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German Pages VII, 348 [357] Year 1974
Darstellungen zur Auswärtigen Politik
Band 15
Dieser Band wird veranstaltet von dem Institut für Internationale Angelegenheiten der Universität Hamburg früher: Forschungsstelle für Völkerrecht und ausländisches öffentliches Recht der Universität Hamburg und Institut für Auswärtige Politik
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Die Minderheitenf rage und das Deutsche Reich 1919 - 1933/34
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In Kommission beim Alfred Metzner Verlag, Frankfurt/Main
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Alle Rechte vorbehalten
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Institut für Internationale Angelegenheiten der Universität Hamburg, Hamburg 1974
In Kommission beim Alfred Metzner Verlag, Frankfurt am Main Druck: Helmut Rade, Hamburg Herstellung des Umschlags: J. F. Zeller KG, Zeven Printed in Germany ISBN 3-7875-2816-4
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Inhaltsverzeichnis
Einleitung
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I. Teil: Allgemeine Entwicklung des internationalen Minderheitenschutzsystems von 1919 bis zum Eintritt Deutschlands in den Völkerbund. • • • • • • • • . • • • • • . • • • • • • • • • 1. Die Begründung des internationalen Minderheitenschutzes im Rahmender politischen Neuordnung Europas nach dem Ersten Weltkrieg •••••••••.•••••••••• 2. Umfangund Prinzipien des internationalen Minderheitenschutzes 3. Die Haltung der Minderheitenstaaten zum internationalen Minderheitenschutz und erste Modifizierungen des Verfahrens •• 4. Der internationale Minderheitenschutz im Aspekt der Aufnahme Deutschlands in den Völkerbund (1925) ••••••••••••• a)_ Die Entwicklung der Verfahrensfrage ••••••••••• b) Die Grundsatzdebatte zur Minderheitenfrage im Völkerbund.
II. Teil: Die Minderheitenfrage in der deutschen Politik 1919-1925 1 • Unterstützung des Deutschtums in den abgetretenen Gebieten als erste Aufgabe deutsc:Ji.erMinderheitenpolitik ••••• 2. Die Beurteilung des internationalen Minderheitenschutzes durch die amtliche deutsche Politik ••••••••••• 3. Vorstellungen und Forderungen der deutschen Minderheiten
III. Teil: Begründung und Entwicklung einer aktiven deutschen Minderheitenpolitik • • • • • • • • • • • • • • • • • • • 1. Genesis und Konzeption der minderheitenpolitischen Neuorientierung ••••••••••••••••••••••••• 2. Die Erörterung der Minderheitenfrage im Zusammenhangder deutschen Völkerbunds- und Locarno-Politik (1925/26) 3. Die Stützung des Auslandsdeutschtums als Aufgabe der aktiven Minderheitenpolitik ••••••••••••• 4. Die Regelung des innerdeutschen Minderheitenschutzes im Widerstreit außen- und innenpolitischer Interessen (1926-1928)
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- VI Seite IV. Teil: Der internationale Minderheitenschutz lll1ddie deutsche Minderheitenpolitik vom Eintritt Deutschlands in den Vdlkerblll1dbis zum ''Minderheitenjahr" 1929 ••••••• • 1. Allgemeine Tendenzen der minderheitenpolitischen Entwicklung 1926-1928 •••••••••••••••••••••••••• 2. Der oberschlesische Schulstreit im Zusammenhangder deutschen Minderheitenpolitik . • • • • • • • • • • • • • • • • • 3. Die gTlll1dsätzliche ErörteTlll1g der Minderheitenfrage im Völkerbund 1929 •••••••••••••••••••• a) Stresemanns "Faustschlag" in Lugano und die Entwickllll1g eines deutschen Prograrrrrns •••••••••••••••• b) Die Aufnahme der deutschen Initiative bei den interessierten europäischen Mächten •••••••••••••••• c) Die Vorschläge des kanadischen Delegierten Dandurand •• d) Verlauf und Ergebnis der Märztagung des Völkerbillldsrats. e) Die Stelllll1gnahmen der RegieTlll1genund der Bericht des Londoner Komitees. • • • • • • • • • • • • • • • • • • • f) Das Ergebnis der Aussprache: Die Junisitzlll1g des Vö.lkerbundsrats in Madrid lll1d die Septembersitzlll1g der Vollversannnlllllg. • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • V. Teil: Das Verhältnis des Deutschen Reiches zur deutschen Minderheit in der Tschechoslowakei. • • • • • • • • • • • • • 1. Grillldsätzliche Aspekte der sudetendeutschen Frage • • • 2. Die sudetendeutsche Frage in der deutschen Außenpolitik bis 1925•••••••••••••••••••••••• 3. Das Reich lll1d die Sudetendeutschen nach der minderheitenpolitischen NeuorientieTlll1g um 1925 ••••••••••• 4. Die sudetendeutsche Reaktion auf Stresemanns minderheitenpolitische Initiative 1929. 5. Ausblick und Ergebnis • • • • • • • • • • • • • • • • • • • VI. Teil: Die Minderheitenfrage als Aufgabe der deutschen Politik nach Stresemann und als europäisches Problem 1930-1932 •.•• 1. Die Zwischenfälle in Polen im November 1930 lll1d ihre Behandlung im Völkerbund •••••••••••••••••• 2. Die allgemeine ErörteTWlg der Minderheitenfrage, vor allem auf den Völkerblll1dsversannnlungen1930-1932•••••••••
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Seite VII.Teil: Das internationale Minderheitenschutzsystem nach Hitlers Machtergreiflll1g (1933/34) ••••••••••• 1. Die Konfrontation des Dritten Reiches, vor allem der nationalsozialistischen Judenpolitik, mit dem internationalen Minderheitenschutz vor dem Völkerbund 1933 •••••• 2. Polens Rückzug vom internationalen Minderheitenschutzsystem (1934) • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • a) Die polnische Minderheitenpolitik lll1d die Alkohollizenzen-Beschwerde der deutschen Minderheit in Polen b) Der Vorstoß des polnischen Außenministers gegen das internationale Minderheitenschutzsystem in der Völkerbundsversannnlung 1934 •••••••••••••••••
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Schlußbetrachtlll1g • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • • 335 Quellen- lll1dLiteraturverzeichnis
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- 1 EINLEITUNG Die Minderheitenfrage als Problem der europäischen und deutschen Politik nach dem Ersten Weltkrieg und vor der Entfaltung der nationalsozialistischen Außenpolitik hat heute im historischen Urteil allgemein ihren festen Platz. Das 1919 eingerichtete internationale J\finderheitenschutzsystem wird, von seinem Ergebnis her, als gescheiterter Versuch beurteilt, die internationalen Beziehungen auf eine neue Grundlage zu stellen und die Versöhnung unter den Völkern Europas zu fördern; im engeren Bereich der deutschen Politik zählen die Erfahrungen auf dem Gebiet der Minderheitenfrage zu den großen Enttäuschungen, mit denen namentlich die Außenpolitik Stresemanns belastet worden ist. Oberhaupt scheint dieses Kapitel weithin nur deshalb Beachtung zu verdienen, weil es eine Begrundung für die Revolutionierung des Minderheitenproblems in Hitlers Politik liefert: Kaumein Gebiet eignete sich besser dazu, auf die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit des Versailler Systems hinzuweisen. Eine solche Relativierung, so berechtigt sie auch sein mag, läßt jedoch die Frage nach dem politischen Eigenwert der Minderheitenfrage in den einzelnen Stadien ihrer Entwicklung zu kurz kommen, sie übersieht auch zumeist, welche Kalkulationen und Möglichkeiten sich mit ihr verbanden, wenn schon die Gesamtbilanz negativ war. An diesem Pt.mkt setzt
die vorliegende Arbeit ein: Sie will die Minderheitenfrage als ein politisches. Problem sui generis untersuchen, ihren Platz im jeweiligen aktuellen Zusammenhangder internationalen Politik und der deutschen Außenpolitik ausmachen und zu diesem Zweck vor allem die Ziele und Methoden der deutschen Minderheitenpolitik verfolgen. Innnerhin wurde der Schutz der Auslandsdeutschen.- und das bezeugt nicht zuletzt den Rang dieser Frage - von Stresemann gelegentlich zu den drei großen Aufgaben seiner Außenpolitik gezählt 1). Mag das Ergebnis der Arbeit dabei auch - prima fade - die gängige Auffassung bekräftigen, daß das Minderheitenproblem weniger seiner eigenen Substanz wegen Interesse verdiene als deshalb, weil es gleichsam ein Barometer für die "Atmosphäre" in den Beziehungen der europäischen Staaten untereinander gewesen sei, so ist danüt doch ein erster wichtiger Zus8Illllenhang angesprochen, der eine Untersuchung lohnt: Selten besaß das Atmosphärische einen solchen politischen Rang wie im Verhältnis Deutschlands zu den übrigen europäischen Mlchten nach dem Ersten Weltkrieg, und kein Geringerer als Stre1) Stresemanns Brief an den Kronprinzen vom 7.9.1925, II, S. 553 ff.
in "Vermächtnis" Bd.
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semann hat bei manchen Gelegenheiten darauf hingewiesen, welchen Wert er einer Verbesserung dieser Atmosphäre für seine Politik des Ausgleichs beimaß wid wie umgekehrt er die~e von ~lißtrauen und Ressentiments bedroht sah. Wichtiger aber noch ist eine andere, substantiellere Beziehung: Ihren eigenen politischen Rang leitete die ~linderheitenfrage aus ihrer engen Verbindung mit der europäischen Friedensordnung von 1919 ab, zu deren Bestandteilen sie ja auch zählte. Dieser Genesis wegen hatte die aktive deutsche Minderheitenpolitik stets auch die Gesamt-Friedensordnung und vor allem Deutschlands Stellung innerhalb dieser im Auge. Insofern ist die vorliegende Untersuchung auch ein Beitrag zur Substanz deutscher Außenpolitik nach 1919 und zur Entwicklung der internationalen Beziehungen. Begrifflich bedeutet "Minderheitenfrage" hier das nach der Pariser Friedenskonferenz der Zuständigkeit des Völkerbundes anvertraute internationale Problem, so wie es auch Gegenstand der deutschen Außenpolitik war. Es entspricht der Konzentration auf den prinzipiellen Aspekt des Problems, daß die rechtliche und tatsächliche Lage der deutschen Volksgruppen im einzelnen unberlicksichtigt bleiben. Nur ein Teil käme hier ja auch in Betracht, nämlich die vertraglich geschützten Minderheiten vor allem des ostmittel- und südosteuropäischen Ral.UDS, Andererseits ist jedoch eine Differenzierung unter diesen, entsprechend ihrer unterschiedlichen Bedeutung für die deutsche Politik, vonnöten. Zwei Volksgruppen ragten immerhin an zahlenmäßiger Stärke und allgemeinem politischen Gewicht, aber noch aus einem anderen Grunde heraus: Die Deutschen in Polen und in der Tschechoslowakei waren den Reichsgrenzen unmittelbar vorgelagert, sie verdankten ihr Minderheitendasein der Grenzziehllllg nach demErsten Weltkrieg und waren als "Grenzdeutsche" naturgemäßstärker nach Deutschland orientiert als die "echten'' ~linderheiten, die, wie z.B. die Siebenbürger Sachsen, schon seit Jahrhunderten inmitten frelirlen Volkstums lebten und längst einen ~lodus vivendi mit ihrem Herbergsstaat gefunden hatten. Politisch von Belang war die geographische Nähe zum Reich vor allem deshalb, weil sie zur Verknüpfung von Minderheitenfrage wid deutscher Grenzoder allgemeiner: deutscher Ostpolitik führte. Bei der Darstellwig des internationalen Rahmensder deutschen Minderheitenpolitik beschränkt sich die Untersuchung auf das allgemeine ~linderheitenschutzsystem wid läßt Spezialprobleme wie die Regelung des t>linderheitenschutzes in Oberschlesien, der nach der Genfer Konvention vom 15, Mai 1922 in besonderer Weise organisiert war, außer acht. Sie berücksichtigt diese nur dort, wo sie allgemeinere politische Bedeutwig gewannen. Dagegen ist es
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tmerläßlich, der Entwicklung der Minderheitenfrage als eines internationalen Problems, vor allem ihrer Erörterung in Genf, auch vor Deutschlands Eintritt in den Völkerbund nachzugehen, weil die deutsche Minderheitenpolitik sich an den hier geschaffenen Realitäten zu orientieren hatte bzw. mit ihnen konfrontiert wurde. Es werden dabei Prinzipien und Prozedur des internationalen Minderheitenschutzes nicht systematisch dargestellt 1), sondern in ihrer historisch-politischen Genesis entwickelt. Zeitlich geht die Arbeit von der auf der Pariser Friedenskonferenz geschaffenen Situation aus 2); sie schließt mit dem faktischen Ende des internationalen Minderheitenschutzsystems, das durch Deutschlands Austritt aus dem Völkerbund (1933) bzw. die Erklärung des polnischen Außenministers vor der Völkerbwidversrumnlungim September 1934 markiert wird. Quellengrundlage dieser Arbeit ist zum großen Teil das Aktenmaterial im Politischen Archiv des Auswärtigen Amts in Bonn. Ergänzendes Material, vor allem zur Tätigkeit des Völkerbundes, stellte mir das Völkerbunds-Archiv in Genf zur Verfügung. Von großem Gewinnwar mir schließlich ein Archivaufenthalt in London, wo ich im Public Record Office die einschlägigen Akten des Foreign Office einsehen konnte. Diese ergänzenden Quellenstudien erleichterten es mir, stets den größeren internationalen Zusannnenhangim Auge zu behalten. Dabei rührt der Aussagewert der britischen Dokumenteeimnal daher, daß Großbritannien zu den Mitbegründern und -garanten des internationalen Minderheitenschutzsystems gehörte, er gründet sich vor allem aber darauf, daß London in dieser Frage mehr als etwa Paris frei von politischen Ambitionen - eine relativ unbefangene Einstellung zum Minderheitenproblem hatte und dessen genuiner Problematik aus der Position eines - mehr oder weniger - Neutralen heraus vielleicht am ehesten gerecht werden konnte. Den genannten Archiven habe ich an dieser Stelle für die freundliche Bereitwilligkeit zu danken, mit der sie mir ihre Materialien zur Verfügung stell1) Siehe dazu: T.H. Bagley: "General tional Protection of Minorities",
Principles and Problems in the InternaDiss. Genf 1950.
2) Vgl. für die Begründung des internationalen Minderheitenschutzsystems E. Viefhaus: "Die Minqerheitenfrage und die Entstehung der Minderheitenschutzverträge auf der Pariser Friedenskonferenz 191911 , Würzburg 1960.
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ten. Mein besonderer Dank gilt jedoch meinem akademischen Lehrer Herrn Prof. Dr, Richard Nürnberger, Er hat diese Arbeit, die im Februar 1973 von der Philosophischen Fakultät de~ Georg-August-Universität Göttingen als Dissertation angenonnnenwurde, angeregt und ihr Rat und Unterstützung angedeihen lassen. Nicht zuletzt möchte ich auch der Universität Göttingen und dem Deutschen Akademischen Austausch-Dienst danken, die das Zustandekommen der Arbeit durch ein Promotionsstipendium ermöglicht haben, und beziehe in diesen Dank die Herausgeber der "Darstellungen zur Auswärtigen Politik'' ein, die die Arbeit in ihre Reihe aufgenOIIDI!en haben.
- 5 I. Teil:
Allgemeine Entwicklung des Internationalen Minderheitenschutzsystems von 1919 bis zum Eintritt Deutschlands in den Völkerbund
1. Die Begründung des internationalen Minderheitenschutzes litischen Neuordnung Europas nach dem Ersten Weltkrieg
im Rahmen der po-
Die Minderheitenfrage trat relativ spät auf die Tagesordnung der Pariser Friedenskonferenz 1). Dieser lhnstand und der Verlauf der Verhandlungen zeigten, daß es sich nach Auffassung der beteiligten Mi.chte hier mehr um eine Randfrage handelte, der, gemessen an den großen politischen Aufgaben der Konferenz, nur zweitrangige Bedeutung zukam. Konkret stellte sich die Minderheitenfrage als Aufgabe, Vorkehrungen zum Schutz der nationalen Minderheiten zu schaffen, die ihr Minderheitendasein der territorialen Regelung di~ser Konferenz verdankten. Die ideologische Wurzel des Minderheitenschutzgedankens war das in den Vierzehn Punkten Wilsons verkündete Prinzip des Selbstbestimnn.mgsrechts der Völker. In diesem Zusanunenhangkam dem Minderheitenschutz die Funktion eines Korrektivs zu: Wenn schon die Friedensverträge nicht jeder nationalen Gruppe einen eigenen Staat zuweisen konnten, eine Kongruenz von Nation und Staat also in vielen Fällen nicht möglich war, so sollten den einem fremrlnationalen Staat unterstellten Bevölkerungsgruppen als Ersatz eine Reihe bestimmter Rechte verbürgt werden, die es ihnen ennöglichten, ihre eigene Nationalität zu bewahren. Dieser Grundsatz, der als ideelles Prinzip Anspruch auf allgemeine OOltigkeit erhob, stand jedoch bei der lhnsetzung in die politische Realität von Anfang an unter dem Vorrang politischer Interessen. Schon Wilson, der eine international-umfassende Regelung der Minderheitenfrage durch Einfügung von Minderheitenschutzbestimnnmgen in die Satzung des Völkerbundes vorschlug, hatte hinsichtlich des Geltungsbereichs dieser Regelung nur an die neuen Staaten gedacht. Als Voraussetzung für ihre internationale Anerkellllung als souveräne Staaten sollten
ihnen Verpflichtungen
zum Schutz ihrer
fremrlnationalen
Staats-
1) Vgl. für die Entstehungsgeschichte der Minderheitenschutzverträge die Darstellung des britischen Mitglieds im New States Committee J.W,Headlam-Mor;ey: _"The Treaties for the Protection of Minorities", in H.W. Temperley: A History of the. Peace Conference of Paris", London 1920 ff., Bd. V, S. 112 ff,; von diesem auch das für den internen Gebrauch des Foreign Office angefertigte "Memorandumrespecting the Minorities Treaties" vom 26.4.1929; F.O. 371/W 4864/185/98,
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bi.irger auferlegt werdenl). Im weiteren Verlauf der Friedenskonferenz wurde das Minderheitenproblem ausschließlich im Aspekt der Gebietsveränderungen, d. h. nicht als Nationali tätenproblem sui generis, sondern als Gegenstück zu den territorialen Regelungen,erörtert. Die Minderheitenfrage verengte sich so, wie der auf britischer Seite maßgeblich beteiligte spätere historische Berater im Foreign Office Headlarn-Morleyin einem Rückblick schrieb, auf die Dimension eines rein regionalen Problems, das bei der territorialen Neuordnung . 12) • anf ie
Dementsprach auch der chronologische Zusammenhang; Das von der Friedenskonferenz mit der Ausarbeitung von Minderheitenschutzklauseln betraute Komitee, das am z. Mai 1919 zu seiner ersten Sitzung zusanunentrat, stand vor der Aufgabe, so rechtzeitig seine Arbeit abzuschließen, daß das Ergebnis in die der deutschen Delegation zu übergebenden Friedensbedingmigen einbezogen werden konnte. Denn es sollte auf diese Weise deutlich werden, daß die Gebietsaufteiltmg den Minderheitenschutz zur Voraussetztmg hatte tmd das eine olme das andere nicht denkbar war, daß m.a.W. der Minderheitenschutz nicht eine Konzession bedeutete, die den von der Friedensregeltmg betroffenen Nationalitäten nachträglich gewährt wurde, Das Nachstliegende wäre es infolgedessen gewesen, die Minderheitenschutzbestimmungenin den Hauptfriedensvertrag einzubauen tmd sie unmittelbar im Anschluß an die territorialen Regeltmgen aufzuführen, an gleicher Stelle wie die Optionsfragen, In diesem Falle hätte die unmittelbare Beziehung zwischen der Obertragtmg von Territorien tmd den dem neuen oder vergrößerten Staat auferlegten·Pflichten außer Zweifel gestanden3). Das Komitee sah sich aber· einer zu schwierigen Materie gegenüber, als daß es in kurzer Zeit die erforderlichen Bestinmn.mgen für den Friedensvertrag hätte ausarbeiten können. So entschied man sich bei den das Deutsche Reich betreffenden territorialen Klauseln für eine allgemeine Fonnel, die den rechtlichpolitischen Zusammenhang fixierte: Art, 93 (bzw, 86) des Versailler Vertrags legten Polen (bzw. die Tschechoslowakei) demDeutschen Reich gegenüber darauf fest, in einem besonderen Vertrag mit den Alliierten tmd Assoziierten Hauptmächten Regelmigen zu akzeptieren, die diese für notwendig erachten kömten, um die Minderheiten in Polen (bzw. der Tschechoslowakei) zu schützen 4) • 1) S. Viefhaus, S. 100 ff. 2) MemorandumHeadl.am-Morley, a.a.o. 3) Ebd. 4) Art. 93 des· Versailler Vertrages: "Polen ist damit einverstanden, daß die alliierten und assoziierten Hauptmächte in einem mit ihm abzuschließenden
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Damit war der Minderheitenschutz als ein konstituierendes Element der neuen Staaten deutlich gekennzeichnet. Schon damals stieß sich dieses theoretische Prinzip freilich mit bestinunten politischen Realitäten: Nicht in allen Fällen, in denen Bevölkerungsgruppeneiner neuen, fremd.nationalen Staatlichkeit unterstellt worden waren, gab es als Gegenstück eine Verpf~ichtung zum Schutz der Minderheiten. Bei ·Elsaß-Lothringen ließ sich noch damit argumentieren, daß es sich hier nicht um eine territoriale Neuordnung, sondern um die Wiederherstelltmg eines alten Gebietsstandes handelte. Ein eindeutiger Verstoß gegen dieses Prinzip lag aber im Falle Südtirol vor. Die Instruktionen für das Komitee hatten sich nicht auf Italien erstreckt, denn Klauseln, wie das Komitee sie auszuarbeiten hatte, waren bisher noch von keiner Großmachtübernommenworden. Maßgebendwar hier also der politische Gesichtspunkt, daß Italien nicht auf eine Ebene mit den Nachfolgestaaten zu stellen tmd zu groß sei, als daß sich eine Einschränkung seiner Souveränität hätte erzwingen lassen können. Dieser Vorgang ist insofern von großer Bedeuttmg, als damit den belasteten Staaten von vornherein das .Argumentgeliefert wurde, nicht rechtliche oder gar ideelle Prinzipien, sondern politische Zweclonäßigkeitserwägtmgen hätten zur Begründungdes Minderheitenschutzsystems geführt tmd ihr Ziel sei es gewesen, den betroffenen Staaten eine Kontrolle ihrer inneren Angelegenheiten aufzuerlegen. Andererseits wurden Staaten, die weder neu noch territorial vergrößert waren, tmter Minderheitenschutzverpflichttmgen gestellt: Österreich, Ungarn, Bulgarien. Die Alliierten selber hatten Wert darauf gelegt, Österreich nicht als einen neuen Staat zu betrachten tmd ein entsprechendes Verlangen von österreichischer Seite abgewiesen. Die Kontinuität Österreichs tmd Ungarns diente ihnen vielmehr als Grundlage für ihre Reparationsiorderungenl). Wennsich diese Staaten einem Vertragsabschluß dennoch nicht widersetzten, so dürfte der Grund dafür in dem Bestreben dieser Länder zu suchen sein, dem Prinzip des.Minderheitenschutzes möglichst weite Gelttmg zu verschaffen, da sie selber einen großen Teil ihrer Volksgenossen an fremde Herrschaft verloren hatten. So beschränkte sich das von der Friedenskonferenz eingerichtete System des Minderheitenschutzes im wesentlichen auf den Staatengürtel in Ostmittel- tmd Vertrag die Bestimmungen aufnehmen, die sie zum Schutz der Interessen der nationalen, sprachlichen und religiösen Minderheiten in Polen für notwendig halten". Ebenso Art. 86 für die Tschechoslowakei. 1) Siehe C.A. Macartney: s. 253,
"National
States
and Minorities",
London 1934,
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Südosteuropa. Nicht die Prinzipien von Gleichheit und Universalität, sondern realpoli tische Gesichtspunkte bestimmten die Genesis des Minderheitenschutzsystems: Die betroffenenßtaaten seien, wie Wilson sagte, "bad risks" für die neue Ordnung, das Minderheitenproblem sei ein "element of disturbance" 1). Von dieser Einschätzung der Lage her wurden die Minderheitenschutzverträge somit zu Sicherungen, die die A.u.A. Hauptmächte auf Grund ihrer Verantwortung für die neue Ordnungmeinten einfordern zu können. Insofern war der Minderheitenschutz ein integrierender Bestandteil der europäischen Friedensordnung. Die Beschränkung des Geltungsbereichs auf die genannten Staaten galt nur für die fonnelle Seite. Daß man hier eine vertragliche Regellmg für notwendig erachtete, ergab sich aus der besonderen Gefährdung dieser Staaten. Ihrem Rang nach besaßen die Minderheitenrechte aber auch für die übrigen Michte ohne besondere Vereinbarung ideelle Verbindlichkeit, da die Begründung des ~linderheitenschutzes die allgemeine Anerkennung bestimmter Prinzipien zur Voraussetzung hatte. Insofern war für die weitere Entwicklung des Minderheitenschutzes. nicht unerheblich, in welchem Maße die minderheitenrechtliche Situation der Großmächtedem vertraglich festgelegten Standard an Schutzbestinmn.mgen entsprach. Dennhier bot sich den Minderheitenstaaten zumindest die Mög·lichkeit eines moralischen Alibis. Das Muster für alle anderen Minderheitenschutzverträge wurde der am 28. Juni 1919 mit Polen abgeschlossene Vertrag. In einer Note an den polnischen Ministerpräsidenten Paderewski vom 24, Juni 1919 legte der französische Ministerpräsident Clemenceau als Präsident des Obersten Rates die Grundlagen dar, auf denen das Minderheitenschutzsystem basierte 2): Die besondere Verantwortung der A.u.A. Hauptmächte, begründet durch ihren militärischen Sieg, dem die neuen .Staaten ihre Existenz verdankten; daraus abgeleitet, nach historischem Vorbild,das Recht der Sieger, diesen Staaten vor einer formellen und kollektiven Anerkennung die Zusicherung bestimmter Regierungsgrundsätze abzuverlangen; dann das Ziel, den territorialen Status quo zu festigen, und schließlich allgemein das Bestreben, die nationalen Gegensätze zu versöhnen. Neu war die Form, in der die Garantie der Minderheitenschutzverträge organisiert wurde. Nicht den Großmächten als solchen wurde sie übertragen, sondern dem Völkerbundsrat als einem kollektiven Garanten. Zweckdieser Regelung war es, den 1) Zit. Macartney, a.a.O., S. 289; s.• auch Viefhaus, a,a,O., S. 192, 2) Wiedergegeben bei H. Kraus: "Das Recht der Minderheiten", Berlin 1927, s. 43 ff.
- 9Minderheitenschutz von den individuellen politischen Interesseneinereinzelnen Garantiemacht unabhängig zu machen. Allerdings war dem jeweiligen Ratsmitglied dabei noch insofern Spielr8l.llll zur Wahrnehnnmgeigener Interessen gegeben, als es an ihm lag, die Aufmerksamkeit des Rates auf die Verletzung oder die Gefahr einer Verletzung von Minderheitenschutzbestimmungen zu lenken. Der Beschränkung der Zuständigkeit auf den Völkerbundsrat lag natürlich ein machtpolitisches Momentzugrunde. Denn es zeigte sich schon auf der Friedenskonferenz die Tendenz, aus dem Völkerbundsrat eine Organisation der Vorherrschaft der Siegermächte zu machen. Es war daher von vornherein zweifelhaft, ob es sich, wie es in Clemenceaus Note an Paderewski hieß, tatsächlich tnn ein neues System internationaler Beziehungen handelte. Für Polen war das Minderheitenschutzabkommen nicht ein gewöhnlicher internationaler Vertrag, sondern das völkerrechtliche Instrument, das "für die internationale Persönlichkeit Polens von grundlegender, konstitutiver Bedeutung" war, sein "internationales Statut" begründete 1). Mit der Überweisung in den Aufgabenbereich des Völkerbundes wurden zudem die Minderheitenschutzverpflichtungen zu einem Problem von internationalem Rang ("obligations d 'un intfa~t international"). Diese Fonnel besagte, daß der vertragsgebundene Staat die Minderheitenfrage nicht mehr als ausschließliche Domäneseiner inneren Politik betrachten durfte 2). Der internationale Charakter des Minderheitenschutzsystems hatte noch eine weitere Konsequenz: Außer der in Art. 12 des Minderheitenschutzvertrages festgelegten besonderen Garantiepflicht besaß der Völkerbund noch eine allgemeine Zuständigkeit, die sich aus dem Zusammenhangvon Minderheitenschutz und Friedensordnung ergab. Bei schwenriegenden Verstößen gegen die Minderheitenverträge, die den Frieden unter den Völkern bedrohten, war der Völkerbund, wie in einer späteren Ratsresolution ausdrücklich bekräftigt wurde, auch nach Art. 11 seiner Satzung als friedenserhaltende Institution allgemein und universal für den Schutz der Minderheiten kompetent. Insofern hatten auch die Nationen, die nicht im Rat vertreten waren, die Möglichkeit, unter Heranziehung der allgemeinen Regeln der Völkerbundssatzung in einer Minderheitenangelegenheit an den Völkerbund zu appellieren. Allerdings sollte ein Appell dieser Art nur in ernsten Fällen erlaubt sein und nicht die normale Prozedur nach den Minderheitenschutzverträgen ersetzen 3). 1) E, Kaufmann: "Minderheitenschutz und Gleichheit der Staaten", Gesammelte Schriften Bd. II, S, 264. 2) So der Direktor der Minderheitenabteilung des Völkerbunds Colban in einer Randbemerkungvom 14,7,1921; VB 41/7727/13256, 3) Resolution des Völkerbundsrats vom 9.6.1928; s.Bruns; "Grundfragen der Minderheitenverträge unter besonderer Berücksichtigung der Praxis des Völker1:lundes", Gesammelte Schriften, s. 81.
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Inhaltlich enthielt der Minderheitenschutzvertrag nur ein Minimalprogrannn an Minderheitenschutz. Auch darin spiegelt sich die Absicht der A.u.A. Hauptmächte wider, nicht allgemei11.e Regienmgsprinzipien festzulegen, sondern nur in den neuen Staaten als besonders gefährdeten Zonen möglichen Schwierigkeiten vorzubeugen 1). Der Vertrag galt nur für die Fremdnationalen, die auch Staatsbürger der neuen Staaten waren. Im einzelnen regelte er, wer zu dem Kreis der Berechtigten zählte und in den Genuß des Minderheitenschutzes kam2). Er sicherte den Betreffenden die gleichen bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte wie den Angehörigen der Mehrheitsbevölkenmg zu, vor allem, was die Zulassung zu .Ämtern etc. , den Gebrauch der Sprache und die Einrichtung von Schulen betraf. Außer der rechtlichen Gleichstellung sollten die Angehörigen der Minderheit auch in tatsächlicher Hinsicht die gleichen Sicherheiten wie die übrige Bevölkenmg genießen. Alle diese Besti.nmungen nrußte der Staat als Grundgesetze anerkennen, denen kein Gesetz, keine Veror~ung oder amtliche Handlung widersprechen durfte. Der Vertrag sah jedoch auch die Möglichkeit einer Ändenmg vor, die mit Zustimmung der Mehrheit des Völkerbundsrates vorgenonunen werden konnte. Es handelte sich hier aber wohl mehr um eine theoretische Möglichkeit, die angesichts des mageren Inhalts der Bestimnungen praktisch nicht in Betracht kam. Sie berührte im übrigen auch nicht die in Art. 12 enthaltenen fonnalen Garantienormen. Denn zum Minderheitenschutz als solchem hatten sich die A.u.A. Hauptmächte Deutschland gegenüber verpflichtet 3). Schon der bloße l.nnstand, daß es sich hier nur um ein Minimalprogrannn handelte, mußte freilich diesen Versuch zu einer Lösung der Minderheitenfrage von vornherein problematisch erscheinen lassen. Denn die im wesentlichen inhaltsgleichen Bestimnungen der Verträge betrafen Minderheiten, die von ihrer Ausgangslage und Struktur her z. T. völlig verschieden waren und in Staaten mit- den unterschiedlichsten Regienmgssystemen wohnten. Es zeigte sich auch hier, daß der Minderheitenschutz nicht bloß eine Rechtsangelegenheit, sondern von Anbeginn ein eminent politisches Problem war, weil die Minderheitenverträge in die unterschiedlichste politische Realität gestellt wurden4). Von grundsätzlicher status
Bedeutung war es, daß die Verträge den Minderheiten keinen Kollektivzubilligten. Dem entsprach es, daß ihnen kulturelle Autoncmie verwei -
1) Memorandum Headlam-Morley, 2) Text des Vertrages
a.a.0.
bei Kraus,
a.a.0.,
S. 50 ff.
3) Vgl. dazu Kaufmann, a.a.0. 4) S,dazu G. Erler: "Mißverstehen, Mißtrauen und Mißerfolg im Genfer Minderheitenschutzsystem", in: Zeitschrift für Völkerrecht, Ed.XXII, S. 1 ff.
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gert wurde. Schon bei den ersten Erörtenmgen der Minderheitenfrage im Rat der Großen war diese Form einer nationalitätenrechtlichen Ordnung mit dem Argument verworfen worden, sie fördere die Schaffung eines Staates im Staate 1). Die Frage, wie die einzelnen Nationalitäten in ihren von einem anderen Volkstum geführten Staaten zu ihrem nationalen Recht konmen sollten, wurde "auf dem lhnweg über den abstrakten demokratischen Staatsbürgerbegriff in ein Problem des MinSchutzes individueller Freiheitssphären verwandelt", das internationale derheitenschutzsystem schuf kein Kollektivrecht der Nationalität, sondern nur einen "Individualanspruch auf national-kulturellen Sonderbereich" 2). Dies war aber eine fragwürdige Konstruktion, weil, wie sich später zeigte, in bestimmten Fällen die Klärung einer minderheitenrechtlichen Streitfrage nur möglich war, wenn man den Gesichtspl.lllkt der Kollektivität zugrunde legte. Ein Bei spiel dafür war das Kapitel der Agrarreformen, mit deren Hilfe die Minderheitenstaaten den nationalen Besitzstand ihrer fremdnationalen Bevölkerungsgruppen z.T. empfindlich verkleinerten. Ihnen lagen allgemeine Gesetze zugrunde, die den einzelnen durchaus zur Herausgabe von Landbesitz verpflichten konnten. lhn aber zu prüfen, ob solche Gesetze mit den Minderheitenschutzverträgen vereinbar waren, wäre es unabdingbar gewesen, vom Gesamtbesitzstand der.Minderheit auszugehen und die Proportion zwischen der von der Mehrheitsbevölkerung und der von der Minderheit eingezogenen Landmenge zu bemessen, also eine minoritäre Kollektivität anzuerkennen. Als positives Ziel der Minderheitenschutzverträge bezeichnete es Clemenceau in seinem Brief an P~rewski, eine Lage zu schaffen, die der fremdnationalen Bevölkerung die Gewöhnungan die neue politische Situation erleichtere. Ausführlicher beschrieb später der Leiter der Minderheitenschutzabteilung im Sekretariat des Völkerbundes die konstruktive Fl.lllktion des internationalen Minderheitenschutzsystems: Die Minderheiten sollten in die Lage versetzt werden, mit dem Staat, dem sie angehörten, zusanmenzuarbeiten, als Folge dessen, daß ihre spezifischen Rechte respektiert würden. Sie sollten in einer Interessengemeinschaft mit ihrem Staat aufgehen (''should be absorbed in a community of interests"), ohne ihre kulturellen oder religiösen Besonderheiten aufgeben zu müssen, Wld es auf diese Weise Schritt für Schritt als möglich empfinden, ein 1) Vgl. P. Mantoux: "Les Deliberations Bd. I, S. 440 ff. (Zur Sitzung-vom 2) H. Raschhofer: ausländisches
"Die Krise öffentliches
du Conseil
1.5.1919),
des Minderheitenschutzes" Recht und Völkerrecht,
des QÜa.tre",
Paris
,in: Zeitschrift Bd. VI, S. 238,
1955, für
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glückliches Leben zu führen, auch wenn sie nicht mit dem Volle in einem Staat vereint seien, dem sie sich zugehörig fühlten 1). Diese Konnnentare von autoritativer Seite lassen er~ennen, daß man bei der Lösmg des Minderheitenproblems nur auf eine längerfristige Entwicklung setzte, die eine gewaltsame Entnationalisierung ausschloß md an deren Ende eine natürliche Loyalität der Mi.nderhei t zu ihrem Staat stehen sollte, hervorgerufen erst durch eine gute Behandlmg seitens des Staates. Auf diesem evolutionären Wege sollte allmählich eine "nationale Einheit" in den neuen Staatsgebilden erreicht werden, nicht durch eine nationallculturelle Absorption der Minderheiten, sondern indem man diesen das Bewußtsein einer Interessensolidarität mit der Mehrheitsbevöllcerung vermittelte. Um eine solche mehr als bloß fonnale Loyalität zu erreichen, war freilich aufseiten der neuen Staaten ein besonders hohes Maß an Verantwortung den itt.nderheitenschutzverpflichtungen gegenüber Voraussetzung.
2. Umfang und Prinzipien
des internationalen
Minderheitenschutzes
Die Prinzipien des internationalen Minderheitenschutzsystems waren im wesentlichen schon bei seiner Grundlegung festgelegt worden, Das betraf vor allem die Ft.mktion der Ratsmächte als der Garanten dieses Systems und die Steliung der Minderheiten im Verhältnis zu ihren Staaten. Das "Grundgesetz." des Genfer Minderheitenschutzes enthielt noch eine Reihe wichtiger Präzisierungen. Bei diesem Grundgesetz handelte es sich LDn den am 22. Oktober 1920 vom Völlcerbundsrat angenonnnenenBericht des italienischen Delegierten Tittoni, in dem Bedeuttmg und Umfang der Völlcerbundsgarantie fonnal festgelegt wurden 2). Demzufolge bedeutete "Garantie" ztmächst die Zusicherung, daß die Minderheitenschutzbestimmungen unantastbar waren; d,h. eine Ändertmg durfte nicht bereits tatsächlich zuerkannte Rechte berühren md auch nur mit Zustimmtm.gder Mehrheit des Völlcerbundsrates erfolgen 3). Als zweites schloß sie die Pflicht des Völlcerbmdes ein, sich zu vergewissern,
daß die Bestimmtm.gender Minderhei-
1) Colba.n: "The League of Nations and the Minorities 18.8.1926, bestimmt rür die polnische Zeitschrift 30181/38260. 2) Text bei Kraus, 3)
a,a.o.,
s.
Problem", Artikel vom "Liga Narodow"; VB 41/
106 ff,
g_ue les dispositions concerna.nt les Minori tes sont inta.ngibles; c I est-ä:1 dire g_u elles ne peuvent pas ~tre modifiees da.ns le sens de porter une atteinte g_uelcong_ue aux droits actuellement reconnus, et sans 1 1 assentiment de la majorite du Conseil de la Societe"; Kraus, a,a,0., S. 107, 11
i
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heitenschutzverträge ständig eingehalten wurden l). Dieser Gedanke wird noch an anderer Stelle im Tittoni-Rapport hervorgehoben: Die Ratsmitglieder haben nicht nur das Recht, sondern die Pflicht, eine Verletzung oder die Gefahr einer Verletzung von Minderheitenschutzbestimmungen vor den Völkerbundsrat zu bringen; sie sind - angesichts dessen, daß die Zuständigkeit ihnen ausschließlich übertragen ist - gehalten, dem Minderheitenschutz ein ganz besonderes Interesse zuzuwenden2).
i.
Die Stellung de.r Minderheiten selber innerhalb des Minderheitenschutzsystems spiegelte sich in der Prozedur wider, wie sie der Tittoni-Rapport festlegte. Nachdemman von vornherein vermieden hatte, der Minderheit einen Kollektivstatus zu geben, mit dem Argument, auf diese Weise würde ein Staat im Staate geschaffen, achtete man auch jetzt darauf, daß die Minderheit nicht auf eine gleiche Stufe mit dem Staat gestellt werde. Deshalb wurde ihr auch kein eigentliches Appellationsrecht zugestanden, das sie zu einer dem Staat gleichberechtigten· Prozeßpartei gemacht hätte. Einen Rechtsstatus in dem Verfahren besaßen nur die Staaten. Das bedeutete: Eine Minderheit konnte zwar unter Berufung auf die Minderheitenschutzverträge eine Petition beim Völkerbund einreichen, doch besaß diese nur den Wert einer Infonnation tmd zog als solche keine tmm:i.ttelbaren rechtlichen Konsequenzen nach sich, sondern wurde ohne Kommentarvom Generalsekretär den Ratsmitgliedern zur Kenntnisnahme weitergeleitet. Erst wenn daraufhin eine Ratsmacht auf Grund ihrer Garantiepflicht die Initiative ergriff, konnte die Petition offiziell vor den Rat gelangen und ein Prllfungsverfahren in Gang gesetzt werden. Partei in diesem Verfahren war nur der beschuldigte Staat, der gleichzeitig mit den Ratsmitgliedern informiert wurde und Gelegenheit bekam, zu seiner Rechtfertigung Gegenbemerkungen vorzulegen, ohne dazu allerdings verpflichtet zu sein. Die Angehörigen der Minderheiten konnten somit, wie Colban es später einmal ausdrückte, nicht selber Rechte aus den Minderheitenschutzverträgen ableiten~. sondern profitierten vom Interventionsrecht, das dem Völkerbund zustand. 3). Es ergab sich daraus eine für die Zukunft schwerwiegende Folgerung: die Tendenz der Minderheiten, sich an einen Staat als den Anwalt ihrer Interessen anzuschließen, Welcher Staat aber war dafür mehr prädestiniert als der stammverwandte!
a la
1) "g_ue la Societe doit s'assurer g_ue les dispositions relatives tion des .!l.inorites sont constamment executees"; ebd.
2) "Par ce droit, elles sont en effet invitees a.porter un inter~t ticulier a.la protection des .!l.d.norites"; ebd. s. 108. 3) Colban:
"The League of Nations
a.nd the Minorities
Problem",
tout
a,a,0.
protecpar-
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Die juristische und politische Grundlage für das Minderheitenschutzsystem war somit ein zwischen verschiedenen Staaten begründetes vertragliches Verhältnis. Jeder Verstoß gegen eine Bestinmnmg der Minderheitenschutzverträge sollte demzufolge eine Verletzung ,internationaler Abmachungenbedeuten l). Es wurde auch nicht dem Völkerbundsrat als solchem ein Initiativrecht zugestanden, sondern nur den einzelnen Ratsmächten. Diese Regeltmg erwies sich jedoch bald als eine erhebliche Konsti tutionsschwäche des Systems: In einer Art Bilanz knapp ein Jahr nach Annahme des Tittoni-Rapports meinte ein maßgeblicher Beamter des Völkerbundsekretariats, die Tatsache, daß alle acht Ratsmitglieder für /den Minderheitenschutz verantwortlich seien, führe dazu, daß sich nielllclildverantwortlich fühle. Er schlug deshalb vor, den jeweiligen Ratspräsidenten ex officio mit der Aufgabe zu betrauen, die Einhaltung der Minderheitenschutzverträge zu übetwachen. Mi.t einem solchen Verfahren könnten auch die politischen Animositäten vermieden werden, die beim betreffenden Minderheitenstaat durch die Initiative einer Ratsmacht erweckt würden 2). Damit war ein Problem angesprochen, das für die Funktion des Völkerbtmdes als des Garanten des Minderheitenschutzes und für den Garantiebegriff von großer Bedeutung war: Auf welche Weise ließ sich eine ständige Obetwachung der Minderheitenschutzverträge herbeiführen? Der Tittoni-Rapport, der sonst nur von den Mitgliedern des Rates als den Verantwortlichen sprach, gebrauchte an dieser Stelle bezeichnenderweise den kollektiven Begriff "Soci&t6". Das legte . . die Schlußfolgerung zunindest nahe, daß sich die Garantietätigkeit des Völkerbundes nicht in der individuellen Initiative eines Ratsmitglieds bei einem akuten Beschwerdefall erschöpfen könne, dies zumal, wellll, wie die Erfahrung bald zeigte, die Garantiemächte selber wenig Neigung verspürten, ihrer Verpflichtung zu ständiger Beobachtung der Minderheiten nachzukomnen. Zumindest bestand offenbar eine gewisse Diskrepanz zwischen diesem Prinzip tmd der ebenfalls im Tittoni-Rapport enthaltenen Aussage, daß der Völkerbundsrat nur im aktuellen Fall, d.h. auf Initiative eines Ratsmitglieds bei Verletzung oder drohender Verletzung von Mi.nderheitenschutzbestinmungen aktiv werden sollte. In der Praxis trat der Gesichtspunkt der ständigen Oberwachungspflicht von Anfang an in den Hintergrund. Eine extensive Interpretation der Stellung der Ratsmächte schien nur deren souveräne Initiative als auslösendes Element zu1) So Headlam-Morley über die Vorstellungen des New States Committee der Pariser Friedenskonferenz; Aufzeichnung vom 7.2.1922; F.0. 371/W 1030/48/98. 2) Aufzeichnung des späteren Direktors der Minderheitenabteilung für den Generalsekretär vom 16.8.1921; VB 41/7727/13256,
H. Rasting
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zulassen tmd jede davon unabhängige Oberwachungstätigkeit auszuschließen. In einer Aufzeichmmg des Völkerbundsekretariats wurde dieser Grtmdsatz in aller Deutlichkeit so zugespitzt: Die Garantie des Völkerbundes wird nicht eher wirksam, bis eine Ratsmacht den Rat auf eine Vertragsverletzung oder die Gefahr einer Vertragsverletztmg aufmerksam macht 1). In dieser Linie einer adhoc-Zuständigkeit liegt auch die Bemerkung Headlam-Morleys, man habe bei der Ausarbeitung des Minderheitenschutzsystems alles vermieden, was den Anschein erweckt hätte, als wolle man dem Völkerbtmd ein Recht auf allgemeine Untersuchtmg oder Oberwachtmg der illlleren Angelegenheiten eines Staates geben 2). Es gab jedoch Beispiele,
in denen der Völkerbtmd auch tmabhängig von der Initiative einer Ratsmacht Minderheitenfragen behandelte tmd damit prinzipiell seine dauernde Zuständigkeit dokumentierte 3). So zählte die Resolution der Völkerbtmdsversammlung vom 21. September 1922 zu den Aufgaben des Völker btmdsrates, sich - außerhalb der eigentlichen Minderheitenschutzverträge Klarheit zu-verschaffen über die Art.tmd Weise, in der die Angehörigen einer Minderheit ihre Pflichten gegenüber ihren Staaten erfüllten 4). Auch einige dem Minderheitenschutz tmterliegende· Staaten erkannten das Interesse des Völkerbtmdes an, sich unabhängig von aktuellen Vorfällen ein Bild von der Situation der Minderheiten zu verschaffen, indem sie aus eigener Initiative Berichte über Fragen des Minderheitenrechts oder die Situation ihrer Minderheiten einsandten, z.B. die estländische Regierung den Text des Autonomiegesetzes, die ungarische Regierung den Text mehrerer Minderheitengesetze tmd -verordnungen, die rumänische Regierung ein längeres Memorandumüber den Stand die zwar theoretisch der Mi.nderheitenfrage 5). Das waren jedoch Einzelfälle, das Prinzip einer ständig zu praktizierenden Garantie bekräftigten, das praktische Problem aber, wie dies zu geschehen habe, unberührt ließen. Am nächstliegenden
einzusetzen,
war der Gedanke, ein besonderes Organ des Völkerbtmdes das kontinuierlich die Einhaltung der Minderheitenschutzverträge
zu überwachen hatte tmd eine Art Hilfsfunktion
dem Rat gegenüber wahrnahm.
1) Aufzeichnung M.0. Hudson vom 6.7.1921; VB 41/7727/13256. 2) Vgl. Temperley, a.a.0., Bd. V, S. 140. 3) Vgl. Bruns, a.a.o., S. 82 ff. 4) Kraus, a.a.0., 5) Bruns, a.a.0.
S. 164.
- 16 Eine solche Regelung bot sich noch angesichts
einer weiteren praktischen Schwierigkeit an, die sich alsbald nach Einrichtung des Minderheitenschutzsystems zeigte: Wenn dieses System funktionieren sollte, bedurfte es eines ausreichenden Informationswesens, das erst ein klares Bild über die Lage einer Minderheit ermöglichte und eine Ratsmacht instand setzte, eine Initiative zu ergreifen. Petitionen und die Gegenbemerkungen der beklagten Regierung als Informationsquellen hatten nur zufälligen Charakter und boten nicht inmer Gewähr für eine objektive Darstellung. Im Prinzip war es den Ratsmä,chten selbst überlassen, auf welche Weise sie ihr Initiativrecht wahrnahmen und das hieß auch, sich Informationen beschafften 1). Andererseits waren die Schöpfer der Minderheitenschutzverträge von der Absicht ausgegangen, die "individious duty of enquiring into the internal administration of friendly States" nicht den Mächten aufzuerlegen, sondern im Gegenteil sie davon zu befreien 2). Wie sollte angesichts dessen die überwachung der Minderheitenschutzverträge erfolgen? Offenkundige Verletzungen von Minderheitenschutzbestinmnmgen, die auch ohne besondere Untersuchung zur Kenntnis der Ratsmitglieder gelangten, etwa indem ein Staat bestimmte Gesetze erließ und veröffentlichte, die einen eindeutigen Vertragsbruch bedeuteten, gab es nur selten. Verstöße dieser Art, gegen die schon die bloße Existenz der Verträge als Barriere wirken sollte, waren nicht charakteristisch für die Lage der Minderheiten. Die Schwierigkeit bestand vielmehr darin, die Praxis der Behörden und untergeordneten Instanzen im Auge zu behalten und zu prüfen, wie weit diese sich an die Minderheitengesetzgebung hielten. In diesem internen und damit der Einsicht von außen noch mehr entzogenen Bereich ließen sich gesicherte Tatsachen natürlich nur schwer ermitteln. Angesichts dieser Schwierigkeiten wurde schon auf der Friedenskonferenz von der Notwendigkeit gesprochen, ein "organized system of investigation and control" zu errichten 3). Den diplomatischen Vertretungen in den Minderheitenstaaten diese Aufgabe anzuvertrauen, schien nicht zumutbar. Man habe, wie Headlam-Morley berichtete, eigentlich noch eine zusätzliche Einrichtung schaffen nüssen, tn1l die Vertragsverletzungen der genannten Art zur Kenntnis des Völkerbtm.des zu bringen. Dieser Aufgabe, die Headlam-Morley als natürliches Ergebnis der Beratungen herausstellte, hat sich die Friedenskonferenz offenbar entzogen. Wie der Rechtsberater der deutschen Minderheiten Carl Georg Bnms während eines Besuches in England 1925/26 von Headlam-M::>rleyerfuhr, 1) So Hudson am 6.7.1921; zustimmender Vermerk Colbans, a.a.O. 2) MemorandumHead.lam-Morley, a.a.O. 3) Ebd.
