der Abdankung Napoleons kam das sang- und klanglose Ende des Königreichs Italien, dessen regionale Eliten mehrheitlich nicht zu einem längeren Widerstand gegen die österreichischen Truppen bereit waren.10 Im Gegensatz zu Beauharnais wechselte Gioacchino Murat gegen das Versprechen, seine neapolitanische Königskrone behalten zu können, im Januar 1814 die Seiten, schloss ein Bündnis mit Österreich und eröffnete den Krieg gegen das Königreich Italien. Als er angesichts des Verhandlungsverlaufs beim Wiener Kongress zunehmend an den Zusicherungen der Alliierten zweifelte, trat er aber wieder in Verbindung mit Napoleon und eröffnete nach dessen Landung in Frankreich mit der Besetzung des soeben wiederhergestellten Kirchenstaats die Kämpfe in Italien. Diese Kämpfe deklarierte Murat nun in der Tat zum „Befreiungskrieg“, wobei Italien in seiner Interpretation gerade nicht vom napoleonischen Joch befreit werden sollte. Unter dem Datum des 30. März 1815 erließ er in Rimini seine berühmte Proklamation, in der er die Italiener zum nationalen Kampf gegen die Restaurationsmächte unter Führung Österreichs aufrief, erlitt jedoch bald darauf entscheidende Niederlagen bei Occhiobello (8. bis 9. April) und Tolentino (2. bis 3. Mai). Murat musste sein Königreich aufgeben, und als er im Herbst 1815 von Korsika aus in einer schlecht vorbereiteten Geheimaktion mit wenigen Truppen erneut nach Süditalien aufbrach, wurde er durch ein Unwetter 10 Vgl. SCHNEID, 2002, S. 101-143; DE FRANCESCO, 2011, S. 143-160.
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an die kalabrische Küste verschlagen, von der bourbonischen Gendarmerie gefasst, als Aufrührer zum Tode verurteilt und am 13. Oktober 1815 in Pizzo erschossen.11
2. Napoleon als italienischer Erinnerungsort Zweifelsohne ist Napoleon selbst ein erstrangiger und äußerst komplexer Erinnerungsort nicht nur der französischen, sondern der europäischen Geschichte.12 – Aber ist er auch ein italienischer Erinnerungsort? Damit ist zunächst gemeint: ein gesamtitalienischer Erinnerungsort. Wenn man die dreibändige italienische Version der Erinnerungsorte I Luoghi delle Memoria betrachtet, stellt man fest, dass diese sich erklärtermaßen im Wesentlichen auf die Zeit des italienischen Nationalstaats beziehen, dass jedenfalls eindeutig diejenigen Erinnerungsorte dominieren, die mit dem Risorgimento, der nationalen Einheit und dem Nationalstaat in Zusammenhang stehen. Einen eigenen Artikel zu Napoleon etwa sucht man vergebens. Wohl am größten sind die Berührungspunkte beim Beitrag zu der auf die 1790er Jahre zurückgehenden italienischen Trikolore.13 Eine andere Sonde, die man anlegen kann, um einen etwaigen Erinnerungsort auszumachen, sind Straßennamen. Gerade in Italien, wo jede größere Ortschaft über eine Via Cavour, einen Viale Garibaldi oder eine Piazza Vittorio Emanuele II zu verfügen scheint, ist die Verknüpfung von nationalen Erinnerungsorten und Straßennamen evident. Eine Recherche nach Straßen und Plätzen, die in Italien nach Napoleon Bonaparte benannt sind, hat insgesamt 36 Treffer ergeben. Dazu kommen weitere Straßen, die nach Ereignissen benannt sind, die eng mit Napoleon verknüpft sind, wie, in immerhin 22 Fällen, nach der Schlacht von 11 Vgl. TULARD, 1999, S. 339-383; SCHNEID, 2002, S. 145-154; LENTZ, 2010, S. 115-119, 359-365, 462-466; DE FRANCESCO, 2011, S. 160-168. 12 In den Europäischen Erinnerungsorten gibt es zwar kein Lemma „Napoleon“ oder „Befreiungskriege“, aber immerhin einen Artikel zur Völkerschlacht: KELLER, 2012. Außerdem taucht Napoleon in einer Reihe weiterer Beiträge zumindest en passant auf. Die Europäizität des (geteilten) Erinnerungsortes Napoleon belegt nicht zuletzt auch der vorliegende Sammelband. 13 Vgl. OLIVA, 1996.
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Marengo. Das ist nicht ganz wenig, aber auch nicht ausgesprochen viel, wenn man es mit den Tausenden Straßen vergleicht, die nach Protagonisten oder Ereignissen der „heißen Phase“ des Risorgimento benannt sind.14 Auch bei den Luoghi della Memoria 1861-2011, die zu den 150Jahr-Feiern der italienischen Einigung 2011 restauriert wurden, spielen die Jahrzehnte um 1800 kaum eine Rolle, sieht man von wenigen Ausnahmen, wie einer Stele zum Gedenken an die „Märtyrer von 1799“ in Procida (Kampanien), einmal ab.15 Überhaupt wurde die längere Vorgeschichte des Risorgimento beim Jubiläum 2011 mehr am Rande abgehandelt.16 Etwas anders ist das Bild, wenn man die verschiedenen Museen des Risorgimento betrachtet. Gleich ob in Mailand, in Turin, in Bologna oder in Rom: Stets spielen Napoleon, die Napoleonischen Kriege und das Napoleonische Zeitalter eine prominente Rolle. In der Tat stehen (gegebenenfalls nach einem knappen Rückblick auf das Ancien Régime) Napoleon, die durch ihn bewirkte Revolutionierung Italiens, die Transformation von Staat und Gesellschaft infolge der von Frankreich in Gang gesetzten Reformen sowie die Gründung von Republik und Königreich Italien üblicherweise am Beginn der Ausstellungen. Auch wenn die Schattenseiten der napoleonischen Herrschaft keineswegs verschwiegen werden, könnte man sagen, dass, knapp zusammengefasst, die Botschaft lautet: Am Anfang (nämlich des Aufbruchs Italiens in die Moderne und der Errichtung des italienischen Nationalstaates) stand Napoleon.17 Freilich waren diese Schattenseiten finster genug, um den 14 Vgl. Vie d’Italia http://strade-italia.openalfa.com,22.07. 2014. Im Einzelnen waren die Treffer: Napoleone/Napoleone I/Napoleone B(u)onaparte 36-mal, 21-mal Via Marengo, dazu der Piazzale Marengo in Mailand. Demgegenüber ergab die Suche nach Via Cavour eine vierstellige Trefferquote. Zum Zusammenhang von Straßennamen und Erinnerungsorten in Italien vgl. RAFFAELLI, 1996. 15 Siehe die als PDF-Dokumente veröffentlichte Liste auf der Homepage des italienischen Kulturministeriums, www.beniculturali.it/mibac/multimedia/ MiBAC/documents/1332243637579_LuoghiMemoria_web.pdf luoghi della memoria, 22.7. 2014. 16 Stärkere Berücksichtigung fanden die Ereignisse von 1848/49. Vgl. das umfassende Programm auf der offiziellen Seit zum Jubiläum, http://www. italiaunita150.it/, 22.7. 2014. 17 Vgl. etwa die Kurzbeschreibung der Sala 6 im Museo nazionale del Risorgimento italiano di Torino: „È la sala che testimonia le due esperienze più significative dell’Italia napoleonica, la Repubblica italiana poi Regno
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Aufstieg Napoleons zu einem positiv besetzten italienischen Erinnerungsort erster Ordnung zu vereiteln. Etwas vielschichtiger wird das Bild, wenn im Folgenden zwei sozusagen subalterne Erinnerungsorte betrachtet werden, die zwar nicht in einem übergeordneten Erinnerungsort Napoleon aufgehen, aber eng mit ihm verknüpft sind und exemplarisch für zwei wesentliche Aspekte des italienischen Erinnerungsorts Napoleon stehen: die Schlacht von Marengo und die Republik bzw. das Königreich Italien. Die letzte Schlacht, die Napoleon auf italienischem Boden schlug, war die von Marengo am 14. Juni 1800. Sie beendete zwar noch nicht den Zweiten Koalitionskrieg, markierte aber einen entscheidenden militärischen Umschwung und war für Italien von überragender Bedeutung. Sie bekräftigte nicht nur die französische Vorherrschaft auf der Halbinsel für immerhin die nächsten vierzehn Jahre, sondern setzte auch einer der unruhigsten und blutigsten Phasen der Auseinandersetzungen während der Revolutions- und napoleonischen Zeit ein Ende, in der die Mächte der antifranzösischen Koalition und die Kräfte der Gegenrevolution die Errungenschaften des Triennio Rivoluzionario 1796-1799 beiseite fegten und die „Giacobini“ blutig verfolgten. Marengo konnte also für die Befestigung der französischen Herrschaft stehen, vor allem aber auch für die Verteidigung der revolutionären Errungenschaften und die Abwehr einer (jedenfalls im späteren 19. Jahrhundert) noch viel verhassteren Fremdherrschaft, der österreichischen nämlich. Bekanntlich hat Napoleon einiges getan, um seinen Sieg, der erst durch das Eintreffen von Verstärkungen unter General Louis Desaix ermöglicht wurde, nicht nur militärisch, sondern auch propagandistisch auszuschlachten. Abgesehen von zahlreichen Gemälden sei der Marengo erwähnt, eine Münze mit der Aufschrift „L’Italie delivrée à Marend’Italia, e il decennio francese nel Regno di Napoli. Dopo l’annessione alla Francia anche il Piemonte vive trasformazioni e innovazioni portate da Napoleone, per quanto egli considerasse l’Italia solo una terra di conquista da spogliare di uomini e ricchezze.“, http://www.museorisorgimentotorino. it/nuovo_allestimento.php, 22.7.2014. Vgl. auch die Internetauftritte des Museo Centrale del Risorgimento, Rom, http://www.risorgimento.it/php/ page_gen.php?id_sezione=5, 22.7.2014; des Museo del Risorgimento Palazzo Moriggia, Mailand, http://www.museodelrisorgimento.mi.it/it/ilmuseo/, 22.7.2014; des Museo Civico del Risorgimento, Bologna, http:// www.comune.bologna.it/risorgimento/documenti/49324, 22.7.2014. Zum Napoleonbild im frühen 19. Jahrhundert auch MASCILLI MIGLIORINI, 2002.
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go“, welche die Republik und später das Königreich Italien schlagen ließen. Der französische Komponist Bernard Viguerie schrieb im selben Jahr eine Sonate für Klavier, Geige und Bass, die in Form einer Programmmusik verschiedene Episoden des Schlachtgeschehens beschrieb, die durch einen erklärenden Text erläutert wurden.18 Wesentlich bekannter ist ein anderes musikalisches Werk, für das die Schlacht von Marengo einen historischen Kontext liefert: die 1900 uraufgeführte Oper Tosca von Giacomo Puccini auf ein Libretto von Giuseppe Giacosa und Luigi Illica. Das Tedeum im ersten Akt wird gehalten, um etwas voreilig den vermeintlichen Sieg der Österreicher zu feiern, und mitten im zweiten Akt trifft ein Bote ein, der dem Schurken Scarpia die Nachricht überbringt, dass wider Verhoffen nun doch Napoleon gesiegt hat. Das provoziert den eben der Folter entronnenen Cavaradossi zu seinem „Vittoria“-Ruf, und damit besiegelt er seine eigene Hinrichtung. In unserem Kontext ist interessant, dass in dieser Oper Böse und Gute auch durch ihre Positionierung zur Schlacht von Marengo klar voneinander geschieden sind: Die Guten sind Anhänger Napoleons bzw. der Römischen Republik, die Bösen Parteigänger Österreichs bzw. der Reaktion.19 Hier wird deutlich, warum Marengo zumindest bedingt als italienischer Erinnerungsort taugte und taugt: Unabhängig von allem, was nach Marengo kam, waren die Rollen von Gut und Böse auf diesem Schlachtfeld klar verteilt. Zudem siegte – in zugleich dramatischer und nachhaltiger Weise – die „richtige“ Seite. Die Botschaft vom befreiten Italien konnte so eine langfristige Wirkung entfalten. Es dürfte diese Botschaft sein, die für die wenngleich nicht besonders zahlreichen Straßenbenennungen nach dieser Schlacht verantwortlich war. Wesentlich ausgeprägter als im Landesdurchschnitt ist die Erinnerung an die Schlacht am Ort des Geschehens, in der Umgebung des Weilers La Spinetta Marengo, in der piemontesischen Provinz Alessandria. In Spinetta Marengo besteht bereits seit 1847 das Marengo-Museum, das, mehrfach verjüngt, heute einen besonderen Akzent auf die mit der Schlacht verknüpfte europäische Erinnerungskultur legt, als Begründung seiner Existenz aber auch an der Anschauung festhält, dass
18 VIGUERIE,1800; BENOIT/CHEVALLIER, 2000, bes. S. 143-149. 19 Vgl. KLOIBER/KONOLD 2, 1985, S. 642.
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die Schlacht von Marengo einer der Ursprünge des italienischen Einigungsprozesses gewesen sei.20 Bei anderen regionalen oder lokalen Zeugnissen der Erinnerung an die Schlacht des 14. Juni 1800 fällt es schwer, eine spezifische Aussage zu identifizieren, die über eine Verknüpfung der eigenen Heimat mit der „großen Geschichte“ hinausgeht: In San Giuliano Vecchio, einem Vorort Alessandrias, steht ein Denkmal, das an den gefallenen General Desaix erinnert, und in der Gemeinde Torre Garofoli (Tortona) zeigt man nicht nur das Hauptquartier Napoleons, sondern auch eine alte Platane, die der General zu Ehren der Gefallenen von Marengo gepflanzt haben soll.21 Gar keine spezifischen erinnerungspolitischen Aussagen sind beim Pollo alla Marengo zu erkennen, einem Hühnchen mit Flusskrebsen und Pilzen – dieses Gericht soll Napoleons Koch Dunand dem Ersten Konsul am Abend der Schlacht serviert haben. Das gilt auch für das alljährliche Nachspielen der Schlacht an einem Wochenende im Juni sowie die in einigen Restaurants angebotenen Themenessen (La Battaglia di Marengo a Tavola).22 Napoleon war auch der eigentliche Gründer der Republik und dann des Königreichs Italien. In diesen Rollen und vor allem als König von Italien konnte Napoleon an die erwachenden italienischen Nationalgefühle appellieren, und auch hier zeigte er sich als Meister der Propaganda. Beispielhaft sei hier nur seine Krönung zum König von Italien am 26. Mai 1805 im Mailänder Dom genannt. Indem er bei dieser Krönung die sogenannte Eiserne Krone der Langobarden verwendete, bediente er sich selbst eines Erinnerungsorts, der auf das letzte unabhängige Königreich Italien verwies. Er ließ sich auch mehrfach als Träger der Eisernen Krone darstellen, erhob sie zum Emblem des Königreichs Italien und stiftete kurz nach seiner Krone den militärischen Verdienstorden des Ordine della Corona ferrea. 20 „[…] uno degli atti fondanti per il processo italiano di unificazione nazionale“. Siehe die Homepage des Museums, http://www.marengomuseum. it/?page_id=9, 22.7.2014. 21 Vgl. ebenda. Aufschlussreich ist auch der italienische Wikipedia-Artikel zur Schlacht von Marengo, https://it.wikipedia.org/wiki/Battaglia_di_ Marengo, 22.7.2014. 22 Vgl. einen Bericht auf der Homepage der Fédération Européenne des Cités Napoléoniennes, http://www.napoleoncities.eu/index.php?article_id=493& clang=3, 22.7.2014.
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Allerdings hatte diese Inszenierung aus italienischer Sicht einige gravierende Schönheitsfehler: Denn das napoleonische war erkennbar kein nationales Königtum. Zwar war Napoleon selbst nur König des Regno d’Italia geworden, weil sein Bruder Joseph sich verweigert hatte, und war eine spätere Trennung der Kaiser- von der italienischen Krone vorgesehen. Gegenwärtig hatte die italienische Krone aber definitiv den Charakter eines Unterkönigtums innerhalb des französischen Empire, wie auch bei der Krönung am 26. Mai 1805 deutlich wurde, denn die eigentliche Selbstkrönung Napoleons erfolgte zwar mit der Eisernen Krone, ansonsten trug er bei der Zeremonie aber das französische Kaiserdiadem, dem eine neugeschaffene italienische Krone inseriert war, und beim Einzug in den Mailänder Dom wurde ihm die angebliche Kaiserkrone Karls des Großen vorangetragen.23 Weniger die enge Verbindung mit Frankreich als die offenkundige Unterordnung unter Frankreich war aber aus italienischer Perspektive der entscheidende Makel des neuen Regno d’Italia, zumal die symbolische Unterordnung auch mit einer repressiven Ausbeutungspolitik einherging. Insofern eignete sich wohl die Errichtung einer italienischen Republik bzw. eines italienischen Königreichs an sich als positiv besetzter nationaler Erinnerungsort; der König Napoleon tat das weniger – höchstens vor dem Hintergrund der folgenden, als noch viel schlimmer empfundenen österreichischen Fremdherrschaft Schon während der Herrschaft Napoleons zeigte sich, dass wichtige Persönlichkeiten aus dem Kreis der italienischen Patrioten enttäuscht über Napoleon waren, nicht nur wegen seiner zunehmend repressiven Herrschaft, sondern auch aufgrund der zum Teil als Gleichmacherei abgelehnten gesellschaftspolitischen Maßnahmen. Stellvertretend für diese Gruppe ist der Dichter Ugo Foscolo zu nennen (1778-1827), der in den 1790er Jahren ein Anhänger der Französischen Revolution und des von ihm als Befreier begrüßten Napoleon war, als Angehöriger der cisalpinischen Legion in der Schlacht von Marengo kämpfte, bald darauf aber eine immer kritischere Haltung zum Ersten Konsul einnahm. Schon in der Orazione a Bonaparte pel Congresso di Lione, die er zwischen 1801 und 1802 im Auftrag der Regierung der Cisalpinischen Re23 Vgl. PILLEPICH, 1995 (mit zahlreichen Abbildungen Napoleons mit der Eisernen Krone sowie des Ordens der Eisernen Krone); VIRGILI, 2005; SCHNETTGER, 2008, S. 48f.
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publik anlässlich des Kongresses von Lyon verfasste, der die Umwandlung der Cisalpina in die Republik ausarbeiten und beschließen sollte, sind kritische Töne vernehmbar, wenn Foscolo deutlich mahnt, Italien eine echte Unabhängigkeit zu gewähren.24 Noch deutlicher wandte er sich 1807 in der Dichtung I sepolcri gegen die Verordnung Napoleons über die Anlage kommunaler Friedhöfe außerhalb der Städte bei gleichzeitiger Schließung von Kirchhöfen und adligen Grablegen und erhob die Verehrung der großen Ahnen und ihrer Gräber zur patriotischen Pflicht.25 Noch dezidierter bezog in seinen letzten Jahren der Tyrannenhasser Vittorio Alfieri (1749-1803) gegen Napoleon Position, der schon in seinem Misogallo deutliche Kritik an der Französischen Revolution bzw. an dem durch diese begangenen Verrat an der Freiheit geübt hatte.26 Eine weitere Sollbruchstelle bei der Vereinnahmung bzw. positiven Rezeption Napoleons in Italien, die jedenfalls bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts bestand, sei nur knapp erwähnt: sein Verhältnis zum Haus Savoyen. Denn die französischen Heere hatten ja nicht nur die Exponenten der habsburgisch-bourbonischen „Fremdherrschaft“ verjagt, sondern auch das spätere nationale italienische Königshaus der Savoia auf das Inselkönigreich Sardinien verdrängt. Bis zu einem gewissen Grade konnten die genannten Defizite dadurch geheilt oder übertüncht werden, dass ein weiterer Napoleon, Kaiser Napoleon III. nämlich, 1859 als Geburtshelfer des italienischen Nationalstaats in Erscheinung trat – aber auch diese Hilfestellung war aus italienischer Sicht nicht unbelastet.27
24 FOSCOLO, 2002. 25 FOSCOLO, 2010. Die Kritik an Napoleon wird aber bei der Wahrnehmung Foscolos überlagert von seiner Gegnerschaft gegen Österreich, die ihn 1815 zur Emigration in die Schweiz bewog. 26 Die erste Ausgabe des Misogallo erschien 1799 anonym in London; erst in der posthumen Ausgabe von 1814 wurde der Autor angegeben. ALFIERI, 2009; vgl. CEDRATI, 2012. 27 Napoleon III. unterstützte das Königreich Sardinien zwar 1859 im Krieg gegen Österreich, stand 1860 der Einigung der Halbinsel unter dem Haus Savoyen aber distanziert gegenüber und sicherte bis 1870 den Restkirchenstaat mit Rom gegen die Einverleibung ins italienische Königreich. Zur Rolle Napoleons III. bei der italienischen Nationalstaatsbildung vgl. LE RAY-BURIMI, 2010.
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So wurde Napoleon I. zwar 1805 italienischer König, in den Rang eines positiv besetzten nationalen Erinnerungsorts von übergeordneter Bedeutung schaffte er es aber nicht. Ein Zeichen dafür ist auch, dass das Regno d’Italia von 1805 ganz anders als die Gründung des „echten Nationalstaats“ 1861 Anfang des 21. Jahrhunderts nicht zum Gegenstand von Jubiläumsfeiern mit überregionaler Bedeutung geworden ist.28 Dafür, dass andererseits bei der Gründung dieses neuen Königreichs die Erinnerung an das frühere nicht geschwunden war, spricht, dass dieses am 17. März 1861 aus der Taufe gehoben wurde,29 am selben Datum, an dem Napoleon 1805 durch Unterzeichnung der Verfassung das erste neuzeitliche Regno d’Italia gegründet hatte. National „unbelastet“, zugleich aber von geringer nationaler Signifikanz ist dann die letzte Episode im Leben Napoleons, die unmittelbar mit Italien verknüpft ist: seine Zeit auf Elba. Hier ist die Situation ähnlich wie bei Marengo: Es gibt eine reiche lokale, positiv grundierte Erinnerungskultur, die zur Zweihundertjahrfeier einen besonderen Höhepunkt erlebte.30 Eine spezifische Aussage verbindet sich jedoch nicht damit, sondern es geht im Wesentlichen lediglich darum, durch die Verknüpfung mit einer der bekanntesten Persönlichkeiten der Weltge-
28 Immerhin gab es 2014 eine Ausstellung in der Galleria civica von Monza, die aber bezeichnenderweise nicht Napoleon, sondern dem Vizekönig Eugène Beauharnais gewidmet war. Vgl. den Bericht auf der Internetseite Monza today, http://www.monzatoday.it/eventi/mostre/eugeniobeauharnais-monza-21-marzo-13-aprile-2014.html, 22.7. 2014. Zu den in Ancona geplanten Gedenkveranstaltungen an die Annexion der Marche an das Regno d’Italia 1808 und deren Beschränkung aufgrund finanzieller Engpässe infolge von Mittelkürzungen siehe den Bericht des Präsidenten der Deputazione di Storia Patria per le Marche über das Jahr 2008 auf der Homepage des Geschichtsvereins, http://www.deputazionemarche.it/ita/ relazioni_presidente.php, 10.12.2015. In Mailand selbst fand 2005 u.a. die Tagung Napoleone e il Regno d'Italia (1805-1814). La Lombardia fra cesarismo post-rivoluzionario e prime forme di unificazione nazionale statt. Siehe den Eintrag auf der Seite des Consiglio Nazionale delle Ricerche, http://www.cnr.it/eventi/index/evento/id/11219, 22.7.2014. 29 An diesem Tag verabschiedete der Senat und die Deputiertenkammer des Cisalpinischen Königreichs das Gesetz, gemäß dem Vittorio Emanuele II. mit sofortiger Wirkung den Titel eines Königs von Italien annahm. 30 Siehe einen Bericht im Blog Discover Tuscany, http://www.discover tuscany.com/blog/it/destinazioni/elba-celebra-il-bicentenario-dellarrivo-dinapoleone-sullisola-con-9-mesi-di-eventi-2884/#, 10.12.2015.
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schichte Glanz – und womöglich touristische Einnahmen – auf die kleine toskanische Insel zu ziehen.
3. Erinnerungsorte um Gioacchino Murat Während die italienischen Erinnerungsorte im Umkreis mit Napoleon einen norditalienischen Akzent aufweisen, ist Gioacchino Murat in erster Linie mit dem Süden, seinem ehemaligen Königreich, verbunden. Zweifelsohne war und ist er kein unkomplizierter Erinnerungsort: Sein zweimaliger Frontwechsel in den Jahren 1814 und 1815 prädestinierte ihn geradezu für die Rolle des Verräters. Andererseits war der König von Neapel Gioacchino Murat aus einer Reihe von Gründen leichter für das italienische Nationalgefühl zu vereinnahmen als der Kaiser der Franzosen Napoleon, der doch nur in zweiter Linie König von Italien war. Auch weil er sich stärker auf die einheimischen Eliten stützte als sein Vorgänger Joseph Bonaparte (1806-1808), konnte Murat in den Jahren seiner Königsherrschaft in Neapel (1808-1815) eine deutlich höhere Popularität erlangen. Vor allem aber inszenierte er sich im Jahr 1815 als Verteidiger der nationalen Freiheit gegen die österreichische Fremdherrschaft. Die auf den 30. März datierte Proclama di Rimini wird im Allgemeinen Pellegrino Rossi zugeschrieben, einem liberalen Juristen, dessen Persönlichkeit sozusagen eine Verbindung herstellt von den Ereignissen von 1815 zu denen des Revolutionsjahrs 1848, als er in der Rolle des Ersten Ministers Papst Pius’ IX. zeitweilig zum Hoffnungsträger avancierte, jedoch die radikaleren Kräfte rasch enttäuschte und am 15. November ermordet wurde.31 Eindeutig verbunden ist die Proclama di Rimini aber auch mit der Person Murats, und das macht ihn in der Tat zu einem potentiellen gesamtitalienischen, nationalen Erinnerungsort, denn die Proklamation richtete sich ausdrücklich an alle Italiener, forderte ein freies Italien von den Alpen bis zur Meerenge von Messina und rief die Bewohner Nord- und Mittelitaliens auf, sich zur Beseitigung der Fremdherrschaft mit den neapolitanischen Streitkräften 31 „Dall’Alpi allo stretto di Scilla odasi un grido solo ‚L’indipendenza d’Italia!“. Die Proclama ist abgedruckt in GUALTERIO, 1852, S. 267-269, Zitat S. 267. Vgl. DE MATTEI, 1995; GREGORY, 2001, S. 183f.
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zu vereinigen. Das freie Italien sollte also ganz Festlandsitalien umfassen (und nicht nur, wie das napoleonische Regno d’Italia, Teile Nordund Mittelitaliens). In der Tat erschien hier die Vision eines italienischen Nationalstaats am Horizont. Insgesamt fand die Proklamation jedoch wenig Resonanz. Für die meisten Italiener war Murat ebenfalls ein Ausländer, der aus durchaus eigensüchtigen Gründen seinen schwankenden Thron gegen eine mutmaßlich überlegene Macht zu festigen suchte und der sich zudem bis dato wenig geneigt gezeigt hatte, den Forderungen nach einer Verfassung für sein Königreich nachzukommen. Die Niederlage bei Tolentino, die Abdankung und Flucht Murats, schließlich seine Gefangennahme und Hinrichtung schienen diesen Skeptikern Recht zu geben. Dennoch besitzen Murat und die Ereignisse von 1815 ein gewisses erinnerungspolitisches Potential, insbesondere für den Süden Italiens. Denn wenn man so will, war der gescheiterte Feldzug Murats der letzte Versuch einer Einigung Italiens, der vom Mezzogiorno ausging, ganz im Gegensatz zu den Ereignissen von 1860. Daher verwundert es nicht, dass es vor allem in Süditalien eine Reihe von Städten und Ortschaften mit einer Via Gioacchino Murat gibt.32 Eine gewisse Wertschätzung für Murat zeigten auch wichtige Akteure des Einigungsprozesses um 1860. So widerrief Giuseppe Garibaldi bei seinem Zug in das Königreich des Südens per Dekret die Privilegien, die die bourbonische Regierung der „allertreuesten Stadt“ („città fedelissima“) Pizzo und ihren Bewohnern als Dank für ihre Treue in der Krise 1815 – sprich für die Unterstützung bei der Gefangennahme und Hinrichtung des rivalisierenden Königs – verliehen hatte.33 Dass die Schlacht von Tolentino, in der Murat seine entscheidende Niederlage erlitt, kein überragender italienischer Erinnerungsort ist, kann kaum verwundern, denn militärische Niederlagen sind als Erinne32 Eine Suche auf Vie d’Italia, http://www.monzatoday.it/eventi/mostre/euge nio-beauharnais-monza-21-marzo-13-aprile-2014.html, 22.7.2014 ergab folgende Treffer: 14-mal Via Gioacchino Murat (auch in Mailand und Triest), zweimal Viale Gioacchino Murat (Serre, Tolentino), dreimal Via Murat, eine Piazzetta Gioacchino Murat, ein Borgo Giacchino Murat (Pollenza). 33 Dieser Widerruf wird schon in zeitgenössischen Lebensbeschreibungen Garibaldis hervorgehoben. Vgl. DA FORIO 1, 1862, S. 727, Abdruck des Widerrufsdekrets in DA FORIO 2, 1862, S. 624.
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rungsorte weniger tauglich als Siege. Es gibt nur in wenigen italienischen Städten, darunter Rom, Florenz, Mailand, Ascoli, Cesena eine Via (di) Tolentino, wobei nicht klar ist, ob diese Namengebungen sich auf die Schlacht von 1815 oder den französisch-päpstlichen Frieden von 1797 beziehen.34 Eine beliebte Form des lokalen Erinnerns ist, neben Vorträgen oder Kolloquien begrenzter Reichweite, auch für die Ereignisse von 1815 das Re-enactment. Events dieser Art gibt es beispielsweise in Tolentino oder in Pizzo – dort an die Gefangennahme und Hinrichtung Murats erinnernd.35 Das abenteuerliche Leben, das tragische Ende, die schillernde Persönlichkeit Murats und vor allem seine Hinrichtung auf Befehl des Bourbonenkönigs vermögen Interesse und Anteilnahme zu wecken bzw. verleihen ihm geradezu Märtyrerqualitäten.36 Zu einem nationalen Erinnerungsort, der mit Akteuren wie einem Camillo Benso von Cavour, einem Garibaldi oder einem Giuseppe Mazzini gleichziehen könnte, machen sie ihn nicht.37 Und selbst für die Proclama di Rimini, den relevantesten italienischen Erinnerungsort, der unmittelbar mit Murat verknüpft ist, kann gelten, dass er einen Teil seines Stellenwerts daraus zieht, dass er gleichzeitig mit einem nationalen Heros erster Ordnung verbunden ist, mit dem Nationaldichter Alessandro Manzoni nämlich, der zu den eher wenigen Zeitgenossen gehörte, die die Proklamation begeistert aufnahmen, und ein gleichnamiges Lied verfasste, das allerdings angesichts des Gangs der Ereignisse unvollendet blieb. Das Lied Manzonis ist vielleicht noch bekannter als die Proklamation selbst, und es ist signifikant, dass auf der offiziellen Internetseite zum 150jährigen Jubiläum Italiens 34 Eine Suche auf Vie d’Italia http://strade-italia.openalfa.com, 22.7.2014, ergab folgende Treffer: siebenmal Via Tolentino. 35 Siehe etwa die Homepage der Associazione Tolentino 815, http://www. tolentino815.it/en/association/, 11.12.2015, sowie einen Eintrag auf der Seite Historia vivens, http://www.historiavivens.eu/2/pizzo_murat_in_calabre _725677.html, 11.12. 2015. 36 TULARD, 1999, S. 381f., gibt den Bericht des Geistlichen Masdea wieder, der Murat bei seiner Hinrichtung beistand und den Mut des Königs im Angesicht des Erschießungskommandos hervorhebt. Ähnlich auch GILLET, 2008, S. 15. 37 TULARD, 1999, S. 389, meint allerdings: „[…] il rêve avant Garibaldi et Verdi, d’une Italie unifiée et indépendante, mais liée par des relations dynastiques avec la France.“
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150 anni. La nostra storia in der Sektion zu den Ursprüngen der nationalstaatlichen Einigung (Le origini) als einziger zeitgenössischer Text neben den Gräbern Foscolos nicht die Proclama selbst, sondern Manzonis Dichtung wiedergegeben wird.38
4. Schluss Dieser Beitrag hatte nicht den Anspruch, einen vollständigen und erschöpfenden Überblick über die italienischen Erinnerungsorte zu geben, die mit dem Napoleonischen Zeitalter und den Befreiungskriegen verknüpft sind. Vielmehr sollte er die strukturellen Schwierigkeiten skizzieren, die sich für potentielle Erinnerungsorte aus dieser Epoche bieten, um zu echten nationalen Erinnerungsorten erster Ordnung aufzusteigen und sich als solche zu behaupten. Diese Schwierigkeiten resultieren zum einen aus der Situation im napoleonischen Italien, in dem Licht und Schatten, der Anspruch auf Befreiung und tatsächliche Repressionsmaßnahmen allzu oft nebeneinanderstanden, sodass Napoleon und die mit ihm verbundenen Orte, Ereignisse etc. schwerlich zu einem eindeutig positiv besetzten und entsprechende Emotionen weckenden Kristallisationspunkt der Erinnerung werden konnten. Zum anderen sind aber auch die spezifischen Bedingungen für die Etablierung eines Luogo della Memoria in Italien zu berücksichtigen, wo der Stellenwert eines nationalen Erinnerungsortes in erster Linie an den Maßstäben des Risorgimento gemessen wurde und partiell immer noch wird. Ereignisse, Orte und Persönlichkeiten haben also nur dann das Zeug zu positiv besetzten italienischen Erinnerungsorten, wenn sie „reine“, nationale Füllungen aufweisen. Dies aber ist für die meisten hier betrachteten Beispiele nicht der Fall. Daher reichte es für sie zumeist nur zu lokalen oder regionalen Erinnerungsorten mit begrenzter spezifischer Aussage oder bisweilen zu nationalen Erinnerungsorten zweiter Ordnung. Man darf gespannt sein, welche Entwicklung die italienische Erinnerungskultur vor dem Hintergrund einer voranschreitenden Dekonstruktion der vom Risorgimento geprägten Meistererzählungen nehmen wird. 38 Vgl. die Internetseite zum 150-jährigen Jubiläum der Gründung des italienischen Nationalstaats, http://www.150anni-lanostrastoria.it/index.php/ murat/il-proclama-di-rimini-alessandro-manzoni, 23.7. 2014.
