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German Pages 352 [362] Year 2013
Arnulf Krause
Der Kampf um Freiheit Die Napoleonischen Befreiungskriege in Deutschland
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. Umschlaggestaltung: Stefan Schmid, Stuttgart unter Verwendung folgender Abbildungen: akg-images: Die Völkerschlacht bei Leipzig 1813. (Fürst Karl zu Schwarzenberg bringt den Monarchen Alexander I. v. Russland, Kaiser Franz II. v. Österr. u. Friedr. Wilh. III. v. Preussen die Siegesbotschaft). Gemälde, 1853/54, von Peter von Hess (1792–1871); Öl / Leinwand. © 2013 Konrad Theiss Verlag GmbH Alle Rechte vorbehalten Lektorat: Christina Knüllig, Hamburg Kartografie: Peter Palm, Berlin Satz und Gestaltung: Primustype Hurler, Notzingen Druck und Bindung: Beltz Druckpartner, Hemsbach Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier ISBN 978-3-8062-2498-6 Besuchen Sie uns im Internet: www.theiss.de Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): 978-3-8062-2829-8 eBook (e-pub): 978-3-8062- 2830-4
Inhaltsverzeichnis 8 Vorwort 11 12 18 25 40 43
Die Zeitenwende: Von Valmy bis Austerlitz Weltgeschichte im Morast „Dieses Land ist frei“ 1789: Deutschland vor der Revolution? Napoleon: Revue einer Blitzkarriere „Der Weltgeist …“ – in Deutschland verehrt und gefürchtet
Deutschland unter Napoleon: Freiheit, Gleichheit, Besatzung? Römerreich und „artiges Städtchen“: das alte Deutschland Links des Rheins: „Französisch-Deutschland“ Das Ende des alten Reiches und das neue Deutschland „Deutschland in seiner tiefen Erniedrigung“ – oder der Tod eines Buchhändlers 78 Musterstaaten von Napoleons Gnade 83 „Die guten Bürger fangen bereits an, alles das charmant zu finden.“ 47 48 56 65 73
93 94 100 107 116 128
Das Ende von Preußens Gloria Mythos und Wirklichkeit „Wohlauf, Kameraden …“ Der Tod eines Heldenprinzen Ein Kaiser in Berlin und ein König auf der Flucht Suum cuique? Die preußischen Reformer
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Inhaltsverzeichnis
135 Deutschland: Eine Nation (er)findet sich I 136 De l’Allemagne – Frankreich entdeckt seinen barbarischen Nachbarn 141 Was ist Deutschland … ein Krähwinkel? 146 Deutscher Geist und Ammenmärchen 154 Uns ist in alten maeren … – Das Nibelungenlied als „Nationalepos“ 158 Romantik – Das Mittelalter als Utopie
Bildtafeln 163 Dom und Rhein – Sammeln für Deutschland 167 168 171 175 180 183
Deutschland: Eine Nation (er)findet sich II Reden an die deutsche Nation „Heil dir, König von Germanien!“ Ernst Moritz Arndt und das Rüstzeug für den Krieg Turnen für Deutschland Martialische Gesänge
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Das Vorspiel: Österreichs Sieg und die deutsche Guerilla Napoleons Deutschland – Erfurt 1808 Spanien, Tirol und Österreich – das Empire in Gefahr? Deutschlands romantische Freiheitshelden Stein, Arndt & Co. – Verschworene und Verschwörer
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Deutschland im Krieg – die Befreiungskriege I Deutsche Soldaten in Moskau – Napoleons Russlandfeldzug Tauroggen – ein eigenmächtiger Offizier schreibt Geschichte „An mein Volk“ Lützows verwegene Schar Der Tod des Freiheitssängers
Inhaltsverzeichnis
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Deutschland im Krieg – die Befreiungskriege II Der Krieg in Sachsen Schlachtfeld Dresden Leipzig – die größte Schlacht der Geschichte Napoleons Flucht
285 286 291 298
Paris, Wien und Waterloo Mit Blücher über’n Rhein Wien: Der Kongress tagt und tanzt Die Rückkehr Napoleons
305 306 313 321
Und Deutschland? Reform – Revolution – Restauration? Das Wartburgfest Schwarz-Rot-Gold – ein Ausklang
323 Nachwort 328 Zeittafel 345 Literaturverzeichnis 348 Register 352 Bildnachweise Karten 50 Das Heilige Römische Reich 1789 126 Mitteleuropa 1812 296 Der Deutsche Bund 1815–1866
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Vorwort Freiheit und Einheit sind die Schlüsselbegriffe der jüngsten deutschen Geschichte. Die Freiheit ging 1933 ganz Deutschland verloren und wurde für die gesamte Nation erst wieder 1989/90 erreicht. Genauso die staatliche Einheit, die zuvor nur von 1871 bis 1945 Bestand hatte. Im Ringen um die Freiheit nehmen die 1813 ausbrechenden Befreiungskriege gegen die napoleonische Herrschaft einen besonderen Platz ein. Denn erstmals in der deutschen Geschichte scheinen sich damals die Deutschen erhoben zu haben, um für Freiheit zu kämpfen … und für ein einiges Vaterland. Ein Ruck soll durch die deutschen Länder gegangen sein oder wie es der im Krieg gefallene Freiheitsdichter Theodor Körner ausdrückte: „Das Volk steht auf, der Sturm bricht los.“ Deutschland 1813: Dresden wird beschossen, ganze Landstriche verwüstet, Abertausende von Toten, Plünderungen, Misshandlungen, Vergewaltigungen … und das 130 Jahre vor den Schrecken des Zweiten Weltkriegs. Nur dass damals Deutschland seine europäischen Nachbarn nicht mit Krieg und Unterdrückung überzogen hatte, sondern sich seinerseits von Napoleon befreien wollte und schließlich zu den Siegermächten gehörte. Die Befreiungskriege als Kampf um Freiheit, der die Massen mobilisiert? Ein Geschichtsbild, das von Preußen als der deutschen Führungsmacht des 19. Jahrhunderts initiiert und gepflegt wurde. Ein Ereignis, das von den Nazis missbraucht, von den Ideologen der DDR instrumentalisiert und von den Historikern der Bundesrepublik lange gemieden wurde. Denn die historische Wirklichkeit, die in einer Vielzahl zeitgenössischer Quellen zutage tritt, sieht anders aus: 1813 hat eine Vorgeschichte, die mit der Französischen Revolution 1789 beginnt. Dieses Präludium bieten in einem vielstimmigen Chor zahllose Meinungen und Kommentare zu Freiheit und Einheit, zu dem, was die deutsche Nation ist
Vorwort
und was sie sein könnte. Schon früher hatten sich die Menschen als Deutsche gefühlt, aber niemals zuvor beschäftigte man sich so intensiv in Gedankenspielen und Gesellschaftsentwürfen mit dem, was Wesen und Sein Deutschlands ausmachen könnte. Und so erhoben sie alle ihre Stimmen: die reaktionären oder fortschrittlichen Monarchen, die deutschen Jakobiner und Freunde der Revolution, die Anhänger und Gegner Napoleons, die romantischen Mittelalterenthusiasten, die Reformer, die Volkstümler genauso wie die frühen Rassisten und Antisemiten. Doch tapfere Buchhändler, die gab es auch und Fürstinnen mit Rückgrat nicht minder … Und Volkes Sturm? Nicht überall brach er los, am ehesten noch in Preußen. Andernorts kämpften deutsche Soldaten für Napoleon … In den Befreiungskriegen töteten sich Deutsche gegenseitig. Was bleibt als Erinnerung für ein modernes europäisches Deutschland in Einheit und Freiheit? In der Auseinandersetzung mit der Herrschaft Napoleons ist Deutschland weiter gekommen. Zwar war der Weg kriegsbedingt schmerzlich, doch am Ende stand zumindest mehr Freiheit als zuvor. Die Grundlagen der heutigen deutschen Nation wurden hier gelegt.
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Die Zeitenwende: Von Valmy bis Austerlitz
Weltgeschichte im Morast Passans – cette terre est libre („Vorübergehende – dieses Land ist frei“): Diesen französischen Satz liest man auf einem Aquarell, das eine friedliche Landschaft mit sanften Bergen, lieblichem Flusstal und einem Dorf mit Kirchturm zeigt. Im Vordergrund erhebt sich ein so genannter Freiheitsbaum mit jener Inschrift, bekrönt von einer Jakobinermütze nebst Kokarde und den Farben Blau-Weiß-Rot. Das Idyll mit revolutionären Accessoires stammt aus der Hand Johann Wolfgang von Goethes. Das echte Vorbild hatte er am 25. August 1792 im Moseltal bei Trier gesehen, wohin er einen Ausritt unternommen hatte. Dabei war er erstmals auf das Symbol der neuen Freiheit gestoßen, das die französischen Revolutionäre und ihre Anhänger allenthalben errichteten. Sein Begleiter, der preußische Leutnant von Fritsch, berichtet über das Erlebnis: „Der Geheime Rat freute sich über dieses erste Zeichen und nahm sich vor, dem Prinz August v. Gotha eine Zeichnung davon zu liefern. Wir giengen nach Haus, er lud mich zum Essen und führte seinen Plan, eine Zeichnung zu liefern sogleich recht schön aus.“ Eine weitere Zeichnung schickte Goethe an seinen Dichterkollegen, den Gelehrten und Theologen Johann Gottfried Herder, der im heimatlichen Weimar der Stadtkirche und dem benachbarten Gymnasium vorstand und als Revolu tionsfreund bekannt war. Goethes erster hautnaher Kontakt mit der Revolution beginnt noch mit einem symbolischen Zeichen am Wegesrand – das folgende Vierteljahrhundert jedoch sollte Deutschland und Europa grundlegend verändern, ja die Moderne einläuten. Doch idyllisch ist es ganz und gar nicht, der Fortschritt wird begleitet vom Treiben auf den Schlachtfeldern, wo das Schreien der Sterbenden und Verletzten zu vernehmen ist. Auch der Dichterfürst aus Thüringen sollte dies bald erfahren. Doch werfen wir zuvor einen Blick zurück: Seit drei Jahren ereigneten sich in der ehrwürdigen französischen Monarchie ungeheuerliche Dinge: Der absolut und von Gottes Gnaden herrschende König war entmachtet, einer
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geschriebenen Verfassung und einer Volksvertretung unterworfen worden. Klerus und Adel hatten sämtliche Privilegien verloren und waren nicht selten massakriert worden. „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ und ähnliche Losungen wurden die Slogans der „Nation“, die gewissermaßen mit dem „Dritten Stand“ identisch war. Die europäischen Nachbarn hatten sich recht langmütig gezeigt gegenüber den Umwälzungen im Reich der Bourbonen. Strategisch war ihnen deren Schwächung gar nicht so unlieb. Aber die unberechenbaren Ereignisse in Paris konnten auf andere Länder übergreifen, und die Gattin Ludwigs XVI., Marie Antoinette, war immerhin eine Tochter der Kaiserin Maria Theresia. Insofern sahen die beiden Großmächte im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation – Österreich und Preußen – ihre Interessen berührt. Und obwohl sie alte Rivalen waren, verbündeten sie sich. Das revolutionäre Frankreich hatte die Königsfamilie mittlerweile gefangengesetzt und machte sich nun daran, Österreich am 20. April 1792 den Krieg zu erklären. Daraufhin marschierten österreichische und preußische Truppen los. Der Oberbefehlshaber der Letzteren, Herzog Karl Wilhelm Ferdinand von Braunschweig, ließ sich zu einem Manifest hinreißen, in dem er – wohl auch unter dem Einfluss französischer Emigranten – der Bevölkerung und der Hauptstadt Paris mit ernsten Konsequenzen drohte, sollte der königlichen Familie etwas zustoßen. In Frankreich war man empört. Doch zurück zu Goethe: Dessen Fürst, der Herzog Carl August von Sachsen-Weimar, diente in der preußischen Armee als Generalleutnant und nahm am Feldzug teil. Goethe war als ziviler Begleiter und Beobachter geladen. Und so machte er sich Anfang August auf den Weg und verließ sein erst jüngst vom Herzog als Geschenk erhaltenes Haus am Frauenplan in Weimar. Das Hoftheater lässt er als dessen Leiter Hoftheater sein, man befindet sich ohnehin in der Sommerpause. Das Problem der Farbwirkung, das Studium der Schriften Newtons, die mehr oder minder offiziellen Aufgaben als Geheimrat lässt der vor 10 Jahren Geadelte zurück und folgt seinem Herzog in den Krieg. Mitte
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August verweilt er noch im elterlichen Haus in Frankfurt, dann geht es über Mainz nach Trier, das bereits etwas von einer Frontstadt an sich hat: „In Trier angelangt, fanden wir die Stadt von Truppen überlegt, von allerlei Fuhrwerk überfahren, nirgends ein Unterkommen; die Wagen hielten auf den Plätzen, die Menschen irrten auf den Straßen, das Quartieramt, von allen Seiten bestürmt, wußte kaum Rat zu schaffen.“ Ein Leutnant des 6. Preußischen Kürassierregiments, dessen Kommandeur Carl August war, verschafft ihm eine komfortabe Unterkunft im Haus eines Kanonikus. Die Preußen werden ihrem Ruf als beste Soldaten Europas gerecht: Sie marschieren in Lothringen ein, wo sie Longwy und Verdun besetzen. Goethe zieht mit ihnen und vermerkt die miserablen Verhältnisse. Vom Dauerregen ist der Boden aufgewühlt, im Lager hat sich alles in den Zelten „verkrochen, um vor dem schrecklichen Wetter kümmerlichen Schutz zu finden.“ Aber man macht sich Mut und hat Hoffnung. Die Feldkarten werden studiert, der Weg nach Paris scheint offen; niemand zweifelt, dass man in Châlon und Epernay schon bald den guten Wein der Champagne genießen wird. Und in der Tat überquert man die Pappelallee von Sainte-Menehould nach Châlon, ein Wegweiser zeigt die Richtung in die französische Hauptstadt. Nun befindet man sich bereits jenseits der Argonnen, jenes bewaldeten Hügellandes, das Lothringen von der Champagne trennt und als „Argonner Wald“ während des 1. Weltkriegs Schauplatz furchtbarer Kämpfe sein wird. Noch 180 km bis Paris! Man nähert sich dem Dorf Valmy. Dort aber stehen die Franzosen. Am 19. September hatten sich die Revolutionstruppen unter dem Oberkommandierenden Dumouriez und Kellermann, zwei altgedienten Generälen, vereint, die sich der Revolution angeschlossen hatten. Kellermann hat sich mit seiner Artillerie bei der höher gelegenen Mühle von Valmy verschanzt, während die preußischen Infanteristen durch eine völlig durchnässte Talsenke vorrücken und sich bis auf wenige hundert Meter dem Feind nähern. Dann Stillstand – die Kanonen donnern, läuten eine neue Zeit des Krieges ein.
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Goethe steht an diesem 20. September 1792 fast mittendrin: „Von jeder Seite wurden an diesem Tage zehntausend Schüsse verschwendet, wobei auf unserer Seite nur 200 Mann und auch diese ganz unnütz fielen. Von der ungeheuren Erschütterung klärte sich der Himmel auf: denn man schoß mit Kanonen völlig, als wär‘ es Pelotonfeuer, zwar ungleich, bald abnehmend, bald zunehmend. Nachmittags ein Uhr, nach einiger Pause, war es am gewaltsamsten, die Erde bebte im ganz eigentlichsten Sinne, und doch sah man in den Stellungen nicht die mindeste Veränderung. Niemand wußte, was daraus werden sollte.“ Die Kanonenkugeln umfliegen den Beobachter, ihre erschreckenden Geräusche vergleicht er mit dem Brummen eines Kreisels, dem Gurgeln des Wassers und dem Pfeifen des Vogels. Der Erdboden ist derart feucht, dass die eingeschlagenen Kugeln sofort stecken bleiben. Goethe wird Zeuge eines martialischen Artillerieduells, an dem Soldaten zu Fuß und Kavalleristen unbeteiligt bleiben. Ein Glück für die Franzosen unter Kellermann; denn sie können ihre Stärke ausspielen, und das sind ihre moderneren und darum leistungsfähigeren Kanonen. Sie kaschieren die Schwächen ihrer Truppen, die zwar hochmotiviert, aber schlecht ausgebildet und mangelhaft ausgerüstet sind. Zudem fehlen Offiziere. So aber hält das revolutionäre Frankreich stand. Goethe: „So war der Tag hingegangen; unbeweglich standen die Franzosen, Kellermann hatte auch einen bequemern Platz genommen; unsere Leute zog man aus dem Feuer zurück, und es war eben, als wenn nichts gewesen wäre. Die größte Bestürzung verbreitete sich über die Armee. Noch am Morgen hatte man nicht anders gedacht, als die sämtlichen Franzosen anzuspießen und aufzuspeisen, ja mich selbst hatte das unbedingte Vertrauen auf ein solches Heer, auf den Herzog von Braunschweig zur Teilnahme an dieser gefährlichen Expedition gelockt; nun aber ging jeder vor sich hin, man sah sich nicht an, oder wenn es geschah, so war es, um zu fluchen oder zu verwünschen … die meisten schwiegen, einige sprachen, und es fehlte doch eigentlich einem jeden Besinnung und Urteil.“ Damit ist der Vormarsch der Koalitionstruppen
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ins Herz Frankreichs gestoppt. Der Herzog von Braunschweig verzichtet auf weitere Angriffe und befiehlt den Rückzug. Die psychologische Wirkung, wie sie Goethe eindringlich beschreibt, war enorm. „Von hier und heute geht eine neue Epoche der Weltgeschichte aus …“ will er seinen Begleitern am Abend jenes in der Tat denkwürdigen Septembertages gesagt haben. Und so war es: Die ganz überwiegend bürgerlichen Truppen hatten den aristokratisch geführten Verbündeten widerstanden. Von nun an blieb Frankreich trotz mancher Rückschläge 20 Jahre lang auf dem Vormarsch. Das Kanonenduell von Valmy hatte „nur“ 500 Tote gefordert. Erheblich mehr Männer der Verbündeten starben auf dem beschwerlichen Rückzug, geschwächt vom Wetter, der feindseligen Haltung der lothringischen Bevölkerung und von Krankheiten wie der Ruhr, die sich unter den Zehntausenden ausbreitete. Der aufmerksame Kriegsreisende aus Weimar notierte jedoch nicht nur die militärischen Gegebenheiten, er beobachtete auch die Menschen, ihr Verhalten, ihre Mentalität. Dabei fiel ihm auf, dass unter den Franzosen ein ungewohnter neuer Charakterzug festzustellen war, den er „republikanisch“ nennt (die Republik wurde in Paris am 21. September 1792 ausgerufen). Neben den genannten Symbolen und dem konfiszierten Kirchengut, darunter das alte, schon halb niedergerissene Zisterzienserkloster Chatillon l´Abbaye, ein „erstes Kennzeichen der Revolution“, zählte er die neue Gesinnung zu den auffallendsten Merkmalen des neuen Frankreich. Ein Beispiel: Nach der Übergabe Verduns zog dessen Kommandant Nicolas Joseph Beaurepaire offenbar den Tod vor: „… bedrängt von der bedrängten Bürgerschaft, die bei fortdauerndem Bombardement ihre ganze Stadt verbrannt und zerstört sah, konnte [er] die Übergabe nicht länger verweigern; als er aber auf dem Rathaus in voller Sitzung seine Zustimmung gegeben hatte, zog er ein Pistol hervor und erschoß sich …“ Auch wenn die Todesumstände des Offiziers nicht ganz klar sind, für Goethe war es „ein Beispiel höchster patriotischer Aufopferung“. Sie war weit entfernt von den üblichen Ka-
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binettskriegen des 18. Jahrhunderts, bei denen sich adlige Offiziere mit einem festen Ehrencodex gegenüberstanden. Hier zählte nicht mehr der Stand, sondern die Nation als höchster Wert, der man sich als Patriot hinzugeben hatte. Im besetzten Verdun hatte Goethe ein weiteres Erlebnis: „Die Preußen zogen ein, und es fiel aus der französischen Volksmasse ein Flintenschuß, der niemand verletzte“ – nach anderen Quellen soll Leutnant Graf Henckel von Donnersmarck getötet worden sein –, „dessen Wagestück aber ein französischer Grenadier nicht verleugnen konnte noch wollte. Auf der Hauptwache, wohin er gebracht wurde, hab ich ihn selbst gesehn: es war ein sehr schöner, wohlgebildeter junger Mann, festen Blicks und ruhigen Betragens. Bis sein Schicksal entschieden wäre, hielt man ihn läßlich. Zunächst an der Wache war eine Brücke, unter der ein Arm der Maas durchzog; er setzte sich aufs Mäuerchen, blieb eine Zeitlang ruhig, dann überschlug er sich rückwärts in die Tiefe und ward nur tot aus dem Wasser herausgebracht.“ Solche Menschen erfüllte eine tief greifende Weltanschauung, der Glaube an eine Sache, für die sie trotz schlechter Ausrüstung und mangelnder Kenntnisse eintraten. Zweifelsohne ein Grad bislang ungewohnter Radikalisierung. Die österreichischen und preußischen Truppen hatten – nicht zuletzt wegen der falschen Einschätzung aristokratischer Emigranten in Deutschland – sich eine andere Gesinnung erhofft und mit dem massenhaften Überlaufen der französischen Truppen gerechnet. Der Feldzug verlief entgegen der Erwartungen, und Goethe begleitete die Truppen auf ihrem Rückzug. Anfang November 1792 erlebte er eine stürmische Bootsfahrt auf der Mosel nach Koblenz, von wo aus er über Düsseldorf und Kassel nach Weimar zurückkehrte. Dort beschäftigte er sich mit einer antiken Gemmensammlung, las Platon, kritisierte Newton und nahm sein gewohntes Leben wieder auf. Die Notizen und Aufzeichnungen seiner Kriegsfahrt nach Frankreich nahm er Jahrzehnte später wieder hervor und schuf daraus die „Campagne in Frankreich“. Wie sein großes Werk „Dichtung und Wahrheit“ ist es bearbei-
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tete, reflektierte und stilisierte Autobiographie, gleichwohl verbergen sich darin unmittelbar authentische Eindrücke. Allein der berühmte Ausspruch vor Valmy dürfte doch erst später hinzugefügt worden sein. Damals um 1820 stand unumstößlich fest, dass fast 30 Jahre früher etwas Neues seinen Anfang genommen hatte, das Europa und Deutschland für immer verändern sollte.
„Dieses Land ist frei“ Goethe hörte vor Valmy den französischen Kommandanten Kellermann seine Soldaten mit „Vive la nation!“ anfeuern. Diese antworteten mit Revolutionsliedern wie Ça ira, dessen rasantes Tempo den Soldaten der Verbündeten entgegenschallte. Das Lied war im Umfeld des Föderationsfestes in Paris entstanden, auf dem man im Juli 1790 dem Sturm auf die Bastille gedachte. Der Text kursierte in etlichen Varianten, gleich blieb immer der Appell, gleichsam der mutmachende Aufschrei der Nation: Ah, ça ira, ça ira, ça ira… „Ah, wir werden es schaffen …“. Ihm folgte ursprünglich die blutige Aufforderung des Pariser Straßenkampfes Les aristocrates à la lanterne… „Aristokraten an die Laterne …“. Und: Die Tyrannei werde ihren Geist aushauchen, die Freiheit triumphieren. Weder Adlige noch Priester werde es mehr geben, überall Gleichheit herrschen. Wir wissen nicht, welchen Text die Soldaten der Moselarmee im September 1792 sangen, aber dies oder Ähnliches schallte vom Mühlenhügel von Valmy den Preußen entgegen. Den gleichen Ton, den gleichen Geist verkörpert letztlich auch die Marseillaise, von Rouget de Lisle in Straßburg komponiert, als Kriegslied der Rheinarmee: „Auf, Kinder des Vaterlands, der Tag des Ruhms ist da … Zu den Waffen, Bürger! Schließt die Reihen, marschieren wir, marschieren wir! Das unreine Blut tränke unserer Äcker Furchen …“ Solcher Gesang weckte Begeisterung, mitreißende Gefühle, die jedoch auch in Wut und Hass umschlagen konnten. Bis heute symbolisiert er die große
„Dieses Land ist frei“
Revolution, die 1789 über Frankreich wie ein Dammbruch hereinbrach und ohne die es die deutschen Befreiungskriege nicht gegeben hätte. Dichtung und Symbole wie Freiheitsbäume, Kokarden und Jakobinermützen bündeln die Botschaften, bringen sie gewissermaßen auf den Punkt. Heute weiß man, dass die epochalen Ereignisse ihr zentrales Geschehen im Sturm auf die Bastille am 14. Juli 1789 gefunden haben. Dies ist allerdings nur ein moderner Mythos und wie meistens verlief alles viel komplexer und darum komplizierter. In der französischen Monarchie bestand ungeheurer Modernisierungsbedarf, der von der Führungselite und vor allem König Ludwig XVI. schlichtweg verschlafen wurde. Ludwig herrschte von Gottes Gnaden mit absoluter Macht, die ihm in der Krise wenig nützte, weil das Land uneins war: Teilen des Adels missfiel die Vormacht des Hofes von Versailles, die Bauern – überwiegende Mehrheit der Bevölkerung – murrten über Frondienste, aber auch darüber, dass reiche städtische Bürger immer mehr Land aufkauften, das den Bauern verloren ging und sie zu Pächtern machte. Aristokraten mit langem Stammbaum wollten sich nicht mit Parvenüs abfinden, die in den Adelsstand erhoben wurden. Die kleinen Handwerker, Ladenbesitzer und Tagelöhner von Paris beschwerten sich über zu hohe „Lebenshaltungskosten“, reiche Unternehmer haderten mit der Wirtschaftsordnung, Intellektuellen wurden Absolutismus und Ständeordnung unerträglich … Die Kritiker der herkömmlichen Ordnung hatten eine ausgefeilte Theorie einer besseren Gesellschaft. Zum Teil lehnten sie sich an den englischen Parlamentarismus an. In Frankreich gab es ein reges Schrifttum dazu: Der Baron de Montesquieu (1689–1755) entwickelte ein Modell der staatlichen Gewaltenteilung und verurteilte die absolutistische Monarchie als Despotismus. Der Pariser Notarssohn François-Marie Arouet, genannt Voltaire, (1694–1778) übte in seinen philosophischen Schriften, politischen Statements, Dramen und Romanen voller Esprit beißende Kritik an den bestehenden Verhältnissen, an Absolutismus, Feudalismus und katholischer Kirche. Sein Erfolg („das Jahrhundert
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Voltaires“) machte ihn gefährlich und brachte ihn vorübergehend in die berüchtigte Bastille – aber auch an den Hof des Preußenkönigs Friedrich II. Der vielreisende Genfer Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) schließlich konstatierte: Der Mensch ist frei. Diese und andere Aufklärer wie der Königsberger Immanuel Kant erstellten letztendlich eine Liste von Forderungen wie Freiheit, Gleichheit, Meinungsfreiheit, religiöse Toleranz und Achtung der Menschenwürde. Gegen das Gottesgnadentum des Monarchen etablierten sie das Naturrecht, das jedem Menschen von Natur aus zusteht. Auch die leichte Muse nahm sich des Themas an und hinterfragte die gesellschaftlichen Ungleichheiten. Den berühmtesten Fall bot der Pariser Schriftsteller Beaumarchais (1732–1799) mit seiner turbulenten Komödie La Folle Journée ou le Mariage de Figaro „Der tolle Tag oder die Hochzeit des Figaro“, die, 1778 entstanden, nach jahrelanger Zensur erst 1784 öffentlich aufgeführt werden durfte (Mozart hat daraus 1786 seine Oper „Die Hochzeit des Figaro“ gemacht). Unter vielen Liebeswirren und Verwicklungen will der Kammerdiener Figaro die Zofe Susanne heiraten, sein tumber Herr Graf Almaviva fordert jedoch das ihm vermeintlich zustehende Recht der ersten Nacht. Nun, alles findet schließlich ein gutes Ende – allein der Graf steht als der Blamierte da. Für das, was die Zensur als anstößig nahm, mag ein Kommentar Figaros stehen: „Adel, Reichtümer, Ränge und Ämter! Wie Euch das doch so hocherhaben und mächtig macht! Und womit habt Ihr das alles verdient? Damit, dass Ihr gnädig zur Welt zu kommen geruhtet. Und das ist schon alles.“ Standesunterschiede und Privilegien lassen sich auch in Zahlen abbilden: Klerus und Adel dürften im damaligen Frankreich nicht mehr als 2 % der Bevölkerung ausgemacht haben, verfügten aber über 40 % des Bodens. Dazu kamen Steuerfreiheit und Ämterprivilegien wie die Offiziersstellen ausschließlich für Aristokraten. Da brauchte es nur noch wenige ungünstige Umstände, um das Ancien Régime in ernsthafte Schwierigkeiten zu bringen. Diese ergaben sich gegen Ende der
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1780er-Jahre, als das Königreich vor dem Bankrott stand. Teure Kriege, immense Staatsausgaben für die Hofhaltung, mangelnde Steuereinnahmen wegen der Unzahl an Privilegien und eine stagnierende Wirtschaft verschärften die Situation. Dazu kamen die Unbilden der Natur: Missernten führten zu hohen Brotpreisen, im eisigen Winter 1788/89 fror sogar die Seine zu. Armut, Hunger und Elend breiteten sich aus, immer mehr verzweifelte Menschen strömten aus der Provinz nach Paris. Im Zentrum Frankreichs brodelte es, Gerüchte gingen um. Der Buchhändler Nicolas Ruault notierte voll Sorge: „Wenn der Hass noch einige Zeit im Volk gegen die privilegierten Stände lodert, wenn die Staatsmacht ihn nicht besänftigt oder löscht, dann steht zu befürchten, dass der besitzlose Teil des Volkes von Schloss zu Schloss rennt, um alles zu plündern und alles zu zerstören.“ Die ganze Monarchie wird in der Tat von Unruhe gepackt. Fortan bricht das alte System an vielen Orten zusammen. König Ludwig braucht Geld, das ihm die Generalstände bewilligen sollen, also die Vertreter des Klerus, des Adels und des 3. Standes, der die Bürger und damit die überwiegende Mehrheit umfasst. Dessen 578 Abgeordnete ergreifen gemeinsam mit klerikalen und aristokratischen Überläufern im Sommer 1789 die Initiative. Advokaten, Kaufleute, Gelehrte und andere Vertreter des Besitz- und Bildungsbürgertums setzen die Ideen der Aufklärung schlichtweg in die Tat um. Der politisch umtriebige Priester Emmanuel Joseph Sieyès gibt in einem weitverbreiteten Pamphlet die Losung vor: „Was ist der dritte Stand?“ – „Alles.“ – Was ist er bislang in der politischen Ordnung gewesen? – Nichts! – Was verlangt er? – Etwas zu sein.“ In der Frage, ob in den Generalständen nach Ständen (2 : 1 für das Ancien Régime) oder nach Köpfen (eine Mehrheit für Reformen) abzustimmen sei, schaffen die Abgeordneten des Dritten Standes durch einen sensationellen Beschluss klare Verhältnisse: Sie erklären sich am 17. Juni 1789 zur Nationalversammlung und erheben damit den Anspruch, die legitime Vertretung der Nation zu sein. Der zögerliche König erkennt nicht das Gebot der Stunde, er verpasst die Initiative zu
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Reformen, auch die Armee entgleitet seiner Kontrolle. Jean-Sylvain Bailly konstatiert als Präsident der Nationalversammlung: „Die versammelte Nation kann keine Befehle entgegennehmen.“ Am Ende muss sich Louis fügen. Er erkennt die Assemblée nationale an. Während die Situation auf den Straßen zunehmend eskaliert und abgeschnittene Aristokratenköpfe auf Piken als schaurige Rachezeichen herumgetragen werden, während vielerorts neue Stadträte und Verwaltungen geschaffen und die bürgerliche Miliz der Nationalgarde für Ordnung sorgen soll, fährt die Nationalversammlung mit ihrer historischen Arbeit fort. Anfang August zerstört sie per Dekret „das Feudal regime vollständig“. Mit dieser wegweisenden Entscheidung schafft sie uralte Vorrechte der ersten beiden Stände ab: so von Bauern Fronarbeit zu fordern, die grundherrliche Gerichtsbarkeit, die Jagd- und Fischrechte, die Steuerfreiheit sowie den Kirchenzehnten. Drei Wochen später erfolgt die Erklärung der Menschenrechte als „natürliche, unveräußerliche und geheiligte Rechte der Menschen“. Artikel 1 verkündet: „Die Menschen werden frei und gleich an Rechten geboren und bleiben es.“ Daraus resultieren die Rechte auf Freiheit, auf Eigentum, auf Sicherheit und auf Widerstand gegen Unterdrückung, aber auch auf freie Meinungsäußerung. Die Nationalversammlung hält fest, dass die Souveränität allein von der Nation ausgeht und nicht von einem absolut herrschenden Monarchen. Seiner nicht selten administrativen Willkür steht nun die Bestimmung gegenüber, Staatsbeamte müssten über ihre Amtsführung Rechenschaft ablegen. Nach dem traditionellen Parlamentarismus Großbritanniens und den gerade unabhängig gewordenen Vereinigten Staaten von Amerika mit ihrer Verfassung steht nun Frankreich, das die Vorstellungen des demokratischen Rechtsstaats erstmals fundamental umsetzt. Mit seinen ständigen Umbrüchen stellt sich das Land in den nächsten Jahren wie ein Laboratorium der Moderne dar. Hier gehen die Forderungen der Menschenrechte mit blutigstem Terror Seite an Seite. Verschiedene Regierungssysteme lösen sich ab, im September 1791
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wird die Verfassung einer konstitutionellen Monarchie erlassen, in der die Rolle des Königs schriftlich fixiert und nicht mehr göttlich legitimiert ist. Wiederum ein Jahr später, am 21. September 1792, wird die Republik ausgerufen und eine neue Zeitrechnung eingeführt. Der Bruch mit dem Ancien Régime gestaltet sich immer radikaler: Nach dem Verlust aller Privilegien wird nun der Priesterstand aufgehoben, schließlich soll die Verehrung der Vernunft den christlichen Glauben ersetzen. Die königliche Familie als Symbol der alten Ordnung wird zuerst zum Umzug von Versailles in das Tuillerienschloss mitten in Paris gezwungen. Nach einem Fluchtversuch wird sie im Temple gefangengesetzt. Zu guter Letzt erfolgt die Anklage wegen Hochverrats und die Hinrichtung Ludwigs XVI. und Marie Antoinettes im Lauf des Jahres 1793. Die Radikalisierung drückt sich aus in der Bildung verschiedener Fraktionen und Parteien in der Nationalversammlung: Anfangs versteht man sich hier als Freunde der Verfassung, aber auch als Monarchisten, Wahrer aristokratischer Interessen und Republikaner. Mit der neuen Verfassung wird dann aus der Nationalversammlung die Legislative mit Unabhängigen, mit Konstitutionellen, mit Feuillants und Jakobinern, die sich wiederum in Radikale und gemäßigte Girondisten unterteilen. In der Republik vom September 1792 bilden die Gemäßigten der Mitte im nun Konvent geheißenen Parlament weiter die Mehrheit, während die Girondisten und die Jakobiner noch als kleine, radikale Randgruppe auftreten. Die Innenpolitik wird immer stärker von der äußeren Bedrohung durch die verbündeten Österreicher und Preußen sowie den Aktivitäten der adligen Emigranten geprägt. Hysterie und Verschwörungstheorien machen sich breit, denen letztlich auch der König zum Opfer fällt. Die Lage an der Front wirkt lange katastrophal, denn die fast ausschließlich aristokratischen Offiziere nehmen ihren Abschied oder gehen ins Exil und die freiwilligen Bürgersoldaten sind schlecht ausgebildet. Mangelnde Disziplin, Meuterei und Fahnenflucht sind an der Tagesordnung. Im Juli 1792 wird der nationale Notstand
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verkündet: „Bürger! Das Vaterland ist in Gefahr!“ Zehntausende werden zu den Waffen gerufen. Eine Volksarmee aus Bürgern, die mit Valmy und Dumouriez´ Sieg über die Österreicher bei Jemappes erste Erfolge verzeichnet. Mit dem Ende der alten Heerordnungen fallen auch die Unterschiede zwischen Berufssoldaten und Freiwilligen weg. Im August 1793 verpflichtet der Konvent mit der Levée en masse (Massenaushebung) alle unverheirateten Männer zwischen 18 und 25, sich für die Armee bereitzuhalten. Das ist der Beginn einer allgemeinen Wehrpflicht! Am Ende verfügt das revolutionäre Frankreich über eine Armee von 750 000 Mann, die zusehends besser ausgebildet und erfahrener ist. In dieser Armee gewinnt ein völlig anderes Offiziersbild an Bedeutung: Die Führungspositionen nehmen nicht mehr Adlige aufgrund ihrer Vorrechte ein, sondern Bürgerliche ganz unterschiedlicher Herkunft, die sich ihre Meriten durch hervorragende Leistungen verdienen müssen. Diese neue Bürgerarmee sollte schon bald ganz Westdeutschland und andere Gebiete besetzen. Nur kurz sei auf die weitere Entwicklung der Republik eingegangen, die letztlich eine teils äußerst blutige, teils korrupte Entwicklung nahm – und damit für viele spätere Revolutionen einen Präzedenzfall bot: Der zunehmende Einfluss der Radikalen, insbesondere der Jakobiner, führt mit der vorübergehenden Unterstützung der Pariser Sansculotten, also von kleinbürgerlichen Handwerkern, Tagelöhnern, Arbeitern, zur Schaffung eines Revolutionstribunals und des so genannten Wohlfahrtsausschusses (Comité du salut public) als Exekutivorgan. Sie begründen die berüchtigte Schreckensherrschaft, in der der Terror (la terreur) zum Mittel der Regierungspolitik selbst wird. Die Folgen sind Willkür und Gesetzesbrechung, denen Tausende zum Opfer fallen. Mit der Hinrichtung des führenden Robespierre am 28. Juli 1794 endet diese Schreckenszeit. Der Konvent beschließt eine neue gemäßigte Verfassung mit zwei Parlamentskammern und einem fünfköpfigen Direktorium. Die letzten Jahre des 18. Jahrhunderts werden in Frankreich von äußeren Kriegen, innenpolitischen Unruhen und Staatsstreichen
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und ganz allgemein von korrupten Politikern geprägt. Dies alles ändert jedoch nichts : Das Ancien Régime gehört der Vergangenheit an. Eine neue, noch nie dagewesene Macht hat sich mitten in Europa etabliert.
1789: Deutschland vor der Revolution? In den turbulenten Sommertagen des Jahres 1789 befanden sich etliche Deutsche an der Seine, darunter auch der Pädagoge und Journalist Joachim Heinrich Campe (1746–1818). Campe war den Idealen der Aufklärung zugetan und befand sich in Begleitung seines ehemaligen Schülers Wilhelm von Humboldt. Er soupierte nicht nur mit dem berühmten Grafen Mirabeau, einem der führenden Revolutionspolitiker, sondern verfolgte auch die bewegenden Sitzungen der Nationalversammlung. Nach Deutschland schickt er eine eindringliche Beschreibung der erstürmten Bastille, „diesen Ort des Schreckens und des Jammers, den so manche heiße Träne benetzte, und aus dessen tiefen und finsteren Gräben, mit lebendigen Leichen angefüllt, so mancher, von Angst und Verzweiflung erpreßter Seufzer durch ungeheure Felsenwände und eiserne Türen zum Vater der Menschen, zum Richter der Könige und um Rache schrie … Genug von dieser gräulichen Burg, an deren Stelle sich nun bald ein herrliches Denkmal der Erlösung von den Schrecknissen der willkürlichen Alleingewalt erheben wird!“ Auch der damals 23-jährige Wilhelm von Humboldt, später Gelehrter, Diplomat, führender preußischer Bildungsreformer und Mitbegründer der Berliner Universität, begrüßt die Zerstörung der Bastille: Für ein schönes Gebäude des Mittelalters sei diese zwar bedauerlich, aber „… unentbehrlich. Es war das eigentliche Bollwerk des Despotismus, nicht bloß als ein grauenvolles Gefängnis, sondern auch als eine Festung, die ganz Paris beherrscht.“ Campe zeigte sich wie jedermann beeindruckt vom quirligen Leben in der Metropole, das im kleinstädtisch geprägten Heiligen Römischen Reich deutscher Nation seinesgleichen sucht. Die revolutionäre Unruhe
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erfasst alle Schichten und macht auch vor den Ärmsten nicht halt, die ebenso wie der Bürgerliche über die politischen Verhältnisse diskutieren: „Das Erste, was uns außer der hin und her wallenden Volksmenge auffällt, sind die vielen, dicht ineinandergeschobenen Menschengruppen, welche wir teils vor vielen Haustüren, wo entweder Bürgerwachstuben sind oder Bäcker wohnen, teils vor allen denjenigen Häusern erblicken, deren Mauern mit Affichen beklebt sind. Diese Bekanntmachungszettel sieht man in allen Straßen, besonders an den Seitenwänden aller Eckhäuser und an dem ganzen Gemäuer aller öffentlichen Gebäude auf den Quais und sonstigen freien Plätzen … Vor jedem mit dergleichen Zetteln beklebten Hause sieht man ein unendlich buntes und vermischtes Publikum von Lastträgern und feinen Herrn, von Fischweibern und artigen Damen, von Soldaten und Priestern, in dichten, aber immer friedlichen und fast vertraulichen Haufen versammelt …“ Überall werden Broschüren und fliegende Blätter feilgeboten, und zahlreiche „Colporteure“ rufen Titel und Hauptinhalt aus. „Auffallend und befremdend für den Ausländer ist hier der Anblick ganz gemeiner Menschen aus der allerniedrigsten Volksklasse, zum Beispiel der Wasserträger … auffallend … welchen warmen Anteil sogar auch diese Leute, die größtenteils weder lesen noch schreiben können, jetzt an den öffentlichen Angelegenheiten nehmen …“ (so in einem Brief vom August 1789). Schilderungen aus dem revolutionären Paris sind Legion, die meisten bewerten die Ereignisse mit mehr oder weniger großer Sympathie. Zunehmende Gewaltorgien und die blutige, auch Deutsche bedrohende Schreckensherrschaft sorgten indessen für wachsende Distanzierung. Zu den nur knapp der Guillotine Entgangenen gehörte auch ein norddeutscher Adliger namens Graf Gustav von Schlabrendorf (1750-1824), dem ein ansehnliches Vermögen ein unabhängiges Leben ermöglichte. Am Vorabend der Revolution kam der Sohn eines preußischen Ministers nach Paris, wo er sich schließlich angesichts geringer werdender finanzieller Mittel in einer bescheidenen Unterkunft unweit des Louvre
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einmietete. In dieser dürftigen, mit Büchern vollgestopften Behausung empfing der „Diogenes von Paris“ während der Revolutionsjahre und in der napoleonischen Zeit deutsche Besucher, darunter so illustre Namen wie Wilhelm und Alexander von Humboldt, der spätere Reformer und preußische Staatskanzler Karl August von Hardenberg sowie Freiherr vom Stein oder die Romantiker Achim von Arnim und Friedrich Schlegel. Der exzentrische Sonderling galt als erste Adresse für jeden, der sich im revolutionären Paris umtun wollte. Er verkörpert den unmittelbaren persönlichen Zugang zu den französischen Geschehnissen, stellte gleichsam einen „Pool“ unzähliger Nachrichten dar. Aber auch ohne ihn war man in den zahlreichen deutschen Staaten mit ihren Haupt-, Residenz- und Universitätsstädten zumeist bestens informiert. Dazu trugen nicht nur Reiseschilderungen, sondern auch Publikationen aller Art und nicht zuletzt die Presse bei – darunter auch französische Blätter. Und in den aufgeklärten Kreisen stießen die Ereignisse im Nachbarland auf große Resonanz, – ohne dass die Massen Schlösser und Residenzen gestürmt und Fürsten oder andere Aristokraten gemeuchelt hätten. Nein, in den deutschen Ländern lief dies anders ab: In Hamburg-Harvestehude beispielsweise versammelten sich am 14. Juli 1790 etwa 80 Personen in einem privaten Garten, um des Sturms auf die Bastille zu gedenken. Alle, auch Gäste aus Amerika, England und Schweden, trugen Trikoloren, es wurde Salut geschossen und bis in den Abend hinein gefeiert. Unter den Gästen weilte der knapp 70-jährige Friedrich Gottlieb Klopstock (1724–1803), als Schöpfer des Epos „Messias“ damals Deutschlands berühmtester und ehrwürdigster Dichter. Klopstock feierte das Vorbild Frankreichs in antikisierenden Oden: „Frankreich schuf sich frei. Des Jahrhunderts edelste Tat hub Da sich zu dem Olympus empor … Unsere Brüder, die Franken; und wir? Ach, ich frag umsonst: ihr verstummet, Deutsche!“ so in der Ode „Kennet euch selbst“. Feier und Zustimmung auch andernorts: In Weimar nennt Christoph Martin Wieland die „ehrlichen und … etwas stupiden
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Germanier(n)“, noch zu unreif, um die französischen Verhältnisse „unbefangen“ zu beurteilen. Und in Tübingen pflanzen die Theologiestudenten und späteren Geistesgrößen Friedrich Hölderlin, Friedrich Wilhelm Schelling sowie Georg Friedrich Wilhelm Hegel einen Freiheitsbaum auf der Neckarwiese. Umso größer war ihr Erschrecken über die Gewaltexzesse und die blutige Wendung der Revolution. Ein alter Herr wie Klopstock, der in seiner „deutschen Gelehrtenrepublik“ die Utopie eines friedlichen von der Bildungselite geführten Staatswesens entworfen hatte, konnte sich nur mit Schaudern abwenden. Die meisten andern taten es ihm gleich. Der junge Göttinger Student Wilhelm Heinrich Wackenroder, der in seinem kurzen Leben im Kreise der Frühromantik eine Rolle spielte, stellt eine Ausnahme dar: „Die Hinrichtung des Königs von Frankreich hat ganz Berlin von der Sache der Franzosen zurückgeschreckt; aber mich gerade nicht. Über ihre Sache denke ich wie sonst. Ob sie die rechten Mittel dazu anwenden, verstehe ich nicht zu beurteilen, weil ich von dem Historischen sehr wenig weiß“ – so im März 1793 an den befreundeten Ludwig Tieck. Werfen wir einen Blick auf die beiden Weimarer Klassiker, die den Zeitgenossen noch nicht als vorherrschende Meinungsbildner galten, deren Urteile man aber gleichwohl zur Kenntnis nahm. Friedrich Schiller etwa zeigt sich in Briefen eher verhalten, nimmt die ihm zugetragenen Anekdoten von der Seine eher humorvoll, als dass er in ihnen Ereignisse von weltgeschichtlicher Tragweite sieht. Durchaus erfreut nimmt er den Umstand, dass ihm in Paris durch die Nationalversammlung im August 1792 das Bürgerrecht verliehen wird. Die Versammlung ehrte damit Nichtfranzosen, unter anderem auch Klopstock oder den Schweizer Pädagogen und Sozialreformer Pestalozzi, die „Arm und Wachsamkeit der Sache des Volkes gegen den Despotismus der Könige geweiht hatten“. Der so Geehrte – M. Gille, Publiciste allemand – hatte sich als Verfasser der „Räuber“ und von „Kabale und Liebe“ als Feind des fürstlichen Despotismus gezeigt. Die Hinrichtung des Königs ließ ihn gleichwohl auf skeptische Distanz gehen. Durch den Bezug der Pa-
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riser Tageszeitung Moniteur durchaus gut informiert, hatte er dessen Prozess aufmerksam verfolgt und noch im Dezember 1792 gegenüber dem Freund Körner eine ebenso naive wie illusorische Idee: „Kaum kann ich der Versuchung widerstehen, mich in die Streitsache wegen des Königs einzumischen ... und ein deutscher Schriftsteller, der sich mit Freiheit und Beredsamkeit über diese Streitfrage erklärt, dürfte wahrscheinlich auf diese richtungslosen Köpfe einigen Eindruck machen.“ Bekanntlich wurde nichts daraus, und Schiller scheint sich, angewidert von den Schrecken der Tagespolitik ins Reich der Ideen zurückgezogen zu haben. Einem Freund rät er: „… lassen Sie vor der Hand die arme, unwürdige und unreife Menschheit für sich selbst sorgen. Bleiben Sie in der heitern und stillen Region der Ideen ...“. Der befreundete Arzt Friedrich Wilhelm von Hoven schreibt in seinen Erinnerungen dazu bestätigend: „Von dem französischen Freiheitswesen ... war Schiller kein Freund. Die schönen Aussichten in eine glücklichere Zukunft fand er nicht. Er hielt die französische Revolution lediglich für die natürliche Folge der schlechten französischen Regierung, der Üppigkeit des Hofes und der Großen, der Demoralisation des französischen Volks, und für das Werk unzufriedener, ehrgeiziger und leidenschaftlicher Menschen, welche die Lage der Dinge zur Erreichung ihrer egoistischen Zwecke benutzten, nicht für ein Werk der Weisheit.“ Schillers Einschätzung bezeugen seine „Briefe über die ästhetische Erziehung“, die er Herzog Friedrich Christian von Augustenburg (1765–1814) schrieb, der sich später als Reformer im dänischen Staatsrat hervortat und Schiller mit einer Pension unterstützte. Unter dem Datum des 13. Juli 1793 stellt er Frage, ob es „nicht außer der Zeit“ sei, „sich um die Bedürfnisse der ästhetischen Welt zu bekümmern, wo die Angelegenheiten der politischen ein so viel näheres Interesse darbieten?“ Denn „eine geistreiche, mutvolle, lange Zeit als Muster betrachtete Nation hat angefangen, ihren positiven Gesellschaftszustand gewaltsam zu verlassen und sich in den Naturzustand zurückzuversetzen,
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für den die Vernunft die alleinige und absolute Gesetzgeberin ist.“ Im Abwägen zwischen praktischer Politik und Idealismus kommt er zu dem Schluss: „... wäre der außerordentliche Fall wirklich eingetreten, dass die politische Gesetzgebung der Vernunft übertragen, der Mensch als Selbstzweck respektiert und behandelt, das Gesetz auf den Thron erhoben und wahre Freiheit zur Grundlage des Staatsgebäudes gemacht worden, so wollte ich auf ewig von den Musen Abschied nehmen und dem herrlichsten aller Kunstwerke, der Monarchie der Vernunft, alle meine Tätigkeit widmen. Aber dieses Faktum ist es eben, was ich zu bezweifeln wage. Ja, ich bin so weit entfernt, an den Anfang einer Regeneration im Politischen zu glauben, dass mir die Ereignisse der Zeit vielmehr alle Hoffnungen dazu auf Jahrhunderte benehmen.“ Und dann fällt Schiller ein Urteil von großer Tragweite: „... Der Versuch des französischen Volks, sich in seine heiligen Menschenrechte einzusetzen und eine politische Freiheit zu erringen, hat bloß das Unvermögen und die Unwürdigkeit desselben an den Tag gebracht und nicht nur dieses unglückliche Volk, sondern mit ihm auch einen beträchtlichen Teil Europens, und ein ganzes Jahrhundert, in Barbarei und Knechtschaft zurückgeschleudert. Der Moment war der günstigste, aber er fand eine verderbte Generation, die ihn nicht wert war und weder zu würdigen noch zu benutzen wusste.“ Das Menschengeschlecht sei der „vormundschaftlichen Gewalt“ noch nicht entwachsen, das „liberale Regiment der Vernunft“ sei zu früh. Denn die vermeintlich befreiten „niederen Klassen“ zeigten nur ihre „rohen gesetzlosen Triebe“. Was zu dem Fazit führt: „Es waren also nicht freie Menschen, die der Staat unterdrückt hatte, nein, es waren bloß wilde Tiere, die er an heilsame Ketten legte.“ Und auch die „zivilisierten Klassen“ enttäuschten in der historischen Situation, bewiesen sie doch „Erschlaffung“, „Geistesschwäche“ und „Versunkenheit des Charakters“. Die Konsequenz: „Politische und bürgerliche Freiheit bleibt immer und ewig das heiligste aller Güter, das würdigste Ziel aller Anstrengungen und das große Zentrum aller Kultur – aber man wird diesen herrlichen Bau nur auf dem festen Grund
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eines veredelten Charakters aufführen, man wird damit anfangen müssen, für die Verfassung Bürger zu erschaffen, ehe man den Bürgern eine Verfassung geben kann.“ Also auf zur „Veredlung der Denkungsart“, am besten ohne jeden staatlichen Einfluss. Weil für die Aufklärung des Verstandes schon so viel getan worden sei, müsse nun „die Veredlung der Gefühle und die sittliche Reinigung des Willens“ vorangetrieben werden. Zur Charakterbildung sei die „ästhetische Kultur“ am besten geeignet, die Kunst müsse Ideale haben, „die ihr unaufhörlich das Bild des höchsten Schönen vorhalten“. Und was sei dafür besser geeignet als die „unsterblichen Muster des griechischen Genius“? Fazit: Erst bessere Menschen sind reif für eine bessere Verfassung. Die politische Praxis war Schiller darum vergällt. Für seine Zeitschrift „Die Horen“ warb er um Beiträge mit der Forderung, man möge auf alles verzichten, „was sich auf Staatsreligion und politische Verfassung bezieht. Man widmet sich der schönen Welt zum Unterricht und zur Bildung, und der gelehrten zu einer freien Forschung der Wahrheit und zu einem fruchtbaren Umtausch der Ideen ...“ Goethe hingegen erlebte bekanntlich nicht nur die unmittelbaren Folgen des Geschehens in Frankreich, er setzte sich auch stärker damit auseinander. In den „Gesprächen mit Eckermann“ spricht er am 4. Januar 1824 davon, wie selten man mit ihm in „politischen Dingen“ zufrieden gewesen sei. Als Beispiel greift er auf „Die Aufgeregten“ zurück, ein politisches Drama von 1793. Darin vertritt ein Dorfchirurg die neuen Ideale, was zu Unruhe führt. Verständige Adlige glätten die Wogen und sorgen für Ruhe. Eine gerade aus Paris zurückgekehrte Aristokratin verkörpert Goethes Ideal: „Sie hat sich überzeugt, dass das Volk wohl zu drücken, aber nicht zu unterdrücken ist, und dass die revolutionären Aufstände der unteren Klassen eine Folge der Ungerechtigkeiten der Großen sind. Jede Handlung, die mir unbillig scheint, sagt sie, will ich künftig streng vermeiden, auch werde ich über solche Handlun-
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gen anderer, in der Gesellschaft und bei Hofe, meine Meinung laut sagen. Zu keiner Ungerechtigkeit will ich mehr schweigen, und wenn ich auch unter dem Namen einer Demokratin verschrieen werden sollte.“ Diese Gesinnung hält Goethe für respektabel. „Sie war damals die meinige und ist es noch jetzt.“ Fünf Jahre nach der Campagne in Frankreich schrieb Goethe ein Werk, das auch auf die Folgen der Revolution eingeht. Das bürgerliche Epos „Hermann und Dorothea“ singt in antiken Formen und Anspielungen das Hohelied des Bürgers, allerdings des deutschen Bürgers, nicht des französischen citoyen. Die Handlung spielt in der Gegenwart, und damit im Krieg am Oberrhein. Flüchtlinge aus dem Elsass kommen in die Nähe eines friedlichen Städtchens. Hermann, der Sohn eines wohlhabenden Gastwirts, verliebt sich in das Flüchtlingsmädchen Dorothea. Dem Vater allerdings ist an einer besseren Partie gelegen; es kommt zum Streit. Erkundigungen bringen den besten Eindruck Dorotheas, die sogar sich und andere Frauen vor französischer Soldateska mutig schützte. Nachdem der schüchtern-ungeschickte Hermann als Werber für Missverständnisse sorgt und der Pfarrer schließlich alles aufklärt, findet das Paar zueinander. Eine Idylle, die gleichwohl Kommentare zum Zeitgeschehen bietet. Sprechen die Vertriebenen von den enttäuschten Hoffnungen der Revolution, gemahnt der Pfarrer an das Gute im Menschen. Hermann kommt am Schluss des Epos das letzte Wort zu: „Wir wollen halten und dauern, Fest uns halten und fest der schönen Güter Besitztum. Denn der Mensch, der zur schwankenden Zeit auch schwankend gesinnt ist, Der vermehret das Übel und breitet es weiter und weiter; Aber wer fest auf dem Sinne beharrt, der bildet die Welt sich. Nicht dem Deutschen geziemt es, die fürchterliche Bewegung Fortzuleiten und auch zu wanken hierin und dorthin. Dies ist unser! so laß uns sagen und so es behaupten! Denn es werden noch stets die entschlossenen Völker gepriesen, Die für Gott und Gesetz, für Eltern, Weiber und Kinder Stritten und gegen den Feind zusammenstehend erlagen.“
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Was sich vordergründig als rein poetische Szene ausnimmt, ist prägende Selbstbeschreibung des und der Deutschen. So mochte er leben in seiner arkadisch-friedlichen Landschaft zwischen den Ufern des Rheins und den Höhen des Schwarzwalds. Welch Unterschied zu den Ereignissen in Frankreich, von denen aus dem August 1792 die Worte eines Nationalgardisten erhalten sind: „Wir sind starr vor Erschöpfung – weniger deswegen, weil wir zwei Nächte unter Waffen verbracht haben, als wegen der Seelenschmerzen ... Himmel! Wieviel Blut und Tränen kostet den Franzosen die Freiheit!“ Nun erhoben sich allerdings in Deutschland auch andere Stimmen, die durchaus zu einer revolutionären Erhebung bereit waren, letztlich aber regional begrenzt blieben. Zu kleineren Unruhen kam es unter anderem in Mainz, Sachsen und Schlesien. Doch hier handelte es um lokale Erhebungen, an denen nur Handwerker und Bauern beteiligt waren. Gerade im Rheinland griff man dabei gern auf Kokarden und die Bezeichnung „Patriot“ zurück, was aber eher als „modisches Politdekor“ zu verstehen ist. Der revolutionären Ideologie fühlten sich hingegen etliche Jakobinerclubs zugetan, die unter anderem in Hamburg sowie in Rheinhessen und der Pfalz gegründet wurden. Andernorts, so in Koblenz, Bonn, Köln und Aachen begründeten sich die Cisrhenanen, die 1797 unter der französischen Besatzung sogar die Gründung einer unabhängigen Cisrhenanischen Republik anstrebten, die sich links des Rheins von Kleve bis Speyer erstrecken sollte. Wie das aussehen sollte beschreibt der Präsident des Koblenzer Distriktbüros der cisrhenanischen Föderation im August 1797 in einem Brief an einen Sympathisanten an der Mosel: „Ich freue mich sehr, einen Compatrioten mehr und Mitarbeiter in der guten Sache an Ihnen zu haben. Suchen Sie alle Patrioten in Trarbach und Ihrer Gegend auf und engagieren die, welche Sie gut und tauglich finden zum mitarbeiten, das ist: die Leute zu Freyheit stimmen, ihnen die Vortheile davon, die Nachtheile der alten Regierung (wenn sie allenfals zurückkäme) erklären. Wir würden einen eigenen Freystaat machen, nicht unter Frantzosen ste-
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hen, selbst unsere Obern wählen, die Domainen, die Güter der Stifter, Abteyen etc. würden an die Leute verkauft, um die Schulden zu zahlen, die Zehnden hörten auf, kein Krieg würde mehr seyn, der Handel blühen, bessere Gerechtigkeit seyn, kein Hofstaat zu ernähren, mässige Abgaben, die Religion würde gehandhabt, nur die unnützen Müssiggänger von Canonicis würden abgeschafften werden. Die Leute sollten sich nur frey erklären, in Ruhe ohne Blut Freyheitsbaum aufpflanzen, sich Repraesantanten wählen, daß diese sich verbinden und mit der Republik Frieden schließen, um der coujonade des Kriegs endlich loßzuwerden und gantz frey zu seyn.“ Aus den hehren Plänen einer rheinischen Friedensrepublik, der übrigens auch der später berühmte Publizist Joseph Görres anhing, wurde nichts. Frankreich hatte die besetzen Gebiete okupiert. Der fünf Jahre währende Eroberungsverzicht zugunsten eines Selbstbestimmungsrecht der Völker war nicht mehr gültig. Die französische Republik wollte den Völkern die Freiheit bringen, notfalls auch mit Gewalt. Aus den Cisrhenanen wurden „Neufranken“. Eine erste deutsche Republik war vorübergehend bereits 1792 in Mainz gegründet worden. Nach Valmy hatte sich nämlich im Herbst des Jahres die Situation dramatisch verändert: Nun marschierten die Revolutionstruppen voran, besetzten unter der Führung des Generals Adam-Philippe de Custine die Pfalz, Rheinhessen und sogar Frankfurt. Die barocke Residenzstadt Mainz streckte trotz ihrer starken Befestigungswerke am 21. Oktober die Waffen. Kurfürst Friedrich Karl Joseph von Erthal war schon drei Wochen vorher geflohen; mit ihm der ganze Hofstaat und tausende Mainzer Bürger. Aber Custines Regiment blieb moderat. Der General erließ einen „Aufruf an die gedrückte Menschheit in Deutschland im Namen der Frankenrepublik von Adam Philipp Custine, fränkischem Bürger und General der Armeen der Republik“, in dem er Verbrüderung und Freiheit anbot. Die Deutschen sollten wählen: entweder Freiheit oder Despotie. Ansonsten ließ er die ehemals kurfürstlichen Behörden weiter ihre Arbeit tun, ließ die Rechts- und
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Besitzverhältnisse unangetastet. Die Mehrheit der zurückgebliebenen Mainzer Bürger hätte sich wohl für die Rückkehr des nicht unbeliebten Erzbischofs und Kurfürsten entschieden, hatten schließlich Handwerker und Kaufleute von seiner Hofhaltung profitiert. Von der beruflichen Freiheit und der Abschaffung der Zünfte hielten sie wie auch andernorts überhaupt nichts. Sie fürchteten um den Verlust ihres Einflusses. Der Kurfürst hatte sich seit seiner Wahl vor 18 Jahren als überzeugter Anhänger der Aufklärung erwiesen und dies insbesondere mit seiner Kirchen- und Bildungspolitik gezeigt. Aufgelassenes Klostergut führte er beispielsweise der Universität Mainz zu. Kein Wunder also, dass sich am Rhein eine Schicht herausbildete, die zutiefst den Ideen der Aufklärung verpflichtet war und die Ideale der Revolution in Frankreich begeistert aufgriff. Im Schutz der französischen Truppen entwickelte sich ein Jakobinerclub, der sich schließlich im kurfürstlichen Schloss zur Bildung einer „Gesellschaft der Freunde der Freiheit und Gleichheit“ zusammenfand. Von den 25 000 Mainzer Einwohnern zählte er immerhin 500 zu seinen Mitgliedern, darunter Professoren, Studenten, aber auch kleinbürgerliche Handwerker und Kaufleute. Vier Mal in der Woche traf man sich und diskutierte in deutscher Sprache, eine Sitzung fand auf französisch statt. Der Umgangston lehnte sich an die Pariser Vorbilder an, dementsprechend sprach man sich mit dem bürgerlichen egalitären „Du“ an. Was folgte, war die Errichtung eines Freiheitsbaums auf dem Marktplatz und die zunehmende Anwendung der revolutionären Attribute, darunter eine Freiheitstafel wie die von Goethe an der Mosel aquarellierte. Die von Mainz drohte jedoch dem Zerstörer der freiheitlichen Ordnung mit dem Tod. Den Mainzer Jakobinern trat mit dem Gelehrten und Schriftsteller Georg Forster (1754–1794) ein berühmter Zeitgenosse bei, ein Gebildeter und Vielgereister, der mit seinem Vater zwanzig Jahre zuvor den englischen Entdecker James Cook auf dessen zweiter Südseereise begleitet hatte. Der Erzbischof selbst hatte den Professor als Universitäts-
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bibliothekar nach Mainz geholt. Doch der fühlte sich auf Dauer in den eher beengenden Verhältnissen nicht wohl. Auch ein aufgeklärter Fürst herrschte immer noch über ein feudales System. Forster begrüßte darum die Revolution von Anfang an und trat schließlich im November 1792 der Jakobiner-Gesellschaft bei, deren führender Vertreter er wurde. An den Berliner Buchhändler Voß schreibt er in dieser Zeit: „Es ist eine der entscheidenden Weltepochen, in welcher wir leben. Seit der Erscheinung des Christentums hat die Geschichte nichts Ähnliches aufzuweisen. Dem Enthusiasmus, dem Freiheitseifer kann nichts widerstehen.“ Das, was als „Mainzer Republik“ in die Geschichte einging und erste späte Würdigung in Deutschland erfuhr, ist rasch erzählt: Unter Custines wohlwollender Aufmerksamkeit entsteht eine Administration, die unter anderem die französische Verfassung in Auszügen übersetzen lässt und versucht, deren Grundsätze auf Mainzer respektive rheinhessische Verhältnisse anzuwenden. Dazu gehört die Aufhebung der Leibeigenschaft, aber auch der Befehl, alle Wappen als Relikte des Ancien Régime von Mainzer Häusern zu entfernen. Das politische Leben am Rhein spiegelt das große Geschehen an der Seine gewissermaßen en miniature. Heftige Debatten kreisen um die Frage, wohin man will; aus rheinhessischen und Pfälzer Gemeinden wollen sich deren Jakobiner den Mainzern anschließen. Aus dem Rechtsrheinischen machen sich subversive Elemente breit, die von Revolutionsgegnern unterstützt werden. Dieser Widerstand ist im Großen und Ganzen unblutig und trifft zuerst den Freiheitsbaum, der umgelegt wird. Gleichzeitig soll das System seine demokratische Legalisierung erfahren: Im Februar 1793 finden die Wahl des Bürgermeisters und der sechs Abgeordneten des gesetzgebenden „Rheinisch-Deutschen National-Convents“ statt. Die Begeisterung darüber hält sich in Grenzen, denn von 10 000 Wahlberechtigten geben nur 300 ihre Stimme ab. Im folgenden Monat fällt der Convent den Entschluss, sich Frankreich anzuschließen. Georg Forster ist unter den drei Abgeordneten, die den Antrag in Paris vorbringen. Dort gibt man dem zwar statt, aber diese Entscheidung wird
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von den militärischen Ereignissen überholt: Im Juli desselben Jahres müssen die Franzosen Mainz räumen. Angeführt von den Preußen rücken die Verbündeten in der Stadt ein. Forster kann nicht mehr zurück und stirbt in Paris eines natürlichen Todes. Die Mainzer Republik hat damit ein rasches Ende gefunden. Eine längere Belagerung mit heftigen Bombardements war dem vorausgegangen. Wiederum war Goethe als Augenzeuge dabei. Er beobachtet den Abzug der französischen Truppen, die immer noch stolz und selbstbewusst die Marseillaise anstimmten – „diesmal aber nahmen sie das Tempo ganz langsam, dem schleichenden Schritt gemäß, den sie ritten.“ Auf die zurückbleibenden Jakobiner wird nun Jagd gemacht – es kommt zu Übergriffen und Lynchszenen. Die einziehenden Offiziere schützen sie zumeist, viele werden jedoch in Festungshaft genommen und wenn nicht zu Todesstrafen, doch zu hohen Zahlungen verurteilt. Am 26. Juli 1793 betritt Goethe das zurückeroberte Mainz: „… dort fanden wir den bejammernwertesten Zustand. In Schutt und Trümmer war zusammengestürzt, was Jahrhunderten aufzubauen gelang, wo in der schönsten Lage der Welt Reichtümer von Provinzen zusammenflossen und Religion das, was ihre Diener besaßen, zu befestigen und zu vermehren trachtete. Die Verwirrung, die den Geist ergriff, war höchst schmerzlich, viel trauriger, als wäre man in eine durch Zufall eingeäscherte Stadt geraten. Bei aufgelöster polizeilicher Ordnung hatte sich zum traurigen Schutt noch aller Unrat auf den Straßen gesammelt; Spuren der Plünderung ließen sich bemerken in Gefolg innerer Feindschaft. Hohe Mauern drohten den Einsturz, Türme standen unsicher …“ Ein Jahr später sollten die französischen Heere zurückkehren und Deutschland links des Rheins zwanzig Jahre in Besitz nehmen. Sie bescherten dem Land damit eine lange Friedenszeit, die blutigsten Schlachten und schlimmsten Zerstörungen fanden in Zukunft im Herzen Deutschlands statt. Was Deutschland damals vor mehr als 200 Jahren war, soll uns im Folgenden noch beschäftigen. Zunächst gilt einmal, dass hier nach 1789
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eine Revolution wie in Frankreich ausblieb. Der Gründe dafür sind viele, manche ganz offensichtlich, andere umstritten und diskutiert. Die staatliche Verfassung bietet eine erste plausible Erklärung: Während Frankreich ein geeintes auf den absolutistisch herrschenden Monarchen hin orientiertes Königreich war, existierten auf dem Gebiet des heutigen Deutschland und weit darüber hinaus hunderte mehr oder weniger souveräne Territorien, an deren Spitze der Kaiser in Wien stand. Nur über die Habsburger Länder herrschte er, ansonsten musste er sich vor allem seit der Mitte des 18. Jahrhunderts mit dem aufstrebenden und ehrgeizigen Preußen auseinandersetzen. Die anderen größeren und kleineren Länder (manchmal als das „dritte Deutschland“ bezeichnet) sahen sich zwischen diesen beiden Großmächten nicht selten in der Gefahr „zerrieben“, sprich annektiert, zu werden. Zur territorialen Zersplitterung dieses seit dem frühen Mittelalter bestehenden Sacrum Romanum Imperium, des „Heiligen Römischen Reiches“, kam die konfessionelle in katholische und protestantisch-reformierte Christen und Regionen hinzu. Auch die Lebensumstände der Adligen, Bürger und Bauern zwischen Ostpreußen (das formal gar nicht zum Reich gehörte) und dem Breisgau, zwischen Flandern und Mähren (damals Territorien des Heiligen Römischen Reiches, obwohl ihre Bewohner keine Deutschen waren) gestalteten sich sehr uneinheitlich. Im Verhältnis zu Großbritannien, aber auch Frankreich galt das riesige Reich im Herzen Europas wirtschaftlich unterentwickelt. Mancherorts kam es wegen lokaler Missstände durchaus zu Unruhen unter Bauern und Handwerkern, diese hatten aber keinen Umsturz des Systems vor Augen. Die Aristokraten waren stark mit den vielen Fürstenhöfen verbunden, was ihre Macht insgesamt schmälerte. Das Bürgertum hingegen, jener „Dritte Stand“ Frankreichs, der dort die Revolution ins Rollen brachte, hatte noch kein überstarkes Selbstbewusstsein, war es doch in den Städten der alten Zunftordnung verbunden. Die Ideen der Aufklärung kursierten in Deutschland vor allem in den Gelehrtenkreisen, denen man hier besondere Anerkennung entgegengebrachte. Auch zahl-
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reiche Fürsten standen den modernen Lehren des 18. Jahrhunderts recht offen gegenüber – an ihrer Spitze der Preußenkönig Friedrich II. und Kaiser Joseph II. von Österreich, aber auch ein kleinstaatlicher Herrscher wie Markgraf Karl Friedrich von Baden-Durlach. An ihren Höfen fand der darum so genannte Aufgeklärte Absolutismus seinen Niederschlag, der Dienstadel und Bildungsbürger in die Pflicht des Staates nahm und den Fürsten als „ersten Diener seines Staates“ sah. Der Reformeifer mancher Fürsten war beachtlich, beispielsweise verkündete Joseph II. bereits 1781 die Gleichheit aller vor dem Gesetz und der badische Markgraf Karl Friedrich hob zwei Jahre später die Leibeigenschaft auf. Ebenso garantierte das auf Friedrich II. zurückgehende Preußische Landrecht von 1791 an bürgerliche Freiheit und Gleichheit. Kaiser Joseph trug sich in Wien sogar mit dem Plan, sämtliche Privilegien abzuschaffen – womit er sich jedoch nicht durchsetzen konnte. Allerdings erschienen derartige Vorrechte vielerorts nicht so ungerecht wie in Frankreich, wurden sie doch zum Teil auch auf bürgerliche Akademiker ausgeweitet. Zudem nahm man den Adel durchaus in die Pflicht, wurde auch er mehr oder weniger strengen Leistungsansprüchen unterworfen. Insofern sahen nicht wenige Bürger den Fürsten als ihren Hüter und Förderer an, weil Universitäten kräftig unterstützt wurden, was wiederum das tonangebende Bildungsbürgertum stärkte. Dieses verdiente sich sein Geld nicht in Handel und Gewerbe, sondern im Staatsdient. Ein zweifellos gewichtiger Grund, weshalb in den deutschen Territorien keine breite bürgerliche Oppositionsbewegung entstand. Gleichwohl waren absolute Fürsten, auch wenn sie sich weniger auf das Gottesgnadentum denn auf ihre Pflicht beriefen – Herrscher ohne Kontrolle. Trotz der Gewährung bürgerlicher Freiheits- und Gleichheitsrechte war es noch ein weiter Weg zur politischen Teilhabe der Untertanen.
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Napoleon: Revue einer Blitzkarriere In Frankreich, das den Weg der Revolution statt langsamer Reformen gegangen war, hatte sich nach den Verwerfungen der Terreur das gemäßigte, aber korrupte Direktorium etabliert. So manche Aufstände und Putschversuche hatte es überstanden, aber im November 1799 war sein Ende gekommen: Am 9. November, dem 18. Brumaire der revolutionären Zeitrechnung der Republik, führte der 30-jährige General Napoleon Bonaparte einen Staatsstreich durch. Eine neue Verfassung setzt er durch mit drei Konsuln an der Spitze. Bonaparte selbst wird Erster Konsul sein – zuerst auf zehn Jahre, dann auf Lebenszeit – und somit der starke Mann. Nur wenige Wochen nach dem Putsch wird er verkünden: „Citoyens, la Révolution est fixée aux principes qui l’ont commencée, elle est finie.“ (Bürger, die Revolution basiert auf Prinzipien, die an ihrem Anfang standen, sie ist beendet). Mit dieser berühmten Erklärung sorgte der Erste Konsul landesweit für Aufatmen, erwartete man doch nun innen- wie außenpolitisch eine ruhige, stabilisierende Entwicklung, die Handel und Wirtschaft zugutekäme. Andere sehen ihn als Verräter an der Revolution. Wie auch immer man sein Wirken beurteilt, fest steht, dass Napoleon ein Kind der Revolution war. Seine Karriere allein belegt dies eindrücklich: Als zweitgeborener Sohn von acht Kindern entstammte er einer korsischen Familie des niederen Adels, dazu einer Insel, die erst im Jahr vor seiner Geburt, nämlich 1768, von Genua an Frankreich gefallen war. Italienisch sprach man dort neben der Muttersprache häufiger und sicherer als Französisch, und Napoleon hatte noch als Kaiser mit dessen grammatischen Finessen Probleme. Auf der gebirgigen Mittelmeerinsel kämpfte eine Unabhängigkeitsbewegung um die Loslösung von Frankreich, und selbst der junge Napoleon hatte sich ihr vorübergehend angeschlossen. Doch seine Familie blieb letztlich Parteigängerin des französischen Königs, unter dessen Oberhoheit die militärische Ausbildung des jungen Mannes begann. Mit knapp zehn Jah-
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ren verließ er seine Heimat, besuchte Militärschulen und schloss die Pariser Militärakademie mit 15 als Unterleutnant bei einem Artillerieregiment ab. Es folgen Jahre des nicht sehr anstrengenden Dienstes mit langen Urlauben bei der Familie auf Korsika. Hier schlüpfte Napoleon schon bald in die Rolle des Familienoberhaupts, weil der Vater früh verstorben war. Daneben schließt er sich der Revolution an und tritt einem Jakobinerclub bei. Aber erst nachdem die Familie aus politischen Gründen Korsika verlassen musste, gewinnt man den Eindruck, dass Paris dem mittlerweile zum Hauptmann Beförderten näher stand als die Mittelmeerinsel. Erstes Aufsehen errang er im Herbst 1793 als Bataillonschef bei der erfolgreichen Belagerung des aufständischen und mit den Engländern paktierenden Toulon, was ihm die Ernennung zum Brigadegeneral brachte. Zwei Jahre später beauftragte ihn Paul Barras, der starke Mann des Direktoriums, mit der Niederschlagung eines Royalistenaufstands in Paris. Rücksichtslosigkeit und Erfolg prägten das Vorgehen des nun zum Divisionsgeneral ernannten, der damit in den Führungskreisen der Republik angekommen ist. Das zeigt sich an seiner gesellschaftlichen Stellung: Erst jetzt ändert der korsische Parvenü seinen Namen Napoleone Buonaparte in Napoleon Bonaparte und heiratet die in den Kreisen der Hauptstadt allbekannte Joséphine, Generalswitwe und Ex-Geliebte von Barras. Damals fehlen noch vier entscheidende Jahre bis zum 18. Brumaire: Napoleon nutzte sie auf unvergleichliche Weise: Als Oberbefehlshaber der Armee in Italien trieb er die Österreicher 1796/97 vor sich her und schlägt sie, wo er sie trifft. Mit knapp 38 000 Mann erobert er Mailand, Mantua und Venedig, errichtet Tochterrepubliken und zwingt den Österreichern den Friede von Campo Formio auf. Der jugendliche General als der gloriose Sieger von Schlachten wie der an der Brücke von Lodi, bei Arcoli oder Rivoli. Napoleon ist das Paradebeispiel eines republikanischen Charakters, dem durch seine Leistung alles möglich wird und der sich mit treuen Gefolgsleuten aus allen Ständen umgibt. Sein Mythos ist geboren – und er hat beizeiten kräftig daran gearbeitet, nicht zuletzt durch eine ge-
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schickte Nutzung der Medien, die im republikanischen Frankreich eine besondere Rolle spielen. Seine „PR-Berater“ kreieren denn auch das Bild des gleichsam göttlichen Generals, der mit großer Geste von Triumph zu Triumph stürmt. Darstellungen wie Antoine-Jean Gros‘ „General Bonaparte auf der Brücke von Arcole am 17. November 1796“ sind typisch für sein Image. Napoleon wird gewissermaßen als jugendlicher Held zum Liebling der Pariser und Pariserinnen und zum Heros Frankreichs. Daran änderte auch das Debakel des Ägyptenfeldzugs 1798/99 nichts, das er geschickt zu verschleiern weiß. Was in jenem Herbst zählte, war allein die sichere Rückkehr des Generals aus dem fernen Afrika, dass er am 16. Oktober 1799 zurück in Paris ist und bereit, das Vaterland zu retten. Im Zuge des Putsches vom 18. Brumaire wurden die fünf Direktoren kaltgestellt, auf die beiden Parlamentskammern des „Rates der 500“ und des „Rates der Alten“ wurde durch die napoleontreue Armee Druck ausgeübt. Wie bekannt errichtete Napoleon fünf Jahre später sein Empire, das ein neues aristokratisches System etabliert und für ein knappes Jahrzehnt Europa beherrschen wird. Das Kaiserreich, letztlich eine Militärdiktatur, griff in historisch einmaliger Weise in die Geschicke Deutschlands ein. Seinen deutlichsten Ausdruck findet dies mit dem Ende des fast 900 Jahre alten „Heiligen Römischen Reichs“. Aber Napoleon ist auch ein aufgeklärter Despot. Seinem durch Annexionen stark vergrößerten Frankreich und teilweise auch seinen Nachbarländern brachte er den Schuldenabbau, eine stabile Währung, Arbeitsplätze und feste Getreidepreise, aber auch ein modernes Straßennetz, Kanäle und Häfen. Sein bis heute anerkanntes Glanzstück ist der 1804 erlassene Code Napoleon oder Code Civil, ein bürgerliches Gesetzbuch, das bis heute in Frankreich gilt und erhebliche Wirkungen nicht zuletzt in Deutschland zeigte. Allein die Kriege, zu denen Napoleon je nach Perspektive gezwungen wurde bzw. die er vom Zaune brach, vergällten den Franzosen die
„Der Weltgeist …“ – in Deutschland verehrt und gefürchtet
Vorteile des napoleonischen Systems. Nach den Befreiungskriegen wünschten sich die meisten Menschen vor allem den Frieden. Napoleons Vermächtnis blieb deshalb über die Jahrzehnte und letztlich bis heute ambivalent. Die Historiker können sich am ehesten einer Meinung des Dichters und Politikers Chateaubriand anschließen, der beileibe kein Freund des Kaisers war: „Bonaparte … ist groß, weil er eine ordentliche und mächtige Regierung geschaffen hat, einen in verschiedenen Ländern angenommenen Gesetzkodex, Gerichtshöfe, Schulen, eine starke, tätige und intelligente Verwaltung, mit der wir noch heute leben; er ist groß, weil er Italien wieder zum Leben erweckt, aufgeklärt und überlegen verwaltet hat; er ist groß, weil er in Frankreich aus dem Schoße des Chaos die Ordnung wieder erstehen ließ, weil er die Altäre wieder errichtet hat, weil er die wütenden Demagogen in die Schranken wies …“
„Der Weltgeist …“ – in Deutschland verehrt und gefürchtet Die Deutschen haben Napoleon von Anfang an und bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts letztlich mehr Zustimmung als Ablehnung oder Hass entgegengebracht. Erst nach der Reichsgründung von 1871 verblasste der Napoleonmythos. Deutsche Dichter nehmen sich des Phänomens während seiner Erfolge auf dem Italienfeldzug an. Man sah ihn als Verkörperung der Revolution, Genie und Naturgewalt. Als solche besingt ihn grenzenlos begeistert Hölderlin in einer Ode. „Göttlicher Bonaparte“ und „neuer Prometheus“ waren nur zwei der ihm zugedachten Namen, und bei Vergleichen musste es mindestens Alexander, Hannibal, Caesar oder Karl der Große sein. Dass selbst Vertreter der romantischen Bewegung vor Napoleons Aura nicht gefeit sind, belegen die Brüder Schlegel, Ludwig Tieck, der Theologe Schleiermacher und ebenso Ludwig van Beethoven, der Napoleon immerhin
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seine 3. Sinfonie „Eroica“ widmete (später soll er dies enttäuscht zurückgezogen haben). Sie alle sahen ihn als die Verkörperung des romantischen Künstlers par excellence, des Genies, das die Welt nach seinen Vorstellungen formt. Vorübergehend genoss der damalige Erste Konsul in der Rolle als Friedensbringer große Verehrung. Mit den Friedensschlüssen von Lunéville und Amiens (1801/02) war endlich der Krieg in Europa vorbei, selbst der „Erzfeind“ Großbritannien schloss sich dem Frieden an. Dass diese Friedenszeit nur eine kurze Episode blieb, wusste niemand, und nur wenige ahnten es. Dem Friedensbringer widmet Hölderlin prompt einen Hymnus des „seligen Friedens“, gewidmet dem „Versöhnenden“. Ein anonym in Erfurt erschienenes Büchlein nennt „den Unerreichbaren und Unbegreiflichen“ „Stolz seines Zeitalters, des Jahrhunderts und des ganzen Menschengeschlechts“. Und der Göttinger „Revolutionsalmanach 1802“ betont in seiner Vorrede die hellen Aussichten des Lunéviller Friedens, die „großen Zuckungen von Parteiwut“ seien in Europa vorüber. Die „große Seele“ des „edlen Konsuls“ bürge für die Dauer „seines liberalen Benehmens und Handelns. Bonaparte war´s, der die Könige den Republiken näherte, die Anarchie erdrückte, den Frieden gebot, der der Republik, Europen, der Welt wohltätig war und bleibt.“ Der hochbetagte Johann Ludwig Wilhelm Gleim, Dichter der Aufklärungszeit, der bereits Friedrich II. besungen hatte, schreibt in Halberstadt ein Gedicht „An Napoleon, den Erhabenen zu St. Cloud“ und fordert den jungen Mann ehrfurchtsvoll auf: „Kröne dein Werk mit dem ewigen Frieden, erhabener Krieger!“ Napoleons Eingreifen in die deutschen Verhältnisse, seine letztendliche Liquidierung des alten Reiches, die Neuordnung der deutschen Kleinstaaten, Kriege und Repression führten wenige Jahre später zu einem Umschwung in seiner Einschätzung. Aber – falls dies ein Indikator für Verehrung ist – Goethe, Tieck, Jean Paul und die Schlegels waren vorübergehend nachweislich im Besitz einer Napoleonbüste. Und Goethe hielt ihm nach den legendären Zusammenkünften 1808 in Erfurt
„Der Weltgeist …“ – in Deutschland verehrt und gefürchtet
auf Dauer die Treue. Der Philosoph Hegel erblickte ihn leibhaftig in seiner Universitätsstadt Jena, kurz bevor er im Herbst 1806 die Preußen vernichtend schlug: „Den Kaiser, diese Weltseele, sah ich durch die Stadt zum Rekognoszieren hinausreiten; - es ist in der Tat eine wunderbare Empfindung, ein solches Individuum zu sehen, das hier auf einem Punkt konzentriert, auf einem Pferd sitzend, über die Welt übergreift und sie beherrscht. Den Preußen … war freilich kein besseres Prognostikon zu stellen – aber von Donnerstag bis Montag sind solche Fortschritte nur diesem außerordentlichen Manne möglich, den es nicht möglich ist, nicht zu bewundern.“ Auch Goethe greift die Vorstellung der Anima Mundi in seinem Gedicht „Weltseele“ auf. Demzufolge erhebt sich Napoleon über die Normalsterblichen, verkörpert ein Prinzip; da wundert es dann nicht mehr, dass Hegel in regelrechten NapoleonEnthusiasmus verfällt: „Keine größeren Siege sind je gesiegt, keine genievolleren Züge je ausgeführt worden.“ Hegels Kollege Friedrich Wilhelm Schelling, der bereits als Student am Tübinger Neckarufer einen Freiheitsbaum aufgestellt hatte, hofft schreibend aus München: „Die Revolution hat erst jetzt in Deutschland angefangen; ich meine nämlich, dass erst jetzt Raum wird für eine neue Welt.“ Der unmittelbare Kontakt mit dem Unvergleichlichen wirkt auf viele geradezu bezaubernd, so auf den preußischen Romantiker Achim von Arnim: „Vom grimmen Hass gegen Napoleon raffte mich sein Anblick fast zu einer Gottesfurcht gegen ihn hin.“ Der Umschwung sollte nicht ausbleiben. Spätestens nach 1806 sollte er Patriotismus im deutschsprachigen Raum entfachen. Hier nur so viel: Männer wie Ernst Moritz Arndt sahen in Napoleon das abgrundtief Böse, beschimpften ihn als dämonischen Geist. „Der neue Mongole und Sarazene aus Korsika“ war ein „erhabenes Ungeheuer“, die Personifikation des Bösen, Höllensohn, Feind Gottes und des Vaterlandes, den es noch zu schlagen galt. Gegen ihn, den vermeintlich Unbesiegbaren, sollten sich nicht zuletzt die Befreiungskriege richten.
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Deutschland unter Napoleon: Freiheit, Gleichheit, Besatzung?
