Die Moskauer Deklaration 1943: "Österreich wieder herstellen" 9783205201601, 9783205796893, 1940194399


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German Pages [283] Year 2015

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Die Moskauer Deklaration 1943: "Österreich wieder herstellen"
 9783205201601, 9783205796893, 1940194399

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Stefan Karner – Alexander Tschubarjan (Hg.) Die Moskauer Deklaration 1943

Kriegsfolgen-Forschung Wissenschaftliche Veröffentlichungen des Ludwig Boltzmann-Instituts für Kriegsfolgen-Forschung, Graz – Wien – Raabs

Herausgegeben von Stefan Karner Band 8 Jörg Baberowski

Advisory Board:

Dieter Pohl

(Humboldt-Universität)

(Universität Klagenfurt)

(Ungarische Akademie der Wissenschaften)

(Universität Freiburg)

Csaba Békés

Pavel Polian

Günther Bischof

Peter Ruggenthaler

(University New Orleans)

(Ludwig Boltzmann-Institut für

(Universität Rostok)

Roman Sandgruber

(Süddänische Universität)

Daniel Marc Segesser

(Universität Wien)

Erwin Schmidl

Stefan Creuzberger

Thomas Wegener-Friis Kerstin Jobst

Rainer Karlsch (Berlin)

Kriegsfolgen-Forschung) (Universität Linz)

(Universität Bern)

(Landesverteidigungsakademie, Wien)

Barbara Stelzl-Marx

Mark Kramer

(Ludwig Boltzmann-Institut für

(Harvard University)

Kriegsfolgen-Forschung)

(Universität Wien)

(Universität Cluj-Napoca)

(Royal Military Academy Sandhurst)

(Universität Leipzig)

(Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur)

(Tschechische Akademie der Wissenschaften)

(Bayr. Akademie der Wissenschaften)

(Moskauer Staatliche Universität, MGU)

Hannes Leidinger Peter Lieb

Ulrich Mählert Horst Möller

Verena Moritz (Universität Wien)

Ottmar Traşca Stefan Troebst Oldřich Tůma

Alexander Vatlin Gerhard Wettig (Kommen)

Bogdan Musial

Jürgen Zarusky

(K.W.-Universität Warschau)

(Institut für Zeitgeschichte, München-Berlin)

(Russische Staatliche Geisteswissenschaftliche

(London School of Economics)

Ol’ga Pavlenko

Vladislav Zubok

Universität, RGGU)

Ein Projekt im Rahmen der Österreichisch-Russischen Historikerkommission Vorsitzende: Stefan Karner • Alexander Tschubarjan

Stefan Karner – Alexander Tschubarjan (Hg.)

Die Moskauer Deklaration 1943 „Österreich wieder herstellen“

Unter Mitarbeit von Dieter Bacher und Peter Ruggenthaler

2015 Böhlau Verlag Wien ∙ Köln ∙ Weimar

Gedruckt mit Unterstützung durch den Zukunftsfonds der Republik Österreich das Land Steiermark die Stadt Wien das Land Niederösterreich

Die Beiträge dieses Buches beruhen auf zwei vom Ludwig Boltzmann-Institut für Kriegsfolgen-Forschung, der Russischen Akademie der Wissenschaften und der ÖsterreichischRussischen Historikerkommission durchgeführten Konferenzen in Moskau (25.10.2013) und Wien (29.10.2013). Die Konferenzen wurden gefördert von: Bundesland Niederösterreich, Kulturabteilung Österreichische Botschaft in Moskau Russische Botschaft in Wien Österreichisches Kulturforum, Moskau Russisches Kulturforum, Wien Russische Staatliche Geisteswissenschaftliche Universität Zukunftsfonds der Republik Österreich Diplomatische Akademie Wien Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abrufbar. Umschlagabbildung: Die Verhandlungen bei der Außenministerkonferenz in Moskau. Foto: AVP RF © 2015 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Wien Köln Weimar Wiesingerstraße 1, A-1010 Wien, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Korrektorat: Patricia Simon, Langerwehe Einbandgestaltung: Michael Haderer, Wien Satz: Bettina Waringer, Wien Druck und Bindung: Balto, Vilnius Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in the EU ISBN 978-3-205-79689-3

Inhalt

GELEITWORTE Erwin Pröll . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Sergej Netschajew . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 Martin Eichtinger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14 Margot Klestil-Löffler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16 Hans Winkler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17

VORWÖRTER Stefan Karner . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 Alexander Tschubarjan . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21

DIE MOSKAUER AUSSENMINISTERKONFERENZ 1943 Horst Möller Die Moskauer Außenministerkonferenz von 1943 Einleitende Bemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 Geoffrey Warner Großbritannien und die Moskauer Außenministerkonferenz 1943 . . . . 28 Vasilij S. Christoforov Die Moskauer Konferenz 1943: Außenpolitische Initiativen und Erwartungen der UdSSR . . . . . . . . . 33 Vladimir Pečatnov Die Moskauer Außenministerkonferenz 1943: Strategien und Taktiken der Verhandlungspartner . . . . . . . . . . . . . 37

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Inhalt

Vladimir Švejcer Die Moskauer Deklaration von 1943: Kommentare zur Position der UdSSR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 Manfred Wilke Das Deutsche Reich und das militärische Wendejahr des Zweiten Weltkrieges . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59

ALLIIERTE PLANUNGEN ZU ÖSTERREICH Jochen Laufer Die sowjetischen Nachkriegsplanungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 Walter M. Iber – Peter Ruggenthaler Zur Bedeutung der Moskauer Deklaration zu Österreich für die Sowjetunion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 Aleksej Filitov Österreich in den sowjetischen strategischen Planungen (1941–1945) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 Siegfried Beer SOE, PWE und schließlich FO Die Briten als Vorreiter der alliierten Österreichplanung, 1940–1943 . . . 99 Georges-Henri Soutou Paris zwischen Angst vor einem neuen „Anschluss“ und Schwärmerei für eine europäische Neuordnung . . . . . . . . . . . 109

VOM „ANSCHLUSS“ ZUR NATIONSWERDUNG Gerhard Botz Der „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich . . . . . . . . . . . . 121 Erwin A. Schmidl „Anschluss“ 1938 – ein Blick zurück nach 75 Jahren . . . . . . . . . . . . 134 Brigitte Bailer Widerstand, Opfermythos und die Folgen für die Überlebenden . . . . . 162

Inhalt

DIE SOWJETUNION UND ÖSTERREICH Stefan Karner Zur sowjetischen Umerziehung: Die „Antifa“ 1941–1949 und das „antifaschistische Büro österreichischer Kriegsgefangener“ in der Sowjetunion . . . . . . . . . . 177 Barbara Stelzl-Marx Die Moskauer Deklaration in den Befehlen der Roten Armee in Österreich zu Kriegsende 1945 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 Harald Knoll – Michail Prozumenščikov Die KPÖ-Führung im sowjetischen Exil, die Komintern und ihre Haltung zur sowjetischen Österreichpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 Die Moskauer Außenministerkonferenz und ihre Folgen in den Erinnerungen österreichischer und russischer Diplomaten: Friedrich Bauer, Franz Cede, Herbert Grubmayr, Walter Siegl, Vladislav Terechov . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217

DIE „MAGNA CHARTA“ ÖSTERREICHS? Helmut Wohnout Die Mitschuldklausel und Österreich als NS-Opfer. Zur Ambivalenz der österreichischen Opferthese am biografischen Beispiel Leopold Figls . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 Günter Bischof Die Moskauer Deklaration und die österreichische Geschichtspolitik . . 249

ANHANG Dokumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262 Abbildungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 Ortsregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295

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Erwin Pröll Landeshauptmann von Niederösterreich

Als Landeshauptmann von Niederösterreich bin ich sehr stolz darauf, dass bei uns großer Wert auf eine Aufarbeitung der Geschichte und auf Geschichtsbewusstsein gelegt wird. Niederösterreich ist nicht nur ein sehr geschichtsträchtiges, sondern auch ein sehr geschichtsbewusstes Land. Aus der besonderen Rolle einer Nahtstelle zwischen dem alten und dem neuen Europa ergibt sich für Niederösterreich auch eine besondere Verantwortung: Gerade weil unser Land wie kaum ein anderes Bundesland in Österreich sehr lange vom Schmerz der Zerstörung, Trennung und Teilung geprägt gewesen ist, verpflichten uns die Weltkriege und ihre Folgen, alles zu tun, um aus dieser Geschichte die Konsequenzen für die Gegenwart und die Zukunft zu ziehen. Aber nur, wer die Geschichte kennt, kann aus ihr lernen. Und aus der Geschichte lernen kann man nur mit den entsprechenden Fakten. Die beiden Konferenzen aus Anlass des 70. Jahrestages der Moskauer Deklaration im Vorjahr war dazu ein wichtiger Beitrag. Es freut mich, dass ich die erste Konferenz in Moskau im Rahmen der Niederösterreich-Präsentation in der russischen Hauptstadt eröffnen und ihr auch beiwohnen konnte. Die Vorträge im Rahmen der Österreichisch-Russischen Historikerkommission als Tagungsband herauszugeben, ist ein weiteres Verdienst von Univ.-Prof. Dr. Stefan Karner, mit der Aufarbeitung und Analyse historischer Abläufe und Ereignisse dazu beizusteuern, dass die Geschichte auch in den nächsten Generationen weiterlebt. Die nun publizierten Beiträge ermöglichen nicht nur faszinierende und emotionalisierende Rückblicke, sondern sprechen auch in Bezug auf die über Generationen und Grenzen hinweg verbindende Kraft von Geschichte eine deutliche Sprache. Sie sind solcherart ein wichtiges Dokument für die guten Verbindungen zwischen Russland und Niederösterreich, für unsere grenzüberschreitende Partnerschaft und für unseren Willen, aus der Geschichte zu lernen, damit sich Negatives in Zukunft nicht mehr wiederholen kann. Wenn wir heute – mehr als 70 Jahre nach der Moskauer Deklaration – in Österreich wieder in einem freien und unabhängigen Staat und in Europa in der längsten Friedensperiode aller Zeiten leben, dann ist das keine Selbstverständlichkeit, sondern ein Auftrag für alle Generationen: Eine Generation, die ihre Geschichte vergisst, hat keine Vergangenheit. Und eine Generation, die keine Vergangenheit hat, hat auch keine Zukunft.

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Geleitwort

Sergej Netschajew Botschafter der Russischen Föderation in der Republik Österreich

Die vorliegende Publikation ist ein erfolgreicher Versuch der Gemeinsamen Russisch-Österreichischen Historikerkommission, zur objektiven Erläuterung verschiedener Etappen unserer gemeinsamen Geschichte im Geiste der freundschaftlichen Partnerschaft beider Länder beizutragen. Die Bedeutung der im Laufe der Moskauer Konferenz der Außenminister der UdSSR, der USA und Großbritanniens angenommenen Deklaration über Österreich kann kaum überschätzt werden. Das Verständnis der Notwendigkeit zur Schaffung eines festen und langfristigen Fundaments einer neuen Nachkriegsweltordnung, welche die Freiheit und Unabhängigkeit der Völker sicherstellt, indem der Krieg als Mittel für die Beilegung zwischenstaatlicher Streitigkeiten geächtet wird, hat die Teilnehmerstaaten der Anti-Hitler-Koalition vereinigt. Für Österreich war die Moskauer Deklaration der Ausgangspunkt und eigentlich das Fundament der Wiedererlangung der unabhängigen Existenz nach dem Zweiten Weltkrieg. Das auf Initiative der sowjetischen Regierung unterzeichnete Dokument gestaltete die Hauptprinzipien der einheitlichen Politik der Länder der Anti-Hitler-Koalition bezüglich der Alpenrepublik und garantierte dem österreichischen Volk das Recht auf die Bildung eines souveränen Staats. Einige Jahre später führte die praktische Verwirklichung dieser Deklaration zur Unterzeichnung des Staatsvertrags betreffend die Wiederherstellung eines unabhängigen und demokratischen Österreich, das die Festigung der Rolle der Alpenrepublik als eines der wichtigen Zentren der internationalen Politik und Diplomatie förderte. Die jüngste Konferenz in Wien zur Problematik der Moskauer Deklaration ist ein gutes Beispiel dafür, wie wertvoll die Wahrung des Andenkens an die diplomatischen Anstrengungen während der Kriegsjahre ist. Nur gemeinsam und durch eine breite internationale Zusammenarbeit kann eine Wiederholung der tragischen Seiten der Geschichte des vorigen Jahrhunderts vermieden werden. Die Pflicht unserer Generation ist es, die historische Wahrheit über die Ereignisse des Zweiten Weltkrieges zu bewahren und sich gegen Versuche zu stellen, deren Ursachen und Ergebnisse zu fälschen und damit die Geschichte umzuschreiben.

Geleitwort

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Angesichts des kommenden 70. Jahrestages des Sieges des Sowjetvolkes im Großen Vaterländischen Krieg und der Befreiung Europas vom Faschismus ist diese Aufgabe besonders aktuell.

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Geleitwort

Martin Eichtinger Botschafter, Leiter der Kulturpolitischen Sektion Bundesministerium für Europa, Integration und Äußeres, Wien

Die Moskauer Deklaration zu Österreich aus dem Jahr 1943 nimmt eine Schlüsselstellung unter jenen Dokumenten ein, die den geschichtlichen Weg Österreichs bis in die Gegenwart dokumentieren. Da die Bedeutung dieses von den alliierten Außenministern unterzeichneten Dokuments primär durch den internationalen Kontext bestimmt ist, ist es umso wesentlicher für die österreichische Außenpolitik, dass die Entstehung, die konkrete historische Funktion und die Folgewirkungen dieser Deklaration wissenschaftlich aufgearbeitet werden. Ebenso wichtig ist es, die Ergebnisse dieser Aufarbeitung als Aspekt der Vermittlung eines modernen und zukunftsorientierten Österreichbildes der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Dieser Zweck wird mit dem vorliegenden Buch optimal erreicht. Es ist ein wertvoller Beitrag zur internationalen Diplomatiegeschichte, zur Geschichte der Beziehungen Österreichs zu den Alliierten, zur Geschichte der Republik Österreich und nicht zuletzt auch zur Entwicklung des österreichischen Selbstverständnisses. Die Österreichisch-Russische Historikerkommission hat mit der Herausgabe des vorliegenden Bandes sowie mit der Organisierung der dem Band zugrunde liegenden Konferenzen in Moskau und in Wien ihre Arbeiten mit großem Erfolg fortgesetzt. Die Außenminister Österreichs und Russlands, Ursula Plassnik und Sergej Lawrow, hatten im Jahr 2007 Einvernehmen über die Gründung der Kommission erzielt. Dabei stand der Gedanke im Vordergrund, eine weitere Verbesserung der schon gut funktionierenden wissenschaftlichen Zusammenarbeit durch gemeinsame Grundlagenforschung zu erreichen, ergänzt durch das Bemühen, den Archiv- und Bibliothekszugang für Forscher zu erleichtern, Ergebnisse gemeinsam zu erarbeiten und der Öffentlichkeit zu präsentieren. Der Band entspricht bestens diesen Vorgaben. Besonders zu begrüßen ist der Umstand, dass es der Kommission gelungen ist, Historikerinnen und Historiker aus einer Anzahl von Ländern in diesem Projekt zusammenzuführen und kooperieren zu lassen, wird doch damit das Risiko vermieden, dass überwiegend national bestimmte Perspektiven die Sicht einengen und den Erkenntniswert reduzieren.

Geleitwort

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Ich wünsche dem Band die hervorragende wissenschaftliche Rezeption, die er verdient, und ich bitte die beiden Herausgeber, Stefan Karner und Alexander Tschubarjan, stellvertretend für alle Mitwirkenden, meinen Dank im Namen des Außenministeriums entgegenzunehmen.

16

Geleitwort

Margot Klestil-Löffler Außerordentliche und bevollmächtigte Botschafterin der Republik Österreich in der Russischen Föderation

Die „Moskauer Deklaration“ vom 30. Oktober 1943 ist eines der wichtigsten und meistdiskutierten Dokumente, die bei der Wiederherstellung der Republik Österreich eine Rolle gespielt haben. Es war die damalige Sowjetunion, die 1938 dagegen protestiert hatte, dass Österreich von der Landkarte Europas gewaltsam verschwindet, und die in den Folgejahren konsequent für die Wiederherstellung der Selbständigkeit und Unabhängigkeit der demokratischen Republik Österreich eingetreten ist. Den erfolgreichen Abschluss haben diese Bemühungen um die Wiederherstellung Österreichs im Österreichischen Staatsvertrag von 1955 gefunden, in welchen wesentliche Teile der Moskauer Deklaration integriert wurden. Insofern war es mir eine besondere Freude, dass der 70. Jahrestag dieser Deklaration im Oktober 2013 in Moskau mit einer hochkarätig besetzten wissenschaftlichen Konferenz begangen werden konnte, um dieses wichtige Ereignis unserer gemeinsamen Geschichte angemessen zu würdigen und den Forschungsstand zum Thema zu rekapitulieren. Die Abhaltung dieser Konferenz hebt auch die hervorragende wissenschaftliche Zusammenarbeit bei der Aufarbeitung historischer Ereignisse und Entwicklungen im Rahmen der österreichisch-russischen Historikerkommission hervor. Mein Dank gilt allen Organisatoren der Konferenz, insbesondere aber der Russischen Akademie der Wissenschaften und dem Ludwig Boltzmann-Institut für Kriegsfolgen-Forschung, für ihren beständigen, engagierten und gelungenen Einsatz im Interesse der nachhaltigen Vertiefung der bilateralen wissenschaftlichen und kulturellen Beziehungen. In diesem Sinne wünsche ich allen Lesern des vorliegenden Buches eine spannende und anregende Lektüre!

Geleitwort

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Hans Winkler Direktor der Diplomatischen Akademie Wien

Das vorliegende Buch ist eines der Ergebnisse der Konferenz „70 Jahre Moskauer Deklaration“, die am 29. Oktober 2013 an der Diplomatischen Akademie Wien stattgefunden hat. Ohne zu zögern, möchte ich diese Konferenz als eine der wichtigsten bezeichnen, die in den Jahren meiner Direktion stattgefunden hat und die ich mir gewünscht habe. Ich habe sie mir deswegen gewünscht, weil dieses Dokument eine sehr wichtige Rolle in der österreichischen Nachkriegsgeschichte gespielt hat und ich aus meinen eigenen Erfahrungen im Zuge der Verhandlungen über Entschädigungen und Restitutionen weiß, wie sehr in der Frage der Verantwortung Österreichs für die Geschehnisse zwischen 1938 und 1945 gerade dieses Dokument eine wichtige Rolle gespielt hat. Ich bin selbst im Januar 1945 geboren, gerade noch im Krieg, und ich weiß aus meiner eigenen Schulzeit, dass, wenn man etwas über die Moskauer Deklaration gehört hat, man nur die berühmten ersten zwei Sätze gelernt hat. Erst zu einem wesentlich späteren Zeitpunkt hat man begonnen, auch den Rest dieses Dokuments zu verstehen und die Bedeutung für die Verantwortung Österreichs zu verstehen. Ein sehr beeindruckendes Faksimile sowie eine Reihe anderer Dokumente legten in einer die Konferenz begleitenden Ausstellung das Zeugnis ab, wie viel Geschichte hinter der Entstehung und den Folgen dieses bedeutenden Dokuments steckt. Ich darf mich daher ganz herzlich bei all jenen bedanken, die am Zustandekommen der Konferenz, auf der dieser Band beruht, an der Diplomatischen Akademie Wien maßgeblich beteiligt waren: an einer Diplomatischen Akademie, die sich internationalen Fragen verschrieben hat, die aber gerade auch größten Wert auf eine geschichtliche Aufarbeitung der jeweils aktuellen internationalen Ereignisse Wert legt. An erster Stelle möchte ich mich bei der Botschaft der Russischen Föderation in Österreich und ganz besonders bei S. E. Botschafter Sergej Netschajew für die Zusammenarbeit bedanken, ebenso beim Russischen Kulturinstitut in Wien und den anderen Partnern: der Österreichisch-Russischen Historikerkommission und dem Institut für Globale Geschichte der Russischen Akademie der Wissenschaften. Da ein solches Projekt auch immer einer Unterstützung in finanzieller Hinsicht bedarf, möchte ich mich hierfür ganz besonders beim Zukunftsfonds der Republik

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Geleitwort

Österreich bedanken. Und, last, but not least, selbstverständlich beim Ludwig Boltzmann-Institut für Kriegsfolgen-Forschung und Prof. Stefan Karner, mit denen die Diplomatische Akademie Wien bereits des Öfteren erfolgreich zusammengearbeitet hat. Ich freue mich sehr, dass die auf dieser spannenden und aufschlussreichen Konferenz präsentierten Beiträge nun auch Eingang in einen Tagungsband gefunden haben. Ich wünsche daher den Leserinnen und Lesern dieses Buches eine ebenso spannende wie aufschlussreiche Lektüre!

Stefan Karner

Vorwort

Die Moskauer Deklaration von 1943 zu Österreich gehört zu den Grundbausteinen der Republik Österreich. Sie wurde aber gleichzeitig auch zu einem Eckstein der politischen Diskussion, bis zum heutigen Tag. Nahezu jeder Satz dieser formal sehr kurz gehaltenen Deklaration, in der die Alliierten zum ersten Mal gemeinsam erklärten, Österreich nach dem Ende des Krieges wieder errichten zu wollen, wurde kontrovers diskutiert: Österreich als erstes Opfer Hitler’scher Aggression, die Mitverantwortung Österreichs als eines Staates, der noch zu gründen war, am Kriege, die Einforderung des Beitrages der österreichischen Bevölkerung zu ihrer Befreiung als Aufforderung zu aktivem Widerstand gegen die NS-Herrschaft. Weitgehend ausgeklammert blieb zudem die Frage, wie Österreich wieder errichtet werden sollte. Die in diesem Band abgedruckten Beiträge geben einen detaillierten Überblick zum Stand der Forschung und bauen auf der bisherigen Literatur auf, die sich quellenmäßig vor allem auf die zugänglichen Quellen in den Archiven in London und Washington stützte. Die Dokumente der sowjetischen/ russischen Archive blieben weitgehend verschlossen. Nur wenige österreichische Historiker konnten einen partiellen Zugang zu russischen Quellen finden. Es waren dies vor allem Gerald Stourzh und Manfried Rauchensteiner, später Günter Bischof, sowie für seine TV-Dokumentationen der Journalist Hugo Portisch. Dies hat sich mittlerweile wesentlich geändert. Seit der großen Staatsvertrags-Ausstellung auf der Schallaburg/Niederösterreich, als zum ersten Mal seit 1955 das einzige im Archiv des Russischen Außenamtes aufbewahrte Original des Österreichischen Staatsvertrags der Öffentlichkeit gezeigt werden konnte, werden auch zunehmend russische Quellen rund um die Moskauer Deklaration und die Genese des Staatsvertrages geöffnet und für die historische Forschung zugänglich. Einige der in der historischen Forschung bereits bekannten sowjetischen Dokumente zur Moskauer Außenministerkonferenz von 1943 und zur Moskauer Deklaration über Österreich werden auch im Anhang des Bandes abgedruckt. Der Band beruht auf zwei Konferenzen der Österreichisch-Russischen Historikerkommission vom Oktober 2013 aus Anlass des 70. Jahrestages der ­Deklaration. Die Initiativen zu den Tagungen gingen von der österreichischen Botschafterin in Moskau, Margot Klestil-Löffler, sowie vom russischen Botschafter in Wien, Sergej Netschajew, aus. Bei beiden möchte ich mich sehr

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Vorwort

herzlich dafür und für die tatkräftige Unterstützung bei der Durchführung der Konferenzen bedanken. Die erste Tagung fand am 25. Oktober 2013 im Rahmen der Niederösterreich-Präsentation in der Russländischen Föderation unter dem Vorsitz von Landeshauptmann Dr. Erwin Pröll an der Russischen Akademie der Wissenschaften in Moskau, die zweite wurde von der Russischen Botschaft und dem Russischen Kulturforum, beide Wien, vier Tage später an der Diplomatischen Akademie in Wien unterstützt. Alexander Tschubarjan hat als Co-Vorsitzender der Österreichisch-Russischen Historikerkommission die Bearbeitung der Thematik besonders gefördert. Ich danke den Mitveranstaltern der Konferenzen: dem Österreichischen Kulturforum in Moskau (unter Simon Mraz), dem Russischen Kulturforum in Wien (unter Tatjana Mišukovskaja), der Russischen Staatlichen Geisteswissenschaftlichen Universität (Rektor Efim Pivovar und 1. Vizerektor Alexander Bezborodov), dem Zukunftsfonds der Republik Österreich (Präsident Kurt Scholz und Generalsekretär Herwig Hösele), den Mitgliedern der Österreichisch-Russischen Historikerkommission sowie der Diplomatischen Akademie Wien (unter Direktor Hans Winkler). Ebenso danke ich den Referenten beider Tagungen und den Autoren des Sammelbandes für ihre Beiträge sowie meinen Mitarbeitern am Ludwig Boltzmann-Institut für Kriegsfolgen-Forschung, allen voran Herrn Doz. Dr. Peter Ruggenthaler, für die Mitorganisation der Konferenzen und die Vorbereitung des vorliegenden Sammelbandes. Neben den wissenschaftlichen Beiträgen wird auch der Wortlaut der Podiumsdiskussion während der Konferenz in Wien abgedruckt. Sie zeigt insbesondere, dass die Interpretation der Moskauer Deklaration bzw. die Vergangenheitsbewältigung die österreichisch-sowjetischen/russischen Beziehungen kaum tangierte. Die Arbeit unserer gemeinsamen, Österreichisch-Russischen Kommission, die auf eine Verständigung der Außenminister Ursula Plassnik und Sergej Lavrov im Jahre 2007 zurückgeht, wäre nicht so erfolgreich ohne die unermüdliche Arbeit, die dabei von Akademiemitglied Alexander Tschubarjan, Moskau, und den beiden Sekretären der Kommission, Barbara Stelzl-Marx und Viktor Iščenko, sowie den einzelnen Kommissionsmitgliedern geleistet wird. Zu danken ist dem Böhlau Verlag für die Aufnahme dieses Buchs in die Reihe „Kriegsfolgen-Forschung“, allen voran Herrn Dr. Peter Rauch, Frau Dr. Ursula Huber und Frau Dr. Eva Reinhold-Weisz.

Alexander Tschubarjan

Vorwort

Am 25. und 29. Oktober fanden in Moskau und Wien internationale Konferenzen über die Moskauer Deklaration vom 30. Oktober 1943 statt. Ich freue mich, dass namhafte Wissenschaftler sich bereit erklärt haben, an diesen Konferenzen mitzuwirken. Besonderer Dank gilt den Organisatoren der Konferenzen auf russischer und österreichischer Seite, der österreichischen Botschafterin in Moskau, Margot Klestil-Löffler, und dem russischen Botschafter in Wien, Sergej Netschajew, sowie insbesondere der Diplomatischen Akademie in Wien, die uns nicht zum ersten Mal sehr herzlich in ihren Räumlichkeiten aufgenommen hat. Die Moskauer Deklaration von 1943 ist in vielerlei Hinsicht von großer Bedeutung. Vor allem geht es dabei um ihre Bedeutung für die Republik Österreich und deren Anerkennung in der internationalen Politik der Nachkriegszeit. Die Konferenzen ermöglichten uns den Zugang zu neuen Sichtweisen in der Erforschung der Geschichte des Zweiten Weltkrieges allgemein. In letzter Zeit wurde eine beträchtliche Anzahl von bis dato unbekannten Archivdokumenten freigegeben. Auch wenn der Handlungsmechanismus der Anti-Hitler-Koalition bereits weitgehend bekannt und erforscht ist, ergeben sich unter Berücksichtigung neuer Quellen immer wieder neue Zugänge. Die Mechanismen der damaligen Entscheidungsfindung zu verstehen, ist auch für heute relevant. Die Hinwendung zu diesen Fragen stellt eine sehr wichtige Etappe in der Tätigkeit unserer bilateralen russisch-österreichischen Historikerkommission dar. Ich möchte besonders hervorheben, dass die überaus rege Aktivität unserer Kommission vor allem dank der Bemühungen meines Freundes und Co-Vorsitzenden der Kommission, Stefan Karner, und des Vorsitzenden der Russisch-Deutschen Historikerkommission, Horst Möller, ermöglicht wird. Die beiden haben grundlegend dazu beigetragen, dass diese bilateralen Historikerkommissionen ins Leben gerufen wurden. Die Russisch-Deutsche Kommission besteht bereits seit mehr als zehn Jahren und tagt jährlich. Diese Zusammenarbeit legte den Grundstein für die Gründung weiterer gemeinsamer Kommissionen, einen Prozess, der derzeit recht aktiv fortgesetzt wird. Wichtig wäre auch anzumerken, welche Bedeutung die Arbeit der russisch-österreichischen Historikerkommission für die Erforschung jener Ver-

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Vorwort

handlungsprozesse hat, in denen Österreich allgemein und Wien im Besonderen Zentrum internationaler Begegnungen waren. In diesem Jahr begehen wir gemeinsam den 200. Jahrestag des Abschlusses des Wiener Kongresses. Im Rahmen der österreichisch-russischen Kommission haben wir 2011 auch das Gipfeltreffen zwischen John F. Kennedy und Nikita Chruščev 50 Jahre zuvor, 1961, in Wien behandelt. Damals, am Höhepunkt des Kalten Krieges, war Österreich nicht nur das Land, in dem das Treffen stattfand, es präsentierte sich auch als progressiver Staat, der dazu in der Lage war, an Verhandlungen von internationaler Bedeutung teilzunehmen, und als Vermittler zwischen den Großmächten zu fungieren. Die Pläne unserer Kommission können durchaus als sehr ambitioniert bezeichnet werden. Neben der Unterstützung, die wir von den Außenministerien Österreichs und Russlands erhalten, ist eine der wichtigsten Voraussetzungen für unseren Erfolg die persönliche Initiative von Stefan Karner. Unsere gemeinsame Arbeit erfordert die ständige Suche nach neuen Ideen und Zugängen und deren Umsetzung. Österreich ist sich seines Einflusses in Mittel- und Osteuropa durchaus bewusst. Und gerade die Erforschung der Probleme Mittel- und Osteuropas in der Vergangenheit wie auch in der Gegenwart ist heute der zentrale Punkt unserer Zusammenarbeit. Ich möchte somit nicht nur den österreichischen, sondern auch den russischen Kommissionsmitgliedern meinen Dank aussprechen.

Horst Möller

Die Moskauer Außenministerkonferenz von 1943 Einleitende Bemerkungen

Die Außenminister der drei führenden Großmächte der Anti-Hitler-Koalition Anthony Eden, Cordell Hull und Vjačeslav M. Molotov vereinbarten am 30. Oktober 1943 in Moskau die „Moskauer Erklärung über Österreich“ und veröffentlichten sie am 1. November als Annex 6 zu einem gemeinsam unterzeichneten Schlussprotokoll. Die Frage, was aus Österreich nach dem Krieg werden sollte, bildete also ein eher nachrangiges Thema der Konferenz. Doch so bescheiden dieser gar nicht unterschriebene Anhang – einer unter vielen – daherkam, so konstitutiv wurde er für die Nachkriegsentwicklung Österreichs und die Gründung der Zweiten Republik. Tatsächlich kann man diesen Text als Geburtsurkunde der heutigen Bundesrepublik Österreich ansehen. Der Schlüsselsatz lautete: „Die Regierungen des Vereinigten ­Königreiches, der Sowjetunion und der Vereinigten Staaten von Amerika sind darin einer Meinung, dass Österreich, das erste freie Land, das der typischen Angriffspolitik Hitlers zum Opfer fallen sollte, von deutscher Herrschaft befreit werden soll.“ Allein in diesem Satz lagen drei Initialzündungen: eine historische Deutung, die die „Opferrolle“ Österreichs für das spätere Selbstverständnis legitimierte, eine politisch-militärische Absichtserklärung zur „Befreiung“ und eine völker- und staatsrechtliche Programmatik. Der „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich am 13. März 1938, der in der Moskauer Erklärung falsch auf den 15. März datiert wurde, wird historisch verkürzt ausschließlich als „Besetzung“ bezeichnet. Zu dieser Feststellung steht die anschließend erwähnte Verantwortung für die „Teilnahme am Kriege an der Seite Hitler-Deutschlands“ in einem logischen Widerspruch, da ein besetztes Land in einer solchen Situation zur Kriegsteilnahme gezwungen wird und nicht freiwillig-selbstverantwortlich entscheidet. Auch diese Widersprüchlichkeit zeigt: Die Moskauer Erklärung ist trotz ihrer vorgeblich historischen Interpretation kein die historischen Fakten darstellendes Dokument, sondern ein politisches. Daraus folgt die erklärte Absicht, Österreich sowohl militärisch als auch politisch aus den Fängen des nationalsozialistischen Deutschland zu befreien. Hierin liegt der entscheidende Unterschied zur berühmten amerikanischen Direktive CS 1067, in der es ausdrücklich hieß: Deutschland wird nicht besetzt zum Zwecke seiner Befreiung. Die in

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Die Moskauer Außenministerkonferenz 1943

der Moskauer Erklärung angekündigte Befreiung Österreichs bedeutete die Wiederherstellung einer freien und unabhängigen Republik Österreich, weil alle Maßnahmen seit dem 13. März 1938 nicht allein als völkerrechtlich illegal, sondern auch als innenpolitisch illegitime Besatzungsregelungen, also als Unterdrückung Österreichs, bewertet wurden: Das Land selbst trug gemäß dieser Deutung keine Verantwortung, also war nicht allein die Besetzung selbst „null und nichtig“, sondern auch sämtliche von ihr ausgehenden politischen, staats- und zivilrechtlichen Regelungen. Diese Interpretation der Moskauer Erklärung erlaubte es nach 1945 sowohl der Bevölkerung als auch den politischen Parteien, Österreich ausschließlich als Opfer zu sehen und die differenzierte Mitverantwortung eines Teils der Österreicher für die nationalsozialistische Machtergreifung in ihrem Land zu leugnen. Auch ihre innerösterreichischen Folgen, beispielsweise die antijüdische Politik sowie die Rolle österreichischer Nationalsozialisten im eigenen Land und im Gesamtgefüge des nationalsozialistischen Herrschaftssystems traten folglich in den Hintergrund. Die historische Ambivalenz des „Anschlusses“ von 1938, die Österreich tatsächlich zu einem Opfer, zugleich aber zu einem Akteur machte, wurde erst in einem gewissen Abstand reaktualisiert. Dies prägte die spezifische Form der Auseinandersetzung Österreichs mit der eigenen Geschichte. Andererseits hat die nationalsozialistische Gewaltherrschaft den Österreichern den ursprünglich 1918/19 auf beiden Seiten bestehenden Wunsch nach einem föderativen Staat mit den Deutschen – und damit ein Anknüpfen an die über Jahrhunderte gemeinsame Geschichte buchstäblich ausgetrieben: Auch hier erreichte Hitler das Gegenteil des Gewollten. Die Moskauer Erklärung bot eine optimale Chance für Österreich, einen selbstständigen Staat wiederherzustellen. Diese Chance haben die politischen Kräfte ebenso energisch wie zielstrebig ergriffen: Alles andere wäre politischer Unsinn gewesen und hätte Österreich nach 1945 in eine äußerst schwierige Lage gebracht. Wenngleich dieser politische Weg Österreichs nach 1945 ohne Weiteres nachvollziehbar und begründet ist, so stellen sich doch historische Fragen: Wie kam die Moskauer Erklärung zustande, wer ergriff die Initiative? Welche Motive hatten die Regierungen der USA, Großbritanniens und der Sowjetunion für die Moskauer Erklärung vom 1. November 1943? Wir wissen, dass das britische Außenministerium aufgrund eines Memorandums vom Frühjahr 1943 über die Zukunft Österreichs die Initiative ergriff. In diesem Dokument wurden vier verschiedene Alternativen analysiert und drei von ihnen verworfen. Die Wiederherstellung Österreichs als selbstständiger Staat blieb übrig, den Winston Churchill in einem weiteren Mitteleuropakonzept verortete, während Franklin D. Roosevelt zwar ebenfalls

Horst Möller

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im weiteren geografischen Kontext dachte, aber sogar ein kommunistisch beherrschtes Österreich nicht ausschloss. Die Sowjetunion sah durchaus, welche Rolle Großbritannien einem unabhängigen Österreich zumaß, widerstrebte aber einer solchen Lösung nicht, weil darin eine Schwächung Deutschlands gesehen wurde. Die für Österreich so positive Moskauer Erklärung wurde möglich, weil alle drei Alliierten diese Lösung als abhängiges Instrument ihrer Deutschlandpolitik betrachteten: Diese deutschlandpolitische Zielsetzung dürfte der ausschlaggebende Grund für die geplante Befreiung Österreichs gewesen sein. Doch bedarf die alliierte Motivlage der genaueren und für die beteiligten Regierungen je spezifischen Analysen, um offene Fragen zu klären: Die folgenden Beiträge geben die notwendigen Antworten.

Geoffrey Warner

Großbritannien und die Moskauer Außenminister­ konferenz 1943

Im Buch meines verstorbenen Freundes und Kollegen Keith Sainsbury zur Konferenz von Teheran 1943, das 1985 im Oxford University Press Verlag unter dem Titel „The Turning Point“1 erschienen ist, findet sich, neben vielem anderen, bereits eine exzellente Schilderung der Rolle der Briten bei der Moskauer Außenministerkonferenz von 1943. Dieses Standardwerk ist immer noch jedermann zu empfehlen. Der britischen Seite ging es bei der Moskauer Konferenz um zwei Dinge: zum einen um die unmittelbaren Probleme und zum anderen um langfristige Pläne. Die langfristigen Pläne ergaben sich natürlich aufgrund der Entwicklung des Krieges selbst. Nach dem sowjetischen Sieg in Stalingrad und dem anglo-amerikanischen Feldzug in Nordafrika wurde allen Betroffenen immer klarer, dass die Achsenmächte den Krieg verlieren würden – wenn nicht schon bald, dann zumindest auf lange Sicht. Wie die Welt nach dieser Niederlage aussehen sollte, diese Frage beschäftigte die Alliierten immer mehr. Viele Schlachten waren noch zu schlagen, und die Planungen mussten idealerweise koordiniert erfolgen. Das dringlichste Problem war, wo und wann die Konferenz – die erste, bei der Vertreter Großbritanniens, der USA und der Sowjetunion aufeinandertreffen würden – abgehalten werden sollte. Dies erwies sich als schwierig. Die Briten wollten sie in London durchführen, die Sowjetunion in Moskau. Der britische Außenminister Anthony Eden war erzürnt, als Präsident Franklin D. Roosevelt dem Drängen der sowjetischen Seite nachgab und die Konferenz in Moskau stattfinden sollte. „Seine [Roosevelts] Festlegung, einem Treffen in London nicht zuzustimmen“, schrieb er am 10. September 1943 in sein Tage­buch, „ist beinahe beleidigend, wenn man bedenkt, wie oft wir in ­Washington waren. Ich bin sehr für gute Beziehungen mit den USA, aber ich mag keine Unterwürfigkeit ihnen gegenüber und ich bin sicher, dass uns dies in Zukunft nur Schwierigkeiten bringen wird.“ Als die Konferenz erst einmal begonnen hatte, hatten sowohl Großbritannien als auch die USA nicht viel Wahl und mussten der Forderung ihres Gastgebers, „Maßnahmen zur Verkürzung des Krieges gegen Deutschland und 1

Keith Sainsbury Roosevelt, Stalin, Churchill, and Chiang-Kai-Shek 1943. Oxford 1985.

Geoffrey Warner

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seine Verbündeten in Europa“ zu diskutieren, breiten Raum auf der Tagesordnung einräumen. Es handelte sich dabei um eine Anspielung auf die Operation „Overlord“, die Errichtung einer zweiten Front in Form einer anglo‑ amerikanischen Invasion in Frankreich, die für 1943 versprochen gewesen war, aber im Mai desselben Jahres – sehr zum Ärger der UdSSR – auf den Frühling 1944 verschoben worden war. Die Briten, insbesondere Premierminister Winston Churchill, wollten in Moskau überhaupt keine militärischen Fragen diskutieren. „Die Russen“, schrieb er am 3. September 1943 an Eden, „werden einen General mitbringen, dem es nicht gestattet sein wird, irgendetwas anderes zu tun, als auf die sofortige Errichtung einer zweiten Front zu drängen…“. Eden warnte ihn jedoch, dass die „Russen“ dies wahrscheinlich nicht akzeptieren würden, und er sollte recht behalten. Tatsächlich wurde das Problem noch verschärft, als im Laufe der Konferenz eine Nachricht vom Kommandanten der Alliierten in Italien eintraf, der meldete, dass der Einsatz dort schlechter verlief als erwartet und dass dies den Zeitplan der Operation „Overlord“ beeinträchtigen könnte. Eden hatte keine andere Wahl, als die schlechte Nachricht am 27. Oktober 1943 an Josef Stalin weiterzuleiten, und er war überrascht, als der sowjetische Führer, wie es der britische Außenminister ausdrückte, „keine Spur von Enttäuschung zeigte“. Noch überraschender war vielleicht die durch persönliche Diskussionen zwischen Eden, Stalin und Vjačeslav M. Molotov erreichte rasche Beilegung des bitteren Disputs über den Stopp der Versorgungskonvois zu den sowjetischen Häfen in der Arktis, welcher kurz vor Beginn der Konferenz dazu geführt hatte, dass Stalin Churchill eine Nachricht schickte, die dieser als so beleidigend empfand, dass er sich weigerte, sie anzunehmen. Was ich sagen kann, ist, dass die beruhigende sowjetische Einstellung zu dieser Problematik enormen Einfluss auf die britische Ansicht darüber hatte, dass die Moskauer Konferenz ein großer Erfolg gewesen sei. Ähnlich verhielt es sich im Fall der ursprünglichen sowjetischen Haltung, dass die Türkei und Schweden durch Druck der Alliierten dazu gebracht werden sollten, sich dem Krieg gegen Deutschland anzuschließen – unmittelbar im Falle der Türkei und indirekt im Fall Schwedens, das seine Flugplätze den Alliierten zu Verfügung stellen sollte. Die Briten waren dagegen, auch wenn sie bereit waren, die Türken Schritt für Schritt zu einer Beteiligung am Krieg zu bewegen. Tatsächlich führte Eden nach Beendigung der Konferenz darüber lange Gespräche mit dem türkischen Außenminister, er erreichte jedoch absolut nichts. Interessanterweise hatte er Molotov sogar vorgeschlagen, dieser solle ihm einen sowjetischen Beamten „leihen“, der im dabei helfen sollte, den Türken die Sache darzulegen. Der sowjetische Außenminister hatte jedoch sein totales Vertrauen in Edens diplomatische Fähigkeiten geäu-

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ßert, meiner Meinung nach ein sicheres Zeichen dafür, dass er und Stalin die Idee bereits aufgegeben hatten. Eine kurzfristige Frage, die nicht zur britischen Zufriedenheit gelöst wurde, war der vorgeschlagene Vertrag zwischen der Sowjetunion und der tschechoslowakischen Exilregierung. Eden sagte zum Kriegskabinett vor der Konferenz, er habe zum Zeitpunkt von Molotovs Besuch in London und der Unterzeichnung des britisch-sowjetischen Vertrages vom 26. Mai 1942 geglaubt, dass „beide Regierungen davon Abstand nehmen sollten, Verträge über die Nachkriegszeit mit kleineren Verbündeten zu unterzeichnen“, abgesehen davon, dass es wichtig sei, in Bezug auf die Untertänigkeit dieser Verbündeten einen Wettbewerb zwischen Großbritannien und der Sowjetunion zu vermeiden. Eden erklärte, dass ein solcher Vertrag als gegen Polen gerichtet aufgefasst worden wäre, dessen Exilregierung gerade Zeuge davon geworden war, wie die diplomatischen Beziehungen nach dem aufgrund des Massakers von Katyn entstehenden Aufruhrs von der Sowjetunion abgebrochen worden waren. Er sagte, er wolle versuchen, die sowjetische Zustimmung zu einer formalen „selbstverleugnenden Vereinbarung“ zu erlangen, welche solche Verträge abdecken sollte, die sowohl Großbritannien als auch die Sowjetunion inkludierten, obwohl er, sollte die Atmosphäre günstig sein, „bereit wäre, am Versuch mitzuwirken, ein trilaterales Abkommen zwischen der UdSSR, Polen und der Tschechoslowakei zu arrangieren“. In diesem Fall war jedoch die Atmosphäre bei Weitem nicht günstig, und in Bezug auf Polen konnte kein Fortschritt erzielt werden. Eden sah sich gezwungen, seinen Vorschlag über eine „selbstverleugnende Vereinbarung“ wieder aufzugeben, und der sowjetisch-tschechoslowakische Beistandsvertrag wurde ordnungsgemäß im Dezember 1943 in Moskau unterzeichnet. Auch in einem anderen Teil Osteuropas – dem Balkan – gelang es Großbritannien nicht, die sowjetische Unterstützung für einen Pakt zwischen den rechten Widerstandsgruppen von General Dragoljub Mihailović und den kommunistischen Partisanen unter Tito zu erreichen. Wie Eden jedoch am 25. Oktober 1943 nach London meldete, „schien Molotov nicht geneigt, sich auf eine Diskussion zu diesen Balkanfragen einzulassen“, während die Amerikaner die Angelegenheit nur noch schlimmer machten, indem sie vorschlugen, dass ihrem „Office for Strategic Services“ (OSS) gestattet werden sollte, im Land zu operieren – eine Vorstellung, die Eden als „unkoordinierte und amateurhafte Intervention“ bezeichnete, die nur in „hoffnungsloser Verwirrung“ enden würde. Was die langfristigen Themen betrifft, war einer der britischen Erfolge die Österreich-Deklaration zu Österreich, die bei der Moskauer Konferenz unterzeichnet wurde. Bereits im August 1943 war ein britischer Entwurf der spä-

Geoffrey Warner

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teren Deklaration an die Regierungen der Vereinigten Staaten und der Sowjetunion gesendet worden. Churchill versuchte, Otto von Habsburg ins Spiel zu bringen, und drängte Eden, seine (Churchills) Erfahrung und Kenntnis in europäischer Geschichte zu berücksichtigen, woraufhin der Außenminister einen spitzen Kommentar in Bezug auf das fragliche Dokument äußerte und sagte, dass auch er über ähnliche Erfahrung und ähnliches Wissen verfüge und dass jegliche Andeutung in Richtung einer Restauration der Habsburgermonarchie kontraproduktiv sei. Die Briten waren auch hauptverantwortlich für die Einrichtung der Europäischen Beratenden Kommission (EAC), eines gemeinsamen Organes aller Alliierten mit Sitz in London, das Vorbereitungen für mögliche Waffenstillstände und Kapitulationen vonseiten des Feindes traf. Dies ging ursprünglich auf einen Vorschlag Stalins zurück, der sich in einer Nachricht an den britischen Premierminister am 22. August 1943 über die unilateralen Bemühungen der Briten und Amerikaner in Bezug auf den Umgang mit Italiens Kapitulation und seine darauffolgende Kriegsbeteiligung beschwert und eine militärpolitische Kommission der drei Mächte vorgeschlagen hatte, die sich mit den in diesem Zusammenhang stellenden Fragen befassen sollte. Eden und das Foreign Office warteten mit dem EAC und einem separaten Organ auf, das sich mit Italien befassen sollte. Dies bezog oberflächlich auch den sowjetischen Standpunkt mit ein, tatsächlich wurde dadurch aber die zuvor hier bereits ausgeübte anglo-amerikanische Kontrolle, die die Russen so irritiert hatte, bewahrt. Letztere konnten sich jedoch revanchieren, indem sie nach dem Vormarsch der Roten Armee in Bulgarien, Rumänien und Ungarn ihre Führungsrolle in den in diesen Ländern eingesetzten Alliierten Kommissionen sichern konnten. In der Zwischenzeit befasste sich die EAC mit derartig wichtigen Fragen wie den Zonengrenzen für das besetzte Deutschland, sie konnte jedoch das Problem der Zukunft Deutschlands an sich nicht lösen. Dies wurde vom britischen Kriegskabinett vor der Moskauer Konferenz sehr detailliert erörtert, man konnte sich jedoch nicht einigen, und schon gar nicht in Moskau selbst. Abschließend ist interessant, dass Edens damalige Aufzeichnungen darüber, wie freundlich und zugänglich die „Russen“ bei der Moskauer Konferenz gewesen waren, noch mehr als zehn Jahre später, am Höhepunkt des Kalten Krieges, in den Aufzeichnungen der britischen Konferenzteilnehmer erwähnt und festgehalten wurden. Ich beziehe mich hier auf die Aufzeichnungen von Churchills Stabschef Hastings Ismay und des Diplomaten William Strang, der später Vorsitzender der EAC wurde. Vielleicht erwähnte man das nur, um das sowjetische Verhalten vorher und nachher zu vergleichen, oder als wehmütige Anspielung darauf, was alles hätte sein können. Die Er-

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Die Moskauer Außenministerkonferenz 1943

gebnisse der Konferenz konnten jedenfalls ganz sicher nicht der Grund dafür sein. Zugegebenermaßen wurden zahlreiche gut gemeinte Grundsatzerklärungen vereinbart und Organe wie die EAC gegründet, aber die involvierten Parteien verwendeten all das weiterhin auf ihre Art und für ihre Zwecke. Zwischen Großbritannien und der Sowjetunion gab es grundlegende Meinungsverschiedenheiten über die Zukunft Europas, und auch wenn die Moskauer Konferenz vielleicht einige Risse in der Wand übertünchen konnte, so schaffte sie es doch nicht, die Wand neu zu tapezieren. Übersetzung aus dem Englischen: Julija Schellander

Vasilij S. Christoforov

Die Moskauer Konferenz 1943: Außenpolitische Initiativen und Erwartungen der UdSSR

Die Moskauer Außenministerkonferenz wurde einberufen, um die notwendigen Bedingungen für die Organisation des ersten persönlichen Treffens der Staatschefs der UdSSR, der USA und Großbritanniens in Teheran zu besprechen, und des Weiteren, um die Positionen der Verbündeten in der Nachkriegsordnung sowie andere Fragen, die von gemeinsamem Interesse waren, zu erörtern. Jedes der an der Konferenz teilnehmenden Länder trat sowohl bei der Vorbereitung auf die Konferenz als auch in deren Verlauf mit unterschiedlichen Initiativen auf. Zugleich hofften die Staaten der Anti-Hitler-­ Koalition und die neutralen Länder, dass es gelingen werde, eine Übereinkunft über die schnelle Eröffnung einer zweiten Front in Europa zu erreichen und die Niederlage der deutschen Wehrmacht zu beschleunigen. Während der Vorbereitung der Konferenz war Moskau darauf bedacht, schnellstmöglich die Absichten und Pläne Washingtons und Londons herauszufinden. Denn die Verbündeten beeilten sich nicht, die Karten offen auf den Tisch zu legen, obwohl sie intensiv an den Tagesordnungspunkten arbeiteten. In der britischen Botschaft in der UdSSR wurde seit der ersten Septemberhälfte tatkräftig am Entwurf einer Konferenzordnung gearbeitet. An ihrer Konzipierung waren hauptsächlich der Botschafter Archibald Clark Kerr und der Erste Botschaftssekretär Moore Crosthwaithe beteiligt. Sie versuchten, die Position der US-Seite in den unterschiedlichen Aspekten künftiger Verhandlungen vorherzusehen, und waren der Meinung, dass sich die amerikanische Seite nicht mit der bestehenden Beziehung zwischen den „Polen und Russen“ einverstanden erklären würde. Crosthwaithe schlug eine aus elf Punkten bestehende Konferenzordnung vor. Kerr zweifelte an der Notwendigkeit einer so detailierten Aufstellung der Tagesordnung. Jedoch schickte Kerr, nach der Bestätigung des Entwurfs der Tagesordnung durch die britische Regierung, Vjačeslav M. Molotov einen Entwurf, der bereits 13 Punkte enthielt. Am 1. Oktober 1943 teilte Kerr mit, einen weiteren Punkt hinzufügen zu wollen: „Die Politik in Bezug auf das Territorium der verbündeten Länder, das nach der Offensive der Streitkräfte der Verbündeten befreit wurde.“1 1

CA FSB, Dokumentensammlung.

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Die Moskauer Außenministerkonferenz 1943

Auf diese Weise wurden auf Initiative Großbritanniens 14 Punkte in die Tagesordnung aufgenommen, darunter die Gründung eines „Apparats für die Behandlung von Fragen, die eine tägliche und enge Zusammenarbeit erfordern“; ein Meinungsaustausch zur Lage in Italien und am Balkan; zur Beziehung zum Französischen Komitee und zur Bildung einer möglichen französischen Regierung; der Umgang mit Deutschland und anderen feindlich gesinnten Ländern in Europa – zu einer friedlichen Beilegung, zu den Grenzen der militärischen Okkupationsgebiete, zur Abrüstung, zu den Reparationen, zur Dezentralisierung des deutschen Regierungssystems etc.; die Frage der Einigung zwischen den Haupt- und anderen Verbündeten bei Nachkriegsfragen; die gemeinsame Politik in puncto Türkei und Iran; die Beziehungen zwischen der UdSSR und Polen; die Zukunft Polens sowie der Donau- und Balkanländer inklusive der Frage möglicher Föderationen; schließlich die Frage der gemeinsamen Verantwortung für Europa. Der amerikanische Entwurf für die Tagesordnung der Konferenz, der am 20. September dem Volkskommissariat für äußere Angelegenheiten übermittelt wurde, war lakonischer als der britische, jedoch waren darin mehr interessante Initiativen enthalten: eine Deklaration der vier Nationen zur Frage der allgemeinen Sicherheit; Methoden zur Behandlung aktueller politischer und wirtschaftlicher Fragen; die internationale, militärische, politische und wirtschaftliche Kontrolle Deutschlands nach dem Waffenstillstand sowie Schritte, die auf eine endgültige Regelung ausgerichtet waren: ein künftiges Statut des deutschen Regierungssystems, Grenzen und andere Fragen, die Zusammenarbeit bei der Wiederherstellung von Kriegsschäden in der UdSSR; gemeinsame Handlungen bei Hilfeleistungen für andere Länder; Zusammenarbeit bei der Behandlung von Fragen wie Nahrungsmittel und Landwirtschaft, Transport und Kommunikationsmittel, Finanzen und Handel sowie Reparationen. Washington maß der Vorbereitung und der Unterzeichnung der „Deklaration der vier Staaten“ (die „Großen Drei“ plus China) in der Frage der allgemeinen Sicherheit große Bedeutung bei. Nach Meinung der Amerikaner sollte dies die Zusammenarbeit der Länder der Anti-Hitler-Koalition nach Beendigung des Krieges gewährleisten. US-Präsident Franklin D. Roosevelt und US-Außenminister Cordell Hull erachteten die Unterzeichnung der „Deklaration der vier Staaten“ als eines der Hauptziele der Konferenz. In der Sowjetunion wollte man anfangs keine „Vier-Mächte-Deklaration“ in Moskau erörtern, worüber Stalin am 6. Oktober Roosevelt persönlich informierte. Als Hull von der negativen Reaktion der sowjetischen Seite auf den Vorschlag Washingtons erfuhr, reagierte er enttäuscht. Jedoch wurde Hull nach seiner Ankunft in Moskau angenehm überrascht. Die sowjetische Seite erklärte sich

Vasilij S. Christoforov

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damit einverstanden, die Erörterung einer „Vier-Mächte-Deklaration“ in die Tagesordnung aufzunehmen. Die sowjetische Seite brachte eine Frage in die Besprechung ein, die zum wichtigsten Punkt der Tagesordnung der Konferenz wurde, und schlug vor, Maßnahmen für eine schnellere Beendigung des Krieges in Europa zu treffen. Im Grunde genommen waren in diesem Punkt der Tagesordnung drei Fragen enthalten: der zeitliche Rahmen für die Eröffnung einer zweiten Front in Europa, ein eventueller Kriegseintritt der Türkei und die Errichtung von Luftwaffenstützpunkten in Schweden. Die sowjetische Seite war bestrebt, herauszufinden, ob die früher von Churchill und Roosevelt gegebene Erklärung für eine Landung in Nordfrankreich im Frühjahr 1944 in Kraft bleiben würde. Die Antwort der Engländer und Amerikaner war im Allgemeinen ausreichend: Molotov wurde versichert, dass die früher getroffenen Entscheidungen über den Zeitpunkt des Beginns der Operation „Overlord“ bestehen bleibe. Um den Krieg zu verkürzen, sollten die neutrale Türkei unverzüglich in den Krieg eintreten und das neutrale Schweden den Verbündeten Luftwaffenstützpunkte zur Verfügung stellen.2 Auf Initiative Anthony Edens wurde der Türkei ein gemeinsamer Vorschlag gemacht, bis Ende 1943 in den Krieg einzutreten. Einstweilen fragte man in Ankara an, Luftwaffenstützpunkte zur Verfügung zu stellen. Diese Variante wurde in der Folge in das „Protokoll über die Türkei“ aufgenommen. Der Vorschlag der UdSSR zu Schweden verwunderte die westlichen Verbündeten. Als die sowjetischen Initiativen in Bezug auf Schweden erörtert wurden, merkte Eden an, dass Stockholm im Gegenzug für eine Bereitstellung von Luftwaffenstützpunkten auf seinem Territorium die Haltung der sowjetischen Regierung zu Finnland in Erfahrung bringen könnte.3 Nicht nur in Stockholm, sondern auch in Washington war man bemüht, die Haltung Moskaus in Bezug auf Helsinki zu verstehen. Molotov lehnte es ab, die Frage der schwedischen Luftwaffenstützpunkte mit Finnland zu junktimieren. Schlussendlich einigten sich die drei Mächte lediglich darauf, die „Erörterung der Frage“ fortzuführen. Moskau war gegenüber der schwedischen Politik, vor allem wegen des Transfers militärischer Güter nach Finnland, negativ eingestellt. Während des Gesprächs mit dem schwedischen Gesandten Vil-

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Sovetskij Sojuz na meždunarodnych konferencijach perioda Velikoj Otečestvennoj vojny 1941–1945. Bd. 1. Moskovskaja konferencija ministrov inostrannych del SSSR, SŠA i Velikobritanii (19–30 oktjabrja 1943 g.). Sbornik dokumentov. Moskau 1978, S. 90. Sovetskij Sojuz na meždunarodnych konferencijach perioda Velikoj Otečestvennoj vojny 1941–1945, S. 103 f.

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Die Moskauer Außenministerkonferenz 1943

helm Assarson am 18. September wies Molotov darauf hin, dass der Transport von militärischen Gütern, die für den Krieg gegen die UdSSR bestimmt seien, via Eisenbahn von Deutschland über Schweden nach Finnland weiter anhalte.4 Im November 1943 wurde von der sowjetischen Auslandsaufklärung eine ausführliche Liste der Verstöße gegen die Neutralität Schwedens zugunsten Deutschlands erstellt.5 Auf der Moskauer Konferenz rief die Frage einer „Vier-Mächte-Deklaration“ heftige Diskussionen hervor. Am 21. Oktober präsentierte Hull eine Variante der Deklaration, in der ein Punkt eingefügt worden war, wonach die Deklaration die Beziehungen zwischen den Unterzeichnerstaaten und den Mächten, mit denen sich diese „nicht im Kriegszustand“ befanden, nicht berühren werde.6 Dieser Punkt sollte die UdSSR im Hinblick auf eine eventuelle Verschärfung der Beziehungen mit Japan beruhigen. Auf der Sitzung am 26. Oktober erklärte sich Molotov mit diesem Vorschlag der Amerikaner einverstanden – und auch damit, dass die chinesische Seite die Deklaration ebenfalls unterschreiben sollte. Am 30. Oktober setzte der Botschafter Chinas, Foo Pingsheung, seine Unterschrift unter die Deklaration. Der Botschafter Chinas war „übermäßig entzückt davon, dass man ihn zur Unterzeichnung der Deklaration der vier großen Mächte“ eingeladen hatte. Denn nun „spüren die Chinesen, dass nicht nur England und Amerika, sondern auch die Sowjetunion dafür eintreten, die Japaner endgültig aus China zu verjagen und China die Möglichkeit zu geben, sich mit seinem Umbau zu befassen“.7 Eine wichtige Entscheidung der Moskauer Außenministerkonferenz, die mit der deutschen Frage in engem Kontext stand, war die „Deklaration über Österreich“ – das Thema dieses Bandes. Hingewiesen sei hier vor allem darauf, dass sich im Zentralarchiv des Föderalen Sicherheitsdienstes der Russischen Föderation (CA FSB RF) Dokumente befinden, die insbesondere die in der Moskauer Deklaration von den Alliierten geforderte Widerstandstätigkeit sowie Nachrichten der sowjetischen Aufklärung betreffen. Darunter sind Materialien zur Widerstandsbewegung „O5“, zur „Österreichischen Liga demokratischer Freiheitskämpfer“, zur sowjetischen Gegenspionage „Smerš“ oder zu Carl Szokoll und zum militärischen Widerstand. Übersetzung aus dem Russischen: Angelika Kermautz 4 5 6 7

Оleg Ken – Aleksandr Rupasov – Lennart Samuelson, Švecija v politike Moskvy. 1930– 1950-е gody. Мoskau 2005, S. 323 f. Siehe dazu auch: Organy gosudarstvennoj bezopasnosti v Velkoj Otečestvennoj vojne. Bd. 4. 2. Buch. Moskau 2008, S. 580–583. Sovetskij Sojuz na meždunarodnych konferencijach perioda Velikoj Otečestvennoj vojny 1941–1945, S. 256. CA FSB, Dokumentensammlung.

Vladimir Pečatnov

Die Moskauer Außenministerkonferenz 1943: Strategien und Taktiken der Verhandlungspartner

Die Moskauer Außenministerkonferenz des Jahres 1943, deren Abhaltung heute als logisch-folgerichtig und sogar unausweichlich erscheint, war eine der ungewöhnlichsten diplomatischen Aktivitäten in den Jahren des Zweiten Weltkrieges, die nach ihrem beinahe zufälligen Zustandekommen von niemandem erwartete und umfassendste Ergebnisse nach sich ziehen sollte. Wirft man eingangs einen Blick auf ihre Genese, können als Ausgangspunkt dieser Konferenz, wie die meisten wissenschaftlichen Beiträge zur diplomatischen Geschichte in den Kriegsjahren, zu Recht die Mitteilungen Stalins an Roosevelt und Churchill vom 8. und 9. August 1943 angesehen werden. In ihnen wurde zum ersten Mal die Einberufung einer Konferenz „wesentlicher Entscheidungsträger“ der drei Großmächte im Vorfeld des geplanten Treffens der „Großen Drei“ vorgeschlagen. Aber wie war Stalin auf diese Idee gekommen und welche Bedeutung hatte er ihr beigemessen? Dazu sei darauf verwiesen, dass sich die Beziehungen zwischen den Alliierten zu dieser Zeit in einer Krise befanden, die durch den von den USA und Großbritannien auf der Trident-Konferenz gefassten Beschluss entstanden war, die Eröffnung einer zweiten Front zum wiederholten Male aufzuschieben. Im Kreml hatte man davon am Vorabend der Wehrmachtsoperation ­„Zitadelle“ erfahren und diese Neuigkeit mit dementsprechender Verbitterung aufgenommen. Als Reaktion darauf verfasste Stalin eine harsche Antwort an Roosevelt und ließ Churchill, den man als Hauptbetreiber des doppelbödigen Spiels der Alliierten in der Frage einer zweiten Front erachtete, eine noch verbittertere Mitteilung zukommen. Wütend über Stalins Rüge dachte Churchill zunächst daran, die Korrespondenz mit Stalin gänzlich einzustellen,1 doch Anfang Juli gelangte der britische Premierminister zur Einsicht, dass ein Meinungsaustausch mit der sowjetischen Seite unabdingbar war, und konnte kaum mehr das Eintreffen einer Antwort auf seine versöhnliche Botschaft erwarten. Auch Roosevelt harrte ungeduldig einer Reaktion Stalins auf seine gehei1

Prime Minister to the British Ambassador, Moscow, 29 June, 1943, in: The National Archives (Kew, England; im Folgenden: TNA), Prime Minister’s Office (im Folgenden: PREM), 3/333/5.

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Die Moskauer Außenministerkonferenz 1943

me Einladung zu einem Vieraugen-Treffen, die bereits Ende Mai über Joseph Davies übermittelt worden war. Doch ungeachtet der höflichen Erinnerungen des Präsidenten und von Davies2 hüllte sich der Kreml in Schweigen. Stattdessen erfolgte die Abberufung der im Westen geschätzten Botschafter Ivan M. Majskij und Maksim M. Litvinov, was als beunruhigendes Signal des Moskauer Unmutes angesichts der alliierten Inaktivität gedeutet wurde. Insgesamt unterbrach Stalin die Korrespondenz mit seinen Verbündeten für beinahe eineinhalb Monate, was bei diesen doch erhebliche Nervosität hervorrief. Am 7. und 8. August trafen im Kreml zwei neue Depeschen ein, bei denen es sich zum einen um ein Glückwunschtelegramm Roosevelts (anlässlich der Einnahme von Orel durch die Rote Armee) und zum anderen um eine Mitteilung der britischen Regierung handelte, in der über das bevorstehende Treffen von Roosevelt und Churchill in Québec informiert und der Vorschlag Churchills über ein Treffen der drei Staatschefs in Scapa Flow oder „an einem beliebigen anderen Ort, der dem Marschall und dem Präsidenten genehm ist“,3 wiederholt wurde. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich die Situation an der sowjetisch-deutschen Front bereits grundlegend geändert: Das Unternehmen „Zitadelle“ war gescheitert und die Rote Armee an den meisten Frontabschnitten zum Gegenangriff übergegangen und im vollen Besitz der strategischen Initiative. Der Kriegsverlauf hatte eine entscheidende Wendung genommen. Dadurch hatte sich auch die Stimmungslage Stalins gebessert und sich seine Haltung in Bezug auf das bereits lange geplante Treffen der „Großen Drei“ geändert. Nunmehr konnte er sich als Sieger präsentieren und aus einer ebenbürtigen Position heraus agieren, wenn nicht sogar sich als Stärkster in Szene setzen. Dennoch war keinerlei Eile geboten, denn im Hinblick auf die militärischen Erfolge war die Zeit zweifellos Stalins Verbündeter. Da aber auch die Erteilung einer klaren Absage an Roosevelt nicht diplomatisch gewesen wäre und um den Bruch des über Davies übermittelten Versprechens nach Möglichkeit nicht als solchen erscheinen zu lassen, unterbreitete Stalin den Vorschlag einer Konferenz „wesentlicher Entscheidungsträger“ der beiden Länder in Archangeľsk oder Astrachan’ mit einer eventuellen Hinzuziehung der Briten. Es war dies Stalins eigene Idee, wie aus einem von Molotov ausgearbeiteten Entwurf der Depesche hervorgeht.4 2

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Korrespondenz des Vorsitzenden des Ministerrates der UdSSR mit dem Präsidenten der USA und dem Premierminister Großbritanniens in den Jahren des Zweiten Weltkrieges 1941–1945 (im Folgenden: Korrespondenz). Moskau, 1957, Bd. 2; Aus Washington am 22. Juni 1943, in: Archiv für Außenpolitik der Russischen Föderation (im Folgenden: AVP RF), F. 059, op. 10, p. 3, d. 25, S. 41. Korrespondenz, Bd. 1, S. 393. RGASPI, F. 558, op. 11, d. 366, S. 15–16.

Vladimir Pečatnov

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*** Geheime und persönliche Depesche von Premier I. V. Stalin an den Präsidenten Franklin D. Roosevelt

1.5 Erst jetzt, nach der Rückkehr von der Front, kann ich Ihnen auf Ihr letztes Schreiben vom 16. Juli antworten. Ich bin überzeugt davon, dass Sie unsere militärische Lage in Betracht ziehen und für die verspätete Antwort Verständnis haben. Entgegen unseren Erwartungen haben die Deutschen ihre Offensive nicht im Juni, sondern im Juli begonnen, und derzeit sind die Kämpfe an der sowjetisch-deutschen Front in vollem Gange. Wie bekannt ist, hat die sowjetische Armee den Juliangriff Hitlers zurückgeschlagen. Sie wissen auch, dass unsere Armee zum Gegenangriff übergegangen ist, Orel und Belgorod eingenommen hat und weiteren Druck auf den Feind ausübt. 2. [Einfügung zum 2. Satz:] Ein Treffen wesentlicher Vertreter beider Staaten erachte ich zweifellos als zielführend. Man könnte es entweder in Astrachan’ oder in Archangeľsk abhalten. Sollte die Eröffnung einer zweiten Front in diesem Jahr von der englischen und amerikanischen Regierung erneut aufgeschoben werden, muss unsere Armee ihre Kräfte bis zum Äußersten einsetzen. Dies erfordert vonseiten6 des Kommandos der sowjetischen Truppen höchste Anstrengung und außerordentliche Wachsamkeit gegenüber den Aktivitäten des Feindes. In diesem Zusammenhang muss gegenwärtig auch ich ein wenig von allen anderen Fragen und von allen meinen anderen Verpflichtungen Abstand nehmen abkehren, abgesehen von der Hauptverpflichtung zur Befehligung der Front. Es ist notwendig, dass ich mich persönlich des Öfteren an verschiedenen Frontabschnitten aufhalte und den Interessen der Front alles andere unterordne.

*** Es sei jedoch angemerkt, dass aus diesem Schriftstück letztlich nicht klar hervorgeht, auf welcher Ebene das Treffen hätte angesiedelt sein sollen. Aber

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Hier und im Folgenden von Stalin handschriftlich ergänzt. Im Original von Stalin durchgestrichen und handschriftlich ergänzt: „Es ist leicht zu verstehen, dass bei der derzeitigen akuten Lage an der sowjetisch-deutschen Front beim Kommando der sowjetischen Truppen höchste Anstrengung und außerordentliche Wachsamkeit gegenüber den Aktivitäten des Feindes erforderlich sind.“

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Die Moskauer Außenministerkonferenz 1943

bereits am Folgetag, d. h. nach dem Erhalt des Schreibens der britischen Regierung, reifte in Stalin und Molotov offensichtlich der Entschluss zur Einberufung einer Konferenz verantwortlicher Vertreter aller drei Mächte, die einem Treffen der „Großen Drei“ vorausgehen sollte. Dadurch verschaffte sich Stalin Handlungsspielraum, gepaart mit der Argumentationsmöglichkeit, das Treffen auf höchster Ebene mit einem passenden Vorwand nicht bloß aufschieben zu wollen, sondern es auf diese Art und Weise im Vorfeld auch besser vorbereiten zu können. Und Molotov, so scheint es, war von der Perspektive angetan, selbst als „verantwortlicher Entscheidungsträger“ auftreten zu können. In Stalins Mitteilung an Churchill vom 9. August ist bereits klar und deutlich vom Format des Treffens und von der Notwendigkeit einer rechtzeitigen Festlegung der Tagesordnungspunkte die Rede. Es ist schwer zu beurteilen, wie sehr Stalin mit einem Erfolg seiner Demarche rechnete, aber es sollte sich zeigen, dass angesichts des längeren, unheilschwangeren Schweigens des Kremls dieser unerwartete und konstruktive Vorschlag, der noch dazu in einem freundlichen Ton verfasst war, von den USA und Großbritannien überaus dankbar aufgegriffen wurde. In London und Washington atmete man erleichtert auf. „Sie [die Nachricht Stalins] ist wesentlich besser als ich es zu erwarten gehofft habe, und sie trägt zu einer erheblichen Entspannung der Lage bei“, telegrafierte Außenminister Anthony Eden an Churchill nach Québec, „wir sollten einem solchen Treffen prinzipiell rasch zustimmen und die Zeit, den Ort, die Tagesordnung und die Zusammensetzung der Teilnehmer später festlegen“.7 Die Empfehlungen Edens an die Adresse des Premierministers wurden sodann auf der Kabinettssitzung am 11. August genehmigt, wobei die Minister ihre „allgemeine Zufriedenheit mit dem Ton und Inhalt des Schreibens von Premier Stalin“ zum Ausdruck brachten.8 Am 18. August erklärten sich Roosevelt und Churchill in einer gemeinsamen Mitteilung mit dem Vorschlag über eine Konferenz auf „zweiter Ebene“, die sie als Treffen der Außenminister definierten, einverstanden. Die Akzentuierung auf die Diplomatie erfolgte dabei nicht zufällig, denn die Verbündeten wollten militärische Fragen auf der Konferenz nicht erörtern. Die Festlegung des Konferenzortes sollte sich in weiterer Folge bekanntermaßen zum Gegenstand diplomatischen Tauziehens entwickeln. Die Westalliierten schlugen Großbritannien oder Nordafrika vor, schlossen – sollte Stalin darauf beharren – in ihren internen Erörterungen aber auch die sowjetische Hauptstadt nicht aus, doch wäre es „psychologisch und politisch ge7 8

For Prime Minister from Foreign Secretary, 10th August 1943, in: TNA, PREM, 3/172/1. W. M. (43) 114th Conclusions, Minute 2. Confidential Annex, 11th August, 1943, in: TNA, Cabinet Office. Cabinet Papers (im Folgenden: CAB), 65/39/10.

Vladimir Pečatnov

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sehen ein Fehler“, schrieb Eden an Churchill, „wenn wir und die Vereinigten Staaten allzu öffentlich zu verstehen geben, dass wir gerne nach Moskau kommen würden“.9 Letztendlich aber wurde dem Beharren Stalins auf der sowjetischen Hauptstadt als Konferenzort nachgegeben, auch wenn sich die Begeisterung dafür in Grenzen hielt. Roosevelt teilte Stalin mit, dass er dessen Vorschlag „mit Freude“ angenommen habe, doch lässt sich seine tatsächliche Haltung in dieser Frage in einem Schreiben an Churchill ablesen: „Die Antwort, die wir von Uncle Joe in Bezug auf die Moskauer Konferenz erhalten haben, kam nicht unerwartet, aber wir können in dieser Sache offensichtlich nichts tun und werden wohl dorthin reisen müssen ...“10 Abgesehen vom Prestigegewinn bot die „vorgeschriebene“ Abhaltung der Konferenz in Moskau Stalin auch die Möglichkeit, ihren Verlauf aus unmittelbarer Nähe zu beobachten und auf ihn einzuwirken. So erscheint es auch nicht als zufällig, dass das Volkskommissariat für auswärtige Angelegenheiten die Entscheidung, die Tagung in Moskau durchzuführen, als seinen Sieg erachtete: „... erst nach mehrfachem Beharren der Sowjetischen Regierung auf der Notwendigkeit der Abhaltung des Treffens der drei Minister in Moskau haben sich Churchill und Roosevelt mit diesem Vorschlag einverstanden erklärt“, heißt es im offiziellen Konferenzbericht, der von Georgij F. Saksin, ­einem Mitglied der sowjetischen Delegation, erstellt wurde.11 Die Unterschiede hinsichtlich Strategie und Taktik der Verhandlungspartner traten bereits im Zuge der Konferenzvorbereitungen anschaulich zutage und betrafen sowohl die Frage der Definition der Gesamtaufgabe als auch die Festlegung der Tagesordnungspunkte. Die sowjetische Seite beharrte von Anfang an auf einem „praktisch-vorbereitenden“ Charakter der Konferenz und rief die Partner zu einer Konkretisierung der zu behandelnden Punkte, zu einem vorhergehenden Meinungsaustausch über die jeweiligen Positionen und zur Ausarbeitung konkreter Vorschläge hinsichtlich der zu erörternden Fragen auf. Die sowjetischen Beweggründe dafür schienen verständlich, denn die Moskauer Konferenz sollte die erste alliierte Beratung auf hoher Ebene und die Vorbereitung für das erste Gipfeltreffen sein. Erfahrungswerte hinsichtlich der Abhaltung derartiger Treffen gab es jedoch keine, weshalb man in Moskau Befürchtungen in Bezug auf das Vorgehen der allliierten Partner hegte und angesichts der erfahreneren und ausgeklü-

9 For Prime Minister from Foreign Secretary, 2nd September, 1943, TNA, PREM, 3/172/1. 10 Churchill and Roosevelt: The Complete Correspondence. Ed. by W. Kimball. Vol. 1–3. Princeton, 1984, Vol 2. 11 Bericht über die Tätigkeit der Moskauer Konferenz, in: AVP RF, F. 06, op. 5b, p. 42, d. 44, S. 19.

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gelteren westlichen (insbesondere britischen) Diplomatie auch Unsicherheit erkennen konnte. In dieser angespannten Lage war Stalin, der jeden seiner Schritte sorgfältig zu planen pflegte, nunmehr darum bemüht, die Absichten der Verbündeten in Erfahrung zu bringen und die Vorhersehbarkeit des Konferenzverlaufs sicherzustellen. Dieses Vorgehen war auch durch seinen Argwohn in Bezug auf die Absichten der USA und Großbritanniens bedingt. So etwa wurde in der Denkschrift „Zur bevorstehenden Außenministerkonferenz in Moskau“ des stellvertretenden Außenministers Vladimir G. Dekanozov (der bei den Vorbereitungen der sowjetischen Delegation eine wesentliche Rolle spielte) die Art des Herangehens der Alliierten zur bevorstehenden Konferenz als Bemühen beschrieben, „unsere Aufmerksamkeit und die der Weltöffentlichkeit (darunter auch die der öffentlichen Meinung in England und Amerika) von der akuten Frage der Eröffnung einer zweiten Front in Europa abzulenken, auf Zeit zu spielen und zu manövrieren, damit das Ende des Jahres 1943 mit Beratung verstreicht: zuerst der Beratung der drei Außenminister, danach das Treffen der drei Regierungschefs“, und man werde, so Dekanozov weiter, dieses Treffen auch „für die Sondierung unserer Positionen zu den Grundfragen unserer Außenpolitik zum gegenwärtigen Zeitpunkt und nach dem Kriege nützen. In erster Linie ist unsere Haltung in der deutschen Frage gemeint.“12 Im Besonderen fürchtete sich die sowjetische Seite davor, dass der von Washington und London vorgeschlagene „Sondierungscharakter“ der Konferenz die Möglichkeit ausschließen würde, von den USA und Großbritannien konkrete Garantien in Bezug auf die für Moskau wichtigste Frage – die einer „Zweiten Front“ – zu erhalten. Diese Absichten der Westmächte beinhalteten nach Meinung Moskaus auch die Gefahr, dass das einzige Interesse Washingtons und Londons in einem „Ausspionieren“ der sowjetischen Absichten und in einer Nutzung der Konferenz zu Aufklärungszwecken liegen könnte. Aus diesem Grund sollte man mit einem Konferenzbeginn keine Eile haben. In genanntem Schriftstück hielt Dekanozov auch fest, dass erst nach dem Erhalt anglo-amerikanischer Vorschläge sich „herausstellen wird, welche Fragen sie gegenwärtig in erster Linie interessieren. Dann kann auch die Frage geklärt werden, ob die Beratung an sich für uns zweckdienlich ist. Bereits jetzt sollten wir darauf vorbereitet sein, dass einige besonders aktuelle Fragen zur Sprache kommen und wir sollten unsere mögliche Haltung zu diesen Fragen fest-

12 AVP RF, F. 05, op. 5b, p. 39, d. 6, S. 52–58, Aufzeichnungen von Dekanozov, 3.10.1943, abgedruckt in: Jochen P. Laufer – Georgij P. Kynin (Hg.), Die UdSSR und die deutsche Frage 1941–1948. Dokumente aus dem Archiv für Außenpolitik der Russischen Föderation. Bd. 1: 22. Juni 1941 bis 8. Mai 1945. Berlin 2004, S. 170–176, hier S. 170 f.

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legen.“13 Auf diese Weise stellte sich die Taktik der sowjetischen Diplomatie bei der Konferenzvorbereitung als reaktiv dar, indem man zuerst möglichst konkrete Vorschläge zu erhalten trachtete, um auf deren Grundlage sodann die eigenen Positionen zu definieren. Die einzige sowjetische Initiative, die Washington und London zur Erörterung vorgelegt wurde, betraf die Frage über ein möglichst schnelles Kriegsende. Die Befürchtungen Moskaus waren indes nicht gänzlich aus der Luft gegriffen, denn die Westalliierten begegneten der sowjetischen Seite überaus vorsichtig und ließen sich kaum in ihre Karten blicken. Wie Churchill aus Washington mitteilte, würden er und Roosevelt es als „nicht wünschenswert“ erachten, „unsere Ansichten zu allen“ von Moskau gestellten „Fragen vorzeitig darzulegen“.14 Auf den Sitzungen des britischen Kabinetts am 4. und 5. Oktober hob Churchill dazu auch hervor, dass „die Bedeutung der Konferenz vor allem darin liegt, die Ansichten der Russen nach Möglichkeit in Erfahrung zu bringen“. Seiner Meinung nach habe zum damaligen Zeitpunkt keine Notwendigkeit bestanden, dass die Briten „ihre Meinung zu Fragen, die ernsthafte Folgen nach sich ziehen können und erst nach dem Krieg zu lösen sind, definitiv festlegen“.15 Hinter dieser Aussage verbarg sich das offensichtliche Bemühen, sich den Handlungsspielraum gegenüber der UdSSR zu Fragen der Nachkriegsordnung nicht einengen zu lassen. Außerdem hegten die Westalliierten Befürchtungen, dass eine Erörterung konkreter Problemfelder einer Ausarbeitung gemeinsamer Lösungen im Weg stehen könnte und Meinungsverschiedenheiten nach sich zögen, was in erster Linie auf die für die UdSSR zentrale und für Washington und London heikle Frage der Eröffnung einer zweiten Front in Europa zutreffen würde.16 Aus eben diesem Grund hoben die Staatschefs der Westmächte immer wieder den „Sondierungscharakter“ des Treffens hervor und betonten die Vorteile einer zwanglosen Diskussion und einer informellen Tagesordnung. Aber dennoch zeigte sich Moskau beharrlich und ließ sich nicht davon abbringen, von den Alliierten konkrete Vorschläge zu einer Reihe von Fragen einzufordern. Die Ausarbeitung der Tagesordnung sollte sich sodann ebenfalls zu einem Zankapfel entwickeln. Für die UdSSR lag die Priorität auf der Eröffnung einer zweiten Front („Maßnahmen zu einer schnellen Beendigung des Krieges“), während die USA vor allem die Verabschiedung einer 13 Ebd., S. 172. 14 From Quadrant to War Cabinet, 14th September, 1943, in: TNA, PREM, 3/172/1. 15 W. M. (43) 135th Conclusions, Min. 4, Conf. Annex, 5th October, 1943, in: TNA, CAB, 65/40/1. 16 From Quadrant to War Cabinet Offices, 18th August, 1943, in: TNA, PREM, 3/172/1; Winant to Secretary of State, August 11, 1943, in: ebd.

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„Vier-Mächte-Deklaration“ über allgemeine Sicherheit und die Bereitschaft der Sowjetunion zum Eintritt in den Krieg gegen Japan forcierten. Eine nicht unwesentliche Bedeutung maß Washington auch Fragen des wirtschaftlichen Wiederaufbaus nach dem Krieg bei. Die in erster Linie über die Lage in Europa besorgte britische Diplomatie hingegen schlug die Erörterung eines Kataloges an politischen Fragen zur Lage auf diesem Kontinent vor. Der Hauptakzent lag dabei auf der deutschen Frage und auf zwei Lieblingsprojekten des Foreign Office – der Schaffung europäischer Föderationen und eines neuen Organs für die Erörterung europäischer Fragen. Die endgültige Tagesordnung war schließlich ein Kompromiss und beinhaltete den Großteil der im Vorfeld vorgeschlagenen Themen, wobei jedoch die konkreten Positionen der Verhandlungspartner zu den einzelnen Fragen in vielen Fällen ausgeblendet blieben. Im Bewusstsein um seine Verantwortung für das bevorstehende Treffen und im Bemühen, sich keine Blöße zu geben, wurde vom Apparat des Volkskommissariats für auswärtige Angelegenheiten innerhalb kürzester Zeit ein immenses Arbeitspensum zur organisatorischen und inhaltlichen Vorbereitung der Konferenz absolviert. So etwa wurden auf einer am 8. Oktober abgehaltenen Beratung der Leitung des Volkskommissariats 16 Arbeitsgruppen zur Ausarbeitung von Materialien zu jedem einzelnen Punkt der Tagesordnung gegründet, und das Konferenzsekretariat hatte Molotov täglich Bericht über den Arbeitsfortgang zu erstatten. Am 14. Oktober wurde auf Vorschlag des Sekretariats hin schließlich eine „Troika“ gebildet, der Vyšinskij, Dekanozov und Litvinov angehörten und die den Auftrag erhielt, ein Schriftstück mit Beschreibung der einzelnen Vorschlagsentwürfe der sowjetischen Delegation zu den einzelnen Tagesordnungspunkten zu erstellen. „In drei Tagen und drei Nächten“ (wie es im bereits erwähnten Bericht von Saksin heißt) war die „Troika“ mit der Ausarbeitung dieses Dokuments fertig, das Molotov sodann am 18. Oktober Stalin vorlegte.17 Der Inhalt dieses Schriftstücks und auch der anderen Materialien, die im Zuge der Konferenzvorbereitungen verfasst wurden, zeichnete sich durch eine überaus bittere und zugleich pessimistische Grundstimmung aus. In Bezug auf die für die sowjetische Seite wichtigste Frage einer zweiten Front wurde der Vorschlag gemacht, hartnäckig auf der bisherigen Haltung zu beharren, wobei für den Fall, dass die Alliierten „wie zu erwarten ist, keinerlei

17 An das Politbüro des ZK der VKP(b). An Gen. I. V. Stalin. 18. Oktober 1943, in: AVP RF, F. 06, op. 5b, p. 39, d. 6, S. 21–27; Bericht über die Tätigkeit der Moskauer Konferenz, S. 35; Na prieme u Stalina. Tetradi (žurnaly) zapisej lic, prinjatych I. V. Stalinym (1924–1953). Herausgegeben von A. A. Černobaev). Мoskau, 2008, S. 421.

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Verpflichtungen im Geiste unserer Vorschläge eingehen“, empfohlen wurde, die Erörterung dieser Frage mit einer empörten Erklärung über die mehrfache Missachtung der Verpflichtungen aufseiten der Alliierten zu beenden. Der vorgeschlagene Text für eine solche Erklärung ähnelte der bekannten Abfuhr, die Stalin in seinem Schreiben vom 24. Juni an Churchill erteilte.18 In einem langen (von Saksin erstellten) Verzeichnis der „Unstimmigkeiten und fehlenden Abmachungen mit den USA und Großbritannien“ wurden nahezu alle grundlegenden Fragen der Tagesordnung aufgeworfen, und sogar noch am Vorabend der Konferenzeröffnung sprach Litvinov in einem Schreiben an Molotov das Fehlen von „Angaben über die Möglichkeit einer Übereinkunft in dieser oder jener Frage“ an.19 In Erwartung hitziger Debatten mit den westlichen Verbündeten legten sich die Experten aus dem Volkskommissariat für auswärtige Angelegenheiten einen „Kompromittierungskatalog“ in Form einer Liste konkreter Beispiele feindseliger Einstellung seitens der Engländer und Amerikaner“ zurecht.20 Auf diese Weise stellte sich die Grundstimmung im Zuge des Prozesses der Vorbereitung und Suche nach möglichen Übereinkünften angespannt und pessimistisch dar und sollte unmittelbar vor Konferenzbeginn ihren Tiefpunkt erreichen. In Moskau war man damit unzufrieden, dass – ungeachtet mehrmaliger Bitten – bei Weitem nicht zu allen Punkten der Tagesordnung von den US-Amerikanern und Briten konkrete Vorschläge eingegangen waren, was von Litvinov wie folgt formulierte wurde: „Es kann sich im Verlauf der Konferenz ergeben, dass uns überhaupt nicht das, was wir erörtert haben, vorgeschlagen wird, oder dass neuartige, von uns nicht vorhergesehene Vorschläge unterbreitet werden.“21 Für diesen Fall schlug er eine abwartende Taktik vor, bei der eine Unterbrechung der Erörterungen zu einigen Fragen vorgesehen wurde, um „die eingebrachten Vorschläge zu durchdenken“ und sie zu einem späteren Zeitpunkt erneut aufzugreifen.22 Keine Freude rief im Kreml auch die Idee einer Beteiligung Chinas an der „Vier-Mächte-Deklaration“ hervor, die als „Zuspitzung der sowjetisch-japanischen Beziehungen“ ausgelegt wurde.23 Von der Absicht der sowjetischen Seite, bei Maßnahmen, 18 An Genossen V. M. Molotov, 10. Oktober 1943, in: AVP RF, F. 06, op. 5b, p. 39, d. 6, S. 4–7. 19 Ebd., S. 49; SSSR i germanskij vopros, Bd. 1, S. 316. 20 AVP RF, F. 06, op. 5b, p. 39, d. 6, S. 46–48. 21 AVP RF, F. 012, op. 9, p. 132, d. 4, S. 16, M. Litvinov an V. Molotov, 17.10.1943, abgedruckt in: Laufer –Kynin (Hg.), Die UdSSR und die deutsche Frage 1941–1948, S. 237. 22 Ebd. 23 AVP RF, F. 06, op. 5b, p. 39, d. 6, S. 52–58, Aufzeichnungen von Dekanozov, 3.10.1943, abgedruckt in: Laufer –Kynin (Hg.), Die UdSSR und die deutsche Frage 1941–1948, S. 170–176, hier S. 170.