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Kolberg – Tauroggen – Breslau: Rezeption und geschichtspolitische Deutung der Napoleonischen Kriege in den preußischen Ostprovinzen ROLAND GEHRKE Einleitung Wenn es im Rahmen des vorliegenden Bandes um „regionales Erinnern“ geht, so ist bezüglich des hier verhandelten Themas eines gleich vorwegzuschicken: Den „preußischen Osten“ gibt es nicht – und folglich auch keine regional homogene Perspektive der Erinnerung an die Napoleonischen Kriege. Hinter dem geographischen Begriff „preußischer Osten“ verbergen sich die Provinzen Pommern, Schlesien, Ostund Westpreußen: Regionen also, die in jeweils völlig unterschiedlichen historischen Epochen Teil der Hohenzollernmonarchie geworden waren und entsprechend unterschiedliche historische und kulturelle Prägungen aufwiesen. Dass dieser Raum erst ex post, also nach der fundamentalen Zäsur des Jahres 1945, im öffentlichen Bewusstsein als Einheit wahrgenommen wurde, liegt an der gemeinsamen Erfahrung des Verlusts infolge der alliierten Entscheidungen von Jalta und Potsdam, sichtbar in dem Sammelbegriff „Deutsche Ostgebiete“ oder deut-
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licher noch in dem (geographisch im Grunde unsinnigen) Terminus „Oder-Neiße-Gebiete“.1 Dass die zu den Napoleonischen Kriegen gehörenden Befreiungskriege (1813 bis 1815)2 in der jungen Bundesrepublik als historisches Forschungsfeld zunächst in den Hintergrund traten, liegt nicht nur daran, dass man hier nach 1945 mit nationalistisch aufladbaren Geschichtsmythen begreiflicherweise sehr zurückhaltend umging, sondern ebenso an dem Umstand, dass die maßgeblichen Erinnerungsorte dieser Zeit außerhalb des bundesdeutschen Territoriums lagen und somit keine erstrangigen historischen Bezugspunkte mehr bildeten. Dies gilt etwa für Leipzig als den Ort der entscheidenden militärischen Auseinandersetzung während der ersten, „deutschen“ Phase der Befreiungskriege, und dies gilt erst recht für das 1945 polnisch gewordene Breslau.3 Um ein möglichst vielfältiges Bild der Erinnerung und Deutung der Napoleonischen Kriege zu zeichnen, sollen im folgenden drei Erinnerungsorte4 exemplarisch herausgegriffen werden, die tatsächlich geographische „Orte“ im Wortsinne sind: erstens das an der hinterpommerschen Ostseeküste gelegene Kolberg (polnisch Kołobrzeg), zweitens das Städtchen Tauroggen (litauisch Tauragė) – das selbst übrigens zu keinem Zeitpunkt auf preußischem Territorium lag, sondern rund 40 Kilometer nördlich der ostpreußischen Grenze, sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts also auf russischem Herrschaftsgebiet befand – sowie drittens die erwähnte schlesische Kapitale Breslau (polnisch Wrocław). Diese drei Orte repräsentieren im weitesten Sinne nicht nur die wesentlichen geographischen Bestandteile des „preußischen Ostens“, sie ste1 2 3 4
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Zu entsprechenden Raumkonstruktionen und den sie begleitenden Geschichtsbildern vgl. die instruktiven Sammelbände von GIL/PLETZING, 2010; BREYSACH, 2003; WEBER, 2001. Zur Abgrenzung der Begriffe ‚Befreiungskriege‘ und ‚Freiheitskriege‘ siehe auch den Beitrag von KLAUSING/WICZLINSKI im vorliegenden Band. GEHRKE, 2014a, S. 3f. Wohl kaum ein Paradigma hat in den vergangenen zwei Jahrzehnten eine derart rasante historiographische Karriere durchlaufen wie der (ursprünglich von dem französischen Historiker Pierre Nora geprägte) Begriff des „Erinnerungsorts“ (lieu de mémoire). Die hierzu entstandenen Sammeldarstellungen – sei es aus einer nationalen, transnational-vergleichenden, regionalen oder auch religiös-konfessionellen Perspektive heraus – sind inzwischen derart zahlreich, dass an dieser Stelle lediglich auf die maßgebliche deutschsprachige Untersuchung des zugrundeliegenden Konzepts verwiesen sei: ROBBE, 2009.
Rezeption und Deutung in den preußischen Ostprovinzen
hen auch für unterschiedliche Phasen der Napoleonischen Kriege und für ganz unterschiedliche Ereignisse, die jeweils eigene, zum Teil in direkter Konkurrenz zueinander stehende Erinnerungstraditionen und Deutungsmuster hervorgebracht haben.
Kolberg 1807 Mit seinen 1807 etwa fünftausend Einwohnern zählte Kolberg, das seinen bescheidenen Wohlstand dem Schiffbau, der Fischerei sowie der Salzsiederei verdankte, zwar keinesfalls zu den Metropolen der Hohenzollernmonarchie, hatte sich seit Ende des 17. Jahrhunderts jedoch zum wichtigsten preußischen Ostseehafen zwischen Danzig und Stettin entwickelt. Die hohe strategische Bedeutung der an der Persantemündung gelegenen Festungsstadt hatte sich zudem während des Siebenjährigen Krieges erwiesen, als Kolberg gleich zweimal, 1758 und 1760, eine Belagerung durch russische Truppen erfolgreich überstand – bevor es 1761, beim nunmehr dritten Vorstoß der Russen, doch noch eingenommen wurde und schwere Zerstörungen erlitt.5 Anders als die übrigen preußischen Festungen hatte Kolberg auch nach der Katastrophe von Jena und Auerstedt im Herbst 1806 nicht vor den Franzosen kapituliert. Ab März 1807 versuchten Napoleons Truppen, die von ihnen belagerte Ostseestadt sturmreif zu schießen – letztlich vergeblich. Der bis zur Aufhebung der Belagerung über annähernd vier Monate hinweg geleistete Widerstand der Kolberger bildete den Ausgangspunkt einer nationalpolitischen Mythenbildung,6 die umso wirkmächtiger war, als sie vor dem Hintergrund des epochalen Zusammenbruchs der preußischen Armee bei Jena und Auerstedt einen wichtigen identifikatorischen Kontrapunkt bot. Festmachen lässt sich der Kolberg-Mythos vor allem an einzelnen konkreten Akteuren. Der zunächst im pommerschen Abwehrkampf gegen die Franzosen aktive Rittmeister Ferdinand von Schill – später ei-
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Vgl. HELD, 1847. Eine – angesichts des weitgehend fehlenden wissenschaftlichen Apparats freilich nur begrenzt nutzbare – rezeptionsgeschichtliche Gesamtdarstellung liegt vor mit EITNER, 1999.
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ne der wesentlichen deutschen Märtyrerfiguren der Befreiungskriege7 – überwarf sich allerdings frühzeitig mit dem Kolberger Festungskommandanten, dem Generalmajor Ludwig Moritz von Lucadou, und verließ die Stadt bereits zu Beginn der Belagerung.8 Maßgeblicher Protagonist der Entscheidung, den Widerstand gegen die Franzosen fortzusetzen, war mit dem bereits achtundsechzigjährigen Joachim Nettelbeck ein Zivilist, der auf eine teils abenteuerliche Karriere als Seemann, Sklavenhändler und Inhaber einer Branntweinbrennerei zurückblicken konnte.9 1805 in das Kollegium der Stadtältesten gewählt, führte Nettelbeck die Aufsicht über die städtischen Brunnen und Feuerlöschanstalten sowie das Leitungswesen und übte damit eine für die Verteidigung der eingeschlossenen Festung enorm wichtige Funktion aus. Wie zuvor schon Schill geriet Nettelbeck rasch in einen scharfen Gegensatz zum Festungskommandanten Lucadou, einen bereits unter Friedrich II. gedienten Offizier alter Schule. In seiner Lebensbeschreibung charakterisierte Nettelbeck Lucadou – elf Jahre nach dessen Tod – als einen von seiner militärischen Aufgabe heillos überforderten und zudem von Arroganz und Standesdünkel zerfressenen „alten, abgestumpften Mann“10 (obwohl er selbst sogar um drei Jahre älter als der
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Als Anführer eines von der preußischen Regierung nicht gedeckten Kommandounternehmens gegen die französischen Besatzungstruppen fiel der mittlerweile zum Major beförderte Schill am 31. Mai 1809 dreiunddreißigjährig in Stralsund. Zu ihm vgl. BOCK, 1988; DERS., 2013; VELTZKE, 2009. 8 KROCZYŃSKI, 2009. 9 Als historische Quelle durchaus auch von literarischem Wert ist Nettelbecks zwischen 1820 und 1823 in drei Bänden veröffentlichte Lebensbeschreibung. Im Folgenden zitiert nach der Ausgabe: NETTELBECK, 1930. Ein nach wie vor fast uneingeschränkt positives, in Teilen – etwa was Nettelbecks persönliche Beteiligung am Sklavenhandel angeht – auch exkulpierendes Bild zeichnet WEBER, 1999. 10 NETTELBECK, 1930, S. 259. Weiter heißt es EBD., S. 260: „Und gegenwärtig war der Geist [Lucadous] verflogen oder hing so blind an dem alten Herkommen, daß er sich in der neuen Zeit und Welt gar nicht zurechtfinden konnte.“ Die Art und Weise, in der Nettelbeck seine persönlichen Unterredungen mit Lucadou wiedergibt, fügt sich in dieses Bild nahtlos ein: „Die Bürgerschaft sei gern erbötig [...], mit Hand anzulegen, so viel in ihren Kräften stehe, und sei nur seines [Lucadous] Winks gewärtig. – Die Bürgerschaft! Und immer wieder die Bürgerschaft!‘ antwortete er [Lucadou] mit einer häßlichen Hohnlache, ich will und brauche die Bürgerschaft nicht‘“ (EBD., S. 261).
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Gescholtene war). Das so geschaffene Zerrbild wurde – obwohl in der Historiographie mehrfach korrigiert oder zumindest relativiert11 – bis ins 20. Jahrhundert hinein ein fester Bestandteil des Kolberg-Mythos. Letztlich behielt Nettelbeck in diesem Konflikt jedenfalls die Oberhand, indem er an der Spitze einer Gruppe gleichgesinnter Bürger und Beamter in konspirativer Weise beim König die Ablösung des ungeliebten Kommandanten durchsetzen konnte.12 Mit dem Nachfolger Lucadous, dem am 29. April 1807 in Kolberg eingetroffenen Major und führenden preußischen Heeresreformer August Neidhardt von Gneisenau, arbeitete die Nettelbeckpartei bei der Verteidigung der Festung dann eng zusammen. Die militärische Lage der von französischer Artillerie zunehmend zerstörten Stadt war im Lauf der folgenden zwei Monate gleichwohl längst prekär geworden,13 als der Abschluss des preußisch-französischen Waffenstillstandes vom 2. Juli 1807 den Kämpfen unverhofft ein Ende bereitete. Als einzige preußische Festungsstadt entging Kolberg damit der französischen Besetzung und konnte dank dieser Sonderstellung im geheimen Aufrüstungsprogramm Preußens, dem sog. „Krümpersystem“,14 auch in den Folgejahren eine wichtige Rolle spielen. Dass der französische Konsul in Stettin, Amédée Chaumette des Fossés, von
11 Um eine generell ausgewogenere Beurteilung der Rolle Lucadous während der Belagerung Kolbergs bemühte sich bereits im 19. Jahrhundert HORSTIG, 1857; ähnlich später dann KLAJE, 1927. Auch der Herausgeber von Nettelbecks Lebensbeschreibung, Walter Sohn, relativiert in seinen eigenen, dem Text der Memoiren hintangestellten Anmerkungen: „Loucadou [sic] ist von Nettelbeck nicht richtig beurteilt. Zwar war der Kommandant schon 65 Jahre alt und den ‚außergewöhnlichen Anstrengungen‘ nicht mehr gewachsen, aber er zeichnete sich von den meisten Festungskommandanten durch seine mannhafte Haltung aus“ (NETTELBECK, 1930, S. 345, Anm. 10). 12 NETTELBECK, 1930, S. 264f., 288-290. 13 EBD., S. 315, schreibt Nettelbeck, ohne Verkündung des Waffenstillstands hätte Kolberg sich noch „wenigstens sechs Wochen halten können, bevor alle und jede Mittel zum Widerstande erschöpft waren“, und gesteht damit ein, dass der Kolberger Abwehrkampf militärisch auf längere Sicht doch aussichtslos gewesen wäre. 14 Vgl. STÜBIG, 1994, S. 44. Durch den Aufbau einer Reservearmee kurzfristig ausgebildeter Rekruten – der sogenannten „Krümper“ – wurde die Preußen im Frieden von Tilsit auferlegte quantitative Beschränkung der Präsenzstärke seines Heeres auf lediglich 40.000 Mann gezielt umgangen.
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der Ausbildung der „Krümper“ in Kolberg schließlich Wind bekam, ist letztlich der Grund dafür, dass der pommersche Generalgouverneur und Kavalleriegeneral Gebhard Leberecht von Blücher Anfang 1812 auf französischen Druck hin aus dem aktiven Dienst ausscheiden musste15 – wenn auch bekanntlich nur vorübergehend. Die Erinnerung an den Widerstand der belagerten Festung Kolberg stand von vornherein im Zeichen Nettelbecks, der bereits ein Jahr nach den Ereignissen eine erste biographische Würdigung erfuhr16 und zudem, ausgezeichnet mit einem hohen königlichen Verdienstorden, Ende 1809 vom preußischen Herrscherpaar persönlich empfangen wurde, als dieses bei seiner Rückkehr von Königsberg nach Berlin im pommerschen Stargard Station machte.17 Auch beteiligte sich Nettelbeck noch persönlich an der Gestaltung der Erinnerungspolitik, etwa wenn er die Grabstätte des am 15. Juni 1807 bei der Erstürmung der Kolberger Wolfsbergschanze gefallenen Vizekommandanten Karl Wilhelm Ernst von Waldenfels auf eigene Kosten mit einem „schönen, achteckigen, geglätteten Grabstein“ nebst ehrender Inschrift ausstatten ließ.18 Die offiziellen Ehrungen, die Nettelbeck noch zu seinen Lebzeiten erfuhr, können freilich nicht darüber hinwegtäuschen, dass er in seiner Rolle als Initiator und Antreiber des Widerstands der Kolberger gegen die Franzosen als bürgerlicher Konterpart zum vermeintlich unfähigen preußischen Offizierskorps erschien und somit nur schwer in eine konservativ-monarchische Lesart der Napoleonischen Kriege einzupassen war. Zwar ließ sich der Kolberger Abwehrkampf vordergründig durchaus als „Bündnis zwischen Bürger und Soldat“19 interpretieren und schien sich somit bestens in den vielstimmigen „Volkskriegsdiskurs“ einzufügen, den die preußischen Militärreformer nach der Katastrophe vom Oktober 1806 selbst losgetreten hatten20 – von eben diesem Dis15 Vgl. HENDERSON, 1994, S. 70-73; CREPON, 1990, S. 207-209; LEGGIERE, 2014, S. 173-190. 16 [ANONYM], 1808. 17 Detailliert geschildert bei NETTELBECK, 1930, S. 333-339. 18 EBD., S. 324. 19 Vgl. JESSEN, 2009, S. 52f., der die im Titel gestellte Leitfrage letztlich verneint, zugleich aber zugesteht, dass der Wechsel von Lucadou zu Gneisenau den Abstand zwischen Militär und Bürgerschaft zumindest psychologisch tatsächlich verringert habe. 20 Grundlegend hierzu RINK, 1999; vgl. ferner HAGEMANN, 1998, S. 74-102; GEHRKE, 2014b, S. 53-56.
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kurs aber wollte die preußische Regierung nach dem endgültigen Sieg über Napoleon tunlichst nichts mehr wissen. Nettelbeck selbst hat den „Volkskriegs“- und „Bürgerwehr“-Gedanken im 1823 erschienenen dritten Band seiner Lebensbeschreibung zusätzlich untermauert, indem er – wenngleich anonymisiert – gegen Lucadou und andere seinerzeit in Kolberg stationierte Mitglieder des Offizierskorps den Vorwurf erhob, sie seien „Feiglinge“ gewesen, „die es nicht wert waren, in den ehrenvollen Reihen jener [braven Männer] zu fechten“.21 Jenseits seiner konkreten Rolle während der Belagerung von 1807 erschien Nettelbeck im Kontext der preußischen Verfassungsdebatte und der einsetzenden Restaurationsära zudem als Kronzeuge für den Anspruch des Bürgertums auf eine aktive politische Mitgestaltung des Gemeinwesens – ein Grund mehr, weshalb die offiziellen Stellen zu seiner Person erst einmal auf Distanz gingen. Aber auch in seiner Vaterstadt selbst erfreute sich der stets konfliktfreudig auftretende Nettelbeck keineswegs ungeteilter Beliebtheit.22 Die Kommunalpolitik empfand er als Tummelplatz von „Ränkeschmiede[n] und Selbstlinge[n]“.23 Dass die auf Grundlage der neu eingeführten Stein’schen Städteordnung 1809 erstmals gewählte Kolberger Stadtverordnetenversammlung sogleich wieder aufgelöst wurde – offiziell auf königliche Intervention, letztlich aber auf Betreiben Nettelbecks hin –, trug ihm manch erbitterte Feindschaft ein, zusätzlich wohl gepaart mit einer gehörigen Portion Häme, da Nettelbecks Branntweinhandel wenig später Bankrott ging.24 Die Stadt Kolberg jedenfalls verweigerte ihrem 1824 hochbetagt verstorbenen Sohn zunächst sowohl ein Ehrengrab als auch ein Denkmal; von seinen Lebenserinnerungen wurde jahrelang keine Notiz genommen.25 Im bürgerlich-demokratischen Lager der Vor- und Nachmärzzeit sah das anders aus: Der deutschkatholische Priester und Dichter Eduard 21 NETTELBECK, 1930, S. 324-328 (Zitat 324), der die von ihm Geschmähten hier beispielsweise als „Hauptmann***“ oder „Leutnant***“ anspricht – und sich wohl gewiss sein konnte, dass zumindest die Kolberger Leser sehr genau wussten, wer damit jeweils gemeint war. 22 Vgl. EITNER, 1999, S. 109. 23 NETTELBECK, 1930, S. 330. 24 EBD., S. 330f., S. 341. Auf Fürsprache Gneisenaus hin wurde der nach seiner Pleite zunächst mittellos dastehende Nettelbeck immerhin mit einer jährlichen Ehrenpension von zweihundert Reichstalern ausgestattet. 25 WEBER, 1999, S. 117.
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Duller etwa nahm Nettelbeck 1848 demonstrativ in seine achtbändige Sammlung der Männer des Volks auf.26 Dass sich das offizielle Preußen erst allmählich mit der Figur Nettelbeck aussöhnte, zeigt indes das 1865 von Paul Heyse veröffentlichte Nationaldrama Colberg,27 das die Ereignisse von 1807 nutzte, um die damals vermeintlich verwirklichte Einheit von Bürgern und Armee als das Ideal eines „Volkes in Waffen“ zu preisen. Wegen dieser „demokratischen“ Tendenzen durfte das Werk zunächst auf staatlichen Bühnen nicht aufgeführt werden – bevor es nach der Jahrhundertwende an Preußens Schulen dann zum Pflichtstoff wurde und bis 1914 nicht weniger als 140 Auflagen erlebte.28 Zu dieser Zeit hatte längst auch Kolberg selbst seinen Nettelbeck – neben dem in der offiziellen Erinnerung ebenfalls stark präsenten Ferdinand von Schill29 – wieder zu Ehren kommen lassen. Die Bürger der Stadt, die ihre militärische Funktion als Festung inzwischen längst eingebüßt hatte, dafür als eines der größten und mondänsten deutschen Ostseebäder aber zum Touristenmagneten geworden war, sammelten seit 1887 Geld für die Errichtung eines Denkmals. Das von dem pommerschen Bildhauer Georg Renatus Meyer-Steglitz ausgeführte und 1903 direkt vor dem Kolberger Mariendom aufgestellte Monument zeigte bezeichnenderweise Nettelbeck und Gneisenau gemeinsam beim Händedruck, wirkte also wie der Versuch, bürgerliche und militärische Widerstandstradition miteinander zu versöhnen.30 Die Einweihung erfolgte selbstredend am 2. Juli, dem Jahrestag der „Rettung der Stadt“. An diesem Tag, an dem Kolbergs Schüler stets schulfrei hatten, fanden alljährlich ein Volksfest, ein Umzug in historischen Kostümen sowie in den frühen Abendstunden eine Freilicht-Aufführung des erwähnten
26 DULLER, 1848. 27 HEYSE, 1865. 28 Zur Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte von Colberg vgl. KOEBE, 2002, S. 74-79. 29 KROCZYŃSKI, 2009, S. 62f., nennt in diesem Zusammenhang unter anderem eine Plakette an der Fassade des Kolberger Hauses Schlieffenstraße 10, die an Schills dortigen Wohnsitz während der Ereignisse von 1807 erinnerte, die Umbenennung einer Hauptstraße im Stadtzentrum in „Schillstraße“ sowie die Omnipräsenz Schills als Postkartenmotiv um die Jahrhundertwende. 30 Kurze Beschreibung des Denkmals in: DEYA/KUNA, 2013, S. 159; vgl. [ANONYM], 1930.
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Dramas Colberg statt, dessen Autor Heyse bereits 1890 zum Ehrenbürger der Stadt ernannt worden war.31 Eine Schilderung des Kolberg-Mythos bliebe unvollständig, ohne zumindest kurz auf den 1943 direkt von NS-Propagandaminister Joseph Goebbels in Auftrag gegebenen und von Regisseur Veit Harlan verwirklichten UFA-Film Kolberg einzugehen. Der Streifen erlebte seine Premiere am zwölften Jahrestag von Hitlers „Machtergreifung“, also am 30. Januar 1945 – in Berlin und zeitgleich bezeichnenderweise vor Wehrmachtssoldaten in der bereits schwer umkämpften Atlantikfestung La Rochelle.32 Die literarische Vorlage des Films bildete Heyses Drama,33 die Hauptrolle des Joachim Nettelbeck wurde mit Heinrich George besetzt, dem wohl prominentesten deutschen Mimen der NSZeit. Das Motiv eines bürgerlichen Partizipationsanspruchs spielte in Kolberg erwartungsgemäß keine Rolle mehr. Die ideologische Funktion des Streifens als „Durchhaltefilm“ hingegen ist wiederholt herausgestellt worden;34 an dieser Stelle genügt der Hinweis auf die bereits im Breslau des Jahres 1813 spielende Schlusssequenz, in der Harlan den erfolgreichen Kolberg-Verteidiger Gneisenau sagen lässt: „Aus Asche und Trümmern wird sich, wie ein Phönix, ein neues Volk erheben. Ein neues Reich!“ – während im Hintergrund die Kriegsfreiwilligen unter Absingen der Körner‘schen Liedzeile „Das Volk steht auf, der Sturm bricht los!“ durch die Straßen Breslaus ziehen.35 Nach dem Untergang des „Dritten Reiches“ wurde der Streifen in allen vier Besatzungszonen verboten. Bis heute hat er aufgrund seiner propagandistischen Aussage den Status eines sogenannten „Vorbehalts31 Vgl. KOEBE, 2002, S. 78. 32 Zur Entstehungsgeschichte des Films und zu den Umständen seiner Erstaufführung vgl. detailliert GEHRKE, 2011, S. 3-138. 33 Ein Umstand, der „offiziell“ bezeichnenderweise keinerlei Erwähnung finden durfte, da Paul Heyse über die Familie seiner Mutter jüdischer Abstammung war. 34 Vgl. CASPAR, 1975 [aus DDR-Perspektive]; PARET, 1994; CULBERT, 2009; vgl. ferner GEHRKE, 2011, S. 307-309, der das in der öffentlichen Diskussion um den Kolberg-Film zur Floskel erstarrte „Zwangsattribut Durchhaltefilm“ in Frage stellt. 35 Vgl. STÄTTER, 2014, S. 170; KOLLER, 2014, S. 189. Die im Rahmen dieses Beitrags noch näher zu behandelnden Breslauer Ereignisse des Jahres 1813 bilden den Anfangs- und auch den Endpunkt des Kolberg-Films. Zwischen diesen beiden Polen ist die eigentliche Handlung in Form einer Rückblende eingefügt.
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films“,36 der nur mit Zustimmung der in diesem Kontext zuständigen Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung gezeigt werden darf. Am Schicksal des Kolberg-Films in der Nachkriegszeit lässt sich zugleich aufzeigen, wie die bundesdeutsche Praxis der Vergangenheitsbewältigung bisweilen über das Ziel hinauszuschießen pflegt. Veit Harlan selbst hat in einem ZDF-Interview, das erst ein halbes Jahr nach seinem Tod im Oktober 1964 ausgestrahlt wurde, die irreführende Aussage in die Welt gesetzt, die Verteidigung Kolbergs habe damit geendet, dass „die Stadt zuletzt ihre Tore doch den Franzosen öffnen musste, weil der Krieg verloren war“.37 Dieses Statement wurde in der Folge zu der den historischen Fakten zuwiderlaufenden Behauptung vergröbert, die französischen Belagerer hätten Kolberg am Ende doch militärisch eingenommen und besetzt, und wurde in dieser Form von zahlreichen Medien bereitwillig repetiert. Selbst in den Begleitmaterialien der Murnau-Stiftung zum Kolberg-Film findet sich eine entsprechende, in der Sache schlicht falsche Darstellung bis heute.38
Tauroggen 1812 Anders als Kolberg war Tauroggen – oder konkreter gesagt: die etwa drei Kilometer von Tauroggen entfernte Poscheruner Mühle – nicht der Schauplatz einer militärischen Auseinandersetzung zwischen Preußen und Franzosen, sondern der Ausgangspunkt der entscheidenden Wende in der preußischen Bündnispolitik nach dem Scheitern von Napoleons Russlandfeldzug. Aber in ähnlicher Weise wie der Widerstand der pommerschen Festungsstadt ist auch die Übereinkunft vom 30. Dezember 1812 in der historischen Erinnerung untrennbar mit dem persönlichen Einsatz eines konkreten Akteurs verbunden, hier des preußischen Generalleutnants Johann David Ludwig von Yorck,39 der zu diesem Zeitpunkt das preußische Korps in Kurland befehligte.
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Vgl. hierzu KRAH/WÜNSCH, 1999. Zit. nach GEHRKE, 2011, S. 202. Vgl. EBD., S. 203-209, 375-391. Bis heute nicht durch eine neuere große Biographie ersetzt worden ist das Standardwerk von DROYSEN, 1913.
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Nachdem russische Truppen am 20. Dezember 1812 die Memel überschritten hatten, wäre es eigentlich Yorcks Aufgabe gewesen, ihren Vormarsch zu stoppen und damit den Abzug der Reste der Grande Armée zu decken – doch dachte er gar nicht daran. Ohne für sein Handeln eine Vollmacht aus Berlin eingeholt zu haben, ließ Yorck dem russischen Befehlshaber General Hans Karl Friedrich Anton von Diebitsch am Abend des 29. Dezember 1812 die Nachricht zukommen, er sei bereit, sich mit ihm am nächsten Morgen bei der besagten Mühle zu treffen. Ergebnis dieses Treffens war die Konvention von Tauroggen: Yorck verpflichtete sich, sein Korps für einen Zeitraum von zwei Monaten zu neutralisieren und die Russen in dieser Zeit ungehindert preußisches Territorium passieren zu lassen.40 Nach gängigen Rechtsbegriffen war Yorcks Vorgehen nicht nur Ungehorsam, sondern Hochverrat; Reue zeigte er freilich nicht: In einem Schreiben an Friedrich Wilhelm III. vom 3. Januar 1813 rechtfertigte Yorck sich unbeirrt und verwies zur Begründung auf den „wirklichen Feind“ – die Franzosen. Den König stellt er kurzerhand vor die Wahl, sein Handeln entweder zu billigen oder ihn zum Tode verurteilen zu lassen. Letzteres hätte der zornige Monarch im ersten Moment gewiss gerne getan, am Ende beließ er es aber dabei, Yorck formell seines Kommandos zu entheben.41 Auch in Berlin konnte man die Dynamik der Ereignisse nicht mehr ignorieren: Yorcks eigenmächtiges Handeln wirkte über Ostpreußen hinaus als Fanal zur Erhebung gegen Napoleon, dem Friedrich Wilhelm III. nun widerwillig Folge leistete. Statt weitere disziplinarische Maßnahmen fürchten zu müssen, wurde Yorck im März 1814 mit dem Namenszusatz „von Wartenburg“ in den Grafenstand erhoben und erhielt die ehemalige Malteserkommende Klein-Oels in Niederschlesien als königliche Dotation; im Mai 1821 erfolgte gar die Ernennung zum Generalfeldmarschall.42 Doch gerade das rechtlich-moralisch äußerst diffizile Problem eines militärischen Ungehorsams aus vermeintlich höheren Motiven heraus sorgte dafür, dass die Konvention von Tauroggen in der offiziellen Er40 Die Ereignisgeschichte findet sich detailliert dargestellt EBD., 1, S. 336377; aus der neueren Literatur vgl. FRÖHLICH, 2011, S. 123-142; ASCHMANN, 2013, S. 230-238; LUH, 2015, S. 22-32. 41 Vgl. ASCHMANN, 2013, S. 237f.; LUH, 2015, S. 30-32. 42 Die letzten 16 Lebensjahre Yorcks (1814–1830) werden detailliert geschildert bei DROYSEN, 1913, 2, S. 419-463.