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Deutschland unter Napoleon
Römerreich und „artiges Städtchen“: das alte Deutschland 14. Juli 1792: In Paris jährt sich zum dritten Mal die Erstürmung der Bastille. An der Seine brodelt es, denn mittlerweile hat man Österreich den Krieg erklärt – in wenigen Wochen wird eine aufgebrachte Menschenmenge die Tuilerien stürmen und die königliche Familie bedrohen. Just an diesem Sommertag findet in der Freien Reichsstadt Frankfurt am Main ein völlig anderes Ereignis statt. Dort wird der 24-jährige Habsburger Erzherzog Franz Joseph Karl, Sohn des verstorbenen Leopold II., als Franz II. zum Kaiser des Heiligen Römischen Reiches gekrönt, wenige Tage zuvor haben ihn die Kurfürsten gewählt. An diesem Julitag dürfte niemand geahnt haben, dass drei Monate später französische Revolutionstruppen unter General Custine die Stadt vorübergehend besetzen sollten und dass das festliche Geschehen dieses Tages nach Jahrhunderten das letzte seiner Art sein würde. An den Wahl- und Krönungszeremonien drückte sich noch immer die Pracht und Herrlichkeit eines Imperiums aus, das für die meisten Zeitgenossen nicht mehr so recht fassbar war. In Frankfurt war das allerdings kein Thema: Immerhin hatte sich die stolze Reichsstadt seit dem 16. Jahrhundert als Wahl- und Krönungsort anstelle der alten karolingischen Residenz Aachen zur Verfügung gestellt. Hier wie dort sahen sich die Herrscher, von seit mehr als dreieinhalb Jahrhunderten in fast ununterbrochener Folge von den Habsburgern gestellt, als Nachfolger Karls des Großen und des Staufers Friedrich Barbarossa. Das Zeremoniell wurde diesem historischen Anspruch gerecht. Jene Fürsten des Reiches, denen die Wahl zustand, zogen vom Rathaus, dem Römer, zum Dom St. Bartholomäus. Zu diesen Kurfürsten gehörten 1792 die drei Erzbischöfe von Mainz, Köln und Trier, der König von Böhmen (der zu wählende Kaiser), der Markgraf von Brandenburg, das heißt König Friedrich Wilhelm II. von Preußen, schließlich die Herzöge von Sachsen, Bayern-Pfalz und Braunschweig-Lüneburg (Hannover, dessen
Römerreich und „artiges Städtchen“
Herrscher in Personalunion der englische König Georg III. war). Nach der Messe im Kaiserdom zogen sie sich zu einer Art Konklave in die Wahlkapelle zurück – Überraschungen waren nicht zu erwarten, den Habsburgern gebührte als mächtigstem deutschen Fürstengeschlecht die Krone. Das Ergebnis der geheimen Wahl wurde noch im Dom verkündet, und der Gewählte leistete vor dem Mainzer Erzbischof seinen Eid. Tage später dann die Krönung umrahmt von einem festlichen Hochamt, um dessen Leitung sich die geistlichen Kurfürsten von Köln und Mainz im Laufe der Jahrhunderte immer wieder stritten. In jüngerer Zeit hatte der Mainzer meist die Nase vorn: Er krönte und salbte den neuen Kaiser. Diese Zeremonie begleiteten unzählige Besucher, nicht nur die Kurfürsten, auch die anderen Reichsfürsten, die zahlreichen Vertreter der Reichsstände, der Rat der Stadt Frankfurt und nicht zuletzt die ausländischen Delegationen. In ihrer Anwesenheit empfing der Kaiser nicht nur die Karl dem Großen zugesprochenen Gewänder, sondern auch die Reichsinsignien, vor allem Zepter, Reichsapfel und Reichskrone. Mit dem so gewandeten neuen Kaiser in seiner Mitte bewegte sich der Krönungszug durch das Nordportal des Doms zum Römer, wo das Krönungsmahl und weitere Feierlichkeiten warteten. Dass Plätze und Straßen voll von Schaulustigen waren, schildert Goethe in „Dichtung und Wahrheit“. Im April 1764 erlebte er im Alter von 14 die Krönung Josephs II. Stand und Ansehen seiner Familie hatten ihm sogar einen Platz im Römer selbst verschafft. Dort beobachtete er von oben die Massen, die insbesondere von einem weinspendenden Springbrunnen mit dem kaiserlichen Doppeladler angezogen wurden ... und von einer Bretterhütte, in der ein fetter Ochse am Spieß gedreht wurde und auf die hungrigen Besucher wartete. Seitenlang geht Goethe auf die Pracht der höfischen Inszenierungen ein, die das Auge des Knaben geradezu ermüdet hätten. Dazu gehörte neben dem Geschilderten auch die Ankunft der Delegationen aus Aachen und Nürnberg, welche die Reichskleinodien in den Dom brachten. Dann die gesonderte Ankunft
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Das Heilige Römische Reich 1789
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Reichsgrenze
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der drei geistlichen Kurfürsten. Und zu guter Letzt der Krönungszug selbst: „Nun verkündigte der Glockenschall und nun die Vordersten des langen Zuges …, daß alles getan sei. Die Aufmerksamkeit war größer denn je, der Zug deutlicher als vorher … Nur zu sehr drängte sich am Ende die Pracht: denn die Gesandten, die Erbämter, Kaiser und König unter dem Baldachin, die drei geistlichen Kurfürsten, die sich anschlossen, die schwarzgekleideten Schöffen und Ratsherren, der goldgestickte Himmel, alles schien nur eine Masse zu sein, die nur von einem Willen bewegt, prächtig harmonisch und soeben unter dem Geläute der Glocken aus dem Tempel tretend, als ein Heiliges uns entgegenstrahlte.“ So strahlte die Pracht des Heiligen Römischen Reiches, das sich in Anlehnung an Karl den Großen als Nachfolger des antiken Imperium Romanum sah. Das später hinzugefügte Sacrum betonte die herausgehobene Stellung des Reiches über alle anderen Monarchien des Abendlandes. Dieses einzigartige imperiale Gebilde litt bereits im Mittelalter unter dem Widerspruch von Anspruch und Wirklichkeit. Ein supranationales Reich wollte man sein, das nicht nur die deutschen Länder umfasste (darum der spätere, selten verwendete Zusatz „deutscher Nation“), sondern vor allem auch Italien und Burgund. Es war zum Teil diesem Konflikt geschuldet, dass sich im Gegensatz zu Frankreich und England in Deutschland kein einheitliches Königtum entwickelte. Die Schwerpunkte der praktischen Politik lagen in den Territorien der einzelnen Fürsten. Deren Einflüsse drückten sich bis zum Ende des Reiches darin aus, dass eine Auswahl den Herrscher zu wählen hatte, dass somit das Reich keine Erbmonarchie war. Daran hatte sich auch im 18. Jahrhundert nichts geändert. Die territoriale Zersplitterung war enorm, die Grenzen diffus, die Rivalitäten untereinander bedrohlich, äußere Einflüsse groß. Das Imperium umfasste mehr als 300 souveräne Fürstentümer, dazu kamen teils winzige reichsunmittelbare Territorien in vierstelliger Zahl, darunter Abteien und die zahlreichen Reichsritter. Einige Monarchien wie der Vielvöl-
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kerstaat Österreich und das aufstrebende Königreich Preußen umfassten auch Gebiete über die Reichsgrenzen hinaus. Andererseits gehörten ausländische Monarchen als deutsche Landesherren zu den Reichsfürsten, so der dänische König als Herzog von Holstein und der englische, der auch Kurfürst von Hannover war (offiziell „Chur-BraunschweigLüneburg“). Zu den Petitessen des Reiches gehörten Ländchen wie die Grafschaft Hohengeroldseck im Schwarzwald, die eine Handvoll Dörfer mit 4500 Einwohnern ihr eigen nannte. Ob klein oder groß: Die Reichsfürsten behaupteten und stärkten ihre Souveränität, sie konnten eigene Gesetze erlassen, Zölle erheben und sogar Bündnisse mit ausländischen Mächten eingehen. Der Kaiser hatte dementgegen außerhalb seiner Erbländer fast nur formale Aufgaben. Er zehrte vom imperialen Prestige, das im Fall der Habsburger den Hof zu Wien umgab. Macht über die Reichsgrenzen hinweg konnte sich unter solchen Verhältnissen nicht entfalten. Aber immerhin: Dem bizarren Gebilde war es nach den furchtbaren Jahrzehnten des 30-jährigen Krieges (1618–48) gelungen, den Frieden zu wahren und die verschiedenen Konfessionen sowie die deutschen Großmächte an einen Tisch zu bringen. Dafür sorgten neben dem Kaiser vor allem der Immerwährende Reichstag in Regensburg, in dem seit 1663 in Permanenz die Gesandten der Fürsten, Grafen, Prälaten und Reichsstädte tagten. Dort beriet man sich unter dem Vorsitz des Kurerzkanzlers, des Erzbischofs von Mainz bzw. seines Vertreters, über Vorschläge des Kaisers, gab Stellungnahmen ab, wartete auf das Gutachten des Erzkanzlers oder gar auf die Zustimmung des Kaisers. Um es kurz zu machen: Die Verfahren dauerten lang und wurden in ihrer Kompliziertheit nur von Fachleuten durchschaut, was letztendlich zu immer weniger Beschlüssen führte. Im 18. Jahrhundert kam es immerhin zur Verabschiedung einer Reichshandwerksordnung (1731), die das Zunftwesen regelte. Das war´s – eine Reichsmünzordnung scheiterte wenige Jahre später. Ebenso konnte das Reichskammergericht in Wetzlar, der junge Goethe lernte es als Jurist kennen, als löbliche Einrichtung bezeichnet werden. Wer es allerdings
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anrief, benötigte viel Zeit. So hatte man 1654 eine Kommission für unerledigte Revisionen ins Leben gerufen, die erst über 100 Jahre später ihre Arbeit beendete. Als historisches Verdienst mag dem späten Heiligen Römischen Reich angerechnet werden, dass es den konfessionellen Frieden zu wahren wusste und das Gefühl einer gewissen Rechtsstaatlichkeit vermittelte. Aber im Zeitalter der Aufklärung war dies zu wenig. Die modernen Zeiten erforderten Tempo, wie es die Franzosen seit 1789 in atemberaubender Weise vormachten. Die Kritik am Reichsmonstrum wuchs deshalb. Nach einer Stimme sollte die Reichsverfassung kurz vor Ausbruch der französischen Revolution in Wien, Regensburg und Wetzlar „noch am meisten sichtbar sein“. Voltaire hatte aus der französischen Sicht bereits lange vorher gemault, dieses Gebilde sei weder heilig noch römisch noch ein Reich. Und Goethe bringt es poetisch auf den Punkt, wenn er vom „durch so viele Pergamente, Papiere und Bücher beinah verschütteten deutschen Reich“ spricht. Vorerst blieb es beim geradezu metaphysischen Reichsgebilde und seinen so ungleichen Territorien. Typisch für die deutschen Verhältnisse mag die Tatsache sein, dass gegen Ende des 18. Jahrhunderts nicht die großen Städte wie Wien oder Berlin als kulturelles Herz gesehen wurden, sondern die kleine Residenzstadt Weimar in Thüringen mit ihren rund 10 000 Einwohnern. Hier residierten die Herzöge von Sachsen-Weimar (der Zusatz „Eisenach“ kam später hinzu) über ein Gebiet, das ein gutes Stück größer als das heutige Saarland war, aber in drei größere und einige kleinere voneinander getrennte Teile zerfiel. Immerhin konnten diese thüringischen Fürsten neben Weimar auch das Städtchen Jena mit seiner Universität ihr Eigen nennen. Letztlich war es jedoch den Initiativen des seit 1775 regierenden Herzogs Carl August zu verdanken, dass Weimar als geistiges und kulturelles Zentrum als en vogue galt und die Universität Jena Berühmtheit erlangte. Der Herzog holte den jungen Goethe an seinen Hof, der mit Wieland, Herder und anderen das Zentrum der legendären Weimarer Klassik bildete. Dazu Friedrich Schiller in der nahen Universität, später kamen Schelling,
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Fichte und Hegel hinzu. Und mit den Brüdern Schlegel und den Freunden Clemens Brentano und Achim von Arnim entwickelte sich Jena zum Mittelpunkt der Frühromantik. Bleiben wir in Weimar, das der Theologe und Schriftsteller Wölfling 1796 mit großen Erwartungen besuchte, die jedoch enttäuscht wurden: „… ein mittelmäßiger Ort, dessen Gassen weder an Reinlichkeit und Anlage noch an Bauart der Häuser dem heitern und luftigen Gotha gleichkommen. Die Häuser sind meistens dürftig gebaut, und es hat mir alles so das armselige Ansehen einer nahrlosen Landstadt. Man darf sich nicht weit von den Hauptstraßen entfernen, um in Winkel und Löcher zu kommen, welche dieses Ansehen noch mehr gewinnen. Kein einziger Platz ist, der der Stadt eine residenzähnliche Ansicht gäbe. Das alte Schloß ist längst abgebrannt; der Hof wohnt in dem Landschaftshause, und mit der Erbauung eines neuen Residenzschlosses geht es sehr sparsam. Man hat dem Herzoge geraten, einen anderen Platz darzu zu wählen, welches er auch willens war. Allein, der alte Platz hat noch einen kostbaren Grund, der auf 300 000 Taler geschätzt wird, und 300 000 Taler zu einem neuen Grunde möchten nicht so leicht vorrätig sein.“ Die praktischen Empfehlungen für den Besucher fallen wenig hoffnungsfroh aus: „Sie suchen ein Hotel, und da weist man Sie nach dem „Elephanten“. Aber Bedienung, Essen und Wein sind … Der Tisch ist dennoch teuer.“ Auch in anderer Hinsicht gelangt Wölfling zu einem kritischen Resümee: „Unter den 11 000 Menschen, welche die Stadt bewohnen, ist bei weitem die größte Zahl eine Rasse von kleinstädtischen Spießbürgern … Die guten Köpfe und Genies, welche Weimar in Ruf gebracht haben, verlieren sich mit ihren Studierwinkeln, in welchen sie nach Ideen konzipieren und Bücher zur Welt bringen, wie einzelne leuchtende Punkte am Himmel. Sie sind mehr fürs große Publikum des Auslandes als für den einheimischen kleinen Staat, in dessen Hofschatten sie sich laben und sonnen.“ Wie stark Eindrücke subjektiver Natur sind, zeigt sich an einem anderen Besucher, dem Historiker Joseph Rückert, der Weimar 1799 gera-
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dezu enthusiastisch vorstellt: „Sie bildet den Gipfel des deutschen Parnasses mit seinen obersten Göttern, die sich hier zu einem glänzenden Kreis versammelt haben. Fast alle Musen wohnen an diesem schönen Ort einheimisch, wie auf ihrem mütterlichen Boden, und haben sich, und ihren Freunden, hier gegen die Barbarei der Zeit und ihrer Feinde längst ein schützendes, jetzt vielbesuchtes Asyl erbaut.“ Das „körperliche“ wie das „poetische“ Weimar erfreue deshalb den „wallfahrenden Kunstjünger“. Schließlich noch die Stimme einer großen Reisenden, Madame de Staël, die 1810 an die Ilm kam: „Weimar war nicht eine kleine Stadt, sondern ein großes Schloß. Ein ausgewählter Kreis unterhielt sich dort mit regem Interesse über jedes neue Erzeugnis der Kunst. Frauen, liebenswürdige Schülerinnen einiger hochbegabter Männer, beschäftigten sich unaufhörlich mit den Werken der Literatur wie mit politischen Ereignissen von höchster Wichtigkeit. Durch Lektüre und Studium nannte man das Weltall sein eigen und entschlüpfte durch die Weite des Denkens den engen Grenzen der bestehenden Verhältnisse …“
Links des Rheins: „Französisch-Deutschland“ „Vorübergehende – dieses Land ist frei“ – So verkündeten seit Goethes Campagne in Frankreich französische Inschriften auch bald in Ländern des Heiligen Römischen Reiches. Denn im Oktober 1792 gelang den Revolutionstruppen zumindest vorübergehend ein furioser Vormarsch Richtung Rhein, den General Custine nach der Einnahme von Speyer, Worms und Mainz sogar überschritt, um Frankfurt zu besetzen. Zwar musste sich Frankreich wieder zurückziehen, doch im Oktober 1794 gelang es seinen Truppen endgültig, am Rhein Stellung zu beziehen. Nach den Niederlanden und den Österreichischen Niederlanden (dem heutigen Belgien) eroberte es den gesamten Nieder- und Mittelrhein. Hier soll nicht auf die Schlachten, Siege und Niederlagen des 1. Koaliti-
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onskrieges eingegangen werden, der nach seinem Beginn 1792 bis 1797 währte und schließlich nach Bonapartes Erfolgen in Oberitalien zum Frieden von Campo Formio führte. Soviel aber sei gesagt: Der französische Hauptgegner Österreich musste seine westlich gelegenen Territorien und Teile Italiens aufgeben. Die Konsequenz dieser bitteren Niederlage war, dass die französische Republik bis zum Rhein auf dessen ganzer Länge vorrückte. Die Pfalz, Rheinhessen, sämtliche rheinischen Gebiete links des Rheins gehörten von nun an zu Frankreich (der Norden davon de facto bereits seit 1794). Vor allem aber: Die deutschen Großmächte Österreich und Preußen erkannten die linksrheinischen Verluste an (dazu unten mehr). Und sie planten Entschädigungen rechts des Stroms – was epochalen Eingriffen in die Struktur des Imperium Romanum gleichkam. Außerdem entstanden jenseits der Reichsgrenzen mit der Batavischen und Helvetischen Republik revolutionäre Töchter der Pariser Regierung, die deren Machtbereich zuzuschlagen waren. Es fehlte noch die völkerrechtliche Sanktionierung der neuen Verhältnisse. Sie erfolgte 1801 im Frieden von Lunéville: Die Gebiete zwischen Speyer und Kleve waren nun Teil Frankreichs. Eine Politik der Eingliederung in das Mutterland betrieb man allerdings bereits seit 1797, teils sogar seit 1794. „Französisch-Deutschland“ existierte damit längstens zwei Jahrzehnte. Wie erlebten dies die Rheinländer und Pfälzer? Anfangs zweifelsohne mit Angst und Sorge vor dem Furor des Krieges. Die blutigen Ereignisse der Revolution hatten unter der Bevölkerung erschreckende Eindrücke hinterlassen. Und verbargen sich hinter der „neufränkischen Maske“ nicht lediglich jene Heerscharen, die 100 Jahre zuvor auf Befehl Ludwigs XIV. große Gebiete des westlichen Deutschland mit Krieg überzogen und verheert hatten? Die systematische Ausplünderung der Pfalz im Winter 1793/94 sprach ebenso dafür wie das Niederbrennen der Stadt Kusel im darauffolgenden Sommer. Obwohl diese Strafaktion wegen der fälschlich unterstellten Herstellung von Falschgeld später immerhin eine gewisse Wiedergutmachung erfuhr, blieb die Vertrei-
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bung der Einwohner und die Plünderung ihrer Häuser in Erinnerung. Größere und kleinere Vorfälle dieser Art gab es zuhauf, zumal die revolutionäre Soldateska oftmals nicht unter Kontrolle zu bringen war. Aber die 20-jährige Besatzung respektive Zugehörigkeit zu Frankreich war nur in den Anfangsjahren derart kriegerisch gesprägt. Später sollte hier sogar ausgesprochene Ruhe herrschen, während in anderen Teilen Deutschlands der Krieg tobte. Anfänglich wollte man den vermeintlich unterdrückten Deutschen durchaus mit Elan die neue Freiheit bringen. Custine interpretierte sie in Mainz als freie Wahl der Regierungsform nach dem „eigenen, ungezwungenen Willen“. Eine solche Entscheidungsfreiheit ließ sich natürlich auf Dauer nicht halten. Insofern erfuhren die bereits weiter oben erwähnten Patrioten in den besetzten Gebieten Unterstützung. Aber letztlich wollten weder Parlament (wie immer es gerade hieß) noch Regierung in Paris eine Mainzer oder eine Cisrhenanische Republik. Das Land links des Rheins sollte französisch sein. Nicht mehr und nicht weniger. Der Kommissar der Sambre-Maas-Armee erklärte etwa im Oktober 1794 den Kölnern, er wolle nur, dass man „friedlich und ruhig“ bleibe. Man wolle sich nicht in die Regierungsangelegenheiten anderer Völker einmischen, obwohl man ihren Irrtum bedauere. Paris rückte zunehmend von der Überzeugungsidee ab und wollte den „Despotismus der Freiheit“ gegen jeglichen Widerstand durchsetzen. Und dann kam noch etwas anderes hinzu: Auch oder gerade eine von König und Feudalismus befreite Nation bestand auf ihrer „natürlichen Grenze“ und das war eben im Osten der Rhein; nach dieser „Doktrin“ gehörte das Rheinland von Natur aus zu Frankreich. Da gab es nichts zu verhandeln. Außerdem hatte sich die revolutionäre Nation ein eigenes politisches System geschaffen, das in allen Gebieten herrschen musste. Und das basierte auf den Prinzipien der Freiheit und Gleichheit seiner Bürger. Da nutzte es dem politischen Establishment der ehemals freien Reichsstadt Köln wenig, dass Bürgermeister DuMont sogar nach Paris reiste,
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um für die traditionellen Freiheiten zu sprechen und ihren Erhalt zu erbitten. Der Freiheitsbaum auf dem Kölner Neumarkt, nun Place des victoires geheißen, kündete von ganz anderen Freiheiten. Der aus Franken stammende zeitweilige Jakobiner, Publizist und hochdekorierte Richter unter Napoleons Herrschaft Georg Friedrich Rebmann (1768– 1824) hat als überzeugter Anhänger der Aufklärung dies auf den Punkt gebracht: „Man zwang das Volk zur Freiheit“. Freiheit, mit Restriktionen verbunden: Die Bevölkerung hatte in unterschiedlichem Maße Kontributionen zu entrichten, also für die Befreiung zu bezahlen. Sie hatte sich völlig fremden Gepflogenheiten zu fügen, etwa sich mit „Du“ anzureden und „Bürger“ (citoyen) bzw. „Bürgerin“ (citoyenne) zu nennen. Überhaupt das Französische: In gebildeten Kreisen war dessen teils exquisite Beherrschung ein Erbe des Ancien Régime. Aber der Bauer und einfache Bürger im Pfälzer Wald oder der Eifel sprach üblicherweise nicht mehr als seinen heimischen deutschen Dialekt. Bei Behörden herrschte zwar Zweisprachigkeit, aber in der Praxis standen sich das offizielle Französisch und das Deutsch des Alltags unversöhnt gegenüber. Vieles weckte den Widerstandsgeist, so im Rheinland das Verbot von Karnevalsmasken und die Nichtduldung religiöser Symbole, ein Ausdruck der kirchenfeindlichen Politik, die das Wirken der Priester und Gottesdienste rigoros einschränkte. Die zentralistischen Behörden hatten auf alles ein Auge, darunter auch auf die Handhabung der revolutionären Zeitrechnung. – Allerdings erfreute sich der neue Kalender im Rheinland offensichtlich genauso wenig Beliebheit wie im Mutterland. Jedenfalls erkundigte sich noch 1797 der Kölner Magistrat bei Generaldirektor Pruneau, „was für ein Datum eigentlich sei“. Dass jedoch die französische Herrschaft neben den schlechten auch gute Seiten hatte, belegt der Bauer Joan Peter Delhoven aus Dormagen am Niederrhein, der zum 1. Januar 1795 in einer Chronik vermerkte: „Sind wir glücklicher geworden? Noch nicht! Freyer? Ebensowenig! … so hatte man sich auch die Göttin Freyheit nicht vorgestellt. Die grausamen Requisitionen und das Papiergeld, womit dem Landmann alles
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bezahlt wird, und wofür er in Städten nicht haben kann, sind der Knoten; da er doch nicht vom Brodt allein leben kann. Jetz erscheint der lezte Befehl, alle Früchten ausdreschen. Vor jeden Kopf bleibt bis zur Erndte ein Mld. Korn hier; das Urbrige muss alle nach dem Magasinen gebracht werden, wo es in Nationalmünze bezahlt wird … Erfreuend ist hingegen die Vorstellung, dass der geistliche Tyrannenzepter zerbrochen ist; wenns so fortgeht, so werden wir keinen Zehnden mehr geben, und nicht, wie ehmal bey den Knechsteiner Mönchen, – zu unserem Geld – um Holz zu betteln; denn jetzt fährt und trägt alles, was nur kann, von dem Knechsteiner Busch …“ Die Abtei Knechtsteden, auf die er hier Bezug nimmt, wurde im Übrigen von der Bevölkerung verwüstet, Altäre, Orgel, Kanzel, Beichtstühle, alles, was aus Holz war, fiel der sofortigen profanen Nutzung anheim. In sämtlichen französischen Teilen Deutschlands standen sich in der Tat Vor- und Nachteile gegenüber. Zu den Letzteren gehörte eine rigorose Steuerpolitik, außerdem stellte nun der Rhein eine Zollgrenze dar, die alte Verbindungen zerschnitt und darum zum Verlust lokaler Absatzmärkte führte. Zu den Vorteilen zählten gewisse Errungenschaften der Revolution, die sich mit der Festigung des Regimes immer mehr durchsetzten: die Abschaffung der Feudalrechte und des Kirchenzehnten, die Aufhebung des Zunft- und Innungszwangs, was einer Gewerbefreiheit gleichkam; außerdem die Gleichheit aller vor dem Gesetz, über das eine öffentliche und unabhängige Justiz zu wachen hatte. Derartige Bürgerrechte fanden ihren Höhepunkt im 1804 von Napoleon erlassenen Code Civil, dessen Bestimmungen im Rheinland bis 1900 galten und erst vom Bürgerlichen Gesetzbuch abgelöst wurden. Die Entmachtung der Kirche drückte sich auch in der Zivilehe und dem Scheidungsrecht aus. Und noch ein Letztes: Die Religionsfreiheit stellte die christlichen Konfessionen und bestenfalls auch die Juden gleich. Ähnliche gesellschaftliche Maßnahmen hatten zwar aufgeklärte deutsche Fürsten ebenfalls eingeleitet, aber erst das revolutionäre Frankreich setzte sie in dieser Gänze durch.
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Was in Deutschland fehlte, waren dauerhafte politische Stabilität und wirtschaftlicher Aufschwung, wie sie Napoleon seit seiner Machtübernahme als Erster Konsul und Kaiser durchsetzte. Vielen revolutionären Bestimmungen nahm er schließlich die Schärfe, durch ein Konkordat mit dem Papst führte er eine Versöhnung mit der Kirche herbei (wenn auch zu seinen Gunsten), später schaffte er den ungeliebten Revolutionskalender wieder ab. Im September 1802 verfügte er die volle rechtliche Gleichstellung für die linksrheinischen Gebiete. Das bedeutete, dass Rheinländer und Pfälzer in ihrem neuen Mutterland „angekommen“ waren. Ganz so einfach verlief dieser Prozess nicht, aber die zustimmenden Stimmen zum neuen Landesherrn waren doch sehr beachtlich. Ein Blick zurück zeigt das Rheinland 1790 als einen territorialen Flickenteppich kurkölnischer, kurtrierischer sowie kurmainzischer Gebiete, vom Herzogtum Jülich, den Reichsstädten Köln und Aachen, der bayerischen Pfalz und den Besitzungen des Markgrafen von Baden, – um nur einige größere zu nennen – ganz zu schweigen. An die Stelle der unüberschaubaren Verhältnisse des Heiligen Römischen Reiches war seit 1798 eine einheitliche Verwaltung getreten mit dem Departement de la Roer, das sich vom Niederrhein bis Aachen erstreckte, dem Departement de Rhin et Moselle, das von Bonn bis zur Nahe reichte und große Teile von Eifel und Hunsrück umfasste, dem Departement de la Sarre von Blankenheim in der Nordeifel über Trier bis an die Saar und dem Departement du Mont Tonnerre mit Rheinhessen und der Pfalz. Alle linksrheinischen Departements gliederten sich wie im Mutterland hierarchisch in Arrondissements und Kantone. Ob gleiche Rechte und Pflichten, ob eine einheitliche Verwaltungsgliederung, eine Einheitswährung von Franc und Centime oder die gesellschaftliche Erschließung durch den Staat, das französische System führte die Moderne ein, so wie sie uns heute vertraut ist. Dazu gehört zum Beispiel das Zivilstandsregister, das der Elsässer Franz Joseph Rudler als Regierungs-
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kommissar eingeführt hat. Es löst bei Geburten, Todesfällen und Heiraten die kirchlichen Aufzeichnungen ab. Politisch honorierten die Neufranzosen diese bürgerlichen Vorteile mit ihrer Loyalität gegenüber Napoleon. Dieser zeigte sich auf Rundreisen mit seiner Gemahlin durch die Rheinlande, wo er stets ausgiebig und hoch interessiert Fabriken und Industrieaustellungen besuchte und Befestigungsanlagen nebst Garnisonen inspizierte. Werfen wir einen Blick auf Aachen, das er gern besuchte und sehr bewusst als Stadt Karls des Großen wahrnahm. Hier weilte er im September 1804 mehr als eine Woche, während Kaiserin Josephine (die Krönung erfolgte erst im Dezember) bereits vorher eine Kur begonnen hatte. Napoleon zieht mit großem Pomp in der alten Krönungsstadt des Heiligen Römischen Reiches ein: Glocken läuten, Kanonen schießen, ein provisorisch aufgebauter Triumphbogen mit seiner Büste feiert den Kaiser als Vainqueur et Pacificateur („Sieger und Friedensstifter“); Bürgermeister und Gemeinderat überreichen die Stadtschlüssel auf einer goldenen Schale. Der Geehrte sitzt in einem achtspännigen Wagen, umgeben von grün gewandeten Garde-Jägern und Garde-Grenadieren mit ihren schwarzen Bärenfellmützen. Es folgen der Stiefsohn Eugène des Beauharnais, Außenminister Talleyrand, Generäle und weiteres Gefolge. Gerade in Aachen scheinen sich Politiker, ja selbst nicht mehr verfolgte Adlige und große Teile der Bevölkerung einiges vom französischen Kaiser zu versprechen. Denn in diesem Jahr treibt Napoleon die Verwirklichung seines Empire um, das er mitnichten aus dem Nichts schaffen wollte. Aber an welche Traditionen konnte er anknüpfen? Die verfemten Bourbonen verboten sich von selbst; blieb Karl der Große, den Deutsche wie Franzosen als eine Art Stammvater verehrten. Und machte er es nicht selbst wie der große Frankenherrscher, hatte er nicht ein Reich geeint und befriedet, dazu Italien gewonnen? Das Heilige Römische Reich war so gut wie vergangen, und Napoleon ist der wahre Nachfolger Karls. Pariser Regierungsorgane wie der Moniteur haben bereits diese Parallelen gezogen, das Journal des Paris schreibt: „Es gibt
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in Europa nur eine Hand, die fähig ist, den Säbel Karls des Großen zu tragen, die Hand Bonapartes des Großen.“ Diesem lag viel daran, den Aachener Dom zu besuchen und am Grab und Thron Karls des Großen zu verweilen. Erzbischof Berdolet, ein Anhänger Napoleons und von diesem auf den von Köln nach Aachen verlegten Bischofssitz lanciert, begrüßt ihn in der ehemaligen Pfalzkapelle: „Sire! Bei Ihrem Eintritt in diesen Tempel wird die Asche Karls des Großen wieder lebendig, sein Schatten lächelt Napoleon zu, und die Seelen der beiden Helden vereinen sich … Heute betritt Napoleon, der Befreier des Vaterlandes und der Wiederhersteller des abendländisches Kaiserreichs, diesen altehrwürdigen Tempel…“ Die Erneuerung des karolingischen Reiches war ein wahrhaft historisches Konzept, das die Aachener gern aufgriffen. Der Maire Kolb bringt seine Sehnsüchte auf den Punkt: „Die alte Hauptstadt des Occidents, die in der erhabenen Person des Kaisers Karl des Großen ihren Gründer verehrt, wagt ihr Wiederaufblühen und die Wiederherstellung ihres alten Ruhms unter der Herrschaft des großen Erneuerers des Kaiserreichs zu erhoffen, der der würdigste Nachfolger des ersten Kaisers von Frankreich geworden ist.“ Aachen witterte die Chance, aus einer Randlage des alten Reiches zurück ins Herz eines neuen Weltreiches zu wechseln. Und in der Tat soll Napoleon vorübergehend erwogen haben, die anstehende Krönungszeremonie in der Karlsstadt zu vollziehen; schließlich hatte man sich doch für NotreDame in Paris entschieden. Aachen erhielt aber immerhin im folgenden Jahr die berühmte Bronzestatue Karls des Großen zurück, die wie viele andere Denkmäler nach Frankreich geschafft worden war. Zwanzig Jahre fungierte der Rhein als Grenze eines modernen Nationalstaates, der linkes und rechtes Ufer voneinander trennte und damit Menschen einer Sprache und Herkunft. Über die Strenge dieser Grenze sollte man sich jedoch nicht zu viele Gedanken machen, Bootsausflüge nach hüben und drüben waren durchaus üblich. Der Rhein war kein „Todesstreifen“. Aber gleichwohl nahm man von deutscher Seite, die aus zahlreichen Staaten bestand, das Schmerzliche wahr. Ein Beispiel für
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einen Grenzwechsel bieten die Tagebuchaufzeichnungen des später berühmt gewordenen Romantikers Joseph von Eichendorff. Im Sommer 1807 besucht der 19-Jährige gemeinsam mit seinem Bruder Wilhelm von ihrem Studienort Heidelberg aus das nahe Speyer. Ersteres gehört mittlerweile zum jüngst von Napoleon zum Großherzogtum erhobenen Baden, einem engen Verbündeten, Letzteres zum Kaiserreich Frankreich. Dort wollen sich die beiden Studiosi durchziehende spanische Truppen anschauen, die anscheinend den Touch des Exotischen hatten. Am 15. Juli holen sie sich „die Pässe nach Speyer in Frankreich“ ab, und am nächsten Tag geht es in aller Frühe mit einem Cabriolet, einem offenen Zweispänner, los: „Endlich bei anbrechendem Tage erhoben sich schon aus weiter Ferne die alten Türme von Speyer, das wie eine große Ruine dunkel und zackig da liegt. Ein Dammweg führte uns durch eine noch immer wilde Gegend, die vor uralten Zeiten ein Teich gewesen zu sein scheint, bis an den königlichen Rhein, den wir also heute zum ersten Male erblickten … Hier wurden wir übergefahren, während ein Rheinschiff, das schon zwei Masten hat, auf uns zukam. Nun standen wir denn zum ersten Male auf französischem Boden. Vom Rhein bis Speyer fuhren wir noch ein kleines Viertelstündchen und wurden dann am Tor von einem französischen Grenzjäger, der sich ganz höflich die Visite de la Carosse ausbat, untersucht. Wir kehrten am Tor beim Einhorn ein. Nach eingenommenem Frühstück ging ich mit Wilhelm in die Stadt, die, ein rührender Trümmer alter deutscher Kraft und Herrlichkeit, immer unbedeutender wird und bange Empfindungen erweckt. Unser erster Gang war durch die ungeheueren Ruinen der gewesenen Dom-Dechantei …, wo wir durch ein Lugfenster, in das wir ganz hineinkrochen, in ein schauerliches mit Säulen befestigtes Gruftgewölbe (die Krypta) des Domes, worin ein herrliches Echo, hinabschauten. Der Dom selbst ist ein ungeheures, schönes Gebäude, vorn mit Säulen und Kuppeln, schon über achthundert Jahre alt, und erst seit der Revolution Ruine. Wir gingen nun in das Innere der Kirche, wandelten auf der steinernen Galerie, … von der aber eine himmlische Aus-
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sicht auf den Rhein herum, guckten durch ein Loch in die vermauerte Gruft, wo die vier deutschen Kaiser … begraben liegen und gingen dann vor das andere Tor hinaus, wo wir Bekannte trafen. Fruchtbarkeit ringsumher. Spaß mit den Bauernmädchen, die hier ausnehmend schön sind … An einer alten viereckigen Mauer, von wo man eine himmlische Aussicht hat auf ein herrliches Tal mit zerstreuten Ruinen und auf die Vogesen, erwarteten wir die Spanier … Wir aßen am Table d´hôte’, wo ein ganzer Schwarm Studenten und auch ein sehr stiller und höflicher Franzose mitaß. Heimliches Gespräch zweier Bauern (Es ist nicht länger auszuhalten!) … Gleich nach Tische fuhren wir wieder fort. Am Rheine gab es viel Spaß, indem wir mit vielen Studenten und zwei Engländerinnen auf einer Fähre waren.“ Gegen sieben Uhr wieder in Heidelberg, „wo wir halbtot von Staub und Hitze uns augenblicklich in den Neckar warfen.“ Was besprachen die beiden unzufriedenen Pfälzer Bauern? Kollaborierten sie gegen Napoleon oder trieben sie private Gründe? Eichendorffs Beobachtungen der vergangenen deutschen Reichsherrlichkeit wirken wie ein Impuls der romantischen Bewegung. Deren Vertreter sollten die Zukunft Deutschlands nämlich in den Ruinen des Mittelalters suchen.
Das Ende des alten Reiches und das neue Deutschland Als die Brüder Eichendorff im Sommer 1807 die alte deutsche Kaiserstadt Speyer in Frankreich besuchten, war das alte deutsche Reich unwiderbringlich Vergangenheit. Denn in nur wenigen Jahren hatten sich nach dem Verlust der linksrheinischen Gebiete die territorialen und politischen Verhältnisse in Deutschland grundlegend verändert. Den letzten Anlass dazu boten die Kämpfe des Jahres 1805, gemeinhin als Dritter Koalitionskrieg bezeichnet. Die Friedensverträge zu Beginn des Jahrhunderts vor allem zwischen Frankreich und England hat-
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ten nicht dauerhaft gehalten. Mit dem Ergebnis, dass Napoleon nun mehr oder weniger offensichtlich eine Invasion über den Kanal plante, während England wo immer möglich seine Gegner förderte und unterstützte. Schließlich fand sich unter britischer Regie eine neue Koalition mit Russland, der sich Österreich und als kleinere Partner Schweden und das bourbonisch regierte Königreich Neapel anschlossen. Die Truppen Zar Alexanders I. und des deutsch-österreichischen Kaisers Franz II. trugen die Hauptlast des bevorstehenden Krieges, den sie in Oberitalien siegreich führen wollten. Napoleon kam ihnen jedoch zuvor, indem er nördlich der Alpen seine Offensive startete, die unmittelbar auf Wien und damit das Herz des Gegners zielte. Um dorthin zu gelangen, mussten die französischen Truppen Süddeutschland durchqueren. Der Kaiser der Franzosen hatte vorgesorgt und Bündnisse mit den betroffenen Fürsten geschlossen. Politisches Kalkül, diplomatischer Druck und militärische Drohung hatten die Souveräne südlich des Mains einwilligen lassen. Dabei sah sich mancher in einem moralischen Zwiespalt. So etwa Kurfürst Friedrich von Württemberg in einem Brief an seine Schwester, die Zarinwitwe und deren Sohn Zar Alexander Ende August 1805: „Ich muß Partei ergreifen entweder gegen Frankreich, das heißt, mich von Truppen überschwemmt, feindlich behandelt sehen drei Tage nach dieser Erklärung, oder ich muß mich mit Frankreich verbünden gegen den Kaiser der Römer, das Reichsoberhaupt, das mir keinen Anlaß zu Klagen oder Unzufriedenheit gegeben hat, mit Verachtung aller Reichsgesetze, meiner heiligsten Verpflichtungen, meines einzigen und wahrhaften Interesses …“ Inwieweit sich hinter diesem Pathos auch politisches Kalkül verbarg, ist in der historischen Rückschau nicht mehr vollständig zu klären. Auf jeden Fall schlossen sich wenig später neben Württemberg auch Bayern, Baden und Hessen-Dormstadt Napoleon an. Unter ihnen hatte Bayern mit 25 000 Mann die meisten Soldaten zu stellen. Dort hatte man weniger Skrupel gegen das neue Bündnis, denn das Verhältnis zu den Habsburgern war nicht ungetrübt. Ein Jahrzehnt vor Ausbruch der
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französischen Revolution hatte Kaiser Joseph II. noch versucht, die Probleme der bayerischen Erbfolge für sich zu nutzen und Gebiete des Nachbarn zu gewinnen. Erst ein Bündnis Preußens unter Friedrich II. mit Sachsen hatte dem Einhalt geboten – was mehr einem harten Winter und der Diplomatie denn militärischen Aktionen zu verdanken war. Auch jetzt war nicht etwa Napoleon, sondern Kaiser Franz der Aggressor. Dessen General Fürst Karl Philipp zu Schwarzenberg forderte nämlich am 6. September 1805 vom bayerischen Kurfürsten in München Durchgangsrecht für 50 000 Österreicher, dazu den Anschluss der bayerischen Armee. Der so Herausgeforderte floh wenige Tage später aus seiner Residenz nach Würzburg, während die Österreicher den Inn überschritten. Kurze Zeit später marschierten die mächtigen Nachbarn in München ein, und eine Woche danach betrat Kaiser Franz II. unter Glockengeläut die Stadt. Die Begeisterung der Einwohner hielt sich in Grenzen. Um dies vorwegzunehmen: Die Österreicher konnten sich nicht lange halten, denn die verbündeten Franzosen und Bayern rückten rasch heran. Ein Augenzeuge berichtet vom 12. Oktober 1805, die letzten österreichischen Soldaten hätten die Stadt verlassen. Bayerische Reiter unter General Wrede sprengten zur Hauptwache und setzen ihnen nach: „Es strömte augenblicklich unbeschreiblich viel Volk zusammen, von dem ich das Vivatrufen in der Ferne hörte, so wie ich den Dampf, in welchen die rauchenden Pferde eingehüllt waren, sah. Wrede stieg auf die Hauptwache ab und begrüßte die Leute. Die ganze Stadt war mit Jubel erfüllt.“ Dann zogen die heimischen Kürassiere ein, französische Chasseure mit österreichischen Gefangenen, ein bayerisches Chevauxlegersbataillon, ein französisches Kavallerieregiment … beständig marschierten neue Regimenter, französische wie bayerische, durch die Stadt, die voll von Soldaten war – darunter übrigens auch der berühmte Marschall Bernadotte. Und noch einmal: „Die ganze Stadt befindet sich in einer unbeschreiblichen Freude“. Am 24. Oktober endlich zog der Kaiser selbst in der Isarmetropole ein – nicht der des Heili-
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gen Römischen Reiches, sondern der der Franzosen. Auch diesmal läuteten die Kirchenglocken … Und der stets auf seine Wirkung bedachte Napoleon machte hier Eindruck: „Er ritt, wie der Einzige von einsamer Größe, in einen ganz einfachen Rock gekleidet, auf einem Schimmel voraus, und ihm folgte eine große Menge von Gold und Silber schimmernder Generale …“ Auf den österreichischen Einmarsch in Bayern reagierte Napoleon im Übrigen sehr schnell, ein Beispiel seines großen militärischen Könnens: Bereits Ende September überschreiten 26 000 Mann des 3. Armeekorps unter Marschall Davout den Rhein bei Mannheim, das 5. mit 18 000 Mann unter Marschall Lannes überquert ihn bei Kehl. Einen Tag später folgen weitere 64 000 Mann unter Ney und Soult. Von Hannover zieht Bernadotte mit 17 000 Soldaten heran. Es folgen 22 000 Reiter des Kavalleriekorps unter Murat und die Kaiserliche Garde mit 7 000 Mann. Gleichzeitig greift Masséna mit 70 000 Mann die Österreicher in Oberitalien an. Die (damals erstmalig so genannte) Grande Armée marschiert also und wirbelt alles durcheinander. Goethes Mutter schildert am 10. Oktober ihrem Sohn in Weimar die Verhältnisse in der alten Krönungsstadt Frankfurt: „Wir sind die Dinge jetzt schon so gewohnt, daß uns Kanonen und Pulverwagen nicht mehr ängstigen. Vor ungefähr zwanzig Jahren sang Mephistopheles im Doktor Faust: Das liebe heilige Römische Reich, wie hält´s nur noch zusammen? Jetzt kann man es mit Recht fragen. Die Kurfürsten, Fürsten laufen quir und quer, hin und her, es geht her wie in Schnitzelputz Häusel, es dreht sich alles im Kreusel, man weiß gar nicht, mit wem man´s halten soll.“ Vier Tage später schlägt Marschall Ney die Österreicher bei Elchingen in der Nähe Ulms und bereitet damit ein weiteres Debakel für die Habsburger vor. Deren Truppen ziehen sich in die Festung Ulm zurück, wo sie eingekesselt werden und nach wenigen Tagen kapitulieren. 18 Generäle, 912 Offiziere, mehr als 24 000 Soldaten und 60 Geschütze fallen den Franzosen in die Hände. Am Ende geraten knapp 50 000 Öster-
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reicher in Gefangenschaft. Der österreichische Oberbefehlshaber General Karl Mack Freiherr von Leiberich wird auf Ehrenwort entlassen und kehrt nach Wien zurück. Dort wird er vom Kriegsgericht sogar zum Tode verurteilt, die Strafe jedoch in Festungshaft umgewandelt. Schließlich entlässt man ihn aus der Haft. Etliche Jahre nach dem Ende der napoleonischen Kriege sollte er seine Rehabilitierung erfahren. Damit kam der General letztlich gut weg, anders als die Zivilbevölkerung. Der Pfarrer Baumgartner aus Thalfingen berichtet uns im Zusammenhang der Ereignisse von Ulm Tumulte, Räubereien und Plünderungen der Soldaten, davon, wie Leute gequält, das Vieh geschlachtet und Holz und die Ernte vernichtet worden seien. „Heute um 9 Uhr gerieten auf einem Pulverwagen einige Kanonenpatronen im Hofe des Höllbauers, neben der Kirche, in Feuer. Der Höllbauer, Georg Adä, sein Weib, seine zwei kleinen Töchterlein, die Magd Theresia Kalteisen wurden erbärmlich an Händen und im Gesicht verbrannt, sodass sie mehrere Wochen zur Heilung brauchten. Das kleine Töchterlein starb noch am gleichen Tag, weil es am ganzen Leib verbrannt war. Das andere wurde mit vieler Mühe und nach langer Zeit geheilt. General Mack, dieser elende Mann, machte heute zu Elchingen dem Bonaparte eine Visite. Napoleon soll ihm aber nur mit Verachtung begegnet sein.“ (19. Oktober 1805) Nicht ganz einen Monat später ziehen die Franzosen in der Habsburgerresidenz Wien ein. Doch die wirklich bedeutsame Entscheidung naht am 2. Dezember 1805 bei Austerlitz in der Nähe des mährischen Brünn, genau ein Jahr nach Napoleons Kaiserkrönung in Notre-Dame. Die Schlacht und der glanzvolle Sieg Napoleons gelten gemeinhin als Krönung seines militärischen Genies und als Höhepunkt seiner Macht. Der französische Historiker Georges Lefebvre schildert in seiner Napoleon-Biographie, wie der Kaiser gegenüber der Übermacht der Feinde Kleinmut und Verhandlungsbereitschaft vorgetäuscht und sich hinter Verschanzungen zurückgezogen habe. Daraufhin rückten die Verbündeten vor: „Am 2. Dezember sah die französische Armee, die hinter
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Goldbach massiert war, wie im Nebel westlich von Austerlitz die Österreicher und Russen zum Angriff übergingen: Sie waren 87 000 gegenüber 73 000, entfalteten sich aber über 18 km und zielten auf den rechten Flügel ihrer Gegner, um sie von Wien abzuschneiden; sie kamen vom Plateau von Pratzen, dem Mittelpunkt der Position. Die Franzosen hielten unter Lannes die Linke, und vor allem unter Davout die Rechte; plötzlich ließ Napoleon in der Mitte Soult das Plateau angreifen, zerbrach die feindliche Armee in zwei Teile und faßte ihre Linke von hinten, die daraufhin in die Flucht geschlagen wurde …“ Die legendäre aus dem dichten Morgennebel auftauchende „Sonne von Austerlitz“ lässt die 16 000 getöteten oder verwundeten Russen und Österreicher sowie die mehr als 10 000 Franzosen leicht übersehen. Mit den überlebenden Siegern begründete Napoleon den Ruhm der Grande Armée. Keinen Ruhm erfuhr das geschlagene Österreich im Frieden von Pressburg, der Ende des Jahres geschlossen wurde: Es musste nicht nur auf italienische Gebiete verzichten, sondern verlor auch seine westlichen Länder, das sogenannte Vorderösterreich mit der Hauptstadt Freiburg, an die mit Napoleon verbündeten Fürsten. Das noch vor kurzer Zeit überrannte Bayern erhielt unter anderem Vorarlberg und Tirol nebst Brixen und Trient, womit es weit nach Oberitalien hineinragte. Außerdem musste Kaiser Franz die Fürsten Bayerns und Württembergs als Könige anerkennen. Als Fazit verlor die Habsburger Großmacht in Süddeutschland und Italien dramatisch an Einfluss. Große Veränderungen für Deutschland lagen in der Luft, und Napoleon sollte sie gestalten. Nach Austerlitz und dem Pressburger Frieden war Österreich überdeutlich geschwächt. Preußen, die andere deutsche Großmacht, hatte sich seit sage und schreibe zehn Jahren neutral verhalten und war diplomatisch ausmanövriert worden. Der französische Kaiser lenkte nun sein Augenmerk auf das erwähnte „Dritte Deutschland“, dessen süddeutsche Vertreter er bereits als Verbündete gewonnen hatte. Das alte Reich war nun allenfalls ein Schatten seiner selbst – und
Das Ende des alten Reiches
Napoleon sollte ihm unter Kaiser Franz II. den Todesstoß versetzen. Am 16. Juli 1806 unterzeichneten nämlich die Gesandten von 16 „Reichsständen“ des Heiligen Römischen Reiches in Paris die Rheinbundakte, womit eine Confédération du Rhin, der Rheinbund bzw. „Rheinische Bundesstaat“ begründet wurde. Zu den Mitgliedern dieses deutschen Staatenbündnisses unter dem Protektorat Napoleons gehörten außer den süddeutschen Ländern unter anderem Hessen-Darmstadt und Hessen-Nassau, außerdem Berg, aber auch Kleinstaaten wie das Herzogtum Arenberg-Meppen im Emsland. Später sollten dem Bündnis noch das zum Königreich erhobene Sachsen und kleinere sächsische Territorien sowie das neugegründete Königreich Westphalen beitreten. Um 1811 zählte der Rheinbund bis zu 39 Mitglieder mit fast 15 Millionen Einwohnern. Durch die Bündnisverträge waren seine Mitglieder verpflichtet, insgesamt 120 000 Soldaten zu stellen. Außer Preußen und Österreich gehörten schließlich alle Länder unter deutschen Souveränen dem Rheinbund an. Später wird sich noch zeigen, dass für Napoleon der militärische Nutzen dieser Verbündeten ausschlaggebend war, obwohl ihn ursprünglich auch politische Motive getrieben haben dürften. So sah die Verfassung immerhin einen Bundestag in Frankfurt vor, der allerdings nie zusammentrat. Ihm sollte der Fürstprimas Karl Theodor von Dalberg (1744–1817), vorstehen, eine der umstrittensten Persönlichkeiten des alten wie neuen Reiches. Denn als Mainzer Erzbischof mit Sitz in Regensburg war er Kurfürst und Kurerzkanzler, der sich mit Napoleon arrangiert hatte und von Aschaffenburg aus zu den einflussreichen Politikern des Rheinbundes gehörte. Im Juli 1806 hatten sich die Mitglieder des neuen Bundes verpflichtet, aus dem „deutschen Reich“ auszutreten, was sie am 1. August auch taten. Daraufhin legte Franz II. am 6. August 1806 die Krone des Heiligen Römischen Reiches nieder und nannte sich nur noch Franz I. von Österreich, das mit Weitblick bereits zwei Jahre vorher als Kaisertum begründet worden war. Damit hörte das Imperium nach fast 900 Jahren auf zu bestehen. Die Veränderung nahm man wohl am ehesten in
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Frankfurt wahr, wo das alte Reich am greifbarsten war. Noch im August 1806 bemerkte Goethes Mutter: „Mir ist übrigens zu muthe als wenn ein alter Freund sehr kranck ist, die ärtzte geben ihn auf, mann ist versichert, daß er sterben wird und mit all der Gewißheit wird mann doch erschüttert, wann die Post kommt er ist todt. So geht’s mir und der gantzen Stadt – Gestern wurde zum ersten mahl Kaiser und Reich aus dem Kirchengebet weggelaßen – Illuminationen – Feyerwerck u.d.g. aber kein Zeichen der Freude – so sehen unsere Freuden aus!“ Bei aller Sympathie für die Wehmut der Frau Geheimrätin – viel war ohnehin nicht vom deutschen Römerreich geblieben. Dafür hatte vor allem der Reichsdeputationshauptschluss vom Februar 1803 gesorgt, der – wenn auch unter Druck Napoleons – das territoriale Gefüge völlig umkrempelte. Als Entschädigung der links des Rheins verloren gegangenen Gebiete empfahl man Reichstag und Kaiser, die zahllosen reichsunmittelbaren geistlichen Gebiete nebst derer der Reichsritter und der Reichsstädte – später noch kleinere Fürstentümer – den größeren deutschen Staaten zuzusprechen. Kaiser wie Reichstag stimmten zu, aber eigentlich verbarg sich dahinter ein abgekartetes Spiel, denn sowohl Preußen als auch Österreich hatten teils in Geheimabsprachen Frankreich das linke Rheinufer zugestanden und sich auf rechtsrheinische Entschädigungen verständigt. Mit der damit einhergehenden Säku larisierung und Mediatisierung verlor der Kaiser seine engsten Ver bündeten, die Ritter, Grafen, kleinen Fürsten, Reichsäbte, auch die Reichsstädte, die sich gegen die Einverleibungsgelüste der großen Flächenstaaten des Reiches seit Jahrhunderten zur Wehr gesetzt hatten. Aber auch die Großen blieben nicht ungeschoren: Anstelle der links des Rheins entmachteten Erzbischöfe von Köln und Trier wurde die Kurwürde neu vergeben – an Baden, Württemberg, Hessen-Kassel und Salzburg. Damit verschob sich allerdings das fragile Gleichgewicht der Konfessionen zuungunsten der katholischen Habsburger. – Durften sie zukünftig überhaupt noch mit der Wahl zum Kaiser rechnen?
„Deutschland in seiner tiefen Erniedrigung“
Der territoriale Flickenteppich des alten Reiches hatte ein Ende gefunden. Die neuen Flächenstaaten setzten das um, was bereits seit der Aufklärung immer wieder diskutiert worden war: der Sinn geistlicher Staaten. Deren Ländereien und Immobilien fielen nun dem Staat zu, der sie zum Verkauf bot. Damit ergab sich insbesondere für begüterte Bürger ein Eldorado für Investitionen. Der Staat übernahm nun bislang kirchliche Aufgaben, etwa Unterricht, Armenfürsorge und Krankenpflege. Nicht nur deshalb sah er sich genötigt, eine moderne Verwaltung aufzubauen. Die gesellschaftlichen und politischen Konsequenzen entpuppten sich als äußerst stark und waren teilweise noch gar nicht abzusehen.
„Deutschland in seiner tiefen Erniedrigung“ – oder der Tod eines Buchhändlers 1806: Deutschland und seine Fürsten waren Spielbälle napoleonischer Interessen geworden. Krieg und Besatzung stießen zweifelsohne auf Ablehnung und Kritik – insbesondere unter der Bildungsschicht regte sich geistiger Widerstand, der in anonymen antifranzösischen Pamphleten einen Niederschlag fand. Da kursierte im Frühsommer 1806 in Bayern eine Schrift, die schon wegen ihres Umfangs von mehr als 140 Seiten mehr als eine bloße Flugschrift war: „Deutschland in seiner tiefen Erniedrigung“. Dem Inhalt nach muss man das Büchlein wohl besser als Denkschrift bezeichnen, denn es bot eine durchaus kluge und durchdachte Analyse der Situation Deutschlands als Folge der Politik Napoleons. Und es übte heftig Kritik an dessen Machtstreben und dem Versagen der deutschen Fürsten. Frankreich („Gallien“) sei nach 1789 in einen „Freiheitstaumel“ geraten, der selbst vor der Hinrichtung des Königs nicht zurückgeschreckt sei, Freiheit sei missverstanden worden als „Ungebundenheit an Gesetze“, und der ganze „Freiheitsschwindel“ habe schließlich zur Eroberung der Nachbarn geführt. Als Folge über-
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schwemmten französische Truppen Süddeutschland, wo sogar die verbündeten Fürsten ihre Länder nicht vor Untaten bewahren könnten: „Fressen, Saufen, Raub und Weiberschänden waren Tagesordnung der französischen Armee.“ Was folgt ist eine Mischung aus aktuell Beobachteten und pamphletistischen Klischees über das französische Unwesen: „Tief unter der Niedrigkeit des Tiers stand die viehische Wollust der französischen Ausgelassenheit. In mehreren bayerischen Städten kamen die gehässigsten Auftritte zum Vorschein. So erzählt man z. B. von Passau, daß verschiedene Weibspersonen in Pferdeställe gelockt, daselbst auf den Tod geschändet, dann auf dem Karren weggeführt und begraben worden …“. Erschreckende Vorfälle zweifellos, die den Verfasser zu dem Schluss führen, „… daß der französische Soldat aus einem Europäer in einen Kannibalen ausgeartet sei.“ Aber steht „dieses neue französische Joch“ nicht in einer alten Tradition (die letztlich zum Bild des „Erb feindes“ führt)? Denn: „ … dort wo seit Jahrhunderten Pläne zum Untergang unseres Vaterlandes geschmiedet und die Mordfackel so oft angezündet worden, im treulosen Pariser Kabinette …“ entwerfe aus gerechnet Napoleon eine neue deutsche Staatsverfassung. Die Fürsten erweisen sich als feige und hilflos, vor allem Preußen und sein König Friedrich Wilhelm III. wird wegen seiner nachgiebigen Haltung geschmäht, die sogar vor Absprachen mit Napoleon nicht zurück schrecke. Was also tun? Der anonyme Verfasser, hinter dem sich wahrscheinlich der Ansbacher Verwaltungsbeamte Johann Konrad Yelin (1771– 1826) verbarg, weiß eine Antwort, die er in einer zweiten Auflage der Schrift anfügt. Diese Antwort hat es in sich, weil sie sich von den üblichen Schmähschriften gegen Napoleon unterscheidet, die als plumpe Machwerke von der allgegenwärtigen Geheimpolizei kaum beachtet wurden. Das Besondere: Deutschland wird darin zum bewaffneten Widerstand aufgerufen: „Völlig gewinnt es das Ansehen als hätten Franz und Friedrich Wilhelm vergessen, daß sie über Millionen beherzte,
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muthvolle, mannfeste, ehrliche Deutsche, gebieten; vergessen, daß sie Deutschlands rechte und linke Hand sind, die nur winken darf, so ist der ganze Körper in Bewegung; vergessen, daß der französische Sultan, aus deutschen Fürsten, tributpflichtige Hospodars zu machen, gedenkt, und dazu bereits alle Anstalten trifft. Wie vielen Helden unter den Kais. Oestreichischen, Königlich Preußischen, Kursächsisch und Hessischen Armeen, aus Fürstlich-Gräflich-Ritterlichen Häusern und Familien, schlägt noch heute das Herz so heroisch, als ihren Uranherren? Können diese die Schmach ihrer eignen, so wie des ganzen deutschen Vaterlandes Erniedrigung, ohne sich an dem Unterdrücker gerächt zu haben, überleben? Sollte diesem Kern der germanischen Nation, Freiheit nicht heiliger, als das Leben selbst sein? Nein, Erhabene, Eure Weisheit, Euer Muth, hält noch wie ein Anker das schwankende Schiff unsrer Hoffnung. Gehet als Vormünder der ganzen deutschen Menschheit zu Franz, und Friedrich Wilhelm, zu Friedrich August und Wilhelm, und sagt ihnen, daß die Nation nur ihren Aufruf erwartet, und ihr Anblick im Harnisch wird des Feindes Schrecken, im Kampfe sein Untergang sein.“ Aus französischer Sicht ist dieser Aufruf zur Erhebung Hochverrat, was den Verfasser und die Verteiler der Schrift in Lebensgefahr bringt. Die Broschüre findet sich vereinzelt in Buchhandlungen, so auch in den Augsburger Buchhandlungen Stage und Rieger. Dort wird sie irgendwann von französischen Offizieren entdeckt, die des Deutschen mächtig sind und die – zumindest theoretische – Tragweite des Textes verstehen und Meldung machen. Mitte Juli beschlagnahmen die bayerischen Behörden alle unverkauften Exemplare in Augsburg. Mittlerweile hat der dortige Polizeidirektor auch die französische Militärbehörde informiert. Die Untersuchung gewinnt an Fahrt und führt zum Verhör von Karl Friedrich von Jenisch, dem Geschäftsführer der Augsburger Buchhandlung Stage. Dieser kennt natürlich den Verfasser nicht, aber er kann den Lieferanten der Schrift nennen: die Steinsche Buchhandlung in Nürnberg. Deren Inhaber ist der Buchhändler und Verleger Johann
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Philipp Palm, der knapp 40-jährige Sohn eines Wundarztes aus dem schwäbischen Schorndorf. Nach der Buchhändlerlehre bei seinem Onkel in Erlangen war er in angesehenen Buchhandlungen in Göttingen und Frankfurt tätig, bis er nach Nürnberg kam und durch Heirat Besitzer der alteingesessenen Buchhandlung Stein wurde. Der Vater von drei Kindern war zweifelsohne ein braver und biederer Mann, kein Freund Napoleons, aber auch keiner, der zum Gewehr greift und den bewaffneten Widerstand ausruft. Irgendwie passt es zu den deutschen Verhältnissen, dass der fleißige Buchhändler aus Nürnberg, den man nach seiner Profession als Mitglied der Gelehrtenrepublik bezeichnen kann, zum ersten Märtyrer der napoleonischen Befreiungskriege wird – zu ihrem ersten Opfer. Doch wie kam es dazu, welche Verkettung ungünstiger Umstände hat daran mitgewirkt? Am 28. Juli kommt es zu einer ersten Hausdurchsuchung, die jedoch ergebnislos verläuft. Palm wurde allerdings klar, dass die ganze Affäre nicht ungefährlich war. In den ersten Augusttagen – Kaiser Franz verzichtet gerade auf die deutsche Kaiserkrone – ist er auf einer Geschäftsreise in München. Von dort weist er seinen Buchhalter an, er möge die Exemplare der problematischen 2. Auflage „im Gewölbe in Ballen“ verstecken. Dieser befolgt die Anweisung, warnt seinen Chef aber auch in einem längeren Brief davor, derzeit heimzukehren. Palm will sich jedoch nicht noch mehr verdächtig machen und kehrt am 9. August nach Nürnberg zurück. Er ahnt nicht, dass sein Tod schon beschlossene Sache ist. Berichte über „Deutschland in seiner tiefen Erniedrigung“ sind mittlerweile nämlich bis nach Paris gelangt und haben im Journal de Paris eine Pressemitteilung zur Folge. Das Pamphlet sei eine „Schandschrift gegen den Kaiser und die große französische Armee“. Dabei fällt auch der Name der Steinschen Buchhandlung in Nuremberg. Nun gelangt das Ganze Kaiser Napoleon zur Kenntnis, der gerade bei Hochverrat weder Nachsicht noch Gnade kennt. Zwar ist er grundsätzlich ein Freund der Bürgerrechte, doch in solchen Situationen kommen sie nicht zur Anwendung, sie werden schlichtweg außer Kraft
„Deutschland in seiner tiefen Erniedrigung“
gesetzt. Napoleon ist eben auch ein Diktator, der ein Exempel statuieren will, um jeden Widerstand im Keim zu ersticken. Deshalb schreibt er am 5. August an Marschall Berthier in München: „Mein Vetter, ich hoffe, Sie haben die Buchhändler von Augsburg und Nürnberg verhaften lassen. Ich wünsche, daß sie vor ein Kriegsgericht gestellt und binnen 24 Stunden erschossen werden. Es ist kein gewöhnliches Verbrechen, in Orten, an denen sich die französischen Armeen befinden, Schmähschriften zu verbreiten, um die Einwohner gegen die Soldaten aufzuhetzen; es ist Hochverrat! Das Urteil soll darauf gegründet sein, daß, da es die Pflicht des Befehlshabers der Armee ist, überall, wo sie sich befindet, über sie zu wachen, die Personen so und so, welche des Versuchs überführt wurden, die Einwohner von Schwaben gegen die französische Armee aufzureizen, zum Tode verurteilt sind. In diesem Sinn soll das Urteil abgefaßt werden. Lassen Sie die Schuldigen in eine Division bringen und ernennen Sie sieben Obersten, um sie zu richten … Lassen Sie auch das Urteil in ganz Deutschland verbreiten.“ Dem leistet man Folge. Am 13. August wird der Augsburger Buchhändler von Jenisch verhaftet, tags darauf in Nürnberg Johann Philipp Palm. Beide bringt man nach Braunau am Inn. Der Fürsprache des bayerischen Königs war es offensichtlich zu verdanken, dass Jenisch und zwei weitere Angeklagte freigesprochen werden. Palm jedoch wird dieses Glück nicht zuteil. Am 25. August verurteilt man ihn wie von Napoleon vorgegeben zum Tode, tags darauf wird er standrechtlich erschossen. Augenzeugenberichte vermitteln das erschütternde Bild eines schweren Todes, bis das Erschießungskommando erfolgreich war. Den Verfasser der Schrift hatte Palm nicht benannt, sein Schicksal scheint er mit Fassung getragen zu haben, obwohl ihn zuerst Verzweiflung packte. Hatte er dafür den Tod verdient? Die Hinrichtung des Buchhändlers sorgte in Deutschland für Aufsehen und Empörung; sie förderte wahrlich nicht das Ansehen Napoleons. Dieser selbst sorgte für das Bekanntwerden der Angelegenheit, denn das Urteil wurde auf 6000 Plakaten in französischer und deut-
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scher Sprache gedruckt und in allen 16 Rheinbundstaaten ausgeteilt und angeschlagen. Der Hamburger Buchhändler Friedrich Campe schreibt wenige Tage nach Palms Erschießung aus Nürnberg seinem Vetter und Kollegen Friedrich Vieweg nach Braunschweig: „eine schreckliche Nachricht … der Buchhändler Palm … in Braunau von den Franzosen todt geschossen! … Die Sache ist empörend; Worte muß man darum nicht verlieren. Gott gebe Krieg! Es ist die einzige Rettung … Alle Collegen sind in Furcht und Schrecken. Ich nicht. Seiner Bestimmung kann man nicht entgehen; wol aber kann man sie mit Kraft und Würde bestehen. – Das hat auch Palm gethan; er ließ sich lieber nieder schießen, als daß er den Verfasser angegeben hätte. Die unglückliche Frau und vier ganz kleine Kinder sind zu beklagen … Hätte ich nicht Haus und Hof, dann wüßte ich schon was ich thäte. Doch kömmts zu arg, dann giebt es noch Mittel. Was sind die Menschen in Norddeutschland für den Augenblick zu beneiden! O, wenn sie nur bald alles aufbieten mögten, um ihre Freiheit zu erhalten und unser Joch zu zerschlagen. An Hülfe fehlte es wahrlich nicht. Es ist nur eine Stimme im ganzen Lande, und die gefesselten Länder werden die wüthendsten seyn.“ In Berlin rief die Presse zu einer Sammlung zugunsten der Hinterbliebenen Palms auf.
Musterstaaten von Napoleons Gnade Die für den Buchhändler schicksalhafte Schrift gibt bei aller pamphletistischen Schärfe und Überzeichnung die Verhältnisse in Teilen Süddeutschlands durchaus richtig wider. Denn obwohl Napoleon bei Austerlitz grandios gesiegt und der Friede von Pressburg den Krieg beendet hatte, blieben französische Truppen südlich des Mains stationiert. Der Kaiser sah nämlich einerseits die Gefahr eines erneuten österreichischen Angriffs, andererseits misstraute er in diesen ersten Monaten des Jahres 1806 der norddeutschen Großmacht Preußen, auch wenn diese
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sich bislang aus allen Kämpfen herausgehalten hatte. Der dauerhafte Aufenthalt französischer Truppen hatte für die süddeutschen Länder und ihre Einwohner fatale Konsequenzen, – auch wenn man Seite an Seite kämpfte. Zum einen kosteten die Soldaten Geld, wollten unterhalten sein. Und auch gewaltsame Übergriffe sind nicht auszuschließen. Ein österreichischer Konfident (Informant) berichtet aus Stuttgart, das Verhalten der französischen Soldaten sei hier manierlicher als in Bayern – nicht zuletzt weil man eine Art Militärpolizei gebildet habe, die gegen Straftäter vorgehe. Gleichwohl sieht sich der württembergische König Friedrich I. im Mai 1806 genötigt, bei Kaiser Napoleon bittere Klage zu führen. Marschall Ney habe die Souveränität seines Landes verletzt, als er für neun Kompanien Infanterie und 3000 österreichische Gefangene den Durchlass an der Grenze erzwungen habe unter der Drohung, auf württembergische Grenzsoldaten zu schießen und sie als Feinde anzugreifen: „Aber unsere Mittel sind erschöpft, die Zahl der in meinen Staaten einquartierten französischen Truppen und ihre ohne Unterlaß größer werdenden Bedürfnisse sind derart beträchtlich, daß wir voraussehen, in kurzer Zeit selbst an den wichtigsten Gegenständen völlig Mangel zu leiden. Ich muß Eure Majestät inständig bitten, diesen Zustand aufhören zu lassen und uns eine Erleichterung zu verschaffen, die meine unglücklichen Untertanen durchaus brauchen; dies ist unbedingt notwendig, wenn Sie sich in mir einen Verbündeten bewahren wollen, der Ihnen nützlich sein kann.“ Das waren klare und mutige Worte des wegen seiner Leibesfülle „der dicke Friedrich“ genannten Monarchen. Immerhin kannte er Napoleon persönlich und würde im folgenden Jahr der Schwiegervater von dessen jüngstem Bruder Jérôme werden. Nun war allerdings die Situation in Süddeutschland sehr vielschichtig: Aus Bayern berichtet ein Agent nach Wien, das Land ähnele einer französischen Provinz, und in größeren Orten wie Altötting und Mühldorf am Inn liege die fremde Besatzung den Einwohnern immer noch auf der Tasche. Was er verschweigt, ist, dass Mühldorf und andere Orte
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noch Monate zuvor von österreichischen Soldaten besetzt worden waren. Hier litt man immer noch an den Spätfolgen. Bayern versucht diesen Nöten offensichtlich mit Patriotismus und Unterhaltung entgegenzuwirken. So begegnete einem laut Konfident die weiß-blaue bayerische Kokarde ebenso überall wie das neue Wort „Königlich“ – an Posthäusern, Zollstationen und öffentlichen Gebäuden. Der „Landmann“ sei wenig erbaut von der Besatzung, aber die Regierung versuche nicht ohne Erfolg abzulenken: So richte man Bürgermilizen ein, denen man feiertags beim Exerzieren zuschaue und Volksfeste mit reichlich Musik veranstalte. Bei aller Abneigung gegen die Franzosen habe man die Österreicher auch nicht gerade ins Herz geschlossen: „Diese Stimmung hindert jedoch nicht, daß der Aufenthalt für jeden Österreicher hier noch lange sehr unangenehm sein wird.“ Ebenso wenig Sympathien genießt Preußen, das wegen seiner zaghaften Schaukelpolitik verschrien ist. In München, Stuttgart und anderswo muss man wohl von einer regelrechten antipreußischen Stimmung sprechen. Eine verbreitete Karikatur zeigt den als wenig entschlussfreudig geltenden König Friedrich Wilhelm III. zwischen Ex-Außenminister Hardenberg, der ihm den Degen reicht und damit die Kriegsoption, und dem amtierenden Minister Haugwitz, der eine Schlafmütze hält, die der Monarch auch prompt ergreift. 1806 war Preußen im Süden keine relevante Option. Baden, Bayern und Württemberg sahen folglich kaum Alternativen zum Bündnis mit Napoleon. Und die Fürsten ihrerseits hatten zwar einerseits – Frankreich sei Dank – enorme Gebietsgewinne zu verzeichnen, doch mussten sie auch die Lasten der militärischen Forderungen tragen bzw. den Untertanen vermitteln. Die militärischen Verpflichtungen betrafen alle Rheinbundstaaten. Diese mussten bald schon zehntausende Soldaten für den Kriegsfall stellen. Es gehörte allerdings zur Doppelstrategie napoleonischer Politik, dass der Militärdiktator ebenfalls die Errungenschaften der französischen Revolution bei seinen deutschen Partnern einführen wollte und deswegen regelrechte Musterstaaten gründete. Dies gilt insbesondere
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für das Königreich Westphalen (dazu unten mehr) und das Großherzogtum Berg. Letzteres hatte sich durch die üblichen Gebietsgewinne aus dem alten Herzogtum („Bergisches Land“) zu einem Territorium vergrößert, das sich von Siegen bis weit über Münster hinaus erstreckte. Für den korsischen Familienmenschen Napoleon sollte es ein Verwandter richten, sein Schwager Joachim Murat, der als Großherzog Mitte März 1806 in die Landeshauptstadt Düsseldorf einzog. Hier sollte er nun für die Einführung des Code civil, die Trennung zwischen Verwaltung und Gerichtsbarkeit sowie die Schaffung eines modernen Staates nach französischem Vorbild sorgen. Auch andere Monarchien wusste der Kaiser geschickt persönlich an sich zu binden, etwa das Königreich Bayern. Dessen Königstochter Auguste Amalia heiratete zum Jahresbeginn 1806 Napoleons Stiefsohn Eugène de Beauharnais in München. Dieser wahrhaft symbolische Akt stand auch für die bayerische Reformpolitik insgesamt, die unter der langjährigen Ägide des Grafen Maximilian von Montgelas (1759–1838) umgesetzt wurde. Als Minister des Äußeren, des Inneren und der Finanzen war er der führende bayerische Staatsmann während der napoleonischen Zeit. Unter seiner Leitung setzte man Grundsätze des Code civil um, schuf eine zentrale, um nicht zu sagen zentralistische Staatsverwaltung und nahm 1808 sogar eine Verfassung an. Durch die damit einhergehende Aufhebung der traditionellen Rechte von Kirche, Adel, aber auch der Gemeinden beseitigte man die alte feudalistische Ordnung von oben und schuf damit den modernen bayerischen Staat. Und noch ein Beispiel der napoleonischen Heiratspolitik: Am 8. April 1806 vermählte sich in den Pariser Tuilerien der Erbprinz Karl von Baden mit Stéphanie de Beauharnais, einer entfernten Verwandten der Kaiserin Joséphine, die Napoleon adoptiert hatte. Damit stand im imperialen Paris – wenn auch vorübergehend – ein deutscher Mittelstaat des außersten Südwestens im Blickpunkt. Karls Großvater Karl Friedrich – Jahrgang 1728, er sollte das Land noch bis 1811 regieren – hatte als Markgraf von Baden-Durlach aus verstreuten Gebietsteilen um
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Karlsruhe und im Freiburger Raum („Markgräfler Land“) mit dem Erbe der verwandten Markgrafschaft Baden-Baden einen für das 18. Jahrhundert modernen Staat geschaffen. Als Anhänger des aufgeklärten Absolutismus setzte er frühzeitig die Folter ab und hob 1783 die Leibeigenschaft auf. Dafür genoss der Markgraf hohes Ansehen, Johann Gottfried Herder bezeichnet ihn als „Deutschlands besten Fürsten“, und der württembergische Dichter und Absolutismuskritiker Christian Friedrich Daniel Schubart nennt das Baden Karl Friedrichs einen der „glücklichsten und besteingerichtetsten Staaten der Welt“. Nach 1789 lag es nun in unmittelbarer Nachbarschaft zum revolutionären Frankreich, weshalb auch Goethe sein Epos „Hermann und Dorothea“ im badischen Emmendingen spielen lässt. Und obwohl der Reformfürst kein Freund der politischen und gesellschaftlichen Umwälzungen des großen Nachbarn war, wusste er sich mit ihm zu arrangieren. Dabei federführend war vor allem der Freiherr Sigismund von Reitzenstein (1766–1847), der als Gesandter in Paris für eine feste Bindung an Frankreich sorgte. Dieser badische Politiker, später gern als „Begründer des badischen Staates“ bezeichnet, trug entscheidend zum Aufstieg seines Fürsten und seines Landes bei: Karl Friedrich erhielt in den letzten Jahren des Heiligen Römischen Reiches noch die Würde eines Kurfürsten. Auch belohnte Napoleon den Verbündeten mit der Erhebung zum Großherzog sowie mit der Arrondierung seines Territoriums, das sich schließlich am Rhein entlang vom Bodensee bis zum Main erstreckte. Unter anderem gewann der ehemalige Markgraf die Kurpfalz und vorderösterreichische Gebiete des Breisgaus und damit die altehrwürdigen Universitäten von Heidelberg und Freiburg. Der fulminante Aufstieg Badens, das auch weiterhin ein reformfreudiger Staat blieb, hatte jedoch seinen Preis: Badische Regimenter – darunter auch Erbprinz Karl – kämpfte schon bald gegen Preußen und Österreich in Spanien und Russland. Tausende badischer Soldaten blieben auf den Schlachtfeldern zurück.
„Die guten Bürger fangen bereits an, alles das charmant zu finden.“
„Die guten Bürger fangen bereits an, alles das charmant zu finden.“ Wie Karl Friedrich von Baden erhielt auch der Landgraf von HessenKassel 1803 die Kurwürde zugesprochen und nannte sich seitdem Wilhelm I. (1743–1821). Die Kampfschrift „Deutschland in seiner tiefen Erniedrigung“, die dem Nürnberger Palm zum Verhängnis wurde, nennt unter den Fürsten, die die Massen widerstandsbereiter Deutscher in die Schlacht führen sollten, auch jenen Wilhelm aus Kassel. Dennoch war der Kurfürst alles andere als ein vorbildlicher Fürst. Man mag ihm durch Pauschalurteile hier und da unrecht tun, aber er genoss und genießt bis heute einen schlechten Ruf. Selbst historische Grundlagenwerke bescheinigen ihm „Charakterschwächen“, die sich in den berüchtigten Soldatenverkäufen an fremde Mächte zeigten oder in Vorlieben für Mätressen oder dem Einfluss von Günstlingen und Geiz. Jedenfalls galt Wilhelm als einer der reichsten Fürsten des alten Reiches, der von sich als absolutistischem Herrscher durch und durch überzeugt war. Kurz gesagt: Er war ein Reaktionär. Dazu eigensinnig; denn er verweigerte Napoleon jegliche Zusammenarbeit und trat nicht dem Rheinbund bei. Und schlimmer noch: In der sich anbahnenden Konfrontation mit Preußen hielt er zu Letzteren, ohne sich allerdings am Krieg gegen Frankreich zu beteiligen. Schließlich erklärte er sich für neutral, was ihm wenig nutzte. Der Kaiser wollte den unbotmäßigen Anhänger der alten Ordnung aus dem nordhessischen Bergland vertreiben. Daher beschloss er, Kurhessen zu besetzen und zu zerschlagen und einen neuen Staat zu formen, den sein jüngster Bruder Jérôme regieren und zu einem Modellstaat machen sollte. Am 1. November 1806 rückten deshalb 6000 französische Soldaten unter Marschall Mortier in Kassel ein. Der Kurfürst hatte bereits das Weite gesucht – inklusive der Staatskasse. Seine zurückgebliebene 1000 Mann starke Garnison leistete offensichtlich keinen Widerstand, überhaupt verlief die Besetzung ganz Hessen-Kas-
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sels problemlos. Die kurfürstliche Armee wurde aufgelöst, die Bevölkerung weinte weder ihr noch Wilhelm eine Träne nach. Aus Neustadt nahe Gießen, man war ohnehin erst kürzlich Hessen-Kassel zugesprochen worden, berichtet ein Amtssekretär vom rapiden Verfall der alten Autorität. Hätten etwa Offiziere des Kurfürsten Pferde für den Abtransport der Waffen gefordert, seien sie mit Mistgabeln bedroht worden. Napoleon war durchaus bereit, nach Klärung der militärischen Machtverhältnisse, der Bevölkerung entgegenzukommen. Noch in den ersten Novembertagen befahl er General Lagrange als Gouverneur, Befestigungen wie Marburg zu schleifen und das Land zu entwaffnen. Die Einrichtung der kurfürstlichen Paläste sollte nach Mainz abtransportiert werden. Bei Gegenwehr würde der Kaiser indessen nicht zögern, Härte zu zeigen: „Das erste Dorf, welches sich muckst, soll geplündert und verbrannt werden; die erste Ansammlung soll zerstreut und die Anführer einer Militärkommission übergeben werden.“ Unruhig wird es allerdings, als die vormals kurfürstlichen Soldaten für Frankreich einberufen werden sollen. Daraufhin kommt es in zahlreichen ehemaligen Garnisonen kurz vor Weihnachten 1806 zu Aufständen, so in Allendorf, Eschwege, Fritzlar, Hersfeld und Marburg. Schließlich zählt man fast 18 000 Aufständische, die meisten davon ehemalige Soldaten Wilhelms. Sie bewaffnen sich mit Waffen aus den Depots, nehmen französische Soldaten und angereiste Verwaltungsbeamte fest und misshandeln sie. Der Gouverneur von Fulda jedoch, General Thiébault, behält anscheinend genauso die Nerven wie sein Kamerad Lagrange, der Oberbefehlshaber in Kassel. Während der Letztere beruhigt, lässt der erste eine Bürgermiliz aufstellen. Der nordhessische Soldatenaufstand – das wird schnell klar – war kein Befreiungskampf gegen Napoleon. Im Gegenteil: Die undisziplinierten Rebellen bedrohen auch immer wieder die eigene Bevölkerung und verscherzen sich somit deren Sympathien. Das ist auch der Grund dafür, dass es nicht zu größeren militärischen Kämpfen kommt. Schon nach wenigen Wochen brechen sämtliche Unruhen zusammen. Dennoch fordert Napoleon ein
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hartes Vorgehen: Hinrichtungen, dazu die Zerstörung und Plünderung unbotmäßiger Städte. Der mit 2000 Mann durchziehende General Barbot besetzt die rebellischen Ortschaften und lässt neun Rädelsführer füsilieren. Weitere Strafaktionen indessen bleiben aus – die Befehle des Kaisers werden nicht in ihrer letzten Konsequenz ausgeführt. Soweit im Groben die Ereignisse im ehemaligen Kurhessen. Eine historische Petitesse sei jedoch noch angefügt, weil aus ihr für die Zeitgenossen ein deutscher Held hervorging. Keiner, der sich gegen Napoleon erhob, sondern einer, der Seite an Seite mit den Franzosen kämpfte und trotzdem in Deutschland gefeiert wurde. Dieser Mann war Johann Baptist Lingg (1765–1842) vom Bodensee, Sohn eines Meersburger Gastwirts. Der hatte es trotz seiner bürgerlichen Herkunft zum Offizier unter dem Fürstbischof von Konstanz gebracht. Als dessen Herrschaft 1803 säkularisiert wurde, trat Lingg in die badische Armee ein, in der er weiter Karriere machte. Als Oberstleutnant eines Jägerbataillons übernahm er als Verbündeter der französischen Truppen im Krieg gegen Preußen die Sicherung besetzter Gebiete. Darum verschlug es ihn und seine Badener ins nordhessische Hersfeld, wo sie eine unangenehme Aufgabe erwartete. In dem Städtchen war es über Weihnachten zu einem Zwischenfall gekommen, bei dem die Bürger und einquartierte italienische Soldaten in Napoleons Diensten aneinandergeraten waren. Dabei fand ein Offizier den Tod, die Italiener wurden von den Hersfeldern gefangen genommen. Jetzt erst erkannte man die Gefahr, als Unruheherd zu gelten und entsprechenden Repressalien ausgesetzt zu werden. Schnell nahmen die Stadtoberen Kontakt mit dem als moderat geltenden Gouverneur in Kassel auf, der in der Tat Gnade gewährte und lediglich umfangreiche Wiedergutmachung anordnete. Der Kaiser zeigte hingegen Härte, als er von dem Vorfall erfuhr: Er ordnete das Brandschatzen Hersfelds an. Und eben diesen Befehl sollte der Oberstleutnant Lingg mit seinen badischen Jägern im Februar 1807 ausführen. Nun, um es kurz zu machen: Der brave Offizier entzog sich trickreich dieser Anordnung und die Stadt blieb verschont. Seine fran-
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zösischen Vorgesetzten scheinen ihn dabei stillschweigend unterstützt zu haben. So blieb es beim gewissermaßen symbolischen Niederbrennen von vier einzeln stehenden Gebäuden. Für diese stille und wahrlich zivilisierte Heldentat ehrte man den bürgerlichen Offizier später durch Erhebung in den kurhessischen und badischen Adelsstand. An dem so genannten Mann von Hersfeld lässt sich allerdings sehr gut die damals bereits vorhandene Macht der Presse und ihr Einfluss auf die wachsende deutsche Lesergemeinde erkennen. Johann Baptist Lingg konnte zum Nationalhelden werden, weil er einem breiteren Leserkreis überregional bekannt wurde. Unter anderem griff der badische Theologe, Pädagoge und Dichter Johann Peter Hebel in einer seiner volkstümlichen Kalendergeschichten im „Rheinländischen Hausfreund“ von 1808 auf diese Episode zurück. Auch wenn ihm nicht am reinen Dokumentieren gelegen war, vermittelte er doch die menschliche Wahrheit des Geschehens: „Die fürchterliche Stunde schlug, die Trommel wirbelte ins Klaggeschrei der Unglücklichen. Durch das Getümmel der Flüchtenden und Fliehenden und Verzweifelten eilten die Soldaten auf ihren Sammelplatz. Da trat der brave Kommandant von Hersfeld vor die Reihen seiner Jäger, stellte ihnen zuerst das traurige Schicksal der Einwohner lebhaft vor die Augen, und sagte hierauf: „Soldaten! die Erlaubnis, zu plündern, fängt jetzt an. Wer dazu Lust hat, der trete heraus aus dem Glied.“ Kein Mann trat heraus. Nicht einer! Der Aufruf wurde wiederholt. Kein Fuß bewegte sich …“ Somit blieben die Bürger Hersfelds verschont und wurden bald schon Untertanen – oder dem neuen Ideal entsprechend citoyens – eines von Napoleon am Schreibpult kreierten Staates, des Königreichs Westphalen. Am 18. August 1807 erließ der Kaiser ein Dekret, in dem er die Gründung dieses sonderbaren Gebildes verfügte, das nur 6 Jahre bestand und dessen Bewertung bis heute umstritten ist: Schon der Landesname zeugt von Künstlichkeit, denn das historische Westphalen hat höchsten an der Peripherie Anteil am Territorium. Hingegen sollte der neue König von der ehemals kurhessischen Residenz Kassel über ein
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Reich regieren, das sich von Osnabrück bis an die Elbe erstreckte, bis nach Marburg hinabreichte und Magdeburg sowie Braunschweig umfasste. Der Kaiser in Paris modellierte allerdings immer wieder an den Grenzen herum, sodass Westphalen vorübergehend Hannover und sogar die Nordseeküste zwischen Weser- und Elbmündung gewann, dann aber wieder verlor. Die Kerngebiete umfassten vor allem das ehemalige Hessen-Kassel und die linkselbischen Gebiete Preußens. Ländergrenzen und Traditionen jedoch waren für Napoleon nicht maßgeblich – im Gegenteil: Das Königreich Westphalen sollte der Modellstaat in Deutschland werden. Seine politische Führung blieb wiederum in der Familie Bonaparte und wurde dem gerade 23-jährigen Jérôme übertragen. Auch ihn verheiratete der mächtige Bruder mit einer deutschen Monarchentochter, nämlich Katharina von Württemberg. Dies war zweifellos eine aus politischen Gründen geschlossene Verbindung, obwohl die Tochter Friedrichs I. ihrem Ehemann trotz seiner zahllosen Eskapaden lebenslang die Treue hielt – auch nach dem Sturz Napoleons. Aber zunächst zurück zum November 1807, als der Kaiser es dem zukünftigen westphälischen Herrscher ganz einfach machte und ihn unter seine Vormundschaft nahm: „Beiliegend finden Sie die Verfassung Ihres Königreichs. Diese Verfassung enthält die Bedingungen, unter welchen ich auf alle meine Eroberungsrechte, sowie die Rechte, die ich auf Ihr Land habe, verzichte … Hören Sie nicht auf die, die Ihnen sagen, Ihr an Knechtschaft gewöhntes Volk würde Ihre Wohltaten mit Undankbarkeit vergelten. Man ist im Königreich Westphalen aufgeklärter, als man Ihnen zugestehen möchte … Was aber das deutsche Volk am sehnlichsten wünscht, ist, daß diejenigen, die nicht von Adel sind, durch ihre Fähigkeiten gleiche Rechte auf Ihre Auszeichnungen und Anstellungen haben, daß jede Art Leibeigenschaft und vermittelnde Obrigkeit zwischen dem Souverän und der untersten Volksklasse aufgehoben werde. Ihr Königtum wird sich durch die Wohltaten des Code Napoleon, durch das öffentliche Gerichtsverfahren und die Einführung des Geschworenengerichts auszeichnen … Ihr
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Volk muß sich einer Freiheit, einer Gleichheit, eines Wohlstandes erfreuen, die den übrigen Völkern Deutschlands unbekannt sind! Eine solche liberale Regierung muß auf diese oder jene Weise für die Politik des Rheinbundes und für die Macht Ihres Reiches die heilsamsten Veränderungen hervorbringen … Welches Volk wird zu der willkürlichen preußischen Regierung zurückkehren wollen, wenn es einmal von den Wohltaten einer weisen und liberalen Verwaltung gekostet hat? Die Völker Deutschlands, Frankreichs, Italiens und Spaniens wünschen Gleichheit und aufgeklärte Ideen! … Seien Sie ein konstitutioneller König! …“ Solcherart instruiert, zieht Hieronymus Bonaparte mit seiner Gemahlin am 7. Dezember 1807 in Kassel ein. Eine Augenzeugin berichtet: „Die neuen Königswappen waren überall an den Staatsgebäuden angebracht, die Kronen und die Kapitäler neu vergoldet, Triumphpforten erbaut und die französischen Beamten hatten in der Bevölkerung für den Einzug Stimmung zu machen gewusst.“ Gegen Abend dann endlich das Herrscherpaar selbst, dem zu Ehren Pauken und Trompeten ertönen, „und von manchen Stimmen wurde auch „Vivat-vivat“ gerufen.“ Der Einzug kommt mit aller Pracht: die roten Röcke der Vorreiter der königlichen Karosse, eine von sechs Schimmeln gezogene Kalesche mit offenem Verdeck, daneben in prächtiger goldener Uniform der Grand-écuyer (Großstallmeister), schließlich zehn Stallmeister. „Wieder ertönten dann einzelne Vivatrufe aus der Menge umher, der König hob die Hand zu seinem Federhut, den er leicht lüftete, und der Wagen rollte davon …“. Von den anschließenden Feierlichkeiten das Zitat eines Transparents, mit dem ein Bäcker seine Loyalität bekundet: „Wer den König Jérome nicht will lieben, Den tu´ ich in den Ofen schieben.“ Bald darauf gab der König selbst folgende Erklärung ab: „Einwohner Westphalens! Die göttliche Vorsehung hatte diesen Zeitpunkt bestimmt, um eure zerstreuten Provinzen und benachbarten und dennoch sich fremden Geschlechter unter einem erhabenen Grundgesetz zu vereini-
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gen.“ Begründet sei dies unter anderem durch ihr Interesse: „Nur zu lange wurden eure Fluren durch Familienansprüche und Kabinettsintrigen gedrückt … Nur für die Völker hat Napoleon gesiegt. Jeder Friede, den er geschlossen hat, ist ein Schritt mehr zu dem Zweck, den sein großer Genius beschlossen hat, ganzen Nationen eine politische Existenz, eine Regierung durch weise Gesetze zu geben …“ Nun endlich erhielten sie ein Vaterland – einen einheitlichen Staat anstelle jener zerstückelten Herrschaft, „die letzten Überbleibsel des Lehnswesens, wodurch fast jeder Fleck einen eigenen Herrn erhielt. Jene verschiedenen Interessen müssen nun ein einziges werden. Das Gesetz ist von nun an euer Herr, euer Beschützer, der Monarch, verpflichtet, es in Ansehen zu erhalten.“ Und schließlich: „Indem ich den Thron besteige, verpflichte ich mich, euch glücklich zu machen, und ich werde treu diesem Gelübde sein.“ Große Worte, die, gemessen an den Traditionen des Ancien Régime und wie bis vor Kurzem noch von Kurfürst Wilhelm praktiziert, von ungewöhnlicher Fortschrittlichkeit zeugen. Ein Monarch fühlt sich an die Verfassung gebunden und verpflichtet sich gegenüber seinen „Bürgern“, die ihren Namen jetzt tatsächlich verdienen. Mittlerweile weiß man, dass sich hinter dieser idealistischen Rhetorik der seinerzeit modernste Staat Deutschlands verbarg. Dafür hatten französische Juristen und Verwaltungsfachleute gesorgt, die bereits vor der Ankunft des Königs ihre Vorbereitungen getroffen, den Code Napoleon und die Verfassung einführten, die Menschen- und Bürgerrechte garantierte. Was außerdem für die damals etwa in Preußen üblichen Verhältnisse neu war, war der von der Grande Armée übernommene Umgang mit den Soldaten: Diese durften nun nicht mehr von ihren Offizieren geschlagen werden, durften sich sogar einer gewissen Fürsorgepflicht ihrer Vorgesetzten sicher sein. Um dies gleich vorwegzunehmen: Die „Westphalen“ blieben ihrem ohnehin kein Deutsch sprechenden König Jérôme fremd („… ich liebe weder die Deutschen noch Deutschland und bin ganz Franzose.“), doch ihn hassen, das taten sie auch wieder
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nicht. Seine insgesamt milde Herrschaft zeichnete sich vor allem durch ihre effiziente Verwaltung und eine humane Justiz aus. Ein einheitliches Staatsgebiet ohne Zölle, dazu die einheitliche Währung des westphälischen Franken sowie vereinheitlichte Maße erleichterten den Alltag der Bewohner. Und erstmals standen Regierungsämter auch Nichtadligen offen, wobei allerdings im Kabinett doch Franzosen die Mehrheit stellten. In Jérômes kurzlebigem Reich wirkte schließlich auch der aus der Schweiz stammende Historiker Johannes von Müller (1752–1809), anfangs als Minister, dann als Generaldirektor des öffentlichen Unterrichts. Über Jahre galt er in Berlin als einflussreicher Mann, bis er mit Napoleon zusammentraf, der ihn voll und ganz für sich einnahm. Seiner Empfehlung folgend, verließ er das besiegte Preußen und ging nach Kassel. Dort ging das mehr oder weniger „französische“ Regime des Königs nicht nur mit zahlreichen Umbenennungen von Straßen und Plätzen einher – der Friedensplatz war nun der Place des Etats, der Königsplatz Place Napoleon und Schloss Wilhelmshöhe wurde „Napoleonshöhe“ genannt. Auch Pariser Verhältnisse machen sich breit. Der Heiligenstädter Gerichtspräsident Leopold von Kaisenberg, Mitglied der Gesetzgebungskommission, berichtet etwa im August 1808 an seine Frau: „Kassel bietet anjetzo ein gar eigentümliches Bild; fremde, freie Sitten bürgern sich immer mehr ein. Es gibt jetzt hier Spielhäuser und Tanzlokale nach Pariser Mustern mit leichtgeschürzten, nur allzu gefälligen Demoiselles und Pariser Cafés sowie Restaurants. Die Franzosen bringen nur Laster hierher, und ihre Künste und Anschauungen verderben den biederen Sinn der Hessen. Die guten Bürger fangen bereits an, alles das … charmant zu finden.“ Die Kasseler folgten tatsächlich nicht dem biederen Sinn des Mannes aus dem Eichsfeld, sondern genossen das opulente Hofleben. Man lernte Französisch, interessierte sich für die Pariser Mode und als Jérôme zunehmend in seinem eigenen Reich produzieren ließ, machte man auch gute Geschäfte. Der ehemalige preußische, dann westfälische Offizier Johann von Borcke hebt den großen
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Hofstaat hervor, weshalb so viele hundert Menschen das alte kurfürstliche Schloss bewohnten, „daß man abends bis unter das Dach kein unerleuchtetes Fenster fand“. Ausritte und Ausfahrten des Königs seien stets sehr aufwändig: prächtige Wagen, Stallmeister, Adjudanten, Pagen, Diener in Livree und schließlich am Anfang und Schluss des Zuges je eine Kavallerie-Abteilung der Garde „mit gezogenem Säbel und geladenen Karabinern“. Der junge Jérôme hatte gleich mehrere Schwächen: seine Verschwendungssucht und eine ausgeprägte Vorliebe für außereheliche Amouren. Die Fürstin Pauline zur Lippe, obwohl glühende Verehrerin Napoleons, zeigt sich von den zahlreichen „Haremsdamen“ an Jérômes Hof indigniert. Doch nicht nur die kosteten Geld, sondern auch das neue politische Personal, die Minister, Staatsräte. Der königlich westfälische Jurist Friedrich Karl von Strombeck amüsiert sich über das aufwändige Hofleben, betont aber auch: „Nie dürfen wir vergessen, daß es zuerst in Deutschland der westfälische Soldat war, der ohne die entehrenden Stockprügel eingeübt wurde, dagegen der hessische Krieger nur mit zerprügeltem Rücken zum verkaufbaren Söldner früher abgerichtet ward. – Alles dieses war dankens- und lobenswert, unbegreiflich aber, wie eine verständige Regierung hoffen konnte, durch eine lächerliche Zeremonie … zu imponieren. Diese diente jahrelang zum Spott und zur Erlustigung.“ Bereits im Sommer 1808 rügte der Kaiser selbst die Ausgabenflut des Bruders: „Verkaufen Sie Ihre Diamanten, Ihr Tafelgeschirr! Geben Sie sich nicht einer so unsinnigen Verschwendungssucht hin, die Sie zum Gespött Europas macht und schließlich die Entrüstung Ihres Volkes hervorrufen wird. Verkaufen Sie Ihre Möbel, Ihre Pferde, Ihre Schmucksachen, aber bezahlen Sie Ihre Schulden …“ Ein Jahr später erklärt ihm Jérôme den Bankrott seines Königreichs: Niemand könne mehr bezahlt werden, auch die Truppen nicht, die nur durch ihre Stationierung außerhalb Westphalens überhaupt ernährt werden könnten. „ … ich bitte Eure Majestät, mich nach Frankreich zurückziehen zu
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dürfen.“ Eine Antwort des Kaisers blieb aus und der König musste seine Zeit in Kassel gleichsam absitzen. So endet der deutsche Musterstaat mit einem riesigen Schuldenberg, aber auch hier war es Napoleon selbst, der die Grundsätze, aus denen das Fundament des demokratischen Europa werden sollte, konterkarierte. Außerdem beharrte er gegenüber dem Königreich Westphalen auf seinen Forderungen: 25 000 Mann mussten ihm gestellt werden, dazu kamen hohe Kriegskontributionen und der Unterhalt der stationierten französischen Truppen. Napoleon verstieß gegen die eigenen Grundsätze, zeigte gar reaktionäre Züge, wenn die alten kurfürstlichen Staatsdomänen an verdiente Marschälle und Generäle gingen, um sie von den eigentlich befreiten Bauern bearbeiten zu lassen. Und welch weiterer Widerspruch wurde deutlich, wenn der fortschrittliche Monarch Jérôme in seinem Königreich aus Selbstschutz Gendarmerie, Spitzel und Zensur zuließ, während der biedere preußische König Friedrich Wilhelm III. angeblich ungeschützt durch Berlin ritt.