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wäre in den Minderheitenschutzvertrag beinahe eine Bestinmrung über die Einsetzung örtlicher Kommissare zur Untersuchung der Lage in den l\1inderheitengebieten aufgenommenworden. Der entsprechende Punkt sei nur deshalb fallengelassen worden, "weil, wie mir nicht von Headlam-M::>rley,aber von anderer autoritativer Seite erzählt wurde, der alte Balfour in der entscheidenden Sitzung schon 1 zu nüde gewesen ist" 1). Es bleibt festzuhalten, daß ein besonderes Organ des J Völkerbtm.des auf Gnmd der Besonderheiten des internationalen Minderheiten schutzes schon bei Begründung dieses Systems als notwendig erkannt wurde. In gewissem Sinne erste Antwort auf die Frage, wie die :lvl.inderheitenschutz-Garantie des Völkerbundes praktisch wirksam werden sollte, war das Völkerbundsorgan, das während der Erörterung des Tittoni-Rapports ins Leben gerufen wurde. Der britische Außenminister Lord Balfour hatte im Verlauf der Debatte erklärt, eine Ratsmacht, die zugunsten einer Minderheit interveniere, übernehme eine schwierige und tmdankbare Aufgabe, indem sie es auf sich nehmen nüsse, einen Staat, der seine Verpflichtungen nicht erfüllt habe, anzuklagen 2). Diesen Bedenken trug auch der belgische Delegierte HymansRechnung, der die Frage aufwarf, ob nicht ein Verfahren geftmden werden könne, nach dem ein Ratsmitglied nur handeln nüsse, wenn die öffentliche ~inung stark erregt und einer Intervention günstig·gesonnen sei. Sein praktischer Vorschlag war, jede an den Völkerbtmd gerichtete Minderheitenpetition solle allen Mitgliedern des Völkerbtm.des mitgeteilt werden, wobei es die Aufgabe des Völkerbtmdsrates wäre, die Eingabe nach eigenem Ennessen einem Komitee von drei l\ü tgliedern zu tm.terbrei ten, das sie zu priifen und über das Ergebnis dem Rat zu berichten hätte. Diese Regelung sollte nicht das Initiativrecht der Ratsmitglieder einschränken. So hob Balfour auch hervor, der Rat bleibe weiterhin völlig frei, über sein Vorgehen zu entscheiden, wenn ihm die Petitionen vorlägen, und Hymans'Vorschlag lasse somit die Prinzipien der Verträge tmberührt. Die dem Vorschlag zugnmde liegende Absicht war offenbar, der Initiative des Völkerbundsrates, die bisher ausschließlich der individuellen Macht vorbehalten war, einen - ztmtindest in der Praxis - kollektiveren Charakter zu geben. In diesem Sinne, nicht als ein prinzipiell neues Element, sondern lediglich als Ergänzung des "r~glement inttlrieur", rief der Rat daraufhin die Einrich1) Streng vertraulicher 434 308-326. 2) Vgl. Bruns, a.a.O.,
Bericht S. 94 f.
Bruns an Heilbron vom 13.2.1926;
AA K 1768/K
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tung eines Dreierkomitees ins Leben, als dessen Aufgabe es bezeichnet wurde, den Ratsmitgliedern die .Ausübung ihrer Minderheitenschutzfw:iktionen zu erleichtern 1). Es handelte sich hier also um ein reines Hilfsorgan, ,das die Vorrangstellung der Ratsmächte in keiner Weise beeinträchtigen sollte, was sich schon darin zeigte,
daß die Petitionen
zuerst
den Mächten vorzulegen wa-
ren und dann erst dem Dreierkomitee zur Prüfung übergeben werden sollten. Die Einsetzung eines solchen Komitees lag beim Ratspräsidenten. Dieser sollte bei Vorliegen einer Petition zwei weitere Ratsmitglieder bestinunen, mit denen er die Prüfung der Eingabe und der möglichen Gegenbemerkungen der beklagten gierung vornahm. Von Hymans1 Vorschlag, schlossener
Prüfung dem Rat berichten,
die Rede. Ein solcher
das Dreierkomitee
sondern ließ sich auf Grund der allgemeinen genüber dem Rat durchaus als sinnvoll
möge nach abge -
war in der Ratsresolution
Bericht wurde jedoch nicht
ausdrücklich
Stellung
rechtfertigen.
Re-
nicht mehr ausgeschlossen,
des Dreierkomitees
ge-
Im Völkerbundsekretariat
sah man dagegen einen obligatorischen Bericht des Dreierkomitees an den Rat als mit den Prinzipien der Verträge nicht vereinbar an,mit der Begründung, daß dieser
Bericht
schon eine Initiative
der im Dreierkomitee
vertretenen
mächte bedeuten könnte, durch die diese den Völkerbundsrat
Rats -
auf eine Vertrags-
verletzi.mg aufmerksam machten. An Stelle der freien Entscheidung der einzelnen Ratsmitglieder, ob sie einen offiziellen Vorstoß beim Rat unternehmen sollten oder nicht, wäre damit, so argumentierte man, eine Art Pflichtinitiative getreten 2). Es wurde statt dessen am Grundsatz der vollen Ennessensfreiheit der Ratsmächte festgehalten. Seiner Stellung gemäß besaß das Dreierkomitee auch keinerlei Entscheidungsbefugnis, sondern arbeitete lediglich a titre d'infonnation. Es fehlte ihm auch weithin die Möglichkeit, sich ein.Eigengewicht zu verschaffen, da es inuner nur ad hoc zusanunentrat, aus jeweils fehlten
da es außerdem kein Expertengremium war, sondern sich
wechselnden normalen Völkerbundsdelegierten
dem internationalen
Minderheitenschutzsystem
zusarmnensetzte. von seiner
Somit
Organisation
her die Elemente, die eine Kontinuität in der Minderheitenschutzarbeit hätten begründen können, blieb diese also den wechselnden politischen Situationen i.mterworfen.
Eigene Infonnationen
verschaffte
sich das Dreierkomitee
nicht;
als
1) Resolution des Völk.erbundsrates vom 25.10.1920; darin: "En vue de faciliter aux membres du Conseil l'exercice de leurs droits et devoirs en ce qui concerne la protection des minorites ... "; Kraus, a.a.O., s. 109 f, 2) Aufzeichnung Colban vom 15, 7, 1921 und Aufzeichnung VB 41/7727/13256.
Rost"ing vom 14.7.1921;
- 19 Infonnationsquellen
dienten
ihm die Petitionen
und die Gegenbemerkungen der
beklagten Regierung, wobei sich der beklagte Staat der Minderheit gegenüber in einer wesentlich günstigeren Situation befand, da er das letzte Wort hatte, außerdem bei Behandlung einer Beschwerde im Völkerbundsrat wie ein Ratsmitglied vertreten war und seine Argumente mündlich vortragen konnte, während die Minderheit
auf den schriftlichen
handlungen nicht unterrichtet
Weg angewiesen war und vom Gang der Ver-
wurde 1).
Eine weitere Verbesserung für den Status der Minderheitenstaaten
in der Pro-
zedur des Minderheitenschutzsystems brachte eine auf Betreiben Polens und der Tschechoslowakei verabschiedete Resolution des Völkerbundsrates vom 27, Juni 19212). Nach der Regelung des Tittoni-Rapports wurden Minderheitenpetitionen zunächst den Mitgliedern
des Rates zugeleitet.
Das hatte nach Auffassung der
daß die Ratsmächte durch diese Eingaben zunächst nur einseitig den Standptmkt der Minderheiten kennenlernten und womöglich im Sinne der Minderheiten vorbestinmt würden, Auf Vorschlag der beiden Regierungen wurde alle Petitionen jetzt zuerst an den beklagten Staat weitergeleitet. Dieser bekam Gelegenheit, binnen drei l\bchen nach Eingang der Petition dem Generalsekretär mitzuteilen, ob er Bemerkungen zum Gegenstand machen wolle. In negativem Fall war-die Petition nach Ablauf dieser Frist den Mitgliedern des Völkerbundsrates mitzuteilen. Andernfalls sollte dem beklagten Staat ein zusätzlicher Zeitraum von zwei Monaten zur Eingabe von Gegenbemerkungen eingeräumt werden, die dann gleichzeitig mit der iünderheitenpetition den Ratsmitgliedern zugeleitet wurden, Diese Modifiziepolnischen
und tschechoslowakischen
Regierung den Nachteil,
rung des Verfahrens brachte den Minderheitenstaaten einen Zeitgewinn von ins- / gesamt fast drei Monaten, den sie u.U. nutzen konnten, um vollendete Tatsa; chen zu schaffen 3). Vor allem lagen den Ratsmächten neben den Petitionen 1) Vgl. W. Szagunn: "Der Rechtsgang sche. Arbeit 22, S, 235 ff,
bei Minderheitenbeschwerden",
in: Deut-
2) Note der polnischen Regierung vom 3,6.1921 und der tschechoslowakischen Regierung vom 4.6.1921, in: Journal Officiel II, S. 796 f.; Text des Ratsb_eschlusses vom 27.6.1921 bei Kraus, a.a.O., S. 115 f. 3) Die Verschleppungstaktik hatte besonders schlimme Auswirkungen in der Frage der deutschen Ansiedler, die den Völkerbund von November 1921 bis 1924 beschäftigte. Die ungeklärte und offene Situation wurde von der polnischen Regierung ausgenutzt, vollendete Tatsachen zu schaffen, die schwer rückgängig zu machen waren, d.h. die deutschen Ansiedler von ihren Anwesen zu verdrängen,mit dem Ergebnis, daß sie auch nach einer für sie günstigen Entscheidung schwerlich wieder in ihren alten Stand eingesetzt werden konnten.
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jetzt immer gleich auch die Stelllillgilahmender beklagten Regierungen vor, zu denen die Minderheiten selber sich nicht mehr äußern konnten, da diese Gegenbemerkungenvertraulich~n Charakter hatten und den Minderheiten prinzipiell nicht mitgeteilt werden durften. Dieser Zustand führte inmerhin schon 1921 im Völkerbundsekretariat zu der Anregung, auch die Minderheiten sollten von den Argumentenihrer Regierungen in Kenntnis gesetzt werden1). Der Realisierung eines solchen Vorschlages stand aber der prinzipielle Statusunterschied von Staat und Minderheit innerhalb des Verfahrens entgegen. Die unbefriedigende Regelung des Infonnationswesens und die Diskrepanz zwischen der vertraglich zugesicherten ständigen Oberwachungder Lage der Minderheiten und der tatsächlich praktizierten ad-hoc-Interventiqn veranlaßten die Union der Völkerbundsligen auf ihrer fünften Tagung 1921 zu einer Entschließung an den Völkerbund, in der sie die Bildung einer ständigen Kommission forderte, deren Aufgabe es sein sollte, mit entsprechenden VoJ.lmachtenausgerüstet, an Ort und Stelle Untersuchungen vorzunehmen2), Diese Anregungwurde im Völkerbundsekretariat eingehend erörtert, alles in allem aber negativ beurteilt3). Man begründete diese Haltung einmal mit demMangel an Erfahrungen auf dem Gebiet des internationalen Minderheitenschutzes, der es ratsam erscheinen lassen mochte, erst einmal die Auswirkungender geltenden Prozedur abzuwarten, Das System der Dreierkomitees werde, wenn erst einmal richtig in Aktion, die gleichen Ergebnisse zustande bringen wie eine ständige Konnnission. Inmerhin gab es zu dieser Zeit - Mitte 1921 - schon erste Erfahrungen, die hinsichtlich der Effektivität dieses Systems zu denken geben mußten. Im Völkerbundsekretariat mußte man feststellen, daß die bisher eingesetzten Dreierkomitees noch kein Lebenszeichen von sich gegeben hatten, und analysierte die Gründe für die Schwerfälligkeit des Systems: 1. Die Widerstände der Ratsmitglieder, ihre Zeit zum Studium von als unbedeutend empftmdenenDokumentenzu opfern. 2. Das Fehlen eines Sekretariats, das die Dreierkomitees wirksam hätte unterstützen können. 3. Eine bestinmte, aus politischen Erwägungenresultierende, Scheu der Ratsmitglieder, s_ich auf diesem Gebiet zu engagieren 4) • 1) Aufzeichnung Rosting vom 14.7.1921; VB 41/7727/13256. 2) Als Aufgabe der Kommission wurde es bezeichnet, "de :faire des etudes et des rapports sur les plaintes qui pourraient ~tre adressees a la Societe des Nations ••• cette Commission aurait le droit de proceder une enqu~te sur les lieux et d'exercer tel.s pouvoirs dont 1.e Conseil ·1.•aurait investie".
a
VB 41/7727/13256.
3) Aufzeichnungen Colban vom 2.7. und Rasting vom 14.7.1921; ebd. 4) Aufzeichnung Rasting vom 14,7,1921, ebd.
- 21 So zeigte sich schon wenige Monate nach Einrichtung des Systems als seine entscheidende Schwäche, daß der Rat als oberstes politisches Organ sich selber mit den Minderheitenfragen zu beschäftigen hatte, die zum großen Teil spezielle Kenntnisse verlangten, denen nur ein Expertengremiumgerecht werden konnte, daß auf der anderen Seite, da im Völkerbundsrat die großen politischen Gesichtspunkte maßgebendwaren, auch das Minderheitenproblem in den Bereich politischer Auseinandersetzungen geraten mußte, während es doch der Note Clemenceaus an Paderewski zufolge gerade der Sinn des neuen Systems war, die Minderheitenfragen aus dem im engeren Sinne politischen Bereich herauszunehmen. Entscheidend für die Ablehnung eines ständigen Organs, das sich von den ersten Erfahrungen her umsomehranbot, waren deshalb auch prinzipielle Einwände: Eine ständige Kommissionhätte leicht auf Grund sachlicher Kompetenzzumeigentlichen Minderheitenschutzorgan des Völkerbundes werden können. Was jedoch das ausschließliche Initiativrecht der Ratsmächte zu beeinträchtigen drohte, stieß auf entschiedene Ablehnung. So siegte über den Gedankeneiner Zwecknäßi.gkeitslösung das Prinzip formaler Zuständigkeit. Erheblicher Widerstand gegen ein ständiges Organ ergab sich auch aus dem allgemeinen Grundsatz des Vorrangs der staatlichen Souveränität im Minderheitenschutzsystem: Eine an Ort und Stelle vorzunehmendeUntersuchung, wie sie die Union der Völkerbtmdsligen vorschlug, etwa durch Sonderbeauftragte des Völkerbundes, schien zu delikat und den ~li.nderheitenstaaten nicht zumutbar. In einer internen Aufzeichntmg im Foreign Office zu eben dieser Entschließung wurde der Standpunkt vertreten, eine ständige Kommissionsei eine gefährliche Einrichtung und bedeute nur eine fortgesetzte Ernnmterung, Beschwerdenaufzuspüren. Der Rat solle jeweils warten, bis ihm eine Eingabe vorliege und dann eine ad-hoc-Kommission einsetzen 1) • Dennochschien dem Völkerbundsekretariat für eine spätere Zeit eine ständige Minderheitenkommissionnicht nur nicht ausgeschlossen, sondern wurde als natürliches Ergebnis einer allmählichen Entwicklung vorausgesagt. Colban hielt auf lange Sicht eine Dezentralisierung in der Arbeit des Völkerbundsrates für notwendig. Im Zuge dieser Entwicklung werde auch die Minderheitenfrage von den politischen Fragen erster Ordnunggetrennt, innerhalb des Rates den eigentlichen politischen Delegierten entzogen und zur Sache von Spezialisten, d.h. einer Kommissionoder eines besonderen Sekretariats werden, dessen Experten an Ort und Stelle eine strittige Sachlage ~u klären hätten 2). 1) Aufzeichnung des Unterstaatssekretärs im Foreign 0:f:fice vom 31,5,1921; F.0. 371/W 5070/5070/98, 2) Aufzeichnung Colban vom 2.7.1921, a.a.0. In diesem Sinne auch Au:fzeichnung Colban vom 28,5,1922; VB 41/1296/20742.
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Daß in dieser frühen Phase der Gedanke einer ständigen Völkerbundseinrichtung zur effektiveren Ausgestaltung des int~rnationalen Minderheitenschutzes allgerrein nahelag, zeigte sich auch bei der Disl'1.J.Ssionder ~linderheitenfrage in der 6. Kommissionder Völkerbundsversammlung im September 1922 1). Der südafrikanische Delegierte Prof. Murray stellte die Einsetzung ständiger, in Minderheitengebieten residenter Völkerbundsvertreter zur Debatte, die unparteiisch über das Verhältnis von Minderheit und Mehrheit berichten sollten. Dann wieder regte er an, in Konfliktsgebiete diplomatische Vertreter ausländischer Regierungen zu entsenden, deren bloße Anwesenheit beruhigend wirken sollte. Diese Vorschläge wurden in der 6. Kommission, obwohl man die Bedeutung einer solchen Einrichtung nicht abstritt, wieder mit dem entscheidenden Argument des Umfangs der Ratsvollmachten ("1 1 ~tendue des pouvoirs du Conseil") abgelehnt •. Angesichts dieser Grundtendenz ließen auch die Beschlüsse dieser Völkerbundsversammlung, in denen die Fllllktion des Völkerbundsekretariats modifiziert wurde, das Prinzip der ausschließlichen Zuständigkeit der Ratsmitglieder i.mangetastet 2). Für Minderheitenfragen war im Sekretariat eine Hälfte der Abteilung "Verwaltungskommissionen und Minderheiten" zuständig, die von einem knappen Dutzend Mitarbeiter einschließlich des technischen Personals besetzt war. Es wurde festgelegt, daß das Sekretariat Informationen sammeln sollte, um dem Rat bei der Prüfung von Beschwerden behilflich sein zu können. Das Ergebnis dieser Regelung war die Einrichtung eines Informationsdienstes, zu dem u.a. ein Pressedienst mit ca. 20 Zeitungen zählte, der aber, wenn man bedenkt, daß sich die Zeitungen auf die verschiedenen Minderheitenstaaten verteilten, kaum geeignet war, ein objektives und umfassendes Bild von der Lage einer Minderheit zu vermitteln. Dazu zählten auch gelegentliche Reisen von Beamten der Minderheitenabteilung in gefährdete Gebiete, die aber sporadischen Charakter hatten und kein Ersatz für ein systematisches Informationswesen waren3). Vor allem aber: Die vom Sekretariat gesammelten Infonnationen sollten den Ratsmitgliedern nur auf deren Verlangen zur Verfügung gestellt werden, damit sie nicht neben dem Initiativrecht der Ratsmächte ein Eigengewicht erlangten. Im Grunde wurde, das zeigte sich hier,
der Minderheitenschutz nur als Problem zwischen souveränen Staaten, nämlich den Signatarstaaten der Minderheitenschutzverträge ,angesehen. Das kam auch in der Empfehlung dieser Vdlkerbunds1) Journal
Officiel
III,
S. 35 ff.
2) Text der Resolution vom 21.9.1922 bei Kraus, a.a.O., S. 163 f. 3) Vgl. G. Erler: "Das Recht der nationalen Minderheiten", Münster 1931,S.417 f.
- 23 -
versammlung zumAusdruck, die Vertragsparteien sollten in gewöhnlichen Fällen den Weg offiziöser und wohlwollender Verständigung beschreiten, der ein direktes Eingreifen des Völkerbundsrates überflüssig machte. Für die Minderheiten selber, die keinen eigenen Status innerhalb des Verfahrens besaßen, galt vornehmlich die Pflicht zur Loyalität gegenüber ihrem Staat, die jetzt als ein wesentliches Element des Minderheitenschutzes per Resolution verankert wurde. In gewissem Sinne war die Forderung nach loyalem Verhalten durchaus eine Ergänzung des ~fi.nderheitenschutzes insofern, als beide aus der neuen Territorialordnung resultierten. Andererseits konnte die Loyalitätsklausel in der Praxis leicht zu einer Vorbedingung umgemünztwerden, deren Erfüllung erst den Minderheiten den Schutz ihrer Rechte sicherte. Gegenüber solchen späteren Interpretationsversuchen ist der Hinweis wichtig, daß diese Resolution zunächst vom "fundamentalen Recht" der Minderheiten auf Schutz durch den Völkerbund spricht und erst dann die Pflicht zur Loyalität anführt, somit also die Auffassung bekräftigt, daß Loyalität erst das natürliche Ergebnis einer guten Behandlung durch den Staat sein könne. Die Resolution dieser Völkerbundsversammlung enthielt noch einen nicht unwichtigen Passus, der die Prinzipien des internationalen ~ünderheitenschutzes indirekt für moralisch verbindlich und allgemeingültig erklärte: Es wurde die Hoffnung geäußert, daß auch die nicht durch Minderheitenschutzverträge gebundenen Staaten bei der Behandlung ihrer Minderheiten mindestens das gleiche M_aßan Toleranz und Gerechtigkeit übten, 1rie es die Verträge forderten. Das bedeutete, daß der vertraglich garantierte ~fi.nderheitenschutz nur als Minimumangesehen wurde, über das man hinausgehen konnte, ja dessen Ausweitung wünschenswert erschien.
3. Die Haltung der Minderheitenstaaten zum internationalen und erste Modifizierungen des Verfahrens
Minderheitenschutz
Schon die Diskussionen auf der Friedenskonferenz hatten gezeigt, daß die Minderheitenstaaten nur im Bewußtsein ihrer eigenen politischen Ohnmacht ihre Unterschrift unter die Minderheitenschutzverträge setzen, daß sie im übrigen stets inneren Vorbehalt gegen das neue System wahren würden1). Die Hauptkritik der betroffenen Staaten richtete sich dagegen, daß nur eine Reihe von 1) In diesem Sinn die Rede des rumänischen Ministerpräsidenten 31,5.1919, s. Viefhaus, a.a.O., S. 189 ff.
Bratianu
vom
Staaten den Verträgen unterworfen wurden, die Großmächte jedoch, auch wo ihnen durch Grenzveränderungen fremdstämmige Volksgruppen zugefallen waren, keine vertraglichen Verpf~chtungen zum Schutz ihrer Minderheiten eingehen mußten. Im stolzen Bewußtsein ihrer neugewormenen Staatlichkeit sahen die Minderheitenstaaten in dieser Regelung eine Beschneidung ihrer Souveränität, eine neue Fonn ausländischer Intervention, einen Versuch, sie als Staaten zweiter Klasse zu etablieren. Polen, dessen Widerstand gegen das neue Minderheitenschutzsystem besonders entschieden war, hatte schon in einer Antwortnote auf den gnmdlegenden Brief Clemenceaus seinen Vorbehalt aktenkundig gemacht: VomAugenblick der Vertragsunterschrift an bewertete es diese Verpflichtung als eine "Herabwürdigung der polnischen Geschichte, der nationalen Ehre tmd der Würde des Staates 111). In diesem Sinne hatte sich auch der polnische Sejm geäußert, als er anläßlich der Ratifikationsdebatte die Regierung aufforderte, "alle Schritte zur Angleichung der Vertragsbestinmnmgen an den Grundsatz der vollständigen Souveränität zu unternehmen 112). Die Minderheitenschutzverträge wurden von polnischer Seite als ernste Erschütterung des Prinzips der Gleichheit aller Staaten angesehen, ,,, somit als ein Ausnahmeregime abgewertet, das seiner Natur nach zum Verschwinden verurteilt sei, zumindest in dem Sirme, daß es einer Revision in Richtung auf eine Generalisierung unterworfen werden müsse. Diese Einstellung wurde ideologisch mit dem Bewußtsein der Kontinuität des neuen Polen zum polnischen Staat vor den Teilungen begründet. Man argumentierte, alle von Clemenceau in seiner Note aufgeführten Kriterien, die für die Auferlegung von Minderheitenschutzverpflichtungen maßgeblich seien, träfen auf Polen nicht zu, da es weder ein neu entstandener oder vergrößerter noch ein besiegter Staat sei 3) • Von dieser historischen Position empfand man es als absurde Konstruktion, die internationale völkerrechtliche Existenz Polens von der Beachtung der Minderhei tenschutzbestinmnmgen abhängig zu machen. Insofern besaß die Note Clemenceaus in polnischer Sicht nur den Charakter eines Konmentars , nicht aber eines Instnunents,
das den Vertrag um neue recht-
1) Vgl. dazu S.J. Paprocki: "Polen und das Minderheitenproblem", Warschau 1935, Paprocki war Leiter des Instituts zur Erforschung der Nationalitätenfragen in Warschau, außerdem zeitweise Berater des polnischen Ministerpräsidenten für Nationalitätenfragen, so daß seine Darstellung auch für die amtliche polnische Politik kennzeichnend sein dürf'te. 2) Ebd., S. 17, 3) Ebd.,
S. 10.
- 25 liehe Elemente erweiterte 1). Für Polen war die Beziehung zwischen Minderheitenschutzvertrag und territorialem Status nicht rechtlicher, sondern allein politischer Art,mit dem Kalkül aucl1, daß politische Situationen veränderlich sind. Aber nicht nur Fmpfindlichkei t in Fragen des äußeren Prestiges und der internationalen Stellung, sondern auch innenpolitische Gesichtspunkte riefen den Widerstand der Minderheitenstaaten gegen das System hervor. So wie auf internationaler Ebene zwei Kategorien von Staaten geschaffen seien, so, behauptete man, seien im innerstaatlichen Bereich zwei Kategorien von Staatsbürgern geschaffen: die Mehrheitsbevöllcerung und die ihr gegenüber privilegierte Minderheit, der .in rein innerstaatlichen Angelegenheiten das Recht der Appellation an außerstaatliche Instanzen zustehe, das die übrige Bevölkerung nicht habe. Diese Einschätzung stufte die Angehörigen der Minderheit gleichsam als Außenseiter ein, von ihr war es nur ein kleiner Schritt zur generellen Verdächtigung der Fremdnationalen als nationaler Opposition, die mit ihren Petitionen an den Völkerbund nur eine Art legalisierter antistaatlicher Propaganda betreibe. Die praktische Konsequenz aus dieser Beurteilung war, daß die Minderheitenstaaten versuchten, den Zugang der Minderheiten zum Völkerbtmd möglichst zu erschweren. Besonderer Widerstand richtete sich gegen Kollektivpetitionen, in denen nicht einzelne Angehörige der Minderheit für sich, sondern Sprecher oder Organisationen im Namender gesamten Minderheit· Klage führten. Denn werm auch rechtlich gegen derartige Eingaben kein Widerspruch erhoben werden konnte, da Petitionen aus jedweder ~lle zulässig waren, so glaubten die betroffenen Staaten, daß auf diesem Umwegdas rechtlich verworfene Kollektivitätsprinzip doch noch in die Praxis des Minderheitenschutzverfahrens eingeführt werde. Abgesehen von diesen allgemeinen Gesichtspunkten war die Haltung der polnischen Regierung stark bestinmt durch das Tratllll!I.der historischen Erfahrung, daß Polen lange Zeit bloßes Objekt ausländischer Interessen gewesen war. Das begründete ihr Mißtrauen vor allem gegen die Petitionen der deutschen und der ukrainischen Minderheit, hinter denen natürlich der jeweils stammverwandte Staat als treibende Kraft gesehen wurde. Ausdruck dieser Befürchtungen war die am 16. Januar 1923 von der polnischen Regierung beim Völkerbund eingereichte Note zur allgemeinen Frage des Schutzes der Minderheiten durch den Völkerbund 2). Diese Note führte alle grundsätzlichen Einwände der polnischen 1) Ebd.,
S. 26.
2) Text in Journal
0fficiel
IV, S. 480 ff.
- 26 -
Seite gegen den internationalen Minderheitenschutz auf und forderte, ihn entsprechend dem Grundsatz der Gleichheit aller Völkerbundsmitglieder wem schon nicht rechtlich zu genf:ralisieren, so doch auf einen praktischen Standard zu bringen, der Polens Streben nach Gleichberechtigung gerecht werde: Die Verträge sollten auf Polen und die anderen Minderheitenstaaten im gleichen Geist und in der gleichen Art und Weise angewandtwerden, wie wem sie für die Großmächte und die anderen Ursprungsstaaten des Völkerbundes G'.iltigkeit besäßen. Solange der Minderheitenschutz dagegen Ausnahmeregelungsei, behalte sich Polen das Recht vor, den Minderheitenschutzvertrag nur in eingeschränktem Umfang anzuwenden.Die polnische Regierung berief sich dabei ausdrucklich auf die "grausame Erfahrung" mit einer "fatalen'' Art von Minderheitenschutz im 18. Jahrhundert, die zur polnischen Teiltmg geführt habe tmd nun gegen jede Einwirktmg von außen empfindlich mache. Als positive Aufgabe des Minderheitenschutz.es bezeichnete es die Note, den Minderheiten innerhalb ihrer Staaten eine "normale Existenz" zu gewähren. Von demRecht der Minderheiten auf Schutz ihrer nationalen Eigenart war hier keine Rede, der Minderheitenschutz. bedeutete hier nicht mehr als eine staatsbürgerliche Gleichstellung der Minderheitsangehörigen mit der Mehrheitsbevölkerung1).
II
Von dieser grundsätzlichen Position aus tmterbreitete die polnische Regierung konkrete Vorschläge zur M:>difizierung des Minderheitenschutzverfahrens. Ihre Kritik richtete sich vor allem gegen das System der Dreierkomitees, gegen das sie einwandte, daß es eine automatische Prufung von Minderheitenbeschwerden bedeute, während die Verträge nur die individuelle und spontane Initiative der Ratsmitglieder vorsähen. Eine solche Prufung von Minderheitenbeschwerden wurde vor allem in den Fällen kritisiert, die schon Gegenstand von innerstaatlichen Untersuchtmgen oder Gerichtsentscheidungen gewesenwaren. Wahrend gerade diese Situation sehr häufig eintrat, daß eine Minderheit den Völkerbtmd anrief, weil sie ihre Rechte bei den innerstaatlichen Organen nicht genügend berücksichtigt fand, bemühte sich die polnische Regierung, solche Beschwerden von vornherein als unzulässig abweisen zu lassen, da sie die Autorität der innerstaatlichen Instanzen beeinträchtigten. Die Absicht der polnischen Note war somit, den Zugang zumVölkerbund zu erschweren i:m.ddie minderheitenpolitische Aktivität des Völkerbundes einzuschränken, Deshalb auch 1) Die Frage der Minderheiten sollte gelöst werden durch die . 11application naturelle, consentie et reciproque a leur egard, a l'interieur de chaque 1 Etat, des principes de liberte et d egalite dans le domaine politique, economique, social et juridique" • ebd.
- 27 -
mahnte sie zu strikter Anwendungder fonnalen Zuständigkeitsbestimnnmgen: In jedem einzelnen Fall sollte, bevor der Rat befaßt werde, die ausdruckliche und spontane Initiative einer Ratsmacht vorliegen. Die Arbeit der Dreierkomitees wollte die polnische Regierung als einen rein internen und infonnativen Dienst gewertet sehen, der in keiner Weise eine Vorentscheidung über eine Intervention des Rates bedeute. Oberhaupt sollten die Untersuchungen der Dreierkomitees keinerlei Maßnahmen des Völkerbundes auslösen, offenbar auch nicht informelle diplomatische Schritte, die einer Ratsinitiative vorausgehen konnten1). Indem die polnische Regiertmg eine Intervention nur auf Initiative einer Ratsmacht als zulässig ansah, verfolgte sie zweifellos die Absicht, jeder entsprechenden Maßnahmedes Völkerbundes den Charakter einer schwerwiegenden tmd auch schwerfälligeren Aktion zu geben, zu der sich die Verantwortlichen nur in außergewöhnlichen Fällen entschließen würden. Ein besonderer Punkt in der polnischen Note widmete sich schließlich der Frage der öffentlichlcei t im Mi.nderheitenschutzverfahren. An Stelle der bisherigen Regelung sollten Minderheitenpetitionen den Völkerbundsstaaten nur auf Antrag eines Ratsmitglieds und nach einer ausdrucklichen Ratsresolution mitgeteilt werden. Mit dieser Einschränkung der öffentlichlceit, so hoffte die polnische Regiertmg, würde der beklagte Staat aus der Rolle eines Angeklagten weitgehend befreit werden. Im gleichen Sinne war eine Note der tschechoslowakischen Regierung an den Völ-
kerbund vom 5. April 1923 abgefaßt 2). Sie legte zunächst terminologisch gegen eine indirekte Einführung des Kollektivitätsprinzips Verwahrungein und hob hervor, daß schon der Begriff "Minderheit" unkorrekt sei und nur eine Abkürzung für die genauere Bezeichnung"Personen, die zu einer rassischen, religiösen oder sprachlichen Mi.nderheit gehören" sein könne. Auch Erklärungen oder Eingaben "im Namen"einer Minderheit besäßen keine Legitimation, da nur jedes Individl.Ulm. einer Minderheit für sich sprechen könne. So wie Polen befürchtete auch die tschechoslowakische Regiertmg, daß durch das geltende Verfahren bei Einbringen einer Beschwerdeautomatisch Rechtsakte des Völkerbundes ausgelöst würden. Sie betonte demgegenüber,daß die Petitionen nur als 1) Kritik richtete sich deshalb gegen die Dreierkomitees, weil diese in der Praxis den Völkerbundsrat als eigentlichen Garanten des Minderheitenschutzes weitgehend entlastet hatten; vgl. dazu Azca.rate: "League of Nations and National Minorites", Washington 1945, 8. 114 ff, 2) Journal
Officiel
IV, 8. 717 f,
- 28 -
Infonnationen zu gelten hätten und die Gegenbemerkungender beklagten Regierung nicht eine Antwort darauf seien, sondern auch lediglich den Charakter von Infonnationen besäß~n, die die Regierung freiwillig, in einem Akt der Souveränität, gebe. Mit dieser prinzipiellen Bemerkungwollte sie einer Entwicklung vorbeugen, in der auf dem Umwegüber die Prozedur Staaten und Minderheiten zu gleichberechtigten Parteien vor dem Fonnn des Völkerbundes würden. In ihren konkreten Forderungen ging die tschechoslowakische Note noch über die polnischen Vorschläge hinaus: Bestirrnnte Petitionen sollten a limine vom Generalsekretär abgewiesen werden, für die aber Zl.Dll Teil sehr delmbare Kriterien angeführt wurden: alle Eingaben, die nicht "seriös" genug seien, die , propagandistischen Zwecken dienten und nicht genügend präzisierte Beschwerden enthielten, oder deren Gegenstand schon einmal vom Völkerbund geprüft worden sei. Außerdem sollten von einer Prüfung durch den Völkerbund die Petitionen ausgeschlossen werden, die sich nicht an den Rahmender Verträge hielten oder "mit der Würde eines Staates unvereinbar" seien. Die Einführung einer solchen Klausel hätte das Minderheitenschutzverfahren zweifellos auf einen völlig unsicheren Boden gestellt, da es nur eine Frage der jeweiligen Auslegung gewesen wäre, ob man eine Petition für zulässig erklärt oder abgewiesen hätte. Eine Ergänzung ihrer Vorschläge zur Verfahrensänderung legte die polnische Regierung in einer Zusatznote vom 22. August 1923 vor 1). Diese Note zeigte noch deutlicher die Tendenz, das ~linderheitenproblem weitgehend in den innerstaatlichen Ralilllzu ve:cweisen. Sie enthielt nämlich die Forderung, Petitionen sollten nur durch Vermittlung der beklagten Regierung dem Völkerbund vorgelegt werden. Auf diese Weise hätte es die Regierung, indem sie der Minderheit bestinmte Zusagen gab, erreichen können, daß eine Petition gar nicht erst nach draußen drang, sondern innerstaatlich erledigt wurde. Das wäre zweifellos ein großer Schritt in Richtung· auf das Ziel gewesen, die Minderheitenfrage überhaupt zu einer Domäneder staatlichen Souveränität zu machen und die Ingerenz von außen gänzlich abzustreifen. Die polnische Regierung behauptete freilich, erst durch diese Verfahrensregelung werde gewährleistet, daß die Zentralregierung nicht versäumen werde, sich um die Lage der Minderheiten zu kümmern. Tatsächlich aber hätte es der Minderheitenstaat weitgehend in der Hand gehabt, ob eine Eingabe weitergeleitet worden wäre. Die weitergereichten Petitionen wären solche Fälle gewesen, in denen Staat und Minderheit nicht zu einer Einigung gekorrrrnen wären, der Staat die Eingaben somit negativ beschie1) Ebd.,
S,
1071.
- 29 den hätte. Eine solche Modifizierung hätte die Möglichkeiten des Rates erheblich eingeengt, da er ja nicht letztes Organ zur objektiven Urteilsfindung, sondern nur zwischen Staat und Minderheit vermittelnde Instanz war, und es kalilllnoch einen Spielraum für eine Vermittlungstätigkeit gegeben hätte. Die Diskussion im Völkerbundsrat über die von der polnischen und der tschechoslowakischen Regierung vorgebrachten .Änderungswünscheim September 1923 zeigte weitgehendes Verständnis der Ratsmächte für den Standpunkt beider Regierungen1). Das betraf vor allem den Wunschnach Einschränkung der Öffentlichkeit, also die Forderung, daß Petitionen nur noch den Ratsmitgliedern zugeleitet werden sollten, Andererseits verwarf der Völkerbundsrat den polnischen Vorschlag, den Kreis der Petitionsberechtigten einzugrenzen und z.B. internationale Organisationen oder Emigrantengruppen von der Appellationsmöglichkeit auszuschließen. Gleichsam Ersatz dafür war die Aufstellung eines Kanons bestinmrter Kriterien, nach denen künftig über die fonnale Zulässigkeit von Petitionen entschieden werden sollte. Es handelte sich hier um Grundsätze, die, in der Praxis auch früher schon angewandt, nun, in der Ratsresolution vom 5. September 1923, fest verbindlich wurden2). Petitionen rrn..lßtensich demnach a) beziehen auf den in den Verträgen festgelegten Minderheitenschutz, sie durften b) nicht auf die Auflösung der politischen Einheit von Minderheit und Minderheitenstaat abzielen, also nicht am Status quo rütteln, c) nicht aus anonymer oder schlecht bezeugter Quelle stanunen, d) nicht in einer heftigen Sprache abgefaßt sein, e) nicht erst kürzlich den Völkerbund beschäftigt haben. Der beklagte Staat selber hatte das Recht, gegen die fonnale Annahme einer Petition Einwände zu erheben und konnte so von Fall zu Fall den Völkerbundsrat veranlassen, die Frage der Zulässigkeit erneut zu prüfen. Zugunsten der Vd.nderheitenstaaten wurde jetzt auch festgelegt, daß die Frist von zwei Monaten für das Einbringen von Gegenbemerkungengrundsätzlich verlängert werden konnte. Wasaber wichtiger war: Petitionen und Gegenbemerkungensollten künftig nur noch den Ratsmitgliedern zugeleitet werden, eine Mitteilung an die anderen Völkerbundsmitglieder oder an die Öffentlichkeit nur auf Antrag des beklagten Staates oder auf Grund einer Ratsresolution erfolgen. 1) Ebd.,
S.
1290 ff.
2) Text
ebd.,
S.
1293 f.;
auch Kraus,
a.a.0.,
S.
186 ff.
- 30 -
Diese Regelung bedeutete verhindert
den Übergang zu einer geheimeren Prozedur,
wurde, daß jede Petition
den betroffenen
durch die
Staat vor einer größeren
Öffentlichkeit in den ~agestand versetzte. Im Sinne der polnischen und der tschechoslowakischen Note war auch die Bekräftigung des Grundsatzes, daß nur die Ratsmitglieder einen Rechtstitel auf Aktivierung des Völkerbundes ZUIII Schutz der Minderheiten besaßen, die Dreierkomitees dagegen lediglich eine Hilfsfunktion hatten, indem sie es den Ratsmitgliedern ennöglichen sollten festzustellen,
ob Anlaß bestand,
auch den 1919/20 festgelegten
eine Initiative
Prinzipien.
zu ergreifen.
Die Initiative
kam ihren Wert vor allem durch ihr moralisches
Das entsprach
einer Ratsmacht be-.
Wld politisches
Gewicht, des-
da dem Völkerbund keine Zwangsmittel zur Verfügllllg standen. Andererseits hatte die Erfahnmg gezeigt, daß einen großen Teil der Minderheitenbeschwerden die begrenzteren, das alltägliche Leben berührenden Vorkomnmisse ausmachten, mit denen schwerlich der Rat selber sich befassen konnte, sondern die einem Unterorgan, eben dem Dreierkomitee, anvertraut werden nrußten. Ein solches Organ aber, das keinen eigenen Rechtstitel besaß, andererseits aber die praktische Minderheitenschutzarbeit des Völkerbundes weitgehend allein trug, entkräftete die von Polen und der Tschechoslowakei vorgetragene Kritik an der Aktivität der Dreierkomitees. Denn diese befanden sich, wie der spätere Direktor der Minderheitenabteilllllg Azc&rate rückblickend 111) den RegierW1gen gegenüber, zuschrieb, in einer "angeborenen Inferiorität mal in ihnen selten die ersten Delegierten vertreten waren und ihnen die nachdrückliche Unterstützung durch die Ratsmächte fehlte, so daß sie jede noch so bescheidene Vereinbarung einer offenen Auseinandersetzllllg vorzogen. Das Verfahren hinter verschlossenen Türen schien den Ratsmächten auch aus der Einsicht heraus am bequemsten, daß in den wenigsten Fällen Ergebnisse zu erreichen waren, die das Ansehen des Volkerbundes stärkten, tmd auf diese Weise vermieden wurde, daß u.U. der Rat selber mit dem Scheitern von Verhandlungen belastet werden würde 2). sen es bedurfte,
II
Das Dreierkomitee wurde somit inmer mehr ZUIII eigentlichen minderheitenpolitischen Forl.Dlldes Völkerbtmdes, eine an sich vernünftige Entwicklung, wenn es sich hierbei
nicht
mangelhafter
Sachkenntnis
1) Azcarate,
a.a.O.,
UIII
ein ad-hoc-Organ mit wechselnden Besetzllllgen, meist und infolgedessen
nur geringem politischen
Gewicht
S. 121.
2) Diese Auffassung äußert Azcarate als ehemaliger Direktor abteilung im Völkerbundsekretariat, ebd.
der Minderheiten-
- 31 -
gehandelt hätte.
In den allenneisten
Fällen gelangten
Petitionen
überhaupt
nicht vor den Rat, sondern wurden von den Dreierkomitees erledigt. Entweder beendeten diese ihre Untersuchllllg sofort, wenn sie von den Gegenbemerktmgen der beklagten kam, sie traten
Regierung zufriedengestellt
waren, oder, was am häufigsten
in VerhandlW1gen mit der jeweiligen
liche ErklärW1gen zu bekommen. Unbefriedigend
blieb
vor-
Regierllllg ein, um zusätzdabei vor allem der Sta-
tus der Minderheiten: Die Stellimgnahmen ihrer RegierW1gen waren das letzte Wort, und auf ihre Argumente konnten die Minderheiten nicht direkt antworten,
da sie vor ihnen geheim gehalten wurden. Auch die Beratungen der Dreierkomitees blieben geheim, wenn die Frage nicht vor den Rat gelangte. Ober ihre Ergebnisse wurde nicht berichtet, es wurden nicht einmal Protokolle geführt. Die ganze Tätigkeit der Dreierkomitees-wurde ins Dunkel gehüllt, was zur Bezeichmmg der Dreierkomitees als "Dunkelkanuner des Völkerbundes" oder als "Bestattllllgskomitee" führte 1). Carl Georg Bruns zeigte btmdsekretariats
Ende 1922 in einem Brief an das Mitglied
des Völker-
Helmer Rosting einen Weg, auf dem vor dem Hintergrlllld der
bisherigen Erfahrungen ein wirksamer Minderheitenschutz durch den Völkerbtmd überhaupt nur möglich schien: die Isolierung der Minderheitenfragen von den eigentlichen politischen Problemen 2). Am konkreten Beispiel der deutschen Minderheit in Polen erläuterte er, daß es den Interessen der Minderheit am besten diente, wenn sie sich auf den Boden der territorialen Verhältnisse stellte, also z.B. die politische Frage des Korridors unberührt ließ, nicht zuletzt
in der Oberlegllllg, daß das Korridorproblem vielleicht
einmal im
reichsdeutschen Sinne gelöst werden könnte, es aber nicht unwahrscheinlich sein würde, daß die vorher einsetzenden Ifeüber die Leichen der Deutschen in Polen gehen würden. Diese Erkenntnis führte ihn zur allgemeinen Schlußfolgerung: "Isolierung der Minderheitenfrage, das ist ein Ziel, in dem sich m.E. Minderheit und polnischer Staat mit den Wünschen und Interessen_ ganz Europas treffen können". Wenn von deutschen Politikern bei Diskussionen über den Völkerbtmd argumentiert
werde, der Völkerbtmd sei bestenfalls
nutzlos,
weil die
politischen Lebensfragen der großen Nationen doch nicht vor ihm ausgetragen würden, so sei dies zum großen Teil richtig und entspreche auch seiner eigenen Meirumg, daß die· großen Fragen von Staat zu Staat dtrrch machtpolitische 1) H. v. Truhart: "Die Publizität der Entscheidungen der Minderheitenkomitees des Völkerbundes", in: Nation und Staat 5, S. 598 ff, 2) Bruns an Rasting,
Brief vom 31.12.1922;
VB 41/6180/26733,
- 32 Auseinandersetzungen entschieden würden. "Aber ich halte es allerdings für möglich, daß der Völkerbund dazu kommt, die Fragen dritten und zweiten Ranges an sich zu ziehen, und daß er dadurch ••• eine Reinigung der Atmosphäre herbeiführen wird". Gerade weil der Ordnung Osteuropas in seiner derzeitigen Form starke Kräfte widerstrebten, sei die eigentliche Minderheitenfrage eine Frage zweiten Ranges, "und insofern sie eine solche Frage zweiten Ranges ist, kann sie vom Vcilkerbtmd ihrer Lösung entgegengeführt werden. Für ihn ist sie eine Frage ersten Ranges, denn es gibt nichts, was einer inneren Befriedung Osteuropas, gleichgültig in welcher staatlichen Gliederung, mehr im Wegeist als der in fast unübersehbaren Verschlingungen geführte innerstaatliche Kampf der Nationalitäten untereinander".
,l.1''. .
Bruns hatte recht, wenn er das eigentliche Minderheitenproblem als eine, gemessen an anderen Aufgaben, zweitrangige Frage klassifizierte. Aber die Verankerung des Minderheitenschutzes mit der europäischen Friedensordnung machte ihn zu einem Politikum von hohem Grad, und einer Entpolitisierung war deshalb nur im Rahmeneiner Konsolidierung der europäischen Verhältnisse näherzukommen.
ll
4. Der internationale Minderheitenschutz im Aspekt der Aufnahme Deutschlands in den Völkerbund (1925) a) Die Entwicklung der Verfahrensfrage Als die polnische Regierung in ihrer ltlte vom 16. Januar 1923 das ausschließliche Initiativrecht der Ratsmächte hervorhob, sprach u.a. auch die Berechnung mit, daß vom Rat in seiner derzeitigen Zusarmnensetzungenergische Aktionen nicht zu befürchten waren. Zwar hielten die Ratsmächte am Prinzip des Minderheitenschutzes und vor allem an ihrer Sonderstellung innerhalb des Minderheitenschutzsystems fest, aber an einer Praktizierung des Minderheitenschutzes zeigten sie sich bestenfalls uninteressiert. Der deutsche Beobachter sah am Vorabend von Deutschlands Eintritt in den Völkerbtmd in dem geringen Interesse des Völkerbundes am Minderheitenschutz ein Spiegelbild der vor allem im Rat bestehenden politischen Kräfte und Interessen. So gewann der deutsche Konsul in Genf Aschmann, der am 14. November 1925 dem Auswärtigen Amt weisungsgemäß über die Einstellung des Völkerbundsrates und des Sekretariats zum Minderheitenschutz berichtete, den Eindruck, daß am ehesten Groß-
- 33 britannien an der Minderheitenfrage interessiert sei. Frankreich befinde sich in einem engen politischen Verhältnis zu den Minderheitenstaaten Ostmitteleuropas und sei schon deshalb ein natürlicher Gegner des Minderheitenschutzgedankens. Spanien sei wegen seiner katalanischen Bewegungin der Minderheitenfrage empfindlich, erst recht schließlich könne von Italien, dessen SüdtirolPolitik allen Grundsätzen des internationalen Minderheitenschutzes wider sprach, kein Interesse erwartet werden1). Vor diese~ Hintergrund bedeutete die AufnahmeDeutschlands in den Völkerbund eine völlig neue Situation. Denn im Gegensatz zu den anderen Ratsmächten hatte das Deutsche Reich als Mutterland bedeutender Minderheiten ein natürliches Interesse an einem aktiven Minderheitenschutz. Von besonderer Bedeutung war für Deutschland deshalb auch die Mitgliedschaft im Völkerbundsrat, die allein ein Eintreten für die Minderheiten ermöglichte. Daß sie sich dieser Aufgabe besonders widmenwürde, hatte die deutsche Regierung wmri.ttelbar vor Eintritt in den Völkerbund klar zum Ausdruck gebracht. In einer Kabinettssitzung vom 23. September 1924 legte sie sich darauf fest, die Mitgliedschaft im Völkerbtmd und insbesondere im Völkerbundsrat wmri.ttelbar anzustreben mit der Begründung, das Saarproblem, die allgemeine Abriistung und der Minderheitenschutz könnten nur unter Deutschlands Mitarbeit befriedigend geregelt werden. Besonders Polen zeigte sich von der Aussicht auf eine .Aktivierung des Minderheitenschutzes durch Deutschland außerordentlich beunruhigt. Eine Rede des englischen Oberhausmitglieds Lord Parmoor im Oberhaus am 14. Juli 1924, in der dieser erklärt hatte, der Eintritt in den Völkerbtmd gebe dem Deutschen Reich die Möglichkeit, die in den abgetretenen Gebieten lebenden Deutschen besser zu schützen, schlug in Polen dem Bericht des britischen Gesandten in Warschau zufolge wie eine Bombeein 2). Die Folge war, daß die polnische Regierung nun starke Bedenken gegen eine Mitgliedschaft des Deutschen Reiches im Völkerbtmd überhaupt anmeldete. Dabei mochte auch die Befürchtung eine Rolle spielen, daß die britische Regierung und die meisten anderen Ratsregierungen in dem Bestreben, Deutschlands Aufnahme in den Völkerbund zu sichern, beträchtliche Konzessionen machen würden, die vor allem auf dem Gebiet des ~1inderheitenschutzes lägen 3). Dieser Eventualität beeilte sich die polnische 1) Bericht Ascbmann (Deutsches Konsulat 1925, AA K 1764/K 431 861-866.
Genf) an das Auswärtige
2) Bericht des brit. Gesandten in Warschau Max Muller v. 15,7,1924, F.O. 371/C 11627/2072/18. 3) Diese Erwartung Muller, a.a.o.
äußerte
der dt.
Gesandte
Amt vom 14.11.
an das Foreign
in Warschau Rauscher
lt.
Office Bericht
- 34 -
Regienmg zuvorzukonnnen. War ihr politischer Einfluß auch nicht groß genug, um Deutschlands Eintritt in den Völkerbl.llld zu verhindern, so bot sich doch anhand der Verfahrens~rdmmg, die schon 1923 nach polnischen Wünschen modifiziert worden war, eine :t-föglichkeit, Deutschlands minderhei ten:poli tische RolIhn die Jahreswende 1924/ZS überreichte le im Völkerbl.llld zu neutralisieren. Graf Los vom polnischen Außenministerium dem britischen Gesandten in Warschau ein Memorandum,in dem die polnische Regienmg eine .Ändenmg bestinunter Teile des Minderheitenschutzvertrags von 1919 forderte 1) • Als Begründung für diesen Schritt nannte das Dokument unumwundendie zu erwartende Aufnahme Deutschlands in den Völkerbund. Bisher habe man den Völkerbundsrat in Minderheitenfragen stets als ein unparteiisches Gremium ansehen können; dieser Charakter gehe ihm verloren, wenn Deutschland Mitglied des Völkerbl.llldes werde und einen ständigen Ratssitz erhalte. Denn Deutschland bekonnne auf diese Weise zumindest die :t-i>glichkeit, bei Abstinm.mgen im Rat über Minderheitenfragen ein Veto einzulegen l.llld einen den deutschen Interessen zuwiderlaufenden Beschluß zu verhindern. Formal stützte sich die polnische Regienmg auf Art. 12 des Minderheitenschutzvertrags, dem zufolge eine .Änderung des Vertrags mit Mehrheit des Vl:llkerbundsrats nöglich war. Es ging ihr zunächst scheinbar nur um eine Präzisierung bestinmter Fragen der Verfahrensordnung: 1. Wer war berechtigt, eine Beschwerde in Minderheitenangelegenheiten vorzubringen? 2. Was bedeutete der Begriff ''Verletzung" von Minderheitenschutzbestinmnmgen? 3. Welche Prozedur sollte bei der Behandlung von Beschwerden befolgt werden? 4. Bei welchem Gremium lag die endgültige Entscheidung? Diese Fragen betrafen in ihrer Tragweite freilich nicht mehr bloß die Prozedur, sondern z. T. schon prinzipielle Elemente des Minderheitenschutzsystems. Zu diesen gehörte einmal das in der ersten Frage angeschnittene Problem der Minderheiten - Repräsentation. Im Gegensatz zu dem in den Verträgen verankerten und auch von Polen besonders bekräftigten Individualprinzip, das eine Kollektivvertretung der Minderheit ausschloß, stellte die polnische Regierung jetzt überraschenderweise den Vorschlag zur Diskussion, das Beschwerderecht fomell autonomen Minderheitenkörperschaften zu übertragen, allerdings mit dem Vorbehalt, die öffentliche Meinung in Polen, vor allem in den Ostprovinzen, sei noch nicht reif genug, um solche Körperschaften zu dulden. So soll-
1) Von Muller am 6.1.1925 an das Forefgn Office weitergeleitet; 18Wl88755.