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innerungspolitik Preußens zunächst nicht im Vordergrund stand – zu sehr war sie geeignet, das Bild eines zaudernden Monarchen festzuschreiben, der zum Bündniswechsel am Ende förmlich gezwungen werden musste. Erst Johann Gustav Droysens Yorck-Biographie, 1851 in erster Auflage erschienen, leitete in dieser Hinsicht eine positive Neubewertung ein.43 Der Alleingang Yorcks wurde von Droysen gleichsam geadelt: Dieser habe – so ein in der Historiographie später häufig zitierter Schlüsselsatz – mit dem Abschluss der Konvention von Tauroggen „eigenmächtig und, wenn nicht gegen die ausdrückliche, so doch gegen die wahrscheinliche Willensmeinung des Königs“ gehandelt.44 Die Frage, ob Yorck sich bei seiner Verabredung mit Diebitsch letztlich nicht aber doch auf ein stillschweigendes Einverständnis der Regierung habe stützen können oder gar auf deren geheime Anweisung hin gehandelt habe, löste vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges so etwas wie einen kleinen Historikerstreit aus, dessen Verlauf hier ohne Beleuchtung der inhaltlichen Details nur angerissen werden kann. Die These, Yorcks Handeln sei insgeheim von oben gedeckt gewesen, ließ sich dabei durchaus als der Versuch lesen, die Konvention von Tauroggen in eine monarchisch-konservative Interpretation der Befreiungskriege zu integrieren. Maßgeblich gestützt auf das Kriegstagebuch des Flügeladjutanten Ludwig von Wrangel, wurde eine entsprechende Lesart vor allem von dem Historiker und Publizisten Friedrich Thimme vertreten,45 der damit freilich auf den energischen Widerspruch zahlreicher Fachkollegen stieß.46 Durchsetzen konnte Thimme sich mit seiner These jedenfalls nicht. Spätestens mit Walter Elzes 1926 erschienener Studie, die die verschiedenen Argumente im Streit um Tauroggen noch einmal gegeneinander abwog, kann die Kontroverse als im Sinne Droysens entschieden gelten.47
43 Vgl. FRÖHLICH, 2011, S. 31f. 44 DROYSEN, 1913, 1, S. 491. 45 THIMME, 1900; DERS., 1902; DERS., 1905; DERS., 1907; DERS., 1908a; DERS., 1908b. 46 Bereits GROBBEL, 1893, S. 14, betrachtete die Droysen’sche Lesart von der Eigenmächtigkeit Yorcks als „erwiesen“. In die gleiche Richtung argumentierten BLUMENTHAL, 1901, und VOSS, 1910, dem es in seiner Darstellung vor allem darum ging, die Glaubwürdigkeit Wrangels zu erschüttern. 47 ELZE, 1926; vgl. FRÖHLICH, 2011, S. 196.
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Ähnlich wie die Kolberger Ereignisse ist auch der Tauroggen-Mythos später cineastisch funktionalisiert worden. Gustav Ucickys Historienfilm Yorck kam zwar bereits zu Weihnachten 1931 in die Kinos, also gut ein Jahr vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten,48 lag in seiner politischen Grundaussage aber bereits ganz auf der Linie der radikalen Rechten. Der Titelheld erschien darin als autoritäre, von patriotischem Instinkt geleitete „Führernatur“ in Zeiten politischer Ohnmacht, die gegen einen schwachen, zaudernden König den Vasallenstatus Preußens an der Seite Napoleons aufkündigt und damit den nationalen Volkswillen vollstreckt49 – ein Szenario, das im politischen Klima der untergehenden Weimarer Republik Analogien zur aktuellen Situation aufzeigen sollte. In der kritischen Aufarbeitung des deutschen Propagandafilms hat Yorck weit weniger Beachtung gefunden als Harlans Kolberg, doch war der Streifen zum Zeitpunkt seiner Aufführung durchaus ein politisches Ereignis; zwischen den verfeindeten politischen Lagern von rechts und links löste er prompt eine hitzige publizistische Kontroverse aus.50 Eine ideologisch ähnlich eingefärbte Version der historischen Figur Yorck wurde zeitgleich auch auf die Bühne gebracht. Das von dem Schriftsteller Maximilian Böttcher verfasste Stück Yorck und seine Offiziere erlebte vor und nach der nationalsozialistischen Machtübernahme mehrere Auflagen und war im Titel bezeichnenderweise als Führerdrama deklariert.51 48 KOLLER, 2014, S. 190 49 EBD. 50 Wesentliche zeitgenössische publizistische Stimmen hierzu finden sich zusammengefasst EBD., S. 191-193. 51 BÖTTCHER, 1934. Gewidmet ist die hier zitierte fünfte Auflage „den heroischen Geistern des Dritten Reiches“. Am Schluss des letzten Aufzuges (S. 116f.) lässt Böttcher seinen Yorck vor dessen Offizieren die folgenden Sätze sprechen: „Ohne Auftrag und ohne Vollmacht unseres Königs habe ich mich entschlossen, aus dem Verbande der napoleonischen Armee auszutreten. Wer gleich mir gesonnen ist, sein Leben nur noch für die Freiheit des Vaterlandes hinzugeben, der schließe sich mir an. […] Möge es uns gelingen, alles Denken, alles Empfinden einzuordnen in das Streben nach dem höchsten Ziel. Den ungeheuren Sturm der Vaterlandsliebe zu entfachen, dem keine Macht der Erde Widerstand entgegensetzen kann. Möge des Königs Majestät unsern Entschluß nachträglich gutheißen. Tut Majestät es nicht, unterliegt Majestät auch fernerhin dem Einfluß von Beratern, die zu feige sind, Sklavenketten zu brechen, so zerreiße ich mit blutendem Herzen das letzte Band des Gehorsams und führe den Krieg auf eigene
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Was seine ideologische Anschlussfähigkeit betrifft, erwies sich der Tauroggen-Mythos indes als erstaunlich vielseitig. Gerade die als Resultat eines persönlichen Gewissenskonflikts erfolgte Aufkündigung eines Treueids stellte im „Dritten Reich“ auch für den Widerstand gegen den Nationalsozialismus aus naheliegenden Gründen ein zentrales Motiv dar. Die Verschwörer des 20. Juli 1944 hatten mit dem später in Berlin-Plötzensee hingerichteten Juristen Peter Graf Yorck von Wartenburg52 immerhin einen Ururenkel Ludwig Yorcks in ihren Reihen. Und zumindest der Kreisauer Kreis, in dem Peter Yorck selbst zu den Wortführern zählte, berief sich explizit auf die in der Familie Yorck gepflegte „Tradition von Tauroggen“, ungeachtet der äußeren Umstände allein dem eigenen Gewissen zu folgen.53 Im unmittelbaren Umfeld des Stauffenberg-Attentats vom 20. Juli wurde eine direkte Bezugnahme auf den Abschluss der Konvention von Tauroggen aber aus guten Gründen vermieden: Erstens war die internationale Konstellation des Jahres 1944 eine völlig andere, zweitens musste der Vergleich zwischen Friedrich Wilhelm III. und Adolf Hitler abwegig erscheinen, und drittens ging es im Juli 1944 nicht einfach um einen Akt militärischen Ungehorsams, sondern um den Versuch eines Staatsstreichs, Tyrannenmord eingeschlossen.54 Sehr wohl auf Tauroggen beriefen sich hingegen die von der Roten Armee gefangengenommenen und als propagandistisches Sprachrohr gegen das „Dritte Reich“ eingesetzten deutschen Offiziere des „Nationalkomitees Freies Deutschland“.55 Hierbei kam zum Tragen, dass Tauroggen kein ausschließlich deutscher, sondern ein deutsch-russischer Erinnerungsort ist, ein Ort, der für eine ganz konkrete außenpolitische Bündnisoption steht. Es verwundert daher nicht, dass entsprechende Reminiszenzen auch schon beim Abschluss des Bismarck‘schen Rückversicherungsvertrages von 1887 56 oder des Rapallo-Abkommens von
52 53 54 55 56
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Faust. Entweder wir gewinnen unsere nationale Unabhängigkeit wieder oder wir sterben.“ Eine aktuelle Biographie liegt vor mit BRAKELMANN, 2012. WINTERHAGER, 1985, S. 22. FRÖHLICH, 2011, S. 199. EBD., S. 200. Vgl. STÖKL, 1982, S. 120, der vor der leichtfertigen Konstruktion entsprechender Kontinuitätslinien freilich warnt – zumal es 1812 um ein russischpreußisches Einvernehmen gegangen sei, 1887 hingegen um ein russischdeutsches.
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192257 aufgetaucht waren. Die enge Einbindung der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) in den sowjetisch dominierten Machtbereich schien sich in eine historisch entsprechend untermauerte Bündniskonstellation ebenfalls nahtlos einzufügen. So erschien das Handeln Yorcks auch in der DDR-Historiographie in einem vergleichsweise freundlichen Licht. Wenn der „befreundeten“ russischen Seite hier tendenziell die Rolle des „Retters“ und „Befreiers“ zugebilligt wurde,58 so schlug dies unübersehbar einen historischen Bogen zum Jahr 1945. In diesem Lichte verwundert ebenfalls nicht, dass der TauroggenMythos gerade auch in der aktuellen geopolitischen Konstellation – Stichwort: russische Annexion der Krim im März 2014 und nachfolgende Ukraine-Krise – wieder herhalten muss, wenn es darum geht, die vermeintlich einseitig antirussische Haltung der deutschen oder ganz allgemein der „westlichen“ Politik anzuprangern. Im Internet etwa findet sich ein Tauroggen Blog. Dessen Titel, so heißt es dort, sei bewusst gewählt worden, um „einen Kontrapunkt zu den deutschen Hauptstrommedien zu bilden, deren Berichterstattung über Russland leider sehr oft stark verzerrt, bisweilen sogar gefälscht ist, […] und die manchmal vor Hass auf das große Land im Osten und seine Bewohner nur so strotzt“.59 Aus welcher geistigen Ecke die anonym bleibenden Urheber des Blogs stammen, lässt sich zumindest erahnen.60
57 Vgl. hierzu SCHÄFER, 2001, S. 197. 58 Vgl. RÖDER, 1963, S. 111: „Der siegreiche Kampf des russischen Volkes und die moralischen Auswirkungen der Konvention von Tauroggen verliehen jetzt größeren Teilen der deutschen Bevölkerung neuen Mut und begeisterten sie für den Kampf um Deutschlands Unabhängigkeit.“ 59 http://tauroggen.blogspot.de/p/uber-tauroggen.html, 10.3.2016. 60 Wohl nicht zufällig ist von der Seite des Tauroggen Blog direkt auf das Compact-Magazin des Publizisten Jürgen Elsässer verlinkt, dessen militanter Antiamerikanismus gegenwärtig als kompatibles Bindeglied zwischen extrem linken und extrem rechten Positionen dient. Bereits 2011 hatte Elsässer in seinem eigenen Weblog allen Ernstes gefordert, den Friedensnobelpreis an den russischen Präsidenten Vladimir Putin zu verleihen, da dieser „den Ausverkauf Russlands an das angloamerikanische Kapital gestoppt und Russland als eurasische Macht restauriert“ habe. Weiter heißt es dort: „Tauroggen und Rapallo weisen den Weg: Lang lebe die deutschrussische Freundschaft!“ https://juergenelsaesser.wordpress.com/2011/07/ 19/ein-preis-fur-putin-aber-immer/, 10.3.2016.
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Der Konvention von Tauroggen gedacht wurde und wird auch am realen Ort ihres Zustandekommens. Zum hundertjährigen JubiAbb. 1: Gedenksteine für die Konvention von läum der Konvention Tauroggen aus dem Jahr 1912 bzw. 1976. 1912 wurde auf dem Foto: http://wiki-commons.genealogy.net/ Gelände der (selbst daimages/thumb/4/49/Konvention_von_Taurog mals schon nicht mehr gen_03.jpg/800px-Konvention_von_Taurog existierenden) Poschegen_03.jpg, 29.7.2016 runer Mühle ein von dem Maler und Grafiker Ludwig von Kalckreuth entworfener, deutsch beschrifteter und auf vier großen Kupferkugeln ruhender Granitkubus errichtet, der im Lauf der Jahrzehnte jedoch zunehmend verfiel und in den 1990er Jahren unter ungeklärten Umständen ganz verschwand. Noch zu besichtigen ist hingegen ein 1976 ganz in der Nähe zusätzlich errichteter Gedenkstein, auf dem an die Ereignisse des 30. Dezember 1812 sowohl in litauischer als auch in russischer Sprache erinnert wird.61
Breslau 1813 Mit der Konvention von Tauroggen jedenfalls war eine Situation entstanden, in der sich die grundlegende Entscheidung für oder gegen den Kaiser der Franzosen offenkundig nicht mehr länger aufschieben ließ. Die Residenzen Berlin beziehungsweise Potsdam, die im Aktionsradius der sich neu formierenden französischen Armee lagen, waren in dieser Situation als Aufenthaltsorte für den König zu riskant geworden. Mit einem höfischen Gefolge von insgesamt 71 Personen brach Friedrich Wilhelm III. daher am 21. Januar 1813 auf und erreichte vier Tage später die schlesische Hauptstadt Breslau, wo er das königliche Palais in 61 http://www.odfinfo.de/preussen/Geschichte/Tauroggen-Konvention.htm, 10.3.2016. Der 1912 eingeweihte Granitkubus trug unter anderem die Inschrift: „Dem furchtlos treuen Diener seines Koenigs / dessen ruhmreiche That den Anstoss gab zu Preussens Erhebung und Befreiung.“
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der Karlsstraße in den kommenden Wochen und Monaten zu seiner offiziellen Residenz machte.62 Breslau war damit für einen entscheidenden Moment der Geschichte zum Zentrum der preußischen Politik geworden: Hier wurde der Krieg öffentlich erklärt, hier wurde das in der Symbolgeschichte der Deutschen fortan so wichtige Eiserne Kreuz gestiftet,63 hier wurden schließlich die ersten Freikorps aufgestellt, darunter das Lützow‘sche, dessen Uniformen sich in den späteren deutschen Nationalfarben Schwarz, Rot und Gold präsentierten. Von Breslau aus ergriff der Monarch – endlich, um es in der Empfindung vieler Zeitgenossen auszudrücken – die Initiative. Mit den beiden auf den 17. März 1813 datierten und drei Tage später in der Schlesischen Privilegirten Zeitung veröffentlichten königlichen Proklamationen „An mein Volk und An mein Kriegsheer“64 stellte er sich scheinbar an die Spitze der Freiheitsbewegung und verlieh seiner Herrschaft damit ein gleichsam plebiszitäres Element.65 Die Entstehungsgeschichte der Märzaufrufe zeigt, dass Monarch und Staatsregierung sich der fundamentalen Konsequenzen dieses Schritts nicht nur auf internationaler Ebene bewusst waren, sondern dass sie vor allem auch die langfristige politische Wirkung dieser Proklamationen nach innen bedachten. Um faktisch jedes einzelne Wort war im Vorfeld gefeilscht worden.66 Im Ergebnis hatte sich jene sogenannte „Patrioten“-Partei um die preußischen Staats- und Militärreformer, die dem Gedanken eines „Volkskriegs“ aufgeschlossen gegenüberstand, jedenfalls durchgesetzt. Mit beiden Aufrufen war die enge Verzahnung von traditioneller Kriegführung auf der einen und dem Einsatz einer Volksmiliz auf der anderen Seite, wie Gneisenau und Gerhard von Scharnhorst sie seit längerem propagiert hatten, nunmehr legitimiert und zur offiziellen Politik erhoben worden.67 Der König, dessen distanzierte Haltung zur Idee eines Volksaufstands kein Ge62 STAMM-KUHLMANN, 1992, S. 366-368. 63 Vgl. hierzu DÖRNER, 1994, S. 88f. 64 Ein Facsimile-Abdruck der achtseitigen Ausgabe der Schlesischen Privilegirten Zeitung vom 20. März 1813 findet sich bei BERNER, 1896, 2, nach S. 538 [der Facsimile-Abdruck ohne eigene Paginierung]. 65 Vgl. hierzu PFLUGK-HARTTUNG, 1913; GEHRKE, 2014b. 66 Die Einzelheiten zur Genese der beiden Texte bei PFLUGK-HARTTUNG, 1913, S. 265-269. 67 GEHRKE, 2014b, S. 58.
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heimnis war, sah sich nun sogar gezwungen, die erstmals direkt angesprochenen Soldaten der regulären Linienarmee dazu zu ermahnen, in ihrem Enthusiasmus nicht hinter den Freiwilligen zurückzustehen. In „An Mein Kriegsheer“ las sich das so: „Freiwillig eilen von allen Seiten Jünglinge und Männer zu den Waffen. Was bei diesen freier Wille, das ist Beruf für Euch, die Ihr zum stehenden Heere gehört. Von Euch, geweiht das Vaterland zu vertheidigen, ist es berechtigt, zu fordern, wozu Jene sich erbieten.“68 Mit dem Verweis auf die sich zeitgleich besonders in Schlesien entfaltende Freiwilligenbewegung deutet sich hier bereits eine brisante Konkurrenz der Erinnerungen an. In ihrer langfristigen historischen Bedeutung bilden die Märzaufrufe in erster Linie eine chronologische Zäsur, indem sie den offiziellen Beginn der Befreiungskriege markieren; und nur in dieser Funktion wurden sie anlässlich der entscheidenden Jubiläen auch erinnert. Wo immer die Proklamation „An Mein Volk“ – und mit ihr ja gleichsam der monarchische Part im Kontext der beginnenden Befreiungskriege – hingegen eine Konkurrenzsituation mit weniger abstrakten Anknüpfungspunkten aus dem Kontext der Befreiungskriege zu bestehen hatte, wurde ihr letztlich eine untergeordnete Rolle zugewiesen.69 Gerade in Schlesien gedachte man, wenn es um den März des Jahres 1813 ging, weit eher der in vielen zeitgenössischen Berichten beschriebenen Aufbruchstimmung, die insbesondere die akademische Jugend in Breslau erfasst hatte70 – jenes verbreitet als magisch empfundenen Augenblicks also, in dem die schlesische Hauptstadt nach den Worten des Publizisten Julius Stein der „Zentralpunkt der Bewegung“ geworden war, der „in freudiger, enthusiastischer Hingebung mit strahlendem Beispiel voran[ging]“.71 Eine wichtige Rolle in diesem Zusammenhang spielten die Erinnerung an die Gründung und feierliche Einsegnung des Lützow‘schen Freikorps in der Dorfkirche zu Rogau unweit Breslaus sowie die anschließende Stationierung der Lützower in dem nahegele-
68 Zit. nach EBD., S. 65f. (Anhang II). 69 EBD., S. 63. 70 Vgl. hierzu HERZIG, 2014, S. 97f. Der Naturwissenschaftler und Universitätsprofessor Heinrich Steffens trug im Frühjahr 1813 wesentlich dazu bei, die Breslauer Studentenschaft für den freiwilligen Kriegseinsatz gegen Napoleon zu begeistern. 71 STEIN, 1884, S. 42.
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genen Ort Zobten.72 Entwickelte gerade Zobten sich „zu einem Wallfahrtsort für Breslauer Hochschüler und zu einem Gedenkort für die gefallenen Kameraden“,73 so wird an diesem Ort zugleich das Auseinanderfallen von staatlich-offiziöser und studentisch-oppositioneller Erinnerungskultur schlaglichtartig deutlich. Im Gefolge der Karlsbader Beschlüsse von 1819 waren nämlich nicht allein die autonomen organisatorischen Strukturen der Studentenschaft – sprich: die Burschenschaften – mit einem Verbot belegt worden; auch die im Gedenken an die Ereignisse des Jahres 1813 zuvor jährlich abgehaltenen feierlichen Zobten-Kommerse blieben von 1834 an für mehrere Jahre behördlich untersagt.74 Ein wesentliches Spektrum der Erinnerungskultur blieb damit bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts hinein eng mit der fundamentalen politischen Enttäuschungserfahrung des liberalen Bürgertums nach 1815 verknüpft,75 mochte sich in die offiziöse, konservativ-monarchische Geschichtspolitik also nicht einfügen. So hieß es noch zum 50. Jubiläum der Einsegnung der Lützower Freiwilligen in der Zeitschrift Die Gartenlaube 1863 vielsagend: „Eine größere Idee lebte in ihnen [den Freiwilligen]. Ein deutsches Freicorps wollten sie sein, denn dem ganzen deutschen Vaterlande galt ihr Blut und Leben. […] Fragen wir jetzt nach fünfzig Jahren, welcher Lohn ist dem Volke für die großen Tage und Thaten von 1813 geworden? Wir müssen erröthen, wir haben nur die eine Antwort: sie sind ihm mit Undank gelohnt!“76
Wo die Schlesier hingegen auf eigene Initiative, also unabhängig von behördlichen Vorgaben, eine Bewegung für ein Denkmal der Befreiungskriege ins Leben riefen, da galt es ganz selbstverständlich, den Generalfeldmarschall und „Katzbach-Helden“ Blücher in Stein beziehungsweise Erz zu hauen; an den Zauderer Friedrich Wilhelm III. dachte in diesem Zusammenhang niemand. Die Debatte um ein zentrales schlesisches Blücher-Denkmal, geführt vornehmlich in den Schlesi72 73 74 75 76
KUNICKI, 2005; SCHULTZ, 2014, S. 147-150. SCHULTZ, 2014, S. 148. KUNICKI, 2005, S. 166. Vgl. LUH, 2015, S. 186-194. [ANONYM], 1863, S. 182f.; vgl. SCHULTZ, 2014, S. 150.
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schen Provinzialblättern, verselbständigte sich schon unmittelbar nach 1813.77 In diesem Kontext wurde auch manch skurriler Vorschlag präsentiert, etwa die Idee, ein gigantisches, vom flachen Land weithin sichtbares Denkmal auf der immerhin gut 1.600 Meter hohen Schneekoppe aufzustellen.78 Die von Christian Daniel Rauch entworfene Blücher-Statue, die tatsächlich dann 1827 auf dem Breslauer Salzring eingeweiht wurde, nahm sich demgegenüber fast bescheiden aus. Und auch sie konnte nur verwirklicht werden, weil man angesichts zunehmend spärlicher fließender Spendengelder am ursprünglichen Entwurf einige Abstriche vornahm. So wurde der Sockel des Denkmals am Ende nicht aus Erz, sondern aus profanem – und um einiges billigerem – Granit gefertigt.79 Dabei blieb es allerdings nicht. Die nach Blüchers Tod 1819 aufgekommene Idee, sein Grab im niederschlesischen Krieblowitz mit einem vom Zobtenberg stammenden 600 Tonnen schweren Granitblock zu bekrönen, erwies sich aus Transportgründen als undurchführbar, selbst nachdem der Block in mehrere quadratische Einzelstücke zerschnitten worden war. Erst 1846 konnte wiederum Rauch damit beginnen, aus dem Material einen über zehn Meter hohen zylindrischen Turm zu errichten, an dessen Vorderseite eine Marmorbüste des Marschalls in doppelter Lebensgröße aufgestellt wurde. Feierlich eingeweiht wurde das Ganze zum 40. Jahrestag der Schlacht an der Katzbach, am 28. August 1853.80 Das weitere Schicksal des Denkmals illustriert den Verlauf der Geschichte Schlesiens im 20. Jahrhundert. Nachdem das Dorf Krieblowitz wohl schon aufgrund seines slawisch klingenden Namens 1937 vorübergehend in „Blüchersruh“ umbenannt worden war, folgte im Februar 1945 die partielle Zerstörung des Blücher-Mausoleums durch sowjetische Soldaten; die Reste verfielen in den folgenden Jahrzehnten. In einer Kooperation von polnischer Armee und deutscher Bundeswehr wurde das Denkmal 1996 dann notdürftig wiederhergerichtet, befindet sich aber weiterhin in einem maroden Zustand.81 77 78 79 80
Vgl. hierzu SCHOTT, 2014. EBD., S. 119. EBD., S. 132f. SCHULTZ, 2014, S. 146f.; vgl. WIEDEMANN, 1931; GRUNDMANN, 1964, S. 78-80; KUHN, 1992. 81 K UHN , 1992, S. 84; vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Krobielowice, 10.3.2016.
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Abb. 2: Mausoleum für Fürst Gebhard Leberecht von Blücher (1742-1819) in Krieblowitz/Krobielowice im Jahr 2012. Foto: https://upload.wikimedia.org/wiki pedia/commons/0/05/Bluecher-mauzole um.jpg, 29.7.2016
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist in Schlesien zudem eine gewisse Trivialisierung des Gedenkens an die Befreiungskriege festzustellen, sichtbar etwa in dem neuartigen Phänomen des „SchlachtfeldTourismus“, insbesondere an der Katzbach. Kaum ein Reiseführer dieser Epoche kam mehr ohne detaillierte Hinweise zum Ort des Geschehens aus.82 Zugleich verloren die alten politischen Gräben auch im Oderland an Bedeutung. Anders als noch 1863 lässt sich im Zuge des hundertjährigen Jubiläums von 1913 kein evidenter Gegensatz zwischen einer staatstragend-monarchischen und einer bürgerlich-freiheitlichen Deutung der Geschehnisse mehr feststellen.83 Die Einweihung der von Max Berg und Hans Poelzig entworfenen Breslauer Jahrhunderthalle84 sowie die ebendort eröffnete große Jubiläumsausstellung85 entsprachen zweifellos einem breiten, schichten- und lagerübergreifenden nationalen Bedürfnis innerhalb der deutschen Gesellschaft.
Fazit Im Ergebnis wird deutlich, wie die anhand von Einzelbeispielen geschilderten, jeweils unterschiedlichen Voraussetzungen die Form des Gedenkens beeinflussten. Zugleich zeigt sich die Konkurrenz zwischen 82 Dieses Phänomen wird luzide herausgearbeitet von SCHULTZ, 2014, S. 150154. 83 GEHRKE, 2014a, S. 3. 84 Vgl. hierzu grundlegend ILKOSZ, 2006; eine Analyse im Kontext des „Erinnerungsorte“-Konzepts unternehmen EIDEN/WEGER, 2005. 85 Vgl. SCHULTZ, 2014, S. 164-166.
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den unterschiedlichen Erinnerungskulturen. Die Widerstandsinitiative des Kolberger Bürgersohns Nettelbeck, der militärische Alleingang des Generalleutnants Yorck in Ostpreußen oder auch die von Schlesien ausgehende patriotische Freiwilligenbewegung des Frühjahrs 1813, von der Regierung einerseits gefördert, andererseits aber auch stets misstrauisch beäugt: Sie haben zumindest insofern etwas gemeinsam, als sie sich in die Leitlinien borussisch-monarchischer Erinnerungskultur und Geschichtspolitik zunächst nur schwer einpassen ließen. Erst mit der nach Abtritt der Erlebnisgeneration einsetzenden Historisierung der Ereignisse verlor dieser Gegensatz zunehmend an Bedeutung. Die Napoleonischen Kriege wurden, verstärkt nach 1871, zu einem integrativ wirkenden deutschnationalen Ursprungs- und Gründungsmythos, dessen einzelne Versatzstücke, wenngleich extrem selektiv wahrgenommen, sich insbesondere im „Dritten Reich“ noch einmal nach Kräften ausschlachten ließen. Die geschilderte Konkurrenz der Erinnerungen führt mitten hinein in den alten, bis in die Gegenwart fortwirkenden Streit, wieweit die Befreiungskriege ein neuartiger Volkskrieg waren, ein „nationales Kommunikationsereignis“, um es mit Jürgen Wilke zu sagen,86 oder letztlich doch nur ein „konventioneller Fürstenkrieg“, wie Hans-Ulrich Wehler formuliert hat.87 Wie eingangs bereits betont, ist hierbei nochmals festzuhalten, dass eine spezifisch „ostdeutsche“ Sichtweise der Geschehnisse nicht existiert: Erinnerung und Deutung folgen hier grundsätzlich den gleichen politischen Verortungen wie in den Kerngebieten der preußischen Monarchie. Eine gewinnbringende, in systematischer Weise von der Forschung noch zu leistende Aufgabe wäre da schon eher der Vergleich mit dem westlichen und südlichen, dem rheinbündischen, dem zum Großteil katholisch geprägten Deutschland.88
86 So schon im Titel bei WILKE, 1996. 87 WEHLER, 1987, S. 506-530 (Zitat S. 525). Einen Forschungsüberblick zu der genannten Kontroverse bieten detailliert HAGEMANN, 2002, S. 47-53; in geraffter Form GEHRKE, 2014a, S. 2-5. 88 Ansätze hierzu bieten SUNDERBRINK, 2014; OWZAR, 2014.
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III
Kulturelle und (trans-)nationale Erinnerungsformen
„Leipzig! Leipzig! hören wir’s erschallen…“ Die literarische Rezeption der Völkerschlacht vom 19. bis zum 21. Jahrhundert NIKOLAS IMMER „So waren sie denn endlich erschienen, jene großen Tage, an welchen in Schlachten, deren Beispiel die ganze Weltgeschichte nicht kennt, das Schicksal von Deutschland, von Europa, ja der ganzen civilisirten Erde entschieden wurde! Wenn man die Menge der Streiter erwägt, die einander gegenüberstanden; wenn man die Völker weitentlegener Himmelsstriche sich vergegenwärtigt, aus denen die verbündeten Heere zusammengesetzt waren, wenn man der großen Feldherren gedenkt, die in solcher Zahl, von solcher Erfahrung, von so strahlendem Kriegsruhme einander, seitdem unser Planet die Sonne umwandelt, auf dem Umkreise eines einzigen Schlachtfeldes noch niemals begegneten: so gestaltet sich dieses Alles allein schon zu einem kriegerischen Schauspiele, das an Größe Alles übertrifft, was die Geschichte seit Anbeginn der historischen Zeit in ihre unvergänglichen Tafeln eingegraben hat.“1
Mit diesen enthusiastischen Worten leitet der 1800 in Mähren geborene Schriftsteller Johann Chrysostomus Sporschil (1800-1863) seine Geschichte der Völkerschlacht bei Leipzig (1841) ein. Als er dieses Erin1
SPORSCHIL, 1841, S. 1.
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Nikolas Immer
nerungsbuch für das Deutsche Volk publiziert, liegt das militärische Großereignis, das vom 16. bis 19. Oktober 1813 in Leipzig stattgefunden hatte, beinahe dreißig Jahre zurück. Sporschil nutzt die zeitliche Distanz, um die Völkerschlacht zu einem beispiellosen und einzigartigen Kriegsgeschehen zu stilisieren.2 Wenn er eingangs betont, dass sich „das Schicksal […] der ganzen civilisirten Erde“ in Leipzig entschieden habe, steigert er den Kampf gegen die napoleonische Fremdherrschaft zu einer weltpolitischen Auseinandersetzung. Diese qualitative Aufwertung ergänzt er um die Akzentuierung der quantitativen Ausmaße der Völkerschlacht: Sporschil erinnert sowohl an die Vielzahl der kämpfenden Soldaten, deren genaue Anzahl er nachfolgend benennt, als auch an die zahlreichen „großen Feldherren“, deren Namen er im Anschluss aufzählt.3 Schließlich erkennt er dem Kriegsereignis eine menschheitsgeschichtlich herausragende Stellung zu, indem er in diachroner Perspektive resümiert, dass es „an Größe Alles übertrifft, was die Geschichte seit Anbeginn der historischen Zeit in ihre unvergänglichen Tafeln eingegraben hat“. Sporschils Darstellung lässt sich als exemplarisches Beispiel für die glorifizierende Rückschau auf die Völkerschlacht werten, die „im politischen Diskurs bald zu einem nationalen Mythos“ avanciert.4 Dieser Bedeutungszuwachs ist das Resultat einer ideologischen Instrumentalisierung, in deren Rahmen das Kriegsgeschehen zu einem symbolträchtigen Erinnerungsereignis festgeschrieben wird. In dieser Weise versucht auch Sporschil, mit seinem Erinnerungsbuch Einfluss auf das kollektive Gedächtnis zu nehmen.5 Programmatisch postuliert er im Vorwort, dass es die „heilige Pflicht jedes Deutschen“ sei, das Anden2
3
4 5
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Tatsächlich wird auch in der Geschichtswissenschaft teilweise die Position vertreten, die Kriege der Französischen Revolution und die Napoleonischen Kriege, d. h. die kriegerischen Auseinandersetzungen der Jahre 1792 bis 1815, als ersten Weltkrieg der Geschichte aufzufassen (vgl. FÖRSTER, 1995), während andere Historiker bereits den Siebenjährigen Krieg (17651763) als solchen bewerten. Vgl. FÜSSEL, 2010. Vgl. SPORSCHIL, 1841, S. 2-4. Während Sporschil von 301.500 Kriegsteilnehmern auf der alliierten Seite und 171.000 Kriegsteilnehmern auf der französischen Seite spricht, steht heute fest, dass an dieser Schlacht über 500.000 Soldaten beteiligt waren. Vgl. THAMER, 2013, S. 7. VOGEL, 2005, S. 26. Der Begriff ‚kollektives Gedächtnis‘ wird verwendet im Anschluss an ERLL, 2005.