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Mythos und Wirklichkeit Von Preußen hörten wir zuletzt im ersten Koalitionskrieg, als seine Truppen unter dem Herzog von Braunschweig erfolglos vor Valmy standen und sich zurückziehen mussten. 1793 dann die dramatische Bombardierung und Eroberung von Mainz, die bekanntlich auf Dauer nichts fruchtete: Denn schon bald darauf drang die Französische Republik endgültig bis zum Rhein vor. Preußische Diplomaten begannen wenig später erste Gespräche mit Paris, die schließlich 1795 zum Sonderfrieden von Basel führten. Dabei verzichtete Preußen auf seine bereits französisch besetzten Gebiete (am Niederrhein um Kleve und Geldern), erhielt allerdings die Option, bei einer zukünftigen territorialen Neugliederung rechtsrheinisch entschädigt zu werden. Seit diesem – von nicht wenigen Deutschen als Verrat kritisierten – Rückzug, hatte sich Berlin nicht mehr an den Kriegen gegen die Republik und Napoleon beteiligt. Damals wollte man freie Hand haben, um jenseits der langen Ostgrenzen im Bunde mit Russland und Österreich das Königreich Polen zu zerschlagen. Dieses hatte sich schon 1791 eine konstitutionelle Verfassung gegeben und damit noch vor Frankreich das modernste Grundgesetz Europas. Damit aber war 1795 Schluss – ein unabhängiges Polen existierte nicht mehr. An seiner Aufteilung hatte Preußen gehörigen Anteil und gliederte sich polnische Gebiete als West-, Süd- und NeuOst-Preußen ein, darunter die Hauptstadt Warschau. Für das Königreich Preußen schienen die Jahre um 1800 eine gute Zeit zu sein. Sein Territorium erstreckte sich nun durchgehend von der Memel weit oben im Nordosten bis ins schlesische Riesengebirge und bei Magdeburg ein gutes Stück westwärts über die Elbe hinaus. Dazu kamen verstreute Gebiete am Niederrhein, im Ruhrgebiet (Grafschaft Mark) und Ostfriesland. Als Gebietsentschädigungen erhielt es außerdem 1803 das Eichsfeld, Hildesheim, Paderborn, Münster zugesprochen. Damit festigte Preußen seine Stellung als Großmacht, außerdem waren ihm wenige
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Jahre zuvor durch Erbfolge die Fürstentümer Bayreuth und Ansbach zugefallen. Mit ihnen kehrten die herrschenden Hohenzollern zu ihren Wurzeln zurück, auf denen ihre Geschichte, aber auch der Preußenmythos ruhten. Dazu ein kurzer Rückblick: 1412 war der Nürnberger Burggraf Friedrich von Hohenzollern mit seinen fränkischen Rittern in die Mark Brandenburg gekommen. Die hatte er vom Kaiser als Lehen erhalten. Die neuen Herren in der sandigen Einöde waren so erfolgreich, dass man sich 200 Jahre später mit dem Herzogtum Preußen (das etwa dem späteren Ostpreußen entspricht) verband. Weil es außerhalb des Heiligen Römischen Reiches lag, krönte sich dort in Königsberg 1701 der Sohn des Großen Kurfürsten zum König und nannte sich Friedrich I. Damit war das Königreich Preußen geboren. Seine Herrscher wurden legendär: Kurfürst Friedrich Wilhelm (1640–1688) zeigte religiöse Toleranz und rief die in Frankreich verfolgten Hugenotten ins Land. Diese gaben vor allem Berlin kräftige Wirtschaftsimpulse. Sein Enkel Friedrich Wilhelm I. (1713–1740) entsagte dem absolutistischem Pomp und begann mit dem Aufbau einer für die damalige Zeit sehr effizienten Bürokratie. Sein Wirken als „Soldatenkönig“ sollte Preußen bis zum Ende den Stempel eines Militärstaats aufdrücken. Rigoroses militärisches Zeremoniell, dazu härteste Ausbildungs- und Gehorsamsmethoden standen in Kontrast zu einer kulturellen Blüte oder Bemühungen, die Lebensbedingungen im Lande zu verbessern. Schließlich des Soldatenfreunds Sohn Friedrich II. (1740–1786), den bereits seine Zeitgenossen als den Großen bezeichneten. Welch schillernde Persönlichkeit! Ein Anhänger der Aufklärung, der lieber französisch als deutsch sprach, mit dem großen Voltaire eifrig korrespondierte und ihm vorübergehend in seiner Residenzstadt Potsdam eine Heimstatt bot. Zugleich ein vermeintlicher politischer Hasardeur, der als junger Herrscher den überraschenden Tod des deutschen Kaisers ausnutzt, um in dessen reiche Provinz Schlesien einzumarschieren und sie sich anzueignen – und dies mit einer fadenscheinigen Begründung irgendwelcher historischer
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Ansprüche. Weil die Habsburgerin Maria Theresia dies nicht akzeptieren wollte, führten sie insgesamt drei Kriege, im letzten, dem Siebenjährigen Krieg (1756–1763) wäre für Friedrich und sein Königreich fast das Ende gekommen. Man könnte sagen, er hatte gleichsam gegen eine Welt von Feinden zu kämpfen: nicht weniger als Österreich, Russland und Frankreich, deren Truppen sogar vorübergehend Berlin besetzten. Aber der zähe König hielt stand und hatte Glück. Nach dem katastrophalen Krieg ließ er als Gegenstück zu seinem idyllischen Schlösschen Sanssouci das Neue Palais in Potsdam errichten, um zu zeigen, was er immer noch vermochte. Friedrich galt als Reformer, der die preußische Bürokratie verbesserte, die Trockenlegung und Urbarmachung weiter Landstriche betrieb und eine umfassende Sammlung und Ordnung der Gesetze seiner unterschiedlichen Landesteile ins Werk setzte, die dann 1794 als „Allgemeines Landrecht für die preußischen Staaten“ erlassen wurden. Friedrich bezeichnete sich schon früh als „ersten Diener seines Staates“, womit er die Pflicht dem üblichen Gottesgnadentum entgegenstellte. Aber der König blieb ein absoluter Monarch, der nie auf seine Macht verzichtet und sich einer Verfassung unterworfen hätte. Sein ihm nachfolgender Neffe Friedrich Wilhelm II. (1786–1797) war das ganze Gegenteil seines Onkels: Mätressen, Günstlinge und Schulden gewissermaßen als Maxime. Und weil er sich wenig Achtung erfreute, erwartete man von seinem Sohn Friedrich Wilhelm III. (1797– 1840) mehr. Der junge König blieb insgesamt ein bescheidener, zweifellos recht uninspirierter Mann, der sich stundenlang über Uniformen und militärisches Gehabe auslassen konnte. Aber er war mit der bezaubernd schönen mecklenburgischen Prinzessin Luise in Liebe verheiratet, von deren Charme man sich in Berlin beeindruckt zeigte. Im Laufe der Jahre bot der espritlose Monarch zumindest ein vorbildliches Familienleben (10 Kinder), das mit seinen bürgerlichen Zügen bereits das 19. Jahrhundert andeutet und mit der barocken Pracht des Ancien Régime wenig gemein hat. Um 1800 hatte sich Berlin durchaus zu einer Metropole entwickelt, die für ihre intellektuell-künstlerische Szene be-
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kannt war. Dafür sorgten hugenottische und nicht zuletzt jüdische Einflüsse, die sich in den Salons einer Rahel Levin oder Henriette Herz zeigten. Dort praktizierte man ungewohnte Gleichstellung von Adel und Bürgerlichen, Männern und Frauen, Juden und Christen. Kein Wunder also, dass Berlin auch zu einem Inspirationsort der Frühromantiker wurde. In diesen Kreisen bewegte sich einer der ungewöhnlichsten Hohenzollern überhaupt, Prinz Louis Ferdinand von Preußen. Der 1772 geborene Neffe Friedrichs des Großen hatte nicht nur die obligatorische Offiziersausbildung erhalten, er galt auch als Schöngeist mit künstlerischer Ader, dessen Kompositionen und Improvisationen als Pianist sogar Beethovens freundliche Anerkennung fanden. Der schöne Prinz („Apoll“) besuchte gern die Salons und machte noch lieber die Bekanntschaft junger Damen – mit Königin Luises jüngerer Schwester Friederike sagte man ihm sogar eine Affäre nach. Dieser Freizügigkeit, aber auch seiner Schulden wegen galt er als Tausendsassa, der gleichwohl als Adliger und Offizier Stellung bezog. Bereits zwanzigjährig hatte er am 1. Koalitionskrieg gegen Frankreich teilgenommen und war vor Mainz verwundet worden. Er trat als entschiedener Gegner der Revolution und Napoleons auf, ein leidenschaftlicher Verfechter eines Krieges gegen Frankreich und gegen die Hinhaltediplomatie. Kein Wunder also, dass der nüchterne König seine liebe Not mit dem Verwandten hatte und ihn unter anderem durch Garnisonsdienst in Magdeburg zu disziplinieren versuchte. Louis Ferdinand dürfte zu den prominentesten Teilnehmern jener Diskussion gehört haben, die in den Jahren nach 1795 in der Führungsschicht geführt wurde: pro oder contra Napoleon, für oder gegen eine zurückhaltende Diplomatie, für oder gegen eine Rolle Preußens als französischen Bündnispartner. Nach dem kurzlebigen gesamteuropäischen Frieden von Amiens hatte sich der Krieg schon 1803 wieder zwischen England und Frankreich entzündet, und da das Inselreich militärisch nur schwer zu attackieren war, suchte sich Napoleon ein Ziel in Deutschland, mit dem er England treffen konnte: Französische Trup-
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pen unter General Mortier marschierten deshalb im Kurfürstentum Hannover ein, das zugleich in Personalunion den König von England stellte. Damit standen Napoleons Soldaten in unmittelbarer Nähe des preußischen Kernlandes. Die Brisanz dieser Nähe offenbarte sich unter anderem im Herbst 1804, als ein französisches Kommando die Souveränität der freien Reichsstadt Hamburg verletzte und dort den englischen Geschäftsträger Sir George Rumbold regelrecht kidnappte. Erst die energische Intervention König Friedrich Wilhelms III. bei seinem kaiserlichen „Bruder“ Napoleon führte zu dessen Freilassung an die Engländer. Dann kam im folgenden Jahr die dritte Koalition gegen Paris zustande, an der sich Preußen allerdings nicht beteiligte – und das gegen zahlreiche Stimmen im eigenen Lager. Immerhin konnte Zar Alexander bei einem Besuch in Berlin den König zu einer gewissen Aufweichung der bisherigen strikten Neutralität überreden. Nach einem geheimen Allianzvertrag sollte Preußen als „bewaffneter Vermittler“ fungieren – mit der Option für einen Kriegseintritt. Graf Haugwitz suchte deshalb Napoleon in Österreich auf – nicht lange vor Austerlitz. Die Botschaft aus Berlin lautete auf einen einfachen Nenner gebracht: Napoleon soll sich aus Deutschland zurückziehen. Das war eine beachtliche, wenn auch recht unrealistische Forderung. In Berlin kochte derweil die Volksseele – oder zumindest jene der den Ton angebenden Schicht. Die Partei der Napoleongegner hatte nämlich bereits im Oktober unerwartet Zulauf erhalten, als französische Truppen unter Marschall Bernadotte durch das preußische Fürstentum Ansbach marschierten und damit dessen Neutralität verletzten. Der Historiker Johannes von Müller, damals noch in Berlin weilend, schreibt von regelrechter Kriegsbegeisterung an der Spree: „Krieg ist im Theater gefordert worden; bei den Marionetten hat man Bonapartes Bild heruntergeschmissen …“. Österreich gehörten die Sympathien und „Alles sei nun aufs Schlagen gerichtet! Mit Wort und Tat, mit Schrift und Schwert.“ Noch sucht sich diese Kriegswut auf der Bühne ihr Ventil. Bei der Aufführung von Schillers Drama „Wallensteins Lager“ wird das Soldaten-
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lied mitgesungen, sodann „Vivat“ gerufen und „wir wollen Krieg“. Derweil machen esoterische Deutungen des Phänomens Napoleon die Runde. Das Publikum orakelt mit Zahlen und Weissagungen … und liest die Offenbarung des Johannes, „wo sie von Bonaparte alles haarklein vorausprophezeit findet.“ Außenminister Haugwitz wird derweil von Napoleon regelrecht ausgetrickst: Dieser lässt ihn warten und warten, bis er bei Austerlitz triumphal über Österreicher und Russen gesiegt hat. Was soll Preußen jetzt noch fordern? 10 Tage nach der Schlacht schließt man den Vertrag von Schönbrunn. Danach tritt Preußen Ansbach an Bayern und KleveBerg an Frankreich ab und erhält dafür das Kurfürstentum Hannover. Ein schlechter Tausch, denn Hannover gehört zu England, weswegen Friedrich Wilhelm III. später davon spricht, man habe es nur „in Verwahrung“ genommen. Und noch ein Übel kommt hinzu: Napoleon, der bereits an seiner Kontinentalsperre gegen englische Waren bastelt, bringt Preußen dazu, alle Nordseehäfen gegen England zu sperren. Im Mai 1806 erklärt England Preußen den Krieg, greift vereinzelt dessen Küsten an und beschlagnahmt rund 300 preußische Schiffe, von Kaperaktionen ganz zu schweigen. Damit hat sich das norddeutsche Königreich in einen veritablen Krieg mit dem ehemaligen Verbündeten Friedrichs des Großen hineinziehen lassen. Die öffentliche Meinung tobt und ist über die ängstliche Politik des Königs entrüstet: Hat man denn nötig, sich von dem Parvenü Bonaparte vorführen zu lassen! Der Mythos des vor 20 Jahren verstorbenen Friedrich II. strahlt im hellsten Licht. Immer wieder wird die Schlacht von Roßbach genannt. Damals, am 5. November 1757, hatten nur 22 000 Preußen das fast doppelt so starke Bündnis aus Franzosen und Reichsarmee überlegen geschlagen. Nie wieder waren Franzosen so weit nach Deutschland vorgedrungen – bis Weißenfels im heutigen Sachsen-Anhalt. Bei nicht wenigen hatte der Sieg des großen Friedrich patriotische Gefühle geweckt. Ergo hatte Preußen mit seiner ruhmreichen Armee in einem Waffengang mit Frankreich nichts zu befürchten.
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Ganz anders sieht dies im November 1805 der Comte d´Hauterive, Diplomat und Staatsrat, in einer Einschätzung gegenüber Außenminister Talleyrand: Für ihn war Preußen eine Macht, „welche beim bessern Äußern und schönsten Aussehen von Festigkeit und Kraft die am weitesten im Verfall vorgeschrittene ist.“ Sie verfüge über einen großen militärischen Apparat, der aber vom Rost der Zeit befallen sei und dem jegliche Triebfedern fehlten. Man lebe in Erinnerungen und schmücke sich mit Schaumanövern. Aber „Preußen vergisst, dass es nur ein Staat ist, weil es eine Armee war.“ Und: „An dem Tage, an welchem es eine erste Schlacht verloren hat, wird es aufgehört haben zu bestehen.“
„Wohlauf, Kameraden …“ Von solch vernichtenden Urteilen wusste das Publikum in Berlin nichts, außerdem hätte man sie als feindliche Propaganda abgetan. Nein, hier sang man weiterhin im Theater bei Schiller begeistert mit: „Wohlauf, Kameraden, aufs Pferd, aufs Pferd, ins Feld, in die Freiheit gezogen!“ Und wo es in der „Jungfrau von Orléans“ heißt: „Für seinen König muß das Volk sich opfern, Das ist das Schicksal und Gesetz der Welt. Nichtswürdig ist die Nation, die nicht Ihr alles freudig setzt an ihre Ehre“, bricht man in jubelnde Ovationen aus. Nicht dass der erst nach seinem Selbstmord und der viel späteren literarischen Entdeckung berühmte Heinrich von Kleist dem Jubel widersprochen hätte. Aber noch vor Austerlitz drückt ihn eine pessimistische Sicht: „So wie die Dinge stehn, kann man kaum auf viel mehr rechnen, als auf einen schönen Untergang.“ Der König habe versäumt, an den „Nationalgeist“ seiner einberufenen Stände zu appellieren. Nun scheine die Zeit eine neue Ordnung der Dinge herbeiführen zu wollen, und man werde davon nichts als bloß den Umsturz der alten erleben. So kam es bekanntlich im neuen Jahr 1806: Napoleon schuf neue Vasallenstaaten, formierte den Rheinbund und führte so das Ende des alten
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deutschen Reiches herbei. Wiederum stellte sich die Frage nach Preußens Stellung in Deutschland, denn Österreich lag geschlagen danieder und fast alle anderen deutschen Staaten hatten sich auf die Seite Frankreichs gestellt. Friedrich Wilhelm III. wartet weiter ab – hin und hergerissen zwischen Bündnistreue zu Napoleon und dem wohl ehrlich empfundenen Gefühl des Verrats. Aber so langsam eskaliert die angespannte Situation. Anfang August 1806 hört man von Meldungen, Napoleon habe England die Rückgabe Hannovers angeboten bei anderweitigen Entschädigungen Preußens. Laut Kurfürst Wilhelm von Hessen-Kassel habe ihm Frankreich Gebiete in Westphalen offeriert, wenn er dem Rheinbund beitrete. Und General Blücher meldet aus Münster, die französischen Truppen in der Grenzfestung Wesel seien verstärkt worden. Braute sich da etwas zusammen? Sollte das allein stehende Preußen hintergangen werden? Der König gibt nun endlich dem Drängen so vieler Kritiker nach und befiehlt am 9. August die Mobilmachung seiner Armee. Die politischen und diplomatischen Operationen der nächsten Wochen sollen hier im Detail nicht weiter erörtert werden. Schlussendlich stellt der König Napoleon am 1. Oktober 1806 ein Ultimatum: innerhalb einer knappen Woche sei Süddeutschland zu räumen – was logistisch ein Ding der Unmöglichkeit ist. Außerdem schließt er mit dem sächsischen Kurfürsten Friedrich August ein Bündnis. Darüber hinaus erklärt England seine Blockade gegen Preußen für aufgehoben und erklärt sich zusammen mit Schweden zur Hilfe bereit. Nun scheint der Krieg unmittelbar bevorzustehen. Der französische Kurier Oberleutnant Marcellin de Marbot berichtet nach seiner Abreise aus Berlin, der Hass gegen Napoleon habe die sonst so ruhige preußische Bevölkerung in einen wahren Taumel der Aufregung versetzt. Preußische Offiziere hätten nicht mehr gewagt, ihn zu grüßen, und mehrfach seien Franzosen vom Pöbel tätlich angegriffen worden. Und Offiziere des Eliteregiments Gensdarmes hätten sogar ihre Säbel an den Steinstufen der französischen Gesandtschaft gewetzt. Johannes von
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Müller schreibt seinem Kollegen Friedrich Gentz: „Heer und Volk sind überall voll Enthusiasmus. Die Stellungen sind in Westphalen schon genommen, an der Elbe und weiter hinaus werden sie jetzt genommen werden.“ Die Berlinerin Agnes von Gerlach bezeugt in einem Brief an ihre Schwester Ende Juni 1806 eine kritischere Sicht der Dinge: „An einen langen blutigen Krieg glaubt man hier nicht, vielmehr ist hier der allgemeine Glaube, daß an keinen Widerstand gegen Frankreich zu denken sei … Die letzte Stunde des preußischen Staates ist schon da, er liegt begraben unter seiner ehemaligen Größe. Daß er dem Namen nach auch verschwinden wird, glaubt man wohl hier mit Recht nicht, da es unter Napoleons Grundsätze gehört, viele schwache Staaten gegen sich zu haben … Übrigens tut man dem König doch wohl Unrecht, ihm alle Schuld der mißlungenen Sache aufzubürden, ich dächte, die beiden Kaiser hätten reichlich das ihrige dazu beigetragen – nur so erbärmlich nicht wie wir.“ Das war eine politische Einschätzung, den jetzt wohl unvermeidbaren Krieg musste aber das Heer führen. Und von dessen Schlagkraft waren die meisten überzeugt. So hatte der ehemalige preußische Hauptmann J.W. Archenholz in der mittlerweile von ihm in Hamburg herausgegebenen Zeitschrift „Minerva“ Napoleon davor gewarnt, die Soldaten Preußens zu unterschätzen: „Der Himmel verhüte, daß der Kaiser Napoleon die preußische Infanterie und deren Feldherren – einige von einer Gattung, deren Natur ihm aus eigner Erfahrung noch ganz unbekannt ist, da er noch nie, weder in Ägypten noch in Italien noch in Deutschland, einen großen General gegen sich über gehabt hat – recht kennenlerne!“ In einer späteren Ausgabe desselben Magazins warnt hingegen ein anderer Verfasser, Napoleons Armee zu unterschätzen: „Nicht der Rock schlägt den Feind, sondern der Mann, der in ihm steckt, das Herz, das unter ihm schlägt; nicht ein Handgriff entscheidet an einem heißen, blutigen Tage, sondern Ausdauer, Bravheit und kühne Manöver, schnelle und bestimmte Evolutionen! Schränkt sich unser Ex-
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erzitium in Friedenszeiten auf vieles mehr ein als auf das Marschieren und auf Beibringung von Handgriffen, die man zu hundertmalen und oft bis zur Schikane in einer Minute wiederholen sieht und womit man die Zeit verschwendet, die man tausendmal besser anwenden könnte und sollte, um dem Feinde des Vaterlandes zu seiner Zeit wahrhaft die Stirn bieten und gefährlich werden zu können?“ Die jetzigen Franzosen seien nicht jene, „welche einst bei Roßbach in Haufen und Scharen das Weite suchten …“ Derselbe Verfasser beschreibt auch, wie Offiziere mit ihren Soldaten umgehen. Bei den Franzosen herrsche bei allen „ein unaufhaltsames Streben nach Ruhm, nach Ehre“. Dementsprechend verhielten sich die Offiziere, die die Soldaten nicht prügeln dürften. Bei den Preußen sei dies hingegen wie seit eh und je gang und gäbe. „Leben wir denn noch in dem Jahrhundert des Barbarismus? oder führt uns eine milde Lebensphilosophie? Ehrt den Menschen in dem Menschen, seid human und schwatzt weniger von Humanität; erkennt, ihr Offiziere der Deutschen, den Bruder im Soldaten …“. Das machte in der Tat den Unterschied aus: Während Napoleon die Volksarmee auf der Grundlage der allgemeinen Wehrpflicht weiter aufgebaut hatte, pflegte Preußen noch die herkömmliche Militärordnung des Ancien Régime und die kannte eben nur Söldnerheere, deren Soldaten Fremde waren und nicht selten zum Dienst gepresst wurden. Bei den Franzosen war körperliche Züchtigung verboten, Soldaten erhielten üblicherweise ausreichend Sold und gute Verpflegung. Ihnen stand eine Karriere bis zum Marschall offen, was durch die kleinbürgerliche Herkunft vieler Marschälle Napoleons eindrücklich belegt wird. In Preußen war das Offizierskorps hingegen ausschließlich dem Adel vorbehalten. Hier galt es, die nur allzu oft unmotivierten Soldaten in der Reihe zu halten. Diese so genannte Lineartaktik war gegenüber den lockeren französischen Formationen ein weiteres Relikt der alten Zeit. Hinzu kam der geringe Lohn, weswegen sich viele Söldnersoldaten zusätzlich als Handlanger und Eckensteher verdingen mussten.
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Zeitgenössische Augenzeugen belegen diese Verhältnisse in der preußischen Armee nachdrücklich, so der Jurist Christoph Wilhelm Heinrich Sethe über das damals vorübergehend preußische gewordene katholische Münsterland (Blücher: „Pfaffenland“): „Ich selbst bin Augenzeuge gewesen, wie ein Unteroffizier einen Rekruten mit Schimpfworten, Stößen und Fußtritten misshandelte und ihn mit seinem Rohrstock auf die Schienbeine schlug, sodass dem armen Menschen vor Schmerz die Tränen über die Backen liefen. Auch war der Geist, der damals bei dem größten Teil der preußischen Offiziere herrschte, und daraus hervorgehende Betragen derselben abstoßend und nicht geeignet, in einem neu erworbenen Lande Zutrauen zur preußischen Regierung zu erwecken.“ Der Tambour eines preußischen Infanterie-Regiments: „Die Unteroffiziere durften den Soldaten nach ihrem eigenen Ermessen jederzeit drei Stockschläge geben, Fußtritte und Stöße vor die Brust und unter das Kinn wurden gar nicht gerechnet …“ Der spätere Generalmajor Hermann von Boyen berichtet noch als junger Hauptmann davon, dass Desertion, Betrug, Diebstahl und anderes an der Tagesordnung waren: „Mit solchem Gesindel bei den Fahnen und den unaufhörlichen Exzessen und Diebereien, die sie verübten, verlor nicht allein der gesamte Soldatenstand die Achtung seiner Mitbürger, sondern es wurde auch eine gewaltsame Behandlung notwendig oder wenigstens üblich, die selbst die Besseren unter ihnen herabwürdigte und mutlos machte.“ Wachtoffiziere etwa sollten die Fahnenflucht bei Nacht verhindern. In den Garnisonen standen Lärmkanonen, die den Dörfern in der Nachbarschaft signalisierten, die Deserteure abzufangen, wozu sie gegen Prämie verpflichtet waren. Viele Soldaten durften ihre Kaserne erst gar nicht verlassen: „Natürlich steigerte sich im Umgange mit solchen Menschen die gewaltsame Behandlung unaufhörlich; die Willkür erhielt einen ungemessenen Spielraum … Die im Jahre 1806 in der Armee gebräuchlichen Strafen, Spießruten, Stockschläge, Hiebe mit kleinen mit Draht bezogenen Röhrchen, stammten aus einem früheren Zeitalter her und standen mit den später entwickelten Sitten und Mei-
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nungen in einem schneidenden Widerspruch …“. Während es derartige entwürdigende körperliche Züchtigungen in der Zivilgesetzgebung zumeist nicht mehr gab, standen sie dem Offizier nach Ermessen frei: „Rücksichtslos züchtigte man den Soldaten auf öffentlichen Plätzen, ja zuweilen reizte die Zahl der Zuschauer den Dünkel eines eitlen Anführers zu einem Mißbrauch des ihm verliehenen Strafrechts.“ Eine ansehnliche Zahl von Offizieren lehnte dies ab, die Mehrheit dürfte jedoch dahintergestanden haben. Die Verhältnisse in der preußischen Armee waren natürlich bekannt; sie riefen auch öffentlich Kritik und Reformvorschläge auf den Plan. Dazu gehörte zum Beispiel eine Publikation des ehemaligen Offiziers Heinrich von Bülow („Der Feldzug von 1805, militärisch-politisch betrachtet“), in der er darauf hinwies, dass die Armee seit 1763 keine grundlegende Reform erfahren habe und sich überdies weigere, die veränderte französische Taktik zur Kenntnis zu nehmen. Um das zu erreichen, hätte es wohl einer geläuterten Mentalität des Offizierskorps bedurft. Wie es um diese bestellt war, veranschaulicht der Vergleich eines Hauptmanns bei Franzosen und Preußen: Bei ersteren gingen „alle Infanterie-Offiziere zu Fuß mit dem Tornister auf dem Rücken, bis auf den Bataillons-Kommandeur und Adjudanten, während unsre Bataillons fünfzig Luxus-Pferde bedurften!“ Dazu der General Rüchel: „Mein Freund! Ein preußischer Edelmann geht nicht zu Fuß!“ Den Offizier trieben Disziplin, Zucht und Ordnung, die Verehrung des Königs und Kriegslust an; „doch waren … ihre ungestüme Sehnsucht nach Krieg, ihr Durst nach Taten, Auszeichnung und Avancement sowie ihre Geringschätzung des Feindes, mit dem sie bald fertig zu werden meinten, bei der Mehrzahl von ihnen nur zu prahlerisch …“ – so ein Stabsoffizier im Dienst des Herzogs Carl August von SachsenWeimar. Hinzu kam, dass das Offizierskorps hoffnungslos überaltert war (von 244 führenden Offizieren hatte die Hälfte das 65. Lebensjahr bereits überschritten), „eine wurmstichige Gesellschaft“, „größtenteils bejahrte, abgelebte Männer, bei denen der Durst nach Ruhm erloschen
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war“. Das galt insbesondere für die Situation von 1806, in der bezeichnenderweise jener Herzog Karl Wilhelm Ferdinand von Braunschweig Kommandeur der preußisch-sächsischen Hauptarmee war, der bereits 14 Jahre vorher die Alliierten nach Lothringen geführt hatte. Mittlerweile hatte er sein 70. Lebensjahr überschritten und nickte dann und wann beim Kriegsrat ein. Hauptmann von Boyen über den „an kleinliche Kriegsordnung gewöhnten Sinn“ des alten Herrn: „… das war der Mann, der uns gegen Napoleon führen sollte.“ Soviel zum Grundsätzlichen. Hinzu kommt aber noch, dass die preußische Armee im Spätsommer 1806 katastrophal schlecht aufgestellt ist. Die Bekleidung der einfachen Soldaten war mangelhaft, denn das Tuch war grob und lose genäht, hatte weder Unterfutter noch Unterbeinkleider. Angeblich fror man darin schon im Herbst. Die Verpflegung kann man nur als kärglich bezeichnen, sie bestand aus täglich zwei Pfund Kommissbrot, das „oft verschimmelt oder nicht gehörig ausgebacken“ war. Selbst die Logistik war desaströs, waren doch die Magazine ungünstig verteilt, außerdem kam es nicht selten bei der Austeilung zu chaotischen Verhältnissen. Von Ersatzpatronen über Lazarette bis zur Feldbäckerei mangelte es an vielem. Bei solchen Berichten wundert es nicht, dass die standesbewusste Offizierselite es verschmähte, Feindaufklärung zu betreiben. Die Franzosen dagegen setzten Agenten ein. Zahlreiche Weinhändler, wohlgekleidet und redegewandt, entpuppten sich später als französische Offiziere im Geheimauftrag. Da keine preußische Armeepolizei existierte, konnten sie anscheinend frei schalten und walten. Man kann den Eindruck gewinnen, dass die preußische Führung eine militärische Konfrontation auf die leichte Schulder nahm. Offensichtlich mobilisierte man nur einen Teil der Reserven, was dazu führte, dass rechnerisch an der mutmaßlichen Front im Westen über 100 000 Soldaten gefehlt haben sollen. Man glaubte an sich selbst und an die Berliner Presse, wo die Zeitschrift „Der Hausfreund“ von der „Blindheit der französischen Nation“ schrieb, „die, bekannt mit der Überlegenheit der preußischen Waffen,
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es wagt, ihren Ruhm und ihre Ehre im Kampf mit uns auf das Spiel zu setzen.“ Kaiser Napoleon sah dies – wenig überraschend – ganz anders. Noch Mitte September 1806 schätzte er die aktuelle Lage gegenüber Außenminister Talleyrand so ein: „Der Gedanke, Preußen könnte sich allein mit mir einlassen, erscheint mir so lächerlich, daß er gar nicht in Betracht gezogen zu werden verdient.“ Sein Kabinett sei „verachtungswürdig“, sein Souverän „schwach“ und der Hof von jungen Offizieren beherrscht, die nur etwas wagen möchten. Diese Macht „wird stets so handeln, wie sie es bereits getan hat, nämlich rüsten, abrüsten, rüsten, dann, während man sich schlägt, untätig bleiben und sich mit dem Sieger verständigen!“ Darum wolle er Preußen beruhigen, zugleich aber Stärke zeigen. An Friedrich Wilhelm III. appellierte er: „Ich würde diesen Krieg als einen Bürgerkrieg betrachten, so eng sind unsere Staatsinteressen miteinander verbunden … Dieser Krieg wird nicht durch mein Verschulden geführt …“ Nachdem es bereits zu Kampfhandlungen gekommen ist, antwortet er am 12. Oktober auf das Ultimatum des Königs aus dem „Kaiserlichen Hauptquartier Gera“, er bedaure, dass man Friedrich Wilhelm ein derartiges Pamphlet habe unterzeichnen lassen und werde dessen Beleidigungen nicht persönlich nehmen: „Glauben Sie mir, ich habe so mächtige Streitkräfte, daß alle die Ihrigen den Sieg nicht lange schwankend machen können! Warum aber so viel Blutvergießen? Zu welchem Zweck? … Sire, ich habe gegen Eure Majestät nichts zu gewinnen. Ich will nichts von Ihnen, noch habe ich etwas von Ihnen gewollt. Der gegenwärtige Krieg ist unpolitisch!“
Der Tod eines Heldenprinzen Natürlich gab sich der Fuchs Napoleon unschuldiger, als er tatsächlich war. Zweifelsohne wusste er von den Abmachungen Preußens mit Russland und zeigte sich vorbereitet. Durch die zehn Jahre dauernde Zu-
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rückhaltung Berlins jedoch hatte Preußen zeitweise den Status eines französischen Verbündeten angenommen – eines Verbündeten, den der Kaiser wegen seines schwankenden Herrschers und der völlig unmodernen Armee nicht so recht ernstnahm. Lieber hätte er Preußen in die Reihen seiner Bündnispartner aufgenommen. Und nun stand die Entscheidung bevor: Wie lange hatten Napoleons Gegner in Berlin gegen diese Politik opponiert, darunter Königin Luise, Hardenberg als einer der führenden Politiker und nicht zuletzt der mittlerweile zum General avancierte Prinz Louis Ferdinand. Ausgerechnet er zeigt wenig Zuversicht, obwohl ihm Clausewitz einen ausgeprägten Heldencharakter bescheinigt. Und in der Tat zeugt die Berliner Entscheidung für einen Krieg gegen Napoleon von einer geradezu heroischen Fehleinschätzung bzw. Verblendung: Denn als Verbündete stehen zu diesem Zeitpunkt lediglich Sachsen und Sachsen-Weimar zur Seite, Zar Alexander hält sich zurück, seine Armee steht noch nicht bereit. Napoleon greift auf seine erfolgreiche Grande Armée und die Truppen der verbündeten Rheinbundstaaten zurück. Nach Ablauf des preußischen Ultimatums am 8. Oktober marschiert er mit seiner Hauptarmee von Bayern nach Thüringen, und hier im Herzen Deutschlands sollte sich Preußens Schicksal entscheiden. Bereits am folgenden Tag kommt es zu einem ersten Gefecht bei Schleiz, das mit dem Rückzug der Preußen unter General Tauentzien endet … und mit über 500 Toten, Verwundeten und Gefangenen … Das kann passieren; der General meldet Fürst Hohenlohe, dem Oberkommandieren eines Teils der Armee, die Bravour und den starken Kampfwillen seiner Truppen. Der 10. Oktober 1806 dann endet schlimmer: Bei Saalfeld soll eine preußisch-sächsische Avantgarde (Vorhut) unter Prinz Louis Ferdinand den Übergang über die Saale sichern. Das aber wird nicht gelingen, denn als die Franzosen angreifen, befinden sie sich schon auf beiden Ufern. Die Franzosen zeigen ihre gefürchtete Feuerkraft, die unter den Gegnern für Unruhe sorgt, und das weiß ihrerseits die angreifende Kavallerie zu nutzen. Karl von Nostitz, der Ad-
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jutant des Prinzen, berichtet, wie die Sachsen zwischen zwei Feuer geraten die Flucht ergreifen. Die Szene ist unübersichtlich, Preußen, Sachsen und angreifende Franzosen bilden ein wirres Durcheinander. Louis Ferdinand erweist sich als der gewohnte Haudegen und will seine flüchtenden Soldaten aufhalten. Er setzt sich an ihre Spitze und bringt sie teilweise zum Stehen. Das furchtbare Durcheinander schließlich führt zu einem Kampf Mann gegen Mann, Prinz Louis Ferdinand mittendrin. Dabei erhält er eine Verwundung im Nacken und einen Säbelhieb mitten auf die Brust. Sein Adjutant nimmt den Leblosen vom Pferd, legt ihn über seinen Sattel und versucht, seinen Prinzen in Sicherheit zu bringen. Was er dabei erlebte, wie er selbst schwer verletzt wurde und sich feindlicher Husaren erwehren musste, ist schon eine wahre Heldengeschichte für sich, die wir von Nostitz gern glauben wollen. Allein, das Leben des Prinzen kann er nicht mehr retten! Bereits zu Beginn des Krieges fällt Preußens Hoffnung – kein Wunder, dass man allenthalben von einem „verhängnisvollen Vorzeichen“ spricht. In nüchternen Zahlen nimmt sich das Geschehen in Saalfeld so aus: Die Preußen und Sachsen haben 1800 Tote und Verwundete, 34 von 40 Kanonen gehen verloren. Im Hinterland stößt man auf Scharen von Flüchtlingen ohne Gewehre, die sich als „Versprengte“ bezeichneten, wohl aber zumeist desertiert sind. Die psychologische Wirkung ist verheerend. Zutiefst bewegend etwa der Bericht der Herzogin Auguste von Sachsen-Coburg aus Weimar: „… ein Detachement Infanterie, mit ihren Adlern und bärtigen Zimmerleuten voraus, marschierte in den Hof; in ihrer Mitte trugen sie etwas auf Stangen. Erst als sie es niederlegten, konnte ich die Leiche des Prinzen Louis Ferdinand erkennen. Nackt, in ein großes Tuch gehüllt, lag der große königliche Mann da, den schönen Kopf entblößt; keine Wunde hatte das schöne Gesicht entstellt, in dem Hinterkopfe hatte er einige gefährliche Hiebwunden, und in der halbentblößten Brust gähnte die breite Wunde eines Stiches, der sein Leben geendet hat. So schnell, wie sie gekommen waren, eilten die Weißkittel wieder davon, und wie
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von Räubern ermordet, lag der Enkel eines Königs auf dem Pflaster. Ich konnte vor Tränen kaum mehr sehen, wie Mensdorff aus dem Hause gestürzt kam, um den Freund in die Fürstengruft zu begleiten. „Geben sie dem Helden die letzte Ehre!“, rief er den Ordonnanz-Husaren … zu.“ Friedrich von Gentz schildert zur selben Zeit die in Weimar herrschende Verwirrung. Die Straßen seien mit Truppen, Pferden und Bagagewagen verstopft. Mittendrin Offiziere aller Waffengattungen, Generäle, sogar das Gefolge des Königs. Aus Gerüchten wurde Gewissheit: Eine Schlacht war verloren, Prinz Louis Ferdinand hatte den Tod gefunden. Der Vormarsch sei unterbrochen, das Hauptquartier, sogar König und Königin, befänden sich in größter Verwirrung. Die Stimmung ist schlecht und böse Vorhersagen machen die Runde. Mittlerweile spielt sich Folgendes in einem Umkreis von 10 bis 20 km im Raum Weimar und Jena ab: Napoleon marschiert mit seiner Hauptarmee heran, ebenso der Herzog von Braunschweig, eine Teilarmee befehligt der Fürst von Hohenlohe, auf französischer Seite der erprobte Marschall Davout, andere kommen hinzu, insgesamt treffen mehr als 200 000 Soldaten zusammen. Der 14. Oktober bricht mit einer kalten Nacht und dichtem Morgennebel an. Die preußischen Soldaten haben nach Zeugenberichten die Nacht schlecht verbracht. Die genannten Versorgungs- und Ausrüstungsprobleme machen zu schaffen. Man blieb hungrig, hatte weder Stroh noch Holz, um halbwegs komfortabel zu biwakieren. Die Thüringer erleben, was Menschenscharen selbst ohne Gewalt anzurichten vermögen: Für Tausende von Feuern werden Parks gerodet und Chausseepappeln gefällt. Mittlerweile weiß man, dass es den Preußen nicht nur an warmer Kleidung und jungen Führungsoffizieren mangelte. Das Offizierskorps war anscheinend zutiefst zerstritten, jeder neidete dem anderen den mutmaßlichen Erfolg. Ein seniler Oberbefehlshaber und ein entschlussschwacher König machten die Lage nicht besser. Doch der guten Übersicht und klarer Befehle hätte es an jenem Morgen dringend bedurft – wobei sich beide Seiten, nicht zuletzt durch den
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dichten Nebel bedingt, schwertaten, Erkenntnisse über die feindlichen Stellungen zu gewinnen. Wie so oft ist es Napoleon, der die Initiative ergreift. Zwar vermutet er auf der gegnerischen Seite die preußische Hauptarmee unter dem Herzog von Braunschweig, tatsächlich sind es die kleineren Truppen des Fürsten Hohenlohe. Aber was soll´s! Der Kaiser befiehlt den Angriff … Andere preußische Verbände nähern sich dem Schlachtfeld bei Jena. Darunter auch ein Leutnant von Borcke, der mit seinen Soldaten durch den Nebel zieht und bereits den Kanonendonner vor sich hört. Die fehlende Sicht verwirrt, das heftige Geschützfeuer und die Geräusche tausender Soldaten nicht minder. Endlich bricht die Sonne durch und Schillers Reiterlied ertönt. Durch das Sonnenlicht kann der Offizier Scharen von Soldaten erkennen, die von Jena kommend Richtung Weimar fliehen. Obwohl erst früher Vormittag, ist der Weg voll von Massen, die aus Flüchtenden und Verwundeten mit und ohne Waffen bestehen. Bestürzung und Mutlosigkeit habe sich breit gemacht – die Schlacht sei verloren. Als letztes trifft das Korps des Generalleutnants von Rüchel vor Jena ein – später sollte man ihm das zum Vorwurf machen, so als hätte er das Schlachtenglück wenden können. Zwei Welten begegnen sich: Von Jena strömen immer mehr Flüchtlinge heran, in regelrechter Auflösung und wilder Flucht. Unter den Heranmarschierenden herrscht – noch – strengste Ordnung, gewissermaßen unter „Fuchtel und Stock“. Gerüchte machen die Runde. Die entgegenkommenden Kameraden verkünden nichts Gutes. Da trifft ein Zettel ein mit der Nachricht, Hohenlohe habe den Sieg schon fast errungen, man möge sich eilen. Das macht Mut, unter Jubel wird auch hier das allgegenwärtige „Frisch auf, Kameraden“ angestimmt. Mit der Nähe des Schlachtfeldes und dem Pfeifen der Kugeln endet der Gesang. Von den Anhöhen der Sperlingsberge gewinnt man einen Überblick: Drüben in einiger Entfernung die feindlichen Massen, weiter vorn die Reste der Armee Hohenlohes, die kaum eine Linie zu halten in der Lage sind. Beim Vormarsch
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geraten Rüchels Leute sofort unter Artilleriebeschuss, außerdem setzt ihnen das gezielte Feuer der Tirailleurs – der französischen Schützen – zu, die in aufgelöster Ordnung operieren und aus der Deckung heraus schießen. Dem waren die preußischen Söldner in ihrer starren Linie hilflos ausgesetzt. Ein Zeuge: „So beschossen zu werden, ohne den Feind zu sehen, machte auf unsere Soldaten einen übeln Eindruck, denn, unbekannt mit dieser Art des Gefechts, verloren sie zu ihren Gewehren das Vertrauen und fühlten die Überlegenheit des Feindes sofort.“ Und dann ging es sehr schnell, denn das verheerende Feuer wurde immer heftiger. Der mörderische Hagel von Kugeln und Kartätschen brachte die Linien ins Wanken. Als sie sich unter Panik auflösten und die Flucht ergriffen, kam die Stunde der feindlichen Kavallerie, die nun sofort nachsetzte. Einzelne wieder zusammenfindende preußische Gruppen wurden mit Granaten beschossen. Überall bricht Chaos aus, wie die Hohenlohesche Armee sind auch Rüchels Männer der französischen Kampfweise nicht gewachsen. Aber ca. 30 km nördlich bei Auerstedt steht noch die Hauptarmee unter dem Oberbefehl des Herzogs von Braunschweig, rund 50 000 Mann. Er hat das 3. Französische Armeekorps unter Marschall Davout vor sich und damit lediglich 27 000 Soldaten. Auch hier sorgen Nebel und mangelnde Feindaufklärung für Fehleinschätzungen, denen zu Folge beide Seiten nicht wissen, wer und was ihnen gegenübersteht. Den alten preußischen Oberbefehlshaber darf man wohl nicht der Feigheit zeihen, denn er wagt sich weit vor … zu weit. Schon wird er durch Granatsplitter in den Augen so schwer verletzt, dass die Schlacht für ihn zu Ende ist und er wenige Wochen später an seiner schweren Verwundung stirbt. Die Führungsschwäche der höchsten preußischen Offiziere, die im nahen Schloss Auerstedt residieren, zeigt sich am 14. Oktober einmal mehr: Was die Nachbesetzung des Oberbefehls betrifft ist man sich unschlüssig, Friedrich Wilhelm hilflos. Derweil siegt Davout auf ähnliche Weise wie Napoleon bei Jena über die zahlenmäßig fast doppelt so starken Preußen. Auch hier endet Preußens mutmaßliche
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Überlegenheit in wilder Flucht. Wer sollte Napoleon nun noch den Durchmarsch nach Berlin verwehren? Insgesamt 30 000 Männer hatten die Preußen durch Tod, Verwundung und Gefangennahme verloren. Während sich die Überlebenden einschließlich des Königs nach Osten absetzen, ergreift Napoleon die Gelegenheit, diesen 4. Koalitionskrieg nun doch politisch zu nutzen: Im Schloss zu Jena hält er vor den versammelten sächsischen Offizieren eine Rede, die sein General Jean Rapp, ein aus dem elsässischen Colmar stammender Sohn eines Hausmeisters, übersetzte: Die Preußen seien die eigentlichen Feinde und Unterdrücker der Sachsen, er, Napoleon, sei ihr Befreier. Er kämpfe für die sächsische Unabhängigkeit, die Preußen seit langem bedrohe. Gegenüber den Sachsen zeigte der Kaiser seine milde Seite; sobald die Offiziere erklärten, in diesem Krieg nicht mehr gegen ihn zu kämpfen, erhielten sie Pässe und durften heimreisen. An den Grenzpfählen wurden Tafeln befestigt: „Territoire de la Saxe électorale – Pays neutre“ (Kurfürstentum Sachsen – neutrales Land). Dabei sollte es allerdings nicht bleiben, denn schon bald verhandelte Napoleon mit dem Kurfürsten. Dieser trat dem Rheinbund bei und erhielt dafür die Königskrone. Friedrich August I. sollte von nun an einer der treuesten Verbündeten des Kaisers sein. Doch der Krieg in Thüringen hatte auch noch andere Seiten. Die Menschen mussten erfahren, was es bedeutet, wenn zehn-, ja hunderttausende fremder Soldaten durchs Land marschieren, ihre Lager aufschlagen und sich versorgen müssen – zumeist auf Kosten der Bevölkerung. Einen Tag vor der Doppelschlacht drangen französische Soldaten in das Universitätsstädtchen Jena ein, was dessen Bürgern exotische Impressionen brachte, traten doch die Soldaten Napoleons ganz anders auf als die Preußen: „Alle trugen beim Marsche kurze Mäntel – Kapots genannt –, die verschieden gefärbt waren und durch die vielen Strapazen sich in einer traurigen Verfassung befanden. Nur wenige Regimenter hatten Tschakos, die meisten trugen dreieckige Hüte als Kopfbedeckung, an welche sie Löffel gesteckt hatten … Die Uniformen trugen sie
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zur Schonung unter dem Kapot oder im Tornister. Einige Soldaten sollen gar in Weibermänteln, Priesterröcken und anderen Hüllen einherstolziert sein. Selbst die Offiziere trugen auf dem Marsche nicht die gleiche Kleidung. Über die einfache Marschuniform hatte der eine einen blauen Mantel nach dem neuesten Pariser Schnitt, der andere einen erbsfarbigen Oberrock und ein dritter einen langhaarigen Flausrock geworfen, sodaß ein marschierendes Regiment eine Musterkarte aller möglichen Trachten war.“ Hier nun zeigte es sich, dass die Soldaten bei der Besetzung einer Stadt alles andere als diszipliniert vorgingen. Schnell fingen sie nämlich an, den Bürgern Uhren und Geld abzunehmen. Ihre ständige Suche nach Lebensmitteln artete in regelrechte Plünderungen aus, wobei betrunkene Soldaten „schreckliche Excesse“ begingen. Ein Augenzeuge: „Alles Brennbare wird auf die Straße geschleppt, die überall lodernden Wachfeuer zu speisen; Wagen voll Beute fahren durch die Stadt. Schlachtvieh wird dazwischen weggetrieben. Das Brot auf den Bajonetten, den Wein in Eimern, die Betten auf dem Rücken, ziehen die verwegen dreinschauenden Gesellen in Trupps durch die Straßen, einem der vielen Fenster oder andern Häuser, neuer Beute zu.“ Dem Gebaren der Soldateska waren Männer wie Frauen hilflos ausgeliefert. Nur die in zahlreichen Bürgerhäusern einquartierten Offiziere und Generäle garantierten einen gewissen Schutz. Der Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel, der über den vor dem Schloss umherreitenden Napoleon noch begeistert als der „Weltseele“ schreibt, konstatiert erschrocken: „So hat sich kein Mensch den Krieg vorgestellt, wie wir ihn gesehen.“ Die Franzosen verfolgen derweil die geschlagenen Preußen bis nach Weimar, wobei es zu einzelnen Gefechten kommt. Die französische Artillerie hat keine Hemmungen, in die Stadt hineinzuschießen. Johanna Schopenhauer schreibt ihrem Sohn Arthur vom Rasen der Kanonen, vom Beben des Fußbodens, vom Klirren der Fenster und schildert „das durchdringende Pfeifen und Zischen und Knattern der Kugeln und Haubitzen“. Als die einst beschauliche Residenzstadt eingenommen
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wird, werden auch hier nur Offiziere und die Kavallerie ihrer Ehre gerecht, indem sie versuchen, die Zivilbevölkerung zu schützen und ihr zu helfen, „… aber was konnten sie gegen 50 000 wütende Menschen, die diese Nacht hier frei schalten und walten durften …“. Wie in Jena folgen Plünderungen, wobei nicht selten die Hausbewohner mit Bajonetten nach draußen getrieben werden. „Auf dem Markt hatten sie große Wachtfeuer errichtet, um welche sie schwärmten und Hühner, Gänse, Ochsen brieten und kochten …“ Die Angst um das eigene Wohl wird verstärkt durch die zahllosen Verwundeten, die in die Stadt gebracht werden. Für sie gibt es zu wenig Ärzte und Pflegepersonal, zu wenig Verbandszeug und keine Räumlichkeiten. Unter katastrophalen hygienischen Bedingungen werden Schwerverwundete und Sterbende einfach auf den regennassen Straßen abgelegt. Die Malerin Louise Seidler berichtet aus Jena von grausigen Details wie den Totenwagen, von denen Köpfe, Arme und Beine hervorstarren. Dazu herrscht Wassernot, denn die Röhren der Brunnen sind zerstört. Man behilft sich mit Wasser aus der Saale, die voll ist von Pferdekadavern, menschlichen Gliedmaßen, blutigen Kleiderfetzen und Ähnlichem. Im Schloss zu Weimar bekommt man davon nicht viel mit, wohl aber mit dem Umstand, dass dort am 15. Oktober Napoleon Quartier bezieht. Der ist empört über die preußische Parteinahme des Herzogs Carl August, dessen Frau Luise resolut auf den Status ihres Mannes als preußischer Offizier verweist. Einen Monat später kehrte Carl August nach Weimar zurück. Er behielt sein Herzogtum. Über die Herzogin soll Napoleon seinem Adjutanten General Rapp gegenüber geäußert haben: „Das ist eine Frau, die selbst vor unseren 200 Kanonen keine Furcht hat.“
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Ein Kaiser in Berlin und ein König auf der Flucht Derweil hat sich die furchtbare Meldung verbreitet, dass das einstmals glorreiche preußische Heer in Thüringen nicht nur besiegt, sondern regelrecht zerschlagen worden ist, sein Oberbefehlshaber tödlich verwundet, die Fliehenden von französischer Kavallerie verfolgt. In den nächsten Tagen dann eine Hiobsbotschaft nach der anderen: Die Festung Erfurt kapitulierte und 15 000 Preußen gerieten in Gefangenschaft. Am 17. Oktober stellte sich der Herzog Eugen von Württemberg mit einem preußischen Reservekorps bei Halle an der Saale den heranmarschierenden Franzosen unter Marschall Bernadotte in den Weg – auch er wurde besiegt. 5000 Tote, Verwundete oder Gefangene waren verlustreiches Ergebnis. Am selben Tag schlossen die Franzosen mit Sachsen Waffenstillstand, worauf unter anderem Leipzig und Dresden besetzt wurden. Gegen Ende des Monats kapitulierten die letzten Reste der bei Jena zerschlagen Teilarmee des Fürsten von Hohenlohe. Ebenso ergab sich das stark befestigte Stettin – Preußen verliert 6000 Soldaten in die Gefangenschaft, außerdem 160 Kanonen. Schließlich folgte am 8. November die größte Festung Magdeburg, seit den Zeiten des Großen Kurfürsten das Glanzstück der preußischen Befestigungswerke. Es mag wohl sein, dass das riesige Areal nicht mehr den modernen fortifikatorischen Anforderungen genügte, also ziemlich veraltet war. Doch man streckte dort ohne eine Belagerung im klassischen Sinne die Waffen: 22 000 Soldaten und 16 Generäle gerieten so in französische Gefangenschaft. So fiel Festung um Festung, bis die preußische Armee schließlich nur noch aus 20 000 Mann bestand, die weitab in Ostpreußen ausharrten und auf die russischen Verbündeten hofften. Zur gleichen Zeit spielt sich eine Episode ab, die längst vergessen ist, aber damals bei Freund und Feind für Aufsehen sorgte: Nach der Katastrophe von Auerstedt hatte sich General Blücher mit 25 000 Mann Richtung Norden abgesetzt. Sein Ziel war das dänische Schleswig-Holstein, wo er seine Armee erst einmal in Sicherheit wähnte. Die Franzo-
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sen auf den Fersen, sah man schon die freie Reichsstadt Lübeck vor sich. Die wahrte im aktuellen Krieg die Neutralität. Doch das kümmerte Blücher und seine Soldaten nicht; trotz der Proteste des Senats stürmten sie die Tore und verschanzten sich. Die Franzosen stürmten hinterdrein und versuchten die Stadt zu „säubern“. Daraus entwickelte sich ein brutaler Straßen- und Häuserkampf. Ein preußischer Offizier spricht von einer „Nacht des Entsetzens“: „Fechtend zogen sich unsere Truppen zurück, das Gemetzel in der Stadt war fürchterlich, ein wahres Blutbad wurde angerichtet.“ Als die Preußen kämpfend die Flucht ergriffen, besetzten die französischen Soldaten Lübeck, dessen Bevölkerung sie im Bunde mit dem Feind wähnten. Was nun an Plünderungen, regelrechten Massakern und Vergewaltigungen erfolgte, suchte seinesgleichen. Regelrecht entfesselt toben sich tausende von Soldaten aus, während ihre Offiziere wenig dagegen ausrichten können. Am 8. November erlässt Bernadotte einen Tagesbefehl, der Plünderern das Todesurteil verheißt. Nachrichten über diese Vorfälle gelangten bis Paris und an den kaiserlichen Hof, wo sie für Erschütterung sorgten. Sehr schnell ließ Napoleon aber die Berichte darüber verbieten. Marodierende Soldaten seiner ruhmreichen Grande Armée passten nicht zum Image des Kaisers. Der preußischen Hauptstadt Berlin blieben dergleichen Exzesse erspart. Ihre Besetzung erfolgte gesittet mit französischem Glanz und Gloria. Noch Mitte Oktober hatte an der Spree anscheinend niemand so recht mit einer Niederlage gerechnet. Umso größer der Schock über die verheerende Doppelniederlage in Thüringen. Ziemlich abgeklärt reagierte die Bürokratie, die nicht etwa zum Aufstand gegen den Feind aufrief und dazu, Berlin zu verteidigen. Der Stadtkommandant Graf von der Schulenburg erließ dagegen am 17. Oktober folgende Proklamation: „Der König hat eine Bataille verloren. Jetzt ist Ruhe die erste Bürgerpflicht. Ich fordere die Einwohner Berlins dazu auf. Der König und seine Brüder leben!“ Die Berliner folgten dem Aufruf, nur Teile des Hofes und anwesende Russen machten sich eilig davon. Über die vor-
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herrschende Stimmung berichtet der bayerische Gesandte Franz Gabriel von Bray, also der Botschafter eines mit Napoleon verbündeten Staates. Allerorten seien unsinnige Reden erregter Patrioten gehalten worden, wonach man sich verteidigen und Napoleon ermorden wolle. Der Diplomat hält die öffentliche Meinung für manipuliert und wundert sich über die oben erwähnte falsche Selbsteinschätzung, die unter dem Schlagwort „Roßbach“ zu einer Verachtung der französischen Armee geführt habe. Er beobachtet „unversöhnlichen Franzosenhaß“ anstatt „Liebe für die öffentliche Wohlfahrt“. Die schien tatsächlich notwendig, denn überall herrschte Verwirrung, auch hielt man sich für preisgegeben, ohne jede Anweisung von König oder Armee. Immerhin: „Die Stadt bildet eine Art Republik und sorgt selbst für ihre Sicherheit“, trotz Aufregung und Gerüchten mit hysterischen Anflügen, „als solle in Worten und Gebärden um die Wette gejammert werden.“ Peu a peu nähert sich der Kaiser, der es sich natürlich nicht nehmen lässt, in die Hauptstadt des geschlagenen Preußen einzumarschieren. Am 22. Oktober befindet sich sein Hauptquartier in Wittenberg, wo er den Marquis Lucchesini mit einem Waffenstillstandsangebot Friedrich Wilhelms empfängt. Aber der König ist gar nicht in der Lage, Angebote zu machen und Forderungen zu stellen. Das Kämpfen geht weiter. Zwei Tage später bezieht Napoleon bereits im Potsdamer Stadtschloss Quartier und die nahe Festung Spandau ergibt sich gleich. Der Kaiser besucht Sanssouci und folgt den Spuren des großen Friedrich, über den er gesagt haben soll: „Wenn du noch lebtest, wäre ich nicht hier.“ Diese Anekdote bringt die preußische Tristesse auf den Punkt. Nun also nach Berlin, wobei der vom Kaiser geschätzte Marschall Davout mit seinem Armeekorps den Anfang machen soll. Am 25. Oktober erwartet man die Franzosen, darunter Fürst Franz Ludwig von Hatzfeld, der nach dem Abzug der letzten preußischen Soldaten gewissermaßen die Geschäfte übernommen hat. Bereits frühmorgens wartet „ganz Berlin“ auf den Einmarsch am Halleschen Tor, von dem damals die Straße südwärts Richtung Halle an der Saale führte. Neugierige sol-
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len dem anrückenden Feind sogar entgegengegangen sein. Nach einigen Stunden hörte man in der Ferne „die Trommeln wirbeln, der Schall kam näher, und der Weg nach Tempelhof blitzte von tausenden Bajonetten.“ – so ein Augenzeuge. Der gesamte Magistrat hatte sich mit Stadtschlüsseln eingefunden und lauschte Trommelklang und Musik. Der erste französische Infanterist, den man erblickte, machte jedoch keinen heldenhaften Eindruck: Statt gepuderter Locken und eines steifen Zopfes zeigte er sein wildes schwarzes Haar. Dazu einen kurzen Mantel, einen kleinen verwitterten Hut von unbeschreiblicher Form, zerrissene schmutzige Hosen und lädierte Schuhe, die die nackten Füße kaum verbargen. An einem Strick führte er einen zottigen Pudel mit sich, was genauso unmilitärisch wirkte wie das am Bajonett aufgespießte Brot und der Blechlöffel am Hut. Dann aber: „Hohe Männer, durch große Bärenmützen mit roten Federbüschen noch vergrößert, mit braunem Gesicht, langen, schwarzen Bärten, die bis auf den Magen reichten und grell gegen ein langes, schneeweißes Schurzfell abstachen, blinkende Äxte auf der Schulter, Gewehre auf den Rücken geschnallt, zogen zum Tore ein; es waren die Sappeurs, und ein Grausen befiel uns, als wir diese Gestalten … erblickten.“ Zwei Tage später kam der Kaiser, der zuvor im damals noch außerhalb Berlins gelegenen Charlottenburger Schloss genächtigt hatte (angeblich sogar im Schlafzimmer Königin Luises). Napoleon wählte den Einzug durch das Brandenburger Tor, dessen Quadriga er übrigens später nach Paris abtransportieren ließ. Nachmittags gegen 15 Uhr kündeten die Glocken der Stadt von der Ankunft des Kaisers, der von Ministern, führenden Beamten und dem Magistrat begrüßt wurde und wie üblich die Schlüssel der Stadt überreicht bekam. An der Kreuzung Friedrichstraße und Unter den Linden ist eine große Menge versammelt und zeigt sich durch die Pracht der napoleonischen Garden beeindruckt: die Grenadiere zu Pferde mit den hohen Bärenfellmützen und roten Federbüschen, ungewöhnlich lange Degen in der Hand; die Mamelucken in türkischer Tracht mit sichelförmigen Säbeln; die Garden
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zu Fuß und die Kürassiere, ausgewählt große Männer, auf dem Kopf einen glänzenden Helm, verziert mit rotem Federbusch und dem wild hintenabhängenden Pferdeschweif, Brust und Rücken geschützt durch einen funkelnden Harnisch. Man hört vereinzelte Vive l´empereur-Rufe, aber die Begeisterung scheint sich insgesamt in Grenzen zu halten. Der Magistrat hatte vorsorglich verfügt, „bei Leibes- und Lebensstrafe, sich beim etwaigen Einzug der französischen Truppen ruhig zu verhalten und keinen Widerstand zu leisten“. Weder Begeisterung noch Widerstand bescheinigt der junge Henri Beyle, der später als Stendhal ein berühmter Schriftsteller wurde, den Berlinern: „Zu unserem großen Erstaunen ließ die Musikkapelle die republikanische Melodie von „Allons, enfants de la patrie“ ertönen. [Sie war im Kaiserreich nicht verboten, aber auch nicht en vogue] Napoleon … ritt zwanzig Schritt vor seinen Truppen inmitten der Menge. Nichts wäre leichter gewesen, als aus einem Fenster „Unter den Linden“ einen Gewehrschuß auf ihn abzufeuern. Traurig war, daß die Menge, anstatt zu jubeln, im Schweigen verharrte.“ Begeisterung erfasste eher einzelne, so den Schriftsteller Julius von Voß: „An demselben Tage nachmittags zog Kaiser Napoleon ein. In einfach grüner Uniform, sein Antlitz (dessen Profil ganz antik römisch ist) in milder Haltung, die den Triumphator mehr idealisiert wie die berechnete Repräsentation. Ihn zu sehen, den Liebling des Schicksals, wie es vielleicht seit Caesar keinen so traulich umschlang, bei dem die Natur alle Züge zusammentrug, die den Heldencharakter bauen, dessen sichere Intelligenz den Völkern des Zeitalters immer lauter den Takt angiebt …“ Napoleon bezieht für 4 Wochen Quartier im königlichen Schloss der Hohenzollern, während Offiziere und Soldaten der Garde bei Bürgern einquartiert werden und der Hauptteil der Armee außerhalb der Stadt lagert. In dieser Zeit betreibt der Kaiser wie üblich seine Politik, so erlässt er hier das Dekret über die Kontinentalsperre, die den Wirtschaftskrieg gegen England auf die Spitze trieb und für das europäische Fest-
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land weitreichende Folgen hatte. Aber er besucht und empfängt auch ausgesuchtes Publikum und weiß nicht wenige wie üblich zu beeindrucken. So sucht er etwa Prinzessin Luise von Preußen auf, die fast 70-jährige geistreiche Mutter des gefallenen Louis Ferdinand. Oder er empfängt wie erwähnt den Historiker Johannes von Müller und überzeugt ihn so sehr, dass dieser von einem Hasser zu einem Napoleonbewunderer wird („Durch sein Genie und seine unbefangene Güte hat er auch mich erobert.“). Ebenso loben die Presseblätter der Hauptstadt die „väterliche Fürsorge“ und „beispiellose Sorgfalt und erhabene Güte des Kaisers“. Doch dieser weiß entsprechende Szenen auch zu inszenieren. So im Fall des Berliner Gouverneurs, des Fürsten von Hatzfeld. Dieser soll dem sich auf der Flucht befindenden König einen Brief geschrieben haben, der Informationen über die Besatzungsarmee enthielt. Napoleon befiehlt, ihn unter Spionage-Anklage vor ein Kriegsgericht zu stellen, wo ihm die Todesstrafe droht. Großmarschall Duroc und Adjutant Ségur bringen allerdings die hochschwangere Fürstin Hatzfeld ins Schloss, die den Kaiser gnädig stimmen soll. Und in der Tat: Napoleon soll ihr das Corpus delicti, nämlich den abgefangenen Brief ihres Gemahls, anvertraut haben, worauf sie ihn ins Kaminfeuer warf. Der Fürst von Hatzfeld wurde daraufhin freigelassen. Diese beispielhafte Szene für die Großherzigkeit Napoleons wurde bald in ganz Europa berühmt. Ebenso zeigte er bei Personalentscheidungen eine geschickte Hand, etwa bei der Ernennung der Generäle Clarke und Hulin zum Gouverneur bzw. Kommandanten von Berlin. Denn „beide Generale waren leutselig, ließen sich zum größten Erstaunen von jedermann sprechen und handelten gewöhnlich im Interesse des Bürgers, stets aber mit Gerechtigkeit“ – ein Verhalten, das bei preußischen Offizieren nicht üblich war. Den Berlinern wurde von nun an das kaiserliche Militärspiel geboten, so bei regelmäßigen Paraden der Garde-Regimenter im Lustgarten, von denen sich etwa der junge Karl August Varnhagen von Ense tief beeindruckt zeigte. Das Verhältnis zu den Besatzern war anscheinend zwiespältig. Es schwankt zwischen Hass und vereinzelter Begeis-
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terung, wobei sich sicherlich die meisten einfach arrangierten. So schreibt Pierre-Francois Percy, der Chefchirurg der Grande Armée, über einen Besuch der Berliner Oper, wo Glucks „Iphigénie en Tauride“ gegeben wurde: „Ich bin so entzückt, daß ich mich von meiner Begeisterung noch gar nicht erholen kann. Der Feind ist in Berlin, Preußen ist erobert, der König ist mit einer erschreckten Armee geflohen, und trotzdem war das Theater gesteckt voll, und niemand schien an sein Vaterland zu denken, den Hof zu bedauern oder sich wegen der Zukunft Sorge zu machen. Man applaudierte, als Iphigenie sang, und hauptsächlich beklatschte man das Ballett, das reizend war.“ Andererseits trat ihm nach eigenem Bekunden die Bevölkerung unverschämt, zynisch und prahlerisch gegenüber. Und mancher machte deutlich, dass ihm bereits französische Laute verhasst waren. Napoleon hatte gegenüber der Bevölkerung rücksichtsvolles Verhalten befohlen und im Großen und Ganzen hielt man sich auch daran. Als immer mehr preußische Kriegsgefangene in der Hauptstadt zu sehen waren, weckte dies eher betrübliche Gefühle. Eine Demütigung des eitlen Kürassierregiments Gensdarmes, das mit seinen weißen Uniformen und schwarzen Hüten gleichsam für altpreußischen Adelsstolz stand, wollte sich Napoleon nicht nehmen lassen. Die Gräfin Sophie von Schwerin: „Wie eine Herde wurden die Reiter zu Fuß, ohne Stiefel und Hüte durch die Stadt getrieben. So kamen sie hier vorbei, um nach dem Hofe der Porzellanfabrik gebracht zu werden, wo sie die Nacht eingesperrt zubrachten. Ihre Kinder, ihre Weiber ihnen heulend nach …“ In der Nacht soll man indes die meisten laufen gelassen haben. Das Geschick der Gensdarmes haben womöglich nicht alle bedauert; es machten sich nämlich durchaus kritische Stimmen über das preußische Militär breit, dem man die Schuld am Zusammenbruch des Staates mit zuschrieb. So äußert sich auch Varnhagen von Ense: „Ein grenzenloses Verderben, das schon lange den Staat in seinen wesentlichsten Verhältnissen unterwühlt hatte, wurde offenbar … Ein preußischer Offizier galt sonst als der Inbegriff der Ehre, des tapfern Stolzes
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und der tüchtigsten Kriegskunde, jetzt war der Name eine Bezeichnung der prahlhaften Feigheit, des erbärmlichsten Unwertes.“ Und: „Jetzt wollte mancher im Gegenteil sich über die Siege der Franzosen freuen, als wodurch die einheimische Despotie, wie sie das Militär – ein Rüchel zum Beispiel – gewollt und ausgeübt, glücklich zerstört wäre … in welchen Ausdrücken der Ingrimm preußischer Patrioten gegen das Militär wütete, mit welcher haßerfüllten Verachtung …“. Das Hamburger Blatt „Minerva“ wähnte Ende 1806 Preußen bereits am Ende („Betrachtungen eines Deutschen am Grabe der preußischen Monarchie“): „Welcher Mensch von Gefühl … kann den großen Jammer eines deutschen Patrioten tadeln, der die germanische Nationalehre nicht bloß angegriffen, sondern vertilgt, Deutschland unterjocht und die preußische, dem ganzen Germanien Ruhm bringende Monarchie aus der geographischen Karte von Europa weggestrichen sieht?“ Wo aber war der König mit seiner Familie und dem Hof? Königin Luise hatte sich in Thüringen in unmittelbarer Nähe des Schlachtgeschehens aufgehalten, von wo sie eiligst nach Berlin reiste, dann weiter nach Stettin und Küstrin, wo sie wieder mit Friedrich Wilhelm zusammentraf. Mit den Kindern zog man sich nach Königsberg zurück, bis es selbst dort nicht mehr sicher schien. Die königliche Familie floh noch über 100 km weiter nördlich nach Memel (das heutige litauische Klaipeda), in den nördlichsten Zipfel des Königreichs Preußen, den man im Januar 1807 erreichte. Diese winterliche Flucht durch Eis und Schnee begründete letztlich den Mythos um die tapfere Königin, die Luise wohl tatsächlich auch wahr. Die Bedenken ihrer Ärzte stellte sie hintan, den zögerlichen Gatten überzeugte sie vom Widerstand gegen Napoleon – kaum verwunderlich, dass dieser ihr nicht wohlgesonnen war: „Die Königin von Preußen ist bei der Armee, eine Amazone in der Uniform ihres Dragonerregiments“, so hatte er wenige Tage vor Jena und Auerstedt in einem Bulletin bissig verkündet. Nun residierten König und Königin im bitterkalten Memel – nach Berlin sollten sie erst im Dezember 1809 zurückkehren können. Bei aller Kritik an den herrschenden
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Verhältnissen im Königreich sorgte diese dramatische Flucht und das geradezu bescheidene Leben weit im Norden für Sympathien unter den Bürgern. Derweil geht der Krieg weiter, auch wenn die Franzosen und ihre Verbündeten immer mehr Gebiete Preußens besetzen. Zu Beginn des Jahres 1807 stehen Napoleon in Ostpreußen und Polen 115 000 Russen mit fast 500 Geschützen und die übrig gebliebenen 20 000 Preußen gegenüber. Seine Deutschlandarmee zählt 207 000 Mann, davon 34 000 Soldaten des Rheinbundes. Diese fungieren auch als Besatzungsarmee und belagern preußische Festungen, von denen Breslau mit 6000 Soldaten am 7. Januar 1807 kapituliert, es folgen Brieg und Schweidnitz. Im Februar kommt es bei Preußisch-Eylau in Ostpreußen zur Schlacht, die Napoleon unter Verlusten für sich verbuchen kann. Bis in den Sommer ziehen sich die Kämpfe noch hin, erst nach der russischen Niederlage bei Friedland Mitte Juni 1807 wird ein Waffenstillstand geschlossen. Mittlerweile haben die Franzosen auch noch die alte preußische Königsresidenz Königsberg besetzt. Bei den folgenden Friedensverhandlungen zwischen Napoleon und Zar Alexander I. steht Friedrich Wilhelm III. wortwörtlich am Rande, obwohl es um seine politische Existenz geht. Als sich die beiden Kaiser mitten auf der Memel bei Tilsit in einem Holzhaus auf Flößen treffen, steht er als Zuschauer am Ufer. Es sieht schlecht aus für Preußen, Königin Luise soll helfen, obwohl sie fast so eine Art Todfeindin Napoleons ist. Im Juli trifft sie in Tilsit ein, um ihn nichtsdestotrotz milde zu stimmen. Der Kaiser berichtet an Josephine, die Königin von Preußen habe bei ihm gespeist. Er musste sich vorsehen, denn sie wollte ihn zu noch größeren Konzessionen gegen den König überreden. „Höchst anmutig“ sei sie und „von bezaubernder Freundlichkeit gegen mich“. Eifersüchtig müsse die Kaiserin im fernen Frankreich jedoch nicht werden, wie ein Wachstuch sei er, über welches alles dahingleite: „Es würde mich teuer zu stehen kommen, den Galanten zu spielen.“ Dabei blieb es, letztendlich konnte Luise nichts erreichen. Wochen später bekennt Napoleon in
Ein Kaiser in Berlin und ein König auf der Flucht
Dresden dem bayerischen Gesandten von Bray, die Königin sei „eine Frau von Geist und Haltung“ und „ihrem Gemahl weit überlegen“. Dieser sei „beschränkt, charakter- und talentlos“, Preußen „feige und eitel“ – „eine schlechte Nation“. „Immer wieder geschlagen und immer wieder unverschämt“. Diese Einschätzung findet im Frieden von Tilsit ihren Ausdruck, geschlossen am 9. Juli 1807: Preußen wird nun alle Länder links der Elbe verlieren, außerdem die meisten polnischen Gebiete, aus denen Napoleon das Großherzogtum Warschau formt. Danzig wird zum Freistaat erklärt. Rumpfpreußen besteht von nun an aus Brandenburg, Pommern, Ostpreußen und Schlesien. Das Land muss hohe Kriegsschulden begleichen und bleibt von französischen und verbündeten Truppen besetzt. Das kommt einer staats- und wirtschaftspolitischen Katastrophe gleich. Preußen gehört in jenem Sommer 1807 nicht mehr zum Kreis der europäischen Großmächte. Um mit der vom Buchhändler Palm verlegten Schrift zu sprechen: Preußen ist „in seiner tiefen Erniedrigung“. Zu den wenigen „Heldentaten“, die vor allem später gefeiert wurden, mag Kolberg gehören. Die preußische Festung lag an der Route zwischen Stettin und Danzig und störte die französische Armee bei ihrem Durchmarsch, zumal ein Offizier namens Schill von hier aus unangenehme Streifzüge unternahm. Im Februar 1807 wurde Kolberg von den Franzosen deswegen enger eingeschnürt und ab April mit fast 8000 Mann unter General Loison belagert. Die preußische Garnison war jedoch zuvor verstärkt, der alte Kommandeur durch Gneisenau ersetzt worden. Nettelbeck und die Bürgerschaft kamen unterstützend hinzu, und gemeinsam konnte man alle Angriffe zurückschlagen. Und das, obwohl das Belagerungskorps schließlich an die 15 000 Mann umfasste. Erst nach der Niederlage bei Friedland und dem folgenden Waffenstillstand endeten die Kämpfe am 2. Juli 1807.
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Mitteleuropa 1812
KGR. DÄNEMARK
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Tilsit
O s t s e eEin Kaiser in Berlin und ein König auf der Flucht 127 Königsberg
Schwed.Pommern Stralsund Greifswald
Danzig Kolberg Pommern
Ostpreußen
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KGR. PREUSSEN We s t p r e u ß e n
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Stettin Thorn
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Cottbus K g r. Sachsen Dresden Görlitz
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Prag
Krakau
Elbe
Brünn
KAISERTUM ÖSTERREICH Wien
Pressburg Donau
Salzburg
ILLYRISCHE
Ofen
Pest
Grenze des Rheinbunds
128 Das Ende von Preußens Gloria
Suum cuique? Die preußischen Reformer „Jedem das Seine“ – Devise des von Friedrich I. gestifteten Schwarzen Adlerordens – wurde gewissermaßen zum Leitspruch des preußischen Staates. Bereits in der Antike bezog man Suum cuique auf ausgleichende Gerechtigkeit und Selbstbeschränkung. Wer aber entschied darüber? Was, wenn eine übergeordnete Instanz versagte oder korrumpiert wurde? „Jedem das Seine“ taugt auf jeden Fall nicht als Leitspruch revolutionär gestimmter Massen – „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“ dagegen schon. Denn was kam dem Soldaten zu? Prügelstrafe? Was dem Bauern? Unfreiheit und Fronpflicht? Was dem Handwerker? Zunftzwang? Das Kreuz mit unterschiedlichen Rechten und Pflichten, ja überhaupt mit dem unfreien Zustand des preußischen Staates hatten Kritiker schon längst erkannt. Waren nicht viele von ihnen in die Schule des großen Philosophen und Aufklärers Immanuel Kant an der Universität Königsberg gegangen? Aber erst der Zusammenbruch des Königreichs sollte 1806 die notwendigen Impulse für eine Erneuerung des Staates bringen. Von grundsätzlichen politischen Erwägungen abgesehen, gebot die Not der Stunde zu handeln. Wie sonst sollte die daniederliegende Wirtschaft wieder zu Kräften kommen? Wie sollte Preußen an die enormen Geldsummen kommen, die es als Kontributionen Frankreich zu zahlen hatte? Und wie schließlich sollte sich je die Chance einer militärischen Revanche ergeben, wenn das Heer nicht grundlegend reformiert wurde? Alles ganz entscheidende Fragen, doch keine, derentwegen die Massen die Plätze Berlins erstürmten. In der Hauptstadt fehlte schlichtweg das revolutionäre Potential der Straße, auch war das Bürgertum letztlich zu schwach, um seine Interessen gewaltsam umzusetzen. Typisch deutsch und preußisch: Zur Kaderschmiede der Reformen wurde ein ziemlich verstecktes Schloss an der Lahn. Zu den „Revolutionären“ ein paar Dutzend leitende Beamte und Offiziere. Im Mittelpunkt stand ein lang gedienter und erfolgreicher Verwaltungsfachmann, der Reichsfreiherr
Die preußischen Reformer
Heinrich Friedrich Karl vom und zum Stein (1757–1831) aus Nassau an der Lahn. Der Sohn eines kurmainzischen Hofbeamten gehörte den zahllosen Reichsrittern an, die zu den Stützen des Heiligen Römischen Reiches zählten und denen die kaiserlichen Habsburger sehr nahe standen. Der junge Jurist entschied sich jedoch aus Verehrung für Friedrich den Großen und dessen Modernisierungspolitik für eine Karriere im preußischen Verwaltungsdienst. Dem blieb er dann auch ein Vierteljahrhundert treu – in der Leitung des Bergwerkswesens in der Grafschaft Mark, dann als Direktor der westfälischen Bergämter, schließlich als Oberkammerpräsident sämtlicher westfälischer Verwaltungsbehörden. Dabei machte er sich als effizienter Bürokrat einen Namen, der gern mit den Ständen zusammenarbeitete und auch den Adel in die Pflicht nahm. Sein Ruf eilte ihm vom fernen Westen des Preußenreiches voraus bis nach Berlin, wo er 1804 zum Handels-, Finanz- und Wirtschaftsminister berufen wurde. Hier richtete er erstmals ein „Statistisches Bureau“ ein, das Wirtschaftsdaten zusammentrug und somit einen Überblick vermittelte. Eine seiner Taten war die Aufhebung der Binnenzölle. Wie hinderlich diese für einen freien Handelsverkehr waren, belegen auch ähnliche Maßnahmen der napoleonischen Musterstaaten. Aber Stein hatte ebenso mit grundsätzlicheren Fragen zu ringen, bei deren Klärung er auf erheblichen Widerstand stieß. Dazu gehörte die Entmachtung und Abschaffung der Kabinettsräte, die – als Spätfolge des absolutistischen Systems – unkontrollierbar waren, weil sie unmittelbaren Kontakt zum König hatten und mit ihm letztlich die Entscheidungen fällten. An ihre Stelle sollten nun Minister treten, die jeweils für ein Ressort verantwortlich, ihre Politik dem König vortragen durften. Dem Anschein nach eher trockene Themen, die jedoch erheblichen Sprengstoff bargen, nicht weniger als die Entmachtung einer privilegierten Elite. Der Reichsfreiherr fasste diese Gedanken in einer ersten Denkschrift über die Reorganisation der zentralen Verwaltung zusammen. Unterschrieben hatten sie viele Reformfreudige, auch Angehörige des Hauses
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Hohenzollern. Selbst Königin Luise wusste davon, riet aber kurz vor Ausbruch des Krieges mit Frankreich von einer Überreichung an den König ab. Dann kamen die Niederlage und die Flucht von Hof und Regierung nach Ostpreußen. In dieser schweren Zeit hielt es selbst Friedrich Wilhelm III. für opportun, den rheinischen Reichsritter zum Außenminister zu berufen, der die diffizilen Verhandlungen mit Napoleon führte. Als Stein seine Vorstellungen nicht durchsetzen konnte, lehnte er ab. Im Januar 1807 verfügte der König seine ungnädige Entlassung. Er sei ein „widerspenstiger, trotziger, hartnäckiger und ungehorsamer Staatsdiener“, der nur „aus Leidenschaft und aus persönlichem Hass und Erbitterung“ handle. Nach Jahrzehnten im preußischen Staatsdienst zog sich Stein nun in der Tat mit einer gewissen Verbitterung in sein heimatliches Nassau zurück und damit in das unter Napoleon neu entstandene Herzogtum Nassau, dessen Fürst in Wiesbaden residierte und natürlich Mitglied des Rheinbundes war. Aber der Reichsfreiherr ließ seine Zeit im idyllischen Lahntal nicht nutzlos verstreichen, sondern arbeitete hier im deutschen Westen und nicht weit vom Rhein an der Zukunft Preußens, wie er sie sah. Seine Reformgedanken fasste er im Juni 1807 in der Nassauer Denkschrift zusammen, die den sperrigen Titel trug „Über die zweckmäßige Bildung der obersten und der Provinzial-, Finanz- und Polizei-Behörden in der preußischen Monarchie“. Während an der fernen Memel König und Königin um die Existenz ihres Staates rangen, reisten nicht wenige preußische Politiker an die Lahn und berieten sich mit Stein, wie Preußen von innen reformiert und gefestigt werden könne. Hinter unzähligen verwaltungstechnischen Details standen letztlich so entscheidende Themen, wie der Staat überschaubar und wirkungsvoll arbeiten könne, wie die Kräfte seiner Bürger zum Tragen kommen könnten und wie der Staat überhaupt mit den Bürgern umgehen solle. Dabei ging es nicht um die Prinzipien der französischen Revolution, von deren Radikalität Stein ohnehin nichts hielt. Vielmehr setzte er auf Werte wie Bürger- und Gemeinsinn, wobei er sich durchaus am Ideal der alten deutschen Reichsstädte orientierte.
Die preußischen Reformer
Diese waren frei. Hier hatten Ständevertretungen und besitzende Bürger das Sagen, die ehrenamtlich für ihre Gemeinde tätig waren. Bereits im Sommer 1807 sollte sich Steins Auszeit ihrem Ende nähern, denn Sympathisanten wie Hardenberg und die Fürstin Radziwill traten an ihn heran und sondierten, ob er sich einen erneuten Regierungseintritt vorstellen könne. Das konnte und wollte er, auch hatte Friedrich Wilhelm nach dem Frieden von Tilsit kaum eine andere Wahl, und selbst Napoleon hatte eine Empfehlung für den Reformer ausgesprochen. Deswegen machte sich der erneut berufene Minister auf den weiten Weg nach Memel, wo er auf reformbereite Beamte und Offiziere wie Gneisenau und Scharnhorst stieß und mit der ostpreußischen Provinzialverwaltung erfolgreich zusammenarbeiten konnte. Um es kurz zu machen: Dem Freiherrn vom und zum Stein standen lediglich 14 Monate zur Verfügung, bis er im November 1808 wiederum entlassen wurde. Diesmal mit königlichen Gnaden, aber dafür von Napoleon für vogelfrei erklärt und mit dem Tode bedroht (dazu unten mehr). In diesen 14 Monaten hat er gleichwohl ein epochales Reformwerk auf den Weg gebracht: Bereits im Oktober 1807 wurde das „Edikt den erleichterten Besitz und den freien Gebrauch des Grundeigentums so wie die persönlichen Verhältnisse der Land-Bewohner betreffend“ erlassen, das als „Bauernbefreiung“ grundsätzlich 80 % der Bevölkerung betraf. Es verfügte zum Martinstag 1810 die Aufhebung der Gutsuntertänigkeit als erhebliche Einschränkung der persönlichen Freiheit. Für die Bauern entfielen damit diverse Abgaben an den Gutsherrn und Frondienste, zu denen sie bislang verpflichtet waren. Grund und Boden galten von nun an als frei verfügbar und käuflich, wodurch ein Bauer (oder Bürger) Land ungehindert erwerben durfte, sogar Rittergüter. Selbst wenn die wenigsten das Geld dafür hatten, stellte es doch eine grundsätzliche Änderung der feudalen Verhältnisse des Ancien Régime dar. Im folgenden Jahr regelte eine Städteverordnung die Selbstverwaltung der Kommunen, in denen nicht mehr die Zünfte und Gilden, son-
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dern die Bürger das Sagen hatten. Das galt zwar lediglich für Besitzer des Bürgerrechts, die über ein Mindesteinkommen verfügten (was in den napoleonischen Reformstaaten zumeist nicht anders war). Aber von ihnen wünschte man sich das Engagement im Rat und in der Stadtregierung. Mit dieser Neuerung verbindet sich das in Deutschland so wichtige Prinzip der kommunalen Selbstverwaltung. Die Reformer wünschten sich jedoch auch Bürger, die frei ihrem Erwerb nachgehen konnten und somit die Finanzlage des Staates verbesserten. Die Grundlagen dafür schuf die Einführung der allgemeinen Gewerbefreiheit wenige Jahre später. Wie im französischen Rheinland genügte damit die Erlangung eines Gewerbescheins, um frei und ungebunden von Zunftzwängen seinen Geschäften nachzugehen. Letztlich sollte jeder Preuße unabhängig von Stand, Beruf oder Konfession aus eigener Kraft Wohlstand erringen können. Vier Jahre später folgte ein Edikt zur Emanzipation der Juden, die nun als Staatsbürger galten und weder Sondersteuern zahlen mussten noch in der Wahl ihres Wohnorts Beschränkungen erfuhren. Im Gegensatz zu Baden, wo Juden die völlige Gleichstellung erlangten, blieb sie in Preußen eingeschränkt, unter anderem wegen des fehlenden Zugangs zu Staatsämtern. Wie kein zweiter begrüßte Wilhelm von Humboldt all die Verbesserungen. Er war im Berliner Innenministerium für den „öffentlichen Unterricht“ zuständig und versuchte, sein Ideal einer ganzheitlichen Bildung umzusetzen. Dazu gehörte die Gliederung in Elementar- und städtische Schulen, Gymnasien und Universitäten, wo überall ein standardisiertes Prüfungssystem herrschte. Die 1810 begründete Berliner Universität etablierte sich schon bald als intellektueller Mittelpunkt Preußens, wo unter Professoren wie Johann Gottlieb Fichte, Friedrich Schleiermacher oder Georg Wilhelm Friedrich Hegel Forschung und Lehre gleichermaßen gepflegt wurden. Neben allen diesen Reformprojekten, die aller guten Absicht zum Trotz noch jahrzehntelange Verzögerungen und Widerstände erfahren sollten, zeigte die Heeresreform die unmittelbarste Wirkung: Ihr war es
Die preußischen Reformer
letztlich zu verdanken, dass Preußen sechs Jahre nach Tilsit einen neuen Krieg mit Napoleon wagen und siegreich aus ihm hervorgehen würde. Dies war reformfreudigen Offizieren wie dem General und Chef des Generalstabs Gerhard von Scharnhorst (1755–1813) zu verdanken, August Neidhardt von Gneisenau (1760–1831), Hermann von Boyen (1771–1848) oder Carl von Clausewitz (1780–1831). Diesen Kreisen war es geschuldet, dass nach Jena und Auerstedt fast die Hälfte aller Offiziere entfernt wurde, das Offizierskorps auch Bürgerlichen offen stand und dass man auf die berüchtigten Prügelstrafen verzichtete. Statt des herkömmlichen Söldnerdienstes baute man nach französischem Vorbild ein Volksheer auf, für das jeder Untertan zum Dienst verpflichtet werden konnte. Wenige Jahre später führte man im Kampf gegen Napoleon die allgemeine Wehrpflicht ein. Mehr noch: Mit der Landwehr entstand neben dem stehenden Heer eine Miliz, die alle Männer bis zum 40. Lebensjahr umfasste. Der federführende Scharnhorst setzte außerdem mit Hilfe eines Tricks eine rasche und eigentlich illegale Aufrüstung in die Tat um. Nach den Friedensbedingungen stand Rumpfpreußen lediglich eine Armee von 42 000 Soldaten zu. Durch das so genannte Krümper-System (unter Krümpern verstand man Schanzarbeiter, die kurzfristig ausgebildet werden konnten) verkürzte sich die Ausbildungszeit der Rekruten erheblich, so dass rasch neue Männer einrücken konnten. Auf diese Weise wuchs die Zahl der ausgebildeten Soldaten, die im Kriegsfall einberufen werden konnten, erheblich an, nämlich um das Dreifache der erlaubten Anzahl. Mittels dieser geheimen Aufrüstung bereitete sich Preußen auf den Krieg vor. Als letztes kam nun endlich die Einführung der beweglichen Kampfführung anstelle der Lineartaktik hinzu. Preußens Soldaten sollten nicht mehr wie bei Jena und Auerstedt reihenweise niedergemäht werden.
