Die monumentale Universität: Funktioneller Bau und repräsentative Ausstattung des Hauptgebäudes der Universität Wien 9783205793915, 9783205796541


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Die monumentale Universität: Funktioneller Bau und repräsentative Ausstattung des Hauptgebäudes der Universität Wien
 9783205793915, 9783205796541

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Julia Rüdiger

Die monumentale Universität Funktioneller Bau und repräsentative Ausstattung des Hauptgebäudes der Universität Wien

2015

böh lau ve rlag wi e n köln we imar

Drucklegung mit freundlicher Untersützung von PKE Electronics AG

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek  : Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie  ; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Umschlagabbildung  : Rudolf von Alt/Heinrich von Ferstel, Universität Wien, Präsentationsaquarell der Hauptfassade, Zweiter Entwurf, 1873 (Wien Museum, Inv.-Nr. 106.704) © 2015 by Böhlau Verlag GmbH & Co. KG, Wien Köln Weimar Wiesingerstraße 1, A-1010 Wien, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Korrektorat  : Constanze Lehmann, Berlin Umschlaggestaltung  : Michael Haderer, Wien Satz  : Michael Rauscher, Wien Druck und Bindung  : Finidr, Cesky Tesin Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in the EU ISBN 978-3-205-79654-1

Inhalt Zum Geleit  7 Vorwort   8 Einleitung   9

Aufbau und Methoden  10 Quellenlage und Forschungsstand  12 Forschungsfragen  16 Historische Voraussetzungen   17

Geschichte der Universität Wien   17 Universitätsräumlichkeiten von 1365 bis 1848  24 Standortsuche für den Universitätsneubau ab 1848  28 Planungs- und Baugeschichte unter Heinrich von Ferstel  39 Die Architekten und Planer  48 Das Planmaterial  57

Der erste Entwurf von Sicardsburg und van der Nüll  57 Der zweite Entwurf von Sicardsburg und van der Nüll  63 Heinrich von Ferstels Entwurf von 1868  64 Ferstels Vorentwurf zum Hauptgebäude von 1871  81 Unfertige Studie zur Weiterentwicklung des Vorentwurfs  85 Ferstels erster Entwurf von 1871  87 Der Grundriss  87 Die Aufrisse und Schnitte  94 Die Vorstudien zum ersten Entwurf, ca. 1871  96 Ferstels zweiter Entwurf von 1872 und dessen Varianten  99 Fassadenvariante  100 Entwurfssatz, Mai 1872  101 Weiterentwicklung des zweiten Entwurfs  104 Veränderungen im Verlauf der Bauzeit  107 Charakterisierung des ausgeführten Bauwerks  111 Die Fassade  111 Der Grundriss  114 Die Innenräume  117 Funktionalität – Monumentalität – Repräsentation  125 Typengeschichte und zeitgemäße Funktionalität  126 Traditionen im Universitätsbau  130

Inhalt  5

Bauaufgabe und Funktionen der Wiener Universität  143 Ferstels Planungen und der ausgeführte Bau  145 Zentraler Innenhof und Vestibül  146 Zusammenfassung  : Typengeschichte und zeitgemäße Funktionalität  184 Reziprozität zwischen Stil und Monumentalcharakter  185 Debatte um Stil und Monumentalität  186 In welchem Stil sollen wir die Wiener Universität bauen  ?  193 Zusammenfassung  : Reziprozität zwischen Stil und Monumentalcharakter  228 Die ikonografischen Programme im Spiegel der Wissenschaftsgeschichte  230 Skulpturales Programm  232 Sgraffiti  261 Geplantes Programm im Inneren  268 Zusammenfassung  : Ikonografische Programme  276 Synthese oder Das Rauschen in der Universitätsarchitektur  277 Abkürzungen  285 Quellen  285 Literatur  285 Literatur- und Quellenverzeichnis  285 Tafeln  297 Personenregister  305 Ortsregister  307

6  Inhalt

Zum Geleit Kulturelle Phänomene zu erforschen und das Wissen historischem Wissen ein Anliegen, weil die Infordarüber zu erweitern sowie zu bewahren, ist wohl mationen und Erkenntnisse auch zur aktuellen und eine der schönsten Aufgaben, die ein Werk wie dieses zukünftigen Entwicklung dieses Primär-Standortes erfüllen kann. Daher freut sich das Raum- und Res- beitragen. Gebäude wie diese mit innovativem Facisourcenmanagement der Universität Wien und die lity Management zu betreiben und dabei die Aspekte PKE Facility Management GmbH als Hauptsponsor Technik, Komfort, Architektur, Schutz und Kosten ganz besonders, die Veröffentlichung der Disserta- im Sinne der Nutzer zu berücksichtigen, ist eine antion von Frau Dr. Julia Rüdiger unterstützen zu kön- spruchsvolle Aufgabe. Als Gebäudebetreiber leisten nen. wir somit einen wertvollen Beitrag zum Erhalt der Die Gebäude einer Universität haben dieser schon Immobilie unter größtmöglichem Bedacht auf nachseit Jahrhunderten eine prägende Identität verlie- haltiges Handeln. Wir möchten Frau Dr. Julia Rüdiger recht herzlich hen. So stellt auch das Hauptgebäude der Universität Wien an der Wiener Ringstraße seit 1884 ein monu- zu Ihrer beeindruckenden Dissertation »Die monumentales Merkmal der Universität Wien dar. Die mentale Universität« gratulieren und freuen uns, die umfangreiche Aufbereitung zahlreicher Text-, Bild- vorliegende Aufbereitung dieses Werkes ermöglichen und Planquellen wurde zu einem umfassenden Kom- zu können. pendium des Monumentalbauwerks von Architekt Für die Universität Wien Heinrich von Ferstel zusammengefasst. Harald Peterka, MSc MBA Es ist uns eine Ehre, diese imposante AusarbeiMag. Constantin Christiani, MBA tung zu unterstützen, weil die Aufarbeitung der Geschichte des Hauptgebäudes zum Werterhalt und zur Für die PKE Facility Management GmbH ganzheitlichen Betrachtung auch mit unserer Arbeit Ing. Hartwig Willfort direkt verbunden ist. Gerade im Jubiläumsjahr des 650-jährigen Beste- hens der Universität Wien ist uns das Festhalten von

Zum Gele it  7

Vorwort Jubiläen sind auf lange Zeit absehbar und werden dann doch oft verfehlt. Wenn Julia Rüdigers Buch über das Universitätsgebäude am Ring im 650sten Jahr nach der Gründung der Alma Mater Rudolphina und im 150sten Jahr nach dem kaiserlichen Erlaß zum Bau der Ringstraße vorliegt, verdankt sich dies weniger dem Blick auf das Doppeljubiläum als der Faszination durch ein imponierendes Bauwerk, über das man weniger weiß als man wissen sollte. Im Stadtbild und im studentischen Alltag ist es als die »Hauptuni« präsent. Durch das palastartig weitläufige Labyrinth seiner Stiegen und Gänge zu irren, gehört zu den Initiationserlebnissen eines Studiums in Wien. Vom Makel des Verstaubten und Epigonalen, der den Bauten des Historismus für einige Jahrzehnte anhaftete, ist es durch die kunsthistorischen Forschungen Renate Wagner-Riegers und ihres Kreises längst gereinigt. Aber als kreative Architektur und als wegweisenden Beitrag zur architektonischen Organisation und Repräsentation von Wissenschaft hat man den Bau bisher noch nicht wirklich ernstgenommen. Hier hakt Julia Rüdiger mit ihrer Dissertation ein und macht Heinrich von Ferstels monumentale Kombination von schöner Geste und Funktionalität als paradigmatischen Universitätsbau einer Epoche lesbar, die von rasantem Fortschritt auf der Grundlage großzügiger Wissenschaftsförderung gekennzeichnet war. Es handelt sich um eine kunsthistorische Arbeit, die zeigt, was Kunstgeschichte als Kulturgeschichte kann. Wien, Juni 2015 Michael Viktor Schwarz

8  Vorwort

Das Rauschen ist das Geräusch des gut Laufenden. Roland Barthes

Einleitung Das Hauptgebäude der Universität zählt zweifellos zu den monumentalsten Bauten an der Wiener Ringstraße [Tafel 1]. Gemeinsam mit den Gebäuden für das Parlament und das Rathaus wurde es ab 1870 für den letzten großen Bauplatz an der Ringstraße, den sogenannten Paradeplatz, geplant und schließlich im Oktober 1884 durch Kaiser Franz Joseph seinem Zweck übergeben [Abb. 1].1 Für den Architekten Heinrich von Ferstel (1828–1883) war dies der größte Auftrag, und seine Arbeit daran wird posthum von seinem Freund und Berater Rudolf von Eitelberger folgendermaßen charakterisiert  :

Abb. 1: Besuch des Kaisers Franz Joseph I. im neu errichteten Hauptgebäude der Univer­ sität Wien, 11. Oktober 1884 (UAW, 135.435)

1 Da der Lehrbetrieb in einigen Gebäudeteilen bereits im Winter 1883 aufgenommen worden war, sprach man nicht von einer Eröffnung. Aufgrund herrschender Studentenunruhen wollte die Universitätsleitung auch von großen Feierlichkeiten absehen, so fand lediglich eine Führung für Kaiser Franz Joseph durch das Gebäude statt, bei der im Festsaal Ansprachen gehalten wurden. Siehe Mühlberger 1984, S. 12–14. 2 Eitelberger 1884, S. 19–20.

»Kein Auftrag aber erfüllte Ferstel mit so grosser Begeisterung als der Bau der Wiener Universität. Die Bestimmung des Gebäudes, sowie dessen grosse Ausdehnung ist ja auch ganz geeignet, jeden Künstler im hohen Grade zu begeistern. Von edlem Ehrgeiz beseelt, hat Ferstel auch das Beste, was er zu leisten vermochte, in dem Entwurf für das Universitätsgebäude niedergelegt.«2

Ferstels Ehrgeiz bezog sich nicht nur auf den prominenten Bauplatz an der Ringstraße, sondern im Besondern auf die Bauaufgabe Universität – noch dazu die erste Universität des Kaiserreichs, in der sich die Würde dieser traditionsreichen Institution widerspiegeln sollte. Zu diesem Zweck erarbeitete Ferstel ein Gesamtkonzept, das nicht nur für die architektonische Hülle der Institution dienen sollte, sondern in allen seinen Facetten auf die lange europäische Tradition von Universitäten, auf die Geschichte der Universität Wien und auf das zeitgenössische Konzept der Institution Bezug nehmen sollte. Das Hauptgebäude am Ring, so die These dieses Buchs, reflektiert in seinem Grundriss, in seiner stilistischen Gestaltung und in seinem gesamten ikonografischen Programm diese Facetten der europäischen und der Wiener Universitäts- und Wissenschaftsgeschichte. Dieses von Ferstel intendierte Gesamtbild mit einer Vielfalt an Anspielungen auf die Funktion des Bauwerks mag nie zur Gänze für jeden Betrachter lesbar gewesen sein. Auf den ersten Blick wirkt der Bau vorrangig durch seine Monumentalität, die vielen wissenschaftsikonografischen Stimmen in der Architektur und Ausstattung treten scheinbar zurück. Im Zusammenklang all dieser universitätsspezifischen Merkmale aber ließe sich im Sinne Roland Barthes ein Rauschen identifizieren. Das Rauschen sei, so

Einleitung  9

Barthes, »das Geräusch des perfekt funktionierenden Geräuschlosen«, es bedeutet, dass keines der einzelnen Geräusche sich erhebt oder die Führung übernimmt.3 Im Falle des Universitätsgebäudes, das ursprünglich als universitäres Gesamtkunstwerk gebaut wurde, bedeutet dies, dass in der umfassenden ikonologischen Interpretation keines der visuellen Geräusche die Führung übernimmt oder sich als eigene visuelle Stimme herausbildet. In diesem Kontext eines kollektiven ikonologischen Rauschens einer im 19. Jahrhundert verankerten Wissenschaftsauffassung wird auch der Skandal um Gustav Klimts Fakultätsbilder verständlicher. Der immense Proteststurm gegen die Bilder wurde durch das Ausbrechen einer einzelnen wissenschaftsikonografischen Stimme, in Form von Klimts nicht affirmativer Ikonografie, erzeugt. Ausgehend von dieser These, dass dem Hauptgebäude ein umfassendes ikonologisches Konzept zugrunde liegt, setzt sich der folgende Text aus kunsthistorischer Perspektive mit der Architektur und ihrer Ausstattung auseinander und bemüht sich um eine typologische und stilistische Einordnung des Hochschulbaus in einen internationalen Kontext und in die späthistoristische Bautätigkeit Wiens und verknüpft diese Erkenntnisse mit denjenigen aus der Untersuchung des ikonografischen Programms. Der zu behandelnde Zeitraum beginnt mit dem Zeitpunkt der »Allerhöchsten Entschließung« von 1854, der Universität den benötigten Neubau zur Verfügung zu stellen, und endet etwa 50 Jahre später mit dem Skandal um Klimts Fakultätsbilder. Insgesamt handelt es sich also um eine Spanne von etwa einem halben Jahrhundert Planung, Baugeschichte und Ausstattungstätigkeit an der Universität.

Aufbau und Methoden

Da die Universität Wien auf eine jahrhundertelange Tradition zurückblickt, die sich sowohl im akademischen Charakter als auch im architektonischen Anspruch widerspiegelt, beginnt der Hauptteil mit einem Überblick zur Geschichte der Universität und Planungsgeschichte des Neubaus, um die historische Grundlage für das Bauwerk darzulegen. Die einzelnen Planungsschritte werden daran anschließend detailliert auf ihre Entwicklungsschritte untersucht. Die folgende Charakterisierung des ausgeführten Hauptgebäudes bildet die Basis für die weitere Interpretation. Dadurch sind sowohl Vergleiche innerhalb der einzelnen Planungsschritte als auch mit der endgültigen Fassung möglich, und es lässt sich gut aufzeigen, welche Motive sich ab welcher Planungsstufe durchsetzen. Denn erst anhand einer genauen und ausführlichen Darstellung der künstlerischen und architektonischen Gegebenheiten kann die Planungsgeschichte und die Entscheidungsfindung für bestimmte

10  Einleitung

3 Barthes 1975, S. 88–89.

4 Siehe Ferstel 1872  ; Ferstel 1878 A.

künstlerische und funktionelle Lösungen aus kunsthistorischer Sicht herausgearbeitet werden. Im Zuge der Erforschung des Planmaterials konnten auch zahlreiche bisher unpublizierte Pläne und Aufrisse in die Planungsgeschichte eingeordnet und hier erstmals gedruckt werden. Die Charakterisierung der Universität bildet die Grundlage für die weitere Analyse und Interpretation. Anhand der Leitbegriffe Funktionalität, Monumentalität und Repräsentation wird das Bauwerk aus unterschiedlichen Perspektiven kontextualisiert. Diese Begrifflichkeiten entsprechen den (stadt-)planerischen Überlegungen in Wien um 1870. Die Funktionalität, also die Nutzbarkeit und Praktikabilität, des Neubaus waren von Beginn der Planung an Gegenstand der Überlegung, ob es dabei um den Standort, den Umfang, die Anzahl der Gebäude, die Aufteilung im Inneren oder die Beleuchtungsverhältnisse ging.4 Im urbanistischen Baueifer der Wiener Ringstraße entwickelten Architekten und Kritiker außerdem bald die Vorstellung von »Monumentalität als Leitmotiv«, das sich ab Mitte der 1860er-Jahre in den Planungen und den kritischen Zeitungskommentaren widerspiegelte. Monumentalität war hierbei nicht nur an reale Größe und Verteilung der Baumassen gebunden, sondern man verknüpfte den Begriff – wie in anderen europäischen Hauptstädten – mit dem Stil der italienischen Renaissance. Der Repräsentationscharakter eines Bauwerks war zwar im großen Maße mit dessen Monumentalität verbunden, aber darüber hinaus sollten »sprechende« Merkmale, wie ein ausgeklügeltes Skulpturenprogramm für die Fassaden, das Wesen und die Funktion des Gebäudes verdeutlichen. Diese drei aus dem historischen Kontext entlehnten Begriffe bilden die Eckpunkte, zwischen denen sich das Netz der Untersuchung spannt, und sie gliedern den Hauptteil im Weiteren. Denn diesen drei Oberthemen wurden methodische Überlegungen zugeordnet. So bildet das Thema Funktionalität ein gemeinsames Kapitel mit der Frage nach der Bauaufgabe. Dieses trägt den Titel Typengeschichte und zeitgemäße Funktionalität. So klingt bereits in der Anlage des Bauwerks dessen Bestimmung als Bildungsbau an. Die formale Betrachtung der Stilfrage und der historistischen Bautradition wird gemeinsam mit der Monumentalitätsdebatte behandelt, die im Zuge des Ringstraßenbaus (aber auch in anderen europäischen Großstädten) virulent wurde. Die gemeinsame Untersuchung in dem Kapitel Reziprozität zwischen Stil und Monumentalcharakter ist gerechtfertigt, da die Monumentalität in der historischen Auseinandersetzung nicht allein durch die Riesenhaftigkeit, sondern besonders durch die Großartigkeit des Stils zum Ausdruck kommen sollte. Darüber hinaus kann der gewählte Stil nicht nur für die Monumentalität des Bauwerks sprechen, sondern auch entsprechend der Bauaufgabe gewählt sein und somit ebenfalls als Stimme für die Funktion Universität wirken. Das dritte Kapitel Die ikonografischen Programme im Spiegel der Wissenschaftsgeschichte setzt sich mit der (Bau-)

Aufbau und Methoden  11

Ikonografie auseinander und den Aussagen, die der Bau dem Betrachter, Besucher, Flaneur oder auch den Studierenden und Professoren mitgeben soll. Als »gleichsam redende […] Bildungen«, um einen Ausdruck des Barockbaumeisters Matthäus Daniel Pöppelmann gattungsübergreifend auszuweiten,5 bieten sich der Untersuchung sowohl die zahlreichen, möglicherweise semantisch aufgeladenen Architekturzitate und das komplexe Programm der Fassadenplastik und der plastischen und malerischen Innenraumgestaltung an. Der inhaltliche Repräsentationscharakter des Bauwerks wird hier analysiert. Die Semantik der Architektur zeigt sich in der vielschichtigen Verzahnung von Typus, Stil und ikonografischem Programm. Deren Zusammenklang macht den Betrachtern und Benutzern des Hauptgebäudes am Ring die verschiedenen Facetten der repräsentativen Funktionalität und des institutionellen Anspruchs sprechend deutlich  : »ich bin eine Universität«, »ich bin die erste Universität«, »ich bin eine universitas litterarum«, »ich bin die kaiserlich-königliche Universität«, »ich beinhalte auch die Universitätsbibliothek«. Abschließend werden diese vielschichtigen Überschneidungen der gestalterischen Mittel zusammengefasst und auf ihren rauschenden Charakter hin untersucht. Spätestens hier wird deutlich, dass Ferstel und seine Nachfolger in diesem Hauptgebäude ein komplexes semantisches Programm erdacht haben, das in dieser Form noch nicht dokumentiert wurde.

Quellenlage und Forschungsstand Quellen

Die Planungen für das Hauptgebäude lassen sich an den erhaltenen visuellen Quellen ablesen. Wichtige Quellen wie Entwurfszeichnungen, großformatige Präsentationsbilder und Modelle zu unterschiedlichen Planungsstufen sind vor allem im Archiv der Universität Wien und im künstlerischen Nachlass Ferstels im Wien Museum erhalten. Unpublizierte Pläne zu den frühesten Planungen um 1854 und Konstruktionspläne für den ausgeführten Bau befinden sich im Allgemeinen Verwaltungsarchiv. Die durch die Pläne und Ansichten veranschaulichten Planungsstufen dienen nicht nur als Zeugnis für den stetig wachsenden Raumbedarf der Universität, sondern auch über die stilistischen und programmatischen Konzepte. Zeitgenössische Publikationen von Plänen und Ansichten, an denen sich unter anderem spätere Veränderungen ablesen lassen, wurden vor allem in den 1890erJahren publiziert. Der in der Reihe Wiener Monumentalbauten von Max von Ferstel, dem Sohn des Architekten, veröffentlichte Band stellt die umfassendeste Sammlung von publizierten Plänen, Ansichten und Fotos dar.6 Die Druckvor-

12  Einleitung

5 Lorenz 1995, S. 373. Hervorhebung durch die Autorin. 6 Ferstel 1892.

7 Ferstel 1894. 8 Ferstel 1872.

lagen für diesen Band stammen von Ferstels langjährigem Mitarbeiter Julian Niedzielski und zeichnen sich durch eine hohe Präzision aus. Max von Ferstel gelang es außerdem, im Jahr 1894 einen Holzschnitt vom ersten Entwurf und zusätzlich 11 Tafeln des ausgeführten Hauptgebäudes in der Allgemeinen Bauzeitung zu positionieren.7 Neben dem Planmaterial und den visuellen Quellen sollten besonders die schriftlichen Quellen Auskunft über zentrale Entscheidungen während der Planung und der Bauarbeiten geben. Die Bauakten des Universitätsarchivs enthalten besonders für die Zeit der Standortsuche und Planung vor 1872 eine Vielzahl an Quellen, darunter einen Bericht des Universitäts-Syndikus Karl von Heintl, der im März 1867 mit einer Zusammenfassung der bisherigen Verhandlungen beauftragt wurde. Diese ausführliche Zusammenstellung scheint bisher nicht als Quelle herangezogen worden zu sein, sie ergänzt aber sehr gut die auf Basis der Akten des Stadterweiterungsfonds publizierten Planungsabläufe. Nach der Konstituierung des Universitäts-Baucomités im Frühjahr 1867 stehen auch hier die Protokolle bis 1872 zur Verfügung. Die angelegten Archivmappen von 1873 bis 1884 sind leer, daher lassen sich die wichtigsten Bauentscheidungen zwischen 1873 und 1884 wegen dieser archivalischen Lücke nicht oder nur teilweise mit Protokollen belegen. Ebenfalls verloren ist das Baujournal. Im Archiv der Stadterweiterungsfonds gibt es umfassende Faszikel zur Planung zwischen 1858 und 1872, die Mappen der Bauzeit zwischen 1873 und 1884 sind aber ebenfalls leer. Allerdings sind in den Faszikeln des Innenministeriums einige Akten und Korrespondenzen zum Universitätsbau erhalten geblieben. Bisher für den Kontext des Universitätsbaus ungenutzt geblieben ist die Handschriften- und Nachlasssammlung der Wienbibliothek. Hier befinden sich im Nachlass Rudolf von Eitelbergers unter anderem Briefe des Architekten Ferstel und Material zur Konzeption der Universitätsikonografie. Die erste gedruckte Quelle stellt Heinrich von Ferstels Denkschrift zu seinem zweiten Entwurf von 1872 dar.8 Hier präsentierte Ferstel seinen Entwurf und erläuterte sowohl die »materiellen Erfordernisse« (Bauplatz, Niveauunterschiede, Raumerfordernisse etc.), als auch Überlegungen zum Ästhetischen, wobei er kaum auf die Stilfrage einging, sondern eher seine Überlegungen zur Verteilung der Baumassen deutlich machte. In einem letzten kurzen Kapitel ging Ferstel auf die Ausführbarkeit seines Entwurfes ein, wobei er aber betonte, dass der vorliegende Entwurf kein Bauplan sei und daher auch das benötigte Budget nicht klar berechnet werden könne. Die Tabellen im Anhang fassen sehr übersichtlich die Ergebnisse einer Vielzahl an BaucomitéSitzungen zusammen, die im Universitätsarchiv mehrere Mappen füllen, nämlich die Frage, wie viel Raum für welche Institutionen notwendig sei. Ebenfalls gedruckt wurde Ferstels Vortrag, den er am

Quellenlage und Forschungsstand  13

6. April 1878 vor seinen Kollegen des Österreichischen Ingenieurs- und Architektenvereins gehalten hatte. Dieser wurde in drei aufeinanderfolgenden Ausgaben der Wochenschrift des Vereins im Herbst 1878 veröffentlicht.9 Ferstel ging hier auf die Planungsgeschichte, die Problematik der Aufgabe und mögliche Vorbilder seines ausgeführten Baus ein. Nach Vollendung des Chemischen Instituts stellte Ferstel diesen Teilbau seines inzwischen überholten ersten Universitätskonzepts in der Allgemeinen Bauzeitung vor. Im Erläuterungstext ging Ferstel auch auf seine stilistischen und typologischen Vorstellungen ein.10 Für alle diese gedruckten Primärquellen Ferstels ist festzuhalten, dass die Aussagen des Architekten von der Sekundärliteratur oftmals unkritisch übernommen werden. Schon während und kurz nach der Errichtung der Universität am Ring erschienen auch zahlreiche Analysen und Kritiken, die auf verschiedene Aspekte des Bauwerks eingingen. Der Historiker Gerson Wolf veröffentlichte 1882, also zwei Jahre vor der Eröffnung des Baus, den kleinen Band Der neue Universitätsbau in Wien. Hier wird ein detaillierter Überblick über die Situation der Institution im 18. und 19. Jahrhundert, die Planungsgeschichte des Neubaus und die involvierten Personen gegeben.11 Der ebenfalls in die Planung involvierte Kunsthistoriker Rudolf von Eitelberger, ein langjähriger Wegbegleiter Ferstels, veröffentlichte anlässlich der Enthüllung des Ferstel-Denkmals im Kunstgewerbemuseum eine Festschrift, die Ferstels Lebenswerk in fünf Kapiteln würdigte. Eitelberger selbst schrieb über Ferstels Bautätigkeit, sein literarisches Wirken und seine Haltung gegenüber der Wiener Gesellschaft, die beiden anderen Beiträge bestehen aus der Festrede, gehalten von Jacob von Falke (1825–1897), und einem Beitrag zu Ferstels Wirken als Lehrer von Karl König (1841–1915).12 Durch die Freundschaft und kunsttheoretische Zusammenarbeit Ferstels mit Eitelberger gibt dieser Text, zweifellos aus subjektiver Perspektive, Auskunft über planerische Erwägungen und Entscheidungen Ferstels. Nur in einem knappen Nachruf auf Ferstel erwähnte die Deutsche Bauzeitung gegen Ende des Jahres 1883 das Wiener Universitätshauptgebäude.13 Eine Reihe zeitgenössischer Zeitungsartikel dokumentierte einige grundlegende Bauentscheidungen und die feierliche Eröffnung, aber insbesondere die Stilfrage blieb hier weitgehend unbesprochen. Sekundärliteratur

Eine eigene Baumonografie wurde dem Universitätsgebäude bis heute nicht gewidmet, es nimmt aber in den zwei Ferstel-Monografien jeweils ein großes Kapitel ein. In der zweibändigen Dissertation Heinrich von Ferstel und der Historismus in der Baukunst des 19. Jahrhunderts beschreibt Norbert Wibiral das Gesamtwerk des Künstlers.14 Während

14  Einleitung

  9 Ferstel 1878 A. 10 Ferstel 1874. 11 Wolf 1882. 12 Eitelberger 1884. 13 Nachruf auf Heinrich von Ferstel, in  : Deutsche Bauzeitung, 1883, Nr. 73, S. 435. 14 Wibiral 1952.

15 Wibiral/Mikula 1974, hier insbesondere S. 44–75. 16 Fillitz 1984. 17 Krause 1984, S. 17–25. 18 Schwarz 1984 A, S. 26–35. 19 Schwarz 1984 B, S. 36–49. 20 Mühlberger 2007. 21 Forsthuber 1992  ; heute Sabine Plakolm-Forsthuber. 22 Wagner-Rieger 1970, S. 185–187. 23 Frodl 2002 A. 24 Krause 2002, S. 215–217. 25 Frodl 2002 B, S. 327–328  ; BisanzPrakken 2002, S. 414. 26 Schmied 2002, S. 38–39.

sich der erste Band um eine Einordung der einzelnen Bauwerke in die historistische Bautradition bemüht, besteht der zweite Band aus ausführlichen, quellenbasierten Katalogeinträgen zu den Einzelwerken. Die wichtigste und ausführlichste Literatur ist der Band VIII/3 der Ringstraßenreihe, Heinrich von Ferstel, in dem Renata Mikula (heute KassalMikula) das von Norbert Wibiral in seiner oben genannten Dissertation aufgearbeitete Material für die Publikation überarbeitet hat.15 Das Kapitel über die Universität liefert die ausführlichste Beschreibung des Bauwerks und der Planungsgeschichte, verzichtet aber weitgehend auf typologische Untersuchungen. Auch die Frage nach möglichen stilistischen Vorbildern oder nach ikonografischen Deutungen bleibt weitgehend unbeantwortet. In der Festschrift Die Universität am Ring. 1884–1984, die anlässlich des 100-Jahr-Jubiläums des Bauwerks herausgegeben wurde,16 widmen Walter Krause und Mario Schwarz drei Kapitel der Baugeschichte17, der Struktur des Baus18 und seiner Symbolik19. Alle drei Kapitel liefern exakte Beschreibungen, aber der Rahmen der Festschrift lässt hier keinen Platz für eine tiefer gehende Analyse. Das 2007 erschienene Buch Palast der Wissenschaft von Kurt Mühlberger,20 dem ehemaligen Archivar der Wiener Universität, stellt die jüngste Publikation zur Universität Wien dar und liefert aktuelle Fotos des Bauwerks und fasst sehr übersichtlich die gesamte Geschichte der Universität zusammen. Aus kunsthistorischer Sicht bringt es aber keine Erkenntnisse, die über die Festschrift von 1984, an der Mühlberger bereits mitwirkte, hinausgehen. Speziell auf einen Aspekt in der Planungsgeschichte zwischen 1871 und 1873 geht der Artikel von Sabine Forsthuber Die Wiener Universität in gräzisierendem Stil. Zu einem vergessenen Entwurf Heinrich von Ferstels ein, der im Wiener Jahrbuch von 1992 erschienen ist.21 In den Überblickswerken zur Architektur Wiens ist das Hauptgebäude der Universität nicht prominent vertreten. Renate WagnerRiegers Wiens Architektur im 19. Jahrhundert bietet im Verhältnis von Länge des Textabschnitts zu (durchaus deutender) Information wohl den überzeugendsten Kurzüberblick.22 Die Aufmerksamkeit, die dem Universitätsbau und seiner Ausstattung in der Geschichte der Bildenden Kunst in Österreich 23 zuteilwird, muss als enttäuschend bezeichnet werden. Einzig in dem Eintrag »Rathausplatz und Burgtheater« wird Ferstels Bau erwähnt.24 Im Gegensatz zum Burgtheater, dem Kunsthistorischen Museum und dem Sitzungssaal im Parlament befasst sich kein eigener Artikel mit der Universität. Die Klimt’schen Fakultätsbilder, deren Entwürfe und der daraus resultierende Skandal für den Maler einschneidend waren, werden im Kapitel Grafik am Rande erwähnt,25 und im Band übers 20. Jahrhundert ausführlicher behandelt.26

Quellenlage und Forschungsstand  15

Forschungsfragen

Die oben stehende Zusammenfassung der bisherigen Forschung zum Hauptgebäude der Universität Wien ergibt, dass die bestehenden Auseinandersetzungen mit der Wiener Universität die Baugeschichte und den Ringstraßen-Kontext bereits dokumentiert haben. Sie beschreiben das Hauptgebäude als monumentales und riesiges Bauwerk, dessen weitgehend einheitlicher Stil sich herleitet aus der Semantik des Renaissancestils als Phänomen des Humanismus. Eine Bedeutungsebene der nicht immer klar zugeordneten Stil-Vorbilder wurde bisher nicht erkannt. Auf typologischer Ebene wurden bisher vor allem Renaissancepaläste als Ideengeber identifiziert, um den palastartigen Charakter des Bauwerks zu betonen. Die Skulpturen- und Bildprogramme wurden bisher als autonome Werke gesehen, die scheinbar zufällig an diesem Bauwerk aufeinander treffen. Durch das nahezu vollständige Ausklammern eines internationalen Vergleichs wird das vom Hauptgebäude gezeichnete Bild als einzige denkbare Form eines Hauptgebäudes an der Wiener Ringstraße im späten 19. Jahrhundert dargestellt. Dadurch geht die Vorstellung alternativer Optionen verloren und mit ihnen die Möglichkeit, die Spezifika des Wiener Hauptgebäudes auf ihre Aussagekraft zu untersuchen. Die aus kunsthistorischer Perspektive nicht gestellten oder offengebliebenen Fragen betreffen (1) eine typologische Einordnung des Planungsmaterials und des ausgeführten Baus in einen internationalen Kontext, (2) eine dezidierte und visuell belegte Benennung von Vorbildern und Zitaten, (3) darauf aufbauend eine Einordnung in die historistische Bautradition und ihre Ziele, (4) zusätzlich eine Einordnung von Ferstels Bestreben nach Monumentalität in die Wiener Monumentalitätsdebatte der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, (5) Überlegungen zur unvollständigen Innenausstattung und (6) das ikonografische Programm, dem bisher lediglich eine Beschreibung, aber keine weiterführende Deutung widerfahren ist. In der vorliegenden Arbeit wird das Hauptgebäude der Universität Wien auf diese Fragen hin untersucht und diese vielschichtigen Überschneidungen in Wirkung und Funktion der einzelnen gestalterischen Mittel zusammengefasst. Dadurch wird dieses Bauwerk des späten Wiener Historismus erstmals in seiner gattungsübergreifenden Komplexität erfasst. Das Ergebnis der Zusammenschau der einzelnen methodischen Untersuchungen wird zwar kein gänzlich neues, aber ein sehr viel differenzierteres Bild ergeben.

16  Einleitung

Historische Voraussetzungen Geschichte der Universität Wien

  1 Die aktuellsten Beiträge zur Gründungsgeschichte der Universität Wien in  : Rosenberg/Schwarz 2015.   2 Erzherzogliche Stiftbrief vom 12. März 1365, zit. nach  : Mühlberger/Ebenbauer 1996, S. 7.   3 Zu den universitären Vorläufern Pfarrschule und Bürgerschule siehe  : Uiblein 1963, S. 284–310  ; Uiblein 1985, S. 17.   4 Auch Albert von Rickmersdorf, später Bischof Albrecht III. von Sachsen. Zu seiner Person Vgl. Grabmann 1953, S. 135.   5 Vgl. Uiblein 1985, S. 17.   6 Vgl. Aschbach 1865, S. 16 f.   7 Böhm 1952 B, S. 11 f  ; Mühlberger/ Maisel 1995, S. 8 f.   8 Siehe Gall 1970, S. 13  ; auch Mühlberger/Maisel 1995, S. 8 f.   9 Vgl. Mühlberger/Maisel 1995, S. 10. 10 Gall 1970, S. 15.

Neben einer Vielzahl an anderen Stiftungstätigkeiten, um die Bedeutung der Stadt Wien zu heben, gründete Herzog Rudolf IV. am 12. März 1365 die Wiener Universität.1 In seinem auf diesen Tag datierten Stifterbrief beschrieb er den angestrebten Charakter der Institution als »hohe, gemaine, wirdige und gefreyete schuole in der egenannten unserr statt zu Wienne«, deren Zweck es sei, »dez ersten unser kristenlicher geloube in aller der welte geweitert und gemeret werde, darnach damit gemain guot, rechte gerichte, menschlich vernunft und das durchscheinende liecht goetlicher weishait … erleuchte«.2 Die Basis für diese Gründung bildete die seit 1237 dokumentierte Pfarrschule bei St. Stephan, ab 1296 Bürgerschule genannt, deren Leitung bevorzugt Pariser Universitätsabsolventen anvertraut wurde.3 So war auch der erste Rektor der Wiener Universität, Albert von Rickensdorf4, zuvor schon Rektor der Pariser Sorbonne, bevor er als Leiter an die Bürgerschule berufen wurde.5 Als Gründungsrektor war er von Rudolf IV. auch mit den Verhandlungen über die päpstlichen Privilegien der Universität am Hof des Papstes Urban V. betraut gewesen. Die päpstliche Bestätigung der Universitätsgründung datiert vom 18. Juni 1365. Trotz des ausdrücklichen Wunsches des Stifters, ein alle vier Fakultäten umfassendes studium generale einzurichten, verweigerte allerdings Papst Urban V. der neugegründeten Universität die Einrichtung einer Theologischen Fakultät.6 Hierfür scheinen zwei Ursachen plausibel  : Einerseits wird vermutet, dass ausgerechnet Rudolfs Schwiegervater Karl IV. hier intervenierte, weil er eine zu große Konkurrenz für seine 1347 gegründete Prager Universität fürchtete.7 Andererseits könnte es an den geringen Geldmitteln gelegen haben, die Rudolf IV. für diese vierte prestigeträchtige Fakultät bereitstellen konnte.8 Rudolfs früher Tod im Juli 1365 verhinderte sein weiteres Engagement in dieser Angelegenheit. Erst 1384 im Zuge der Universitätsreformierung und -erweiterung durch Rudolfs Bruder Herzog Albrecht III. wurde die Theologische Fakultät den Fakultäten für Philosophie, Jurisprudenz und Medizin zur Seite gestellt.9 Damit war der angestrebte Status einer Volluniversität, die diese vier Fakultäten umfasst, erreicht, und so erhöhte sich das wissenschaftliche Ansehen der Institution Ende des 14. Jahrhunderts gewaltig. Dies wiederum ließ die Studentenzahlen wachsen. »Um 1400 studierten schon etwa 4000 Studenten in Wien. Das älteste ›Vorlesungsverzeichnis‹ der artistischen Fakultät kündigte zwanzig Kollegien an  ; zehn Jahre später waren es schon dreißig.«10

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Im Allgemeinen hat die Institution Universität seit ihrer Emanzipation von den klerikalen Domschulen mannigfache Wandlungen erlebt, sowohl im Hinblick auf ihre Bezeichnung als auch auf ihre Ziele und die Methoden, diese zu erreichen. Wie später die Universität Wien gingen auch die ersten Universitätsgründungen um 1200 meist aus kirchlichen oder ›privaten‹ Schulen hervor, sie folgten dabei aber keinem identischen Muster.11 Meist schlossen sich mehrere lehrende Magister zusammen und gründeten eine universitas magistrorum et scolarium.12 Aus dieser Gesamtheit der Lehrer und Schüler entwickelte sich erst ab dem 15. Jahrhundert der Terminus Universität heraus. Die Institution, an der diese universitas lehrte und studierte, wurde studium generale, also allgemeiner Lehrgang genannt. Die später viel zitierte universitas litterarum als Credo für eine die Gesamtheit der Wissenschaften umfassende Hochschule war also nicht namensgebend für diese Institution.13 Ebenso wie die Bezeichnungen haben sich über die Jahrhunderte auch die Aufgabenbereiche und Lehrmethoden der Universitäten immer wieder verändert. Den mittelalterlichen Universitäten waren die Unterrichtssprache und die Lehrinhalte und -methoden grundsätzlich überall gemein. »Die Lehrinhalte beruhten auf zwei wesentl[ichen], ihrerseits universellen Grundlagen  : zum einen der chr[istlichen] Offenbarung, zum anderen der antiken Wissenschaftstradition, diese revidiert, transformiert und ergänzt durch Kirchenväter, arab[ische] Gelehrsamkeit und ›doctores moderni‹, d.h. die Kommentatoren und Denker der frühen Scholastik des 12. J[ahrhunderts].«14

Die Bibel, das Corpus iuris civilis, das Corpus iuris canonici und die Werke der maßgeblichen Autoren sollten durch wiederholte lectura verinnerlicht und mithilfe der questio für die jeweilige Fragestellung gedeutet werden.15 Die Grundausbildung der Studierenden, die Unterrichtung in den (Septem) Artes Liberales war Aufgabe der Philosophischen Fakultät, die entsprechend dieser Aufgabe bis ins 15. Jahrhundert Artistenfakultät genannt wurde. In Wien wurde die Bezeichnung Philosophische Fakultät überhaupt erst ab dem 17. Jahrhundert üblich.16 Der Bildungskanon der Freien Künste war seit der Spätantike (Augustinus und Martianus Capella) auf sieben Fächer festgelegt, unterteilt in das Trivium und das Quadrivium. An der Wiener Artistenfakultät wurden von den trivialen Fächern besonders Grammatik und Dialektik geübt, die Rhetorik hingegen nahm fast keinen Raum im Studienprogramm ein.17 Der Vierweg bestand aus Arithmetik, Geometrie, Musik und Astronomie. In Wien bildeten diese Fächer den Schwerpunkt in der Lehre. Zusätzlich zu den Vorlesungen und den dazugehörigen repetitiones und exercitia waren regelmäßige Disputationen zur Schulung der logisch kohärenten Argumentation Teil des artistischen Unterrichts.18 In diesem »geistigen Rüstzeug«19 wurde die Voraussetzung für alle weiteren höheren Studien gesehen.

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11 Vgl. Verger 1997, Sp.1249 f. 12 Siehe Koch 2010, S. 17.  ; auch  : »Universitas, allg. Begriff für eine Personengesamtheit und für menschl. Verbände […]« in  : Isenmann 1997, Sp.1247. 13 Siehe auch Lemayer 1878, S. 15. 14 Verger 1997, Sp. 1252. 15 Siehe Verger 1997, Sp. 1254  ; Elders 1995, Sp. 1528. 16 Böhm 1952 B, S. 23. 17 Siehe Uiblein 1985, S. 30. 18 Ebd. 19 Böhm 1952 B, S. 24.

20 Böhm 1952 B, S. 22. 21 Siehe Uiblein 1985, S. 31. 22 Ebd., S. 30 f. 23 Ebd., S. 32. 24 Siehe Verger 1997, Sp. 1255. 25 Gall 1970, S. 17. 26 Siehe Grössing 1985, S. 44 f.

Die Theologische Fakultät hatte den höchsten Rang inne, daher war ihre nachträgliche Gründung in Wien von solcher Bedeutung. In dem sechsjährigen Studium lag der inhaltliche Schwerpunkt besonders auf der Bibelexegese und Dogmatik. Auch die Lehre an der kleinen Medizinischen Fakultät entsprach der scholastischen Methode und war vom »Lesen, Vergleichen und Kommentieren alter, sogar sehr alter Schriftsteller«20, besonders Hippokrates und Galenus, geprägt. Dennoch war es ein Wiener Professor, der im Februar 1404 die erste Sektion einer menschlichen Leiche nördlich der Alpen durchführte.21 Allerdings lassen sich höchstens zwölf weitere Anatomien im 15. Jahrhundert in Wien belegen.22 Die Fakultätsstatuten der Jurisprudenz von 1389 sahen eine gemeinschaftliche institutionelle Basis für Zivilrecht und Kanonisches Recht vor. In Realität formierte sich die Institution aber zu einer Kanonistenschule, während das Römische Zivilrecht weitgehend unberücksichtigt blieb. Die erste Professur für Römisches Recht wurde 1494 geschaffen.23 Wenn die scholastische Methode durch das kontinuierliche Lesen und Kommentieren antiker Autoren auch einen wichtigen Beitrag zur Antikenrezeption leistete, so hatte diese Ausbildung doch auch Mängel. Die autoritätsbezogene Tradition von Wissen unterschätzte die Möglichkeiten der Beobachtung und des Experiments. Und die Vernachlässigung der Dichtung und der artes mechanicae führte schließlich dazu, dass diese Disziplinen ihren kulturellen Status im 15. Jahrhundert außerhalb der Universitäten gewannen.24 Daher entwickelte sich der scholastik-kritische Humanismus außerhalb und in Konkurrenz zur Universität. Die beginnende Aufnahme eines humanistischen Bestrebens in die Wiener Universität manifestiert sich in der Rede des Humanisten Aeneas Silvius Piccolomini, später Papst Pius II. Im Jahr 1445 sprach er sich in der Aula der Wiener Universität gegen die scholastische Methode aus. Doch erst Ende des 15. Jahrhunderts unter Maximilian I. wurden auswärtige Humanisten auf die Lehrstühle berufen und die Lehrmethode wandelte sich  : »Rhetorik und Eloquenz siegten über das Herunterlesen, der Originaltext über das Kommentieren.«25 Die politischen Verhältnisse im frühen 16. Jahrhundert und die einsetzende Reformation verhinderten jedoch ein Aufblühen der jungen humanistischen Universität, und ab 1533 kam es unter Ferdinand I. zu einer Überarbeitung der Universitätsrechte. Durch die Nova Reformatio von 1554 verwandelte sich die bisher weitgehend unabhängige Institution in eine staatliche Anstalt. Die inhaltliche und finanzielle Abhängigkeit von dem Landesherrn war insofern erträglich, als sie auch finanzielle Sicherheit für die Professoren versprach.26 Darüber hinaus legte Ferdinand I. wenige Jahre später mit einem Schreiben an Ignatius von Loyola (1491–1556) den Grundstein für einen über zweihundert Jahre andauernden Einfluss auf die Lehre an der Wiener Universität. Seine

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Absicht war es, in Wien ein Kollegium für den jesuitischen Unterricht zu gründen.27 Dieses nun parallel zur Universität lehrende Kolleg florierte und entwickelte sich rasch zu einer – vor allem didaktisch und inhaltlich – ernst zu nehmenden Konkurrenz für die Artistische und Theologische Fakultät. Während die Zahl der Studierenden an der Universität sank, wuchs das jesuitische Kolleg immer weiter, sodass es Ende des 16. Jahrhunderts zu ersten Überlegungen über eine Fusion der beiden Institution kam, die aber insbesondere seitens der Universität vehement angefochten wurden. Der Gegenreformator Ferdinand II. unterstützte den Fusionsgedanken und erwirkte schließlich mit der Sanctio pragmatica von 1623 die Inkorporation des Kollegs in die Universität.28 Unter dem starken jesuitischen Einfluss und der aufgrund der ordenseigenen ratio studiorum von 1599 kam es zu einer besonderen Stärkung der theologischen Lehre und der artistischen Fächer.29 Die Realien, also die eher praktischen Fächer der juridischen und medizinischen Fakultät, konnten sich hingegen nicht weiterentwickeln und verloren im europäischen Kontext an Bedeutung.30 Aber auch das seit 1599 nicht angepasste Studienprogramm der Theologie und der Artes war bereits zu Beginn des 18. Jahrhunderts überaltert.31 Ein im Auftrag Karls VI. erstellter Bericht kritisiert an der jesuitischen Lehrmethode das »übermäßige […] Auswendiglernen, das das Gedächtnis belaste und eigenes Denken hindere  ; das Fehlen des Unterrichts in deutscher Sprache und Literatur  ; […]  ; die sich in fruchtlose Quisquilien verlierende Philosophie, in die die moderne Philosophie, jedenfalls Descartes, Eingang finden müsse  ; […].«32

Zwei kaiserliche Dekrete von 1735 stärkten daraufhin wieder den staatlichen Einfluss. Die angestrebten oder durchgeführten Neuordnungen konnten das jesuitische Lehrsystem jedoch nicht ausreichend modernisieren. Erst nach dem Tod Karls VI. erarbeitete Maria Theresias Leibarzt Gerard van Swieten, seit 1745 in Wien, eine umfassende Neuordnung der Universität. Im Jahr 1749 überreichte er der Kaiserin zunächst den Plan für die medizinischen Studien. »Er verlangte u.a. für den öffentlichen Unterricht passende Räumlichkeiten, geeignete Lehrer mit ausreichendem Gehalte, Ernennung der Professoren durch die Kaiserin statt durch das Consistorium  ; er wies auf die Wichtigkeit der Botanik und Chemie hin, die bisher nicht gelehrt worden waren  ; die Prüfungen endlich sollten von lästigen Schranken befreit werden, andererseits rieth er größere Strenge und Ordnung an.«33

Das Patent vom 7. Februar 1749 entsprach van Swietens Forderungen und machte ihn selbst zum Director der medizinischen Fakultät. 34 In den folgenden Jahren entwickelte van Swieten weitere Reformpläne

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27 Siehe Wrba 1985, S. 47 f. 28 Wrba 1985, S. 52 und 56. 29 Vgl. Pachtler 1887  ; zit. nach Rüegg 1996, S. 267. 30 Stachel, 1999, S. 115–146. 31 Hammerstein 1996, S. 112 f. 32 Siehe Wrba 1985, S. 67. 33 Daniel Jacoby, Swieten  : Gerhard van S. , in  : Königlich-Bayerische Akademie der Wissenschaften (Hrsg.), Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 37, Leipzig 1894, S. 266. 34 Vgl. Jacoby 1894, S. 266.

35 Später  : Ministerium des Inneren, für Cultus und Unterricht und das Finanzministerium. Vgl. Wolf 1883, S. 3. 36 Vgl. Wolf 1883, S. 4. 37 Mühlberger /Maisel 1995, S. 33. 38 Vgl. Mühlberger 2007, S. 17. 39 Vgl. Wolf 1883, S. 5  ; Jacoby 1894, S. 267. 40 Vgl. Mühlberger 2007, S. 18. 41 Hammerstein 1996, S. 112 f. 42 Rüegg 2004 B, S. 17. 43 Joseph II., Resolution zum Vortrag der Studienhofkommission vom 25.11.1782  ; zit. nach Wangermann 1978, S. 25 f.

umfassenderer Natur, die die gesamte Einrichtung betrafen. Dementsprechend ordnete das Directorium35 strukturelle Maßnahmen an, die die Qualität der Universitätslehre erhöhen sollten.36 Außerdem sollten die Ausbildungszeiten an den Gymnasien und im vorbereitenden philosophischen Studium verkürzt werden. Ein weiteres Ziel dieser Reform war es, »im Sinne einer weitgehend staatlichen Einflußnahme und Kontrolle«37 den kirchlichen, insbesondere jesuitischen, Einfluss auf das höhere Bildungswesen zurückzudrängen und durch staatliche Kontrollorgane zu ersetzen.38 Ab 1752 wurde die Universität eine Staatsanstalt, was nicht nur den Einfluss der Jesuiten weiter schmälerte, sondern auch sämtliche althergebrachten Privilegien der Universität, wie die universitätseigene Jurisdiktion, reduzierte.39 Die Aufhebung des Jesuitenordens durch Papst Clemens XIV. im Jahr 1773 vollendete diesen Verstaatlichungsprozess. Dieser Prozess hatte einen großen Einfluss auf die Lehrinhalte, denn von nun an sollte die Universität sich um »die Ausbildung von ›Staatsdienern‹ – nicht von Gelehrten« kümmern.40 Hiermit folgte van Swietens Reform einem europäisch-aufklärerischen Trend. Seit der Mitte des 18. Jahrhunderts mehrten sich die Forderungen, dass auch die naturwissenschaftlich-technischen und mechanischen Künste (artes mechanicae) an Universitäten gelehrt werden sollten. Diese Forderung war im Laufe der Frühen Neuzeit öfters geäußert, aber im universitären Rahmen nicht umgesetzt worden. Unter dem Verstaatlichungsdrang am Ende des 18. Jahrhunderts schien das universitäre Lehrsystem überhaupt veraltet und weitere Gründungen von Spezialanstalten wurden forciert.41 Nicht nur das aufklärerische Frankreich ging so weit, Universitäten zu schließen, sondern die Tendenz zur Ablösung der Universität durch Spezialhochschulen durchzog ganz Europa  : »1789 gab es in Europa 143 Universitäten. 1815 waren es noch 83.«42 In Frankreich wurden alle vierundzwanzig Universitäten geschlossen und durch spezialisierte Grandes écoles oder Einzelfakultäten ersetzt. Damit ging das nach-revolutionäre Frankreich sicherlich den drastischsten Weg bei der Spezialisierung der Wissenschaften. Zwar wurde die Wiener Universität nicht geschlossen, aber das Nützlichkeitsdiktat war auch in der Wiener Bildungslandschaft des 18. Jahrhunderts deutlich spürbar. 1765 wurde die erste deutschsprachige Veterinärschule von Maria Theresia gegründet. Ihr Nachfolger Joseph II. machte seine Erwartungen an die höheren Bildungsinstitutionen noch deutlicher, wenn er im November 1782 forderte, dass »nichts den jungen Leuten gelehrt werde[…], was sie nachher […] nicht zum Besten des Staates gebrauchen, oder anwenden können, da die wesentlichen Studien in Universitäten für die Bildung der Staats Beamten nur dienen, nicht aber der Erziehung Gelehrter gewidmet seyn müssen, […].«43

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Eine der josephinischen Maßnahmen zur Bildungsrationalisierung war dann 1784 die Gründung der k. k. medizinisch-chirurgischen JosephsAcademie, die speziell Militärarzte ausbilden sollte. Zwei Jahre nach der Gründung wurde sie den universitären Fakultäten gleichgestellt und konnte in Konkurrenz zur Medizinischen Fakultät Magister und Doktoren heranbilden. Mit der Gründung des Wiener Polytechnikums im Jahr 1815, nach Paris (1794) und Prag (1806) eines der frühesten in Europa, setzte sich der Trend zur Spezialisierung auch im 19. Jahrhundert deutlich fort. In der Zusammensicht der maria-theresianischen und josephinischen Reformen, die beide in die gleiche Richtung weisen,44 wird sichtbar, dass die starke Förderung der Spezialisierung (bei gleichzeitiger Vernachlässigung der Universität) den Austausch innerhalb der Fächer und über Fächergrenzen hinweg verhinderte. So war das Effizienzdiktat am Ende nicht nur der Theologischen und der Philosophischen Fakultät abträglich, denn es wurden zwar die anwendungsorientierten Fächer maßgeblich gefördert, aber trotzdem fiel »die Wissenschaft […] in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts hinter der ausländischen Entwicklung zurück.«45 Im protestantischen Preußen entwickelte sich etwa zeitgleich ein ganz und gar gegensätzliches Universitätsmodell. Zwei gelehrte Universitätsreformer, der Theologe und Philosoph Friedrich Schleiermacher und der Philologe und Staatsmann Wilhelm von Humboldt, setzten sich nachdrücklich für die Gründung einer selbstverwalteten Universität in Berlin ein. Die 1810 gegründete Friedrich-Wilhelms-Universität, heute Humboldt-Universität, sollte sich durch drei richtungweisende Erneuerungen auszeichnen  : »1. wurde eine Nationaluniversität begründet, die von allen Beschränkungen der bisherigen deutschen Landesuniversitäten befreit sein sollte  ; 2. setzte sich in der neuen Universität […] von Anfang an das Exzellenzprinzip durch, d.h. das Bemühen, nach Möglichkeit die jeweils besten vorhandenen Fachvertreter für die eigene Hochschule zu gewinnen […]  ; 3. wurde der […] Anspruch erhoben, vollkommen neue Formen der wissenschaftlichen Arbeit und der akademischen Lehre – basierend auf der Einheit von Forschung und Lehre – zu etablieren und damit die Idee des ›forschenden Lernens‹ in die Wirklichkeit umzusetzen.«46

Die Selbstverwaltung der Universitäten sollte die geforderte Lehr- und Lernfreiheit garantieren. In Humboldts Konzeption waren die staatlichen Funktionen im universitären Betrieb beschränkt. Der Staat sollte die Finanzierung und die Unabhängigkeit sichern und außerdem die Professoren bestimmen.47 Zwar ließen sich die oben genannten umfassenden Freiheiten nicht dauerhaft umsetzen, dennoch lohnten sich diese liberalen Reformschritte. Mit der zusätzlich geforderten Einheit der Wissenschaften entwickelte sich das preußische Modell der Volluniversität

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44 Hammerstein 1985, S. 792. 45 Kernbauer 1999, S. 28. 46 Kraus 2008, S. 23. 47 Siehe Rüegg 2004 B, S. 19.

unter dem Motto universitas litterarum als deutlicher Gegenpol zu den Spezialisierungstendenzen der Fachhochschulen. »Während zu Beginn des 19. Jahrhunderts Paris das Mekka ausländischer Gelehrter war, schickten die französischen Regierungen von 1830 an immer wieder Beobachter nach Deutschland, um sich über die Fortschritte der deutschen Hochschulen an Ort und Stelle zu informieren.«48

48 Ebd. 49 Siehe Lentze 1962, S. 26. 50 Ebd., S. 19 f. 51 Siehe Lentze 1962, S. 27. 52 Mühlberger/Maisel 1995, S. 36. 53 Vgl. Gevers/Vos 2004, S. 246  ; Hantsch 1962, S. 341–343  ; Karner/ Rosenauer/Telesko 2007, S. 56.

Die Wissenschaft war nicht mehr der Wiedergabe von autorisiertem Wissen verpflichtet, sondern hatte sich der Auffindung der Wahrheit verschrieben.49 Während sich diese liberale Universitätsidee in den protestantischen Ländern rasch ausbreitete, wurde sie im katholischen Bayern nur schleppend übernommen. Und auch im nach-josephinischen Österreich gab es einige Faktoren, die die Ausbreitung behinderten. Vollkommen gegensätzlich zu dieser Lehr- und Lernfreiheit war nämlich das österreichische Bildungssystem gestaltet. Der von Staats wegen vollkommen verschulte Universitätsbetrieb konzentrierte sich vollständig auf die Lehre und verfügte dabei über keinerlei Freiheiten.50 Die liberale Grundtendenz der universitären Selbstverwaltung, der freien Forschung und einer persönlichen Wahrheitsverpflichtung des Wissenschaftlers war der katholisch geprägten Bildungselite Österreichs suspekt.51 Diese aus der Aufklärung und dem Vernunftrecht abgeleitete Geistesfreiheit stellte die politischen Beschränkungen infrage. Eine Liberalisierung des Universitätsbetriebs musste also auch dem österreichischen Kaiser Franz I., seinem Nachfolger Ferdinand I. beziehungsweise deren Berater Kanzler Metternich unratsam erschienen sein. Die Studentenschaft, aber auch das Professorenkollegium, zeigte sich zunehmend unzufrieden mit der politischen Situation und den Studienbedingungen. Sie wünschten sich sowohl mehr Demokratie im Allgemeinen als auch Lehr- und Lernfreiheit im Speziellen.52 Das zündende Signal für die Proteste seitens der Studenten war die Pariser Februarrevolution von 1848. Am Rektorstag, dem 12. März 1848, wurde dem Kaiser eine Petition mit den studentischen Forderungen, die sowohl akademischer als auch politischer Natur waren, übergeben. Die – teilweise blutig niedergeschlagenen – Demonstrationen in den folgenden Tagen führten zum Rücktritt Metternichs und zu einigen Zugeständnissen des Herrscherhauses. Diese bewirkten jedoch kein Ende der studentischen Proteste. Um den politischen Einfluss der Studentenschaft zu mindern, beschloss der Ministerrat die Auflösung der Akademischen Legion und die Schließung der Universität am 25. Mai 1848.53 Im Zuge der Revolutionsniederschlagung wurden sämtliche innerstädtischen Räumlichkeiten militärisch besetzt und die Institute nach der Wiedereröffnung der Universität im März 1849 über die ganze Stadt verteilt. Der 1849 zum Minister für Cultus und Unterricht berufene Leo von Thun-Hohenstein feilte während seiner gesamten

Geschichte der Universität Wien   23

Amtszeit bis 1860 an einer umfassenden Neuorganisation des Bildungswesens. Aufgrund der nicht zu negierenden wissenschaftlichen Erfolge des Humboldt’schen Universitätsideals sollten dessen Vorteile in das österreichische Bildungssystem eingebunden werden. Thun-Hohenstein war jedoch nachdrücklich darauf bedacht, den katholischen Charakter der österreichischen Universitäten aufrechtzuerhalten.54 Eine weitere Reform im Jahr 1873 erzielte eine Ausweitung der Autonomie und Lehrfreiheit und eine weitere Straffung der Organisation, unter anderem die Abschaffung der Doctorencollegien, deren Kompetenzen nun den Professorenkollegien übertragen wurden.55 Trotz der Bemühungen um zeitgemäße Reformen hatte die Universität Wien seit der Revolutionsniederschlagung 1848 mit einer verheerenden Beeinträchtigung im Studienalltag zu kämpfen. Das alte Universitätsviertel, das 1848 vom Militär besetzt wurde, sollte nicht zurück in den Besitz der Universität gelangen und so war die Institution im Grunde heimatlos.

Universitätsräumlichkeiten von 1365 bis 1848

Die Wiener Universität, deren Institute seit 1848 über die ganze Stadt verteilt waren, sollte erst 1884 ihr neues Hauptgebäude eröffnen können. Und so begann der Historiker Gerson Wolf sein Büchlein über den Neubau der Universität mit dem folgenden Satz  : »Der prachtvolle Palast für die Wissenschaft, der sich auf dem ehemaligen Paradeplatz erhebt, hat eine nicht unbedeutende Vorgeschichte.«56 Und tatsächlich kann der Universitätsbau bei der Eröffnung 1884 auf eine etwa 30-jährige Planungs- und Baugeschichte zurückblicken. Allerdings deutete sich die Notwendigkeit neuer oder zusätzlicher Räumlichkeiten immer wieder an. Daher wurde zu allen Zeiten versucht, trotz der beengten Möglichkeiten innerhalb der Stadtmauern, die Raumsituation den wachsenden Anforderungen anzupassen. Nach den unverwirklichten Plänen des Universitätsstifters Rudolf IV. sollte das studium generale eine eigene Pfaffenstadt innerhalb der Stadtmauern zwischen der Herzogsburg und dem Schottenkloster erhalten. 57 Aufgrund von Rudolfs frühem Tod konnte dieser Plan nicht umgesetzt werden. Erst 1384 stiftete Albrecht III. das Herzogliche Kolleg als erstes räumliches Zentrum der Wiener Universität.58 Ein Jahr später, 1385, fand die Eröffnung des Collegium Ducale in der heutigen Postgasse und des Collegium Iuristarium, der Juristenschule, in der Schulerstraße 14, statt. Damit wurde der Grundstein für den wachsenden Universitätskomplex im Stubentorviertel gelegt.59 Ab etwa 1625 begannen die Jesuiten den Neubau des Akademischen Kollegs an der Stelle, an der vorher das Collegium Ducale gestanden hatte.

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54 Siehe Lentze 1962, S. 88  ; Lemayer 1878, S. 31–37. 55 Lemayer 1878, S. 47–48, 50–51. 56 Wolf 1882, S. 1. 57 Mühlberger 2015, S. 18–19  ; Hueber 1985, S. 111. 58 Vgl. Mühlberger/Ebenbauer 1996, S. 14. 59 Über die Neu- und Zubauten im Universitätsviertel siehe  : Uiblein 1985, S. 29 f  ; Hueber 1985, S. 111–114.

Abb. 2: Johann Georg Mack, Grundriss der Universität, Neue Aula, 1783/84 (Akademie der Bildenden Künste, Wien, Kupferstich­ kabinett, Inv. Nr. 16783)

60 Telesko 2007 A, S. 8, sowie Karner 2015, S. 57–67.

Im 18. Jahrhundert stellte der Neubau der Neuen Aula den größten Eingriff in das Universitätsviertel dar. Im Zuge der umfassenden Universitätsreform stiftete Maria Theresia der an Raummangel leidenden Universität die Neue Aula als neues Zentrum.60 Die Räumlichkeiten sollten aber vorwiegend den von Maria Theresia besonders geförderten medizinischen und juridischen Fächern zur Verfügung stehen. Der Prachtbau, vom lothringischen Hofarchitekten Jean Nicolas Jadot geplant, wurde im April 1756 feierlich in Anwesenheit Maria Theresias eröffnet. Das

Universitätsräumlichkeiten von 1365 bis 1848  25

neue Universitätshaus bildete aber nur einen Teil der geplanten PlatzNeugestaltung, anhand derer sich der Reformwille visuell manifestieren sollte. Allerdings wurden die umliegenden Trakte nicht mehr entsprechend umgestaltet. Aber schon die einzelne Fassade wirkt als deutlicher Kontrast zur Jesuitenkirche, deren schlichte, aber hoch aufragende Fassade bisher den Platz bestimmt hatte. Ein beschrifteter Grundriss des Aulagebäudes von 1783/84 zeigt, dass das gesamte Erdgeschoss zu diesem Zeitpunkt von der Medizinischen Fakultät in Anspruch genommen wurde [Abb. 2].61 Im südöstlichen Flügel, der zum Platz weist, befanden sich laut Plan die Wohnung des Anatomie-Professors, eine kleine Hausmeisterswohnung und die Kräuterwissenschaft (Botanik) auf der rechten Seite des Eingangs. Im hinteren Flügel sind südseitig zwei Räume mit »Artzeneywissenschaft« beschriftet und die nördlichen zwei Räume und ein Kabinett waren der »Zergliederungskunst« gewidmet. Ein späterer beschrifteter Plan im Bestand der Albertina zeigt das Hauptgeschoss [Abb. 102].62 Während in diesem Grundriss die Zimmer im hinteren Trakt über der Zergliederungskunst als retirade bezeichnet werden, »gibt Colland 1796 an, daß sich hier die Hörsäle für die juridischen und politischen Wissenschaften befänden und daselbst auch die Bildnisse der berühmtesten Lehrer dieser Fächer aufbewahrt werden.«63

Im vorderen Trakt befinden sich links die deologie (der heutige Johannessaal) und rechts im heutigen Sitzungssaal die philosofia. Dieser einzige Raum, der der philosophischen Fakultät im Aula-Gebäude zur Verfügung stand, wurde als Hörsaal für den physikalischen und mechanischen Unterricht genutzt. Er beherbergte eine große Sammlung mechanischer Modelle und physikalischer Instrumente.64 Die anderen Hörsäle der philosophischen Fakultät, die am wenigsten von der van-Swieten’schen Reform profitiert hatte, waren großenteils im akademischen Gymnasialgebäude untergebracht. Allerdings waren diese dunklen Räumlichkeiten ursprünglich als Holzlager gedacht.65 Diesbezüglich stellt die Studienhofcommission im Mai 1826 in einem Bericht fest, dass es unbegreiflich sei, »wie man je auf den Gedanken verfallen konnte, solche nur zu Holzgewölben oder Magazinen geeignete Localitäten zum Unterrichte zu widmen«66, und dass das Local der philosophischen Studien »an sich selbst tief unter allen berechtigten Ansprüchen [stehe], welche man auch bei den mäßigsten Erwartungen an ein Schullocale irgendwo und umso mehr in der Hauptstadt des Reiches an die vorzüglichste Studienanstalt der Monarchie machen kann.«67 Die von der Hofkanzlei wiederholt gestellte Bitte, die philosophische Fakultät im nahe gelegenen Barbarastift in der Postgasse unterzubringen, wurde zwar immer wieder positiv vom Kaiser beschieden, blieb jedoch ohne Auswirkung, da für die dort untergebrachte Postanstalt keine Alternative gefunden wurde.68 Insgesamt

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61 J. G. Mack, Grundriss zu ebener Erde des k. k. UniversitätsHaus in Wien, 1783/84  ; Wien, Akademie der bildenden Künste, Kupferstichkabinett, Inv.Nr. 16783. 62 Grundriss des Hauptgeschosses des Akademie-Gebäudes  ; Wien, Albertina, AZ. Allg. 8023. 63 Wagner-Rieger 1972 B, S. 35 f. 64 Vgl. Wagner-Rieger 1972 B, S. 35  ; Wolf 1882, S. 9. 65 Vgl. Wolf 1882, S. 2. 66 Ebd., S. 2 f. 67 Wolf 1882, S. 2. 68 Ebd., S. 3 f.

69 Ebd., S. 9. 70 Wagner-Rieger 1972 B, S. 37  ; Karner 2007, S. 20, 23, Wolf 1882, S. 9. 71 Denk 2003, S. 400. 72 Wolf 1882, S. 6. 73 Ebd., S. 6. 74 »Man suchte alle möglichen Abhilfsmittel anzuwenden, es wurden im Secirsaale Ventilatoren angebracht, der Secirsaal selbst wurde, soweit es der Raum gestattete, erweitert  ; es wurde den Studirenden der Durchgang durch den großen Prachtsaal eröffnet und eine Thüre des Secirsaales geschlossen, um dem Leichengeruche auszuweichen  ; es wurde ferner die Entfernung des Macerirbodens und der Knochenbleiche in Antrag gebracht. Doch das Alles genügt nicht, um den Beschwerden abzuhelfen, welche sich desto lauter erhoben, als die Aufhebung der Leichentaxen Veranlassung gab, daß die Studirenden ihren Eifer in den Secirsälen vervielfältigten. Die Zahl der Leichen im Secirsaale stieg daher übermäßig und auch in der warmen Jahreszeit ruhten die Secirübungen nicht oder nur sehr kurze Zeit. […].« Wolf 1882, S. 6 f. 75 Knieling 2015, S. 201–205.

waren alle Hörsäle der philosophischen Fakultät, auch der physikalische Hörsaal im Aula-Gebäude, für die immer weiter steigende Anzahl Studierender zu klein, sodass einige Vorlesungen mit »bedeutenden Kosten« doppelt gehalten werden mussten.69 Die Struktur des Aula-Gebäudes wurde zwischen 1756 und 1848 immer wieder an die wechselnden Anforderungen der Institution angepasst. Vor 1786 waren im hinteren Teil des zweiten Stockwerks Unterrichtsräume der Akademie der Bildenden Künste eingerichtet. Nach der Abwanderung der Akademie konnte auch diese Etage für einen Hörsaal für Pathologie, Heilkunde und Geburtshilfe und Materialräume genutzt werden.70 Außerdem wurde der im Erdgeschoss untergebrachten Anatomie nach 1786 ein neues Anatomisches Theater im zweiten Obergeschoss eingerichtet.71 Doch war auch dieser neue Anatomiesaal den steigenden Studierendenzahlen nicht dauerhaft gewachsen, sodass ab 1820 die Anatomischen Vorlesungen doppelt gehalten werden mussten.72 Darüber hinaus bot auch die Unterbringung des Anatomischen Instituts selbst Anlass zur Klage, denn im »Jahre 1833 ertönten lebhafte und laute Beschwerden über die unangenehmen und schädlichen Ausdünstungen, die sich im Universitätsgebäude verbreiten.« 73 Trotz zahlreicher baulicher Veränderungen74 nahmen die Klagen über diesen Uebelstand nicht ab, sodass Kaiser Ferdinand im September 1837 den Auftrag gab, ein Gutachten über eine mögliche Entfernung der anatomischen Anstalt aus dem Aulagebäude zu erstellen. Bis 1848 blieb die Situation der Anatomie jedoch unverändert. Der Raumnot der Universitätsbibliothek konnte jedoch Abhilfe geschaffen werden, indem die ursprüngliche jesuitische Bibliothek zwischen 1827 und 1829 nach Norden erweitert wurde. Der Zubau erhielt eine klassizistische Fassade zu dem kleinen Platz, der sich zwischen Postgasse und Schönlaterngasse öffnet.75 Heute ist hier das Universitätsarchiv untergebracht. Trotz des kleinen Raumes, auf dem die Wiener Universität vor 1848 in der Innenstadt zusammengefasst war, hatte diese gewachsene Raumsituation für das universitäre Leben den großen Vorteil, dass alle Institutionen inklusive der Bibliothek an einem Standort zentriert waren. Sicherlich hätten die unangenehme Situierung der Anatomie und das sprunghafte Wachsen neuer Fachrichtungen und Institute bald neue Lösungen oder Erweiterungen durch Anmietungen gefordert, jedoch hätte sich die Universität wahrscheinlich nicht von ihrem Hauptgebäude, der Neuen Aula, getrennt. Die Aufstände der Akademischen Legion während der Wiener Revolution von 1848 führten dann aber zur – für die Universitätsräumlichkeiten – folgenreichen Besetzung der Aula durch das Militär.

Universitätsräumlichkeiten von 1365 bis 1848  27

Standortsuche für den Universitätsneubau ab 1848

Die entscheidende Veränderung in der Geschichte der Wiener Universitätsräumlichkeiten brachte die Revolution von 1848, die die Schließung der Universität zur Folge hatte. Erst im März 1849, nach der Niederschlagung der Revolution und der Auflösung der Akademischen Legion, wurde der Universitätsbetrieb wieder aufgenommen. Allerdings blieben große Teile des Universitätskomplexes, darunter die Neue Aula, in der Hand des Militärs. Daher waren die Fakultäten gezwungen, ihre Einrichtungen anderweitig unterzubringen und viele Institute der Wiener Universität fanden Provisorien in den Vorstädten. Jedoch stand der Gesamtinstitution kein räumliches Zentrum mehr zur Verfügung und die Institute waren nun über einen weiten Raum verteilt. Während der Wiener Erzbischof der Theologischen Fakultät Räume im Stadtkonvikt in direkter Nähe zur alten Universität zur Verfügung stellte, wurde die medizinische Fakultät teils im Josephinum, teils in der ehemaligen Gewehrfabrik an der Währingerstraße untergebracht. Die philosophische Fakultät mitsamt des Chemischen Labors und die juridische Fakultät übersiedelten ins Theresianum. Das physikalische Institut fand überhaupt erst in Erdberg Platz.76 Allerdings konnten viele Vorlesungen der drei nicht-medizinischen Fakultäten im Stadtkonvikt abgehalten werden. Trotz mehrfacher Bitten und Ansuchen des Rektorats um Rückgabe der Räumlichkeiten schien eine Rückbesiedelung des alten Universitätsviertels ausgeschlossen.77 Die Aula und der Universitätsplatz waren auch nach der Schließung der Universität im Mai 1848 die Hauptversammlungsorte der akademischen Legion gewesen.78 Daher galt die Aula als der Ort, an dem im Oktober 1848 das Mordkomplott gegen den Kriegsminister Theodor von Latour geplant wurde, und somit als Zentrum der blutigen Oktoberrevolution. Eine Rückkehr der – potenziell aufständischen – Studenten an diesen Ort war politisch unmöglich. Im Zuge der Universitätsreformen bemühte sich der Unterrichtsminister Leo von Thun-Hohenstein bei Kaiser Franz Joseph um eine angemessene, alternative Unterbringung der Institution. »Der Kaiser, welcher das lebhafteste Interesse für die Universität hatte, wie wir das an einem anderen Orte näher nachweisen werden, entschied hierauf am 13. Mai [1853], daß für die Bedürfnisse der Wiener Universität geeignete Localitäten, wobei jedoch von dem Gebäude zwischen der oberen und unteren Bäckerstraße (Aulagebäude) gänzlich abzusehen ist, auszumitteln, oder herzustellen seien«.79

Am 7. Mai 1854 verfügte Kaiser Franz Joseph schließlich, dass ein neues Universitätsgebäude errichtete werden solle.80 Schon einige Wochen vorher, im April 1854, erhielt der Unterrichtsminister Thun-Hohenstein

28  Historische Voraussetzungen

76 Wibiral/Mikula 1974, S. 44, Anm. 163  ; Ettingshausen 1861, S.  2332  ; Wolf 1882, S. 24 f. 77 Bericht des Universitäts-Syndicus Karl von Heintls am 20. März 1867, Universitätsarchiv, S60, Schachtel 34, S. 2–3. 78 Siehe Gall 1970, S. 115. 79 Wolf 1882, S. 30.

Abb. 3: Wien: Die städtische Entwicklung der späteren Ringstraßenzone von 1802 bis 1857 (Mollik/Reining/Wurzer 1980, Tafel 4)

vom Kaiser den Auftrag, die Akademie-Professoren Eduard van der Nüll und August von Sicardsburg mit der eiligen Erstellung eines Universitätsentwurfs zu beauftragen.81 Da die Medizinische Fakultät von der Nähe zum Allgemeinen Krankenhaus profitierte, als sie zwischenzeitlich in der Josephsakademie untergebracht war, suchte man für einen Neubau nach einem Areal in der Nähe des Allgemeinen Krankenhauses. Vorgesehen wurde daher laut eines Erlasses des Unterrichtsministeriums vom 17. Juni 1854 ein Areal am Rand des Josefstädter Glacis. »Denn wenn auch dießfalls eine definitive Bestimmung noch nicht ausgesprochen ist, so kann doch dem Konsistorium so viel eröffnet werden, daß das Ministerium für diesen Zweck sein Augenmerk auf die zu k. k. Staatsbauten vorbehaltenen Baulücke vor der k. k. Gewehrfabrik und dem Schwarzspanier Hause am Glacis gerichtet habe.«82

80 Siehe Gall 1970, S. 119. Siehe auch Bericht Heintl 1867, S. 5. 81 Siehe Wolf 1882, S. 32. 82 Erlass des Unterrichtsministeriums vom 17. Juni 1854 (Z. 9411), zitiert nach  : Bericht Heintl 1867, S. 5. 83 Mollik/Reining/Wurzer 1980, S. 45–61.

Die städtebauliche Situation Wien in den 1850-ern war nahezu einzigartig in Europa. Während die meisten andern europäischen (Residenz-) Städte schon im frühen 19. Jahrhundert ihre Stadtbefestigungen aufgegeben hatten, hielt Wien noch an seinen Befestigungsanlagen und dem weiträumigen, unbebauten Glacis um die Stadtmauern herum fest.83 Das, obwohl schon die Belagerung durch Napoleons Truppen und die Sprengung der Burgbastei deutlich demonstriert hatten, dass die Befesti-

Standortsuche für den Universitätsneubau ab 1848  29

Abb. 4: Eduard van der Nüll/August von Sicardsburg, Situationsplan des Ersten Entwurfs für den Neubau der Universität Wien, 1854 (AVA, Inneres II.Alllgemein Kart.164 Sig.26 1862 Stadt)

gungsanlagen der fortgeschrittenen Militärtechnik nicht mehr gewachsen waren. Die Schleifung hätte der beengten Stadt die Möglichkeit zur Öffnung geben können, es erfolgte aber lediglich eine Verschiebung der Stadtmauer in das Glacis hinein.84 Trotz zahlreicher Erweiterungspläne, die im Laufe der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstanden sind, blieb es bis 1857 bei der weiträumigen Trennung der Inneren Stadt von den Vorstädten durch das Glacis. Die Illustration der städtebaulichen Entwicklung von 1802 bis 1857 zeigt, dass bis 1837 außer dem neuen Burgtor kein Bauwerk augenfällig in die freie Fläche vorragt [Abb. 3]. Bei der Bautätigkeit der nächsten zwanzig Jahre, die in schwarz dargestellt ist, waren es auch nur die Votivkirche (Baubeginn 1856) und die im Bau befindlichen Privatbauten, heute in der Türkenstraße, nördlich davon,85 die sich markant in das Areal eingeschrieben haben. In die Nische zwischen der k. k. Infanterie-Caserne im Süden, der zurückversetzten Schwarzspanierkirche und der Gewehrfabrik im Westen und den genannten Privatbauten im Norden sollte der Entwurf von van der Nüll und Sicardsburg eingespannt werden. Das Deckblatt des bisher unveröffentlichten Entwurfs zeigt die Lage der Universität im Straßenverband [Abb. 4].86 Der trapezförmige Komplex, beschriftet als »Neues Universitäts Gebäude« umfasst zwei symmetrisch angelegte Innenhöfe. Für den neuen Universitätsbau wurde festgelegt, dass nicht alle Fakultäten und Institute in diesem Hauptgebäude untergebracht würden. Das Gebäude war vorgesehen für die »Verwaltung und den Festsaal, die juristische und philosophische Fakultät, die Universitätsbibliothek, das Chemische Laboratorium und das Physikalische Institut, nebst einigen notwendigen Wohnungen.«87 Die Mediziner sollten weiterhin die Räumlichkeiten in der dahinter liegenden ehemaligen Gewehrfabrik, die 1854 zu dem Zweck provisorisch adaptiert wurde,88 und im nahe gelegenen Allgemeinen Krankenhaus nutzen. Für die Astronomen war eine Sternwarte im

30  Historische Voraussetzungen

84 Siehe Springer 1979, S. 77. 85 Im Wiener Stadtplan »Neuester Plan von Wien und seinen Vorstädten« (um 1858) (Mollik/Reining/Wurzer 1980, Tafel 46) sind diese drei Baublöcke noch nicht erfasst. Im den »Project für die Umgestaltung der k. k. Residenzstadt Wien nach Abtragung der Wälle« von van der Nüll und Siccardsburg von 1858 (Mollik/ Reining/Wurzer 1980, Tafel 47) sind Teile der Baublöcke als vorhanden und weitere als projektiert eingetragen. Klaus Eggert, Der Wohnbau der Wiener Ringstrasse im Historismus 1855–1896, Wiesbaden 1976, erwähnt, dass diese frühen Wohnbauten in der heutigen Türkenstraße ihre Baukonsense zwischen 1855 und 1857 erhalten haben, siehe S. 72. 86 Der Entwurf wurde bereits erwähnt bei Hoffmann 1972, S. 51 und Wibiral/Mikula 1974 S. 45. Das Deckblatt und die dazugehörigen Grundrisse wurden bisher nicht publiziert. Das Projekt enthält keinen Aufriss oder Ansicht. Die mit Faden geheftete Mappe befindet sich im Allgemeinen Verwaltungsarchiv, Inneres II. Allgemein Kart.164 Sig.26 1862. 87 Hoffmann 1972, S. 51. 88 Wolf 1882, S. 32.

Türkenschanzpark in Planung,89 und die Meteorologen konnten mit ihren speziellen Messgeräten und Einrichtungen in der Wiedener Vorstadt bleiben.90 Als der Minister Thun-Hohenstein im April 1854 die Architekten van der Nüll und Sicardsburg aufforderte, einen Universitätsentwurf zu erstellen, war der Wettbewerb für die Votivkirche gerade erst ausgeschrieben. Das am 2. April 1854 in der Wiener Zeitung veröffentlichte Konkurs-Programm sah vor, dass die »Kirche […] dem kaiserlichen Schloss Belvedere gegenüber, in dem am höchsten gelegenen Stadttheile von Wien aufgeführt werden [wird].«91 Aus dem Wettbewerb ging Ende Mai 1855 der junge Wiener Architekt Heinrich Ferstel als Sieger hervor. Gegen den gewählten Bauplatz wurden während der gesamten Ausschreibung immer wieder Bedenken laut, darunter von keinem geringeren als dem obersten Juror, dem Bayerischen König Ludwig I. Daher überließ man es dem Gewinner der Ausschreibung, selbst einen Platz auf dem Glacis auszuwählen.92 Ferstel wählte das Areal vor dem Schottentor, zwischen Alserstraße und Währingerstraße, also direkt vor der Baulücke, in der seine Lehrer von der Akademie, van der Nüll und Sicardsburg, ihre Universität planten.93 Ferstels Wunsch nach diesem Bauplatz wurde am 25. Oktober 1855 stattgegeben. 94 In einem Erlass des Unterrichtsministeriums vom 31. März 1856 erfuhr das Universitätskonsistorium von der kaiserlichen Entscheidung über den neuen Bauplatz der Universität  :

89 Allgemeine Bauzeitung, 46, 1881, S. 12. Die Sternwarte im Türkenschanzpark wurde von Helmer und Fellner in den Jahren 1874 bis 78 gebaut. Siehe zur Architektur der Sternwarte auch Vyoral-Tschapka 1996 und Rüdiger 2015 A, S. 221– 230. 90 Hoffmann 1972, S. 50 f. 91 Wiener Zeitung, Nr. 79, 2. April 1854, S. 885, Sp. 2. 92 Siehe Springer 1979, S. 74. 93 Siehe Springer 1979, S. 75  ; Wibiral/ Mikula 1974, S. 13  ; Thausing 1879, S. 7. 94 Nach Wibiral/Mikula 1974, S. 14. 95 Erlaß des Unterrichtsministeriums vom 31. März 1856 (Z.18160), zitiert nach Bericht Heintl 1867, S. 8–9. 96 Siehe Mikula/Wibiral 1974, S. 45.

»worauf dieselbe von der Währingergasse – dort in einer Fronte mit dem Gebäude der ehemaligen Gewehrfabrik beginnend – sich längs dieser und dem Schwarzspanierhause – das Latten-Magazin und das rothe Haus verdeckend – bis an die Fahrstrasse, die im Gürtel die innere Stadt umgibt, hinzuziehen und in einer gebrochenen Linie den Hintergrund der mit der Fronte bis an die obige Fahrstrasse vorgerückten Votiv-Kirche zu bilden haben wird.«95

In der Folge einigten sich die planenden Architekten von Universität und Votivkirche vorerst, dass ihre Bauwerke einander nicht beeinträchtigen würden. Vielmehr sah man in der Verbindung sogar die Möglichkeit, die weiterhin katholisch bestimmte Universität mit der Kirche zu einer civitas universitatis ideologisch vorteilhaft zu verknüpfen.96 Ein entsprechender Entwurf von van der Nüll und Sicardsburg sah einen Kranz um den Chor der Votivkirche vor [Tafel 3]. Im mittleren Hauptgebäude waren die Fest- und Hörsäle, die Verwaltung sowie die juridische und die philosophische Fakultät vorgesehen. In den seitlichen Trabanten sollten die Bibliothek, das Chemische Laboratorium und das Physikalische Institut ihren Platz finden. Nachdem sich aber die Institute mit der Bibliothek nicht auf eine entsprechende Symmetrie in Größe und repräsentativem Anspruch einigen konnten, wurde kurzfristig überlegt, noch zusätzlich die Akademie der Bildenden Künste im Pendant zur Bibliothek

Standortsuche für den Universitätsneubau ab 1848  31

unterzubringen und die Institute außerhalb dieser Anlage zu errichten.97 Wenn auch die Zuteilung noch nicht vollständig abgeschlossen war, so scheint jedenfalls diese Entscheidung über den Bauplatz Gültigkeit zu haben, denn sowohl in den meisten Plänen der Stadterweiterungskonkurrenz von 1858, mit Ausnahme der Pläne von Ludwig Förster und Theophil Hansen, als auch im schließlich genehmigten Stadterweiterungsplan vom 1. September 1859 war der Kranz um den Chor der Votivkirche eingetragen.98 Und auch im großen Präsentationsplan »Allerhöchst genehmigter Plan der Stadterweiterung« von 1860 wird an dieser Zusammenstellung von Universität und Votivkirche festgehalten [Abb. 5]. In ihre alten Räumlichkeiten hätte die Universität nun auch aus praktischen Gründen nicht mehr zurückkehren können, denn die Neue Aula und das Jesuitenkolleg waren im Jahr 1856 der Akademie der Wissenschaften als Sitz übertragen worden. Zu einem Baubeginn kam es aber trotzdem nicht. Die Gründe standen einerseits in einem direkten Zusammenhang mit den Stadterweiterungstätigkeiten, hier zu nennen sind der Geldmangel, der zu einer Einschränkung der Vorarbeiten für die Stadterweiterung im Jahr 1859 führte,99 aber auch die Tatsache, dass zahlreiche andere Stadterweiterungs-maßnahmen, wie die Demolierung der Befestigungsanlagen und die darauffolgende Anlage der Ringstraße, vorrangig behandelt wurden. Andererseits verzögerten auch die universitätsinternen Streitigkeiten um die Aufteilung der Räumlichkeiten und die stetig wachsenden Raumansprüche eine Ausführung des Plans.100 Der laufende Universitätsbetrieb, der seit 1849 durch die verstreuten Institute erheblich beeinträchtigt war, litt natürlich am meisten unter dieser weiteren Verzögerung. Anlässlich seiner »feierlichen Installation als Rektor-Magnificus der Universität zu Wien« im Oktober 1861 formulierte Andreas Ritter von Ettingshausen drei Zielpunkte, die er in seiner einjährigen Amtszeit anstrebe. 101 Das dritte Ziel, dem er am meisten Worte widmete, betraf »die Erringung eines, sämmtliche Universitäts-Studien beherbergendes Universitätsgebäudes, oder, was vielleicht noch passender erscheinen möchte, mehrerer, jedoch einander benachbarter Gebäude.«102

Anhand dieses Wunsches wird deutlich, dass zu diesem Zeitpunkt kein klares Konzept für den Neubau der Universität vorlag, denn Ettingshausen schloss weder den einzelnen Bau noch einen Komplex aus mehreren Bauten, wie es die Entwürfe um die Votivkirche herum vorgesehen hätten, aus. Des Weiteren betonte er die Schwierigkeit der Situation, »welche die unglückselige Zersplitterung unserer Universitätslokalitäten im Gefolge« hatte, sie bildeten »ein tief zu beklagendes Hinderniß der akademischen Thätigkeit, das gerade den Fleißigsten und Wißbegierigsten am meisten im Wege steht.«103 Aufgrund dieser Dringlichkeit unter-

32  Historische Voraussetzungen

  97 Nach Wibiral/Mikula, S. 45.   98 Siehe Mollik/Reining/Wurzer 1980, Tafeln 47–52  ; siehe auch Hoffmann 1972, S. 52. Vgl. Wagner-Rieger/ Haiko 1969, T. II,III  ; hier die Stadtpläne von 1858 und 1859.   99 Siehe Mollik/Reining/Wurzer 1980, S. 155  ; und Protokoll der zu Wien am 21. Mai 1859 abgehaltenen Ministerkonferenz, in  : Haus-, Hofund Staatsarchiv  : MCZ. 116 aus 1859. 100 Siehe auch Bericht Heintl 1867, S. 10–11. 101 Ettingshausen 1861, S. 2832–2833. 102 Ebd., S. 2832. 103 Ebd.

Abb. 5: Allerhöchst genehmigter Plan der Stadterweiterung, 1860 (Fillitz 1996, S. 655)

strich der Rektor, dass es ihm nicht um die »Aufführung kostspieliger Paläste, sondern lediglich um zweckmäßige Gebäude« gehe.104 Hoffnungsfroh verwies Ettingshausen in seiner Rede dann direkt auf Staatsminister Anton von Schmerling, der in seiner Antrittsrede der Universität bezüglich des Neubaus Zusagen gemacht haben sollte. Dementsprechend verzeichnete auch der Universitäts-Syndicus Karl von Heintl in seinem Bericht ab Dezember 1861 eine Wiederaufnahme der Verhandlungen, wobei das Unterrichtsministerium das Universitätskonsistorium am 22. Dezember 1861 aufforderte, die Raumprogramme von 1856 dem aktuellen Bedarf, aber unter »möglichste[r] Schonung des Staatsschatzes«105, anzupassen. Hierbei »wurde das Universitäts-Konsistorium zur thunlichsten Beschleunigung angewiesen, um das hohe Staatsministerium in der Realisirung seines Wunsches zu unterstützen, diese für eine gedeihliche Entwicklung des Universitäts-Lebens im Mittelpunkte des Kaiserstaates so hochwichtiger Angelegenheit ihrer raschen Lösung zu zuführen‹«.106

104 Ebd. 105 Erlass des Unterrichtsministeriums vom 22. Dezember 1861, zitiert nach Bericht Heintl 1867, S. 11. 106 Bericht Heintl 1867, S. 12.

Dieser Erlass enthielt überdies auch einige Randbedingungen und Vorschläge, die die Belastung des Staatsschatzes minimieren sollten. Zuvorderst sollte hierzu der Bau einer unmittelbar mit dem Universitätsgebäude verbundenen Universitätsbibliothek hintangestellt werden. Ebenso sollten die Räumlichkeiten möglichst auf diejenigen begrenzt werden, die zu Unterrichtzwecken nötig sind. Außerdem sollten die Professorenkollegien beraten, ob nicht spezielle Räume (vorläufig) aus dem Programm gestrichen werden könnten. Explizit angesprochen wurden

Standortsuche für den Universitätsneubau ab 1848  33

einzelne Räume der juridischen Fakultät, die Räumlichkeiten des Universitätskonsistoriums mit Ausnahme der Quästur, der zweite kleinere Festsaal und schließlich das Seminar der österreichischen Geschichtsforschung, das auf einer Unterbringung nahe der Universitätsbibliothek bestanden hatte. Die Beantwortung dieses Erlasses durch das Universitätskonsistorium führte wohl dazu, dass die Verhandlungen über einen Neubau erneut versiegten, da »die beantragten Räumlichkeiten sämmtlich unentbehrlich sind«.107 Aus dem Ministerial-Erlass vom 22. Dezember 1861 ging schon hervor, dass der Bauplatz hinter der Votivkirche nicht mehr als gesichert gelten konnte, und so antwortete auch das Universitätskonsistorium, dass es bedauerlich wäre, »wenn der bisher im Auge gehabte Bauplatz nächst der Votivkirche nicht beibehalten werden sollte.«108 Und tatsächlich legte Heinrich Ferstel im April einen alternativen Plan zur Bebauung des Votivkirchenplatzes vor, da er nun doch eine künstlerische Beeinträchtigung der beiden Großbauten Universität und Votivkirche befürchtete. [Abb. 6]109 Statt des gotisierenden Kranzes setzte Ferstel hier sechs vieleckige Bauparzellen um die Kirche, die einen rechteckigen Platz ausformten. Nur zur Stadtseite öffnete sich der Platz und verlief spitzwinklig zum Schottentor. Während der vorherige Universitätsentwurf in Angleichung an die Votivkirche auch im gotischen Stil hätte gebaut werden sollen, lehnt Ferstel für seine sechs stattdessen geplanten Wohnhausparzellen den gotischen Stil aus Kostengründen ab.110 Währenddessen wurde Sektionsrat Franz Matzinger vom Staatsminister Schmerling beauftragt, ein endgültiges Bauprogramm zu erstellen. Gleichzeitig sprach sich der Sektionsrat und Architekt Moritz Löhr unter anderem wegen der stilistischen Unabhängigkeit für einen anderen Bauplatz [Abb. 5], auf dem später die neue Börse gebaut wurde, aus.111 Dieser Platz sei geeigneter, weil sich »die Architektur ganz frei und in größeren einfachen Massen bewegen kann, was bei einem Monumentalbau von solcher Ausdehnung von größter Bedeutung wird.«112 Außerdem liege dieser Baugrund innerhalb der projektierten Stadterweiterung und damit liege die Universität in der Stadt und würde »nicht aber einer entfernten Vorstadt angehören«.113 Dieses Gutachten Löhrs macht zweierlei Dinge deutlich, zum einen, dass auch die Vertreter des Innenministeriums trotz des Sparwillens einen repräsentativen Monumentalbau wünschten und zum anderen, dass schon in den frühen 1860er-Jahren der Gedanke aufkam, die Universität in die direkte Ringstraßenbebauung miteinzubeziehen. In der im Mai 1863 gegründeten Kommission, der unter anderen die Sektionsräte Matzinger und Löhr, der Architekt van der Nüll und der Ordinarius für Kunstgeschichte, Rudolf von Eitelberger, beiwohnten,114 entfernten sich die Planer wieder von der Idee eines repräsentativen Neubaus. Stattdessen tendierten sie zu einem tief greifenden Umbau

34  Historische Voraussetzungen

107 Bericht Heintl 1867, S. 12–13. »In der Sitzung am 30. Januar 1862 Z. 188 wurde vom Universitäts-Konsistorium die Beantwortung des Ministerial-Erlasses vom 22. Dezember 1861 Z. 12786 berathen und nebst der Unterstützung der Anträge des juridischen Professoren-Kollegiums die Vorstellung beschlossen, daß aus einer örtlichen Absonderung der Universitäts-Bibliothek von dem Universitäts-Gebäude in Bezug auf den Besuch der Bibliothek für die Studirenden gar manigfaltige und große Schwierigkeiten entstehen und eigentlich der Zweck der Bibliothek großentheils vereitelt werden dürfte  ; daß die akademische Oberbehörde die Vereinigung aller Hörsäle, so wie aller zur Universität gehörigen Lehrmittel-Sammlungen, Institute und Kanzleien für höchst erwünschlich erkenne  ; daß das Universitäts-Konsistorium es sehr bedauern müsse, wenn der bisher im Auge gefaßte Bauplatz nächst der Votivkirche nicht beibehalten werden sollte  ; daß man auch den beantragten kleineren Hörsaal für nothwendig erachte  ; daß man bei der wahrhaft kaiserlichen Munificenz, durch welche sich alle unter der Regierung Sr. k. k. apost. Majestät hergestellten Staatsgebäude auszeichnen, für die erste Hochschule des Kaiserstaates um eine gleiche Begünstigung bitte und schließlich die Ueberzeugung nicht unterdrücken könne, daß für den Fall, wenn die gegenwärtigen Verhältnisse es durchaus nicht gestalten sollten, ein allen Erfordernissen genügendes Universitäts-Gebäude herzustellen, es gerathener sein möchte, den Bau vor der Hand zu vertagen, weil nicht blos die beantragten Räumlichkeiten sämmtlich unentbehrlich sind, sondern bei den veränderten Zeitverhältnissen auch für die Unterbringung der verschie-

Abb. 6: Heinrich von Ferstel, Alternativplan zur Bebauung des heutigen Roosevelt-Plat­ zes, 1862 (Wibiral/Mikula 1974, Abb. 30)

denen Universitäts-Vereine – /  : Lese-, Gesangs-, Kranken- und Unterstützungs-Vereine   :/ – eine Fürsorge nothwendig wird und daß man endlich wiederholt ansuchen müsse, die Baupläne den betreffenden Professoren-Kollegien und Instituts-Vorständen zur Einsicht und Aeußerung vorläufig mitzutheilen.« 108 Bericht Heintl 1867, S. 12–13. 109 Allgemeines Verwaltungsarchiv, Akten des Stadterweiterungsfonds, 4575 ex 1862 (231) mit Lageplan  ; siehe auch Wibiral/Mikula 1974, Anm. 144, S. 40. 110 Siehe Allgemeines Verwaltungsarchiv, Akten des Stadterweiterungsfonds, 4575 ex 1862 (231) mit Lageplan  ; siehe auch Wibiral/ Mikula 1974, Anm. 144, S. 40  ; und Wibiral/Mikula 1974, S. 45. 111 Wibiral/Mikula 1974, S. 45 f. 112 Wibiral/Mikula 1974, S. 46. Auch Allgemeines Verwaltungsarchiv, Akten des Stadterweiterungsfonds, 4575 ex 1862 (231), Gutachten vom 14. April 1862. 113 Ebd. 114 Wibiral/Mikula 1974, S. 46. 115 Ebd., S. 46 f.

der ehemaligen Gewehrfabrik, die bereits mehrere medizinische Institute provisorisch beherbergte, und zu zusätzlichen Institutsgebäuden in unmittelbarer Nähe. Dieser Vorschlag, insbesondere die Adaptierung der Gewehrfabrik, fand am 24. Juni 1863 die kaiserliche Zustimmung.115 Mit Sicherheit war dies auch die staatsschatzschonendste Variante. Die Herstellung einer reduzierten Version rief aber unverzüglich den Widerspruch der Wiener Stadtverwaltung auf den Plan, der im Hinblick auf die bevorstehende 500-Jahr-Feier der Universität im Jahr 1865 etwas Prachtvolleres vorzuschweben schien. So meldet sie sich am 31. Juli 1863 zu Wort  : «Das Herannahen der Jubelfeier der Universität legt dem Gemeinderathe die Pflicht auf, seiner von der gesammten Bevölkerung Wiens getheilten Ueberzeu-

Standortsuche für den Universitätsneubau ab 1848  35

gung Worte zu leihen, daß die Sicherstellung eines großartigen monumentalen Gesammtbaues für alle Theile und Anstalten der Hochschule ein wesentliches Moment der Festfeier sein werde.”116

Während die Stadt hier noch auf einen weiteren repräsentativen Blickpunkt hoffte, verschleppte sich die Entscheidungsfindung weiter. Im März 1864 allerdings gibt das k. k. Staatsministerium bekannt, »daß der Bauplan für den Universitäts-Neubau in der Währingergasse so weit entworfen sei, um an eine endliche Feststellung die letzte Hand legen zu können«.117 Zur Begutachtung würden die Pläne im März drei Wochen lang im Departement für Hochbauten aufgelegt und »der Referent Herr Sectionsrath Moriz Löhr ermächtigt, die etwa gewünschten näheren Andeutungen und Aufschlüsse zu geben«.118 Die Reaktion von Seiten der Universität vom 21. März 1864 erzeugte erneut Verzögerungen, denn nun forderte der Rektor massive Planänderungen, die von den bisher von den Kollegien selbst erstellten Programmen abwichen. Nämlich, »daß die Anatomie und alle jene Institute, und Kollegien, welche mit Cadavern zu thun haben, wegen des gesundheitsschädlichen Leichengeruches aus dem Universitäts-Gebäude entfernt bleiben.«119

Die pikierte, staatsministeriale Antwort erfolgte erst im Oktober 1864 und forderte die Professorenkollegien auf, »eine Revision des seinerzeit nachgewiesenen Lokalbedarfes vorzunehmen. … Als leitender Gedanke bei den in Bezug auf diesen Lokalbedarf zur Geltung zu bringenden Ansprüche wolle festgehalten werden, daß einerseits den Anforderungen der Wissenschaft und ihrer Entwicklung Rechnung getragen werde, andererseits aber auch Anforderungen außer Acht gelassen werden, welche – ohne dem erwähnten Zwecke zu dienen – nur die Schwierigkeiten der Durchführung erhöhen und zu weiteren – die Verwirklichung dieses dringenden Baues verzögernden – Auseinandersetzungen den Anlaß bieten müssen.«120

Diesem Auftrag kommt das Universitätskonsistorium nicht zur Gänze nach, denn in seiner Replik vom 24. Dezember 1864 werden zwei verschiedene Standortwünsche formuliert. So fordert einerseits das juridische Professoren-Kollegium einen Neubau in der Nähe ihres jetzigen Standorts im Theresianum, die Mediziner hingegen in der Nähe des Allgemeinen Krankenhauses, also in der Nähe der Votivkirche.121 Und auch beim Raumbedarf machte das Konsistorium keinerlei Abstriche. In Heintls Bericht sind für das Jahr 1865 keine nennenswerten Aktivitäten bezüglich des Neubaus zu verzeichnen. Hatte die Wiener Stadtverwaltung also im Jahr 1863 noch einen prachtvollen Gesamtbau erhofft, ergab es sich, dass zum Zeitpunkt des Jubeljahres der Universitätsbauplan

36  Historische Voraussetzungen

116 Zit. nach Wolf 1882, S. 51. 117 Erlass des Staatsministeriums vom 17. März 1864 (Z.1602), zitiert nach Bericht Heintl 1867, S. 15. 118 Bericht Heintl 1867, S. 16. 119 Ebd., S. 16. 120 Erlass des k. k. Staatsministeriums vom 17. Oktober 1864 (Z. 10375), zitiert nach Bericht Heintl 1867, S. 16–17. 121 Siehe Bericht Heintl 1867, S. 18.

unverbindlicher als je zuvor war. Erst in einer Sitzung des UniversitätsKonsistoriums am 18. Dezember 1866 wurde beschlossen, entweder die Verhandlung zu Standortsuche und Baubeginn wiederaufzunehmen oder aber die Rückgabe des ehemaligen Universitätsgebäudes in der Innenstadt zu verhandeln. Und zwar sollte dies, im Hinblick auf einen Neubau, geschehen, »bevor noch die sämmtlichen Gründe des StadterweiterungsRayons vergeben sind«.122 Schon im Januar 1867 konnte der Universitätsrektor Josef Kisser gemeinsam mit einem der Dekane im Staatsministerium vorsprechen und auf die schwierige Lage in den ungeeigneten Provisorien hinweisen. Besonders betonten sie den kränkenden Umstand, »daß die erste Universität des Kaiserreiches bei ihren akademischen Feierlichkeiten jedesmal die Akademie der Wissenschaften um die Erlaubniß zur Benützung desjenigen Festsaales angehen müsse, aus dessen Decke die Embleme der vier Fakultäten herabblicken«.123

122 Bericht Heintl 1867, S. 19. 123 Ebd., S. 19 f. 124 Ebd., S. 21. 125 »Aus der Mitte des UniversitätsConsistoriums wurden am 11. Januar d. J. die Spectabiles Decane und k. k. n. ö. UniversitätsProfessoren  : Herr Dr. Anton Hornig, Herr Dr. Julius Glaser, Herr Dr. Carl Rudolf Braun, und Herr Dr. Ludwig Carl Schmarda einstimmig gewählt. Die k. k. Professoren-Collegien aber haben die o. ö. Universitäts-Professoren Herrn Pro-Decan Hofkaplan und Ehrendomherrn Dr. Josef Danko, Herrn wirklichen k. k. Regierungsrath Dr. Bepold (  ?) Neumann, Herrn Ordens-Ritter und wirklichen Akademiker Dr. Ernst Brücke und Herrn wirklichen Akademiker Dr. Josef Redtenbacher als ihre Repräsentanten in dem Baucomité bestellt.« Bericht Heintl 1867, S. 21. 126 Bericht Heintl 1867, S. 21. 127 Neue Freie Presse, 17. August 1867, S. 2, Sp. 3. 128 Wibiral/Mikula 1974, S. 47. 129 Ebd.