„Leipzig! Leipzig! hören wir’s erschallen…“
ken an die Völkerschlacht zu wahren.6 Der Erinnerungsakt wird dabei bewusst funktionalisiert: Der Erinnernde soll sich an ihr „laben“, soll in ihrer „Betrachtung den eignen Muth […] stählen“ und soll „sich dadurch mit edlem Nationalstolze […] erfüllen“.7 Angesichts dieser gezielten Wirkungsstrategie kann von einer nationalpolitischen Aktivierung der Rezipienten gesprochen werden, für die mit den „belorbeerten Krieger[n]“ der Befreiungskriege konkrete Orientierungsfiguren im Rahmen eines ‚politischen Totenkults‘ benannt werden.8 Zu diesen Leitfiguren zählt etwa der Lützower Jäger Theodor Körner (17911813), der noch bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts wiederholt zu einem kriegsheroischen Vorbild stilisiert wird.9 Im Folgenden soll es darum gehen, verschiedene Repräsentationsformen der Völkerschlacht im Rahmen ihrer literarischen Rezeption zu untersuchen. Dabei wird insbesondere nach den jeweiligen politischen Ambitionen zu fragen sein, die mit den literarischen Texten mehr oder weniger offensichtlich verfolgt werden. Ausgehend von der unmittelbar im Kontext der Völkerschlacht entstehenden Befreiungslyrik soll ferner die Romanproduktion am Beispiel des Memoiren-Romans 1813 von Adolph von Kessel und Tscheutsch näher in den Blick genommen werden. Im Kontext des 50-jährigen sowie des 100-jährigen Jubiläums wird nach der Thematisierung der Völkerschlacht sowohl in der populären Zeitschrift Die Gartenlaube als auch in Gerhart Hauptmanns (18621946) umstrittenem Festspiel in deutschen Reimen zu fragen sein. Den Abschluss bilden die Auswertung von Erich Loests (1926-2013) ironisch gefärbtem Roman Völkerschlachtdenkmal sowie ein Ausblick auf gegenwärtige literarische Rezeptionstendenzen.
6 7 8 9
SPORSCHIL, 1841, S. III. EBD. EBD. Vgl. KOSELLECK/JEISMANN, 1994. Vgl. IMMER/SCHULTZ, 2014.
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Nikolas Immer
„Wir singen noch fröhlich in späten Tagen / Die Leipziger Schlacht“. Die Völkerschlacht in der Befreiungslyrik Wie der Historiker Horst Carl dargelegt hat, ist in den Jahren 1812 bis 1815 mit Blick auf die patriotische Propaganda ein geradezu „explosionsartige[s] Anschwellen entsprechender Gebrauchslyrik und Publizistik“ zu beobachten.10 Zwar umfassen die lyrischen Dichtungen der Befreiungskriege ein weitgehend heterogenes Textcorpus, jedoch wird in ihnen nahezu durchweg an das nationale Identitätsgefühl appelliert.11 Die überwiegende Zahl der patriotischen Werke erscheint im Kriegsjahr 1813, aber auch im Folgejahr verliert diese Literaturproduktion kaum an Intensität: „In Presse und Publizistik sprach sich das Bedürfnis aus, die ebenso sieg- wie verlustreiche ‚Völkerschlacht‘ zu feiern und in Symbolen zu erinnern.“12 Eines der frühesten Zeugnisse dieser lyrischen Erinnerungskultur bildet Ernst Moritz Arndts Gedicht (17691860) Die Leipziger Schlacht, das er in seiner Sammlung Lieder für Teutsche (1813) veröffentlicht.13 Damit gestaltet er ein Siegeslied, das „über Generationen“ hinweg beliebt bleibt,14 und das in der Folgezeit über Lyrikanthologien weite Verbreitung findet.15 Arndts Gedicht lautet:
5
10 11 12 13
„Wo kömmst du her in dem rothen Kleid, Und färbst das Gras auf dem grünen Plan? Ich komme her aus dem Männerstreit, Ich komme roth von der Ehrenbahn: Wir haben die blutige Schlacht geschlagen, Drob müßen die Weiber und Bräute klagen. Da ward ich so roth.
CARL, 2000, S. 79f. Vgl. übergreifend HAGEMANN, 2002, 105-393. Vgl. JÜRGENSEN, 2012. BRANDT, 2010, S. 122. Vgl. übergreifend WEBER, 1991. ARNDT, 1813, S. 132-134. Das Gedicht wird im Folgenden nach dieser Vorlage unter Angabe der Verszahlen zitiert. 14 GRUNER, 2007, S. 45. 15 Zur exemplarischen Stellung des Gedichts in der Lyrikanthologie Klio vgl. IMMER, 2015, S. 407-411.
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„Leipzig! Leipzig! hören wir’s erschallen…“ Sag’ an, Gesell, und verkünde mir, Wie heißt das Land, wo ihr schlugt die Schlacht? 10 Bei Leipzig trauret das Mordrevier, Das manches Auge voll Thränen macht, Da flogen die Kugeln wie Winterflocken, Und Tausenden mußte der Athem stocken Bei Leipzig der Stadt. 15 Wie hieß’n, die zogen ins Todesfeld, Und ließen fliegende Banner aus? Die Völker kamen der ganzen Welt, Und zogen gegen Franzosen aus, Die Russen, die Schweden, die tapfern Preußen 20 Und die nach dem Kaiser von Oestreich heißen, Die zogen all’ aus. Wem ward der Sieg in dem harten Streit? Wer griff den Preis mit der Eisenhand? Die Wälschen hat Gott wie die Spreu zerstreut, 25 Die Wälschen hat Gott verweht wie den Sand, Viele Tausende decken den grünen Rasen, Die übrig geblieben, entflohen wie Hasen, Napoleon mit. Nimm Gottes Lohn! habe Dank, Gesell! 30 Das war ein Klang, der das Herz erfreut! Das klang wie himmlische Cymbeln hell, Hab Dank der Mähr von dem blut’gen Streit! Laß Wittwen und Bräute die Todten klagen, Wir singen noch fröhlich in späten Tagen 35 Die Leipziger Schlacht. O Leipzig, freundliche Lindenstadt! Dir ward ein leuchtendes Ehrenmal, Solange rollet der Säkeln Rad, Solange scheinet der Sonnenstrahl; 40 Solange die Ströme zum Meere reisen, Wird noch der späteste Enkel preisen Die Leipziger Schlacht.
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Nikolas Immer O Leipzig, gastlich versammelst du Aus allen Enden der Völker Schaar: 45 Auf! ruf’s dem Osten und Westen zu, Daß Gott der Helfer der Freiheit war, Daß Gott des Tyrannen Gewalt zerstoben – Damit sie im Osten und Westen loben Die Leipziger Schlacht.“
Arndts Gedicht ist in dialogischer Form gestaltet: Ein Augenzeuge, der an der „Leipziger Schlacht“ teilgenommen hat, berichtet einem Gesprächspartner vom Verlauf der Auseinandersetzung. Während in der ersten Strophe die geschlechtliche Dichotomie von „Männerstreit“ (v. 3) und weiblicher Klage entfaltet wird,16 lokalisiert der Augenzeuge das Kriegsgeschehen in der zweiten Strophe geografisch. Durch den naturalistischen Vergleich „Da flogen die Kugeln wie Winterflocken“ (v. 12) und durch den Euphemismus, dass „Tausenden […] der Athem stocken“ (v. 13) musste, wird die Grausamkeit des Kampfes zunächst verharmlost. Erst in der Folgestrophe macht der Berichterstatter die Dimensionen der Leipziger Schlacht kenntlich, wenn er die teilnehmenden Kriegsparteien benennt. In diesem Zusammenhang beschreibt er den Sieg der Allianz aus „Russen, […] Schweden“ und „tapfern Preußen“ (v. 19) über den französischen Gegner als Resultat eines göttlichen Eingreifens. Erneut werden zwei Naturvergleiche aufgeboten (v. 24f.), um zu veranschaulichen, wie mühelos der Widersacher in die Flucht geschlagen werden konnte. Mit polemischer Geste vergleicht der Augenzeuge die französischen Soldaten schließlich mit ängstlichen „Hasen“ (v. 27) und stuft sie damit zu mutlosen und feigen Kämpfern herab. Im Anschluss an diese Worte bedankt sich der Gesprächspartner in der fünften Strophe für den konzentrierten Kriegsbericht. Zuversichtlich stellt er prospektiv in Aussicht, dass noch „in späten Tagen“ (v. 34) von der Leipziger Schlacht gesungen werde. Um sie dauerhaft im kollektiven Gedächtnis zu verankern, lässt Arndt seinen lyrischen Sprecher bereits die Vision eines „leuchtende[n] Ehrenmal[s]“ (v. 37) artikulie-
16 Zur geschlechtlichen Zuordnung der Kriegsakteure vgl. übergreifend VOGEL, 2005, S. 27.
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„Leipzig! Leipzig! hören wir’s erschallen…“
ren.17 Diese monumentalisierende Vorstellung wird durch die zeitliche Entgrenzung des nationalen Erinnerns noch verstärkt. Denn der Sprecher versichert optimistisch, dass an das militärische Ereignis gedacht werde, solange der „Säkeln Rad“ (v. 38) rollen, d. h. solange künftige Jahrhunderte weiter aufeinander folgen werden. Dass die memorative Rekapitulation der Leipziger Schlacht freilich auch der Erinnerungsträger bedarf, wird am Ende der sechsten Strophe betont: Die Rede von den „späteste[n] Enkel[n]“ (v. 41) etabliert eine erinnerungspolitische Kontinuität, die erst bei den letzten Nachgeborenen endet. In der abschließenden Strophe bekräftigt der Sprecher erneut, dass der Sieg nur mit der Unterstützung Gottes zu erringen war. Auf diese Weise wird die für Arndt charakteristische Engführung von religiöser Überzeugung und nationalistischer Gesinnung am Ende des Gedichts nochmals profiliert.18 Diese Verklammerung steht auch in Johann Friedrich Oswalds (1760-1828) Gedicht auf die Völkerschlacht bei Leipzig (1813) im Vordergrund, der das Schlachtfeld zunächst als locus horribilis vergegenwärtigt: „Dort liegen sie, die blut’gen Leichen, / Um die schon Grabesdüfte weh’n; / Dort Sterbende, die im Erbleichen / Den letzten Todesstoß erflehn!“ (v. 9-12)19 Mit dem Bewusstsein des Sieges geht auch die Gewissheit einher, dass der französische Aggressor seine „Sclavenketten“ nicht mehr um „Teutonia“ (v. 22) schlingen werde. Gleichzeitig ist von „Jehovas Zorn“ (v. 29) die Rede, der sich gegen Napoleon gewendet habe, dessen Vergehen über mehrere Strophen hinweg aufgezählt werden.20 Den Höhepunkt des Gedichts bildet eine längere Stel17 Bekanntlich ist Arndt der Erste, der die Errichtung eines monumentalen Denkmals fordert: „Das Denkmal muß draussen stehen, wo so viel Blut floß; es muß so stehen, daß es ringsum von allen Straßen gesehen werden kann, auf welchen die verbündeten Heere zur blutigen Schlacht der Entscheidung heranzogen.“ (ARNDT, 1814, S. 38f.) Vgl. NIPPERDEY, 1968, S. 560. 18 Vgl. THAMER, 2013, S. 92. 19 OSWALD, 1813, S. 4. Das Gedicht wird im Folgenden nach dieser Vorlage unter Angabe der Verszahlen zitiert. 20 Exemplarisch sei auf die Kritik an Napoleons autoritärem Herrschaftsverhalten verwiesen: „Er spielte frevelnd mit geweihten Kronen, / Die viele Fürsten edles Haupt geziert. / Er warf Geheiligte von ihren Thronen, / Die mild und väterlich ihr Volk regiert.“ EBD., S. 6, v. 41-44. Zum Napoleonbild in der Befreiungslyrik vgl. BEßLICH, 2007, S. 108-118.
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lungnahme Jehovas, der für die antifranzösische Allianz Partei ergreift: „Bring’ Sieg den Waffen der Gerechten, / Die nicht in ihre Fahnen flechten / Der Unschuld Seufzer – ihren Mord. / Die demuthvoll und mit Vertrauen / Auf mich den Weltenvater schauen, – Der Schwache schützt, der Starke stürzt.“ (v. 75-80) Angesichts dieses göttlichen Eingreifens wird der Kampf gegen die französischen Widersacher in Oswalds Dichtung dezidiert zu einem ‚heiligen Krieg‘ aufgewertet. Auch anlässlich des einjährigen Jubiläums der Völkerschlacht wird das Narrativ der ‚Beschirmung Germanias‘ durch eine transzendentale Instanz weiter tradiert. Ludwig I. von Bayern (1786-1868) beschreibt in seinem Gedicht Erster Jahrestag der Leipziger Schlachtentscheidung, das im Umfeld seines Schauspiels Teutschlands Errettung entstanden sein dürfte,21 zunächst die Feierlichkeiten, die anlässlich des nationalen Ehrentags stattfinden.22 Während Geschütze donnern und Glocken läuten, verdichten sich zahlreiche Stimmen zu einem Jubelchor: „Leipzig! Leipzig! hören wir’s erschallen“ (v. 7). Im Rückblick auf die militärische Auseinandersetzung ist ausdrücklich vom „heil’gen Krieg“ (v. 15) die Rede sowie vom „Allgewaltige[n]“ (v. 18), der den Sieg der ‚Teutschen‘ herbeigeführt hat. Das neue Selbstbewusstsein, das aus diesem Triumph erwachsen ist, wird in den Folgestrophen eingehender konturiert, wobei zugleich vor einem übersteigerten patriotischen „Uebermuth“ (v. 32) gewarnt wird. Das Gedicht schließt mit einer Preisung der Gefallenen, deren heldenmütiger Tod für das Vaterland der gegenwärtigen Generation zum Beispiel dienen soll.23 Durch diese Schlusswendung wird die Völkerschlacht politisch stark funktionalisiert: Im Vordergrund steht nicht mehr die nationale Erinnerungsstiftung, sondern die ideologische Beeinflussung des Rezipienten. Dabei avancieren die glorifizierten Helden der Leipziger Schlacht zu muster21 Vgl. ERICHSEN/HENKER, 1986, 3, S. 135-295. Programmatisch wird Ludwig I. die von Leo von Klenze gestaltete Walhalla am 18. Oktober 1842 – und damit am 29. Jahrestag der Völkerschlacht – eröffnen. Vgl. EBD., 1, S. 63-81. 22 BAYERN, 1829, Theil 1, S. 102-104. Das Gedicht wird im Folgenden nach dieser Vorlage unter Angabe der Verszahlen zitiert. 23 „Die für’s Vaterland im Kampf gestorben, / Haben kühn das schönste Loos erworben, / Und dem Tode keiner doch entgeht. / Was zu jedem langsam quälend schleichet, / In dem Sturm der Schlacht hat’s euch erreichet, / Euer Ruhm in Ewigkeit besteht.“ EBD., S. 104, v. 55-60. Zu diesem Konzept vgl. HAGEMANN, 2001, S. 307-342.
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haften Vorbildern,24 denen es nachzueifern gilt, wenn „Teutschlands mächt’ge Söhne“ (v. 62) auch künftig ihre Freiheit verteidigen wollen.
„Ein kräftiger Hieb zwischen Bärenmütze und Ohr“. Die Völkerschlacht im historischen Roman Auch wenn die Befreiungslyrik insbesondere im Jahr 1813 eine schwunghafte Konjunktur erlebt, werden die militärischen Auseinandersetzungen der Jahre 1792 bis 1815 im Verlauf des 19. Jahrhunderts zunehmend in Romanen behandelt. Wie Maria Schultz am Beispiel der Romane 1812 (1834) von Ludwig Rellstab (1799-1860), Theodor Körner (1863) von Heribert Rau (1813-1876) und Deutsche Treue, welsche Tücke (1880) von Oskar Höcker (1865-1944) dargelegt hat, eignen sich die narrativen Darstellungen für die vorbildhafte Konstruktion von „wehrhafte[r] Männlichkeit“.25 Darüber hinaus vermittle das Kriegsgeschehen, wie der Philosoph Friedrich Theodor Vischer (1807-1888) bereits gegen Ende des 19. Jahrhunderts geltend macht, einen einzigartigen ästhetischen Eindruck, den vor allem die Literatur nachgestalten könne: „Doch nicht nur im Kampfe der Einzelnen liegt das sinnlich Schöne des Kriegs: das Getümmel, die Menge, der Drang, der unaufhaltsame Sturm und Stoss von Massen vereinigt die thätigen Kräfte zu Einer gehäuften und dadurch für Auge und Phantasie um so gewaltigeren Wirkung.“26 Kurz darauf unterstreicht Vischer, indem er indirekt auf die Völkerschlacht verweist, dass „der moderne Krieg“ die visuellen Schrecken durch den Geschützdonner, der „eine furchtbare Wirkung auf das Gehör habe“, noch verstärkt habe.27 Während er in erster Linie die Faktoren der Komplexität und Intensität akzentuiert, die für eine narrative Schilderung der Kriegswirklichkeit sprechen, werden in der modernen Theoriebildung vielmehr die mit der Kriegsdarstellung verknüpften erinnerungspolitischen Interessen problematisiert.28 Ebenso 24 25 26 27 28
Zu dieser Perspektive vgl. RODEKAMP, 2013; SCHILLING, 2002. SCHULTZ, 2012, S. 301. VISCHER, 1872, S. 8. EBD. Vgl. SPEITKAMP, 2000, S. 9.
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wie bei der Befreiungslyrik wird auch bei den historischen Romanen nach den spezifischen Wirkungsstrategien im Rahmen der kollektiven Gedächtnisbildung gefragt. Auch wenn Hellmuth Mielke in seiner literaturhistorischen Übersicht gegen Ende des 19. Jahrhunderts behauptet, dass die „Freudenfeuer zur Erinnerung an die Schlacht von Leipzig […] vielfach wenige Jahre nach der ruhmreichen Völkerschlacht“ erlöschen,29 wird das militärische Großereignis in der Romanliteratur des 19. Jahrhunderts mehrfach aufgegriffen. So publiziert Robert Roesler (1840-1881) unter dem Pseudonym ‚Julius Mühlfeld‘ sein ‚vaterländisches Gemälde‘ Gefangen und Befreit (1860), in dem er zu Beginn des mit „Leipzig“ überschriebenen dreizehnten Kapitels eine idolisierende Charakteristik des Generalfeldmarschalls Gebhard Leberecht von Blücher präsentiert.30 In politisch einseitiger Kontrastierung wird Napoleon dagegen als „Unterdrücker“ und „Tyrann“ gekennzeichnet, dessen Kriegstaktik aber zumindest Anerkennung findet.31 Eine grundsätzlich andere Darstellungsform wählt Julie Pfannenschmidt (1806-1868), die unter ihrem Geburtsnamen ‚Julie Burow‘ die Erinnerungen einer Großmutter (1856) veröffentlicht. Unter dem Gattungstitel der ‚Erinnerungen‘, die den Anschein einer faktualen und authentischen Schilderung erwecken, entwirft sie ein genuin fiktionales Romangeschehen. Indem sie den erzählerischen Fokus auf die Protagonistin Louise Wohlgemuth legt, veranschaulicht sie exemplarisch, wie die Völkerschlacht aus dezidiert weiblicher Perspektive erlebt wird.32 Im gleichen Jahr wie Pfannenschmidts Roman
29 MIELKE, 1898, S. 23. 30 Vgl. MÜHLFELD, 1860, S. 223-226. Zum literarischen Heldenkult um die Person Blüchers vgl. IMMER, 2011. 31 „Der nächste Tag [16. Oktober 1813] sollte die Entscheidung bringen über Deutschlands Geschick, sollte ausweisen, ob Deutschland frei werden und wieder ledig der Fesseln, die es Jahre lang gefangen hielten; ob es seinen alten Ruhm wieder erringen sollte, oder ob Napoleon berufen sei, der Herr von Deutschland zu bleiben, es von Neuem zu knechten und zu unterdrücken. Hier Siegespalme und Freiheitsbaum, dort Sclavenketten und Tyrannenherrschaft schwebten Deutschland vor“ MÜHLFELD, 1860, S. 230. 32 Als Louise vom Ausgang der kriegerischen Auseinandersetzung hört, sorgt sie sich sofort um das Leben ihres Gatten Fritz: „Louisens Herz klopfte heftig! eine ungeheuere Schlacht! – Tausende lagen nun wieder blutend, sterbend auf dem Leichenfelde, tausende! ob auch Er darunter sei, wußte nur Gott, zu dem sie in diesem Augenblick ein heißes Gebet schickte um
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publiziert auch Adolph von Kessel und Tscheutsch seinen ‚MemorialRoman‘ 1813, der einen zwar fiktionalisierten, aber offenkundig aus eigenem Erleben gespeisten Bericht des Kampfgeschehens enthält.33 Dass mit der Textform des ‚Memorial-Romans‘ eine eigenwillige Hybridgattung vorliegt, vermerkt schon ein zeitgenössischer Rezensent: „Was hat hier eigentlich dargestellt werden sollen? Das Jahr 1813, welches Napoleon’s Macht zertrümmerte? Nein! Denn die Kriegsereignisse treten nur anekdotisch in Scene. Sollten Memoiren gegeben werden? Auch nicht. Denn das Buch wird Roman, im Text hin und wieder Novelle genannt.“34
Tatsächlich steht in Adolph von Kessel und Tscheutschs Roman zunächst die Familiengeschichte des Kommerzienrats Treuenfeld im Vordergrund, wenngleich einzelne historische Reminiszenzen, wie ein zweiter Rezensent betont, „mit wahrhaft stählernem Griffel“ eingebracht werden.35 Die Völkerschlacht kommt erst gegen Ende des Romans in den Blick, vor deren Beginn Woldemar von Lessek einen Brief an seine Mutter richtet. Um die Siegesgewissheit seines Protagonisten kenntlich zu machen, greift der Verfasser auf die aus der Befreiungslyrik bekannten kriegsreligiösen Stereotype zurück: „Gott wird uns den endlichen Sieg verleihen, denn unsere Sache ist gut.“36 Angesichts der quantitativen Dimensionen der Völkerschlacht liefert der Erzähler keine Gesamtsicht des Kampfverlaufs, sondern beschränkt sich darauf, „die Leistungen des Neumärkischen Dragoner-Regiments“ (S. 297) zu schildern.37 Im Gegensatz zu dem ‚vaterländischen Gemälde‘ Roeslers bemüht sich Adolph von Kessel und Tscheutsch um eine weitgehend sachliche Erzählhaltung, indem er beispielsweise knappe Erläuterungen
33
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Kraft, zu ertragen, was sein Wille ihr auferlegt haben mochte.“ BUROW, 1856, 2, S. 219. Diese Vermutung äußert schon ein zeitgenössischer Rezensent, der vermutet, dass „der Verfasser seine eigenen Erlebnisse mitgetheilt und sich selbst unter dem Namen [Woldemar von] Lessek dem Publicum producirt hat“ ANONYM, 1858, S. 19. EBD., S. 18. ANONYM, 1857, S. 366. KESSEL UND TSCHEUTSCH 2, 1856, S. 294. Der zweite Band dieses Romans wird im Folgenden unter Angabe der Seitenzahlen zitiert. Vgl. HAGEN, 1885.
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über die Gefährlichkeit der Stichwaffe einfließen lässt, die die französischen Kürassiere verwenden (S. 300f.). Als aber Lesseks Freund Richthofen tödlich getroffen wird, hebt der Erzähler sofort den Heldenmut Lesseks hervor, der dem feindlichen Grenadier direkt entgegen reitet: „Ein kräftiger Hieb zwischen Bärenmütze und Ohr, bevor der Grenadier noch Zeit dazu hatte, die Zügel zu ergreifen und den Karabiner mit dem Degen zu vertauschen, warf ihn vom Pferde; auf dem Boden liegend, schoß ihn ein Dragoner aus dem vierten Zuge durch die Brust. Gräßliches Bild des Krieges!“ (S. 305)
Vergegenwärtigt der Erzähler auf der einen Seite das heroische Verhalten Lesseks, der den Gegner mit einem gezielten Schwerthieb aus dem Sattel zu heben vermag, bringt er auf der anderen Seite auch seine Distanz gegenüber dem brutalen Kriegsgeschehen zum Ausdruck, wenn er im Zusammenhang mit der Tötung des Grenadiers vom „[g]räßliche[n] Bild des Krieges“ spricht. Darüber hinaus nimmt der Erzähler den französischen Soldaten sogar in Schutz, da dieser nur seine Pflicht erfüllt habe.38 Die Verantwortung für sein Handeln wird dagegen allein dem Heerführer Napoleon zugewiesen, „dessen unbeugsame, ehrgeizige Politik“ (S. 305) explizit kritisiert wird. Diese im Grunde verständnisvolle Haltung gegenüber dem französischen Soldaten wird jedoch später wieder aufgegeben, wenn es heißt, dass das Niederwerfen der französischen Kürassiere geradezu „eine Lust war“ (S. 308). Schließlich rücken noch einmal die Verdienste des Neumärkischen Dragoner-Regiments in den Vordergrund, das angesichts „seiner[r] Tapferkeit“, wie der Erzähler nachdrücklich versichert, seine Anerkennung „mit vollem Recht in der Kriegsgeschichte zu beanspruchen hat“ (S. 309). Auch wenn Adolph von Kessel und Tscheutsch versucht, authentische Erlebnisse im Rahmen eines fiktionalen Romangeschehens wiederzugeben, besitzt die Darstellung der Völkerschlacht letztlich die Funktion, das militärische Engagement seines Regiments und somit sein eigenes Verhalten zu glorifizieren.
38 „[D]em Soldaten gebührt es nicht zu fragen: ist der Krieg gerecht oder nicht? – er gehört jederzeit und ohne Widerrede der Politik seines Vaterlandes an.“ KESSEL UND TSCHEUTSCH 2, 1856, S. 305.
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„Aber bei Leipzig und Waterloo sank er“. Die Jubiläen der Völkerschlacht 1863 und 1913 Wie Hans-Ulrich Thamer ausgeführt hat, werden am fünfzigsten Jahrestag der Völkerschlacht deutliche Veränderungen in der „politischkulturelle[n] Landschaft“ sichtbar.39 Zu diesen Entwicklungen zählt das Erstarken des liberalen Bürgertums, das seiner Forderung nach nationaler Einheit wiederholt Gehör zu verschaffen versucht. Eine zentrale Funktion nimmt in diesem Zusammenhang die populäre Familienzeitschrift Die Gartenlaube ein, die seit 1853 in Leipzig erscheint. Auch wenn der Redakteur Ferdinand Stolle (1806-1872) und der Verleger Ernst Keil (1816-1878) versichern, das Lesepublikum nur „unterhalten und unterhaltend belehren“ zu wollen,40 trägt Die Gartenlaube in keinem geringen Maß „zur Popularisierung nationaler Mythen und Symbole“ bei.41 Mit Blick auf den Jahrgang 1863 fällt beispielsweise auf, dass dem Lützower Jäger Theodor Körner „überproportional viel Beachtung“ geschenkt wird.42 Daneben findet sich bereits ein Jahr zuvor unter dem harmlosen Titel Bauern-Sängerfest ein Artikel in der Gartenlaube, in dem ein „Erinnerungsfest an Deutschlands schlimmste und größte Zeit“ geschildert wird,43 das am 29. Juni 1862 in Coburg stattgefunden hatte. Dass es sich bei diesem „Erinnerungsfest“ vorwiegend um ein „Volks-Gesangsfest“ handelt, verdeutlicht der anonyme Verfasser mit Hinweis auf die eigentliche Funktion dieser Zusammenkunft: „Nicht durch besondere Reden und Toaste, sondern durch den innigsten Zusammenhang von Wort und Lied sollten Sänger und Hörer für das Vaterland erwärmt und begeistert werden.“44 Um diese Wirkung zu erzielen, hatte der Kantor Karl Düsel die von Friedrich Hofmann (18131888) gestaltete Dichtung Deutschlands Erniedrigung und Erhebung 39 40 41 42
THAMER, 2013, S. 101. KEIL/STOLLE, 1853, S. 1. FÖRSTER, 2011, S. 55. Vgl. übergreifend BELGUM, 1998. SCHULTZ, 2014, S. 149. Tatsächlich lässt sich in diesem Kontext sogar von einer „politische[n] Instrumentalisierung“ IMMER/SCHULTZ, 2014, S. 70 Körners sprechen. 43 ANONYM, 1862a, S. 644. 44 EBD., S. 646.
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(1862) zur Aufführung gebracht.45 Wie der Verfasser weiter ausführt, war der Darbietung ein überwältigender Erfolg beschieden: Am Ende hätten sogar alle Zuhörer Arndts martialischen Schlachtgesang (1810) angestimmt.46 Im letzten Absatz seines Artikels pointiert der Verfasser schließlich die politische Intention dieses gemeinschaftsbildenden Gesangs: Es geht darum, „echte deutsche Gesinnung, treue Vaterlandsliebe, männlichen Freiheitsmuth und die Herzenserhebung, welche zu freudigen Opfern für Freiheit, Ehre und Vaterland fähig macht, im ganzen Volke zu wecken und immer mehr zu beleben.“47 Mit der Nennung des Schriftstellers Friedrich Hofmann wird zugleich ein Hinweis auf einen produktiven Mitarbeiter der Gartenlaube gegeben, der 1863 den Artikel Deutsche Nationalfeier der Völkerschlacht bei Leipzig in dieser Zeitschrift veröffentlicht. Darin berichtet er über die Vorbereitungen, die von den Stadtbehörden in Leipzig und Berlin getroffen werden, um „ein Volksfest im höchsten Sinne des Wortes“ zu begehen.48 Freudig stellt Hofmann in Aussicht, dass nun „abermals die Sonne eines nationalen Festes“ aufsteigen werde, in dem sich die „Sehnsucht der Deutschen nach einem Vaterlande“ manifestiere.49 Die Schlusstendenz seines Artikels lässt erkennen, dass das Gedenken an die Gefallenen bewusst funktionalisiert wird, um nationalpolitische Hoffnungen forciert zu artikulieren. Wie Stefan-Ludwig Hoffmann präzisiert hat, wird mit der bürgerlichen Forderung nach nationaler Einheit dem „vergangenen Ereignis“ ausdrücklich „Sinn für die Gegenwart“ zugewiesen.50 Mit patriotischer Geste bringt auch Hofmann diese Erwartungshaltung zum Ausdruck: „Das neue Fest zu Leipzig wird es mehr als alle bisherigen deutschnationalen Feste lehren, daß jeder rechte Mann mit wärmstem Herzen an seiner preußischen, an seiner bayerischen, [an seiner] sächsischen,
45 Vgl. DÜSEL/HOFMANN, 1862. 46 Vgl. ANONYM, 1862a, S. 646; Ernst Moritz Arndt: Schlachtgesang, in: ARNDT, 1813, S. 26f. In der Leipziger Zeitung heißt es dagegen weitaus nüchterner, dass die Aufführung von Hofmanns Dichtung „allgemeinen Beifall fand“ ANONYM, 1862b, S. 252. 47 ANONYM, 1862a, S. 646. 48 HOFMANN, 1863, S. 624. 49 EBD. Hervorhebungen d. Autors. 50 HOFFMANN, 1995, S. 114.
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„Leipzig! Leipzig! hören wir’s erschallen…“ wie an seiner lippischen und reußischen Heimath hängen kann, aber daß über Alles ihm gehet die Liebe zu dem Vaterlande, das Deutschland ist!“51
Solche Zukunftshoffnungen bleiben nicht auf die zeitgenössische Publizistik beschränkt, sondern werden auch in der kontemporären Literatur geäußert. Als bevorzugte Gattung erweist sich in diesem Zusammenhang die Kasuallyrik, die zwar vorwiegend auf den Gestus der Huldigung festgelegt ist, die aber auch künftige politische Ordnungen antizipieren kann.52 So beschwört beispielsweise Robert Prutz (1816-1872) in seinem Lied, zu singen bei der 50jährigen Jubelfeier der Schlacht bei Leipzig (1863) den kommenden „Freiheitsonnenschein“ und imaginiert ein deutsches Volk, das „durch Einheit stark und frei“ sein werde.53 Dass diese liberalen Gedanken auch in der erzählenden Prosa aufgegriffen werden, belegt die Schlusspassage von Roeslers Roman Gefangen und Befreit, der seiner Protagonistin die letzten Worte Werner von Attinghausens aus Friedrich Schillers Schauspiel Wilhelm Tell (1804) in den Mund legt: „seid einig, einig, einig!“54 Neben diesen offensiven literarischen Versuchen, die Ausbildung nationaler Gesinnungen zu fördern, wird die Darstellung der Leipziger Schlacht auch mit dezidiert volksaufklärerischen Zielen verknüpft.55 Diese Verschränkung lässt sich exemplarisch bei dem Volks- und Jugendschriftsteller Karl Gustav Nieritz (1795-1876) beobachten, der in seinem Roman Deutschlands Erniedrigung und Erhebung (1863) – mit dem er den Titel von Hofmanns Dichtung aufgreift – einen Vertreter des Kleinbürgertums in den Mittelpunkt rückt. Aus der Perspektive des Windmüllers Leberecht Wolfram wird geschildert, wie im Vorfeld der Völkerschlacht die französischen Truppen anrücken und sich des Eigentums der Dorfbewohner bemächtigen. Wenngleich verschiedene antifranzösische Tendenzen in die Beschreibung einfließen, zielt Nieritz doch in erster Linie darauf ab, den drohenden Krieg aus der Sicht der Dorfbewohner zu vergegenwärtigen. Das zeigt sich etwa in der Passage, als sie im letzten Moment unter „Jammern, Weinen, Murren und Wehklagen“ aus ihrer Heimat 51 52 53 54 55
HOFMANN, 1863, S. 624. Vgl. ANDRES, 2005, S. 43. PRUTZ, 1863, S. 283. MÜHLFELD, 1860, S. 268. Kursivdruck entspricht Sperrung im Original. Vgl. ALZHEIMER-HALLER, 2004, S. 598.