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die möglicherweise als Ausdruck von Zuversicht auf einen Konferenzerfolg gedeutet werden könnten, keinerlei Eile an den Tag zu legen, zeugt auch die Änderung des Plans für die protokollarischen Treffen. Hatte man ursprünglich vorgehabt, den Empfang Stalins für die Außenminister Hull und Eden im Beisein von Molotov bereits für den Anreisetag anzuberaumen, so war im letztgültigen Entwurf für diesen Tag nur mehr ein Zusammentreffen der drei Außenminister vorgesehen.24 Nichts Gutes erwartete man auch von US-Außenminister Hull selbst, über den man in Moskau kaum etwas wusste. In den Schriftstücken des Volkskommissariats für auswärtige Angelegenheiten wurde er als „Konservativer“ bezeichnet, der „uns nicht freundlich gesinnt ist“. Das NKGB charakterisierte ihn als „alten Reaktionär“, der „gegenüber der UdSSR immer feindselig eingestellt war“.25 Beim Treffen mit dem britischen Botschafter Kerr am Vorabend der Konferenzeröffnung sei Molotov, so Kerr, „sehr reserviert gewesen“ und habe gesagt, dass „vor ihm viele schwierige Probleme liegen und es bereits gut ist, wenn wir zumindest ein einziges davon lösen...“.26 Aber auch bei den Briten und Amerikanern war die Stimmung zu diesem Zeitpunkt keineswegs besser. Dass der sowjetische Vorschlag um die Eröffnung einer zweiten Front noch 1943 nach wie vor aktuell war, bestätigte die Erwartungen Washingtons und Londons hinsichtlich der Unnachgiebigkeit des Kremls in dieser Frage. Hull zeigte sich schwer enttäuscht über die sowjetische Absage, sein Lieblingsvorhaben – die „Vier-Mächte-Deklaration“ – zum Thema der Verhandlungen zu machen. Besonders schlecht gelaunt war jedoch Churchill, der am Vorabend des Konferenzbeginns in der Frage über die nördlichen Konvois und die britischen Militärangehörigen in der UdSSR von Stalin derart gerügt worden war, dass er sich demonstrativ weigerte, die diesbezügliche Depesche Stalins entgegenzunehmen. In diesem Zusammenhang sind wohl auch seine an Eden gerichteten Worte zu sehen: „Ich bedauere Sie aufrichtig angesichts dieser unseligen Konferenz und wäre gerne bei Ihnen.“27 Die stereotypen Vorstellungen über die harsche sowjetische Diplomatie bestätigten sich sodann auch in den Aussendungen der westlichen Botschaften in Moskau, in denen von der zu erwartenden „Unnachgiebigkeit“ der sowjetischen Partner im Zuge der bevorstehenden Konferenz die Rede war. „Aber auch wir werden hartnäckig sein“, ließ Eden am 13. Oktober Kerr wissen.28 24 AVP RF, F. 069, op. 27a, p. 84, d. 24, S. 32, 36. 25 AVP RF, F. 0129, op. 27, p. 152, d. 41, S. 26, 32, 37. 26 From Foreign Office to Moscow, 13th October, 1943, in: TNA, Foreign Office Files (im Folgenden: FO), 371/37029. 27 From Foreign Office to Moscow, 18th October, 1943, in: TNA, FO, 954/3. 28 From Cairo to Foreign Office, 16th October, 1943, in: TNA, FO, 371/37030.

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An dieser Stelle stellt sich die Frage, wie es bloß möglich war, dass die Moskauer Konferenz trotz dieser unglückseligen Ouvertüre zu einem großen diplomatischen Erfolg werden konnte? Dafür gibt es mehrere Gründe. Zum Ersten sei darauf verwiesen, dass sich beide Seiten entgegen den Befürchtungen im Verlaufe der Konferenz wie Partner verhielten. Trotz dem erwarteten Druck der Westalliierten erklärte sich Molotov schon auf der ersten Sitzung bereit, die „Vier-Mächte-Deklaration“ in die Tagesordnung aufzunehmen, und schwächte zugleich die sowjetische Haltung in der Frage einer zweiten Front ab, indem er von der Forderung nach „unverzüglichen Maßnahmen“ noch im Jahre 1943 abging und nunmehr bloß geklärt haben wollte, ob die einst von Churchill und Roosevelt getätigte Aussage über eine Invasion in Nordfrankreich im Frühjahr 1944 noch aktuell sei. Diese präventive Kompromissbereitschaft, gepaart mit dem Verzicht auf die übliche Kritik an der Politik der Alliierten, machte auf sie großen Eindruck. Und so konnte Eden bereits am 20. Oktober nach London vermelden, dass „wir in unerwartet ruhige Gewässer gelangt sind [...] und es keinerlei Vorwürfe in Bezug auf die jüngste Vergangenheit gibt“.29 In seinem Abschlussbericht zur Konferenz hielt er sodann auch fest, dass „sich die Besorgnis, mit der wir und die Amerikaner auf die Diskussionen zu dieser Frage [über eine zweite Front] gewartet haben, als unbegründet erwiesen hat“.30 Der Grund für diese unerwartete Nachgiebigkeit ist aller Wahrscheinlichkeit nach bei Stalin selbst zu suchen, zumal sich in den Schriftstücken des Volkskommissariats für auswärtige Angelegenheiten keinerlei Hinweise auf einen „Plan B“ zu den einzelnen Fragen finden lassen. Die Idee hatte offenbar darin bestanden, bei der Konferenz von Beginn an eine „angenehme Atmosphäre“ zu schaffen, wie dies Litvinov in einer seiner Denkschriften am Vorabend der Eröffnung festhielt.31 Die Westalliierten ihrerseits begannen damit, erstmals offen und ausführlich über ihre streng geheimen militärischen Pläne für die Jahre 1943 und 1944 zu berichten und bestätigten die unveränderte Aktualität der Beschlüsse über den Beginn der Operation „Overlord“ im Frühjahr 1944. Die Initiative dazu ging von den US-Amerikanern aus, die (wie Eden in einer Depesche an Churchill geraten hatte) „exakte Anweisungen erhalten hatten, Stalin offen und ohne Geheimnisse alles zu erzählen“.32 Das Kalkül lag dabei darin, den sowjetischen Vorbehalten und Beanstandungen den Wind aus den Segeln zu 29 From Moscow to Foreign Office, 20th October, 1943, in: TNA, FO, 371/37030. 30 From Moscow to Foreign Office, 6th November, 1943, in: TNA, FO, 371/37031. 31 AVP RF, F. 06, op. 5b, p. 39, d. 6, S. 14 f., M. Litvinov an V. Molotov, 15.10.1943, abgedruckt in: Laufer –Kynin (Hg.), Die UdSSR und die deutsche Frage 1941–1948, S. 225 f. 32 From Moscow to Foreign Office, 22nd October, 1943, in: Cambridge University, W. Churchill Archive, Chartwell Papers (im Folgenden: CHAR), 20/129.

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nehmen und Moskau von der Ernsthaftigkeit der westlichen Absichten zu überzeugen, was sich für die sowjetische Seite als angenehme Überraschung erweisen sollte. So etwa bezeichnete Molotov die Ausführungen der Generäle Hastings Ismay und William Dean als „wertvolle Beiträge“.33 Und Eden merkte in seinem Bericht an, dass die „sowjetische Delegation über diese Offenheit, mit der wir und die Amerikaner ihnen unsere militärischen und politischen Schwierigkeiten dargelegt haben, offensichtlich erstaunt war“.34 Der unerwartet positive Start hatte die Atmosphäre aufgelockert und den Ton für den weiteren Konferenzverlauf vorgegeben. Doch gilt es auch einen zweiten Umstand in Betracht zu ziehen, den man als „Molotov-Faktor“ bezeichnen könnte. Bekanntermaßen war der sowjetische Außenminister auf Initiative der Westalliierten hin zum ständigen Konferenzvorsitzenden gewählt worden, wodurch sich seine persönliche Verantwortung und auch sein persönlicher Einsatz für einen erfolgreichen Konferenzverlauf erheblich erhöhen sollten. Das Können und das Taktgefühl, mit denen Molotov die Sitzungen leitete, erfuhr sodann auch von den West­ alliierten höchste Würdigung. „... Mir war es bislang noch nicht beschieden, mit einem Vorsitzenden zu arbeiten, der ein so hohes Maß an Geduld, Erfahrung und gesundem Menschenverstand an den Tag gelegt hat wie Mr. Molotov“ – verlas Eden aus seinem Konferenzbericht vor dem britischen Parlament –, „ich muss anerkennen, dass die erfolgreiche Abarbeitung der umfassenden und komplexen Tagesordnung in einem hohen Maße seiner Leitung geschuldet ist“.35 Ähnlich formulierte es auch Hull: „Ich habe persönlich schon an vielen internationalen Konferenzen teilgenommen, aber noch nie zuvor habe ich eine so erfahrene und geschickte Arbeitsleitung wie die Ihre erlebt, Herr Molotov.“36 Es ist ausreichend, einen Blick in die Sitzungsprotokolle zu werfen, um sich davon zu überzeugen, dass der Volkskommissar diesen keineswegs einfachen diplomatischen Marathonlauf mustergültig absolvierte. So war es ihm unter anderem auch gelungen, einen persönlichen Zugang zum majestätisch-erhaben wirkenden Cordell Hull zu finden, was, einer Mitteilung Kerrs zufolge, auch der Hauptgrund dafür war, dass „Hull den von Eden vorgelegten Lösungsvorschlägen seine Zustimmung erteilt hat“.37 Aber auch auf sowjetischer Seite sollten sich die anfänglichen Befürch33 Sovetskij Sojuz na meždunarodnych konferencijach perioda Velikoj Otečestvennoj vojny, 1941–1945, Bd. 1. Мoskau, 1978, S. 109. 34 From Moscow to Foreign Office, 6th November, 1943, in: TNA, FO, 371/37031. 35 House of Commons, 11th November, 1943, S. 1325. 36 Zit. n.: Otčet o rabote Moskovskoj konferencii, in: AVP RF, F. 06, op. 5b, p. 42, d. 44, S. 171–172. 37 From Moscow to Foreign Office, 6th November, 1943, in: TNA, FO, 371/37031.

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tungen in Bezug auf den US-Außenminister nicht bewahrheiten, da sich dieser überaus versöhnlich präsentierte und zum Unterschied von Eden keine für Moskau unangenehmen Fragen stellte. Es ist anzunehmen, dass das eine flexible und positive Stimmung verbreitende Vorgehen der sowjetischen Delegation auf Stalin selbst zurückging. Denn im Verlaufe der Konferenz suchte Molotov in den Abend- und Nachtstunden mehrfach die Arbeitsräume seines „Herren“ auf und aller Wahrscheinlichkeit nach informierte er ihn detailliert über den Fortgang der Gespräche.38 Eine wichtige Rolle spielten auch die persönlichen Treffen Stalins mit Eden und Hull. „Die Unterredungen des Ministers mit Stalin sind sehr gut verlaufen“, vermeldete Edens erster Stellvertreter Alexander Cadogan nach London. „Er [Eden] ist der Meinung, dass wir das Gefühl der Isolation, das die Russen bisher empfunden haben und das vor dem Hintergrund ihrer gewaltigen Siege noch schmerzhafter wurde, unterschätzt hätten. Jetzt ist es offensichtlich, dass sie mit allen Kräften um einen Erfolg der Konferenz bemüht sind.“39 In seinem Bericht an Churchill über das letzte Treffen mit Stalin hielt Eden fest: „Die Unterredung ist erstaunlich gut verlaufen. Stalin war hervorragend gelaunt, und von den Vorwürfen aus der Vergangenheit und in Bezug auf unsere Neigung, vor den vor uns liegenden Problemen die Augen zu verschließen, war keine Rede mehr.“40 Durch sein inoffizielles Versprechen, nach der Beendigung der Kampfhandlungen in Europa in den Krieg mit Japan einzutreten, leistete Stalin auch einen konkreten Beitrag zum Erfolg der Verhandlungen. Dies war im Besonderen für die USA von Bedeutung und sollte sich als starker Impuls für die sowjetisch-amerikanische Annäherung erweisen. Damit verbunden war ein dritter Faktor, der die Dynamik der Verhandlungen betraf und den man als „Eskalation des guten Willens“ bezeichnen könnte. Am deutlichsten legte darüber Eden beim Verlesen seines Berichts vor dem britischen Parlament Zeugnis ab: „... die gestärkte Atmosphäre des Vertrauens gab unserem Vorwärtskommen einen zusätzlichen Impuls, wobei die Mitte der Konferenz besser war als der Beginn und das Ende besser als die Mitte.“41 Diese Dynamik konnte man auch in den Äußerungen Stalins bei seinen Treffen mit den Chefs der britischen und US-amerikanischen Diplomatie erkennen. War er bei seiner Zusammenkunft mit Eden am 21. Okto-

38 Na prieme u Stalina. Tetradi (žurnaly) zapisej lic, prinjatych I. V. Stalinym (1924–1953), S. 421–422. 39 From Foreign Office to Washington, 29th October, 1943, in: TNA, FO, 371/37030. 40 From Moscow to Foreign Office, 29th October, 1943, in: CHAR, 20/118. 41 House of Commons, 11th November, 1943, S. 1324.

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ber noch zurückhaltend gewesen („Die Dinge laufen bislang gut.“), so klangen seine Worte sechs Tage später bereits wesentlich bestimmter und klarer („... Molotov sagt, dass man mit dem Verlauf der Konferenz zufrieden sein muss.“), ehe schließlich der Kremlchef am 30. Oktober Hull voller Überzeugung wissen ließ, dass „wir eine gelungene Konferenz hinter uns haben“.42 In der Tat ging mit dem Anstieg des gegenseitigen Vertrauens auch ein zunehmend freundschaftlicher Ton einher, und es wuchs die Bereitschaft, nach gegenseitig annehmbaren Kompromisslösungen zu suchen, indem, gemäß der reziproken Logik, getätigte Zugeständnisse weitere nach sich zogen. So etwa stand Eden gegen Ende der Konferenz unter derart starkem Eindruck der sowjetischen Kompromissbereitschaft, dass er Churchill um eine Geste des „guten Willens“ in Form einer prinzipiellen Einverständniserklärung für eine Übergabe eines Teils der erbeuteten italienischen Flotte an die UdSSR ersuchte. „Wenn Sie mir weiterhelfen“, so Eden abschließend, „dann bin ich davon überzeugt, dass diese Ihre Geste mit Zinsen an uns zurückgezahlt werden wird.“43 Obwohl der Premierminister dieser Idee skeptisch gegenüberstand und anfangs einen Aufschub dieser Frage bis zur Konferenz in Teheran vorschlug, konnte letztendlich dennoch sein Einverständnis gewonnen werden.44 Die Erteilung einiger dieser Zugeständnisse (wie etwa in der Frage eines sowjetisch-tschechoslowakischen Vertrages) hatte die erfahrene britische Diplomatie indes bereits im Vorfeld in Betracht gezogen, falls es zu einem erfolgreichen Konferenzverlauf und sowjetischen Zugeständnissen in anderen Fragen kommen sollte.45 Bei manchen Themen (u. a. zur Türkei-Frage) überschritt Eden sogar die ihm erteilten Anweisungen, um auf diese Weise für alle Seiten annehmbaren Lösungen nicht im Wege zu stehen. Die sowjetische Seite operierte auf Grundlage der Weisungen Stalins und Molotovs, wobei der triumphale Schlussakkord von Molotov für das Finale am 30. Oktober aufgehoben wurde, als er sich am letzten Tag der Konferenz bereit erklärte, die „Vier-Mächte-Deklaration“ mit Hinzuziehung Chinas zu unterzeichnen. Die USA stimmten den Vorschlägen Edens und Molotovs in der Regel zu oder hüllten sich in Schweigen. Und auch in all jenen Fragen, in denen keine Einigung erzielt werden konnte (Deutschland, die polnische Frage, Iran), waren das Bemühen und die Bereitschaft zu erkennen, nach gemeinsamen Lösungen zu suchen und aufeinander zuzugehen.

42 43 44 45

Foreign Relations of the United States. 1943. Vol. 1. Washington, 1963, S. 685. From Moscow to Foreign Office, 29th October, 1943, in: CHAR, 20/129. Foreign Office to Moscow, 29th October, 1943, in: ebd. W. P. (43) 423, 28th September, 1943, in: TNA, CAB, 66/41/23.

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Ihren Beitrag zum Gelingen der Konferenz leisteten alle drei Seiten, doch spielte die sowjetische Delegation – wie auch von den Westalliierten bestätigt – eine besondere Rolle, indem sie eine von den USA und Großbritannien unerwartete Flexibilität, einen Professionalismus und eine Kompromissbereitschaft gegenüber den Verhandlungspartnern an den Tag legte. „Es gab viele Anzeichen dafür“, telegrafierte Eden an Churchill, „dass die Mitglieder der sowjetischen Regierung ihre Beziehungen mit uns und den Vereinigten Staaten wahrhaftig auf der Grundlage dauerhafter Freundschaft gestalten wollen“.46 Diesbezüglich mag es interessant erscheinen, dass diese Meinung von allen erfahrenen westlichen Diplomaten geteilt wurde. Als Hauptgrund für die Metamorphose aufseiten Moskaus sah man den Umstand an, dass (so eine Depesche Kerrs) „die Sowjets zum ersten Mal das Gefühl hatten, vollwertiger Teil unseres intimen Kreises zu sein, aus dem sie ihrer Meinung nach bislang ausgeschlossen waren“.47 Diese Einschätzung wurde von US-Botschafter W. Averell Harriman in seinem Konferenzbericht für den US-Präsidenten bestätigt: „... Molotov zeigte sich zufrieden darüber, erstmals als vollwertiges Mitglied in die Beratungen mit uns und den Briten aufgenommen zu sein.“48 Charles Bohlen, Berater im State Department, merkte in einer geschlossenen Beratung zu den Ergebnissen der Konferenz in der US-Botschaft in Moskau an, dass die Beratungen der Außenminister „den Beginn der Rückkehr der UdSSR in die Staatengemeinschaft als Nation darstellt, die entsprechende Verantwortung trägt“.49 Natürlich wohnten dieser Deutung der Ereignisse auch Elemente von Eigenlob bis hin zu Snobismus inne, wobei aber der Grundton der sowjetischen Neuausrichtung richtig erkannt wurde. Zufriedenheit mit dem Eintritt in den Klub der Supermächte geht sogar aus einem für das Volkskommissariat für auswärtige Angelegenheiten verfassten, trocken-administrativen Zirkular Molotovs über die Konferenzergebnisse hervor: „Die Anmerkungen und Vorschläge der sowjetischen Delegation zogen überaus ernsthafte Aufmerksamkeit auf sich. Berücksichtigt man die Aufgabe, mit der wir uns konfrontiert sahen, die allgemeine Tagesordnung und auch den Umstand, dass es sich um das erste Treffen der drei Minister gehandelt hat, muss man den Konferenzverlauf insgesamt gesehen als zufriedenstellend bezeichnen.“50 Der unerwartete Erfolg der Konferenz 46 For Prime Minister from the Secretary of State, 29th October, 1943, in: CHAR, 20/129. 47 From DO to Canada e. a., 8th November, 1943, in: TNA, FO, 371/37031. 48 Foreign Relations of the United States. 1943. The Conferences at Cairo and Tehran. Washington, 1961, S. 152. 49 Staff Meeting at American Embassy, Nov. 9, 1943, in: Library of Congress, W. A. Harriman Papers, Chronological Files, Cont. 170. 50 AVP RF, F. 059, op. 10, p. 18, d. 148, S. 174.

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fand seinen Niederschlag auch in anderen internen Dokumenten des sowjetischen Außenministeriums: Waren dessen Leiter der einzelnen Behörden im Vorfeld von einem günstigen Verlauf keineswegs überzeugt gewesen und hatte man sogar versucht, die sowjetische Urheberschaft dieser Zusammenkunft in Abrede zu stellen, so wurde das Treffen im bereits erwähnten Bericht Saksins als gelungene Initiative und großer Erfolg der sowjetischen Diplomatie dargestellt.51 Und so ist es auch kein Zufall, dass der berühmte, von Molotov nach Konferenzende veranstaltete diplomatische Empfang im Zeichen des neuen Geistes alliierter Verbrüderung stand. Zuvor hatte es in den Jahren des Krieges kein einziges diplomatisches Forum der Kriegsverbündeten gegeben, und nicht zuletzt in Anbetracht dieser Tatsache sollte die Moskauer Konferenz als nachhaltiger und einzigartiger Durchbruch in den alliierten Beziehungen in die Geschichte eingehen, der vor allem auf sowjetischer Seite lange ersehnt worden war. Übersetzung aus dem Russischen: Veronika Bacher

51 SSSR i germanskij vopros, S. 263; AVP RF, F. 06, op. 5b, p. 42, d. 44, S. 19.

Vladimir Švejcer

Die Moskauer Deklaration von 1943: Kommentare zur Position der UdSSR

Jedes beliebige diplomatische Dokument, das von einer Gruppe von Staaten geschaffen wird, hat unausweichlich den Charakter eines Kompromisses. Bei der Analyse einer solchen Quelle muss man nicht nur die Geschichte ihrer Erschaffung im Blick haben, sondern auch jene Ereignisse, welche die Autoren direkt veranlasst haben, sich zur gegebenen Frage zu äußern. Man darf auch nicht die konkrete zeitliche Situation außer Betracht lassen, die in diesem oder jenem Grad auf die Position der Ersteller des Dokuments einwirkte. Wenden wir uns dem ersten Satz der Moskauer Deklaration zu. Darin wurde die feste Überzeugung der Außenminister der UdSSR, Großbritanniens und der USA (zu ihnen gesellte sich danach auch Frankreich, vertreten durch seine Emigrationsregierung) geäußert, dass „Österreich, das erste freie Land, das der Hitler‘schen Aggression zum Opfer gefallen ist, von der deutschen Herrschaft befreit werden muss“.1 Der „Anschluss“ wurde für null und nichtig erklärt. Alles, was in Österreich nach dem 13. März 1938 geschehen war, hatte für die Alliierten keinerlei politische Bedeutung. Offensichtlich war hier eine Andeutung auf die am 2. April 1938 stattgefundene gesamtdeutsche Volksabstimmung enthalten, bei der mehr als 99 Prozent der daran teilnehmenden Bürger Deutschlands, inklusive auch der ehemaligen Österreicher, ihre Zustimmung zum „Anschluss“ geäußert hatten. Die zitierte Passage kann man als indirektes, wiewohl auch klar verspätetes Eingeständnis jener ungenauen, unakzentuierten Position der Großmächte zum Zeitpunkt der Hitler’schen Annexion Österreichs ansehen. In der sowjetischen Geschichtsschreibung der 1950er- bis 1980er-Jahre wurde der Gedanke hervorgehoben, nach dem die UdSSR die erste entschlossene Kritikerin des „Anschlusses“ gewesen sei. Dieser Meinung waren nicht nur Historiker, sondern auch prominente Repräsentanten der Sowjetunion. Im Vorwort zum 1980 vom Außenministerium der UdSSR herausgegebenen Sammelband „SSSR – Avstrija 1938–1979“ („UdSSR – Österreich 1938–1979“) 1

Ministerstvo inostrannych del SSSR (Hg.), SSSR – Avstrija 1938–1979 gg. Dokumenty i materialy. Predislovie člena Politbjuro CK KPSS ministra inostrannych dela SSSR A. A. Gromyko. Moskau 1980, S. 15.

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erklärte der damalige Außenminister Andrej A. Gromyko Folgendes: „Die Sowjetunion verurteilte als Erste und mit aller Entschiedenheit die Verbrechen des Faschismus, die in Bezug auf die Republik Österreich verübt worden sind, und forderte die anderen Staaten auf, kollektiv zum Schutz seiner Unabhängigkeit und Souveränität aufzutreten.“2 Das einzige Dokument, auf dessen Grundlage Gromyko eine solche Schlussfolgerung ziehen konnte, war die im Sammelband veröffentlichte Erklärung des damaligen Volkskommissars für auswärtige Angelegenheiten Maksim M. Litvinov, die über diplomatische Kanäle an Großbritannien, Frankreich, die Tschechoslowakei und die USA übermittelt worden war. In dieser Erklärung wurde der „Anschluss“ nicht als eigenständiges und außergewöhnliches Ereignis des damaligen internationalen Lebens betrachtet, sondern als Illustration des Fehlens eines Systems der kollektiven Sicherheit in Europa. Im Grunde wurde dem „Anschluss“ lediglich ein Satz in der Mitte der Erklärung gewidmet. Anhand der sowjetischen Mahnungen anlässlich der internationalen Passivität in Bezug auf verschiedene aggressive Handlungen dieser Zeit (ein deutlicher Verweis auf die Okkupation Abessiniens durch Italien und den Beginn der japanischen Invasion in China) wies Litvinov auf Folgendes hin: „Neue Belege erhielten sie durch den vollzogenen militärischen Einmarsch in Österreich und die gewaltsame Beraubung des österreichischen Volkes seiner politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Unabhängigkeit.“3 Halten wir fest, dass in dem Absatz der Erklärung des Außenamtes der Aggressor nicht beim Namen genannt wurde. Auch wurde der Faschismus nicht als Ideologie und Politik einer aggressiven Macht verurteilt. Es gibt auch keine Bestätigung der These von Gromyko über einen vermeintlich vernehmbaren Aufruf an die internationale Gemeinschaft, kollektiv zum Schutz der Unabhängigkeit und Souveränität Österreichs aufzutreten.4 Dafür gibt es bei Litvinov eine sowohl der Form als auch dem Inhalt nach äußerst verschwommene Passage, der zufolge die UdSSR bereit sei, an einem kollektiven Widerstand gegen den ungenannten Aggressor, der ein nicht genanntes Land angegriffen habe, teilzunehmen, „sogar wenn sich ihre Beziehungen mit dem Aggressor dadurch unausweichlich verschlechtern“.5 Möglich, dass es gerade der letzte Umstand nicht erlaubte, die Dinge beim Namen zu nennen, unverzüglich die Aggression im Völkerbund zur Sprache 2 3 4 5

Ebd., S. 6. Ebd., S. 14. Ebd., S. 6. Ebd., S. 13.

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zu bringen oder zumindest eine Protestnote an die deutsche Regierung zu schicken. Konnte man solche entschiedenen Schritte erwarten in einer Zeit der rasanten Entwicklung der wirtschaftlichen Beziehungen der UdSSR mit Deutschland und der beginnenden Zusammenarbeit auf politischer Ebene, die eineinhalb Jahre nach dem „Anschluss“ zum berüchtigten „Molotov-Ribbentrop-Pakt“ führte? Übrigens wurde Letzterer im Gebäude der österreichischen Botschaft unterschrieben, die bald nach dem „Anschluss“ an Deutschland übergeben worden war. Ihre negative Einstellung zum „Anschluss“ drückte die UdSSR lediglich im Herbst 1938 in einer kollektiven Erklärung im Völkerbund (UdSSR, China, Spanien und Chile) aus, was selbstverständlich für den Aggressor keinerlei praktische Bedeutung hatte. Der Objektivität halber muss gesagt werden, dass die westlichen Mitverfasser der Moskauer Deklaration, die bereits im März 1938 moralisch und politisch den Weg der „Besänftigung“ mit dem Aggressor eingeschlagen hatten, ihre Einstellung zum „Anschluss“ überhaupt nicht äußerten. Die ersten Anzeichen von Besorgnis tauchten bei ihnen erst nach Beginn der heißen Phase des Zweiten Weltkrieges auf. Offenbar unter dem Einfluss der im Herbst 1940 begonnenen Bombardierungen Großbritanniens nannte Winston Churchill Österreich als das Erste unter jenen Ländern, für deren Unabhängigkeit die Briten vorhätten zu kämpfen. Franklin D. Roosevelt erinnerte sich an das Schicksal Österreichs, nachdem die USA durch die Japaner in Pearl Harbour eine ernsthafte militärische und moralische Niederlage erlitten hatten. Der 22. Juni 1941 wurde auch zur Stunde der „Neubewertung der Wertigkeiten“. Nicht sofort, aber ein halbes Jahr später äußerte Josef Stalin gegenüber Anthony Eden, dem britischen Außenminister, den Wunsch, Österreich als unabhängigen Staat zu sehen.6 Allerdings traten, wie die Kollisionen rund um das Unterzeichnen der Moskauer Deklaration zeigten, auch unvereinbare Positionen der Verbündeten in der Anti-Hitler-Koalition deutlich zutage, wobei in der ersten Phase der Vorbereitungen der gemeinsamen Erklärung die Initiative klar der britischen Diplomatie gehörte. Die UdSSR wählte die Taktik, Korrekturen in den Entwurf einzubringen, der vom Außenministerium Großbritanniens bereits im Sommer 1943 vorbereitet worden war. Eine Schlüsselfrage, bei der die Seiten in ihren Meinungen sichtlich nicht übereinstimmten, war der Vorschlag Churchills zur Vereinigung einiger Länder nach geografischem Prinzip („Donauföderation“). Für Churchill hatte dieser Plan eine zweifache Bedeutung: Vor allem würde seine Idee von der 6

Siehe dazu auch die Beiträge von Aleksej Filitov sowie Walter M. Iber und Peter Ruggenthaler in diesem Band.

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Zertrümmerung Deutschlands realisiert, dessen südlicher Teil in eine solche Konstruktion eingegangen wäre. Zudem würde man damit auch einen „Cordon sanitaire“ entlang der westlichen Grenzen der UdSSR schaffen. Die UdSSR konnte sich weder mit dem einen noch mit dem anderen einverstanden erklären. Stalin wollte, dass das vom Nationalsozialismus befreite Deutschland in historischer Hinsicht ein Gegengewicht zur britischen Hegemonie in Europa bliebe.7 In Moskau sah man in einer „Donauföderation“ aber ein Hindernis für die Formierung eines Machtblocks von Staaten in nächster Zeit (d. h. nach dem Sieg), die der UdSSR sowohl politisch als auch ideologisch nahestanden. Die Ereignisse der Jahre 1947 und 1948 in den Ländern Osteuropas, die Gründung des „Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe“ (RGW) und des Warschauer Paktes bestätigten den strategischen Weitblick Stalins und seiner Umgebung. So wie Churchill die Souveränität von Staaten im Rahmen von Konföderationen begrenzen wollte, was indirekt die britische Vormachtstellung bedeutet hätte, trat Stalin als Befürworter der Bewahrung der Staatlichkeit auf. Wie bekannt, setzte die sowjetische Diplomatie die Tilgung der Worte der „associations“ als Existenzform der vom Nationalsozialismus befreiten Staaten aus dem britischen Entwurf der Deklaration durch. Die inoffiziell in Washington verlautbarte Idee über die Neuerrichtung der Habsburgermonarchie in bedeutend eingeschränkter Form wurde nicht einmal in Betracht gezogen. Dennoch lässt sich beim aufmerksamen Durchlesen der Deklaration ein Element des Kompromisses der Alliierten zurückverfolgen: „Sie geben ihrem Wunsch Ausdruck, ein freies und unabhängiges Österreich wiederhergestellt zu sehen und dadurch dem österreichischen Volk selbst, ebenso wie anderen benachbarten Staaten, vor denen ähnliche Probleme stehen werden, die Möglichkeit zu geben, diejenige politische und wirtschaftliche Sicherheit zu finden, die die einzige Grundlage eines dauerhaften Friedens ist.“8 Mit Rücksicht darauf, dass die „benachbarten Staaten“ Bestandteil von Churchills „Donauföderation“ waren und man das Wort „finden“ als Suche nach Alternativen, darunter auch zwischenstaatliche Bündnisse, interpretieren kann, so nimmt sich diese ganze schwammige Phrase wie ein gewisser, möglicherweise temporärer, aber gemeinsamer Nenner der Positionen der Alliierten in der Anti-Hitler-Koalition aus.

7 8

Siehe dazu die konträre Einschätzung von Stalins Politik im Beitrag von Jochen Laufer in diesem Band. Ministerstvo inostrannych del SSSR (Hg.), SSSR – Avstrija 1938–1979 gg, S. 15.

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Den Charakter eines Kompromisses hinter den Kulissen trug auch der letzte Teil der „Deklaration über Österreich“ in sich: „Österreich wird jedoch darauf aufmerksam gemacht, dass es für die Beteiligung am Kriege aufseiten Hitler-Deutschlands die Verantwortung trägt, der es nicht entgehen kann, und dass bei der endgültigen Regelung unvermeidlich sein eigener Beitrag zu seiner Befreiung berücksichtigt werden wird.“9 Die erste Hälfte dieses Absatzes sprach in der britischen Variante von der Verantwortung des „österreichischen Volkes“. Die sowjetischen Einwände hatten, wie sie sich uns darstellen, vor allem ideologischen Charakter, da gemäß dem marxistisch-leninistischen Kanon die Völker als solche nicht die Verantwortung für die Handlungen ihrer Führung tragen. Aber im österreichischen Fall wurde darunter auch die Teilnahme von Militärangehörigen der Wehrmacht, die aus Österreich einberufen worden waren, an Kampfhandlungen verstanden, vor allem gegen die sowjetische Armee. Dies dem ganzen österreichischen Volk anzulasten, wäre ungerecht. Anstelle von „Volk“ den Begriff „Staat“ zu verwenden, war nicht ideal, da am Anfang des Dokuments Österreich als Opfer der Hitleraggression bezeichnet wurde und juristisch nach dem 13. März 1938 aufgehört hatte zu bestehen. Das Wesen dieser auf den ersten Blick rein redaktionellen Veränderung kann man bei der Analyse des zweiten Teils des letzten Absatzes der Deklaration verstehen. Da die Alliierten fest entschlossen waren, die österreichische Staatlichkeit wiederherzustellen, musste sich das neue Österreich nicht nur für seine Beteiligung an der NS-Aggression gegen Europa verantworten, sondern auch seinen Beitrag zur eigenen Befreiung leisten. Aber worin sollte sich dies ausdrücken? Österreich hatte etwa im Gegensatz zu einer Reihe der von Deutschland okkupierten Staaten keine Exilregierung. Es gab in Österreich auch nicht sonderlich viele bemerkbare Versuche, eine Widerstandsbewegung zu schaffen. Einzelne Widerstandsgruppen traten zwar in Erscheinung, allerdings waren sie Ende 1943 in ihrer Größenordnung nicht mit dem vergleichbar, was bei den Nachbarn Italien und Jugoslawien vor sich ging. Offenbar rechneten die Alliierten also doch damit, dass ihre Deklaration irgendwie den Untergrund zu einer aktiveren Tätigkeit anregen würde. Sowohl die Briten und Amerikaner ihrerseits als auch die Sowjetunion rechneten damit, dass in der Folge politische Figuren in Erscheinung treten würden, die fähig wären, die Schaffung eigener Machtstrukturen, freilich unter der Kontrolle der Alliierten und unter Bedingungen einer Anti-Anschluss-Politik, in Angriff zu nehmen. Zu dieser Zeit standen nämlich bereits Pläne zur Schaffung von Besatzungszonen auf dem Territorium Deutschlands zur Diskus9 Ebd.

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sion. Man konnte ja mit jenem Land kaum anders verfahren, das einerseits Opfer des Nationalsozialismus war und andererseits Verantwortung für den Krieg Deutschlands gegen die europäischen Völker trug. Festzuhalten ist, dass der These über die „zwiespältige Lage“ Österreichs in der sowjetischen Auslegung die bekannte Entwicklung widerfuhr. So gab der Kriegsrat der 3. Ukrainischen Front während des Einmarsches der sowjetischen Truppen auf das Territorium Österreichs einen Aufruf an die Militärangehörigen der vorrückenden Einheiten der Roten Armee aus, in dem im Geist der zuvor zitierten Passagen der „Moskauer Deklaration“ angemerkt wurde: „Österreich ist das erste Land, das von den Nationalsozialisten noch 1938 erobert worden ist und das von den Faschisten in einen wichtigen Stützpunkt ihres räuberischen Staates umgewandelt worden ist.“10 Auf die Moskauer Deklaration selbst wurde ohne den Verweis auf den „eigenen Beitrag“ Österreichs zu seiner Befreiung Bezug genommen. Die Zerschlagung der „faschistischen Unterdrücker“ galt ausschließlich als der Roten Armee zu verdankendem Werk, was dem „österreichischen Volk“ die Möglichkeit gegeben hätte, „ein freies und unabhängiges Österreich wiederhergestellt zu sehen“.11 Abschließend ist festzustellen, dass die Sowjetunion während des Krieges vom Westen, vor allem von Großbritannien, die Initiative in der „österreichischen Frage“ übernommen hat. Die Erfolge der sowjetischen Truppen 1943 erlaubten es der sowjetischen Diplomatie, das Problem der Wiederherstellung eines unabhängigen Österreichs von der zukünftigen Lösung der deutschen Frage abzutrennen und die Pläne zu einer „Donauföderation“ zunichtezumachen. Die Auszehrung des Potenzials des interalliierten Zusammenwirkens bis zum Sommer 1945 brachte Österreich der Erlangung einer völligen Souveränität nicht näher, sondern verzögerte sie um zehn Jahre. Die UdSSR wurde letztlich zu einem eigenständigen und ausreichend starken Spieler in den schwierigen Verstrickungen bei der Etablierung der Zweiten Republik Österreich. Übersetzung aus dem Russischen: Veronika Bacher

10 Siehe dazu auch den Beitrag von Barbara Stelzl-Marx in diesem Band. 11 Ministerstvo inostrannych del SSSR (Hg.), SSSR – Avstrija 1938–1979 gg, S. 16.

Manfred Wilke

Das Deutsche Reich und das militärische Wendejahr des Zweiten Weltkrieges

Stalingrad, die Kapitulation der Reste der 6. Armee an der Wolga, stehen am Anfang dieses Wendejahres des Krieges für das Deutsche Reich. Das Ende des Kessels von Stalingrad fiel zusammen mit den Feiern zum zehnten Jahrestag der „Machtergreifung“ Hitlers – er war am 30. Januar 1933 Reichskanzler geworden. Die Sommeroffensive der deutschen Wehrmacht in der Sowjetunion 1942 hatte im Rückzug aus dem Kaukasus und in der Katastrophe von Stalingrad geendet.1 Mit der Niederlage an der Wolga scheiterte die strategische Zielsetzung von Hitlers „Russland-Feldzug“: die Eroberung von „Lebensraum“ für Deutschland und die Unterwerfung der „slawischen Untermenschen.“ Stalingrad war der Wendepunkt des Krieges. Die Schlacht offenbarte auch ein Grundproblem der militärischen Kriegsführung NS-Deutschlands. Hitler als oberster Befehlshaber der Wehrmacht beharrte bei strategischen Entscheidungen an den Fronten auf seiner Befehlsgewalt. In Stalingrad verweigerte er sein Einverständnis zum Ausbruch der eingeschlossenen Armee zu Beginn der Kesselschlacht. Generaloberst Friedrich Paulus und sein Stab gehorchten wider besseres militärisches Wissen und hielten die Trümmer der Stadt. Die zugesagte Versorgung der eingeschlossenen Truppen durch die Luftwaffe scheiterte schon an der viel zu geringen Zahl von Transportflugzeugen. Dieses Grundmuster von Stalingrad: „Führer befiehl – wir sterben für dich!“ sollte bis zum Kampf um Berlin für die Generäle der Wehrmacht gelten und bestimmte allzu oft ihre taktischen Entscheidungen an der Front. Die Zahl der Offiziere, die bereit waren, sich militärisch unsinnigen Befehlen des Diktators zu widersetzen, war klein.2 Die Zahl derjenigen, die bereit waren zum aktiven Widerstand um der Zukunft Deutschlands willen, war noch kleiner. Nach 1943 blieb als Handlungsoption für den militärischen Wider1

2

Zur Schlacht in Stalingrad siehe Wolfram Wette – Gerd R. Ueberschär (Hg.), Stalingrad. Mythos und Wirklichkeit einer Schlacht. 5. Aufl. Frankfurt am Main 2012; Antony Beevor, Stalingrad. Niedernhausen 2002. Zum Widerstand siehe Peter Steinbach – Johannes Tuchel (Hg.), Widerstand gegen die nationalsozialistische Diktatur 1933–1945. Berlin 2004; Wolfgang Benz – Walter H. Pehle (Hg.), Lexikon des deutschen Widerstandes. 2., durchges. Aufl. Frankfurt am Main 1994.

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stand nur der Tyrannenmord. Oberst Claus Graf Schenk von Stauffenberg wagte ihn am 20. Juli 1944;3 das Attentat misslang, blieb aber ein Fanal des Widerstandes und demonstrierte der Welt: Das „andere Deutschland“, das der Hitlergegner, existierte. Am Verlauf des Krieges vermochte die innerdeutsche Opposition aber nichts zu ändern; es waren die alliierten Armeen, die Deutschland von den Nationalsozialisten befreiten. Der Preis, den die Deutschen dafür bezahlten, war hoch; Deutschland lag in Trümmern, verlor seine Ostgebiete und seine Souveränität. Es folgten 45 Jahre der Teilung des Landes.4 Stalingrad war 1943 der Auftakt zur Niederlage zu Lande, zu Wasser und in der Luft. Die Kriegsmarine verlor den U-Boot-Krieg im Atlantik im Frühjahr 1943, sie war nicht mehr in der Lage, die Versorgung Großbritanniens und die Truppentransporte amerikanischer Soldaten auf die Insel zur Vorbereitung der alliierten Landung in Frankreich ernsthaft zu stören oder gar zu verhindern.5 Die nächste deutsche Armee, die Hitler opfern musste, war jene, die an der Seite der italienischen Armee in Nordafrika kämpfte. Anfang Mai 1943 gingen in Tunis ca. 275.000 italienische und deutsche Soldaten in die Kriegsgefangenschaft. Mit der Sommeroffensive im Osten versuchte die Wehrmacht am Kursker Bogen, die strategische Initiative in der Sowjetunion wiederzugewinnen. Die Panzerschlacht von Kursk führte nicht zum Erfolg. Während diese Schlacht noch tobte, mussten deutsche Truppen aus der Sowjetunion abgezogen werden, um Italien zu besetzen. Die strategische Initiative im Osten lag nun bei der Roten Armee, und die Rückzugsschlachten – die im Kampf um die Reichskanzlei in Berlin enden sollten – begannen. Am 10. Juli 1943 landeten britische und US-amerikanische Truppen erfolgreich in Sizilien. Der aus Hannover stammende amerikanische Historiker Gerhard L. Weinberg fasste die Bedeutung dieser Operation für die deutsche Kriegsführung zusammen: „Weil die Landung auf Sizilien stattfand, als die Schlacht um Kursk in die entscheidende Phase eintrat, konnten sie [...] die Entscheidung der Deutschen beeinflussen, alle offensiven Einsätze an der Ostfront zu beenden. So konnten alle Verstärkungen – Truppen und Flug3

4 5

Gerd R. Ueberschär, Stauffenberg. Der 20. Juli 1944. Frankfurt am Main 2004; Peter Hoffmann, Stauffenberg und der 20. Juli 1944. 2. Aufl. München 2007; Ian Kershaw, Luck of the devil. The story of Operation Valkyrie. London 2009. Manfred Wilke, Der Weg zur Mauer – Stationen der Teilungsgeschichte. Berlin 2011. Werner Rahn, Der Seekrieg im Atlantik und Nordmeer, in: Militärgeschichtliches Forschungsamt (Hg.), Der Globale Krieg. Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg. Bd. 6, Stuttgart 1990, S. 275–425.

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zeuge – nach Italien und auf den Balkan geschickt werden.“6 Führende italienische Militärs erkannten, dass nach der katastrophalen Niederlage in Nord­ afrika und an der Ostfront – in Stalingrad wurden auch italienische Truppen eingekesselt – nur noch deutsche Truppen Italien verteidigen konnten. Die Mehrheit im faschistischen Großrat wählte einen anderen Ausweg: Die ehemaligen Mitstreiter setzten Benito Mussolini ab, und die neue Regierung kapitulierte vor den Alliierten. Hitler hatte das Vorbild seines Aufstiegs zur Macht, den „Duce“, als Garanten des Bündnisses mit Italien verloren. Für Winston Churchill war mit Mussolini einer der „Hauptschuldigen an diesem trostlosen Krieg“ gestürzt worden und damit zugleich „der Schlussstein des faschistischen Gewölbes“7 über Italien eingestürzt, für ihn ein wichtiger Schritt zum Sieg. Deutsche Truppen besetzten das Land des ehemaligen Verbündeten und mussten nun in Italien gegen britische und amerikanische Truppen kämpfen. 1939 hatte Hitler den Nichtangriffspakt mit der Sowjetunion geschlossen, um den Fehler der deutschen Führung im Ersten Weltkrieg zu vermeiden, den Krieg an zwei Fronten führen zu müssen. Nun musste er ihn nicht nur in der Luft und auf See, sondern auch als Landkrieg führen. Wenn die Anglo-Amerikaner auch erst im Juni 1944 in Frankreich landeten, so kämpften ihre Luftwaffen bereits 1943 um die Lufthoheit über Deutschland und Westeuropa. Zwischen Amerikanern und Briten gab es eine Arbeitsteilung. Mit Flächenbombardements griffen die Briten in der Nacht systematisch deutsche Städte an, um wie 1943 ganze Stadtviertel in Hamburg auszulöschen. Die US Air Force wählte eine andere Form des Bombenkrieges, sie griff am Tag strategische Ziele der deutschen Rüstungswirtschaft oder Verkehrsknotenpunkte an, um sie zu zerstören. Die deutsche Luftabwehr war diesem Bombenkrieg nicht gewachsen und die Heimatfront wurde zum Kriegsschauplatz. Zu Beginn des Krieges hatte Reichsmarschall Hermann Göring geprahlt: Wenn nur ein feindlicher Bomber Deutschland erreiche, wolle er Meier heißen! Im Gegensatz zu Hitler besuchte Göring gelegentlich die zerstörten Städte, während sich der „Führer“ mit seinem Lieblingsarchitekten Albert Speer in die Luftschlösser des Wiederaufbaus der Städte nach dem „Endsieg“ flüchtete. Die deutsche Kriegswirtschaft wurde durch den Bombenkrieg nicht nachhaltig lahmgelegt. Mit der Umleitung von deutschen Arbeitskräften in die Betriebe, die für die Front arbeiteten, und den in den besetzten Gebieten Frank6 7

Gerhard L. Weinberg, Eine Welt in Waffen. Die globale Geschichte des Zweiten Weltkrieges. Stuttgart 1995, S. 636. Winston S. Churchill, Reden in Zeiten des Krieges. Hamburg – Wien 2002, S. 170.

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reichs, der Niederlande und Belgiens angeworbenen „Fremdarbeitern“ und den rekrutierten Zwangsarbeitern in Osteuropa gelang es, die Produktion von Waffen und Kriegsausrüstung noch zu steigern.8 Die Sklavenarbeit von KZ-Häftlingen wurde u. a. zum Bau unterirdischer Stollen für die Unterbringung kriegswichtiger Betriebe genutzt, um sie vor Luftangriffen zu schützen.9 Technisch blieb die deutsche Rüstungsindustrie innovativ: Die Flugzeugbauer entwickelten den ersten einsatzfähigen Düsenjäger, und in Peenemünde gelang mit dem Start der ballistischen Rakete A4 im Oktober 1942 der erste Schritt des Menschen in den Weltraum. Der Einsatz dieser Rakete 1944, welche die Propaganda als „Vergeltungswaffe 2“ (V2) und als „Wunderwaffe“ für den „Endsieg“ pries, konnte am Kriegsverlauf aber nichts mehr ändern.10 „Wollt Ihr den totalen Krieg?“ Der Schock der Niederlage an der Wolga trieb vor allem den Reichspropagandaminister Joseph Goebbels um; er sorgte sich um die Kriegsmoral der Deutschen. Die NSDAP-Führer hatten alle das Ende des Ersten Weltkrieges 1918 vor Augen, als meuternde Matrosen der Kriegsmarine und streikende Arbeiter den Waffenstillstand erzwangen. Die demagogische Agitation Hitlers gegen die demokratischen Politiker der Weimarer Republik brandmarkte diese als „Novemberverbrecher.“ Die Konservativen, die Soldatenverbände und die Nationalsozialisten behaupteten, namentlich Sozialdemokraten und Kommunisten hätten der im Feld „unbesiegten Truppe“ hinterrücks den „Dolchstoß“ versetzt. Die deutsche Gesellschaft der Weimarer Republik, zumal ihre Eliten, gestand sich die militärische Niederlage gegen die Amerikaner, die Briten und die Franzosen nicht ein – einer der Gründe, warum Hitlers Aufrüstung und sein Revanchekrieg bei ihnen auf Zustimmung stießen. Goebbels wusste: Die Niederlage von Stalingrad musste dem Volk nicht nur erklärt werden; er wollte sie nutzen, um eine neue ideologische Mobili8

Ulrich Herbert, Fremdarbeiter. Politik und Praxis des „Ausländer-Einsatzes“ in der Kriegswirtschaft des Dritten Reiches. Bonn 1999; Mark Spoerer, Zwangsarbeit unter dem Hakenkreuz. Ausländische Zivilarbeiter, Kriegsgefangene und Häftlinge im Deutschen Reich und im besetzten Europa 1939–1945. Stuttgart – München 2001. 9 Hermann Kaienburg, Die Wirtschaft der SS. Berlin 2003; Walter Naasner, SS-Wirtschaft und SS-Verwaltung. Das SS Wirtschafts-Verwaltungshauptamt und die unter seiner Dienstaufsicht stehenden wirtschaftlichen Unternehmungen und weitere Dokumente. Düsseldorf 1998. 10 Siehe zuletzt Volkhard Bode – Gerhard Kaiser, Raketenspuren. Peenemünde 1936– 2000. Berlin 2009; Michael B. Petersen, Missiles for the Fatherland. Peenemünde, National Socialism, and the V-2 Missile. Cambridge 2009.

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sierung für den Kriegseinsatz in Deutschland auszulösen. Dazu sollte auch die Forderung nach bedingungsloser Kapitulation der Achsenmächte herhalten, die Franklin D. Roosevelt und Winston Churchill inzwischen bei ihrem Gipfeltreffen in Casablanca erhoben hatten. Übersetzt bedeutete diese Forderung für Hitler und Goebbels, mit der NS-Führung würden die Westmächte nicht mehr verhandeln, sie verlangten die Kapitulation und das uneingeschränkte Ende der nationalsozialistischen Diktatur in Deutschland. Goebbels verstand die Botschaft: Das war der Untergang des Nationalsozialismus. Aus dieser Perspektive ergab sich für den Reichspropagandaminister die Stoßrichtung seiner Rede an das deutsche Volk. „Ihm schwebte dabei vor, mit einer gewaltigen Kundgebung der schockierten deutschen Öffentlichkeit in aller Eindringlichkeit die Alternative ,Sieg oder Untergang‘ vor Augen zu führen.“11 Goebbels glaubte vermutlich Ende Januar 1943, „dass der ,Endsieg‘ nach wie vor errungen werden könnte, sofern nur die richtigen Maßnahmen ergriffen würden“.12 Nach Stalingrad lag für den großen Demagogen die vordringliche Aufgabe darin, die „Schicksalsgemeinschaft“ zwischen der Hitlerpartei und dem deutschen Volk auf Gedeih und Verderb zu befestigen. Fanatischen Kampfeswillen, nicht verzagten Defätismus sollten die Toten der 6. Armee in Deutschland auslösen. Goebbels hielt die demagogische „Meisterrede“ am 18. Februar 1943 im Berliner Sportpalast vor ausgesuchtem Publikum. Sie wurde vom Reichsrundfunk übertragen. Die Wochenschau filmte den Redner und die Reaktion des Publikums. Für Goebbels war Stalingrad keine Niederlage. Die Toten von Stalingrad wurden in Goebbels Worten zum „großen Alarmruf des Schicksals“ und zum Symbol für den Heldenkampf gegen den „Ansturm der Steppe“, jener „grauenerregenden geschichtlichen Gefahr“, die „alle bisherigen Gefährdungen des Abendlandes weit in den Schatten stellt“. Die „vorstürmenden Sowjet­ truppen“ bereiteten den „jüdischen Liquidationskommandos“ den Weg. In allen Variationen breitete Goebbels das Schreckensszenario aus, um nämlich den angeblichen Terror durch Gegenterror brechen zu wollen. Es müsse jetzt ein Ende haben mit den „bürgerlichen Zimperlichkeiten“, brachte es Goebbels mit überpointierter Stimme auf den Punkt, um nach tosendem Applaus zu seiner Forderung, dem totalen Krieg, überzuleiten. Er sei „das Gebot der Stunde“.13 Der Redner verkehrte die Niederlage in Stalingrad „in eine positive Fügung des Schicksals“ um, durch die das deutsche Volk sogar „geläu11 Ralf Georg Reuth, Goebbels. München 1990, S. 515. 12 Ebd., S. 514. 13 Ebd., S. 519.

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tert“ wurde. „Erst das ,Heldenopfer‘ Stalingrad machte seiner Auffassung zufolge den Weg frei zur Erlösung verheißenden Erkenntnis, dass nur der unerschütterliche Wille zum totalen Krieg zum ,Endsieg‘ führe. Stalingrad erhielt dieser Logik zufolge eine ,ausschlaggebende geschichtliche Bedeutung‘. ,Es war nicht umsonst. Wofür – das wird die Zukunft zeigen‘.“14 Die Kamera hielt den Höhepunkt dieser Veranstaltung fest – die besinnungslose Zustimmung zu Goebbels demagogischer Frage: „Wollt ihr den totalen Krieg, wenn möglich noch totaler und radikaler als wir ihn uns heute vorstellen können?“ Die Verführten akklamierten besinnungslos dem Todesurteil auch über viele Landsleute. Der Filmausschnitt mit der für heutige Zuschauer erschreckenden Brutalität und Menschenverachtung hatte für die NS-Führung an diesem Wendepunkt des Krieges durchaus seinen Sinn. „Bürgerliche Zimperlichkeit“ hatte die Politik der Nationalsozialisten nie ausgezeichnet, sie setzten nach innen wie nach außen auf Gewalt und Terror. Diese Methoden wurden durch diese Rede für den „Endkampf“ um das Reich neu begründet. Die ersten Opfer, die den tödlichen Ernst dieser Worte zu spüren bekamen, waren die europäischen Juden, deren Ermordung unerbittlich vorangetrieben wurde.15 Von der Eroberung von „Lebensraum“ war nach Stalingrad keine Rede mehr, der Begriff von der Festung Europa, die das Deutsche Reich gegen den Bolschewismus verteidigte, trat in der Propaganda an ihre Stelle. Casablanca und Teheran – bedingungslose Kapitulation der Achsen­ mächte und die Grenzen der Nachkriegsordnung Nach der Landung US-amerikanischer Truppen in Nordafrika trafen sich der britische Premierminister Churchill und der US-amerikanische Präsident Franklin D. Roosevelt zu einem Gipfeltreffen in Casablanca. In Washington und London waren die Regierungen davon überzeugt, „dass der Krieg mit der Kapitulation der Feindmächte enden müsse“.16 Churchill bestand vor allem gegenüber Deutschland auf einer bedingungslosen Kapitulation; dies sei für den Frieden der Welt notwendig. Die Formel von Casablanca von der bedingungslosen Kapitulation schloss jegliche Friedensverhandlungen mit dem Deutschen Reich aus. Die bedingungslose Kapitulation würde den Sie-

14 Ebd. 15 Siehe zuletzt die bisher bis Band 8 erschienene Aktenedition des Instituts für Zeitgeschichte: Götz Aly u. a. (Hg.), Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933–1945. 8 Bde. München 2008–2014. 16 Weinberg, Eine Welt in Waffen, S. 475.

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germächten auch das Recht einräumen, über das deutsche Staatsgebiet frei zu verfügen, Teile abzutrennen, den deutschen Staat aufzugliedern und Teilstaaten zu gründen. In ihren Planungen für eine neue europäische Friedensordnung nach dem Krieg gingen die Staaten der Anti-Hitler-Koalition von den deutschen Grenzen des Jahres 1937 aus. Alle Grenzrevisionen des Deutschen Reiches ab 1938 wurden für null und nichtig erklärt. Damit wurden sowohl der „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich als auch die Abtrennung des Sudetenlandes von der tschechoslowakischen Republik aufgehoben. Diese Grundsatzposition der Hauptmächte der Anti-Hitler-Koalition war die Grundlage für die Moskauer Deklaration zu Österreich in Moskau 1943. Ein ganz anderes Grenzproblem zwischen den Kriegsalliierten warf die Teilung Polens von 1939 auf. Zur Unterstützung Polens waren Frankreich und Großbritannien 1939 in den Krieg gegen das Deutsche Reich gezogen. Die Wiederherstellung Polens als unabhängiger Staat war ein erklärtes Kriegsziel Großbritanniens, aber auch der USA; die Frage war nur, in welchen Grenzen. Nach dem Überfall auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 wurden die Sowjetunion und Großbritannien Verbündete. Im Dezember 1941 „verhandelte“ Stalin mit dem britischen Außenminister Anthony Eden über die Einflusssphären im Nachkriegseuropa. Er forderte von der britischen Seite vor allem die Anerkennung der sowjetischen Westgrenze vom 22. Juni 1941. Darüber sollte die Regierung in London „sofort entscheiden“17 und, wenn möglich, die Zustimmung der US-Regierung ebenfalls einholen. Zuvor hatte Stalin Eden den Entwurf eines Vertrages über die Lösung von Nachkriegsproblemen übergeben, der sich auch mit den Grenzen Polens befasste. Mit Blick auf Deutschland schlug Stalin vor: „Die Westgrenze Polens solle Ostpreußen und den Korridor einschließen, wobei die deutsche Bevölkerung dieser Gebiete nach Deutschland evakuiert werden solle.“ Die Ostgrenze zur Sowjetunion solle im Wesentlichen der Curzonlinie folgen. Als die deutschen Truppen noch vor Moskau kämpften, war es Stalins geopolitisches Ziel, Deutschland langfristig zu schwächen, „in erster Linie durch Abtrennung der Rheinprovinz mit ihrem Industriegebiet vom restlichen Preußen“. Für ihn stand auch fest, „Österreich sollte als unabhängiger Staat wiederhergestellt werden“.18

17 AVP RF, F. 048, op. 48, p. 431, d. 10, S. 34–50, Unterredung zwischen Stalin und Eden, 16.12.1941, abgedruckt in: Jochen Laufer – Georgij P. Kynin (Hg.), Die UdSSR und die deutsche Frage 1941–1948. Bd. 1: 22. Juni 1941 bis 8. Mai 1945. Berlin 2004, S. 19–30, hier: S. 24. 18 Ebd., S. 19–21.

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Die Moskauer Außenministerkonferenz 1943

Eden konnte in Moskau diese Forderungen nur entgegennehmen und für die Tagesordnung einer Friedenskonferenz notieren. Die entscheidende Konferenz der Anti-Hitler-Koalition fand Ende November/Anfang Dezember 1943 in Teheran statt. Hier trafen sich Churchill, Roosevelt und Stalin, um die militärischen Operationen der Alliierten im Jahr 1944 abzusprechen. Hauptthema war die Landung der Westalliierten in Frankreich 1944 und damit die Eröffnung der von Stalin lange geforderten „Zweiten Front“. In Teheran sprach nun Churchill gegenüber Stalin die Frage der polnischen Grenzen an; die sowjetische Regierung hatte die Beziehungen zur polnischen Exilregierung in London im April 1943 abgebrochen. Anlass war die Kontroverse zwischen der polnischen Exilregierung und der Sowjetunion über die Schuldigen an dem Mord an den polnischen Offizieren, die 1939 in Gefangenschaft geraten und in den Massengräbern von Katyn verscharrt worden waren. Die Wehrmacht begann am 18. Februar 1943, also parallel zu Goebbels Rede über den totalen Krieg, mit der Exhumierung der Erschossenen von 1940. Die Sowjet­ union beschuldigte die Wehrmacht des Massenmordes, die polnische Exilregierung wusste es besser: Die sowjetische Geheimpolizei hatte ihn begangen.19 Zur Vorbereitung der Moskauer Außenministerkonferenz der UdSSR, der USA und Großbritanniens im Oktober 1943 notierte Vladimir G. Dekanozov, stellvertretender Volkskommissar für auswärtige Angelegenheiten: „Zur Frage der Staatsgrenzen zwischen der UdSSR und Polen. Wie seinerzeit die Regierung Sikorski nimmt auch die gegenwärtige polnische Regierung gegenüber der Sowjetunion eine feindselige Haltung ein. Haltung und Handeln der polnischen Regierung unterstützen nicht nur nicht den Kampf auf Leben und Tod, den die Sowjetunion mit Hitler-Deutschland führt, im Gegenteil, sie tragen Zwiespalt in die gemeinsame Sache der Alliierten hinein und festigen damit die Position ihrer Feinde. Daher kann die sowjetische Regierung der jetzigen polnischen Regierung kein Vertrauen entgegenbringen und sieht sich gezwungen, ihre Absicht zu revidieren, gewisse Konzessionen im Hinblick auf den Verlauf der Staatsgrenze zwischen der UdSSR und Polen zu machen.“20

Eine sowjetfreundliche Regierung Polens stand in Moskau außer Zweifel, mit der dann die Sowjetunion die Grenzfragen klären könnte. 19 Victor Zaslavsky, Klassensäuberung. Das Massaker von Katyn. Berlin 2007. 20 AVP RF, F. 06, op. 5b, p. 39, d. 6, S. 52–58, Aufzeichnungen von Dekanozov, 3.10.1943, abgedruckt in: Laufer – Kynin, Die UdSSR und die deutsche Frage, S. 170–176.

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In Teheran saßen die „Großen Drei“ zusammen, um den Krieg in Europa und in Asien siegreich zu Ende zu führen. Für die von ihnen geplante Neuordnung der europäischen Staatenwelt nach dem Sieg waren Polens Grenzfragen ein zentraler Stolperstein. Churchill griff diesen in Teheran am Schluss der Konferenz auf. Er kam auf Stalins Vorschlag vom Dezember 1941 zurück. Im Prinzip wurde beschlossen, dass der künftige polnische Staat zwischen der sogenannten Curzonlinie und der Oderlinie liegen sollte, unter Einbeziehung von Ostpreußen und der Provinz Oppeln. Stalin stimmte mit einer Einschränkung Churchills Vorschlag zu – er verlangte für die UdSSR den nördlichen Teil Ostpreußens, „die eisfreien Häfen Königsberg und Memel“.21 Zusammenfassend kann man feststellen: Das Jahr 1943 war für das Deutsche Reich die Wende des Krieges. Die Niederlage in diesem verbrecherischen Eroberungskrieg war nicht mehr aufzuhalten. Goebbels spürte die Wegkreuzung zum Untergang, die Stalingrad und Casablanca markierten. Mit seinem Aufruf zum totalen Krieg, den die Deutschen nun führen sollten, um den „Endsieg“ zu erzwingen, versuchte er dieses Kriegsende, den „Untergang“ abzuwenden. Mit dem Gipfeltreffen von Churchill und Roosevelt in Casablanca begannen die Planungen der Hauptmächte der Anti-Hitler-Koalition für die europäische Nachkriegsordnung. Auf der Außenministerkonferenz der drei Mächte in Moskau einigte man sich auf eine Europäische Beratende Kommission (EAC), bestehend aus den Vertretern der USA, Großbritanniens und der Sowjetunion, mit Sitz in London. Die Kommission sollte Vorschläge für die Grenzen zwischen den Besatzungszonen in Deutschland erarbeiten, die jede der drei Siegermächte besetzen sollte.

21 Die Konferenz von Teheran, in: Alexander Fischer (Hg.), Teheran, Jalta, Potsdam. Die sowjetischen Protokolle von den Kriegskonferenzen der „Großen Drei“. Köln 1968, S. 86 f.

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Die sowjetischen Nachkriegsplanungen

Im Mittelpunkt der sowjetischen Nachkriegsplanungen stand seit dem 22. Juni 1941 – dem deutschen Angriff auf die UdSSR und dem Beginn des Vernichtungskrieges gegen sie – die Lösung der deutschen Frage. Um nun die sowjetischen Nachkriegsplanungen in aller Kürze vorstellen zu können, muss ich mich darauf beschränken, nach dem Wesentlichen, dem eigentlich Strittigen, also nach den sowjetischen Zielen zu fragen.1 Dabei betone ich die durch Stalin gesicherte Einheit und Kontinuität dieser Ziele vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg. Und wenn ich im Folgenden von Stalin spreche, meine ich natürlich den von ihm beherrschten Staat und die von ihm geführte Partei. Stalin erwartete seit den 1920er-Jahren einen kommenden Weltkrieg und bereitete die UdSSR mit einer außerordentlich gewaltsamen Innenpolitik darauf vor, die in der UdSSR millionenfach menschliches Leben kostete. Er strebte spätestens seit August 1939 danach, im Ergebnis des kommenden Krieges die Versailler Nachkriegsordnung im östlichen Europa durch eine allein von ihm bestimmte sowjetische Friedensordnung – die Pax Sovietica – zu ersetzen. Dieses Ziel bestimmte die außenpolitische Kehrtwendung Moskaus im Sommer 1939 und den sowjetischen Kriegseintritt noch im September des gleichen Jahres. Die Pax Sovietica strebte – anders als im Westen angenommen – niemals nach grenzenloser Expansion oder nach der Verwirklichung der kommunistischen Weltrevolution, sondern zielte auf eine sichere Abgrenzung der UdSSR von den ihr feindlichen Mächten durch die Schaffung eines Ringes von ihr abhängiger Staaten an ihren europäischen Außengrenzen. Donal O’Sullivan sprach in diesem Zusammenhang von der Errichtung eines sowjetischen „Cordon sanitaire“.2 Doch dieser Begriff erscheint mir nicht ausreichend, um die sowjetischen Planungen und noch mehr die sowjetischen Handlungen nach dem Zweiten Weltkrieg zu benennen, denn er setzt sie namentlich gleich mit der französischen Politik nach dem Ersten Weltkrieg. Die von Stalin anvisierte Friedensordnung schloss vielmehr – genauso

1 2

Der vorliegende Text entspricht dem Wortlaut des Vortrages auf der Konferenz in Wien. Donald O‘Sullivan, Stalins „Cordon sanitaire“. Die sowjetische Osteuropapolitik und die Reaktionen des Westens 1939–1949. Paderborn 2003.

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Alliierte Planungen zu Österreich

gewaltbereit wie im Innern der UdSSR – von Anfang an die Möglichkeit der Sowjetisierung der Staaten ein, die sich im Machtbereich der UdSSR befanden. Die tatsächliche Durchsetzung der Pax Sovietica war jedoch niemals primär das Ergebnis sowjetischer Planung, sondern bildete einen vielschichtigen Prozess, dessen Ergebnisse zunächst vom Verlauf des Krieges und schließlich von den innen- und außenpolitischen Entwicklungen innerhalb und außerhalb der daran beteiligten Staaten abhingen.3 Die Wahrung der seit 1939 durch Stalin vollzogenen Grenzverschiebungen wurde nach dem deutschen Überfall am 22. Juni 1941 zum grundlegenden Bestimmungsfaktor der sowjetischen Nachkriegsplanung. Und Hitlers Großdeutsches Reich vollständig zu besiegen und möglichst langfristig kriegsunfähig zu machen, war seit Juni 1941 das Axiom dieser Planung. Die Zusammenarbeit mit den Westmächten war hingegen bis zum Sommer 1941 kein Ziel Stalins. Erst als es der UdSSR nicht gelang, den deutschen Angriff – anders als erwartet – sofort aus eigener Kraft zurückzuschlagen, wurde die Zusammenarbeit mit Großbritannien und den USA zur wichtigsten Voraussetzung für den vollständigen Sieg über Deutschland. Die Furcht vor dem Auseinanderbrechen der sogenannten Anti-Hitler-Koalition bestimmte zwar durchgehend die sowjetische Kriegsführung, die der Roten ­Armee drei Jahre lang außerordentlich schwere Lasten aufbürdete. Diese Furcht prägte aber niemals – wie sich besonders gut an Polen zeigen ließe – die so­wjetischen Nachkriegsplanungen. Denn in seinen Zielen war Stalin fast immer weitgehend kompromisslos. Garantien der für die Kriegsführung außerordentlich wichtigen Zusammenarbeit mit den Westmächten sah Stalin nicht nur in einem Angriff der Westmächte auf Deutschland, der Errichtung der sogenannten zweiten Front in Westeuropa. Diese Forderung Stalins wurde seit dem Sommer 1941 zu einer Grundkonstante der sowjetischen Politik und Propaganda. Großbritannien und die USA waren dazu bis 1944 weder in der Lage noch bereit. Trotzdem verkündeten Roosevelt und Churchill im August 1941 in der Atlantik-Charta – ohne vorherige Konsultation Stalins – ihre eigenen Kriegsziele, deren vollständige Verwirklichung in Osteuropa nicht nur die Ausschaltung Deutschlands, sondern auch die möglichst weitgehende Schwächung und Zurückdrängung der UdSSR zur Voraussetzung hatte.

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Auch bei der Durchsetzung der Pax Sovietica ist es daher notwendig – ähnlich wie es Gerhard Botz beim sogenannten „Anschluss“ Österreichs getan hat –, nach der Sowjetisierung von oben, von unten und von außen zu fragen, denn Stalin war ebenso wenig wie Hitler der einzige Akteur, auch die betroffenen Völker und übrigen Staaten waren Beteiligte. Siehe den Beitrag von Gerhard Botz ab S. 121 in diesem Band.

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Die Kriegsziele der Westmächte liefen denen der UdSSR zuwider und bargen von Anfang an die Gefahr in sich, dass die „seltsame Allianz“, wie John R. Deane – während des Krieges Leiter der US-Militärmission in Moskau – die Anti-Hitler-Koalition bereits 1947 bezeichnete,4 auseinanderbricht. Doch Stalin hielt auch in Bezug auf die Westmächte einen machtpolitischen Kompromiss für möglich. Für ihn hieß das, dass alle am Krieg gegen Deutschland beteiligten Mächte ihre jeweiligen Ziele nur auf Grundlage eines gemeinsamen Sieges durchsetzen konnten. Der sowjetische Führer rang seit den ersten Wochen des deutsch-sowjetischen Krieges deshalb ebenso um die zweite Front wie darum, mit seinen westlichen Verbündeten gegenseitig Interessensphären abzugrenzen und damit die Grundzüge einer Nachkriegsordnung zu vereinbaren, in der sich die Staaten je nach Zugehörigkeit zur sowjetischen oder westlichen Sphäre unterschiedlich entwickelt hätten. Die größten Chancen für einen solchen machtpolitischen Kompromiss sah Stalin nicht zu Unrecht in Bezug auf Deutschland. Und weil Stalin – ebenfalls nicht zu Unrecht – fürchtete, von den Westmächten ausgenutzt zu werden oder, wie er sich ausdrückte, für sie „die Kastanien aus dem Feuer zu holen“,5 aber auch, weil sich die militärische Lage im Sommer und Herbst 1941 für die UdSSR katastrophal entwickelte, legte der sowjetische Alleinherrscher schon in dieser Frühzeit des Krieges seine Kriegsziele ungeschützt offen. Zum ersten Mal geschah dies, als man in Moskau auf einen Besuch des britischen Außenministers hoffte. Am 21. November dieses Jahres ließ Stalin durch Molotov, der seit 1939 das Außenkommissariat der UdSSR leitete, dem sowjetischen Botschafter in London, Ivan Majskij, seinen „Standpunkt“ zur Nachkriegsordnung wie folgt darlegen: „Österreich [müsse] als unabhängiger Staat von Deutschland abgetrennt werden und Deutschland selbst, darunter auch Preußen, in eine Reihe mehr oder minder selbständiger Staaten zerschlagen werden, um eine künftige Garantie für Frieden und Ruhe der europäischen Staaten zu schaffen.“6 Klar erkennbar ist dabei, dass für Stalin die Wiederherstellung Österreichs vorrangig und vor allem Teil der Zerschlagung des Großdeutschen Reichs war und zusammen mit der Aufgliederung des übrigen Reiches eine Sicherheitsgarantie für die UdSSR (und die übrigen europäischen Staaten) bildete. 4 5 6

John R. Deane, The Strange Alliance: The Story of our Efforts at Wartime Cooperation with Russia. New York 1947. I. V. Stalin, Rechenschaftsbericht auf dem XVIII. Parteitag über die Tätigkeit des ZK der VKP (b), 10. März 1939, vgl. http://1000dok.digitale Sammlung.de, 20.3.2014. Die UdSSR und die deutsche Frage (im Folgenden: UdF), Bd. 1, hrsg. und bearbeitet von Jochen P. Laufer und Georgij P. Kynin, Berlin 2004, Dok. 7, S. 11; vgl. dazu auch Gerald Stourzh, Um Einheit und Freiheit. Staatsvertrag, Neutralität und das Ende der Ost-West-Besetzung Österreichs 1945–1955. 4. Aufl. Wien – Köln – Graz 1998.

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Alliierte Planungen zu Österreich

Wie im August 1939 mit Deutschland suchte Stalin im Dezember 1941 während des Besuchs des britischen Außenministers in Moskau Absprachen über Einflusssphären in Europa. Dabei ging es ihm vor allem um eine britische Anerkennung der seit 1939 gewaltsam durchgesetzten Verschiebung der sowjetischen Westgrenze. Eine solche Anerkennung durch seine Kriegspartner hielt Stalin für wichtiger als eine Konkretisierung der eigenen Nachkriegsplanungen. Diese begannen zwar im Januar 1942, kamen aber bis 1943 kaum voran, weil Stalin offensichtlich kein Interesse an einseitigen sowjetischen Planungen hatte. Angesichts der Weigerung der beiden Westmächte, bindende Absprachen zur Nachkriegsordnung zu treffen, vertraute der sowjetische Diktator allein auf die militärische Stärke der UdSSR. Mit zynischer Offenheit erklärte er dies gegenüber Molotov im Mai 1942, als der sowjetische Außenkommissar zum ersten Mal in London weilte und nicht bereit war, die von Churchill verlangten Korrekturen des sowjetischen Entwurfs eines Bündnisvertrags zu akzeptieren. Stalin wischte alle Bedenken Molotovs vom Tisch und verlangte die sofortige Annahme aller britischen Änderungswünsche und sicherte dadurch den Abschluss des Bündnisses. Erneut muss die Errichtung einer zweiten Front im Westen berücksichtigt werden, die – wie schon erwähnt – effektiv erst 1944 mit der Landung der Alliierten in Frankreich zustande kam. Die sich darin ausdrückende Schwäche der Westmächte und die zunehmende Stärke der UdSSR bestimmten die Gestaltung der Nachkriegsordnung in Europa viel stärker als alle Planungen, die, getrennt voneinander, sehr früh in Moskau, London und Washington begonnen hatten. Der entscheidende Impuls für gemeinsame Planungen ging 1943 von Großbritannien und von den Waffenstillstandsbemühungen der deutschen Satellitenstaaten aus, die sich in dieser Zeit allein an die Westmächte richteten. Roosevelt und Churchill hatten im Januar dieses für das Nachkriegsschicksal Europas entscheidenden Jahres erneut – wie bei der Atlantik-Charta 1941 – ohne vorherige Konsultation der UdSSR ihre Forderung nach bedingungsloser Kapitulation Deutschlands und seiner Verbündeten verkündet. Für Stalin war diese Forderung seit 1941 eine Selbstverständlichkeit. Schon am 6. November, mithin während des deutschen Ansturms auf Moskau, hatte Stalin auf der Feier aus Anlass des 24. Jahrestages der Oktoberrevolution in einer sofort veröffentlichten und auf der ganzen Welt verbreiteten Rede unter stürmischem, lang anhaltendem Applaus verkündet: „Die deutschen Landräuber wollen den Vernichtungskrieg gegen die Völker der Sowjetunion. Nun wohl, wenn die Deutschen einen Vernichtungskrieg wollen, so werden sie ihn bekommen.“7 7

J. Stalin, Über den Großen Vaterländischen Krieg der Sowjetunion. 3. Ausgabe. Moskau 1946, S. 31.

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Nach der militärischen Wende im Zweiten Weltkrieg infolge der Schlachten von Stalingrad und am Kursker Bogen sowie dem Beginn eigener militärischer Operationen der Westmächte zuerst in Nordafrika und dann in Süditalien rechnete man in London und Washington (aber auch in Moskau) mit einem plötzlichen Kriegsende durch einen Zusammenbruch Deutschlands wie 1918. In dieser Situation waren es zuerst die Briten, die im Frühsommer 1943 Grundsätze für die Beendigung des Krieges an die USA und die UdSSR übergaben. Damit begannen in allen drei Hauptstädten Waffenstillstandsplanungen, die eine viel größere Bedeutung für die Nachkriegsordnung Deutschlands gewannen als alle vorangegangenen und noch folgenden sowjetischen Reparations- oder Friedensvertragsplanungen. Sie waren auch weitaus geschichtsträchtiger als die Friedensfühler, die aufseiten aller am Krieg gegen Deutschland beteiligten Mächte niemals mehr waren als Teil der Kriegsführung. Ihre zentrale Bedeutung gewannen die Waffenstillstandsplanungen, als durch die Moskauer Außenministerkonferenz die Europäische Beratende Kommission (EAC) gebildet wurde. In dieser Kommission führten erstmals die getrennten Planungen innerhalb der Anti-Hitler-Koalition zu gemeinsamen Vereinbarungen zur Nachkriegsordnung, zunächst zur Zoneneinteilung Deutschlands und zum Schluss zur Zoneneinteilung Österreichs. Die Moskauer Außenministerkonferenz 1943 hatte eine kaum zu überschätzende Bedeutung für den Erhalt der Anti-Hitler-Koalition und damit für deren gemeinsamen Sieg über Deutschland. Das Treffen der drei Außenminister in Moskau beendete eine höchst gefährliche Krise der Anti-Hitler-Koalition, die im Frühjahr mit dem Abbruch der Beziehungen zur polnischen Exilregierung durch die UdSSR begonnen, sich in der erneuten Verschiebung der Eröffnung der zweiten Front fortgesetzt und ihren Ausdruck in der Bildung des Nationalkomitees Freies Deutschland (NKFD) in der UdSSR, aber auch in deren Nichtbeteiligung an der Vorbereitung des Waffenstillstands in Italien durch die Westmächte gefunden hatte. In dieser Situation war es Stalin, der die Initiative für das erste Treffen der drei Außenminister ergriff, das den Weg für die folgenden Gipfeltreffen der drei Staats- und Regierungschefs in Teheran, Jalta und Potsdam öffnete. Das folgenreichste Ergebnis der Moskauer Konferenz war – wie bereits erwähnt – die Bildung der Europäischen Beratenden Kommission in London. Diese Kommission beschäftigte sich nicht nur, aber hauptsächlich mit Deutschland. Zur Vorbereitung der sowjetischen Position in dieser Kommission wurde in Moskau eine Waffenstillstandskommission unter Leitung von Kliment Vorošilov gegründet. Wenig später folgten dort die Gründungen einer sowjetischen Reparationskommission unter Leitung von Ivan Majskij

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Alliierte Planungen zu Österreich

und einer Kommission zur Vorbereitung der Friedensverträge unter Leitung von Maksim Litvinov. Beide Kommissionen leisteten Beachtliches, doch kam ihnen längst nicht die Bedeutung der Vorošilov-Kommission zu, weil nur diese unmittelbar mit einem internationalen Beratungsgremium – der EAC – verbunden war, das zu Beschlüssen kam, die noch lange nach dem Krieg die Handlungsfreiheit aller drei Hauptmächte der Anti-Hitler-Koalition in bestimmten Grenzen hielt. Dies betraf zunächst und vor allem die gemeinsame Verantwortung sowohl für Österreich als auch für Deutschland. Die in der Vorošilov-Kommission vorbereiteten sowjetischen Vorschläge für die EAC waren das unmittelbare Ergebnis der Überlegungen des sowjetischen Alleinherrschers zur sogenannten Lösung des deutschen Problems. Diese Kommission ging dabei von drei grundlegenden Prämissen aus: erstens der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands, zweitens von der vollständigen, aber zonenweisen Besetzung Deutschlands durch die drei Hauptmächte und drittens von der Oberhoheit aller drei Mächte jeweils in ihren Zonen und gemeinsam für Deutschland als Ganzes. Weil letztendlich alle drei Mächte diese Prämissen teilten, gelang es der UdSSR, ihre Interessen in der EAC weitgehend durchzusetzen, wobei sie sich dazu oft nur britischen oder amerikanischen Vorschlägen anzuschließen brauchte. Auf britischer Seite herrschte die größte Klarheit darüber, dass die Einnahme einer eigenen deutschen Besatzungszone durch die UdSSR eine Vorentscheidung für die „Aufgliederung“ (dismemberment, razčlenenie) Deutschlands war, falls es der UdSSR gelingen würde, ihre getrennte Herrschaft in ihrer Zone längerfristig zu sichern. Auch Stalin dürfte dies klar gewesen sein, doch er legte seine diesbezüglichen Gedanken niemals offen, sondern versuchte bereits während des Krieges, den deutschen Nationalismus, in dem er den wichtigsten Stimulus für den Durchhaltewillen der Deutschen in dem für Deutschland längst hoffnungslos gewordenen Krieg sah, zu besänftigen – so, als er 1942 in einem zur sofortigen Veröffentlichung bestimmten Befehl sinngemäß erklärte: Die Hitler kommen und gehen, aber der deutsche Staat bleibt.8 Doch die sowjetischen Quellen belegen, dass sich der sowjetische Alleinherrscher auf den Gipfeltreffen während des Krieges unter der Bedingung strengster Geheimhaltung mit größter Entschiedenheit für die Aufteilung Deutschlands einsetzte. Erst als es ihm in Jalta nicht gelang, einen ge-

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Ebd., S. 44 (Befehl des Volkskommissars für Verteidigung Nr. 55, Moskau, 23.2.1942, veröffentlicht in Pravda, 23.2.1942, S. 1): „Es wäre aber lächerlich, die Hitlerclique mit dem deutschen Volke, mit dem deutschen Staate gleichzusetzen. Die Erfahrungen der Geschichte besagen, daß die Hitler kommen und gehen, aber das deutsche Volk, der deutsche Staat bleibt.“

Jochen Laufer

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meinsamen Beschluss mit Roosevelt und Churchill zur Teilung Deutschlands durchzusetzen, nahm die UdSSR offiziell Abstand von diesem Ziel. Molotov erklärte dem sowjetischen Botschafter in London die Gründe für diese plötzliche Wendung: „Die Engländer und die Amerikaner, die als erste die Frage der Aufgliederung Deutschlands aufwarfen, [wollen] nunmehr die Verantwortung für die Aufgliederung auf die UdSSR abwälzen, um unseren Staat in den Augen der internationalen Öffentlichkeit anzuschwärzen.“9 Genau aus diesem Grund wechselte Stalin zu seiner längst propagandistisch vorbereiteten Position und ließ die UdSSR nach dem Krieg als Vorkämpferin der deutschen Einheit erscheinen. Dies hinderte die UdSSR jedoch nicht daran, nach der Besetzung ihrer Zone dort eine eigenmächtige Politik zu betreiben, die fast durchgehend im Gegensatz zur Politik der Westmächte stand. In der sowjetischen Besatzungspraxis, die durch umfangreiche Demontagen und Entnahmen aus der laufenden Produktion, die Bodenreform, die Bildung von Volkseigentum, die Entnazifizierung und durch Speziallager, aber auch durch die Durchsetzung der führenden Rolle der KPD/SED in der Verwaltung und den Machtorganen (Polizei und Justiz) gekennzeichnet war, drückten sich die auf die Aufteilung Deutschlands zielenden Absichten Stalins nicht weniger eindeutig aus als in den niemals bestätigten Planungspapieren der Litvinov- und der Majskij-Kommission. Damit wurde in den Jahren nach 1945 östlich der Elbe die Pax Sovietica – die sowjetische Friedensordnung – Wirklichkeit, die Stalin unter völlig anderen Bedingungen und in anderer Form bereits 1939 erstrebte. Für die darin einbezogenen Staaten blieb es eine Friedensordnung unter Vorherrschaft der UdSSR.

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UdF 1, Dok. 154, S. 555.

Walter M. Iber – Peter Ruggenthaler

Zur Bedeutung der Moskauer Deklaration zu Öster­ reich für die Sowjetunion

Die Moskauer Deklaration zu Österreich von 1943 war jahrzehntelang ein Forschungsschwerpunkt der österreichischen Historiografie.1 Nachdem die zur Verfügung stehenden Quellen in den Archiven Londons, Washingtons und auch von Paris in detaillierter Kleinarbeit aufgearbeitet worden waren, brachte dies die Geschichtsschreibung in Österreich einerseits zwar voran, andererseits fanden Historiker keinen Konsens. Grundsätzlich setzte sich aber für lange Zeit die These durch, die Moskauer Deklaration zu Österreich sei nicht mehr als ein Propagandainstrument der Alliierten gewesen, um den Widerstand der Österreicher gegen die NS-Herrschaft zu beflügeln. Zur Rolle der Sowjetunion konnten mangels Archivzugang keine fundierten Studien vorgenommen werden. Dies hat sich in den letzten Jahren grundlegend geändert. Dieser Beitrag geht der Fragestellung nach, wieso die UdSSR Österreich allem Anschein nach bevorzugt behandelte. Wie ist dieses Mirakel,2 so es denn eines war, erklärbar? Welche Bedeutung hatte die „Moskauer Deklaration zu Österreich“ grundsätzlich für die sowjetische Außenpolitik? Die Sowjetunion hatte in einer Note an die Westmächte gegen den „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich vorsichtig ihre Stimme erhoben.3 1

2

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Siehe insbesondere die Beiträge von Günter Bischof ab S. 249 und Siegfried Beer ab S. 99 in diesem Band. Sowie grundsätzlich Siegfried Beer, Die „Befreiungs- und Besatzungsmacht“ Großbritannien in Österreich, 1945–1955, in: Manfried Rauchensteiner – Robert Kriechbaumer (Hg.), Die Gunst des Augenblicks. Neuere Forschungen zu Staatsvertrag und Neutralität. Wien et al. 2005, S. 23–74, hier: S. 34; Günter Bischof, Austria in the First Cold War, 1945–1955. The Leverage of the Weak. New York 1999, S. 20–29; Günter Bischof, Die Instrumentalisierung der Moskauer Erklärung nach dem Zweiten Weltkrieg, in: Zeitgeschichte 20 (1993), S. 345–366; Robert H. Keyserlingk, Austria in World War II. An Anglo-American Dilemma. Montreal 1988, S. 144–148. So bezeichnete etwa Horst Möller, Vorsitzender der „Gemeinsamen Kommission für die Erforschung der jüngeren Geschichte der deutsch-russischen Beziehungen“, die sowjetische Österreichpolitik in der einleitenden Diskussion auf der diesem Band zugrundeliegenden Konferenz am 29.10.2013 in Wien. Siehe dazu den Beitrag von Vladimir Švejcer in diesem Band ab S. 53. Proteststimmen wurden bei mehreren Staaten laut. Mexiko hatte aber als einziges Land offiziellen Protest vor dem Völkerbund eingelegt. Zu Mexiko siehe Stefan A. Müller, Die versäumte Freundschaft. Österreich–Mexiko 1901–1956. Von der Aufnahme der Beziehungen bis zu Mexikos Beitritt zum Staatsvertrag. Lateinamerikanistik. Bd. 3. Wien 2006.

Walter M. Iber – Peter Ruggenthaler

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Nach dem Hitler-Stalin-Pakt 1939 war eine protestierende Haltung obsolet geworden und Schweigen das Gebot der Stunde. Innerhalb der Komintern wurde die Hitlerdiktatur geschont. Die österreichischen Kommunisten im britischen Exil wurden (ähnlich wie die tschechoslowakischen) vor Molotovs Besuch bei Hitler 1940 mit allgemeinen Floskeln beruhigt, die NS-Politik sei imperialistisch und kolonialistisch. Der Nationalsozialismus habe halb Europa besetzt und beute es für seine kolonialen Ziele rücksichtslos aus.4 Der „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich selbst wurde von Stalin öffentlich erstmals im November 1941 als ein weiterer Schritt im „Sammeln deutscher Länder“ bezeichnet.5 Fortan setzte sich die Sowjetunion für die Wiedererrichtung eines österreichischen Staates nach Kriegsende ein. In der Folge präzisierte Stalin intern seine Haltung, dass Österreich „hauptsächlich von Deutschen besiedelt ist“ und daher der „Anschluss“ in „das Bild des deutschen Nationalismus“ passe. Er halte diesen aber „weder für richtig noch für annehmbar“ und denke daran, „dass Österreich als unabhängiger Staat von Deutschland abgetrennt werden müsse“.6 Dabei verfolgte Stalin nicht nur das Ziel, keine größeren Machtzentren auf dem europäischen Kontinent zuzulassen. Einem neuen Machtzentrum im Donauraum in der Form von Staatenkonföderationen, wie etwa von Winston Churchill gewünscht, wurde damit ein Riegel vorgeschoben.7 Dem sowjetischen Führer ging es vor allem darum, eine rasche Wiedererstarkung Deutschlands nach Kriegsende zu unterbinden.8 4

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M. M. Narinskij, Sovetskaja vnešnjaja politika i Komintern 1939–1941, in: A. O. Čubar´jan (Hg.), Vojna i Politika 1939–1941. Moskau 1999, S. 38–49, hier: S. 43. Zur Erklärungsnot der Komintern siehe Bernhard H. Bayerlein, „Der Verräter, Stalin, bist Du!“ Vom Ende der linken Solidarität 1939–1941. Berlin 2008, S. 145–170, auch wenn „feine Risse“ bereits nach Molotovs Besuch im November 1940 in Berlin und verstärkt auch ab dem Balkankrieg im Frühjahr 1941 konstatiert werden können. Eine „definitive Wendung“ erfolgte, so Bayerlein, erst als Reaktion auf den deutschen Angriff auf die Sowjetunion. Ebd., S. 51. So Stalin in einer Rede am 6.11.1941. Siehe Jochen Laufer, Der Friedensvertrag mit Deutschland als Problem der sowjetischen Außenpolitik. Die Stalin-Note vom 10. März 1952 im Lichte neuer Quellen, in: VJHZG (2004/1), S. 99–118, hier: S. 103 f; Aleksej Filitov, Sowjetische Planungen zur Wiedererrichtung Österreichs 1941–1945, in: Stefan Karner – Barbara Stelzl-Marx (Hg.), Die Rote Armee in Österreich. Sowjetische Besatzung 1945–1955. Beiträge. Graz – Wien – München 2005, S. 27–37. AVP RF, f. 059, op. 1, p. 354, d. 2412, S. 21–24, V. Molotov an I. Maiskij, 21.11.1941, abgedruckt in: Jochen P. Laufer, Georgij P. Kynin (Hg.), Die UdSSR und die deutsche Frage 1941–1948. Dokumente aus dem Archiv für Außenpolitik der Russischen Föderation. Band 1: 22. Juni 1941 bis 8. Mai 1945. Berlin 2004, S. 11 f. Beer, Die „Befreiungs- und Besatzungsmacht“ Großbritannien in Österreich 1945–1955, S. 25. Jochen Laufer, Die UdSSR und die Zoneneinteilung Deutschlands (1943/44), in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 43 (1995), S. 309–331, hier: S. 311.