Aus dem Staatsministerium wurde in der Folge verlautbart, dass zwischenzeitlich die Verhandlungen über einen Bauplatz weitergeführt und bereits Baupläne ausgearbeitet worden seien.124 Aufgrund dieser Nachricht wurde in der Sitzung des Universitätskonsistoriums vom 11. Januar 1867 ein Universitäts-Baucomité125 gewählt, »welches alle in Absicht auf den Neubau zu berücksichtigenden Wünsche zu sammeln und die entsprechenden Einleitungen wegen der Wahl eines geeigneten Baugrundes, sowie wegen ehethunlichen Beginnen des Baues bei dem Universitäts-Consistorium in Antrag zu bringen haben würde«.126

In der Neuen Freien Presse erschien im August 1867 ein ungeduldiger Artikel, der fordert, »von der barocken Idee ab[zu]gehen, die ganze vollständige Universität auf einmal bauen zu wollen«, sondern »mit jenem Theil der Universität [zu] beginnen, der zu bauen nützlich und nothwendig ist, und jene Dinge bis zuletzt [zu] lassen, deren Bau ruhig noch ein Jahrzehnt warten kann.«127 Im gleichen Jahr erteilte der Kaiser erneut den Auftrag, einen passenden Bauplatz für die Universität zu finden.128 Der damit beauftragte Unterrichtsminister Baron Anton Hye von Glunek stellte im Herbst 1867 sieben verschiedene Standorte vor.129 Diese Vorschläge veröffentlichte die Neue Freie Presse in ihrer Sonntagsausgabe am 3. November 1867  : »[1.] Ausbau der, respective Zubau zur alten Gewehrfabrik, nebst Beibehaltung der im allgemeinen Krankenhaus befindlichen, dem medicinischen Unterrichte gewidmeten Anstalten. 2. Der Kaisergarten nächst der Rudolphsstiftung, ein 14,972 Quadratklafter großer Baugrund  ; das Rudolphsspital würde ausschließlich den klinischen Zwecken gewidmet und für die Unterbringung

Standortsuche für den Universitätsneubau ab 1848  37

des Gebärhauses durch Neubauten erweitert werden. 3. Das alte UniversitätsGebäude (Aula) mit sämmtlichen Gebäuden des ehemaligen Akademischen Gymnasiums, des Convictes und des angrenzenden Windhag’schen Stiftungshauses. 4. Die Militär-Bäckerei am Glacis, mit Belassung der Kliniken im allgemeinen Krankenhause. 5. Die ehemalige gräflich Dietrichstein’sche, nunmehr Mensdorff’sche Realität auf der Landstraße, 9197 Quadratklafter groß. 6. Die große Cavallerie-Kaserne am Rennweg (  ?) und 7. Das Rasumowsky’sche Palais sammt Garten auf der Landstraße, fünfzehn Joch. Bei Plan 2, 5 und 6 ist auf die Nähe des botanischen Gartens und jenen des Veterinär-Instituts, das auch eventuell zu demonstrativen Vorlesungen zu benützen wäre, mit Nachdruck hingewiesen. Der Platz hinter der Votivkirche aber, d .i. der ursprünglich (1856) bestimmt gewesene Raum, ist nun nicht in Vorschlag gebracht worden. Die Facultäten haben bisher ihre Voten nicht abgegeben  ; aber voraussichtlich wird sich, wie man hört, die Majorität derselben für den auf dem Stadterweiterungsplan seit 1856 der Universität zugedachten und Sr. Majestät ausdrücklich bewilligten Platz hinter der Votivkirche aussprechen.«130

Dementsprechend verwarf das Universitäts-Baucomité in seiner ersten Sitzung am 19. Oktober 1867 alle sieben Vorschläge, da es den Studierenden nicht möglich sei, »binnen zehn Minuten aus jedem Gebäude ein anderes Gebäude zu erreichen«, »selbst im schnellen Schritt« nicht.131 Die kartografische Illustration [Abb. 7] lässt erkennen, dass bei Beibehaltung des Allgemeinen Krankenhauses als Ausbildungsstätte nur die Gewehrfabrik bzw. das Areal hinter der Votivkirche diesem Erreichbarkeitsanspruch genügen würden. Als Alternative wurde in dieser Sitzung erstmals der Paradeplatz genannt. Dennoch schrieb der Lokalanzeiger der Presse am Sonntag, dem 17. November 1867, dass das Consistorium der Wiener Universität in seiner Sitzung am Dienstag, dem 12. November, beschlossen habe, »bei dem für die Universität zugewiesenen Bauplatze hinter der Votivkirche als den geeignetsten zu verharren«.132 Die Neue Freie Presse desselben Tages berichtete zwar wortgleich, ergänzte den Absatz aber noch durch einen Zusatz über den Paradeplatz  : »Die Commune Wien hat sich verpflichtet, auf dem Paradeplatz Gartenanlagen herzustellen, wenn auf demselben das Universitäts-Gebäude errichtet würde.« So scheint es, dass in der Sitzung wieder keine Stimmeneinheit erreicht wurde. Allerdings wurde ein entsprechender Antrag, den Bauplatz hinter der Votivkirche nun doch für den Universitätsneubau nutzen zu können, eingebracht. Der Unterrichtsminister äußerte hinsichtlich der Nachbarschaft von Votivkirche und Universität am 15. Dezember 1867 noch einmal seine Bedenken, denn er fürchtete nicht nur praktische Beeinträchtigungen durch das Glockengeläut, sondern auch, dass das »Universitätsgebäude […] immer als Bauwerk neben der Votivkirche den zweiten Platz einnehmen [würde], und doch wäre es der Würde der Hochschule ent-

38  Historische Voraussetzungen

130 Neue Freie Presse, 3. November 1867, S. 6, Sp. 1. 131 Nach Wibiral/Mikula 1974, S. 47. 132 Lokalanzeiger der Presse, 17. November 1867, S. 1 Sp. 2.

Abb. 7: Erreichbarkeit der Inneren Stadt, des Glacis und der Vorstädte durch Fußgänger vom „Kaerntner Thor“ bzw. „Schotten Thor“ im Jahre 1837 (Mollik/Reining/Wurzer 1980, Tafel 10)

sprechend, wenn die auch als Bauobject dominierend wirkte. Zwei großartige Bauobjecte neben einander schwächen überdies gegenseitig ihre Wirkung ab.« 133

133 Siehe Wolf 1882, S. 54. 134 Wibiral/Mikula 1974, S. 48. 135 2. Sitzung des Universitäts-Baucomités, 11. Februar 1868, Universitätsarchiv, S60, Schachtel 34  ; siehe auch Allgemeines Verwaltungsarchiv, Akten des Ministeriums für Kultus und Unterricht, 416 ex 1868. 136 2. Sitzung des Universitäts-Baucomités, 11. Februar 1868, Universitätsarchiv, S60, Schachtel 34.

Dennoch gab der Kaiser dem Antrag, im Bereich zwischen Votivkirche, Türkenstraße, Währingerstraße und Abgeordnetenhaus zu bauen, am 16. Dezember 1867 statt.134 In der folgenden Sitzung des Universitäts-Baucomités am 20. Januar 1868 wurde der Architekt Heinrich von Ferstel zum offiziellen Mitglied des Comités ernannt und darüber hinaus mit den Vorarbeiten für den Neubau auf dem Areal hinter der Votivkirche betraut.135

Planungs- und Baugeschichte unter Heinrich von Ferstel

Mit der Ernennung des Architekten Ferstel begann zwar eine neue und entscheidende Phase in der langwierigen Planungsgeschichte, allerdings konnte der erhoffte Baubeginn im Frühjahr 1868 nicht eingehalten werden.136 Als Heinrich von Ferstel mit den Vorarbeiten für den Universitätsbau beauftragt wurde, war weiterhin der Bauplatz hinter der Vo-

Planungs- und Baugeschichte unter Heinrich von Ferstel  39

tivkirche, die noch immer im Bau befindlich war, vorgesehen. Die Bebauungsfläche bestand aber nicht nur aus dem Areal direkt hinter der Votivkirche, sondern zusätzlich wurden auch die ehemalige Gewehrfabrik, die Parzelle zwischen Gewehrfabrik und Votivkirche und außerdem die beiden Parzellen X und X°, die im Stadterweiterungsplan entlang der Währingerstraße als Grünfläche eingetragen sind, dazugeschlagen. In der 3. Sitzung des Baucomités im April 1868 kündigte Ferstel erst den Entwurf eines Bebauungsplanes an.137 Aber diese uneinheitliche Baufläche konnte Ferstel nicht zufriedenstellen, sodass er zwar einerseits bekundete, dafür eine geeignete »einheitliche Gebäudeform« gesucht zu haben,138 er sich aber andererseits doch an seine schon 1862 erdachte Parzellierung für den Votivkirchenplatz hält [Abb. 8].139 Diese Vorarbeiten erwiesen sich außerdem als schwierig, da die Vertreter der einzelnen Fakultäten sich keineswegs einig waren, am allerwenigsten über das Programm und die Raumerfordernisse.140 Im Sommer 1869 konnte in der 12. Sitzung des Universitäts-Baucomités endlich eine Einigung auf die grundlegenden Elemente des Bauprogramms und die Reihenfolge der zu erbauenden Einzelinstitute festgehalten werden.141 Der Baukomplex um die Votivkirche sollte Platz bieten für das Mineralogische, das Geologische und das Zoologische Museum, für das Physiologische und das Botanische Laboratorium, das Pharmakologische Institut, das Philosophisch-Historische Institut, die Hörsäle der vier Fakultäten, die Universitätsbibliothek, die Universitätsämter und die Repräsentationsräume. In separaten Bauten sollten das Chemische Laboratorium, die Sternwarte, das Physikalische Institut, das Physiologische Institut, das Anatomische Institut und das Zootomische Institut untergebracht werden. Dies bot Ferstel jedenfalls eine Grundlage für die weiteren Planungsarbeiten, das Bauprogramm überzeugte ihn aber nicht vom Bauplatz. Insbesondere weil seit 1868 die potenzielle Aussicht auf einen viel besseren Bauplatz in der unmittelbaren Nähe bestand. Der militärisch intensiv genutzte Paradeplatz, der die Josefsstadt von der inneren Stadt trennte, war der Bevölkerung und den Stadtplanern schon seit längerem ein Dorn im Auge, allerdings bestand das Militär auf diesen zentral gelegenen Einflussort.142 Die Kriegsaktivitäten von 1859, 1864 und besonders von 1866 hatten dem Militär allerdings auch finanziell stark zugesetzt, sodass die Führung überlegte, das Areal zu verkaufen. Vorher schon hatte ein Mitglied des Gemeinderats, Friedrich Gerold, den Paradeplatz als Bauplatz für »den für die Wissenschaft und die Ehre Oestereichs unerläßlichen Universitätsbau« vorgeschlagen.143 Diese Idee wurde im Gemeinderat »mit dem Beifügen, daß der ersten Universität des Reiches der schönste Bauplatz gebühre und daß auf dem Paradeplatz ein großes harmonisch zusammenhängendes Gebäude, wie es die Wissenschaft und der Kunstgeschmack der Residenz verlangen, aufgebaut werde« befürwortet.144

40  Historische Voraussetzungen

137 Wibiral/Mikula 1974, S. 49  ; 3. Sitzung des Universitäts-Baucomités, 21. April 1868, Universitätsarchiv, S60, Schachtel  34  ;. 138 Ferstel 1872, S. 5. 139 Wibiral/Mikula 1974, S. 48  ; auch Ferstel 1878 A, S. 149. 140 Wibiral/Mikula 1974, S. 56  ; siehe auch 11. Sitzung, 2. Juli 1869, Universitätsarchiv, S60, Schachtel 34. 141 Siehe Wibiral/Mikula 1974, S. 56. Siehe auch 12. Sitzung 23. Juli 1869, Universitätsarchiv, S60, Schachtel 34. 142 Siehe Springer 1979, S. 444–446  ; Mollik/Reining/Wurzer 1980, S. 211–215. 143 Zit. nach Wolf 1882, S. 55. 144 Wolf 1882, S. 55.

Abb. 8: Heinrich von Ferstel, Alternativplan zur Bebauung des heutigen RooseveltPlatzes, (Wibiral/Mikula 1974, Abb. 31)

145 Mollik/Reining/Wurzer 1980, S. 212  ; Planner-Steiner 1978, S. 23. 146 Planner-Steiner 1978, S. 22. 147 Der Innenminister Karl Giskra entschied im März 1869, dass Herrenund Abgeordnetenhaus, entgegen der ursprünglichen Aussschreibung, in einem Bau vereint werden sollten und dieser statt auf dem Schillerplatz nun auf dem Paradeplatz errichtet werde. Siehe Wagner-Rieger/ Reissberger, 1980, S. 111 f. 148 Springer 1979, S. 447  ; Felder 1964, S. 350. 149 Niemann/Feldegg 1893, S. 93. 150 Wibiral 1952, S. 161. 151 Lokalanzeiger der Presse, 1. Oktober 1869, S. 1 Sp. 1.

Im August 1868 wurde tatsächlich, unabhängig von den Universitätsplanungen, per Allerhöchstem Handschreiben die Auflassung des Paradeplatzes und der Verkauf der Parzellen genehmigt.145 Vorangetrieben wurde diese Angelegenheit insbesondere von dem ab Dezember 1868 amtierende Bürgermeister Cajetan Felder, der nach einer Möglichkeit suchte, den Bau des Rathauses zu beschleunigen. Denn dieser war im Stadium der Baugrube zwischen Johannes- und Weihburggasse zum Erliegen gekommen.146 Gleichzeitig waren auch die Bauten für das Herrenhaus und das Abgeordnetenhaus in der Planung nicht fortgeschritten, sodass diese gemeinsam in ein Parlament zusammengefasst wurden.147 So entwickelte Felder das Projekt, Rathaus, Parlament und Universität gemeinsam auf dem ehemaligen Paradeplatz zu verwirklichen.148 Der Architekt und Sektionsrat Moritz Löhr legte daraufhin mehrere Studien zur Nutzung des Paradeplatzes vor, darunter zwei, die einen großen vierflügeligen Universitätsbau aufnehmen sollten [Abb. 9 a und b]. Bürgermeister Felder beauftragte außerdem Friedrich von Schmidt, dessen Entwurf für das Rathaus bereits angenommen war, damit, Pläne für die Zusammenstellung der drei öffentlichen Bauten auf dem Paradeplatz auszuarbeiten. Schmidt sprach sich diesbezüglich nachgewiesenermaßen mit Hansen und Ferstel ab.149 Dabei wurden mehrere Varianten der Anordnung ausprobiert, Norbert Wibiral spricht sogar von einem Herumgeschiebe, das nur möglich gewesen sei, weil die drei Großbauten an sich äquivalent gewesen seien.150 Offen war erstens, welches der drei Gebäude den mittleren Platz erhalten sollte, und zweitens, wohin sich die Gebäude ausrichten sollten. Die zentrale Position des Rathauses im Zentrum scheint ab Oktober 1869 festgestanden zu haben.151 Die Orientierung der beiden anderen Gebäude war aber noch offen. Ein Plan von 1869 [Abb. 9c] richtet Parlament und Universität zum Platz aus, während andere Überlegungen alle drei Bauten zur Ringstraße drehen. Zum Zeitpunkt des ersten Entwurfs Ferstels von 1871 muss diese Orientierung aller drei Bauten zum Ring bereits festgestanden haben. Unabhängig von diesen Überlegungen musste Ferstel bis zur offiziellen Genehmigung des Kaisers an dem zerfransten Bauplatz hinter der Votivkirche weiterplanen. Im Nachhinein zeigte sich Ferstel aber zufrieden darüber, dass er sich nicht eilig an die Ausarbeitung der Pläne für den ungeliebten Bauplatz gemacht hatte  : »Es mag bedauerlich sein, dass so viel Zeit darüber verstrichen ist, bis dieser schöne Gedanke eines Universitätsbaues endlich zur Reife gedieh, aber man kann andererseits überzeugt sein, dass, wenn eines der früheren Projecte zur Ausführung gelangt wäre, es heute nicht entsprechen würde. Wenn ich dem Drängen nachgegeben hätte, im Jahre 1868 den Entwurf für die Plätze hinter der Votivkirche auszuführen, so würde wahrscheinlich heute das UniversitätsGebäude fertig dastehen, aber ich bin ebenso überzeugt, dass das Bauwerk nach

Planungs- und Baugeschichte unter Heinrich von Ferstel  41

Abb. 9a: Moritz Löhr, Bebauungsstudie für den Paradeplatz, 1868, Umzeichnung: (3) Universität (Mollik/Reining/Wurzer 1980, Tafel 60,2) Abb. 9b: Moritz Löhr, Bebauungsstudie für den Paradeplatz, 1868, Umzeichnung: (3) Universität (Mollik/Reining/Wurzer 1980, Tafel 60,3) Abb. 9c: : Rudolf Niernsee, Bebauungsstudie für den Paradeplatz, 1869, Umzeichnung: (1) Herren- und Abgeordnetenhaus, (2) Stadthaus, (3) Universität (Mollik/Reinig/Wurzer 1980, Tafel 60,7) Abb. 9d: Anonym (Friedrich von Schmidt?), Bebauungsstudie für den Paradeplatz, 1868, Umzeichnung: (1) Stadthaus, (2) Herren- und Abge­ ordnetenhaus, (3) Universität (Mollik/Reinig/Wurzer 1980, Tafel 60,8) Abb. 9e: Anonym, Bebauungsstudie für den Paradeplatz, 1869, Umzeichnung: (1) Parlament, (2) Rathaus, (3) Universität (Mollik/Reinig/Wur­ zer 1980, Tafel 60,9) Abb. 9f: Anonym, Bebauungsstudie für den Paradeplatz unter Berücksichtigung von Ferstels Planung für die Universität, 1870 (Datierung unklar, wegen der Berücksichtigung von Ferstels Planungen frühestens 1871), Umzeichnung: (1) Rathaus, (2) Parlament, (4) Universität (Mol­ lik/Reinig/Wurzer 1980, Tafel 60,10)

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keiner Richtung zufriedenstellen würde, und dass vielleicht die verlorene Zeit für die Sache selbst ein Gewinn ist.«152

152 Ferstel 1878 A, S. 149 f. 153 Allgemeines Verwaltungsarchiv, Akten des Ministeriums für Inneres, 3513 ex 1870  ; Siehe auch Wibiral/ Mikula 1974, S. 57. 154 Siehe Wolf 1882, S. 61 und Wibiral/Mikula 1974, S. 57. 155 Siehe Wibiral 1952, S. 294. 156 Wibiral/Mikula 1974, S. 57. 157 Wolf 1882, S. 61 f. 158 Ferstel 1872, Anhang, Tabelle 1 und 2. 159 Ferstel 1872. 160 Wibiral 1952, S. 295 f. 161 Ebd., S. 295.

Im Juli 1870 bestimmte der Kaiser schließlich, entgegen dem bis dahin geltenden Plan, dass die Universität auf dem ehemaligen Paradeplatz von dem Architekten Ferstel zu erbauen sei.153 Zur Fundierung seiner Planungen machte Ferstel daraufhin im Frühjahr 1871 eine Reise nach Italien, um dort die traditionellen Universitäten in Bologna, Padua, Genua und Rom zu besuchen.154 Eine mit Bleistift gezeichnete Skizze ergab sich aus dieser Reise, der sogenannte Vorentwurf [Abb. 30].155 In diesem kündigten sich bereits die späteren Merkmale des Hauptgebäudes an  : Der Plan zeigt eine große, symmetrische Vierflügelanlage, die innen in mehrere Höfe unterteilt ist. Noch im selben Jahr präsentierte Ferstel seinen ersten Entwurf auf 12 Blättern [Abb. 32–40], der im Ferstel-Nachlass des Wien Museums erhalten geblieben ist.156 In diesem waren die Unterteilung der Höfe und die Erschließung der Gebäudeteile noch stärker herausgearbeitet. Die Hauptfassade zur Ringstraße war durch einen überhöhten Mittelrisalit und zwei seitliche Türme akzentuiert [Tafel 4]. Wohl auch aus ästhetischen Gründen akzeptierte das Professorenkollegium den ersten Entwurf nicht und forderte stattdessen eine nüchternere Gestaltung.157 Auch die definitive Festlegung des Raumprogramms fand erst jetzt statt.158 Entsprechend diesem definitiven Programm erarbeitete Ferstel bis Mai 1872 seinen zweiten Entwurf [Abb. 43–45]. Große Teile von diesem Planungsstadium sind im Archiv der Universität erhalten. Der Grundriss ist hierbei nur an wenigen Stellen überarbeitet worden, die markanten Änderungen fanden im Aufriss statt. Die spitze Dachform des Mittelrisalits aus dem ersten Entwurf wurde durch eine gedrückte Längskuppel ersetzt und statt der Türme werden nun alle Ecken mit flachen Kuppeln bedeckt. Begleitet wird dieser Entwurf von einer von Ferstel verfassten Denkschrift.159 Dieses zweite Projekt wurde zur Begutachtung an den Architekten Gottfried Semper weitergegeben, der es bis auf wenige Beanstandungen guthieß.160 Sempers Kritik bezog sich in mehreren Punkten vor allem auf die Vorgaben, so schien ihm der Raumbedarf der Bibliothek für 500.000 Bände zu hoch gegriffen, außerdem zwang die geforderte Anzahl an einzelnen Räumen den Architekten, die Fassade mit vielen Fenstern auszustatten, wodurch der monumentale Charakter geschmälert werde. Die Vierteilung des Komplexes in Verwaltungstrakt, Bibliothek und zwei Lehrflügel erschien Semper als eine gelungene Gruppierung im Hinblick auf Ästhetik und Nutzen.161 Jedoch kritisierte Semper bei der Anlage von Festsaal und Bibliothek, dass diese im Obergeschoss die Kommunikation zwischen den Lehrtrakten unterbrechen. Zwischen den ersten beiden Entwürfen sind auch einige Studien und Varianten zum zweiten Entwurf entstanden. Stilistisch von besonderem Interesse sind drei Präsentationsblätter und eine Skizze, die statt des

Planungs- und Baugeschichte unter Heinrich von Ferstel  43

längsüberkuppelten Mittelrisalits eine zentrale Tempelfront aufweisen [Tafeln 6 und 7]. Trotz der aufwendigen Präsentationsaquarelle stellen diese nur Varianten des zweiten Entwurfs dar.162 In dem offiziellen, auf Mai 1872 datierten Konvolut [Abb. 43–50] des zweiten Entwurfs ist zwar kein Aufriss mehr enthalten, die anderen Blätter geben aber durchwegs die Längskuppel als Bekrönung des Mittelrisalits wieder. Im Juli 1872 erteilte der Kaiser dem zweiten Entwurf seine prinzipielle Genehmigung und forderte zur Berücksichtigung der Semper’schen Anmerkungen bei der Detailplanung auf.163 Diese wurden von Ferstel aber nur bedingt übernommen, insbesondere Sempers Empfehlung, den Festsaal parallel zur Fassade zu stellen, um eine Verbindung zwischen den Lehrtrakten herzustellen, ignorierte er. Bei der weiteren Überarbeitung, dem Ausführungsprojekt, erhöhte Ferstel insbesondere die Kuppeln auf den Ecken und die Gestaltung der Risalite der Seitenfassaden. Im Juli 1873 wurde mit den Bauarbeiten begonnen.164 Von Juli 1874 datiert ein weiterer Satz Grundrisse, die mit dem Zusatz »Genehmigt« von einem Vertreter des Statthalters und von Ferstel unterzeichnet wurden [Abb. 56–59]. Gleichzeitig wurde auch mit der Führung eines Bauprotokolls begonnen, das – sowie sämtliche Bauakten zwischen 1873 und 1884 – nicht mehr im Universitätsarchiv vorhanden ist. Im selben Jahr wurden die Fundamentarbeiten nach Verzögerungen abgeschlossen. 1875 wurde das Tiefparterre fertiggestellt und Ferstel reduzierte zu Einsparungszwecken die Ornamentfriese.165 Im darauffolgenden Jahr schrieb der Mitarbeiter Ferstels Karl Koechlin an das Baucomité, dass wiederum aus Gründen der Sparsamkeit einige Steinmetzarbeiten durch Terrakotten ersetzt werden müssten. Aus den Jahren 1876 und 1877 datieren bereits einige Akkordprotokolle zu den Bildhauerarbeiten für die Parkfassade und den Innenhof.166 1876 wurden das Hochparterre und 1877 große Teile des ersten Stocks fertiggestellt. 167 Der Bibliotheksblock blieb hierbei allerdings ausgespart.168 Ein Jahr später, zum Zeitpunkt von Ferstels Vortrag vor dem Österreichischen Ingenieur- und Architekten-Verein, sollen die letzten Planänderungen vorgenommen worden sein.169 Hierzu gehört ein Grundriss des ersten Obergeschosses, signiert »Ferstel 1878«, der sich im Universitätsarchiv zwischen den Plänen von 1872 statt des offenbar verlorenen Grundrisses des ersten Obergeschosses von 1872 befindet [Abb. 60]. Danach muss allerdings noch die tief greifende Veränderung des Bibliotheksaufbaus von einer basilikalen Anlage zu einem Saalbau vorgenommen worden sein.170 Trotzdem konnten 1878 schon beide Lehrgebäude unter Dach genommen und im nächsten Jahr innen ausgebaut werden.171 Von 1879 stammte auch ein Gutachten des Akademischen Senats bezüglich allegorischer Plastiken auf der Balustrade.172 Erst von Juli 1880 datiert ein Akkordprotokoll mit dem Ingenieur für Eisenkonstruktionen Ignaz Gridl, die Dachkonstruktion der Bibliothek

44  Historische Voraussetzungen

162 Vgl. Forsthuber 1992, S. 201–211. Hier wird das Aquarell von Rudolf von Alt [Tafel 6] als gültiges Präsentationsblatt des zweiten Entwurfs behandelt. 163 Allgemeines Verwaltungsarchiv, Akten des Ministeriums für Kultus und Unterricht, 9278/1872  ; Siehe auch Wibiral 1952, S. 296. 164 Allgemeines Verwaltungsarchiv, Akten des Ministeriums für Kultus und Unterricht, 4538/73, siehe auch Wibiral 1952, S. 296. 165 Ferstel 1878 A, S. 157  ; Wibiral 1952, S. 296, 166 Wibiral 1952, S. 297. 167 Ferstel 1878 A, S. 157. 168 Grassauer 1880, S. 2. 169 Ferstel 1878 A, S. 148 f  ; Wibiral 1952, S. 297, Wibiral/Mikula 1974, S. 64. 170 Siehe Kapitel Typengeschichte und zeitgemäße Funktionalität im Unterkapitel zur Bibliothek. 171 Ferstel 1878 A, S. 157  ; Rektoratsbericht 1878/79, S. 22. 172 Wibiral 1952, S. 297  ; Rektoratsbericht 1878/79, S. 22.

173 Allgemeines Verwaltungsarchiv, Akten des Ministeriums für Kultus und Unterricht, 10333/80. 174 Allgemeines Verwaltungsarchiv, Akten des Ministeriums für Kultus und Unterricht, 9437/82  ; Wibiral 1952, S. 297. 175 Zit. nach Wibiral 1952, S. 297  ; Allgemeines Verwaltungsarchiv, Akten des Ministeriums für Kultus und Unterricht, 13431/1883. 176 Wibiral 1952, S. 297. Allgemeines Verwaltungsarchiv, Akten des Ministeriums für Kultus und Unterricht, 4403/1890. 177 Zit. nach Wibiral 1952, S. 298  ; Allgemeines Verwaltungsarchiv, Akten des Ministeriums für Kultus und Unterricht, 3788/1884. 178 Mühlberger 2007, S. 39. 179 Rektoratsbericht 1884/85, S. 10. 180 Maisel 2007, S. 12 und 57. 181 Siehe Wibiral 1952, S. 299. 182 Allgemeines Verwaltungsarchiv, Akten des Ministeriums für Kultus und Unterricht, 4403/1890. 183 Siehe Wibiral 1952, S. 299–300. 184 Wibiral 1952, S. 301. 185 Siehe Strobl 1964, S. 141.

betreffend. Dazugehörig sind auch 6 Pläne der Eisenkonstruktion, die von Ferstel und Gridl unterzeichnet wurden. 173 Auf den 9. November 1881 sind die letzten bekannten Grundrisse der Universität datiert [Abb. 64–65]. Hier ist erstmals die Bibliothek als Saalbau eingetragen. Das Ministerium für Unterricht verfügte am 16. Juni 1882, dass das Lehrgebäude zur Parkseite spätestens bis Herbst 1883 und die Seite zur Votivkirche spätestens im Herbst 1884 bezugsfertig sein muss.174 Nach dem Tod Ferstels im Juli 1883 wurde sein langjähriger Mitarbeiter Karl Koechlin mit der Bauleitung beauftragt, um den Bau »getreu den Intentionen des Verstorbenen« zu Ende zu führen und Fehlendes »im Geiste des Meisters« neu zu schaffen.175 Im Oktober desselben Jahres konnte das rathausseitige Lehrgebäude tatsächlich schon für den Unterricht genutzt werden.176 Für das Jahr 1884 legte Koechlin folgenden Bauplan vor  : im Februar die Fertigstellung aller Büroräume, die Ausstattung des Senatssaals, des Rektorszimmers, des kleinen Festsaals, des Vestibüls und der Arkaden. Bis Oktober, so Koechlin, bemühe sich die Bauleitung, »das Gebäude von aussen und innen vollendet mit Ausschluß der Aula dem Ministerium zu übergeben«.177 Im März sollte die Ausstattung der Aula begonnen werden, die Übergabe derselben, allerdings ohne Ausmalung und plastischen Schmuck, war für Dezember 1884 geplant. Die feierliche Besichtigung der Universität fand im Oktober 1884 in einem mit Gobelins ausgehängten Festsaal statt, um dahinter die rohen Wände vor den Augen des Kaisers zu verbergen.178 Das votivkirchenseitige Lehrgebäude konnte von nun an auch für Unterrichtszwecke verwendet werden. Knapp vorher, im September 1884, wurde mit der malerischen Ausstattung der Arkadenhallen und der Oktogone begonnen. Der Senat hatte außerdem beschlossen, die Ferstel’sche Idee einer »Walhalla der Universität« durch Professorenehrungen in den Arkadenhallen umzusetzen.179 Das Denkmal des Juristen Julius Glaser war im Jahr 1888 das erste, das errichtet wurde [Abb. 177a].180 In den Jahren 1885 und 1886 wurde die Innenausstattung weiter verfolgt, im Festsaal wurden die Statuen Herzog Rudolfs des Stifters und Maria Theresias aufgestellt und im nördlichen »Atrium« die Büste des Architekten.181 Im Oktober 1887 wurde die Bauleitung aufgelöst und eine Schlussbilanz erstellt.182 Im März 1890 erfolgte schließlich die Kollaudierung des gesamten Baus. Außerdem erstellte der Oberbaurat Josef Schiedt eine Kostenaufstellung des Gesamtbaus.183 Für die Ausmalung des großen Festsaals wurde 1891 angeregt, statt Fresken Leinwandbilder in Auftrag zu geben. 184 Der Auftrag hierfür wurde im Juni 1894 an die beiden Künstler Franz Matsch und Gustav Klimt erteilt, und man erwartete die Fertigstellung 1898.185 Die Künstler hatten gemeinsam mit dem 1892 verstorbenen Ernst Klimt bereits

Planungs- und Baugeschichte unter Heinrich von Ferstel  45

einige Auftragswerke im Ringstraßenkontext erbracht, so war nicht damit zu rechnen, dass sich daraus der größte Kunstskandal des anbrechenden 20. Jahrhunderts entwickeln würde. Gustav Klimts drei Allegorien der Juridischen, Philosophischen und Medizinischen Fakultäten wurden von Teilen des Professorenkollegiums nicht akzeptiert. Daher wurden 1905 nur das zentrale Mittelbild Der Sieg des Lichts über die Finsternis und die Zwickelbilder der Wissenschaftsdisziplinen von Franz Matsch angebracht. Erst im Jahr 2005, im Zuge einer Kooperation zwischen der Universität und dem Leopold-Museum, wurden Schwarz-Weiß-Reproduktionen der zerstörten Bilder Klimts und von Matschs Allegorie der Theologie im Festsaal angebracht. 1929 mussten die Sgraffiti der rückwärtigen Fassade bereits ein erstes Mal restauriert werden, angeblich nach Ferstels Plänen.186 Diese Pläne sind nicht erhalten, aber eine jüngst aufgefundene Notiz in der Neuen Freien Presse gibt Auskunft über die intendierte Aussage.187 Die Restaurierungen Mitte der 1970er-Jahre und zuletzt 2003 konnten sich noch auf keine klare Ikonografie stützen. Laut Wibiral wurden die halbrunden Stiegen in den östlichen Risaliten der Seitenfassaden bereits 1926 und 1937/38 durch die Hörsäle 34 und 16 ersetzt.188 Ein Akt aus dem Bundesdenkmalamt vom September 1961 dokumentiert dagegen den Wunsch der Universitätsgebäudeverwaltung, im vorderen Risalit gegen die Universitätsstraße das Stiegenhaus zu entfernen und stattdessen zwei Arbeitszimmer einzurichten. Hinzugefügt wird, dass »an der Seite gegen den Rathausplatz [ist] eine solche Veränderung bereits im Vorjahr durchgeführt worden« sei. 189 Offenbar handelte es sich in Wibirals Quellen um nicht ausgeführte Absichtserklärungen. Der 1935 begonnene Einbau des Auditorium Maximum wurde 1936 eröffnet. Aufgrund von Kriegsschäden musste das gesamte Gebäude zwischen 1945 und 1947 umfassend saniert werden. Schwere Schäden hatte besonders die Juristenstiege erlitten [Abb. 10]. Während der Sanierung wurde im großen Lesesaal der Fußboden um 2,5 Meter angehoben, sodass darunter Raum für weitere Magazine und Verwaltungsräume der Bibliothek geschaffen werden konnte. Hier können unmöglich alle Umbauten nach 1945 aufgezählt werden, jedenfalls wurde und wird das Hauptgebäude der Wiener Universität durch stetige Adaptierungen – unter der Aufsicht des Bundesdenkmalamts – als funktionierendes Bauwerk und historisches Monument erhalten. Ein Relikt der frühesten Planungen Ferstels von 1868 ist das Chemische Institut, dem damals die oberste Dringlichkeit zuerkannt worden war und das daher schon ab 1869, also vor dem Entschluss für den Paradeplatz, gebaut worden ist [Abb. 11]. Es bildete auf dem unregelmäßigen Bauplatz hinter der Votivkirche und an der Währingerstraße eine Art Trabant noch nördlich der Währingerstraße.

46  Historische Voraussetzungen

186 Vgl. Wibiral 1952, S. 301. 187 Neue Freie Presse, Sonntag, 5. Oktober 1884, S. 6, Sp. 1. Das ikonografische Programm ist im Kapitel Die ikongrafischen Programme im Spiegel der Wissenschaftsgeschichte genauer erläutert. 188 Vgl. Wibiral 1952, S. 301. 189 BDA, 7170/61.

Abb. 10: Universität Wien, Kriegsschä­ den an der Juristenstiege, 1945 (UAW, 106.I.3619)

190 Wibiral/Mikula 1974, S. 50. 191 Wibiral, 1952, S. 274. 192 3. Sitzungsbericht, 21. April 1868, Universitätsarchiv, S60, Schachtel 34  ; Hier werden noch weitere Städte mit Chemischen Instituten genannt, die Redtenbacher und Ferstel angeblich in den drei Wochen bereits hätten  : Frankfurt, Gießen, Göttingen, Heidelberg, Karlsruhe, Leipzig, München, Stuttgart und Tübingen. 193 4. Sitzungsbericht, 9. Juni 1868, Universitätsarchiv, S60, Schachtel 34. 194 Wibiral/Mikula 1974, S. 51.

Das Chemische Institut, dessen Einrichtungen nach 1848 in Erdberg, im Theresianum und teilweise auch in der ehemaligen Gewehrfabrik untergebracht waren, wurde bei der Planung bevorzugt behandelt. Der Ordinarius Josef Redtenbacher reichte gleich im Januar 1868 seine spezifischen Anforderungen für sein Institut ein. Redtenbacher hatte in einer umfangreichen Studien- und Forschungsreise 1840/41 zahlreiche deutsche Laboratorien kennengelernt, darunter auch das Gießener Chemische Institut, das der Chemiker Justus Liebig als erstes eigenständiges Chemische Laboratorium 1828 bauen ließ. Für das Wiener Institut wollte Redtenbacher die modernsten Errungenschaften der benachbarten Laboratorien zum Vorbild nehmen. Daher beantragte er gemeinsam mit seinen eingereichten Raumerfordernissen eine gemeinsame Reise mit dem zu bestellenden Architekten nach Deutschland, um die neuesten Institute dort kennenzulernen. Ferstel erklärte sich hierzu in der 2. Sitzung des Baucomités bereit, und am 4. März 1868 erhielt er vom Unterrichtsministerium den offiziellen Auftrag, das Chemische Institut zu planen.190 Im Frühjahr machten Redtenbacher und Ferstel eine dreiwöchige Reise, die sie nach Berlin, Bonn, Heidelberg und Leipzig führte.191 In der dritten Sitzung am 21. April erstatteten sie Bericht über diese Reise192 und schon am 9. Juni legte Ferstel die Pläne vor.193 Im November wurden die Pläne angenommen, der Baubeginn verzögerte sich allerdings noch, denn erst im April 1869 wurde der Bau vom Kaiser bewilligt. Allerdings stimmte er nur dem Bau des Haupttraktes zu, der Bau des Wohntraktes sollte noch aufgeschoben werden.194 Im August 1869 war endlich Baubeginn. Josef Redtenbacher, der seit seiner Berufung an die Universität Wien im Jahr 1849 auf den Bau seines Instituts wartete, erlebte die Eröffnung im Sommersemester 1872 nicht mehr,

Planungs- und Baugeschichte unter Heinrich von Ferstel  47

Abb. 11: Heinrich von Ferstel, Erstes Chemi­ sches Institut (Foto: Alexander Arnberger, 2014)

denn er starb im März 1870.195 Nach seinem Tod musste Ferstel insbesondere den Wohntrakt umstrukturieren, da nun neben Redtenbachers Nachfolger auch ein zweiter Ordinarius berufen werden sollte, für den ebenfalls Wohnräume zur Verfügung stehen sollten.196 Im Zuge späterer Änderungsmaßnahmen wurden im Chemischen Institut die Wohnungen, aber auch das Souterrain für Institutszwecke adaptiert. Zusammenfassend fällt auf, dass sich die Institutsstrukturen der Universität seit Beginn der Planung 1854 immer einen Schritt schneller änderten, als die Planungen oder dann auch der großzügige Neubau mithalten konnten. Zunächst durch Umwidmungen, dann durch Aus- und Umbauten und schließlich durch Hinzunahme weiterer Gebäude konnte die Universität der wachsenden Anzahl an Instituten und Lehrpersonal sowie den ständig zunehmenden Studierendenzahlen gerecht werden.

Die Architekten und Planer

Mit dem Titel dieses Unterkapitels, der Architekt und Planer im Plural verwendet, soll natürlich Heinrich von Ferstels Autorschaft an dem ausgeführten Entwurf für die Wiener Universität nicht infrage gestellt werden. In der langen Planungsphase lieferten, wie oben gesehen, auch andere Architekten Ideen zur Gestaltung der Universität und des Ensembles auf dem Paradeplatz. Die Einbeziehung der früheren Planer und der Mitarbeiter zeigt, dass Ferstel hier nicht im luftleeren Raum agierte, sondern mit seinen Entwürfen auch auf Vorplanung und Konkurrenzen reagieren musste. Wenn auch Ferstel sicherlich zu den besonders gebildeten und theoretisch versierten Architekten des 19. Jahrhunderts zählte, so scheinen besonders die ikonografischen Konzepte durch andere Gelehrte beeinflusst zu sein. Neben den Professorenkollegien war sein Freund Rudolf von Eitelberger, worauf einige Briefe zwischen den beiden hinweisen, sein wichtigster Ratgeber. Und spätestens durch Ferstels frühen Tod waren

48  Historische Voraussetzungen

195 Oberhummer 1988, S. 13 f. 196 Wibiral/Mikula 1974, S. 52.

197 Siehe Wibiral/Mikula 1974, S. 48. 198 Wibiral/Mikula 1974, S. 46. Als Quelle hierfür gibt Mikula einen ungedruckten Katalog der Werke van der Nülls und Sicardsburgs an, den der Kollege Hans-Christoph Hoffmann offenbar in Planung hatte. Dieser ist allerdings nie erschienen. 199 Springer 1979, S. 429–431.

seine zwei engsten Mitarbeiter, Karl Koechlin und Julian Niedzielski, gezwungen, seine Pläne bestmöglich gegen Sparsamkeitsbestrebungen durchzusetzen. Daher sollen hier auch diejenigen Planer vorgestellt werden, die aus der zweiten Reihe den Bau der Wiener Universität beeinflusst haben. Es sind mindestens fünf Architekten, die zwischen 1854 – dem Zeitpunkt der Allerhöchsten Entschließung zu einem Neubau der Universität – und 1884 – dem Zeitpunkt der Eröffnung dieses Neubaus – Planungen und Entwürfe für die Wiener Universität geliefert haben. Trotz ihrer unterschiedlichen Herkunft haben alle gemeinsam, dass sie in Wien entweder am Polytechnikum, an der Akademie oder an beiden studiert hatten. Die Architekten August von Sicardsburg (* 1813, Buda – † 1868, Wien) und Eduard van der Nüll (* 1812, Wien – † 1868, Wien) hatten beide bei Peter Nobile am Wiener Polytechnikum und der Wiener Akademie Architektur studiert. In der Mitte der 1840er-Jahre wurden beide als Professoren an die Wiener Akademie berufen und prägten dadurch den frühen Historismus in Wien entscheidend mit. Den Auftrag, Entwürfe für den Wiener Universitätsbau auszuführen, bekamen sie direkt übertragen ohne vorherige Ausschreibung eines Wettbewerbs.197 Da ihr erster Entwurf eines Vierflügelkomplexes an der Währingerstraße von Ferstels Votivkirchenplänen durchkreuzt wurde, entwickelten sie ein Konzept, das sich als Kranz um den Chor der Kirche den neuen Begebenheiten anpassen sollte. Nachdem aber 1861 auch ihr zweiter Entwurf durch die Intervention ihres ehemaligen Schülers Ferstel verworfen wurde, scheinen die beiden Architekten keinen weiteren Entwurf vorgelegt zu haben. Der Grund hierfür ist vermutlich die Tatsache, dass sie ab demselben Jahr mit dem Bau ihrer größten Bauaufgabe begonnen hatten, der Wiener Hofoper. Diese wurde der erste Monumentalbau an der Ringstraße. Allerdings verweisen Mikula und Wibiral in ihrem Kapitel über die frühe Universitätsplanung auf eine Kommission, der neben Moritz Löhr und Rudolf von Eitelberger auch van der Nüll angehörte. Diese Kommission sei im Mai 1863 zusammengetreten. 198 Offenbar kam es aber in dieser Kommission zu keinen nachhaltigen Entscheidungen, da der Universitäts-Syndicus Heintl dieses Gremium in seinem ausführlichen Bericht gar nicht erwähnt. Ob das Duo nach dem Debakel um den Opernbau, der von der Presse wenig wohlwollend aufgenommen wurde,199 überhaupt weiter für die Universitätsplanung infrage gekommen wäre, bleibt offen. Mit dem frühen Tod der beiden Architekten im Jahr 1868 musste jedenfalls eine Alternative gefunden werden. Die Rolle Moritz Löhrs (* 1810, Berlin – † 1874, Wien) in der frühen Universitätsplanung ist weitgehend ungeklärt. Nach seiner Ausbildung am Wiener Polytechnikum stellte er sein architektonisches Können beim Bau von Bahnbetriebsanlagen und -hochbauten unter Beweis und ge-

Die Architekten und Planer  49

langte so in den Dienst der Staatseisenbahn.200 Im staatlichen Dienst stieg er im Jahr 1857 auf zum Leiter der Hochbauabteilung im Ministerium für Handel, Gewerbe und öffentliche Bauten. Im gleichen Jahr beteiligte er sich an dem Wettbewerb für die Stadterweiterungsplanung. 1859 wurde er als Sektionsrat des Innenministeriums zum Mitglied des Wiener Stadterweiterungsfonds. Trotz dieser Verwaltungstätigkeiten schien er seine architektonischen Ambitionen nicht gänzlich abgelegt zu haben. Neben den ehemaligen Akademieschülern Theophil Hansen, Karl von Hasenauer und Heinrich von Ferstel nahm er 1868 an dem Wettbewerb für die Hofmuseen teil. Nachdem der Staatsminister Schmerling zu Beginn des Jahre 1862 die Beschleunigung der Universitätsbauplanung anging, tauchte auch der Sektionsrat Löhr als Meinungsträger in den Verhandlungen auf, der nicht nur stadtplanerische Überlegungen verfolgte, sondern auch dezidiert seine ästhetischen Überzeugungen vertrat.201 Ab 1863 war er auch Mitglied der ersten Kommission, die die Universitätsplanungen vorantreiben sollte. Nachdem 1864 die Verhandlungen zwischen Universitätskonsistorium und dem Innenministerium wieder erlahmt waren, überraschte der Sektionschef von Kriegsau im Dezember 1866 die Universitätsdeputation um Rektor Kisser mit der Mitteilung, dass in der Zwischenzeit bereits detaillierte Baupläne für den Neubau erstellt worden seien.202 Diese Pläne sind heute nicht bekannt. Es ist jedoch wahrscheinlich, dass Löhr an diesen Plänen gearbeitet hatte, denn im darauffolgenden Jahr ist es auch Löhr, der schon bei den ersten Überlegungen zum Paradeplatz als Standort mehrere Entwürfe für die Parzellierung und die Lage der Universität darin vorlegte.203 Es ist also möglich, dass Löhr sich durch diese vorauseilenden Studien einen der letzten großen Bauaufträge an »seiner« Ringstraße sichern wollte. Jedenfalls schrieb Heinrich von Ferstel 1874 in seinem Artikel in der Bauzeitung über das Chemische Institut, dass nach 1856 mehrere Projekte für den Universitätsbau entstanden seien, »auch von anderen Autoren«.204 Möglicherweise bezog sich Ferstel hier auf Löhrs Ambitionen. Ebenfalls seit Mai 1863 Mitglied in der ersten Universitätsplanungskommission war der Kunsthistoriker Rudolf Eitelberger von Edelberg (* 1817, Olmütz – † 1885, Wien) [Abb. 12]. Er war zwar kein Architekt, aber vermutlich war er als Professorenvertreter in die Planung involviert. Er lehrte ab 1847 als erster Dozent für Kunstgeschichte an der Universität Wien, wurde 1852 zum ersten außerordentlichen Professor für »Kunstgeschichte und Kunstarchäologie« ernannt und war ab 1863 der erste Ordinarius für Kunstgeschichte in Wien. Durch zahlreiche weitere Engagements im kulturellen Bereich als Mitbegründer der k. k. Central-Commission zur Erforschung und Erhaltung der Baudenkmale, als erster Direktor des k. k. Österreichischen Museums für Kunst und Industrie, als Leiter der Kunstgewerbeschule sowie als Autor und

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200 Siehe Österreichische Akademie der Wissenschaften (Hrsg.), »Loehr Moritz von«, in  : Österreichisches Biographisches Lexikon 1815–1950 (ÖBL), Band 5, Wien 1972, S. 277–278. 201 Siehe Wibiral/Mikula 1974, S. 46. 202 Siehe Bericht Heintl 1867, S. 20 f. 203 Mollik/Reining/Wurzer 1980, S. 212–213. 204 Ferstel 1874, S. 45.

Redakteur in Kultur- und Kunst-Zeitschriften hatte Eitelberger einen großen Einfluss auf die kulturelle Gestaltung Wiens in den Jahren der Stadterweiterung.205 Eitelberger hatte sein Studium in Olmütz mit Jus begonnen und stieg später zunächst auf Philologie und dann Philosophie um. In beiden Fächern hatte er als Universitätsassistent bereits Vorlesungen gehalten. Zur Kunstgeschichte kam Eitelberger über den Kunstkreis um den Wiener Münzgraveur Joseph Daniel Böhm (1794–1865), der neben seinen künstlerischen Tätigkeiten auch besondere Anerkennung aufgrund seiner Kunstkennerschaft und seiner großen Kunstsammlung errungen hatte.206 In den 1840er-Jahren wurde Eitelberger in den Kunstkreis um Böhm aufgenommen. In einem Aufsatz über Böhm beschrieb Eitelberger, wie sich die Treffen des Kunstkreises gestalteten  : Abb. 12: Porträt des Kunsthistorikers Rudolf von Eitelberger (Universität Wien, Institut für Kunstgeschichte, Institutsarchiv ID 441165)

»Da kam ich mit Karl Radnitzky und Böhm in Berührung, es war dies in den Vierziger-Jahren, und verkehrte mit Beiden durch eine Reihe von Jahren, wobei ich beinahe täglich die Sammlungen Böhm’s besuchte. Es war in der Regel in den Nachmittagsstunden zwischen 3 und 7 Uhr, in denen die Kunstfragen, und zwar ausschließlich Kunstfragen, besprochen wurden.«207

Weitere Freunde Böhms und Mitglieder dieses nachmittäglichen Kunstkreises waren der Kunsthändler August Artaria, der Kustos der k. k. Gemäldegalerie im Schloss Belvedere Erasmus von Engerth und auch Eitelbergers Freund, der spätere Ministerialrat und Sektionschef im Unterrichtsministerium Gustav Heider. Darüber hinaus nahmen zahlreiche andere Wiener Künstler, Kunstsammler und Gelehrte an den Treffen teil. Die Themen dieser Kunstfragen waren weit gestreut, man sprach sowohl über die Nazarener als auch über Albrecht Dürer, sowohl über die ElginMarbles als auch über Niccolò Pisano, sowohl über Ferdinand Waldmüller als auch über Rembrandt.208 In seinem Nachruf auf Eitelberger formulierte Jacob von Falke, Eitelbergers Nachfolger im Museum für Kunst und Industrie, den Einfluss Böhms auf Eitelberger folgendermaßen  : »Durch Böhm wurde er zur Kunst geführt, und wie es denn in seiner lehrhaften Natur lag, was er gelernt hatte, mußte er wieder mittheilen, schriftlich wie mündlich. So wurde er Kunstschriftsteller wie Kunstlehrer.«209 205 Podbrecky 2002, S. 89. 206 Siehe Falke 1885, S. 4. 207 Eitelberger 1879 B, S. 201–202. 208 Eitelberger 1879 B, S. 180–227. 209 Siehe Falke 1885, S. 4. 210 Eitelberger 1878, S. 275  ; Wibiral 1952, S. 428. Siehe auch Podbrecky 2002, S. 89.

Als Kunstlehrer kam er dann mit dem etwa 21-jährigen Heinrich von Ferstel in Kontakt, der mit einer Gruppe von Studienkollegen im Herbst 1849 darum bat, dass Eitelberger für die Architekturschüler kunsthistorische Vorträge halten solle.210 Aus diesem Kontakt entwickelte sich später eine intensivere Zusammenarbeit. Im Jahr 1860 verfassten Eitelberger und Ferstel gemeinsam ein Traktat zum Wohnbau in Wien, das einen mehr gut gemeinten als

Die Architekten und Planer  51

praktikablen Beitrag gegen die Wohnungsnot in Wien darstellte.211 Auf Betreiben Eitelbergers wurde im Jahr 1864 das k. k. Österreichische Museum für Kunst und Industrie gegründet, als dessen erster Direktor er von 1864 bis 1885 fungierte. Ferstel hatte dafür zunächst Räumlichkeiten im kaiserlichen Ballhaus adaptiert und 1866 für Eitelberger dann den Museumsneubau an der Ringstraße geplant. Der spätere Anbau für die Kunstgewerbeschule stammte ebenfalls von Ferstel. So waren Eitelberger und Ferstel, als sie in der Universitätsbaukommission aufeinandertrafen, einander gut bekannt und hatten bereits mehrere Projekte gemeinsam durchgeführt. Heinrich von Ferstel (* 1828, Wien – † 1883, Wien) hatte zum Zeitpunkt seiner Aufnahme als technischer Rathgeber im Jahr 1868 in die Universitätsbaukommission bereits mehrere öffentliche und repräsentative Bauten vorzuweisen,212 auch wenn er in dem Wettbewerb um die prestigeträchtigen Hofmuseen das Nachsehen hatte [Abb. 13]. Nach einer vierjährigen Ausbildung am Wiener Polytechnikum, deren Schwerpunkt auf Baukonstruktion lag, besuchte er zwischen 1847 und 1848 die Architekturschule der Akademie der Bildenden Künste und lernte dort bei Carl Rösner, Eduard van der Nüll und August von Sicardsburg.213 Im März 1848 trat er der akademischen Legion bei, Anfang Oktober verließ er Wien allerdings auf ausdrücklichen Wunsch des Vaters. Die ganze Familie zog nach Prag, wo Ferstels Vater bereits im März einen Posten als Bankvorstand angenommen hatte. Nach einer fast dreimonatigen Reise durch Deutschland, mit langem Aufenthalt in München, kehrte er im Herbst 1849 nach Wien und an die Akademie zurück.214 Zu diesem Zeitpunkt setzte er sich bereits dafür ein, dass Rudolf von Eitelberger kunsthistorische Vorlesungen für die Architekturschüler halten solle. Über die daraus erwachsende Freundschaft schrieb Eitelberger später  : »Damals hatte ich die Gelegenheit, Ferstel kennen zu lernen. Mich fesselte seine Erscheinung – er war der Typus eines hübschen Wieners – sein außerordentlicher Fleiss und seine enthusiastische Hingabe an die Kunst, speciell an die Architektur. Seit der Zeit stand ich mit ihm in directer […] Verbindung. Sie erlitt keine Trübung, keine wie immer geartete Störung. Meine Hinneigung zu ihm wuchs mit den Jahren  ; ich freute mich an seinen Erfolgen, an seinem steigenden Ruf. Unser Freundschaftsband knüpfte sich noch enger, als er eine Familie gründete.«215

Durch sein kunsthistorisches Interesse kam Ferstel auch zur Lektüre von Jacob Burckhardts Werken Der Cicerone und Die Kultur der Renaissance in Italien, die ihm eine zeitgemäße Kenntnis der Forschungen zur italienischen Renaissance vermittelten, die er dann in seinen NeorenaissanceBauten anwenden konnte. Ferstels begeisterte Hingabe an die Architektur spiegelte sich auch in seiner Beschäftigung neben dem Studium

52  Historische Voraussetzungen

211 Eitelberger/Ferstel 1860. 212 Bis einschließlich 1867 hatte Ferstel folgende Großbauten in Wien schon erbaut und im Bau befindlich  : Votivkirche (1856– 1879), Bank- und Börsengebäude (1856–1860), Wohnhaus Pollak am Franz-Josefs-Quai (1860–1862), Palais Erzherzog Ludwig Viktor am Schwarzenbergplatz (1863–1869), Palais Wertheim am Schwarzenbergplatz (1864–1868), Museum für Kunst und Industrie (Planung ab 1866  ; 1868–1871)  ; siehe Wibiral 1952, S. 179 f. 213 Siehe Wibiral/Mikula 1974, S. 164. 214 Wibiral 1952, S. 427. 215 Eitelberger 1878, S. 275.

Abb. 13: Porträt des Architekten Hein­ rich von Ferstel (ÖNB, Bildarchiv, Inv.-Nr. PORT_00009647_01)

216 Wibiral 1952, S. 428. 217 Eitelberger 1878, S. 276. 218 Gesicherte Aufenthalte in  : Dresden, Leipzig, Remagen, Speyer, Worms, Mainz, Aachen, Limburg, Köln, London, Norwich, Straßburg. Siehe Wibiral/Mikula 1974, S. 165. 219 In Italien hielt er sich in Rom, Neapel, Palermo, Orvieto, Perugia, Florenz, Siena, Pisa, Venedig und Triest auf. 220 Eitelberger 1878, S. 287.

wieder, wo er sich intensiv mit antiker Architektur auseinandersetzte. Als Quelle verwendete er insbesondere James Stuarts und Nicholas Revetts Publikation Die Alterthümer von Athen. Außerdem lernte er nebenbei Griechisch und Französisch. Schon zu dieser Zeit kopierte und zeichnete er Pläne für seinen Onkel, den Architekten Friedrich Stache, in dessen Prager Atelier er nach Beendigung seines Studiums im Frühjahr 1851 eintrat.216 In den drei Jahren bei Stache arbeitete Ferstel vor allem an Entwürfen und als Bauaufsicht für den böhmischen Adel.217 Im Sommer 1851 reiste er über Deutschland und Frankreich nach England, wo er die Londoner Weltausstellung besuchte.218 Nach dem Attentat auf Kaiser Franz Joseph im Februar 1853 und der daraufhin ausgeschriebenen Konkurrenz für eine Votivkirche entschloss sich Ferstel erstmals, selbstständig an einer Ausschreibung teilzunehmen und löste sich damit auch von Staches Atelier. 1854 erhielt er ein kaiserliches Stipendium für eine einjährige Bildungsreise nach Italien und Frankreich. Nach der Einreichung seines Votivkirchenprojekts Anfang 1855 trat er seine Reise nach Italien an, wo ihn die Nachricht erreichte, dass sein Projekt ausgewählt wurde.219 Mit der Entscheidung, die Votivkirche dann tatsächlich auf dem bis dahin unverbauten Glacis zu errichten, legten das Kaiserhaus und der Architekt Ferstel den Grundstein für die spätere Ringstraßenbebauung. Laut Eitelberger war damit »ein Blatt in der Monumentalgeschichte Neu-Wiens […] aufgeschlagen  !«220 Im Herbst 1856 setzte er seine Studienreise in Frankreich fort und interessierte sich hierbei insbesondere für Eugène Viollet-le-Duc und dessen Rekonstruktionen mittelalterlicher Bauten. In demselben Jahr begann er außerdem gemeinsam mit Karl Koechlin seinen zweiten großen Auftrag, das Bank- und Börsengebäude in Wien. Mit dem Palais Erzherzog Ludwig Viktor (ab 1863) und dem Palais Wertheim (ab 1864) setzte er seine ersten Akzente an der neuen Wiener Ringstraße und dem entstehenden Schwarzenbergplatz. Mit dem Österreichischen Museum für Kunst und Industrie (Planung ab 1866) und später der anschließenden Kunstgewerbeschule (Planung ab 1873) baute er seine Präsenz im Bereich des monumentalen Ringstraßenbaus noch aus. Doch sein monumentalstes Werk wurde schließlich das Hauptgebäude der Wiener Universität am Ring. Als er im Sommer 1883 starb, hinterließ er seinem Mitarbeiter Karl Koechlin allerdings einen unfertigen Bau, der zwar ein Jahr später eröffnet werden sollte, aber bei Weitem noch nicht vollständig ausgestattet war. Zeitlebens reiste Ferstel viel und nutzte diese Reisen ausdrücklich zum Studium der Architektur, darüber hinaus besaß er zahlreiche architekturtheoretische Werke und war sichtlich an historisch und typologisch fundierten Architekturlösungen interessiert, die aber auch technisch modern und in der Benutzung bequem und zeitgemäß sein sollten.

Die Architekten und Planer  53

Die Anerkennung seiner architektonischen Leistungen spiegelt sich in der Vielzahl an Ehrungen, die er im In- und Ausland erhalten hat, wider.221 Ferstels Studienkollege und Schwager Karl Koechlin (* 1828, Prag – † 1894, Wien) studierte zunächst am Polytechnikum in Prag. Im Studienjahr 1847/48 kam er nach Wien, um bei van der Nüll an der Akademie zu studieren. Dort lernte er 1850 Heinrich von Ferstel kennen, den er ab 1856 immer wieder in seinem Atelier unterstützte. Hauptberuflich war Koechlin ab 1851 in der staatlichen Generalbaudirektion beschäftigt, erst 1872 mit dem großen Auftrag für das Universitätsgebäude trat er vollständig in das Atelier Ferstels ein. Nach Ferstels Tod im Jahr 1883 übernahm Koechlin die Bauleitung der Universität und kümmerte sich um die Fertigstellung. Nach 1884 trat er wieder in den Staatsdienst ein, zunächst als Oberbaurat, ab 1888 als Sektionsrat im Innenministerium, wo er auch zum Leiter des Departements für Hochbau aufstieg, um schließlich 1890 Ministerialrat zu werden. An selbstständigen Aufträgen erbaute er unter anderen das Regierungsgebäude in Czernowitz (1869), die Lehrerbildungsanstalt in Klagenfurt (1871), das Gebäude der Staatsdruckerei in Wien III. (1891) und das Hauptgebäude der Grazer Universität (ab 1891). Bei der Vollendung der Wiener Universität stand Koechlin noch ein weiterer langjähriger Mitarbeiter Ferstels zur Seite. Der Architekt Julian Niedzielski (* 1849, Stryszów, Galizien – † 1901, Wien) absolvierte zuerst das Technische Institut in Krakau und studierte ab 1868 in Wien am Polytechnikum. Schon während des Studiums begann er in Ferstels Atelier, am Bau der Wiener Universität mitzuarbeiten.222 Nach Ferstels Tod unterstützte er Karl Koechlin bei der Fertigstellung [Abb. 14]. Parallel beteiligte sich Niedzielski auch am Umbau des Lemberger Polytechnikums, der von seinem Kollegen Julian Zachariewicz in den Jahren 1874 bis 1877 nach Vorbild des Münchner Polytechnikums durchgeführt wurde.223 Für die Publikation der Wiener Universität in den Lehmann’schen Wiener Monumentalbauten zeichnete Niedzielski die Ansichten.224 Da diese Tafeln in dem Band keinen idealisierten Planungszustand zeigen, sondern weitgehend den Ist-Zustand in den frühen 1890ern, fühlte sich Niedzielski offenbar auch weiterhin dem Universitätsbau verpflichtet. Und dies, obwohl er ab 1881 mit Hans Miksch ein eigenes Planungsbüro führte, aus dem einige private und öffentliche Bauten hervorgingen, darunter beispielsweise das Theater in Reichenberg und das Schulgebäude an der Stubenbastei in Wien.225 Bekannt ist Niedzielski darüber hinaus für seine Restaurierung der Wiener Schottenkirche im Jahr 1885.226 Zwischen 1896 und 1899 war Niedzielski zunächst als Baurat und dann als Oberbaurat im Staatsdienst tätig. Aber nicht nur die tätigen Architekten nahmen maßgeblich Einfluss auf die Gestaltung des Hauptgebäudes, sondern auch die Gremien und

54  Historische Voraussetzungen

221 Folgende Ehrungen hat Ferstel erhalten  : das Ritterkreuz des k. k. österreichischen Franz-Josefs-Orden (1863, durch Kaiser Franz-Josef ), Offizierskreuz des Ordens Unserer Lieben Frau von Guadelupe (1865, durch Kaiser Maximilian I. von Mexiko), Ernennung zum Ordentlichen Mitglied und Akademischen Rat der k. k. Akademie der Bildenden Künste in Wien (1865, durch kaiserlichen Entschluß), Ernennung zum Membre de l’Académie Royale des Beaux-Arts in Antwerpen (1866), Ernennung zum Ordentlichen Professor am Polytechnischen Institut (1866), Gewinn eines Grand Prix auf der Pariser Weltausstellung (1867), Verleihung des Ordens der Eisernen Krone III. Klasse (1867, durch kaiserlichen Beschluss), Ernennung zum Ehrenmitglied der Akademie der Bildenden Künste in Amsterdam (1867), Ernennung zum Honorary and corresponding member of the Royal Institute of British architects (1868), Ernennung zum Honorary member of the American Institute of Architects (1869), Erhebung in den österreichischen Ritterstand (1869), Ernennung zum Ordentlichen auswärtigen Mitglied der Königlichen Akademie der Künste in Berlin (1869), Verleihung des Ritterkreuzes I. Klasse des königlichen Verdienstordens vom Hl. Michael (1869), Verleihung des taxfreien Bürgerrechts der Stadt Wien (1870), Privataudienz bei Papst Pius IX. (1871), Ernennung zum Ordentlichen Mitglied des Gelehrtenausschusses des Germanischen Nationalmuseums zu Nürnberg (1871), Verleihung des Titels eines Oberbaurates (1871, durch Kaiser Franz-Josef ), Ernennung zum Wirklichen Mitglied und Rat der k. k. Akademie der bildenden Künste in Wien (1872), Ernennung zum Mitglied der k. k.

Zentralkommission zur Erhaltung und Erforschung der Kunst- und historischen Denkmale (1873, durch das Unterrichtsministerium), Ernennung zum Membre associé der Académie Royale des Science, des Lettres et des Beaux-Arts de Belgique (1874), Ernennung zum professore accademico di merito di San Luca (1877), Verleihung des Offizierskreuz des Ordens der französischen Ehrenlegion (1878), Verleihung des Ordens der Eisernen Krone II. Klasse (1879, durch den Kaiser), Verleihung des Ehrenbürgerrechts der Stadt Wien (1879, durch den Gemeinderat), Ernennung zum Korrespondierenden Mitglied des Institut de France (1879), Ernennung zum Ehrenmitglied der Akademie der bildenden Künste in München (1879), Erhebung in den erblichen Freiherrenstand (1879, durch den Kaiser)  ; Siehe Wibiral 1952, S. 429–433. 222 Kowalska 1978, S. 120. 223 Für diesen Hinweis zu Niedzielskis Schaffen danke ich Frau Prof. Agnieska Zablocka-Kos recht herzlich. 224 Ferstel 1892. 225 Julian Niedzielski, in  : Architektenlexikon Wien, http://www.­ architektenlexikon.at/de/740.htm (zuletzt besucht am 3. Mai 2015). 226 Zwischen 1881 und 1883 hatte Ferstel hier eine erste Restaurierungsphase geleitet, in der zweiten Phase zwischen 1886 und 1888 entwarf Niedielzski neben zwei marmornen Seitenaltären noch weitere Ausstattungselemente für die Schottenkirche  ; siehe Lovecky 2009. 227 Bericht Heintl 1867, S. 16–20. 228 Baltzarek/Hofmann/Stekl 1975, S. 155. 229 Baltzarek/Hofmann/Stekl 1975, S. 155–156.

Abb. 14: Gruppenbildnis der Mitarbeiter Ferstels nach dessen Tod mit Karl Koechlin (3. v. r. vorne) und Julian Niedzielski (2. v. r. vorne) (UAW, 106.I.2729)

Kommissionen zur Feststellung eines geeigneten Standorts sowie des Raumbedarfs. Deren Wünsche wiederum mussten vonseiten des Staats befürwortet und genehmigt werden. Während also die Zuordnung von Planungsstadien zu einzelnen Architektennamen weitgehend durch Quellen gesichert ist, fällt die Bestimmung der entscheidenden Instanzen schwer. Dies ist insbesondere für die Jahre zwischen 1873 und 1884, aus denen sämtliche Bauakten fehlen, eine unlösbare Aufgabe. In den Gremien und Kommissionen können einige der Mitglieder festgestellt werden. Entsprechend dem Bericht vom Universitäts-Syndicus Karl von Heintl war an der Universität zunächst das Universitätskonsistorium selbst für die Vorplanungen zuständig. Erst 1867 gründete sich daraus das sogenannte Universitäts-Baucomité, dem unter anderen Rudolf von Eitelberger angehörte. Im Universitäts-Baucomité wurde vorrangig das Raumprogramm erarbeitet, das dann auf höherer Ebene genehmigt werden musste.227 Der oberste Bauherr war selbstverständlich der Kaiser, doch die Entscheidungsträger selbst waren auf ministerialer Ebene verortet. Denn nach der Genehmigung des Grundplans zur Erweiterung der Innenstadt übertrug der Kaiser per Allerhöchstem Handschreiben vom 29. April 1860 dem damaligen Innenminister Goluchowski die Leitung der Stadterweiterungsagenden.228 Etwa zeitgleich wurde das Innenministerium mit dem Unterrichtsministerium und dem Ministerpräsidium zum Staatsministerium zusammengelegt. Der zum Zweck der Unabhängigkeit vom Finanzministerium und dem Staatsbudget gegründete Stadterweiterungsfonds, der dem Staatsministerium zugeordnet war, hatte unter anderem die Aufgabe die aus der Erweiterung entstehenden Kosten zu tragen und öffentliche, insbesondere Staatsbauten zu errichten.229 Die

Die Architekten und Planer  55

Stadterweiterungskommission, die dem Fonds beratend zur Seite gestellt wurde, bestand »aus administrativen und technischen Vertretern des Innenministeriums, der niederösterreichischen Statthalterei und der niederösterreichischen Finanzprokuratur«.230 Die Einflussnahme der niederösterreichischen Statthalterei auch auf den Universitätsbau ist belegt durch die genehmigten Grundrisse von 1874, die neben Ferstels Signatur auch die Beschriftung »Genehmigt. Wien, den 31. Juli für den Statthalter« tragen [Abb. 26–29]. Einer der Vertreter des Innenministeriums war der bereits oben genannte Sektionsrat Moritz Löhr. Ein anderer war der Sektionsrat Franz Matzinger, der als Jurist im Innenministerium ab etwa 1856 mit den geheimen Planungen zur Stadterweiterung betraut war.231 In seiner Funktion war er auch von Beginn an in sämtlichen Kommissionen zum Neubau der Universität vertreten. Die Entscheidungsträger auf staatlicher und budgetärer Ebene waren also weitgehend studierte Vertreter des Beamtenstandes, die – zumindest im Falle Löhrs und Matzingers – erst aufgrund ihrer Errungenschaften im Staatsdienst geadelt wurden. Wenn es sich bei der Wiener Universität nun zwar um die erste Universität des Kaiserreiches handelt, so muss festgehalten werden, dass es sich bei den Planungen und dem Auftrag um einen Staatsbau handelte, der unabhängig nicht nur vom Hofärar, sondern auch vom Staatsbudget auf Kosten des Stadterweiterungsfonds errichtet wurde. Als »Auftraggeber« müssen also die hochrangigen Beamten im Stadterweiterungsfonds gelten, die zumeist selbst Akademiker und bürgerlicher Herkunft waren. In ihrer Funktion im Staatsministerium war ihnen daher sicher daran gelegen, auch für die Universität eine Form zu finden, die deren Funktion auf gesellschaftlicher und bürgerlicher Ebene gut repräsentiert.

230 Ebd., S. 155. 231 Springer 1979, S. 87–88.

56  Historische Voraussetzungen

Das Planmaterial Wenn auch nicht das gesamte Planmaterial für alle Planungsstufen zwischen 1854 und etwa 1880 erhalten ist, so handelt es sich doch um eine Fülle an unterschiedlichen Materialien. Diese reichen von kleinen Skizzen und Detailstudien über detaillierte Grundrisse oder Ausstattungsentwürfe hin zu Präsentationsblättern für den internen Gebrauch und großformatigen Ansichten in Aquarell oder Öl für Ausstellungen.1 Einige dieser Entwürfe wurden bisher noch keinem Planungsstadium zugeordnet und viele dieser Blätter sind bisher nicht publiziert. An dieser Stelle werden die wichtigsten Planungsstadien mit dazugehörigem Bildmaterial vorgestellt, wobei ein besonderes Augenmerk auf die noch nicht veröffentlichten Pläne und Ansichten gelegt wird.

Der erste Entwurf von Sicardsburg und van der Nüll

1 Mit einigen Ansichten von Rudolf von Alt war Ferstels Universitätsentwurf auf der Wiener Weltausstellung vertreten. 2 Vgl. Hoffmann 1972, S. 50 f. 3 Wibiral/Mikula 1974, S. 14. 4 Erlass des Unterrichtsministeriums, 31. März 1856 Z. 18160. Nach Heintl, 1867, S. 8 f.

Die ersten Pläne von August von Sicardsburg und Eduard van der Nüll bestehen aus mehreren zusammengebundenen Blättern, darunter eine Standortübersicht und mehrere Grundrisse. Es ist aber kein dazugehöriger Aufriss überliefert. Bei dieser Bindung handelt es sich um den ersten Entwurf der beiden Architekten, der vermutlich im Laufe des Jahres 1854 entstanden ist. Die Entstehungszeit ist einzugrenzen auf die Zeit zwischen dem kaiserlichen Beschluss Anfang Mai 1854, der Universität einen Neubau zu widmen und der Ferstel’schen Inanspruchnahme des davorgelegenen Bauplatzes für sein Votivkirchenprojekt.2 Ein entsprechender Erlass, der »den Platz zwischen der Alser- und Währinger-Straße vor dem Schwarzspanierhause für die Errichtung der Kirche bestätigte«3, erfolgte am 25. Oktober 1855. Das Zeitfenster für eine solche Planung ohne Votivkirche endete definitv mit dem Erlass des Unterrichtsministeriums vom 31. März 1856, der dem Universitätskonsistorium die Nachricht über die Umwidmung des Bauplatzes überbrachte, »worauf [die Universität] den Hintergrund der […] Votiv-Kirche zu bilden haben wird.«4 Der Lageplan [Abb. 4] zeigt einen zweihöfigen Baublock auf einem leicht trapezförmigen Grundriss, der sich der Baulücke zwischen Währinger Straße und Rothem Haus genau anpasst. Die Hauptfassade blickt über das unverbaute Glacis zur Stadt. Damit wäre der Bau ebenso radial zur Stadt angeordnet gewesen wie das Polytechnikum am Karlsplatz. Im Übersichtsplan ist nur die Glacis-Fassade mit Seiten- und Mittelrisaliten strukturiert und springt damit etwas über die Straßenflucht hinaus. Die rückwärtig liegende ehemalige Gewehrfabrik ist farblich von den anderen Altbauten abgesetzt und bezeichnet als »Gewehrfabrik. Für

Der erste Entwurf von Sicardsburg und van der Nüll  57

Abb. 15: Eduard van der Nüll/August von Si­ cardsburg, Erster Entwurf für den Neubau der Universität Wien, Grundriss des Erdge­ schosses, 1854 (AVA, Inneres II.Alllgemein Kart.164 Sig.26 1862 Stadt)

Universitäts-Zwecke«. Schematisch vereinfacht wurde dieser Übersichtsplan bereits im Planungs-Ringstraßenband von 1980 veröffentlicht.5 Die drei dazugehörigen Grundrisse wurden bisher nicht publiziert.6 Den zusammengebundenen Blättern liegt kein Aufriss bei, so scheint es sich eher um eine prinzipielle Studie zur Raumaufteilung zu handeln als um ein konkretes Bauprojekt. Zu einem ähnlichen Schluss kommt auch Hans-Christoph Hoffmann in seiner Monografie über das Architekten-Duo. »Ob es zu diesen ersten Raumverteilungsskizzen schon Architekturskizzen gab, ist nicht bekannt. Die sehr einfache Grundrissskizze zeigt aber, wie sie mit einem eindimensionalen Raster – also nicht mit Flächenraster – gearbeitet haben, was in jedem Fall für die Architektur bestimmend geworden wäre.«7 Jedenfalls zeigt diese Rasterung der Grundrisse [Abb. 15] deutlich, dass es sich hier um kein ausgearbeitetes Präsentationsblatt handelt, sondern um eine erste Raumverteilungsstudie, in der die Interkolumnenbreite des Innenhofs maßgeblich für alle Raumbreiten und -tiefen war. Türen oder Fenster sind in dieser Studie keine eingezeichnet. Im Kontrast zu dieser nur schematischen Darstellung der Räume steht die detaillierte Bezeichnung der Raumfunktionen. Dies zeigt wiederum, dass es den Architekten bei diesem Entwurf vorrangig um die probeweise Unterbringung der zahlreichen, unterschiedlichen Raumbedürfnisse der Universität ging. Der Bau gliedert sich in eine vierflügelige Anlage mit markanten, kastellartigen Eckrisaliten. Der große Innenhof wird axial durch einen Verbindungs- und Stiegenhaustrakt in zwei Höfe geteilt. Der vordere Trakt ist mit 110 Wiener Klaftern um 10 Klafter breiter als der rückwärtige Trakt,8 dadurch ergibt sich ein trapezförmiger Grundriss. Zentral im fünfachsigen Mittelrisalit öffnet sich eine dreischiffige quadratische Halle, die links von dem Zimmer des Portiers und rechts

58  Das Planmaterial

5 Mollik/Reining/Wurzer, 1980, S. 210, Fig.32. 6 Sicherlich hätten sie in dem Katalog der Werke van der Nülls und Sicardsburg veröffentlicht werden sollen, den Hans-Christoph Hoffmann in Arbeit hatte, der aber nie erschienen ist. 7 Hoffmann 1972, S. 51. 8 110 Wiener Klaftern sind ca. 209 Meter.

Abb. 16: Eduard van der Nüll/August von Sicardsburg, Erster Entwurf für den Neu­ bau der Universität Wien, Grundriss des ersten Obergeschosses, 1854 (AVA, Inneres II.Alllgemein Kart.164 Sig.26 1862 Stadt)

dem Zimmer des Subpedells flankiert wird. Quer zur Halle entlang der Innenhöfe verläuft ein Gang über die gesamte Breite der Rücklagen des Vordergebäudes, der den Zugang zu den sämtlichen Verwaltungsräumlichkeiten im Glacistrakt bieten sollte. Links von der Eingangshalle sollten unter anderen die Räume des Rektors, der Syndikus, des philophischen Dekans und zusätzlich die Versammlungsräumlichkeiten der philosophischen Fakultät und des Universitätskonsistoriums Platz finden. Im rechten Flügel waren das Archiv, die Räume des Pedells und des Inspektors, die Quästur und schließlich das juridische Dekanat mit Sitzungssaal im Eckrisalit vorgesehen. Die 40 Wiener Klafter langen, schräg nach hinten verlaufenden Verbindungstrakte wären durch je zwei Hofeinfahrten etwas von der Kommunikation abgesetzt. Zur Währingerstraße hin hätte ein Museum samt Direktor und der Physikalische Saal mit Nebenräumen untergebracht werden sollen. Der große Raum im gegenüberliegenden Flügel zum Rothen Haus ist nicht näher bezeichnet, er zeichnet sich jedoch durch vier Säulenpaare im Inneren aus. Hofseitig sieht der Plan Bibliotheksnebenräume vor. Der rückwärtige Trakt würde in den Eckrisaliten links das große pharmazeutische Laboratorium und rechts eine Werkstätte beherbergen. Im langen Trakt waren neben dem Seminar der österreichischen Geschichtsforschung fast ausschließlich Dienstwohnungen eingeplant. Im ersten Obergeschoss [Abb. 16] ist die Raumaufteilung weniger kleinteilig, da hauptsächlich Hörsäle und Seminarräume und nur wenige Institutsräumlichkeiten eingetragen sind. Abgesehen natürlich vom Korridor nimmt der große, zweigeschossige Festsaal die gesamte Tiefe des Mittelrisalits ein. Der mittlere rückwärtige Trakt ist in seiner gesamten Tiefe für Bibliothekszwecke reserviert und beherbergt mehrere Lesesäle und mehrere Büchermagazine. Der Zugang ist allein über den zentralen

Der erste Entwurf von Sicardsburg und van der Nüll  59

Verbindungstrakt möglich. Von den rückwärtigen Eckrisaliten verläuft im Obergeschoss nun der Korridor durchgängig von der einen zur anderen Seite. Trotz eines fehlenden Aufrisses wird hier schon deutlich, dass die Architekten dem Gesamtbau die Blockhaftigkeit nehmen und die einzelnen Trakte voneinander absetzen wollten. So treten die seitlichen Fassaden über den Einfahrten im ersten Obergeschoss deutlich bis zum Korridor zurück und lassen so zwischen den Trakten etwa eine Rastereinheit Luftraum. Im zweiten Obergeschoss [Abb. 17] fehlt überhaupt die Korridorverbindung. Da die Seitentrakte im zweiten Obergeschoss, die auf der einen Seite die Wohnung des Professors für Chemie und auf der anderen Seite die des Direktors des physikalischen Instituts beherbergen sollten, als Wohnbereiche gedacht waren, wäre die Erreichbarkeit über eine eigene kleine Stiege angemessen gewesen. Im Aufriss und in der Ansicht der Dachlandschaft müssten diese Einschnitte eine deutliche Differenzierung der Gebäudeteile erreicht haben. Der glacisseitige Längstrakt hätte neben der Galerie des Festsaals im Mittelrisalit ausschließlich Hörsäle der juridischen Fakultät beherbergen sollen. Der Bibliothekstrakt sah im zweiten Obergeschoss weitere Säle zur Aufstellung der Universitäts-Bibliothek vor, flankiert in den Eckrisaliten von ReserveHörsälen. Insgesamt hätten in diesem Neubau also Bibliothek, Verwaltungs- und Festräumlichkeiten und die Hörsäle und Zimmer von der philosophischen und juridischen Fakultät untergebracht werden sollen. Die Dekanate der Medizinischen und der Theologischen Fakultät waren in diesem Entwurf nicht vorgesehen. Die medizinische Fakultät sollte ja in der ehemaligen Gewehrfabrik unterkommen, und die Theologie sollte offenbar an ihrem provisorischen Standort bleiben. Dem entspricht auch eine Aussage im Unterrichts-Ministerial-Erlass vom 17. Juni 1854, die Heintl in seinem Bericht anführt  : »die Frage über die Unterbringung der theologischen Studien und des botanischen Gartens entfalle, weil für diese beiden Anstalten in den für dieselben bestehenden Lokalitäten durch den projektierten Neubau eine Aenderung nicht veranlaßt werden wird«.9 In demselben Erlass werden die Fakultäten gebeten, die Raumerfordernisse erneut einzureichen. In seiner Replik äußerte das juridische Professoren-Kollegium Bedenken bezüglich des Bauplatzes, da die direkte Nähe zum Paradeplatz »die für öffentliche Lehrvorträge und ernste Studien nöthige geräuschlose Stille und Ruhe kaum gewähren möchte.« 10 Das Universitäts-Konsistorium, das diese Bedenken bezüglich der Lage nicht teilte, formulierte demtentsprechend, »daß die bei einem so umfangreichen Baue, in welchem nebst den eigentlichen Lehrsälen auch eine namhafte Anzahl von Ubicationen für die Kanzleien, Quästur, Archiv, Lehrmittelsammlungen und Dienstwohnungen einbezogen werden sollten, [es] für den Architekten nicht schwierig werden könnte, die Horsäle [sic  !] in solche Gebäude-Trakte zu verlegen, welche dem ohnehin nur zu gewissen Tagesstunden und zeitweise gar nicht oder für den

60  Das Planmaterial

  9 Bericht Heintl 1867, S. 6. 10 Ebd., S. 8.

Abb. 17: Eduard van der Nüll/August von Si­ cardsburg, Erster Entwurf für den Neubau der Universität Wien, Grundriss des zwei­ ten Obergeschosses, 1854 (AVA, Inneres II.Alllgemein Kart.164 Sig.26 1862 Stadt)

11 Ebd., S. 8. 12 Kastner 1965, S. 33–37.

nicht unmittelbar am Paradeplatze angrenzenden Bauplatz in einer kaum vernehmlichen Weise stattfindenden Geräusche nicht zugänglich sind.«11 Die Pläne zeigen, dass die Architekten die Bibliothek an der ruhigeren, dem Paradeplatz abgewandten Seite unterbrachten. In der breiten Front zum Glacis aber waren das Gros der Hörsäle und alle Verwaltungsräumlichkeiten angeordnet. Dementsprechend ließe sich der Entstehungszeitraum für diesen Entwurf sogar noch eingrenzen auf die Zeit zwischen Auftragserteilung im Frühjahr 1854 und dem Zeitpunkt des Schreibens des Universitätskonsistoriums am 17. November 1854. Typologisch ist dieser erste Entwurf von 1854 insofern interessant, als er einerseits eine Entwicklung in der Hochschultypologie vorwegzunehmen scheint, die erst mit Gottfried Sempers Zürcher Polytechnikum seinen Ausgang nehmen sollte, andererseits verweist gerade die am Raster angeordnete Raumverteilung auf Zweckbauten aus der Feder der Zivilbaudirektion. Der Oberarchitekt der niederösterreichischen Zivilbaudirektion, Andreas Fischer, hatte ab 1815 den ersten Bau des kurz vorher gegründeten Wiener Polytechnikums gemeinsam mit dem Architekten Josef Schemerl geplant.12 Auf dem Erdgeschossgrundriss [Abb. 85], der das Polytechnikum im Zustand von 1845 zeigt, ist dieser vordere Trakt A der ersten Bauphase (1815–18) deutlich zu erkennen. Die lang gestreckte Fassade wird durch einen starken Mittelrisalit und zwei schwache Eckrisalite leicht strukturiert. Der fünfachsige Mittelrisalit fasst eine dreischiffige Halle, die von jeweils einachsigen Nutzräumen flankiert wird. An die Halle schließt quer ein langer Korridor an, der über die gesamte Breite des Gebäudes die aneinandergereihten Räume verbindet. Nach hinten tritt wiederum ein Gebäudeteil hervor, der rechts das Stiegenhaus aufnimmt und links einen kleinen Raum. Die glacisseitigen Räume sind

Der erste Entwurf von Sicardsburg und van der Nüll  61

untereinander alle durch eine mittige Enfilade verbunden. Der Trakt B, der im rechten Winkel an den Korridor anschließt, wurde 1821 angefügt. Zwischen 1836 und 1839 wurde dann der Hof mit dem stumpfwinkligen Anbau C und dem vierten Flügel D geschlossen. Während der rautenförmige Grundriss des Polytechnikums tatsächlich durch die teilweise gemauerten Grundstücksgrenzen vorgegeben war, wäre eine Abweichung vom rechten Winkel bei dem Neubau der Universität nicht zwingend notwendig gewesen. Die Architekten Sicardsburg und van der Nüll, die beide das Polytechnikum aus ihrer eigenen Studienzeit kannten, scheinen hier das trapezoide Charakteristikum dieses Hochschulbaus zu übernehmen und in eine gewisse Regelmäßigkeit zu übertragen. Dabei entwickeln sie auch die Raumanordnung weiter, indem sie die großen glacisseitigen Räume im Erdgeschoss entsprechend den vielen differenzierten Funktionen in kleinere Räume zerteilen. Offen bleibt in ihrem Raster allerdings, wie der Zugang zu den einzelnen Zimmern hätte gewährleistet werden sollen. Hätten breitere Zimmer, wie der Sitzungssaal des Konsistoriums, wegen eines einachsigen Türen-Rhythmus mehrere Zugänge vom Korridor aus haben sollen  ? Oder hätte nur jedes zweite kleine Zimmer eine Tür zum Korridor gehabt, damit tatsächlich ein Rhythmus entstehen kann  ? Aber auch beim Korridor selbst gehen die Architekten noch einen Schritt weiter. Während die Zubauten im Polytechnikum über keine eigenständigen Kommunikationswege verfügen, führt der hofseitige Korridor des Universitätsentwurfs von 1854 tatsächlich rundherum. Zwar scheint er durch die vier Einfahrten unterbrochen, aber an keiner Stelle durchquert der Gang eine Unterrichtsräumlichkeit. Mit dieser Vereinheitlichung des Kommunikationssystems gehen van der Nüll und Sicardsburg in Gedanken den entscheidenden Schritt, der später Sempers Polytechnikumsgrundriss so wegweisend für nachfolgende Hochschulbauten machen sollte [Abb. 84]. Für Hans-Dieter Nägelke sind es zwei Aspekte des umlaufenden Korridors, die Sempers Bau (1858–64) für die weitere Hochschultypologie so wichtig werden lassen.13 Erstens fasst er mit dem einheitlichen Korridorsystem den Bau organisatorisch zusammen und zweitens schafft er damit mehr als reine Verkehrsfläche.14 »Seine zum Hof loggienartige Durchfensterung weist ihn vielmehr als Wandelhalle aus, die […] einen […] hochschulinternen Kommunikationsraum schafft.«15 Der zentrale Antikensaal, der den großen Hof der Zürcher Anlage in zwei kleine Höfe teilt, fungiert hier ebenfalls als Teil der internen Wandelhalle, der über die Wegverkürzung hinaus auch ideell Bildung im Vorbeigehen schaffen soll. Ob van der Nüll und Sicardsburg in Wien auch eine Art Wandelhalle schaffen wollten, geht aus diesem Grundriss nicht hervor. Jedenfalls haben sie den vierflügeligen unregelmäßigen Grundriss des Wiener Polytechnikums für ihren Hochschulentwurf »verregelmäßigt« zu einem zweihöfigen Trapez mit einem

62  Das Planmaterial

13 Sempers Polytechnikum wird nicht nur wegen des Grundrisstypus wegweisend sein für nachfolgende Hochschulbauten, sondern auch aufgrund des monumentalen, italienischen Neorenaissance-Stils. Den Schritt zur Neorenaissance gingen van der Nüll und Sicardsburg hier mit Sicherheit nicht. Zeitgleich zwischen 1849 und 1856 arbeiteten beide an der Großbaustelle des Arsenals, dessen Gestaltung eher an italienische Burgen erinnert. Die Oper, die van der Nüll und Sicardsburg zwischen 1861 und 1869 als ersten Monumentalbau an der Ringstraße erbauen, zeigt eine Mischung unterschiedlicher Frührenaissanceformen (vgl. Renate Wagner-Rieger, Wiens Architektur im 19. Jahrhundert, Wien 1970, S. 122 und 126.). Der erste streng nach italienischen Formen gestaltete Monumentalbau in Wien ist August Webers Künstlerhaus am Karlsplatz (vgl. Rüdiger 2015 B.). Der zweite Universitätsentwurf der beiden Architekten verwendet dann in Anlehnung an die Votivkirche gotische Formenelemente. Die Tatsache, dass der Grundriss diese kastellartigen Eckrisalite ausbildet, könnte natürlich ein Hinweis darauf sein, dass die Architekten an der Universität ähnliche Gestaltungsprinzipien wie im Arsenal anwenden wollten. Da der Grundriss nur schematische Raumverteilungstrennlinien verzeichnet, aber keine Mauerstärken, lassen sich allerdings über kastellartige Eckturmbildung nur spekulieren. 14 Nägelke 2000, S. 29. 15 Ebd., S. 29.

nahezu einheitlichen Korridorsystem und einem zentralen Stiegenhaus, das auf kürzestem Wege die beiden langen Trakte miteinander verbindet. Heinrich von Ferstels Wunsch, seine Votivkirche auf dem Glacis vor dem Schottentor zu bauen, führte dazu, dass dieser frühe Universitätsentwurf nicht weiter verfolgt wurde. Stattdessen entwarfen van der Nüll und Sicardsburg in der Folge eine Universität, die sich der Votivkirche anpassen sollte.