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Abb. 1: Völkerschlachtdenkmal mit Spiegelung im vorgelagerten „See der Tränen um die gefallenen Soldaten“, Leipzig. Foto: Steffen Guenther. https://commons.wikimedia.org/wiki/File:V%C3%B6lker schlachtdenkmal_20131030_151606.jpg, 1.12.2016 flüchten müssen.56 Schließlich kommt der Erzähler auf den Austragungsort der Kämpfe zu sprechen und betont ebenso wie Adolph von Kessel und Tscheutsch das „grässliche Bild des Krieges“. Indem er die enorme Zahl an menschlichen Verlusten mit mehreren Emphasen herausstellt,57 bringt er indirekt seine Warnung vor den Grausamkeiten des 56 NIERITZ, 1863, S. 130. 57 „Man denke sich 90.000 Leichen, dreimal so viel als Leipzig damals Bewohner zählte! Ha! Wie viele Todtengräber erforderlich waren, diese Lei-
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Krieges zum Ausdruck, die mit dem Friedensappell korrespondiert, mit dem er seinen Roman ausklingen lässt. Obwohl der Roman von Nieritz im Verlauf des 19. Jahrhunderts mehrere Auflagen erlebt,58 findet sein Aufruf zur friedlichen Koexistenz in der Zeit der anbrechenden Einheitskriege kein Gehör. Auch die nationalpolitische Bezugnahme auf die Völkerschlacht tritt zunehmend in den Hintergrund und wird erst im Rahmen des Deutsch-Französischen Kriegs von 1870/71 wieder aktualisiert.59 Doch im kollektiven Gedächtnis verdrängt die „Erinnerung an den Sieg von Sedan […] die Erinnerung an die Schlacht von Leipzig“.60 Eine Gegenbewegung formiert sich erst mit dem 1894 gegründeten Deutschen Patriotenbund zur Errichtung eines Völkerschlacht-Denkmals, auf dessen Veranlassung hin das Denkmal erbaut und am 18. Oktober 1913 eingeweiht wird.61 Diese Einweihung bildet gewissermaßen den Höhepunkt einer Vielzahl von Festveranstaltungen, auf denen wiederholt der Völkerschlacht gedacht wird,62 die aber vordergründig der Glorifizierung des deutschen Nationalstaats dienen. Von literarischer Bedeutung ist, dass Gerhard Hauptmann im Vorfeld dieser Feierlichkeiten vom Magistrat der Stadt Breslau gebeten wird,63 ein patriotisches Festspiel zu verfassen. Auch wenn sich damit für ihn die Möglichkeit ergibt, in den „Rang eines Nationaldichters“ aufzusteigen, verfolgt er schließlich ein nahezu subversives Gestaltungsziel: Er konzipiert ein Festspiel, „das sich in Anlehnung an die durch die Befreiungskriege offenbarte Geschlossenheit der Nation auf den inneren Ausgleich Deutschlands
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chen zu begraben! Welche Ströme kostbaren Menschenbluts Leipzigs Umgegend ausgetrunken hat! Wie die Früchte mehr wie zwanzigjähriger, elterlicher Mühe und Erziehung in drei Tagen schnöde verloren gingen! Wie viele hunderttausend Augen die Opfer dieser einen Schlacht beweinten! Wie die noch größere Anzahl der verwundeten als der getödteten Krieger mehr oder weniger lange schmerzvoll siechte und viele von ihnen als hülflose Krüppel von dem Krankenlager aufstanden!“ EBD., S. 135f. 1897 erscheint die dritte Auflage des Romans. Vgl. THAMER, 2013, S. 103. SCHÄFER, 2001, S. 195. Zur Entstehung und Rezeption des Denkmals vgl. KELLER/SCHMID, 1995. Vgl. FÖRSTER, 2014. Zur Differenz der Erinnerungsprojekte von Leipzig und Breslau vgl. EIDEN, 2006.
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Nikolas Immer konzentrierte und nicht die Affirmation einer machtgeschwellten Nation mit Drang zur Weltgeltung anstrebte“.64
Nach der Fertigstellung wird Hauptmanns Festspiel in deutschen Reimen am 31. Mai 1913 in der Breslauer Jahrhunderthalle uraufgeführt. Bemerkenswert ist zunächst, dass der Dichter sein Festspiel auf der Ebene eines Puppenspiels ansiedelt, indem er eingangs einen Direktor und seinen Assistenten Philistiades auftreten lässt, die die Befreiungskriege mithilfe von Marionetten als einen „Prozeß der nationalen Katharsis“ inszenieren.65 Nach einem Rückblick auf das revolutionäre Frankreich treten nacheinander prägende Persönlichkeiten der Jahre 1813 bis 1815 in Erscheinung: Friedrich Ludwig Jahn (1778-1852), Heinrich Friedrich Karl vom und zum Stein (1757-1831), August Neidhardt von Gneisenau (1760-1831), Gerhard von Scharnhorst (17551813), Heinrich von Kleist (1777-1811) und Gebhard Leberecht von Blücher (1742-1819). Gegen Ende des Festspiels tritt schließlich die Figur „Athene Deutschland“ auf, die ein dreifaches Gebot ausspricht, während patriotische Lieder wie Lützows wilde Jagd erklingen: „macht Deutschland von der Fremdherrschaft frei! / Sorget daß Deutschland einig sei! / Und seid selber frei! Seid selber frei!“66 (S. 102) Klingen in diesen Formeln erneut die Forderungen des liberalen Bürgertums an, wird das nationale Pathos durch den Auftritt des Assistenten Philistiades sofort gebrochen. Denn er rekapituliert die Abfolge der einzelnen Kriegsereignisse nicht nur in einer gerafften Aufzählung, sondern orientiert sich dabei ausschließlich an den anfänglichen Siegen bzw. späteren Niederlagen Napoleons. In diesem Zuge wird auch beiläufig an die Völkerschlacht erinnert: „Aber bei Leipzig und Waterloo sank er [Napoleon], / sanken seine Adler und Fahnen, / erbleichte der Kamm des gallischen Hahnen.“ (S. 103) Im Anschluss an eine längere Zusammenfassung von Napoleons Untergang tritt Athene Deutschland erneut auf, um nun jedoch eine Friedensbotschaft zu verkünden: „Und alldurchdringend, mich durchdringend allzugleich, / erkenn ich meines Daseins, meiner Waffen Sinn: / die Tat des Friedens ist es, nicht die Tat des 64 SCHARFEN, 2005, S. 50f. 65 EBD., S. 52. 66 HAUPTMANN, 1913, S. 102. Das Festspiel wird nach dieser Vorlage im Folgenden unter Angabe der Seitenzahlen zitiert.
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Kriegs.“ (S. 106) Mit dieser Haltung ist aber Blücher keineswegs einverstanden, der ihr entgegnet: „Wat soll mich denn dem Friedenstirili? / Ick bin for Infantrie und Kavallrie.“ (S. 111) In diesem Kontext wird die Figur Blüchers von Hauptmann doppelt funktionalisiert: Auf der einen Seite entlarvt er mit dessen Aussage den plumpen Kriegspatriotismus, auf der anderen Seite greift er auf dessen militärischen Ehrennamen ‚Marschall Vorwärts‘ zurück, wenn er das Festspiel mit den Worten des Direktors enden lässt: „Du wackrer Graukopf lieg an deinem Ort. / Was leben bleiben soll, das sei dein Wort. / Ich schenk es Deutschland, brenn es in sein Herz – / Nicht deine Kriegslust, aber – dein: Vorwärts!!“ (S. 111) Mit dieser Schlusswendung hat Hauptmann das kriegsheroische ‚Vorwärts‘, das noch Roesler in seinem Roman Gefangen und Befreit zu reaktivieren versucht hatte, in ein pazifistisches ‚Vorwärts‘ umgedeutet. Im Vorfeld des Ersten Weltkriegs findet diese Interpretation allerdings kaum Anklang; vielmehr wird Hauptmann von den konservativen Kritikern als „schlottrichter kosmopolitischer Jammerkerl“ verspottet.67 Angesichts seiner Ironisierung der preußischen Tugenden und seiner Karikierung Blüchers wird das Festspiel vor allem in militärischen Kreisen geradezu als Blasphemie empfunden. Nach elf von insgesamt fünfzehn geplanten Aufführungen wird es vorzeitig abgesetzt.
„Ich möchte gerne mit Ihnen durchs Denkmal gehen“. Die „Välgerschlachd“ bei Erich Loest Wie Marianne Vogel herausgestellt hat, bleibt das Gedenken an die Völkerschlacht in nicht geringem Maße an das Völkerschlachtdenkmal gekoppelt. Nach dem Ersten Weltkrieg wird es von dem sozialdemokratischen Politiker und ersten Reichspräsidenten Friedrich Ebert (18711925) zum „Friedensdenkmal“ umgedeutet, im Nationalsozialismus erhält es wieder seine Bedeutung als Kriegerdenkmal, und in der DDR wird es „zu einem Hauptsymbol der deutsch-sowjetischen Freundschaft“ aufgewertet.68 Diese historisch gewachsene Zunahme an seman67 Zit. nach SCHARFEN, 2005, S. 57. 68 VOGEL, 2005, S. 32f.
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tischer Verdichtung mag Erich Loest zu seinem Roman Völkerschlachtdenkmal (1984) angeregt haben, den er drei Jahre nach seiner Auswanderung nach Westdeutschland publiziert. Loests Erzähler berichtet aus autodiegetischer Perspektive, behauptet aber, mehrere historische Identitäten in sich zu vereinigen. Da er zwischenzeitlich in die Psychiatrie eingewiesen worden ist, erscheint die Zuverlässigkeit der Erzählinstanz zweifelhaft: „Kann man den Aussagen dieses Mannes trauen oder nicht, ist er verrückt oder völlig gesund?“69 Der Erzähler, der sich selbst „Carl Friedrich Fürchtegott Vojciech Felix Alfred Linden“ nennt,70 vereinigt in dieser Namenswahl fünf verschiedene Identitäten: die Carl Friedrich Lindners, der als Infanterist an der Völkerschlacht teilnimmt; die Fürchtegott von Lindenaus, der als Gutsherr und Sammler das Vorhaben verfolgt, ein Denkmal zu errichten; die Vojciech Machulskis, der als Landarbeiter unmittelbar am Aufbau des Völkerschlachtdenkmals beteiligt ist; die von Felix Linden, dem Vater des Ich-Erzählers, der sich später mit den Nationalsozialisten arrangieren muss; und die von Alfred Linden, dem Ich-Erzähler selbst, der als ausgebildeter Sprengmeister das Völkerschlachtdenkmal schließlich zu zerstören versucht. Diese komplexe und sich zuweilen überlagernde Figurenanordnung erlaubt es zunächst, verschiedene historische Zeitebenen in den Erzählrahmen einzubeziehen, der mit der „Välgerschlachd“ (S. 38) einsetzt und in den 1980er Jahren endet. Darüber hinaus ermöglicht es der Wechsel zwischen den Identitäten, konkrete geschichtliche Entwicklungen zu parallelisieren: sowohl um deren Wiederkehr zu konturieren als auch um sie durch gezielte Anachronismen zu ironisieren. So heißt es beispielsweise über den bei Verdun kämpfenden Machulski: „Es war wie auf den Feldern ostwärts von Leipzig vor dem letzten Tag der Völkerschlacht, Vojciech Machulski […] erlitt Qualen wie Carl Friedrich Lindner.“ (S. 92f.) Anhand seines Ich-Erzählers, der virtuos zwischen den einzelnen Rollen wechselt, veranschaulicht Loest im Hinblick auf die Völkerschlacht und auf das entstehende Erinnerungsobjekt den Wandel der ideologisch fundierten Bedeutungszuschreibungen im kollektiven Ge-
69 EBD., S. 34. 70 LOEST, 2013a, S. 7. Der Roman war nach dieser Vorlage im Folgenden unter Angabe der Seitenzahlen zitiert.
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dächtnis.71 Dabei greift er wiederholt auf das Darstellungsverfahren zurück, das Pathos der Kriegsbegeisterung ironisch zu brechen. Als Fürchtegott von Lindenau beispielsweise einige Verse aus Kleists Ode Germania an ihre Kinder (1813) deklamiert,72 drängt sich sofort Albert Linden in den Vordergrund, um insbesondere den Vers „Schwillt die Sehne, flammt das Blut“ zu kommentieren: „‚Schwillt die Sehne‘ – wer denkt da nicht an lästige Sehnenscheidenentzündung? Und ‚flammendes Blut‘ wirkt lächerlich: Allenfalls an einen Tiegel könnte ich denken, in dem Blutwurst anbrennt.“ (S. 33) Im Horizont der verschiedenen historischen Deutungsvarianten des Völkerschlachtdenkmals vom Kriegerdenkmal bis hin zum „Völkerfriedensdenkmal“ (S. 190) wird auch vorgeführt, wie die Wertschätzung für den Erinnerungsbau sukzessiv nachzulassen beginnt. Zeigt schon Lindens Sohn Joachim keinerlei Interesse für das Denkmal (S. 195), wird es am Ende nahezu vollständig seiner geschichtlichen Bedingtheit beraubt, als es in Miniaturformat zum Verkauf an die Intershops ausgeliefert wird (S. 269f.). Dieser kapitalistischen Vereinnahmung des Völkerschlachtdenkmals im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit steht Alfred Lindens andachtsvolle Würdigung diametral gegenüber, die sich bereits am Ende des dritten Kapitels findet: Ich möchte gerne mit Ihnen durchs Denkmal gehen. Nicht während einer Führung, sondern an einem Sommermorgen ganz zeitig, wenn es kühl und still ist, wenn Sonnenlicht durchs Ostfenster fällt. Die Figuren sind ja nicht nur gigantisch, nicht nur tonnenschwer. Ich möchte mit Ihnen die Stufen vom Becken hinaufsteigen. Der Michael, die Adler, die Köpfe der Pferde, die Schrift darüber: ‚Gott mit uns‘, die Brüstung, und immer wieder, von welcher Seite einer auch hinaufschaut, die Wächter mit dem Schwert und ihren bärtigen Gesichtern – da soll keiner sagen: häßlich, protzig, gigantomanisch. Ein Stück deutscher Geschichte steht da.“ (S. 55)
71 Vgl. VOGEL, 2005, S. 35. 72 Loest zitiert hier die erste Fassung der Ode, die 1809 entstanden ist. Dabei zieht er die letzten zwei Strophen, die dem Chor zugeordnet sind, zusammen. Vgl. KLEIST, Germania an ihre Kinder. Eine Ode, in: KLEIST, 1985, 1, S. 25-27.
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Dieses „Stück deutscher Geschichte“ hat Erich Loest auch nach dem Abschluss seines Romans nicht losgelassen: Neben dem Fortsetzungsroman Löwenstadt (2009),73 in dem er die Geschichte Alfred Lindens bis in die Gegenwart weitererzählt, hat er 1995 und 2013 zwei kurze Artikel über das Völkerschlachtdenkmal veröffentlicht. In diesen Kurztexten geht er auf einen zentralen „Fehler“ dieses Erinnerungsbaus ein: „Die Franzosen kommen im Denkmal nicht vor, die Sachsen ebenfalls nicht, es kommen nur die Sieger vor.“74 In dem späteren Artikel wird diese Aussage noch geschlechtsspezifisch radikalisiert: „Fotos zeigen Männer, Männer und nicht eine einzige Frau. Das Völkerschlachtdenkmal ist Männersache, daran wird sich nichts ändern.“75 Immerhin kann er 2013 auch vermerken, dass die von ihm dringend geforderte Restauration inzwischen begonnen hat.76 Damit sind die Voraussetzungen günstig, dass aus dem Völkerschlachtdenkmal werden kann, was sich Loest gewünscht hat: „ein europäisches Friedensmal“.77
„Patriotische Erinnerungsarbeit, verdichtet zu Stampfbeton“. Fazit und Ausblick Mitte des 19. Jahrhunderts wird die Leipziger Völkerschlacht von Johann Chrysostomus Sporschil zu einem historischen Ereignis stilisiert, das nur durch „die Nationalpflicht ihrer beständigen Vergegenwärtigung“ angemessen gewürdigt werden könne.78 Auch wenn er unterstreicht, dass diese „Vergegenwärtigung“ eher in den Aufgabenbereich des Historiografen falle, wird die Völkerschlacht bereits seit 1813 in der Literatur rezipiert und reflektiert. Während in der Befreiungslyrik der euphorische Sieg über die französischen Widersacher in zahlreichen 73 Vgl. LOEST, 2009; ALÉMAN, 2011. 74 LOEST, 1995, S. 211. Schon im Roman meint Vojciech, „daß das Völkerschlachtdenkmal nur an die toten Sieger erinnerte, nicht an die armen Rheinbundsöldner, von den Franzosen ganz zu schweigen, noch nicht einmal an die Ärmsten der Armen, die hingemachten Sachsen.“ LOEST, 2013a, S. 93. 75 LOEST, 2013b, S. 33. 76 EBD., S. 34. 77 LOEST, 2013b, S. 212. 78 SPORSCHIL, 1841, S. IV.
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Variationen gefeiert wird, lassen die narrativen Darstellungen ein größeres Spektrum an Gestaltungstendenzen erkennen. Parteipolitisch eher einseitig ausgerichtete Romane (Robert Roesler) konkurrieren mit fiktionalisierten Kriegserinnerungen (Adolph von Kessel und Tscheutsch) und volksaufklärerischen Beschreibungen (Karl Gustav Nieritz). Gleichzeitig ist im Zusammenhang mit dem fünfzigsten Jahrestag der Völkerschlacht zu beobachten, wie das liberale Bürgertum seine Vorstellungen von nationaler Einigkeit artikuliert, sei es in literarischer Form von Kasualgedichten oder in literarisierter Form von Festberichten. Die Feiern zum hundertsten Jahrestag dienen dagegen der Steigerung des patriotischen Selbstbewusstseins und werden mit der Errichtung des Völkerschlachtdenkmals gekrönt. Im Kontext dieses monumentalisierten Erinnerns können ironische Töne, wie sie in Gerhart Hauptmanns Festspiel anklingen, nur irritieren. Eine andere Form der ironischen Geschichtsreflexion präsentiert dagegen Erich Loest, der die historischen Umdeutungen kenntlich macht, mit denen die Völkerschlacht seit 1813 ideologisch vereinnahmt wird. Loests zuerst 1995 geäußerter Wunsch, das Kriegerdenkmal in „ein europäisches Friedensmal“ umzuwandeln, ist allerdings nicht ohne Widerspruch geblieben. Zwei Jahre später hat der Schriftsteller Thomas Rosenlöcher in seinem Essay Das Leipziger Schreckensdenkmal diese Hoffnung mit den Worten kommentiert: „Nur daß vorher jemand hinaufsteigen müßte, den riesigen Schwertgestalten zu sagen, daß sie jetzt nicht mehr nur Deutschland, sondern die Festung Europa bewachen.“79 Mit einem Satz reduziert Rosenlöcher das Denkmal ironisch auf seine ideelle und materielle Zusammensetzung: „Patriotische Erinnerungsarbeit, verdichtet zu Stampfbeton, zusätzlich bewehrt mit Granit.“80 Abgestoßen von der Hässlichkeit des Monuments charakterisiert er es schließlich als „Weltkriegsleichenstein“,81 der ein Totengedenken und damit die Erinnerung an die historische Vergangenheit geradezu verhindere. Hätte es nicht das Jubiläumsjahr 2013 gegeben, wäre die literarische Rezeption der Völkerschlacht vermutlich mit den Kurzessays von Loest und Rosenlöcher an ihr vorläufiges Ende gelangt. Doch das Gegenteil ist der Fall: Neben dem eher weniger beachteten Roman 79 ROSENLÖCHER, 1997, S. 61. 80 EBD., S. 56. 81 EBD., S. 63.
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Schusterjunge Karl (2012) von Susan Hastings82 ist auch Sabine Eberts Roman 1813 – Kriegsfeuer (2013) erschienen,83 der ein breites Medienecho gefunden hat. Anzumerken bleibt allerdings, dass sich Eberts historischer Roman nicht zuletzt deshalb „anstrengungsfrei“ lesen lasse, weil sie es darin mit den geschichtlichen Details „nicht so genau“ genommen hat.84 Nach 200 Jahren Rezeptionsgeschichte hat sich die literarische Rezeption der Völkerschlacht damit dem Bereich der „Geschichtspornografie“ angenähert.85
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Tschaikowskys Sieg und Beethovens Niederlage – Transnationale Rezeption der Napoleonischen Kriege in der Musik ANDREAS LINSENMANN Um es mit einer militärischen Vokabel vorwegzunehmen: Bezugnahmen auf die Napoleonischen Kriege in der Musik sind Legion. Womöglich hielte die Metapher von der ein- bis fünftausend Mann1 umfassenden römischen Heereseinheit sogar einer streng quantitativen Überprüfung stand, wenn man in gesamteuropäischer Perspektive engmaschig nach im- und expliziten Anknüpfungspunkten recherchieren würde. Dies ist im vorliegenden Beitrag nicht möglich. Es sollen stattdessen aus deutscher Perspektive einleitend markante Aspekte des Phänomens knapp umrissen werden, um dann drei erinnerungsgeschichtlich signifikante Werke exemplarisch genauer in den Blick zu nehmen.
Einleitende Beobachtungen Die Napoleonischen Kriege haben in der Musik in vielfältiger Weise Spuren hinterlassen. Von diesem Kontext geprägt sind in erster Linie 1
CAMPBELL, 1999, S. 7. Die Zahlen unterliegen einer derart großen Spreizung, weil die Truppenstärke einer Legion stark variierte. Für die Zeit nach dem Zweiten Punischen Krieg wird sie von Polybios mit 4.200 bis 5.000 Mann angegeben, in der Zeit Kaiser Constantins (306-337) lag sie wahrscheinlich bei nur etwa 1.000. EBD., S. 7 und S. 9.
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Lieder jener Zeit – seien sie volkstümlichen Ursprungs oder Ausdruck des Engagements von Eliten. Ein prominentes deutsches Beispiel sind die von einem neuen Nationalbewusstsein patriotisch entflammten Dichtungen Theodor Körners (1791-1813), etwa sein 1815 von Franz Schubert (1797-1828) vertontes Schwertlied (D 170), das die Schlacht und den möglichen Tod mit viel „Hurra“ als „Hochzeit“ mit der „Eisenbraut“ verherrlicht.2 Auch die Melodie der Volksweise „Weißt du, wieviel Sternlein stehen“ erfuhr als heroisches Abschiedslied in der napoleonischen Ära eine zeitgebundene Ausprägung und hohe Popularität.3 Eine Untergruppe bildet das Soldatenlied, etwa das 1809 von Ludwig Uhland (1787-1862) vor dem Hintergrund des Tiroler Aufstands verfasste und von Friedrich Silcher (1789-1860) 1827 vertonte Poem Der gute Kamerad.4 Dieses Beispiel schlägt zudem die Brücke zu Militärmusiken und Märschen: Nicht wenige im Kontext der napoleonischen Zeit entstandene Werke dieser Kategorie sind über Systembrüche hinweg weitergetragen worden und z.T. nach wie vor Teil der Traditionspflege der Bundeswehr, so etwa im Trauerzeremoniell das genannte Lied vom „guten Kameraden“.5 Zu denken wäre ferner an den zur ersten deutschen Nationaloper stilisierten, 1821 uraufgeführten Freischütz (op. 77) von Carl Maria von Weber (1786-1826), in dessen Verunsicherungs-Atmosphäre die Ver2
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Abdruck in: KÖRNER, 1879, S. 143f. Für Körner, der im Lützow‘schen Freikorps fiel und zur patriotischen Identifikationsfigur wurde, ist diese Begrifflichkeit, verbunden mit einem dezidiert heroischen Gestus, typisch. Gedichte wie Hoch lebe das Haus Oesterreich, Lützow’s wilde Jagd, und Bundeslied vor der Schlacht bilden eine umfängliche Werkgruppe. Zur Genese gibt es unterschiedliche Deutungen. Eine Publikation aus dem Jahr 1839 verzeichnet die Melodie mit dem von Ernst Moritz Arndt verfassten Text O du Deutschland, ich muss marschieren als Soldatenlied, aus den Kriegsjahren 1813-15 (ERK/IRMER, 1839, S. 6). Bereits 1809 will hingegen August Heinrich Hoffmann von Fallersleben das Lied im soldatischen Kontext gehört haben (FALLERSLEBEN/RICHTER, 1842, S. 294f.). Abdruck in: UHLAND, 1911, S. 166. Neben der Silcher-Fassung gibt es weitere Vertonungen. Populär wurde jedoch allein die Version Silchers. Zum Kontext SAUERWALD, 2015, S. 232f. Siehe die Richtlinien zum Traditionsverständnis und zur Traditionspflege in der Bundeswehr: http://www.bundeswehr.de/portal/a/bwde/!ut/p/ c4/RYsxDoAgDADf4gfo7uYv1K1AhQaCpq3yfXEyt1wuOdhh0PDhhMZ nwworbIFn353vkZyaEFsRpMPIJblbrJiouUQaMoc8qglG_u7flKSiKlxlm V4qpIts/, 28.1.2016.
Tschaikowskys Sieg und Beethovens Niederlage
wüstungen durch die Napoleonischen Kriege nachklingen. Das Spektrum direkter Bezugnahmen reicht bis zur sakralen Musik – etwa Joseph Haydns (1732-1809) Missa in tempore belli (C-Dur, Hob. XXII:9), in der angesichts der Bedrohung Wiens durch napoleonische Truppen 1796 in der Tradition barocker Anschaulichkeit das Motiv des französischen Armeepaukenwirbels widerhallt.6 Die spezifische Bedeutungsnuance liegt jedoch in der Einbettung dieser Reminiszenz: Haydn verortet sie im Agnus Dei. Dadurch verschränkt er die Kriegsklänge mit der Bitte um Erbarmen und Frieden.7 Die Vielzahl der Referenzen ist damit zu erklären, dass Musik stets zeitgenössische Lebenswelten, Erfahrungen und Kontexte spiegelt. Sie tut dies, zumal in Verbindung mit Texten, teils mit denotativer Eindeutigkeit. Wesentlich häufiger sind jedoch konnotierte Bedeutungsaufladungen, die sich beim Hören nicht per se erschließen, sondern eine erläuternde Kontextualisierung erfordern. Im Falle der Napoleonischen Kriege lassen sich de- und konnotative Codierungen in besonderer Massierung nachvollziehen, da Musik – wie auch andere Künste und Medien – in einer extremen Verdichtungsphase historischer Brüche und Umbrüche von allen Seiten forciert für Mobilisierungen, zur Feindbildkonstruktion sowie zur Propagierung von Identitätsangeboten eingesetzt wurde. Über die engere historische Zeitgenossenschaft hinaus wuchsen musikalischen Werken und Praktiken dabei dezidiert auch memorative Funktionen zu: Sie wurden Erinnerungsträger und Elemente komplexer Erinnerungskulturen8 – am evidentesten etwa bei Gedenkfeiern für die Gefallenen. Insofern ist die Musik der napoleonischen Zeit und jene, die sich mit dieser Epoche später auseinandergesetzt hat, ein Beispiel dafür, dass Musikstücke, deren Genese sowie die musikalische Praxis eminenten historischen Quellenwert haben können.9
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Daher auch die populäre Bezeichnung Paukenmesse. SENGHANS, 2011, S. 429. Zu dieser Funktionsdimension allgemein insbesondere FISCHER/WIDMAIER, 2015. Das gilt auch für die professionelle Musikproduktion, die oft in engem Zusammenhang mit Publikumserwartungen und Marktgesichtspunkten steht. Zum Thema übergreifend sowie zum Quellenpotenzial von Musik aus historiografischer Perspektive u. a.: MÜLLER/OSTERHAMMEL, 2012, S. 5-20.
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Exemplarische Annäherung Die Breite dieser Phänomene aufzuzeigen und zu analysieren würde den gegebenen Rahmen sprengen. Hier sollen daher drei orchestrale Werke untersucht werden, die als signifikante Indikatoren erinnerungskultureller Praxis gelten können: Alberto Franchettis (1860-1942) Oper Germania, Ludwig van Beethovens (1770-1827) Wellingtons Sieg oder Die Schlacht bei Vittoria (op. 91) sowie Peter Tschaikowskys (18401893) Ouverture Solennelle 1812 (op. 49). Diese Auswahl ist in gewisser Weise willkürlich. Naheliegend wäre etwa die Einbeziehung französischer Werke – zum Beispiel Gaspare Spontinis (1774-1851) 1809 uraufgeführter Oper Fernand Cortez, ou La conquête du Mexique (op. 83), die Napoleons Kriegsanstrengungen auf der iberischen Halbinsel propagandistisch unterstützen sollte.10 Aber diese Werke sind unter Gesichtspunkten transnationaler Rezeption sowie musikalisch vermittelter Erinnerung, die hier vorrangig erörtert werden sollen, weniger aussagekräftig als die gewählten.11 Bei den Werken soll jeweils die Entstehung skizziert werden, es sollen zentrale Aspekte der Anlage des Werks sowie der musikalischdramaturgischen Wirkung herausgearbeitet werden, um schließlich die Rezeption und damit verbundene Erinnerungsimplikationen zu diskutieren.12 In der Tradition kulturwissenschaftlicher Hypothesenbildung richtet sich das Erkenntnisinteresse auf Symbolgehalte und Codierungen kultureller und speziell musikalischer Inhalte und Praktiken, die als
10 Die zentrale Anspielungsebene lag in einer impliziten Parallelisierung des Eroberers Hernán Cortéz mit Napoleon einerseits und der blutdurstigen aztekischen Priesterschaft mit der spanischen Inquisition andererseits. Diese Deutungslinie wird auch dadurch unterstrichen, dass der Erstdruck ein Napoleon-Portrait im Gewande des Eroberers aufweist – als Hommage und Widmung gleichermaßen. Für diesen Hinweis danke ich Herrn Prof. Dr. Klaus Pietschmann (Mainz). 11 Das gilt auch für dezidierte Memorial-Kompositionen, etwa das zum 50. Jahrestag der Völkerschlacht bei Leipzig von Wilhelm Wieprecht (18021872) komponierte „militärische Tongemälde“ Grosse Völkerschlacht bei Leipzig – ein monströses Gedenkwerk, das völlig in Vergessenheit geriet. Siehe hierzu: HEIDLER 2014, S. 70f. 12 Zur Konzeptualisierung von kulturellem Gedächtnis und kollektiver Erinnerung insbesondere HALBWACHS, 1950, sowie NORA, 1986.
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in hohem Maße kontextabhängig aufgefasst werden.13 Zugrunde liegt dabei ein Kulturbegriff, der von Akten der Bedeutungsaufladung und Sinnzuschreibung ausgeht.14 Damit schließt der Zugriff an eine bereits von Georg Simmel (1858-1918), Max Weber (1864-1920) und Ernst Cassirer (1874-1945) skizzierte, an Deutungsmustern interessierte symbolischen Kulturanalyse an. Ziel ist es, aufzuzeigen, was diesen Werken heute noch an Bedeutungsgehalten eingeschrieben ist oder neu eingeschrieben wurde, und inwiefern sie als Träger von Erinnerung an die Napoleonischen Kriege aufgefasst werden können.
Beispiel 1: Die Oper Germania von Alberto Franchetti Das erste Beispiel ist das historisch gesehen jüngste. Das Dramma lirico Germania von Alberto Franchetti wurde 1902 am Mailänder Teatro alla Scala uraufgeführt.15 Bereits hierin liegt ein erinnerungskultureller Befund: Knapp 90 Jahre nach Ende der napoleonischen Ära machte ein italienischer Komponist die deutsche Selbstmobilisierung gegen die französische Herrschaft zum Gegenstand eines musikdramatischen Werkes. Franchetti, der in München bei Joseph Gabriel Rheinberger (1839-1901) sowie in Dresden bei Felix Draeseke (1835-1913)16 studiert hatte, muss demnach von einem erinnerungskulturellen Resonanzraum ausgegangen sein, auf den sein Werk stoßen würde – insbesondere mit Blick auf Deutschland und auf Italien. Denn einem solchem Projekt wohnte zwingend die Erwartung inne, dass es ein Publikum, einen Markt finden würde. Nun sind Opern nicht als um quellenkritische Genauigkeit bemühte Auseinandersetzungen mit historischen Themen zu verstehen. Es sind 13 Wie exemplarisch und radikal etwa von Lawrence Grossberg dargelegt: „Cultural Studies“, erklärt er pointiert, „sind eine Theorie über die Entstehung, Auflösung und Neuschaffung von Kontexten“, wobei er diese vornehmlich durch Machtstrukturen determiniert sieht. Vgl. GROSSBERG, 1999, S. 67. 14 Etwa WEBER, 1973, S. 146-214, insbesondere S. 180. 15 STÖCK, 2002a, 1, S. 589. 16 Draeseke hat 1859 und 1861 zwei Germania-Texte vertont. Siehe GABRIEL, 2012, S. 75.