F,O. 371/N
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te zunächst wenigstens eine Regelung getroffen werden, die das Beschwerderecht auf in Polen lebende Personen bzw. Rechtspersonen beschränkte. Mit diesem Vorschlag verbanden sich zwei Absichten: Indem man den Minderheiten selber ein fomelles Petitionsrecht einräumte, verringerte man die Bedeuttmg der Ratsinitiative, damit auch die Bedeutung der deutschen Mitgliedschaft im Völkerbl.llld. Angesichts früherer .Äußerungen, in denen die polnische Seite eine Selbstvertretung der Minderheiten scharf abgelehnt hatte, lag die, auch im Foreign Office geäußerte, Vermutung nahe, daß die Regierung in Warschau keinen eigentlichen Positionswechsel vornehmen wollte, sondern sich zutraute, Minderheitenorganisationen ins Leben zu rufen, die sie in der Kontrolle hätte l.llld die ihr keine Schwierigkeiten bereiteten 1). Zudem richtete sich de! Vorauf im Lande lebende polnische Staatsbürger zu beschlag, das Petitionsrecht schränken, gegen die Emigranten, von denen ein großer Teil nur deshalb beim Völkerbl.llld petitionierte, weil ihm die Ifilckkehr nach Polen verweigert. wtrrde und er darin eine VerletzU!_lg des Minderheitenschutzvertr~gs sah, Diese Personengruppe hätte, wenn der polnische Plan verwirklicht worden wäre, keine Möglichkeit mehr gehabt, den Minderheitenschutz des Völkerbundes in Anspruch zu nehmen. Er stieß nicht zuletzt im Hinblick auf diese Tragweite im Foreign Office auf entschiedene Ablehnung 2) • Insgesamt bedeutete der polnisclle Vorschlag somit nur eine scheinbare .Annäherung an den Standpunkt der Minderheiten, in der praktischen Ausführung hätte er zweifellos deren Interessen beeinträchtigt. Die gleiche Tendenz zeigte auch der zweite Punkt des Memrandums, in dem sich die polnische Regierung gegen eine bestinunte Art von Beschwerden wandte, die bloß allgemein das Verhalten der polnischen Behörden beträfen, deren Behauptungen aber weder zu beweisen noch zu widerlegen seien und nur böses Blut machten. Demgegenüber sollten Petitionen künftig nur dann angenommenwerden, wenn sie ganz konkrete Vertragsverletzungen zum Inhalt hätten, etwa das Versäumnis einer polnischen Behörde, eine Minderheitenschule _an einem Ort zu errichten, wo die Zahl der Minderheitenkinder die Einrichtung einer solchen Schule vorschrieb, Die praktische Konsequenz dieser Regelung war auch hier eindeutig: Vor dem Völkerbl.llld hätte nur noch bei offenkundigen individuellen Verstößen mit Aussicht auf Erfolg petitioniert werden können. Beschwerden über Vertragsverletzungen,
die sich als solche erst in einem größeren Zusannnenhangheraus-
1) Aufzeichnung Headlam-Morley vom 16.1.1925; F.O. 371/N 188/188/55, 2) Ebd.
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stellten, wären dagegen - in Konsequenz des polnischen Vorschlages - als zu vage und allgemein abgewiesen worden. Mehr noch: Es wäre fraglich gewesen, ob die Klage einer Ivli.n~rhei t wegen versäumter Einrichtung einer Minderheitenschule vom Völkerbund überhaupt angenommenworden wäre, weil die Verifizierung dieser Beschwerde ja stets auch die allgemeine Minderheitenpolitik des Staates (Schulkreisgeometrie und. andere Verwaltungsmaßnahmen) hätte einbeziehen müssen. - Dem Ziel, die Intervention von außen weitgehend auszuschalten und die Minderheitenfrage zur innerstaatlichen .Angelegenheit zu machen, diente die auch schon früher vorgetragene dritte Forderung dieses Memorandums, vom Recht der Appellation an den Völkerbtmd solle erst Gebrauch gemacht werden dürfen, wenn der Beschwerdeführer alle Instanzen im Lande erschöpft habe und negativ beschieden worden sei. Neu, aber von der antideutschen Spitze dieses Vorstoßes her verständlich, war der vierte Vorschlag, der darauf abzielte, den Völkerbwidsrat, aber auch den Ständigen Internationalen Gerichtshof,von der Verantwortung für so "vergleichsweise triviale .Angelegenheiten" zu entlasten. Während die polnische Regierung noch 1923 ein besonderes Gremium für den Minderheitenschutz abgelelmt lllld Wert darauf gelegt hatte, daß die Entscheidung in Minderheitenangelegenheiten bei den Ratsmächten verblieb, hielt sie jetzt die Einrichtung eines Dreierkomitees mit Entscheidungsbefugnis für zweckmäßig. Gedacht war dabei an ein unpolitisches Gremium, dem auch Nicht-Ratsmitglieder, z.B. bedeutende Juristen, angehören sollten, das also ein reines Expertenkomitee war und Vollmacht besaß, einen strittigen Fall verbindlich zu regeln. Die Tatsache, daß Polen zwei Jahre vorher genau den entgegengesetzten Standpimkt eingenommen hatte, zeigt, daß die minderheitenpolitische Konzeption der polnischen Regierung nicht von den Erfordernissen der Sache her, sondern von der jeweiligen politischen Situation taktisch bestinmt war. Aber auch den Großmächten fehlte es an einem ausschließlich an der Sache orientierten Konzept für einen aktiven Minderheitenschutz, vor allem für ein effektives Verfahren, Solange die Ratsmächte die allgemeinen Grundsätze md ihre eigenen Interessen unangetastet sahen, handelte es sich für sie bei den Verfahrensfragen um sekwidäre Probleme, in denen jeweils nach einer allgemeinen politischen Zweckmäßigkeit zu entscheiden war. Oberster Grundsatz war dabei offenbar, alles zu vermeiden, was Bewegllllgin das Minderheitenschutzsystem hätte bringen können. So ist es nicht veIWUnderlich, daß die polnischen .Anregmgen im Foreign Office, wenn auch nicht in den Einzelheiten, so doch im Prinzip durchaus auf gewisses Verständnis stießen. Denn man teilte hier die Befürch-
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tung der Polen, Deutschland könnte dem Minderheitenschutz
des Völkerbundes "greater force and vitality" geben l). Was der Ungewißheit über Deutschlands Vorgehen im Völkerbtmd ein Unbehagen beigab, war die Meinung, die Deutschen würden auf Grwid einer Tendenz zu pedantischer Gründlichkeit und infolge eines Mangels an politischem Takt Dinge forcieren, die man besser auf sich beruhen ließe, sie würden also die Atmosphäre der Versölmung lUld des Kompromisses im Vdlkerbtmd zerstören 2). Bezeichnend für diese Einstellmg, zugleich aber auch für die Tätigkeit des Völkerb\llldes bemerkenswert ist die von Headlam- . Morley im Foreign Office geäußerte Befürchtung, Deutschland könnte sich in Minderheitenangelegenheiten, in denen die polnische Regierung sich imklug oder gar ungesetzlich verhielte, unnachgiebig zeigen tmd so eine Situation herbeiführen, die den Völkerbtmd zwänge, Maßnalunengegen Polen zu ergreifen 3). Auch das Sekretariat des Vdlkerbmdes zeigte grwidsätzliche Bereitschaft, den polnischen Wünschen entgegenzukomnen, dies schon, um Friktionen im Völkerbtmd zu vermeiden. Die polnische VölkerblUldsdelegation bediente sich bei Besprechungen über die Vorschläge ihrer Regierung mit dem Leiter der Minderheitenabteilung einer massiven Sprache, verwies auf den starken Widerstand im polnischen Parlament md in der öffentlichen Meinung Polens gegen den internationalen Minderheitenschutz überhaupt und deutete sogar die Möglichkeit an, Polen werde bei Nichterfüllung seiner Forderungen den Völkerbtmd verlassen. Colbans Einwand, der Vertrag werde in einem solchen Falle nichts von seiner Wltigkeit verlieren, wurde mit einem vielsagenden "fremdlichen Lächeln" beantwortet4). Verständnis fanden die Polen mit ihrem Wunsch, Deutschlands Einflußmöglichkeiten im Völkerbtmd zu beschränken, dagegen stieß jeder Versuch, die grlllldsätzliche Stellung der Ratsmächte innerhalb des Minderheitenschutzsystems zu beeinträchtigen, auf entschiedenen Widerstand. Die praktische Aufgabe war somit, eine Verfahrensregelung zu finden, die in diesen Rahmenpaßte. Am zweckmäßigsten erwies sich eine Veränderung im "reglement int6rieur", also in der Institution des Dreierkomitees, die an den Prinzipien des Systems nichts änderte, insofern
da es sich hier rechtlich nur um ein Hilfsorgan handelte, die aber wirksam sein nrußte, als das Dreierkomitee sich faktisch zur eigent-
lichen Instanz entwickelt
hatte.
Nicht realisierbar,
da er mit den Vorrechten
1) Ebd. 2) Ebd. 3) Ebd. 4) Aufzeichnungen Colban vom 7.,
11. und 14.4.1925; VB 41/7727/43425,
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der Ratsmächte kollidierte, war der Wtmsch der polnischen Regienmg, dem Dreierkomitee auch rechtlich die Entscheidungsgewalt in Minderheitenfragen zu übertragen. Dieser Sa.~lage trug ein Vorschlag Colbans Rechnung, der den Status des Dreierkomitees unverändert ließ und nur seine Zusammensetzung modifizierte: Es sollten ihm nur Vertreter von "nicht direkt interessierten'' Staaten angehören, wodurch die Gefahr eines politischen Mißbrauchs der Minderheitenverträge schon zum größten Teil beseitigt werden würde. Anfang Mai 1925 erörterte Colban in Warschau mit Vertretern des polnischen Außenministeriums die Vorschläge der polnischen Regierung, Seine polnischen Gesprächspartner ließen dabei keinen Zweifel daran, welche Bedeutung sie einer für Polen befriedigenden Regelung des Verfahrens beimaßen, und drohten an, daß sich der Völkerbund eines Tages in der Lage befinden könnte, in der Polen, die Tschechoslowakei, Jugoslawien und Rumänien sich einfach weigerten, die Minderheitenschutzgarantie des Völkerbundes weiterhin zu respektieren. Polen habe sehr wirksame Mittel gegen jedes Ratsmitglied zur Verfügung, das es wage, eine gegen Polen gerichtete Initiative in Minderheitenangelegenheiten zu ergreifen, was von Colban nur als Drohung mit wirtschaftlichen Repressalien und diplomatischen Aktionen verstanden werden konnte. Als Ziel bezeichnete es der Vertreter des polnischen Außenministeriums, "to have 100% security against the Minorities Treaty being abused by any individual power for i ts own particular poli tical purposes" 1) • Diesem Zweck sollte das jetzt näher präzisierte Komitee dienen: Da es als ein reines Expertengremium gedacht war und politische Vertreter der Mächte ihm nicht angehören sollten, glaubte man für die Zukunft eine politische Intervention ausländischer Mächte ausgeschlossen. Das Komitee sollte seiner Natur gemäß pennanent sein und für die beklagte Regierung wie für den Völkerbund und jedes Ratsmitglied verbindliche Beschlüsse fassen können. Einen erheblich verbesserten Status hatten die polnischen Vorschläge dem beklagten Staat zugedacht: Nur in Zusammenarbeit mit diesem sollte das Komitee die Prüfung von Petitionen vornehmen, der Staat wiederum sollte das Recht der Appellation vom Komitee an den Völkerbundsrat zugestanden bekonnnen. Mit einer solchen Regelung hätte
die polnische
Regierung sicher
ihr Ziel
weitgehend erreicht gehabt, die Minderheitenfrage unter eigene Kontrolle zu bekonnnen. Die unmittelbare Wirkung wäre aber u.U. ein vorübergehender Anstieg 1) Aufzeichnung Colban vom 4.5.1925,
ebd.
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der Zahl der Petitionen gewesen, da den Petenten bei einer ständigen Komission die Chance einer Bearbeitung größer und überhaupt der Minderheitenschutz effektiver erscheinen mußte. Dieser Art waren auch Colbans Bedenken, der das polnische Projekt als zu killm bezeichnete 1). Ihn erfüllte dabei die gleiche Sorge, die schon von britischer Seite geäußert worden war, daß nämlich Bewegung in das Minderheitenschutzsystem hineingetragen und die derzeitige Balance gestört werden würde, Daher seine Frage an den polnischen Außenminister, ob Polen für eine so durchgreifende Regelung des ganzen Problems gerüstet sei, wo doch das ganze innenpolitische Leben Polens eng mit der Minderheitenfrage zusammenhänge und dieses Problem dann in seiner Totalität aufgerollt werde. Colban bezeichnete es geradezu als Gefahr, daß, bei VelWirklichung des polnischen Plans, alle als annehmbarerklärten Petitionen auch einer substantiellen Prüfung unterzogen würden, während sie nach der bisherigen Regelung erst auf Initiative einer Ratsmacht vor den Rat gelangten. Einer solchen Entwicklung glaubten die Polen aber mit einschränkenden Klauseln in der Verfahrensordnung begegnen zu köJlllen: Unbedeutendere Petitionen sollten nach Ennessen des Generalsekretärs a limine abgewiesen werden, desgleichen all die Fälle, in denen nicht elWiesen war, daß der Petitionär bereits vergeblich die innerstaatlichen Instanzen angerufen hatte. Damit wäre die Zahl der überhaupt noch appellablen Fälle schon erheblich eingeschränkt worden, und es lllllßte eigenartig klingen, wenn auf polnischer Seite die Prüfung der noch verbleibenden Fälle durch ein derart konstruiertes Komitee als eine Konzession an Deutschland bezeichnet wurde. Colban ging bei seiner Beurteilung der Situation davon aus, daß die Stabilität der politischen Verhältnisse vor einer Intensivierung des Minderheitenschutzes Vorrang besitze. Demgemäßbegründete er seine entscheidenden Bedenken gegen die polnischen Vorschläge auch mit allgemeineren politischen Oberlegungen, indem er seine Gesprächspartner an den engen Zusammenhangzwischen Minderheitenschutz und Friedensverträgen erinnerte: "The Mernbers of the Council were, I thought, of the opinion that the Minorities Treaties fonned a permanent link in the whole peace settlement, and i t was well known that several of the Members were very anxious indeed not to touch any part of that settleinent 112). Nach polnischer Auffassung dagegen war der internationale Minderheitenschutz
nur eine Durchgangsphase zu einer endgültigen
1) Aufzeichnung Colban vom 5.5.1925, 2) Ebd,
ebd.
Regelung des
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iünderheitenproblems, die es ganz unter die Souveränität des jeweiligen Staates stellen würde. In diesem Sinne äußerte sich Graf Los in der Unterredung mit Colban: Für Polen ~ei die Zeit gekommen, eine endgültige Regelung seines Minderheitenproblems anzustreben. Dies zu erreichen, könne mehrere Jahre dauern, vielleicht zehn, vielleicht noch mehr, aber dann würde das Problem ein für allemal geregelt sein. Solange diese Regelung ausbleibe, bestehe nicht nur die ständige Gefahr einer Intervention von sei ten Deutschlands, sondern sei auch der innere Friede in Polen bedroht 1).
III
I1.I
Bis zi.nnAbschluß dieser Gespräche blieb die polnische Auffassung unverändert kompromißlos. Sie schlug sich in einem Colban vorgelegten Katalog von Vorschlägen zur Prozedur nieder, der noch einmal alle polnischen Wünsche zusammenfaßte 2). 1. Minderheitenfälle sollten rrur auf der Gnmdlage von Petitionen behandelt werden, die von einer Minderheit, also kollektiv, in guter und angemessener Form vorgelegt würden. - Petitionen aus anderer Quelle waren denmach von der Behandlung ausgeschlossen. 2, Dem zur Priifung von Petitionen best:µmnten Dreierkomitee dürften als Mitglieder nicht Vertreter "interessierter" Staaten angehören. - Diese Einschränkung war auf Deutschland gemünzt, und insofern war der Begriff "interessierter Staat" unpräzise. Ein Interesse an den OOndnisverpolnischen Minderheitenfragen konnte nämlich auch durch politische hältnisse begründet sein,wie z.B. bei Frankreich. 3. Erst wenn das Dreierkomitee Gewißheit habe, daß alle Rechtsmittel im Lande erschöpft seien, sollte es eine Priifung des Beschwerdefalls vornehmen dürfen. 4. Die Schlußfolgerung des Komitees sollte bindend sein, wenn Komitee und beklagte Regierung übereinstinnnten. In jedem Fall verstand es sich von selbst, daß eine neue Regelung nur allgemeiner Art sein konnte und, nicht zuletzt mit Rücksicht auf die Reaktion in Deutschland, jede Spezifizierung auf den polnischen Fall vermeiden nrußte. Bei Reisen nach London und Paris im Anschluß an seine Sondierungsgespräche in Warschau suchte Colban in Gesprächen mit den westlichen Regierungen eine Kompromißlösung zu erarbeiten. Widerstand gegen die polnischen Wünsche, soweit sie die Rechte der Ratsmächte berührten, zeigte sich vor allem im Foreign Office. Für möglich und sinnvoll wurde aber ein Entgegenkonunen in der Frage der Dreierkomitees gehalten, deren Zusannnensetzung man entsprechend den polni1) Ebd.
2) Aufzeichnung Colban vom 6.5.1925,
ebd.
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sehen Wünschen glaubte modifizieren oder auf ein "more regular footing'' stellen zu können, wobei der Minderheitenschutzvertrag als solcher unangetastet blieb 1) • Es darf hierbei nicht außer acht bleiben, daß auch die auf den Eintritt Deutschlands in den Völkerbund gerichtete allgemeine Politik der Westmächte gewisse Rücksichtnahme auf Deutschland gebot. Wemi .Änderungen nur beim Dreierkomitee vorgenonunen wurden, dessen rechtlicher Status unverändert blieb, so konnte das Deutsche Reich immer auf das ihm als Ratsmacht zustehende Initiativrecht hingewiesen werden. Deshalb war man auch bemüht, eine neue Außerdem sollte diese Regelung als spontanen Akt der Ratsmächte hinzustellen. in ihrer Bedeutung heruntergespielt und als formale Fixierung eines bisher schon praktizierten Verfahrens interpretiert werden. Chamberlain sagte während der Ratstagung im Jwri. 1925, als die möglichen Reaktionen auf deutscher Seite zur Sprache kamen, es genüge, wenn Deutschland als Mitglied des Rates von der dann maßgeblichen Verfahrensordnung in Kemitnis gesetzt werde 2). Das Ergebnis war die am 10, Jwri. 1925 verabschiedete Resolution des Völkerbundsrates mit genauen Bestinmrungen zur Zusannnensetzung der Dreierkomitees 3). In seinem ihr zugrunde liegenden Bericht bemühte sich der brasilianische Vertreter ~llo Franco, dem Vorgang die politische Spitze zu nehmen, indem er die Verfahrensänderung als natürlichen Vorgang in der Entwicklung der Minderheitenschutztätigkeit des Völkerbundes begründete: Das Dreierkomitee sei in der Praxis zur "normalen" Instanz in Minderheitenfragen geworden, was die Auswahl seiner Mitglieder zu einer bedeutenden Angelegenheit mache, Deshalb solle der Rat bestimmte Praktiken, die sich allmählich entwickelt hätten, zur Kenntnis nehmen und formal bestätigen. Von der Mitarbeit an einem Dreierkomitee sollten ausgeschlossen werden 1. die Vertreter des Staates, dessen Angehörige die petitionierenden Minderheiten seien; 2. Vertreter eines dem beklagten Minderheitenstaat benachbarten Staates; 3. Vertreter des Staates, dessen ~hrheitsbevölkerung derselben Nationalität sei wie die betreffende Minderheit. Die erste Bedingung verstand sich von selbst: Der beklagte Staat 1) Aufzeichnung Randall vom 3. 6. 1925 "Polish Policy in regard to llinori ty Questions laid down before the Council of the League of Nations"; F.O. 371/N 3261/188/55; ebenso die Stellungnahme im Foreign Office (o.U.) zu den Gesprächen Colban-Los vom 13.5.1925; F.O. 371/N 3287/188/55. 2) Aufzeichnung Colban vom 18.6.1925; 3) Journal
Officiel
VI, S. 878 ff,;
VB 41/7727/43425. Resolution
bei-Kraus,
a.a.O.,
S. 216 f,
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konnte natürlich nicht an einer Untersuchung über sich selber beteiligt sein. Für eine besondere Berücksichtigung seiner Stellungnahme war aber auf Grund seines Status im Beschwerdeverfahren ohnehin schon die Gewähr gegeben. Die entscheidende Einschränkung lag in der dritten Bedingung: Deutschland konnte sich im Dreierkomit'ee, nicht mehr der deutschen Minderheiten annehmen, da es als rasseveToandter Staat in solchen Fällen für die Teilnahme nicht in Frage kam. Aber darüber hinaus machte es die Resolution Deutschland überhaupt unmöglich, in Minderheitenangelegenheiten, wenn sie Polen betrafen, am Prüfungsverfahren der Dreierkomitees teilzunehmen. Denn nach der zweiten Bedingung der Ratsresolution blieb das Deutsche Reich als Nachbarstaat Polens in jedem Falle draußen. Mit dieser zusätzlichen Sicherung war der polnischen Befürchtl.mg Rechnung getragen, Deutschland würde sich im Völkerbtmd aus bloßer antipolnischer Einstellung heraus nicht nur der deutschen, sondern z.B. auch der ukrainischen Minderheit in Polen, würde sich vielleicht allgemein, gegen Po1). len gerichtet, russischer Interessen im Völkerbund annehmen
;II! '1
11,1
Aber auch bei Minderheitenpetitionen, die aus der Tschechoslowakei an den Völkerbund gelangten, war Deutschland von der Mitarbeit im Dreierkomitee ausgeschlossen, und auch hier galt dieser Ausschluß nicht nur für Beschwerden der deutschen ~fi.nderheit, sondern allgemein, also z.B. auch für Petitionen der ungarischen Minderheit in der Tschechoslowakei. Mit dieser M:idifizierung war über die speziellen polnischen Sorgen hinaus einer weiteren mit dem Eintritt Deutschlands in den Völkerbund verbundenen Befürchtung entsprochen worden: Indem man wenigstens auf einem Gebiet die Möglichkeiten einer deutsch-ungarischen Kooperation beschränkte und zudem einer Wahrnehmungbestinnnter russischer Interessen durch Deutschland vorbeugte, war Gewähr gegeben, daß die Auf11ahmeDeutschlands in den Kreis der Völkerbundsrnächte nicht gleich einen Einbruch in das durch die Westmächte bestinnnte System bedeutete. IJIIIlerhinhatte Ungarn als Revisionsstaat gleiche Interessen wie Deutschland und suchte auch die Zusanmenarbeit mit Deutschland in Minderheitenfragen 2). Daß allgemein auch deutsch-russische Absprachen als Eventualität eine Rolle gespielt
1) Diese Furcht vor einer deutsch-russischen Zusammenarbeit auf Kosten Polens, der ein aus historischen Erfahrungen (polnische Teilungen) rührendes Trauma zugrunde lag, hat, wie der ehemalige polnische Außenminister Zaleski dem Verfasser bei einem Gespräch in London am 23.7,1970 bestätigte, die polnische Minderheitenpolitik dauernd bestimmt.
2) S. unten S. 122 f.
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haben dürften, liegt angesichts des Mißtrauens gegenüber den deutsch-russischen Beziehungen in diesem Zeitraum zumindest nahe. Obwohl die neue Regelung wegen der praktischen Bedeutung des Dreierkomitees im i'.inderheitenschutzverfahren einen Einschnitt bedeutete und den polnischen ½U.nschenin hohem Maße entgegenkam, zeigte sich die polnische Seite über die Ratsresolution doch sehr unbefriedigt, sah man mit ihr doch noch keine wirkliche Sicherheit gegen eine aktive deutsche Minderheitenpolitik im Völkerbund gewährleistet 1). Denn das, wenn auch vor der praktischen Bedeutung der Dreierkomitees zurücktretende, Initiativrecht, das Deutschland als Ratsmacht zustehen würde, war unangetastet geblieben. Gegen eine solche Einstellung des Völkerbundes kündigte der Vertreter Polens entschiedene Obstruktion an: Wenn der Völkerbundsrat nicht helfen wolle, dann werde Polen seine verschiedenen Bündnisse mit anderen Regierungen (Rumänien, Tschechoslowakei, demnächst auch Jugosla½'ien tmd eventuell Griechenland) nutzen und auf diese Weise einen Block schmieden "qui te as formidable as the whole of the Gennan Empire112). Dieser massiven Drohung begegnete Colban mit dem Vorschlag, man könne auf internem Wegeeinen Modus finden, der den polnischen i\iünschen Rechnung trage. Alle Elemente der Prozedur, so wie sie sich bisher in der Praxis entwickelt hätten, sollten in einem Papier fixiert werden und somit eine größere Verbindlichkeit bekormnen.Damit war auch dem Wunschvon Ratsmitgliedern Rechnung getragen, wonach die bisher angewandte Prozedur sozusagen zu Protokoll genommenwerden sollte 3). Ebenso wie im Mello-Franco-Rapport, der nur einen Schritt auf diesem Wegedarstellte, konnte man mit einem solchen Verfahren erreichen, daß bestinnnte Punkte besonders herausgestellt wurden, die der Tendenz entsprachen, den Zugang zumVölkerbund zu erschweren. Noch rechtzeitig vor dem Eintritt Deutschlands in den Völkerbund, am 10. Juni 1926, wurden in einer Note des Generalsekretärs an den Völkerbundsrat die Grundsätze festgelegt, die für die Beziehung zwischen Petitionären und dem Sekretariat gelten sollten 4). Diese Konkretisierung machte deutlich, daß als die entscheidende Frage die Stellung der Minderheit im Verfahren angesehen 1) Aufzeichnung Colban vom 12.6.1925 über ein Gespräch mit Los am gleichen Tag; VB 41/7727/43425. 2) Ebd. 3) Ebd.
Junghann: "Das Minderheitenschutzverfahren gen 1934, S. 168 ff.
4) 0.
vor dem Völkerbund"
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Tübin-
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1111
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1111
=de. Oberster Grundsatz war, daß sie nicht den Status einer Prozeßpartei besaß i.md somit auch keine einklagbaren Rechte hatte, sondern nur aus den Rechten der Ratsmitgli_eder Nutzen ziehen konnte. Die Konsequenzen, die sich aus diesem seit Einführung des Minderheitenschutzsystems geltenden Prinzip ergaben, 'Wl.ITden ni.m noch im einzelnen konkretisiert: Petitionäre hatten Anspruch auf nicht mehr als auf eine höfliche Bestätigung, daß die Petition im Völkerbi.mdsekretariat ordentlich eingegangen war. Um das Sekretariat zu einem solchen Akt zu bewegen, bedurfte es praktisch nur einer ausreichenden Adressierung. Mit der Mitteilung war aber keine Aussage darüber verbunden, ob die Petition auch nach den Kriterien der Ratsresolution vom 5, September 1923 als "annehmbar" eingestuft worden war und ein Untersuchungsverfahren einleiten konnte, Hierzu wie auch allgemein zum Schicksal der Petition gab das Völkerbundsekretariat dem Peti tionär keine Ausktmft. Auch bei Anfragen beschränkte es sich auf den Bescheid, daß die Eingabe gemäß der vom Rat dafür eingesetzten Prozedur behandelt werde, was ja auch für die negativ entschiedenen Fälle zutraf tm.d somit substantiell nichts besagte. Allerdings konnte das Sekretariat nach freiem Ermessen bei Petitionen, die den Kriterien über die Annehmbarkeit nicht genügten, gelegentlich zusätzliche Hinweise geben, so, wenn die Petition den Eindruck erweckte, daß ihr Absender diese Kriterien nicht kannte. In einem solchen Fall konnten ihm diese in Fonn einer Kopie des Ratsbeschlusses vom 5, September 1923 mitgeteilt werden, u.u. auch mit der ausdrlicklichen Feststellung, daß die Eingabe den formalen Bedingi.mgen nicht entspreche. Das äußerste Entgegenkommengegenüber dem Petitionär bestand darin, daß das Sekretariat, wenn es den Eindruck hatte, daß die Beschwerdeführer die Kriterien über die Annehmbarkeit zwar kannten, aber sich nicht bewußt waren, daß und worin ihre Eingaben diesen nicht genügten, die Absender auf unklare Punkte aufmerksam machte, Bezeichnend war dabei allerdings der Zusatz, daß dies nur i.mter größter Vorsicht geschehen dürfe, da das Sekretariat keine Befugnis habe, den Petitionären Ratschläge zu erteilen, wie sie ihre Sache vorbringen sollten, Das gleiche Prinzip, die Minderheit aus dem Verfahren auszuschalten, bestinonte auch die weitere Behandlung einer Eingabe: Das zur Prüfung des anstehenden Falls eingesetzte Dreierkomitee stand während der ganzen Zeit seiner Tätigkeit weder mündlich noch schriftlich in Verbindtmg mit den Petitionären, konnte aber von Fall zu Fall Vertretern der beklagten Regiertm.g die Möglichkeit einräumen, zusätzlich zu den schriftlichen Gegenbemerkungen ihren Standpunkt mündlich vorzutragen. VomUntersuchungsergebnis eines Dreierkomitees erfuhr die Minderheit nur dann etwas, wenn der Fall an den Rat weitergeleitet, wenn
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er also öffentlich und der Bericht des Dreierkomitees ebenso wie die Gegenbemerkungen der beklagten Regiertmg allgemein zugänglich wurden. Die Materialien und Informationen blieben der Minderheit aber in der ~hrzahl aller Fälle verschlossen. Denn nicht Ratsentscheidungen, sondern Klärung eines Sachverhalts durch ein Dreierkomitee waren der nonnale Vorgang. Somit bestätigte die Verfahrensordnung, wie sie im Hinblick auf die Aufnahme Deutschlands in den Völkerbund firiert wurde, den unsystematisch-zufälligen Charakter der Minderheitenschutzarbeit des Völkerbundes sowie das Vorwalten allgemeiner politischer Interessen. Noch inmer i.mgeklärt war die Grundfrage, worin der Inhalt der Garantiepflicht des Völkerbundes bestehe, ob diese sich in ad-hoc-Eingriffen erschöpfe oder als ständig zu praktizierende Aufgabe zu verstehen sei. Offenbar war jeder Versuch, den Minderheitenschutz durch besondere Instanzen, etwa Untersuchungskommissionen, zu intensivieren, dank der Kräfteverhältnisse im Völkerbund von vornherein Zt.Dll Scheitern verurteilt. Von "maßgebender Danziger Seite" im Herbst 1925 auf die Frage solcher Kommissionen angesprochen - es handelte sich dabei nicht einmal um die ständige Kommission - , erwiderte der Sekretär der amerikanischen Völkerbi.mdsliga Alley: "Das würde den Zusamnenbruch des Völkerbi.mdes bedeuten. Man niisse so •lange warten, bis der Völkerbund genügend gekräftigt sei, um eine solche Erschütterung auszuhalten •••• Er hätte die Frage ganz offen mit Herrn Colban erörtert, aber Herr Colban habe ihm denselben Bescheid gegeben, daß der Völkerbund eine derartige Belastungsprobe nicht vertragen könne. Es sei auch augenblicklich in Polen keine Regiertm.g ·denkbar, die die Zulassl.lllg einer solchen Untersuchungskommission gestatten könne, ohne sofort hinweggefegt i.md dann durch ganz nationalistische Elemente ersetzt zu werden111).
b) Die Grundsatzdebatte
zur Minderheitenfrage
im Vdlkerbi.md
Nicht zuletzt im Hinblick auf diese Realitäten wurde der Sinn des internationalen Minderheitenschutzes gelegentlich dahin gedeutet, daß er nicht bestinonte materielle Rechte habe erzwingen sollen, sondern daß er auf eine - durch die bloße Existenz der Verträge zu bewirkende - Annäherung von Minderheit 1.llld 1) In einem Brie~ des Danziger Gesprä?hspartners (der Name wird nicht genannt) an den Dirig. der Abt, IV des Ausw. Amts Dirksen vom 16.9.1925, von diesem an Bülow weitergeleitet, AA K 1764/K 431 826-831.
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Mehrheit, beider Konsolidierung in einer politischen Einheit und die Festi gung der politischen Verhältnisse abgezielt habe, wie sie die Friedensverträge geschaffen hätten 1~. Gewiß hatten sich die Schöpfer der Minderheitenschutzverträge an dem allgemeinen Ziel orientiert, die Stabilität ihrer Friedensordnung, vor allem im ostmitteleuropäischen Ral.Dll,zu sichern. Aber die minderheitenpolitische Realität war gekennzeichnet durch die Atmosphäre von Haß und Mißtrauen und die Methoden von Kampf und Unterdrückung, wenn auch nicht überall und innner gleich stark. Angesichts akuter Bedrängnis, der die Minderheiten Zl.Dll großen Teil ausgesetzt waren, gleichsam auf eine selbsttätige Wirkung der Minderheitenschutzverträge zu setzen, unter weitgehendem Verzicht auf konkretes Eingreifen, hieß den Minderheitenschutz zu einer Farce machen. M>glichkeiten, den Minderheiten zu ihrem Recht zu verhelfen, gab es immerhin, und praktische Beispiele dafür lassen sich auch anführen 2). Nur waren diese nicht dem Minderheitenschutz als solchem und einer effektiven Verfahrensordnung zuzuschreiben, sondern stark durch allgemeinere politische Faktoren (z.B. Rücksichtnahme auf bestimmte Staaten, allgemeine völkerbunds-
i!II
politische Erwägungen) bedingt. Infolgedessen war für die lvlinderheitenstaaten die bloße Existenz einer Verfahrensordnung, die unter bestimmten politischen Umständen immerhin fruchtbar gemacht werden konnte, ein ständiger Gegenstand der Kritik. Sie sahen in der Prozedur eine Ausweitung der eigentlichen Verträge und damit auch ihrer eigenen Verpflichtungen 3). In einem Gespräch mit Colban im Herbst 1925 äußerte der tschechoslowakische Außenminister Benesch, man dürfe nicht zulassen, daß die Tür zu weiteren Y.odifikationen offen bleibe, die die Lasten der ~.inderheitenstaaten vermehrten 4). Im einzelnen war er im Unterschied zur polnischen Regierung der jetzt fixierten Verfahrensordrumg gegenüber weniger kritisch, ja er hielt sie, wenn es schon eine solche geben mußte, für die bestmögliche. Die Diskussionen des Minderheitenproblems im Völkerbund vor dem Eintritt Deutschlands und im Hinblick auf ihn zeigten somit eine zweifache Tendenz: 1) In diesem Sinne Bagley, a.a.0., S. 107; vgl. auch F.P. Walters: of the League of Nations", London 1952, S. 405. 2) Vgl. die Behandlung der deutschen s. 265 ff.
Wahlterrorbeschwerde
"History
1930/31, unten
3) Aufzeichnung Colban über ein Gespräch mit Benesch am 27.9.1925 vom 29.9. 1925; VB 41/7727/47901. 4) Ebd.
- 47 Die Ratsmächte als die Garanten der :Minderheitenverträge
behaupteten
das be-
stehende System, das ihnen eine Art Suprematie über die vertragsgebundenen Staaten sicherte. Diese allgemeineren politischen Erwägungen gaben auch den Ausschlag, wenn sich die Großmächte auf der 6. Vollversammlung des Völkerbundes im September 1925 dem Antrag des litauischen Delegierten Galvanauskas widersetzten, eine Kommission zur Ausarbeitung eines Entwurfs für ein allgemeines Minderheitenschutzabkonmen einzusetzen 1). Eine solche Generalisierung, die als Geste den Minderheitenstaaten gegenüber von den Erfordernissen des Minderheitenschutzes her durchaus ihren guten Sinn hätte haben können, wäre in gewisser Hinsicht eine Egalisierung von Minderheitenstaaten und Großmächten gewesen und entsprach nicht den Vorstellungen, die letztere von der europäischen Ordnung hatten. Als Begründung für die ablehnende Haltung der Großmächte diente das Argument, eine Ausdehmm.g der Vertragsverpflichtungen auf bisher nicht vertragsgebundene Staaten führe dazu, daß sich in diesen Staaten Gruppen mit Anspruch auf Anerkenrumg als Minderheiten regen würden, die sich vorher gar nicht als Minderheiten empfunden hätten. Zl.Dll andern zeigte sich, besonders bei den Erörterungen der Prozedur, die Tendenz, die Minderheitenfrage als praktische Aufgabe vom Völkerbund möglichst fernzuhalten und mehr auf eine allgemeine evolutionäre Entwicklung zu setzen, in der das Minderheitenproblem
gleichsam von selbst
gelöst werden würde.
Dieser Zug wurde in der Diskussion über die Minderheitenfrage auf der Tagung des Völkerbundsrats am 9. Dezember 1925 besonders deutlich 2). Der brasilianische Delegierte .Mello Franco gab dort im Anschluß an seinen Bericht über die Verhandlungen der Vdlkerbundsversammlung "in seiner Eigenschaft als Rapporteur" "persönliche Erklärungen" grundsätzlicher Art ab, die großes Aufsehen erregten und heftigen Widerspruch erfuhren. Mello Franco hatte diese Rede allein aufgesetzt und das Vdlkerbundsekretariat, das einer späteren Bemerkung Colbans zufolge mit ihrem. Inhalt nicht einverstanden war, nicht mit der Vor~reitung befaßt 3), dennoch wurde die Erklärung als eine ztmri.ndest dem Geist des Völkerbundes entsprechende Iwndgebung verstanden. Der Rapporteur definierte zunächst, was unter Minderheit im Sinne der Verträge zu verstehen sei, und stellte die These auf, daß das Kriterium. etlmischer Verschiedenheit nicht ausreiche, um einer Bevölkerungsgruppe den Schutz des Völker1) Journal
0fficiel
VII, S. 286 f.
2) Ebd., S. 138; Kraus, a.a.0.,
S. 226 ff.
im Ausw: Amt Schubert über ein Gespräch 3) Aufzeichnung des Staatssekretärs mit Colban v.· 29;1.1929, AA K 1764/K 432 561-2.
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bundes zu gewähren. Vielmehr bedürfe es, um.eine Minderheit im Sinne des Völkerbundssystems zu konstituieren, zusätzlicher historischer Faktoren: Sie müsse das Produkt von Nationalitätenkämpfen und der Übergabe bestinunter Territorien von einer So~eräni tät an eine andere sein 1) • Diese Argumentation diente natürlich dazu, die Absage an alle Generalisierungstendenzen zu be kräftigen. Schwerwiegender, zumindest fragwürdiger, waren die .Äußerungen, die ~!ello Franco über die Aufgabe des internationalen Minderheitenschutzes machte: Diese bestehe nicht darin, innerhalb bestinunter Staaten Bevölkerungsgruppen zu schaffen, die sich selbst als dauernd fremd gegenüber dem "allgemeinen Organismus der Nation'' empfänden, sondern sei die Herstellung der Bedingungen, die für den Aufbau völliger nationaler Einheit ("1' 6tablissement de la complete unit6 nationale") nötig seien 2). Von diesem Ausgangspunkt wandte sich Mello Franco gegen "übertriebene Vorstellungen" von einer MinderheitenAutonomie, durch die die Minderheiten möglicherweise zu "Elementen der Zersetzung des Staates und der nationalen Desorganisation'' würden3). Diese Erklärung erhielt ihr Gewicht und einen offizielleren Charakter dadurch, daß nach Mello Franco der britische Außenminister Charnberlain eine Stellungnahme abgab, in der er die Auffasstmg seines Vorredners nachdrücklich unterstützte und seinerseits die Funktion des internationalen ~linderheitenschutzes damit erklärte, daß er den Minderheiten das Maß an Schutz und Gerechtigkeit geben solle, durch das sie schrittweise vorbereitet würden, in die nationale Gemeinschaft hineinzuwachsen i.md in ihr aufzugehen, zu der si~ gehören (''to be merged in the national coomn.mityto which they belong"). Im gleichen Sinne äußerten sich anschließend auch Benesch und der belgische Delegierte Hymans4). Von besonderer Tragweite waren diese Erklärungen deshalb, weil sie als letztes Ziel des Minderheitenschutzsystems die "nationale" Assimilation zu postulieren schienen.Der bloße Wortlaut erlaubte iedoch auch eine andere Interpretation. Denn der in den Erklärungen verwandte französische (bzw. englische) Begriff "nationale" hatte nicht dieselbe Bedeutung wie das deutsche Pendant, i.md 1.1unit6 nationale" bzw. "national coomn.mity" konnte auch im Sinne einer politischen Einheit .ohne Beeinträchtigung nationalkultureller Besonderheiten verstanden werden. 1) Kraus, a.a.O., 2) Ebd., s. 236. 3) Dgl. 4) Ebd.,
s.
243.
s. 233.
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Angesichts dieser Doppeldeutigkeit bemühte sich die deutsche Regierung, nicht zuletzt, da diese Erklärungen allen Kritikern einer aktiven deutschen Vdlkerbundspolitik recht zu geben schienen, um eine authentische Interpretation, Am 30. Januar 1926 leitete ·der deutsche Konsul in Genf Aschmann dem Auswärtigen Amt eine von einem Mittelsmann übernonunene angebliche Erläuterung Mello Francos zu, in der dieser· seine Rede vor dem Völkerbtm.dsrat dahin interpretierte, er habe lediglich die loyale Mitarbeit der Minderheit an staatsbürgerlichen Aufgaben ihres Staates, nicht aber deren völliges Aufgehen in diesem als Ziel des internationalen Minderheitenschutzes bezeiclmet 1). - Angesichts der Schwierigkeiten, in die sich die deutsche Regierung ~eh die Dezember-Ratst!'lgung gebracht sah, glaubte sie sich freilich mit dieser Infonnation aus zweiter Hand nicht b:egnügen zu dürfen und bemühte sich um eine authentische Interpretation, mit der den ungünstigen Reaktionen in der deutschen öffentlichkeit begegnet werden konnte. Deshalb ersuchte lias Auswärtige Amt die Botschaft in Rom,eine Unterredung dortiger Korrespondenten deutscher Zeittm.gen mit dem in Rombefindlichen Mello Franco in die Wege zu leiten, in der diesem Gelegenheit gegeben werden sollte, eine Erläuterung in dem Sinne abzugeben, wie sie der Genfer Gewährsmannwiedergegeben hatte. Mello Francos Antwort war ebenso kurz wie bemerkenswert: Er sei zur Erläuterung seiner Ausführungen vor deutschen Journalisten nicht bereit. ,;Wie seine Worte gemeint gewesen, könne man aus den Akten des Völkerbtm.ds in Genf ersehen 112) • Auch die britische Seite äußerte sich auf deutsche Anfragen Chamberlains Dezember-Erklärung betreffend unverbindlich. Bei Gesprächen mit Vertretern des Foreign Office konnte das Mitglied der deutschen Botschaft in London Dufour vor allem die Sorge beobachten, ja "in allen möglichen privaten, politischen und diplomatischen Kreisen - man könnte beinahe sagen - Angst vor unserem Eintritt in den Völkerh1m.d in der Annahme, daß, kaum eingetreten, wir sofort beginnen werden, Beschwerden und l\ünsche hervorzubringen, die nichts weniger als bequem wären, derart, daß die Vermutung bestände, daß wir kaum als Mitarbeiter, vielleicht nur als Störenfriede zu betrachten sein würden113) • Von einer solchen Politik erwartete die britische Seite Gefahren für "stability and 1) Aschmann an AA (ganz geheimes Telegr,)
v. 30,1.1926;
AA K 1764/K 431 942.
2) Erlaß des Leiters des Sonderreferats Völkerbund im Ausw. Amt Bülow vom 2.2. ·19"26, AA K 1764/K 431 943; Neurath (Dt. Botschafter in Rom) an AA (Tel.) vom 10.2.1926, AA K 1764/K 432 099. 3) Duf'our an Bülow am 5.1.1926, AA K 1764/K 431 912-17;
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peace of Europe ••• not to mention the authority of the League111). Chamberlain selber gab dem deutschen Botschafter Sthamer in einem Gespräch am 4. Februar 1926 eine ausführlichere Erläuterung seiner Rede, die er zugleich als verbindlich für die amtliche britische Politik bezeichnete 2). Als Aufgabe der Minderheitenschutzverträge nannte Chamberlain die Vorbereitung eines Ausgleichszustandes, in dem die Pflichten von Minderheiten und Regierungen sich in einem abgewogenen Verhältnis zueinander befänden. So wie diese ihre Minderheiten mit Gerechtigkeit und Großzügigkeit behandeln müßten, die einen Appell an den Völkerbund überflüssig machten, so sei es im Interesse der Minderheit und auch ihre Pflicht, ihre Beschwerden zunächst der eigenen Regierung direkt vorzutragen und den Völkerbund nur als letztes Mittel zu benutzen, wenn alle Verhandlungen mit der Regierung fehlgeschlagen seien. Es mußte befremden, daß sich Chamberlain damit zu einem Grundsatz bekannte, der vor allem in den polnischen Vorschlägen inuner wieder eine große Rolle gespielt hatte, für eine formelle Verfahrensmodalität aber auf Ablehnung gestoßen war. Indem Chamberlain dieses Prinzip in Empfehlungen und moralische Appelle kleidete, konnte er ihm im gewissen Sinne doch eine Art von innerer Verbindlichkeit geben. An die Adresse Deutschlands
~
rn
gab Chamberlain eine deutliche Warnung: Wenn es als Stamm.landbestinunter Minderheiten die Minderheitenfrage benutze , um Gefühle der Unsicherheit im Hinblick auf die politische Ordnung zu wecken, oder sich ihrer als Instrunent für eine künftige Revolution bediene, müßten die ersten Opfer dieser Politik die Minderheitsangehörigen selber sein. Eine solche Politik rechtfertige nicht nur, sondern zwinge geradezu zu Mißtrauen und Unterdrückung aufseiten der betreffenden Regierung, sie paralysiere schließlich jegliche Aktion des Völkerbundes selber. Als Verhaltensmaßregel für die Behandlung dieser heiklen Fragen im Völkerbund empfahl Chamberlain der deutschen Regierung stattdessen, zunächst überhaupt Zurückhaltung zu üben, die Minderheitenfrage tunlichst nicht aufzugreifen und dafür die Zusanunenarbei t mit anderen Völkerbundsmitgliedern in weniger delikaten Fragen 1) Aufzeichnung M.W. Lampson (Leiter der Europa-Abteilung des Foreign-Office) über ein Gespräch mit dem deutschen Geschäftsträger (am 29.12.1925) vom 30.12.1925, F.O. 371/W 11936/4965/98. 2) Wiedergabe des Gesprächs im Brief Chamberlain an den brit. Botschafter in Berlin Lord d 1Abernon vom 4.2.1926; "Documents on British Foreign Policy" Ser. 1 A, vol. 1, S. 397 ff.; auch: Sthamer an AA (Tel.) vom 4.2.1926, AA 3147 H/D 655 916-918.
- 51 zu suchen. Erst wenn auf diese Weise gute persönliche Beziehungen mit anderen Delegationen geknüpft und ein Geist des guten Willens hergestellt seien, solle Deutschland gegebenenfalls Minderheitenfragen zur Sprache bringen. Ninunt man diese Erläuterungen
hinzu, so wäre es sicher eine Fehlinterpretation, wollte man den Reden auf der Ratstagung im Dezember 1925 die These von der nationalkulturellen Assimilation der Minderheiten unterstellen. Im Grunde war aber die philologische Frage, was unter "unit6 nationale" zu verstehen sei, unerheblich. Wichtiger war, daß. die Redner, wie die nachträglichen Interpretationen bestätigten, die Bedeutung des internationalen Minderheitenschutzes - in eindeutiger Richtung gegen Deutschland - in einschränkendem Sinne interpretierten, den Vdlkerbund nur als letzte Zuflucht gelten ließen, und daß sie dabei mißverständliche Fonnulierungen gebrauchten, die sehr beunruhigend wirkten, Insofern bestätigten Melle Francos Weigerung, eine authentische Interpretation abzugeben, und auch die unverbindlichen Erläuterungen Chamberlains DEhr als die Dezember-Erklärungen selber die gegen einen aktiven l,f:i.nderheitenschutz gerichteten Tendenzen im Völkerbund, nahm man es doch offenbar bewußt in Kauf, daß der Minderheitenschutzgedanke ins Zwielicht geriet. Mißverständlich war auch Melle Francos inhaltliche Interpretation des· Begriffs Minderheitenschutz. Wenn er darunter die Unverletzlichkeit der Personen unter allen Aspekten ("l'inviolabilit6 des personnes sous tous les aspects") verstand, so konnte diese Deutung im Sinne eines bloßen Schutzes des Individuums verstanden werden, bei dem die darüber hinausgehenden Sonderrechte wie Gebrauch der J.1,,Juttersprache, Einrichtung eigener Schulen etc. unberücksichtigt blieben. Der Begriff "unit6 nationale" ließ sich demzufolge dahin deuten, daß ~fehrheitsbevölkerung und Minderheit zwar das gleiche Maß an persönlichem Schutz genießen, daß diese aber ihre nationalen Besonderheiten allmählich zwecks Herstellung "nationaler" Einheit aufgeben sollte. Nicht nur· bei den direkt Betroffenen, sondern auch auf neutraler Seite riefen die Erfahrungen mit dem Genfer Minderheitenschutz Enttäuschung hervor, So schrieb das "Berner Tageblatt" Anfang 1926 in einem Leitartikel, ausgehend von Chamberlains Rede, "daß der Geist von Genf und der Geist von Locarno nichts anderes sind als der Geist von Versailles in etwas veränderter, aber leicht wiederzuerkennender Gestalt" 1) • Dieser Eindruck war weitverbreitet, zumal das Wort von der "nationalen Assimilation" noch jahrelang offiziell 1) Zit. in Tel. Müller (Deutscher Gesandter in Bern) an AA vom 22.1.1926, 4555 H/147 333-335,
AA
- 52 rmwidersprochen im Ral..llilstand und al!s für den Völkerbund maßgebliche Äußertmg aufgefaßt wurde. Auf der Völkerbundsversannnlung im September 1927 griff der tmgarische Delegierte G_rafApponyi die umstrittenen Äußenmgen auf und wandte sich gegen alle Deuttmgen im Sinne des "Verschwindens des Rassen- lIDd Kulturcharakters, Ersetzung eines plötzlichen Todes durch einen langsamen" und äußerte die überzeugtmg, daß man damals lediglich an die "politische Absorption" gedacht habe, an die "loyale Erfüllung aller Pflichten der Bürger gegen den Staat". Als Charnberlain nickte, stellte Apponyi diese Geste als "Zeichen des Einverständnisses von autoritativer Stelle" hin, daß er mit seiner Auslegtmg das Rechte getroffen habe 1). Chamberlain selber aber mochte sich erst 1929 verbindlich äußem, nicht aus spontanem Antrieb, sondern im Zeichen ei ner veränderten Situation, die durch die deutsche Minderheitenpolitik hervorgerufen war2).
111
1) Erler: 2) S.u.
"Das Recht der nationalen S. 199.