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De l’Allemagne – Frankreich entdeckt seinen barbarischen Nachbarn Der deutschsprachige Raum im ersten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts: das Heilige Römische Reich vergangen, Österreich geschlagen, Preußen fast vernichtet, alle anderen deutschen Länder im Rheinbund und somit Verbündete und Schützlinge Napoleons. Was aber war Deutschland? Oder um es mit Goethe in den „Xenien“ zu sagen: „Deutschland! Aber wo liegt es? Ich weiß das Land nicht zu finden …“ Der französische Dichter Stendhal (1783–1842) wusste es sehr wohl rechts des Rheins zu verorten, wo er auf die für ihn befremdlichen Gewohnheiten seiner Bewohner stieß: „Man trinkt in Deutschland erstaunlich viel Kaffee. Bei der Ankunft im Gasthof wird einem Milchkaffee mit Butterbrot angeboten, zwei sehr dünne Scheiben Schwarzbrot mit Butter dazwischen. Die braven Deutschen essen vier bis fünf Butterbrote, trinken zwei große Glas Bier und zuletzt einen Schnaps. Diese Lebensweise kann den heftigsten Menschen phlegmatisch machen. Mir raubt sie alles Denken.“ Und weiter: „… um ein Uhr ein Mittagessen, d. h. eine Wein- oder Biersuppe, gekochtes Fleisch, eine riesige Schüssel Sauerkraut (auch ein verdummendes Gericht), dann einen Braten mit Krautsalat, glaube ich, der abscheulich riecht. Zu diesem Mahl, das man wütend verzehrt, gibt es gepanschten Wein, der nach Zucker schmeckt, Burgunder heißt … Das Abendessen besteht aus Suppe und Braten; zum Nachtisch etwas Gebäck, sehr wenig Obst, meist Erdbeeren, aber deutsche, d. h. groß, schön und geschmacklos. Danach muss man zu Bett gehen, und das ist das Schlimmste. Man stelle sich als Matratze ein Federbett vor, in dem man versinkt. Von der Mitte der Bettlänge erhebt sich ein Haufen von Federkissen, die einen zum Sitzen nötigen, so gern man sich ausstrecken möchte. Obendrauf liegt ein Betttuch, das an den Seiten nicht eingesteckt ist; statt einer Decke ein riesiger Federsack ohne Überzug …“ Sein Fazit: Wenn das Bettzeug verschwitzt und in der typischen „Stube“ nur selten gelüftet wird, dann könne ein Franzose
Frankreich entdeckt seinen barbarischen Nachbarn
nichts Besseres tun, „… als sich Stroh bringen zu lassen und darauf, in seinen Mantel gehüllt zu schlafen …“ Nun machen sich kulturelle Unterschiede an mehr als einem Plumeau fest; aber die französischen Nachbarn hatten gewisse Vorstellungen, pflegten mehr oder weniger Vorurteile über die Deutschen. Abgesehen von den Schlössern und ihrem höfischen Leben, das vom französischen Vorbild ohnehin stets um ein Vielfaches übertroffen wurde, galt das zerrissene Land im Osten als miefig und spießig, kalt, dunkel und unterentwickelt, kurz barbarisch. Denn im Gegensatz zu den südlichen Ländern wurde es von ausgedehnten Eichen- und Tannenwäldern bedeckt, von mächtigen Strömen und unzugänglichem Gebirge zerteilt. Wer damals aus dem lichten Frankreich über den Rhein kam, konnte auch ohne die deutsche Küche in dumpfe Gefühle verfallen: „Die Burgruinen, die man auf den Berggipfeln liegen sieht, die aus Lehm aufgeführten Häuser, die kleinen Fenster und der Schnee, der im Winter in unabsehbarer Weite die Ebenen bedeckt, machen einen unangenehmen Eindruck. Eine eigentümliche Stille und Verschlossenheit in der Natur wie bei den Menschen preßt einem anfangs das Herz zusammen.“ Solche Impressionen mögen tatsächlichen Beobachtungen und Reiseerfahrungen geschuldet sein, gleichwohl vermittelten sie auch Klischees. Die Kulturnation Deutschland nahm man kaum zur Kenntnis, Übersetzungen deutscher Literatur etwa fanden sich wenig – Goethes „Werther“ war eine große Ausnahme. Diesem Mangel wollte die wohl geistreichste und umtriebigste Frau ihrer Zeit abhelfen, von der übrigens das letzte Zitat stammt: Germaine de Staël (1766–1817), eigentlich Anne Louise Germaine von Staël-Holstein, Gattin des erheblich älteren schwedischen Botschafters in Paris – von dem sie sich später trennte – und Tochter des Genfer Bankiers Jacques Necker, der als Finanzminister Ludwigs XVI. erfolglos die Misere des Ancien Régime zu beheben versucht hatte. Inspiriert von den Ideen der Aufklärung und den geistvollen Pariser Salons, lebte sie das einzigartige Leben einer modernen
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Frau und Schriftstellerin, die sowohl durch ihre Romane als auch ihre nicht wenigen Affären in Frankreich sehr bekannt war. Obwohl sie den Zielen der Revolution anhing, musste sie vor der Terreur fliehen. Später würde sie in ihr geliebtes Paris zurückkehren und den aufstrebenden Bonaparte als „besten Republikaner Frankreichs, den freiheitsliebendsten Franzosen“ feiern. Doch die Enttäuschung blieb nicht aus – Madame de Staël wandte sich von Napoleon ab. Da sie mit ihren Publikationen ein großes Publikum erreichte, überhaupt so etwas wie eine öffentliche Person ihrer Zeit war, wollten diesem die Kritiken der scharfzüngigen Intellektuellen nicht gefallen. Er verbannte sie aus Paris und zwang sie damit zu einem zehnjährigen Exil, das Germaine de Staël unter anderem in Coppet verbrachte, dem Landsitz ihres Vaters am Genfer See. Die Gegnerschaft zu Napoleon sollte das „Gewissen Europas“ bis nach Russland und Schweden führen. Zweimal hielt sie sich länger in Deutschland auf, nämlich 1803/04 vor allem in Weimar und Berlin sowie 1807/08 in München und Wien. Dabei entwickelte sie zu diesem „Herz Europas“ eine intensive und aufmerksame Beziehung, die dazu führte, dass immer mehr Deutsche in ihrem Kreis auftauchten. Erste Sprachkenntnisse hatte sie durch den deutschen Hauslehrer ihrer Kinder erworben, außerdem von dem gebildeten Preußen Wilhelm von Humboldt und ihrem langjährigen Partner Benjamin Constant, der in Erlangen studiert hatte. In Deutschland lernte sie die bedeutendsten Köpfe ihrer Zeit kennen: etwa Schiller, der sich mit ihrem temperamentvollen Französisch schwer tat, Wieland und Goethe, den sie angeblich erst amüsant fand, wenn er eine „Bouteille Champagner“ getrunken hatte. Goethes Mutter wollte sie unbedingt in Frankfurt treffen, so dass diese ihrem Sohn klagte, sie hätte versucht, ihr überall aus dem Weg zu gehen, und Einladungen ausgeschlagen: „Was will die Frau von mir? Ich habe in meinem Leben kein Abc-Buch geschrieben.“ In Weimar schätzten sich Madame de Staël und die Hofgesellschaft gegenseitig, mit Herzogin Luise verband sie freundschaftliche Gefühle. In Berlin lernte sie außer dem Philosophen
Frankreich entdeckt seinen barbarischen Nachbarn
Fichte den Romantiker August Wilhelm Schlegel kennen, den sie ob seiner perfekten Französisch- und Englischkenntnisse lobt, dazu seiner Belesenheit, er habe offensichtlich alles auf der Welt gelesen … Die Verehrung ist gegenseitig: Der auf die 40 zugehende Gelehrte schloss sich als Lehrer, Freund und Berater der Entourage de Staëls an und blieb bis zu ihrem Tod 1817 dabei. Coppet wird seine zweite Heimat, dort kommt mit seinem Bruder Friedrich, Adalbert von Chamisso und vielen anderen eine regelrechte deutsche Kolonie zusammen. Sie alle unterstützten die Schriftstellerin bei dem Plan, ein Buch über Deutschland zu schreiben, über Sitten und vermeintlichen Charakter seiner Bewohner, vor allem aber über das zeitgenössische Kulturleben in Literatur, bildenden Künsten, Philosophie und Religion. Madame de Staël arbeitet mit Nachdruck an dem dickleibigen Werk, unter anderem von Goethe ausdrücklich dazu ermuntert. 1810 vollendete sie De l´Allemagne („Über Deutschland“) und leitete den Druck ein. Doch da mischt sich der Kaiser höchstpersönlich ein und lässt die Publikation des Werkes verbieten. Tausende Buchexemplare müssen eingestampft werden, nur mit Mühe kann das Manuskript gerettet werden. Erst einige Jahre später mit dem Sturz Napoleons konnte es erscheinen – zuerst in London, dann in Paris, schließlich auch in deutscher Übersetzung. Insbesondere in Frankreich entwickelte es sich zu einem regelrechten Modebuch, das das Bild Deutschlands über Jahrzehnte prägen sollte. Die Franzosen lernen dadurch nicht nur die modernen deutschen Romantiker kennen, dazu Kant, Schiller und nicht zuletzt Goethe mit seinem „Faust“. Sie erfahren, dass der deutsche Flickenteppich in der Tat klein, eng und rußig ist. Die politische Zerrissenheit des Nachbarn, das Fehlen einer hauptstädtischen Metropole begrenzten den Einfluss des gesellschaftlichen Lebens und unterbänden jeglichen Patriotismus. Die Trennung der Klassen sei ausgeprägter als in Frankreich, die Bräuche des Volkes seien veraltet und teils noch auf die alten Germanen zurückzuführen, zudem bestünden die Einrichtungen der Feudalzeit fort. Kurzum, die Liebe zur Freiheit sei bei den Deutschen nicht entwi-
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ckelt. Bieder und aufrichtig seien sie, scheuten Lug und Trug. Sie seien gute Handwerker und wüssten auch nachzudenken. Zu ihren Schattenseiten hingegen gehörten die Schwerfälligkeit, sie neigten dazu, weitschweifig und umständlich aufzutreten, das heißt letztlich langweilig zu sein. Ach, was sei das gegen den Esprit, die Eleganz und die Geschmeidigkeit der französischen Sprache und Sitten! Im Vergleich dazu die Nachbarn mit ihren warmen Öfen, Bier und Tabakrauch oder dem allgegenwärtigen militärischen Treiben: „Es gibt keine bizarrere Zusammenstellung als das kriegerische Aussehen des gesamten Landes, die Soldaten, denen man auf Schritt und Tritt begegnet, und das Stubenhockerleben, das man dort führt.“ Hinzu kommen düstere Impressionen: „Die verlassenen Felder, die rauchgeschwärzten Häuser, die gotischen Kirchen scheinen ganz für Hexen- und Gespenstergeschichten gemacht zu sein.“ Dieses anscheinend dumpfe und langweilige Volk zeigt sich allerdings auch von einer anderen Seite, die Germaine de Staël im November 1803 schildert: „Unterwegs mußten wir in einer kleinen Stadt in einem Gasthof haltmachen. Uns empfing das Hämmern eines Klaviers in einer verräucherten Stube, in der obendrein nasses Wollzeug über einem eisernen Ofen zum Trocknen hing. Und so scheint es mir hier mit allem zu sein. Deutschland kommt mir vor wie eine verräucherte Stube, in der konzertiert wird. Die Poesie schlummert zwar in der Seele dieser Menschen, aber sie zeigt keine Eleganz in der äußeren Form …“ Das war der Schlüssel zur Erkenntnis des deutschen Wesens – und zugleich Klischee. Deutschland als Heimat der Dichter und Denker und der ungalanten Stubenhocker. Doch Jean Paul aus Bayreuth schlägt in eine ähnliche Kerbe: Während die Engländer die See und die Franzosen das Land beherrschten, gehöre den Deutschen das Reich der Luft. Dort pflegten sie die klassischen Sprachen und das Altertum, dort grübelten sie über die Gesetze der Dichtkunst („Die Deutschen, die in der Literatur das Joch der Regeln nicht ertragen können, möchten, daß ihnen in bezug auf ihr Verhalten jeder einzelne Punkt vorgeschrieben werde.“).
Was ist Deutschland … ein Krähwinkel?
Und noch einmal de Staël: Für Sie liegt der große Unterschied zwischen dem Süden Europas einschließlich Frankreichs und dem Norden mit Deutschland. Hier herrschten heitere Gelassenheit und maßvolles Formbewusstsein, das sich an der klassischen Antike orientiere. Dort – sie hat dabei vor allem die Romantik im Blick – berufe man sich stärker auf das mittelalterliche Erbe mit seinem Rittertum, außerdem beherrschten gefühlvolle Mystik und verworrene Melancholie die Gedanken und Empfindungen. Für die gelehrte Schriftstellerin vom Genfer See ist klar: Jede Literatur folgt ihren eigenen Gesetzen und nicht dem allmächtig formgebenden französischen Stil. Dies hatten deutsche Poeten bereits seit dem 17. Jahrhundert so gesehen, und in der Tat scheint darin eine gewisse kulturelle Selbständigkeit ihren Ausdruck gefunden zu haben. Allerdings geht Madame de Staël noch weiter, wenn sie deutscher Dichtung durch ihre mittelalterliche Inspiration Entfaltung und Wachstum bescheinigt, die sogar das französische Kulturleben anregen könne – das sich derzeit übrigens durch den von Napoleon geförderten Empire-Stil ein wenig eintönig ausnahm. Und diese Feststellung war es wohl, die das Buch über die eigentlich harmlosen Deutschen in Summa dann doch zu einem Politikum machte. Einmal abgesehen von gewissen Vorbehalten gegen die durch Europa irrlichtende Oppositionelle, wünschte der Kaiser keine Betonung einer eigenständigen Kultur rechts des Rheins. Sein Frankreich benötigte keine Anregungen von dort. Und dennoch: „Über Deutschland“ sollte zum einflussreichsten Buch des deutschen Wesens werden, das dessen Bild entscheidend prägte.
Was ist Deutschland … ein Krähwinkel? Wie und als was sahen sich die Deutschen selbst, zumal das einigende Band eines gemeinsamen Staates hier fehlte? Insofern blieb Deutschland ein ziemlich diffuser Begriff. Und der einfache Bauer oder Kleinbürger verstand noch um 1800 unter seinem Vaterland in erster Linie
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den einzelnen Staat, in dem er lebte, also etwa Preußen, Bayern oder sogar die freie Reichsstadt Frankfurt. Kein Wunder, dass sich kritische Geister an der vermeintlichen Provinzialität rieben. Just damals kam dafür der fiktive Ortsname Krähwinkel auf, den der scharfsinnige, viel gelesene Jean Paul (1763–1825) erstmals in seiner Satire „Das heimliche Klagelied der jetzigen Männer“ verwendete. Ihm folgte August von Kotzebue mit dem Lustspiel „Die deutschen Kleinstädter“ (1803), in dem Krähwinkel für kleinstädtische Gesinnung steht, die sich in beschränkter Engstirnigkeit erschöpft. Als zehn Jahre später der sprichwörtlich gewordene „Sturm“ der Befreiungskriege losbrach, griff man gern auf die Krähwinkeleien zurück, um sich in einem Spottlied über Ignoranz, Feigheit und Unfähigkeit zu mokieren: „Immer langsam voran, immer langsam voran, daß der Krähwinkler Landsturm mitkommen kann …“ Doch Deutschland war weit mehr: Der zeitgenössischen Kleinstaaterei stand ein historischer Anspruch von universalen Ausmaßen gegenüber, denn das Heilige Römische Reich verstand sich bekanntlich als Nachfolger des Imperium Romanum mit dem Selbstverständnis, alle anderen Monarchien Europas zu überragen. Den späten Zusatz „deutscher Nation“ sah man dabei als eher ungeliebte Einschränkung – das Reich sollte von den Deutschen geführt werden, aber sich auch über andere Nationen erstrecken und insbesondere Italien umfassen. Als Teutonen (die lateinische Bezeichnung der Deutschen seit dem hohen Mittelalter) galten seit jeher die zahlreichen ursprünglich germanischen Stämme, die durch die gemeinsame deutsche Sprache miteinander verbunden waren – wenn auch in unzähligen Mundarten. So gesehen fühlte man sich irgendwie zusammengehörig, weil man sich untereinander verständlich machen konnte. Während sich Franzosen und Engländer unter jeweils einem einzigen König in einem geeinten Reich zu Nationen entwickelten, steckten die deutschen Stämme in ihrem zergliederten Imperium Sacrum, dessen prächtiger Rock ihnen viel zu groß war. Schlimmer noch: Die machtpolitischen Auseinandersetzungen der
Was ist Deutschland … ein Krähwinkel?
Landesfürsten sowie die konfessionelle Aufspaltung seit der Reformation ließen eine gemeinsame Nation in weite Ferne rücken. Noch 1773 stellt Christoph Martin Wieland fest: „Die Deutsche Nation ist eigentlich nicht Eine Nation, sondern ein Aggregat von vielen Nationen.“ Weder vom zunehmend machtlosen Kaiser noch von den auf ihre eigenen Interessen bedachten Territorialherren war Abhilfe zu erwarten. Stattdessen kamen die von Madame de Staël etwas despektierlich behandelten „Stubenhocker“ ins Spiel. Ihnen, den Dichtern und Denkern, fiel es nämlich immer wieder zu, sich Gedanken über eine deutsche Nation zu machen, die mehr als die gemeinsame Sprache verband. Und dafür erhoben sie nicht selten ihre Stimme mit Macht! Als erste taten dies um 1500 die gelehrten Humanisten, deren Studien zu einer Rückbesinnung auf die germanischen Völker führten. – Erst 50 Jahre zuvor hatte man im Kloster Hersfeld die Abhandlung Germania des Römers Tacitus wiederentdeckt. Männer wie Konrad Celtis, Heinrich Bebel, Jakob Wimpheling und Ulrich von Hutten machten die Germanen aus der Zeit vor anderthalbtausend Jahren zu den „ersten Deutschen“ und erklärten deren angebliche Eigenschaften zum deutschen Nationalcharakter. So entstanden erstmals Geschichten des deutschen Volkes, man beschäftigte sich mit Sitten und Gebräuchen und pflegte insbesondere das Erbe der Sprache als Schwerpunkt nationaler Eigenart. Nicht zuletzt hat Martin Luthers epochale Bibelübersetzung zum Sprachbewusstsein entscheidend beigetragen. Aber das gelehrte Basteln an Deutschland führte zu keinem politisch greifbaren Ergebnis. Die Frage, wer oder was die Deutschen nun eigentlich seien, musste offen bleiben. Dabei blieb es auch noch am Vorabend der französischen Revolution. Während sich dort la Nation emanzipierte und ihren König unter die Guillotine schickte, rätselte man in Deutschland weiter herum, was „Vaterland“ und „Nation“ bedeuteten, worauf sie sich bezögen. Wiederum Wieland fragte 1793, wo denn die Patrioten seien, die das ganze Deutsche Reich als ihr Vaterland liebten. Im gleichen Jahr definiert der
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frühe Germanist Johann Christoph Adelung in seinem „Grammatischkritischen Wörterbuch“ den Begriff „Nation“ wie folgt: „Die eingebornen Einwohner eines Landes, so fern sie einen gemeinschaftlichen Ursprung haben, und eine gemeinschaftliche Sprache reden … sie mögen übrigens einen einzigen Staat ausmachen oder in mehrere vertheilet seyn.“ Wiederum von gelehrter Seite kam die Idee der Kulturnation auf, die erst einmal auf einen gemeinsamen Staat verzichten konnte. Dafür kämpfte man mit der Feder statt mit Degen und Bajonett. So der Schriftsteller Johann Christoph Gottsched (1700–1766), durch dessen Anregung sich seit 1720 „Deutsche Gesellschaften“ von Leipzig aus ausbreiteten. Ihre gelehrten Mitglieder trieb das Ringen um eine gemeinsame Hochsprache und deren Verschriftlichung um. Das führte zu einem regelrechten Sprachenstreit zwischen den Verfechtern des sächsischen und des süddeutschen, also bayerisch-schwäbischen Übergewichts. Noch Jahrzehnte später versuchten die Bayern ihre Mundarten vor der Dominanz des von Preußen vertretenen Hochdeutsch zu bewahren. Während Gottsched weiter den französischen Formidealen anhing, wobei er eine bürgerliche deutsche Kultur der höfisch geprägten des allmächtigen Nachbarn gegenüberstellte, wandten sich andere Dichter von dessen Einflüssen ab. Der dem Sturm und Drang nahe stehende Göttinger Hainbund entwarf um 1772 eine Liste vermeintlich deutscher Tugenden, die sich von den Franzosen unterschieden. Demzufolge galten die Deutschen als bieder, edel und gut, sie pflegten strenge Sitten und mieden allen Prunk (natürlich im Gegensatz zu den Franzosen). Deutschland oder Teutschland (selbst über den Landesnamen konnte man sich lange nicht einigen) litt durchaus unter der französischen Hegemonie. Insofern löste der legendäre Sieg Friedrichs des Großen über die Franzosen bei Roßbach 1757 eine gewisse nationale Begeisterung aus. Ansonsten versuchte man sich aus der kulturellen Umklammerung zu befreien, indem etwa seit 1776 in Wien, Mannheim und Berlin Nationaltheater entstanden, die sich als bürgerliche Einrich-
Was ist Deutschland … ein Krähwinkel?
tungen begriffen und vor allem deutsche Stücke aufführten. Goethes Ritterdrama „Götz von Berlichingen“ sowie Schillers „Räuber“ und „Kabale und Liebe“ gehörten zu den prominentesten Inszenierungen dieser Jahre. Während die Suche nach der wie auch immer gearteten nationalen Identität ihren Fortgang nahm, machten sich andere „Stubenhocker“ weitergehende Gedanken. So der große Philosophie-Professor Immanuel Kant in Königsberg, der die Gefahren der Zukunft zu erdenken schien. Ihm zufolge mussten instinktiver Nationalstolz und -hass zur ganz natürlichen Trennung von Nationen führen. Allein mit der Vernunft müsse man dem entgegenwirken und Patriotismus nebst Kosmopolitismus an die Stelle des Nationalwahns setzen. Andere Stimmen versuchen der vermaledeiten politischen Zerrissenheit der Deutschen durch Flucht in das Reich der Luft zu entkommen (um mit Jean Paul zu sprechen). So sieht Friedrich Schiller „Deutsche Größe“: „Deutsches Reich und deutsche Nation sind zweierlei Dinge. Die Majestät des Deutschen ruhte nie auf dem Haupt seiner Fürsten. Abgesondert von dem politischen hat der Deutsche sich einen eigenen Wert gegründet, und wenn auch das Imperium unterginge, so bliebe die deutsche Würde unangefochten … Sie ist eine sittliche Größe, sie wohnt in der Kultur.“ Was 1796 in den „Xenien“ in einen unmissverständlichen Appell mündet: „Zur Nation euch zu bilden, ihr hofft es, Deutsche, vergebens; Bildet, ihr könnt es, dafür freier zu Menschen euch aus!“ Mit anderen Worten: Lasst die politischen Geplänkel und Querelen, werdet stattdessen Weltbürger. Schiller stellt ein hehres Ziel vor Augen, dass aber wiederum nicht so recht von dieser Welt ist – ein Luftreich eben, ein Heiliges Römisches Reich der Künste. Auch den jungen, früh verstorbenen Romantiker Friedrich von Hardenberg, der sich Novalis nannte, treibt das deutsche Geschick um: „Deutschland geht einen langsamen aber sichern Gang vor den übrigen europäischen Ländern voraus. Während diese durch Krieg, Spekulation und Parteigeist beschäftigt sind, bildet sich der Deutsche mit allem
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Fleiß zum Genossen einer höheren Kultur, und dieser Vorschritt muß ihm ein großes Übergewicht über die anderen im Laufe der Zeit geben.“ Getrieben von der Idee einer Kulturnation, sehen Klassiker wie Romantiker die Deutschen in ihrem Luftschloss, vom Weltgeist erwählt, Freiheit und Humanität voranzubringen. Ehrenwerte idealistische Vorstellungen durchaus, aber ein Ausweg aus der deutschen Misere? Mehr als zwei Jahrhunderte später gilt es eher verhalten wahrzunehmen, dass nach den „Luftmodellen“ den Deutschen irgendwann die Führungsposition zufallen sollte. Dünkt man sich nicht auch hier über die anderen erhaben? Aber dies war damals noch Zukunftsmusik. Erst einmal galt, dass es Teutschland/Deutschland irgendwie gab, allein es fehlte ihm die feste Gestalt. In den Jahren der napoleonischen Hegemonie sollte sie zumindest an Substanz gewinnen. Dafür wollten Dichter und Denker sorgen. Deutscher Geist und die Volksseele würden wichtige Stichworte sein.
Deutscher Geist und Ammenmärchen Johann Gottfried Herder (1744–1803) war einer der wichtigen Protagonisten im Ringen um den deutschen Nationalcharakter. Er gehörte seit 1776 gemeinsam mit Goethe zum engeren Kreis des Weimarer Musenhofes. Seine entscheidende Inspiration erfuhr er von den großen Nachbarn im Westen, nämlich aus Frankreich und Großbritannien. Dort zeigten Dichter und Publikum zunehmend Interesse am Mittelalter und seinen Burgen. Auch war man interessiert an den Überlieferungen des einfachen Volkes, an Liedern und Märchen. Auch traf es sich, dass in Frankreich Jean-Jacques Rousseau das Bild des edlen Wilden schuf und im Barbaren Vorbild des einfachen und glücklichen Lebens sah. Den empfindsamen Nerv der Zeit traf der Schotte James Macpherson (1736–1796). Der hatte zu Beginn der 1760er-Jahre einige längere Gedichte veröffentlicht, die er nach eigenem Bekunden unter der Bevölke-
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rung der Highlands gesammelt und schließlich aus dem Gälischen ins Englische übersetzt hatte. Ursprünglich sollten sie das Werk eines keltischen Barden aus der Zeit um 300 nach Chr. sein. 1765 erschienen sämtliche dieser Works of Ossian, der Gedichte des alten gälischen Barden Ossian. Mehr als die schwülstig und trivial geschilderte Handlung beeindruckte die Leser des 18. Jahrhunderts jene melancholische Stimmung, die die raue und nebelverhangene Landschaft des Nordens ausdrückte. Deshalb las man den Ossian überall in Europa und nahm ihn als Stimme einer längst vergangenen Zeit wahr, in der die Dichter den Ton der Natur trafen und damit authentisch waren. Ossian war überall en vogue: So lässt Goethe seinen Werther darin lesen, und natürlich soll auch Napoleon Bonaparte ein begeisterter Leser der schottischen Gesänge gewesen sein. Die Begeisterung hielt auch noch an, als sich herausstellte, dass die Works of Ossian mitnichten originale Lieder aus dem 3. Jahrhundert waren, sondern von James Macpherson sehr frei erdacht worden waren – im Übrigen auf Englisch. Es gab kein gälisches Original. Auch Herder wurde vom Ossianismus ergriffen und sympathisierte mit Rousseaus Vorstellung des edlen Wilden, der in seiner Ursprünglichkeit, dem verbildeten Zivilisierten vorzuziehen war. Auf den Spuren dieses Ursprünglichen, das dem Naturzustand des Menschen am nächsten kam, fand Herder die „Volksseele“ in dem, was sich das einfache Volk vorsang und erzählte: in Liedern, Sagen und Märchen. Dazu zählte er auch die erhalten gebliebenen Dichtungen des Mittelalters, so etwa den Minnesang, aber auch die skandinavischen Lieder der Edda. Volksseele und Volksgeist (der Begriff taucht erstmals kurz nach 1800 bei dem Rechtshistoriker Friedrich Karl von Savigny auf) fänden ihren ursprünglichen und reinsten Ausdruck in der „Volkspoesie“, die weit zurückführe in vermeintlich glücklichere Zeiten der deutschen Vergangenheit. Bereits als junger Mann widmete Herder sein Interesse vor allem den „alten Nationalliedern“, die er aus aller Herren Länder zusammentragen wollte. Immerhin erließ er 1767 einen Aufruf, diese ehr-
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würdigen Zeugnisse zu sammeln. Später veröffentlichte er die weithin berühmten „Stimmen der Völker in Liedern“. Seine Entdeckung – oder besser gesagt Erfindung – der Volkspoesie hatte weitreichende Folgen. Es ging dabei nämlich nicht nur um die alten Überlieferungen, in denen sich die Seele des Volkes ausdrückte. Der lebendig schaffende Geist wirkte immer noch und erfüllte einfaches Volk wie Dichter selbst in der Gegenwart. Mit der Konsequenz, dass in Sammlungen der Volkspoesie Texte des Mittelalters, Dichtungen des Volkes, aber auch Verse zeitgenössischer Poeten wie die Goethes einflossen, nur weil sie einen bestimmten Ton getroffen hatten. Geschichte, Volk und Dichter waren somit Ausdruck eines Geistes, der wie eine Naturkraft waltete. Die Romantiker griffen diese Idee begeistert auf: Volkspoesie war naturnah, also Naturpoesie, und führte zur Nationalpoesie. Überall im Volk waltete jener überindividuelle Geist, sei´s beim einfachen Landmann oder Goethe höchstselbst. Und der Geist suchte er sich einen Ausdruck: im Epos des mittelhochdeutschen Nibelungenliedes, das gleichsam aus dem Wesen des Volkes hervorgegangen zu sein schien, oder in dem 1576 gestorbenen Nürnberger Schuhmacher und Meistersinger Hans Sachs, der geradezu als Nationaldichter verehrt wurde. Um 1800 wurde Sammeln zu einer nationalen Aufgabe. In den uralten Folianten dunkler Bibliotheken galt es ebenso den Geist der Deutschen zu suchen wie in den abgelegenen Bauerndörfern, wo sich die Menschen Sagen und Märchen erzählten sowie allzeit Lieder sangen. Und gelehrte Dichter erkannten nicht selten im eigenen Werk die Volksseele walten und zählten ihre Gedichte kurzentschlossen zur Nationalpoesie. Das Ganze war letztlich ein fiktives Konstrukt, von dem jedoch eine ungeheure Wirkung ausging. Bis heute wirkt dasjenige nach, was damals als Ausdruck des Deutschen zusammengetragen und geschaffen wurde. Das erste und berühmteste Zeugnis dieser Idee schufen die beiden Romantiker Achim von Arnim (1781–1831) und Clemens Brentano (1178–1842). Der preußische Adlige aus Berlin und der Rheinländer mit italienischen Wurzeln hatten sich beim Studium in
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Göttingen angefreundet und 1802 eine Rheinreise unternommen. „Von tausend neuen Anklängen der Poesie berauscht“ wollen sie dabei die Volksdichtung erfahren haben. Mit Herder als Vorbild hegten die jungen Männer von nun an einen Plan: Sie wollten „alte deutsche Lieder“ sammeln und publizieren, wozu sie etliche Aufrufe und Zirkulare (Rundschreiben) veröffentlichten. Der national gesinnte Arnim begründete dieses Projekt mit patriotischen Motiven; denn das gemeinsame Erbe der Vorzeit sollte den Deutschen ihre kulturelle Einheit bewusst machen. Darüber hinaus vergaß er nicht, auf die Rheingrenze hinzuweisen, die die linksrheinischen Gebiete von Deutschland abtrenne und eine nationale Opposition geradezu herausfordere. Das selbst gesteckte Ziel wird mit Erfolg erreicht – nicht zuletzt durch Goethes wohlwollende Kenntnisnahme und Fürsprache. 1805 erscheint ein erster Band von „Des Knaben Wunderhorn“ in der Romantikerhochburg Heidelberg (ein zweiter Teil folgte 1808). Die bis heute bekannteste deutsche Liedersammlung vereinte um die 700 Texte aus früheren Jahrhunderten, aber auch von Zeitgenossen und von den beiden Herausgebern selbst. Die Zusammenstellung gilt mittlerweile als poetisches Kunstwerk, das im Sinne der vermeintlichen Volksseele Trinklieder und Gassenhauer mit Liebesliedern, Kinder-, Soldaten-, Wanderliedern und vielem anderen vereinte, darunter echte Klassiker wie „Schlaf, Kindlein, schlaf “ und „Wenn ich ein Vöglein wär“. Nicht jeder mochte seinerzeit diese so unschuldig und naiv daherkommende Liedersammlung als politisch relevant ansehen. Auch da widerspricht Arnim, der in den Volksliedern die Rückbesinnung auf das nationale Erbe hervorhob. So sammle man „sein zerstreutes Volk, wie es auch getrennt durch Sprache, Staatsvorurtheile, Religionsirrthümer und müßige Neuigkeit, singend zu einer neuen Zeit unter seiner Fahne …“ Und noch zwei weitere Männer kamen ins Spiel, die dem Volksgeist in historischen Schriften und den mündlichen Zeugnissen des einfachen Volkes verbunden waren: die Brüder Jacob (1785–1863) und Wilhelm Grimm (1786–1859) stammen aus dem hessischen Hanau und
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sind nach dem frühen Tod ihres Vaters, eines Amtmannes, in bescheidene Verhältnisse gezwungen. Immerhin können sie in Marburg Jura studieren, unter anderem bei dem bekannten Rechtshistoriker Friedrich Karl von Savigny. In dessen Bibliothek entdeckt Jacob Grimm die von dem Romantiker Ludwig Tieck herausgegebenen „Minnelieder aus dem Schwäbischen Zeitalter“, die nach eigenem Bekunden seine Begeisterung für das deutsche Altertum entfachen. Was folgt ist Geschichte und hinlänglich bekannt: Beide Grimms wurden zu den Gründungsvätern der Germanistik. Beiden sind grundlegende monumentale Werke über Grammatik und Mythologie, nicht zuletzt das deutsche Wörterbuch zu verdanken. Die größte Berühmtheit genießen sie jedoch noch heute als Märchensammler. Und die Grimm´schen Märchen führen unmittelbar in die Zeit der Befreiungskriege. Über die Familie ihres Lehrers Savigny hatte sich zunächst die Bekanntschaft mit dem Freundespaar Arnim und Brentano ergeben, denen sie als „liebe altteutsche vertraute Freunde“ galten. Und das waren sie in der Tat. Insbesondere der agile Jacob Grimm mochte noch so viel in Paris weilen, so 1805 als Mitarbeiter Savignys, der an der Seine ein großes Haus führte, oder in Kassel als Privatsekretär König Jérômes sein Auskommen finden – das Französische blieb ihm fremd und unsympathisch. Die prächtige Hofhaltung sowie Pariser Verhältnisse in Nordhessen waren ihm ein Graus, nicht selten sprach er von der schmählichen Besatzungszeit. Umso mehr widmen sich die Brüder den Spuren der deutschen Volksseele. Dafür gehen Brentano und Achim einer neuen und modernen Idee nach, nämlich dem Sammeln von Märchen. Die phantasievollen Geschichten, bevölkert von sprechenden Tieren, Zwergen und tumben Riesen, galten den Aufklärern des 18. Jahrhunderts als so genannte Ammenmärchen, die vor allem mündlich von Frauen innerhalb der Familien weitergegeben wurden. Darum lohnte es nicht, die harmlosen Geschichtchen niederzuschreiben. Die Romantiker sahen das anders: Für sie drückte sich in den bunten Erzählungen die Phantasie des einfachen Volkes aus und damit letztlich
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der obwaltende Volksgeist. Eben deshalb begeisterten sich die Grimms dafür und schlossen sich Brentano und Arnim als Mitsammler an. Als diese sich zerstritten, übernahmen die Grimms das ganze Projekt und wurden zu den eigentlichen Märchensammlern. Später sollten sie den unschuldigen Erzählungen noch eine andere Dimension entlocken, denn sie hatten den Eindruck, als seien Märchen wie kleine Splitter, Reste uralter Mythen, die weit in die Vergangenheit und damit in die Geschichte des deutschen Volkes zurückreichten. Dass sie einen zutiefst nationalen Schatz bildeten, daran hatten die Grimms jedenfalls keinen Zweifel. Im Januar 1811 veröffentlicht Jacob einen Sammelaufruf „an die gesammten Freunde deutscher Poesie und Geschichte“, in dem er genau ausführt, wo sich Märchen und andere Zeugnisse der Volkspoesie am sichersten finden lassen: „Auf hohen Bergen, in geschlossenen Thälern lebt noch am reinsten ein unveralteter Sinn, in den engen Dörfern, dahin wenige Wege führen und keine Straßen, wo keine falsche Aufklärung eingegangen oder ihr Werk ausgerichtet hat, da ruht noch an vaterländischer Gewohnheit, Sage und Gläubigkeit ein Schatz im Verborgenen.“ Schließlich erschien zu Weihnachten 1812 der erste Band der „Kinder- und Haus-Märchen. Gesammelt durch die Brüder Grimm“ in Berlin. In einer Zeit, als sich die letzten Reste von Napoleons Armee aus Russland nach Westen schleppten. In der Grimm´schen Märchenwelt treten „Der Froschkönig“, „Hänsel und Gretel“, „Schneewittchen“, „Rumpelstilzchen“ und „Rotkäppchen“ ihren bis heute andauernden Siegeszug an. Das Vorwort des 1815 erschienenen 2. Bandes betont noch einmal das nationale Anliegen der Geschichten: Obwohl menschliches Allgemeingut, verberge sich doch hinter ihren Volksmärchen „lauter urdeutscher Mythus“, alles sei „rein deutsch und nirgends her erborgt“. Ihre Märchen sollten etwas „dem ganzen Vaterlande Gemeinsames sein“. Wenige Jahre später erwiesen sie auch ihrer Heimat Hessen Referenz, denn sie habe „als ein bergichtes, von großen Heerstraßen abseits liegendes und zunächst mit dem Ackerbau beschäftigtes Land
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den Vorteil, daß es alte Sitten und Überlieferungen besser aufbewahren kann.“ Ein gewisser Ernst, eine gesunde, tüchtige und tapfere Gesinnung, die große und schöne Gestalt der Männer zeichne die Menschen dort aus, „wo der eigentliche Sitz der Chatten war“ – jenes Germanenstammes, den bereits Tacitus um 100 nach Chr. erwähnte. Bleibt nur der Schluss: „Überhaupt müssen die Hessen zu den Völkern unseres Vaterlandes gezählt werden, die am meisten wie die alten Wohnsitze so auch die Eigentümlichkeit ihres Wesens durch die Veränderung der Zeit festgehalten haben.“ Die Grimm´sche Sammelleidenschaft bleibt nicht ohne Folgen. Über ihre „Kinder- und Hausmärchen“ geben sie zumindest Teilen der Deutschen eine Vergangenheit, die fast 2000 Jahre zurückreicht. In den versteckten Gebirgen und Wäldern Deutschlands habe sich das germanische Erbe gleichsam unverfälscht erhalten. Dieser Topos von Urtümlichkeit und Reinheit sollte das Eigenbild der Deutschen lange Zeit auf fatale Weise prägen. Was ihre Tätigkeit als Sammler von Volksmärchen betrifft, haben sich die Grimms zu inszenieren gewusst. Man wähnte sie aufopferungsvoll und unter Entbehrungen durch die abgelegenen Weiler und Dörfer des hessischen Berglandes ziehen. Doch weder dort noch beim einfachen Volk insgesamt sind sie jemals angekommen. In Wahrheit haben sie Kassel zum Märchensammeln kaum verlassen, sondern dort in Bürgersfamilien Texte aufgeschrieben und sich aus anderen Gegenden wie Westphalen zuschicken lassen. Statt bei hessischen Ureinwohnern schöpften sie aus gehobenen Bürgerkreisen mit nicht selten französischem Hintergrund. Die Apothekersgattin Dorothea Wild aus Kassel etwa stammte väterlichseits aus Basel. Die drei Schwestern der Familie Hassenpflug, bei denen die Grimms seit 1808 gern zum Teekränzchen vorbeischauten, unterhielten sich überwiegend französisch, denn ihre Mutter entstammte einer aus Frankreich zugewanderten Hugenottenfamilie, der Vater war kurfürstlicher Amtmann. Eine der Schwestern, die damals 20-jährige Marie, machten die Grimms in ihren Kommen-
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taren zur „Alten Marie“, einer angeblich alten hessischen Märchenfrau (selbst nach Kassel waren die Hassenpflugs erst wenige Jahre vorher von Hanau gezogen). Und schließlich das Glanzstück der „Märchenfälschung“, Dorothea Viehmann aus dem Dorf Niederzwehren bei Kassel: eine „Bäuerin“, die „ächt hessische Märchen“ erzählte und zum Idealtyp einer Märchenfrau stilisiert wurde. Aber die Grimms haben sie niemals draußen in ihrem Dorf vor den Toren Kassels besucht. Die „Viehmännin“ wurde ihnen von den Töchtern des französischen Stadtpredigers Ramus geschickt. Sie war nämlich eine geborene Pierson und stammte ebenfalls von Hugenotten ab; die „ächt hessische“ Bäuerin soll sogar in einem guten Französisch parliert haben! Und eine einfache Bauersfrau war sie mitnichten, sondern die Gattin des Dorfschneiders, die die Früchte ihres Gartens in Kassel zu verkaufen pflegte. Als Wirtstochter hatte sie allerdings vieles von einkehrenden Fuhrleuten und Bauern gehört und war deshalb in der Tat die ideale Märchenkennerin. Denn im Gegensatz zur damals beliebten und erwünschten Vorstellung von Märchen als Ausweis lokaler Tradition, Ausdruck des Volksgeistes, kamen diese weit herum und machen auch vor Grenzen und fremden Völkern nicht halt. Die typisch deutschen Kinder- und Hausmärchen überliefern zweifelsohne eine Fülle der einheimischen Volksüberlieferung, aber auch Stoff von weit her. Ein Beispiel: „Rotkäppchen“ hatte bereits mehr als 100 Jahre zuvor der französische Märchensammler Charles Perrault veröffentlicht. Dessen Chapereau Rouge kannten die Hassenpflugs und erzählten die Geschichte weiter. Die Grimms modelten das Märchen ein wenig um und machten daraus eine kindertaugliche Geschichte mit Happy End. Vor allem Wilhelm Grimm feilte an so gut wie allen Texten, die damit letztlich auch Ausdruck seiner persönlichen Sprache sind.
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Uns ist in alten maeren … – Das Nibelungenlied als „Nationalepos“ Was als Ausdruck der Volksseele noch fehlte, war ein heroisches Nationalepos, so wie es die griechenlandbegeisterten Bildungsbürger und Gelehrten den Hellenen mit der Ilias des Homer zuschrieben. Und dafür bot sich tatsächlich ein Text des Mittelalters an: Eine Handschrift des mittelhochdeutschen Nibelungenliedes hatte 1755 der Lindauer Arzt und Privatgelehrte Jakob Hermann Obereit in der Bibliothek des Grafen von Hohenems gefunden. Mehr als 25 Jahre dauerte es dann bis zu einer Veröffentlichung der vollständigen Ausgabe. Ihr Herausgeber Christoph Myller widmete das Werk dem berühmtesten deutschen Monarchen seiner Zeit – dem alten Preußenkönig Friedrich dem Großen. Dieser nahm es huldvoll an, soll aber später en passant bemerkt haben, mittelalterliche Dichtungen seien „elendes Zeug“ und keinen Schuss Pulver wert. Was konnte man auch von einem frankophilen Herrscher erwarten, der sogar die zeitgenössische deutsche Literatur für unlesbar hielt? Und der nun ein Kauderwelsch der Art lesen musste Uns ist in alten maeren wunders viel geseit, von helden lobebaeren, von großer arebeit. Die Zeitgenossen taten es ihm mit dieser Einschätzung übrigens gleich. Kaum jemand – auch Goethe nicht – interessierte sich für die krude Geschichte in einem unverständlichen barbarischen Deutsch. Dabei ging es im Nibelungenlied um den Xantener Königssohn Siegfried, der in seiner Jugend einen Schatz gewonnen, einen Drachen erschlagen und durch ein Bad in dessen Blut (fast) völlige Unverwundbarkeit erlangt hat. Der weiterhin an den Burgundenhof nach Worms zieht, wo er um die Prinzessin Kriemhild freit. Erst nachdem er König Gunther durch Betrug geholfen hat, die starke Königin Brünhild zu gewinnen, erhält er Kriemhilds Hand. Ein Streit zwischen den Schwägerinnen führt zur Verschwörung gegen Siegfried, den Gunthers Gefolgsmann Hagen von Tronje ermordet. Als die trauernde Kriemhild Siegfrieds Nibelungenschatz nach Worms bringen lässt, wird er ihr von
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Hagen abgenommen und im Rhein versenkt. Nach Jahren nimmt Kriemhild die Werbung des Hunnenherrschers Etzel aus Ungarn an. Dort hat sie mit dem König einen Sohn und wird zur mächtigen Herrscherin. Schließlich überredet sie den Gatten, ihre Brüder Gunther, Gernot und Giselher sowie Hagen und das Gefolge der Burgunden einzuladen. Obwohl Hagen davor warnt, machen sich die von nun an Nibelungen Genannten auf den Weg die Donau entlang. Am Hunnenhof eskaliert die Situation zwischen Kriemhild und ihren Verwandten sehr schnell. – Es kommt zu einem furchtbaren Gemetzel, dem fast alle Burgunden zum Opfer fallen. Kriemhild lässt ihren Bruder Gunther töten und erschlägt Hagen eigenhändig mit Siegfrieds Schwert. Der alte Waffenmeister Hildebrand, gemeinsam mit seinem Herrn Dietrich von Bern an Etzels Hof im Exil, ist über den unwürdigen Tod des Recken Hagen so erzürnt, dass er Kriemhild tötet. Das umfangreiche, um 1200 in Passau von einem anonymen Dichter verfasste Epos überforderte mit seiner Fülle von Betrug, Verrat, Mord und tausendfachem Totschlag anscheinend bereits das mittelalterliche Publikum. Dem schlossen sich die Leser des ausgehenden 18. Jahrhunderts an. Aber mit der Romantik ändern sich Einschätzung und Geschmack des Publikums dramatisch. – Außerdem ist man auf der Suche nach dem patriotischen Erbe. Und alles was aus dem Mittelalter stammt steht nun in Deutschland besonders hoch im Kurs. 1802 hält August Wilhelm Schlegel weithin berühmte Vorlesungen in Berlin, in denen er sich auch mit dem Nibelungenlied beschäftigt. Dieses überrage die Ilias an „Lebendigkeit und Gegenwart der Darstellung, dann die Größe der Leidenschaften, Charaktere, und der ganzen Handlung“. Sein blutiges Ende gemahne an das des griechischen Epos, „nur in weit größerem Maßstabe, mit dem überwältigendem Eindrucke allgemeiner Zerstörung.“ Schlegel fasziniert der bedingungslose Untergang ebenso wie die „Größe und Reinheit der Gesinnungen“. Für ihn spiegelt sich darin der „deutsche Nationalcharakter“. Damit war der böse Vergleich ausgesprochen: Von nun an sollten die Deutschen und ihre Machthaber nur
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zu gern auf die Katastrophen der Nibelungen zurückgreifen, um die aktuelle Situation heroisch einzufärben. Erst 1945 fand die fatale Missdeutung eines mittelalterlichen Textes in der größten deutschen und europäischen Katastrophe ihr Ende. Dabei hatte bereits Schlegel vor dem vernichtenden Eindruck der Nibelungengröße gewarnt. Aber zehn Jahre später empfiehlt er in kriegerischer Zeit das Epos als ein „Hauptbuch bey der Erziehung der deutschen Jugend“. Der nationale Durchbruch erfolgt 1807, als der Germanist Friedrich Heinrich von der Hagen sich an einer Übertragung des Nibelungenlieds in die moderne Sprache versucht. Außerdem übernimmt er zugleich eine wohlgefällige Deutungshoheit, die den Text zum Nationalepos der anstehenden Befreiungskriege machte. Denn die im Nibelungenlied anklingenden Tugenden verkörperten gleichsam die deutschen: „Gastlichkeit, Biederkeit, Redlichkeit, Treue und Freundschaft bis in den Tod, Menschlichkeit, Milde und Großmuth in des Kampfes Noth, Heldensinn, unerschütterlicher Standmuth, übermenschliche Tapferkeit, Kühnheit, und willige Opferung für Ehre, Pflicht und Recht“. Den Deutschen könne aber auch der seit der Antike gefürchtete Furor Teutonicus zugeschrieben werden, die „wilden Leidenschaften und düstern Gewalten der Rache, des Zorns, des Grimmes, der Wuth und der grausen Todeslust“. Heroischer Trost und Ansporn zugleich: Die Erfahrung des Untergangs könne zu neuem Glanz führen. Und obwohl oder gerade weil die Franzosen Berlin besetzt hielten, lässt sich der Gelehrte zu einem enthusiastischen Aufruf hinreißen: „Muth zu Wort und That, mit Stolz und Vertrauen auf Vaterland und Volk, mit Hoffnung auf dereinstige Wiederkehr Deutscher Glorie und Weltherrlichkeit“. Der Geographieprofessor August Zeune, Direktor der Berliner Blindenanstalten, tourt schon bald durch volle Säle in Berlin, Frankfurt, Heidelberg und Worms, wo er das hohe Lied von den Nibelungen anstimmt, sich „tapferen vaterländischen Kriegern“ und „deutschem Heldengeist“ widmet. Der Stoff ist nun wahrlich in aller Munde, und der romantische Dichter Friedrich de la Motte-Fouqué, bis heute
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wegen seiner „Undine“ bekannt, macht daraus das damals erfolgreiche Drama „Sigurd der Schlangentödter“, Teil der 1810 abgeschlossenen Trilogie „Der Held des Nordens“. Bald greift die Instrumentalisierung um sich, die das Nibelungenlied zum patriotischen Rüstzeug umformt und dementsprechend ausnutzt. Diese Symbolik sollte bis ins 20. Jahrhundert Schule machen. In der Epoche Napoleons wird aus diesem der „Schlangenkaiser“ und damit der Erzfeind des deutschen Helden Siegfried. Von den Franzosen heißt es: „Durch solches böses Lindgewürm ist denn seit 200 Jahren ein Stück nach dem andern von unserem heiligen deutschen Reich abgenagt worden …“. Und vom letztendlichen Sieg: „Doch der mächtige Schlangentöter hat sich erhoben, und unser heiliger deutscher Boden ist wieder rein und frei von dem fremden Gewürme.“ Dazu entwickelt sich eine regelrechte Symbolsprache, wonach der Drache den Bedroher der deutschen Einheit darstellt und der berühmte Nibelungenhort für den bislang verborgenen Schatz der Nation steht. Die Stubenhocker entfalten schließlich während des Krieges eine überaus martialische Sprache, die auf Figuren des neuen Nationalepos zurückgreift. Beredtes Beispiel bietet von der Hagen, der im März 1813 einen Brief an Ludwig Tieck schreibt: „Auch Fouqué kam in diesen Tagen mit 80 Mann hier an, und geht wieder zu seinem alten Regiment: es ist Volker der Spielmann, der jetzt den Fiedelbogen mit dem Schwert abwechselt; ich habe ihn ermahnt, den französischen Hunden wacker zum Tanz aufzuspielen; und er wollte mich durchaus mithaben, eingedenk des Verses: „Hagene und Volker geschieden sich doch nie“ … Es muß freilich eine herrliche Lust sein, die Franzosen zu jagen und zu schlagen.“ 1815 erschien eine „Feld- und Zeltausgabe“ seiner Übersetzung in praktischem Kleinformat. Das Nibelungenlied war im Krieg angelangt.
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Romantik – Das Mittelalter als Utopie Die Deutschen und ihre Romantik – eine Beziehung, die noch immer prägend zu sein scheint für das nationale Kultur- und Geistesleben, womöglich sogar sein ganz großes Thema ist – selbst bis heute. Dabei ist Romantik mehr als ein Eichendorff-Gedicht wie „Es war als hätt der Himmel die Erde still geküßt“ oder ein Landschaftsbild Caspar David Friedrichs, nämlich Lebensgefühl und Weltschau, Philosophie, Religion und Mythologie, Poetik und Theorie, die ihren Ausdruck in allen Künsten finden, vor allem in Literatur, Malerei und Musik. Was dieses schier uferlose Gedanken- und Empfindungsgebäude aus den Jahren um 1800 (und Jahrzehnte darüber hinaus) eint, ist seit jeher die große Frage. Für Rüdiger Safranski, der ein aufsehenerregendes RomantikBuch geschrieben hat, ist es eine jener „Suchbewegungen, die der entzauberten Welt der Säkularisierung etwas entgegensetzen wollen.“ Das gilt damals vor allem für die Aufklärung, deren Verdienste für die gesellschaftliche und staatliche Entwicklung Europas unverzichtbar waren und letztlich zur Revolution in Frankreich führten. Aufklärung hat aber auch eine ästhetische Seite, die künstlerisches Schaffen einem rigorosen Nützlichkeitsdenken des Verstandes unterwirft. Aber was für das Staatsleben notwendig und sinnvoll ist, führt im Denken und Fühlen leicht zu Ödnis und Langeweile. Schon früh setzten dem in Deutschland junge Dichter und Denker andere Modelle entgegen: „Empfindsamkeit“ sowie „Sturm und Drang“ entstanden als Schlagworte neuer Literaturrichtungen und führten schließlich zum romantischen „Sehen“. „Wenn nicht mehr Zahlen und Symbole sind Schlüssel aller Kreaturen“ ersehnt Novalis in seinen „Hymnen an die Nacht“. Und Friedrich Schlegel fordert die „progressive Universalpoesie“, die alle Gattungsgrenzen überschreitet und sämtliche Kunstformen erfasst. „Was soll´s?“, sind wir heute geneigt zu fragen, wo doch in der Kunst und anderswo alles möglich ist. „Mach, was du willst“ musste jedoch den Traditionalisten ein rotes Tuch sein, hingen sie doch den strengen Regeln der
Das Mittelalter als Utopie
maßgeblichen französischen Literatur an. Und demnach war ein Gedicht ein Gedicht, das mit einem Prosa-Roman und einem Drama nichts zu tun hatte. Nun, die deutschen Romantiker scherten sich nicht darum und wirbelten alles durcheinander. Das mag Madame de Staël im Blick gehabt haben, als sie sinngemäß schrieb, die Deutschen würden nur gegen poetische Zwänge auf die Barrikaden gehen. Aber die Suche ging noch weiter und man lotete die dunklen Tiefen der menschlichen Seele aus – bis hin zum Wahnsinn, wofür insbesondere der spätere Berliner Kammergerichtsrat E.T.A. Hoffmann steht („GespensterHoffmann“). Kein Wunder, dass der alte Goethe konstatierte, das Klassische sei das Gesunde, das Romantische hingegen das Kranke. Dies alles steht für die moderne Seite der Romantik, die geradewegs ins 20. Jahrhundert führt und ihr Interesse an anderen Literaturen durch Übersetzungen von Shakespeare, Calderon oder Cervantes bezeugt. Die nicht zu bezweifelnde visionäre Seite der Romantiker beruhte auf neuen Sichtweisen und zielte auf die Umgestaltung der Gegenwart für eine bessere Zukunft. Das klingt nach Revolution, aber nicht im Sinne jener von 1789. Denn die entgrenzende Romantisiererei kannte auch eine Tiefenperspektive, die weit zurück in die Vergangenheit führte. Dort, näher bei den Wurzeln, war alles besser, kraftvoller und schöner. So entdeckte man, ähnlich wie die Engländer, das Mittelalter. Heinrich Heine beschreibt dies einige Jahrzehnte später in seinem Pariser Exil folgendermaßen: Die romantische Schule in Deutschland sei nichts anderes gewesen „als die Wiedererweckung der Poesie des Mittelalters, wie sie sich in dessen Liedern, Bild- und Bauwerken, in Kunst und Leben manifestiert hatte.“ In der Tat sammelte man bekanntlich die alte Überlieferung wie die Minnelieder und das Nibelungenepos. Gleichwohl steckte dahinter mehr, nämlich eine regelrechte Vision des deutschen Mittelalters, die schließlich patriotisch aufgeladen wurde und jene ferne Epoche als Hochzeit der Nation verstand. Für den jungen Novalis galt 1799 noch die Utopie eines europäischen Friedensreiches: „Es waren schöne, glänzende Zeiten, wo Europa ein christliches
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160 Deutschland: Eine Nation (er)findet sich I Land war, wo Eine Christenheit diesen menschlich gestalteten Weltteil bewohnte …“ Dieser europaweite Blick ging vielen Romantikern zwar nicht verloren, trotzdem kam es zu einer Verengung auf der Suche nach der deutschen Nation. Damit kam Heidelberg ins Spiel, das nach Jena um 1806 zu einem Mittelpunkt der Romantik wurde. Hier fanden sich Gelehrte, Dichter und Sammler ein. Die beschauliche Stadt am idyllischen Neckar hätte kein besseres Symbol abgeben können; denn ihre glänzenden Zeiten als kurpfälzische Residenz waren lange vorbei. Mehr als 100 Jahre zuvor hatte sie die ganze Wucht der Eroberungskriege des französischen Sonnenkönigs Ludwigs XIV. getroffen, dessen Truppen Stadt und Schloss verheerten und zerstörten. Das Schloss blieb Ruine bis heute, diente aber den Romantikern als willkommenes Sinnbild vergangener Größe und französischer Schandtaten. Einen bemerkenswerten Ausdruck fand dies im Titelkupfer des 2. Bandes von „Des Knaben Wunderhorn“, der 1808 hier am Neckar erschien: Im Innern der Krümmung des filigran gestalteten Hornes findet sich nämlich ein Bild Alt-Heidelbergs mit dem wiederaufgebauten Schloss. Dessen Restauration entsprach dem Projekt der wiedererschlossenen (und bearbeiteten) Volkslieder. Im Übrigen hatte der neue Landesherr von Napoleons Gnaden, der erwähnte badische Großherzog Karl Friedrich für den Beginn besserer Zeiten gesorgt. Er begründete die altehrwürdige Universität quasi neu und verschaffte damit der Stadt und dem Geistesleben wichtige Impulse. Und die lockten schließlich die romantischen Kreise an. So den Marburger Friedrich Creuzer, der als Professor für Philologie und alte Geschichte eine Symbol- und Mythentheorie lehrte, die zu einer Grundlage für die Theorie der Romantik wurde. Er schrieb im April 1804 an den befreundeten Clemens Brentano: „In der Tat, wann ich jetzt bei meinen einsamen Wanderungen in den mächtigen Ruinen des hiesigen Schlosses unsere neuteutsche Kleinheit fühle, empfinde ich lebhaft, daß diese Stadt ein Ort für Männer sei, die das alte große Teutschland in ihren Herzen tragen – für wahre Poeten wie Sie und Tieck – die den
Das Mittelalter als Utopie
alten Romantischen Gesang in seiner Tiefe aufzufassen und auf eine würdige Weise wieder zu beleben vermögen.“ Unter den Männern, die es an den Neckar zog, befand sich auch der Koblenzer Joseph Görres (1776–1848), einstmals ein glühender Republikaner und Verfechter der Revolution, der sich enttäuscht von Napoleon abgewandt hatte. Er lehrte in Heidelberg als Privatdozent und veröffentlichte 1807 eine Sammlung von alten Sagen und Legenden als „Teutsche Volksbücher“. Als vermeintliche Zeugnisse der Volkspoesie gesellten sie sich zu den Liedern und Märchen, denen sich Clemens Brentano, Achim von Arnim und die Brüder Grimm zur gleichen Zeit widmeten. Damit war das Heidelberger Dreigestirn Görres, Arnim und Brentano komplett und beeindruckte Studenten wie die beiden Eichendorffs (Joseph: „Heidelberg ist selbst eine prächtige Romantik …“). Dom- und Burgruinen führten allerorten zurück ins Mittelalter, das aus dem romantischen Blickwinkel ein geeintes Deutsches Kaiserreich mit all seiner Pracht kannte, dessen Bevölkerung vor der Reformation einem einzigen christlichen Glauben anhing. Den Relikten der vergangenen Herrlichkeit widmete man sich in Literatur und bildenden Künsten. Bereits der junge Goethe war seiner Zeit voraus, hatte er doch mit seinem Aufsatz „Von deutscher Baukunst“ das Straßburger Münster wahrlich in den Himmel gepriesen und mit „Götz von Berlichingen“ das Vorbild eines kernigen Rittersmanns geliefert. Die Berliner Früh romantiker Ludwig Tieck (1773–1853) und Wilhelm Heinrich Wacken roder (1773–1798) wanderten als 20-Jährige durch Franken und begeisterten sich am mittelalterlichen Ambiente Nürnbergs und Bambergs, wobei sie die Dürerzeit gleich miteinbezogen. Novalis lässt seinen „Heinrich von Ofterdingen“ ebenfalls in jener Zeit spielen und die symbolträchtige „Blaue Blume“ sprießen. Später ringt Achim von Arnim über ein Jahrzehnt mit dem Thema des verschwundenen Stauferreiches, bis „Die Kronenwächter“ 1817 fragmentarisch erscheinen. Das Mittelalter als Sehnsuchtsort. Friedrich Schlegel nutzt den Stoff schließlich zum Kampfaufruf: „Nun höre von Wundern des Heldengesang, /
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Der Ahnen Denkmal die Zeiten entlang, / Die Taten der Ehre, / Gedanken des Ruhms, / Glorreiche Zeiten des Rittertums.“ Die eindrücklichsten Bilder romantischen Geistes hat zweifelsohne der lange Zeit in Dresden wirkende Caspar David Friedrich (1774– 1840) geschaffen. Seine vieldeutigen Landschaftsbilder gehören zum markantesten und populärsten Kulturerbe der Deutschen. Klassiker wie „Der Mönch am Meer“ (1808–10 entstanden) und die „Abtei im Eichwald“ (1809–10) mögen neben existentieller Einsamkeit und Todesthematik auch etwas über den Zustand Preußens während der französischen Besatzung aussagen. Jedenfalls überredete der 15-jährige Kronprinz (als Friedrich Wilhelm IV. der spätere „Romantiker auf dem Thron“) seinen Vater Friedrich Wilhelm III. zum Erwerb der Bilder. Eichen, gotische Kirchen und Ruinen bilden Friedrichs bevorzugte Requisiten, um die Situation Deutschlands auszudrücken, die er als Patriot mit Wehmut sah. Bei ihm muss sogar einer tristen Winterlandschaft eine politische Aussage unterstellt werden, so in dem um 1807 entstandenen „Hünengrab im Schnee“. Dort trotzen drei sturmgezeichnete Eichen Wind und Wetter und schirmen gleichsam die Findlinge des vorzeitlichen Grabes, das – von Raben umflogen – zur Metapher der Vergangenheit wird. Und schließlich, als fast alles vorbei und Napoleon vertrieben ist „Der Chasseur im Walde“. Dessen Ausstellung kommentierte die „Vossische Zeitung“: „Einem französischen Chasseur, der einsam durch den beschneiten Tannenwald geht, singt ein auf einem Stamm sitzender Rabe sein Sterbelied.“ Den von den Zeitgenossen nicht selten als bedrückend, schauerlich und düster empfundenen Landschaftsstimmungen Friedrichs stehen die Kathedralenbilder Karl Friedrich Schinkels (1781–1841) gegenüber. Der sollte nach den Befreiungskriegen der preußische Baumeister per se werden und zum Beispiel das Bild Berlins bis heute prägen. Fühlte er sich als Architekt üblicherweise dem Klassizismus der griechischen Antike verpflichtet, griff er in einigen Bildern auf das Motiv des idealen gotischen Domes zurück. In dem Stil, der damals als höchster Ausdruck
Dom und Rhein
deutscher Baukunst galt, inszenierte Schinkel ideale Stadtlandschaften, die von fantastischen Domen überragt werden. Dieses ideale Mittelalter verhieß gleichsam die Vision einer herrlichen Zukunft. Schöner als Schinkel hat keiner das romantische Mittelalter dargestellt.
Dom und Rhein – Sammeln für Deutschland Eine Vision zu haben und eine Utopie zu entwerfen war das eine, die Überbleibsel des Mittelalters vor dem Verfall zu bewahren das andere. An beidem hatte Karl Friedrich Schinkel Anteil. Bei seinen Bemühungen hatte er auch Kontakt zu zwei Brüdern aus Köln, die entscheidend dazu beitrugen, die Kunst des Mittelalters zu würdigen und zu erhalten. Sulpiz (1783–1854) und Melchior Boisserée (1786–1851) entstammten einer wallonisch-italienischen Familie, die in Köln ein angesehenes Handelshaus betrieb. Die beiden wollten sich höheren Studien widmen und fassten einen ambitionierten Plan: Sie wollten mittelalterliche Kirchenkunst vor der Vernichtung bewahren, sammeln und schließlich dem Publikum präsentieren. Die Boisserées konnten auf beachtliche finanzielle Mittel ihrer Familie zurückgreifen, insofern schien das Sammeln (ohnehin eine Tradition Kölner Bürgerfamilien) realisierbar. Aus ihrem Kreis erwuchs allerdings eine weitere Idee, die sich Sulpiz zu eigen machte und die geradezu utopische Ausmaße hatte: Den Weiterbau und die Vollendung des gotischen Domes zu Köln, dessen Baubetrieb seit 1560 ruhte. Seit Generationen hatte man sich an den Torso mit dem charakteristischen Kran auf dem unvollendeten Westbau gewöhnt. Dieses Anliegen kam nicht von ungefähr, denn seit 1794 erlebte das französische Köln wie das gesamte Rheinland eine Welle der Säkularisierung; insbesondere nach 1802 wurden fast alle Klöster und Stifte aufgehoben, Kirchen verkauft, umgewidmet, schlimmstenfalls abgerissen. Folglich drohte auch die Niederlegung der Domruine, in der ohnehin keine Gottesdienste mehr abgehalten werden durften. Aber zuerst erwiesen
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sich die Boisserées als regelrechte Bilderjäger, die in Dachböden und Sakristeien der Kirchen herumstöberten, um altdeutsche Gemälde vor dem Untergang zu retten. Darunter verstanden sie vor allem deutsche und niederländische Tafelbilder des 15. Jahrhunderts. Um den Blick zu schulen und weitere Kenntnisse zu erwerben, reiste man 1803 nach Paris, wo das Musée Napoleon (der Louvre) die umfangreichsten Sammlungen bot. Dort trafen sie Friedrich Schlegel und dessen Frau Dorothea, in deren Haus sie Aufnahme und Privatunterricht erhielten. Als sie ein Jahr später nach Köln zurückkehrten, hatten sie die Schlegels so sehr von ihren Plänen überzeugt, dass er sich mehrere Jahre bei ihnen am Rhein niederließ. Seit 1804 nahm die Sammlung Gestalt an und umfasste schließlich über 200 Gemälde aus den Rhein- und Niederlanden, aus Franken und Schwaben, darunter Werke Rogier van der Weydens, Stefan Lochners und Albrecht Dürers. Die Sammlung erregte früh Aufmerksamkeit, bot sie doch reiches Anschauungsmaterial für das ersehnte und gesuchte deutsche Erbe. Im französischen Köln erfuhren die Boisserées allerdings nicht die gewünschte Würdigung und Unterstützung. Darum siedelten sie nebst Sammlung im Frühjahr 1810 nach Heidelberg über. Von dort breitete sich der Ruhm der Sammlung aus, zog prominente Besucher an, etwa den österreichischen Kaiser Franz I. und seinen Kanzler Metternich, die Kronprinzen Preußens und Bayerns, den Freiherrn vom Stein, Wilhelm von Humboldt, die Brüder Grimm sowie Karl Friedrich Schinkel und nicht zuletzt Goethe, den Sulpiz Boisserée 1811 bei einem Besuch in Weimar von der Bedeutung der gotischen Kunst überzeugen konnte. Fast 20 Jahre später kam die Sammlung als Kauf des bayerischen Königs Ludwig I. nach München, wo sie einen Grundstein der Alten Pinakothek bildete. Was den unfertigen Kölner Dom betraf, nahm die Idee seines Weiterbaus erste Züge an. Der aus dem 13. Jahrhundert stammende und zwischenzeitlich verloren gegangene Aufriss der Westfassade mit den beiden monumentalen Türmen wurde 1814 bzw. 1816 wiedergefunden – ein Teil davon sogar in Paris von Sulpiz Boisserée. Schinkel, die
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B oisserées und andere waren nun überzeugt, das Dom-Projekt umsetzen zu können. 1842 wurde der Grundstein für den Weiterbau gelegt, 1880 war der Dombau nach mehr als 600 Jahren beendet – als Symbol nationaler Einheit und Geschichte. Mit dem Dom rückte auch der Rhein wieder stärker ins Blickfeld nationaler Identifikation. Insbesondere die Reisen der Romantiker Friedrich Schlegel oder der Freunde Arnim und Brentano führten zur Entdeckung des romantischen und damit urdeutschen Rheins. So der Erstgenannte im Jahr 1802, als er die raue und wilde Gegend des engen Mittelrheintals mit ihren zahlreichen Burgruinen zum ursprünglichen Charakter der Nation erklärte: „… die Neigung der Deutschen, auf Bergen zu wohnen, an Bergen sich vorzüglich anzusiedeln, sei so alt, daß man diese Neigung wohl nicht mit Unrecht zu dem ursprünglichen Charakter der Nation rechnen könnte.“ Solcherart deutscher Aneignung zollte selbst Madame de Staël Tribut, indem sie den Strom zum „Schutzgeist Deutschlands“ erklärte und germanisierte: „der Schatten des Arminius scheint noch immer über den steilen Ufern zu schweben“. Schrieb Brentano noch seine populären „Rheinmärchen“ mit der Sage von der Flusssirene Lureley, der später Heinrich Heine unsterblichen Ruhm bescherte, so wurde die Sprache während der Befreiungskriege zusehends pathetisch und martialisch. Brentano dichtet nun: „Seyd gegrüßt ihr Rebenhügel! / Sey gegrüßt du frommer Rhein! / Unter deutschem Adlerflügel reife wieder deutscher Wein … / Unsrer Sprache heil´ge Zungen stimmen all in einen Klang, / und am Rheine voll erklungen ist der deutsche Siegsgesang.“ Und Ernst Moritz Arndt fordert ohne Wenn und Aber: „Der Rhein – Deutschlands Strom, nicht Deutschlands Grenze“. Das 19. Jahrhundert sollte die Epoche der Nationalisierung des deutschen Rheins werden, dem die Hohenzollernkaiser im Zeichen des Wilhelminismus schaurig-monumentale Denkmäler schufen wie die Germania im Niederwald über Rüdesheim, die trotzig gegen das zum „Erzfeind“ gewordene Frankreich blickt.
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Reden an die deutsche Nation Der ersehnten Nation auf die Spur zu kommen war nicht nur das Ziel von Dichtern, Gelehrten und Künstlern. Auch Philosophen und Historiker war diese Suche in schwerer Zeit ein Anliegen. Unter den Philosophien ist hier vor allem Johann Gottlieb Fichte (1762–1814) von Bedeutung. Denn der neben Hegel und Schelling führende Vertreter des so genannten Deutschen Idealismus galt wie kaum ein anderer als theoriefester Hitzkopf, der hochphilosophische Reflexion und praktische Anwendung miteinander verband und somit den späterhin viel berufenen Elfenbeinturm verließ. Zu solcher Pragmatik mag seine Herkunft beigetragen haben, stammte er doch aus einer armen Weberfamilie aus der Oberlausitz. Erst einflussreiche Gönner ermöglichten ihm den Schul- und Universitätsbesuch, wobei er sich zunächst als mittelloser Hauslehrer mehr schlecht als recht in Warschau und andernorts durchschlagen musste. Dreißigjährig suchte er Immanuel Kant in Königsberg auf, fand seine Anerkennung und erntete schließlich philosophischen Ruhm, der ihm zwei Jahre später eine Professur in Jena einbrachte. Dort stieß er wegen seines unkonventionellen Gebarens auf Begeisterung. Ein Zuhörer: „Sein öffentlicher Vortrag rauscht daher wie ein Gewitter, das sich seines Feuers in einzelnen Schlägen entladet.“ Glühend begrüßte er die Revolution in Paris, später verscherzte er es sich jedoch mit Studenten und Universität, die ihn schließlich des Atheismus bezichtigte und der Universität verwies. Viel ließe sich zu Fichtes Rolle als moderner Denker sagen, über seinen Universalismus, der der Aufklärung entstammte, seine Betonung von Freiheit, Recht und Kultur, die er für viele Nationen gelten ließ. Doch der Hauptstrom der Romantik sollte sich in eine andere Richtung entwickeln und Fichtes Denken mit ihm: Denn immer stärker wendete man den Freiheitsbegriff nicht mehr im individuellen Sinn der Aufklärung an, sondern bezog ihn auf die Gruppe bzw. Nation. Deren Freiheit verdrängte die Freiheit des Ichs. So wie die Roman-
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tiker die Lieder, Märchen und Sagen der durch den kollektiven Volksgeist inspirierten Volkspoesie sammelten, ging es auch Fichte um die philosophisch-politische Erfassung der Deutschen und ihres Vaterlands. Als 1810 die neue Universität in der preußischen Hauptstadt gegründet wurde, ernannte man Fichte – mittlerweile war er durch seine Vorlesung „Reden an die deutsche Nation“ im Winter 1807/08 berühmt geworden – zum ersten Rektor. Damit wurde Fichte zu einer treibenden Kraft der Befreiung von Napoleon, seine Reden dienten darüber hinaus noch Jahrzehnte dem nationalen Lager als Pflichtlektüre. Ende 1807 lag Preußen am Boden, denn der Frieden von Tilsit hatte das Königreich zu einem Rumpfstaat gemacht, ihm eine fortdauernde französische Besatzung beschert und das Land zu hohen Kontributionen verurteilt. In dieser hoffnungslosen Situation trat Johann Gottlieb Fichte vor sein Publikum und verkündete den Beginn einer neuen Epoche, in der das Ich der freien Menschen sich zu einer Nation heranbilden soll. Vom Weltgeist entfernt sich der Philosoph mehr und mehr, sein Blick verengt sich und hat in erster Linie Deutschland im Fokus. Und dessen historische Aufgabe soll schließlich das jetzt noch in Unterdrückung verharrende Preußen übernehmen und zu Ende führen. Für Fichte ist das deutsche Volk einzigartig, und zwar nicht wegen seiner angeblichen Eigenschaften von Treue, Biedersinn, Mut, Redlichkeit oder Bescheidenheit, sondern vor allem wegen seiner Echtheit, seiner Unverfälschtheit. Fichte sieht die Deutschen als das „Urvolk“ an, das noch in seinen ursprünglichen Wohnsitzen siedelt und seine alte unverfälschte Sprache spricht. Solche Ursprünglichkeit verschafft den Willen und die Fähigkeit, sich als Volk zu befreien, sich weiterzubilden und zu entwickeln. Die insofern frei handelnden Deutschen können darum Geschichte machen, müssen sich allerdings einer strengen Nationalerziehung unterziehen, zu der geistige und körperliche Ertüchtigung gehöre. Einzigartig und vollkommen wie keine andere Nation, falle den Deutschen universale Verantwortung zu, denn niemand ver-
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stehe die anderen Völker besser. Nur sie selbst stießen allzu oft auf Unverständnis. Und so geht es fort. Für Fichte sind die Deutschen einzigartig, dazu ausersehen, bei der Bildung einer vernunftgemäßen Weltordnung ganz vorne mit dabei zu sein. Nun mochten französische Offiziere in Berlin über solche Spintisiererei angesichts der Situation in Deutschland die Augen verdrehen. Aber Fichte macht darüber hinaus deutlich, wie wichtig der Befreiungskampf sei, und er folgt dabei einem alten Muster, das die aktuelle Situation mit dem Vordringen der Römer in Germanien vergleicht: Sahen die damaligen Deutschen, von den Römern „Germanier“ genannt, „denn nicht vor Augen den höhern Flor der römischen Provinzen neben sich, die feinern Genüsse in denselben, dabei Gesetze, Richterstühle, Rutenbündel, und Beile in Überfluß? Waren die Römer nicht bereitwillig genug, sie an allen diesen Segnungen teilnehmen zu lassen? … Wofür haben sie denn also mehrere Menschenalter hindurch gekämpft im blutigen, immer mit derselben Kraft sich wieder erneuernden Kriege? Ein römischer Schriftsteller läßt es ihre Anführer also aussprechen: „ob ihnen denn etwas anderes übrigbleibe, als entweder die Freiheit zu behaupten, oder zu sterben, bevor sie Sklaven würden“. „Freiheit war ihnen, daß sie eben Deutsche blieben, daß sie fortführen, ihre Angelegenheiten selbständig, und ursprünglich, ihrem eignen Geiste gemäß, zu entscheiden, und diesem gleichfalls gemäß auch in ihrer Fortbildung vorwärtszurücken, und daß sie diese Selbständigkeit auch auf ihre Nachkommenschaft fortpflanzten …“ Und schließlich verstand es sich Fichte zufolge für die Germanen von selbst, lieber zu sterben, als Römer zu werden „und daß ein wahrhafter Deutscher nur könne leben wollen, um eben Deutscher zu sein, und zu bleiben, und die Seinigen zu ebensolchen zu bilden … Ihnen verdanken wir, die nächsten Erben ihres Bodens, ihrer Sprache, und ihrer Gesinnung, daß wir noch Deutsche sind …“ Ein deutlicher Aufruf also für das vermeintliche Deutsche in seiner Echtheit und gegen die französische Fremdbestimmung. Vor deren mut-
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maßlichen rechtlichen und staatlichen Vorteilen steht das Erbe aus uralter Zeit. Fichte erhöht dies alles, wenn er sich an sein deutsches Publikum wendet: „Leben und Denken muß bei uns aus einem Stücke sein, und ein sich durchdringendes und gediegenes Ganzes; wir müssen in beiden der Natur und der Wahrheit gemäß werden, und die fremden Kunststücke von uns werfen; wir müssen, um es mit einem Worte zu sagen, uns Charakter anschaffen; denn Charakter haben, und deutsch sein, ist ohne Zweifel gleichbedeutend …“ Das sollte nicht ohne geistige Wirkung bleiben: Denn nach dieser Vorstellung erkämpfte sich der Deutsche seine nationale Selbständigkeit, um gleich weiter zu marschieren und die Führung der Welt zu übernehmen.