Der zweite Entwurf von Sicardsburg und van der Nüll

16 Vgl. Hoffmann 1972, S. 51 f. 17 Wibiral/Mikula 1974, S. 45. 18 Ebd., S. 22 f.

Die paralle Planung von Votivkirche und Universität führte auch zu einer neuen Zuteilung des Baugrundes. So erhielt die Votivkirche einen zentralen Bauplatz und die Universität mehrere kleine Parzellen dahinter auf der Seite der Vorstadt. Im Gegensatz zum ersten Entwurf, der ein einheitlicher Bau auf einer nahezu rechteckigen Parzelle hätte werden sollen, verlangte dieser neue Bauplatz von den Universitätsarchitekten eine stärkere Gliederung des Baus,16 da die neuen Bauparzellen kranzartig um den Chor der Votivkirche angeordnet waren. So entstand ein Entwurf mit drei großen Gebäudeteilen, die durch zwei Flügel miteinander verbunden werden sollten. Das zentrale Gebäude, direkt hinter dem Chor der Votivkirche, hätte die juridische, die philosophische Fakultät, Fest- und Hörsäle und die Verwaltung aufnehmen sollen. In den Flügelbauten wären Bibliothek, Chemisches Laboratorium und Physikalisches Institut untergebracht worden. Aber die Forderungen der einzelnen Institute und der Bibliothek ließen sich nicht mit dem architektonischen Konzept vereinbaren. Das Chemische und Physikalische Institut wurden daher, wie dies gerade beim Chemischen Institut auch praktische Überlegungen nahelegten, ausgesondert und sollten eigene Bauten bekommen. An ihrer Stelle hätte dann, als Pendant zur Bibliothek in einem äußeren Annexbau, die Akademie der Bildenden Künste in den anderen Annexbau einziehen sollen. Die Zusammenstellung mit dem Sakralbau auf der Mittelachse hätte als ideologisches Surplus eine »civitas universitatis« gebildet, also eine vollständige katholische Universitätsgemeinde.17 Dies hätte auch die anfängliche Problematik bezüglich des kultischen Gebrauchs der Votivkirche gelöst, da sie dann als Universitätskirche eine »Gemeinde« gehabt hätte.18 Im Gegensatz zu dem kompakten ersten Entwurf besteht dieses Projekt aus mehreren Gebäudegliedern, die auf einem die Chorrundung der Votivkirche wieder aufnehmen. Die Verteilung der Gebäudemassen wird deutlich auf der Projekt-Vedute am Rand des großformatigen Stadterweiterungsplans von van der Nüll und Sicardsburg [Tafel 3]. Der Betrachter blickt aus einer Vogelperspektive von Osten auf das Bauprojekt zwischen dem Schwarzspanierhaus und dem Glacis vor dem Schot-

Der zweite Entwurf von Sicardsburg und van der Nüll  63

tentor. Das Stadttor selbst oder die Basteien sind nicht mehr im Bild, dafür erkennt man links oben die Umrandung des Paradeplatzes. Die Votivkirche ist in der Ansicht so angeordnet, dass der nach Nordwesten ausgerichtete Chor direkt auf dem Mittelpunkt der Ansicht liegt. Das hinter dem Chor angelegte Universitätsgebäude hat einen dreigeschossigen Mitteltrakt, der auf einem trapezoiden Grundriss einen Innenhof umschließt. Die ebenfalls dreigeschossigen, aber deutlich niedrigeren Flügel schließen seitlich an, ihre Dachstruktur deutet an, dass sie drei kleine Lichthöfe umschließen. Zwischen diesen Flügeln und den Trabantenbauten sind zur deutlicheren Gliederung noch jeweils dreiachsige Durchfahrten gespannt. Die Trabanten umfassen wiederum zwei kleine Höfe. Ihre Fassaden zur Votivkirche und zu den radial verlaufenden Straßen sind ähnlich wie die Hauptfassade mit fünfachsigen Risaliten akzentuiert. In der Formensprache nehmen die Architekten die Vokabeln der Votivkirche auf und zieren ihren Bau mit Fialen, Dachreitern und Maßwerkfenstern. Die Universität bildet so die ideale neugotische Hintergrundfolie für die Votivkirche. Der freie Raum vor der Votivkirche ist als Grünanlage angedeutet. Die die Kirche flankierenden Flächen sind darüber hinaus parkähnlich mit je einem Denkmal, Wegen und kleinen Büschen in den Grünflächen ausgestaltet. Die Straße, die zwischen Chor und geplanter Universität entlangführt, ist keineswegs rund gebogen und damit dem Chor angepasst, sondern führt von beiden Seiten stumpfwinklig auf den Haupteingang zu und betont damit den Festtrakt der Universität. Auf dem genehmigten Stadterweiterungsplan von 1860 unterscheidet sich der schematisierte Grundriss etwas von dieser Ansicht, entscheidend ist hier aber nur, dass der Festtrakt nun auch einen rechtwinkligen Grundriss hätte. Bautypologisch wird dieser Entwurf von Sicardsburg und van der Nüll als »Gruppenblockbau«19 beschrieben, da er »eine Mittelstellung zwischen Gruppenbau und Monumentalbau« 20 einnimmt. Denn die starke Zergliederung in einzelne Gebäudekörper lässt ihn trotz seiner gewaltigen Baufläche nicht so monumental wirken, wie das die späteren Monumentalbauten der Ringstraße werden.

Heinrich von Ferstels Entwurf von 1868

Nachdem Heinrich von Ferstel am 20. Januar 1868 offiziell in das Universitätsbau-Komitee aufgenommen worden war, versprach er in der dritten Sitzung des Komitees im April 1868, einen Bebauungsplan für die unregelmäßige Baufläche bei der Votivkirche zu entwickeln.21 Teil dieser der Universität gewidmeten Fläche war nicht nur die Zone direkt hinter der Votivkirche, sondern zusätzlich auch die ehemalige Gewehr-

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19 Hoffmann 1972, S. 52 ff. 20 Mikula/Wibiral 1974, S. 45. 21 3. Sitzung des Universitäts-Baucomités, 21. April 1868, Universitätsarchiv, S60, Schachtel 34.

Abb. 18: Heinrich von Ferstel, Situationsplan für die Bebauung des Universitätsviertels mit Hauptgebäude an der Ringstraße so­ wie den Chemischen und Physiologischen Instituten an der Währingerstraße (Wibi­ ral/Mikula 1974, Abb. 33)

22 Ferstel 1874, S. 45. 23 Ebd.  ; Vgl. auch Wibiral/Mikula 1974, S. 48. 24 Ferstel 1878, S. 149.

fabrik und die Parzellen X und X°, zwischen heutiger Türkenstraße und Kolingasse. Auf diesem ungleichmäßigen Areal, das darüber hinaus auch noch von der Votivkirche optisch bestimmt war, scheint es eine Herausforderung gewesen zu sein, eine entsprechende Gebäudeform zu finden. Ferstel hielt sich daher offenbar an die schon 1862 von ihm erdachte Parzellierung des Votivkirchenplatzes. »[…] die die Votivkirche von der Vorstadtseite aus einrahmenden Bauplätze waren für die übrigen Lehrzwecke, für die Aula und die Bibliothek bestimmt.«22 Als weitere Trabanten auf den Parzellen X und X° sollten das Chemische und das Physiologische Institut errichtet werden.23 Von diesen gesamtplanerischen Überlegungen ist kein Plan erhalten. Allerdings hatte Ferstel in der dritten Sitzung des Baucomités auch nicht die »Ausarbeitung eines detaillierten Generalplanes« versprochen, sondern nur einen »formellen Entwurf«. Jahre später, in seinem Vortrag über die Fortschritte bei seinem Universitätsbau im Jahr 1878, gestand Ferstel auch, dass er diese Planung nur zögerlich betrieben hatte, besonders weil er ja seit 1862 gegen diesen Standort argumentiert hatte.24 In einem späteren Situationsplan, der das Hauptgebäude bereits auf dem Paradeplatz vorsah, wird die Lage des Chemischen und des Physikalischen Instituts auf den Parzellen X und X° deutlich [Abb. 18]. Die Grünanlage zwischen den beiden Instituten hätte die Hörlgasse bei der Wasagasse enden lassen.

Heinrich von Ferstels Entwurf von 1868  65

Das Chemische Institut

Kurz nach der allerhöchsten Entschließung vom 16. Dezember 1867, die Universität auf dem Areal hinter der Votivkirche zu erbauen, reichte der Leiter des Chemischen Instituts Josef Redtenbacher am 19. Januar 1868 ein vorläufiges Bauprogramm ein. Schon 1849 wurde ihm anlässlich seiner Berufung zum Ordinarius die Herstellung eines modernen Laboratoriums innerhalb von 3 Jahren versprochen.25 Die Dringlichkeit bestand aber nicht allein in der langen Wartezeit des Professors, sondern besonders in der Notwendigkeit, endlich ein an einem Ort zusammengefasstes Laboratorium zur Verfügung zu haben. Der Großteil des Chemischen Instituts war provisorisch im Theresianum untergebracht, aber Teile auch in Erdberg und in der ehemaligen Gewehrfabrik, sodass die langen Wegzeiten zu massiven Behinderungen im Studienbetrieb führten. Entscheidend war es also, diese verstreuten Einzeleinrichtungen in der Nähe des Hauptgebäudes und insbesondere der Mediziner zusammenzufassen, allerdings in einem separaten Gebäude. Denn wegen der gesundheitsschädlichen Dämpfe und der Feuergefahr wurde seit den 1830ern empfohlen, die Chemischen Laboratorien von den anderen Universitätsgebäuden zu trennen. Das Vorbild hierfür war der Gießener Umbau eines ehemaligen Wachlokals in Justus Liebigs erstes eigenständiges Laboratorium.26 In der Folge entwickelte sich ein Bau-Typus für Chemische Institute, der vorsah, dass diese alleinstehenden Laboratorien in drei relativ abgeschlossene Raumgruppen unterteilt werden, die Dienstwohnung für den Vorstand (später für die Professoren) und die Laborassistenten, die Labors für die praktischen Übungen und die Hörsäle.27 Um die Anwendung dieser Typologie und die neuesten Errungenschaften auf diesem Feld kennenzulernen, reiste Ferstel mit Professor Redtenbacher nicht nur nach Gießen zu Justus Liebigs ehemaligem Institut und nach München zu dessen neuem Institut,28 sondern auch an viele andere Orte in Deutschland, in denen Schüler Liebigs diesen Bau-Typus weiterentwickelt haben. Nach ihrer Rückkehr entwarf Ferstel eine zweihöfige Anlage, an die auf der rückwärtigen Seite zur Wasagasse noch ein Wohnungstrakt mit kleinem, quadratischem Hof anschließt. Die dreizehnachsige Hauptfassade zur Währingerstraße [Abb. 11] gliedert sich in eine breite Mitte und jeweils einachsige Rücklagen an den Seiten. Das Erscheinungsbild des Ziegelbaus wird durch die farblich nuancierten Ziegel und die roten Terrakotta-Dekorationen geprägt. Die Laibungen der Fenster im Parterre sind mit speziellen roten Schmuckterrakotten gestaltet, die in einen rechteckigen Terrakotta-Rahmen eingefasst sind. Zur Akzentuierung des Eingangs wird das Portal von zwei toskanischen Säulen gerahmt, die einen kleinen Balkon tragen. Das Portal selbst wiederholt die Form der Erdgeschossfenster, variiert aber die dekorative Gestaltung. In den Zwickeln lehnen sich zwei allegorische Wesen über die Rundung des Portals

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25 Wibiral/Mikula 1974, S. 49. 26 Vgl. Stichweh 1982, S. 149 ff. 27 Siehe Nägelke 2000, S. 47 und 49. 28 Das Münchner Chemische Institut wurde 1851–52 anlässlich der Berufung Liebigs nach München von dem Architekten August von Voit geplant. Der Architekt orientierte sich auch hier an Liebigs Vorgaben für Hörsaal, Laboratorium und einem angrenzenden Wohnhaus. Vgl. Nägelke 2000, S. 424.

Abb. 19: Heinrich von Ferstel, Seitenansicht des Chemischen Instituts, 1874 (Allgemeine Bauzeitung, Jg. 39, 1874, Bl. 55, Foto: Univer­ sität Wien, Institut für Kunstgeschichte)

und strecken einander eine Posaune (vielleicht Fama) und einen anderen verlorenen Gegenstand entgegen. Die Motive des Rahmens und der Laibung sind überdies farbig gefasst und heben dadurch das Portal noch zusätzlich hervor. Die horizontale Trennung zum Obergeschoss ist mithilfe eines Terrakotta-Frieses und eines darüber liegenden umlaufenden Gesimses verdeutlicht. Die Rundbogenfenster hier sind zwischen Ziegelpilaster toskanischer Ordnung eingefügt. In dem darüber angebrachten Terrakotta-Fries sind zwischen dem Rapport von Putten und pferdeähnlichen Fantasiewesen abwechselnd die Namenskartuschen berühmter Chemiker und Medaillons mit den Initialen des Kaisers Franz Joseph I. eingefügt. Im Attikabereich betont eine kleine Ädikula mit einem farbigen Doppeladler-Wappen noch einmal die Mitte der Fassade und zeichnet so das Institut als Staatsbau aus. Die Seitenfassaden [Abb. 19] zur Türkenstraße und zur Hörlgasse gliedern sich in zwei Seitenrisalite, zwischen denen eine fünfachsige Rücklage den Achsenrapport der Hauptfassade wieder aufnimmt. In den Seitenrisaliten bemüht sich Ferstel um eine Variation der Fenstermotive. Im Erdgeschoss verknüpft er zwei einzelne Fenster zu einem Doppelmotiv. Im Obergeschoss verbindet er das geschmälerte Fenstermotiv des Erdgeschosses mit dem breiteren Fenster des Obergeschosses zu einer Serliana, die er noch zusätzlich mit Zwickelmotiven und Kartuschen über den kleinen Fenstern ausschmückt. In der Attikazone ist mittig noch eine Serlianen-Ädikula aufgesetzt.

Heinrich von Ferstels Entwurf von 1868  67

Abb. 20: Heinrich von Ferstel, Chemisches Institut, Grundriss des Tiefparterres, 1874 (Allgemeine Bauzeitung, Jg. 39, 1874, Bl. 51, Foto: Universität Wien, Institut für Kunst­ geschichte)

Von den Straßen ein Stück zurückgesetzt schließt unterhalb der Wohntrakt an, in dem sich die Fassadenmotive weitestgehend fortsetzen. Aber durch die Höhendifferenz auf dem abschüssigen Baugrund wurde die räumliche Abgeschlossenheit des Wohntraktes zusätzlich unterstützt, wie auch Ferstel in seiner Präsentation des Gebäudes betont  : »Die Sonderung in das Lehrgebäude und Wohngebäude markirt sich durch das gegen die Wasagasse stark abfallenden Terrain, indem der erste Stock des Wohngebäudes mit dem Parterre des Lehrgebäudes zusammenfällt.«29 [Abb. 21]

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29 Ferstel 1874, S. 45.

Abb. 21: Heinrich von Ferstel, Chemisches Institut, Grundriss des Erdgeschosses, 1874 (Allgemeine Bauzeitung, Jg. 39, 1874, Bl. 52, Foto: Universität Wien, Institut für Kunst­ geschichte)

Im ersten und letzten Obergeschoss des Wohngebäudes waren die beiden Wohnungen für die Professoren untergebracht. Von der größeren Wohnung auf der rechten Seite kam man direkt zum hinteren Korridor des Lehrgebäudes, der zum Vorbereitungsraum des zentral liegenden großen Hörsaals beziehungsweise zu dem kleinen Hörsaal und dem großen Schülerlaboratorium in den äußeren Flügeln führte. Bei diesem rückwärtigen Korridor waren auch Präparatesammlungen und Privatlaboratorien der Professoren untergebracht. Von der Währingerstraße aus folgte auf das

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Abb. 22: Heinrich von Ferstel, Chemisches Institut, Grundriss des Obergeschosses, 1874 (Allgemeine Bauzeitung, Jg. 39, 1874, Bl. 53, Foto: Universität Wien, Institut für Kunstgeschichte)

Vestibül der vordere Korridor, der sozusagen von Schülerseite aus zu dem seitlichen kleinen Hörsaal und dem Schülerlaboratorium führte. Norbert Wibiral und Renate Mikula betonen in ihrer Ferstel-Publikation auch die Bedeutung dieser Korridore, die die Flügel miteinander verbinden. Dadurch, dass diese Korridore sowohl auf der Vorderseite als auch auf der Rückseite des Lehrgebäudes verwendet wurden, hätte »Ferstel, wie dies noch bei anderen Bauten festzustellen sein wird, einen geschlossenen Kommunikationsring«30 geschaffen. Allerdings ist dieser Kommunika­

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30 Wibiral/Mikula 1974, S. 52.

Abb. 23: Heinrich von Ferstel, Chemisches Institut, Längsschnitt, 1874 (Allgemeine Bauzeitung, Jg. 39, 1874, Bl. 57, Foto: Univer­ sität Wien, Institut für Kunstgeschichte)

tionsring eigentlich nicht geschlossen, denn er wird ja durch die Hörsäle und die Schülerlaboratorien unterbrochen. Eine umlaufende Kommunikation wäre aber möglich gewesen. Daher scheint viel eher das Gebäude in eine Studenten- und eine Professorenseite geteilt, wobei jede Seite über einen eigenen Korridor verfügt und sich beide Parteien immer in der Mitte, nämlich den Lehrräumen, die sie gemeinsam nutzen, treffen. So war die Professorenseite natürlich diejenige, auf der Seite der Professorenwohnungen, und beim Haupteingang gelegen war die Studierendenseite. Daher verzeichnet der Grundriss zur Währingerstraße außerdem noch weitere Laboratorien für fortgeschrittene Schüler. Die zentrale Stiege des Lehrgebäudes führt zunächst auf halber Höhe zum zentralen großen Hörsaal [Abb. 22], und in zwei weiteren Armen zum Korridor des Obergeschosses. Die Erschließung der unterschiedlichen Ebenen wird deutlich auf dem Längsschnitt [Abb. 23]. Die äußeren Flügel waren im Obergeschoss nun wieder für große Schülerlaboratorien ausgestattet. Zur Währingerstraße hin befanden sich wiederum (Spezial-)Labors für fortgeschrittene Studierende. Der rückwärtige Trakt, der hier den Wohntrakt schon überragt, war für das Lehrpersonal reserviert, mit Räumen für die Assistenten und einem großen Professorenprivatlabor. Das Souterrain des Lehrgebäudes beherbergte zahlreiche Depots, Werkstätten und in den Außenflügeln wieder zwei Labors [Abb. 20]. Der zentrale Gang führt hier unterhalb des großen Hörsaals direkt vom vorderen Korridor zum

Heinrich von Ferstels Entwurf von 1868  71

hinteren und in der Verlängerung über den Hof des Wohntrakts hinaus Richtung Wasagasse. Unterhalb der Professorenwohnungen enthielt das Parterre des Wohngebäudes »die Wohnungen des Hülfspersonals«31 und die Zugänge zu den Professorenstiegen. Bemerkenswert sind die im gesamten Gebäude verteilten offenen und halboffenen Loggien, die gemäß Redtenbachers Wunsch die Möglichkeit zu Feuerexperimenten im Freien bieten sollten.32 Diese Loggien, wie auch einige andere Eigenheiten der Typologie des Chemischen Instituts, haben Ferstel und Redtenbacher von ihrer Bildungsreise zu den herausragenden Chemie-Institute Deutschlands mitgebracht. Ferstel beschrieb von all den besuchten Instituten die Einrichtungen in Berlin und Bonn aufgrund ihrer Ausstattungen als besonders bemerkenswert. Das Bonner Institut, das zwischen 1864 und 1867 für den aus London berufenen Chemiker August Wilhelm Hofmann geplant wurde,33 war zum Zeitpunkt von Ferstels Studienreise bereits in Benutzung. Der Grundriss der großzügigen Anlage [Abb. 24] zeigt eine Anlage, die sich um vier Höfe verteilt und durch einen Eingang auf der rechten Seitenfassade erschließen lässt. Dieser führt zu einem zentralen Korridor, der Zugang zum großen Hörsaal und zu drei großen Laboratorien bietet. Die zwei Eingänge, die an den Eckrisaliten der Hauptfas-

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Abb. 24: Chemisches Institut, Bonn, Grundriss des Erdgeschosses, ca. 1902 (Architekturmuseum TU Berlin, Inv. Nr. BZ-H 29,086)

31 Ferstel 1874, S. 45. 32 Ebd., S. 46. 33 Der planende Architekt war August Dieckhoff. Siehe Nägelke 2000, S. 253.

sade angelegt sind, führen zu den Wohnbereichen des Direktors und der Assistenten. Obwohl Ferstel den Zugang zu seinem Wiener Institut zentral anlegte, finden sich in der Struktur des Grundrisses durchaus Ähnlichkeiten zum Bonner Konzept. Der im Mitteltrakt angelegte Hörsaal, der sowohl von der Studierendenseite als auch von dem Professorenwohnbereich über das Vorbereitungszimmer zu erreichen ist, scheint direkt übernommen worden zu sein. Ähnlich wirken auch die quer zu dieser Hörsaalachse angelegten Korridore, die die drei Trakte verbinden. Im Bonner Grundriss gibt es auf der hinteren Seite der kleinen Höfe auch zwei offene Hallen, die ihre Entsprechung in Ferstels Loggien finden. Von den anderen Trakten des Bonner Instituts führen kleine Stiegen in die Höfe und bieten so die Möglichkeit, aus dem Laboratorium an die frische Luft zu kommen. Ganz deutlich unterscheidet sich das Wiener Institut aber im repräsentativen Auftreten. So betont Ferstel in seiner Zusammenfassung, dass der »Bau […], in erster Linie als Nutzbau geltend, ein schlichtes Aussehen haben« soll.34 Das Bonner Institut zielt hingegen mit seinen massiven Eckpylonen, den daran angebrachten Tempelfronten, dem hohen Sockel und der Vorgartenanlage auf ein repräsentatives Erscheinungsbild ab.35 Dementsprechend nimmt die Wohnung des Direktors auch das gesamte Obergeschoss des Vordertraktes ein.36 »Ihre Größe und die mit großem Vestibül im Norden, halbrund anschließendem Treppenhaus und eineinhalbgeschoßigem Ballsaal reiche Ausstattung […] sollte für die deutschen Institutsbauten einzigartig bleiben.«37

34 Ferstel 1874, S. 46. 35 Vgl. historisches Foto der Fassade in der Bilddatenbank Prometheus  : http://prometheus.uni-koeln.de/ pandora/image/show/dadawebbe16441bef9b32af15af d1278bf15317294b2145, (zuletzt besucht am 27. Mai 2015). 36 Siehe Nägelke 2000, S. 254. 37 Nägelke 2000, S. 254. 38 Die einheitliche Bänderung der beiden Erdgeschossfassaden unterstützt diesen Eindruck noch zusätzlich. 39 Nägelke 2000, S. 236.

Die Seitenansicht der Institutsanlage [Abb. 25] macht den Stellenwert des Direktorenwohntrakts in Relation zum Unterrichtsgebäude deutlich. Das Unterrichtsgebäude scheint zwar durch die eigene Fassadengliederung mit Risaliten und überhöhter Mitte einen selbstständigen Repräsentationscharakter entwickeln zu wollen, gegen den links direkt angrenzenden hohen Vordertrakt kann es aber nur wie ein Appendix zur Direktorenwohnung wirken.38 Zwar hätte dem Professor Redtenbacher in Wien in der ersten Planung auch das gesamte Obergeschoss des rückwärtigen Traktes zur Verfügung gestanden, jedoch deutet die Verlagerung an die Rückseite des Instituts daraufhin, dass für Redtenbacher hier nicht die eigene Repräsentation im Vordergrund stand. Die Seitenansicht des Wiener Instituts [Abb. 19] zeigt, dass sich durch das abschüssige Gelände das Verhältnis von Lehrtrakt und Wohngebäude in Wien geradezu umkehrt. So fand auch der in die Professorenwohnung integrierte Ballsaal an der Wiener Universität keine Wiederholung. Aber auch Hofmann hatte keine Gelegenheit, die großzügigen Einrichtungen des Bonner Instituts zu nutzen, denn bevor er tatsächlich nach Bonn umzog, nahm er 1864 den Ruf der Berliner Universität an.39

Heinrich von Ferstels Entwurf von 1868  73

Der Um- und Neubau des Berliner Instituts, ebenfalls nach Hofmanns Wünschen,40 war zu Ferstels Besichtigung beinahe fertig.41 Auch hier war der Institutsbau in einen Lehrtrakt und einen Wohnbereich gegliedert, wobei sich die Relation deutlich zugunsten der Lehre verschoben hat [Abb. 26]. Aufgrund der zur Verfügung stehenden Parzelle schließt an den durch einen Mittelbau geteilten vierflügeligen Lehrtrakt auf der rechten Seite ein kleiner Anbau an, für die Wohnung des Direk­tors. An diesem Grundriss werden Strukturen erkennbar, die im Wiener Grundriss von Redtenbacher und Ferstel übernommen werden. Dies betrifft insbesondere die Querteilung in eine Studentenseite und eine Lehrendenseite. Wie später in Wien ist der vordere Gebäudeteil für die Studenten vorgesehen, hier befinden sich im Erdgeschoss und im Obergeschoss allgemeine Arbeitssäle. Im zentralen Flügel befindet sich ebenfalls auf halber Höhe der Haupttreppe der Studentenzugang zum großen Hörsaal. Der linke Flügel im Erdgeschoss führt als offene Halle zum Sammlungsraum im hinteren Trakt.42 Gegenüber liegen mehrere Assistentenwohnungen. Über dem Sammlungsraum und den Assistentenwohnungen befinden sich ein Arbeitsraum für fortgeschrittene Studenten und Speziallabore. In den Flügelgalerien des Obergeschosses sind auch Arbeitsplätze vorgesehen. Der senkrechte Korridor im hinteren Trakt führt im Erdgeschoss auf der einen Seite zum professoralen Vorbereitungsraum und zum großen Hörsaal und im Obergeschoss zu »Loggien für Arbeiten im Freien«. In der anderen Richtung führt der Gang auf beiden Ebenen zur Wohnung des Direktors, die beide Geschosse des Annexbaus einnimmt. Sehr ähnlich zu Wien sind also die zentrale Lage des Hörsaals mit der Haupttreppe, die Anordnung von Loggien im zentralen Flügel und die Anlage von Arbeitsplätzen in den äußeren Flügeln. Wobei letzteres in Wien aufgrund der breiteren Räume deutlich bequemer anmutet. Da die Wiener Bauparzelle dem Architekten keine Einschränkungen vorschreibt, kann Ferstel insgesamt das Konzept des Instituts viel großzügiger und regelmäßiger verwirklichen.43 So ist der Wohnannex auch symmetrisch angeschlossen und das nach Benutzergruppen getrennte Korridorsystem,

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Abb. 25: August Dieckhoff/August Wilhelm Hofmann, Chemisches Institut, Bonn, Seitenansicht, 1864 bis 1867 (Trier/Weyres 1980, S. 159, Abb. 6)

40 Das von Friedrich Albert Cremer und Fritz Zastrau ab 1865 erbaute Institut ist heute nicht erhalten. Siehe Nägelke 2000, S. 235.41 Ferstel 1874, S. 45. 42 Auf der rechten Seite ist diese Halle in der gesamten Länge die Durchfahrt zum Wohngebäude. 43 Einen sehr ähnlichen Aufbau solcher zweihöfiger Anlagen (mit zwei Korridoren, zentralem Hörsaal und Übungsräumen in den äußeren Flügeln) findet sich in den Chemischen Instituten in Berlin (Technische Hochschule, 1882–1884) und Karlsruhe (1899–1904). In Variation auch in Aachen (1875–79). Vgl. Nägelke 2000, Katalogteil.

Abb. 26: Friedrich Albert Cremer, Chemi­ sches Institut, Berlin, Grundrisse von Erd­ geschoss und Ober­ geschoss und Fassade zur Georgenstraße (Atlas zur Zeitschrift für Bauwesen, Jg. 16, 1866, Foto: Architek­ turmuseum TU Berlin, Inv. Nr. ZFB 17,001 und ZFB 17,003)

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das in Berlin bereits angedeutet ist, kann sich in Wien voll entfalten. Anhand des Chemischen Instituts lässt sich also zeigen, wie das Interesse an der baulichen Funktionalität, ausgedrückt durch die gemeinsame Reise von Architekt und »Auftraggeber«, dazu führt, dass eine bereits bewährte Form weiterentwickelt wird und dann wiederum typprägend wird. Aber nicht nur typologisch, sondern auch in der Baumaterialwahl scheint das Berliner Institut den Wiener Architekten beeinflusst zu haben. Während die Fassade zur Dorotheenstraße, an der die Direktorenwohnung lag, von dem vorherigen Bau beibehalten wurde, konnte die Fassade zur Georgenstraße komplett neu angelegt werden, allerdings nach Vorgabe der zuständigen Baubehörde nur aus Backsteinen. Der Architekt Friedrich Albert Cremer entwickelt dann, nach eigenen Angaben, eine Mischung aus Rundbogenstil und Formen der oberitalienischen Renaissance.44 [Abb. 26] Diese Kombination aus Materialbau und dunkelroter Terrakotta-Ornamentik verleihe dem Bau einen »durchaus monumentalen Charakter«.45 Für die Gestaltung des Wiener Chemischen Instituts als Materialbau argumentiert Ferstel in seinem Artikel in der Allgemeinen Bauzeitung auf ähnliche Weise. Einerseits solle sich der Bau durch ein schlichtes Aussehen als Nutzbau zu erkennen geben, andererseits verlange der »Umstand, dass es der erste Bau der lange ersehnten neuen Universität ist, die ästhetische Seite doch nicht zu sehr aus dem Auge zu verlieren«.46 Da Ferstel zufolge bereits der Wohnbau in Wien zu dominierender Erscheinung tendiert, sieht er im Materialbau einen geeigneten Kontrast, mit dem er diesen öffentlichen Bau hervorheben könne. Da der Steinbau aber dem »grossen Monumentalbau vorbehalten« sei, wäre es naheliegend den Ziegelbau »in künstlerischer Weise zur Geltung zu bringen«.47 Die Materialität des Nutzbaus, kombiniert mit künstlerischen Detailformen, erweist sich also, Ferstel zufolge, ideal für den kleinen Monumentalbau. Dies hatte Ferstel ja bereits bei seinem Bau des k. k. Österreichischen Museums für Kunst und Industrie [Abb. 27] unter Beweis gestellt, wobei er hier die Fensterrahmungen und das Portal in Stein fertigen ließ und die Rustika in hellem Verputz.48 Am Chemischen Institut wirken die Detailformen vielleicht gerade aufgrund ihrer Materialität zierlicher als am Kunstgewerbemuseum. In ihren Grundformen erinnern die Fensterrahmungen an die Fenster des Palazzos della Cancelleria in Rom (1483–95)49. Am Palazzo Giraud-Torlonia in Rom wiederholt sich dieses Fenstermotiv ebenfalls. Zwar unterscheiden sich die italienischen Fenster in den Dekorationsdetails und der Materialität, aber das grundsätzlich flache Erscheinungsbild und die Form eines rechteckig gerahmten Rundbogenfensters auf ziegelrespektive steinsichtiger Rücklage zeigt eine überzeugende Ähnlichkeit. Im Gegensatz zu den römischen Vergleichen sind die Wandrücklagen in Wien nicht weiter gegliedert, nur die Ecken des Mittelrisalits sind durch Ecklisenen hervorgehoben. Die doppelten Pilaster als Rahmung

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44 Cremer 1867, Sp. 9. 45 Cremer 1867, Sp. 9. 46 Ferstel 1874, S. 46. 47 Ebd., S. 46. 48 Siehe Wibiral/Mikula 1974, S. 130. 49 Siehe auch Wibiral/Mikula 1974, S. 53.

Abb. 27: Joseph Löwy, Historische Ansicht des k. k. Österreichischen Museums für Kunst und Industrie (Das K.K. Österrei­ chische Museum für Kunst und Industrie in Wien. Erbaut von Heinrich von Ferstel, Wien 1894, Tafel 1)

der Fenster im Obergeschoss verweisen ebenfalls auf italienische Formen der Hochrenaissance.50 So sind an der Loggia des Palazzo Farnese in Rom große Rundbogenfenster mit einfacher Pilasterstellung verknüpft, eine doppelte Pilasteranordnung zeigt wiederum die Fassade des Palazzo Giraud-Torlonia. Während Ferstel am Kunstgewerbemuseum ebenso wie die hellen Fensterrahmungen auch die umlaufenden Friese als Sgraffito kontrastierend zum roten Backstein der Rücklagen gestaltet, ließ er die Friese am Chemischen Institut auch in Terrakotta fertigen. Dies argumentiert Ferstel in seinem Aufsatz in der Allgemeinen Bauzeitung, damit, dass die »italienische Bauweise im 15. Jahrhundert, […] welche die von uns heute nachgeahmten Formen ausschliessend aus dem entsprechenden Materiale entwickelte, hat uns durch zahlreiche Beispiele den Weg […] vorgezeichnet.«51

50 Ebd. 51 Ferstel 1874, S. 47. 52 Heute nicht mehr erhalten. 53 Ferstel 1874, S. 47.

Hier bezieht er sich also explizit auf die Vorbildhaftigkeit italienischer Frührenaissancebauten. Die Sgraffito-Technik verwendet er am Chemischen Institut für die Ausgestaltung der Innenhöfe, und auch hier verweist er auf die Frührenaissance und lobt die dauerhafte und ästhetische Verbindung von flächigem Verputz und Sgraffito. 52 Er selbst habe »in den 3 Höfen des Laboratoriums den Versuch mit einer derartigen Sgraffito-Dekoration gemacht« und er sehe dies als besonders geeignetes Mittel zur Verknüpfung verschiedenartiger Motive.53 Im Tafelteil der Allgemeinen Bauzeitung ist nur eine Teilansicht des Hofs des Wohngebäudes

Heinrich von Ferstels Entwurf von 1868  77

publiziert [Abb. 28]. Das Erdgeschoss ist hier stark rustiziert, darüber, in der Parapetzone des Obergeschosses, verläuft ein Sgraffito-Fries mit nixen- und neptunhaften Wesen. Die Wandfläche zwischen den rechteckigen Fenstern ist mit gerahmten Kandelaber-Motiven gestaltet. Oberhalb der flachen Fensterverdachung sind Rollgiebelmotive angedeutet, auf denen Figuren bzw. Fabelwesen lehnen. Dazwischen hängen, mit allerlei Bandelwerk geschmückt, Medaillons mit Profilansichten. Unterhalb des Kranzgesimes schließt das Sgraffito mit einem ornamentalen Fries ab. Während die Wandflächen als dunkle Zeichnung auf hellem Grund gestaltet sind, sind beide Friese invertiert, so wie das auch beim Kunstgewerbemuseum der Fall war. Hier im Hof des Wohngebäudes trifft man auf eine material-motivische Ausnahme in der Gesamtkonzeption, denn die hier ursprünglich offen geplante dreiachsige Halle im Obergeschoss auf der Rückseite des Lehrgebäudes ist aus Stein gefertigt. Darüber hinaus werden als einziges an der Außenfassade Halbsäulen verwendet und diese auch in ionischer Ordnung. Die Ausmalung der beiden anderen Innenhöfe ist auf zwei, bisher unpublizierten, Präsentationsblättern aus dem Jahr 1870 dokumentiert.54 Im Vergleich zum Hof des Wohngebäudes tritt die Dekoration hier zurück, auf den hellen Wandflächen oberhalb der Rundbogenfenster sind nur Medaillons mit tanzenden Frauen dargestellt. Das Bandelwerk tritt ebenfalls fast vollständig zurück, nur mehr die Schleifen zur optischen Aufhängung der Medaillons bilden noch ein ondulierendes Ornament dazwischen. Die Sgraffito-Arbeiten hatte Ignatz Schönbrunner ausgeführt, der auch die malerische Ausstattung im Inneren übernommen hatte.55 Der Vergleich zwischen dem heutigen Einblick und dem Schnitt von 1870 zeigt, dass auch die farbliche Innenausstattung weitgehend verloren gegangen ist. Der ehemals farbig gefasste Stuckfries ist noch erhalten, allerdings ohne Färbung. Die Ornamente in der Kuppel sind vollständig übermalt, nur im Vestibül hat sich noch die Grotesken-Malerei der Joche erhalten. Auch hierfür bilden Renaissanceimitationen antiker Grotesken den stilistischen Hintergrund. Die stilistische Orientierung an der italienischen Renaissance begründet Ferstel in seinem Bauzeitungs-Artikel nur anhand von Detailformen, die in ihrer Kombination dann selbstverständlich ein Bauwerk im Stile der Neurenaissance ergeben. Grundsätzlich hatte er sich ja schon Jahre zuvor durch seine Intervention gegen den Universitätsbau seiner beiden Lehrer hinter der Votivkirche gegen eine neugotische Verbauung ausgesprochen und den Renaissancestil präferiert. 56 Einerseits wegen der hohen Kosten für gotisierendes Maßwerk, andererseits auch wegen einer befürchteten, nicht näher definierten, optischen Beeinträchtigung. Von der optischen Wirkmacht der Renaissance war Ferstel jedenfalls überzeugt, so schreibt er beispielsweise über die Außengestaltung der Experimentenhalle des Professors, dass sie »ein wirkungsvolles architek-

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54 Allgemeines Verwaltungsarchiv, AIIc056 Universität Wien Chem. Inst.1870 Bl.04 und Bl.05. Beide signiert von Ferstel, 1870. 55 Siehe Ferstel 1874, S. 47. 56 Siehe Wibiral/Mikula 1974, S. 40 und 45 f.

Abb. 28: Heinrich von Ferstel, Chemisches Institut, Fassadenansicht des Wohnhofs, 1874 (Allgemeine Bauzeitung, Jg. 39, 1874, Bl. 59, Foto: Universität Wien, Institut für Kunstgeschichte)

57 Ferstel 1874, S. 46. 58 Ebd.

tonisches Motiv im Wohnungshofe bilden sollte«.57 Für das Gesamterscheinungsbild wollte Ferstel einen »architektonischen Charakter« erzielen, der die ästhetischen Anforderungen des ersten Universitätsbaus mit »einer gewissen Entschiedenheit«58 vertritt. Und dies wollte er eben mit der gewählten Materialität und den Formen der italienischen Frührenaissance erreichen. Über die optische Wirkung des Chemischen Instituts fügt Ferstel am Ende seines Artikels allerdings noch hinzu, dass das »Bauwerk […] weit mehr zur Geltung kommen [wird], wenn das

Heinrich von Ferstels Entwurf von 1868  79

als Pendant zu demselben in der Gruppe X° projektirte physiologische Institut, ein Gebäude von ähnlichen Dimensionen gebaut sein wird.«59 Entwurf für das Physikalische und Physiologische Institut

Nach Ferstels Vorstellungen sollte direkt neben das Chemische Institut das Physiologische Institut gebaut werden. Der hierfür vorgesehene Standort war keineswegs so sicher, wie Ferstel dies wiederholt dargestellt hatte.60 Es sind auch keine Pläne Ferstels für dieses einzelne Institut aus dem Jahr 1868 erhalten, sondern erst für das Physikalische und Physiologische Doppelinstitut, in dem zwei Professoren mit ihren getrennten Fachbereichen untergebracht werden sollten. Diese Grundrisse datieren allerdings von 1872, einem Zeitpunkt, zu dem die Situierung des Hauptgebäudes auf dem Paradeplatz bereits beschlossen war. Das Chemische Institut und das Physikalisch-Physiologische Institut sollten gemeinsam auf den Parzellen X und X° eine von einem Garten umschlossene Einheit bilden. Durch diese gemeinsame Garteneinfassung wäre die Hörlgasse von der Währingerstraße abgeschnitten worden, im genehmigten Stadterweiterungsplan von 1860 [Abb. 5] war allerdings genau diese Zufahrt auf die Währingerstraße vorgesehen. Ferstel unternahm Versuche, diesen stadtplanerischen Entwurf rückgängig zu machen. 61 Zeugnis davon liefert der Situationsplan nach 1872, in dem Ferstel an der oben beschriebenen Anordnung der Institutsbauten festhält [Abb. 18]. Zur Bekräftigung seines Anliegens entwarf er noch 1872 ein Programm für das Physikalisch-Physiologische Institut auf der Parzelle X°. Am Ende blieben Ferstels Überzeugungsversuche jedoch ohne Erfolg. Der Situationsplan zeigt wieder eine symmetrische Vierflügelanlage, deren Hof durch einen Mittelbau in zwei kleinere Höfe geteilt wird. Hiervon sind nur die Grundrisse erhalten [Abb. 29].62 Der Erdgeschossgrundriss auf der linken Seite zeigt einen fünfachsigen Mittelrisalit auf der rechten Seite des Gebäudes, in dem das Vestibül angelegt ist. An der oberen Seitenfassade ist ein kleiner Eingang eingezeichnet. Das Gebäude ist parallel zum Chemischen Institut angelegt und weist mit seinem Haupteingang zur Kolingasse. Mikula und Wibiral schreiben, dass der Haupteingang zur Gartenanlage Richtung Chemisches Institut weise. Dies erscheint aber aus mehreren Gründen unwahrscheinlich. Zum ersten ist der Garten zwischen den Instituten nicht so gestaltet, dass ein Weg zum vermeintlichen Haupteingang führt, sondern parallel zur Wasagasse verläuft ein kleiner Weg, der sich mittig auf der Schmalseite des Gebäudes etwas vergrößert, genau dort, wo im Grundriss der kleinere Eingang eingetragen ist. Zum zweiten ist um den Erdgeschossgrundriss auch die Parzellengrenze eingezeichnet, die, wie am Situationsplan, auf der unteren Seite weit weniger Parzellenrand zeigt als auf der oberen Seite, wo eben dieser Weg den rückwärtigen Trakt des Phy-

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59 Ferstel 1874, S. 47. 60 Ferstel 1874, S. 47. Denkschrift 1872, S. 4–5. 61 Siehe 8. Sitzung des UniversitätsBaucomités, 27. Januar 1869, Universitätsarchiv, S60, Schachtel 34  ; siehe auch Wibiral/Mikula 1974, S. 54. 62 Siehe Wibiral/Mikula 1974, S. 54. Albertina, Inv.Nr. 6941.

Abb. 29: Heinrich von Ferstel, Entwurf für das Physikalisch-Physiologische Institut, Grundrisse, ca. 1869 (Wibiral/Mikula 1974, Abb. 39)

sikalisch-Physiologischen Instituts mit dem Wohntrakt des Chemischen Instituts verbunden hätte. Die Grundrisse selbst zeigen, dass Ferstel straßen- und gartenseitig die Hörsäle, die Arbeitsräume und die Apparate-Sammlungen untergebracht hätte. Die beiden großen Hörsäle befänden sich in den Mittelrisaliten, einer zum Garten und einer zur Kolingasse. Ausgehend vom Mitteltrakt, der mit dem schmalen Treppenhaus im Grundriss in allen Geschossen als zentraler Wegverteiler fungiert, sind die Kommunikationswege an den Innenhöfen entlang angeordnet. Allerdings sind die Korridore auch in diesem Institut nie ganz umlaufend. Dies hat sicherlich auch hier mit der vorausgesehenen Funktionalität zu tun, denn die Korridore mussten zwar die unabhängige Begehbarkeit der beiden Institute gewährleisten, aber auch hier war innerhalb der beiden Institute kein Rundumgehen notwendig. Als stilistische Randnotiz ist an dieser Stelle noch zu bemerken, dass zwar kein Aufriss zu diesem Grundrissentwurf erhalten ist, da Ferstel den Bau aber bezeugtermaßen als Pendant zum Chemischen Institut plante, ist es wahrscheinlich, dass auch hier ein Ziegelbau in der Formensprache der italienischen Renaissance angedacht war.

Ferstels Vorentwurf zum Hauptgebäude von 1871

Direkt nach Ferstels Italienreise im Frühjahr 1871 entstand der sogenannte Vorentwurf, in dem bereits einige Merkmale des später ausge-

Ferstels Vorentwurf zum Hauptgebäude von 1871  81

führten Baus vorhanden sind [Abb. 30]. Die Bleistiftzeichnung zeigt den Grundriss des Obergeschosses. Trotz der Vielzahl an detaillierten Überlegungen zur Raumverteilung und Anlage von Stiegenhäusern und Kommunikationswegen, ist die Zeichnung in ihrer Ausführung noch sehr skizzenhaft und deutet an einigen Stellen auch Gestaltungsalternativen an. Strukturell trägt die gezeichnete Anlage bereits unverkennbare Züge des später ausgeführten Baus. Sie ist um einen großen zentralen Innenhof angelegt, der seitlich von jeweils zwei kleineren Innenhöfen flankiert wird. Die kleinen Innenhöfe werden auf beiden Seiten durch einen eingeschobenen Bauteil getrennt, wie Ferstel es in ähnlicher Form schon am Chemischen Institut erfolgreich erprobt hatte. Denn diese Einbauten umfassen innen ein Stiegenhaus, von dessen Wendepodest eine Tür in einen großen Hörsaal führt, der wiederum auch von der anderen Seite zugänglich ist. Die Fassaden sind durch unterschiedlich tiefe Risalite gegliedert. Die Mittelrisalite an der vorderen und der rückwärtigen Fassade sind mit ihren jeweils drei Fensterachsen Tiefe gewaltig. Zur Ringstraße fasst dieser Risalit den Festsaaltrakt und ist wiederum in Seiten- und Mittelrisalit(e) gegliedert, wobei diese vergleichsweise flach sind. Der rückwärtige Mittelrisalit ist ebenfalls durch Akzentuierung der jeweils äußersten drei Achsen strukturiert. Ebenfalls die äußeren drei Achsen der Seitenfassaden springen um etwa eine Fensterbreite vor, um die Ecken hervorzuheben. Wie in der späteren Ausführung wird der vordere Mittelrisalit durch die Querstellung des Festsaals und die zwei flankierenden Prunkstiegenhäuser geprägt. Die beiden Feststiegen sind dreiarmig, entweder mit einer zentralen zweiläufigen Anstiegstreppe, Wendepodest und zwei seitlichen zweiläufigen Armen, oder umgekehrt und mit zwei seitlichen zweiläufigen Antritten, Wendepodest und einem zentralen gemeinsamen zweiläufigen Austritt, der direkt zur Türöffnung zum Festsaal führt. In ihrer bereits durch ihre Abmessung erzeugten Monumentalität zeichnen sich die Treppenhäuser noch einmal besonders aus, als sie von beiden Abschlusspodesten jeweils einen Zugang zu dem großen Festsaal und dann noch zwei weitere Ausgänge zu anderen Sälen des »Festappartements« haben, aber eben keinerlei Zugänge zu den Verwaltungs- und Lehrtrakten. Dementsprechend würden die Feststiegen dieses Vorentwurfs zweimal die Größe des kleinen, benachbarten Festsaals, aber jeweils über zwei Geschosse einnehmen. Da diese Feststiegen trotz ihres gewaltigen Raumbedarfs nicht für den alltäglichen Universitätsverkehr gedacht waren, mussten zusätzliche Stiegenhäuser diesen Zweck erfüllen. Für den Lehr- und Verwaltungsbetrieb stehen kleinere Stiegenhäuser zu Beginn der inneren Längstrakte, in der Mitte der Längstrakte und noch kleinere an den äußeren Flügeln, jeweils um den Eckpavillon eingerückt, zur Verfügung. Zentral im rückwärtigen Trakt, in dem die Bibliothek vorgesehen ge-

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Abb. 30: Heinrich von Ferstel, Haupt­ gebäude der Universität, Vorentwurf, 1871 (Albertina, AZ 8093)

63 Vgl. Wibiral/Mikula 1974, S. 52. 64 Im Gegensatz zu den Feststiegen und der monumentalen Bibliotheksstiege.

wesen wäre, verbindet eine mächtige, zentral angeordnete Rundtreppe die Stockwerke. Während die Anordnung der kleineren Stiegenhäuser weitgehend beibehalten wird, musste Ferstel die Anlage der Feststiegen in den folgenden Entwürfen modifizieren und die Rundtreppe findet keine Anwendung mehr. In methodischer Fortsetzung seiner Überlegungen am Chemischen Institut entwickelte Ferstel in diesem Entwurf tatsächlich den ersten geschlossenen Kommunikationsring.63 Hatte das Chemische Institut noch keinen umlaufenden Gang erfordert, weil die Personengruppen und deren Räume innerhalb dieses einen Instituts so klar definiert waren, war die sinnvolle und getrennte Erschließung der zahlreichen Unterinstitutionen im Hauptgebäude nur durch eine gut durchdachte Korridorstruktur möglich. Die Seitentrakte des Obergeschosses werden durch jeweils einen um beide kleinen Höfe angelegten Korridorring zugänglich. Alle »Zweckstiegen«64 sind an diesen Korridor herangeführt, sodass nicht nur die horizontale, sondern auch die vertikale Erschließung eines Seitentrakts über diesen Kommunikationsring ermöglicht wird. Die Verbindung zwischen den beiden Seitentrakten wird allerdings durch den Festtrakt unterbrochen. Im Bibliothekstrakt wird nicht deutlich, ob der Korridor, der eine direkte Verbindung zwischen den beiden Kommunikationsringen schaffen könnte, nur für Bibliothekszwecke gedacht war

Ferstels Vorentwurf zum Hauptgebäude von 1871  83

(wie heute) oder tatsächlich eine Verbindung schaffen sollte. Innerhalb des Bibliothekstrakts ist wiederum ein kleiner Kommunikationsring angelegt, dessen Mitte die Rundtreppe bildet. Deren Ausgänge führen auf zwei Seiten zu Gängen. Der eine könnte, wie oben geschrieben, die Verbindung der seitlichen Hörsaal-Korridore sein und führt an kleineren Räumen, die zum großen Innenhof weisen, entlang. Der andere führt entlang des großen Lesesaals. Mit ihren Verbindungen seitlich des Treppenhauses und an den äußeren Enden des Bibliothekstrakts umschließen sie wiederum zwei kleine Höfe, die vermutlich, wie im Kunstgewerbemuseum, überdachte Lichthöfe darstellen. Da weder vom Hochparterre noch vom Erdgeschoss Grundrisse bekannt sind, kann man nur annehmen, dass im großen Innenhof bereits ein Arkadengang geplant war, aus dem vorhandenen Grundriss ist das nicht ersichtlich.65 Da der Arkadenhof in allen weiteren Entwürfen konsequent auftritt und als wichtigster Zugang zu allen Trakten angesehen wird, kann es als sehr wahrscheinlich gelten, dass Ferstel auch in diesem Vorentwurf an einen Arkadengang auf Innenhofniveau gedacht hatte. Der Entwurfscharakter dieser Skizze wird insbesondere an der konsequent variierenden Fensterbreite deutlich. Trotz einer Vielzahl an eingezeichneten Hilfslinien, mithilfe derer die Mitte des Hoffensters mit der Mitte des Fassadenfensters auf gleiche Höhe hätten gebracht werden können, weichen insbesondere am rechten Seitentrakt die Fensterfolgen fast durchgehend davon ab. Ferstel erprobt hier eine sinnvolle Verteilung der Fenster auf die riesenhafte Breite der Fassade. In den jeweiligen Flügeln testet Ferstel auch die Raumverteilungsmöglichkeiten und Zuordnungen. Im linken Hoftrakt verteilt er vier – vermutlich – Hörsäle auf dreizehn der fünfzehn Fensterachsen des großen Innenhofs, davon ein kleiner mit zwei Achsen Breite, zwei mit drei Achsen und einer mit fünf Achsen Breite. Auf der gegenüberliegenden Seite sind es drei große Hörsäle, zwei davon mit vier Achsen Breite und einer mit fünf. Die Stiegenhaus-Hörsaal-Quertrakte zwischen den seitlichen Höfen zeichnen sich durch eine besondere Fensterfolge aus, die mittig von der Hörsaalaußenwand drei Fenster anordnet und dann nach einem gewissen irregulären Abstand zwei weitere Fenster an der Stiegenhauswand. Das Festappartement, zu dem die beiden großen Stiegenhäuser im Mittelrisalit führen, zeichnet sich ebenso durch eine großzügige Aufteilung aus. An den mittigen großen Festsaal schließen hofseitig zwei Prüfungssäle an, links der »Saal für Disputationen« und rechts ein mit »Staatsprüf.« bezeichneter Saal. Fassadenseitig schließen wiederum zwei Säle an den großen Festsaal an, links wiederum als Festsaal bezeichnet, rechts ohne Bezeichnung. Diese beiden Säle bilden an der Fassade die fünfachsigen Rücklagen des in sich wiederum gegliederten Mittelrisalits, denn die mittleren drei Achsen vom großen Festsaal springen vor

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65 Vgl. Wibiral/Mikula 1974, S. 57  : »Der große Hof besitzt Arkaden.« Ebenfalls unklar ist mir die Gewissheit mit der die beiden Autoren an dergleichen Stelle behaupten, dass die kreuzgratgewölbten Gänge um die kleineren Höfe Arkadengänge seien  : »Zwischen diesen beiden Einschiebetrakten und den von ihnen verbundenen Gebäudeteilen verlaufen kreuzgratgewölbte Arkadengänge, welche die unmittelbare Verbindung beider Höfe herstellen.«

und werden zusätzlich durch vier vorgelagerte Vollsäulenpaare betont. Jeweils seitlich von den Rücklagen springen die äußeren drei Achsen des Mittelrisalits ein Stückchen vor. In diesen Eckräumen des großen mittleren Baublocks sind links wiederum ein Festsaal und rechts ein Staatsprüfungsraum untergebracht. Diese beiden Räume haben jeweils seitlich drei weitere Fenster, die die Tiefe des großen Mittelrisalits bestimmen. Anhand der Gestaltung des Mittelrisalits wird auch wieder der Entwurfscharakter dieser Zeichnung deutlich. Während der hervortretende Festsaal an der Fassade beidseitig der Symmetrieachse durch gepaarte Vollsäulen ausgezeichnet ist, ist die Gestaltung der beiden Seiten des Mittelrisalits unterschiedlich und wird hier zur Wahl gestellt. Auf der rechten Seite ist der seitliche Vorsprung des Staatsprüfungsraumes deutlich mit kurzen Querstrichen, die sicherlich für Pilaster stehen, markiert. Dafür scheint bei den Rücklagen auf der linken Seite eine Halbsäulenstellung zwischen den Fenstern angedeutet zu sein, wohingegen an der rechten Rücklage nur eine flache Gliederung sichtbar wäre. Die Zusammensicht der Merkmale dieses Vorentwurfs rechtfertigt auch seine Bezeichnung als Vorentwurf. Die Raumzuordnung des Obergeschosses ist großzügig und noch nicht vollständig durchdacht. Die Feststiegen erschließen exklusiv den Festtrakt und könnten dafür etwas zu raumgreifend geraten sein. Besonders deutlich wird das »Unfertige« aber an der Asymmetrie, mit deren Hilfe Ferstel unterschiedliche Gestaltungsoptionen erprobt. Wenn auch kein Aufriss hierzu erhalten geblieben ist oder vielleicht nie existiert hat, so wird bei der genaueren Betrachtung des ersten Entwurfs [Tafel 4 und Abb. 32] augenfällig, dass einige Details zueinander passen könnten. Zwar verändert Ferstel bis dahin die Staffelung der Risalite, jedoch scheinen die Doppelsäulenstellung an der Festsaalfront oder die Halbsäulen an den Rücklagen miteinander verwandt zu sein.

Unfertige Studie zur Weiterentwicklung des Vorentwurfs

66 Wien Museum, Inv.Nr. 165.308/7 verso. Die umseitige Aufriss-Skizze passt nicht zu diesem VorentwurfsGrundrisstyp und wird daher erst im Anschluss an den ersten Präsentationsentwurf vorgestellt.

Ein weiteres Blatt zum Vorentwurf befindet sich auf der Verso-Seite einer Aufriss-Studie für den späteren ersten Entwurf.66 Diese unvollendete Studie [Abb. 31] zeigt die strukturelle Einteilung des Grundrisses des Obergeschosses in weitgehender Übereinstimmung mit dem Vorentwurf. Trotz der Beschneidung an der oberen Seite lässt sich gut erkennen, dass die Anlage der fünf Höfe, die Trennung der seitlichen Höfe durch Treppenhaus und Hörsaal, die Anordnung der weiteren Treppenhäuser und die Einteilung des Festappartements großteils übereinstimmt. Die Hauptfassade weist einen breiten Mittelrisalit auf, der wiederum in zwei Seitenrisalite und einen vorspringenden Mittelteil ge-

Ferstels Vorentwurf zum Hauptgebäude von 1871  85

gliedert ist. Die Rücklagen, bei denen bereits die Fenster eingezeichnet sind, weisen ebenfalls elf Achsen auf. Es ist jedoch auszuschließen, dass es sich bei dieser unvollständigen Zeichnung um einen weiteren Geschossplan des Vorentwurfs handelt, denn der Umriss der beiden Pläne wäre nicht in Deckung zu bringen. Während die seitlichen Risalite des großen Mittelrisalits im Vorentwurf relativ flach bleiben, springen sie bei der unvollständigen Studie um etwa eine Achse hervor. Die Seitenfassaden sind in beiden Grundrissen so gegliedert, dass nach den ersten drei Achsen von der Hauptfassade aus die Wand zurückspringt, dort befindet sich jeweils eine gerade zweiläufige Treppe mit Wendepodest. Danach springt die Mauer wieder ein Stückchen vor, um nach 21 Fensterachsen wieder zurückzutreten, um erneut einen Zugang für ein weiteres Treppenhaus zu bieten. Die zweite Zeichnung ist nach sechzehn Achsen abgeschnitten. Die beiden Grundrisse unterscheiden sich hier wiederum im Detail an der Risalitlösung, denn in der unvollständigen Zeichnung ist der dreiachsige äußere Seitenrisalit der Seitenfassade um eine ganze Fensterbreite nach vorne getreten, während er im Vorentwurf nur eine Mauerecke ausbildet. Bei den Rücklagen für die Treppenzugänge experimentiert Ferstel wieder an den vier Stellen, an den vorderen Zugängen und links hinten probiert er Doppelfenster-Lösungen unterschiedlicher Breite, wohingegen das Fenster über dem nordwestlichen Zugang die ganze Breite der Rücklage einnimmt. Auf dem anderen Grundriss sind nur die beiden östlichen Fenster dargestellt, die

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Abb. 31: Heinrich von Ferstel, Unfertige Studie zur Weiterentwicklung des Vor­ entwurfs, 1871 (Wien Museum, Inv.-Nr. 165.308/7 verso)

symmetrisch ein Fenster aufweisen, das jeweils etwas breiter ist als das »Normalachsen«-Fenster. Aufgrund der Vereinheitlichung der Fensterbreiten, nicht nur an diesem Beispiel, sondern auch über die Rücklagen der Hauptfassade und die Seitenfassaden hinweg, nehme ich an, dass es sich bei der unvollständigen Zeichnung um die spätere handelt. Dass sie unvollständig geblieben ist, kann an der Änderung der Baustruktur im Laufe der Entwicklung des 1. Entwurfs gelegen haben.

Ferstels erster Entwurf von 1871

Der erste Entwurf besteht aus elf von Ferstel signierten und auf 1871 datierten Präsentationsblättern. Ein Satz dieses Entwurfs ist im Bestand des Wien-Museums erhalten,67 im Universitätsarchiv befinden sich keine Präsentationsblätter, die zu diesem Stadium passen. Dieser erste Entwurf ist detailliert ausgearbeitet und hat nicht mehr den skizzenhaften Charakter des Vorentwurfs. Laut Wibiral und Mikula legte Ferstel dem Professorenkollegium in der Mitte des Jahres 1871 einige »Planskizzen« vor,68 ob es sich dabei tatsächlich um Skizzen oder eben diese Ausführungen handelt, ist nicht klar. Durch die Aufrisse der Fassaden und die Profilschnitte gewinnt dieser Entwurf, im Vergleich zum Vorentwurf, entscheidend an Anschaulichkeit. Die Hauptfassade [Tafeln 4 und 5] wird durch einen dreiachsigen Mittelrisalit und zwei Türme an den inneren Ecken der Seitenrisalite auffällig gegliedert. Statt eines breiten Mittelrisalits springen nun zwei Seitenrisalite stärker hervor und bieten Raum für eine Rampe, die zu dem weniger hervorstehenden Mittelrisalit führt. Die Türme stellen ebenfalls eine große Neuerung im Gegensatz zum Grundriss des Vorentwurfs dar, da dort keine Turmstruktur angedeutet ist.

Der Grundriss

67 Wien Museum, Inv.Nr. 165.308/1–5 und Inv.Nr. 165.308/9–14. 68 Wibiral/Mikula 1974, S. 57.  ; siehe auch Allgemeines Verwaltungsarchiv, Akten des Ministeriums für Kultus und Unterricht, 9278 ex 1872.

Die fünf ersten Blätter des Entwurfs zeigen die Grundrisse der einzelnen Stockwerke, bezeichnet als Entresol, Hochparterre, erster Stock, Mezzanin und zweiter Stock [Abb. 32–35]. Das Prinzip eines großen Baublocks mit mehreren Innenhöfen behält Ferstel hier bei, auch die Anordnung eines Fest- und Verwaltungstrakts hinter der Hauptfassade, des Bibliothekstrakts an der rückwärtigen Seite und der zwei großen Lehrtrakten hinter den Seitenfassaden und an den zentralen Innenhof anschließend. In der Baumassenverteilung stellt Ferstel jedoch an einigen Stellen um. Anstatt des mächtigen und drei Achsen hervortretenden Mittelrisalits im Vorentwurf tritt der Mittelrisalit des

Ferstels erster Entwurf von 1871  87

ersten Entwurfs nicht einmal eine Fensterachse vor. Dagegen springen die beiden Seitenrisalite, besonders an ihren inneren Ecken, mit einer breiten Fensterachse deutlich weiter hervor und überragen den Mittelrisalit. Auf der Rückseite des Gebäudes findet ebenfalls eine Umkehrung der Tiefengliederung statt. Während der Bibliothekstrakt im Vorentwurf auch drei Fensterachsen hervorsprang, treten nun die inneren elf Achsen der Bibliothek zurück. Insgesamt sind in diesem Entwurf die Tiefenwechsel an der Fassade stark zurückgenommen, nur der Sprung an den inneren Ecken der Seitenrisalite hebt deutlich die Türme als dreidimensionale Baukörper hervor. Die Struktur und Funktion der Höfe wird in diesem Entwurf auch stärker herausgearbeitet. Zuvorderst fügt Ferstel weitere vier Höfe in den Grundriss ein, sodass seitlich von dem zentralen Innenhof jeweils zwei kleine Lichthöfe und zwei Innenhöfe angeordnet sind. Die seitlichen Höfe sind nun kleiner als die im Vorentwurf. Auch funktionell wirken die acht kleineren Höfe stärker untergeordnet. Während beim

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Abb. 32: Heinrich von Ferstel, Hauptge­ bäude, Erster Entwurf, Grundriss des Hoch­ parterres, 1871 (Wien Museum, 165.308/3)

Abb. 33: Heinrich von Ferstel, Haupt­ gebäude, Erster Entwurf, Grundriss des Mezzanins, 1871(Wien Museum, 165.308/2)

69 Vgl. Wibiral/Mikula 1974, S. 57.

Vorentwurf nicht klar ersichtlich wird, ob die seitlichen Höfe als offene Arkadengänge geplant waren,69 sieht man in den ausgearbeiteten Zeichnungen des ersten Entwurfs an allen Geschossgrundrissen deutlich, dass die Wandöffnungen als Fenster gedacht sind. Im Grundriss des Obergeschosses aber erkennt man weiterhin die Idee eines fast umlaufenden Korridors, der allerdings im vorderen Flügel durch die Feststiegen verbunden ist. Im Hochparterre existiert der Korridor nur mehr im äußeren Lehrtrakt, denn auf der inneren Seite verläuft bereits der Arkadenhof als Wegstrecke [Abb. 32]. Daher werden im Hochparterre die Fenster zu den kleineren Höfen auf der inneren Seite der Lehrtrakte für Wohnungsund Funktionsräume genutzt. Im Tiefparterre scheint die Notwendigkeit für belichtete Korridore wegzufallen, da die Räume, meist als Naturalwohnungen vorgesehen, über die Höfe erschlossen werden. Im Mezzaningeschoss [Abb. 33] gibt es keine einheitliche Nutzung und das zweite Obergeschoss erstreckt sich nur über den inneren beiden Lehrtrakten, hier ist der Korridor eine notwendige Verbindung [Abb. 35]. Darüber hinaus verfeinerte Ferstel die gesamte Anlage der Kommunikationswege. Da der Vorentwurf nur das Obergeschoss zeigt, kann an

Ferstels erster Entwurf von 1871  89

dieser Stelle, in Anlehnung an Wibiral und Mikula, nur angenommen werden, dass das Konzept des Vorentwurfs bereits den mittleren Arkadenhof vorsah und möglicherweise auch mit ähnlichen Funktionen bedachte. Ferstel variierte die Anlage der Stiegenhäuser im ersten Entwurf, um dadurch das Wegesystem zu optimieren. Während im Vorentwurf fünf große Treppenhäuser vorgesehen waren, die beiden Feststiegen, beide Hoftraktstiegen und die runde Bibliotheksstiege, erweiterte Ferstel die Anzahl der raumfassenden Stiegenhäuser auf acht, die er symmetrisch anordnete  : die beiden Feststiegen, die beiden Hoftraktstiegen, zwei weitere Stiegen auf der rückwärtigen Seite der Lehrtrakte, zwei zweiläufige Wendeltreppen in der Bibliothek und zusätzlich jeweils zwei doppelläufige, halbgewendelte Treppen an den Seitenfassaden. Die großen Stiegenhäuser des Verwaltungs- und Lehrtrakts sind jeweils zwischen den seitlichen Höfen eingespannt, so nehmen die Feststiegen den gesamten Raum zwischen Hof I und Hof III bzw. Hof II und Hof IV ein,70 der Gebäudeteil zwischen den beiden größeren Innenhöfen (Hof III und V, bzw. Hof IV und VI) wird jeweils von zwei großen Hörsälen und zweiar-

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Abb. 34: Heinrich von Ferstel, Haupt­ gebäude, Erster Entwurf, Grundriss des ersten Obergeschosses, 1871 (Wien Mu­ seum, 165.308/4)

70 Für die Bezeichnung der Höfe übernimmt die Autorin ab dem Entwurf von 1871 die offizielle Zählung der Universität, die auf den aktuellen Etagenplänen angegeben ist. Demnach liegen die Höfe I, III, V und VII hintereinander auf der linken Seite des Arkadenhofes und die Höfe II, IV, VI und VIII auf der rechten Seite. Dies ist insofern gerechtfertigt als sich die Anzahl der Innenhöfe im weiteren Planungsverlauf nicht mehr ändert. Eine entsprechende Übernahme der Stiegenzählung erschiene daher nicht

Abb. 35: Heinrich von Ferstel, Hauptge­ bäude, Erster Entwurf, Grundriss des zwei­ ten Obergeschosses, 1871 (Wien Museum, 165.308/5)

gerechtfertigt, da sich hier die Anzahl und die Anlage der Treppenhäuser im weiteren Entwurfsprozess noch mehrmals ändern werden.

migen, fünfläufigen Stiegen mit gemeinsamem Antritt vom Arkadenhof ausgefüllt. Zwischen den hinteren Höfen (Hof V und VII, bzw. Hof VI und VIII) spannen sich in diesem Entwurf zwei durch ein gemeinsames Podest ineinander verschränkte, gerade zweiläufige Treppen. Von beiden Korridoren im Hochparterre führt ein Lauf zum Podest und von dort aus wiederum ein Lauf zu einem der beiden Korridore im ersten Obergeschoss. Im hinteren Teil der Lehrtrakte wurden die zwei kleinen Treppen wiederum durch jeweils eine große Treppe, die aus zwei zweiläufigen Treppen mit gemeinsamem Podest kombiniert wurde, ersetzt, um die Passage größerer Studentenströme aus und in beide Seiten der Lehrtrakte zu erlauben. Statt einer zentralen Bibliotheksstiege sollte die Bibliothek nun durch zwei ebenfalls runde Treppen an den äußeren Seiten des Lesesaals erschlossen werden. Die Feststiegen sind im Vergleich zum Vorentwurf nach außen gerückt, um deren Ökonomie zu erhöhen. Nun führten sie nicht mehr nur zu den Festlokalitäten, sondern auch zu den seitlichen Trakten. Durch die Anlage der Feststiegen zwischen den Höfen wurde auch eine natürlich Beleuchtung möglich. Außerdem verlor der Festsaaltrakt an Tiefe,

Ferstels erster Entwurf von 1871  91

sodass an den zentralen quergestellten großen Festsaal nun fassadenseitig zwei weitere Festsäle angeschlossen wurden, rechts ein mittlerer Festsaal und links ein kleiner, die laut Beschriftung für 500 und 200 Personen ausgelegt waren. An den kleinen Festsaal schloss dann noch der »Sitzungssaal für den akad. Senat« an. Von dort führte ein Vorsaal zum linken Turmzimmer, das für den Rektor bestimmt war. Die weiteren Räume dieses linken Seitenrisalits waren den Universitätskanzleien vorbehalten. Ihre professorale Entsprechung fanden diese Räume auf der gegenüberliegenden Seite im rechten Seitenrisalit, das das »ProfessorenDecanat« beherbergen sollte, das Turmzimmer für dessen Vorstand, den Professoren-Decan. Die seitlichen acht Höfe liegen alle auf der Höhe des Parterres. Die jeweils vier aufeinanderfolgenden Höfe eines Lehrtrakts sind durch eine Reihe an Durchfahrten verbunden, die jeweils etwas außerhalb der Mittelachse der Höfe liegen. Auf diesen Durchfahrten ist kein Gefälle zu erkennen, daher macht es den Anschein, als hätte der Architekt in diesem ersten Entwurf das Gefälle des Baugeländes hier noch nicht berücksichtigt.

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Abb. 36: Heinrich von Ferstel, Hauptge­ bäude, Erster Entwurf, Aufriss der rück­ wärtigen Fassade, 1871 (Wien Museum, 165.308/14)

Abb. 37: Heinrich von Ferstel, Haupt­ gebäude, Erster Entwurf, Aufriss der Seitenfassade, 1871 (Wien Museum, 165.308/10)

Die belichteten Räume im Tiefparterre sind größtenteils für Wohnungen vorgesehen, nur die Räume zwischen den Mittelrisalitfundamenten und der rechten Einfahrt waren für die körperliche Ertüchtigung mit Garderobe, Turnsälen und Turnlehrerzimmer vorgesehen. Die langen Hallen unter den Arkadengängen und unter den mittleren Stiegenhäusern sind als Depots bezeichnet. Die Hallen unter der Bibliothek als »Depôts der Universitäts-Bibliothek«. Insgesamt erscheinen diese Grundrisse des ersten Entwurfs von 1871 sehr viel elaborierter als die Skizze des Vorentwurfs. Die Disposition der Fassadenstruktur, der Kommunikationswege, und der Repräsentationsräume war ab diesem Zeitpunkt festgelegt und wurde für den zweiten Entwurf nur mehr geringfügig verändert. Die Größen und Zuordnungen der Räume wurden allerdings im Laufe der Planungszeit noch variiert.

Ferstels erster Entwurf von 1871  93

Die Aufrisse und Schnitte

Die Grundrisse des ersten Entwurfs werden durch drei Aufrisse ergänzt, die die Hauptfassade [Tafel 4], die rückwärtige Fassade [Abb. 36] und eine Seitenfassade [Abb. 37] darstellen. Ebenfalls in diese Entwurfsphase gehören ein Längsschnitt [Abb. 38] und zwei Querschnitte [Abb. 39– 40]. Statt einer stark italienisierenden Renaissancefassade, wie das innerhalb der Wiener Monumentalitätsdebatte in den späten 1860er-Jahren zu erwarten gewesen wäre, präsentiert sich die Hauptfassade vielmehr als frankophile Fassade, die durch Türme, Spitzkuppeln, gekuppelte Fenster im zweiten Obergeschoss und Doppelsäulen am Mittelrisalit eher an französische Vorbilder erinnert. Die Blockhaftigkeit der italienischen Renaissance erschien Ferstel als ungeeignet für ein Bauwerk mit so riesenhaften Ausmaßen, wie die Universität sie erforderte. Außerdem war Ferstel auch durch den Kontext des Paradeplatzes beeinflusst, für den als erstes Friedrich Schmidts Rathausentwurf feststand. Dessen Fassade war durch einen zentralen hohen, neugotischen Turm

94  Das Planmaterial

Abb. 38: Heinrich von Ferstel, Haupt­ gebäude, Erster Entwurf, Längsschnitt entlang der Mittelachse, 1871 (Wien Mu­ seum, 165.308/13)

Abb. 39: Heinrich von Ferstel, Hauptge­ bäude, Erster Entwurf, Querschnitt durch den seitlichen Hof, den großen Innenhof und die Hörsäle, 1871 (Wien Museum, 165.308/11)

mit flankierenden Türmchen gekennzeichnet. Ferstels erster Universitätsentwurf hätte also die Bewegung der Türme aufgenommen, aber eben nicht repetiert, sondern durch die flankierenden hohen Türme variiert. Einige der späteren Fassadendetails sind schon im ersten Entwurf erkennbar. Dies sind insbesondere die rhythmischen Traveen mit den Figurennischen, die in den Ecken, an den Türmen und im Mittelrisalit in Hochparterre und Obergeschoss zur Anwendung kommen. Auch die Porträtmedaillons finden sich im Obergeschoss über einigen Figuren­ nischen und außerdem auch angedeutet an der Außenmauer des zurückversetzten zweiten Obergeschosses. Die wichtigsten Überlegungen zur Typologie und zur Funktionalität der Universität hatte Ferstel mit diesem Entwurf bereits abgeschlossen und wich davon in der Weiterentwicklung nicht mehr ab. Aber stilistisch sind diesem Entwurf noch die Unsicherheit in der Massenverteilung und die Abhängigkeit vom Bebauungskontext anzusehen.

Ferstels erster Entwurf von 1871  95

Die Vorstudien zum ersten Entwurf, ca. 1871

Zwei Vorstudien machen den Prozess der Entstehung des ersten Entwurfs deutlicher. Das erste Blatt zeigt eine Skizze des Grundrisses, der sich in einem Zwischenstadium zwischen dem Vorentwurf und dem ersten Entwurf befindet [Abb. 41]. Statt vier seitlichen Höfen sind hier noch die zwei wie im Vorentwurf eingezeichnet und zusätzlich ein kleiner Lichthof im vorderen Trakt. Vermutlich ist es dieser zusätzliche Hof, der Ferstel zur Umkehr der Fassadenbewegung motivierte, sodass nun zwei breite Seitenrisalite den kleineren Mittelrisalit flankieren. Durch den eher angedeuteten Ehrenhof gewann Ferstel auch Platz, um eine zum Hansen’schen Parlamentsentwurf korrespondierende Rampe in die Fassadengestaltung zu integrieren. Die Anlage der TreppenhausHörsaal-Kombination entspricht wiederum dem Vorentwurf und durch das Fehlen des vierten Lichthofs an der rückwärtigen Seite ist dort die Treppensituation noch nicht ganz geklärt. Ferstel plante jedenfalls auch in diesem Stadium schon eine geräumigere Stiege als im Vorentwurf.

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Abb. 40: Heinrich von Ferstel, Haupt­ gebäude, Erster Entwurf, Aufriss Quer­ schnitt durch den vorderen Trakt, 1871 (Wien Museum, 165.308/12)

Abb. 41 (Nächste Seite): Heinrich von Fers­ tel, Hauptgebäude, Studie zum Ersten Entwurf, Fassade und Grundriss, 1871 (Wien Museum, 165.308/6)

Ferstels erster Entwurf von 1871  97

Über dem Grundriss skizzierte Ferstel eine Aufrissvariante, in der er mit der Anlage der Türme experimentierte. Statt der zwei hohen Türme an den inneren Ecken der Seitenrisalite verteilte Ferstel gleichmäßig auf die Ecken Turmaufsätze, die aber die spitze Kuppel des Mittelrisalits nicht überragen sollten. Während er auf der rechten Seite einen flachen Abschluss zur Ansicht brachte, entwarf er links einen Ädikula-Aufsatz, der zusätzlich mit einer Art Nike bekrönt gewesen wäre. Auf dem zweiten Blatt erprobte Ferstel weitere Versionen der Eckund Turmgestaltung [Abb. 42], in denen die inneren Ecktürme der Seitenrisalite deutlich die zentrale Kuppel überragten. Deren quadratischer Grundriss hätte sich bis ins dritte Obergeschoss fortgesetzt und darauf hätte eine Laterne den Abschluss gebildet. Die äußeren Ecken könnten in dieser Zusammenstellung entweder wie links um ein Geschoss über das Kranzgesims hinausgehen oder aber wie rechts den Abschluss in einem Dreiecksgiebel auf Attikahöhe finden. Neben der Disposition der Räume und Wege, mit der Ferstel offenbar zufrieden war, sodass er daran im Weiteren festhielt, scheint ihn beim Entwerfen dieser ersten Pläne vor allem der Kontext der anderen Bauten auf dem Paradeplatz beschäftigt zu haben. In der Variation der Turmhöhen und der Turmform suchte er nach einer Möglichkeit, wie die Universität mit dem Aufriss des Rathauses korrespondieren könne, ohne dabei gotisch zu wirken. In der Adaption französischer Rathausarchitektur scheint Ferstel zunächst eine Lösung gefunden zu haben.

98  Das Planmaterial

Abb. 42: Heinrich von Ferstel, Haupt­ gebäude, Fassadenstudie zum Ersten Ent­ wurf, 1871 (Wien Museum, 165.308/7 recto)

Abb. 43: Heinrich von Ferstel, Hauptge­ bäude, Zweiter Entwurf, Grundriss des Tiefparterres, 1872 (UAW, 109.1.12.22, Foto: Universität Wien, Institut für Kunstge­ schichte, René Steyer/Karl Pani)

Ferstels zweiter Entwurf von 1872 und dessen Varianten

Der Stil des ersten Entwurfs fand offenbar keinen Anklang, denn bereits im Mai 1872 präsentierte Ferstel einen zweiten Entwurf, der sich vor allem stilistisch von dem ersten unterscheidet. Von diesem zweiten Entwurf befindet sich ein unvollständiger Satz im Archiv der Universität Wien. Erhalten sind die Grundrisse von Tiefparterre, Hochparterre und zweitem Stock, derjenige des ersten Obergeschosses fehlt. Außerdem befinden sich in der Plansammlung des Archivs dazugehörige Aufrisse sowie Schnitte, der Aufriss der Hauptfassade fehlt allerdings. In eine Zwischenphase zwischen dem ersten und dem zweiten Entwurf ist eine Variante des Aufrisses einzuordnen, die Ferstels weitere Auseinandersetzung mit dem Bebauungskontext widerspiegelt.

Ferstels zweiter Entwurf von 1872 und dessen Varianten  99

Fassadenvariante

Bereits in einer der frühesten Studien zur Bebauung des Paradeplatzes von Friedrich von Schmidt erschien Theophil Hansens Parlament als Adaption eines griechischen Tempels mit großer Rampe [Abb. 121].71 Ferstels Fassadenvariante, die er statt des ersten Entwurfs zum Vorschlag brachte, orientierte sich nun eher an diesem benachbarten Monumentalbau. Am stärksten bringt dies ein Präsentationsaquarell zum Ausdruck, dass sich im Besitz des Archivs der Technischen Universität Wien befindet [Tafel 6].72 Die Hauptfassade dieser Universitätsvariante war zwar noch immer zum Ring hin ausgerichtet. Den Mittelrisalit bekrönte, wie auch das Parlament, ein breiter Dreiecksgiebel. Damit die Seitenfassade besser mit derjenigen des Parlaments korrespondierte, adaptierte Ferstel die Risalite so, dass sie traufständig zur Ringstraße standen und mit ih-

100  Das Planmaterial

Abb. 44: Heinrich von Ferstel, Hauptge­ bäude, Zweiter Entwurf, Grundriss des Hochparterres, 1872 (UAW, 109.1.12.21, Foto: Universität Wien, Institut für Kunstge­ schichte, René Steyer/Karl Pani)

71 Siehe auch Ausstellungskatalog Ungebautes Wien 1999, S. 89. 72 Siehe Forsthuber 1992.

Abb. 45: Heinrich von Ferstel, Haupt­ gebäude, Zweiter Entwurf, Grundriss des zweiten Obergeschosses, 1872 (UAW, 109.1.12.20, Foto: Universität Wien, Institut für Kunstgeschichte, René Steyer/Karl Pani)

73 In einer weiteren Skizze und einer weiteren Perspektivansicht im Bestand des Wien Museums erprobte Ferstel die Möglichkeiten einer Fassade mit Giebel und Satteldach am Mittelrisalit und flachen Kuppeln über den Pavillons. Vgl. Wien Museum, Inv. Nr. 165.308/16 und 165.308/17.

ren Giebeln parkseitig ausgerichtet waren. Die Gestaltung der anderen Fassadenelemente, besonders der Rücklagen und Fensterformen behielt Ferstel hier weitgehend bei. In einer Studie und zwei weiteren Aquarellen im Bestand des Wien Museums arbeitete Ferstel weiter an einer Fassade mit bekrönendem Dreiecksgiebel, wobei er in dieser folgenden Variante die Seitenrisalite an den Ecken – statt mit Giebeln – jeweils mit Kuppeln besetzte [Tafel 7].73

Entwurfssatz, Mai 1872

Die flachen Kuppeln der gräzisierenden Variante übernahm Ferstel für die weitere Gestaltung der Fassade, wo er insbesondere dem Mittelrisalit einen

Ferstels zweiter Entwurf von 1872 und dessen Varianten  101

ganz neuen Charakter verliehen hatte. Zwar fehlt in diesem Entwurfssatz der Aufriss der Hauptfassade, das Aussehen der Kuppel lässt sich jedoch mithilfe der anderen Aufrisse und der Schnitte nachvollziehen [Abb. 46–50]. In einem viel stärkeren Maß als der Dreiecksgiebel der vorhergehenden Variante akzentuiert die zentrale Querkuppel die ausladende Fassade und die massiven Baukörper der Universität. Durch die Wahl gänzlich anderer Motive stehen Parlament und Universität nicht als Konkurrenten benachbart an der Ringstraße, sondern gemeinsam mit dem Rathaus und dem schließlich gegenüber geplanten Hofburgtheater sollten sie sich zu einer Veranschaulichung der kulturhistorischen Höhepunkte der Menschheitsgeschichte ergänzen.

102  Das Planmaterial

Abb. 46: Heinrich von Ferstel, Haupt­ gebäude, Zweiter Entwurf, Aufriss der Seitenfassade, 1872 (UAW, 109.1.12.3, Foto: Universität Wien, Institut für Kunstge­ schichte, René Steyer/Karl Pani) Abb. 47: Heinrich von Ferstel, Haupt­ gebäude, Zweiter Entwurf, Aufriss der rück­ wärtigen Fassade, 1872 (UAW, 109.1.12.17, Foto: Universität Wien, Institut für Kunst­ geschichte, René Steyer/Karl Pani)

Ferstels zweiter Entwurf von 1872 und dessen Varianten  103

Die Zusammenstellung der Gebäudetrakte und der Kommunikationswege im Grundriss, wie Ferstel sie im ersten Entwurf entwickelt hatte, übernahm er für den zweiten Entwurf. Dennoch lassen sich einige Weiterentwicklungen in den Details erkennen. Die Stiegenhaus-HörsaalKombination zwischen den großen seitlichen Höfen verregelmäßigte Ferstel wieder, außerdem entfernte er das hintere Paar der halbgewendelten Treppen an den Lehrtrakten. Den größten Eingriff nahm Ferstel aber im Vestibül vor. Den ursprünglich pseudo-basilikalen Raum mit Doppelsäulenstellung, der am Kreuzungspunkt zwischen Vestibül und umlaufendem Korridor in einer Pseudo-Vierung mündete [Abb. 32 und 38], vereinfachte er zu einem dreischiffigen Saalraum mit einfachen Säulen ohne Hervorhebung des Kreuzungspunktes [Abb. 44].

Weiterentwicklung des zweiten Entwurfs

Ein Präsentationsblatt, das Rudolf von Alt anlässlich der Wiener Weltausstellung im Jahr 1873 aquarelliert hatte, zeigt, dass die Fassadengestaltung des zweiten Entwurfs bereits in vielen Aspekten mit der späteren Ausführung übereinstimmt [Tafel 9]. Die bemerkenswerten Unterschiede bestehen vor allem in der Form des Risalits an den Seitenfassa-

104  Das Planmaterial

Abb. 51: Julian Niedzielski, Isometrischer Schnitt, um 1872 (Wien Museum, Inv.-Nr. 165.308/53)

Vorige Seite: Abb. 48: Heinrich von Ferstel, Hauptge­ bäude, Zweiter Entwurf, Querschnitt durch den vorderen Trakt, 1872 (UAW, 109.1.12.14, Foto: Universität Wien, Institut für Kunst­ geschichte, René Steyer/Karl Pani) Abb. 49: Heinrich von Ferstel, Hauptge­ bäude, Zweiter Entwurf, Querschnitt durch den seitlichen Hof, den großen Innenhof und die Hörsäle, 1872 (UAW, 109.1.12.16, Foto: Universität Wien, Institut für Kunst­ geschichte, René Steyer/Karl Pani) Abb. 50: Heinrich von Ferstel, Hauptge­ bäude, Zweiter Entwurf, Längsschnitt, 1872 (UAW, 109.1.12.6, Foto: Universität Wien, Institut für Kunstgeschichte, René Steyer/ Karl Pani)

Abb. 52: Heinrich von Ferstel, Haupt­ gebäude, Weiterentwicklung des Zweiten Entwurfs, Aufriss der Hauptfassade, 1872/73 (UAW, 109.1.12.12, Foto: Universität Wien, Institut für Kunstgeschichte, René Steyer/Karl Pani) Abb. 53: Heinrich von Ferstel, Haupt­ gebäude, Weiterentwicklung des Zweiten Entwurfs, Aufriss der Seitenfassade zum Rathausplatz, 1872/73 (UAW, 109.1.12.5, Foto: Universität Wien, Institut für Kunstge­ schichte, René Steyer/Karl Pani) Abb. 54: Heinrich von Ferstel, Haupt­ gebäude, Weiterentwicklung des Zweiten Entwurfs, Aufriss der Seitenfassade nach Norden, 1872/73 (UAW, 109.1.12.10, Foto: Uni­ versität Wien, Institut für Kunstgeschichte, René Steyer/Karl Pani) Abb. 55: Heinrich von Ferstel, Haupt­ gebäude, Weiterentwicklung des Zweiten Entwurfs, Aufriss der rückwärtigen Fas­ sade, 1872/73 (UAW, 109.1.12.13, Foto: Uni­ versität Wien, Institut für Kunstgeschichte, René Steyer/Karl Pani)

74 Ferstel 1892.

den, in den flachen Kuppeln auf den Risalitecken und in der Fensterform im zweiten Obergeschoss des Mittelrisalits. Aufgrund dieser Fensterform am Mittelrisalit lässt sich auch der Isometrische Schnitt, den Ferstels Mitarbeiter Julian Niedzielski gezeichnet hatte, auf das Jahr 1872 datieren, wenn er auch 1892 noch einmal in den Wiener Monumentalbauten publiziert wurde [Abb. 51].74

Ferstels zweiter Entwurf von 1872 und dessen Varianten  105

Nahezu fließend entwickeln sich die Entwürfe dann hin zum Ausführungsentwurf, so befinden sich im Archiv der Universität drei undatierte Aufrisse und ein Schnitt, die das Bauwerk mit höheren, bauchigeren Eckkuppeln und den Biblioteca Marciana-Zitaten an den Seitenfassaden zeigen [Abb. 52–54]. Die rückwärtige Fassade entsprach aber noch der ursprünglichen, basilikalen Bibliotheksplanung [Abb. 55], und auch die Fenster des Festsaals waren noch als Rundbogenfenster gestaltet. Die 1874 genehmigten Grundrisse unterscheiden sich von denjenigen des zweiten Entwurfs nur mehr in wenigen Details und einzelnen Raumzuordnungen [Abb. 56–59].

106  Das Planmaterial

Abb. 56: Heinrich von Ferstel, Haupt­ gebäude, Genehmigter Plan, Grundriss des Tiefparterres, 1874 (AVA, Fasz.5082-25 Zl.11103-74)

Abb. 57: Heinrich von Ferstel, Hauptge­ bäude, Genehmigter Plan, Grundriss des Hochparterres, 1874 (AVA, Fasz.5082-25 Zl.11103-74)

Veränderungen im Verlauf der Bauzeit

Ein kolorierter Schnitt durch die Bibliothek von 1877 offenbart nicht nur das ursprüngliche Konzept Ferstels einer koloristischen Gesamtausstattung der Universität, sondern dient auch als Veranschaulichung der Spannungen um die Bibliotheksplanungen [Tafel 10]. So sollten mit diesem Präsentationsblatt die Vorzüge des bisherigen Konzepts verdeutlicht werden. Im Vergleich zum Schnitt von 1872 [Abb. 50] wurde hier allerdings das Niveau der beiden äußersten Schiffe angehoben, sodass sich alle Räume der Bibliothek auf demselben Niveau befanden und unter den äußeren Schiffen höhere Magazinräume eingerichtet werden konnten. Aus dem Jahr darauf ist ein entsprechender Grundriss überliefert, der alle drei Schiffe auf einem Niveau zeigt und außerdem eine neue Anlage der Zugangstreppen [Abb. 60]. Von der nordwestlichen Ecke des

Ferstels zweiter Entwurf von 1872 und dessen Varianten  107

Arkadenhofs verlief der Antritt zur dreiläufigen Bibliotheksstiege axial [Tafeln 11 und 12]. Dieses Stiegenhaus hätte reich mit farbigen Groteskenmalereien und Skulpturen ausgestattet werden sollen. Erst die Pläne von 1881 aus dem Bestand des Wien Museums dokumentieren Ferstels Abänderung des Bibliothekskonzepts, das vom basilikalen Aufbau zu einem Saalraum mit Oberlicht wechselte [Abb. 64–65]. Hier wird auch die neue Zugangslösung zur Bibliothek durch eine zweiarmige, dreiläufige Treppe mit einem gemeinsamen Antritt im Hochparterre sichtbar. Darüber hinaus ist in diesen Grundrissen noch einmal genau die endgültige Raumzuordnung festgehalten. Das juridische Dekanat findet nun seinen Sitz im Obergeschoss des südöstlichen Teils des Verwaltungstrakts, das philosophische gegenüber im nordöstlichen Teil. Das medizinische Dekanat wird hingegen im Hochparterre des nördlichen

108  Das Planmaterial

Abb. 58: Heinrich von Ferstel, Hauptge­ bäude, Genehmigter Plan, Grundriss des ersten Obergeschosses, 1874 (AVA, Fasz.5082-25 Zl.11103-74)

Abb. 59: Heinrich von Ferstel, Hauptge­ bäude, Genehmigter Plan, Grundriss des zweiten Obergeschosses, 1874 (AVA, Fasz.5082-25 Zl.11103-74)

Lehrtrakts untergebracht. Das theologische Dekanat ist im inneren nördlichen Lehrtrakt über die mittlere Stiege im zweiten Stock erreichbar. Die einschneidendsten Veränderungen ergaben sich also durch die Unzufriedenheit der Bibliotheksleitung, die noch fünf Jahre nach Baubeginn eine grundlegende Umgestaltung des Bibliothekskonzepts erzwang. Dadurch aber erst wurde der Lesesaal zu einem der modernsten und funktionellsten im ausgehenden 19. Jahrhundert.

Ferstels zweiter Entwurf von 1872 und dessen Varianten  109

Abb. 60: Heinrich von Ferstel, Haupt­ gebäude, Korrektur des Plans, Grundriss des ersten Obergeschosses, 1878 (UAW, 109.1.12.23, Foto: Universität Wien, Institut für Kunstgeschichte, René Steyer/Karl Pani)

110  Das Planmaterial

Charakterisierung des ausgeführten Bauwerks Nach Freigabe des Paradeplatzes werden auf dem riesigen Areal nicht nur die Universität, sondern insgesamt vier Monumentalbauten errichtet [Abb. 61]. Die Luftbildaufnahme macht die Ausmaße des Bauareals deutlich und zeigt, wie sich die Bauten auf dem Platz gruppieren. Obwohl sie um einen zentralen Platz angeordnet sind, wirken sie weitgehend eigenständig, da sich Parlament, Rathaus und Universität zur Ringstraße und nicht zum Platz hin ausrichten und sich in der Folge nur Rathaus und Hofburgtheater in einer Achse aufeinander beziehen. Auf der südlichen Seite des Platzes steht das im hellenistischen Stil gestaltete Parlament, das der Architekt Theophil Hansen zugunsten einer monumentalen Rampe von der Ringstraße weggerückt hat. In der Mitte des Areals, aber deutlich nach hinten versetzt, wurde das neugotische Rathaus von Friedrich von Schmidt angeordnet. Gegenüber dem Rathaus, aber innerhalb der Ringstraße und damit nicht auf dem eigentlichen Paradeplatz, erbauten Gottfried Semper und Carl von Hasenauer das Hofburgtheater im neubarocken Stil. Auf der nördlichen Parzelle errichtete Heinrich von Ferstel das Hauptgebäude der Universität direkt an der Ringstraße. Die Hauptfassade zum Ring misst etwa 160 Meter und die Seitenfassaden gehen etwa 133 Meter in die Tiefe. Im Inneren ist die Anlage um einen großen zentralen Arkadenhof und acht kleinere, seitliche Innenhöfe strukturiert.

Die Fassade

1 Ferstel 1892, o. P. (S. 2).

Die breite Hauptfassade zum Ring gliedert sich in wuchtige seitliche Risalite mit Eckpavillons, siebenachsige Rücklagen und einen überhöhten Mittelrisalit, zu dessen Eingang sowohl eine Freitreppe als auch eine zweiarmige Rampe hinaufführt [Tafel 1]. Diese Rampe tritt aber nicht über die Seitenrisalite hinaus und erzeugt daher keine Distanz zur Ringstraße, wie das beim Parlament der Fall ist. Rampen und Treppe treffen sich in der dreiachsigen Unterfahrt des Mittelrisalits, die nochmals aus dem Vorbau hervortritt. Die darüberliegende Loggia ist mit einem Dreiecksgiebel bekrönt. Das dahinterliegende Attikageschoss und das Dach des Mittelrisalits akzentuieren durch ihre Überhöhe deutlich die Mitte des Bauwerks [Abb. 62]. Die Fassadehöhe ist über dem Sockelgeschoss zweigeschossig. Das Sockelgeschoss ist oberhalb des untersten Steinsockels durchgehend mit groben Bossenquadern aus Wöllersdorfer Stein1

Die Fassade  111

Abb. 61: Luftbild der Wiener Ringstraße, zwischen 1960 und 1969 (Universität Wien, Institut für Kunstgeschichte, Ringstraßen­ archiv, Inv.-Nr. IV/1c-0936)

strukturiert. Ein umlaufendes Gesims trennt den Sockel vom Hochparterre, auf dessen Höhe der Haupteingang liegt. Es ist mit flachen Polsterquadern versehen und durch toskanische Pilaster2 rhythmisiert [Abb. 63]. Das Gebälk ist weitgehend glatt und mit einem Zahnschnitt nach oben abgeschlossen. Das Hauptgeschoss weist in den Wandflächen nur mehr einen linearen Fugenschnitt auf, dafür treten die Wandvorlagen umso stärker nach außen. Die hohen Rundbogenfenster werden von ionischen Halbsäulen gerahmt. Im Fries wechseln sich festons-haltende Putten mit rechteckigen Kartuschen ab. Ein Zahnschnitt leitet zum umlaufenden Kranzgesims über. Am Mittelrisalit wird das geschossweise Gestaltungsprinzip plastisch bereichert durch Rundbogendurchgänge im Hochparterre und Zwickelfiguren im Obergeschoss. Das Attikageschoss des zentralen Vorbaus erhält zwar im Sinne der Superposition eine korinthische Ordnung, diese ist aber an kleine, sehr flache Pilaster gebunden. In der Dachlandschaft setzen dieses Attikageschoss mit seiner flachen Längskuppel und die kleineren Kuppeln der Eckpavillons die Akzente zwischen der umlaufenden, figurenbesetzten Attikabalustrade. Die tiefen Seitenrisalite der Hauptfassade sind in fünfachsige Rücklagen und vier Eckpavillons gegliedert. Jede Seite der Pavillons ist im Obergeschoss mit einem giebelbekrönten Triumphbogenmotiv ausgezeichnet, in dessen seitlichen Traveen Nischenfiguren und Medaillons angebracht sind. Die vier Pavillons zur Ringstraße werden im Attikabereich durch allegorische Figurengruppen bereichert. Die äußeren Eckpavillons leiten zu den Rücklagen der Seitenfassaden über, die zum Rathauspark und zum Sigmund-Freud-Park weisen [Tafel 2]. Diese zweigeschossigen Rücklagen sind in der Gestaltung gegenüber der Hauptfassade zurückgenommen, indem statt des hohen Ober-

112  Charakterisierung des ausgeführten Bauwerks

2 Diese Pilaster sowie alle Architekturteile der anderen Stockwerke sind aus Grisignano hergestellt. Siehe Ferstel 1892, o. P. (S. 2).

Abb. 62: Ringfassade des Hauptgebäudes der Universität Wien (Foto: Franz Pfluegl, 2006)

Abb. 63: Mittelrisalit der Ringfassade der Universität Wien (Foto: Wolfgang Thaler, 2014)

geschosses mit großen Rundbogenfenstern hier nun flach verdachte rechteckige Fenster einem niedrigeren Obergeschoss zugeordnet sind und darüber kleine, fast quadratische Fenster ein Mezzaningeschoss markieren. Statt Halbsäulen rhythmisieren hier nun halbkolossale Pilaster die Wandfläche. Diese vier Rücklagen-Achsen bilden so einen Kontrast zum dreigeschossigen breiten Mittelrisalit. Dieser Kernbau der Seitenfassade kehrt

Die Fassade  113

wieder zum Gestaltungsprinzip der Hauptfassade zurück und erweitert dieses Schema im zweiten Obergeschoss durch rechteckige Fenster mit Giebelverdachung zwischen korinthischen Halbsäulen. An den äußeren drei Achsen bildet dieser Kernbau wiederum Seitenvorsprünge aus, die reicher gestaltet und mit Attikafiguren und Obelisken bekrönt sind. Aufgrund eines Niveauunterschieds im Gelände wird das Sockelgeschoss über die etwa 133 Meter nach hinten immer flacher, sodass es im rückwärtigen Teil nur mehr das Souterrain ausbilden kann. An den Ecken zur rückwärtigen Fassade akzentuiert wieder ein kuppelbekrönter Pavillon den Übergang. Die jeweils neunachsigen Rücklagen sind auch hier mit einem Mezzaningeschoss gegliedert. Dazwischen tritt wieder ein starker, überhöhter Mittelrisalit hervor, der sich von dem erprobten Gestaltungsprinzip unmissverständlich absetzt. Erneut sind die äußeren drei Achsen hervorgehoben und im ersten und zweiten Obergeschoss mit Triumphbogenmotiven betont, aber die Plastizität der Architekturteile bleibt in Form von ionischen und korinthischen Pilastern zurückgenommen. Die Verwendung von Pilastern setzt sich auch in der neunachsigen Rücklage fort, die immerhin das Säulenbogenmotiv in beiden Obergeschossen aufnimmt. Die eigentliche Fensterfläche bleibt aber weitgehend blind, im ersten Obergeschoss ist die gesamte Fläche des Rundbogenfensters vermauert, im zweiten Obergeschoss bleiben nur Thermenfenster zur Beleuchtung des dahinterliegenden Lesesaals frei. An diesem Trakt greift ein neues Gestaltungsprinzip  : Sowohl die Wandflächen dieser seitlichen Vorsprünge als auch sämtliche Flächen der neunachsigen Rücklage sind mit ornamentaler und figürlicher Sgraffito-Malerei gestaltet.