Minderheiten",
S. 459.
- 53 -
II. Teil: Die Minderheitenfrage in der deutschen Politik
1919 - 1925
1. Unterstütztmg des Deutscht= in den abgetretenen Gebieten als erste Aufgabe deutscher Minderheitenpolitik Der Erste Weltkrieg machte das Minderheitenproblem nicht allein auf Grund der territorialen Verändertmgen ZlllllThema für die deutsche Politik 1). Gewiß ergab sich für sie zuerst und unmittelbar in den abgetretenen Gebieten eine Berührung mit der Minderheitenfrage, waren hier doch ehemalige Reichsangehörige durch den Willen der Sieger zu Minderheiten in einem fremden Staat geworden. Es war verständlich, daß das Interesse des Reiches für diese "Grenzdeutschen" im Vordergnmd stand, da ihnen gegenüber das Bewußtsein, es mit Angehörigen desselben Volkes zu tun zu haben, natürlich besonders ausgeprägt war, Daneben trat aber überhaupt ein neues geistiges Verhältnis ZlllllMinderheitenproblem, konkret ein neues Verständnis für das Auslandsdeutschtlllll auch außerhalb der ehemaligen Reichsgrenzen, das durch das Erlebnis des Krieges geweckt worden war2). Die Vorkriegszeit hatte das Problem des Auslandsdeutschtums, jedenfalls als ein in die Breite wirkendes Problem, nicht gekannt. Der Ausgang des Weltkriegs brachte in dem Verhältnis Inland - Auslandsdeutschtlllll einen großen lhnschwung,weil der Krieg nicht nur eine Auseinandersetzung zwischen Staaten war, sondern "in seiner breiten Ausdehnung ein Volks- l.llldVölkerkrieg an allen Enden der Welt wurde113). Mit der Niederlage des Deutschen Reiches war somit auch eine Schwächungdes Auslandsdeutschtl..llilSverbunden, ja die Gefahr bestand, "daß das deutsche VolkstlllllSelement im Schmelztiegel fremder Nationalitäten verschwand, daß Vinetas Glocken nur von ferne noch alte Melodien artverbundenen Zusammenhangsläuteten. Als Totenklage" 4), Die Antwort auf diese Krise war auf seiten der Auslandsdeutschen ein stärkeres Heranrücken an das Mutterland, im Inland ein neues inneres Verhältnis Zlllll Auslandsdeutschttun, zunächst aber jedenfalls ein breiteres Interesse, das z, B. in der Gründtmgvon Vereinen oder im Bereich der Publizistik seinen Nieder1) W. Hagemann: "Die Minderheitenfrage in der deutschen Festschrift G. Schreiber, Köln 1932, S. 395 ff, 2) G. Schreiber: "Sinn und Sendung des Auslandsdeutschtwns", heit. Deutsche Freiheit", Berlin 1929, S. 204 ff. 3) Theodor Heuss in der Reichstagssitzung am 15.6.1925; Reichstags, Sten.Ber. Bd. 386, S. 2302.
4) Schreiber,
a.a.0.,
S. 205.
Außenpolitik", in:
in:
"Deutsche
Verhandlungen
des
' Ein-
·- 54 -
schlag fand. über dem stand der durch ein gemeinsames Schicksal
neu empfunde-
ne Wert des VolksttnnS. Theodor Heuss gab diesem Bewußtseinswandel 1925 in einer Reichstagsrede Ausd:t1clc, in der er, kurz nach der Einweihung des "Haus des Deutschtums" in Stuttgart, die dort offenbarte "neue Gefühlswelt" hervorhob, die in die Vorkriegszeit nicht hineinzudenken sei. "Sie ist einer der wenigen Gewinne, die in und aus unserer Not uns zuwuchsen. • • • Neben das 'Staatsbürgertum' tritt, nach einem schönen und Ulllfassenden Wort, das 'Volks-
da dynastische Bindungen und Ri.iclcsichten gefallen sind ••• , kann nicht mehr gesagt werden, wie Wilhellll II. in Budapest gesagt hat: Die Deutschen jenseits der Leitha gehören Ungarn. Nein, die Deutschen auch jenseits der Leitha gehören dem deutschen Volke in dem sie verbindenden kulture~len und geistigen Sinne 111 ).
bürgertum'.
Jetzt,
Es wäre freilich telbar
anzunehmen, daß dieses
in den Bereich der Politik
reichsdeutschen besser·
falsch
Staatsbewußtsein
die Ergänzung des ersteren
geistige
umgesetzt hätte.
Erlebnis
sich tmmit-
Die innere Wandlung vom
zum gesamtdeutschen Volksbewußtsein, durch das zweite,
komite ihrer
oder
Natur nach
nur ein längerer Prozeß sein, der auch nicht überall mit gleicher Intensität vonstatten ging. Es ist in diesem Zusammenhangsicher nicht ohne Zufall, daß, als in den Jahren 1925/26 das Minderheitenproblem auch den Reichstag beschäftigte, ein besonders starkes Bekemitnis zum Auslandsdeutschtum die Redner der Parteien ablegten, die aus Gründen ihrer politischen Anschatn.lllg dem alten Reich kritisch gegeniiberstanden 2). Namentlich in den ersten Jahren nach dem Krieg waren Stimmen, die auch eine Neuorientierung der deutschen Politik auf dem Gebiet der Minderheitenfrage forderten, vereinzelt, So sprach in der Sitzung der Nationalversammlung am 3. März 1919 der deutschdemokratische Abgeordnete Dr. Schücking bei der Beratung über den Entwurf der Reichsverfassung
vom
"Naturrecht" des Minderheitenschutzes und kritisierte die frühere preußisch-. deutsche Minderheitenpolitik, deren Ablösung durch einen wirksamen Rechtsschutz für die nationalen Minderheiten in Deutschland er im Interesse des AuslandsdeutschttnnS forderte 3). In ähnlicher Weise äußerte sich in der Nationalversammlung am 26. Juli
1919 der Sozialdemokrat
der deutschen Republik hat ein oberstes
Wels: "Die auswärtige
Gesetz, das heißt,
Politik
den Schutz der na-
1) Theodor Heuss in der Reichstagssitzung vom 15.6.1925, a.a.O. 2) So z.B. die Redner der Deutschen Demokratischen Partei bei den Reichstagsdebatten Über Locarno, s.u. S.110 f.; vgl. auch Hagemann, a.a.O., s. 397 f. 3) Verhandlungen der Nationalversammlung, Sten.Ber. Bd. 326, S. 477,
- 55 -
tionalen
Minderheiten
sobald als möglich zur Weltsache zu machen1) • Beiden
Rednern war gemeinsam, daß sie,
ausgehend von der für Deutschland neuen min-
derhei tenpoli tischen
eine neue Konzeption für den Minderheiten-
Situation,
schutz als Aufgabe deutscher
Politik
Vorherrschend war aber eine karitative
forderten. Einstellung,in
früher schon betriebenen Deutschtumspflege, fühlswerten erfüllt, erheblich intensiviert derheitenfrage
Tradition
zu einer auch
die nun allerdings, mit neuen Gewurde. Diesem Verhältpis zur Min-
gab z.B. Stresemann Ausdruclc, der bei der Debatte in der Na-
tionalversammlung über den Verfassungsentwurf die Aufnahme einer klaren Bestimmung zum Schutz der Deutschen im Ausland forderte 2). Wie wenig dies aber als eigentlich
minderheitenpolitisches
schon daran, daß Stresemann offenbar
Programm anzusehen war, zeigte Reichsdeutsche
sich
im Ausland., die ja nicht
zu den nationalen Minderheiten zählten, und die eigentlichen Minderheiten begrifflich vennengte. Oberhaupt darf man die Bekenntnisse zum Schutz des bedrängten Deutschtums nicht als im eigentlichen Aussagen werten, sahen sie in den Minderheiten tische
Größen, sondern nur Objekte reichsdeutscher
nicht von ungefähr, Minderheitenpolitik teidigte.
Sinne minderheitenpolitische doch nicht eigenständige poliFürsorge.
So konnnt es
daß Stresemann in der eIWähnten Rede die alte
gegenüber den fremdnationalen
Auch sie hatte,
deutsche Volksgruppen im Reich ver-
namentlich begründet durch das staatliche
Denken
Preußens, für den Eigenwert nationaler Minderheiten, für das Recht fremden Volkstums im Grunde kein Verständnis gehabt. An dieser Grundlinie der amtlichen deutschen Politik änderte sich nach dem Kriege ztmächst nichts, wofür allerdings die als enttäuschend empfundene Regelung des Minderheitenproblems auf der Pariser Friedenskonferenz mit verantwortlich gewesen sein dürfte. Die Bemerkungen der deutschen Friedensdelegation ten einen Passus enthalten,
zu den Friedensbedingungen
in dem Deutschland,
Rechte an die deutschen Minderheiten,
hat-
gegen Zusicherung derselben
seine Bereitschaft
erklärte,
den Minder-
heiten auf seinem eigenen Gebiet• Pflege der eigenen Art zu ermöglichen, ja auch kulturelle Autonanie auf Grund nationaler Kataster einzuräumen 3). Bemerkenswert daran ist, nem Verständnis
daß es in der amtlichen
der Minderheiten
"nationale
Minderheiten"
nach der Friedenskonferenz
1) Ebd., Bd. 328, S. 1986. 2) Ebd., Bd. 326, S. 495, 3) Zit. bei Kraus, a.a.O.,
Ansätze zu ei-
als autonomer Gebilde schon früh gab,
schon in der Vezwendung des Begriffs fand. Diese Ansätze aber traten
deutschen Politik
S. 42.
was
seinen Ausdruck
wieder zurüclc
- 56 -
und machten der traditionellen Minderheitenpolitik Platz, gegenüber den deutschen Minderheiten im Ausland ebenso wie auch im Verhältnis zu den fremdstämmigen Minderheiten in Deutschland. Gerade bei Regelung des innerdeutschen :r,,finderheitenproblems im Zusammenhang mit der deutschen Reichsverfassung wurde dieses traditionelle Element, das Fehlen einer eigentlich minderheitenpolitischen Konzeption bis ins Begriffliche hinein deutlich. Der Verfassungsentwurf sah eine Bestimmung zum Schutz der Minderheiten in Deutschland vor, faßte diese aber nicht unter dem Begriff ."nationale Minderheiten", sondern als "fremdsprachige Volksteile" zusammen. Damit wurde ein äußeres Charakteristiluun als allein maßgebendes Kriterium festgelegt, was zugleich bedeutete, daß einige Volksgruppen von dem Anspruch auf Schutz ihrer Sonderart ausgeschlossen blieben. Gegen diese Schematisienmg war in der Nationalversannnlung ein Antrag eingebracht worden, den Begriff "fremdsprachige Volksteile" durch "nationale Mi.nderheiten" zu ersetzen 1). Der tmabhängige Sozialdemokrat Dr. Cohn, der vor allem den Schutz des jüdisch-national eingestellten Teils der Juden in Deutschland im Auge hatte, kritisierte während der Aussprache die preußische Staatspraxis, die nur die Sprache als KeilllZeichen der Zugehörigkeit zu einer Nationalität gelten lasse, und verwies dabei auf die deutschen Gegenvorschläge zum Völkerbundsentwurf, in denen sich die deutsche Regierung, ähnlich wie in den Bemerkungen der Friedensdelegation, zu einem "nationalen Eigenleben" der Minderheiten, "insbesondere in Sprache, Schule, Kirche, Ktmst, Wissenschaft und Presse" bekannt habe 2). Cohn hielt ein solches umfassendes Verständnis vom Wesen einer Minderheit auch vom auslandsdeutschen Interesse her für geboten: Nicht als fremdsprachige Volksteile, sondern als nationale Minderheiten würden die auslandsdeutschen Volksgruppen sich behaupten können. In diesem Zusammenhang fonnulierte er den Gedanken einer Wechselwirkung zwischen innerdeutschem Mi.nderhei tenschutz und Schutz der Deutschen im Ausland: Deutschland dürfe unter keinen Umständen seinen eigenen Nationalitäten weniger geben, als es für die deutschen Minderheiten verlange. - Cohns Antrag traf jedoch bei der Reichsregienmg auf Widerstand und wurde in der Abstimmung durch die Nationalversannnlung abgelehnt.
1) Verhandlungen
der Nat.Vers.,
2) Ebd., S. 1571 ff.
Sten.Ber.
Bd. 328, S. 1497.
- 57 -
Art. 113 der Reichsverfassung hielt am Begriff "fremdsprachige Volksteile des Reiches" fest und bestimmte, daß diese durch Gesetzgeb1.mg und. Verwalt1.lllg "nicht in ihrer freien, volkstümlichen Entwicklung, besonders im Gebrauch ihrer Muttersprache beim Unterricht,sowie bei der inneren Verwalt1.mg und der Rechtspflege beeinträchtigt werden'' dürften. In seiner praktischen Bedeut1.mg besagte dieser Artikel sehr wenig und war deshalb alles andere als das Zeichen eines neuen Verständnisses der Minderheitenfrage auf amtlicher deutscher Seite. Offen blieb, welche Volksteile des Reiches als "fremdsprachig" gelten sollten, was 1.mter "freier volkstilmlicher Entwicklung" zu verstehen war, und unter welchen Voraussetzungen die Fremdsprachigen von den öffentlichen Behörden und Anstalten den Gebrauch ihrer Muttersprache verlangen durften. Insofern war Art. 113 nur eine Richtschnur für den Gesetzgeber, eine grundrechtliche Nonn, die zu tmbestimmt war, als daß ihr Vollzug ohne Ausfühnmgsgesetze möglich gewesen wäre 1) • Da diese Gesetze ausblieben, hatten alle früheren Regelungen zu dieser Materie weiterhin Gesetzeskraft, z.B. die, wonach der Verkehr mit allen Behörden und politischen Körperschaften des Staates ausschließlich in deutscher Sprache stattfand. Selbst dann also, wenn frühere die Materie des Art. 113 betreffende Gesetze mit diesem Artikel nicht in Einklang standen, waren jene alten Vorschriften für Gesetzgebung und Verwaltung maßgebend. Aktuelles Recht war Art. 113 nur in den Bereichen, die nicht durch Gesetze geregelt waren, sondern in denen die Behörden nach freiem Ennessen handeln durften. Dieses Ennessen durfte dann nicht in einer den Gnmdsätzen des Art. 113 zuwiderlaufenden Weise ausgeübt werden. Im Bereich der Innenpolitik
wie auch außenpolitisch bewegte sich die 1919 eingeleitete deutsche Nationalitätenpolitik somit zunächst in traditionellen Bahnen. Angesichts dessen hat das Urteil des deutschbaltischen Minderheitenführers Paul Schiemann gewisse Berechtigung, der einige Jahre später schrieb, das amtliche Deutschland, vor allem Preußen, habe der Tatsache, daß viele Millionen Volksgenossen Minderheiten wurden, "ideologisch ziemlich ratlos gegenübergestanden", "kaum in der Lage, sie anders zu betrachten als eine Frage der gewaltmäßigen Grenzänderung, die eben nur durch eine neue Grenzziehung wiedergutgemacht werden könne112). 1)
s.
dazu den Y..ommentar Gerhard Anschütz: "Die Verfassung ches vom 11.8.1919", Berlin 1933, S. 542 f.
2) P. Schiemann: "Die Spaltung Staat 1, S. 158 ff.
im Nationalitätenkongreß",
des Deutschen in:
Nation
und
Rei-
- 58 -
Die deutsche Minderheitenpolitik nach dem Kriege äußerte sich vor allem in Maßnahmen, die sich mit dem Bewußtsein einer verlängerten Fürsorgepflicht des Reiches seinen ehemaligen Untertanen gegenüber erklären ließen. Woes sich in diesen ersten Nachkriegsjahren um das Auslandsdeutschtum als Aufgabedeutscher · Politik handelte, war zuerst das Deutschtum in den abgetretenen Gebieten gemeint. Das Betätigungsfeld dieser Politik läßt sich noch mehr eingrenzen: Sie erstreckte sich nicht imterschiedslos auf alle einer fremden Staatshoheit unterstellten ehemals reichsdeutschen Bevölkerungsgruppen, sondern konzentrierte sich auf die deutsche Minderheit in Polen, genauer im Korridor, in Posen und in Oberschlesien. Dellll hier wurde die Grenzziehung als besonders unsillllig und tmgerecht empfunden, tmd die in diesen Gebieten lebenden Deutschen galten als Bevölkerungsreserve für eine spätere Grenzkorrektur. Akuter auch als in anderen Gebieten tmd direkter als bei anderen ~fi.nderheiten war hier das Reich betroffen. Durch eine enge Auslegung der Minderheitenschutzverträge, durch Verwaltungsmaßnahmen oder auch durch bloßen Terror bemühte sich die polnische Verwaltung, den Kreis der Deutschen, die im Lande bleiben durften tmd Anspruch auf Minderheitenschutz hatten, einzugrenzen, sie, soweit sie zur eigentlichen Minderheit gehörten, zur Option für Deutschland zu veranlassen oder ihrer wirtschaftlichen Existenzgrundlage in Polen zu berauben. Es wurde deshalb geradezu von einem "Entdeutschungssystem" gesprochen, durch das der polnische Staat den deutschen Bevölkerungsanteil bis 1921 bereits um 54,Z,bis 1926 um 69% gegenüber der deutschen Bevölkerung von 1910 herabgedriickt hatte 1). In dieser Politik äußerte sich der von den Vertretern aller politischen Richtungen in Polen, die Komnnmisten ausgenommen, vertretene ausschließliche Besitzanspruch des polnischen Volkes auf den polnischen Staat, wie er in dem im Oktober 1919 verkündeten "Posener Programm" des Vorsitzenden des außenpolitischen Parlamentsausschusses und späteren Kultusministers Grabski fonnuliert wurde: "Wir wollen unsere Beziehi.mgen auf die Liebe stützen, aber es gibt eine andere Liebe für die Landsleute tmd eine andere für die Fremden•. Ihr Prozentsatz bei uns ist entschieden zu groß. • • • Das fremde Element wird sich umsehen müssen, ob es sich anderswo besser befindet. Das polnische Land ausschließlich für die Polen! 112). 1) S. H. Rauschning: "Die Entdeutschung vor allem S. 338 ff.
Westpreußens und Posens 11 , Berlin
1930,
2) Ebd. , S. 45; auch: G. Rhede: "Das Deutschtum in Posen und Pommerellen in der Zeit der Weimarer Republik", in: "Die deutschen Ostgebiete zur Zeit der Weimarer Republik", Köln 1966, S. 96 f.
- 59 -
Die durch die polnischen MaßnahmenVerdrängten suchten Zuflucht im Reich 1.md bildeten ein ernstes Problem für die illlleren Behörden. Schon deshalb also verdiente die deutsche Minderheit in Polen bevorzugte Aufmerksamkeit in der deutschen Politik. Der Schutz der deutschen Minderheit in den an Polen abgetretenen Gebieten bedeutete konkret, die Abwanderung oder Ausweisung der Deutschen ins Reich zu verhindern tmd Bedingungen zu schaffen, die ihnen ein Ausharren in Polen ermöglichten. In diesem Silllle war die deutsche Außenpolitik nach 1919 bewußt tmd entschieden vom Prinzip der Intervention zugunsten der deutschen Minderheit bestinmt. Eine solche Politik war, abgesehen von weiterreichenden politischen Kombinationen wie einer Grenzrevision, schon vom ,mmittelbaren Reichsinteresse her geboten. Dellll der Schutz der deutschen Minderheit in Polen stand in engem Zusanunenhangmit der Sicherung des deutschen Ostraums. Ein am 5. November 1920 im Auswärtigen Amt vorgelegter Bericht über die Verhältnisse in Porranerellen hob diesen Gesichtsptmkt besonders deutlich hervor 1). Er führte ztlllächst die Gründe auf, die zur "Auswanderungsepidemie" geführt hätten: das Gefühl allgemeiner Rechtsunsicherheit, die wirtschaftlichen tmd sprachlichen Schwierigkeiten, das Abgeschnittensein von der alten Heimat, nicht zuletzt das psychologisch begründete schmerzliche Bewußtsein bei den Deutschen in Polen, daß sie nur geduldet wurden, wo sie einst Herren waren, tmd warnte vor den bei Fortsetzung dieser Entwickltmg zu erwartenden Konsequenzen: "Hilt die deutsche Auswanderung an, so würde die Reihe des Deutschtums so gelichtet, daß der Schutz der deutschen Minderheit kaum noch durchzuführen sein wird. Alle weitergehenden Hoffmmgen, eine Verbindungsbrücke zwischen Ostpreußen imd dem Reich zu schaffen, müßten endgültig begraben werden. Hierdurch entsteht auch ernsteste Gefahr für eins der treuesten imd schönsten Länder deutscher Kultur, für Ostpreußen; denn daß Ostpreußen sich allein in der slawischen Flut halten wird, ist kaun anzunehmen". Damit war ein allgemeinerer politischer Gesichtspunkt genannt, der für die deutsche Minderheitenpolitik nicht nur, solange die endgültige Grenzregelung noch offen stand, von großer Bedeutung war. Auch in den auf die Abstinmnmg folgenden Jahren der Konsolidierung bestand auf deutscher Seite große Sorge un das Schicksal der abgeschnittenen Provinz Ostpreußen. Dafür war nicht zuletzt eine polnische Publizistik verantwortlich, die imverhüllt Ansprüche Polens auf Ostpreußen erhob tmd, um die polnische ''Wiedergeburt" Ostpreußens zu 1) Ohne Verfasserangabe;
AAL 682/Bd. 3.
- 60 erreichen,
auf die nichtdeutsche
Bevölkerung Ostpreußens setzte l).
Gewiß wa-
ren dies nicht Äußenmgen der amtlichen Politik, aber sie waren doch geeignet, eine ständige Atmosphäre der Unsicherheit zu schaffen. Pilsudski selber wies später in eine~ Gespräch mit Stresemann am 16. Dezember 1927 jeden Gedanken eines Anspruchs auf Ostpreußen von sich,mit der Begründung, daß Polen mit Minderheiten schon übersättigt sei. "Hiervon könnten nur fünf bis sechs Narren sprechen, für die die Regierung nicht verantwortlich gemacht werden könne 112). Aber schon die Tatsache, daß es Stresemann für notwendig erachtet Pilsudski gegenüber seiner Sorge über die "polnischen Wünsche, Ostpreußen zu besitzen" Ausdruck zu geben, bezeugt nur, daß die Sicherung Ostpreußens als wichtige Aufgabe der deutschen Ostpolitik angesehen wurde. In diesem Zusarmnenhangkam der deutschen Minderheit in Polen, vor allem in Ponunerellen und Posen, die Aufgabe zu, eine ethnische Brücke zu der abgetrennten Provinz zu bilden. Auch wer die Wiedergewinnung des Korridors nicht als eine Lebensnotwendigkeit für Deutschland erachtete, mußte somit, wie der deutsche Konsul in Thora Poc:hhanunerdem Auswärtigen Amt gegenüber in einem Bericht aus dem Jahre 1927 betonte, anerkennen, "daß eine vor den Reichsgrenzen seßhafte deutsche Minderheit ein Glacis bedeutet, dessen Schwächung die Sicherheit des Reiches gefährdet" 3) • Die aus diesen Einsichten resultierenden praktischen Maßnahmendes Deutschen Reiches bezweckten die finanzielle, wirtschaftliche, kulturelle und organisatorische Konsolidienmg der deutschen Minderheit. Unter den Deutschen im abgetretenen Gebiet selber wirkte begreiflicherweise noch ein starkes 1) Ein Beispiel liefert der "Kurjer Posnanski" vom 29.2.1924: "Ostpreußen wird immer die besondere Aufmerksamkeit Polens auf sich lenken. Ostpreußen ist für uns das Symbol unseres eigenen Fehlers und unserer politischen Kurzsichtigkeit in den vergangenen Jahrhunderten und gleichzeitig das Symbol einer bedrohlichen Gefahr bis auf den heutigen Tag. . •• Welches sind heute die praktischen Wege für unsere Politik? ••• Der eine von ihnen, und zwar ein zweifellos sehr wichtiger Weg, ist der Einfluß auf die politische Stimmung der Bevölkerung Ostpreußens .••• Es besteht in Ostpreußen eine polnische und eine erst halb germanisierte Bevölkerung, in welcher der polnische Geist immer dreister erwacht. Wir haben die Schlacht um diese Bevölkerung in der Volksabstimmung vom Jahre 1920 dank offenkundiger Parteilichkeit und Gewalt verloren. Dies ist jedoch kein Grund, diese Niederlage als endgültig zu betrachten. • • • So, wie einst Schlesien wiedergeboren ist, so muß auch Ostpreußen wiedergeboren werden". Beigelegt dem Bericht des Provinzialvorstands des Ostpreuß. Schulvereins an das AA vom 28.10.1924; AA L 683/Bd. 18. 2) Stresemann:
"Vermächtnis"
III,
3) Pochhammer an AA vom 23.2.1927;
S. 247. AAL 683/Bd. 22.
- 61 Element der Loyalität
gegenüber dem ehemaligen Vaterland,
das nicht
einfach
mit einem äußeren Dattm1abgelöst werden konnte, sondern in der Zeit der Bedrängung eher noch verstärkt wurde. Diese innere Bindung klang an, als führende Vertreter der deutschen Minderheit auf einer Zusannnenktmft in Posen im Frühjahr 1920 an die Adresse der Reichsregienmg die Bitte tm1propagandistische und moralische Unterstützung richteten und u.a. ihre Sorge ausdrückten, sie könnten, nachdem sie polnische Staatsangehörige geworden seien, in der öffentlichen Meinung als "Abt:rürmige an der deutschen Sache" gelten 1) • So entsprach die verlängerte Fürsorgetätigkeit des Reiches gegenüber den ehemaligen Untertanen einer verlängerten Loyalität aufseiten der Minderheit. Die Hilfsmaßnahmen auf reichsdeutscher Seite konnten einmal auf traditionelle Methoden zurückgreifen, zl.DllalAufgaben, die in den Bereich der schon vor dem Kriege praktizierten kulturpolitisch ausgerichteten Deutschttm1Spflege fielen, gerade jetzt einen besonderen Dringlichkeitsgrad erhielten. Dazu gehörte besonders die Unterstützung der deutschen Schule im Ausland; daß sie für den Bestand der deutschen Minderheit von entscheidender Bedeutung sei, wurde sowohl von dieser wie auch von reichsdeutscher Seite imner wieder hervorgehoben. In einer Besprechung der Reichs- und preußischen Ressorts und zuständiger Organisationen am 20. Oktober 1919, bei der über Maßnahmenzur Erhaltung und Stützung des Deutschttm1S in den abgetretenen Gebieten beraten wurde, nahm dieser Pllllkt einen breiten Ratm1ein, Es wurde beschlossen, möglichst sofort, bevor das deutsche Finanzwesen von der Entente überwacht werde, einen Betrag von 100 Millionen Reichsmark für Schule, Vereins- und Pressewesen zur Verfügung zu stellen 2). Zumanderen jedoch reichten die Hilfsmaßnahmen über diesen Rahmen jetzt weit hinaus: Für die deutsche Regienmg ging es darum, den nationalen Besitzstand der Deutschen in Polen zu festigen, wobei die Sicherung des ländlichen Besi tzes im Vordergrund stand, aber auch Handwerk und KleiDgewerbe einoezogen wur1) ~ufzeichn~ K:ßler vom ~-5-1920; dort· si~d, auf Grund einer Besprechung in Posen mit führenden Männern der verschiedensten Berufsarten und bisherigen Parteirichtungen (am 28.4.1920), die Anschauungen und Wünsche der Vertreter des Deutschtums im ehem. preußischen Gebiet zusammengestellt; AA K 170/K 023 923-933. 2) Niederschrift
über diese Sitzung
(o.U.)
in AA K 197/K 038 013-018.
- 62 den 1). Der Umfang dieser Maßnahmenmachte natürlich,
da diese über die Fonnen
traditioneller Deutschtum.spflege weit hinausgingen, massive wirtschaftliche .Aktionen erforderlich. Sie bedeuteten zudem eine erhebliche Ingerenz in innerpolnische Angelegenheiten, mit der man nicht amtliche Stellen des Reiches wie z, B. die diplomatischen
Vertretungen
betrauen konnte,
Ein Ergebnis dieser Oberlegungen war die 1920 auf Anregung von Mitgliedern der Weimarer Nationalversannnlung gegründete "Deutsche Stiftung", eine Umbildung des interfraktionellen Ostausschusses 2). Ihr Ziel war satztmgsgemäß: ". , • die Gewährung von Beihilfen zur kulturellen tmd wirtschaftlichen Fördenmg des Deutschtums im Auslande 113). Sie beschränkte sich, der allgemeinen Zielrichtung deutscher Minderheitenpolitik entsprechend, einstweilen auf die an Polen abgetretenen Gebiete tmd bezog lediglich noch Danzig und das Memelland ein. Die erste Aufgabe der Stiftung war Hilfeleistung bei der Gründung und Erhaltung kultureller und allgemeiner Volkstum.sorganisationen in den ab-
1111
flli
getrete~n Ge.bieten, vor allem die Unterstützung des Schulwesens. Denn von allen deutschen Minderheiten wurde die selbstveiwaltete deutsche Schule als eine unerläßliche Voraussetzung angesehen, die allein die Existenz der M:inderhei tauch für die Zuktmft sicherte. Es gelang der "Deutschen Stiftung" im Laufe der Jahre, neben das öffentliche polnische ein privates deutsches Schulwesen zu setzen, dessen Bedeutung sich für die deutsche Minderheit in Polen vor allem auch daraus ergab, daß der polnische Staat zur Unterhaltung höherer Schulen nicht verpflichtet war, und auf diese Weise einer Abwanderung der deutschen Jugend auf reichsdeutsche Schulen vorgebeugt wurde 4). Der besondere Charakter ihrer Stiftung" so zu organisieren,
Tätigkeit machte es notwendig, die "Deutsche daß sie in Abhängigkeit von der Reichsregierung
1) Diese gegenüber früherer Deutschtumspflege neuen Aufgaben der deutschen Minderheitenpolitik nach 1919 sind zusammengestellt in der geheimen Denkschrift Stresemanns an den Staatssekretär in der Reichskanzlei Kempner vom 23.3.1926, "Akten zur Deutschen Auswärtigen Politik" Ser, B, Bd.I,1, S, 430 ff. 2) Anfänge und Aufgaben der Deutschen Stiryung sind darge.~tellt in_ eine::. ~ufzeichnung des Ref, Terdenge (Kulturabteilung des AA) für den Reichsminister vom 5,12.1929, AA4555 H/E 148 036~ö41.
3) Krahmer-Möllenberg 3, 4) Aufzeichnung
a.n Reichskanzler
Fehrenbach vom 20.11.1920; AAL 682/
Bd.,
Ref, Terdenge vom 5,12.1929, a,a.O.
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und tmter Mitwirkung der wiclitigsten
Reichstagsparteien, ohne nach außen in Erscheinung zu treten, arbeiten konnte l). Dabei war der parlamentarische Ursprtmg der Stiftung noch daran zu erkennen, daß in ihr je ein Vertreter der Reichstagsfraktionen der Deutschnationalen, der Deutschen Volkspartei, des Zentrwns, der Deutschdemokratischen Partei tmd der Sozialdemokratischen Partei mitwirkten. Politisch befand sich die Stiftung in enger Anlehmmg an das Auswärtige Amt, so daß die Priorität der allgemeinen Reichsinteressen stets gewährleistet war, dies auch deshalb, weil Auswärtiges Amt und innere Ressorts die finanziellen Mittel bereitstellten. Für die praktische Organisation war der Geschäftsführer der "Deutschen Stiftung" K:rahmer-Möllenberg als Bevollmächtigter der Reichsregierung verantwortlich, der mit dem Büro des Rechtsberaters der deutschen Minderheiten Carl Georg Brtms zusammenarbeitete, Dies war die VerbinchmgSstelle zwischen den Reichsbehörden tmd der deutschen Minderheit, hier wurden über Höhe und Verteilung der Unterstützung entschieden, Infonnationen gesammelt und Gesuche von Angehörigen der Minderheit an die deutschen Behörden vennittelt 2). Diese vertraulich arbeitenden nichtamtlichen Instanzen standen in Zusammenarbeit mit ebenso nichtamtlichen Organisationen im abgetretenen Gebiet selber. Es war hier zunächst eine dringliche Aufgabe, das Deutschttull möglichst eng zusammenzuschließen. Einer raschen Einigung standen jedoch die alten politischen Gegensätze Rechts - Links entgegen, die trotz des gemeinsamen Schicksals Es bedurfte erst eines längeren Prozesses, tDll der Abtremtmg weitetwirkten. an die Stelle alter parteipolitischer Loyalitäten ein Bewußtsein der natürlichen Solidarität treten zu lassen. Im Auswärtigen Amt gab man selber deutlich zu verstehen, für wie wichtig man auch die Heranziehung des deutschen Arbeiters erachtete 3). Dem alle Unterstützung durch das Reich hatte nur Sinn,
1) Aufzeichnung Ref. Terdenge vom 5.12.1929, a.a.O. 2) "Aus der Geschichte und von den Zielen des Deutschtumsbundes in Polen (1919 -1923)" berichtete Anfang 1928 die polnische Presse anhand der 1923 bei der Auflösung des Deutschtumsbundes beschlagnahmten Akten; die Deutsche Stiftung, die diesen Artikel am 30,1.1928 an das AAweiterleitete, kommentierte ihn mit dem Bemerken, "daß die Polen eine ziemlich genaue Kenntnis von dem Zusammenwirken der hiesigen Deutschtumsorganisationen mit den deutschen Organisationen in Polen erlangt haben". AA K 197/K 038 870-878.
3) Aufzeichnung. Jaff~
(Polenreferat des Ausw• .Amts) vom 7.5.1921 über Unterredung mit K.rahmer-Möllenberg, AAL 682/L 215 686-87: Erlaß AA an das Deutsche Generalkonsulat Posen v. 9.5.1921, AAL 682/Bd. 4.
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wenn auch das Deutschtum selber diese Politik geschlossen unterstützte tmd nicht durch innere Auseinandersetzungen die Bemühungender deutschen Regierung um Konsolidierung der Minderheit zunichte machte. Nach anderthalbjährigem Widerstand gelang es im Sollllller1921, die ehemaligen deutschen Linkselemente aufzusaugen tmd einen Zusallllllenschluß in der auf Initiative der Deutschnationalen geschaffenen "Deutschen Vereinigung" herbeizuführen, die sich jetzt "Deutschtum.sbund zur Wahrung der Minderheitenrechte" nannte 1). Regionale Deutschtum.sbtinde, zusannnengeschlossen in einer Landesvereinigung in Bromberg, konnten auf Grund ihres repräsentativen Charakters jetzt auch Aufgaben im Rahmen der deutschen Mi.nderheitenpoli tik übernehmen, die amtliche Stellen naturgemäß nicht ausführen konnten: Sie wurden "zu einer umfangreichen Auskunftsund Prüftm.gstätigkeit in wirtschaftlichen, rechtlichen tmd persönlichen Fragen herangezogen" tmd dienten auch zur Weitergabe der Reichsmittel 2). Auch nachdem der Deutschtumsbund 1923 durch die polnischen Behörden zerschlagen war, blieb das Prinzip der einheitlichen Zusannnenfassung des Deutschtums lebendig. An Stelle des Deutschtumsbundes übernahmen die deutsche Fraktion im polnischen Parlament und ihre Organe (der große Wahlausschuß tmd als Arbeitsgremium der engere Wahlausschuß, der sog. Fünferausschuß) die Führung. In Ergänzung dazu wurde das Deutschtum in besonderen Verbänden organisatorisch zusammengefaßt 3). 111r
Wichtiger für das Selbstverständnis der Minderheit tmd damit auch für ihre Organisation war jedoch die Frage, in welcher Weise sie sich in ihr neues Los um die Selbstbehauptung fand. Denn davon hingen Mathoden tmd Taktik im Kanq;>f ab. Entscheidend war hier das Verhältnis der Minderheit zum neuen Staat, damit verbunden die Frage, ob der Kanq;>fum nationale Rechte innerhalb dieses Staates oder in Opposition zu ihm ausgetragen werden sollte. Solange die Gren1) a) Bericht des Deutschen Bevollmächtigten in Marienwerder an das AA vom 17;6.1921, AAL 682/Bd, 5; b) Bericht der Deutschen Gesandtschaft Warschau vom 17.8.1921 über eine Tagung von Vertretern des Deutschtums in Polen, AAL 682/L 215 769-773; c) Schematische Darstellung der Deutschtumsorganisationen in Polen, AAL 682/L 215 593-96. 2) Aufzeichnung des Deutschtumsbundes für Krabmer-Möllenberg vom 2.6.1922; dazu: Deutsches Generalkonsulat Posen an AA am 9.6.1922, AA L 683/L 215 886-887. 3) "Die Erhaltung des Deutschtums in Posen und Pommerellen", Denkschrift des Bromberger Fünferausschusses der deutschen Sejm- und Senatsabgeordneten für Posen und Pommerellen, ohne Datum (nach 1923), AA K 197/Bd. 2.
- 65 zen und die politischen Verhältnisse noch flüssig waren, hoffte natürlich noch ein großer Teil der Deutschen in Polen auf eine Veränderung, die sie aus der Rolle einer Minderheit in Polen wieder befreien würde. So äußerten während des polnisch-sowjetrussischen Krieges 1920 maßgebende Vertreter der Minderheit im abgetretenen Gebiet ihr Verlangen nach .Autonomie, wobei sie es als ganz unwichtig ansahen, unter wessen Führung•sie erreicht werde, wenn sie nur die Selbständigkeit Posens begründe,mit dem Kalkül, auf die Dauer werde sich solch ein kleiner Nachbarstaat, der durch tausend wirtschaftliche Bedürfnisse an Deutschland gewiesen werde, dem reichsdeutschen Einfluß doch nicht entziehen können 1) • Aus der Ablehrnmg des polnischen Staates erklärte sich auch, daß viele Deutsche in Polen während des Krieges 1920 den Sowjetrussen Sympathien entgegenbrachten. Bemerkenswert in diesem Zusammenhangist, daß es um diese Zeit auch im Auswärtigen Amt Fürsprecher für den Vorschlag gab, die Russen müßten für den deutschen Minderheitenschutz auch dann interessiert werden, wenn sie nicht in Polen blieben, und es nicht für empfehlenswert angesehen wurde, den Deutschen in Polen ein Zusammengehenmit den Polen gegen den BolschewisllDlSum jeden Preis anzuraten 2). Alles in allem handelte es sich hier jedoch nur tml Spekulationen angesichts einer offenen Situation, denen mit einer Konsolidierung der Verhältnisse jeder Boden entzogen wurde. Carl Georg Bruns drückte diese Einsicht in einer Aufzeichnung vom 18. November 1921 für Reichskanzler Wirth, in der er Vorschläge des Deutschtums in Polen wiedergab, klipp und klar aus : ". • • Solange die Grenze nicht definitiv gezogen war, war der politische und wirtschaftliche Kanq;>f mit allen Mitteln nicht nur erlaubt, sondern geboten. Die territoriale Unsicherheit ist jetzt beseitigt", damit ein Streit über die Grenzziehung "unfruchtbar tmd zwecklos 113 ). Auch innerhalb der Minderheit selber wurden aus dieser Sachlage Konsequenzen gezogen:In der Einstellung zum polnischen Staat trat allmählich ein wenn auch nicht grtmdsätzlicher, so doch pragmatisch bedingter Wandel ein, der durchaus als Grtmdlage für einen Modus vivendi dienen konnte. Aus der Festigung der Verhältnisse erwuchs zugleich unter den betroffenen Deutschen, wenn auch nicht in allen Teilen des abgetretenen Gebietes gleich stark, die Bereitschaft zu einem ,relativ festen Zusam1) Aufzeichnung o.U. vom August 1920, AA K 170/K 023 994-024000. 2) Ebd•• ; Randbemerkungen eines AA-Referenten zu entsprechenden Aufzeichnung. 3) Aufzeichnung Bruns vom 18.11.1921,
AAL 682/Bd. 8.
Fragen der
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menschluß, wie er gegenüber der polnischen war 1).
1
Verdrängungspolitik
notwendig
Nicht gegen den Bestand'des polnischen Staates richteten sich dementsprechend die Hilfsmaßnahmen des Reiches, sondern ihr positives Ziel war, einzelnen Personen oder ganzen Schichten das Verbleiben in Polen zu ennöglichen. Demdienten reine finanzielle Unterstützungen, aber auch indirekte oder Sachleistungen,wie z.B. eine besondere Berücksichtigung der deutschen Minderheit bei der Ein- und Ausfuhr nach tmd von Polen, d.h. es wurde eine ''wirtschaftliche Verbinchmg zwischen Heimat tmd abgetretenen Gebieten in einer planvollen Pflege ausgestaltet 112 ). Erst recht waren die deutschen Behörden bemüht, eine Abwanderung jener Deutschen ins Reich zu verhindern, die vom polnischen Staat nicht in ihrer wirtschaftlichen Existenz bedrängt wurden. Es wurden zu diesem Zweck die Einreisebestirnnnmgen verschärft ,und z.B. preußischen Beamten, die noch im Beurlaubten-Status in den abgetretenen Gebieten Dienst taten, der Austritt aus dem preußischen Dienst nahegelegt, damit sie nicht als - wenn auch beurlaubte - preußische Beamte aus Polen ausgewiesen würden, was natürlich finanzielle Mittel erforderte, damit den Betroffenen der Entschluß zu bleiben erleichtert wurde 3). Selbst Pensionäre, die ihren Ruhestand in Deutschland verleben wollten, wurden in die Maßnahmender deutschen Regierung einbezogen tmd zum Ausharren in Polen angehalten. Diese Stütztmgspolitik bedeutete ohne Zweifel eine Ingerenz in polnische Angelegenheiten und bediente sich dementsprechend auch verborgener Kanäle. Für die von reichsdeutscher Fürsorge Betroffenen war damit freilich die Gefahr verbunden, daß die polnischen Behörden - bei einer Aufdeckung dieser Maßnahmen - leicht den Vorwurf der Illoyalität erheben und Gegenmaßnahmenergreifen konnten. Das trat 1) Rhode, a.a.o.,
s.
auch 1923 bei der Zerschlagung des DeutschtlDJlSbundes 102.
2) Schreiben des Reichsministers des Innern an die beteiligten Ressorts mit Vorschlägen für unbürokratische Maßnahmen v. 4.1.1923; zustimmende Antwort des AA vom 28.2.1923, AAL 683/Bd. 13. 3) a) Schreiben des Preußischen Justizministers an den Reichsminister des Äußern betr. Behandlung der ehem. preußischen Beamten in den abgetretenen Gebieten vom 21.5.1920, AAL 682/Bd. 1. b) Besprechung im AA vom 6.4.1921, auf der beschlossen wurde, die Auswanderung sus den abgetretenen Gebieten einzuschränken; die Federführung wurde dem Preußischen Minister des Innern überlassen; darüber Aufzeichnung AA K 197/K 038 036-039.
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ein, als die polnischen Behörden Einblick in die Arbeitsweise der zwischen Reich und Minderheit. bestehenden inoffiziellen Verbindungen gewannen1) • Angesichts der Gefahr von Gegenmaßnahmen,die stets zu Lasten der Minderheit gehen mußten, war es für die deutsche Regierung erst recht fragwürdig, zum Mittel von Repressalien zu greifen, um Polen zur Erfül11mg seiner Minderheitenschutzverpflichtungen zu zwingen 2). Im Auswärtigen Amt wurde der Wert einer solchen Repressalienpolitik deshalb als sehr gering eingeschätzt 3). Von größerer Tragweite aber war, daß die karitativ-protektionistischen Maßnahmen in gewissem Sinne der inneren Konsolidierung der Minderheit abträglich waren, bewirkten sie doch, daß die Deutschen im abgetretenen Gebiet in den Reichs- und preußischen Stellen weithin noch ihre eigenen Behörden sahen. Um sich angesichts eines gefestigten territorialen Status auf lange Sicht behaupten zu können, mußte die Minderheit aber zu einer größeren Eigenständigkeit erzogen werden, die sie auch von den Zufälligkeiten der politischen und wirtschaftlichen Konjunktur unabhängiger machte. Zu den Befürwortern einer weiterblickenden Minderheitenpolitik gehörte schon früh der Rechtsberater der deutschen Minderheiten Carl Georg Bruns, ein Kieler Professorensohn und Völkerrechtler, der nach Kriegsende von Ostpreußen aus mit der Minderheitenfrage in Berührung gekonmienwar und in der deutschen Minderheitenpolitik eine beträchtliche Rolle spielte. Seine Bedeutung lag vor allem darin, daß er der Reichsregierung den Minderheitenschutz als politische Aufgabe sui generis nahelegte, die nicht init traditionellen Methoden zu bewältigen sei, sondern eine Konzeption erfordere. Ende 1920 legte er dem Auswärtigen Amt eine Denkschrift zur Prüftmg vor, in der er schrieb, daß bloße materielle Zuwendungen nicht genügten, um zu venneiden, daß das Deutschtum in Polen "gefühlsmäßig wurzellos"
werde. Die Deutschen seien "so lange gewohnt gewesen, ihre Weisun-
1) So führten die polnischen Behörden als Gründe f'Ür die Auflösung des Deutschtumsbundes u.a. die Teilnahme an geheimen Verbindungen und die unberechtigte Ausübung öffentlicher Ämter an; Stobbe {Deutsches Generalkonsulat Posen) an AA vom 8.8.1923, AAL 683/L 215 965-66. 2) Brief des Ministers für öffentliche Arbeiten an den Min.d.Innern 10.1920, in dem er Repressalien gegenüber Polen als untaugliches ablehnte; AA L 682/Bd. 3, 3) Aufzeichnungen Roth (Abt. IV des Ausw. Amts) zur Repressalienfrage a) vom 1.11.1923, AAL 683/L 216 014-015; b) vom 12.12.1923, ebd. Bd. 16.
vom 25, Mittel
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gen von der deutschen Regierung zu empfangen, daß auch heute noch oft in überraschend naiver Fonn auch von gebildeten Männern die Frage gestellt wird, welche Anordnungen die deutsche Regierung für das Verhalten der Deutschengeben wird". In der Konsequenz dieser Erfahrungen und Oberlegungen forderte Bruns ein über bloße Stützungs:m.aßnahmenhinausgehendes politisches Programm, das für den einzelnen Deutschen zugleich die "einleuchtendste Parole" wäre, "auf seinem Platz auszuharren' 11).
2, Die Beurteilung
des internationalen
Minderheitenschutzes
durch die amtli-
che deutsche Politik Am nächstliegenden
wäre es gewesen, sich bei der Entwicklung eines auf eine längere Frist orientierten ~fi.nderheitenschutzprogr811DIISdes bestehenden völkerrechtlichen Instnnnentariums zu bedienen. Das hätte eingeschlossen, daß man sich zur Minderheitenfrage als einem Rechtsproblem bekannte, das unabhängig von allen ~löglichkeiten der Grenzziehung grundsätzlich gelöst werden ni.isse. Von einer solchen Auffassung war das amtliche Deutschland in den ersten Jahren nach dem Krieg jedoch noch weit entfernt, wurde die Minderheitenfrage hier doch vor allem im Aspekt der deutschen Niederlage und nicht als absolutes Problem rechtlicher und politischer Art angesehen. Das Deutsche Reich zeigte in-: folgedessen auch Zu:rückhaltung gegenüber den Möglichkeiten, die das internationale Minderheitenschutzsystem bot. Auf eine Anfrage des Abgeordneten Hermann/Posen in der Nationalversammlung vom 14. April 1920, welche Mittel die Reichsregierung einsetzen wolle, um angesichts von Rechtsunsicherheit und Massenabwanderung den Schutz der deutschen Minderheit in Polen sicherzustellen, bekannte sich das Auswärtige Amt zwar zur fonnalen Verbindlichkeit des Minderheitenschutzvertrags, fügte aber hinzu, daß es in diesem Rechtsinstrument "lediglich einen allgemeinen Rahmen" sehe, der "für einen wirksamen Schutz mangels genauer Aus:führungsbestinnnungen unzureichend" sei 2). Daß diese Zurückhaltung aber nicht so sehr auf die vorgegebene praktische Unzulänglichkeit des Genfer Minderheitenschutzes, sondern mehr auf eine grundsätzliche Einstellung zurückzuführen war, bestätigte sich in einer Besprechung der Reichs- und preußischen 1) Bruns: "Voraussetzungen und Wege für die deutsche Politik zum Schutz der deutschen Minderheit in Polen" vom 29,12.1920, AAL 682/L 215 643-658. 2} Auf Anfrage von Dr, Hermann (Posen), AAL 682/Bd. 1.
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Ressorts im Auswärtigen Amt am 28. August 1920, auf der das prinzipielle Verhältnis ZlDll MinderheitenschutzabkoBD11enerörtert wurde l). Die Beteiligten waren sich einig, daß dieses Abkomnenfür Deutschland nicht als irgendwie bindend anerkannt werden uncl das Reich keine völkerrechtlichen Anspruche aus ihm herleiten solle. Damit war aber nicht ausgeschlossen - und man empfahl es ausd:rücklich - , daß die Reichsregierung praktischen Nutzen aus dem Minderheitenschutzvertrag zog, etwa derart, daß sie, auch bei amtlichen Verhandlungen, auf Widersprüche zwischen dem Verhalten der Vertragskontrahenten und dem Inhalt des Vertrags hinwies. Freilich konnte das jeweils nur eine Anwendung des Minderheitenschutzsystems von Fall zu Fall sein und war nicht im Sinne eines politischen Progranuns zu verstehen, das Bruns in seiner Denkschrift Ende 1920 gefordert hatte. Für die prinzipiell ablehnende Haltung der Reichsregierung gegenüber dem inwar sicher vor allem dessen enger po·ternationalen ~derheitenschutzsystem litischer Zusammenhangmit dem System von Versailles verantwortlich, Einpositives Bekenntnis zu einem Element dieses Systems hätte als Präjudiz für Deutschlands Einstellung zu dem Gesamtsystem von Versailles gewertet werden können. Zumindest konnte eine Politik, die sich auf den Boden der Minderheitenschutzverträge stellte, in dem Sinne gedeutet werden, Deutschland habe sich mit der Territorialregelung des Versailler Vertrags abgefunden, da es das Minderheitenschutzsystem, indem es sich seiner bediene, als angemessenes 1.quivalent ansehe, Außerdem spielte die allgemeine deutsche Einstellung zum Völkerbund, dem Garanten der Minderheitenschutzverträge, bei der Beurteilung dieses Vertragssystems eine nicht unerhebliche Rolle. In einer Aufzeichnung des Leiters der Rechtsabteilung im Auswärtigen Amt Gaus für den Reichsaußenminister vom 11. Mai 1922 zu einem ungarischen Vorstoß in der Minderheitenfrage kam dieses Element deutlich zum Ausdruck 2) : Gaus prüfte hier die Frage, welche Ha.ltung sich der 46utschen Regierung gegenüber einem ungarischen Antrag auf der Botschafterkonferenz empfehle, wonach der Völkerbund zu einer Intensivierung des Minderheitenschutzes ersucht werden sollte, und kam zu dem Ergebnis: "Zweifellos ist es angesichts unseres bisherigen Verhaltens gegenüber allen auf den Völkerbund bezüglichen Anträgen unbequem, wenn wir jetzt unsere Haltung ändern und uns für einen dem Völkerbund zu erteilenden Auftrag einset1} Aufzeichnung über diese Besprechung (o.U.) vom 28.8.1920, 2) Aufzeichnung Gaus vom 11,5,1922,
AA K 1764/ 431 384-387.
ebd.
-
/U
-
zen". Im Hinblick auf die öffentliche Meirnmg, die ein Abseitsstehen der deutschen Regierung auf dem Gebiete des Minderheitenschutzes nicht verstehen wl.irde, befürwortete er jedoch eine Unterstützung des ungarischen Antrags , zumal die deutsche Stellungnahme zum Völkerbund durch sie nicht präjudiziert werde und ''weil in diesem Falle die Kompetenz des Btmdes durch Verträge gelegt
ist,
die wir nicht
Eine Alternative entwickelt.
zu dieser
Er stellte
heraus und forderte
Politik
besonders
hatte
Bruns in seiner
den Rechtscharakter
erwähnten Denkschrift
der Minderheitenfrage
auf, die gegebenen Möglichkeiten
voll auszuschöpfen,
einer weiterreichenden Deutschland
ändern können".
die Reichsregierung
Minderheitenschutzes
fest-
des
nicht nur ad hoc, sondern im Rahmen
Konzeption. Ausgangspunkt war für ihn, daß sich Verbindung mit dem Minderheitenschutz-
auch in enger rechtlicher
vertrag befand: So wie das Reich auf Einhaltung von Art. 93 des Versailler Vertrags klagen könne, so habe es auch Anspruch auf Erfüllung des Minderheitens clmtzvertrages
, der in diesem Artikel
die deutsche Politik systems stellen
solle
sich positiv
und diese Rechtsposition
angekündigt sei.