„Heil dir, König von Germanien!“ Markige Worte, die nicht von gehobener Poesie zeugen, aber gleichwohl aus der Feder eines der ganz großen deutschen Dichter stammen, nämlich Heinrich von Kleists (1777–1811). Durchaus treffend wird sein erfolgloses und umherirrendes Leben (der literarische Ruhm stellte sich erst postum ein) als katastrophal bezeichnet. Obwohl er aus einer angesehenen preußischen Offiziersfamilie stammte, die ihren Kurfürsten und Königen mit etlichen Generälen gedient hatte, quittierte der junge Mann 1799 den Dienst. Der frühe Eintritt in das Potsdamer Garderegiment sowie die Teilnahme an den Feldzügen gegen das revolutionäre Frankreich beförderten anscheinend das Unbehagen am militärischen Drill. In seinem kurzen Leben irrte Kleist – das Schicksal des modernen Menschen vorwegnehmend – durch zahlreiche Lebensentwürfe, die er alle wieder verwarf: ziviler Beamter oder Bauer in der Schweiz, gescheiterter Offizier in der französischen Armee, von Goethe abgelehnter Dichter und Publizist. Dazu kamen Krankheiten, Be ziehungskrisen, die vorübergehende Inhaftierung als vermeintlicher
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preußischer Spion in Frankreich, schließlich das In-Ungnade-Fallen am königlichen Hof und die Distanz zur eigenen Familie. Im November 1811 schließlich nahm sich der Unglückliche gemeinsam mit der todkranken Henriette Vogel am Wannsee bei Berlin das Leben. Viel später erst würde er unter die preußischen Mythengestalten eingereiht werden, vom wilhelminischen Deutschland und der NS-Diktatur fehlinterpretiert und ideologisch missbraucht. Dazu hat eines seiner schwächeren Dramen nicht wenig beigetragen, 1808 entstanden als zeitgenössischer Kommentar der Situation Deutschlands. Mit der „Hermannsschlacht“, die erst zehn Jahre nach Kleists Tod veröffentlicht wurde und fast drei Jahrzehnte später auf die Bühne kam, griff der Dichter auf eine Figur zurück, die sich wie nur wenige zum deutschen Nationalhelden eignen sollte. Ein kurzer Rückblick: Hermann den Cherusker kannten bereits die Humanisten um 1500, hatten sie von ihm doch in den Schriften des römischen Geschichtsschreibers Tacitus gelesen. Dieser schildert das kurze Leben und Wirken des germanischen Häuptlingssohnes Arminius aus dem irgendwo zwischen Weser und Elbe siedelnden Stamm der Cherusker. Der junge Mann kam als Geisel nach Rom und wurde sogar hoher Offizier in der Armee des Imperiums. Als solcher begleitete er den Statthalter Varus in die rechtsrheinischen, von den Römern unterworfenen Gebiete germanischer Völkerschaften. Aber Arminius, hinter dessen lateinischem Namen man den deutschen Hermann zu erkennen glaubte, beging Verrat, lockte die Legionen in eine Falle und ließ sie von seinen Kriegern massakrieren. Das soll sich im Jahre 9 nach Chr. in einem Waldgebirge namens Teutoburger Wald ereignet haben, den man erst viel später mit dem heute so benannten Gebiet identifizierte. Sicherlich ein welthistorisches Ereignis, denn die Germanen rechts des Rhein konnten dem Imperium Romanum nicht eingegliedert werden und wurden darum kaum romanisiert. Mit der Varusschlacht allerdings die Geburt der deutschen Nation zu verbinden ist nicht möglich, denn deren Anfänge sind erst tausend Jahre später greifbar. Das kümmerte
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die Humanisten jedoch wenig, denn für sie war der Fall klar: Die Germanen waren Deutsche. Und Arminius-Hermann wurde folgerichtig der erste Nationalheld der Deutschen. Dazu trug auch der 1523 gestorbene Reichsritter und Dichter Ulrich von Hutten bei, für den feststand, dass Arminius „sein Volk von den ausländischen Tyrannen befreite“. Der Humanist verstand darunter natürlich die Römer, übertrug aber dieses Feindbild auf das Rom seiner Zeit, und das war die katholische Kirche mit dem Papst. Demgemäß sah er den Reformator Martin Luther in den Fußstapfen des „ersten deutschen Helden und Vaterlandsverteidigers“. Im Laufe der Zeit fand Hermann immer wieder seinen Weg in die deutsche Literatur, so widmete ihm Friedrich Gottlieb Klopstock gleich mehrere Dramen, etwa „Hermanns Tod“ 1787. Für die Dichter und Denker bot sich der germanische Freiheitskämpfer als Nationalheld Deutschlands insofern geradezu an. So auch für Kleist, in dem sich der Widerstandsgeist gegen Napoleon regte. Darum erzählt er in seinem Drama die Geschichte nach, setzt aber ganz eigene Schwerpunkte, die sich als Schlüssel für die aktuelle Situation verstehen lassen. Setzt man an die Stelle der Römer die Franzosen, an die der norddeutschen Cherusker die Preußen sowie an die der süddeutschen Sueben die Österreicher, vergleicht man schließlich die übrigen unschlüssigen und tändelnden Germanenhäuptlinge mit den Fürsten des Rheinbunds, hat man das deutsche Szenario des Jahres 1808 mit Kleists Lösung: Die militärisch wieder erstarkten Österreicher hätten den sich erhebenden Preußen zur Seite zu eilen und großmütig zur nationalen Krone zu verhelfen. So wie in der „Hermannsschlacht“ das Gefolge des Suebenherrschers Marbod ausruft: „Heil Hermann! Heil dir, König von Germanien!“ – „Heil, König Herrmann, alle Deutschen dir!“ Man mag darüber streiten, ob Kleist Nationalist, Patriot oder in erster Linie Freiheitsdichter gewesen ist. Auf jeden Fall ist nicht zu übersehen, dass er einen neuen Ton anschlägt, der bluttriefend und gewalttätig ist und einen fatalen Deutungsspielraum ermöglicht. So in Hermanns abschließenden Worten, die zum Weitermarsch und zur
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Vernichtung Roms aufrufen: „Ihr aber kommt, ihr wackern Söhne Teuts, / Und laßt, im Hain der stillen Eichen / Wodan für das Geschenk des Siegs uns danken! / Uns bleibt der Rhein noch schleunig zu ereilen, / Damit vorerst der Römer keiner / Von der Germania heilgem Grund entschlüpfe: / Und dann – nach Rom selbst mutig aufzubrechen! Wir oder unsre Enkel, meine Brüder! / Denn eh doch, seh ich ein, erschwingt der Kreis der Welt / Vor dieser Mordbrut keine Ruhe, / Als bis das Raubnest ganz zerstört, / Und nichts, als eine schwarze Fahne, / Von seinem öden Trümmerhaufen weht!“ Diese Worte verhallten nicht ungehört, obwohl das Drama unter der Herrschaft Napoleons nicht veröffentlicht werden konnte. Immerhin ist überliefert, dass Kleist im Kreise von Gesinnungsfreunden daraus vorlas, so im Dresdner Atelier Caspar David Friedrichs, der später „Hermanns Grab“ als Bildmotiv verwendete. In der sächsischen Residenz kamen überhaupt Sympathisanten des Freiherrn vom Stein zusammen, die gegen ihren König eine nationale Politik vertraten und schließlich sogar ein Freikorps „Banner der freiwilligen Sachsen“ gründeten. Zu diesen konspirativen Sitzungen unter anderem auf Burg Siebeneichen bei Meißen kamen neben Kleist auch Fichte, der Romantiker Fouqué und der später als Freiheitsdichter gefeierte Theodor Körner zusammen. Den Sieg dieser Bewegung sollte der preußische Dichter nicht mehr erleben. Ihre Sprache indessen nahm er bereits vorweg. Den ersten Schritt zur Erhebung gegen Napoleon sollten seiner Vorstellung nach die Österreicher tun, Kleist dichtete Oden an „An Franz den Ersten, Kaiser von Österreich“, einen „Katechismus der Deutschen“ oder das Gedicht „Germania an ihre Kinder“ (1809), in dem er durch die Stimme der Germania besonders drastisch in Tötungs- und Zerstörungsphantasien schwelgt: „Horchet! – Durch die Nacht, ihr Brüder, / Welch ein Donnerruf hernieder? / Stehst du auf, Germania? / Ist der Tag der Rache da?“ Er ist es, und Germania ruft zum Kampf gegen die „Franken“ auf: „Alle Plätze, Trift und Stätten / Färbt mit ihren Knochen weiß; / Wel-
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chen Rab und Fuchs verschmähten, / Gebet ihn den Fischen preis; / Dämmt den Rhein mit ihren Leichen; / Laßt, gestäuft von ihrem Bein, / Schäumend um die Pfalz ihn weichen, / Und ihn dann die Grenze sein!“ Doch damit nicht genug, wenn der Chor für alle spricht: „Eine Lustjagd, wie wenn Schützen Auf die Spur dem Wolfe sitzen! Schlagt ihn tot! Das Weltgericht Fragt euch nach den Gründen nicht!“
Ernst Moritz Arndt und das Rüstzeug für den Krieg Während Kleist im Großen und Ganzen literarischer schrieb und wegen fehlender Resonanz weniger wahrgenommen wirkte, wirkten andere Wortführer einer deutschen Nation weit in die Öffentlichkeit hinein. Das galt zweifelsohne für Fichte, viel mehr jedoch für Ernst Moritz Arndt (1769–1860), der sein Leben geradezu in den Dienst gegen Napoleon stellte. Wie der Redner an die deutsche Nation entstammte er recht einfachen Verhältnissen. Sein Vater war auf der bis 1815 schwedischen Insel Rügen Gutsinspektor, dem es gelungen war, sich aus der Leibeigenschaft freizukaufen. Sein Sohn studierte evangelische Theologie und beschäftigte sich mit philosophischen und historischen Fragen, unter anderem an der Universität Jena, wo Fichte zu seinen Lehrern gehörte. Auch Arndt führte ein umtriebiges Leben, teils als Hauslehrer, teils auf Reisen durch halb Europa, die ihn etwa in das Paris des Direktoriums führten. Seit 1800 lehrte er an der Universität in Greifswald, 5 Jahre später sogar als Professor für Geschichte. In dieser Zeit stritt er vehement und erfolgreich gegen die Leibeigenschaft, ein Anhänger der französischen Revolution und Napoleons wurde er gleichwohl nicht. Im Gegenteil: Mit seiner Schrift „Geist der Zeit“ machte er auf sich aufmerksam, und als 1806 Preußen geschlagen war und die kaiserlichen Truppen sich Vorpommern näherten, sah er sich gezwungen, über die Ostsee ins schwedische Mutterland zu flüchten. Unter falschem Namen kehrte er drei Jahre später zurück, gezwungen, das unstete Leben eines
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politischen Flüchtlings zu führen. In Vorpommern und Preußen konspirierte er mit anderen Gegnern Napoleons, so in der „Christlich-deutschen Tischgesellschaft“ in Berlin. Schließlich floh Arndt erneut, diesmal nach Russland, wo er Privatsekretär und enger Mitarbeiter des Freiherrn vom Stein wurde (dazu später mehr). Was war das nun für ein Werk, das seit 1805 in mehreren Teilen erschien und den Greifswalder Professor zu einem von französischen Agenten gejagten Mann machte? „Geist der Zeit“ dürfte kaum als historische Abhandlung aus einem Guss bezeichnet werden, eher als eine Zusammenstellung von Texten zur Geschichte und aktuellen Politik. Keine Schrift aus akademischer Distanz, sondern eine tendenziöse Polemik, die sich zur deutschen Eigenart und zu patriotischem Selbstbewusstsein bekennt. Arndt hegt keine Sympathien für die Ideale der Aufklärung, Friedrich der Große bleibt ihm eher fremd. Sein Blick geht hingegen weiter zurück in die Vergangenheit, deren alte deutsch-germanische Traditionen seiner Vorstellung nach wieder erweckt werden sollen. Die Perspektive ist nicht unbedingt adelsfreundlich, sondern gibt Bauern und Bürgern durchaus ihr Eigengewicht, so wenn der städtische Freiheitsgeist des Mittelalters hervorgehoben wird. Dies alles klingt unpolemisch und theoretisch und hätte Napoleons Augenmerk wohl auch nicht erregt. Aber Arndt lässt es damit nicht bewenden, er bezieht Stellung – gegen die Franzosen: „Von jeher habe ich nicht gern viel mit ihnen zu tun gehabt, und nun besetzen sie alle Zugänge und Wege der Geschichte so breit und übermütig, dass man nicht einen Schritt tun kann, ohne auf sie zu stoßen.“ Und dann gegen den französischen Kaiser, den er als „der Emporgekommene“ und „erhabenes Ungeheuer“ tituliert. Damit fährt er im zweiten Teil als ohnehin Verfemter fort, in dem er Napoleon der Despotie zeiht, „… denn der neue Mongole und Saracene von Korsika droht mit … Barbarei und Knechtschaft.“ Den Fürsten wirft er „Despotenschmeichelei“ und „Sklavenkriecherei“ vor, die große Revolution mit all ihren Folgen ist ihm „das blutige Franzosenaffenspiel mit der Freiheit“. Nein, diese Freiheit wollte
Ernst Moritz Arndt
er für sein Volk nicht. Das „heilige Herz des alten Europa“ sollte sich zu seinen germanischen Wurzeln bekennen, zu Hermann dem Cherusker, Martin Luther, selbst zum schwedischen König Gustav Adolf, der im Dreißigjährigen Krieg für die Sache der Protestanten gestritten hatte und dafür gefallen war. Während sich die Vorfahren von Rom befreit hatten, seien die Deutschen der Gegenwart zu einem läppischen Haufen degeneriert, der Napoleon keinen Widerstand leisten könne: „Das sind die Deutschen mit den Keulen und Lanzen nicht mehr. Sie sind Kosmopoliten geworden, und verachten die elende Eitelkeit, ein Volk zu sein; feine, leichte, und aufgeklärte Gesellen sind es, ohne Vaterland, Religion und Zorn …“ Was waren das hingegen für Zeiten, als die siegreichen Krieger Hermanns nach der Schlacht im Teutoburger Wald aus den Gebeinen der Erschlagenen einen Rache-Altar auftürmten, „ein herrliches Denkmal der Freiheit“. Später schreibt er: „Da ist Freiheit, wo du leben darfst, wie es dem tapfern Herzen gefällt; wo du in den Sitten und Weisen und Gesetzen deiner Väter leben darfst; wo dich beglücket, was schon deinen Urältervater beglückte; wo keine fremde Henker über dich gebieten und keine fremde Treiber dich treiben, wie man das Vieh mit dem Stecken treibt.“ Arndts Elogen auf die alten Zeiten gipfeln im Aufruf zur bewaffneten Erhebung: „Auf denn, Freunde! frisch auf zum Rhein! und Mainz und Wesel und Landau rasch berannt und genommen; dann gerufen: Freiheit und Österreich! dann Franz unser Kaiser, nicht Bonaparte!“ Und weiter: „Haß beseele, Zorn entflamme, Rache bewaffne uns! Laßt uns vergehen für unser Land und unsere Freiheit, auf daß unsere Kinder ein freies Land bewohnen!“ Damit brachte Arndt die neue, bereits von Kleist verwendete Sprache auf die Spitze … doch das war noch nicht alles. Wie nie zuvor wurden Völker und Nationen zu Feindbildern erklärt und einander gegenübergestellt. Auch wenn der deutsche Widerstand gegen Napoleon dem nicht in allen Formulierungen zustimmen mochte, gefiel der Publizist Ernst Moritz Arndt mit seinen harten
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Worten. Der Freiherr vom Stein und seine Verbündeten wurden auf ihn aufmerksam und erkoren ihn zum Bannerträger der Wortschlacht gegen den Feind. Und Arndt wurde in diesem „Krieg der Medien“ das bedeutendste Sprachrohr. Kampf- und Flugschriften werden zu Abertausenden gedruckt und nicht zuletzt unter die deutschen Soldaten verteilt. Darunter Titel wie der „Katechismus für den teutschen Kriegsund Wehrmann“, Aufrufe „An die Preußen“ (denen sich Arndt anstelle Österreichs immer mehr als führende Kraft im Kampf zuwendet) und „Was bedeutet Landsturm und Landwehr?“, schließlich der „Aufruf an die Deutschen zum gemeinschaftlichen Kampf gegen die Franzosen“. In „Über Volkshass und über den Gebrauch einer fremden Sprache“ (1813) zeichnet sich eine erschreckende Kategorie des Völkerhasses ab: „Jedes Volk hat seine Tugenden und Gebrechen, ja wie der Zustand der menschlichen Dinge ist, liegen gewisse Tugenden desselben sogar notwendig gewissen Mängeln ganz nahe. Aber es gibt Stufen und Grade, und ich schäme mich nicht, den Glauben zu bekennen, daß das deutsche Volk in der Weltgeschichte mehr bedeutet hat und mehr bedeuten wird als das französische … Im allgemeinen ist die Frage töricht, welches Volk besser sein … so wie es töricht ist, wenn ich frage: ist die Eiche besser als der Dornstrauch, die Distel als der Rosenstrauch? Aber wie, wenn es den Disteln einfiele, sich mit den edlen Kindern des Rosenbusches vermählen zu wollen? Wie wenn wir der Rosenbusch wären und die Franzosen die Disteln? … Ich will den Haß gegen die Franzosen, nicht bloß für diesen Krieg, ich will ihn für lange Zeit, ich will ihn für immer … Dieser Haß glühe als die Religion des deutschen Volkes, als ein heiliger Wahn in allen Herzen und erhalte uns immer in unsrer Treue, Redlichkeit und Tapferkeit …“. Der studierte evangelische Theologe lässt zusehends religiöse Motive in seine Kampfaufrufe einfließen, so wenn er Glocken läuten lässt und zu Gottesdienst und Gebet ruft: zur „Bewaffnung des ganzen Volkes zu einem großen und heiligen Kriege …“, dessen Kämpfer demzufolge „ein heiliger Mann“ ist: „Das ist
Ernst Moritz Arndt
der Krieg, welcher dem Herrn gefällt; das ist das Blut, dessen Tropfen Gott im Himmel zählt.“ Dieses Deutschland, für das man nach Arndts Worten getrost sein Blut im „heiligen Krieg“ opfern darf, hat bekanntlich keine markanten Grenzen. Der Greifswalder Widerstandskämpfer legt sie zudem sehr großzügig aus. Alles was deutscher Zunge ist oder war, auch mit dem Deutschen als „urgermanischer“ Muttersprache irgendwie verwandt ist, gehört zur Nation. Das gilt insbesondere für die französischen Gebiete des Elsass und Lothringens, aber auch für die Schweiz; selbst die Niederlande und Flandern sollen zumindest durch spezielle Beziehungen eingebunden werden. Ihre Zugehörigkeit ergibt sich aus natürlichen Gründen fraglos von selbst. Noch Jahrzehnte später sollte Jacob Grimm diesem Konzept pseudowissenschaftlicher Urverwandtschaft folgen und etwa die dänische Halbinsel Jütland kulturell Deutschland zuschlagen, während den Dänen die Inseln blieben. Wie man sieht, tut sich in der Ideenwelt der Ideologen der Befreiungskriege – Arndt stand nicht allein dafür – das ganze Problem deutscher Grenzen auf, das schließlich gegen Mitte des 20. Jahrhunderts nochmal zu einer Katastrophe führte. Für ihn jedenfalls ist die deutsche Sprache Bindeglied, zeichnet sie sich doch durch eine bestimmte Eigenart und Moral aus. Dem „kosmopolitischen“ frankophonen Landsmann macht er den Vorwurf, du „tändeltest in fremder Sprache fremden Lug nach, und verspieltest die deutsche Treue in schlüpfrigen Worten“. Denn die Worte der Franzosen seien glatter als ein schlüpfriger Aal, die Gebärden betrügen. Sie umgebe gemeinhin trügerischer Schein und Falschheit, sogar wenn sie mit Liebe umhalsen, meinen sie Arges. Für den Deutschen gilt hingegen: „ein Mann, ein Wort“. Für die Sache der Befreiungskriege und den Kampf um Deutschland stritt der Schriftsteller auch mit lyrischen Mitteln; seine Lieder sind berühmt geworden, etwa das „Vaterlandslied“, wo es heißt: „Der Gott, der Eisen wachsen ließ, / Der wollte keine Knechte“ und wo der Deutsche schließlich mit Pathos zum Kampf für seine nationale Freiheit aufgeru-
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fen wird: „Lasst brausen, was nur brausen kann, / In hellen, lichten Flammen! / Ihr Deutschen alle, Mann für Mann, / Fürs Vaterland zusammen! / Und hebt die Herzen himmelan! / Und himmelan die Hände! / Und rufet alle, Mann für Mann: / Die Knechtschaft hat ein Ende!“ / Andernorts heißt es: „Deutsche Freiheit, deutscher Gott, / Deutscher Glaube ohne Spott, / Deutsches Herz und deutscher Stahl / Sind vier Helden allzumal.“
Turnen für Deutschland Zum nationalen Erwachen Deutschlands trug entscheidend auch ein weiterer Vertreter des protestantischen Nordostens bei: Friedrich Ludwig Jahn (1778–1852), Sohn eines Landpfarrers aus dem westlichen Brandenburg, der bis heute als „Turnvater Jahn“ zumindest sprichwörtliche Popularität genießt. Nach einem missglückten Studium in Halle und später in Göttingen führte auch er ein unstetes Leben, wobei er sich lange Zeit in Mecklenburg als Hauslehrer verdingte. Davon abgesehen scheint er eine abenteuerliche Ader gehabt zu haben, war gelegentlich in Schlägereien und Ehrenhändel verwickelt. Außerdem konnte er sich auf politischem Terrain beweisen, denn der glühende preußische Patriot leistete nach 1806 für die preußische Regierung geheime Kurierdienste, war also so etwas wie ein Geheimagent. Dadurch lernte er Leute kennen, konnte überall auf Beziehungen zurückgreifen. Wenige Jahre später erhielt er in Berlin eine Anstellung als Lehrer. Hier konnte er nun seine Idee von einer besonderen körperlichen Erziehung als Gegengewicht zur geistigen Ausbildung weiter verfolgen und schließlich in die Tat umsetzen. Dieser Plan war alles andere als unpolitisch, er sollte vielmehr das studentische Leben reformieren und außerdem zum Widerstand gegen Frankreich beitragen. Mit diesem Ziel gründete Jahn in einem Gasthaus in der Berliner Hasenheide eine Art Geheimbund, in dem sich seit November 1810
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mehrere Dutzend Mitglieder zusammenschlossen – neben Offizieren vor allem Studenten und Bildungsbürger. Im Sommer 1811 wurde dann auf der Hasenheide ein öffentlich zugänglicher Turnplatz eingerichtet. Von nun an wurde an Barren und Reck eifrig trainiert, außerdem veranstaltete man Kampf- und Geländespiele. Kein Wunder also, dass die Berliner von diesem Treiben angezogen wurden und den Turnern große Beachtung schenkten. Deren Bezeichnung soll im Übrigen Jahn selbst erfunden haben – als Rückgriff auf ein vermeintlich „urdeutsches“ Wort (das aber aus dem Lateinischen entlehnt war und sich auch in Turnier findet). Die wachsende Turnerschar sollte alle Schichten erreichen und umfasste tatsächlich Schüler und Studenten, aber auch bürgerliche Kaufleute und Handwerker. Offensichtlich bestand darin der deutsche Beitrag, die Ständegesellschaft des Ancien Régime zu überwinden. Die egalitäre Turnergemeinschaft pflegte ihre einheitliche Sprache mit dem obligatorischen „Du“ und trat in einfachem grauen Drillichanzug aus Leinen vor das Volk, zur Stärkung gab´s Schwarzbrot und Wasser. Nicht die Herkunft zählte, sondern das echt „Deutsche“, das diese „Elite des deutschen Volkstums“ unter dem Dreiklang von „Deutschheit, Mannheit und Freiheit“ vereinte. Und mittendrin der „Turnvater“ selbst „in seiner Turnkleidung mit nacktem Halse und unbedeckter kahler Glatze … Seine Ausdrucksweise war kurz, derb, oft voll selbstgeschaffener, aber sehr bezeichnender Worte … Sein Witz war in der Regel ebenso beißend als treffend; die Franzosen haßte er wüthend … noch bis jetzt ist es mir unbegreiflich, wie er ohne Anfechtung von Seiten der Franzosen durchkam; denn seine Äußerungen waren öffentlich ebenso heftig wie unter vier Augen.“ Was die Franzosen womöglich für eine deutsche Marotte hielten, war Friedrich Ludwig Jahn äußerst ernst. Und bezüglich Napoleon war der Hass anscheinend so groß, dass er sich schwor, dessen Namen niemals auszusprechen. Wenn er auch als Gründervater des zeitlosen deutschen Turnerwesens gilt, so verstand er doch die Hasenheider Turnerei als vormilitärische Übung und Vorbereitung für den Krieg. Die Teilnehmer erwiesen sich
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deshalb als vorbildliche Patrioten: „Wer mit uns auf dem Felde turnt, bleibt dem Vaterland ewig treu.“ Aber der „Turnvater“ wirkte nicht nur auf der Hasenheide als Erzieher des männlichen Körpers und seiner Leistungsfähigkeit; er muss darüber hinaus als einer der herausragenden theoretischen Köpfe der patriotischen Bewegung bezeichnet werden, der in seiner Bedeutung nicht hinter Arndt und Fichte zurücksteht. Allesamt waren sie wenn nicht Preußen, so doch Preußen zutiefst verbunden. Die nationaldeutsche Befreiungsbewegung hatte wichtige Wurzeln im protestantischen Nordosten Deutschlands. Bevor Jahn mit Erfolg losturnte, hatte er sich tiefgreifende Gedanken über das deutsche Volk gemacht. Sie erschienen in einem immerhin mehrere hundert Seiten dicken Buch 1810 in Lübeck unter dem Titel „Deutsches Volksthum“, das Jahns folgenreichstes Werk werden sollte. Darin findet sich alles zu Volk und Vaterland, als da wären das Land als solches, seine Einteilung, Verwaltung und Gerichte, die anzustrebende Volkserziehung, seine Verfassung, das Volksgefühl (worunter die Verbannung der „Ausländerei“ gefordert und die Bedeutung von Volkstracht sowie Festen hervorgehoben werden), volkstümliches Bücherwesen und Familienleben (mit Ausführungen über die deutsche Frau). Das titelgebende „Volksthum“ ist demzufolge „das Gemeinsame des Volks, sein inwohnendes Wesen, sein Regen und Leben, seine Wiedererzeugungskraft, seine Fortpflanzungsfähigkeit. Dadurch waltet in allen Volksgliedern ein volksthümliches Denken und Fühlen …“. Folgend das, was den rechten Deutschen ausmacht: „Vollkraft, Biederkeit, Gradheit, Abscheu der Winkelzüge, Rechtlichkeit, und das ernste Gutmeinen, waren seit einem Paar Jahrtausenden die Kleinode unseres Volksthums, und wir werden sie auch gewiß durch alle Weltstürme bis auf die späteste Nachwelt vererben.“ Und: „Volkserziehung ist Anerziehung zum Volksthum, ein immer fortgesetztes Indiehändearbeiten für die Staatsordnung, heilige Bewahrerin des Volks in seiner menschlichen Ursprünglichkeit.“
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Jahns Aversionen gegen die geschmähte „Ausländerei“, womit selbstredend die französischen Einflüsse gemeint sind, erstreckt sich vor allem auf den Gebrauch der Sprache. So lehnt er das fremde lateinische Wort „Nation“ ab und verwendet stattdessen das deutsche „Volk“ mit allen seinen Ableitungen. Die einfache, deutsche Ausdrucksweise soll verständlich sein und insbesondere junge Männer ohne hohe Bildung ansprechen, ihnen den Dienst für´s Vaterland attraktiv machen. Darüber hinaus ist es Jahns großer Wurf, eine neue Staats- und Gesellschaftsordnung zu schaffen, wobei sich hinter seiner verquast deutschtümelnden Sprache durchaus reformerische Vorstellungen verbergen. Ab und an kommen sie der Demokratie ziemlich nahe, aber auch einem im Laufe der Jahre zunehmenden Fremdenhass bis hin zum Rassismus und Antisemitismus: „Je reiner ein Volk, je besser; je vermischter, je bandenmäßiger.“ Damals wirkte der immer mehr zum Sonderling werdende Jahn jedoch im Interesse und Auftrag der Verbündeten des Freiherrn vom Stein. Seine klaren Vorstellungen lobte ein Berliner Rezensent: „Unter den vielen Schriften, die seit den letzten Schlägen, über Deutschland und seine Wiedergeburt erschienen sind, zeichnet sich das deutsche Volksthum sehr rühmlich aus, durch kräftige Eigenthümlichkeit der Ansichten, wie der Darstellung. Fern von der unglückseligen Sucht, das deutsche Gemüth vollends zu zerknirschen, strebt der Verfasser vielmehr dahin, es aufzurichten und zu erheben, ihm neuen Schwung und neue Begeisterung zu geben …“
Martialische Befreiungsgesänge Bevor der Sturm losbrach, hatte insbesondere im preußischen Umfeld die Vorstellung einer deutschen Nation an Popularität gewonnen. Was davon in den nächsten Jahren von den Monarchen und ihren Ministern umgesetzt wurde, lag jedoch noch in weiter Ferne. Vorerst waren nicht wenige erfüllt von neuen Volkstumsgedanken, beschäftigten sich zu-
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nehmend mit dem, was deutsche Kultur ausmachte. Dies reichte vom germanisch-deutschen „Gründungsvater“ Hermann-Arminius über den für die protestantischen Norddeutschen so wichtigen Reformator Martin Luther bis hin zu den Grimm´schen Volksmärchen, den Liedern der Romantik und dem Lied der Nibelungen. Die hehren Ideengebäude Fichtes, Arndts und Jahns mochte indessen nicht jeder mittragen – am wenigsten wohl in den süddeutschen Ländern –, aber einflussreich waren sie schon. Der russische Offizier Friedrich von Schubert berichtet davon, wie er 1813 das Land in der Mitte Europas erlebte: „ein rührendes und erhabenes Schauspiel, welches damals Deutschland bot … das Fieber des Deutschtums ergriff alle und trieb ganz ernsthaft die tollsten Possen. Die Frauen kleideten sich deutsch-mittelalterlich; alles Ausländische sollte verbannt werden, selbst aus der Sprache, und durch deutsche Worte ersetzt werden; da hörte man von Brunnenprügeln (Fagott), Kunkeln (Mademoisellen) und ähnlichen Unsinn, und zwar nicht zum Spaß, sondern in vollem Ernst, und alle diese Ausdrücke waren im täglichen Leben angenommen … Ich erinnere mich, daß, als die Treppe zu der Brühlschen Terrasse in Dresden von dem Fürsten Repnin gebaut wurde, wo unten ein paar steinerne, ägyptische Löwen stehen sollten, ein Journal ganz ernsthaft behauptete, dies sei nicht zeitgemäß: man solle ein paar deutsche Löwen hinstellen.“ Nennen wir´s weiterhin Deutschtümelei, was die französische Prägung des Lebens der gehobenen Stände ausgleichen sollte. Dauerhafte Wirkung zeigte sie nach 1815 kaum. Erst viel später bot sie in Rheinkrisen und Kriegen mit dem „Erbfeind“ Frankreich publizistisches Kanonenfutter. Als sich Soldaten und Freiwillige aller Couleur zusammenfanden und ab 1813 gegen Napoleons Truppen marschierten, bekamen sie Unterstützung durch allerlei Flug- und Kampfschriften sowie Feldausgaben. Etwa die von Jahn herausgegebenen „Deutschen Wehrlieder“ hatten während der Befreiungskriege großen Erfolg. Außerdem rezitierte man Dichter wie Max von Schenkendorf (1783–1817), der als ostpreußischer Offizierssohn an den Kriegen teilnahm und danach als Regie-
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rungsrat im neupreußischen Koblenz eine Aufgabe fand. Oder Theodor Körner, von dem noch zu hören sein wird. Sein „Lied von der Rache“ fügt sich den martialischen Befreiungsgesängen gegen Napoleon und Franzosen nahtlos ein: „Was Völkerrecht? – Was sich der Nacht verpfändet, / Ist reife Höllensaat. / Wo ist das Recht, das nicht der Hund geschändet / Mit Mord und mit Verrat? / Sühnt Blut mit Blut! – Was Waffen trägt, schlagt nieder! / ´s ist alles Schurkenbrut! / Denkt unsres Schwurs, denkt der verratnen Brüder / Und sauft euch satt in Blut! Und wenn sie winselnd auf den Knien liegen / Und zitternd Gnade schrein, / Laß nicht des Mitleids feige Stimme siegen, / Stoßt ohn´ Erbarmen drein!” Über Napoleons deutsche Verbündete: „Und rühmten sie, daß Blut von deutschen Helden / In ihren Adern rinnt; / Die können nicht des Landes Söhne gelten, / Die seine Teufel sind.“ / Und über die Leichen von Franzosen – getürmt zu Pyramiden: / „Dann brennt sie an! – und streut es in die Lüfte, / Was nicht die Flamme fraß, / Damit kein Grab das deutsche Land vergifte / Mit überrhein´schem Aas!“
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Napoleons Deutschland – Erfurt 1808 1808 herrscht Frieden in Deutschland. – Zeit für Napoleon, sich als uneingeschränkter Herrscher Europas feiern zu lassen. Als Ort dafür wählt er Erfurt in Thüringen aus, später vielsagend als „grünes Herz Deutschlands“ apostrophiert. Der Kaiser hatte dessen günstige Lage bereits früh erkannt und die alte einst kurmainzische, dann vorübergehend preußische Stadt nach ihrer Niederlage kurzerhand annektiert. Mit dem umliegenden Land schuf er daraus das Fürstentum Erfurt, das ihm als kaiserliche Domäne direkt unterstellt war und somit inmitten des Rheinbunds bzw. Deutschlands eine französische Exklave darstellte. Hier nun berief er zum 27. September 1808 einen Kongress ein, der über eine Woche tagte. Neben den 34 Fürsten des Rheinbunds fand sich vor allem Zar Alexander ein, der Stargast gewissermaßen, dem Napoleon letztlich die ganze Prachtentfaltung widmete. Und die ehrwürdige Bischofsstadt, einst von Bonifatius, dem Missionar der Deutschen gegründet? Schweigen ihre Bürger ob des fremden Okkupanten? Mitnichten: Sie scheinen von Napoleon und seinem Deutschlandplan begeistert, der lautet: „Ich will Deutschland durch Pracht und Glanz in Erstaunen setzen.“ Am Tag seines glanzvollen Einzugs waren die Straßen überfüllt, auf dem Platz vor der ehemaligen barocken Statthalterei der Kurmainzer, nun Kaiserlicher Palast benannt, standen wohl Tausende dicht an dicht. Die Landstraßen nach Erfurt waren zuvor schon voll von Karossen, Packwagen, Reitern und Handpferden, und „überall sah man die grün-goldene Livree der kaiserlichen Dienerschaft“. Etliche Regimenter sind zusätzlich nach Thüringen beordert worden, um für Sicherheit und nicht zuletzt militärischen Effekt zu sorgen. Andererseits gibt sich der Herrscher aus Paris bescheiden, lässt er doch drei errichtete Ehrenpforten wieder abreißen, weil er derlei Aufwand nicht wünsche. Dafür sorgt er selbst, als er sich mitsamt Hofstaat, Marschällen und allem, was dazu gehört, der Stadt nähert. Die Erfurter Bürgergarde darf ihn geleiten, Kanonen donnern, Kir-
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chenglocken läuten, aus allen Kehlen soll das Vive l´Empereur erklungen sein. Stadtdirektor und Bürgerschaft geben sich die Ehre, die Schlüssel der Stadt zu überreichen: „An Se. Majestät, den Kaiser der Franzosen und König von Italien, Beschützer des Rheinbundes. Napoleon dem Großen.“ Nicht nur, dass ganz Erfurt prächtig illuminiert ist – manche Bürgerhäuser waren über und über mit Lampen und Glaslichtern bestückt – viele Einwohner haben ihre Fenster mit Inschriften geschmückt wie „Gäb´s jetzt noch einen Göttersohn / So wär´s gewiß Napoleon“ oder „Handel und Wandel macht blühend das Land; / Mehr noch Napoleons Herz und Verstand.“ Für die ganze Woche des Fürstentags gilt: „Alle Straßen waren noch um Mitternacht mit Menschen gefüllt. An manchen Orten, zumal vor dem Gouvernement und dem Palais des russischen Kaisers konnte man sich nur mit Mühe durchdrängen.“ Am Nachmittag des Eröffnungstages empfing Napoleon den Zaren. Beide sollten sich an den folgenden Tagen mit gegenseitigen Höflichkeiten beehren, umgeben vom Kranz der deutschen Fürsten (an sich nur Statisten), von Botschaftern und zahlloser höfischer Entourage. Am 14. Oktober schieden sie als Freunde und Verbündete, die sich Finnland, Balkanfürstentümer, Spanien und anderes zukommen ließen und sich gegenseitiger Wertschätzung versicherten. Was letztlich diplomatische Floskeln waren, denn beide sollten sich nicht wiedersehen und wenige Jahre später zu Todfeinden werden. Zurück aber in die Stadt an der Gera: Hier will Napoleon werben, die Deutschen mit der französischen Kultur vertrauter machen. Darum befiehlt er aus Paris die Comédie Francaise nach Thüringen. Corneille und Racine werden gespielt mit Stücken, die „der alten heroischen Zeit oder den großen geschichtlichen Ereignissen“ entstammen und Ziel, „dem deutschen Publikum große Helden vorzuführen, die gewaltige, ruhmvolle Taten verrichtet und sich durch Tapferkeit und hohe Geistesgaben über die gewöhnlichen Menschen erhoben hatten … Gründer berühmter und erlauchter Geschlechter“ (so die Erläuterungen Talleyrands, der als Mitorganisator überall seine Hände im Spiel hatte). Anspielungen
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auf Napoleon gibt es viele und sie sind mehr als offensichtlich. So als Voltaires „Mahomet“ vor beiden Kaisern gegeben wird und der Text „Man nennt ihn Überwinder, Held, Eroberer, Doch heute will er Friedensstifter heißen!“ mit Wendung zu Napoleon gesprochen wird, worauf sich das Publikum in Ovationen ergeht. Aber der Kaiser schien auch geneigt, den deutschen Geistesgrößen eine gewisse Referenz zu erweisen. Dafür stehen der Historiker Friedrich von Müller, Wieland und vor allem Goethe, der hier in Erfurt eine bemerkenswerte Zusammenkunft mit Napoleon hatte. Die Treffen der beiden Größen aus dem Reich der Erde und dem Reich der Lüfte – um noch einmal mit Jean Paul zu sprechen – sind in die deutsche Geistesund Kulturgeschichte eingegangen. Der Staatsminister reiste aus dem nahen Weimar in offiziöser Funktion nach Erfurt, auf Wunsch seines Herzogs. Dort bezog er eine „bequeme Wohnung“ und blieb mehrere Tage, an denen er auch das französische Theater genoss und seinem fürstlichen Herrn stundenlang von den Eigentümlichkeiten der Tragiker berichtete. Napoleon hatte im Übrigen den Wunsch geäußert, die Herzogin von Weimar möge ihm und seinem Gast Alexander einen Ball geben. Der Herzog zerbrach sich den Kopf, welche Festlichkeiten geboten werden müssten, wenn so hohe Gäste in seine kleine Residenzstadt kämen. Das schien eine Aufgabe für Goethe zu sein, der jedoch zu imposante Pläne gehegt haben soll, die wegen ihrer Undurchführbarkeit verworfen wurden. Der Herzog entschied sich daher für ein Festmahl, einen Hofball und eine große Hirschjagd. Am nächsten Tag wünschte Napoleon Zar Alexander das Schlachtfeld von Jena zu zeigen, dessen denkwürdiges Ereignis sich an diesen Tagen zum zweiten Mal jährte. Dort lässt sich der Empereur übrigens die Verluste der Stadt Jena schildern und zahlt eine Entschädigung aus dem kaiserlichen Schatz. An jenen frühen Oktobertagen erhielt auch Goethe zweimal Audienz beim Kaiser. Müller erinnert sich daran: „ Der Kaiser saß an einem großen runden Tisch frühstückend. Er winkte Goethe, näher zu kommen, und fragte, nachdem er ihn aufmerksam betrachtet hatte, nach
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seinem Alter. Als er erfuhr, dass Goethe im 60. Jahre stehe, äußerte er seine Verwunderung, ihn noch so frischen Aussehens zu finden, und ging alsbald zu der Frage nach Goethes Trauerspielen über, wobei Daru Gelegenheit nahm, sich näher über sie auszulassen und überhaupt Goethes dichterische Werke zu rühmen, namentlich auch seine Übersetzung des Mahomet von Voltaire.“ Und natürlich fragt ihn Napoleon nach dem Jugendwerk „Werther“, man spricht über dies und das immerhin eine Stunde lang. Schließlich lädt er „Monsieur Göt´“ sogar nach Paris ein, und als Goethe abgetreten war, sprach er zu den anwesenden Berthier und Daru: Voilá un homme! („Was für ein Mann!“). Zumindest der Dichter hat also damals beeindruckt, an deutschen Fürsten und Politikern tat es ihm kaum einer gleich. Von größerer Wirkung auf den Kaiser ist nicht zu berichten, Goethe hingegen wurde spätestens jetzt zum Napoleonverehrer. Noch fünf Jahre später hat er dem Franzosenfresser Ernst Moritz Arndt locker ins Gesicht gesagt: „Schüttelt nur an euren Ketten, der Mann ist euch zu groß, ihr werdet sie nicht zerbrechen.“ Kurz bevor Napoleon wieder aufbricht, verleiht er Goethe und Wieland das Kreuz der Ehrenlegion (der erste erhält vom Zaren noch den russischen Sankt-Annen-Orden). Ein kritischer Augenzeuge dazu: „Bei dieser Gelegenheit muß ich Ihnen doch die betrübte Nachricht melden, daß Goethe, seitdem ihm Napoleon das Schandkreuz der Ehrenlegion ins Knopfloch gesteckt hat, sich beträgt, wie es einem solchen Legionär ziemt.“ Und Wilhelm von Humboldt schreibt an seine Frau nicht ohne spöttischen Unterton: „Ohne das Legionskreuz geht Goethe niemals, und von dem, durch den er es hat, pflegt er immer „mein Kaiser“ zu sagen!“ Goethe selbst an seinen Verleger Cotta: „Ich will gestehen, daß mir in meinem Leben nichts Höheres und Erfreulicheres begegnen konnte als vor dem französischen Kaiser, und zwar auf eine solche Weise zu stehen. – Ohne mich auf das Detail der Unterredung einzulassen, so kann ich sagen, daß mich noch niemals ein Höherer dergestalt aufgenommen, indem er mit besonderem Zutrauen mich, wenn ich mich des
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Ausdrucks bedienen darf, gleichsam gelten ließ und nicht undeutlich ausdrückte, daß mein Wesen ihm gemäß sei …“ Diese Haltung sollte der „Dichterfürst“ sein Leben lang beibehalten. Der Napoleonhass des Freiherrn vom Stein und seiner Gesinnungsfreunde hat ihn nie erreicht. Selbst als Napoleon geschlagen war, wechselte Goethe nicht die Seiten und blieb ihm treu. Bekanntermaßen wurden damals auch ganz andere Meinungen in Deutschland laut, die sich allerdings nur mit Vorsicht gegen das ausgeklügelte Zensur- und Spitzelsystem Napoleons zu behaupten wagten. In den Ländern des verbündeten Rheinbundes durfte zeitweise nur der kaisertreue Moniteur als einzige Quelle politischer Nachrichten genutzt werden. Und in Preußen übte man sich in Anbetracht der eigenen militärischen Schwäche schlicht in Selbstzensur. Gerade dort entstanden zusehends mehr oder weniger politische Vereinigungen oder gar Geheimgesellschaften, die subversive Pläne für den Befreiungskampf schmiedeten – und damit nicht unbedingt auf die Sympathien von König und Regierung stießen. Ein gutes Beispiel bietet der „Tugendbund“, der im April 1808 in Königsberg gegründet wurde. Seine mehr als 700 Mitglieder kamen überwiegend aus Ostpreußen und Schlesien, gründeten aber Stützpunkte in allen größeren Städten Preußens, sodass der Verein schon bald in aller Munde und von Geheimnissen und Gerüchten umrankt war. Offiziell verstand man sich als „Gesellschaft zur Übung öffentlicher Tugenden“ und als „Sittlich-wissenschaftlicher Verein“. Man gelobte, sich in Vaterlandsliebe, Geradsinn, „deutscher Selbheit“ und in Achtung der Familie zu üben sowie ein „würdiges und anständiges Leben“ zu führen, den Pflichten als preußischer Staatsbürger nachzukommen, dem König und dem Haus Hohenzollern treu zu sein und sich der Kontrolle des Vereins zu unterwerfen. In diesem Sinne wendet man sich an den preußischen König: „Sind auch die Kräfte von Ew. Königl. Majestät Volk erschöpft, ist sein alter Ruhm verdunkelt, sind auch unsere Hilfsquellen versiegt und abgeleitet: uns bleibt die Tugend und der Mut als der unversiegbare Born von Macht, Ruhm und
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Glanz und von Wort und Tat, welche selbst dieser Zeit widerstehen und auf die Nachwelt kommen werden.“ Kein Wunder also, dass Friedrich Wilhelm III. den Verein billigt zur „Belebung von Sittlichkeit, Religiosität, ernstem Geschmack und Gemeingeist“ – „in den Grenzen der Landesgesetze und ohne alle Einmischung in Politik und Staatsverwaltung“. In Wahrheit hatte der „Tugendbund“ eine viel weitergehende Zielsetzung, die sich etwa in der geforderten Gymnastik für Schulkinder „besonders zur Übung kriegerischer Fertigkeiten“ ausdrückte und letztlich paramilitärischer Natur war. Der Berliner Oberbürgermeister Leopold von Gerlach warnte den König, denn der Zweck des Bundes sei letztlich ein Volksaufstand, „um dadurch Deutschland aus dem Zustande der Unterdrückung … herauszureißen“. Man rechne auf Landräte und Landadel, die Landleute mit Schießgewehr, Piken oder Sensen bewaffnen sollten. Eine solche Volksbewaffnung würde das Vaterland ins Verderben stürzen. Zudem sahen anscheinend nicht wenige den sittlichen Verein als erzkonservative Kaderschmiede an, der weder Reformer noch Juden angehörten. König und Regierung wollten zuallererst jeglichen Vorwand für ein militärisches Eingreifen Frankreichs und seiner Verbündeten im Keim ersticken. Darum wurde der „Tugendbund“ Ende des Jahres 1809 aufgelöst. Mit seinen Zielsetzungen und Mitgliedern lebte er jedoch in anderen Gesellschaften weiter, in denen sich auch der radikale Turnvater Jahn fand. Trotz des Verbots des Tugendbundes blieb die antifranzösische Stimmung in Preußen bestehen oder verstärkte sich sogar. So fasst etwa ein französischer Stabsoffizier seine Eindrücke in Berlin an Marschall Davout zusammen: Noch jetzt im März 1809 verhalte sich das preußische Militär unverändert, sei eitel, stolz und voll Verachtung für die Franzosen. Beispielsweise salutierten Schildwachen nicht vor französischen Offizieren. Hinter höflicher Fassade herrsche Abneigung, Ärger und Hass. Selbst die Berliner Kinder erwiesen den Besatzern Frechheiten. Überhaupt herrsche so etwas wie eine „kriegerische Stimmung“. In
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Berlin würden viele Rekruten ausgehoben und jeden Tag gedrillt, in der Garnison fänden des Öfteren Manöver statt. Bemerkenswert auch ein Erlass der Regierung, alles Silber abzuliefern. Der Offizier nahm also in der Tat die preußische Wiederaufrüstung wahr. Wovon er wahrscheinlich nichts wusste, waren paramilitärische Gruppen, von denen in der preußischen Hauptstadt mindestens zwei existierten: Im „Charlottenburger Verein“ fand sich auch der berühmte Theologe Friedrich Schleiermacher ein, in der „Lesenden und schießenden Gesellschaft“ lernten sich Kleist und Ernst Moritz Arndt kennen. Aus Preußen kamen also gewisse Anzeichen der Kriegsvorbereitung. Aber was sollte Napoleon sie ernst nehmen? König Friedrich Wilhelm III. und seine Regierung hielten still und schienen derzeit keine Bedrohung darzustellen. Die kam aus ganz anderen Ländern.
Spanien, Tirol und Österreich – das Empire in Gefahr? Den Anfang machte Spanien. Dort herrschten seit fast einem Jahrhundert bourbonische Könige und damit Verwandte des französischen Königshauses, das in der Revolution einen hohen Blutzoll entrichtet hatte. Insofern war es nur folgerichtig, dass sich Spanien der ersten Koalition gegen Frankreich anschloss und seine Truppen entsandte. Allein, den revolutionären Massen dort war man nicht gewachsen. Darum schloss man gemeinsam mit Preußen 1795 den Sonderfrieden von Basel. Während man jedoch in Berlin als neutrales Land Distanz zu der immer stärker werdenden Hegemonialmacht wahren konnte, gelang dies auf der Iberischen Halbinsel nicht. Schlimmer noch: Die spanischen Könige gerieten so weit in französische Abhängigkeit, dass sie sich sogar am Krieg gegen Großbritannien beteiligen mussten. Die langen spanischen Küsten konnten nicht geschützt werden, und als Napoleon mit dem Erlass der Kontinentalsperre 1806 den Wirtschaftskrieg eröffnete, verschlimmerte sich die Lage. Als es England dann gelang, im abgelege-
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nen Portugal Fuß zu fassen, was den Franzosen selbstredend ein Dorn im Auge war, intervenierte man jenseits der Pyrenäen und kaiserliche Truppen marschierten Richtung Portugal, um es schließlich gemeinsam mit den Spaniern zu besetzen. Damit erwies sich die Situation alles andere als stabil. In Madrid wuchs der Widerstand gegen den führenden und zeitweilig allmächtigen Staatsmann Manuel de Godoy, der sogar eine eigene Regentschaft anvisierte. Es kam zu Unruhen, bei denen die Aufständischen sich für eine Thronbesteigung des Kronprinzen Ferdinand aussprachen. Spanien lief Napoleon regelrecht aus dem Ruder; ein bislang willfähriger Verbündeter drohte verloren zu gehen. Darum zitierte der Kaiser die königliche Familie nach Bayonne, wo Karl IV. seiner Rechte auf die Krone entsagte und sie an Napoleon abtrat. Bald schon bestimmte dieser seinen älteren Bruder Joseph, bislang König von Neapel, zum neuen Herrscher Spaniens. Am 20. Juli 1808 zog dieser in Madrid ein. Zu diesem Zeitpunkt befand sich das ganze Land bereits in Krieg und hellem Aufruhr. Was die Spanier an Hinrichtungen, Massakern und Kriegsverbrechen erlebten, suchte damals seinesgleichen. Bereits Anfang Mai war es in der Hauptstadt zu einem regelrechten Volksaufstand mit blutigen Straßenkämpfen gekommen. Die französischen Besatzungstruppen reagierten darauf mit Brutalität und zahllosen Exekutionen. Der Widerstand fand sich in einer Junta als Gegenregierung zusammen und rief zum Guerilla-Kampf auf, zum Kleinkrieg also, den irreguläre Partisanen in vielen Teilen des Landes führten. Nicht selten schlossen sich ihnen Räuber- und Schmugglerbanden an, die ohnehin die Franzosen als Feind sahen. Solcherart Freiheitskampf führte nicht selten zu unkontrollierter Willkür und Gewalt, unter der besonders die Zivilbevölkerung zu leiden hatte. Den Menschen setzte zudem zu, dass die kriegführenden Parteien schwerlich zwischen Soldaten und Zivilisten unterschieden. Als Folge versank Spanien im Krieg, dessen Brutalität Francisco de Goya in seinen Radierungen zu den „Schrecken des Krieges“ eindringlicher als tausend Worte dargestellt hat. Die Iberische
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Halbinsel war nun nicht mehr unter Kontrolle zu bringen. Freischärler und übergelaufene königliche Truppen kämpften gegen die Franzosen und ihre Verbündeten, darunter übrigens so mancher Deutsche aus einem Rheinbundstaat. Schließlich landete sogar der Herzog von Wellington mit britischen Schiffen und griff in die Kämpfe ein. Von kuriosen Details wusste damals die deutsche Presse zu berichten, so etwa die „Großherzoglich Badische privilegierte Freyburger Zeitung“ vom 10. September 1808 mit der Nachricht, spanische Truppen seien aus Dänemark von englischen Schiffen nach Hause gebracht worden, um dort in die Auseinandersetzungen einzugreifen. Insofern wurde das festliche Treiben des Erfurter Fürstentags bereits von den Botschaften aus Spanien überschattet. Nach seinem Ende begab sich Napoleon zum Kriegsschauplatz und übernahm dort im November 1808 selbst das Oberkommando. Aber auch das nützte nichts mehr. Das große unzugängliche Land mit seinen Scharen von Guerilleros und englischen Truppen konnte nicht mehr dem französischen Einfluss unterworfen werden. Der Kaiser hat dies noch im Dezember 1813 eingestanden, indem er den Bourbonenkönig Ferdinand VII. anerkannte. Spanien diente von nun an als Vorbild für alle diejenigen, die sich gegen die imperiale Herrschaft Napoleons zu erheben gedachten. Österreich sollte den Anfang machen. Seit es in der Schlacht bei Austerlitz im Dezember 1805 vernichtend geschlagenen worden war, hörte man im Habsburgerreich immer mehr Stimmen, die zur Revanche und zum erneuten Waffengang gegen Frankreich aufriefen. Während sich Kaiser Franz I. abwartend verhielt, hegten seine Brüder, die Erzherzöge Karl und Johann, für diese Pläne Sympathie. In den ersten Monaten des Jahres 1809 sahen viele Oppositionelle in den deutschen Ländern Österreich als patriotische Führungsmacht an. Dabei sei nur an Friedrich Schlegel erinnert, der in Österreichs publizistische Dienste trat, und an den Preußen Heinrich von Kleist, der seine „Hermannschlacht“ am liebsten in Wien zur Aufführung gebracht hätte. Anfang April riefen Flugblätter überall in Deutschland zum Volksaufstand auf
Spanien, Tirol und Österreich – das Empire in Gefahr?
– ohne Erfolg; denn die Rheinbundfürsten waren mitnichten an einem Aufstand gegen Napoleon interessiert, und Preußen hielt still (was ihm viele verargten). In Wien hingegen wollte man es auf einen erneuten Waffengang mit Napoleon ankommen lassen und entschloss sich zum Krieg. Das bedeutete auch Krieg mit dessen deutschen Verbündeten, insbesondere mit dem alten Rivalen Bayern. Demzufolge marschierten österreichische Truppen am 9. April 1809 unter Erzherzog Karl in Bayern ein und bewegten sich Richtung München. Einen Tag später überschritten Verbände unter dem Kommando Erzherzog Johanns die Grenze nach Tirol, das seit 1805 wider Willen bayerisch war. Die Bayern hatten den Angreifern wenig entgegenzusetzen. Der erst kürzlich aus Spanien zurückgekehrte Napoleon erfuhr in Paris von der österreichischen Offensive – für damalige Verhältnisse sehr schnell – über das System optischer Telegraphen. Eine gute Woche nach dem Angriff traf er deshalb mit seiner Armee in Donauwörth ein. Von da geht es Schlag auf Schlag, und die Österreicher müssen Niederlage auf Niederlage hinnehmen. Wenige Tage später nimmt er Regensburg ein. Erzherzog Karl schickt einen Unterhändler: „Ich bin geschmeichelt, Sire, die Aufgabe zu haben, den größten Heerführer des Jahrhunderts zu bekämpfen; ich wäre glücklich, wenn mich das Geschick dazu erwählt hätte, meinem Vaterland die Wohltaten eines bleibenden Friedens zu sichern.“ Doch auch hier erschöpft sich der Krieg nicht in Höflichkeiten. Der uns bereits bekannte Stendhal bereist das Kampfgebiet und kommt Anfang Mai nach Ebelsberg bei Linz, wo eine Holzbrücke über die Traun führt. Am Tag zuvor hatte dort der Kampf getobt, bei dem Franzosen und Rheinbundsoldaten siegreich blieben: „Auf der Brücke finden wir Leichen und Pferdekadaver; ungefähr dreißig liegen noch auf der Brücke; ein großer Teil mußte in den unverhältnismäßig breiten Fluß geworfen werden; vierhundert Fuß unterhalb der Brücke stand mitten im Fluß unbeweglich ein Pferd; eigenartiger Eindruck. Die ganze Stadt Ebelsberg war niedergebrannt; die Straße, durch die wir kamen, war voller Leichen; es waren zum größten Teil
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Franzosen, und fast alle verbrannt. Manche waren derart verkohlt und schwarz, daß man kaum die Form des menschlichen Skeletts erkannte. An mehreren Stellen waren die Leichen übereinandergehäuft; ich betrachtete die Gesichter. Auf der Brücke lag ein tapferer toter Deutscher mit offenen Augen; deutscher Mut, deutsche Treue und Gutmütigkeit spiegelten sich in seinem Gesicht wider; es drückte nur ein wenig Melancholie aus. Die Straße wurde immer enger, und schließlich mußte unser Wagen unter dem Tor und auch schon vorher über die von den Flammen entstellten Leichen hinwegfahren.“ Die Kämpfe gehen weiter. Unaufhaltsam nähern sich zur gleichen Zeit Napoleons Truppen von Süden her Wien, während der Erzherzog sich nördlich des Flusses ostwärts bewegt. Schließlich steht der Feind vor den Toren der Hauptstadt. Napoleon will sie angeblich schonen, lässt aber gleichwohl seine Geschütze sprechen und in das Häusermeer feuern. Der Augenzeuge Graf Czernin: „Der Donner der Kanonen, das Platzen der Kugeln, das Fallen des Fensterglases und der vielen Dachziegel erzeugte ein Getöse, das nicht nur auf die Nerven der Frauen und Kinder erschütternd einwirken musste … Nach kurzer Zeit stand eines unserer Nachbarhäuser, das Haus unseres Vetters Grafen Johann Palffy, in Flammen. Die Feinde richteten nach der Stelle, an welcher Feuer ausgebrochen war, besonders ihr Wurfgeschütz, daher kam es, dass unsere friedliche Wallnerstraße besonders viel zu leiden hatte. Über dreißig Granaten trafen unser Haus, acht schlugen durch das Dach. Wir sahen beständig die feurigen Kugeln durch den nächtlichen Himmel fliegen … Der kriegerische Geist der guten Wiener war am 12. Mai so ziemlich erloschen. In den mit Trümmern von Ziegeln, Fensterscheiben und Granaten angefüllten Gassen ertönte kein Waffenlärm mehr.“ Hof und Militärs haben derweil die Flucht ergriffen. Am nächsten Tag zieht der Kaiser aus Paris in Wien ein und residiert standesgemäß in Schloss Schönbrunn. Österreich wird den Krieg nach wenigen Monaten verloren geben müssen. Aber noch dauern die Kämpfe an, und die Wiener schauen aus ihren Dachluken zu! Knapp zehn Tage nach seinem Ein-
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marsch lässt Napoleon nahe der Stadt seine Truppen über die Donau setzen, um Erzherzog Karls Männer anzugreifen. Während dieser umfangreichen Aktion lässt der Österreicher die Franzosen attackieren. Es kommt zu heftigen Kämpfen und großen Verlusten auf beiden Seiten. Von manchen Militärstrategen wird Karl Zögerlichkeit vorgeworfen – oder zu viel Respekt vor dem vermeintlich unbesiegbaren Franzosen. Wie auch immer: Aus der Schlacht bei Aspern geht der Erzherzog siegreich hervor, was einer Sensation gleichkommt! Doch schon bei den folgenden Kämpfen wendet sich das Blatt wieder für Napoleon: In den nächsten Treffen bleibt er siegreich und im Juli 1809 muss Österreich nach einer endgültigen Niederlage bei Wagram um Waffenstillstand bitten. Graf Czernin berichtet erneut aus dem Kampfgebiet: „Bei Klosterneuburg fingen die armen Leute an, sich von gebrühtem Gras und Wurzeln zu ernähren … Auf dem Marchfelde waren fast alle Ortschaften verbrannt, so auch auf der Rückzugslinie der Österreicher. Stammersdorf blieb noch verschont; jetzt ist es aber auch während des Waffenstillstands angezündet und geplündert worden.“ In Schönbrunn wird der Frieden ausgehandelt, auf österreichischer Seite erstmals vom neuen Außenminister Fürst Metternich, bislang Botschafter in Paris und zukünftig Österreichs führender Staatsmann. Hier kann er allerdings nicht verhindern, dass das Reich der Habsburger nach allen Himmelsrichtungen Gebiete abtreten muss und gehörig geschwächt wird. Metternich plädiert trotzdem für eine erneute Annäherung an Frankreich und leitet letztlich die Eheschließung Napoleons mit der Kaisertochter Marie Louise in die Wege. Somit sind beide Reiche dynastisch verbunden, und Franz I. wird sich als Schwiegervater Napoleons an den Frieden halten. Mehr noch als der regulär geführte Krieg in Bayern und im Herzen Österreichs sorgte ein weiterer Kriegsherd für Aufsehen. Als nämlich im April 1809 Österreich den Krieg begann, folgte ihm ein einziges Land und griff zu den Waffen, und das war Tirol. Das bäuerlich-traditionell und tief katholisch geprägte Alpenland verstand sich seit Jahr-
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hunderten als eigenständiger Teil des Habsburgerreiches. Umso schmerzlicher wurde nach der österreichischen Niederlage von 1805 die von Napoleon verfügte Übergabe an Bayern im folgenden Frühjahr empfunden. König Maximilian I. hatte zwar für seine neuen Untertanen Sympathien, garantierte ihnen eine eigene Landesverfassung und damit eine Sonderstellung. Das aber störte den Grafen Montgelas, der als führender bayerischer Politiker bereits Erwähnung fand. Montgelas wollte den modernen Einheitsstaat und setzte ihn auch durch. Damit verloren die Tiroler ihre alten Sonderrechte, wobei die Aufhebung der traditionellen Wehrverfassung als besonders bitter empfunden wurde. Ihr zufolge durften die Bauern nämlich bewaffnet sein und nicht zum Heerdienst außerhalb Tirols einberufen werden. Ihr neuer Heimatstaat machte sich zudem unbeliebt, indem er säkulare Tendenzen in die Tat umsetzte. So schaffte er die weihnachtliche Christmette ab und verbot Wallfahrten und Prozessionen. Mit der neuen Verfassung Bayerns vom 1. Mai 1808 hörte sogar das Land Tirol als eigenständige Einheit auf zu bestehen und wurde in gesichtslose Verwaltungsteile zerschlagen. So deutlich hat sich selten die Macht des modernen Verfassungsstaates gegen eine traditionelle Bevölkerung gezeigt. Die Tiroler hatten jedenfalls genug und schlossen sich dem österreichischen Angriff mit Begeisterung an. Überall brachen lokale Bauernaufstände los, die gegen die bayerischen Truppen sogar Siege erringen konnten. Das war nicht selbstverständlich, denn den Bauernheeren fehlte eine zentrale und durchorganisierte Führung. Der Wirt und Viehhändler Andreas Hofer aus dem Passeiertal erfüllte sie noch am ehesten, denn ihm gelang es, die verbündeten Bayern und Franzosen mehrmals am Bergisel bei Innsbruck zu schlagen. Nach dem Frieden von Schönbrunn im Oktober 1809 jedoch standen die Tiroler Bauern endgültig allein. Am 1. November erlebten sie in einem letzten Treffen am Bergisel ein militärisches Fiasko und mussten ihr Heil in der Flucht suchen. Und obwohl der bayerische Kronprinz Ludwig ihnen durchaus wohlgesonnen war, führten vor allem die französischen Truppen zahlreiche Exekutionen
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durch. Ihnen fiel auch Andreas Hofer zum Opfer, der trotz zahlreicher – sogar französischer – Gnadengesuche auf ausdrücklichen Befehl Napoleons am 20. Februar 1810 in Mantua erschossen wurde. Der legendäre Tiroler Volksaufstand war zu diesem Zeitpunkt bereits blutig niedergeschlagen worden.
Deutschlands romantische Freiheitshelden Nun war es nicht so, dass das Aufbegehren Österreichs und der Tiroler im übrigen Deutschland keine Würdigung erfuhr. Insbesondere im preußischen Einflussgebiet kursierten geheime Nachrichten, trafen sich Politiker und Offiziere und erwogen die Möglichkeiten eines militärischen Eingriffs. Daraus entwickelte sich allerdings kein Krieg, zumal König Friedrich Wilhelm III. einem solchen völlig ablehnend gegenüberstand. So kam es im Jahr 1809 zu einigen Aufständen, die allesamt von adligen Offizieren initiiert wurden und unter der breiten Bevölkerung kaum Resonanz fanden. Den Anfang machte wenige Tage nach dem österreichischen Einmarsch in Bayern der aus altem hessischen Adelsgeschlecht stammende Freiherr Wilhelm von Dörnberg (1768–1850). Damals hatte er schon eine lange und wechselvolle militärische Karriere hinter sich: Zuerst im Heer des Landgrafen von Hessen-Kassel; dann in preußischen Diensten bis zur Niederlage von 1806, nach der er unter Blüchers Befehl in Richtung Dänemark flüchtete. Dabei kam es bekanntlich zu den furchtbaren Geschehnissen in Lübeck, danach geriet er in französische Gefangenschaft. Den Freiherrn zog es in seine nordhessische Heimat zurück, wo er – das ist bemerkenswert – dem neuen westphälischen König Jérôme diente, und das immerhin als Kommandeur der Garde-Jäger und persönlicher Adjutant des Königs. Doch dies war anscheinend alles Mimikry, Verstellung also im Dienste des Widerstands. Jedenfalls erreichten Nachrichten und Botschaften Berlin, wo der Offizierskamerad Ferdi-
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nand von Schill von den anstehenden Ereignissen im nördlichen Hessen erfuhr. Dörnberg wollte losschlagen und den Kasseler Monarchen aus der Bonaparte-Sippe stürzen. Dieses Signal sollte bestenfalls nach Preußen übergreifen und die Soldaten des Königs den Österreichern zur Seite stellen. Der Aufstand sollte wohl am 22. April losbrechen, jedoch fand sich bereits einen Tag früher in dem Städtchen Homberg eine Menge Volk zusammen. Dörnberg bricht vom Kasseler Hof auf, immerhin machen schon Gerüchte über seine bevorstehende Arretierung die Runde. Homberg war „in vollem Aufruhr – eine Menge Bauern waren dort, aber ohne alle Ordnung“. Allein einige Förster und Jäger sollen ordentlich bewaffnet gewesen sein. Der Freiherr konnte diese bunt zusammengewürfelte Schar nicht durch nennenswerte Truppenkontingente verstärken, seine Befreiungsarmee bestand aus ein paar schlecht bewaffneten Bauern. Gleichwohl ging es los Richtung Kassel. Aber schon bald stieß man auf die Truppen Jérômes, die sich ihrem König gegenüber als loyal erwiesen. Das mussten die Rebellen Dörnbergs nach kurzem Marsch feststellen: „In den Dörfern, durch die wir kamen, wurden die Sturmglocken gezogen und alle wehrfähigen Männer mitgenommen. Als wir gegen die Höhe von Kirchbaune kamen, wo es gerade anfing zu tagen, sahen wir auf der Höhe Truppen aufmarschiert“, als da waren Kürassiere, polnische Lanciers und eine Batterie Artillerie, die zu feuern begann. Dörnberg selbst musste die mangelnde Feuerkraft seiner Schar zur Kenntnis nehmen, er glaubte gar, sie schössen blindlings in die Luft. „Aber nun kamen sehr wohlgerichtete Kartätschenschüsse, von denen gleich mehrere Leute fielen und die andern auseinandersprengten. Als nun die Kavallerie auch eine Bewegung vorwärts machte, floh alles zurück. An der gegenüberliegenden Höhe in dem Wäldchen machten wir noch einen kurzen Stand, aber da sich die meisten schon verlaufen, konnte es zu nichts helfen … Die Bauern, die noch bei uns waren, ermahnten wir, für jetzt nach Hause zu gehen und sich bis zu einer bessern Gelegenheit ruhig zu verhalten.“ Das war´s! Die groß geplante Revolte wurde nach wenigen Tagen ohne viel Mühe
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von den regulären Truppen niedergeschlagen, und die nordhessische Bevölkerung verhielt sich nach allen Berichten passiv und teilnahmslos. Die Schwerpunkte der kurzzeitigen Unruhen – Felsberg, Homberg, Treysa, Wolfhagen, Ziegenhain und Zierenberg – verdeutlichen die regionale Beschränkung. König Jérôme lässt verhältnismäßige Milde walten, aber immerhin werden sechs Männer als mutmaßliche Rädelsführer erschossen. Die meisten werden zu Freiheitsstrafen verurteilt, die man ihnen sogar recht bald erlässt. In Berlin haben die Eingeweihten den hessischen „Sturm im Wasserglas“ völlig falsch eingeschätzt. Eine Woche nach seinem Ausbruch berichtet Oberpräsident Sack an Innenminister Graf zu Dohna-Schlobitten – übrigens der Nachfolger des erneut geschassten Freiherrn vom Stein – von Dörnbergs Aktion, „der ruhig die Sache bis dahin eingeleitet hat.“ In Süddeutschland gäre es allenthalben, das verhasste Joch abzuschütteln, man erwarte mit Ungeduld die kaiserlichen, also österreichischen Truppen. Und Wilhelm von Dörnberg? Der entkam dem Standgericht, das ihm unweigerlich gedroht hätte und floh über die Grenze. Wenige Jahre später trat er vielerorts als Offizier im Kampf gegen Napoleon auf, im Dienst Englands wurde er in der Schlacht von Waterloo verwundet. Als er 1809 von Hessen nach Böhmen kam, schloss er sich dort einer anderen Widerstandstruppe an, die allerdings erheblich besser ausgerüstet und aufgestellt war als seine Bauernrebellen. Die nach ihrer Uniformfarbe „Schwarze Schar“ genannte Truppe umfasste an die 2000 Mann zu Pferde und zu Fuß. Befehligt wurde sie von Herzog Friedrich Wilhelm von Braunschweig-Oels (1771–1815), der seinerzeit als der „Schwarze Herzog“ für Furore sorgte. Er war der Sohn des Herzogs von Braunschweig, jenes Oberbefehlshabers gegen das revolutionäre Frankreich, dessen Manifest in die Geschichte eingegangen und der schließlich seinen Verletzungen von der Schlacht bei Jena und Auerstedt er legen ist. Auch der junge Herzog hatte unter den Preußen gedient und es bis zum Generalmajor gebracht. Dann kam die Niederlage gegen Napoleon, nach der auch er mit Blücher nach Norden vor den sieg
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reichen Franzosen auswich. In den blutigen Auseinandersetzungen um Lübeck unterstellte ihm der Vorgesetzte Fehlverhalten, worauf der Braunschweiger den Dienst quittierte und sich nach Schlesien zurückzog. Im nahen Böhmen stellt er mit Duldung der österreichischen Regierung besagtes Freikorps auf, gemeinsam mit österreichischen Truppen überschreitet er die Grenze nach Sachsen, das als Mitglied des Rheinbunds mit Frankreich verbündet ist. Im Juni 1809 werden sogar Dresden und Leipzig eingenommen und erfolgreich gegen die sächsische Armee verteidigt. Hier wie andernorts unterlässt es der „Schwarze Herzog“ nicht, für sein patriotisches Anliegen zu werben. Man kämpfe schließlich „für Deutschlands Freiheit und Selbständigkeit“. Obwohl er damit durchaus auf Sympathien stößt, strömen ihm die Menschen nicht in Scharen zu, sie bleiben ihrem Landessouverän und seinen Bündnissen treu. Die „Schwarzen“ blieben insofern auf sich gestellt, aber immerhin erringen sie bei Bayreuth einen Sieg über die Soldaten des Königreichs Westphalen. Regelrechten Heldenstatus gewann der Herzog von Braunschweig-Oels allerdings erst zu dem Zeitpunkt, als er nach dem Waffenstillstand vom 12. Juli 1809 die Unterstützung der Österreicher verlor. Nun war er mit seiner kleinen Schar von Feinden umgeben. Um der Gefangennahme und Schlimmerem zu entgehen, schlug er sich bis zur Nordseeküste durch: von Leipzig über Halle und Halberstadt, das die „Schwarzen“ stürmen und gleich auch noch ein westphälisches Infanterie-Regiment vernichten. Schließlich gelangen sie zur Wesermündung, wo sie unter Kämpfen von britischen Schiffen aufgenommen werden. Von England aus führt der Herzog den Kampf weiter, bis er auf den belgischen Schlachtfeldern gegen den zurückgekehrten Napoleon den Tod findet. Insofern hatte Oberpräsident Sack die richtige Einschätzung, wenn er in einem Schreiben an den preußischen Innenminister Ende Juli 1809 meint: „Man prophezeit ihm ein übles Geschick; auch ist dieser durch keine Talente weiter ausgezeichnete Prinz eben nicht sehr beliebt beim Publikum, vielmehr hält dieses sein Unter-
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nehmen für sehr töricht.“ Aber zum Abenteurer der Freiheitskriege hat er es doch gebracht. Ebenso und noch viel mehr Ferdinand von Schill (1776–1809), der es, aus einer österreichischen Familie stammend, in preußischen Diensten bis zum Leutnant gebracht hatte – angeblich als dienstältester Leutnant der Königlich Preußischen Armee, was weniger auf mangelnden Mut denn auf schlechte Zeugnisse und fehlende Subordination zurückzuführen war. Bei Auerstedt schlug er sich tapfer und wurde verwundet, aber trotzdem gelang es ihm, der Gefangennahme zu entgehen. Wie andere versprengte Offiziere und Soldaten wich er in den Norden aus, allerdings nicht mit Blücher nach Lübeck, sondern in die hinterpommersche Festung Kolberg. Dort half er Gneisenau und Nettelbeck bei der lange erfolgreichen Verteidigung. Mit der Erlaubnis des Königs stellte er ein bis zu 1500 Mann umfassendes Freikorps zusammen, mit dem er kurzzeitig umherstreifte und die französischen Truppen beunruhigte. Spätestens mit dem Tilsiter Frieden vom Juli 1807 war damit Schluss. Aber Friedrich Wilhelm III. belohnte seinen mittlerweile populären Offizier mit der Beförderung zum Major, der sein eigenes Leibhusarenregiment befehligte und der schließlich im Dezember 1808 nach dem Abzug der französischen Truppen triumphal in Berlin einzog. Aber Dienst in der Hauptstadt war dem Offizier auf Dauer zu wenig, zumal ihm großes Selbstbewusstsein bescheinigt wird: „Das Volk betrachtete ihn als den größten Helden, als einen künftigen Befreier des Vaterlandes; jedermann streute ihm Weihrauch, und vorzüglich waren die Weiber ganz toll nach ihm. Kein Wunder, daß seine schwache Urteilskraft dem unterlag.“ Schill pflegte mit vielen Männern der Opposition Kontakt: vom Kreis um Stein bis hin zum Tugendbund. Dabei scheint er in zahlreiche Beratungen, Pläne und Absichten eingebunden gewesen zu sein. Und deren Ziel hieß bekanntlich Erhebung gegen Frankreich, in Preußen und in ganz Deutschland. Dann kam der April 1809 und mit ihm die österreichische Kriegseröffnung. Im Laufe der nächsten Wochen machen Gerüchte die Runde,
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angebliche Siege der alten österreichischen Rivalen lösen Jubel in Berlin aus. Unter den Linden kommt es vor der österreichischen und französischen Gesandtschaft zu Menschenaufläufen. Und dann kommt Schill oder richtiger: er verschwindet. Ein preußischer Offizier samt Reiterregiment löst sich gleichsam in Luft auf. Typisch Schill, mochten sich die Berliner sagen – Abenteurer, Hasardeur, Held. Der Historiker Georg Niebuhr zweifelt: „Ist Schill ein Abenteurer oder ein großer Mann? … Das ist das erste Neue und Unerhörte, was seit vielen Jahren geschah.“ Es entsprach jedenfalls nicht der viel gerühmten preußischen Disziplin, dass sich ein Offizier ohne Befehl in den Kampf begibt. Dass man zuerst verwirrt war, davon zeugt eine Meldung des Oberpräsidenten Sack an Innenminister Graf zu Dohna-Schlobitten vom 29. April 1809: Wie schon mehrmals zuvor habe der Major von Schill vor den Toren Berlins mit seinem Korps zu Manöverzwecken biwakiert. Gestern sei er jedoch mit seinen Husaren schlichtweg verschwunden, und niemand wisse wohin. Aus Teltow im Süden der Hauptstadt habe man eine letzte Nachricht. „Was dies alles bedeutet, das weiß ich noch nicht …“ Besser informiert schien Berlins erst kürzlich ernannter Polizeipräsident Karl Justus Gruner, der am selben Tag dem Innenminister von höchster Spannung in der Stadt berichtet, von Gerüchten und einer gestörten öffentlichen Ruhe. Auch auf französischer Seite war man beunruhigt und suchte die verschwundenen Husaren. Fähren und Boote auf der Elbe sollen für ein mögliches Übersetzen unbrauchbar gemacht werden. Schließlich ist klar: Ferdinand von Schill hat sich mit seinen Husaren auf einen Kriegszug begeben – ohne Befehl oder nur mit Billigung des Königs (aber womöglich mit der Sympathie der Königin Luise). Nun zieht er einen Monat lang in Ostdeutschland umher und schlägt den Feind, wo er ihn treffen kann. Zuerst zieht es ihn zur Elbe, bei der er sich nicht ohne Erfolg mit den Truppen des Königs von Westphalen schlägt. Wittenberg und Magdeburg, Dessau, Bernburg, Dodendorf waren die nächsten Stationen, an denen er sich teils verlustreiche Kämpfe mit Franzosen und anderen Gegnern liefert. Schließlich zieht
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es den Trupp zur Ostsee nach Wismar und Stralsund. Wo immer Schill auftaucht, lässt er Aufrufe „An die Deutschen“ verteilen, schließlich versteht er sich als patriotischer Vorkämpfer. Doch während sich in Berlin sein Publikum begeistert zeigt, ist die Situation bei dem Kriegszug anders, die Resonanz verhalten. Wie der Major selbst erkennt: „Tausende, glaubte ich, würden mir folgen; die Ausbeute dieses Tages sind 20 elende Vagabunden. Ich hoffe, Sie alle vertrauen mir, da ich meine geheime Instruktion nicht vorzeigen darf; daß ich aber dergleichen empfangen habe, versichre ich mit meinem Ehrenwort und so wahr ein Gott über uns ist.“ Aber König und Patrioten distanzieren sich zusehends, Napoleon erklärt ihn und seine Leute zu Straßenräubern, selbst deutsche Beobachter beklagen die mangelnde Disziplin unter seinen Männern („Räuberhorden und Banden“). Und neue Männer zu rekrutieren wird immer schwerer: „Wir wurden zwar teilweise mit Freuden empfangen, man scheute sich aber, diese Gefühle laut werden zu lassen. Obgleich wir uns als Befreier ankündigten, Proklamationen austeilten und die Zuschauer ermahnten, tätig teilzunehmen, gelang es uns doch nicht, diese trägen deutschen Gemüter zu entflammen; denn die meisten äußerten gerade heraus, sie wollten erst sehen, wie es ablaufen würde. Ja, als der Major beim Durchmarsch durch ein großes Dorf die versammelte Gemeinde selbst anredete , ihnen mit lebhaften Farben die großen Bilder der Spanier, der Tiroler malte und sie zur Nachfolge aufrief, gab ein Bauer zur Antwort: „Sie haben recht, es muß anders werden; lassen Sie uns nur noch abwarten, bis die Ernte vorbei ist!“ Schließlich nähert man sich der von einer kleinen französischen Besatzung gehaltenen, ehemals schwedischen Festungsstadt Stralsund, die Schill einnehmen und zum Stützpunkt seines Kampfes ausbauen will. Am 25. Mai stürmt der Major um 10 Uhr morgens mit etwa 40 Mann in die Stadt. Auf dem Neumarkt wurde ein französischer Kapitän der Artillerie mit mehreren Männern gefangen genommen. Laut Augenzeugen hat man ihm das Kreuz der Ehrenlegion abgerissen und mit Füßen getreten. Ihm selbst habe man Schläge mit der flachen Klinge versetzt.
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Er habe sein Ehrenwort gegeben, die Übergabe seiner Kaserne in die Wege zu leiten. Die französischen Artilleristen verschanzten sich jedoch dort und feuerten auf die anrückende Truppe Schills. Einer seiner Männer soll dabei ums Leben gekommen sein. Durch Kartätschenfeuer wurden weitere Männer getötet und verwundet. Es kam zu erbitterten Schusswechseln, allein die Kaserne mit vielleicht 170 Mann ließ sich nur schwer stürmen. Dabei kämpfte Mann gegen Mann, sogar bis in einzelne Zimmer hinein. Kleine Trupps Schills durchstreiften anschließend die Straßen auf der Suche nach französischen Zivilbeamten; dabei wurde ein Intendant in seiner Kutsche entdeckt und dessen Sekretär mit Bajonettstichen getötet. Nur auf Fürsprache einiger Bürger und Offiziere wurde er verschont. „Franzosenfreunde“ waren nun in großer Angst. Nach der Erstürmung der Kaserne wurde eine Großzahl der Verteidiger niedergemacht. Diese hatten angeblich Kanonenkugelsplitter und andere Eisenstücke verschossen und damit unter den preußischen Angreifern verheerende Wirkung erzielt. Schills Offiziere und Stralsunder Bürger sollen immerhin 30 Gefangene gerettet und auf ein Schiff im Hafen gebracht haben. Hier wie andernorts beklagten Augenzeugen die Gewalttaten „vieler mordlustiger Vagabunden“, denen Schill kaum Einhalten gebieten konnte. Dabei wird den meisten seiner Offiziere durchaus vorbildliches Verhalten bescheinigt, doch das Urteil über die Masse des Schillschen Korps fällt anders aus: „ … die uniformierten Husaren, Ulanen, Jäger und die Infanterie, ihrem Anführer gänzlich ergeben, waren vom besten Geiste und von einem Mut beseelt, den nichts erschüttern konnte und der sie den besten Truppen dieser Waffen gleichstellte … Aber der Rest des Korps war unter aller Kritik schlecht. Es mögen brave, patriotische Untertanen unter ihnen gewesen sein, aber es fehlte an Übung, Disziplin, Kleidung, Bewaffnung, Geld – kurz an allem, was den Soldaten schafft. Aus allen Nationen Europas ohne Auswahl – selbst aus Strafanstalten – zusammengerafft, kannte die Mehrzahl wohl kein anderes Ziel als das des Beutemachens und Plünderns; was diesem fern
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lag, hatte für sie kein Interesse. Laut schreiend durchschwärmten sie abends, wenn es dunkel wurde, gleich scheuen Nachtvögeln, truppweise die Straßen und begingen oft grobe Exzesse. Fast täglich mußte man besorgt sein, daß es zu einer Revolte unter ihnen kommen werde. Sie beabsichtigten auch wohl eine solche, aber die Scheu vor den regulären Truppen hielt sie einigermaßen im Zaum.“ Schills Ende kam indes schnell: niederländische und dänische Regimenter im Auftrag Napoleons waren ihm auf den Fersen, und am letzten Maitag 1809 griffen sie Stralsund an. An Verteidigung war kaum zu denken, denn die kriegsmüden Einwohner dachten nicht daran, sich mit Schills Soldaten zu verbrüdern, zumal sich ihre Zuneigung zu Preußen ohnehin in Grenzen hielt. Auch die Bauern des Umlands hatten eher widerwillig an den Befestigungswerken gearbeitet. 6000 Holländer und Dänen sind Schill und seinen Männern nun bei Weitem überlegen, sie stürmen die Stadt ungehindert. Es kommt zu erbitterten Straßenkämpfen, bei denen Ferdinand von Schill am Ende fällt. Die Flucht auf einem englischen Schiff hatte er abgelehnt und blieb damit seinem Image als furchtloser Haudegen treu. Bei der Behandlung der Über lebenden mischte sich wiederum der Kaiser persönlich ein. Er befiehlt, sie als Straßenräuber vor Gericht zu stellen. 11 Offiziere werden in Wesel, 16 Unteroffiziere und Soldaten in Braunschweig erschossen; 500 Männer landen als Zwangsarbeiter auf französischen Galeeren. Einen Monat lang hat Schill Preußen, Deutschland und selbst Napoleon in Atem gehalten. Das war sein unrühmliches Ende – vorerst. Bald schon würde Preußen Helden und Märtyrer brauchen, und der Reformer Gneisenau war bereit, Schill, den unbotmäßigen Major zu einem solchen zu machen.
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Stein, Arndt & Co. – Verschworene und Verschwörer Im Kriege entscheiden nicht nur blanke Waffen über Sieg oder Niederlage, sondern auch die Medien! Feder und Druckerpresse, um genau zu sein. Dies hatte sich überdeutlich schon während der französischen Revolution gezeigt, und Napoleon hatte seine Lehren daraus gezogen. Wo immer er konnte, förderte er die politische Propaganda und erstritt mit Zensur und polizeistaatlichen Mitteln die Deutungshoheit der öffentlichen Meinung. Deshalb musste 1806 der unglückliche Buchhändler Palm sein Leben lassen. Aber es gab noch andere mutige Zeitgenossen, und nicht wenige schrieben furchtlos gegen die französische Vorherrschaft an. Eine Schlüsselrolle sollte dabei ausgerechnet dem Reichsfreiherrn vom Stein zufallen. Bekanntlich hatte ihn Friedrich Wilhelm III. im Januar 1807 in Ungnaden entlassen, im September des Jahres wurde er auf Empfehlung Napoleons wieder berufen. Es folgten die bedeutenden Monate seiner Reformpolitik. Da fängt die französische Polizei am 17. August 1808 einen preußischen Kurier ab, bei dem sie einen Brief des Ministers vom Stein an den Fürsten von Sayn-Wittgenstein in Hamburg findet. Der Inhalt ist höchst brisant, trägt sich doch der führende preußische Politiker darin mit dem Gedanken eines Aufstands gegen den Kaiser: „Die Erbitterung nimmt in Deutschland täglich zu, und es ist ratsam, sie zu nähren und auf die Menschen zu wirken … Die spanischen Angelegenheiten machen einen sehr lebhaften Eindruck und beweisen handgreiflich, was wir längst hätten vermuten sollen. Es wird sehr nützlich sein, sie möglichst auf eine vorsichtige Art zu verbreiten. Man sieht hier den Krieg mit Österreich als unausbleiblich an. Dieser Kampf würde über das Schicksal von Europa entscheiden und also auch über unsers.“ Als Napoleon von diesem Politikum ohnegleichen erfährt, greift er die Gelegenheit beim Schopf, um die ohnehin daniederliegende preußische Führung zu desavouieren. Er verfügt die Über setzung und Veröffentlichung des Schreibens im Moniteur und am
Stein, Arndt & Co.
18. September veröffentlicht der Berliner „Telegraph“ die leichtfertigen Zeilen. In Preußens Hauptstadt herrscht Bestürzung. Agnes von Gerlach schreibt ihrer Schwester: „Solch einen unsinnigen und zugleich schlechten Brief hat man lange nicht gesehen. Der König hat noch kein Stück Land inne, und sein Minister schreibt von Aufwiegelungen im Königreich Westphalen, die man befördern soll … Alle vernünftigen Leute sind außer sich über den Herrn vom Stein.“ Verständlicherweise sehen das Vertreter radikaler Ansichten ganz anders; die Tugendbündler in Königsberg feiern den Minister. Aber die meisten Menschen in Preußen fürchten eine Eskalation und weiteren Krieg, den das ohnehin arg verkleinerte Königreich nur verlieren konnte. Die Stimmung ist gleichwohl napoleonfeindlich. Der französische Gouverneur Marschall Davout berichtet dem Kaiser Ende Oktober 1808 aus Berlin, es bestehe „ … kein Zweifel daran, daß bei den Ratgebern der Souveräne dieses Landes noch derselbe blinde Haß gegen Frankreich vorherrscht.“ Dem König wirft er vor, er bestimme ausgewiesene Gegner Napoleons in Schlüsselpositionen. Überall tauchten Flugblätter auf; man müsse davon ausgehen, dass genau instruierte Agenten am Werk seien. Als einige Wochen später die letzten französischen Truppen Berlin verlassen, folgen ihnen die Preußen in „triumphalen Einzug“ … „an ihrer Spitze dieser Schill“ (Davout). Viele zwischen Elbe und Memel empfanden es damals als glückliche Fügung, dass Napoleons Kräfte in Spanien gebunden waren, dass sich der Kaiser zeitweise sogar selbst dort aufhält. Das hindert den jedoch nicht daran, gegen den Freiherrn vom Stein persönlich und drastisch vorzugehen. Er verfügt am 16. Dezember aus dem kaiserlichen Lager in Madrid die Ächtung des mittlerweile wieder entlassenen Ministers: „Der pp. Stein, welcher Unruhen in Deutschland zu erregen sucht, ist zum Feinde Frankreichs und des Rheinbundes erklärt.“ Von Steins Güter werden beschlagnahmt. Damit sind Leib und Leben in Gefahr. Als die kaiserliche Verfügung im Januar 1809 in deutschen Zeitungen publiziert wird, hat Stein Berlin bereits verlassen – nicht zuletzt von franzö-
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sischer Seite wurde er vorgewarnt. Was für den gediegenen Bürokraten folgt ist ein unstetes Flüchtlingsleben. Zuerst reist er ins schlesische Riesengebirge, wo ihm in Buchwald ein befreundeter Graf falsche Papiere besorgt. Damit überquert er die Grenze ins vorerst sichere Österreich. Es folgen längere Aufenthalte in Brünn und Prag, wo seine Familie zu ihm stößt. Hier in Böhmen sollte der Flüchtling nun drei Jahre leben, bis es ihn im Frühjahr 1812 nach St. Petersburg zieht. Dorthin hat ihn Zar Alexander eingeladen, der mittlerweile zum Hauptfeind Napoleons geworden ist und dabei ist, eine Opposition um sich zu scharen. Der Freiherr sollte als sein wichtigster Berater in deutschen Angelegenheiten tätig werden und sich außerdem um subversive Propaganda unter den deutschen Verbündeten Frankreichs kümmern. Diese Aufgabe war ihm nicht fremd, hatte er sie doch bereits Jahre zuvor als eine Herzensangelegenheit betrachtet. Auch von Stein war sich der Macht der Medien bewusst. Bereits im August 1808 hatte er gegenüber Friedrich Wilhelm III. herbe Kritik an deutschen Literaten geübt; man müsse „denen elenden verderblichen Schriftstellern entgegenwirken, die den gegenwärtigen Zustand der Dinge als wohltätig darstellen oder die einen hohen Standpunkt der Unparteilichkeit ergriffen zu haben heucheln und über das Unglück des Zeitalters mit derselben Gleichgültigkeit wie über die Schicksale eines entfernten Menschengeschlechts vernünfteln.“ In der Tat interessierte sich das Lesepublikum damals mehr für Reiseliteratur, die ins Traumland Italien führte, als für politische Themen. Und legten die Romane von Jean Paul oder Ludwig Tieck nicht auch einen Rückzug aus der Gegenwart und ihren aktuellen Nöten nahe? Gerade im böhmischen Exil machte sich Stein Gedanken darüber, wie dem abzuhelfen sei, wusste er doch um den großen Einfluss der Gelehrten und Dichter auf die deutschen Landsleute. Deren „Leselust“ müsse mit der entsprechenden Literatur befriedigt werden, gegen vorherrschenden „Sklavensinn“, für „hohen Patriotismus“ und den „staatsbürgerlichen und kriegerischen Geist der Nation“. An die Stelle der Schreiberlinge sollten
Stein, Arndt & Co.
Autoren treten, die ein Pflichtgefühl beförderten, „für den Staat das Leben hinzugeben“. Des Freiherrn Maxime „Ich habe nur ein Vaterland, das heißt Deutschland“ sollte den Deutschen im Rahmen einer regelrechten Nationalerziehung vermittelt werden, über die Sprache könne man das Volk einigen. Deshalb sammelte er einen Kreis von Gleichgesinnten um sich, gegen das napoleonische „Joch“. Einer der prominentesten Vertreter darunter war Ernst Moritz Arndt. Publizistik und Verschwörung gingen dabei Hand in Hand. Stein und andere preußische Reformer pflegten geheime Kontakte zu Großbritannien, das mögliche Aufstände gern unterstützen wollte und zudem Geld fließen ließ. Die Gedankenspiele schreckten vor Verschwörungsplänen selbst gegen den König nicht zurück. Friedrich Wilhelm III. war letztlich ein braver Mann, der Napoleon zwar nicht schätzte, sich aber nach dem Frieden von Tilsit 1807 loyal an die Vereinbarungen hielt. Ein militärisches Aufbegehren kam für ihn also zu diesem Zeitpunkt nicht in Frage. Und während der britische Botschafter in Berlin bei Minister Stein häufig ein- und ausging, verfügte der König dessen Abreise. Sollte man zum Wohle Preußens gegen den König handeln? War Heinrich von Kleists berühmter „Prinz von Homburg“ mit seinem Ungehorsam gegen den Großen Kurfürsten als Beispiel vorbildlichen patriotischen Handelns gedacht? In Norddeutschland jedenfalls gab es eine rührige Untergrundbewegung, die weit in militärische Kreise hineinreichte. Überall flossen englische Unterstützungsgelder, selbst der chronisch verschuldete Johann Gottlieb Fichte soll 700 Taler erhalten haben. Und Major Ludwig von Kleist, Sohn des Magdeburger Festungskommandanten, beantragte im April 1809 ohne Wissen des Königs britisches Geld und Munition. Zahlreiche, wenn auch nicht alle Kontakte liefen beim Freiherrn vom Stein zusammen. Der initiierte und förderte nicht wenige jener Schriften, die wir bereits kennen gelernt haben und die zur Nationwerdung Deutschlands im Zeitalter Napoleons beitragen sollten.
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Es wäre nun allerdings ein Trugschluss anzunehmen, das nationale Aufbegehren gegen die napoleonische Herrschaft sei zu diesem Zeitpunkt in Deutschland politisch dominant und alleinige Mehrheitsmeinung gewesen. Denn es gab eben auch Zustimmung, wenn nicht sogar eine regelrechte Napoleon-Verehrung. Jene Schriftsteller, gegen die Stein vehement wetterte, waren ihre Vertreter. 1807 nennt etwa ein Beitrag der Zeitschrift „Minerva“ den Kaiser einen „außerordentlichen Mann voll felsenfester Konsequenz und kühnen umfassenden Geistes.“ Ein Ernst Posselt feiert Napoleons Sieg über Preußen als Beweis der Macht des Genies. Ebenso der Philosoph Schelling: „Die Revolution hat jetzt erst in Deutschland angefangen; ich meine nämlich, daß erst jetzt Raum wird für eine neue Welt.“ Selbst in Berlin schienen die Meinungen geteilt zu sein. So bedauerte man nach Jena und Auerstedt die Flucht des „armen Königs“, freute sich aber, von den anrückenden französischen Offizieren das Neueste aus Paris zu erfahren. Stein war klar, dem strahlenden Genius des „ruhmreichen Napoleon“ musste die „deutsche Nation“ entgegengestellt werden. Vor allem im Süden Deutschlands machte man sich Gedanken um die Zukunft Deutschlands unter Einschluss Napoleons. 1808 erschien etwa „Germanien. Eine Zeitschrift für Staats-Recht, Politik und Statistik von Deutschland“, deren Herausgeber zwei hessische Regierungsbeamte waren. Sie wollten die deutsche Einigung unter dem Protektorat Napoleons befördern und verbanden dieses Vorhaben mit gesellschaftlichem Fortschritt. Deshalb druckten sie Auszüge einer Übersetzung des Code Napoleon und forderten die Deutschen auf, sich dem Siegeszug des „glorreichen Napoleon“ anzuschließen – als vereinigtes Germanien im Bund mit Frankreich. Verbunden wurden solche Gedankengänge nicht selten mit antipreußischen Motiven. So in den pseudonymen „Freimütigen Bemerkungen über den Preußischen Staat“ von 1806: „Du lieber Gott! Wenn der Reisende bei jedem Adler in der preußischen Monarchie Halt machen sollte! Überall sieht man diesen Raubvogel. Bei den Apotheken, den Tabaksfabriken, sogar bei den privilegier-
Stein, Arndt & Co.
ten Butterverkäufern steht das Reichswappen auf der Bretterbude.“ In Bayern dagegen wurden Stimmen gegen das übermächtige Österreich laut, eine Flugschrift von 1809 erklärt eine Vereinigung Deutschlands weder nötig noch wünschenswert. Bayern als moderne konstitutionelle Monarchie sei bedroht von der österreichischen Feudalmonarchie: „Es ist der Krieg der Barbarei des Mittelalters gegen die hellen Begriffe des neuen Jahrhunderts, der Krieg des Feudalgeistes gegen die Grundsätze der konstitutionellen Monarchie, der Dummheit und des Übelwollens gegen den Verstand und die Philanthropie.“ Aber auch hier ist noch das unterlegene Preußen nicht sonderlich beliebt, und so folgt der Frage „Waren die Teutschen je eine Nation?“ Die These: „Was man uns jetzt aufdringen möchte, ist nur Nord-Teutschheit, eigentlich Bouroussismus und Anglicismus!“ Preußen und England erscheinen hier als Gegner, Napoleon als Verbündeter. Vergessene Zeugnisse dieser Art gibt es viele; Schriften, die belegen, wie uneins Deutschland damals war und wie weit der Weg zur politischen Nation noch sein würde. Letztlich half Napoleon selbst bei der Lösung; denn mit dem Fortgang des Krieges und der damit verbundenen Aushebung deutscher Wehrpflichtiger in den Rheinbundstaaten, später durch zusätzliche Steuern und – während der Kämpfe – mit den teuren und unangenehmen Einquartierungen wünschten sich immer mehr Deutsche, auch südlich des Mains und links des Rheins, nichts als Frieden. – Und der schien nur noch ohne Napoleon machbar. Aber bis es soweit war, sollten die nationalen Ideen des Freiherrn vom Stein in Verbindung mit Napoleons Kriegspolitik Früchte tragen. Ein Beispiel dafür bietet Graf Beugnot, der kaiserliche Kommissar für das Großherzogtum Berg. Anfang Oktober 1811 teilte er dem Pariser Polizeiminister folgende Beobachtung mit: „Die Befreiung Deutschlands ist die Parole des Tages in Halle, Jena, Leipzig, Tübingen, wo Professoren, wenn nicht in den öffentlichen Kollegs, so doch in ihren Privatvorlesungen die großen Taten des Arminius schildern und den jungen Deutschen seine Schlauheit und seine Kühnheit einzuflössen suchen.“
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Deutsche Soldaten in Moskau – Napoleons Russlandfeldzug Nach dem Sieg gegen Österreich ordnet Napoleon Mitteleuropa zum wiederholten Male neu. Nun muss Jérôme Teile seines Königreichs Westphalen abtreten, wodurch Frankreich sich bis zur deutschen Nordseeküste erstreckt. Holland hat es mittlerweile ohnehin geschluckt, im Dezember 1810 weht über den Hansestädten Hamburg, Bremen und Lübeck der kaiserliche Adler. Preußen erfuhr derweil eine gewisse Entlastung, da im Jahr zuvor nach Zahlung hoher Reparationen die französischen Besatzungstruppen abgerückt waren – mit Ausnahme der Festungen Stettin, Küstrin, Glogau und Danzig. Das Königspaar konnte zu Weihnachten 1809 endlich von Königsberg nach Berlin zurückkehren. Die Freude darüber sowie über die Geburt eines Prinzen währte nur kurz, denn im darauffolgenden Juli erkrankte Königin Luise an einer Lungenentzündung und verstarb im Alter von 34 Jahren. Ganz Preußen war in Trauer, über alle Stände hinweg. General Blücher reagiert in der ihm eigenen Ausdrucksweise: „Ich bin wie vom Blitz getroffen – der Stolz der Weiber ist also von der Erde geschieden! Gott im Himmel, sie muß für uns zu gut gewesen sein … Es ist doch unmöglich, daß einen Staat so viel aufeinanderfolgendes Unglück treffen kann als den unsrigen.“ Ein Augenzeuge aus Berlin: „Beim Leicheneinzug herrschte eine große Stille, und man sah überall auf der Straße Weinende aus allen Ständen; es war auch dadurch sehr rührend, daß er die Linden herunter stattfand, auf demselben Wege, auf dem sie einst bei ihrer Einholung als Braut gefahren war; so viele hatten sie damals gesehen.“ In Europa werden die wirtschaftlichen Folgen der Kontinentalsperre spürbar, die Napoleon vier Jahre zuvor in Berlin verfügt hatte. Für die Menschen bedeutete das vor allem die Verteuerung bestimmter Waren: Kolonialwaren aus Übersee wie Baumwolle, Kaffee, Kakao oder Rohrzucker. Die Handelsmacht Großbritannien traf das jedoch nicht ernsthaft, denn vielerorts blühte der Schmuggel auf, den Napoleon nicht in
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den Griff bekam. England kontrollierte ohnehin die spanischen Häfen, über die – neben Stützpunkten im Mittelmeer – die Konterbande ins französische Machtgebiet strömt. Die wichtigsten Umschlagplätze für Schmuggelware sind unter anderem Frankfurt am Main, Leipzig, die seit 1807 englisch besetzte Insel Helgoland (ein regelrechtes Schmugglernest) und Häfen in Dänemark und Südschweden. Während Schmuggler und Zwischenhändler hohe Gewinne einstreichen, verteuern sich die Waren, dazu kommen noch hohe Sondersteuern und die immensen Kosten des Krieges. Kein Wunder, dass eine Krise die nächste jagt und sich der Kaiser um steigende Arbeitslosenzahlen in Frankreich sorgen muss. Selbst Jérôme (Spitzname: „König Lustik“) schlägt im Dezember 1811 ernste Töne an und redet dem kaiserlichen Bruder von Deutschland aus ins Gewissen: „Die Gärung ist auf dem höchsten Grad angelangt. Man gibt sich den verrücktesten Hoffnungen hin und ist überaus begeistert. Man nimmt Spanien zum Beispiel, und falls der Krieg [mit Russland] ausbrechen sollte, werden alle zwischen Rhein und Oder gelegenen Gegenden der Schauplatz einer ausgedehnten und lebhaften Erhebung werden. Der Hauptgrund dieser gefährlichen Bewegungen ist nicht nur der Haß gegen die Franzosen und die Ungeduld, das fremde Joch abzuschütteln; es ist vielmehr im Unglück der Zeiten begründet, in dem völligen Ruin aller Klassen, in der Vermehrung der Steuern und Kriegsbeiträge, dem Unterhalt der Truppen, dem Durchmarsch der Soldaten und der ständigen Wiederkehr von einer Unzahl von Plackereien aller Art. Die Verzweiflung der Völker, die nichts mehr zu verlieren haben, da ihnen alles genommen wurde, ist zu fürchten … daß in Hannover, Magdeburg und den hauptsächlichsten Städten meines Königreichs die Besitzer ihre Häuser verlassen und vergeblich versuchen, sie zu einem ganz niedrigen Preis zu verkaufen. Überall ist Elend in die Familien eingedrungen, die Kapitalien sind erschöpft. Der Adelige, der Bürger und der Landmann, mit Schulden und Verpflichtungen überhäuft, scheinen keine andere Hilfe zu erwarten als die Wiedervergeltung, die sie mit allen Fasern ihres Herzens ersehnen …“
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Krieg mit Russland? In der Tat hat sich das Verhältnis zwischen den beiden Kaiserreichen dramatisch verschlechtert: Von den Erfurter Bekundungen der Freundschaft ist nicht mehr viel übrig. Bereits Ende 1810 hatte Zar Alexander das Regime der Kontinentalsperre verlassen und seine Häfen wieder für britische Schiffe geöffnet. Zusätzliche Importverbote für französische Luxuswaren und Verstimmungen über die französische Annektion norddeutscher Gebiete trübten das Verhältnis weiter. Schließlich lässt Alexander seine Armee modernisieren und aufrüsten, scheint ihm doch Napoleon durch den, wenn auch siegreich geführten Krieg gegen Österreich und die andauernden Kämpfe in Spanien geschwächt. Wenn er jetzt Preußen und Österreich auf seine Seite ziehen könnte, dann wäre ein Krieg gegen Frankreich erfolgversprechend. Dem war aber nicht so, und Napoleons Angriffspläne auf das osteuropäische Riesenreich nehmen allmählich Gestalt an. Unendlich viel ist zu dem anstehenden Russlandfeldzug gesagt und geschrieben, spekuliert und diskutiert worden. Für unser Thema stellt dieser Kriegszug das Präludium zu Napoleons endgültiger Niederlage dar. Ein Vorspiel, das 130 Jahre vor Hitlers Angriff auf die Sowjetunion zehntausende deutscher Soldaten nach Moskau führen wird, wo sie inmitten der russischen Weiten den Tod finden. Zu Beginn des Jahres 1812 sah Napoleon keine andere Möglichkeit, als den zum Erzfeind gewordenen Zaren mit einem Heer unvergleichlichen Ausmaßes im eigenen Land anzugreifen und sich damit des einzigen Konkurrenten um die Vormachtstellung in Europa zu entledigen. Der französische Kaiser sammelte seine Truppen, die nicht etwa nur aus Franzosen bestanden, sondern ein wahres Vielvölkerheer darstellten. Im Februar müssen die Soldaten der Rheinbundstaaten bereit stehen, außerdem soll Preußen ein Bündnis mit Napoleon eingehen und 20 000 Mann nebst 60 Geschützen zur Verfügung stellen. Österreich hat 30 000 Soldaten aufzubieten. Im April macht Zar Alexander in einer Note deutlich, dass er auf´s Ganze geht: Zu Verhandlungen erklärt er sich nur bereit, wenn Napoleon seine Truppen aus Preußen und Schwe-
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disch-Pommern zurückziehe. Für den ist das natürlich unannehmbar. Ende März marschierten französische Regimenter wieder durch Berlin, doch diesmal nicht als Sieger, sondern als Verbündete – was ihren Anblick nicht unbedingt erfreulicher machte. Augenzeugen berichten von einem musikalisch untermalten Marsch Unter den Linden bei strömendem Regen – deutlich steifer und pedantischer als noch 1806. „Die Manneszucht der französischen Truppen war gut, und es ist von keinem Exzess etwas lautgeworden.“ Preußen diente neben anderen Ländern als Durchmarsch- und Aufmarschgebiet. Am 16. Mai 1812 wird die Ankunft Napoleons in der sächsischen Residenz Dresden gemeldet, wo er mit der Organisation der Streitmacht und des lebenswichtigen Nachschubs beginnt. Und zu organisieren gab es viel: standen doch alles in allem über 600 000 Mann unter seinem Befehl – darunter nur 240 000 Franzosen, aber fast 150 000 Deutsche, dazu Polen, Italiener, Dänen, Schweizer, Portugiesen und andere. Dieses Völkergemisch bildete die Grande Armée, für die in der Etappe riesige Vorratslager mit Lebensmitteln, Kleidung und Waffen angelegt werden mussten. In den weiten und streckenweise menschenleeren russischen Steppen können sich die Menschenmassen nämlich nicht ernähren. Darum folgen dem Zug ganze Wagenkolonnen im Tross, beladen mit Mehl, Reis, Zwieback; von Tausenden von Schlachtochsen ganz zu schweigen oder von 150 000 Pferden – lange bevor den Truppen langsam die Reittiere ausgehen würden. Noch im August berichtet der Historiker Niebuhr aus Berlin: „Die Durchmärsche dauern in unglaublicher Zahl fort: seit einiger Zeit haben sie sich noch mehr verstärkt. Wir sind denn auch nicht frei von Einquartierung und von großer Beschwerlichkeit dabei.“ Da hatte der Krieg schon längst begonnen, nämlich am 24. Juni: Napoleon führte die Hauptarmee mit rund 360 000 Mann Richtung Smolensk, während ein linker Flügel aus Franzosen und Preußen (diese ohne eigenen Kommandanten) ins Baltikum nach Riga marschierte und der rechte, aus Österreichern und Sachsen bestehend, zwischen Bialystok und Brest-Litowsk Stellung bezog, im östlichen Polen und
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Weißrussland also. Das fällt in den Bereich der militärischen Strategie, ebenso wie die zahlenmäßig unterlegenen 156 000 Russen, die sich vorerst zurückziehen, aber dafür oftmals nur verbrannte Erde hinterlassen. Für die einfachen Soldaten der Grande Armée bedeutete dies Gewaltmärsche bis zur völligen Erschöpfung – Hunger und Durst, Krankheiten und Verletzungen, Epidemien wie die grassierende Ruhr. Mancher Soldat suchte sich mit Selbstmord einen Ausweg aus dieser Hölle. Einige württembergische Soldaten schrieben an ihre Familien nach Korb, so von einem Kameraden, dessen Krankheit in „Gemütsangelegenheiten“ bestehe, welche er sich aber nicht anmerken lassen wolle. Und ein anderes Mal: „Hunger und Kummer haben wir sechs Wochen lang leiden müssen und dazu sehr viel marschieren, daß wir nicht glaubten, daß es möglich sein könnte, daß ein Mensch solche Strapazen ausstehen könnte … da schon so viele auf dem Marsch umgefallen und von keinem Menschen eine Hilfe zu erwarten gehabt haben, die teils vor Hunger und Kummer gestorben oder sogar von diesem rohen wilden Volk totgeschlagen worden sind.“ Immer mehr Pferde gingen ein und dienten allenfalls noch als Fleischlieferanten. Bei und in Smolensk kam es Mitte August zur ersten Schlacht, die unter den Franzosen einen hohen Blutzoll forderte. Ein paar Wochen später trafen die Armeen Napoleons und des neu ernannten russischen Oberbefehlshabers Kutusow bei Borodino aufeinander: Beide Seiten lieferten sich ein erbarmungsloses Gemetzel, bei dem jeweils Zehntausende den Tod fanden, von den Verletzten und Verstümmelten ganz zu schweigen. Wem der Sieg zuzusprechen ist, bleibt bis heute umstritten. Jedoch gelang der Weitermarsch Richtung Moskau. Augenzeugen berichten, dass die Hunderttausende eine Schneise der Verwüstung hinterließen: Überall lag Gepäck, streiften Plünderer und einzelne Soldaten umher, die den Anschluss an ihre Truppe verloren hatten – „ … und zwar in so großer Zahl, dass Dörfer und Flecken, ja die ganze Landstraße damit wie besät waren. Halbe Meilen weit sah man oft nichts als Bagagewagen mit den kleinen Landpferden bespannt, auf welchen diese
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Marodeurs das geraubte Gut mit sich schleppten, an bequemen Ort sich einquartierten und in förmlichen Lagern den Ertrag ihrer nichtswürdigen Hantierung verzehrten.“ Dazu geplünderte Dörfer, Pferdekadaver, Tote und Verletzte. Am 14. September 1812 erreichte man Moskau, in das die Scharen kampflos einmarschierten. Der Rest gehört zu den bekanntesten Szenarien der Militärgeschichte: Wer auch immer den Brand der überwiegend aus Holzhäusern bestehenden Riesenstadt zu verantworten hat, oder ob er gar einem Zufall geschuldet ist – die Zerstörung Moskaus vollendete das Debakel der Grande Armée, der nun im Oktober! die Quartiere für den rasch nahenden Winter fehlen. Deshalb befahl der Kaiser nur einen Monat nach dem Einmarsch den Rückzug. Die vielleicht noch 100 000 Soldaten der Hauptarmee quälten sich zurück durch ein totes, ausgeplündertes und von Winterstürmen gepeitschtes Land. Erreicht hat Napoleon nichts, denn die Armee des Zaren konnte er nicht zur Entscheidungsschlacht stellen, sein Reich nicht in die Knie zwingen. Schlimmer noch: Alexander lässt mehrere Friedensofferten unbeantwortet, muss er das Ende der Grande Armée doch lediglich abwarten. Die überlieferten Eindrücke des Rückzugs ähneln denen des Vordringens, nur dass sie noch viel grausamer sind. So weiß der britische General Wilson am 5. November 1812 von der Straße nach Smolensk zu berichten: „Heute sah ich eine Szene, deren Schrecken alles übertrifft, was man in den modernen Kriegen sonst sehen kann: 2000 nackte Menschen, tot oder im Sterben liegend, und mehrere tausend Pferde, von denen die meisten vor Hunger krepiert sind. Hunderte von unglücklichen Verwundeten kriechen aus den angrenzenden Wäldern hervor und appellieren an das Erbarmen der erregten Bauern, deren rächende Gewehrschüsse von allen Seiten ertönen. 200 Munitionswagen sind in die Luft geflogen, die Wohnungen werden ein Raub der Flammen, dazu die Kälte des Winters.“ Zunehmend sind die Soldaten den Überraschungsangriffen der Kosaken, sich wehrender und Rache übender Bauern sowie den Attacken des russischen Militärs ausgesetzt.