Der Grundriss

Die Struktur der Gesamtanlage wird am Grundriss deutlich [Abb. 64–65].3 Sie gruppiert sich mit mehreren Trakten um insgesamt neun Innenhöfe. Der vordere Trakt zur Ringstraße umfasst zwei kleine Lichthöfe. Mittig schließt der große Arkadenhof an, der auf der Rückseite vom Bibliothekstrakt geschlossen wird. Links und rechts liegen je zwei Trakte an, die sogenannten Lehrtrakte, die je zwei mittlere und rückwärtig einen kleinen Innenhof umschließen. Im Hochparterre führt der Haupteingang im Mittelrisalit in ein großes Vestibül, das die gesamte Tiefe des Traktes bis zum Innenhof einnimmt. Durch zwei Säulenreihen ist die Eingangshalle in drei Schiffe geteilt, deren Joche überwölbt sind. Dem gesamten Bauwerk liegt ein ausgeklügeltes Kommunikationssystem zugrunde, das im Vestibül seinen Ausgang nimmt [Abb. 64]. Die Treppen im vierten Joch führen in seitliche, kleine Hallen, die als innenliegender Teil die Arkaden um den Innenhof verlängern. An diese Hallen

114  Charakterisierung des ausgeführten Bauwerks

3 Diese allgemeine Grundrissbeschreibung orientiert sich an dem letzten bekannten, von Ferstel selbst autorisierten Grundriss-Satz. Die Signatur stammt vom 9.11.1881. Diese Grundrisse von Tiefparterre, Hochparterre, Erstem Stock, Mezzanin und zweitem Stock werden vom Wien Museum bewahrt und tragen die Inventarnummern 165.308/19– 23.

Abb. 64: Heinrich von Ferstel, Hauptge­ bäude der Universität Wien, Geänderter Plan, Grundriss des Hochparterres, 1881 (Wien Museum, Inv.-Nr. 165.308/20)

schließen oktogonale Räume an, die wiederum als Verteiler fungieren, denn von hier gelangt man sowohl in den Arkadenhof als auch zu den beidseitigen Festtreppenhäusern. Die Arkaden des Innenhofs stellten für Ferstel das Herz der Kommunikation dar. Von hier aus sollten die weiteren Gebäudeteile erschlossen werden. Dementsprechend erreicht man von hier aus nicht nur auf jeder Seite zwei weitere geräumige Treppenhäuser, sondern ursprünglich war in der nordwestlichen Ecke auch der Zugang zur Bibliothek, zu der eine weitere Stiege hinaufführte. Die äußeren Lehrtrakte werden auf Hochparterre-Niveau entweder über einen Gang seitlich der Feststiegen oder parallel zu den hintersten Stiegen erreicht. Zwei weitere, ovale Stiegenhäuser, die im Grundriss in Verlängerung der Querachse über den Feststiegen eingezeichnet sind, existieren heute nicht mehr. Ursprünglich bildeten sie von den einzigen seitlichen Eingängen im Tiefparterre den Zugang zum Wegesystem. Stattdessen wurden im Zuge der Nachkriegssanierungen hier Hörsäle und Arbeitsräume eingerichtet.

Der Grundriss  115

Während das Wegesystem im Hochparterre zentral über den Arkadenhof funktionierte, hat Ferstel im Obergeschoss [Abb. 65] zwei separierte Korridoranlagen für die beiden Lehrtrakte eingerichtet. Die Kommunikation zwischen den beiden Lehrtrakten ist aber durch die Bibliothek und den Festsaal unterbrochen, sodass hierzu der Weg über das Vestibül oder den Arkadenhof gewählt werden muss. Daher sind die oberen Korridore jeweils über die Feststiegen und die zwei weiteren Stiegen mit dem Arkadenhof verbunden. Der Verwaltungstrakt, der im Obergeschoss Festsaal, Rektorszimmer, Dekanate und weitere für die Verwaltung notwendige Räume umfasst, erstreckt sich entlang der Ringstraße und umfasst in den Seitenrisaliten zwei kleine Lichthöfe. Dieser Verwaltungstrakt schließt mit dem ersten Obergeschoss ab, über das nur der überhöhte Festsaal hinausragt [Tafel 1]. Die breiten Mittelteile der Lehrtrakte sowie der Bibliothekstrakt bilden ein zweites Obergeschoss aus, das jeweils über die mittleren Stiegen vom Arkadenhof sowie über kleine seitliche Stiegen erreichbar ist.

116  Charakterisierung des ausgeführten Bauwerks

Abb. 65: Heinrich von Ferstel, Hauptge­ bäude der Universität Wien, Geänderter Plan, Grundriss des ersten Obergeschosses, 1881 (Wien Museum, Inv.-Nr. 165.308/22)

Das Mezzaningeschoss tritt nur an vier Achsen der Seitenfassaden und nur an den rückwärtigen Ecken des Gebäudes in Erscheinung und ragt aufgrund der dort abgesenkten Höhe des ersten Obergeschosses nicht über das umlaufende Kranzgesims hinaus [Tafel 2]. Den unterschiedlichen Funktionen der Universität wie Verwaltung, Lehre und Bibliothek sind einzelne Bautrakte zugeteilt, die nicht nur durch das Wegesystem miteinander verbunden sind, sondern sich auch durch eine Verschränkung der Baukörper zu einem funktionalen Baukomplex zusammenfügen.

Die Innenräume

4 Mühlberger 2007, S. 68.

Der Eingangsbereich im Hochparterre, das große Vestibül, wurde als dreischiffige Halle angelegt, deren stuckierte Flachkuppeln von zwölf toskanischen Granitsäulen getragen werden [Abb. 66]. Die Säulenordnung passt sich dem decorum der Fassade an, das im Hochparterre ebenfalls toskanische Pilaster anwendet. Die Längsseiten sind durch jeweils drei konkave Nischen und ursprünglich zwei Treppenaufgänge gegliedert. Die vorderen Treppenläufe wurden 1893 zugunsten der Rektorentafeln und 2006 zugunsten der Umgestaltung des Portierbereichs entfernt.4 Neben der Rektorentafel aus rotem Marmor, in der alle bekannten Rektoren seit Universitätsgründung eingraviert sind, befinden sich in der angrenzenden Nische noch ein Denkmal aus Glasstelen für die Nobelpreisträger der Universität Wien und in den hofseitigen Nischen die mahnende Inschrift Gegen Krieg und Gewalt und Für die Freiheit der Wissenschaft und die Achtung der Menschenrechte. In den Aufgängen zu den Seitenvestibülen befinden sich die Ehrentafeln der historischen vier Stammfakultäten. Vor der Ausstattung mit elektrischem Licht, das heute das Vestibül gänzlich ausleuchtet, muss das Vestibül beim Eintreten zwar einen repräsentativen, aber dunklen Eindruck gemacht haben, der sich erst beim Erreichen der Aufgänge zu den Seitenvestibülen durch die Fenster zum Hof im Vestibül und das in die Seitenvestibüle einfallende Hoflicht klärte. So weist das einfallende Licht den Besuchern und Benutzern der Universität schon beim Eintreten den Weg zu den Gebäudeteilen, in denen die Lehre und Verwaltung des Wissenschaftsbetriebs stattfindet. Die großen Feststiegen werden ebenfalls erst ab dem Wendepodest durch die hofseitigen Fenster im Obergeschoss und die beidseitigen Oberlichter beleuchtet. Die Wände des ersten Obergeschosses sind als rhythmische Traveen gestaltet, in deren Nischen ursprünglich, wie an der Fassade, Statuen stehen sollten. Am Tonnengewölbe sind stuckierte Bildfelder definiert, deren Ausmalung aber nie zustande kam. So strahlen die Feststiegenhäuser in elegantem Weiß [Abb. 67].

Die Innenräume  117

Abb. 66: Hauptgebäude der Universität Wien, Vestibül (Foto: Franz Pfluegl, 2006)

Abb. 67: Hauptgebäude der Universität Wien, Philosophenstiege (Foto: Franz Pfluegl, 2006)

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Die malerische Ausstattung wurde nur im Bereich des Festappartements ausgeführt. Diese beginnt mit den an die Stiegenhäuser anschließenden Atrien, deren Architekturelemente mit pastellfarbenen Malereien und Grotesken akzentuiert sind [Abb. 68]. Die Kassettendecke des kleinen Festsaals, der südlich an den großen Festsaal angrenzt, ist besonders reich mit ornamentaler Malerei ausgestattet [Abb. 69–70]. Diese korrespondiert wiederum farblich mit der farblichen Gestaltung der Wände. Weit repräsentativer ist der zweigeschossige große Festsaal angelegt. Vor den farbigen Wänden aus rotem, schwarzem und weißlichem Stuckmarmor bilden helle korinthische Stuckmarmorsäulen an drei Seiten einen schmalen Umgang und tragen eine darüberliegende schmale Galerie [Abb. 71]. Über die im zweiten Obergeschoss liegenden Oberlichter wird der Raum beleuchtet. Zum Gewölbe leiten zwölf Stichkappen über,

118  Charakterisierung des ausgeführten Bauwerks

Abb. 72a: Hauptgebäude der Universität Wien, Großer Festsaal, Franz Matsch, ­Zwickelbild der Anatomie, (Fotos: Franz Pfluegl, 2006) Abb. 72b: Hauptgebäude der Universität Wien, Großer Festsaal, Franz Matsch, Zwickelbild der Philosophie, (Fotos: Franz Pfluegl, 2006) Abb. 72c: Hauptgebäude der Universität Wien, Großer Festsaal, Franz Matsch, ­Zwickelbild der Naturwissenschaft, (Fotos: Franz Pfluegl, 2006) Abb. 72d: Hauptgebäude der Universität Wien, Großer Festsaal, Franz Matsch, ­Zwickelbild der Philologie, (Fotos: Franz Pfluegl, 2006)

Abb. 68: Hauptgebäude der Universität Wien, Atrium vor den Festräumlichkeiten (Foto: Franz Pfluegl, 2006)

Abb. 69: Hauptgebäude der Universität Wien, Kleiner Festsaal (Foto: Franz Pfluegl, 2006)

Die Innenräume  119

Abb. 71: Hauptgebäude der Universität Wien, Großer Festsaal (Foto: Franz Pfluegl, 2006)

Abb. 70: Hauptgebäude der Universität Wien, Detail im Kleinen Festsaal (Foto: Franz Pfluegl, 2006) Abb. 73: Heinrich von Ferstel, Haupt­ gebäude der Universität Wien, Skizze zur Plafondgestaltung des Großen Festsaals (Wien Museum, Inv.-Nr. 165.308/31)

in denen die Personifikationen von Rechtswissenschaft, Staatswissenschaft, Religionswissenschaft, Naturwissenschaft, Philologie, Sprache und Kunst, Anatomie, Philosophie, Mathematik, Geschichte und Heilkunde einen Teil des breiten Lehrspektrums der Universität repräsentieren [Abb. 72 a–d]. Die Auswahl dieser Zwickelpersonifikationen stellte aber eher thematische Schwerpunkte als eine Repräsentation tatsächlich so bezeichneter Institute dar. Die Kassettierung des Deckenspiegels wurde noch nach Ferstels Plänen ausgeführt [Abb. 73]. Die Ölgemälde für die fünf Bildfelder wurden

120  Charakterisierung des ausgeführten Bauwerks

Abb. 74: Hauptgebäude der Universität Wien, Aufnahme des Großen Festsaals, vor 2005 (Universität Wien, Institut für Kunstgeschichte, Ringstraßenarchiv, Inv.Nr. I/23i-2203)

5 Das originale Fakultätsbild der Theologie verblieb zunächst in Matschs Atelier und wurde erst im Oktober 1928 im Sitzungssaal der Theologischen Fakultät aufgehängt. Siehe Ausstellungskatalog Matsch 1981, S. 86.

Abb. 75: Karl Schwerzek, Standbild Rudolf

Abb. 76: Josef Pechan, Standbild Maria

der Stifter, 1885 (Foto: Franz Pfluegl, 2006)

Theresia, 1886 (Foto: Franz Pfluegl, 2006)

erst mehr als zehn Jahre nach Ferstels Tod bei Franz Matsch und Gustav Klimt in Auftrag gegeben, wodurch sich schon in der Entwurfsphase große Abweichungen von der ursprünglich intendierten Ausstattung ergaben. Nach heftigen Debatten um Klimts Entwürfe [Abb. 191 und 192], die darin mündeten, dass der Künstler seine drei Fakultätsbilder zurückkaufte, wurde nur das zentrale Bild von Franz Matsch, Der Sieg des Lichts über die Finsternis, angebracht und die vier Fakultätsbildfelder, auch jenes für Matschs Bild der Theologie,5 ornamental gestaltet [Abb. 74]. Erst im Jahr 2005, also 100 Jahre nach Anbringung des Mittelbildes, wurden Reproduktionen aller vier Fakultätsbilder in die Deckengestaltung integriert [Tafel 14]. In den großen Festsaal führen vier Zugänge, jeweils einer von den beiden beidseitigen Vorräumen sowie vom nördlich angrenzenden Senatssaal [Abb. 142] und dem südlich angrenzenden kleinen Festsaal. Die östliche Schmalseite des Festsaals ist durch einen von vier Säulen getragenen, gesprengten Segmentbogengiebel hervorgehoben. Direkt davor befindet sich die Kanzel, die von den Standbildern der beiden wichtigsten Stifter, Rudolf IV. und Maria Theresia, flankiert wird [Abb. 75–76]. Dahinter liegt der Zugang zur Loggia über der Unterfahrt. Für diese konnte aber keine protokollarische Nutzung festgestellt werden. Auf der gegenüberliegenden Seite des Arkadenhofs liegt mit der Bibliothek das repräsentative Pendant des Festsaals. Der Saalraum nimmt die gesamte Breite des Arkadenhofs ein [Abb. 112]. Umlaufend sind die fensterlosen Wände mit zweigeschossigen Regalwänden gegliedert. Während an den Längsseiten die Wandpfeiler mit den eingehängten Büchergalerien den Raumabschluss bilden, sind an den Schmalseiten noch

Die Innenräume  121

Abb. 77: Hauptgebäude der Universität Wien, Auditorium maximum im histori­ schen Zustand (UAW, 106.I.3566)

Abb. 78: Hauptgebäude der Universität Wien, Auditorium maximum (Foto: Franz Pfluegl, 2006)

jeweils zwei dunkle ionische Säulen eingestellt, die den Lesesaal gegen die dahinterliegenden Anräume abgrenzen. Oberhalb des Gesimses vermitteln fensterlose Stichkappen zum Deckenspiegel. Dieser ist, als einer der ersten im 19. Jahrhundert, mit einem enormen durchgehenden Oberlicht ausgestattet und bot den Lesern in den ersten Jahren zusätzlich zu den Gaslampen gleichmäßiges Scheitellicht. Wie in den meisten anderen Räumen wurden auch hier nur die Architekturelemente durch Stuck akzentuiert, eine malerische Ausstattung kam ebenfalls nicht zustande. Seit der Eröffnung des Gebäudes im Jahr 1884 wurden zahlreiche Umbauten und Adaptierungen nötig. Unter den größten Eingriffen sind

122  Charakterisierung des ausgeführten Bauwerks

Abb. 79: Hauptgebäude der Universität Wien, Seitlicher Innenhof, Fluchttreppen und Aufzugsanlagen (Foto: Alexander Arnberger, 2012)

der Einbau des Auditorium Maximum im Jahr 1936 [Abb. 77–78], die Anhebung des Bibliotheksbodens um zweieinhalb Meter in den Jahren 1945–47 und die jüngsten Maßnahmen zur Verbesserung des Brandschutzes und effektiver Fluchtwege (2012–13) hervorzuheben [Abb. 79].

Die Innenräume  123

Funktionalität – Monumentalität – Repräsentation

1 Bericht des Universitäts-Syndicus Karl von Heintl, 20. März 1867, Universitätsarchiv, S60, Schachtel 34.

Als Heinrich von Ferstel 1868 den Auftrag erhielt, Entwürfe für die Wiener Universität herzustellen, konnte das Projekt schon auf eine Planungszeit von vierzehn Jahren zurückblicken. Während die allererste Verzögerung noch durch Ferstel selbst verursacht wurde, als er den Bauplatz auf dem Glacis für seine Votivkirche beanspruchte, waren viele der weiteren Verzögerungen der Uneinigkeit um die Funktion des Gebäudes geschuldet.1 Wie Karl von Heintl in seinem Bericht zusammenfasste, entpuppte sich das Bauprogramm immer wieder als unzureichend für die Ansprüche der Professorenkollegien. Nicht nur, dass der Standort regelmäßig neu verhandelt werden musste, sondern auch die Auswahl jener Institute, die nun wirklich in das Hauptgebäude hineingenommen werden sollten. Darüber hinaus stellte sich die Frage, wie die Raumansprüche der einzelnen Fakultäten innerhalb des Gebäudes verwirklicht werden sollten, um ihren Zweck bestmöglich zu erfüllen. So verlangten die Juristen, dass ihre Hörsäle zu einem ruhigen Hof hin zeigten. Und das Institut für Österreichische Geschichtsforschung forderte, dass ihre Räume direkt bei der Bibliothek anzusiedeln seien, wobei immer wieder strittig war, ob die Bibliothek überhaupt Bestandteil des Hauptgebäudes sein würde. Der Architekt stand also vor der Aufgabe, diese vielfältigen Wünsche in einem Gebäude so zusammenzufassen, dass sich trotz der unterschiedlichen Ansprüche ein funktionierendes Ganzes ergibt. Für die hier vorliegende Untersuchung bedeutet dies aber auch, dass der Frage nachgegangen werden muss, inwiefern sich der Architekt Ferstel bei der Koordination von dem vorgegebenen Bauprogramm mit seinen Planungen auf Vorbilder oder Traditionen im Hochschulbau stützen konnte. Daher wird sich das erste der folgenden Unterkapitel mit der Typologie des Hochschulbaus beschäftigen und dabei untersuchen, ob und inwieweit Ferstel bei der funktionalen Gestaltung des Wiener Hauptgebäudes bestehende Bautraditionen anwandte. Die Orientierung an universitärer Vorgängerarchitektur vermittelt aber nicht nur funktionserprobte, architektonische Strukturen, sondern beinhaltet durch den Rückbezug auch einen ideellen Hinweis auf die traditionsreiche Institution und ihren immateriellen Anspruch. Dieser immaterielle Anspruch spiegelt sich aber auch im stilistischen Ausdruck des Bauwerks wider. Während der langen Planungszeit wurde deswegen auch der Charakter des Bauwerks kontrovers diskutiert. Aufgrund der erschwerten Studienbedingungen in der langen Periode, in der die Institute über die ganze Stadt verstreut waren, erhofften sich ei-

Funktionalität – Monumentalität – Repräsentation  125

nige, darunter auch der Rektor Andreas von Ettingshausen, eine zügige Errichtung eines neuen Universitätszentrums.2 Ein reiner Zweckbau, in Reichweite der ausgelagerten Institute und der Bibliothek, hätte die Lage gründlich verbessert. Andere, darunter die Stadtverwaltung, wünschten sich hingegen ein charaktervolles, monumentales Bauwerk, das der ersten Universität im Kaiserstaate angemessen sei.3 Hierbei spielte dann auch die Stilfrage eine wichtige Rolle. Der reine Zweckbau wirft keine Stilfrage auf, aber welches ist der adäquate Stil für einen Bau, der die erste Universität des Staates beherbergt  ? Im zweiten Unterkapitel wird daher geprüft, welchen Einfluss der Wunsch nach Monumentalität auf die stilistische Planung Ferstels hatte. Diesen Wunsch nach Monumentalität hegten selbstverständlich die Bauherren der anderen großen Bauten im Ringstraßenbereich ebenso, daher war es wichtig, dass sich der Bau nicht nur als erste Universität auszeichnete, sondern eben auch deutlich machte, dass er eine Universität ist, die hier ihren Platz direkt am Ring hat. Die Fassade und auch die innere Gestaltung sollten zum Besucher oder Benutzer sprechen und den Inhalt (die Universität, die Wissenschaft, die Lehre, die Universitätsbibliothek etc.) repräsentieren. Ein probates Mittel hierzu stellt die Ausstattung mit wissenschaftsikonografischen Programmen dar, die die Widmung des Bauwerks vermitteln. Das dritte Unterkapitel untersucht demzufolge die Ikonografie des Hauptgebäudes und fragt danach, welches Universitätsbild hier repräsentiert wird. Da diese drei Bereiche weder intentional noch künstlerisch klar voneinander zu trennen sind, werden in einer Synthese die Überschneidungen herausgearbeitet, um so ein möglichst umfassendes Bild des Bauwerks in seiner typologischen, stilistischen und ikonografischen Bedeutung zu erhalten. Daraus ergibt sich der Zusammenklang aller an Benutzer und Betrachter gerichteten semantischen Zeichen, der je nach Intensität einzelner Stimmen einen unterschiedlichen Charakter haben kann.

Typengeschichte und zeitgemäße Funktionalität

Mit den kolossalen Ausmaßen von 161 x 133 Metern und einer inneren Gliederung in neun Innenhöfe erreichte das Wiener Hauptgebäude völlig neue Dimensionen in der Bauaufgabe Universität. Diese eigene Leistung hebt Ferstel in seiner Rede vor dem Österreichischen Ingenieurund Architektenverein im Frühjahr 1878 ausdrücklich hervor und geht sogar noch ein Stückchen weiter, indem er die Vorbildlosigkeit seiner Lösung postuliert  : »Das Schwierige bei einem solchen Bauwerke liegt nicht darin, dass es ausser dem Niveau des Gewöhnlichen liegt, sondern, dass wir für derartige Lösungen überhaupt keine Vorbilder finden.«4

126  Funktionalität – Monumentalität – Repräsentation

2 Ettingshausen 1861, S. 3833. 3 Siehe Bericht Heintl 1867, S. 19  ; siehe Wolf, 1882, S. 51. 4 Ferstel 1878 A, S. 152.

Die Sekundärliteratur griff diese Aussage dankbar auf und betonte in der Folge unisono die Vorbildlosigkeit von Ferstels Lösung für das Hauptgebäude. So schreibt Norbert Wibiral in seiner Dissertation von 1952, dass »… das Programm des [Haupt]-gebäudes mit den 4 Fakultäten, der Bibliothek, Ämtern, Hörsälen, Festräumen und Wohnungen so groß [ist], daß hier eine völlig traditionslose Monstreaufgabe [sic] zu lösen ist.«5

  5 Wibiral, 1952, S. 83.   6 Wibiral/Mikula 1974, S. 44.   7 Krause 1984, S. 17.   8 Krause 1984, S. 17.   9 Mühlberger 2007, S. 51. 10 Vgl. Rückbrod 1977  ; Pevsner 1957.

In der gemeinsamen Ferstel-Monografie von 1974 schreiben Norbert Wibiral und Renate Mikula diesbezüglich, dass es sich bei der Neuplanung ab 1853 als Hauptproblem erwiesen habe, »dass die historischen – im übrigen nie zum Typus ausgebildeten Universitätsformen – [sic  !] längst nicht mehr geeignet waren, als Vorbild einer Universität des 19. Jahrhunderts zu dienen.«6 Wibiral und Mikula betonen hiermit nicht nur Ferstels Leistung, sondern streiten sogar die Existenz einer früheren Universitätsbautypologie, auf der der Architekt hätte aufbauen können, ab. Auch Walter Krause unterstreicht, dass gerade die Kombination der Vielzahl unterschiedlicher Funktionen innerhalb des Gebäudes »mit einem aus den Bedürfnissen des weit fortgeschrittenen 19. Jahrhunderts entwickelten Universitätskonzepts eigentlich eine völlig neue, noch nie dagewesene Aufgabe bedeutete.«7 Immerhin räumt Krause hier ein, dass es ältere Vorbilder, besonders in Italien, Frankreich und England gegeben habe, an denen man sich orientieren konnte. Die Leistung bestand ihm zufolge eher darin, »aus den vielen Anregungen einen neuen Typus zu schaffen, der dem hauptstädtischen Rahmen nicht minder gerecht wurde als dem gesellschaftlichen Stellenwert der Wissenschaft und ihrer Persönlichkeiten.«8 In einer der jüngeren Publikationen zur Wiener Universität, im Palast der Wissenschaft, deutet Mühlberger eine Tradition im Universitätsbau an, nämlich den Typ des Collegiums, allerdings leitet er dann Ferstels palastähnlichen Bau von einem im 18. Jahrhundert etablierten Universitätspalast-Typus her.9 Der Charakter der Festpublikation erlaubte keine ausführliche Nennung von Beispielen und Quellen. Diese unterschiedlichen Auffassungen, ob und wenn ja, auf welche Tradition im Hochschulbau sich Ferstel bei der Planung berufen konnte, verlangen nach einer genaueren Untersuchung der typologischen Voraussetzungen. Die Forschung bietet demnach unterschiedliche Herleitungen für die Traditionen im Universitätsbau. Die beiden am stärksten vertretenen, aber konträren Positionen führen entweder die Klosterbaukunst oder die Profanarchitektur als bestimmende Ausgangstypologie an.10 Da diese beiden Ergebnisse auf der Deutung derselben formalen Konstante, nämlich der Anlage des Innenhofs respektive Kreuzgangs,

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basierten, konnte diese Pattsituation mit einer formanalytischen Vorgehensweise nicht gelöst werden. Allerdings zeigt auch ein typengeschichtlicher Ansatz, wie ihn Michael Kiene in der Nachfolge Pevsners für das 14. bis 16. Jahrhundert vorschlägt, keine eindeutigen Ergebnisse, da anhand von unterschiedlichen Beispielen sowohl für die eine als auch die andere Tradition schlüssig argumentiert werden kann.11 Diese typologische Unentschiedenheit muss aber nicht zwangsläufig zu einem »erkenntnistheoretischen Stillstand«12 führen, sondern könnte stattdessen eine fruchtbare Betrachtung von typengeschichtlichen Mischformen erzeugen. Die Tatsache einerseits, dass viele frühen Kollegien ausdrücklich als Konkurrenz zu monastischen Bildungseinrichtungen gegründet wurden und die Stimmung zwischen Kollegiaten und Mönchen teilweise feindlich war,13 muss nicht bedeuten, dass für die späteren Bauwerke nicht auf eine funktionierende Bauaufgabe zurückgegriffen wurde. Denn die Anforderungen an das Kollegium waren in vielen Dingen durchaus ähnlich jenen des Klosters  : Beide Bauten brauchten eine Küche, ein Speisezimmer, (Einzel-)Schlafräume, eine Bibliothek, eine Kapelle und einen Innenhof. Die anhängselartige Stellung der von Wandelhallen umschlossenen Höfe an vielen englischen Collegebauten stützt die These zusätzlich. Die Tatsache andererseits, dass viele Kollegien als Stiftungen reicher Adeliger entstanden sind und als solche sowohl die Stiftung als auch die Gelehrteninstitution repräsentieren sollten, machte aber auch die Verwendung herrschaftlicher Motive notwendig. So scheint die Anlehnung an Palastbauten nur eine logische Konsequenz zu sein. Ebenso nachvollziehbar erscheint es, dass die italienischen Renaissancearchitekten bei der Bauaufgabe Universität auch nach Anregungen in der Antike suchten und diese möglicherweise in den Palästra-Anlagen fanden.14 Diese dienten seit dem 5. Jh. v. Chr. nicht mehr nur der militärischen Ausbildung, sondern entwickelten sich zu humanistischen Bildungsstätten, in denen sowohl Körper als auch Geist trainiert wurden.15 Auch ihr zentrales Motiv war ein von Säulenhallen umschlossener Platz. Diese drei Einflüsse auf die Universitätstypologie werden im folgenden Abriss der Bautradition immer wieder in unterschiedlichem Maße zu Tage treten. Einen kursorischen Überblick über die Entwicklung des Hochschulbaus bis zum Ende des 19. Jahrhunderts bietet der entsprechende Teilband des Handbuchs der Architektur von 1888.16 Der Focus der Reihe liegt allerdings auf der Sammlung zeitgemäßer Baubeispiele und -empfehlungen. Als Vorbild für einen besonders großen Universitätskomplex wird hier das wenige Jahre zuvor eröffnete Hauptgebäude der Wiener Universität vorgestellt, wobei aber der Text weitgehend an Ferstels Vortrag von 1878 angelehnt ist.17 Das Handbuch der Architektur stellt damit eine der frühesten Auseinandersetzungen mit der Bauaufgabe und ihrer Tradition dar. Mit dem Rekurs auf die Wiener Universität bildet diese

128  Funktionalität – Monumentalität – Repräsentation

11 Vgl. Kiene 1983  ; Kiene 1988. 12 Kiene 1983, S. 64. 13 Ebd., S. 64. 14 Stabenow 2010, S. 71. 15 Gladiß 1972, Sp. 417. 16 Eggert 1888. 17 Eggert 1888, S. 47  ; Ferstel 1878 A.

18 Pevsner 1957, S. 234–239. 19 Kiene 1983, S. 63–114. 20 Kiene 1988, S. 220–271. 21 Rückbrod 1977. 22 Ebd., S. 164. 23 Beuckers 2010. 24 Kiene 2010, S. 91–108. 25 Stabenow 2010, S. 57–89. 26 Nägelke 2000.

im Handbuch der Architektur sogar den typologischen Höhepunkt dieser Bauaufgabe. Die erste wissenschaftliche Untersuchung der Bauaufgabe Universität hat Nikolaus Pevsner 1957 für The Architectural Review verfasst.18 In knappen Worten fasst er die Notwendigkeit für die Entstehung mittelalterlicher Kollegiengebäude zusammen und führt die europäische Entwicklung weiter bis hin zu Oslos klassizistischer Anlage in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Mit dem Aufsatz »Die Grundlagen der europäischen Universitätsbaukunst« vertieft Michael Kiene die knappen Ansätze Pevsners.19 Der Autor leitet die französischen, italienischen und englischen Hofanlagen von ihren Ursprüngen her und arbeitet die jeweiligen Charakteristika heraus. Sein typologischer Überblick endet mit dem Downing College in Cambridge, mit dessen Bau 1807 begonnen wurde. Wenige Jahre später fokussiert sich Kiene in seinem Aufsatz »Der Palazzo della Sapienza – Zur italienischen Universitätsarchitektur des 15. und 16. Jahrhunderts« auf die spezielle Bautradition in Italien und weist nach, wie sich die Universitätsarchitektur am strukturellen Aufbau italienischer Adelspaläste orientiert.20 Bemerkenswert ist hier jedenfalls, dass Kiene den Bezug auf palastartige Bauten bedeutend früher ansetzt als Mühlberger. Konrad Rückbrod hingegen leitet in seiner typologisch ausgerichteten Dissertation die Kollegienarchitektur von der Klosterbaukunst her.21 Er argumentiert, dass sich die universitates, also die Gemeinschaften der Gelehrten, wie die Klostergemeinschaften von der Umwelt isolierten.22 Der abgeschlossene Innenhof diente daher als Kommunikationszentrum innerhalb der Gemeinschaft und etablierte sich als zentrales Motiv in diesem Bautyp. Der Tagungsband »Architektur für Forschung und Lehre. Universität als Bauaufgabe« versammelt mehrere Positionen zur Universitätsarchitektur und ihrer Entwicklung, auch der weiteren im 20. Jahrhundert.23 Die hier publizierte Fallstudie eines Universitätsgebäudes von Michael Kiene darf insofern im Forschungsstand zur Typologie genannt werden, als das Beispiel der Pia Casa di Sapienza in Pistoia ausführlich in die italienische Kollegienbautradition eingeordnet wird.24 In dem Beitrag von Jörg Stabenow »Die Universität als Palast  ? Zur typologischen Identität der frühneuzeitlichen Universitätsarchitektur in Italien« wird der Rückbezug auf frühneuzeitliche Palastbauten infrage gestellt. Stattdessen sieht Jörg Stabenow in antiken Bildungsbauten wie der bei Vitruv beschriebenen Palästra einen möglichen Ursprung, insbesondere für die Gestaltung der Innenhöfe.25 Für das 19. Jahrhundert ist die Anzahl der Überblickswerke zum Hochschulbau sehr eingeschränkt. Grundlegend ist jedenfalls HansDieter Nägelkes Dissertation Hochschulbau im Kaiserreich. Historistische Architektur im Prozess bürgerlicher Konsensbildung, die im Jahr 2000 publiziert wurde.26 In dem ausführlichen Kapitel Funktion verfolgt

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Nägelke die funktionsabhängige Weiterentwicklung der klassischen Kollegiengebäude anhand von drei Kategorien, den Gesamt- und Hauptgebäuden, den einzeln stehenden Institutsgebäuden und den Campusstrukturen. Die umfassende Untersuchung der späteren Neubauten im deutschen Kaiserreich bietet einen guten Vergleich für Ferstels Neubau in der österreichischen Residenzstadt.27

Traditionen im Universitätsbau

Bei der Betrachtung der bestehenden Traditionen im Universitätsbau sollten einige markante Merkmale, die später in der einen oder anderen Form am Ferstel-Bau auftreten, bereits mitgedacht werden. Solche können sich aufgrund ihrer speziellen Funktionalität oder einer ideellen Aufgabe zur Tradition im Universitätsbau entwickeln. Charakteristische Merkmale des Wiener Baus sind die Innenhöfe, das Korridorsystem, die Stiegenhäuser und die axiale Anordnung von Bibliothek und Festsaal. Deren markante Umsetzung manifestiert sich bereits in den spätmittelalterlichen Kollegienbauten. Der Rückblick auf die Bautraditionen dient hier aber nicht der Argumentation einer lückenlosen Entwicklung der Universitätsarchitektur, sondern er zeigt vielmehr auf, welche typologischen Möglichkeiten dem Architekten Ferstel beim Entwerfen seiner Lösung zur Verfügung standen. Die ersten Universitätsgründungen bestanden allerdings noch völlig unabhängig von eigenen Gebäuden. Für die Versammlungen der Universitätsgremien wurden meist die vorhandenen Konvente oder Kirchen genutzt.28 Als Unterkünfte dienten den Studenten, aber auch den magistri und den doctores, angemietete hospitiae, in denen oft auch der Unterricht stattfand. Von dem dort ansässigen Kollegium, also der Gemeinschaft der Lehrenden und Lernenden, bekam das Gebäude dann den Namen Collegium übertragen. Die frühen Kollegien konnten, da sie ja angemietete Bürgerhäuser waren, im Stadtbild nicht auffallen. Das erste Kollegiengebäude, das – beabsichtigt – einen regelmäßigen Innenhof umschloss, war das Toulouser Collège de Périgord.29 Der Stifter Kardinal Élie de Talleyrand-Périgord hatte für diese Neugründung im Jahr 1363 mehrere aneinanderliegende Adelssitze erstanden und hölzerne umlaufende Galerien errichten lassen. Bei dem Umbau auch erhalten und als Archiv genutzt wurde der ehemalige Donjon einer der Adelssitze. Mit dieser Übernahme eines Herrschaftssymbols trat das Collège auch erstmals im Stadtbild in Erscheinung. Ebenfalls in Toulouse wurde nahezu gleichzeitig das Collège Saint-Martial von Papst Innozenz VI. gegründet. Diese hochrangige Neugründung wurde auch eigens mit einem Neubau bedacht, in dem, anders als in den zum Kollegium zusammengelegten Bürgerhäusern, die Intentionen der Funktionalität sichtbar

130  Funktionalität – Monumentalität – Repräsentation

27 Nägelke, 2000, Katalogteil. 28 Kiene 1983, S. 64. 29 Ebd., S. 68.

Abb. 80: Collegio di Spagna, Bologna, Grundrisse des Erdgeschosses und des Obergeschosses (Kiene 1988, S. 234, Foto: Universität Wien, Institut für Kunstge­ schichte, René Steyer)

30 Kiene 1983, S. 78. 31 Kiene 1988, S. 233 ff. 32 Siehe Kerscher 2000, S. 419–427.

werden. Den Kern der Anlage bildet ein rechteckiger Innenhof, der allerdings nur auf drei Seiten hinterbaut ist. Die doppelgeschossige Galerie läuft dennoch um alle vier Seiten des Hofs, woraus Kiene schließt, dass der von Galerien umschlossene Innenhof das entscheidende Motiv ist.30 Die zum Kollegium gehörige Kapelle grenzt auf der Nordostseite an den Baukomplex an. Die Grundzüge dieser französischen Anlage gelangten mit dem Kardinal Gil Carillo de Albornoz, der in Toulouse studiert hatte, nach Bologna, wo er das Collegio di Spagna gründete. Der Neubau des Spanischen Kollegs vereinheitlichte wiederum die am Collège Saint-Martial vorhandenen Bauelemente. Der quadratische Innenhof [Abb. 80] wurde hier an allen vier Seiten hinterbaut, in den Längstrakten waren symmetrisch die Kollegiatenzimmer angelegt, die Kapelle wurde in die Mittelachse des Hofs gerückt. Außerdem übernahm der Architekt Matteo Gattapone den Aufbau und einige Motive, die er etwa zeitgleich für denselben Bauherrn in der Festung in Spoleto anwendete.31 Aus der Verbindung der Tatsache, dass Albornoz sowohl Spoleto als auch das Collegio di Spagna in seiner Amtszeit als päpstlicher Legat in Angriff nahm, lenkte die Aufmerksamkeit darauf, dass in beiden Bauten die Raumanordnung übernommen wurde. Zusätzlich erinnert das Collegio an die Symmetrie päpstlicher Palastanlagen wie Perpignan.32 In einem das Collegio di Spa-

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gna betreffenden Vertrag werden dementsprechend die vier Flügel des Neubaus ausdrücklich als palazzi bezeichnet.33 Nach Jörg Stabenows Interpretation erscheint der Bau wegen des päpstlichen Kontexts »weniger [als] ein Palast für die Kollegiaten als vielmehr ein Palast des Stifters.«34 Dieses am Collegio di Spagna entwickelte repräsentative Schema findet in Italien viele Nachfolgebauten.35 Im Weiteren stellt Stabenow zwar die Vorbildfunktion des Spanischen Kollegs für die späteren italienischen Universitätsbauten nicht infrage, er ergänzt die Deutung der Bauten des 16. Jahrhunderts aber um eine weitere Facette. Denn wenn Vitruvs Beschreibung antiker Bauten andere Gebäudetypen der Renaissance beeinflussen konnte, warum nicht auch die Bauaufgabe Universität  ? Vitruv beschreibt die Palästra, den Kern antiker Gymnasiums-Bauten, als Bildungseinrichtung, in der sowohl die körperliche als auch geistige Ertüchtigung Raum finden sollte. In einer VitruvÜbersetzung des späten 18. Jahrhunderts wird die Palästra beschrieben als ein mit Säulen umgebener quadratischer oder rechteckiger Platz. Auf drei Seiten seien die Säulengänge einfach, auf der südlichen aber doppelt, um vor Regen zu schützen. Auf den anderen Seiten sollten Hörsäle [Exedrae] mit Sitzen angelegt werden, »damit Philosophen, Redekünstler, und andere Liebhaber der Wissenschaften sich darin sitzend unterhalten mögen.«36 Die Kriterien, die Stabenow ins Feld bringt, sind dann der gedoppelte Säulengang (Sapienza in Pisa), die Kolonnade statt Arkaden (Palazzo del Bo, Padua) und die Exedra (Sapienza in Rom). Diese treten aber an den untersuchten Gebäuden nur einzeln und zusätzlich zu einer Bologneser Tradition auf, sodass der Blick durch die Vitruvische Brille nur eine Ergänzung zur Typusbildung sein kann. Für die Sapienza in Rom [Abb. 81] wurde allerdings schon mehrfach die ideelle Orientierung der Architektur an den Formen antiker Gymnasien bestätigt.37 Die Quellen des 17. Jahrhunderts beschreiben insbesondere die »Vierflügelanlage mit Mitteleingang und beherrschender Mittelachse, zentralem Innenhof mit umlaufenden Portiken sowie Exedra und Heiligtum/Kirche« als Leitmotive der Rekonstruktion eines antiken Gymnasiums.38 Der explizite Bezug auf das antike Gymnasium und ihren bildungsrelevanten Kern, nämlich die Palästra, sollte die römische Bildungsstätte nobilitieren und für die Professoren wie auch die Studenten identitätsstiftend wirken.39 Charakteristisch ist für die frühen französischen und italienischen Kollegienbauten, dass ihr vorrangiger Zweck die Unterbringung der Kollegiaten darstellte. Der Wohnzweck spielte bei den englischen Kollegien gleichermaßen die wichtigste Rolle. Die Unterrichtsräumlichkeiten waren hingegen untergeordnet. Der erste italienische Universitätsbau ohne Unterkünfte für die Studenten war die Sapienza in Rom, die ab 1498 gebaut wurde.40 An den deutschen Universitäten scheinen die Wohnmöglichkeiten von Beginn an eine geringere Rolle gespielt zu haben. Jedenfalls waren

132  Funktionalität – Monumentalität – Repräsentation

33 Kiene 1983, S. 78. 34 Stabenow 2010, S. 63. 35 Zum Beispiel das Archiginnasio in Bologna. 36 Wyss/Rode 1995, S. 263. 37 U. a. Thelen 1961, S. 288  ; Stalla 1992, S. 131  ; und zuletzt Stalla 2008, S. 220–229. 38 Stalla 2008, S. 221. 39 Ebd., S. 223. 40 Kiene 1988, S. 247 und 256.

Abb. 81: Palazzo della Sapienza, Rom, Grundriss des Erdgeschosses (Kiene 1988, Abb. 27, Foto: Universität Wien, Institut für Kunstgeschichte, René Steyer)

41 Nägelke 2000, S. 20. 42 Ebd., S. 21.

bis auf wenige Ausnahmen die Universitätsgebäude von den Wohnhäusern, den Bursen, getrennt. In den Kollegien wohnten zumeist nur mehr die Artesmagister, die auch den größten Teil des Unterrichts bewältigen mussten.41 In Wien richteten sich im Universitätsviertel um die alte Aula zahlreiche Bursen ein, in denen die Studenten wohnen konnten, wie der beschriftete Stadtplan von Bonifaz Wolmuet aus dem Jahr 1547 zeigt [Abb. 82]. Im 16. und 17. Jahrhundert wurden auch die Wohnungen für die Professoren immer weiter zurückgedrängt.42 Die funktionale Betonung lag aber an den deutschen Universitäten stattdessen auf der Bibliothek und den Unterrichtsräumen. In den Planungen für die Wiener Neue Aula in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts waren ursprünglich Professorenwohnungen im zweiten Obergeschoss vorgesehen. Bei Fertigstel-

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Abb. 82: Bonifaz Wolmuet, Stadtplan von Wien, 1547 (Karner/Rosenauer/Telesko 2007, S. 6)

lung wurden diese Räume aber der Akademie der Bildenden Künste zur Verfügung gestellt.43 Auch wenn Hans-Dieter Nägelke in seiner typologischen Untersuchung feststellt, dass die deutschen Universitäten vor 1800 keiner einheitlichen Gestalt folgten, so fasst er dennoch folgende Merkmale als gemeinsame Entwicklungstendenz zusammen  : eine Reduktion der Wohnaufgaben, eine funktionale Distinktion der Unterrichtsräume (getrennte Hörsäle der Fakultäten, spezielle Sammlungen, Bibliothek, Aula und Anatomisches Theater), wobei alle diese Bereiche weiterhin in einem Gebäude integriert waren.44 Gleichzeitig aber bewirkte die Ausdifferenzierung der Wissenschaftsdisziplinen die Notwendigkeit fachspezifischer Bauten, wie Sternwarten, Frauenkliniken und nach der Wende zum 19. Jahrhundert auch vermehrt Chemische Laboratorien und Anatomische Theater.45 Für kleinere Gesamtgebäude und Universitätshauptgebäude konstatiert Nägelke ab 1800 eine typologische Entwicklung bei den Neubauten, die aus dem Grundriss eines barocken Palais zu entstehen scheint. 46 Das Universitätsgebäude in Dorpat (1805–1809) zeigt beispielsweise deutliche Reminiszenzen an die klassische maison de plaisance, an deren zentralen Festsaalrisalit symmetrisch seitlich zwei Appartementflügel anschließen. Die Übernahme dieses Typus konnte sich aber funktional nicht lange behaupten, da die Durchgangszimmer der Appartements bei

134  Funktionalität – Monumentalität – Repräsentation

43 Wagner-Rieger 1972 B, S. 30 ff. 44 Nägelke 2000, S. 22. 45 Ebd., S. 22 f. 46 Ebd., S. 25.

Abb. 83: August Stüler, Universität Königs­ berg, Grundrisse (Atlas zur Zeitschrift für Bauwesen, Jg. 14, 1864, Foto: Architektur­ museum TU Berlin, Inv. Nr. ZFB 14,003)

steigenden Studentenzahlen und immer stärker unterteilten Studienrichtungen nicht geeignet waren. Durch die Differenzierung der Raumfunktionen erfolgte daher als nächster typologischer Schritt die Adaptierung der Flügel durch innenliegende Korridore, sodass Durchgangszimmer vermieden werden konnten. Der Architekt des Leipziger Augusteums (1831), Albert Geutebrück, teilte daher die Anlage entlang der Querachse mit einem durchlaufenden Korridor. Während der separate Zugang zu den einzelnen Hör­sälen und Sammlungsräumen dadurch erleichtert wurde, musste sich der Architekt

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bei der Planung der Treppen zurücknehmen. Geutebrück schreibt, dass er zugunsten der großen Hörsäle, der zentralen Aula und der Bibliothek »den Treppenräumen eine möglichst beschränkte Ausdehnung gegeben« habe und sie in die Flügel verlegen musste.47 Um aber die zentrale Erschließung zu optimieren und um auch den repräsentativen Charakter der Treppenanlage zu nutzen, übernimmt Friedrich August Stüler in seinem Entwurf für die Königsberger Universität 1864 [Abb. 83] den durchlaufenden Korridor und kombiniert ihn mit einer zentralen Treppe im Mittelrisalit. Durch einen reduzierten Festsaal im Obergeschoss kann er hier den langen Verbindungsgang auch auf dieser Ebene einsetzen. Der Mittelteil des Gebäudes bildet also mit Vestibül, Stiegenhaus und Aula den repräsentativen Kern, der als überhöhter Risalit auch nach außen in Erscheinung tritt. Dieses Prinzip der Aufteilung in Repräsentationskern und untergeordnete Unterrichtsflügel wurde in der Folge von vielen Hauptgebäuden übernommen.48 Mit dieser Anordnung ließen sich besonders auch im Aufriss die Baumassen gut gliedern. Die dunklen Mittelkorridore erwiesen sich aber auf Dauer als impraktikabel, da sie »den wachsenden Anforderungen an Beleuchtung und Belüftung [nicht] genügen, zumal die Flure und Hallen über ihre Erschließungsfunktion hinaus auch jene Orte wurden«,49 in denen sich Studierende wie auch Lehrende in den Pausen versammelten.

136  Funktionalität – Monumentalität – Repräsentation

Abb. 84: Gottfried Semper, Polytechnikum Zürich, 1858, Grundriss des Erdgeschosses (gta Archiv/ETH Zürich: Nachlass Gottfried Semper)

47 Geutebrück 1836, S. 66. 48 Nägelke 2000, S. 28. 49 Ebd., S. 28.

Abb. 85: Polytechnikum Wien, Grundriss mit ephemeren Zubauten, 1845 (Archiv der TU Wien)

50 Kastner 1965, S. 34 ff. 51 Zur ausführlichen Baugeschichte des Polytechnikums siehe Kastner 1965. 52 Kastner 1965, S. 36 ff.

Aus der daraufhin angestrebten Aufwertung der Kommunikationswege folgte die einbündige Erschließung der Trakte, sodass die Korridore natürlich beleuchtet wurden. Nägelke führt hier als Initialbau Gottfried Sempers Polytechnikum in Zürich an, das zwischen 1858 und 1864 gebaut wurde [Abb. 84]. Tatsächlich wurde ein einzelner einbündig erschlossener Flügel schon 1815 für das neugegründete Wiener Polytechnikum geplant.50 Dieser Bau, dessen einziger Anspruch – zumindest in der ersten Bauphase – die Zweckmäßigkeit war, ist gekennzeichnet durch einen sehr langen Trakt mit einem durchgehenden rückwärtigen Korridor [Abb. 85].51 Mittig tritt auf der Karlsplatzseite der größte Prüfungssaal als Risalit hervor, auf der anderen Seite des Korridors sind hier die Stiegen und Nutzräume in einem tiefen Risalit untergebracht.52 Die Zusammenfassung vier solcher Flügel, vor allem in repräsentativen Stilformen, zu einer kompakten Anlage ist dann die wichtige Leis-

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tung Sempers. Jeder der vier Flügel der Anlage ist in einen Repräsentationskern – mit Vestibül und Treppen – und anschließende seitliche Rücklagen gegliedert. Verbunden sind sie im Erdgeschoss durch einen nahezu ganz umlaufenden, hofseitigen Korridor. Als dementsprechende Lesart des Vierflügelbaus schlug der SemperKenner Martin Fröhlich schon 1974 vor, den Bau des Polytechnikums nicht als vierflügeligen Palast zu sehen, sondern vielmehr als eine Kombination aus vier ähnlichen Gebäuden, die an den Ecken übereinander geschoben wurden und deren Mitte durch den Antikensaal verbunden sei.53 Damit begründe sich seiner Meinung nach die Ähnlichkeit der vier Fassaden. Tatsächlich wäre es möglich, dass einbündig aufgefasste Kollegiengebäude des Schemas »Repräsentationskern + zwei Flügel« hier Pate standen. Bei dieser Lesart wird aber der eingeschlossene Innenhof nur als zu überwindendes Hindernis gesehen, nicht als eigenständiges Motiv. Als »Zwischenschritt« zu dieser Entwicklung, der eigentlich viel früher getan wurde, muss man meines Erachtens aber einen Bildungsbau außerhalb von Nägelkes Region betrachten. Denn die dreiflügelige Ehrenhofanlage des Wiener Josephinums [Abb. 86], die in den 1780er-Jahren von Isidor Ganneval für die Militärchirurgen-Akademie Josephs II. erbaut wurde, zeigt eben die Verlegung des Korridors an die Hofseite. Diese Innovation lässt sich aber nicht auf eine Hochschultypologie zurückführen, sondern scheint sich vielmehr an eine adelige Bautradition anzuschließen, genauer an barocke Schlossbauten.54 In seiner 2011 eingereichten Dissertation über das Josephinum verweist Markus Swittalek sowohl auf Paul Deckers Idealgrundriss eines Fürstlichen Schlosses (1711) als auch auf das Schönborn’sche Schloss Weißenstein in Pommersfelden (1711–1718).55 Jüngst wurde von dem Barockspezialisten und Josephinum-Kenner Hellmut Lorenz zudem auf eine direkte Verwandtschaft des Josephinums mit einem höfischen Wiener Bau, der ebenfalls einem klassischen Cour-d’honneur-Typus folgt, verwiesen. So markiert die Ähnlichkeit zu dem um 1776/77 fertiggestellten Platz vor der Hofbibliothek die kaiserliche Auftraggeberschaft.56 Wie bei anderen (Hoch-)Schulbauten vorher bestätigt sich hier also eine typologische Orientierung am Palastbau. Die Vervollständigung einer Ehrenhofanlage zu einem Vierflügelbau, wie sie Semper dann ausführte, scheint bei erhöhtem Studentenaufkommen und weiter unterteilten Raumfunktionen die logische Konsequenz gewesen zu sein. Durch die Teilung des großen Innenhofs mittels der sogenannte Antikenhalle schafft Semper ein kommunikatives Zentrum im übertragenen und wörtlichen Sinne. Denn für das Wegesystem bietet diese schnelle Verbindung zwischen West- und Ostflügel einen zentralen Angelpunkt. Für das akademische Zusammenleben sollte die museumsartige Antikenhalle den Ort des Austauschs und der Bildung en passant darstellen.57

138  Funktionalität – Monumentalität – Repräsentation

53 Fröhlich 1974, S. 224. 54 Siehe Lorenz 1999, S. 300–301. 55 Swittalek 2011, S. 135–140. 56 Lorenz 2015, S. 109. 57 Hauser 2003, S. 305.

Abb. 86: Gesamtplan des Allgemeinen Krankenhauses nach 1783, mit dem Jo­ sephinum am unteren Rand (Giovanni Alessandro Brambilla, Appendice alla storia della chirurgia Austriaca militare, Pavia 1800, Foto: Universität Wien, Institut für Kunstgeschichte)

58 Tönnesmann 2005, S. 64–79. 59 Ebd., S. 67. 60 Siehe Tönnesmann 2005, S. 66 f. Siehe auch  : Semper 1884 B, S. 259– 291  ; Semper 1878, S. 1.

In der Festschrift anlässlich des 150-jährigen Bestehens der Eidgenössischen Technischen Hochschule untersucht der Kunsthistoriker Andreas Tönnesmann die typologische Entstehung des Semper-Baus. 58 Grundlage für seine Argumentation bilden einerseits Sempers gebaute typengeschichtliche Zitate, von denen er sowohl das Dresdner Hoftheater als auch das Winterthurer Stadthaus anführt. Diese dürfen als Beweis dafür gelten, dass Semper seine Pläne nicht nur funktional ausrichtete, sondern durch den Rückbezug auf die Typengeschichte auch danach strebte »ihre Zweckbindung symbolisch zu überhöhen«.59 Andererseits kann sich Tönnesmann auch auf theoretische Äußerungen Sempers stützen, in denen er wiederholt die Fundamentierung der aktuellen Architektur in der typologischen Tradition forderte.60

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Für Unterrichtsbauten jeglicher Art empfahl Semper in einer seiner frühen Vorlesungen in Dresden (1840/41), diese um einen »Klosterhof mit umgebenden Hörsälen« zu errichten.61 Aufgrund dieser Aussage wird der Grundriss des Polytechnikums auch wiederholt im Kontext der Klosterbautradition gesehen.62 Tönnesmann verlässt sich aber nicht auf diese frühe Assoziation Sempers und verfolgt die Tradition der Universitäts- und Kollegienbauten zu ihren Ursprüngen zurück. In der einbündigen Erschließung des Semper-Baus entlang der Innenhöfe sieht Tönnesmann einen eindeutigen Bezug zur italienischen Kollegienarchitektur. Dem Gegenargument, dass diese hofseitigen Korridore ebenso gut aus der Klosterbautradition stammen könnten, begegnet Tönnesmann mit der Beobachtung, dass die frühen italienischen Kollegien axial auf eine Kapelle ausgerichtet waren, wohingegen in der Klosterarchitektur die Kirchen meist seitlich zum Kreuzgang angeordnet waren. Statt einer Kapelle setzt Semper dann in der Ansicht Tönnesmanns die Antikenhalle in die Mittelachse des Bauwerks.63 Dieser Trakt betont aber nicht nur die Mittelachse, indem er am Ende des Hofs darauf verweist, sondern er teilt den zentralen Hof auf der Achse in zwei Höfe. In der italienischen Tradition waren die Kollegien allerdings immer um einen zentralen Hof angeordnet. Daher sucht Tönnesmann für die zweihöfige Struktur nach anderen typologischen Einflüssen. Er sieht in der Doppelhofanlage eine Reaktion Sempers auf die englische College-Architektur, die der Architekt während seines fünfjährigen Exils in London kennengelernt haben könnte.64 Die Struktur der englischen Bauten, deren Höfe oft durch die zweigeschossige hall getrennt werden, hat ihren Ursprung in mittelalterlichen Adelssitzen wie beispielsweise der Haddon Hall in Derbyshire. 65 Bis ins 18. Jahrhundert wird diese Bautradition der häufig unregelmäßigen, nebeneinanderliegenden Höfe im College-Bau angewandt. Allerdings zeigen die Vergleiche mit den meisten Anlagen,66 dass nur einer der beiden Höfe über eine Art Kreuzgang, meist sogar ohne Hinterbau, verfügte.67 Die den anderen Hof umschließenden Gebäude waren hingegen meist nur durch die Innenräume zu erschließen. Eine Ausnahme bildet hier nur das Erweiterungsprojekt für das Magdalen College.68 Hier hätte der Arkadengang des unvollendet gebliebenen großen Hofs über den Zwischentrakt zu dem »Kreuzgang« des mittelalterlichen Great Quad verlängert werden sollen. Dieses im Fragment steckengebliebene Magdalen-College-Projekt hätte sicherlich die einheitlichste Struktur, inklusive Korridoren, in der englischen College-Architektur erreicht. 69 Im Gegensatz dazu sind die meisten seit dem Mittelalter gewachsenen Colleges oft unregelmäßig angelegt. Die Aufgabe, diesen englischen Typus im Sinne des 19. Jahrhunderts zu symmetrisieren und die beiden Höfe zu vereinheitlichen übernahm dann Semper in seinem Zürcher Entwurf.

140  Funktionalität – Monumentalität – Repräsentation

61 Zitiert nach Tönnesmann 2005, S. 65. Vgl. auch Maurer 2003, S. 53–91. 62 Vgl. Hauser 2003, S. 304  ; Altmann 2003, S. 346. 63 Tönnesmann 2005, S. 68. 64 Siehe Tönnesmann 2005, S. 71. 65 Kiene 1983, S. 69. 66 Darunter Queen’s College, Cambridge  ; New College, Oxford  ; u.a. 67 Meistens handelte es sich um annexhafte, freistehende Kreuzgänge, die nicht hinterbaut waren. 68 Kiene 1983, S. 111. 69 Die Erweiterung der All-SoulsColleges von Nicholas Hawksmoor erreichte ebenfalls eine sehr einheitliche Struktur, allerdings tritt das Motiv des umlaufenden Korridors hier gar nicht in Erscheinung.

70 Siehe Oechslin 2005 B, S. 23. 71 Oechslin 2005 B, S. 23. 72 Tönnesmann 2005, S. 69. 73 Ebd., S. 69. 74 Nägelke 2000, S. 30. 75 Nerdinger/Hufnagl 1978, S. 83. 76 Ebd., S. 83. 77 Nägelke 2000, S. 290 f. 78 Siehe Grundriss in Dehio Wien 2003, S. 266. 79 Nägelke 2000, S. 277 f.

Die Bauaufgabe, vor der Semper in Zürich stand, verlangte von ihm aber auch auf organisatorischer Seite eine Vereinheitlichung. Aus Gründen der Sparsamkeit sollte im Neubau nicht nur das Eidgenössischen Polytechnikum, sondern auch die kantonale Universität untergebracht werden.70 Dies hatte natürlich Konsequenzen für den Aufbau der Anlage. Der gemeinsame Fest- und Verwaltungstrakt war nach Westen zur Stadt gewandt, dieser Teil bildete in der typologischen Weiterentwicklung den Repräsentationskern. Im Süden waren der Eingang der Universität und deren Räumlichkeiten, im Norden die Bereiche des Polytechnikums. Obwohl man eine (negative) Beeinflussung der Universitätsstudenten auf die Schüler des Polytechnikums fürchtete,71 kam nun der Antikenhalle, der zentralen Wandelhalle, eine besondere Bedeutung zu. Denn als kommunikativer Angelpunkt musste sie von allen Nutzern des Bauwerks immer wieder durchquert werden. Diese Gegebenheit sollte zusätzlich ideell aufgeladen werden, indem sie als Museum »mit jenen massgeblichen Kunstwerken der Antike, die der Privatdozent Jacob Burckhardt für die Zürcher Universität in Abgüssen gesammelt hatte«72, gestaltet wurde. Diese künstlerische Ausrichtung sollte den gehobenen geistigen Rang der Universität verdeutlichen, der »Bildungsparcours« im kommunikativen Zentrum kam aber den Polytechnikern gleichermaßen zugute,73 weil er genau dort untergebracht war, wo sich die zwei Kommunikationsringe der Polytechnikumsschüler und der Universitätsstudenten, überlappten. In der Nachfolge Sempers finden sich zahlreiche Bauten, die die symmetrische Doppelhofanlage übernehmen. Der erste Nachfolgebau, dessen Architekt Gottfried Neureuther sich explizit auf den Zürcher Bau bezieht, ist das Polytechnikum in München [Abb. 87].74 Im Zuge einer Informationsreise fährt Neureuther auch nach Zürich, um dort Semper zu treffen.75 Auf den ersten Blick scheint zwar das Münchner Polytechnikum, das statt geschlossener Innenhöfe nur zwei Ehrenhöfe ausbildet, eine ganz andere Lösung zu finden, der genaue Vergleich zeigt aber, dass Neureuther die essenziellen Motive übernimmt  : »Flügelbau mit Mittelund Eckrisaliten, dreigeschoßige Anlage mit Erdgeschoßrustika, Abfolge von Vestibül – zurückgesetztes Treppenhaus und Aula im Obergeschoß mit drei großen, loggienartigen Rundbogenfenstern, durchlaufendes Korridorsystem, Konzentration der Würdeformen und des plastischen Schmucks am Mittelrisalit, Sgraffitto[sic]-Malerei etc.«76 Aber auch sehr detailgetreue Übernahmen des Grundrisses sind zu finden. Beispielsweise in dem Dresdener Hauptgebäude der Technischen Hochschule, das 1872–1875 von Rudolph Heyn gebaut wurde.77 Oder zeitgleich in Wien am Neubau der Akademie der bildenden Künste von Theophil Hansen.78 Sogar zu Beginn des 20. Jahrhunderts, wo Nägelke bereits einen neuen typologischen Trend bemerkte, wird Sempers Grundriss-Schema noch für die Technische Hochschule in Danzig (1900–1904) übernommen.79

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Die maximale Steigerung des Hofsystems sieht Nägelke in dem Hauptgebäude der Berliner Technischen Hochschule, die insgesamt fünf aneinandergereihte quadratische Innenhöfe hat, die in das umlaufende Korridorsystem eingefügt wurden.80 Dieser breitgestreckte Bau wurde zwischen 1878 und 1884 von den Architekten Richard Lucae, Friedrich Hitzig und Julius Raschdorff gebaut. Für einen gesteigerten Ausdruck des Bauwerks auch zur Straße hin erzeugen die Verlängerungen der äußersten Flügel einen Ehrenhof, zu dessen zentralem Haupteingang eine breite zweiarmige Rampe hinaufführt. Das Ehrenhofmotiv deutet Nägelke als Referenz auf den Ehrenhof des Prinz-Heinrich-Palais, das seit 1809/10 der Sitz der Friedrich-Wilhelms-Universität war. Nägelke übersieht hier aber die typologische Ähnlichkeit des Korridorsystems und der Ehrenhofanlage samt Rampe mit Ferstels Hauptgebäude. Dieser Bau, dessen Pläne spätestens 1873 zur Weltausstellung öffentlich waren, zeigt eben auch einen vielhöfigen Aufbau mit Korridorsystem, Ehrenhof zur Prachtstraße und einer breiten Rampe. Ohne Bezug auf Ferstels rie-

142  Funktionalität – Monumentalität – Repräsentation

Abb. 87: Gottfried Neureuther, Polytechni­ sche Schule, München, Fassadenansicht und Grundriss (Allgemeine Bauzeitung, 1872, Bl. 5, Foto: Universität Wien, Institut für Kunstgeschichte, René Steyer)

80 Nägelke 2000, S. 35 ff und 248 ff.

senhaftes Wiener Hauptgebäude kann die Universitätstypologie des ausgehenden 19. Jahrhunderts jedenfalls nicht weitergeschrieben werden.81 Der typologische Rundblick zeigt, dass von Semper mit seinem typbildenden Vorstoß in Zürich bereits ein wichtiger Grundstein für eine Hochschulbautradition in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert gelegt wurde. Dieser vereint die frühen italienischen und englischen Typologien, optimiert ihre Erschließung und zeigt einen Weg auf, wie mehrere Funktionen innerhalb eines mehrhöfigen Komplexes zusammengefügt werden können. Der Rückblick zur Entwicklung der Bautraditionen zeigt, dass die Einflüsse auf die Typbildung vielfältig sind. So kann die Verwandtschaft zur Klosterbautradition aus funktionellen und formalen Gründen nicht ausgeschlossen werden, der Rückbezug der humanistisch gebildeten Architekten auf die Überlieferungen Vitruvs in der Renaissance kann nicht verwundern, und die Anleihen bei der zeitgenössischen Palastarchitektur ziehen sich durch die gesamte Geschichte der Universitätsbaukunst. Entgegen vielen Aussagen in der Literatur standen dem Architekten Ferstel daher für seine Planungen zahlreiche erprobte Möglichkeiten der typologischen Ausgestaltung seines Universitätsbaus zur Verfügung.

Bauaufgabe und Funktionen der Wiener Universität

81 Wie zu Beginn des Kapitels erwähnt, wird der Ferstel-Bau auch nach nur vier Jahren in den entsprechenden Band des Handbuchs der Architektur übernommen, siehe Eggert 1888. 82 Da die erhaltenen Grundrisse mittels einer einfachen Fadenbindung zusammengehalten sind, ist es sogar wahrscheinlicher, dass in diesem Stadium noch kein präsentabler Aufriss existierte.

Der Blick auf die lange Planungsgeschichte der Wiener Universität zeigt, dass sich die Ansprüche und Anforderungen an den Bau zwischen 1854 und 1870 immer wieder änderten. Entsprechend den wechselnden Bauprogrammen (im Zusammenhang mit den wechselnden Bauplätzen) änderten sich auch die funktionalen Überlegungen in der Planung. Zu Beginn werden hier die Planungsprojekte vor der Standortentscheidung für den Paradeplatz in die Typengeschichte eingeordnet, um dann Ferstels funktionale und ideelle Orientierung an der Universitätsbautradition anhand seiner Entwürfe nachzuvollziehen. Hierbei stellen Ferstels Denkschrift zum zweiten Entwurf von 1872 und sein Vortrag vor dem Österreichischen Ingenieur- und Architektenverein im Jahr 1878 wichtige Quellen dar. Als funktions- oder ideenbeladene Konstanten in der Bautradition stellten sich der Innenhof, die Kommunikationswege, die Treppen und die axiale Ausrichtung heraus, daher wird diesen Motiven bei Ferstels Hauptgebäude besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Aber bereits in den vorangegangenen Planungen wurde der Typologie des Bauwerks Rechnung getragen. Der weitgehend unbekannte erste Entwurf von August von Siccardsburg und Eduard van der Nüll aus dem Jahr 1854, von dem nur die Grundrisse erhalten sind,82 zeigt einen trapezoiden Bau, dessen großer

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Innenhof durch einen zentralen Treppentrakt in zwei Höfe geteilt wurde [Abb. 4, 15–17]. Das bedeutet, dass die beiden Architekten schon wenige Jahre vor Semper den Versuch unternommen hatten, das Universitätsgebäude um zwei Höfe herum zu arrangieren.83 Im Prinzip handelt es sich bei dieser Form um eine Vereinheitlichung des gewachsenen Grundrisses des Wiener Polytechnikums [Abb. 85]. Wie der älteste Trakt des Wiener Polytechnikums sollten auch die Trakte des Universitätsneubaus einbündig erschlossen werden. Durch die Spiegelung des Längstrakts ergaben sich zwei hofseitige Korridore, die über die äußeren Verbindungstrakte zu einem umlaufenden System geschlossen wurden. Mit der Integration eines großen Vestibüls und einem zentralen Stiegenhaus bemühen sich die Architekten bereits in diesem ersten Entwurf um einen monumentaleren Charakter als ihn der Zweckbau des Polytechnikums vermittelte. Ähnlich der Fassade des Polytechnikums hätte sich auch hier die Hauptfassade über das unverbaute Glacis zur Stadt gewandt. Die Tatsache, dass dem Entwurf kein Aufriss beigefügt war, und die kleinteilige Rasterung der Raumfunktionen im Grundriss lassen jedoch darauf schließen, dass auch hier die Zweckmäßigkeit des Bauwerks einen höheren Stellenwert hatte als die Monumentalwirkung. Auch wenn dieser erste Entwurf in der bisherigen Forschung wenig Aufmerksamkeit bekommen hat, kann man doch mit Sicherheit davon ausgehen, dass Ferstel ihn kannte. Immerhin war er selbst derjenige, der mit seinem Standortwunsch für die Votivkirche diesen Plan seiner beiden Lehrer durchkreuzte. Der zweite Plan von Siccardsburg und van der Nüll stellt aufgrund der symbiotischen Verknüpfung mit dem Votivkirchenbau eine Besonderheit in der Hochschulbautradition dar [Tafel 3]. Der mehrgliedrige Bau, der sich wie ein Kranz um den Chor der Votivkirche hätte legen sollen, wird in der Literatur als »Gruppenblockbau« charakterisiert.84 Denn einerseits entspricht er funktional einem Universitätsgesamtgebäude, in dem fast alle Institute zusammengefasst sind. Dementsprechend groß musste auch der Bauplatz sein. Andererseits wird diese Größe durch die vielteilige Gliederung in einzelne Baukörper zurückgenommen. Dies bewirkt, dass der geplante Bau trotz seiner immensen Größe immer den Hintergrund der axial davor ausgerichteten Votivkirche dargestellt hätte. Die von Sektionsrat Moritz Löhr geschaffenen Bebauungsvorschläge für den Paradeplatz tendieren [Abb. 9a–b] aus typologischer Sicht zu Mischformen aus riesenhafter Ehrenhofanlage und Vierflügelbau. Auf Löhrs Plänen stellt die Universität noch den einzigen Monumentalbau auf dem neu zu erschließenden Paradeplatz dar. In der ersten Bebauungsstudie, auf der Rathaus, Parlament und Universität auf dem Paradeplatz zusammen einen Platz gestalten, ist ein nicht im Detail definierter Baublock für die Universität eingetragen.85

144  Funktionalität – Monumentalität – Repräsentation

83 Stilistisch hätte sich dieser Bau vermutlich eher am Rundbogenstil orientiert. 84 Hoffmann 1970, S. 52. 85 Siehe auch Mollik/Reining/Wurzer 1980, Kartenband Tafel 60,6.

Die Folgepläne [Abb. 9c–f ] sehen den Paradeplatz in einem größeren Kontext und beziehen auch die Gestaltung des Votivkirchenplatzes mit ein. Interessant ist hierbei, dass nur einer dieser Pläne die Gestaltung der Bauten um den Chor der Votivkirche nicht von Ferstel übernimmt [Abb. 9d]. Für die Monumentalbauten sind in diesen unterschiedlichen Plänen fast durchgehend mehrhöfige Anlagen vorgesehen.86 Auf dem letzten dieser Pläne [Abb. 9f ] ist die Kontur von Ferstels Entwürfen schon zu erkennen. Bei Wurzer/Mollik wurde dieser Plan auf 1870 datiert, das ist aber unwahrscheinlich, da Ferstels Vorentwurf [Abb. 30] noch einen breiten Mittelrisalit vorsah. Daher entspricht dieser Situationsplan eher einer späteren Planungsstufe ab 1871. Diese in der Planungsphase getätigten Überlegungen zum Universitätsbau machen erkennbar, dass sich bereits lange vor Ferstels Auseinandersetzung mit der »Monsteraufgabe« die Problematik des immensen Raumbedarfs gestellt hatte, sodass eine einfache Drei- oder Vierflügelanlage den Anforderungen nicht gewachsen gewesen wäre.

Ferstels Planungen und der ausgeführte Bau

86 Siehe auch Mollik/Reining/Wurzer 1980, S. 248–249. 87 Siehe Ferstel 1878 A, S. 149. 88 Ferstel 1872, S. 5. 89 Vgl. Wibiral/Mikula 1974, S. 52. Hier wird fälschlicherweise behauptet, dass das Chemische Institut bereits einen geschlossenen Kommunikationsring aufweise. Dies ist insofern nicht korrekt, als der Ring durch Übungslabore unterbrochen ist.

Der unregelmäßige Bauplatz hinter der Votivkirche stellte auch für Ferstel selbst, der ab 1868 hier den Universitätskomplex planen sollte, eine große Schwierigkeit dar,87 da auf den »zerstreut um die Votivkirche liegenden, unregelmässigen Plätze[n]«88 ein wirkungsvoller Monumentalbau nicht zu realisieren gewesen wäre. Ferstel hätte für diesen Plan die von ihm selbst schon im Dezember 1862 erdachte Parzellierung um den Chor der Votivkirche beibehalten [Abb. 6 und 8]. Als Anhängsel dazu wurde relativ zügig das Chemische Institut an der Hörlgasse gebaut [Abb. 11], in dem sich Ferstels typengeschichtliche Kenntnisse bereits deutlich ausprägen. Die Tatsache, dass das Korridorsystem hier keinen umlaufenden Kommunikationsring bildet,89 ist kein Zeichen der Unreife des Konzepts. Vielmehr spiegelt dieses Wegesystem die intendierte Nutzung wider. Denn die zwei Hälften eines Kommunikationsrings werden durch die beidseitigen Übungslabore unterbrochen. Die eine Hälfte des Korridorrings war für den Studentenverkehr bis zum Labor gedacht, die andere aber führte von den großen Labors zu den Räumlichkeiten und Wohnungen des Professors und seiner Assistenten. Die Gestaltung der Wege ist also genau auf die erwarteten Nutzergruppen zugeschnitten gewesen. Während innerhalb eines selbstständigen Instituts (in dem noch dazu zunächst nur ein einziger Professor mit seinen Assistenten residieren sollte) klar definiert werden konnte, welche Nutzergruppe welchen Eingang nehmen und anschließend zu welchen Räumen gelangen sollte, war eine solche Festlegung im Hauptgebäude nicht möglich. Die Vielzahl

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der unterschiedlichen Institute und Subinstitutionen verlangte nach durchlässigen Kommunikationsstrukturen. Das Bauprogramm vom Stand 1872 forderte Folgendes  : »eine Reihe von Hörsälen der verschiedenen Dimensionen, Säle für Sammlungen, Arbeitsräume, Bureaux, Repräsentations- und Prüfungslocalitäten der verschiedensten Art, eine Bibliothek für 500.000 Bände, endlich Wohnungen.«90

In dieser Unterschiedlichkeit in Bezug auf Ausdehnung und Funktion der Forderungen sah Ferstel die »Hauptschwierigkeit, sowohl für die zweckmässige Combination, als auch für die ästhetische Lösung«.91 Bei der zweckmäßigen Verteilung der verschiedenen Institute und Einrichtungen legte Ferstel daher großen Wert auf durchgängige Kommunikationswege, über welche die unterschiedlichen Räumlichkeiten zentral erreichbar wären. Den Kern von Ferstels Wegesystem bildeten der große Innenhof und das Vestibül.

Zentraler Innenhof und Vestibül

Das folgende Zitat Ferstels aus seiner Denkschrift zum zweiten Entwurf von 1872 verdeutlicht, welchen Stellenwert die Anlage der Korridore und Zugänge für Ferstel hatte. Daraus ergibt sich auch, dass er den Arkadengang tatsächlich als zentralen Angelpunkt der Gesamtanlage verstanden hat  : »Der Hof ist von Arkaden umgeben, welche in dem Falle zur Vermittlung der Communicationen unentbehrlich werden. Ueberhaupt ist auf die Communicationen in diesem Bauwerke die allergrösste Rücksicht zu legen, und von der Richtigkeit dieser Lösung hängt der ganze Werth der Anlage ab. Nicht nur muss jeder einzelne Raum von aussenher ganz direct und auf dem kürzesten Wege zugänglich sein, sondern auch die kürzeste und directe Verbindung aller Localitäten unter einander bestehen. Der Arkadenhof bietet nun das wichtigste Mittel zu einer derartigen Communication, indem an die Arkaden die sämmtlichen Treppen des Hauses gelegt sind.«92

Die Hofarkaden als umlaufender Kommunikationsangelpunkt sind gewissermaßen die Inversion von Sempers zentraler Antikenhalle als Schnittpunkt der Wege. Daher scheint sich der Wiener Arkadenhof vielmehr an die italienische Tradition der Innenhöfe anzulehnen. Das Collegio di Spagna, als »Urtyp« des italienischen Typus, macht den Aufbau vor [Abb. 80]  : Der zentrale Durchgang mündet axial in den Arkaden des quadratischen Innenhofs, an dem die Zugänge zu den Kollegiatenzimmern, zur Küche, zu den Verwaltungsräumen und auf der Mittel-

146  Funktionalität – Monumentalität – Repräsentation

90 Ferstel 1872, S. 9. 91 Ferstel 1872, S. 9. 92 Ebd., S. 10.

achse zur Kapelle führen. Direkt beim Eingang zum Hof laufen beidseitig Stiegen zur Arkadengalerie des Obergeschosses, die wiederum den Zugang zu den Lehrsälen, zu den Kollegiatenzimmern, zur Bibliothek und zu den beiden Räumen des Rektors bieten. Wenn auch diese Anlage viel kleiner ist und daher die Kommunikationsrolle des Innenhofs wie selbstverständlich wirkt, so ist dennoch in einer solchen Anlage mit axial ausgerichtetem Innenhof der Ursprung für den Kommunikationsmittelpunkt des Wiener Hauptgebäudes zu sehen. In Ferstels Entwurf ist aber die Kommunikationsstruktur weiter gefasst, denn der Innenhof führt nicht direkt zu allen einzelnen Zimmern, sondern er vermittelt weiter zu Unterstrukturen wie den Hauptstiegen, der Bibliothek oder den Lehrtrakten. Bei seinen Ausführungen, welche historische Architektur für ihn als Vorbild dienen konnte, nennt Ferstel in seinem Vortrag vor dem Österreichischen Ingenieur- und Architektenverein in Bezug auf das Wegesystem ausdrücklich den italienischen Renaissancepalast, der aber größenmäßig nicht anwendbar sei.93 Auf seiner Informationsreise im Frühjahr 1871 nach Italien kam Ferstel nach Bologna, Genua, Padua und Rom,94 wo er sich mit Sicherheit die Universitätsgebäude angesehen hat. Man kann also annehmen, dass Ferstel das Collegio di Spagna in Bologna und das Sapienza-Gebäude in Rom aus direkter Anschauung kannte. Mit großer Wahrscheinlichkeit aber kannte er auch die dortigen Renaissancepaläste. Typologisch jedenfalls bezieht er sich an einer späteren Stelle in seinem Vortrag auf die Bedeutung der italienischen Renaissance(-paläste  ?) bezüglich der inneren Kommunikationswege  : »Die italienische Renaissance steht vielleicht in der Hinsicht der gestellten Aufgabe näher [Anm.: als die französische Renaissance], als sie am unmittelbarsten an die römische Kunst anschliesst und jene grosse Raumdisposition lehrt, die auch die Meister des Cinquecento zu neuem Schaffen begeistert hat. Vielleicht ist das Bauwerk gerade in der Hinsicht bevorzugt, dass es in der Mannigfaltigkeit der Innenräume und der vielgestaltigen Communication unmittelbar auf jene Vorbilder hinweist, an denen sich die Meisterschaft römischer und auch italienischer Baukunst erprobt hat. Der Schwerpunct in diesem Bauwerke ist auf das Innere gelegt. Vom mittleren grossen Hof aus entwickelt sich eigentlich die Disposition und von hier aus entwickeln sich die Motive nicht nur nach dem Innern, sondern auch nach dem Aeusseren.«95

93 Ferstel 1878 A, S. 152. 94 Wibiral/Mikula 1974, S. 57. 95 Ferstel 1878 A, S. 153. 96 Ebd., S. 154.

In welcher Form kann Ferstel die Raumdisposition und die vielgestaltige Erschließung des italienischen Renaissancepalastes (oder seiner römischantiken Vorbilder  !) für seine Universität nutzbar machen  ? Und welcher Palast könnte ihm hier typologisch vorgeschwebt haben  ? Für die stilistische Gestaltung des Innenhofs nennt er an einer späteren Stelle im Vortrag den Palazzo Farnese als Vorbild.96 Wenn dieser

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Abb. 88: Joachim Sandrart d. Ä., Grundriss des Palazzo Farnese in Rom, Grundriss des Erdgeschosses, 1685 (Foto: Universität Wien, Institut für Kunstgeschichte, Karl Pani)

stilistische Zusammenhang auch nicht kritiklos übernommen werden kann, wie die Ausführungen im folgenden Kapitel zur Reziprozität zwischen Stil und Monumentalcharakter darstellen werden, so könnte dieser Verweis auf diesen Palast Sangallos vielleicht auch, oder sogar eher, in der Grundrissgestaltung Anwendung finden. Christoph L. Frommel charakterisiert den Hof eines römischen Renaissancepalastes jedenfalls folgendermaßen  : »Im Hof liegt die repräsentative Mitte, in ihm laufen alle Wege zusammen. Er ist der eigentliche Treffpunkt der Palastbewohner. Die vielfältigen Funktionen des Palasthofes waren zu selbstverständlich, als daß sie in den Quellen besondere Erwähnung gefunden hätten.«97

Hiermit entspricht die Rolle des römischen Palastinnenhofs weitgehend den Aufgaben, die Ferstel seinem Innenhof zugedacht hatte.

148  Funktionalität – Monumentalität – Repräsentation

97 Frommel 1973, S. 56.

Abb. 89: Antonio da Sangallo, Entwurf des Grundrisses für die Sapienza Armellina, Perugia (Kiene 1988, Abb. 23, Foto: Univer­ sität Wien, Institut für Kunstgeschichte, René Steyer)

  98 Wie Richard Kurdiovsky in seiner Dissertation über Carl von Hasenauer zeigt, griff nicht nur Hasenauer beim Palais Lützow (1870) auf den römischen Palazzo Farnese zurück, sondern vor ihm schon die Kollegen Johann Romano und August Schwendenwein oder Ferstel selbst bei dem Palais Wertheim (1864) und dem Haus Leon (1870). Siehe Kurdiovsky 2008, S. 208 f. Siehe auch Wagner-Rieger 1970, S. 211.   99 Im Aufriss hingegen ist die Ähnlichkeit nicht mehr spürbar. 100 U 1033 A  ; Siehe Kiene 1988, S. 245.

Der Palazzo Farnese, der ab 1515 von Antonio da Sangallo dem Jüngeren für Alessandro Farnese, dem späteren Papst Paul III., erbaut und nach dessen Tod von Michelangelo vollendet wurde, stellt sicherlich ein namhaftes Bezugsobjekt dar, das den Architektenkollegen geläufig gewesen sein muss.98 Und tatsächlich weist der Sangallo-Bau Merkmale auf, die ihm eine Art Brückenfunktion zwischen Collegio di Spagna und Wiener Hauptgebäude zukommen lassen könnten. Wie das Collegio di Spagna umschließt der Palazzo Farnese [Abb. 88] einen quadratischen Innenhof mit fünfjochigen Arkaden99. Auf der Mittelachse liegen nun, statt Eingang und Kapelle, der durch zwei Säulenreihen aufgewertete Eingangsbereich und der loggienartige Zugang zum Garten. Im Gegensatz zum Collegio muss der Innenhof nicht zu jedem einzelnen Kollegiatenzimmer führen, daher ist die Anzahl der Türöffnungen zum Hof reduziert auf den vorderen und hinteren Bereich. Zusätzlich haben beide Seitentrakte mittig noch einen Zugang. Dies findet sich in sehr ähnlicher Weise im großen Innenhof des Ferstel-Baus wieder. Die in den Gang hineinragenden Antritte rhythmisieren die lange Halle und helfen bei der Orientierung [Abb. 64]. Die Nähe zwischen Universitäts- und Palasttypologie scheint bei Antonio da Sangallo d. J. aber kein reiner Zufall zu sein. So zeigt der skizzierte Entwurf für die Sapienza Armellina in Perugia100 [Abb. 89] in größeren Dimensionen ebenfalls einen Arkadenhof mit axialer Anordnung von einem erweiterten Vestibül und einer oktogonalen Kapelle.

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Abb. 90: Antonio da Sangallo, Entwurf für die Wallfahrtsanlage Santa Casa, Loreto (Frommel/Adams 2000, S. 396, Foto: Uni­ versität Wien, Institut für Kunstgeschichte, René Steyer)

Die Bautradition ließ also Variationen in der Anzahl der Joche oder die Dehnung zum rechteckigen Hof, im Gegensatz zum fünfjochig-quadratischen bologneser Urtyp, zu. Die Universalität dieses Schemas zeigt sich aber erst recht in Sangallos Hofentwurf für die Wallfahrtsanlage Santa Casa in Loreto [Abb. 90].101 Da auf diesem Blatt die drei großen Ap-

150  Funktionalität – Monumentalität – Repräsentation

101 Frommel/Adams 2000, S. 185 und 396.

Abb. 91: Universität Wien, Arkadenhof im Winter (Foto: Franz Pfluegl, 2010)

102 Frommel 1973, S. 55.

siden der Kirche nicht abgebildet sind, wird deutlich, wie wenig sich dieser Plan eigentlich vom italienischen Universitätstypus unterscheidet. Der Zugang ist wie in Bologna einachsig, von den Arkadenhallen führen zahlreiche kleine Türen zu den sogenannten bottegas, auf der Mittelachse am Ende des Hofs liegt die Kapelle. Frappierend bei diesem Plan ist die Ähnlichkeit der abgebildeten Kirchenjoche mit den ondulierenden Kapellen zu Ferstels Universitätsvestibül im genehmigten Grundriss von 1874 [Abb. 57]. In der Betonung der Axialität wird bei den Renaissancepalästen wie auch -universitäten ein besonderer Wert auf die Gestaltung der auf der Achse liegenden Räume gelegt. Bei der Aufwertung des schmalen Durchgangs (siehe Collegio di Spagna) zum herrschaftlichen Vestibül erprobten die Renaissancearchitekten ihre Interpretationen antiker Quellen, insbesondere Vitruvs. Die dreischiffige Eingangshalle des Palazzo Farnese stellte dann die erste gebaute Rekonstruktion von Vitruvs vestibulum dar.102 Parallel dazu verwendet Raffael ein solches Vestibül in der Villa Madama. Insofern bietet der Palazzo Farnese für Ferstel tatsächlich eine Synthese aus der »Meisterschaft römischer [Anm.: antiker] und auch italienischer Baukunst«. Allerdings ist die Raumwirkung des tonnengewölbten Farnesischen Vestibüls nicht vergleichbar mit dem Wiener Vestibül [Abb. 66], dessen einzelne Joche überwölbt sind. Trotzdem mag die Nennung des Palazzo Farnese im Vortrag sicherlich nicht als Irreführung der Architektenkollegen gedacht gewesen sein, sondern vielmehr steht dieser bekannte römische Palast aus historistischer Sicht für das strukturelle Ideal aus Antike und Renaissance. Ein entscheidender Unterschied zwischen Ferstels Arkadenhof [Tafel 8 und Abb. 91] und den Höfen der italienischen Renaissance ist die Tatsache, dass der östliche Teil des Umgangs in Wien nicht an das Ves-

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tibül anschließt, sondern es im Gebäudeinneren durchkreuzt. Dennoch stimmt hierbei dieser Teil funktional mit der Hofloggia der Renaissancepaläste überein. Während die anderen drei Säulengänge hauptsächlich als Verbindungsgänge und Wandelhallen dienten, war die römische Hofloggia »der Durchgangsort für den gesamten Verkehr zwischen dem Palast und der Außenwelt«.103 Im Wiener Hauptgebäude vermittelt dieser Schnittpunkt von Vestibül und »Hofloggia« ebenfalls den wichtigsten Teil der Wege. Hier werden die hereinkommenden Studenten und Besucher zur Seite gelenkt und können nun entweder der »Umlaufbahn« der Arkadenhallen folgen oder über die Verlängerung die Hauptstiegen und die Lehrtrakte erreichen. Dass Ferstel seine »Hofloggia« ins Innere hineinnimmt, kann mehrere Gründe haben. Am wahrscheinlichsten ist es aber eine Anpassung des wichtigsten Durchgangsorts an die klimatischen Bedingungen. So wie Vitruv empfohlen hatte an einer Seite des Peristyls den Säulengang zum Schutz vor Regen zu verdoppeln, und so wie die Hofloggien der Renaissancepaläste breiter waren als die restlichen Gänge, schützte Ferstel diesen funktional herausragenden Teil vor Schnee und Kälte. Einen eindeutigen Vitruv-Bezug stellt sicherlich die dem Festsaalrisaliten im Innenhof vorgelagerte Exedra dar [Abb. 92]. Während dieses Motiv im Hof der Sapienza in Rom nur als konkave Stirnseite zutage tritt, erfüllt die Hofexedra eine weitere bei Vitruv genannte Anforderung. Um das über das Vestibül zugängliche Innere des Halbkreises sind steinerne Stufen gelegt, die einem Auditorium Sitzplätze bieten. Diese zentrale halbrunde Sitzgruppe erfüllt also die bei Vitruv geforderte Exedra, wo sich »Philosophen, Redekünstler, und andere Liebhaber der Wissenschaften […] darin sitzend unterhalten mögen.«104 In keinem der betrachteten Vorgängerbauten, auch nicht der Sapienza, wo zwar die konkave Ausbildung der Hofschmalseite(n) auftaucht,105 wo aber keine Sitzgelegenheiten ausgebildet sind, ist diese antike Idee so konsequent umgesetzt worden. Zwar war Ferstel bei seiner Informationsreise ausdrücklich zu den italienischen Universitäten gefahren, in seinen Darstellungen werden aber weder die italienischen Universitätsbauten noch antike Gymnasien explizit genannt, sondern er beruft sich auf den italienischen Renaissancepalast. In der Zusammenschau von Vestibül und Innenhof ist auch deutlich erkennbar, dass der Architekt sich an das Schema des italienischen Renaissancepalastes anlehnt. Für die Umsetzung in seinem riesenhaften Palast war der Aufbau der Kollegien mit den vielen Wohneinheiten zu kleinteilig. Die Adelspaläste hingegen waren in ihrer Struktur, wie Ferstel in seinem Vortrag auch betonte, besser geeignet. Aber, hätte seine Universität dieselbe Form, wenn sich die Gestaltungsweisen der Renaissancepaläste nicht weitgehend mit denjenigen der Universitätspaläste decken würden  ? Eignet sich der italienische Renaissancepalast nicht eben

152  Funktionalität – Monumentalität – Repräsentation

103 Frommel 1973, S. 58. 104 Wyss/Rode 1995, S. 263. 105 Das Planprojekt des Architekten Pirro Ligorio sah auf beiden Stirnseiten des Innenhofs der Sapienza Exedren vor. Bei weiteren Umbaumaßnahmen unter dem Architekten Giacomo della Porta wurde die westseitige Exedra wieder zurückgebaut und der Hof rechtwinklig geschlossen. Siehe Stalla 2008, S. 221  ; Kiene 1988, S. 250.

Abb. 92: Universität Wien, Arkadenhof aus Sicht der Exedra (Foto: Franz Pfluegl, 2009)

deshalb so gut, weil sich seine Form so gut mit den Gestaltungsprinzipien antiker und neuzeitlicher Universitätsbauten in Deckung bringen lässt  ? Durch dieses vielsagende Motiv gelingt Ferstel die Betonung zweier intentionaler Aussagen  : Zum einen spiegelt die Bautradition ein humanistisches, bis in die Antike zurückreichendes Bildungsideal, zum anderen drückt die formale Nähe zum Palastbau die Würde der traditionsreichen Institution aus. Treppenhäuser und Korridore im Obergeschoss

Zweifellos ist es Ferstel mit dem großen Innenhof gelungen, den architektonischen Mittelpunkt der Anlage und damit den Ausgangspunkt für die Orientierung zu bilden. Für die weitere Erschließung des Gebäudes waren folglich die Stiegenhäuser und weitere Korridore gefordert. In seinem Vortrag von 1878 erläuterte Ferstel daher auch die Funktionalität der Treppen. 106 Ferstel 1878 A, S. 150. 107 Die Anlage der Treppenhäuser bleibt ab dem ersten Entwurf von 1871 weitgehend konstant. Danach werden nur mehr die Treppenanlagen im westlichen Teil der Lehrgebäude variiert. 108 Obwohl vom Vorentwurf nur der Grundriss des ersten Obergeschosses erhalten ist, kann man mit sehr großer Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass auch hier im Hochparterre ein Arkadenhof geplant war.

»Die Communication und die Orientierung zählen gewiss zu den wichtigsten Forderungen, und ich habe ein geeigneteres Auskunftsmittel dafür nicht gefunden, als in der Anlage einer den Hof umschliessenden Arkade, an welche die sämmtlichen Stiegen zu verlegen sind. Es liegen an jeder Seite drei Stiegen und rückwärts eine Stiege für die Bibliothek, so dass vom Hofe aus jeder Punct des Hauses rasch und schnell auffindbar ist.«106

Ferstels gedankliche Arbeit, wie die Stiegen im Baukomplex anzulegen seien, spiegelt sich in den Entwurfsphasen sichtbar wider. Der Vergleich zwischen dem Vorentwurf [Abb. 30] und dem ersten Entwurf [Abb. 32–34] zeigt107, dass Ferstel im Vorentwurf noch nicht drei große Stiegenanlagen direkt am großen Innenhof geplant hatte.108 Die beiden

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Hauptstiegen und die runde Bibliotheksstiege im Vorentwurf waren von der Wandelhalle abgerückt. Zwei kleinere Stiegen an der Südost- und Nordost-Seite und zwei größere Stiegen an der Süd- und Nord-Seite gingen direkt vom Hof weg. Bemerkenswert ist beim Vorentwurf auch, dass die beiden durchaus raumfassenden Hauptstiegen, die im östlichen Kernbau liegen, ausschließlich zum Festappartement führen. Der aufsteigende, zentrale Lauf zielt jeweils direkt auf die Tür zum Festsaal. Außerdem gehen von beiden Treppenhäusern seitlich noch je zwei Türen ab zu kleineren repräsentativen Räumen, wie dem kleinen Festsaal und dem Saal für Disputationen und Staatsprüfungen, es gibt jedoch keinen Zugang zu den Lehrtrakten. Ab dem ersten Entwurf von 1871 sind diese beiden großen Stiegenhäuser allerdings schon jeweils als Querverbindung zwischen die beiden Lehrtrakte geschoben. In seiner Denkschrift zum zweiten Entwurf von 1872 [Abb. 44] schreibt Ferstel dann auch wie selbstverständlich, dass die Anlage von »eigenen Prachttreppen zu den Festlocalitäten […] zu einer Raumverschwendung [hätte] führen müssen, während allerdings die beiden Haupttreppen, welche zu gleicher Zeit den Zugang zu den Festlocalitäten vermitteln, die aber überdiess noch wesentlichen anderen Communicationen dienen, durch ihre Dimensionen sowohl, als auch vermöge ihrer imposanten Raumesdisposition immerhin Anspruch auf die Bezeichnung von Prachttreppen erheben können.«109

Tatsächlich trifft auf die beiden ausgeführten Hauptstiegen kaum ein anderer Begriff als Prachttreppen besser zu. Über einen kleinen Antritt sind sie direkt mit den Eckoktogonen des umlaufenden Hauptkorridors des Hochparterres verbunden und nehmen dann den gesamten Quertrakt zwischen den Lehrgebäuden ein. Auf der Achse des Korridors beginnt ein mittlerer Lauf als gemeinsamer Antritt, führt zu einem Wendepodest und in zwei Armen zum ersten Obergeschoss auf der Festsaalseite. Damit nimmt die Stiege aber nur eine Hälfte der Fläche ein, denn auf der Mitte des Wendepodests wird dieses Schema einer zweiarmigen und dreiläufigen Treppe mit gemeinsamem Antritt gespiegelt. Vom Korridor des äußeren Lehrtrakts beginnt ebenfalls ein mittlerer Lauf, der sich nach dem Wendepodest in zwei Arme teilt, die zum Obergeschoss des Lehrtrakts und den dort ansässigen Dekanaten führen.110 Es handelt sich hierbei also um zwei gewaltige Treppenhäuser, die mit ihren gespiegelten Anlagen die gesamte Breite zwischen den Lehrtrakten einnehmen. Dabei nutzt das Treppenhaus auch die gesamte Höhe des zweiten Obergeschosses als Luftraum. Der nächste parallel dazu angelegte Quertrakt beherbergt dagegen eine minimal kleinere Treppe, die bis ins zweite Obergeschoss führt, und zusätzlich zwei große Hörsäle. Die Prachttreppen gehen also in ihrer »imposanten Raumdisposition« weit über das Nötige hinaus.111

154  Funktionalität – Monumentalität – Repräsentation

109 Ferstel 1872, S. 11. 110 Nach den beiden Dekanaten, zu denen die äußeren Arme der Feststiegen führen, haben die Stiegen auch ihre Bezeichnung  : die PhilosophenStiege im Norden und die JuristenStiege im Süden. Das theologische Dekanat war im zweiten Obergeschoss über die mittlere Stiege vom Arkadenhof aus zu erreichen. Das medizinische Dekanat war im äußeren nördlichen Lehrtrakt im Hochparterre untergebracht. 111 Aus diesem Grund wurde im Zuge des Wiederaufbaus im Jahr 1946 angedacht, die Decken der beiden Treppenhäuser abzuhängen, um darüber Raum für weitere Räume schaffen zu können. Siehe BDA 508/46.