Bruns forderte ,
auf den Boden des Minderheitenschutzweiter
ausbauen. Denn nur darin sah
er eine lviSglichkeit, aktiv für den Schutz der deutschen Minderheiten einzutreten. Deutschland könne bei deutsch-polnischen Verhandlungen grundsätzlich und entschieden
Verpflichtungen
mit dem Argument arbeiten, die Nichterfüllung der polnischen aus dem Minderheitenschutzvertrag stelle die Verbindlichkeit
jeder deutschen Verpflichtung in Frage. Auch Bruns war sich freilich bewußt, daß der deutschen Minderheitenpolitik machtpolitische Mittel kaum zur Verfügung standen und sie sich deshalb weitgehend auf eine moralische Position stützen llll.lßte, Zur Stärkung dieser Position schlug Bruns einen neuen Weg vor: Gerade die Tatsache, daß Deutschland keine vertraglichen Verpflichtungen zum Schutz seiner Initiative
Minderheiten
habe, eröffne
ihm die Möglichkeit
beruhenden großzügigen Nationalitätenpolitik
einer auf freier
im Reich, die sich
an die Bestinmungen des Minderheitenschutzvertrags anlehne. Aus einer solchen Politik könne Deutschland propagandistisches Kapital schlagen, im Laufe der Zeit das Mißtrauen im neutralen eine größere Aufnahmebereitschaft
und· feindlichen
Ausland dadurch abbauen
für Klagen der deutschen Minderheit
und
in Po-
len erwirken. Dieser Denkschrift
kam nicht
zuletzt
deshalb besonderes
Gewicht zu, weil ihr
Verfasser in engstem Kontakt mit der Minderheit stand und deren Wünsche und Interessen gut kannte, Ihre Tragweite lag darin, daß sie die Minderheitenfra-
ge nicht
als Spezialproblem
sah, sondern sie in einen größeren Rahmen deut-
scher Außenpolitik hineinstellte, der rechtlichen und politischen
dabei aber realistisch genug war, den Boden Gegebenheiten nicht zu verlassen. Originell
war dabei der Vorschlag, !fi.e deutsche Regierung solle den "Aktivposten" verwerten, der darin lag, daß sie vertraglich nicht verpflichtet war, tmd mit einer vorbildlichen seitigkeitspolitik
i:nJl.erdeutschen Minderheitenregelung einschlagen,
Angesichts
einen Weg der Gegen-
der geringen machtpolitischen
Mög-
lichkeiten des Deutschen Reiches llll.lßte diese Empfehlung geistiger Methoden im Kampf um die Minderheitenrechte ein zukunftsträchtiger Gedanke sein, Die politische
Stellungnahme des Auswärtigen.Amtes
zu diesem Progrannn ließ
deutlich erkennen, daß man dort von einem großzügigen und weiterblickenden Konzept, wie es Bruns entwickelt hatte, noch beträchtlich entfernt war 1), Es wurde hier vor allem der Vorbehalt Minderheitenschutzsystem
bekräftigt,
Minderheitenschutzvertrags
als "viel
der amtlichen deutschen Politik
zum Genfer
dies einmal, weil die Bestinnnungen des zu ungewisser und allgemeiner
Natur" sei-
en, aber auch mit der Begründung, daß· es sich bei dem Vertrag um eine "res inter alios acta" handle und Deutschland als Nichtmitglied des Völkerbundes ohnehin keine Möglichkeiten habe, den internationalen Minderheitenschutz anzurufen. Es blieb somit bei dem Prinzip, den Minderheitenschutzvertrag "als für Deutschland nicht vorhanden anzusehen". Bemerkenswert ist dabei, daß und in welcher Weise der Vorschlag einer Gegenseitigkeitspolitik im Auswärtigen Amt positiv aufgenonunen wurde. Von einer großzügigen innerdeutschen Minderheitenpolitik versprach man sich nicht nur positive Rückwirkungen auf die Lage der Deutschen in Polen, sondern sie schien auch im Hinblick auf die polnische Min-
daß eine Polenpolitik früherer Art in Deutschland unter keinen Umständen mehr betrieben werden könne, weil sie "gerade mit ihren allerbesten Absichten" dazu geführt habe, das polnische Volkselement zu disziplinieren und damit eine polnische Irredie denta zu schaffen .• So ging man davon aus, daß sich eine liberale Politik, eine freie autonome Organisation des Schulwesens gewähre, letzten Endes tmgünstig auf die polnische Minderheit auswirken misse, da das disziplinierende tmd bildende Element der deutschen Schule wegfalle, ja die Stellungnahme des Auswärtigen Amtes sah es als unzweifelhaft an, "daß das eigene Unterrichtswesen der Polen in Deutschland versumpfen wird". Denn: ''Sollte es bei den Polen anders kommen, so müßten geradezu neue unbekannte Seiten in ihrem Volkscharakderheit
im Reich angezeigt.
Dahinter stand die Auffassung,
1) Aufzeichnung Ref. Jaffe vom 4.2.1921, AAL 682/L 215 659-664.
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ter hervortreten". Es sei nicht anztmehmen, "daß sie den Ernst, die Organisationskraft und das Gemeingefühl aufbringen werden, die notwendig sind, um ohne staatlichen Zwang ein eigenes Schulwesen zu verwalten tmd in die Höhe zu bring~n". Diese Auffassung hatte auch Bruns insoweit vertreten, als er keine innerpolitischen Bedenken gegen eine Politik zugunsten weitgehender kultureller Selbständ.igkei t des polnischen Elements in Deutschland sah. Aber seiner Konzeption lag doch ein ganz anderes Verständnis der innerdeutschen Minderheitensituation zugrunde. Bruns war zwar auch der :Meimmg, daß eine kulturell autonome polnische Minderheit gegenüber all denen zurückbleiben werde, die in der deutschen Schule erzogen würden,und war überzeugt, daß aus einer Gegenseitigkeitspolitik die deutsche Minderheit in Polen größeren Gewinn ziehen werde als die polnische Minderheit im Reich. Aber alles in allem beurteilte er die Möglichkeiten So schieeiner Selbstbehauptung der polnischen Minderheit im Reich positiver. nen ihm Gennanisationsbestrebtmgen deshalb sinnlos, weil es nun ein staatliches Zentrum des polnischen VolksttUDSgebe, aus dem der Minderheit in Deutschland starke Kräfte zuströmen würden, die den Versuch einer Beschneidtmg von vornherein ZUIIlScheitern verurteilten. In einer großzügigen Behandltmg der polnischen Minderheit sah Bruns zudem ein Mittel zur Vorbeugung gegen staatsfeindliche unterirdische Umtriebe. Vergleicht man Bruns' Denkschrift tmd die Stellungnahme des Auswärtigen Amtes miteinander, so zeigt sich besonders bei der Beurteilung der Gegenseitigkeitspolitik ein wesentlicher Unterschied: Bruns hatte ein positiveres Verständnis von der Eigenständigkeit der polnischen Minderheit in Deutschland, auch wenn er deren Möglichkeiten zur Selbstentfaltung als beschränkt ansah. Er kalkulierte imnerhin ein, daß das PolentUIIl in Deutschland sich festigen würde, sah aber darin durchaus einen Aktivposten, weil eine solche Entwicklung seinen Vorstellungen vom Eigenleben tmd Eigenwert einer Minderheit entsprach. Demgegenüber offenbarte die Antwort des Auswärtigen Amtes einen die Mi.nderheiten lediglich als Objekt staatlicher Politik betrachtenden Standpunkt, für den andere Prioritäten galten tmd der einer eigenständigen minderheitenpolitischen Konzeption keinen Raum ließ, was auch den Mangel an Verständnis für den ideellen Gehalt der Brunsschen Konzeption begründete. Aber auch, soweit Bruns'Vorschläge nur politisch-pragmatischer Natur waren, schien im Auswärtigen Amt die Aufstellung eines offenen Programms durch die
- 73 Reichsregierung als "im gegenwärtigen Augenblick kaum zu empfehlen". In einer Erwiderung auf diesen Bescheid ging Bruns gerade auf diese pragmatischen Gesichtspunkte noch einmal ein tmd nahm zu der mangelnden Bereitschaft der amtlichen deutschen Politik; schon jetzt eine Konzeption für eine Mi.nderheitenpoli tik zu entwerfen, tmter dem Gesichtspunkt der politischen Zweckmäßigkeit Stellung 1): Der Zeitpunkt, in dem ein Heraustreten mit einem Programn zweckdienlich sei, könne schnell eintreten. Besonders die Garantie des Völkerbundes biete Deutschland eine Handhabe, minderheitenpolitisch aktiv zu werden, Ausgehend von der Beurteilung des Minderheitenproblems als einer Rechtsfrage, sah Bruns also in der Völkerbundsgarantie ein zentrales Element einer deutschen Minderheitenpolitik: ''Deutschland wie das Deutschtum in Polen sind darauf angewiesen, den ~f für die Rechte der deutschen Minderheit in Polen tmter tmablässigem Betonen des Rechtsstandpunktes nach Möglichkeit auf internationaler Grundlage auszufechten". Auch für die Zeit, in der Deutschland nicht dem Völkerbtmdsrat angehöre tmd formell eine Beschwerde vor den Vdlkerbtmd bringen könne, hielt Bruns eine praktische Ausnutzung dieses Rechtsstatuts für möglich: Das Reich könne seine Beziehungen zu einem Mitgliedsstaat des Völkerbtmdes so ausbauen, daß dieser sich u.U. auf deutsche Anregung der Sache der deutschen Minderheit in Polen annehme. Die Aussichten einer solchen deutschen Anregung nüßten aber verringert sein, wem1bekamt werde, daß die deutsche Regierung dasselbe Mi.nderheitenschutzabkrnnmen, für dessen Im1ehaltung sie eine fremde Macht zu gewim1en versuche, für sich als nicht bestehend betrachte. Als verhängnisvoll beurteilte Bruns in diesem Zusammenhangauch die 11Dralischen Riickwirlamgen einer solchen Einstellung auf die deutsche Minderheit selber: In der Auseinandersetztmg mit dem polnischen Staat bleibe ihr als Rechtsmittel nur das Minderheitenschutzabkommen. Wenn sie feststellen niisse, daß das Reich in seinen Beziehungen zu Polen dieses Abkommenals nicht bestehend betrachte, so könne diese Politik als mangelndes Interesse am Schicksal der Minderheit gedeutet werden, So stellte
Bruns dem Auswärtigen Amt noch eimnal die Dringlichkeit einer minderheitenpolitischen Konzeption vor Augen, die sich auch in einer organisato-
rischen Straffung aller diesbezüglichen amtlichen Tätigkeiten tmd deren Zusammenfassung in einem einzigen Ressort äußern sollte, In dieser Frage nämlich wurde der Mangel an übergreifenden und koordinierenden Gesichtspunkten besonders deutlich. Nicht eimnal das Auswärtige Amt hatte ein eigenes Ressort 1) Bruns an den Reichsminister
des Äußern vom 21,2,1921,
M L 683/Bd. 14.
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für Minderheitenfragen oder eine Koordinienmgsstelle für diese Aufgaben. Der Geschäftsverteilung des Auswärtigen Amtes lag lediglich die allgemeine Oberlegung zugnmde, daß die Betreuung der durch die Minderheitenverträge ge schützten Minderheiten verschieden von der Wahrnehnnmgsolcher Interessen in anderen Ländern zu handhaben sei 1) • Während diese nämlich weitgehend auf den kulturellen Bereich beschränkt war und somit allein in die Zuständigkeit der Kulturabteilung (Abteilung VI) fiel, wurden, wenn es sich z.B. um Polen und die Tschechoslowakei handelte, auch die Länderreferate einbezogen, da hier die Minderheitenfragen einen wesentlichen Anteil an den allgemeinen politischen Beziehungen dieser Länder mit dem Deutschen Reich ausmachten. Auch für diese Fälle gab es somit keine zusamnenfassende Bearbeitung, sondern sie wurden je nach ihrem Einschlag in der Kultur- oder in den politischen Abteilungen bearbeitet 2).
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Außer den Reichsbehörden waren auch preußische Stellen mit der Wahrnehnn.mg des Minderheitenschutzes in den abgetretenen Gebieten befaßt, und es gab z.B. bei den Maßnahmenztnn Schutz des kulturellen Lebens der deutschen Minderheit Oberschneidungen und doppelte Bearbeitung, da Preußen die Reichsinstanzen über seine Maßnahmennicht regelmäßig infonnierte 3). Ein Beispiel für die Tätigkeit innerer Behörden in Minderheitengebieten waren die "Fürsorgekommissariate", über deren schädliche Wirkung der deutsche Gesandte in Warschau Rauscher dem Auswärtigen Amt im Oktober 1922 berichtete: Gerade sie hätten die Fehlerquellen gezeigt, die sich bei Betätigung innerer Ressorts im Auslande bemerkbar machten, nämlich daß diese ohne eigene, täglich neu gespeiste Kenntnis der ausländischen Verhältnisse auf die Informationen der betreffenden deutschen Kolonien angewiesen seien, die zum Teil von den verschiedensten Interessen beherrscht würden und kaum ein objektives Bild der. Zustände und Bediirfnisse geben könnten 4). KonzepDie von Bruns erhobene Fordenmg nach einer minderheitenpolitischen tion war jedoch nicht auf die Bediirfnisse der Minderheiten allein ausgerich1) Auf'zeichnung Jaffe vom 23,5.1922; dazu Vermerk Dirksen vom 2.6.1922, L 683/215 880-882. 2) Aufzeichnung Raas vom 17.8.1922, AA K 1764/Bd. 1.
AA
3) So Aufzeichnung Mutius, des Leiters der Abt. II im: Ausw. Amt, für Min.Direktor Heilbron vom 19, 11. 1922; handschriftl. Vermerk (Heilbron?) vom 1. 12. 1922, AAL 683/Bd. 12. . . 4) Rauscher an AA (Vertraulicher
Bericht)
vom 11.10.1922, AAL 683/Bd. 12.
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tet, sie wurde von Minderheitenseite schon früh als Element einer aktiveren deutschen Außenpolitik überhaupt gewertet. In diesem Sinne ordnete eine dem Auswärtigen Amt gegen Ende 1922 vorgelegte aus Mi.nderheitenkreisen stammende neue Denkschrift ''Eintreten der deutschen Außenpolitik für den Schutz der nationalen Mi.nderheiten" der l\ünderhei tenfrage einen besonderen Rang in der deutschen Außenpolitik zu, indem sie sich nicht darauf beschränkte, die Reichsregienmg zum Eintreten für den Mi.nderheitenschutz aufzufordern 1) , Es sei ein Fehler der deutschen Politik in den ersten Nachkriegsjahren gewesen, "daß sie sich auf die angstvolle Verfolgung des Reparationsproblems beschränkt hat, ohne von den durch die Gegner selbst gelieferten Waffen der Völkerfreiheit und des Selbstbestinummgsrechts im Interesse des Deutschtums im Ostenergiebigeren Gebrauch zu machen. Auf die im Rapallo-Vertrag erfolgte erste selbständige Regung der neuen deutschen Außenpolitik sollte als nächster Schritt das Eintreten für den Minderheitenschutz mit allen Mitteln der Außenpolitik erfolgen". In diesen Überlegungen gewann die Minderheitenfrage einen allgemeineren politischen Wert, weil mit ihr verbunden neue Möglichkeiten für Deutschlands internationale Stellung gesehen wurden: Das Reich als der am stärksten· betroffene Staat solle "in der Frage des Minderheitenschutzes in der europäischen Pali tik die Führung übernehmen". Fordenmgen und Anregungen, wie sie aus Kreisen der Minderheiten vorgebracht wurden, bekamen natürlich auch für die Reichsregienmg ein erhöhtes politisches Gewicht, als sich die deutschen Minderheiten organisatorisch zusammenschlossen und nun gleichsam eine Stimne
wurden.
3. Vorstellungen
und Forderungen der deutschen Minderheiten
Die Anregung, _Vertreter der deutschen Minderheiten _in Europa sollten untereinander Verbindung aufnehmen, ging vom Führer der Siebenbürger Sachsen Rudolf Brandsch aus. Der geographische Ausgangsptmkt gab gewissennaßen auch schon erste Aufschlüsse über das Programm der geplanten Verbindung. Denn wenn der Vertreter einer "echten" Minderheit die Notwendigkeit eines engeren Zusammenschlusses betonte, so standen dahinter jahrhundertelange Erfahrungen auf dem Gebiet der Nationalitätenpolitik und ein Verständnis der Minderheitenfrage als eines absoluten Problems, das von der aktuellell: politischen Situation un1) Ohne Angabe eines individuellen
Verfassers;AA K 1768/K 433 684-685,
- 76 abhängig war l). Im Juli 1922 lud Brandsch in einem Schreiben an die Führer des Deutschtums in den verschiedenen europäischen Ländern, mabhängig von ihrer rechtlichen Lage, z_ueiner vertraulichen Zusammenkunft in Wien ein, auf der eine Bestandsaufnahme über die Lage der deutschen Minderheiten vorgenommen, die Beziehungen der Minderheiten zu ihrem Staat besprochen und eine lose Organisation der einzelnen Gruppen in die Wege geleitet werden sollten 2).
III 111
Diese Anregung zum Zusannnenschluß war nicht nur auf das Bewußtsein einer kulturellen Gemeinsamkeit zurückzuführen, sondern stand in engem Zusanunenhang mit der neuen minderheitenpolitischen Situation und den neuen Möglichkeiten auf dem Gebiet des Minderheitenschutzes. Denn wenn auch das im Kriege propagierte Selbstbestinmumgsrecht der Völker an vielen Stellen in Europa zmmgunsten der deutschen Minderheiten verletzt worden war und die Minderheiten sich vielfach in hartem ~f um ihre Rechte befanden, so wurde die Minderheitenschutzbewegung von Sprechern der deutschen Volksgruppen doch als eines der positivsten Ergebnisse des Krieges bewertet. Der Baltendeutsche Ewald Ammende, der in einer programmatischen Denkschrift aus Anlaß der ersten Tagung von Vertretern deutscher Minderheiten Gründe md Aufgaben für diese Zusanunenktmft darlegte, nannte u.a. diesen Faktor als das neue Element in der Minderheitenfrage und bekannte sich ausdrücklich zu den internationalen Minderheitenschutzorganisationen, dar'llllter dem Völkerbund, in dem die Ideen der Minderheit-enschutzbewegung Gestalt geworden seien: "Der offene und loyale ~f für die Minderheitenrechte, der vor dem Kriege nicht geduldet wurde, ist heute ni:>glich'13). AmmendesDenkschrift ist noch aus einem weiteren Gr'lllldebemerkenswert: Sie ist gekennzeichnet von einem spezifischen Verständnis von Minderheit und ihrer politischen Aufgabe, indem sie die Eigenständigkeit der Minderheiten betont und sich für ihre maßgebliche Beteiligung an der Regelung der Minderheitenfrage ausspricht. Von diesem Selbstbewußtsein bestimmt, grenzt Ammendedie Minderheiten gegen ihren eigenen Staat wie gegen das Mitterland ab und fordert das Kulturelle
für sie einen eigenen politischen Raum, der zwar zunächst auf begrenzt ist, von dem aus die Minderheiten im Lauf der Zeit
1) P. Schiemann, a.a.O.
2) Einladungsschreiben 653.
Brandsch (Abschrift)
vom 20.7.1922, AA K 1768/K 433
3) E. Ammende: "Gründe, Aufgaben und Programm für eine Zusammenkunft der Vertreter aller deutschen Minderheiten in Europa" vom 20,9, 1922, in: Nation und Staat 6, S. 62 ff.
- 77 aber auch politisch Gewicht gewinnen sollen, indem "aus den frenrlen Volksstämmen im Rahmen der europäischen Staaten, bisher Ursachen des Gegensatzes 1.llld der Trenmmg, verbindende Glieder respektive Bindemittel zwischen den Völkern Europas" werden. Für die 'Beziehung zwischen den Minderheiten 1.lllddem Deutschen Reich sollte der Grundsatz loyaler Minderheitenpolitik gelten, der politische Zusanunenhängeausschloß und nur kulturelle Bindungen zuließ. Schon die Wahl des Tagungsortes Wien (statt Berlin) machte deutlich, daß die Minderheitenführer jeden Anschein eines politischen Zusammenhangsmit den Reichsbehörden vermeiden und ihrer Zusammenkunft den Charakter einer 1.lllabhängigen Initiative geben wollten. Die Verhandlungen, die vom 21, bis 23. Oktober 1922 mter Vorsitz von Rudolf Brandsch stattfanden, zeigten ein großes Maß von Gemeinsamkeit, aber auch einige nicht merhebliche Meinungsmterschiede, die sich aus der verschiedenen historischen Herkunft und politischen Situation der jeweiligen Volksgruppe erklären ließen 1) • Obereinsti.nmnmg bestand in der Absicht, am Grundsatz der Zusanunenarbeit aller deutschen Minderheiten festzuhalten md zu diesem Zweck ein ständiges Sekretariat einzurichten, in der Forderung nach Ifinderheiten waren auf die Unterstützl.lllg durch eine Ratsmacht angewiesen und sprachen deshalb auch die Hoffnung aus, Deutschland möge Mitglied des Völkerbundes werden, damit man einen Wortführer für die eigenen Forderungen habe. Dieser Wunschwurde aber nicht in die Entschließung aufgenommen, ''weil man vonseiten der deutschen Minderheiten der Reichsregierung
und dem Binnendeutschtum nicht vorgreifen
wollte",
ent-
1) Bericht über die Tagung der deutschen Minderheiten in Wien, dem AA vom Deutschen Schutzbund vorgelegt, AA K 1768/K 433 715-721.
- 18 -
sprechend dem Bestreben dieser Tagung, die Unabhängigkeit sichtbar lassen 1).
werden zu
Im Verlaufe
der Diskussion wurde aber deutlich, daß eine rein rechtlich unc1 ideell begründete Konzeption der Problematik der deutschen Minderheiten nur zum Teil gerecht wurde. Sie entsprach mehr den VorstellWlgen der "echten'' Minderheiten, die für sich auch relativ leicht engere politische Bindungen an das Reich ablehnen konnten tmd für die eine loyale HaltWlg gegenüber dem Herbergsstaat eine Selbstverständlichkeit war. Die anderen Gruppen waren naturgemäß viel stärker auf das Reich ausgerichtet, ja die deutsche Minderheit in Polen konnte sich, auch wenn sie sich vorerst mit ihrer Lage abfand, sub specie einer späteren Rückkehr in den deutschen Staatsverband sehen. Bei diesen Vollcsgruppen übeiwog das politisch-pragmatische Element, die Einsicht, daß ein Warten auf Veränderoogen in einer nicht absehbaren Zuktmft unc1der Verzicht auf die aktuellen Rechtsmittel dazu führen könnte, einen Minderheitenschutz überflüssig zu machen, da es dann bald in bestimmten Gebieten keine Minderheiten mehr geben würde. Der Tagesordmmgspunkt, der das Verhältnis ztun Deutschen IIH Reich im einzelnen behandeln sollte, wurde, vermutlich im Hinblick auf die Wlterschiedlichen Positionen, von Brandsch aus der ErörterWlg ausgeklanmert, 1111 aber Glas Problem trat erneut bei der Behandltmg des \rerhältnisses der Minderheiten zu ihren Herbergsstaaten zutage. Gegen die Feststelloog der Loyalität /!I! als Richtlinie für die Minderheiten wurden nämlich von den "tmechten" Minderheiten starke Bedenken erhoben, so daß - auf Vorschlag von Dr. Bruns, der hier die Deutschen in Polen vertrat - der Begriff "loyal" in "legal" abgeändert wurde. Auf diese Weise wurde das Verhältnis zu den Herbergsstaaten auf eine mehr oder weniger formale Basis gestellt, die nicht einem Bekenntnis zu diesem Staat gleichkam unc1die Frage einer späteren territorialen Veränderoog nicht präjudizierte. Die Beratoogen zeigten somit die Ambivalenz deutscher Minderheitenpolitik: Die Verknüpftmg von rechtlich-ideellen Prinzipien mit grenzpolitischen Oberlegtmgen. Die amtliche deutsche Politik llll.lßte sich durch diese Wiener Tagung aufgefordert sehen, im internationalen Rahmenllllter Ausnutzoog der vorhandenen Rechtsmittel den Minderheitenschutz zu aktivieren. Der in Wien eingeschlagene Wegwurde in den folgenden Jahren weiter ausgebaut2). Jährlich fanden Tagungen statt, die ihre Bedeut'llllg besonders deshalb 1) Ebd,
2)
s. dazu R. Brandsch: "Fünf' Jahre deutscher und Staat 1, s. 92 ff.
Minderheitenarbeit"•
in: Nation
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hatten, weil auf ihnen die wirklich :führenden Männer der verschiedenen Gebiete vertreten waren. Außerdem wurde 1923 eine ständige Verbindungsstelle geschaffen, die von Dr. Bruns geleitet •wurde Wld in der Zwischenzeit einen Meinoogsaustausch organisierte sowie die Minderheiten in konkreten, meist rechtspolitischen Fragen beriet 1). Ein ständiger Ausschuß, bestehend aus je einem Vertreter jeder Minderheit, war für die Tätigkeit dieser Verbindungsstelle verantwortlich. So wurde im Laufe der Zeit erreicht, daß keine Minderheit Schritte beim Völlcerbunc1Wlternahm, ohne sich vom gemeinsamen liiro beraten zu lassen, wodurch dilettantisch abgefaßte oder der gemeinsamen Sache der deutschen Minderheiten schadende Petitionen von volllherein Wlterbtmden werden konnten 2). Ein natürliches Ergebnis dieses Zusanunenschlusses war auch die Stärkung des gesamtdeutschen Bewußtseins llllter den Minderheiten, das zugleich den im Reich selber lebendigen Gedanken einer über die Staatsgrenzen hinausgehenden deutschen Volksgemeinschaft stärkte. Damit verbunden war ein spezifisches Selbstbewußtsein gegenüber den Staatsvöllcern besonders in Ostmittelund Südosteuropa. Brandsch schrieb in einem Rückblick auf die ersten Jahre nach dem Zusanunenschluß, jede deutsche Volksgruppe dilrfe ihre Stärktmg nicht als Selbstzweck betrachten, sondern müsse "in ihrer Gesamtheit unc1FUhroog bewußte Trägerin einer deutschen geschichtlichen Mission" sein 3). Deutlicher äußerte sich auf der Minderheitentagung im Juli 1925 der siebenbürgische'rie" legierte Csaki, der - zur Vorbereitoog einer Aussprache über eine kulturelle Organisation der deutschen Minderheiten - die Aufgabe übernoomen hatte, Material zu sanuneln Wld Thesen zu formulieren, und zu diesem Zweck in engen Kontakt mit den anderen Volksgruppen getreten war: "Allen deutschen Minderheitengruppen ist gemeinsam, daß sie sich dem staats:führenden Vollce unc1den übrigen U11Mohnenden Völlcern gegenüber kulturell mehr oder weniger überlegen fühlen tmd daß sie daher nicht nur das sichere Gefühl der Berechtigtmg ihrer 1) Von der- deutschen Minderheit in Polen wurde, bezeichnend für ihre engere politische Bindung an Deutschland, der Wunsch geäußert, diese Mittelstelle nach Berlin zu verlegen; Brief Krahmer-Möllenberg an AA vom 4.1.1923, AA K 1764/K 431 416-17; im AA sprach man sich jedoch dafür aus, es bei "Wien als dem natürlichen Mittelpunkt der ganzen Bewegung" zu belassen, Vermerk lföldeke vom 23,1.1923, ebd. K 431 418. Tatsächlich übernahm Bruns 1923 provisorisch die Leitung der Mittelstelle in seinen Büroräumen in Berlin, später sollte sie nach Wien verlegt werden.
2) Bruns an Staatssekretär D 699 225-229, 3) Brandsch, a.a.O.,
S. 96.
Bracht (Reichskanzlei)
vom 28.10.1924, AA 3226/
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Kultur·der,:anderen gegenüber haben, sondern daß sie auch als Lehnneister auftreten zu können glauben. • • • Auf diesem Gnm.de beruht die innere Sicherheit, die höhere Beruftmg des AuslandsdeutschtUIDS im Osten. Osteuropa ist 1.lllbestritten eine Kulturdomäne Deutschlands und wird es nach aller menschlichen Voraussicht in Zukunft bleiben'' l). Für das praktische Verhalten der deutschen Minderheiten war das Prinzip einer klugen Realpolitik maßgebend, die von der Einsicht ausging, "daß gegenwärtig durch eine aktivistische Politik auf dem Boden der Staaten, in denen sich die Minderheiten befinden, mehr zu erreichen sei als durch notorische Irredenta112). Mit Recht erteilte daher Paul Schiemann gewi~sen völkischen Kreisen eine Absage, die eine lautstarke großdeutsche Propaganda betrieben und, indem sie die Minderheitenstaaten mit Schmutz und Hohn überschütteten, die Interessen des AuslandsdeutschtUIDS aufs schwerste schädigten 3). Realpolitik auf dem Boden des Staates bedeutete auch, daß in einem allgemeineren Bewußtsein die Minderheitenfrage Eigenwert bekam und nicht ioohr bloß im Blickwinkel materiel-
lil i"
ler Hilfe von jenseits der Grenze erörtert W!ll"de. In einer 1925 dem Auswärtigen Amt vorgelegten, von Generalkonsul v. Hentig (Posen) angeregten Denkschrift ''Die politische Aufgabe der deutschen Minderheit in Polen", die aus Besprechtmgen derjenigen deutschen Kreise in Polen etwachsen war, "die sich mit der Frage des Deutschtums seit langem ernsthaft beschäftigen", W!ll"dediese Problematik deutlich angesprochen 4). Denm.achwar nicht Loyalität das Problem, denn eine wirklich loyale Halttmg zu empfehlen, schien angesichts der Bedrticktmg der Minderheit durch Polen nicht ztDlllltbar. Die Alternative hieß jedoch nicht IrredentislllllS, mußte doch, solange eine Grenzändenmg nicht greifbar nahe war, jedes Abseitsstehen als Gefahr für die Existenz der Minderheit 1) Auf der Jahrestagung der deutschen Minderheiten im Juli 1924 war der Wunsch geäußert worden f'Ür die Tagung im kommenden Jahr eine Aussprache Übereine kulturelle O;ganisation der deutschen Minderheiten vorzubereiten. Dr. Csakis Ausführungen dürften in diesem Zusammenhangallgemeine Vorstellungen der deutschen Minderheiten wiedergeben. Wiedergabe der Rede in H.A. Jacobsen: "Mißtrauische Nachbarn", S. 36 ff. 2) Köster (Deutsche Gesandtschaft Prag) an AA über die Tagung der deutschen Minderheiten in Wien im Juli 1924 vom 25.7.1924, AA K 1768/K 433 989-990. 3) "Frankfurter Zeitung" vom 10.9.1924. 4) Angefertigt im Februar 1925 von Stud. Ass. Dr. Burckhardt (Posen), am 28. 4,1925 vom Deutschen Generalkonsulat Posen an AA, AAL 683/216 159-199.
bezeichnet
werden. Opne einer späteren
Grenzändenmg vorzugreifen,
W!ll"dedie
Parole eines vorläufigen Sichabfindens mit dem territorialen Status quo verkündet, "weil jede irredentistische Einstellung uns selbst den Weg zu positiver Aufbauarbeit innerlialb Polens versperrt, weil das Bewußtsein notwendiger Zusanunenfasstmg in positiver Arbeit im Hinblick auf den erhofften Interimscharakter dieser Grenzführung nicht den festen Boden gewinnen kann, den wir als Grtmdlage brauchen". Positiv forderte die Denkschrift einen festeren Zusanunenschluß der deutschen Minderheit in Polen und die Abgrenzung gegen die polnische ~hrheitsbevölkenmg. Dieser Konsolidienmg sollte auch der Loyalitätsvorbehalt dienen, der für notwendig erachtet wurde, damit nicht assimilationsgefährdeten Deutschen die ideologischen Hemmungengegenüber einem Aufgehen im Polent1.llllgenonmJenwlirden. Natürliche Konsequenz dieser Oberlegtmgen war die Fordenmg nach Kulturautonomie als der diese Geschlossenheit am ehesten gewährenden Organisationsfom., die eine Abgrenzung gegenüber dem polnischen Staat, aber auch größere Eigenständigkeit im Verhältnis Z1llll Reich ermöglichte. Nicht Wiedervereinigtmg mit Deutschland also sah die Denkschrift als unmittelbares Ziel einer Minderheitenpolitik, sondern Kulturautonomie in den Grenzen Polens, die das deutsche Volkstum bewahrte und die Möglichkeit positiver Mitarbeit am Staat sicherte. An die reichsdeutsche Adresse richtete die Denkschrift den Appell, eine nicht grenzdeutsche, sondern auslandsdeutsche Minderheitenpolitik zu betreiben, sich der Minderheitenfrage also nicht nur im Aspekt der Grenzfragen, sondern mit einer universaleren Konzeption zuzuwenden. Die Reichsregienmg beschränkte sich diesen Anregtmgen gegenüber anfangs auf bloßes Zur-Kenntnis-Nehmen. Symptomatisch für das verhältnismäßig geringe Interesse, das das amtliche Deutschland der Bewegtmg der deutschen Minderheiten und ihren Vorstellungen entgegenbrachte, war, daß führende Min:ner des Mi.nderheitendeutschtums gelegentlich tagelang antichambrieren mußten, ehe es ihnen gelang, auch nur einen Referenten für irgendeine ihrer Fragen zu interessieren l). Vertreter des Auslandsdeutschtums mußten Klage führen, daß sich auf einer Tagtmg der Interparlamentarischen Union 1924 sämtliche reichsdeutschen Abgeordneten überhaupt nicht 1llll ihre anwesenden Volksgenossen aus dem Ausland kümnerten, was natürlich
1) Bruns an Staatssekretär
bei diesen zur .Annahmeführte,
Bracht am 28.10.1924,
a.a.O.
es sei hoffntmgslos,
in Deutschland Verständnis zu finden l). Bedauert wurde dabei auch die Kurzsichtigkeit der Reichsregienmg, daß sie die in einer engeren Fühlungnahme mit den Minderheitenvertretern liegenden Möglichkeiten ungenutzt ließ und z.B. auf die "kostenlose~ wertvolle Informationsquelle" verzichtete 2), die die deutschen Minderheitenfraktionen in Osteuropa bedeuteten. Diese Erfahrungen und die Erkenntnis, daß die Minderheiten bei aller Betommg ihres eigenen politischen Gewichts die politische Unterstützung durch Deutschland brauchten, bestärkten Minner wie Bnms in der Einsicht, daß die Reichsregieri.mg sich stärker für das Minderheitenproblem interessieren müsse, ja es wurde die Oberzeugung geäußert, daß es Sache des deutschen Außenministers sein niisse, sich persönlich und ernstlich für die Sache der deutschen Minderheiten einzusetzen 3).
1) Rauscher an AA (Maltzan) am 2.10.1924; in dem Bericht werden entsprechende IG.agen der Deutschtumsfiihrer in Polen wiedergegeben, AAL 683/L 216 119121; ebenso Bruns an Bracht, a.a.O. 2) Bruns an Bracht, a.a.O. 3) Ebd.
- 83 -
III.
Teil:
Begründung und Entwicklung einer aktiven deutschen Minderheitenpolitik
1. Genesis und Konzeption 'der minderheitenpolitischen
Neuorientierung
Die Beurteilung des Minderheitenschutzes als Rechtsidee schloß die Fordenmg ein, daß seine Prinzipien absolute und universale Geltung beanspruchen mußten, Wer sich zu dieser Rechtsidee bekannte, durfte, um nicht unglaubwürdig zu werden, nicht an den Grenzen des eigenen Volkstums haltmachen, sondern mußte sich auch für den Schutz fremder Volksgruppen aussprechen. Es lag deshalb nahe, daß die Sprecher der deutschen Minderheiten, weJlll sie sich für eine aktive deutsche Minderheitenpolitik einsetzten, eine vorbildliche iJlllerdeutsche Minderheitenschutzregelung als notwendiges Gegenstück ansahen, mit dem sich Deutschland zur absoluten Verbindli9Jlduswurde von der Resolution des Völkerbundsrats (am 12. Ml.rz 1927) über4) • Ein Schweizer Schulrat wurde beauftragt, nommen in strittigen Fällen zu prüfen, ob die betreffenden Kinder imstande waren, dem deutschen Unterricht sprachlich zu folgen. Wennnicht, durften sie nicht zur Minderheitsschule zugelassen werden. Es handelte sich hier um eine exzeptionelle Regelung, die die Rechtslage unberührt ließ und kein Präjudiz für künftige Fälle bedeutete. Hier könne dem Staat nicht Ztmlllten, wirkte vor allem das polnische Argument, ~ daß er der Entnationalisierung seiner, d.h. der Kinder der Staatsnation, widerstandslos zusehe. Dem lag die Auffassung zugrunde, daß auch die Genfer Konvention im Sinne der allgemeinen Minderheitenschutzbestimm.mgen auszulegen sei, die nur der tatsächlichen Minderheit Sonderrechte gewährten. Dagegen ging die deutsche Regierung davon aus, daß die Genfer Konvention bewußt nicht auf dem 1) Aufzeichnung
L, Collier,
a.a.O.
2) Aufzeichnung Se:yur (Leg.Sekr. Deutsche Gesandtschaft Warschau) vom 22.1. 1927 über einen Besuch Colbans, AA Abt. IV, Polen, Pol, 6. OS, Bd. 4 (ungefilmt).
3) S. Aufzeichnung t;n des Foreign
L. Collier, a.a.O.; ebd,: Stellungnahme Office C. Hurst vom 18.2.1927,
4) Kaeckenbeeck, a.a.O.,
S, 321 ff,
des Rechtsexper-
- 160 -
Vorhandensein einer einheitlichen deutschen bzw. polnischen baue, daß somit ein Oberschlesier, auch wenn er sich nicht derheit bekenne, doch für seine Kinder die minderheitlichen Anspruch nehmen, ja,daß ein Vater ein Kind in die deutsche die polnische Schule schicken könne.
Minderheit aufzur deutschen Min~ Schulrechte in und ein anderes in
Der Ratsbeschluß sollte, wie es ausdrücklich hieß, einer in der Genfer Konvention nicht vorhergesehenen de-facto-Situation gerecht werden. Darunter war zweifellos die Anmeld1.n1g nur Polnisch sprechender Kinder zur ~fi.nderheitsschule zu verstehen. Auf diesen Fall bezogen,war eine Nachprüfl.lllgsicher gerechtfertigt, 1.n1dauch die Reichsregierung gab der Resolution aus pädagogischen Gründen ihre Zustimmung. Ja,man nrußte im Auswärtigen Amt grundsätzlich zugeben, daß sich die Minderheiten durchaus mit dem Satz abfinden könnten, Kinder, die nur die Staatssprache sprächen, dUrften nicht die Minderheitsschule besuchen1). Dennoch hielt man hier prinzipielle Bedenken gegen den Ratsbeschluß aufrecht die sich vor allem dagegen richteten, daß die Entscheidung über die Zulassun; zur Minderheitsschule einer dritten Instanz zugeschoben wurdeZ). In einer vom Auswärtigen Amt vorgenommenenWertung dieses Beschlusses hieß es, daß allgemein minderheitenpolitisch der Gedanke, überall neutrale Instanzen einzuführen, grundsätzlich nicht erörtert werden dürfe. "Denn das Ziel ist der Ausgleich aus eigenen Kräften innerhalb des Staates. Dieser Ausgleich darin liegt die tiefere Begründrmgfür die Forderung der Selbstbestimmung der Nationalität - wird nie zustande kommen,solange die nationale Frage nicht als Bekenntnisfrage geachtet wird" 3) • Das dogmatische Beharren auf dem Subjektivitätsprinzip und die grundsätzliche Ablehnung neutraler Untersuchungsorgane lassen sich - angesichts der Verhält-· nisse in Oberschlesien - kaum mit dem Hinweis auf das ideelle Prinzip der unbedingten Achtung der Nationalität rechtfertigen. Denn eine Anwendungdes Prinzips der freien, nicht nachprüfbaren Entscheidmg war sicher bei der national ambivalenten Schicht sinnvoll, es aber auch für die nur polnischsprachigen Bevölkerungsteile in Anspruch zu nehmen, die sich für die deutsche Minderheitenschule entschieden, konnte schwerlich mit der Idee des Minderheitenschutzes gerechtfertigt werden. Eine neutrale Instanz hatte hier als Korrek1) Aufzeichnung 2) Aufzeichnung 3) Aufzeichnung
(o.U.)
vom 8.4.1927,
Zechlin AA (o.U.)
vom 7,3.1927,
AA 5462/E 378 859-871. AA 4571 H/E 169 601 f.
vom 8.4.1927,
a.a.0.
- 161 tiv, schon aus pädagogischen Gründen, im Interesse der Minderheitsschulen, durchaus ihren Platz. Auf der Märztagung des Völkerbundsrates 1927 bekannte sich Stresemann nachdrücklich zur uneingeschränkten Gültigkeit des Subjektivi tätsprinzips, indem er erklärte, es dürfe vom rechtlichen Standpunkt keine Frage sein, daß auch ein nur Bolnisch sprechendes Kind in die Minderheitsschule aufgenommenwerden und der Grundsatz der ausschließlichen Entscheidi.mgsfreiheit des Erziehungsberechtigten, 1.n1abhängigvon der tatsächlichen Sprache des Kindes, aufyechterhalten bleiben müsse1). zweifellos war dies eine absurde Konsequenz, 1.n1dder Präsident des Gemischten Schiedsgerichts für Oberschlesien Kaeckenbeeck meinte gelegentlich, vor allem diese extreme Haltung habe im Völkerb1.n1dsratnegative Reaktionen hervorgerufen; ein in sich gutes Prinzip sei, wie so oft, dur.ch Oberspitzung kOllll)Iomittiert worden2). . Die Forderung nach einem "Ausgleich aus eigenen Kräften" bedeutete somit zwar formal das Bekenntnis zum freien Wettbewerb der Kulturen, hinter ihr stand aber zweifellos das Kalkül, den Bestand des DeutschtlllllS durch Heranziehen von Randschichten zu verstärken. Immerhin zeigten aber gerade die Erfahrungen in Oberschlesien,die Anzieh1.n1gskraftdes deutschen Schulwesens, daß das Subjektivitätsprinzip ein wirksames Element deutscher Minderheitenpolitik war. Dieser Linie gemäß erhob Stresemann Widerspruch, als der zuständige Völkerbtmdsrapporteur auf die Anfrage der polnischen Regierung, ob das in der Ratsresolution eingerichtete PrUfl.lllgssystemauch für ein weiteres Schuljahr (1927/ 28) angewandt werden könne, einen zustimmenden Bescheid gab3). Daraufhin wurde die Frage an den Ständigen Internationalen Gerichtshof weitergeleitet, der am 26. April 1928 seine Entscheidung fällte, Das Ergebnis war ein in seiner Auswirkung fragwürdiger Kompromiß,der sich im Prinzip der polnischen "objektiven" These anschloß, andererseits aber, im Sinne der deutschen Auffassung, auch ein "subjektives" Element enthielt: 1. Die Erklärungen der Eltern sollten sich auf die tatsächliche Situation beziehen 1.n1dnicht bloße Absichtserklärungen sein, d.h. die Eltern sollten bei Anmeldungenzur Minderheitsschule eine Aussage über die tatsächliche Sprache des Kindes machen, nicht dagegen bloß ihren Willen mitteilen, daß sie die Unterrichtung ihres Kindes in der Minderheitsschule wünschten. 2. Auch diese Erklärl.lllg durfte nicht verifiziert werden. - In der Tat handelte es sich hier, wie die "Neue Zürcher Zeittmg" 1) Journal
Officiel
2) Kaeckenbeeck,
VIII,
a.a.0.,
3) Auf der Ratstagung
S. 402. S. 330,
am 8.12.1927,
ebd.,
S. 324.
- 162 -
schrieb, um ein Urteil, das nicht den Nameneines salomonischen verdiente 1) • Denn von vornherein war zu befürchten, daß die polnischen Behörden Erklärungen Folnisch sprechender Eltern, ihre Kinder sprächen Deutsch, zu verhindern trachten würden. Gerade eine Entscheidung, die beiden Seiten gerecht zu werden versuchte, war geeignet, Leidenschaften zu wecken und die Agitation zu verstärken. Der britische Vizekonsul in Kattowitz berichtete im Juni 1928 in diesem Zusammenhang, daß es auf polnischer Seite einen zunehmenden Haß gegen alles Deutsche gebe, der sich nicht nur in psychischem Druck, sondern auch in Anschlägen auf Personen und Sachen äußere 2). Vor allem der gegenwärtige Woiwode betreipe eine rücksichtslose Politik der Polonisierung, in der er besonders von aus Ostpolen angesiedelten Elementen unterstützt werde. Unbestreitbar sei auch der moralische Druck auf die Eltem,und es würden ihnen vor den Anmeldekommissionen für die Minderheitsschulen Fragen gestellt, die sie unsicher machen oder den Eindruck erwecken sollten, als rrüßten sie bei Beharren auf ihrer Entscheidung unangenehme Konsequenzen gewärtigen.
1
War somit das Urteil des Internationalen Gerichtshofs an sich schon fragwürdig, so war erst recht seine Realisierung problematisch. Das betraf besonders die Praxis der Anmeldung zur Minde_rheitsschule: Es gab Kinder, die im Zuge der durch den Völkerbundsrat angeordneten Prüft.mgen wegen mangelnder Deutschkenntnisse·von der Minderheitsschule ausgeschlossen worden waren, die aber für das Schuljahr 1928/29 erneut für die deutsche Schule angemeldet wurden, nun - dem Haager Urteil entsprechend - mit der Erklärung der Eltern, die tatsächliche Sprache der Kinder sei Deutsch 3), Es zeigte sich daran, daß fonnale Prinzipien, zumal in Oberschlesien, kaum geeignet waren, der jeweiligen konkreten Situation gerecht zu werden. Im Grunde waren diesen Verhältnissen nur politisch-pragmatische Lösungen angemessen, die einer Entspannung der Atmosphäre dienten. Zu ihnen hätte auf polnischer Seite die von Colban gefor1) "Kein salomonisches
Urteil",
"Neue Zürcher Zeitung"
vom 8.6.1928.
2) Bericht des britischen Vizekonsuls R. Ross an den britischen in Warschau Erskine, von diesem am 7.6.1928 an Chamberlain, 3090/488/55.
Botschafter F,O. 371/N
3) Erst 1934 kam auf' Grund einer Übereinkunft zwischen der Woiwodschaft und dem Deutschen Volksbund ein von beiden akzeptiertes Prüfungssystem zustande, ermöglicht durch eine Erklärung des Volksbundes, daß der Oberschlesier, der sich zum Deutschtum bekenne, die Pflicht habe, in seiner Familie die deutsche Sprache zu pflegen; wenn er dieser Pflicht nachkomme, müsse und werde sein Kind die deutsche Sprache beherrschen, d.h. also einer Prüfung für die Minderheitenschule gewachsen sein, s. Kaeckenbeeck, a.a,O., S. 335.
- 163 -
derte Ablösung des Woil~odengehört l),
eine Maßnahme, die
die Regierung
in
Warschau aus Rücksicht auf die innenpolitische Opposition, vor allem aber aus der gnmdsätzlichen Auffassung heraus ablehnte, daß es sich hier um rein innerpolitische Fragen handle, in denen sie sich die volle Souveränität des Handelns vorbehalten müsse. Auf deutscher Seite hätte es einer Modifizierung des dogmatischen Standpmiktes bedurft, an dem·die Reichsregierung um ihrer allgemeinen minderheitenpolitischen Prinzipien willen festzuhalten entschlossen
war. So ging es 1928 am Beispiel Oberschlesien um gnmdsätzliche Positionen in der Minderheitenfrage, zudem zeigte sich erneut besonders deutlich die Unzulänglichkeit des internationalen Minderheitenschutzsystems. Im September 1928 standen.auf Grund einer Petition des "Deutschen Volksbundes" die Sicherheitsverhältnisse in Oberschlesien auf der Tagesordnung des Völkerbundsrats 2), Inzwischen verstärkte sich auf deutscher Seite das ~finden, daß ein energischerer Schritt der Reichsregierung in dieser Frage notwendig sei. Am 1. Oktober 1928 gab Staatssekretär Weismannvom Preußischen Staatsministerium auf einer Minister~esprechung zu verstehen,· daß seine Regierung mit Sorge den Ausgang der diesmaligen Verhandlungen über die oberschlesischen Minderheitenfragen betrachte. Er äußerte die Hoffnung, daß die deutsche Delegation auf der nächsten Ratstagung der Unzufriedenheit noch deutlicher Ausdruck gebe, wenn nicht mehr zu erreichen sei 3) •
3. Die grundsätzliche
Erörterung der Minderheitenfrage
a) Stresemanns "Faustschlag'' Programms
im Volkerbund 1929
in Lugano tmd die Entwicklung eines deutschen
der Minderheitendebatte auf der Tagung des Völkerbundsrates im Dezember 1928 in Lugano stand wieder eine große Schulbeschwerde des "Deutschen Volksbundes" von Oberschl~sie1,1, Darin wurde u.a. Klage geführt, daß von den polnischen Behörden verschiedene Anmeldefristen für Mehrheits- und MinderIm Mittelpmikt
1) Diese Lösung wurde auch von britischer Seite befürwortet. Aufzeichnung L. Collier vom 10.7.1928, F.O. 371/N 3552/488/55. Auf'zeichnung desselben vom 12.6.1928, ebd. N 3090/488/55. 2) Kaeckenbeeclt,
a.a.O.,
3) Akten der Reichskanzlei,
S. 239 Anm. 4; Journal Kab. Miiller II,
Officiel
S, 136.
IX, S. 1489 ff.