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Dies zeigt sich insbesondere beim Übergang über die eisige Beresina Ende November. Nach den heftigen Kämpfen löst sich die Hauptarmee mehr oder weniger auf. Einzelne Trupps versuchen sich durch die waldreiche, flache und von niedrigen Hügeln durchzogene Winterlandschaft zwischen Moskau und Minsk zu schlagen. Am 5. Dezember verließ der Kaiser im weißrussischen Smorgon mit fünf Begleitern heimlich die traurigen Überreste der Grande Armée. In zwei Schlitten kehrte man den russischen Weiten den Rücken. Knappe zwei Wochen später war Napoleon wieder in Paris. Im Bulletin der Grande Armée räumt er deren Vernichtung ein, sieht sie jedoch als Opfer von Winter und Frost. Sofort kündigt er die Aufstellung einer neuen Armee an, für die es auch in Deutschland zu Aushebungen kommen soll. Im Osten kämpften derweil die letzten Soldaten der längst aufgegebenen Armee um ihr Überleben. Nicht wenige handelten äußerst ehrenvoll, so die 500 Infanteristen des Fürstentums Lippe in Kaunas am Njemen, von denen 200 den Rückmarsch französischer Einheiten deckten. Oder Marschall Ney, der als Kommandeur der Nachhut jegliche Kapitulation ablehnte und über den gefrorenen Dnjepr zog. Die wenigen einfachen Soldaten, die tatsächlich überlebten und nach Deutschland gelangten, gaben ein Bild des Jammers ab, das sich tief in den Erinnerungen einprägte. Die Zeitzeugin Philippine von Griesheim berichtete ihrer Freundin Anfang Januar 1813 von Krüppeln ohne Arme und Beine, Kranken, die sterbend vom Wagen getragen wurden, und Wahnsinnigen, deren Wehklagen und Fluchen die Luft erfüllt habe … „Wir sind nicht allein Augenzeugen dieser Jammergestalten, die feindliche Kugeln und der Frost verkrüppelt, sondern hören noch die schauderhaftesten Erzählungen von der greßlichen Zerrüttung, die unter dem Heer herrschte. Um ein Stück verrecktes Pferdefleisch haben sich oft 6 Menschen todtgeschlagen und der Sieger, zu kraftlos das Erbeutete zu zermalmen, ist dann selbst ein Raub des Hungers geworden.“ Der Maler Ludwig Richter später über seine Eindrücke als 9-Jähriger: „Im Anfange des Jahres 1813 sah ich eines Tages bei wildem
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Schneegestöber über die Elbbrücke einen Zug wankender Gestalten kommen, die mich sehr frappierten. Die armen, sonderbar vermummten Menschen waren Franzosen, die aus Rußland zurückkehrten. Reiter, aber zu Fuß in Pferdedecken gehüllt, auf Stöcke sich stützend, schlichen gebückt und matt einher. Andere hatten Weiberpelzmützen auf dem Kopfe. Lumpen oder über die schäbigen Uniformen gezogene geraubte Bauernkittel sollten sie vor der schneidenden Kälte schützen …“ Auch Ernst Moritz Arndt gewann solche Eindrücke. Ihm zufolge führten der Freiherr vom Stein und der preußische Regierungspräsident Schön im ostpreußischen Gumbinnen ein Gespräch über die Russlandrückkehrer. Letzterer berichtete, man habe die Franzosen ungeschoren durchziehen lassen. Darauf Stein: „Aber warum haben Sie die Kerle denn nicht totschlagen lassen?“ Schön bezweifelte, dass Stein dies veranlasst hätte. Keine schöne Szene für den Reichsfreiherrn, mit dem wohl der Hass durchging. Die Katastrophe zieht Kreise, als auf Napoleons Befehl in aller Eile Wehrpflichtige in deutschen Ländern eingezogen werden. Spontane Aufstände brechen los, so im Bergischen Land. Dort weigern sich Ende Januar 1813 die Konskribierten des Kantons Ronsdorf im Großherzogtum Berg, zu ihren Sammelstellen abzumarschieren. Ihnen folgen die der Kantone Solingen, Waldbröl und Gummersbach. Die Unterpräfekten halten sich allerdings mit dem Einsatz der Gendarmerie zurück, auch das Militär wird noch nicht in Marsch gesetzt. Aber die Unruhen breiten sich aus, und den Kriegsdienstverweigerern schließt sich allerlei hoffnungsloses oder zwielichtiges Volk an – Deserteure, Arbeitslose und Schmuggler. Manche Gruppen umfassen bis zu 500 Mann, manche nur einige Dutzend. Die umherziehenden Habenichtse, Provinzmob gewissermaßen, stürmen Gemeindeverwaltungen und Kasernen, die verwüstet werden. Hier und da werden herrschaftliche Häuser geplündert. Doch der Aufstand währt nicht lang, zumal ihm die überregionale politische Zielsetzung fehlt, von der Organisation ganz zu schweigen. Nach wenigen Tagen ist er vorbei, und nun kommt die Stunde der Ord-
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nungsmächte: Einige Aufwiegler werden standrechtlich erschossen, andere zum Militärdienst eingezogen. Unruhen auch im französischen Norddeutschland. In Hamburg kommt es im Hafen und am Millerntor zu Tumulten. Dort befindet sich nämlich der Übergang zum dänischen Altona, ein neuralgischer Punkt, an dem strenge Grenzkontrollen und Schmuggel für Unzufriedenheit sorgen. Gerüchte gehen um, russische Soldaten rückten an, um die Franzosen zu vertreiben (dazu unten mehr). Auch hier sind es vor allem Angehörige der Unterschicht, die von drohender Einberufung und Teuerungen genug haben. Die Menge plündert beschlagnahmte Wagen, die Zöllner werden mit Steinen beworfen. Um der Unruhen Herr zu werden, bittet man die benachbarten Dänen um Hilfe. Diese entsprechen der Bitte und entsenden 200 Husaren über die Grenze. Außer den französischen Besatzern sorgt sich das gediegene Bürgertum der Senatoren und Kaufleute um seine Sicherheit und stellt eine Bürgerwache auf. Wie im Bergischen wird auch dieser Aufstand rasch niedergeschlagen – sieben mutmaßliche Anführer werden standrechtlich erschossen. Noch schlimmer geht es im März in Lehe (Bremerhaven) zu, wo Aufständische eine französische Küstenbatterie einnehmen. General Carra Saint-Cyr schickt daraufhin Truppen, die sich mit den Revoltierenden an der Weserbrücke („Franzosenbrücke“) ein Gefecht liefern und sie besiegen. Anschließend verwüsten und plündern sie Lehe, Aufständische werden erschossen. Was Jérôme seinem Bruder bereits Monate vor dem Russlandfeldzug prophezeit hatte, sollte sich nun bewahrheiten: Die Erosion der napoleonischen Herrschaft. Zunächst nur in kleinen Revolten, was wiederum typisch für die zersplitterten deutschen Verhältnisse war. Es bedurfte eines Anstoßes von oben, um einen regelrechten Flächenbrand auszulösen. Und der kam aus Preußen.
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Tauroggen – ein eigenmächtiger Offizier schreibt Geschichte In den ersten Januartagen 1813 schrieb General Blücher an seinen Kameraden Scharnhorst : „Mich juckt´s in alle Finger, den Säbel zu ergreifen. Wenn es jetzt nicht Sr. Majestät unseres Königs und aller übrigen deutschen Fürsten und der ganzen Nation Fürnehmen ist, alles Schelmfranzosenzeug mitsamt dem Bonaparte und all seinen ganzen Anhang vom deutschen Boden weg zu vertilgen: so scheint mich, daß kein deutscher Mann mehr des deutschen Namens wert sein … Denn nicht nur Preußen allein, sondern das ganze deutsche Vaterland muß wiederum heraufgebracht und die Nation hergestellt werden.“ Welche Nation? Und zu was hergestellt? Das sind Fragen, die den bärbeißigen, mittlerweile 70-jährigen Offizier nicht gekümmert haben mochten, ging es ihm in erster Linie um die Vertreibung des „Schelmfranzosenzeugs“. Aber in Preußen gab es nicht Wenige, die sich ernsthafte Gedanken machten. Und wenn´s in Russland war. Dorthin hatte es bekanntlich den Freiherrn vom Stein verschlagen, andere wie Ernst Moritz Arndt folgten ihm nach. Der geschasste und verfolgte Ex-Minister hatte am Hofe des Zaren eine gute Zeit verlebt und genoss noch im Herbst 1812 in St. Petersburg die Soireen des russischen Hochadels, in deren Mittelpunkt er nicht selten stand. Dort traf er auch mit Madame de Staël zusammen, einem anderen Flüchtling vor Napoleon, und mit Engländern und preußischen Offizieren in russischen Diensten. Und es wurde beileibe nicht nur gefeiert – Stein gehörte zu den wichtigsten Beratern Alexanders. Dass dieser nach dem Rückzug der Grande Armée Kutusow gegen dessen Willen befahl, über die russischen Grenzen nachzurücken, war zum guten Teil der Fürsprache Steins geschuldet. Außerdem war er mit seiner publizistischen Kampftruppe an vielerlei Propaganda beteiligt, die besonders die deutschen Verbündeten Napoleons verunsichern sollte. Dazu gehörten Pamphlete wie ein „Aufruf an die Deutschen, sich unter der Fahne des Vaterlands und der Ehre zu
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sammeln“. Dazu gehörten aber auch handfeste Aktionen wie das Abfangen französischer Kuriere und das Anzetteln lokaler Aufstände. Die Zusammenstellung einer aus desertierten Soldaten gebildeten „Deutschen Legion“ fand letztlich wenig Resonanz; ähnlich erging es einem „Deutschen Komitee“ unter dem Vorsitz des Prinzen Georg von Oldenburg, der mit einer Zarentochter verheiratet war und früh verstarb. Eines hatte der Freiherr vom Stein jedenfalls erreicht: Alexanders Ziel war unumstößlich die endgültige Niederlage Napoleons. In seinem „Bruder“ Friedrich Wilhelm III. fand er dabei keinen Verbündeten, denn der stand zu den Abmachungen mit dem französischen Kaiser. Es bedurfte eines preußischen Offiziers, der die Ungeheuerlichkeit beging, befehlswidrig gegen seinen König zu handeln. Dieser Mann war Ludwig Yorck von Wartenburg (1759–1830), der bereits 1806 am Krieg gegen Frankreich teilgenommen hatte und in Gefangenschaft geraten war. Während des Russlandfeldzuges befehligte er als Generalleutnant jenes preußische Hilfskorps, das im Baltikum unter dem Oberbefehl des französischen Marschalls Macdonald stand. Als abseits stehender Fügel waren die ihm angehörenden Franzosen und Preußen nicht von der Katastrophe der Hauptarmee betroffen. Aber auch sie sahen sich dem russischen Vorrücken ausgesetzt. Nun kam es in den letzten Dezembertagen 1812 zu einer Situation, in der die 20 000 Preußen unter Yorcks Befehl von Marschall Macdonald getrennt wurden. Sie stellten die Nachhut, und der Feind war nicht mehr fern. Der Feind? Immerhin hatten bei den Russen deutsche, um nicht zu sagen preußische Offiziere das Sagen. Die nachfolgenden Truppen standen sogar unter dem Oberbefehl des schlesischen Adligen Karl Friedrich von Diebitsch, auch der Berliner Militärreformer Clausewitz befand sich dort. Botschaften waren schon seit Längerem hin und her gegangen. Yorck war verunsichtert, was zu tun sei. Mehrere Nachfragen an den fernen König waren unbeantwortet geblieben. Sollte er also dem Bündnis mit Napoleon treu bleiben und gegen die anrückenden Russen unter deutscher Führung kämpfen? Der Offizier entschied sich für Gespräche und
Tauroggen
damit gegen das bestehende Bündnis des preußischen Königs. Am 30. Dezember 1812 kamen die deutschen Offiziere beider Seiten bei der Mühle von Poscherun nahe der litauischen Stadt Tauroggen zusammen und vereinbarten die nach dieser Stadt benannte Konvention. Sie beinhaltete in der Substanz einen Waffenstillstand mit Yorcks 20 000 Soldaten, der geographisch und zeitlich limitiert war und sogar bei einer entgegengesetzten Entscheidung Friedrich Wilhelms III. einen freien Abzug vorsah. Auf einmal sah sich Marschall Macdonald mit ein paar tausend Franzosen allein gelassen, weswegen er Yorcks eigenmächtige Neutralitätsvereinbarung als unvergleichlichen Verrat bezeichnete. Ebenso konnte der König der „Meuterei“ seines Offiziers nichts Gutes abgewinnen. Als Mann von Ehre hatte man zu seinen Verpflichtungen zu stehen. Ein Beispiel: Als sein Flügeladjutant Major Graf Henckel von Donnersmarck einmal darauf hinwies, wie leicht man die französische Generalität gefangen nehmen könnte, antwortete er: „Für Sie wäre das ganz schön, für mich aber malhonnête (unehrenhaft).“ Folgerichtig verweigerte er drei Wochen später die Zustimmung zur Vereinbarung von Tauroggen und entließ Yorck, der sogar vor ein Kriegsgericht hätte gestellt werden können. Doch mit oder ohne König – überall machte die Nachricht von Yorcks Waffenstillstand die Runde und löste vor allem in Norddeutschland und Preußen Begeisterung aus. In Berlin stießen die vorüber gehend verbündeten Franzosen ohnehin schon seit ihrer erneuten Anwesenheit auf Ablehnung. Handgreiflichkeiten, Tumulte und Beleidigungen wurden schon im Sommer 1812 gemeldet, worauf die Franzosen ihre militärische Präsenz verstärken. Im Januar weiß jedermann von Napoleons Desaster in Russland, die zerlumpten Überlebenden der Grande Armée boten ein trauriges Zeugnis dafür. Und dann Tauroggen! An der Spree kommen Gerüchte auf, die Franzosen wollten gegen den König vorgehen. Diese wiederum rechnen mit einem Aufstand, aber zumindest mit Gefechten mit preußischen Soldaten. Allenthalben wird gerätselt, vermutet und eifrig diskutiert: Schlägt sich Preußen jetzt auf
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die Seite der vordringenden russischen Truppen? Geht der König vorsichtshalber nach Schlesien? In der Umgebung Berlins stößt man auf flüchtende Landbevölkerung; ab und an werden Rückkehrer aus Russland vom Pöbel angegriffen. Unruhe liegt in der Luft. In Ostpreußen setzt man den politisch-militärischen Wechsel bereits ohne Friedrich Wilhelm III. in die Tat um. Der Freiherr vom Stein war nämlich nach Königsberg gereist, um mit den dortigen Vertretern der Krone über eine Erhebung der Provinz zu sprechen. Bald schon beschließt die Ständeversammlung die Aufstellung der auf der Wehrpflicht basierenden Landwehr und des Landsturms, in denen über 30 000 Mann zusammenkommen. Aber zuerst sorgten die Russen für Unruhe: Am 20. Februar dringt eine Vorhut von Kosaken in Berlin ein und liefert sich mit der französischen Besatzung erste Scharmützel. Eine Augenzeugin berichtet von großer Unruhe in der Stadt, es herrsche „ein Rennen und Reiten und Fahren ohne Ende“. Am Bernauer Tor sollen Kosaken herangesprengt sein, „die das Volk beinahe von den Pferden herunterküßte. Der erste auf sie schießende Franzose ward niedergeschossen … Andere sprengten ins Brandenburger Tor hinein und die Linden herauf, entwaffneten einen französischen Offizier und erregten viel Getümmel.“ Schießereien wurden auch vom Lustgarten und dem benachbarten Schlossplatz gemeldet. Aber viel Lärm um wenig! Der Kosakenüberfall erweist sich als ein einzelnes Hassadeurunternehmen: Berlin bleibt in französischer Hand. Aber Marschall Augereau ist gewarnt und lässt vor dem Schloss und unter den Linden Kanonen auffahren. Der König hat derweil seine Hauptstadt verlassen und sich nach Breslau begeben; wenn man so will, den Russen entgegen. Und in der Tat kommt es nun endlich zum Bündniswechsel: Gegen Ende Februar unterschreibt Friedrich Wilhelm III. den ausgehandelten Vertrag von Kalisch, den Russland und Preußen als Friedens-, Freundschafts- und Bündnisvertrag verstehen. Preußen erhält darin die Zusicherung seines (abgerundeten) Staatsgebiets von 1806, Russland darf sich das unter Napoleons Schutz stehende Groß-
Tauroggen
herzogtum Warschau einverleiben. Außerdem verpflichtet man sich zum militärischen Beistand gegen Frankreich. Dafür sollen 80 000 Preußen und 150 000 Russen aufgeboten werden. Genau einen Monat später, am 27. März 1813, sollte Preußen Frankreich den Krieg erklären Bis dahin war der französische Einfluss in Deutschland weiter zurückgegangen. So auch in Berlin, wo Napoleons Schwiegersohn Eugène de Beauharnais als Oberkommandeur der französischen Truppen Schanzen hatte errichten lassen. Aber es nützte nichts! Am 4. März rücken die letzten Franzosen aus der Hauptstadt Preußens ab, die Russen folgen ihnen auf dem Fuß. Ihr Einzug wird von der Bevölkerung umjubelt. Bereits am Abend besuchen russische Offiziere das Schauspiel, „wo grenzenloses Jauchzen sie umfing … Sechs Jahre voll Schmach und Druck waren vergessen und alle Leiden der Gegenwart und alle Sorgen der verhängnisschweren Zukunft!“ Agnes von Gerlach zeigt diese Begeisterung nicht, sie ist besorgt wegen Rache und Zügellosigkeit bei Russen wie Deutschen gegen Franzosen und „Franzosenfreunde“. Die Russen sollen sich über den Fürsten von Dessau gefreut haben, „daß er habe den Code Napoleon im Köthenschen abgeschafft.“ Mittlerweile befindet sich das Korps Yorcks von Wartenburg auf dem Weg nach Berlin. Einer seiner Offiziere vermeldet, „überall begrüßen uns freie deutsche Männer, und die noch unterdrückten eilen wir von fremdem Joch zu befreien. Das Beispiel der Preußen wird den übrigen deutschen Völkern voranleuchten …“ Dem kann und will sich auch der König nicht verschließen: Er rehabilitiert den eigenmächtigen General. Dieser kann insofern unbeschwert – wenn auch mit starrem Blick – in der Hauptstadt einmarschieren, vereinigt mit dem russischen Armeekorps unter General Graf Wittgenstein. Noch mehr Jubel in den Straßen. Als Yorck und Wittgenstein abends das Theater besuchen, stehende Ovationen, Trompeten schmettern „kriegerische Musik“. Auf der Bühne verkündet ein langes Band: „Es lebe der Retter des Vaterlandes!“ Wie weiland 1806 wird Schillers „Wallensteins Lager“ gegeben – vor lauter Kriegslust heißt die neue Parole schon „Bis über den Rhein müssen wir vordrin-
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gen“. Diesmal wollte man für den Krieg gewappnet sein, für Preußens Glorie und um Napoleon für alle Zeiten den Garaus zu machen. Zeitgleich brechen in Norddeutschland die oben geschilderten Unruhen aus, befördert vom Vordringen russischer Kommandounternehmen. So marschiert ein Streifkorps unter dem aus dem Hunsrück stammenden, aber im Dienst des Zaren stehenden Oberst Friedrich Karl von Tettenborn in Hamburg ein und vertreibt die französische Besatzung. Auch hier grenzenloser Jubel: „Hier ist der Schlüssel der freien Hansestadt Hamburg; es lebe Deutschland und Rußland hoch!“ Unter Tettenborns Führung beschließt man die Gründung einer „Hanseatischen Legion“ mit Freiwilligen aus Hamburg, Bremen und Lübeck. Allerdings gibt es nicht nur Lobenswertes über den deutschen Offizier in russischen Diensten zu berichten, denn der erweist sich bald schon als korrupt. Die Hamburger Senatoren hatten jedenfalls genug damit zu tun, ihm ein üppiges Geldgeschenk zusammenzustellen. Und Erfolg war ihm auch nicht beschieden, musste er doch die Hansestadt nach zwei Monaten Ende Mai 1813 vor den erneut anrückenden Franzosen räumen. Preußen blieb vorerst ziemlich isoliert in Deutschland; denn Österreich hatte sich für neutral erklärt und wollte anscheinend erst einmal abwarten. Ähnlich Großbritannien, das Preußens Handel um Hannover nicht vergessen hatte, gleichwohl aber bald dem wirtschaftlich schwachen Berlin mit Geld unter die Arme griff sowie Waffen, Munition, Uniformen und anderes lieferte. Blieb also nur der Zar, mit dessen Truppen die neue anti-napoleonische Koalition 230 000 Mann zählte. Preußen machte mobil, indem es die allgemeine Wehrpflicht endgültig einführte. So kam eine Landwehr von immerhin 120 000 Männern zusammen, deren Kampfkraft allerdings nicht überschätzt werden darf. Diesen Wehrpflichtigen zwischen 17 und 40 oder dem darüber hinausgehenden Landsturm, der im Idealfall alle Männer bis zum 60. Lebensjahr erfassen sollte, standen nur wenige Offiziere vor. Die Bewaffnung war schlecht, bestand schlimmstenfalls nur aus Sensen und Heugabeln. Auch an ordentlichen Uniformen mangelte es. Preußen war zudem
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kein Land, in dem man Bauern als Partisanen einsetzte. Behörden wie Bürgertum (vom Adel ganz zu schweigen) wollten denn doch das Risiko eines unkontrollierbaren Pöbels nicht eingehen. Da fand man sich schon lieber mit den Freikorps ab, Truppenverbänden nur für die Dauer des anstehenden Krieges, die unter dem obersten Befehl des Königs unabhängig von der regulären Armee kämpfen sollten. Für sie boten sich Aufklärung und Störung des feindlichen Nachschubs an. Just diese Freiwilligen sollten im Laufe der Befreiungskriege und vor allem in deren Nachleben ungemein populär werden. Hier bot sich persönlichem Enthusiasmus eine Möglichkeit bürgerlicher Beteiligung, die für Preußen ungewöhnlich war und ohne den Einfluss der französischen Revolution nicht denkbar wäre. Die Begeisterung für den Krieg gegen Napoleon hielt sich dabei durchaus in Grenzen. Dies belegen die Beobachtungen des Breslauer Konsistorialrats Joachim Christian Gass, die er im März dem Theologen Friedrich Schleiermacher in Berlin wiedergibt: „Übrigens wird Schlesien in dem, was jetzt geschieht den übrigen Provinzen den Rang nicht ablaufen; denn mit manchen Ausnahmen im einzelnen ist die Gesinnung im Ganzen doch nur flau. Die wenigsten Freiwilligen werden gewiß von hier gestellt, Hirschberg von 6000 Einwohnern wollte keinen geben und sich mit 2000 Thalern loskaufen. Dem braven Rektor Körber wollte man abends aufpassen und ihn durchprügeln, weil er die jungen Leute zum Dienst des Vaterlandes ermundert hatte … Der brave Steffens mußte viel leiden, weil er die Studenten kräftig anregte und sich an ihre Spitze stellte … Was könnte und sollte jetzt geschehen und wie langsam geht alles. Es ist unbegreiflich und unerträglich.“ Anders hingegen unter den Prominenten in Berlin, wo Professor Fichte als Feldprediger ins preußische Hauptquartier ziehen will und die Kriegserklärung an Frankreich mit einem Gottesdienst verbunden wird, auf dem Schleiermacher eine seiner fulminanten Predigten hält. Gern und mit Begeisterung begibt man sich an Schanzarbeiten. Bettina von Arnim, anders als ihr ebenso begeisterter Mann Achim von spötti-
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schem Geist, beschreibt die Berliner Kriegsspiele: „Auch war es seltsam anzusehen, wie bekannte Leute und Freunde mit allen Arten von Waffen zu jeder Stunde über die Straßen liefen, so manche, von denen man vorher sich´s kaum denken konnte, daß sie Soldaten wären. Stelle Dir zum Beispiel in Gedanken Savigny vor, der mit dem Glockenschlag 3 wie besessen mit einem langen Spieß über die Straße rennt … der Philosoph Fichte mit einem eisernen Schild und langen Dolch, der Philologe Wolf mit seiner langen Nase hatte einen Tiroler Gürtel mit Pistolen, Messern aller Art und Streitäxten angefüllt …“.
„An mein Volk“ Während sich in Berlin der Patriotismus austobt und die Kriegsgegner ihre Truppen in Stellung bringen, erlässt Friedrich Wilhelm III. im schlesischen Breslau am 17. März einen bemerkenswerten Aufruf, einen Text historischer Dimension. Denn erstmals richtet ein preußischer Herrscher einen Appell an seine Untertanen, an sein „Volk“, der zudem als Flugblatt unter die Leute kommt und wenige Tage später in der „Schlesischen privilegirten Zeitung“ veröffentlicht wird, wobei zahlreiche weitere Drucke folgen: „So wenig für Mein treues Volk als für Deutsche, bedarf es einer Rechenschaft, über die Ursachen des Krieges welcher jetzt beginnt. Klar liegen sie dem unverblendeten Europa vor Augen.“ Preußen sei der Übermacht Frankreichs erlegen und habe die Hälfte seiner Bevölkerung verloren. Und der Frieden habe dem Land noch mehr geschadet, denn seine wichtigsten Festungen blieben vom Feind besetzt; Ackerbau, Fleiß der Städte und Freiheit des Handels wurden gehemmt und geschädigt: „Das Land ward ein Raub der Verarmung.“ Der König wollte Napoleon überzeugen, dass die Unabhängigkeit Preußens für alle von Vorteil sei. Aber umsonst: Des Kaisers Kriege und Verträge bringen Verderben durch „Uebermuth und Treulosigkeit“. Nun sei die Stunde der Wahrheit gekommen: „Brandenburger, Preu-
„An mein Volk“
ßen, Schlesier, Pommern, Litauer! Ihr wißt, was Ihr seit fast sieben Jahren erduldet habt, Ihr wißt, was Euer trauriges Los ist, wenn wir den beginnenden Kampf nicht ehrenvoll enden. Erinnert Euch an die Vorzeit, an den großen Kurfürsten, den großen Friedrich. Bleibt eingedenk der Güter, die unter ihnen unsere Vorfahren blutig erkämpften: Gewissensfreiheit, Ehre, Unabhängigkeit, Handel, Kunstfleiß und Wissenschaft. Gedenkt des großen Beispiels unserer mächtigen Verbündeten, der Russen, gedenkt der Spanier, der Portugiesen … die heldenmütigen Schweizer und Niederländer. Große Opfer werden von allen Ständen gefordert werden: denn unser Beginnen ist groß und nicht geringe die Zahl und die Mittel unserer Feinde. Ihr werdet jene lieber bringen für das Vaterland, für Euren angebornen König als für einen fremden Herrscher, der, wie so viele Beispiele lehren, Eure Söhne und Eure letzten Kräfte Zwecken widmen würde, die Euch ganz fremd sind. Vertrauen auf Gott, Ausdauer, Mut und der mächtige Beistand unserer Bundesgenossen werden unseren redlichen Anstrengungen siegreichen Lohn gewähren. Aber, welche Opfer auch von einzelnen gefordert werden mögen, sie wiegen die heiligen Güter nicht auf, für die wir sie hingeben, für die wir streiten und siegen müssen, wenn wir nicht aufhören wollen, Preußen und Deutsche zu seyn.“ Es sei der letzte entscheidende Kampf für die eigene Existenz, für Unabhängigkeit und Wohlstand; und es gebe keinen andern Ausweg als einen ehrenvollen Frieden oder einen ruhmvollen Untergang. „Auch diesem würdet Ihr getrost entgegen gehen um der Ehre willen, weil ehrlos der Preuße und der Deutsche nicht zu leben vermag. Allein wir dürfen mit Zuversicht vertrauen: Gott und unser fester Willen werden unserer gerechten Sache den Sieg verleihen, mit ihm einen sicheren glorreichen Frieden und die Wiederkehr einer glücklichen Zeit.“ Was für ein Pathos, für preußische Könige ganz ungewöhnlich! Zum ersten Mal geht ein Monarch auf die Einheit von Krone, Staat und Nation ein – und vergisst auch die restlichen Deutschen nicht. „Für König und Vaterland“ sollten von nun an die Inschriften der Gefallenen der
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Befreiungskriege gedenken. Das Volk wurde mobilisiert und sollte die Befreiung des Vaterlands zu seiner eigenen Sache machen. Friedrich Wilhelm III. wäre von sich aus kaum zu einem so revolutionären Appell bereit gewesen. In „An mein Volk“ zeigen sich die Pläne der Reformer, aus deren Umkreis der Text stammt. Er wird nämlich dem Ostpreußen Theodor Gottlieb von Hippel (1775–1843) zugeschrieben, der seit 1811 ein enger Mitarbeiter von Staatskanzler Hardenberg war – und außerdem ein guter Freund des unbotmäßigen Juristen und Romantikers E.T.A. Hoffmann. Der März 1813 sollte noch in anderer Hinsicht bedeutsam für die preußisch-deutsche Nationalsymbolik werden. Denn eben damals empfing Karl Friedrich Schinkel, Geheimer Oberbauassessor bei der Technischen Oberbaudeputation, – der mit seinem Mausoleumsentwurf für die verstorbene Königin Luise Meriten erworben hatte – eine Mitteilung, der König beabsichtige, „für die Dauer des jetzigen Krieges eine eigenthümliche Auszeichnung des Verdienstes eintreten zu lassen“, die „in einem schwarzen in Silber gefaßten Kreuz von Gußeisen bestehen, und dessen Vorderseite ganz glatt und ohne alle Inschrift bleiben, die Kehrseite aber zu oberst den Namenszug F.W. mit der Krone, in der Mitte drey Eichenblätter und unten die Jahreszahl 1813 enthalten soll“. Dem lag wohl eine eigenhändige Zeichnung des Königs bei, auf deren Grundlage Schinkel die endgültige Form eines gleicharmigen Kreuzes mit konkav eingezogenen Armen und spitzbogigen Zwickeln entwarf. Das war die Geburtsstunde des Eisernen Kreuzes, das aus einfachem Material und in schlichter Form einen geradezu bürgerlichen Orden ohne jeglichen Prunk darstellte, eine Auszeichnung, die für jeden vom einfachen Soldaten bis zum General gedacht war. Auch hier nahmen die Ideen der Reformer Gestalt an, genauer die Pläne der Heeresreformer Scharnhorst und Gneisenau, die sich für eine allgemeine Wehrpflicht einsetzten und für einen Volkskrieg ohne Standesschranken. Mittlerweile 200 Jahre hat das Eiserne Kreuz als erfolgreiches Militärzeichen Bestand in der wechselvollen deutschen Geschichte. Es zierte
„An mein Volk“
die Brust von Patrioten wie von Kriegsverbrechern und findet sich in modifizierter Form noch bei der Bundeswehr. Wem dies im März 1813 alles zu preußisch klang, der konnte sich an „Des Deutschen Vaterland“ halten, das in Königsberg erschien und zweifelsohne zu Ernst Moritz Arndts populärsten Gedichten gehört. Der streitbare Publizist listet sie alle auf die großen deutschen Länder: Preußen und Bayern, Westphalen und Österreich, Pommern und die Schweiz: Nein, das könne es nicht sein – „Das Vaterland muß größer sein.“ Nämlich „so weit die deutsche Zunge klingt“ und „Eide schwört der Druck der Hand“, wo „Treue hell vom Auge blitzt“ und schließlich „jeder Franzmann heißet Feind, Wo jeder Deutsche heißet Freund – Das soll es sein! Das ganze Deutschland soll es sein!“ Das waren die martialischen Befreiungslieder (siehe oben), die vorerst aus Preußen ertönten und zu denen die Massen, die nicht gefragt wurden, und die Fürsten, die sich taktisch zurückhielten, noch nicht folgen wollten. Im März stand nun erst einmal das an, was man als Frühjahrsfeldzug bezeichnet, wobei sich die streitenden Parteien noch schwer taten. Zunächst Napoleon, der in Russland mehr als 350 000 Soldaten, 1000 Geschütze und 20 000 Trossfahrzeuge verloren hatte – vom elenden Krepieren Tausender von Pferden ganz zu schweigen. Ebenso erschütternd waren die Verluste der Truppen des Rheinbundes: 80 Prozent der Bayern kehrten vom Russlandfeldzug nicht in ihre Heimat zurück, und die etwa gleichstarken Verbände des Königreichs Westphalen ließen fast alle 27 000 Mann in den Steppen Osteuropas. Bekanntlich ließ sich der Feldherr Napoleon von diesen Zahlen nicht verdrießen und ordnete in Frankreich wie bei den deutschen Verbündeten neue Aushebungen an. Immerhin 230 000 Soldaten bekam er für den Feldzug gegen die Russen und Preußen zusammen. Die Schlagkraft seiner Truppen unterschied sich allerdings von jener ruhmreicherer Zeiten. Vor allem fehlten der Kavallerie die Pferde, und den jungen unerfahrenen Kriegspflichtigen setzten schon die berühmt-berüchtigten Schnellmärsche des Kaisers zu. Dies alles sollte sich rächen, Napoleon würde bei allem
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Genie und aller Fortune nicht mehr an die gewohnten Erfolge anknüpfen können. Ohne sich in den militärischen Details des Frühjahrs 1813 zu verlieren: Das Kampffeld lag in Deutschland, dessen Fürsten still bzw. zu Napoleon als ihrem Schutzherrn hielten. Der französische Oberbefehlshaber Eugène de Beauharnais versuchte im Osten zu halten, was immer zu halten war, musste sich aber gleichwohl von der Weichsel an die Elbe zurückziehen. Und die sollte er auf Befehl des Kaisers halten. Aus dem Berliner Raum rückten etwa 20 000 Preußen und Russen unter dem Oberbefehl des russischen Generals Graf zu Sayn-Wittgenstein in Richtung Magdeburg vor, dessen mächtige Festung immer noch von Franzosen kontrolliert wurde. Beauharnais mit fast doppelt so vielen Soldaten zog über die Elbe und griff von dort den Feind an. Am 5. April kam es bei Möckern unweit Magdeburgs zu einem Gefecht, dass die Alliierten trotz Minderzahl für sich entschieden. Die Nachricht löste in Berlin Jubel aus – der erste Sieg des Befreiungskampfes war errungen. Preußen konnte offensichtlich wieder über Franzosen siegen – was weniger militärisch als psychologisch von Bedeutung war. Die Truppen Eugène de Beauharnais‘ zogen sich nach Magdeburg zurück. In den nächsten Wochen sollten sich die Städte und Gebiete zwischen Saale und Neiße als wahres Schlachttableau erweisen, in Sachsen ahnte man noch nicht, was einem bevorstand. Schließlich rückte auch Napoleon mit seinem Heer an und aus dem Osten kam Blücher. Aus dem blutigen Kranz etlicher kleinerer Gefechte ragen zwei große Schlachten im Westen bei Leipzig und im Osten bei Bautzen heraus. Anfang Mai trafen die Kontrahenten beim Dorf Großgörschen aufeinander, auch der Zar und Friedrich Wilhelm III. waren zugegen. Im Laufe des Tages kam es um eine Handvoll Dörfer zu heftigen Kämpfen zwischen den 144 000 Mann Napoleons und den weniger als 90 000 Preußen und Russen. Dem Franzosen gelang es letztlich, seine zahlenmäßige Überlegenheit auszuspielen, aber zu einem hohen Preis. Insgesamt waren mehr als 30 000 Tote und Verwundete zu beklagen, darun-
„An mein Volk“
ter doppelt so viele Franzosen wie Verbündete. Auch etliche hohe Offiziere verloren ihr Leben, so starb auf französischer Seite ein rundes Dutzend oder erlitt zumindest schwere Verletzungen. Unter den Opfern befand sich auch der preußische Generalstabschef Gerhard von Scharnhorst. Er erlitt eine Schussverletzung am Knie, an der er fast zwei Monate später in Prag starb. Der französische Kaiser konnte seine Verluste wegen der Masse an Soldaten besser ausgleichen. Wegen mangelnder Ressourcen blieb hingegen Preußen und Russen nichts anderes übrig, als ihr Heil im Abzug nach Osten zu suchen. Drei Wochen später stellten sie sich Napoleon erneut bei Bautzen, auf dessen Seite nun auch Bayern, Württemberger, Badener und weitere deutsche Verbündete antraten. Mit der Armee unter dem Befehl Marschall Neys verfügte der Kaiser über 185 000 Mann, die zahlenmäßig den 100 000 Russen und Preußen unter Blüchers und Wittgensteins Führung überlegen waren. Dies zahlte sich zweifelsohne aus, aber wiederum blieben Zehntausende auf dem Feld zurück. Marschall Duroc, Napoleons Adjutant und Stellvertreter, wurde von einer Kanonenkugel der Unterleib zerfetzt. Und so siegte der Kaiser, aber nicht entscheidend. Auch dieses Mal konnten sich die Verbündeten zurückziehen. Und Napoleon nahm nicht die Verfolgung auf; denn letztlich waren beide Kriegsparteien zu erschöpft, selbst bei den Verbündeten ließen unter den Soldaten Disziplin und Kampfmoral zu wünschen übrig. Sie zogen sich über die Oder nach Schlesien zurück, während die Franzosen mit ihrem Kaiser im verbündeten Sachsen verharrten. Schließlich nahm man Verhandlungen auf, die dann am 4. Juni 1813 zu einem Waffenstillstand führten. Der sollte über zwei Monate bis zum 10. August währen und den Kontrahenten die Möglichkeit bieten, ihre Armeen wieder neu zu ordnen. Außerdem knüpfte man im Sommer alle möglichen Verhandlungs fäden und spielte die diplomatischen Karten für die Zukunft Europas aus. Österreich hatte sich an den Kämpfen bislang nicht beteiligt und Neutralität gewahrt. Kein Wunder also, dass beide Seiten das Reich der Habsburger umwarben. Berühmtheit erlangte ein Treffen Napoleons
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mit dem österreichischen Außenminister Metternich im Palais Marcolini zu Dresden am 26. Juli, das neun Stunden währte und zu keiner Einigung führte. Napoleon erwog auch einen Separatfrieden mit Russland, der Preußen erneut in eine isolierte Position gebracht hätte. Österreich hingegen wünschte Napoleons Übergewicht zu schwächen, ohne jedoch Russland zu stark zu machen. Und die Souveräne des Rheinbunds? Sie warteten wohlweislich ab und fürchteten die französische Stärke. Aber sie schätzten auch ihren Schutz, konnten sie sich doch in einem Deutschland nach Napoleon ihrer Besitzstände nicht sicher sein. Dementsprechend gehörten die Auflösung des Rheinbunds, aber auch die Wiederherstellung Preußens im alten Umfang und natürlich die Rückgabe verlorener österreichischer Gebiete zu den Bedingungen Österreichs, die den französischen Gesandten übermittelt wurden. Polen war allerdings für alle Seiten außer der Napoleons verloren – niemand wünschte das Großherzogtum Warschau. Aber letztendlich scheiterten alle diplomatischen Bemühungen. Österreich, das ohnehin nur zwischen Friedensschluss oder Kriegseintritt auf Seiten der Verbündeten votieren wollte, entschied sich für den Waffengang. Am 11. August 1813, einen Tag nach Ende des Waffenstillstands, erklärte es Frankreich den Krieg.
Lützows verwegene Schar „Was glänzt dort vom Walde im Sonnenschein? / Hör´s näher und näher brausen. / Es zieht sich herunter in düsteren Reihn, / Und gellende Hörner erschallen darein / Und erfüllen die Seele mit Grausen. / Und wenn ihr die schwarzen Gesellen fragt: / Das ist Lützows wilde verwegene Jagd …“ So besang der Dichter Theodor Körner jenes Korps der Befreiungskriege, das in deren Überlieferung heraussticht. Und das, obwohl Lützows Schar selbst zu Hochzeiten nur wenige tausend Männer zählte.
Lützows verwegene Schar
Schon damals reimte man auf die „wilde, verwegene“ die „stille, verlegene Schar“. Aber die Lützower, nach ihren Uniformfarben auch das „Schwarze Korps“ genannt, bedienten offensichtlich einen Mythos, den man nur zu gerne glaubte. Dabei lagen romantische Motive und Figuren nicht fern, und es mag typisch deutsch sein, dass bei Körner überdeutlich Wodans wilde Jagd mitklingt, jener Geisterzug der Mittwinterwende, der im volkstümlichen Aberglauben immer noch eine Rolle spielte. Hier jedoch hatten sich nur die „fränkischen Schergen“ zu fürchten, die über den Rhein getrieben werden sollen – von Freiheitskämpfern, die von den hohen Bergen und aus den tiefdunklen Wäldern furchterregend hervorbrechen. Paramilitärische Freikorps aufzustellen hatten sich bereits die Militärstrategen des 18. Jahrhunderts angewöhnt. Deren Kämpfer kamen allerdings zumeist aus dem Ausland und wurden bezahlt. Erst nach der Niederlage Preußens 1806 entstanden Gruppen, deren Angehörige aus mehr oder weniger patriotischen Motiven zu den Waffen griffen. Ferdinand von Schill, ihren berühmtesten Vertreter, haben wir weiter oben bereits kennengelernt. Der aus mecklenburgischem Adel stammende Freiherr Adolf von Lützow (1782–1834) reihte sich nahtlos ein, hatte er doch auch bei Auerstedt gekämpft, sich in die Festung Kolberg durchgeschlagen und schließlich unter Schill gedient, wobei er schwer verwundet worden war. Im Range eines Majors wurde der preußische Offizier verabschiedet, um dann 1811 wieder eingesetzt zu werden. Dann kam das Jahr 1813, und in Preußen erhoben sich immer mehr Stimmen, die Volksbewaffnung forderten und darunter auch die Bildung von partisanenartigen Freischaren verstanden. Im Februar erhielt der Freiherr die königliche Erlaubnis, ein Freikorps zu gründen, dessen Mitglieder nicht aus Preußen kommen sollten (Lützow selbst war zwar in Berlin geboren, aber Mecklenburger „Staatsbürger“). Dazu fanden sich vor allem junge begeisterte Männer zusammen, die der Kampf gegen Napoleon und nicht selten ein guter Schuss Abenteuerlust beseelte. Auf ihrem Höchststand verfügte die Truppe über 2900 Infanteristen und vielleicht 600
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Kavalleristen, die Artillerie war nicht ihre Stärke (und von offizieller Seite auch gar nicht gewünscht), obwohl sie zeitweise über 8 Kanonen verfügt haben soll. Laut Vorgaben durften ihr nur nichtpreußische Freiwillige angehören, die Uniformen, Waffen und Pferde selbst zu stellen hatten. Daher auch die schwarze Farbe, mit der sich normale Kleidung am besten färben ließ. Auf eine eigene Fahne musste im Übrigen verzichtet werden. Am Ende kamen wohl 40 Prozent der Männer aus Preußen, der Rest aus Rheinbundstaaten, einige aus Tirol. Angeblich bestand das Korps vor allem aus Akademikern, was sich jedoch als Teil des Mythos entpuppt hat. In Wirklichkeit machten Schüler und Studenten höchstens ein Zehntel aus, während Handwerker die größte Gruppe bildeten, gefolgt von Bauern. Hinter bieder-romantischer Maske scheinen die überwiegend jungen Burschen und ihre Anführer eine deutsche Abart der französische Egalité (Gleichheit) und Fraternité (Brüderlichkeit) praktiziert zu haben. Zeitzeugen schwärmen von der „brüderlichen Eintracht“, die dort jenseits des üblichen strengen Militärdienstes gepflegt wurde: „Das ungezwungene, frei und anständige Benehmen außer dem Dienste, nicht nur der Freiwilligen unter einander, sondern auch zwischen diesen und den Offizieren, war der dem Volkessinne entsprechende Ausdruck der Freiheit und der Gleichheit im rechten Sinne während des Kampfes für den allgemeinen Zweck …“ So mochten die Lützower Patrioten das Modell eines utopischen Männerbundes abgeben, der zugleich das Vorbild einer bürgerlichen Gesellschaftsordnung sein mochte. Unter den wenigen Akademikern fanden sich als „Brüder“ der romantische Schriftsteller Joseph von Eichendorff und die Maler Philipp Veit sowie Georg Friedrich Kersting ein, dessen bekannte Bilder der Lützower Jäger deren Ruhm mitbegründeten. Und schließlich der Turnvater Jahn, der rasch einen Sängerchor ins Leben rief. Dass sein oben erwähntes sonderliches Gebaren nicht bei jedermann auf Gegenliebe stieß, bezeugt ein Freiwilliger namens Mebes: „In meiner Wohnung fand ich noch einen Bekannten vor, der meiner schon seit einer
Lützows verwegene Schar
Stunde harrte und der sich große Mühe gab, mich zu disponieren, bei dem sogenannten schwarzen Korps, welches unter Major von Lützow in Schlesien errichtet wird, Dienste zu nehmen und die mir anhängenden freiwilligen Jäger zu demselben Schritt zu bewegen … Er sprach viel und mit großer Salbung von Jahn, der ein einflußreiches Mitglied dieses Korps ist, und den die Turner, seine ungeschlachten Jäger, wie eine Art von Messias anstaunen. Ich will es nicht in Abrede stellen, daß die Zwecke, die Herr Jahn verfolgt, sehr löblich sind; aber die ganze Erscheinung dieses Mannes und sein naßburschikoses Auftreten hat auf mich einen solchen unangenehmen Eindruck gemacht, daß ich unbedingt einen Truppenteil meiden würde, in welchem er einen gewissen Einfluß ausübt.“ Im Frühjahr 1813 zogen die Lützower im sächsischen Kriegsgebiet umher, wie es ihren Aufgaben entsprach zumeist hinter den feindlichen Linien. Für viel Aufsehen haben sie dabei nicht gesorgt, was durchaus erwünscht war. Dann kam es Anfang Juni zum Waffenstillstand, und kurz danach sorgte die Schwarze Schar für Furore. Denn Lützow stand in Plauen und hätte Sachsen so schnell wie möglich Richtung Preußen verlassen müssen. Das tat er aber nicht, sondern marschierte westwärts nach Leipzig, wo es am 17. Juni beim Dorf Kitzen zu einem Zwischenfall kam, der das vorzeitige Ende der Schar brachte. Die Berichte und Einschätzungen lauten unterschiedlich und sind anscheinend nicht unparteiisch. Jedenfalls griffen Franzosen und Württemberger Lützow mit seinen etwa 800 Männern an und zersprengten die Truppe „binnen einer Viertelstunde“ völlig. Die überwiegend aus desertierten Rheinbundsoldaten bestehende Infanterie flüchtete und die Kavallerie wurde schlichtweg niedergemacht. Lützow und Körner gelang schwerverwundet die Flucht. Angeblich zählte man über 300 Tote und Verwundete; 200 Gefangene galten als „Straßenräuber“ und wurden nach Südfrankreich deportiert. Der sächsische Generalmajor Ferdinand von Funck interpretiert den Vorfall nicht als feigen Überfall der Franzosen und Württemberger,
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sondern als Bruch des Waffenstillstands durch das Freikorps: „Der Dichter Theodor Körner, damals Adjutant bei Lützow, war in dem Gefechte verwundet worden, hatte sich aber gerettet und war nach Gnandstein zu dem Herrn von Einsiedel entkommen und von da glücklich weiter nach Böhmen. Die Berühmtheit des jungen Mannes hatte eigentlich den ganzen Ruf des Lützowschen Korps gemacht. Er selbst war sehr unzufrieden mit dem Ganzen und hatte Herrn von Einsiedel versichert, daß, wenn er sich losmachen könnte, er nicht wieder zu diesem verwahrlosten Trupp gehen würde. Von dem Unfall bei Leipzig hatte er die Schuld teils Lützow, noch mehr aber der geringen Zucht des Korps beigemessen.“ Man habe demnach vom Waffenstillstand erfahren und ein sächsischer Offizier habe sie über die Demarkationslinie geleiten wollen. Nach „Großsprechereien“ Lützows, er erkenne den Waffenstillstand nicht an, sei er dem Offizier schließlich doch gefolgt. Aber er konnte sich keinen Gehorsam verschaffen. Das Korps plünderte weiter in Sachsen und wandte sich gegen Leipzig. Dessen französischer Kommandant Arrighi schickte ihnen eine oder zwei württembergische Brigaden entgegen. Daraufhin begann auch Lützow mit Unterhandlungen: „Schon war der größte Teil bei den Württembergern vorbeigezogen, als die letzten in Streit gerieten und, wie Körner versichert hat, die Tätlichkeiten anfingen und zuerst schossen … Lützow hatte sich mit einem Teile, der schon einen Vorsprung hatte, gerettet, die übrigen waren teils niedergehauen, teils gefangen worden.“ Damit fand die beste Zeit der Lützower bereits ihr Ende. Dem namengebenden Freiherrn gelang die Flucht zu den Preußen, die seinen Trupp in den alles entscheidenden Feldzügen des Herbstes 1813 in die Nordarmee unter Führung des zum schwedischen Kronprinzen avancierten Jean-Baptiste Bernadotte eingliederten. Lützow selbst hatte wenig Glück und wurde erneut im Kampf verwundet. Seine Männer tauchten später zumeist im Verbund mit russischen Kosaken mal im Norden, mal im Westen auf. Einmal nahmen diese Verbündeten sogar vorübergehend Bremen ein. Als Dänemark sich im Oktober auf die
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Seite Napoleons stellte und Preußen und Russland den Krieg erklärte, zogen die Lützower nach Holstein, wo sie unter anderem Wandsbek und Quickborn plünderten. Gemeinsam mit den Kosaken des erwähnten Tettenborn und der Freischar der Hanseatischen Legion handelten sie Augenzeugenberichten gemäß alles andere als ehrenhaft. Der Berliner Professor Barthold Georg Niebuhr klagt dem Buchhändler Friedrich Perthes nach Hamburg: „Mein armes, armes Holstein! Könnten Sie nur zurückeilen und meine Angehörigen schützen! Es scheint, daß man ein Land, wo alle Herzen mit Deutschland einig sind, mutwillig in eine Wüste verwandeln will. Das Blut kocht mir über diese Scheußlichkeit – welche die echten Alliierten und Engländer empört –, über diesen herbeigeführten Zug nach dem Norden, von dem nur Franzosen Vorteil ziehen. Daß die Kosaken hausen werden – das verstand sich; aber Sie erwarten es auch von den Hanseaten, die sich, wie alle andren neuen Formationen, würden erholen wollen? Was echtpreußisch unter den Lützowern ist, wird sich nicht durch Greuel und Sünde erholen wollen.“ Und während Blücher und Gneisenau die Truppe um Lützow als beispielhafte Patrioten lobten, sah sie der Diplomat Karl August Varnhagen von Ense kritischer, auch er übrigens Teilnehmer der Befreiungskriege und vom preußischen König mit dem Orden Pour le Mérite ausgezeichnet: „Als bloße Truppe betrachtet, zeigte die Lützowsche Schar unvereinbare Elemente; die herrlichsten Jünglinge und Männer, aus den Städten größtenteils den Studien und Staatsämtern entzogen, oft noch in der Unschuld und Begeisterung höherer Bildung, fanden sich neben den rohesten Gesellen, denen Wildheit über Freiheit ging, und unter verschmitzten Heuchlern, welche in den Schein des Vaterlandeseifers ihre Raubsucht hüllten. Daher die zahllosen Klagen über Gewalttätigkeiten aller Art, die man von sogenannten Schwarzen wollte erlitten haben.“ Diese unberechenbaren Elemente sorgten übrigens auch dafür, dass die Freischar die höchste Desertionsquote weit und breit verzeichnete! Ein anderer Zeitzeuge bescheinigte Adolf von Lützow, an Mut und Geschicklichkeit habe er keinem anderen Offizier nachgestan-
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den, „aber seine militärische Laufbahn bestand fast nur aus schwerer Verwundung und Gefangenschaft.“ Dem blieb er treu: Noch 1815 geriet er nahe des belgischen Ligny bei Napoleons letztem Sieg in französische Gefangenschaft – später wurde er immerhin noch zum Generalmajor befördert.
Der Tod des Freiheitssängers Am meisten hat Theodor Körner (1791–1813) zum romantischen – militärisch unverdienten – Ruhm der Schwarzen Schar beigetragen. Und sein Leben passte dazu, war es doch kurz und wildbewegt: Geboren in Dresden als Sohn eines Juristen und guten Freundes von Friedrich Schiller, wuchs er in einem literarisch gebildeten und umtriebigen Elternhaus auf. Im Laufe seines Lebens sollte er über seine Familie mit vielen Vertretern des deutschen Kulturlebens zusammentreffen, so mit dem jungen Novalis, dem unglücklichen Kleist, den führenden Romantikern Friedrich und August Wilhelm Schlegel sowie den Brüdern Humboldt, um nur einige Namen zu nennen. Ein buntes Studien-Allerlei in Freiberg, Leipzig und Berlin, wobei er von der Universität Leipzig wegen einer Duell-Affäre verwiesen wird. Mit zwanzig ist er in Wien, wo er geradezu ungebremst Theaterstücke produziert: Singspiele („Der Kampf mit dem Drachen“), Lustspiele („Der grüne Domino“), Possen („Der Nachtwächter“), Dramen („Rosamunde“), Trauerspiele und eine romantische Oper („Die Bergknappen“). Literarisch kaum bedeutend, erringt er damit an der Donau doch Bekanntheit und den Status eines „Stars“ – mit einer Schauspielerin hat er sich auch noch verlobt. Schließlich ernennt man ihn sogar zum Hoftheaterdichter. Schon zeichnet sich eine große Bühnenkarriere für den jungen Mann ab, aber der hat noch ganz anderes im Sinn: Bereits früh verkehrt er nämlich in politischen Kreisen. Er wünscht sich die Lösung Sachsens aus dem Bündnis mit Napoleon. Als er von der Gründung der Schwarzen Jäger erfährt, ver-
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lässt er im März 1813 Wien samt Burgtheater und Verlobter und begibt sich nach Breslau, wo er sich Lützow wie andere junge Sachsen anschließt. Rasch fällt er dem Freiherrn auf, wird zum Leutnant befördert und sogar Lützows Adjutant. Körner zieht mit den anderen in Sachsen umher, immer zu Gefechten, Scharmützeln und wagemutigen Unternehmen bereit. Der stets nach Erfolg und Ruhm Ausschau haltende Poet in Waffen wirkt zugleich als Dichter und trägt somit zum romantischen Bild der Truppe bei. Und nicht wenige Überlieferungen mögen der historischen Wahrheit durchaus entsprochen haben. Szenen, wie er bei nächtlichem Feuerschein seine Gedichte vorträgt und diese schließlich gemeinsam gesungen werden – gewissermaßen die Lagerfeuerromantik der Befreiungskriege. Dann ein Gefecht bei Kitzen, das Körner, durch einen Säbelhieb verwundet, übersteht. Die Saga seiner anschließenden Flucht sieht ihn von gutwilligen Menschen und zahllosen Freunden und Bekannten gepflegt, weitergereicht und gerettet. Dazu gehört die Übernachtung auf Burg Gnandstein zwischen Leipzig und Chemnitz, wo sich der Burgherr Graf von Einsiedel seiner annimmt, auch er ein Bekannter der Familie. Auf diese Weise gelangt der Befreiungskämpfer ins böhmische Karlsbad, dass er aber nach seiner Gesundung bald schon wieder verlässt. Auf dem Weg nach Berlin trifft er mit den prominenten Köpfen des preußisch-patriotischen Widerstands zusammen, etwa dem Freiherrn vom Stein und Ernst Moritz Arndt. Mit den Resten der Schwarzen Schar gelangt er unter dem Oberfehl der genannten Nordarmee nach Norddeutschland, wo ihn im westlichen Mecklenburg das ereilt, was er vorab als Heldentod besang. Am 26. August 1813 kommt es im Forst von Rosenow bei Gadebusch zu einem Gefecht, in dem den „Dichter der Freiheitskriege“ eine tödliche Kugel trifft. Passend zur schillernden Einschätzung der Lützower und ihres berühmtesten Mitglieds herrscht bis heute Unklarheit über die Umstände seines Todes, liegen sage und schreibe sieben unterschiedliche Augenzeugenberichte vor. Unter anderem soll Körner einen Rück-
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zugsbefehl missachtet und zum Angriff getrieben haben, als ihn die Kugel von vorn traf … oder gar von hinten? Hat ein französischer Gefangener eine Flinte ergriffen und den Dichter erschossen? Oder noch schlimmer: Wurde er von einem deutschen Schützen aus dem Hinterhalt gemeuchelt? Denn nicht unter allen Kämpfern der Schwarzen Schar war der ziemlich arrogante Körner beliebt! Nach offiziöser Lesart fühlte sich ein gefangener französischer Offizier beleidigt, ergriff eine Pistole und erschoss Körner. Worauf dessen Kameraden die Gefangenen massakrierten. Letzte Worte bleibt der kriegerische Poet indes nicht schuldig. Überliefert sind: „Da hab ich auch eins weg!“ und „Mich haben sie gut getroffen.“ Was auch immer zu den Todesumständen vermeldet wurde, Theodor Körner hatte das Zeug zu einem Nationalhelden, und dementsprechend wurde nach dem erfolgreichen Ende der Befreiungskriege sein Erbe und Mythos gepflegt. Wenige Tage nach dem tragischen Gefecht im mecklenburgischen Wald gibt ein Augenzeuge eine Szene wider, wie sie später mit den Lützowern und Theodor Körner verbunden sein wird: „Die Sänger fanden sich bald zusammen, und nun wechselte unsere Musik mit herrlichen vierstimmigen Liedern und anderen Gesängen ab … es war von ergreifender Wirkung. Unsere Wachfeuer flackten zum Himmel empor. ‚Frisch auf Kameraden‘ aus Wallensteins Lager, dann das neue Arndtsche Des Deutschen Vaterland, vor allem waren es aber unsere herrlichen Körnerschen Lieder, die die höchste Teilnahme und selbst Tränen der Rührung hervorbrachten.“ Körners Wiener Bühnenstücke waren bald vergessen, aber seine Gedichtsammlung „Leier und Schwert“ erschien im Jahr nach seinem Tod und verstärkte seinen Ruhm für die Nachwelt. Rund drei Dutzend Lieder besingen den Tod im Kampf gegen den Feind, darunter „Lützows wilde Jagd“, das von Karl Maria von Weber vertont wurde. In der Zueignung gedachte Theodor Körner seiner Kameraden und schließt mit den Worten: „Und soll´t ich einst im Siegesheimzug fehlen: / Weint nicht um mich, beneidet mir mein Glück! / Denn was berauscht die Leier vorgesungen, / Das hat des Schwertes freie Tat errungen.“
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Der Krieg in Sachsen Körners „Schwertes freie Tat“ war zur Zeit seines Todes in Sachsen allgegenwärtig, wo Hunderttausende um die endgültige Entscheidung rangen. Was der Krieg des Jahres 1813 dort und anderswo in Deutschland bedeutete, hatte man schon im Frühjahr erfahren müssen. Damals im April war Ernst Moritz Arndt im Dresdner Haus der Familie Körner Goethe begegnet: „Da die verbündeten Heere nun über die Elbe weiter in Thüringen vordrangen und die Franzosen von der anderen Seite heranzogen, so wimmelte Dresden außer den erwähnten Fremden, die dort Geschäfte hatten, auch von Flüchtlingen, die das Sichere suchten, einige Zeit dort blieben und dann über die Berge nach Böhmen zogen. Auch Goethe kam und besuchte mehrmals das ihm befreundete Körnersche Haus. Ich hatte ihn in zwanzig Jahren nicht gesehen; er schien immer noch in seiner stattlichen Schöne, aber der große Mann machte keinen erfreulichen Eindruck. Ihm war´s beklommen, und er hatte weder Hoffnung noch Freude an den neuen Dingen. Der junge Körner war da, Freiwilliger Jäger bei den Lützowern; der Vater sprach sich begeistert und hoffnungsreich aus …“, – was Goethe erzürnte, stand der doch bekanntlich weiterhin zu „seinem“ Kaiser. Gegen Ende des Monats schreibt E.T.A. Hoffmann aus Dresden seinem Verleger Kunz in Bamberg über seine Reise von dort nach Sachsen: Man habe ihm von der Reise abgeraten, an ein Durchkommen sei nicht zu denken. Im bayerischen Münchberg wurde der Pass geprüft, dann sei es weitergegangen. In Hof habe er überhaupt kein Militär gesehen. Kurz vor Plauen ein preußischer Husar, der ihn nach seinem Ziel fragte und mit ihm auf den König anstieß. Dann ein preußischer Wachtmeister mit Husaren. In Plauen noch mehr Preußen. Im Wald dorthin 25 Kosaken mit einem Offizier, die ihn ungefragt vorbeiließen. Reichenbach voller preußischer Husaren und Kosaken. Die ganze Nacht seien Kosaken durch das Städtchen gezogen: „Das Gemurmel, die einzelnen Rufe in der fremden Sprache hatten was Schaueriges, Ängstliches.“ Von da an seien die Stra-
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ßen voll von preußischen Husaren und Kosaken gewesen. „Chemnitz ganz voller Truppen von allen Waffen, und vor dem Dorfe Wiese 40 Kanonen … voller und voller – Munitionswagen, Kanonen, Infanterie, Kavallerie, auf dem Marsch vorwärts begriffen … endlich – endlich – in Dresden!“ Gar nicht so weit entfernt von der sächsischen Residenz gewährt derweil Napoleon im französischen Erfurt Audienz – und zwar dem Weimarer Regierungsrat Friedrich von Müller (1779–1849). Der ist gut mit Goethe bekannt und dem Herzog bevorzugt in diplomatisch diffizilen Angelegenheiten zu Diensten. Der Grund der Audienz ist schwerwiegend, erwartet der Kaiser doch aus Sachsen-Weimar-Eisenach ein Kontingent Soldaten, das allerdings vor wenigen Tagen von Preußen überrumpelt und gefangen genommen worden war. Müller: „Nie werde ich den Moment vergessen, als die Flügeltüren jenes großen mit einem Erker versehenen Zimmers der Statthalterei sich öffneten und nun der Kaiser Napoleon in seiner Chasseur-Uniform langsamen Schrittes auf mich zukam und ganz ruhig, aber mit zusammengezogenen Augenbrauen verbissenen Unwillens mich mit der lakonischen Frage ansprach: „Wo ist Ihr Kontingent?“ Napoleon ist wutentbrannt und unterstellt dem Verbündeten Verrat. Hinter der Gefangennahme der Soldaten stecke ein abgekartetes Spiel. Der Herzog sei sein Feind und konspiriere mit Preußen und der Kaiserin von Österreich („meiner Schwiegermutter“). Napoleon droht damit, Jena niederzubrennen. Dort mehrten sich ohnehin gegen ihn gerichtete Umtriebe der Studenten, die selbst vor Überfällen auf Franzosen nicht zurückschreckten: „Und was wollen denn alle diese Ideologen, diese Faselhänse? Sie wollen die Revolution in Deutschland! Sie wollen sich von allen Banden, die sie an Frankreich fesseln, befreien! Wißt Ihr Deutschen aber auch, was eine Revolution ist? Ihr wißt es nicht! Aber ich, ich weiß es. Ich habe diese Ströme Bluts Frankreich überschwemmen sehen, ich habe obenauf geschwommen, und ich will es nicht dulden, daß jene schrecklichen Szenen sich in Deutschland erneuern …“ Der Kaiser sucht Schuldige und hat zwei
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Männer ausgemacht, die er erschießen lassen will, darunter einen ehemaligen Kammerherrn. In dieser Situation lässt Regierungsrat von Müller alle Vorsicht fahren und geht Napoleon an: „Dieser furchtbare Lakonismus reizte mich grenzenlos auf. Herr von Wolfskeel, aufs tiefste erschüttert, brach in Tränen aus, während ich, in der Verzweiflung alles aufs Spiel setzend, ungestüm auf Napoleon eindrang, der, wie bei der gleichgültigsten Sache, mit den Händen auf dem Rücken im Zimmer auf- und abging. „Nein, Sire“, rief ich leidenschaftlich aus, „Sie können, Sie werden solche Greueltat niemals vollführen, Sie können es nicht! Sie werden nicht den Glanz Ihres Ruhmes auf immer verdunkeln und unschuldig Blut kalt vergießen!“ Napoleon fühlt sich angegriffen, legt gar die Hand an den Degen; Müller wird zurückgerissen. Aber der despotische Herrscher erkennt seinen Mut an und gibt die Angelegenheit zur Prüfung weiter, die wohlwollend ausfällt. Die Nerven liegen blank, allerorten Erschöpfung und Kriegsmüdigkeit. Auch unter den französischen Soldaten, die in Deutschland ihren Dienst tun. Im Juni berichtet ein Infanterist aus Stade: „ Es geht uns hier sehr gut. Die Bürger müssen uns verpflegen. Wir haben Städte und Dörfer geplündert, weil die Einwohner sich empörten. Wir essen bei den Bürgern, aber wir wagen nicht da zu schlafen, aus Angst, sie könnten uns umbringen. Wir nächtigen in den Scheunen, wo die ganze Kompanie versammelt ist.“ Ein anderer macht in Hamburg bessere Erfahrungen: „Am Ostertag um 2 Uhr morgens erlitten wir gegen die Kosaken eine Niederlage, zwei Meilen vor Bremen, in einem Dorf, dessen Bauern wohl mit jenen zusammen gegen uns gefeuert haben … Den Mittwoch darauf zündeten wir zur Vergeltung das ganze Dorf an, um 3 Uhr morgens, alle Bewohner, soweit wir sie erwischten, machten wir zu Gefangenen. Ich habe mit Freuden davon profitiert, das heißt, ich kam zu Geld und freue mich immerzu daran.“ Aus Schlesien schreibt ein Franzose von abgebrannten Dörfern und von Landsleuten, die von Bauern getötet wurden. In der Festung Magdeburg klagt ein Unteroffi-
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zier über Hunger: „Wir mussten Wurzeln essen, und nicht einmal davon gab es genug … Ich habe nicht ein einziges Paar Schuhe, habe sie alle abgelaufen.“ In der Tat hatte sich die Kriegsführung geändert und mit ihr auch die Zahl der Toten und Verwundeten. Maß sich deren Zahl bei den Italienfeldzügen 1796/97 noch in Hunderte, so zählte man 10 Jahre später tausende Tote und zehntausende Verwundete. Ursache dafür war die Feuerkraft der Artillerie und das gewaltige Aufeinandertreffen riesiger Menschenmassen. Napoleons flexible und schnelle Kriegsführung ließ zudem eine rasche Versorgung kaum zu, immer mehr Soldaten ernährten sich unmittelbar vom Land, durch das sie zogen – zu Lasten der Bevölkerung. Hohe Verluste entstanden durch Wundbrand und Epidemien: In Austerlitz zählte man 10 000 Typhus-Opfer, in Jena starben 15 000 Soldaten wegen infizierter Wunden. Von Glück konnte sprechen, wer Gliedmaßen verlor und das überlebte. Der kaiserliche Chefchirurg Dominique-Jean Larrey schreibt 1812 vom Schlachtfeld von Witebsk an seine Frau: „45 Amputationen von Armen, Unter armen, Schenkeln und Beinen wurden in meinem Beisein von den Ersten Chirurgen durchgeführt.“ Die napoleonischen Kriege hinterließen eine Armee von Amputierten. Das war in Russland der Fall gewesen und nun in Sachsen. Hier kamen in der zweiten Jahreshälfte 1813 mehr als eine Million Soldaten zusammen, nicht wenige davon unterernährt, krank und schlecht ausgerüstet. Preußische Landwehr-Regimenter etwa marschierten barfuß! Kriegs- und Befreiungsbegeisterung hielten sich bei der Masse der Soldaten und unter der Bevölkerung in Grenzen. Man wünschte sich Frieden und ein normales Leben ohne die Verwüstungen weiter Landstriche, ohne Zerstörungen, Plünderungen durch die Soldaten aller Armeen und den Mangel an Lebensmitteln. Ein französischer Leutnant schreibt im August in sein Tagebuch: „Es war höchste Zeit, das unglückliche Land zu verlassen; wir ließen grausame Spuren unseres Aufenthaltes zurück. Menschen und Pferde hatten fast alle Lebens-
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mittel aufgezehrt. Die Ernte war zum größten Teil schon vor der Reife abgemäht worden; dazu kamen die Requisitionen aller Art, und man wird begreifen, daß das Land allem Elend preisgegeben war. Ich beklagte besonders die armen Bauern; das Unrecht, das man den Herren antat, war gering im Vergleich mit dem nicht wiedergutzumachenden Übel, das man ihren Vasallen zufügte.“ Der sächsische Beamte Christian Gotthelf Zeis erkennt seine Güter Hermsdorf und Langhennersdorf Ende August kaum wieder, nachdem der französische General Vandamme hier mit seinem Stab Stellung bezogen hatte und wieder aufgebrochen war: „Da war, ein kleines verwundetes Schwein ausgenommen, kein Stück Vieh, weder groß noch klein, mehr zu erblicken, und sonach ein Viehstand von 40 Kühen, 20 Ochsen eine verhältnismäßige Anzahl von jungem Vieh, sämtliche Schweine und Federvieh – kurz alles war verloren, und auch die Scheunen waren geleert. Die reiche Ernte aber auf 300 Scheffel Feld, die in der Richtung nach Böhmen lagen, war zertreten oder zu den Hütten in den Biwaks verbracht. Das Wohnhaus gewährte den Anblick der gräßlichsten Zerstörung. Die Möbel waren zerhackt, die Bücher zerrissen, selbst die Saiten auf den musikalischen Instrumenten zerhauen und Kisten und Kasten geleert. In Küche und Keller war nirgend ein Geschirr mehr vorhanden. Die Federn waren aus den Betten gestübt, die Überzüge waren mitgenommen. Das Hofgesinde hatte die Flucht ergriffen, und eine öde dumpfe Stille, die bloß durch die gespenstergleichen Blessierten und Maroden, die im Hause umherschlichen, unterbrochen wurde, beherrschte das Ganze.“ Über den kärglichen Rest machen sich Tage später die Russen her, dann kehren mit veränderten Fronten wieder französische Offiziere zurück: „Als sie am Abend bemerkten, daß uns nichts wie trockenes Brot übriggeblieben war, teilten sie ihren kleinen Vorrat an Semmel mit uns; auch mußten wir ihnen aus ihren mit Arrak gefüllten Korbflaschen Bescheid tun. Dies edle Benehmen bestärkte uns in dem Glauben, daß es unter allen Nationen gute Menschen gibt. Dagegen hatten wir aufs neue unsere Not mit den Marodeurs, die aus dem sofort wiederum bei Gießhü-
Der Krieg in Sachsen
bel aufgestellten französischen Lager in ganzen Scharen zu uns herüberzogen und immer zuerst die Mühlen, die Quellen unserer Existenz nach beendigter Ernte, ausplünderten. Unsere bis zur Verzweiflung gebrachten Untertanen, die die Offiziere selbst dazu aufgemuntert, griff jedoch selbst zur Wehr und bedauerten nachmals, es nicht längst getan zu haben. Mehr wie fünf bis sechs solcher Banden wurden an diesen und den folgenden Tagen durch Steinhagel und Mistgabeln zerstreut, wobei fünf Franzosen totgeschlagen wurden und einer unserer Untertanen blessiert ward.“ Das Leid von Bevölkerung und Soldaten war immens, doch für die Strategen war das ohne Bedeutung: Sie zählten nach Köpfen und Kanonen, nach Aufmarschgebieten und günstigen Schlachtfeldern. Am Ende des Waffenstillstands hielten die Franzosen und ihre deutschen Verbündeten noch Niederschlesien besetzt und versammelten das Gros ihrer Truppen im Königreich Sachsen, dessen Herrscher Friedrich August I. treu zu Napoleon stand. Außerdem hielten französische Besatzungen etliche Festungen nicht nur an der Elbe (Magdeburg), sondern auch im Rücken der Alliierten insbesondere in Preußen (z. B. Stettin und Küstrin). Der Kaiser hatte sich Dresden als Hauptquartier gewählt, wo er über 400 000 Soldaten verfügte. (Deren Zahl war während des sommerlichen Waffenstillstands kräftig aufgestockt worden.) Wichtig war ihm die Elbe, die militärisch gesichert und mit zusätzlichen Brücken überquert worden war. Durch den Fluss waren Napoleons vorgerückte Streitkräfte mit Westphalen und anderen Rheinbundstaaten verbunden, über ihn rollte der Nachschub heran. Napoleon und seinen Verbündeten standen die Alliierten gegenüber: Russland und Preußen, die mit Schweden und vor allem mit Österreich beachtliche Verstärkung erhalten hatten. (Die hannoverschen Truppen Großbritanniens spielten hier keine herausragende Rolle und sollen darum im Folgenden unerwähnt bleiben.) Insgesamt verfügten sie über deutlich mehr als eine halbe Million Soldaten, darunter anfangs knapp 200 000 Preußen und etwa ebenso viele Österreicher. Diese Massen bildeten ge-
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wissermaßen einen Halbkreis um Napoleons sächsisches Aufmarschgebiet: Im Süden jenseits des Erzgebirges stand die Hauptarmee unter dem Oberbefehl des österreichischen Feldmarschalls Fürst Karl Philipp zu Schwarzenberg (1771–1820). In Brandenburg hielt sich die Nordarmee unter Bernadotte. Der hatte 1806 noch auf Seiten Napoleons Blücher nach Lübeck verfolgt, war 1810 mit kaiserlicher Zustimmung Kronprinz von Schweden geworden und hatte jetzt die Seiten gewechselt. Er befehligte um die 100 000 Russen, Preußen und Schweden. Schließlich die etwa ebenso starke preußisch-russische Schlesische Armee unter General Blücher, der von Schlesien anrückte und für sein Tempo berühmt (und berüchtigt) war. Der wenig später als „Marschall Vorwärts“ apostrophierte preußische Senior war wegen seiner schnellen Stellungswechsel und der damit verbunden häufigen Schanzarbeiten bekannt – eine Taktik, die seinen Soldaten viel abverlangte. Die Verbündeten agierten von diesen drei Operationsbasen aus, was die Versorgung und den Nachschub ihrer Truppen erleichterte. Der französische Kaiser befand sich in dieser Hinsicht im Nachteil und musste sich seine Soldaten letztlich aus Sachsen versorgen lassen – zum bekannten Leidwesen der Bevölkerung. Schwerer taten sich Preußen, Russen und Österreicher hingegen mit ihren drei Armeen der Vielzahl von über-, unter- und nebengeordneten Offizieren: Diese waren sich gegenseitig nicht immer grün und neigten zu Rivalitäten. Hinzu kamen die Einzelinteressen ihrer Monarchen und Reiche. Ein Beispiel: Bei einem Treffen im böhmischen Teplitz Anfang September stritt man darüber, ob Blücher Schlesien räumen (und damit möglicherweise preisgeben) und besser Böhmen (mit der Hauptarmee) schützen oder ob man im Gegenteil nordwärts marschieren solle, um Napoleon von Norden her anzugreifen, wofür Blücher und Gneisenau eintraten. Unter den Preußen wurde der ehemalige Marschall Bernadotte als Oberbefehlshaber der Nordarmee als passiv kritisiert. So General von Bülow (1755– 1816) an Blücher: „Sind es politische Gründe oder andere, kurz, des Prinzen Bernadottes System ist Nichtsthun, und nur auf eine gewalt-
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same Weise konnte man das herbeiführen, was geschehen.“ Abgesehen von diplomatischen und militärischen Differenzen führten offensichtlich auch mentale Unterschiede zu Verstimmungen. Der russische Offizier Friedrich von Schubert spricht von mangelnder Sympathie zwischen Preußen und Russen: „Die Hauptsache war, daß die preußische Pedanterie, ihre Aufschneidereien, ihre Rodomontaden, ihre ökonomischen Gewohnheiten sie durchaus zu keinen Kameraden für unsere Offiziere machten, die alle Lebemänner waren, den letzten Heller sorglos vertranken oder verspielten …“ Darum hätte die Preußen Neid erfüllt, während den Russen eigentlich die Franzosen sympathischer waren. Und so ging es fort … Aber letztendlich war dies alles nicht kriegsentscheidend, und die Koalition gegen Napoleon setzte sich durch. Ihre Absicht bestand darin, konzentrisch vorzurücken und die Franzosen nebst Verbündeten zu einer alles entscheidenden Hauptschlacht zu zwingen. Napoleon wollte sich die feindlichen Armeen hingegen einzeln vornehmen und suchte sich die seines alten Kameraden Bernadotte im Norden aus. Damit bestand ohne jeden Zweifel höchste Bedrohung für Berlin, wie sowieso Preußens Stellung die schwächste und angreifbarste unter den Alliierten war. Marschall Oudinot erhielt den Befehl, mit seiner Armée de Berlin vorzurücken, die aus etwa 70 000 Franzosen und Sachsen bestand. Günstigstenfalls nahm er die preußische Hauptstadt ein und vereinigte sich irgendwo weiter im Norden mit den Truppen Davouts aus Hamburg. Soweit kam er jedoch nicht, da er auf die Nordarmee stieß. Was immer dort unter dem schwedischen Kronprinzen und den preußischen und russischen Kommandeuren diskutiert wurde – es wurde knapp. Oudinots Männer hatten sich auf wenige Marschstunden Berlin genähert und mehrere Scharmützel hatten bereits stattgefunden. Daran waren auch einberufene Landwehrkorps unter General Tauentzien beteiligt. Eine Schlüsselstellung gewann schließlich das Dorf Großbeeren, aus dem die Preußen vertrieben worden waren. Bernadotte befahl daraufhin den Rückzug, den General von Bülow schlichtweg ignorierte.