112 Wibiral/Mikula 1974, S. 166. 113 »Il est vrai qu’un escalier est nécessaire pour arriver aux étages supérieurs d’un édifice, quecet escalier n’est point un lieu de station, mais de passage, et que si vous lui donniez une importance relative trop grande pour les salles auxquelles il permet d’arriver, vous faites peutêtre un magnifique escalier mais certainement un contresens«, in  : Viollet-le-Duc 1863, S. 462. (zit. nach Kodré 1983, S. 3.) 114 Kodré 1983, S. 3. 115 Kodré 1983, S. 152. 116 Siehe Pevsner 1989, S. 306 f  ; Wilkinson 1975, S. 83 f  ; Mielke 1993, S. 110–116. 117 Pevsner 1989, S. 307.

Im krassen Gegensatz dazu steht die Auffassung Eugène Viollet-leDucs, der für Ferstel in den frühen Jahren eine wichtige Quelle darstellte.112 In seinen Entretiens sur l’Architecture vertritt Viollet-le-Duc die nahezu radikale Meinung, dass eine Treppe lediglich als Verbindung zwischen zwei Stockwerken diene und nicht als Aufenthaltsort. Wenn man nun ein in Relation zu den Räumen sehr großes Treppenhaus plane, so konstruiere man zwar vielleicht eine prachtvolle Treppe, aber sicherlich einen Widersinn.113 In Anbetracht dieser Aussage konstatiert Helfried Kodré in seiner umfassenden Dissertation zu den Treppenhäusern im 19. Jahrhundert, dass dementsprechend »nicht nur die meisten Treppenhäuser in den Schloßbauten des 17. und 18. Jahrhunderts, sondern vor allem auch die […] Treppenanlagen des 19. Jahrhunderts als »Widersinn« bezeichnet werden [müssten].«114 Stattdessen sieht Kodré gerade in den meisten der riesenhaften Treppenhäuser den ausgeprägten Repräsentationswillen des Bürgertums, aber auch der dem Staatswesen angehörigen Institutionen widergespiegelt.115 Die Anlage zweier riesenhafter Stiegenhäuser, die sowohl in Höhe als auch in Breite den kleinen Festsaal übertreffen und den Dimensionen des großen Festsaals nahe kommen, muss daher gut begründet sein. Der Aufbau einer zweiarmigen und dreiläufigen Treppe mit gemeinsamem Antritt hat seinen Ursprung vermutlich in Italien, in Spanien am Escorial wurde sie zum ersten Mal in hochherrschaftlichem Kontext errichtet und erhält in der Folge die Bezeichnung imperial staircase oder auch Kaisertreppe.116 Aufgrund ihres großzügigen Aufbaus und des daraus folgenden außerordentlich intensiven Raumerlebnisses findet sie zahlreiche Anwendung im barocken Schlossbau und wird Emblem fürstlichen Glanzes.117 So findet man dieses großzügige Raumgefüge im 18. Jahrhundert in der Würzburger Residenz oder im Belvedere in Wien. Im 19. Jahrhundert nobilitiert eine imperial staircase jeweils das Zentrum der beiden k. k. Hofmuseen. Von der Eingangsrotunde führt der in Wangen gefasste Antrittsarm zum Wendepodest, von dem aus zwei Läufe in entgegengesetzter Richtung wieder zur Rotunde führen [Abb. 93–94]. Vom Raumeindruck, aus der Perspektive vom Wendepodest, entspricht dieses hohe Stiegenhaus mit den eingestellten Doppelsäulen am Austritt bisher am ehestens der Variante, wie Ferstel sie in der Universität in Anwendung brachte. Tatsächlich aber entspricht ein solches Treppenhaus im Kunsthistorischen Museum ja nur einem Viertel der Prachttreppenanlage in der Universität. Denn zum einen wird dieser Teil am Wendepodest gespiegelt, um auch den äußeren Lehrtrakt und das philosophische Dekanat zu erreichen [Abb. 95–97]. Und zum anderen befindet sich auf der südlichen Seite die ebenso große Juristenstiege. Über eine ähnlich monumentale Treppenhausanlage verfügt keiner der zeitgleich entstandenen Ringstraßenbauten. Theophil Hansens Parlamentsgebäude am Paradeplatz hat zu Beginn seiner repräsentativen Raumabfolge zwei

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Abb. 93: Carl von Hasenauer/Gottfried Semper, Kunsthistorisches Museum, Wien, Einblick in das Stiegenhaus (Universität Wien, Institut für Kunstgeschichte, Ring­ straßenarchiv, Inv.-Nr. 5637)

Abb. 94: Carl Hasenauer/Gottfried Semper, Naturhistorisches Museum, Wien, Einblick in das Stiegenhaus (Universität Wien, Insti­ tut für Kunstgeschichte, Ringstraßenarchiv, Inv.-Nr. 5665)

einander gegenüberliegende dreiläufige Stiegen mit kostbarer Ausstattung [Abb. 98].118 Das Rathaus von Friedrich von Schmidt hat zu den Seiten des großen Hofs zwei monumentale Treppenhäuser. Es handelt sich hierbei um eine Anlage mit drei geraden konträr gerichteten Treppen mit einem zentralen Verteilerpodest.119 Nach einer anderen Lesart kann man diese Anlage auch als zwei aneinanderstoßende Varianten der Kaisertreppe sehen, wobei eine dem Schema eines gemeinsamen Antritts mit zwei Austritten folgt und die andere zwei Antritte mit einem gemeinsamen Austritt. 120 Diese Anlage steht derjenigen der Universität zweifellos näher, sie kann aber trotzdem in absoluten Maßen nicht an die Ferstel’sche »Gigantomanie« heranreichen. Das oben angeführte Zitat Ferstels zeigt, dass es zumindest beim Vorentwurf von 1870 den Vorwurf der Raumverschwendung gegeben haben muss, sodass Ferstel sich in der Denkschrift gezwungen sieht, diesen explizit aus dem Feld zu räumen und die vermittelnden Aufgaben der Haupttreppen zu betonen.121 Die Spiegelung der An- und Austritte hat schließlich nicht nur eine repräsentative Funktion, sondern auch den Zweck der raschen Vermittlung zwischen zwei Trakten. Während bei den Hofmuseen offenbar eine Richtung intendiert war, beziehungsweise die Besucher wieder zur Rotunde zurückgeleitet werden sollten,122 hatten die auf zwei Seiten mündenden Feststiegen beim Rathaus auf der einen Seite den großen Festsaal als Ziel und auf der anderen Seite den Stadtsenatssitzungssaal und den Wappensaal, deren beider Publikum auch »fest-

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Abb. 95: Universität Wien, Einblick in die Philosophenstiege (Universität Wien, Insti­ tut für Kunstgeschichte, Ringstraßenarchiv, Inv.-Nr. I/23i-2175)

118 Siehe Dehio, 1, S. 545 f. 119 Die Treppenanlage bildet eine Verquickung aus einer mit drei geraden, konträr gerichteten Läufen ohne Längspodest und einer sechsarmigen mit zentralem Verteilerpodest. Siehe Mielke 1993, S. 121. 120 Nach Pevsner ist auch bei der zweiten Ausrichtung die Lesart Kaisertreppe legitim. Siehe Pevsner 1989, S. 307. 121 Vgl. Ferstel 1872, S. 11. 122 Kriller/Kugler 1991, S. 213–214.

Abb. 96: Hauptgebäude der Universität Wien, Einblick in die Philosophenstiege (Uni­ versität Wien, Institut für Kunstgeschichte, Ringstraßenarchiv, Inv.-Nr. I/23i-2178)

123 Wobei die Räume im ersten Obergeschoss im Nordwesten nun tatsächlich für das Institut für Österreichische Geschichtsforschung vorgesehen waren, sodass sich der Wunsch nach Räumlichkeiten in direkter Nähe der Universitätsbibliothek hier erfüllt hat. 124 Im Vorentwurf, in dem die Feststiegen noch nicht unterbrechender/überbrückender Teil des Korridorrings waren, führte der Gang tatsächlich ununterbrochen um beide seitlichen Höfe herum. Die zusätzlichen kleinen Höfe im Osten und Westen waren hier auch noch nicht eingeführt, sodass die Nähe zu Sempers »polytechnischem Korridor« noch sehr augenfällig ist. Siehe [Abb. 30].

Abb. 97: Hauptgebäude der Universität Wien, Einblick in die Juristenstiege (Foto: Franz Pfluegl, 2006)

stiegenwürdig« war. Bei der Universität mussten durch die Verzweigung schließlich die äußeren Lehrtrakte an das Wegesystem angeschlossen werden. Die in den äußeren Ecken des Verwaltungstraktes befindlichen Dekanate erforderten nicht nur eine Verbindung mit dem Wegesystem, sondern auch einen repräsentativen Aufgang, wie ihn die Spiegelungen der imperial staircase gewährleisten konnten. Im Obergeschoss waren die beiden Lehrtrakte mittels eines quasi umlaufenden Korridors verbunden [Abb. 58], nur bei den Haupttreppen war der Korridor unterbrochen und musste durch das Hinab- und wieder Hinaufsteigen eines Treppenlaufs überbrückt werden [Abb. 99]. Jedes Lehrgebäude, also das südliche und das nördliche, verfügen über so ein Wegesystem, das jeweils die zwei inneren, kleineren Innenhöfe umschließt. Die äußeren Lichthöfe sind hier nicht eingeschlossen. Die beiden im Verwaltungstrakt sind von den Dekanaten umschlossen und die beiden an der Westseite sind innerhalb von abgeschlossenen Institutsräumen angelegt.123 Der Aufbau des inneren Korridorrings wirkt, schon allein wegen der zwei Höfe, die er umschließt, dem in Sempers Polytechnikum sehr ähnlich.124 Zusätzlich zu den Hauptstiegen ist der Ring mit den beiden Treppen, die vom Arkadenhof heraufführen, verbunden und einer kleineren Stiege auf der westlichen Seite des äußeren Lehrtrakts. Somit erfüllt der Ring auch Ferstels Bestreben, von allen Punkten kurze Wege zu ermöglichen. Bei den beiden vom Arkadenhof abgehenden Stiegen handelt es sich um großzügig, aber nicht überbordend angelegte Wege. Die mittlere nimmt wieder das Schema der Kaisertreppe auf, wobei diese ihre Wirkung durch die Weiterführung in den zweiten Stock nicht entfalten kann. Den Zwischentrakt gestaltet Ferstel

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Abb. 98: Theophil Hansen, Parlament, Wien (Universität Wien, Institut für Kunst­ geschichte, Ringstraßenarchiv, Inv.-Nr. I/11i-2053)

hier nicht als öffentliches kommunikatives Zentrum wie Semper, sondern er lässt an die Stiege, die bereits einen guten Teil des Zwischentrakts einnimmt, zwei Hörsäle anschließen [Abb. 100]. Damit ist hier der ebene Durchgang unterbrochen. Die mittlere Stiege führt vom Arkadenhof also am schnellsten nur zum inneren Lehrtrakt. Die hintere Stiege ist eine gerade und dreiläufig, daher bietet sie vor allem den raschen Weg vom Arkadenhof zum äußeren Lehrtrakt. Die Hauptstiege erreicht durch ihre Verdopplung beide Lehrtrakte sowie die repräsentativen Räume im Verwaltungstrakt gleichermaßen schnell. Da diese Wege im Grunde immer den Zutritt durch den Haupteingang als Voraussetzung nehmen, es aber zwei weitere offizielle Zugänge an den östlichen Risaliten der äußeren Lehrtrakte gab, mussten auch diese an das Kommunikationssystem angeschlossen werden. Hierfür führten je zwei halbovale Arme vom Eingang im Tiefparterre [Abb. 56] hinauf zu dem einen absteigenden äußeren Arm der gespiegelten Prachttreppe [Abb. 57]. Diese beiden Stiegenhäuser wurden im den 1960erJahren zu Hörsälen umgestaltet.125 Darin befinden sich heute die Hörsäle 16 (Süden) und 34 (Norden). Helfried Kodré sieht in der symmetrischen Verdopplung der Treppenanlagen in den öffentlichen Gebäuden des 19. Jahrhunderts mehr als reinen Repräsentationswillen. Denn durch die geschickte Vermittlung

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Abb. 99: Heinrich von Ferstel, Haupt­ gebäude der Universität Wien, Zweiter Entwurf, Querschnitt durch den die Juris­ tenstiege, 1872, Detail aus Abb. 48 (UAW, 109.1.12.14, Foto: Universität Wien, Institut für Kunstgeschichte, René Steyer/Karl Pani)

125 Bundesdenkmalamt, Universitätsakten, Bericht von Dr. Blauensteiner vom 14. September 1961, Grundzahl 7170/61.

Abb. 100: Heinrich von Ferstel, Hauptge­ bäude der Universität Wien, Zweiter Ent­ wurf, Querschnitt durch die Hörsäle, 1872, Detail aus Abb. 49 (UAW, 109.1.12.16, Foto: Universität Wien, Institut für Kunstge­ schichte, René Steyer/Karl Pani)

126 Kodré 1983, S. 182 ff. 127 Ebd., S. 149 ff. 128 Kodré 1983, S151  ; siehe auch Mielke 1966, S. 278. 129 Als Beispiel zu nennen sind hier Moritz Löhr und Franz Matzinger, die beide erst im Laufe ihrer Beamtenkarriere geadelt wurden.

zwischen mehreren Trakten, deren Hierarchie im öffentlichen Gebäude nicht mehr so klar ist wie im Schlossbau des 18. Jahrhunderts, konnten eine zu starke Richtung des Wegesystems und dadurch Umwege vermieden werden.126 Dennoch lässt sich den Treppenanlagen öffentlicher Gebäude des 19. Jahrhunderts ein gewisser Repräsentationswille nicht absprechen.127 Und dies mag für die Prachttreppen des Wiener Universitätshauptgebäudes im besonderen Maße gelten. Daher lässt sich die Übernahme der aus dem Schlossbau entlehnten Kaisertreppe, des »Emblem[s] fürstlichen Glanzes« wie Pevsner es nannte, so interpretieren, dass das Bürgertum bestrebt war, dadurch seinen »neu gewonnenen politischen und kulturellen Einfluß […] zu dokumentieren.«128 Im Hinblick auf die Wiener Universität können Pevsners und Kodrés Deutungen aber nur in differenzierter Weise gelten. Denn einerseits ist der Kaiser selbst der oberste Bauherr dieses Staatsbaus. Die untergeordneten Institutionen des kaiserlichen Staatswesens, die k. k. Ministerien für Inneres sowie für Cultus und Unterricht beauftragten den Bau der größten, wichtigsten und traditionsreichsten Universität des Kaiserreichs. Andererseits waren die Entscheidungsträger in den Ministerien, die Verwaltungsbeamten im höheren Dienst, zum großen Teil bürgerliche Akademiker.129 Auch die Vertreter des Wiener Gemeinderats, die einen monumentalen Bau forderten, gehörten überwiegend dem Bürgertum an. Darüber hi-

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naus gilt die Universität, spätestens seit ihrer Liberalisierung durch die Humboldt’sche Reform zu Beginn des 19. Jahrhunderts, als zentrale Institution des Bildungsbürgertums.130 Diese Liberalisierung wurde durch die Reformen von 1849 auch an der Wiener Universität spürbar. Somit kann der imperiale Glanz weder allein auf die Würde des kaiserlichen Bauherren noch den Repräsentationswillen eines undefinierten Bürgertums reduziert werden. Vielmehr hatten beide Seiten ein Interesse an einem Bauwerk, das sowohl die höchste Bildungseinrichtung des Kaiserstaates würdevoll repräsentierte als auch die bildungsbürgerliche Universität an sich. Für den Architekten Ferstel selbst erfüllten seine planerischen Leistungen sowohl die repräsentativen als auch die funktionalen Forderungen. Er schreibt schon 1872 in der Denkschrift  : »Mit Rücksicht auf die riesenhafte Ausdehnung des Grundrisses, und nachdem die Forderung an die Communicationen bei dieser Aufgabe strenger vielleicht als bei irgend einem anderen Bauwerke gestellt sind [sic  !], wird wohl behauptet werden können, dass mit verhältnissmässig geringen Mitteln die kürzeste, bequemste und zugleich schönste Communication erreicht wurde, und dass in dieser Hinsicht wohl kaum ein Wunsch unerfüllt geblieben sein dürfte.«131

Mindestens ein Wunsch der tatsächlichen Benutzer des Gebäudes ist allerdings unerfüllt geblieben. Während die Wege vom Vestibül und Arkadenhof in einen Lehrtrakt und innerhalb dessen auf allen Ebenen wohl organsiert sind, ist die Kommunikation zwischen dem nördlichen und dem südlichen Lehrgebäude durch den Festsaal und die Bibliothek unterbrochen. Entweder rechnete Ferstel nicht mit einem Austausch zwischen der philosophischen und der juridischen Fakultät, oder aber er wollte gezielt die Wege über den Arkadenhof und das Vestibül leiten. Dass es sich in jedem Fall um eine Strategie Ferstels gehandelt haben muss, wird darin erkennbar, dass dieses Arrangement von prominenter Seite beanstandet wurde. Gottfried Semper, dem Ferstels zweiter Entwurf zur Begutachtung vorgelegt wurden,132 schrieb am 10. Juli 1872 weitgehend lobend über die Anordnung der Trakte und deren ästhetische Gestaltung. Er kritisierte aber ausdrücklich, dass die Verbindung zwischen den Flügeln in beiden oberen Geschossen [Anm. Hochparterre und erstes Obergeschoss] unterbrochen sei und schlug stattdessen vor, den Festsaal und das Vestibül quer zu stellen, um dahinter »freie Verbindungshallen« zwischen den Flügeln zu schaffen.133 Während Ferstel die kleineren Beanstandungen Sempers bereitwillig übernahm, hielt er ganz offensichtlich an seiner Festsaallösung fest. Walter Krause interpretiert dies in dem Sinne, dass Ferstel das Herzstück seines Kommunikationssystems, den Arkadenhof, nicht abschwächen wollte.134 Für das Vestibül kann Sempers Einwand nur beschränkt gelten, da hier die Überlagerung der beiden wichtigsten Achsen das kommunikative Motiv darstellte.135

160  Funktionalität – Monumentalität – Repräsentation

130 Kocka 1989, S. 14. 131 Ferstel 1872, S. 11. 132 Schreiben des Unterrichtsministeriums vom 29. Mai 1872, dass Gottfried Semper, »der gegenwärtig unter den Architekten wohl unstreitig den ersten Rang einnimmt«, die Beurteilung übernimmt, Allgemeines Verwaltungsarchiv, Akten des Ministeriums für Kultus und Unterricht, 9278/1872. 133 Zit. nach Wibiral 1952, S. 295. 134 Krause 1984, S. 21 f. 135 Siehe vorangeganges Unterkapitel Zentraler Innenhof und Vestibül.

Abb. 101: Jean Nicolas Jadot, Neue Aula, Wien, heute Österreichische Akademie der Wissenschaften (Foto: Wolfgang Thaler, 2014)

136 Karner 2007, S. 14. 137 Nägelke 2000, S. 26. 138 Karner 2007, S. 19. 139 Siehe Karner 2007, S. 23.

Funktional widersinnig, aber gewissermaßen typologie-nostalgisch wäre hier eine Reminiszenz an den prächtigen Vorgängerbau denkbar. Der Hofarchitekt Jean Nicolas Jadot, der ab 1753 im Auftrag Maria Theresias die Neue Aula für die Universität Wien baute, hatte aufgrund der räumlichen Situation in der eng verbauten Innenstadt eine besondere Variante des Kollegien-Grundrisses gewählt. Die Schmalseite des Baus zum Universitätsplatz hin, über die der Bau erschlossen wird, wurde als Hauptfassade gestaltet [Abb. 101]. Dies darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass Jadot hier dennoch das Schema vom zentra­len Repräsentationskern mit Flügeln für den Lehrbetrieb integrierte [Abb. 2 und 102]. Diese daraus entstehende »Zusammenhanglosigkeit zwischen Hauptfassade und Raumaufteilung«136, die diesen Bau charakterisiert, ist nur so zu verstehen, dass hier eine Kollegientypologie in Anwendung gebracht werden sollte, aber der Bauplatz nur die Längsstellung des Universitätsbaus zuließ. Im Kontext der Typologiegeschichte muss dieser Bau sogar als herausragend bezeichnet werden, da er die Erschließung der Flügel durch einen innenliegenden Korridor bedeutend früher entwickelte, als das bei Nägelke angeführte Augusteum in Leipzig von 1831.137 Hieraus resultiert dann die bei Herbert Karner als unerwartet beschriebene Raumdisposition, die auf die Längsausrichtung abgestimmt ist.138 Im Erdgeschoss wird das Zentrum durch die Aula bestimmt, im Obergeschoss liegt der zweigeschossige Festsaal mittig im Trakt und umfasst die gesamte Breite des Bauwerks. Dadurch werden die beiden Flügel im ersten und umso mehr im zweiten Obergeschoss voneinander getrennt [Abb. 103]. Dieser Umstand wurde nicht erst in der jüngsten Zeit als »Schwäche der Gebäudedisposition« gewertet. 139 In den 1830er-Jahren wurde der Festsaal sogar für den öffentlichen Durchgang geöffnet, um den Studenten den Zugang zu den juridischen

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und staatswissenschaftlichen Hörsälen im ersten Obergeschoss zu erleichtern.140 Die Nachteile eines solchen Querriegels müssen Ferstel bekannt gewesen sein und dennoch beabsichtigte er nicht, den Festsaal für den Durchgangsverkehr zu öffnen. Welchen Vorzug hatte das Querstellen des Festsaals, dass darüber die Nachteile ins Hintertreffen gerieten  ? Und wie ging Ferstel mit der berechtigten (bis heute andauernden) Kritik an diesem Umstand um  ? Als Traditionsbau und ehemaliger Stolz der Universität hatte die Neue Aula einen besonderen Wert für die universitas, und die Enteignung wurde auch in den 1860er-Jahren noch als Herabsetzung aufgefasst. So wurde während der Verhandlungen um den Neubau wiederholt der kränkende Umstand betont, »daß die erste Universität des Kaiserreiches bei ihren akademischen Feierlichkeiten jedesmal die Akademie der Wissenschaften um die Erlaubniß zur Benützung desjenigen Festsaales angehen müsse, aus dessen Decke die Embleme der vier Fakultäten herabblicken […]«.141 Die Unwegsamkeit im ersten Obergeschoss im Festsaaltrakt kann nicht ausschließlich mit der Stärkung der intendierten Kommunikationswege über Vestibül und Arkadenhof erklärt werden. Mit dem Zitat der Raumsituation im ehemaligen Zentrum der Universität gelingt es den ideellen Wert der Universität als traditionsreiche Institution zu unterstreichen. Der Festsaal als mächtige Leerstelle kann verstanden werden, als Verweis auf die »supponierte Idee« an die Geschichte der Alma Mater Rudolphina anzuschließen. So stellt die Unterbrechung des Wegesystems eine Referenz zum ehemaligen Zentrum der Wiener Universität dar. Die bedeutungsvolle Zentrierung des Bauwerks auf den Festsaal,

162  Funktionalität – Monumentalität – Repräsentation

Abb. 102: Neue Aula, Wien, Grundriss des Obergeschosses (Albertina, AZ allg., Mappe 45, U5 Nr. 14/8030)

140 »Im Jahre 1753 wurden nämlich die Anatomie, so wie die medicinischchirurgischen Studien in das neue Universitätsgebäude übertragen, […]. Aber auch die Seciranstalt wurde mit Leichen überfüllt, welches zahlreiche Klagen veranlaßte. Im Jahre 1833 ertönten lebhafte und laute Beschwerden über die unangenehmen und schädlichen Ausdünstungen, die sich im Universitätsgebäude verbreiten. Man suchte alle möglichen Abhilfsmittel anzuwenden, […] es wurde den Studirenden der Durchgang durch den großen Prachtsaal eröffnet und eine Thüre des Secirsaales geschlossen, um dem Leichengeruche auszuweichen  ;« Wolf 1882, S. 6 f. 141 Bericht Heintl 1867, S. 20.

Abb. 103: Johann Georg Mack, Neue Aula, Wien, Längsschnitt (1783/84 (Akademie der Bildenden Künste, Wien, Kupferstichkabi­ nett, Inv. Nr. 16784)

142 Die Anbringung von vier Deckenbildern mit Allegorien auf die vier Fakultäten war schon in Ferstels Planung beabsichtigt. 1897 wurden Franz Matsch und Gustav Klimt mit der Ausführung beauftragt. Aufgrund darstellerischer Divergenzen zwischen Klimt und den Professoren wurden seine drei Allegorien nie in den Festsaal aufgenommen und 1945 in den Kriegswirren zerstört. Erst 2005 wurden Schwarz-WeißReproduktionen davon im Zuge einer Kooperation mit dem LeopoldMuseum im Festsaal angebracht. 143 Eitelberger 1884, S. 24  ; siehe auch Kapitel Die ikonografischen Programme im Spiegel der Wissenschaftsgeschichte.

von dessen Decke (sehr viel)142 später wieder die Allegorien der vier Fakultäten herabblicken sollten, manifestiert sich daher auch architektonisch in den beidseitigen Risalitbildungen und der markanten Überhöhung durch das überkuppelte Dach. Für eine solche Interpretation des quer gestellten Festsaals spricht auch die Tatsache, dass Ferstel ursprünglich plante, den Festsaal mit einer ähnlichen Darstellung wie in der alten »Neuen Aula« zu schmücken.143 Doch offenbar konnte Ferstel mit dieser Semantik nicht alle Kritiker überzeugen, denn ein undatierter Schnitt durch den Festsaal zeigt eine Überlegung, wie trotz der Querstellung des Festsaals eine Passage zu ermöglichen wäre [Tafel 13]. Statt einer Umorientierung oder einer Verkürzung des Festsaals sollte diesem Schnitt zufolge eine Tribüne in die bestehende Raumplanung eingefügt werden. So hätten sich direkt westlich der Zugänge von Senatssaal und Kleinem Festsaal zunächst einige Sitzreihen für honorige Gäste angeschlossen und dahinter hätte sich steil eine Tribüne erhoben, auf der weitere Festgäste Platz gefunden hätten. Unter dieser Tribüne wäre eine Passage entstanden, die die beiden anderen westseitigen Zugänge zum Festsaal verbunden hätte. Dass Ferstel selbst sich mit einer solchen, für den ursprünglichen Raumeindruck nicht vorteilhaften, Idee auseinandergesetzt hat, offenbart der genauere Blick auf den Grundriss von 1881 [Abb. 65], in dem bereits eine ganz ähnliche Ausstattung des Festsaals eingezeichnet ist. Ferstels früher Tod und die darauffolgende Einstellung der weiteren aufwendigen Ausstattung verunmöglichte wohl dieses Vorhaben und erhielt so den Festsaal in seinem ursprünglich intendierten Raumeindruck.

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Bibliothek

Den auf der Achse gelegenen Gegenpart zum Festsaal bildet die quergestreckte Bibliothek [Abb. 104]. Welchen Wert Ferstel den beiden Gebäudeteilen beimaß, veranschaulicht seine Aussage hierzu in seinem Vortrag von 1878  : »Als der bedeutendste, durch Dimensionen und Anlage wirkende Innenraum wird die Bibliothek, als derjenige Raum, der vermöge seiner Bestimmung die ausgezeichnetste Behandlung verdient, wird der Festsaal zu gelten haben. Beide Räume gelangen schon durch Dimension, durch ihre Construction, sowie durch das blendende Licht, das sie erfüllen wird, zu mächtiger Wirkung.«144

Während Ferstel bei der Anordnung und Gestaltung des Festsaals schon vom Vorentwurf an ein klares Konzept hatte und dieses auch gegen Sempers Einwände verfolgte, laboriert der Architekt an der Bibliotheksanlage noch Jahre nach Baubeginn. Die Integration der Universitätsbibliothek war lange umstritten. Von Beginn der Neubauplanung im Jahr 1854 an wurde immer wieder auf die »unerläßliche Nothwendigkeit der Unterbringung der Universitäts-Bibliothek in dem Universitäts-Gebäude aufmerksam gemacht.«145 Zur »möglichsten Schonung des Staatsschatzes« wurde aber auch in Betracht gezogen, das Bibliotheksgebäude separat und vor allem später zu erbauen. 146 Erst 1827 hatte die Universitätsbibliothek ihren klassizistischen Erweiterungsbau in der Postgasse erhalten, daher mag die Übersiedelung auch nicht so dringlich gewesen sein.147 Das beharrliche Widerstreben des ab 1874 amtierenden Bibliotheksdirektors Friedrich Leithe gegen eine Integration der Bibliotheksräume in den Neubau hatte aber einen ganz anderen Grund. Im Zuge der Mariatheresianischen Bildungsreform wurde auch das Bibliothekswesen reformiert und die Universitätsbibliothek als »Akademische Bibliothek« neugegründet. Diese wurde einerseits auf ausdrücklichen Wunsch der Kaiserin »im Sinne der Aufklärung für allgemein zugänglich erklärt und ihre Verwaltung für selbständig«.148 Die Verwaltung war damit nur der Niederösterreichischen Statthalterei bzw. der Studien-Hofkommission, dem späteren Unterrichtsministerium, unterstellt. Andererseits war diese »öffentliche« Bibliothek auf allerhöchsten Befehl der »Universität zu eigen«.149 »Diese Zwitterstellung führte in der Folge zu stetigen Streitereien zwischen selbstbewußten, die Unabhängigkeit verteidigenden Bibliotheksdirektoren und den akademischen Behörden (Universitätskonsistorium, Akademischer Senat), die nach [sic] mehr Einflußnahme auf die Bibliotheksverwaltung und die Bücheranschaffung anstrebten.«150 Leithe aber beharrte auf der Unabhängigkeit und dem öffentlichen Charakter der Bibliothek, besonders letzteren sah er in Gefahr, wenn die Bibliothek in das neue Hauptge-

164  Funktionalität – Monumentalität – Repräsentation

144 Ferstel 1878 A, S. 151. 145 Bericht Heintl 1867, S7. 146 Erlaß des Staatsministeriums vom 22. Dezember 1861 Z. 12786, zit. nach Bericht Heintl 1867, S. 10 f. 147 Mühlberger 2007, S. 141. 148 Pongratz 1985, S. 143. 149 Ebd. 150 Ebd.

Abb. 104: Hauptgebäude der Universität Wien, Einblick in den Lesesaal der Univer­ sitätsbibliothek vor Anhebung des Fußbo­ dens, 1927 (UAW, 106.I.8)

151 Ebd., S. 147. 152 Ebd., S. 87. 153 Wolf 1882, S. 50 f. 154 Universitätsarchiv, Sitzungsprotokoll des Akademischen Senats, GZ 1664–1874/75  ; Erlaß vom 20. März 1876, Allgemeines Verwaltungsarchiv, Z.11413  ; siehe auch Pongratz 1985, S. 147. 155 Pongratz unterstellt Leithe sogar, dass die ständige Kritik an den Bauplänen der eigentliche Versuch war, die Übersiedelungspläne zu sabotieren. Siehe Pongratz 1977, S. 88. 156 Pongratz 1985, S. 148.

bäude eingegliedert würde. Stattdessen strebte er die Weiterentwicklung der Bibliothek zu einer rein öffentlichen Staatsbibliothek am bisherigen Standort an, als deren Vorsteher er sich bereits sah.151 Die Integration der Bibliothek in das neue Hauptgebäude würde aber nicht nur das Unabhängigkeitsstreben eingrenzen, sondern – und so lautete das Hauptargument der Bibliothekare – das Wachstum der Bibliothek einschränken.152 Dementsprechend vehement setzte Leithe sich gegen sämtliche Vorschläge Ferstels ein. Der Akademische Senat und die universitätsinterne Bibliothekskommission konnten sich aber durchsetzen, »denn mehr als jedes andere Institut gehört die Bibliothek, welche rechtmäßiges Eigenthum der Universität sei, in das Universitätsgebäude.«153 Im Jahr 1876 erreichten die Universitätsvertreter schließlich einen Ministerialerlaß, dass die Bibliothek endgültig in den Neubau aufgenommen würde.154 Zu einer Kooperation sah sich Leithe dennoch nicht gezwungen, allerdings verursachte er durch seine permanente, wenn auch oft widersprüchliche Kritik155 noch tiefgreifende Modifikationen in der Raumgestaltung der Bibliothek. Für den Zeitpunkt des Bibliotheksumzugs 1884 aber ließ er sich beurlauben und wechselte dann auf den Posten des Bibliotheksvorstands der Wiener Technischen Hochschule.156 Diesen problematischen Umstand umging Ferstel in seinem Vortrag höflich und beschränkte sich auf die sachliche Problemlage  : »Einen ausserordentlich wichtigen Theil, der auch eine ganz specielle Forderung des Programmes ausmacht, bildet die Bibliothek. Ich habe schon früher

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Abb. 105: Henri Labrouste, Bibliothèque Sainte-Geneviève, Paris, Fassade (Univer­ sität Wien, Institut für Kunstgeschichte, Fotosammlung, Inv.-Nr. 32694)

erwähnt, dass für die Universitäts-Bibliothek die Forderung auf 500.000 Bände gestellt ist. Das ist enorm, und ich kann sagen, dass das wohl in der ganzen Anlage das schwierigste Problem war.«157

Die Gestaltung des Bibliotheksaufbaus mit einem Lesesaal für etwa 400 Studentenleseplätze und einem weiteren Professorenlesesaal stellte Ferstel vor die nächste Herausforderung. Für diesen gewaltigen Raumanspruch musste Ferstel die Bibliothek in den großen rückwärtigen Gebäudeteil legen, wo er zumindest die gesamte Breite des hervortretenden Baublocks nutzen konnte. Durch die Lage auf der Mittelachse des Gesamtkomplexes wurde die Bibliothek auch als wertvolle Instanz innerhalb der Universität ausgezeichnet. Im Vorentwurf kommt die Bibliotheksstiege direkt auf der Achse zu liegen [Abb. 30]. In deren Gestaltung zeigt sich Ferstel kaum bescheiden, denn das große quadratische Treppenhaus fasst eine kreisrunde Treppe, die auf dem skizzenhaften Entwurf den Eindruck erweckt, eine Nachahmung des doppelläufigen Treppenturms im französischen Schloss Chambord zu sein. Im ersten Entwurf [Abb. 32–34] wird diese zentrale Bibliotheksstiege durch zwei runde, etwas kleinere Stiegen an den Seiten ersetzt. Daher verschiebt sich der Zugang auch auf die Eckräume des Arkadenganges. Im genehmigten Plan von 1874 ist diese Anordnung beibehalten [Abb. 56–59]. Erst in den Plänen von 1881 wurden die zwei runden Treppen aus dem Konzept entfernt und stattdessen eine gerade auf der nördlichen Seite der Bibliothek eingefügt [Abb. 64–65]. Gleichzeitig veränderte sich hier auch die Raumdisposition des Lesesaals.

166  Funktionalität – Monumentalität – Repräsentation

157 Ferstel 1878 A, S. 151.

Abb. 106: Henri Labrouste, Bibliothèque Sainte-Geneviève, Paris, Schnitt, Ansicht und Grundriss (Allgemeine Bauzeitung, 1852, Bl. 386, Foto: Universität Wien, Institut für Kunstgeschichte)

158 Ferstel 1872, S. 13  ; Ferstel 1878 A, S. 151. 159 Rosengarten1851, S. 66–68  ; anonym, Die Bibliothek St. Geneviève in Paris, in  : Allgemeine Bauzeitung, 1852, S. 139–142. 160 Die ursprüngliche Längsanordnung der Lesetische in der Bibliothèque Sainte-Geneviève wurde später verändert, heute stehen die Tische quer zur Raumlänge. Foucaud 2002, S. 41. 161 Mühlberger 2007, S. 145 f  ; siehe auch Wibiral 1952, S. 35. 162 Ferstel 1878 A, S. 151.

Sowohl in seiner Denkschrift von 1872 als auch in seinem Vortrag von 1878 nennt Ferstel ausdrücklich die Bibliothèque Sainte-Geneviève in Paris als sein Vorbild.158 Diesen eindrucksvollen Bibliotheksbau hatte Henri Labrouste zwischen 1843 und 1851 als eigenständiges Gebäude einer öffentlichen Präsenzbibliothek errichtet. In der Allgemeinen Bauzeitung wurden dem Neubau 1851 und 1852 gleich zwei lobende Artikel gewidmet.159 Nach dem Eintreten in den blockhaften Bau [Abb. 105] führt ein breites, dreischiffiges Vestibül zur zentralen Treppenanlage, die einen mittigen Zugang zu dem in zwei Schiffe geteilten Lesesaal im Obergeschoss bietet [Abb. 106]. Das auf zierlichen Eisenpfeilern gelagerte Dach wölbt sich in zahlreichen Jochen über den langen Raum und erzeugt einen monumentalen Raumeindruck [Abb. 107]. Der Bau erlangte rasch große Berühmtheit und galt als der moderne Bibliotheksbau. Beim Anblick dieses Pariser Lesesaals stellt sich allerdings nicht der Eindruck einer Verwandtschaft mit dem großen Lesesaal der Wiener Universität ein.160 Nichtsdestoweniger wiederholt die Sekundärliteratur pflichtgemäß, dass das gewählte Vorbild die Pariser Bibliothèque SainteGeneviève sei, der Architekt hier aber letztlich »weitgehend selbständig geeignete Lösungen finden« musste.161 Im Vortrag von 1878 ergänzte Ferstel, dass auch die Bibliothek des britischen Museums aufgrund der zentralisierten Anordnung einen Vorbildcharakter habe.162 Allerdings zeigt auch diese runde Anlage [Abb. 108], die nicht minder populär war,

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Abb. 107: Henri Labrouste, Bibliothèque Sainte-Geneviève, Einblick in den Lesesaal, 1859 (Edwards 1859, S. 674)

wenig Ähnlichkeit mit dem Wiener Lesesaal.163 Was aber haben Ferstels Vorbildnennungen nun mit seiner eigenen Architektur, die im ursprünglichen Zustand164 einen nicht minder monumentalen Eindruck macht, zu tun  ? Der Plan des Mezzanin-Geschosses des ersten Entwurfs von 1871 verrät Ferstels ursprüngliche Intentionen [Abb. 33]. Über die dezentralen Treppen kommen die Bibliotheksbenutzer vom Arkadenhof in den großen Lesesaal auf Mezzanin-Niveau. Der quergestreckte Raum ist in zwei Schiffe geteilt, von denen das östliche um zwei Treppenhausbreiten kürzer ist. Der Vergleich mit dem Grundriss der Pariser Bibliothek offenbart die angestrebte Ähnlichkeit. Ebenso wie im Grundriss der SainteGeneviève teilt eine Reihe von Pfeilern den Raum in zwei lange Schiffe. Zwischen den Pfeilern sind auf beiden Grundrissen Bücherregale zur Freihandaufstellung platziert, die wiederum die Längsstreckung des Raumes betonen. Hierzu tragen auch die ebenfalls der Länge nach angeordneten Lesetische bei. Als weitere Aufstellungsorte innerhalb des Lesesaals dienen in der Pariser Bibliothek auch die Außenmauern, die mithilfe einer Galerie auf zwei Ebenen Bücherregalen Platz bieten. Erst darüber lassen gedrückte Rundbogenfenster Licht herein. Ein großer Teil der Bücher wird also im Lesesaal selbst aufbewahrt. Für den weiteren Bestand waren direkt unterhalb des Lesesaals links und rechts vom Vestibül zwei große Magazine eingerichtet, die über schmale Stiegen mit dem Lesesaal in Verbindung stehen. Ferstels erster Entwurf hätte auch an der Westmauer eine Galerie vorgesehen und darüber die Normfenster des ersten Obergeschosses [Abb. 36]. Der Schnitt durch diesen ersten Bibliotheksentwurf zeigt aber schon, dass auch hier der Raumeindruck von dem französischen Vorbild massiv abgewichen wäre. Denn auf der Ostseite des langestreckten Lesesaals hätten einige Stufen zu dem Lesesaal für die Herren Professoren auf dem Niveau des ersten Obergeschosses geführt [Abb. 34 und 38]. Durch die

168  Funktionalität – Monumentalität – Repräsentation

163 Fawcett 1977, S. 50 f. 164 Im Zuge der Nachkriegssanierungen zwischen 1945 und 1947 wurde das Bodenniveau des Lesesaals um 2,5 Meter angehoben, um darunter ein weiteres Magazin zu schaffen.

Abb. 108: Robert Smirke, Bibliothek des British Museums (Foto: Dave Smith, 2007)

165 Siehe Wibiral 1952, S. 76  ; siehe auch Ferstel 1869, S. 93 f. Tatsächlich muss man Ferstels Umsetzung an den Flügeln des Museums als pseudo-basilikales System bezeichnen, da das Oberlicht den Obergaden ersetzt.

massiven Pfeiler, die die drei Schiffe trennen sollten, hätte der Raum nie die Luftigkeit des Pariser Vorbilds erreicht. Aber besonders verstörend wären sicherlich die drei verschiedenen Raumhöhen gewesen, die der basilikale Aufriss der dreischiffigen Bibliothek auf unterschiedlichen Bodenniveaus erzeugt hätte. Dennoch hält Ferstel an dieser Version auch im zweiten Entwurf von 1872 fest, wie der Schnitt [Abb. 50] zeigt. Erst im genehmigten Grundriss von 1874 wird das niedrige Mezzaningeschoss zugunsten eines durchgehenden Niveaus im Lesesaal aufgegeben [Abb. 58]. Ein zeitgleich entstandener Schnitt scheint nicht erhalten zu sein, aber ein kolorierter Schnitt von 1877 aus dem Universitätsarchiv illustriert die Vereinheitlichung der Bodenhöhe [Tafel 10]. Um den Höhenverlust im Lesesaal wettzumachen, wurde stattdessen im darunterliegenden Büchermagazin eine weitere Galerie hinzugefügt. Am basilikalen Aufriss hält Ferstel hier noch fest, die Teilung der Schiffe geschieht, entsprechend der Ordnung an der Fassade, durch ionische Säulen. Im Zusammenhang mit dem von ihm einige Jahre zuvor erbauten Museum für Kunst und Industrie hatte Ferstel das Basilikasystem »als die rationellste Form zur größtmöglichen Ausnützung des Raumes ohne Anlegung von Binnenhöfen« bezeichnet.165 Dementsprechend musste ihm diese Raumform für die von vornherein beengte Bibliothek als sinnvoll erscheinen. Um die Raumwirkung des zentralen Schiffs nicht zu stören, rückte er die mittleren Bücherregale der Interkolumnien jeweils auf die äußere Seite. Die anfangs zumindest noch im Grundriss erkennbare Nähe zur Bibliothèque Sainte-Geneviève ist also schon 1874 im genehmigten Grundriss nicht mehr direkt spürbar. Den großzügigen, leichten Raumeindruck der Sainte-Geneviève hätte Ferstel mit den geplanten massiven Säulen von vornherein nicht erreichen können. Der Pariser Bau scheint aber eine solche Ausstrahlung gehabt zu haben, dass Ferstel auch noch 1878 in

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seinem Vortrag die Betonung seiner Nähe zu dem Bau als lohnend empfunden haben muss. Im März 1875 verfasste der Bibliotheksdirektor Leithe ein Promemoria, in dem er auf Mängel in der Planung der Universitätsbibliothek hinwies und erneut dafür eintrat, die Bibliothek am bisherigen Standort in der Postgasse zu belassen. Leithe beklagte, dass der Fassungsraum der Magazine nicht ausreichend sei und dass durch dann folgende Ausweitungen der Bibliothek in die Flügel des Universitätsbaus der konzentrische Aufstellungsplan, welcher der Pariser Sainte-Geneviève nachgebildet sei, verloren gehe.166 Demzufolge scheint Ferstels Orientierung an der Pariser Bibliothek und auch an der Bibliothek des British Museums weniger in einer architektonisch-konstruktiven Gestaltung gelegen zu haben, sondern vielmehr in einer logistisch-funktionalen Lösung. Das 100-jährige Bestehen der Akademischen Bibliothek im Jahr 1877 veranlasste Leithe zu einer weiteren Schrift, in der er erneut darzulegen versucht, dass seine Bibliothek keineswegs Eigentum der Universität, sondern eine »zwar den Zwecken der Universität gewidmete, im Übrigen aber jedermann offen stehende k. k. Staatsanstalt sei«.167 An der beschlossenen Unterbringung der Bibliothek im Hauptgebäude konnte dieser Widerstand nichts ändern, allerdings wurde der Bauplan für die Bibliothek zwischen 1878 und 1880 noch einmal abgeändert.168 Diese Planänderung war nur möglich, weil sich der bisherige Baufortschritt (immerhin waren bis 1877 große Teile des ersten Obergeschosses fertig)169 auf die anderen Trakte konzentriert hatte. »Jener Theil aber des monumentalen Baues, welcher die Bibliothek aufnehmen soll, ist derzeit noch ein großes Vacuum, als wäre man noch unschlüssig, was mit demselben anzufangen.«170 Dieses Zitat aus der Neuen Freien Presse vom 8. Januar 1880 ist allerdings nur der Auftakt zu einer groben Polemik gegen den Architekten, zu der der Bibliothekskustos und spätere Nachfolger Leithes, Ferdinand Grassauer, ausholte. Statt einer dreischiffigen Halle oder eines großen Bibliothekssaals forderte er eine Unterteilung der Bibliothek in viele kleinere Räume, da dies erstens die Aufstellung der Bücher erleichtere, zweitens konzentrierteres Arbeiten erlaube und drittens die Feuergefahr eindämme.171 Auf diese »vorzeitig veröffentlichte[n] Mittheilungen […], [die] auf unrichtigen Angaben und Anschauungen beruhen« antwortet Ferstel prompt mit einer Replik in derselben Zeitung.172 Hier erläutert er noch einmal ausführlich die Schwierigkeiten bei der Planung der integrierten Bibliothek sowie seinen mit Bibliotheksexperten gemeinsam erarbeiteten Lösungsansatz. Da Friedrich Leithe seit 1876 nicht mehr an den Sitzungen der Baukommission teilnahm, hatte sich Ferstel an den Referenten für Bau-Angelegenheiten im Unterrichtsministerium gewandt. Außerdem stützte er sich auf seine Studien, die er in der 1868 eröffneten Bibliothèque nationale in der Rue Richelieu in Paris gemacht hatte und die Informationen, »welche

170  Funktionalität – Monumentalität – Repräsentation

166 Pongratz 1977, S. 86. 167 Leithe 1877, S. 4. 168 Dies soll laut Mikula und Wibiral unter Berufung auf Ferstels Aussage bereits im Jahr 1878 geschehen sein. Vgl. Wibiral/Mikula 1974, S. 64  ; Wibiral 1952, S. 297  ; Ferstel 1878 A, S. 148 f. Im Januar 1880 war aber mit dem Bibliotheksbau noch nicht begonnen worden (vgl. Grassauer 1880, S. 2.) und der erste Grundriss mit veränderter Bibliotheksdisposition ist auf 1881 datiert. Das Akkordprotokoll mit dem Eisenkonstrukteur Ignaz Gridl betreffend eiserner Dach- und Deckenkonstruktionen über den Bibliothekslokalitäten ist auch erst auf den 15. Juli 1880 datiert. Daher schlage ich vor, den Beginn der Planänderung auf 1879 zu datieren, jedenfalls nach Ferstels Paris-Aufenthalt. Im Juli 1880 sind die Planungen so weit gediehen, dass die Eisenkonstruktionen beschlossen sind. Manifest wird die Planänderung dann 1881 erst in den im Wien Museum erhaltenen Plänen. Wien Museum Inv. Nrn. 165.308/19–23 [Abb.64–65]. 169 Wibiral/Mikula 1974, S. 64. 170 Grassauer 1880, S. 2. 171 Grassauer 1880, S. 2. 172 Ferstel 1880 A, S. 3–4.

er diesbezüglich von dem Bibliotheks-Director und dem bauleitenden Architekten daselbst [Anm.: nach Labroustes Tod führt der französische Architekt Jean-Louis Pascal (1837–1920) den Bau fort] erhielt.«173 Der planende Architekt der Bibliothèque nationale war Henri Labrouste, den Ferstel auf der vorangegangenen Seite als Erfinder des modernen Bibliothekssystems hervorgehoben hatte. Zu dem Zeitpunkt, als Ferstel noch einmal in Paris war, nämlich im Juni und Juli 1878 als internationales Mitglied der Jury, lebte Labrouste nicht mehr. Ferstel hatte aber in dieser Zeit in Paris die Gelegenheit, die Bibliotheken vor Ort ausgiebig zu studieren. In seinem Bericht von der Pariser Weltausstellung hebt er jedenfalls das Werk Labroustes überschwänglich hervor  : »Welche fruchtbringende Thätigkeit hat Labrouste in seinen Bibliotheks-Bauten entwickelt, deren Studium ihm zur Lebensaufgabe wurde. Er hat mit denselben aber auch einen Typus, und mit der Bibliotheque nationale, deren Vollendung er leider nicht mehr erlebte, einen Musterbau geschaffen.«174

Worin besteht nun aber der Typus und inwiefern folgt Ferstel dem einen oder anderen Labrouste’schen Musterbau  ? Ferstel beschrieb in seiner Replik, dass dem großen Lesesaal idealerweise die Bücherdepots in solcher Nähe zugeordnet sein sollten, dass »die Bücher […] möglichst schnell dem Leser zugeführt werden können. Diese Bedingung sowie die möglichst ökonomische Raumaustheilung führten naturgemäß zur Centralisation der Anlage.«175 Eine Anlage mit vielen kleinen Lesesälen, wie Grassauer es forderte, würde die Kommunikation und die Bücherbeschaffung behindern.

173 Ferstel 1880 A, S. 4. 174 Ferstel 1878 B, S. 200. 175 Ferstel 1880 A, S. 3. 176 Ebd., S. 3.

Labrouste hatte in der Bibliothèque Sainte-Geneviève im großen Lesesaal den Großteil der Bücher unterbringen können und die weiteren Bestände direkt darunter vorgesehen. Ferstel merkt aber an, dass dies nur in einer kleinen Bibliothek möglich sei. In der Bibliothèque nationale habe Labrouste aber dasselbe System angewandt, hier schloss das Büchermagazin als zweiter riesiger Raum auf derselben Ebene an den großen Lesesaal an.176 In seiner Adaption nahm Ferstel auch den Lesesaal als großes Zentrum mit einem relativ kleinen Bücherbestand von etwa 50.000 Bänden. Direkt im Süden an den Lesesaal angrenzend war ein großer Raum als Bücherdepot vorgesehen. Über die vier in den Ecken des Lesesaals befindlichen eiserenen Wendeltreppen waren sowohl das durch mehrere Galerien in der gesamten Höhe erschlossene Hochparterre-Magazin zu erreichen, als auch die Bücherdepots im zweiten Obergeschoss. Mit gewisser Genugtuung schließt Ferstel diese Beschreibung, dass nur »diese äußerste Concentrirung der Anlage, nur die zweckmäßige Ausnützung der großen Höhe des Gebäudes haben es ermöglicht, bei solch

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beschränktem Terrain den weitgehenden Anforderungen zu entsprechen.«177 Ferstels Orientierung an Labrouste, der sich wiederum die zentralisierte Bibliothek des British Museums als Ausgangspunkt genommen hatte, liegt also in der Organisation einer so großen Bibliotheksanlage, nicht aber in der gestalterischen Umsetzung. Der große Saal erinnert typologisch vielmehr an barocke Bibliotheken, die meist als großer, einheitlicher Saal konzipiert waren, an dessen Wänden, oft zwischen Pfeilern, die Bücherregale hochgezogen wurden.178 Eine Gestaltung des Raumes mittels schlanker Eisenstützen hätte auch nicht dem in Wien vorherrschenden Konsens über monumentale Architektur entsprochen. Im repräsentativen Monumentalbau sollten die klassischen Architekturformen vorherrschen und die Eisenkonstruktionen, wenn sie zur Anwendung kamen, wurden vielmehr dahinter versteckt.179 Noch 1902 stellt ein Artikel in der Wiener Zeitschrift Der Architekt fest, dass bisher die Eisenarchitektur lediglich einen technischen Wert besitze und keine künstlerische Anwendung finde.180 Dementsprechend findet man im Lesesaal der Wiener Universitätsbibliothek vorherrschend klassische Formen der Raumgestaltung  : Die Saalwände waren vor der Anhebung des Fußbodens durch gewaltige Pfeiler auf hohen Postamenten rhythmisiert und die beiden Stirnseiten des Saals wurden durch je zwei ionische Säulen hervorgehoben

172  Funktionalität – Monumentalität – Repräsentation

Abb. 109: Hauptgebäude der Universität Wien, Einblick in den Lesesaal der Universi­ tätsbibliothek (Foto: Alexander Arnberger, 2014)

177 Ferstel 1880 A, S. 3. 178 Vgl. Jochum 2010, S. 76 ff. 179 Wagner-Rieger 1982, S. 129 f. 180 Pudor 1902, S. 1–3, hier S. 1.

Abb. 110: Hauptgebäude der Universität Wien, Einblick in die Glas-Eisenkonstruk­ tion von Ignaz Gridl über dem Lesesaal der Universitätsbibliothek (Foto: Alexander Arnberger, 2014)

[Abb. 109]. Über dem umlaufenden Gesims vermitteln Spitzkappen zum Deckenspiegel. An die Stelle eines Deckengemäldes in einer barocken Bibliothek tritt hier nun eine funktionale Errungenschaft, die Ferstel selbst nicht hervorhebt. Denn den gesamten Spiegel des Gewölbes nimmt eine durchgehende Glas-Eisen-Konstruktion ein, die den Lesesaal ausleuchtet [Abb. 110]. So schreibt Wagner-Rieger auch  : »Nur an einer – allerdings sehr bemerkenswerten Stelle nutzt man die ästhetischen Möglichkeiten der Glas-Eisen-Struktur auch im repräsentativen Monumentalbau, nämlich für das Oberlicht.«181

181 Wagner-Rieger 1982, S. 129. 182 Siehe Wibiral 1952, S. 297  ; Siehe auch das Akkordprotokoll vom 15. Juli 1880, Allgemeines Verwaltungsarchiv, Akten des Ministeriums für Kultus und Unterricht, 10333/80. Hierzu auch 6 Pläne gezeichnet »v. Ferstel« und »Ig. Gridl«. 183 Darunter  : das Parlament, die Neue Burg, die Hofmuseen, etc. Siehe Fogarassy 2011.

Während Wagner-Rieger hier anschließend den Nutzen des Scheitellichts für viele Bauzwecke einschränkt, muss das gleichmäßige, raumfüllende Licht gerade für die Bibliothek von enormem Vorteil gewesen sein. Labrouste hatte in der Sainte-Geneviève den Raum durch die seitlichen, gedrückten Rundbogenfenster beleuchtet. In der Bibliothèque nationale hingegen hatte jedes Joch ein gläsernes Oculus [Abb. 111]. Die Bibliothek des British Museums verknüpfte ein zentrales Auge im Scheitel der Kuppel mit umlaufenden Rundbogenfenstern. In Ferstels vorhergehenden basilikalen Planungen wäre die Bibliothek von der Seite sowohl an den Seitenschiffen als auch durch den Obergaden des Mittelschiffs beleuchtet worden. Durch die ausgeführte innovative Belichtungslösung mit einem weitgespannten Oberlicht konnte der Raum aber gleichmäßig ausgeleuchtet werden. Für die Eisenkonstruktion engagierte Ferstel den in Wien ansässigen Eisenbauingenieur Ignaz Gridl, 182 der für eine Vielzahl der monumentalen Ringstraßenbauten Eisenkonstruktionen fertigte.183 Erstaunlich bleibt nur, dass Ferstel an keiner Stelle auf diese Leistung der Ingenieurbaukunst an seinem Universitätsbau bzw. seine eigene in-

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novative Idee der Beleuchtung des Lesesaals, die durch die Ingenieurbaukunst erst ermöglicht wurde, hinweist. Schon beim k. k. Österreichischen Museum für Kunst und Industrie hatte Ferstel den Innenhof mit einer Glaseisenkonstruktion überspannt, wodurch der zentrale Hof zum Verbindungs-, Ausstellungs- und Festraum aufgewertet wurde. Hier nutzt Ferstel also das Motiv des Renaissancehofs, stellt es in einen neuen Kontext und passt es den neuen Anforderungen an, sodass es »zweckentsprechend und monumental zugleich« ist.184 Die Nutzung der modernen Glaseisenkonstruktion für einen Bibliothekslesesaal dieser Größe muss als neuartig gelten und zeigt, mit welchem Geschick Ferstel die moderne Technik in Einklang mit der traditionellen Form bringen konnte. Bisher konnte lediglich in Amerika eine frühere Kombination von Glaseisenkonstruktion über einem Lesesaal dokumentiert werden. Die George Peabody Library der Johns Hopkins University in Baltimore wurde 1857 von Edmund Lind errichtet und verfügt ebenfalls über ein großes Oberlicht, dessen Konstruktion allerdings durch mehrere innenliegende Längs- und Querstreben zusätzlich gestützt wird.185 Dass Ferstel um seine Innovation in der Gestaltung des Lesesaals so wenig Aufhebens gemacht hat, mag an der zeitgenössischen Vorstellung von monumentalem Bauen gelegen haben.

Abb. 111: Henri Labrouste, Lesesaal der Bibliothèque nationale, Paris (Universität Wien, Institut für Kunstgeschichte, Foto­ sammlung, Inv.-Nr. 32667)

»Das Konzept des zeitgenössischen Monumentalbaus orientierte sich an den steinernen Monumenten der Vergangenheit, die nur durch die Würde der Form und die ewige Dauer der gewählten Materialien die Geschichte überdauert zu haben schienen.«186

Die Repräsentationsbauten der Wiener Ringstraße sollten formal vor allem an die Traditionen früherer Repräsentationsbauten anschließen und durften nur funktional modernisiert werden. Dementsprechend bemerkte auch Gottfried Semper in seiner Schrift über Wintergärten, dass ihm »noch nicht ein einziges Beispiel einer künstlerisch genügenden sichtbaren Eisenkonstruktion an monumentalen Bauwerken vorgekommen« sei.187 Vielmehr sei die Eisenkonstruktion im praktischen Kontext gut nutzbar, allerdings hätte sie den Nachteil, dass sie »oft sehr störend, an jene kalten und den Zugwinden bloßgestellten Eisenbahnräume« erinnere und daher in jeglichem Kontext eine »gemütliche oder feierliche Stimmung unmöglich« mache.«188 Als Negativbeispiel der Anwendung von Eisenkonstruktionen nennt Semper dann ausgerechnet Henri Labroustes Bibliothèque Sainte Geneviève, in der dem Lesesaal mit seinem sichtbaren eisernen Dachstuhl die »für ernste Studien so nötige gemütliche Abgeschossenheit [sic  !] fehlt und schwerlich jemand denselben ganz befriedigt verläßt.«189 Für jene Architekten wie Heinrich von Ferstel, die dem Vorbild Sempers folgten oder zumindest grundsätzlich mit seiner

174  Funktionalität – Monumentalität – Repräsentation

184 Wibiral/Mikula 1974, S. 132. 185 Eine Publikation der Entwürfe in europäischen, insbesondere englischen Architekturzeitschriften muss aufgrund der Popularität des Architekten in England als wahrscheinlich gelten, sie konnte bisher jedoch nicht aufgefunden werden. 186 Nierhaus 2011, S. 92. 187 Semper 1849, S. 484–485. 188 Ebd., S. 485. 189 Ebd., S. 485.

Vorstellung von guter Architektur übereinstimmten, waren diese Vorgaben durchaus von großer Bedeutung. Im Jahr 1883 äußerte sich Ferstel ähnlich skeptisch gegenüber dem künstlerischen Charakter der Eisenkonstruktionen. Er beklagte in seinem Vortrag Über Styl und Mode, dass die ungeheuren Fortschritte auf dem Gebiet der Eisenkonstruktion die Kunstindustrie nicht gefördert habe, sondern im Gegenteil verzögert.190 Denn die Architekten wüssten künstlerisch noch nichts damit anzufangen, aber die leichtere Verarbeitung führe zu einer Bequemlichkeit, »die traditionelle hohe Kunst niemals verträgt.«191 In Bezug auf die Deckenkonstruktion formulierte Ferstel seine Bedenken noch nachdrücklicher  : »Um mich deutlicher zu machen, will ich nur gleich daran erinnern, dass die Vortheile, welche die heutige Eisenindustrie gewährt und welche im künstlerisch-formalen Sinne zu verwerthen bisher nicht gelungen ist, allmälig die Kunst des Wölbens verdrängt, und insoferne das Eisen auch sonstige constructive Vortheile gewährt, eine Sorglosigkeit im Construiren hervorgerufen hat, die nachgerade bedenklich zu werden beginnt.«192

190 Ferstel 1883, S. 5. 191 Ebd., S. 5. 192 Ebd., S. 5. 193 Anonym, Die Bibliothek der neuen Universität, in  : Wiener Bauindustrie-Zeitung, Jahrgang 2, 1884, Heft 7 und 8, S. 83 und 99. 194 Siehe auch Toman 1999.

So innovativ Ferstels Konstruktion eines Lesesaal-Oberlichts auch gewesen sein mag, so schien er sie doch als Ingenieursleistung und rein funktionelle Zugabe verstanden zu haben und gerade nicht als innovativkünstlerische Leistung. Seine eigenen Leistungen als Architekt wollte er aber offensichtlich vor allem im Bereich der traditionellen hohen Kunst angesiedelt sehen, sodass er auf seine praktische Innovation im Lesesaal nicht im Besondern hinwies. In Summe gelang Ferstel, trotz der an sich klassischen Gestaltung als Saalbau, ein innovativer Bibliotheksbau. Einerseits gliederte er die Bibliothek funktional geschickt in den Gesamtbau ein und konzentrierte – zumindest ursprünglich – die Anlage nach Labroustes Vorbild um den Lesesaal, um die Wege zu den Magazinen zu verkürzen. Andererseits nutzte Ferstel die technischen Möglichkeiten Ende des 19. Jahrhunderts, um die gleichmäßige Ausleuchtung des Lesesaals zu optimieren. In der Wiener Bauindustrie-Zeitung wurde die Bibliothek mit Begeisterung aufgenommen  : »Ferstel […] hat in der Universitäts-Bibliothek ein Meisterwerk geschaffen, das nicht nur den künstlerischen, sondern insbesondere auch allen praktischen Anforderungen im vollsten Umfange entspricht.«193 Durch die Anlage der Bibliothek als Saalraum konnte Ferstel mit dem Einstellen zweier Säulenpaare an den Stirnseiten auf den langen Bestand und die Tradition der Universitätsbibliothek verweisen. Diese ionischen Säulenpaare orientieren sich an dem prominenten Vorbild der Wiener Hofbibliothek mit ihren beiden korinthischen Säulenpaaren.194 Mit der Wahl der ionischen Ordnung ordnet sich die Universitätsbibliothek dem

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Abb. 112: Hauptgebäude der Universität Wien, Einblick in den Lesesaal der Uni­ versitätsbibliothek, 2014 (Foto: Alexander Arnberger, Universität Wien)

Vorbild zwar architektonisch unter, die Variation des Motivs betont aber gleichzeitig die Eigenständigkeit gegenüber der kaiserlichen Büchersammlung. Dass die für mindestens ein Jahrhundert berechnete Kapazität der Magazine von rund 500.000 Bänden doch bald ausgeschöpft war, ist der steigenden Buchproduktion im 20. Jahrhundert geschuldet. Im Jahr 2007 verwahrte die Universitätsbibliothek innerhalb des Hauptgebäudes 2.600.000 Bände, dies wurde nur möglich durch die Anhebung des Fußbodens im Lesesaal um 2,5 Meter [Abb. 112], wodurch unter dem Lesesaal neue Magazinräume entstanden, und die Umwidmung anderer Räumlichkeiten der Universität für Bibliothekszwecke (u.a. Lehrbuchsammlung und Lesesaal Altes Buch). Gesamtanlage und Axialität

Für die einzelnen Komponenten des Hauptgebäudes, Kommunikationssystem, Festsaal, Bibliothek etc., sind Ferstel also durchdachte und teilweise auch sprechende Lösungen gelungen. Wie Ferstel aber schon 1872 feststellte, waren die »räumlichen Anforderungen […] nicht nur bedeutend gross, sondern dieselben […] in Hinsicht auf die Ausdehnung und Bestimmung der einzelnen Localitäten so außerordentlich verschieden«195, dass die größte Anstrengung eigentlich in der sinnvollen Kombination der einzelnen Module lag. Norbert Wibiral kritisierte Ferstels Umsetzung der Gesamtanlage als Manifestation einer Historismus-Krise, da hier der Gebrauchszweck als Bestimmung des Gebäudes radikal zum Ausdruck komme und den stilsymbolischen Bedeutungsgehalt verdränge.196

176  Funktionalität – Monumentalität – Repräsentation

195 Ferstel 1872, S. 8 f. 196 Wibiral 1952, S. 84 f.

»Ferstel kann sich auch nicht entschließen, den Mittelhof, der zugleich den Universitätsplatz zu ersetzen hat, mit Einbeziehung der kleineren Nebenhöfe in zwei große seitliche Höfe zu zerlegen und so ein dezentralisiertes System zu verwenden, wie dies der elastischere Semper am Züricher Polytechnikum (1859– 64) bei Wahrung der Monumentalität gemacht hat.«197

197 Ebd., S. 84 f. 198 Wagner-Rieger 1970, S. 185  ; Schwarz 1984 B, S. 47  ; Dehio Wien 2003, S. 599 f. 199 Kunstchronik, 5. Jg., 1869/70, Nr. 1, 22. Oktober 1869, S. 3–4. 200 Siehe auch Pils 2012, S. 7  ; sowie Scheutz 2012, S. 32–40.

An dieser Stelle muss Wibirals Ansicht aus drei Gründen widersprochen werden, denn erstens hatte die Universität einen bedeutend größeren Raumbedarf als Sempers Bau, zweitens war die Bauaufgabe für Sempers dezentrale Anlage auch eine dezidiert duale, als Gebäude für Polytechnikum und kantonale Universität. Und drittens, und für dieses Kapitel am wichtigsten, ist der axiale Aufbau der Wiener Universität ja gerade ganz besonders an typsymbolischen Bedeutungsgehalten ausgerichtet, wie die vorherigen Ausführungen bereits angedeutet haben und wie hier noch einmal betont werden soll. Die axiale Anlage der wichtigsten Räume wie Festsaal und Bibliothek entspricht nicht nur der italienischen Tradition in der Planung eines Palazzo della Sapienza, sondern kann als Grundprinzip monumentaler Bauweise vorausgesetzt werden. Für die Anordnung um mehrere Höfe allerdings muss überprüft werden, woran Ferstel seine Überlegungen schulte. An mehreren Stellen wird das Gliederungsprinzip in mehrere Innenhöfe in Abhängigkeit von barocken Kloster- und Residenzanlagen, insbesondere dem Escorial, gesehen.198 Und tatsächlich ist am Grundriss eine entfernte Verwandtschaft zu mehrhöfigen Komplexen nicht abzustreiten. Dennoch erscheint dies als Erklärung zu kurz gegriffen, beziehungsweise würde die Ableitung der Universitätsanlage von einem barocken Klosterkomplex nicht Ferstels Intentionen treffen. Viel entscheidender ist in diesem Zusammenhang Ferstels Beteiligung als Juror am internationalen Wettbewerb um den Bau des neuen Rathauses, der bei der Ausschreibung im Mai 1868 noch für einen Bauplatz am Parkring bestimmt war. Neben dem Wettbewerbsgewinner Friedrich von Schmidt wurden noch einige andere Einreichungen mit Preisen ausgezeichnet.199 Unabhängig von der Stilwahl war diesen Entwürfen gemein, dass sich die Grundrisse um mehrere Innenhöfe herum organisierten. Für ein öffentliches Gebäude, das wie das Rathaus zahlreiche unterschiedliche Funktionen im Bereich der Gremienarbeit, des Publikumsverkehrs und der Repräsentation zu erfüllen hatte,200 war so ein Grundriss ideal, um die einzelnen Bereiche zu strukturieren, aber dennoch innerhalb eines Gebäudes zusammenzufassen. Ebendiese Aufgabe bereitete Ferstel später bei der Universitätsplanung, wie er selbst angab, auch die größten Schwierigkeiten. Daher konnte ihm die Kenntnis eines solchen Grundriss-Systems von großer Hilfe sein, um darin seine universitätsspezifischen Einzelbauaufgaben unterzubringen. Allerdings war es nicht der Grundriss des Gewinnerprojekts, sondern mindestens zwei der

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Konkurrenzprojekte, die Ferstel bei der Entwicklung seines Grundrisses Pate standen. Der Vorentwurf Ferstels von 1870 [Abb. 30] zeigt mit den vier kleinen und einem zentralen großen Innenhof und in den Umrisslinien deutliche Ähnlichkeit zum Rathaus-Entwurf des Wiener Architekten Alois Wurm [Abb. 113]. Von dieser Lösung mit einem sehr breiten Mittelrisalit an der Hauptfassade trennte sich Ferstel aber schon im ersten Entwurf. Dessen Grundriss mit zwei tiefen und breiten durch Pavillons gegliederten Seitenrisaliten und ausladender zentraler Rampe erinnert dafür an eine andere Einreichung im Rathaus-Wettbewerb. Die Pariser Architekten Ernest Chadron und Marcel Lambert hatten eine Vierflügelanlage mit markanten vorgezogenen Seitenrisaliten vorgeschlagen, zwischen denen geschwungene Freitreppen zu einem dreiachsigen flachen Mittelrisalit führen sollten [Abb. 114].201 Wenn sich der Rathausgrundriss im Inneren wegen der unterschiedlichen Funktionalität anders entwickelt, so

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Abb. 113: Alois Wurm, Rathausentwurf, Wien, 1868, Grundriss des ersten Oberge­ schosses (WStLA, Plan- und Schriftenkam­ mer, P 13/4: 105218/8/1)

201 Planner-Steiner 1978, S. 35.

Abb. 114: Ernest Chardon und Marcel ­Lambert, Rathausentwurf, Wien, 1868, Hauptfassade (WStLA, Plan- und Schriften­ kammer, P 13/4: 105218/3/13)

ist dies vor allem ein Hinweis auf Ferstels selbstständige Kombination seiner Einzelbauaufgaben innerhalb des im Rathaus-Konkurs vorgedachten Vierflügel-Rahmens. Aufgrund der Zeitnähe und der Möglichkeit der Unterbringung unterschiedlicher öffentlicher Funktionen innerhalb dieses Rahmens erscheint die Orientierung am Wiener Rathausbau näherliegend als der Rückbezug auf barocke Klostertraditionen. Daher scheint es von grundlegender Bedeutung zu sein, das um mehrere Höfe angelegte Universitätsgebäude nicht nur vom Grundriss her zu betrachten, sondern sich noch einmal Ferstels Vorstellung von der zweckmäßigen Kombination mehrerer Gebäudeteile in Erinnerung zu rufen. Als einzelne Elemente konnten bereits der Festsaaltrakt, der Arkadenhof, die Bibliothek, die beiden zweiteiligen Lehrgebäude identifiziert werden. Zusätzlich kann man im Prinzip sämtliche Räume östlich von den Haupttreppen als Verwaltungsräumlichkeiten benennen. Wie in den vorangegangenen Unterkapiteln zur Typologie gezeigt, lassen sich die Gebäudeteile jeweils einzeln aus einer Bautradition herleiten. So zeigt die Entwicklung der Lehrtrakte, dass Ferstel sie im Vorentwurf tatsächlich noch in direkter Anlehnung an Sempers Polytechnikum als zweihöfige Anlagen zum großen Innenhof addiert hatte [Abb. 30], und er sie erst in der weiteren Entwicklung in das große Kommunikationssystem mit den Haupttreppen integrierte [Abb. 32–35]. Dadurch werden die verschiedenen Konzepte überlagert, wie beispielweise bei der Verschränkung von Vestibül und Arkadenhof. Dass dies keine »natürliche« Überlagerung war, zeigte deutlich Sempers Widerspruch dagegen, weil er diesen Teil nicht als Kreuzungssystem erkannt hatte, sondern im Vestibül eine Unterbrechung des Korridorsystems annahm. Nichtsdestoweniger lobte Semper grundsätzlich die Kombination der vier Flügel in seinem Gutachten von 1872, sowohl in utilitaristischer als auch ästhetischer Ordnung. Die ästhetische Ord-

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nung spiegelt sich weniger im Grundriss als in der Verschränkung der Baukörper ineinander. Diese Verschränkung und Differenzierung wird in der Dachlandschaft des Universitätshauptgebäudes deutlich. Den höchsten Punkt bildet die Festsaalkuppel, die damit den Haupteingang und das repräsentative Zentrum markiert. Seitlich dazu ist der Verwaltungstrakt gelagert, der nicht über das erste Obergeschoss hinausgeht. Die beiden zweihöfigen Lehrgebäude schieben sich dafür mit ihren drei Geschossen (Hochparterre, 1. Obergeschoss und 2. Obergeschoss) von beiden Seiten in die Anlage hinein. Die hinteren kleinen Höfe sind wiederum nur von niedrigeren Annexen umschlossen, die zum Bibliothekstrakt vermitteln. Dieser bildet aus der Vogelperspektive einen blockhaften eigenen Teil, der sich in den Gesamtkomplex zu schieben scheint. Zwar übernimmt der Bibliotheksblock die umlaufenden Gesimshöhen und führt sie weiter, doch die variierten Dekorationselemente machen darauf aufmerksam, dass hier ein funktional differenter Gebäudeteil eingefügt ist. Mit der Differenzierung der Dachlandschaft setzt sich die Universität unverkennbar von dem Nachbarbau, dem Rathaus ab, das bei einer ähnlichen Grundrissgestaltung um viele Innenhöfe auch im Aufriss durchgehend einheitliche Trakthöhen ausbildet. Einen Hinweis »hinsichtlich der Größenordnung und Massenbewältigung«, sieht Wagner-Rieger, neben der barocken Kloster- und Residenzarchitektur, in spätantiken Thermen und Palästen.202 Im Hinblick auf die Grundrissgestaltung wurde dieser Bezug ja bereits in der Übernahme der Exedra im Innenhof deutlich. Die Struktur spätantiker Bauten, die für die Struktur eines historistischen, multifunktionalen Universitätsgebäudes Pate stehen konnten, wurde durch die neuzeitliche Architekturtheorie adaptiert und in verschiedenen Versionen vermittelt. Einer der Architekten, der mit architekturtheoretischem Anspruch versucht hat, die antiken, typologischen Vorbilder zu sammeln und sie aber auch für moderne Zwecke zu adaptieren, war der französische Architekt Jean-Nicolas-Louis Durand (1760–1834). Sein Streben galt einer Systematisierung der architektonischen Kompositionslehre, die er in einem Rastersystem erfüllt sah, in dem sich Architekturelemente unbeschränkt kombinieren ließen.203 Obwohl Semper ihn dafür stichelnd Schachbrettkanzler nannte, hatten seine schematischen Beispielsammlungen großen Einfluss auf die Entwicklung der klassizistischen Architektur bei Schinkel und Klenze.204 Besonders die Weiterentwicklung des öffentlichen Nutzbaus, auch in Wien, profitierte von Ideen, wie größere Baukomplexe zusammengefasst werden konnten.205 Ein offensichtliches Beispiel ist auch die bereits angesprochene Bibliothek des British Museum, von Robert Smirke, dessen Zentralisierung sich aus Durands Entwürfen für einen Tempel oder eine Première maison commune entwickelt.206 Dass Durand offenbar weitgehend in Wien bekannt war, machen zwei der Be-

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202 Wagner-Rieger 1970, S. 79. 203 Kruft 2004, S. 312. 204 Ebd., S. 312. 205 Siehe Wagner-Rieger 1970, S. 79. 206 Siehe Szambien 1984, S. 127 und Crook 1972.

Abb. 115: Jean-Nicolas-Louis Durand, Col­ lège, 1802-05, Idealgrundriss und Aufriss einer Bildungseinrichtung (Szambien 1984, S. 228, Foto: Universität Wien, Institut für Kunstgeschichte, René Steyer)

207 Durand 1817–1819  ; zit. nach Kruft 2004, S. 311. 208 Ferstel 1872, S. 11. 209 Ferstel 1880 A, S. 3.

bauungsentwürfe für den Paradeplatz von 1868 deutlich, auf denen die Grundrisse aller drei Monumentalbauten wie aus Durands Sammlung entnommen scheinen [Abb. 9c–f ]. Durand legte bei seinen Grundrissen Wert auf eine »disposition la plus convenable et la plus économique«.207 Wenn auch Ferstel weder Durands Schema eines Collège [Abb. 115] noch das eines Palais de Justice [Abb. 116] umsetzte, so folgte auch er bei seiner Planung ähnlichen Kriterien, denn er betonte in seiner Denkschrift, dass »mit verhältnissmässig geringen Mitteln die kürzeste, bequemste und zugleich schönste Communication erreicht wurde«.208 In der Beschreibung der Bibliothek argumentiert er, dass »die möglichst ökonomische Raumaustheilung […] naturgemäß zur Centralisation der Anlage [führten].«209 Zweifellos ist aber Ferstels Umgang mit dem Grundriss in der Entwurfsarbeit

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Abb. 116: Jean-Nicolas-Louis Durand, Palais de Justice, 1802-05, Idealgrundriss eines Justizpalastes (Szambien 1984, S. 248, Foto: Universität Wien, Institut für Kunstge­ schichte, René Steyer)

von weniger theoretischem Schematismus geprägt. Stattdessen wird in der Raumeinteilung deutlich, dass Ferstel die Grundrisse für eine real existierende Bauaufgabe zeichnet. Gerade in der Umsetzung der Gebäudeteile in die dritte Dimension zeigt sich, wie sehr Ferstel von der reinen »Schachbrett«-Architektur unabhängig ist und die Gebäudeteile auch als Baukörper auffasst. Mit der

182  Funktionalität – Monumentalität – Repräsentation

Abb. 117: Jean-Nicolas-Louis Durand, En­ sembles d’Edifices, 1802-05, Variierte Zu­ sammenstellungen von horizontalen und vertikalen Bauelementen (Szambien 1984, S. 273, Foto: Universität Wien, Institut für Kunstgeschichte, René Steyer)

Verschränkung dieser Körper ineinander setzt er sich von dem ebenfalls schematisch wirkenden Kombinationssystem Durands ab [Abb. 117]. Die Verteilung und Verschränkung der Baumassen werden im folgenden Kapitel zur Monumentalität noch von Bedeutung sein. Für Ferstels Aufgabe, einen großen Baukomplex herzustellen, der unterschiedliche Raumanforderungen und institutionelle Funktionen erfüllen sollte, war das modulare System Durands nur bedingt nützlich. Zwar ließen sich einzelne Gebäudeteile entsprechend ihrer Tradition für sich ausarbeiten, aber die Verschränkung der einzelnen Module zu einem Gesamtkomplex erforderte ein größeres Gespür für Baumassen und Monumentalität, als dies aus Durands Zeichnungen ersichtlich wird. Bei der Betonung der Module durch Hervortreten aus der Fassade oder der Dachlandschaft machte Ferstel nicht nur den multifunktionalen Charakter seines Hauptgebäudes nach außen sichtbar, sondern es gelang ihm gleichzeitig, die einzelnen Teile zu einer Gesamtheit zu kombinieren.

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Zusammenfassung  : Typengeschichte und zeitgemäße Funktionalität

Wenn Ferstel auch nicht alle Kritikpunkte Sempers am Universitätsentwurf umsetzte, so war Sempers Architekturauffassung für Ferstel – wie auch für die anderen Ringstraßenarchitekten – von zentraler Bedeutung.210 Die erste Kontaktaufnahme zu Semper aus dem Ringstraßenkontext ging von Rudolf von Eitelberger aus, der Semper um eine Abschrift seines Manuskripts Practical Art in Metals and Hard Materials für das k. k. Museum für Kunst und Industrie gebeten hatte.211 Durch einige Veröffentlichungen in der Allgemeinen Bauzeitung waren Sempers Werke schon früher in Wien bekannt.212 Aber vor Sempers Engagement im Hofmuseen-Projekt war sicherlich sein wichtigster Beitrag zur Wiener Architektur seine theoretische Schrift Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten oder Praktische Ästhetik, die in zwei Bänden 1860 und 1863 erschienen ist.213 Ganz zu Beginn dieses einflussreichen Werks beschreibt Semper die zwei Methoden, mit denen Architektur zu fassen sei. »[…] erstens das Werk als Resultat des materiellen Dienstes oder Gebrauches, der bezweckt wird, sei dieser nun thatsächlich oder nur supponiert und in höherer, symbolischer Auffassung genommen  ; zweitens das Werk als Resultat des Stoffes, der bei der Produktion benutzt wird, sowie der Werkzeuge und Procedure, die dabei in Anwendung kommen.« 214

Die Untersuchung des Wiener Universitätshauptgebäudes als Resultat des materiellen Dienstes ergibt, dass Ferstel hier beide bei Semper genannte Funktionsbegriffe, den thatsächlichen und den symbolischen, in seinem architektonischen Konzept verarbeitet hat. Es ist ihm ein wirkliches Anliegen, ein funktionierendes Wegesystem zu erdenken, die Hörsäle an die ruhigeren Seiten (Innenhöfe oder zumindest nicht d ­ irekt an die Ringstraße) zu legen und auch innerhalb der Bibliothek die modernsten Strukturen und Techniken zur Anwendung zu bringen. Zu diesem Zweck verknüpft er die einzelnen Funktionselemente wie Lehrgebäude, Verwaltungstrakt, Bibliothek etc. und schafft so einen großen Gesamtkomplex. Bei der Planung der einzelnen Gebäudeteile und ihrer funktionellen Ausrichtung bezieht sich Ferstel aber immer unmissverständlich auf deren Bautraditionen und stattet dadurch, dass Motive von antiken und neuzeitlichen Bildungsbauten, von barocken Bibliotheken und von modernen Hochschulen erkennbar werden, den entstandenen Gesamtkomplex zusätzlich auch mit einer höheren, symbolischen Auffassung aus. Norbert Wibiral stellt für das gesamte 19. Jahrhundert ein Hervortreten der technischen und funktionalen Aspekte der Architektur fest, allerdings sieht er dies stellenweise gepaart mit einer Betonung auch der idealen Zwecke und der Bedeutungsgehalte der Bauwerke.

184  Funktionalität – Monumentalität – Repräsentation

210 Siehe Wagner-Rieger 1976 S. 282. 211 Nicka 2007, S. 51  ; Malgrave 1996, S. 310. 212 Allgemeine Bauzeitung  : 1844 (Grundriss des Zwingers), 1845 (Die Villa des Herrn Oppenheim in Dresden, Villa Rosa bei Dresden), 1847 (Die Synagoge zu Dresden), 1848 (Entwürfe für Nicolai-Kirche in Hamburg, Haus des Apothekers Herrn Semper in Hamburg). 213 Semper 1878. 214 Ebd., S. 7.

»Der Zweck in der oben skizzierten Definition erhält so ein Janusgesicht, in dem bald die eine, bald die andere Komponente stärker durchschillert.«215

Für Ferstels Universitätsbau wollte Wibiral dies, wie oben gesehen, allerdings nicht zur Gänze anerkennen, da er zu sehr an der Vorstellung des Semper’schen Polytechnikums als Ideal-Vorbild festhält und dabei die lange Tradition des Universitätsbaus aus den Augen verliert. Dass Ferstel aber tatsächlich die überlieferten Bautraditionen als essenziellen Ausgangspunkt für gute Architektur sah, verrät seine Rede, die er anlässlich seiner Inauguration als Rektor der Technischen Hochschule im Oktober 1880 hielt.216 In dieser, explizit an Sempers theoretischem Hauptwerk Der Stil orientierten Rede, hebt er besonders die Typengeschichte der Architektur als deren Sprache hervor  : »Diese Typen sind den verschiedenen technischen Künsten entlehnt. Ohne die Berücksichtigung dieses ältesten Einflusses der technischen Künste auf die Entstehung der althergebrachten Formen und Typen in der Baukunst, ist kein richtiges Eingehen in das Verständnis der Letzteren möglich.«217

In diesem Sinne ist ein Verständnis von Ferstels Universitätshauptgebäude erst möglich, wenn, wie oben geschehen, die ältesten, typologischen Einflüsse der Hochschularchitektur einbezogen werden. Ferstel vergleicht im Anschluss den sich an der Sprachforschung orientierenden Redekünstler mit dem Baumeister, »der die ältesten Symbole seiner Sprache in ihrer ursprünglichsten Bedeutung kennt«.218 Daraus lässt sich ableiten, dass Ferstel der Überzeugung war, dass er mithilfe der typologischen Sprache der Architektur sein Bauwerk zum Sprechen bringen könne. Die verschiedenen Symbole, Traditionen und Verweise auf historische Universitätsbauten, die Ferstel am Hauptgebäude geschickt kombiniert, lassen das Bauwerk von sich und seiner Aufgabe, ein Ort der Lehre und der Wissenschaft zu sein, bildlich erzählen. Die Typologie des Hauptgebäudes bildet, um wieder an Roland Barthes’ Vorstellung eines sinnvollen Rauschens anzuschließen, die erste visuelle Geräuschkulisse, die dem Betrachter und Benutzer den Inhalt dieser Architektur näher bringen soll.

Reziprozität zwischen Stil und Monumentalcharakter

215 Wibiral 1952, S. 7. 216 Ferstel 1880 B, S. 36–53. 217 Ebd., S. 50. 218 Ebd.

Gemäß den Raumerfordernissen derjenigen Universitätseinrichtungen und Institute, die im Hauptgebäude untergebracht werden sollten, musste Heinrich von Ferstel einen Komplex mit riesenhaften Ausmaßen planen. Während die schiere Größe vor allem funktionell begründet war, musste ein Bauwerk an der Ringstraße, um im zeitgenössischen Diskurs zu bestehen, aber auch monumental sein.

Reziprozität zwischen Stil und Monumentalcharakter  185

Das Bemühen um einen denkmalhaften Charakter in der Architektur und die Frage, wie dieser zu erreichen wäre, war im 19. Jahrhundert weit verbreitet.219 Die spezielle Situation in Wien, dass durch die Umwidmung des Glacis eine enorme, zentrumsnahe Baufläche zur Verfügung stand, potenzierte die Bedeutung des monumentalen Bauens. Schon im November 1855, zwei Jahre vor der kaiserlichen Entschließung zur Stadterweiterung, schrieb Rudolf von Eitelberger im Deutschen Kunstblatt, welche zwei Dinge nötig seien, damit Wien an architektonischer Schönheit gewinne  : »Erstens das Aufgeben der Befestigung Wiens und Zweitens [sic] die Benutzung der Glacis zu Monumentalbauten.« 220 Wie diese Bauten auszusehen hatten, um diesem Anspruch zu genügen, wurde in Wien in den 1860er-Jahren im Zuge der ersten Ringstraßenbauten ausführlich diskutiert. Daher beleuchtet dieses Kapitel zu Beginn die zeitgenössische Monumentalitätsdebatte und den Diskurs über den geeigneten Monumentalstil, um dann den Universitätsbau Ferstels in diesen Diskurs einzuordnen.

Debatte um Stil und Monumentalität

Die Ausfächerung und Objektivierung der Wissenschaftsdisziplinen im einsetzenden 19. Jahrhundert hat mit der Begründung der modernen Geschichtswissenschaft auch weitgreifende Folgen für die kulturelle Produktivität. Als wissenschaftliche Methode unterschied sich der Historismus des beginnenden 19. Jahrhunderts durch einen systematischen, positivistischen Ansatz von der bis dahin vorherrschenden philosophischen Geschichtsbetrachtung. Die Geschichtswissenschaft sollte durch quellenkritisches Vorgehen zu einem objektiven, geprüften Ergebnis eines geschichtlichen Ablaufs kommen.221 Hierbei gelangten sowohl die einzelnen Ereignisse als auch die agierenden Persönlichkeiten in den Vordergrund.222 Die verstärkte Wahrnehmung einzelner Persönlichkeiten als Weichensteller der Geschichte förderte die Errichtung von Denkmälern nun auch für andere »Helden« als allein für Regenten und Heeresführer. Das neue Geschichtsbewusstsein löste daher die sogenannte Denkmalflut aus, die schließlich in einer »Denkmalhochflut« 223 mündete. Bedacht wird bei dieser Bezeichnung oft zu wenig, dass nicht nur die Inflation des Personen- oder Ereignisdenkmals Folge dieses historischen Bewusstseins war, sondern dass auch die Monumentalisierung der Architektur aus dieser Strömung heraus entstanden ist.224 Gottfried Fliedl, dessen Dissertation zum Monumentalbau im Historismus noch immer das grundlegendste Werk zu dieser Thematik darstellt,225 sieht in der Herausbildung eines historischen (Selbst-)Bewusstseins und in der Entdeckung der eigenen Modernität eine fundamentale Errungenschaft der bürgerlichen Emanzipation.226 Die Monumentalisierung der Archi-

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219 Fliedl 1977, S. 25–26. 220 Eitelberger 1855, S. 400. Aufgrund dieser frühzeitigen Nennung des Begriffs muss hier auch Hans-Christoph Hoffmann widersprochen werden, der das Entstehen des Begriffs »Monumentalbau« und seine Verwendung erst Ende der 1870er ansetzt  ; Vgl. Hoffmann 1972, S. 52. 221 Siehe Oexle 1984, S. 24. 222 Csáky 1996, S. 27–28  ; Braw 2007, S. 49. 223 Hofmann 1906, S6. 224 Fliedl 1977, S. 51. 225 Fliedl 1977. Für die spezielle Situation in Wien und insbesondere für die Monumentalisierung von Residenzbauten ist Andreas Nierhaus’ Dissertation von Bedeutung  : Nierhaus 2007, S. 47–57. 226 Fliedl 1977, S. 51.

227 Siehe Fliedl 1977, S. 29. 228 Wagner-Rieger 1970, S. 149  ; Haiko 1992, S. 148. 229 Eitelberger 1859  ; siehe auch Nierhaus 2007, S. 26 und 60. 230 Haiko 1992, S. 148. 231 Hoffmann 1972, S. 52. 232 Siehe Hoffmann 1972, S. 107. 233 Wagner-Rieger 1970, S. 126. 234 Ebd., S. 126. 235 Springer 1979, S. 431. 236 Bezüglich des fehlenden Sockels des Opernhauses muss betont werden, dass zwar kein wuchtiges Sockelgeschoss geplant war, aber die Anhebung des Straßenniveaus um etwa drei Fuß, also um knapp einen Meter, nach Baubeginn erschwerte die Situation für die Architekten. Siehe Hoffmann 1972, S. 153–154. 237 Siehe Hoffmann 1972, S. 152–158.

tektur ist daher als Teil der Denkmalflut zu sehen, nur werden hier nicht die Tugenden einzelner verdienter Männer repräsentiert, sondern das Bauwerk wird zum Denkmal der Tugenden einer Institution.227 Die spezifische Situation in Wien bot ab etwa 1860 gleich eine Vielzahl an Möglichkeiten, öffentlichen Institutionen in zentraler Lage ein architektonisches Monument zu setzen. Die im Vergleich zu anderen europäischen Residenzstädten längst überfällige Stadterweiterung Wiens erlaubte den Stadtplanern, großzügig ein neues Stadtgebiet um das Zentrum herum anzulegen. Diese Planungen waren entsprechend der historistischen Selbstverpflichtung zum monumentalen Bauen bestrebt, höchsten Monumentalcharakter zu erzielen.228 Als dezidierter Ausgangs- und Mittelpunkt der Stadterweiterung galt von Beginn an die Hofburg und so in der Folge auch das geplante Kaiserforum, in dem sich das Maximum an Monumentalität herauskristallisieren sollte.229 In der Konkurrenz zwischen Kaiserforum und der »bürgerlichen« Paradeplatzbebauung erreichte die Monumentalitätsdebatte ihren Höhepunkt.230 Begonnen hatte sie in Wien aber schon mit dem Bau des Hofoperntheaters, dem ersten »Monumentalbau« an der Ringstraße.231 Entsprechend dieser Aufgabe hatte das Architektenduo Sicardsburg und van der Nüll den Anspruch, einen monumentalen Theaterbau auszuführen, der sich mit den bereits vollendeten Bauten in Dresden und München messen könne.232 Sie planten daher einen Steinbau, an dem sie die Struktur der französischen und lombardischen Renaissance mit Elementen des venezianischen Quattrocento kombinierten [Abb. 118].233 Mit dieser reichen Kombination strukturierender und verzierender Elemente gilt die Hofoper heute als Höhepunkt des Romantischen Historismus in Wien.234 Aber entgegen ihrem eigenen Anspruch ernteten die Architekten heftige Kritik. Während die Architekten Monumentalität angestrebt hatten, wurde das Operngebäude gerade wegen seiner mangelnden Monumentalität stark angegriffen.235 Mehrere Merkmale stießen auf besonderes Missfallen  : das Fehlen eines (markanten) Sockelgeschosses,236 die Kleinteiligkeit des Ornaments und die Uneinheitlichkeit des Stils.237 In der daraus folgenden Monumentalitätsdebatte wurde nach dem »richtigen« Ringstraßenstil gesucht. Diese Debatte erreichte in den Jahren um 1868 ihren Höhepunkt. Damit war sie brandaktuell zu dem Zeitpunkt, als die Entscheidung für die Bebauung des Paradeplatzes fiel. Wenn die Architekten Sicardsburg und van der Nüll für ihren Ringstraßenmonumentalbau Elemente unterschiedlicher Reminiszenzen wählten, so taten sie dies in der tiefsten Überzeugung, dass dieser Mischstil für einen Monumentalbau geeignet sei. Im Jahr 1845 hatte Eduard van der Nüll seine theoretische Überzeugung bezüglich eines zeitgemäßen Stils in den Österreichischen Blättern für Literatur und Kunst festgehalten. Er dankte hier seinen Vorgängern nicht nur für die Kenntnis aller historischen Baustyle, sondern auch ganz besonders für die Erkennt-

Reziprozität zwischen Stil und Monumentalcharakter  187

Abb. 118: Eduard van der Nüll/August von Sicardsburg, Hofoper, 1860–69 (Universität Wien, Institut für Kunstgeschichte, Foto­ sammlung, Inv.-Nr. 10205)

nis, dass »man auf dem Wege der Nachahmung zu nichts gelanget.«238 Für den Entwurf eines monumentalen Gebäudes bestimmen nicht »dieser oder jener Styl früherer Epochen« die Gestaltung, sondern der Zweck des Bauwerks und die – möglichst solide – Baumaterie.239 Van der Nüll fordert aber nicht ein »gewaltsames Losreißen von dem Alten, Vortrefflichen«, sondern er setzte sich dafür ein, die überlieferten Formen vorteilhaft zu nutzen, um daraus neue Konstruktionen, neue Charaktere zu erzeugen »und so zu einem wirklich originellen und nationalen Baustyle zu gelangen.«240 Für die Bauaufgabe Opernhaus erschien den Architekten ein Bauwerk mit einer reich gegliederten Fassade nach dem Vorbild der französischen Renaissance und zusätzlichen Detailformen des venezianischen Quattrocento als geeignet, künstlerische und höfische Würde auszudrücken. Insbesondere mit den Renaissanceformen musste sich das Duo auf der sicheren Seite wähnen, denn der Stil der Frührenaissance etablierte sich seit den 1820er- und 1830er-Jahren in Paris, London, München und Berlin als Form des würdevollen Bauens.241 Vornehmlich der Stil des Quattrocento galt als Ausdruck einer »edlen Simplicität«242 und der »Prachtentfaltung und Großartigkeit«243. Der »imperiale Charakter« der Hochrenaissance hingegen stieß in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts weitgehend auf Widerstand.244 Für die Wiener Zeit nach 1848 lagen die stilistischen Vorbilder daher ebenso »in künstlerischen Epochen, die auf einem vor der Klassik der Hochrenaissance liegenden Niveau standen, also abgesehen von byzantinischen und islamischen Anregungen vor allem solche des italienischen Tre- und Quattrocento […]«. 245 Diese Anregungen historischer Stile wurden in synthetischer Weise ange-

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238 Van der Nüll 1984, S. 32. 239 Ebd., S. 33. Hervorhebung von der Autorin. 240 Van der Nüll 1984, S. 34. 241 Milde 1981, S. 62 und 68  ; BörschSupan 1976, S. 162 und 165  ; Hammer-Schenk 2001, S. 149– 150  ; Watkin 2001, S.  162  ; Talenti 2001, S.  123  ; 242 Gruppe 1843, zit. nach BörschSupan 1976, S. 162. 243 Hammer-Schenk 2008, S. 433. 244 Börsch-Supan 1976, S. 162. 245 Wagner-Rieger 1968, S. 6.