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Alliierte Planungen zu Österreich

Deutschland sollte nachhaltig geschwächt und unschädlich gemacht werden.9 Dazu gab es keinen Masterplan, wohl aber Strategien, die Stalin situationsbedingt abänderte. Stalin war sich bewusst, dass Deutschland nicht zerstört werden konnte („Die Hitler kommen und gehen, aber das deutsche Volk, der deutsche Staat werden bleiben.“).10 Die Erfahrungen nach dem Ersten Weltkrieg, als Deutschland politisch und militärisch am Boden lag und doch innerhalb weniger Jahre wieder derart stark wurde, waren Stalins wichtigster Beweggrund für die Forderung einer Zerstückelung des Deutschen Reichs. Davon profitierte schließlich Österreich, indem es unabhängig werden sollte. Österreich sollte auf jede nur erdenkliche Weise – nicht zuletzt auch durch eine gegenüber dem besiegten Deutschland bevorzugte Behandlung mittels bewusster öffentlicher Herausstellung Österreichs als „erstes Opfer“ – dazu gebracht werden, den zwischen den beiden Weltkriegen stark gehegten Wunsch der Vereinigung mit Deutschland aufzugeben. Alle anderen (westlichen) Planungen wurden zurückgewiesen, weil sie den sowjetischen Großmachtinteressen in Mittel- und Mittelosteuropa diametral entgegenstanden.11 Die von Stalin während des Zweiten Weltkrieges verfolgte Politik der Schwächung des künftigen deutschen Staates kam für Österreich einem Garanten für die Wiedererrichtung eines selbstständigen Staates gleich. Sowjetische Planungen zu Österreich? Österreich kam im strategischen Sicherheitsdenken der Planungen des Kremls zunächst gar nicht oder nur am Rande vor. Oberste Priorität hatte die „Verschiebung der sowjetischen Westgrenze“, dessen Anerkennung Stalin für wichtiger hielt „als eine Konkretisierung der eigenen Nachkriegsplanungen“.12 In den Planungskommissionen des sowjetischen Volkskommissariats für auswärtige Angelegenheiten sah man Österreichs Platz zunächst in einem neutralisierten Europa zwischen einer sowjetischen und britischen Einfluss9

Zur sowjetischen Deutschlandplanung siehe u. a. Alexej Filitow, Stalins Deutschlandplanung und -politik während und nach dem Zweiten Weltkrieg, in: Boris Meissner – Alfred Eisfeld (Hg.), 50 Jahre sowjetische und russische Deutschlandpolitik sowie ihre Auswirkungen auf das gegenseitige Verhältnis. Berlin 1999, S. 43–54; Laufer, Der Friedensvertrag mit Deutschland als Problem der sowjetischen Außenpolitik, S. 103. 10 Aleksej M. Filitov, SSSR i germanskij vopros: Povorotnye punkty (1941–1961gg.), in: N. I. Egorova, A. O. Čubar’yan (Hg.), Cholodnaja Vojna 1945–1963gg. Istoričeskaja retrospektiva. Sbornik statej. Moskau 2003, S. 223–256, hier: S. 225. 11 Siehe dazu Filitov, Sowjetische Planungen zur Wiedererrichtung Österreichs 1941– 1945, S. 27–37. 12 Siehe dazu den Beitrag von Jochen Laufer in diesem Band ab S. 71.

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sphäre. Im Gegensatz etwa zu den britischen Planungen für ein Nachkriegs­ österreich kann von detaillierten sowjetischen Überlegungen keine Rede sein. Mit Österreich beschäftigte man sich in Moskau in erster Linie in wirtschaftlicher Hinsicht. Dabei kann aber zumindest festgehalten werden, dass in allen drei im sowjetischen Außenamt angesiedelten Planungskommissionen (Majskij-, Vorošilov- und Litvinov-Kommission) die Wiedererrichtung eines österreichischen Staates eine Grundkonstante war.13 Zunächst war aber – ähnlich wie in Washington – auch in Moskau ursprünglich nicht unbedingt eine militärische Besatzung von Teilen Österreichs vorgesehen. 14 In einem Entwurf eines Dokumentes über die bedingungslose Kapitulation Deutschlands hatte die für Fragen des Waffenstillstandes zuständige Vorošilov-Kommission zumindest für eine militärische Besetzung keine Beteiligung sowjetischer Streitkräfte vorgesehen. Die Demarkationslinie hätte den Plänen zufolge entlang der tschechoslowakischen Grenze bis Bratislava und anschließend entlang der Donau verlaufen sollen.15 Die Umsetzung einer gemeinsamen Besatzung Österreichs soll schließlich von Stalin persönlich als „Kompensation“ gegenüber den anglo­ amerikanischen Alliierten angeregt worden sein, nachdem er eine gemischte Besatzung Schleswig-Holsteins und Hamburgs abgelehnt hatte.16 13 Erste, kritische Auswertungen auf der Basis von Dokumenten der Litvinov-Kommission zu Österreich bei Oliver Rathkolb, Historische Fragmente und die „unendliche Geschichte“ von den sowjetischen Absichten in Österreich 1945, in: Alfred Ableitinger – Siegfried Beer – Eduard G. Staudinger (Hg.), Österreich unter alliierter Besatzung 1945–1955. Wien 1998, S. 137–158. Grundsätzlich zur Arbeit der Kommissionen siehe Laufer – Kynin (Hg.), Die UdSSR und die deutsche Frage 1941–1948. Zu Österreich siehe Peter Ruggenthaler, Warum Österreich nicht sowjetisiert werden sollte, in: Karner – Stelzl-Marx (Hg.), Die Rote Armee in Österreich, S. 61–87; Wolfgang Mueller, Die sowjetische Besatzung in Österreich 1945–1955 und ihre politische Mission. Wien et al. 2005; Walter M. Iber, Die Sowjetische Mineralölverwaltung in Österreich. Zur Vorgeschichte der OMV 1945–1955. Veröffentlichungen des Ludwig Boltzmann-Instituts für Kriegsfolgen-Forschung. Bd. 15. Innsbruck et al. 2011. Nach wie vor eine hervorragende Analyse stellt die Arbeit Wilfried Aichingers dar. Siehe Wilfried Aichinger, Sowjetische Österreichpolitik 1943–1945. Materialien zur Zeitgeschichte. Bd. 1. Wien 1977. 14 Auch eine Militärpräsenz in Westungarn war demnach Anfang Februar 1944 nicht in Erwägung gezogen worden. Siehe Aleksej Filitov, Die sowjetischen Planungen zu Österreich 1941 bis 1945, in: Stefan Karner – Gottfried Stangler (Hg.), „Österreich ist frei!“ Der österreichische Staatsvertrag 1955. Beitragsband zur Ausstellung auf Schloss Schallaburg 2005. Horn – Wien 2005, S. 5–8, hier: S. 5 f. 15 Ebd. 16 Laufer, Die UdSSR und die Zonenteilung Deutschlands, S. 329 f. Zur sowjetischen Position bei den Verhandlungen um die Besatzungszonen in Österreich siehe AVP RF, F. 07, op. 10, p. 13, d. 159, S. 77–84, Bericht der 2. Europäischen Abteilung des Volkskommissariats für Auswärtige Angelegenheiten der UdSSR über den Verlauf der Erörterung von Fragen zur Besetzung Österreichs in der Europäischen Beratenden

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Die sowjetische Positionierung zu Österreich Im Vorfeld der Außenministerkonferenz in Moskau hatte Molotov erstmals im Juni 1943 die britischen Planungen zu einer Donaukonföderation mit Wien als Hauptstadt dezidiert abgelehnt.17 Dem britischen Vorschlag zufolge sollte Österreich zwar unabhängig, aber in der Folge in eine Donaukonföderation eingebunden werden, weil es allein angeblich nicht lebensfähig sei.18 Die britischen Vorschläge wurden in Moskau zunächst zur Kenntnis genommen, eine offizielle Reaktion blieb jedoch aus. Auf Inhalte wurde nicht eingegangen, alles Weitere sollte auf der bevorstehenden Konferenz in Moskau besprochen werden, verlautbarte Molotov. Intern aber beschäftigte man sich ausführlich mit den britischen Konföderationsplänen und lehnte diese vehement ab: „Eine solche Zusammensetzung der Föderation muss uns zwingen, auf der Hut zu sein, weil es ganz bestimmt ist, dass die Föderation mit einem solchen Kern leicht gegen unsere Interessen benutzt werden könnte. Eine solche Föderation wird ständig die Tschechoslowakei bedrohen, da die Mehrheit der Mitglieder dieser Föderation (Ungarn, Österreich) territoriale Ansprüche auf sie erhebt. [...] Unseren Vorzug müssen wir deshalb dem Entwurf der Wiederherstellung eines selbstständigen und unabhängigen Österreich geben.“19

Zudem wurde die wirtschaftliche Lebensfähigkeit Österreichs aufgrund der Erfahrungen der Zwischenkriegszeit einer „stichhaltigen Kritik“ unterzogen und bestätigt.20

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Kommission (EAC), abgedruckt in: Stefan Karner – Barbara Stelzl-Marx – Alexander Tschubarjan (Hg.), Die Rote Armee in Österreich. Sowjetische Besatzung 1945–1955. Dokumente. Krasnaja Armija v Avstrii. Sovetskaja okkupacija 1945–1955. Dokumenty. Graz – Wien – München 2005, Dokument 4, S. 39–53. Gerald Stourzh, Um Einheit und Freiheit: Staatsvertrag, Neutralität und das Ende der Ost-West-Besetzung Österreichs 1945–1955. Studien zu Politik und Verwaltung. Bd. 62. 5. Aufl. Graz et al. 2005, S. 16. Zu den amerikanischen Österreichplanungen während des Zweiten Weltkrieges siehe v. a. Günter Bischof, Between Responsibility and Rehabilitation: Austria in International Politics 1940–1950. PhD. Diss. University of Harvard 1989, S. 14–25. Reinhold Wagnleitner, Großbritannien und die Wiedererrichtung der Republik Österreich. PhD. Diss. Universität Salzburg 1975, S. 14–35, hier: S. 17; Beer, Die „Befreiungsund Besatzungsmacht“ Großbritannien in Österreich 1945–1955, S. 34. Siehe dazu im Detail Stourzh, Um Einheit und Freiheit, S. 18 f.; Vladimir V. Sokolov, Sowjetische Österreichpolitik 1943/45, in: Manfried Rauchensteiner – Wolfgang Etschmann (Hg.), Österreich 1945. Ein Ende und viele Anfänge. Graz et al. 1997, S. 73–88, hier: S. 76. AVP RF, F. 012, op. 9, p. 132, d. 4, S. 194–214, Aufzeichnungen von M. Litvinov (an V.

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Das Ziel, einen Staat Österreich nach dem Krieg wieder zu errichten, wurde auf der Moskauer Außenministerkonferenz letztlich in der Deklaration zu Österreich verschriftlicht. Grundlage des Wortlauts der Deklaration war ein britisch(-amerikanischer) Entwurf. In diesem war vom „österreichischen Volk“ die Rede, das eine Verantwortung trage, der es nicht entrinnen könne. Als der sowjetische stv. Außenminister Andrej Vyšinskij diesen Entwurf begutachtete, zeigte er sich mit der Formulierung nicht einverstanden.21 Vyšinskij hielt auf dem Dokument handschriftlich fest: „Österr. Volk – ob nicht besser zu schreiben ,österreichische Gesellschaft‘, noch besser – Österreich.“ Seit diesen bemerkenswerten Aktenfunden von Gerald Stourzh konnten keine neuen Erkenntnisse gewonnen werden. Was Vyšinskij dazu bewegte, bleibt unklar. Einerseits entsprach es der Grundhaltung marxistisch-leninistischer Ideologie, Völker nicht für die Politik ihrer Führungen verantwortlich zu machen,22 andererseits war die Nennung Österreichs als Staat in der Deklaration die Voraussetzung dafür, von diesem Staat einmal Reparationen verlangen zu können und von ihm Verantwortlichkeit „für die Teilnahme am Kriege an der Seite Deutschlands“ einmahnen zu können. Von den auf der Konferenz in den Arbeitsgruppen geführten Verhandlungen über die Formulierung des Textes zu Österreich wurden bis heute keine Gesprächsprotokolle oder andere aufschlussreiche Dokumente gefunden. Bekannt ist nur das Resultat. Die westliche Seite akzeptierte letztlich die sowjetischen Wünsche. Das Dokument zu Österreich war ein Kompromiss, der die Basis für die Zweischneidigkeit des Wortlauts zu Österreich bildete. Einerseits war nun Österreich aus der Sicht der Alliierten „erstes Opfer“, andererseits Mittäter. Ob im Detail darüber diskutiert wurde, in welchen Grenzen ein österreichischer Staat wiederentstehen sollte, bleibt ungewiss. Für Moskau aber dürfte immer klar gewesen sein, dass nur von der Wiedererrichtung eines Kleinstaates Österreich die Rede sein konnte. Intern war die Grenzfrage mehr oder weniger seit 1943 klar: Österreich sollte territorial in der Form wieder­ entstehen, wie es 1937 bestanden hatte. Auch wenn im sowjetischen Außenamt nach der Moskauer Außenministerkonferenz über mögliche neue Grenzziehungen zugunsten Österreichs spekuliert wurde, standen solche wohl nie Molotov), 9.10.1943, abgedruckt in: Laufer – Kynin (Hg.), Die UdSSR und die deutsche Frage 1941–1948. Bd. 1, S. 194–214, hier: S. 211 f.; Filitov, Die sowjetischen Planungen zu Österreich 1941 bis 1945, S. 5. 21 Präzise herausgearbeitet bei Stourzh, Um Einheit und Freiheit, S. 21. 22 Vladimir Švejcer, SSSR–Avstrija: Na viražach mirovoj politiki, in: Sovremennaja Evropa 2014/2, S. 121–130, hier: S. 124. Siehe dazu auch den Beitrag von Vladimir Švejcer in diesem Band ab S. 53.

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ernsthaft zur Debatte. Im sowjetischen Volkskommissariat für auswärtige Angelegenheiten diskutierte man zumindest über mögliche kleinere Grenzveränderungen. Neben Passau und dem Berchtesgadener Land, auf das Österreich „berechtigte Ansprüche“ habe, wurde auch die Rückgabe Südtirols ernsthaft erwogen, „doch [... sei] dies mit der Frage der Behandlung Italiens verbunden“, so die sowjetischen Diplomaten.23 Auf dem ersten Gipfeltreffen der „großen Drei“ wenige Wochen nach der Moskauer Außenministerkonferenz in Teheran wurde die Österreichfrage nur kurz besprochen. Stalin hob gegenüber dem US-Präsidenten Franklin D. Roosevelt und Winston Churchill die Österreicher als „Ausnahmen“ innerhalb der Wehrmacht hervor. Während „alle deutschen Soldaten wie Teufel kämpften, sind die Österreicher eine Ausnahme“. Stalin unterstrich einmal mehr, dass Österreich als unabhängiger Staat wiederentstehen sollte.24 Die 23 Die internen Vorbereitungen des sowjetischen Außenamtes zu Österreich im Vorfeld der Konferenz in Jalta sind abgedruckt in: Karner et al. (Hg.), Die Rote Armee in Österreich. Dokument 5, S. 55. Siehe dazu auch Bischof, Austria in the First Cold War, 1945– 1955, S. 20–29; Stourzh, Um Einheit und Freiheit, S. 18; Oliver Rathkolb, Sonderfall Österreich? Ein peripherer Kleinstaat in der sowjetischen Nachkriegsstrategie 1945–1947, in: Stefan Creuzberger – Manfred Görtemaker (Hg.), Gleichschaltung unter Stalin? Die Entwicklung der Parteien im östlichen Europa 1944–1949. Paderborn 2002, S. 353–373, hier: S. 360. In der Südtirolfrage hatte sich Karl Renner 1945 schriftlich mit der Bitte an Stalin gewandt, die österreichische Forderung zu unterstützen. Molotov wies daraufhin Marshall I. Konev an, im Auftrag Stalins an Renner ein Schreiben zu richten und ihm mitzuteilen, „dass die Frage über Südtirol Gegenstand der Erörterung im Außenministerrat [in Paris] im Zusammenhang mit der Unterzeichnung des Friedensvertrages mit Italien sein wird“. Schreiben K. Renners an Stalin, in: AVP RF, F. 06, op. 8, p. 22, d. 305, S. 23 f., 6.2.1946; Memorandum „Österreich, Europa und Deutschsüdtirol,“ in: ebd., S. 25–31. Eine Rückgabe von zumindest Teilen Südtirols an Österreich wurde intern im Kreml tatsächlich auch noch im Zuge der Verhandlungen über den Friedensvertrag mit Italien 1946 in Paris ernsthaft in Erwägung gezogen. Einem Direktivenentwurf zufolge sollte die sowjetische Delegation gegen den britischen Vorschlag nach der Rückgabe eines Drittels von Südtirol an Österreich keine Einwände vorbringen, wenn die Briten die jugoslawischen Ansprüche an Istrien und Triest unterstützen. Mit solch einem Kompromiss hätte man wohl auch die italienische KP zufriedengestellt, die in Moskau erfolgreich gegen die mehrmals von der Litvinov-Kommission angedachte Rückgabe Südtirols von Italien an Österreich interveniert hatte. Siehe die Direktivenentwürfe für die Delegation der UdSSR auf der Pariser Außenministerkonferenz zu den Friedensverträgen mit Italien und Rumänien sowie zu den Vorschlägen zum Saarund Ruhrgebiet. Molotov an Stalin, 19.4.1946, in: AVP RF, F. 06, op. 86, p. 93, d. 298, S. 7–16, abgedruckt in: V. V. Aldošin – Ju. V. Ivanov – V. M. Semenov, Sovetsko-amerikanskie otnošenija 1945–1948. Rossija XX. Vek. Dokumenty. Moskau 2004, S. 205–210. 24 Wilfried Aichinger, Sowjetische Österreichpolitik 1943–1945. Materialien zur Zeitgeschichte. Bd. 1. Wien 1977, S. 59; Bischof, Austria in the First Cold War, 1945–1955, S. 43; Bischof, Between Responsibility and Rehabilitation, S. 63 f; Memorandum der Unterredung zwischen Churchill, Stalin und Roosevelt am 30.11.1943, in: FRUS 1943,

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Privilegierung der Österreicher diente dem sowjetischen Diktator gegenüber den Westmächten als weiteres Argument für die Wiederherstellung eines eigenen österreichischen Staates. Seinem Denken entsprach dies kaum. Er verfolgte eine gezielte Politik des Nation Buildings. Reparationen von Österreich? Das sowjetische Bestreben, eine (Mit-)Verantwortung Österreichs als Staat festzuhalten, kann, wie erwähnt, auch mit der berechtigten Hoffnung auf Reparationsleistungen vom Staat Österreich erklärt werden. Eine wesentliche Frage in der Behandlung Österreichs durch die Alliierten war, ob Österreich Reparationen erbringen sollte. Einerseits wurde Österreich von den Alliierten offiziell nicht als besiegter, sondern als befreiter Staat eingestuft, andererseits nahm Österreich de facto jedoch eine ambivalente Stellung zwischen besiegt und befreit ein (der „Sonderfall“). Ob man von sowjetischer Seite bei der Umformulierung des britischen Textentwurfs zur Deklaration zu Österreich dezidiert auf österreichische Reparationen abzielte, bleibt unklar. Aussagen westlicher Diplomaten deuten zumindest darauf hin.25 Zudem setzte man sich in Moskau mit dem wirtschaftlichen Potenzial und dem Umfang der Bodenschätze Österreichs detailliert auseinander. Die Industriebetriebe der „Ostmark“ (ab 1943 Alpen- und Donaureichsgaue) hatten in der Rüstungsproduktion des „Dritten Reiches“ eine bedeutende Rolle gespielt; vor allem die Grundstoffindustrie, der Maschinen-, Stahl- und Fahrzeugbau und die Elektro- und Textilindustrie.26 Im Laufe des Zweiten Weltkrieges, spätestens ab 1943, war man in Moskau bereits relativ genau über das wirtschaftliche Potenzial Österreichs, über seine Bedeutung für die Kriegswirtschaft im „Dritten Reich“, über die Bodenschätze und auch über den industriellen Schwerpunkt im Osten des Landes informiert. Dieses Wissen machte sich die Vorošilov-Kommission zunutze, als sie begann, Aufteilungsvarianten Österreichs in Besatzungszonen zu konzipieren. Einer der Vorschläge sah das Burgenland und jeweils die Hälfte von Niederösterreich und der Steiermark als sowjetische Zone vor. Damit, so hieß es im Endbericht der Kommission an Stalin am 12. Juni 1944, befände sich ein großer Teil der Conferences at Cairo and Teheran, S. 596–600, zuletzt in Auszügen abgedruckt in: Jussi Hanhimäki – Odd Arne Westad (Hg.), The Cold War. A History in Documents and Eyewitness Accounts. Oxford 2004, S. 26–30, hier: S. 29. 25 Stourzh, Um Einheit und Freiheit, S. 22. 26 Siehe Rolf Wagenführ, Die deutsche Industrie im Kriege. 1939–1945. 3. Aufl. (unveränderter Nachdruck der 1954 erschienenen 1. Aufl.). Berlin 2006, S. 103–105; siehe auch Norbert Schausberger, Rüstung in Österreich 1938–1945. Wien 1970.

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Industriebetriebe in der sowjetischen Zone.27 Die endgültige Zonenaufteilung vom Juli 1945 sah letztlich anders aus. Sie legte das oberösterreichische Mühlviertel, Niederösterreich, das Burgenland und Teile Wiens als sowjetische Besatzungszone fest. Es blieb damit bei einer „östlichen“ Variante. Eine intern Ende März 1945 diskutierte „südliche“ Variante, die die Steiermark und – das wirtschaftlich schwach entwickelte – Kärnten umfassen sollte, wurde von der sowjetischen Führung nicht aufgenommen.28 Auch die weitere sowjetische Vorgehensweise spricht für beabsichtigte Reparationsforderungen an Österreich: Zu einzelnen, aus sowjetischer Sicht besonders relevanten Industriebranchen holten die militärischen Nachrichtendienste in den letzten Wochen des Zweiten Weltkrieges, als sich die Rote Armee bereits auf österreichischem Territorium befand, ausführlichste Informationen ein, die oft bis ins kleinste Detail reichten.29 Vor allem die österreichischen Erdölvorkommen wurden rasch zum Objekt sowjetischer Begierde. Aufgrund des rasanten Ausbaus der Erdölindustrie durch die NS-Kriegswirtschaft war Österreich 1945 nach Rumänien der zweitgrößte Erdölproduzent Europas. Indes hatte der Erdölsektor in der UdSSR kriegsbedingt besonders schwere Einbußen erlitten, während sich auf der anderen Seite anglo-amerikanische Ölkonzerne nicht selten als wahre Kriegsgewinnler herausstellten. Vor allem die finanzielle Lage US-amerikanischer Firmen wie der Standard Oil New York hatte sich von 1938 bis 1945 ausgesprochen günstig entwickelt. Im Nahen Osten kontrollierten Briten und Amerikaner die reichsten Erdölvorkommen der Welt. Die USA, inzwischen weltweit zur ersten Erdölmacht

27 Filitov, Sowjetische Planungen zur Wiedererrichtung Österreichs 1941–1945, S. 33 f. 28 Einen solchen Vorschlag richtete der Leiter der 3. Europäischen Abteilung des NKID an A. Vyšinskij: „Wir, und nicht die Briten, werden an Jugoslawien und Italien grenzen. [...] auf diese Weise verringern wir die Möglichkeit einer britischen Einmischung in jugoslawische Angelegenheiten und gleichzeitig gewährleisten wir den Jugoslawen reale Chancen, eine kleine [Besatzungs-]Zone im Süden Österreichs zu erhalten bzw. zumindest an der Besatzung Österreichs auf dem Wege einer Stationierung kleiner symbolischer Kontingente jugoslawischer Truppen in diesen Bezirken teilzuhaben.“ Darüber hinaus sah Smirnov in einer sowjetischen Besatzung Südösterreichs die Möglichkeit, „noch mehr unseren Einfluss in diesem Teil der Balkanhalbinsel [zu] verfestigen und automatisch die die Briten schon jetzt beunruhigende Frage über die Gebietsforderungen Jugoslawiens an Österreich aufzuheben“. AVP RF, F. 07, op. 10, p. 159, d. 13, S. 1–3, A. Smirnov u. a. an A. Vyšinskij, 29.3.1945. Zur sowjetischen Haltung zum jugoslawischen Bestreben, in Österreich eine eigene Besatzungszone zu erhalten, siehe Stefan Karner – Peter Ruggenthaler, Stalin, Tito und die Österreich-Frage. Zur Österreichpolitik des Kreml im Kontext der sowjetischen Jugoslawienpolitik 1945 bis 1949, in: Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung 2008, S. 81–105. 29 RGASPI, F. 17, op. 121, d. 395, S. 1–3, L. Berija an G. Malenkov, Bericht über die Mineralölindustrie Österreichs, 13.4.1945.

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aufgestiegen, verfügten 1946 in den dortigen Erdölgebieten bereits über einen Besitzanteil von 40 Prozent. Noch stärker waren die Briten in den nahöstlichen Förderländern verankert, nicht zuletzt aufgrund ihrer hegemonialen Stellung im Iran, wo das Ölgeschäft von der Anglo-Iranian Oil Company beherrscht wurde.30 Mit der wirtschaftlichen Expansion der westlichen Ölgesellschaften vermochte die Sowjetunion mit den Kapazitäten ihrer eigenen Erdölfelder nicht Schritt zu halten. Stalin persönlich hatte schon 1944 auf diesen großen Schwachpunkt hingewiesen und gab damit den Impuls für erste Überlegungen und Versuche, auch außerhalb der Sowjetunion „Schwarzes Gold“ zu erschließen und auszubeuten.31 Erste sowjetische Versuche dieser Art gab es im Nordiran.32 Ähnlich ging man nun in Österreich vor. Auf der Potsdamer Konferenz forderte der sowjetische Außenminister Molotov – unter ausdrücklichem Verweis auf die in der Moskauer Deklaration zu Österreich festgeschriebene Mitverantwortungsklausel – noch explizit österreichische Reparationszahlungen in der Höhe von 250 Millionen Dollar. Beginnend mit dem 1. Juli 1945 sollten diese von Österreich in Raten (in Form von Warenlieferungen) innerhalb von sechs Jahren beglichen und auf die Sowjetunion, Großbritannien, die USA und Jugoslawien aufgeteilt werden. Molotov scheiterte mit seiner Forderung allerdings am Widerstand der Westmächte. Letztlich wurde von den USA, Großbritannien und der UdSSR eigens und einvernehmlich erklärt, von Österreich keine Reparationen verlangen zu wollen. Der entsprechende Beschluss fand Aufnahme in das geheime Protokoll, wurde auf Wunsch der Sowjetunion aber nicht explizit in der offiziellen Mitteilung über die Ergebnisse der Potsdamer Konferenz veröffentlicht. Unmittelbare Auswirkungen auf Österreichs Wirtschaft hatte das Potsdamer Abkommen vom 2. August 1945 in der Folge aufgrund der Übereinkunft über deutsche Reparationen. Diese sollten auch über Entnahmen in den Besatzungszonen Deutschlands und durch den alliierten Zugriff auf das deutsche Auslandsvermögen („Deutsches Eigentum“) abgegolten werden. In keinem anderen Land der Welt befand sich so viel „Deutsches Eigentum“ wie in Österreich. So boten sich der sowjetischen Besatzungsmacht in Österreich Mittel und Wege, um an „versteckte Reparationen“ zu gelangen. Neben De30 WIFO-Monatsberichte, Jg. 1948, S. 135; Auf die reichen Erdölvorkommen im Iran versuchte ab 1944 auch die Sowjetunion Zugriff zu erlangen, was natürlich Interessenskonflikte mit den Briten und US-Amerikanern nach sich zog. Siehe v. a. Jamil Hasanli, At the Dawn of the Cold War. The Soviet-American Crisis over Iranian Azerbaijan, 1941–1946. Harvard Cold War Studies Book Series. Lanham 2006, S. 46–59. 31 Vladislav M. Zubok, A Failed Empire. The Soviet Union in the Cold War from Stalin to Gorbachev. Chapel Hill 2007, S. 41. 32 Hasanli, At the Dawn of the Cold War, S. 46–59.

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montagen, die die Sowjetmacht unmittelbar seit dem Einmarsch in Österreich umfangreich betrieb,33 wurde nun der Zugriff auf das „Deutsche Eigentum“ – in erster Linie Firmen und Immobilien – systematisiert. Diese wurden eigens gegründeten sowjetischen Wirtschaftsverwaltungen einverleibt: der USIA (Verwaltung sowjetischen Eigentums in Österreich) und der (speziell für die Erdölbetriebe geschaffenen) SMV. Unter diesem Dach hatten die ehemals für die Rüstungswirtschaft im „Dritten Reich“ bedeutsamen Betriebe nun der sowjetischen Wirtschaft zu dienen. Nach dem Abschluss des Staatsvertrags 1955 wurden sie von der UdSSR gegen Ablösezahlungen an Österreich übergeben. Von 1945 bis 1963 zahlte Österreich der Sowjetunion insgesamt rund 36,8 Milliarden Schilling oder 1,4 Milliarden Dollar (in Preisen von 1955 geschätzt auf der Grundlage sowjetischer Akten)34 an „Reparationen“ und Besatzungskosten. De jure handelte es sich dabei um keine österreichischen, sondern um deutsche Reparationen. De facto konnte angesichts der komplexen wirtschaftlichen Verflechtungen seit 1938 freilich keine klare Trennlinie gezogen werden.35 Schlussbemerkungen Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass es für die sowjetische Führung spätestens seit Ende 1941 klar war, Österreich als eigenen Staat wiederherzustellen. Die Abtrennung Österreichs vom Deutschen Reich war eines von mehreren Mitteln zur nachhaltigen Schwächung Deutschlands. Die Nachkriegsplanungen beruhten freilich auf der Überzeugung, Hitler-Deutschland zu besiegen. Nachdem die Wehrmacht vor Moskau zurückgeschlagen worden war, tauschte sich Stalin mit dem britischen Außenminister Anthony Eden im Kreml zum ersten Mal konkret über Nach33 Stefan Karner, Zu den sowjetischen Demontagen in Österreich 1945/46. Ein erster Aufriss auf russischer Quellenbasis, in: Michael Pammer – Herta Neiß – Michael John (Hg.), Erfahrung der Moderne. Festschrift für Roman Sandgruber zum 60. Geburtstag. Stuttgart 2007; Stefan Karner, Sowjetische Demontagen in der Steiermark 1945, in: Historische Landeskommission für Steiermark (Hg.), Rutengänge. Studien zur geschichtlichen Landeskunde. Festgabe für Walter Brunner zum 70. Geburtstag. Graz 2010, S. 656–674. 34 Iber, Die Sowjetische Mineralölverwaltung in Österreich, S. 68. G. Bischof schätzte die Summe aller Zahlungen auf 1,33 Milliarden, H. Seidel auf 1,45 Milliarden US-Dollar. Bischof, Austria in the First Cold War, S. 87; Hans Seidel, Österreichs Wirtschaft und Wirtschaftspolitik nach dem Zweiten Weltkrieg. Wien 2005, S. 467. 35 Walter M. Iber, Die versteckten Reparationen. Zur wirtschaftlichen Ausbeutung Österreichs durch die Sowjetunion, 1945–1955/63, in: Wolfram Dornik – Johannes Gießauf – Walter M. Iber (Hg.), Krieg und Wirtschaft. Von der Antike bis ins 21. Jahrhundert. Innsbruck – Wien – Bozen 2012, S. 555–574.

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kriegsvorstellungen in Europa aus. Das Verfolgen des Zieles, Österreich als unabhängigen Staat wiederherzustellen, zieht sich, auf der Basis der zur Verfügung stehenden Quellen, wie ein roter Faden durch die Österreichplanungen des Kremls während des Zweiten Weltkrieges. Bis Kriegsende einigten sich die Alliierten in der EAC in der Österreichfrage prinzipiell nur auf die Schaffung eines Kontrollmechanismus (d. h. Einsetzung einer Militärregierung), die Schaffung einer Verwaltungsstruktur und auf einen langsamen Übergang von einer militärischen zu einer zivilen Verwaltung. Mit dem Einrücken der Roten Armee auf österreichisches Territorium Ende März 1945 entschied Stalin jedoch, in Österreich eine provisorische österreichische Regierung nach dem Prinzip der Drittelparität (ein Drittel Kommunisten, ein Drittel Sozialisten, ein Drittel Bürgerliste) einzusetzen. Stalin ging damit einseitig vor und stellte die Westalliierten vor vollendete Tatsachen.36 Unter Stalin war die Österreichfrage integraler Bestandteil der sowjetischen Deutschlandpolitik. Aus der Sicht des Kremls ging es in erster Linie um eine dauerhafte Schwächung Deutschlands. Auch wenn Stalin öffentlich immer von einer österreichischen Nation sprach, so war Österreich für ihn „hauptsächlich von Deutschen besiedelt“.37 Den „Anschluss“ 1938 bezeichnete Stalin als „Sammeln deutscher Länder“. Die Einbringung einer Mitverantwortungsklausel in die Moskauer Deklaration auf der Außenministerkonferenz 1943 bot der Sowjetunion in der Folge die Möglichkeit, zunächst direkte Reparationen von Österreich zu fordern. Dies lehnten die Westmächte in Potsdam ab. Durch den Zugriff auf das „Deutsche Eigentum“ in Österreich und die verworrene rechtliche Lage in der Definition desselben konnte die Sowjetunion die sowjetische Besatzungszone wirtschaftlich beliebig ausbeuten. Dabei bediente sie sich verschiedener taktischer Varianten, die sie mit unterschiedlichen Argumentationslinien untermauerte. In den Papieren des Außenministeriums nach Kriegsende ist immer wieder anstelle des Staatsvertrages von einem Friedensvertrag mit Österreich die Rede, was die eigentliche Haltung sowjetischer Diplomaten zu Österreich (wie zu einem Feindstaat) unterstreicht. Die Abtrennung Österreichs von Deutschland und die Wiedererrichtung als eigener Staat sind in diesem Lichte gesehen ein Bestandteil der Zerstückelungspolitik Deutschlands, deren 36 Siehe dazu im Detail Stefan Karner – Peter Ruggenthaler, Unter sowjetischer Kontrolle: Zur Regierungsbildung in Österreich 1945, in: Stefan Karner – Barbara Stelzl-Marx (Hg.), Die Rote Armee in Österreich. Sowjetische Besatzung 1945–1955. Beiträge. Graz – Wien – München 2005, S. 97–140. 37 AVP RF, F. 059, op. 1, p. 354, d. 2412, S. 21–24, V. Molotov an I. Maiskij, 21.11.1941, abgedruckt in: Laufer – Kynin (Hg.), Die UdSSR und die deutsche Frage 1941–1948. Bd. 1, S. 11 f.

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Planung Grundkonstante sowjetischer Überlegungen während des Zweiten Weltkrieges war.38 Der sowjetischen Führung ging es auch um eine Neuordnung des Alpen- und Donauraums nach der Prämisse, das Entstehen einer Großmacht in diesem für die UdSSR strategisch wichtigen Gebiet zu unterbinden und Deutschland die Möglichkeit eines Wiedererstarkens nach dem Krieg zu nehmen. Daher blieb die Österreichfrage aus sowjetischer Sicht stets von höchstem Interesse und stand nicht nur im „Schatten der deutschen Frage“, sondern war Teil von ihr. Die Besatzung Ostösterreichs war für die Sowjetunion ab 1945 auch ein bedeutender Eckstein ihrer Hegemonialpolitik über Mittel- und Südosteuropa: Die sowjetischen Truppen standen damit nördlich und südlich der Tschechoslowakei (aus der 1946 die sowjetischen Truppen abgezogen wurden) und die Besatzung Österreichs gewährleistete die Truppenpräsenz der UdSSR in Ungarn und Rumänien.39 Die Junktimierung der österreichischen mit der deutschen Frage bis Anfang 1955 gewährleistete der Sowjetunion letztlich auch, dass die deutsche Frage auf Eis gelegt war, während man eine Lösung der vermeintlich leichteren Österreichfrage – oft mit fadenscheinigen Begründungen – stets torpedierte.40 Betrachtet man die Österreichfrage als Teil der gesamtdeutschen Frage, erscheint es logisch, dass es der Sowjetunion um eine ihren Interessen dienende Lösung für eine Neuordnung Mitteleuropas ging. Die offizielle sowjetische Haltung und Propaganda stellten Österreich stets als Opfer des Nationalsozialismus dar, letztlich ein aus Moskauer Sicht stichhaltiges Argument gegenüber den Westmächten für die Wiedererrichtung eines eigenen österreichischen Staates, was schlussendlich einem wichtigen Mittel der dauerhaften Schwächung Deutschlands gleichkam. Die Moskauer Deklaration zu Österreich ist damit auch ein gutes Beispiel, warum es unmöglich ist, ohne sowjetische Quellen ein vollständiges Bild zu zeichnen. Für die nach Hegemonialmacht strebende Sowjetunion war sie damit auch ein Eckstein ihrer Politik der Einflusssphären. Stalin hatte sich in der Österreichfrage – vor allem gegenüber Churchills Konföderationsplänen – durchgesetzt und deutlich aufgezeigt, dass die Sowjetunion keine Alternative zu einem wieder zu errichtenden Österreich als Kleinstaat zulassen würde. 38 Laufer – Kynin (Hg.), Die UdSSR und die deutsche Frage 1941–1948. Bd. 1, S. XLIII. 39 Peter Ruggenthaler, Warum Österreich nicht sowjetisiert wurde: Sowjetische Österreich-Politik 1945 bis 1953/55, in: Stefan Karner – Barbara Stelzl-Marx (Hg.), Die Rote Armee in Österreich. Sowjetische Besatzung 1945–1955. Beiträge. Graz – Wien – München 2005, S. 649–726, hier: S. 674–686. 40 Peter Ruggenthaler, Stalins großer Bluff. Die Geschichte der Stalin-Note in Dokumenten der sowjetischen Führung. München 2007 (= Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte Bd. 95), S. 115–132.

Walter M. Iber – Peter Ruggenthaler

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Bei der Moskauer Deklaration zu Österreich handelte es sich freilich um „den kleinsten gemeinsamen Nenner der Alliierten“,41 aber auch um die erste Festlegung der Alliierten, Österreich als Staat wiederherstellen zu wollen. Im Oktober 1943 wurde dieser Eckstein schriftlich fixiert. Darin liegt die primäre Bedeutung der Moskauer Deklaration zu Österreich 1943 aus sowjetischer Sicht.

41 Beer, Die „Befreiungs- und Besatzungsmacht“ Großbritannien in Österreich, S. 34.

Aleksej Filitov

Österreich in den sowjetischen strategischen Planungen (1941–1945)

Welche strategischen Interessen verfolgte die UdSSR in Bezug auf Österreich während des Zweiten Weltkrieges? Hier können drei „Essentials“ hervorgehoben werden. Zum Ersten ging es um die Wiederherstellung der österreichischen Staatlichkeit, die Gewährleistung der vollen und effektiven Souveränität des österreichischen Staates. Zum Zweiten war es für die sowjetische Seite wichtig, bei der Umsetzung der Kontrolle über die Prozesse der Entnazifizierung der österreichischen Wirtschaft und Politik mit den westlichen Alliierten eine gleichberechtigte Basis herzustellen. Und zum Dritten wollte man den Schaden, der der Sowjetunion durch die Aggression Hitler-Deutschlands – in die auch Österreicher involviert gewesen waren, nachdem das Land selbst durch den Anschluss seine Selbstständigkeit verloren hatte – zugefügt worden war, zumindest teilweise ersetzt bekommen. Was den ersten Punkt betrifft, so wurde die sowjetische Position am 16. Dezember 1941 während eines Gesprächs des britischen Außenministers Anthony Eden mit den sowjetischen Führern Josef Stalin und Vjačeslav M. Molotov ganz klar formuliert: „Österreich solle als unabhängiger Staat wiederhergestellt werden.“1 Eden stimmte diesem Standpunkt zu. In weiterer Folge stellte sich jedoch heraus, dass sich hinter den nach außen so ähnlichen Formulierungen gewisse Unterschiede in den Vorstellungen über Österreichs Zukunft verbargen. Im März 1943 berichtete der sowjetische Botschafter in den USA, Maksim M. Litvinov, nach Moskau, dass bei den britisch-amerikanischen Verhandlungen in den USA ein Entwurf verhandelt worden sei, demzufolge der österreichische Staat in Zukunft „als Einheit mit der Tschechoslowakei“2 existieren sollte. Auch eine Variante der Wiederherstellung der Habsburger Monarchie sei erörtert worden. Besonders ambi1

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AVP RF, F. 048, op. 48, p. 431, d. 10, S. 34–50, Aufzeichnungen des Gesprächs zwischen Stalin, Molotov und Eden, 16.12.1941, abgedruckt in: Georgij P. Kynin – Jochen P. Laufer, Die UdSSR und die deutsche Frage 1941–1948. Dokumente aus dem Archiv für Außenpolitik der Russischen Föderation. Bd. 1: 22. Juni 1941 bis 8. Mai 1945. Berlin 2004, S. 19–30, hier: S. 21. AVP RF, F. 48z, op. 24a, d. 1, p. 46, S. 46.

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valent erschien in den Berichten Litvinovs die Position der USA. Während Eden dem sowjetischen Gesprächspartner versicherte, dass „der Präsident [Roosevelt] und Hull [der US-Außenminister] […] ihr Desinteresse an der Wiederherstellung der Habsburgermonarchie verkündet hatten“, erhielt der sowjetische Botschafter von seinem italienischen Gesprächspartner, Graf Carlo Sforza, eine völlig andere Information: „Das Kokettieren der Vereinigten Staaten mit Otto von Habsburg geht vom Weißen Haus aus, und […] der Präsident steht generell unter dem Einfluss diverser monarchistischer Personen, die sich in den USA und Italien aufhalten.“3 Aktiv wurden auch Pläne zur Errichtung unterschiedlicher Varianten von europäischen Föderationen diskutiert, in die das seiner Souveränität beraubte Österreich eingegliedert werden sollte. Auf sowjetischer Seite riefen diese Pläne Kritik hervor. In einem Schreiben des Volkskommissars für auswärtige Angelegenheiten Molotov an den Botschafter Großbritanniens, Sir Archibald John Clark Kerr, vom 7. Juni 1943, in dem es größtenteils um die Frage der Politik gegenüber Ungarn ging, war ein überaus aussagekräftiger Absatz enthalten, der Österreich ganz direkt betraf: „Was die Gründung einer Föderation in Europa, bestehend aus Polen, der Tschechoslowakei, Jugoslawien und Griechenland, der auch Ungarn und Österreich angehören sollen, betrifft, so hält es die sowjetische Regierung für falsch, sich für die Errichtung einer solchen Föderation zu engagieren, so wie sie auch die Einbeziehung Ungarns und Österreichs in dieselbe als falsch einschätzt.“4 Diese Position wurde von Litvinov, der im August 1943 nach Moskau zurückberufen worden war und fortan als stellvertretender Volkskommissar für auswärtige Angelegenheiten fungierte, in einem für die bevorstehende Moskauer Außenminister-Konferenz der drei Mächte vorbereiteten Bericht vom 9. Oktober 1943 mit Argumenten untermauert dargestellt.5 Auf dieser Konferenz trafen die Verbündeten der Anti-Hitler-Koalition den historischen Beschluss, das „freie und unabhängige Österreich“6 wiederherzustellen. Ab Anfang 1944 begann die sowjetische Seite, aktiv an der Frage der Besetzung Österreichs und der Besatzungszonen zu arbeiten. Die entsprechenden Vorschläge und Entwürfe wurden im Rahmen der „Waffenstillstands-Kom3 4 5

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Ebd., S. 49. Hervorhebung durch den Autor. Sovetsko-anglijskie otnošenija vo vremja Velikoj Otečestvennoj vojny 1941–1945. Bd. 1. Moskau 1983, S. 389. AVP RF, F. 012, op. 9, p. 132, d. 4, S. 178–209, Bericht Litvinovs an Molotov, 9.10.1943, abgedruckt in: Kynin – Laufer, Die UdSSR und die deutsche Frage 1941–1948, S. 194– 214, hier: S. 210–212. Vgl. Sovetskij Sojuz na meždunarodnych konferencijach perioda Velikoj Otečestvennoj vojny 1941–1945gg. Bd. 1, Moskau 1984, S. 328.

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Alliierte Planungen zu Österreich

mission“ beim Volkskommissariat für auswärtige Angelegenheiten der UdSSR ausgearbeitet, die gemäß dem Politbürobeschluss des ZK der VKP(b) vom 4. September 1943 gegründet worden war. Zum Vorsitzenden der Kommission wurde Marschall Kliment E. Vorošilov ernannt, weshalb sie für gewöhnlich auch als Vorošilov-Kommission bezeichnet wird. Am 30. April 1944 wurde die sowjetische Position zur Zonenaufteilung in Österreich folgendermaßen formuliert: „Zur Besatzungszone der UdSSR zählen folgende Provinzen: Burgenland, die Hälfte von Niederösterreich, die Hälfte der Steiermark; zur Zone des Vereinigten Königreichs zählen: die [andere] Hälfte von Niederösterreich, die [andere] Hälfte der Steiermark und die Hälfte von Kärnten; zur Zone der USA zählen: Oberösterreich, Salzburg, Tirol und die [andere] Hälfte von Kärnten. Die Bevölkerungszahl in jeder der drei Zonenwird etwa 1,5 Millionen betragen.“7

Die Position des Westens wurde in einem Vorschlag des britischen Vertreters in der Europäischen Beratenden Kommission (EAC), Sir William Strang, vom 21. August 1944 dargestellt. Darin wurde eine zweiseitige, britisch-sowjetische Besatzung Österreichs vorgesehen, wobei folgende Aufteilung angedacht war: „Zone des Vereinigten Königreiches – die Bundesländer Salzburg, Tirol, Kärnten und Steiermark. Bevölkerung – rund 2,25 Millionen Menschen. Fläche – 19.000 Quadratmeilen. Die sowjetische Zone – die Bundesländer (Gaue) Oberösterreich und Niederösterreich mit Ausnahme des Gaues Wien. Bevölkerung jetzt ca. 2,5 Millionen Menschen, Fläche: 13.000 Quadratmeilen.“ In Bezug auf Österreichs Hauptstadt Wien wurde gesagt, dass sie „derzeit einen separaten Reichsgau darstellt, verhältnismäßig die höchste Bevölkerungszahl hat (rund 25 % der Gesamtbevölkerung) und eine so wichtige Rolle im Leben Österreichs spielt, dass sie von den Streitkräften aller drei Mächte besetzt werden muss, als eine gemeinsame Zone“. Im Schreiben wurde erklärt, dass die vorgeschlagene Grenze mit den Grenzen der Militärkreise übereinstimme, „die auch wirtschaftliche Einheiten darstellen“.8 Der Vorschlag von Strang konnte von sowjetischer Seite kaum als annehmbare Verhandlungsbasis betrachtet werden. Der Ausschluss des „Großraums

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AVP RF, F. 06, op. 6, p. 15, d. 150, S. 99–104, Aufzeichnungen aus dem Tagebuch der Waffenstillstandskommission zur 98. Sitzung der Vorošilov-Kommission, 30.4.1944, abgedruckt in: Kynin –Laufer, Die UdSSR und die deutsche Frage 1941–1948, S. 381– 385, hier: S. 385. AVP RF, F. 0425, op. 1, p. 7, d. 41, S. 3 f.

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Wien“ aus der sowjetischen Zone hob deren Vergrößerung (nach Fläche und Bevölkerung), die der Entwurf Strangs formal im Vergleich zum Entwurf der Vorošilov-Kommission vorsah, wieder auf. Die sowjetische Antwort auf Strangs Plan erfolgte am 25. November 1944 in Form eines in die EAC eingebrachten Entwurfes für das „Protokoll über die Besatzungszonen Österreichs und über die Verwaltung der Stadt Wien“. Das Gebiet von Wien wurde darin nicht in den Grenzen dargestellt, die von den Nationalsozialisten gezogen worden waren und die Strang beibehalten wollte, sondern innerhalb der alten, vor dem Anschluss geltenden Grenzen.9 Die westlichen Vertreter in der EAC reagierten lange nicht auf diese sowjetische Initiative. Erst am 30. Januar 1945 brachte die britische Seite in der EAC einen neuen Vorschlag ein, laut dem der UdSSR als Besatzungszone nur Niederösterreich (ohne Wien) zugestanden wurde; die Steiermark und Kärnten fielen demnach Großbritannien zu, Salzburg und Oberösterreich den USA und Tirol und Vorarlberg Frankreich. Wie aus dem Bericht von vier sowjetischen Diplomaten (A. A. Smirnov, K. V. Novikov, A. A.Roščin und S. T. Bazarov) vom 29. März 1945 hervorgeht, wurde dieser Plan von ihnen kritisch aufgenommen. Sie waren der Meinung, die Einbeziehung der Steiermark und Kärntens in die britische Besatzungszone würde zu einer Stärkung des britischen Einflusses im benachbarten Jugoslawien führen – „ähnlich wie es in Griechenland der Fall ist“ (wo sich die britischen Truppen aktiv in die inneren Angelegenheiten des Landes einmischten).10 Es wurde vorgeschlagen, darauf zu bestehen, diese beiden Bundesländer in die sowjetische Zone zu integrieren. Die höhere sowjetische Führung wollte jedoch einer Konfrontation mit dem Westen ausweichen und nahm diese Vorschläge nicht an. Die Beziehungen zwischen der UdSSR und den Westmächten in Bezug auf die Österreichfrage spitzten sich Ende April, Anfang Mai 1945 unerwartet zu. Die Arbeit der EAC zur Festlegung der Zonen wurde verzögert. Die westlichen Diplomaten begannen, darauf zu bestehen, dass ihre Vertreter rasch im befreiten Wien eintreffen sollten – unabhängig davon, ob die Frage der Zonengrenzen gelöst war oder nicht. Von sowjetischer Seite hatte man gegen ihre Anreise grundsätzlich nichts einzuwenden – jedoch erst, nachdem man in der EAC in der Frage der Zonengrenzen und der Errichtung eines Kontrollmechanismus der Alliierten zu einer Übereinstimmung gelangt war. Es folgte ein Austausch überaus scharfzüngiger Noten.11 9 Ebd., S. 6 f. 10 AVP RF, F. 07, op. 10, p. 13, d. 159, S. 1–3. 11 Vgl. insbesondere AVP RF, F. 066, op. 25, p. 118a, d. 1, S. 16–19, S. 64 f.

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Letztendlich wurde der Konflikt durch eine Kompromisslösung beigelegt. Wie aus einem Schreiben des US-Präsidenten Harry S. Truman hervorgeht, das Stalin am 15. Juni 1945 erhielt, fand die Reise der drei westlichen Missionen nach Wien auch ohne die abgestimmte Position der EAC zu Österreich statt.12 In Stalins Antwortschreiben vom 16. Juni wurde angemerkt, dass es notwendig sei, „dass die Europäische Beratende Kommission in den nächsten Tagen ihre Arbeit zur Einteilung der Besatzungszonen in Österreich und Wien beendet“.13Ein entsprechendes Abkommen wurde am 9. Juli 1945 unterzeichnet. Fünf Tage zuvor, am 4. Juli, hatte man sich auf einen Kontrollmechanismus für Österreich geeinigt. Den Alliierten gelang es somit, trotz einer zeitweiligen Verschärfung der Beziehungen, das Programm zur Wiederherstellung der österreichischen Staatlichkeit, das bereits zur Zeit des Zweiten Weltkrieges ausgearbeitet worden war, erfolgreich zu Ende zu führen. Unter dem Begriff „Verantwortung“, der in die Moskauer Deklaration aufgenommen wurde, verstand man die Verpflichtung eines wiederherzustellenden österreichischen Staates, seinen Teil zur Wiedergutmachung des Schadens, den die nationalsozialistischen Aggressoren ihren Opfern zugefügt hatten, beizutragen. Leider war dieses Problem während des Krieges nicht rechtzeitig gelöst worden. Es wurde erstmals bei der Potsdamer Konferenz erörtert. Am 24. Juli 1945 brachte die sowjetische Delegation bei einer Sitzung der Außenminister einen Vorschlag „Über Reparationen von Österreich“ ein. Darin wurde vorgeschlagen, diese in einer Höhe von 250 Millionen Dollar auszuzahlen, und zwar zu „gleichen Teilen innerhalb der nächsten sechs Jahre, beginnend mit 1. Juli 1945“, und „in erster Linie in Form von Produktionslieferungen aus der österreichischen Industrie“. Die Reparationszahlungen sollten an die UdSSR, Großbritannien, die USA und Jugoslawien erfolgen.14 Die Reaktion der westlichen Partner erwies sich als überaus widersprüchlich. Die einen Tag zuvor bei der Konferenz gegründete Wirtschaftskommission zählte Österreich einstimmig zu jenen Ländern, die zu Reparationszahlungen verpflichtet waren, auf Ebene der Außenminister und der Regierungschefs vertraten die westlichen Alliierten jedoch die genau gegenteilige Position. Der US-Außenminister James Byrnes sagte, Lieferungen aus der laufenden Produktion seien ohne Anleihen nicht möglich, aber „wir kön12 Perepiska Predsedatelja Soveta Ministrov SSSR s Prezidentami SŠA i Prem’er-Ministrami Velikobritanii vo vremja Velikoj Otečestvennojvojny 1941–1945. Bd. 2, Moskau 1957, S. 242 f. 13 Ebd., S. 244 f. 14 Sovetskij Sojuz na meždunarodnych konferencijach perioda Velikoj Otečestvennoj vojny 1941–1945. Berlinskaja (Potsdamskaja) konferencija rukovoditelej trech sojuznich deržav – SSSR, SŠA i Velikobritanii 17 julija – 2 avgusta 1945g. Moskau 1984, S. 340.

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nen und wollen keine Darlehen geben“. Es wurde außerdem argumentiert, dass die Reparationsentnahmen die Hilfsleistungen, die Österreich von der UNRRA erhalten sollte, schmälern oder ganz wirkungslos machen würden. Diesbezüglich bemerkte Molotov: „Im Beschluss über die Hilfsleistungen seitens der UNRRA steht nichts darüber, dass ein Land, das diese Hilfsleistungen erhält, nicht auch Reparationen zahlen kann.“15 Auf westlicher Seite wusste man nicht, was man dem entgegensetzen sollte. Zu einer unerwarteten Wendung bei der Erörterung dieses Problems kam es bei einer Sitzung der Regierungschefs am 28. Juli, als Stalin erklärte: „Man könnte sich darauf einigen, dass man von Österreich keine Reparationszahlungen einhebt, nachdem Österreich kein eigenständiger gewesen Staat war […] Österreich hatte keine eigenen Streitkräfte, es wäre also möglich, von Österreich keine Reparationen zu verlangen.“16 Schließlich erhielt die Sowjetunion entsprechend dem Potsdamer Abkommen die Rechte auf das ehemalige deutsche Eigentum in Ostösterreich, aus dem sie jenen Schadenersatz herausholen sollte, der ursprünglich mittels Reparationszahlungen geleistet werden hätte sollen. Diese Lösung war im Vergleich zu den ursprünglichen sowjetischen Vorschlägen ganz klar nachteilig für die UdSSR sowie auch für Österreich. Darin waren weder Fristen noch die Form oder das Ausmaß der Beschlagnahmungen festgelegt, und Streitigkeiten und Konflikte zwischen den sowjetischen und den österreichischen Behörden waren dadurch quasi vorprogrammiert. Die optimale Variante zur Lösung der Frage, wie der Schaden, den die UdSSR durch Hitlers Aggression erlitten hatte, zu kompensieren sei, wurde bei einer Unterredung zwischen den Vertretern des sowjetischen Kommandos und der provisorischen österreichischen Regierung am 12. Mai 1945 diskutiert. Der Wiener Bürgermeister Theodor Körner merkte an: „Es wäre für Österreich besser, die Strafe, die es für die Beteiligung am Krieg zu bezahlen hat, in Naturalien abzubezahlen, und ihm dafür seine Betriebe zu lassen.“ Regierungschef Karl Renner präzisierte den Vorschlag des Bürgermeisters: „Alle Maschinen, die die Russen ausführen wollen, zu russischem Eigentum erklären, und in der Zwischenzeit österreichische Arbeiter dort beschäftigen.“ Denselben Gedanken äußerte auch der damalige Minister für Handel und Wiederaufbau, Julius Raab. Als Reaktion auf diese Wünsche erklärte Marschall Fedor I. Tolbuchin: „Wir werden alle deutschen Rüstungsbetriebe sowie alle Industriebetriebe, die den Deutschen gehört haben, demontieren. Die Leicht-, Lebensmittel- und Kommunalindustrie sowie jene Industriezwei15 Ebd., S. 200–202. 16 Ebd., S. 214.

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ge, die mit der Grundversorgung der breiten Masse in Zusammenhang stehen, bleiben, sofern sie nicht deutsches Eigentum waren, in Österreich, wir erheben auf sie keinerlei Ansprüche. Wir sind bereit, mit Ihnen die Frage der gemischten Industrie, wo deutsches und österreichisches Kapital sich vermischt hat, zu diskutieren, wobei es wünschenswert wäre, zu diesem Zweck eine Kommission aus Vertretern des sowjetischen Kommandos und kompetenten Vertretern der österreichischen Regierung einzurichten.“17 Leider wurden die Ideen, die im Rahmen dieses sowjetisch-österreichischen Meinungsaustausches am 12. Mai geäußert wurden, nicht weiterentwickelt. Der Weg der Zusammenarbeit, der den strategischen Interessen der UdSSR und den richtig verstandenen Interessen des österreichischen Volkes entsprochen hätte, wurde durch den einsetzenden „Kalten Krieg“ verhindert. Übersetzung aus dem Russischen: Julija Schellander

17 AVP RF, F. 012, op. 6, p. 92, d. 341, S. 46 f., 52.

Siegfried Beer

SOE, PWE und schließlich FO Die Briten als Vorreiter der alliierten Österreichplanung, 1940–1943

Historiker und Historikerinnen beschäftigen sich seit gut vierzig Jahren mit der Österreichpolitik der Alliierten im Zweiten Weltkrieg. Schon 1972 glaubte Fritz Fellner zu wissen, dass „die Schwächung Deutschlands, und nicht die Unterstützung einer österreichischen Nationalidee die eigentliche Motivation für alle Pläne der Wiederherstellung Österreichs war“.1 1988/89 veröffentlichte der kanadische Historiker Robert H. Keyserlingk eine lange2 und eine kurze Version seiner Forschungen, in deren Letzterer er zusammenfassend und apodiktisch festhielt: „The 1943 Moscow Declaration emerged not as political policy but as part of a wartime propaganda campaign“, um dann mit der Behauptung nachzusetzen, es habe einen anglo-amerikanischen Konsens gegeben, „that in the long run an Austrian State would be precarious and dangerous to European security“.3 Ich aber halte heute dafür, dass sich die österreichische Historikerzunft viel zu lange von den Analysen Keyserlingks hat leiten lassen,4 gegen dessen verengte Interpretation der Entstehungsgeschichte der alliierten Österreichdeklaration vom 1. November 1943 sich einzig Gerald Stourzh stellte.5 Nunmehr hat der Wiener Politologe und Historiker Peter Pirker durch überzeugende neue Quellenfunde zur frühen 1

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Fritz Fellner, Die außenpolitische und völkerrechtliche Stellung Österreichs 1938: Österreichs Wiederherstellung als Kriegsziel der Alliierten, in: Erika Weinzierl – Kurt Skalnik (Hg.), Österreich. Die Zweite Republik. Graz – Wien – Köln 1972, Bd. 1, S. 64. Robert H. Keyserlingk, Austria in World War II. An Anglo-American Dilemma. Kingston – Montreal 1988. Robert H. Keyserlingk, Austria Abandoned. Anglo-American Propaganda and Planning for Austria, 1938–1945, in: F. Parkinson (Hg.), Conquering the Past: Austrian Nazism Yesterday & Today. Detroit 1989, S. 237. Es ist zuzugeben, dass ich leider selbst auch dazugehörte. Günter Bischof hat Keyserlingks Studien schon 1995 als „definitiv“ eingestuft, immerhin mit dem Zusatz „sollten nicht noch dramatische Aktenfunde gemacht werden, die nach 50 Jahren eher nicht zu erwarten sind“. Vgl. Günter Bischof, Anglo-amerikanische Planungen und Überlegungen der österreichischen Emigration während des Zweiten Weltkrieges für Nachkriegs-Österreich, in: Manfried Rauchensteiner – Wolfgang Etschmann (Hg.), Österreich 1945. Ein Ende und viele Anfänge. Graz – Wien – Köln 1997, S. 48, Fn. 24. Gerald Stourzh, Um Einheit und Freiheit. Staatsvertrag, Neutralität und das Ende der Ost-West-Besetzung Österreichs 1945–1955. Wien 1998, S. 24.

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britischen Österreichplanung die von Keyserlingk und dessen Anhängern verfochtene These gründlich widerlegt.6 Es zeigt sich nämlich, dass nicht nur oder so sehr Propagandaabteilungen der alliierten Großmächte, sondern vor allem auch geheim- und nachrichtendienstliche Organisationen7 und anglo­ amerikanische Thinktanks die österreichbezogene Planung, insbesondere in den Jahren 1939 bis 1942, trugen und wesentlich prägten, wenn auch nicht bestimmen konnten. In einer längeren Perspektive der Österreichpolitik Londons seit 1918/19 ist von einer Haltung des wohlwollenden Desinteresses der britischen Regierungen der Zwischenkriegszeit auszugehen, die zudem von signifikanten Ambivalenzen getragen war. Man unterstützte zwar die eigenstaatliche Souveränität des zentraleuropäischen Kleinstaats, Österreich jedoch war in der Interessensskala Großbritanniens im besten Fall von sekundärer Bedeutung.8 Dementsprechend schnell, trotz verbaler Proteste, erfolgte die De-facto-Anerkennung des „Anschlusses“ durch die schnelle Umwandlung der britischen Gesandtschaft in Wien in ein Generalkonsulat schon im April 1938. Daraus leitete sich früh eine De-jure-Akzeptanz der Annexion Österreichs ab.9 6

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Meine Ausführungen beruhen nur teilweise auf eigener forschender Beschäftigung mit der britischen Österreichpolitik im Zweiten Weltkrieg. Sie sind in erster Linie der herausragenden Studie „Subversion deutscher Herrschaft. Der britische Kriegsgeheimdienst SOE und Österreich“ (Wien 2012) von Peter Pirker verpflichtet. Geheimdienstliche Organisationen der Briten werden in der einschlägigen Literatur zu Österreich im Zweiten Weltkrieg nicht vor Mitte der 1980er-Jahre erwähnt, wenngleich eine erste Arbeit u. a. zum Wirken der SOE schon 1980 erschien: David Stafford, Britain and European Resistance, 1940–1945. London 1980. Keyserlingk erwähnt SOE in seinem Buch lediglich zweimal. Der amerikanische Kriegsgeheimdienst OSS wurde schon etwas früher wahrgenommen, erstmals bei Gaspar L. Pinette, Die Österreichpolitik der Vereinigten Staaten von Amerika zwischen 1941 und 1945, in: Innsbrucker Historische Studien, Jg. 5, 1982, S. 117–147. Immerhin habe ich selbst schon 1985 festgehalten: „Wir wissen heute, dass die ersten Impulse zu einer alliierten Willenserklärung zur Frage Österreich von den britischen Propaganda- und Geheimdienststellen (eigene Hervorhebung) ausgegangen sind, die beim Foreign Office auf eine für die Erweckung eines breiten österreichischen Widerstandes notwendige Offenlegung der alliierten Nachkriegsintentionen um Österreich drängten.“ Siegfried Beer, Alliierte Planung, Propaganda und Penetration 1943–1945. Die künftigen Besatzungsmächte und das wiederzuerrichtende Österreich, von der Moskauer Deklaration bis zur Befreiung, in: Stefan Karner (Hg.), Das Burgenland im Jahr 1945. Beiträge zur Landes-Sonderausstellung 1985. Eisenstadt 1985, S. 70. Vgl. dazu Siegfried Beer, Der „unmoralische“ Anschluss. Britische Österreichpolitik zwischen Containment und Appeasement, 1931–1934. Wien 1988. In einem FO-Memorandum vom 25. Mai 1945 wurde das folgendermaßen charakterisiert: „Thenceforward His Majesty’s Government can be said, for all purposes, to have recognized the annexation of Austria by Germany.“ In: The National Archives (TNA), PREM 4/33/7, W. P. (43) 218.

Siegfried Beer

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Es kann und muss hier nicht noch einmal über die mannigfaltige, auf Archivstudien in London, Washington, Frankreich und schließlich auch Moskau basierenden Forschungen und deren Ergebnisse zur Nachkriegsplanung für Österreich im Einzelnen berichtet werden.10 Jedenfalls hat sich bestätigt, was neben anderen Interpreten auch von diesem Autor schon öfter behauptet wurde: Die Briten waren im Großen und Ganzen bezüglich der alliierten Österreichpolitik Vordenker und Vorreiter, zumindest für die Jahre 1940 bis 1946/47.11 Nirgends sonst wurde so früh und vor allem so kontinuierlich über die Behandlung und Zukunft Österreichs während des Krieges und für die Zeit danach nachgedacht und im gegebenen Rahmen auch agiert wie etwa im britischen Kriegsgeheimdienst SOE (Special Operations Executive) und dessen frühen Vorläufern. Wer oder was war nun die SOE, welche sich schon ab Herbst 1940 intern Gedanken darüber gemacht hat, was mit dem Österreich der Vor-AnschlussÄra, grob gesprochen also der Ersten Republik, nach der Niederringung Hitler-Deutschlands geschehen sollte? Interessanterweise hat London schon im April 1938, also ganz unter dem Eindruck des Anschlusses Österreichs, erste Schritte zur Schaffung geheimer und subversiver Einheiten gegen den sich abzeichnenden Kriegsfeind Deutschland gesetzt. Es waren dies im Wesentlichen drei Abteilungen: die Sabotageeinheit D Section des seit 1909 bestehenden Auslandsgeheimdienstes MI6 (auch SIS, Secret Intelligence Service genannt); die Forschungsabteilung MI/R des War Office (später als SO2 geführt) und eine „Electra House“ (später SO1) genannte Organisation für subversive Propaganda.12 Daraus wurde ab Juli 1940, also knapp nach Amtsantritt des neuen Kriegspremiers Winston S. Churchill, die SOE, welche unter der Oberhand des Ministeriums für ökonomische Kriegsführung (MEW, Ministry of Economic Warfare) stand, später zunehmend auch im Einfluss des Foreign Office (FO), und die für graue und schwarze Propaganda zuständige Political Warfare Executive (PWE). Die „German and Austrian Section“ von SOE (auch X-Section genannt) wurde im November 1940 in der Londoner Baker Street etabliert. Sie stand 10 Mit anglo-amerikanischem Schwerpunkt vor allem auch: Günter Bischof, Between Responsibility and Rehabilitation: Austria in International Politics 1940–1950, PhD Harvard University 1989, S. 1–78. In überarbeiteter Form erschienen als: Austria in the First Cold War, 1945–1955. The Leverage of the Weak. London 1999. 11 Vgl. Siegfried Beer, Die „Befreiungs- und Besatzungsmacht“ Großbritannien in Österreich, 1945–1955, in: Manfried Rauchensteiner – Robert Kriechbaumer (Hg.), Die Gunst des Augenblicks. Neuere Forschungen zu Staatsvertrag und Neutralität. Wien – Köln – Weimar 2005, S. 32. 12 Zu deren Österreichpolitik siehe: Peter Pirker, Gegen das „Dritte Reich“. Sabotage und transnationaler Widerstand in Österreich und Slowenien 1938–1940. Klagenfurt 2010.

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zunächst unter der Leitung von Captain Brien Clarke, bald jedoch von Major Ronald Thornley, ab 1941 mitgetragen von Captain Peter Wilkinson, einem späteren Botschafter Großbritanniens in Österreich.13 In der kleinen Landesabteilung für Österreich (X/Austria) waren lange Zeit hauptsächlich drei Frauen tätig, die allesamt Österreicherfahrung als ehemalige MI6-Mitarbeiterinnen im Wien der Zwischenkriegszeit mitbrachten und welche die meisten Berichte und Memoranda über die Situation in und um Österreich verfassten. Es waren dies die austrophilen Evelyn Stamper, Clara Holmes und Elizabeth Hodgson. Bezeichnenderweise konnten sie sich schon von allem Anfang ihrer Tätigkeit an vorwiegend auf das Territorium des ehemaligen Österreich konzentrieren. Diese SOE-intern als „Mesdames“ Bezeichneten hatten zudem den Anschluss Österreichs hautnah erlebt, wie auch die Frühphase nazistischer Herrschaft in Österreich. Sie stimmten schon damals mit dem großen journalistischen Österreichkenner G. E. R. Gedye etwa darin überein, dass sich Österreich im Kriegsfall „für Deutschland als Bürde und nicht als Gewinn herausstellen würde“.14 Schon ab November 1940 wurde von der X/AUS versucht, vor allem über sozialistische Kanäle, Verbindungen nach Österreich herzustellen. Dann, am 21. Januar 1941, wurde unter der Federführung von Stamper ein erster Strategieplan für die Wiederherstellung Österreichs als Nationalstaat entworfen, der auf Abtrennung von Deutschland beruhte, jedoch auch eine mögliche föderale Lösung andachte. Wörtlich hieß es: „to assist the disintegration of the Third Reich by fostering a revolutionary and separatist uprising in Austria, fully supported by propagandist, political and military action” und “to bring about the restoration of Austria as a national unit, possibly within the framework of a federation or economic bloc.”15 Stamper hatte konkrete Vorstellungen davon, wer die Befreier sein würden und wie die Befreiung ablaufen könnte: „Broadly speaking, the liberators of Austria are not to be found in England amongst the groups of refugees; they are still in the concentration camps of Buchenwald and Dachau.“ Es gelte auch, einen politischen Un13 Ab November 1943 leitete Wilkinson die auf Südösterreich gerichtete Mission Clowder. Siehe dazu Pirker, Subversion, S. 286 f. und Robert Knight, Life after SOE. Peter Wilkinson’s Journey from the Clowder Mission to Waldheim, in: Journal for Intelligence, Propaganda and Security Studies, Jg. 3, H. 1, 2009, S. 71–82. 14 Zit. bei Pirker, Subversion, S. 68. Gedye’s Augenzeugenbuch „Fallen Bastions. The Central European Tragedy“, London 1939, wurde außerhalb Österreichs zu Recht als wichtigste authentische, zeitgenössische englischsprachige Analyse des Anschlusses und der allgemeinen Situation Österreichs im Jahr 1938 verstanden. Vgl. dazu Siegfried Beer, Der Anschluß als internationales Medienereignis. Eine radio-geschichtliche Dokumentation, in: Geschichte und Gegenwart, Jg. 7, 1988, S. 224–258, hier: S. 226–228. 15 Es war ein ca. dreiseitiges Aide-mémoire: Austria, 21.1.1941, in: TNA, HS 6/3. Zit. bei Pirker, Subversion, S. 74.

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tergrund im Lande aufzubauen: “We must therefore establish lines into the country in order to build up existing organisations, so that when the moment comes, the members will rise to arms, or by passive resistance and sabotage, play their active part in throwing off the yoke of the oppressor.“16 Die SOE-Führung unterstützte diesen Plan, der auf die politische Zusammenarbeit der Sozialdemokraten, der Katholiken und der Monarchisten im Exil und im Lande selbst setzte. Die X-Section drängte zugleich auf eine diesbezügliche Erklärung der britischen Regierung, die jedoch im für Österreich zuständigen Central Department des Foreign Office noch über zwei Jahre lang undenkbar sein sollte. Neben SOE gab es bald auch unzählige Anfragen und Vorstöße der für die psychologische Kriegsführung zuständigen Political Warfare Executive, die allerdings erst ab Mitte 1942 auf eine von Deutschland separatistische Linie gebracht wurden und die bis in das Jahr 1943 hinein von den FO-Verantwortlichen im Central Department abgeschmettert wurden, denn ein unabhängiges Österreich war bis Mitte 1943 noch kein Kriegsziel der Alliierten. Alle diese Forderungen von SOE und PWE waren über die Jahre auf dem Schreibtisch des für Österreich zuständigen FO-Referenten Geoffrey Harrison gelandet, der schon im Herbst 1941 bei den von der britischen Regierung mehrfach konsultierten Thinktanks, dem FO-eigenen Foreign Research and Press Service (FRPS) und dem vom Universalhistoriker Arnold Toynbee geleiteten Royal Institute for International Affairs (RIIA), diverse Expertisen über ein zukünftiges Österreich einholen ließ.17 In keiner dieser frühen Studien wurde zunächst für die Wiedererrichtung Österreichs als unabhängiges Staatsgebilde argumentiert, denn es gab große Zweifel am österreichischen Willen zum Nationalstaat, sowohl was das Exil, erst recht was die innere politische Atmosphäre im Lande selbst anlangte. Doch im Spätherbst 1942 stieg der Druck auf das britische Außenamt, sich eine Österreichlinie zu erarbeiten, nicht zuletzt, weil Premierminister Churchill weiterhin österreichfreundliche Gesten gesetzt hatte.18 Harrison aber wollte eine 16 Peter Pirker, “Most difficult to tackle”: Intelligence, Exil und Widerstand am Beispiel der Austrian Section von SOE. Phil. Diss. Wien 2009, S. 203 f. 17 Vgl. Robert H. Keyserlingk, Arnold Toynbee’s Foreign Research and Press Service, 1939–1943 and Its Post-war Plans for South-East Europe, in: Journal of Contemporary History, Jg. 21, 1986, S. 539–558. Ähnliches passierte übrigens parallel dazu in den USA mit Studien für das State Department des in New York City ansässigen Council on Foreign Relations. Vgl. Bischof, Anglo-Amerikanische Planungen, S. 26. 18 Churchill hatte sich schon im Februar 1942 sehr österreichfreundlich geäußert: „We can never forget, here in this island, that Austria was the first victim of Nazi aggression. […] The people of Britain will never desert the cause of the freedom of Austria from the Prussian yoke. […] Free Austria […] shall find her honoured place.” Zit. bei Pirker, Subversion, S. 194, Fn. 714.

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wie immer geartete Österreicherklärung einerseits vom Kriegsverlauf und andererseits von einem psychologisch richtigen Zeitpunkt abhängig machen. Die Berücksichtigung des Selbstbestimmungsrechtes nach Formulierung der Atlantic Charter vom August 1941 hielt man in London wegen der bekannten Deutschlandschwäche der Österreicherinnen und Österreicher für zu gefährlich, denn es fehlten ausreichende Belege für eine Abkehr vom Regime. Dennoch, die Forderungen von SOE und PWE nach einer klareren Österreichpolitik der britischen Regierung waren im Laufe des Jahres 1942 immer häufiger und ungeduldiger geworden. Den eigentlichen Anstoß für einen Paradigmenwechsel im Central Department des Foreign Office, und wenige Monate danach dann auch in der Einschätzung des Kriegskabinetts, brachten drei FRPS-Expertisen zu wichtigen Zukunftsfragen für Österreich, die allesamt und aus ziemlich unerklärlichen Gründen bei Keyserlingk keine Erwähnung finden: Eine Erste zur „Economic Viability of an Autonomous Austria“ vom August 1942 sprach einem selbstständigen Österreich die wirtschaftliche Lebensfähigkeit zu, sollten die Siegermächte zu einer mehrjährigen Hilfestellung nach dem Krieg bereit sein. Der Studienautor zweifelte jedoch an der realen Umsetzbarkeit einer Konföderation, an der sich Österreich beteiligen könnte, in Zentral- wie auch in Südosteuropa.19 Eine zweite, im Ansatz vergleichende FRPS-Studie zum Thema „Structure and Productivity of the Austrian and Swiss Economies“ vom November 1942 sollte zu verwunderten Kommentaren im Foreign Office führen und bestätigte zugleich die Notwendigkeit der Förderung eines Österreichpatriotismus von außen: „In many respects Austria seems to be better off than Switzerland. Unfortunately, the Austrian will to independence is not so [sic!] strong as that of the Swiss and therefore tendering nurturing from the outside would be necessary.“20 Es war jedoch vor allem die dritte FRPS-Studie zur Frage „The Future of Austria. Confederations in Eastern Europe“ vom Februar 1943, die als Grundlage für den Erstentwurf des entscheidenden FO-Memorandums von Geoffrey Harrison „The Future of Austria“ von Anfang April 1943 führte, welches dann nach mehreren Nachbesserungen im Mai dem Kriegskabinett vorgelegt wurde und meines Erachtens als der wahre Erstentwurf für die Moskauer Außenministerkonferenz im Oktober 1943 angesehen werden muss. Schon in seinem Memorandum „The Future of Germany“ vom Mai 1943 hatte Harrison die Wiedererrichtung eines freien und unabhängigen österreichischen Staates empfohlen. Die detaillierte Textgenese dieser Memoranden ist in der Sekundärliteratur schon mehrfach und 19 Vgl. Pirker, Subversion, S. 200. 20 Aktenvermerk J. K. Roberts, 7.12.1942. Zit. bei ebd., S. 201.

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ausführlich behandelt worden. Entscheidend ist, dass das österreichische Memorandum Mitte 1943 direkt zur Vorlage an die alliierten Partnerregierungen führte. In Moskau sollte es dann, wenn auch im „zweitrangigen Drafting Committee“ der Außenministerkonferenz, nur mehr um textliche Details gehen, die allerdings nicht unwichtig waren bzw. wurden.21 In diesem Zusammenhang interessiert jedoch vor allem die Klärung des Durchbruchs im Foreign Office, im Wesentlichen wohl im Denken und der daraus resultierenden Analyse Harrisons. Er hielt auch Mitte 1943 weder vom österreichischen Exil noch vom Widerstand im Lande sehr viel und auch nicht von einem stärkeren Einsatz der Propaganda; trotzdem könnte man sagen, dass die subversiven Krieger der SOE und die Propagandisten der PWE jetzt endlich den entscheidenden politisch-diplomatischen Diskurs im Foreign Office erreichen konnten. Im Kern ging es nun vor allem um die Frage eines möglichen Auf- und Ausbaus eines österreichischen Nationalbewusstseins. In Amtsvermerken Harrisons hieß es dazu: “I think that […] we shall have to start anyhow with a free and independent Austria”22 und „… the sooner the Austrian people get used to the idea [of a free and independent Austria] the better“.23 Harrison war bewusst, dass die Idee der völligen Trennung Österreichs von Deutschland den Österreichern und Österreicherinnen vielleicht eingebläut, ja vielleicht sogar aufoktroyiert werden müsse: „The first Austrian Government must be born in Austria itself. Once the Austrians realize that they have a future as an independent state, it is to be hoped that leaders from amongst the Austrian people will be forthcoming.“24 Nach Etablierung einer österreichischen Regierung aus eigenem Antrieb konnte man sich in London nach wie vor eine konföderale Einbindung Österreichs in einen wie immer gearteten Staatenverband vorstellen, die jedoch aus freien Stücken entstehen müsste. Es ging also zunächst primär um ein gezieltes, von den Siegern gefördertes „state- and nation-building“ für das zukünftige Österreich. Die zentrale britische Österreichstrategie sollte dabei die Umsorge der „zarten Pflanze“ eines erwachenden österreichischen Nationalgefühls sein, dessen Existenz die Austrian Section der SOE schon Anfang 1941 angenommen hatte, wohl in Übertreibung einer persönlichen Austrophilie der Referentinnen. Nichtsdestotrotz, Stampers Entwurf über die Wiedererrichtung Österreichs in den Vor-Anschluss-Grenzen wurde bereits Mitte 1943 offiziel-

21 Günter Bischof, Die Instrumentalisierung der Moskauer Erklärung nach dem Zweiten Weltkrieg, in: Zeitgeschichte, Jg. 20, 1993, S. 345–366, hier: S. 351. 22 Aktenvermerk Harrison, 6.3.1943. Zit. bei Pirker, Subversion, S. 202. 23 Aktenvermerk Harrison, 15.4.1943. Ebd., S. 209 f. 24 Amtsvermerk Harrison, 15.4.1943. Ebd., S. 210.

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le Regierungspolitik in London und mit der Österreichdeklaration der drei Außenminister vom 1. November 1943 auch in Washington und Moskau. Das Propaganda-Moment sollte für die Entscheidungen am Schlachtfeld und auch für die politische Orientierung der Österreicher und Österreicherinnen noch während des Krieges lediglich zweitrangig bleiben. Damit ist klar, dass sich die Ziele von SOE, PWE und des FO im Laufe des Frühjahrs 1943 annäherten und fast eine gemeinsame Stoßrichtung ergaben, integriert in der Person von Geoffrey Harrison. SOE hatte seit 1940/41 von einem erwünschten Ergebnis her argumentiert; PWE eher taktisch-militärisch; und das FO mittelbis langfristig post-war. Es ist Peter Pirker vollinhaltlich zuzustimmen, dass die seit März 1943 von London aus betriebene Österreichpolitik von ihren Initiatoren im Foreign Office als „Handhabe für einen nationalen österreichischen Gründungsmythos“ konzipiert war. Die Opferformulierung war das beste Instrument dafür. Man könnte fast sagen, die Briten planten oder spielten zumindest mit der Instrumentalisierung der Moskauer Deklaration. Sie war eben kein hauptsächliches Propagandainstrument, sondern als aussichtsreichste Lösung erkannt, nunmehr feste politische Nachkriegsplanung, unabhängig von einem genuinen Beitrag zum Widerstand. So wurde der Opfermythos in London erfunden und in der Folge auch angepeilt, und zwar als Integrationsangebot für die Österreicher und Österreicherinnen und als „Friedensaufgabe“ für die alliierte Okkupation. Er war Kalkül und Strategie zugleich, die später auch die britische Besatzungspolitik wesentlich bestimmen sollten.25 Beides ist bekanntlich voll aufgegangen, weil sie trotz anfänglicher Turbulenzen (z. B. anglo-amerikanische Nichtanerkennung der provisorischen Renner-Regierung und antikommunistische Linie) dann doch zu ersten Regierungen der nationalen Einheit unter Miteinbeziehung der Kommunisten geführt haben, die trotz völlig instabiler Verhältnisse in den unmittelbaren Nachkriegsjahren den Grundstein für eine schon mittelfristig erfolgreiche Entwicklung der Zweiten Republik legten. Man könnte also mit Fug und Recht behaupten, dass die Österreicher und Österreicherinnen ihre zweite Chance nützten, weil die zarte Pflanze eines österreichischen Nationalgefühls stetig gedieh. Dass die Wurzeln dieser Pflanze erstmals in London als probates Fundament angedacht wurden, sollte end25 Ob dabei unterschwellig britische Schuldgefühle wegen der unseligen Appeasement-Politik der 1930er-Jahre im Spiel waren, ist aus den Akten schwer zu klären. Vgl. dazu insgesamt die überzeugende Studie von Johannes Feichtinger, Innen- und Außensichten der britischen Besatzungsmacht über Österreich, in: Ursula Prutsch – Manfred Lechner (Hg.), Das ist Österreich. Innensichten und Außensichten. Wien 1997, S. 140–204.

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lich auch den heutigen Nutznießern bewusst gemacht werden. Es war 1943 vielleicht noch ein gewagtes Kalkül, das schon Ende der 1940er-Jahre als Integrationsmodell erkennbar wurde, welches freilich auch zu lange die Mitverantwortung zahlreicher Österreicher und Österreicherinnen für das Terrorregime Adolf Hitlers versteckte. Aber die Mitverantwortung wurde in den frühen 1990er-Jahren nachgeholt, als eine österreichische Nation bereits abgesichert war. Dieses Nachholen musste allerdings in den späten 1980er-Jahren von außen aufgezwungen werden. Ich denke, für die politischen Planer im Foreign Office, hätten sie dann noch gelebt, wäre es dennoch die richtige Reihenfolge gewesen: zuerst Nation Building, dann Responsibility Discourse und schließlich Wiedergutmachung, wie sie Anfang des 21. Jahrhunderts, sicherlich zu spät, auch wirklich stattgefunden hat. Auch wenn der subversiven Kraft der Österreichabteilung im britischen SOE während des Krieges deutliche Grenzen gesetzt waren, so beeindruckt doch die so frühe konsistente und in mannigfachen Bereichen weitblickende Österreichkonzeption dieser kleinen Geheimdienstgruppe, die in ihrer eingeschränkten Analysekompetenz dem amerikanischen Office of Strategic Services um zwei Jahre voraus war.26 Die von Keyserlingk übernommenen Behauptungen einer Reihe von Historikern, die Österreichpolitik der Anglo-Amerikaner bis in die frühe Besatzungszeit hinein wäre einer puren Propagandastrategie verpflichtet gewesen, können getrost in das Reich der Geschichtsmythologie verlegt werden. Im britischen Foreign Office, wie übrigens auch von etlichen amerikanischen Österreichplanern,27 wurde ab Frühjahr 1943 ganz auf die Einsicht der Österreicher und Österreicherinnen gesetzt, den „nochmals offerierten“ Schwenk zum eigenständigen Nationalstaat sukzessive anzunehmen und politisch auch umzusetzen. Aus der Perspektive von heute ist wohl unschwer zu erkennen, dass das gewagte Kalkül der britischen Österreichpolitik des Jahres 1943 siebzig Jahre später beim österreichischen Staatsvolk voll gegriffen hat und zu fast 90 Prozent umgesetzt werden konnte, wie rezente Umfragen zum Nationalgefühl- und -stolz der

26 Erste Berichte zur Lage in Österreich des OSS-Vorgängers COI (Coordinator of Information) wurden schon im Herbst 1941 erstellt. Größere Österreichanalysen der Zentraleuropaabteilung des OSS im Bereich R&A (Research and Analysis) wurden jedoch erst gegen Ende 1943 verfasst. Vgl. dazu: Siegfried Beer, Research and Analysis about Austria, 1941–1949. American Intelligence Studies on the Reconstruction of Central Europe, in: Wiener Beiträge zur Geschichte der Neuzeit, Bd. 24, Wien 2000, S. 192–210. 27 Schon im Januar 1943 vermerkte ein weitsichtiger Experte des State Departments, „er freue sich auf ein zukünftiges Österreich, das einen Status ähnlich der Schweiz haben könnte“. Bischof, Anglo-amerikanische Planungen, S. 29.

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Österreicher und Österreicherinnen beweisen.28 Peter Pirker ist zuzustimmen: Die Moskauer Deklaration zu instrumentalisieren war zuvorderst geschickte Nachkriegspolitik.29

28 Lediglich sieben Prozent der Bevölkerung stellten in einer Fessel-GfK-Umfrage 2007/08 eine eigenständige Nation Österreich infrage. Vgl. Der Standard, 12.3.2008. 29 Pirker, Subversion, S. 220.

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Paris zwischen Angst vor einem neuen „Anschluss“ und Schwärmerei für eine europäische Neuordnung

Bekanntlich war Frankreich auf der Moskauer Dreierkonferenz nicht vertreten.1 Zufällig hatte das Französische Komitee für die Nationale Befreiung (CFLN) in Algier gerade einen Tag vor der Moskauer Erklärung vom 1. November 1943, aber ohne die mindeste Ahnung von dieser zu haben, die Grundlinien der Außenpolitik Frankreichs nach dem Krieg festgelegt und mit einem Runderlass den Vertretungen im Ausland bekannt gemacht.2 Was Österreich anbelangt, so lautete die Richtlinie vom 30. Oktober: „Ein unabhängiges Österreich innerhalb einer Donaukonföderation.“

Fast zwei Jahre später aber, im Sommer 1945, lautete die erste Direktive zur französischen Politik gegenüber Österreich doch deutlich: „Das wesentliche Ziel unserer Politik besteht darin, ein unabhängiges, vollkommen von Deutschland losgelöstes und wirtschaftlich lebensfähiges Österreich zu schaffen.“3

Österreich „wirtschaftlich lebensfähig“ zu halten, war für die Franzosen also eine Kernfrage. Denn, so meinte man, wenn es nicht lebensfähig wäre, würde sich Österreich früher oder später nach Berlin wenden. Das war der Grund des Konzepts einer Donauföderation, das in Paris schon 1920 und 1932 kurzfristig ventiliert worden war. Aber jetzt sollte dieses Ziel der wirtschaftlichen Unabhängigkeit ohne eine solche Föderation erreicht werden. Was war inzwischen geschehen? Die Abstimmung der Nationalversammlung in Wien am 12. November 1918 für eine Österreichische Republik als Bestandteil der Deutschen Republik und der Ausdruck „Deutschösterreich“ hatten starke Befürchtungen 1 2 3

Herbert Feis, Churchill, Roosevelt, Stalin. Princeton 1957, S. 213 f. René Massigli, Une comédie des erreurs 1943–1956. Paris – Plon 1978, S. 37–42. Comité interministériel des affaires allemandes et autrichiennes, „Directives pour notre action en Autriche“, 19. Juli 1945, Ministère des Affaires étrangères, Série Z , Europe 1945–1949, Autriche, Bd. 8. Zitiert in: Klaus Eisterer, Französische Besatzungspolitik Tirol und Vorarlberg 1945/46. Innsbruck 1991, S. 17.