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Die Preußen lieferten sich zuerst ein erbittertes Artillerieduell mit den Franzosen, dann griffen sie am Abend des 23. August bei strömendem Regen an. Nach einem blutigen Kampf Mann gegen Mann mit dem Bajonett zogen sich Franzosen und verbündete Sachsen zurück. Damit war Berlin gerettet und der erste Sieg im Herbst 1813 errungen. Zwei Wochen später gelang Bülow und Tauentzien mit später Unterstützung russischer und schwedischer Truppen bei Dennewitz ein weiterer Schlag gegen die vordrängenden Franzosen (diesmal unter Marschall Ney) und ihre Verbündeten des Rheinbunds. Berlin war von nun an sicher. Zu Kämpfen kam es auch in Schlesien, wo Napoleon die Schlesische Armee unter Blücher attackieren wollte. Als er sich gezwungen sah, nach Dresden zurückzukehren, übergab er den Oberbefehl an Marschall Macdonald. Dieser nahm sich vor, mit seinen 100 000 Mann die Katzbach zu überschreiten, einen Nebenfluss der Oder. Dem standen ein preußisches Korps unter Yorck sowie zwei russische unter dem Franzosen Langeron sowie dem Balten von Sacken entgegen, auch sie hatten etwa 100 000 Soldaten unter ihrem Befehl. An jenem Augusttag, als in Mecklenburg Theodor Körner den Tod fand, entspann sich in Schlesien eine wütende Schlacht mit hohen Verlusten auf beiden Seiten. Dabei riss der reißende Fluss nicht wenige Kämpfer oder Flüchtende in den Tod. Der Sieger hieß am Ende Blücher. Der Feind hatte tausende Männer verloren, drei seiner Generäle gerieten in Gefangenschaft, die Artillerie war durch den Verlust von 100 Kanonen geschwächt. Doch schlimmer wog wahrscheinlich die Demoralisierung durch diese Niederlage; denn der französische Vormarsch nach Schlesien war gestoppt. Die Richtung hieß nun hier wie im Norden: Sachsen. Schließlich entwickelte sich bei Hagelberg südwestlich von Potsdam eine Auseinandersetzung zwischen jeweils 10 000 Soldaten, wobei auf preußischer Seite in großem Maße Landwehr zum Einsatz kam. Auch dieses Gefecht endete mit einem Sieg der Alliierten, wobei teilweise äußerst brutal mit Bajonetten und Gewehrkolben gekämpft wurde. August Neidhardt von
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Gneisenau hat als Generalleutnant und Stabschef Blüchers die wenigen Augusttage in einem Brief nach London zusammengefasst: „In den acht Tagen vom 19. bis zum 26. [August 1813] hat unsere Armee acht große Gefechte (die kleinen gar nicht gerechnet), deren mehrere uns 4–5000 Mann an Toten und Verwundeten kosteten, und eine Schlacht geliefert. Seit der Schlacht abermals drei Gefechte. Einen solchen tätigen Feldzug hat nicht leicht eine Armee gemacht, wenigstens kenne ich keine dergleichen in der Kriegsgeschichte … Am 21. hatten wir bei Löwenberg, wie wir jetzt wissen, die Hauptmacht Napoleons und ihn selbst gegen uns. Wir hatten da mit 140 000 uns gegenüber zu manövrieren. Wir schlugen uns mit ihm den ganzen Tag, hielten indes den größeren Teil unserer Truppen aus dem Gefecht, zogen uns langsam zurück und stellten uns eine Meile von da wieder auf. Als er sah, dass er uns nicht in eine nachteilige Schlacht verwickeln konnte, und erfuhr, dass er nicht den Kaiser Alexander und die Hauptarmee vor sich hatte, wandte er sich am 23. wieder um und ging nach der Elbe.“
Schlachtfeld Dresden Napoleon traf in Dresden genau zur rechten Zeit ein, denn mittlerweile wird die Stadt wurde von der alliierten Hauptarmee belagert. Deren Oberbefehlshaber Fürst zu Schwarzenberg hatte sich dazu entschieden, die Initiative zu ergreifen und Napoleon durch ein Überschreiten des Erzgebirges zuvorzukommen. Nun steht er am 25. August mit seinen etwa 200 000 Mann vor der sächsischen Residenzstadt, die Marschall St. Cyr hatte befestigen lassen. Da aber seine Besatzung recht schwach ist (30 000 Sachsen und Franzosen), verfügten Österreicher, Preußen und Russen über ein erdrückendes Übergewicht. Den Boden haben in gewisser Weise die Siege vor Berlin bereitet, die Einnahme der Elbstadt lag auf der Hand. Da zögerte Schwarzenberg mit dem Befehl zum Angriff, angeblich auf Bitten des Zaren. Nun ist er für den 26. August ge-
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plant, was fatale Folgen hat. Denn just an diesem Tag trifft Napoleon aus Schlesien ein, woher er in Eilmärschen herangestürmt ist. Mit seinem Heer verstärkt er die Truppen der Verteidiger um ein vielfaches, außerdem übernimmt er sofort den Oberbefehl über die Befestigungswerke und lässt noch einmal sein strategisches Geschick aufblitzen. Denn zum einen widersteht er der heftigen Kanonade der Alliierten, zum anderen gelingt es seinen Truppen, bereits in die Vorstädte eingedrungene Preußen und Österreicher wieder zu vertreiben. Dann lässt er das Geschützfeuer mit Vehemenz erwidern und zur großen Überraschung der zahlenmäßig immer noch überlegenen Belagerer macht Marschall Murat, Napoleons Schwager und erprobter Reiterhaudegen einen Ausfall mit seiner Kavallerie, bei dem zahlreiche Österreicher in Gefangenschaft geraten und die Russen die Flucht ergreifen. Nun gibt es – einen Tag nach Napoleons Rückkehr – für die alliierte Hauptarmee kein Halten mehr und viele Soldaten ergreifen die Flucht. Fürst Schwarzenberg befiehlt schließlich den Rückzug nach Böhmen und krönt somit Napoleons glänzenden Sieg – seinen letzten großen Sieg auf deutschem Boden, der den Franzosen immerhin 14 000 Gefangene, 26 Geschütze und 30 Munitionswagen einbringt. Die Geschlagenen fliehen bei strömendem Regen in Auflösung über die Pässe des Erzgebirges. General Vandamme setzt ihnen mit ausgeruhten Soldaten nach. Zurück bleiben auf beiden Seiten jeweils mehr als 10 000 Gefallene, darunter der ehemalige Revolutionsgeneral Jean-Victor Moreau, der aus Opposition zu Napoleon nach Nordamerika ausgewandert war und nun auf Einladung Zar Alexanders I. diesen als Generaladjutant berät. Ihm zerschmettert eine Kanonenkugel beide Beine, sodass er wenige Tage später stirbt. Über das Leiden und Sterben der Menschen in und vor Dresden, über die Schrecken der napoleonischen Kriege hat der damals an der Elbe als Kapellmeister tätige E.T.A. Hoffmann in seinem Tagebuch eindrückliche Aufzeichnungen hinterlassen: „26. – Frühmorgens 7 Uhr wurde ich durch den Donner der Kanonen geweckt; ich eilte sogleich
Schlachtfeld Dresden
auf den Boden des Nebenhauses und sah, wie die Franzosen in geringer Entfernung vor den Schanzen mehrere Batterien aufgestellt hatten, die mit feindlichen Batterien, welche am Fuße der Berge standen, auf das heftigste engagiert waren. Mit Hilfe eines sehr guten Glases konnte ich deutlich bemerken, daß sehr starke russische und österreichische Kolonnen (an der weißen Uniform sehr kenntlich) sich von den Bergen herab bewegten. Eine Batterie nach der andern rückte näher, die Franzosen retirierten bis in die Schanzen, und nun wurde sogar von den Stadtwällen aus grobem Geschütz gefeuert; der Kanonendonner wurde so heftig, daß die Erde bebte und die Fenster zitterten.“ Wie wir wissen, befinden sich Soldaten der Alliierten bereits in den Vorstädten. Hoffmann will mehr in Erfahrung bringen und eilt auf die Brühlsche Terrasse, womöglich sieht er dort Napoleon. Und in der Tat kommt dieser um 11 Uhr „auf einem kleinen falben Pferde über die Brücke schnell geritten – es war eine dumpfe Stille im Volk …“. Um ihn herum die ganze Entourage, Marschälle und Adjutanten, die Garden, andere Soldaten. Nach diesem Ausflug begibt sich der Schriftsteller wieder in sein „Observatorium“ und hört die Kanonenkugeln sausen. Offensichtlich schießt man auf die Stadt: „Eben wollte ich in meine Haustüre treten, als zischend und prasselnd über meinen Kopf eine Granate wegfuhr und nur 15 Schritte weiter vor der Wohnung des Generals Gouvion St. Cyr zwischen vier gefüllte Pulverwagen, die eben zur Abfahrt bereitstanden, niederfiel und sprang, so daß die Pferde sich bäumend Reißaus nahmen.“ Glücklicherweise bleiben die Pulverwagen verschont, unter den vielen Menschen nahbei gibt es keine Opfer zu beklagen. „Wenige Minuten darauf kam eine zweite Granate und riß ein Stück vom Dache des gegenüberstehenden Cagiorgischen Hauses weg und drückte drei Fenster der Mezzane zusammen, daß das Holzwerk und die Ziegelsteine prasselnd auf die Gasse stürzten – bald darauf fiel eine dritte in der Nebengasse in ein Haus, und es war mir klar, daß eine Batterie gerade auf unser Stadtviertel spielte …“ Während sich die Bewohner ängstlich versammelten, schleicht Hoffmann zu dem ihm bekann-
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ten Schauspieler Keller, der am Neumarkt wohnt. Bei einem Glas Wein sehen sie „gemütlich“ zum Fenster hinaus, „als eine Granate mitten auf dem Platze niederfiel und platzte – in demselben Augenblick fiel ein westfälischer Soldat, der eben Wasser pumpen wollte, mit zerschmettertem Kopfe tot nieder – und ziemlich weit davon ein anständig gekleideter Bürger. – Dieser schien sich aufraffen zu wollen – aber der Leib war ihm aufgerissen, die Gedärme hingen heraus, er fiel tot nieder (zu bemerken: fünf Minuten später ritt der Kaiser über den Neumarkt, gerade, wo der Bürger getroffen, nach dem Pirnaer Tor), noch drei Menschen wurden an der Frauenkirche von derselben Granate hart verwundet.“ Den andauernden Granatenbeschuss will Hoffmann mit Wein und Rum unter seinen Hausgenossen verlebt und überlebt haben. Erst am Abend des 26. August hört der Beschuss auf, französische Garden haben mittlerweile die Verbündeten aus ihren Stellungen vertrieben. Aber Hoffmann weiß noch weitere Horrorgeschichten von diesem Tag zu berichten: Ein Kammermädchen sei vor der Haustüre „von einer Granate im strengsten Sinn des Wortes zerrissen“ worden. Einer Hebamme auf der Pirnaer Vorstadt wurde, als sie zum Fenster hinausschaute, der Kopf weggerissen; ebenso verlor „ein Handlungs-Commis, der im Comtoir saß, den Arm. Noch mehrere Bürger sind teils verwundet, teils getötet.“ Am folgenden Tag verebben endlich Kanonenfeuer und Schießereien. Schnell spricht es sich in Dresden herum: Die verbündeten Österreicher, Preußen und Russen haben eine schwere Niederlage erlitten. Einen Tag darauf geht Hoffmann aus der Stadt hinaus und sieht zum ersten Mal in seinem Leben ein Schlachtfeld: „Erst heute hatte man angefangen aufzuräumen, und zwar wurden, wie ich bemerkte, zuerst die gebliebenen Franzosen nackt ausgezogen und in große Gruben zu 20, 30 verscharrt. – Hier hatten die russischen Jäger unter dem wütenden Feuer der französischen Kanonen gestürmt, das Feld war daher überdeckt mit Russen, zum Teil auf die schrecklichste Weise verstümmelt und zerrissen. – So z. B. sah ich einen, dem gerade die Hälfte des Kopfes
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weggerissen – ein scheußlicher Anblick –, Pferde – Menschen – daneben Gewehre – Säbel – gesprengte Pulverwagen – Tschakos – Patronentaschen – alles in wilder Unordnung durcheinandergeworfen …“ Nach diesen Eindrücken des Grauens spricht Hoffmann gar von einem leichten Tod, bringt er doch den Soldaten Erlösung von ihren Leiden. Was haben hingegen die erbärmlich Verstümmelten für ein schlimmes Geschick zu tragen? Den Juristen und Künstler lassen die Bilder so schnell nicht mehr los, wahrscheinlich haben sie seine literarischen Arbeiten von nun an mitgeprägt. Wenige Monate später widmet er ihnen „Die Vision auf dem Schlachtfelde bei Dresden“, die das Gesehene als Apokalypse des Jahres 1813 wiedergibt: „Auf den dampfenden Ruinen des Feldschlößchens stand ich und sah‘ hinab in die mit blutigen Leichen, mit Sterbenden bedeckte Ebene. Das dumpfe Röcheln des Todeskampfes, das Gewinsel des Schmerzes, das entsetzliche Geheul wütender Verzweiflung durchschnitt die Lüfte, und wie ein ferner Orkan brauste der Kanonendonner, die noch nicht gesättigte Rache furchtbar verkündend. Da war es mir, als zöge ein dünner Nebel über die Flur, und in ihm schwamm eine Rauchsäule, die sich allmählig verdickte zu einer finstern Gestalt. Näher und näher schwebend stand sie hoch über meinem Haupte, da regte und bewegte sich alles auf dem Schlachtfelde; zerrissene Menschen standen auf und streckten ihre blutigen Schädel empor, und wilder wurde das Geheul, entsetzlicher der Jammer!“ Der Tyrann Napoleon erscheint und weist alle Schuld von sich, wird aber schließlich von einem fürchterlichen, riesigen Drachen ergriffen. „Als ich, wie aus schwerem Traum erwacht, die Ruinen verließ, hatte sich schon tiefe Dämmerung über die Flur gelegt; der Raub schlich gierig spähend dem Morde nach – winselnde Sterbende wurden geplündert. Es hielt schwer durch den Schlag zu kommen, denn der Tumult herein – und herausziehender Soldaten drückte die Menschen zusammen. – Noch hallte die Stimme der ewigen Macht, die das Urteil über den Verdammten gesprochen, in meiner Brust, als ich schon in friedlicher Wohnung von den Schrecknissen des Tages ausrastete. – Ruhiger
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wurde es endlich in meiner Seele, und bald war es mir, als sei das glänzende Sternbild der Dioskuren segensreich über der Erde aufgegangen, die erquickt den mütterlichen Schoß öffnete, um die Früchte des Friedens in nie versiegendem Reichtum zu spenden. Ich erkannte die strahlenden Helden, die Söhne der Götter: Alexander und Friedrich Wilhelm!“ So endet der apokalyptische Albtraum E.T.A. Hoffmanns und ihm folgt die Verherrlichung des Zaren und Friedrich Wilhelms III. Als der Dichter diese Zeilen schrieb, war Napoleon zwar nicht von einem Drachen geholt worden, aber er hatte Deutschland für immer verlassen. Das hätte General Vandamme verhindern können, als er Ende August nach Napoleons Sieg vor Dresden den geschlagenen Alliierten mit 30 000 Mann nachsetzte. Er wollte über den Nollendorfer Pass das Erzgebirge überqueren und den Flüchtenden eine endgültige Niederlage bereiten. Dies misslang ihm gründlich, obwohl es anfangs gar nicht schlecht aussah, verstopften doch zehntausende Soldaten der Verbündeten die Passstraße. Ihre Rettung hatten sie vor allem dem jungen Prinzen Eugen von Württemberg (1788–1857) zu verdanken, der als General in russischen Diensten stand und sich bereits während Napoleons Einmarsch in Russland große Meriten erworben hatte. Hier nun bei Kulm und Nolldendorf hält er Vandammes Truppen stand. Und mehr noch: In dessen Rücken taucht auf einmal der preußische General Friedrich von Kleist auf, was die Situation völlig verändert. Vandammes Männer haben nun an zwei Fronten zu kämpfen und das im waldreichen Gebirge. Ein Fiasko für die Franzosen: Tausende finden den Tod, 10 000 Männer geraten in Gefangenschaft, darunter der General selbst. Mit diesem streckenweise unübersichtlichen Sieg in den Wäldern hatten die Verbündeten ihre Scharte von Dresden ausgewetzt. Alles war wieder offen. Die folgenden Septemberwochen entwickeln sich zu Napoleons Ungunsten. Zum einen will er Blücher mit dessen Schlesischer Armee zum Kampf stellen. Der aber kann immer wieder ausweichen, genauso Bernadotte mit der Nordarmee. Zum anderen muss er sich davor hüten,
Schlachtfeld Dresden
seine Streitkräfte zu zersplittern und kleinere Einheiten der Gefahr von Überfällen regulärer feindlicher Truppen und der partisanenartig operierenden Kosaken auszusetzen. Seine vielfach gerühmte strategische Beweglichkeit ist damit dahin, der französische Kaiser sammelt seine Armeen im Raum Leipzig und erwartet den Feind. Der erringt klare Vorteile, als es gelingt, die für Napoleon so wichtige Elbe-Front zu nehmen und den Fluss bei Wartenburg zu überqueren. Am 3. Oktober schaffen genau das die Preußen des Korps von General Yorck, der unter dem Oberbefehl Blüchers steht. Wenige Tage später kann es ihnen die Nordarmee Bernadottes gleichtun. Die Schlinge um Napoleon zieht sich damit zusammen, und noch anderes kommt hinzu: Am ersten Oktobertag besetzen Kosaken Kassel und erklären das Königreich Westphalen für aufgelöst. Obwohl sie sich nur wenige Tage halten können und französische Truppen die Rückeroberung vornehmen, ist dies doch ein Zeichen fortschreitender Erosion der napoleonischen Herrschaft in Deutschland – zunächst noch auf militärischer Ebene. Doch die Erosion erfasst auch bald den politischen Bereich: Die intensiven Bemühungen des Staatskanzlers Metternich, den Rheinbund aufzubrechen, zeigen einen ersten Erfolg – nicht zuletzt im Angesicht der zunehmend prekären militärischen Lage Napoleons. Ausgerechnet das Königreich Bayern macht den Anfang und erklärt sich im Vertrag von Ried gegenüber dem alten Rivalen Österreich bereit, den Rheinbund zu verlassen und sich mit mindestens 36 000 Soldaten am Bündnis gegen die bisherige Schutzmacht Frankreich zu beteiligen. Gegen diese Entscheidung stemmte sich König Maximilian energisch, bis ihn schließlich sein eigener Sohn der Kronprinz, General von Wrede (der noch bayerische Kontingente auf den Russlandfeldzug geführt hatte) und sogar der Reformminister Montgelas „überstimmten“. Aber Metternich muss für diese Hundertachtziggraddrehung bayerischer Politik schon etwas bieten: die Anerkennung der Souveränität des Königreichs und dessen territoriale Unversehrtheit. Der anstehende Verlust von Tirol würde durch Gewinne kompensiert werden. Preußen und Russland schlossen sich
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diesen Vereinbarungen an und vertragsgemäß erklärte Bayern am 14. Oktober Frankreich den Krieg. Das erschwerte Napoleons militärische Lage erheblich; außerdem war nun ein Präzedenzfall geschaffen worden, der anderen Mitgliedern des Rheinbundes gewisse Sicherheit bot. Wenn auch teilweise von Napoleons Gnaden geschaffen und unter seinem Schutz, konnten sie sich ihrer Souveränität sicher sein, sollten sie noch rechtzeitig das Lager wechseln. Wenn es einen gab, der diese Politik gegenüber den Fürsten des Rheinbunds nicht gern sah, dann war es der Freiherr vom Stein, der schon einen Plan für die Verwaltung der eroberten Gebiete in Deutschland entworfen hatte. Doch mit dem Vertrag von Ried sah es so aus, als gäbe es in Deutschland nichts zu erobern und zu „nationalisieren“. Anscheinend wurden die Fürsten des Rheinbunds mit ihren Territorien mehr oder weniger in ein neu zu gestaltendes Deutschland integriert. Steins „Zentralverwaltungsrat“ für die befreiten Gebiete hatte damit so gut wie nichts zu sagen und verschwand später sang- und klanglos. Derweil stand bei Leipzig die große Entscheidungsschlacht an.
Leipzig – die größte Schlacht der Geschichte Dem, was an einem Wochenende Mitte Oktober 1813 seinen Lauf nahm, gebühren alle Attribute eines Superlativs. Als „Völkerschlacht“ ist er in die deutsche Geschichtsschreibung eingegangen und bezeichnet das Ende Napoleons und seines Empire. Den Franzosen galt das Geschehen als la bataille des géants („Schlacht der Giganten“), auch wenn sie dem Ergebnis keine entscheidende Bedeutung zumaßen. In jedem Fall entspann sich bei Leipzig die für damalige Verhältnisse „größte Schlacht der Weltgeschichte“, allenfalls noch vergleichbar mit der legendären Schlacht auf den Katalaunischen Feldern, bei der 451 der Hunnenkönig Attila zum Rückzug gezwungen wurde. Hier in Sachsen waren so viele Menschen an den Kämpfen beteiligt, mehr als eine
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halbe Million Soldaten. Kein Wunder, dass man sich mit der Vorstellung eines einzigen zusammenhängenden Kampfgeschehens schwertut – in Wahrheit zerfiel die Schlacht vom 16. bis 19. Oktober denn auch in zahllose Kampfhandlungen aller Waffengattungen. Den Oberbefehlshabern bot sich damit keine reelle Möglichkeit, einen Gesamteindruck zu gewinnen und zu erfahren, wie die Auseinandersetzungen in einem Umkreis von etlichen Kilometern überhaupt standen. Nur eines war gewiss: Die alliierten Russen, Österreicher, Preußen und Schweden stellten mit 300 000 Mann die Überzahl gegen Napoleons 200 000 Soldaten, die sich aus Franzosen, Soldaten des Rheinbunds wie Sachsen, Württemberger, Hessen sowie Polen und Italienern zusammensetzten. Seit Mitte Oktober werden immer mehr Truppen im Raum Leipzig zusammengezogen. Ein Augenzeuge beobachtet einmal mehr die Not der Bevölkerung in den umliegenden Dörfern: „Die Anzahl der Truppen nahm nunmehr von Tag zu Tag zu, und seit dem 10. Oktober wurde sie immer größer. An Magazine war nicht mehr zu denken. Die Soldaten lebten von den Dörfern, wo sie biwakierten oder vor denen sie vorbeizogen, und das Schicksal, das nunmehro diese traf, war über alle Beschreibung schrecklich. Die Einwohner wurden anfänglich bedrückt, dann misshandelt und endlich zur Flucht genötigt. Zuerst holte man Lebensmittel und das Futter aus den Dörfern, dann trieb man das Vieh fort und trug alles Holzwerk in die Biwaks, brach die Treppen ab, hob die Türen aus und riss die Balken heraus; hierauf raubte man den Einwohnern ihre Kleidung, ihr Geld und alle Sachen von Wert, und endlich plünderte man sie gänzlich aus und ließ den unglücklichen nichts weiter als die Augen zum Weinen.“ Am 14. Oktober trifft Napoleon mit seiner Armee in Leipzig ein und bereitet sich offensichtlich auf die Entscheidungsschlacht vor. Seine Trupen konzentriert er insbesondere im Südosten der Stadt in der Nähe mehr oder weniger zerstörter Dörfer, die Wachau, Connewitz oder Probstheida heißen. Die bewährten Marschälle Murat, Macdonald und Fürst Poniatowski führen ihre Truppen, Letzterer erst zu Beginn der Schlacht zum Marschall ernannt und mit
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seinen 14 000 Polen aus dem Großherzogtum Warschau Napoleon treu ergeben. Diese Massierung der französischen Kräfte ist natürlich kein Zufall, denn ihnen gegenüber steht die Hauptarmee unter dem Oberbefehl des Fürsten Schwarzenberg, der aus Böhmen erneut vorgedrungen ist. Dass die Alliierten Napoleons Armeen einschließen wollen, zeigt sich, als im Norden die Schlesische Armee unter Blücher heranrückt. Gegen Ende der Schlacht taucht dann auch noch der notorisch zögerliche Bernadotte mit seinen Truppen auf. Doch auch der französische Kaiser bleibt ungewohnt zurückhaltend. Er unternimmt nur wenig, um den enger werdenden Ring um Leipzig etwa durch schnelle Überraschungsvorstöße zu verhindern. Was immer die Gründe dafür gewesen sein mögen – sie reichen von strategischen Argumenten bis zu gesundheitlichen Problemen –, der Ring schließt sich immer mehr, aber nicht ganz. Denn obwohl der österreichische General Radetzky das Einkesseln des Feindes gefordert hat, setzt er sich nicht durch. Den Russen scheint die erforderliche Zangenbewegung zu riskant zu sein. Darum bleibt westlich von Leipzig eine Lücke über die Weiße Elster, ein Nebenfluss der Saale. Und nun zu den Ereignissen: Am Sonnabend, dem 16. Oktober eröffnen die Alliierten vormittags im Süden die Kämpfe. Der französische Kaiser befindet sich gerade auf seinem Gefechtsstand am Galgenberg etwas nördlich von Wachau. Der sächsische Oberst von Odeleben berichtet, der Kaiser habe auf seinem Aussichtspunkt mit dem typischen Opernglas rekognosziert, als ihn der König von Neapel, Joachim Murat, auf die feindlichen Angriffskolonnen aufmerksam macht. Als Napoleon die Höhe verlässt, eröffnen die Verbündeten mit drei Signalschüssen die Schlacht: „Die Kugeln flogen über das Gefolge hinweg und richteten in den etwas rückwärts haltenden Kürassier-Regimentern und in der Kaiserlichen Garde einigen Schaden an. Eine unerhörte Kanonade von beiden Seiten begann auf der ganzen Linie und wurde fünf Stunden lang so rastlos fortgesetzt, daß die Erde zuweilen im eigentlichen Sinne des Wortes erbebte.“ Begleitet vom Geschützfeuer, stürmen Russen und
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Österreicher heran und liefern sich erbitterte Kämpfe mit den Verteidigern, wobei nicht selten ein einziges ohnehin längst in Trümmern liegendes Dorf mehrmals die Besitzer wechselt. Die energischen Angriffe der russischen und preußischen Soldaten unter Befehl des Prinzen von Württemberg zwingen Napoleon sogar zeitweise, seinen Aussichtspunkt zurückzuverlegen. Murat revanchiert sich mit einer energischen Reiterattacke. Derweil haben die Alliierten massive Probleme, stecken doch 30 000 Österreicher in den sumpfigen Auen zwischen Pleiße und Elster regelrecht fest; nicht mehr als 9000 Franzosen und Polen unter Poniatowski können sie in Schach halten. Schließlich droht sogar der Gefechtsstand mit den verbündeten Monarchen nebst Oberbefehls haber Schwarzenberg genommen zu werden. Ihre Reihen wanken, drohen auseinanderzubrechen oder gar überrannt zu werden. Denn nun lässt Napoleon angreifen, und der Sieg über die Hauptarmee scheint in greifbarer Nähe. Der Empereur ist zumindest davon überzeugt, Siegesmeldungen machen die Runde. Aber wie unter zwei bis zur völligen Erschöpfung angeschlagenen Kontrahenten verpufft der Ansturm. Ob Freund, ob Feind – die Soldaten können nicht mehr, und beide Seiten verfügen in dieser Situation über keinerlei Reserven, auf die sie zurückgreifen könnten. Gleichwohl zeigt sich trotz des „gefühlten“ Tagessieges der Franzosen und ihrer Verbündeten, dass die antinapoleonische Allianz im Vorteil ist. Denn vor allem Blüchers Männer haben im Norden angegriffen und im Nahkampf unter Yorcks Befehl den Franzosen das Dorf Möckern abgenommen. Diesen bleibt nichts als der Rückzug Richtung Leipzig. So endet der Tag mit einer Patt-Situation bei Nachteilen Napoleons. Er kann nämlich auf keine Verstärkung bauen, kein Entsatzheer wird seinen Männern Luft verschaffen und den Kaiser heraushauen. Anders die Alliierten im Süden und im Norden: Diese können immerhin noch Bernadotte erwarten, haben weitere Reserven in der Hinterhand. Für die etwa 32 000 Einwohner Leipzigs ist die Schlacht noch in sicherer Entfernung. Über ihre Empfindungen kann bei allen Zeitzeug-
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nissen nur gemutmaßt werden. Offiziell stand Sachsen mit seinem König Napoleon treu zur Seite, wodurch Leipzig gleichsam vom Feind belagert wurde. Immerhin hatte Friedrich August I. noch einen Aufruf erlassen, am Bündnis mit Napoleon unbeirrt festzuhalten. Der Schriftsteller Friedrich Rochlitz, bekannt mit Goethe, E.T.A. Hoffmann und anderen Vertretern deutschen Kulturlebens, sah die Schlacht vor seiner Geburtsstadt allerdings ganz anders: „Da indes das Zentrum [Schwarzenbergs] vielleicht durchbrochen, vielleicht sonst in Unordnung gebracht, sicher wenigstens zurückgedrängt war, so flogen Adjutanten und Eilboten aller Art herein nach der Stadt, schrien unaufhörlich die Siegespost aus mit dem Lebehoch des Kaisers … was nicht Franzos ist oder scheinen wollte, stürzte von den Straßen weg, die Türen zuwerfend, um seine Gefühle unbelauert ausströmen zu lassen … Indes waren Frauen und Kinder mit Fernröhren auf dem obersten Boden des Hauses verweilt, sie wollten die Überzeugung erzwingen, man irre sich. Und eben jetzt … dröhnt das Vive l´Empereur auch zu ihnen hinauf, die Glocken fangen den Siegeston an. Da fliegen sie die Treppe herab zu mir, laut weinend, mich krampfhaft umklammernd, ruft meine Henriette: So ist auch das und alles vorbei. …“ Und Rochlitz will in dieser Situation verzweifelt ausgerufen haben „Lass uns sterben! Ein Leben, wie es uns nun erwartet, ist ohne Wert und kann auch uns nur verschlechtern.“ Der folgende Sonntag blieb ruhig und wurde zu Verhandlungen genutzt. So sandte Napoleon nach einem Gespräch mit dem in Gefangenschaft geratenen Grafen von Merveldt, einem westfälischen Adligen in österreichischen Diensten, diesen in das alliierte Hauptquartier, um des Kaisers Angebot zu Waffenruhe und einem Friedensplan vorzustellen. Doch darauf keine Reaktion! Die verbündeten Monarchen und ihre Generäle sahen offensichtlich die Vorteile auf ihrer Seite und wollten dem Kaiser keine Chance mehr geben. Rochlitz erlebt derweil in Leipzig die Schrecken der Schlacht, die sich für die Bevölkerung in Nahrungsmittelknappheit zeigt: In der ganzen Stadt gab es um keinen Preis
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Brot zu kaufen. Alle Bäcker hätten verdoppelte Wachen, damit auch nicht ein Stück, sowie es heiß aus dem Ofen kommt, den Behörden entgehe. Furchtbar auch hier das Klagen der Verletzten, die von den Kampfplätzen nach Leipzig hineingebracht werden: „Man hat seit gestern Abend unaufhörlich mit Verbinden und Unterbringen der Verwundeten sich abgearbeitet, und noch immer liegen nicht wenige am Markte und in den angrenzenden Straßen unversorgt auf den Steinen, sodass man an mehreren Stellen, ganz wortwörtlich genommen, durch Blut schreitet.“ Bemerkenswert an Rochlitz’ Erinnerungen – ganz ähnlich übrigens wie bei dem romantischen Maler und Arzt Carl Gustav Carus – die Zuweisung nationaler Unterschiede, wobei die Deutschen mit ihrer unterstellten Warmherzigkeit und Humanität erheblich besser wegkommen als die Franzosen: „Wer die ungeheure Kluft zwischen französischem und deutschem Charakter nicht schon kannte, der könnte gewissermaßen dazu kommen, wenn er auch nur die Ärzte und Chirurgen beider Nationen in der Tätigkeit beobachtete, wozu sie jetzt aufgerufen sind. Selbst die Unglücklichen, die eben um Beistand wimmerten, verstummen zitternd und verhehlen nicht selten ihre brennenden Wunden, kommt einer ihrer Landsleute in ihre Nähe, bis ein Deutscher nahet, den sie anflehen können. Die gröblichste und doch hoffärtige Unwissenheit, die kalte Härte, das leere Prahlen, Lärmen, Herumfahren und Schwatzen, die rücksichtslose Behandlung aller über einen und den allergemeinsten Leisten, bei nicht leicht vergessenen Rücksichten auf die nicht zu beschmutzende eigene Kleidung …“. Jedenfalls herrscht wohl die Meinung vor, Napoleon habe zu wenig in sein Sanitätskorps investiert. Für den Leipziger Dichter waren die auf den Straßen zu beobachtenden Gräuel schier unfassbar. Den französischen Soldaten unterstellt er schlicht Barbarei beim Umgang mit ihren verwundeten Kameraden. Wo im Übrigen die Einwohner der Stadt nicht freiwillig halfen, wurden sie zu Abgaben verpflichtet, etwa von Betten, Vorräten und Arbeitsgerät. Mit ihren Spaten mussten sie zur Verstärkung der Verteidigungsschanzen antreten.
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Am Montag wird der Kampf mit unvermittelter Härte wieder aufgenommen; denn Fürst Schwarzenberg lässt in aller Frühe sechs Kolonnen angreifen. An diesem 18. Oktober trifft nun auch der schwedische Kronprinz mit seiner Nordarmee ein. Allein zahlenmäßig verändert er die Situation dadurch gründlich: Während Napoleon nur noch 150 000 Mann unter seinem Befehl hat, verfügen die Alliierten trotz hoher Verluste über nahezu 300 000. Mit mehr als 1300 Geschützen haben sie zudem über doppelt so viele wie die Verteidiger Leipzigs zur Verfügung. Jetzt nehmen Blücher und Bernadotte von Norden sowie Schwarzenberg von Süden die Franzosen und ihre Verbündeten regelrecht in die Zange und zwingen uf diese Weise Napoleon, seine Truppen immer mehr auf Leipzig zurückzuziehen. Den Einwohnern der Stadt kann das nicht verborgen geblieben sein; denn je näher die feindlichen bzw. alliierten Geschütze in Stellung gebracht werden, umso stärker werden nun auch Wohnhäuser getroffen und Menschen verletzt oder gar getötet. Obwohl sich auch an diesem dritten Tag die Kämpfe aufsplittern und sogar Napoleons Offiziere noch den einen oder anderen Vorteil oder kleinen Sieg erringen, bleibt es dabei: Der Kreis schließt sich, den Alliierten ist der Sieg nicht mehr zu nehmen. Ein anderes kommt hinzu und sollte für den nationalen Aspekt der Befreiungskriege von großer Bedeutung werden: Jetzt, als die Schlacht so gut wie verloren ist, wechseln einzelne deutsche Verbündete Napoleons auf Befehl ihrer Offiziere die Seiten – etwa die Sachsen. Auch unter den einfachen Rekruten schien der Krieg an der Seite Napoleons nicht populär zu sein, waren doch bereits früher etliche nach Böhmen geflüchtet, von wo sie in der „Leipziger Zeitung“ zur Rückkehr aufgerufen wurden. Nach Ende der Waffenruhe im August sollten 16 000 Sachsen mit nach Berlin marschieren. Als dieser Vormarsch von den Preußen gestoppt wurde, gaben sich Teile der sächsischen Truppe recht bereitwillig gefangen. Ein ganzes Bataillon lief sogar zu den Schweden Bernadottes über. Und jetzt Leipzig in der Heimat: Mancher Soldat hatte mit Empörung die Ausplünderung und Kontributionen unter seinen
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Landsleuten beobachtet. Aus Unmut sollen die sächsischen Truppen wenige Tage vor der Schlacht Napoleon sogar das übliche Vive l´empereur verweigert haben. Im Schlachtgetümmel des 18. Oktober laufen ganze Regimenter der Sachsen, gefolgt von Württembergern und Hessen, zum Feind über. Am leichtesten hatte es dabei die schnelle Kavallerie, während Infanteristen und Artilleristen erst später folgten. Die Wirkung unter den Franzosen muss schockierend gewesen sein, zumal Kosaken die sich Absetzenden abschirmten und es schlagartig zu Kämpfen mit Franzosen kam. Der Vorwurf des hinterhältigen Verrats der deutschen Verbündeten liegt seitdem in der Luft. Marschall Macdonald gibt seiner Empörung Ausdruck: „Ich sah die Sachsen, als sie die vom Feinde verlassene Stellung erreicht hatten, plötzlich gegen das ihnen folgende zweite Treffen [Franzosen] Front machen und feuern. Kalten Blutes, in himmelschreiender Weise, schossen sie die Ahnungslosen nieder, mit denen sie bis hierher in treuer Waffenbrüderschaft gefochten. Nirgends weist die Geschichte einen ähnlich schändlichen Verrat auf.“ Ein weiteres Zeugnis: „Völlig verblüfft und entsetzt machte das zweite Treffen kehrt und lief davon, verfolgt von denselben Truppen, deren Fahnen noch wenige Minuten vorher mit unsern Adlern das gleiche Ziel erstrebt hatten. Freudig aufgenommen vom Feinde, unterstützte dieser sogleich die Bewegung der Verräter …“ Ein beteiligter sächsischer Soldat erlebte dies so: „Wir erhielten Befehl, das Geschütz aufzuprotzen und avancierten so, was wir nur laufen konnten, auf den Feind los. Als wir so athemlos, was die Pferde nur noch leisten konnten, einige Schritte zurückgelegt hatten, kamen mehrere Regimenter Kosaken auf uns zu gesprengt, die, als sie sich uns näherten, ein Freudengeschrei ausstießen, zwischen uns durchsprengten, um uns, die wir, wie wir nun sahen, zu dem Feinde übergingen, den Rücken zu decken, da die Franzosen, die unser Vorhaben nun errathen haben mochten, ein mörderisches Feuer hinter uns drein gemacht haben sollen.“ Napoleon diente dieses Überlaufen später als Begründung seiner Niederlage. Denn laut offiziellem Bulletin war ihm der Sieg zumindest über Blü-
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chers Armee sicher, erst der „Verrat“ der Sachsen und anderer habe die Linien aufgerissen und ihm zum Nachteil gereicht. Die militärische Bedeutung der übergelaufenen deutschen Verbündeten mag bezweifelt werden, jedenfalls erkannte der französische Kaiser, dass er vor Leipzig das Ruhmesblatt nicht mehr wenden konnte. Seine Truppen zogen sich deshalb in die Stadt zurück und bereiteten nun deren Verteidigung vor. Noch in der Nacht begann Napoleons Rückzug mit dem größten Teil der Armee. Der Zeitzeuge Rochlitz: „Jetzt ist, seit gegen 4 Uhr, die Kanonade allmählich verstummt; auch das Kleingewehrfeuer ist schwach geworden, hat sich weiter entfernt, und seit ½ 5 Uhr hört es fast ganz auf. Der Weg für die flüchtenden Franzosen (denn für Flüchtende muß man sie doch nun wohl nehmen?) zum Ranstädter Tore hinaus, gegen Lützen usw. war wieder offen …“ Die einsetzende Dunkelheit zeigt eine gespenstische Szenerie, denn am Horizont zeichnen sich überdeutlich die Flammen der brennenden Dörfer ab, während auf den ehemaligen Promenaden rund um die Stadt die Wachtfeuer flackern. Der Kaiser zieht über das Dörfchen Lindenau Richtung Westen ab. Seine Soldaten folgen ihm. Mit einem fluchtartigen Rückzug hatte der Feldherr anscheinend nicht gerechnet, denn Behelfsbrücken für die Überquerung der Elster wurden nicht geschlagen. Darum quälen sich Tausende über die einzige bestehende Brücke. Diese soll zerstört werden, um dem Feind eine Verfolgung zu erschweren. Als die Sprengung zu früh erfolgt, ist das Chaos perfekt. Unzähligen Soldaten ist damit der Fluchtweg versperrt, sie stürzen in den Fluss und ertrinken. Andere werden gefangen genommen. Unter den Elster-Opfern befindet sich auch der allseits verehrte Marschall Poniatowski, dessen Leichnam erst Tage später geborgen wird. Marschall Macdonald, der den Rückzug seines Kaisers decken soll, bereitet sich derweil auf einen Häuserkampf in den Straßen Leipzigs vor. Ein Einwohner berichtet davon, wie französische Soldaten hinter Friedhofsmauern in Deckung gehen und Schießlöcher in dieselben schlagen. Außerdem hätten sie sein Haus besetzt, die Familie verjagt und die Fenster hinausgeschlagen, um
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sich darin mit Blick auf die Straße zu postieren. Aber die Kämpfe währen nicht lange, allenfalls halten sich noch vereinzelt französische Heckenschützen. Rochlitz hört den „fröhlichen Marsch der hellen Jagdhörner preußischer Freiwilliger“ – namentlich des Königsberger Landwehrbataillons –, das als erstes in Leipzig einmarschiert sein soll: „meine Tränen stürzten hervor; ich rief überlaut den Meinen zu, herbeizukommen und gleichfalls zu hören, ob sie mich gleich nicht vernehmen konnten; von meiner Brust war mit eins alles Beengende verflogen; ich riß die Fenster auf und ließ die Kugeln pfeifen, wie sie wollten; ich wehete mit dem weißen Tuche hinüber … Die Sieger zogen in scharfgedrängten Reihen eilig heran. Neben diesen Reihen, wo sich irgendein Räumchen fand, drängten Ungeduldige jauchzend noch schneller sich vorwärts.“ Nach den Preußen strömen Schweden, Russen und Österreicher herein. Noch vereinzelt kommt es zu Kämpfen Mann gegen Mann – in Gärten und „bis in viele Wohnzimmer“ hinein. Der Arzt Carl Gustav Carus berichtet von Explosionen und davon, dass die alliierten Truppen sich nicht alle vorbildlich verhielten: „Was noch von Franzosen in der Stadt war, verteidigte sich jetzt nur noch schwach; von allen Seiten drangen preußische und russische Truppen herein, hier und da wurde geplündert. Ein preußischer Offizier, den wir an der Haustür mit einem Trunk gelabt hatten, wurde unser Schutz gegen die Plünderungslust russischer Jäger, die vom Rosental her über die Planken der Gärten hereinkamen …“. Der enthusiasmiertere Schriftsteller Rochlitz nimmt regelrechte Verbrüderungsszenen wahr: „Das Korps Badner streckte am Markte, unser sächsisches in der Grimmaischen Gasse das Gewehr; auf Befehl des Kronprinzen von Schweden nahmen sie es sogleich zurück; und auf den Anruf der Sieger: Brüder, mit uns! stürzten ganze Haufen einander in die Arme. Dies sowie das Zusammentreffen der Monarchen auf dem Markte, nahe an der Wohnung unsers Königs, wo sie ebenfalls sich umarmten und einige Minuten verweileten; dazu den Jubel der Wonne, des Preises Gottes von den Herren und allem Volk …“ Der sächsische Mo-
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narch Friedrich August, der partout nicht vom Bündnis mit Napoleon lassen wollte, wird gefangen genommen, was sonst keinem Rheinbundfürsten geschah. Bis ins übernächste Jahr sollte er bei Berlin in preußischer Haft bleiben, bis er in sein Königreich zurückkehren durfte. Am 19. Oktober enden die Kämpfe um und in Leipzig – Zeit für ein erstes Resümee: Die „Völkerschlacht“ hat weit über 50 000 Alliierte und 40 000 Franzosen und deren Verbündete das Leben gekostet. Sie hinterlässt 70 000 Verwundete, die nur sehr unzureichend versorgt werden können. Um die 60 Ortschaften der Umgebung sind verwüstet; Jahre sollten vergehen, bis sich das Land von den Folgen des Gemetzels halbwegs erholt hatte. Der Berliner Medizinprofessor Johann Christian Reil berichtet dem Freiherrn vom Stein, in Halle lägen 7000 Kranke, unterwegs habe er ununterbrochen Verwundete gesehen – „wie Kälber auf Schubkarren“. Noch sieben Tage nach dem Ende der Schlacht brachte man Verwundete vom Schlachtfeld. In Leipzig versuchte man 20 000 Verwundete und Kranke aller Nationen zu versorgen: „Die zügelloseste Phantasie ist nicht imstande, sich ein Bild des Jammers in so grellen Farben auszumalen, als ich es hier in der Wirklichkeit vor mir fand.“ Typhus bricht aus, dem wenig später auch der Mediziner erliegt. Eine letzte Impression aus Leipzig: „Der Platz vor der Mühle am Ranstädter Tore war mit weggeworfenen verrosteten Gewehren und umgestürzten Wagen bedeckt; hier und da, kaum kenntlich, lagen im Schmutz des Bodens Leichen französischer Soldaten und gefallener Pferde, überall war das freie Holzwerk an Barrieren usw. zu Wachtfeuern weggebrochen … Eben, als ich wieder nach Hause zurückkehren wollte, landete in der Nähe ein kleiner Fischerkahn, in dem ein stattlicher Leichnam ausgestreckt lag, bekleidet mit polnischer Generalsuniform: es war der des Fürsten Poniatowski … Ein Anblick, der sonst Hunderte von Zuschauern herbeigezogen haben würde, er erregte jetzt kaum das Umsehen einiger Vorübergehender.“ Noch lange bleibt Leipzig ein wahres Inferno aus Verwundeten, unbestatteten Toten, sich ausbreitenden Seuchen, aus Zerstörung, Plünderung und Leichenfledderei. (Ein gutes Ge-
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schäft machte man, wenn man den Toten die Kinnladen aufbrach und ihnen die weißesten Zähne herausbrach, um sie zur Wiederverwendung zu verkaufen). In der Stadt vegetierten zudem noch Massen verwundeter und gefangener Franzosen dahin, um die sich so recht niemand kümmerte. Um dem Hungertod zu entgehen, aßen sie verfaultes Pferdefleisch und sollen selbst vor Kannibalismus nicht zurückgeschreckt sein. Den Geheimrat Goethe plagten derweil ganz andere Probleme. Nur wenige Tage nach der Schlacht rückten die Verbündeten in Weimar ein. Goethe sollte in seinem Haus den österreichischen Feldzeugmeister Hieronymus Graf von Colloredo samt Gefolge beherbergen. Er empfing den Gast wie üblich, aber vielleicht auch provokant mit dem Kreuz der Ehrenlegion am Revers, das ihm Napoleon in Erfurt verliehen hatte. (Allerdings trug er auch den russischen Annen-Orden des Zaren.) Colloredos Reaktion war sehr harsch: „Pfui Teufel, wie kann man so etwas tragen!“. Während des drei Tage währenden Aufenthalts war die Stimmung im Haus am Frauenplan entsprechend frostig, auch nicht zuletzt deshalb, weil der Österreicher auf Goethes Kosten eine reichbesetzte Tafel mit 24 Personen unterhielt. Der Weimarer Dichterfürst erwies sich gegenüber Wilhelm von Humboldt als Mann von Grundsätzen: Man könne doch einen Orden, durch den einen ein Kaiser ausgezeichnet hatte, nicht ablegen, weil er eine Schlacht verloren habe.
Napoleons Flucht Aber Kaiser Napoleon hat doch mehr verloren als eine Schlacht. Nach kurzem Aufenthalt in seinem bald schon historischen Fürstentum Erfurt zieht er mit knapp 80 000 Mann Richtung Rhein. Als der Grenzstrom Frankreichs nicht mehr fern war, stellte sich ihm Ende Oktober 1813 der ehemalige Verbündete General Carl Philipp von Wrede mit einem 30 000 Soldaten umfassenden bayerisch-östereichischem Heer
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in den Weg. In mehreren Gefechten gelingt es dem Bayern allerdings nicht, die Franzosen aufzuhalten. Er verliert mehr als 9000 Männer, darunter fast 200 Offiziere, und wird selbst schwer verwundet. Obwohl auch Napoleon hohe Verluste zu beklagen hat, erringt er doch hier in Südhessen seinen letzten Sieg in Deutschland. Anfang Dezember hält er sich für mehrere Tage in Mainz auf, das er schließlich am 7. Dezember abends verlässt. Deutschland nach alten wie nach neuen Grenzen hat der Imperator damit für immer verlassen. Nur noch 60 000 Soldaten sind ihm von seinem Herbstfeldzug übrig geblieben. Die Verbündeten folgen ihm auf dem Fuße, doch zuerst ergehen sich die Sieger auf den Spuren des Heiligen Römischen Reiches, dessen Ende Napoleon 1806 betrieben hatte (und das jetzt niemand zurückhaben möchte). Gleichwohl entbehrt es nicht der überdeutlichen Symbolik, dass die Monarchen und ihre Entourage nebst Truppen in der alten Wahl- und Krönungsstadt Frankfurt am 5. November einziehen. Wilhelm von Humboldt ist dabei im Gefolge des österreichischen Kaisers Franz I., der sich zweifelsohne seiner Krönung vor 21 Jahren zum Kaiser des Heiligen Römischen Reiches erinnert. Humboldt reitet hinter den beiden Kaisern von Russland und Österreich in Frankfurt ein, im „Siegesglanz“ an einem „der Tage, die in der Geschichte glänzen werden“: „Die russische Garde zu Pferde, der Prinz Konstantin [Bruder des Zaren] an ihrer Spitze, ritt voran, dann kamen die beiden Kaiser, Alexander, um dem österreichischen Kaiser die Ehre des Tages zu lassen und des mehr ihm angehörenden Ortes, zur Linken, ein halb Pferd hinter seinem Kaiser, und ihm zur Seite Schwarzenberg, dann, was es an Gesandten, Ministern, Generalen, Adjutanten, Offizieren der Suite nur immer gab, zum Beschluß wieder Garden … Mit dem Eintritt in die Stadt begann ein Lärmen … Eine Reihe österreichischer Soldaten machte Spalier für den Zug mit klingendem Spiel und Trommeln hinter ihm und selbst vor ihm, soviel es anging, und an allen Fenstern und auf allen Dächern der Häuser war es von Menschen gedrängt voll, die alle zugleich alle unverständlichen und verständlichen Töne der Freude von
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sich gaben, die Hüte in die Höhe warfen und mit den Schnupftüchern schwenkten. Durch viele und enge Gassen ging das ohne Unterschied fort, und man fühlte doch in der Tat, daß es aus voller Brust und von Herzen geschah. Man hatte Sorge gehabt, den Zug durch dieselben Straßen als sonst bei der Kaiserkrönung zu lenken, und auch diese Erinnerung mochte beitragen. Vor dem Dom … hielt man still und stieg ab. Im Chor wurde das Hochamt gehalten und Tedeum gesungen. Im Chor war niemand, der nicht zum Gefolge gehörte, in der Kirche Kopf an Kopf. Beide Kaiser standen unter einem Thronhimmel vor einem Betstuhl … der Kaiser von Österreich dem Altar näher. An ihn richteten auch die Priester alle Aufmerksamkeit, Evangelienküssen, Räuchern usf. zuerst. Gegenüber war ein eigener Betstuhl für den Großfürsten Konstantin und einer für Schwarzenberg … dahinter ein Stuhl für das diplomatische Korps …“ Anschließend ging der Zug zu Alexanders, dann zu Franzens Haus. Am Abend wurde die Stadt illuminiert, und im Theater gab man „Titus“. Aktuelle Anspielungen dürfen dabei nicht fehlen: „Als Titus´ Hofleute ihm den Titel ‚Vater des Vaterlandes‘ geben, lehnt er ihn höflich von sich ab, sagt, er gebührt nicht ihm, sondern den erhabenen Monarchen, die als Sieger zur Befreiung der Welt kamen, und nun wenden sich die zurechtgewiesenen Hofleute an den rechten Ort und bringen ihr Heil und ihre Huldigung an.“ Im Dom erwähnt Humboldt außerdem „die traurige Tribüne der wenn nicht Besiegten, doch Gedemütigten“, nämlich ehemalige Minister und Ordensträger des Fürstprimas Karl Theodor von Dalberg, „freundliche Gesichter gegen uns, aber trübselig in sich.“ Diese Beobachtung rückt jenes dritte Deutschland ins Blickfeld, das sich bekanntlich während der Epoche des Ancien Régime zwischen den Großmächten Österreich und Preußen zunehmend bedroht sah. Was wird aus jenen deutschen Mittelstaaten, die ihre erweiterten Territorien nebst den Titeln und Kronen ihrer Monarchen Napoleon und seinem Schutz verdanken? In den Wochen und Monaten nach der Leipziger Schlacht bricht die Herrschaft des Rheinbunds zusammen, alte Regime werden
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wieder hergestellt, Übergangslösungen gesucht. Für Österreich und Preußen ist es am leichtesten, denn beide Monarchien gehören zu den Siegermächten. Sie können nach Niederlagen und Demütigungen darauf hoffen und auch fordern, dass ihr Einfluss bestehen bleibt. Und in Berlin, das letztlich die militärische und politische Hauptlast der Befreiungskriege trägt, ist man wie im ganzen Königreich im Siegestaumel. Bayern hat sich außerdem durch den frühen Frontenwechsel auf die sichere Seite gebracht. Ein Blick auf das restliche Deutschland verweist auf deutliche regionale Unterschiede, denn bei aller Dankbarkeit über das nahende Ende der endlosen Schlachten, Durchmärsche, Einquartierungen und Kontributionen ist der Frieden noch nicht erreicht. Doch zurück zu den betrübten Ministern des Fürstprimas von Dalberg, der die letztlich machtlose Leitung des Rheinbundes innehatte. Ihm hatte Napoleon in seiner typischen Willkür erst drei Jahre zuvor das Großherzogtum Frankfurt maßgeschneidert, das sich vom Main bis zur Fulda erstreckte. Dem Kleriker Karl Theodor von Dalberg konnte man die Redlichkeit nicht absprechen. In wenigen Jahren unternahm er den Versuch, von seiner Residenz in Aschaffenburg einen Musterstaat zu entwickeln, in dem er den Code civil als Gesetzbuch einführte, eine Ständevertretung berief, Frondienste abschaffte sowie eine Schulreform einführte und die Emanzipation der jüdischen Bevölkerung vorantrieb. Gleichwohl kam das Ende schnell, und er trat von sich aus zurück. Die Sieger beließen ihn als Erzbischof von Regensburg, also gewissermaßen in seiner alten geistlichen Würde. Sein großherzoglicher Kunststaat wurde sang- und klanglos zerschlagen. Das sollte – ging es nach preußischen Wünschen – auch mit dem ganzen Königreich Sachsen geschehen, was einer Friedensordnung vorbehalten blieb. Vorerst fiel das Land wie andere Gebiete auch (etwa die ehemals französischen Gebiete links des Rheins oder das Königreich Westphalen) unter die Administration des schon zuvor erwähnten Zentralverwaltungsdepartments des Freiherrn vom Stein. Dessen Beamte führten unter einzelnen Generalgouverneuren Reformen und Neugliederungen durch.
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Andere Rheinbundfürsten trat peu à peu aus der napoleonischen Confederation aus, bis diese schließlich für aufgelöst erklärt wurde. Darunter auch die Fürstin Pauline zur Lippe (1769–1820), der es gelang, ihr kleines Fürstentum durch die Klippen der politischen Umbrüche zu steuern. Früh schon hatte sich die Landesherrin um die Armenhilfe gekümmert, die Leibeigenschaft aufgehoben und eine Pflegeanstalt für geistig Kranke eingerichtet. In Letztere ließ sie übrigens noch Anfang November 1813 den preußischen Leutnant von Haxthausen einweisen, weil er angeblich Napoleon beleidigt hatte. Die Fürstin galt als glühende Verehrerin des Kaisers, und der Eingewiesene konnte erst von einer preußischen Patrouille bei der Besetzung des Landes befreit werden. Trotzdem konnte Lippe seinen Bestand sichern. Ganz anders sah dies im Großherzogtum Baden aus, das als Verwaltungsstaat unter Napoleons Gnaden erschaffen worden war und dem Bündnis mit Frankreich in Treue anhing. Zudem war der junge Großherzog Karl mit Napoleons Adoptivtochter Stéphanie de Beauharnais verheiratet, was ihn zusätzlich an Frankreich band. Letztlich drängten ihn die führenden Landespolitiker mit Erfolg zum Wechsel. Der Bestand Badens galt damit allerdings längst nicht gesichert, zumal die Bevölkerung in den unterschiedlichen Landesteilen beileibe nicht voll und ganz hinter Monarch und Regierung in Karlsruhe stand. Ein Beispiel dafür bot Freiburg im Breisgau, das als ehemalige Hauptstadt Vorderösterreichs sich immer noch eng mit den alten Landesherren verbunden fühlte. Als darum Mitte Dezember 1813 der österreichische Kaiser in die Stadt einzog, wurde ihm unbändiger Jubel bereitet, der in Karlsruhe schlimmste Befürchtungen weckte. Was aber geschah mit den linksrheinischen Gebieten, die teils seit zwei Jahrzehnten unter französischer Verwaltung standen? Trotz aller bürgerlichen Vorteile weinte die Masse der Bevölkerung den Franzosen keine Träne nach. Der Wunsch nach Frieden und sicheren Verhältnissen wog stärker. Die waren aber noch nicht erreicht. Das zeigt sich etwa am Beispiel Bonns, dessen benachbartes rechtes Rheinufer die Truppen
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der Verbündeten am 9. November erreichten. Tags darauf fielen die Kosaken durch Plünderungen auf. Darauf unterbanden die französischen Sicherheitskräfte jeglichen Verkehr über den Fluss. Dabei blieb es immerhin zwei Monate lang, bis die Franzosen die Stadt endgültig räumten. In dem entstandenen Machtvakuum drohten Plünderungen und Ausschreitungen gegen vermeintliche Freunde der ehemaligen Besatzer. Erst eine Gruppe von Landsturmmännern, die sich auf dem rechten Rheinufer gebildet hatte und um Hilfe gebeten wurde, sorgte gemeinsam mit Kosaken für mehr Sicherheit. Der Anführer des Landsturms übernahm vorübergehend das Amt des Stadtkommandanten. An was sollte die rheinische Bevölkerung glauben, worauf sollte sie hoffen? Die Herrschaft Frankreichs war vorbei, an deren Ende mögen sich noch am ehesten nationale Freudengefühle geknüpft haben. Die Rekonstruktion des Kölner Kurstaats war undenkbar. Was folgte nun: ein österreichischer Prinz? Preußen? Auch Speyer – wir erinnern uns des Ausflugs der Brüder Eichendorff wenige Jahre zuvor – blieb von den Ereignissen nicht verschont. Nach der Völkerschlacht zog es Tausende verwundete französische Soldaten in die Stadt, die man zumeist im riesigen Dom unterbrachte. Am letzten Tag des Jahres 1813 verließen die Franzosen die Stadt für immer und bereits mit dem Neujahrstag kamen die Kosaken über den Rhein. Mit fortschreitenden Siegen der Alliierten in Frankreich griffen auch hier zeitweise Ausschreitungen gegen vermutete Kollaborateure um sich. Und so ging es fort: Deutschlands Vielgliedrigkeit zeigte sich auch nach dem Ende Napoleons, das am ehesten die Nation zu binden schien. Derweil gaben sich auch die französischen Besatzungen der Festungen bald geschlagen und kapitulierten, so Dresden, Stettin, Torgau und Danzig. E.T.A. Hoffmann über den Abzug der Franzosen: „Wie die Spitzbuben das herrliche Dresden auf wirkliche sinnreiche Weise verwüstet und ruiniert haben, davon haben Sie keine Idee“: Beinahe alle „Lustörter“ wie die Gärten und das Feldschlösschen seien bis auf den Grund verwüstet, die Alleen meistens umgehauen. Aber zur Begeiste-
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rung laden auch die neuen Verhältnisse nicht ein. Der Philosoph Hegel berichtet aus Nürnberg: „Die Einquartierung war eine der am härtesten gefühlten Lasten; denn keine Auflage war so stark als sie; was das sonstige des Benehmens betrifft, so versicherte mich neulich eine honette Bürgersfrau, daß sie zwei Russen gehabt, aber lieber sechs Franzosen wollte als ein solches Schwein, und hinwiederum lieber drei Russen als von denen 44 Freiwilligen, die ihre Stadt neulich gestellt! – Die Befreiung sollte, meinte ich, eine Befreiung von den Lasten des vorigen Systems sein; das Bessere kommt jedoch erst nach. Das Vortreffliche, das bereits geschehen, liegt meinem Interesse noch zu fern …“ Erneut bezeugt man Goethes Reserviertheit gegenüber den Siegern. Ein preußischer Offizier, den er von 1792 und aus der Belagerung von Mainz kennt, zeigt sich regelrecht verärgert über „seine geringe patriotische Freude über unsere letzten glänzenden Siege und die Vertreibung Napoleons aus Deutschland“. Unter den vorrückenden Verbündeten bestand derweil noch keine Einigung über die Fortsetzung des Krieges und die damit zu verbindenden Ziele. Preußen war unversöhnlich und trat für den Einmarsch in Frankreich ein, während Russland eher dagegen war. Auch Metternich wünschte sich wohl keine totale Niederlage Napoleons. Als dieser jedoch ein Friedensangebot nicht annahm, das ihm Frankreichs Grenzen von 1792 zugesichert hätte, wurde der Krieg fortgesetzt und die verbündeten Truppen zogen nach Frankreich.
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Mit Blücher über’n Rhein Im Januar 1814 schreibt der preußische Leutnant Wilhelm Alberti vom rechten Rheinufer Koblenz gegenüber an seine Eltern: „Heute erblickte ich den längst so ersehnten Rhein mit seinen herrlichen Rebenufern; rechts im Vordergrund Ehrenbreitstein, und grade vor mir präsentierte sich Koblenz sehr herrlich; oh! Welche Gefühle durchströmten meine Brust, als ich diesen alten Vater Rhein dahinfließen sah. Die Vergangenheit war in diesem Augenblick verschwunden, und es schimmerte eine lächelnde, alles erfreuende Zukunft im schönsten Rosenlicht daher! – Wir haben dieses Ziel erreicht, und alles ist errungen, worauf die jetzige Deutschheit noch Ansprüche zu machen hatte! Laßt uns ganz Frankreich aufstehen! Mögen diese Bluthunde Brunnen vergiften, Städte unterminieren und was ihnen sonst ihr abscheulicher Abgott mit trügerischer Absicht ins Herz legt; es wird ihnen doch zu nichts fruchten! Wir werden unsere Hände im Blute der Rache waschen und laut aufjauchzen, wenn Tausende von ihnen in der höllenvollsten Pein wimmern und wehklagen werden!“ Da haben wir ihn wieder, den Ton der Befreiungsgesänge, wie ihn Ernst Moritz Arndt und Theodor Körner anstimmten und wie er besonders unter Preußen auf Resonanz stieß. Die Rheinbegeisterung des jungen Offiziers nimmt Preußens Engagement im Westen vorweg – als neue Schutzmacht des deutschen Stromes. Den hatte bereits in der Neujahrsnacht der mittlerweile zum Feldmarschall ernannte Blücher mit seinen Männern bei Kaub überquert. Sein Vordringen über die ehemalige französische Grenze gilt bis heute als berühmteste Tat des Feldzugs gegen Napoleon, war aber beileibe nicht die einzige des Vormarsches. Bereits zehn Tage zuvor hatten die Österreicher den Hochrhein bei Basel und Schaffhausen überschritten und damit die kurz vorher erklärte Schweizer Neutralität gebrochen. Aber das kümmerte wenig, ging es doch gegen Napoleon. Über Belgien rückten Russen und Preußen an, andere Armeen überschritten den Oberrhein bei Worms und Straßburg, aus Spanien zog Wellington über
Mit Blücher über’n Rhein
die Pyrenäen, in Italien kam es zu Kämpfen. Kein Zweifel: Im Jahr 1814 wurde nun Frankreich zum Kriegsschauplatz: Was 1792 die Revolutionstruppen in Lothringen noch hatten abwehren können, dem Kaiser gelang es nicht mehr. Die Größenverhältnisse hatten sich inzwischen noch mehr zu seinen Ungunsten verschlechtert; denn jetzt standen 375 000 Alliierte nur noch 115 000 Franzosen gegenüber, die zumal erschöpft, durch Seuchen dezimiert und schlichtweg demoralisiert waren. Nicht einmal auf seine Marschälle und Verwandten konnte der Kaiser noch rückhaltlos bauen: Sein eigener Schwager Joachim Murat nahm als König von Neapel Verhandlungen mit Österreich auf und verpflichtete sich, Truppen gegen Napoleon bereitzustellen. Zwei Wochen, nachdem er den Rhein überschritten hat, marschiert Blücher mit seinen Preußen in Nancy ein, der Hauptstadt des ehemaligen Herzogtums Lothringen, das einst Teil des Heiligen Römischen Reiches gewesen war. Aber nach einem Gebietstausch zwischen Habsburgern und Bourbonen gehörten Land und Stadt seit 1766 zur französischen Krone. Dem Feldmarschall gehen in der Stadt nahe der Mosel Gedanken an die ferne Vergangenheit durch den Kopf. Sein Generalquartiermeister berichtet: „Nancy war die erste der guten Städte Frankreichs, in welche wir einrückten; Gneisenau hielt es für angemessen, daß dies mit einem gewissen Pomp geschehe und daß der Feldmarschall diese Gelegenheit benutze, um sein Programm zur Kenntnis von ganz Frankreich zu bringen, wozu die Zeitung von Nancy eine gute Gelegenheit bot. Der Feldmarschall war einverstanden. Am 16. Januar, als die Avantgarde von Sacken eingerückt war, wurde der Oberst Graf Nostitz nach Nancy vorausgeschickt, um dem Maire anzukündigen, daß er den Feldmarschall feierlich mit einer Rede zu empfangen habe, und zwar in der altdeutschen Stadt mit einer Rede in deutscher Sprache, wovon er das Konzept einzureichen habe.“ Der Preuße macht deutlich, dass die Deutschen – oder genauer die Preußen – ihr Reich der Luft verlassen haben und sich anschicken, den Blick auf ehemals oder mutmaßlich deutsches Land zu werfen, insofern man es irgendwie mit
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deutscher Sprache verbinden kann. Von diesem bemerkenswerten Anspruch abgesehen verhielten sich die Preußen in Nancy anscheinend durchweg moderat. Schließlich erhob Marschall Vorwärts sogar sein Glas auf das Wohl der Stadt, „auf das Wohl von Frankreich, auf den Frieden und die Freundschaft dieses schönen Landes mit allen Völkern von Europa … wir sind gekommen, um Euch Glück und Freiheit zu bringen, aber Ihr werdet selbst einsehen, daß dies nur unter einer Bedingung möglich ist – Tod und Verderben dem Tyrannen, der zu lange schon die Geißel des französischen Volks, die Qual von Europa gewesen ist.“ – worauf die Franzosen nicht so gern ihre Gläser erheben wollten! Bei allen Differenzen über Strategien und Kriegsziele (Zar Alexander wollte Napoleons Sturz, Österreich war durchaus zu Friedensverhandlungen bereit) marschierten die Armeen der Verbündeten voran – nach Paris. Im Februar und März 1814 kam es vor allem in der Champagne zu etlichen Schlachten, von denen Napoleon die eine oder andere für sich entscheiden konnte; allein Blücher musste mehrere Niederlagen gegen die Truppen des französischen Kaisers hinnehmen. Nun hatte die französische Bevölkerung die grausamen Seiten des Krieges zu ertragen – zum ersten Mal nach langer Zeit. Dazu gehörten wie andernorts Plünderungen und Übergriffe der alliierten Soldaten, aber auch die Gegenwehr der Zivilisten, die bis zu Anschlägen gegen die Angreifer führte. Wie vormals französische Soldaten den Deutschen, misstrauen nun die Verbündeten der hiesigen Bevölkerung. Nach wechselndem Schlachtenglück erringt Napoleon bei Reims Mitte März seinen letzten Sieg. Danach kann er den Vormarsch der Verbündeten nicht mehr aufhalten, zumal gleichzeitige Friedensverhandlungen ergebnislos abgebrochen werden. Noch einmal Kämpfe in unmittelbarer Nähe der Hauptstadt, dann muss Paris die Waffen strecken. Der Kaiser verliert damit das Herz Frankreichs und das noch kürzlich Undenkbare geschieht: Ende März 1814 ziehen die Verbündeten in Paris ein. Dazu der Polizeipräfekt Pasquier: „Um 10 Uhr erschien Kaiser Alexander mit
Mit Blücher über’n Rhein
dem König von Preußen vor den Toren von Paris; zwischen 11 und 12 Uhr begann auf dem Boulevard, von der Porte Saint-Denis her, der unendliche Vorbeimarsch der Truppen aller Waffengattungen, die den beiden Herrschern voranzogen oder folgten. Eine ungeheure Volksmenge hatte sich schon am frühen Morgen an allen Punkten aufgestellt, wo die Fremden vorbeikommen mußten. Der Faubourg Saint-Denis und die Boulevards waren dicht mit Menschen bedeckt; diese Menge stand in düsterem Schweigen und sah den kommenden Ereignissen mit großer Unruhe entgegen.“ Das betraf zweifelsohne die Mehrheit der Einwohner, aber die Anhänger der alten Monarchie, die lange Zeit geschwiegen hatten, zeigten den Siegern ihre Sympathie. Diese Royalisten steckten sich die weiße Kokarde der Bourbonen an, andere schmückten sich mit weißen Bändern. So zogen sie den Herrschern entgegen, denen sie schließlich zuriefen: „Hoch die Bourbonen! Hoch die Souveräne! Hoch Kaiser Alexander!“ Aus vielen Fenstern schwenkten die Damen weiße Taschentücher. Die Herrscher verweilten schließlich auf den Champs-Elysées, wo sie ihre Truppen vorbeimarschieren ließen. Napoleon befindet sich derweil im 60 km entfernten Schloss von Fontainebleau, in dessen Umgebung er noch um die 60 000 Soldaten versammelt hat. Er erwägt, mit ihnen gegen die Hauptstadt zu marschieren und sie zurückzuerobern. Seine alte Garde gibt sich noch begeistert auf eine dementsprechende Rede des Kaisers: Vive l´Empereur! A Paris! Aber die Marschälle winken mehr oder weniger ab: Um welchen Preis wäre die mögliche Befreiung überhaupt zu haben? An der Seine drohten grausame und zerstörerische Straßen- und Häuserkämpfe. Auch unter ihnen macht sich nun Kriegsmüdigkeit breit, zumal die alliierten Armeen eine erdrückende Überzahl bilden. Davon abgesehen, in Paris werden zusehends Fakten für ein Frankreich und Europa nach Napoleon geschaffen: Das unter dem Kaiser so gut wie machtlose Oberhaus des Senats erklärt ihn für abgesetzt, sein bekanntermaßen anpassungsfähiger Außenminister Talleyrand verhandelt bereits eifrig mit den Verbündeten. Während der österreichische Staats-
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kanzler Metternich vor noch gar nicht langer Zeit die Regentschaft der Kaiserin Marie Louise, also einer Habsburgerin, favorisiert hatte, läuft jetzt alles auf eine Wiedereinsetzung der Bourbonen hin. In diesem Sinne beruft der Senat den Bruder des 1793 hingerichteten Ludwig XVI. als Ludwig XVIII. auf den Thron – Anfang Mai zieht er in Paris ein. Da hat Napoleon bereits abgedankt, sich in einer bewegenden Rede in Fontainebleau von seiner Garde verabschiedet und auf den Weg zur Insel Elba gemacht, die zwischen dem italienischen Festland und Korsika liegt und ihm als souveränes Fürstentum zugewiesen wurde. Derweil schlossen Ende Mai Ludwig XVIII. und der nun ihm dienende Talleyrand mit den Siegermächten den Pariser Frieden, bei dem Frankreich gut wegkam: Ihm blieben die Grenzen von 1792, außerdem musste es keine Reparationen zahlen. Sämtliche zumeist aus ganz Europa in den Louvre gebrachten Kunstwerke durften dort verbleiben – allein Preußen bestand auf seiner Quadriga, die in Berlin wieder ihren Platz auf dem Brandenburger Tor fand, von Karl Friedrich Schinkel allerdings um Eisernes Kreuz, Preußenadler und Lorbeerkranz bereichert. In der deutschen Öffentlichkeit reagierte man mit großer Unzufriedenheit über den für Frankreich außerordentlich milden Frieden. Dazu mag beigetragen haben, dass noch weit ins Jahr 1814 hinein zehntausende französische Soldaten Festungen in Deutschland besetzt hielten. Als letzte kapitulierten die Besatzungen von Erfurt, Würzburg, Wesel, Magdeburg und Hamburg. Dort hatte Marschall Davout ein strenges Regiment geführt, um den 50 000 russischen Belagerern zu trotzen. Die Bürger der Hansestadt wurden zu Schanzarbeiten verpflichtet, und noch Weihnachten 1813 mussten 20 000 Menschen die Stadt verlassen, weil man sie nicht ernähren konnte. Davout kapitulierte erst, als ihm ein Kurier Ludwigs XVIII. dessen Befehl überbrachte. Daraufhin verpflichtete er sich mit einem Treueid dem neuen König und ließ – kurioserweise – auf St. Michaelis statt der Trikolore das bourbonische Lilienbanner flaggen. Es signalisierte zugleich den endgültigen Abzug der
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Franzosen Ende Mai 1814. Immerhin sollen es mehr als 24 000 Mann gewesen sein, über 5 000 Kranke und Verwundete blieben noch an der Elbe zurück. Dann begann die Zeit des Friedens.
Wien: Der Kongress tagt … und tanzt Dieser Frieden musste organisiert werden, dauerhaft sein und die letzten zwanzig Jahre, wenn schon nicht rückgängig machen, so doch möglichst korrigieren. Bereits beim Pariser Friedensschluss hatte man darum vereinbart, in Wien zu einem großen Kongress zusammenzukommen, der das nachnapoleonische Europa ordnen sollte – und nicht zuletzt Deutschland in seiner Mitte. Seit September 1814 trafen daraufhin Delegationen, Unterhändler, Agenten in der österreichischen Hauptstadt ein, bis sich schließlich ganz Europa mit Ausnahme des Osmanischen Reiches versammelt hatte. Delegierte von 200 Staaten, Herrschaften, Städten und Körperschaften kamen zusammen. Doch all die Monarchen, Diplomaten sowie deren Entourage trafen nie alle auf einmal zusammen; der Kongress bestand aus einer Summe von Vorgesprächen, Beratungen, Ausschüssen, Geheimgesprächen und was es sonst noch an politischen und privaten Kontaktmöglichkeiten gab. Die Fäden zwischen Ballhaus, Hofburg und all den Palais und Schlössern in und um Wien zog Staatskanzler Metternich, dessen große Zeit nun anbrach. Er stand gleichsam den vier Siegermächten vor, die als europäische Großmächte das Sagen hatten: Österreich, Russland mit Zar Alexander und Minister Nesselrode, Preußen mit Kanzler Hardenberg und Wilhelm von Humboldt sowie Großbritannien, das von Castlereagh und später von Wellington vertreten wurde. Ihnen gesellten sich noch die kleineren Mächte des Pariser Friedens zur Seite, nämlich Spanien, Portugal und Schweden. Und kaum zu glauben, auch das besiegte Frankreich spielte recht schnell unter seinem alten und neuen Außenminister Talleyrand im Konzert der Großmächte wieder mit. Dies war nicht nur
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den Rangeleien zwischen den Mächten geschuldet, bei denen einem jeder Verbündete recht war, sondern auch der Tatsache, dass in Frankreich wieder der legitime Bourbonenherrscher den Thron innehatte. Denn Restauration lautete die Grundmaxime des Kongresses, die Wiederherstellung der legitimen Herrschaft. Die wollte man sich nur monarchisch denken, und die Monarchen von Gottes Gnaden sollten in Solidarität zusammenstehen und alle möglichen umstürzlerischen Bewegungen gemeinsam abwehren. War dann erst die politische Ordnung wieder hergestellt, sollte keine Großmacht mehr eine Hegemonie anstreben wie weiland das Imperium Napoleons. Europäisches Gleichgewicht war von nun an wieder das Zauberwort, womit Kriege abgewehrt und der Friede gesichert werden sollten. Diese Prinzipien galten zweifelsohne für die Großmächte; kleinere Fürstentümer oder Zwergstaaten des ehemaligen Heiligen Römischen Reiches durften kaum auf sie hoffen. Doch den Mitgliedern des Rheinbundes wurde die weitere Existenz zugesichert. Aber niemand – außer den Betroffenen selbst –wollte etwa die alten Reichsritterschaften wieder aufleben lassen. Auch an die Wiedergeburt der geistlichen Fürstentümer von Köln, Mainz und Trier war trotz aller Initiativen des Papstes nicht zu denken. Die auch ohne Napoleon eifrig betriebene Säkularisierung sollte keinesfalls rückgängig gemacht werden. Das Gleichgewicht war umstritten! Von Anfang an stellten nämlich Preußen und Russland anscheinend unverhandelbare Gebietsforderungen: Die HohenzollernMonarchie wollte sich nun endlich ihren kleineren Konkurrenten Sachsen einverleiben, der Zar beanspruchte ganz Polen für sich. Wegen dieser polnisch-sächsischen Streitfrage stand zeitweise ein neuer Waffengang zwischen den Verbündeten nicht fern, zumindest schlossen Österreich, Großbritannien und Frankreich schon einmal ein Defensivbündnis, das letztlich gegen die beiden anderen Großmächte gerichtet war. Die ereignisreichen Wochen und Monate in Wien kann man sich gar nicht turbulent genug vorstellen, wenn auch die diplomatischen Aktivitäten immer mehr von den gesellschaftlichen Festivitäten
Wien: Der Kongress tagt … und tanzt
in den Schatten gestellt wurden. Dass der Kongress tanze, sich aber nicht bewege, lautete ein berühmtes Aperçu. Das mochte mit Blick auf die offiziellen Ergebnisse zutreffen, die in der Tat auf sich warten ließen. Aber zwischen all den Ballnächten und mal subtil-kultivierten, mal handfesten Amouren verteilte sich doch ein Heer von Konfidenten über die Donaumetropole, die als Agenten, Spione und Vertrauensmänner den Diplomaten und Politikern nachgingen und mit allerlei Nachrichten, Gerüchten und Peinlichkeiten handelten. Dabei konnte insbesondere Staatskanzler Metternich Erfolge verbuchen. So kam man zusammen, beriet sich und verhandelte und nicht wenige Koalitionen wurden auf´s neue geknüpft. Gerade ein Jahr nach der blutigen Riesenschlacht vor Leipzig hegte etwa Österreich wieder Bedenken gegen den alten Rivalen Preußen, dessen Friedrich der Große den Habsburgern vor 70 Jahren Schlesien entrissen hatte. Ähnliches stand nicht zu befürchten, aber die von Napoleon so gedemütigte Hohenzollern-Monarchie schickte sich doch an, Wiedergutmachung zu fordern und ihr Gewicht im neuen Deutschland erheblich zu verstärken. Vereint im Misstrauen fanden Metternich und Talleyrand zusammen, ein zu starkes Preußen wollten sie beide nicht. Letzterer hielt sogar die Unterstützung kleiner deutscher Staaten für ausgesprochen wichtig – als Puffer gegen Berlin, dessen Landhunger er als unersättlich einstuft: „In Deutschland ist Preußen die Gefahr. Die Gestalt dieser Monarchie macht ihr die Ländergier zur Notwendigkeit. Preußen ist jeder Prätext recht. Es kennt keine Skupel. Recht ist, was ihm nützt ... Der furchtbare Zusammenbruch, den sein Ehrgeiz ihm einbrachte, hat es durchaus nicht von ihm geheilt. In diesem Augenblick wühlen seine Agenten und Anhänger in Deutschland, stellen Frankreich als eine Macht dar, welche immer neue Angriffe plane, und Preußen als die einzige, welche Deutschland verteidigen könne, deshalb dieses ihm ausgeliefert und von ihm gerettet werden müsse. Belgien hätte es haben wollen. Alles, was zwischen Frankreich, der Mosel und dem Rhein liegt, will es haben. Luxemburg will es haben. Bekommt es
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Mainz nicht, so ist alles verloren. Bekommt es Sachsen nicht, so hat es keine Sicherheit. Die Alliierten sollen verabredet haben, ihm den Umfang zu geben, den es vor 1807 hatte, also mit 10 Millionen Einwohnern. Aber wenn es nach ihm ginge, so hätte es bald 20 und wäre ganz Deutschland ihm unterworfen. Diesem Treiben muß man Grenzen setzen.“ Einem österreichischen Agenten ist das preußische Treiben äußerst suspekt. Gegenüber Metternich beurteilt er die preußische Mission als aktivste, die alle Kräfte auf´s energischste einsetze, um ihren Einfluss geltend zu machen: „Dazu ist das preußische Gefolge, so wie überall, so auch hier in hohem Grade beschäftigt, sich und ihre Anordnungen, ihren König und ihre Regierung über alles zu erheben und Vergleiche mit anderen anzustellen, um sich den Vorrang in Weisheit, Tapferkeit und Ordnung zusprechen zu lassen. Sie sprechen nur von ihrem König, rühmen an ihm die besondere Klugheit, seine Minister zu wählen, welche imstande waren, nach einem so kurzen Zeitraum des Friedens seinen so hart mitgenommenen Staaten aufzuhelfen.“ Mit Verwunderung registriert er die offenkundige wirtschaftliche und finanzielle Gesundung des Staates, dem gegenüber das viel größere Österreich bereits ins Hintertreffen geraten sei. Preußens Nachbarn begegnen der ambitionierten Monarchie mit zunehmendem Misstrauen – nicht zuletzt die kleineren Staaten, die ihre Existenz gefährdet sehen. Jedenfalls sieht sich der Wiener Kongress mit einer deutschen Frage konfrontiert, mit einem Problem in der Mitte Europas, das einer Lösung bedurfte. Was sollte an die Stelle des Heiligen Römischen Reiches treten? Napoleons Ordnung war perdu. Was würde mit den Rheinbundstaaten geschehen, wie ließen sich die Großmächte Österreich und Preußen bändigen? Preußen griff einen Vorschlag des rührigen Freiherrn vom Stein auf, der einen geradezu revolutionären Verfassungsentwurf ausgearbeitet hatte. Ihm zufolge sollte Deutschland in fünf Gebiete unterteilt werden, denen jeweils ein Regent vorstand. Dieser Plan hielt sich kaum an historische Vorgaben und gab Preußen die alleinige Macht in Norddeutschland. Ähnlich fiel er im
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Süden zugunsten Österreichs aus. Kein Wunder also, dass Mittelmächte damit nicht einverstanden waren. Da sich Bayern und Württemberg in Sicherheit wähnten, opponierten am meisten die Großherzogtümer Baden und Hessen-Darmstadt sowie das Königreich Sachsen, dessen Bestand ohnehin auf dem Spiel stand. Mit diesen dreien nahm Frankreichs Talleyrand Kontakt auf und lud ihre Delegierten häufig zu Gesprächen ein. Der hessische Vertreter betont das dabei herrschende Unwohlsein: „Die von Preußen angetragenen fünf Regenten von Deutschland gefallen weder dem Herrn Talleyrand noch mir. Herr Talleyrand gibt uns kleinen deutschen Gouvernements den ernstlichen Rat, die angetragene Konstitution, wenn beim Kongreß dieselbe an uns gebracht wird, nicht zu akzeptieren. Das wird auch geschehen. Die angetragene Konstitution wird nicht akzeptiert werden. Wir wollen einen Kaiser haben und nicht fünf; wir wollen Österreich zum Kaiser haben.“ Dem Franzosen wiederum sind deutsche Einheitsbestrebungen nicht geheuer. Wenige Jahre nach den Reiseschilderungen einer Madame de Staël und ihrem Bild einer miefigen Kulturnation oder eines Jean Paulschen Luftreiches sieht er gewissermaßen ein Menetekel an der Wand: „Die Germanomanen – deutsche Einheit, das ist ihr Schrei, ihre Doktrin, ihre Religion, die sie mit wahrem Fanatismo bekennen. Wer kann die Folgen berechnen, wenn eine Masse wie die deutsche, zu einem einzigen Ganzen gemischt, aggressiv würde? Wer kann sagen, wo eine solche Bewegung haltmachen würde?“ Noch erhielten diese Befürchtungen keine Nahrung, denn das Ergebnis des Wiener Kongresses sah eine Ordnung für Deutschland vor, die weit von der nationalen Einheit entfernt war. Als der Kongress im Juni 1815 zu Ende ging, hat er mit der Bundesakte nicht nur den deutschen Ländern eine neue Form gegeben. Ebenso gab er ganz Europa eine Jahrzehnte währende Friedensordnung, die allerdings einigen Ländern zum Nachteil gereichte. Ein unabhängiges Polen existierte nicht mehr, sondern fiel als Königreich Russland zu. Sachsen verlor rund die Hälfte seines Staatsgebiets an Preußen, das zu-
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Königgrätz Karlsbad
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KAISERREICH ÖSTERREICH
Passau
Wien Linz
Pressburg
KGR. UNGARN Donau
Salzburg
Ofen
Pest
Graz
Grenze des Deutschen Bundes 1818
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dem im Westen Deutschlands mit der ehemals französischen Rheinprovinz und Westphalen Fuß fasste. Österreich erhielt Tirol zurück, außerdem Salzburg und insbesondere mit der Lombardei und Venetien Gebiete in Norditalien. Großbritannien blieb in Personalunion mit dem Königreich Hannover verbunden. Die Souveränität der ehemaligen Rheinbundstaaten wurde endgültig anerkannt. Doch die Völker Europas blieben an dieser Ordnung unbeteiligt, es blieb ein Friede der Monarchen. Das bestätigte die im September desselben Jahres auf Initiative des Zaren gebildete Heilige Allianz, die die christlichen Souveräne Russlands, Österreichs und Preußens im Sinne der gemeinsamen Religion verband. Dabei spielte der romantisch verbrämte christliche Glaube in erster Linie eine Rolle dabei, den restaurativen status quo zu erhalten und gegen jegliche revolutionäre Tendenzen vorzugehen. „Im Namen der heiligen und unteilbaren Dreieinigkeit“ schlossen sich den Monarchen fast sämtliche europäischen Länder an. Auch wenn sich die „drei Zweige ein und derselben Familie“ bald schon über ihren einzelnen Machtinteressen zerstritten, signalisierte ihre Allianz doch die vorerst anstehende erzwungene Ruhe der Völker Europas.