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autonome künstlerische Hervorbringungen, in denen ein historisches Sujet frei verhandelt wird. Gleichwohl liegt auch hierin Quellenwert: Denn die Art des Umgangs kann etwas darüber aussagen, was Komponist und Librettist beim Publikum an Wissensbeständen zu einem Thema vermuteten – denn nur auf einer solchen Basis können Anspielungen funktionieren. Auf Franchettis Germania bezogen heißt das: Selbst wenn historisch-politische Kenntnisse diesbezüglich nur rudimentär gewesen sein mögen, waren die Napoleonischen Kriege ein Erinnerungsgegenstand, auf den Franchetti Bezug nehmen konnte. Bei Franchettis Germania kommt vor dem Hintergrund einer allgemein verstärkten Infiltration der Oper mit politisch-nationalen Gesichtspunkten um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert herum eine Komponente hinzu: Wie Deutschland war auch Italien politisch gesehen eine verspätete Nation,17 die im Zuge des Risorgimento erst im 19. Jahrhundert eine nationalstaatliche Ausformung gefunden hatte. Aus italienischer Sicht mussten die deutsche national aufgeladene Mobilisierung der napoleonischen Ära wie der Beginn eines dem eigenen Fall ähnlichen Phänomens, gleichsam eines deutschen Risorgimento, wirken. Für Sympathie, Identifikation und damit den monetären Erfolg des Werkes legte dies gute Voraussetzungen nahe – und womöglich richtete sich der Blick bei diesem Kalkül auch auf das Opernpublikum in weiteren vergleichsweise jungen Nationalstaaten, etwa in Südamerika. Inhaltlich schlägt Franchetti einen Bogen vom Ende des Alten Reichs bis ins Jahr 1813. Schauplätze sind Nürnberg, der Schwarzwald, Königsberg und Leipzig: Studenten und Intellektuelle verschwören sich 1806 gegen Napoleon, gehen in den Untergrund und kämpfen weiter, bis Napoleon nach der Leipziger Völkerschlacht geschlagen das Feld räumt. Gut ein Dutzend historische Akteure werden aufgeboten, darunter Ludwig Adolf Wilhelm Freiherr von Lützow (1782-1834) und Theodor Körner. Das Personentableau reicht bis zu Königin Luise von Preußen (1776-1810), die in der Erinnerung an die Befreiungskriege als Teil der Napoleonischen Kriege früh geradezu eine Mythisierung zur Verkörperung tugendhafter Vaterlandsliebe erfahren hatte.18 Franchetti lässt sie denn auch als Dea ex Machina in einem entscheidenden Augenblick die Gedanken aller Anwesenden über persönliche Anliegen 17 Zur Begriffsprägung vgl. PLESSNER, 1959 18 Siehe etwa FÖRSTER, 2011, sowie SCHÖNPFLUG, 2010.
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hinaus in eine Richtung lenken: Aufopferung und Sieg für das Vaterland – ein Programm, das bis zur letzten Konsequenz in die Tat umgesetzt wird, indem man unter fanatischen Parolen in die klanglich vergegenwärtigte Völkerschlacht von Leipzig zieht. Musikalisch weist das im italienischen Verismo anzusiedelnde, durchkomponierte Werk, das Stilelemente der Meyerbeer- und WagnerNachfolge eigenständig verbindet, bemerkenswerte Qualitäten auf und glänzt mit Melodien, die denen eines Giacomo Puccini (1858-1924) nicht nachstehen. Das Kolorit ist indes geprägt von DeutschlandSchwärmerei. Etliche Bezugnahmen sind historisch korrekt, so etwa auf Johann Philipp Palm (1768-1806), der 1806 wegen der Verbreitung der Schrift Deutschland in seiner tiefen Erniedrigung19 verfolgt und hingerichtet wurde, oder die Einbindung des Körner-Gedichts Lützow’s wilde Jagd, das in Carl Maria von Webers (1786-1826) Vertonung20 angestimmt wird. Eingebettet in ein Tableau deutscher Kinder-, Volks- und Soldatenlieder, das gleichsam als musikalisches Lokalkolorit fungiert, erklingt ferner auch die bereits angesprochene Weise Weißt du, wie viel Sternlein stehen.21 Insgesamt ist Franchettis Germania getragen von einem in religiöse Sphären übersteigerten Nationalbegriff, im dem sich das Ideal politischer Souveränität sowie Patriotismus, heldenhafte Opferbereitschaft und Märtyrertum mischen. Die Nation wird in Germania zum alleinigen positiv besetzten und musikalisch verklärten Identifikationsobjekt. Zugespitzt ließe sich freilich auch sagen, das Setting liefere im Libretto Luigi Illicas (1857-1919) bloß eine opulente Stimmungskulisse für die unvermeidliche Liebesgeschichte um eine zwischen zwei Männern ste-
19 Johann Philipp Palm (1766-1806) war Buchhändler und führte seit 1800 eine Verlagsbuchhandlung in Nürnberg. Im Juni 1806 verlegte er die anonym erschienene Flugschrift Deutschland in seiner tiefen Erniedrigung, die den napoleonischen Expansionsdrang, das Gebaren der Franzosen als Besatzer sowie die deutschen Regenten, die für die Schwäche Deutschlands mitverantwortlich gemacht wurden, scharf kritisierte. Palm konnte als einer der Vertreiber der Denkschrift ermittelt werden. Er wurde von den Franzosen vor ein Kriegsgericht gestellt, wegen Hochverrats zum Tode verurteilt und erschossen. Siehe MEISER, 2001, S. 20-21. 20 Für vierstimmigen Männerchor, entstanden um 1814, publiziert in op. 42, Nr. 2: Gesänge aus Leyer und Schwert (Heft 2), J. 168. 21 Zu den Deutungsansätzen ERKENS, 2011, S. 240.
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hende Frau, die vom Opernbesucher auch ganz ohne eine Decodierung der historischen Bezugnahmen rezipiert werden kann. Der große Aufwand verfehlte seinen Effekt nicht. Die Uraufführung 1902 – unter dem Dirigat Arturo Toscaninis (1867-1957) und mit Enrico Caruso (1873-1921) in der Rolle des todesmutigen Studenten Federico Loewe – war ein beachtlicher Erfolg.22 Das Werk, das mit Alfredo Catalanis (1854-1893) Loreley23 und La Wally24 den Höhepunkt einer germanophilen Phase in der italienischen Oper markiert, wurde international über Jahre hinweg aufgeführt. Unter den sich zuspitzenden Verhältnissen am Vorabend des Ersten Weltkrieges konnte der glorifizierte deutsche Befreiungssieg jedoch nicht mehr vorurteilsfrei als positives Beispiel nationaler Selbstbehauptung gelesen werden: Weltweit brachen die Aufführungszahlen25 ein. Ähnlich im Zweiten Weltkrieg: Der 1941 gedrehte Opernfilm Germania erreichte nach seiner New Yorker Premiere den europäischen Kontinent nicht mehr. Zeitgleich zum italienischen Eintritt in den Ersten Weltkrieg diskutierten Franchetti und sein Librettist Illica ein neues Opernprojekt mit dem Titel Italia, das gewissermaßen eine der politischen Situation geschuldete Antwort auf Germania dargestellt hätte: Die Nation als Dramatis Personae und der Spielplan als Spiegel von Erinnerungskultur einerseits und politischer Aktualität andererseits. Bemerkenswert ist die Rezeption in Deutschland. Eine erste Inszenierung fand 1908 in Karlsruhe statt, über Jahrzehnte jedoch tauchte Germania auf den deutschen Spielplänen nicht auf.26 Ins Gewicht fiel dabei wohl auch, dass Franchettis Werk während der nationalsozialistischen Kulturpolitik nicht aufgeführt werden durfte, weil der Komponist Jude gewesen war. Es dauerte bis 2006, ehe Germania in Deutschland
22 VOSS, 1987, 2, S. 282. 23 Das 1892 in Turin uraufgeführte Werk verortet die Loreley-Legende um das Jahr 1300. Es stellt eine Überarbeitung von Catalanis 1880 in Turin uraufgeführtem Dramma fantastico Elda dar. Siehe GIRARDI, 1992, 3, S. 44. 24 Das Libretto nach Wilhelmine von Hillerns (1836-1916) Roman Die GeierWally (1875) stammte wie bei Germania von Luigi Illica. Das 1892 am Teatro alla Scala in Mailand uraufgeführte Werk findet sich in Italien aufgrund seiner musikalischen Qualitäten immer wieder auf den Spielplänen. Siehe STÖCK, 2002b, 2, S. 780. 25 Statistik in ERKENS, 2011, S. 537f. 26 VOSS, 1987, S. 282.
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Abb. 1: Die Inszenierung von Franchettis Germania 2006 an der Deutschen Oper Berlin – hier der Auftritt der titelgebenden Personifikation der deutschen Nation in der Schlussszene des 2. Aktes – greift auf ein konventionelles Bildvokabular zurück. Foto: Screenshot aus der Gesamtaufnahme der Produktion auf DVD. Copyright: Barbara Aumüller
wieder ausgegraben und an der Deutschen Oper Berlin unter der Regie von Kirsten Harms in Szene gesetzt wurde. In provokativem Gestus hatte Harms im selben Jahr Wolfgang A. Mozarts (1756-1791) Idomeneo inszeniert und den Titelhelden skandalträchtig die abgeschlagenen Köpfe von Poseidon, Jesus, Buddha und Mohammed zeigen lassen, was eine zeitweise Absetzung der Produktion zur Folge hatte, da man islamistische Anschläge befürchtete. Das ließ erwarten, dass die Regisseurin die von nationaler Weihe triefende Germania in Regietheatermanier tüchtig gegen den Strich bürsten würde. Doch weit gefehlt. Beinahe werktreu bebilderte Harms mit historisierenden Kostümen das pathosbefrachtete Geschehen.27
27 Siehe die Gesamtaufnahme der Produktion auf DVD. http://www.deut scheoperberlin.de/de_DE/media#magazine-172174, 29.1.2016.
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Selbst die namensgebende Personifikation ließ sie auftreten.28 Es hagelte denn auch Verrisse. Es sei Harms nicht gelungen, der „unentwegt mit aller Macht auf die Tränendrüse drückende[n] musikalische[n] Schwarte“ Neues zu entlocken, urteilte etwa Julia Spinola in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.29 Nichtsdestotrotz kam es zu Wiederaufnahmen. Als Indikator für den erinnerungskulturellen Ort der Napoleonischen Kriege lässt sich dieser Umstand gleichwohl kaum deuten.
Beispiel 2: Das Orchesterwerk Wellingtons Sieg oder Die Schlacht bei Vittoria von Ludwig van Beethoven Das zweite Beispiel ist das älteste der hier gewählten: Wellingtons Sieg oder Die Schlacht bei Vittoria (op. 91) entstand 1813. Es ist ein veritables, klingendes Schlachtengemälde, das seine Form jedoch schrittweise erlangte: Zunächst schuf Ludwig van Beethoven den zweiten, später „Sieges-Sinfonie“ überschriebenen Teil, gedacht für Musikautomaten30. Erst in der Fassung für großes Orchester stellte er eine „erste Abteilung“ mit dem Titel „Schlacht“ voran. In diesem Eingangsteil zielt Beethoven auf Raumwirkung und Überraschungs-Effekte. Das zeigt bereits die Instrumentierung mit großem Orchester und für Militärmusik charakteristischen Trompeten, Piccoloflöten sowie kleinen Trommeln. Hinzu kommen zur Nachahmung von Gewehrsalven Ratschen sowie riesige Trommeln, die im Theater für Donnerschläge gebräuchlich waren und hier der Imitation von Kanonenschüssen dienen – Beethovens Anweisung zufolge sollten sie für die Zuhörer nicht sichtbar sein. Außerdem gab er vor, zwei kleine En28 Die ikonografischen Bezugslinien sind dabei überdeutlich: Bis in kleinste Details ist die stilbildend gewordene Personifizierung des Deutschen Reiches Germania von Friedrich August von Kaulbach (1850-1920) aus dem Jahr 1914 als Vorlage ablesbar. https://www.dhm.de/lemo/bestand/objekt/ exponat-gemaelde-kaulbach-friedrich-august-von-germania-1914.html, 29. 1.2016. 29 SPINOLA, 2016. 30 Komponiert für Johann Nepomuk Mälzels Musikautomaten Panharmonikon. Mälzel hatte Beethoven im Gegenzug versprochen, „Gehörmaschinen“ für ertaubte Komponisten zu entwickeln. Siehe KÜRTEN, 1991, S. 46.
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sembles im Raum zu postieren, die nach initiierenden Trommel- und Trompetensignalen nacheinander den Marsch Rule Britannia und den auf ein französisches Volkslied bezugnehmenden Marsch Marlborough s‘en va-t-en guerre31 intonieren und damit die feindlichen Parteien markieren sollten. Für die Kennzeichnung der Franzosen wäre die Marseillaise naheliegender gewesen, diese galt damals in Wien jedoch als subversiv. Beethoven imaginiert gleichsam auf einer musikalischen Bühne die Aufstellung auf einem Schlachtfeld, Melodien identifizieren Freund und Feind, das Lauterwerden der Motive evozierte ein Näherkommen der Kontrahenten, ehe das Geschehen schließlich in deren Aufeinanderprallen kulminiert. Dieses der Gattungstradition der Schlachtenmusik, der Battaglia,32 entstammende Werk ist glorifizierende Überhöhung, ist Spektakel – es ist nicht zuletzt aber auch memoriales Zeugnis. Ein konkretes Geschehen wird erinnert: Die Schlacht zwischen den unter dem Oberbefehl Sir Arthur Wellesleys, des Herzogs von Wellington (1769-1852), stehenden Briten, Portugiesen und Spaniern einerseits und den Truppen des französischen Marschalls Jean-Baptiste Graf Jourdan (1762-1833) sowie des Königs Joseph von Spanien (1768-1844), des älteren Bruders Napoleons, andererseits am 21. Juni 1813 unweit des baskischen Städtchens Vitoria-Gasteiz – eine Schlacht, die das Ende der französischen Herrschaft in Spanien einleitete. Aber mehr noch: Das Erinnerte soll mit musikalischen Mitteln auf sublimierte Weise mehrdimensional, mit geradezu szenischer Anmutung vergegenwärtigt werden. Das Ganze wird schließlich unter Aufbietung des Beethoven‘schen Raffinements und seiner Kraftgestik in eine Apotheose, ein einziges Triumph- und Hochgefühl transzendiert. Beethoven verleiht dem Sieger 31 Es soll während des Spanischen Erbfolgekriegs im Umkreis der Schlacht von Malplaquet (11. September 1709) entstanden sein, bei der das französische Heer einer englisch-österreichisch-preußischen Streitmacht unterlag. Besungen wird der englische Heerführer John Churchill, erster Lord von Marlborough (1650-1722), von dem es fälschlicherweise hieß, er sei in der Schlacht umgekommen. Die Verwendung dieses Stücks lässt sich also auch als ironisch aufgeladen und zudem als Parallelisierung der Zeitebene 1709 mit der Gegenwart Beethovens verstehen. Die implizite Botschaft wäre demnach: Der sich in Spott äußernde französische Hochmut kam zu früh und beruhte auf einem Irrtum – anstatt zu siegen unterlagen die Franzosen. 32 Zur Einordnung RÖDER, 1989, S. 229-258.
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– angezeigt durch die effektvoll sich bahnbrechende Melodie God save the King – einen musikalischen Glorienschein. Rezeptionsästhetisch gewendet könnte man sagen: Hier teilt sich eine pathetische Grundhaltung mit, eine Überwältigungsästhetik macht Identifikationsangebote mit eminentem Mobilisierungs- und Begeisterungspotenzial. Denn die Zuhörer sind emphatisch eingeladen, diesen Sieg zu bejubeln. Angesichts dessen verwundert es nicht, dass die erste Aufführung am 8. Dezember 1813 in Wien, die aufgrund der Resonanz am 12. Dezember wiederholt wurde, als phänomenaler Erfolg in die Musikgeschichte einging.33 Von einem „einstimmigen enthusiastischen Beyfall aller Zuhörer“, berichtete etwa die Wiener Zeitung.34 Beethoven traf offensichtlich den Nerv der Zeit. Zur geneigten Aufnahme trug indes auch bei, dass es sich um eine Wohltätigkeitsveranstaltung zugunsten von Kriegsinvaliden handelte. Der gesamte Zeitkontext begünstigte die Rezeption, hatte doch zwei Monate zuvor Napoleons Armee in der Leipziger Völkerschlacht eine Niederlage erlitten. In Beethovens musikalischen Jubel konnte man demnach mehrere Siege hineinprojizieren, und insgesamt schien sich das Ende der napoleonischen Herrschaft und der verheerenden Kriege abzuzeichnen. Die Aufnahme des Werkes war somit getragen von einer Welle der Sieges- und Friedenshoffnung. Als deren glanzvolle Beglaubigung fungierte Wellingtons Sieg schließlich am 29. November 1814, als das Werk neben der A-DurSinfonie (op. 92) im großen Redoutensaal der Wiener Hofburg vor 6.000 Zuhörern und „in Gegenwart der fremden Souverains“35, also der zum Wiener Kongress versammelten europäischen Herrscher, zur Aufführung kam, ergänzt durch die ehrerbietige Kantate Der glorreiche Augenblick (op. 136), welche die Friedensmacher des Kongresses in den höchsten Tönen lobte.36 Der frühe Enthusiasmus wurde jedoch in erstaunlicher Weise durch die spätere Rezeption konterkariert. Zu Beethovens Lebzeiten zählte Wellingtons Sieg zu seinen populärsten Werken. Darko Bunderla bewertet es gar als Schlüsselwerk für den zeitgenössischen Erfolg des 33 Verbunden mit der Uraufführung der hochgestimmten 7. (A-Dur, op. 92) und 8. Sinfonie (F-Dur, op. 93). 34 Wiener Zeitung vom 20. Dezember, Nr. 198, S. 1205. Für diesen Hinweis danke ich Frau Dr. Maria Rößner-Richarz (Beethovenhaus Bonn). 35 SCHINDLER, 1840, S. 98. 36 LENTZ, 2014, S. 159.
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Komponisten.37 In seinem Gedicht Nachklänge Beethovenscher Musik rühmte Clemens von Brentano (1778-1842) Wellington und Beethoven in einem Atemzug – den einen als Lenker, den anderen als Verherrlicher der Schlacht: „Wellington, Viktoria! Beethoven, Gloria!“38 Und 1827 hob Franz Grillparzer (1791-1872) das Werk in seiner Grabrede für Beethoven als eines von dessen Hauptschöpfungen hervor.39 Das 19. Jahrhundert jedoch verhängte, wie Claus Raab bilanziert, über das Werk geradezu ein musikästhetisches Verdikt.40 Ein wesentlicher Faktor war dabei, dass der affirmative, propagandistisch-agitatorische Charakter zunehmend distanziert und das Werk als Momentaufnahme, als zeitgebundene Gebrauchsmusik wahrgenommen wurde, die mit wachsendem Abstand gleichsam historisch zu werden, ja zu veralten schien. Darauf deutet auch die ab den 1830er Jahren stark nachlassende Beliebtheit in Großbritannien. Zudem stand Wellingtons Sieg mit seinem Naturalismus, dem anschaulichen Evozieren von Bildern, quer zum Leitbild einer absoluten Musik. Bereits 1810 hatte E.T.A. Hoffmann (1776-1822) die Denkrichtung diesbezüglich so formuliert: Musik schließe dem Menschen „ein unbekanntes Reich auf“, das „nichts gemein“ habe „mit der äußeren Sinnenwelt“. Beispiele der Realistik seien „lächerliche Verirrungen“, mit „gänzlichem Vergessen“ zu bestrafen.41 Auch wenn im 19. Jahrhundert das konträre Konzept einer außermusikalische Inhalte dezidiert aufnehmenden Programmmusik ebenso Konjunktur hatte: Die ästhetischen Prämissen einer absoluten Musik wirkten lange nach. Bei Beethoven kam ein auf Mystifizierung zielender Geniekult hinzu. Eine derart illustrative, sich mit einer Sache so offensichtlich gemein machende Musik wie in Wellingtons Sieg wollte zum sphärisch-weltenthobenen Beethovenbild des späteren 19. Jahrhunderts nicht recht passen. Das Werk habe „manches Naserümpfen“ hervorgerufen und „oft peinlich berührt“, fasst etwa Albrecht Riethmül-
37 BUNDERLA, 2006, S. 98. 38 BRENTANO, 1978, S. 311. 39 Siehe http://www.beethoven-haus-bonn.de/sixcms_upload/media/43/grill parzer.pdf, 26.2.2016. 40 RAAB, 2008, S. 840. 41 HOFFMANN, 1977, S. 34.
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Abb. 2: „Beating Retreat 2013“: Zum Klang von Beethovens Wellingtons Sieg wird eben dieser in London nachgestellt. Foto: https://www. Youtube.com/watch?v=3X2ziyN4hSI (min. 8.30), 24.2.2016 ler zusammen.42 Für den Beethoven-Biografen Maynard Solomon stand noch in einer 1977 publizierten Biografie außer Frage, dass Wellingtons Sieg zusammen mit weiteren Werke aus den Jahren 1813 bis 181543 „mit ihrer bombastischen Rhetorik und ihrem ‚patriotischen‘ Überschwang“ den „Tiefpunkt in Beethovens künstlerischer Laufbahn“ markiere.44 Ganz dieser Deutungslinie verpflichtet bilanzierte Lewis Lockwood 2003, Wellingtons Sieg liege „weit unter Beethovens Ansprüchen“, es sei „eine schamlose Konzession an den politischen Über42 RIETHMÜLLER, 2009, 2, S. 35. 43 Darunter das als Schlussgesang zu Friedrich Treitschkes (1776-1842) das alliierte Vordringen in Frankreich 1814 bejubelnde Singspiel Die gute Nachricht komponierte Germania, wo stehst Du jetzt im Glanze (op. 94), ein in der Tat frappierend schlicht gestricktes Beispiel patriotischen Auftrumpfens. Siehe EBD. 44 SOLOMON, 1987, S. 255.
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schwang des Augenblicks“ und im Hinblick auf kalkulierte Popularität geschrieben.45 Zwar wird das Werk aufgeführt und genießt insbesondere in Großbritannien Popularität.46 Als musikalisch vollgültige Komposition unbestritten anerkannt und etablierter Teil des konventionellen Konzertbetriebes wie das Gros der Werke Beethovens gilt Wellingtons Sieg indes bis heute nicht – eher rangiert es als Teil des Repertoires von Militärkapellen. Gerade als Träger einer dezidierten, einer denotativ eindeutigen Erinnerung wird es, könnte man thesenhaft zuspitzen, mit einer gewissen Reserviertheit betrachtet. Siegesposen dieser Art scheinen vor allem im postnational-postheroischen Deutschland eher mit Befremden verbunden.
Beispiel 3: Die Ouverture Solennelle 1812 von Peter Tschaikowsky Das dritte Beispiel, die Ouverture Solennelle 1812 (op. 49) von Peter Tschaikowsky, rangiert zeitlich zwischen den bereits genannten. 1880 komponiert, wurde das Werk am 20. August 1882 in Moskau uraufgeführt. Es handelt sich um eine Auftragskomposition in Zusammenhang mit der Fertigstellung der Moskauer Christ-Erlöser-Kathedrale,47 die man als Stein gewordene Geschichtspolitik auffassen kann, wurde sie doch zur Erinnerung an den Brand von Moskau und den Sieg über die
45 LOCKWOOD, 2009, S. 263f. 46 Dabei finden sich auch Beispiele, in denen die Aufführung eine dezidiert memoriale Dimension aufweist: The Household Division’s Beating Retreat of 2013. Annonciert als A Military Music Spectacular, wurde bei der Horse Guards Parade in London in Anwesenheit der Queen Wellingtons Sieg 200 Jahre nach dem musikalisch glorifizierten Geschehen von Musikern der britischen Streitkräfte interpretiert – verbunden mit Erläuterungen eines Sprechers zum damaligen Ablauf und einem regelrechten Re-enactment: einem Aufmarschieren der Kriegsparteien, dem Nachstellen von Episoden der Schlacht, dem Abfeuern echter Gewehre und Kanonen sowie abschließend einem mit der Dramaturgie der Musik synchronisierten Feuerwerk. https://www.youtube.com/watch?v=3X2ziyN4hFI, 24.2.2016. 47 Siehe hierzu auch den Beitrag von JAN KUSBER im vorliegenden Sammelband.
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napoleonische Armee 1812 errichtet.48 Tschaikowsky sollte diesen Sieg verherrlichen und die Einweihung des allerdings erst 1883 abgeschlossenen, in seiner Symbolik national herausragenden Kathedralbaus festlich überhöhen.49 Bereits die Entstehung der Komposition ist damit als Element der Inszenierung von historischem Gedenken, von identitätsstiftendem Rückbezug und somit als funktionales Element von Erinnerungskultur zu verstehen. Tschaikowsky hatte zu dem hehren patriotischen Anlass indes ein robustes Verhältnis. Seinem Verleger schrieb er: „Mein Lieber, du bildest dir wohl ein, es sei das allerhöchste Glück, festliche Kompositionen zu schaffen […]. Auf Bestellung wäre ich bereit, sogar ein Inserat über Hühneraugenpflaster in Musik zu setzen.“50 Obwohl 1812 ein Gelegenheitswerk darstellt, hat Tschaikowsky dennoch in vieler Hinsicht sehr inspirierende Musik geschaffen. In der Anlage zeigen sich Parallelen zu Wellingtons Sieg, wenngleich sich die Ausdrucksmöglichkeiten weiterentwickelt hatten. Tschaikowsky setzte auf einen noch gewaltigeren Orchesterapparat, integrierte Glockengeläut, und für den finalen Knalleffekt gab er sich nicht mehr mit Theaterdonner zufrieden, sondern plante echte abzufeuernde Kanonen ein. Wiederum werden die Opponenten mit Melodien markiert, mit der 1833 eingeführten Zarenhymne, einem Marsch und einem Kirchenlied einerseits sowie mit der Marseillaise andererseits. Auch Tschaikowsky zieht Register der Raumillusion, lässt Motive aus dem Piano lauterwerdend näher rücken. Es gibt im Unterschied zu Beethoven Momente, in denen das Volk ins Blickfeld rückt – mit verhaltenen Passagen der Angst und Unruhe. Das überwölbende Prinzip ist jedoch das steter Steigerung. Kennzeichen des letztlich strahlend Obsiegenden ist in diesem Fall die ins Gigantische vergrößerte Zarenhymne, eingebettet in ein triumphalistisches Klangganzes von Fanfaren, Stabglocken und zuletzt den Kanonen.51 Sonderlich stolz war Tschaikowsky auf dieses Werk offenbar nie. „Die Ouvertüre ist sehr geräuschvoll und lärmend“, erläuterte er bereits während des Arbeitsprozesses. „Ich habe sie ohne wärmere Anteilnah48 Der ursprüngliche Bau wurde 1931 als spektakulärer Höhepunkt der antireligiösen Propaganda gesprengt, nach dem Ende der kommunistischen Herrschaft jedoch von 1995 bis 2000 vollständig wiedererrichtet. 49 WOLFURT, 1978, S. 207. 50 Zit. nach WOLFURT, 1947, S. 38. 51 GÜNTHER/GÜNTER, 2003, S. 224.
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me geschrieben, daher dürfte sie kaum einen künstlerischen Wert haben.“52 Distanz und Selbstkritik des Komponisten – die Rezeption jedoch entwickelte eine ungeahnte Eigendynamik: 1812 machte regelrecht Karriere. Gründe dafür dürften maßgeblich in der Verbindung eines imponierenden Großaufgebots, aufsehenheischender Effekte mit klassizistischer Grundanmutung und prägnanter Kürze liegen. Im Gegensatz zu Beethovens Wellingtons Sieg mutet Tschaikowsky den Zuhörern zwar Schilderungen des Kampfgeschehens, aber kein sich hinziehendes Ringen der Kontrahenten zu, das bei Beethoven überdies zunächst wenig heroisch endet. Er führt zielstrebig auf die Höhen eines rauschhaft zelebrierten Sieges, der sich einem breiten Publikum nicht als kriegerisches Ereignis, sondern wohl primär als eine Ausprägung gemeinschaftlich erlebter Hochstimmung mitteilt. Vor allem in den USA avancierte 1812 zu einem Renommierstück mit Kultcharakter. Es krönt Silvesterkonzerte und hat im Repertoire zahlreicher Festivals einen festen Platz, ähnlich wie Edward Elgars (1857-1934) Pomp and Circumstances in der alljährlichen Londoner Last Night of the Proms. Traditionen bürgerlicher Musikpflege verbinden sich hier mit Folklore. Massenmedial inszeniert steigern sich diese Phänomene zu einer potenziell global ausstrahlenden Eventkultur. Daneben ist ein weiteres Bündel hoch interessanter Rezeptionsstränge zu sehen: 1812 wurde als vielfache Anspielung herangezogen: zum Beispiel in der Werbung, so bereits in den 1960er Jahren in Reklame für Puffweizen der Marke Quaker Puffed Wheat Cereal, die mit dem Slogan, „This is the cereal that is shot from guns“ angepriesen wurde. Woody Allen nutzte Tschaikowskys Werk 1971 im Soundtrack seiner Komödie Bananas.53 1976 pflanzte Gonzo in einer Episode der Muppet Show einen Tomatensetzling zum Klang einiger auf einer Geige geschrammelter Takte von 1812.54 Ähnlich 1990 in einer Episode der Kult-Comic-Serie The Simpsons, als 1812 die heroisierende Untermalung für einen todesmutigen Skateboard-Stunt des ewigen Drittklässlers Bart Simpson bildete.55 Diese Auflistung ließe sich lange fortsetzen, bis 52 53 54 55
[TSCHAIKOWSKY], 1880, S. 204f.: http://www.imdb.com/title/tt0066808/soundtrack, 25.2.2016. https://www.youtube.com/watch?v=CcGsNI44uWU, 29.2.2016. http://simpsonspedia.net/index.php?title=Der_Teufelssprung, ebenso 1998, 25.2.2016; http://simpsonspedia.net/index.php?title=Vertrottelt_Lisa, 25.2.2016.
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hin zu einer Neuinterpretation durch Vodafone Neuseeland, in der die Kommunikationsfirma 2009 rund tausend Mobiltelefone aufbot, um Tschaikowskys Gassenhauer in innovativer Form erklingen zu lassen.56 Diese rege Absorption verweist darauf, dass einerseits die Musik enorm mitreißend und eingängig ist und andererseits Passagen mittlerweile offenbar so in das kollektive akustische Gedächtnis eingeflossen sind, dass sie als allfällige Anspielung herangezogen werden können.57 Besonders bemerkenswert erscheint zuAbb. 3: In einer Episode dem ein weiterer Rezeptionsstrang: Tschaivon The Simpsons wird kowskys Fest-Ouvertüre hat seit den Bart Simpson mit Tschai1970er Jahren – offenbar ausgehend von kowskys 1812 in iroeiner immer wieder zitierten Aufführung nischer Überspitzung zu bei den Boston Pops 197458 – einen festen heroischem Wagemut Platz in den Feierlichkeiten zum amerikaniangefeuert. Foto: http:// schen Unabhängigkeitstag gefunden. Sie ist simpsonspedia.net/index Teil des symbolischen Vokabulars gewor.php?title=Der_Teufels den, mit dem dieser Anlass begangen wird sprung, 24.2.2016 – und das sogar in Washington D.C. Die 1812-Ouvertüre gehört dort mittlerweile zum ritualisierten Ablauf des sogenannten A Capitol Fourth Concert: Als dessen finale Klimax wird es vom National Symphony Orchestra unter freiem Himmel vor der Kulisse des Kapitols aufgeführt, für den obligatorischen Kanonendonner sorgt The U.S. Army Presidential Salu56 https://www.youtube.com/watch?v=R3nSoEhY8SM, 29.2.2016. 57 Freilich funktioniert eine popkulturelle Bezugnahme nur, wenn die Folie alter Bedeutungsaufladungen bürgerlich-nationaler Musikkultur zumindest entfernt noch nachhallt. Dieses Spannungsverhältnis macht den Reiz popkultureller Aneignungen mit einer oft anti- oder postbürgerlichen Attitüde nicht zuletzt aus. 58 So argumentiert man jedenfalls auf deren Website: How Tchaikovsky’s 1812 Overture Became a July 4th Tradition. http://www.philharmonicso ciety.org/DeansBlog/blog.aspx?i=308, 26.2.2016. Der Schlussteil der Aufführung 1974: https://www.youtube.com/watch?v=Z-fGZzS2M1s&feature =youtu.be&t=15m48s, 26.2.2016.