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in Paris erweckt. Auch daraus resultierten die entsprechenden Artikel der Verträge von Saint-Germain und Versailles, die jeweils den Anschluss an Deutschland verboten. Fortan lautete die Parole in Paris: „keine Habsburger, keinen Anschluss!“. Die Republik Österreich war für Paris an sich die richtige Lösung. Aber auch wenn es ein Grundsatz der französischen Politik nach 1918 war, den Anschluss zu vermeiden, auch wenn eine Hauptbedingung, wie sie von Ministerpräsident Raymond Poincaré Stresemann 1928 erklärt wurde, für eine deutsch-französische Verständigung im Sinne von Locarno ein endgültiger Verzicht des Anschlusses war, auch wenn beim Zollunions-Plan 1931 zwischen Berlin und Wien oder 1934 beim NS-Putschversuch in Wien Frankreich heftig und erfolgreich (1934 doch weitgehend dank des entscheidenden Vorstoßes Italiens) reagierte, war Paris doch nicht auf der bloßen Erhaltung des Status quo von 1919 fixiert. Zunächst einmal verstand man in Paris schon Ende 1918, dass Österreich wirtschaftlich kaum lebensfähig war. Deswegen gestattete der Vertrag von Saint-Germain die Möglichkeit einer Zollunion zwischen den Nachfolgerstaaten (Art. 222) und bewährte die österreichischen Eigentümer und Gesellschaften vor dem Zwangsverkauf ihres Vermögens in den Nachfolgestaaten (Art. 267, gegen die ursprüngliche Fassung des Vertrags, die für die österreichischen Eigentümer viel ungünstiger war, und auch im Gegensatz zum Versailler Vertrag). Es ging sehr bewusst um die Erhaltung der wirtschaftlichen Lebensfähigkeit des Donauraums gegen die Gefahr einer deutschen wirtschaftlichen Durchdringung. Diese Politik wurde später weitergeführt, bis zum Tardieu-Plan von 1932 zur wirtschaftlichen Sanierung des Donauraums (eindeutig als Antwort auf das Zollunionsprojekt vom Vorjahr). Auch politisch gesehen war die Haltung Paris’ nicht immer nur auf eine starre Bewahrung des Status quo fixiert und nicht immer im Einklang mit Prag, auch wenn feststeht, dass die Tschechoslowakei als ideologisches Musterkind und als Sicherheits- und Wirtschaftspartner für Frankreich eine Vorrangstellung genoss: So wurde oft behauptet (m. E. mit einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit), 1921 wäre Ministerpräsident Aristide Briand nicht unbedingt gegen die Rückkehr von König Karl auf den ungarischen Thron gewesen. In der Zeit des Ruhrkampfes 1923, als Paris wieder bereit war, die Einheit des Deutschen Reiches infrage zu stellen, spielten einige Kreise innerhalb der französischen Verwaltung mit dem Gedanken, Bayern von Berlin zu trennen und mit Österreich zu verbinden, um ein „katholisches“ Gegengewicht zu Berlin zu schaffen. Alles nicht unbedingt aus Liebe zu Österreich, sondern als Sicherung gegen einen möglichen Anschluss. Das alles ereignete sich vor 1934, also vor der Umwandlung Österreichs in

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einen „Ständestaat“ und vor dem Bürgerkrieg gegen die Sozialdemokratie in diesem Jahr. Paris versuchte, die Regierung Dollfuß zu einer mäßigen Reaktion umzustimmen, doch weitgehend vergeblich. Danach zeigte sich eine ideologische Kluft zwischen den französischen politischen Kreisen (man sprach von „Austrofaschismus“) und Wien. Dies erklärt auch weitgehend die sehr zurückhaltende Haltung Frankreichs beim „Anschluss“ 1938, insbesondere im Vergleich mit der heftigen Reaktion 1931 gegen die damals angekündigte Zollunion zwischen Berlin und Wien. Und diese Zurückhaltung galt auch während des Krieges: Die christlich-sozialen oder die monarchistischen Opponenten zu Hitler wurden bei der France Libre oft mit Skepsis oder dem Verdacht, als „Klerikaler“ faschistisch veranlagt zu sein, gesehen. 1938 reagierte Paris vor dem „Anschluss“ kaum, abgesehen von der Skepsis gegenüber Schuschnigg, abgesehen von der mangelnden Unterstützung durch London und Rom. Ein Grund dafür war das schlechte Gewissen der Franzosen gegenüber den Bestimmungen von Versailles und Saint-Germain. Hitler hatte es verstanden, die Rhetorik des Selbstbestimmungsrechtes der Völker umzudrehen; auch die revisionistische Propaganda, sehr verbreitet in Frankreich seit Anfang der 1930er-Jahre, war nicht erfolglos geblieben. Waren letzten Endes die Österreicher eigentlich Deutsche? Diese Frage bohrte bis in den Krieg hinein. Interessanterweise war die französische Regierung nach Kriegsanfang 1939 und bis zur Niederlage Frankreichs im Juni 1940 gegenüber Österreich sehr zurückhaltend: Im Unterschied zur Tschechoslowakei wurde die Wiederherstellung Österreichs nicht eindeutig als Kriegsziel erwähnt.4 Der Begriff Donaukonföderation in den Richtlinien vom 30. Oktober 1943 Den genauen Gedankengang kennen wir nicht, die Aktenlage ist dafür zu schlecht. Man darf annehmen, dass die französischen Diplomaten einfach die Lösung, die ihnen in Paris 1918–1920 vorgeschwebt hatte, wieder aufgriffen: eine politische Trennung zwischen Berlin und Wien, aber mit dem Aufbau eines lebensfähigen Wirtschaftsraumes an der Donau. Man weiß aber, dass die Franzosen sehr vorsichtig waren: Anfang 1943 nahm Erzherzog Otto von Habsburg von Washington aus mit General Giraud in Algier Kontakt auf. Giraud war damals „ziviler und militärischer Chef“ der Algier Regierung, die mit Vichy noch nicht ganz brechen wollte. Er antwortete am 26. Januar 1943, er habe „volles Vertrauen in die Zukunft 4

Raymond de Sainte-Suzanne, Une politique étrangère. Le Quai d’Orsay et Saint-John Perse à l’épreuve d’un regard. Paris – Viviane Hamy 2000, S. 182.

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Österreichs, dessen Leben und Ausstrahlungskraft für die christliche Kultur unerlässlich sind“.5 Diese warmen Worte entsprachen ganz der Sichtweise der französischen traditionellen Rechten, die den Fall der K.-u.-k.-Monarchie – aufgrund einer Mischung aus Deutschfeindlichkeit und Traditionalismus – immer bedauert hatten. Diese Richtung könnte ohne Schwierigkeit mit der mehr wirtschaftlich begründeten Vorstellung eines föderativen Donauraums konvenieren. Otto von Habsburg wollte die Befreiung der österreichischen Kriegsgefangenen in Nordafrika erreichen (es handelte sich um Freiwillige, die zu Kriegsbeginn in die Fremdenlegion aufgenommen wurden und die nach dem Waffenstillstand 1940, auf Verlangen des „Dritten Reiches“, in Arbeitslagern inhaftiert wurden). Darüber hinaus schlug Otto vor, die befreiten Soldaten in eine Sondereinheit des französischen Heeres aufzunehmen. Ersteres wurde von Algier im Juli 1943 zugestanden, jedoch nicht die Bildung eines österreichischen Bataillons: Dieses Ansinnen ging den Franzosen doch zu weit, weil dies einer stillschweigenden Anerkennung Österreichs gleichgekommen wäre. Außerdem fehlte eine Abstimmung mit den Alliierten.6 Denn die französischen Behörden waren bedacht darauf, nicht aus der Reihe zu tanzen und sich in dieser Frage mit den Alliierten zu verständigen. Mehrere Exilgruppen hatten um Anerkennung durch Algier gebeten. Schließlich beschlossen die französischen Behörden, genau wie die Briten zu reagieren, nämlich die Gründung von verschiedenen Vereinen zu gestatten, aber ohne irgendwelche Unterstützung und unter ihrer strenger Beobachtung. Darüber hinaus war Algier wie London über die Vielfalt der politischen Richtungen der Exilgruppen beunruhigt, denn niemand wusste so recht, wohin sich die österreichische Bevölkerung am Ende des Krieges orientieren würde. Wir dürfen nicht vergessen: 1937–1938 waren die Franzosen zum Schluss gekommen, die Österreicher wären eigentlich deutsch, und große Vorsicht schien angebracht.7 Die Reaktion von Algier nach der Moskauer Erklärung Die Franzosen waren hinsichtlich Österreichs weitgehend desorientiert über die Haltung der anderen Alliierten und wurden durch die Moskauer Deklaration überrascht. Sie waren so abgekapselt, dass sie glaubten, die Initiative

5 6 7

Telegramm von Giraud an Otto, 26.1.1943. MAE, Londres-Alger, Bd. 1422, Schreiben Ottos an Giraud, 24.1.1943; ebd., Notiz, o. D. [vor dem 23.7.]. Ebd., Aufzeichnung des Commissariat aux Affaires étrangères, 17.9.1943.

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für die Deklaration wäre von Moskau ausgegangen.8 Erst am 11. November wurde ihnen die Lage klar. Die Briten hingegen waren seit der Québec-Konferenz die treibende Kraft in der Österreichplanung, in der Überzeugung, der Geist der Unabhängigkeit wäre in der „Ostmark“ doch nicht verschwunden, und mit dem festen Willen, im Einvernehmen mit Stalin Deutschland endgültig zu lähmen, wenn nicht zu zerstückeln.9 Die Meinungen der beiden französischen Vertreter in London, Pierre Viénot bei den Alliierten, Maurice Dejean bei den Exilregierungen, gingen jedoch auseinander. Viénot war überzeugt, die Deklaration bezwecke eine ganz eindeutige Trennung.10 Dejean dagegen, aufgrund seiner Kontakte mit ehemaligen österreichischen Diplomaten in London, war überzeugt, Großbritannien wolle mit dem Passus in der Deklaration über die „wirtschaftliche und politische Sicherheit“ für die Nachbarländer wie für Österreich doch eine Zusammenarbeit im Donauraum ermöglichen.11 Das wäre mit der französischen Formel vom 30. Oktober zwar vereinbar gewesen, war aber sehr unwahrscheinlich. Denn Frank Roberts erklärte Viénot am 24. November, die Erklärung wäre eher taktisch als langfristig zu verstehen. Es ginge zunächst einmal darum, die Österreicher zum Widerstand zu ermuntern. Langfristig hätte man noch keine eigentliche politische Zielsetzung festgelegt.12 Was tun? Algier war sehr vorsichtig. Man konnte nicht einfach schweigen, denn sonst würden sowohl London wie auch Moskau (durch das „österreichische Komitee“, beeinflusst von den Kommunisten) die Zukunft Österreichs in ihrem jeweiligen Interesse und ohne Abstimmung mit Frankreich mitprägen können.13 Und die österreichischen „Patrioten“ würden sich von Frankreich abwenden.14 Andererseits war die Moskauer Deklaration für die Unabhängigkeit mit dem französischen Begriff einer Donauföderation nur schwer vereinbar. Und man war im Unklaren über die wirklichen Richtungen der politischen Gruppen in Österreich.15 Deswegen begnügte man sich mit einer knappen Erklärung erst am 17. November: 8 9 10 11 12 13 14 15

Ebd., Telegramm von Viénot in London, 4.11.1943. Ebd., Telegramm von Viénot in London, 11.11.1943. Hier zeigte sich die französische Seite nach dem vorherigen Telegramm vom 6.11.1943 schon besser informiert. Ebd., Telegramm am 6.11.1943. Ebd., Telegramm von Dejean, 4.11.1943. Ebd., Viénot an Algier am 24.11.1943. Ebd., Aufzeichnung von Lamarle, dem zuständigen Diplomaten im Commisariat aux Affaires étrangères, 16.11.1943. Ebd., Brief von Massigli, Commissaire aux Affaires étrangères, an den Innenminister d’Astier de la Vigerie, 20.11.1943. Ebd., Telegramm für Dejean in London, 16.11.1943.

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„Nach Kenntnisnahme (der Moskauer Erklärung) betont das CFLN, Frankreich hat immer Stellung für die Unabhängigkeit Österreichs bezogen [was nicht stimmte, Anm. d. Verf.]. Das Komitee hegt keinen Zweifel, dass die österreichischen Patrioten der Sache ihrer Unabhängigkeit dienen werden, indem sie selbst für die Befreiung und die Wiedererrichtung ihres Landes tätig sein werden.“

Gewiss, die Mahnung an die Österreicher, sich gegen Nazideutschland zu engagieren, kann man in der Moskauer Deklaration auch lesen. Hier klingt sie aber viel stärker betont. Und man braucht ein feines Ohr für die französische Beamtensprache: Lauer und sogar heuchlerischer kann man nicht sein. Waren doch die Österreicher nicht eigentlich Deutsche? Den Beweis für das Gegenteil sollten sie selbst liefern. In den folgenden Monaten, bis zur Libération, blieb Massigli, Kommissar für auswärtige Angelegenheiten in der Regierung in Algier, bei der gleichen vorsichtigen Haltung: Er wollte immer noch nicht die österreichischen Gruppen in Nordafrika offiziell anerkennen, er wollte immer noch nicht eine unterschiedliche Behandlung der deutschen und österreichischen Kriegsgefangenen einführen, er wollte immer noch nicht eine österreichische Einheit in der französischen Armee aufbauen. Er wollte aber immer über die britische Haltung auf dem Laufenden gehalten werden, um nicht London vorzugreifen (die Briten blieben ihrerseits auch sehr vorsichtig).16 Charles de Gaulle selbst blieb zurückhaltend. Am 8. März 1944 verfasste er für den kommenden Jahrestag des Anschlusses eine Erklärung: „Unter dem deutschen Joch gebeugt, seinem nationalen Leben unter Verkennung seiner glorreichen Geschichte geraubt, Österreich bleibt dasselbe. Es wartet auf die Stunde der Demokratie, die die Stunde des Sieges sein wird. Es möge sie vorgreifen. Möge sein Volk in den Kampf gegen die Tyrannen Europas treten: Österreich wird der Welt beweisen, die Österreicher bleiben Österreich würdig.“

Mit mehr Stil und mehr historischem Mitgefühl als die Erklärung des CFLN am 17. November, doch insgesamt ein eher abwartender Text.17 Die Österreicher sollten zunächst einmal beweisen, dass sie keine Deutschen waren. Noch im Juni 1944 wollte Massigli den Eindruck vermeiden, Frankreich 16 Ebd., Verschiedene Telegramme und Aufzeichnungen zwischen Ende Dezember 1943 und Mitte Januar 1944. 17 MAE, Algier, Bd. 1423.

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verfolge Österreich gegenüber eine „separatistische Politik“: Die österreichischen Kriegsgefangenen durften nicht von den deutschen getrennt werden (gegen eine alte Forderung der Exilgruppen), sondern sollten allgemein, wie die Gefangenen sämtlicher anderer 1933 existierenden Staaten, in getrennten Lagern untergebracht werden.18 Am 9. Juni 1944 fasste Viénot, der Vertreter des CFLN in London, die Hauptmomente des Problems, die zur großen Vorsicht mahnten, prägnant zusammen: Man sollte vermeiden, in die Zänkereien unter den verschiedenen österreichischen Gruppen verwickelt zu werden. Man sollte auf die britische Haltung achtgeben und den tschechischen Standpunkt beachten.19 Denn die Tschechoslowakei hatte für die France Libre eindeutig Vorrang. Ein Donauraum? Die bevorzugte Lösung – einer Donauföderation – schien ab Frühling 1944 immer schwerer durchsetzbar. Noch Ende 1943 war diese Lösung in Algier ernsthaft erwogen worden. Sie galt zwar als ein politisch wie wirtschaftlich schwieriger, aber nicht unmöglicher Weg, viel besser als die bayerisch-österreichische Lösung. Diese Lösung hoffte man noch, mit Geduld und Vorsicht verwirklichen zu können.20 Am 4. Dezember 1943 fasste Dejean, der in London Algier bei den Exilregierungen vertrat, die verschiedenen Aspekte des Problems zusammen. Zwar waren die Sowjets, die Tschechen und sogar die Briten sehr zurückhaltend, zwar zweifelte London an einer wirtschaftlichen Zweckmäßigkeit eines Wirtschaftsbundes im Donauraum, doch meinte Dejean, wenn Frankreich einen vernünftigen, nicht militärischen, sondern politischen und wirtschaftlichen Zusammenschluss im Donauraum unterstütze, könne man viel erreichen.21 Er bewegte sich noch im Rahmen der Direktiven vom 30. Oktober 1943. Aber aus diesen eher theoretischen Betrachtungen sollte nichts werden.

18 Ebd., Brief von Massigli an General Giraud, Chef des Generalstabs, 27.6.1944. 19 Ebd., Bericht Viénot an Massigli, 9.6.1944. 20 MAE, Algier, Bd. 1428, Aufzeichnung Lamarles (der zuständige Referent) für Massigli, 24.8.1943 („Viele interessante Angaben. Man sollte die Beurteilung und die Vorschläge vertiefen“, vermerkte Massigli); ebd., Aufzeichnung von Luc, der sich kurz vorher von der Vichy-Botschaft in Budapest zur France Libre abgesetzt hatte, 23.9.1943, in ähnlichem Sinne. 21 Ebd., Bericht von Dejean, 4.12.1943. Siehe auch das (verhältnismäßig optimistische) Telegramm Dejeans nach einem Gespräch mit Ripka in London, 9.12.1943.

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Ein Alpenland? Klar ist auch, dass einige Kreise noch an eine weitere Lösung dachten: an einen Zusammenschluss zwischen Österreich und Bayern, um ein katholisches Gegengewicht zu Norddeutschland aufzubauen. Diese Lösung war schon 1923 in Paris erwogen worden. Sie wird in einem langen Bericht des Geheimdienstes der France Libre (BCRA) am 9. November 1943 erwähnt. Das Dokument berichtet von einer Gruppe um einen bayerischen Separatisten und von Hyazinth Graf Strachwitz von Gross-Zauche und Camminetz.22 Diesem Gedanken hing man vermutlich noch länger nach. Der Vater des Autors, Jean-Marie Soutou, war 1945 an der französischen Botschaft in Bern tätig. Er erzählte gern von den mysteriösen Machenschaften seitens französischer Geheimdienstleute, von der Schweiz aus, um dieses „Alpenland“ zu fördern.23 Die sowjetischen Ambitionen in Ost- und Mitteleuropa 1944 wurde allmählich klar, dass weder die Sowjets noch die Tschechen eine Donauföderation, mit einer Vermittlerrolle für Wien, dulden würden.24Ab Frühling 1944, meinte man in Algier, sahen sowohl Moskau als auch Edvard Beneš für Österreich die Errichtung einer „Volksdemokratie“ vor. Die Sowjet­ union wolle das künftige Österreich kontrollieren, und viele Exilösterreicher wären aus ideologischen Gründen damit einverstanden.25 Dazu kam, dass die Franzosen nach dem Höhepunkt des französisch-sowjetischen Paktes vom 10. Dezember 1944 aus verschiedenen Gründen sehr schnell von Moskau enttäuscht wurden. Ab Frühling 1945 wurden die Verantwortlichen in Paris (wenn auch nicht öffentlich) überzeugt, die UdSSR werde kein Partner für Frankreich werden, sondern vielmehr – wegen seiner Machtstellung in Ost- und Mitteleuropa und seiner Ambitionen gegenüber Westeuropa – ein schwerwiegendes Problem.26 Was speziell Österreich anbe22 MAE, Algier, Bd. 1422. 23 Jürgen Klöcker, Abendland – Alpenland – Alemanien. Frankreich und die Neugliederungsdiskussion in Südwestdeutschland 1945–1947. München 1998, S. 123–139. 24 MAE, Algier, Bd. 1423, Brief von Jean Chauvel, politischer Direktor, an General Beynet, Delegierter in Beyrouth, Juli 1944. 25 MAE, Algier, Bd. 1423, Telegramm von Dejean aus London, 11.3.1944; ebd., Telegramm von Viénot, 17.3.1944; ebd., Aufzeichnung des Commissariat pour les Affaires étrangères in Algier, 8.5.1944. Letzteres enthält Informationen über die pro-sowjetische Tätigkeit des „Free Austrian Movement“ und folgenden Randvermerk von Massigli: „Interessant. General de Gaulle vorzeigen.“ 26 Georges-Henri Soutou, Le général de Gaulle et l‘URSS, 1943–1945. Idéologie ou équilibre européen, in: Revue d‘Histoire diplomatique 1994/4.

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langt, hinterließ die einseitige Bildung der Regierung Renner durch Moskau einen sehr schlechten Eindruck: „Die Regierung Renner hat den Anschein einer sowjetischen Schöpfung und ist nicht imstande, die Mehrheit des österreichischen Volkes zu vertreten.“27 Französische Besatzungszonen in Deutschland und Österreich Am 12. August 1944 legte de Gaulle die französische Deutschlandpolitik fest: Das Rheinland würde unter ständige französische Besatzung gesetzt, das Ruhrgebiet würde internationalisiert, das Reich dezentralisiert und eine „westliche Militärgrenze“ 100 Kilometer östlich des Rheins errichtet. Österreich war davon nicht tangiert. Am 1. Februar 1945 wurden diese Pläne verfeinert: Die Besetzung sollte sich bis in die Nähe von Eisenach, vor allem nördlich der Linie Metz–Eisenach, ausdehnen, um Deutschland in Richtung Berlin zu kontrollieren und um der sowjetischen Präsenz in Ostdeutschland Rechnung zu tragen. Diese Pläne wurden jetzt auch nach Süddeutschland und Österreich ausgedehnt, doch ihr Schwerpunkt lag immer noch im Norden. Aber in den folgenden Monaten beharrten die Briten auf Köln, die Amerikaner auf Frankfurt und auf einer Verbindung zwischen ihrer Zone und Bremen. So wurde der Schwerpunkt der französischen Besatzung, ursprünglich für den Norden vorgesehen, deutlich nach Süden verlagert: nach Baden-Württemberg und Tirol-Vorarlberg, mit dauerhafter und nicht zeitbegrenzter Besatzung, was auch dem Potsdamer Abkommen entsprach. Nun bildeten die Besatzungszonen am Rhein und in Tirol-Vorarlberg einen zusammenhängenden Block und eine defensive Stellung, sowohl gegen eine etwaige Wiedergeburt Deutschlands als auch gegen eine mögliche sowjetische Bedrohung. Bezeichnenderweise waren beide Besatzungszonen in Paris derselben Behörde unterstellt: dem „Comité interministériel des affaires allemandes et autrichiennes“.28 Frankreich hatte jetzt ein direktes und eigenes Interesse an der Entwicklung der Lage in Österreich: Eine ehrgeizige Neuordnung im Donauraum, um die Fehler von 1919–1920 zu korrigieren, stand nicht mehr zur Debatte.29 Es ging nicht mehr um ein Wiederanknüpfen an die französische Einflusspolitik in Mitteleuropa vor 1938, es ging jetzt schlicht da27 „Directives pour notre action en Autriche“, 19.7.1945, abgedruckt in: Documents diplomatiques français 1945/2, n° 52, Paris 2000. 28 DDF, 1945/2, „Note de la Direction générale des affaires politiques sur l’Administration française en Autriche“, 8.8.1945, n° 95. 29 Institut d‘histoire du temps present – Institut Charles de Gaulle (Hg.), De Gaulle et la nation face aux problèmes de défense 1945–1946. Plon 1983, S. 227–229.

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rum, eine deutsche wie eine sowjetische Vorherrschaft in Österreich zu vermeiden.30 Das besetzte Rheinland und Tirol bildeten dafür einen nützlichen „strategischen Winkel“, wie dies französische Strategen gesehen hatten.31 Offensichtlich hatte auch de Gaulle seine Meinung geändert: 1943 stand er dem Unabhängigkeitswillen der Österreicher skeptisch gegenüber. 1945 aber war er überzeugt, diese Unabhängigkeit wäre sowohl nötig wie auch möglich. Frankreich sollte aber vorsichtig bleiben und durch seine Besatzungszone fähig sein, die Lage in Österreich mitzugestalten. Am 19. Juli 1945 verabschiedete das Generalsekretariat des „Comité interministériel des affaires allemandes et autrichiennes“ die Direktive für die französische Österreichpolitik.32 Die austro-bayerische Option wurde jetzt ausdrücklich verworfen: Sie würde langfristig in eine neue deutsche Einigung, diesmal von Süden nach Norden, münden. Die Donauoption, eine Donauföderation unter Österreich, Ungarn und der Tschechoslowakei, war nicht mehr wünschenswert oder machbar: Die Bedingungen, insbesondere unter der sowjetischen Vorherrschaft in Mitteleuropa, waren ganz anders als 1920. Die einzige Lösung war die Unabhängigkeit Österreichs. Dazu kam die Ansicht des Comité, die österreichische Wirtschaft könne ausbalanciert werden und sich innerhalb der Grenzen des Landes, ohne eine Donauföderation, entwickeln.33 Diese Feststellung setzte den regelmäßig wiederkehrenden französischen Vorstellungen seit 1918 ein Ende.

30 DDF, 1945/2, n° 274, Aufzeichnung, 28.10.1945. 31 Für diesen Begriff des „strategischen Winkels“ siehe Georges-Henri Soutou, De Lattre et les Américains, 1946–1949. L‘Alliance avant l‘Alliance, in: Jean de Lattre et les Américains, colloque des 26 et 27 mars 1994, Commission d‘Histoire de l‘Association „Rhin et Danube“ et Centre d‘Histoire nord-américaine de l‘Université de Paris I. Paris 1995. 32 DDF 1945/2, n°52, 19.7.1945. 33 DDF 1945/2, n°184, Wirtschaftliche Direktiven für Österreich, September 1945.

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Der „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich

Die staatspolitisch uminterpretierten (verfälschten) Aussagen der Moskauer Deklaration zu Österreich dienten jahrzehntelang als Legitimation für wesentliche Bereiche der österreichischen Politik, sie wurde zur inoffiziellen „Magna Charta der Zweiten Republik“.1 Aber sie wurden auch rückblickend als Folie über die Geschichte des „Anschlusses“ und des österreichischen Nationalsozialismus gelegt und stellten für diese bequeme Interpretationslinien und Entschuldigungsstrategien bereit. Heute ist es hier nicht mehr notwendig, darauf hinzuweisen, dass die bekannten Kernaussagen über Österreichs Zukunft in der Moskauer Erklärung keineswegs als historisch-empirisch begründete Thesen und geschichtswissenschaftliche Tatsachenbeschreibung aufgefasst werden dürfen.2 Ernsthafte Geschichtsforschung und (Außen-)Politik sind etwas durchaus Verschiedenes, was jedenfalls bei einem so staatspolitisch „heißen Eisen“ wie dem „Anschluss“ und dessen politischem Gebrauch nur selten auseinandergehalten wird. Das gilt gerade auch für die durchaus positive Neubestimmung von Österreichs Vergangenheitspolitik und deren Folgewirkungen auf der internationalen Ebene, in der Innenpolitik und bei den Neupositionierungen der Entschädigungs- und Erinnerungspolitiken Österreichs seit der „Waldheim-Affäre“. Bis in die 1980er-Jahre war die sogenannte „Opferthese“ nicht nur Staatsdoktrin, sondern auch eine Kernaussage des Großteils der entstehenden Zeitgeschichteforschung. Erst danach wurde das, was unmittelbar nach 1945 noch nicht ganz verdrängt gewesen war, allmählich wieder ins österreichische öffentliche Bewusstsein gerufen, nämlich dass Österreicher3 im „Dritten 1

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Thomas Albrich, „Es gibt keine jüdische Frage“. Zur Aufrechterhaltung des österreichischen Opfermythos, in: Rolf Steiniger (Hg.), Der Umgang mit dem Holocaust. Europa – USA – Israel, Wien 1994, S. 147–166, hier S. 147–149; auch: http://www.demokratiezentrum.org/fileadmin/media/pdf/albrich.pdf, 12.11.14. Erstmals die international-politische Marginalität dieser Deklaration betonend: Fritz Fellner, Die außenpolitische und völkerrechtliche Situation Österreichs 1938. Österreichs Wiederherstellung als Kriegsziel der Alliierten, in: Erika Weinzierl – Kurt Skalnik (Hg.), Österreich. Die Zweite Republik, Bd. 1, Graz 1972, S. 53–90, hier vor allem S. 68–71; Neuinterpretation als Mittel kurzfristiger Widerstands-Stimulierung: Robert Keyserlingk, Austria in World War II. An Anglo-American dilemma, Kingston 1988, S. 190–192. Die männliche Form gilt hier und im Folgenden für Männer und Frauen.

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Vom „Anschluss“ zur Nationswerdung

Reich“ nicht nur Verfolgte (Opfer), sondern auch Verfolger (Täter) waren. Die Vranitzky-Formel vom NS-Opfer und der Nichtverantwortlichkeit „Österreichs als Staat“ und der moralischen Mitverantwortung von (vielen) „Bürgern dieses Landes“ an den Verfolgungsmaßnahmen der NS-Diktatur4 wurde zu der neuen Meistererzählung über Österreichs NS-Vergangenheit und Nachkriegspolitik; sie wurde seit 1993 auch von anderen Spitzenpolitikern oft wiederholt. Deshalb ist sie aber noch nicht wissenschaftlich jedem Zweifel entzogen oder eine nichthinterfragbare historische „Wahrheit“,5 wenngleich sie einen geschichts- und erinnerungspolitisch wichtigen und großen Schritt in die richtige Richtung darstellte, der selbst wieder historisch zu betrachten ist. Der lange Weg der Grundeinschätzung der österreichischen NS-Geschichte von der „Opfer“- zur „Mittäter“- und weiter zur „Täter“-These, der auch auf der Tagung in Wien am 29. Oktober 2013 mehrfach angesprochen wurde, ist jedoch noch lange nicht abgeschlossen, wie Cornelius Lehnguth vor Kurzem dargelegt hat.6 Das gilt für die politischen Sphären, den Schulunterricht und den Journalismus, wie gerade in diesen Tagen das groß gezeigte rückblickende Korrigieren bzw. Umschreiben der eigenen, 30 Jahre zurückliegenden, zum Masternarrativ gewordenen Großdarstellung von Hugo Portischs und Sepp Riffs Fernsehgeschichte Österreichs7 demonstriert; aber es betrifft auch zum Teil noch immer die wissenschaftliche Zeitgeschichte. Ich will mich hier aber nicht weiter mit der alten Debatte um „Opfer“ oder „Täter“ aufhalten, die etwa schon von Heidemarie Uhl8 nachgezeichnet wurde, sondern auf ein anderes Axiom zu Österreichs NS-Geschichte aufmerksam machen: auf das, was ich die „Bewusstseinsspaltung“ des dominanten österreichischen Geschichtsbildes über die NS-Zeit nennen möchte. Ein solches dichotomisches Politik- und Gesellschaftsverständnis war schon in den

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Zit. in Gerhard Botz – Gerald Sprengnagel (Hg.), Kontroversen um Österreichs Zeitgeschichte. Verdrängte Vergangenheit, Österreich-Identität, Waldheim und die Historiker, 2., erw. Aufl., Frankfurt am Main 2008, S. 645–647. Die einzelnen historischen Aussagen dieser „Formel“ sind m. W. bisher noch nicht im Detail auf ihre Übereinstimmung oder ihren Gegensatz zu den Ergebnissen wissenschaftlicher Zeitgeschichte abgeklopft worden. Cornelius Lehnguth, Österreich nach Waldheim. Der parteipolitische Umgang mit dem Nationalsozialismus in Österreich, Wien 2013, S. 441–445. Siehe Hugo Portisch und Sepp Riff, „Ö1“ und „Ö2“, erstmals im österreichischen Fernsehen 1987 bzw. 1985, nunmehr: Österreich I, und Österreich II, auf DVDs, digitally remastered, neu kommentiert und überarbeitet von Hugo Portisch und Sepp Riff. Heidemarie Uhl, Das „erste Opfer“. Der österreichische Opfermythos und seine Transformationen in der Zweiten Republik, in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften 30. 1 (2001), S. 19–34.

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innenpolitischen Auseinandersetzungen während der Waldheim-Affäre entstanden. So hatte Waldheim selbst 1988 davon gesprochen, dass es Österreicher gegeben habe, „die Opfer, und andere, die Täter waren“. An diesen von ihm offen angesprochenen janusköpfigen Blick auf die österreichische Vergangenheit knüpfte eine Reihe darauffolgender staatspolitischer Stellungnahmen zu Österreichs NS-Vergangenheit seit Franz Vranitzky und Thomas Klestil bis Barbara Prammer und Heinz Fischer9 an. Dabei arbeitete die österreichische Politik, durchaus verdienstvoll, bis in jüngster Zeit immer stärker die Mittäterschaft von immer mehr Österreichern heraus. Aber immer blieb die angesprochene Spaltung zwischen Staat und Bevölkerung bzw. Gesellschaft bestehen: die strikte Unterscheidung zwischen der österreichischen Bevölkerung bzw. Gesellschaft einerseits und Österreich als völkerrechtlichem Subjekt, als „Staat“, andererseits. Jene sei entweder „Täter“ oder „Opfer“ in der NS-Diktatur gewesen, das Völkerrechtssubjekt Österreich sei aufgrund der deutschen Ultimaten und des Einmarsches der Wehrmacht ein „Opfer“ der „typischen Angriffspolitik Hitlers“, wie es in der Moskauer Deklaration heißt, geworden. Das ist immer noch eine Art österreichische Staatsdoktrin, der selbst manche Zeitgeschichtler über die 1980er-Jahre hinaus gefolgt sind. Allerdings zeichnete sich in der Rede von Bundespräsident Fischer zum 75. Jahrestag des „Anschlusses“ eine weitere Aufweichung dieser Position ab: Er sprach vom 13. März 1938 dominant als von einem „Tag der Schande“ Österreichs! Auf dieser Tagung kann es nicht primär um eine Diskussion der alten Streitfrage der Unterscheidung von Gesellschaft und Staat gehen. Das war und ist Thema der Rechts- und Sozialwissenschaften; allerdings erscheint mir eine solche Trennung mit einem modernen Demokratieverständnis nicht vereinbar. Das dahinterstehende hegelianische Verständnis vom Staat (im Gegensatz zur Gesellschaft) und seinen im „starken Herrscher“ verkörperten „Weltgeist“ ist ideengeschichtlich mit höchst problematischen Folgen bis ins 20. Jahrhundert verknüpft.10 Aber es ist auch eine grobe Vereinfachung, „wenn zur Erklärung von Massengewalt nur auf Regierungspolitik und ir-

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http://www.bundespraesident.at/newsdetail/artikel/tag-der-katastrophe-und-derschande-gedenkakt-zum-75-jahrestag-des-12-maerz-1938/, 12.11.14; http://www.parlinkom.gv.at/LI/ZUSDATEIEN/Gedenksitzung12März2008GESAMT.pdf, 9.9.2010; sowie Botz – Sprengnagel (Hg.), Kontroversen um Österreichs Zeitgeschichte, S. 648– 653. 10 Lutz Niethammer – Dirk van Laak, Posthistoire. Ist die Geschichte zu Ende? Reinbek bei Hamburg 1989; vgl. dagegen: Ernst-Wolfgang Böckenförde, Staat, Gesellschaft, Freiheit. Studien zur Staatstheorie und zum Verfassungsrecht, Frankfurt am Main 1976, S. 185–220.

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gend ein Schurkenregime verwiesen wird, etwa die NS-Regierung […].“11 So zeigen aktuelle vergleichende Untersuchungen von extrem gewalttätigen Gesellschaften, dass die Rolle von staatlichen Organen als selbstständige Akteure weder beim Holocaust noch bei anderen Geno- und Ethnoziden und tödlichen Massendeportationen außer Acht gelassen werden kann. Aber „die Wechselbeziehungen zwischen Staat und Gesellschaft sind so stark, dass sie nicht als völlig getrennte, isolierte Einheiten verstanden werden sollten. […] ‚Der Staat‘ ist Teil der Gesellschaft und spiegelt ihre Regeln und Normen wider oder die mächtiger Gruppen, die er dann durchzusetzen und festzuschreiben versucht.“12 Jedenfalls ist auch aus geschichtswissenschaftlicher Sicht eine solche Dichotomie, die den österreichischen Staat als Ganzes – irgendwie und sei es als „okkupiertes Völkerrechtssubjekt“ nachträglich – ins Spiel bringt und so noch immer „Österreich“ teilexkulpiert und dessen Außen-, Wirtschafts- und Entschädigungspolitiken dient, nicht von der Moskauer Deklaration ableitbar; das sollten die Forschungen von Gerald Stourzh, Rolf Steininger und Oliver Rathkolb13 oder Günter Bischof und anderen14 klar gemacht haben: Der Text der Moskauer Deklaration ist nur das Spiegelbild eines Minimalkonsenses der alliierten Österreichpolitik und der dahinter stehenden unterschiedlichen Interessen, nicht das Ergebnis wissenschaftlicher Geschichtsforschung, es war kein Nachkriegsprogramm und diente in erster Linie der (erfolglos gebliebenen) propagandistischen Beeinflussung der österreichischen Bevölkerung gegen Kriegsende. Überdies gab es 1943/44 (seit 1938) keine österreichische Regierung und daher konnte es, wie Fritz Fellner schon 1972 betont hatte, „auch kein ‚Österreich‘ geben, das für eine Teilnahme am Hitler-Krieg zur Verantwortung zu ziehen war; es konnte höchstens die österreichische Bevölkerung verantwortlich gemacht werden, wie es ja die englische Version vorgesehen hatte [...]“.15 11 Christian Gerlach, Extrem gewalttätige Gesellschaften. Massengewalt im 20. Jahrhundert, München 2011, S. 10. 12 Ebenda, S. 10 f. 13 Gerald Stourzh, Um Einheit und Freiheit. Staatsvertrag, Neutralität und das Ende der Ost-West-Besetzung Österreichs 1945–1955, 5., durchges. Aufl., Wien 2005; Rolf Steininger, Der Staatsvertrag. Österreich im Schatten von deutscher Frage und Kaltem Krieg 1938–1955, Innsbruck 2005; Oliver Rathkolb, Die paradoxe Republik. Österreich 1945 bis 2010. Gekürzte und aktualisierte Taschenbuchausg., Innsbruck 2011. 14 Paradigmatisch etwa: Günter Bischof, Die Instrumentalisierung der Moskauer Erklärung nach dem 2. Weltkrieg, in: Zeitgeschichte, 20. 11/12 (1993), S. 345–366; auch: Ernst Hanisch, Der lange Schatten des Staates. Österreichische Gesellschaftsgeschichte im 20. Jahrhundert, Wien 1994, S. 399 f.; Michael Gehler, Österreichs Außenpolitik der Zweiten Republik. Von der alliierten Besatzung bis zum Europa des 21. Jahrhundert, Innsbruck 2005, S. 23–32. 15 Fellner, Die außenpolitische und völkerrechtliche Situation Österreichs 1938, S. 72 f.

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In der Folge werde ich skizzieren, wie sich das Verhältnis der Österreicher bzw. der österreichischen Gesellschaft in unterschiedlichen politischen Handlungsfeldern zum „Anschluss“ und die darauffolgenden sieben Jahre der NS-Herrschaft in Österreich in Thesenform darstellen. Für mich als jahrzehntelang kritisch mit der Geschichte des Nationalsozialismus Befasstem geht es nicht darum, einmal mehr die ohnehin schon weitgehend unhaltbar gewordene Opferthese zu widerlegen, sondern, extrem verkürzt, Hinweise zu geben, inwiefern die österreichische Bevölkerung mehrheitlich am Regime und seinen Taten als Verantwortliche mitgewirkt und diese mindestens durch Duldung bzw. Wegschauen16 ermöglicht hat:17 1. Hitler war ein „Exportprodukt“ Österreichs, wie immer man die Rolle des „Führers“ im NS-Herrschaftssystem gewichten und die Prädisponierung seiner späteren Ideen und Verhaltensweisen im „Österreichischen“ einschätzen mag. Aus dem deutschnationalen Milieu der oberösterreichischen Provinzstadt Linz kommend, verbrachte er seine politischen Lehrjahre in Wien. Ob er dort schon zum Judenhasser wurde, ist heute nicht unbestritten. Denn aus seinen Jugendjahren bis in den Ersten Weltkrieg hinein sind kaum direkte antisemitische Äußerungen überliefert. In der Habsburgermetropole begegnete der junge Hitler dem deutschnationalen, antiklerikalen und antiösterreichischen Radikalismus Georg von Schönerers und seiner Mitstreiter (vor allem Studenten und Akademiker), dort lernte er von Karl Lueger und dessen Christlichsozialen die mobilisierende Wirkung einer aus dem Katholizismus abgeleiteten politischen Liturgie und eines demagogischen politischen Antisemitismus kennen. Uns heute absurd erscheinende Ideen obskurer Sektierer und damals angesehener „nationaler Denker“ Wiens prägten seine Weltanschauung. Abstruse völkische Außenseiter wie Jörg Lanz-Liebenfels, Guido von List und Arthur Trebitsch wurden über ihre Schriften in ihm wirksam. So dürften schon in Wien die Grundlagen für seinen radikalen Antisemitismus und Rassenglauben gelegt worden sein. In seinem autobiografisch angelegten Propagandabuch „Mein Kampf“ finden sich – wohl rückblickend zugespitzte 16 Raul Hilberg, Täter, Opfer, Zuschauer. Die Vernichtung der Juden 1933–1945, Frankfurt am Main 1992, S. 11 f. 17 Ich folge hier vor allem meinen Beiträgen: Österreich und die NS-Vergangenheit. Verdrängung, Pflichterfüllung, Geschichtsklitterung, in: Dan Diner (Hg.), Ist der Nationalsozialismus Geschichte? Zu Historisierung und Historikerstreit. Frankfurt am Main 1987, S. 141–152 und 276–279; und: Simon Wiesenthals Beitrag zur Aufarbeitung der Geschichte des österreichischen Nationalsozialismus. Sein (fast) vergessenes „Memorandum“ zur „Beteiligung von Österreichern an Nazi-Verbrechen“ und die „österreichische Täter-These“, in: DÖW (Hg.), Forschungen zum Nationalsozialismus. Festschrift für Brigitte Bailer-Galanda. Wien 2012, S. 169–199.

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– Belege dafür. Abwägend beurteilt der britische Historiker Ian Kershaw die Genese von Hitlers antisemitischer Einstellung: „Wahrscheinlich hat Hitler tatsächlich, wie er später behauptete, während der Wiener Jahre begonnen, Juden zu hassen [...] Brachte er seinen inneren Haß einmal zum Ausdruck, fiel das in einer vom Antisemitismus vergifteten Umgebung gar nicht auf.“18

Als weitgehend politisch vorgeprägter Mensch ging Hitler im Alter von 24 Jahren von Wien fort. 2. Der Nationalsozialismus war ursprünglich eine politische Erfindung des alten Österreich, selbst wenn der vorhitlersche Nationalsozialismus nicht vollkommen identisch ist mit jenem Hitlers in München ab 1919. Nur in den gemischtsprachigen Randzonen und Industriegebieten Nordböhmens konnte innerhalb der sich sozial und wirtschaftlich bedroht fühlenden Deutschsprechenden schon um die Jahrhundertwende entstehen, was nach dem Ersten Weltkrieg in vielen Regionen Mitteleuropas und in Norditalien so attraktiv wurde: der Versuch, eine Art von „Sozialismus“ mit extremem Nationalismus zu verbinden. Daraus entstand eine wahrhaft explosive Kombination von nationalistischen und sozialen Protektionsbedürfnissen aufstrebender neuer Sozialschichten oder abstiegsbedrohter alter Mittelstände in einer Gesellschaft am Übergang in die Moderne. Für diese Sozialgruppen war in der Tat ein (deutscher) Nationalitätenkampf attraktiver und aussichtsreicher als der internationalistische Klassenkampf der österreichischen Sozialdemokratie. Das Muster der „Deutschen Arbeiterpartei“ von 1903/04, die sich 1918 die Bezeichnung „nationalsozialistisch“ voranstellte, sollte nach dem Ersten Weltkrieg bei „völkischen“ und extrem nationalistischen Splitterparteien auf einen fruchtbaren Boden fallen. Aus einer Vielzahl von Motiven, unter denen Anschlusswünsche und Antisemitismus nicht die unwichtigsten waren, ist es nicht verwunderlich, dass die NSDAP auch in Österreich ab 1932 massenhaften Zulauf erreichte, wenngleich mit zweijähriger Verzögerung gegenüber Deutschland. Dazu kam, dass sich die politischen Rahmenbedingungen ab 1933 grundlegend änderten: Im Inneren etablierte sich die schwache, etwa nur das katholisch-konservative Drittel der Bevölkerung ansprechende autoritäre Diktatur Engelbert Dollfuß’ und Kurt Schuschniggs, außenpolitisch ereignete sich eine tiefgreifende Umschichtung zugunsten des nationalsozialistischen Deutschlands. 18 Ian Kershaw, Hitler, 1889–1936, Bd. 1, Stuttgart 1998, S. 104 f.

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So kam es – über einige Zwischenstufen – zum „Anschluss“ im März 1938, der von sehr vielen Österreichern, spätestens als er eintrat, erleichtert begrüßt wurde. 3. Ohne die Anschlussbewegungen und -versuche der Ersten Republik sind die Vorgänge im März 1938 in Österreich nicht zu verstehen. Nach dem Zerfall des habsburgischen Vielvölkerstaates breitete sich unter den deutschsprachigen Österreichern aller politischen Richtungen, insbesondere unter den Deutschnationalen und den Sozialdemokraten, aber teilweise auch unter den Christlichsozialen, ein überwältigendes Streben nach einer Vereinigung mit Deutschland aus. Seine Verwirklichung schon 1918 wurde nur aufgehalten vom Anschlussverbot der Siegermächte. Als die Österreicher allmählich begannen, sich ab 1933 in ihrer Eigenstaatlichkeit einzurichten und die Dollfuß-Schuschnigg-Diktatur einen österreichischen Patriotismus auf ihre Fahnen schrieb, entfaltete Hitlers Machtübernahme in Deutschland einen neuen Sog auf die Österreicher. Der „Anschluss“ in Österreich war daher im Lande selbst seit 1918 – in einer Wellenbewegung zu- und schließlich abnehmend – im politischen Denken immer als ein Wunschziel oder als eine Möglichkeit vorhanden. 4. Aus den Spannungen des von der wirtschaftlichen Modernisierung verspätet erfassten Landes war in den letzten beiden Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts ein aggressiver „moderner“ Antisemitismus hervorgegangen, der in seinem Bestreben, auch die zum Teil schon assimilierten Juden als Verfolgungsobjekte zu erfassen, auf die Begriffe und Ergebnisse der damaligen Leitwissenschaften, insbesondere der Biologie und Medizin, zurückgriff. Gerade die rassistischen Theorien anerkannter Natur- und Kulturwissenschaften wie deren Popularisierung waren gerade im Bildungs(klein)bürgertum weit verbreitet, und eben diese Sozialgruppen waren auch die primären Träger des entstehenden (deutschen) Nationalismus, sodass es in diesen Milieus zu einer verhängnisvollen Amalgamierung kommen konnte. Selbst Karl Renner und manche andere sozialdemokratische Intellektuelle und Politiker oder Gewerkschafter dachten gesellschaftspolitisch aus dieser antijüdischen Vorurteilsstruktur heraus (ihr Sozialismus richtete sich praktisch primär gegen kapitalistische „Juden“) oder bedienten sich ihrer als (populistisches) Argumentationsmittel. Trotz aller Differenzen des religiösen und politischen und des rassischen und nationalistischen Antisemitismus gab es fließende Übergänge zwischen beiden Versionen des Judenhasses, doch war erstere Version die Voraussetzung der letzten, und ohne den weitverbreiteten christlichen Antisemitismus

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hätten die nationalsozialistische Judenverfolgung und -vernichtung nicht ablaufen können. Vor allem in den alpinen Regionen und in Wien gab es für die Entwicklung des Antisemitismus einen günstigen Boden. Zahlenmäßig bedeutende Mittelschichten, die auf eine „ständische“ Absicherung ihrer Lebenschancen hofften, sahen sich von zwei Seiten bedroht: vom kapitalistischen Großbürgertum und von der Arbeiterbewegung – mochten sie nahe oder fern sein oder nur imaginiert werden. Tatsächlich waren Juden hier wie überall dort, wo der eigenständige Kapitalismus schwach war, im Groß- und Bildungsbürgertum stark vertreten. Auch sonst traten sie in der wirtschaftlich-gesellschaftlich stark traditionell geprägten Habsburgermonarchie als Träger von wirtschaftlicher Modernisierung und von liberalen wie sozialistischen Ideen auf. Daher richtete sich gerade gegen sie die ganze Aggressivität der Sich-Bedroht-Fühlenden. Die relativ große Zahl der jüdischen Zuwanderer aus Ostmitteleuropa vor, in und nach dem Ersten Weltkrieg bestärkte noch die bestehenden antisemitischen Vorurteile. In Krisenzeiten schlugen solche antijüdischen Ressentiments dann leicht in eine wüste Judenhetze um, so auch im März 1938, nach dem „Anschluss“, und während des Pogroms der „Reichskristallnacht“, als sich selbst „reichsdeutsche“ Nationalsozialisten und Gestapobeamte vom Ausmaß dieses spontanen Judenhasses in Wien überrascht zeigten. Schließlich war es nicht zuletzt die „Volksmeinung“ der NS-Funktionäre und ihrer zahlreichen Mitläufer, die die Judenverfolgung des „Dritten Reiches“ von Wien aus anheizte. Österreicher waren es, die bekanntlich von der Beraubung der Juden, von der Übernahme der Posten und Geschäfte der Juden, von der Vertreibung der Juden aus ihren Wohnungen profitierten, und zwar zu Zehntausenden. Der nichtjüdischen Bevölkerung war es nur recht, dass die Juden schließlich „deportiert“ wurden, irgendwohin, wo es ihnen beileibe nicht gut ging. Man fragte nicht weiter danach, man drängte sogar darauf: „Darr Jud muß weg, sein Gerschtl [= Geld] bleibt da!“ 5. Der „Anschluss“ von 1938 war in der Tat weder eine bloße „Okkupation“ noch eine „nationale Erhebung“ oder ein bloßer „Blumenfeldzug“, wie die Nazis behaupteten. Die am 12. März beginnende Intervention von außen durch übermächtige deutsche Militär-, SS- und Polizeikräfte begleiteten stürmische Demonstrationen, antijüdische pogromartige Exzesse und willkürliche Verhaftungen, die auf eine pseudo-revolutionäre Machtübernahme einheimischer „Illegaler“ von unten hinausliefen, während gleichzeitig eine scheinlegale

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Machtergreifung von oben stattfand, das heißt von jenen Positionen her, die österreichische Nationalsozialisten schon innerhalb des „Ständestaates“ erlangt hatten. Arthur Seyß-Inquart und seine „Katholisch-Nationalen“ erwiesen sich zunächst in der „Österreichischen Landesregierung“ als nützlich für die nahtlose Machtübertragung, doch booteten der als Reichskommissar ins Land entsandte Saarpfälzer Gauleiter, Josef Bürckel, und radikale einheimische NS-Führer sie bald aus, während unter den einheimischen NSDAP-Mitgliedern und ihren Mitläufern ein Wettlauf um Posten und zu „arisierende“ Güter einsetzte. Meine schon 1978 entwickelte These vom nationalsozialistischen „Anschluss“ als einer integrierten dreifachen Machtübernahme – von außen, innen und oben – wird seither immer wieder, zitierend oder implizit, von Zeithistorikern übernommen.19 (Als Aperçu sei mir der Hinweis darauf erlaubt, dass mich das und die Verwendung des Begriffs „Anschluss“ damals an den Rand des Verdachtes brachten, deutschnational und NS-verharmlosend motiviert zu sein.) 6. Das Ergebnis in der internen und ausländischen Öffentlichkeit nach dem 12. März 1938 war ein überwältigendes Bild allgemeiner Zustimmung der Österreicher, etwa bei der Heldenplatz-Kundgebung Hitlers. Die zweifelsohne auch vorhandene Widerstandsbereitschaft erklärter Gegner des Nationalsozialismus ging in einem Begeisterungssturm unter. Rascher als im „Altreich“ gelang es dem Nationalsozialismus, seine Herrschaft in einer beispiellosen Kombination von Terror und Kontrolle, nationalen und sozialen Versprechungen, pseudo-partizipatorischer Massenmobilisierung und viele Zeitgenossen überwältigender Propagandainszenierung auch in der „Ostmark“ zu etablieren. Tausende österreichische NS-Gegner, insbesondere Funktionäre des „christlichen Ständestaates“, und Juden wurden verhaftet und bereits Anfang April nach Dachau transportiert. Alle weltanschaulich bedeutungsvollen Gruppen konnten zu Zustimmungserklärungen zum „Anschluss“ veranlasst werden, so Karl Renner für die Sozialdemokraten und die österreichischen Bischöfe für den Katholizismus, die Repräsentanten der protestantischen Kirchen ebenso wie viele Kunstschaffende und Schauspieler. So brauchte das 99-Prozent-Ergebnis der von den neuen Machthabern am 10. April 1938 abgehaltenen „Volksabstimmung“ zur Legitimierung des 19 Etwa Hanisch, Der lange Schatten des Staates, S. 338–345; Emmerich Tálos, Das austrofaschistische Herrschaftssystem. Österreich 1933–1938, Wien – Berlin 2013, S. 538–550.

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vollzogenen „Anschlusses“ als Ganzes nicht gefälscht zu werden, die Herrschaftsmechanismen des NS-Regimes funktionierten auch so. 7. Die „Anschluss“-Begeisterung flaute zwar in der Folge, als auch negative Auswirkungen für die Bevölkerung spürbar wurden, etwas ab, die Unterstützung des Regimes und des Krieges scheint aber mit den Siegen bis 1942 wellenartig immer wieder angestiegen zu sein. Auch die NS-Verfolgungspolitik warf vielfache wirtschaftliche, soziale und symbolische Belohnungen aller Art nicht nur für die Nationalsozialisten, sondern auch für die breite Masse der „Volksgenossen“ ab, was dazu führte, dass man mit einigem Recht davon sprechen kann, dass auch im Österreich der Jahre 1938–44 eine NS-„Volksgemeinschaft“ – mindestens – im Entstehen war. Nur ein einziger Indikator von vielen war das große Ausmaß, in dem die Österreicher in die NSDAP zu strömen suchten, sodass die Münchener Parteileitung sogar eine Bremse dagegen einbaute. 1942 gab es rund 688.000 NSDAP-Mitglieder in den (erweiterten) „Alpen- und Donaugauen“, das heißt, etwa jeder dritte erwachsene männliche Österreicher (schätzungsweise 40 %) war Nazi. Wenn in manchen österreichischen Gauen der Prozentsatz der NSDAP-Mitglieder höher als im sogenannten „Altreich“ war, dann bedeutet dies allerdings in erster Linie, dass die hiesigen Gauleiter ein größeres Prestigebedürfnis und einen höheren Grad an Undiszipliniertheit hatten als ihre deutschen Kollegen an den Spitzen der NS-Herrschaft. Vor diesem Hintergrund wird auch klar, warum angesichts dieser Proportionen nach 1945 jede schematisch-administrative Entnazifizierung scheitern musste. Eine tiefer greifende politische Säuberung wäre allein wegen der Unmöglichkeit, binnen kürzester Zeit die administrativen, wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Experten, die ja ein Hauptrekrutierungsfeld des Nationalsozialismus gewesen waren, durch Unbelastete zu ersetzen, zum Scheitern verurteilt gewesen. Daher funktionierten massenhafte personelle Entnazifizierungen, wenn überhaupt, nur in Ländern, in denen das Regime relativ wenige Anhänger gehabt hatte (wie in Norwegen oder Dänemark) oder wo ein revolutionärer Umbruch stattfand (wie in Jugoslawien); aber nicht einmal für die „sozialistische“ Gesellschaft der DDR kann man Letzteres annehmen, wie sich erst Jahrzehnte später offenbarte. 8. Die Österreicher nahmen auch sonst innerhalb des NS-Besatzungs- und Vernichtungsapparats eine prominente Rolle ein. Nur um einige Beispiele zu nennen: Ernst Kaltenbrunner als „zweiter Mann“ des SS-Apparats nach Heinrich Himmler, Odilo Globocnik als eifriger Leiter der „Aktion Reinhard“ und Adolf Eichmann (wie Hitler politisch sozialisiert in Österreich) als Exekutor

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der „Endlösung“ und deren Vorstufen, unterstützt von Franz Novak, Anton und Alois Brunner, Erich Rajakowitsch, Franz Stangl, Gustav Wagner, Hanns Rauter und anderen, ganz abgesehen von den Besatzungschefs Seyß-Inquart, Edmund Glaise-Horstenau und Otto Wächter. Wohl dürften viele dieser Österreicher in erster Linie nur deshalb in Positionen gekommen sein, in denen sie massenhafte Verbrechen begehen konnten, weil bei der Gleichschaltung der „Ostmark“ „reichsdeutsche“ Postenjäger sie in Ersatzkarrieren außerhalb Österreichs abgedrängt hatten und die kriegerische Expansion des „Dritten Reichs“ genügend neue Spitzenpositionen schuf. Aber nur für „Volksgenossen“, die als voll verlässlich galten, konnte es solche Karrieren geben, ihr Österreichersein hinderte sie nicht, an den ärgsten Verbrechen des Nationalsozialismus mitzuwirken, ja manchmal haben sie die habsburgische „Zivilisierungsmission“ von nichtdeutschen ethnischen Gruppierungen (Nationen) bruchlos auf das nationalsozialistische Germanisierungsprojekt übertragen können. Auch wenn dazu noch lange nicht genügend Forschungen vorliegen, so sollte doch Simon Wiesenthals erschütternde These aus den 1960er-Jahren zwar nicht wörtlich, aber als grobe Orientierung ernst genommen werden: „Mindestens drei Millionen ermordete Juden gehen zu Lasten der an den Verbrechen beteiligten Österreicher.“ 9. Schließlich: Nicht zuletzt kämpften Österreicher an den Fronten des Zweiten Weltkrieges praktisch mit derselben Aufopferung und Pflichtbereitschaft wie die „Reichsdeutschen“, und zwar bis zum Ende. Österreicher wirkten ohne Zögern an Repressalien mit, die weit über das kriegsrechtlich akzeptierte Maß an Grausamkeit hinausgingen. Österreicher waren besonders häufig auf dem Balkan eingesetzt, als Generäle, Offiziere und einfache Soldaten, einerseits, weil das österreichische Gebiet rein geografisch am nächsten zu Südosteuropa lag und die Österreicher schon in der Habsburgermonarchie diese Region Europas als ihren halbkolonialen Hinterhof betrachtet hatten, andererseits, weil sie häufig noch slawische Sprachen verstanden und sich (vielleicht tatsächlich) in der Geografie Südosteuropas auskannten; Hitler war daher der vielleicht nicht ganz unrichtigen Meinung, die Österreicher könnten als „geborene Diplomaten“ besonders gut mit all den verschiedenen Völkern dieses Raums umgehen. Österreicher waren daher auch oft in SS- und Wehrmachtseinheiten tätig, die laut Wehrmachtsbefehlen den „Partisanenkampf“ auf den geringsten Verdacht hin gegen die Zivilbevölkerung „mit den allerbrutalsten Mitteln“ führten und „in diesem Kampf ohne Einschränkung auch gegen Frauen und Kinder jedes Mittel anzuwenden“ verpflichtet wurden.

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Das Ausrotten und Niederbrennen ganzer Dörfer und Kleinstädte, das „Aussiedeln“ ganzer Regionen liefen neben dem Massenmord an den Juden auf eine andere „Endlösung“ hinaus: auf einen Vernichtungskrieg und eine systematische Verringerung der slawischen Völker um 30 Millionen (!), um deutschen „Lebensraum“ zu schaffen. Erst als der Krieg im Hinterland auch in Österreich für jeden spürbar wurde und sich die Niederlage abzeichnete, begann sich der „Durchschnittsösterreicher“ von gesamtdeutschen und Großreichsvorstellungen zu verabschieden und sein Österreichertum hervorzukehren bzw. manche ältere Ansätze weiterzuentwickeln. Bereitwillig griffen nach 1945 die österreichischen politischen Eliten, beginnend mit der Unabhängigkeitserklärung vom 27. April 1945 – und in weiterer Folge allmählich eine breitere Öffentlichkeit – jenen staatsideologischen Rettungsring auf, den ihnen die Alliierten selbst in der „Moskauer Deklaration“, wohl eher unabsichtlich, zugeworfen hatten. 10. Als Resümee zu der eingangs von mir gestellten Frage meine ich, dass die österreichische Zeitgeschichte gute quellenbasierte Gründe hat, folgender These näherzutreten: Trotz aller Schwankungen und klassenmäßigen Unterschiede war die österreichische Bevölkerung – Männer wie Frauen – etwa, aber immerhin, in einem ähnlich hohen Ausmaß am Funktionieren des NS-Regimes, seinen Vernichtungspolitiken und Kriegen beteiligt wie die sogenannten „Altreichsdeutschen“ (und im Übrigen auch „Volksdeutsche“ und manche „Hilfsvölker“). Das Mitgliedschafts- und Resistenzverhalten glich in Österreich weitgehend dem des katholischen Bayern. Wohl ist für die „Ostmark“ der katholische Widerstand und jener der „reaktionären“ pro-habsburgischen Aristokratie und Militärs etwas höher als für die deutschen Gaue einzuschätzen,20 doch insgesamt berechtigt das Auftreten von mutigem und opfervollem Widerstand nicht, eine insgesamt so oder so NS-unterstützende Gesellschaft von der Verantwortung freizusprechen und zum „Opfer Hitlers“ zu stilisieren; dies betrifft weder die Deutschen und Deutschland, wo man dies ohnehin nicht mehr tut, noch die Österreicher insgesamt und Österreich.

20 Nunmehr präzisiert: Gerhard Botz, Expansion und Entwicklungskrisen der NSDAP-Mitgliedschaft. Von der sozialen Dynamik zur bürokratischen Selbststeuerung? (1933–1945), in: Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs. Beruf(ung): Archivar. Festschrift für Lorenz Mikoletzky, Teil II, Bd. 55 (2011), S. 1161–1186.

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Fast alle diese Punkte belegen, dass die NS-Unterstützung je nach politischen Handlungsfeldern der unterschiedlichen Sektoren aus der Mitte der österreichischen Gesellschaft kam. Es ist daher an der Zeit, unabhängig von berechtigten oder unberechtigten Argumenten der Staatsräson,21 die an der völkerrechtlichen Durchsetzung (auch Geschichtsklitterung) orientiert sein mag, einen Umdenkprozess zu vollenden und die noch vorherrschende Geschichtsschizophrenie aufzugeben. Die Mehrzahl der Österreicher ist auch durch außenpolitische Schachzüge nicht aus der historischen Verantwortung am Kommen und Funktionieren des NS-Regimes und seiner exzessiven Gewalttaten zu entlassen, wenngleich sie alleine ohne die von vielen erwünschte Einbindung in das Deutsche Reich Hitlers nicht das, was „Zivilisationsbruch“ genannt wurde,22 hätten herbeiführen können. Dabei sollten auch die bestehenden Unterschiede der Grade der Involvierung in das Dritte Reich im Vergleich der Österreicher mit den „Altreichsdeutschen“ (und nichtdeutschen Mitträgern der Herrschafts- und Vernichtungsprozesse in fast ganz Europa) nicht nivelliert werden, erst recht nicht sollten auch die gleichsam heroischen Widerstandsaktionen und das Leid der Verfolgten und Ermordeten vergessen sein.

21 Siehe den Beitrag von Günter Bischof, Die Moskauer Deklaration und die Österreichische Geschichtspolitik, in diesem Band. Das Vortragsmanuskript für dieses Buch wurde mir vom Autor freundlicherweise schon vorab zur Verfügung gestellt. 22 Dan Diner, Vorwort, in: ders. (Hg.), Zivilisationsbruch. Denken nach Auschwitz, Frankfurt am Main, 1988, S. 7–9.

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„Anschluss“ 1938 – ein Blick zurück nach 75 Jahren

„Die Regierungen des Vereinigten Königreiches, der Sowjetunion und der Vereinigten Staaten von Amerika“, so hieß es in der Moskauer Deklaration vom 30. Oktober 1943, stellten fest, „dass Österreich, das erste freie Land, das der typischen Angriffspolitik Hitlers zum Opfer fallen sollte, von deutscher Herrschaft befreit werden soll. Sie betrachten die Besetzung Österreichs durch Deutschland am 15. März 1938 als null und nichtig.“ Die weiteren Punkte waren: • „Sie betrachten sich durch keinerlei Änderungen, die in Österreich seit diesem Zeitpunkt durchgeführt wurden, als irgendwie gebunden.“ • „Ein freies unabhängiges Österreich [sollte] wiederhergestellt“ werden; dadurch wäre auch ein wesentlicher Punkt, „den Nachbarstaaten […] die Bahn zu ebnen, auf der sie die politische und wirtschaftliche Sicherheit finden können, die die einzige Grundlage für einen dauernden Frieden ist.“ • Es folgte die bekannte „Erinnerung“, dass Österreich „für die Teilnahme am Kriege an der Seite Hitler-Deutschlands eine Verantwortung trägt, der es nicht entrinnen kann, und dass anlässlich der endgültigen Abrechnung Bedachtnahme darauf, wieviel es selbst zu seiner Befreiung beigetragen haben wird, unvermeidlich sein wird.“ Das falsch angegebene Datum – der „Einmarsch“ begann bekanntlich am 12. März und der „Anschluss“ erfolgte durch das entsprechende deutsche Reichs- und österreichische Bundesgesetz am 13. März – sollte dabei nicht überschätzt werden. Es mochte ein simpler Irrtum des britischen Außenamtsbeamten gewesen sein, der den Text entwarf, oder auf die Erinnerung an die bekannte Großkundgebung auf dem Heldenplatz am 15. März zurückzuführen sein, die im Rückblick alle anderen Ereignisse dieser Tage überlagerte. Für Österreich markierte die Moskauer Deklaration eine wichtige Stufe auf dem Wege zur Wiedererstehung der Republik 1945 bis hin zur Wiedergewinnung der staatlichen Souveränität 1955.1 Dass die politische Erklärung 1

Einige der einschränkenden Bestimmungen des Staatsvertrages von 1955 wurden freilich erst im Gefolge der Ereignisse von 1989 im November 1990 als „obsolet“ erklärt und eliminiert. Vgl. dazu Wolfgang Schallenberg, Obsoleterklärung einiger Artikel des

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von 1943 die historischen Ereignisse von 1938 in einer gewissen „politischen Freizügigkeit“ interpretierte, darf angesichts der Geschehnisse seit 1938 und der Rahmenbedingungen nicht überraschen: Politische Erklärungen sind nun einmal mit anderen Maßstäben zu messen als wissenschaftliche Studien. Immerhin aber stellte die Deklaration vom 30. Oktober 1943 eine gewissermaßen „offizielle“ Abkehr von den Standpunkten des Jahres 1938 dar, als alle Welt den „Anschluss“ Österreichs zur Kenntnis genommen oder – als die Befriedung eines europäischen Krisenherdes – sogar begrüßt hatte. Im Folgenden sollen die Geschehnisse des März 1938 im Überblick dargestellt und im Schlussteil einige wesentliche Behauptungen der Moskauer Deklaration untersucht werden.2 Die Hintergründe – Österreich von 1918 bis 1938 Österreich – zunächst „Deutsch-Österreich“ – entstand bei Kriegsende 1918 aus dem Zusammenbruch des Habsburgerreiches. So wie in den anderen Ländern der Doppelmonarchie Österreich-Ungarn im Oktober 1918 auf Grundlage der einzelnen Nationalitäten neue Staatsführungen entstanden, bildeten die Abgeordneten aus den deutschen Ländern (Nieder- und Oberösterreich, Salzburg und Vorarlberg) sowie aus den deutschen Wahlkreisen Kärntens, der Steiermark, Tirols, Böhmens, Mährens und Schlesiens am 30. Oktober 1918 in Wien eine provisorische Nationalversammlung.3 Diese Republik Deutsch-Österreich sollte, so besagte das Gesetz über die Staatsund Regierungsform am 12. November, „Bestandteil der deutschen Repub-

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österreichischen Staatsvertrages, in: Manfried Rauchensteiner – Robert Kriechbaumer (Hg.), Die Gunst des Augenblicks: Neuere Forschungen zu Staatsvertrag und Neutralität (Schriftenreihe des Forschungsinstitutes für politisch-historische Studien der Dr.-Wilfried-Haslauer-Bibliothek Salzburg 24). Wien – Köln – Weimar 2005, S. 503–517. Bei diesem Beitrag handelt es sich um einen Überblick, der auf die umfassende Darstellung zurückgeht, die zuerst 1987 und in überarbeiteter 3. Auflage 1994 erschien: Erwin A. Schmidl, Der „Anschluß“ Österreichs: Der deutsche Einmarsch im März 1938. 3., verb. Aufl. Bonn 1994. Frühere Überblicksdarstellungen erschienen u. a.: ders., Die militärischen Aspekte des Anschlusses, in: Gerald Stourzh – Birgitta Zaar (Hg.), Österreich, Deutschland und die Mächte: Internationale und österreichische Aspekte des „Anschlusses“ vom März 1938 (=Veröffentlichungen der Kommission für die Geschichte Österreichs 16, Wien: Österreichische Akademie der Wissenschaften, 1990), S. 291–306; sowie ders., Der deutsche Einmarsch in Österreich und die militärischen Aspekte des „Anschlusses“, in: Einmarsch ’38: Militärhistorische Aspekte des März 1938 (Begleitband zur Sonderausstellung des Heeresgeschichtlichen Museums). Wien 2008, S. 47–68. Für zahlreiche Vorschläge und kritische Hinweise danke ich Dr. Felix Schneider. Dazu ausführlich Wilhelm Brauneder, Deutsch-Österreich 1918: Die Republik entsteht. Wien – München 2000. Wien wurde erst 1920 ein eigenes Bundesland.

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lik“ sein. Kaiser und König Karl I. (1887–1922), der letzte Herrscher der Doppelmonarchie, hatte am Vortag auf jeden Anteil an den Regierungsgeschäften verzichtet (aber nicht abgedankt; 1921 versuchte er noch zweimal, in Ungarn wieder an die Macht zu kommen). Ein Anschluss dieses Staates an Deutschland schien neben nationalen schon aus geografischen Gründen logisch. Zum beanspruchten Staatsgebiet gehörten neben der heutigen Republik Österreich Südtirol die Untersteiermark sowie die deutschsprachigen Gebiete Böhmens, Mährens und Schlesiens (die später zusammenfassend, historisch nicht korrekt, als „Sudetengebiete“ bezeichnet wurden4). Die Lebensfähigkeit des kleinen Staates schien fragwürdig, der Wunsch nach einem Anschluss an Deutschland fand sich in den meisten Parteiprogrammen. Ein Gebietszuwachs des Deutschen Reiches lag aber keineswegs im Sinne der Entente-Mächte, weshalb die Pariser Friedensverträge (jener von Versailles mit dem Deutschen Reich am 28. Juni und jener von St. Germain mit Österreich am 10. September 1919) einen Anschluss Deutsch-Österreichs ebenso untersagten wie diesen Namen – der neue Staat sollte lediglich „Österreich“ heißen. Auf die deutschen Gebiete Böhmens, Mährens und Schlesiens (die zur Tschechoslowakei kamen) musste Österreich ebenso verzichten wie auf Südtirol (das an Italien fiel) und die überwiegend deutsche Untersteiermark (die Teil des neuen SHS-Staates wurde5). In Kärnten hingegen gelang es im „Abwehrkampf“ und mit der folgenden Abstimmung 1920, auch die teilweise von Slowenen bewohnten Gebiete im Süden großteils zu behalten. 1921 kamen noch die weitgehend deutschsprachigen Teile Westungarns als „Burgenland“ zu Österreich; 1924 erfolgten letzte Grenzkorrekturen. In den folgenden Jahren durchlief die Republik Österreich eine ähnliche Entwicklung wie das Deutsche Reich: die langsame Erholung von den Schäden des Krieges, die wirtschaftlichen Probleme der enormen Inflation, Arbeitslosigkeit und zunehmende innenpolitische Spannungen. Ähnlich wie im Deutschen Reich formierten sich die National­ sozialisten zu einer immer stärkeren politischen Kraft.6 Nicht zuletzt aus Sorge über die Wahlerfolge der österreichischen Nationalsozialisten 1931 und 19327 und unter dem Eindruck der „Machtergrei4

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Die Sudeten sind das Mittelgebirge im deutsch-tschechisch-polnischen Grenzgebiet, mit der höchsten Erhebung der Schneekoppe (tschechisch Sněžka, polnisch Śnieżka, 1602 m hoch). Die damals großteils deutschsprachigen Gebiete im westlichen und südlichen Böhmen und Mähren haben daher mit den Sudeten nichts zu tun. SHS-Staat = Staat der Serben, Kroaten und Slowenen, ab 1929 Königreich Jugoslawien. Heute gehört das Gebiet der einstigen Untersteiermark (rund um Marburg/Maribor und Cilli/Celje) zu Slowenien. Dazu detailliert: Bruce F. Pauley, Der Weg in den Nationalsozialismus: Ursprünge und Entwicklung in Österreich. Wien 1988. Bei den Nationalratswahlen 1930 waren die Nationalsozialisten trotz deutlicher Ge-

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fung“ Adolf Hitlers (1889–1945) im Deutschen Reich am 30. Januar 1933 nutzte die christlich-soziale Regierung am 4. März 1933 eine Krise des Parlaments (alle drei Präsidenten des Nationalrates waren nacheinander zurückgetreten) zur Ausschaltung dieser Institution. Vor allem die Heimwehren liebäugelten mit einer autoritären Herrschaft nach Vorbild der italienischen Faschisten Benito Mussolinis (1883–1945).8 Bundeskanzler Dr. Engelbert Dollfuß (1892–1934) regierte ab da unter Berufung auf das Kriegswirtschaftliche Ermächtigungsgesetz von 1917 und verkündete am 1. Mai 1934 eine neue, „ständestaatliche“ Verfassung. Kritiker sprachen (und sprechen) vom „Austro-Faschismus“. Die innenpolitische Opposition – zuerst Kommunisten und Nationalsozialisten, 1934 auch die Sozialdemokraten – wurde ausgeschaltet. Österreichische Nationalsozialisten unternahmen Bomben- und andere Anschläge, während das Deutsche Reich versuchte, Österreich wirtschaftlich unter Druck zu setzen.9 Im Februar 1934 kam es anlässlich einer Waffensuche in einem sozialdemokratischen Parteiheim in Linz zu einem kurzen, aber heftigen Bürgerkrieg, in dem Bundesheer, Polizei und regierungstreue Wehrverbände den „Republikanischen Schutzbund“, die paramilitärische Organisation der Sozialdemokraten, niederkämpften – eine Auseinandersetzung, die wegen der Hunderten Toten und vor allem durch die Exekution auch verwundeter Schutzbundfunktionäre europaweit für Empörung sorgte.10Am 25. Juli 1934 schließlich unternahmen Teile der österreichischen SA und SS einen Putschversuch, der scheiterte, bei dem aber Bundeskanzler Dollfuß winne mit 3 % der Stimmen noch eine zu vernachlässigende Größe gewesen: http:// www.wahlen.cc/downloads/wahlen/A/NR/Nationalratswahl_Hauptergebnisse_1919-1930.pdf, 3.2.2013. Bei den Landtags- und Gemeinderatswahlen in mehreren Bundesländern 1931 und 1932 aber erreichten sie im Durchschnitt bereits über 16 %, in der Stadt Salzburg sogar 29 % (vgl. Pauley, Der Weg in den Nationalsozialismus, S. 81 f.). 8 Die Heimwehren – auch Heimatschutz – entstanden aus den lokalen Orts- und Bürgerwehren der Zerfallszeit um 1918 und entwickelten sich zu einer politischen Bewegung, die den Parlamentarismus ablehnte. Da eine Koalition zwischen Christdemokraten und Sozialdemokraten nach 1920 nicht mehr zustande kam, stützte sich Bundeskanzler Dr. Dollfuß zunehmend auf die Heimwehren. Im Laufe der 1930er-Jahre sympathisierte ein Teil der Heimwehrbewegung mit dem faschistischen Italien, während ein anderer zu den Nationalsozialisten abdriftete. 9 So wurde am 27. Mai 1933 die „1000-Mark-Sperre“ verhängt, um den österreichischen Fremdenverkehr zu treffen. Deutsche Touristen mussten beim Grenzübertritt eine Gebühr von 1.000,– Mark entrichten (dies entspräche heute über 4.000,– Euro). 10 Eine zusammenfassende wissenschaftliche Darstellung des Bürgerkrieges im Februar 1934 steht immer noch aus. Vgl. dazu Werner Anzenberger – Martin Polaschek, Widerstand für eine Demokratie: 12. Februar 1934. Graz 2004, wo vor allem die Kämpfe in der Steiermark und die justiziellen Aspekte behandelt werden.

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ums Leben kam.11 Dr. Kurt (Edler von) Schuschnigg (1897–1977) wurde sein Nachfolger. Bis 1935 unterstützte Italien die ständestaatliche Regierung in Wien massiv – Mussolini war ein schwacher österreichischer Staat im Norden allemal lieber als ein starkes Deutsches Reich. Mit der Eroberung Abessiniens (Äthiopiens) durch Italien (3. Oktober 1935 bis 9. Mai 1936) aber und verstärkt nach dem Beginn des Spanischen Bürgerkrieges (Juli 1936 bis 1. April 1939) kam es zur Annäherung zwischen Rom und Berlin. In der Folge und angesichts der begrenzten Unterstützung durch die westlichen Demokratien suchte Bundeskanzler Schuschnigg ein Arrangement mit dem Deutschen Reich. Das am 11. Juli 1936 geschlossene „Juli-Abkommen“ sah eine außenpolitische Annäherung vor, unter (einstweiliger) Beibehaltung der österreichischen Selbstständigkeit. Damit war der „evolutionäre“ Weg einer schrittweisen Annäherung der „beiden deutschen Staaten“ eingeleitet.12 Die Tausend-Mark-Sperre von 1933 wurde aufgehoben, die Betätigung für die NSDAP blieb in Österreich jedoch verboten. Die Krise 1938 Schuschnigg hatte 1936 gehofft, die österreichischen Nationalsozialisten spalten zu können – die radikalen sollten isoliert, die gemäßigteren Elemente der „nationalen Opposition“ hingegen integriert werden. Am 12. Februar 1938 versuchte er in einer persönlichen Begegnung mit Adolf Hitler auf dem Obersalzberg bei Berchtesgaden, ein „bis hierher und nicht weiter“ festzuschreiben, musste aber zustimmen, einen erklärten Sympathisanten der Nationalsozialisten, Dr. Arthur Seyß-Inquart (1892–1946), als Innenminister in die Regierung aufzunehmen. Die radikalen Nationalsozialisten sahen dies als Zeichen, dass ihre Zeit gekommen war – in der Steiermark, in Kärnten und Oberösterreich kam es in der zweiten Februarhälfte zu Demonstrationen, derer zunehmend weder die Staatsgewalt noch die Führung der gemäßigten Nationalsozialisten Herr wurden. In mehreren Bundesländern begannen Verhandlungen, NS-Vertreter in die Landesregierungen aufzunehmen. Schuschnigg versuchte, die sich anbahnende revolutionäre Entwicklung mit einem verzweifelten Schritt zu stoppen. Gegen den Rat Mussolinis verkündete er am 9. März 1938 die Abhaltung einer „Volksbefragung“ über Österreichs Eigenstaatlichkeit bereits für den folgenden Sonntag, den 13. März 1938. 11 Zum Juliputsch 1934 vgl. Kurt Bauer, Elementar-Ereignis: Die österreichischen Nationalsozialisten und der Juliputsch 1934. Wien 2003; sowie Wolfgang Etschmann, Die Kämpfe in Österreich im Juli 1934 (= Militärhistorische Schriftenreihe 50). Wien 1984. 12 Vgl. dazu ausführlich Gabriele Volsansky: Pakt auf Zeit: Das deutsch-österreichische Juli-Abkommen 1936. Böhlaus zeitgeschichtliche Bibliothek, Bd. 37. Wien – Köln – Weimar 2001.

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Als Adolf Hitler davon erfuhr, war er überrascht und wütend zugleich, sah er darin doch einen Bruch der Übereinkunft vom 12. Februar. Ein Erfolg der „Volksbefragung“ – und ein solcher war in einem autoritären Staat wohl zu erwarten – konnte Schuschnigg den Rückhalt geben, die seit 1936 verfolgte „evolutionäre“ Annäherung an das Deutsche Reich zu verzögern, allenfalls sogar zu stoppen. So fürchtete man jedenfalls in Berlin. In der amtlichen Sprachregelung des Reichsaußenministeriums vom Abend des 11. März hieß das dann, „dass diese Aktion allein den Sinn haben konnte und sollte, [den] nationalsozialistischen Teil der Bevölkerung zu vergewaltigen“.13 Es steht nicht zur Debatte, ob diese Furcht begründet war; mehrere Berater bestärkten jedenfalls Hitler, massiv darauf zu reagieren. In der Reichskanzlei bestand bald „die Absicht der Liquidierung im Großen, d. h. Einmarsch“, wie Staatssekretär Ernst Freiherr von Weizsäcker (1882–1951) in sein Tagebuch notierte.14 Vor allem Reichsprogagandaminister Dr. Joseph Goebbels (1897– 1945) und Reichsluftfahrtminister Generalfeldmarschall Hermann Göring (1893–1946) drängten auf eine rasche, möglichst militärische „Lösung“ des österreichischen Problems. Bei Göring mochten wirtschaftliche Überlegungen mitgespielt haben, war er doch als Beauftragter für den Vierjahresplan verantwortlich für die deutsche Wirtschaftsplanung – und diese hatte Anfang 1938 einen krisenhaften Punkt erreicht: Es fehlten Arbeitskräfte, Rohstoffe und Devisen, um die bisherige Wirtschaftsexpansion (und vor allem die militärische Aufrüstung) fortzusetzen. All dies hatte Österreich zu bieten, nebst den Goldvorräten der Österreichischen Nationalbank. Der österreichische Historiker und Minister Edmund Glaise-Horstenau (1882–1946), der sich zufällig in Berlin aufhielt, hörte in der Nacht zum 10. März „von Bombengeschwadern über Wien […] mehr als einmal sprechen“, und Hitler selbst überlegte, ob es „nicht überhaupt sündhaft [wäre], eine solche Armee [wie die deutsche Wehrmacht] ungenützt stehen zu lassen!“15 Eine derartige Sünde wollte Hitler offenbar nicht begehen: Am Vormittag des 10. März befahl der Führer und Reichskanzler mehrere hochrangige Offiziere in die Reichskanzlei, musste aber feststellen, dass für ein militärisches Eingreifen in Österreich keine fertigen Pläne vorlagen. Daraufhin befahl Hit13 Politisches Archiv des Auswärtigen Amtes, Berlin, Pol. Abt. Österreich 2, Bd. 8, Telegramm in Ziffern, cito!, an die deutschen Missionen, Berlin, 11. März 1938, 23.50 Uhr., S. 318. 14 Leonidas E. Hill (Hg.), Die Weizsäcker-Papiere 1933–1950. 2. Aufl. Frankfurt – Berlin – Wien 1996, S. 122. 15 Peter Broucek (Hg.), Ein General im Zwielicht: Die Erinnerungen Edmund Glaises von Horstenau. Bd. 2: Minister im Ständestaat und General im OKW (= Veröffentlichungen der Kommission für neuere Geschichte Österreichs, Bd. 70). Wien – Graz – Köln 1983, S. 245.

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ler dem Chef des Generalstabes des deutschen Heeres, General der Artillerie Ludwig Beck (1880–1944), gegen Mittag, einen militärischen Einmarsch in Österreich für den 12. März vorzubereiten.16 Exkurs: Gab es einen „Sonderfall Otto“? An dieser Stelle ist ein kurzer Exkurs notwendig, um die Hintergründe dieser Situation zu skizzieren. Sieht man von Plänen aus dem Jahr 1935 ab, einem möglichen italienischen Angriff auf Süddeutschland durch eine präventive Besetzung großer Gebiete Nordtirols und allenfalls Salzburgs zuvorzukommen, so gab es bis 1938 auf militärischer Seite keine ausgearbeiteten Planungen für eine militärische Invasion in Österreich.17 Im Frühjahr 1937 referierte der Oberquartiermeister I des Generalstabes des deutschen Heeres, Generalmajor Erich von Manstein (1887–1973), „über ein militärisches Eingreifen in Österreich“für den Fall eines habsburgischen Restaurationsversuchs. Mansteins Vorgesetzter, General Beck, protestierte allerdings in einer Denkschrift am 20. Mai 1937 gegen eine weitere Ausarbeitung dieses Planes, da er ihm angesichts eines möglichen Eingreifens der Tschechoslowakei zu riskant erschien und es daher „seitens des Heeres nicht verantwortet werden“ könnte, derartige militärische Planungen ohne Berücksichtigung der politischen Bedingungen anzustellen. Neben diesen sachlichen Erwägungen spielte für Beck ein weiteres Moment eine Rolle: In der Tradition des deutschen Generalstabes des Heeres verstand sich dessen Chef als der persönliche militärische Berater des politischen Führers, sei dies der Kaiser, der Reichskanzler oder eben der „Führer“. Den Reichskriegsminister – von dem diese Idee ausgegangen war – hingegen akzeptierte Beck nur als administrative Zwischeninstanz, nicht als vorgesetzte Stelle, die befugt wäre, derart schwerwiegende Entscheidungen zu treffen. Hier zeichnete sich sehr viel von der Rivalität und Obstruktion ab, die in der Folge – und während des ganzen Zweiten Weltkrieges – das Verhältnis zwischen dem Oberkommando des Heeres und seinem Generalstab (als der Kommandobehörde einer der drei Teilstreitkräfte neben Luftwaffe und Kriegsmarine) sowie dem übergeordneten Reichskriegsministerium bzw. Oberkommando der Wehrmacht prägen sollte. Beck stand Hitlers Expansionsplänen zweifelnd gegenüber, doch dürf16 Vgl. Ulrich Eichstädt, Von Dollfuß zu Hitler: Geschichte des Anschlusses Österreichs 1933–1938 (= Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Bd. 10). Wiesbaden 1955, S. 365 f.; Walter Görlitz (Hg.), Generalfeldmarschall Keitel – Verbrecher oder Offizier? Erinnerungen, Briefe, Dokumente des Chefs OKW. Göttingen – Berlin – Frankfurt 1961, S. 178 f. 17 Dazu ausführlich: Schmidl, „Anschluß“, S. 33–38.

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te dies 1937 nicht die entscheidende Rolle gespielt haben. Allerdings warnte Beck in seiner Denkschrift vor einem Krieg zwischen dem Deutschen Reich und Österreich, nach welchem „das zukünftige deutsch-österreichische Verhältnis nicht unter dem Zeichen des [friedlichen] Anschlusses, sondern des Raubes stehen würde“. In der Weisung des Reichskriegsministeriums vom 24. Juni 1937 betreffend die „einheitliche Kriegsvorbereitung der Wehrmacht“, die mit dem 1. Juli 1937 in Kraft trat und in erster Linie die Bearbeitung eines Zweifrontenkrieges in Aufmarschplänen mit Schwerpunkt Frankreich (Aufmarsch „Rot“) bzw. Tschechoslowakei (Aufmarsch „Grün“) regelte, wurde daher ein militärisches Vorgehen in Österreich angesprochen – es sollte allerdings nicht „vorbereitet“, sondern lediglich „durchdacht“werden. Da man von einer habsburgischen Restauration als Auslöser ausging, erhielt dieses Unternehmen die Bezeichnung „Sonderfall Otto“, nach dem ältesten Sohn Kaiser Karls. Es wurde in der Folge allerdings allem Anschein nach nicht einmal „durchdacht“, sondern in bester bürokratischer Tradition schubladisiert.18Am 5. November 1937 nannte Hitler Österreich neben der Tschechoslowakei als mögliches Ziel einer deutschen Expansion.19 Dennoch: Als sich General der Artillerie Wilhelm Keitel (1882–1946), der Chef des Oberkommandos der Wehrmacht, am 10. März 1938 des „Sonderfalls Otto“ erinnerte, musste er feststellen, dass es sich dabei um einen leeren Aktenordner handelte.20 Die Planungen am 10. März 1938 Im Laufe des 10. März wurden die führenden Militärs des Dritten Reiches nach Berlin befohlen. Einige hatten eine weite Anreise: General der Flieger 18 Klaus-Jürgen Müller, Das Heer und Hitler: Armee und nationalsozialistisches Regime 1933–1940 (= Beiträge zur Militär- und Kriegsgeschichte, Bd. 10). Stuttgart 1969, S. 235– 238; ders., General Ludwig Beck: Studien und Dokumente zur politisch-militärischen Vorstellungswelt und Tätigkeit des Generalstabschefs des deutschen Heeres 1933–1938 (= Schriften des Bundesarchivs, Bd. 30). Boppard am Rhein 1980, S. 240 f. und Dok. Nr. 41 und Nr. 43; Herbert Schottelius – Gustav-Adolf Caspar, Die Organisation des Heeres 1933–1939, in: Militärgeschichtliches Forschungsamt (Hg.), Deutsche Militärgeschichte 1648–1939. Herrsching 1983, Abschnitt VII, S. 289–399, hier: S. 389–392; Helmut Krausnick, Zum militärischen Widerstand gegen Hitler 1933–1938: Möglichkeiten, Ansätze, Grenzen und Kontroversen, in: Der militärische Widerstand gegen Hitler und das NS-Regime 1933–1945(= Vorträge zur Militärgeschichte, Bd. 5). Herford – Bonn 1984, S. 27–80, hier: S. 48 f; Schmidl, „Anschluß“, S. 32 f. 19 Nach Hitlers Adjutanten, Oberst Friedrich Hoßbach, der über diese Besprechung ein Gedächtnisprotokoll verfasste, ist diese Zusammenkunft als „Hoßbach-Konferenz“ bekannt. Vgl. Jonathan Wright – Paul Stafford, Hitler, Britain and the Hoßbach-Memorandum, in: Militärgeschichtliche Mitteilungen 2/1987, S. 77–123. 20 Schmidl, „Anschluß“, S. 99; vgl. auch Görlitz, Keitel, bes. S. 178.

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Erhard Milch (1892–1972) verbrachte gerade seinen Urlaub in Klosters in der Schweiz, als er telefonisch erfuhr, dass „die Erbtante“ im Sterben läge. General der Artillerie Walter von Reichenau (1884–1942), der Befehlshaber des Heeresgruppenkommandos 4 (Leipzig), dem das Kommando der Panzertruppen (= Panzerkorps) unterstand, befand sich sogar bei einer Besprechung des Olympischen Komitees in Kairo. Einer der Offiziere, die bereits am Nachmittag des 10. März in Berlin weilten, war General der Infanterie Fedor von Bock (1880–1945), der Oberbefehlshaber der Heeresgruppe 3 (Dresden). Er erfuhr um 16:30 Uhr, dass seine Heeresgruppe das Armeeoberkommando 8 bilden und er selbst den Oberbefehl über jene Truppen führen sollte, die am 12. März, vermutlich um die Mittagszeit, „zur Wiederherstellung geordneter Zustände“ in Österreich einmarschieren sollten.21 Auffallend ist in diesem Zusammenhang nicht zuletzt der Hinweis auf die Mittagszeit des 12. März. Tatsächlich enthielten die ersten Planungen, wie aus den Unterlagen der Luftwaffe hervorgeht, ursprünglich drei verschiedene Varianten: • Fall 1 sah für den Vormittag des 12. März massive Propagandaflüge mit 360 Maschinen über ganz Österreich vor. Die dabei abzuwerfenden Flugblätter – einer Notiz zufolge immerhin 300 Millionen Stück – wurden am 10. bzw. 11. März getextet („ein schwieriges Unterfangen“, da sich die Lage in Österreich ständig änderte) und sollten wahrscheinlich die Österreicher zur Unterstützung einer nationalsozialistischen Gegenregierung aufrufen.22„Nur bei Angriff“ sollten die deutschen Flugzeuge etwaiges Feuer erwidern: „Keine Übereilung!“ • Fall 2 sollte offenbar erst eintreten, wenn diese Propagandaflüge erfolglos geblieben wären: Gegen Mittag des 12. März sollten die Verbände der 8. Armee die bayerisch-österreichische Grenze überschreiten und mit starker Luftunterstützung rasch nach Wien vorstoßen. Diese Operation sollte durch Luftlandungen in Linz und Wien-Aspern (dem damaligen Wiener Flughafen) unterstützt werden. • Fall 3 schließlich sah die Ausweitung des Einmarsches in Österreich zum europäischen Krieg vor: In diesem Fall sollten am 10. März um 24:00 Uhr die „Planstudie Grün“ und die „Studie Rot“ in Kraft treten, das heißt die Vorbereitungen für einen Waffengang gegen die Tschechoslowakei bzw. Frankreich.23 21 Schmidl, „Anschluß“, S. 136 f. 22 Vgl. ebd., S. 274, Anm. 335. Der genaue Text dieser ersten Flugblätter ist nicht bekannt. 23 Bundesarchiv/Militärarchiv Freiburg im Breisgau [im Folgenden: BA/MA], RL 7/726(2), Nr. 9, Vortragsnotiz 10.3.1938.