-
11
10'!-
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heitsschule angesetzt 1.mddie Zwischenzeiten von polnischen Organisationen zu einem Druck auf die Eltern benutzt worden seien, außerdem, daß es eine aus Nationalpolen zusannnengesetzte Anmeldekommission gebe, vor der die Eltern bei der Anmeldung ihrer Kinder persönlich erscheinen müßten. Im Zusammenhangmit diesen Fragen ergriff auf der Schlußsitzung am 15. Dezember, nachdem der Rapporteur seinen Bericht über die Eingabe erstattet hatte, der polnische Außenminister Zaleski das Wort zu einer vorbereiteten gr1.mdsätzlichen Stell1.mgnahme, Er erklärte, die Hauptursachen analysieren zu wollen, "dank denen der Rat seit einiger Zeit mit zahlreichen Petitionen des Volksb1.mdes sozusagen überschwemmtwird, der sich das Recht anmaßt, die Interessen der deutschen Minderheit in Polnisch-Oberschlesien zu vertreten" 1), Diese Petitionen seien in ihrer großen tvehrheit aufgrund- 1.mdbelanglose Vorgänge bezogen und erweckten den Eindruck, als gehe es den Autoren nur darum, die Weltmeinung zu überzeugen, daß die Genfer Konvention vergewaltigt werde, Zur Unterstützung seiner Ausführungen führte Zaleski Zahlen an, die beweisen sollten, daß die Lage des Schulwesens in Oberschlesien alles andere als beklagenswert sei, 1.mdversicherte auch, daß sich die wirtschaftliche Situation Oberschlesiens in einer Periode hervorragender Entwick11.mgbefinde. Das Verhalten seiner Regier1.mg in den oberschlesischen Minderheitenfragen wertete er als "Beweis eines weitgehenden Liberalis111US", dagegen beurteilte er den "Deutschen Volksbund" als eine Organisation, "deren gewisse Mitglieder notorisch Staatsverrat geübt haben'', als eine tatsächliche Gefahr für den Frieden, Zaleski 1.mterstellte dem Volksbund "grellen Mißbrauch der Bestirmn.mgen der Genfer Konvention und der Minderheitenverträge" und bezeichnete seine Aktivität - ZtDDalsie sich auf Fragen von so untergeordneter Bedeutung beziehe - als lediglich geeignet, der Autorität des Völkerbundes zu schaden, Wahrend dieser Rede wurde Stresemann, wie sein britischer Kollege Chamberlain beobachtete, "absolutely white" und schien seine Leidenschaft nicht mehr beherrschen zu können 2), Staatssekretär v.Schubert berichtete, daß er nie zUITOr Stresemann in solcher Erregung gesehen habe 3). Unter großer allgemeiner Spannung ergriff
Stresemann sofort
1) Journal Officiel s. 291 ff.
die Gelegenheit zur Erwiderung, wobei er sei-
X, S, 68 ff.;
deutsche Wiedergabe in: Nation und Staat
2,
2) Chamberlain an den brit. Botschafter in Berlin Sir H. Rumbold über die Vor~än~e in Lu~ano am 19.12.1928, F.O. 371/N 257/257/55, 3) Sir H. Rumbold an Chamberlain am 27.12.1928 (über ein Gespräch mit Staatssekretär v.Schubert), F.O. 371/N 6082/488/55,
- 165 ne Ausführungen mit Faustschlägen auf den Tisch unterstrich 1): Er bedaure, "nichts anderes sagen zu können, als daß aus dieser Rede der Geist des Hasses gesprochen hat, ••• Es kann sein, daß die einzelnen hier behandelten Fragen nicht von entscheidender Bedeutung sind, aber sie sind nicht ohne Bedeutung, 0 nein, Herr Zaleski, ob ich meine Kinder erziehen lassen kann in meiner· Sprache i.md in der Kultur meines Volkes, das mag ziemlich gering sein im Vergleich zu Handelsvertragsverhandlungen oder Friedensverträgen, aber es handelt sich um einen Teil des menschlichen Rechtes, das den Minderheiten vom Völkerbund zu ihrem Schutz gegeben ist. Wie können Sie erklären, daß es unerhört sei, wenn eine Minderheit in Oberschlesien von diesem Recht Gebrauch macht?" Im übrigen: Welche politischen Gründe veranlaßten Zaleski, im Zusammenhang mit den Minderheitsschulen über die industrielle Entwicklung in Oberschlesien zu sprechen? "Soll ich erwidern, daß heute an der Spitze der Werke in Oberschlesien im wesentlichen deutsche·· Männer stehen und deutsche Intelligenz mitarbeitet , , • , daß Sie allein diese Entwicklung, von der Sie gesprochen haben, gar nicht hätten erreichen können?" ZumVorwurf, im "Deutschen Volksbund" werde Hochverrat getrieben, rief Stresemann aus: "Die Liebe zur alten Heimat und Hochverrat sind oft stark verwandt. Es ist der Unterschied zwischen den staatsrechtlichen Gesichtspimkten und der mehr gefühlsmäßigen Einstellung". Stresemanns Erklärung schloß mit dem spontanen Antrag, daß in der nächsten Sitzung des Völkerbundsrates im März 1929 die auf Grund der Verträge bestehenden Minderheitenrechte g rund sät z 1 ich diskutiert würden, "und nicht in der Art eines .Anhängsels an eine Schuldebatte", Denn: Wennder Völkerbund seine Hand nicht mehr über die Minderheiten halte, so würde man sich überlegen müssen, ob man in ihm noch das Ideal sehen könne, das den Anlaß zum Eintritt gegeben habe. Unter dem Eindruck des Außergewöhnlichen dieses Zusmmienstoßes einigten sich während der Obersetzung von Stresemanns Rede Briand, Chamberlain und Generalsekretär Dnmmond, daß Briand als Ratspräsident für den Völkerbundsrat sprechen müsse, Dieser bekräftigte in feierlicher Fonn die hohe Bedeutung des Minderheitenschutzes für die Arbeit des Völkerbundes, der es sich zur Ehre anrechne, sich dieser "heiligen Sache" anzunehmen. In keinem Falle werde er die Rechte der Minderheiten vernachlässigen. Briand deutete auch die Möglichkeit an, gewisse Reformen des Minderheitenschutzsystems vorzunehmen, indem er 1) Auch in Stresemann:
"Vermächtnis"
III,
S. 413 ff'.
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den Vorschlag ins Feld führte, eventuell ein schnelleres Verfahren bei der Behandlung von Petitionen einzurichten 1).
li
II
Mit dieser Konfrontation war die Minderheitenfrage in aller Schärfe und Gnmdsätzlichkeit ztnnThemader europäischen Diskussion geworden, nachdemsie in den Jahren zuvor weitgehend nur als Spezialproblem erörtert worden war. Zaleskis Erklärung wurde auf deutscher Seite wie ein überfall empfunden, der schlagartig die Völkerbundsidylle zerstört habe. Noch am Abend vor dem Zwischenfall hatte der polnische Außenminister seinem deutschen Kollegen das Versprechen abgegeben, die Minderheitenfrage nicht aufzuwerfen2). Am folgenden Tage, unmittelbar vor der Sitzung, machte er dagegen Staatssekretär v.Schubert die Mitteilung, er sei gezwungen, einige Worte über Oberschlesien und den Völkerbund zu sagen. Dabei hatten am Vortage sowohl die Rede als auch die Obersetzungen schon fertig vorgelegen, die dann in der Sitzung zusammenmit antideutschen Broschüren an die Korrespondenten im Saal verteilt wurden. Stre~ semann telegraphierte unter dem Eindruck dieses Vorgangs nach Berlin: "Es war ein Gentleman1 s Agreement ohne einen polnischen Gentleman113 ). Der britische Außenminister hatte Zaleski unmittelbar vor der Sitzung empfohlen, sich einer offiziellen Erklärung zu enthalten und stattdessen einen persönlichen Appell an Stresemann zu richten, dieser möge seinen Einfluß geltend machen, daß nicht länger von jenseits der Grenze Unruhe nach Polen hineingetragen werde. Selbst Briand als Ratspräsident und Verbündeter Polens war vorher nicht unterrichtet worden. Kompromittiert von seinem polnischen Kollegen, fand er sich gar zu einem Komplimentfür Stresemann bereit: Er habe "heute morgen sehr gut gesprochen114). Briands Abschlußerklärung im Rat wurde mit dem Pmpfinden aufgenommen,daß er eine höchst schwierige und gefährliche Situation mit größtem Geschick und Takt gemeistert habe5). 1) Journal
Officiel
X, a.a.O.
2) So stresemann gegenüber dem franz. Botschafter in Berlin de Margerie am 12,2,1929 (lt. Mitteilung de Margerie an Chamberlain vom 20,2,1929); Brief Chamberlain an Sir W. Tyrrell (brit.Botschafter in Paris) vom 20.2.1929, F.O. 371/W 1544/185/98. 3) So Stresemann rückblickend in einer Sprachre~elun~ für die deutsche Vertretung in Bern vom 3,2.1Y29, AA 4571 H/E 169 830 f, 4) Briand ~e~enüber Schubert. 2366/K 069 371 f.
Aufzeichnung Schubert vom 15, 12.1928, AA K
5) Chamberlain an Sir H. Rumbold am 19,12,1928,
a.a.O.
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Die polnische Erklärung.zu diesem Zeitpunkt und in dieser Formwar offenbar in der lhngebungPilsudskis veranlaßt worden1) • Angesichts der außenpolitischen Folgen soll der polnische Ministerpräsident Bartel einen "großen Skandal" veranstaltet haben, als er von dem Zwischenfall hörte 2). Dabei war inhaltlich nur mehr die traditionelle Einstellung Polens zun internationalen Minderheitenschutz bekräftigt worden: Die Verdächtigung jeder Organisation, die im Nameneiner Minderheit sprach, und die Tendenz, die Minderheitenprobleme in ihrer Bedeutung herunterzuspielen mit der Konsequenz, daß dafür jede internationale Instanz zu aufwendig sei. Das zeigte sich auch, als Zaleski auf der·Rückreise von Lugano einem Vertreter der "Neuen Freien Presse" in Wien ein Interview gleichsam aufnötigte, in dem er - trotz der Reaktion auf seine Rede in Lugano - seine Angriffe wiederholte, erneut den "Deutschen Volksbtmd" in die Nahe des Verrats brachte tmd gegen die Behelligung des Völkerbundes mit solchen seiner Auffassung nach unbedeutenden .Aufgabenprotestierte. Nach Deutschland gerichtet meinte Zaleski, seine Rede sei geradezu dazu angetan, die Beziehungen zwischen Deutschland und Polen zu verbessern, da gute Rechntmg gute Freunde mache. Letztere Bemerktmgwurde auf deutscher Seite, namentlich von Stresemann selber, als geradezu zynisch empftmden3). Stresemanns Erklärung vor dem Völkerbundsrat erregte natürlich eimnal wegen ihrer scharfen FormAufsehen, sie beunruhigte aber auch wegen ihres Inhalts, da sie aller Welt die schon fast vergessene Tatsache ins Bewußtsein brachte, daß Deutschland nicht zuletzt mit dem Ziel einer Aktivierung des Minderheitenschutzes in den Völkerbund eingetreten war: Die deutsche Regierung schien nun offenbar entschlossen, diese .Aufgabeenergisch in Angriff zu nehmen, wenn Stresemann damit drohte, Deutschland werde notfalls den Völkerbund verlassen. Äußerst problematisch waren dabei natürlich die Bemerktmgüber die oft enge 1) So Drummondgegenüber dem deutschen Untergeneralsekretär des Völkerbunds Dufour. Dufour an Weizsäcker am 15,1,1929, AA K 2366/Bd. 1, 2) Vertrauliche Aufzeichnung Schubert über ein Gespräch mit Stresemann, der sich auf eine "gute Quelle" bezieht, am 29, 12. 1928, AA 4571 H/E 169 825 f. 3) So Köpke gegenüber dem Berliner Vertreter der "Neuen Freien Presse"; wie dieser später mitteilte, hatte sich Zaleski das Interview geradezu erpreßt, indem er nach Ankunft in Wien um den Besuch eines Vertreters der Zeitung ersucht und, für den Fall einer Ablehnung, über die polnische Gesandtschaft mit Konsequenzen gedroht habe, worunter man nur ein eventuelles Verbot der Zeitung in Polen habe verstehen können. In einem eigenen Artikel distanzierte sich die Redaktion unmittelbar nach Erscheinen des Interviews von Zaleskis Ausführungen. Aufzeichnung Köpke vom 21.12.1928, AA 4571 H/E 169 818 f, Brief Goldmann (Berliner Vertreter der "N.Fr.P.") an Str.esemann v. 21.12.1928, ebd., E 169 821 f'.
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Nachbarschaft zwischen Liebe zur Heimat und Hochverrat und das geringschätzige Urteil über den polnischen Anteil an der Aufbauleist1.mg in Oberschlesien. Diese zumindest taktisch unklugen Bemerkungen, auch die Schilderungen des Vorfalls durch Beteiligte, zeigen, daß Stresemamis Erklärung nicht vorbereitet, sondern ein spontaner Ausbruch war. Unter ausdrucklicher Bezugnahme auf entsprechende französische Pressemeldungen hielt es Chamberlain für abwegig zu 1.mterstellen, es habe sich hier um eine künstliche Reaktion gehandelt 1). Es gab zu dieser Zeit im Auswärtigen Amt auch gar kein detailliertes Konzept für ein Aufrollen der Minderheitenfrage im Völkerb1.md. Andererseits bestand natürlich ein gewisser innerer Zusannnenhang, einmal mit der allgemeinen Verschärfung der minderheitenpolitischen Diskussion, zum andern mit der Entwickl1.mg der Minderheitenfrage im Reich, - Unterstützt wurde Stresemanns Antrag aufgrundsätzliche Behandlung des Problems auf der nächsten Ratstagung durch einen parallelen.Vorstoß des kanadischen Delegierten Dandurand.
fii 111
In der deutschen öffentlichkeit wurde Stresemanns .Auftreten weithin als "erlösende Tat 112) angesehen, in einer Zeit, in der es dem Minderheitenproblem wesentlich besser gehe als den Minderheiten selber 3). Eine besonders positive Reaktion zeigten die Führer der deutschen Volksgruppen, die sich in ihrer grundsätzlichen Linie bestätigt sahen, wenn sie meinten, "daß Stresemann weder politisch noch moralisch in der Lage gewesen wäre, mit Zaleski im erwünschten Sinne zu sprechen, wenn nicht die Minderheitenfrage in Deutschland wenigstens in den Hauptzügen geordnet gewesen wäre•;4). Auf der anderen Seite war Stresemanns "Faustschlag" geeignet, bei den Polen und auch in Frankreich alte Ressentiments gegenüber der deutschen Politik zu wecken oder zu stärken, galt doch die heftige Reaktion des deutschen Außenministers als sinnfälliger Ausdruck einer Gewaltpolitik. Zaleski selber wollte in diesem Zusanunenhang von dem Empfang einer nationalistischen Delegation bei Stresemann erfahren haben, die diesem als Zeichen des Dankes eine in Eiche geschnitzte Faust überreicht habe, 1.llld konnnentierte diese Infonnation mit der Bemerkung, daß die Annahme eines solchen Fmblems durch einen Friedensnobelpreisträger ihm
1) Chamberlain
an Sir H. Rumbold am 19,12.1928,
2) Schiemann in "Frankfurter 3) Werner Hasselblatt: Rundschau, Märzheft
4) Ebd.
Zeitung" , zi t.
in:
a.a.O. Nation und Staat
"Der Stand des Minderheitenproblems", 1929.
in:
2, S. 361 f. Deutsche
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Stoff zum Nachdenken gebe 1) • Dementsprach auch der Tenor der Kommentare in der französischen Presse. Der Sonderberichterstatter des weitverbreiteten "Petit Parisien" hielt Zaleskis Rede zwar taktisch nicht für zweckmäßig, da sie Stresemann eine günstige Gelegenheit gegeben habe, sich in starker Fonn zum Verteidiger der Minderheiten aufzuwerfen, was ihm eine triumphale Rückkehr nach Berlin verschaffen werde, aber er erklärte sich solidarisch mit der Ungeduld des polnischen Verbündeten im Hinblick auf die "wenig fundierten" Petitionen der deutschen Minderheit in Oberschlesien 2). Im konservativen "Figaro" wurde Stresemanns Faustschlag als Charakteristikum Bismarckscher Politik bezeichnet 1.mdresiJm:i.ert, daß die internationale Moral gegenüber der "doctrine genevoise" stark im Hintertreffen sei 3) • Der angesehene "Le Temps" meinte, daß Stresemanns Replik in ihrer Wirkung berechnet gewesen sei 4), Hier handele es sich um ein Mittel der deutschen Politik, um auf dem Kontinent eine Unruhe wachzuhalten, aus der die Pangennanisten Vorteile zu ziehen verständen, Mit einem Schlag habe sich für Stresemann die Chance der Unterstützung durch Nationalisten 1md Konservative ergeben. So könne er wenigstens einen Erfolg von Lugano nach Hause bringen. Schärfer äußerte sich der bekannte nationalistische Journalist Gerault ("Pertinax") im "L'Echo de Paris"S): Stresemanns Rede sei ein kalt berechneter und taktisch überlegter Vorstoß gegen das erstarkende Polen gewesen, In diesem Sinne sei der Vorfall ein Zeugnis der "violence latente" Deutschlands. Noch habe es nicht die "libert~ de son temperament" wiedererlangt und spiele deshalb den guten Apostel. Danmter verberge sich das Revanchegelüst, das im gegebenen Augenblick die Fassade von Genf zerreißen werde. Stresemann habe nur ein schwaches Abbild von dem abrollen lassen, was die deutsche Politik in Europa sein werde, wenn diese sich erst ohne Beschränkung entfalte. - Diese sich über ein breites politisches Spektrum erstreckenden· Konunentare ließen ahnen, mit welchen Widerständen die deutsche Regierung bei ihrem minderheitenpolitischen Vorstoß würde zu rechnen haben. Lebhafte Zustinmn.mgdagegen fand Stresemanns Erklärung in Ungarn. Noch am Tage vor dem Zwischenfall hatte sich der 1.mgarische Ministerpräsident bei Staatssekretär
Schubert beschwert,
1) Erskine an Chamberlain F.O. 371/W 1398/185798, 2) "Petit 3) "Figaro"
Parisien"
daß sich Deutschland im Völkerb1.md nicht genügend am 13.2.1929
vom 16.12.1928.
vom 16.12.1928.
4) "Le Temps", Leitartikel 5) "L'Echo de Paris"
vom 17. 12, 1928.
vom 17.12.1928.
(über ein Gespräch mit Zaleski),
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für die Minderheiten einsetze 1); die bisherige Zmückhaltung der Reichsregierung hatte nämlich in Ungarn eine gewisse Enttäuschung hervorgerufen 2). Stresemanns Faustschlag wurde auf ungarischer Seite offenbar als Einleitung einer Politik verstanden; auf die man schon 1925 gehofft hatte. Welche Konsequenzen ergaben sich nl.lll aus der Ratstagmg für die weitere Strategie und Taktik des deutschen Vorgehens? Namentlich die deutschen Vertreter in Genf erkannten bald die Chance, aber auch die Verpflichtung, die sich aus Stresemanns Rede für die deutsche Politik ergab. Man war sich hier darüber nicht als ein zufälliger klar , daß die Ankllndigmg einer deutschen Initiative Schritt gewertet werden durfte, sondern daß sie die große Aktion werden mußte, auf die man seit Deutschlands Eintritt in den Vdlkerbl.llld wartete. Die Abrüst1.U1gs-und die Minderheitenfrage wurden hier als die großen Aufgaben des Völkerbundes für das bevorstehende Jahr genannt 3). Angesichts der Tatsache, daß sich Deutschland minderheitenpolitisch bisher zmückgehalten und die Minderheitenfrage nur von Fall zu Fall,nach Maßgabe des jeweiligen aktuellen Interesses,vorwiegend in der Defensive oder Hilfestelll.lllg_zugunsten der petitionierenden deutschen Minderheit "gewissermaßen ressortmäßig" und imner auf den Einzelfall beschränkt behandelt hatte, ohne das Gesamtproblem anzmühren, schien mm "eine programmäßige, führende deutsche Initiative in konkreter Fonn unerläßlich" 4). Max Beer, ein deutscher Pressevertreter in Genf, der die Atmosphäre im Völkerbund gut kannte l.llld auch an den Beratungen der deutschen Vdlkerbundsvertretung teilnahm, dem - bezeichnend für seinen Einfluß - Stresemann seine Genfer Reden zur Begutachtung vorzulegen pflegte, betonte Anfm1$! 1929 in einem Brief an Weizsäcker, es könne sich jetzt "nicht nur um einen zufälligen Zwang für 1.U1SereVölkerbl.llldspolitik" handeln, "nicht nur um das mehr oder weniger freiwillige Innehalten eines mehr oder weniger gewollt abgegebenen Versprechens", vielmehr sei die Ankündigmg Stresemanns aus der Situation überhaupt erwachsen, in der sich Deutschland dem Minderheitenproblem gegemiber seit geraumer Zeit befunden habe, Im Hinblick auf Deutschlands moralische Stellung tmd auf nationale Gesichtsptmkte müsse jedes weitere Aufschieben der Frage verhängnisvoll sein, sei doch die deutsche Initiative "logisch mit der landläufigen Auffassung von der deutschen Mitwirkung im Völker-
1) Aufzeichnung Schubert in Lugano am 15.12.1928, a.a.0. 2) Auch: Schoen (Dt.Gesandtsch.Budapest) an AAam 27.12.1928,AA K 1764/K 432 506. 3) Beer an Weizsäcker am 5.1.1929, AAK 2366/K 669 397-401. 4) Ebd,
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bund verbunden". Deshalb könne es auch nicht gern1gen, wenn sich Deutschland mm auf eine Teilfrage des Minderheitenschutzes beschränke, "um ein im Grunde als tmbequem empfundenes Versprechen des Reichsministers schnell tmd im Vorübergehen einzulösen". Wer A sage, müsse auch B sagen, "und A haben wir nicht etwa gesagt, als Dr. Stresemann seine Rede hielt, sondern A haben wir bereits gesagt, als wir in den Völkerbund eintraten" 1) • Konkreter äußerte sich das deutsche Mitglied im Völkerbundsekretariat Renthe-Fink, der jetzt den Zeitptmkt gekonnnensah, mit dem Konzept einer eigenständigen Rolle Deutschlands im Völk~~bl.llld, wie sie in der von ihm mitverfaßten Denkschrift vom Dezember 1925 beschrieben war, Ernst zu machen. Neben dem Prestige, das Deutschland "humanitär tmd völkerbundlich" als Vorkämpfer der Minderheiten gewimien könne, und abgesehen von dem Interesse an der Erhaltung des DeutschtUIIISschienen ihm auf lange, Sicht drei konkrete Ziele in der deutschen Minderheitenpolitik gegeben: "gewisse Staaten durch Unterstützung ihrer Minderheiten schwach zu erhalten; den Boden für den Moment vorzubereiten, wo die Genfer Konvention für Oberschlesien abläuft; die Notwendigkeit der Rückkehr gewisser Gebietsteile an Deutschland darzutun 112). Aus Gesprächen in Genf hatte er den Eindruck gewonnen, daß der psychologische Moment gekommensei, um zu zeigen, daß es Deutschland mit dem Minderheitenschutz Ernst sei und es nicht seine Hand dazu biete, "ilm in die politische Rumpelkannnerzu relegieren 113), Dagegen bemühte man sich im Vdlkerbundsekretariat von vornherein, die Erwartungen auf deutscher Seite zu dämpfen. Colban, der frühere Leiter der Minderheitenabteilung, hielt es , wie er Renthe-Fink gegern1ber äußerte, für das Beste, wemi Stresemann im Mirz erkläre, seine Initiative habe sich damals zum großen Teil gleich erledigt, da Briands feierliche Zusicherungen geeignet seien, ihm volle Genugtuung zu geben; im übrigen habe der kanadische Delegierte Vorschläge bezüglich des Verfahrens angekündigt,und er - Stresemann - wolle abwarten, was sein Kollege zu sagen habe 4). Für den ·Generalsekretär selber war das bestehende Verfahren das Maximundes Erreichbaren. Er hielt jeden Versuch, darüber hinauszugehen, für eine Schädigung der Minderheiten, da er 1) Ebd,
2) Vertraulicher Bericht Renthe-Fink an Weizsäcker vom 9,1,1929, AAK 2366/K 669 407-417. 3) Vertraulicher Bericht Renthe-Fink an Weizsäcker vom 17.1.1929, AAK 23p6/ K 669 455-462, 4) So Colban gegenüber Renthe-Fink; Renthe-Fink an Weizsäcker am 17,1,1929, a.a.0.
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dahin führe, daß die Regierungen der Minderheitenstaaten die gegemvärtige Prozedur fallenlassen würden l). In dieser Mahnung zur Vorsicht konnte man sich auch auf Chamberlain berufen, der gelegentlich - in diesem Zusammenhang - die Minderheitenverträge als einen schweren politischen Fehler bezeichnet hatte 2). Erst recht stand natürlich die französische Regierung der deutschen Initiative mißtrauisch gegenüber. Gegen diese Tendenzen, so waren die Oberlegwigen bei den deutschen Vertretern in Genf, sollte entschieden Front gemacht werden, zugleich als ein Beitrag, die tmabhängige Rolle Deutschlands im Völkerbtmd zu imterstreichen. Denn, so schrieb Renthe-Fink an Weizsäcker warnend: ''Wir laufen Gefahr, uns mit dem jetzigen System zu identifizieren", jetzt sei für Deutschland der Zeitpunkt gekOJTmen,an dem es sich "desolidarisieren'' mi.isse3). Was das inhaltliche Progr8lllll des deutschen Vorstoßes betraf, so hielt es Renthe-Fink für dem Sinn einer deutschen Initiative widersprechend, wem diese sich auf die Erörterung der Verfahrensfragen beschränkte. DemMinderheitenschutz wieder seine richti-
111! 1,,
ge Bedeuttmg zu geben, das bedeute, ihn aus der ''kleinlichen technischen l.Jlld juristischen Atmosphäre, in die er unter der Ägide Colbans geraten ist", herauszuheben, "damit er seinen großen politischen tmd humanitären Charakter wiedererhält". Dem: "Auf dem Gebiete der allgemeinen Ideen ist unsere Position, tmd da kam sich eine Konteroffensive schwer entwickeln 114 ). Es schließe auch die Aufgabe ein, die Prinzipien der Völkerbtmdsgarantie wieder ins rechte Licht zu setzen, tmd bedeute natürlich auch eine Kritik am bestehenden Verfahren, Renthe-Fink schlug vor, in diesem Punkte den Bogen ruhig weiter zu spamen, als bei sachlicher Prlifung erreichbar erscheine, könne doch der Rat schon mit Rücksicht auf die Mi.nderhei tenstaaten nicht das ganze deutsche Programm bewilligen. Andererseits sei zu vermeiden, "daß wir uns im eigenen Netze fangen tmd, weil unsere Wünsche befriedigt sind, die Regeltmg des Minoritätenschutzes als befriedigend amehmen müssen. Das Tor muß weiterer Kritik offen bleiben 115 ). Diese Bemerkung erinnerte daran, daß die deutsche Minderheitenpolitik mehr tmtfaßte als den eigentlichen Minderheitenschutz tmd dessen befriedigende Regeltmg nicht letztes und einziges Ziel dieser Politik 1) Vertraulicher Bericht Beer an Weizsäcker, in dem Beer streng vertrauliche Angaben.zur Auffassung des Generalsekretärs in der Minderheitenfrage macht, vom 24.1.1929, AA K 2366/K 669 508-511. 2) Renthe-Fink an Weizsäcker am 17,1,1929, a.a.O. 3) Ebd.
4) Ebd. 5) Ebd.
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war. Die Minderheitenfrage stand vielmehr in engein Zusammenhangmit der politischen Ordmmg in Ostmitteleuropa. Wenn man jene offen ließ, hielt man auch die territorialen Regelungen in der Schwebe und verhinderte eine Verhärtung des Status quo in diesem Raum. Bei der Vorberei ttmg der Generaldebatte komte das Auswärtige Amt freilich auch im Völkerbtmd auf ein gewisses Maß an allgemeinem Verständnis für die deutsche Lage rechnen, wobei es nun darauf ankam, dieses durch ein geschicktes vorgehen zu aktivieren. Man wußte in Genf, welche Bedeuttmg die Minderheitenfrage und das Abriistungsproblem in der deutschen Politik besaßen, wieviel von ihrer Löstmg abhing, um die öffentliche Meinung in Deutschland in den Völkerbtmd hineinwachsen zu lassen, tmd konnte sich deshalb - im Interesse des Völkerbtmdsgedankens - der prinzipiellen Notwendigkeit einer deutschen Initiative ni.cht verschließen 1). Am 3. Januar 1929 fand im Auswärtigen Amt eine erste Besprechung über das deutsche Programm statt. Die Diskussion konzentrierte sich hier noch vor allem auf das Verfahren. Im einzelnen ging es um die Fragen: 1. Soll eine Refonn des Verfahrens im Rahmen des bisher geltenden Rechts vorgenomnen oder soll dieser Rahmen geändert werden? 2. Welche Punkte für eine Refonn konunenin Frage? 3. Wie steht Deutschland zum Problem einer Verallgemeinerung des Minderheitenschutzes? Opinio conmunis war, daß die deutsche Seite von Anträgen auf Abänderung des geltenden Minderheitenrechts absehen tmd stattdessen eine durchgreifende Refonn des geltenden Verfahrens anstreben sollte 2). Der Beschränktmg auf das geltende Minderheitenrecht dürfte die Einsicht zugrunde gelegen haben, daß dieses Recht dem Vdlkerbtmdsrat immerhin gewisse Möglichkeiten gab, um wirksamen Minderheitenschutz zu bieten, tmd daß es nur an der Gesinmmg lag, mit der dieses Recht gehandhabt wurde, wem die Ergebnisse so tmbefriedigend waren. Bruns enq>fahl gelegentlich, das bestehende System in diesem Sime extensiv zu nutzen und wies darauf hin, daß, wenn auch aus den Minderheitenverträgen nicht kulturelle Autonomie abzuleiten sei, dennoch zwischen öffentlich-rechtlicher Gesamtpersönlichkeit tmd bloßem Recht einzelner Individuen eine breite Skala rechtlicher Möglichkeiten liege, daß vor al-
1) Beer an Weizsäcker vom 24.1.1929, a.a.O.
Beer schreibt hier, daß der Generalsekretär diesen Argumenten nicht verständnislos gegenüberstehe, 2) Aufzeichnung Goeken (Ref. Reinebeck) vom 7,1.1929, AA K 2366/K 669 384-387,
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lern die kulturellen Bestinmrungen der Minderheitenverträge nur den Sillll haben könnten, "dem Individuum das kulturelle Ausleben in seiner Kulturgemeinschaft zu ermöglichen" 1). Für die Verfahrensfragen standen schon eine Reihe traditioneller Vorschläge und Wünsche - namentlich seitens der deutschen Minderheiten selber - zur Diskussion. Sie betrafen die Stellung der beschwerdeführenden Minderheit im Verfahren, die Frage der Öffentlichkeit des Verfahrens und seine Dauer. Es handelte sich hier freilich nur um die "beliebten Genfer Hausmittelehen", mit denen man es - daiiiber bestand auf deutscher Seite Einigkeit - diesmal nicht bewenden lassen kollllte. In einer als Grundlage für die deutsche Stellungnahme gedachten Aufzeichmmg regte Konsul Reinebeck vom Minderheitenreferat der Kulturabteilung daher an - freilich auch noch im Rahmen der Verfahrensfragen - , den Plan einer ständigen Konnnission wieder hervorzuholen, mit dem sich der deutsche Vorstoß sichtbar von anderen internationalen Vorschlägen abheben könnte 2) • Dafür sprach auch die Oberlegung, daß eine Beschränkung auf die einzelnen Verfahrensvorschläge die Debatte uninteressant machen würde und die Gegner, wem sie geschickt vorgingen, in einzelnen Punkten entgegenkonunen könnten, um damit die Debatte sang- und klanglos abzuschließen und die Minderheitenfrage von der Tagesordnung wieder verschwinden zu lassen. Ein ständiges Gremiumdagegen bot zumindest die Gewähr, "daß die Frage dauernd in Fluß bleibt 113 )• Von den Plänen des kanadischen Delegierten Dandurand war inzwischen soviel bekannt, daß sie sich auf die Fragen der Prozedur beschränkten. Somit bestand auch ohne einen eigenen Antrag schon die Möglichkeit, deutscherseits zu diesem Thema zu sprechen. Ein solches Vorgeh~n hätte jedoch die deutsche Aktion geschäftsordnungsmäßig vom Schicksal des kanadischen Vorschlags abhängig gemacht. Es bestanden außerdem Tendenzen im Völkerbundsekretariat, die Anträge Dandurands gefahrlos
zu kanalisieren
und ihnen mit einer Mindestkonzession
1 ) Bruns: "Das positive internationale Minderheitenrecht 11 , in: Kölnische Volkszeitung, Sonderbeilage "Die Frage der nationalen Minderheiten", August 1929, 2) Aufzeichnung Reinebeck vom 14.1.1929, gedacht als Grundlage für die Stellungnahme, die deutschersei ts zum Minderheitenproblem einzunehmen sei, AA K 2366/K 669 418-436. 3) Ebd.
zu
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begegnen 1). Der General~ekretär ließ durchblicken, daß er sich, in diesem Rahmen, als äußerste Konzession an das Verlangen nach mehr öffentlichkeit eine Liste im jährlichen Bericht des Rats an die Bundesversammlung dachte, die knappe Angaben über die eingegangenen Minderheitenbeschwerden enthalten sollte. Schon eine solche Erneitenmg der Publizität schien ihm jedoch so heikel, daß er meinte, diese Liste dürfe in der Bundesvers~ung nicht zur Diskussion führen, so daß etwa Mitglieder der Bundesversammlung bestimmte Einzelfälle aufgriffen oder ergänzende Auskünfte verlangten. Eine über die Angaben in der Liste hinausgehende Öffentlichkeit im Verfahren sollte es nicht geben2). Auch solche Oberlegtmgen im Völkerbundsekretariat
schienen einen gesonderten deutschen Antrag erforderlich zu machen. Zur näheren Festlegung der Marschroute für die Ratssitzung kamen am 22. Januar 1929 die deutschen Mitglieder im Völkerbundsekretariat, der deutsche Konsul in Genf und ein Referent des Auswärtigen Amtes zu einer Besprechung in Genf zusanunen, auf der ein eingehendes Aktionsprogranun entworfen wurde 3). Unter dem Gesichtspunkt praktischer Mindestergebnisse und im Hinblick auf die politische Notwendigkeit, das Minderheitenproblem auf höherer Warte zu halten, hielt man hier die Aufstellung idealer Maximalforderungen für unumgänglich. Die politische Aktion der Abwürgung des Minderheitenschutzes müsse politisch zuiiickgeschlagen werden, Taktisch befürwortete man, sich an den Text der Verträge zu halten und Kritik im Rahmen des bestehenden Systems zu üben. Eine Auslegung der Bestimmungen über den Begriff "Garantie", über die Kontrolle des Minderheitenschutzes durch den Völkerbundsrat, die sich nicht mit dem 1921 bis 1925 gesteckten Interpretationsrahmen begnüge, eröffne der deutschen Politik durchaus M5glichkeiten für eine grundsätzliche Aufrollung der Minderheitenfrage, ohne das bestehende System zu verlassen. - Daraus ergab sich auch die Konsequenz, daß der deutsche Antrag nicht eine Verallgemeinerung des Minderheitenschutzes zur Debatte stellen durfte, da ein solches Progranun den Rahmen des geltenden Rechts ge-
1) Vertraulicher und persönlicher AA K 2366/K 669 470-473. 2) Barandon (Deutsches Mitglied
Bericht
Beer an Weizsäcker vom 23.1.1929,
im Völkerbundsekretariat)
6.2.1929, AA3147 H/D 659 801-804.
an Weizsäcker am
3) Teilnehmer der Besprechung: Dufour, Renthe-Fink, Baranden, Völckers, v. Schmieden, Beer, Frohwein (von Weizsäcker geschickt). Bericht darüber von Beer an Weizsäcker am 23.1.1929, a.a.0. Ebenso als Ergebnis der Besprechung Aufzeichnung Schmieden "Zum deutschen Vorgehen in der Minderheitenfrage" vom 24.1.1929, AA 4555 H/E 485-494.
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sprengt hätte. Auch sachlich, vom Interesse der grundsätzlichen Zielsetzung der deutschen Minderheitenpolitik, verbot es sich, den Verallgemeinerungsgedanken ins Spiel zu bringen, da es sich bei den Minderheitenverträgen um ein Sonderstatut handelte, das wegen seiner engen Verbindung mit der territorialen Neuordnung als ein solches aufrechterhalten werden mußte. Sie eröffneten, wie Bruns am 11. Januar 1929 an Stresemann schrieb, der deutschen Politik die Möglichkeit, die Minderheitenstaaten darauf hinzuweisen, "daß sie an den Grundlagen der Friedensverträge rütteln, wenn sie nicht für eine Befriedigung der Minderheiten sorgen"; Deutschland habe somit auch keine Veranlassung, einer Erörterung des Verhältnisses zwischen ~1inderheitenrecht und Irredentismus aus dem Wege zu gehen1). Andererseits erforderte aber das naturrechtliche Element der deutschen Minderheitenpolitik ein Bekenntnis zur ideellen Allgemeingültigkeit des in den Verträgen festgelegten Standards an Minderheitenschutzbestinmlungen. Hierzu bot sich als Anknüpfungspunkt die Resolution der Völkerbundsversammlung vom 21. September 1922, in der die Hoffnung ausgesprochen wurde, daß auch die nichtgebundenen Staaten gegenüber ihren Jv1inderheiten mindestens denselben Grad von Duldsamkeit und Gerechtigkeit beachteten, wie ihn die Verträge forderten. Dieser Gedanke, so schlug Beer in einem Schreiben an Weizsäcker vor, ließ sich immerhin "in Form eines Wt.m.sches ••• , aber nur in Form eines Wt.m.sches"bekräftigen 2). Zur Form des Vorgehens hielt es die Genfer Beratungskommission für zweckmäßig, daß die Reichsregienmg ihrem Antrag durch ein dem Völkerbund vorzulegendes Memorandum besonderes Gewicht verlieh; ein solches Memorandum,so wurde argumentiert, könnte auch als Dokumentein Eigenleben führen und würde eine größere Rolle spielen als eine ad hoc gehaltene Rede3). Es wurde angeregt, dieses Memorandum mit einer historisch-philosophischen Erörterung des Jvlinderheitenproblems einzuleiten, damit die deutsche Absicht klar werde, das Problem auf höherer Warte zu behandeln. Auch was den konkreten Teil der Verbessenmgsvorschläge betraf, kam die Besprechung in Genf zu dem Ergebnis , daß der deutschen Regierung nichts anderes übrig bleibe, "als ganz radikal vorzugehen und ein genaues Studium des Inhalts der Verträge selbst zu verlangen, 1) AA K 1772/K 436 197-202, 2) Beer an Weizsäcker
am
23.1.1929,
a.a.O.
3) Das im Auswärtigen Amt angefertigte Memorandum fand erst nach der Märztagung des Völkerbundsrates als Denkschrift der deutschen Regierung an das Londoner Komitee Verwendung, s. unten S. 205 f,
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aber nicht etwa mit der Tendenz, die Rechte der Minderheiten verstärken zu wollen, sondern die dem Rate aus den Verträgen zustehenden Rechte und Pflichten genau zu umreißen" 1). Diese Taktik sollte deutlich machen, daß sich Deutschland strikt an den Rahmendes geltenden Rechts hielt, und jeden Verdacht zerstreuen, als strebe man auf deutscher Seite eine Erweiterung der geltenden Bestimmungenan. Taktisch nicht ungeschickt war auch der Gedanke, die Diskussion auf die Stellung der Ratsmächte innerhalb des Minderheitenschutzsystems zu konzentrieren und dadurch eine Solidarisierung dieser Mächte untereinander gegenüber den Minderheitenstaaten zu bewirken. Als praktische Schlußfolgerung aus diesen Oberlegungen wurde die Anregung einer Studienkommission empfohlen, womit nicht eine permanente Konunissiongemeint war, wie sie in früheren Völkerbundsdebatten zur Sprache gebracht worden war - als ein ständiges Gremiumzur Oberwachungder Minderheitenverträge - , sondern ein Komitee, das den allgemeinen Komplexder Minderheitenfrage und des Minderheitenschutzes prüfte und die Gewährbot, "daß sie (die Minderheitenfrage) für längere Zeit nicht von den Tagesordnungen der Völkerbundsorgane verschwindet"2). - Der Gedanke einer besonderen Konunissionberührte wieder die grundsätzliche Frage, wieweit der Minderheitenschutz zu einer Angelegenheit von Sachverständigen gemacht werden konnte. Bisher waren im Minderheitenschutzsystem vorwiegend politische Gesichtspunkte maßgebend, politischer Natur war der Mechanismus des Verfahrens, politische Rücksichtnahmen und Interessen bestimmten Zustandekommenund Beschaffenheit von Untersuchungsergebnissen. Offenbar bestand in den maßgebenden französischen und britischen Kreisen die Befürchtung, daß ein Sachverständigenkomitee sich leichter dem Einfluß des Sekretariats oder der Ratsmächte hätte entziehen können. Ein Mitglied des Völkerbundsekretariats meinte dazu sehr aufschlußreich, mit einem solchen Komitee würde die Gefahr heraufbeschworen, "daß die Sachverständigen zu Ergebnissen kämen, die auf ihrer Unkenntnis von dem 'fonctionnement intime de la Soci~t~ des Nations' beruhten 113).
Demgrundsätzlichen Charakter der deutschen Initiative entsprach die Formulierung, mit der Stresemann am 29. Januar 1929 in einem Brief an Generalsekretär Dnnnmondbeantragte, die Minderheitenfrage auf die Tagesordnung der 1) Aufzeichnung 2) Ebd.
3) Zit.
ebd.
Schmieden vom 24.1.1929,
a.a.O.
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konnnendenRatssitzung zu setzen: "Die Garantie des Vdlkerbw:ides für die Bestinnnungen zum Schutz der Minderheiten" l). Im Sinne der Vorbesprechungen sollte der Schritt dazu dienen, "eine grundlegende Ändenmg der Einstellung des Vdlkerbundes zur Minderheitenfrage herbeizuführen 112 ) • Dieses Ziel erforderte freilich behutsames Vorgehen, so daß man es im Auswärtigen Amt für zweckmäßig hielt, wenn die Reichsregierung auf der Märztagung noch keine endgültig formulierten Forderungen zum Verfahren erhob, sondern lediglich Anregungen gab. Einstweilen sollte zl.lllächst das Problem in seiner Gesamtheit aufgerollt werden. In diesem Sinne hielt man es auch für ratsam, den Tenor der deutschen Stellungnahme im Rat statt auf die Kritik der Völkerbundstätigkeit auf die Verteidigung des Völkerbundsgedankens zu legen, um damit den Gegnern den Wind aus den Segeln zu nehmen. Dieses Vorgehen entsprach auch den WUnschender deutschen Minderheiten; sie schlugen vor, erst einmal das Verfahren in Gang zu bringen und die entscheidenden Abstinmungen auf die Bundesversanmüung zu verlegen 3). Konkret wurde im Auswärtigen Amt - im Sinne einer langfristigen
Strategie
- beschlossen,
im Rat den Antrag auf Bildung ei-
ner Studienkonmrl.ssion einzubringen, deren Aufgabe es sein sollte: 1. Grundsätze für die Stellung des Völkerbundsrats als des Garanten der Minderheitenverträge aufzustellen, 2. Vorschläge für eine Revision der jetzigen Prozedur auszuarbeiten, 3. den von verschiedenen Seiten unterbreiteten Vorschlag auf Schaffung einer ständigen Minderheitenkommission beim Vdlkerbund zu prüfen 4).
b) Die Aufnahme der deutschen Initiative Mächten Am unmittelbarsten
bei den interessierten
waren von der deutschen Initiative
natürlich
europäischen
die Polen be-
troffen. Sie sahen jetzt den Augenblick gekommen, vor dem sie bereits 1925 gewarnt hatten, daß nämlich Deutschland im großen Stil als Fürsprecher der Minderheiten auftreten und ein Element der Unruhe in den Völkerbund hineintragen würde. Die polnische
Regierung bemühte sich daher energisch,
die deut-
am 29.1.1929, AA4555 H/E 147 503. 1) Stresemann an Dr1llDlllOnd 2) Entwurf für eine Rede des Reichsministers vor dem Ausw. Ausschuß vom 22. 2,1929, AA4555 H/E 147 590-593, 3) So Aufzeichnung Reinebeck vom 14.1.1929, a,a.0. 4) Streng vertrauliche Denkschrift des Auswärtigen .Amtes über die deutschen Absichten: "Die Stellung Deutschlands zur Minderheitenfrage" {Febr, 1929), AA 4555 H/E 147 520-535,
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sehe Initiative zu unterlaufen. Der sowjetische Außenminister Litwinow behauptete dem deutschen Botschafter in Moskau Dirksen gegenüber, aus einwandfreier Quelle zu wissen, daß die polnische Regierung einen namhaften französischen Journalisten gegen die Zahlung einer erheblichen Sunnnenach PolnischOberschlesien zu entsenden beabsichtige, um ihn dort über die Lage der deutschen Minderheit optimistische Berichte schreiben zu lassen. Diese Artikel sollten vor der Märztagung des Völkerbundsrates veröffentlicht werden, um die Aufrollung dieser Frage durch Deutschland nach Möglichkeit abzuschwächen 1). Wenige Tage nach Eingang des deutschen Antrags in Genf, am 6. Februar 1929, übergab der polnische Völkerbundsdelegierte Sokal beim Generalsekretär eine l'k>te seiner Regierung, in der diese gegen die von Deutschland betriebene Politik der "Einschüchterung" protestierte und zu verstehen gab, daß sie es nicht zulass.en werde, wenn die nicht durch Minderheitenverträge gebundenen Staaten sich dieser Verträge für ihre besonderen politischen Interessen bedienten2). In Konkurrenz zu Stresemanns Initiative stellte nun auch die polnische Re~erung einen Antrag für die Tagesordnung der nächsten Ratssitzung, in dem sie ihre Forderung nach Generalisierung des internationalen Minderheitenschutzes wieder aufgriff: "Conclusion d' un accord gfmeral concernant la protection des minorites par tous les Etats Membres de la Societe des Nations". Bei Oberreichung der Note erklärte Sokal dem Generalsekretär, man müsse, wenn man von der Zuständigkeit der Ratsmitglieder für den internationalen Minderheitenschutz spreche, stets zwischen ''Deutschland" und "Mitglied des Vdlkerbundsrates" unterscheiden. Indem Deutschland sich fortdauernd der · Beschwerden deutscher Minderheiten annehme, verletze es den Geist, wenn nicht 3). den Buchstaben der Minderheitenschutzverträge Am gleichen Tag unternahm die polnische Regierung Demarchen bei den Regierungen in London, Paris und Rom, in denen sie die deutsche Initiative als einen Mißbrauch der Minderheitenschutzverträge bezeichnete, als Versuch, unerlaubten Druck auf einen vertraglich gebundenen Staat auszullben.EiIJ. solches vorgehen el111Öglichees, einen Minderheitenstaat jedesmal zu bedrohen, wenn dieser in seiner Pali tik eine Haltung einnehme, die den Wiinschen einer anderen Macht nicht entspreche, und ihn mit der Drohung gefügig zu machen, daß man andern-
1) Ganz geh. Tel. Dirksen (Moskau) an AAvom 22.1.1929, AA4571 H/E 169 827. 2) Aufzeichnung Drummondvom 6.2.1929, Abschrift in: F.0. 371/W 1249/185/98, 3) Ebd.
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falls die Minderheitenfrage aufwerfen werde 1) • - Höchst aufschlußreich für die Beurteiltmg der Minderheitenschutzverträge durch die Westmächte war nun deren Reaktion auf den pt:>lnischen Schritt. Schon Generalsekretär Dnmunondhatte es Sokal gegenliber als sehr fraglich bezeichnet, ob die Westmächte dem Ant:ra,g der polnischen Regierung zustimmen würden 2). Befremden löste vor a~lem der Umstand aus, daß Warschau auch seine Verbündeten vor vollendete Tatsachen gestellt hatte,womBglich in der Befürchttmg, daß eine vorhergehende Konsultation zu einem negativen Ergebnis führen könne. Das französische Mitglied im Völkerbtmdsekretariat Vigier erkannte sofort den schweren politischen Fehler der Polen tmd veranlaßte Dnmunond, den polnischen Antrag vorläufig geheimzuhalten, Briand soll außer sich gewesen sein; aus Paris kam die Weistmg, den Antrag möglichst dilatorisch zu behandeln, damit der Quai d'Orsay Zeit gewinne, auf Warschau einzuwirken 3). Inzwischen war aber die deutsche Delegation zur Oberraschtmg des Generalsekretärs und des französischen Vertreters, die den .Antrag geheimhalten wollten, bereits orientiert. Das fatale Ergebnis des von Drumnxmdtmd Vigier betriebenen Manövers war nun, daß sie _als Sekretariins Zwielicht atsbeamte hinsichtlich ihrer Zuverlässigkeit und Neutralität gerieten, daß vor allem die französische Regierung in eine schiefe Lage kam, da sie indirekt zugegeben hatte, daß sie von einer Verallgemeinerung des Minderheitenschutzes etwas zu fürchten hatte, während sie bisher stets erklärt hatte, sie kenne in Frankreich keine Minderheiten, sondern nur Franzosen 4). Im britischen
Foreign Office konnte man angesichts größerer Distanz zu den Dingen gelassener reagieren. Unmißverständlich und entschieden war jedoch auch hier die Ablehnung des polnischen Vorschlags: er sei nichts neues, "da die Polen in ihren Inferioritätskomplexen schon bisher keine Gelegenheit versäumt hätten, \.Dll alle von ihnen als neu angesehenen Momente bei der britischen Regierung jeweils zur Sprache zu bringen"S). Dem deutschen Botschafter Sthamer gegenliber bezeichnete es Chamberlain als "selbstverständlich, daß der Vorschlag für ihn unangenehm sei. Oberhaupt könne Polen nicht erwarten, daß, 1) Aide Memoire der polnischen Regierung, am 6.2.1929 im Foreign Office überreicht,F,O, 371/W 1096/185/98, 2) Aufzeichnung Drummondvom 6.2.1929, a.a.O. 3) Vertraulicher Bericht Renthe-Fink an Weizsäcker vom 7,2.1929, AA K 2366/K 669 573-578, 4) Ebd, 5) Streng vertrauliches 147 513 f,
TelegrBillI!lSthamer an AAvom 7.2.1929,
AA 4555 H/E
- 181 weil es bei sich zu Hause Scherben geschlagen habe, andere Nationen das gleiche Schicksal teilen rniißten"1). Maßgebend für die ablehnende Haltung der britischen Regierung waren einmal die von einer Generalisienmg zu erwartenden Konsequenzen für das britische Empire. Chamberlain bemerkte dazu gelegentlich, die britische Regienmg habe mit ihren ''M.ajoritäten" in Indien etc. genligend Sorge, als daß sie einer zusätzlichen Ko~lizierung dieser Verhältnisse zustimmen könne 2). DemVertreter der polnischen Regierung Graf Los wurde bedeutet, daß jeder Versuch des Völkerbundes, in die inneren .Angelegenheiten des Empire einzugreifen, im ganzen Conmonweaith zurückgewiesen werden würde, und Chamberlain ließ ihn, ohne sich auf eine Diskussion einzulassen, warnen, daß der polnische Vorschlag keine Unterstütztmg finden werde 3). Graf Los erwiderte darauf, er glaube nicht, daß die Angelegenheit damit erledigt sei. Zaleski werde sie nicht fallen lassen, auch wenn er mit seinem Vorschlag beim Rat nicht durchkollDlle,Für die polnische Regierung sei es unerträglich, daß Deutschland in der Lage sein sollte, den Rat für eine Einmischung in innerpolnische .Angelegenheiten zu mißbrauchen. Sie sei deshalb entschlossen, diese "Ungleichheit" zu-beseitigen, "mit welchen Mitteln auch immer". Warnend fügte er hinzu, daß Polen, falls das gegenwärtige System nicht vom Rat geändert werde, es selbst übernehmen nüßte, die Situation-zu ändern 4). - Maßgebend für die britische Regierung war aber auch eine Rechtsauffasstmg, die jede Beeinträchtigung einmal übernonunener rechtlicher Verpflichttmgen ablehnte. Man erinnerte deshalb im Foreign Office daran, daß auch die Großmächte unter ihren Mandaten ebenso bindende Verpflichtungen übernoßDllenhätten wie - nrutatis Illlltandis Polen, so daß man nicht von Ungleichheit sprechen könne. 'Die Polen wüßten wahrscheinlich selber, daß ihre Forderung, jeder Staat solle einen Minderheitenschutzvertrag unterzeichnen, nicht nur inpraktikabel, sondern irrelevant sei. Wennnicht, würden sie es bald lernen ,S). Freilich, die rechtliche ArgtmJentation allein genligte nicht Z\.Dll Verständnis der Minderheitenschutzverträge; denn diese waren in starkem Maße auch politische Instrumente und besaßen als solche einen politisch relativen Wert. Dieses Umstandes , der am augenfälligsten
durch die Ausklammerung Italiens
1) Sthamer an AA (Tel.) 2) Streng vertraul,Tel,
bei der Begründung des inter-
am 21.2.1929, AA 4555 H/E 147 582-584; Sthamer an AA am 16.2.1929, AA K 2366/Bd, 2.
3) Chamberlain an Erskine (Warschau) am 16.2.1929, F.O. 371/W 1096/185/98, 4) Ebd. 5) Foreign Office-Aufzeichnungen 37i/w 1096/185/98.
vom 8.2.1929 (Broadmead und Leeper), F,O,
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nationalen Minderheitenschutzsystems auch im Foreign Office bewußt.
\1
1:
bezeugt wurde, war man sich natürlich
Die schroffe Reaktion der Westmächte, vor allem Frankreichs, ließ es der polnischen Regierung nun doch angeraten erscheinen, ihre Taktik zu ändern. Auf französischen Druck meldete sich am 8. Februar 1929, zwei Tage nach Einbringen seines Antrags, Sokal telefonisch beim Generalsekretär mit einer Botschaft seines Außenministers Zaleski, in der dieser um Suspendierung aller sich aus dem polnischen Antrag ergebenden Maßnahmenbat 1). Es sei besser, zunächst genau zu wissen, was Briand und Stresemann vorschlagen würden. Die Angelegenheit entbehrte nicht einer gewissen Delikatesse. Bülow vennerkte zu einer Aufzeichnung Weizsäckers über diesen Vorfall, er sei wert, für eine spätere Veiwendung festgehalten zu werden: "Wir können inmer Paris sagen: der bekamite französische Einfluß auf Warschau112). Sokal zeigte sich nämlich außerordentlich besorgt, daß über den Schritt der polnischen Regierung etwas in die Öffentlichkeit gelangte; die polnische Note sei jetzt Illlr noch als eine rein persönliche Erklärung aufzufassen, die auch in der Presse nicht erwähnt werden sollte 3). In seinem Streben, die Besonderheit seines internationalen Status abzulegen und sich den Großmächten gleichzustellen, war Polen erneut auf unmißverständliche Ablehnung gestoßen. Dennoch gab die Regienm.g in Warschau ihren Widerstand gegen Stresemanns Initiative nicht auf. Nachdemihr eigener Antrag schon bei der Registratur gescheitert war, suchte sie jetzt die Westmächte diplomatisch zu beeinflussen, sich in Berlin für eine Zurücknahme auch des deutschen Antrags einzusetzen, wobei sie weiterhin mit einem Generalisierungsantrag drohte, In einem Aide Memoire vom 27. Februar 1929 an die Regierungen in Paris und London beklagte sie, daß die gemeinsame Demarche der Botschafter beider Länder in Berlin bisher nicht stattgefunden habe, und kündigte an, sie werde die Verallgemeinerungsfrage erneut aufwerfen, wenn die Signatarniächte der ~linderheitenschutzverträge nicht klar und präzise ihren Widerstand gegen die Pläne von Stresemann und Dandurand bekundeten und dabei de~tlich machten, daß die Verträge nicht zu fremden Zweckendienen dürften 4). 1) Drummond an Cadogan {Foreign Office) 2) Aufzeichnung 538.