246 Wagner-Rieger 1968, S. 6. 247 Siehe Börsch-Supan 1976, S. 165. 248 Laudel 2002, S. 28 249 Laudel 2002, S. 28. 250 Wagner-Rieger 1976, S. 282. 251 Ebd., S. 286. 252 Malgrave 1996, S. 357  ; Burckhardt 1855  ; Burckhardt 1860. 253 Beispielsweise von Carl Schnaase, »Die italienische Renaissance«, in  : Zeitschrift für bildende Kunst, II, 1867, S. 156–166. 254 Weiß 1867, S. 1, Sp. 3.

wandt, um daraus »einen neuen, der Zeit gemäßen Stil« zu entwickeln.246 Diese anspruchsvolle Stilsynthese mit reich dekorierten Oberflächen tritt am Bau der Wiener Hofoper deutlich hervor. Parallel zu dieser Strömung hatte sich Gottfried Semper schon seit den 1830er-Jahren bemüht, die strengeren Formen der Hochrenaissance zur Anwendung zu bringen, da dieser Stil wegen der »in ihre Grenzen gewiesenen Dekoration« den monumentalen Charakter des Bauwerks fördere.247 Mit seinen Plänen für das Dresdener Zwingerforum in den 1830er-Jahren legte er den Grundstein für einen allgemeinen Konsens über einen Monumentalstil.248 Seine Entwürfe nahmen die Formensprache der römischen Renaissance auf und lehnten sich damit an »die Hoch-Zeiten monumentaler Baukunst an.«249 Sempers Ideal und Praxis, die Formen der italienischen Hochrenaissance unvermischt zur Anwendung zu bringen, fand in den 1850er-Jahren kaum Anhänger. Zwar wurden seine Werke durch die Allgemeine Bauzeitung und deren Herausgeber Ludwig Förster nach Wien vermittelt, jedoch fand die Semper’sche Renaissanceanwendung zunächst nur in Einzelformen Niederschlag.250 Hier war der Romantische Historismus mit der Überzeugung, aus einer Mischung unterschiedlicher Elemente einen neuen Stil schaffen zu können, noch stark verbreitet. Die Strenge der möglichst stilreinen Verwendung begann erst in den 1860erJahren, in denen sich die »Semper-Komponente […] zum Banner der Moderne« entwickelte.251 Neben Semper trug dazu der Schweizer Kulturhistoriker Jakob Burckhardt mit seinen Publikationen Der Cicerone (1855) und Die Kultur der Renaissance in Italien (1860) maßgeblich bei, der damit diese Epoche populär machte.252 Diese Publikationen wurden von anderen Vertretern der jungen Disziplin Kunstgeschichte aufgenommen, kommentiert, erweitert und wiederum publiziert. 253 Semper hatte in seinen Zürcher Jahren die Gelegenheit, sich mit Burckhardt persönlich auszutauschen, da beide im Jahr 1855 als ordentliche Professoren an das Zürcher Polytechnikum berufen worden waren. Durch Eitelbergers kunsthistorische Lehre muss Burckhardts Werk auch in Wien rasch publik geworden sein und damit auch Ferstel als Überblick über die italienische Renaissance zur Verfügung gestanden haben. Die von der Kunstgeschichte ausgehende, zunehmende Kenntnis über die Stile und ihre zeitlichen und regionalen Phänotypen förderte die Auseinandersetzung mit den Eigenheiten und erlaubte erst einen strengeren Umgang damit im zeitgenössischen Bauen. Die Wiener Kunstkritiker griffen diese Entwicklung auf und polemisierten gegen die Wiener Hofoper, die diesen neuen Ansprüchen nicht mehr genügen konnte. Schon vor der Vollendung sprach der einflussreiche Archivar, Journalist und Historiker Karl Weiß dem Bauwerk die »erste Bedingung zu einem monumentalen Werke – eine einheitlich gedachte und consequent durchgeführte Idee« ab.254 Weder in der Gruppierung der Baumassen, noch im Material, noch in den Formen entstehe ein

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Abb. 119: Theophil Hansen, Palais Erzherzog Wilhelm, 1864–1868 (Universität Wien, Ins­ titut für Kunstgeschichte, Fotosammlung, Inv.-Nr. 162738)

einheitlicher Charakter. Für einen monumentalen Charakter hingegen sei es zentral, dass »in der Mannigfaltigkeit die Einheit« betont werde. »In diesem Sinne haben zwei Architekten der Neuzeit, von verschiedenen Kunstrichtungen ausgehend, auch die ihnen gestellte Aufgabe erfaßt. Wir meinen Schinkel und Samper [sic  !]  ; […], der Letztere bei dem mit Anwendung der Renaissance ausgeführten Dresdener Hoftheater. Beide Künstler haben es verstanden, die Hauptformen zu beherrschen und in der Raumconstruction, in der Gruppirung der Massen strenge Gesetzmäßigkeit und Schönheit der Linien einzuhalten, sie haben den Gebäuden, ungeachtet der widerstrebenden Elemente, eine eigenthümliche Form bewahrt.«255

Während Karl Weiß hier besonders die Einheitlichkeit des Stils hervorhebt, um eine »eigenthümlich großartige« Anlage zu errichten und anschließend die Uneinheitlichkeit am Bau der Hofoper kritisiert, war es deren Architekten gerade darum gegangen, aus unterschiedlichen Vorlagen einen individualisierten, monumentalen Stil zu entwickeln.256 Aber gegen solche Individualismen polemisierte Weiß schon 1864, als er seine Abneigung gegenüber den Formen der französischen Renaissance zum Ausdruck brachte  : »Bis zur Stunde schwanken noch die Anschauungen der Künstler und der Geschmack des Publicums. Es fehlt nicht an Vertretern der französischen Renaissance wie des Barockstiles, und zwei unserer Architekten faßten eine so zärtliche Neigung für den neunapoleonischen Hofstil, daß sie ihn an zwei ganz nahe der

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255 Weiß 1867, S. 1, Sp. 2. 256 Siehe auch Nierhaus 2012 A, S. 241.

Abb. 120: Heinrich von Ferstel, Palais Erz­ herzog Ludwig Viktor, 1863–69 (Universität Wien, Institut für Kunstgeschichte, Foto: Martin Engel, 2008)

Hofburg gelegenen Bauten in Anwendung brachten. Dieses Hervordrängen der künstlerischen Individualitäten muß früher gezügelt werden […].«257

Stattdessen hob Weiß in diesem Kontext den italienischen Palazzo-Stil, wie Theophil Hansen ihn beim Palais Erzherzog Wilhelm [Abb. 119] oder Ferstel beim Palais Erzherzog Ludwig Victor [Abb. 120] benutzte, positiv hervor.258 Zeitgleich gab es zahlreiche weitere Stimmen, die sich für eine Vorherrschaft der italienischen Renaissance an der Ringstraße aussprachen. Das Kunstblatt der Neuen Freien Presse wetterte 1866 gegen »einen gewissen Einfluß der französischen Renaissance, und zwar nicht einmal der besten und glänzendsten der älteren Zeit, sondern der späteren Maitressen-Epoche, ja selbst der neu-napoleonischen Zeit«.259 Wenn also in der vorhergehenden Generation die Renaissance im Allgemeinen und in Verbindung mit anderen Elementen als geeignet galt für großartiges Bauen, so hatte sich im Laufe der 1860er-Jahre eine viel strengere Auslegung einer monumentalitätsgeeigneten Bauweise herausgebildet, die sich an der italienischen Renaissance orientierte. Für diese Differenzierungen war sicherlich auch die stetig wachsende kunsthistorische Kenntnis eben dieser und der Renaissancearchitektur im Allgemeinen verantwortlich. Im Kunstblatt der Neuen Freien Presse wurde 1867 einer der auffälligsten Unterschiede zwischen italienischer und französischer Renaissance in einem kurzen Bericht über Theophil Hansens Palais Erzherzog Wilhelm verdeutlicht  : 257 Weiß 1864, Sp.1554, zit. nach Springer 1979, S. 429. 258 Ebd., Sp.1554, zit. nach Springer 1979, S. 429. 259 »Die Franzosen in der Wiener Architektur«, in  : Neue Freie Presse, 16. Mai 1866, Abendblatt, S. 4, Sp. 2.

»Der Palast ist eine Aufgabe des Civilbaues, welche die Italiener am vollendetsten gelöst haben, weil die Architektur dort aus dem innersten Leben des Staats- und Städtelebens hervorging. Die Franzosen haben den Palast weiter, die Formen desselben reicher und prachtvoller entwickelt, aber an Einfachheit und Schönheit vermochten sie niemals die Italiener zu übertreffen. Zeugt es nicht von gutem Geschmacke und feiner Bildung, wenn ein Künstler bei einer Auf-

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gabe, welche keiner weiteren Entwicklung unserer Zeit fähig ist, seine Individualität den großen Vorbildern der Vergangenheit unterordnet  ?«260

Der Autor gestand den Formen der französischen Renaissance hier zwar Pracht und Reichtum zu, aber im Sinne einer edlen Simplicität könne nur der italienische Stil angewandt werden. Und gerade für die Bauaufgabe eines Palastes müsse man auf die natürlichen Ursprünge des Renaissancestils zurückgreifen. Mit diesem Formenrepertoire sei es möglich, eine Fassade zu schaffen, »deren Erscheinung die hohe gesellschaftliche Stellung des Besitzers dokumentirt«261 und damit denkmalhaft dessen Tugenden repräsentiert. Die Ablehnung unterschiedlicher Mischformen und eine Affirmation des von Semper und Hansen vertretenen Renaissancestils wird auch in der internationalen Kritik augenfällig. In der Besprechung der Architekturentwürfe der Pariser Weltausstellung beklagt der Kunsthistoriker Julius Meyer »jene Experimente eines neuen Stils, die hie und da als Auswüchse modernen Aberwitzes […] aufgeschossen sind«. Den Architekten Semper hingegen lobt Meyer als »ächten Nachkommen der großen italienischen Architekten, […] wie er die Formen der Renaissance groß und schöpferisch zu gebrauchen weiß.«262 Mit »genialem Verständnis [nimmt er] die Bauweise der Renaissance in ihrer frohen Weltlichkeit wieder auf«.263 Während also im zweiten Viertel des 19. Jahrhunderts die Auffassung vorherrschte, dass bereits eine renaissancehafte Struktur gemeinsam mit anderen Stilelementen einen monumentalen Charakter erzeugen könne, setzte sich ab 1860 die strenge, italienische Neorenaissance als Ausdruck von grandezza und Denkmalhaftigkeit durch. Sie wurde zum Idealstil für öffentliche Bauten im deutschsprachigen Raum. Da die Bebauung der Ringstraße erst in der zweiten Hälfte der 1860er-Jahre ihren Höhepunkt erreichte, prägte dieser Stilkonsens nun ein ganzes innerstädtisches Gebiet, in dem vorwiegend öffentliche und daher idealerweise monumentale Gebäude errichtet wurden. Der Rückhalt in der Öffentlichkeit wurde in den zahlreichen Pressekommentaren spürbar. »Die italienische Renaissance ist und bleibt das Schönste, was die neuere Profan-Baukunst geschaffen. Sie gibt uns einen Fingerzeig, wie sich mit gegebenen Grundlagen weiterbauen läßt  ; sie kann möglicherweise auch heute noch der Ausgangspunkt zu neuen großartigen Kunstschöpfungen sein. Wenn wir schon auf die Reproduction vorhandener Stylformen angewiesen sind, so sollen wir stets das Beste und Vollendetste anstreben. Verlassen wir den Weg, so werden wir in kürzester Zeit wieder dort angelangt sein, wo wir noch vor Kurzem standen – auf dem Standpunkte der traurigsten Principienlosigkeit. Heute ist es nicht zu spät, dagegen die Stimme zu erheben, denn der Himmel hat gesorgt, daß die Träume der Stadterweiterungs-Commission nicht zu rasch in Erfüllung gehen.«264

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260 »Der erzherzogliche Palast am Parkringe«, in  : Neue Freie Presse, 9. Februar 1867, Abendblatt, S. 4, Sp. 3. 261 Doderer 1870, S. 340. 262 Meyer 1867, S. 247. 263 Ebd., S. 248. 264 »Die Franzosen in der Wiener Architektur«, in  : Neue Freie Presse, 16. Mai 1866, Abendblatt, S. 4, Sp. 3.

Da auch die Universität zu diesen bis dahin unerfüllten Träumen der Stadterweiterungs-Commission gehörte, galt es für Heinrich von Ferstel spätestens ab seiner Aufnahme in das Universitäts-Baucomité im Januar 1868, einen Standpunkt in dieser Stildebatte zu finden. Wie stark jedenfalls eine semperische Formensprache um 1870 in Wien verankert war, zeigt Friedrich von Schmidts Gesamtansicht des Rathausplatzes von 1870 [Abb. 121]. Sein Rathausentwurf wird hier von nicht ausgeführten Entwürfen des Parlaments und der Universität flankiert. Die Darstellung der Universität entspricht weder dem Grundriss des Vorentwurfs noch einem anderen bekannten Entwurf Ferstels, daher scheint Schmidt hier eine Art zeitgemäße Imagination einer monumentalen Universität in seine Überlegung zum Rathausplatz eingefügt zu haben. Die Fassade zum Ring ist – wie später ab Ferstels erstem Entwurf von 1871 – in starke Seitenrisalite und zurückspringende Mitte gegliedert. Auch die Rampe mit Unterfahrt ist hier schon vorweggenommen. Der mittlere Baukörper tritt aber nur wenig hervor und auch nur wenig über das Kranzgesims heraus. Die Mitte der Seitenfassade zum Rathausplatz ist durch eine fünfachsige Loggietta im Hauptgeschoss akzentuiert. Wenn sich auch die Gebäudeecken in dieser Idealansicht durch eigene Dachformen etwas hervorheben, so hätten diese Eckdächer aus Fußgängerperspektive keine Akzente gesetzt. Einzig eine Kuppel über dem Festsaal hebt sich aus dem einheitlichen Dachniveau hervor. Auch die Fassaden sind wenig strukturiert, da die Achsen fast durchgehend einem einheitlichen Muster folgen. Diese zentrierende Gliederung mit zurückgenommener Achsengestaltung erinnert an Sempers Zürcher Polytechnikum, das mit dem gleichen schlichten Formenrepertoire arbeitete, um die Krone der Stadt zu bilden.265 Im Kontext der Paradeplatzbebauung hätte diese strenge Nachahmung italienischer Renaissancepaläste und derer Einzelformen keinen bemerkenswerten Monumentalbau erzielen können.

In welchem Stil sollen wir die Wiener Universität bauen  ? Voraussetzungen

265 Oechslin 2005 B, S. 23. 266 Meyer 1867, S. 248. 267 Ebd., S. 248. Für die Bauten moderner Kirchen konnte Meyer die Neugotik gerade noch akzeptieren, die Anwendung für Rathäuser oder gar Wohnhäuser erschien ihm als Verstümmelung sowohl der Bauaufgabe als auch des Stils  ; Ebd. S. 249.

In der oben bereits angeführten Besprechung der Pariser Weltausstellung beklagte Julius Meyer auch den Umstand, dass die fantasielose Gotik unter den Baumeistern noch immer zahlreiche Anhänger habe und deren Entwürfe auch in Paris ausgestellt seien.266 Im Gegensatz zu den Leistungen der anderen ungenannten Architekten hob Meyer die beiden Wiener Neugotiker Friedrich von Schmidt und Heinrich von Ferstel wohlwollend hervor, da ihre Entwürfe immerhin einen soliden und »eigenthümlichen Werth« besäßen.267 Tatsächlich hatte Ferstel im Atelier seine Onkels vorrangig Erfahrungen mit gotischen Entwürfen gesam-

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Abb. 121: Friedrich von Schmidt, Entwurf des Bautenensembles um den Rathausplatz, 1870 (Wien Museum, Inv.-Nr. 157.175/342)

melt268 und sein erster eigenständiger Wettbewerbsbeitrag war derjenige für die im gotischen Stil zu errichtende Votivkirche, deren Grundstein im Jahr 1856 gelegt wurde. Dieser war in einer vorhergehenden Nummer der Zeitschrift für bildende Kunst eine mehrseitige Kritik gewidmet worden, die sowohl die Planung als auch den Baufortschritt positiv hervorhob.269 Ebenfalls noch in den 1850er-Jahren hatte Ferstel den Auftrag für das Bank- und Börsengebäude an der Herrengasse erhalten. Stilistisch hatte sich Ferstel bei diesem Bauwerk, das neben Bank und Börse auch Geschäftslokale und ein Kaffeehaus beherbergen sollte, an den Stilsynthesen seiner Lehrer Sicardsburg und van der Nüll orientiert. Die Ausführung sollte ausdrücklich dem Zweck des Gebäudes sowie »der Würde eines so reichen Nazionalinstitutes« entsprechen und muss daher ebenfalls als Monumentalbau gelten.270 Der Materialbau aus unterschiedlichen Ziegeln, Wöllersdorfer Stein und Marmor kombinierte eine renaissancehafte Horizontalgliederung mit romanischen und orientalischen Elementen.271 Ferstel arbeitete hier also ganz im Sinne des synthetisierenden Romantischen Historismus, dessen Anwendung wenige Jahre später an der Hofoper so stark in die Kritik geraten sollte. Renaissanceentwürfe im strengeren Sinn findet man auch bei Ferstel erst ab etwa 1863. Hierbei ist insbesondere das Palais Erzherzog Ludwig Victor zu nennen, das auch in den zeitgenössischen Kritiken positiv hervorgehoben wurde.272 Der Bauherr selbst hatte eine Ausführung im Stil der italienischen Renaissance gefordert und Ferstel bemühte sich nach eigenen Angaben »jenen Charakter zur Geltung zu bringen, welcher von den Meistern in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts zur höchsten Vollkommenheit entwickelt wurde.«273 In den Formen sind Anspielungen auf Palladio, Sanmicheli und Sansovino zu erkennen, aber auch Details, die auf eine Einflussnahme französischer Renaissanceformen hindeuten.274 Diese französischen Elemente wurden von der zeitgenössischen

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268 Siehe Œuvrekatalog in  : Wibiral/ Mikula 1974, S. 170–171. 269 »Die Votivkirche in Wien«, in  : Zeitschrift für bildende Kunst, Bd. 2, 1867, S. 245–249, hier S. 205–209. 270 »Der Bau des neuen Bank- und Börsengebäudes in Wien«, in  : Allgemeine Bauzeitung, 1860, S. 1–2. 271 Wibiral/Mikula 1974, S. 158. 272 Siehe ebd., S. 80. 273 Ferstel 1868, S. 137. 274 Wibiral/Mikula 1974, S. 79–80.

Kritik aber nicht aufgenommen, sodass das Palais Erzherzog Ludwig Victor neben dem Palais Erzherzog Wilhelm von Theophil Hansen als mustergültig für den strengen, monumentalen Historismus gelten konnte. Von der bildungsbürgerlichen Terrakotta-Renaissance zum Stil der ersten k. k. Universität

275 Wibiral/Mikula 1974, S. 45–46, Allgemeines Verwaltungsarchiv, Akten des Stadterweiterungsfonds, 4575 ex 1862 (231), 19. April 1862. 276 Allgemeines Verwaltungsarchiv, Akten des Stadterweiterungsfonds, 4575 ex 1862 (231), 14. April 1862. 277 Ferstel 1878 A, S. 149.

Wie in der Planungsgeschichte bereits angesprochen, hatte Ferstel schon als Architekt der Votivkirche einen gewissen Einfluss auf die Planungen der Universität, die seine Lehrer van der Nüll und Sicardsburg als Kranz um den Chor der Kirche errichten sollten [Tafel 3]. Die beiden Architekten hatten für diesen Entwurf mehrere Baublöcke auf einem Segmentbogen miteinander verbunden. Als einendes gestalterisches Element für die Fassaden diente ein umlaufendes System an gotisierenden Diensten, Giebeln und Fialen. Somit hätte dieser Universitätsbau eine mittelalterliche Kulisse für die Votivkirche erzeugt. Gegen diese Planung erhob Ferstel aber im April 1862 Widerspruch, gerade weil er in der Zusammenstellung der beiden Institutionen eine Beeinträchtigung der Monumentalität und der Wirkung sah. Die Gestaltung der Umgebungsbauten im gotischen Stil sei einerseits zu kostspielig und würde andererseits dem feingliedrigen Aufriss der Votivkirche Konkurrenz machen.275 Moritz Löhr teilte diese Meinung und betonte, dass einem Monumentalbau, wie es die Universität werden sollte, die Möglichkeit zur räumlichen Ausdehnung gegeben sein müsste, dies sei im Hintergrund der Votivkirche nicht möglich. Er sprach sich ebenfalls gegen den gotischen Stil aus, denn es solle »bei der Wahl der Baustelle des Universitätsgebäudes wohl das Kunstmoment vorangestellt werden, da es sich hier um ein Bauwerk handelt, welches recht eigentlich vor den Augen der ganzen gebildeten Welt ein karakteristisches Wahrzeichen unserer Gesittung darzustellen berufen ist.«276 Löhrs Argument unterscheidet sich hier von Ferstels, da Löhr offenbar davon ausgeht, dass aus Rücksicht auf den Sakralbau die benachbarten Gebäude auch zwingend im gotischen Stil errichtet werden müssten. Daher fordert er einen freieren Bauplatz, auf dem die Universität in einem künstlerischen Stil (Kunstmoment) gestaltet werden könnte, der geeignet wäre, als bildungsaffines karakteristisches Wahrzeichen der Gesittung zu dienen. Löhr nennt zu diesem Zeitpunkt die Renaissance nicht beim Namen, aber sie ist es zweifellos, die die zeitgenössische gebildete Welt am ehesten anspricht. Für die Planungsphase im Frühjahr 1868, die nun für Ferstel den Planungsbeginn an diesem Großprojekt darstellte, wählte der neue Architekt die Renaissance als Vorbild.277 Das chemische Institut, das als einziges aus dieser Planung errichtet wurde, lässt Rückschlüsse auf Ferstels Wahl der Formen zu. Ferstel kombiniert hier Elemente der römischen Frührenaissance, wie die Fensterformen

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Abb. 122: Heinrich von Ferstel, Chemisches Institut (Foto: Wolfgang Thaler, 2014)

des Palazzo della Cancelleria oder des Palazzo Giraud-Torlonia, mit solchen der Hochrenaissance, wie die gartenseitige Loggia des Palazzo Farnese in Rom. Auch in der nachträglichen Charakterisierung seines Bauwerks in der Allgemeinen Bauzeitung von 1874 verweist Ferstel auf die »italienische Bauweise im 15. Jahrhundert.«278 Auf diese Quellen führt Ferstel auch die Entscheidung für einen Materialbau in Ziegel und Terrakotta zurück, da »die von uns heute nachgeahmten Formen [dort] ausschliessend aus dem entsprechenden Materiale« entwickelt worden waren.279 Auf seiner Informationsreise durch Deutschland hatte Ferstel auch das gerade im Bau befindliche Berliner Chemische Institut besucht, das ebenfalls als Materialbau mit dunkelrotem Terrakotten-Schmuck geplant war. Dessen Architekt Friedrich Albert Cremer hatte für das Laboratorium diese Materialien gewählt, da sie dem Bau seiner Ansicht nach einen »durchaus monumentalen Charakter« verleihen.280 Ferstel griff diese Argumentation in seiner Erklärung des Chemischen Instituts auf, da ihm ein Ziegel-Terrakotta-Bau als geeignet erschien, zwei zentrale Inhalte zu transportieren  : Erstens, dass es sich bei dem Bauwerk um einen schlichten Nutzbau handelte. Dies konnte ein Materialbau in Ziegel gut vermitteln. Das Material bilde einen Kontrast zum verputzten Wohnhaus und hebe so den Bau als öffentliche Einrichtung hervor, und bringe sie in künstlerischer Weise zur Geltung.281 Denn dies war zweitens Ferstels Anliegen, dass das Chemische Institut als erster Gebäudeteil der seit langem in Planung befindlichen Universität auch eine ästhetischrepräsentative Funktion erfüllt.282 Hierfür sorgten daher die detaillierten Terrakotten im Stil der italienischen Renaissance [Abb. 122]. Für das knapp ein Jahr vorher begonnene Österreichische Museum für Kunst und Industrie hatte Ferstel diese Kombination aus Ziegelarchitektur mit repräsentativen Elementen entwickelt, die aber gemäß

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278 Ferstel 1874, S. 47. 279 Ebd., S. 47. 280 Cremer 1867, Sp. 9. 281 Ferstel 1874, S. 46. 282 Ebd., S. 46.

283 Wibiral/Mikula 1974, S. 132–133. 284 Bemerkenswerterweise hatte Ferstel für diesen Wettbewerb im Jahr 1861 noch einen gotischen Entwurf eingeschickt. Siehe auch Rüdiger 2015 B, S. 95 und 99.

der Aufgabe reicher und in Stein ausgeführt wurden [Abb. 27]. Das Kunstgewerbemuseum sollte an diesem Bauwerk alle Künste in einem Ensemble aus Architektur, Skulptur, Malerei und Kunsthandwerk auf höchstem Niveau und – vermutlich auf den Museumsdirektor Rudolf von Eitelberger zurückgehend – in den Formen der Renaissance repräsentiert werden.283 Aufgrund des höheren öffentlichen Rangs sind hier im Gegensatz zum Chemischen Institut zahlreiche Schmuck- und Gliederungselemente in Naturstein ausgeführt. In dieser Gestalt wurde die Institution nicht nur durch die Verwendung des grandezza ausdrückenden Stil monumentalisiert, sondern vice versa setzt die ausschließliche Verwendung von Renaissanceformen an dieser wichtigen Kunstinstitution dem Stil selbst ein Denkmal. In einer ähnlichen Argumentation wurde dieses reziproke Monumentalisieren von Stil und Institution wenige Jahre zuvor am verhältnismäßig kleinen Monumentalbau des Künstlerhauses erprobt, der den ersten öffentlichen streng italienischen Renaissancebau im Umkreis der Ringstraße darstellte.284 Für den nicht erhaltenen ersten Entwurf Ferstels für ein Universitätsgebäude hinter der Votivkirche aus dem Jahr 1868 bedeutet dieser Exkurs zweierlei. Erstens hatte Ferstel offenbar den Materialbau als Ausdrucksmaterialität des öffentlichen Bauens festgelegt, um hier einen Kontrast zu den verputzten Wohnbauten zu schaffen. Für seine Entwürfe kleinerer öffentlicher Bauten in den späten 1860er-Jahren, wie dem Österreichischen Museum für Kunst und Industrie, dem Chemischen Institut und der Kunstgewerbeschule, verwendete er daher die oben beschriebene Kombination aus Materialität und Form. Diese beiden Bauten hatten vorwiegend ein bildungsbürgerliches Publikum anzusprechen. Seinen unausgeführten Entwürfen für »grosse Monumentalbauten«, wie Hofmuseen, Börse und Liechtensteinsche Gemäldegalerie, war der Steinbau vorbehalten. Daraus lässt sich zweitens folgern, dass Ferstels erster Universitätsentwurf von 1868, wie weit auch immer er gediehen sein mag, sicherlich als Renaissanceziegelbau korrespondierend zum Chemischen Institut geplant war. Dass Ferstel in seiner Veröffentlichung zum Chemischen Institut im Jahr 1874, als seine Planung für die monumentale Ringstraßen-Universität bereits genehmigt war, das Material Stein ausschließlich dem großen Monumentalbau zuordnete, lässt ahnen, wie weit sich Ferstels Planungen von der kleinen MonumentalUniversität hinter der Votivkirche entfernt hatten. Die Gelegenheit, ab 1870 nun doch die große Monumental-Universität direkt an der Ringstraße zu planen, erforderte daher von Ferstel eine Adaption seiner Bildungsbürger-Terrakotta-Renaissance an die hohen repräsentativen Ansprüche, die an die erste Universität des Kaiserstaates auf einem der prominentesten zeitgenössischen Bauareale gestellt wurden. Allerdings konnte Ferstel hier nicht allein auf seine Erfahrungen mit dem Palazzo-Stil am Palais Erzherzog Ludwig Victor und Palais

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Wertheim zurückgreifen, da – wie Ferstel später bekannte – das Vorbild des italienischen Palazzo für eine solche Bauaufgabe nicht genügte  : »Das Schwierige bei einem solchen Bauwerke liegt nicht darin, dass es ausser dem Niveau des Gewöhnlichen liegt, sondern, dass wir für derartige Lösungen überhaupt keine Vorbilder finden. Das unmittelbare Vorbild, der Renaissancepalast, ist eine ganz andere Aufgabe. Es lehrt ungeheuer viel in Bezug auf das Einzelne, aber in Bezug auf das Ganze lässt es im Unklaren. Die grössten Projecte der Renaissance, von denen ja bekannter Weise die besten gar nicht zur Ausführung gelangten, oder auch die ausgeführten, sind theilweise von ähnlicher Grösse, aber mir ist keine Aufgabe bekannt, welche so verschiedenartige Anforderungen in einem Gebäude vereinigt enthalten würde, die also einheitlich zum Ausdrucke kommen müssten. Das Vorbild des italienischen Palastes reicht insoferne nicht aus, als die Einheit der Motive bei einem solchen Bauwerke absolut nicht Anwendung finden kann.«285

Die Blockhaftigkeit und die Repetition einzelner Motive, zwei Charakteristika des italienischen Renaissancepalazzo, die bei einem Wohnpalast einen repräsentativen Ausdruck bewirken, würden bei den Ausmaßen der Universität an der Ringstraße zu Monotonie führen. Hierfür konnte Ferstel den kompakten Aufriss eines italienischen Renaissancepalastes nicht nutzen. Die über 150 Meter breite Fassade und die dahinterliegenden Baumassen mussten kontrastreich gegliedert werden, um eine einförmige Erscheinung zu verhindern. Zu diesem Zweck war schon im Grundriss des Vorentwurfs ein markanter und in sich gegliederter Mittelrisalit eingetragen [Abb. 30]. Im ersten Entwurf von 1871 ersetzte Ferstel den einen tiefen Mittelrisalit durch einen zentralen Mittelteil, der von zwei Türmen flankiert werden sollte [Tafel 4–5]. Dadurch ergaben sich sowohl in der Tiefe als auch in der Höhe Variationen in der Gliederung der Baumassen, die durch variierte Motive unterstützt wurde. Die äußersten Achsen sollten minimal vortreten und waren in beiden Geschossen durch Triumphbogenmotive akzentuiert. Die anschließenden fünf Achsen der Seitenrisalite sind in schlichteren Formen – basierend auf Rechteckfenstern mit flacher oder Segmentbogenbekrönung zwischen Pilastern – gestaltet. Dagegen kontrastieren die viergeschossigen Türme mit hohen Dachaufbauten, die das spitz zulaufende Kuppeldach des dreigeschossigen Mittelrisalits überragen und dadurch eine abwechslungsreiche Dachlandschaft bilden. Die zweigeschossigen Rücklagen zwischen den Türmen und dem Mittelrisalit werden mittels Tabulariummotiv und Attikafiguren nobilitiert. Die Steigerung der Motive erzeugt in Kombination mit der zweiarmigen Rampe vor dem Hauptportal zwar eine deutliche Betonung der Gebäudemitte, durch die Variation und die durch Türme und Risalite gesetzten Akzente wirkt aber auch die Ansicht der Flügel spannungsvoll. Diese Akzentuierung der Fassade in Höhe und Tiefe findet sich nicht in

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285 Ferstel 1878, S. 151 f.

Abb. 123: Théodore Ballu/Pierre Deperthes, Rathaus, Paris, 1874-1882 (Universität Wien, Institut für Kunstgeschichte, Fotosamm­ lung, Inv.-Nr. 169867)

der italienischen Tradition. Insbesondere in den vier italienischen Städten, die Ferstel im Frühjahr 1871 zur Erstellung eines geeigneten Universitätsentwurfs besuchte, ist diese Form der Strukturierung der Fassade nicht üblich. Vielmehr konnte Ferstel dies aus der französischen Tradition herleiten  : »Allerdings ist die französische Renaissance mit ihren an mittelalterliche Traditionen anlehnenden Façade-Principen, mit ihrer vielfachen Theilung durch Risalite, Pavillons etc. einer derartigen Aufgabe näher liegend, aber der Louvre, Versailles und ähnliche Bauwerke, welche die Principien des italienischen Palastes in wesentlich modificierter Weise darstellen, stehen ihrem Programme nach dem italienischen Palaste ungleich näher als der Universitätsbau.« 286

Es sind also französische und nicht klassische Methoden der Fassadenbehandlung, die die Ringfassade strukturieren sollten. Ein prominentes Bauwerk dieser Art stellte das Pariser Rathaus dar, das just im Mai 1871 niedergebrannt war und von 1872 bis 1878 unter weitgehender Rekonstruktion der Fassade wieder aufgebaut wurde [Abb. 123]. In Ferstels erstem Entwurf kann nicht von einer direkten Übernahme gesprochen werden, aber am Pariser Rathaus wird deutlich, worauf sich Ferstel mit der »vielfachen Theilung durch Risalite, Pavillons etc.« bezog und wie er dies in seinem ersten Entwurf zur Anwendung brachte. Bei den Einzelformen hielt Ferstel aber konsequent am italienischen Vorbild fest. Gegen diesen ersten Entwurf machte sich unverzüglich ein Teil des Professorenkollegiums stark. Insbesondere die Physiker und Naturforscher beklagten, dass die Gestaltung des Gebäudes für die exakten Wissenschaften nicht förderlich sei. 286 Ferstel 1878, S. 151 f.

Reziprozität zwischen Stil und Monumentalcharakter  199

»Wenn die Bauart der italienischen Universitäten von allen bewundert wird, so liegt darin gewiß ein großer Ruhm, wenn dies bei uns überboten wird. Aber jene Bauten hatten nicht den Erfolg, die Naturwissenschaften gefördert zu haben. Diese blühen ganz wo anders, die Universitäten zu Berlin und München, das Polytechnikum zu Zürich, das Collège de France zu Paris, das Kings College zu London sind Gebäude, in welchen die exacte Wissenschaft sich wohl fühlen kann. Wenige Stockwerke von gleicher Höhe, mehrere, aber größere Höfe, ganz gerade Linien, passen für nüchterne Anforderungen.«287

Die Ansicht der von dem Professorenkollegium gebotenen Vergleiche, insbesondere Sempers Zürcher Polytechnikum, offenbart, dass sich die Kritik hier weniger auf die Formen der italienischen Renaissance beziehen kann, als vielmehr auf die wechselhafte Akzentuierung der Fassade mit den markanten Türmen. Türme solcherart sind in den genannten Vergleichen nicht zu finden und entsprechen nicht der zeitgenössischen Universitätsbauweise. Wenn sich auch die Hochschulgebäude in Berlin, München, London, Paris und Zürich untereinander stilistisch stark unterscheiden, so ist ihnen dennoch gemein, dass sich ihre Schauseiten nicht durch ausgeprägt akzentuierte Dachlandschaften oder wechselnde Sprünge in der Fassadentiefe auszeichnen. Die (vor-)klassizistischen Fassaden vom Collège de France288 oder vom King’s Building289 des King’s College entsprechen den in aller Nüchternheit geforderten ganz geraden Linien wohl am ehesten. Die Hervorhebung des von Semper entworfenen Zürcher Polytechnikums macht in diesem Zusammenhang besonders deutlich, dass sich das Kollegium hier nicht gegen die Verwendung der italienischen Renaissanceformen wendete, sondern viel mehr gegen die aus der französischen Tradition entlehnte Aufteilung der Baumassen in Pavillons und Risalite und deren reiche Oberflächengestaltung. Der Stil der Neorenaissance findet sich in vielen weiteren zeitgenössischen Universitätsbauten. Für den Zeitraum von 1870 bis 1895 sieht Hans-Dieter Nägelke in seiner Untersuchung der Hochschulbauten im deutschen Kaiserreich einen stilistischen Konsens für Hochschulbauten, bei dem die Neorenaissance als zeitgemäßer Stil für Universitäten und Institutsbauten anerkannt wird.290 Um den Wünschen dieser Kritiker gerecht zu werden, wurden beschlossen, dass die Naturwissenschaften im Physiologisch-Physikalischen Institut, das neben dem Chemischen Institut gebaut werden sollte, ein eigenes Gebäude erhalten sollten. Als Pendant des Chemischen Instituts hätte es dessen Stil und Materialität entsprochen und wäre ebenfalls in dieser Ausprägung der bildungsbürgerlichen Terrakotta-Renaissance ausgeführt worden [Abb. 29]. Der Konsens, dass die italienische Neorenaissance den geeigneten Stil darstellte, galt demnach nicht nur innerhalb der Wiener Monumentalitätsdebatte, sondern auch für den Bereich der Hochschulbauten. Im

200  Funktionalität – Monumentalität – Repräsentation

287 Zit. nach Wolf 1882, S. 61–62. 288 Das Gebäude des Collège de France wurde zwischen 1774 und 1780 von Jean-François-Thérèse Chalgrin im style Louis XVI erbaut. 289 Das King’s Building des King’s College wurde 1831 von Robert Smirke entworfen. 290 Nägelke 2000, S. 94–142.

Hinblick darauf muss Ferstels erster Universitätsentwurf von 1871, der aufgrund seiner markanten Türme und Dachformationen diesem Konsens nicht entsprach, im Kontext der anderen am Paradeplatz geplanten Bauten gesehen werden. Kontext Paradeplatzbebauung

291 Springer 1979, S. 447  ; Felder 1964, S. 350. 292 Allgemeines Verwaltungsarchiv, Akten des Stadterweiterungsfonds 5731 ex 1870 (203) zit. nach Springer 1979, S. 451. 293 Swatek/Wührer 2012, S. 14  ; Kunstchronik, 5. Jg., 1869/70, Nr. 1, 22. Oktober 1869, S. 3–4. 294 Die Wiener Rathhaus-Konkurrenz, in  : Kunstchronik, 5. Jg., Nr. 2, 5. November 1869, S. 9. Tatsächlich war die Ausschreibung um äußerste Integrität bemüht, sodass die Einreichungen nicht namentlich, sondern mit Motti erfolgen sollte, denen erst nach Jury-Entscheid die Architektennamen zugeordnet werden konnten  ; siehe Swatek/Wührer 2012, S. 14.

Das Bestreben des neuen Bürgermeisters Cajetan Felder, die sogenannte Wüste zwischen Josefstadt und Innerer Stadt für die Anlage mehrerer bürgerlicher Monumentalbauten, insbesondere für ein repräsentatives Rathaus, zu nutzen, entstand im Winter 1868/69.291 Dieses Vorhaben stieß beim Stadterweiterungsfonds grundsätzlich auf Unterstützung, und der Sektionsrat Matzinger sah darin die Chance, neben einer Gartenanlage auch endlich den »Beginn der gleichfalls jahrelang fruchtlos betriebenen Bauten der Universität und des Parlamentshauses auf würdigen Plätzen« zu ermöglichen.292 Sowohl vom Stadterweiterungsfonds als auch vom Architekten Friedrich von Schmidt wurden Studien zur Anordnung der Monumentalbauten auf dem Areal angestellt. Als Ferstel im Juli 1870 mit dem Entwurf für die Ringstraße beauftragt wurde, war das Erscheinungsbild des benachbarten Rathauses bereits festgelegt. Dies stellt meines Erachtens eine wichtige Komponente zum Verständnis des ersten Entwurfs Ferstels dar, die in der bisherigen Forschung nicht berücksichtigt wurde. Bevor allerdings noch der Paradeplatz zur Bebauung freigegeben wurde, stand der Entwurf für das zu erbauende Rathaus fest. Aus der bereits im Frühjahr 1868 ausgeschriebenen Konkurrenz, die zu diesem Zeitpunkt noch für einen Bauplatz am Parkring vorgesehen war, ging Schmidts Entwurf als Sieger hervor. Dieser war einer der wenigen gotischen unter den zahlreichen Projekten im italienischen und französischen Renaissancestil. Die Jury, bestehend aus den fünf Architekten Heinrich von Ferstel, Theophil Hansen, Johann Romano, Karl Haase und Gottfried Semper, sowie fünf fachkundigen Vertretern des Gemeinderats, Wilhelm Groß (Stadtbaumeister), Carl von Hasenauer (Architekt), Karl Leopold Jordan (Ingenieur), Franz Naumann (Architekt) und Friedrich Stach (Ingenieur), votierte mit Ausnahme Sempers einstimmig für diesen gotischen Entwurf. 293 Weitere elf Projekte wurden mit Anerkennungspreisen ausgezeichnet. Während die Kunstchronik den ausgeschriebenen Wettbewerb um den Rathausbau als überflüssig ansah, da man angeblich schon vorher den Ausgang kannte,294 scheint diese Erfahrung für den Juror Ferstel von Bedeutung für seine spätere Planung der Universität gewesen zu sein. Hier hatte Ferstel nicht nur die Möglichkeit, monumentale, mehrhöfige Anlagen im Detail zu studieren, sondern die eingereichten Konkurrenzentwürfe lieferten ihm auch Anschauungsmaterial für die Strukturierung ausladender Fassaden unterschiedlicher Stilrichtungen.

Reziprozität zwischen Stil und Monumentalcharakter  201

Die Entscheidung für einen gotischen Entwurf überraschte inmitten einer Debatte, die für wahrhaft monumentales Bauen nur mehr den Renaissancestil vorsah. »Es läßt sich nicht in Abrede stellen, daß das Ergebnis der Jury in gewisser Richtung überrascht hat. Wiewol die Gemeinde in dem Concursprogramme die Stylfrage offen ließ, so war doch die Jury derart zusammengesetzt worden, daß jene Künstler, die entschiedene Anhänger der Renaissance sind, weitaus die Majorität bildeten. […] Wenn nun ungeachtet dieses Sachverhaltes der erste Preis einem im gothischen Style ausgeführten Projecte nahezu einstimmig zuerkannt wurde, so müssen wir annehmen, daß dieses Vorzüge besitzt, welche kein anderes Project in gleichem Maße besaß.«295

Der gotische Stil galt innerhalb dieses zeitgenössischen Diskurses allenfalls brauchbar für Sakralbauten.296 Und gerade der Hellenist Theophil Hansen hielt eine begeisternde Brandrede für den neugotischen Entwurf Schmidts.297 Hierbei betonte Hansen, dass es sich bei der Stilwahl zu allererst um den persönlichen Ausdruck des Architekten handele. Aber, und hier machte Hansen die Not zur Tugend und legte damit den Grundstein für das weitere Erscheinungsbild des Rathausplatzes, der stilistische Verweis Schmidts auf die gotischen Rathäuser in Deutschland und den Niederlanden lieferte Schmidts Entwurf eine inhaltliche Semantik, die anschließend vertieft wurde.298 Der gotische Stil galt nun als Bedeutungsträger für die bürgerliche Blütezeit, die sich zuerst in den flämischen Rathäusern des 15. Jahrhunderts manifestiert hatte und nun zu einer neuen Blüte gekommen sei. Dieser stilistisch-assoziative Ansatz des Rathauses musste in der Folge auch auf die beiden monumentalen Nachbarbauten übertragen werden. So nimmt es kaum Wunder, dass der Architekt, der bevorzugt in hellenistischen Formen baute, für seine Planungen des Parlaments im hellenistischen Stil auf die herausragende Vorreiterrolle der Griechen in demokratisch-staatsbildenden Angelegenheiten verwies  : »Die Hellenen waren das erste Volk, welches die Freiheit und Gesetzmäßigkeit über alles liebte, und ihr Styl ist auch derjenige, welcher neben der größten Strenge und Gesetzmäßigkeit zugleich die größte Freiheit in der Entwicklung zulässt.«299 Der Neorenaissancestil der Universität, den Ferstel ab den 1860ern ohne Zweifel für jedes öffentliche Bauwerk mit monumentalem Anspruch angewendet hätte, wird in diesem Zusammenhang mit der Bedeutung des Humanismus und dem zeitgleichen Durchbruch der Wissenschaften beladen.300 Diese semantische Aufladung der Stile folgte also den Wünschen nach einer stilpluralistischen Bebauung des Paradeplatzes statt einer inhaltlich begründeten Vorgabe der anzuwendenden Stile.301 Dies bedeutet andererseits, dass die Stilwahl wiederum als inhaltlicher Bezugspunkt gedeutet werden konnte und sollte.

202  Funktionalität – Monumentalität – Repräsentation

295 Weiß 1869, S. 1. 296 Planner-Steiner 1978, S. 31. 297 Kunstchronik, 5. Jg., 1869/70, Nr. 1, 22. Oktober 1869, S. 4. 298 Planner-Steiner 1978, S. 31–32. 299 Theophil Hansen, Erläuterungen zu der im hohen Auftrage des k. k. Ministerium des Inneren verfaßten Skizze für das in Wien neu aufzuführende Österreichische Parlamentsgebäude, Wien 1874, zit. nach Wagner-Rieger/Reissberger 1980, S. 114–115. 300 Krause 2002, S. 217. 301 Siehe Achleitner 1996, S. 194.

Diese Offenheit gegenüber der Stilwahl bedeutet, dass in die vehemente Stildebatte der 1860er-Jahre zu Beginn des folgenden Jahrzehnts ein beruhigender, toleranter Zug eintrat. Die drei Architekturmonumente der wichtigsten bürgerlichen Institutionen wurden nicht einheitlich nach Monumentalitätsstil (Neorenaissance) errichtet, sondern andere formale Faktoren galten vorrangig als Ausdrucksmittel der Würde  : »Was die Ansprüche an den ästhetischen Theil der Aufgabe betrifft, so musste nach unserer Auffassung die Jury einen großen Werth darauf legen, daß die ganze Gruppirung und Gliederung des Baues dem Charakter der Großartigkeit und der Würde, des Reichthums und der Schönheit entsprach und daß die einzelnen Theile zu einem einheitlichen Ganzen sich verbanden. Um dem Gebäude das eigenthümliche Gepräge zu bewahren, durfte das Motiv nicht fehlen, welches sich bei fast allen Rathhäusern vorfindet  : der hoch emporstrebende Thurm, oder dieses Symbol, wenn wir es so bezeichnen dürfen, müßte mindestens angedeutet sein. In welchem Baustyle ein Künstler diesen Anforderungen zu genügen, welches Formengerüste er in Anwendung zu bringen hatte, war keine Bedingung des Concursprogrammes […].«302

302 Weiß 1869, S. 1. 303 Swatek/Wührer 2012, S. 14  ; Pils 2012, S. 65.

Noch vor der Stilwahl für die Fassade musste die Verteilung der Formelemente an der Fassade gelungen sein, um Monumentalität zu erzeugen. Der jeweilige Stil wurde zusätzlich semantisch genutzt, um die Traditionen der Institutionen zu repräsentieren. Über die inhaltliche Komponente des Stils wird der Monumentalbau zum überdeutlichen Denkmal der Tugenden der innewohnenden Institution. Für den ersten Entwurf Ferstels sind durch den Kontext der Paradeplatzbebauung allerdings zwei Einflussfaktoren entstanden. Erstens konnte Ferstel grundsätzlich an seiner Stilvorstellung Renaissance festhalten, wenn sie sich nur semantisch begründen ließ. Die HumanismusKonnotation war hierfür mehr als geeignet. Zweitens musste Ferstel die Fassade seines Universitätsentwurfs in Hinblick auf Schmidts Rathausfassade entwickeln, da diese beiden Monumentalbauten gemeinsam mit dem Parlament einen großen Platz umschließen sollten. Der Konkurrenzentwurf Schmidts, den Ferstel als Juror gut kannte, sah eine leicht gestaffelte Fassade vor, dessen zentraler einachsiger Turm von jeweils zwei seitlichen Türmchen flankiert werden sollte.303 Den seitlichen Abschluss bildeten zwei Dachaufsätze, die sich ebenfalls in die mittelalterliche Formensprache eingliederten. Stilistisch war Ferstel für die Universität bereits auf den Renaissancestil festgelegt, wie dies die Detailformen seines Entwurfs zeigen. Um aber einen mit dem Rathaus korrespondierenden Entwurf zu schaffen, sollte die Universitätsfassade die durch Türme gegliederte Dachlandschaft des Rathauses aufnehmen. Statt aber diese zu repetieren, überragen hier die seitlichen Türme das spitz zulaufende Dach des Mittelrisalits und bilden so einen Gegensatz.

Reziprozität zwischen Stil und Monumentalcharakter  203

Abb. 124: Karl König, Rathausentwurf, Wien, 1868, Perspektivansicht (WStLA, Plan- und Schriftenkammer, P 13/4: 105218/9/1)

Die Orientierung des offiziellen ersten Universitätsentwurfs war zur Ringstraße hin, so dass die niedrigeren Türme der Universität den mächtigen zentralen Turm des Rathauses vorbereitet hätten. In der Gesamtschau des Paradeplatzes von der Ringstraße aus hätte diese Rhythmisierung der Dachlandschaften sicherlich ein stimmiges Ensemble ergeben. Auch ein weiteres Motiv des ersten Entwurfs lässt sich durch den Kontext des Rathaus-Konkurses besser verstehen  : Das ungewöhnlich geschweifte Dach des Mittelrisalits findet sich ebenfalls am Mittelrisalit des neungereihten Rathausentwurfs vom Wiener Kollegen Karl König wieder [Abb. 124]. Hier verläuft der First allerdings parallel zur Fassade. Nachdem dieser erste Entwurf aber vom Professoren-Kollegium entschieden zurückgewiesen wurde und das gewählte Erscheinungsbild auch für die semantische Deutung der Triade des Paradeplatzes nicht ausdrucksstark genug gewesen wäre, lieferte Ferstel in der zweiten Entwurfsphase mehrere Varianten. Das Präsentationsblatt des zweiten Entwurfs, das Rudolf von Alt für die Wiener Weltausstellung schuf, zeigt einen breit gelagerten Bau mit massivem, überhöhtem Mittelrisalit sowie zwei breiten Seitenrisaliten an der Hauptfassade. Statt der Türme und des geschweiften Mittelrisalitdachs, akzentuiert Ferstel hier die Pavillons der Seitenrisalite mit flachen Kuppeln und das zentrale Dach als gewaltige, abgeflachte Querkuppel. Näher als die von ihm genannten historischen Beispiele ausladender »Façade-Principen, mit ihrer vielfachen Theilung durch Risalite, Pavillons etc.«304 scheinen die zahlreichen Varianten der Rathausentwürfe für seine riesenhaften Universitätsfassaden gelegen zu haben. Die erfolgreichen französischen Einreichungen orientierten sich weniger an der gotischen (Brüsseler) Rathaustradition, sondern vielmehr am Pariser Hôtel de Ville, das 1533 unter Franz I. begonnen und im zweiten Viertel des

204  Funktionalität – Monumentalität – Repräsentation

304 Ferstel 1878, S. 151 f.

Abb. 125: Alois Wurm, Rathausentwurf , Wien, 1868, Perspektivansicht (WStLA, Planund Schriftenkammer, P 13/4: 105218/8/1)

305 Ausstellungskatalog Ungebautes Wien 1999, S. 84. 306 Weiß 1869, S. 1. 307 Ausstellungskatalog Ungebautes Wien 1999, S. 87. 308 Siehe Pils 2012, S. 253–254. 309 Siehe Pils 2012, S. 119–120.

19. Jahrhunderts stilecht erweitert worden war [Abb. 123].305 Einige dieser Entwürfe des Jahres 1869 zeigen markante Fassadengliederungen, die zweifellos den Ansprüchen Karl Weiß’ an eine zeitgemäße Monumentalfassade genügen würden, also dass die »Gliederung des Baues dem Charakter der Großartigkeit und der Würde, des Reichthums und der Schönheit entsprach und daß die einzelnen Theile zu einem einheitlichen Ganzen sich verbanden.«306 Gerade das Fehlen eines symbolhaften Turms nach Brüsseler Vorbild machte solche Gliederungen für ein Wiener Rathaus ungeeignet, stattdessen aber anscheinend besser für einen Universitätsbau geeignet. Für Ferstel mussten die französischen Einreichungen jedenfalls von besonderer Bedeutung gewesen sein, denn nur von diesen Entwürfen besaß er eigene Dokumentationsfotos. 307 Von geringerem Interesse war offenbar der siebtgereihte Entwurf des Schweizer Architekten und Semper-Schülers Alfred Friedrich Bluntschli. Dieser übernimmt die Fassadengliederung des Zürcher Polytechnikum.308 Die plastischeren und stärker gegliederten Entwürfe der französischen Architekten scheinen für Ferstel anregender gewesen zu sein. Das drittgereihte Projekt von Ernest Chadron und Marcel Lambert zeigt augenfällige Ähnlichkeiten in der Struktur der Fassadenbewegung, mit breiten Seitenrisaliten, dreiachsigem Mittelrisalit, der sich mit breiten Rampen und einer zentralen Freitreppe zur Ringstraße öffnet.309 Auch in der Gestaltung der Geschosse mit Rundbogenfenster, Figurennischen sowie bei den Attikafiguren werden Ähnlichkeiten spürbar. Die Dachlandschaft unterscheidet sich hier allerdings merklich. Weniger deutlich in der Fassadenstruktur und vielleicht stärker in der Dachlandschaft sind Reminiszenzen an die Entwürfe Otto Thienemanns und Alois Wurms [Abb. 125] spürbar. Keiner dieser Entwürfe kann als wörtliche Vorlage für Ferstels Lösung dienen, sondern sie veranschaulichen eher, welche Dachformen, Pavillons, Risalite, Fenster an riesenhaften Fassaden die Baumasse wir-

Reziprozität zwischen Stil und Monumentalcharakter  205

kungsvoll strukturieren. Durch Ferstel Tätigkeit als Juror in diesem Architekturwettbewerb besaß er für sein Ringstraßengroßprojekt bereits eine breite Palette an Optionen für seinen Entwurfsprozess. Da diese Entwürfe im Rathauswettbewerb bereits diskutiert, beurteilt und unter den ersten zwölf gereiht waren, konnten sie sogar als qualitätsüberprüfte Optionen gelten. Die Strukturierung der Baumassen an der Fassade behielt Ferstel ab dem ersten Entwurf bei, für den Stil erprobte er bis zur endgültigen Lösung noch einige Varianten. Das Aquarell der Wiener Universität »in gräzisierendem Stil« muss zu diesen Varianten gezählt werden, die sich auch nur im Kontext der Paradeplatzbebauung erklären lassen, wie Sabine Forsthuber dies 1992 aufgezeigt hat.310 Das Blatt präsentiert eine Lösung, deren Hauptfassade zwar zur Ringstraße weist, die aber gestalterisch auch mit dem auf der anderen Seite des Rathausplatzes vorgesehenen Parlament korrespondieren sollte [Tafel 6]. Zum Ring tritt innerhalb der breiten Fassade nur der giebelbekrönte Mittelrisalit markant über das Hauptgesims hervor. Die Seitenrisalite hingegen sind zum Ring traufständig angeordnet und weisen ihrerseits mit den Dreiecksgiebeln zu den Seitenfassaden. Etwa zeitgleich im Jahr 1872 sind zwei weitere Aquarelle des Universitätsentwurfs entstanden, die sich in der Gestaltung des Mittelrisalits deutlich von Rudolf von Alts Weltausstellungsblatt unterscheiden. Dies sind ein Aquarell aus dem Bestand des Wien Museums [Tafel 7] sowie eine dazugehörige Fassadenstudie, die hier nicht abgebildet ist.311 Statt der wuchtigen Kuppel krönt hier ein Dreiecksgiebel den Mittelrisalit. Diese Variationen der Fassadengestaltung machen deutlich, dass die »richtige« Fassade, die in Ferstels Sinne am besten die Universität verkörperte, in einem mehrjährigen Prozess entstand, in dem nicht nur die Repräsentation der Universität, sondern auch der Bebauungskontext und die anlassgegebene semantische Aufladung der Paradeplatz-Stile eine wichtige Rolle spielten [Abb. 126].

206  Funktionalität – Monumentalität – Repräsentation

Abb. 126: Friedrich W. Bader/Ladislaus E. Petrovits, Unausgeführte Idee des Archi­ tekten Friedrich von Schmidt für ein Forum am Franzens-Ring, um 1870 (UAW, 135.35)

310 Forsthuber 1992. 311 Wien Museum, Inv.Nr. 165.308/16.

Einer der Zeitgenossen, der die Diskussion um die Bebauung des Paradeplatzes genau verfolgt hatte, war der Architekt Wenzel Herzig. Die Debatte um die Monumentalität der Paradeplatzbauten sowie der dafür geeigneten Stile dienten ihm als Grundlage für seinen architekturtheoretischen großen Wurf. Exkurs  : Monumentalitätsrezept à la Herzig

312 Wenzel Herzig, Die Angewandte oder Praktische Aesthetik oder die Theorie der dekorativen Architektur, Leipzig 1873. Heinrich von Ferstels Exemplar dieses Werks, gekennzeichnet durch sein Exlibris, befindet sich heute in der Fachbibliothek des Wiener Instituts für Kunstgeschichte. 313 Siehe Herzig 1873, S. 8–9. 314 Herzig 1873, S. 8–9. 315 Ebd., S. 160.

Mit dem Beschluss, den Paradeplatz zum Bau dreier Monumentalbauten freizugeben, und mit der daraus entstehenden Konkurrenz zur Planung des Kaiserforums wurde die Monumentalitätsdebatte ab 1870 neu entfacht. Wie konnten die drei riesenhaften Gebäude auf dem riesigen Bauareal angeordnet und gestaltet werden, ohne dass die Baumassen den Raum erdrückten oder monoton zusammenschnürten. Ziel war es, die Bauwerke so anzuordnen, dass sie den Rahmen für einen öffentlichen Park bildeten und gelungen auf einander Bezug nahmen. Im Jahr 1873 erschien ein architekturtheoretisches Werk, das sich wie ein Ratgeber für monumentales Bauen liest. Wenzel Herzigs Angewandte oder Praktische Aesthetik oder die Theorie des dekorativen Architektur kam zwar für die unmittelbare Anwendung in der Ringstraßen-Bebauung zu spät, aber die Widmung an den Wiener Bürgermeister Cajetan Felder deutet darauf hin, dass der Autor ausdrücklich die Wiener Situation vor Augen hatte.312 Aus heutiger Perspektive dient Herzigs umfassendes und detailliertes Anführen von monumentalen Gestaltungsmöglichkeiten als möglichst allgemeingültige Reduktion des zu Beginn der 1870er-Jahre in Wien geführten Diskurses. Bezüglich des zu wählenden Baustils ließ Herzig weitgehend Wahlfreiheit zwischen dem griechischen, dem römischen, dem gotischen und dem byzantinischen Stil, wobei er einzelne Stile für bestimmte Bauaufgaben geeigneter hielt.313 Für Museen, Tempel, Kirchen und Theater empfahl er wegen des Charakters »der einfachen Eleganz, des Edlen und Grossartigen, der Würde und des Erhabenen« den griechischen Stil. Der römische Stil hingegen sei, wegen seines Charakters »des Reichtums, des Luxus und der Würde […] ein beliebter Baustyl für hochadelige Wohn- und öffentliche Verwaltungspaläste, für Kirchen und Tempel und […] auch für Theater.« Die gotische Bauweise sei ebenfalls für Kirchen geeignet, aber auch »für Rathhäuser, sowie für Landschlösser und Villen […]« wegen des Ausdrucks »des Emporstrebenden und Schlanken, des Edlen und Erhabenen, der Würde und des Grossartigen.«314 Weder die Zuordnung des Charakters noch der Anwendbarkeit scheint bei Herzig besonders klar definiert zu sein, hingegen hatte die größte Bedeutung die »Durchführung einer gleichen Stylform […] für die Erreichung der Einheit […], da ohne derselben das Werk jeden Anspruch auf Kunstwerth verliert.«315 Wenn auch Herzigs Fokus deutlich auf der Gruppierung der Bauteile und der formalen Gestaltung des Aufrisses liegt, so geht er dennoch auf

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die Anlage des Grundrisses – zwingend symmetrisch – sowie auf die Wahl des geeigneten Stils – zwingend einheitlich angewendet – ein. In den Unterkapiteln führt Herzig detailliert aus, welche Verhältnisse, Dekorationen und Inneneinrichtungen in welchen Kombinationen idealerweise zu einem kontrastreichen, aber harmonischen Gesamtergebnis einer erhabenen und gelungenen Architektur führen. Das Ziel seiner Publikation scheint die Beantwortung jeder möglichen gestalterischen Frage zu sein und sich damit selbst als versierten Architekt auszuweisen. Diese zahlreichen Hinweise sollten ihre Anwendung vor allem an öffentlichen Gebäuden finden, die er aufgrund ihrer dauerhaften Funktion im Dienste der Gesellschaft als Monumentalgebäude bezeichnete. »Diese Art Gebäude übergehen von einer Generation auf die nächstfolgenden und nehmen so den Grad der Bildung des Geistes, des Ansehens, des Wohlstandes, sowie von der Größe, der Macht, welche dem erbauenden Volke eigen sind, zeugend, einen erinnernden mithin monumentalen Charakter an, weshalb sie auch mit dem Namen »Monumentalgebäude« näher bezeichnet werden.«316

Wegen dieser schon für die Zukunft geplanten erinnernden Funktion müssen die erbauenden Künstler besondere Rücksicht nehmen auf eine dauerhafte und großartige Bauweise. »Die Monumentalgebäude stellen, da sie eben Zeugnisse der Kulturstufe in die Nachwelt übertragen, an die Kunst die Anforderung, dass sie in einer sehr soliden, würdevollen und grossartigen Weise ausgeführt, und in einem dem Zeitgeiste anpassenden auf reine Schönheit begründeten Baustyle ausgestattet werden […]«317

Sämtliche darauffolgenden Planungsanweisungen zielten darauf ab, diesen vorab definierten Monumentalbauten eine würdevolle und erhabene Gestalt zu geben. Monumentalität und Denkmalcharakter werden in den einzelnen Kapiteln nicht mehr explizit genannt. Nach dieser bemüht ästhetisch und funktional begründeten Einleitung, die das Hauptziel des Bauens – nämlich die Formenschönheit – vorstellt, verliert sich der Text in der Beschreibung zahlloser architektonischer Einzelelemente, deren praktische Anwendung aber einem ausgebildeten Architekten geläufig gewesen sein müsste. Aufgrund dieses eifrigen Duktus des Texts ist hier gut veranschaulicht, welchem Bild ein Bauwerk des späten 19. Jahrhunderts entsprechen musste, um als wahrhaftiger Monumentalbau wahrgenommen zu werden. Andreas Nierhaus, der Herzigs Werk wegen seines Bezugs auf Residenzbauten auf Anwendbarkeit prüfte, fasst diese Merkmale punktgenau zusammen  : »Klassizität, Erhabenheit, Allgemeingültigkeit und Verbindlichkeit sind Ansprüche, die an diesen Monumentalbau gesetzt werden, er muss sich auf etablierte

208  Funktionalität – Monumentalität – Repräsentation

316 Herzig 1873, S. 9–10. 317 Ebd., S. 10.

Vorbilder aus der Geschichte, und damit auf erprobte und abgesicherte Stilformen berufen, um möglichst breit wirksam zu werden. Künstlerische und technologische Experimente sind hier nicht gefragt […].«318

Wenn sich also in der Analyse des Universitätsbaus herausstellt, dass viele Merkmale denjenigen in Herzigs Ratgeber entsprechen, so ist das keineswegs als Nachahmung des Ratgebers durch den Architekten zu deuten, dessen Entwürfe zum Erscheinungszeitpunkt des Buchs bereits abgesegnet waren. Sondern vielmehr zeigt dies, welches Gespür Herzig für die aktuellen Auffassungen von monumentalem Bauen hatte und daher aus der Essenz der real gebauten Architekturen eine Architekturtheorie aufgießen konnte. Die offenen und allgemein gehaltenen Angaben des Autors machen es schwierig, überhaupt Merkmale an der Universität zu finden, die nicht der Herzig’schen Norm entsprechen, also solche, bei denen ungefragt technologische und künstlerische Experimente Anwendung gefunden haben. Die zahlreichen Übereinstimmungen von Herzigs Merkmalen monumentalen Bauens mit der Wiener Universität können hier nur exemplarisch wiedergegeben werden. Diese Beispiele zeigen zum einen wie allgemeingültig Herzigs Anforderungen an repräsentative Bauformen waren, aber auch, dass Ferstels Bauwerk, wie auch die anderen beiden Paradeplatzbauten und die meisten anderen Ringstraßenpaläste, exakt den zeitgenössischen Vorstellungen eines öffentlichen Monumentalbaus entsprach und daher ohne Zweifel als solcher wahrgenommen wurde. Eines der wichtigsten denkmal-konstituierenden Elemente ist der Sockel. Durch ihn entsteht die nötige Distanz zwischen Dargestelltem und Betrachter und verstärkt dadurch die Idealisierung des Dargestellten.319 Dementsprechend formuliert Herzig seine Gedanken zur Sockelgestaltung im monumentalen Bauen  : Die »breite Fundamentalgrundlage repräsentirt sich dem Auge gewöhnlich als eine sockelförmige vortretende Untersetzplatte, auf welcher der eigentliche Unterbaukörper ruht. Der Unterbau gibt durch seinen Ausdruck dem Gebäude den Charakter der Festigkeit und Solidität, weshalb derselbe auch in jener massigen Form darzustellen ist, in welcher er das Gefühl und Vertrauen für Festigkeit und Solidität eben anregt. […] Eine kräftige Konstruktion aus festen Steinen mit breit und tief gegliederten Fugen markirt, charakterisirt die Kraft des Unterbaues, und grosse Quadern mit guter Verbindung sind die Bestandtheile derselben.«320 318 Nierhaus 2007, S. 56. 319 Siehe Bischoff 1977, S. 30  ; Tragatschnig 2004, S. 222. 320 Herzig 1873, S. 66–67.

Sowohl beim Denkmal als auch bei der denkmalhaften Architektur kommt dem Sockel im Aufbau eine entscheidende Rolle zu, da er zur Idealisierung des Gebäudecharakters entscheidend beiträgt und so die Erinnerungsfunktion begründet.

Reziprozität zwischen Stil und Monumentalcharakter  209

Die Ausführung von Ferstels Fassadengestaltung könnte hierzu als kolossale Illustration dienen [Abb. 63]. Auf dem etwa 1,2 Meter hohen Sockelfuß sitzt das massive Sockelgeschoss auf. Die Bossenquader aus Wöllersdorfer Stein verleihen diesem Unterbau zweifellos den Charakter von Solidität. An einer anderen Stelle geht Herzig noch einmal auf die Bedeutung des Unterbaus für die Gesamtgestaltung ein  : »Der Unterbau ist für die ästhetische Darstellung eines Gebäudes der unentbehrlichste Bestandtheil, der, weil er als Träger des Ganzen dem betrachtenden Auge das Vertrauen für Solidität und Festigkeit, das die erste Bedingung der Aesthetik ist, einzuflössen hat, die vollste Aufmerksamkeit verdient.«321

Dieses Zitat zeigt die Redundanz von Herzigs Beharren auf einzelnen Motiven. Bemerkenswert an Herzigs Ausführung ist aber, dass er dadurch, dass er seine »Architekturtheorie« a priori als Empfehlungen für Monumentalbauten deklariert hatte, an keiner Stelle die Wirksamkeit eines Motivs für den Monumentalcharakter ausführte, sonst hätte er gerade bei der Betonung der Bedeutung des soliden Unterbaus auf die idealisierende Wirkung eines Sockels eingehen müssen. Stattdessen argumentierte er ästhetisch, denn ein hohes Sockelgeschoss erfordert Freitreppen und Auffahrtsrampen, welche »Würde, Grossartigkeit und Schönheit charakterisirende daher maassgebende Zweck- und Dekorationsbauten, die nicht nur eine leichte Kommunikation bewirken, sondern auch zur schönen Gruppirung des Ganzen wesentlich beitragen.«322 So wird hier bestätigt, was für den Betrachter ohnedies sichtbar wurde, dass die Rampen, sowohl der Universität als auch des Parlaments, den Hauptfassaden zu einem imposanten Eindruck verhelfen. Aber auch im Inneren und in den Höfen kann die Universität als Veranschaulichung des Herzig-Texts herhalten, wie die Ausführungen zu Vestibül, Treppen, Gängen u.s.w. zeigen. Als letztes Beispiel wird an dieser Stelle noch auf die Hofarchitektur verwiesen  : »Die grossartigste Gruppirung eines Gebäudes lässt sich – die Vorsprünge ausgenommen – durch Säulengänge, Kolonnaden und Arkaden erreichen, weil diese mit den grossen Massen den erhabensten und angenehmsten Kontrast bilden.«323

Die vielen detaillierten Bauempfehlungen fasste Herzig dann zusammen, wie es selbstverständlicher fast nicht sein könnte  : »Also ein Bauwerk, das aus edlem Material erbaut, nach mächtigem Verhältniss in harmonischer Einheit pruppirt [sic  !], und mit nach edler Form kunstvoll ausgearbeiteten Verzierungen geschmückt ist, zeigt eine würdevolle Ausstattung und durch diese den Ausdruck der Grossartigkeit und Erhabenheit.«324

210  Funktionalität – Monumentalität – Repräsentation

321 Herzig 1873, S. 92. 322 Ebd., S. 94. 323 Ebd., S. 97. 324 Ebd., S. 157.

Abb. 127: Baustelle auf dem Paradeplatz (Wien Museum, Inv.-Nr. 93.021/60)

Diese im gesamten Werk durchgängig allgemeingültig gehaltenen Merkmale monumentalen Bauens dienen aus heutiger Perspektive allemal zur Konstatierung des nach 1870 gültigen Konsenses über Monumentalarchitektur. Durch die Widmung an den amtierenden Wiener Bürgermeister entsteht der Eindruck, dass Herzigs theoretische Ausführungen die Funktion einer literarischen Affirmation der baupolitischen Wirklichkeit auf dem Paradeplatz hatten [Abb. 127]. Zitierende Bauweise der Wiener Universität

Während bei der monumentalen Gesamtform der Universität deutlich wurde, dass nicht einem speziellen architektonischen Vorbild nachgeeifert wurde, so treten doch zahlreiche Einzelformen ganz deutlich als Verweise auf verschiedene historische Architekturen hervor. Das Zitat und die Paraphrase von einzelnen Bauteilen sind als Form eines Stil-Eklektizismus anzusehen. Dieser hat eine lange Tradition in der Architekturgeschichte,325 scheint aber verstärkt in der vermeintlich unoriginellen historistischen Baukunst zutage zu treten.326 Bestenfalls scheinen Architekturzitate des Historismus als Legitimation oder als Verweis auf die künstlerische oder intellektuelle Ambition (»Kunstwollen«) zu dienen, wohingegen den »fantasievollen« Zitaten der Postmoderne ein eigener künstlerischer Charakter zugestanden wird.327

325 Götz 1970, S. 197–199  ; Karner 2010, S. 43 und S. 54. 326 Siehe Götz 1970, S. 197. 327 Vgl. Haiko/Reissberger 1989, S. 248–249.

»Das objektgebundene Architekturzitat, bei dem ein zitiertes, konkret fixierbares Objekt der Vergangenheit den geforderten Legitimationsnachweis erbringen beziehungsweise das intendierte Anspruchsniveau demonstrieren soll, bestimmt das »Kunstwollen« des Historismus. Ein beliebig herausgegriffenes Beispiel der Ringstraßenarchitektur  : Heinrich Ferstel rekurriert bei der Wiener Universität auf einen ganz bestimmten römischen Palazzo der Renaissance, weist so die an der Universität vermittelte Bildung als eine in der Tradition des italienischen

Reziprozität zwischen Stil und Monumentalcharakter  211

Humanismus stehende Wissensvermittlung aus und läßt diese denkmalhaft Architektur werden.«328

Im Hinblick auf das genannte Beispiel des Ferstel’schen Universitätsbaus muss diese vereinfachte Darstellung der Funktion des Zitats sowie dessen Anwendung an diesem Bauwerk modifiziert werden. Denn tatsächlich ist es nicht ein ganz bestimmter römischer Palazzo, den Ferstel in seinem Universitätsbau zitiert, sondern es finden sich zahlreiche Zitate römischer und venezianischer, aber auch französischer Architekturen. Daher kann die Rechnung »Zitat entspricht Anspruchsniveau bedeutet humanistische Wissensvermittlung« nicht aufgehen, im besten Falle könnte sie lauten »unterschiedliche Zitate entsprechen Anspruchsniveau bedeuten (humanistische) Wissensvermittlung«. In einer komplizierteren Szenerie könnten die unterschiedlichen Architekturzitate jedoch auf unterschiedliche Bedeutungen verweisen, sodass sich ein komplexes Bedeutungsgeflecht ergibt. Der römische Palazzo, den Peter Haiko und Mara Reissberger hier als Bedeutungsträger des italienischen Humanismus ungenannt lassen, ist der Palazzo Farnese, den Ferstel selbst explizit als Vorbild für den Arkadenhof nennt  : »Der Universitätshof lehnt sich an den Hof des Palazzo Farnese an, welcher bekanntermassen wieder eine Nachbildung des Marcellustheaters ist.«329 In der Literatur wird dieser Hinweis übernommen, meist aber unter Verzicht eines detaillierten Vergleichs,330 nur Wibiral ist bemüht, diesen Zusammenhang genauer zu erläutern.

Abb. 128: Hauptgebäude der Universität Wien, Aufriss des Arkadenhofs (Foto: Gebhard Sengmüller, 2012)

»Durch Einführung eines rechteckigen Fenstergeschoßes an Stelle des rundbogigen beim ersten Entwurf entsteht große Übereinstimmung mit dem Palazzo Farnese, auf den sich der Architekt selbst als Vorbild beruft. Ferstel’s Hof ist größer und er folgert daraus größere Reduktion des Ornaments, indem er den Friesschmuck des ersten Stockes wegläßt und die oberste Fensterreihe bloß flach verdacht.«331

In Hinblick auf die Grundrissgestaltung hatten die Ausführungen im Typologie-Kapitel ergeben, dass die Anlage des Kommunikationssystems auf Hofniveau tatsächlich mit jenen der römischen Paläste verwandt ist.332 Die Hoffassaden strukturiert Ferstel mit einer Superposition von Tabulariummotiven [Abb. 128], damit ähnelt diese Struktur denjenigen des Marcellus-Theaters und des Kolosseums, um antike Beispiel zu nennen, oder denjenigen des Palazzo Farnese [Abb. 129] oder zahlreicher anderer Renaissancepalästen. Wibiral nennt als Unterschiede zum Palazzo Farnese bereits die Reduktion des Ornaments, insbesondere die flache Verdachung der rechteckigen Fenster im zweiten Obergeschoss. Zu bemerken ist aber auch die differenzierte Fensterform im ersten Obergeschoss. Wo Sangallo in die Pfeiler-Bogen-

212  Funktionalität – Monumentalität – Repräsentation

328 Haiko/Reissberger 1989, S. 247– 248. 329 Ferstel, 1878, S. 154. 330 Schwarz 1984 B, S. 48  ; Mühlberger 2007, S. 97  ; Maisel 2007, S. 11. 331 Wibiral 1952, S. 89. 332 Siehe auch das Unterkapitel Zentraler Innenhof und Vestibül in Typengeschichte und zeitgemäße Funktionalität.

Abb. 129: Palazzo Farnese, Aufriss des Hofes, historisches Foto aus dem Nachlass von Heinrich von Ferstel (Universität Wien, Ins­ titut für Kunstgeschichte, Fotosammlung, Inv.-Nr. 158239)

333 Dass Ferstel Palladios Werk kannte, ist nicht nur wegen Ferstels großem architekturtheoretischen Interesse wahrscheinlich, sondern kann durch eine französischsprachige Ausgabe der quatre livres aus Ferstels Besitz belegt werden. Im Jahr 2012 wurde diese Ausgabe mit folgender Beschreibung in einem Wiener Antiquariat angeboten  : »Diese Ausgabe von Palladios Hauptwerk (aus dem Italienischen von N. du Bois) erschien nach der englischen Ausgabe des Inigo Jones von 1715 und gilt durch ihre in kleinem Maßstab ausgeführten Illustrationen als eine der besten« (Abführung  ?). »Opere di un enorme dispensione per sua ricca e laboriosa esecuzione« (Cicognara). Die erstmals 1570 erschienene »Architectura« ist das bedeutendste Werk jenes Architekten, »der die stärkste und nachhaltigste Wirkung auf die Baukunst ganz Europas ausgeübt hat« (Thieme/B. 26, 165). - Exemplar aus dem Besitz des Architekten Heinrich von Ferstel (1828–83) mit seinem Exlibris am vorderen Innendeckel. […]«  ; Siehe http:// www.zvab.com/displayBookDetailS. do?itemId=181601062&b=1 (zuletzt besucht 2012). 334 Barbieri 1970, S. 49. 335 I Quattro Libri dell’architettura, 1570, III, Tafel XX, siehe Barbieri 1970.

Stellung des Theatermotivs noch ein giebelverdachtes Rechteckfenster einstellte, beließ Ferstel die offene Pfeiler-Bogen-Stellung als Fensterform, wodurch ein völlig anderes Erscheinungsbild der Hoffassaden entsteht. Es stellt sich daher die Frage, ob die ausgeführte Architektur zwanghaft in Korrelation mit der Künstleraussage gebracht werden muss. Wenn man den Aufriss des Palazzo Farnese trotz Ferstels Aussage und trotz der strukturellen Übereinstimmung als Vorbild außer Acht lässt, findet man im Werk eines nicht minder anerkannten Renaissancearchitekten einen Innenhof, der den Gegebenheiten viel stärker entspricht. Den Konvent der Bruderschaft Santa Maria della Carità hatte der oberitalienische Architekt Andrea Palladio in den 1560er-Jahren in Venedig begonnen. Einen Schnitt durch den Hof publizierte Palladio in seinen Quattro Libri dell’architettura [Abb. 130].333 Im Vergleich zum Aufriss des Palazzo Farnese sind hier die Unterschiede geringer, sowohl die Fensterformen als auch ihre Verdachungen entsprechen der historischen Architektur Palladios. Palladio scheint ebenfalls für die Gestaltung der gewaltigen Querkuppel des Mittelrisalits Pate gestanden zu haben. 1549 gewann Palladio den Wettbewerb um die Umgestaltung des Palazzo della Ragione in Vicenza.334 Den Aufriss des Ratsaals mit dem Kontrast zwischen durchlässiger Fassade und massiver Kuppel publizierte Palladio auch in seinen Quattro Libri dell’architettura von 1570. [Abb. 131].335 Obwohl nun eher Palladio als Sangallo als Zitatvorlage für den Arkadenhof gelten muss, steckt dennoch Palazzo Farnese in der Wiener Universität. In den seitlichen Innenhöfen 3 und 4 variierte Ferstel die einprägsame Verknüpfung des Tabulariummotivs mit eingestellten Giebelfenstern [Abb. 132] und übersetzt diese Form in eine Ziegelfassade.

Reziprozität zwischen Stil und Monumentalcharakter  213

Abb. 130: Andrea Palladio, Santa Maria della Carità, Aufriss und Grundriss, I quattro libri dell’architettura (1570) (Wundram/Pape 1988, S. 146)

Auch an den Außenfassaden baute Ferstel Zitate ein. An den Seitenfassaden sind die Risalite als Ganzes weitgehend getreue Übernahmen der Biblioteca Marciana, die Jacopo Sansovino 1536 begonnen hatte [Abb. 133–134]. Insbesondere in der Struktur, aber auch in den Detailformen greifen die oberen beiden Stockwerke auf das venezianische Vorbild zurück. Dessen dreiachsige Fassade zum Kanal wird durch ein plastisches Tabulariummotiv gegliedert. Eine Attikabalustrade mit vier Statuen über den Säulen und zwei Obelisken an den Ecken bekrönt diese schmale Fassade. Der Fries über den toskanischen Säulen des Erdgeschosses ist mit Triglyphen und geschmückten Metopen verziert. Im Obergeschoss wechseln sich im Fries Festons tragende Putten und Maskarons mit rechteckigen Kartuschen ab. In den Zwickeln schmiegen sich allegorische Gestalten an die Rundungen der Fensterrahmen. Im Wiener Zitat sind der dreiachsige Aufbau, die Attikazone mit Obelisken und Statuen und die Gestaltung des umlaufenden Frieses deutlich wiedererkennbar. Jedoch kopiert Ferstel nicht, sondern variiert die Details. So greift nur die mittlere Achse das Tabulariummotiv mit den angeschmiegten Figuren auf, die beiden seitlichen Fensterachsen sind mit eingestellten, giebelbekrönten Rechteckfenstern umgestaltet. Der Fries des ersten Obergeschosses wird nahezu identisch angewendet, für das zweite Obergeschoss muss

214  Funktionalität – Monumentalität – Repräsentation

Abb. 131: Andrea Palladio, Palazzo della Ragione, Aufriss und Grundriss, I quattro libri dell’architettura (1570) (Wundram/ Pape 1988, S. 65)

Abb. 134: Jacopo Sansovino, Biblioteca Marciana, Aufriss der Uferfassade (Binding 1998)

336 Gady 2005, S. 369–371.

Abb. 132: Heinrich von Ferstel, Hauptge­ bäude der Universität Wien, Hof 4, Fenster­ form des Mezzanin-Geschosses (Foto: Julia Rüdiger, 2015)

Abb. 133: Hauptgebäude der Universität Wien, Seitenrisalit (Foto. Wolfgang Thaler, 2014)

Ferstel eine komposite Variation des Schemas entwickeln, um seine fassadenumlaufende Superposition nicht zu verletzen. Die Form des venezianischen Erdgeschosses fällt zugunsten der einheitlichen Gestaltung des Wiener Sockelgeschosses weg. Durch die Verkröpfung des Kranzgesimses unterhalb der Attikafiguren wirkt hier der Abschluss besonders plastisch. Während die Zwickelfiguren an den Seitenfassaden nur in der mittleren Achse auftreten, sind sie wiederum an den Zwickeln der Loggia des Mittelrisalits zur Ringstraße an allen drei Achsen und den jeweils seitlichen Loggia-Öffnungen als Personifikationen wissenschaftlicher Disziplinen angebracht. Die große Form des Mittelrisalits selbst scheint wiederum ein anderes Bauwerk zitathaft zu variieren. Während die Tiefe der Querkuppel für die Anlehnung an Palladios Ratssaal in Vicenza spricht, erinnert der dreiachsige Aufriss des Mittelrisalits an den Cour Carrée des Louvre [Abb. 135]. Der französische Architekt Jacques Lemercier (~1586–1654) hatte den von Pierre Lescot (~1510–1578) begonnenen Ostflügel mit einem Pavillon abgeschlossen.336 Der Pavillon de l’Horloge, heute auch Pavillon Sully, war für das Aussehen des Louvre so prägend, dass im Zuge des Louvre-Ausbaus unter Napoléon III. diese Form für die seitlichen Flügel, l’aile Richelieu und l’aile Denon, wieder aufgegriffen wurde. Während seiner Reisen nach Paris kann Ferstel sowohl Lescots Pavillon als auch die Baustellen an diesen späteren Flügeln gesehen haben. Für die Verteilung der Baumassen an einem so gewaltigen Gebäude wie der Universität hatte er ja ausdrücklich den Louvre

Reziprozität zwischen Stil und Monumentalcharakter  215

als gelungene Lösung und damit als vorbildhaft bezeichnet.337 Die markante Kuppelform in Kombination mit dem »Palladianischen Tiefenzug« bewirkt zweifellos einen ausgeprägten Akzent im Zentrum der Fassade. Für den Wiener Mittelrisalit würfelt Ferstel allerdings die Geschosse etwas durcheinander, um nicht den Eindruck einer Kopie zu erzeugen. Auf Hochparterreniveau übernimmt er die drei rundbogigen Öffnungen zwischen Säulenstellungen und kombiniert diese im Obergeschoss mit den angesprochenen Rundbogenfenstern nach Sansovino. Durch Unterfahrt und Loggia hat dieser Bauteil hier aber noch mehr Tiefe. Anstatt des Mezzaningeschosses, das im Aufriss des Pavillon de l’Horloge folgt, setzt Ferstel den Dreiecksgiebel hier auf die Loggia im ersten Obergeschoss auf und lässt darüber das Halbgeschoss mit den nahezu quadratischen Fenstern folgen. Trotz dieser Umstellungen bleibt die Anspielung auf das französische Vorbild deutlich spürbar. Weniger »objektgebunden« ist das Triumphbogenmotiv im Obergeschoss der Eckpavillons [Abb. 136], das als solches – mit und ohne Figurennischen – zahlreiche Fassaden in Italien und Frankreich seit dem 15. Jahrhundert schmückt.338 Umso mehr verweist dieses Motiv auf eine Kontinuität der Bautradition. Aus der Florentiner Tradition sind die Gelehrtenmedaillons übernommen, die hier in den schmäleren Travéen über den Nischenfiguren angebracht sind. Der Florentiner Bildhauer Luca della Robbia hatte etwa um die Mitte des 15. Jahrhunderts die Technik der farbig glasierten Terracotta zu seinem Qualitätsmerkmal entwickelt.339 Seine Terrakotten zeichnen sich insbesondere durch die hellen Figuren auf weißem Grund aus. Sein Neffe Andrea della Robbia bringt dieses Design um 1490 am Ospedale degli Innocenti in Florenz zur Anwendung. Der Kunsthistoriker Jacob Burckhardt widmete 1855 im Cicerone dem Werk der della Robbias vier Seiten, auf denen er dieses zwar nicht der ganz großen Kunst zurechnet, aber Zartheit, Frische und Anmut der Medaillons lobt. Eine Eigenschaft der Robbia hob Burckhardt besonders hervor  : »Fürs Erste hat diese Schule das Verhältniss ihrer Gattung zur Bauweise der Renaissance mit Freuden anerkannt und im Einklang mit den grössten Baumeistern ganz grosse Gebäude verziert.«340 In diesem Sinne konnten Medaillons in Anlehnung daran für das ganz große Gebäude der Universität nicht abträglich sein. In der Wiener Weiterführung wurde das Gestaltungsprinzip der Majolika mit weißer Figur auf blauem Grund aber insofern variiert, als hier für die Gelehrtendarstellung die Porträts im Profil ausgeführt wurden [Abb. 156a–d]. Aus der umlaufenden Gestaltung bricht die rückwärtige Fassade zur Reichsratsstraße aus. Hier wird der umlaufende plastische Fries unterbrochen und durch ein Sgraffitoband ersetzt. Ebenfalls in Sgraffito sind die blinden Fenster des Bibliothekstrakts ausgestaltet [Abb. 137]. In der italienischen Renaissance war die Technik des Sgraffito als kostengüns-

216  Funktionalität – Monumentalität – Repräsentation

Abb. 135: Jacques Lemercier, Aufriss des neuen Pavillons des Louvre, Paris (Gady 2005, Abb. 137)

Abb. 136: Hauptgebäude der Universität Wien, Südlicher Eckpavillon zur Ringstraße (Foto: Wolfgang Thaler, 2015)

337 Ferstel 1878 A, S. 151. 338 Hier seien nur einige Beispiele genannt  : Jacopo Sansovino, Loggietta, Venedig, ab 1537  ; Il Vignola, Villa Giulia, 1551–55  ; Giacomo della Porta, Villa Aldobrandini, 1598– 1603  ; etc. 339 Geese 1994, S. 200. 340 Burckhardt 1855, S. 591.

Abb. 137: Hauptgebäude der Universität Wien, Sgraffitti auf der rückwärtigen Bib­ liotheksfassade (Foto: Franz Pfluegl, 2006)

Abb. 138: Gottfried Semper, Polytechnikum, Zürich, Nordfassade des Polytechnikums mit Sgraffito (Bildarchiv der ETH Bibliothek, Zürich, Inv.-Nr. Ans_03752)

341 Thiem/Thiem 1964, S. 15. 342 Ebd., S. 43. 343 Semper 1868, S. 45. 344 Deutsche Bauzeitung, 1880, S. 2–3.

tige, aber dauerhafte Fassadendekoration sehr beliebt.341 Auch Giorgio Vasari lobte diese Technik für die Möglichkeit, die Fassaden ornamental zu schmücken.342 Die Wiederentdeckung dieser Technik im 19. Jahrhundert schreibt Gottfried Semper sich selbst zu,343 der sie zuerst an einem Apothekerhaus in Hamburg erprobte. Noch populärer war die Anbringung von Sgraffiti am Polytechnikum in Zürich über die gesamte Nordfassade, auf der Eingangsseite des Polytechnikums [Abb. 138]. Ein würdigender Nachruf auf Semper in der Deutschen Bauzeitung erkannte besonders die dekorativen Elemente des Sgraffito am Polytechnikum in stilistischer Nachfolge des Florentiner Palazzo Guadagni und somit als unumstrittene Anleihe der italienischen Renaissance.344 In der Nach-

Reziprozität zwischen Stil und Monumentalcharakter  217

folge Sempers verwendete Gottfried Neureuther an der Polytechnischen Hochschule in München die Sgraffito-Technik.345 In Wien hat diese Technik, laut Rudolf von Eitelberger, zuerst Ferstel am Österreichischen Museum für Kunst und Industrie angewendet.346 Ferstel setzte Sgraffiti später auch am Chemischen Institut in den Innenhöfen als Stilmittel ein. An der rückwärtigen Fassade der Universität verweist das Sgraffito sowohl auf die italienische Renaissance als auch auf den Wiederentdecker Semper, der diese Technik im 19. Jahrhundert populär machte. Innerhalb der rundbogigen Malfläche erhebt sich pro Fenster ein wiederum rundbogiger Tabernakel auf einem abgestuften Sockel. Der Tabernakel bildet die Bühne für je eine zentrale allegorische Figur und zwei Begleitfiguren auf den Stufen. Gerahmt wird die Szenerie jeweils von gerafftem Band- und Fruchtwerk.347 So verweisen die Sgraffiti nicht nur als Technik auf die Renaissance, sondern auch in ihrer Gestaltung. Bei Jacob Burckhardt werden die Sgraffiti als wichtiges und beliebtes Gestaltungsmittel der italienischen Renaissance charakterisiert, dessen Anwendung mit dem Einsetzen des barocken Stils abbrach.348 Umso mehr eignete sich die Sgraffitomalerei um ein Bauwerk der Neorenaissance überzeugend als ein solches auszuzeichnen. Das Österreichische Museum für Kunst und Industrie hatten Eitelberger und Ferstel als Gesamtkunstwerk und vor allem Lehrstück der Renaissanceformen geplant.349 Wie die Sgraffiti hatte Ferstel hier auch schon die Majolika als Medaillons zur Anwendung gebracht. Ein weiteres gestalterisches Motiv, das der Renaissance entlehnt ist und ebenfalls im Kunstgewerbemuseum eingesetzt wurde, ist die Groteskenmalerei [Abb. 139]. In geringerem Ausmaß lässt sich diese in einigen Innenräumen der Universität wiederfinden. Eindrückliche Beispiele der Rezeption dieser Motivik stellen die sogenannten Oktogone im Obergeschoss [Abb. 68] dar. Diese kleinen Räume bilden die Gelenke zwischen den Korridoren und den Räumen des »Festappartements«. Im Gegensatz zum genehmigten Grundriss von 1874 [Abb. 58] wurden diese Vorräume gemäß den Grundrissen von 1881 [Abb. 65] quadratisch ausgeführt. Die Bezeichnung Oktogone ist ihnen aber bis in die aktuellsten Raumpläne der Universität geblieben, die tatsächlich oktogonalen Räume darunter im Hochparterre tragen in den offiziellen Etagenplänen der Universität hingegen den Namen Seitenaula.350 Im Folgenden werden diese Räume im Obergeschoss, wie bei Wibiral, Atrien genannt. Die pastellfarbenen Wände sind durch jeweils eine (Blend-)Arkade und korinthische (Eck-)Pilaster gegliedert und über dem Gesims öffnet sich eine kassettierte Pendentifkuppel [Abb. 68 und 140]. Durch ein Oberlicht im Scheitel der Kuppel wird der Raum beleuchtet. Die zahlreichen Malereifelder sind mit verschiedenen Groteskenmalereien geschmückt. Gemeinsam mit den Goldakzenten auf den plastischen Gliederungen erzeugt diese tonige Malerei einen prachtvollen Eindruck in diesem Vor-

218  Funktionalität – Monumentalität – Repräsentation

Abb. 139: Heinrich von Ferstel, K. k. Österrei­ chisches Museum für Kunst und Industrie, heute MAK, 1866-1871 (Universität Wien, Institut für Kunstgeschichte, Fotosamm­ lung, Inv.-Nr. I/22-2114)

345 Siehe Wagner 1989, S. 133–138. 346 Der Wiener Maler und Freund Ferstels Ferdinand Laufberger hat dafür die Entwürfe gestaltet. 347 Auf den Inhalt der Darstellung geht das folgende Kapitel Die ikonografischen Programme im Spiegel der Wissenschaftsgeschichte ein. 348 Burckhardt 1855, S. 292–295. 349 Wibiral/Mikula 1974, S. 132  ; Bayer 1896, S. 215. 350 Vgl. http://www.univie.ac.at/ fileadmin/user_upload/startseite/ Dokumente/Lageplaene_HG_2014. pdf (zuletzt besucht am 3. Mai 2015). In Max von Ferstels Veröffentlichung der Pläne in der Reihe Wiener Monumentalbauten bezeichnet er diese Räume ebenfalls als Octogone. In der Sekundärliteratur werden sie allerdings auch Atrien genannt, Vgl. Wibiral 1952, S. 299  ; Mühlberger 2007, S. 117.

Abb. 140: Karl Koechlin, Hauptgebäude der Universität Wien, Entwurfszeichnung für das große Oktogon im ersten Ober­ geschoss, nach 1883 (AVA, Fasz.5082-25 Zl.16330-84 Grosse Halle Octocon I.Stock)

raum und bildet einen Kontrast zu den in weiß gehaltenen Korridoren und Feststiegen. Der undatierte isometrische Schnitt des Gebäudes, den Ferstels Mitarbeiter Julian Niedzielski gezeichnet hat, deutet darauf hin, dass sowohl die Treppenhäuser als auch das Vestibül im Hochparterre hätten reicher ausgestattet werden sollen [Abb. 51]. Für die großen Supraportenbilder in den Atrien waren nach dieser Zeichnung szenische Bilder vorgesehen, die in der Ausführung durch Grotesken ersetzt wurden. Die Stuckatur der Stiegenhäuser entspricht weitgehend derjenigen in Niedzielskis Zeichnung, allerdings sind im Entwurf die Felder dazwischen mit großformatigen Szenen und gemalten Zwickelfiguren berei-

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Abb. 141: Hauptgebäude der Universität Wien, Einblick in das Rektorat (Foto: Univer­ sität Wien, Öffentlichkeitsarbeit, 2011)

chert. Die malerische Ausstattung des Universitätsgebäudes wurde im September 1884 im Arkadenhof und in den Atrien begonnen. 351 Nach Ferstels Tod standen seine Mitarbeiter unter einem starken Kürzungsdruck, da die finanziellen Mittel für den Bau bereits erschöpft waren. Nach der offiziellen Besichtigung des Kaisers im Oktober 1884, für die der Festsaal mangels Innenausstattung mit Gobelins verhängt worden war, wurde eine weitere prachtvolle Ausstattung für zweitrangig angesehen und das Innere sparsam vollendet. Dies erklärt, warum die Treppenhäuser nur stuckiert wurden und auch in den Atrien auf die szenischen Bilder verzichtet wurde. Nichtsdestoweniger waren auch die Groteskenmalereien prachtvolle Motive, die ihren Teil zur monumentalen Wirkung des Bauwerks beitragen sollten, wie dies auch das Erscheinungsbild des kleinen Festsaals demonstriert [Abb. 69]. Die Groteskenmalerei entwickelte sich gegen Ende des Quattrocento unter dem Eindruck der wiederentdeckten Malereien der Domus Aurea zur beliebten Ornamentik der Renaissance,352 die mit der Ausmalung der Vatikanischen Loggien durch Raffael und Giovanni da Udine ihren vorläufigen Höhepunkt erreichte.353 Auch Jacob Burckhardt anerkennt Raffaels Leistung, wenn er im Cicerone schreibt  : »Rafael’s Verdienst bleibt es, dass die Loggien die schönste und nicht bloss die prachtvollste Halle der Welt wurden.«354 Mit der großflächigen Ausgestaltung mit Grotesken hätte die Wiener Universität nicht nur an diese Pracht, sondern auch an diese Schönheit anschließen sollen. Daher ist es realistisch anzunehmen, dass vor Ferstels Tod auch die Korridore im Obergeschoss entsprechend geschmückt werden sollten. Dafür spricht, dass nicht nur im Museum für Kunst und Industrie gerade die Korridore mit Grotesken dekoriert waren, sondern auch in Hansens Akademie der bildenden Künste. Im Gegensatz zu diesen kleineren Gängen hätte in den großzü-

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351 Wibiral 1952, S. 299. 352 Thiem/Thiem 1961, S. 1  ; Zamperini 2007, S. 31 und 91. 353 Zamperini 2007, S. 123  ; 354 Burckhardt 1855, S. 283.

Abb. 142: Hauptgebäude der Universität Wien, Einblick in den Senatssaal (Foto: Universität Wien, Öffentlichkeitsarbeit)

355 Siehe auch Mühlberger 2007, S. 121–122. 356 Pecht 1880, S. 769  ; siehe auch Mennekes 2005, S. 326. 357 Mennekes 2005, S. 326.

gigen Korridoren der Universität der Raumeindruck nach dem Vorbild der Vatikanischen Loggien erst richtig zur Geltung kommen können. Die weiße Stuckatur der Korridore muss also den Sparmaßnahmen nach Ferstels Tod geschuldet sein. Die Innenausstattung des Rektorszimmers und des Senatssaals mit dunklen Holzvertäfelungen und Kassettendecken hält weiter an dem Vorbild der Renaissance fest [Abb. 141–142]. Ähnliche hölzerne Wandverbauten und Kassettierungen finden sich in italienischen Universitäten der frühen Neuzeit, so beispielsweise sehr eindrucksvoll in der Sala Anatomica des Bologneser Archiginnasio. Die Detailformen erinnern jedoch stärker an Vorbilder der altdeutschen Renaissance [Abb. 143–144].355 Dies steht jedoch nicht zwingend im Widerspruch zum Gesamtkonzept des Universitätsgebäudes, sondern folgt vielmehr einer zeitgenössischen Vorstellung der idealen Innenausstattung des Herrenzimmers. Die deutsche Renaissance galt auch dem Kunstkritiker Fridrich Pecht als Stil, »der die feine italienische Grazie so glücklich in gemüthvollen deutschen Humor, liebenswürdige Wärme, gelegentlich auch in stolze Kraft, ja Derbheit übersetzt«.356 Das Interieur im Stil der deutschen Renaissance avancierte zur Ausstattungsmaxime des Herrenzimmers oder der patriarchalen Herrschaftsräume, denen im Wohnbereich die Damenzimmer im Stil des Rokoko gegenübergestellt waren.357 Der Sitzungssaal des Senats und noch mehr das Rektorszimmer mussten diese formalen Anforderungen an das hochrangige Herrenzimmer erfüllen, daher ist die stilistische Orientierung hier nicht als Bruch zu sehen, sondern durch die Nutzung der Räume erklärbar. Dieser Überblick über die zitierende Bauweise Ferstels zeigt, wie mannigfaltig die Auswahl der stilistischen Vorbilder ist. Um aus dieser Vielzahl an Anregungen wiederum ein ästhetisch »funktionierendes« neues

Reziprozität zwischen Stil und Monumentalcharakter  221

Abb. 143: Karl Koechlin, Hauptgebäude der Universität Wien, Entwurfszeichnung für das Rektorszimmer, nach 1883 (AVA, Fasz.5082-25 Zl.09565-84 Rectorszimmer)

Abb. 144: Karl Koechlin, Hauptgebäude der Universität Wien, Entwurfszeichnung für den Senatssaal, nach 1883 (AVA, Fasz.508225 Zl.09565-84 Senatsaal)

222  Funktionalität – Monumentalität – Repräsentation

Bauwerk zu schaffen, musste der Architekt diese Zitate geschickt in den größeren Zusammenhang einbinden. An der Universität nützte Ferstel die Formenzitate, um in dem großen Komplex Akzente zu setzen, die die Fassade, aber auch die Abfolge der Innenräume auflockern. Damit der Bau sowohl innen als auch außen als geschlossenes Ensemble wirken kann, werden die Bauelemente durch umlaufende Gesimse, Balustraden und Dekorationsformen zusammengehalten. Durch das Zitieren zahlreicher Renaissancebauten erzeugte Ferstel den Eindruck einer überzeugenden und wahrhaftigen Anwendung des Stils. Wie aber bereits für Sempers Formensprache gilt, handelt es sich auch bei Ferstel um eine schöpferische Formsynthese, die nicht kopiert, »sondern […] von den historischen Vorbildern einzelne Motive, Kompositionsprinzipien und -ideen [zitiert], die frei verarbeitet und zu einem neuen Ganzen zusammengefügt werden«.358 Im Rückblick lässt sich nun sagen, dass die eingangs zitierte Aussage von Haiko und Reissberger, dass ein römischer Palazzo für den Ausdruck des Kunstwollens herhalten musste,359 nicht haltbar ist. Denn dies ignoriert erstens das breite Spektrum an Motiven, die tatsächlich in einem schöpferischen Prozess zu einer neuen Architektur verschmolzen wurden. Und zweitens muss bei dieser Bandbreite an Zitaten auch deren Funktion als Bedeutungsträger hinterfragt werden. Architekturzitate als semantische Zeichen  ?