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Wie sich im Laufe dieses Abends allerdings rasch herausstellte, brauchte Fall 3 nicht weiter verfolgt werden: Keine der europäischen Mächte dachte daran, Österreichs wegen einen Krieg zu beginnen.24 Lediglich Frankreich und Großbritannien protestierten noch am Abend des 11. März gegen die deutsche Erpressung gegenüber Österreich. Dieser Protest wurde rüde zurückgewiesen: Das Deutsche Reich verbitte sich jede Einmischung in diese „Familienangelegenheit“.25 Hitler selbst war allerdings lange unentschlossen, welche Maßnahmen er in dieser „Familienangelegenheit“ ergreifen sollte. Sein langes Zögern am 10. März, ebenso wie die letztlich vage Weisung an die österreichische ­NSDAP („Handlungsfreiheit!“), sind wohl als Hinweis dafür zu werten, dass Hitler von der durch Schuschniggs Volksbefragungsplan eingeleiteten Entwicklung überrascht war und zunächst vorsichtig und unsicher reagierte. Das Propagandaministerium wies daher die Blätter an, vorerst keine Kommentare über die Vorgänge in Österreich abzudrucken. Man wollte sich wie „die große Sphinx verhalten, das ärgert die Leute viel mehr, als wenn wir etwas sagen würden“.26 Im militärischen Bereich war aber für etwaige Maßnahmen eine entsprechende Anlaufzeit notwendig. Schließlich gelang es Hermann Göring am 10. März gegen 18.30 Uhr, Hitler dazu zu bewegen, eine Alarmierung der für den Einmarsch vorgesehenen Einheiten anzuordnen. Dem Mobilmachungszeitplan nach war dies selbst für einen Einmarschbeginn am 12. März gegen Mittag ziemlich spät, gewährleistete aber, dass man in Wien erst am Morgen des 11. März von der Mobilmachung der beiden bayerischen Armeekorps erfuhr.27 Allerdings weigerte sich Hitler trotz des Drängens der militärischen Führung, eine gesamtdeutsche Mobilmachung anzuordnen, obwohl eine nachträgliche Ausweitung der (in dieser Form nicht vorgesehenen) bayerischen Teilmobilmachung nicht ohne größere Probleme möglich gewesen wäre. Es war dies einer der zahlreichen Fälle, in denen sich Hitler aus letztlich zutreffender Einschätzung der politischen Gegebenheiten für eine riskante Vorgangsweise entschied. Er setzte sich damit über die Bedenken der traditionell vorsichtigen militärischen Führung hinweg und blieb erfolgreich. Es war dies freilich jene Vorgehensweise, die in letzter Konsequenz nach Stalingrad und zur deutschen Niederlage 1945 führte. 24 Schmidl, „Anschluß“, S. 137–140. 25 Ebd., S. 242 f. 26 Vgl. die Anweisungen des Propagandaministeriums an die Presse im Bundesarchiv Koblenz [im Folgenden: BA], ZSg 101 (Sammlung Brammer), 102 (Sammlung Sänger) und 110 (Sammlung Traub). 27 Schmidl, „Anschluß“, S. 99 u. 136.

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Mit Rücksicht auf das Ausland schlug Staatssekretär Ernst von Weizsäcker, der ursprünglich die Entwicklung in Österreich lieber hatte abwarten wollen, am Abend des 10. März vor, eine militärische Intervention in Österreich wenigstens als Reaktion auf eine entsprechende österreichische Bitte darzustellen.28 Mobilmachung und Aufmarsch Die Befehle zur Mobilmachung erreichten die betroffenen Truppen am späteren Abend des 10. März. Angesichts der kurzen zur Verfügung stehenden Zeit und der unklaren Formulierung kam es zu zahlreichen Pannen und Reibereien, doch begannen die Verbände schon am Morgen des 11. März mit der Verlegung in Grenznähe. Dem Armeeoberkommando 8 unterstanden die beiden bayerischen Armeekorps VII und XIII sowie das „Kommando der Panzertruppen“ (als XVI. bzw. Panzerkorps bezeichnet), das im Wesentlichen aus der verstärkten 2. Panzerdivision bestand. Dazu kamen noch einzelne Einheiten der Luftwaffe und der Polizei sowie der SS-Verfügungstruppe, der späteren Waffen-SS, die im März 1938 erstmals unter Wehrmachtskommando eingesetzt wurde.29 Der Erfahrungsbericht des Armeeoberkommandos 8 gab die Gesamtstärke der 8. Armee später mit 105.000 Mann an, doch dürften in dieser Zahl die Formationen der Luftwaffe sowie weitere Verbände wie die 97. Landwehrdivision, die zwar der 8. Armee unterstanden, aber nicht einmarschierten, ebenso wenig enthalten sein wie die Ordnungspolizei. Es kann daher eine Gesamtzahl von etwa 150.000 Mann angenommen werden, die allerdings nicht alle die Grenze nach Österreich überschritten. In diesem Zusammenhang ist zu berücksichtigen, dass die Höchststände der beteiligten Verbände erst nach einigen Tagen erreicht wurden und dass am Morgen des 12. März lediglich die „beschleunigt ausrückfähigen“ Verbände der ersten Welle, und diese nicht mit vollem Stand, zum Einmarsch bereitstanden. Auffallend ist die Beteiligung der Ordnungspolizei, deren rund 12.000 Mann in fünf Marschgruppen am Einmarsch teilnahmen.30 Der Reichsführer-SS, Heinrich Himmler (1900–1945), hatte seiner Polizei wichtige Aufgaben bei der Übernahme der Exekutivgewalt in Österreich zugedacht, und tatsächlich gingen die Planungen der SS und der Polizei weiter als beispielsweise jene im militärischen Bereich.31 Himmler dürfte am 11. März sogar gehofft haben, Österreich nur mit 28 29 30 31

Hill, Weizsäcker, S. 122. Zur Gliederung siehe Schmidl, „Anschluß“, Anhang 3, S. 301–304. Ebd., S. 139 f., Anhang 4, S. 305. Vgl. die Denkschrift des Chefs des Sicherheitshauptamtes (Heydrich) über „Das ös-

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SS und Polizei besetzen zu können, während die Wehrmacht als Druckmittel an der Grenze stehen bleiben sollte. Dies hätte Himmlers ursprünglichen Vorstellungen einer „evolutionären“ Entwicklung entsprochen: Er hatte ja gehofft, Österreich noch vor einem Anschluss zur „SS-Bastion“ ausbauen zu können, um dann mit einer Eingliederung Österreichs gleichzeitig die Position der SS im Reich stärken zu können. Am 11. März allerdings setzte sich Görings Linie eines sofortigen Anschlusses Österreichs an das Reich durch. Die Polizei durfte nur „dicht hinter dem Reichsheer“ in Österreich einmarschieren und die SS wurde vom Heer lediglich für Sicherungsaufgaben eingesetzt.32 Himmler selbst allerdings flog mit seinem Stab noch in den frühen Morgenstunden des 12. März nach Wien-Aspern, um möglichst rasch die Kontrolle über die Geschehnisse in Österreich zu übernehmen.33 Die „Machtübernahme“ in Österreich Während der Aufmarsch der 8. Armee in Grenznähe begann, vollzog sich in Österreich die nationalsozialistische „Machtergreifung“ auf Bundes- und Landesebene. Dabei gilt es, drei Abläufe zu unterscheiden, die in diesen Märztagen 1938 fast gleichzeitig stattfanden und miteinander eng verbunden waren, die aber doch getrennt zu betrachten und zu werten sind: • Die „Machtübernahme“ durch die österreichischen Nationalsozialisten, die im Februar 1938 mit den Demonstrationen in einigen Landesteilen begonnen hatte und am Abend des 11. März – unter massivem Druck seitens des Deutschen Reiches, das mehrmals mit einem Einmarsch drohte – zur Abdankung Bundeskanzler Schuschniggs und gegen Mitternacht zur Installierung der pro-nationalsozialistischen Regierung unter SeyßInquart führte. • Der militärische Einmarsch, mit dem Adolf Hitler schon im Februar gedroht hatte; diese Drohung war am 11. März ein entscheidendes Druckmittel zur Erzwingung des Regierungswechsels. Die Durchführung des Einmarsches erfolgte ab den frühen Morgenstunden des 12. März durch den raschen Vorstoß motorisierter Truppen nach Wien sowie durch massive Propagandaflüge und Truppenverlegungen mit Flugzeugen. terreichische Sicherheitswesen und dessen Einbau in die Sicherheitspolizei des Reiches nach einer Eingliederung Österreichs (der Südmark)“, die Ende Februar 1938 entstanden sein dürfte. Eine Kopie (aus dem Militärarchiv der NVA) befindet sich als Akt 14890 im Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstandes, Wien. 32 Die diesbezüglichen Unterlagen finden sich in: BA, R 19/401; zum Einsatz der SS vgl. Schmidl, „Anschluß“, S. 209. 33 Schmidl, „Anschluß“, S. 109.

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• Der „Anschluss“ schließlich, d. h. die Eingliederung des nunmehrigen „Landes Österreich“ in das Dritte Reich,wurde am 13. März durch das Anschlussgesetz – gleichzeitig als österreichisches Bundes- und als deutsches Reichsgesetz – beschlossen. Gerhard Botz bezeichnete diese unterschiedlichen Abläufe – wohl zutreffend – als „Anschluss von unten“, „Anschluss von außen“ und „Anschluss von oben“.34 In Österreich kam es bereits in der Nacht vom 11. auf den 12. März zu massiven Ausschreitungen und Übergriffen gegen jüdische und „vaterländische“ Bürger, die wohl zu den beschämendsten Ereignissen der österreichischen Geschichte gehören. Sie waren in gewisser Weise die Vorstufe zum „Novemberpogrom“, der „Reichskristallnacht“ von 1938. Dass die Machtübernahme in Österreich in dieser Form am Abend des 11. März über die Bühne gehen konnte, war – und dies gilt vor allem für die Übernahme der Bundesregierung – eine Folge der Drohung mit einem deutschen Einmarsch, die von Berlin seit dem Vormittag des 11. März offen ausgesprochen worden war. (Die Vorgänge auf Landesebene können in diesem Zusammenhang übergangen werden. Hier machte sich ab Mitte Februar eine zunehmende Abkoppelung von den Vorgängen auf Bundesebene bemerkbar; es kam zu selbstständigen Entwicklungen, die die Zentrale immer weniger koordinieren konnte.) Um einen Bürgerkrieg im Innern bzw. einen „Bruderkrieg“ gegen deutsche Truppen, die Verbündeten des letzten Weltkrieges, zu vermeiden, entschlossen sich Bundeskanzler Schuschnigg und, nach längerem Zögern, auch Bundespräsident Wilhelm Miklas (1872–1956), „der Gewalt zu weichen“, wie dies Schuschnigg um 19:47 Uhr in seiner berühmten Rundfunkansprache („Gott schütze Österreich!“) ausdrückte. Das Bundesheer erhielt Befehl, keinen Widerstand zu leisten; die Sperrkommandos, die am 11. März an die Grenze entsandt worden waren, wurden zurückgezogen. Der Radioansprache Schuschniggs war eine Falschmeldung vorausgegangen, wonach die ersten deutschen Truppen die Grenze bereits überschritten hätten. Im Laufe dieses bewegten Abends drängte Hermann Göring mehrmals telefonisch darauf, doch endlich Innenminister Dr. Arthur Seyß-Inquart, den Verbindungsmann zur „nationalen Opposition“, mit der Bildung einer neuen Regierung zu betrauen. Vor allem sollte er ein Telegramm absenden, in dem er namens der österreichischen Regierung um die Entsendung deutscher Truppen zur Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung in Österreich ersuchte. Der Text des Telegramms wurde von Berlin aus telefonisch durchge34 Gerhard Botz, Die Eingliederung Österreichs in das Deutsche Reich: Planung und Verwirklichung des politisch-administrativen Anschlusses (1938–1940). (Schriftenreihe des Ludwig Boltzmann-Instituts für Geschichte der Arbeiterbewegung, Bd. 1). Wien 1972.

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geben, der Eingang schließlich um 21:32 Uhr registriert. Bereits um 20:45 Uhr hatte es Göring geschafft, Hitler zur Unterzeichnung des Einmarschbefehles zu bewegen; möglicherweise täuschte er dazu ein telefonisches Hilfeersuchen Seyß-Inquarts vor. Gerüchte, wonach das Telegramm Seyß-Inquarts nie abgeschickt und in Berlin lediglich eine Fälschung zu den Akten gelegt wurde, sind nicht beweisbar. Hingegen scheint es unbestritten, dass Seyß-Inquart erst nachträglich von dem Telegramm erfuhr, Hitler und Göring aber nicht post festum desavouieren wollte. Es gab in dieser Nacht noch mindestens drei – vergebliche – Versuche, den Einmarsch in letzter Minute zu stoppen.35 Allerdings änderte Hitler am späten Abend des 11. März angesichts des Regierungswechsels in Wien den Zeitplan. Der Grenzübertritt sollte, da kein Widerstand zu erwarten war, bereits in den frühen Morgenstunden – um 5:30 Uhr – erfolgen, um 8:00 Uhr dann von den Brückenköpfen am östlichen Inn­ ufer aus der Vormarsch der 8. Armee Richtung Osten beginnen.36 Mit dieser Vorverlegung nahm man Pannen im Ablauf und in der Versorgung bewusst in Kauf, um möglichst rasch vollendete Tatsachen zu schaffen. Die Durchführung des Einmarsches lässt sich in drei Phasen gliedern: Der Einmarsch in Österreich

Der Einsatz der Luftwaffe Die Luftwaffe erfüllte drei verschiedene Aufgaben: Luftlandungen in Wien und anderen Städten, Propagandaflüge über ganz Österreich sowie die Unterstützung der Erdverbände.

35 Vgl. ebd., S. 107 f. Diese Versuche gingen einerseits von der neuen österreichischen Regierung bzw. der deutschen Gesandtschaft in Wien aus, andererseits vom Oberkommando bzw. Generalstab des deutschen Heeres, die immer noch außenpolitische Folgen befürchteten und den Chef des Oberkommandos der Wehrmacht, General Keitel, „beschworen [...], beim Führer den Verzicht auf den Einmarsch zu erwirken“. Keitel allerdings „dachte nicht daran, den Führer auch nur ein einziges Mal zu fragen. Ich versprach es zwar, gab aber kurze Zeit später ohne dies den ablehnenden Bescheid.“ Generalleutnant Max von Viebahn, der Leiter der Amtsgruppe Führungsstab im Oberkommando der Wehrmacht, erlitt einen Nervenzusammenbruch. Er wurde schließlich im April 1938 durch Oberst d. G. Alfred Jodl ersetzt. Vgl. Görlitz, Keitel, S. 179–181. 36 Heeresgruppenkommando 3, Der Einsatz der 8. Armee im März 1938 zur Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich, Erfahrungsbericht, Dresden, 18. Juli 1938 (mehrfach überliefert, u. a. in: BA/MA, RH 64/17), S. 6 f.

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Bereits am Vormittag des 12. März landeten vier Bomberstaffeln und zwei Transportgruppen in Wien-Aspern. An Bord der Transporter waren zwei Kompanien des III. (= Wach-)Bataillons des Regiments „General Göring“, die den Flugplatz Wien-Aspern und den Rundfunksender Wien-Bisamberg handstreichartig besetzen sollten. Weitere Jagd- und Aufklärungsstaffeln landeten in Linz, Wels und Innsbruck.37 Am 13. März landeten zusätzliche Verbände in Wiener Neustadt, Graz-Thalerhof und Klagenfurt-Annabichl. Die Verlegung dreier Kompanien nach Graz-Thalerhof war der erste operative Einsatz der deutschen Fallschirmtruppe – allerdings landeten die Fallschirmjäger mit dem Flugzeug, nicht mit dem Schirm. Die Propagandarolle der Luftwaffe war schon in den ersten Planungen am 10. März angesprochen worden. Tatsächlich warfen am 12. März rund 360 Maschinen (300 der Luftwaffe und 60 der Lufthansa) insgesamt 300 Millionen Flugblätter ab.38 Allerdings waren die am 11. März gedruckten Flugblätter mittlerweile von der politischen Entwicklung überholt und mussten ausgetauscht werden. Die neuen Flugblätter wurden in aller Eile am frühen Morgen des 12. März zu den Fliegerhorsten geliefert. Der Text lautete: „Das nationalsozialistische Deutschland grüßt sein nationalsozialistisches Österreich und die neue nationalsozialistische Regierung in treuer, unlösbarer Verbundenheit. Heil Hitler!“ Die Gestapo überwachte den Abtransport und die Vernichtung der alten Flugblätter und die Besatzungen wurden eindringlich gewarnt, nur die neuen Flugblätter abzuwerfen, da „der Abwurf anderer Flugblätter schwerwiegendste Folgen haben kann“.39 Insgesamt waren dafür zwölf Gruppen zu je 30 Maschinen eingesetzt. Auch an den folgenden Tagen fanden Propagandaflüge in Form dichter Formationsflüge über den größeren Städten und Orten statt. Ihren Höhepunkt fanden diese Aktionen im Vorbeiflug zahlreicher Maschinen im Rahmen der großen Parade in Wien am 15. März 1938. Insgesamt waren am „Einsatz Österreich“ rund 850 Flugzeuge beteiligt.40 Der Einsatz der Luftwaffe war die bis dahin größte und in der Geschichte Mitteleuropas erste Luftoperation dieser Art. Zusätzlich unterstützte die Luftwaffe die Operationen der 8. Armee durch Aufklärungs- und Verbindungsflüge. Zu diesem Zweck waren eine Ku37 Schmidl, „Anschluß“, S. 168. 38 Die doch enorme Zahl von 300 Millionen findet sich in den Akten der Luftwaffe, könnte – unter Berücksichtigung der Ladekapazität der Maschinen und des Papiergewichts – aber zutreffen. Manche Zeitzeugen erinnern sich an die großen Mengen abgeworfener Flugblätter. Neben den gedruckten Flugblättern wurden auch gestanzte Hakenkreuze abgeworfen. 39 BA/MA, RL 7/726 (2). 40 Vgl. Schmidl, „Anschluß“, S. 304, Anhang 3.

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rier- und fünf Aufklärungsstaffeln dem Armeeoberkommando 8 unterstellt. Dazu kamen Verbindungs- und Transportflüge in militärischem oder zivilem (Partei-)Auftrag, teils mit Maschinen der Luftwaffe, teils mit zivilen Flugzeugen. Als Beispiele seien der Einsatz von 30 Junkers Ju 52 zum Transport von SS-Uniformen für die zunächst noch in „Räuberzivil“ gekleidete österreichische SS am 13. und 14. März bzw. der Einsatz von fünf Transportmaschinen am 12. und 13. März, um Hakenkreuzflaggen nach Wien zu bringen, genannt.41

Der rasche Vorstoß nach Wien Schon die Überlegungen Generalmajor von Mansteins aus dem Mai 1937 hatten einen raschen Vorstoß motorisierter Verbände nach Wien vorgesehen, um eine politische Entscheidung zu erzwingen. Auch im März 1938 ging man – logischerweise – von dieser Überlegung aus. Das alte Kennwort „Sonderfall Otto“ tauchte übrigens, das sei der Kuriosität halber erwähnt, noch in frühen Ausarbeitungen am 10. und 11. März 1938 auf. Die offizielle Bezeichnung des Unternehmens lautete dann allerdings schlicht „Einsatz Österreich“. Dies ist nur logisch, da für einen „Sonderfall Otto“ keine fertigen Planungen vorlagen und sich die Durchführung der Operation ab dem 12. März 1938 von den ersten Ansätzen am 10. und 11. März doch beträchtlich unterschied. Für diesen schnellen Vorstoß von Passau und Schärding aus Donau-abwärts nach Wien war die 2. Panzerdivision aus Würzburg vorgesehen, die zusammen mit der Leibstandarte-SS „Adolf Hitler“ (einem motorisierten Regiment) und zwei Flak-(= Flugabwehrkanonen-)Abteilungen des Luftwaffenregiments „General Göring“ dem „Kommando der Panzertruppen“ (XVI. bzw. Panzerkorps) unter Generalleutnant Heinz Guderian (1888–1954) unterstand. Sein Stabschef war Oberst im Generalstab Friedrich Paulus (1890–1957), der spätere Befehlshaber der 6. Armee in Stalingrad. Allerdings tauchten gerade bei diesen so wichtigen „Schnellen Truppen“ mehrere Probleme auf: Die Kontingente der SS und der Luftwaffe mussten erst aus dem Raum Berlin nach Süden gebracht werden. Die 2. Panzerdivision lag zwar in Würzburg und damit etwas näher, doch waren die meisten Offiziere gerade auf einer Übungsreise in der Eifel. Technische Pannen führten zu hohen Ausfällen in den ersten Tagen: Von den insgesamt 229 Panzerkampfwagen (184 Panzer I und 45 Panzer II) und etwa 140 Panzerspähwagen blieben 17 Prozent der Panzer (überwiegend kleinere Panzer I) und etwa acht Prozent der 41 BA/MA, RL 7/726 (1) und 727, Meldungen des Luftkreiskommandos München vom 13. und 15. März 1938; BA, ZSg 102, DNB-Rundruf Nr. 88.

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Panzerspähwagen liegen. Angesichts der durchschnittlichen Entfernung von 663 Kilometern von den Garnisonsorten bis Wien, wobei die Kettenfahrzeuge die Strecke von Vilshofen bis Wien (290 Kilometer) im Straßenmarsch bewältigten, ist diese Ausfallsquote allerdings nicht außergewöhnlich. Die Tagesmarschleistungen der beiden Panzerregimenter 3 und 4 betrugen 170 bzw. 134 Kilometer, jene der Aufklärungsabteilung 5, des Krad-Schützen-Bataillons Nr. 2 (Krad = Kraftrad bzw. Motorrad) und der Leibstandarte-SS „Adolf Hitler“ sogar 408 bzw. 438 Kilometer. Diese Marschleistungen konnten „nur unter äußerster Anspannung der Truppe und fast gänzlichem Verzicht auf längere Rasten erzielt werden“, wie das Panzerkorps in seinem Erfahrungsbericht betonte.42 Als weitere Erschwernis erwies sich die Linksfahrordnung, die in Ostösterreich galt und an die sich auch die deutschen Truppen hielten. Immerhin: Nach anfänglichen Schwierigkeiten erfolgte der Vormarsch am 12. März rasch. Die Vorhuten erreichten gegen 14:00 Uhr St. Pölten. Dort freilich ließ Guderian halten, um zu sammeln. Diese Pause war für die erschöpften Soldaten sicherlich willkommen, ja notwendig – der Hintergrund für diesen Befehl war allerdings, dass Guderian einerseits persönlich die Ankunft Hitlers in Linz miterleben wollte (Teile der 2. Panzerdivision waren für Absperrungsaufgaben in Linz eingesetzt), andererseits mit seinen ersten Truppen in Wien einrücken wollte. Daher konnten das Krad-Schützen-Bataillon 2 sowie die Aufklärungsabteilungen 5 und 7 sich im Laufe des Abends im Raum St. Pölten in Ruhe sammeln, auftanken und ihre Fahrzeuge in Ordnung bringen: Erst um 23:45 Uhr erreichte Guderian seine Aufklärer; der weitere Vormarsch nach Wien konnte beginnen. Die ersten deutschen Truppen trafen am 13. März um 2:30 Uhr in der Bundeshauptstadt ein. Um 3:00 Uhr fand am Opernring ein improvisierter Vorbeimarsch vor Generalleutnant Guderian und dem Kommandanten der 1. Division des österreichischen Bundesheeres, Generalmajor Heinrich Stümpfl (1884–1972), statt. Nach dem Vorbeimarsch brach, wie sich Guderian später erinnerte, „die Begeisterung erneut stürmisch aus. Ich wurde in mein Quartier getragen. Die Knöpfe meines Mantels verwandelten sich im Handumdrehen in Andenken.“43 In den nächsten Tagen folgten die übrigen Verbände der verstärkten 2. Panzerdivision, wobei allerdings der „Wettlauf nach Wien“ – der Versuch von Polizei-, SS- und Parteifunktionären, möglichst als Erste in Wien zu sein – die Verkehrsdisziplin arg gefährdete. Die Erfahrungsberichte der beteiligten Verbände beklagten dementsprechend die „Verkehrsanarchie fremder 42 BA/MA, RH 53-13/63, Erfahrungsbericht des XVI. Armeekorps. 43 Heinz Guderian, Erinnerungen eines Soldaten. Heidelberg 1950, S. 44 f.; vgl. Schmidl, „Anschluß“, S. 170–172.

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militärähnlicher Verbände“– damit waren Luftwaffe und SS gemeint: „Es ist erstaunlich, daß trotz dieser Zustände verhältnismäßig wenig Unfälle stattfanden.“44 Der britische Militärattaché in Berlin, Oberst Frank Noel Mason-Macfarlane (1889–1953), der sich in jenen Tagen in Österreich aufhielt, schrieb in seinen Memoiren vom „Wild West behaviour“ mancher Verbände.45 Insgesamt kamen im Bereich der 8. Armee 25 Soldaten bei Verkehrsunfällen ums Leben, dazu zwei Luftwaffenangehörige bei Verkehrsunfällen und vier bei Abstürzen.46 Bei Abstürzen bzw. Notlandungen wurden sieben Flugzeuge zerstört bzw. erheblich beschädigt.

Die „Besetzung“ Österreichs Während die Operationen der Luftwaffe und der Schnellen Truppen bereits Elemente der späteren „Blitzkriege“ zeigten, erfolgte der Vormarsch der Masse der 8. Armee infanteristisch. Dabei lassen sich folgende Operationen unterscheiden: • Die beiden bayerischen Armeekorps – VII und XIII – überschritten mit der 7. bzw. der 10. Infanteriedivision am Morgen des 12. März den Inn zwischen Braunau und Passau und rückten langsam in Oberösterreich vor. Die 10. Division erreichte ab dem 17. März den Raum westlich von Wien, die 7. Division ab dem folgenden Tag den Raum westlich von St. Pölten, wo diese beiden Divisionen ihre „endgültigen Unterkünfte“ bezogen – dies allerdings nur für die Dauer von etwa einer Woche, da die Masse der deutschen Truppen Österreich noch vor Ende März 1938 wieder verließ.47 Die 27. Division wurde ab dem 13. März mit der Bahn nach Wien transportiert und die 17. Division teils mit der Bahn, teils mit Schiffen nach Linz gebracht.48 • Ursprünglich zur Sicherung der rechten (südlichen) Flanke der Hauptoperation sollte die als Gebirgsdivision mobilgemachte Gebirgsbrigade (d. h. die spätere 1. Gebirgsdivision) von Salzburg aus nach Osten marschieren und „durch Vorschieben von Sicherungen“ die Passstraßen gegen Süden sperren. Eine Besetzung der Steiermark und Kärntens war zu44 BA/MA, RH 53-13/680. 45 Ewan Butler, Mason-Mac: The Life of Lieutenant-General Sir Noel Mason-Macfarlane. London 1972, S. 69. 46 BA/MA, RL 7/724 und 726 (1), Erfahrungsbericht der 8. Armee, S. 21. 47 Lediglich die 2. Panzerdivision blieb in der Folge in Ostösterreich stationiert. Außerdem wurden kleinere Kontingente zur Umschulung des Bundesheeres für kürzere Zeit nach Österreich verlegt. 48 Zusammenfassend: Schmidl, „Anschluß“, S. 161–167 u. 175–186.

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nächst nicht vorgesehen, da alle Aufmerksamkeit dem schnellen Vorstoß nach Wien galt. Erst in der Nacht zum 13. März wurde der Kommandeur der Gebirgsdivision gefragt, ob er angesichts der geänderten politischen Lage in die Steiermark marschieren wollte. Generalmajor Ludwig Kübler (1889–1947) sagte zu und entschied sich „aus Übungsgründen“ für den Landmarsch, obwohl die Pässe (Pötschen und Pyhrn) noch verschneit waren und erst mühsam freigeschaufelt werden mussten. Die Gebirgsdivision erreichte um den 20. März den Raum Graz/Bruck an der Mur.49 • In Nordtirol und Vorarlberg marschierten drei Regimentskampfgruppen, d. h. durch Artillerie und Pioniere verstärkte Infanterie- bzw. Gebirgsjägerregimenter, ein. Diese Operation galt nicht zuletzt Italien, über dessen Reaktion sich Hitler lange unsicher war. Während für die Hauptoperation die Donau als Begrenzung galt, nördlich von der nur kleine Verbände operierten, um die Tschechoslowakei nicht zu beunruhigen, so durften die Truppen in Tirol mit Rücksicht auf Italien vorerst nur bis zum Inntal vorstoßen. Lediglich Oberstleutnant Ferdinand Schörner (1892–1973, der spätere Generalfeldmarschall) wurde zum Brenner geschickt, um einem italienischen Offizier die Hand zu schütteln und so die freundschaftlichen Beziehungen zum faschistischen Italien zu symbolisieren.50 Dass diese Besetzung Österreichs zwar als kriegsmäßige Operation angelegt war, sich aber bald zu einem friedensmäßigen Übungsmarsch, dem „Blumenfeldzug“, entwickelte, ist hinreichend bekannt. In seinen Erinnerungen schrieb General der Artillerie Wilhelm Keitel, der Chef des OKW, „von einer unvorstellbaren Begeisterung“ der Österreicher: „Ich hatte ähnliches noch nie erlebt und war tief beeindruckt. An Schießen beim Einmarsch hatte ich nie gedacht, aber einen solchen Empfang nie erwartet.“51Ähnliche Formulierungen finden sich zahlreich in den Kriegstagebüchern der beteiligten Verbände. Um den friedlichen Charakter des Unternehmens zusätzlich zu unterstrei49 Ebd., S. 188–196; zur Situation in der Steiermark besonders Erwin A. Schmidl, Bundesheer und Wehrmacht in Graz 1938, in: Historisches Jahrbuch der Stadt Graz, Bd. 18/19, Graz 1938. Graz 1988, S. 137–166, hier: S. 156–159. Die gelegentlich kolportierte Erzählung, die deutschen Truppen hätten zu Fuß über die Berge marschieren müssen, weil für den Bahntransport das rollende Material fehlte, ist in den Bereich der Legende zu verweisen. 50 Vgl. Erwin A. Schmidl, Das Bundesheer und der deutsche Einmarsch in Tirol 1938, in: Klaus Eisterer (Hg.), Tirol zwischen Diktatur und Demokratie: Beiträge für Rolf Steininger zum 60. Geburtstag. Innsbruck u. a. 2002, S. 37–54; zu den Vorgängen in Vorarlberg siehe Erwin Fitz, Militärische Aspekte des deutschen Einmarsches, in: Vorarlberg 1938: Katalog zur Ausstellung Nr. 142 des Vorarlberger Landesmuseums. Bregenz 1988, S. 59–68. 51 Görlitz, Keitel, S. 180.

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chen, wurden ab dem 13. März österreichische Truppenkörper zu kurzen „Gegenbesuchen“ in deutsche Garnisonen verlegt – dies war dann der „österreichische Einmarsch in Deutschland“. Der „Anschluss“ Österreichs Hitler war zunächst hinsichtlich der künftigen Position Österreichs noch unentschlossen gewesen. Nicht zuletzt die sichtbare Reaktion der Bevölkerung (er folgte seinen Truppen schon am Nachmittag des 12. März) bewog ihn dann, die Annexion Österreichs sofort durchzuziehen. Staatssekretär Dr. Wilhelm Stuckart (1902–1953, einer der Verfasser der Nürnberger Rassegesetze und später Teilnehmer an der Wannsee-Konferenz) wurde eilends nach Linz beordert, um den Text des „Wiedervereinigungs-Gesetzes“ auszuarbeiten, das am 13. März 1938 zugleich als deutsches Reichs- und als österreichisches Bundesgesetz beschlossen wurde. Am 15. März verkündete Hitler auf dem Wiener Heldenplatz triumphal die „Heimkehr [s]einer Heimat in das Großdeutsche Reich“. Die Bestätigung des „Anschlusses“ durch die Volksabstimmung am 10. April 1938 war nur noch eine reine Formsache. Diese Abstimmung fand sowohl in Österreich wie im „Altreich“ statt. Deutsche Reichsbürger im Ausland wurden teilweise mit Sonderzügen zur Abstimmung in grenznahe Städte befördert, während Deutsche in Übersee auf Schiffen vor der Küste abstimmen konnten. Mit dem „Anschluss“ mutierte der Bundesstaat zum „Land Österreich“, ab 1939 zur „Ostmark“, mit der Umgliederung der neun Bundesländer zu sieben „Reichsgauen“.52 Bereits am 14. März erfolgte die Vereidigung der Soldaten des Bundesheeres auf den „Führer“; die Truppenkörper wurden zügig in die Wehrmacht integriert.53 Die Hoffnungen auf eine etwaige Sonderstellung nach königlich-bayerischem Vorbild von 1871 bis 1918 hatten im militärischen Bereich ebenso wenig Chancen wie im politischen. Mit dem „Anschluss“ war das „Großdeutsche Reich“ geschaffen. Das Ausland akzeptierte die neue Lage weitgehend als Beseitigung eines europä-

52 Vorarlberg wurde an Nordtirol angegliedert, Osttirol an Kärnten und das steirische Ausseer Land an Oberösterreich. Das Burgenland wurde zwischen Nieder- und Oberösterreich aufgeteilt, die beiden letzteren Bundesländer später zu Nieder- und Oberdonau umbenannt. Das Territorium des Bundeslandes Wien wurde durch die Angliederung mehrerer Umlandgemeinden zu „Groß-Wien“ erweitert. 53 Vgl. dazu die Arbeit von Richard Germann über die „Ostmärker“ in der Wehrmacht, die 2015 erscheinen wird. Der Standardtext dazu ist immer noch Johann Christoph Allmayer-Beck, Die Österreicher im Zweiten Weltkrieg, in: Unser Heer: 300 Jahre österreichisches Soldatentum in Krieg und Frieden. Wien – München – Zürich 1963, S. 342–375.

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ischen Konfliktherdes und als im Grunde verständliche Korrektur der Pariser Friedensverträge von 1919.54 Der Preis für Mussolinis Zustimmung zur Neuordnung der Machtverhältnisse in Mitteleuropa war der Verbleib Südtirols bei Italien (und in der Folge die Aussiedlung eines Teils der deutschen Bevölkerung) – der Alpenhauptkamm markierte in der Folge bis 1943 die Grenze zwischen den deutschen und italienischen Interessensgebieten: Während Mussolini von der Wiedererrichtung eines neuen Römischen Reiches im Mittelmeerraum träumte, galt Hitlers Streben der Gewinnung von „Lebensraum im Osten“. Durch die Gewinnung Österreichs hatte sich die deutsche Position gegenüber der Tschechoslowakei schlagartig verbessert: Im Oktober 1938 besetzten deutsche Truppen infolge des Münchner Abkommens die deutschsprachigen Randgebiete der Tschechoslowakei und im März 1939 wurde der Staat dann gänzlich zerschlagen. Die Slowakei war damit ein eigener Staat, während die „Rest-Tschechei“ (wie es damals abwertend hieß) zum „Reichs­ protektorat Böhmen und Mähren“ wurde. Mit der Gewinnung Österreichs hatte das Deutsche Reich außerdem eine wichtige Position für das weitere Ausgreifen Richtung Südosteuropa geschaffen. Die Bedeutung Österreichs für das Deutsche Reich In der österreichischen Sicht der Geschehnisse des März 1938 steht – naturgemäß – das Geschehen in und um Österreich im Vordergrund: So konnte im Frühjahr 2013 in der Wiener „Presse“ ein – übrigens sehr guter – ganzseitiger Beitrag über die Volksabstimmung vom 10. April 1938 erscheinen, in dem mit keinem einzigen Wort erwähnt wurde, dass diese Abstimmung nicht nur in Österreich, sondern im gesamten Deutschen Reich stattfand. Worin aber lag die Bedeutung Österreichs für das Deutsche Reich, und was waren die Folgen des „Anschlusses“ für Deutschland? Die wirtschaftlichen Beweggründe, warum gerade Göring, seit 1936 Beauftragter für den „Vierjahresplan“,55 für eine rasche Einverleibung Österreichs eintrat, sind klar: Der Vierjahresplan wurde nach außen als Maßnahme verkauft, die Ernährungssicherheit Deutschlands zu gewährleisten, während es tatsächlich um die Sicherung der deutschen Autarkie und die Aufrüstung der 54 Großbritannien und Frankreich protestierten allerdings am 11. März gegen die Methode des „Anschlusses“. Der Protest Mexikos im Völkerbund gegen den „Anschluss“ muss hingegen als Randnote der Geschichte betrachtet werden. 55 In seiner ersten Rundfunkansprache am 2. Februar 1933 hatte der neue Reichskanzler Adolf Hitler erklärt, die Arbeitslosigkeit müsse binnen vier Jahren beseitigt sein. 1936 wurde die wirtschaftliche Leitungsbehörde unter dem Namen „Vierjahresplan“ etabliert und Göring mit der Leitung betraut.

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Wehrmacht ging. Im Deutschen Reich war zwar die Arbeitslosigkeit von 1932 bis 1938 von 29,9 auf 1,9 Prozent gesunken und das Sozialprodukt gestiegen, gleichzeitig aber hatte die Verschuldung des Reiches enorme Ausmaße erreicht; Reichsbankpräsident Hjalmar Schacht (1877–1970) weigerte sich schließlich, weitere Kredite zur Verfügung zu stellen, und musste im Januar 1939 gehen. Die Gold- und Devisenreserven gingen in den 1930er-Jahren dramatisch zurück, von 2,8 Milliarden Reichsmark 1930 auf nur noch 76 Millionen 1936. Daher war die Bedeutung Österreichs (mit Gold- und Devisenbeständen von 1,4 Milliarden Reichsmark!) für die deutsche Wirtschaft 1938 nicht zu unterschätzen. Die (oft kritisierte) Finanzpolitik des Ständestaates war um eine nachhaltige Gesundung der Finanzen bemüht gewesen, wenn auch um den Preis einer hohen Arbeitslosenrate.56 Es ist geradezu paradox, dass der wirtschaftliche Aufschwung ab 1938 (und die mit dem „Anschluss“ einsetzende optimistische Sicht in die Zukunft, die sich nicht zuletzt in der ab Ende 1938 gestiegenen Geburtenziffer in Österreich äußerte) die allgemeine Erinnerung an die NS-Zeit in Österreich beherrschte, obwohl die Grundlagen dafür in der Zeit des Ständestaates gelegt worden waren und in Wirklichkeit vor allem die deutsche Wirtschaft von der Annexion des kleinen Nachbarlandes profitierte.57 Die Eisenerzvorkommen, noch mehr vielleicht die Erdölvorkommen im Bereich von Zistersdorf (nordöstlich von Wien) waren ebenfalls von enormer wirtschaftlicher Bedeutung, ebenso die Holzreserven. Vielleicht noch bedeutsamer aber war die durch den „Anschluss“ geänderte strategische Position des Deutschen Reiches. Bis 1938 erschien die hochgerüstete Tschechoslowakei zusammen mit Frankreich für das Deutsche Reich als gefährliche Bedrohung – dementsprechend war seit 1935 mehrmals erwogen worden, die Tschechoslowakei durch einen gemeinsamen Feldzug der autoritären Staaten

56 Vgl. dazu die Beiträge von Norbert Schausberger, Deutsche Wirtschaftsinteressen in Österreich vor und nach dem März 1938, und Felix Butschek, Die kurzfristigen Auswirkungen der deutschen Okkupation auf die österreichische Wirtschaft, in: Gerald Stourzh – Birgitta Zaar (Hg.), Österreich, Deutschland und die Mächte. Internationale und österreichische Aspekte des „Anschlusses“ vom März 1938. (Veröffentlichungen der Kommission für Geschichte Österreich 16). Wien 1990, S. 177–212 bzw. S. 213–217; Hans-Ulrich Thamer, Verführung und Gewalt: Deutschland 1933–1945. Die Deutschen und ihre Nation. Berlin 1986, S. 470–493 u. 579. 57 Wie sehr die geschickte NS-Propaganda die öffentliche Meinung prägte, zeigt das Beispiel der „Reichsautobahnen“: Diese wurden von „Zeitzeugen“ immer wieder als Beispiel der positiven Leistungen der NS-Zeit genannt – durchaus verständlich, aber: in Österreich entstanden zwischen 1938 und 1945 gerade einmal 16,8 Kilometer im Raum Salzburg (vgl. dazu und zu erhaltenen Relikten des damaligen Autobahnbaus auch http://www.wabweb.net/verkehr/frames/abaltaf.htm, 13.4.2013.

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Europas (dies waren neben dem Deutschen Reich und Italien vor allem Österreich und Ungarn) zu erobern. 1936 schon hatte Erich von Manstein eine detaillierte Operationsstudie erstellt, die ein Vorgehen Italiens, Österreichs und Ungarns unter deutschem Oberbefehl vorsah.58 Durch die Gewinnung Österreichs stellte die ČSR nicht länger die gefährliche Bedrohung der südlichen Flanke dar, sondern sah sich ihrerseits einer Umfassung durch das neue Großdeutsche Reich ausgesetzt. Im Mai 1938 fürchtete die tschechoslowakische Regierung einen deutschen Angriff und mobilisierte die Armee. Doch Hitler wartete ab und im Herbst 1938 gelang ihm mit dem Münchner Abkommen (30. September 1938) ein bemerkenswerter Coup: Die Westmächte und Italien stimmten der Abtrennung der überwiegend deutsch besiedelten Randgebiete Böhmens und Mährens zu. Dies waren zugleich jene Gebiete, in denen sich die Masse der seit 1933 errichteten tschechoslowakischen Grenzbefestigungen befand, nach dem Staatspräsidenten Edvard Beneš (1884–1948) auch als „Beneš-Linie“ bezeichnet. Gleichzeitig besetzten polnische Truppen das Olsa-Gebiet (das einstige Herzogtum Teschen, heute wieder Teil der Tschechischen Republik) und ungarische Verbände die Karpato-Ukraine (heute Teil der Westukraine).59 Hitler selbst allerdings wertete das Münchner Abkommen als diplomatische Niederlage, musste er darin doch ausdrücklich auf weitere deutsche Gebietsansprüche verzichten – was keineswegs in seinem Sinne lag. Und während die meisten Deutschen Ende 1938 in Hitler den Mann sahen, dem es auf friedlichem Wege gelungen war, die Friedensverträge von 1919 zu revidieren, forderte Hitler in einer geheimen Rede bereits am Tag nach dem „Novemberpogrom“ (der „Reichskristallnacht“ vom 9. November 1938 mit bis dahin unbekannten Ausschreitungen gegen Juden und jüdische Synagogen und Eigentum) von führenden Journalisten die Aufgabe der Friedenspropaganda und die psychologische Vorbereitung des Krieges.60 In diesem Sinne war die Annexion Österreichs im März 1938 ein wichtiger Schritt, um das Deutsche Reich kriegsbereit zu machen. Dazu kam noch eine weitere Funktion der Alpenrepublik: als Sprungbrett Richtung Südost. Zwar stimmte Hitler mit dem Verzicht auf Südtirol im März 1938 der italienischen Sicht zu, die Gebiete südlich des Alpenhauptkammes (und damit den Mittelmeerraum, im Sinne der Fantasien Mussolinis von der Wiedererrichtung 58 Rolf-Dieter Müller, Der Feind steht im Osten: Hitlers geheime Pläne für einen Krieg gegen die Sowjetunion im Jahr 1939. Berlin 2011, S. 84–89. 59 Formal wurde die Karpato-Ukraine im Ersten Wiener Schiedsspruch vom 2. November 1938 Ungarn zugesprochen. 60 Klaus Hildebrand, Das Dritte Reich (= Grundriß der Geschichte 17). 2. Aufl. München – Wien 1980, S. 40.

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eines Römischen Imperiums rund ums „Mare Nostrum“) als italienische Interessenssphäre anzuerkennen. Dennoch war Österreich in der Folge eine Basis für das wirtschaftliche und schließlich auch militärische Ausgreifen nach Südosteuropa. Die Ereignisse rund um den „Anschluss“ – zuerst die Drohung mit einem Einmarsch am 11. März, um den Regierungswechsel in Wien zu erzwingen, und dann die Durchführung des Einmarsches am 12. März – trugen dazu bei, die europäischen Mächte zu warnen, dass Hitler vor dem Einsatz von Gewalt zur Durchsetzung seiner Forderungen nicht zurückschrecken würde. Aus der Rückschau, so der deutsche Historiker Hans-Ulrich Thamer, markierte der „Anschluss“ Österreichs „das endgültige Abgleiten Hitlers in ein übersteigertes Machtbewußtsein, das zu hybrider Selbstüberschätzung wurde, als dem Eroberer in den nächsten zwei Jahren die Erfolge in den Schoß zu fallen schienen“.61 Der Einmarsch machte noch etwas deutlich: Nach der „Blomberg-­FritschKrise“ Anfang Februar 1938 hatte Hitler persönlich den Oberbefehl über die Wehrmacht übernommen. Beim Einmarsch in Österreich trug der „Führer und Reichskanzler“ erstmals das goldene Eichenlaub der Generalität an seiner Kappe und zeigte damit, dass er nunmehr selbst und direkt die bewaffnete Macht des Dritten Reiches befehligte. Letztlich wird man dem Oberkommando der Wehrmacht zustimmen müssen, das den „Einsatz Österreich“ am 24. März 1938 als „das klassische Beispiel einer mit neuzeitlichen Methoden unter starkem Einsatz militärischer und propagandistischer Mittel durchgeführten Politik“ bezeichnete.62 Dass dieser Weg letztlich in den Zweiten Weltkrieg führen würde, ahnten 1938 wohl nur wenige. Der US-Militärattaché in Berlin, Major Truman Smith (1893–1970), stellte allerdings bereits in seinem Bericht vom 28. März 1938 die prophetische Frage, ob Hitler in der Lage wäre, das neu gewonnene Selbstvertrauen der Deutschen zu zügeln: „Hitler has unleashed tremendous forces in Europe by his Austrian offensive, not least a torrent of Germanic race consciousness and pride. Can he guide and restrict these forces, or will they lead him as once they led Napoleon on to conquest but ultimately to destruction at Moscow and Waterloo? [...] Napoleon and Hitler are geniuses. Napoleon, however, failed because he failed to limit his aims and sought the impossible – a domination of all Europe. It remains to be seen if Hitler can live up to his desire, announced on February 20th, ‘to wisely limit German ambitions.’“63 61 Thamer, Verführung und Gewalt, S. 580. 62 Zit. nach Schmidl, „Anschluß“, S. 207. 63 NARA, Bericht, Mil. Intel. Div. 2657-B788/10, No. 15 833 (G-2 Report 3020), Berlin, 28.3.1938.

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Die Darstellung der Ereignisse von 1938 in der Moskauer Deklaration Im Folgenden sollen einige Formulierungen aus der Moskauer Deklaration untersucht und den Ereignissen von 1938 gegenübergestellt werden. Schon im ersten Satz wird Österreich als „das erste freie Land“ bezeichnet, das Hitlers Angriffspolitik zum Opfer fiel. War der Bundesstaat Österreich von 1938 aber wirklich ein „freies Land“ – bzw. was genau bezeichnete „frei“ hier? Demokratisch war der Ständestaat sicher nicht, auch wenn der Autor dieser Zeilen das Negativklischee vom „Austrofaschismus“ bewusst vermeiden will. Nicht ohne Grund griff man bei der Wiederentstehung Österreichs 1945 auf die Verfassung von 1929 zurück, nicht auf jene von 1934. Immerhin aber gilt es festzuhalten, dass auch Österreich – angesichts des Scheiterns der Anlehnung an die Westmächte und der Allianz der bisherigen Schutzmacht Italien mit dem Dritten Reich – spätestens ab 1936 einen Kurs der außenpolitischen Annäherung an das Deutsche Reich steuerte, der im Februar 1938 in Berchtesgaden bestätigt und verstärkt wurde. Wäre Österreich – ohne die Eskalation und die Krise im März – in den folgenden Monaten ohnedies und friedlich ins Deutsche Reich integriert worden? Dies sind natürlich problematische Fragen des Typs „Was wäre gewesen, wenn?“ – aber reizlos ist diese „counter-factual history“ keineswegs. In der Folge ist in der Moskauer Deklaration von der „Besetzung Österreichs“ 1938 die Rede – ein Topos, der von der Zweiten Republik dankbar aufgenommen wurde. Allerdings hatte die Machtergreifung der österreichischen Nationalsozialisten auf Bundes- und Landesebene schon am 11. März 1938 stattgefunden, bevor ein einziger deutscher Soldat die Grenzen überschritten hatte – der Druck der einheimischen Opposition, zusammen mit den Einmarschdrohungen aus Berlin, hatten dazu genügt. Noch in der Nacht zum 12. März wurde mehrmals versucht, den Einmarsch der deutschen Truppen in letzter Minute zu stoppen, weil das Übungsziel ja schon erreicht war – allein Hitler traute seinen Landsleuten zu wenig, um dies zu riskieren. Tatsächlich marschierten in den folgenden Tagen deutsche Truppen durch weite Teile Österreichs, kehrten aber schon nach wenigen Tagen in ihre Heimatgarnisonen zurück.64 Die NS-Herrschaft in Österreich stützte sich vorwiegend auf die österreichischen Verwaltungs- und Polizeistrukturen, die schnell „gleichgeschaltet“ wurden – von einer (militärischen) Besatzung 64 Lediglich die 2. Panzerdivision aus Würzburg blieb im Raum Wien stationiert und ergänzte sich ab 1938 aus dem neuen Wehrkreis XVII (= Ostösterreich). Im Gegenzug wurde die Schnelle Division des Bundesheeres nach dem „Anschluss“ ins Altreich verlegt und zur 4. Leichten Division (später 9. Panzerdivision) umgegliedert.

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konnte hingegen kaum wirklich die Rede sein. Aber da 1943 der „Anschluss“ bewusst als Vorläufer der kriegerischen Unternehmungen ab September 1939 dargestellt werden sollte, passte das Bild der „Besetzung“ natürlich in diesen Zusammenhang. Die Alliierten wollten sich außerdem „durch keinerlei Änderungen, die in Österreich seit diesem Zeitpunkt [dem ‚Anschluss‘] durchgeführt“ worden waren, „als irgendwie gebunden“ fühlen: Darunter mochte man – wohl am ehesten – eine Art Generalformel verstehen oder aber einen direkten Bezug zu den Verschiebungen der Landesgrenzen innerhalb Österreichs. Es folgte die bekannte – und in der Folge geflissentlich ignorierte – Erinnerung an Österreichs „Verantwortung […] für die Teilnahme am Kriege an der Seite Hitler-Deutschlands“. Darauf soll hier nicht näher eingegangen werden; es bleibe der Hinweis, dass (aus verständlichen politischen Gründen) zwar die „Teilnahme am Kriege“erwähnt wurde, nicht aber die näheren Umstände der nationalsozialistischen Machtübernahme in Österreich am 11. März 1938. Dass hier „Österreich“ als Staat (der bei Kriegsbeginn 1939 ja längst nicht mehr bestand) angesprochen wurde, nicht aber „Österreicher“ als Individuen, war zunächst wohl vor allem auf die sowjetischen Absichten zurückzuführen, nach Kriegsende von Österreich Reparationen zu lukrieren – diese konnten aber naturgemäß nur vom Staat, nicht von individuellen Bürgern eingefordert werden. Dazu kam noch ein weiterer Punkt: Wären „die Österreicher“ angesprochen worden bzw. hätte man sich mit dem Ablauf der NS-Machtübernahme in Österreich ernsthaft auseinandergesetzt, hätten sich die Alliierten wohl auch mit der Tatsache befassen müssen, dass 1938 viele Österreicher (aus welchen Gründen auch immer) den „Anschluss“ entweder begrüßt oder sich damit zumindest abgefunden hatten. Und das konnte 1943 keineswegs im Sinne der Alliierten sein. Daher zielte die Moskauer Deklaration bewusst nicht auf eine Diskussion der Hintergründe des „Anschlusses“ von 1938 – etwa durch einen Verweis auf das ja schon 1919 ignorierte Selbstbestimmungsrecht der Völker im Sinne der einstigen „14 Punkte“ des US-Präsidenten Woodrow Wilson (1856–1924) –, sondern auf den Kriegsbeginn 1939 und seine Folgen. Schon im ersten Satz der Moskauer Deklaration wurde der „Anschluss“ daher als Beispiel „der typischen Angriffspolitik Hitlers“ bezeichnet. Diese Formulierung ähnelt interessanterweise dem zitierten Resümee des deutschen Oberkommandos der Wehrmacht von Ende März 1938, das den „Einsatz Österreich“ ja als „das klassische Beispiel einer mit neuzeitlichen Methoden unter starkem Einsatz militärischer und propagandistischer Mittel durchgeführten Politik“ bezeichnet hatte. Der „Anschluss“ Österreichs passte – obwohl improvisiert und in dieser Form nicht geplant – eben perfekt in das

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„Muster“ der Unternehmungen Hitlers, durch schnelle Aktionen vollendete Tatsachen zu schaffen und so die deutsche Machtbasis schrittweise zu erweitern. Dies hatte so ähnlich bei der Re-Militarisierung des Rheinlandes („Winterübung“, 7. März 1936) geklappt, und Hitler sollte auch noch bei den folgenden Aktionen zur Zerschlagung der Tschechoslowakei – dem Münchner Abkommen vom 30. September 1938 über die Abtretung der „Sudetengebiete“ und der Besetzung der „Rest-Tschechei“ ab dem 15. März 1939 – erfolgreich bleiben. Dem folgte am 23. März 1939 die Rückgabe des Memellandes von Litauen an Deutschland. Allerdings war es genau diese Vorgangsweise – und im Falle der Besetzung der „Rest-Tschechei“ der klare Wortbruch Hitlers –, die die Westalliierten in weiterer Folge bestärkte, weitere Aggressionsschritte nicht zuzulassen. Schon am 16. März 1938 hatte der britische Außenminister, Viscount Halifax (Edward F. L. Wood, Earl of Halifax, 1881–1959), der oft fälschlich der Naivität gegenüber Hitlers Politik bezichtigt wurde, im House of Lords erklärt: „It is the ruthless application of power politics that has so profoundly shocked the world. [...] The world has been brought, there­ fore, face to face with the extremely ugly truth that neither treaty texts nor International Law have any influence when dealing with power politics, and that in that sphere, force, and force alone, decides.“65Auch wenn die Westmächte die Abtrennung der „Sudetengebiete“ im Herbst 1938 mittrugen und sogar noch die Zerschlagung der „Rest-Tschechei“ im März 1939 akzeptierten – am 3. September 1939 beantworteten die britische und die französische Regierung den Überfall auf Polen mit der Kriegserklärung. Die Wiederherstellung des „freie[n] unabhängige[n] Österreich[s]“ musste unter diesen Umständen 1943 ein notwendiges Kriegsziel der Alliierten sein – galt es doch, das künftige Deutschland möglichst klein und schwach zu halten. Daher war es nur logisch, alle Gebietserweiterungen – auch jene vor Kriegsbeginn – rückgängig zu machen. Österreich passte da gut ins Bild. Dabei ging es aber nicht nur darum, Deutschland möglichst klein zu halten, sondern auch um die „politische und wirtschaftliche Sicherheit“ der „Nachbarstaaten“ (vor allem wohl der Tschechoslowakei), wie sie in der Moskauer Deklaration ausdrücklich angesprochen wurde und die durch die Abtrennung Österreichs vom Deutschen Reich gefördert werden sollte. Dies war für die Alliierten – neben der Schwächung Deutschlands – sicher das wichtigste Argument für die Wiederherstellung Österreichs. Nach dem „Anschluss“ schlossen die deutschen Territorien ja wesentliche Teile der Tschechoslowakei ein; dazu kam die wichtige strategische Position Österreichs im Hinblick auf Südosteuropa. In dieser (Schlüssel-)Passage der Moskauer Deklaration 65 TNA, FO 371/22317, S. 86.

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bewiesen die alliierten Planer somit eine realistische Einschätzung der strategischen Lage in Europa. Ausblick Im März 1938 hatten viele Österreicher den „Anschluss“ begeistert begrüßt oder sich wenigstens damit abgefunden – manche, weil sie mit den Nationalsozialisten sympathisierten oder sich von ihnen eine Besserung der wirtschaftlichen Lage erwarteten, andere, weil damit die seit 1918 angestrebte Vereinigung des deutschen Österreich mit dem Deutschen Reich vollzogen war. Durch die Realität der Lebensbedingungen im Dritten Reich, den Krieg und schließlich die Niederlage änderte sich diese Stimmung freilich bis 1945. So schickte beispielsweise ein Österreicher, der für die deutsche Abwehr in Istanbul arbeitete, Dr. Wilhelm Hamburger (1917–2011), im November 1943 den dort lebenden Österreicherinnen Blumen, als er von der Moskauer ­Deklaration erfuhr – aus lauter Freude, dass die Alliierten für die Wiedererrichtung der Alpenrepublik eintraten.66 So wie viele Österreicher 1938 den Nationalsozialismus begrüßt hatten, weil er deutsch war, so galten nach 1945 „deutsch“und „nationalsozialistisch“ gleichermaßen als diskreditiert (was so weit ging, dass ehemalige „Altreichsdeutsche“ aus Österreich vertrieben wurden). Durch die „Opferthese“, die Österreich als erstes Opfer der Nationalsozialisten sah, fiel es dem Land lange allzu leicht, die Rolle vieler Österreicher im NS-Regime zu ignorieren, doch ermöglichte es gerade diese Interpretation der Geschichte, nach 1945 zu einer neuen österreichischen Identität zu finden. Diese entstand nach dem Zweiten Weltkrieg in einer anderen Atmosphäre als nach dem Ersten, teils unter selektivem Rückgriff auf die Tradition der Monarchie. Bestärkt wurde sie durch die unterschiedliche politische Entwicklung der deutschen Staaten: Im Gegensatz zur Bundesrepublik und zur Deutschen Demokratischen Republik blieb Österreich trotz der alliierten Besatzung geeint und erhielt bereits 1955 die Souveränität zurück. Als neutraler Staat zwischen den Blöcken fand die Alpenrepublik ein neues Selbstbewusstsein. 1990 ließ der Wiener Bürgermeister Helmut Zilk auf dem Wiener Rathaus zur Feier der deutschen Wiedervereinigung die schwarz-rot-goldene Flagge hissen – eine Geste, wie sie wohl noch wenige Jahrzehnte früher undenkbar gewesen wäre.

66 Ich bin Dr. Wilhelm Hamburger/Hendricks für die Gespräche zu Dank verpflichtet, die ich in den letzten Jahren vor seinem Tode mit ihm führen durfte, ebenso seiner Frau Mag. Judith Hendricks. Eine kurze Studie wird demnächst im Journal for Intelligence, Propaganda and Security Studies (JIPSS) erscheinen.

Brigitte Bailer

Widerstand, Opfermythos und die Folgen für die Überlebenden

Zur Moskauer Deklaration, vor allem vor dem Hintergrund alliierter Nachkriegsplanungen, haben Gerald Stourzh1 und andere schon vor Längerem grundlegende Arbeiten vorgelegt. Des Weiteren wurden bei den in diesem Band dokumentierten Konferenzen in Moskau und Wien Ende Oktober 2013 wesentliche Erkenntnisse präsentiert. Der folgende Beitrag befasst sich daher vor allem mit spezifischen Aspekten der Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte, wie sie aus den Forschungen des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes und jenen der Verfasserin resultieren. Dazu sollen die folgenden drei in der Deklaration angesprochenen Themen herangezogen werden: 1. Die Opferklausel, also die Feststellung, dass Österreich „das erste freie Land“ gewesen sei, „das der typischen Angriffspolitik Hitlers zum Opfer fallen sollte“.2 2. Die Mitverantwortungsklausel, die Österreich „daran erinnert, dass es für die Teilnahme am Kriege an der Seite Hitler-Deutschlands eine Verantwortung trägt, der es nicht entrinnen kann“. 3. Die Widerstandsklausel, in der Österreich darauf aufmerksam gemacht wurde, dass bei der „endgültigen Abrechnung“ Bedacht genommen werde, „wie viel es [Österreich] selbst zu seiner Befreiung beigetragen haben wird“. Jedes dieser Themen spielte in der österreichischen Nachkriegsgeschichte, in Österreichs Umgang mit seiner NS-Vergangenheit, auch mit den Opfern der NS-Verbrechen, seine eigene Rolle. Bevor auf diese Fragen eingegangen werden kann, soll in einigen kurzen Bemerkungen die unmittelbare Rezeption der Deklaration und deren Wirkung auf die aus Österreich vertriebenen bzw. geflüchteten Menschen sowie den Widerstand auf österreichischem Gebiet beleuchtet werden.

1

2

Gerald Stourzh, Kleine Geschichte des Staatsvertrags. Mit Dokumententeil. Graz – Wien – Köln 1975; ders., Um Einheit und Freiheit. Staatsvertrag, Neutralität und das Ende der Ost-West-Besetzung Österreichs 1945–1955. 4. Aufl. Wien – Köln – Graz 1998. Der Text der Deklaration ist in englischer Sprache und deutscher Übersetzung u. a. abgedruckt in: Stourzh, Um Einheit und Freiheit, S. 607 f.

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Die Rezeption der Moskauer Deklaration während des Krieges im Exil und auf ehemals österreichischem Gebiet In den Kreisen des österreichischen politischen Exils, dessen Repräsentanten in den meisten Fällen nicht zuletzt aufgrund ihrer jüdischen Abstammung das Land hatten verlassen müssen, wurde die Moskauer Deklaration zumeist freudig aufgenommen,3 wenn sie auch manche zu einem Umdenken zwang. Seitens der Kommunistinnen und Kommunisten wurde sie lebhaft begrüßt,4 entsprach sie doch den seitens der KPÖ seit 1938 vertretenen Inhalten und der in den jeweiligen Zufluchtsländern auch betriebenen Werbung für das „andere“ Österreich, dessen kultureller Reichtum und landschaftliche Schönheit propagiert wurden.5 Das sozialdemokratische Exil war im November 1943 endgültig mit der Notwendigkeit zur Aufgabe der noch immer vertretenen Idee der Möglichkeit einer „gesamtdeutschen Revolution“ konfrontiert. Noch vor der Verabschiedung der Moskauer Deklaration vollzog die schwedische Gruppe um Bruno Kreisky, der schon seit Längerem von der Notwendigkeit des Wiedererstehens eines selbstständigen, demokratischen Österreich überzeugt war, im Sommer 1943 den Kurswechsel, der in der am 28. Juli 1943 im „Klub österreichischer Socialisten“ in Stockholm verabschiedeten Resolution zum Ausdruck kam, in der es hieß: „1. Die österreichischen Socialisten in Schweden fordern die Wiederherstellung einer selbstständigen, unabhängigen, demokratischen Republik ,ÖSTERREICH‘.“6 Auf österreichischem Gebiet wurde die Moskauer Deklaration über die alliierten Radiosender verbreitet, die trotz Verbots und der Androhung von Gefängnisstrafen von zahlreichen Österreicherinnen und Österreichern heimlich gehört wurden. Fritz Molden beispielsweise betont in seinen Erinnerungen die Freude und Genugtuung, die diese Erklärung bei ihm ausgelöst habe.7 In welchem Ausmaß die Erklärung in der übrigen Bevölkerung posi3

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6 7

Austro-American Tribune: Anti-Nazi Monthly. Special Issue (zur Moskauer Deklaration). New York 1943; Antoine Gazda, Before Moscow/After Moscow – the Future of Austria. Reprint from the Journal-Bulletin October 30, 1943. Kurt Regner, Einige Bemerkungen zur völkerrechtlichen Stellung Österreichs nach der Moskauer Deklaration. London 1944. Davon zeugen zahlreiche Publikationen und Veranstaltungsprogramme aus dem Exil, die in der Bibliothek des DÖW aufbewahrt werden. Siehe dazu auch http://ausstellung.de.doew.at/m25sm96.html, 14.10.2013. Bruno Kreisky, Zwischen den Zeiten: Erinnerungen aus fünf Jahrzehnten. Berlin 1986, S. 391. Fritz Molden, „Die Moskauer Deklaration war eine Offenbarung“, in: Demokratie und Geschichte 2001: Jahrbuch des Karl von Vogelsang-Instituts zur Erforschung der christlichen Demokratie in Österreich. Wien – Köln – Weimar 2002, S. 15–38.

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tives Echo fand, kann beim derzeitigen Stand der Forschung nicht endgültig beantwortet werden.8 Alliierte Beobachter zeigten sich jedenfalls über die ihrer Meinung nach geringe Resonanz bei den Österreicherinnen und Österreichern enttäuscht.9 Sie hatten sich – wohl unter falscher Einschätzung der realen Situation im Land – stärkere Reaktionen auch seitens des österreichischen Widerstandes erwartet. Die in der Moskauer Deklaration von den Alliierten geäußerte Absicht zur Wiederherstellung eines unabhängigen Österreich entsprach hingegen sehr wohl wesentlich den Zielen einerseits des kommunistischen, andererseits auch des konservativen, insbesondere des monarchistischen Widerstandes, der allerdings zum Teil zu großösterreichischen Vorstellungen tendierte.10 Schon vor dem „Anschluss“ hatte auf kommunistischer Seite Alfred Klahr11 versucht, die Existenz einer eigenständigen österreichischen Nation analytisch zu begründen, während auf konservativer/legitimistischer Seite Ernst Karl Winter12 in seiner politischen Programmatik die Idee einer solchen österreichischen Nation vertrat. Beide taten dies zu einer Zeit, als die Vorstellung von Österreich als einem zwar eigenständigen, aber der deutschen Nation zugehörigen Staat noch weit verbreitet war.13 Unmittelbar nach dem „Anschluss“ hatte die KPÖ bereits in der ersten, in Prag am 12. März 1938 beschlossenen Erklärung des Zentralkomitees ihrem Widerstand eine betont

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Hier wäre eine Detailanalyse von Gestapoberichten bzw. Sondergerichtsurteilen aufgrund des Heimtückegesetzes von Interesse, die Aufschluss über mögliche Änderungen von Zahl und vor allem Inhalten der inkriminierten Äußerungen bzw. behördlich bekannten Fälle bringen könnte. Evan Burr Bukey, Hitler’s Austria: popular sentiment in the Nazi era 1938–1945. Chapel Hill – London 1999, S. 207–211. Zum katholisch-konservativen und legitimistischen Widerstand siehe Wolfgang Neugebauer, Der österreichische Widerstand 1938–1945. Wien 2008, S. 133–158; zur Orientierung der Gruppen vgl. ders., Der österreichische Widerstand 1938–1945, in: Opferschicksale. Widerstand und Verfolgung im Nationalsozialismus. 50 Jahre Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes. Wien 2013, S. 233–273, hier: S. 248. Rudolf Pohl [Pseudonym von Alfred Klahr], Zur nationalen Frage in Österreich. Moskau 1937. Vgl. z. B. Ernst Karl Winter, Europa, in: Wiener Politische Blätter, 3. Jg., Nr. 2, 23.6.1935, abgedruckt in: Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (Hg.), Widerstand und Verfolgung in Wien 1933–1945. Eine Dokumentation. Bd. 2. Wien 1975, S. 564 f.; Anton Staudinger, Austrofaschistische „Österreich-Ideologie“, in: Emmerich Tálos – Wolfgang Neugebauer (Hg.), Austrofaschismus. Politik-Ökonomie-Kultur 1933–1938. 5. Aufl. Wien 2005, S. 29–52, hier: S. 42. Zur deutschnational gefärbten Österreich-Ideologie des Regimes Dollfuß–Schuschnigg siehe ausführlich Staudinger, Austrofaschistische „Österreich-Ideologie“.

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national-patriotische Orientierung gegeben,14 wie auch konservativ-katholische/legitimistische Gruppen sich einem österreichischen Patriotismus verpflichtet sahen. Nicht zufällig nannten sich die drei wichtigsten Widerstandsgruppen dieses Lagers – jeweils geleitet von Roman Karl Scholz, Karl Lederer und Jakob Kastelic – „Österreichische Freiheitsbewegung“. In den Anklageschriften gegen diese Widerstandskämpferinnen und ­Widerstandskämpfer, ebenso wie gegen jene aus der Kommunistischen Partei, wurde ihnen Hochverrat vorgeworfen, da sie die „Losreißung der Alpenund Donaugaue vom Reich“, also die Wiedererrichtung eines selbstständigen Österreich, angestrebt hatten.15 In den Kreisen der Sozialdemokratie setzte, so wie im Exil, auch auf ehemals österreichischem Gebiet selbst spätestens nach der Moskauer Deklaration ein Umdenken ein – und damit eine Abkehr von der Vorstellung einer gesamtdeutschen antinationalsozialistischen Bewegung.16 Der von den Alliierten, aber auch von Teilen des österreichischen Exils aufgrund der Moskauer Deklaration erhoffte Aufschwung der Widerstandsaktivitäten in Österreich selbst blieb allerdings aus. Schon zuvor, insbesondere nach der Niederlage der Deutschen Wehrmacht bei Stalingrad, hatten kommunistische Gruppen im Exil auf den baldigen Zusammenbruch des NS-Regimes und in diesem Zusammenhang auf ein Aufflammen des Widerstandswillens in Österreich gehofft. Um hier Unterstützung zu leisten und bei der bevorstehenden Befreiung des Landes zur Stelle zu sein, kehrten nach und nach mehr als 40 als französische Fremdarbeiterinnen bzw. Fremdarbeiter getarnte österreichische Kommunistinnen und Kommunisten, die meisten von ihnen jüdischer Herkunft, ungeachtet des ungeheuren damit verbundenen persönlichen Risikos auf österreichisches Gebiet zurück. Die meisten von ihnen wurden allerdings enttarnt und in Konzentrationslager deportiert, wie beispielsweise die Eltern des Schriftstellers Robert Schindel, dessen Mutter Gerti Schindel die Konzentrationslager Auschwitz und Ravensbrück überlebte und dessen Vater René Hajek im KZ Dachau ermordet wurde.17 Bis zum Herbst 1943 waren große Teile sowohl des Widerstands der Arbeiterbewegung als auch des konservativ-katholischen Lagers von der Ge14 Abgedruckt in: Johann Koplenig, Die nationale Frage und Österreichs Kampf um seine Unabhängigkeit. Ein Sammelband. Paris 1939, S. 209, zitiert nach: Neugebauer, Der österreichische Widerstand 1938–1945, Bd. 2, S. 80; vgl. dazu auch Neugebauer, Der österreichische Widerstand 1938–1945, 2013, S. 243 f. 15 Anklageschriften sowie Urteile können im Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes eingesehen werden. 16 Neugebauer, Der österreichische Widerstand 1938–1945, 2013, S. 243. 17 Ebd., S. 258 f.

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stapo zerschlagen, die meisten mithilfe gedungener Spitzel, die als Agents Provocateurs arbeiteten. Die Mitglieder der drei österreichischen Freiheitsbewegungen waren bereits 1940 verhaftet worden, die führenden Aktivisten wurden vom Volksgerichtshof zum Tode verurteilt, allerdings die meisten erst 1944 tatsächlich hingerichtet. Eine andere Gruppe dieses Lagers, die „Antifaschistische Freiheitsbewegung Österreichs“, hatte ein „weitverzweigtes Widerstandsnetz“ aufgebaut, wurde aber im Sommer 1943 von der Gestapo zerschlagen.18 Auch zahlreiche zentrale Funktionärinnen und Funktionäre der illegalen KPÖ waren mittlerweile verhaftet, in Gefängnissen und Konzentrationslagern inhaftiert, viele von ihnen zum Tode verurteilt und hingerichtet worden, zum Beispiel: Der Architekt Herbert Eichholzer, 1940 aus der Türkei nach Österreich zurückgekehrt, fiel gemeinsam mit anderen dem Verrat des Gestapospitzels „Ossi“ zum Opfer. Er wurde 1943 hingerichtet, im selben Jahr wie der aus Jugoslawien wieder nach Österreich gekommene Erwin Puschmann. Leo Gabler, Rückkehrer aus der Sowjetunion, wurde 1944 hingerichtet, Bruno Dubber wiederum, Mitglied des Zentralkomitees der KPÖ, starb 1944 in der Haft.19 Die rücksichtslose Verfolgung jeglichen oppositionellen Verhaltens – von organisiertem Widerstand bis hin zu unangepasstem Verhalten, regimekritischen Äußerungen, Abhören ausländischer Sender oder Hilfe für Verfolgte – hatte ebenso zu einer Eindämmung des Widerstands beigetragen wie die anhaltende Unterstützung des Regimes durch große Teile der Bevölkerung. Jeder, der sich in Anbetracht der Normen des NS-Staates abweichend verhielt, musste damit rechnen, verraten zu werden. Nachbarn, Arbeitskollegen, manchmal sogar Familienmitglieder schreckten vor Denunziation nicht zurück.20 Der österreichische Widerstand agierte in einem feindlichen Umfeld21 und blieb die ganze Zeit des NS-Regimes hindurch auf eine kleine Minderheit be18 Ebd., S. 249 f. 19 Angaben auf http://ausstellung.de.doew.at/m18sm39.html, 14.10.2013. Dokumente zu allen Genannten liegen im Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes auf. 20 Zum Phänomen der Denunziation auf österreichischem Gebiet siehe z. B. Heimo Halbrainer, „Der größte Lump im ganzen Land“ – Denunziation in der Steiermark 1938–1945 und die Aufarbeitung dieses NS-Verbrechens in der Zweiten Republik. Graz 2005; vgl. auch: Herbert Dohmen, „Vernadern“ in Wien: Denunziation als „ideelle“ und „funktionale“ Kollaboration im Nationalsozialismus. Dipl. Arb. Univ. Wien 1999; Ela Hornung, „Wehrkraftzersetzung“ und Geschlecht, in: Johanna Gehmacher – Gabriella Hauch (Hg.), Frauen- und Geschlechtergeschichte des Nationalsozialismus. Innsbruck – Wien – Bozen 2007, S. 169–185. Zu Deutschland siehe beispielsweise Gisela Diewald-Kerkmann, Politische Denunziation im NS-Regime oder: die kleine Macht der Volksgenossen. Bonn 1994. 21 Dies betont auch Neugebauer, Der österreichische Widerstand 1938–1945, 2013, S. 234 f.

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schränkt. Umso höher sind daher der Mut, die Charakterstärke und die Leistungen jener Frauen und Männer einzuschätzen, die diese Gefahren auf sich nahmen und ihre Haltung nur allzu oft mit dem Leben bezahlten.22 Ein Kooperationsprojekt des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstands und des Karl von Vogelsang-Instituts zur Erforschung der christlichen Demokratie in Österreich konnte bisher die Namen von rund 8.000 Österreicherinnen und Österreichern ermitteln, die aufgrund politischer Verfolgung in der NS-Zeit ums Leben kamen. Die Gesamtzahl dieser Opfergruppe kann auf Basis von Hochrechnungen auf ungefähr 9.500 Menschen geschätzt werden. Die Differenz ergibt sich unter anderem aus Fällen von Morden oder pseudolegalen Hinrichtungen im Partisanenkampf oder im Zuge der Endphaseverbrechen in den letzten Tagen und Wochen des Zweiten Weltkrieges, die keinen dokumentarischen Niederschlag gefunden haben und die nur aufgrund von Meldungen Hinterbliebener oder Zeuginnen und Zeugen rekonstruiert werden können. Weitere Probleme entstehen aus der lückenhaften Überlieferung und dezentralen Archivierung der Akten der deutschen Militärgerichtsbarkeit, die sich daher einer vollständigen Erfassung entziehen. Von den bisher erfassten Opfern kam die Mehrheit, 4.313 Personen, in Konzentrationslagern ums Leben, 2.146 in Justizanstalten, wo sie hingerichtet wurden oder in der Haft starben. Bei 687 Toten konnte der genaue Todesort nicht ermittelt werden.23 66 Prozent der verzeichneten Verfolgungsopfer waren aus politischen Gründen im engeren Sinne, also aufgrund von Widerstandsaktivitäten und politisch oppositionellem Verhalten, ums Leben gekommen, zwei Prozent als sogenannte „Ernste Bibelforscher“, die aufgrund ihrer religiösen Überzeugung jeden Kriegsdienst und auch Arbeit in der Rüstungsindustrie verweigerten. Ein Prozent starb aufgrund der sexuellen Orientierung, die übrigen Opfer wurden wegen verschiedener Arten unangepassten bzw. als angeblich „asozial“ gebrandmarkten Verhaltens verfolgt.24 Da die aus den Verwaltungen der Konzentrationslager – mit Ausnahme des KZ Dachau – überlieferten Unterlagen vor allem mit Fortdauer des Krieges nur sehr ungenaue Angaben zu den Häftlingen und Todesopfern enthalten, können nur auf Basis der vorliegenden Urteile des Volksgerichtshofs und der 22 Brigitte Bailer – Wolfgang Maderthaner – Kurt Scholz (Hg.), „Die Vollstreckung verlief ohne Besonderheiten“. Hinrichtungen in Wien, 1938 bis 1945. Wien 2013. 23 828 Opfer kamen an verschiedenen anderen Orten ums Leben, siehe Brigitte Bailer – Gerhard Ungar, Die Zahl der Todesopfer politischer Verfolgung – Ergebnisse des Projekts, in: Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (Hg.), Opferschicksale, S. 111–124, hier: S. 123. 24 Bailer – Ungar, Die Zahl der Todesopfer politischer Verfolgung, S. 113.

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Oberlandesgerichte Wien und Graz sowie der Analyse der Tagesberichte der Gestapoleitstelle Wien Angaben zur politischen Orientierung der Opfer gemacht werden. Sowohl Gerichtsurteile als auch die Dokumente der Gestapo verweisen hier auf einen mehr als deutlichen Überhang von Opfern aus dem Bereich der Arbeiterbewegung,25 wobei die meisten als Kommunistinnen und Kommunisten verfolgt wurden, von denen allerdings die Mehrheit ursprünglich aus dem Kreis der Sozialdemokratie stammt, wie der Widerstandsforscher Wolfgang Neugebauer nachweist. 93 Prozent der Todesopfer waren Männer, sieben Prozent Frauen. Dies kann einerseits mit den von traditionellen Geschlechterrollen geprägten Aufgabenteilungen im Widerstand sowie mit den Einstellungen der NS-Behörden und Justiz erklärt werden, die den Widerstand von Frauen nicht so ernst nahmen wie jenen von Männern. Der weibliche Widerstand konzentriert sich eindeutig im sozial-humanitären Bereich, also in der Hilfe für Verfolgte, aber auch in der Unterstützung von Partisanen und Deserteuren, die sich dem Zugriff der Behörden entzogen. Mehr als die Hälfte jener von der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem wegen ihrer Hilfe für verfolgte Jüdinnen und Juden als „Gerechte unter den Völkern“ ausgezeichneten Österreicherinnen und Österreicher sind dementsprechend Frauen.26 Die quantitative Dimension des Widerstands und seines sympathisierenden Umfelds wird von Neugebauer auf ungefähr 100.000 Personen geschätzt.27 Die Folgen der Moskauer Deklaration nach der Befreiung Österreichs Die in der Moskauer Deklaration angesprochenen Themen erfuhren nach der Befreiung Österreichs unterschiedliche politische und gesellschaftliche Aufmerksamkeit und wurden entsprechend verschieden rezipiert. Im Zentrum stand dabei die Opferthese, wie dies auch in der Proklamation der österreichischen Unabhängigkeit vom 27. April 1945 deutlich zum Ausdruck 25 Bei den Tagesberichten der Gestapo waren 4.202 von der Gestapoleitstelle Wien erkennungsdienstlich verzeichnete Personen der Arbeiterbewegung zuzurechnen, 930 dem katholisch-konservativen Lager, 301 der katholischen Kirche, 230 waren Bibelforscherinnen und Bibelforscher, vgl. Bailer – Ungar, Die Zahl der Todesopfer politischer Verfolgung, S. 115. Bei den vor dem Volksgerichtshof Angeklagten gehörten rund 56 % der Arbeiterbewegung, 20,2 % katholisch-konservativen und 9,5 % legitimistischen Gruppen, bei den OLG Wien und Graz 47,5 % der Arbeiterbewegung, 6,6 % katholisch-konservativen und 1,2 % legitimistischen Organisationen an. Vgl. dazu Neugebauer, Der österreichische Widerstand 1938–1945, 2013, S. 239 f. 26 Bailer – Ungar, Die Zahl der Todesopfer politischer Verfolgung, S. 119–122. 27 Neugebauer, Der österreichische Widerstand 1938–1945, 2013, S. 271 f.

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kommt: Der „Anschluss“ sei durch „militärische Bedrohung von außen und den hochverräterischen Terror einer nazistischen Minderheit eingeleitet“ und dem „hilflos gewordenen Volke Österreichs“ schließlich „durch militärische kriegsmäßige Besetzung des Landes“ „aufgezwungen“ worden. In der Folge werden die dadurch bedingten Souveränitätsverluste aufgezählt und schließlich wird unter indirekter Bezugnahme auf die Moskauer Deklaration festgestellt, dass Hitler „das macht- und willenlos gemachte Volk Österreichs in einen sinn- und aussichtslosen Eroberungskrieg geführt hat, den kein Österreicher jemals gewollt hat“. Die Unabhängigkeitserklärung selbst bezieht ihre Legitimität aus der Moskauer Deklaration und stellt dann unter Bezugnahme auf die Widerstandsklausel fest, dass die Staatsregierung „ohne Verzug die Maßregeln ergreifen“ werde, um „jeden ihr möglichen Beitrag zu seiner [Österreichs] Befreiung zu leisten“,28 weist aber gleichzeitig darauf hin, dass das vom Krieg geschwächte Volk dazu kaum imstande sein werde.29 In den ersten Wochen und Monaten nach der Befreiung versuchten die Regierung und die ihr nahestehenden Medien, die Widerstandskämpferinnen und Widerstandskämpfer als Identifikationsfiguren für die neue Republik zu zeichnen – ein Versuch, der aber, vermutlich aufgrund fehlender Resonanz in der Bevölkerung und angesichts innenpolitischer Opportunität, bald wieder aufgegeben wurde. Im Jahr 1946 geplante Gesetze zur Ehrung der Widerstandskämpferinnen und Widerstandskämpfer wurden nie realisiert: Jenes zur Schaffung einer Befreiungsmedaille wurde zwar im Nationalrat beschlossen, aber nie umgesetzt, jenes zur „Opferehrung“, das auch ein öffentlich zu tragendes Abzeichen vorgesehen hatte, passierte zwar den Ministerrat, wurde aber nicht mehr dem Nationalrat vorgelegt.30 Unter dem Eindruck der bevorstehenden Staatsvertragsverhandlungen erhielt aufgrund außenpolitischer Überlegungen die Widerstandsklausel der Moskauer Deklaration erhöhte Aufmerksamkeit. Im Auftrag der Bundesregierung wurden für das 1946 erschienene „Rot-Weiss-Rot-Buch“31 Berichte über den Widerstand, vor allem aus den letzten Kriegstagen, und, wie es im Titel hieß, aus „amtlichen Quellen“ wie z. B. Gendarmeriechroniken 28 In den westlichen und südlichen Bundesländern wurde bis zum 8.5.1945 noch gekämpft. 29 Stenografisches Protokoll der 1. Sitzung des Nationalrats der Republik Österreich, V. Gesetzgebungsperiode, 19.12.1945, S. 10 f. 30 Brigitte Bailer, WiderstandskämpferInnen und politisch Verfolgte in der Zweiten Republik, in: Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (Hg.), Opferschicksale, S. 283–306, hier: S. 292. 31 O. A., Rot-Weiss-Rot-Buch. Gerechtigkeit für Österreich! Darstellungen, Dokumente und Nachweise zur Vorgeschichte und Geschichte der Okkupation Österreichs (nach amtlichen Quellen). Erster Teil. Wien 1946. Ein zweiter Teil wurde nie veröffentlicht.

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zusammengetragen, um bei den Verhandlungen als Nachweis der österreichischen Bemühungen zur eigenen Befreiung vorgelegt werden zu können. Im Rahmen der ersten Verhandlungsrunde, die Ende Januar 1947 in London stattfand, behauptete Außenminister Karl Gruber in seiner Antwort auf eine entsprechende Frage des stellvertretenden sowjetischen Außenministers Fedor T. Gusev, die Mehrheit der österreichischen Bevölkerung sei durchweg gegen Hitler eingestellt gewesen, unzählige Österreicher hätten aktiven Widerstand geleistet.32 Die Unterstreichung des österreichischen Widerstandes, vor allem aber die konsequente Leugnung jeglicher Mitverantwortung von Österreichern an den Verbrechen des NS-Regimes sollten Österreich möglichst günstige Konditionen im künftigen Vertrag sichern. Diese in außenpolitischer Hinsicht strategisch verständliche Argumentation geriet in innenpolitischer Hinsicht zum Werkzeug der Abwehr der Forderungen der überlebenden NS-Opfer. Während die Frauen und Männer des Widerstands zumindest auf Anerkennung in der Opferfürsorge- und Sozialversicherungsgesetzgebung zählen konnten, blieben die Opfer der Verfolgung – Jüdinnen und Juden, Roma und Sinti, Opfer der NS-Medizin, als Asoziale oder Homosexuelle Verfolgte – lange Zeit benachteiligt.33 Verfolgte Jüdinnen und Juden stießen mit allen über die unmittelbare Restitution (noch vorhandenen) geraubten Eigentums hinausgehenden Forderungen auf Ablehnung.34 Überlebende der Schoah wären 32 ÖStA/AdR, BMfaA, II-pol 1947, Staatsvertrag, Karton 50, Proceedings of the First Conference of the Deputies for Austria, held at Lancaster House, London, 16th January to 25th February 1947, S. 68 und 178. 33 Vgl. z. B. Brigitte Bailer, Wiedergutmachung kein Thema. Österreich und die Opfer des Nationalsozialismus. Wien 1993; Nikolaus Dimmel u. a., Analyse der praktischen Vollziehung des einschlägigen Sozialrechts hinsichtlich der Vollzugspraxis im Bereich der §§ 500 ff. ASVG. Entschädigung im Sozialrecht nach 1945 in Österreich. Veröffentlichungen der Österreichischen Historikerkommission. Vermögensentzug während der NS-Zeit sowie Rückstellungen und Entschädigungen seit 1945 in Österreich. Bd. 29/3. Wien – München 2004; aus juristischer Sicht vgl. Walter J. Pfeil, Die Entschädigung von Opfern des Nationalsozialismus im österreichischen Sozialrecht. Entschädigung im Sozialrecht nach 1945 in Österreich. Veröffentlichungen der Österreichischen Historikerkommission. Vermögensentzug während der NS-Zeit sowie Rückstellungen und Entschädigungen seit 1945 in Österreich. Bd. 29/1. Wien – München 2004; für eine kurze Zusammenfassung vgl. Bailer, WiderstandskämpferInnen und politisch Verfolgte in der Zweiten Republik, S. 299–305. 34 Ausführlich dazu: Brigitte Bailer-Galanda, Die Entstehung der Rückstellungs- und Entschädigungsgesetzgebung. Die Republik Österreich und das in der NS-Zeit entzogene Vermögen. Veröffentlichungen der Österreichischen Historikerkommission. Vermögensentzug während der NS-Zeit sowie Rückstellungen und Entschädigungen seit 1945 in Österreich. Bd. 3. Wien – München 2003; für eine Zusammenfassung vgl. Brigitte Bailer-Galanda, Rückstellungen und Entschädigungen – eine Rücknahme des

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und waren die besten Zeuginnen und Zeugen für die persönliche Bereicherung zahlreicher Österreicherinnen und Österreicher am geraubten jüdischen Besitz, ein Teil der den Jüdinnen und Juden entgegengeschlagenen Ablehnung dürfte wohl auch darin ihren Grund gehabt haben – neben dem traditionellen und nach wie vor weitverbreiteten Antisemitismus.35 Entschädigungsleistungen, in der Nachkriegszeit oft unter dem Begriff „Wiedergutmachung“ subsumiert, könnten – so die Befürchtungen der politisch Verantwortlichen und der von ihnen angeleiteten Bürokratie – als ein Eingeständnis einer österreichischen Mitverantwortung an den NS-Verbrechen interpretiert werden und waren daher grundsätzlich abzuweisen. Dies nahm zeitweise skurrile Züge an, wenn Beamte in Gesetzesentwürfen und Schriftsätzen unbedingt das Wort „Wiedergutmachung“ vermieden.36 Und letztlich habe, so der Schluss der verantwortlichen Politiker, Österreich, das selbst das erste Opfer gewesen sei, keinerlei Verpflichtung zu Entschädigungsleistungen.37 Damit wurde die Opferklausel der Moskauer Deklaration zur Pauschalexkulpierung nicht nur des Staates Österreich, der als Völkerrechtssubjekt tatsächlich 1938 „untergegangen“ war, sondern auch seiner gesamten Bevölkerung. Mit dem Abschluss des Staatsvertrags, aus dem sozusagen in letzter Minute, in der Außenministerkonferenz am 14. Mai 1955 nachmittags, die Mitverantwortungsklausel wegverhandelt hatte werden können,38 verlor die Moskauer Deklaration in der Position gegenüber den NS-Opfern deutlich an

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Vermögensentzugs während des NS-Regimes?, in: Brigitte Bailer-Galanda – Eva Blimlinger, Vermögensentzug – Rückstellung – Entschädigung. Österreich 1938/1945–2005. Österreich – Zweite Republik. Befund, Kritik, Perspektiven. Bd. 7. Wien 2005, S. 40–69. Zum Antisemitismus nach 1945 vgl. Heinz P. Wassermann (Hg.), Antisemitismus in Österreich nach 1945: Ergebnisse, Positionen, Perspektiven der Forschung. Innsbruck – Wien – München – Bozen 2002; ders., Naziland Österreich? Studien zu Antisemitismus, Nation und Nationalsozialismus im öffentlichen Meinungsbild. Innsbruck – Wien – München – Bozen 2002. Zu den antisemitisch konnotierten Argumenten gegen die Rückstellungsgesetzgebung siehe z. B. Bailer-Galanda, Die Entstehung der Rückstellungs- und Entschädigungsgesetzgebung, S. 163, 166 f. und 170 f. Brigitte Bailer-Galanda, Der Beamte und die Rückstellungsgesetzgebung. Biographischer Versuch zu Gottfried Klein, in: Verena Pawlowsky – Harald Wendelin (Hg.), Raub und Rückgabe – Österreich von 1938 bis heute. Wien 2005, S. 78–90, hier: S. 83 und 90. Vgl. auch Abg. Ludwig als Berichterstatter zur Vorlage des 3. Rückstellungsgesetzes im Nationalrat. Stenografisches Protokoll der 44. Sitzung des Nationalrats der Republik Österreich, V. Gesetzgebungsperiode, 6.2.1947, S. 1220. Vgl. dazu auch die Verhandlungen zur Beschlussfassung des Nichtigkeitsgesetzes: Stenografisches Protokoll des Nationalrats der Republik Österreich, V. Gesetzgebungsperiode, 15.5.1946, S. 186. Stourzh, Um Einheit und Freiheit, S. 517. Siehe auch den Beitrag von Helmut Wohnout ab S. 235 in diesem Band.