Die Rückkehr Napoleons Diese Ruhe kannte allerdings auch ihre Störungen. Noch während der Wiener Kongress vor sich hin verhandelte, setzte Napoleon, der Hasardeur, seiner kleinen Insel überdrüssig geworden, kurzerhand nach Südfrankreich über, wo er bei Cannes am 1. März 1815 mit 1000 Soldaten landete. Was dann folgte, gehört zu den bemerkenswertesten historischen Phänomenen, obwohl das Rad der Geschichte auch in diesem Fall nicht zurückgedreht werden konnte. Napoleons Zug gegen Paris war anfänglich eher ein Abenteuer mit ungewissem Ausgang. Erst Grenoble bringt die Wende, denn dort stößt die kleine Schar auf königliche Truppen. Und weil Offiziere und Soldaten fast alle unter dem Empereur
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gedient haben, leuchtet dessen Nimbus noch einmal auf – aller Toten und Verwundeten der Kriege zum Trotz. Ja, es gab eine regelrechte Begeisterung, und die bourbonischen Truppen wurden wieder zu Soldaten des Kaisers. Der anfangs ziemlich hoffnungslose Marsch gerät mehr und mehr zu einem Triumphzug nach Paris, aus dem der gichtgeplagte Ludwig XVIII. fliehen muss. Seine Herrschaft bricht so schnell zusammen, wie sie zustande kam. Ganz Frankreich scheint auf´s Neue zu seinem Kaiser zu stehen. Ganz Frankreich? Sein Geheimsekretär Baron Fleury de Chaboulon, frisch aus Italien zurückgekehrt, erlaubt sich, ihn über die Meinung unter den Franzosen zu belehren: „Früher dachten wir nur an den Ruhm, heute denken wir nur an die Freiheit. Der Kampf, der zwischen den Bourbonen und uns entbrannt ist, hat uns über unsere Rechte aufgeklärt; er hat in unseren Köpfen eine Menge liberaler Ideen ersprießen lassen, die man zur Zeit Eurer Majestät nicht hatte. Man empfindet das Bedürfnis, frei zu sein, und das sicherste Mittel, den Franzosen zu gefallen, würde sein, ihnen wahrhaft volkstümliche Gesetze zu versprechen und zu geben.“ In der Tat soll Napoleon eine Einschränkung seiner Macht versprochen haben, und es gibt solche, die während seiner „Herrschaft der 100 Tage“ eine Liberalisierung seines imperialen Herrschaftssystems erkennen. Ob der „gute Diktator“ zu einem friedfertigen konstitutionellen Monarchen mutiert wäre, bleibt Spekulation. Denn die in Wien versammelten Mächte sind nicht bereit, Napoleons Ausflug auf den Kaiserthron zu akzeptieren. Seine Friedensofferten bleiben insofern unbeantwortet. Überall in Europa ist Napoleons Rückkehr eine Sensation. Nachdem er schließlich am 20. März in Paris einzog und sein Kaisertum erneuerte, werden die Gerüchte zur Gewissheit. Aus Berlin berichtet wenige Tage später ein Engländer: „Die ersten Nachrichten von Bonapartes Wiederauftauchen hielt die Berliner Bevölkerung allgemein für ein falsches Gerücht, man war geneigt, als dessen Urheber die Sachsen anzusehen.“ Aber nach der Bestätigung war man überall an der Spree aufgestört und alarmiert, habe doch zuvor Sicherheit darüber geherrscht,
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„Preußen wäre gänzlich befreit von seinem Unterdrücker.“ Denn im Widerspruch zu den Wiener Eindrücken hat das Land anscheinend ganz erheblich unter den Folgen der Kriege mit Napoleon zu leiden: „ … Preußen leidet unter so allgemein verbreitetem Elend und Armut, daß selbst ein halbes Jahrhundert kaum ausreichen wird, Volk und Staat den früheren Wohlstand wieder zu verschaffen …“ Insofern sind die preußischen Truppen schnell zur Stelle, als es darum geht, gegen die Franzosen erneut ins Feld zu ziehen. Die militärische Entscheidung über die Ordnung Europas und die Macht Napoleons, wird diesmal nicht in Deutschland fallen, sondern in Belgien südlich von Brüssel in der Nähe des Örtchens Waterloo. Dorthin marschieren nämlich von Süden Napoleons Truppen – insgesamt 180 000 Mann. Auf seiten der Koalitionstruppen stellen sich ihnen 200 000 Engländer und Preußen entgegen, die unter Wellington von Ostende und unter Bülow sowie Blücher von Lüttich heranmarschieren. Während des Aufmarsches kommt es zu einem Vorfall, der abseits des eigentlichen Kriegsgeschehens ein Schlaglicht auf die deutschen Verhältnisse wirft: Als nämlich die unter preußischem Oberbefehl stehenden sächsischen Regimenter von Sachsens Aufteilung hören und davon, dass sie je nach Herkunft Preußen geworden sind, kommt es zu offenem Aufruhr. Der preußische Offizier Ludwig von Gerlach berichtet Anfang Mai aus Lüttich, dort hätten sich mehrere hundert Sachsen insbesondere der Grenadiergarde vor Blüchers Wohnung versammelt und ihren erst im Februar aus der preußischen Gefangenschaft nach Dresden zurückgekehrten König Friedrich August hochleben lassen. Das Gleiche vor Gneisenaus Quartier. Später zieht ein noch „größerer Haufe, größtenteils betrunken, mit Seitengewehren, aber ohne Flinten“ zu Blüchers Wohnung, wiederholt „Vivat Friedrich August“ und sogar „Vivat Napoleon“. Man habe heftige Schimpfreden gegen die Preußen geführt, sogar große Steine geworfen und sich weder von preußischen noch von sächsischen Offizieren beruhigen lassen – wobei Letztere sich „sehr passiv“ verhalten hätten. Da außer zwei sächsischen Regimentern
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nur wenige Preußen in der Stadt sind, breiten sich die Tumulte weiter aus. Schließlich muss Feldmarschall Blücher sogar die Flucht ergreifen und mit seinem ganzen Hauptquartier außerhalb Lüttichs in einem Dorf die Nacht verbringen. Auch am nächsten Vormittag zeigen sich die sächsischen Bataillone renitent. Sie versammeln sich auf dem Platz, lassen sich aber selbst von den eigenen Offizieren nicht zum Abmarsch bewegen: „So standen sie den ganzen Vormittag unter dem Gewehr. Exzesse fielen weiter nicht vor, als daß sie weiter auf die Preußen schimpften … tobten und dergleichen.“ Mittlerweile treffen preußische Verbände ein, was zur Beruhigung der Lage führt. Nach ein paar Tagen berichtet Gerlach, dass sieben der Rädelsführer erschossen worden seien, die drei Grenadierbataillone entwaffnet und auf dem Marsch nach Holland, ihre Fahnen verbrannt. Davor hatten nämlich die Grenadiere ihre Offiziere abgesetzt und sich neue gewählt. Der Feldmarschall habe jetzt wieder eine sächsische Wache, obwohl drei preußische Regimenter in der Stadt seien. Vielleicht war dies der Versuch, verlorenes Vertrauen wieder herzustellen – zumal in Anbetracht der Tatsache, dass andere sächsische Regimenter „jetzt unruhig und ohne Subordination …“ seien. Blüchers Generalstabschef Gneisenau berichtet: „Neue aufrührerische Bataillone stehen noch um Verviers herum; sie reißen auf unserem Gebiet die preußischen Adler, den preußischen Einwohnern die Kokarden ab, und ihre Kantonierungen ertönen von dem Rufe: „Es lebe Napoleon!“ Zu gleicher Zeit machen die Franzosen Bewegungen von Dünkirchen, Lille und Valenciennes her gegen unsere Front. Der Herzog von Wellington meint, dies sei auf den Aufruhr der Sachsen berechnet. Wir müssen demnach Anstalten von vorn gegen den Feind und in unserer eigenen Mitte gegen die Empörer nehmen …“. Für den preußischen Offizier Gerlach liegt der Fall klar: „Wenn wirklich reiner Volksgeist, Anhänglichkeit an ihr Land, Widerstand gegen willkürliche Unterdrückung sie geleitet hätte, so müßte man, so groß der Exzess auch ist, dies achten. So aber war gewiß so viel elende militärische Eitelkeit und Eifersucht gegen Preußen – desselben Geistes
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Kind, der Bonaparten Frankreich in die Hände gegeben hat …“ War dem wirklich so? Ist der Aufstand sächsischer Soldaten nicht mehr als eine militärische Revolte? So ganz mag man dies nicht glauben. Denn offensichtlich waren die Fronten zu diesem Zeitpunkt gar nicht so klar, wie es uns spätere Historiker glauben machen wollen. Unter den sächsischen Soldaten gab es sehr wohl eine Anhänglichkeit zu Souverän und Vaterland und das hieß Sachsen. Im Übrigen gab der Unmut der sächsischen Soldaten durchaus die Stimmung im Volk wider; denn als Friedrich August im Sommer 1815 endlich wieder in sein Königreich zurückkehren durfte, wurde ihm dort ein begeisterter Empfang bereitet Nein, gerade bei den deutschen Mittelmächten stand man nicht vorbehaltlos hinter Preußen, es gab viel Misstrauen. Dies etwa belegt das Frankreich benachbarte Baden, dessen Großherzog bekanntlich eher Sympathien für Napoleon hegte, wobei ihm Teile von Verwaltung und Militär folgten. Nur so ist eine Meldung aus dem „Rheinischen Merkur“ vom 1. April 1815 aus Karlsruhe zu erklären. Dort habe in der Residenz die Nachricht von der Rückkehr Bonapartes für erhebliches Aufsehen gesorgt: „Badische Offiziere in ihren verschiedenen Garnisonen ließen Bonaparte hochleben, und wollten sich lieber unter seinen Befehl begeben, als gegen ihn dienen, so äußerten sie sich laut, und öffentlich. Der Geist des Militärs, eine Anzahl teutsch- und wohlgesinnter Ober-Offiziere ausgenommen, ist nicht gut, sondern dem Verräther und Tirannen zugethan …“. Zurück zum belgischen Schlachtgeschehen des Sommers 1815, bei dem Blücher bei Ligny nochmals eine herbe Niederlage gegen den französischen Kaiser hinnehmen muss. Dann die endgültige Entscheidung am 18. Juni bei Waterloo: Napoleon wirft 70 000 Mann mit 246 Geschützen in den Kampf, während die Briten unter dem Oberbefehl Wellingtons etwas weniger Soldaten und nur 156 Geschütze aufbieten können. Als dann den Franzosen der Sieg greifbar nahe scheint, tauchen unter Blüchers Führung die erst kürzlich von Napoleon geschlagenen Preußen mit knapp 50 000 Mann auf. Das brachte die Wende. Am Ende
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lagen 50 000 Tote und Verwundete auf dem Schlachtfeld und Napoleon musste sich zurückziehen. Ihm blieb als Option nur noch die Abdankung wenige Tage später. Bekanntermaßen landet er als Verbannter auf der britischen Insel St. Helena weitab im südlichen Atlantik. Im Juli ziehen erneut die verbündeten Sieger in Paris ein, diesmal die Preußen und Engländer, denen König Ludwig XVIII. auf dem Fuße folgt. Der 2. Pariser Friede fällt erheblich härter aus als der des Vorjahres: Nicht nur, dass Frankreich einige Gebiete abtreten muss, es hat auch 120 Millionen Francs Kriegsentschädigung zu zahlen und für fünf Jahre eine Besatzung von 150 000 Mann hinzunehmen. Unmittelbar nach dem Sieg erweist sich Preußen als unversöhnlicher Hardliner, der Napoleon hinrichten möchte. Gneisenau fordert, „… daß Bonaparte uns ausgeliefert werde, um ihn vom Leben zum Tode zu bringen. So will es die ewige Gerechtigkeit, so bestimmt es die Deklaration vom 13. März, so wird das Blut unserer am 16. und 18. getöteten und verstümmelten Soldaten gerächt.“ Allerdings lehnt dies Wellington ab, auch wenn der preußische General die Leiden seines Landes als Begründung für die Forderung anführt: „Wir sind durch ihn verarmt. Unser Adel wird nie mehr sich aufrichten können. Und müssen wir uns nicht als Werkzeuge der Vorsehung betrachten, die uns einen solchen Sieg verliehen hat, damit wir die ewige Gerechtigkeit üben?“ Im Übrigen widersprechen viele Augenzeugen dem Klischee des korrekten preußischen Soldaten, der höflich auftritt und sich nichts zuschulden kommen lässt. Die als Erzieherin in Paris lebende Henriette Mendelssohn berichtet von Klagen über ihre Landsleute (sie war eine geborene Berlinerin), „die sich denn auch wirklich als Rächer bezeigen, sie rauben, sengen, brennen und morden, als hätten sie´s aus irgendeiner Legende des Mittelalters gelernt; was aber am meisten hier verdrießt, scheint der Mangel an Höflichkeit zu sein …“ Wie weit entfernt die preußischen Soldaten davon entfernt sind bezeugen englische Offiziere aus dem Kampfgebiet: „Wir waren jetzt auf der Strecke der preußischen Armee, überall gezeichnet von Vernichtung und Verwüstung …
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Kriegsspuren in ihrer scheußlichsten Gestalt: Verödung und Verwüstung. Die Bewohner waren überall geflohen, und wir fanden nichts als leere Häuser … Das Dorf Loures, das wir gegen Mittag erreichten, bot das scheußliche Bild der Verheerung. Ein preußisches Korps hatte in der Nacht zuvor dort haltgemacht und es bis auf die Hausmauern völlig zerstört. Türen und Fenster waren herausgerissen und zum Biwakfeuer benutzt worden – das gleiche Schicksal hatte jegliches Mobiliar getroffen, ausgenommen einige Sessel und Sofas, deren sich die Soldaten bedient hatten und die nun verlassen in den Gärten und Obstgärten standen … Kleidung, Leinen, Betten, Vorhänge und Teppiche, zu Lumpen zerfetzt oder halb verbrannt, lagen in allen Richtungen zerstreut. Die Straße war geradezu bedeckt von Lumpen, Federn, Möbelresten, irdenem Geschirr, Glas etc. … überflüssig zu sagen, daß kein menschliches Wesen inmitten dieser Verwüstung zu sehen war.“ Ein anderer: „Als wir in Frankreich einrückten, sahen wir die furchtbaren Gräuel, die unsere Verbündeten, die Preußen, an den schutzlosen Bewohnern der Dörfer und Gehöfte verübt hatten, die an ihrer Marschroute lagen. Ehe wir La Belle-Alliance verließen, war mir schon die Brutalität der preußischen Infanterie aufgefallen, die in rohester Weise alle Kühe und Schweine auf den Bauernhöfen abstachen und zerhackten; sie spießten das noch zitternde Fleisch auf ihre Bajonette und rösteten es im Feuer … die Einwohner hatte man beim geringsten Aufbegehren auf schamloseste Weise geschlagen und zuweilen sogar erschossen.“ Der Engländer sieht dies als Rache an den „französischen Grausamkeiten“ in Preußen. Der nächste britische Soldat zieht ein Fazit: „Ein solches Bild des Krieges, geführt im Geist blutdürstiger Feindseligkeit, war mir noch nie begegnet. Ich schämte mich des Bündnisses zwischen uns und den Preußen, als ich das schauerliche Werk sah, das sie angerichtet hatten.“
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Reform – Revolution – Restauration? Während Napoleon in Belgien seine endgültige Niederlage erlebt, geht in Wien der große Friedenskongress zu Ende. Wenige Tage zuvor hatte man sich über Deutschlands Zukunft verständigt und dies in der Deutschen Bundesakte dokumentiert. Ihr zufolge sollte die Nation nicht als „einig Vaterland“, sondern als mehr oder weniger lockerer Staatenbund existieren – zur Enttäuschung der Patrioten sämtlicher Couleurs. Dass Deutschland 1815 nicht mit dem Frankreich von 1789 vergleichbar war, bezeugt im April des Jahres der Bericht eines der zahlreichen Konfidenten über die Verhandlungen: „Der immer exaltierte Baron Gagern spricht immer von der deutschen Nationalversammlung, während die Preußen und andere Diplomatiker in der Stille bemerken: „Kein größeres Unglück als eine deutsche Nationalversammlung. Deutschland muss organisiert werden von oben herab durch die Fünf oder durch die Drei (Österreich-Preußen-Hannover-Bayern-Württemberg), nur nicht von unten hinauf! Das gibt Spektakeln, Konfusionen … Haben nicht vor acht Tagen in Darmstadt die Offiziere von der großherzoglichen Garde auf des Bonaparte Gesundheit ordentlich getrunken? [Sympathiebekundungen also nicht nur in Baden, sondern auch in HessenDarmstadt!] Also, kein deutsches Komitee, sondern von oben herab durch die Fünf Teilung von Deutschland.“ Das ist der Wunsch der Opponenten. Der „Deutsche Bund“ folgte diesen Überlegungen, hatten ihn doch die Vertreter von 35 souveränen Fürsten und vier freien Städten (darunter Frankfurt) ins Leben gerufen. Die Bevölkerung spielte dabei überhaupt keine Rolle. Das einzige bedeutende Organ des Bundes stellte eine Art Bundesversammlung dar, die unter der Bezeichnung Bundestag in Frankfurt am Main tagte. Dorthin entsandten die Mitglieder ihre Bevollmächtigten, die unter dem Vorsitz Österreichs zusammenkamen. Weder existierte eine gemeinsame Verwaltung noch eine Regierung oder gar ein Staatsoberhaupt. In Frankfurt hatte man zuallererst den Hauptzweck des Bundes im Blick: „Erhaltung der äußeren
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und inneren Sicherheit Deutschlands und der Unabhängigkeit und Unverletzbarkeit der einzelnen deutschen Staaten“. Demzufolge verfügten die Mitglieder im Laufe der Zeit über ein Bundesheer und Bundesfestungen wie Mainz und Luxemburg. In dem halben Jahrhundert seiner Existenz (bis 1866) bescherte der Bund Deutschland und Europa immerhin eine lange Phase des Friedens, sorgte er für einen gewissen Ausgleich zwischen Österreich und Preußen, Katholiken und Protestanten, Fortschrittlichen und Konservativen. Außerdem bildete der Bundestag auf Länderebene ein Forum des Dialogs. Blieb er historisch insofern nicht ohne Verdienste, war das 1815 denen zu wenig, die sich einen gesamtdeutschen Staat wünschten. Das galt natürlich für den Freiherrn vom Stein, der über die Bundesakte von einer „fehlerhaften Verfassung“ sprach, die nur schwachen Einfluss „auf das öffentliche Glück Deutschlands“ nehmen werde. Zugleich hoffte er, „daß die despotischen Grundsätze, von denen mehrere Kabinette sich noch nicht losmachen können, nach und nach durch die öffentliche Meinung, die Freiheit der Presse und das Beispiel zerstört werden, welche mehrere Fürsten, besonders Preußen, geben zu wollen scheinen, indem sie ihren Untertanen eine weise und wohltätige Verfassung erteilen.“ Zu seiner Enttäuschung wurde nichts aus den Vorschlägen seiner vor zwei Jahren entstandenen Verfassungsdenkschrift, in der er das Modell eines einheitlichen und selbständigen Deutschland entworfen hatte. In der Denkschrift hatte vom Stein sich noch einmal an einem romantischen Mittelalterbild orientiert, dem zufolge das neue Deutschland sich durch „Kraft, Tapferkeit, Treue und Frömmigkeit“ auszeichnen und „Genusssucht, Gewinnsucht, Lügenhaftigkeit“ abschwören sollte. Aber der Freiherr war natürlich viel zu sehr Verwaltungsfachmann, als dass er es bei Mentalitäten belassen hätte. Sehr wohl berücksichtigte er die machtpolitische Aufteilung Deutschlands in die zwei Großmächte und die ehemaligen Rheinbundstaaten. Entsprechend entwarf er keinen Einheitsstaat, sondern hätte Deutschland am liebsten als geeinte Nation zweier Hemisphären gesehen, einer nördli-
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chen unter Preußens Führung und einer südlichen, der Österreich vorstand. Dass von dieser Aufteilung die Mittel- und Kleinstaaten nicht begeistert waren, sei nur am Rande bemerkt. Doch all die Memoranden, die enge Zusammenarbeit mit Wilhelm von Humboldt, die vorübergehende Arbeit seiner Zentralverwaltungskommission über die von Napoleon befreiten Gebiete waren mit der Bundesakte Makulatur geworden. Wenige Jahre später zog er sich nach Schloss Cappenberg in Westphalen zurück, wo sich er den Rest seines Lebens der deutschen, insbesondere der mittelalterlichen Geschichte widmete, was mit der „Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde“ einen bleibenden Ausdruck fand. Was vom Stein bemängelte, war vor allem die fehlende Tiefenwirkung des Deutschen Bundes, der in der Bundesakte lediglich für die einzelnen Bundesstaaten die Einführung „landständischer Verfassungen“ ankündigte, was letztlich unverbindlich war. Hierbei verharrten nämlich nicht wenige Länder in der vermeintlich gottgewollten Ordnung des Ancien Régime, die einen Herrscher von Gottes Gnaden vorsah, aber keine geschriebene Verfassung, die für das gesamte Gemeinwesen galt und idealerweise noch vor dem Monarchen das höchste Autoritätsprinzip darstellte. Die Vereinigten Staaten von Amerika, das revolutionäre Frankreich und das einen Sonderweg gehende Königreich von Großbritannien hatten diesen Weg beschritten und bekanntlich Ideale und Vorstellungen der Aufklärung in die Tat umgesetzt. Das wünschten sich auch viele Reformer in Deutschland, die nun in die Rolle der Oppositionellen gedrängt wurden. Eine Verfassung sollte politische Mitsprache garantieren, die Freiheiten der Presse und der Rede, Glaubens- und die für die wirtschaftliche Entwicklung wichtige Ge werbefreiheit, Gewaltenteilung, eine unabhängige und öffentliche Rechtsprechung, außerdem die Abschaffung feudaler Rechte, die Adelsprivilegien an der Geburt festmachten. Die Liberalen wünschten sich eine konstitutionelle Monarchie, die besonders die Mitsprache des gehobenen Bürgertums bei Steuerfragen garantierte; die Demokraten
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gingen mit ihrer Vorstellung einer parlamentarischen Monarchie ein gutes Stück weiter, sollte demnach doch die gewählte Volksvertretung in der Gesetzgebung über dem Monarchen stehen. Republikaner fanden sich kaum. Vorbilder für diese Staatsreformen gab es durchaus, Frankreich war diesen Weg gegangen, wenn der auch vorübergehend von blutigem Terror gekennzeichnet war. Doch obwohl Napoleons Herrschaft Züge einer Militärdiktatur getragen hatte: Mit dem Code civil und weiteren Gesetzestexten waren auch Grundrechte, persönliche Freiheiten verwirklicht worden. Eine Verfassung in Einheit und Freiheit war für die deutschen Oppositionellen das ferne Ideal – zu verwirklichen war sie bekanntlich noch nicht, denn am obrigkeitlichen System des Deutschen Bundes war nicht zu rütteln. Blieben also vorerst nur die einzelnen Bundesstaaten, die zumindest gewisse Freiheiten in einer Verfassung festschreiben konnten. Daraus ergab sich prompt die Crux einer demokratischen Entwicklung in Deutschland: Beide Großmächte, Österreich wie Preußen, verweigerten sich nämlich einer allgemeinen Landesverfassung. Werfen wir einen Blick auf Preußen: sein reformunwilliger König Friedrich Wilhelm III. hatte bereits 1810 eine Verfassung versprochen, sich jedoch nicht daran gehalten. In seinem Königreich sollten ab 1823 lediglich Provinzialstände eingerichtet werden, die älteren Vorgaben und Traditionen folgten. Darunter waren die Landtage der einzelnen Provinzen zu verstehen, deren Mitglieder sich zum größten Teil aus Vertretern der Grundbesitzer zusammensetzen, unter denen wiederum der Adel das Übergewicht hatte. Diese Ständeversammlungen hatten jedoch lediglich beratende Aufgaben und Rechte, bindende Weisungen für die Gesetzgebung gingen von ihnen nicht aus. Von einer Entwicklung zum parlamentarischen Verfassungsstaat fehlte darum in Deutschlands Norden jede Spur. Erst 1847 wurde ein Vereinigter Landtag für das gesamte Königreich einberufen. Ausgebaut und perfektioniert wurde hingegen der Verwaltungsapparat, dessen Staatsdiener seit dem 18. Jahrhundert weithin Ruhm genossen. Die ostelbische Monarchie Preußens
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hatte auf dem Wiener Kongress unter anderem die später so genannte Rheinprovinz links des Rheins zugesprochen bekommen und damit Gebiete, die als Teil Frankreichs schon einmal in den Genuss bürgerlicher Freiheiten gekommen waren. Dessen war sich die preußische Führung durchaus bewusst, und deshalb kündete der König im Besitzergreifungspatent über die Rheinlande 1815 die Bildung einer Repräsentation an. Aber auch gegenüber den neuen Untertanen zeigte sich die preußische Regierung ignorant. Doch die Rheinländer, insbesondere die selbstbewussten Stadtbürger, ließen nicht locker und bald schon richteten unter anderem Köln, Trier und Koblenz Petitionen an den König, in denen sie ihn an sein Verfassungsversprechen erinnerten (Koblenz legte immerhin 3000 Unterschriften vor). Dies führte soweit, dass sich der Herrscher in Berlin 1818 derartige Bittgesuche verbat. Die in den Ministerien an der Spree verbliebenen Reformer wie Kanzler Hardenberg und Wilhelm von Humboldt vermochten letztendlich nicht, ihren Einfluss geltend zu machen. Aber immerhin erkannte man als „Rheinisches Recht“ die aus der Franzosenzeit überkommenen Gesetze des Code civil an. Diese hatten im Rheinland bis zur Einführung des Bürgerlichen Gesetzbuches 1900 Bestand. Der Zwiespalt zwischen ostdeutschen Preußen und Rheinländern bestand trotzdem fort, und gerade in den ersten Jahren hörte man nicht selten, man wolle „lieber französisch als preußisch“ sein. Denn Preußen mochte zwar der Garant des Friedens sein und im Sinne der europäischen Siegermächte im Westen Deutschlands als Schutzmacht gegen Frankreich wirken, am Rhein sah man sich gleichwohl als fortschrittlicher und wirtschaftlich entwickelter an, was bei der Bedeutung von Gewerbe, Handel und zunehmend Industrie auch zutraf. Noch 1830 betont der überwiegend in Aachen tätige Geschäftsmann und liberale Politiker David Hansemann (1790–1864) in einer Denkschrift die Vorbildlichkeit des Rheinlandes für ganz Preußen: Die Rheinprovinzen, „welchen niemals durch Eroberung eine drückende Leibeigenschaft wie in den meisten östlichen Provinzen aufgedrungen wurde“, könnten
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durch ihre vorbildhafte gesellschaftliche Entwicklung dem Osten zeigen, was Fortschritt bedeute, „sobald einmal die Gewerbefreiheit und die Freiheit der Bauern ganz Wurzeln gefaßt haben, um zu beweisen, daß sich mit der Justiz als Institut, mit Öffentlichkeit und Mündlichkeit derselben, mit der Gleichheit vor dem Richter und dem Gesetze gar gut regieren lassen.“ Gab es also schon innerhalb Preußens Widerspruch und bürgerliches Selbstbewusstsein gegen eine dominant konservative bis reaktionär empfundene Politik, so traten die Unterschiede zwischen den deutschen Bundesstaaten noch deutlicher hervor. Da gab es Länder wie Mecklenburg, das an der ungebrochenen Macht des Adels festhielt oder zur vornapoleonischen Ordnung zurückkehrte wie das Königreich Hannover. Oder Kurhessen: Schon im November 1813 war der als reaktionär geltende Kurfürst Wilhelm I. nach Kassel zurückgekehrt, wo angeblich die über alle Maßen begeisterte Menge am Stadttor die Pferde ausgespannt hatte, um die Kutsche des Fürsten selbst in die Stadt hineinzuziehen. Was dabei echte Begeisterung, was geplante Inszenierung war, sei dahingestellt. Jubelfeiern gehörten auch zum Repertoire höfischer Inszenierung. Wilhelm I. machte selbstverständlich alle Reformen des Königs Jérôme rückgängig, verhielt sich jedoch bei der Übernahme von seinen Beamten moderat. Obwohl er sich später durchaus um die Verfassung stritt, ihr also nicht ganz abgeneigt war, war er doch absoluter Herrscher durch und durch. Ginge es nach ihm, sollte man landständische Versammlungen doch am besten „mit dem Degen auseinanderjagen“. Zudem „kenne er als von Gott eingesetzter Regent nur zwey Worte: Befehlen und Gehorchen.“ Und mit Blick auf die Nachbarn bemerkte der reiche Kurfürst, er brauche kein Geld zu fordern und benötige daher auch keine Ständeversammlung: „Mir sollen sie nicht über die Schwelle kommen.“ In Kassel hing man also eigensinnig an den Resten des Ancien Régime. Ähnliches gilt auch für Sachsen, dessen alter König Friedrich August bei der Bevölkerung nicht unbeliebt, aber zu Reformen nicht mehr willens war.
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Ganz anders sah es dagegen in einigen kleineren Fürstentümern und den süddeutschen Ländern aus, deren Monarchen mal mehr, mal weniger fortschrittlichen Verfassungen zustimmten – zu konstitutionellen Monarchien wurden sie allesamt. Etwa 1814 das kleine Herzogtum Nassau, dessen prominentester Sohn, der Freiherr vom Stein, eifrig mit an der Verfassung werkelte. Es folgten unter anderem Goethes Wahlheimat Sachsen-Weimar-Eisenach und Waldeck. Unter den süddeutschen Staaten sei der Blick ein weiteres Mal auf Baden gerichtet, das bereits unter Napoleons Herrschaft den Code civil für sein 1810 erlassenens „Badisches Landrecht“ übernommen hatte. Acht Jahre später folgte unter völlig anderen Vorzeichen eine Verfassung, die das südwestdeutsche Großherzogtum zu einem der fortschrittlichsten deutschen Staaten machte. Gerade erst hatte die Karlsruher Regierung unter Mühen den Fortbestand des künstlich geschaffenen Landes von den Wiener Siegermächten erreicht und auch Teile seiner eigenen Bevölkerung erst überzeugen müssen. Und jetzt das: Reformwillige Juristen und Bürokraten stellen eine der modernsten deutschen Verfassungen ihrer Zeit zusammen und legen sie Großherzog Karl während seiner Schwarzwaldkur vor, der sie im August 1818 prompt unterschreibt. In der Präambel wendet er sich an sein Volk: „Von dem aufrichtigen Wunsche durchdrungen, die Bande des Vertrauens zwischen Uns und Unserm Volk immer fester zu knüpfen, und auf dem Wege, den Wir hierdurch bahnen, alle Unsre Staats-Einrichtungen zu einer höhern Vollkommenheit zu bringen, haben wir nachstehende VerfassungsUrkunde gegeben und versprechen feyerlich für Uns und Unsre Nachfolger, sie treulich und gewissenhaft zu halten und halten zu lassen.“ Dass sich ein Monarch der Verfassung verpflichtet, war bereits konstitutionell, und deshalb musste die Zustimmung der Heiligen Allianz mit viel diplomatischer Mühe errungen werden. Zukünftig würden die Großmächte der Restauration Baden im Auge behalten, und das, obwohl der Großherzog immer noch von Gottes Gnaden regierte und den Landtag auflösen konnte. Aber immerhin gab es einen solchen, der das ganze
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Land repräsentierte und aus zwei Kammern bestand, einer ersten für Hochadel, Kirchen- und Universitätsvertreter, einer zweiten aus Abgeordneten, die von den männlichen Bürgern nach bestimmten Kriterien gewählt wurden. Das war für 1818 eine ganze Menge. Hinzu kommt, dass die Kammern über die Steuern entschieden und an der Gesetzgebung beteiligt waren. Ferner gab es Freiheitsrechte für die Bürger sowie einen Staatsgerichtshof, vor dem man sogar Minister anklagen konnte. In Baden fanden sich somit Ansätze von Gewaltenteilung und politischer Mitwirkung der Bürger. Dies zeigte sich vor allem in der Zweiten Kammer, die in den folgenden Jahrzehnten zu den turbulentesten Diskussionsforen Deutschlands werden sollte. Der erste badische Landtag kam im April 1819 zusammen, er erhielt drei Jahre später mit dem Ständehaus in Karlsruhe den ersten Parlamentsbau Deutschlands. Als dem jung verstorbenen Großherzog Karl dessen Onkel Ludwig auf den Thron folgte, versuchte dieser, die Verfassung in Frage zu stellen. Aber das gelang ihm nicht. Er musste sich Verfassung und Gesetzen fügen, die zu den eigentlichen Symbolen Badens wurden. Badens Weg wies eindeutig in eine demokratische Zukunft, und das Land war den anderen Staaten Deutschlands damit ein großes Stück voraus.
Das Wartburgfest Im „geteilten“ Deutschland des Jahres 1815 meldeten sich auch Oppositionelle zu Wort, die einen anderen Weg beschritten als die reformfreudigen Politiker und Bürokraten der Bundesstaaten. Akribische Verfassungsdetails waren ihre Sache nicht, sie stellten Forderungen: Einheit und Freiheit gehörten für sie zusammen, erfuhren aber durchaus eine unterschiedliche Gewichtung. Diese kritischen Stimmen profitierten noch von der verhältnismäßig großen Pressefreiheit, die man ihnen als Gegner Napoleons gewährt hatte. Dazu gehörten vor allem die Flugund Kampfblätter sowie Gedichtsammlungen der Befreiungskriege.
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Außer dem Hass auf die französische Besatzung und ihre Hegemonie trieb jene Publizisten zunehmend die Frage nach Deutschlands Zukunft um, und die sollte eben in der nationalen Einheit liegen. Das berühmteste und wirkmächtigste jener kritischen Blätter war der jeden zweiten Tag in Koblenz erscheinende „Rheinische Merkur“, der eine für damalige Verhältnisse hohe Auflage von 3000 Exemplaren erreichte. Die gern gelesene und vieldiskutierte Zeitung hatte im Januar 1814 Joseph Görres begründet, Privatdozent der Universität Heildelberg, der dort zu den führenden Köpfen der Romantik zählte. Allerdings hatte es ihn bereits 1808 zurück in seine Heimatstadt Koblenz gezogen und damit auf französisches Gebiet, wo er die Jahre ruhig und mit Forschungen beschäftigt verbrachte. Das änderte sich mit dem Abzug der Franzosen, die ein Land im machtpolitischen Schwebezustand hinterließen. Görres nutzte jedenfalls die Zeit für seinen „Rheinischen Merkur“, für den er so bekannte Beiträger wie den Freiherrn vom Stein, Achim von Arnim und die Brüder Grimm gewann. Die „Stimme der Völkerschaften diesseits des Rheins“ errang internationale Aufmerksamkeit, wozu ihre Feindschaft gegen Napoleon („Großmacht“ nannte er sie), aber auch ihre Forderungen nach der politischen Neuordnung Deutschlands beitrugen. So wie Görres in seinen scharfen Leitartikeln gegen den französischen Kaiser gewettert hatte, stritt er gegen die Beschlüsse des Wiener Kongresses, die Bundesakte und die deutschen Fürsten, die ihren Bürgern Verfassungen verweigerten und offensichtlich kein Interesse an einem einigen Deutschland hatten. Das war allerhand! Schließlich war des preußischen Königs Geduld mit der Pressefreiheit und dem unbotmäßigen „Rheinischen Merkur“ zu Ende. Im Januar 1816 musste das Blatt sein Erscheinen einstellen. Und nicht nur das: Joseph Görres verlor seinen Broterwerb als provisorischer Direktor des öffentlichen Unterrichts am Mittelrhein. Drei Jahre später traf es ihn noch härter: Da veröffentlichte er nämlich seine Schrift „Teutschland und die Revolution“, die sich wiederum kritisch mit der politischen Situation auseinandersetzte. Obwohl er weder Jakobiner noch Demagoge war, so
Das Wartburgfest
der Vorwurf, erließ Friedrich Wilhelm III. im November 1819 eine Kabinettsorder, die seine Verhaftung befahl: „Der Professor Görres hat sich strafbar gemacht, weil er in seinem Buch „Teutschland und die Revolution“ seinen König wie auch fremde Landesherren beleidigt und, indem er scheinbar vor Revolution und ungesetzlicher Gewalt warnt, das Volk durch Tadel der Regierung zur Unzufriedenheit aufruft. Deshalb befiehlt der König, ihn verhaften und auf die Festung Glatz bringen zu lassen …“. Görres war gezwungen, nach Straßburg zu fliehen. Jahre später berief ihn der bayerische König Ludwig I. auf einen Lehrstuhl für Geschichte nach München. Da hatte er sich bereits zum führenden katholischen Publizisten gemausert, der dann auch als kämpferischer Katholik mit dem preußischen Staat aneinandergeriet – allerdings vom sicheren Bayern aus. Ein Wort noch zu den Geschicken der bekanntesten Wortführer der Befreiungskriege und Einigung Deutschlands: Ernst Moritz Arndt verlor mit dem Rückzug des Freiherrn vom Stein seinen prominentesten Fürsprecher und seine Aufgaben in dessen Umfeld. Dafür durfte er sich über eine Professur für Geschichte freuen, die er an der 1818 neu gegründeten Universität Bonn erhielt. Dort genoss er unter den Studenten große Beliebtheit und wurde als kritischer Geist gefeiert. Als Studenten, Turner und andere Oppositionelle zunehmend demagogischer Umtriebe bezichtigt wurden, geriet auch Arndt in den Strudel der Verfolgung. Auf die polizeilichen Hausdurchsuchungen folgte schließlich nach zwei Jahren die Suspendierung von seiner Lehrtätigkeit. Erst nach sage und schreibe 20 Jahren durfte der Bonner Professor wieder an seiner Universität unterrichten. Schlimmer noch traf es Friedrich Ludwig Jahn, der noch 1817 in Berlin öffentliche Vorträge über das deutsche Volkstum hielt. Da ihm die Rolle des Agitators nicht fremd war, nutzte er seine Auftritte zur harschen Kritik an den Verhältnissen. Nicht allen Reformern gefiel das, Hardenberg mahnte zur Zurückhaltung, Gneisenau distanzierte sich, Stein hielt sowieso nicht viel von ihm („Ich hielt ihn immer für einen fratzenhaften, dünkelvollen Narren.“). Die Uni-
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versitäten Jena und Kiel würdigten ihn hingegen durch die Verleihung von Ehrendoktorwürden. Überhaupt genoss er unter Burschenschaftlern und Turnern regelrechten Kultstatus. Im Juli 1819 kam jedoch sein politisches Ende, er wurde verhaftet und sechs Jahre lang in preußischen Festungen gefangen gehalten. Seine Bewegung wurde von nun an verfolgt, öffentliche Turnplätze mussten geschlossen werden. Als Jahn schließlich freigesprochen wurde, erhielt er strenge Auflagen, die ihm verboten, in Berlin oder einer Universitätsstadt seinen Wohnsitz zu nehmen. Den Rest seinen Lebens verbrachte er überwiegend in Freyburg an der Unstrut im heutigen Sachsen-Anhalt. Arndts und Jahns Werdegang nach dem Sieg über Napoleon ist nicht denkbar ohne die studentischen Burschenschaften und die eng mit ihnen verbundenen Turnergruppen. Hatten sich die Turner bekanntlich schon an den Befreiungskriegen beteiligt, wurden die Burschenschaften vor allem von den Kriegsfreiwilligen begründet. Turner wie Studenten fanden sich mit dem Ziel der Einheit und Freiheit Deutschlands zusammen. Diese Idee verwirklichten sie schon in einer „Allgemeinen deutschen Burschenschaft“, die sich von den üblichen landsmannschaftlich organisierten Studentenvereinigungen unterschied. Dieser Richtung folgend, gründete sich im Juni 1815 in Jena die so genannte Urburschenschaft, die sich das Motto „Ehre, Freiheit, Vaterland“ gab. Der junge Heinrich von Gagern (1799–1880), 1848 einer der führenden Abgeordneten der Frankfurter Nationalversammlung, schrieb dazu: „… wir wünschen, daß Deutschland als ein Land und das deutsche Volk als ein Volk angesehen werden könne.“ Dies wolle die Burschenschaft vormachen, darum seien landsmannschaftliche Gruppierungen verpönt. Die eine deutsche Burschenschaft sehe sich „im Geiste als ein Volk“, das sich die „freieste Verfassung“ gebe: „Wir wünschen eine Verfassung für das Volk nach dem Zeitgeiste und nach der Aufklärung desselben, nicht daß jeder Fürst seinem Volke gibt, was er Lust hat und wie es seinem Privatinteresse dienlich ist. Überhaupt wünschen wir, daß die Fürsten davon ausgehen und überzeugt sein möchten, daß sie des Lan-
Das Wartburgfest
des wegen, nicht aber das Land ihretwegen existiere.“ Insofern strebten die Burschenschaften keine einzelstaatlichen Verfassungen an, sondern eine gesamtdeutsche durch die Bundesversammlung zu Frankfurt. Dies blieb bekanntlich ein frommer Wunsch, der keine Aussicht auf Erfolg hatte. Aber nichtsdestotrotz gab sich die Allgemeine Deutsche Burschenschaft im Oktober 1818 eine Verfassung, die in ihren Reihen die Ziele für die gesamte Nation schon einmal einübte. Dazu gehörten Einheit, Gleichheit und Freiheit aller Burschen untereinander, was die gleichen Rechte und Pflichten für alle einschloss. Genau ein Jahr zuvor hatte man sich im Übrigen zu einer Veranstaltung zusammengefunden, die als Wartburgfest in die Geschichte eingegangen ist und die spektakulärste Aktion der kritischen und national betonten Burschenschaftler wurde. Der Gedanke war, am 18. und 19. Oktober 1817 zweier Jubiläen zu gedenken, die als Höhepunkte der deutschen Geschichte galten: Zum einen jährte sich zum 300. Mal Luthers Thesenanschlag an der Schlosskirche zu Wittenberg – was nicht nur als Geburtsstunde des Protestantismus, sondern auch als nationaler Widerstand gegen den römisch-katholischen Fremdeinfluss gesehen wurde. Das zweite Ereignis war die vier Jahre zurückliegende Völkerschlacht bei Leipzig. Auch hier hatte man den Sieg über eine fremde Macht errungen, die Deutschland bedrohte und unterdrückte. Doch das Wartburgfest sollte nicht nur Gedenktag sein, sondern lebendiges Zusammentreffen, bei dem Zukunftspläne für Deutschland geschmiedet, Forderungen erhoben werden würden. Das Misstrauen der Obrigkeit war damit vorprogrammiert. Darum bot sich die Wartburg bei Eisenach als idealer Ort dieses Treffens an. Nicht nur, dass sie den Romantikern als ideale Burg des Mittelalters galt, hier hatten angeblich sogar die Meistersänger ihren Wettstreit ausgetragen. Außerdem hatte hier Martin Luther für einige Jahre Zuflucht gefunden und in dieser Zeit das Neue Testament ins Deutsche übersetzt. Hinzu kam, dass Eisenach samt Burg unter der Herrschaft des liberalen Weimarer Großherzogs Carl August stand.
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So fanden sich denn am Vormittag des 18. Oktober mehr als 500 Studenten in Eisenach zusammen. Sie kamen vor allem aus einem runden Dutzend überwiegend protestantischer Universitäten. Eine Handvoll Professoren war auch dabei, darunter aus Jena der Mediziner Lorenz Oken. Alle zogen hinauf zur Wartburg, wo Reden gehalten wurden „über den Aufschwung und die erfaßte Idee des deutschen Volkes jetzt, über verfehlte und getäuschte Hoffnungen“, über die Aufgaben der Studierenden, ein nationales Vorbild zu sein und Ähnliches mehr. Anschließend tafelte die vielköpfige Schar im Burghof, um dann wieder hinunter in die Stadt zu marschieren „und mit dem Landsturm freundschaftlich und gleichen Ranges in die Stadtkirche, wo die Predigt allgemeine Wirkung hervorbrachte.“ Dort erklang zum Abschluss der allseits bekannte evangelische Choral „Nun danket alle Gott“, der seit dem 18. Jahrhundert zunehmend patriotisch vereinnahmt wurde. So sollen ihn die Soldaten Friedrichs des Großen nach dem Sieg über die Österreicher in der Schlacht von Leuthen (1757) angestimmt haben, und auch in den Befreiungskriegen soll das populäre Kirchenlied erklungen sein. Nach diesem national-stimmungsvollen Ausklang boten die anwesenden Turner auf dem Marktplatz einige ihrer Übungen zur Schau. Abends zog man wiederum bergwärts, diesmal auf den nahen Wartenberg, wo sich die Männer des Landsturms bereits versammelt hatten. Dort leuchteten schon die Siegesfeuer, denen ihrerseits die Burschenschaftler und Turner ihre von jedem Mann getragenen Fackeln zutrugen – zweifelsohne ein beeindruckendes Bild. Aber die Feuer dienten nicht allein dem Ausdruck der Siegesfreude, in ihrer Mitte sollte ein „Feuergericht“ abgehalten werden. Diese Idee hatten wohl Mitglieder der Turnerbewegung, womöglich ging sie sogar auf Turnvater Jahn selbst zurück. Als historisches Vorbild wählte man sich Luthers Verbrennung der päpstlichen Androhung des Kirchenbanns. Diese mutige Tat wollte man nachahmen und all das dem Feuer übergeben, was die Teilnehmer der Veranstaltung als Bedrohung der Freiheit und Einheit ansahen. Diese unliebsamen Gegenstände hielt man mit einer Mistga-
Das Wartburgfest
bel empor und schleuderte sie unter allerlei Verwünschungen in die lodernden Flammen. Dazu gehörten ganz offensichtliche Symbole des reaktionären Militarismus, nämlich ein kur-hessischer Zopf (den Kurfürst Wilhelm nach seiner Rückkehr nach Kassel tatsächlich wieder eingeführt hatte), ein preußischer Ulanenschnürleib sowie ein österreichischer Korporalstock. Dann folgten mehr als zwei Dutzend Bücher, die als Zeugnisse reaktionären Geistes dem „Feuergericht“ übergeben wurden. Am folgenden Tag wurde schließlich noch heftig in einer Art Studentenparlament diskutiert, dann gingen Burschenschaftler, Turner und Landsturmleute wieder auseinander. Den Geist des Wartburgfestes nahmen sie mit sich, bereit, ihn in die Tat umzusetzen Die Ereignisse der beiden Oktobertage hatten ein Nachspiel. Die preußische Polizei stellte Ermittlungen an, führte Verhöre und nahm wo immer möglich die Teilnahme zu den Akten. Dabei hätten Reden, Lieder und patriotische Turnerei allein wohl kaum die Reaktion der Obrigkeit des Deutschen Bundes provoziert. Das so genannte Feuergericht war´s, das vor allem das Missfallen des österreichischen Staatskanzlers Metternich weckte. Bei den deutsch gesinnten Burschenschaftlern wurden Bücher ganz unterschiedlicher Couleur in die Flammen geworfen: Dazu gehörte etwa das Werk „Restauration der Staatswissenschaft“ des konservativen Schweizer Staatsrechtlers Karl Ludwig von Haller, der die Fürsten in ihre alten Rechte eingesetzt sehen wollte und dessen Titel der ganzen Epoche ihren Namen gab. Oder August von Kotzebues „Geschichte des deutschen Reiches“, deren Verfasser nicht nur durch unpolitische Lust- und Schauspiele bekannt wurde, sondern den man –russischer Generalkonsul, der er war – als Agenten des Zaren ansah, einen, der sich über die Burschenschaftler und deren angebliche Deutschtümelei lustig machte. Ähnliches tat auf seine Art der Berliner Schriftsteller und Buchhändler Saul Ascher, der den Patrioten frühzeitig bloßen Nationalismus vorwarf und sich mit der Publikation „Die Germanomanie“ kritisch über nationalistische Töne bei Arndt und Jahn äußert. Ihm als Juden brachte dies üble antisemitische Vorwürfe
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ein – nicht nur auf dem Wartburgfest. Damit aber nicht genug: Selbst den Code Napoleon übergab man den Flammen, der nun gar nichts mit den konservativen Vorstellungen Hallers oder Kotzebues zu tun hatte. Insofern kann man über das politische Bücherverbrennungsprogramm des 18. Oktober 1817 nur spekulieren. Aber es bleibt wohl festzustellen, dass es dabei weniger um nationale Einheit und Freiheitsrechte ging als gegen alles, was der engeren Ideologie widersprach, die anscheinend vor allem von den Turnern ausging. Viele Burschenschaftler radikalisierten sich, was insbesondere für die von Karl Follen (1796–1840) in Gießen gegründete Studentenvereinigung der „Gießener Schwarzen“ galt. Sie nannten sich die „Unbedingten“. Der Jurist Follen hatte wie so viele Burschenschaftler als Freiwilliger in den Befreiungskriegen gekämpft und sich den Ideen der Nationalbewegung angeschlossen. Seine Ziele führten sogar weit darüber hinaus, weil sie einen deutschen Einheitsstaat ohne historische Rücksichten und ein demokratisch-republikanisches System vorsahen. Um diese Ziele gegen die restaurative Herrschaft zu erreichen, war sogar die Ermordung des politischen Gegners erlaubt. Diese Art moralischer Freibrief, der den eigenen Opfertod mit einschloss, nahm sich Karl Ludwig Sand (1795–1820) zu Herzen und setzte ihn in die Tat um. Als Student der evangelischen Theologie hatte er am Wartburgfest teilgenommen und war dann an die Universität Jena gewechselt. Da hatte er sich die Ideen Karl Follens bereits zu eigen gemacht und gehörte zum radikalen Umfeld der „Unbedingten“. Das Opfer seiner aus eigener Sicht patriotischen Heldentat sollte August von Kotzebue werden, der nicht erst seit der Bücherverbrennung auf dem Wartenberg zu den gehasstesten Kritikern der Burschenschaften gehörte. Der junge Mann suchte ihn im Kreise seiner Familie im März 1819 in Mannheim auf und stieß dem dabei so genannten „Verräter des Vaterlands“ mehrmals ein Messer in die Brust. Der prominente Dichter starb an seinen Verletzungen, während Sand sich erfolglos selbst zu töten versuchte. Seine Wunden waren indes so schwer, dass er nach milder Haft erst im Mai
Schwarz-Rot-Gold – ein Ausklang
des folgenden Jahres vor den Toren Mannheims auf´s Schafott gebracht und öffentlich hingerichtet wurde. Die große Menschenmenge soll seinem Tod tief gerührt beigewohnt und den Studenten als Helden der nationalen Einheit besungen haben. Seine Reliquien wurden später verehrt. Derweil hatte Karl Follen bereits lange schon die Flucht ergriffen; über Frankreich und die Schweiz verschlug es ihn nach Nordamerika. Die deutschen Regierungen und nicht wenige Bürger waren von der Radikalität der Burschenschaftler erschrocken. Staatskanzler Metternich nutzte die Gunst der Stunde, um mit den Karlsbader Beschlüssen im September 1819 ein ganzes Bündel von Maßnahmen gegen die so genannten Demagogen durchzusetzen. Diese schränkten unter anderem die Pressefreiheit erheblich ein, stellten die Universitäten unter strenge Aufsicht und verfolgten die Burschenschaftler. Selbst auf die Souveränität liberaler Länder sollte eingewirkt werden, was die süddeutschen Staaten zumindest teilweise abwehrten. Die patriotischen und demokratischen Rufer nach Einheit und Freiheit wurden auf diese Weise für lange Zeit ruhiggestellt.
Schwarz-Rot-Gold – ein Ausklang Die Geschichte der deutschen Nationalfarben zeigt, dass diese ein Erbe der Befreiungskriege sind, bezeugt jedoch ebenso den weiteren Gang der Dinge nach 1819. Als sich die Allgemeine Deutsche Burschenschaft 1818 eine Verfassung gab, wählte sie zu ihren Farben Schwarz-RotGold, weil dies die Farben der Jenaer Urburschenschaft waren. Zumindest führte sie eine rot-schwarz-rote Fahne mit goldenem Eichenzweig in der Mitte und goldenen Fransen. Das Vorbild dieser Farben gaben wiederum die Uniformfarben der Lützower Freischar ab, in der viele Studenten kurz zuvor noch gekämpft hatten. Gut erinnerten sie sich an ihre schwarz gefärbte Kleidung, die goldfarbenen Messingknöpfe sowie die roten Abzeichen und Ärmelränder. Was bei den selbst zu stellenden
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und zu bezahlenden Uniformteilen letztlich eine praktische Begründung hatte, wurde von den Burschenschaftlern mit höheren Weihen versehen. Die Farbenfolge galt nun als Ausdruck des mittelalterlichen deutschen Reiches. Das Heilige Römische Reich führte zwar keine offiziellen Farben, gleichwohl taucht häufig ein rot bewehrter schwarzer Adler auf gelbem bzw. goldenem Grund auf. Die Studenten erwiesen sich damit als Erben der Romantik und ihres Mittelalterbildes. SchwarzRot-Gold galt schnell als Symbol der Einheitsbewegung. Die Teilnehmer des Wartburgfestes sollen Kokarden in diesen Farben getragen haben. Als die Jenaer Burschenschaft 1819 aufgelöst wurde, dichtete ihr Mitglied August Daniel von Binzer: „Das Band ist zerschnitten, / War Schwarz, Rot und Gold, / Und Gott hat es gelitten, / Wer weiß, was er gewollt.“ Die Farben blieben von nun an in ihrer wechselvollen Geschichte Symbole der freiheitlichen Bewegung und eines geeinten Deutschland. Dem liberalen Publikum blieben sie stets in Erinnerung, und nach der französischen Juli-Revolution von 1830 kommen sie auch in Deutschland wieder verstärkt zu Ehren, so 1832 auf dem Hambacher Fest, bei dem sich in der Pfalz 30 000 Menschen einfanden. Die Nationalversammlung der Frankfurter Paulskirche erklärt die Farben zur Nationalflagge. Aber nach der gescheiterten Revolution von 1848/49 verschwinden sie auf lange Zeit in der Versenkung. Erst 1919 wählt sie die Weimarer Republik wieder zum Nationalsymbol, das allerdings in weiten Teilen der Bevölkerung unbeliebt ist. Mit dem Untergang des demokratischen Staates wird es vom Schwarz-Weiß-Rot des Wilhelminischen Kaiserreichs und von Hitlers Hakenkreuz verdrängt. 1949 wählen sich beide deutsche Staaten die Farben der Burschenschaftler als Staatsflaggen, in der DDR zehn Jahre später mit Hammer und Zirkel belegt. Seit der Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 weht vor dem Berliner Reichstagsgebäude, dem Sitz des Deutschen Bundestages, die riesige Fahne der Einheit. Mit ihr hat Schwarz-Rot-Gold seine ursprüngliche Intention gefunden.
Nachwort
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Die Farben Schwarz-Rot-Gold blieben nicht das einzige Vermächtnis der Befreiungskriege. Denn die vielbeschworenen deutschen Gelehrten, Dichter und Publizisten probierten sich immer wieder darin, was Deutschland war und was es werden oder wieder werden sollte. Dem Geist des Volkes spürte man ebenso nach wie einem Mittelalter nationaler Größe und Pracht. Wer hat dies schöner veranschaulicht als der Preuße Karl Friedrich Schinkel, der seinem König Eisernes Kreuz, die Neue Wache Unter den Linden oder das Nationaldenkmal für die Befreiungskriege auf dem Berliner Kreuzberg als Erinnerungsmale des Kriegs gegen Napoleon schuf. Als der Sieg errungen war, gab er seiner Hoffnung Ausdruck in dem Gemälde „Mittelalterliche Stadt an einem Fluss“: Die Unwetterwolken verziehen sich, und ein Regenbogen überspannt das Häusermeer samt Türmen. Darüber erhebt sich eine gotische Kathedrale, die an Straßburg, vor allem aber an den unfertigen Kölner Dom gemahnt. An einem Turm des Westwerks wird noch in schwindelerregender Höhe gebaut, dort weht eine weiße Fahne nicht mit dem preußischen, sondern mit dem doppelköpfigen Reichsadler. Derweil zieht unten ein Herrscher mit seinem ritterlichen Gefolge heran. Schinkel kleidete seine Einheitsutopie in das allegorische Gewand des Mittelalters: Seine Kunstträume sollten ebenso unerfüllt bleiben wie die der Burschenschaftler – einig und geeint wurde Deutschland erst mehr als ein halbes Jahrhundert später. Ein Kriegsteilnehmer brachte damals zum Ausdruck, was viele dachten: „Vier lange Jahre sind seit jener Schlacht verflossen. Das deutsche Volk hat schöne Hoffnungen gefaßt, sie sind alle vereitelt; alles ist anders gekommen, als wir erwartet haben.“ Aber die nach den Siegen über Österreich (1866) und Frankreich 1871 einzig verbliebene deutsche Führungsmacht Preußen übernimmt spätestens damit die Deutungshoheit der Befreiungskriege. Preußens Chefhistoriker Heinrich von Treitschke interpretiert die Reichseinigung von 1871 als zwingende Konsequenz: „Der Krieg heute gleicht dem Befreiungskriege, wie die Erfüllung der Verheißung.“ Aus seiner
Nachwort
Sicht lief die deutsche Geschichte ganz auf das preußische Wirken zu. Nach seiner Lesart hatte erst Preußen Deutschland befreit und schließlich geeint. Aber so einfach verlief die Geschichte denn doch nicht, was sich schon am Begriff der Befreiungskriege zeigt: Von „Freiheitskriegen“ zu sprechen hätte bedeutet, dass Freiheiten auch hätten eingefordert werden können. „Befreiungskriege“ dagegen hatten eine ganz andere Bedeutung, sie verwiesen letztlich auf die Befreiung von Napoleons Macht. Was dieser Befreiung folgte, erwies sich für die Deutschen zumeist als wenig freiheitsbringend. Deshalb schrieben kritische (und verfolgte) Geister schon bald von den „sogenannten“ Befreiungskriegen, etwa Heinrich Heine, Ludwig Börne und Hoffmann von Fallersleben. Ihnen folgte im Jahr 2008 der ehemalige Bundespräsident Roman Herzog in einem Beitrag zu der Kasseler Ausstellung über Jérôme Bonaparte und den Modellstaat Königreich Westphalen. Ihnen allen gemeinsam ist eine gewisse Distanz vom preußisch und nationalistisch instrumentalisierten Bild der Ereignisse von 1813. Treitschke sah in ihnen den Kampf für König und Vaterland, in der DDR beschwor man in ihnen den Kampf der Volksmassen, Demokraten wollten eher die Nähe zur Französischen Revolution erkennen und Liberale nahmen sich das Streiten um Reformen zum Vorbild. Mittlerweile erfahren die so lang geschmähten Rheinbundstaaten mit ihren fortschrittlichen Verfassungen die ihnen gebührende Würdigung als eigentliche Vorläufer des freiheitlich-demokratischen Verfassungsstaates. Und die Befreiungskriege mit oder ohne Zusatz: vergebliches Blutvergießen, falsches historisches Signal, besser übergangen als gewürdigt? Dazu Friedrich Engels 1841: „… nicht die Abschüttelung der Fremdherrschaft, nicht die errungene „Freiheit“ war das größte Resultat des Kampfes, sondern dies lag in der Tat selbst und in einem von den wenigsten Zeitgenossen klar empfundenen Momente derselben. Daß … wir uns bewaffneten, ohne die allergnädigste Erlaubniß der Fürsten ab-
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zuwarten, ja die Machthaber zwangen, an unsere Spitze zu treten, kurz, daß wir einen Augenblick als Quelle der Staatsmacht, als souveraines Volk auftraten, das war der höchste Gewinn jener Jahre …“ Zweifelsohne liegt seiner Deutung eine stark übertriebene Bewertung der Massen zugrunde. Aber trotzdem: Das Volk, besser Publizisten, Politiker, Aktivisten wurde sich seiner selbst bewusst wie nie zuvor. Und auch nach 1815 blieben die Hoffnung und der Wunsch nach Freiheit und Einheit bestehen. Die epochale Revolution in Frankreich und ihre vielfältigen Auswirkungen auf Deutschland beförderten hier wie andernorts die Entstehung des modernen Nationalgefühls, sogar des Nationalismus. Männer wie Arndt und Jahn pflegten dabei eine Sprache, auf die bis 1945 immer wieder zurückgegriffen wurde. Für sie war Freiheit kein absoluter Wert, sondern machte sich – verbunden mit der Nation – an einem Feindbild fest: dem Frankreichs. Dieses Feindbild war im Übrigen nicht statisch, es war erweiterbar und austauschbar, ja beförderte sogar den Antisemitismus. Heinrich Heine hat dies wenig später klug erkannt und auf den Punkt gebracht: „Der Patriotismus des Franzosen besteht darin, daß sein Herz erwärmt wird, durch diese Wärme sich ausdehnt, sich erweitert, daß es nicht mehr bloß die nächsten Angehörigen, sondern ganz Frankreich, das ganze Land der Zivilisation mit seiner Liebe umfaßt; der Patriotismus des Deutschen hingegen besteht darin, daß sein Herz enger wird, daß es sich zusammenzieht, wie Leder in der Kälte, daß er das Fremdländische haßt, daß er nicht mehr Weltbürger, nicht mehr Europäer, sondern nur ein enger Deutscher sein will.“ Der sein Vaterland im Pariser Exil liebende, aber auch an ihm leidende Dichter liefert gleich noch eine überaus spöttische Deutung der Befreiungskriege mit: „Was sich bald darauf in Deutschland ereignete, ist euch allzuwohl bekannt. Als Gott, der Schnee und die Kosaken die besten Kräfte des Napoleon zerstört hatten, erhielten wir Deutsche den allerhöchsten Befehl uns vom fremden Joche zu befreien, und wir loderten auf in männlichem Zorn ob der allzulang ertragenen Knecht-
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schaft, und wir begeisterten uns durch die guten Melodien und schlechten Verse der Körnerschen Lieder, und wir erkämpften die Freiheit; denn wir tun alles was uns von unseren Fürsten befohlen wird.“ Das war Heines satirische Schärfe, und der Blick des 21. Jahrhunderts darf etwas weiter sein und gnädiger ausfallen: Bei allem berechtigten Unbehagen über die nationalistischen Entgleisungen und Irrwege des frühen 19. Jahrhunderts erweist sich als tröstlich, dass die meisten Zeitgenossen ihren Ton ablehnten. Den Kampf um Freiheit focht man nicht nur auf den Schlachtfeldern Sachsens, sondern auch in den Schreibstuben der Publizisten und in den Ministerien, manchmal sogar bei Volksversammlungen. Um 1813 zeichnen sich mehr oder weniger deutlich deutsche Sonderwege, fatale Irrwege und langwierige Umwege ab. Aber es begann, was in der Fahne der Einheit vor dem Bundestag seine Erfüllung in Einheit und Freiheit fand.
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328 Zeittafel
Zeittafel 1789
17. Juni In Versailles erklärt sich der Dritte Stand zur französischen Nationalversammlung 14. Juli Sturm auf die Bastille 4. August Die Pariser Nationalversammlung schafft sämtliche Privilegien von Adel und Klerus ab 26. August Erklärung der Menschenrechte
1790
30. September Kaiserwahl Leopolds II. in Frankfurt 2. Dezember Nach Unruhen in den Österreichischen Niederlanden besetzen Österreichische Truppen Brüssel
1791
21. Juni Der Fluchtversuch der französischen Königsfamilie scheitert in Lothringen 27. August In der Pillnitzer Konvention erklären Kaiser Leopold II. und König Friedrich Wilhelm II. von Preußen ihre Unterstützung der französischen Monarchie auch unter Bereitstellung von Truppen 3. September Nach der neuen Verfassung ist Frankreich eine konstitutionelle Monarchie
1792–1797
1. Koalitionskrieg
1792
7. Februar Verteidigungsbündnis zwischen Österreich und Preußen gegen Frankreich 20. April Die Nationalversammlung erklärt Österreich und Preußen den Krieg 5. Juli Kaiserwahl Franz II. in Frankfurt 14. Juli Die Krönung Franz II. in Frankfurt ist die letzte Kaiserkrönung des Heiligen Römischen Reiches
Zeittafel 25. Juli Koblenzer Manifest des Herzogs von Braunschweig 10. August In Paris Erstürmung der Tuilerien und Gefangennahme der königlichen Familie 20. September Kanonade von Valmy 21. September Der Pariser Nationalkonvent schafft die Monarchie ab und ruft die Republik aus 21. Oktober Die Festung Mainz kapituliert vor französischen Truppen unter General Custine 23. Oktober Gründung des Mainzer Jakobinerclubs im Kurfürstlichen Schloss 6. November Die Franzosen unter General Dumouriez besiegen bei Jemappes ein österreichisches Heer, Österreich verliert Belgien 17. Dezember Im Fürstbistum Basel entsteht eine Raurakische Republik
1793
21. Januar Hinrichtung des französischen Königs Ludwig XVI. in Paris 18. März Gründung der Mainzer Republik 23. Juli Rückeroberung von Mainz durch die Preußen und Ende der Republik 16. Oktober In Paris Hinrichtung von Königin Marie Antoinette 19. Dezember Französische Truppen erobern das britisch besetzte Toulon zurück. Danach wird Napoleon Bonaparte zum jüngsten Revolutionsgeneral ernannt
1794
1. Juni In Preußen tritt das „Allgemeine Landrecht für die preußischen Staaten“ in Kraft 27./28. Juli In Paris Sturz und Hinrichtung Robespierres und seiner Anhänger 2. Oktober In der Schlacht bei Aldenhoven besiegen die Franzosen unter Jordan und Bernadotte ein österreichisches Heer 6. Oktober Französische Besetzung Kölns 23. Oktober Französische Einnahme von Koblenz
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330 Zeittafel 1795
19. Januar Errichtung der Batavischen Republik in den Niederlanden 5. April Im Sonderfrieden zu Basel verzichtet Preußen auf das linke Rheinufer 6. September Eine französische Armee unter Jourdan überquert bei Düsseldorf den Rhein 31. Oktober In Paris Gründung des Direktoriums
1796
10. April Napoleon beginnt den Italienfeldzug 10. Mai Napoleon siegt bei Lodi in der Lombardei über die Österreicher 4. Juni Französischer Sieg bei Altenkirchen über die Österreicher unter Erzherzog Karl 15. Juni Erzherzog Karl schlägt die Franzosen bei Wetzlar 25. August Friedensschluss zwischen der Markgrafschaft Baden und Frankreich 3. September Erzherzog Karl besiegt die Franzosen unter Jourdan bei Würzburg 17. November Napoleon besiegt bei Arcole die Österreicher
1797
15. Januar Sieg Napoleons über die Österreicher bei Rivoli nahe Turin 2. Februar Kapitulation der Österreicher in Mantua; Oberitalien in französischer Hand 7. April Waffenstillstand von Leoben zwischen Napoleon und Österreich 17. Oktober Frieden von Campo Formio: Österreich verzichtet auf das linke Rheinufer und erhält Venedig im Tausch gegen Belgien und Mailand 16. November Friedrich Wilhelm III. wird König von Preußen 9. Dezember Eröffnung des Friedenskongresses von Rastatt zwischen Frankreich und dem Heiligen Römischen Reich (bis 1799) 30. Dezember In Mainz rücken wieder französische Truppen ein
Zeittafel
1798/99
Napoleons Ägyptenfeldzug
1798
10. Februar Französische Truppen rücken in Rom ein 12. April Ausrufung der Helvetischen Republik
1799–1802
2. Koalitionskrieg
1799
21. März Bei Ostrach/Oberschwaben französische Niederlage gegen Erzherzog Karl 29. April Rastatter Gesandtenmord: Österreichische Husaren ermorden zwei französische Diplomaten 9. November Staatsstreich Napoleons 13. Dezember Proklamation der Konsulatsverfassung: Die Konsuln der Republik werden Napoleon, Sieyès, Ducos, ab 24. Dezember: Napoleon, Jean-Jacques Régis de Cambacérès und Charles François Lebrun 15. Dezember Napoleon erklärt das Ende der Revolution
1800
20. Mai Napoleon überschreitet den Großen St. Bernhard und marschiert in Oberitalien ein 14. Juni Napoleon siegt über die Österreicher bei Marengo 19. Juni Sieg Moreaus bei Höchstädt über Österreicher, Bayern und Württemberger 20. Juni Französische Einnahme von Turin 3. Dezember Moreau siegt bei Hohenlinden über Österreicher und Bayern
1801
9. Februar Der Frieden von Lunéville zwischen Österreich und Frankreich bestätigt die Vereinbarungen von Campo Formio
331
332 Zeittafel 24. August Vertrag von Paris zwischen Frankreich und Bayern, das sich damit Napoleon annähert
1802
27. März Frieden von Amiens zwischen Frankreich und Großbritannien 19. Mai Stiftung des Ordens der Ehrenlegion 20. Mai Sonderfrieden von Paris zwischen Frankreich und Württemberg 2. August Durch ein Plebiszit wird Napoleon Erster Konsul auf Lebenszeit
1803
25. Februar Der Reichsdeputationshauptschluss in Regensburg leitet die territoriale Neuordnung des Heiligen Römischen Reiches ein 18. Mai Großbritannien erklärt Frankreich den Krieg 5. Juni Französische Truppen unter General Mortier besetzen das britische Hannover. In Frankreich Vorbereitungen für eine Invasion in England 21. November Hinrichtung des Räuberhauptmanns Schinderhannes mit 19 Kumpanen in Mainz
1804
15. März Auf Befehl Napoleons Entführung des Herzogs von Enghien aus dem badischen Ettenheim und Hinrichtung sechs Tage später wegen angeblichen Hochverrats 21. März In Frankreich wird der Code Civil eingeführt 11. August Franz II. nimmt den Titel „Kaiser von Österreich“ an 25. Oktober Der englische Geschäftsträger Sir George Rumbold wird von den Franzosen aus Hamburg nach Frankreich entführt 27. Oktober Freiherr vom Stein wird preußischer Ministerpräsident 11. November Freilassung Rumbolds auf Intervention des preußischen Königs 2. Dezember Kaiserkrönung Napoleons in Notre-Dame in Paris
Zeittafel
1805
3. Koalitionskrieg
1805
17. März Proklamierung Napoleons zum König von Italien 11. April Bündnis zwischen England und Russland, Schweden, Sardinien-Piemont 26. Mai Krönung Napoleons zum König von Italien in Mailand 9. August Österreich tritt der Koalition gegen Frankreich bei 25. August Im Geheimvertrag von Bogenhausen Bündnis zwischen Frankreich und dem Kurfürstentum Bayern, dessen territorialer Besitzstand garantiert wird 5. September Bündnisvertrag von Baden-Baden zwischen Frankreich und Baden 8. September Österreichische Truppen marschieren in Bayern ein 25. September Napoleon überquert mit seiner Hauptarmee den Rhein 5. Oktober Bündnisvertrag von Ludwigsburg zwischen Frankreich und Württemberg 8. Oktober Französischer Sieg über die Österreicher bei Wertingen 14. Oktober Bei Elchingen besiegen die Franzosen unter Ney ein österreichisches Heer 19. Oktober Der österreichische General Mack kapituliert mit seinen in Ulm eingeschlossenen Truppen 21. Oktober Britischer Seesieg bei Trafalgar über die Franzosen. Tod Admiral Nelsons 25. Oktober Besuch Zar Alexanders I. in Berlin 3. November Geheimer Allianzvertrag von Potsdam zwischen Preußen und Russland 13. November Kampflose französische Besetzung Wiens 2. Dezember Sieg Napoleons in der Schlacht bei Austerlitz über Österreicher und Russen 10.–12. Dezember In den Brünner Verträgen Napoleons mit den Kurfürstentümern Bayern, Württemberg und Baden werden diese zu Königreichen bzw. einem Großherzogtum erhoben.
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334 Zeittafel 15. Dezember Im Vertrag von Schönbrunn zwischen Frankreich und Preußen werden u. a. territoriale Fragen geklärt, Preußen erhält das Kurfürstentum Hannover 26. Dezember Frieden von Pressburg zwischen Frankreich und Österreich, das erhebliche Gebietsverluste hinnehmen muss (Oberitalien, Tirol, Breisgau)
1806/07
4. Koalitionskrieg
1806
15. Februar Im Pariser Traktat zwingt Napoleon Preußen zur Einhaltung der Bestimmungen des Vertrags von Schönbrunn. Preußen sperrt seine Häfen für britische Schiffe und besetzt Hannover; englische Kriegserklärung an Preußen 12. Juli Gründung des Rheinbundes in Paris, seine 16 Mitglieder sagen sich als Reichsstände vom Heiligen Römischen Reich los 1. August Die Rheinbundstaaten zeigen dem Reichstag in Regensburg ihren Austritt an. Napoleon erkennt die Reichsverfassung nicht mehr an 6. August Franz II. verzichtet auf den Titel eines deutschen Kaisers. Ende des Heiligen Römischen Reiches 9. August Mobilmachung in Preußen 26. August Hinrichtung des Nürnberger Buchhändlers Johann Philipp Palm in Braunau 9. Oktober Im Kriegsmanifest erklärt König Friedrich Wilhelm III. Frankreich den Krieg; Verbündete Preußens sind Sachsen, Braunschweig, Sachsen-Weimar. Bei Schleiz erstes Gefecht 10. Oktober Das Gefecht bei Saalfeld endet mit der Niederlage der preußisch-sächsischen Vorhut und dem Tod des Prinzen Louis Ferdinand 14. Oktober In der Doppelschlacht von Jena und Auerstedt besiegen Napoleon und Murat das preußische Heer, dessen Oberbefehlshaber, der Herzog von Braunschweig, schwer verwundet wird 16. Oktober Kapitulation der Festung Erfurt. Napoleon in Weimar 17. Oktober Niederlage der Preußen bei Halle 18. Oktober Die Franzosen besetzen Leipzig
Zeittafel 25. Oktober Kapitulation der Festung Spandau. Napoleon in Potsdam 27. Oktober Einzug Napoleons in Berlin 28. Oktober Kapitulation des Korps Hohenlohe bei Prenzlau 29. Oktober Kapitulation der Festung Stettin 6. November Schlacht von Lübeck, das erstürmt und geplündert wird 7. November Kapitulation des Korps Blücher bei Ratekau und der Festung Küstrin 8. November Kapitulation der Festung Magdeburg 16. November Preußischer Waffenstillstand mit Frankreich, den jedoch der nach Ostpreußen geflüchtete König ablehnt 19. November Besetzung Hamburgs durch die Franzosen 21. November Napoleon erlässt in Berlin die Kontinentalsperre gegen England 28. November Franzosen besetzen das zu Preußen gehörende Warschau. Russland tritt dem Krieg gegen Frankreich bei 2. Dezember Kapitulation der Festung Glogau 11. Dezember Frieden von Posen zwischen Frankreich und Sachsen, das dem Rheinbund beitritt. Erhebung zum Königreich
1807
3. Januar Entlassung des Freiherrn vom Stein durch den preußischen König 7. Januar Kapitulation der Festung Breslau 7./8. Februar Schlacht bei Preußisch-Eylau zwischen Napoleon, russischen und preußischen Truppen 14. März Die französische Belagerung Kolbergs beginnt 26. April Im Bartensteiner Vertrag schließen Zar Alexander I. und Friedrich Wilhelm III. ein Bündnis gegen Napoleon 26. Mai Kapitulation der preußischen Festung Danzig
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336 Zeittafel 14. Juni In der Schlacht bei Friedland bringt Napoleon den Russen eine entscheidende Niederlage bei 16. Juni Französische Besetzung Königsbergs 21. Juni Französisch-russischer Waffenstillstand 25. Juni Französisch-preußischer Waffenstillstand 6. Juli Napoleon trifft in Tilsit mit Friedrich Wilhelm III. und dessen Frau Luise zusammen 9. Juli Friede von Tilsit zwischen Frankreich und Preußen, das große Gebietsverluste und Besatzung hinnehmen muss 18. August Jérôme Bonaparte wird Herrscher des Königreichs Westphalen 2.–5. September Britische Bombardierung Kopenhagens 3. Oktober Auf Empfehlung Napoleons wird der Freiherr vom Stein von Friedrich Wilhelm III. wieder zum Minister berufen 9. Oktober Tilsiter Edikt zur Bauernbefreiung 7. Dezember Jérôme Bonaparte zieht als König von Westphalen in Kassel ein
1808
16. April Gründung des Tugendbundes in Königsberg 27. September–14. Oktober Fürstentag zu Erfurt 12. Oktober Allianzvertrag zwischen Frankreich und Russland 19. November Preußische Städteordnung 24. November Friedrich Wilhelm III. entlässt den Freiherrn vom Stein 16. Dezember Ächtung des Freiherrn vom Stein durch Napoleon
1809
5. Koalitionskrieg
Zeittafel
1809
1. April Herzog Friedrich Wilhelm von Braunschweig-Wolfenbüttel stellt das Freikorps der „Schwarzen Schar“ auf 9. April Nach der Kriegserklärung gegen Frankreich und Bayern marschieren österreichische Truppen in Bayern ein. In Tirol bricht der Aufstand gegen Bayern los 12./13. April In der Schlacht am Bergisel erleiden die Franzosen gegen die Tiroler eine Niederlage 16. April Niederlage der Bayern bei Landshut 20.–22. April Sieg Napoleons bei Eggmühl 23. April In den Kämpfen bei Regensburg bleiben die Franzosen unter Napoleon siegreich 28. April Der preußische Major von Schill verlässt Berlin und marschiert durch Norddeutschland 13. Mai Nach Belagerung und Beschuss zieht Napoleon in Wien ein 21./22. Mai In der Schlacht von Aspern nahe Wien erleidet Napoleon gegen die Österreicher unter Erzherzog Karl eine Niederlage 25. Mai Schill zieht in Stralsund ein, wo er sechs Tage später fällt 5./6. Juli In der Schlacht bei Wagram siegt Napoleon über ein österreichisches Heer 12. Juli Waffenstillstand von Znaim zwischen Frankreich und Österreich 8. Oktober Der bisherige Gesandte in Paris Graf Metternich wird österreichischer Außenminister 14. Oktober Frieden von Schönbrunn 31. Dezember Auflösung des Tugendbundes
1810
1. Januar Einführung des Badischen Landrechts 20. Februar Erschießung Andreas Hofers in Mantua 1. April Heirat Napoleons mit Erzherzogin Marie-Louise von Österreich
337
338 Zeittafel 4. Juni In Preußen wird Hardenberg Staatskanzler 9. Juli Frankreich annektiert die Niederlande 19. Juli Tod der Königin Luise von Preußen 5. August Das Dekret von Trianon verschärft die Kontinentalsperre 16. August Verfassung für das Großherzogtum Frankfurt 13. Dezember Französische Annexion der norddeutschen Küstengebiete mit Hamburg, Bremen und Lübeck
1811
19. Juni Friedrich Ludwig Jahn eröffnet auf der Hasenheide bei Berlin den ersten Turnplatz 2. September Preußisches Edikt zur Gewerbefreiheit 14. September Preußisches Edikt zur Regulierung der gutsherrlichen und bäuerlichen Verhältnisse 17. Oktober Im Petersburger Vertrag schließen Russland und Preußen eine Militärkonvention
1812
24. Februar Im Pariser Vertrag wird Preußen von Napoleon zu einem Militärbündnis verpflichtet 11. März Edikt über die bürgerlichen Verhältnisse der Juden in Preußen 14. März Österreich erklärt sich zur militärischen Unterstützung Napoleons bereit 24. Juni Napoleon marschiert mit der Grande Armée in Russland ein 17. August Sieg Napoleons über die Russen bei Smolensk 7. September In der Schlacht von Borodino siegt Napoleon über die Russen unter Kutusow 14. September Kampfloser Einzug Napoleons in Moskau 19. Oktober Napoleon verlässt Moskau. Beginn des Rückzugs der Grande Armée
Zeittafel 25.–27. November Übergang über die Beresina 16. Dezember Reste der Grande Armée überqueren die Memel nach Ostpreußen 18. Dezember Napoleon trifft wieder in Paris ein 30. Dezember In der Konvention von Tauroggen schließen Ludwig Yorck von Wartenburg und General von Diebitsch-Sabalkanskij einen Waffenstillstand zwischen preußischen und russischen Truppen
1813
5.–8. Februar Einberufung des ostpreußischen Landtags, mit der die Erhebung gegen Napoleon beginnt 8. Februar Der Professor Heinrich Steffens ruft in Breslau seine Studenten zum Widerstand gegen Napoleon auf 9. Februar Friedrich Wilhelm III. verkündet in Preußen die Wehrpflicht 26. Februar Preußisch-russischer Bündnisvertrag von Kalisch 4. März Russische Truppen marschieren in dem von den Franzosen geräumten Berlin ein 10. März Friedrich Wilhelm III. stiftet das Eiserne Kreuz 17. März Aufruf des preußischen Königs „An mein Volk“ 18. März Die Russen besetzen vorübergehend Hamburg 25. März Mecklenburg-Schwerin tritt aus dem Rheinbund aus 27. März Preußen erklärt Frankreich den Krieg 2. April Im Gefecht bei Lüneburg Sieg der Russen und Preußen über Franzosen 5. April Sieg der Verbündeten bei Möckern nahe Magdeburg 21. April Preußisches Landsturm-Edikt 2. Mai Die Schlacht bei Lützen (Großgörschen) endet mit dem Sieg Napoleons über Preußen und Russen; Scharnhorst wird verwundet 20./21. Mai Schlacht bei Bautzen mit erneutem Sieg Napoleons
339
340 Zeittafel 22. Mai Tod des Großmarschalls Duroc bei Markersdorf 30. Mai Die Franzosen besetzen erneut Hamburg 4. Juni Waffenstillstand von Pläswitz zwischen Frankreich, Russland und Preußen 17. Juni Das Lützower Freikorps wird bei Kitzen aufgerieben 27. Juni In den Reichenbacher Konventionen treten Schweden und England der Koalition gegen Napoleon bei 28. Juni General von Scharnhorst stirbt in Prag an seiner Verletzung 30. Juni Verlängerung des Waffenstillstands 12. Juli–10. August Prager Friedenskongress, der ergebnislos endet 26. Juli Neunstündige Unterredung Metternichs mit Napoleon im Palais Marcolini zu Dresden 10. August Ende des Waffenstillstands 11. August Österreich erklärt Frankreich den Krieg 23. August In der Schlacht bei Großbeeren (südlich Berlins) werden die auf Berlin zu marschierenden Franzosen unter Marschall Oudinot zurückgeschlagen 26. August Sieg Blüchers an der Katzbach. Tod Theodor Körners bei Gadebusch 26./27. August In der Schlacht bei Dresden siegt Napoleon über die Verbündeten 27. August Französisch-sächsische Niederlage bei Hagelberg gegen Russen und Preußen, bei denen die Landwehr zum Einsatz kommt 30. August In der Schlacht bei Kulm siegen die Verbündeten 6. September Bei Dennewitz erleiden die Franzosen eine Niederlage 1. Oktober In Kassel einmarschierte Russen erklären das Königreich Westphalen für aufgelöst 3. Oktober Blücher und Yorck erzwingen bei Wartenburg den Elbübergang 8. Oktober Im Vertrag von Ried erklärt Bayern seinen Austritt aus dem Rheinbund
Zeittafel 14. Oktober Bayern erklärt Frankreich den Krieg 16.–19. Oktober Die Völkerschlacht bei Leipzig; sie endet mit dem Rückzug Napoleons 26. Oktober Jérôme legt die Krone als König von Westphalen nieder 28. Oktober Karl Theodor von Dalberg dankt als Großherzog von Frankfurt ab 30./31. Oktober In der Schlacht bei Hanau setzt sich Napoleon gegen ein österreichisch-bayerisches Heer unter General Wrede durch 2. November Württemberg tritt aus dem Rheinbund aus 5. November Lippe tritt aus dem Rheinbund aus 11. November Kapitulation der Franzosen in der Festung Dresden 18. November Neutralitätserklärung der Schweiz 20. November Baden tritt aus dem Rheinbund aus 21. November Kapitulation der Franzosen in der Festung Stettin 26. November Anhalt-Bernburg tritt aus dem Rheinbund aus 28. November Schwarzburg tritt aus dem Rheinbund aus 29. November Kapitulation der Franzosen in der Festung Danzig 21. Dezember Rheinübergang der Alliierten bei Basel 26. Dezember Kapitulation der Franzosen in der Festung Torgau
1814
1. Januar Der preußische Generalfeldmarschall von Blücher überschreitet mit seiner Armee bei Kaub den Rhein 13. Januar Kapitulation der Franzosen in der Festung Wittenberg 14. Januar Frieden von Kiel zwischen Dänemark und den Alliierten 29. Januar In der Schlacht bei Brienne siegt Napoleon über Russen und Preußen
341
342 Zeittafel 1. Februar Die Schlacht bei La Rothière endet mit der Niederlage Napoleons 18. Februar Bei Montereau Sieg Napoleons über die Österreicher 30. März Schlacht bei Paris mit französischer Niederlage und Waffenstillstand 31. März Einzug der Alliierten in Paris 2. April Der Senat erklärt die Absetzung Napoleons. Ludwig XVIII. wird König von Frankreich 6. April Abdankung Napoleons zugunsten seines Sohnes in Fontainebleau 10. April Kapitulation der Franzosen in der Festung Glogau 11. April Endgültige Abdankung Napoleons in Fontainebleau 17. April Ende der Kämpfe in Oberitalien 18. April Ende der Kämpfe in Südfrankreich 20. April Kapitulation der Franzosen in der Festung Antwerpen Abschied Napoleons von seiner Garde in Fontainebleau und Abreise nach Elba 23. April Kapitulation der Franzosen in der Festung Magdeburg 29. April Kapitulation der Franzosen in der Festung Hamburg 30. Mai 1. Frieden von Paris 1./2. September Im Herzogtum Nassau wird eine Verfassung erlassen 3. September In Preußen Einführung der Allgemeinen Wehrpflicht für Kriegs- und Friedenszeiten 1. November Offizielle Eröffnung des Wiener Kongresses
1815
3. Januar Geheimes Defensivbündnis zwischen Österreich, England und Frankreich in der polnisch-sächsischen Frage 26. Februar Napoleon verlässt heimlich Elba
Zeittafel 1. März Napoleon landet in Südfrankreich bei Cannes 20. März Einzug Napoleons in Paris. In Fontainebleau Erneuerung des Kaisertums 25. März Viermächtekonvention zu Wien: Erneuerung des Bündnisses der Alliierten 5. April Preußen nimmt per Erlass die Rheinlande in Besitz 22. Mai Im Edikt von Wien verspricht Friedrich Wilhelm III. eine ständische Repräsentation für Preußen, die zu einem Allgemeinen Landtag führen soll 8. Juni Mit der Deutschen Bundesakte wird der Deutsche Bund gegründet 9. Juni Mit der Kongressakte endet der Wiener Kongress 12. Juni Gründung der Jenaer Burschenschaft 16. Juni In der Schlacht bei Ligny erleidet Blücher gegen Napoleon eine Niederlage 18. Juni In der Schlacht bei Waterloo vollständige Niederlage Napoleons gegen britische und preußische Truppen 22. Juni Endgültige Abdankung Napoleons 4. Juli Waffenstillstand 7. Juli Einzug der Preußen und Engländer in Paris 26. September Alexander I., Franz I. und Friedrich Wilhelm III. unterzeichnen in Paris die Heilige Allianz, der die meisten europäischen Staaten beitreten 20. November 2. Frieden von Paris
1816
5. Mai Im Großherzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach wird eine Verfassung erlassen 6. November Eröffnung der Bundesversammlung in Frankfurt
1817
18./19. Oktober Wartburgfest
343
344 Zeittafel 1818
26. Mai Zweite Verfassung Bayerns 22. August Verkündung der Badischen Verfassung 29. September Beginn des Aachener Kongresses der europäischen Mächte 21. November Ende des Aachener Kongresses
1819
23. März Karl Ludwig Sand tötet in Mannheim August von Kotzebue 20. September Der Bundestag billigt die Karlsbader Beschlüsse
345
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Weiterführende Literatur
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347
348 Register
Register Adelung, Johann Christoph 144 Alexander I., Zar 27, 43, 66, 98, 108, 124, 188, 190, 212, 220, 223, 259, 264, 278, 288 f., 291 Arndt, Ernst Moritz 45, 165, 175, 176, 177, 178, 179, 182, 191, 194, 213, 225, 227, 247, 250, 286, 315, 319, 326 Arnim, Achim von 27, 45, 55, 148, 149, 150, 151, 161, 165, 234, 314 Arnim, Bettina von 233 Ascher, Saul 319 Auguste Amalia, Prinzessin von Bayern 81 Auguste, Herzogin von Sachsen-Coburg 109
Campe, Friedrich 78 Campe, Joachim Heinrich 25 Carl August, Herzog von Sachsen-Weimar 13, 54, 105, 115 Carus, Carl Gustav 271, 275 Castlereagh, Robert Stewart Viscount 291 Chaboulon, Fleury de 299 Chamisso, Adalbert von 139 Clausewitz, Carl von 108, 133, 228 Corneille, Pierre 189 Creuzer, Friedrich 160 Custine, Adam-Philippe de 34, 48, 56, 58 Czernin, Johann Rudolf Graf 198, 199
Bailly, Sylvain 22 Barras, Paul 41 Beauharnais, Eugène de 62, 81, 231, 238 Beauharnais, Stéphanie de 281 Beaumarchais, Pierre-Augustin Caron de 20 Beethoven, Ludwig van 44 Bernadotte, Jean Baptiste (auch schwed. Kronprinz) 67 f., 98, 116 f., 244, 256 f., 264, 268 f., 272 Berthier, Louis-Alexandre 77 Binzer, August Daniel von 322 Blücher, Gebhard Leberecht von 101, 104, 116 f., 218, 227, 238, 245, 256, 258, 264, 268, 272, 286 ff., 300 ff. Boisserée, Sulpiz und Melchior 163, 164 Bonaparte, Jérôme 79, 83, 87 f., 90 ff., 218 f., 226, 311 Borcke, Johann von 91, 111 Boyen, Hermann von 104, 106, 133 Brentano, Clemens 55, 148, 150, 151, 160, 161, 165 Bülow, Heinrich von 105, 256, 257, 300
Dalberg, Karl Theodor von 71, 279, 280 Davout, Louis-Nicolas 68, 70, 110, 112, 118, 193, 211, 290 Delhoven, Joan Peter 59 Diebitsch, Karl Friedrich von 228 Dörnberg, Wilhelm von 201, 202, 203 DuMont, Nikolaus 59 Dumouriez, Charles-François 14, 24 Duroc, Géraud Christophe Michel 121, 239 Eichendorff, Joseph von 64 f., 242, 282 Eugen, Prinz von Württemberg 264 Ferdinand VII., König von Spanien 196 Fichte, Johann Gottlieb 139, 168, 169, 170, 171, 174, 175, 182, 213, 233 Follen, Karl 320 Forster, Georg 35, 36, 37 Franz II., Kaiser d. Hl. Röm. Reiches dt. Nation 48, 66, 67, 71 auch: Franz I., Kaiser von Österreich 71, 164, 196, 199
Register Franz Joseph Karl, Erzherzog. Siehe Franz II.; Siehe Franz II. Friedrich August III., Kurfürst von Sachsen 101, 113 Friedrich August I., König von Sachsen 255, 270, 275, 300, 302, 311 (s. auch Friedrich August III., Kurfürst von Sachsen 113 Friedrich, Caspar David 158, 162, 174 Friedrich Christian, Herzog von Augustenburg 29 Friedrich II., König von Preußen 20, 39, 44, 67, 95, 99 Friedrich I., König von Preußen 95, 128 Friedrich I., König von Württemberg (auch Friedrich I. Wilhelm Karl, Kurfürst von Württemberg 66, 79 Friedrich Karl Joseph von Erthal, Kurfürst von Mainz 34 Friedrich Wilhelm, Herzog von Braunschweig-Oels 203, 204 Friedrich Wilhelm III., König von Preußen 74, 80, 92, 96, 98, 99, 101, 107, 124, 130, 162, 193 f., 201, 205, 210, 212, 213, 228, 230, 234, 236, 238, 309, 314 Friedrich Wilhelm II., König von Preußen 48, 96 Friedrich Wilhelm I., König von Preußen 95 Friedrich Wilhelm IV., König von Preußen 162 Gagern, Heinrich von 306, 316 Gentz, Friedrich 101, 110 Georg III. von England, König (Personalunion Königreich Hannover) 49 Georg, Prinz von Oldenburg 228 Gerlach, Agnes von 210, 231 Gerlach, Leopold von 193 Gerlach, Ludwig von 300, 301 Gleim, Johann Ludwig Wilhelm 44
Gneisenau, August Neidhardt von 125, 131, 133, 205, 209, 236, 245, 256, 259, 287, 301, 303, 315 Godoy, Manuel de 195 Goethe, Catharina Elisabeth 68, 72 Goethe, Johann Wolfgang von 12 ff., 31, 32, 35, 37, 44 f., 49, 53, 54, 82, 136, 138 f., 146 ff., 159, 161, 164, 171, 190 ff., 250, 251, 270, 277 Görres, Joseph 34, 161, 314 Gotha, Prinz August von 12 Gottsched, Johann Christoph 144 Goya, Francisco de 195 Grimm, Jacob und Wilhelm 149, 150, 151, 152, 153, 161, 164, 179, 183 Gros, Antoine-Jean 42 Hagen, Friedrich Heinrich von der 156 Haller, Karl Ludwig von 319 Hansemann, David 310 Hardenberg, Karl August von 27, 80, 108, 131, 236, 291, 310, 315 Hatzfeld, Franz Ludwig Fürst von 118, 121 Haugwitz, Christian von 80, 98, 99 Hegel, Georg Friedrich Wilhelm 28, 45, 55, 114, 132, 282 Heine, Heinrich 159, 165, 325, 326 Henckel von Donnersmarck, Leutnant Graf 17 Herder, Johann Gottfried 12, 54, 82 Hippel, Theodor Gottlieb von 236 Hofer, Andreas 200 Hoffmann, E.T.A. 159, 236, 250, 260, 262, 270, 282, 325 Hohenlohe, Friedrich Leopold Fürst von 108, 110, 111, 116 Hölderlin, Friedrich 28, 43, 44 Hoven, Wilhelm von 29 Humboldt, Wilhelm von 25, 27, 132, 138, 164, 191, 246, 277 ff., 291, 308, 310
349
350 Register Jahn, Friedrich Ludwig 180 ff., 193, 242, 315, 318 f., 326 Jenisch, Karl Friedrich von 75, 77 Johann, Erzherzog von Österreich 197 Joseph II., Kaiser von Österreich 39, 67 Josephine de Beauharnais, Kaiserin von Frankreich 62, 124 Kaisenberg, Leopold von 90 Kant, Immanuel 20, 128, 139, 145, 168 Karl der Große 43, 48, 62, 63 Karl, Erbprinz von Baden 81 Karl, Erzherzog von Österreich-Teschen 197, 199 Karl Friedrich, Großherzog von Baden 160 Karl Friedrich, Markgraf von BadenDurlach 39, 82 Karl IV., König von Spanien 195 Karl Wilhelm Ferdinand, Herzog von Braunschweig 13, 15, 94, 106, 110 ff. Kellermann, François-Christophe 14, 15, 18 Kersting, Georg Friedrich 242 Kleist, Friedrich von 264 Kleist, Heinrich von 171 ff., 177, 194, 196, 213, 246 Klopstock, Friedrich Gottlieb 27, 28 Körner, Theodor 174, 184, 240, 243, 246 ff., 250, 258, 286 Kotzebue, August von 320 Kutusow, Michail Illarionowitsch 222, 227 Lannes, Jean 68, 70 Larrey, Dominique-Jean 253 Lingg, Johann Baptist 85, 86 Loison, Louis Henri 125 Louis Ferdinand Prinz von Preußen 97, 108 ff., 121 Ludwig XIV. König von Frankreich 57 Ludwig XVIII., König von Frankreich 290, 299, 303
Ludwig XVI., König von Frankreich 13, 19, 23, 290 Luise, Königin von Preußen 108, 123, 124, 129 Luise, Prinzessin von Preußen 96 Luise von Hessen-Darmstadt 115 (Herzogin von Weimar) 138, 190 Luther, Martin 143 Lützow, Adolf von 241, 243 ff., 247 Macdonald, Jacques 228, 258, 267, 273, 274 Macpherson, James 146, 147 Marbot, Marcellin de 101 Maria Theresia, Kaiserin 13, 96 Marie Antoinette, Gattin Ludwigs XVI. 13, 23 Marie Louise von Österreich (2. Ehefrau Napoleons) 290 Maximilian I., König von Bayern 200 Mendelssohn, Henriette 303 Merveldt, Maximilian Friedrich von 270 Metternich, Klemens Wenzel Fürst von 164, 199, 240, 265, 283, 290 f., 293 f., 319, 321 Montesquieu, Baron de 19 Montgelas, Maximilian von 81, 200, 265 Moreau, Jean-Victor 260 Motte-Fouqué, Friedrich de la 156 Mozart, Wolfgang Amadeus 20 Müller, Friedrich von 190, 251, 252 Müller, Johannes von 90, 98, 101, 121 Murat, Joachim 68, 81, 260, 267, 268, 287 Napoleon I., französischer Kaiser 40 ff., 60 ff., 66 ff., 74, 76 ff., 89 f., 92, 94, 97 ff., 107 f., 110 ff., 124, 130 f., 133, 138, 141, 147, 161, 169, 176 f., 181, 188 ff., 194 ff., 204, 207, 209 f., 213, 215, 218, 220 f., 223, 227, 232, 237, 239, 246, 251 f., 258 f., 261, 263 ff., 272, 275, 277, 279 f., 289, 298, 302, 306
Register Nesselrode, Karl Robert von 291 Ney, Michel 68, 79, 224, 258 Niebuhr, Barthold Georg 221, 245 Nostitz, Karl von 108, 109, 287 Novalis (Friedrich von Hardenberg) 145, 158, 159, 161, 246 Oudinot, Charles Nicolas 257 Palm, Johann Philipp 75 ff., 83, 125 Pauline zur Lippe 280 Paul, Jean 41, 44, 140, 142, 145, 190, 212, 244, 295 Percy, Pierre-Francois 122 Perrault, Charles 153 Pestalozzi, Johann Heinrich 28 Poniatowski, Józef Antoni 267, 269, 274, 276 Racine, Jean 189 Radziwill, Luise Fürstin von (geb. Luise von Preußen) 131 Rapp, Jean 113, 115 Rebmann, Georg Friedrich 59 Reil, Johann Christian 276 Robespierre, Maximilien de 24 Rochlitz, Friedrich 270, 274 f. Rousseau, Jean-Jacques 20, 146 Ruault, Nicolas 21 Rüchel, Ernst von 105, 111 f., 123 Rückert, Joseph 56 Rudler, Franz Joseph 62 Saint-Cyr, Claude Carra 226 Sand, Karl Ludwig 320 Savigny, Friedrich Karl von 147, 150, 234 Sayn-Wittgenstein, Graf zu 238 Scharnhorst, Gerhard von 131, 133, 227, 236, 239 Schelling, Friedrich Wilhelm 28, 45, 55, 168, 214 Schenkendorf, Max von 184
Schiller, Friedrich 28, 29, 30, 31, 55, 100, 138, 139, 145, 246 Schill, Ferdinand von 201, 205 ff., 211, 241 Schinkel, Karl Friedrich 162, 163, 164, 236, 290 Schlabrendorf, Graf Gustav von 26 Schlegel, August Wilhelm 43, 55, 139, 155, 156, 246 Schlegel, Dorothea 152, 153, 164, 246 Schlegel, Friedrich 27, 43, 55, 158, 161, 164, 165, 196, 246 Schleiermacher, Friedrich 44, 132, 233 Schubart, Christian Friedrich Daniel 82 Schubert, Friedrich von 184, 257 Schwarzenberg, Karl Philipp Fürst zu 67, 256, 259, 268, 269, 271, 278 Seidler, Louise 115 Sethe, Christoph Wilhelm Heinrich 104 Sieyès, Emmanuel 21 Sophie von Schwerin, Gräfin 122 Soult, Nicolas Jean-de-Dieu 68, 70 Staël, Anne Germaine de (Madame de Staël) 137 ff., 140 f., 143, 159, 165, 227, 295 St. Cyr, Laurent de Gouvion 259, 261 Stein, Heinrich Friedrich Karl Freiherr von und zum 27, 129 ff., 164, 174, 176, 177, 183, 192, 203, 205, 210 ff., 225, 227, 230, 247, 266, 276, 280, 294, 307 f., 312, 314 f. Stendhal (Henri Beyle) 120, 136, 197 Strombeck, Friedrich Karl von 91 Talleyrand, Charles-Maurice de 62, 100, 107, 189, 289, 291, 293, 295 Tauentzien, Bogislav Friedrich Emanuel von 108, 257 Tettenborn, Friedrich Karl von 232, 245 Tieck, Ludwig 28, 43, 44, 150, 157, 160 f., 212
351
352 Register/Bildnachweis Vandamme, Dominique Joseph 254, 260, 264 Varnhagen von Ense, Karl August 245 Veit, Philipp 242 Voltaire (François-Marie Arouet) 19, 54, 95 Voß, Julius von 36, 120 Wackenroder, Wilhelm Heinrich 28, 161 Wellington, Arthur Wellesley 286, 291, 300, 301, 303
Wieland, Christoph Martin 27, 54, 138, 143, 191 Wilhelm I., Kurfürst von Hessen-Kassel 83, 89, 101, 311 Wrede, Carl Philipp von 265, 277 Yelin, Johann Konrad 74 Yorck von Wartenburg, Ludwig 228, 231, 258, 265
Bildnachweis Die Abbildungen der Kapitelauftaktseiten: © akg-images: Die Völkerschlacht von Leipzig Farbtafeln: alle Abbildungen © akg-images, außer Tafel III akg-images/ Imagno; Tafel XIII u. akg-images/Erich Lessing
Tafel I
Goethes Aquarell der Mosellandschaft mit Freiheitsbaum und Jakobinermütze (1792)
Tafel II
Das Titelkupfer zu „Des Knaben Wunderhorn“ (1808) zeigt das romantische Heidelberg mit seinem unzerstörten Schloss.
Tafel III
Der Reichsfreiherr vom und zum Stein auf einer Darstellung von 1850
Tafel IV
Napoleon empfängt Goethe während des Erfurter Kongresses 1808 (Darstellung von 1880).
Tafel V
Major von Schill in einer zeitgenössischen Darstellung (1809)
Tafel VI
General Yorck ruft die Ostpreussischen Stände im Februar 1813 zur Erhebung gegen Napoleon auf (nach einem Gemälde von Otto Brausewetter, 1888).
Theodor Körner im Kreis der Kameraden am Abend vor seinem Tod (nach einem romantisierenden Gemälde von Woldemar Friedrich, 1900)
Tafel VII
Der Philosoph Fichte 1813 als Berliner Landsturmmann (Zeichnung von Carl Friedrich Zimmermann, 1813)
Tafel VIII
Blüchers Tagesbefehl für die Schlacht bei Möckern am 16. Oktober 1813
Erstürmung des Grimmaischen Tores durch die Preußen während der Völkerschlacht bei Leipzig (Gemälde von Ernst Wilhelm Strassberger, 1820)
Tafel IX
„Die Kranzwinderin“, Gemälde von Georg Friedrich Kersting (1815)
Tafel X
„Auf Vorposten“. Die Lützower Jäger Theodor Körner, Karl Friedrich Friesen und Ferdinand Hartmann (Gemälde von Georg Friedrich Kersting, 1815)
Tafel XI
Blüchers Sieg in der Schlacht an der Katzbach am 26. August 1813 (Kupferstich um 1830)
Vor Leipzig überbringt der Fürst zu Schwarzenberg den verbündeten Monarchen von Russland, Österreich und Preußen die Siegesbotschaft (Gemälde von Peter von Hess, 1853).
Tafel XII
Napoleon flieht nach der verlorenen Schlacht aus Leipzig (Aquarell von Richard Knötel, Ende 19. Jahrhundert).
Tafel XIII
Blüchers Rheinübergang bei Kaub am 1. Januar 1814 (Gemälde von Wilhelm Camphausen, 1860)
Die Nationalgarde verteidigt Paris vor den Alliierten, 30. März 1814 (Gemälde von Horace Vernet, 1820).
Tafel XIV
Caspar David Friedrich. „Der Chasseur im Walde“ (Tannenwald mit dem Raben), 1814
Tafel XV
Karl Friedrich Schinkel. „Mittelalterliche Stadt an einem Fluss“, 1815
Die Neue Wache Unter den Linden in Berlin, 1818 von Karl Friedrich Schinkel als Königswache und Gedenkstätte für die Gefallenen der Kriege gegen Napoleon errichtet.
Tafel XVI
Caspar David Friedrich. „Huttens Grab“, um 1823/24
Informationen Zum Buch Ahnungslos kehrte Johann Philipp Palm im August 1806 von einer Geschäftsreise zurück. Wenig später wurde der Buchhändler standrechtlich erschossen. Ein Pamphlet, das gegen Napoleon zu den Waffen rief, war ihm zum Verhängnis geworden. Erst Jahre später, 1813, wurde der Usurpator in der Völkerschlacht bei Leipzig geschlagen. In diesem Kampf fühlten die Deutschen zum ersten Mal: Wir gehören zusammen. Die Nibelungen, Hermann der Cherusker und die schwarz-rot-goldene Fahne wurden zu Symbolen dieser Sehnsucht. Das facettenreiche Panorama vom Aufstieg Napoleons über die Befreiungskriege bis zu den Karlsbader Beschlüssen 1819 wird durch zahlreiche Augenzeugenberichte besonders anschaulich: vom Alltag unter der französischen Besatzung bis zur Rolle wichtiger Persönlichkeiten wie Turnvater Jahn, Madame de Staël oder Goethe und der kulturellen Blüte der Klassik und Romantik.
Informationen Zum Autor Arnulf Krause lehrt Germanistik und Skandinavistik an der Universität Bonn und verfasste schon viele erfolgreiche Sachbücher.