358 Moeller 2001, S. 83. 359 Haiko/Reissberger 1989, S. 247– 248. 360 Moeller 2001, S. 83. 361 Ebd., S. 83.

Den Architekturzitaten fällt im Strengen Historismus zweifellos die eine Aufgabe zu, ein überzeugendes Bild einer Stilrichtung herzustellen. Darüber hinaus können sie auch als Bedeutungsträger fungieren. So wählte Gottfried Semper die zu integrierenden Architekturelemente immer im Hinblick auf die Zweckbestimmung seines Neubaus.360 In diesem Abschnitt wird der Frage nachgegangen, ob eine bedeutungsvolle Auswahl der Architekturzitate auch auf Ferstel zutrifft. Wenn auch Ferstel explizit den römischen Palazzo Farnese als Vorbild für den Arkadenhof genannt hatte, da dieser der bekannteste römische Renaissancepalast war, zeigt die oben erarbeitete Liste zitierter Bauwerke, dass Ferstel seine formalen Anleihen aus einem breiteren Rahmen genommen hat. Für die Erklärung des Rezeptionsvorgangs bei Semper forderte Gisela Moeller »das Zurückgehen auf die angewandten einzelnen Formelemente« und deren genaue Analyse, um dadurch nicht nur die formale Aneignung, sondern auch deren Semantik zu verstehen.361 Wenn man den Palazzo Farnese als alles überstrahlendes Vorbild außer Acht lässt, verspricht diese Vorgehensweise, auch im Falle der Wiener Universität bisher verborgene Allusionen aufzudecken. So scheint es nicht Zufall zu sein, dass die drei am genauesten zitierten Vorbildbauten, die Biblioteca Marciana, der Innenhof des Konvents

Reziprozität zwischen Stil und Monumentalcharakter  223

Santa Maria della Carità und der Mittelrisalit des Louvres eine entscheidende Gemeinsamkeit haben. Sie galten alle drei als prominente Profanbauten zum Zwecke der Wissenschaft. Das Gebäude der Bruderschaft Santa Maria della Carità wurde 1807 zum Sitz der Accademia di belle arti di Venezia und damit zu einem der bedeutendsten Bildungsbauten in Venedig.362 Wenn auch Palladio den Bau nicht vollendet hatte, so bezeichnet ihn Burckhardt dennoch als großartigen Hofbau und liefert gleichzeitig einen prominenten Fürsprecher  : »Es ist das Gebäude, von welchem Göthe [sic  !] mit so vieler und gerechter Begeisterung spricht.«363 Der Palazzo Farnese, den Ferstel in seinem Vortrag als Vorbild nannte, galt als Meisterwerk des Cinquecento und war als solches nicht nur Ferstels Architektenkollegen bekannt, sondern konnte allgemein vom interessierten Besucher als pars pro toto für die herausragende Architektur der italienischen Renaissance verstanden werden. Für das besser gebildete Publikum des Arkadenhofs lieferte der Aufriss nach Palladios Santa Maria della Carità aber durch den akademischen Kontext und Goethes Begeisterung noch mehr gelehrte Fingerzeige als es derjenige des Palazzo Farnese vermocht hätte. Der Louvre war ebenfalls zu einem zentralen Ort der Kunst und Wissenschaft geworden, spätestens nachdem er im Zuge der Französischen Revolution zum Museum mit Schwerpunkt Wissenschaft und Kunst umgewidmet wurde.364 Schon vorher im 17. Jahrhundert war hier die französische Gelehrtengesellschaft Académie Française eingezogen.365 Damit ist der Louvre-Risalit Medium für unterschiedliche Aussagen  : Als prächtiger Ort der Wissenschaft und Kunst dient der Louvre, der in der Mitte des 19. Jahrhunderts entscheidende Erweiterungen erfuhr, als ideale Projektionsfläche für die ambitionierte Wiener Universität. Durch die Anlehnung an die ehemalige Pariser Residenz erzeugt der Risalit zweifellos ein prachtvolles Moment, das das Erscheinungsbild der Universität an der Ringstraße entscheidend prägt. Darüber hinaus kann der zentrale Louvre-Risalit aber auch als Anspielung auf die Überwindung der residenziellen Funktion durch die wissenschaftlich museale Nutzung verstanden werden. Somit kann der Bau der ersten Universität des Kaiserreichs von seinem liberalen Publikum durchaus auch als systemkritisches Monument gelesen werden. In Summe bietet er einem breiten Spektrum von Betrachtern die Möglichkeit zur Identifikation. Die Biblioteca Marciana war von Beginn an als Ort des Wissens geplant. Sie wurde von Jacopo Sansovino ab 1537 gebaut und von Scamozzi in den 1580er-Jahren vollendet. Burckhardt zeigt sich zwar nicht als Freund Sansovinos, wenn er schreibt, dass er ihn nur widerwillig in die Reihe der großen Baumeister aufnimmt, aber für die Biblioteca findet er dennoch rühmende Worte und gesteht ihr zu, dass man sie »wohl als das prächtigste profane Gebäude Italiens bezeichnen darf.«366

224  Funktionalität – Monumentalität – Repräsentation

362 Pignatti 1981, S. 25. 363 Burckhardt 1855, S. 364. 364 Patrimoine Paris 1994, S. 305. 365 Ebd., S. 302. 366 Burckhardt 1855, S. 326.

367 Oechslin 2005 B, S. 24. 368 Semper 1868, S. 45. 369 Vgl. Oechslin 2005 B, S. 25.

Für den zeitgenössischen Burckhardt-Leser wurde der Rundgang durch die Universität nebenbei zum Rendezvous mit zahlreichen bekannten Bauwerken aus der Lektüre. Der einzige Baublock, der sich optisch von der Gesamtkomposition absetzt, ist der Bibliothekstrakt an der Reichsratsstraße. Nicht nur die Ausschmückung der blinden Fenster mit den Sgraffiti erzeugt den Bruch, sondern auch das sonst alles umklammernde plastische Friesband wird hier als Sgraffito-Fries fortgesetzt. Die Technik des Sgraffito verweist, wie oben gezeigt, auf die italienische Renaissance, wo sie häufig Anwendung fand. Sie verweist aber auch auf den zeitgenössischen NeorenaissanceBildungsbau, das Zürcher Polytechnikum von Gottfried Semper. Wie im Kapitel zur Typologie bereits angesprochen, war dieser Bau nicht nur für das Eidgenössische Polytechnikum, sondern auch für die Zürcher Universität geplant. Der Haupteingang des Gebäudes lag im Westflügel, der auch die Bibliothek, die Verwaltungsräumlichkeiten und die Repräsentationsräume beherbergte. Die räumliche Zusammenlegung war von keiner der beiden Institutionen besonders positiv aufgefasst worden, daher plante Semper, um deren Eigenständigkeit zu unterstreichen, zwei separate Eingänge an den Seitenfassaden. Der Zugang zur Universität war an der einfarbig verputzten und durch einen überhöhten fünfachsigen Mittelrisalit gegliederten Südfassade.367 Der Aufbau der »Polytechnischen« Nordfassade ist dagegen zurückgenommen, die Akzentuierung der Mitte beschränkt sich auf ein leichtes Hervortreten der innersten drei Achsen, die die angrenzenden Achsen nicht überragen. Die Fensterformen sind geschossweise einheitlich und sind nicht durch plastischen Schmuck gekennzeichnet. Aber die Wandflächen des ersten und zweiten Obergeschosses sind mit allegorischen und ornamentalen Sgraffiti überzogen. Semper schreibt zur Verwendung des Sgraffito, dass es sich besonders eigne, für die Putzmauern »[…] des Bauwerks […], dessen im Allgemeinen gering geachteter Antheil am Bauen dadurch Bedeutung erlangt und der Kunst sich nähert.«368 Diese Technik diente also zur Aufwertung sparsam ausgestatteter Fassaden. Während also die Universitätsseite mit architektonischen Mitteln gegliedert wurde, griff Semper bei der gegenüberliegenden Seite auf die Sgraffito-Technik zurück. Dies war nicht nur eine kostengünstige Lösung, sondern machte optisch die Trennung der Institutionen an der Fassade erkenntlich. In den wenigen wissenschaftlichen Bemerkungen zu diesem Sgraffito in der Semper-Literatur wird aber vorrangig die finanzielle Lage des Polytechnikums als Grund für die kostengünstigere Sgraffito-Ausgestaltung angeführt.369 Daher erscheint das Sgraffito eher als künstlerischer Makel, der die kunsthistorische Aufmerksamkeit nicht verdient und somit – im circulus vitiosus – keine Untersuchung erfährt. Dies spiegelt sich auch in der geringen Anzahl von publizierten Fotografien der Nordfassade wieder. Die Sparsamkeit mag tatsächlich die Ursache dafür gewesen sein, dass Semper an dieser Seite

Reziprozität zwischen Stil und Monumentalcharakter  225

mit architektonischen Gliederungen zurückhaltend arbeitete, aber es sollte nicht verkannt werden, wie er die Fassade mithilfe des Sgraffito in die beliebte Fassadentradition der Renaissance stellte und sie gleichzeitig am Bauwerk hervorhob. Das dazugehörige Polytechnikum setzte sich dadurch optisch schon an der Fassade von der Universität ab. Im Falle der Wiener Universität war es der Bibliotheksdirektor Leithe, der sich vehement gegen die Einbindung der Universitätsbibliothek in das neue Hauptgebäude stemmte.370 Im Vergleich zur Funktion der Sgraffito-Fassade des Zürcher Polytechnikums kann die zusätzliche Auszeichnung der blinden Fenster der Bibliothek mit Sgraffiti als Anspielung auf die institutionelle Trennung zwischen Universität und Universitätsbibliothek verstanden werden. Der große Bibliothekstrakt, der dreidimensional in das Hauptgebäude hineingeschoben erscheint, wird durch die Sgraffiti noch zusätzlich als ein eigenständiges Element innerhalb dieser Architektur ausgezeichnet. Damit wird auch die rechtlich unklare Situation, ob denn die Universitätsbibliothek zur Universität gehört, optisch angesprochen. Auch im ständigen Bestreben der Ringstraßenarchitekten nach Monumentalität konnte das Sgraffito als Ausdrucksmittel eingesetzt werden. Eine Folio-Mappe aus Ferstels Besitz zeigt, dass Ferstel sich nicht nur im Zusammenhang mit Semper für das Sgraffito interessierte. In dieser Mappe mit dem Titel Die Sgraffittobilder im Treppenhause des SophienGymnasiums zu Berlin hatte der Künstler Max Lohde 1868 seine Entwürfe publiziert.371 In der beiliegenden Denkschrift rechtfertigte Lohde, warum er sich bei der Herstellung der Bilder im Treppenhaus gegen Freskomalerei entschieden hatte, wenn er doch einen monumentalen Charakter zum Ausdruck hatte bringen wollen. Seine Erklärung lautete  : »Wie das Fresko also die monumentale Malerei ist, so ist das Sgraffito die monumentale Zeichnung.«372 Auch wenn das technisch vielleicht nicht ganz zutreffend ist, kann man doch festhalten, dass Sgraffiti im 19. Jahrhundert in dem Ruf standen, auch den monumentalen Charakter des Bauwerks zu unterstützen. Fast alle diese Zitate, die Ferstel für die gebildeten Betrachter und Benutzer einbaut, haben einen unmittelbaren Bezug zu Architekturen, die selbst in einem engen Zusammenhang mit Bildung, Forschung, Wissenschaft oder Lehre stehen. Sie weisen die Wiener Universität aus als Institution, deren Anspruch demjenigen der zitierten Institutionen nicht nur gleicht, sondern iin der Kombination sogar zu übertreffen vermag. Für die Rezipienten dieser Kombination sind die einzelnen zitierten Stimmen und deren gemeinsames Stimmengewirr noch viel deutlicher als Teil des Rauschens der Wissenschaftsarchitektursprache zu erkennen.

226  Funktionalität – Monumentalität – Repräsentation

370 Siehe das Unterkapitel zur Bibliothek in dem Kapitel Typengeschichte und zeitgemäße Funktionalität. 371 Lohde 1868. Das Exemplar mit Ferstels Exlibris befindet sich in der Bibliothek des Wiener Instituts für Kunstgeschichte. 372 Lohde 1868, S. 2.

Monumentale Eigenschaften des Zitats

373 Nierhaus 2007, S. 66. 374 Semper 1878, S. 6. 375 Siehe auch Nierhaus 2007, S. 66. 376 Warburg 1929  ; Didi-Huberman 2010, S. 36. 377 Erll 2011, S. 21. 378 Ebd., S. 31. 379 Siehe Nierhaus 2007, S. 67.

In einem engen Zusammenhang mit der Semantik des Architekturzitats steht dessen Vermögen, an sich monumental zu wirken. Diese erinnernden, denkmalhaften Eigenschaften des Formenzitats liegen, wie Nierhaus in Bezug auf die Neue Burg erläutert, in »der formalen Übertragung oder Analogie, die Assoziationen weckt.«373 Nierhaus beruft sich hier auf Semper, der in den aufgegriffenen formalen Elementen sogenannte »monumentale Spuren erstorbener Gesellschaftsorganismen« erkennt.374 Diese Spuren können die an den Ledersack erinnernde Situla sein oder Architekturformen wie Sockel, Säulen und Kuppeln, aber auch ganze architektonische Kompositionen, die zum »Träger« der Erinnerung werden.375 Diese Vorstellung von Formen und Kompositionen als Träger kultureller Erinnerung hält sich auch in der Nachfolge Sempers. Aby Warburg bezeichnete diese monumentalen Formen als Engramme, Leitfossil und Pathosformeln.376 Die beobachtbare Wiederkehr künstlerischer Motive und die Wiederaufnahme bildhafter Details führte Warburg auf deren »erinnerungsauslösende Kraft« zurück. 377 Im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts betonen Jan und Aleida Assmann wiederholt die Kontinuität sogenannter Erinnerungsfiguren, die das kulturelle Gedächtnis als feste Ausdrucksformen erhalten und erweitern.378 Für die historistische Architektur mag die bewusste Anwendung solcher Erinnerungsfiguren ein besonderes Anliegen gewesen sein, um größtmögliche Monumentalität zu erreichen. Als Beispiele solcher Erinnerungsfiguren in Ferstels Universität können sowohl die oben gesammelten Zitate als auch die typologischen Bezüge im Grundriss gelten. Durch die Bezugnahmen auf historische Architekturen mittels erinnernder Formzitate schreiben sich Bauwerke wie die Universität oder die Neue Burg in eine repräsentative Tradition ein und werden zum kulturellen Monument.379 Durch die abgestufte Intensität der Erinnerungsfiguren können diese komplexen Monumentalbauten ein breites Publikum ansprechen. Während der bereits oben genannte Burckhardt-Leser beim Besuch der Universität die Zitate den italienischen Vorbildern zuordnen konnte und dann beispielsweise über den erzeugten Zusammenhang zwischen der Biblioteca Marciana und der Wiener Universität sinnierte, reicht es dem imaginären Ringstraßenflaneur vielleicht, durch die Erinnerungsfiguren »überhöhter Mittelrisalit« und »Ehrenhof« an die Pracht barocker Schlossbauten erinnert zu werden und deren Würde auf die erste Universität des Kaiserstaates zu übertragen.

Reziprozität zwischen Stil und Monumentalcharakter  227

Zusammenfassung  : Reziprozität zwischen Stil und Monumentalcharakter

Die retardierte Befreiung der Inneren Stadt Wien von den Basteien und Stadtmauern erzeugte in den 1860er-Jahren einen massiven Ehrgeiz, diese Möglichkeit bestmöglich zu nutzen. Wie Eitelberger schon 1855 im Deutschen Kunstblatt gefordert hatte, würden nur der Rückbau der Befestigungen und die Anlage von Monumentalbauten an deren Stelle zur architektonischen Verschönerung der Stadt beitragen.380 Bezüglich des Aussehens dieser Monumentalbauten musste allerdings erst ein Konsens gefunden werden. Während die ältere Generation der Architekten Stilsynthesen mit einem deutlichen Einschlag der Frührenaissance, ganz im Sinne des Romantischen Historismus, für geeignet hielt, plädierte die nachfolgende Generation für eine stilreine Anwendung der italienischen Hochrenaissance, die als großartiger Kompromiss zwischen schlichter Eleganz und imperialer Pracht angesehen wurde. Im Zuge der Paradeplatzbebauung wich diese Strenge der Auslegung des monumental-idealen Stils einer offeneren semantisch argumentierten Auffassung. Die Wahl des Stils musste nun auch berühmte Architekturen derselben Bauaufgabe berücksichtigen und erinnernd an diese Tradition anknüpfen. Zeitgenössischer Zeuge dieser vom Zweck bestimmten Orientierung ist Wenzel Herzigs Architekturratgeber Die angewandte oder praktische Aesthetik, der die Ergebnisse der Stildebatte um die Bebauung des Paradeplatzes als allgemeingültige Theorie verzeichnete. »Es ist also die Darstellungsweise keine beliebige und der Willkür freigestellte, sondern eine von der zwecklichen Bestimmung, der Würde des Gebäudes und von dem Ausdrucke der nächsten Umgebung abhängige. […] Es muss also der Baustyl der Bestimmung des Zweckes und dem Charakter der nächsten Umgebung angepasst werden  ; und zwar dem Zwecke, weil der Ausdruck des Baustyls nicht immer dem Charakter der Bestimmung angemessen ist, wie es z.B. bei einem nach gothischer Form erbauten Theater der Fall ist, da die Theater ihrem griechischen und römischen Ursprung nach fast ausschließlich in der griechischen und römischen Bauweise erbaut werden«.381

Die Tatsache, dass die Bauten um den Paradeplatz in unterschiedlichen Stilen gestaltet wurden, muss Herzig besonders erfreut haben – auch wenn es im Text selbst keine Erwähnung findet – denn ein wichtiger Faktor in seiner Vorstellung von Monumentalbauten war der Kontrast, der das Bauwerk erst besonders hervorhebt.382 Der Stil der Renaissance war für die Universität in mehrfacher Hinsicht geeignet. Zum einen galt die Neorenaissance spätestens seit Gottfried Sempers im Jahr 1869 gehaltenem Vortrag Über Baustile als Ausdruck einer »kosmopolitischen Zukunftsarchitektur«, einer steinge-

228  Funktionalität – Monumentalität – Repräsentation

380 Eitelberger 1855, S. 400. 381 Herzig 1873, S. 7–8. 382 Ebd., S. 27–64.

wordenen, idealen »Synthesis der beiden scheinbar einander ausschließenden Kulturmomente, nämlich des individuellen Strebens und des Aufgehens in die Gesamtheit.«383 Diese beiden Ziele entsprachen weitgehend denjenigen des bildungsnahen Bürgertums, das Bildung einerseits als Prozess der personalen Selbstbestimmung und andererseits als Weg zu einer gruppenspezifischen Geselligkeit sah.384 Reinhart Koselleck betont in der Einleitung zum Sammelband Bildungsbürgertum im 19. Jahrhundert, dass »Selbstbildung durch Geselligkeit eine emanzipatorische Funktion hatte, weil sie sich gegen alle Autoritäten richtete, weil sie sich außerstaatlich konstituierte und offen gegen Standesunterschiede und kirchliche Vorgebote Front machte.« Daher ist Geselligkeit in diesem Zusammenhang als liberales Ideal zu verstehen. Mit der Rezeption römischantiker Architektur in der Neorenaissance – vermittelt durch die Renaissance – hoffte Semper auch, eine kosmopolitische Einstellung und ein liberales Staatsbewusstsein transportieren zu können.385 Dass sich diese politisch-liberale Auffassung der Neorenaissance verfestigt hatte, zeigt die starke Ablehnung dieses Baustils am Hofburgbau, wo stattdessen der österreichisch konnotierte Neobarock als Maria-Theresia-Stil propagiert wurde.386 Stattdessen wurde die Neorenaissance vom liberalen Bildungsbürgertum getragen,387 das einen Zusammenhang zwischen architektonischem Stil und humanistischem Weltbild herstellte, wie dies auch im Zitat Sempers deutlich wird. Jacob Burckhardt lobte in seiner kulturgeschichtlichen Publikation Die Kultur der Renaissance in Italien von 1860 nicht nur die Errungenschaften der Humanisten im Schulwesen,388 sondern setzte dieses Bildungsbestreben mit den zeitgenössischen Anstrengungen des Bildungsbürgertums in Beziehung  : »Laut genug pflegt auch unser laufendes Jahrhundert den Wert der Bildung überhaupt und den des Altertums insbesondere zu proklamieren. Aber eine vollkommen enthusiastische Hingebung, ein Anerkennen, daß dieses Bedürfnis das erste von allen sei, findet sich doch nirgends wie bei jenen Florentinern des 15. und beginnenden 16. Jahrhunderts.«389

383 Semper 1869, S. 422. 384 Koselleck 1990, S. 21–22. 385 Kruft 2004, S. 360. 386 Telesko 2007 B, S. 138  ; Nierhaus 2007, S. 301–302  ; Nierhaus 2012 C, S. 474–475. 387 Gollwitzer 1979, S. 10. 388 Burckhardt 1860, S. 208. 389 Ebd., S. 215. 390 Nägelke 2000, S. 94–142.

Diesem italienischen Ideal galt es also auch im Wiener Bildungsbestreben des 19. Jahrhunderts nachzueifern. Als wirkungsmächtiges, monumentales Zeichen für dieses Selbstverständnis konnte die Universität im Stil der Renaissance auf dem Paradeplatz sprechen. Hans-Dieter Nägelke kommt in seiner vergleichenden Untersuchung von Hochschulbauten im deutschen Kaiserreich ebenfalls zu dem Fazit, dass die Neorenaissance in den Jahren zwischen 1870 und 1895 weitgehend der bildungsbürgerliche Konsens für diese Bauaufgabe war.390 Als Bedeutungsträger für diesen tiefen Zusammenhang zwischen der Baukunst zur Zeit des Humanismus und der Bauaufgabe Universität fungiert beim Wiener Hauptgebäude aber nicht der Stil alleine. Viel-

Reziprozität zwischen Stil und Monumentalcharakter  229

mehr stützen die einzelnen Architekturzitate und die Bezugnahme auf traditionelle und anerkannte Bauten im Dienste der Wissenschaft, wie die Biblioteca Marciana oder die Venezianische Accademia, diese Aussage. Somit ist das Bauwerk trotz der deutlichen Verweise auf historische Vorbilder mehr als nur die Summe von Zitaten oder eines plumpem »Kunstwollens«. Die Zitate machen aufmerksam auf das Erbe, das die Institution Universität aus ihrer eigenen und der langen europäischen Institutionsgeschichte mitbringt. Der Stil der Renaissance selbst wird – nicht zuletzt durch die stilsemantischen Absprachen im Kontext der Paradeplatzbebauung – zur Stimme des Humanismus und der Bildung. So erzeugen sowohl der Stil als auch die Architekturzitate eine weitere semantische Geräuschkulisse im Gesamtwirken des Hauptgebäudes.

Die ikonografischen Programme im Spiegel der Wissenschaftsgeschichte

Neben zahlreichen formalen Elementen tragen auch inhaltliche und allegorische Motive zum Ausdruck eines Bauwerks bei und bilden oft die explizitesten Aussagen zur Funktion oder zum Anspruch der Architektur. Wenzel Herzig, dessen Angewandte oder praktische Ästhetik als theoretischer Spiegel der Paradeplatzbebauung anzusehen ist, hebt die Funktion allegorischer Figuren für die Wirkung eines Gebäudes hervor. »Der Ausdruck der Würde besteht in der Darstellung des Charakters nach der Zweckbestimmung des Gebäudes. Dieser wird erkennbar gemacht, wenn sowohl das Ganze wie seine Theile in einem der Zweckmässigkeit entsprechenden Verhältnis und nach einer auf die Zweckbestimmung bezughabenden Form durchgeführt werden  ; […] und endlich, wenn zur Vervollständigung noch jene Hilfsmittel in Anwendung gebracht werden, welche zur Verständlichkeit des darzustellenden Charakters wesentlich beitragen, wie dieses durch allegorische Figuren, Attribute, Emblems etc. bewirkt werden kann.«391

Die beiden vorangegangenen Kapitel haben gezeigt, dass am Bau der Wiener Universität sowohl die Zweckmäßigkeit in Form einer Kombination aus traditioneller Typologie mit funktioneller Raumanordnung als auch der stilistische Ausdruck der Zweckbestimmung erfüllt wurde. Allein durch die formalen Mittel der Architektur vermittelt das Bauwerk bereits seine Zweckbestimmung als Gebäude der Wissenschaft und Lehre. Das eigentliche Feld der künstlerisch-inhaltlichen Aussage, das Feld der Ikonografie, wird in diesem Unterkapitel behandelt. Im Hinblick auf das sprachliche Rauschen der Universitätsarchitektur sind die ikonografischen Programme sicherlich die entscheidendsten Merkmale, ohne den Grundtonus von zweckmäßiger Typologie und angemessenem

230  Funktionalität – Monumentalität – Repräsentation

391 Herzig 1873, S. 14.

392 Strobl 1964  ; Guth 2005  ; Strobl 2006 und Schorske 2006. 393 Natter 2012. 394 Mühlberger 2007, S. 59. 395 Wibiral/Mikula 1974, S. 67 und 69. 396 Krause 1980, S. 101–111. 397 Schwarz 1984 B, S. 36–49. 398 Mühlberger 2007, S. 52–65.

Stil würde aber auch das ausgefeilteste ikonografische Programm aufgesetzt wirken. Zweifellos am besten erforscht sind die drei Fakultäten-Allegorien, die Gustav Klimt ursprünglich für den Festsaal geschaffen hatte. Sie bildeten einen Wendepunkt in Klimts Schaffen und erzeugten wegen ihrer Andersartigkeit einen großen Kunstskandal. Zu den wichtigsten Publikationen zählen Alice Strobls Artikel von 1964, der Beitrag von Doris Guth im Ausstellungskatalog Die nackte Wahrheit und die Beiträge von Strobl und Schorske in dem Ausstellungskatalog Gustav Klimt. Der BeethovenFries und die Kontroverse um die Freiheit der Kunst.392 Die jüngste Nennung und Kontextualisierung findet in Tobias Natters Katalog Gustav Klimt – Sämtliche Gemälde statt.393 Die monumentalen Sgraffiti an der Fassade zur Reichsratstraße wurden bisher lediglich beschrieben,394 aber aufgrund der ungewöhnlichen Ikonografie und mangels eines überlieferten Programms konnte dieser Teil der Universitätsikonografie bisher nicht genauer identifiziert werden. Zum skulpturalen Fassadenschmuck fand bisher keine umfassende Interpretation statt, er ist aber an mehreren Stellen dokumentiert und beschrieben. Norbert Wibiral hat in seiner Dissertation über das Werk Ferstels seinen Katalogteil über die Universität hauptsächlich der Beschreibung der Architektur gewidmet. In mehreren Tabellen führt er den vorhandenen skulpturalen Fassadenschmuck zusammen, auf dessen Deutung verzichtet er jedoch. In der Ringstraßen-Publikation von Norbert Wibiral und Renata Mikula werden lediglich die Themen der Innenausstattung genannt, aber auch hier liegt der Fokus der Beschreibung auf den architektonisch-formalen Elementen.395 In der Überblickspublikation zur Plastik der Wiener Ringstraße beklagte Walter Krause Ferstels architektur-despotische Einstellung, die ein großzügiges skulpturales Programm verhindert habe.396 Die knappe Analyse beschränkt sich hier eher auf formale Momente der Universitätsplastik. Die erste ausführliche Beschreibung des skulpturalen Fassadenprogramms, der Sgraffiti und der anderen ikonografisch relevanten Ausstattungen verfasste Mario Schwarz im Festband zum 100-jährigen Bestehen des Gebäudes im Jahr 1984.397 Neben der Beschreibung der Bildprogramme sieht Schwarz die Symbolik des Baus allerdings auch vorrangig im Stil verankert. Beschrieben werden sowohl das plastische Programm als auch die Sgraffiti in Kurt Mühlbergers Publikation zum Hauptgebäude der Universität Wien, dem Palast der Wissenschaft.398 Ausgangspunkt für eine erste inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Figurenprogramm der Fassade war die Ausstellung Begegnung mit dem Autor. Porträts antiker Autoren in Büchern des 15. bis 18. Jahrhunderts in den Räumen der Universitätsbibliothek im Sommersemester 2011. Ergänzend zu den Autorenporträts in den neuzeitlichen Publikationen

Die ikonografischen Programme im Spiegel der Wissenschaftsgeschichte  231

Abb. 145: Hauptgebäude der Universität Wien, Josef Tautenhayn d. Ä., Giebelrelief über dem Haupteingang zur Ringstraße, um 1884 (Foto: Franz Pfluegl, 2006)

Abb. 146: Hauptgebäude der Universität Wien, Edmund Hellmer, Allegorische Gruppe der Philosophie, um 1884 (Foto: Franz Pfluegl, 2006)

wurden die Fotografien der Fassadenfiguren und der Porträtmedaillons in Schaukästen präsentiert und mit den Buchvorlagen verglichen. Die parallel entstandenen Forschungsergebnisse werden in einem gemeinsamen Ausstellungssammelband publiziert.399 Das folgende Kapitel zum skulpturalen Programm nimmt diese auf und erweitert sie an denjenigen Stellen, an denen seit 2011 der Wissensstand durch aufgefundene Archivalien präzisiert werden konnte.

Skulpturales Programm

Das Zentrum des skulpturalen Fassadenprogramms der Universitätsfassade ist das Giebelrelief Geburt der Minerva über dem Hauptein-

232  Funktionalität – Monumentalität – Repräsentation

399 Im Sommersemester 2011 fand am Institut für Klassische Philologie, Neu- und Mittellatein die von Elisabeth Klecker organisierte Ringvorlesung Autorschaft. Konzeptionen, Transformationen, Diskussionen statt. In diesem Rahmen wurden in der Ausstellung Begegnung mit dem Autor. Porträts antiker Autoren in Büchern des 15.–18. Jahrhunderts auch die Fotografien aller Nischenfiguren und Medaillons der Außenfassade der Universität präsentiert und mit einem von der Autorin erarbeiteten Text begleitet. Die Arbeiten für die Ausstellung bildeten den Ausgangspunkt für einen Artikel, der aus kunsthistorischer Sicht die Gelehrtenporträts der Universität beleuchtet. Rüdiger 2013.

Abb. 147: Hauptgebäude der Universität Wien, Edmund Hellmer, Allegorische Gruppe der Theologie, um 1884 (Foto: Franz Pfluegl, 2006)

Abb. 148: Hauptgebäude der Universität Wien, Rudolf Weyr, Allegorische Gruppe der Jurisprudenz, um 1884 (Foto: Franz Pfluegl, 2006)

Abb. 149: Hauptgebäude der Universität Wien, Rudolf Weyr, Allegorische Gruppe der Medizin, um 1884 (Foto: Franz Pfluegl, 2006)

400 Vgl. Lemayer 1878, S. 15.

gang an der Ringstraße [Abb. 145]. Athene, oder latinisiert Minerva, ist die griechische Göttin der Weisheit und des Kampfes, und sie gilt als Beschützerin der Wissenschaft. Die Inschrift unter dem Giebelfeld bestimmt die Thematik des gesamten Skulpturenprogramms  : Universitas litterarum vindobonensis. In Bezugnahme auf das Humboldt’sche Universitätsideal der Einheit der Wissenschaften und deren Gleichberechtigung soll hier auch die Wiener Universität als moderne Volluniversität hervorgehoben werden.400 Dementsprechend werden die Allegorien der

Die ikonografischen Programme im Spiegel der Wissenschaftsgeschichte  233

vier Fakultäten als allegorische Figuren auf den Ringstraßenpavillons präsentiert [Abb. 146–149]. In der Attikazone zwischen den Pavillons und dem Mittelrisalit stehen vierundzwanzig allegorische Einzelfiguren für die Disziplinen der Fakultäten. Dabei sind bekannte ikonografische Konzepte, wie die Allegorie der Philosophie, ebenso vorhanden wie seltenere, wie die des Bergrechts oder der Hygiene. An den Seitenfassaden bekrönten ursprünglich sechszehn mythologische Figuren die Risalite. Neben diesen allegorischen Gestalten dienen zahlreiche weitere plastische Darstellungen dem wissenschaftsikonografischen Fassadenprogramm. Wiederum den einzelnen Fakultäten zugeordnet, befinden sich die vierundzwanzig Nischenfiguren und Porträtmedaillons an den Pavillons an allen Seiten des Gebäudes [Abb. 150]. Im Gegensatz zu den Skulpturen(-gruppen) im Attikabereich stellen diese Statuen und Reliefs keine allegorischen Figuren, sondern historische Gelehrte dar. Zusätzlich zu diesen Gelehrtenporträts werden in Frieskartuschen noch achtzig Wissenschaftler namentlich repräsentiert [Abb. 136]. Eine zeitgenössische Zeitungsnotiz verdeutlicht das System der Zuordnung dieser Gelehrten in Nischen, Medaillons und Kartuschen. In »den Nischen sollten

234  Funktionalität – Monumentalität – Repräsentation

Abb. 150: Hauptgebäude der Universität Wien, Übersichtsplan des Fassaden­ schmucks: Nischenfiguren und Medaillons

401 Anonym, Äußere Ausschmückung der neuen Universität, in  : LocalAnzeiger der Presse, 10. Juli 1881, (34. Jahrgang, Nr. 188), S. 11. 402 Csáky 1996, S. 27–28  ; Braw 2007, S. 49. 403 Siehe Rüdiger 2013. 404 Semper 1874, S. 67. 405 Vgl. Telesko 2006, S. 24–25. 406 Telesko 2006, S. 43.

die hauptsächlichsten Vertreter der vier Facultäten im Alterthume als freistehende Figuren zur Aufstellung gelangen« und »die bedeutendsten Repräsentanten derselben im Mittelalter und der Renaissance als Porträtbüsten in den Medaillons zur Ansicht gelangen. Schließlich glänzen in den Cartouches des Frieses vom 1. Stock-Hauptgesimse die Namen jener Männer, die sich um die einzelnen Fächer in der Neuzeit in hervorragender Weise verdient gemacht haben«.401 Die Programmatik der Fassadengestaltung nutzt also neben den allegorisierenden Darstellungen der Fakultäten und Disziplinen auch international hochrangige, historische Vertreter der Wissenschaften, um den Rang der Institution zu repräsentieren. Die denkmalhafte Darstellung der Gelehrten an der Fassade ist im Kontext der Modernisierung der Geschichtswissenschaften zu sehen. Wie schon im vorherigen Kapitel gezeigt, fokussierte das neue Geschichtsbewusstsein des 19. Jahrhunderts vermehrt auf die Errungenschaften einzelner Persönlichkeiten, die den Verlauf der Geschichte prägten.402 An den Fassaden und Attiken monumentaler Gebäude ordneten sich diese Einzeldenkmäler in die Monumenthaftigkeit des Bauwerks ein und sollten zur Stärkung der monumentalen Aussage beitragen. In seiner Gesamtheit, gemeinsam mit den Attikafiguren(-gruppen) und dem zentralen Giebelrelief, verdeutlicht das Fassadenprogramm den inneren Zweck des Gebäudes  : der Volluniversität als Zentrum für Lehre und Forschung zu dienen. Dabei verweist es aber auch auf den hohen Anspruch der Institution selber, sich in die Tradition der bedeutendsten Vertreter der Wissenschaften seit der Antike zu stellen.403 Eine ähnliche, aus Allegorien und historischen Repräsentationsfiguren kombinierte, Monumentalstrategie verfolgte auch Gottfried Semper an den Fassaden der Wiener Hofmuseen. In seinem Programmentwurf für das Kunsthistorische Museum aus dem Jahr 1874 betonte er sein Bestreben »den äußeren Schmuck eines Kunstmuseums mit dessen Inhalt […] in Einklang zu bringen«.404 Daher plante er für jedes der beiden Museen die Fassadengestaltung gemeinsam mit dem jeweiligen Direktor, um den inhaltlichen Schwerpunkt fachspezifisch zu repräsentieren.405 Für das Naturhistorische Museum entwickelte Semper mit dem Direktor Ferdinand Ritter von Hochstetter ein Programm mit vierunddreißig Attikafiguren der wichtigsten Naturforscher und vierundsechzig Porträtköpfchen weiterer Wissenschaftler, die in den oberen Rahmungen der Mezzaninfenster angebracht wurden. Eingebettet sind die Statuen und Porträtköpfe der historischen Gelehrten auch hier in ein umfassendere Programm, nämlich »in [einen] – in der gesamten Ikonographie des Museums präsenten – Naturkosmos, der besonders durch allegorische und mythologische Figuren akzentuiert wird, gipfelnd in der fünf Meter hohen Bronzestatue des griechischen Sonnengottes Helios und in vier griechischen Gottheiten in den diese umgebenden Tabernakeln, die für die vier Elemente stehen (Urania, Poseidon, Gaia und Hephaistos).«406

Die ikonografischen Programme im Spiegel der Wissenschaftsgeschichte  235

Durch die Kombination allegorisierender Darstellungen mit einer großen Auswahl historischer Wissenschaftler erreichen sowohl die Fassade des Naturhistorischen Museums als auch die der Universität einen umfassenden, ja enzyklopädischen Ausblick auf die Bestimmung der Institutionen. In der Festschrift bei der Gelegenheit der feierlichen Enthüllung seines Denkmals im k .k. Österreichischen Museum für Kunst und Industrie hatte Rudolf von Eitelberger betont, dass die »plastische Ausschmückung der Aussenseite der Universität […] nach den Ferstel’schen Ideen durchgeführt« worden sei.407 Diese Aussage übernimmt zumindest Norbert Wibiral, allerdings mit dem Hinweis, dass das Programm nicht überliefert sei.408 In der späteren Literatur wird auf die Autorschaft des Konzepts nicht eingegangen. Die jüngste Forschung, die hier dokumentiert wird, geht aber davon aus, dass es sich nicht um eine alleinige Erfindung Ferstels handelt. In der erhaltenen Korrespondenz zwischen Eitelberger und Ferstel im Nachlass Eitelbergers befindet sich ein erster Hinweis auf das Fassadenprogramm und dessen Autorschaft. Am 19. Juni 1879 schrieb Ferstel  : »Hochverehrter Freund  ! Mit vielem Danke sende ich Dir den Entwurf zum statuarischen Schmucke an der Universität zum Behufe der Verfassung der Abschrift zurück. Ich habe mir erlaubt, nur einige technische Bezeichnungen der Bautheile welche zum Anbringen des Schmuckes ausersehen sind, näher zu präzisieren. So dürfte nach meiner Ansicht der Ausdruck Giebel bezeichnender nur für den Tympanon in der Mitte der Hauptfacade, der Platz für die Aufstellung der Gruppen an den Risaliten oder Pavillons am besten als Attika genannt werden, während der Ort für die oberste Figurenreihe in den Seitenfacaden als das den Mittelbau derselben krönende Gesimse bezeichnet werden könnte. Außer diesen mir wünschenswerth erscheinenden ganz unwesentlichen Änderungen scheint mir der Entwurf nun vollständig entsprechend. Ich erlaube mir nun die Bitte, falls die Abschrift wie ich vermuthe Sr. Excellenz dem Herrn Minister übergeben werden sollte mir dann das Concept auf einen Tag gütigst zur Verfügung stellen zu wollen, damit ich deren Abschrift nehmen und den Entwurf dem BauComite vorlegen könnte wegen Ertheilung von Aufträgen an die betreffenden Künstler. Indem ich Deine so überaus freundliche Intervention in dieser so wichtigen künstlerischen Angelegenheit dankbar hervorhebe, hoffe ich daß es mir gelingen werde, die erforderlichen Mittel vom Comité zu erlangen, und durch gute Organisirung dieser Arbeit ein gelungenes künstlerisches Ensemble zu Stande zu bringen. Mit aufrichtiger Hochachtung Dein ergebenster v Ferstel«409

Der Hinweis, dass Ferstel den Entwurf mit terminologischen Korrekturen zurückschickt, bedeutet jedenfalls, dass Ferstel nicht alles selbst

236  Funktionalität – Monumentalität – Repräsentation

407 Eitelberger 1884, S. 24. 408 Wibiral 1952, S. 320. 409 Brief von Ferstel an Eitelberger am 19. Juni 1879, Wienbibliothek, Handschriftensammlung, Inv. Nr. 22.860.

verfasst hatte, sonst müsste er nachträglich keine Architekturbegriffe korrigieren. Zusätzlich betonte Ferstel dankend Eitelbergers Intervention in dieser so wichtigen künstlerischen Angelegenheit, was wiederum auf einen Eingriff seitens Eitelbergers hinweist. Darüber hinaus muss in Betracht gezogen werden, dass das Baucomité, dem es vorgelegt werden sollte, weitere Modifikationen gefordert hatte und, dass auch die Fakultätsvertreter auf das Programm Einfluss nehmen wollten. Es sind zwar keine Aufzeichnungen einer solchen Kommission zur Erstellung des Fassadenprogramms erhalten, aber eine schriftliche Notiz des Philologen Theodor Gomperz deutet darauf hin, dass zu einem späteren Zeitpunkt, genauer Anfang Juli 1880, beratende Besprechungen zu dem Programm stattgefunden haben.410 Durch Ferstels Schreiben konnte Eitelbergers Nachlass in der Wienbibliothek gezielt nach einem entsprechenden Dokument durchsucht werden und tatsächlich befindet sich dort in einer anderen Mappe ein Dokument, das zwei Fassungen des Fassadenprogramms enthält. 411 In einem Dokument mit lockerer Handschrift sind eben jene Korrekturen, die Ferstel auch in seinem Brief an Eitelberger angesprochen hatte, eingetragen. Andere Seiten in dieser Mappe sind bereits in Kanzleischrift festgehalten, aber auch diese enthalten noch zusätzliche Anmerkungen und Korrekturen. Das Schreiben richtete sich an den Unterrichtsminister Karl von Stremayer, der dieses Amt von 1870 bis 1880 innehatte, und beschreibt das Konzept des Fassadenschmuckes. In zusätzlichen Tabellen sind hier die namentlichen Vorschläge für mythologische Figuren und Wissenschaftler aufgelistet. Die Grundeinteilung sollte nach folgendem Schema erfolgen  : »Nachdem Se. Majestät der Kaiser dem Minister v. Stremayer mündlich die Zustimmung ertheilt hat, daß der statuarische Schmuck am neuen Gebäude der Universität in der Weise angebracht werden soll, daß an den Außenseiten das ideale und antike Element in den Vordergrund tritt, bei den Innenräumen, dem Stiegenhause, den Festsälen, der Aula die österreichische, speziell die Universitätsgeschichte zur Geltung kommt, so wären folgende Gesichtspunkte in erster Linie in Betracht zu ziehen«.412 410 Gomperz 1974, S. 114. 411 Entwurf des Fassadenprogramms der Universität, Wienbibliothek, Handschriftensammlung, Inv. Nr. 23.468. 412 Entwurf des Fassadenprogramms der Universität, Wienbibliothek, Handschriftensammlung, Inv. Nr. 23.468. Die Hervorhebungen sind vom Original übernommen.

Die idealen und antiken Elemente, die an den Fassaden in den Vordergrund treten sollten, sind deutlich durch die Allegorien und die historischen Gelehrten vertreten. Der Hinweis auf die Innenräume und Stiegenhäuser zeigt wiederum, wie schon im vorherigen Kapitel gesehen, dass das Innere der Universität nicht nur hätte reicher geschmückt werden sollen, sondern integraler Bestandteil des Ausstattungskonzeptes war. Der isometrische Schnitt von Julian Niedzielski zeigt daher auch in den Nischen des Stiegenhauses statuarischen Schmuck [Abb. 51]. Von

Die ikonografischen Programme im Spiegel der Wissenschaftsgeschichte  237

diesem österreichspezifischen Schmuck beziehungsweise der Darstellung der Universitätsgeschichte kamen als Statuen nur Rudolf IV., Maria Theresia (beide im Festsaal) [Abb. 75–76] und Kaiser Franz Joseph (an der Juristenstiege) [Abb. 151] zur Ausführung. Durch die Rektorentafeln und die Ehrentafeln der Fakultäten im Vestibül und den Seitenvestibülen konnte ab 1893 die Universitätsgeschichte immerhin in Stichworten einen schriftlichen Niederschlag finden. 413 Die Galerie der Rektorenbildnisse erfüllt ebenfalls diesen Zweck im Medium der Malerei.414 Durch die geplante malerische und skulpturale Ausstattung der Stiegenhäuser wären die Geschichte der Universität Wien und die österreichische Wissenschaftsgeschichte stärker zum Ausdruck gekommen. Für die Ringfassade wurden die folgenden Überlegungen formuliert  : »Der Hauptschmuck ist selbstverständlich auf die vordere Façade conzentrirt, welche dem Schottenringe zugewendet erscheint. Da ein großer Giebel und vier Eckrisalite (Pavillons) vorhanden plastisch zu dekorieren sind, so macht die Vertheilung der Gruppen wenig Schwierigkeiten. Selbstverständlich fallen die vier Eck-Risalite den vier Fakultäten  : der Theologie, der Jurisprudenz, der Philosophie und der Medizin zu  ; die Gruppen auf den Attiken der sonstige statuarische Schmuck der Pavillons Eckrisalite gehört für die Repräsentation lehnen sich an den Gedanken der vier Fakultäten an. Das große Giebelfeld in der Mitte der Hauptfaçade soll die Geburt Athenens aus dem Haupte Jupiters darstellen mit Anlehnung an die große Darstellung am Parthenon auf der Akropolis von Phidias. Da die Universität gewissermaßen selbst die Geburtsstätte des Lichtgedankens der Wissenschaften ist, so ist dieses Thema wohl das bezeichnendste für das Haupt-Giebelfeld der Universität. Als Bekrönung derselben ist eine Nike zu denken und ebenso Niken auf der Ballustrade des großen Daches, welches den Mittelbau und die Aula überdeckt. Die beiliegende Tabelle gibt die Übersicht des statuarischen Schmuckes der Hauptfaçade.«415

Der erste und zentralste Punkt ist hier die einheitliche Repräsentation der vier Fakultäten und das Giebelrelief als programmatisches Herzstück. Die Geburt der Minerva aus dem Haupt Jupiters soll die Institution Universität als Geburtsstätte der Wissenschaften auszeichnen. Deren ruhmreicher Weg kommt durch die bekrönende Siegesgöttin Nike zum Ausdruck. Von besonderem Interesse ist der Verweis auf das prominente Vorbild des Reliefs, den Ostgiebel des Parthenon. Die Rekonstruktionen seit dem 17. Jahrhundert zeigen in den äußeren Winkeln des Giebels immer mehrere Pferdeköpfe. Diese hat der Wiener Bildhauer Joseph Tautenhayn in seiner Komposition nicht übernommen [Abb. 145]. Der Bezug zwischen der Wiener Geburt der Athene und dem antiken Relief am wichtigsten Athene-Tempel ließ sich zweifellos dennoch herstellen und bedeutete dem Betrachter und Besucher, dass diese Wiener Universität als Wiege der Wissenschaft in einer direkten Verwandtschaft steht

238  Funktionalität – Monumentalität – Repräsentation

Abb. 151: Caspar von Zumbusch, Kaiser Franz Joseph I., 1888 (Foto: Franz Pfluegl, 2006)

413 Mühlberger 2007, S. 69–71 und S. 88. 414 Natter 1988. 415 Entwurf des Fassadenprogramms der Universität, Wienbibliothek, Handschriftensammlung, Inv. Nr. 23.468. Diese Abschrift entspricht dem in Kanzleischrift gehaltenen, späteren Dokument, in dem Ferstels Anmerkungen aus dem Brief vom 19. Juni 1879 bereits in Kanzleischrift eingearbeitet sind. Die Hervorhebungen durch Unterstreichen sind vom Original übernommen. Weitere Anmerkungen und Streichungen sind hier ebenfalls übernommen.

mit einem der berühmtesten Bauwerke der Antike und dem wichtigsten Tempel der Göttin der Wissenschaft. Die vier Pavillons sollten zur Ringstraße mit allegorischen Gruppen der vier Fakultäten bekrönt werden [Abb. 146–149]. Die Gruppe der Philosophie sollte laut der beigefügten Tabelle im Programm folgendermaßen dargestellt werden  : »Begeisterung, Vertiefung dann Beobachtung und Erfahrung«416 Diese stichpunktartige Charakterisierung wurde in dieser Form nicht übernommen, stattdessen sitzt die Philosophia dozierend auf einer gepolsterten Bank und hält ein Buch oder eine Schrifttafel. Zu ihrer Rechten lehnt eine weibliche Figur auf einem dicken Stapel Bücher und hält ein Manuskript in der Hand, sie könnte für die Geisteswissenschaften stehen. Die männliche Figur auf der anderen Seite deutet auf eine Kugel, und soll möglicherweise die Naturwissenschaften darstellen. Die Gruppe der Theologie folgt den Vorgaben  : Die sitzende Personifikation der Theologie hält in ihrer Linken ein großes Kreuz während sie die Rechte zum Segensgestus nach vorne streckt. Neben ihr sitzt die männliche Verkörperung der Bibelforschung und auf deren anderen Seite die religiöse Begeisterung als junge Frau mit Kind.417 Für die Jurisprudenz und Medizin schlägt das Programm die folgenden Konstellationen vor  : »Figur mit Schwert und Wage, Richteramt (  :Gesetzgebung  :), Staatswirthschaft« und »Aesculapstatue, rechts der heilende Arzt, links die Hygiene«.418 Ganz diesen Vorgaben entsprechend wurden die beiden allegorischen Gruppen Jurisprudenz und Medizin ausgeführt. Die Attikabereiche zwischen den vier Fakultätsgruppen sollten ebenfalls mit Statuen geschmückt werden. Wegen der großen Höhe eignete sich der Aufstellungsort nicht für Gelehrtenbildnisse, so sollten hier stattdessen Wissenschaftsallegorien ihren Platz finden  :

416 Entwurf des Fassadenprogramms der Universität, Wienbibliothek, Handschriftensammlung, Inv. Nr. 23.468. 417 Entwurf des Fassadenprogramms der Universität, Wienbibliothek, Handschriftensammlung, Inv. Nr. 23.468. 418 Ebd. 419 Ebd.

»Zwischen den vier Thürmen kämen 20 allegorische Figuren zu stehen, welche die einzelnen Disziplinen der vier Fakultäten mit ihren Attributen darstellen. Bildnißstatuen sind an diesem Ort nicht passend  ; dagegen wird darauf Gewicht gelegt werden müssen, daß die Figuren in der Silhouette schön wirken und einen harmonischen Gesamteindruck machen. Bei diesen allegorischen Figuren ist besonders zu berücksichtigen, daß sie die vier Fakultäten repräsentiren und daß die einzelnen Disziplinen durch die den Figuren beigegebenen Attribute leicht erkennbar sind.«419

Die geforderte leichte Erkennbarkeit stellte nicht nur wegen des großen Abstands zum Betrachter eine erhebliche Schwierigkeit dar, sondern auch wegen der unkonventionellen Ikonografien der Disziplinen selbst. Die dem Text beigefügte Tabelle führt folgende Disziplinen an, von denen nicht alle eine etablierte Ikonografie besaßen. Daher wurde die Verständlichkeit der Attribute derart betont  :

Die ikonografischen Programme im Spiegel der Wissenschaftsgeschichte  239

Abb. 152: Hauptgebäude der Universität Wien, Attikafiguren (Staatsrecht, Handelsund Seerecht, Bergrecht, Strafrecht v.r.n.l.) (Foto: Franz Pfluegl, 2006)

Abb. 153: Hauptgebäude der Universität Wien, Attikafiguren (Philosophie, Physik, Mathematik und Geschichte v.l.n.r.) (Foto: Franz Pfluegl, 2006)

»Die allegorischen Figuren können folgende Fächer repräsentieren  : Logik, Psychologie, Ethik, Metaphysik, Geschichte, Chronologie, Geographie, Pädagogik, Alterthumskunde, Sprachenkunde, Botanik, Mineralogie, Zoologie, Geologie, Ethnographie, Chemie, Physik, Geodäsie, Astronomie, Kriminalrecht, bürgerliches Recht, Staatswissenschaft, Statistik, Volkswirthschaft, Handelsrecht, Kirchenrecht, deutsche Reichs- und Rechtsgeschichte, römisches Recht, Theologie, Liturgik, Dogmatik, Bibelkunde, Anatomie, Pathologie, Farben- Geodäsie, und Toxologie, Medizin, Chirurgie, Augen- und Ohrenheilkunde, Gynekologie, Psichiatrie, Staatsarznei Kunde.«420

Tatsächlich ausgeführt wurden vierundzwanzig Disziplinenallegorien, für die philosophische Fakultät diejenigen der Philosophie, Physik, Mathematik und Geschichte [Abb. 152], für die theologische Fakultät diejeni-

240  Funktionalität – Monumentalität – Repräsentation

420 Entwurf des Fassadenprogramms der Universität, Wienbibliothek, Handschriftensammlung, Inv. Nr. 23.468.

Abb. 154: Hauptgebäude der Universität Wien, Alois Düll, Attikafigur der Pastoral­ theologie, um 1884 (Foto: Franz Pfluegl, 2006)

gen der Dogmatik, Apologetik, Moraltheologie und Pastoraltheologie, Patristik, Kirchengeschichte, Bibelwissenschaft und des Kirchenrechts, für die juridische Fakultät diejenigen des Staatsrechts, Handels- und Seerechts, Bergrechts, Strafrechts, Zivilrechts, Prozessrechts, Völkerrechts und der Volkswirtschaft [Abb. 153], für die medizinische Fakultät diejenigen der Hygiene, Psychologie sowie externe und interne Medizin.421 Mit dieser Auswahl hatte man sich zwar für bekanntere Ikonografien entschieden, dennoch sind die Attikafiguren ohne zusätzliche Hilfestellungen nicht immer eindeutig an ihren Attributen zu erkennen. Zu den ikonografisch deutlicheren Darstellungen zählen sicherlich die Personifikationen der Pastoraltheologie [Abb. 154], des Handels- und Seerechts und des Bergrechts, deren Attribute sie jeweils auszeichnen. In der großen Anzahl der Wissenschaftsdisziplinen, die bei Weitem nicht der bereits bestehenden Vielzahl entsprach, vermitteln die Personifikationen auch ohne eindeutige Identifizierung aber dennoch das Bild einer modernen, ausdifferenzierten Wissenschaft und eines großen wissenschaftlichen Angebots an dieser größten Universität des Reiches. Noch größer ist die enzyklopädische Breite in der nächsten wissenschaftsikonografischen Kategorie der hervorragendsten Repräsentanten der einzelnen Fächer  :

421 Mühlberger 2007, S. 60–65. Die vier Allegorien der Medizin sind heute nicht mehr erhalten.

»In den Cartouchen des Frieses am Hauptgesimse sind die Namen der hervorragendsten Repräsentanten der einzelnen Fächer anzubringen. Hierbei ist darauf Rücksicht zu nehmen, daß diese Namen die ältesten Repräsentanten bis in die Gegenwart vorführen. An den Seitenfaçaden entfallen die Gruppen auf den Eckrisaliten. Es kommen daselbst nur die Statuen und Medaillons in den

Die ikonografischen Programme im Spiegel der Wissenschaftsgeschichte  241

Pavillons, so wie die das oberste Gesimse des Mittelbaues krönenden Figuren in Betrachtung. Es wird bei der Ausführung darauf Rücksicht zu nehmen sein, daß die Medaillons mit der Hauptfigur übereinstimmen und die gewissermaßen darzustellenden Personen denselben Gedanken aussprechen und demselben Wissenszweige ausdrücken angehören.«422

Während die epochenübergreifende Breite der Repräsentanten bereits angemerkt wird, fehlt hier noch die in der Zeitungsnotiz von 1884 angesprochene Zuordnung der Epochen zu Nischen, Medaillons und Kartuschen.423 Stattdessen soll in den Kartuschen die gesamte historische Bandbreite abgedeckt werden, wie die Beschreibung in der Tabelle erläutert  : »In den Kartouchen kommen die Namen der hervorragendsten Vertreter der vier Fakultäten, aus ältester Zeit, bei einigen Disziplinen auch Repräsentanten der neuesten Zeit anzuführen.«424

Inwiefern sich die in den Nischen und Medaillons dargestellten Gelehrten von der Masse in den Namenskartuschen absetzen, wurde in diesem Programm nicht geklärt. Die in der Tabelle vorgeschlagenen Persönlichkeiten für die Nischen und Medaillons stimmen nur teilweise mit den tatsächlich ausgeführten Statuen und Profilen überein.425 Für die Vertreter der Theologischen Fakultät empfahl dieses Programm Moses, Paulus, Hieronymus und Augustin. Ausgeführt wurden dann Moses, Petrus [Abb. 155], Augustinus und Chrysostomos. Letzterer war für ein Medaillon vorgeschlagen und wurde als Statue realisiert, wohingegen Hieronymus in einem Medaillon wiedergegeben wurde. Petrus, der in der Tabelle von 1879 nicht auftauchte, wurde als Statue verwirklicht und Paulus direkt darüber als Medaillon [Abb. 156 a–d]. In dieser Zusammenstellung wurde besonders darauf geachtet, »daß die Medaillons mit der Hauptfigur übereinstimmen«426 beziehungsweise eine sinnhafte Einheit ergeben. Im Bereich der Jurisprudenz wurden von den vier Vorschlägen für die Nischen drei übernommen, nämlich Solon, Karl der Große und Justinian. Statt Cicero wurde Karl V. aufgenommen. Die Vertreter der Rechtswissenschaft, deren Profil in den Medaillons wiedergegeben werden sollte, waren laut Tabelle Perikles, Numa, Carl V. und Gregor IX., stattdessen befinden sich dort heute Papinian, Gratian, Eike von Repgow und Schwarzenberg427. Die Liste für die Namenskartuschen von 1879 war noch unvollständig, aber auch hier wurden nicht alle Vorschläge übernommen. Im Bereich der Theologie kann dies auch daran liegen, dass manche Namen sowohl in dieser Liste als auch bei den Vorschlägen für die Porträts vorkamen, so wurden beispielsweise Chrysostomos und Hieronymus doppelt genannt.

242  Funktionalität – Monumentalität – Repräsentation

Abb. 155: Hauptgebäude der Universität Wien, Nischenfigur des Petrus, um 1884 (Foto: Elisabeth Klecker, 2011)

422 Entwurf des Fassadenprogramms der Universität, Wienbibliothek, Handschriftensammlung, Inv. Nr. 23.468. 423 Anonym, Äußere Ausschmückung der neuen Universität, in  : LocalAnzeiger der Presse, 10. Juli 1881, (34. Jahrgang, Nr. 188), S. 11. 424 Entwurf des Fassadenprogramms der Universität, Wienbibliothek, Handschriftensammlung, Inv. Nr. 23.468. 425 An dieser Stelle können nicht alle 128 angeführten Namen mit den Vorschlägen in diesem Programm verglichen werden. Daher werden nur einzelne Beispiele genannt. 426 Entwurf des Fassadenprogramms der Universität, Wienbibliothek, Handschriftensammlung, Inv. Nr. 23.468. 427 Im Gegensatz zu Kurt Mühlbergers Annahme (Mühlberger 2007, S. 61– 62.), dass es sich um Friedrich Josef Cölestin von Schwarzenberg, einen zeitgenössischen Salzburger Erzbischof, handelt, nimmt die Autorin an, dass hier Johann Friedrich von

Abb. 156a-d: Fassadenmedaillons: a) Are­ taeus (l.o.) b) Erasmus (r.o.) c) Paulus (l.u.) d) Kepler (r.u.) (Fotos: Elisabeth Klecker, 2011)

Schwarzenberg (* 26. Dezember 1463 auf Schloß Schwarzenberg, † 20. Oktober 1526 in Nürnberg) gemeint ist. Dieser war Staatsmann, Humanist und Verfasser der sogenannten Bambergischen Halsgerichtsordnung, des ersten deutschen Strafgesetzbuches. Als Jurist wäre dieser Schwarzenberg besser für die Reihe der juridischen Fakultät geeignet. 428 Entwurf des Fassadenprogramms der Universität, Wienbibliothek, Handschriftensammlung, Inv. Nr. 23.468.

Für die rückwärtige Fassade zur Reichsratstraße war kein Programm vorgesehen, da sich dieser Bauteil – nach der Bauplanänderung von 1878 – noch in keinem fortgeschrittenen Stadium befand  : »Da bekanntermaßen die rückwärtige Seite für die Bibliothek bestimmt ist, so ist die Bezeichnung des statuarischen Schmucks hierfür von geringerer Dringlichkeit.«428 Stattdessen forcierte das Programm die Überlegungen zur Gestaltung der Seitenfassaden zum Rathauspark und zur Alserstraße (heute Universitätsstraße). »Von größerer Wichtigkeit hingegen ist die Bezeichnung der je acht Figuren, welche an den Attiken der Seitenfaçaden angebracht werden sollen. Die Figuren jener Seitenfaçade, die sich unmittelbar an den Eckthurm der philosophischen Fakultät anschließt, ist sollen mit der philosophisch historischen und den humanistischen Wissenschaften in Zusammenhang gewidmet stehen. Die gegenüberliegende Seitenfaçade ist für die naturwissenschaftlichen und medizinischen Disziplinen bestimmt. Demgemäß müssen die oben erwähnten Figuren welche in der Dachhöhe des Mittelbaues anzubringen sind und welche keine Portraits sein dürfen, sondern allegorische Figuren sein müssen, auf der einen Seite Darstellungen enthalten, welche mit den humanistischen Wissenschaften

Die ikonografischen Programme im Spiegel der Wissenschaftsgeschichte  243

im Zusammenhange stehen, auf der anderen Seite wieder Figuren zeigen, die mit dem Naturdienste in Verbindung gebracht werden können. Auf jeder Seite kommen acht Figuren u. z. gesondert in je vier Gestalten, so zwar, daß immer je vier Figuren einen inneren Zusammenhang haben. Es würden daher auf der humanistischen Seite 1). Vier Figuren kommen, welche mit der Schönheitsidee in Zusammenhang stehen  ; die drei (alten) Musen und die Charis oder Psyche, in der zweiten Gruppe vier Figuren, die mehr oder minder mit der Rechtsidee im Zusammenhange stehen, die Tyche, und Nemesis, die Eirene und Enyo (Bellona). Auf der naturwissenschaftlichen Seite würden wieder 1.) Kronos, Gaia, Uranos, Prometheus und 2.) wieder vier Gottheiten kommen, welche mit dem Lichtwesen im Zusammenhange stehen, wie Sol Phoebus, Selene Eos und Iris doch könnte bei den letzteren auch wenn es beliebt würde, mehr die Elemente des Wassers und der Vegetation wie Flora und Priap, Hemera und Nix zur Darstellung kommen. Die nähere Bezeichnung derselben ist aus dem beiliegenden Verzeichniße zu ersehen.«

Gemäß diesem Programm sollen die mythologischen Attikafiguren wiederum für die verschiedenen Wissenschaftsbereiche stehen. Sie verkörpern aber nicht konkrete Disziplinen, sondern vielmehr abstrahierte Leitideen von Kultur und Wissenschaft. Der erste Risalit der Fassade zum Rathauspark wurde mit den drei Chariten (lateinisch Grazien) Aglaja, Euphronsyne und Thalia und deren Begleiter Hermes bekrönt.429 Die Chariten dürften dem entsprechen, was in Programm die drei (alten Musen) genannt wurde. Charis ist die Singular-Bezeichnung dieser – in unterschiedlicher Anzahl überlieferten Chariten430 – daher ist ihre zusätzliche Nennung als vierte Attikafigur ungenau und wurde vermutlich nicht übernommen. Stattdessen wurde den drei Chariten Hermes zur Seite gestellt, der hier sicherlich nicht nur in seiner Funktion als Begleiter der drei Göttinnen für Schönheit, Heiterkeit und Überfluss auftritt, sondern auch als Patron der Redner und kompetenter Gelehrter in den Sieben Freien Künsten zum Attikaprogramm beitragen kann.431 Statt der vorgeschlagenen vier Figuren der Rechtsidee wurde der zweite Risalit zum Rathauspark mit Apollo und drei sogenannten Musen geschmückt.432 Je nach Quelle variiert die Anzahl und Benennung der Musen, seit Hesiod gelten jedoch die neun olympischen Musen Kleio, Euterpe, Thaleia, Melpomene, Terpsichore, Erato, Polyhymnia, Urania und Kalliope als kanonisch.433 Bei der Auswahl der drei Wiener Universitäts-Musen kommt es zu Unstimmigkeiten mit der mythologischen Überlieferung. Während Klio (Kleio) als Muse der Geschichtsschreibung zum Kanon gehört, ist Helike eine weitgehend unbekannte Muse, die gelegentlich in der nach Pausanias überlieferten Gemeinschaft der drei titanischen Musen Melete, Aoide und Mneme genannt wird.434 Mneme wiederum ist die personifizierte Erinnerung, die weitgehend mit Mnemosyne identisch ist, die nach Hesiod als Mutter der neun olympischen

244  Funktionalität – Monumentalität – Repräsentation

429 Mühlberger 2007, S. 62. 430 Lücke 1999, S. 210  ; Pauly 1997, Sp. 1102–1103. 431 Ebd., S. 445–446. 432 Mühlberger 2007, S. 62. 433 Lücke 1999, S. 556. 434 Ebd., S. 561.

Musen gilt. Ebenso wie die Anzahl und Zuordnung der Musen variiert, so bieten sie auch ein breites Interpretationsspektrum,435 im Kontext eines Universitätsbaus lassen sie sich mit Sicherheit einer Wissenschafts­ ikonografie zuordnen. Die ausgewählten mythologischen Figuren Klio und Mneme erweisen sich dafür als besonders geeignet. Klio als Muse der Geschichtsschreibung und Mneme als personifizierte Erinnerung garantieren bildlich den Fortbestand der Wissenschaften. Die Empfehlung für den ersten Risalit zur Votivkirche wurde wieder nur teilweise übernommen. Statt Kronos, Gaia, Uranos und Prometheus stehen hier nun Poseidon, Gaia, Urania und Prometheus (verloren), die die vier Elemente Wasser, Erde, Luft und Feuer symbolisieren und damit für die Naturwissenschaften stehen [Abb. 133]. Die vierte Gruppe, für die das Programm von Eitelberger und Ferstel mythologische Lichtwesen wie Phoebus (oder Phoibos Apollon als Sonnengott), Selene (Göttin des Mondes), Eos (Göttin der Morgenröte) und Iris (Personifikation des Regenbogens) vorgeschlagen hatte, wurde durch die Gruppe von Orpheus, Medea, Kirke und Herakles ersetzt.436 Der gemeinsame Nenner dieser Gruppe und ihre wissenschaftsikonografische Aussage werden nicht ohne weitere Forschung deutlich.437 Wie an der Hauptfassade sollten die Fassaden selbst, im Gegensatz zu den Attikafiguren, wieder Vertreter der Wissenschaften in Form von Statue und Medaillon präsentieren  : »In den Nischen u. Medaillons der Risalite an der Seitenfaçade gegen den Rathhauspark zu würden die hauptsächlichsten Vertreter der humanistischen Wissenschaften, Geschichte, Geographie u Philologie wie Herodot, Thucydides, Strabo, Eratosthenes, Aristarch u.s.f. als Statuen, Tacitus, Jul. Caesar u.s.f. in Medaillons dargestellte werden müssen, und auf der Seiten-Façade gegen die Alsterstrasse zu die Vertreter der Naturwissenschaften, wie Demokrit, Euclides, Archimedes u.s.f. angebracht werden. Auf diese Weise würde in den ganzen Cyclus ein einheitlicher Gedanke zum Ausdruck kommen.«438

435 Siehe Saviello 2012, S. 59. 436 Mühlberger 2007, S. 65. 437 Im Rahmen dieser Arbeit über das gesamte Gebäude muss dieser Teilaspekt daher auf einen späteren Zeitpunkt verschoben werden. 438 Entwurf des Fassadenprogramms der Universität, Wienbibliothek, Handschriftensammlung, Inv. Nr. 23.468.

Übernommen wurden Herodot und Aristarch auf der Seite des Rathausparks, zusätzlich wurden auch Euklid und Archimedes an der Südseite angebracht. Da die Fassade zur Reichsratstraße in diesen Überlegungen vollständig für die Repräsentation des Bibliothekswesens vorgesehen war, stellt die Anbringung der Statue des Demokrit in der nördlichen Nische dieser Fassade den größten Bruch mit dem ursprünglichen Programm dar. Für die Bibliotheksseite war neben Attalos I., der als Gründer der Bibliothek von Pergamon gilt, auch Claudio Ptolemäus, der Bibliothekar in Alexandria, vorgeschlagen. »Im Falle als die statuarische Ausschmückung der rückwärtigen Seite zur Ausführung käme, müßten die Vertreter des eigentlichen Bibliothekenwesens in

Die ikonografischen Programme im Spiegel der Wissenschaftsgeschichte  245

Betrachtung kommen, wie Atalus, Ptolemäus der Gründer-Bibliothek in Alexandrien u.s.f. Doch bleibt diese Angelegenheit vorläufig noch der Zukunft vorbehalten.«

Letzterer wurde tatsächlich als Nischenfigur am südlichen Eckpavillon zur Reichratstraße verwirklicht, allerdings eher in seiner Funktion als Mathematiker und Astronom, wie das dazugehörige Medaillon des Astronomen Johannes Keplers nahelegt. Ohne dass alle Repräsentanten der Wissenschaften hier im Einzelnen genannt werden müssen, ist erkennbar, welchen umfassenden Anspruch sowohl die Überlegungen von Eitelberger und Ferstel als auch die späteren Ausführungen haben. Mit den vielen unterschiedlichen Kategorien wissenschaftlicher Repräsentation geht das Fassadenkonzept jedenfalls über den standardisierten Vorschlag Wenzel Herzigs hinaus, der empfahl, dem Monumentalbau »durch die Minerva als Göttin der Wissenschaft, durch den Aeskulap, als Gott der Heilkunde etc., den Ausdruck und die Würde einer Universität« zu verleihen.439 Zur Darstellung der Gelehrten an der Universitätsfassade

Die Ansprüche von Architekt Ferstel und seinem ikonografischen Berater Eitelberger bezogen sich aber nicht allein auf die Inhalte des Fassadenprogramms, sondern sie formulierten auch klare künstlerische Forderungen. »Was die künstlerische Durchführung betrifft, so müßte vor Allem darauf Gewicht gelegt werden, daß die allegorischen Figuren der Attikagruppen von einer Hand herrühren, wenigstens die Entwürfe von einem und demselben Künstler stammen. Bei der Detailausführung können dann mehrere Künstler beschäftigt werden. Bei der Ausführung der Statuen müßten die hervorragendsten Künstler beschäftigt, und es müßte besonders darauf Rücksicht genommen werden, daß nur Künstler, welche als Bildhauer einen hervorragenden Namen haben, Aufträge erhalten. Ich erwähne dies speziell deßwegen, da zu vielen Werken nur mittelmäßige Künstler herangezogen werden, die ihrer Aufgabe nicht gewachsen sind, und wodurch man nur das Künstlerproletariet vermehrt, statt die Entwickelung tüchtiger Arbeitskräfte zu fördern.«440

Diese Erwähnung mag im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts in Wien durchaus ihre Berechtigung gehabt haben. Die großen Monumentalbauten die Ende der 1860er- und in den 1870er-Jahren an der neu angelegten Ringstraße begonnen worden waren, hatten nun das Stadium erreicht, in dem die Monumentalplastik geplant werden musste. Diese Menge an Arbeiten, die zeitgleich erledigt werden mussten, konnte leicht zu einen Bildhauerengpass führen, sodass die Forderung nach

246  Funktionalität – Monumentalität – Repräsentation

439 Herzig 1873, S. 14–15. 440 Entwurf des Fassadenprogramms der Universität, Wienbibliothek, Handschriftensammlung, Inv. Nr. 23.468.

Abb. 157: Hauptgebäude der Universität Wien, Nischenfigur des Justinian, um 1884 (Foto: Elisabeth Klecker, 2011) Abb. 158: Hauptgebäude der Universität Wien, Edmund Hofmann von Aspernburg, Nischenfigur Karls des Großen, um 1884 (Foto: Elisabeth Klecker, 2011)

441 Mühlberger 2007, S. 60. Eine detaillierte Zuordnung ist nicht für alle Figuren vorhanden.

erfahrenen Bildhauern verständlich ist. An den Skulpturen der Universitätsfassade arbeiteten zahlreiche namhafte Bildhauer, wie Joseph Tautenhayn (Geburt der Minerva), Edmund Hellmer (Attikagruppen Theologie und Philosophie), Alois Düll, Josef Lax (Attikafiguren), Josef Beyer (Attikafiguren), Edmund Hofmann von Aspernburg (Attikafiguren und Nischenfiguren), Franz Koch, Rudolf Weyr (Attikagruppen Jurisprudenz und Medizin), Anton Schmidgruber (Attikafiguren), Johann Kalmsteiner (Attikafiguren), Johann Silbernagl (Attikafiguren), Werner David (Attikafiguren) und Anton Paul Wagner (Attikafiguren).441 Der genaue Prozess der Auftragsvergabe und des einheitlichen disegnos ist leider nicht bekannt. Offensichtlich ist jedenfalls, dass die Figuren und Medaillons einem Gesamtkonzept folgen. So sind die Nischenfiguren als Vertreter der Antike fast durchgehend mit einer Toga bekleidet. Nur drei Figuren fallen aus diesem Konzept, im Bereich der juridischen Fakultät Justinian [Abb. 157] und Karl der Große [Abb. 158] sowie der Theologe Chrysostomos, die jeweils mit »Berufskleidung« ausgestattet und dadurch für den Betrachter leichter wiedererkennbar sind. Im Falle Karls des Großen entspricht seine Skulptur weitgehend traditioneller Darstellungen, neben dem reichen Ornat gehören dazu auch das Schwert und der Reichsapfel. Da von ihm kein zeitgenössisches Porträt bekannt ist, hat sich die Form der Darstellung als Konvention etabliert. Das prominenteste Beispiel dafür in Wien ist ein Porträt Karls des Großen nach einem Gemälde Albrecht Dürers, das sich in der k. k. Gemäldesammlung befand [Abb. 159]. Nach diesem Vorbild konnte der Bildhauer Edmund Hofmann von Aspernburg das Bildnis für die Wiener Universität gestalten.

Die ikonografischen Programme im Spiegel der Wissenschaftsgeschichte  247

Abb. 160: Ravenna, Justinian (Grabar 1953, Abb. 14)

Für die Rechtsgeschichte ist Justinian I. von großer Bedeutung, da er den Auftrag für eine Kompilation des Römischen Rechts, das später sogenannte Corpus Iuris Civilis gegeben hatte. Als Hinweis darauf hält er eine Schriftrolle in seiner Rechten. Die Gestaltung seiner Kleidung scheint sich auf mehrere Quellen zu beziehen. Statt einer Toga trägt der spätantike Herrscher einen praktischen Kurzmantel, die Chlamys, die ihn als Soldaten und Heerführer auszeichnet. Die auffällige Spange, die seine Chlamys an der rechten Schulter zusammenhält, ist als prominentes Erkennungszeichen übernommen von dem Mosaik in San Vitale in Ravenna [Abb. 160]. Aber nicht von allen der vierundzwanzig Nischenfiguren waren Bildvorlagen so geläufig wie bei diesen beiden Herrschern. Nichtsdestoweniger haben auch Gelehrtenbildnisse eine lange Tradition, auf die sich die Fassadenporträts der Wiener Universität beziehen konnten. Daher wird in diesem Exkurs an einigen Beispielen untersucht, welche Vorlagen die Wiener Bildhauer für die Gestaltung der Gelehrten in den Nischen und den Medaillons verwendet haben. Seit der Antike ist die Aufstellung von Autorenbüsten in Bibliotheken dokumentiert. Spätestens seit der Beschreibung von wertvollen Bildnissen in zeitgenössischen Bibliotheken bei Plinius dem Älteren in seiner Naturalis historia galten sie als unverzichtbare Ausstattung von Lesesälen. »Es darf auch eine neue Erfindung nicht übergangen werden, nach der in Bibliotheken die Bildnisse derjenigen, deren unsterblicher Geist an diesen Orten

248  Funktionalität – Monumentalität – Repräsentation

Abb. 159: Kopie nach Albrecht Dürer, Ide­ albildnis Kaiser Karls des Großen, Ende 16. oder frühes 17. Jahrhundert (KHM, Gemäl­ degalerie GG 2771)

Abb. 161: Salomon Kleiner, Hofbibliothek, Wien, Längsschnitt (rechte Hälfte) (Bu­ chowiecki 1967, Foto: Universität Wien, Institut für Kunstgeschichte)

spricht, wenn nicht in Gold und Silber, so doch gewiss in Bronze gestiftet werden  ; sind keine Bildnisse vorhanden, so werden solche sogar erdacht und die Sehnsucht erschafft nicht überlieferte Gesichtszüge, wie es bei Homer der Fall ist«.442

442 Plinius der Ältere, Naturalis Historia (35, 2, 9). Zit. nach Klecker 2010, S. 8. 443 Vgl. Justus Lipsius, De bibliothecis syntagma. Antwerpen 1602  ; Gabriel Naufé, Advis pour dresser une bibliothèque. Paris 1627  ; Claude Clément, Musei sive bibliothecae extructio. Lyon 1632. 444 Siehe Klecker 2010, S. 8. 445 Siehe ebd., S. 13–14. 446 Siehe Unterkapitel zur Bibliothek in dem Kapitel Typengeschichte und zeitgemäße Funktionalität.

Idealerweise sollten die Gelehrten in den Bibliotheken als Porträtbüsten präsentiert werden, doch dort, wo keine gesicherten Porträts vorhanden waren, kam es, worauf Plinius d. Ä. eindrücklich hinwies, zur Erfindung von Gesichtern. Diese Typenbildnisse wurden trotz des Wissens um ihre mangelnde Authentizität zur künstlerischen Konvention und durch bestimmte Gesichtszüge oder Attribute wiedererkennbar, wie dies bei dem Beispiel Karl des Großen bereits gezeigt wurde. Für die Darstellung einer Vielzahl der antiken, mittelalterlichen, aber auch neuzeitlichen Gelehrten war die Anwendung solcher Typenbildnisse unabdingbar, da sich zwar ihre Schriften überliefert hatten, aber oft keines ihrer Bildnisse. Im Anschluss an Plinius empfahl die einschlägige neuzeitliche Literatur, zur Ausstattung von Bibliotheken die Porträts von Gelehrten im Lesesaal sichtbar zu machen,443 um dem Lesenden auf diese Weise die Autoren ihrer Lektüre als Gesprächspartner zu vergegenwärtigen.444 Für die Wiener Hofbibliothek waren dementsprechend ursprünglich zwölf vergoldete Porträtmedaillons berühmter Gelehrter geplant, von denen heute nur mehr vier (Aristipp, Seneca, Pythagoras und Hippokrates) erhalten sind [Abb. 161].445 Für den Lesesaal der Universitätsbibliothek, der sich zwar mit den beiden jeweils stirnseitigen Säulenpaaren auf die Hofbibliothek bezieht,446 ist keine Planung für Autorenbildnisse von Ferstels Seite do-

Die ikonografischen Programme im Spiegel der Wissenschaftsgeschichte  249

kumentiert. Die Stuckkartuschen im Gewölbeansatz sollten jedoch die Namen berühmter Autoren präsentieren, wie ein früherer, nicht ausgeführter Entwurf für den Lesesaal zeigt [Tafel 10].447 Diese Kartuschen hätten sich auch über die Längsseiten des Lesesaals hingezogen, sodass hier weitere Möglichkeiten zur namentlichen Nennung vorbildhaften Autoren gewesen wären [Tafel 11]. Die Begegnung mit dem Gelehrten in effigie wurde stattdessen auf die Fassade verlegt, um wie oben bereits gesehen, die Gelehrtheit der Institution nach außen zu repräsentieren. Trotz der extrovertierten Anbringung befinden sich die formalen und ikonografischen Ursprünge in den skulpturalen, malerischen und grafischen Gelehrtensammlungen des Bibliothekswesens.448 Die Medaillons beschränken sich auf Reliefs der Köpfe im Profil auf blauem Grund. Wie oben gesehen verweisen sie in Materialität und Farbgebung auf die Majolika der della Robbia in Florenz. In der Gestaltung von Profilbildnissen in runder Umrahmung erinnern die Medaillons aber an zwei weitere Vorgänger  : Einerseits die existierenden Autorenmedaillons aus der Hofbibliothek, von denen sie den rahmenden Blätterkranz und die Beschriftung in Majuskeln übernehmen [Abb. 161]. Andererseits ruft die Aufhängung der Medaillons an jeweils einer Schleife das gestochene Frontispiz der Amsterdamer Ausgabe des Diogenes Laertios von 1692 in Erinnerung [Abb. 162], wo mehrere Porträts übereinander durch Schleifen verbunden an einer Fassade präsentiert werden. Dieses Motiv hatte bereits Henri Labrouste in die Wandgestaltung der Bibliothèque Nationale übernommen, in der sechsunddreißig Autorenprofile an sämtlichen Wänden und breiten Pfeilern angebracht wurden [Abb. 111]. Mit den Porträtmedaillons »von Geistesgrößen aller Zeiten und Zungen […] stellt sich die Nationalbibliothek als Universalbibliothek dar, die mit Achtung und Ehrfurcht benutzt werden soll.«449 An der Universität Wien wurde dieses universale Motiv zahlreicher internationaler historischer Gelehrter in Porträtmedaillons nach Laertios oder Labrouste durch die Anbringung an der Außenseite noch universaler ausgelegt, denn nicht nur der integrierten Bibliothek sollte mit Achtung begegnet werden, sondern der gesamten Institution Universität. Das Motiv des Profils im Medaillon steht zweifellos in der Tradition römischer Kaisermünzen und durch diese formale Anlehnung schreiben sie sich auch in eine Ikonografie der Authentizität ein,450 da gerade diese Münzbildnisse als besonders wahrhafft wahrgenommen und seit Petrarca systematisch in Münzmusterbüchern gesammelt wurden. 451 Ab der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts entstanden solche BildnisSammlungen auch »für Persönlichkeiten des antiken Geistesleben« und begründeten »eine Bildtradition, der ähnliche Autorität zukam wie Kaiserporträts nach Münzen  ; es waren normierte ›als authentisch wiedererkennbare‹ Porträts verfügbar […]«.452 Diese stellten auch für die Bildhauer des 19. Jahrhunderts die wichtigste Quelle für die typengerechte

250  Funktionalität – Monumentalität – Repräsentation

Abb. 162: Diogenes Laertius, De vitis dog­ matibus et apophthegmatibus clarorum philosophorum, Amsterdam 1692, Frontis­ piz (Wien, Universitätsbibliothek, I 148.559, Foto: Elisabeth Klecker, 2010)

447 Vgl. Entwurf für den Bibliothekstrakt, in  : Mühlberger 2007, S. 143. Original im Archiv der Universität Wien. 448 Die folgenden Überlegungen zu den Ursprüngen der Gelehrtenporträts an der Fassade der Wiener Universität folgen weitgehend und teilweise wortgleich dem Artikel der Autorin zu den Autorenbildnissen der Wiener Universitätsfassade  : Rüdiger 2013. 449 Crass 1996, S. 40. 450 Siehe Klecker 2010, S. 14. 451 Siehe Schmitt 1974, S. 189 und 191. 452 Klecker 2010, S. 14–15.

Abb. 163: Hauptgebäude der Universität Wien, Nischenfigur des Hippocrates, um 1884 (Foto: Elisabeth Klecker, 2011)

Abb. 164: Hauptgebäude der Universität Wien, Nischenfigur des Plato, um 1884 (Foto: Elisabeth Klecker, 2011)

453 Bernoulli 1901 A, S. 164–173. 454 Diogenis Laertii De vitis dogmatibus et apophthegmatibus clarorum philosophorum. Amsterdam  : Henricum Wetstenium 1692.

Gestaltung ihrer Skulpturen dar, sowohl für die Statuen als auch für die Medaillons. Im Idealfall beziehen sich diese gedruckten Vorlagen auf durch antike Münzen oder Büsten gesicherte Abbilder der Autoren. So lässt sich das Porträt des Wiener Universitäts-Hippokrates [Abb. 163] ikonografisch in die Tradition der Hippokrates-Darstellung seit der Antike einreihen  : Der Archäologe Johann Jakob Bernoulli sah antike Münzen aus Hippokrates’ Heimat Kos als authentischen Ursprung für mehrere ähnliche Porträts des Mediziners.453 Doch nicht immer werden diese ikonografischen Quellen langfristig dem Anspruch auf archäologische Authentizität gerecht. Anhand der Nischenfigur des Platon [Abb. 164] lässt sich nachvollziehen, wie sich Darstellungstypen wandeln können. In diesem Falle überholte die archäologische Forschung die künstlerische Produktion. Der italienische Humanist Fulvio Orsini (1529–1600) verband in seinem auf archäologische Genauigkeit bedachten Werk Imagines et elogia virorum illustrium et eruditorum ex antiquis lapidibus et numismatibus expressa (Rom 1570) einen mit ΠΛΑΤΩΝ beschrifteten Hermenschaft mit dem Abbild einer Gemme, die dort ebenfalls so bezeichnet wird. In Berufung auf Orsini erschien in einer illustrierten Ausgabe des Diogenes Laertios im späten 17. Jahrhundert ein entsprechender Platon [Abb. 165].454 Die langen Haare werden durch ein Band zusammengehalten. Im Nacken fällt das Haar glatt herunter, vorne schauen unter dem Haarband einige Locken

Abb. 165: Platon, Diogenes Laertius, De vitis dogmatibus et apophthegmatibus clarorum philosophorum, Amsterdam 1692 (Wien, Universitätsbibliothek, I 148.559, Foto: Elisabeth Klecker, 2010)

Die ikonografischen Programme im Spiegel der Wissenschaftsgeschichte  251

hervor. Gemeinsam mit den Stirnlocken rahmt der lockige Bart das junge Gesicht, aus dem eine auffällig lange und gerade Nase hervorsteht. Der römische Antiquar und Kunsttheoretiker Giovanni Pietro Bellori (1613–1696) hingegen identifizierte eine kleine Florentiner Büste mit der Inschrift ΠΛΑΤΩΝ als originäres Porträt des Philosophen. Seine Publikation Veterum illustrium philosophorum poetarum rhetorum et oratorum imagines (Rom 1685) zeigt das Abbild eines älteren Mannes mit ausgeprägten Gesichtszügen [Abb. 166]. Das lockige Haar wird mit einem Haarreif zusammengehalten, nur eine Strähne fällt nach vorne auf die hohe Stirn. Bis ins 19. Jahrhundert wurden beide Typen parallel akzeptiert. Die erst dann entstandenen Kontroversen aufgrund ihrer Ungleichheit konnten bis in die 1880er-Jahre nicht zu einem zufriedenstellenden Schluss kommen, wie dies die Arbeit des Archäologen Bernoulli bestätigt.455 Der Wiener Universitäts-Platon, Anfang der 1880er in Auftrag gegeben, orientierte sich typologisch an dem jungen Platon-Typus mit einem in kleine Locken gelegten Bart und einer Binde im Haupthaar, die die langen seitlichen Haare in dicken Strähnen zusammenhält. Zeitgleich mit der Eröffnung der Wiener Universität im Jahr 1884 wurde in der italienischen Sammlung Castellani eine Platon-Herme mit einer glaubhaft antiken Inschrift entdeckt, die die vorherigen Typen weitgehend ablöste.456 Dieses als authentisch geltende Philosophenporträt, heute im Alten Museum in Berlin, zeichnet sich, im Gegensatz zu Belloris Typ, durch volles, aber kürzeres Haupthaar aus. Der längere Bart fällt in dicken Strähnen von dem weniger markanten Gesicht457. Mit der Orsinischen Vorlage, der der Wiener Universitäts-Platon entspricht, hat das authentische Berliner Exemplar allerdings keinerlei Gemeinsamkeiten. Somit erschien der frisch gemeißelte Platon schon bei seiner Aufstellung veraltet. Für die bildliche Vergegenwärtigung des Aristoteles standen seit der frühen Neuzeit unterschiedliche Typenvorlagen zur Verfügung.458 Fulvio Orsini kombinierte eine Gemme mit der Aufschrift ΑΡΙΣΤΟΤΕΛΟΥΣ mit zwei abgebrochenen Hermenschäften [Abb. 167]. Dieser Typ konnte aufgrund der neuzeitlichen Bekleidung des Gelehrten nicht als authentisch angenommen werden. In Orsinis beigefügtem Text hingegen wird ein Marmorrelief beschrieben, sodass Bernoulli von einem Irrtum bei der Illustration ausgeht.459 In Berufung auf diese Beschreibung (und eben nicht auf die Abbildung) erschienen bei Bellori (Rom 1685) und in der illustrierten Laertios-Ausgabe (Amsterdam 1692) fast identische Abbildungen dieses zweiten Typus mit dem auf Orsini bezogenen Zusatz »Apud F. Ursinum in marmore« [Abb. 168]. Die Darstellung zeigt das Fragment einer marmornen Plakette mit einer Porträtbüste eines rasierten Mannes mittleren Alters mit markanten Gesichtszügen und relativ kurzen Haaren. Der italienische Archäologe Ennio Q. Visconti stellte zu

252  Funktionalität – Monumentalität – Repräsentation

Abb. 166: Platon, in: Giovanni Bellori, Ima­ gines, Rom 1685 (Wien, Universitätsbib­ liothek, II 178.827, Foto: Elisabeth Klecker, 2008)

455 Siehe Bernoulli 1901 B, S. 24–26. 456 Bernoulli 1901 B, S. 26–27. 457 Blümel 1933, S. 66. 458 Vgl. Jongkees 1960, S. 17–19. 459 Siehe Bernoulli 1901 B, S. 88–89.

Abb. 167: Aristoteles, in: Fulvio Orsini, Imagines et elogia virorum illustrium et eruditorum, Rom 1570 (Wien, Universitäts­ bibliothek, II 221.532, Foto: Elisabeth Klecker, 2010)

Abb. 170: Hauptgebäude der Universität Wien, Nischenfigur des Aristoteles, um 1884 (Foto: Elisabeth Klecker, 2011)

460 Visconti 1823, S. 221. 461 Siehe Bernoulli 1901 B, S. 92.

Abb. 168: Aristoteles, in: Diogenes Laertius, De vitis dogmatibus et apophthegmatibus clarorum philosophorum, Amsterdam 1692 (Wien, Universitätsbibliothek, I 148.559, Foto: Elisabeth Klecker, 2010)

Abb. 169: Zeichnung der sitzenden Figur im Palazzo Spada, Rom, in: Ennio Quirino Visconti, Iconografia greca, Mailand 1823 (Wien, Österreichisches Ärchäologisches Institut I:Visconti:09, Foto: Julia Rüdiger, 2011)

Beginn des 19. Jahrhunderts fest, dass dieser zweite Typ nicht durch eine Inschrift gesichert ist, aber in Anlehnung an die Beschreibung des Laertios argumentierte Visconti für diese Zuschreibung mit der mageren Erscheinung, den kurzen Haaren und dem rasierten Bart.460 Dieses Erscheinungsbild wiederum passte zu einer Statue einer römischen Sammlung, deren Authentizität Visconti aufgrund der fragmentarischen Inschrift ΑΡΙΣΤ, für die ersten fünf Buchstaben des Namens Aristoteles, begründet sah. Eine Zeichnung dieser sitzenden Figur [Abb. 169] aus dem Palazzo Spada fügte er seinen Ausführungen bei. Zahlreiche Darstellungen folgten dieser Argumentation und bildeten damit für die Künstler des 19. Jahrhunderts die Vorlage. Und so trägt auch der Wiener Universitäts-Aristoteles [Abb. 170] deutlich die Züge und die Frisur des Spada-Typs. Dies wird besonders bei den Wangen, der Mundpartie und der Frisur deutlich. Aber an der Identität der Spada-Statue entstanden Ende des 19. Jahrhunderts Zweifel, und im Jahr 1901 sprach Bernoulli dem Spada-Typus, besonders wegen des neuzeitlich ergänzten Kopfes, die Authentizität ab.461 Demnach folgte der Wiener Universitäts-Aristoteles, wie Platon, ebenfalls einem inzwischen überholten Typenbildnis. Da sich aber die Nischenfiguren von Platon und Aristoteles auf tradierte und erkennbare Typen beziehen und zusätzlich alle Figuren am Sockel beschriftet sind, erfüllen sie dennoch ihre Funktion, auch wenn mehrere Typen zur Auswahl standen oder einzelne Darstellungsweisen im archäo-

Die ikonografischen Programme im Spiegel der Wissenschaftsgeschichte  253

logischen Fachdiskurs ihre Zuschreibungsgrundlage verloren haben. Das Medaillon des Aretaios [Abb. 156a] wirkt durch die auffallende Gesichtsphysiognomie ausgesprochen porträthaft und dadurch wahrhaftig. Allerdings ist von dem griechischen Arzt kein Porträt überliefert, also handelt es sich auch hier um ein Typenbildnis. Die eindeutige Vorlage hierfür findet sich in den Veterum aliquot ac recentium medicorum philosophorumque icones (1603) des ungarischen Gelehrten Johannes Sambucus (1531–1584) [Abb. 171]. Trotz der Wendung ins Profil sind die Übereinstimmungen von Nase, Augenpartie, Bart und Frisur unverkennbar. Von dem griechischen Arzt Galenos von Pergamon ist ebenfalls kein zeitgenössisches Abbild überliefert. Seine Statue an der Universitätsfassade [Abb. 172] trägt eine Toga und erzeugt somit einen antikischen Charakter, die Gelehrtenmütze allerdings verrät den neuzeitlichen Ursprung dieses Typenbildnisses. Ein entsprechendes Bildnis des Mediziners aus der Mitte des 19. Jahrhunderts [Abb. 173] zeigt, wie nah die Nischenfigur trotz Toga an der vorherrschenden Typenvorstellung liegt. Bei all diesen Figuren ist unklar, in welchem Maße die Planer oder spezielle Kommissionen der Universität in den Gestaltungsprozess der Skulpturen eingegriffen und beispielsweise zentral die Vorlagen für die Gelehrten ausgegeben haben. Während bei Karl dem Großen, Karl V. und Justinian die Körperbekleidung entsprechend der vorherrschenden Typenbildnisse angepasst werden musste, zeigt das Beispiel des Galenos, dass diese Statue wie der Großteil der anderen Nischenfiguren in Toga gekleidet werden konnte, da für Galenos Typenbildnis besonders die Gesichtszüge in Verbindung mit der Gelehrtenmütze für die Wiedererkennbarkeit ausschlaggebend waren. Aus den erhaltenen Archivalien im Archiv der Universität geht nicht immer hervor, welche Figuren bei welchen Bildhauern bestellt wurden. Aber aufgrund von Signaturen sind die Statuen von Chrysostomus und Augustinus als Werke des Wiener Bildhauers Richard Kauffungen (1854–1942) gesichert und die Figuren von Karl dem Großen und Karl V. gelten als Werk des Bildhauers Edmund Hoffmann von Aspernburg (1847–1930).462 Zusätzlich waren noch viele weitere der führenden Ringstraßen-Bildhauer beauftragt, darunter Alois Düll, Edmund Hellmer und Rudolf Weyr. Während einige der Attikafiguren bereits 1880 aufgestellt werden konnten,463 scheint die Entscheidung über die Nischenfiguren erst zu diesem Zeitpunkt getroffen worden zu sein, da sich anhand der Notizen des Philologen Theodor Gomperz, der Mitglied der Artistischen Kommission war, nachweisen lässt, dass die Kommission noch im Juli 1880 über die Auswahl diskutierte.464 Daher lässt sich annehmen, dass Ferstel das vorläufige Programm gemeinsam mit Rudolf von Eitelberger erstellte, dass aber die abweichende, endgültige Fassung im Rahmen der Artistischen Kommission beschlossen wurde.