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Bedeutung. Druck der Westmächte39 sowie die nicht mehr relevante Sorge um die Vertragsbedingungen machten in der Folge den Weg zu weiterreichenden Entschädigungsleistungen frei, die über die bis dahin ausschließlich mögliche Rückstellung noch vorhandenen und auffindbaren Eigentums hinausgingen. Aufgrund einer von den USA ausgehenden Initiative der Westmächte sicherte Österreich in zwei Notenwechseln im April 1958 und im Mai 1959 Entschädigungsleistungen unter anderem für entzogene Bankkonten und Wertpapiere, diskriminierende Abgaben (Reichsfluchtsteuer, Judenvermögensabgabe) sowie andere Vermögensschäden zu.40 Die Opferklausel und die damit verbundene Leugnung der Verantwortung blieben jedoch im Übrigen bis zum Anfang der 1990er-Jahre die vorherrschende Sichtweise auf die NS-Zeit – sowohl in den Kreisen der ehemaligen Widerstandskämpferinnen und Widerstandskämpfer als auch bei den politischen Eliten sowie in der Bevölkerung. Verharren und Umdenken ab den 1980er-Jahren Die zeitliche Distanz zum Geschehenen, ein Generationenwechsel und neue zeitgeschichtliche Forschungen ebenso wie die breit geführte Debatte um die Kriegsvergangenheit des ehemaligen UN-Generalsekretärs und späteren österreichischen Bundespräsidenten Kurt Waldheim öffneten schließlich den Weg zu einem Umdenken. Es wird öffentlich oft vergessen, dass es noch Waldheim selbst war, der in seiner Fernsehansprache am 10. März 1988 als erster österreichischer politischer Verantwortungsträger hier ein Eingeständnis einer Mitverantwortung ablegte – wenngleich das vor dem Hintergrund der vorangegangenen Diskussionen und seiner eigenen Verantwortungsabwehr interpretiert werden muss. Breit rezipiert wurden die späteren Erklärungen von Bundeskanzler Franz Vranitzky am 8. Juli 1991 im österreichischen Parlament und von Bundespräsident Thomas Klestil in der israelischen Knesseth am 15. November 1994. Doch noch 1988 wurde in einer Broschüre des Bundespressedienstes darauf verwiesen, dass die Mitverantwortungsklausel aus dem Staatsvertrag gestrichen worden sei und daher „Österreich grundsätzlich zu einer Wiedergutmachung von Unrechtshandlungen gegen39 Die USA hatten noch im unmittelbaren Vorfeld der Vertragsunterzeichnung Druck auf die Verabschiedung des Hilfsfondsgesetzes gemacht, mit dem erstmals auch aus Österreich vertriebene Menschen, die nun Angehörige ihres Zufluchtslandes geworden waren, bescheidene Einmalzahlungen erhalten konnten, siehe Bailer, Die Entstehung der Rückstellungs- und Entschädigungsgesetzgebung, S. 371. 40 Zur Geschichte siehe Bailer, Entstehung der Rückstellungs- und Entschädigungsgesetzgebung, S. 408–460.

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über politisch, religiös oder abstammungsmäßig Verfolgten des NS-Regimes nicht verpflichtet sein kann, weil nach den allgemeinen Grundsätzen des Völkerrechts ein Unrecht von dem gutzumachen ist, der es veranlaßt hat“.41 Im Gesetz zur Schaffung des Versöhnungsfonds für ehemalige Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter42 wurde im Jahr 2000 betont, dass es sich bei den Zahlungen um eine „freiwillige Geste“ Österreichs handle, nicht um eine Verpflichtung. Im Nationalfondsgesetz von 1995, mit dem erstmals alle Gruppen von NS-Verfolgten Anspruch auf eine Pauschalleistung erhielten, spricht der Gesetzgeber zumindest von einer „besonderen Verantwortung gegenüber den Opfern des Nationalsozialismus“, die durch den Fonds zum Ausdruck gebracht werden solle.43 2001 wurde aufgrund des Washingtoner Abkommens, mit dem neuerliche Entschädigungsverhandlungen zwischen Österreich, dem US-State Department, Wirtschaftsvertretern und jüdischen Organisationen sowie Opferanwälten endeten, der „Allgemeine Entschädigungsfonds“ gegründet. In dem dazu verabschiedeten Gesetz wird wiederum von einer „moralischen Verantwortung für Verluste und Schäden“ gesprochen, die durch „freiwillige Leistungen“ der Republik anerkannt werden.44 Damit erwies sich die Moskauer Deklaration als äußerst langlebiger Vorwand zur Abwehr berechtigter Forderungen der Opfer nationalsozialistischer Verfolgung – ein Effekt, der 1943 nicht vorhergesehen werden konnte und sicherlich niemals so geplant war.

41 Bundespressedienst (Hg.), Maßnahmen der Republik Österreich zugunsten bestimmter politisch, religiös oder abstammungsmäßig Verfolgter seit 1945. Österreich Dokumentationen. Wien 1988, S. 5 f. Die Broschüre enthält im Übrigen auch noch andere Ungenauigkeiten zu den österreichischen Leistungen. 42 BGBl I Nr. 74/2000, § 1 Abs. 2 Versöhnungsfondsgesetz. 43 BGBl 432/1995, Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus. 44 BGBl I Nr. 12/2001, Bundesgesetz über die Einrichtung eines Allgemeinen Entschädigungsfonds für Opfer des Nationalsozialismus und über Restitutionsmaßnahmen (Entschädigungsfondsgesetz), § 1 Abs. 2.

Stefan Karner

Zur sowjetischen Umerziehung: Die „Antifa“ 1941– 1949 und das „antifaschistische Büro österreichischer Kriegsgefangener“ in der Sowjetunion

Von den vier bis sechs Millionen in sowjetischen Lagern der Hauptverwaltung für Kriegsgefangene und Internierte (GUPVI) des NKVD registrierten Kriegsgefangenen waren zwischen 1941 und 1956 rund 135.000 Österreicher festgehalten worden. Von ihnen waren die meisten mit der „Antifaschistischen Bewegung“(„Antifa“) des NKVD in Berührung gekommen. Die ideologische Umschulung stieß jedoch bei den meisten, angesichts der Realitäten des sowjetischen Alltags, der Erziehung, der bisherigen politischen Prägungen und der Bedingungen in den Lagern, auf wenig Resonanz. Die Wiedererrichtung eines demokratischen Österreich war für die meisten nur ohne sowjetischen oder kommunistischen Einfluss vorstellbar. Im Gegenteil: Der Antikommunismus dürfte nach den Erfahrungen in sowjetischer Kriegsgefangenschaft stärker ausgeprägt gewesen sein als vorher. Nur etwa 1.200 von ihnen absolvierten die sowjetischen Antifa-Schulen, ein deutlich geringerer Anteil als etwa bei den deutschen Kriegsgefangenen. Tausende Spitzel und „Agenten“ wurden vom NKVD in die Lager geschleust, um die Kriegsgefangenen zu kontrollieren und antisowjetische Aktionen, Streiks, Flucht oder Sabotage zu unterbinden. Auch das 1944 gegründete österreichische Antifa-Büro konnte an dieser Grundtendenz nichts mehr ändern. Der Einmarsch der Deutschen Wehrmacht und ihrer Verbündeten in die Sowjetunion am 22. Juni 1941 hatte – trotz aller Warnungen seiner Geheimdienste – Stalin und die Spitze der sowjetischen Führung überrascht. Auf breiter Front überschritten insgesamt rund drei Millionen Mann die Grenzen des Sowjetstaates und besetzten binnen weniger Wochen große Teile der Ukraine, Weißrusslands und des Baltikums. In dieser Phase nahmen die vorrückenden Verbände Hunderttausende Rotarmisten gefangen, während umgekehrt die Verluste an Gefangenen der Wehrmacht und ihrer Verbündeten sehr gering waren. Die Situation änderte sich, als der Winter 1941 hereinbrach und der deutsche Vormarsch vor Moskau und St. Petersburg/Leningrad stecken blieb: Die ersten Zehntausende Deutscher, Österreicher, Rumänen und Ungarn, Italiener (Südtiroler) und Franzosen aus dem Elsass wurden gefangen genommen

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und kamen in sowjetische Lager der GUPVI des NKVD der UdSSR. Hier waren bereits Polen (soweit sie nicht in Katyn vom NKVD ermordet wurden) und Finnen untergebracht. Sie wurden nach den Richtlinien der sowjetischen Lagerverwaltung, die sich an den GULAG anlehnten, behandelt, ihre Verpflegung und Unterbringung in den Lagern war notdürftig, das zu leistende Arbeitspensum hoch. Die Sterblichkeitsraten in den GUPVI-Lagern 1940/41 waren sehr hoch. Von den Gefangenen der Jahre 1941 und 1942 überlebte nur etwa jeder Zweite die sowjetischen Lager.1 An eine politische Schulung oder politische Umerziehung der gefangenen genommenen Polen und Finnen war vom NKVD noch nicht gedacht. Mit den ersten größeren Kontingenten an kriegsgefangenen Deutschen und Österreichern im Winter 1941 begann auch in den Kriegsgefangenenlagern der Sowjetunion eine politische und ideologische „Re-Education“. Ihr Ziel: die Umerziehung der ehemaligen Soldaten der Deutschen Wehrmacht, insbesondere jener, die Mitglieder oder Anwärter der NSDAP gewesen waren. Die Umerziehung lief über Organe des NKVD und wurde in der „Antifa“ unter Heranziehung ausgesuchter deutscher und österreichischer Kriegsgefangener, sozialdemokratischer und kommunistischer Emigranten aus den 1930er-Jahren sowie sowjetischer Politabteilungen und ab 1943 durch das „Nationalkomitee Freies Deutschland“ und den „Bund deutscher Offiziere“ durchgeführt. Die politische Leitungszentrale der „Antifa“ war das „Institut 99“. Dieses war nach Auflösung der Komintern im Juli 1943 gegründet worden. Die Teilnahme an den Re-Ideologisierungsprogrammen der „Antifa“ war in der Sowjetunion nicht verpflichtend. Das Ziel war vorgegeben: Die entlassenen Kriegsgefangenen sollten später in ihren Heimatländern „Herolde“ der kommunistischen Bewegung und des Antifaschismus sein. Im Spätherbst 1941 wurden in den einzelnen Lagern die ersten Gruppen für eine antifaschistische Erziehung gebildet und deutsche und österreichische Kriegsgefangene in Lagerkursen ideologisch geschult. Sie sollten, so der Plan, später die Masse der übrigen Kriegsgefangenen politisch umerziehen, sie zu „Freunden der Sowjetunion“ machen, die „Befreiung“ der „Heimat“ bestmöglich unterstützen, mithelfen, die „Hitler-Clique“ zu stürzen, sowie weitere Kriegsgefangene heranziehen, die bereit wären, nach ihrer Repatriierung den Faschismus zu bekämpfen und im Sinne der Sowjetunion tätig zu 1

Vgl. zum gesamten Beitrag grundlegend: Stefan Karner, Im Archipel GUPVI. Kriegsgefangenschaft und Internierung in der Sowjetunion 1941–1956. Kriegsfolgen-Forschung, Bd. 1. Wien – München 1995. Zu den Mortalitätsraten bes. S. 90. – Herrn Mag. Harald Knoll, BIK, danke ich für vielfältige Hilfe bei den statistischen Berechnungen. – Die Quellenangaben in den Anmerkungen beschränken sich lediglich auf jene, die nicht in der angeführten Literatur bereits zitiert wurden.

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Abb. 1: Abgeworfene sowjetische Flugzettel riefen zur Desertion auf und hatten einen „Passierschein“ zur freiwilligen Gefangennahme. Das Aufbewahren eines Passierscheines wurde standrechtlich geahndet. Quelle: Sammlung Karner

sein. Damit war die antifaschistische Bewegung unter den Kriegsgefangenen aufgestellt. Anfang November 1941 unterzeichneten 158 deutsche Soldaten einen „Appell an das deutsche Volk“, der als Broschüre mit dem Faksimile der Unterschriften aus dem Lager  58 („Temnikovskij“) herausgegeben und am 15. November 1941 in der „Pravda“ veröffentlicht wurde. Es war dies die erste „Antifa“-Propagandaaktion deutscher Kriegsgefangener. Damit wurde entsprechend der offiziellen sowjetischen Linie auf die Kriegsziele Hitler-Deutschlands hingewiesen. Gleichzeitig wurde aber deutlich dokumentiert, dass die UdSSR doch Kriegsgefangene machte, was in der NS-Propaganda und unter den Wehrmachtssoldaten anfangs in Abrede gestellt worden war.

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Die Anfänge der „Antifa“ Im Frühjahr 1942, etwa parallel zu den deutschen militärischen Offensiven, ging das NKVD schließlich systematisch daran, aus den kriegsgefangenen Soldaten, Unteroffizieren und Offizieren der deutschen Wehrmacht in den Lagern „antifaschistische Kader“ zu bilden. Eine erste Selektion der Gefangenen erfolgte bei den Verhören nach der Gefangennahme, bei denen jeder Einzelne nach folgenden Kriterien bewertet wurde: • antifaschistische Gesinnung (anfänglich fielen unter diese Gruppe nur KP-Überläufer), • dem Antifaschismus gegenüber offen (v. a. NS-Gegner), • nationalsozialistisch indoktriniert (die größte Gruppe der Kriegsgefangenen. Längere Umschulungszeit vorgesehen), • konsequente Gegner des Kommunismus und der Sowjetunion (v.  a. NSDAP-Mitglieder, aber auch Konservative, Liberale, Sozialdemokraten, Katholiken, Priester). Derart kategorisierte Kriegsgefangene wurden für die antifaschistischen Kurse vorgesehen. Im späten Frühjahr 1942 glaubte die NKVD-Führung, bereits genügend deutsche und österreichische „Antifa“-Aktivisten angeworben und aufgestellt zu haben, um sie in einer eigens dazu eingerichteten Schule in Oranki, nahe Nižnij Novgorod, zu schulen. Zu den ersten österreichischen Teilnehmern an den Kursen zählten KPÖ-Mitglieder, politische Emigranten der 1930er-Jahre, vor allem ehemalige „Schutzbündler“, erste Deserteure aus der Wehrmacht, die es geschafft hatten, sich bis zur Roten Armee durchzuschlagen, sowie erklärte NS-Gegner verschiedener Richtungen. Aus propagandistischen Gründen warb man jedoch besonders NS-Sympathisanten, NSDAP-Mitglieder oder Parteianwärter an. Gerade von ihnen versprach man sich, dass sie ihre ideologische Umpolung gegenüber den anderen Kriegsgefangenen im Lager später besonders glaubhaft würden vertreten können. Am 21. Mai 1942 formulierte der deutsche Hauptmann Ernst Hadermann vor 1.900 Kriegsgefangenen des Lagers 95 in Elabuga die Ziele der antifaschistischen Bewegung: Sturz Hitlers, Befreiung Deutschlands vom Faschismus und rechtzeitiger Abschluss eines Friedensvertrages mit für Deutschland akzeptablen Bedingungen. Seine Rede erschien als Broschüre in einer Auflage von 500.000 Exemplaren und wurde in den Lagern verteilt und im Frontbereich tausendfach abgeworfen. Im Wesentlichen waren die von ihm formulierten Ziele eine Vorwegnahme der Zielsetzungen des ein Jahr später gegründeten „Nationalkomitees Freies Deutschland“ (NKFD). Allerdings erlitt die „Antifa“-Abteilung des NKVD mit den hochgesteckten

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Zielen zunächst Schiffbruch. Die überwiegende Masse der Kriegsgefangenen war nicht bereit, den ideologischen Parolen zu folgen. Zu stark wirkten bei den meisten die antikommunistischen Prägungen ihres Elternhauses, der deutschen und österreichischen Gesellschaften, der NS-Propaganda, die Erfahrungen des Krieges oder auch die Kameradschaft innerhalb der Wehrmacht, deren Hierarchien vielfach auch in den Lagern noch beibehalten wurden. Das „Nationalkomitee Freies Deutschland“ und der „Bund deutscher Offiziere“ Die Wende in der sowjetischen „Antifa“ trat erst 1943 ein und kam vor allem durch die deutschen Niederlagen in Stalingrad, Kursk und im Mittelabschnitt zustande. Einerseits wurden 1943 Hunderttausende Soldaten der Wehrmacht gefangen genommen und das GUPVI-Lagersystem enorm erweitert, andererseits sahen immer mehr Soldaten und Offiziere, dass der Krieg verloren gehen würde. In dieser Situation änderte die Sowjetunion ihre „Antifa“-Taktik. Mit der Gründung des NKFD entstand am 12./13. Juli 1943 in Krasnogorsk bei Moskau das offizielle Sprachrohr deutscher und österreichischer antifaschistischer Kriegsgefangener. Hier, im Offizierslager Nr. 27 der GUPVI,

Abb. 2: Ausweis von Erwin Knausmüller als Politinstruktor in Krasnogorsk bei Moskau. Foto: Karner

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wurde auch die höhere „Antifa“-Schule eingerichtet. Eine gewichtige Rolle spielte im Lager und in der „Antifa“-Schule der österreichische Emigrant Dr. Ing. Erwin Knausmüller.2 Er war hier von 1943 bis 1947 Ober-Polit-Instruktor und ab 1947 Chefredakteur der „Antifa“-Zeitschrift „Mitteilungen“ für die österreichischen, später auch für die hier ausgebildeten deutschen Kriegsgefangenen. Die Spitzenfunktion des NKFD besetzte man aus taktischen und propagandistischen Gründen mit Heinrich Graf von Einsiedel, einem hochdekorierten Jagdflieger des Udet-Jagdgeschwaders 3 und Urenkel Bismarcks, und mit dem KPD-Satiriker Wilhelm Weinert. Im Hintergrund wirkten allerdings bereits die Kommunisten Wilhelm Pieck und Walter Ulbricht. Aus dem Kreis der Offiziere des NKFD gründeten die Sowjets zwei Monate später im GUPVI-Lager Lunjovo bei Moskau den „Bund deutscher Offiziere“ (BdO) unter dem General Walther von Seydlitz-Kurzbach, der in Stalingrad am vehementesten den Ausbruch aus dem Kessel gefordert hatte und nun ein deutsches Korps aufseiten der Roten Armee aufstellen wollte. Im NKFD bildeten die Offiziere einen gewissen Gegensatz zum Flügel der KPD-Emigranten. Ebenfalls 1943 wurde das bereits erwähnte „Institut 99“3 als politische Leitungszentrale der gesamten „Antifa“, vorgeschaltet dem NKFD und dem BdO, begründet. Denn kein Kriegsgefangener, so die Intention der „Antifa“, sollte die Sowjetunion „ohne Indoktrination im Kollektiv“ verlassen. Eine Forderung, die letztlich nur zum allergeringsten Teil erfüllt werden konnte. Zu weit lagen Anspruch und Wirklichkeit, lagen Ideologie und Realsozialismus auseinander, wie dies gerade die Soldaten auf Schritt und Tritt täglich erfahren hatten.4 2

3

4

Erwin Knausmüller war ursprünglich Sozialdemokrat, ehe er bald den Weg zur KPÖ fand. Er war bis 1934 bei Kastner & Öhler in Graz beschäftigt und wurde 1934/35 schon als illegaler KP-Jungfunktionär im Polizeigefängnis Paulustor inhaftiert. Durch Vorgabe einer notwendigen chirurgischen Operation gelang ihm 1935 die Flucht aus dem Gefängnis und er emigrierte nach Prag. Von dort gelangte er nach Moskau. Er wohnte eine Zeit lang im „Hotel Lux“, wurde u. a. mit Ernst Fischer, Johann Koplenig und Friedl Fürnberg bekannt und arbeitete in der internationalen kommunistischen Gewerkschaftsbewegung im zentralen Warenhaus („ZUM“). 1941 rückte er freiwillig zur Roten Armee ein. Vor seiner Zeit in Krasnogorsk war Knausmüller bereits Politkommissar in Udmurtien (Lager 75 in Rjabovo) sowie Politkommissar für alle GUPVI-Lager des Gebietes Sverdlovsk/Jekaterinburg im mittleren Ural. – Gespräch mit Dr. Ing. Erwin Knausmüller, Moskau 28.4.1993. Zum Institut 99 vgl. vor allem: Jörg Morré, Hinter den Kulissen des Nationalkomitees. Das Institut 99 in Moskau und die Deutschlandpolitik der UdSSR 1943–1946. München 2001. Gert Robel, Die deutschen Kriegsgefangenen in der Sowjetunion. Antifa. Zur Geschichte der deutschen Kriegsgefangenen des Zweiten Weltkrieges. Band VIII. München

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183 Abb. 3: Durchführungsbefehl Nr. 1116 zur Übertragung der „Antifa“-Aufgaben auf die GUPVI des sowjetischen Innenministeriums vom 9. Dezember 1946. Quelle: RGVA

So stieg, nach sowjetischen Angaben, der Anteil an „Antifaschisten“ in den Lagern der GUPVI ab Herbst 1943 stark an. Die von den NKVD-Statistiken ausgewiesenen Mitgliedszahlen von über 96 Prozent sind freilich weit überzogen. Für den beachtenswerten Zulauf waren vor allem die gestiegenen Gefangenenzahlen verantwortlich, aber auch die Erwartung der Kriegsgefangenen, etwa über organisierte Musik- oder Theatergruppen der „Antifa“ Freistellungen von der täglichen Arbeit und eine bessere Behandlung zu erhalten. So meldete sich der NSDAP-Parteianwärter Konrad Lorenz, später Nobelpreisträger, im Lager Jerewan zur „Antifa“ und hielt Vorträge. Zum Ausgleich erhielt er eine Schreibmaschine und wissenschaftliche Arbeitsmöglichkeiten. Lorenz nützte sie und verfasste im Lager seine erste große Schrift zur Verhaltensforschung.5

5

1974, S. 190; Karl-Heinz Frieser, Krieg hinter Stacheldraht. Die deutschen Kriegsgefangenen in der Sowjetunion und das Nationalkomitee „Freies Deutschland“. Mainz 1981, S. 240 f. und 273. Erstmals wies ich darauf hin in: Karner, Im Archipel GUPVI, S. 129 f. Dazu auch die

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Um die „Antifa“-Arbeit gezielter nach Nationalitäten durchführen zu können, wurden nach dem Muster des NKFD „antifaschistische Komitees“ für Ungarn, Rumänen und – nach der Moskauer Deklaration, die die Wiedererrichtung Österreichs als Kriegsziel der Alliierten vorsah und Österreich als „erstes Opfer Hitler’scher Aggressionspolitik“ bezeichnete – auch für Österreicher gegründet. Hier wollte man sowohl auf die speziellen Fragen, Gewohnheiten und Bedürfnisse der Österreicher eingehen als auch jene Kader herausfiltern, die nach der „Befreiung“ des Landes und ihrer Rückkehr in die Heimat die Basis der Kommunistischen Partei Österreichs bilden sollten. Am 27. November 1945 wurden das NKFD und der BdO aufgelöst. Ihre Agenden gingen auf die Politabteilung der GUPVI des Innenministeriums der UdSSR über. Dies betraf die gesamte „Antifa“-Arbeit – von den Lagern über die Schulen, sämtliche Veranstaltungen, das Lehrpersonal bis zur Herausgabe von Zeitungen und Schriften. Damit wurde die „Antifa“-Arbeit noch stärker der kommunistischen Parteiarbeit unterstellt.6 Die österreichische „Antifa“ Das „antifaschistische Büro österreichischer Kriegsgefangener“ (ABÖK) wurde erst sehr spät, am 26. November 1944, in Moskau unter Betreuung und ideologischer Leitung der KPÖ-Emigranten Ernst Fischer und Ruth von Mayenburg gegründet.7 Als Adresse wurde lediglich das Postfach 2383 in Moskau angegeben. Das Tätigkeitsfeld des ABÖK umfasste vor allem die bereits in sowjetischer Hand befindlichen gefangenen Österreicher sowie – in geringerem Maße – die propagandistische Arbeit an den Frontabschnitten, besonders in der Anwerbung zur Desertion aus der Wehrmacht. Daher waren die Aufgaben des ABÖK primär, • die österreichischen Kriegsgefangenen in den Lagern (und propagandistisch auch noch in der Wehrmacht) als „Österreicher“ anzusprechen, um ihnen damit eine österreichische Identität zurückzugeben, • die Soldaten und Kriegsgefangenen aus Österreich mit dem Inhalt der „Moskauer Deklaration“ bekannt zu machen – vor allem mit dem al-

6

7

NKVD-Akte Lorenz und die Kopie des wiss. Beitrages zur Verhaltensforschung im AdBIK in Graz. GARF, F. 9401, op. 1a, Befehl Nr. 0218, v. 27.11.1945, gez. Stv. Innenminister Gen.-Obst. Kruglov; F. 9401, op. 1, de. 20515, S. 456 (Befehl Innenminister Gen.-Obst. Kruglov, v. 9.12.1946). RGVA, F. 4, op. 5, d. 20 und Michael Pucher, Biographie des Prof. Josef Recla. Unter besonderer Berücksichtigung seiner SU-Kriegsgefangenschaft. Seminararbeit, Graz 1995, S. 17–21.

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185 Abb. 4: Aufruf österreichischer Antifaschisten zu Kriegsende 1945. Quelle: RGVA

liierten Ziel einer Wiedererrichtung des Staates nach dem Krieg – und schließlich • die österreichischen Kriegsgefangenen in den „Antifa“-Schulen getrennt von den deutschen Kriegsgefangenen zu unterrichten. Sofort nach der Gründung des österreichischen Büros gingen aus vielen Kriegsgefangenenlagern Grußadressen und Huldigungen von Hunderten österreichischen Antifaschisten ein. Einzelne Schreiben richteten sich auch an Stalin und waren grafisch besonders aufwendig gestaltet. Angesprochen wurden darin schablonenhaft die negativen Folgen des „Anschlusses“, der Verlust der österreichischen Unabhängigkeit, das Leid des Krieges, die Mitschuld jedes einzelnen Wehrmachtssoldaten am Krieg und an den Kriegsfolgen sowie das Versprechen, aktiv für ein „freies, unabhängiges und demokratisches Österreich“ einzutreten.8 8

Die Grußadressen finden sich im Bestand RGVA, F. 4, op. 5, d. 20.

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Das Aktiv des Lagers 188 in Rada bei Tambov huldigte zu Jahresbeginn 1945 dem „Antifa“-Büro: „Von unserer Versammlung am 31.12.1944 senden wir die besten antifaschistischen Kampfgrüße. Wir begrüßen die Gründung des ‚Antifaschistischen Büros österr. Kriegsgefangener‘ aus ganzem Herzen, zeigt sie uns doch, dass unsere Bestrebungen im Kampfe für ein freies, unabhängiges und demokratisches Österreich auch von der Sowjetregierung gebilligt werden. Diese Begründung ist uns ein neuerlicher Beweis für die Ehrlichkeit und Geradlinigkeit der Politik der S.[owjet-]U.[nion], denn dadurch werden die Richtlinien der Moskauer Deklaration über Österreich neuerlich unterstrichen. Wir versprechen unserem antifaschistischen Büro, dass wir weiterhin bemüht sein werden, wirkliche Antifaschisten und Demokraten zu werden, und dafür auch mit unserem Leben eintreten werden. Im Namen der österreichischen Kriegsgefangenen des Lagers 188 Johann Sauerwein, Johann Hunger, Hermann Jaus, Fritz Menglini, Stadler Albert.“9

Das österreichische „Antifa“-Büro selbst huldigte Stalin Mitte April 1945, nach der Einnahme Wiens durch die Rote Armee:10 „Um die Schuld wieder gut zu machen, die wir durch die Teilnahme an diesem Krieg auf Seiten Hitlerdeutschlands auf uns geladen haben, bitten wir, in welcher Form immer, uns die Möglichkeit zu geben, an der restlosen Vernichtung des deutschen Faschismus teilzunehmen. Wir verpflichten uns, dabei den gleichen Opfermut zu zeigen, den jeder einzelne Rotarmist tausendfach in den zahllosen Schlachten zur Befreiung der Menschheit von den deutschen Landräubern bewiesen hat. Es lebe das freie, unabhängige und demokratische Österreich! Es lebe die ruhmreiche Rote Armee und ihr genialer Führer Marschall Stalin! Unterschriften: Andreas Kirschhofer, Hans Unterberger, Karl Frick, Erich Jiras, Gottfried Popelka, Georg Gutschy, Josef Jachs, Rudolf Kührer und Dr. Hugo Sedlak.“

Die österreichischen „Antifa“-Aktivisten eines Kriegsgefangenen-Teillagers bildeten jeweils eine Österreichzelle mit einem politischen Leiter, einem Or9

Die Unterzeichner gaben als Heimatadressen an: Sauerwein – Pöttsching, Bgl., Hunger – Wien 3, Jaus – Siezenheim, Salzburg, Menglini – Tauchen, Bgl., Stadler – Ursprung, OÖ. 10 GARF, F. 9401, op. 1, d. 2225. Schreiben des ABÖK an Stalin.

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187 Abb. 5: Plan des Teillagers 7 des Kaliningrader GUPVI-Lagers Nr. 445 aus dem Jahr 1947. Quelle: GARF

ganisationsleiter, einem Agitpropleiter (Agitation und Propaganda) sowie einem Pressemann. Der politische Zellenleiter hielt Kontakt zum „Antifa-Präsidenten“ (in der Regel einem Deutschen) sowie zum ältesten österreichischen Aktivisten im Hauptlager. Damit waren sowohl eine Einbindung in die gesamte „Antifa“-Arbeit des NKVD und des Instituts 99 als auch eine Sonderstellung für die Österreicher gewährleistet. So waren etwa im GUPVI-Lager 445 in Kaliningrad/Königsberg im ersten Halbjahr 1947 insgesamt 1.230 österreichische Kriegsgefangene in sieben Teillagern und im Hauptlager, der Verwaltung, untergebracht.11Allerdings gab es im gesamten Lager nur 49 österreichische Aktivisten. Von August 1946 bis Ende April 1947, so wurde vom „Ältesten der Österreicherzeller“ des Lagers, Strohmeier, rapportiert, wurden insgesamt über 300 „Antifa“-Veranstaltungen in den einzelnen Teillagern durchgeführt. Darunter waren in der politischen Arbeit Vorträge zur Bodenreform, zur Entwicklung in Österreich, zum Jahr 1934, zur Entnazifizierung, zu den alliierten Nachkriegskonferenzen und 11 Dazu und zum Folgenden: RGVA, F. 4p, op. 24a, d. 26.

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Die Sowjetunion und Österreich Abb. 6: Aus einem „Antifa“-Bericht des Lagers 445 in Königsberg/ Kaliningrad. Quelle: RGVA

der Behandlung der Österreichfrage oder zur Roten Armee in Österreich. Im Bereich der Schulungen waren es Vorträge zu den Gewerkschaften, zum Austro-Marxismus oder zu den Fehlern der österreichischen Sozialdemokratie. Dazu kamen zahlreiche Theatervorstellungen, Gesangsdarbietungen, kleinere Konzerte, Wettkämpfe oder Fußballspiele. Den Grund für die geringe Beteiligung der Österreicher in diesem Lager sah Strohmeier im Mangel an Unterrichtsmaterial, einer zu laschen Mentalität der Kriegsgefangenen, dem Fehlen von österreichischen Zeitungen oder von Sendungen des Senders „Radio Wien“ der Ravag. Vielfach habe er auch keinerlei persönliche Kontakte in die einzelnen Teillager.

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189 Abb 7: „Die Lagerstimme“. Die erste Nummer der „Antifa“Monatszeitung der österreichischen Kriegsgefangenen im GUPVI-Lager 128 in Semčino bei Rjazan’. Quelle: Sammlung Karner

Einzelne Erfolge konnte die österreichische „Antifa“ besonders in der „Kulturarbeit“ erzielen. Sie stand in den Kriegsgefangenenlagern und „Antifa“-Schulen in der Beliebtheitsskala daher immer obenauf. Für die Anschaffung von Instrumenten oder Bühnendekorationen stand ein eigener Fonds zur Verfügung. Reichte das Geld nicht, mussten die notwendigen Dinge eben „organisiert“ werden. Bedenkt man, welcher Mangel in der Sowjetunion etwa an Papier herrschte, so wird klar, dass oft nur mit viel Fantasie das Nötige beschafft werden konnte. Der politisch-ideologische Aspekt der „Kulturarbeit“ wurde nie aus den Augen verloren. In den Lagern, ja auch bei einzelnen „Kursanten“ der Schule, versuchte man daher, anfänglich nicht „zu politisch“ zu werden, da dies eine Abwehrhaltung und einen Widerstand von Kriegsgefangenen hervorgerufen hätte. So kam es zu einer Art Selbstbeschränkung in der Politisierung der

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Abb. 8: Zusammenstellung der normativen Basis zur geheimdienstlichen Arbeit in den GUPVILagern. Zwischen 1940 und 1949 waren dazu über 120 Erlasse zu befolgen. Quelle: RGVA

„Kulturarbeit“ vonseiten der „Antifa“. Umgekehrt gab es anscheinend auch seitens der Kriegsgefangenen eine Art Selbstbeschränkung, denn die „Antifa“ verbot nur selten kulturelle Aufführungen. Ein besonderes Problem bildeten die über 120 Befehle, Direktiven und Zirkulare des Innenministeriums zur Regelung der geheimdienstlich-operativen Arbeit unter den Kriegsgefangenen. Gerade das damit zusammenhängende Spitzelwesen blieb nicht lange verborgen. Die meisten Kriegsgefangenen wollten mit der Bespitzelung von Kameraden und der politischen Arbeit nichts zu tun haben und zeigten keinerlei Engagement. Sehr häufig kamen Sabotage, Arbeitsverweigerung, Fluchtversuche und Defätismus vor. Hier versuchte das KP-Regime über die geheimdienstlichen Organisationen in den Lagern selbst entgegenzuwirken. Präzise berichtete das Innenministerium über die geheimdienstliche Arbeit unter den Kriegsgefangenen und Internierten:12 „Sie wurde systematisch organisiert und hatte ihre spezifischen Aufgaben: Verhinderung von Fluchten, Verhinderung antisowjetischer Aktionen von 12 RGVA, F. 1p, op. 1, d. 1, Bericht von Oberst Motorov, 31.12.1949.

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Seite profaschistischer Elemente, Vorbeugen von Sabotageakten in Betrieben, Aufdeckung von Geheimdienst-Mitarbeitern des Gegners und Aushebung ihrer Agenturen, Aufdeckung von Beteiligten an Verbrechen ebenso wie die Namhaftmachung von Kriegsgefangenen und Internierten, die durch ihre Kenntnisse auf politischem und wirtschaftlichem Gebiet der UdSSR nützlich sein können.“ Dazu wurden insgesamt unter den Kriegsgefangenen und Internierten 60.273 „Agenten“ angeworben, darunter 52.383 Deutsche und Österreicher, 2.122 Japaner, 2.408 Rumänen, 3.176 Ungarn, 524 Italiener und 1.782 Angehörige anderer Nationalitäten. Von den 60.273 „Agenten“ wurden 893 für den Auslandseinsatz der militärischen Spionage (GRU) des Generalstabs der Streitkräfte sowie des MGB bereitgestellt. Das konkrete Maß der Bespitzelung durch MGB-Organe und informelle Mitarbeiter („Agenten“), das Maß des politischen Einflusses der „Antifa“ bzw. der politischen Abteilung der GUPVI auf die politische Arbeit in den Lagern, vor allem auch auf die „Kulturgruppe“, die ja ein sehr weites Feld abzudecken hatte, war von Lager zu Lager sehr verschieden. Zumindest der Leiter der Kulturgruppe musste der „Antifa“ angehören, die anderen Mitglieder nicht unbedingt. Manche Kriegsgefangenen in den Lagern lehnten „Kulturarbeit“ aufgrund der Vernetzung mit der „Antifa“ und wegen der Bespitzelungen kategorisch ab. Sie sahen darin ausschließlich kommunistische Agitation und einen Missbrauch der Kultur als Lockmittel, um Kriegsgefangene zur „Antifa“ zu bringen. In vielen Lagern, so auch in Talicy, war jedoch besonders die „Kulturarbeit“ zentraler Bestandteil der politischen Arbeit und des Kursprogramms. Natürlich hingen die Existenz und die Qualität der Kulturgruppen vom Engagement und dem Können einzelner Kriegsgefangener ab. Die „Antifa“-Schule in Talicy In den „Antifa“-Schulen wurden von 1944 bis 1948 in meist dreimonatigen Kursen 1.208 Österreicher unterrichtet. Eine der großen „Antifa“-Schulen befand sich im GUPVI-Kriegsgefangenenlager Nr. 165 („Južskij“) im Gebiet Iwanowo, etwa 150 Kilometer nordöstlich von Moskau, mit bis zu 17.500 Kriegsgefangenen, vor allem Deutschen, Ungarn, Österreichern und Rumänen, von denen über zehn Prozent Offiziere waren.13 Die Schule selbst war in der Ortschaft Talicy eingerichtet worden und hatte „Kursanten“ aus fünf Ländern: Deutschland, Österreich, Rumänien, Ungarn und Italien, die jeweils eigene Sektoren bildeten. Vorgesehen waren etwa 700 Schulungs13 RGVA, F. 1p, op. 15a, d. 148. Lager 165.

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Die Sowjetunion und Österreich Abb. 9: Die Mitglieder des „Antifa“-Komitees der Politschule Rjazan‘. Foto: Karner

plätze – zu wenige, um den Andrang für die Lehrgänge speziell 1945/46 zu befriedigen, sodass Ausleseverfahren durchgeführt wurden. Im Schnitt kam auf 20 Kriegsgefangene des Lagers ein „Kursant“. Neben Talicy gab es weitere, viel kleinere „Antifa“-Schulen wie jene in Rjazan’, wo auch nur wenige „Kursanten“ aus Österreich unterrichtet wurden. Martin Grünberg, Österreichischer Schutzbund-Emigrant aus Wien und Lehrer sowie Schulungsleiter des Österreichsektors, zählte die Vorteile der österreichischen „Kursanten“ auf:14 „Das Wichtigste war die Offiziersverpflegung, das Zweitwichtigste war, dass man, solange man auf dem Lehrgang war, es war warm, man kaum zu arbeiten hatte [...] man bessere Kleidung bekam, das österreichische Abzeichen trug, irgendwelche Beuteuniformen der ,Organisation Todt‘ erhielt [...] und die Hoffnung hatte, früher nach Hause zu kommen.“

Besonders die Hoffnung auf eine frühe Repatriierung wirkte anfänglich stark für die Rekrutierung in die „Antifa“-Schule. Dies änderte sich ab Anfang 1947 jedoch schlagartig, bis hin zur „Schulverweigerung“, weil ab dem Sommer 1947 klar war, dass die Masse der Österreicher zur Repatriierung anstand, nachdem man zuvor die Ungarn, Rumänen und Italiener entlassen hatte.15 Zur Auswahl der „Kursanten“ meinte Martin Grünberg: 14 Pucher, Biographie des Prof. Josef Recla, S. 31 f., Gespräch Stefan Karner mit Martin Grünberg 2008 in Wien. 15 Pucher, Biographie des Prof. Josef Recla, S. 30 und Karner, Im Archipel GUPVI, S. 100– 104.

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„In der Hauptsache wurden die Leute, die uns geschickt wurden, von den Polit-Instruktoren [der Lager] ausgewählt [...]. Aber wir haben keine Illusionen gehabt, dass manche sich gesagt haben: also bevor er im Winter irgendwo hackelt, gehe er lieber auf eine Schule, wo‘s warm ist und wo er ein besseres Essen kriegt, usw.“16

In den beiden wichtigsten „Antifa“-Schulen für Österreicher, in Talicy und in der „Höheren Schule“ in Krasnogorsk, wurde die „Antifa-Arbeit“ vor allem über die vielen Aspekte der „Kulturarbeit“ durchgeführt, unterstützt vom Aufbau einer Bibliothek, von eigens hergestellten Wandzeitungen („Österreich ruft!“), von Selbstberichten inklusive politischer Selbstkritik und Gruppenkritik sowie Sport.17 Talicy war für die Ausbildung der Propagandisten und Aktivältesten, die dann die Lager-Aktivs zu leiten hatten, zuständig. Wer die Schule in Talicy erfolgreich absolviert habe, so hieß es, werde neu eingekleidet und per Flugzeug nach Hause befördert. Letzteres, bald nach Hause zu kommen, noch dazu per Flugzeug, dieses Endziel hatte sicherlich jeder Kursteilnehmer ständig vor Augen. Das bedeutete aber auch, dass man unbedingt versuchen musste, dieses Ziel auch zu erreichen. Dies war aber insofern schwierig, als selbst „Kursanten“ durch ihre Erfahrungen, Beobachtungen und eigenen Erlebnisse zu inneren Gegnern des Sowjetsystems wurden. Die Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis war augenscheinlich: „Diese Widersprüche musste man innerlich verarbeiten, und keiner konnte es sich leisten, seine wahren Gedankengänge und Gefühle der Umwelt, den anderen Mitgenossen mitzuteilen. [...] So herrschte auf der Schule, gleich zu Beginn, ein ungutes Verhältnis zwischen den Lehrern und Schülern. Aber auch unter den Kursanten war ständiges Bespitzeln und Aushorchen an der Tagesordnung, genährt durch die Empfehlung des Lehrkörpers, ja eine ,revolutionäre Wachsamkeit‘ zu üben, damit allenfalls verkappte Faschisten aufgedeckt und abgeschoben werden können. Manch einer glaubte, nicht alle selbstverständlich, sich diesbezüglich besonders engagieren zu müssen, um sich dadurch einen Fahrschein in die Heimat zu sichern.“18

Knapp die Hälfte der österreichischen „Antifa“-Schüler wurde in die Sowjetzone repatriiert, knapp ein Drittel kam in die britische Zone zurück, der Rest in die französische und amerikanische.19 16 17 18 19

Pucher, Biographie des Prof. Josef Recla, S. 29. Ebd., S. 57–80. Ebd., S. 30. DÖW, Akt 7956/9.

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So berichtete Generalleutnant A. Kobulov am 5. Juli 1946 an Innenminister S. N. Kruglov stolz:20 „In Erfüllung ihres Auftrages gemäß der Anweisung des ZK der KPdSU vom 6. Juni d. J. wurden 94 österreichische Kriegsgefangene, die die Antifa-Schule und Kurse abgeschlossen haben, nach Österreich repatriiert. 85 Kriegsgefangene wurden mit drei Flugzeugen nach Wien geflogen und der KPÖ übergeben. [...] Über Ersuchen des Instituts 99 wurden 6 Personen auf dem Sonderobjekt 40 [Talicy] belassen, um sie als Assistenten des österreichischen Sektors der Antifa-Schule einzusetzen, drei weitere Kriegsgefangene befinden sich noch im Spital. [...] Alle Repatrianten wurden in neue Beute-Kleidung gewandet, sie erhielten Wäsche und Schuhwerk sowie die notwendige Reiseverpflegung.“

Der Lehrkörper der Schule in Talicy, die noch zwei Jahre länger als das Lager selbst, nämlich bis 1948, existierte, umfasste neben dem Schulleiter (zuerst einem russischen, später einem armenischen Oberst), seinem Stellvertreter (einem hervorragend deutsch sprechenden russischen Major) und den fünf Schulungsleitern noch die einzelnen Lehrer für die Fachbereiche. Grünberg: „Es gab vier österreichische Lehrer. [...] Den ersten Kurs leitete Franz Honner, später österreichischer Innenminister. Und als ich kam, hieß der Sektorleiter Leopold Stern, dort hieß er Schneider, der später in die DDR als Historiker ging [...]. Der zweite Lehrer war Hütter, ein ehemaliger Betriebsrat aus Niklasdorf, der dritte war ich. Und dann kamen noch drei dazu: Anton Schlögl, ehemaliges Schutzbundkind, später hat er bei Voith gearbeitet und ging nach dem Staatsvertrag wieder zurück nach Russland, Hans Eichinger, später KPÖ-Funktionär, sowie Lajos Falasi, ein Wiener, der aus dem Spanischen Bürgerkrieg kam, über KZ-Lager in Frankreich nach Nordafrika ging, von den Briten befreit wurde und schließlich über Zentralasien und Persien nach Russland kam. Dazu kamen Assistenten und Hilfsassistenten.“21

Insgesamt fanden in Talicy für die Österreicher zwischen 1944 und 1947/48 neun Kurse mit 700 bis 800 „Kursanten“ statt. Dazu kamen rund 400 österreichische „Kursanten“, die in Krasnogorsk instruiert wurden.

20 GARF, F. 9401, op. 1, d. 2435. 21 Pucher, Biographie des Prof. Josef Recla, S. 34 f.

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Oberst Rasdorskij fasste schließlich am 29.  Dezember 1949 in einem Schlussbericht an den Chef der GUPVI, GenLt. Petrov, die Arbeit der „Antifa“ in den Kriegsgefangenenlagern zusammen:22 Die Gesamtzahl der Absolventen von „Antifa“-Kursen und „Antifa“-Schulen betrug 78.756 Personen, davon waren 48.090 Deutsche, 21.137 Japaner, 1.208 Österreicher, 1.185 Rumänen, 1.050 Ungarn, 834 Italiener und 252 Angehörige anderer Nationalitäten wie Tschechen, Polen und Franzosen. Während der Anteil der „Kursanten“ bei den Deutschen rund zwei Prozent betrug, lag er bei den Österreichern mit 0,8 Prozent deutlich darunter. Noch viel geringer waren die Anteile bei den Rumänen und Ungarn.23 In allen GUPVI-Lagern gab es Hunderttausende Meetings, Vorstellungen und Schulungen. Von der „Antifa“-Propagandaleitung wurden insgesamt 3.445 vorgefertigte Formulare an Huldigungsschreiben und geschönte Briefe an die Angehörigen zu Hause verteilt, die von insgesamt 389.100 Kriegsgefangenen auch unterschrieben wurden – was, so der Bericht, die antikommunistische Propaganda in den Heimatländern, besonders in Deutschland, Österreich, Rumänien und Ungarn, erschwert hätte. Allein zwischen 1947 und 1949 wurden im Rahmen der „Antifa“ über 300 Bücher über das Leben in der UdSSR herausgebracht. Auf dieser Basis wurde in Deutschland und Österreich das Buch „Kriegsgefangene in der UdSSR“ verfasst, das „eine große Rolle in der Entlarvung der verleumderischen Erfindungen über die Sowjetunion spielte“. Besonders zufrieden zeigte sich Oberst Rasdorskij auch mit der antifaschistischen Arbeit der heimgekehrten Kriegsgefangenen, namentlich in der SBZ/DDR, in Japan und anderen Staaten. Über die Arbeit der Österreicher schweigt er sich aus.

22 RGVA, F. 1p, op. 1, d. 1, Schlussbericht Obst. Rasdorskij, 29.12.1949 an GnLt. Petrow, GUPVI, streng geheim, Exemplar 4, S. 148–157. 23 Vgl. Karner, Im Archipel GUPVI, S. 79. Das NKVD registrierte in den GUPVI-Lagern rund 513.000 Ungarn und 187.000 Rumänen.

Barbara Stelzl-Marx

Die Moskauer Deklaration in den Befehlen der Roten Armee in Österreich zu Kriegsende 1945

Am 29. März 1945 betraten die ersten Rotarmisten bei Klostermarienberg im Burgenland österreichisches Territorium. Damit begannen die militärische Befreiung und alliierte Besatzung des Landes. Kurz zuvor, als die Front Ende März 1945 immer näher an Österreich herangerückt war, hatte das Volkskommissariat für auswärtige Angelegenheiten (NKID) erste Maßnahmen ausgearbeitet, „die mit dem Vormarsch der Roten Armee auf das Gebiet Österreichs“ zusammenhingen. Die vordringlichsten Aufgaben der Roten Armee als Besatzungsmacht mussten umgehend geregelt werden, was natürlich auch den Umgang mit der Zivilbevölkerung einschloss. Dabei erachtete die zuständige 3. Europäische Abteilung des NKID die Herausgabe einer speziellen Verordnung durch das Staatliche Verteidigungskomitee (GKO) „als unbedingt notwendig“. Diese sollte das Verhalten der sowjetischen Truppen in Österreich, die Aufgaben der Kommandos der 2. und 3. Ukrainischen Front, den Aufbau einer Zivilverwaltung und die Ernennung von Bürgermeistern regeln sowie die Veröffentlichung „eines Aufrufs an das österreichische Volk, eines Befehls Nr. 1, usw.“ veranlassen. Des Weiteren waren „Maßnahmen zur maximalen Nutzung der lokalen Industrie- und Nahrungsmittelressourcen Österreichs“ zu definieren und die Truppen aufzufordern, die Österreicher nicht mit den deutschen Okkupanten zu verwechseln.1

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AVP RF, F. 66, op. 23, p. 24, d. 8, S. 20 f., Bericht der 3. Europäischen Abteilung des NKID „Über Maßnahmen im Zusammenhang mit dem Vormarsch der Roten Armee auf das Gebiet Österreichs“, [spätestens am 2.4.1945]. Abgedruckt in: Stefan Karner – Barbara Stelzl-Marx – Alexander Tschubarjan, Die Rote Armee in Österreich, Sowjetische Besatzung 1945–1955. Dokumente. Krasnaja Armija v Avstrii. Sovetskaja okkupacija 1945–1955. Dokumenty. Graz – Wien – München 2005, Dok. Nr. 6. Vgl. Wolfgang Wagner, Die Besatzungszeit aus sowjetischer Sicht. Die Errichtung der sowjetischen Besatzungsmacht in Österreich von 1945 bis 1946 im Spiegel ihrer Lageberichte. Phil. DA. Wien 1998, S. 42–44; Harald Knoll – Barbara Stelzl-Marx, Der Sowjetische Teil der Alliierten Kommission für Österreich. Struktur und Organisation, in: Stefan Karner – Barbara Stelzl-Marx (Hg.), Die Rote Armee in Österreich. Sowjetische Besatzung 1945– 1955. Beiträge. Graz – Wien – München 2005, S. 179–218, hier: S. 185 f. Der vorliegende Beitrag beruht auf: Barbara Stelzl-Marx, Stalins Soldaten in Österreich. Die Innensicht der sowjetischen Besatzung 1945–1955. Wien – München 2012, S. 87–99.

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Die Moskauer Deklaration von 1943 diente als Grundlage und als Propagandainstrument für diese ersten, zentralen Befehle, die im April 1945 sowohl für die eigenen Truppen als auch für die österreichische Bevölkerung erlassen wurden. Wie die im Folgenden zitierten Passagen zeigen, wurden dabei die Schwerpunkte der Moskauer Deklaration je nach Zielgruppe unterschiedlich gesetzt. Für die sowjetischen Soldaten kamen diese neuen Verhaltensregeln größtenteils unerwartet, weshalb sie – wie auch in Deutschland – vielfach auf Ablehnung stießen.2 Unterschied zwischen der „Bevölkerung Österreichs und den deutschen Besatzern“: Befehle an die Truppen der 2. und 3. Ukrainischen Front Am 2. April 1945, vier Tage, nachdem sowjetische Soldaten erstmals österreichisches Territorium betreten hatten, erließ die Stavka des Oberkommandos die entsprechende Direktive an die Oberbefehlshaber der Truppen der 2. und 3. Ukrainischen Front. Demnach hatten die Marschälle Rodion Ja. Malinovskij und Fedor I. Tolbuchin ihrerseits Aufrufe an die österreichische Bevölkerung zu richten, in denen die grundsätzlichen Aufgaben und Ziele der sowjetischen Politik in Österreich erläutert werden sollten: Befreiung vom „faschistischen Joch“, Wiederherstellung der Unabhängigkeit und eines normalen politischen Lebens sowie Kampf der Roten Armee „gegen die deutschen Besatzer und nicht gegen die Bevölkerung Österreichs“. Außerdem hatten die Oberbefehlshaber das Verhalten ihrer Truppen zu regeln und dabei die Weisung zu erteilen, „die Bevölkerung Österreichs nicht zu beleidigen, sich korrekt zu verhalten und die Österreicher nicht mit den deutschen Besatzern zu verwechseln“. Die Wortwahl der ersten Aufrufe an die Bevölkerung und die sowjetischen Truppen in Österreich geht direkt auf Stalin zurück.3

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E. S. Senjavskaja, Psichologija vojny v XX veke. Istoričeskij opyt Rossii. Moskau 1999. S. 271. CAMO, F. 148a, op. 3763, d. 212, S. 11 f., Direktive der Stavka Nr. 11055 an die Oberbefehlshaber der 2. und 3. Ukrainischen Front über den Aufruf an die Bevölkerung Österreichs, 2.4.1945. Abgedruckt unter anderem in: Karner – Stelzl-Marx – Tschubarjan, Die Rote Armee in Österreich, Dok. Nr. 8; mit zum Teil abweichender Übersetzung in: Sowjetunion heute. 9/1975, Beilage o. S.; Manfried Rauchensteiner, Der Krieg in Österreich ’45. Wien 1995, S. 491; Original abgedruckt in: Institut Voennoj Istorii Ministerstva Oborony Rossijskoj Federacii et al. (Hg.), Stavka VGK: Dokumenty i materialy 1944–1945. Russkij Archiv: Velikaja Otečestvennaja Vojna. Bd. 16 (5–4). Moskau 1999, S. 221 f. Vgl. Wilfried Aichinger, Sowjetische Österreichpolitik 1943–1945. Materialien zur Zeitgeschichte. Bd. 1. Wien 1977, S. 112; Knoll – Stelzl-Marx, Der Sowjetische Teil der Alliierten Kommission, S. 185–187.

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Zwei Tage später, am 4. April 1945, richteten die Militärräte entsprechende Befehle an die Truppen der 2. und 3. Ukrainischen Front, die zur Schonung der österreichischen Bevölkerung aufriefen. Unter Verweis auf die Moskauer Konferenz erinnerten sie die Soldaten zunächst daran, dass Österreich das erste Land gewesen sei, „das von Hitlertruppen bereits 1938 besetzt und in der Folge von den Nationalsozialisten in ein Bollwerk ihres Raubritterstaates verwandelt wurde“. Das Ziel des militärischen Vormarsches der Roten Armee liege dabei „nicht in der Besetzung österreichischen Staatsgebietes […], sondern ausschließlich in der Zerschlagung der feindlichen NS-Truppen und in der Befreiung Österreichs von deutscher Abhängigkeit“. Die Militärräte betonten dezidiert, dass die Rote Armee bei der Befreiung Österreichs „gegen die deutschen Besatzer und nicht gegen die Bevölkerung Österreichs“ kämpfe.4 Auch die „verleumderische“ NS-Propaganda kam dabei offen zur Sprache: Die Nationalsozialisten hätten „alle möglichen Lügengeschichten“ über die Rote Armee verbreitet und die Bevölkerung Österreichs durch „erfundene Hirngespinste über Verwüstungen, Gräuel- und Untaten“ verängstigt, welche beim Eintreffen der Roten Armee Platz greifen würden. Geradezu beschwörend richteten sich die Befehle an die „Genossen Rotarmisten, Unteroffiziere, Offiziere und Generäle“: „Ihr wisst, dass dies eine Lüge ist! Die Rote Armee macht einen Unterschied zwischen Österreichern und deutschen Besatzern!“5 Die Argumentation ist dabei äußerst bemerkenswert: Nicht die Gräueltaten selbst wurden in Abrede gestellt, vielmehr wurde betont, die Rote Armee könne – oder müsse – zwischen Österreichern und Deutschen unterscheiden. Während sie „erbarmungslos mit den deutschen Unterjochern abrechnet“, sei dabei das „friedliche österreichische Volk“ zu verschonen. Was bei den „deutschen Besatzern“ – zumindest vorerst – eventuell als Kriegsakt tolerierbar war, wurde nun gegenüber Österreichern klar untersagt.6 4

Aufruf des Militärrates an die Truppen der 3. Ukrainischen Front, 4.4.1945. Abgedruckt in: Karner – Stelzl-Marx – Tschubarjan, Die Rote Armee in Österreich, Dok. Nr. 9. Original abgedruckt in: I. N. Zemskov et al. (Hg.), SSSR – Avstrija 1938 – 1979gg. Dokumenty i materialy. Moskau 1980, S. 16 f. Der Militärrat der 2. Ukrainischen Front richtete sich ebenfalls am 4. April 1945 mit einem analogen Befehl an die Truppen der 2. Ukrainischen Front. Vgl. Institut Voennoj Istorii, Krasnaja Armija v stranach Central’noj Evropy, S. 617. 5 Ebd. 6 Am 20. April 1945 erließ die Stavka des Oberkommandos den Befehl Nr. 11072 an die Oberkommandierenden der 1. und 2. Weißrussischen und 1. Ukrainischen Front, worin von den Truppen eine bessere Behandlung der deutschen Bevölkerung und der Kriegsgefangenen gefordert wurde. Die grausame Behandlung der Deutschen habe zu

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In diesem Zusammenhang erschien auch ein Hinweis auf die Disziplin der Soldaten als notwendig, ohne dass dabei die Ausschreitungen explizit zur Sprache kamen: „Seid stolze Träger des ruhmreichen Namens der Roten Armee. Die ganze Welt soll nicht nur die alles besiegende Stärke der Roten Armee sehen, sondern auch den hohen Grad an Disziplin und Kultur ihrer Soldaten. Möge euer Benehmen überall Achtung gegenüber der Roten Armee – der Befreierin – und gegenüber eurem machtvollen Vaterland hervorrufen.“7 Allerdings bestand zwischen Theorie und Praxis der Befreiung Österreichs durch die Rote Armee nicht selten eine erhebliche Diskrepanz. Die Militärführung war sich offenbar bewusst, wie leicht die Forderung, die Truppen sollten zwischen „Österreichern“ und „Deutschen“ unterscheiden, sich Ersteren gegenüber korrekt verhalten, mit Letzteren aber unbarmherzig abrechnen, scheitern konnte. Dies lag nicht nur an der Schwierigkeit der Differenzierung zwischen Personen mit derselben Sprache, sondern auch an der in der Sowjetunion gebräuchlichen Gleichsetzung von „Deutschen“ mit „faschistischen Feinden“. So beschrieb etwa der Frontkorrespondent der „Pravda“, Leonid Pervomajskij, Mitte April 1945, dass die „Deutschen“ (gemeint waren die Truppen) in Wien weniger Widerstand geleistet hätten als in Budapest, während die „Österreicher“ (gemeint war die Bevölkerung) die Rote Armee freudig erwartet hätten.8 Doch wer galt nun als „Österreicher“ und wer als „Deutscher“ auf österreichischem Territorium? Und wer war ein „deutscher Faschist“ bzw. ein „Helferhelfer aus den Reihen der österreichischen Faschisten“?9 Erschwerend kam die mangelnde Disziplin der Truppen hinzu, die jahrelang auf Rache eingeschworen worden waren. Schon beim Einmarsch in Rumänien und Ungarn war es zu Ausschreitungen seitens der sowjetischen Soldaten, aber auch zu Übergriffen auf sie gekommen.10 Beim sowjetischen Einmarsch Angst und Widerstand geführt. Vgl. CAMO, F. 148a, op. 3763, d. 212, S. 13. Abgedruckt in: Institut Voennoj Istorii, Stavka VGK, S. 229. 7 Tagesbefehl des Militärrates an die Truppen der 3. Ukrainischen Front, 4.4.1945. Abgedruckt in: Karner – Stelzl-Marx – Tschubarjan, Die Rote Armee in Österreich, Dok. Nr. 9. 8 Leonid Pervomajskij, Osvoboždennaja Vena, in: Pravda, 14.4.1945. 9 Diese Diktion findet sich in: B. Pilizyn, Österreich auf dem Weg der unabhängigen Entwicklung, in: Sowjetunion heute. 10/1975, S. 9, 14, hier: S. 9. 10 So berichtete der Militärstaatsanwalt der 2. Ukrainischen Front, dass es im Zeitraum von September bis November 1944 zu „feindlichen Aktionen“ seitens der rumänischen Bevölkerung und Soldaten gegenüber sowjetischen Soldaten gekommen sei. Beispielsweise wurde am 18. September ein sowjetischer Soldat von vier Einheimischen überfallen und getötet. Als seine Leiche am nächsten Tag gefunden wurde, waren die Augen ausgestochen und die Nase sowie Wangen abgeschnitten. Der Köper wies zahlreiche Hautabschürfungen auf. Vgl. RGASPI, F. 82, op. 2, d. 890, S. 41, Schreiben von Gorešnin an Molotov bezüglich der Übergriffe auf Soldaten der Roten Armee in Rumänien, 4.12.1944.

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in Deutschland waren die disziplinären Probleme besonders groß gewesen, bei jenem in Österreich verhielt es sich ähnlich – die Unterschiede waren nur gradueller, nicht prinzipieller Natur.11 Wenig überraschend musste nach Kriegsende mit dem Mannschaftsstamm laufend „Aufklärungsarbeit zu Fragen des Verhaltens gegenüber der örtlichen Bevölkerung auf dem Gebiet Österreichs“ durchgeführt werden.12 Der damalige Leutnant Vladimir Vajnrib erinnert sich an die Propaganda vom Frühjahr 1945, die verlangte, „dass wir nicht Eroberer sind, sondern Befreier. […] In allen Befehlen, in allen Aufrufen, in allen Divisionszeitungen hieß es, dass man sich den Einwohnern gegenüber loyal verhalten muss, dass man in ihnen nicht den Feind sieht. Wir kamen, um sie vom deutsch-faschistischen Joch zu befreien, weil die Deutschen ja Österreich erobert, sich Österreich einverleibt hatten, deswegen war das alles so. Und sogar als wir in Rumänien waren, in Ungarn waren, hieß es immer nur: ‚Töte den Deutschen, sonst tötet er dich.‘ Die Deutschen, die deutsch-faschistische Partei, sahen wir als Feinde.“13 Zwar gab es entsprechende Befehle für die Truppen und Kommandanturen,14 doch wurden diese „nicht immer so befolgt, wie es die Politik gegenüber der österreichischen Bevölkerung verlangte“, beschrieb der Politberater des sowjetischen Hochkommissars in Österreich, Evgenij D. Kiselev, die Übergriffe diskret.15 Auch aus den Köpfen und Herzen hoher Politoffiziere ließ sich der Hass nicht sofort eliminieren: „Die Worte des Großen Stalin zum Sieg über den verhassten Feind riefen bei den Soldaten, Unteroffizieren und Offizieren ausnehmende Freude hervor und wurden mit begeisterten ‚Hurra‘-Rufen quittiert“, betonte der Leiter der Politabteilung des 6. Garde-Schützenkorps.16 11 Aichinger, Sowjetische Österreichpolitik, S. 237. 12 CAMO, F. 821, op. 1, d. 140, S. 254, Befehl des Kommandanten der 20. Garde-Schützendivision über Maßnahmen zur Einrichtung und Verbesserung des Garnisonsdienstes, 12.5.1945. Abgedruckt in: Stefan Karner – Othmar Pickl (Hg.), Die Rote Armee in der Steiermark. Sowjetische Besatzung 1945. Graz 2008, Dok. Nr. 43. Siehe dazu auch Stelzl-Marx, Stalins Soldaten in Österreich, S. 330–343. 13 OHI, Vladimir Vajnrib. Durchgeführt von Ol’ga Pavlenko. Moskau 25.11.2002. 14 Beispielsweise war der Militärrat der 3. Ukrainischen Front verpflichtet, bis Mitte Mai 1945 „wirkungsvolle Maßnahmen für ein endgültiges Abstellen von Fällen von der örtlichen Bevölkerung zugefügten Beleidigungen zu ergreifen“. Vgl. CAMO, F. 243, op. 2945, d. 18, S. 44 f., Befehl Nr. 0021 von Tolbuchin, Želtov und Ivanov an die Truppen der 3. Ukrainischen Front über die Hilfe an die provisorische österreichische Regierung bezüglich der Frühjahrsaussaat, 6.5.1945. Abgedruckt in: Karner – Stelzl-Marx – Tschubarjan, Die Rote Armee in Österreich, Dok. Nr. 34. 15 AVP RF, F. 06, op. 7, d. 322, S. 19, Schreiben von Kiselev an Dekanozov über die politische Stimmung in Österreich, 17.8.1945. 16 CAMO, F. 821, op. 1, d. 467, S. 195–199, Politbericht des Leiters des 6. Garde-Schützen-

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Das sowjetische Kommando wandte sich mit einschlägigen Anordnungen und Aufrufen aber nicht nur an die eigenen Truppen, sondern auch an die österreichische Bevölkerung. Diese wurde vor Kriegsende aufgefordert, der Roten Armee „jedmögliche Hilfe“ zu erweisen. „Erweist den Truppen der Roten Armee jedmögliche Hilfe“: Aufrufe an die österreichische Bevölkerung Unmittelbar, bevor die Rote Armee österreichischen Boden betrat, erhielt der stellvertretende Volkskommissar für auswärtige Angelegenheiten, Vladimir G. Dekanozov, einen ausführlichen Bericht über die westalliierte und sowjetische Propaganda in Österreich. Die Sowjets setzten demnach zwei Kanäle ein: einerseits Radioausstrahlungen über das Allunions-Radiokomitee der UdSSR, andererseits von der PURKKA verteilte Flugblätter. Dabei gab das sowjetische Propagandabüro die Richtung vor und erteilte seinen Propagandaorganen im Ausland entsprechende Direktiven.17 Gemäß den vorliegenden Richtlinien bildete die Moskauer Deklaration die Grundlage für die sowjetische Propaganda in Österreich. Auf ihrer Basis wurde die Bevölkerung aufgerufen, ihren Anteil an der Rettung des Landes zu leisten. Ein großes Anliegen der sowjetischen Seite bestand des Weiteren darin, „den Österreichern bewusst zu machen, dass die Hitlerleute […] Österreich zu einem Kriegsschauplatz gemacht hatten“. Außerdem sollte die Propaganda die Eigenständigkeit Österreichs nach dem Motto betonen: „Die Österreicher haben keine gemeinsamen Interessen mit den Deutschen. Die Hitlerleute sind die Feinde des österreichischen Volkes, sie sind für die Einbeziehung Österreichs in den Krieg verantwortlich.“18 Ein weiteres Ziel des Propagandabüros bestand darin, die Rolle der Roten Armee bei der Befreiung des österreichischen Volkes zu betonen und zugleich der Bevölkerung zu verdeutlichen, dass sie dazu selbst ihren Beitrag leisten müsse. Konkret bedeutete dies: alle notwendigen Vorbereitungen zu treffen, um im entscheidenden Moment die Rote Armee zu unterstützen. Listen von „Verrätern, österreichischen Gestapo- und SS-Mitgliedern“ galten in diesem Zusammenhang als besonders „hilfreich“. Den österreichischen korps, Garde-Oberst Gruzdov, an den Leiter der Politabteilung der 57. Armee, Generalmajor Cinev, über den politisch-moralischen Zustand des Mannschaftsstandes, dessen Lebensbedingungen und die parteipolitische Arbeit, 21.5.1945. Abgedruckt in: Karner – Pickl, Die Rote Armee in der Steiermark, Dok. Nr. 66. 17 AVP RF, F. 06, op. 7, p. 32, d. 326, S. 14–21, Bericht von Smirnov und Chošev an Dekanozov über die sowjetische und westalliierte Propaganda für Österreich [März 1945]. 18 Ebd.

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Wehrmachtsangehörigen empfahl man, zu desertieren oder zur Roten Armee überzulaufen. Generell zielte die Propaganda darauf ab, Sabotageakte und Widerstand gegen das NS-Regime zu provozieren.19 Konkret kamen diese Vorgaben folgendermaßen zur Umsetzung: Die Radiosendungen, die fünfmal täglich mit einer Gesamtdauer von knapp anderthalb Stunden liefen, übertrugen Befehle Stalins, Informationen über den Kriegsverlauf oder Namenslisten österreichischer Kriegsgefangener. Einen „beträchtlichen Platz“ nahmen zudem die Aufrufe österreichischer Exilkommunisten oder Kriegsgefangener ein. Sie appellierten, wie etwa in der Sendung „Am Weg nach Wien“ am 14. Februar 1945, die Zerstörung Wiens zu verhindern und sich Evakuierungen zu entziehen.20 Parallel dazu gab die Politverwaltung der 3. Ukrainischen Front Flugblätter heraus, die sie hinter der Front abwerfen ließ. Diese enthielten gleichfalls Aufrufe an die österreichischen Soldaten, sich in Gefangenschaft zu begeben oder zur Roten Armee überzulaufen. Die Bevölkerung forderte man dazu auf, den Kampf gegen das NS-Regime zu verstärken. Ein Beispiel dafür ist das Flugblatt „Österreichische Soldaten, Hitler ist Euer Feind!“, worin es hieß: „Soldaten aus Österreich! Warum kämpft Ihr gegen die Rote Armee, gegen den russischen Arbeiter- und Bauernstaat? Hitler ist Euer Feind, nicht die Sowjetunion. Er hat Euer friedliches Land überfallen. Er hat aus Österreich alle Lebensmittel, alle Waren und Vorräte weggeschleppt. Und was hat er Euch dafür gebracht? Den Krieg, die Kartenwirtschaft und die preußischen Kommissare.“21 Trotz dieser regen Aktivitäten fand Smirnov auch mehrere Mängel und lieferte in seinem internen NKID-Bericht zugleich Vorschläge zu deren Beseitigung: Zunächst konstatierte Smirnov, dass die generelle Ausrichtung der sowjetischen und der westalliierten Propaganda stark differierte. Während die Sowjets die Österreicher zum offenen Kampf gegen das NS-Regime aufriefen, unterstützten die Westalliierten versteckte Widerstandshandlungen. Des Wei19 Ebd. 20 Zur Rolle österreichischer Exilkommunisten und Kriegsgefangener bei der Propaganda 1943–1945 vgl. insbesondere: Natal’ja Lebedeva, Österreichische Kommunisten im Moskauer Exil. Die Komintern, die Abteilung für internationale Information des ZK der VKP(b) und Österreich 1943–1945, in: Stefan Karner – Barbara Stelzl-Marx (Hg.), Die Rote Armee in Österreich. Sowjetische Besatzung 1945–1955. Beiträge. Graz – Wien – München 2005, S. 39–60; Jörg Morré, Umerziehung in der sowjetischen Kriegsgefangenschaft. Deutsche und Österreicher in der „Antifa“, in: Günter Bischof – Stefan Karner – Barbara Stelzl-Marx (Hg.), Kriegsgefangene des Zweiten Weltkrieges. Gefangennahme – Lagerleben – Rückkehr. Wien – München 2005, S. 152–166. 21 Faksimile abgedruckt in: Lev Belousov – Aleksandr Vatlin, Propusk v raj. Sverchoružie poslednej mirovoj. Duėl propagandistov na Vostočnom fronte. Moskau 2007, S. 228.

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teren suggerierte die sowjetische Propaganda, die Sowjetunion und die Rote Armee würden Österreich die Unabhängigkeit bringen. Im Gegensatz dazu ließen die Westalliierten verbreiten, dass ausschließlich Großbritannien und die USA die Zukunft Österreichs verteidigen würden. Im Vergleich zur Propaganda der Westalliierten erschien die sowjetische Propaganda in Smirnovs Augen zu wenig konkret und differenziert. Er kritisierte, dass etwa das Allunions-Radiokomitee keine Sendungen für die Bewohner einzelner Städte oder Bundesländer vorbereiten und auch nicht auf die unterschiedlichen Bevölkerungsschichten eingehen würde. Zudem würden Informationen über die Lage in Österreich fehlen, weswegen es nicht auf aktuelle Ereignisse reagieren könne. Daher, so sein Vorschlag, müssten „rechtzeitig Anweisungen zur Behandlung wichtiger aktueller Fragen“ gegeben und die Materialien sowohl auf die innere Situation des Landes als auch auf die einzelnen Schichten sowie Gebiete abgestimmt werden. Dekanozov vermerkte dazu am 28. März 1945: „Einverstanden, aber man muss den Vorschlag konkretisieren (wer was zu tun hat).“22 „An die Bevölkerung Österreichs“ und „Bürger von Wien“ Wenig später arbeitete die 3. Europäische Abteilung des NKID die genannten „Maßnahmen im Zusammenhang mit dem Vormarsch der Roten Armee auf das Gebiet Österreichs“ aus und verlangte darin dezidiert die „Herausgabe eines Aufrufs an das österreichische Volk“.23 Anfang April 1945 richteten die Oberbefehlshaber der 2. und 3. Ukrainischen Front ihre Proklamationen „An die Bevölkerung Österreichs“ und an die „Bürger von Wien“. Diese Aufrufe wurden gemeinsam mit der „Erklärung der Sowjetregierung über Österreich“ vom 9. April 1945 in Form von Plakaten und Anschlägen im eroberten Gebiet bzw. als Flugblatt hinter den deutschen Linien verbreitet.24 Die Auflage der wichtigsten fünf Flugblätter betrug insgesamt etwa 150.000 Exemplare.25 Zusätzlich ließ die Rote Armee die Texte über Lautsprecher verlesen.26 22 AVP RF, F. 06, op. 7, p. 32, d. 326, S. 14–21, Bericht von Smirnov und Chošev an Dekanozov über die sowjetische und westalliierte Propaganda für Österreich [März 1945]. 23 AVP RF, F. 66, op. 23, p. 24, d. 8, S. 20 f., Bericht der 3. Europäischen Abteilung des NKID „Über Maßnahmen im Zusammenhang mit dem Vormarsch der Roten Armee auf das Gebiet Österreichs“, spätestens am 2.4.1945. Abgedruckt in: Karner – StelzlMarx – Tschubarjan, Die Rote Armee in Österreich, Dok. Nr. 6. 24 Aichinger, Sowjetische Österreichpolitik, S. 112. 25 Es erschienen 20 Flugblätter für die österreichische Bevölkerung mit einer Auflage von insgesamt 300.000 Exemplaren. Vgl. CAMO, F. 275, op. 356369s, d. 2, S. 256–268, hier: S. 257, Bericht von V. Smirnov über die Arbeit unter der österreichischen Bevölkerung im Zeitraum vom 1. April bis 1. August 1945 [August 1945]. 26 CAMO, F. 243, op. 2914, d. 119, S. 165, 184–195, 200, Bericht der Politverwaltung der

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Der Aufruf „An die Bevölkerung Österreichs“ sowie die „Erklärung der Sowjetregierung“ erschienen außerdem in der erstmals am 15. April 1945 von der Politverwaltung der 3. Ukrainischen Front für die österreichische Bevölkerung herausgebrachten „Österreichischen Zeitung“,27 die auf Initiative der Politischen Hauptverwaltung der Roten Armee und einer daraus resultierenden Verordnung des Sekretariats der VKP(b) vom 5. April ins Leben gerufen wurde.28 Ihre Erstauflage belief sich auf 25.000 Exemplare.29 Die im NKID-Bericht dargelegten Grundzüge der sowjetischen Propaganda in Österreich kamen in diesen ersten Aufrufen klar zum Vorschein: So hob der Militärrat der 3. Ukrainischen Front die Zerschlagung der „deutsch-faschistischen Truppen“ und die Befreiung Österreichs aus „deutscher Abhängigkeit“ als Ziel des sowjetischen Einmarsches hervor. Gemäß der Moskauer Deklaration solle ein „wiederhergestelltes und unabhängiges Österreich“ entstehen. Zugleich verwies er aber auch auf die Verantwortung Österreichs „für seine Teilnahme am Krieg an der Seite Hitlerdeutschlands“. Für eine endgültige Regelung würde außerdem „sein eigener Einsatz zur Befreiung unbedingt in Betracht gezogen“ werden. Vor allem zielte der Aufruf auf eine baldige Normalisierung der Verhältnisse und einen aktiven Beitrag der Österreicher. Sie sollten die Rote Armee bestmöglich dabei unterstützen, „die hitlerischen Truppen zu zerschlagen und zu vernichten“: „Erweist den Truppen der Roten Armee, die auf österreichischem Boden kämpfen, jedmögliche Hilfe!“ Denn nichts, so der Aufruf weiter, würde „Hitlerdeutschland […] vor der völligen Vernichtung retten“.30 Die sowjetische Seite war mit den Reaktionen der österreichischen Bevölkerung auf „Tolbuchins Aufruf“ zufrieden: Die Flugblätter erweckten nicht

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3. Ukrainischen Front an Ščerbakov über die Arbeit der Politorgane und den politisch-moralischen Zustand der Truppen, nach dem 13.4.1945. Abgedruckt in: Institut Voennoj Istorii, Krasnaja Armija v stranach Central’noj Evropy, S. 647–653. Erklärung der Sowjetregierung über Österreich, in: Österreichische Zeitung, 15.4.1945, S. 1; F. Tolbuchin, An die Bevölkerung Österreichs, in: Österreichische Zeitung, 15.4.1945, S. 1; vgl. Wolfgang Mueller, Die sowjetische Besatzung in Österreich 1945– 1955 und ihre politische Mission. Wien – Köln – Weimar 2005, S. 96. RGASPI, F. 17, op. 116, d. 209, S. 81, Beschluss Nr. 209 (390) des Sekretariats des ZK der VKP(b) „Über die Herausgabe der ‚Österreichischen Zeitung‘“, 5.4.1945. Ende April 1945 wurde die Auflage dieser ersten Nachkriegszeitung in Österreich auf 50.000 und einen Monat später auf 150.000 Exemplare erhöht. Vgl. Mueller, Die sowjetische Besatzung, S. 96 f. Aufruf des Militärrates der 3. Ukrainischen Front „An die Bevölkerung Österreichs“, spätestens am 3.4.1945. Abgedruckt in: Karner – Stelzl-Marx – Tschubarjan, Die Rote Armee in Österreich, Dok. Nr. 16; Faksimile in: Aichinger, Sowjetische Österreichpolitik, S. 413 f. Auf Russisch in: CAMO, F. 32, op. 11306, d. 668, S. 118–120. Abgedruckt in: Institut Voennoj Istorii, Krasnaja Armija v stranach Central’noj Evropy, S. 622 f.

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nur großes Interesse, sondern stießen zudem auf „völlige Zustimmung“, so der Leiter der Politabteilung der 9. Gardearmee.31 Auch nach Kriegsende fand der Aufruf – etwa über Rundfunkstationen – Verbreitung.32 Der Aufruf des Militärrates der 2. Ukrainischen Front nahm gleichfalls Bezug auf die NS-Propaganda über die Rote Armee: „Die faschistischen Invasoren schrecken Sie mit dem Einmarsch der Roten Armee, doch Sie brauchen keine Angst zu haben. Die Rote Armee kämpft gegen die deutschen Okkupanten und nicht gegen die Einwohner Österreichs.“ Schließlich bekenne sich die Rote Armee zur Moskauer Deklaration, weswegen die Bevölkerung nicht an die „deutsche faschistische Lüge, die Rote Armee würde das österreichische Volk verfolgen“, glauben dürfe. Zum Abschluss mahnte der Aufruf, Ruhe und Ordnung zu bewahren sowie der Roten Armee „tatkräftig“ zu helfen.33 Zu diesem Zeitpunkt verbreiteten die Sowjets zudem ein eigens an österreichische Offiziere und Soldaten gerichtetes Flugblatt, das dazu aufforderte, entweder zu den Truppen der Roten Armee überzulaufen oder im Hinterland gegen die deutschen Truppen zu kämpfen. Vorläufer war Tolbuchins Aufruf „Österreicher!“ vom 5. April, der die „Österreicher in der Wehrmacht“ gezielt zu Massendesertionen aufgerufen hatte. Dieser dezidierte Aufruf zum offenen Widerstand ist auch vor dem Hintergrund des für den 31 CAMO, F. 243, op. 2914, d. 132, S. 29–33, Bericht des Leiters der Politabteilung der 9. Garde-Armee, Molin, an die Politverwaltung der 3. Ukrainischen Front, 3.4.1945. Abgedruckt in: Institut Voennoj Istorii, Krasnaja Armija v stranach Central’noj Evropy, S. 611–614. 32 CAMO, F. 243, op. 2914, d. 268, S. 53 f., Bericht über die Lage in Bruck an der Mur und Graz, 14.5.1945. Abgedruckt in: Karner – Pickl, Die Rote Armee in der Steiermark, Dok. Nr. 50. Auch die „Erklärung der Sowjetregierung über Österreich“, Dokumente zur Bildung der provisorischen Regierung Österreichs und Stalins Aufruf anlässlich des „Tages des Sieges“ wurden über örtliche Sendeanlagen und Rundfunkstationen ausgestrahlt. Vgl. CAMO, F. 243, op. 2914, d. 100, S. 123–128, Bericht des Leiters der Politverwaltung der 3. Ukrainischen Front, Generalleutnant Anošin, über die politische Lage und die Arbeit unter der Bevölkerung in Graz, Leoben und Mürzsteg und die Einstellung der Österreicher gegenüber der provisorischen österreichischen Regierung, 17.5.1945. Abgedruckt in: Karner – Pickl, Die Rote Armee in der Steiermark, Dok. Nr. 59; CAMO, F. 243, op. 2914, d. 100, S. 158–161, Bericht des Leiters der Politverwaltung der 3. Ukrainischen Front, Generalleutnant Anošin, über die politische Lage in Graz und die Arbeit unter der österreichischen Bevölkerung im Zeitraum 29.5.1945– 3.6.1945 [Juni 1945]. Abgedruckt in: Karner – Pickl, Die Rote Armee in der Steiermark, Dok. Nr. 89. 33 Aufruf des Militärrates der 2. Ukrainischen Front „An die Bevölkerung Österreichs“, nicht nach dem 6.4.1945. Abgedruckt in: Karner – Stelzl-Marx – Tschubarjan, Die Rote Armee in Österreich, Dok. Nr. 15. Original abgedruckt in: Zemskov, SSSR – Avstrija, S. 17–19. Mit abweichender Übersetzung in: Sowjetunion heute. 9/1975, Beilage, o. S.

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6. April 1945 geplanten militärischen Aufstandes unter Major Carl Szokoll zu sehen, dessen Unterstützung die Rote Armee zugesichert hatte.34 Zwischen 3. und 6. April 194535 trug Tolbuchin in einem an die „Bürger von Wien“ gerichteten Aufruf der militärischen Entwicklung Rechnung. Die Auflage dieses Flugblattes war mit 200.000 Exemplaren besonders hoch.36 Den schon bekannten Verweisen auf die Moskauer Deklaration und die „Befreiungsmission“ der Roten Armee folgte die Aufforderung, die Wiener Bevölkerung solle die Stadt nicht verlassen, „um ihre geschichtlichen Denkmäler der Kunst und Kultur“ zu erhalten. Desgleichen wurde die Bevölkerung angehalten, „den Kampf gegen die Deutschen zu organisieren, um Wien vor der Zerstörung durch die Nazipreußen zu bewahren“ und Plünderungen zu verhindern. Dabei fällt auf, dass die Sowjets auch hier – offensichtlich vor dem Hintergrund der Widerstandsaktivitäten von Major Szokoll und des geplanten Aufstandes, von dem die Rote Armee Kenntnis hatte – das „aktive Eingreifen aller Wiener“ forderten und die Bevölkerung zum aktiven Widerstand animierten.37 Der Erfolg dieses Aufrufes wurde in der sowjetischen Literatur wiederholt überschätzt bzw. fehlinterpretiert: Ein noch im April 1945 verfasster Bericht an den Generalstab der Roten Armee betonte etwa, dass die Wiener „in Reaktion auf den Aufruf von Marschall Tolbuchin einen Aufstand gegen die Deutschen“ vorbereitet hätten, der „nur durch den Verrat einiger weniger Personen verhindert“ worden wäre.38 In ähnlicher Weise strich auch ein 1975 34 Aichinger, Sowjetische Österreichpolitik, S. 114 f. Siehe dazu ausführlich Stelzl-Marx, Stalins Soldaten in Österreich, S. 100–130. 35 Eine exakte Terminierung dieses Aufrufes ist nicht möglich. Als Datierung finden sich sowohl der 6. April 1945 (vgl. Institut Voennoj Istorii, Krasnaja Armija v stranach Central’noj Evropy, S. 621) als auch der 5. April (vgl. Želtov, Političeskaja rabota, S. 26) und der 3. April (vgl. Sowjetunion heute. 9/1975, Beilage, o. S.). Blagodatov betonte, dass sich Tolbuchin vor dem Sturmangriff auf Wien, der am 5. April früh begann, mit dem Aufruf an die Bevölkerung der Stadt gewandt habe. Vgl. A. Blagodatow, Die ersten Friedenstage in Wien, in: Sowjetunion heute. 9/1975, S. 25–27, hier: S. 25. Vgl. Aichinger, Sowjetische Österreichpolitik, S. 113. Auch die Politverwaltung der 3. Ukrainischen Front verweist darauf, dass sich Tolbuchin am 5. April an die Bürger von Wien wandte. Vgl. CAMO, F. 243, op. 2914, d. 119, S. 165, 184–195, 200, Bericht der Politverwaltung der 3. Ukrainischen Front an Ščerbakov über die Arbeit der Politorgane und den politisch-moralischen Zustand der Truppen, nach dem 13.4.1945. Abgedruckt in: Institut Voennoj Istorii, Krasnaja Armija v stranach Central’noj Evropy, S. 647–653. 36 CAMO, F. 275, op. 356369s, d. 2, S. 256–268, hier: S. 257, Bericht von V. Smirnov über die Arbeit unter der österreichischen Bevölkerung im Zeitraum vom 1. April bis 1. August 1945 [August 1945]. 37 Aufruf des Oberbefehlshabers der 3. Ukrainischen Front „Bürger von Wien!“ [spätestens am 6.4.1945]. Abgedruckt in: Aichinger, Sowjetische Österreichpolitik, S. 411 f. 38 CAMO, F. 243, op. 2900, d. 2058a, S. 83–99, Schilderung der Kämpfe der 3. Ukraini-

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publizierter Artikel die wichtige Rolle der sowjetischen Propaganda hervor: „Die Wiener leisteten dem Appell [Tolbuchins an die Bevölkerung Wiens] Folge. Die Widerstandsbewegung aktivierte sich. Patrioten konnten dem sowjetischen Kommando den Plan zur Verteidigung der Stadt übermitteln.“39 De facto dürfte dieser konkrete Aufruf in Reaktion auf den längst geplanten Aufstand Szokolls entstanden sein, dem die Sowjets bereits am 3. April in Hochwolkersdorf ihre Zustimmung erteilt hatten. Der militärische Widerstand war bereits aktiv geworden.40 „Erklärung der Sowjetregierung über Österreich“ Die „Erklärung der Sowjetregierung über Österreich“ vom 9. April 1945 legte laut Aleksej S. Želtov, dem Politoffizier der 3. Ukrainischen Front und späteren stellvertretenden Militärkommissar in Österreich, „die politische Linie der Sowjetunion in Bezug auf Österreich“ dar.41 Želtovs Einschätzung ist insofern bemerkenswert, als er als zentrale Persönlichkeit in der sowjetischen Österreichpolitik wohl am besten über die Ziele und Methoden dieser Politik informiert war.42 Die Erläuterung ihres Inhalts stehe, so Želtov, im Zentrum der politischen Arbeit unter der österreichischen Bevölkerung.43 Die Erklärung wurde ursprünglich von Radio Moskau gesendet und anschließend auf Flugblättern und in der ersten Nummer der „Österreichischen Zeitung“ publiziert. Die „Sowjetregierung“ betonte auch hier den Befreiungscharakter der Roten Armee und ihre feste Verankerung in der Moskauer Deklaration. Nach der Beseitigung des Regimes der „deutsch-faschistischen Okkupanten“ werde die Sowjetunion die „Wiederherstellung demokratischer Zustände und Einrichtungen in Österreich“ unterstützen, ohne jedoch die Gesellschaftsordnung zu ändern oder „sich irgendeinen Teil des österreichischen Territoriums anzueignen“. Die Erklärung ließ keinen Zweifel daran, dass letztlich der Wiederaufbau der Demokratie Aufgabe des österreichischen Volkes selbst sein müsse: Die Rote Armee habe lediglich den Befehl erhalten, „der Bevölkerung Österreichs in diesem Werk beizustehen“.44

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schen Front während des „Kampfes um Wien“, nach dem 15.4.1945. Abgedruckt in: Karner – Stelzl-Marx – Tschubarjan, Die Rote Armee in Österreich, Dok. Nr. 7. A. Smirnow, Wien im Frühling 1945, in: Sowjetunion heute. 7/1975, S. 20. Siehe dazu Stelzl-Marx, Stalins Soldaten in Österreich, S. 100–130. Aleksej S. Želtov, Političeskaja rabota v Venskoj nastupatel’noj operacii, in: Voenno-istoričeskij žurnal. 1966/2, S. 17–28, hier: , S. 27. Manfried Rauchensteiner, Der Sonderfall. Die Besatzungszeit in Österreich 1945 bis 1955. Neuaufl. Graz – Wien – Köln 1995, S. 71. Želtov, Političeskaja rabota, S. 27. Erklärung der Sowjetregierung über Österreich, in: Österreichische Zeitung, 15.4.1945,

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Die Sowjetunion und Österreich

Nach dem Ende der Kampfhandlungen nahm die Arbeit unter der Bevölkerung eine etwas andere Form an, so der Leiter der Politabteilung der 4. Gardearmee: „Fortan besteht unsere Aufgabe darin, der örtlichen Bevölkerung die Wahrheit über die Rote Armee und die Sowjetunion zu erzählen, unsere Errungenschaften im Bereich von Industrie, Wissenschaft und Kunst sowie im Bereich der Volksbildung und die Kultur der Völker der Sowjetunion zu zeigen. Schließlich stellen wir uns die Aufgabe, über die großen Siege des sowjetischen Volkes im Vaterländischen Krieg zu berichten.“ Mehrere Flugblätter zu Themen wie „Die Rote Armee – die stärkste Armee der Welt“ mit einer Auflage von jeweils 25.000 Exemplaren wurden gedruckt, beinahe 1700 Lautsprechereinsätze organisiert und 546 Versammlungen der Bevölkerung in der sowjetischen Zone abgehalten.45 Dabei ging man im sowjetischen Weltbild von der Überlegenheit der sowjetischen Kultur gegenüber bürgerlichen Kulturen aus. Die Größe der sowjetischen Kultur habe sich ihren Verfechtern zufolge auch durch den Sieg über die Deutschen im „Großen Vaterländischen Krieg“ manifestiert.46 Die Vertreter dieser Kultur in Deutschland und Österreich, die Offiziere und Mannschaftssoldaten der Roten Armee, sollten als Vorbilder dieser Überlegenheit dienen – ein Vorhaben, das in vielen Fällen fehlschlug.