Weizsäcker vom 8.2.1929,
3) Aufzeichnung Drummondvom 8.2.1929, 4) Polnisches Aide Memoire, am 27.2.1929 371/W 1768/185/98,
am 8.2.1929,
F.O. 371/W 1249/185/98,
dazu Vermerk Bülow, AA K 2366/K 669 F.O. 371/W 1249/185/98. im Foreign
Office überreicht,
F.O.
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Diese diplomatische Aktivität veranlaßte auch die deutsche Regierung, ihren Vorstoß soweit wie möglich diplomatisch abzusichern. In einem geheimen Runderlaß vom 15, Februar 1929 wies Stresemann die deutschen Vertretungen in London, Paris und Roman, die jeweiligen Gastregierungen in großen Zügen über das deutsche Vorgehen zu informieren und über die dortige Aufnahme dieser Mitteilungen zu berichten 1). Als Hauptziel der deutschen Initiative sollte die Klärung der grundsätzlichen Auffassung des Völkerbundes über Sinn und Zweck der ~linderheitenschutzverträge und die Tragweite der Garantiepflicht herausgestellt werden. Etwaigen Bedenken hinsichtlich der Opportunität des deutschen Schrittes sollte mit dem Bemerken geantwortet werden, daß man die Aussprache so gestalten wolle, daß sie das Ansehen des Völkerbundes stärke und einen allgemein-politisch heilsamen Effekt habe, Die deutsche Anregtm.gwurde, wie sich aus den Botschaftsberichten ergab, natürlich vor allem dort als delikat empfunden, wo man es selber mit einem Minderheitenproblem zu tun hatte. Besonders betroffen war Italien, das in Südtirol nicht nur eine rücksichtslose Italianisierung betrieb, sondern überhaupt die Existenz eines Minderheitenproblems leugnete. Der deutsche Botschafter in Romv.Neurath zitierte in seinem Bericht aus einer Rede Mussolinis, die keinen Zweifel über seine Einstellung zum internationalen Minderheitenschutz ließ: "Völkerbund? Genf? Verlorene Liebesniih! Wennder Genfer Rat sich w~rklich in das Labyrinth dieser sogenannten Minderheitenfragen begeben sollte, so käme er wohl kaum wieder heraus 112). Das Südtirolproblem bewirkte auf italienischer Seite immerhin eine allgemeine Empfindlichkeit gegenüber der Erörterung von Minderheitenfragen überhaupt. Dies äußerte sich z.B. in der Tendenz, die gesamte Minderheitenbewegung als ein abgekartetes Spieleiniger besonders interessierter Staaten abzuwerten, in dem Deutschland als Drahtzieher angesehen wurde. So zeigte sich in Italien zunehlrende Nervosität in Erwartung der Genfer Auseinandersetzungen, die gerade durch den prinzipiellen Charakter des deutschen Antrags genährt wurde. Eine etwa daraus sich ergebende, wenn auch noch so lockere,Einl:ieziehung der Südtirolfrage in die Diskussion wilrde, so urteilte Neurath, voraussichtlich "zu einer noch engeren Anlehllllng Italiens an die Mächte führen, die ein Interesse daran haben, den deutschen Vorstoß in der Minoritätenfrage ztm1Scheitern zu bringen 113). 1) Geh.Runderlaß
Stresemann vom 15,2.1929,
AA K 2366/K 669 614-620.
2) Neurath an AA:"Italien und die Minderheitenfrage" v.om 15,2,), AA K 1772/K 436 180-190, 3) Ebd.
,am 21.2.1929
( auf Erlaß
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Mehr aber als Italien war von der deutschen Initiative - auf Grund der allgemeineren politischen Zusanunenhänge- Frankreich betroffen; sie war dort durch ein aktuelles Ereignis ~uch innenpolitisch brisant geworden. Vom 24. Januar bis 8. Februar 1929 lief nämlich in der französischen Kanuooreine Debatte über Elsaß-Lothringen ab, die zumindest ins Bewußtsein brachte, daß es auch hier, trotz amtlichen Ignorierens, ein Minderheitenproblem gab. Ober die Wirkung dieser Debatte berichtete der deutschbaltische JOl.ll1l0.list Berg, der tm1diese Zeit als Vertrauensmann der deutschen Volksgruppen mit führenden Politikern in London und Paris die Minderheitenfrage erörterte: "Der ganz gemeinläufige Glaube, daß es ein großes Glück ist·, sich unter französischer Herrschaft zu befinden, und daß es unerhört ist, dieses Glück nicht voll und ganz anzuerkennen, hat durch die Debatte eine große Erschütterung erfahren und die weitere Frage aufgerollt, wie es eigentlich den anderen Nationalitäten in Europa zu Mute sein muß, die sich unter der Herrschaft anderer weniger zivilisierter Staaten befinden'' 1). Im Verlauf der Debatte wurden, vor dem Hintergrund einer autonom:i.stischen Bewegung in Elsaß-Lothringen, die Maßnahmender französischen Regierung in dem ehemaligen deutschen Reichsland erörtert, und es wurde der französischen Regierung u.a. der Vorwurf gemacht, sie habe mit ihrer Politik Autonomiebestrebungen Vorschub geleistet 2). Der französische Ministerpräsident Poincar6 glaubte sich gezwungen - offenbar darin bestärkt durch die deutsche Initiative - , vor der Verbindung zwischen Elsaß-Lothringen und dem Reich, wie sie sich in der Tätigkeit bestinmter Verbände äußere, zu warnen. Nun bestand ja kein Zweifel,
daß es zwischen Elsaß-Lothringen
und dem deut-
schen Vorhaben keinen direkten Zusanmenhang gab, beschränkte sich dieses doch auf das Minderheitenschutzsystem des Völkerbundes, dem das ehemalige Reichsland nicht unterstand. Insofern waren auch Poincar~s BefürchtWlgen abwegig, es köm1te auf dem Umwegüber das Minderheitenproblem die in Locarno vereinbarte territoriale Regelung aufgerollt und ein deutscher Anspruch auf Elsaß-Lothringen erhoben werden. Man wird in solchen k.ißerungen daher wohl mehr eine scharfe Warnung an die deutsche Adresse zu sehen haben, sich bei der Erörterung des Minderheitenproblems zurückzuhalten. Maßgebend fiir die französische Haltung dürfte dabei die Ungewißheit gewesen sein, welche Richtung die zu erwartende Debatte im Völkerbund nehmen und ob sie nicht, da der deutsche An1) Geh.Bericht v. Berg vom 1,3,1929, AA K 2366/K 669 754-760. 2) Schultheß'
Europ.Geschichtskalender
Konsul Reinebeck zur Ver:f'iigung gestellt, 70, S. 318 ff.
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trag ganz allgemein gehalten war, indirekt auch für Elsaß-Lothringen bedeutend werden würde. Denn war nicht dam:i. t zu rechnen, daß es zu einer allgemeinen Aussprache über das Wesen des Minderheitenschutzes oder überhaupt des Begriffs ''Minderheit" komnen, daß u.U. die moralische Verpflichttmg aller nicht durch Minderheitenschutzverträge gebundenen Staaten zu einem den internationalen Normen angemessenen Minderheitenschutz bekräftigt werden würde, tmd mußte dies nicht auch dazu führen, daß die Bevölkerung von Elsaß-Lothringen in ihrem Selbstverständnis als Minderheit gestärkt würde? Dieses Unbehagen bekam der deutsche Botschafter Hoesch auch im Quai d'Orsay zu spüren, wo man sich, u.a. unter Hinweis auf Poincar6s Befürchttlllgen, auf die Bemerkung beschränkte, daß man die Minderheitenfrage als einen äußerst gefährlichen Gegenstand ansehe, bei dem man nicht wissen könne, wohin die Reise gehe 1) • Allerdings konnte sich die französische Regierung kaum ein so negatives Urteil zum deutschen Vorhaben leisten, wie es von italienischer Seite berichtet wurde. Im Gegenteil war von ihr eine grundsätzlich positive Reaktion zu erwarten, war Paris doch in starkem Maße mitverantwortlich für die Begründung des internationalen Minderheitenschutzsystems und an seiner Aufrechterhaltung interessiert, so daß sie sich schwerlich distanzieren konnte, wenn seine Prinzipien - nicht in negativem, sondern in konstruktivem Sinne, wie von deutscher Seite inuner betont - zur Erörterung gestellt wurden. Dieses Dilemma spiegelte die Reaktion Briands auf die deutsche Demarche wider: Das Minderheitenproblem liege ihm nicht sehr, erklärte er dem deutschen Botschafter, berief sich aber auf seine minderhei tenfretllldliche Intervention beim Zwischenfall in Lugano und fügte hinzu, daß er es für nötig gehalten habe, Zaleski wegen seines unkorrekten Verhaltens zurechtzuweisen. Ihm war jede Debatte Wlbehaglich, die das Minderheitenproblem in den Vordergrund stellte, da er es in einem solchen Fall für Wlvenneidlich hielt, "daß allerhand Elemente sich der Frage bemächtigten, tm1Unruhe und Unordnung zu stiften", womöglich auch, daß "die törichten Minderheitenbewegungen in Frankreich" angestachelt würden2). So erachtete man es in Paris für das zweckmäßigste, wenn Stresemann ebenso wie die anderen Ratsm:i.tglieder in einer Rede seine Auffassung ztm1Ausdruck bringe, dann eine Debatte in der in Genf sonst üblichen Fonn erfolgte" 3) •
"und daß
1) Hoesch an AA (Tel.) am 22.2.1929 (über Aus:f'iihrung der Weisung vom 15.2.1929 bei Berthelot im Quai d'0rsay), AA 4555 H/E 147 602-605. 2) Hoesch an AA (Tel.) am 28.2.1929 (über Ausführung der Weisung bei Briand), AA 4555 H/E 147 625-627. 3) Au:f'zeichnung Gaus vom 28,2.1929 Über einen Besuch des Pressechefs der frz. Botschaft in Berlin Hesnards, der "offiziös" diese Aus:f'iihrungen macht, AA 4555 H/E 147 621-624.
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Gerade das aber wollte Stresemann verhindern: daß seiner Anregung in der Genfer AtnDsphäre ein "stilles Begräbnis" bereitet werde, Gegenüber dem Pressechef der französischen Botschaft in Berlin Hesnard erklärte der Leiter der es sei "ausRechtsabteihm.g im Auswärtigen Amt Gaus mit aller Deutlichkeit, geschlossen, daß etwa in Genf nur ein paar schöne akademische Reden gehalten und die Sache damit abgetan würde ••• ". Im übrigen handele es sich nicht darum, alles Bestehende über den Haufen zu werfen, sondern auf der Gnm.dlage des geltenden Rechts einmal die gnmdsätzliche Einstellung des Völkerbtm.des in offener und freier Aussprache zu klären 1) • Großbritannien gehörte hinsichtlich des europäischen Minderheitenproblems an tmd für sich zu den neutralen Staaten, .von denen man sich demgemäßauch auf seiten der Minderheiten viel erhoffte. Es war weder belastet durch Rücksichtnahme auf eigene Volksgruppen in fremden Staaten oder durch Grenzen mit Staaten, in denen das Minderheitenproblem akut war, noch - wie Frankreich - gebunden an europäische BUndni.ssysterne, die direkt oder indirekt die Minderheitenfrage berührtenZ). Hinzukam ein starkes Interesse der öffentlichen Meinung am Schicksal der Minderheiten. Man sah hier in der Nationali tätenfrage einmal das Rechtsproblem, zu dem sie durch die Minderheitenschutzverträge geworden war. Sodannbestand "ein durch die historische Rechtsschule vertieftes Verständnis dafür, daß enge Lebensgemeinschaften bestrebt und geeignet sind, Rechtsgemeinschaften zu werden' 13). Nicht zuletzt war für das starke öffentliche Interesse auch das für das angelsächsische Empfinden bedeutsame Gebiet der Sittlichkeit, Menschlichkeit und Anständigkeit maßgebend. Zudemhatte man hier großes Verständnis für den hochpolitischen Charakter der Minderheitenfrage, sah ihre enge Beziehung zur europäischen Ordnung überhaupt und erörterte sie deshalb verschiedentlich auch im Zusanunenhangmit dem Revisionsproblem. Der Führer der Labour-Party Ma.cdonald äußerte Ende 19Z7 im ''Daily Herald'' die Oberzeugung, daß eine Revision der Friedensve~räge notwendig sei und diese umso gründlicher sein milsse, je mehr die Staaten ihren J\ünderheiten gegenüber eine Gewaltpolitik betrieben. Umsomehr milsse der Völkerbund darü1) Ebd.
2) Vgl. W. Hasselblatt: "Britische Meinungen und Vorschläge über Minderheitenrecht, Völkerbund und Friedensproblem" , in: Nation und Staat 9, S. 495 ff. Auch: Erler: "Mißverstehen. Mißtrauen und Mißerfolg im Genfer Minderheitenschutzsystem"• a.a.O. • S. 8. 3) Erler,
a.a.o.
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ber wachen, wie die Minderheiten behandelt würden, denn von dieser Behandllmg hänge sehr viel ab 1) • .Ähnlich äußerte sich um die gleiche Zeit Lloyd George vor der englischen Völkerbundsliga 2). Dieses
poli dsche
Interesse
an der
Minderheitenfrage
führte
im
Juni
19Z8 zu einer grundsätzlichen Aussprache im britischen Oberhaus, in der nicht nur Kritik an der Praxis des Völkerbunds.geübt, sondern auch die britische Regierung direkt gefragt wurde, was sie bisher getan habe, um ihre Pflicht als Ratsmitglied zu erfüllen. Lord Parmoor sprach von einer speziellen Verpflichtung Großbritanniens und begründete dies.e mit dem Hinweis darauf, daß die britische Regierung in solchen Fragen in Genf einen fast entscheidenden Einfluß besitze. Damit appellierte er an eine besondere politische tmd moralische Verantwortung seines Landes, das gleichsam die Stelle des Nichtunterzei dmers Amerika einnehme 3). Zu demselben Problem hatte sich die britische Regierung schon Anfang 19ZS auf eine ähnliche Anfrage im Unterhaus geäußert, in einer Weise, die erkennen ließ, daß sich die amtliche britische Politik in einer gewissen Spanne zu dem starken öffentlichen Interesse befand. Man realisierte im Foreign Office zwar die individuelle Unterschrift der britischen Rei:derung unter den Minderheitenschutzverträgen, lehnte aber eine Interpretation ab, wonach sich daraus spezifische Verpflichtungen für Großbritannien oder irgendeine andere Garantiemacht ergäben. Die Entwürfe für die Beantwortung der Anfrage bekennen sich lediglich zu einer Kollektiv-Verantwortung, die es den individuellen Mächten nicht erlaube, die Minderheitenstaaten mit Druck zur Einhaltung ihrer Vertragsverpflichtungen anzuhalten. Positiv sah man die aus der Unterschrift resultierende Aufgabe der britischen Regierung darin, für eine gerechte und sorgfältige Arbeitsweise der durch das Minderheitenschutzsystem bereitgestellten Maschinerie zu sorgen. In der tatsächlich erteilten Antwort vermied es Chamberlain aber, sich in dieser Weise prinzipiell festzulegen, sondern beschränkte sich auf einige unverbindliche Bemerkungen, mit denen er für eine pragmatische Behandl1mg der Minderheitenfragen plädierte: Er habe auf Grund eigener Erfahrung einen Eindruck von.der Sorgfalt und Aufmerksamkeit gewonnen, mit der sich die Ratsmitglieder der Minderheitenfrage wiqmeten. Jeder Fall miisse im übrigen nach seinen eigenen Vora~setzungen be1) "Englische Staatsmänner 1, s. 317 f •.
über Nationalitätenpolitik:
11 ,
in:
2) Ebd.
3) Wiedergabe·der
Reden in:
Nation und Staat
1,
s.
898 ff.
Nation
und Staat
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urteilt werden, so daß eine allgemeine Erklärung nicht möglich sei 1) • - Diese Stelltmgnahme offenbarte natürlich eine gewisse Verlegenheit, ein Dilellllllll, das sich aus dem Anspruch der Prinzipien des internationalen Minderheitenschutzes tmd den politischen Interessen der britischen Regienmg ergab. In der öffentlichen Meini.mgGroßbritanniens führte der hier sich widerspiegelnde Mangel an Entschlossenheit, aktiv für die Minderheiten einzutreten, vielfach zu der Auffassi.mg, die Halti.mg der britischen Regierung den Minderheiten gegenllber sei "1.lllSympathetic"2). Man beurteilte die Minderheitenfrage im Foreign Office nicht dogmatisch, sonde~ tmter dem obersten Interesse, jede Verwickli.mg in Europa zu vermeiden, was je nach der politischen Lage zu Zurückhalttmg oder zu Aktivität führen komte. Nicht unerheblich mußte demnach für die britische Stellungnahme sein, welches Gewicht die deutsche Regieri.mg der Frage beimaß 3). Schon um dem tmgünstigen Eindruck der öffentlichen Meimmg Großbritanniens hinsichtlich der Haltung der britischen Regierung zu begegnen, komte das Foreign Office nicht umhin, sich im Prinzip zu Stresemanns Initiative positiv zu bekennen. Eine solche Halti.mg empfahl sich auch deshalb, weil sich Großbritannien als eine Gründungsmacht des Minderheitenschutzsystems, ebenso wie Frankreich, schwerlich einer Debatte entziehen komte, deren Zweck es sein sollte, eben dieses System und seine Prinzipien zu bekräftigen. Andererseits war von einer Generaldebatte zu befürchten, daß sie die Stabilität in Europa gefährdete und ein Element der Unruhe in die betroffenen europäischen Gebiete hineintrug. 1) Anfrage des Unterhausabgeordneten Aufzeichnung und Antwortentwürfe.
Riley vom 18.3.1925, dazu Foreign OfficeF.O. 371/C 3989/3989/62.
2) So meinte Headlam-Morley, daß dieser Eindruck verbreitet sei und :f'ügte hinzu, daß er auf Grund eigener Erfahrungen im Foreign Office nicht umhin könne, ihn zu teilen. Aufzeichnung Cadogan vom 22.2.1929, F.O. 371/W 1661/ 185/98. 3) Bruns erfuhr Ende 1925 /Anfang 1926 bei einem Studienaufenthalt in England vom Präs. der engl. Völkerbundsliga Murray, "daß man im Foreign Office bei wiederholten Gesprächen über das Minderheitenproblem stets auseinandergesetzt habe, wie schwer es für England sei, ohne Sekund,anten eine größere Aktivität zu entwickeln. Er, Murray, hoffe bestimmt, daß eine geschickte deutsche Politik zu einer wesentlichen, aber unauffälligen Verbesserung des Verhaltens des Rates in Minderheitenfragen :f'ühren würde". Bericht Bruns v. 13.2,1926, AA K 1768/K 434 308 ff.
- 189 Um unerwünschte Folgen zu vermeiden, schlug der Generalsekretär
selber der britischen Regierung Formulierungen vor, mit denen Chamberlain die Debatte im Volkerbund eröffnen sollte: Der Völkerbund habe seine Pflichten gegenüber den Minderheiten stets sehr ernst genollllllen;alle Beschwerden würden vom Sekretariat sehr sorgfältig geprüft; der Rat fasse zwar jede mögliche Verbesserung der Prozedur ins Auge, aber es sei falsch anzunehmen, daß Verbesserungen auf diesem Gebiet mehr .als begrenzte Wirktmgen haben könnten, da das Minderheitenproblem zum weitaus größeren Teil ein nationales Problem sei, das sowohl von der Bereitschaft der betroffenen Staaten zur Einhalti.mg der Verträge wie von der loyalen Einstelli.mg der Minderheiten abhänge; der Völkerbundsrat sei bereit, mit den betroffenen Staaten zwecks besserer Ergebnisse zusammenzuarbeiten1). Diese Linie entsprach im Prinzip den britischen Vorstellungen. Dem Chamberlain war entschlossen, unter keinen Umständen eigene konkrete Vor schläge vorzubringen, bevor er die Debatte und den Trend der Ratsmeinung gehört hätte. Auch für Stresemann hielt er eine solche Zurückhalti.mg für empfehlenswert, da das Einbringen fester Vorschläge das Risiko in sich trage, daß diese niedergestillllllt wUrden oder entscheidend verändert werden rrüßten. Eine solche Gefahr könne zwar der kanadische Delegierte auf sich nehmen, dessen Land kein akutes Interesse an dieser Frage habe, nicht aber eine Großmacht wie Deutschland, die direkt betroffen sei 2). SOwohl der französischen wie der britischen Regieri.mg war somit eine Debatte großen Stils unerwünscht, beide glaubten aber, sich einer Aussprache als solcher nicht entziehen zu können, wollte man nicht eine empfindliche Schwächtmg des Völkerbundsgedankens in Kauf nehmen, mit dem der internationale Minderheitenschutz ja gleichsam synonymwar. Die Minderheitenfrage als Problem sui generis spielte eine verhältnismäßig geringe Rolle im politischen Kalkül der beiden Regieri.mgen. Sie besaß ihre Bedeuttmg mehr als Funktion anderer politischer Kategorien. Nicht unerheblich war auch der Gesichtsptmkt, daß man Deutschland gewisse Konzessionen machen niißte, ohne daß man freilich zu wesentlichen materiellen Zugeständnissen b~reit gewesen wäre. In einer Unterredung mit dem französischen Botschafter in Berlin de Ma.rgerie am 20. Februar 1929 erklärte
Chamberlain, er könne gegenllber der öffentlichen
1) Am 26.2.1929 an das Foreign Office; 1929, F.O. 371/W 1888/185/98,
Meintmg schwer-
dazu Aufzeichnung Cadogan vom 28.2.
2) Chamberlain an Sir H. Rumbold Über ein Gespräch mit dem deutschen Botschafter am 21.2.1929, F.O. 371/W 1562/185/98.
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lieh eine Haltung einnehmen, die den Eindruck erwecke, als wolle er die Erörtenmg über die Minderheitenfrage unterbinden. Er verspreche sich auch nichts davon, daß er oder Briand, wie es die Polen gewünscht hätten, Einfluß auf Stresemann ausübten "für einen Gegenstand von so geringer Tragweite", da Stresemann, nachdem er seinem Vorhaben eine so große Publizität gegeben habe, kaum den englisch-französischen Wünschen würde nachgeben können. Statt dessen hielt er es für klüger, "uns für Angelegenheiten von wirklicher Bedeutung freizuhalten, so z.B. den Fragen im Zusammenhangmit den Reparationen und der militärischen Besetzung" 1) • Die hier vereinbarte Taktik lief also darauf hinaus , die bevorstehende Debatte zu kanalisieren und von vornherein möglichst auf die technischen Fragen zu beschränken, es im übrigen aber bei diplomatisch-unverbindlichen Erklärungen im "Genfer Stil" bewenden zu lassen 2). Dabei hatte die britische Regierung gegenüber der französischen wenn auch keine konkreten eigenen Vorschläge, so doch ein gewisses positives Minima.lprogranm: allgemeine Bekräftigung des Minderheitenschutzgedankens und im wesentlichen Obernahme der sich auf die technischen Fragen der Prozedur beziehenden Vorschläge des kanadischen Delegierten, während bei Frankreich das negative Ziel - Vermeiden einer großen Debatte - im Vordergrund stand. Sehr zutreffend faßte RentheFink auf Grund eigener Beobachtungen in Genf die internationalen Reaktionen auf die deutsche Initiative zusammen: Die Stelhmg der Franzosen sei ''begreiflich, weil sie von der Minoritätenfrage eine Bedrohung des Status quo und eine Schwächung ihrer Verbündeten befürchten, außerdem immer an die Rückwirkung auf die elsaß-lothringische Frage denken. Den Engländern koount es hauptsächlich darauf an, keine Verwiclcl1.mgenzu haben. Die Völkerbl.llldsfrel.lllde besorgen ). eine Erschütterung des Bundes113 J\loch am Vorabend der Ratssi tz1.mg äußerte Briand Stresemann gegenüber seine Besorgnis , daß die Debatte t.me~chte politische Folgen haben könnte, mid gab der Hoffn1.mgAusdruck• daß er, Stresemann, "Herrn Zaleski nicht mit seinem Degen durchbohre 114 ). Die Minderheitenfrage bedeutete für den französi1) Chamberlain an den brit. Botschaf'ter in Paris Sir W. Tyrrell über eine Unterredung mit de Margerie am 20.2.1929, F.0. 371/W 1544/185/98. 2) Renthe-Fink an Weizsäcker am 22,2,1929, wobei er über Versuche berichtet, die Debatte zu kanalisieren, AA K 2366/K 669 660-663. 3) Renthe-Fink
an Weizsäcker am 7.2.1929,
a.a.0.
4) Auf'zeichnung Schmidt über die Unterredung 5,3,1929, AA 3147 H/D 660 038-042.
Stresemann-Briand
in Genf am
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schenAußenminister zwiächst also ein deutsch-polnisches Problem, in dessen Erörterung auch Frankreich auf unangenehme Weise verwickelt werden konnte, während es Stresemann um die Minderheitenfrage als ein allgemeines Problem ging 1.mder z.B. erklärte, den Namen Zaleski oder Polen gar nicht erwähnen zu wollen. So hatte Briand auch keinerlei positives Programm für die Debatte. Auf Stresemanns Frage, ob er sich schon Gedanken über eine eventuelle Lösl.lllg der Frage gemacht habe, erwiderte er lediglich, "daß er im Augenblick nicht Diswüßte, welche Wendungdie Dinge nehmen sollten 111). Jede längerfristige kussion, etwa in der deutscherseits angeregten Studienkommission, beurteilte er lediglich als Anreiz für die interessierten Länder zu neuer Agitation. Unverblümter noch äußerte sich, ebenfalls am Vorabend der Sitzung, der stellvertretende Generalsekretär des Völkerb1.mdes Marquis Paulucci gegenüber Staatssekretär v.Schubert mit dem Bemerken, daß in der Prozedurlrage ohnehin nicht viel zu machen sei 2). All solche Äußerungen und Kanalisierungsversuche waren natürlich eine enttäuschende Erfahrung für Deutschland, Schuberts scharfe Replik auf Pauluccis Bemerkung war in diesem Sinne mimißverständlich: "Entweder sei· die ganze Sache in Genf Schwindel, dann solle man ruhig den Völkerbund zumachen, oder aber das sei nicht der Fall: dann niisse man eben mit allen Kräften bestrebt sein, die Zustände zu verbessern 113). Die Minderheitenstaaten selber verzichteten darauf, ihrerseits einen gemeinsamen Antrag für die Völkerb1.mdsdebatte einzubringen, es schien ihnen aber doch zweckmäßig, vorher ihre prinzipielle Einstellung zu der anstehenden Frage ihren politischen Fremden bekanntzugeben. Am 27. Februar 1929 wurde namens der Regierungen von Polen, Griechenland und der Staaten der Kleinen Entente in Paris eine J\lote übergeben, deren Zweck es_offenbar war, die französische Regierl.lllg für die bevorstehende Debatte zu beeinflussen 4). Diese Note umfaßte folgende Forderungen und Erklär1.mgen: 1 • Der Völkerbund solle in Fragen des Minderheitenschutzes in möglichst geringem Maße eingeschaltet werden. - Wieder wurde daran erinnert, daß die ausschließliche Verantwortung bei den Ratsmächten liege, dagegen das System der Dreierkomitees eine Erweitenmg von Geist und Wortlaut der Verträge sei, eine Einrichtung, die die Minderheitenstaaten "aus reiner Duldung" angenonnnenhätten. Diese Bemerkung hatte diesel1) Ebd. 2) Auf'zeichnung Schubert vom 6.3.1929, 3) Ebd. 4) In: Nation und Staat
2, S. 492.
Af,-K 2366/K 669 727 f.
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be Tendenz wie frühere Vorstöße in dieser Richtung: Indem man sich berriihte, die Minderheitenfrage zur ausschließlichen Angelegenheit der Ratsmächte zu machen, auch im Bereich des praktischen Verfahrens, rechnete man mit einer schwerfälligeren Arbeitsweise des internationalen Minderheitenschutzes. Der gleichen Absicht, die Tätigkeit des Völkerbundes auf dem Gebiet des Minderheitenschutzes einzuschränken, entsprang auch die Behauptung, die Annahmevon Petitionen bestimmter Regierungen zugunsten von ihnen rasseverwandten Minderheiten widerspreche dem Geist der Minderheitenverträge. Grundsätzlich wurde auch die Anrufung des Völkerbundes :tµLchArt. 11 der Völkerbundssatzung für Minderheitenfragen abgelehnt. 2. Für eine Modifikation der Verträge nahmen die Minderheitenstaaten ein-!vlitspracherecht - auch im Völkerbundsrat - in Anspruch. Sie erklärten, daß sie jeder Erweiterung des bestehenden Systems, namentlich der Einsetzung einer ständigen Konnnission, nur zustimmen würden, wenn die Verträge allgemeine Verbindlichkeit bekämen. Dem fügten sie die Drohung hinzu, daß sie bei Einführung eines neuen Verfahrens durch den Völkerbund aus ihrer Zurückhaltung heraustreten und eine einfache Anwendungdes in den Verträgen vorgesehenen Verfahrens - also Einleitung einer Untersuchung nur auf Grund der Initiative einer Ratsmacht - fordern 'Wi.irden, Ober diese gemeinsame Erklärung hinaus versuchte Polen als das am stärksten betroffene Land, die Kleine Entente vor ihren Wagenzu spannen bzw. Verbündete zu einem gemeinsamenAntrag auf Vertagung zu gewinnen1). Sie stieß damit aber nur auf geringes Interesse, nachdem die diplomatischen Sondierungen hatten erkennen lassen, daß die Westmächte auf eine Debatte im üblichen Stil hinarbeiten würden, von der keine beunruhigenden Ergebnisse zu erwarten waren. Der rumänische Delegierte Titulescu lehnte deshalb das polnische Ansinnen ab und konnte die tschechoslowakische und die jugoslawische Regierung zu derselben Auffassung bewegen2). Rumänien legte offenbar Wert darauf, Deutschland nicht zu verstinmen. In einer Unterredung mit dem Führer der Siebenbürger Sachsen Brandsch zeigte Ministerpräsident Maniu aber auch die Grenzen, die einem Entgegenkommenvon rumänischer Seite gesetzt waren: Er lehnte den Gedanken einer ständigen Kommissionab,mit der Begründung, es könne nicht an1) Dufour an Köpke am 2.3.1929 (nach einem Besuch Titulescus), AA 4555 H/ Bd. 2. Ebenso Aufzeichnung (o.U., aus der Deutschen Delegation Genf) vom gleichen Tag, in der eine gesprächsweise Mitteilung des finn. Außenministers wiedergegeben ist, den die Polen für ein gemeinsames Vorgehen hatten gewinnen wollen. AA 4555 H/E )47 639 f. 2) Dufour an Köpke am 2.3.1929,
a.a.O.
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gehen, daß so hochpolitische Staatsfragen, die nationale Lebensinteressen berührten, durch Fachleute beurteilt würden wie eine Tropenkrankheit, und verwies auf den engen Spielraum seines Landes: "Wir können nichts anderes tun, als was unsere Freunde wollen 111). Der tschechoslowakische Außenminister Benesch, dem nahegelegt worden war, selber zur Ratssitzung zu erscheinen, hielt dies gar nicht erst für erforderlich, wobei sicher auch die Oberlegung mitspielte, daß man durch betonte Zurückhaltung, ja durch Ignorieren, die Debatte am ehesten würde herunterspielen können2).
c) Die Vorschläge des kanadischen Delegierten Dandurand Nachdemeine Debatte nicht zu umgehenwar, konnte es den Gegnern einer großen Aussprache nur willkommen sein, daß der kanadische Delegierte Dandurand unabhängig von Stresemann einen eigenen Antrag zur Ratssitzung eingereicht hatte, der eine bequeme Möglichkeit schuf, die Debatte im erwiin.schten Sinne zu kanalisieren._ Denn dieser Antrag beschränkte sich auf die "Procedure applicable aux petitions des minorites" und hatte nicht, wie der deutsche Antrag, eine grundsätzliche Erörterung der Minderheitenfrage zum Ziel. Im Gegensatz zu Stresemann hatte Dandurand schon konkrete Vorschläge ausgearbeitet und dem Rat vorgelegt, die einen Orientierungspunkt boten und die Richtung festlegen konnten, in der sich die Diskussion zu bewegen hätte. Zaleski suchte, nachdem er mit seinem ursprünglichen Plan einer Torpedierung der Debatte ohne Erfolg geblieben war, Briand und Chamberlain in diesem Sinne zu beeinflussen und stieß dort auch auf Verständnis 3). Abgesehen davon, daß Dandurand sich überhaupt nur auf die Erörterung der Prozedur beschränkte, war es auch von der konkreten Ausführung seines Programmskeine Oberraschung, wenn die Gegner einer Aussprache in seinen Vorschlägen wenigstens das geringere übel sahen. Denn diese enthielten kein Element, das den Minderheiten eine Verbesserung ihres Status innerhalb des Verfahrens hätte bringen können, tmd sie ließen zum Teil auch - für einen Kanadier nicht verwunderlich -- den besonderen Charakter des euro1) Geh. Aufzeichnung Reinebeck vom 18.2.1929 Maniu), AA K 2366/K 669 643 f. 2) Koch an AA am 1,3.1929 225-227.
(über eine Unterredung
(über ein Gespräch mit Benesch),
3) Charnberlain an Sir W. Tyrrell gerie), a.a.O.
am 20.2.1929
Brandsch-
AA K 1772/K 436
(über ein Gespräch mit de Mar-
- 194 päischen Minderheitenschutzsystems unberilcksichtigt 1). Im wesentlichen schlug Dandurand zwei Neuerungen vor: 1. Die Minderheiten sollten ihre Petitionen nicht direkt dem Völkerbund zusenden, sondern ztmächst ihren Regierungen vorlegen. Der Sinn dieses Vorschlags war, die Auseinandersetzung zwischen Staat und Minderheit weitgehend in den innerstaatlichen Raum zu verlegen. Denn der jeweiligen Regierung sollte auf diese Weise Gelegenheit gegeben werden, den Forderungen der klagenden Minderheit Genüge zu tun, bevor der Völkerbwid mit ihnen befaßt würde. Erst weim es der Regierung innerhalb einer bestimmten Frist nicht gelingen sollte, die Minderheit zufriedenzustellen, sollte die Klage von der Regierung an den Völkerbwid weitergeleitet werden. Dieser Vorschlag bedeutete somit nur eine Wiederauflage des polnischen Antrags vom 22. August 1923; er war, worauf auch im Völkerbundsekretariat hingewiesen wurde, wegen seiner Tragweite für die Prinzipien des internationalen Minderheitenschutzes jetzt ebensowenig wie früher geeignet, die allgemeine Aussprache über die Minderheitenfrage zu fördern, zumal er Petitionen von dritter Seite ausschloß 2). 2. Statt des bisherigen Dreierkomitees sollte eine neue Komnission zur Prüftmg. von Minderheitenbeschwerden konstituiert werden, der jedes Mitglied des Rates angehörte. Dieser Gedanke schien in gewisser Hinsicht deutschen Interessen zu entsprechen: Eine solche Erweiterung hätte auch die Teilnahme Deutschlands an der Prüfung von Angelegenheiten deutscher Minderheiten bedeutet, die ja durch die Ratsresolution vom Juni 1925 verhindert wurde. Andererseits verkannte der Vorschlag, daß eine Ausdehnung der Prüftmgstätigkeit auf den ganzen Rat schwerlich dem Rang der Minderheitenfrage im Kalkül der meisten Mächte angemessen gewesen wäre; eine Einschaltung des gesamten Rates wäre für die Behandlwig von z.T. sehr speziellen Detailfragen ein witauglicher Weg gewesen. Sie war nicht zuletzt deshalb - gemessen an den Anforderungen des Minderheitenschutzes - wizweckmäßig, weil sie eine zusätzliche Belasttmg der Ratsmitglieder bedeutet hätte und eine eingehende Untersuchwig - angesichts
einer verhältnismäßig
Fällen gar nicht hätte
stattfinden
kurzen Sitzwigsperiode
- in vielen
können.
Gegen Uandurands Progrannn war schließlich noch ein grundsätzlicher Einwand zu erheben, der sich aus der Arbeitsweise des internationalen Minderheitenschutzsystems ergab: Colban als ehemaliger Direktor der Minderheitenabtei1) Text in: Nation und Staat 2, S. 725 ff. 2) s. oben s. 28. In diesem Sinne auch Aufzeichnung Azcfi.rate vom 25.2.1929, VB 4/3418/9513,
- 195 lung ebenso wie Azdrrate, einer seiner Nachfolger, kritisierten, daß der Entwurf die Minderheitenschutztätigkeit des VölkerbWldes auf die Behandlwig offiziell eingereichter Petitionen beschränkte, ihr also einen formalistischen Zug gab 1). Die Erfahrung hatte jedoch gelehrt, daß, ~nn man eine Minderheitenbeschwerde zu einer Haupt- und Staatsaktion machte, die beklagten Regierwi. gen, die z.T. ja stark von Prestigedenken bestimmt waren, wenig bereit waren einzulenken. Colban wie Azd.rate hielten deshalb mit Nachdruck am System inoffizieller vermittelnder Kontakte mit den jeweiligen Regierungen fest, das ihnen wirksamer schien. Aus seiner Erfahrung berichtete Colban, daß es gelegentlich außer Petitionen auch andere Infonnationsquellen gab,wie z.B. mündlich vorgebrachte Klagen oder Zeittmgsartikel, die den Völkerbund zu informellen Aktionen bei der beklagten Regierung veranlassen konnten. Auch die Arbeit der Dreierkomitees bestand ja zum großen Teil aus solchen "offiziösen und wohlwollenden" Interventionen. überhaupt hielt Colban einen wirksamen Minderheitenschutz in einem System für unmöglich, in dem der Völkerbund die jeweilige Regierung zur Rechenschaft zog; vielmehr sah er als einzig effektiv eine spezifische Fonn der Zusanunenarbeit zwischen der Minderheitenabteilung des Völkerbwidsekretariats und der betreffenden Regierung an, wohlwissend, daß ohne deren Zustimmung jegliche Maßn~ des Völkerbundes unwirksam war. Diese Seite des internationalen Minderheitenschutzes schien ihm wert, bewahrt und entwickelt -zu werden, und für sie war Dandurands Schema untauglich, da nach ihm der Völkerbwid die Aufgabe gehabt hätte, in einem Streit zwischen Minderheit und Regierung einen Urteilsspruch zu fällen. Enttäuschend war dieses Projekt besonders für die deutsche Regierwig, schloß sich Dandurand doch in einem wichtigen Punkt der polnischen Auffassung an. Deimoch waren der Antrieb, der dem Progrannn zugrunde lag, und die allgemeinen Bemerkungen, die es enthielt, durchaus minderheitenfreundlich und boten der deutschen Seite zumindest einen Anknüpftmgspunkt, die Diskussion in ihrem Sinne zu beeinflussen. Renthe-Fink schlug deshalb in einem Schreiben an Weizsäcker vor, die von Dandurand angebotenen Löswigen nicht en bloc zu verwerfen, sondern ihnen ein anderes Gesicht zu geben. Man milsse sich Möglichkeiten
offen halten,
um sich die BWldesgenossenschaft des kanadischen Dele-
1) a) Aufzeichnung Azcfi.rate vom 25.2.1929, a.a.O. b) Aufzeichnung Colban vom 21.2.1929, von Colban in nicht-amtlicher Eigenschaft auf Wunsch Drummondsangefertigt. Abschrift in: F.O. 371/W 1796/185/98.
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gierten zu sichern 1). In diesem Sinne hatte auch der deutsche Generalkonsul in Montreal Kempff zur Erwägung gestellt, ob man sich nicht Dandurand, der als großer Freund Frankr_eichs und Polens gelte und früher sehr deutschfeindlich gewesen sei, etwa durch Verleihung eines Ehrendoktortitels - als Gegengewicht gegen französische und polnische Orden - verpflichten köme 2), Imnerhin: Dandurand erkannte die Revisionsbedürftigkeit des bestehenden Verfahrens an, er äußerte Verständnis für die Unzufriedenheit der Minderheiten, bekräftigte die Aufgabe des Völkerbundes, die Minderheitenrechte zu schützen, verwarf den Gedanken einer Entnationalj,sierung und brach mit dem Grundsatz, nach dem rasseverwandte und benachbarte Staaten bei der Prüfung von Minderheitenbeschwerden nicht im RatskO!ritee vertreten sein durften. Doch über materielle Punkte hinaus galt die Sorge der Reichsregierung ja zunächst und vor allem dem Ziel, daß die Minderheitenfrage weiterhin auf der Tagesordnung des Völkerbundes blieb.
d) Verlauf und Ergebnis der Märztagung des Völkerbundsrats Die Ratsdebatte am 6, März 1929 war geradezu ein Spiegelbild der minderheitenpolitischen Kräfte und Tendenzen im Vcilkerbund. An der Aussprache waren im wesentlichen Stresemann, Zaleski, Chamberlain und Briand beteiligt, Gewicht bekam die Diskussion, wie zu erwarten, durch die Rede des deutschen Außenministers, der das Minderheitenproblem auf höherer Warte behandelte und den Minderheitenschutz in einen engen Zusannnenhangmit der Idee des Völkerbundes überhaupt stellte. Als dessen Aufgabe bezeichnete er es, "der Menschheit zu zeigen, daß es eine Entwicklung im Völkerleben gibt, die nach aufwärts strebt und nicht untergeht in Resignation und PessimisDn1S"3) • Seinem Konzept entsprechend verzichtete Stresemann darauf, die Lage einzelner Minderheiten zu erörtern. Vielmehr steuerte er gleich das Gesamtproblem an und behandelte auch das formale Verfahren unter diesem Blickwinkel. Damit machte er deutlich, daß nach deutscher Auffassung der Minderheitenschutz nicht eine Detailfrage oder Spezialaufgabe des Völkerbundes von mehr oder weniger untergeord1) In diesem Sinne Renthe-Fink
an Weizsäcker am 21.2.1929,
AA K 2366/K 669
652 f. 2) Kempff (Tel.) an AA am 18.2.1929, AA 4555 H/E 147 580. 3) Journal Officiel X, S. 515 ff. Deutsche Wiedergabe in: Nation und Staat s. 497 ff.
2,
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neter Bedeutung, sondern ein zentrales Problem der internationalen Beziehtmgen war. Demideellen Grtmdzug seiner Konzeption gemäß stellte Stresemann den Minderheitenschutz als eine vor allem kulturelle Aufgabe heraus, womit er sich gegen alle Verdächtigungen abgrenzte, sein Eintreten für die Minderheiten entspringe letztlich irredentistischen Motiven und verfolge das Ziel, die Staaten auseinanderzusprengen. Freilich fügte er hinzu, dieses Jahrhundert habe sicher nicht "eine für alle Ewigkeit bestehende Ordnung der Dinge" festgelegt, versicherte aber gleichzeitig, das habe nichts mit der Minderheitenfrage zu tun 1). In seinem konkreten Programm ging Stresemann von den Gegebenheiten aus: Er hielt sich an die geltenden Verträge und Völkerbundsresolutionen, die er nicht abzuändern, sondern nur in ihrer vollen Tragweite auszulegen gedachte. Aus dem Text der entscheidenden Dola.nnentedes internationalen Minderheitenschutzes , vor allem der Note Clemenceaus an Paderewski vom 24. Juni 1919 und des Tittoni-Rapports vom 22. Oktober 1920 zog Stresemann zunächst drei Schlußfolgerungen: 1. Die Minderheitenschutzbestinmungen seien - als wesentlicher Bestandteil des neuen Systems internationaler Beziehungen - unantastbar. 2, Dieses System erschöpfe sich nicht darin, daß ein Appell an den Völkerbund ennöglicht werde, sondern begründe eine Verpflichtung des Völkerbundes , von sich aus die Einhaltung der Minderheitenverträge zu überwachen. Daraus folge: 3, Die Garantietätigkeit des Völkerbundes könne sich nicht auf die Behandlung konkreter Fälle beschränken, wie sie in Form von Petitionen vorgelegt würden, sondern sei im Sinne einer Verpflichtung zur fortdauernden überwachung der Verträge zu verstehen. Stresemann bezog sich dabei auf den Passus im Ti ttoni-Rapport, der dem Völkerbundsrat die Aufgabe zuwies, sich Gewißheit zu verschaffen, daß die Minderheitenschutzbestinmungen ständig eingehalten werden. Aus diesen Maximen ergab sich für Stresemann die klare Konsequenz, daß der Minderheitenschutz kein Übergangsregime zur Erleichterung vorübergehender Schwierigkeiten sei, sondern den Charakter eines dauernden Prinzips habe. Damit wurden von deutscher Seite die auf der Ratstagung vom Dezember 1925 ent1) Es ist
bezeichnend, daß die bloße Erwähnung von Art. 19 der VÖlkerbundssatzung in diesem Zusammenhang, obwohl Stresemann dessen Problematik unmißverständlich von der Minderheitenfrage trennte, Chamberlain zu einer scharfen Erwiderung veranlaßte, in der er, um jedes Mißverständnis auszuräumen, klarstellte, daß Minderheitenfrage und Art. 19 nichts miteinander zu tun haben, Dabei nannte Chamberlain als Voraussetzung rür ein Eingreifen des Völkerbunds in der Minderheitenfrage, daß die Minderheiten "mit reinen Händen" zum Völkerbund kommen.
- 198 wickelten Theorien veiworfen. Den gnmdsätzlichen Bemerkungenentsprachen die von Stresemann vorgetragenen einzelnen Vorschläge. Sie liefen auf eine Intensivierung des Minderhe~tenschutzes hinaus - auch dies im wesentlichen im Rahmen des geltenden Verfahrens, das Stresemann elastischer gehandhabt wissen wollte, Eine wichtige Forderung war, das Verfahren vor dem Dreierkomitee durchsichtiger zu gestalten, in der Weise, daß die Komitees, im Sinne ihrer ursprünglichen Funktion als Hilfsorgane des Völkerbundsrats, die Ergebnisse ihrer Arbeit dem Rat vorlegten. Die Untersuchungstätigkeit der Dreierkomitees sollte be schleunigt, das Komitee selber von Fall zu Fall personell verstärkt werden, Großes Gewicht legte Stresemann dabei auf die Forderung, daß die grundsätzliche Diskriminierung der rasseveiwandten Staaten bei der Zusannnensetz~ der Dreierkomitees aufgehoben werde; die Entscheidung über die Besetzung des Komitees sollte dem Takt des jeweiligen Ratspräsidenten überlassen bleiben. Für die Minderheiten selber forderte Stresemann eine Verbesserung ihres Status: Sie sollten vom Schicksal ihrer Eingabe in Kenntnis gesetzt werden - etwa durch eine größere Publizität des Verfahrens - und auch das Recht erhalten, von Fall zu Fall selber ihre Sache vor den Dreierkomitees vorzutragen. Diese Regelung sollte jedoch nicht als ein fester Anspruch der Minderheiten konstituiert werden, mit dem das bisher stets veiworfene kontradiktorische Verfahren zwischen Minderheit und beklagtem Staat eingeführt worden wäre, sondern war als eine Opportunitätsregelung geda.cht, die es der Initiative des Komitees überließ, kompetente Informationen, von welcher Seite auch immer, einzuholen. Außerhalb des bestehenden Systems, wenngleich für Stresemann eine natürliche Konsequenz der allgemeinen Vertragsbestimmungen, war lediglich der Vorschlag, eine ständige Kommissioneinzurichten. Stresemann war jedoch vorsichtig genug, diesen Punkt nicht zu einer konkreten Forderung zu erheben, sondern lediglich eine Prüfung dieser Frage anzuregen. Oberhaupt vermied er es, jetzt schon endgültige Vorschläge zu formulieren, ging es ihm doch zunächst und vor allem darum, die Debatte in Gang zu bringen. Zu diesem Zwecke plädierte er für die Einsetzung einer Studienkommission, deren Aufgabe es sein sollte, die grundsätzliche Seite der Völkerbundsgarantie zu klären und Möglichkeiten für die Verbesserung des Verfahrens zu prüfen. Den Vorzug-einer solchen zeitlich begrenzten Kommission sah man auf deutscher Seite darin, daß damit ein Gremiumgeschaffen worden wäre, das unbeeinflußt von aktuellen Streitfragen den Stand des Minderheitenproblems von höherer Warte aus hätte übersehen können, Durch die Beratungen innerhalb eines solchen Komitees würde bereits eine gewisse Klärung der Meinungen über gnmdsätzliche Fragen er-
- 199 folgen, bevor solche an die höchsten politischen gelangten.
Instanzen des Völkerbundes
~1it diesem Progrannn hob sich Stresemann weit von seinen Kollegen ab. Am ehesten bekundete noch der Vertreter Finnlands Procope Verständnis, indem er, wie Stresemann, ein Studienkomitee zur Prüfung der anstehenden Vorschläge anregte. Alle anderen Sprecher beschränkten sich darauf, das bestehende System zu verteidigen und die Debatte auf bloße Prozedurfragen einzugrenzen. In diesem Sinne äußerte sich besonders der polnische Außenminister Zaleski, unterstützt von dem rumänischen Delegierten Titulescu. Für ihn verengte sich die Debatte auf die Frage: Inwieweit bedeuteten die Vorschläge Dandurands eine .Änderung des bestehenden Systems, indem sie - was dann natürlich abgelehnt werden müßte - die Minderheitenstaaten zusätzlich belasteten? Dies zu prüfen schlug er, dem traditionellen Verfahren entsprechend, die Einsetzung eines Rapporteurs vor, der zur nächsten Sitzung einen Bericht vorlegen sollte, mit dem die Debatte abzuschließen sei. Demschloß sich Chamberlain in wesentlichen Punkten an. Für ihn hatten die Verträge ihren Zweckin der Hauptsache erreicht, doch war er elastischer als Zaleski, indem er immerhin in zwei Punkten Verbesserungen für erwägenswert hielt: Er verschloß sich nicht der Forderung nach größerer Öffentlichkeit und nach einer Beschleunigung des Verfahrens. Auf Stresemanns Rede eingehend, erläuterte Chamberlain aber noch seine Auffassung zu einer gnmdsätzlichen Frage: Er erklärte, mit seiner Zustimmung zu den von Mello Franco vorgetragenen Ausführungen auf der Ratstagung im Dezember 1925 nicht eine Vernichtung der kulturellen Eigentümlichkeiten der Minderheiten gemeint, sondern lediglich die politische Loyalität der Minderheiten gegenüber ihren Staaten im Auge gehabt zu haben. In diesem Sinne bekannte auch er sich zur ständigen Dauer der Minderheitenschutzbestinnnungen. Darin lag nicht zuletzt ein entscheidendes Verdienst Stresemanns, Chamberlain zu einer solchen Erklärung gedrängt zu haben, war doch nun die Assimilationsthese vom Tisch. Sehr aufschlußreich für seine Einstellung zum Minderheitenproblem war Briands Rede. War auch vorher schon eine gewisse Verlegenheit bei ihm zu spüren gewesen, so enthielt sich der französische Außenminister hier nahezu jeder konkreten und verbindlichen Aussage. Den deutschen Forderungen stellte er das ''Milieu der Entente und der Eintracht" als vorrangig gegenüber und beschwor die Hannonie zwischen Minderheit und Staat. Offenbar meinte er damit, Stresemann gerecht zu werden, an dem er lobte, daß er seine Kollegen "in einer sehr in-
- zooteressanten und sehr vornehmen philosophischen Rede mit der ganzen Erhabenheit seines Ideals" bekanntgemacht habe. Doch enthielt selbst diese unverbindliche Erklärung, in der.sich Briand streckenweise weitschweifig über die Natur des Menschen ausließ, einige Bemerkungen, deren Tendenz eindeutig war: Ober jede andere Erwägtmg stellte Briand die Achttmg der nationalen SouveräBeim Minderheitenproblem könne es nicht nität als das "Prinzip, das herrscht". um absolute Forderungen gehen, sondern seien die "traurigen Relativitäten, zu denen wir verurteilt sind'', zu berücksichtigen. Die Unzufriedenheit der Minderheiten werde von Leuten mit bestimmten politischen Interessen ausgenutzt; so wertete Briand auch die Minderheitenorganisationen vornehmlich als einen Block der Unzufriedenheit m1d der ständigen Beschwerden. Der nonnale Weg sei und im Interesse der Minderheiten liege es, wenn sich Schwierigkeiten nicht durch Anrufung des Völkerbm1des, sondern in Verhandlm1gen unmittelbar zwischen Minderheit und Staat regelten. - Damit verdeutlichte diese Rede abermals, daß der französische Außenminister die Minderheitenfrage als einen höchst unbequemen Gegenstand ansah. Oberhaupt schien Briand die ganze Diskussion nicht so sehr für sachlich notwendig, sondern mehr als Konzession Stresemann gegenüber anzusehen. Denn er bat gleichsam um Verständnis für seinen deutschen Kollegen, indem er sagte, daß man.es einem Staatsmann doch nicht voraerfen könne, wenn er noch einige Illusionen habe. Italien, dessen Unterstützung sich Polen hatte versichern wollen, beteiligte sich an der Debatte überhaupt nicht. Es begnügte sich mit der Rolle des unbeteiligten und unparteiischen Zuschauers, um dadurch den polnischen Tendenzen eine Abfuhr zu erteilen und zugleich sein_ Desinteresse an den zur Diskussion gestellten Fragen zum Ausdruck zu bringen. An dieser Zurückhalttmg, so schrieb der Botschafter v. Neurath, würde es festhalten, solange nicht eigene Interessen gefährdet würden, solange also nicht jemand den hartnäckig verfochtenen Satz antastete, daß es eine Minderheitenfrage innerhalb Italiens nicht gebe 1) • Die als Ergebnis der Debatte vom Rat angenommeneResolution war ein Kampromiß2). Zwar wurde die von Deutschland vorgeschlagene Studienkonunission nicht eingesetzt, aber es war Gewähr gegeben, daß die Minderheitenfrage weiterhin im Rat erörtert
wurde. Ein Dreierkomitee
1) Neurath an AA am 14,3,1929, 2) Deutscher
sollte
dem Rat zu seiner Junisitzm1g
AA K 1772/K 436 329-332,
Text in: Nation und Staat
2, S. 515.