254  Funktionalität – Monumentalität – Repräsentation

Abb. 171: Aretaios, in: Johannes Sambucus, Veterum aliquot ac recentium medicorum philosophorumq. Icones; ex Bibliotheca Johannis Sambuci cum eiusdem ad singu­ las elogiis praemisso hac editione, Vitae singulorum et scriptorum indiculo additis sub finem, diversorum de eisdem encomiis, Leiden 1603 (Foto: Elisabeth Klecker, 2011)

462 Weitere Zuschreibungen sind zu finden bei  : Schwarz 1984 B, S. 40–42. 463 Siehe Local-Anzeiger der Presse, 26. September 1880, 1, Spalte 2  ; siehe auch Universitätsarchiv, Rektoratsbericht 1878/79, S. 22. 464 Siehe Gomperz 1974, S. 114.

Mit der überzeugenden bildlichen Vergegenwärtigung zahlreicher bedeutender Vertreter der Wissenschaften seit der Antike verweist die Fassade wiederum auf den hohen Anspruch der Institution, die sich damit in diese Wissenschaftstradition einschreibt. Durch die Wendung des Gelehrtenbildnisses nach außen stehen die berühmten Vorbilder zwar nicht mehr als »Gesprächspartner« im Lesesaal zur Verfügung, sie repräsentieren aber eindrucksvoll die Gelehrtheit der gesamten Universität. Wiener Gelehrten-Pantheon

Abb. 172: Hauptgebäude der Universität Wien, Nischenfigur des Galen, um 1884 (Foto: Elisabeth Klecker, 2011)

Abb. 173: Galenos, um 1865 (ÖNB, Bildarchiv, PORT_00076624_01)

465 Ilg 1892, S. 9. 466 Ebd., S. 10. 467 Siehe auch Rüdiger 2013.

Die enzyklopädische Breite des Fassadenkonzepts folgte zum einen der historistischen Bewegung, durch Denkmäler die Einzelleistungen herausragender historischer Weichensteller, in dem Fall Gelehrter, anzuerkennen, zum anderen ist sie in direkter Konkurrenz zu Sempers Hofmuseen-Programmen zu sehen. In der Summe der Darstellungen tritt nämlich kaum mehr der einzelne Repräsentant hervor, sondern die zahlreichen Allegorien und Porträts erzeugen ein beeindruckendes Bild der Wissenschaften in einer Vielzahl ihrer Facetten. Dasselbe Ziel verfolgte Semper mit der reichen Fassadenausstattung für seine Museen. Nach der Eröffnung des Kunsthistorischen Museums fand diese gestalterische Praxis allerdings in dem Wiener Kunsthistoriker Albert Ilg einen harschen Kritiker, als er bekannte, dass er »kein Freund [sei] des bei dem modernen Gebäudeschmuck so sehr beliebten Vorreitens der Bedeutung des Innern am Aeussern. Es liegt etwas so Doctrinäres, so schaal Lehrhaftes darin[…]«.465 Noch deutlicher wurde Ilg in Bezug auf die Personalisierung der Historie an der Fassade  : »Es ist so recht der neudeutsche Schulmeistergeist, der da immer sein ganzes enzyklopädisches und polyhistorisches Wissen zeigen möchte […]. Noch unkünstlerischer ist das Aufschreiben von Namen an die Gebäude, was mich immer an die alten Locomotiven der Nordbahn erinnert«.466 Diese unkünstlerische Reproduktion von polyhistorischem Wissen, besonders die Personalisierung durch berühmte Repräsentanten, fand jedoch an der gesamten jüngeren Monumentalarchitektur der Ringstraße Anwendung.467 Insbesondere für die Verehrer der italienischen Renaissance unter den Wiener Architekten bot ein solches Fassadenkonzept die Möglichkeit, an ein Fassadenprogramm anzuschließen, das schon im 16. Jahrhundert in Florenz an einem zentralen öffentlichen Gebäude Anwendung gefunden hatte. Der Gebäudekomplex der Florentinier Uffizien wurde von Giorgio Vasari mit einer einheitlichen Fassade und zusätzlichen Gebäudeteilen errichtet und erweitert. Innerhalb der Hoffassade hatte Vasari achtundzwanzig Nischen für Statuen herausragender toskanischer Dichter, Denker, Künstler, Heerführer und Naturwissenschaftler vorgesehen. Nach dem Tod des Bauherrn Cosimo I. im Jahr 1574 wurde dieses Vorhaben aber nicht weiter verfolgt. Erst zu Beginn der Dreißigerjahre des

Die ikonografischen Programme im Spiegel der Wissenschaftsgeschichte  255

19. Jahrhunderts wurde es von dem Florentiner Verleger Vincenzo Batelli wieder aufgegriffen.468 Wenn es auch zahlreiche Ansätze für solche Gedächtnisstätten berühmter Männer vor der Aufklärung in Italien gab, wie es Vasaris Projekt zeigt oder der bei Jacob Burckhardt angesprochene Pantheon im Florentiner Dom,469 so setzte auch hier die Verehrung der uomini illustri im großen Stil erst im späten 18. Jahrhundert ein und erreichte seinen Planungshöhepunkt in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, wie dies Nikolaus Pevsner auch für England, Frankreich und Deutschland beschreibt.470 Unter den ausgeführten Projekten nördlich der Alpen sind sicherlich das Pariser Panthéon und die Walhalla (1821–1842) in Donaustauf die bekanntesten. In Österreich reflektieren zwei Orte der militärischen Heldenverehrung diese Idee der öffentlichen Repräsentation der berühmten Männer. Zum einen ist hier der Heldenberg, den der Heereslieferant Josef Pargfrieder in Niederösterreich als Ausdruck seiner Verehrung der habsburgischen Dynastie und ihres Heeres angelegt hatte und der als imposante, aber skurrile Initiative von privater Seite gewertet werden muss.471 Von offizieller Seite sollten zum anderen die Ruhmeshalle und die Feldherrenhalle im Wiener Arsenal auf die Revolution von 1848 antworten und als »Nationaldenkmal« dem gesamten Habsburgerreich als sinnliche Stütze dienen.472 Diese beiden Anlagen dienten der Verehrung der militärischen Aspekte des Kaiserreichs, eine entsprechende Ruhmeshalle zur Verehrung berühmter Männer in zivilen Berufen wurde in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Österreich nicht angedacht. Diesen Umstand beklagte Rudolf von Eitelberger im Jahr 1866 in seinem Artikel Eine österreichische Geschichtsgalerie.473 Er sah in der Kunst, sowohl in der Malerei als auch in der Skulptur, ein hervorragendes Mittel, das Volk durch Kunstdenkmäler zu bilden und dadurch dem mangelnden Geschichtsbewusstsein der Gesellschaft entgegenzuwirken.474 »Unter allen Staaten giebt es aber keinen, der die Kunst als Propaganda der Staatsidee und zugleich als Stärkung des Nationalgefühles und Volksruhmes in höherem Grade angewendet hat, als Frankreich, und keinen Staat, der dieses Mittel in höherem Grade gering geschätzt und ignoriert hätte, als Oesterreich.«475

Nicht zufällig erschienen Eitelbergers Forderungen nach einer Österreichischen Geschichtsgalerie parallel zum Konkurs um den Bau der Hofmuseen. Als einziger unter den eingereichten Entwürfen sah derjenige Ferstels die Arkaden des großen Innenhofs als Räumlichkeit für eine österreichische Geschichtshalle vor, die für den Architekten zur Ausstattung eines modernen Museums gehörte.476 Eitelberger sah in der Geschichtsgalerie die Möglichkeit, »die erziehende Kraft der bildenden Kunst« zu nutzen, um dadurch die Zugehörigkeit der Gesellschaft zur Staatsidee zu stärken.477

256  Funktionalität – Monumentalität – Repräsentation

468 Bonnefoit 1999, S. 103. 469 Burckhardt 1860, S. 146. 470 Pevsner 1976, S. 12–20. 471 Riesenfellner 1998 B, S. 13–16. 472 Riesenfellner 1998 C, S. 63–64  ; Klingenstein 1996, S. 53–54. 473 Eitelberger 1866, S. 131. 474 Ebd., S. 129. 475 Ebd., S. 129. 476 Ferstel 1867, S. 303. 477 Eitelberger 1866, S. 130.

In ähnlicher Form argumentierte Ferstel für die Umsetzung der Geschichtshalle im Rahmen der Hofmuseen  : »Sowohl künstlerische als patriotische Gründe fordern dazu auf, die glorreiche Geschichte der unter dem Scepter Sr. Majestät vereinigten Länder in lebendiger Bildersprache vor Augen zu führen, die Alt und Jung von den Wänden ablesen kann. Solche monumentale Bildersprache an einer Stelle, welche der Mittelpunkt des schaulustigen Wiens werden und fortwährend Tausende von Menschen zur Erholung und Belehrung aufnehmen kann, wirkt mächtiger als Wort und Schrift, und darf als ein wohl zu würdigendes Mittel angesehen werden, das nationale Bewusstsein und den Gedanken der Zusammengehörigkeit lebendig zu erhalten.«478

Auch Ferstel betonte hier die Wirkmacht der Belehrung durch künstlerische Mittel und den Gedanken der Zusammengehörigkeit. Gerade wegen des geschlossenen Hofs, der in der Ausschreibung nicht vorgesehen war, schied Ferstels Hofmuseen-Entwurf aus der Konkurrenz aus.479 Kurz vor Fertigstellung der Votivkirche strengten sich Eitelberger und Ferstel nochmals an, in einem Bau Ferstels eine Geschichts- und Gedächtnishalle zu integieren. Verweisend auf italienische Kirchen, »wo man den Geist der Heroen pflegt«, schlug Eitelberger 1878 vor, »den geheiligten Boden der Votivkirche zu wählen, um jene Männer zu ehren, die sich um Oesterreich verdient gemacht haben.«480 Mit dem Vorschlag, die Asche von Beethoven, Grillparzer und Schubert vom Währinger Friedhof hierher zu überführen, unterstützte der Kunsthistoriker Moritz Thausing die Widmung der Votivkirche als Denkmalskirche.481 Jedoch konnte der Gedanke auch hier nicht realisiert werden. Erst an der Universität konnten Eitelberger und Ferstel diese Idee übernehmen, die erziehende Kraft von Denkmalskunst einerseits und die lehrende Funktion der historia andererseits zu vereinen und für die Identifizierung mit der Gemeinschaft zu nutzen. Dabei ließen sich die inhaltlichen Überlegungen für eine Österreichische Geschichtsgalerie auf einen Wiener Gelehrten-Pantheon übernehmen. Denn die Überzeugung der Zusammengehörigkeit wird laut Eitelberger

478 Ferstel 1867, S. 303. 479 Wibiral/Mikula 1974, S. 111. 480 Eitelberger 1878, S. 320–321. 481 Wibiral/Mikula 1974, S. 37  ; Thausing 1879, S. 89. 482 Eitelberger 1866, S. 132.

»durch den Rückblick auf eine große und ruhmreiche Vergangenheit gehoben, sie wird gekräftigt durch jene monumentale Kunst, die, eine Denkmalskunst im eigentlichen Sinne des Wortes, die hervorragenden und begeisternden Thaten der Gegenwart in Bildwerken fixiert und der Zukunft überliefert.«482

An der Universitätsfassade wird nach außen gut sichtbar die große und ruhmreiche Vergangenheit als Personalgeschichte der Wissensgesellschaft in Form von Nischenfiguren, Medaillons und Plaketten präsentiert. Die hervorragenden und begeisternden Thaten der Gegenwart beziehungsweise

Die ikonografischen Programme im Spiegel der Wissenschaftsgeschichte  257

Abb. 174: Hauptgebäude der Universität Wien, Einblick in den Arkadenhof, Südlicher Arkadengang (Foto: Georg Herder, 2009)

Abb. 175: Hauptgebäude der Universität Wien, Einblick in den Arkadenhof, Nörd­ licher Arkadengang (Foto: Julia Rüdiger, 2015)

deren Akteure, nämlich die hervorragenden Gelehrten dieser Universität, sollten in einer wachsenden Galerie im Arkadenhof geehrt werden. Der Zukunft überliefert werden in diesem umfassenden, skulpturalen Programm also nicht nur die (Ur-)Väter der Wissenschaft, die den jeweils aktuellen Vertretern der Wissenschaft als Vorbild dienen sollen, sondern auch von diesen wiederum die ruhmreichsten – bis dato ausschließlich männlichen – als Denkmäler im Arkadenhof [Abb. 174/175].483 In den Arkaden des Innenhofs der Universität wurden seit der Enthüllung des ersten Denkmals im Jahr 1888 bis heute 152 Professorendenkmäler errichtet.484 Dem ursprünglichen Ausstattungsmodell [Abb. 176] von Ferstels Mitarbeiter Karl Koechlin entsprechend wurden später nur wenige Joche der Arkaden ausgestattet. Die anderen folgten – auf-

258  Funktionalität – Monumentalität – Repräsentation

483 Im Sinne dieser identitätsstiftenden Funktion des Arkadenhofs wird anlässlich des des 650-Jahr-Jubiläums der Universität Wien im Jahr 2015 die Erweiterung dieser Ehrenhalle um verdiente Professorinnen und Forscherinnen der Universität Wien geplant und ein entsprechender Künstlerwettbewerb ausgeschrieben. 484 Siehe Maisel 2007.

Abb. 176: Karl Koechlin/Alois Düll, Modell für die Gestaltung der Arkadengänge, 1890 (UAW 106.I.3507, Foto: Universität Wien, Institut für Kunstgeschichte, René Steyer)

485 Erben 2005. 486 Vgl. Riesenfellner 1998 A, Telesko 2008.

grund der ganz unterschiedlichen Denkmäler und der langen Ausstattungsperiode – einem freieren Prinzip. Ähnlich wie der Innenhof der projektierten Hofmuseen, den Ferstel als Temenos, als umschlossenes Heiligtum eines griechischen Tempels, bezeichnete, bildet auch der Arkadenhof das Herzstück der Universität, nicht nur als Zentrum der Kommunikationswege, wie oben beschrieben, sondern auch als Memorialraum, in dem die vorübergehenden Studierenden und Professoren stetig ihren verdienten Altkollegen begegnen. In dieser Konstellation von Denkmälern im Wegezentrum wird das Professorendenkmal vom Steinernen Gast, wie Dietrich Erben Denkmäler beschreibt,485 zum Steinernen Gastgeber, der als Wertinstanz und exemplum die nachfolgenden Gelehrten-Generationen zur Nachahmung auffordert. In der Universität ließ sich zwar keine allgemeine Österreichische Geschichtsgalerie verwirklichen, aber in der Kombination aus den außen angebrachten historischen Gelehrten und den jüngst verstorbenen Gelehrten der Universität Wien im Inneren wurde die Universität zu einem Pantheon der Wissenschaftsgeschichte [Abb. 177 a–d]. Eingebunden waren sowohl die herausragendsten Vertreter seit der Antike als auch diejenigen der jüngsten k. k. Wissenschaftsgeschichte, wodurch sich die durch das Programm angesprochenen Professoren und Studenten als Teil einer weit zurückreichenden Wissensgemeinschaft fühlen konnten. Im Gegensatz zu dem Projekt in der Votivkirche oder den Realisierungen im Arsenal oder am Heldenberg wurde dieser universitären Ehrenhalle allerdings erst in der jüngsten Vergangenheit eine forschende Aufmerksamkeit zuteil.486 In dem von 2014 bis 2015 durchgeführten Forschungsprojekt Ge(l)ehrte Köpfe. Ikonographie und

Die ikonografischen Programme im Spiegel der Wissenschaftsgeschichte  259

Abb. 177a (l.o.): Caspar von Zumbusch, Denkmal für den Juristen Julius Glaser, enthüllt 1888 im Arkadenhof der Universi­ tät Wien (Foto: Franz Pfluegl, 2007) Abb. 177b (r.o): Karl Kundmann, Denkmal für den Philosophen Franz Exner, enthüllt 1893 im Arkadenhof der Universität Wien (Foto: Franz Pfluegl, 2007) Abb. 177c (r.u.): Caspar von Zumbusch, Denkmal für den Mediziner Theodor Billroth, enthüllt 1897 im Arkadenhof der Universität Wien (Foto: Franz Pfluegl, 2007) Abb. 177d (l.u.): Josef Zenzmaier, Denkmal für den evangelischen Theologen Wilhelm Dantine, enthüllt 2001 im Arkadenhof der Universität Wien (Foto: Universität Wien, Institut für Kunstgeschichte, Karl Pani)

Stellenwert der Denkmäler im Arkadenhof der Universität Wien wurde der Entstehungskontext der einzelnen Denkmäler quellenkritisch erforscht und in einen Zusammenhang mit der jeweiligen Wissenschaftsauffassung und Machtstruktur an der Universität gesetzt.487 So ist die Büste für Franz Exner von 1893 nur im Zusammenhang mit seiner Tätigkeit im Rahmen der Universitätsreform zur Mitte des 19. Jahrhunderts zu verstehen [Abb. 177b],488 und das Denkmal für Theodor Billroth steht für mehr als nur den Universitätslehrer hinter der Lehrkanzel [Abb. 177c].489

260  Funktionalität – Monumentalität – Repräsentation

487 Dieses durch den Jubiläumsfonds der Oesterreichischen Nationalbank geförderte Projekt wurde von Ingeborg Schemper-Sparholz geleitet und unter der Mitarbeit von Andrea Mayr, Martin Engel und der Autorin durchgeführt. Die Ergebnisse können großteils eingesehen werden unter http://monuments.univie. ac.at, zusätzlich erscheint im Jahr 2016 ein Sammelband zur Gelehrtenehrung in Europa  : Schemper 2016. 488 Szemethy 2016. 489 Rüdiger 2016.

Abb. 178: Julian Niedzielski, Sgraffiti an der rückwärtigen Fassade des Hauptgebäudes der Universität Wien (Ferstel 1892, Foto: Elisabeth Klecker, 2011)

Sgraffiti

490 Ferstel 1892, Tafel 5. 491 Siehe Korrespondenz in  : Bundesdenkmalamt, Akten Hauptgebäude der Universität Wien, 1.227, Mappe III, 1977–1981. 492 Siehe Restaurierungsbericht von August Kicker am 14. September 1977, in  : Bundesdenkmalamt, Akten Hauptgebäude der Universität Wien, 1.227, Mappe III, 1977–1981.

Die umlaufende Fassadendekoration wird nur am breiten Mittelrisalit der rückwärtigen Fassade unterbrochen. An diesem Baublock, der die Universitätsbibliothek beherbergt, wurden die neun blinden Fensterbögen mit Sgraffiti geschmückt [Abb. 137]. Von der ikonografischen Programmatik dieses Fassadenabschnitts hatte die bisherige Forschung nur wenig Kenntnis. Da im Archiv der Universität hierzu keine Unterlagen überliefert wurden, war die Publikation der Fassadenansicht durch Max von Ferstel in der Reihe Wiener Monumentalbauten bislang die wichtigste Bildquelle [Abb. 178],490 insbesondere für die Restaurierungsarbeiten. Wegen der wetterseitigen Ausrichtung musste das Sgraffito bereits 1929 ein erstes Mal restauriert werden. Zwei weitere Restaurierungen folgten 1977 und 2003. In den Unterlagen des Bundesdenkmalamts im Vorfeld der Restaurierung von 1977 wurden als Thematik der großformatigen Darstellungen etwa ein Jahr lang konsequent die Neun Musen genannt.491 Erst nach genauerem Hinsehen wurde erkannt, dass es sich bei den äußeren beiden männlichen Figuren nicht um Musen handeln konnte [Abb. 179 und 187]. In der Folge und insbesondere im Restaurierungsbericht werden die Figuren als Poseidon, Zeus und die Sieben Artes Liberales bezeichnet.492 Die Zuordnung der sieben Wissenschaftszweige Grammatik, Rhetorik, Dialektik, Arithmetik, Geometrie, Musik und Astronomie gelang aber nur teilweise. Während sich die sogenannte »Musik« [Abb. 181] und die »Rhetorik« [Abb. 185] scheinbar überzeugend zuordnen ließen, erscheinen die Identifikationen von »Arithmetik« [Abb. 184], »Grammatik« [Abb. 182] und »Dialektik« [Abb. 186] nicht zwingend. So liegt zwar am Sockel der Figur der »Grammatik« die ihr ikonografisch

Die ikonografischen Programme im Spiegel der Wissenschaftsgeschichte  261

Abb. 179 (l.o.): August Eisenmenger (Ent­ wurf), Sgraffitofeld links außen (Poseidon), um 1884 (Foto: Julia Rüdiger, 2008)

Abb. 180 (m.o.): August Eisenmenger (Ent­ wurf), Zweites Sgraffitofeld von links (Leh­ rende Wissenschaft), um 1884 (Foto: Julia Rüdiger, 2008)

Abb. 181 (r.o): August Eisenmenger (Ent­ wurf), Drittes Sgraffitofeld von links (Poe­ sie), um 1884 (Foto: Franz Pfluegl, 2007)

Abb. 182 (l.u.): August Eisenmenger (Ent­ wurf), Viertes Sgraffitofeld von links (Ex­ akte Wissenschaft), um 1884 (Foto: Franz Pfluegl, 2007)

Abb. 183 (m.u.): August Eisenmenger (Ent­ wurf), Zentrales Sgraffitofeld (Triumph der Wissenschaft), um 1884 (Foto: Franz Pfluegl, 2007)

Abb. 184 (r.u.): August Eisenmenger (Ent­ wurf), Viertes Sgraffitofeld von rechts (Exakte Wissenschaft), um 1884 (Foto: Franz Pfluegl, 2007)

262  Funktionalität – Monumentalität – Repräsentation

Abb. 185 (l.): August Eisenmenger (Ent­ wurf), Drittes Sgraffitofeld von rechts (Rhe­ torik), um 1884 (Foto: Franz Pfluegl, 2007) Abb. 186 (m.): August Eisenmenger (Ent­ wurf), Zweites Sgraffitofeld von rechts (Lehrende Wissenschaft), um 1884 (Foto: Franz Pfluegl, 2007) Abb. 187 (r.): August Eisenmenger (Entwurf), Sgraffitofeld rechts außen (Hephaistos), um 1884 (Foto: Franz Pfluegl, 2007)

493 Siehe Restaurierungsbericht von August Kicker am 14. September 1977, in  : Bundesdenkmalamt, Akten Hauptgebäude der Universität Wien, 1.227, Mappe III, 1977–1981. 494 Siehe Korrespondenz und Restaurierungsbericht von Hans Hoffmann, in  : Bundesdenkmalamt, Akten Hauptgebäude der Universität Wien, 1.227, Mappe XIV, 2001– 2002. 495 Anonym, Wandgemälde an der neuen Universität, in  : Neue Freie Presse, 5. Oktober 1884, Morgenblatt, S. 6  ; und ebenfalls Anonym, Wandgemälde an der neuen Universität, in  : Wiener Bauindustrie-

zugeordnete Rute, aber zusätzlich liegen dort auch ein Zirkel und ein Schädel, die beide nicht als Attribute der Grammatik gelten. Gleichzeitig zieht ein Putto einen Schleier von ihrem Kopf, sodass sie vielmehr einer veritas ähnelt, die enthüllt wird [vgl. Abb. 188]. Die Figur, die 1977 als »Arithmetik mit Rechenbrett« bezeichnet wurde, hält spätestens seit der jüngsten Restaurierung ein Buch statt eines Rechenbretts. Wodurch deutlich wird, dass aus der heutigen Anschauung aufgrund der dreifachen Restaurierungen, die keinem festgelegten Programm folgen konnten, keine sicheren Rückschlüsse auf die Ikonografie gezogen werden können. Noch problematischer ist die Bezeichnung der weiblichen Figur links außen als Philosophie [Abb. 180], die zu keinem Zeitpunkt Bestandteil der Artes Liberales war, sondern vielmehr aus dem Artistenstudium hervorgegangen ist. Die zentrale Figur blieb in jenem Bericht gänzlich unbenannt.493 In der Korrespondenz zur letzten Restaurierung im Jahr 2003 wurde aufgrund dieser Unschärfe auf eine Benennung der einzelnen Felder verzichtet.494 Durch die Ansicht der kleinformatigen Reproduktion in den Wiener Monumentalbauten lässt sich das Programm aufgrund der erkennbaren Attribute wie Bücher, Zirkel, Schriftrollen enthüllender Schleier und Vortragsgestus thematisch passend mit der Wissenschaftsikonografie einer Universität in Einklang bringen. Eine zeitgenössische Beschreibung der Sgraffiti, in der das Programm knapp erläutert wird, konnte erst im Zuge der vorliegenden Arbeit gefunden werden. Diese Pressenotiz wurde 1884 gleichlautend in der Neuen Freien Presse und der Wiener Bauindustrie-Zeitung veröffentlicht  :495

Die ikonografischen Programme im Spiegel der Wissenschaftsgeschichte  263

»Während die figurale Ausschmückung des neuen Universitäts-Gebäudes noch ihrer Vollendung entgegengeht, erregen an der rückwärtigen Façade neun in Sgraffito-Manier hergestellte Wandgemälde die Aufmerksamkeit des Publicums. Es sind Allegorien nach Motiven des Professors Eisenmenger, für welche die Cartons von dem Maler Julius Schmid angefertigt worden sind. Das Programm lautete, in den geblendeten Fensternischen des Bibliothektractes solche Darstellungen im antiken Styl herzustellen, die dem gesammten Charakter und der Bestimmung des Universitäts-Gebäudes entsprechen. Schmid hat sich nun die Allegorisierung der Wissenschaften zur Aufgabe gestellt, ist dabei aber vielfach von der hergebrachten Darstellungsweise abgewichen und nach eigener freier Erfindung vorgegangen. Zunächst schuf er für jede der Hauptfiguren einen originellen Rahmen, indem er jede derselben unter einen architektonisch recht wirksamen Porticus stellte, an dessen Säulen links und rechts Nebenfiguren sitzen, welche die Bedeutung des Bildes genauer versinnlichen. Ueber den Bogen sind zwischen Arabesken und Amoretten Medaillonporträts und unter dem Porticus von Amoretten gehaltene Schildbuckel angebracht.«

Die Tatsache, dass der Maler Julius Schmid von einer traditionellen Ikonografie von Wissenschaftsallegorien abwich, erklärt die Schwierigkeiten bei der späteren Identifizierung. In den nachfolgenden Erklärungen der Figuren werden die Intentionen des Programms zumindest deutlicher. »Das mittelste der neun Bilder zeigt eine sitzende Gestalt, die triumphierende Wissenschaft, in der einen Hand die Leuchte des Wissens, in der andern den Palmzweig als Attribut des Friedens haltend. In den Nischen rechts und links von dieser Mittelfigur repräsentieren zwei andere, gleichfalls sitzende Frauengestalten die exacten Wissenschaften, die eine sinnend vor sich hinblickend, die andere eine Kugel in der Hand haltend. Die zu den Füssen Beider sitzenden Jünglinge studieren angelegentlich in den ihnen anvertrauten Büchern, während die Nebenfiguren der folgenden Bilder anscheinend begeisterte Zuhörer darstellen. Sie lauschen der Poesie, einer herrlichen Frauengestalt mit der Lyra, und der Rhetorik, die mit einer edlen Bewegung die Hand erhebend dargestellt ist. An die Poesie und Rhetorik reihen sich beiderseits zwei Repräsentantinnen der lehrenden Wissenschaft an, und an den äußersten Ecken bilden zwei männliche Gestalten, kraftstrotzend und selbstbewußt, den Abschluß der Reihe. Sie stellen die elementaren Kräfte der Natur dar  : der Eine, zur rechten Seite, ein Feuerbüschel über dem Kopfe schwingend und ein Bündel Blitze in der linken Hand haltend, ist eine Art Hephaistos, dessen Begleiter mit Hammer und ähnlichem Handwerkzeug ausgerüstet sind  ; der Andere mit dem Dreizack ist Poseidon und repräsentiert das dem Feuer feindliche Element des Wassers. Als ein Product des Meeres hält eine der Begleiterinnen des Gewaltigen eine Perlenschnur in der Hand.«

264  Funktionalität – Monumentalität – Repräsentation

Zeitung, 4. Jahrgang, Heft 4, 1884, S. 43–44.

Abb. 188: Verità, in: Cesare Ripa: Iconologia overo descrittione di diverse imagini cavate dall’ antichità, e di propria inventione. 2. Nachdruckauflage der Ausgabe Rom 1603 (Foto: Imago, Humboldt-Universität Berlin)

496 Bockstaele 2004, S. 407. 497 Heidelberger 2002, S. 84.

Zweifellos folgt dieses Programm keiner standardisierten Wissenschafts­ ikonografie. Wenn es durch die Allegorisierung im Gegensatz zu dem historisch scheinbar objektiven Gelehrtenprogramm der Skulpturen und Medaillons rückschrittlich wirkt, so muss doch anerkannt werden, dass die Wahl und Zusammenstellung dieses Sgraffito-Wissenschaftsprogramms die Wissenschaftsauffassung des späten 19. Jahrhunderts trefflich widerspiegelt. Im Zentrum steht die Allegorie der triumphierenden Wissenschaft [Abb. 183], die zwei ikonografische Vorlagen vereint. Die weibliche Allegorie, die das Licht oder eine Fackel hochhält, entspricht Cesare Ripas Darstellung der verità [Abb. 188]. Die Nähe zur Wissenschaft drückt die Wahrheit bei Ripa zusätzlich durch die Feder und das in der Hand gehaltene Buch aus. Dies übernehmen in Schmids Darstellung die männlichen Assistenzfiguren am Sockel. Der Palmzweig, den die Figur hält, ist nicht in erster Linie ein Friedenssymbol, sondern vielmehr eines der Attribute der Nike oder Victoria, die sich nach errungenem Sieg dem Frieden verpflichten. In Verbindung mit ihren beiden direkten Nachbarfiguren, die für die Exacten Wissenschaften stehen [Abb. 182 und 184], verleiht die Triumphierende Wissenschaft dem deterministischen Glauben an die Erkenntniskraft der Wissenschaften Ausdruck. Die sogenannten exakten Wissenschaften wie Mathematik, Physik, Astronomie und Chemie entwickelten sich erst ab dem beginnenden 19. Jahrhundert weg von ihrem Status als Hilfswissenschaften zu selbstständigen wissenschaftlichen Disziplinen.496 In der Folge prägten sie einen Begriff des Weltbilds, der versprach, dass mithilfe der Naturwissenschaften eine umfassende Darstellung der Welt möglich werde. Und tatsächlich sah sich die »wissenschaftliche Forschung des späten 19. Jahrhunderts […] diesem Ziel der Weltdeutung aus Wissenschaft zum Greifen nahe.«497 Die linke Figur der Exakten Wissenschaft ist diejenige, die in den Akten des Bundesdenkmalamts als Grammatik bezeichnet wurde [Abb. 182]. Während sich bei der Grammatik die Attribute Zirkel, Schleier und Schädel nicht optimal zuordnen ließen, können diese nun gemeinsam mit der Rute für mehrere Disziplinen stehen, die exakt arbeiten. Bedeutend ist hier, dass nicht nur die mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächer in dieser Darstellung zu den exakten Wissenschaften gezählt zu werden scheinen, sondern durch die Attribute Schädel und Rute zumindest auch die Anatomie und die Grammatik. Die rechte Figur der Exakten Wissenschaft ist durch einen fackel­ tragenden Putto über ihrem Kopf ebenfalls in die Nähe der Ripa’schen verità gerückt [Abb. 184]. Im Gegensatz zu der offenbar stärker naturwissenschaftlich vermessenden linken Exakten Wissenschaft hat die rechte Darstellung ausschließlich Bücher als Attribute. Die Figur sitzt mit nachdenklichem Blick und hält dabei eines der schweren Bücher auf dem Schoß, zu ihrer Rechten am Boden stapeln sich weitere Bände, und ihre männlichen Nebenfiguren beschäftigen sich ebenfalls mit umfang-

Die ikonografischen Programme im Spiegel der Wissenschaftsgeschichte  265

reichen Schriftwerken. Insofern scheinen in diesem Programm auch die Geisteswissenschaften, die ihre Kenntnisse vorrangig aus dem Quellenund Bücherstudium schöpfen und in gedanklichen – im Gegensatz zu experimentellen – Prozessen zu neuen Erkenntnissen gelangen, auch in den Rang der Exakten Wissenschaften gehoben worden zu sein. Diese beiden Figuren repräsentieren so die Einheit der Wissenschaften im Sinne Humboldts. Die Figuren der Poesie [Abb. 181] und der Rhetorik [Abb. 185] leiten über zu den beiden Darstellungen der Lehrenden Wissenschaft [Abb. 180 und 186]. Die linke Lehrende Wissenschaft hält auffordernd eines der Bücher als Erkenntnisquelle hoch, die rechte hingegen liest selbst in einer über ihren Schoß gebreiteten Schriftrolle und hält – wieder an die Allegorie der veritas erinnernd – eine Öllampe nach oben. Die Zusammenstellung der Exakten Wissenschaften mit den Lehrenden Wissenschaften kombiniert den Humboldt’schen universitären Leitgedanken mit einem ausgeprägten wissenschaftlichen Determinismus. Das Verhältnis von Forschung und Lehre wird von Humboldt als eine Einheit beschrieben, die in dieser Form nur den Universitäten zu eigen ist. Die Wissenschaft selbst ist definiert als offener Prozess des Suchens und Forschens, bei dem neue Erkenntnisse immer wieder neue Fragen aufwerfen. Dadurch unterscheide sich die höhere wissenschaftliche Anstalt von den Schulen, da dort nur fertige und abgeschlossene Kenntnisse gelehrt würden.498 Daher sollte sich auch die Form des Unterrichts von derjenigen der Schulen unterscheiden  : »Darum ist auch der Universitätslehrer nicht mehr Lehrer, der Studierende nicht mehr Lernender, sondern dieser forscht selbst, und der Professor leitet seine Forschung und unterstützt ihn darin. Denn der Universitätsunterricht setzt nun in Stand, die Einheit der Wissenschaft zu begreifen, und hervorzubringen und nimmt daher die schaffenden Kräfte in Anspruch.«499

In einer Art sokratischen Dialogs sollten sich die Professoren und Studenten als quasi gleichberechtigte Forscher gegenüberstehen und gemeinsam Dienst an der suchenden Wissenschaft leisten.500 Die Darstellungen der Lehrenden und Exakten Wissenschaften im Sgraffito zeigen diese ideale institutionelle Einheit, in der die sogenannten Exakten, die forschenden Wissenschaften parallel und gleichberechtigt mit den sogenannten Lehrenden Wissenschaften die Erkenntnisprozesse vorantreiben. Die lesenden, schreibenden und zuhörenden Jünglinge zu Füßen der Allegorien bilden in diesem Programm die idealen Identifikationsfiguren für diejenigen, die an der Universität Wissenschaft betreiben. Unter den äußersten Baldachinen stehen links Poseidon und rechts eine Figur, die die bisherige Forschung wegen der Blitze in der Hand für den Göttervater Zeus gehalten hat.501 Laut der Zeitungsnotiz soll

266  Funktionalität – Monumentalität – Repräsentation

498 Siehe Kopetz 2002, S. 43. 499 Humboldt, Königsberger Schulplan, S. 103, zit. nach Kopetz 2002, S. 44. 500 Kopetz 2002, S. 44–45. 501 Mühlberger 2007, S. 62.

502 Heidelberger 2002, S. 84. 503 Fellner 1997, S. 85–121. 504 Siehe Tönnesmann 2005, S. 73–74. 505 »Es wäre nicht wert, geboren zu werden, wenn nicht für Wissenschaften und Künste. In ihnen werdet ihr den Siegespreis gewinnen.« Übersetzung in  : Das Eidgenössische Polytechnikum als geistiges Bundeshaus. Gottfried Semper und die Zürcher Hochschul-Träume, in  : Neue Zürcher Zeitung, 21. April 2011 (http://www.nzz.ch/aktuell/ startseite/article7BEPZ-1.489454, zuletzt besucht am 3. Mai 2015).

es sich bei der rechten Figur aber um Hephaistos, den Gott des Feuers, handeln. So rahmen die Götter des Wassers und des Feuers, der zwei gegensätzlichsten Elemente, die Allegorien der Wissenschaften und deren Triumph als Herzstück. Die zentrale Darstellung der triumphierenden Wissenschaft korrigiert Humboldts Idee des nicht endenden Forschungsprozesses insofern, als sie die wissenschaftliche Überzeugung des 19. Jahrhunderts aufgreift, der zufolge die exakte Forschung in der Lage ist, ein verlässliches Bild der Welt zu zeichnen.502 Mit dieser triumphierenden Figur nimmt das Sgraffito auf der Rückseite die Siegesmetaphorik der Hauptfassade auf, die sich durch die Akroteron-Nike über der Geburt der Minerva im Giebel ausdrückt. Mit dem Auftrag für das Deckengemälde im Festsaal, das den Sieg des Lichts über die Finsternis thematisiert, sollte der Triumph der Wissenschaften über die gesamte Mittelachse des Gebäudes gezogen werden. Im Falle der Festsaalausstattung, die etwa ein Jahrzehnt später in Auftrag gegeben wurde, konnte der feste Glaube an eine deterministische Wissenschaft nicht mehr überzeugend zum Ausdruck gebracht werden, stattdessen führten Gustav Klimts Interpretationen der Wissenschaften zu einem der größten Kunstskandale Österreichs im 20. Jahrhundert.503 Ikonologisch geht das Wiener Sgraffito-Programm mit dieser Verbindung der Humboldt’schen Einheit von Forschung und Lehre mit einer wissenschaftlichen Wahrheitsgewissheit weit über die vorhergehenden Sgraffiti an Hochschulbauten hinaus. Das Sgraffito an der Nordfassade des Zürcher Polytechnikums ist in verschiedene Ebenen gegliedert, in denen sowohl Künstler- und Gelehrtenmedaillons, Kantonswappen und von Genien gehaltene Plaketten mit den Inschriften akademischer Tugenden präsentiert werden [Abb. 138].504 Das Zentrum des Sgraffito bilden die Personifikationen der scientiae und artes, die von einem anspruchsvollen Spruch umfasst werden  : non fuerat nasci/nidi ad has/scientiae/artes/harum/palmam/feretis. 505 Der Palmwedel (palma), der hier als Siegespreis durch die Künste und Wissenschaften zu gewinnen ist, ist eines der Attribute der Siegesgöttin Nike. Als Zeichen des Sieges trägt auch die Wiener Triumphierende Wissenschaft im zentralen Sgraffito einen Palmwedel. Für ein polytechnisches Institut mag der ideologische Anspruch des Zürcher Mottos gemeinsam mit den rahmenden Tugenden hoch gegriffen gewirkt haben, sodass nachfolgende Institutionen zwar das Sgraffito als Technik übernommen, das Programm selbst aber modifiziert haben. So zum Beispiel an der Fassade der Münchner Polytechnischen Hochschule. In dem von Eugen Napoleon Neureuther, dem Bruder des Architekten Gottfried Neureuther, entworfenen Sgraffito tritt der akademische Anspruch zugunsten einer Deskription der Fächer zurück. Unter einer Ahnengalerie der wichtigsten Vertreter der technischen Künste und Wissenschaften befinden sich in den Zwickeln zwischen den Rundbo-

Die ikonografischen Programme im Spiegel der Wissenschaftsgeschichte  267

genfenstern weibliche Personifikationen technischer Fächer wie Dynamik, Statik und Mechanik.506 Durch die zahlreichen Attribute wirken die Personifikationen erklärend und illustrativ, im Gegensatz zu den abstrakt formulierten Personifikationen an der Wiener Fassade. Deren Ernsthaftigkeit spiegelt sich auch im Vergleich der studierenden Jünglinge in Wien mit den rahmenden Putti in München wieder. Letztere stellen – in fröhlich spielerischer Weise sowohl Wissenschaftsbegriffe als auch technische Prozesse dar. Der Vergleich mit den Vorgänger-Sgraffiti zeigt, dass sich die Technik Sgraffito in Sempers Nachfolge als bildungsinstitutionsnahes Gestaltungsmittel etabliert hatte, dass aber die Programme immer der Institution entsprechend variiert wurden. An der Wiener Fassade sollten das universitäre Ideal und das dadurch zu erreichende hehre Ziel, nämlich umfassende Erkenntnis durch ideale Wissenschaftsbedingungen, präsentiert werden. So spiegelt sich hier noch einmal das Wissenschaftsbild des ausgehenden 19. Jahrhunderts, das sich vom Fortschritt der Wissenschaften, insbesondere der Exakten, tatsächlich noch ein Lüften des Schleiers erwartete, wie in einer der Personifikationen angedeutet. Im krassen Gegensatz dazu stehen die Entwürfe, die Gustav Klimt nur ein gutes Jahrzehnt später für den Festsaal der Universität plant.

Geplantes Programm im Inneren Deckengemälde des Festsaals

Der von Julian Niedzielski gezeichnete isometrische Schnitt durch das Hauptgebäude dokumentiert nicht nur die Pläne, in den Stiegenhäusern ebenfalls Statuen aufzustellen, sondern erlaubt auch einen Blick auf die ursprünglichen Pläne zur Ausstattung des Festsaals [Abb. 51]. Der markanteste Unterschied besteht in der Gestaltung der oberen Wandgliederung und dem Übergang zum Deckenspiegel. Während in Niedzielskis Zeichnung ein Architrav von der Decke auf die Pilasterstellung und die dazwischenliegenden Rundbogenfenster überleitet, vermitteln in der Ausführung Stichkappen von den kleinen rechteckigen Fenstern zum Spiegelgewölbe. Nur angedeutet sind bei Niedzielski die Kassettierung der Decke und ein zentrales Gemälde. Laut Rudolf von Eitelberger hatte Ferstel bereits Planungen bezüglich des Konzepts für das Deckengemälde angestellt, aber das künstlerische Programm nicht fertigstellen können.507 Wie die Korrespondenz zwischen Eitelberger und Ferstel bestätigt, hatten beide bereits mit dem Maler Ferdinand Laufberger, der auch die malerische Ausstattung für das Kunstgewerbemuseum entworfen hatte, über die Ausmalung der Universität gesprochen.508 Eine Fortführung dieses Gedankenaustauschs wurde durch Laufbergers plötzlichen Tod beendet. In der Folge wurde laut Eitelberger eine

268  Funktionalität – Monumentalität – Repräsentation

506 Wagner 1989, S.133–138. 507 Eitelberger 1884, S. 23. 508 Brief von Ferstel an Eitelberger am 14. Juli 1881, Wienbibliothek, Handschriftensammlung, Inv. Nr. 22.871.

Abb. 189: Detail der Fakultätenallegorie, aus: Abb. 73, Heinrich von Ferstel, Haupt­ gebäude der Universität Wien, Skizze zur Plafondgestaltung des Großen Festsaals (Wien Museum, Inv.-Nr. 165.308/31)

509 Eitelberger 1884, S. 24. 510 Ebd., S. 24. 511 Bericht Heintl 1867, S. 19 f. 512 Telesko 2015, S. 73–80. 513 Strobl 1964, S. 139.

Grundidee für die Festsaalausmalung entwickelt, die »in den Pendentifs die wissenschaftlichen Institute, welche unter Kaiser Franz Joseph in den Kronländern gegründet wurden«, vorsah.509 Als »Hauptbild hingegen [möchte] eine ähnliche Darstellung gewählt werden, wie sie sich in der alten Aula befindet.«510 Aus dieser Formulierung geht nicht klar hervor, ob sich das neue Deckengemälde an den Darstellungen der vier Fakultäten oder aber der Apotheose des Kaiserpaares orientieren sollte. Der Wunsch an sich macht aber deutlich, dass nach wie vor eine Auseinandersetzung mit dem alten Hauptgebäude stattgefunden hat. Der bei dem Universitätssyndicus Heintl festgehaltene Wehmut darüber, dass man zur Benutzung des Festsaals mit den Emblemen der vier Fakultäten immer die Akademie der Wissenschaften um Erlaubnis bitten musste,511 spricht dafür, dass der neue Festsaal nun neue, eigene Darstellungen der vier Fakultäten erhalten sollte. Im künstlerischen Nachlass Ferstels ist eine Skizze zur Festsaaldecke erhalten, die die Gliederung der Fläche andeutet [Abb. 73]. Diese Aufteilung der Bildfelder unterscheidet sich von der großflächigen Kassettierung, wie sie in Niedzielskis Schnitt angedeutet gewesen war. Stattdessen gruppieren sich vier Felder um ein großes, zentrales Bildfeld. Der Vergleich mit dem ausgeführten Zustand der Festsaaldecke zeigt, dass die entworfene Rahmung der Felder weitgehend übernommen wurde [Abb. 74]. Die ornamentalen Stege zwischen den Bildfeldern stimmen zu großen Teilen überein, statt des Emblems mit Doppeladler wurden in der Ausführung allerdings die Initialen des Kaisers Franz Joseph eingetragen. Beide Repräsentationen, seien sie als Doppeladler oder Initialen ausgeführt, deuten darauf hin, dass das zentrale Bildfeld nicht wie in der Neuen Aula für eine große Apotheose des Kaiserpaares gedacht war, sondern dass stattdessen die Wissenschaft, als Überbegriff über die vier Fakultäten, selbst ins Zentrum rücken sollte. Die eine nur vorsichtig skizzierte Allegorie einer nicht zu identifizierenden Fakultät scheint auf einem hohen profilierten Sockel zu thronen [Abb. 189]. Neben dem Sockel sind außerdem auf jeder Seite Begleitfiguren angedeutet. Dieser Aufbau erinnert weniger an die Fakultätenbilder in der Neuen Aula, in denen im lockeren Beisammensein ideale Gelehrte für die Einzeldisziplinen stehen [Abb. 190],512 sondern vielmehr an den Aufbau einer klassischen Einzelallegorie auf einem Sockel, der auch die später entwickelten Sgraffito-Allegorien an der rückwärtigen Fassade entsprechen. Aus Geldmangel konnte die Ausstattung des Festsaals in den 1880erJahren nicht in Angriff genommen werden. Erst 1891 setzte sich die Artistische Kommission der Universität wieder mit diesen Belangen auseinander und entwickelte ein Programm für die Festsaaldecke, das »nicht realistische, sondern ideale Compositionen« vorsah.513

Die ikonografischen Programme im Spiegel der Wissenschaftsgeschichte  269

»[Für] das Mittelbild eine die Bedeutung und das Wirken der Universität zusammenfassende Darstellung, für die vier kleineren Deckenfelder Darstellungen der vier Fakultäten und für die 16 Zwickelfelder eine universelle Darstellung der Geschichte der Universität, charakterisiert durch die Städte, welche die ältesten und historisch wichtigsten Hochschulen besitzen, eventuell eine Darstellung der österreichischen Nationalitäten.«514

Das Ministerium für Unterricht und Kultus hatte für diese Aufgabe insbesondere die Künstler der sogenannten Künstlercompagnie ins Auge gefasst, da deren drei Mitglieder Franz Matsch, Gustav und Ernst Klimt mit ihren Arbeiten im Stiegenhaus des Kunsthistorischen Museums bereits für großes Aufsehen gesorgt hatten.515 Im Jahr 1893 lieferte Matsch einen Entwurf, der ein barockisierendes, komplex-allegorisches Mittelbild und in den Stichkappen sechzehn Gelehrtenporträts vorsah. Die Artistische Kommission lehnte das überbordende Mittelbild ab und empfahl stattdessen ein zusammenfassendes Motiv wie Sieg des Lichts über die Finsternis oder Triumph der Wissenschaft, das gemeinsam mit Gustav Klimt entworfen werden sollte.516 Nach Vorlage eines gemeinsamen Vorentwurfs im Jahr 1894 wurden die beiden Künstler beauftragt. Diese legten 1898 die Entwürfe für das Mittelbild und die Fakultätenbilder vor, wobei die Entwürfe Matschs für das Mittelbild Sieg des Lichts über

270  Funktionalität – Monumentalität – Repräsentation

Abb. 190: Gregorio Guglielmi/Paul Recken­ dorfer, Neue Aula, heute Österreichische Akademie der Wissenschaften, Deckenge­ mälde des Festsaals mit den vier Fakultä­ tenallegorien, um 1755/1961 (Foto: Alexan­ der Arnberger, 2014)

514 Zit. nach Strobl 1964, S. 139. 515 Strobl 1989, S. 139. 516 Ebd., S. 140–141.

Abb. 191: Gustav Klimt, Die Philosophie, Kompositionsentwurf für den Festsaal des Hauptgebäudes, 1898 (Foto: Galerie Welz, Salzburg)

517 Apke 2005, S. 99. 518 Schorske 1982, S. 216, nahezu wortgleich auch bei Schorske 2006, S. 13. 519 Schorske 1982, S. 216, nahezu wortgleich auch bei Schorske 2006, S. 13. 520 Nach Strobl 1964, S. 153  ; siehe auch Schorske 2006, S. 14–15. 521 Schorske 2006, S. 19. 522 Schorske 2006, S. 19. 523 Ebd., S. 21.

die Finsternis und für die Theologie sowohl von der Kunstkommission des Unterrichtsministeriums als auch von der Artistischen Kommission angenommen wurden. Die anderen drei Fakultätsbilder, die Gustav Klimt entworfen hatte, wurden vehement kritisiert. Insbesondere der Entwurf für die Philosophie erregte großen Widerstand. Entgegen dem Auftrag, ideale Compositionen beziehungsweise Allegorien zu schaffen, lieferte Klimt in der Philosophie »ein symbolistisches Gemälde, das der zeitgenössischen Fortschrittsgläubigkeit ein dunkles Ahnen und eine pessimistische Sicht auf die Wissenschaft entgegensetzte.«517 Im Gegensatz zu der allegorischen Skizze Ferstels wird die Philosophische Fakultät in Klimts Bild durch mehrere miteinander verbundene Aspekte dargestellt [Abb. 191]. Aus einem nicht deutlich definierten Hintergrund taucht auf der rechten Seite eine Gestalt mit geschlossenen Augen auf, die als Sphinx zu deuten ist.518 Entlang der gesamten linken Bildhälfte zieht sich ein Strom aus nackten Menschen, die in unterschiedlichen Gemütshaltungen dargestellt sind und die für die leidende, unwissende Menschheit stehen.519 Allein die Figur am unteren Rand, von der nur der weitgehend verhüllte Kopf zu sehen ist, deutet mit ihren offenen Augen, die den Betrachter anblicken, einen Scharfblick innerhalb dieser von Nebel und Unwissenheit geprägten Umgebung an. Diese »verschwommenen Formen« und die »trübe Phantastik« Klimts standen im Widerspruch zur Wissenschaftsauffassung der Wiener Professoren. Statt eines nebelhaften, phantastischen Gebildes, verlangten sie nach einer Darstellung, die die positivistischen Anstrengungen der Philosophie und ihre Nähe zu den exakten Wissenschaften zum Ausdruck bringe.520 Einen ähnlichen Affront stellte Klimts Medizin-Bild dar, das ebenfalls nicht dem Selbstbild der Mediziner entsprach [Tafel 14]. Wieder sind es nicht der wissenschaftliche Fortschritt und die Erfolge, die Klimt hier positiv herausstreicht. Stattdessen stellt Klimt korrespondierend zum Bild der Philosophie einen Strom von nackten Körpern dar, inmitten dessen die Personifikation des Todes willkürlich ihren Schleier um die Menschen schlingt.521 Die zentrale Figur der Hygieia hat dem nichts entgegenzusetzen, sondern präsentiert sich lediglich dem Betrachter. Wiederum wegen der tiefen weltanschaulichen Differenz, aber auch wegen der als unschicklich geltenden Darstellungen der weiblichen Akte – zum einen die Schwebende auf der linken Seite und zum anderen die Schwangeren rechts oben, wurde Klimt heftig – von professoraler sowie von politischer und öffentlicher Seite – angegriffen.522 Der Protest ging so weit, dass sogar diejenige Ausgabe der Zeitschrift Ver Sacrum, in der die Skizzen zur Medizin abgedruckt waren, beschlagnahmt wurde.523 Als Klimt um 1901 mit dem Fakultätsbild der Jurisprudenz begann, war sein Vertrauen in die Justiz und die öffentliche Gerechtigkeit aufgrund der Schmähungen bereits tief verletzt, sodass er seinen Zorn darüber in dem dritten Bild zum Ausdruck brachte. Statt der Allegorie ei-

Die ikonografischen Programme im Spiegel der Wissenschaftsgeschichte  271

ner erhabenen Gerechtigkeit, wie im ersten Entwurf von 1897/98 [Abb. 192], wird als Hauptfigur ein ausgemergeltes Opfer der Rechtspraxis in das Zentrum gerückt und von einem übergroßen Oktopus gefesselt. Umringt wird diese tragische Hauptgruppe von drei Rachegöttinnen, die das System der Justiz in kein besseres Licht stellen. Weit entfernt von dieser pessimistischen Sicht auf das Rechtssystem erscheinen unterhalb des oberen Randes die justitia gemeinsam mit veritas und lex [Tafel 14].524 Auch mit diesem Fakultätsbild konnte Klimt seine Gegner kaum von sich überzeugen und aufgrund der anhaltenden feindlichen Stimmung gegenüber den Werken beantragte Klimt im Mai 1905 den Rückkauf seiner Gemälde.525 Sein ehemaliger Mitstreiter Franz Matsch bemühte sich umgehend um den Auftrag die nun fehlenden drei Fakultätsbilder in Einklang mit seinem Bild der Theologie fertigstellen zu können. Die angefertigten Entwürfe wurden einstimmig verworfen, so dass die vier Felder um Matschs Sieg des Lichts über die Finsternis frei blieben. Erst im Jahr 2005 konnte im Zuge einer Kooperation zwischen dem Wiener Leopold Museum und der Universität Wien die Deckengestaltung des Festsaals mit Schwarz-Weiß-Reproduktionen der Fakultätsbilder abgeschlossen werden [Tafel 14].526

Zum Zeitpunkt der Auftragserteilung an Matsch und Klimt waren die Folgen nicht absehbar. Klimt hatte sieben Jahre an der Wiener k. k. Kunstgewerbeschule studiert, unter anderem bei dem Freund Ferstels, dem Maler Ferdinand Laufberger. Durch die Vermittlung Eitelbergers gelangte Klimt gemeinsam mit seinem Bruder Ernst und dem Kollegen Franz Matsch an einige große Ringstraßenaufträge. Sowohl die Arbeiten in den Stiegenhäusern des Burgtheaters als auch jene im Kunsthistorischen Museum wurden positiv aufgenommen, sodass eine Beauftragung für den Festsaal der Universität unbedenklich, ja ideal scheinen musste.527 Wenn auch Matschs Entwürfe nicht annähernd als so qualitätsvoll wahrgenommen wurden wie anfangs diejenigen Klimts, so entsprachen die Theologie und der Sieg des Lichts über die Finsternis inhaltlich den Erwartungen. Umso heftiger war das Entsetzen darüber, dass Klimts Bild der Philosophie entgegen den Absprachen keine traditionelle Allegorie, sondern einen pessimistischen Gegenpol darstellte. 528 Der Protest von 87 Professoren der Universität gegen dieses Bild wandte sich daher nur vordergründig gegen die künstlerische Gestaltung, in deren Modernität die Professoren einen zu starken Kontrast zur restlichen Gestaltung des Hauptgebäudes und des Festsaals im Besonderen sahen. Die Interpretation der Philosophie selbst erschien nicht geeignet, wie der Rektor Wilhelm Neumann betonte. Er empörte sich, dass die Philosophie es nicht verdiene, »in einer Zeit, in der sie die Quellen in den exakten Wissenschaften sucht, als nebelhaftes, phantastisches Gebilde,

272  Funktionalität – Monumentalität – Repräsentation

Abb. 192: Gustav Klimt, Die Medizin, Kom­ positionsentwurf für den Festsaal des Hauptgebäudes, 1898 (Foto: Galerie Welz, Salzburg)

524 Apke 2005, S. 106. 525 Ende des Zweiten Weltkriegs wurden die Fakultätsbilder sowie zahlreiche andere Arbeiten Klimts im Schloss Immendorf bei Hollabrunn von einer abziehenden SS-Einheit vernichtet. 526 Mühlberger 2007, S. 137. 527 Néret 2005, S. 92  ; Apke 2005, S. 99. 528 Apke 2005, S. 99.

als rätselhafte Sphinx dargestellt zu werden.« 529 Nicht weniger zweifelnd waren die anderen beiden Fakultätsbilder Klimts, deren Absicht es ebenso wenig war, die Fakultäten Medizin und Jurisprudenz auf bestärkende und positive Weise darzustellen, sondern die ebenfalls deren Schattenseiten hervorhoben. Solch wissenschafts-skeptische Illustrationen waren nicht diejenigen Fakultätsrepräsentationen, auf die die Universitätsvertreter seit dem Verlust des alten Festsaals in der Bäckerstraße gewartet hatten. Durch ihren abweichenden Charakter schienen sie auch nicht mit dem Inhalt der restlichen affirmativen und triumphierenden Wissenschaftsikonografie vereinbar zu sein. Daher lehnten die Professoren Klimts Bilder ab mit den Worten  : »Aber an der Decke der Aula möchten wir ein solches Bild nicht sehen, das uns seiner Art nach dem Orte nicht zu entsprechen scheint«.530

Das zentrale Bild von Franz Matsch hingegen schien sich in das sonstige Programm einzupassen. Mit seiner Licht- und Siegesmetapher griff es die Triumphmetaphorik sowohl des Giebelfeldes der Hauptfassade als auch der Triumphierenden Wissenschaft im Sgraffito wieder auf und bestärkte durch diese Wiederholung die Gesamtprogrammatik. Die Ikonografie von Franz Matschs Festsaalbild ist allerdings nicht ausdrücklich auf die Wissenschaften bezogen, sodass dieser Kontext erst durch die umliegenden Fakultätsbilder hergestellt werden sollte. Innerhalb der weitgehend positivistisch eingestellten und fortschrittsgläubigen Professorengemeinschaft zu Beginn des 20. Jahrhunderts konnte Klimts zweifelnde Fakultätsdarstellung nur wenig Zustimmung finden. Im 21. Jahrhundert, nachdem die Unschärfe der exakten Wissenschaften, die Gefahren ausgehend vom Rechtsverständnis einzelner politischer Protagonisten und die anhaltende Machtlosigkeit der Medizin gegenüber zahlreichen Krankheiten zur Genüge nachgewiesen wurden, sind es gerade Klimts Bilder und deren düstere Ahnungen, die die Siegesmetapher relativieren und somit dem heutigen Wissenschaftsverständnis viel eher entsprechen. Inschriften im Rektorszimmer und Senatssaal

529 Zit. nach Strobl 1964, S. 153. 530 Ebd., S. 153.

Anschließend an den Festsaal liegt nordseitig der Senatssaal, an den wiederum das Rektorszimmer anschließt. Statt Deckengemälden wurden in beiden Räumen die Decken mit dunklem Holz kassettiert [Abb. 141– 142] und die Wände ebenfalls mit dunklen Lambris verkleidet. Diese Ausstattung in den Formen deutscher Renaissance entspricht, wie oben gezeigt, stilistisch den höchsten Ansprüchen an zeitgenössische Herrenzimmer und zeichnet so formal die beiden Orte der Universität aus, an denen die Entscheidungsträger zusammentreffen. Statt Gemälden fungieren hier die Inschriften in den Supraporten als Bedeutungsträger.

Die ikonografischen Programme im Spiegel der Wissenschaftsgeschichte  273

Aus einem Brief vom 13. November 1884, den der Altphilologe Theodor Gomperz an den amtierenden Rektor Hermann Zschokke richtete, geht hervor, dass Gomperz den Auftrag erhalten hatte, lateinische Sinnsprüche für den Senatssaal und das Rektorszimmer zusammenzustellen.531 Diese erarbeiteten Vorschläge fügte Gomperz diesem Schreiben gleich bei  : »Ich schlage demgemäß für den Senatssaal vor  : Honesta honestis suadere (nach Quintilian). Moniti meliora sequamur (nach Vergil). Prudentia sine justitita nihil valet (nach Cicero). Oder Bona consilia mora valescunt (nach Tacitus).«532

Dazu erklärte Gomperz, dass die »im Senatssaal anzubringenden Sprüche […] vorzugsweise, wenn nicht ausschließlich der Charakterisierung desselben als eines Berathungszimmers dienen« sollten und »die sämmtlichen Sentenzen sollen nicht freier Erfindung sondern dem Spruchschatze des Alterthums entstammen«.533 Die Zuordnung der Sprüche an die drei Türen des Senatssaals lassen vermuten, dass bei der Wahl der jeweiligen Tür nicht nur die Charakterisierung als Berathungszimmer im Vordergrund stand, sondern dass die Sentenzen auch im Zusammenhang mit den durch die jeweilige Türe zu erreichenden Räumen stehen. Direkt übernommen wurden die ersten beiden Vorschläge von Gomperz. Im Supraportenfeld zum Rektorszimmers wurde Honesta honestis suadere (Die Würden überzeugen durch die Würdigen)534 angebracht, das nicht nur die Mitglieder des Senats, sondern besonders den Rektor beim Verlassen des Senatssaals daran erinnern sollte, dass ihre Ämter nur durch rechtschaffendes und respektables Verhalten auszufüllen sind. Auf der gegenüberliegenden Seite zum Festsaal kam die zweite Inschrift Moniti meliora sequamur zum Einsatz. Dieser Halbsatz der Aeneis entstammt gerade dem Teil der Handlung, als Aeneas durch Phoebus/ Apollo gewarnt wird und daraufhin mit seinem Gefolge Kreta verlässt  : »Geben wir Phoebus nach und folgen gewarnt dem besseren Rate.«535 Diese Aufforderung, »dem besseren Rat zu folgen«, lässt sich besonders auf die Beratungen im Senatssaal beziehen. Die durch Phoebus implizierte Lichtmetaphorik kann aber auch wieder in Zusammenhang mit dem erhellenden Licht der Wissenschaft aufgefasst werden. Die anderen beiden Alternativ-Vorschläge für die Tür zum Vorzimmer des Festsaals, Prudentia sine justitia nihil valet (Klugheit ohne Gerechtigkeit hat keinen Wert) und Bona consilia mora valescunt (Gute Beschlüsse erstarken durch Zögern),536 wurden offenbar verworfen. Während der erste Spruch vielleicht einen zu allgemeingültigen Charakter hatte, der sich nicht ausschließlich auf die Funktion des Senatssaals als Beratungs-

274  Funktionalität – Monumentalität – Repräsentation

531 Brief von Theodor Gomperz an Magnifizenz Hermann Zschokke, 13. November 1884, in  : Archiv der Universität Wien, Rektoratsarchiv, Akademischer Senat, Akten-Sonderreihe des Akademischen Senats, S87 Artistische Kommission, Schachtel 53. 532 Brief von Theodor Gomperz an Magnifizenz Hermann Zschokke, 13. November 1884, in  : Archiv der Universität Wien, Rektoratsarchiv, Akademischer Senat, Akten-Sonderreihe des Akademischen Senats, S87 Artistische Kommission, Schachtel 53. 533 Brief von Theodor Gomperz an Magnifizenz Hermann Zschokke, 13. November 1884, in  : Archiv der Universität Wien, Rektoratsarchiv, Akademischer Senat, Akten-Sonderreihe des Akademischen Senats, S87 Artistische Kommission, Schachtel 53. 534 Übersetzungen bei Mühlberger 2007, S. 122. 535 Siehe Vergil 1976, S. 64. 536 Übersetzungen der Autorin. Die zweite Sentenz scheint relativ frei nach Tacitus entwickelt worden zu sein, bei dem sich die Sentenz veritas visu et mora, falsa festinatione et incertis valescunt (Wahrheit erstarkt durch offenen Anblick und Zögern, Täuschung dagegen durch Eile und Ungewißheit) findet. Siehe Kirchner 2001, S. 148.

zimmer beziehen ließ, mag der zweite Spruch, der zum besonnenen Handeln und Beschließen aufruft, in Anbetracht der oft langatmigen Entschlussfindung innerhalb des universitären Alltags, wie sich nicht zuletzt anhand der langen Planungsphase des Hauptgebäudes nachvollziehen ließ, nicht als erstrebenswertes Motto angenommen worden sein. Stattdessen werden die Mitglieder des Senats beim Verlassen des Raumes aufgefordert, ihr Leben dem Wahren zu widmen, wie der Sinnspruch nach Juvenal zeigt  : Vitam impendere vero.537 Diesen Spruch hatte Gomperz ursprünglich für das Rektorszimmer vorgesehen  : »Schwieriger fällt es ein ganz passendes Motto für das Rectoren-Zimmer zu wählen. Ein völlig angemessenes, der Thätigkeit des Lenkers der Universität genau entsprechendes Wort zu finden, scheint ein hoffnungsloses Unternehmen. Vor die Wahl gestellt, entweder einen die gleichsam obrigkeitliche Function des Rectors kennzeichnende oder eine dem Inhalt des gesammten Universitätslebens geltende Sentenz zu erküren dürfte man wohl mit Fug den letzteren Weg betreten. Und in diesem Sinne schlage ich vor  : 5) Vitam impendere vero (nach Juvenal). Freilich könnte dies auch über der Mittelthüre des Senatssaals stehen, 1) und 2) auf den gegenüberstehenden zwei Stellen. Nur fehlt dann – vorläufig wenigstens – ein Motto für das Rectors-Zimmer.«538

537 Übersetzung des letzten Sinnspruch bei Mühlberger 2007, S. 122. 538 Brief von Theodor Gomperz an Magnifizenz Hermann Zschokke, 13. November 1884, in  : Archiv der Universität Wien, Rektoratsarchiv, Akademischer Senat, Akten-Sonderreihe des Akademischen Senats, S87 Artistische Kommission, Schachtel 53. 539 Notiz von Theodor Gomperz als Nachtrag zum Brief vom 13. November 1884, in  : Archiv der Universität Wien, Rektoratsarchiv, Akademischer Senat, Akten-Sonderreihe des Akademischen Senats, S87 Artistische Kommission, Schachtel 53.

Da sich dieses Motto, sein Leben dem Wahren oder der Suche danach zu widmen, ebenso gut auf den Inhalt des gesammten Universitätslebens beziehen ließ, ergab es gerade an der Tür, die vom Senatssaal wieder hinaus in die allgemeinen Räume der Universität führte, am meisten Sinn. Auf einem zusätzlichen Blatt brachte Gomperz nachträglich ein neues Motto für das Rektorszimmer nach  : »Vitai lampada tradunt (nach Lucrez)«539. Diese Sentenz, die aus dem Lehrgedicht De rerum natura entnommen ist, appelliert in viel stärkerem Maße an die Position des Rektors, der bereits alle Etappen der wissenschaftlichen Karriere durchlaufen hat und spätestens zu diesem Zeitpunkt sein Wissen und seine Erfahrung zur Unterstützung der nachfolgenden Wissenschaftler einbringen sollte. Gleichzeitig beziehen sich die Fackeln des Lebens auch wieder auf die Lichtmetaphorik, die einerseits in der Sgraffito-Allegorie der Triumphierenden Wissenschaft auftaucht, und andererseits die Wissenschaft als Licht, die im zentralen Festsaalgemälde den Sieg über die Finsternis als Unwissenheit erringt. Zweifellos stehen die gewählten Sinnsprüche noch gänzlich in der affirmativ-positivistischen Wissenschaftsauffassung des ausgehenden 19. Jahrhunderts. So reiht sich auch die inhaltliche Ausgestaltung dieser zentralen Verwaltungsräume ein in das ikonologische Rauschen der Universität.

Die ikonografischen Programme im Spiegel der Wissenschaftsgeschichte  275

Zusammenfassung  : Ikonografische Programme

In Summe durchkreuzen und vereinen sich am und im Hauptgebäude der Universität mehrere unterschiedliche ikonografische Programme, die allesamt darauf abzielen, die Universität vorteilhaft zu repräsentieren. Der umlaufende Fassadenschmuck weist mithilfe von mythologischen, allegorischen und historischen Repräsentanten auf den hohen wissenschaftlichen Anspruch der Universität hin, indem er die aufmerksamen Betrachter auf diesen verschiedenen Ebenen anspricht und jeweils unterschiedliche Aspekte der zu repräsentierenden wissenschaftlichen Tätigkeit hervorhebt. Die ursprüngliche Planung hätte die Reihe der historischen Repräsentanten mit österreichischen Vertretern in den Stiegenhäusern ergänzt. Die Denkmäler der herausragendsten Wissenschaftler der jüngsten Vergangenheit setzten diese Reihe fort. Die Sgraffiti der Rückseite verdichten die unterschiedlichen Facetten der Wissenschaft wiederum in allegorischen Bildern, deren Höhepunkt die zentrale Darstellung der Triumphierenden Wissenschaft bildet. Diese korrespondiert nicht nur mit dem Nike-bekrönten Relief der Geburt der Minerva an der Ringfassade, sondern auch mit dem zentralen Deckengemälde Der Sieg des Lichts über die Finsternis. Die Lichtmetaphorik, die bildlich macht, wie Wissenschaft und Forschung Licht in das Dunkel der Unwissenheit bringen, spielt nicht nur in den allegorischen Darstellungen eine Rolle, sondern wird auch in den Motti der zentralen Verwaltungsräume aufgegriffen. Der Zusammenklang dieser einzelnen affirmativen wissenschafts-ikonografischen Programme wurde allein durch die zweifelnden Fakultätsbilder Klimts beeinträchtigt. In diesen werden weder die Wissenschaft selbst glorifiziert noch die Leistungen einzelner Vertreter gewürdigt. Stattdessen betonen sie die verbleibenden Rätsel, das Scheitern und den Missbrauch der durch die Institution verliehenen Macht. Der Stil der Gemälde allein oder die damals unschickliche Darbietung nackter Frauenkörper mussten nicht zwingend zu einem Skandal diesen Ausmaßes führen. Die zahlreichen (Kunst-)Kritiker und Moralisten, die sich über Klimts Fakultätsbilder in Rage geschrieben haben, machten den Skandal groß. Aber losgetreten wurde er von dem Protest einer großen Anzahl von Professoren, die sich empörten, dass sich Klimt dem wissenschaftsaffirmativen Rauschen der Universitätsikonologie widersetzte, ein Störsignal innerhalb des Geräuschs »des perfekt funktionierenden Geräuschlosen«540 erzeugte.

540 Barthes 1975, S. 88.

276  Funktionalität – Monumentalität – Repräsentation

Synthese oder Das Rauschen in der Universitätsarchitektur

1 Ferstel 1880 B, S. 50.

In dem vorangegangenen großen Kapitel Funktionalität – Monumentalität – Repräsentation wurde das Hauptgebäude auf einige zentrale Fragen hin untersucht, die vorher noch nicht in ausreichendem Maße an das Bauwerk und seine Ausstattung gestellt worden waren. Die in den drei Kapiteln zur Typologie, zum Stil und zur Ikonografie erarbeiteten Ergebnisse haben gezeigt, dass das Hauptgebäude in einem viel stärken Maße als bisher angenommen den Charakter der Institution Universität nach außen repräsentiert. Nach Heinrich von Ferstels Auffassung von Architektur hatte die Baukunst »ihre besondere Sprache, bestehend in formellen Typen und Symbolen, die aus urältesten Traditionen stammen.«1 Dementsprechend konnten Architekten ihre Aufgabe, insbesondere den Monumentalbau, nur dann zu einem gelungenen Ergebnis bringen, wenn sie sich der langen Traditionen der Bauaufgabe bewusst waren und sich dieser Sprache bedienten. Der Auftrag, die Wiener Universität an der Ringstraße zu bauen, erfüllte Ferstel, wie von Rudolf von Eitelberger überliefert, mit einem besonders großen Ehrgeiz. Dementsprechend können wir annehmen, dass hier die Sprache der Baukunst besonders elaboriert zum Ausdruck kommen sollte. Tatsächlich ließen sich in den einzelnen Kapiteln deutlich die Stimmen des Typus, des Stils und der Ikonografie vernehmen. In diesem Kapitel sollen diese Stimmen zusammengefasst werden, um in ihrem Zusammenklang den Gesamtausdruck des Hauptgebäudes der Universität Wien zu erfassen. Ferstel hatte bei seiner Planung zweifellos ein universitäres Gesamtkunstwerk vor Augen, das auf allen möglichen Ebenen das Publikum anspricht, mit der Botschaft, dass es sich hier um eine herausragende Bildungsinstitution handelt. Ferstels imaginiertes Publikum sollte nicht nur in der Lage sein, die offensichtlichen ikonografischen Programme zu erkennen, sondern auch die Stilzitate und die Raumanordnungen als Hinweise auf die lange europäische Universitätsgeschichte lesen können. Ob ein solch umfassend gebildetes Publikum je existiert hat, ist unbekannt, sicher jedoch haben damals wie heute viele interessierte Betrachter einzelne Aspekte des Gesamtprogramms erkannt und bei anderen zumindest Anspielungen auf eine Bauikonografie vermutet, sodass zwar nicht das gesamte intendierte wissenschaftsbezogene Programm gelesen werden konnte, aber ein umfassendes Gesamtprogramm der vielfältigen architektursemantischen Stimmen erahnt werden konnte. Wegen der Komplexität der angewandten semantischen Mittel erschließt sich dieses Gesamtprogramm nicht direkt

Synthese oder Das Rauschen in der Universitätsarchitektur  277

in allen seinen einzelnen Facetten. Stattdessen begegnet es dem Betrachter zunächst als architektonisch-künstlerische Stimmenvielfalt. Das dieser Arbeit vorangestellte Motto von Roland Barthes, das das Rauschen als Geräusch des gut Laufenden bezeichnet, scheint sehr gut geeignet zu sein, diesen Zusammenklang zu beschreiben. In dem kurzen Aufsatz Das Rauschen der Sprache von 1975 stellte Barthes dem menschlichen Sprechen das maschinelle Rauschen gegenüber.2 Bei Barthes ist die gesprochene Sprache dadurch gekennzeichnet, dass sie unumkehrbar ist, sie sich nicht zurücknehmen, sondern nur durch Hinzufügen korrigieren lässt. »Beim Sprechen kann ich nie löschen, wegstreichen, annullieren  ; ich kann nichts anderes tun als sagen ›ich annulliere, ich lösche, ich berichtige‹, kurz, wieder sprechen.«3

Dieser Umstand führe daher zwangsläufig zum Gestammel, das nicht leicht verständlich ist. Dieses Gestammel vergleicht Barthes mit dem Geräusch eines Motors oder einer Maschine, die nicht rund läuft und dabei klopfende, stotternde Geräusche macht und Gefahr läuft zum Stillstand zu kommen. Demzufolge ist die gesprochene Sprache dem Stottern ausgeliefert und läuft immer Gefahr stehen zu bleiben. Das gegenteilige Geräusch, das des gut Laufenden, ist bei Barthes das Rauschen. »[…]so wie die Funktionsstörungen der Sprache gewissermaßen in einem hörbaren Zeichen zusammengefaßt sind  : dem Gestammel, genauso tritt das reibungslose Funktionieren der Maschine in einem musikalischen Wesen hervor  : dem Rauschen.«4

Dieses Rauschen entsteht, wenn viele einzelne Geräusche, die von den vielen Einzelprozessen innerhalb der Maschine erzeugt werden, ineinandergreifen. Barthes nennt hierfür zwei Beispiele  : Erstens die vom Marquis de Sade beschriebene erotische Maschine, in der die Bewegungen aller Leiber exakt koordiniert sind, sodass keine Gegenbewegungen die Maschine zum Stottern bringen könnten, und zweitens die großen japanischen Glücksspielhallen, die von dem Geräusch der unzähligen laufenden Glücksspielautomaten erfüllt sind. Bedingung für das Rauschen ist für Barthes, »daß kollektiv etwas läuft«, dass viele Bewegungen und Prozesse reibungslos ineinandergreifen. »Das Rauschen setzt (wie aus dem Beispiel Sade und dem japanischen Beispiel ersichtlich) eine Gemeinschaft der Leiber voraus  : In den Geräuschen der Lust, die ›läuft‹, erhebt sich keine Stimme, übernimmt keine die Führung oder weicht ab, bildet sich keine Stimme heraus  ; das Rauschen ist das Geräusch der

278  Synthese oder Das Rauschen in der Universitätsarchitektur

2 Barthes 1975, S. 88–91. 3 Ebd., S. 88. 4 Ebd., S. 88.

mehrfachen, aber keineswegs massenhaften Lust (die Masse hat, ganz im Gegenteil, nur eine, und zwar eine schrecklich laute Stimme).«5

Die Unterscheidung zwischen dem kollektiven Rauschen und der einen Stimme der Masse ist von Bedeutung, da die vielen Stimmen, die Teil des Rauschens sind, nicht alle exakt zur selben Zeit dasselbe sagen müssen, sondern gerade ihre Unterschiedlichkeit, ihr spezifisches Geräusch, erzeugt erst im Zusammenklang das Rauschen. Im nächsten Absatz versucht Barthes die beiden Konzepte »stammelnde Sprache« und »kollektives Rauschen« zusammenzubringen und fragt, ob Sprache, die per definitionem nicht rund klingt, rauschen kann. »Als Sprechen bleibt sie scheinbar zum Gestammel verurteilt  ; als Schreiben zur Stille und zur Distinktion der Zeichen  : es bleibt ohnehin immer zuviel Sinn, als daß die Sprache eine Lust hervorbrächte, die ihrer Stofflichkeit innewohnte. Das Unmögliche ist jedoch nicht undenkbar  : das Rauschen der Sprache stellt eine Utopie dar. Welche Utopie  ? Die einer Musik des Sinns  ; darunter verstehe ich, daß die Sprache in ihrem utopischen Zustand erweitert, ja, ich würde sogar sagen, denaturiert wäre, bis sie ein immenses lautliches Geflecht bildet, in dem der semantische Apparat irrealisiert wäre  ; der lautliche, metrische, stimmliche Signifikant würde sich in seiner ganzen Pracht entfalten, ohne daß sich jemals ein Zeichen abhebt […], aber auch – und darin liegt die Schwierigkeit – ohne daß der Sinn brutal verabschiedet, dogmatisch verworfen, kurz kastriert wird. Die rauschende, durch eine unerhörte, unseren rationalen Diskursen unbekannte Bewegung dem Signifikanten überantwortete Sprache würde jedoch in einem Sinnhorizont verbleiben  : Der ganzheitliche, undurchdringliche, unsagbare Sinn stünde jedoch in der Ferne wie eine Fata Morgana […]  ; statt daß die Musik der Phoneme den ›Hintergrund‹ unserer Mitteilungen abgibt (wie dies in unserer Poesie geschieht), wäre hier der Sinn der Fluchtpunkt der Lust.«6

5 Barthes 1975, S. 89. 6 Ebd., S. 89–90.

Für Barthes ist die rauschende Sprache eine Utopie, in der sich die stimmlichen Signifikanten und Phoneme zu einem Rauschen vereinen, das sich vordergründig entfaltet. Dabei sollen aber die Signifikate nicht verloren gehen, sondern als gemeinsamer, ganzheitlicher Sinnhorizont verbleiben. Barthes Definition des Rauschens als kollektives Stimmengewirr mit einem Sinnhorizont ist für das Ziehen möglicher Analogien zu einem architektonisch-ikonologischen Rauschen am Wiener Universitätsgebäude wichtig. Dieses Rauschen, direkt aus Barthes’ Text übernommen, muss an dieser Stelle abgegrenzt werden zu anderen Verwendungen des Begriffs, die in eine andere Richtung zielen. In der Einleitung des Sammelbandes Rauschen. Seine Phänomenologie und Semantik zwischen Sinn und Störung werden dem Rauschen zwei Bedeutungen zugedacht, erstens als »künstlerisches Ausdrucksmittel für Geheimnisvolles und Metaphysisches« und zweitens als »technische

Synthese oder Das Rauschen in der Universitätsarchitektur  279

Störung«, die den Sinn des Gestörten unlesbar macht.7 In der künstlerischen Auffassung des Rauschens wird entweder versucht, aus dem unverständlichen Raunen des Rauschens ein Sinn zu gewinnen oder aber »das Rauschen schlichtweg ästhetisch zu vereinnahmen«.8 Wohingegen das Rauschen als Störfaktor in der Nachrichtentechnik wegen seiner Gefahr für die sinnbeladene Kommunikation unterdrückt werden muss.9 Roland Barthes’ Idee eines per se sinnvollen kollektiven Rauschens kommt in dieser Einleitung nicht vor. Auch in dem Beitrag über Das Rauschen der Bilder wird Rauschen als Störung definiert.10 In einem der einführenden Artikel wird jedoch alternativ zu den Vorstellungen des Rauschens als Verheißung oder aber Bedrohung das Rauschen als Konsequenz einer permanenten Reizüberflutung angedacht und geht so am ehesten in die Richtung, wie Barthes es in seinem Artikel Das Rauschen der Sprache formuliert hat.11 Die Wahrnehmung des Rauschens als Schutzreaktion vor vielen einzelnen Reizen kann jedoch im architektonisch-ikonologischen Kontext nicht als angemessen scheinen. Daher soll hier bei der Fragestellung, ob sich die zahlreichen visuellen Stimmen der Architektur der Universität als ikonologisches Rauschen lesen lassen, das Rauschen möglichst nahe an Barthes’ Definition verwendet werden. Das Rauschen als kollektives Stimmengewirr, in dem keine Stimme besonders hervortritt und in dem sich so etwas wie der gemeinsame Nenner aller Signifikate widerspiegelt. Darüber hinaus muss die Möglichkeit der kunsthistorischen Anwendung des Begriffs, eine Ausweitung des Rauschens der Sprache auf die visuelle Sprache geprüft werden. Ferstel selbst gestand der Architektur eine Sprache zu, die mittels Typen und Symbolen kommuniziert. Die Annahme, dass Kunst eine fast sprachliche Ausdrucksfähigkeit besitzt, wird auch durch die Forderung des Barockbaumeisters Pöppelmann deutlich, der für den Dresdener Zwinger gleichsam redende Skulpturen verlangte. Auf diesen Überzeugungen aufbauend sollen die Ausdrucksmittel der Universität analog zu Barthes’ lautlichen Signifikanten zusammengebracht werden. Die Voraussetzung für diesen Schritt waren die Untersuchungen der einzelnen Bereiche der Gestaltung des Bauwerks, die in den Kapiteln zur Typologie, zur stilistischen Ausformung und zur Ikonografie geleistet wurden. Die intensive (Quellen-)Recherche, internationale Vergleiche und gewissenhafte Interpretation in jedem dieser methodischen Zugänge haben Erkenntnisse über Ferstels Architektur und die geplante Ausstattung erbracht, die über die bisherige Forschung hinausweisen. Erstmals wurden Ferstels Pläne und die Ausführung in einem internationalen Kontext verglichen und in eine Typengeschichte, die in der vorangegangenen Literatur überhaupt negiert wurde, eingeordnet. So zeigte sich, dass sich Ferstel viel stärker als bisher angenommen auf die italienischen Universitätsbauten bezog, die aber in einem sehr engen Zusammenhang mit den italienischen Herrschaftspalästen standen. Wie zur Demonstration seiner

280  Synthese oder Das Rauschen in der Universitätsarchitektur

  7 Hiepko/Stopka 2001, S. 11.   8 Ebd., S. 11.   9 Ebd., S. 12. 10 Busch 2001, S. 165. 11 Scharnowski 2001, S. 54.

12 Nägelke 2000, S. 94–142.

eigenen Kenntnisse der urältesten Universitätstraditionen übernahm Ferstel auch symbolhafte Elemente wie die Exedra im Innenhof aus der vitruvianischen Beschreibung spätantiker Palästrae, um den Bogen der historischen Typologie noch weiter zu spannen. Gleichzeitig aber nutzte er die funktionalen und ästhetischen Errungenschaften der jüngsten Hochschulbautradition, wie sie Semper am Zürcher Polytechnikum begründet hatte. Speziell in der Anlage der Kommunikationswege suchte Ferstel nach einer überzeugenden Lösung, die den gesamten Baukomplex zusammenfassen sollte. Aus Rücksicht auf den jüngsten Bezugspunkt in der Wiener Universitätsbautradition verzichtete Ferstel auf eine optimale Kommunikation zwischen den Lehrtrakten im Obergeschoss, um durch den trennenden Festsaal an die eigentümliche Anordnung des Festsaals in der Neuen Aula zu erinnern. Auch in der Gestaltung der Bibliothek gelang Ferstel eine Kombination aus traditioneller Raumanordnung im Sinne einer barocken Saalbibliothek (durch die eingestellten Säulenpaare mit direktem Bezug auf die Wiener Hofbibliothek) und einer funktionalen Glaseisenkonstruktion als Oberlicht, das die in den ikonografischen Programmen immer wieder auftretende Lichtmetaphorik in einer ganz neuen, praktischen Weise zur Anwendung bringt. So erzeugte Ferstel schon mit der Anlage der einzelnen Gebäudeteile starke Assoziationen zu historischen Bildungsbauten, die er in den vier Flügeln geschickt miteinander kombinierte. Mithilfe unterschiedlicher formeller Typen und Symbole formulierte er bereits auf typologisch-funktionaler Ebene seine zentrale Aussage, dass es sich bei diesem Bauwerk um eine Hochschule handeln muss. Stärker als die Typologie, für deren Verständnis Betrachter und Benutzer zusätzlich zur Raumwahrnehmung oft einen Grundriss benötigen, wirkt der stilistische Aspekt der Architektur. Hierbei spielte nicht nur der (bürgerliche) Konsens, dass die Neorenaissance der geeignete Stil für Hochschulbauten war,12 eine wichtige Rolle, sondern auch ganz besonders die Architekturzitate, die sich auf berühmte historische Bildungsbauten wie die Biblioteca Marciana, die Venezianische Accademia, den Louvre und das Zürcher Polytechnikum bezogen. Gerade im Falle des großen Arkadenhofs, der bisher immer als Zitat des Palazzo Farnese missverstanden worden war, ergibt der Bezug zur Accademia weitaus mehr Sinn, da das ursprünglich von Palladio als Bruderschaftskloster geplante Gebäude dem gebildeten Publikum sowohl aus Goethes Reiseberichten als auch aus Jacob Burckhardts Cicerone als wichtigster Venezianischer Bildungsbau bekannt war. Die zahlreichen Anspielungen auf historische Vorbilder konnte Ferstel aber so geschickt in die Gesamtanlage einbauen, dass diese nicht wie ein Flickwerk wirkt, sondern als wohlkomponierte, aber kontrastreiche Anlage. Gerade dieser letzte Aspekt des Kontrastes war für eine Anlage dieser Ausmaße wichtig, um statt eines blockhaften einen würdevollen Charakter zu erzeugen. So galt zwar der italienische Renaissancepalast

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als Ideal für einen gelungenen Wiener Monumentalbau, allerdings, so musste Ferstel rasch feststellen, ließ sich dessen Einheit der Motive nicht mit der gewaltigen Baumasse vereinbaren. Daher setzte Ferstel hier auf die französische Renaissance mit ihren an mittelalterliche Traditionen anlehnenden Façade-Principen, mit ihrer vielfachen Theilung durch Risalite, Pavillons, die die Fassade beleben.13 Für die Betrachter und Benutzer, die nicht die Anspielungen auf historische Universitätsbauten erkennen, erzeugen die verschiedenen würdevollen Motive, wie die wuchtige Kuppel über dem Mittelrisalit, die Rampe und der angedeutete Ehrenhof, das wiederkehrende Triumphbogenmotiv etc., den Monumentalcharakter, der für die erste Universität des Kaiserstaates notwendig ist. Im Inneren tritt dieser Monumentalanspruch ganz besonders in den beiden Feststiegen zutage, die nicht nur durch die zwei riesigen Stiegenhäuser besonderen Eindruck machen, sondern das Motiv der imperial staircase noch dazu am Wendepodest spiegeln und dadurch verstärken. Aufgrund des frühen Tods des Architekten Ferstel konnte die Ausstattung im Inneren nicht vollendet werden. Zweifellos sollte sie aber nicht hinter seinen früheren (Ringstraßen-)Bauten, wie beispielsweise dem k. k. Österreichischen Museum für Kunst und Industrie, zurückstehen, und daher muss von einer beabsichtigten reichen Ausmalung der Korridore und einer ikonografischen Ausschmückung der Stiegenhäuser ausgegangen werden. Die Aussage des Stils des Hauptgebäudes besteht aus zwei Komponenten  : Zum einen bestand der Konsens, dass die italienische Neorenaissance am besten geeignet sei, den Bauten an der Ringstraße zu einem würdevollen, monumentalen, dauerhaften Charakter zu verhelfen. Zum anderen scheint dieser strenge »Monumental-Renaissancismus« gerade im Kontext der Bebauung des Paradeplatzes wieder aufgelöst zu werden zugunsten einer semantischen Nutzung unterschiedlicher Stile, sodass die drei Bauten am Paradeplatz nicht nur monumental waren, weil sie an historische Bauten erinnerten, sondern weil ihr Stil auch an bestimmte Epochen der Menschheitsgeschichte erinnern sollte, in denen die zu repräsentierende Institution eine besondere Blüte erreicht hatte. Die durch den Stil erzeugten Sinn-Geräusche vermitteln also gleichermaßen die für einen Ringstraßenbau notwendige Würde sowie den hohen Anspruch einer traditionsreichen Universität, die den bisherigen Höhepunkt der Wissenschaft im Humanismus ansiedelt und bestrebt ist, einen solchen Höhepunkt erneut zu erreichen. Die Unmittelbarkeit des Anblicks des Stils und der Zitate lässt diese Komponente der HauptgebäudeGeräuschkulisse deutlicher hervortreten als diejenige des Bautyps. Der Zusammenklang, die Kenntnis beider intendierter Aussagen, erzeugt dennoch eine nicht mehr klar zu differenzierende Stimmenvielfalt, deren Sinn in der Wahrnehmung der Architektur als Hochschulbau liegt. In den ikonografischen Programmen, deren zentrale Aufgabe es ist, den Inhalt des Bauwerks zu repräsentieren, scheinen die Stimmen, die

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13 Ferstel 1878 A, S. 151 f.

den Charakter der Institution ankündigen, am klarsten hervorzutreten. Doch die Vielzahl an Stimmen der unterschiedlichen Programme allein an der Fassade (mit den Allegorien, den mythologischen Figuren, den Gelehrtenporträts und den Sgraffiti), in den Verwaltungsräumen (mit den Sinnsprüchen und den ursprünglich geplanten Deckengemälden im Festsaal) und die nicht ausgeführten im Inneren rufen durcheinander  : »Ich bin eine Universität«, »hier ist die Wiege der Wissenschaft«, »die Gelehrtentradition reicht bis in die Antike zurück«, »hier sind alle vier Fakultäten vertreten«, »hier wird die Einheit der Wissenschaften gepflegt«, »dies sind die ruhmreichen jüngsten Vertreter unserer Universität« und »hier wird die Wissenschaft über die Unkenntnis siegen«, sodass die an sich klaren Aussagen der ikonografischen Programme sich wiederum zu einem ikonologischen Stimmengewirr vereinen. Zusammen mit den Stimmen der im Hauptgebäude verschmolzenen Bautypen und denjenigen, der von Stil und von den Architekturzitaten erzeugten, ergänzt sich die ikonologische Stimmenvielfalt zu einem großen Rauschen. In den Geräuschen des Hauptgebäudes der Universität, wie es sich der Architekt Ferstel vorstellte, in den Geräuschen des gut laufenden Hauptgebäudes, erhebt sich keine Stimme, übernimmt keine wirklich die Führung oder weicht gar ab.14 Aber, und das ist entscheidend bei Barthes’ Interpretation des Rauschens, dass sich zwar der lautliche Signifikant in seiner ganzen Pracht entfaltet, aber dies, ohne seinen Sinn zu verlieren.15 In der Analogie der Sprache der Baukunst am Beispiel von Ferstels Universität lautet diese These folgendermaßen  : Der bildliche, symbolische, ikonologische Signifikant würde sich in seiner ganzen Pracht entfalten, ohne dass sich jemals ein Zeichen abhebt und ohne dass der Sinn abgeschnitten wird. Der Sinn der Signifikanten erscheint dahinter als ganzheitlicher Sinnhorizont. Wie bei der gut laufenden Maschine, bei der der Mechaniker einzelne Geräusche identifizieren und einzelnen Prozessen zuordnen kann, lassen sich an der Universität die einzelnen Interpretationen methodisch abgrenzen und als Einzelergebnisse herausfassen. In Summe weisen diese Ergebnisse aber auf einen gemeinsamen Sinnhorizont hin. Denn das Ziel des ambitionierten ikonografischen Programms war es, durch die Architektur und ihre Ausstattung zum Ausdruck zu bringen, dass dieses Hauptgebäude am Ring die Heimstätte der Wissenschaft war und dass diese Wissenschaft eine positivistische war. Die Affirmation zur positivistischen Wissenschaft wird nicht nur durch die Lichtund Siegesmetaphorik in den ikonografischen Programmen deutlich, sondern Ferstel selbst bekennt sich dazu  :

14 Nach Barthes 1975, S. 89. 15 Ebd., S. 89.

»Die Entdeckung und Verbreitung der positiven Wissenschaften, ihr Einfluss auf alle Lebensverhältnisse, mehrt sich fortwährend. Die Gewerbe und Industrien empfangen neue Impulse von der Wissenschaft, der Leuchte unseres Jahrhunderts. Die Wissenschaft ist es auch, die auf dem Gebiete des Staats- und

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Volkslebens fortwährend heilsame Fortschritte macht. Die Welt wird – wenn auch nur sehr langsam in allen socialen und gesellschaftlichen Fragen klüger und vor Allem menschlicher.«16

Hier bestätigt sich die durch die formellen Typen und Symbole der Baukunst angenommene These, dass Ferstel dem positivistischen Wissenschaftsbild des ausgehenden 19. Jahrhunderts, das von dem Glauben an eine sukzessiven Beantwortung aller weltlichen Fragen und an einen ständigen Fortschritt getragen wurde, affirmativ gegenüberstand. Dass er diese Wissenschaftsauffassung daher auch im Gebäude der wichtigsten Wissenschaftsinstitution des Reiches ausdrücken wollte, überrascht nicht. Neben dem Geräusch des gut Laufenden gibt es in Barthes’ Analogie noch das Klopfen, »mit dem ein Motor meldet, daß er nicht rund läuft«, das Geräusch der Fehlzündung.17 Dementsprechend muss Gustav Klimts Entwurf der Philosophie wie ein Knall in das Rauschen von Ferstels Universitätssprache eingeschlagen haben. Das Stottern des Motors, um weiterhin in Barthes’ Analogie zu bleiben, für das die drei Fakultätsbilder stehen, ist das Lautbild für das Scheitern und den folgenden Stillstand der Maschine, also das Gegenteil des gut Laufenden. Das von Ferstel entwickelte Bild der Triumphierenden Wissenschaft wurde auf einmal mit den Bildern einer zweifelnden, dunklen Wissenschaft konfrontiert. Einer Wissenschaft, die eben nicht in Ferstels Sinne die Leuchte des Jahrhunderts darstellte, auch nicht für heilsame Schritte auf dem Gebiete des Staats- und Volkslebens verantwortlich war und schon gar nicht die Welt menschlicher machte. Stattdessen zeichnete Klimt das Bild einer Philosophie, die nicht in der Lage ist, das Welträtsel auch nur zu erahnen, das Bild einer Medizin, deren Sinn nicht Prophylaxe und Therapie sind, sondern die stattdessen den Personifikationen von Krankheit und Tod ausgeliefert ist, und schließlich das Bild einer Jurisprudenz, die auf die sogenannte Rechtsprechung, der der ausgezehrte Mann auf dem Gemälde ausgeliefert ist, keinerlei Einfluss nehmen will. Die Ausmaße des Knalls, den Klimt durch seine Bilder innerhalb der Ferstel’schen Universitätsmaschinerie erzeugt hatte, spiegeln sich in den Ausmaßen des Skandals wider, der noch immer als einer der größten Kunstskandale Österreichs im 20. Jahrhundert gilt und noch immer seinen Teil zu Klimts anhaltender Attraktivität beiträgt. Die nachträgliche Anbringung der Reproduktionen der Fakultätsbilder stellt aus heutiger Sicht ein wichtiges Zeugnis für den stetigen Wandel der Wissenschaftsauffassung dar. So wäre es wünschenswert, wenn Klimts Fakultätsbilder heute nicht nur als Zeugnisse eines vergangenen Skandals wahrgenommen würden, sondern insbesondere die Wissenschaftsbetreibenden an die Wandelbarkeit des Wissenschaftsbegriffs erinnerten und vor einem deterministischen Hochmut schützten.

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16 Ferstel 1880 B, S. 51–52. 17 Barthes 1975, S. 88.

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Wien, Wien Bibliothek, Handschriftensammlung Quellen Wien, Archiv der Universität Wien Rektoratsarchiv, Akademischer Senat, Akten-Sonderreihe des Akademischen Senats, S60 Bauakten, Sitzungsberichte des Universitäts-Baucomités, Schachtel 34 Rektoratsarchiv, Akademischer Senat, Akten-Sonderreihe des Akademischen Senats, S87 Artistische Kommission, Schachtel 53. Rektoratsarchiv, Akademischer Senat, Kurrentakten des Akademischen Senats, Sitzungsprotokolle des Akademischen Senats Rektoratsarchiv, Rektoratsberichte Sammlungen, 109 Plansammlung, 109.1.10 Heinrich von Ferstel, Bleistiftskizzen zum Hauptgebäude und Chemischen Institut Sammlungen, 109 Plansammlung, 109.1.12. Heinrich von Ferstel, Pläne zum Hauptgebäude

Wien, Archiv Wiener Ringstraße

Fotosammlung des Ringstraßenarchivs Wien, Österreichisches Staatsarchiv, Allgemeines Verwaltungsarchiv Akten des Ministeriums für Kultus und Unterricht aus den Jahren 1856, 1872, 1873, 1880, 1882, 1883, 1884, 1890 Akten des Ministeriums für Inneres aus den Jahren 1864, 1870, Akten des Stadterweiterungsfonds aus den Jahren 1862

Wien, Bundesdenkmalamt Bundesdenkmalamt, Akten Hauptgebäude der Universität Wien, 1.227, Mappe I, 1946–1956. Bundesdenkmalamt, Akten Hauptgebäude der Universität Wien, 1.227, Mappe III, 1977–1981.

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