S. 1; Aichinger, Sowjetische Österreichpolitik, S. 115 f. In der sowjetischen Literatur wird die Bedeutung dieser Erklärung besonders hervorgehoben. Vgl. etwa: Andrej Stepanow, Die Moskauer Österreich-Erklärung. Zum 25. Jahrestag der Außenministerkonferenz der UdSSR, der USA und Großbritanniens 1943, in: Sowjetunion heute. 20/1968, S. 6; P. S. Gračev (Hg.), Voennaja ėnciklopedia v vos’mi tomach. Bd. 2 Vavilonija – Gjujs. Moskau 1994, S. 65. 45 CAMO, F. 275, op. 356369s, d. 2, S. 256–268, hier: S. 257, Bericht von V. Smirnov über die Arbeit unter der österreichischen Bevölkerung im Zeitraum vom 1. April bis 1. August 1945 [August 1945]. 46 Norman N. Naimark, Die Russen in Deutschland. Die sowjetische Besatzungszone 1945 bis 1949. Berlin 1997, S. 501 f.

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Die KPÖ-Führung im sowjetischen Exil, die Komintern und ihre Haltung zur sowjetischen Österreichpolitik

Eine lange Zeit in der österreichischen Historiografie vertretene These zur Moskauer Deklaration besagte, dass die Alliierten mit der Formulierung „erstes Opfer“ die Absicht gehabt hätten, (auch) den Widerstand in Österreich anzuregen.1 Klar ist, dass die Moskauer Deklaration keinen breiten Widerstand entfachte.2 In London und Washington waren Widerstandskämpfer an den Vorbereitungsarbeiten zur Moskauer Deklaration am Rande beteiligt.3 Wie stand es aber um die KPÖ, deren Spitze im Moskauer Exil weilte? Wurden ihre Vorschläge konzeptionell berücksichtigt? Am 15. Mai 1943 wurde die III. Kommunistische Internationale (Komintern) aufgelöst.4 Zu den Ursachen hierfür wurden zahllose Publikationen – Studien wie auch Monografien – veröffentlicht.5 Zwar ist dies nicht der Kernpunkt dieses Aufsatzes, dennoch gilt es festzuhalten, dass der Beschluss zur Auflösung der Komintern gravierende Folgen für die KPÖ im Moskauer Exil mit sich brachte. Zunächst fällte einen Monat nach Auflösung der Komintern das Politbüro des ZK der VKP(b) einen ersten und ein halbes Jahr 1 2

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Siehe dazu auch die Beiträge von Günter Bischof ab S. 249 und Siegfried Beer ab S. 99 in diesem Band. Zum Widerstand in Österreich sind in den letzten Jahren unzählige Arbeiten erschienen. Als Überblick seien hier nur Überblickswerke genannt: Radomír Luža, Der Widerstand in Österreich 1938–1945. Wien 1985; Wolfgang Neugebauer, Der österreichische Widerstand 1938–1945. Wien 2008; Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstandes (Hg.), Opferschicksale. Widerstand und Verfolgung im Nationalsozialismus. 50 Jahre Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes. Wien 2013; Stefan Karner – Karl Duffek, Widerstand in Österreich. Die Beiträge der Parlaments-Enquete 2005. Graz – Wien 2007. Vgl. die Beiträge von Bischof ab S. 249 und Beer ab S. 99 in diesem Band. Zur Auflösung der Komintern siehe grundlegend Grant M. Adibekov, Das Kominform und Stalins Neuordnung Europas. Frankfurt 2002, S. 33–71. Vgl. u. a.: Bernhard H. Bayerlein: „Der Verräter, Stalin, bist Du!“ Vom Ende der linken Solidarität. Komintern und kommunistische Parteien im Zweiten Weltkrieg 1939–1941. Berlin 2008; Hermann Weber, Die Kommunistische Internationale. Eine Dokumentation. Hannover 1966.

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Die Sowjetunion und Österreich

später einen zweiten Beschluss unter höchster Geheimhaltung.6 Beide trugen denselben kurzen und wenig aussagekräftigen Titel: „Frage des Gen. Molotov“.7 Im Einklang mit Ersterem fasste das Politbüro auf Vorschlag des damaligen Volkskommissariats für äußere Angelegenheiten den Beschluss über die Schaffung einer Abteilung für internationale Information „im System des ZK der VKP(b)“. Zum Leiter dieser Abteilung wurde ZK-Sekretär Aleksandr S. Ščerbakov ernannt. Seine Stellvertreter wurden die Führer der liquidierten Komintern: Generalsekretar des Exekutivkomitees der Komintern (IKKI),8 Georgi Dimitrov, und ein Sekretär des IKKI, Dmitrij Z. Manuil’skij. Dem zweiten Beschluss zufolge wurde im ZK eine ausländische Abteilung gegründet, deren Leiter ebenfalls Dimitrov und Manuil’skij wurden. Ihre Tätigkeit überwachte Molotov selbst. Alle Funktionen, Beziehungen und praktischen Tätigkeiten der liquidierten Komintern sollten in diesen beiden Abteilungen aufgehen. Daher wurden auch praktische Maßnahmen ergriffen, um den Apparat des IKKI dem ZK der VKP(b) unterzuordnen. So wurde Konstantin P. Sucharev9, der die wirtschaftlich-operative Leitung des IKKI innehatte, Anfang Juli 1943 zum Stellvertreter des für die Angelegenheiten des ZK der VKP(b) Verantwortlichen ernannt. In der Kaderabteilung des ZK wurde eine Unterabteilung für die Berücksichtigung jener ausländischen Kaderkommunisten geschaffen, die sich in der UdSSR aufhielten. Diese neu geschaffenen Unterabteilungen des ZK der VKP(b) erbten allerdings nicht nur ihre künftigen Aufgabenfelder, Struktur und Funktionäre, die lediglich aus dem einen Apparat in den anderen wechselten, von der Kommunistischen Internationale, sondern auch ihre Probleme. Als mitunter am schwersten wog eine gewisse der Organisation innewohnende Ambivalenz, die besonders für die Stalinzeit prägend war. Einerseits war es die Aufgabe der Komintern, die Interessen des weltweiten Proletariats zu vertreten und alle Kräfte für einen baldigen Sieg der weltweiten kommunistischen Revolution zu mobilisieren. Andererseits musste sie auch die UdSSR als weltweit ersten Proletarierstaat, als Hochburg aller progressiven Kräfte, die für den Sieg des weltweiten Kommunismus kämpfen, verteidigen. Diese Ziele waren meistens gut miteinander vereinbar, dennoch gab es Fälle, in denen die Ko6 7

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Beide Verordnungen waren mit dem Kürzel „OP“ („osobaja papka“ – Sondermappe) versehen und unterlagen somit der höchsten Geheimhaltungsstufe. RGASPI, F. 17, op. 3, d. 1049, P 42/237, 13.6.1943; ebd., P 42/238, 27.12.1943. Aus ungeklärten Gründen wurden die zeitlich weit auseinanderliegenden Politbürobeschlüsse in einem Akt archiviert und erhielten fortlaufende Protokollnummern. Siehe Bernhard H. Bayerlein, „Der Verräter, Stalin, bist Du!“. Vom Ende der linken Solidarität 19391941. Berlin 2008. K. P. Sucharev. Stellvertreter 1938, von 1939 bis 1943 Mitglied des OMS.

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mintern – vollständig von der sowjetischen Führung abhängig – gezwungen war, die Interessen der UdSSR als Staat sehr zum Nachteil der internationalen kommunistischen Bewegung durchzusetzen. Eines der deutlichsten Beispiele für ein solches Aufeinanderprallen der Interessen sind die Ereignisse im Herbst 1939, als die Komintern nach der Unterzeichnung des Hitler-Stalin-Paktes gezwungen war, ihre antifaschistische Tätigkeit faktisch einzustellen. Diese Gräben, die sich zwischen den Interessen der UdSSR und der internationalen kommunistischen Bewegung auftaten, verspürten die Mitarbeiter des Apparats des ZK der VKP(b). Seit der Auflösung der Komintern bis in die ersten Nachkriegsjahre mussten diese Diskrepanz viele österreichische Kommunisten erleben. Im gegebenen Fall verkomplizierte sich die Situation durch den Sonderstatus Österreichs infolge der Moskauer Deklaration, die einerseits von einer Mitverantwortung Österreichs sprach, andererseits der Staat Österreich aber auch als Opfer der deutschen Aggression galt. Diese Verstrickung führte zu einer paradoxen Situation, denn Moskau stellte die österreichischen Kommunisten faktisch vor eine „dreieinige Aufgabe“. Sie sollten ihre Reihen mit allen Mitteln vergrößern und so zu einer der führenden politischen Kräfte des Landes werden; dabei den Vertretern der sowjetischen Besatzungsverwaltung größtmögliche Unterstützung zukommen lassen und mit ihnen alle Handlungen abstimmen. Schließlich sollten sie auch nicht vergessen, dass die KPÖ ein Teil der internationalen kommunistischen Bewegung war und daher die Interessen der Kommunisten anderer Länder ausgehend von den Prinzipien des proletarischen Internationalismus zu verteidigen hatte. Daher prallten beim Versuch, diese drei Anforderungen in die Praxis umzusetzen, unweigerlich unterschiedliche, teilweise diametrale Interessen aufeinander, was den Ärger und die Unzufriedenheit Moskaus hervorrief und unmittelbaren Schaden für die österreichische Kommunistische Partei zur Folge hatte.10 10 Diese ganz und gar nicht einfache Situation, in der sich die KPÖ befand, lässt sich anhand der folgenden Zeilen aus dem Schreiben des ersten Botschafters der UdSSR im Nachkriegsösterreich, Evgenij D. Kiselev, Ende der 1950er-Jahre an das ZK der KPdSU nachvollziehen. Dieser versuchte, sich von dem in politische Ungnade gefallenen Mitglied der sogenannten „Antiparteigruppe“ rund um Molotov zu distanzieren: „Die Führer der österreichischen Kommunistischen Partei haben ernste Schwierigkeiten, denn eine solche Bewegung [für den Truppenabzug der Besatzungsmächte einzutreten] nicht zu unterstützen oder zu leiten würde bedeuten, sich von den akuten Forderungen der breiten Masse zu distanzieren, dennoch konnten sie diese auch nicht voll und ganz unterstützen, weil dies wiederum bedeuten würde, dass die österreichische Kommunistische Partei auch den Abzug der sowjetischen Truppen fordern müsste. In diesem Geiste waren auch die Anweisungen und Ratschläge unsererseits, nämlich

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Die KPÖ-Führung hatte 1939 den Sitz ihres Zentralkomitees nach Moskau verlegt.11 Dessen Vorsitzender, Johann Koplenig, hatte in Moskau als Mitglied des Präsidiums des Exekutivkomitees der Komintern eine bedeutende Stellung inne.12 Auch andere wichtige KPÖ-Funktionäre nahmen im Moskauer Exil herausragende Positionen ein. Friedl Fürnberg war stellvertretender Leiter der Propagandaabteilung der Komintern (er leitete die Radiopropaganda), Ernst Fischer (Peter Wieden) war Redakteur der in Schweden herausgegebenen „Kommunistischen Internationalen“, dessen deutschsprachige Herausgabe Fritz Zucker-Schilling leitete. Auch weitere Funktionäre wie Fritz Lang (eigentlich Jakob Rosner) oder Fritz Glaubauf waren in der Propaganda tätig.13 In den von den KPÖ-Funktionären gestalteten Radiosendungen für den Sender „Freies Österreich“ wurde vor allem die Aufstellung einer KP-Führung im Untergrund im Kampf gegen den Nationalsozialismus in Österreich gefordert.14 1943 musste die Organisation einer Untergrundparteistruktur für Österreich nach zahlreichen Verhaftungen und Todesurteilen aufgegeben werden.15 Fortan setzte die KPÖ (mit Moskauer Logistik) verstärkt auf militärischen Widerstand. Partisanen in Kärnten und der Steiermark wurden unterstützt, in Jugoslawien unter der Führung Fürnbergs und Franz Honners das „1. Österreichische Freiheitsbataillon“ aufgestellt.16 Die KPÖ artikulierte im Moskauer Exil immer wieder die Bitte an die sowjetische Führung, die Notwendigkeit der Wiederherstellung der Unabhängigkeit Österreichs zu betonen. Zwar stand dies als politisches Ziel der keinesfalls zuzulassen, sich für den Abzug der sowjetischen Truppen aus Österreich einzusetzen, indem man sich darauf stützt, dass die Sowjetische Armee die Befreierin Österreichs vom deutschen Faschismus ist und ihre Rolle eine prinzipiell andere ist, als die Rolle der Truppen der USA, Englands und Frankreichs. Das war richtig.“ RGANI, F. 6, op. 19, d. 165, S. 135–136, E. D. Kiselev an N. M. Švernik, Mitglied des Präsidiums des ZK der KPdSU. 14.10.1959. 11 Winfried R. Garscha, Grundlinien der Politik der KPÖ 1920 bis 1955, in: Manfred Mugrauer (Hg.), 90 Jahre KPÖ. Studien zur Geschichte der Kommunistischen Partei Österreichs. Wien 2009, S. 1736. S. 33. 12 Natal’ja Lebedeva, Österreichs Kommunisten im Moskauer Exil. Die Komintern, die Abteilung für internationale Information des ZK der VKP(b) und Österreich 19431945, in: Stefan Karner – Barbara Stelzl-Marx (Hg.), Die Rote Armee in Österreich. Sowjetische Besatzung 19451955. Beiträge, S. 3960. 13 Ebd. 14 Ebd. 15 Ebd. 16 Willibald I. Holzer, Die österreichischen Bataillone im Verbande der NOV i POJ. Die Kampfgruppe Avantgarde. Phil. Diss. Wien 1972; Willibald I. Holzer, Die österreichischen Bataillone in Jugoslawien, in: DÖW (Hg.), Österreicher im Exil 1934 bis 1945. Protokoll des internationalen Symposiums zur Erforschung des österreichischen Exils von 1934 bis 1945, Wien 1977, S. 159–175.

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Sowjetunion schon frühzeitig fest,17 dennoch war ein österreichischer Offizier zur Gründung des Nationalkomitees Freies Deutschland (NKFD)18 am 12. Juni 1943 entsandt worden.19 Daraufhin erlaubte sich Koplenig in einem Schreiben an Georgi Dimitrov, auf das Schärfste zu protestieren und „großdeutsche Tendenzen“ zu unterstellen!20 Dieser Vorgehensweise dürften von sowjetischer Seite keine durchdachten Planungen zugrunde gelegen haben. Sie zeigt aber, dass Österreicher von der sowjetischen Führung grundsätzlich als „Deutsche“ wahrgenommen wurden. Nachdem mit der „Moskauer Deklaration“ die Großmächte erstmals schriftlich festgehalten hatten, dass Österreich als eigener Staat wiederentstehen sollte, konnten die österreichischen Kommunisten gegenüber ihren deutschen Genossen an Eigenständigkeit gewinnen. In den Kriegsgefangenenlagern entstanden eigene österreichische „Antifa-Lehrgänge“,21 ein „Antifaschistisches Büro österreichischer Kriegsgefangener“ (ABÖK) usw.22 Nun wurden Österreicher von Deutschen unterschieden. Doch das war, angesichts der Ziele der sowjetischen Deutschlandpolitik,23 nicht ihr „Verdienst“. Korrekter wäre, bei den politischen Zielen der sowjetischen Führung und der KPÖ von einer Interessensgleichheit zu sprechen. 17 Siehe dazu den Beitrag von Walter Iber und Peter Ruggenthaler ab S. 78 in diesem Band. 18 Das „Nationalkomitee Freies Deutschland“ wie der „Bund Deutscher Offiziere“ (BDO) wurden nach der Niederlage von Stalingrad von deutschen Soldaten in sowjetischer Hand gegründet. Die Organisationen sollten sich am Widerstand gegen Hitlerdeutschland beteiligen. Von vielen Kriegsgefangenen wurden die beiden Organisationen als „Sprachrohr Stalins“ abgelehnt. Siehe Gerd R. Ueberschär (Hg.), Das Nationalkomitee „Freies Deutschland“ und der Bund Deutscher Offiziere. Frankfurt am Main 1996. 19 Dabei handelte es sich um den Innsbrucker Ingenieur, NSDAP-Parteimitglied und Major der Deutschen Wehrmacht Herbert Stösslein. Er kam im Kessel von Stalingrad 1942 in sowjetische Kriegsgefangenschaft. Am 21.4.1950 wurde er repatriiert. Er kehrte nicht in seine Heimat zurück, sondern arbeitete in der DDR als Journalist. Vgl. Jörg Morre, Hinter den Kulissen des Nationalkomitees. Das Institut 99 in Moskau und die Deutschlandpolitik der UdSSR 19431946, S. 5055; Karl-Heinz Frieser, Krieg hinter Stacheldraht. Die deutschen Kriegsgefangenen in der Sowjetunion und das Nationalkomitee Freies Deutschland. Mainz 1981, S. 73. 20 Morre, Hinter den Kulissen des Nationalkomitees, S. 77 f. 21 Siehe dazu den Beitrag von Stefan Karner ab S. 177 in diesem Band. 22 Im Laufe des Jahres 1943 konnte sich dann an der „Antifa-Schule“ in Krasnogorsk ein eigenständiger österreichischer Sektor bilden. Das ABÖK wurde letztlich erst im November 1944 gegründet. Es war – wie schon der Name besagt – nur ein Büro, durfte nicht selbstständig nach außen auftreten und etwa wie das NKFD öffentlich in Erscheinung treten. Zur Propaganda der KPÖ unter den Kriegsgefangenen vgl. Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstandes (Hg.), Österreicher im Exil. Sowjetunion 19341945. Eine Dokumentation. Wien 1999, S. 712–749. 23 Siehe dazu den Beitrag von Jochen Laufer ab S. 71 in diesem Band.

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Die österreichischen Kommunisten wurden in der Folge zwar in Moskau für die Zeit danach ausgebildet, doch als letztlich die entscheidende Phase eintrat und Stalin entgegen der Abmachungen mit den Westmächten im März 1945 eine provisorische Regierung aus dem Boden stampfte, wurde die KPÖ im Moskauer Exil nicht konsultiert.24 Stalin hatte sich längst für Karl Renner entschieden, als die österreichischen Kommunisten mit dem Flugzeug am 8. April 1945 von Moskau nach Österreich gebracht wurden. Als sie ankamen, erfuhren sie von Stalins Entscheidung. Hätte man nach ihrem Rat gefragt, hätten sie Stalin vor Renner gewarnt. In der Tat waren die Beziehungen zwischen der sowjetischen parteistaatlichen Führung in Gestalt des ZK der VKP(b) und der KPÖ zunächst harmonisch. Ca. einen Monat vor Kriegsende berichtete Dimitrov Stalin, dass er gemeinsam mit Koplenig die in der UdSSR befindlichen österreichischen Kommunisten und die „Antifaschisten“ unter den Kriegsgefangenen überprüft und (mit Koplenig an der Spitze) acht ausgewählt habe, die an die in Österreich operierende 3. Ukrainische Front geschickt werden könnten. Darüber hinaus schlug Dimitrov vor, „überprüfte“ österreichische Genossen, die auf slowenischem Gebiet im Einsatz waren, und ca. 25 österreichische Aktivisten aus Frankreich, die sich in Belgrad aufhielten, zu dieser Front zu überführen. Zu den meisten lieferte er genaue Informationen und Charakterbeschreibungen, beschrieb ihre Fähigkeiten sowie Schwachstellen und gab Empfehlungen ab, wo diese von Nutzen sein könnten.25 Kurz darauf schlug Dimitrov – ebenfalls auf Koplenigs Empfehlung hin – Stalin vor, die Kandidatur des gefangenen österreichischen Generals Fritz Franek, des früheren Leiters der Militärakademie in Wiener Neustadt, zu überdenken. Allerdings wurde dieser Vorschlag von der höchsten sowjetischen Führung nicht aufgenommen. der General wurde erst drei Jahre später, im Sommer des Jahres 1948, freigelassen und nach Österreich repatriiert.26 24 Siehe Stefan Karner – Peter Ruggenthaler, Unter sowjetischer Kontrolle. Zur Regierungsbildung in Österreich 1945, in: Stefan Karner – Barbara Stelzl-Marx (Hg.), Die Rote Armee in Österreich. Sowjetische Besatzung 1945–1955. Beiträge. Graz – Wien – München 2005, S. 105–148. 25 RGANI, F. 3, op. 23, d. 87, S. 1 f., Bericht G. Dimitrovs an Stalin über die Entsendung österreichischer Kommunisten an die 3. Ukrainische Front. 3.4.1945. 26 Wie die österreichischen Kommunisten, die sich für General Fritz Franek verwendeten, anmerkten, gäbe es dafür „mildernde Umstände“, vor allem seine soziale Herkunft. Franek stammte aus einer einfachen Arbeiterfamilie (er war Sohn eines Bäckers). Die nicht ganz geklärten Umstände der Gefangennahme wurden Franek immer wieder zum Vorwurf gemacht. In russischen Quellen wurde letztlich kommuniziert, dass Franek ein Intellektueller sei, viel lese und begonnen habe, die russische Sprache und Literatur zu studieren. Siehe ebd., S. 46–48, Bericht über den Kriegsgefangenen General

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Wie teilweise äußerst falsch die sowjetische Führung über die österreichischen Verhältnisse informiert war, zeigen aus Moskauer Sicht zu euphorische Berichte über die Stärke der KPÖ im Land. Ihre Stellung soll sie in der sowjetischen Besatzungszone in den ersten Nachkriegsmonaten rasch gefestigt haben: Allein in Wien hätte man im Mai 1945 mehr als 40.000 Mitglieder verzeichnet.27 In der sowjetischen Zone wurden jegliche Versuche von Vertretern anderer Bewegungen, die mit der Kommunistischen Partei um das Recht konkurrierten, sich zu Österreichs „Befreiern vom Faschismus“ zu zählen, von der sowjetischen Administration auf Weisung der KPÖ unterbunden: Diese wurden schlichtweg als englische Spione oder Trotzkisten denunziert.28 Die KPÖ nutzte auch erfolgreich den Propagandafaktor, indem sie die von den Alliierten kundgetanen Ziele in Bezug auf Österreich geschickt gegeneinander ausspielte. So hatte die UdSSR am Vorabend der Einnahme Wiens erklärt, dass „die Rote Armee den Standpunkt der Moskauer Deklaration der Alliierten über die Unabhängigkeit Österreichs vertritt und die Wiedererrichtung der Ordnung, die in Österreich bis 1938 existierte, unterstützen wird“.29 Gleichzeitig behauptete der Kommandant der alliierten Truppen FeldmarF. Franek, verfasst von Dimitrov für Stalin, 5.4.1948. Über Franek gibt es bis heute kein endgültiges Urteil. Er war einer der wenigen Träger der beiden höchsten Orden der Österreichisch-Ungarischen Monarchie (des Maria-Theresien-Ordens) und des „Dritten Reichs“ (des Ritterkreuzes). Er kam in sowjetische Kriegsgefangenschaft, wurde aber nie verurteilt und am 1.7.1948 nach Österreich repatriiert. Während der Streikwellen im Oktober 1950 soll er für die KPÖ als Führer der Streitkräfte vorgesehen gewesen sein, was er aber immer vehement bestritt. Die Kameradschaft seiner Division hatte ihn bis zu seinem Lebensende aus ihren Reihen verbannt. Vgl. zu Franek: Florian Berger, Ritterkreuzträger aus Österreich. Wien 2006; Elisabeth Kruml, General Dr. Fritz Franek. Eine Biographie. Phil. Diss. Wien 1983. 27 RGANI, F. 81, op. 1, d. 255, S. 18, Bericht der Außenpolitischen Abteilung des ZK der VKP(b) über die Kommunistische Partei Österreichs, o. D. [1947]. Nach diesen Angaben betrug die Mitgliederzahl in den 1930er-Jahren, als die Kommunistische Partei aufgelöst wurde, kaum mehr als 20.000 Mitglieder. Siehe auch Barry McLoughlin – Hannes Leidinger – Verena Moritz, Kommunismus in Österreich 19181938. Innsbruck – Wien – Bozen 2009. 28 Mit diesem Etikett wurden auch die Vertreter des „Provisorischen Österreichischen Nationalkomitees“, nicht ohne Zutun der KPÖ, versehen, dessen Tätigkeit auf dem Gebiet der sowjetischen Besatzungszone unterbunden worden war. RGANI, F. 3, op. 23, d. 87, S. 49 f., Bericht G. Dimitrovs über die Vertreter des „Provisorischen Österreichischen Nationalkomitees“, 6.4.1945. Siehe auch Stefan Karner – Peter Ruggenthaler, Stalin und Österreich. Sowjetische Österreich-Politik 1938 bis 1953, in: Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung 2005, Berlin 2005, S. 102–140, hier S. 105. 29 Zit. n.: Sovetskaja politika v Avstrii. 1945–1955 gg. Sbornik dokumentov. Moskau 2006, S. 45. Dieses Fragment aus der Direktive des Hauptquartiers der 2. und 3. Ukrainischen Fronten, unterzeichnet von Stalin am 2.4.1945, wurde im Folgenden mehrmals in Truppenbefehlen, bei Aufrufen an die Bevölkerung, in der Presse etc. zitiert.

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schall Harold Alexander, dass „die vereinten Truppen in Österreich als Sieger einmarschieren, da Österreich als Bestandteil Deutschlands Krieg gegen die Vereinten Nationen geführt hat“.30 Doch die KPÖ vermochte aus diesem vermeintlichen propagandistischen Vorteil langfristig keine Vorteile für sich zu erzielen. Erst nach der Moskauer Deklaration vom Oktober 1943 wurde die KPÖ von der sowjetischen Führung als eigene nationale Partei wahrgenommen und in der Folge gezielt als national eigenständige Partei betrachtet und aufgebaut. Letztlich war die KPÖ nur zu einem geringen Maße das, was jede Partei sein sollte – ein Rädchen in der Weltrevolution, sondern stattdessen eines von vielen Werkzeugen der sowjetischen Deutschlandpolitik. Bei der Bildung der provisorischen Regierung unter sowjetischer Ägide offenbarte sich das Statistendasein der österreichischen Kommunisten. Nicht die KPÖ war aus Moskauer Sicht der wichtigste Faktor in Österreich, sondern musste hinter die Wahrung der Interessen einer Realpolitik zurückweichen – zur großen Enttäuschung vieler österreichischer Kommunisten.

30 Siehe Bjulleten’ Bjuro informacii CK VKP(b). Voprosy vnešnej politiki. 1945 g. Nr. 17, in: RGANI, F. 3, op. 23, d. 22, S. 187.

Die Moskauer Außenministerkonferenz und ihre Folgen in den Erinnerungen österreichischer und rus­ sischer Diplomaten: Friedrich Bauer, Franz Cede, Her­ bert Grubmayr, Walter Siegl, Vladislav Terechov

Podiumsdiskussion zur „Moskauer Deklaration“, Wien, 29. Oktober 2013 (Auszüge in gesprochenem Wortlaut) Teilnehmer: • Friedrich Bauer, 1990 bis 1995 österreichischer Botschafter in Moskau. • Franz Cede, 1999 bis 2003 österreichischer Botschafter in Moskau. • Herbert Grubmayr, 1955 bis 1958 Erstzugeteilter des österreichischen Botschafters N. Bischoff in Moskau, 1985 bis 1990 österreichischer Botschafter in Moskau. • Vladislav Terechov, 1957 bis 1962 Mitarbeiter an der sowjetischen Botschaft in Wien, 1990 bis 1997 sowjetischer bzw. russischer Botschafter in Bonn. • Walter Siegl, 1995 bis 1999 österreichischer Botschafter in Moskau. • Stefan Karner, Vorsitzender der Österreichisch-Russischen Historikerkommission. St. Karner: Sehr geehrte Damen und Herren. Zunächst darf ich Sie zu unserer Podiumsdiskussion herzlich begrüßen. Die am Podium anwesenden Botschafter sind alle Spitzendiplomaten. Die Österreicher verbindet vor allem eines: Sie hatten alle in Moskau einen Botschafterposten inne, Herr Terechov war in Wien und auch Botschafter in Bonn. Ich darf die Diskutanten am Podium kurz vorstellen: Es sind dies die Herren Botschafter Friedrich Bauer, Franz Cede, Herbert Grubmayr, Vladislav Terechov und Walter Siegl. Botschafter Walter Siegl sprang ad hoc für Herrn Botschafter Ludwig Steiner ein, dem es heute leider nicht möglich ist, zu kommen. Ich darf zunächst mit Herrn Botschafter Dr. Friedrich Bauer, Jg. 1930, kurz beginnen, der die deutsche Einigung in Deutschland als Botschafter in Bonn und den Zusammenbruch der Sowjetunion und den Anfang Russlands in Moskau erlebt hat. Er war also an zwei wichtigen Eckpunkten der jüngsten

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Geschichte, direkt als österreichischer Vertreter, einmal in Bonn, einmal in Moskau, tätig. Herr Botschafter, wie war Ihre Argumentationslinie 1990/91 gegenüber den Russen in der Frage „Österreich als Opfer?“ und in Bezug auf Österreichs Mitverantwortung, einem wesentlichen Punkt der „Moskauer Deklaration“ und später des Staatsvertrages? F. Bauer: Zuerst einmal möchte ich sagen, dass es natürlich eine sehr enge Verbindung zwischen Diplomatie und Wissenschaft gibt, denn wenn die Diplomaten keine Berichte geschrieben hätten, hätten die Historiker gar kein Material und nichts zu tun. Das Zweite ist, bevor ich darauf eingehe, eine persönliche Bemerkung. Ich bin Jahrgang 1930, war Ende des Zweiten Weltkrieges 14 ½ Jahre alt, und da bekam ich eine Einladung: das „Dritte Reich“ und Hitler im Volkssturm zu verteidigen. Aber es waren dann die Sowjets früher in Wien als ich beim Volkssturm. Und daher fühle ich mich von der sowjetischen Armee befreit. Zu Ihrer Frage: Diese Probleme – schuld oder nicht schuld – sind in meiner Zeit überhaupt nie zur Sprache gekommen. Was allerdings bei Diskussionen zur Sprache gekommen ist, ist der Artikel 7 des Staatsvertrages. Da hat man mich immer wieder gefragt: Wieso ist das noch nicht erledigt? St. Karner: Das ist jener Artikel im Staatsvertrag, in dem es um die Minderheiten in Österreich und deren Rechte geht. F. Bauer: Vor allem die Ortsnamenfrage in Kärnten. Da bin ich ein bisschen geschwommen, habe ich zugeben müssen und im Hinblick darauf, dass das 50 Jahre zurückliegt, doch meiner persönlichen Beschämung Ausdruck verliehen. St. Karner: Sie haben nie über die Frage der Mitverantwortung oder die Opfer-Täter-Diskussion mit den Russen gesprochen? F. Bauer: Vielleicht haben zu dieser Zeit, als die Sowjetunion sich aufgelöst hat, die Russen und die anderen Völker doch ganz andere Sorgen gehabt, als sich um solche Dinge der Vergangenheit zu kümmern. Übrigens: Über die Moskauer Deklaration hatte ich auch nie etwas gehört. Allerdings: Staatsvertrag und

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Neutralität – das ist die Basis der österreichisch-sowjetischen und dann österreichisch-russischen Beziehungen. St. Karner: Herr Botschafter Franz Cede, der Nächste in der Runde, war vor seinem Posten in Moskau Leiter des österreichischen Völkerrechtsbüros. Er unterrichtet heute z. B. an einer Universität in Budapest Völkerrecht. Herr Cede war von 1999 bis 2003 in Moskau österreichischer Botschafter und von 2003 bis 2007 Botschafter Österreichs in Belgien, also bilateral, aber auch Botschafter bei der NATO. Herr Botschafter Cede, ich stelle noch einmal dieselbe Frage, die ich schon Botschafter Bauer gestellt habe. F. Cede: Ich kann mit Botschafter Bauer fortsetzen, dass ich direkt in den Gesprächen in Moskau nie auf die Moskauer Erklärung vom Jahre 1943 angesprochen wurde. Allerdings hat mich ein Problem, das indirekt in Zusammenhang mit der Moskauer Erklärung steht, nämlich die schönste Frucht der Moskauer Erklärung, der Staatsvertrag von Wien, sehr intensiv in Moskau beschäftigt. Und als sich die Sowjetunion Ende 1991 aufgelöst hatte, hatte in der Folge, und nun komme ich in mein juristisches Vorleben zurück, Österreich einen anderen Rechtsstandpunkt vertreten als Moskau. Die neugebildete Russische Föderation betrachtete sich als Fortsetzerstaat der Sowjetunion, in direkter Kontinuität mit der Sowjetunion. Österreich hat, das war noch in der Ära Mock, noch bevor wir 1995 der Europäischen Union beigetreten sind, gemeint, dass die Russische Föderation wie ein „Phönix aus der Asche“ als Neustaat in die internationale Staatengemeinschaft eingetreten ist. Damit wäre natürlich die Kontinuität ab dem Staatsvertrag und indirekt der Moskauer Deklaration auf dem Müllhaufen der Geschichte gelandet. Sie können sich vorstellen, dass sich unsere russischen Gesprächspartner – und Botschafter Grubmayr, mit dem ich in Moskau diesbezügliche Gespräche führen durfte, wird davon ein Lied singen können – und unsere Freunde im MID, im russischen Außenministerium, über die Position Österreichs nicht übermäßig gefreut haben. Ich bin mir ein bisschen vorgekommen wie der David, der dem Goliath gegenübertritt, als wir diese österreichische Rechtsposition versuchten zu erklären. Wir konnten dann allerdings sehr elegant die Kurve kratzen, also die juristische, als wir 1995 der Europäischen Union beigetreten sind und daher sehr gerne den Standpunkt der EU zur Russischen Föderation, zur Staatenfolge übernommen haben. Also indirekt haben der Staatsvertrag und die Moskauer Deklaration für meine Arbeit in Russland doch eine Rolle ge-

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spielt. Ich möchte meine kurze Intervention mit einer Frage an Botschafter Grubmayr weiterführen: Als Student der Rechte habe ich mich natürlich mit der Geschichte des Österreichischen Staatsvertrages beschäftigt und gelesen, dass am Tag vor der Unterzeichnung des Staatsvertrages am 15. Mai 1955, also am 14. Mai, in der Endredaktion des Staatsvertrages der dritte Paragraf der Präambel, der also die Mitverantwortlichkeitsklausel vorsieht, über Ersuchen von Leopold Figl gestrichen worden sei. Meinen Gesprächen zufolge hätte Außenminister Figl dem sowjetischen Außenminister [Vjačeslav M.] Molotov erklärt, dass diese Klausel mit der Verantwortung Österreichs für die Teilnahme am Krieg auf der Seite Hitler-Deutschlands doch eigentlich für ihn eine Zumutung sei, wo er als KZ-Insasse in Dachau eben ein Opfer des Nationalsozialismus gewesen sei. Und Molotov, der am Vortag noch in Warschau gewesen war, um den Warschauer Pakt zu gründen, hätte nur gesagt: „Požalujsta!“, und dieser Passus ist gestrichen worden. Mich hätte einfach interessiert, was sich da abgespielt hat. Vielen Dank! St. Karner: Bevor ich diese Frage weitergebe, lassen Sie mich kurz Botschafter Dr. Herbert Grubmayr vorstellen. Er ist hier am Podium der Doyen der österreichischen Diplomatie. Und er war als ganz junger Diplomat an der österreichischen Botschaft in Moskau im April 1955 tätig, als die österreichische Regierungsdelegation mit [Leopold] Figl, [Julius] Raab, [Adolf] Schärf und [Bruno] Kreisky nach Moskau gekommen ist. Ludwig Steiner, der heute nicht kommen konnte, war damals Sekretär von Julius Raab. Der damals junge Diplomat Grubmayr hat alles mitverfolgt, was sich damals, einen Monat vor Abschluss des Staatsvertrages, in Moskau ereignet hat und wie sich die entscheidenden Verhandlungen abgespielt haben. Botschafter Grubmayr war dann in verschiedenen Botschafterfunktionen tätig, in Kolumbien, im Irak, in Syrien und in der Sowjetunion von 1985 bis 1990, das heißt, genau in der Phase der Perestrojka, wo eben [Michail S.] Gorbačev an die Macht gekommen ist. Ab 1995 war Grubmayr als Sonderbeauftragter von Außenminister Alois Mock für die Agenden und Fragen zu Russland tätig, für die OSZE arbeitete er in Estland und in Albanien, also in verschiedensten Sonderfunktionen, die er, damals schon in der Pension, wahrgenommen hat. Zudem hat Grubmayr seine wichtigen Erfahrungen in den Versöhnungsfonds der Republik Österreich eingebracht. H. Grubmayr: In welchem Sinn war die Frage gemeint? Was wir 1990 besprochen haben?

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F. Cede: Die Frage war, dass im Staatsvertrag, in der Präambel, im Entwurf, ursprünglich auf die Moskauer Deklaration, eben speziell auf den dritten Präambularparagrafen, auf die sogenannte Mitverantwortungsklausel, Bezug genommen wurde, und Außenminister Figl hat dies durch eine Bitte an den sowjetischen Außenminister Molotov wegreklamieren können. Und im Buch von [Gerald] Stourzh steht unter diesem Passus: „Auf Antrag Außenminister Figls gestrichen“.1 H. Grubmayr: Ja, dazu wollte ich noch sagen: In Moskau, das war also ein Monat vor diesem Gespräch, vor diesem Auftritt am 14. Mai 1955 bei den Schlussverhandlungen zum Staatsvertrag, hat bei einem Abendessen, welches am 14. April im Kreml für die österreichische Delegation gegeben wurde, Figl sich plötzlich vor Molotov hingestellt und hat gesagt: „Sehen Sie, Herr Minister“, so im österreichischen Dialekt, aber der russische Dolmetscher war imstande, das zu übertragen, „ich hab mich schon gewundert, wie ich im August 1939 im KZ Dachau beim Appell gestanden bin und wie plötzlich Ihre Stimme über den Lautsprecher zu hören war, wie der [Joachim von] Ribbentrop in Moskau war und Sie mit ihm den Vertrag abgeschlossen haben.“ Molotov und der Übersetzer sind erstarrt, und Molotov hat nur gesagt „Da, da“, also „Ja, ja“. Aber bitte, vielleicht hat das auch gewirkt. Es war für Molotov natürlich ein bisschen peinlich, als Figl ihn auf diese Sache aufmerksam gemacht hat. Und das war 1955 – ich bin eher durch einen skurrilen Zufall nach Moskau gekommen. Ich wollte gar nicht dorthin, ich war Niederösterreicher und hatte die sowjetische Besatzungsmacht in St. Pölten miterlebt. Da ist dann der Schuldirektor gekommen mit einem Papier und da stand drauf: „alle Schüler müssen freiwillig Russisch lernen“. Und der Direktor flehte uns an: „Kinder, bitte unterschreibt alle diese Liste, dass ihr freiwillig Russisch lernen wollt. Sonst werden weitere Häuser in St. Pölten für die Zwecke der Besatzungsmacht evakuiert.“ Also haben wir das alle unterschrieben. Mir hat das an sich nichts gemacht, denn ich bin schon im Februar 1945, als der Wehrmachtsbericht meldete, dass sich die 6. SS-Panzerarmee „siegreich“ über den Balatonsee zurückgezogen hat, verzweifelt in meine Schulbuchhandlung gegangen und hab mir „Langenscheidts Russische Unterrichtsbrie1

Siehe Gerald Stourzh, Um Einheit und Freiheit: Staatsvertrag, Neutralität und das Ende der Ost-West-Besetzung Österreichs 1945–1955. Studien zu Politik und Verwaltung. Bd. 62. 5. Aufl. Graz et al. 2005, S. 683.

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fe“ gekauft, weil ich gewusst habe: Unsere Hoffnung, dass die Amerikaner zu uns kommen würden, ist damit aus – die Sowjetarmee ist ja schon so nahe – und hab sofort damit begonnen, Russisch zu lernen, sodass ich mich dann, als am 8. Mai die sowjetische Armee nach Scheibbs kam, wohin ich damals von St. Pölten zu meinen Verwandten geflüchtet war, immerhin schon irgendwie verständigen konnte. Und da flüsterte mir jemand auf der Straße zu: „Pass auf, geh nicht aus dem Haus, Du bist so groß (ich war damals schon fast so groß wie ein Erwachsener) und in Zivil, es gehen die NKVD-Truppen herum, die mit rotblauer Kappe, und nehmen Dich mit nach Sibirien!“ Also, was tun? Da hab ich mich als Fleischhauer angezogen, weiße Schürze, weißes Hemd, weiße Jacke und dann ist so ein Rotkappler, so haben wir die Geheimdienstler mit dem roten Käppchen genannt, hergekommen und sagt: „Was machst denn du da?“ Und ich hab laut geschrien: „Ja delaju kolbasu!“ – „Ich mache Würste!“ Mein Onkel hat eine große Fleischerei in Scheibbs gehabt. Und nachdem der Kommandant, das habe ich schon gewusst, meinen Onkel beauftragt hat, er muss Würste für ihn und seinen Stab machen, für die Offiziere und für die Siegesfeier, und dabei darf niemand durch die sowjetischen Soldaten gestört werden, hat mich der NKWD-Mann sofort losgelassen, wie er meine Antwort auf Russisch gehört hat. Das Wort „kolbasa“ hatte ich aber erst durch die Langenscheidt-Unterrichtsbehelfe gelernt. Ein weiterer skurriler Zufall in Scheibbs: Da hat sich der Stadtkommandant einquartiert im Haus des NSDAP-Ortsgruppenleiters, eines im Ort sehr bekannten Geschäftsmanns. Und auf einmal, als ich an diesem Haus vorbeigehe, so am 10. Mai, da hab ich geglaubt, ich hör nicht recht; aus dem oberen Stock erklingt das SA-Lied, und am Fenster sehe ich so einen altertümlichen Plattenspieler stehen, den man noch mit einer Kurbel händisch betätigen musste; daneben sitzt ein russischer Wachsoldat und klatscht in die Hände und singt fröhlich „La-lala-lala“ mit. Der hatte natürlich keine Ahnung vom Inhalt, aber die Melodie hat ihm offenbar gefallen. Am 9. Mai wurde ich zur Druckerei gerufen – die Druckerei in Scheibbs musste die Siegesbroschüren drucken, für die Verteilung an die sowjetischen Soldaten. Da war das Bild von Iosif Vissarionovič Stalin drauf, dann Hammer und Sichel sowie der Text des Tagesbefehls anlässlich des Sieges. Die Druckbögen mussten dann in einer gewissen Weise gefaltet werden, damit man den Inhalt durchlaufend lesen kann. Und da bin ich auch wegen meiner Russischkenntnisse herangezogen worden, der Scheibbser Druckereibesitzer hat mich gebeten: „Bitte komm, Du musst das richtig zusammenlegen“. Da hab ich vom Abend bis in der Früh acht Stunden diese Broschüren gefaltet, das wird mir ewig in Erinnerung bleiben. Wenn ich aufwache, sehe ich das

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noch oft vor mir – Hammer und Sichel und das Bild vom „Vožd‘“. Man hat ja zu Sowjetzeiten auf Russisch das gleiche Wort verwendet wie bei uns für Hitler – „Vožd“ heißt ja „Führer“. Und zehn Tage vorher, am 1. Mai, das war das Groteske, musste ich noch über Befehl des Kreisleiters von Scheibbs, also des örtlichen „Obernazi“, zur „Trauerfeier für unseren im Heldenkampf gefallenen Führer Adolf Hitler“ gehen. Und da wurde die 5. Symphonie von Beethoven gespielt und neun Tage später habe ich für Stalin die Siegesbroschüren vorbereitet. Das war der Beginn meiner Russisch-Karriere! St. Karner: Wie liefen die Verhandlungen, die Sie als Sonderbeauftragter von Außenminister Alois Mock mit der russischen Regierung in Moskau hinsichtlich Staatsvertrag und Neutralität Österreichs führten? H. Grubmayr: Nun ja, es hätte Präsident Boris N. Jelzin im Frühjahr 1995 zur 40-Jahrfeier des Staatsvertrages nach Wien kommen sollen. Man hatte damals auch eingeladen die britische Königin Elisabeth II., den US-Präsidenten Bill Clinton und den französischen Ministerpräsidenten François Mitterand. Aber alle anderen sagten ab, es wäre also nur mehr Präsident Jelzin als ausländischer Gast übriggeblieben. Und außerdem sollte bei dieser Gelegenheit eine österreichisch-russische politische Erklärung unterschrieben werden. Der wesentliche Inhalt dieser Erklärung wäre folgender gewesen: erstens, dass der Staatsvertrag weiter gilt, und zweitens, dass die Neutralität weiter eingehalten wird; da hat es dann viele Textvariationen in den Entwürfen gegeben. Ich bin am Ende des Jahres 1994 in Pension gegangen, mit 65 erfolgt dies automatisch. Da hat Außenminister Alois Mock zu mir gesagt: „Du fährst jetzt nach Moskau und redest mit deinen kommunistischen Freunden“ – so hat er sich ausgedrückt. Ich habe gesagt, dass ich ja wirklich noch Kontakte dort hätte. Und er meinte: „Sag ihnen, das geht leider nicht mit der bilateralen Erklärung, sie wird nicht unterzeichnet.“ Ich berief mich dann noch darauf, dass ich ja schon in Pension und gar nicht mehr aktiv tätig sei. Er sagte nur: „Das ist mir gleich, Du fährst“. Und so musste ich im Februar 1995 nach Moskau fliegen; ich habe, um mich rechtlich abzusichern, unseren Spitzenjuristen Franz Cede geholt und gesagt, allein fahre ich nicht, ich will da Zeugen haben. Und dann fuhren wir zu zweit und konnten also doch unseren russischen Gegenübern diese Sache mit der „Erklärung“ ausreden. Wir argumentierten: die Neutralität ist eine Sache, die wir ja selbst beschlossen haben, da gibt es keinen Vertrag, aber

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dies wurde auch noch bestritten. Denn ich habe sowohl 1955 als auch als Botschafter in den 1980er-Jahren immer wieder mit den sowjetischen Gesprächspartnern darüber streiten müssen, ob sie das Recht haben, die Frage der Neutralität mit uns als Vertragspartner zu diskutieren. Wir haben das immer abgelehnt, weil der österreichische Nationalrat, das Parlament, ohne Intervention von außen die Neutralität beschlossen hat, die dann am 5. November 1955 in Kraft getreten ist. Dann hat man von sowjetischer bzw. nachher von russischer Seite immer wieder das Moskauer Memorandum zitiert und hat gesagt, das Moskauer Memorandum vom April 1955 ist die politisch-historische Verknüpfung zwischen Neutralität und Staatsvertrag und daher hätten sie (Sowjets, Russen) das Recht, bei der Neutralität mitzureden. Diese Argumentation wurde von österreichischer Seite stets abgelehnt, man hat bei uns das Moskauer Memorandum von jeher als „Verwendungszusage“ bezeichnet. Ich weiß nicht, wie dieser Ausdruck zu übersetzen wäre – vielleicht „obeščanie chodataistva“ („Versprechen, sich zu verwenden“). Das hieß damals also, die österreichischen Unterzeichner des Memorandums würden im österreichischen Parlament dafür einsetzen, dass dieses die Neutralität annimmt, das konnte ja nicht Neutralitätsaspekt der Bundesregierung von sich aus erledigen. Diese Frage bildete also jahrzehntelang ein Streitthema, hat dazwischen ja auch andere Botschafter beschäftigt. Ich habe in den 1950er-Jahren, am Anfang meiner Karriere, sehr viel darüber sprechen müssen, vor allem mit Beamten der 3. Europäischen Abteilung des sowjetischen Außenministeriums. Darunter war auch ein Legationsrat Aleksandrov, der später längere Zeit im Umkreis von Leonid I. Brežnev arbeitete. Er war wesentlich älter als ich und er hat mich ein bisschen so behandelt wie sich ein strenger Lehrer gegenüber einem störrischen, unbelehrbaren Schüler verhalten würde: „Das gibt es nicht, das ist so und so, und das wissen Sie nicht?“ Ich sagte: „Bitteschön, ich weiß das auch, ich war schließlich dabei [gemeint waren vor allem die Neutralitätsaspekte in Zuge der Staatsvertragsverhandlungen im April 1955].“ Und wir haben schon ab Sommer 1955, also noch bevor die Neutralität im österreichischen Parlament beschlossen worden war, darüber gestritten, ob wir sie einhalten. Die Auseinandersetzung hat sich damals auf zwei internationale Organisationen bezogen, die von der Sowjetunion in Wien gegründet worden sind: der Weltfriedensrat und der Weltgewerkschaftsbund. Die sowjetischen Funktionäre sind ja bis Sommer 1955 mit einem „Propusk“, einer Art von sowjetischem Militär-Visum, nach Österreich, eingereist, wir konnten bis dahin nichts dagegen unternehmen. Nun, am 27. Juli dieses Jahres wurde ich als Geschäftsträger (der Botschafter war auf Urlaub) ins Außenministerium zitiert, zu Andrej A. Gromyko,

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der damals Erster Stellvertretender Außenminister war. Er stellte sich ohne viel Begrüßung vor mich hin und las mir in schnellem, undeutlichem Tonfall eine lange Note vor. Ich hab am Anfang zu meinem Schreck fast nichts verstanden, bis ich merkte, dass wir ab sofort Sichtvermerke für sowjetische Staatsbürger erteilen sollten, die nach Österreich einzureisen wünschten. Der Grund: an diesem Tag trat der österreichische Staatsvertrag in Kraft und wir waren wieder souverän! Ich war sehr stolz darauf, an einem solchen Akt mitwirken zu dürfen. Am nächsten Tag wandelte sich meine Freude in ­Schrecken – es kam ein Amtsdiener des sowjetischen Außenministeriums mit einem großen Reisekoffer, den er vor mir öffnete – da waren Hunderte Pässe drinnen. Wir waren nur zu dritt im Büro der Botschaft, drei Personen! Und wir hatten nicht einmal Regeln für die Ausstellung von Einreisesichtvermerken für sowjetische Staatsbürger. In Wien, vor lauter Freude über den Staatsvertrag hatte man auf solche „Kleinigkeiten“ ganz vergessen. Jetzt mussten wir mit Wien über die Visa-Vorschriften kommunizieren – es gab ja kein Mail, kein Fax, keine Verbindung außer Telefon. Aber man heckte in Wien sogleich eine Bosheit aus. Unsere Regierung hat es zwar nicht gewagt, die beiden schon genannten „kommunistoiden“ internationalen ­Organisationen direkt zu verbieten. Aber man hat den sowjetischen Funktionären, die darin tätig waren und dienstlich oder privat nach Moskau reisten, keine Wiedereinreise-Erlaubnis mehr erteilt, das heißt, man hat die beiden Organisationen personell ausgehungert. Und da hat mich dann Herr Aleksandrov zu sich zitiert und gesagt: „Ihr verletzt die Neutralität, weil ihr diese Leute nicht wieder einreisen lasst. Die sind ja nicht vom sowjetischen Außenamt dort, sondern das sind internationale Funktionäre, natürlich mit sowjetischer Staatsbürgerschaft. Also warum gebt ihr ihnen keine Visa?“ „Na ja“, hab ich erwidert, „das ist die Anweisung aus Wien, ich kann die Sichtvermerke leider wirklich nicht erteilen.“ Natürlich sind die Funktionäre der sowjetischen Botschaft in Wien in unser Außenministerium gegangen, dort hat man dann die Proteste abgekriegt. Aber infolge dieser Maßnahme mussten die beiden „Units“ in andere Städte (Prag, Helsinki) verlegt werden. Das war meine erste Auseinandersetzung über die Neutralität – beginnend mit August 1955. Der nächste, viel schärfere Konflikt dieser Art entstand im Herbst 1956, beim Ungarnaufstand. Da haben wir vom Moskauer Außenamt einige diplomatische Noten bekommen, worin sich lange Listen von deutschen und amerikanischen Flugzeugen befanden, die angeblich in Schwechat Waffen ausgeladen hätten, die dann von uns den ungarischen Konterrevolutionären zur Verfügung gestellt worden seien. Ich habe das alles nach Wien weitergegeben – es gab ja damals keine Chiffriermaschinen, nichts, wir mussten diese

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ganzen Texte händisch chiffrieren. Und die Antwort war: „Ja, die Flugzeuge sind wirklich gekommen“ – von sowjetischer Seite wurden ja die Flugzeugkennungen und zahlreiche andere technische Details angegeben. Die Ladung habe jedoch nur aus Decken, medizinischen Geräten und Verbandsmaterial bestanden. Und diese Güter wurden dann für die ganze notleidende Bevölkerung in Ungarn zur Verfügung gestellt, die in Schwierigkeiten gekommen war. Und dann wurde uns im Moskauer Außenministerium auch gesagt (sie haben dort unseren Ausführungen natürlich nicht geglaubt), das sei eine Verletzung der österreichischen Neutralität, und wenn Österreich nicht imstande oder willens sei, diese Neutralitätsverletzungen zu verhindern, „dann werden wir Maßnahmen ergreifen müssen“. Und da haben wir manchmal schon etwas Angst bekommen. Wir haben dann in der Früh aus dem Botschaftsgebäude hinausgeschaut, ob da schon rundherum im Starokonjušennyj Pereulok („Alte Pferdestallgasse“) irgendwo KGB-Wachen stehen, die uns festnehmen und die Botschaft besetzen werden. Dies ist nie passiert, aber es war die erste „Strapazierung“ der Neutralität, wo wir versucht haben, ohne viel Erfolg, zu erklären, dass die Neutralität ein einseitiger Akt Österreichs war und uns die Sowjets daher diesbezüglich keine Vorschriften machen können. Um die Sache zu beruhigen, haben wir dann im Frühjahr 1957 Handelsminister Anastas I. Mikojan zum offiziellen Besuch nach Wien eingeladen. Er wurde ort sehr gut behandelt, man hat ihm auch die Villa der Habsburger in Bad Ischl gezeigt. Dort hat es für ihn ein Essen gegeben, in der Kaiservilla. Mikojan war ja eine eher flexible Persönlichkeit. Da hat sich die Spannung dann wieder etwas gelegt. Aber es war schon, muss ich sagen, für mich – ich war damals ja gerade einmal 27 Jahre alt – eine größere seelische Kraftprobe. St. Karner: Ich möchte nun das Wort weitergeben an Herrn Prof. Dr. Vladislav Terechov. Er ist heute Professor am Lehrstuhl für Diplomatie des Moskauer Staatlichen Instituts für Internationale Beziehungen, allen besser bekannt unter „MGIMO“. Terechov stammt aus Südrussland, aus Rostov am Don, also aus der Nähe des Geburtsortes von Anton Čechov. Terechov hatte verschiedene Funktionen im diplomatischen Dienst, er war u. a. auch in Wien, in jener Zeit, als Botschafter Grubmayr in Moskau war, nämlich in den 1950er-Jahren. Später, nach verschiedenen anderen Funktionen, wurde er 1990 Botschafter in Bonn. Herr Terechov, wie haben denn die Russen die Österreicher gesehen, im normalen diplomatischen Verkehr und im Dienst?

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V. Terechov: Als ich zum ersten Mal 1957 nach Österreich kam, nach dem Abschluss der Hochschule für internationale Beziehungen, und blieb hier bis 1961. Da muss ich schon sagen, dass diese Zeit sehr interessant und sehr wichtig war für unsere beiden Länder, weil in dieser Zeit die Grundlage gelegt wurde, also die praktische Besiegelung der Politik der Moskauer Konferenz, der Neutralität, und da muss ich schon sagen, dass die Einstellung unserer österreichischen Partner in der Botschaft sehr angenehm, sehr einfach und sehr offenherzig war. Das möchte ich sagen. Ich war als Dolmetscher tätig, das war der niedrigste Posten in der Botschaft, aber dieser Posten hat den Vorteil gehabt, dass ich dabei war, als unsere Botschafter [Sergej G.] Lapin und später [Viktor I.] Avilov Gespräche mit den österreichischen Politikern geführt haben. Was besonders schwierig war für uns, war, dass unterschiedliche Politiker eine unterschiedliche Gabe haben, ihre Gedanken zum Ausdruck zu bringen. Es gibt Leute, die sehr viel sprechen, und für die Leute, die sich das anhören, ergibt dies zahlreiche Offenbarungen. Und es gibt solche, die sehr wortkarg sind, diese verwenden dann nur einige wenige Worte in den Gesprächen. Und einer dieser Politiker war Julius Raab. Es war da außerordentlich schwierig für den Botschafter, da ein Gespräch zu übersetzen, und ich als Dolmetscher musste dann ja auch das Gespräch so führen. So fragte der Botschafter: „Glauben Sie nicht, dass ... und weiter folgte eine große Passage.“ Und Julius Raab war sehr ruhig und antwortete: „Nein, das glaube ich nicht.“ Und gab den Schwarzen Peter wieder zurück an den Botschafter. Was glaube ich, wird es oder wird es nicht? Das war schwierig, wirklich, das war sehr problematisch, so ein Gespräch zu führen. Aber auch in anderen Fällen hatten wir interessante Gespräche mit österreichischen Politikern, wie mit Alois Mock, [Leopold] Figl, Kreisky oder [Bruno] Pittermann. Auch kenne ich den Spruch: „Jedermann für Pittermann, und Pittermann für jedermann!“ Das blieb mir in Erinnerung. Was mir auch in Erinnerung blieb, war eine Reise mit Bundeskanzler [Alfons] Gorbach. Er kam nach Moskau, ich glaube im Jahr 1963.2 Und er machte eine lange, lange Reise in der Sowjetunion, er war nicht nur in Moskau, er war auch in Leningrad,3 und dann war er auch am Baikalsee. Das war für uns eine sehr interessante Reise, und er war sehr gesprächig. Er hat auch inhaltsreiche Gespräche mit Chruščev gern und sehr interessant geführt. Er war auch ein großer Liebhaber von verschiedenen lustigen Geschichten. Er hatte einige kleine Büchlein mit solchen Geschichten bei sich. 2 3

Der Besuch Gorbachs in der Sowjetunion fand vom 28. Juni bis 5. Juli 1962 statt. Das heutige St. Petersburg.

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Warum sage ich das: Als wir nach dem Abschluss der Gespräche mit Chruščev von Moskau nach Leningrad fuhren, mit diesem bekannten Zug „Roter Stern“. Als wir da in dem Waggon waren, die Kollegen waren schon schlafen gegangen, kommt plötzlich die Meldung: Bundeskanzler Gorbach ruft alle in seinen Waggon. Er will noch mit den Leuten sprechen. Da waren einige Begleiter und wir als Dolmetscher. Und dann begann er, seine Geschichte zu erzählen. Lange Geschichten. Das dauerte 30 Minuten, das dauerte eine Stunde, das dauerte dann zwei Stunden, und wir waren dann schon sehr müde. Und so etwas wollte er auch, als wir mit ihm am Baikalsee waren, auf einer Reise mit einem Schiff. Da hatten sie mit der Führung des dortigen Stadtkomitees diskutiert, und da zeigte es sich, dass sie ähnliche Interessen hatten, was die Geschichte und die Literaturgeschichte betrifft. Und da gab es lange, lange Gespräche. Mit Österreich verbinde ich viele, viele gute Erinnerungen, wie ich als junger Mann hier war, mein Sohn ist hier geboren, er ist auch ein Wiener. Jetzt habe ich schon Enkel und Urenkel. St. Karner: Das heißt, Sie haben das Treffen Kennedy – Chruščev noch hier in Wien erlebt? V. Terechov: Ja, da waren ja beide zum Gipfel hier. Da gab es auch eine lustige Geschichte mit ihm [Chruščev]. Er hat hier eine Landwirtschaft besucht, wo Schweine gezüchtet wurden. Er äußerte sich dabei sehr positiv über die Kunst der Schweinezucht hier. Und am nächsten Tag sehen wir vor der Botschaft einen großen Wagen stehen bleiben. Und die haben dann eine große Kiste übergeben, mit einem Schwein. St. Karner: Und das wurde dann der Botschaft übergeben? V. Terechov: Ja, aber was sollten wir da in der Botschaft mit dem Schwein machen? Glücklicherweise war Chruščev damals nicht mit dem Flugzeug, sondern mit dem Zug nach Wien gekommen. Und wir haben dann schnellstens das Schwein in den Zug bringen lassen. Ja, das mit Kennedy war damals auch so eine Geschichte. Wir haben zwei Wochen vor dem Besuch davon erfahren. Es war notwendig, die Botschaft darauf vorzubereiten, neu zu möblieren. Das wurde gemacht. Und bis heute sind die Zimmer bekannt, wo ein Teil der Gespräche stattgefunden hat. Ein

Podiumsdiskussion

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Teil der Gespräche fand ja in unserer Botschaft statt, der andere Teil in der amerikanischen Botschaft.4 Schade, aber dieser Besuch, diese Gespräche haben leider wenig Positives gebracht damals. Aber die Gespräche in Österreich selbst haben für uns eine große Rolle gespielt. St. Karner: Ich komme zu Herrn Botschafter Dr. Walter Siegl, der vielen in seiner letzten Funktion als politischer Direktor im Außenministerium bekannt ist. Aber zuvor war er in verschiedenen diplomatischen Funktionen, auch als Botschafter in Belgrad 1991/92, in dieser sehr schwierigen Zeit des Zusammenbruchs Jugoslawiens. Von 1997 bis 1999 war er Botschafter in Moskau. Ich komme zurück auf die ersten Fragen: Wie haben Sie denn ab 1997 mit der russischen Seite die schwierigen Fragen zur Neutralität, zur Mitverantwortung etc. besprochen? W. Siegl: Ich war zweimal in Moskau. Einmal in der Zeit von [Leonid I.] Brežnev und das zweite Mal in der Zeit von [Boris N.] Jelzin. Was waren die großen Unterschiede in den bilateralen Beziehungen? Es drängt sich auf: Das erste Mal ist das Moskauer Memorandum natürlich erwähnt worden. Wie es meine Vorgänger bereits erwähnt haben, es war die Zeit, wo Österreich noch nicht in der EU war, und daher war das Anschlussverbot ein ständiges Thema, entweder hinter den Kulissen und doch auch als ein Stichwort. Im Staatsvertrag war damals für Moskau bestimmt das Anschlussverbot die wichtigste Bestimmung. Und die Neutralität wurde natürlich auch genau beobachtet, und da gab es Friktionspunkte der verschiedensten Art. Das betraf z.B. häufig bestimmte pointiert-kritische österreichische Pressestimmen oder eine Horchstation an der tschechoslowakischen Grenze - beides nach sowjetischer Ansicht Verletzungen der Neutralität. Aber auch in meiner ersten Dienstzeit in Moskau haben sich nicht mehr so dramatische Dinge abgespielt, wie es etwa Botschafter Grubmayr erzählt hat. Als ich dann Botschafter wurde – Jelzin war Präsident – war Österreich in der EU. Das war eine völlig neue Situation. Das russische Außenministerium war sehr interessiert zu sehen, dass Österreich dabei eine eigene Handschrift hat, und nahm generell zur europäischen Integration eine sehr klare Haltung ein: Zustimmung zur EU, aber nicht Zustimmung zur NATO. Dies hat sich natürlich auch in der Relation zu Österreich ausgedrückt. Das heißt, jeder Schritt Österreichs in Richtung NATO, der über die Partnerschaft für 4

Die Gipfelgespräche fanden nicht im Gebäude der US-Botschaft selbst, sondern in der Residenz des US-Botschafters in Wien statt.

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den Frieden hinausgegangen wäre, war da ein Problem, allerdings nicht ein Problem wie in früherer Zeit. Wie gesagt, die Beziehungen waren sehr freundschaftlich und sehr vertrauensvoll. Ich möchte dies mit einem Beispiel illustrieren, das Prof. Karner sehr nahesteht, der Frage des Mahnmals für die österreichischen Gefallenen in Stalingrad. Das österreichische Schwarze Kreuz hat sich enorm bemüht, da hat es Hunderte Schwierigkeiten gegeben, sehr verständliche. Eine konkrete war die strikte Gegnerschaft des Bürgermeisters von Wolgograd, der der Kommunistischen Partei angehörte. Verschiedene Varianten der Gestaltung standen zur Diskussion. Begonnen hat es mit der Idee einer Kapelle, dann wurde daraus ein sehr sichtbares „Denkmal“. Es stellte sich das Problem des Aufstellungsortes, das nicht leicht zu lösen war. Aber, und das möchte ich hervorheben, das russische Außenministerium und der russische Botschafter in Wien, Herr Vladimir M. Grinin, waren sehr verständnisvoll und haben in vielen Gesprächen die Schwierigkeiten so applaniert, dass dann die Aufstellung dieses Mahnmals erfolgen konnte, im ehemaligen Kampfgebiet außerhalb des Zentrums von Wolgograd. Es war ein Akt, den es einige Jahre vorher natürlich nie hätte geben können. Deutschland hatte Vorarbeit geleistet, in einfühlsamer Weise. Wie sich die allgemeine Situation verändert hatte, möchte ich auch anhand von Stalingrad mit einem kleinen, berührenden menschlichen Beispiel zeigen. Ich war einmal in Wolgograd, das war so um 1979/80, mit einer Bundesheerdelegation. Die Delegation stand unter der Leitung von General Scharf, dem damaligen Truppeninspektor. Und Scharf war in der deutschen Wehrmacht in Stalingrad eingesetzt gewesen, als Offizier. Seine Empfindungen vor Ort müssen sehr gemischt gewesen sein. Ähnliches gilt für seine damaligen sowjetischen Begleiter, die ja seine Biografie kannten. Ich habe ihn natürlich gefragt, ob er nie darauf angesprochen wurde. Nie - sagte er. Das heißt, schon in sowjetischer Zeit hat man den Unterschied gemacht, vor 1945 und nachher. Dass die russischen Veteranenverbände den Wandel mitgemacht haben, hat sich bei ihrer Zustimmung zur Aufstellung des erwähnten Mahnmals gezeigt. In Russland hat sich somit viel geändert. Wie ich kürzlich in Russland war, habe ich neben Denkmälern zum „Großen Vaterländischen Krieg“ auch erstmals Denkmäler für Gefallene in Afghanistan und Tschetschenien gesehen. Sie zeigen ein anderes Russland als die Monumente von Stalingrad/Wolgograd.

Podiumsdiskussion

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St. Karner: Meine Damen und Herren, ich möchte zum Schluss sagen: jeder der hier anwesenden Botschafter hat auch zu unserer wissenschaftlichen Arbeit sehr viel beigetragen. Auch dafür ist ihnen heute zu danken, ebenso wie Botschafter Martin Eichtinger als dem Leiter der Kultursektion, der österreichischen Botschaft in Moskau und Frau Botschafterin Dr. Margot Klestil-Löffler, den russischen Parteiorganisationen, der Russischen Akademie der Wissenschaften und der RGGU (Russische Staatliche Geisteswissenschaftliche Universität), und besonders der russischen Botschaft in Wien unter Botschafter Sergej ­Netschajew, der immer ein offenes Ohr für unsere Anliegen hat.

Helmut Wohnout

Die Mitschuldklausel und Österreich als NS-Opfer. Zur Ambivalenz der österreichischen Opferthese am biografischen Beispiel Leopold Figls

Die Frage, ob, und wenn ja, in welcher Form eine Verantwortlichkeit Österreichs bzw. der Österreicher am Zweiten Weltkrieg und an den national­ sozialistischen Verbrechen Gegenstand einer völkerrechtlichen vertraglichen Regelung zwischen Österreich und den Alliierten des Zweiten Weltkrieges sein sollte, stand ganz am Beginn der Geschichte des österreichischen Staatsvertrags und spielte bekanntlich bis in die buchstäblich noch allerletzten Verhandlungen um das Vertragswerk eine Rolle. Bereits in den von den Briten angestellten ersten Überlegungen firmierte das wieder zu errichtende Österreich als „erstes Opfer der Nazi-Aggression“ („first victim of Nazi aggression“); zugleich wurde aber festgehalten, dass im Hinblick auf die Behandlung Österreichs nach dem Krieg „die Haltung des österreichischen Volkes während des Krieges in Rechnung zu stellen“ sein werde. Dafür trügen die Österreicher „eine Verantwortung, der sie nicht entrinnen können“. Dies war der Ursprung der Verantwortlichkeitsklausel in der Moskauer Deklaration.1 1943 hatte der anglo-amerikanische „psychological warfare“ seinen Höhepunkt erreicht und es ist unschwer zu erkennen, dass aus der Perspektive der psychologischen Kriegsführung der Alliierten der innerösterreichische Widerstandswille gegen das NS-Regime gestärkt werden sollte.2 Die oben genannte Formulierung fand sich daher in diesem Wortlaut im gemeinsamen Entwurf der Engländer und Amerikaner bei der Außenministerkonferenz in Moskau im Herbst 1943 wieder.

1

2

Gerald Stourzh, Um Einheit und Freiheit. Staatsvertrag, Neutralität und das Ende der Ost-West-Besetzung Österreichs 1945–1955. 5. Aufl. Wien – Köln – Graz 2005, S. 14. Die weiteren wörtlichen Zitate aus dem Text der Moskauer Deklaration sowie aus dem Staatsvertragsentwurf 1947 sind dem Dokumententeil des Buches von Stourzh entnommen. Michael Gehler, Österreichs Außenpolitik der Zweiten Republik. Von der alliierten Besatzung bis zum Europa des 21. Jahrhunderts. Bd. 1. Innsbruck – Wien – Bozen 2005, S. 24; Manfried Rauchensteiner, Stalinplatz 4. Österreich unter alliierter Besatzung. Wien 2005, S. 9. Beide stützen sich auf die zur Entstehung und zum Umfeld der Moskauer Deklaration vorliegenden älteren Detailstudien, u. a. von Günter Bischof und Robert H. Keyserlingk.

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Die „Magna Charta“ Österreichs

Auch für die sowjetische Führung stand die Wiedererrichtung Österreichs außer Zweifel. Ventilierten Vorschlägen vonseiten der Briten, dies gegebenenfalls im Rahmen einer Donaukonföderation zu realisieren, stand man aber ablehnend gegenüber.3 Das Redaktionskomitee der Moskauer Konferenz sollte den dort vorgelegten anglo-amerikanischen Entwurf im Hinblick auf die Verantwortlichkeitsklausel auf Wunsch der Sowjets verschärfen. Nicht die Österreicher wurden an ihre Verantwortung für die Teilnahme auf deutscher Seite am Krieg erinnert, sondern Österreich als Staat wurde eine Verantwortlichkeit „für die Teilnahme am Kriege an der Seite Hitler-Deutschlands“ zugemessen, wobei sein eigener Beitrag zur Befreiung in Rechnung gestellt werden sollte. Damit war eine Verantwortlichkeit Österreichs nach Kriegsende festgeschrieben. Die am 30. Oktober 1943 verabschiedete und am 1. November veröffentlichte Moskauer Deklaration bildete, wie es Gerald Stourzh treffend formulierte, also ein höchst „janusköpfiges politisches Dokument, in dem die widersprüchlichen Thesen von Österreich als dem ersten Opfer der Hitlerischen Aggression u n d von seiner Verantwortung für die Teilnahme am Kriege an der Seite Hitler-Deutschlands nebeneinander standen“.4 Es ist naheliegend, dass sich die österreichische Politik der ersten Nachkriegsjahre an jenen Teil der Erklärung klammerte, der Österreich als Opfer definierte – bei gleichzeitiger möglichster Vernachlässigung seiner Rolle bzw. jener von Teilen seiner Bevölkerung als durchaus willfähriger Teil der NS-Kriegs- und Vernichtungsmaschinerie. Bereits in der Unabhängigkeitserklärung vom 27. April 1945 war zu lesen, dass der „Anschluss“ des Jahres 1938 dem österreichischen Volk aufgezwungen worden sei. Siegfried Beer hat diese Formulierung im Hinblick auf die Tatsache, dass die nationalsozialistische Machtergreifung in Österreich am 11. März 1938 von beträchtlichen Teilen der Bevölkerung begrüßt wurde, schlicht als „Halbwahrheit“ bezeichnet.5 In ihrem weiteren Verlauf nahm die Unabhängigkeitserklärung auf die Verantwortlichkeitsklausel in der Moskauer Deklaration explizit Bezug. Sie zitierte die entsprechende Passage, wonach Österreich für seine Be3

4 5

Aleksej Filitov, Sowjetische Planungen zur Wiedererrichtung Österreichs 1941–1945, in: Stefan Karner – Barbara Stelzl-Marx (Hg.), Die Rote Armee in Österreich. Sowjetische Besatzung 1945–1955. Beiträge. Veröffentlichungen des Ludwig Boltzmann-Instituts für Kriegsfolgen-Forschung. Sonderbd. 4. Graz – Wien – München 2005, S. 27–37, hier S. 29 f.; Aleksandr Čurilin, Wie die österreichische Frage gelöst wurde, in: Karner – Stelzl-Marx (Hg.), Die Rote Armee in Österreich, S. 773–783, hier S. 774 f. Stourzh, Um Einheit und Freiheit, S. 25. Siegfried Beer, Die „Befreiungs- und Besatzungsmacht“ Großbritannien in Österreich, 1945–1955, in: Manfried Rauchensteiner – Robert Kriechbaumer (Hg.), Die Gunst des Augenblicks. Neuere Forschungen zu Staatsvertrag und Neutralität. Wien – Köln – Weimar 2005, S. 23–74, hier S. 25.

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teiligung am Krieg Verantwortung trage und der Beitrag des Landes zu seiner Befreiung Berücksichtigung finden würde. Dazu hieß es in der Erklärung vom 27. April 1945, dass die Staatsregierung jeden ihr möglichen Beitrag zur Befreiung des Landes leisten würde, jedoch darauf hinweise, dass dieser Beitrag angesichts der augenblicklichen Situation nur „bescheiden“ sein könne.6 Damit wird zweierlei in Erinnerung gerufen: zum einen, dass zum Zeitpunkt der Proklamation der Unabhängigkeitserklärung sich nach wie vor Teile des Landes unter der Kontrolle des nationalsozialistischen Deutschland befanden und Österreich mehrfach Frontgebiet war. Zum anderen – und für den Zusammenhang der Themenstellung des vorliegenden Beitrags wichtiger – der Umstand, dass die von der Moskauer Deklaration in Aussicht gestellte Selbstständigkeit und Unabhängigkeit durch die alliierten Truppen und deren militärischen Vormarsch ermöglicht wurden und nur in wenigen Ausnahmefällen, wie in Tirol, der österreichische bewaffnete Widerstand dazu einen in militärischer Hinsicht wirkungsvollen unterstützenden Beitrag leisten konnte. Im Jahr 1947 knüpfte der erste alliierte Staatsvertragsentwurf hinsichtlich der österreichischen Mitverantwortung an die Moskauer Deklaration an, ja er verschärfte die diesbezügliche Formulierung gegenüber dem Jahr 1943. Nunmehr hieß es, dass „Österreich eine Verantwortlichkeit, die sich aus dieser Teilnahme am Kriege ergibt, nicht vermeiden“ könne. Die Formulierung blieb in diesem Wortlaut bis zum Vorstoß Leopold Figls während der Außenministerkonferenz am Vortag der Staatsvertragsunterzeichnung bestehen. Die „Janusköpfigkeit“ der Moskauer Deklaration – um bei der treffenden Formulierung von Gerald Stourzh zu bleiben – ist nun im Folgenden in Korrelation zu setzen mit der Biografie Leopold Figls als einem der zentralen Akteure der österreichischen Nachkriegspolitik zwischen 1945 und 1955. Leopold Figl war zum Zeitpunkt des „Anschlusses“ Österreichs 35 Jahre alt und stand als junger und aufstrebender Bauernfunktionär in der zweiten Reihe des politischen Establishments des autoritären Österreich. Seit 1934 war er staatlicher Mandatar im Bundeswirtschaftsrat, dazu Direktor des mächtigen niederösterreichischen Bauernbundes und seit 1937 Direktor des gesamtösterreichischen Bauernbundes, des „Reichsbauernbundes“. Figl war ein Protegé des mächtigen und in seinem Milieu unumschränkten Bauernführers Josef Reither, zugleich niederösterreichischer Landeshaupt6

Der Wortlaut der Unabhängigkeitserklärung ist u. a. publiziert in: Josef Kocensky (Hg.), Dokumentation zur österreichischen Zeitgeschichte 1945–1955. 3. Aufl. Wien – München 1980, S. 29.

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mann. Die engere politische Heimat Figls, das niederösterreichische bäuerliche Milieu, traditionell streng katholisch geprägt, hatte sich schon vor 1938 als vergleichsweise resistent gegenüber dem Nationalsozialismus gezeigt. Durchaus in Anlehnung an seinen politischen Mentor Reither war Figls Tätigkeit als Agrarfunktionär daher von einer deklariert antinationalsozialistischen Grundhaltung bestimmt. Die Nationalsozialisten sahen in ihm einen effizienten und gefährlichen politischen Gegner. Seine Verhaftung bereits am 12. März 1938 fällt daher genauso wie jene Reithers unter die Kategorie des „politischen Systemterrors“.7 Mit dem sogenannten „Prominententransport“ vom 1. April 1938 kam Leopold Figl in das Konzentrationslager Dachau. Dort musste er schwerste körperliche Zwangsarbeit verrichten und geriet wegen oppositioneller Äußerungen gegenüber Mitgefangenen bald ins Visier der SS-Aufseher, was ein drakonisches Strafritual zur Folge hatte: blutige Auspeitschung vor den Mitgefangenen, bis er das Bewusstsein verlor, Dunkelhaft sowie ein mehrwöchiger Aufenthalt im sogenannten Straf- und Isolierblock.8 Wie die meisten österreichischen Häftlinge wurde er von Ende September 1939 bis Anfang April 1940 für ein halbes Jahr in das Konzentrationslager Flossenbürg verlegt. Dort musste er in den Granitsteinbrüchen neuerlich aufreibendste körperliche Schwerst- und Akkordarbeit leisten. Zurück in Dachau wurde er von der grassierenden Typhusepidemie erfasst. Im Gegensatz zu zahlreichen anderen Mitgefangenen überlebte er diese.

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So Dieter A. Binder unter Verweis auf die von Erwin A. Schmidl im Hinblick auf die erste Verhaftungswelle geprägte Unterscheidung zwischen „Privatrache“ (gemeint sind die zahlreichen spontanen Übergriffe und die vielfach aus persönlichen Gründen erfolgten kurzfristigen Verhaftungen, im ersten Machtrausch durchgeführt von österreichischen Nationalsozialisten) und „Systemterror“ (also die systematisch von der Gestapo ab dem 12. März durchgeführten Verhaftungen zur Ausschaltung der politischen Gegner des NS-Regimes). Wolfgang Neugebauer/Peter Schwarz gehen davon aus, dass Heinrich Himmler und sein Stab bei ihrer Landung in Wien-Aspern am frühen Morgen des 12. März 1938 bereits in Berlin zusammengestellte Listen von zu verhaftenden Österreichern mitbrachten und, wie es Reinhard Heydrich einige Tage später, am 17. März 1938, formulierte, die Gestapo „mit dem Einmarsch der Truppen sofort ihre Tätigkeit aufgenommen“ habe. Dieter A. Binder, Der Weg nach Mauthausen, in: Wolfgang J. Bandion – Helmut Wohnout (Hg.), Leopold Figl. Für Österreich. Wien 2012, S. 33–37, hier S. 36; Erwin A. Schmidl, März 38. Der deutsche Einmarsch in Österreich. Wien 1987, S. 232–237; Wolfgang Neugebauer – Peter Schwarz, Stacheldraht, mit Tod geladen… Der erste Österreichertransport in das KZ Dachau 1938. Wien 2008, S. 6 f.; Wolfgang Neugebauer, Der österreichische Widerstand 1938–1945. Wien 2008, S. 21 f. Zu Figls KZ-Haft im Detail: Helmut Wohnout, Leopold Figl als Verfolgter des NS-Regimes, in: Bandion – Wohnout (Hg.), Leopold Figl, S. 21–31.

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Anfang Mai 1943 wurde Figl nach fast 2.000 Tagen KZ-Haft aus Dachau entlassen und konnte nach Wien zurückkehren. Er nahm umgehend wieder Kontakt mit seinem politischen Ziehvater Josef Reither auf und fand über den früheren Obmann des Gewerbebundes und Handelsminister der letzten Schuschnigg-Regierung, Julius Raab, eine Anstellung in dessen nunmehr gegründeter Straßenbaufirma Kohlmayer. Julius Raab war über die Politik hinaus ein langjähriger Freund aus Studententagen. Unter dem Deckmantel seiner beruflichen Stellung begann Figl damit, den Kontakt zu den früheren Bauernbundfunktionären im niederösterreichischen Raum wiederherzustellen. Parallel dazu liefen über Figls Mithäftling in Dachau, Felix Hurdes, und Lois Weinberger Bestrebungen im Hinblick auf den Arbeitnehmerflügel und die christlichen Gewerkschafter. In den folgenden Monaten sollten sich diese Aktivitäten in Richtung der Neugründung einer bürgerlichen Integrationspartei intensivieren, wobei Figl eine der Schlüsselfiguren all dieser konspirativen Zirkel war.9 In diese Zeit fiel im Herbst 1943 die Moskauer Konferenz mit der für Österreich folgenschweren Moskauer Deklaration. Brigitte Bailer weist in ihrem Beitrag in diesem Band darauf hin, dass die im Untergrund agierende politische Opposition genauso wie der aktive Widerstand gegen den Nationalsozialismus rasch Kenntnis von den Moskauer Beschlüssen der Alliierten erlangten. Im Falle Leopold Figls ergibt sich eine sehr naheliegende zeitliche Analogie: Nur wenige Wochen nach der Moskauer Konferenz notierte Julius Raab Ende Januar 1944 nach einem Beisammensein in der Wohnung Figls folgende etwas holprigen Verse in dessen Gästebuch: „[… ] Sie alle konnten uns nicht brechen, noch beugen, die Welt wird es einmal müssen bezeugen. Österreich ist, wird sein, wird bestehen, und aller Dreck wird untergehen.“10

Geht man davon aus, dass die Eintragung Raabs die an diesem Abend stattgefundenen Gespräche in der einen oder anderen Form reflektieren bzw. zusammenfassen sollte, so waren ganz offensichtlich die von den Alliierten in Aussicht gestellte Wiedererrichtung Österreichs sowie die von österreichischer Seite zu leistenden politischen und militärischen Beiträge die Gesprächsthemen gewesen. Ersteres, die Wiedererrichtung Österreichs als 9 10

Ludwig Reichhold, Geschichte der ÖVP. Wien – Graz – Köln 1975, S. 31–65. Die Tagebuchseite ist faksimiliert publiziert in: Alois Brusatti – Gottfried Heindl (Hg.), Julius Raab. Eine Biographie in Einzeldarstellungen. Linz o. J. (1986), Abbildung 16.

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nunmehr offizielles Kriegsziel der Alliierten, musste als erfreuliche Nachricht wirken, Letzteres, dass es nach seinem eigenen Beitrag zu seiner Befreiung beurteilt würde, als Motivation, was auch vonseiten der Alliierten so bezweckt war. Die an allen Fronten in schwere und verlustreiche Kämpfe verwickelten Verbündeten hatten sich bei der Textierung der Deklaration von dieser in erster Linie folgende Wirkung erhofft: Durch eine Beflügelung des österreichischen Widerstandes sollte ein Beitrag zur militärischen Schwächung NS-Deutschlands und damit zur möglichst raschen siegreichen Beendigung des Krieges erwachsen. Erst in zweiter Linie hatten sie das weitere Schicksal Österreichs vor Augen. Interessanterweise wird in der zweiten Vers­zeile Raabs die von den Alliierten im Hinblick auf Österreich angewendete Argumentation nahezu in ihr Gegenteil verkehrt. Der österreichische Selbstbehauptungswille wird fast trotzig als bereits vor der staatlichen Wiederherstellung feststehendes Faktum vorausgesetzt. Aus der Froschperspektive der in der Wohnung Figls konspirierenden Männer hieß dies, die Weltgemeinschaft, also die Anti-Hitler-Koalition der Alliierten, würde gar nicht umhinkommen, dies anzuerkennen. Das illustriert bereits anno 1944 anschaulich, was Brigitte Bailer in Bezug auf den Widerstand nach 1945 festgehalten hat. Die Opferthese war bereits Teil des Selbstverständnisses dieser in der Illegalität agierenden Männer. Dies gilt nicht nur für den aus dem Konzentrationslager heimgekehrten Figl, sondern genauso für Julius Raab, der – sieht man von dem gegen ihn verhängten Gauverbot in Niederösterreich ab – keinen direkten Verfolgungshandlungen durch den NS-Terrorapparat ausgesetzt war. Dass es bei dem Treffen vom 29. Januar um die Fragen des Zusammenspiels zwischen der politischen Opposition und dem sich herausbildenden bewaffneten Widerstand ging, legt auch die Anwesenheit eines weiteren Teilnehmers an dem Beisammensein in Figls Wohnung nahe. Denn neben Raab unterschrieb an diesem 29. Januar 1944 auch Heinrich Otto Spitz im Gästebuch Figls. Spitz war vor 1938 ebenfalls ein einflussreicher Funktionär des Dollfuß-Schuschnigg-Regimes gewesen. Er war Stellvertreter Raabs im Gewerbebund und saß gemeinsam mit Raab und Figl im Bundeswirtschaftsrat. Man kannte einander also gut. Nunmehr fungierte er als Bindeglied zwischen den in der Illegalität agierenden ehemaligen Christlich-Sozialen und dem bewaffneten Widerstand, zu dessen prominentesten Vertretern er zählte. Im Hause von Heinrich Otto Spitz fand etwas mehr als zehn Monate später im Dezember 1944 die Gründung des Provisorischen Österreichischen Nationalkomitees POEN statt. Es wurde Ende Februar/Anfang März 1945 verraten und zerschlagen. Spitz gelang es, vorerst unterzutauchen.11 11 Fritz Molden, Die Feuer in der Nacht. Opfer und Sinn des österreichischen Widerstan-

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Zu diesem Zeitpunkt befand sich auch Figl schon längst wieder in den Kerkern der Nationalsozialisten. Noch im Mai 1944 war in seiner Anwesenheit im Weinkeller Josef Reithers die Reaktivierung des Bauernbundes nach Kriegs­ende konkretisiert worden. Zugleich hatten Figls Kontaktleute Felix Hurdes und Lois Weinberger über Carl Goerdeler und Jakob Kaiser lose Kontakte zu den Verschwörern des 20. Juli geknüpft. Auf Drängen Kaisers nannten sie den früheren Wiener sozialdemokratischen Bürgermeister Karl Seitz und Josef Reither als Ansprechpersonen mit hoher Bekanntheit und einem großen Vertrauen in der Bevölkerung.12 Nach dem Scheitern des Hitlerattentats fand die Gestapo die beiden Namen als Ansprechpartner im „Wehrkreisverband Wien“ auf einer sichergestellten Liste der Putschisten. Beide wurden umgehend verhaftet. Damit rückte auch Reithers engster Mitarbeiter Leopold Figl wieder in das Fadenkreuz der NS-Verfolgungsmaschinerie. Seine umtriebigen politischen Untergrundaktivitäten waren ohnedies nicht ganz unbemerkt geblieben. Am 6. Oktober 1944 wurde er neuerlich verhaftet und einige Wochen später nach Mauthausen überstellt. Dort kam er in den unmittelbar neben den Gaskammern und dem Krematorium gelegenen schwer bewachten Isoliertrakt, den sogenannten Bunker, in Einzelhaft.13 Unter der Drohkulisse der in unmittelbarer Nachbarschaft stattfindenden Hinrichtungen und Verbrennungen hoffte die Gestapo, ihm und einigen anderen politischen Häftlingen die Preisgabe von Namen und Netzwerken des Widerstandes abpressen zu können. Doch Figl und seine Mithäftlinge schwiegen. Im Januar 1945 ging es zurück nach Wien. Dort hatten sie im Landesgericht ihren Volksgerichtshofprozess zu erwarten, ehe der sich immer enger um die Außenbezirke Wiens schließende sowjetische Belagerungsring dazu führte, dass sich für Figl und seine Mitgefangenen die Gefängnistore öffneten. Als einer der letzten Häftlinge verließ Figl am 6. April das Wiener Landesgericht.14 Nochmals suchte ein Nazitrupp in seiner Wohnung nach ihm, doch er war untergetaucht. Wie gefährlich die Situation bis zur buchstäblich letzten Sekunde der NS-Herrschaft war, zeigt das tragische Schicksal, das in diesen Tagen Figls Freund, den bereits erwähnten Heinrich Otto Spitz, ereilte. Spitz wurde noch am 10. April nahe seinem Wohnhaus in Wien-Heiligenstadt von der SS entdeckt und erschossen.15 Nur Stunden später setzten sich des 1938–1945. Wien – München 1988, S. 37–44, 139–146. 12 Lois Weinberger, Tatsachen, Begegnungen und Gespräche. Ein Buch um Österreich. 2. Aufl. Wien 1988, S. 144 f. 13 Hans Maršálek, Die Geschichte des Konzentrationslagers Mauthausen. 3. Aufl. Wien– Linz 1995, S. 284–286. 14 Dieter A. Binder, Zwischenkriegszeit, Widerstand und KZ, in: Johannes Dorrek – Johannes Schönner – Josef Singer – Helmut Wohnout (Hg.), 100 Jahre Leopold Figl. „Glaubt an dieses Österreich!“. Wien 2003, S. 13–24, hier S. 15. 15 Molden, Die Feuer in der Nacht, S. 145 f.

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die deutschen Verbände über die Donau nach Norden ab. Bereits kurz nachdem die Sowjets weite Teile Wiens unter ihre Kontrolle gebracht hatten, wurde Figl von sowjetischen Soldaten in das sowjetische Oberkommando von Marschall Fedor I. Tolbuchin gebracht.16 Als in organisatorischen Belangen bewährter Agrarfunktionär sollte er sich in dessen Auftrag um die Versorgung Wiens mit Lebensmitteln kümmern. Damit ging die Verfolgung Figls nahtlos in seine politische Tätigkeit als Mann des Neubeginns über, der noch am Ende desselben Jahres als Bundeskanzler an der Spitze der österreichischen Regierung stehen sollte. Leopold Figl stand zeit seines Lebens zu seiner Vergangenheit als politischer Gefangener. Sie bildete ab 1945 einen wesentlichen Bestandteil seines politischen Selbstverständnisses. Gedenkveranstaltungen ehemaliger Häftlinge, wie der jährliche Gedenkgottesdienst am 1. April, dem Jahrestag des ersten Prominententransports nach Dachau, waren bei ihm Fixtermine. Wiederholt nahm er aus eigenem Antrieb Anlässe wahr, um das ehemalige Konzentrationslager Mauthausen zu besuchen. Das Bekenntnis zu seiner Identität als ehemaliger „KZler“ war bei Figl auch noch zu jener Zeit ungebrochen, als es in beiden Großparteien aus Rücksicht auf das Buhlen um die Stimmen ehemaliger Nationalsozialisten nicht mehr en vogue war, Aspekte des Widerstandes und ein als Antithese zum Nationalsozialismus zu verstehendes Österreichbewusstsein in den Vordergrund zu stellen. In diesem Zusammenhang ist Folgendes zu betonen: Wenn es in Leopold Figls politischer Karriere eine alle Perioden und Umbrüche durchlaufende Konstante gab, so war es sein Österreichbewusstsein. Im niederösterreichischen Bauernbund, seiner engsten politischen Heimat, herrschte ein schollenverbundener Patriotismus. Die Ostmärkischen Sturmscharen, als deren niederösterreichischer Landesführer er bis 1936 fungierte, waren unter den Wehrverbänden jene, die am eindeutigsten eine eigenständige österreichische Identität entwickelten. Leopold Figl gehörte zu jenem engsten Kreis von Funktionären, die Bundeskanzler Schuschnigg mit der Vorbereitung der Volksbefragung am 13. März 1938 betraute. Neben seinen religiösen Überzeugungen war es sein ungebrochenes Österreichbekenntnis, mit dem er in 16

Die Angaben, wann genau Figl in das sowjetische Hauptquartier Tolbuchins gebracht wurde, schwanken geringfügig. Ernst Trost nennt unter Berufung auf Figl den 12. April 1945, Figls enger Vertrauter Edmund Weber berichtet in einem noch 1945 publizierten Artikel, dass Figl bereits am 8. April ins sowjetische Oberkommando geholt wurde. Es spricht vieles dafür, dass die Datumsangabe mit 12. April 1945 zutreffend ist. Ernst Trost, Figl von Österreich. Der Weg zum Staatsvertrag. 5. Aufl. Wien – München 1985, S. 59–62; Edmund Weber, Ing. Leopold Figl. Marginalien zum Portrait eines Freundes, in: Österreichische Monatshefte, Jg. 1/3, Dezember 1945, S. 86 f.