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te Battery59 – und zeitgleich steigt über der Kapitolskuppel und dem Washington Monument ein Feuerwerk auf. Nun kann man mit guten Gründen argumentieren, diese Art des Begehens habe Event- und Volksfestcharakter. Es ist gleichwohl nicht zu verkennen, dass sich eine neue zeremonielle Aufladung vollzogen hat: Die Inszenierung wird gerahmt von Militärangehörigen und Flaggenträgern und gewinnt dadurch die Anmutung nicht nur eines populärkulturell aufgepeppten patriotischen Hochamts, sondern geradezu eines Staatszeremoniells. 1812 bietet sich als Festlichkeit evozierende Stimmungsmusik für derartige Zwecke wohl geradezu an. Zugrunde liegt der Inszenierung jedoch auch eine historische Verwechslung. Mit der titelgebenden Jahreszahl verbinden viele Amerikaner eine Weichenstellung ihrer eigenen nationalen Geschichte: den Beginn des zweiten Unabhängigkeitskriegs gegen Großbritannien. Auch dies ist eine Aufladung als „Befreiungskrieg“, allerdings bezogen auf einen völlig anderen Konflikt. Die Chiffre 1812 wird weithin als Jahr der Selbstbehauptung der jungen Nation gegenüber dem vormaligen Mutterland verstanden. Das legt den Fehlschluss nahe, Tschaikowskys Werk glorifiziere diese Wegmarke der amerikanischen Nationswerdung.60 Doch selbst wenn man diesen Faktor ausblendet, ist zu konstatieren, dass Tschaikowskys 1812 in den USA völlig appropriiert und der memoriale Bedeutungsgehalt in der kulturellen Praxis komplett ausgetauscht wurde – ein schönes Beispiel für die vielfältigen Transformationsprozesse von Rezeption. Gleichwohl entbehrt es nicht einer gewissen Ironie, dass die Amerikaner just mit der von Tschaikowsky zur Siegesmelodie stilisierten Zarenhymne die Geburtsstunde ihrer postfeudal-republikanischen Nation bejubeln.
59 The 3rd U.S. Infantry Salute Guns Platoon / The U.S. Army Presidential Salute Battery: http://www.pbs.org/a-capitol-fourth/concert/2014-perfor mers/us-army-presidential-salute-battery/, 1.8.2014. 60 Ein Indikator hierfür ist, dass im Internet diese landläufige Einschätzung häufig aufgegriffen wird. Siehe etwa: http://classicalmusic.about.com/od/ romanticperiod/qt/Tchaikovskys-1812-Overture.htm: „Now, many American’s [sic] believe that Tchaikovsky’s overture represents the USA’s victory against the British Empire during the War of 1812, however, Tchaikovsky’s music actually tells the story of Napoleon’s retreat from Russia in 1812.“
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Fazit Fasst man nun die Erträge unter erinnerungskulturellen Gesichtspunkten zusammen, so erscheinen insbesondere zwei Aspekte bemerkenswert. Erstens kann bei allen drei Beispielen von einer transnationalen Rezeption gesprochen werden. Diese war ausweislich der Aufführungsstatistik stark ausgeprägt bei Franchettis Oper Germania, ehe deren Rezeption maßgeblich durch die zwei von Deutschland verursachten Weltkriege abgeschnitten wurde, und sie ist eminent ausgeprägt bei Tschaikowskys Festouvertüre 1812. Zweitens können alle drei Werke als Träger von Erinnerung an die Napoleonischen Kriege aufgefasst werden. Hier wird jedoch die These vertreten, dass der Grad, in dem dieser Verweischarakter zutage tritt, in einer Relation zur Rezeption steht. Bei Franchettis Germania wird besonders explizit auf die Napoleonischen Kriege – respektive ein bestimmtes Deutungsmuster dieser Kriege – verwiesen, ist die Oper doch geradezu als musikdramatische Reaktivierung der Erinnerung an diesen Nationalmythos zu verstehen. Gerade diese denotative Eindeutigkeit wirkte sich auf lange Sicht jedoch nachteilig aus. So muss es verwundern, dass dieses germanophile Werk gerade in Deutschland kaum aufgeführt wurde.61 Dieser Misserfolg wird unter anderem damit erklärt, dass die zitierten patriotischen Lieder, Personen und Sujets einem damit vertrauten Publikum womöglich zu offensichtlich und plakativ erscheinen.62 Das Herausfallen aus dem internationalen Repertoirebetrieb indes lässt sich mit den genannten Rahmenfaktoren erklären. Ausschlaggebend war gleichwohl erneut die Eindeutigkeit des Verweischarakters: Die Diskreditierung Deutschlands diskreditierte auch die Oper Germania. Wellingtons Sieg oder Die Schlacht bei Vittoria ist ebenfalls von einer hohen denotativen Bestimmtheit geprägt, wenngleich aufgrund des Fehlens von Text nicht so ausgeprägt wie Franchettis Germania. In Großbritannien indes scheint – neben der gefälligen Einbindung des Rule Britannia und der Nationalhymne – gerade die klare Bezugnahme dem Werk einen bleibenden Stellenwert beschert zu haben. Betrachtet man die Aufführungskontexte, so verdichtet sich der Eindruck, dass 61 VOSS, 1987, 2, S. 282. 62 GABRIEL, 2012, S. 78.
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Wellingtons Sieg für die Briten erinnerungskulturell eine feste Funktion hat und – wenngleich mithin auch folkloristisch gefärbt und ironisch gebrochen – als ein Element nationaler Selbstvergewisserung fungiert. Darüber hinaus konnte sich das Werk gleichwohl vom Vorwurf der Trivialität und Anbiederung nicht lösen. Insbesondere die bildhafte Vergegenwärtigung eines mörderischen Geschehens auf dem Schlachtfeld wirkt für heutige Ohren tendenziell antiquiert. Als am wenigsten denotativ eindeutig stellt sich im Vergleich zu den anderen Werken die Ouverture Solennelle 1812 dar. Zwar lässt sich das Werk allein aufgrund des Titels und klarer musikalischer Zitate vom historischen Bezug nicht lösen. Tschaikowskys Komposition hat sich jedoch als für vielerlei Kontexte frappierend anschlussfähig erwiesen. Das gilt für einprägsame, selbst in Werbung und Popkultur rezipierte Passagen, aber auch das Werk als Ganzes. Ins Gewicht dürfte dabei fallen, dass Tschaikowsky es verstand, die Kriegsszenerie nicht allzu realistisch aufscheinen zu lassen. Kennt man diese Bezugnahme nicht, drängt sich die Assoziation nicht zwingend auf. Dieses geschickte Abschattieren und der mit orchestraler Wucht dargebotene mitreißende Mix aus Zarenhymne, Marseillaise und liturgischer Melodik haben den Erfolg des Werkes im späten 20. und frühen 21. Jahrhundert wesentlich begünstigt. Die Verbindung von sakraler Weihe, patriotischem Pathos und Volksfest-Atmosphäre stellt eine auch für postmoderne Rezipienten offenbar unwiderstehliche Mischung dar. Das hat 1812 als effektheischender Stimmungsmusik mit Knalleffekten zu einem illustren Element einer globalen Eventkultur gemacht. Nimmt man alles zusammen, so könnte man daher bilanzieren, dass die genannten Werke umso erfolgreicher und präsenter sind, je weniger deutlich sie eine explizite Erinnerung an die Napoleonischen Kriege anbieten.
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Tirols Erhebung gegen Bayern und Franzosen im Jahre 1809 – Andreas Hofer: Vom „ehrwürdigen Helden“ zur „sympathischen Comic-Figur“ NORBERT PARSCHALK Einleitung Comics und Graphic Novels mit historischen Inhalten demonstrieren eindrucksvoll, dass es sich auch bei dieser Form der historischen Narration um eine geschichtskulturelle Rekonstruktion der Vergangenheit handelt. Diente dieses Genre, das auch im deutschsprachigen Raum seit Mitte des 20. Jahrhunderts zunächst immer mit Asterix und Obelix in Verbindung gebracht wurde, der reinen Unterhaltung, so änderte sich spätestens nach der Veröffentlichung der Graphic Novel Maus. Die Geschichte eines Überlebenden von Art Spiegelman Ende der 1980er Jahre die Einstellung einer breiten Leserschaft zu dieser Art von Geschichtsdarstellung in Form von Bild-Text-Sequenzen.1 Und so war es keine Überraschung, dass Spiegelman 1992 für sein Werk mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet wurde. Mit seiner autobiographischen Erzählung war es ihm gelungen, das Überleben seines Vaters im Holocaust auf eine neue, bis dahin noch nie da gewesene künstlerische Form in Szene zu setzen und damit ein großes Lesepublikum zu beeindrucken. 1
SPIEGELMANN, 1989; DERS., 1992.
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Spiegelmans Erfolg leitete weltweit die literarische Emanzipation des Genres Comic ein. So erreichten Comics und vor allem Graphic Novels in den letzten Jahren auch unter der deutschen Leserschaft zunehmende Beliebtheit und Anerkennung. Neuerscheinungen werden nicht mehr länger von einer kleinen Randgruppe, sondern zunehmend auch von der breiten, kulturell interessierten Öffentlichkeit wahrgenommen. Diese werden in etablierten Tageszeitungen präsentiert und rezensiert und in Kulturforen ausführlich thematisiert. Heutzutage verfügt so gut wie jede größere Buchhandlung über eine „Comic-Ecke“, die nicht mehr – so wie früher – im hintersten Winkel für ein paar wenige Comic-Freaks eingerichtet worden ist. Viele der oft autobiographisch geprägten Graphic Novels inszenieren geschichtliche Ereignisse auf eine ganz neue Art und Weise und rekonstruieren bzw. dekonstruieren durch ihren künstlerisch kreativen Zugang historische Begebenheiten. Dabei handelt es sich um ein Phänomen, das von der Geschichtswissenschaft, vor allem von der Geschichtsdidaktik, nicht mehr länger ignoriert werden sollte. Grundsätzlich lässt sich die Vergangenheit in ihrer gesamten Breite von der Ur- und Frühgeschichte bis in die unmittelbare Zeitgeschichte durch Comics und Graphic Novels darstellen. Dass der Großteil der Comic-Produktionen sich hauptsächlich mit zeitgeschichtlichen Ereignissen befasst, ist wohl damit zu erklären, dass die Autoren und Autorinnen, die meistens nicht über das historische Grundwissen verfügen, Themen aus der unmittelbaren Vergangenheit wählen, die sie direkt oder indirekt selbst erlebt haben. Comics und Graphic Novels verfahren meistens nach dem Muster der sog. Heldenerzählung, bei der die Lebensgeschichte einer Figur im Mittelpunkt steht, welche die Leserinnen und Leser in die Vergangenheit führt, um über die Form einer Bildergeschichte sich mit ihnen gemeinsam direkt in ein historisches Geschehen hineinzuversetzen. Die durch Imagination ausgelösten Emotionen spielen dabei eine zentrale Rolle. Im Grunde lässt sich jedes historische Ereignis in Comic-Form inszenieren und darstellen, so auch die Napoleonischen Kriege.
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Tirols Erhebung gegen Bayern und Franzosen im Jahre 1809
Die Tiroler Freiheitskriege 1809 Es ist beeindruckend, wie sehr die Tiroler Freiheitskriege als Teil der Napoleonischen Kriege von 1809 im Tiroler Raum nach wie vor präsent sind. Diese zu Beginn des 21. Jahrhunderts immer noch starke Identifikation großer Teile der Tiroler Bevölkerung mit den Ereignissen aus den Befreiungskriegen steht wohl auch in einem direkten Zusammenhang mit der politischen Entwicklung nach 1809, die dafür gesorgt hat, dass der Tiroler Widerstand gegen Bayern und Franzosen von unterschiedlichen Interessengruppen immer wieder instrumentalisiert worden ist. Andreas Hofer (1767-1818), der Landeskommandant der Schützen während der Befreiungskriege im Jahre 1809, galt über die Jahrhunderte hindurch als die Symbolfigur. Der allseits präsente und auch polarisierende Freiheitskämpfer wird von konservativen Kreisen nach wie vor wie ein Heiliger verehrt, von seinen Kritikern wird Hofer als Leitfigur für alle „ewig Gestrigen“ gesehen, ja sogar als „reaktionärer Hinterwäldler“ und „Taliban“ abgekanzelt.2 Und so stellt sich die Frage, wie es sich erklären lässt, dass ein Wirt, Vieh- und Weinhändler in der Tiroler- und österreichischen Geschichte bis in die Gegenwart hinein einen so hohen Stellenwert einnehmen kann. Im dritten Koalitionskrieg 1805 schlossen sich Bayern, Baden und Württemberg Napoleon an, nachdem er ihnen im Falle eines Sieges Gebietsgewinne und Rangerhöhungen in Aussicht gestellt hatte. Nach dem Sieg über die Donauarmee im Oktober 1805 zogen französische Truppen in Wien ein und fügten wenige Wochen später bei der Dreikaiserschlacht von Austerlitz den verbündeten österreichisch-russischen Truppen eine vernichtende Niederlage zu. Kaiser Franz musste einen Waffenstillstand eingehen und dem napoleonischen Friedensdiktat zustimmen. Im Frieden von Pressburg am 26. Dezember 1805 verlor das Habsburger Kaiserhaus neben seinen letzten vorderösterreichischen Territorien auch Venedig mit Istrien und Dalmatien. Die Grafschaft Tirol wurde gemeinsam mit Vorarlberg, so wie es vereinbart worden war, als Gegenleistung für die militärische Unterstützung dem neu geschaffenen Königreich Bayern zugeschlagen. Der Handel mit Österreich kam 2
2009 verglich der Innsbrucker Gemeinderat Gerhard Fritz Andreas Hofer mit den fundamentalistischen islamistischen Taliban-Anführern, was in der Tiroler Öffentlichkeit zu heftigen Polemiken führte. CHRISTOPH, 2009.
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in Tirol völlig zum Erliegen, Steuern wurden erhöht und neue Zölle eingeführt. Die neue, nach französischem Muster erstellte bayerische Verfassung löste die ständischen „Tiroler Landesfreiheiten“3 auf. Das südlichste habsburgische Kronland, die Grafschaft Tirol, die seit dem Anschluss die Bezeichnung Südbayern trug, war zu einer Provinz des durch die Gunst Napoleons neu geschaffenen souveränen Königreichs Bayern geworden.4 Nach der Proklamierung der neuen Verfassung des Königreiches Bayern in Tirol am 1. Mai 1808 hatten die bayerischen Behörden das Recht und die Pflicht, Tiroler Jungmänner zum Militärdienst einzuberufen. So forderte Napoleon von den Bayern 1.000 Mann, die sich zu sechs Jahren Militärdienst verpflichten mussten. Diese Maßnahme bedeutete eine Provokation unter der Tiroler Bevölkerung, denn seit Kaiser Maximilians Landlibell von 1511, in dem einvernehmlich mit den Tiroler Landständen festgelegt worden war, dass die Stände zur Verteidigung des Landes Kriegsdienste – allerdings nur innerhalb der Grenzen Tirols – leisten mussten, hatte kein einziger Tiroler zum Wehrdienst sein Heimatland verlassen müssen. Außerdem verbot die bayerische Regierung tief verwurzelte religiöse Bräuche, wie beispielsweise das Wetterläuten, den Wettersegen, die Christmette, Bittgänge und Prozessionen. Die Auflösung und der Verkauf von Klöstern weckte unter vielen Tirolern und Tirolerinnen Hass und Entrüstung gegenüber den neuen Machthabern. Der aufkeimende Widerstand wurde im Geheimen von Erzherzog Johann organisiert. Dafür empfing er in Wien eine von Andreas Hofer angeführte Abordnung, um die Strategie eines Aufstandes gegen Bayern und Franzosen zu erörtern. Andreas Hofer, Landeskommandant der Tiroler Schützen, stammte aus dem Passeiertal und war in seiner Funktion als Wirt, Vieh- und Weinhändler weitum im Land bekannt. Er war ein tiefreligiöser Mann, der sich mit ganzer Kraft für die Bewahrung der alten Werte und Traditionen einsetzte. Hofer war es auch, der von April bis November 1809 vor allem die bewaffneten Bauern aus ganz Tirol mobilisierte, um in Innsbruck und Umgebung – vor allem auf dem 3 4
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Die Tiroler Landesfreiheiten berufen sich auf den sog. „Freiheitsbrief“ von 1342, durch welchen die Rechte und Privilegien der Tiroler Stände von Kaiser Leopold IV. bestätigt wurden. MAZOHL, 2014, S. 148-150.
Tirols Erhebung gegen Bayern und Franzosen im Jahre 1809
Bergisel – bei insgesamt vier Schlachten für die Befreiung Tirols zu kämpfen. Dreimal gelang es den Tiroler Schützenkompanien, die bayerische und französische Armee aus der Landeshauptstadt Innsbruck zu vertreiben. Nach einer vernichtenden Niederlage bei der vierten Bergisel-Schlacht wurde Andreas Hofer, der nach den ersten drei siegreichen Schlachten für wenige Monate als Landesregent von Tirol in der Hofburg von Innsbruck residiert hatte, von französischen und bayerischen Truppen auf der Flucht ergriffen, in die Festung nach Mantua gebracht und dort auf ausdrücklichen Befehl Napoleons am 20. Februar 1810 hingerichtet. Die standrechtliche Erschießung Andreas Hofers gilt als die Geburtsstunde seines Heldentums. Bis in die Gegenwart hinein hissen alljährlich am 20. Februar konservative Kreise die Tiroler Fahnen. Schützenkompanien marschieren auf und gedenken bei Gottesdiensten und Kranzniederlegungen im Namen von Andreas Hofer aller im Ersten und Zweiten Weltkrieg gefallener Helden Tirols.
Erinnerungskultur und Projektionen der Tiroler Freiheitskriege im Epochenwandel In den ersten Jahren nach der napoleonischen Ära, in der Zeit der Restauration, versuchte die Regierung und öffentliche Verwaltung in Wien das Andenken an den Freiheitskampf 1809 gezielt zu verhindern. Doch nach der heimlichen Exhumierung der sterblichen Überreste des Tiroler Landeskommandanten im Jahre 1823 in Mantua hatte der Wiener Hof keine andere Wahl, als der Bestattung von Andreas Hofer in der Hofkirche in Innsbruck zuzustimmen. Eine öffentliche Auseinandersetzung mit dem ‚Heldengedenken‘ ließ sich von diesem Zeitpunkt an nicht mehr vermeiden. Mit dem zeitlichen Abstand zu den tragischen Kriegsereignissen entstanden Erzählungen, die das kollektive Bewusstsein nachhaltig beeinflussen sollten. Entscheidend dabei war, dass sich die Entstehung dieser Mythen weitgehend dem staatlichen Einfluss entzog. Wien musste befürchten, an der Grabstätte Hofers in der Innsbrucker Hofkirche könnte im Vielvölkerstaat Österreich ein Wallfahrtsort für revolutionäres Gedankengut entstehen. Als Eigentümer der Hofkirche
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besaßen die staatlichen Behörden volle Durchgriffsrechte und hätten diesen Gedächtnisort im Notfall auch leicht sperren lassen können.5 Die Ereignisse rund um die Erhebung Tirols im Jahre 1809 wurden auch außerhalb der österreichischen Grenzen wahrgenommen. Vor allem unter Wohlhabenden und Intellektuellen waren zu Beginn des 19. Jahrhunderts Reisen nach Tirol in Mode gekommen. Hauptsächlich Engländer und Deutsche durchreisten Tirol und besuchten gezielt alle bekannten Schauplätze der Tiroler Freiheitskämpfe. Auch die bekannten ‚Rainer-Sänger‘ aus dem Zillertal, die ab 1826 durch Deutschland und England tourten und dort bei der breiten Bevölkerung ungeheure Erfolge erzielten, steigerten die Popularität Tirols in Europa.6 1848, 1859 und 1866, in Perioden der höchsten politisch-militärischen Gefahr, griff die Regierung in Wien zur Steigerung des Verteidigungswillens des Landes immer wieder auf die Ereignisse von 1809 zurück. Dieser aktive Einfluss Wiens auf die „1809-Auslegung“ brachte es zwingend mit sich, dass alle bis dahin geltenden Vorbehalte gegen die als Insurrektion eingestufte Zeit aufgegeben werden mussten. So gestattete Kaiser Franz Joseph, dass auch in Friedenszeiten das Andenken an 1809 öffentlich gepflegt werden durfte. Mit der steigenden Popularität Andreas Hofers stellten sich selbst Mitglieder des Kaiserhauses vor allem deshalb in den Dienst der Sache, um ihr eigenes Image zu stärken. Da sich die Nachgeborenen kaum noch an die Kämpfe von 1809 erinnern konnten, öffnete sich der Freiraum für Interpretation und nostalgische Erinnerung von Jahr zu Jahr. Dass Andreas Hofer zunehmend in den Dienst des Habsburger Herrscherhauses gestellt wurde, beweist dessen Aufnahme in die Reihe der verdienstvollsten Feldherren des Österreichisch-Ungarischen Kaiserreiches. Kaiser Franz Joseph, der die Errichtung von öffentlichen Andreas-Hofer-Denkmälern begrüßte und unterstützte, konnte durch die öffentliche Inszenierung des Helden nicht nur auf die Treue seiner Tiroler Untertanen hoffen, sondern diese auch in Krisensituationen verstärkt einfordern.7 Als nach 1848 in Tirol der nationale Gegensatz zwischen Deutschund Welschtirolern zunehmend aufbrach, entwickelte sich Andreas Hofer immer mehr zur Symbol- und Identifikationsfigur der Deutschtiro5 6 7
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MERTELSEDER u. a., 2009, S. 127-152. EBD., S. 130-131. EBD., S. 176-179.
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ler. So mussten beispielsweise 1909 beim Festumzug in Innsbruck anlässlich des Gedenkens ‚100 Jahre Freiheitskämpfe‘ die Trentiner unter den mehr als 30.000 Teilnehmern den Spott und Hass ihrer irredentistischen Landsleute ertragen. Bei dieser pompös inszenierten Jahrhundertfeier in Innsbruck sollte durch die Präsenz Kaiser Franz Josephs die Stellung der Österreichisch-Ungarischen Monarchie besonders hervorgehoben, das Tirol-Bewusstsein mit dem Österreich-Patriotismus verbunden und die Machtposition des Habsburger Herrscherhauses abgesichert werden. Nach dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges, besonders nach 1915, als Italien, der „Erbfeind im Süden“, die Grenzen Tirols und der Monarchie bedrohte, sollten die Tiroler Kaiserjäger und Standschützen durch das Vorbild Andreas Hofer mobilisiert und motiviert werden.8 1921 warb der 1919 gegründete Andreas-Hofer-Bund Tirol9 mit Andreas Hofer auf Plakaten sogar für den Anschluss an das Deutsche Reich. 1932 sorgte der aus dem Grödnertal stammende Luis Trenker mit seinem Film Der Rebell, dessen Handlung sich auf die Napoleonischen Kriege von 1809 in Tirol bezog, in Deutschland vor allem unter NS-Kreisen für Begeisterung und Furore. Die Feiern zum 125. Jubiläum von 1809 im Jahr 1934 standen ganz unter dem Eindruck des Bürgerkrieges im Februar und der Ermordung von Bundeskanzler Engelbert Dollfuß wenige Monate zuvor. Kirche und Staat griffen auf 1809 zurück, um die akute nationalsozialistische Bedrohung zu umgehen. In der NS-Zeit wurde Andreas Hofer zum leuchtenden Symbol deutscher Kraft und Stärke. 1939 hatte sich in Südtirol eine Gruppe zu einem (nicht mit dem Tiroler zu verwechselnden) Andreas-Hofer-Bund zusammengeschlossen, der nach dem Umsiedlungsabkommen zwischen Adolf Hitler und Benito Mussolini vehement, aber auch erfolglos gegen die Abwanderung ins Deutsche Reich eingetreten war. 1959 stand das Gedenken an ‚1809‘ ganz im Dienste der SüdtirolFrage. Andreas Hofer wurde zur Symbolfigur im Kampf gegen die italienische Fremdherrschaft. Eine beim Festumzug 1959 mitgeführte überdimensionierte Dornenkrone aus Eisen sollte symbolisch auf das 8 9
EBD., S. 195-196; PIZZININI, 2008, S. 323-325. Der politisch aktive Andreas-Hofer-Bund Tirol, der 1919 aus dem 1905 gegründeten Tiroler Volksbund hervorgegangen war, nahm sich zum Ziel, das Gedenken an Andreas Hofer zu pflegen, der sich für ganz Tirol eingesetzt hatte.
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Leid hinweisen, das die Teilung Tirols den Menschen gebracht hatte. Die Sprengstoffanschläge während der 1960er-Jahre verweisen auf die Radikalisierung in der Südtirol-Frage. In diesem Zusammenhang fiel auch das Andreas-Hofer-Denkmal am Bergisel am 1. Oktober 1961 einem Anschlag zum Opfer.10 Um vor allem junge Menschen für die Erhebung Tirols gegen Bayern und Franzosen im Jahr 1809 zu begeistern, entschloss sich der Südtiroler Kriegsopfer-Frontkämpferverband (SKFV) im Jahre 1959, anlässlich des 150. Gedenkjahres einen über 200 Seiten starken Comic über das Leben und Sterben des Tiroler Freiheitskämpfers Andreas Hofer herauszugeben. Sogar die konservativen Herausgeber hatten erkannt, dass Kinder und Jugendliche vor allem über die italienische Comicszene immer wieder mit den sog. Fumetti11 in Kontakt gekommen waren. Sie lasen zunehmend Comics, die zu jener Zeit im deutschsprachigen Raum einen weitaus schlechteren Ruf hatten als in Italien. 2009 wurde dieser Comic aus dem Jahre 1959 in kolorierter Form neu aufgelegt. Der politisch gefärbte Inhalt aus den 1950er-Jahren wurde unverändert beibehalten und durch Kurzkommentare ergänzt, die im Anhang des Buches angefügt wurden.12
Abb. 1: Dieser Ausschnitt aus dem im Jahre 1959 publizierten AndreasHofer-Comic zeigt auf, wie historische Helden von der jeweiligen Tagespolitik instrumentalisiert werden können. Auf die Feststellung des weinenden Buben in Tiroler Tracht, dass der Tiroler Freiheitskampf wohl umsonst gewesen sei, antwortet der Großvater mit ernstem Ge sichtsausdruck: „ […] DER HERRGOTT HAT AUCH DAS OPFER DES ANDERL NIT UMSONST G’SCHEHEN LASSN […] DENN WENN DIE ZEIT KOMMT, DANN WERDEN DIE HERRSCHER FALLEN UND DIE VÖLKER FREI SEIN […]“ Quelle: Südtiroler Schützenbund (Hg.), 1767-1810. Andreas Hofer und der Tiroler Freiheitskampf. Eine Bildgeschichte, Bozen 2009, S. 217. 10 Das von Unbekannten gesprengte Hofer-Denkmal am Bergisel war vermutlich eine Reaktion auf die kurz zuvor vom Befreiungsausschuss Südtirol (BAS) verübten Anschläge auf italienische Einrichtungen in Südtirol. 11 Fumetti ist der italienische Ausdruck für Comics und wird im deutschen Sprachraum synonym für Comics aus Italien verwendet. 12 Südtiroler Kriegsopfer- und Frontkämpferverband, 1959.
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Die Antwort des in der Bildlegende zu Abbildung 1 zitierten Großvaters weist nicht nur unmissverständlich auf die Unterdrückungspolitik der italienischen Regierung gegenüber der deutschen Minderheit in Südtirol hin, sondern ruft mit dem Hinweis auf die Tiroler Freiheitskämpfe von 1809 zum Widerstand gegen die verhassten italienischen Machthaber auf. 1984 wurde trotz politischer Entspannung Anfang der 1970er-Jahre zwischen Rom und Bozen im Vergleich zu 1959 über die italienischösterreichische Staatsgrenze hinweg die geistig-kulturelle Einheit Tirols beschworen.13 Andreas Hofer und 1809 wurden als Antwort auf die Modernisierung der Gesellschaft von 1984 inszeniert, indem in ganz Tirol durch zahlreiche Initiativen die konservativen Werte propagiert wurden.14 Gleichzeitig kam es 1984 erstmals zu einer kritischen Auseinandersetzung mit Andreas Hofer und den Aufständen von 1809. Einerseits versuchte die Geschichtswissenschaft die Ereignisse um 1809 vom Patriotismus und der Verklärung der vergangenen Jahrzehnte zu befreien, andererseits entstand eine negative Hofer-Rezeption, die aus dem Helden von 1809 einen „Antihelden“ machte.15 Zu Beginn des 21. Jahrhunderts mutierte Andreas Hofer immer mehr zur ‚Marke‘. Südtirol baute sein Geburtshaus im Passeiertal zu einem ‚Museumsdorf‘ aus, Innsbruck investierte Millionen in ein hochmodernes ‚Bergisel-Museum‘, das als Highlight das von Michael Zeno Diemer 1896 fertiggestellte über 1.000 Quadratmeter große Rundgemälde in beeindruckender Art und Weise in Szene setzt. Im Gedenkjahr 2009 drehte sich das ‚Andreas-Hofer-Karussell‘ so schnell wie nie zuvor. Mehr als 1.200 öffentliche Veranstaltungen und Aktionen in Süd-, Nord- und Osttirol sorgten dafür, dass jeder Einzelne unwillkürlich auf irgendeine Weise mit Andreas Hofer und den Ereignissen des Jahres 1809 konfrontiert wurde.16 In einem Artikel mit dem Titel „Mander, es isch Geld“ ging die Südtiroler Wirtschaftszeitung17 unter anderem ausführlich darauf ein, wie einfallsreiche Geschäftsleute aus Andreas Hofer eine Art Che Guevara Südtirols machen. Vom Bier bis zum Schnaps, von Pralinen bis Käse, von T-Shirts bis Pauschalwo13 14 15 16 17
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PIZZININI, 2009, S. 331. EBD., S. 332-333. MERTELSEDER; u. a., 2009, S. 255. SCHLOSSER, 2009, S. 37-48. PFEIFER, 2009, S. 3.
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chen, fast alles ließ sich im Gedenkjahr 2009 mit dem Namen des Tiroler Freiheitshelden Andreas Hofer verkaufen. Im Herbst 2008 publizierten der Historiker und Geschichtslehrer Norbert Parschalk und der Illustrator Jochen Gasser eine neue ComicVersion über das Leben von Andreas Hofer.18 Die Voraussetzungen für den Erfolg dieses Buchprojektes waren grundsätzlich gegeben: Andreas Hofer zählt zu den bekanntesten historischen Persönlichkeiten im Tiroler Raum, im Jahr 2009 wurde bei zahlreichen Veranstaltungen an 200 Jahre Tiroler Freiheitskämpfe gedacht, und Comics hatten sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts auch in Tirol nicht nur bei Kindern und Jugendlichen, sondern auch bei der erwachsenen Leserschaft als ernstzunehmende Textform etabliert. Die von Parschalk verfasste und von Gasser illustrierte Bildergeschichte über Andreas Hofer lässt sich auch in die Reihe der HoferVermarktung einordnen. Es handelt sich in inhaltlicher und grafischer Ausgestaltung um eine völlig neue Art der Geschichtsvermittlung. Die illustrierte Geschichte über das Leben von Andreas Hofer lässt sich nicht direkt als Comic verstehen, da die Kombination zwischen Text und Bild nicht der klassischen Form des Comics entspricht. Die Idee zu dem Buchprojekt stammte von Gasser, der im Herbst 2007 seinen ehemaligen Geschichtslehrer als Textautor für seinen Hofer-Comic gewinnen konnte. Lange hatten beide Autoren keine konkreten Vorstellungen, wie ihre Erzählung über das Leben von Andreas Hofer sich gestalten und aussehen sollte. Es war Parschalk von Anfang an klar, dass er sich, um späteren Kritiken gegenüber gewappnet zu sein, durch eingehende Recherchen inhaltlich absichern musste. So waren die geschichtswissenschaftlichen Publikationen von Josef Hirn, Hans Magenschab und Meinhard Pizzinini neben anderen Autoren die Hauptquellen des neuen illustrierten Hoferbuches. Eine Literaturliste am Ende des Buches weist darauf hin, dass die im Buch dargestellten Szenen und Anekdoten nicht ausschließlich der Fantasie der Autoren entstammen. Ausgangspunkt jeder Doppelseite bildete ein mit einer Schlagzeile versehener kurzer Sachtext, der von Gasser auf humorvolle Weise illustriert wurde, indem er sich bei der Kreation und Komposition seiner Comic-Figuren an bekannte historische Bildvorlagen hielt. Neben Kurztexten und Bildsequenzen bilden die Sprechtexte das dritte kompo18 GASSER/PARSCHALK, 2008.