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den Konzentrationslagern des Nationalsozialismus anderen Häftlingen Mut machte, weshalb er, folgt man den Berichten seiner Mitgefangenen, seine ersten folgenschweren Folterungen in Dachau erlitt.17 Gerade auch, weil sein Glaube an Österreich zu einer seiner persönlichen Überlebensstrategien in der Gefangenschaft wurde, war sein – teils mit großem und mitunter auch belächeltem Pathos formuliertes – Österreichbekenntnis nach 1945 ein Ergebnis seines persönlichen Erfahrens und Erlebens der Jahre zuvor. Zu ehemaligen KZ-Kameraden hielt Leopold Figl auch als Kanzler persönlichen Kontakt. Parteipolitische bzw. ideologische Unterschiede machte er dabei nicht. Die Jahre im KZ hatten wesentlich dazu beigetragen, aus Figl, der noch in den Kategorien des Lagerdenkens der Ersten Republik politisch sozialisiert worden war, einen Verfechter einer breiten demokratischen Zusammenarbeit zu machen.18 Bis zu seinem Tod blieb er einer der entschiedensten Verfechter einer großen Koalition. Figl konnte seine Vergangenheit als Verfolgter des NS-Regimes, so es ihm erforderlich schien, mit großer persönlicher Verve politisch einsetzen. Dies erfolgte sowohl bei politischen Kundgebungen als auch im persönlichen Gespräch gegenüber den Vertretern der Besatzungsmächte. Gegenüber den Sowjets tat er dies in der Öffentlichkeit etwa bei der Rückgabe des KZ Mauthausen 1947 oder ein Jahr später, als er an der Enthüllung eines Denkmals in Erinnerung an den von den Nazis im Februar 1945 grausam ermordeten sowjetischen General Dmitrij Michajlovič Karbyšev teilnahm. Dabei zeigte er dem sowjetischen Hochkommissar, Generaloberst Vladimir Kurasov, jene Zelle im sogenannten Bunker, in der er selbst eingekerkert gewesen war.19 Ernst Hanisch bezeichnete die Verfolgungen, die Figl von 1938 bis 1945 zu erdulden hatte, als „ein ‚symbolisches Kapital‘, das auch die Besatzungsmächte respektieren mussten. „Er verkörperte persönlich glaubhaft den ös17 Trost, Figl von Österreich, S. 118 f. 18 In seiner letzten Rundfunkansprache am Ostersonntag des Jahres 1965, wenige Wochen vor seinem Tod, nahm Leopold Figl nochmals auf den Wandel in seinem demokratischen Bewusstsein zwischen 1938 und 1945 Bezug: „Wir hatten aus dem Hader der Ersten Republik und aus der Zeit, als sogar der historische Name Österreich von der Landkarte verschwinden musste, sehr viel gelernt. Wir hatten erkannt, dass dieser Staat nur dann in Freiheit bestehen kann, wenn alle Staatsbürger, gleichgültig in welcher Partei sie weltanschaulich auch stehen mögen, für diesen Staat und seine Freiheit eintreten und Opfer bringen. Das war das große Positivum der Apriltage des Jahres 1945.“ Zit. nach: Ernst Bruckmüller, Politik als Beruf, in: Bandion – Wohnout (Hg.), Leopold Figl, S. 39–64, hier S. 61. 19 Gerald Stourzh, „Österreich ist frei!“ Leopold Figl als Bundeskanzler und Außenminister im Jahrzehnt zwischen Befreiung und Freiheit, in: Stefan Karner – Gottfried Stangler (Hg.), „Österreich ist frei!“ Der österreichische Staatsvertrag 1955. Beitragsband zur Ausstellung auf Schloss Schallaburg 2005. Horn – Wien 2005, S. 354–370, hier S. 354.

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terreichischen Opfermythos.“20 Die Russen beurteilten diese Facette von Figls Biografie allerdings recht ambivalent. So hieß es in einem geheimen Dossier des sowjetischen Außenministeriums, das Hintergrundinformationen über die österreichischen Verhandler für die sowjetische Führung vor den Gesprächen im April 1955 aufbereitete, über Figl unter anderem: „Er neigt zu Demagogie, betont gerne seine ‚bäuerliche Herkunft‘ und die Tatsache, in Dachau und Mauthausen eingesessen zu haben, obwohl er dort eigenen Angaben zufolge einen privilegierten Status besessen haben soll.“21 Letzteres war falsch. Lediglich zwischen seiner Entlassung aus dem Isoliertrakt im KZ Dachau und der Verlegung in das KZ Flossenbürg war Figl zu leichteren Vermessungstätigkeiten eingesetzt worden. Ähnliches galt auch für die Zeit vor und nach seiner Typhuserkrankung. In beiden Fällen waren seine körperlichen Kräfte völlig erschöpft. Insgesamt konnte von einem privilegierten Status also nicht die Rede sein, im Gegenteil. Dies macht schon das Faktum deutlich, dass Figl von den insgesamt sieben Jahren der NS-Herrschaft in Österreich insgesamt fast sechs Jahre in den Gefängnissen und Konzentrationslagern der Nationalsozialisten inhaftiert war, eine für einen aus der zweiten Hierarchieebene stammenden politischen Funktionär der Dollfuß-Schuschnigg-Regierung vergleichsweise lange Zeit. Figl trug aus der KZ-Haft, wie viele andere Häftlinge, die ähnlichen Torturen wie er ausgesetzt waren, bleibende körperliche Schäden davon. Über diesen Aspekt und die Tatsache, dass er sich nach 1945 wiederholt zur Linderung der Spätfolgen tageweise in häusliche Pflege zurückziehen musste, schwieg er in der Öffentlichkeit. Lediglich durch einen Brief Figls an einen ehemaligen KZ-Kameraden vom Mai 1946 sind wir über diese Facette seiner Biografie authentisch informiert.22 20 Ernst Hanisch, Abschied von der Staatsvertragsgeneration, in: Rauchensteiner – Kriechbaumer (Hg.), Die Gunst des Augenblicks, S. 537–549, hier S. 538. 21 Stefan Karner – Barbara Stelzl-Marx – Alexander Tschubarjan (Hg.), Die Rote Armee in Österreich. Sowjetische Besatzung 1945–1955. Dokumente. Graz – Wien – München 2005, Nr. 176 (Dossier des sowjetischen Außenministeriums für die sowjetische Führung im Vorfeld des Besuchs der österreichischen Regierungsdelegation in Moskau vom 11. bis 15. April 1955, 4. April 1955). 22 Archiv des Karl von Vogelsang-Instituts, Wien, Bestand Leopold Figl, Sign. 2833, Schreiben von Leopold Figl an Wolfgang Furrer, 25.5.1946. Auch sein Mithäftling, der Journalist Rudolf Kalmar, erwähnte in einem nach Figls Tod erschienenen Beitrag, dass die nach seiner Auspeitschung ohne ärztliche Behandlung vernarbten Wunden aufgrund von Verunreinigungen bei der Vernarbung später immer wieder zu eitern begannen. Spätfolgen der Figl dabei zugefügten Verletzungen an den Nieren seien auch, so vermutete Kalmar, der Ausgangspunkt jener Nierenkrebserkrankung gewesen, die zu seinem frühen Tod führte. Kalmars Artikel, ursprünglich erschienen im Neuen Österreich, ist auszugsweise wiederabgedruckt bei: Ludwig Reichhold, Einleitung, in: Leopold Figl, Reden für Österreich. Wien – Frankfurt – Zürich 1965, S. 24–29.

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Aber zurück zu Figls Einschätzung durch die Russen: Die Charakterisierung seiner Person insgesamt erfolgte im Frühjahr 1955 eher negativ. Dies mag damit zu tun haben, dass Figl in den Augen der Russen schon in seiner Zeit als Bundeskanzler als westorientiert und insbesondere als Freund der Amerikaner galt.23 Diese Vorbehalte nahmen nach seiner Ernennung zum Außenminister tendenziell zu, umso mehr, als er sich auch in der Neutralitätsfrage bis zur Moskauer Konferenz wesentlich zurückhaltender als Raab verhielt. Zu den KZ-Erlebnissen, die sich bei Figl tief eingeprägt hatten, zählte auch jenes Ereignis vom August 1939, als die Häftlinge am Appellplatz des Konzentrationslagers Dachau anzutreten hatten, um durch die Lagerlautsprecher die Radioübertragung von der Unterzeichnung des berüchtigten Hitler-Stalin-Paktes durch die Außenminister beider Staaten, Vjačeslav M. Molotov und Joachim von Ribbentrop, vorgespielt zu bekommen. Figl kam gelegentlich darauf zu sprechen, so etwa gegenüber dem britischen Hochkommissar Sir Geoffrey Wallinger.24 Am Rande der Moskauer Staatsvertragsverhandlungen tat es Figl auch gegenüber einem der beiden Hauptprotagonisten vom August 1939, nämlich Außenminister Molotov, noch dazu am Rande jenes Empfangs, den der sowjetische Außenminister selbst zu Ehren der österreichischen Delegation am 13. April 1955 gab. Der Antrieb für Figls unorthodoxen und mutigen, wenngleich sicherlich auch riskanten Vorstoß lag in der nach wie vor in der Präambel des Staatsvertragsentwurfs enthaltenen „Mitschuldklausel“. Figl hat sich ihr stets widersetzt, was aufgrund seines eigenen Erlebens der Jahre zwischen 1938 und 1945 nachvollziehbar ist. Doch hatten die Sowjets in dieser Frage nicht mit sich reden lassen. Zu fortgeschrittener Stunde ging Figl auf Molotov zu und sagte unvermittelt: „Wissen Sie, Herr Molotov, Ihr Name Molotov, der Hammer, beeindruckte uns schon in der Zwischenkriegszeit. Sie waren ja das Symbol für den Bolschewismus und die Sowjetmacht. Der Eindruck, den Sie machten, war unglaublich. Aber am meisten beeindruckte mich, als wir einmal im Konzentrationslager um vier Uhr in der Früh antre-

23 Die kritische Einschätzung Figls durch die Sowjets wurde ab dem Jahr 1946 parallel zum beginnenden Kalten Krieg sichtbar und ging so weit, dass er und Außenminister Karl Gruber in einem internen Bericht der Sowjets Mitte 1946 als „Agenten der Amerikaner“ bezeichnet wurden, wobei die Abneigung der Russen gegenüber Gruber noch größer war, weshalb auch der Wechsel zu Figl im Herbst 1953 von russischer Seite goutiert wurde. Peter Ruggenthaler, Warum Österreich nicht sowjetisiert wurde. Sowjetische Österreich-Politik 1945–1953/55, in: Karner – Stelzl-Marx – Tschubarjan (Hg.), Die Rote Armee in Österreich. Beiträge, S. 649–726, hier S. 662. 24 Stourzh, „Österreich ist frei“, S. 367 f.

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ten und stundenlang stehen mussten, in eisiger Kälte, und als plötzlich Ihre Stimme aus den KZ-Lautsprechern ertönte. Das war damals, als Sie mit Hitler den Vertrag abgeschlossen hatten.“ Der neben Figl stehende Sekretär Raabs, Ludwig Steiner, glaubte, damit sei das Ende der Verhandlungen gekommen. Doch fiel die Reaktion Molotovs auf die Erwähnung des von ihm mit dem deutschen Außenminister Ribbentrop im August 1939 abgeschlossenen Nichtangriffspakts ganz anders, nämlich sehr zurückhaltend, aus. Er sagte immer nur „da, da“, auf Deutsch, „ja, ja“, sonst nichts.25 In der Sache selbst war auch in Moskau genauso wie bei der Botschafterkonferenz, die vom 2. bis 13. Mai in Wien stattfand, nichts zu machen. Seit einigen Jahren wissen wir, dass es Molotov selbst war, der in seiner vom ZK der KPdSU abgesegneten Weisung der sowjetischen Delegation bei der Botschafterkonferenz untersagte, in einigen zentralen Fragen einen Verhandlungsspielraum zu signalisieren. Zu ihnen zählte ausdrücklich auch die Frage der Verantwortlichkeitsklausel in der Präambel des Vertrags.26 Der sowjetische Außenminister behielt sie sich als Trumpf für die abschließende Außenministerkonferenz vom 14. Mai, am Vortag der Staatsvertragsunterzeichnung, vor. Und tatsächlich: Neuerlich brachte Figl die Verantwortlichkeitsklausel aufs Tapet, er konnte wohl gar nicht anders. Als der Staatsvertragstext einer letzten gemeinsamen Lesung der Außenminister unterzogen wurde, stand Figl auf und erklärte, den Vertrag nicht unterschreiben zu können, solange in der Präambel eine Mitverantwortung Österreichs für den Krieg enthalten sei. Dies ließe sein Andenken an die zu Tode gekommenen Kameraden im KZ nicht zu.27 Einigen der anwesenden österreichischen Diplomaten war das Entsetzen ins Gesicht geschrieben, die härter Gesottenen 25 Franz Olah – Ludwig Steiner, Zwischen Dachau und Moskau – Begegnungen mit Leopold Figl (Zeitzeugengespräch), in: Demokratie und Geschichte. Jahrbuch des Karl von Vogelsang-Instituts zur Erforschung der Geschichte der christlichen Demokratie in Österreich. Jg. 6, 2002, S. 23–41, hier S. 34. Steiner nahm nochmals in zwei im Jahr 2005 erschienenen Artikeln auf diese Begebenheit Bezug: Ludwig Steiner, Das Miterleben einer historischen Zeit. Als Sekretär von Bundeskanzler Raab in Moskau 1955, in: Karner – Stelzl-Marx – Tschubarjan (Hg.), Die Rote Armee in Österreich. Beiträge, S. 815–828, hier S. 823 f.; Ludwig Steiner, „Annus memorabilis“, in: Rauchensteiner – Kriechbaumer (Hg.), Die Gunst des Augenblicks, S. 433–456, hier S. 452. 26 Karner – Stelzl-Marx – Tschubarjan (Hg.), Die Rote Armee in Österreich. Dokumente, Nr. 180 (Schreiben des Außenministers der UdSSR, V. M. Molotov, an das ZK der KPdSU mit beiliegendem Entwurf von Weisungen an den sowjetischen Vertreter über seine Positionierung bei der Konferenz der Botschafter der vier Mächte in Wien, 26.4.1955). 27 Steiner, Das Miterleben einer historischen Zeit, S. 826; Steiner, „Annus memorabilis“, S. 452. In letzterem Beitrag stellt Ludwig Steiner einen direkten Konnex zwischen dem persönlichen Anwurf Figls gegenüber Molotov vom 13. April und seinem Vorstoß bei der Botschafterkonferenz vom 14. Mai her.

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unter ihnen dachten wohl eher an eine rhetorische Pflichtübung des Ministers ohne Erfolgsaussicht. Als Figl sein Statement beendet hatte, herrschte im Saal einen Moment lang betretenes Schweigen, ehe sich Molotov zu Wort meldete und – ohne eine weitere Diskussion zu führen – erklärte, mit der Streichung einverstanden zu sein.28 Die anderen Außenminister folgten seinem Beispiel. Für Leopold Figl bedeutete dies eine große, auch persönliche Genugtuung; politisch wurde die Streichung der Mitschuldklausel damals als ein letzter großer Verhandlungserfolg für die österreichische Seite gefeiert. Heute ist die innerösterreichische Beurteilung eine ganz andere. Denn seit den späten 1980er-Jahren wird als Folge des durch die sogenannte Waldheim-Affäre ausgelösten Paradigmenwechsels in der österreichischen Zeitgeschichte die Frage gestellt, ob ein Hinweis auf die Mitverantwortung Österreichs oder der österreichischen Bevölkerung im Staatsvertrag nicht zu einer früheren, selbstkritischeren und differenzierteren Auseinandersetzung mit zahlreichen Aspekten der Mitwirkung am Nationalsozialismus und seinen Verbrechen, aber auch mit den sich daraus ergebenden materiellen Konsequenzen bei Restitutionen und Entschädigungen beigetragen hätte. Figl setzte in dieser Frage sein persönliches Schicksal mit dem seines Landes gleich. Aufgrund seiner Biografie wird dies verständlich, und es galt nicht nur für ihn. Vielmehr entsprach die Sichtweise von Österreich als erstem Opfer des Nationalsozialismus auch den persönlichen Erfahrungen zahlreicher Politiker der ersten Stunde und der ersten Jahre der Zweiten Republik. Dies wird an folgendem Beispiel deutlich: Die erste Regierung Figl von 1945 bis 1949 mit einer durchschnittlichen Zahl von 17 Regierungsmitgliedern wies zwölf bis 14 Politiker auf, die in der NS-Zeit politisch verfolgt worden waren, wobei sich ihre Zahl auf ÖVP und SPÖ annähernd gleich verteilte.29 Als durch das nationalsozialistische Deutschland Verfolgte verkörperten sie das Bestreben der neu erstandenen Zweiten Republik, sich in ihrem Ringen um Freiheit und staatliche Souveränität von jeder Verbindung zum nationalsozi-

28 Im Hinblick auf die sowjetische Motivation für dieses Entgegenkommen vermutet Robert Graham Knight dahinter eine breitere sowjetische Strategie, bei den kleineren blockfreien Staaten anno 1955 Terrain gegenüber dem Westen gutzumachen: „Die Russen konnten es sich leisten, dieses Zugeständnis mit Dramatik zu inszenieren; sie verloren nichts in wirtschaftlicher Hinsicht, gewannen aber viel an propagandistischer Wirkung.“ Robert Graham Knight, Besiegt oder befreit? Eine völkerrechtliche Frage historisch betrachtet, in: Günter Bischof – Josef Leidenfrost (Hg.), Die bevormundete Nation. Österreich und die Alliierten 1945–1949. Innsbruck 1988, S. 75–91, hier S. 84. 29 Gertrude Enderle-Burcel, Einleitung, in: Gertrude Enderle-Burcel – Rudolf Jeřábek – Leopold Kammerhofer (Hg.), Protokolle des Kabinettsrates der Provisorischen Regierung Karl Renner 1945. Bd. 1 (29.4.1945–10.7.1945). Horn – Wien 1995, S. III–XXI, hier S. V.

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alistischen Inferno in größtmöglicher Weise zu distanzieren.30 Dass sie dabei der im Entstehen begriffenen österreichischen Identität einen Dienst erwiesen, ist schlüssig. Dass sie zugleich einen ungewollten Beitrag dazu leisteten, dass zahlreiche Täter und Mitläufer, denen eine Verantwortung für ihr Verhalten erspart blieb, zu Trittbrettfahrern wurden und die Zweite Republik erst sehr spät damit begann, die ausschließliche „Opferthese“ Österreichs kritisch zu hinterfragen und daraus die entsprechenden Konsequenzen zu ziehen, ist ebenso eine Tatsache.31 Es soll und kann aber das persönliche wie politische Verdienst Leopold Figls und jener, die schon durch ihre Biografie während der Jahre 1938 bis 1945 eine Antithese zum Nationalsozialismus und seiner totalitären Diktatur verkörperten, nicht schmälern.32

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Ernst Hanisch dehnt diese Argumentationslinie auf die leitenden Beamten von Diplomatie und Hochbürokratie während der unmittelbaren Nachkriegszeit aus: „Der Opfermythos war historisch gesehen einseitig, er wurde politisch instrumentalisiert, aber er war keine ‚Lebenslüge‘. Er entsprach den Erfahrungen dieser Staatsbeamten, die 1938 ihren Staat und ihre Stellung verloren hatten. Die Opferthese negierte die österreichische Mitverantwortung für den Nationalsozialismus, sie wurde langfristig eine Belastung für die Zweite Republik, sie half jedoch kurzfristig mit, ein österreichisches Staats- und Nationalbewusstsein aufzubauen.“ Hanisch, Abschied von der Staatsvertragsgeneration, S. 540. 31 Vgl. dazu u. a.: Stourzh, Um Einheit und Freiheit, S. 26 f., 520 f.; Oliver Rathkolb, Die paradoxe Republik. Österreich 1945–2005. Wien 2005, S. 47 f. 32 Vgl. dazu auch die abschließenden Bemerkungen von Gerald Stourzh bei der feierlichen Sitzung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften im Mai 2005. Gerald Stourzh, Der österreichische Staatsvertrag in den weltpolitischen Entscheidungsprozessen des Jahres 1955, in: Arnold Suppan – Gerald Stourzh – Wolfgang Mueller (Hg.), Der österreichische Staatsvertrag 1955. Internationale Strategie, rechtliche Relevanz, nationale Identität. Wien 2005, S. 965–995, hier S. 992–995.

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Die Moskauer Deklaration und die österreichische Geschichtspolitik1

Wissen die Österreicher überhaupt noch, was die „Moskauer Erklärung“ ist und welche Bedeutung ihr zukommt? Wird sie als Schlüsseldokument der Gründungsgeschichte der Zweiten Republik noch wahrgenommen? Wie sieht man dieses Gründungsdokument der Zweiten Republik heute? Ich beginne mit einer persönlichen Geschichte, die ein Schlaglicht auf die österreichische Geschichtspolitik zur Moskauer Deklaration wirft. Im Jahr 1993, als ich als Gastprofessor an der LMU München arbeitete, bat mich die Redaktion der Wochenzeitschrift Die Furche, zum Anlass des 50. Jahrestages der Moskauer Deklaration den Stand der historischen Forschung zu diesem Gründungsdokument der Zweiten Republik zusammenzufassen. Mein ganzseitiger Aufsatz betonte vor allem die damals relativ neue These des kanadischen Historikers Robert H. Keyserlingk (die ich aufgrund meiner eigenen Aktenstudien im Public Record Office in London teilte), dass die Alliierten die Moskauer Erklärung im Jahr 1943 als „Propagandainstrument“ konzipierten, um den Widerstand in den „Donau- und Alpengauen“ des Dritten Reiches anzuregen.2 Die Gründerväter der Zweiten Republik hingegen deuteten das Dokument zur politischen Absichtserklärung der Alliierten um.3 Aufbauend auf den ersten Absatz der Moskauer Erklärung betonte Karl Renner in der Präambel der Unabhängigkeitserklärung vom 27. April 1945 (die als „Proklamation“ im Staatsgesetzblatt Stück 1 am 1. Mai 1945 veröffentlicht wurde) den Status von Österreich als „erstes Opfer Hitlers“ und stellte der halben Million „ostmärkischer“ Mitläufer des Naziregimes einen kollektiven Persilschein aus, um sie so rasch in den neuen Staatsverband zu integrieren. Renner drückte sich unpräzise aus und sprach von der „politischen Annexion“ Österreichs im Jahr 1938.4 Die Moskauer Erklärung wurde auf der 1 2 3 4

Der Autor möchte sich bei Peter Ruggenthaler, Berthold Molden, Siegfried Beer und Heidemarie Uhl für wertvolle Verbesserungsvorschläge für diesen Aufsatz bedanken. Robert H. Keyserlingk, Austria in World War II: An Anglo-American Dilemma. Montreal 1988. Günter Bischof, 50 Jahre „kollektiver Persilschein“ für Österreich: Die „Moskauer Erklärung“ als Staatsdokument, in: Die Furche, 18.3.1993, S. 22. Günter Bischof, „Opfer“ Österreich?: Zur moralischen Ökonomie des österreichischen historischen Gedächtnisses, in: Dieter Stiefel (Hg.), Die Politische Ökonomie des Ho-

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Die „Magna Charta“ Österreichs

Grundlage der völkerrechtlichen Okkupationstheorie zur österreichischen Opferdoktrin instrumentalisiert. Der Diplomat Norbert Bischoff überzeugte den Völkerrechtler Alfred Verdross von den Vorteilen der „Okkupationstheorie“ gegenüber der von Verdross bevorzugten „Annektionstheorie“, die Österreich mit Reparationen belasten könnte. Oliver Rathkolb spricht von der „staatlichen Nichtverantwortungsklausel“, auf die die gesamte Staatsbürokratie im Stillen eingeschworen wurde.5 Außenminister Karl Gruber gelang es in den folgenden Jahren, auch die Amerikaner und Briten von der„Opferdoktrin“zu überzeugen und der Opferthese somit als Staatsdoktrin zum Durchbruch zu verhelfen.6 In einer längeren Fassung und mit zahlreichen Fußnoten versehen, veröffentlichte ich den Furche-Artikel dann noch im selben Jahr in der historischen Fachzeitschrift Zeitgeschichte. Während der wissenschaftliche Aufsatz von der Fachgemeinschaft der Zeithistoriker positiv aufgenommen wurde, nahmen meine Kritiker und die breitere Öffentlichkeit den wissenschaftlichen Aufsatz nicht wahr, was nicht weiter überrascht.7 Meine Thesen waren vor 20 Jahren noch kontrovers und offenbar für die Kriegsgeneration indiskutabel. Sie trugen mir den Makel des „Nestbeschmutzers“ ein, was eigentlich immer schon die Rolle des kritischen Historikers war, nämlich liebgewonnene nationale Mythen zu dekonstruieren. Leserbriefschreiber in der Furche griffen mich massiv an. Von heimischen

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locaust: Zur wirtschaftlichen Logik von Verfolgung und „Wiedergutmachung“. Wien – München 2001, S. 305–335; die „Proklamation über die Selbständigkeit Österreichs“ vom 27. April 1945 ist als Faksimile des Staatsgesetzblattes NR. 1–3 (ausgegeben am 1. Mai 1945) im Anhang von Alfred J. Noll – Manfried Welan, Die Abgelegene: Einige kursorische Anmerkungen zur Österreichischen Unabhängigkeitserklärung 1945. Wien 2010. Oliver Rathkolb, Die Wiedererrichtung des Auswärtigen Dienstes nach 1945. Unveröffentlichter Projektendbericht für das Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung 1988, S. 115 f. Außenminister Alois Mock (ÖVP) ließ im 50. Jubiläumsjahr des „Anschlusses“ 1988 nicht zu, dass dieser Bericht veröffentlicht wurde, da Rathkolb Renners vordergründige Konstruktion der Opferdoktrin klar aufzeigte und auch betonte, dass die Opferdoktrin 1945 instabil und nur eine von mehreren Optionen war; zudem würde diese Geschichtsfälschung im Ausland eine kritische Rezeption erhalten, vgl. Oliver Rathkolb, The Paradoxical Republic: Austria 1945–2005. Trans. Otmar Binder, Eleanor Breuning, Ian Fraser and David Sinclair Jones, New York 2010, S. 241 f. Vgl. mein Kapitel „American Public Opinion about Austria during the Early Years of the Cold War“, in: Günter Bischof, Relationships/Beziehungsgeschichten: Austria and the United States in the Twentieth Century. TRANSATLANTICA, Bd. 4. Innsbruck 2013, S. 153–166. Günter Bischof, Die Instrumentalisierung der Moskauer Erklärung nach dem 2. Weltkrieg, in: Zeitgeschichte 10 (Nov.–Dez. 1993), S. 345–366. Dies dürfte sogar mein von Fachkollegen am meisten zitierter Aufsatz sein.

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„Mittätern“ zu schreiben, könne von den Geschichtsrevisionisten im rechten Lager missbraucht werden, meinte einer. Ein anderer monierte, ich sei einer, der nie unter einer „brutalen Diktatur“ gelebt hätte, und könne daher nicht mitreden – ein gängiges Stammtischargument, das man immer wieder gegen nachgeborene Zeithistoriker ins Treffen führte. Der Anschluss 1938 sei nicht aufgrund mangelnden österreichischen Widerstandes erfolgt, sondern weil die Amerikaner das kleine Österreich „elend und niederträchtig im Stich gelassen“ hätten, fügte er noch hinzu.8 Hier wurde das Kind mit dem Bad ausgeschüttet – als einer, der damals schon in den USA arbeitete, musste ich auch noch für Roosevelts Appeasementpolitik herhalten. Felix Butschek vom WIFO griff mich gemeinsam mit der ganzen Zunft der Zeithistoriker in der Furche an.9 Hans Reichmann tat Selbiges in der Presse.10 Botschafter Reichmann scheint auch derjenige gewesen zu sein, der meinen Furche-Artikel ohne meine Zustimmung wieder abdrucken ließ, und zwar in einer Broschüre mit dem Titel „Die Österreichische Nation“, herausgegeben von einer patriotischen „Österreichischen Gesellschaft“, in deren Kuratorium neben Reichmann auch Altbundespräsident Rudolf Kirchschläger saß. In Reichmanns Replik unter dem Titel „Zeitungspapier errötet nicht“ griff er mich dann frontal als „begabten Schüler Stalins“ an, der noch nie etwas vom Hossbach-Protokoll gehört und von der Hitler’schen Angriffspolitik, der auch Österreich zum Opfer gefallen war, keine Ahnung habe.11 Solche emotionalen Frontalangriffe ad personam waren für die damalige Gesprächskultur in der Alpenrepublik gar nicht untypisch, wenn es um die strittigen Themen wie Anschluss und den Beitrag der Österreicher zu Hitlers Angriffs- und Vernichtungskrieg ging. Der Konflikt zwischen der Kriegsgeneration und den „spätgeborenen Nestbeschmutzern“ unter den Zeithistorikern ist in Österreich eine Generation später als in der Bundesrepublik Deutschland ausgebrochen. In Westdeutschland war 1968 der Wendepunkt in der Erinnerungskultur zum Zweiten Weltkrieg, in Österreich die Waldheim-Wahl 1986 und das „Bedenkjahr 1988“, als die dubiose Vergangenheit so mancher Mitglieder der „Pflichterfüllergeneration“ schlagartig ins Rampenlicht gerückt wurde.12 8 9

Vgl. die Leserbriefe in der Furche, 1.4.1993, S. 2. Felix Butschek, Österreich – Verbündeter des Deutschen Reiches?,in: Die Furche, 29.4.1993, S. 7, und meine Replik „Abschied von liebgewonnenen Geschichtsbildern“. 10 Hans Reichmann, Keine Sonderregeln für das NS-Opfer Österreich, in: Die Presse, 17.8.1993, S. 2. 11 A. E. I. O. U., Allen Ernstes ist Österreich Unersetzlich. Die österreichische Nation. Bd. 2, Juni 1993. 12 Die Erinnerungspolitik der westdeutschen 1968er wird kritisch beleuchtet von Ulrike

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Obwohl die amerikanische Fernsehfilmserie Holocaust auch hierzulande eine Debatte über die Schoah und den österreichischen Beitrag zum Genozid an den Juden auslöste, trat erst die Waldheim-Wahl 1986 die große Erinnerungslawine zum spezifischen österreichischen Beitrag an den Hitler’schen Kriegsverbrechen los. Im Zuge dieser Vergangenheitsbewältigungsdiskurse kam auch die „Opferdoktrin“ der Gründerväter unter die Räder.13 In einem 1987 erschienenen Essayband, von Anton Pelinka und Erika Weinzierl herausgegeben, wurden zum ersten Mal öffentlich die „großen Tabus“ der Zweite-Weltkriegs-Geschichte diskutiert und angegriffen.14 In seiner Besprechung des Buches fand Kurt Skalnik den Versuch der „Vergangenheitsbewältigung“ der heimischen „1968er“ unter der Schirmherrschaft der „Schutzmantelmadonna“ Erika Weinzierl „zum Erbrechen“ (Zitat: Fritz Molden).15 In den 1990er-Jahren begann das Eis der „Eiszeit“ der österreichischen Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg zu schmelzen.16 Die 1990er-Jahre waren die Zeit, als Nationen bereit waren, zu ihren historischen Schuldlasten zu stehen: „The guilt of nations“ (Elazar Barkan) wurde zum Schlagwort einer De-

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Jureit – Christian Schneider, Gefühlte Opfer: Illusionen der Vergangenheitsbewältigung. Stuttgart 2010. Die besten vergleichenden Abhandlungen von nationalen Erinnerungen und Vergangenheits- und Geschichtspolitiken bieten Richard Ned Lebow – Wulf Kansteiner – Claudio Fogu (Hg.), The Politics of Memory in Postwar Europe. Durham 2006; Jeffrey Herf, Divided Memory: The Nazi Past in the Two Germanys. Cambridge 1997; Ian Buruma, The Wages of Guilt: Memories of War in Germany and Japan. New York 1995; Werner Bergmann – Rainer Erb – Albert Lichtblau (Hg.), Schwieriges Erbe: Der Umgang mit Nationalsozialismus und Antisemitismus in Österreich, der DDR und der Bundesrepublik Deutschland. Frankfurt am Main 1995. Zu den besten Zusammenfassungen der österreichischen Geschichts- und Gedächtnispolitik zum Zweiten Weltkrieg gehört Heidemarie Uhl, The Politics of Memory: Austria’s Perception of the Second World War and the National Socialist Period, in: Günter Bischof – Anton Pelinka (Hg.), Austrian Historical Memory & National Identity. Contemporary Austrian Studies. Bd. 5. New Brunswick1997, S. 64–94, und dies., From Victim Myth to Co-Responsibility Thesis: Nazi Rule, World War II, and the Holocaust in Austrian Memory, in: Lebow – Kansteiner – Fogu (Hg.), The Politics of Memory in Postwar Europe, S. 40–72; vgl. auch Günter Bischof, Victims? Perpetrators? „Punching Bags“ of European Historical Memory? The Austrians and Their World War II Legacies, in: German Studies Review 27 (February 2004), S. 17–32. Anton Pelinka – Erika Weinzierl (Hg.), Das große Tabu: Österreichs Umgang mit seiner Vergangenheit. Wien 1987. Kurt Skalnik, Das „hinterfragte“ Tabu: zum x-tenmal wird Österreichs „unbewältigte Vergangenheit“ beschrieben, in: Die Furche, 11.9.1987. In dieser Rezension wird Fritz Molden zitiert, den das Wort „Vergangenheitsbewältigung“„zum Erbrechen“ reize. Günter Bischof, Founding Myths and Compartmentalized Past: New Literature on the Construction, Hibernation, and Deconstruction of World War II Memory in Postwar Austria, in: Bischof – Pelinka (Hg.), Austrian Historical Memory and National Identity. Contemporary Austrian Studies. Bd. 5. New Brunswick 1996, S. 302–341.

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kade. Staaten wie die Schweiz oder Japan begannen, mit Opfergruppen über historisches Unrecht in der Vergangenheit zu verhandeln und Restitutionen zu bezahlen. Auf einmal spielte Moral in den internationalen Beziehungen eine Rolle.17 Österreich war nicht allein auf weiter Flur, als Politiker anfingen, sich für die von Österreichern begangenen Verbrechen zu entschuldigen (wie Bundeskanzler Franz Vranitzky in Jerusalem) und mit osteuropäischen Zwangsarbeitern, deren Arbeitskraft in den Industriebetrieben und Bauernhöfen in den Donau- und Alpengauen ausgebeutet worden war, über Restitutionen zu verhandeln. Die Deutschen hatten es ihnen vorgemacht.18 Spät, aber doch noch machte sich die Schüssel-Regierung auch daran, das Unrecht an den Wiener Juden durch Restitutionszahlungen für geraubtes und „arisiertes“ Vermögen moralisch zu akzeptieren und symbolisch „wiedergutzumachen“, obwohl es „Wiedergutmachung“ bei Menschen, die man vertrieben hat und die „zu Hunderttausenden im Ausland verstorben sind“ – „von denen, die während der NS-Zeit umgebracht wurden, ganz zu schweigen“ –, „niemals geben kann“, wie es Heinz Fischer in einem Standard-Interview ausdrückte.19 Bereits 1995 wurde von der Vranitzky-Regierung ein „Nationalfonds“ geschaffen, um vergangenes Unrecht abzugelten. 1998 wurde die „Historikerkommission“ eingerichtet.20 Eine ganze Hundertschaft von Historikern machte sich in einer einzigartigen nationalen Kraftanstrengung daran, die hintersten Winkel der Vermögenstransfers und „Arisierungen“ der Epoche des Zweiten Weltkrieges – also die obskursten Details der österreichischen (Schreibtisch-)Tätergeschichte – zu durchleuchten. Die beeindruckenden Ergebnisse der vielen Bände der Historikerkommission sind noch längst nicht in das nationale Geschichtsnarrativ eingearbeitet und integriert.21 Die Ver17 Elazar Barkan, The Guilt of Nations: Restitution and Negotiating Historical Injustices. Baltimore 2000. 18 Christian Thonke, Hitlers langer Schatten: Der mühevolle Weg zur Entschädigung der NS-Opfer. Wien 2004; Günter Bischof, Watschenmann der europäischen Erinnerung? Internationals Image und Vergangenheitspolitik der Schüssel/Riess-Passer-ÖVP/ FPÖ-Koalitionsregierung, in: Michael Gehler – Anton Pelinka – Günter Bischof (Hg.), Österreich in der EU: Bilanz einer Mitgliedschaft. Wien 2003, S. 445–478. 19 Für Fischers gesamtes wiederabgedrucktes Standard-Interview, von dem die Autoren meinen, es hätte „staatspolitischen Rang“ (S. 52), vgl. Noll – Welan, Die Abgelegene, S. 51–56, hier S. 54. 20 Vgl. http://de.nationalfonds.org/, 15.10.2013. 21 Insgesamt liefen 47 Forschungsprojekte und Gutachten, die in 30 Bänden publiziert wurden (manche Projekte in Doppelbänden). Vgl. den zusammenfassenden Abschlussbericht von Clemens Jabloner u. a., Schlussbericht der Historikerkommission der Republik Österreich: Vermögensentzug während der NS-Zeit sowie Rückstellungen und Entschädigungen seit 1945 in Österreich. Veröffentlichungen der Österreichischen

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brechen der deutschen Wehrmacht wurden in den 1990er-Jahren zum Dauerbrenner und immer wieder von Neuem diskutiert, wenn etwa die Wehrmachtsausstellung in österreichische Städte kam.22 Die These vom „Opfer Österreich“ wurde immer unglaubhafter. Im „Gedenkjahr“ 2005 wurde der gesamte Erinnerungskomplex zum Zweiten Weltkrieg noch einmal im Detail aufgerollt. Obwohl es um Jubiläen zum Kriegsende, Staatsvertrag und EU-Beitritt ging (1945, 1955, 1995), konnte man den Zweiten Weltkrieg, nach dessen Ende das Land wiederaufgebaut wurde, nicht aus den Augen verlieren. 2005 war ein Jahr zahlreicher Ausstellungen und Tagungen. Es wurde auch im öffentlichen Raum immer wieder Geschichte inszeniert und – das muss auch gesagt werden – trivialisiert (man denke an die grasenden Kühe in den Belvedere-Gärten).23 Bundeskanzler Schüssel hatte noch im November 2001 in einem Interview mit der Jerusalem Post ausdrücklich betont, dass „der souveräne österreichische Staat das erste Opfer des Nazi-Regimes“ gewesen sei, konzedierte aber immerhin, dass die Österreicher eine „moralische Verantwortung“ für ihre Vergangenheit trügen.24 Sollte das eine Verbeugung vor den Gründervätern der Republik und Rückkehr zur „Stunde null“ des 27. April 1945 sein? Wie steht die Wissenschaft heute zur Opferdoktrin? Die führenden Köpfe der Historikerzunft, die sich mit dieser Zeit eingehend beschäftigt haben, sehen Renners Opferthese heute eigentlich unisono als staatstragenden Opportunismus bzw. als notwendiges Übel, wenn nicht gar als zynische Realpolitik. Anton Pelinka drückt die Sache am Klarsten aus: Es sei den Gründervätern „nicht um Wahrheit, sondern um praktische Politik“ gegangen. Die damalige Tabuisierung der österreichischen Wurzeln des Nationalsozialismus und der Mitverantwortung an den Naziverbrechen war notwendig, um einen „Heilungsprozess“ durch „ritualisierte Berührungs- und Diskussionsverbote“ zu ermöglichen.25 Nietzsche und Freud wären da d’accord.

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Historikerkommission. Vermögensentzug während der NS-Zeit sowie Rückstellungen und Entschädigungen seit 1945 in Österreich. Bd. 1. Wien – München 2003. Hannes Heer – Klaus Naumann (Hg.), Vernichtungskrieg: Verbrechen der Wehrmacht 1941–1944. Hamburg 1995. Günter Bischof – Michael S. Maier, Reinventing Tradition and the Politics of History: Schüssel’s Restitution and Commemoration Policies, in: Günter Bischof – Fritz Plasser (Hg.), The Schüssel Era in Austria. Contemporary Austrian Studies. Bd. 18. New Orleans – Innsbruck 2010, S. 206–234; Mathew Paul Berg, Vergangenheitsbewältigung: ContextualizingAustria’s Gedenkjahr 2005, in: German History 26 (January 2008), S. 53–73. Zitiert in: Schüssel: Österreich war erstes Nazi-Opfer?, Wiener Zeitung, 10.11.2000. Anton Pelinka, Von der Funktionalität von Tabus: Zu den „Lebenslügen“ der Zweiten Republik, in: Wolfgang Kos – Georg Rigele (Hg.), Inventur 45/55: Österreich im ersten Jahrzehnt der Zweiten Republik. Wien 1996, S. 30.

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Und auch der große deutsche Althistoriker Christian Meier meint, das Vergessen sei für ein Gemeinwesen notwendig, um vor schlimmer Erinnerung zu schützen und Verbrechen zu entsühnen, denn „Erinnerung an Schlimmes erzeuge gerne den Drang zur Rache“. So meinte schon Cicero nach Caesars Ermordung, „omnem memoriam discordiarum oblivione sempiterna delendam“, also „alle Erinnerung an die Zwieträchtigkeiten sei durch ewiges Vergessen zu tilgen“.26 Gerald Stourzh geht natürlich in seiner monumentalen Geschichte zum österreichischen Staatsvertrag auch auf die Moskauer Deklaration ein. Im Hinblick auf die These zur „Instrumentalisierung“ der Moskauer Deklaration meinte er, politische Texte hätten immer eine „advokatorische Funktion“ gehabt. Es sei „das Gesetz politischer Argumentation, dass bei Vorliegen eines gegebenen Textes die jeweils günstigsten Aussagen aufgegriffen und betont werden, die ungünstigsten entweder widerlegt oder, wenn dies nicht möglich ist, unterbelichtet werden“. Deswegen hätte die damalige österreichische Regierung die im ersten Teil der Moskauer Deklaration „gebotene Chance“ gar nicht zurückweisen können. Renner integrierte den Text in die Unabhängigkeitserklärung vom 27. April und bezog – wenn auch ausdrücklich „in pflichtgemäßer Erwägung“ – die Verantwortlichkeitsklausel mit ein. Dazu kam noch, betonte Stourzh, dass die „Opferthese“ auch den persönlichen Erfahrungen vieler Gründerväter entsprach, von denen einige auch dem austrofaschistischen Regime – also den Totengräbern der Ersten Republik – gedient haben. Die Betonung der Opferthese war entscheidend für das Bewusstsein einer österreichischen Eigenständigkeit und Identität, so Stourzh.27 Michael Gehler stimmt dem zu, wenn er in seiner umfangreichen Geschichte der österreichischen Außenpolitik meint, es sei der damaligen Regierung hauptsächlich um die „Abgrenzung und Emanzipation von Deutschland“ gegangen. Eine Betonung der „Täter-Rolle der Österreicher“ in der „Stunde null“ wäre einer „riskanten Gratwanderung gleichgekommen“, die der jungen Republik unter deren Staatsräson widersprochen und sie gefährdet hätte.28 Ernst Hanisch argumentiert etwas differenzierter und betont: „Meint Österreich den Staat, dann ist die Opferdoktrin eine Teilwahrheit, die nicht einfach negiert werden kann; meint Österreich die Gesellschaft, dann ist die 26 Christian Meier, Das Gebot zu Vergessen und die Unabweisbarkeit des Erinnerns: Vom öffentlichen Umgang mit schlimmer Vergangenheit. Berlin 2010, S. 10 f. 27 Gerald Stourzh, Um Einheit und Freiheit: Staatsvertrag, Neutralität und das Ende der Ost-West-Besetzung Österreichs 1945–1955. Wien 1998, S. 26 f. 28 Michael Gehler, Österreichs Außenpolitik der Zweiten Republik: Von der alliierten Besatzung bis zum Europa des 21. Jahrhunderts. Bd. 1. Innsbruck 2005, S. 28.

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Opfertheorie tatsächlich falsch.“29 Auf eine solche „Instrumentalisierung“ der Moskauer Deklaration durch die Völkerrechtler am Ballhausplatz wies ich vor 20 Jahren in meinem Furche-Aufsatz hin, nämlich auf den Persilschein, den man damals kollektiv den Österreichern ausstellte, also eine Quasiausweitung des Opferbegriffs auf die gesamte Gesellschaft. Während man den besonderen Opferstatus der Juden bereits 1946 in Abrede stellte,30 wurden die Wehrmachtssoldaten bereits Anfang der 1950er-Jahre als „Helden, die die Heimat verteidigten“, gefeiert und auf zahlreichen Kriegerdenkmälern verherrlicht.31 Der junge Historiker Peter Pirker veröffentlichte 2012 seine gewichtige und aktengesättigte Wiener Dissertation zur britischen Geheimdienstpolitik gegenüber dem nicht existenten Staat Österreich. Auf der Basis gründlicherer Forschung in britischen Archiven, als dies Keyserlingk und Bischof machten (auch in neu geöffneten Geheimdienstbeständen), differenziert Pirker zwischen den Propagandaaktivitäten des Geheimdienstes Special Operations Executive (SOE), der es bereits 1941 auf die Anstachelung eines Widerstandes in den Donau- und Alpengauen abgesehen hatte, und dem Druck des Political Warfare Executive (PWE) im Außenamt (Foreign Office), eine „autoritative“ Erklärung der zukünftigen britischen Österreichpolitik zu verabschieden. Im Frühjahr 1943 machten sich die Beamten des Foreign Office daran, eine „politische Deklaration“ zu konzipieren, die auf Churchills frühe Formulierung von Österreich als „erstes Opfer Hitlers“ rekurrierte, aber auch mit dem Hinweis auf die Verantwortung der Österreicher für den Beitrag an Hitlers Angriffs- und Vernichtungskrieg. In London hatte man den rechten Zeitpunkt der ersten großen Niederlagen auf den Schlachtfeldern in Stalingrad und Nordafrika abgewartet. Es ging dem Foreign Office in zahlreichen Vorstudien und im Dokument, das zur „Moskauer Erklärung“ werden sollte, vor allem darum, einen Österreichpatriotismus nach dem Krieg anzustacheln, und zwar mit dem ersten Schritt der Propagierung und Wiedererrichtung eines unabhängigen Staates Österreich nach dem Krieg, losgelöst von Deutschland. Es steckten propagandistische und politische Erwägungen hinter der von den Briten konzipierten Moskauer Erklärung, moniert Pirker. Das Pendel 29 Ernst Hanisch, Die Präsenz des Dritten Reiches in der Zweiten Republik, in: Kos – Rigele (Hg.), Inventur, S. 37. 30 Richard Mitten, Jews and Other Victims: The ‘Jewish Questions’ and Discourses of Victimhood in Postwar Austria, in: Günter Bischof – Anton Pelinka – Michael Gehler (Hg.), Austria and the European Union. Contemporary Austria Studies. Bd. 10. New Brunswick 2002, S. 223–270. 31 Stefan Riesenfellner – Heidemarie Uhl, Todeszeichen: Zeitgeschichtliche Denkmalkultur. Wien 1994; siehe auch Uhl, Politics of Memory, S. 73–80.

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der Erklärung schwingt also wieder zurück, nämlich dahin, die Gewichtung auf die politischen Absichten des Foreign Office zu legen. Das Foreign Office wollte sich also von den Propagandaplänen des SOE – und seinen Versuchen einer Anstachelung des österreichischen Widerstandes als Hauptmotiv in der Moskauer Erklärung – distanzieren.32 Bundespräsident Heinz Fischer spricht in einem Standard-Interview am 27. April 2006 von der „verkürzten Wahrheit“ der Präambel der Unabhängigkeitserklärung vom 27. April 1945 und moniert: „Wahrscheinlich hat es das ohnehin schon schrecklich schwere Leben nach Kriegsende ein bisschen leichter gemacht, nicht noch zusätzliche Schuld auf die Schultern zu laden.“Er fügt dann aber hinzu: „Befreites Aufatmen ist aber erst möglich, wenn man sich mit der Geschichte gründlich auseinandersetzt, wenn man an die vielen heroischen Opfer denkt, aber die Facette der Täterschaft nicht einfach ausblendet.“33 Kein Wunder, dass die Wehrmachtsausstellung, die die Verbrechen der Wehrmacht an den Ost- und Südfronten nachwies, so heiß umstritten war und einen schweren Stand in den österreichischen Städten hatte, wo sie in den 1990er-Jahren gezeigt wurde.34 Der Opferbegriff, wie ihn Vranitzky 1993 in Jerusalem präzisierte, indem er „Juden, Zigeuner, körperlich und geistig Behinderte [also die Opfer der Euthanasie], Homosexuelle, Angehörige von Minderheiten, politisch oder religiös Verfolgte“35 explizit nannte –, wäre ein solcher Opferbegriff in der „Stunde null“ politisch nicht möglich gewesen? Wären die Österreicher in den späten 1940er-Jahren nicht zu einer „Wahrheitskommission“ fähig gewesen, wie in Südafrika nach dem Apartheitsregime vorgezeigt, wo Täter sich bei den Opfern entschuldigten?36 Spülten die Volksgerichtsprozesse nicht schon bald nach dem Kriegsende die scheuß32 Peter Pirker, Subversion deutscher Herrschaft: Der britische Kriegsgeheimdienst SOE und Österreich. Zeitgeschichte im Kontext. Bd. 6. Göttingen 2012, S. 179–221 (bes. S. 213–221). 33 Wiederabgedruckt in Noll – Welan, Die Abgelegene, S. 52. 34 Vgl. etwa zur Wehrmachtsausstellung in der Steiermark Ulf Brunnbauer (Hg.), Eiszeit der Erinnerung: Vom Vergessen der eigenen Schuld. Wien 1999. 35 Franz Vranitzkys Rede vom 9. Juni 1993, in: Salzburger Nachrichten, 9.6.1993; vgl. auch Bischof, Instrumentalisierung der Moskauer Erklärung, S. 360. Kurioserweise geht Franz Vranitzky in seinen Memoiren auf die Jerusalemer Rede 1993 nicht ein, zitiert jedoch ausführlich seine Rede im Parlament am 8. Juli 1991, die zum selben Thema klare Worte fand, vgl. Franz Vranitzky, Politische Erinnerungen. Wien 2004, S. 188–193. 36 Vgl. dazu die verschiendenen Kapitel im Abschnitt, „History as Catharsis“ in Oliver Rathkolb (Hg.), Revisiting the National Socialist Legacy: Coming to Terms with Forced Labor, Expropriation, Compensation, and Restitution. Innsbruck 2002, S. 185–316, sowie Bischof, „Opfer“ Österreich?, in: Stiefel (Hg.), Die politische Ökonomie des Holocaust, S. 320–332.

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lichsten „Endzeitverbrechen“ (etwa die Ermordung von Hunderten ungarischen Juden auf ihren Todesmärschen) ans Licht der Öffentlichkeit?37 Wie viel historische Wahrheit und Aufrichtigkeit über die Zweite-Weltkriegs-Vergangenheit konnte man damals den Österreichern zumuten? Diese gesellschaftliche Komplexität des „Opferbegriffes“, auf die Hanisch hinweist und die von der Gründervätergeneration unter den Teppich gekehrt wurde, kann durch den legalistischen Opferbegriff, auf den sich die opportunistische „Staatsräson“ im Mai 1945 zurückgezogen hat, nicht erfasst werden. Auch Stourzh kritisiert diese juristisch-„formalistische“ Einstellung der Österreicher und die fehlende „Scham“ für die damaligen „Untaten von Landsleuten“. Diese „Schuld der Nation“ konnte erst zwei Generationen später angesprochen werden und wurde oft als „Moralisiererei“ der Zeithistoriker lächerlich gemacht. Ohne die Moral geht es aber, vor allem „nach Auschwitz“ (Adorno), nicht mehr. Am Ende wäre zu fragen, ob die Republik Österreich der Moskauer Erklärung, die neben Renners Unabhängigkeitserklärung und dem Staatsvertrag zu den Gründungsdokumenten der Zweiten Republik gehört, je ein Erinnerungsdenkmal gesetzt hat. Meines Wissens nicht. Oder dachte man sich, die Moskauer Erklärung ist sowieso in die Präambel der Unabhängigkeitserklärung integriert und sollte mit ihr zusammen in der nationalen kollektiven Erinnerung wachgehalten werden? Liest man Alfred Nolls und Manfred Welans kuriose Geschichte des Erinnerungsdenkmals zu Renners Unabhängigkeitserklärung, so ist es vielleicht sogar besser, wenn nie daran gedacht wurde, einen Gedenkstein bzw. Denkmal zur Moskauer Erklärung in der Bundeshauptstadt zu errichten. Zwei Steinplatten mit Textzitaten aus der Unabhängigkeitserklärung (es gibt keinen öffentlichen Ort mit der gesamten Unabhängigkeitserklärung) befinden sich an der Peripherie der Stadt Wien im Schweizergarten, „weit draußen“ beim Landstrasser Gürtel. 1966 kamen zu den Steinplatten zwei geschwungene Stahlpfeiler hinzu. Zusammen repräsentieren sie das „Staatsgründungsdenkmal“. Noll und Welan vermuten, dass das Ensemble den Eindruck von „großer Verschämtheit“ vermittelt – „fast glaubt man, dass die Beteiligten von einer gewissen Peinlichkeit angerührt sind“. „Die Abgelegene“ (Noll/Welan) ist nicht im Zentrum der Stadt gelegen und vermittelt die Botschaft, die Unabhängigkeitserklärung und das Staatsgründungsdenkmal seien „nichts wert – sie zählen nicht“.38 Das könnte auch ein Kommentar 37 Claudia Kuretsidis-Haider, Das Volk sitzt zu Gericht: Österreichische Justiz und NS-Verbrechen am Beispiel der Engerau-Prozesse 1945–1954. Innsbruck 2006. 38 Noll – Welan, Die Abgelegene, S. 9–13, hier: S. 12.

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zum heutigen Status der „Opferdoktrin“ sein. Auf jeden Fall scheint sich ein Konsens unter Fachhistorikern abzuzeichnen, der eher auf die politische Absichtserklärung der Moskauer Deklaration hinausläuft als auf deren „propagandistische“ Intentionen der Anglo-Amerikaner vis-à-vis den Ostmärkern, eben der Anstachelung eines Widerstandes gegen das Naziregime in den Donau- und Alpengauen in den letzten Kriegsjahren.

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Dem Wortlaut der Moskauer Deklaration zu Österreich liegt ein Entwurf des britischen Außenministeriums zugrunde. Dieser wurde letztlich von der sowjetischen Seite nur geringfügig abgeändert. Links: Molotovs handschriftliche Ausbesserungen

Entwurf der britischen und der amerikanischen Delegation

Deklaration über Österreich

Nach gemeinsamer Erörterung im Geiste der Atlantik-Charta kamen die Regierungen Großbritanniens, der Sowjetunion und der Vereinigten Staaten von Amerika kamen darin überein, dass Österreich, das erste freie Land, das der nazistischen Hitlerschen Aggression zum Opfer gefallen ist, von der deutschen Herrschaft befreit werden muss. Sie betrachten den Anschluss, der Österreich am 15. März 1938 von Deutschland aufgezwungen worden ist, als null und nichtig. Sie betrachten sich in keiner Weise gebunden durch irgendwelche Veränderungen, die nach diesem Zeitpunkt in Österreich vorgenommen wurden. Sie geben ihrem Wunsch Ausdruck, ein freies und unabhängiges Österreich wiederhergestellt zu sehen und dadurch dem österreichischen Volk selbst, ebenso wie anderen benachbarten Staaten, vor denen ähnliche Probleme stehen werden, die Möglichkeit zu geben, diejenige politische und wirtschaftliche Sicherheit zu finden, die die einzige Grundlage eines dauerhaften Friedens ist. Österreich wird jedoch darauf aufmerksam gemacht, dass es für die Beteiligung am Kriege auf Seiten Hitlerdeutschlands die Verantwortung trägt, der es nicht entgehen kann, und dass bei der endgültigen Regelung unvermeidlich sein eigener Beitrag zu seiner Befreiung berücksichtigt werden wird. Unsere Ausbesserungen: 1) Die erste Zeile löschen: „Nach gemeinsamer Erörterung im Geiste der Atlantik-Charta“. 2) In der vierten Zeile von oben anstelle des Wortes „nazistisch“ sagen: „Hitlersche“ 3) Im letzten Absatz vor dem Wort „Deutschlands“ hinzufügen: „Hitler“.

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JOINT FOUR-NATION DECLARATION The governments of the United States of America, United Kingdom, the Soviet Union, and China; United in their determination, in accordance with the declaration by the United Nations of January, 1942, and subsequent declarations, to continue hostilities against those Axis powers with which they respectively are at war until such powers have laid down their arms on the basis of unconditional surrender; Conscious of their responsibility to secure the liberation of themselves and the peoples allied with them from the menace of aggression; Recognizing the necessity of insuring a rapid and orderly transition from war to peace and of establishing and maintaining international peace and security with the least diversion of the world‘s human and economic resources for armaments; Jointly declare: 1. That their united action, pledged for the prosecution of the war against their respective enemies, will be continued for the organization and maintenance of peace and security. 2. That those of them at war with a common enemy will act together in all matters relating to the surrender and disarmament of that enemy. 3. That they will take all measures deemed by them to be necessary to provide against any violation of the terms imposed upon the enemy. 4. That they recognize the necessity of establishing at the earliest practicable date a general international organization, based on the principle of the sovereign equality of all peace-loving states, and open to membership by all such states, large and small, for the maintenance of international peace and security. 5. That for the purpose of maintaining international peace and security pending the re-establishment of law and order and the inauguration of a system of general security they will consult with one another and as occasion requires with other members of the United Nations, with a view to joint action on behalf of the community of nations.

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6. That after the termination of hostilities they will not employ their military forces within the territories of other states except for the purposes envisaged in this declaration and after joint consultation. 7. That they will confer and cooperate with one another and with other members of the United Nations to bring about a practicable general agreement with respect to the regulation of armaments in the post-war period. [Signatures:] V. Molotov Cordell Hull Anthony Eden Foo Peng-Sheung Moscow, 30th October 1943

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Anfang August 1943 hatte Stalin zum ersten Mal die Einberufung einer Konferenz „wesentlicher Entscheidungsträger“ der UdSSR, Großbritanniens und der USA im Vorfeld des geplanten Treffens der „Großen Drei“ vorgeschlagen. Ende August 1943 stimmten US-Präsident Franklin D. Roosevelt und der britischer Premierminister Winston Churchill im Prinzip Stalins Vorschlag zu. Sonder-Chiffretelegramm Nr. 21351 Vordringlich An Molotov auf Anweisung Roosevelts, der noch immer in Kanada ist, hat mir das Weiße Haus heute um 15.30 Uhr folgende Note Roosevelts und Churchills an Gen. Stalin übergeben: „Vom Premierminister und vom Präsidenten an Marschall Stalin: Wir prüfen im Moment Ihre Vorschläge und sind fast davon überzeugt, dass die uns alle zufriedenstellenden Planungen sowohl bei Treffen von Vertretern der Außenministerien als auch bei der Schaffung einer Dreierkommission erörtert werden können. Der Premierminister und ich treffen uns Anfang nächster Woche wieder und werden dann neuerlich per Telegraph auf Sie zukommen.“ 28.VIII.1943 Gromyko

1

Verteiler: „Stalin, Molotov, Vorošilov, Mikojan, Berija, Malenkov, Vyšinskij, Dekanozov, 10. Abteilung.“ Darunter der Vermerk: „Aus Washington, Nr. 12341, erh. 8.00 Uhr, 29.VIII.1943.“ Am linken Rand: „Innerhalb von 48 Stunden nach dem Erhalt ist das Telegramm an die 10. Abteilung des NKID zu retournieren.“

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Persönlich und vertraulich von Premier I. V. Stalin an Präsidenten Franklin D. Roosevelt1 Ihr Schreiben vom 4. Oktober habe ich erhalten. Was die militärischen Fragen anbelangt, so ist Ihnen der Standpunkt der sowjetischen Regierung zu den anglo-amerikanischen Maßnahmen zur Verkürzung der Kriegsdauer bereits aus meinem vorherigen Schreiben bekannt. Ich hoffe allerdings, dass in diesem Zusammenhang die vorläufige Konferenz der Drei Nutzen bringen und unsere weiteren wichtigen Entscheidungen vorbereiten wird. Wenn ich Sie richtig verstehe, so werden auf der Moskauer [Außenminister-]Konferenz Fragen erörtert, die lediglich unsere drei Staaten betreffen, und man kann also übereinstimmend festhalten, dass die Frage der Deklaration der Vier Mächte nicht in die Tagesordnung der Konferenz aufgenommen wird. Unsere Repräsentanten müssen alles ihnen Mögliche tun, um möglichen Schwierigkeiten in ihrer verantwortungsvollen Arbeit vorzubeugen. Entscheidungen selbst können natürlich nur von unseren Regierungen getroffen werden, und, wie ich hoffe, insbesondere bei unserem persönlichen Treffen mit Ihnen und Herrn Churchill. Ich wünsche der amerikanischen und britischen Armee, dass diese ihre Aufgaben erfolgreich erfüllen und bis nach Rom vorrücken, was ein neuer Schlag gegen Mussolini und Hitler sein wird.

6. Oktober 1943

Abgesendet am 7.10.1943

1

Handschriftliche Notiz links oben: „An Genossen Stalin. Zur Bestätigung. V. Molotov. 6.X.[1943].“

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Am 14. Oktober 1943 tagte in Moskau das Politbüro. Als dritter und letzter Punkt stand die Zusammensetzung der sowjetischen Delegation für die Außenministerkonferenz in Moskau auf der Tagesordnung. Molotov formulierte den Beschluss in der Sitzung handschriftlich. Die Wortwahl „drei Verbündete“ wurde gestrichen. Stalin zeichnete den Beschluss ab. Alle Politbüromitglieder stimmten der Zusammensetzung der Delegation zu. [Politbürositzung] vom 14.X.43 53. – Fragen des Obersten Gerichts der UdSSR: Beschluss – Sondermappe. 54. – Über die Verleihung von Orden an Mitarbeiter des NKGB der UdSSR: Die Entwürfe der Anweisungen des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR über die Verleihung von Orden an Mitarbeiter des NKGB der UdSSR sind zu verleihen (siehe Beilage – 3 Anweisungen).1 55. – Über die Zusammensetzung der Sowjetischen Delegation auf der Konferenz der Vertreter der UdSSR, der USA und Großbritanniens: Folgende Zusammensetzung der Sowjetischen Delegation auf der Konferenz der Vertreter der UdSSR, der USA und Großbritanniens ist zu bestätigen: Molotov, Vyšinskij, Vorošilov, Litvinov, Sergeev (NKVT), Gryzlov (Generalstab), Saksin (NKID). Beschluss des Politbüros des ZK Folgende Zusammensetzung der Sowjetischen Delegation auf der Konferenz der Vertreter der drei Verbündeten der UdSSR, der USA und Großbritanniens ist zu bestätigen: Molotov, Vyšinskij, Vorošilov, Litvinov, Sergeev (NKVT), Gryzlov (Generalstab), Saksin (NKID). I. Stalin2 Gen. Berija Gen. Andreev - dafür Gen. Malenkov - dafür Gen. Vorošilov - dafür Gen. Kalinin - dafür Gen. Voznesenkij - dafür Gen. Mikojan - dafür Gen. Ščerbakov - dafür Gen. Kaganovič – dafür Auszug an die Delegationsmitglieder 1 2

Wird nicht abgedruckt. Rechts der Vermerk: „P[rot.] 42/55. 15.X.43“. Am linken Rand der Beschlusstitel: „Über die Zusammensetzung der Sowjetischen Delegation auf der Konferenz der Vertreter der UdSSR, der USA und Großbritanniens.“

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Erhalten am 12. November 1943

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Übersetzung aus dem Englischen Britische Botschaft Moskau

Persönlich und streng vertraulich 12. November 1943

Lieber Herr Molotov, Anbei übermittle ich Ihnen zwei persönliche und streng vertrauliche Schreiben des Premierministers an Marschall Stalin. Ich wäre dankbar, wenn Sie diese Schreiben entsprechend weiterleiten würden. Darf ich diesen Anlass nutzen, um mitzuteilen, wie sehr mich die Ereignisse der letzten Zeit glücklich gemacht haben? Aufrichtig, Ihr Archibald Clark Kerr.

An Ihre Exzellenz V. M. Molotov Volkskommissar für Innere Angelegenheiten Moskau.

1

Übersetzt [Unterschrift:] V. Pavlov

(V. Pavlov)1

Darunter der Verteiler: „Gen. Stalin, Molotov, Berija, Malenkov.“ Darunter handschriftlich hinzugefügt: „Zur Kenntnis gebracht: Gen. Vyšinskij, Dekanozov. Ausgangsnr.: 1017. M“.

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Beilage 11 Übersetzung aus dem Englischen

Persönliches und streng vertrauliches Schreiben des Premierministers an Marschall Stalin Ich danke Ihnen sehr für Ihr außerordentlich wohlgefälliges Geschenk und auch für alle Aufmerksamkeiten, die Sie Herrn Eden gegenüber erwiesen. Es freut mich sehr, dass die Konferenz so erfolgreich verlief. Die Kommandeure des britischen und des amerikanischen Stabes werden sich um den 22. November in Kairo2 zur detaillierten Erörterung der Operationen der anglo-amerikanischen Truppen wie auch des Krieges gegen Japan treffen. Gegenwärtig werden von uns auf lange Zeit ausgerichtete Kriegspläne gegen Japan3 vorbereitet. Es ist zu hoffen, dass bei der Erörterung der letzten Frage die Teilnahme von Chiang Kai-Shek selbst und einer chinesischen Militärdelegation möglich sein werden.4 Wir hoffen, dass danach, wenn diese Gespräche zu unseren inneren und fernöstlichen Angelegenheiten abgeschlossen sein werden,5 ein Treffen der drei Staatsoberhäupter stattfinden kann. Darüber hinaus muss berücksichtigt werden, dass zur Erörterung aller Kriegsangelegenheiten in allen Aspekten eine Dreierkonferenz des sowjetischen, des amerikanischen und des britischen Stabes6 einberufen werden muss, die ihre Arbeit rund um den 25. oder 26. November aufnehmen muss. Deshalb ist die Hoffnung groß, dass Sie zu dieser Konferenz eine hochkarätige Militärdelegation,7 wenn möglich in Begleitung von Herrn Molotov, entsenden werden. All dies wird separat vom Treffen der drei Staatsoberhäupter und ergänzend zu diesem stattfinden. Ich war sehr froh zu erfahren, dass der Präsident bereit ist, nach Teheran zu fliegen. Ich habe ihn lange Zeit inständig darum gebeten, dies zu tun. Was mich 1 2 3 4 5 6 7

Handschriftlich hinzugefügt: „Eingetroffen in einem Brief Kerrs an V. M. Molotov. 12. November 1943.“ Der Satzteil „in Kairo“ wurde im Dokument per Hand eingekreist. Der Satzteil „wie auch des Krieges gegen Japan“ wurde im Dokument per Hand unterstrichen Der Satzteil „die Teilnahme von Chiang Kai Shek selbst und einer chinesischen Militärdelegation möglich sein wird“ wurde im Dokument per Hand unterstrichen Die Wörter „danach, wenn“ und „abgeschlossen sein werden“ wurden im Dokument per Hand unterstrichen. Der Satzteil „Dreierkonferenz des sowjetischen, des amerikanischen und des britischen Stabes“ wurde im Dokument per Hand unterstrichen. Der Satzteil „hochkarätige Militärdelegation“ wurde im Dokument per Hand unterstrichen.

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betrifft, so habe ich mich während den vergangenen Monaten immer wieder dazu bereit erklärt, an einen beliebigen Ort, zu einem beliebigen Termin abzureisen, wenn wir drei zusammentreffen können.

Übersetzt [Unterschrift:] V. Pavlov

(V. Pavlov)

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Abb. 1: Der US-amerikanische Außenminister Cordell Hull wird von seinem sowjetischen Amtskollegen Vjačeslav M. Molotov am Flughafen in Moskau empfangen. Foto: AVP RF

Abb. 2: Cordell Hull und Vjačeslav M. Molotov schreiten die Ehrenformation ab. Foto: AVP RF

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Abbildungen

Abb. 3: Molotov und Hull am Flughafen in Moskau. Foto: AVP RF

Abb. 4: Molotov empfängt seinen britischen Amtskollegen Anthony Eden am Flughafen in Moskau. Foto: AVP RF

Abbildungen

Abb. 5: Molotov trifft am Konferenzort ein. Foto: AVP RF

Abb. 6: Hull trifft am Konferenzort ein. Foto: AVP RF

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Abbildungen

Abb. 7: Eden trifft am Konferenzort ein. Foto: AVP RF

Abb. 8: Gespräch zwischen Eden, Hull und Molotov in einer Konferenzpause. Foto: AVP RF

Abbildungen

Abb. 9: Gespräch zwischen Eden und Hull bei der Konferenz. Foto: AVP RF

Abb. 10: Unterzeichnung der Moskauer Deklaration: v. l. Foo Ping-Sheung, Cordell Hull, Vjačeslav Molotov und Anthony Eden. Foto: AVP RF

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Abkürzungsverzeichnis

ABÖK Antifaschistisches Büro österreichischer Kriegsgefangener Abs. Absatz Antifa Antifaschismus, Antifaschisten, antifaschistisch AdR Archiv der Republik AVP Archiv für auswärtige Politik ASVG Allgemeines Sozialversicherungsgesetz Bd. Band BdO Bund deutscher Offiziere BMfaA Bundesministerium für auswärtige Angelegenheiten bzw. beziehungsweise CFLN Comité français de la Libération nationale d. delo (Akt) Dipl.-Arb. Diplomarbeit DÖW Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstandes EAC European Advisory Commission F. Fond (Bestand) FSB Federal’naja Služba bezopasnosti (Föderaler Sicherheitsdienst) GARF Gosudarstvennyj Archiv Rossijskoj Federacij (Staatsarchiv der Russischen Föderation) Genlt. Generalleutnant Gestapo Geheime Staatspolizei GUPVI Gosudarstvennoe Upravlenie po delam voennoplennych i internirovannych (Hauptverwaltung für Angelegenheiten von Kriegsgefangenen und Internierten) IKKI Ispolnitel’nyj Komitet Kominterna (Exekutivkomitee der Komintern) KPdSU Kommunistische Partei der Sowjetunion KPÖ Kommunistische Partei Österreichs KZ Konzentrationslager LMU Ludwig-Maximilians-Universität MAE Archives du Ministère des Affaires étrangères NKFD Nationalkomitee Freies Deutschland NKID Narodnyj komissariat inostrannych del (Volkskommissariat für auswärtige Angelegenheiten) NKVD Narodnyj Komissariat Vnutrennich Del (Volkskommissariat

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Abkürzungsverzeichnis

für innere Angelegenheiten) NSDAP Nationalsozialistische Deutsche Arbeiter Partei NS Nationalsozialismus O. A. Ohne Autor ÖVP Österreichische Volkspartei ÖStA Österreichisches Staatsarchiv POEN Provisorisches Österreichisches Nationalkomitee RF Russische Föderation RGANI Rossijskij Gosudarstvennyj Archiv Novejšej Istorii (Russisches Staatsarchiv für Zeitgeschichte) RGVA Rossijskij Gosudarstvennyj Voennyj Archiv (Russisch-Staatliches Militärarchiv) RGASPI Rossijskij Gosudarstvennyj Archiv Social’no-Političeskoj Istorij (Russisches Staatsarchiv für Sozial- und Politikgeschichte) S. Seite Smers „Smert‘ špionam!“ („Tod den Spionen!“) SMV Sowjetische Mineralölverwaltung SOE Special Operations Executive SPÖ Sozialistische Partei Österreichs u. a. unter anderem UdSSR Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken USA United States of America WIFO Österreichisches Institut für Wirtschaftsforschung vgl. vergleiche VKP (b) Vsesojuznaja Kommunističeskaja Partija (Bol’ševikov) (Kommunistische Allunionspartei (der Bolschewiken) ZA Zentralarchiv z. B. zum Beispiel

Autorenverzeichnis

Brigitte Bailer, Prof. Dr., ehem. Leiterin des Dokumentationsarchivs des Österreichischen Widerstandes, Wien. Siegfried Beer, Univ. Prof. i. R., Dr., Leiter des Austrian Center for Intelligence, Propaganda and Security Studies (ACIPSS), Graz. Günter Bischof, Prof. Dr., Leiter des Center Austria an der Universität New Orleans. Gerhard Botz, em. Univ.-Prof. Dr., Leiter des Ludwig Boltzmann-Instituts für Historische Sozialwissenschaft, Wien. Vasilij Christoforov, Prof. Dr., Direktor des Zentralarchivs des FSB, Moskau. Aleksej Filitov, Dr., leitender wissenschaftlicher Mitarbeiter des Instituts für Globale Geschichte der Russischen Akademie der Wissenschaften, Moskau. Walter Iber, Mag. Dr., wissenschaftlicher Mitarbeiter am Ludwig Boltzmann-Institut für Kriegsfolgen-Forschung, Graz, Univ.-Ass. am Institut für Wirtschafts-, Sozial- und Unternehmensgeschichte der Universität Graz. Stefan Karner, Univ.-Prof. Dr., Leiter des Ludwig Boltzmann-Instituts für Kriegsfolgen-Forschung, Graz – Wien – Raabs; Vorstand des Instituts für Wirtschafts-, Sozial- und Unternehmensgeschichte der Universität Graz, Co-Vorsitzender der Österreichisch-Russischen Historikerkommission. Harald Knoll, Mag., wissenschaftlicher Mitarbeiter am Ludwig Boltzmann-Institut für Kriegsfolgen-Forschung, Graz. Jochen Laufer, Dr., wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Zeithistorische Forschung, Potsdam. Horst Möller, em. Prof. Dr. Dr. h. c. mult., ehem. Leiter des Instituts für Zeitgeschichte, München – Berlin; Dt. Co-Vorsitzender der Kommission zur Erforschung der jüngsten deutsch-russischen Geschichte.

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Autorenverzeichnis

Vladimir Pečatnov, Prof. Dr., Leiter des Instituts für europäische und amerikanische Studien der Moskauer Staatlichen Universität für internationale Beziehungen (MGIMO). Michail Prozumenščikov, Dr., stellvertretender Direktor des Russischen Staatsarchivs für Zeitgeschichte (RGANI). Peter Ruggenthaler, Doz. Mag. Dr., wissenschaftlicher Mitarbeiter am Ludwig Boltzmann-Institut für Kriegsfolgen-Forschung, Graz. Erwin A. Schmidl, Hofrat Univ.-Doz. Dr., Leiter der Abteilung Zeitgeschichte des Instituts für Strategie & Sicherheitspolitik an der Landesverteidigungsakademie, Wien. Georges-Henri Soutou, Dr., em. Prof. für Allgemeine Zeitgeschichte an der Sorbonne, Universität Paris IV. Barbara Stelzl-Marx, Doz. Mag. Dr., stellvertretende Leiterin des Ludwig Boltzmann-Instituts für Kriegsfolgen-Forschung, Graz. Vladimir Švejcer, Prof. Dr., wissenschaftlicher Mitarbeiter des Instituts für Europa der Russischen Akademie der Wissenschaften, Moskau. Alexander Tschubarjan, Direktor des Instituts für Globale Geschichte der Russischen Akademie der Wissenschaften, Moskau, Mitglied der Russischen Akademie der Wissenschaften und Co-Vorsitzender der Russisch-Österreichischen Historikerkommission. Geoffrey Warner, Prof. Dr., Professor am Brasenose College Oxford. Manfred Wilke, Dr., Prof. i. R. der Freien Universität Berlin, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Ludwig Boltzmann-Institut für Kriegsfolgen-Forschung, Graz. Helmut Wohnout, Doz. Mag. Dr., Geschäftsführer des Karl von Vogelsang-Instituts, Wien.

Personenregister

Aleksandrov-Agentov, Andrej 224f. Alexander, Harold 216 Avilov, Viktor I. 227 Bailer, Brigitte 239f. Bauer, Friedrich 217-219 Bayerlein, Bernhard H. 79 Bazarov, S. T. 95 Beck, Ludwig 140f. Beer, Siegfried 236, 249 Beneš, Edvard 116, 156 Berija, Lavrentij P. 86, 271, 275, 277 Beynet, General 116 Bischof, Günter 88, 99, 124, 235, 256 Bischoff, Norbert 217, 250 Blagodatov, Aleksej W. 206 Bock, Fedor v. 142 Bohlen, Charles 51 Botz, Gerhard 72, 146 Brežnev, Leonid I. 224, 229 Briand, Aristide 110 Brunner, Alois 131 Bürckel, Josef 129 Butschek, Felix 251 Byrnes, James 96 Cadogan, Alexander 49 Čechov, Anton 226 Cede, Franz 217, 219, 221, 223 Chauvel, Jean 116 Chruščev, Nikita S. 227 Churchill, Winston S. 26, 29, 31, 35, 37f., 40f., 43, 45–47, 49–51, 55f., 61, 63f., 66f., 72, 74, 77, 79, 84, 90, 101, 103, 256, 271, 273 Clarke, Brien, 102 Clinton, Bill 223 Crostwaite, Moore 33

Davies, Joseph 37f. Dean, William 48 Deane, John R. 73 Dejeane, Maurice 113 Dekanozov, Vladimir G. 42, 44f., 66, 200f., 203, 271, 277 Dimitrov, Georgi M. 210, 213–215 Dollfuß, Engelbert 111, 126f., 137, 164, 240, 244 Dubber, Bruno 166 Eden, Anthony 25, 28–31, 35, 40f., 46–51, 55, 65f., 88, 92f., 268, 279, 282, 284f. Eichholzer, Herbert 166 Elisabeth II. 223 Eichmann, Adolf 130 Eichtinger, Martin 231 Eugen, Prinz von Savoyen 231 Fellner, Fritz 99, 124 Figl, Leopold 220f., 227, 235, 237–248 Fischer, Ernst (auch Peter Wieden) 182, 184, 212 Fischer, Heinz 123, 253, 257 Fürnberg, Friedl 182, 212 Franek, Fritz 214f. Gabler, Leo 166 Gaulle, Charles de 114, 116–118 Gedye, George E. R. 102 Gehler, Michael 255 Giraud, Henri 111f., 115 Glaise-Horstenau, Edmund 131, 139 Glaubauf, Fritz 212 Globocnik, Odilo 130 Goebbels, Joseph 62–64, 66f., 139 Goerdeler, Carl 241 Goethe, Johann Wolfgang von 228

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Personenregister

Gorbach, Alfons 227 Gorbačev, Michail S. 220 Göring, Hermann 61, 139, 143, 145– 149, 154 Grinin, Vladimir M. 230 Gromyko, Andrej A. 53f., 225, 271 Gruber, Karl 170, 245, 250 Grubmayr, Herbert 217, 219-221, 223, 226, 229 Grünberg, Martin 192, 194 Guderian, Heinz 149f. Gusev, Fedor T. 170 Habsburg-Lothringen, Otto 31, 93, 111f. Hadermann, Ernst 180 Hamburger, Wilhelm 161 Hanisch, Ernst 243, 248, 255, 258 Harriman, W. Averell 51 Harrison, Geoffrey 103–106 Hendricks, Judith 161 Heydrich, Reinhard 144, 238 Himmler, Heinrich 130., 144f., 238 Hitler, Adolf 25f., 39, 59–63, 72, 79, 97, 107, 111, 123–127, 129, 131–134, 137–141, 143, 145, 147–150, 152–154, 156–160, 162, 164, 169f., 180, 184, 202, 218, 223, 246, 249, 251, 256, 273 Hodgson, Elizabeth 102 Holmes, Clara 102 Honner, Franz 194, 212 Hull, Cordell 25, 34, 36, 46, 48–50, 93, 268, 281–285 Hurdes, Felix 239, 241 Ismay, Hastings 31, 48 Jelzin, Boris N. 223, 229 Kaiser, Jakob 241 Kalmar, Rudolf 244 Kaltenbrunner, Ernst 130 Karbyšev, Dmitrij M. 243 Karl I. 135

Karl VI. 231 Karner, Stefan 217-220, 223, 226, 228231 Kastelic, Jakob 165 Keitel, Wilhelm 141, 147, 152 Kennedy, John F. 228 Kerr, Archibald Clark 33, 46, 48, 51, 93, 279f. Kershaw, Ian 126 Keyserlingk, Robert H. 99f., 104, 107, 235, 249, 256 Kirschschläger, Rudolf 251 Kiselev, Evgenij D. 200, 211f. Klahr, Alfred 164 Klestil, Thomas 123, 172 Klestil-Löffler, Margot 231 Knausmüller, Erwin 181f. Konev, Ivan S. 84 Koplenig, Johann 182, 212–214 Körner, Theodor 97 Kreisky, Bruno 163, 220, 227 Kübler, Ludwig 152 Kurasov, Vladimir V. 243 Lamarles 113, 115 Lang, Fritz siehe Rosner, Jakob Lapin, Sergej G. 227 Lederer, Karö 165 Lehnguth, Cornelius 122 Litvinov, Maksim M. 38, 44f., 47, 54, 76f., 81f., 84, 92f., 276 Lorenz, Konrad 183f. Löwenstein, Rudolph 228 Majskij, Ivan M. 38, 73, 75, 77, 81 Malenkov, Georgij M. 86, 271, 276, 279 Malinovskij, Rodion Ja. 197 Manstein, Erich v. 140, 149, 156 Manuil`skij, Dmitrij Z. 210 Mason-McFarlan, Noel 151 Massigli, Rene 113-116 Mayenburg, Ruth v. 184

Personenregister

Mihailović, Dragoljub 30 Miklas, Wilhelm 146 Mikojan, Anastas I. 226, 271, 276 Milch, Erhard 142 Mitterrand, François 223 Mock, Alois 219f., 223, 227, 250 Molden, Fritz 163, 252 Molden, Berthold 249 Möller, Horst 78 Molotov, Vjačeslav M. 25, 29f., 33, 35f., 38, 40, 44–52, 73f., 77, 79, 82– 84, 87, 89, 92f., 97, 199, 210f., 220f., 245–247, 263, 268, 271, 273, 275, 277, 279, 281–285 Mussolini, Benito 61, 137f., 154, 156, 273 Napoleon I. 157 Netschajew, Sergej 231 Neugebauer, Wolfgang 168 Noll, Alfred 258 Novikov, K. V. 95 Novak, Franz 131 O΄Sullivan, Donald 71 Paulus, Friedrich 59, 149 Pelinka, Anton 252, 254 Pervomajskij, Leonid 199 Peter I. 231 Pieck, Wilhelm 182 Ping-sheung, Foo 36, 287 Pirker, Peter 99f., 106, 108, 256f. Pittermann, Bruno 227 Poincare, Raymond 110 Portisch, Hugo 122 Prammer, Barbara 123 Puschmann, Erwin 166 Raab, Julius 97, 220, 227, 239f., 245f. Rajakowitsch, Erich 131 Rasdorskij, Oberst 195 Rathkolb, Oliver 124, 250 Rauter, Hanns 131

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Reichenau, Walter von 142 Reichmann, Hans 251 Reither, Josef 237–239, 241 Renner, Karl 84, 97, 106, 117, 127, 129, 214, 249f., 254f., 258 Ribbentrop, Joachim v. 221, 245f. Roosevelt, Franklin D. 26, 28, 34f., 37–41, 43, 47, 55, 63f., 66f., 72, 74, 77, 84, 93, 109, 251, 271, 273 Roščin, A. A. 95 Rosner, Jakob (auch Lang, Fritz) 212 Ruggenthaler, Peter 249 Sainsbury, Keith 28 Saksin, Georgij F. 41, 44f., 52, 276 Ščerbakov, Aleksandr S. 204, 206, 210, 276 Schacht, Hjalmar 155 Scharf, General 230 Schärf, Adolf 220 Schindel, Gerti 165 Schindel, Robert 165 Schmidl, Erwin A. 238 Schneider, Felix 135 Scholz, Roman Karl 165 Schörner, Ferdinand 152 Schuschnigg, Kurt 111, 126f., 138f., 143, 145f., 164, 239, 240, 242, 244 Schwarz, Peter 238 Seitz, Karl 241 Seydlitz-Kurzbach, Walther von 182 Seyß-Inquart, Arthur 129, 131, 138, 145–147 Siegl, Walter 217, 229 Sforza, Carlo 93 Skalnik, Kurt 252 Smirnov, Andrej A. 86, 95, 201–203 Smirnov, V. 206, 208 Smith, Truman 157 Soutou, Jean-Marie 116 Spitz, Heinrich O. 240f.

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Personenregister

Stalin, Iosif (Josef) V. 29f., 34, 37–42, 44–47, 49, 55f., 65–67, 71–77, 79–81, 84–90, 92, 96f., 113, 177, 185f., 197, 200, 214f., 222f., 271, 273, 275, 277, 279 Stamper, Evelyn 102, 105 Stangl, Franz 131 Stauffenberg, Graf Schenk von 60 Steiner, Ludwig 217, 220, 246 Steininger, Rolf 124 Stösslein, Herbert 213 Stourzh, Gerald 83, 99, 124, 162, 221, 236f., 248, 255, 258 Strachwitz, Hyazinth Graf von 116 Strang, William 31, 94f. Strohmeier 187f. Stümpfl, Heinrich 150 Stuckart, Wilhelm 153 Sucharev, Konstantin P. 210 Szokoll, Carl 36, 206f. Terechov, Vladislav 217, 226-228 Thamer, Hans-Ulrich 157 Tolbuchin, Fedor I. 97, 197, 200, 204– 207, 242 Trebitsch, Arthur 125 Trost, Ernst 242 Truman, Harry S. 96 Uhl, Heidemarie 122, 249 Ulbricht, Walter 182 Vajnrib, Vladimir 200 Verdross, Alfred 250 Viebahn, Max von 147 Vienot, Pierre 113, 115 Vorošilov, Kliment E. 75f., 81, 85, 94f., 271, 275 Vranitzky, Franz 122f., 172, 253, 257 Vyšinskij, Andrej Ja. 44, 83, 86, 271, 275, 277 Wächter, Otto 131 Wagner, Gustav 131

Waldheim, Kurt 121, 123, 172, 247, 251f. Wallinger, Sir Geoffrey 245 Weinberger, Lois 239, 241 Weinert, Wilhelm 182 Weinzierl, Erika 252 Weizsäcker, Ernst 139, 144 Welan, Manfred 258 Wieden, Peter, siehe Fischer, Ernst Wilkinson, Peter 102 Wilson, Woodrow 159 Winter, Ernst Karl 164 Wood, Edward F. L. 160 Želtov, Aleksej S. 200, 207 Zilk, Helmut 161 Zucker-Schilling, Fritz 212

Ortsregister

Auf Grund der häufigen Nennung von Moskau wurde dieses nicht in das Register aufgenommen. Algier 109, 111–116 Archangel’sk 38f. Astrachan 38f. Bad Ischl 226 Belgorod 39 Berlin 59f., 79, 109–111, 117, 138f., 141f., 146f., 149, 151, 157f., 238 Berchtesgarden 84, 138, 158 Bonn 217f., 227 Bratislava 81 Bruck an der Mur 152 Casablanca 63f., 67 Dresden 142, 147 Elabuga 180 Graz 152, 168, 182, 184, 205 Hamburg 61, 81 Hochwolkersdorf 207 Innsbruck 148 Istanbul 161 Jalta 75f., 84 Jerewan 183 Kairo 142, 280 Katyn 30, 66, 178 Klostermarienberg 196 Krasnogorsk 181f., 193f., 213 Kursk 60, 181 Leipzig 142 Leningrad, siehe St. Petersburg Linz 125, 137, 142, 148, 150f., 153 London 28, 30f., 33, 40, 42f., 46f., 49, 53, 64–67, 73–75, 77f., 100f., 104– 106, 111–116, 170, 209, 249, 256 Locarno 110

Metz-Eisenach 117 München 126, 149, 249 New York 86, 103, Nižnij Novgorod 180 Oranki 180 Orel 38f. Québec 38, 40, 113 Paris 78, 84, 109–111, 116–118 Passau 84, 149, 151 Postdam 75, 89 Rada 186 Rjabovo 182 Rjazanʼ 189, 192 Saint Germain en Laye 110f., 136 Salzburg 137, 155 Schärding 149 Scheibbs 222f. Semčino 189 Stalingrad, siehe Wolgograd Stockholm 35, 163 St. Petersburg 177, 227, 231 St. Pölten 150f., 221 Talicy 191–194 Tambov 186 Teheran 28, 33, 50, 64, 66f., 75, 84f., 279 Versailles 110f., 136 Vilshofen 150 Washington 28, 33–35, 40, 42–44, 46, 49, 56, 64, 74f., 78, 81, 101, 106, 111, 209, 271 Waterloo 157 Wels 148

296

Ortsregister

Wien 71, 78, 82, 86, 94–96, 100, 102, 109–111, 116, 125f., 128, 135, 138f., 142f., 145, 147–155, 157f., 162, 168, 186, 192, 194, 199, 202f., 206f., 215, 217–219, 223–232, 239, 241f., 244, 246, 258 Wiener Neustadt 148, 214 Wolgograd 28, 59–64, 67, 75, 143, 149, 165, 181f., 213, 230, 256 Würzburg 149, 158 Zistersdorf 155