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sitorische Hauptmerkmal der illustrierten Geschichte. Sprechen Andreas Hofer und seine Anhänger den Tiroler Dialekt, so melden sich die Bayern, Wiener und Sachsen in ihrer jeweiligen Mundart zu Wort. Die einfache Wortwahl der Franzosen machte eine Übersetzung ins Deutsche nicht notwendig. Das Buch beschränkt sich nicht nur auf die Erzählung und deren Illustration, vereinzelte versteckte Anspielungen auf das Jahr 2009 bilden für die aufmerksamen Leserinnen und Leser einen besonderen Reiz. Strebte Gasser mit diesem Buchprojekt seinen beruflichen Durchbruch als Illustrator an, was ihm in der Zwischenzeit gelungen ist, so setzte sich Parschalk als Geschichtslehrer zum Ziel, auf diese neue Art der Geschichtsvermittlung bei möglichst vielen Leserinnen und Lesern nicht nur auf unterhaltsame Weise das Interesse für Andreas Hofer und Tirols Erhebung im Jahre 1809 zu wecken, sondern sie zudem sachlich über das Leben des Protagonisten sowie über die Ereignisse im Jahre 1809 zu informieren. Dass es sich dabei inhaltlich hauptsächlich um Anekdoten und um eine phasenweise ‚seichte Erzählung‘ eines über Generationen hindurch konstruierten Heldenmythos handelt, wird von den Autoren nicht bestritten. So beginnt Hofers Lebensgeschichte in der Nacht seiner Geburt, in der die Hebamme ein Sternenbild in Form eines Jagdgewehres gesehen haben will. Außerdem wird erklärt, wie Andreas Hofer zu seinem Bart gekommen sein soll. Ausführlich werden sein Aufstieg bis zum Kommandanten und Regenten von Tirol, sein Heldentod und schließlich seine Auffahrt in den Himmel in Szene gesetzt. Wenn auch auf den ersten Blick die Bildergeschichte inhaltlich nicht viel Neues zu bieten hat, so werden durchaus immer wieder Themenbereiche angesprochen, die den allseits bekannten Heldenmythos dekonstruieren, wenn beispielsweise der kleine Hofer mit vollen Windeln ruft: „Mama … es isch Zeit“, oder wenn der verzweifelte Oberkommandant und Landesregent Hofer nach seiner verlorenen letzten Bergisel-Schlacht seine Verzweiflung und seinen Frust durch einen überhöhten Alkoholkonsum zu ertränken versucht. Nach seiner Hinrichtung in Mantua steigt er dann mit nacktem Gesäß in den Himmel auf und steht schließlich so vor dem Herrgott, wie dieser ihn geschaffen hat. Die Autoren waren sich von Anfang an der Tatsache bewusst, dass sie sich mit derartigen respektlosen Darstellungen des Tiroler Superhelden auf Kritik gefasst machen mussten. Auf den Vorwurf, Andreas Ho-
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Abb. 2: Titelseite des Südtiroler Wochenmagazins ff vom 31. Dezember 2008. Die Comic-Figur Andreas Hofer aus dem Jahre 2008 durchbricht das berühmte authentische Hofer-Portrait von Jakob Plazidus Altmutter. Die zwei unterschiedlichen Darstellungen des Tiroler Helden symbolisieren die sich wandelnde Wahrnehmung und Interpretation einer historischen Persönlichkeit im Laufe von zwei Jahrhunderten.
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fer sei im Buch zum Alkoholiker gemacht worden, antworteten sie mit einem Zitat des Historikers Beda Weber, der 1852 unter anderem über Hofer schrieb: „Namentlich ging er nie ohne mannhaften Weingenuss schlafen, und ließ sich selbst später den Wein auf seinen Reisen in einem eigenen Fäßlein nachführen“19. In Bezug auf den nackten Hofer hatten sie das Argument bereit, dass jeder Mensch – sogar ein großer Tiroler Held – vor dem Angesicht Gottes zum kleinen nackten Männchen zusammenschrumpft. Es ist zu erwähnen, dass die Autoren diesbezügliche Kritik nie zu hören bekamen, wahrscheinlich deshalb, weil der Großteil der Leserschaft diese sympathische Comicfigur mit ihren Stärken, aber auch Schwächen verständnisvoll akzeptiert hatte und sich gerade durch die verfremdenden Elemente ein neues Bild über den Tiroler Helden Hofer machen konnte. Wenn auch die illustrierte Geschichte von Parschalk und Gasser eine bekannte Lebensgeschichte zum wiederholten Male nacherzählt, so haben sie gerade auf ihre humorvolle Art und Weise ganz unerwartet sehr viele Leserinnen und Leser vom Grundschul- bis zum Pensionsalter erreicht. So wie die Theorie der Dekonstruktion einen Blick hinter die Fassaden der allgemein überlieferten Geschichtsdarstellung fordert und wie beispielsweise in der Architektur gerade der Verzicht der äußeren Fassaden einen Blick nach innen ermöglicht, so hat auch dieses Buchprojekt in dieser Hinsicht einen Beitrag geleistet, indem zum Beispiel der entblößte Held Hofer am Ende des Buches eine tiefgründigere Auseinandersetzung mit der historisch gewachsenen überhöhten Denkmal-Hoferfigur ermöglicht. Zu einem früheren Zeitpunkt wäre wohl eine derartige Darstellung und Auseinandersetzung mit dem Mythos Andreas Hofer und den Befreiungskriegen von 1809 ohne Polemiken kaum möglich gewesen.20 Unter den über 1.200 Tiroler Gedenkveranstaltungen im Jahr 2009 gab es neben der Publikation von Parschalk und Gasser eine Reihe von Aktionen, die sich in bisher noch nicht gekannter Form mit den Napoleonischen Kriegen im Tiroler Raum kritisch auseinandersetzten. Es zeigte sich, dass historisch gewachsene Helden nicht entzaubert und vernichtet werden müssen, um von ihren Sockeln geholt zu werden. Durch die Entschleierung, Vermenschlichung und Normalisierung in ihrem Denken und Handeln ermöglichen sie einen ganz neuen Zugang zu jenen 19 WEBER, 1852, S. 7. 20 OBERHOFER, 2008.
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geschichtlichen Ereignissen, bei denen sie groß geworden sind. Somit hat dieses Buchprojekt einen kleinen Beitrag leisten können, um einen über die Jahrhunderte hindurch gewachsenen, unnahbaren ehrwürdigen Helden in einen sympathischen, mitunter aber auch widersprüchlichen Menschen zu verwandeln, der zur Zeit der Napoleonischen Kriege gelebt und gewirkt hatte.
Quellen und Literatur GASSER, JOCHEN/PARSCHALK, NORBERT, Andreas Hofer. Eine illustrierte Geschichte, Brixen 2009. MAZOHL, BRIGITTE, Warum kam Tirol 1806 zu Bayern? In: 99 Fragen an die Geschichte Tirols?, hg. von DERS. u. a., Bozen 2014, S. 148150. MERTELSEDER, BERNHARD u. a., 1809 – und danach? Über die Allgegenwart der Vergangenheit in Tirol, Bozen u.a. 2009. OBERHOFER, ANDREAS, Der Andere Hofer – Der Mensch hinter dem Mythos (Schlern-Schriften 347), Innsbruck 2008. PFEIFER, TOBIAS, Südtiroler Wirtschaftszeitung Nr. 21 (29. Mai 2009), S. 3. PIZZININI, MEINRAD, Andreas Hofer. Seine Zeit – sein Leben – sein Mythos, Innsbruck 2008. SCHLOSSER, HANNES, acht … null neun. Das Gedenkjahr 1809-2009 hat lange Schatten nicht nur voraus geworfen, in: Gaismair-Jahrbuch (2010), hg. von HORST SCHREIBER u. a., Innsbruck 2009, S. 37-48. SPIEGELMANN, ART, Maus – Die Geschichte eines Überlebenden 1, Mein Vater kotzt Geschichte aus, 1989 5. Aufl., Reinbek 2005. DERS., Maus – Und hier begann mein Unglück 2, 4. Aufl. Reinbek 2005. SÜDTIROLER KRIEGSOPFER- UND FRONTKÄMPFERVERBAND (Hg.), Das Leben und Sterben des Andreas Hofer, Bozen 1959. SÜDTIROLER SCHÜTZENBUND (Hg.), 1767-1810. Andreas Hofer und der Tiroler Freiheitskampf. Eine Bildgeschichte, Bozen 2009. WEBER, BEDA, Andreas Hofer und das Jahr 1809 mit besonderer Berücksichtigung auf Passeiers Theilnahme am Kampfe, Innsbruck 1852.
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Internetressource CHRISTOPH, HORST, Warum der bigotte glücklose Rebell Andreas Hofer in Tirol nach wie vor gefeiert wird, 5.9.2009, in: www.profil.at/ home/warum-gluecklose-rebell-andreas-hofer-tirol-250390, 21.4.2016.
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IV
Bilanz
Die Napoleonischen Kriege als europäischer Erinnerungsort – Eine Bilanz CAROLINE KLAUSING UND VERENA VON WICZLINSKI „Denn was das Gedächtnis bewahrt, ist strenggenommen nie, was sich einmal ereignet hat. Die Vergangenheit ist stets ein imaginäres Museum. Man zeichnet im nachhinein nicht etwa auf, was man erlebt hat, sondern was die Zeit, die wachsende perspektivische Verschiebung sowie der eigenwillige Formwille im Chaos halbverschütteter Erlebnisse daraus gemacht haben. Im ganzen hält man weniger fest, wie es eigentlich gewesen, sondern wie man wurde, wer man ist.“1
Die Erkenntnis, dass die Vergangenheit nicht selten ein probates Mittel der eigenen Legitimierung darzustellen vermag, gilt auch für das nationale Erinnern an die Napoleonischen Kriege. Dies zeigte sich vor dem Hintergrund der Beiträge dieses Bandes. Er fragte danach, wie genau die jeweilige Narration der Napoleonischen Kriege einzelner europäischer Länder aussah, welche Deutungsmuster sie bestimmte und welche Interpretamente für die eigene Erzählung bewusst ausgeklammert oder umgedeutet wurden. Überdies wurde diskutiert, inwiefern diese Ereignisse neben den Erinnerungsstrukturen auf der nationalen auch jene auf der europäischen Ebene mit zu formen, ja explizit so etwas wie ein europäisches Gedenken zu etablieren vermochten. Welche Antworten sind folglich auf die titelgebende Frage nach der Anwendbarkeit des 1
FEST, 2006, S. 366.
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Konzepts der europäischen Erinnerungsorte auf die Napoleonischen Kriege zu geben? Im einführenden Aufsatz wurden drei konstitutive Definitionsmerkmale eines europäischen Erinnerungsortes benannt: Erstes sind nur jene Orte als solche anzuerkennen, die schon von den damals lebenden Menschen in ihrer europäischen Reichweite verstanden wurden, zweitens diejenigen, denen eine europäische Rezeption und Vermittlung via transnationale Vermittler und Vermittlungswege zugrunde lag, und drittens sollten lediglich die Orte dazugezählt werden, die nicht nur in West-, sondern auch in Ost(mittel)europa Anerkennung finden. Vor diesem Hintergrund lassen sich die Revolutions- und Napoleonischen Kriege mit Étienne François als „shared and entangled lieu de mémoire“ verstehen: Die Erinnerung an diese gemeinsam in Europa über rund 20 Jahre hinweg erfahrenen Kriege war einerseits national und andererseits spezifisch europäisch geprägt, wobei, so François, die europäische Erinnerung mit den nationalen Erinnerungen verknüpft war, aber auch eine Unabhängigkeit von den nationalen Erinnerungen entwickelt hat.2 Es sind zahlreiche Parallelen und Verschränkungen in der Erinnerungskultur europäischer Länder zu den Revolutions- und Napoleonischen Kriegen zu entdecken. Dies wird etwa sichtbar an nationalen Symbolen, die revolutionären Ursprungs bzw. Reaktionen darauf sind, wie die Marseillaise, die französische Trikolore und das deutsche Schwarz-RotGold der Lützower Jäger. Zur Erinnerung an die Kriege entstandene Denkmäler in den europäischen Städten sind oftmals formal ähnlich, häufig antikisierend und optisch austauschbar (Arc de Triomphe in Paris, Marble Arch in London, das Siegestor in München, die Napoleonsäule auf der Place Vendôme in Paris, Nelson’s Column auf dem Trafalgar Square in London oder die Alexandersäule vor dem Winterpalast in St. Petersburg). Auf Beispiele aus der Literatur wurde in der Einleitung schon hingewiesen.3 Während die umwälzende Bedeutung dieser Kriege für die östliche und die westliche Hälfte Europas gleichermaßen deutlich wurde, zeigte sich aber auch deren unterschiedliche Wahrnehmung und Kontextualisierung. Jan Kusber legte die verschiedenen Schichten der russischen Erinnerung an den ,Vaterländischen Krieg‘ 1812 und an die Feldzüge 2 3
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FRANÇOIS, 2012, S. 387. Dazu auch EBD., S. 390-392.
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von 1813/14 frei, die trotz der Stilisierung Alexanders I. zum Retter Europas bis heute einer nationalen Lesart verhaftet blieb. Nicht zuletzt die aktuelle politische Instrumentalisierung durch das Putin-Regime, in der Europa und der Westen eher als Feind denn als Verbündeter wahrgenommen werden, festigt dieses Bild. Christof Schimsheimer hingegen zeigte auf, wie im Falle Polens das Gedenken an die Napoleonischen Kriege zunehmend gerade in seiner sich ausdifferenzierenden Vielfältigkeit verschiedene Deutungen zugleich bestehen ließ und sich damit internationalisierte und europäisierte, aber auch von einer regionalen Erinnerungsebene überlagert wurde und wird. Auch in Österreich griffen eine regionale, eine nationale und eine europäische Perspektive ineinander, wie Hans-Christian Maner in seinem Beitrag über die Rezeptionsgeschichte der Schlacht bei Aspern 1809 darlegte: Neben einem stark militärisch dominierten Erinnern fungierte das Gedenken ebenso zur Stiftung eines regionalen Kärntner wie eines monarchisch geprägten nationalen Mythos der Habsburger Monarchie, dem das Bewusstsein, für europäische Werte gekämpft zu haben, nachgeordnet wurde. Roland Gehrke sprach für den preußischen Fall zunächst von einer Konkurrenz der bürgerlich-liberalen und der monarchisch-konservativen Erinnerungskultur, die sich auch in der bekannten gegensätzlichen Bewertung der Befreiungskriege als ,Volks-‘ bzw. ,Fürstenkrieg‘ äußerte. Dieser Gegensatz verlor allerdings zunehmend an Bedeutung und wich bis zum hundertjährigen Gedenken an die Napoleonischen bzw. Befreiungskriege 1913 einem schichten- und lagerübergreifenden nationalen Erinnern; eine spezifische ostdeutsche Deutungslinie, so Gehrke, sei hier nicht erkennbar. Martin Rink diskutierte die westdeutsche Erinnerung an die Napoleonischen Kriege am Beispiel der durchaus nicht ungebrochenen Traditionslinien der preußischen Reformer und Reformen in der Bundeswehr und des Bekenntnisses zur Wehrpflicht bis zu ihrer Aussetzung im Jahr 2010. Diese wurden in jüngeren militärgeschichtlichen Forschungen zur Thematik vorwiegend als Abgrenzungspotential gegenüber der NSVergangenheit genutzt, zunächst eher im Sinne einer Entschuldung der Wehrmacht und Abgrenzung gegenüber der Waffen-SS, in neueren Arbeiten und der Wehrmachtsausstellung aber auch als kritische Aufarbeitung der Wehrmachtsgeschichte selbst. Damit hat die Erinnerungs-
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kultur innerhalb der Bundeswehr letztlich mit der indirekten Anerkennung des in der Einführung des vorliegenden Bandes erläuterten Holocaust-Paradigmas auch für die Traditionsgeschichte der deutschen Streitkräfte einen Europäisierungsprozess durchlaufen, der das Bild der preußischen Reformer und der Zeit der Napoleonischen Kriege mitgestaltet. Hans-Ulrich Thamer skizzierte die Genese des Mythos der Schlacht von Waterloo in der Erinnerungskultur Frankreichs und untersuchte, warum sie auch dort nicht nur als nationaler, sondern immer auch zugleich als europäischer Erinnerungsort wahrgenommen wurde. Er kann anhand von Perspektivwechseln und Konjunkturen der Erinnerung aufzeigen, wie der Ruf nach Helden insbesondere in Zeiten der Krise und des Umbruchs instrumentalisiert wurde, ein nicht auf Frankreich beschränktes, sondern durchaus transnationales Phänomen. Mit dem wachsenden Bedeutungsverlust der Napoleonischen Kriege, der zunehmend im Schatten anderer Ereignisse wie der Schlacht von Sedan im Deutsch-Französischen Krieg, aber insbesondere auch des Ersten Weltkriegs stand, vollzog das offiziöse Gedächtnis Frankreichs eine Entwicklung, die ähnlich auch in Deutschland verlief und damit Teil einer größeren Neutradierung der europäischen Erinnerungslandschaft im 20. Jahrhundert ist. Matthias Schnettger unterstrich für den Fall Italiens die Bedeutung des Risorgimento als entscheidende Bezugsgröße und Interpretationsfolie der Historiographie über die Napoleonischen Kriege im 19. und 20. Jahrhundert, was zur Folge hatte, dass dort ein europäisches Erinnern gegenüber einer regionalen oder nationalen Erinnerungskultur weitgehend zurückblieb. Andreas Linsenmann stellte in seinem Beitrag diese transnationale Rezeption der Napoleonischen Kriege in ausgewählten musikalischen Werken dar und diskutierte die von ihnen ausgehende Erinnerungswirkung. Nikolas Immer zeichnete in seinem Beitrag unterschiedliche literarische Deutungstendenzen der Völkerschlacht bei Leipzig nach und konnte unter anderem zeigen, wie sie von Beginn an auch als europäisches Ereignis wahrgenommen wurde – ein Aspekt, der im späten 19. Jahrhundert in Deutschland von anderen Rezeptionen überlagert wurde, um in aktuellen Publikationen wieder stärker in den Vordergrund zu treten. Norbert Parschalk erläuterte in seinem Aufsatz, welchem Wandel die Figur Andreas Hofers durch die künstlerische und literarische Rezeption unterlag, und zeigt einen Weg der kritischen
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Auseinandersetzung und der Dekonstruktion des Hofer-Mythos im vergleichsweise jungen Medium Comic auf. Damit vollzieht er einen Schritt, der in der europäischen Geschichtswissenschaft über die Ablösung der historistischen Perspektive und in der Geschichtsdidaktik etwa durch die Etablierung des didaktischen Prinzips von Personalisierung sowie Personifizierung im Schulunterricht eine Aneignung des Paradigmenwechsels vollzieht.4 Diese Befunde stützen die Erkenntnis, wie stark einerseits die aktuelle (politische) Gegenwart die Erinnerung an die Vergangenheit zu prägen vermag, aber andererseits, wie in mannigfaltiger Hinsicht dominant bestimmte Deutungsmuster des 20. und 21. Jahrhunderts für die Rezeption auch der Geschichte der Frühen Neuzeit sind. Ob damit eine Annäherung an die Napoleonischen Kriege überhaupt möglich ist, oder ob sie dieser Vergangenheit überhaupt gerecht werden, ist eine andere Frage. Die vorläufige Bilanz führt zu den Aspekten, die bei der Grundkonzeption der Tagung und dieses Sammelbandes im Mittelpunkt standen: Waren die Napoleonischen Kriege europäische Kriege oder waren sie nationale Kriege, die sich auf dem europäischen Kontinent abspielten? Wie wirken nationale, transnationale und europäische Narrative zusammen, überlagern oder widersprechen sich? Diese Überlegungen hatten auch die Herausgeber der Europäischen Erinnerungsorte beschäftigt.5 Obschon unleugbar europaweite Kontinuitätslinien in der Erinnerungskultur existieren, unterscheiden sich die nationalen Interpretationen der Geschichte häufig so stark, dass eine gemeinsame europäische Geschichtsschreibung von vielen Historikern in Frage gestellt wird. Anlässlich eines Symposiums von 120 europäischen Museen, Stiftungen, Vereinen, Gedenkstätten und Forschungszentren in Berlin über Gemeinsamkeiten und Trennlinien europäischer Erinnerungskultur im Jahr 2013 sagte der polnische Historiker Andrzej Paczkowski: „Es gibt zwar gemeinsame Orte, an denen sich Geschichte abspielte. Doch die Erinnerung darüber, was dort geschah, ist unterschiedlich“.6 Eine gemeinsame Geschichtsschreibung, so Paczkowski, sei daher schwierig. Matthias Weber, Direktor des Bundesinstituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, ging noch weiter und warnte 4 5 6
Vgl. SAUER, 2010, S. 85-88. Dazu DEN BOER u. a., 2012, S. 9. Zit. n. KOUPARANIS, 2013.
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bei dieser Gelegenheit sogar vor einem „europäischen Versöhnungskitsch“.7 Einig waren sich die Teilnehmer, dass es Aufgabe der Geschichtswissenschaft sei, in einem permanenten Dialog aus politischen Gründen geschaffene Mythen in Frage zu stellen und sich politischer Instrumentalisierung zu widersetzen.8 Der Frage nach einer politischen Instrumentalisierung wurde in diesem Band in besonderer Weise nachgespürt: Welche Rolle spielten die Napoleonischen Kriege und Napoleon in den nationalen Narrativen verschiedener politischer Systeme in europäischen Staaten? Trägt das Konzept des Erinnerungsortes für die Napoleonischen Kriege, sind sie regionale oder nationale Erinnerungsorte, sind sie ein europäischer Erinnerungsort oder funktionieren sie auf mehreren Ebenen? Werden Erinnerungsorte nicht häufig dann zu europäischen Erinnerungsorten stilisiert, wenn es sich lediglich um die Summe mehrerer nationaler Erinnerungsorte handelt? Sind es lebendige oder verschüttete Erinnerungsorte; ist deren Historisierung inzwischen so weit abgeschlossen, dass sie lediglich zur Folklorezwecken und Re-enactment-Happenings begeisterter Hobbysoldaten taugen, wie es angesichts des 200. Gedenkens an die Völkerschlacht bei Leipzig im Oktober 2013 (mit aufwendiger Quasi-Live-Berichterstattung des Mitteldeutschen Rundfunks an mehreren Tagen9) und an die Schlacht bei Waterloo im Juni 201510 schien – und dies unter Aufgabe jedweder differenzierten und reflektierten Analyse zugunsten einer ebenso konsensfähigen wie austauschbaren „Mahnung zu Frieden, Freiheit, Völkerverständigung und europäischer Einigung“11? Dies entspräche der Instrumentalisierung zugunsten eines gemeinsamen europäischen Geschichtsbewusstseins. Ist aber die Vorstellung eines europäischen Erinnerungsortes ein lediglich elitäres Phänomen oder gänzlich ein Konstrukt, das, anders als nationale Erinnerungsorte, nachträglich in das als politische Gemeinschaft noch junge und als kulturelle und Wertegemeinschaft auch angesichts der vielfältigen Krisen der vergangenen Jahre immer wieder in Frage gestellte 7 8 9
EBD. EBD. Siehe dazu die entsprechende Internetseite des Mitteldeutschen Rundfunks unter http://www.mdr.de/voelkerschlacht/index.html, 31.7.2016. 10 Vgl. die vom belgischen Kommunalverband Waterloo betriebene Internetpräsenz unter http://www.waterloo1815.be/, 31.7.2016. 11 KELLER, 2012, S. 429. Siehe dazu auch FRANÇOIS, 2012, S. 400.
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Eine Bilanz
Europa hineininterpretiert wird?12 Zu diskutieren bleibt, inwiefern ein gemeinsamer europäischer Erinnerungsort Napoleonische Kriege nicht nur ein wissenschaftliches und politisches Elitenprojekt darstellt, sondern auch in der Bevölkerung eine ähnliche Anerkennung erfährt, wie es im Falle der nationalen Erinnerungsbilder an jene Epoche teilweise der Fall ist. Man könnte allerdings argumentieren, dass etwa jene alljährlich zu Tausenden nach Leipzig oder Waterloo strömenden Reenactoren ganz im Gegenteil ziegen, dass die Napoleonischen Kriege nicht historisiert sind, sondern als europäischer Erinnerungsort mit Leben gefüllt werden. So will der ,Verband Jahrfeier Völkerschlacht b. Leipzig 1813 e.V.‘ nach eigenem Bekunden „Geschichte lebendig“ machen und an „jene Zeit“ erinnern, „die Europas Geschichte nachhaltig prägte. Heute sollen die Erinnerungsstätten, allen voran das Völkerschlachtdenkmal, Orte der Begegnung sein. Die Völker, die sich 1813 feindlich gegenüberstanden, können sich im Herzen Europas friedlich treffen, verständigen und kulturell austauschen.“13 Ein solches Bekenntnis könnte als Zeugnis eines europäischen Geschichtsbewusstseins oder lediglich Teil einer Trivialisierung und Eventisierung von Geschichte verstanden werden.14 Wie viel Reflexion muss mithin gegeben sein, um von einem europäischen Erinnerungsort sprechen zu können? Der Tagungsband versteht sich als Beitrag zum Themenspektrum der Erinnerungskultur und ihrer regionalen und nationalen Diversität. Die verschiedenen Aufsätze machen deutlich, dass Erinnern ein komplexer Prozess ist, der kontinuierlich gepflegt werden muss, um Teil einer größeren kollektiven Erinnerung und damit ein wirklicher Erinnerungsort zu werden. Das Konzept der Erinnerungsorte ist für die Napoleonischen Kriege damit durchaus fruchtbar: Es gibt geteilte und umstrittene, geographische, personelle oder auch immaterielle Erinnerungsorte, wobei deren Kontexte nicht immer eindeutig zuzuordnen sind. Klar wird, dass Erinnerungsorte stets auch fluide, mithin „wandernde Orte“ sind, die immer wieder in neuen Bezügen erscheinen und mit unterschiedlichen Inhalten – je nach politischen Identitäten und Konjunkturen auch europäischen – aufgeladen werden können.15 12 Zur europäischen Wertediskussion siehe etwa SCHMALE, 2010, oder die essayistische Studie von KAUFHOLD, 2013. 13 VERBAND JAHRFEIER VÖLKERSCHLACHT B. LEIPZIG 1813 E.V. 14 Zu dieser Kritik etwa OTTO, 2011, S. 188. 15 KUSBER, zit. n. HANSTEIN/SCHMEHL, 2015.
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Caroline Klausing und Verena von Wiczlinski
Quellen und Literatur DEN BOER, PIM u. a. (Hg.), Einleitung, in: Europäische Erinnerungsorte 1: Mythen und Grundbegriffe des europäischen Selbstverständnisses, hg. von DENS., München 2012, S. 7-12. FEST, JOACHIM, Ich nicht. Erinnerungen an eine Kindheit und Jugend, 2. Aufl., Hamburg 2006. FRANÇOIS, ÉTIENNE, Sich der Herausforderung der europäischen Erinnerungen stellen, in: Deutsch-polnische Erinnerungsorte 4, hg. von HANS-HENNIG HAHN/ROBERT TRABA, Paderborn u. a. 2013, S. 6976. DERS., Conclusion: The Revolutionary and Napoleonic Wars as a Shared and Entangled European lieu de mémoire, in: War Memories. The Revolutionary and Napoleonic Wars in Modern European Culture. War, Culture and Society 1750-1850, hg. von ALAN FORREST U. A., New York 2012, S. 386-402. HANSTEIN, KATHRIN/SCHMEHL, VERENA, „Die Napoleonischen Kriege als europäischer Erinnerungsort?“ Tagung, veranstaltet vom Historischen Seminar der Johannes Gutenberg-Universität Mainz und der Stiftung Kulturwerk Schlesien (Würzburg), Mainz, 1. bis 2. August 2014, in: Militärgeschichtliche Zeitung 74,1/2 (2015), S. 161-168. KAUFHOLD, MARTIN, Europas Werte. Wie wir zu unseren Vorstellungen von richtig und falsch kamen. Ein historischer Essay, Paderborn u. a. 2013. KELLER, KATRIN, Die Völkerschlacht bei Leipzig in: Europäische Erinnerungsorte 2: Mythen und Grundbegriffe des europäischen Selbstverständnisses, hg. von PIM DEN BOER u. a., München 2012, S. 421430. KOLLMANN, CATRIN B., Historische Jubiläen als kollektive Identitätskonstruktion. Ein Planungs- und Analyseraster. Überprüft am Beispiel der historischen Jubiläen zur Schlacht bei Höchstädt vom 13. August 1704 (Geschichtsdidaktik qualifiziert), Stuttgart 2014. OTTO, ULF, Die Macht der Toten als das Leben der Bilder, in: Schauspielen heute. Die Bildung des Menschen in den performativen Künsten, hg. von JENS ROSELT/CHRISTEL WEILER, Bielefeld 2011, S. 185-202.
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Eine Bilanz
SAUER, MICHAEL, Geschichte unterrichten. Eine Einführung in die Didaktik und Methodik, 9. Aufl., Seelze-Velber 2010.
Internetressourcen KOUPARANIS, PANAGIOTIS, Gibt es eine europäische Erinnerungskultur?, in: Deutsche Welle Online, 14.10.2013, http://www.dw.de/ gibt-es-eine-europ%C3%A4ische-erinnerungskultur/a-17156837, 27.7.2014. http://www.mdr.de/voelkerschlacht/index.html, 31.7.2016. http://www.waterloo1815.be/, 31.7.2016. SCHMALE, WOLFGANG, Europa: Kulturelle Referenz – Zitatensystem – Wertesystem, in: Europäische Geschichte Online (EGO), hg. vom INSTITUT FÜR EUROPÄISCHE GESCHICHTE (IEG), Mainz, 3.12.2010, http://www.ieg-ego.eu/schmalew-2010-de, 10.9.2016. VERBAND JAHRFEIER VÖLKERSCHLACHT B. LEIPZIG 1813 E.V., Oktober des Gedenkens, http://www.leipzig1813.com/de/veranstaltungen. html, 10.9.2016.
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Autorinnen und Autoren Apl. Prof. Dr. Roland Gehrke, Universität Stuttgart, Historisches Institut Dr. Nikolas Immer, Universität Trier, Neuere deutsche Literaturwissenschaft Dr. Caroline Klausing, Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Historisches Seminar Prof. Dr. Jan Kusber, Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Historisches Seminar Dr. Andreas Linsenmann, Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Historisches Seminar Prof. Dr. Hans-Christian Maner, Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Historisches Seminar Dr. Dr. Nobert Parschalk, Freie Universität Bozen, Fakultät für Bildungswissenschaften Dr. Martin Rink, Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr, Potsdam Christof Schimsheimer, Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Historisches Seminar
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Die Napoleonischen Kriege in der europäischen Erinnerung
Prof. Dr. Matthias Schnettger, Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Historisches Seminar Prof. em. Dr. Hans-Ulrich Thamer, Westfälische Wilhelms-Universität Münster, Historisches Seminar Dr. Verena von Wiczlinski, Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Historisches Seminar
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Kulturwissenschaft Eva Horn, Peter Schnyder (Hg.) Romantische Klimatologie Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 1/2016 Mai 2016, 152 S., kart., 14,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-3434-1 E-Book: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3434-5
Fatima El-Tayeb Undeutsch Die Konstruktion des Anderen in der postmigrantischen Gesellschaft September 2016, 256 S., kart., 19,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-3074-9 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3074-3
Arianna Ferrari, Klaus Petrus (Hg.) Lexikon der Mensch-Tier-Beziehungen 2015, 482 S., kart., 29,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-2232-4 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-2232-8
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Kulturwissenschaft Andreas Langenohl, Ralph Poole, Manfred Weinberg (Hg.) Transkulturalität Klassische Texte 2015, 328 S., kart., 24,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-1709-2 E-Book: € (DE), ISBN
María do Mar Castro Varela, Nikita Dhawan Postkoloniale Theorie Eine kritische Einführung 2015, 376 S., kart., 24,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-1148-9 E-Book: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-1148-3 EPUB: 21,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-1148-3
Thomas Hecken, Moritz Baßler, Robin Curtis, Heinz Drügh, Nadja Geer, Mascha Jacobs, Nicolas Pethes, Katja Sabisch (Hg.) POP Kultur & Kritik (Jg. 5, 2/2016) September 2016, 176 S., kart., zahlr. Abb., 16,80 € (DE), ISBN 978-3-8376-3566-9 E-Book: 16,80 € (DE), ISBN 978-3-8394-3566-3
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de