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einen Bericht vorlegen, der dann von dem sich als Komitee konstituierenden Gesamtrat geprüft werden sollte. Diese Vereinbarung, mit der festgelegt wurde, daß die Ratsmitglieder selber das Problem noch einmal grundsätzlich würden diskutieren müssen, trug den deutschen Vorstellungen vom Rang der Minderheitenfrage Rechnung. Es blieb auch nicht bei den bloßen Prozedurfragen, sondern die von Stresemann vorgebrachten grundsätzlichen Gesichtspunkte sollten vom Dreierkomitee mit berücksichtigt werden. Diese Etweiterung der Aufgaben des Dreierkomitees hatte Chamberlain gegenüber Frankreich, Polen und Rumänien beffüwortet. Freilich bedeutete das noch nicht, daß die grundsätzlichen Gesichtspunkte auch in den endgültigen Bericht aufgenommenwerden würden. Den Regienmgen der Minderheitenstaaten und der Ratsmächte wurde die Möglichkeit eingeräumt, dem Dreierkomitee bis zum 15. April 1929 eigene Bemerkungen vorzulegen. In gewisser Hinsicht hatte die deutsche Regierung mit diesem Ergebnis einen Erfolg errungen - gegen das von Polen geforderte Bestreben, die Frage bereits auf der.Märzsitzung zu erledigen, und gegen die besonders auf französischer Seite vorherrschende Tendenz, durch Einsetzung eines gewöhnlichen Dreierkomitees "der Sache ein leises Begräbnis zu bereiten" 1). Dieses positive Element veranlaßte auch die Sprecher der deutschen Volksgruppen, Stresemann ihren Dank "für sein eindrucksvolles Auftreten im Rat" auszusprechen 2). Fr.eilich zwang die Analyse der einzelnen Reden doch eher zu einer zurückhaltenden Beurt~ilung und v.Schubert im Auswärtigen Reichstagsausließ das Urteil des Staatssekretärs schuß, das deutsche Ziel für die Märzsitzung sei "vollkommen erreicht 113 ), doch als reichlich optimistisch erscheinen. Denn nicht nur waren die konkreten deutschen.Anregungen weitgehend ohne Resonanz geblieben, auch in den prinzipiellen Fragen hatte Deutschland kaum Unterstützung gefunden. Chamberlain, der ein gewisses Entgegenkommengezeigt hatte, war dabei weniger einer spontanen politischen Einsicht als vielmehr der Rücksichtnahme auf starke minderheitenfreundliche Strömungen in England gefolgt 4). Eher wurde dem Er1) So die Wer~ung der Ratsdebatte durch Staatssekr, v. Schubert vor dem Ausw. Ausschuß des Reichstags am 19.3,1929, AA 4555, H/E 147 679-692, 2) Vgl. unten S, 220, 3) Schubert vor dem Ausw. Ausschuß, a.a.O,
4) In diesem Sinne äußerte sich Dandurand gegenüber Schubert:
" ••• daß er das Empfinden habe, daß die Anwesenheit des Herrn Cha.mberlain im Komitee gar nicht schlecht sei, denn er wisse ganz genau, daß in England selbst neuerdings sich starke Strömungen für die Minoritäten bemerkbar machten und daß sich Herr Chamberlain vor seiner liberalen Opposition sehr vorsehen müsse". Schubert, ebd.
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il II
gebnis der Märztagung wohl eine andere Wertung im Auswärtigen Amt gerecht, in der es hieß, die Polen könnten mit demVerlauf der Tagung nur noch llll.Zufriedener sein als Deutschland, und dies sei das Optinn.un,das in Genf zu erreichen sei 1). Auch die Reaktion in der deutschen öffentliclikeit war gedämpft; das galt nicht nur für die äußerste Rechte, die das Minderheitenproblem vor allem im Aspekt der Revisionspoli tik betrachtete und den Methodender amtlichen deutschen Minderheitenpolitik ohnehin.keine Sympathie entgegenbrachte, sondern traf auch auf demokratische und linksgerichtete Stimnen zu, wenngleich deren Urteil positiver war. Von den Deutschnationalen bis zu den Sozialdemokraten war eine in deutschen Blätt~rn sehr seltene Einigkeit darüber festzustellen, daß das Ergebnis von Genf sehr enttäuschend sei. Die deutschen Pressestellen in Genf und Berlin hatten inunerhin durch fortdauernde Aufklärungsbemühungen erreicht, daß dieser Enttäuschung ein nicht zu bitterer Ausdruck gegeben wurde. Dafür mußten sich diese Pressestellen aber auch in sozialdemokratischen, deutschnationalen und sogar volksparteilichen Blättern heftige Angriffe wegen ihres angeblich unangebrachten Optimisnrusgefallen lassen 2). In der ''Vossischen Zeitung" rühmte der Chefredakteur Georg Bernhard - insofern relativ positiv-, daß Stresemann Maßstäbe für künftige Debatten gesetzt habe, und stellte seine Politik der Machtpolitik alten Stils gegenüber. Freilich beklagte auch er, daß es sehr schwer sei, der öffentlichen Meinungin Deutschland die Bedeutung einer solchen Politik klarztnnachen, die auf Verbesserung der deutschen Weltgeltung in Genf aus sei 3). "Der Wegaus dem Dickicht ist offen", schrieb die "Frankfurter Zeitung" als Resümeeeiner zuriickhaltenden Beurteilung und meinte damit, daß es nun darauf ankonune,was aus der deutschen Initiative werde4). · Der Interpretationsspielraum bei der Beurteilung dieser Debatte war weit genug, um auch Polen eine günstige Bilanz zu ermöglichen. So hob Zaleski _in einer Rede kurz nach der Ratstagung als positives Ergebnis hervor, daß dort die politische Verschmelzungder fremdstämmigenGruppenmit der Mehrheit des Staatsvolkes erneut als das Ziel der Minderheitenverträge festgestellt sei 5). 1) AA-Au:fzeichnung (o.U.) vom 18.3.1929, AA 4555 H/E 147 659-661. 2) Pressespiegel der Presse-Abt. des Ausw.Amtes vom März 1929, AAL 785/L 231 400. 3) "Vossische Zeitung" vom 10.3.1929. 4) Zit. in: Nation und Staat 2, S. 490. 5) Zaleskis Rede beim Bankett der "Gesellschaft zum Studium internationaler Probleme" am 24.3.1929; Bericht darüber von: Deutsche Gesandtschaft Warschau an AA vom 30.3.1929, AA K 1772/K 436 407-412.
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Diese Formel hatte ihren guten Sinn im Falle der "echten" Minderheiten, problematischer aber war es, sie auf die deutsche Minderheit in Polen anzuwenden. Gewißhatte sich auch die deutsche Regierung zur Loyalität der deutschen ~linderheit gegenüber dempolnischen Staat bekannt, andererseits aber doch keinen Zweifel gelassen, daß sie eine Revision der deutschen Ostgrenze ansteuerte, eine Politik, die ja auch die deutsche Minderheit innerlich band. War nicht Zaleskis Bemerkungnur so zu verstehen, daß er eine Politik der wenn auch friedlichen - Loslösung der ehema1spreußischen Gebiete als dem Sinn der Minderheitenverträge zuwiderlaufend betrachtete? "Damit", so schrieb dieDeutsche Gesandtschaft in Warschau in einem Bericht an das Auswärtige Amt vom 30. März 1929, "begegnen wir aber freilich wieder dem roten Faden, der sich durch jede Erörterung der deutsch-polnischen Fragen hindurchzieht: das Danaergeschenk des Korridors und Ost-Oberschlesiens, das Polen den Siegerstaaten von 1918 verdankt, hat im gesamten deutschen Volke zwangsläufig eben jene irredentistischen Empfindungenwachgerufen, deren Preisgabe durch die Minorität nach Zaleski das vomVölkerbund gewollte Ziel der politischen Assimilierung der Minderheiten sein soll. Die deutsche ~ünorität in Polen kann deshalb schließlich noch so viele Loyalitätsbeteuerungen ••• abgeben; jene irredentistische Einstellung, die die deutsche Minorität nun einmal im deutschen Volke durch ihre bloße Existenz wachhält, wird in Polen der Minorität doch zugerechnet und rechtfertigt in den Augen der polnischen Öffentlichkeit alle 1). gegen sie gerichteten Maßnahmen" Für Stresemann war das Eintreten für den Minderheitenschutz nun auch zu einer starken persönlichen Verpflichtung geworden,der er sich nicht glaubte entziehen zu können. Eigentlich erst jetzt trat die tAinderheitenfrage, die seit 1925 erklärtermaßen zu den wichtigsten Aufgaben seiner Politik zählte, in den Vordergrund seines außenpolitischen Wirkens, ja mit ihrer Lösung gedachte er seine Amtszeit abzuschließen. Aus San Remoschrieb der Außenminister nach der Märztagung am 13. März 1929 an seinen Parteifreund Prof. Kahl, er werde sehr bald Stellung nehmenmüssen in dieser Frage und könne die Entscheidung darüber weder der Fraktion noch der Partei überlassen, "denn nach meiner individualistischen Auffassung trage ich die Verantwortung vor mir selbst, und niemand kann sie mir abnehmen. Ich halte mich deshalb für verpflichtet, nicht nur bis zur Beendigung der Pariser Verhandlungen, sondern auch bis zum letzten Auskämpfender Minderheitenfrage im Amte zu bleiben. 1) Deutsche Gesandtschaft
Warschau an AA am 30.3.1929,
a.a.0.
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Ich würde mir wie ein Deserteur vorkonnnen, wenn ich die Angelegenheit, die ich vor den Nationen begonnen habe, jetzt im Stiche lassen oder meinem Nachfolger übergeben würde" 1). Stresemanns starkes Engagement in der Minderheitenfrage zu diesem Zeitpunkt muß sicher im Aspekt enttäuschender Erfahrungen in anderen wichtigen Bereichen seiner Politik gesehen werden, Auf der Rückreise von San Remo schrieb er am 30. März in einem persönlichen Brief an Lord d'Abernon ein bitteres Resümee seiner mit Locarno eingeleiteten Politik, bezugnehmend auf einen gerade erschienenen Band der Memoiren des Adressaten und einen von demselben stammenden Artike_l "Zurück zu Locarno": Niemals habe er sich in jenen Tagen vorstellen können, daß zehn Jahre nach dem Frieden und so viele Jahre nach Locarno noch fremde Truppen auf deutschem Boden stehen könnten. Locarno sei nicht eine Frage Frankreich-Deutschland, sondern eine europäische Frage, eine Frage des Friedensgedankens überhaupt. Niemals sei die lhnstellung der öffentlichen Meinung für den Geist der Verständigung und des Friedens in so verhältnismäßig kurzer Zeit gelungen wie in Deutschland, und er dürfe sich einigen Anteil daran beimessen. Heute müsse er jedoch offen sagen, daß diejenigen, die für die Locarnopolitik eingetreten seien, nur mehr die·Trünuner ihrer lbffnungen sähen. Die Politik der weiteren Besetzung des Rheinlandes treibe alle Leute wieder zu den Deutschnationalen zunick. "Wenn man aber noch weiter die Fortdauer der Besetzung als Schachergeschäft ansieht,_ dann werde ich selbst vor der Weltöffentlichkeit gezwungen sein, von dem Ende des Geistes von Locarno zu sprechen. Sie haben in Ihrem Werke davon gesprochen, daß ich persönlichen Mut im Leben genug bewiesen hätte. Ich werde auch den persönlichen Mut haben, vor der ganzen Welt zu bekunden, daß ich in den Gedanken, von denen ich damals ausgegangen war, als ich in diesem Vertrag von Locarno mehr sah als den einfachen Wortlaut, mich über die Absichten meiner Partner getäuscht habe und daß über der ganzen Ausführung der Locarnopolitik die Worte stehen nüßten: 'Siehe, der große Moment fand nur ein kleines Geschlecht 1112 ) • - Ohne Zweifel bestand ja zwischen Stresemanns Locarno-, Völkerbunds- und Minderheitenpolitik ein innerer Zusannnenhang, wobei die Minderheitenfrage jedoch anfangs gegenüber akuteren Aufgaben im Rahmen dieser Außenpolitik zurückgetreten war. Wenn Stnesemann seiner Initiative nun ein so großes Gewicht bei1} Stresemann:
"Vermächtnis" III, S. 438; s. auch Bruns: "Stresemanns Minderheitenpolitik" , in: Nation und Staat 3, S. 2 ff. 2) Stresemann: "Vermächtnis" III, S. 392 ff,
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maß, so dürfte
dahinter auch das Bemühen gestanden haben, mit Fortschritten auf dem Gebiet des Minderheitenproblems sozusagen eine der "Rückwirkungen" von Locarno einzulösen, nachdem in wichtigeren Fragen eine Bestätigung der an Locarno geknüpften Erwartungen ausgeblieben war, und seine Politik vor dem Odium des Scheiterns zu bewahren.
e) Die Stellungnahmen der Regierungen und der Bericht des Londoner Komitees .Am14, April
1929 wurden dem durch die Resolution des Völkerbundsrats vom 7. März 1929 eingesetzten Dreierkomitee die Bemerkungen der deutschen Regierung übergeben; sie zielten darauf ab, die in Gang gebrachte Diskussion weiterzuführen. Diesem Interesse gemäß war die deutsche Regierung sehr daran interessiert, daß sich auch andere Staaten durch Vorlage von Denkschriften an der Diskussion beteiligten. Bei den Regierungen in Haag, Sofia, Wien, Budapest, Bern und Stockholm, die gelegentlich eine mehr oder weniger positive Haltung in der Minderheitenfrage hatten erkennen lassen, hatte die Reichsregierung vorher sondiert und durchblicken lassen, daß sie die Einsendl.lllg von Bemerkungen an das Dreierkomitee begrüßen wilrde1). Bemerkenswert ist die Liste der tatsächlichen Einsender: Von den Ratsmächten beteiligte sich allein Deutschland; sowohl die britische als auch die französische und die italienische Regierung verzichteten darauf, eigene Bemerkungen einzureichen, womit sie einmal mehr zum Ausdruck brachten, daß die Minderheitenfrage für sie nur eine geringe Rolle spielte. Deutschland führte einige kleinere Mächte an, die ähnliche Interessen hatten,wie z.B. Ungarn, oder neutrale Staaten,wie die Schweiz oder die Niederlande. Auf der Gegenseite standen Polen, Griechenland und die Staaten der Kleinen Entente 2). Das deutsche Progrannn war von Stresemann in der Ratssitzung schon allgemein umrissen worden. Diese Ausführungen galt es jetzt zu präzisieren. Zentraler Punkt der deutschen Denkschrift war der Begriff 11Garantie 113 ). Die deutsche 1) Weisungen an die entsprechenden 1772/K 436 345-352.
Auslandsmissionen
vom 26.3.1929,
AA K
2) Denkschriften wurden eingereicht von Deutschland, Österreich, Bulgarien, China, Estland, Griechenland, Ungarn, Lettland, Litauen, den Niederlanden, Polen, Rumänien, Jugoslawien, der Schweiz, der Tschechoslowakei. Außerdem von internationalen Organisationen. 3) Text der deutschen Denkschrift
in: Nation und Staat
2, S. 729 ff,
- zoo Regierung hielt sich hier bewußt an den Rahmen der Minderheitenverträge und der gnmdlegenden Völkerbundsresolutionen ztm1Minderheitenschutz, wenn sie diesem Begriff einen weiten Bedeutungsumfang gab. Nach ihrer AuffasSllll.g war die Garantie des Minderheitenschutzes ein wesentliches und dauerndes Gegenstück zur Territorialregelung: Würde das eine aufgegeben werden, milßte auch das andere hinfällig werden. Zur Stützung der These, wonach der Völkerblllld die Pflicht habe, auch außerhalb konkreter Fälle die Einhaltllllg der Minderheitenschutzbestimmungen zu überwachen, verwies die deutsche Denkschrift auf bestimmte Vorgänge in der Praxis de~ Völkerbundes, bei denen der Völkerbundsrat sein Recht zur Oberwachung der Lage der Minderheiten auch außerhalb der Petitionen ausgeübt hatte: auf einen 1925 datierenden Bericht zu griechischbulgarischen Minderheitenfragen, in dem die griechische Regierung aufgefordert worden war, über ihre Maßnahmenund Pläne zur Ausführung von Minderheitenschutzbestinmrungen - also allgemein und nicht gebllllden an eine Petition zu berichten, außerdem auf eine Resolution im Zusanunenhangmit dem griechischalbanischen Minderheitenstreit 1928, die den Bundesmitgliedern grundsätzlich das Recht zugesprochen hatte, den Völkerbundsrat auf Grund von Art. 11 der Völkerbundssatzung in Minderheitenfragen anzurufen. Einer so verstandenen Garantiepflicht konnte nach Auffassung der deutschen Regierung nur ein besonderes Organ des Völkerbundes gerecht werden: die ständige Kommission, die aus allen Quellen Infonna.tionen zu sanuneln und von Zeit zu Zeit dem Völkerblllld einen Bericht vorzulegen gehabt hätte. - Im übrigen wiederholte die .Denkschr.ift Stresemanns in der Ratssitzung vorgetragenen Anregungen zur Verbesserung der Prozedur, wobei auch Vorschläge Dandurands einbezogen wurden, um dem Progrannn eine möglichst breite Basis zu geben. In den grundsätzlichen Fragen, vor allem in der Beurteilung des Zusaim1enhangs von Territorialordnung und Minderheitenschutz und in der Forderung nach lllleingeschränkter Geltung der Völkerbundsgarantie, sti.nml.ten die Denkschriften der Schweiz, der Niederlande, Österreichs, Ungarns und Bulgariens den deutschen Bemerkungen zu. Einen entgegengesetzten Standpunkt vertraten die Regierungen der IG.einen Entente, Polens und Griechenlands, die angesichts ihrer natürlichen Interessengemeinschaft auf minderheitenpolitischem Gebiet eine gemeinsame Denkschrift vorgelegt hatten 1). Auch sie beschränkten sich nicht auf bloße Verfahrensfragen, sondern gingen ebenfalls auf die grundlegenden Aspekte ein, Dabei machten sie erneut deutlich, daß sie die Minderheitenver1) Text in: Nation und Staat 2, S, 750 ff.
- ZU"/ -
träge nur mit innerem Vorbehalt anerkannten, so wie sie sie auch nur mit "berechtigten Hernnumgen"llllterzeichnet hätten, weil diese dem Prinzip der Gleichheit llllter den Staaten widersprächen. Der Zusanunenhangzwischen Territorialordrnmg und ~ünderheitenschutzsystem wurde hier, wie schon in früheren EingaMan sah in den Verben von polnischer Seite, geradezu auf den Kopf gestellt: trägen nicht eine Gegenleistllllg für die Obertragung von Gebieten, sondern konstruierte umgekehrt eine Verpflichtung der Alliierten und Assoziierten Hauptmächte, als Gegenleistllllg für die Annahme der Minderheitenverträge durch die neuen Staaten deren territoriale Integrität zu sichern. Von dieser Grundsatzposition ausgehend, zogen die Minderheitenstaaten den Schluß, daß, da die territoriale Garantie noch nicht realisiert sei, auch die Bindung an die Minderheitenverträge entfalle; als das mindeste aber verlangten sie, "daß ihre Verpflichtungen, die schon an sich Ausnahmecharakter tragen, in der restriktivsten Weise ausgelegt werden". Das durch die Völkerblllldsresolutionen zusätzlich zu den eigentlichen Verträgen eingesetzte Reglement sahen sie als über ihre Verpflichtungen hinausgehend an. Umsomehrpochten sie darauf, daß, so wie sie diesem Reglement stillschweigend ihre Zustimmung gegeben hätten, jede Änderung des bestehenden Verfahrens nur mit ihrer Zustinmrung vorgenommen werden dürfe. Unter dieser Prämisse beurteilten sie die von der deutschen Regierung lllld von Dandurand unterbreiteten konkreten Vorschläge: Alle Weiterungen wurden als nutzlos oder gefährlich abgelehnt, besonders die deutsche Forderung nach Änderung der Bestinmnmgen über die Zusanunensetzung der DreierIn einer Hinzuziehung auch der rassekomitees und nach mehr Öffentlichkeit. verwandten und benachbarten Staaten bei der Prüfung von Beschwerden im Dreierkomitee sahen sie die Gefahr einer Einmischung dieses Staates in die inneren Angelegenheiten eines anderen; der Forderung nach mehr Öffentlichkeit begegneten sie mit dem Hinweis, daß auf diese Weise, da ein großer Teil der Petitionen nur propagandistischen Zwecken diene, Agitation geschürt und ein Gefühl der Unsicherheit geschaffen werden würde, Insgesamt erklärten die Minderheitenstaaten, daß das Ansehen des Völkerbundes nicht durch eine zu geringe, sondern durch eine zu intensive Tätigkeit auf dem Gebiet des Minderheitenschutzes leiden ni.isse: Die Minderheiten, die sich in ihren Rechten verletzt fühlten, sähen sich ermutigt, Eingaben zu machen und die Folge wäre eine Vermehrung der Zahl der Petitionen. Der Völkerbund würde bald mit Eingada es ihm umnöglich wäre, ben überschwenunt sein und an Ansehen verlieren, sie so rasch wie wünschenswert zu prüfen. Als zentralen Begriff hoben die Minderheitenstaaten auch hier wieder die "Loyalität" der Minderheit gegenüber
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ihrem Staat hervor, die sie zur Voraussetzung für ein Eingreifen des Völkerbundes machten. Sie gaben damit zu erkennen, daß die Wahrung der eigenen Souveränität in weitestem Sinne absoluten Vorrang für sie besaß. Ende April /.Anfang Mai 1929 tagte in London das im Mirz eingesetzte Dreierkomitee, um die eingegangenen Bemerkungen zu prüfen und einen eigenen Bericht zu erarbeiten. DemKomitee gehörten die Vertreter von Großbritannien, Japan und Spanien an. Am 18. Mai legten sie ihren "Londoner Bericht" vor, der die Grundlage für die weitere Erörterung der Minderheitenfrage bilden sollte. Schon in der Vorbereitungsphase, vor dem Zusammentritt des Komitees, hatten die deutschen Vertreter in Genf den Eindruckgewonnen, daß, wie Renthe-Fink nach Berlin meldete, "die Arbeiten des Dreierkomitees mit der Tendenz vor sich gehen werden, nur so viel zu tun, als nötig ist, um den Völkerbtmd vor dem Vorwurf zu schützen, daß er sich an den Minderheitenfragen desinteressiere oder die ihm anvertraute Aufgabe vernachlässige" 1) • Von maßgebender Seite im Völkerbund war auch der Wtmsch laut geworden, auf der Jtmi tagtmg mit der Angelegenheit Schluß zu machen und sie nicht in die Septembersitzung der Völkerbtmdsversa:mmlung hinüberspielen zu lassen 2). Die Befürchtungen, die sich daran knüpften, wurden durch den Bericht in hohem Maße bestätigt. Selbst Angehörige des Völkerbundsekretariats, die an den Beratungen in London beteiligt gewesen waren, gaben zu, daß die Ergebnisse "äußerst mager" seien, nachdem sowohl die Vorschläge Stresemanns als auch die des kanadischen Delegierten im wesentlichen auf Ablehnung gestoßen waren 3). Für dieses Resultat war, wie aus derselben Quelle versichert wurde, vor allem Chamberlain verantwortlich, unter dessen Einfluß die Verhandlungen weitgehend gestanden hätten; der Generalsekretär des Völkerbundes soll sich danach vorwiegend als Berater Chamberlains aufgefaßt haben. Damit bestätigte sich, daß Chamberlain mit seinen vorsichtigen .Äußerungen auf der Mirztagtmg des Völkerbtmdsrats mehr taktischen Oberlegtmgen gefolgt war und es sein eigentliches Bestreben blieb, an der Minderheitenfrage und am bestehenden Schutzsystem nicht zu rühren. Paul Schiemann nannte es später als "vielleicht tragisch", daß gerade England, das sich für die Verwirklichung des Völkerbundes am entschiedensten eingesetzt habe, in der Minderheitenfrage "sozusagen als Toten1) Renthe-Fink
an Reinebeck am 9,4.1929,
AA K 1772/K 436 601-603.
2) Ebd.
3) Vertraul.
Bericht
Beer an Weizsäcker vom 7.5.1929,
AA K 2366/K 669 857 f,
- 209 gräber der Friedensmission des Völkerbundes aufgetreten ist 111). - Eine gewisse Oberflächlichkeit in der Argumentation des Berichtes zeigte sich schon daran, daß die in den verschiedenen Regierungsdenkschriften enthaltenen Gesichtspunkte zum großen Teil gar nicht berücksichtigt wurden; das betraf besonders die grundsätzlichen Anregtmgen. Die von deutscher Seite an die Spitze gestellte Forderung, der Rat möge noch einmal grundsätzp.ch über Zweck tmd Tragweite der Bestimmtmgen diskut~eren und diese Grundsätze zum Ausgangspunkt seiner Beschlüsse machen, wurde im Bericht des Dreierkomitees nicht ausdrücklich berücksichtigt. Doch wurden die Grundsatzfragen in einer Darstelli.mg über Geschichte und Gegenstand des Minderheitenschutzes abgehandelt, die der deutschen Auffassi.mg diametral entgegenstand. Dabei verzichteten die Verfasser auf eine juristische Beweisführung, wie sie die.deutsche Denkschrift enthielt, und konstatierten im wesentlichen nur, was ihnen juristisch zulässig und politisch zweckmäßig schien. Dieser den ganzen Bericht kennzeichnende Grundzug ließ die "Neue Zürcher Zeittmg" zu dem Urteil kommen, das Dreierkomitee habe anscheinend gar keine Zeit gefunden, das vorgelegte Material einem eingehenden Studium zu unterziehen, sondern sei einfach von den gegebenen Verhältnissen ausgegangen und habe den Ratsmitgliedern, die am Ausbau des Minderheitenrechts interessiert seien, "gerac/e jenes Entgegenkomnen bewiesen, das aus Gründen der Höflichkeit unvenneid. 2) lieh war" • Bei Darstelltmg der Genesis des Minderheitenschutzsystems beschränkte sich der Bericht darauf, die Erklärungen Wilsons auf der Friedenskonferenz und den grundlegenden Brief Clemenceaus an Paderewski zu zitieren. Bezeichnenderweise aber brach das Zitat des Clemenceau-Briefs vor dem Abschnitt IV ab, in dem immerhin die Möglichkeit einer Anderung der Bestinmnm.genfestgelegt war. Hier wurde auch, im Gegensatz zu der von den Minderheitenstaaten vertretenen These, daß Loyalität der Minderheiten Bedingtmg für die Gewährung von Minderheitenrechten sei, umgekehrt der Schutz der.Minderheiten als Voraussetzung dafür 1) P. Schiemann: "Von Genf nach Madrid" , in: Nation und Staat
2, S. 592 f.
2) "Neue Zürcher Zeitung" vom 26.6.1929. Wiedergabe des Londoner Berichts in: Nation und Staat 2, S. 777 ff. Dazu die deutschen Beurteilungen des Berichts: a)·AA-Aufzeichnung vom 24.5.1929, AAL 437/L 130 217-227, b) Aufzeichnung Renthe-Fink, einem Brief an Reinebeck vom 23,5,1929 beigefügt, AA K 1773/K 436 908-911. c) Anmerkungen Bruns zum Londoner Bericht, am 31,5,1929 dem Ref. Völkerbund zugestellt, AA K 2366/K 669 943-951.
- 210 betrachtet, daß diese sich leichter in ihre neue Situation fügten. Im übrigen war der Londoner Bericht - ebenso wie frohere Stelhmgnahmen des Völkerbundes - weniger auf Grund bestimmter eindeutiger Aussagen, als vielmehr wegen seiner Akzentuierung aufschlußreich. Er ordnete dem Minderheitenschutzsystem nicht, wie von deutscher Seite gefordert, den aktiven Schutz der Minderheiten als Hauptzweck zu, sondern sah dessen Aufgabe darin, den Minderheiten eine "loyale Mitarbeit" in ihrem Staat zu ennöglichen, olme daß sie ihre religiöse oder kulturelle Eigenständigkeit aufgeben müßten. Auch leimte der Bericht Formen der Autonomie ab, wenn er sich dagegen aussprach, daß eine Minderheit ein "corps distinct" im Staat bilde, ja er widersprach der Auffassung, daß den Minderheitenverträgen ein allgemeines Prinzip zugrunde liege. Die Interessen des Staates wurden somit als eindeutig vorrangig angesehen. Bezüglich seiner praktischen Tragweite am schwerwiegendsten war der Gegensatz zwischen der deutschen Denkschrift tmd. dem Londoner Bericht in der Interpretation des Garantiebegriffs. Während die deutsche Seite mit Nachdruck die Pflicht des Völkerbundes zu allgemeiner tmd dauernder Oberwachung der Minderheitenverträge hervorhob, vertrat das Londoner Komitee die These, daß die Garantie des Völkerbtmdes sich auf die ~etenzen von Art. 12, Abs. 2 tmd. 3 des (polnischen) Minderheitenschutzvertrags beschränke, also nur ad hoc bei Vorlage von Beschwerden wirksam werden könne. Dieser restriktiven Auslegung entsprachen die praktischen Schlußfolgerungen des Berichts. Das bedeutsamste Ergebnis war hier das Festhalten am eingefahrenen System der Dreierkomitees, zu dessen Wesen die unkontrollierbare wohlwollende Vermittlungstätigkeit gegenüber dem beklagten Staat gehörte. Damit nahm das Londoner Komitee auch all die Strukturschwächen in Kauf, die sich aus der Besonderheit dieses Systems ergaben, u.a. das "Privileg der Lüge", das der Minderheitenstaat praktisch besaß 1). Auch weiterhin sollte der beklagte Staat die Chance haben, durch eine nicht kontrollierbare Stellungnahme zur Petition die Angaben dieser Petition zu entwerten, tmd wenn dies nicht völlig gelang, durch ebensowenig. kontrollierbare Zugeständnisse gegenüber dem Dreierkomitee ein Eingreifen des· Rates selber zu verhindern. Das Prinzip einer an Gesichtspunkten politischer Zweckmäßigkeit orientierten Arbeitsweise galt auch für die Zusanunensetzung der Dreierkomitees, die weiterhin nach der 1925 eingerichteten Regelung vorgenommen werden sollte. 1) Bruns: a) "zusammenfassende Stellungnahme zum Bericht der Kommission Adatci" (o.Datum), AA K 2366/Bd. 5, b) "Anmerkungen zum Bericht der Dreierkommission Adatci usw. bezüglich der Frage der proc~dure", ebd.
- 211 Die entscheidenden Verbesserungswünsche der deutschen Regierung wurden im Londoner Bericht nicht erwälmt, so der Gedanke einer ständigen Kommission oder der Vorschlag, dem Dreierkomitee die Beschaffung zusätzlicher Infonnationen, auch von den Minderheiten selber, zu ennöglichen. Lediglich in zwei Punkten stellte der Bericht Verbesserungen in Erwägung: In puncto Öffentlichkeit des Verfahrens wurde angeregt, daß das jeweilige Dreierkomitee nach Abschluß einer Untersuchung den Ratsmitgliedern das Ergebnis seiner Arbeit mitteilte, während sich die breitere öffentlichkeit - also auch die Minderheiten - mit einem jährlichen statistischen Nachweis des Vdlkerbtmdsekretariats über die Zahl der eingegangenen Petitionen, der Dreierkomitees und der Sitzungen begnügen sollte. Zumandern empfahl der Bericht, den Minderheiten, deren Petitionen im Sekretariat als nicht annehmbar eingestuft worden seien, eine kurze d,iesbezügliche Mitteilung zu machen. In einer dem Auswärtigen Amt zur Verfügung gestellten Werttmg des Berichts sah Bruns - bei aller grtmdsätzlichen Kritik - den Bericht des Dreierkomitees anden Rat, wie er zur Erweiterung der öffentlichkei t vorgeschlagen wurde, immerhin als einen brauchbaren Ansatzpunkt für eine wirkliche Verbesserung des Verfahrens, freilich unter der Voraussetzung, daß dieser Vorschlag zu einem wirklichen Informationsdienst wngestaltet werde, daß darüber hinaus auch die Petenten selber zur Aufklärung von Widersprüchen zwischen der Petition tmd. den Bemerkungen der Regierung herangezogen würden 1) • Allerdings verbaute das Londoner Komitee jeder grtmdsätzlichen Verbesserung der Prozedur den Weg durch die These, daß es bei einer Verfahrensänderung der Zustinmumg der Mlinderhei tenstaaten bedürfe, ein Grtmd.satz, den die Minderheitenstaaten selber stets mit Nachdruck vertreten hatten. Einer etwaigen Drohung der Minderheitenstaaten, bei einer für sie unbefriedigenden Regelung des Verfahrens die Mitarbeit an der Vorprüfung von Beschwerden einzustellen, konnte nur mit der festen Entschlossenheit der Ratsmächte begegnet werden, ggf. auf das offiziöse Vermittlungsverfahren zu verzichten und Beschwerdefälle direkt vor den Rat zu bringen. Bruns wies in seiner Wertung. auf diesen Ausweg hin und bezeichnete ilm als geeignet, um die Intransigenz der Minderheitenstaaten zu erschüttern: "Es müßte den Minoritätsstaaten zu verstehen gegeben werden, daß ihre Spekulation auf die responsabilit~ individuelle der Ratsmitglieder sehr fehlschlagen kann, indem ein Verfahren, das völlig auf die responsabilit~ individuelle abstellt, dank der Haltung gewissenhafter Ratsmitglieder zu einer 1) "Anmerkungen zum Bericht
der Dreierkommission
Adatci
••• ", a.a.O.
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Vervielfachung der an den Rat gebrachten Fragen führen nruß". Freilich: Es fehlte an jedem Anzeichen - und der Londoner Bericht bestätigte diesen Eindruck - , daß die Ratsmächte sich zu einer solchen Intensivierung des Minderheitenschutzes entschließen würden, ausgenonunen natürlich Deutschland, das im Rat minderheitenpolitisch weiterhin allein stand. Der Londoner Bericht bog somit den Minderheitenschutz gleichsam zum "Schutz des Staates gegen die Minderheit" um, er war, wie auf deutscher Seite vermerkt wurde, eine "Oberspitzung des Souveränitätsbegriffs, ein Ausfluß krassester Machtpolitik und der übelWUildenen Identifizierung von Staat und Volk" l), durchzogen von der Auffassung, daß man den Minderheiten ein loyales Verhalten gegenüber den Herbergsstaaten nicht zutrauen könne. In Minderheitenkreisen rief der Bericht geradezu Bestürzung hervor. Paul Schiemann kritisierte namentlich, "daß der Lieblingsgedanke Chamberlains zum Leitmotiv erhoben wird, nämlich die diplomatische Vermittlerrolle des Dreierkomitees zu den in Frage kommenden Staaten. Was inuner befürchtet wurde, daß der Völkerbund zu einem neuen Wirktmgsfeld für die Geheimdiplomatie der Staaten werden könnte, wird hier ausdrücklich als erstrebenswertes Ziel anerkannt 112). Waren die einzelnen Verbesserungsvorschläge schon geringfügig genug, so wirkte schwerer noch. der prinzipielle Teil des Berichts. Schiemann machte den deutschen Außenminister mit Recht darauf aufinerksam, daß auch eine erheblichere Verbesserung der Prozedur ohne jede Bedeutung sein würde, wenn der Völkerbund zu seiner Verantwortung für die Garantie der Minderheitenrechte nicht eine grundsätzlich andere Lager gab der Londoner Stellung einnehme als bisher 3). Im nationalistischen Bericht wieder einmal Anlaß, Stresemanns auf Ausgleich orientierte Politik grundsätzlich zu attackieren: Statt endlich einmal mit aller Schärfe zum Ausdruck zu bringen, was man in Deutschland vom Minderheitenverfahren in Genf halte, habe sich Stresemann ganz im Sinne der von den Minderheitenfeinden geliebten "matten Tonart" in grundsätzlichen Erörterungen ergangen; gegen die hier sichtbaren Versuche, das Versailler System zu retten, werde das deutsche Volk diese Verträge zerreißen, wenn seine Stunde konune4). Aber auch auf der linken Seite wurde der Bericht als minderheitenfeindlich aufgenonunen5). 1) Vgl. F,Rathenau: Sp, 941 ff,
"Lugano-Genf-Madrid",
in: Deutsche Juristen-Zeitung
2) P. Schiemann: "Von Genf nach Madrid", a:a,O. 3) Schiemann an Stresemann am 2.6.1929, AA K 1773/Bd.. 6. 4) So "Deutsche Zeitung" vom 22,5,1929: "Die Minderheiten-Katastrophe, sagt Stresemann zum Dreier-Ausschuß?" 5) So der "Vorwärts" vom 22,5,1929,
34,
Was
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Schon im Hinblick auf diese Reaktionen in der öffentlichen Meinung war eine Annahme des Berichts durch die deutsche Regierung ausgeschlossen, Aber auch unabhängig davon sah man auf amtlicher Seite keine Möglichkeiten, den Bericht mit dem deutschen Programm in Einklang zu bringen, wurde dort doch, wie auf einer Besprechung der Reichs- und preußischen Ressorts resümiert wurde, die ganze Frage des Minderheitenschutzes "nur als eine zufällige Spezialaufgabe des Völkerbundes" dargestellt, nicht aber als das große Problem der internationalen Politik 1) • Freilich befand man sich hier wieder in dem Dilemma, daß man einerseits eine ablehnende Haltung einnehmen, andererseits aber die - mit einer einfachen Ablehnung verbundene - Gefahr venneiden nrußte, daß die Minderheitenfrage wieder von der Tagesordnung verschwand, was der deutschen Regierung u.U. den Vorwurf eingebracht hätte, durch ihre kompromißlose Haltung ein - wenn auch bescheidenes - Ergebnis verhindert zu haben. Ministerialdirektor Gaus empfahl angesichts dessen, den Bericht als Ganzes zwar weiterhin abzulehnen, aber den von ihm vorgeschlagenen Verfahrensverbesserungen zuzustinunen und dabei die grtmdsätzlichen Fragen unter betonter Herausstellung der deutschen Auffassung weiterhin offenzuhalten 2).
f) Das Ergebnis der Aussprache: Die Junisitztmg des Völkerbundsrates drid und die Septembersitzung der Vollversammlung
in Ma-
Stresemann selber sah offenbar nur geringe Aussichten, auf der bevorstehenden Sitzung des Völkerbundsrats in Madrid, auf der der Bericht erörtert werden sollte, überhaupt etwas Positives zu erreichen. Er erteilte daher der deutschen Delegation die Weisung, mit allen Mitteln eine Vertagung der Minderheitenfrage auf die Septembersitzung der Vollversammlung zu betreiben 3). Für diese Taktik hatte sich namentlich auch Bnms stark gemacht, der sich von folgenden Oberlegtmgen leiten ließ: Die deutsche Regierung habe stets das Hauptziel im Auge gehabt, "durch Aufrollung der Minderheitendebatte die allgemeine geistige Einstellung des Völkerbundes zum Problem zu beeinflussen", Insonderheit das Anschneiden der Garantiefrage habe diesem Ziel gedient. Die einzige Wirktmg könne nun nur in einer von wohlmeinenden Btmdesgliedern tmterstützten 1) AA-Niederschrif't
(o.U.) vom 28,5,1929,
AA K 2366/Bd., 5,
2) Ebd.
3) Stresemann an die Deutsche Delegation 4587 H/E 184 958,
in Madrid (Tel,)
am 5.6.1929,
AA
- 214 Debatte in der Vollversammlung erzielt werden. Eine meritorische Erörtenmg der Frage auf der bevorstehenden Ratstagung ohne unmittelbare Kontrolle der Vollversamnlung berge die Gefahr in sich, daß juristische, die allgemeine Garantie ablehnende Elemente zu stark zur Geltung konnnenwürden, ohne daß gleiches für die ooralischen Gesichtspunkte der allgemeinen Garantie gelte 1). -
daß wirkliche Verbesserungen auch des Verfahrens nur dann erreicht werden kÖllllten, wenn in der Frage der allgemeinen Garantie weder juristisch noch poliEinnütigkeit
tisch
bestand auf deutscher
etwas präjudiziert
Seite inmerhin in der Auffassung,
sei.
Die Sondierungen in Madrid unmittelbar doch, daß der taktische
vor Beginn der Ratstagung ergaben je-
SpielratDll für die deutsche Delegation
war. Den Minderheitenstaaten
m1r begrenzt
war die Einladung Spaniens an den Völkerbunds-
rat sehr gelegen gekolllllen, denn in Madrid, wo der Rat eine großzügige Gastfretmdschaft
genoß, waren seine Mitglieder
geradezu verpflichtet,
den reprä-
sentativen Charakter der Tagung zu wahren, welche die iberische Halbinsel und indirekt den südamerikanischen Kontinent stärker dem Völkerbund verbinden sollte,
und jede größere Debatte zu ve1111eiden. Die "Neue Zürcher Zeitung"
warf aus diesem Anlaß die Frage auf, ob es zweckmäßig sei, wem der Völkerbtmd wandere, da doch offenbar das Milieu von Genf nicht entbehrt werden könne 2). - Im Hinblick auf eventuelle
I!! ,.
ungünstige
Reaktionen nicht nur in der öf-
fentlichkeit, sondern auch bei den anderen Ml.chten, hielt es die deutsche Delegation für ratsam, von einem Antrag auf völlige Vertagung Abstand zu nehmen, weil andernfalls der Eindruck entstanden wäre, "daß der Völkerbund rum wieder ZtDllsoundsovielten Male eine der wichtigsten Fragen debattelos vertagt habe, und dies sogar noch auf deutschen Antrag 113 ) • Mehr noch aber zeig.,. ten die Beobachtungen in Madrid, daß Stresemann auf höchst ungewisse Faktosicher war, ob die Si tuatifen, waren sie parteipolitisch am stärksten gegliedert und von tiefen Gegensätzen zerrissen. Die 1D1ter minderheitenpolitischem Gesichtspunkt entscheidende Frage war dabei: Ist dem Sudetendeutschtl.Dn mehr durch die stete FordeT'LUlgdes Selbstbestimmmgsrechts und durch staatsverneinende Opposition gedient oder ist eine aktive Mitarbeit am und im Staat - 1D1ter gleichzeitigem stillen Festhalten am Selbstbestimnnmgsrecht - niltzlicher, indem sie etappenweise die minderheitenfeindliche GesetzgeblDlg hennnt 1D1dallmählich mehr Selbstveiwaltl.Ulg durchsetzt? 2). Nicht zuletzt war die Zurückhaltl.Ulg der Reichsregierung auch von dieser inneren Situation der sudetendeutschen Minderheit bestinmt. Dem wen sollte das Reich als Gesprächspartner ansehen, welcher Richtl.Ulg die Unterstützung geben? Jede Stelltmgnahme mußte zwangsläufig die Anhänger der jeweiligen Gegenposition verprellen. Dadurch, daß die Sudetendeutschen auf ihre iilllerenGegensätze fixiert waren, ging ihnen vielfach der Sillll für größere politische Zusammenhänge verloren, die das Reich bei einer Ingerenz in ihre Verhältnisse stets im Auge haben mußte, So entstand bei ihnen selber, wie Koch am 17, Juli 1923 dem der Eindruck, daß man ihre Lage 1D1dZiele in Auswärtigen Amt berichtete, Deutschland nicht keme; umgekehrt gab es aber auch Kreise innerhalb des Sudetendeutschtums, die alle noch so gutgemeinten Ratschläge von reichsdeutscher Seite als "lDlgehörige Einmischung in ihre · Verhältnisse" ablehnten 3). Zu welcher anderen Politik komte Koch angesichts als daß das Reich eine ErörteT\.Ulg innenpolitischer
solcher ErfahT'LUlgenraten, Fragen mit den Deutschen
1) So Koch an AA am 10,12,1921, AAL 437/L 126 072-074, 2) G.W. Bauer: "Zum 10. Jahre deutscher in: Nation und Staat 2, S. 6 ff.
Parteipolitik
in der Tschechoslowakei"
3) Koch an AA am 17,7,1923, AAL 437/L 126 614-621. Vgl. auch Brügel, s. 169 ff.
a.a.0.,
- 235 in der Tschechoslowakei am besten ganz 1D1terließ: "Deutschland ist heute keine Konnexion für die Sudetendeutschen und kam ihnen weder helfen noch nützen; wohl aber setzt es seine guten Beziehungen zur tschechoslowakischen Regierung aufs Spiel" 1) • Was blieb, war auch hier ausschließlich die "Gemeinsamkeit der Kultur und des Blutes" ; dagegen empfahl Koch mit Entschiedenheit , von der imeren Politik der Sudetendeutschen die Finger zu lassen, "auch wenn man zuweilen versucht ist, über deren Verkehrtheit die Hände zu ringen 112). Dabei fehlte es dem deutschen Gesandten durchaus nicht an Verständnis für die bedrückte Lage des Sudetendeutschtums. Im Gegenteil, Koch war sich darüber im klaren, daß die tschechoslowakische RegieT'LUlgunter einer korrekten Außenseite ein Progrannn der Entdeutschung betrieb. Was er den Sudetendeutschen vorwarf, war, daß sie sich gerade nicht zu entschiedenen Aktionen aufrafften, daß statt dessen ihre Tätigkeit vielfach "ein bloßes Schaugericht für die politiTaktik auf ihrer Seisiereii.den Stammtische" sei 3) • Nur in einer einheitlichen te sah Koch Chancen für ein Entgegenkommender Tschechen: 1. Die Deutschen müßten den tschechoslowakischen Staat mit seipen jetzigen Grenzen anerkennen in der Einsicht, daß sie in diesem Lande mit den Tschechen auf Gedeih und Verderben verbunden seien. 2. Auf gesetzmäßigem Wege, aber konsequent, müßten sie ihre Rechte als starke i'li.nderheit geltend machen und sich, statt abseits zu stehen, von Fall zu Fall durch Verhandlungen Konzessionen erkämpfen. Ja, der Gesandte forderte, daß sich die Sudetendeutschen ggf. auch einer f,,fitwirkung in der Regierung ihres Staates nicht verschließen sollten. Bemerkenswert ist auch hier, in welcher Weise Koch die Lage vom Blickwinkel des Reichsinteresses beurteilte: Ein solchermaßen erreichtes friedliches Zusammenleben zwischen Tschechen und Sudetendeutschen sei auch für das Deutsche Reich im Hinblick auf seine Beziehungen zur Tschechoslowakei erstrebenswert. - Damit wird deutlich, daß im Unterschied zum deutsch-polnischen f,,finderheitenproblem die sudetendeutsche Frage 1D1ter dem politischen Vorrang des Verhältnisses zwischen Reich und f,,finderheitenstaat stand.
1) Koch an AA am 17.7.1923, a.a.0. 2) Ebd.
3) Ebd.
- 236 -
3. Das Reich und die Sudetendeutschen nach der minderheitenpolitischen orientierung um 1925
Neu-
Die Verträge von Locarno und der Eintritt Deutschlands in den Völkerbund konfrontierten die deutsche Politik unmittelbarer als bisher mit der sudetendeutschen Frage, einmal im Zusannnenhangmit der Aktivierung der deutschen Minderheitenpolitik, Zlllll andern im Aspekt der deutsch-tschechoslowakischen Beziehungen. Zunächst ist festzustellen, daß in der Beurteilung der sudetendeutschen Frage durch die amtliche deutsche Politik, auch nachdem sich Stresemann auf das Progrannn einer aktiven, "auslandsdeutsch" orientierten Minderheitenpolitik festgelegt hatte, keine unmittelbare Veränderung eintrat. Das war Zlllll Teil darauf zurückzuführen, daß diese Minderheitenpolitik allgemein nicht gleich zum Zuge kam; aber auch in der inneren Einstellung zum sudetendeutschen Problem machte sich kein Wandel bemerkbar. Bezeichnend dafür ist die amtliche Reaktion auf das Ersuchen einiger sudetendeutscher Abgeordneter, bei einem Besuch in Berlin vom Reichspräsidenten empfangen zu werden. Gegenüber dem Abgeordneten Kallina, der deswegen im Mai 1925 in Berlin sondierte, wies Stresemann in einem lrurzen Gespräch, auf das Bedenkliche hin, wenn "Angehörige eines fremden Staates" (!) zur Überreichung von Glückwünschen beim Reichspräsidenten erschienen 1). Ergänzend dazu ließ das Auswärtige Amt die Deutsche Ge sandtschaft in Prag zur vertraulichen Verwertung wissen, daß ein Empfang beim Reichspräsidenten nicht stattfinden werde, ja daß man es - in einem Augenblick, in dem ungünstige Rückwirkungen auf Prag vermieden werden müßten überhaupt für zweckmäßighalte, wenn die Reise der sudetendeutschen Abgeordneten unterbunden werde, da deren Anwesenheit in Berlin vor der Öffentlichkeit schwerlich geheimgehalten werden könne2). In eben diesem Sinne rechtfertigte der Gesandte Koch seine Haltung gegenüber einem VonfüTf der Chemnitzer "Allgemeinen Zeitung", die ihm am 12. September 1926 unter der Überschrift "Wobleibt der deutsche Gesandte in Prag?" Passivität in der Frage der Sudetendeutschen zur Last gelegt hatte, und argumentierte dabei ganz vom Standpunkt des Reichsinteresses: Würde er als deutscher Gesandter versuchen, die Interessen der Sudetendeutschen zu den seinigen zu machen, "so würde diese Einmischung in innerpolitische Angelegenheiten, die selbst Bismarck auf dem Gipfel seiner Macht stets abgelehnt hat, in kürzester Frist Zlllll Abbruch der 1) AA-Aufzeichnung (o.U.) vom 1.6.1925, AA 1 437/1 127 377. 2) a) Erlaß Köpke an Koch am 2.6.1925, AA1 437/1 127 379. b) Erlaß Zech an Koch vom 4.6.1925, AA1 437/1 127 399.
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Beziehungen zwischen dem Reiche und der Tschechoslowakei führen, ohne daß den Sudetendeutschen damit irgendwie geholfen würde. Wohl aber würde die große Politik des Reiches dadurch in empfindlichster Weise durchkreuzt werden" l). Diese amtliche Zurückhaltung schloß nicht aus, daß das Reich, im Bewußtsein kultureller und blutsmäßiger Verbundenheit mit den Sudetendeutschen,direkt und indirekt zu ihren Gunsten wirkte wie im Falle anderer auslandsdeutscher Volksgruppen. Nach einer Aufzeichnung von ~1inisterialdirektor Köpke für den Reichspräsidenten vom 5. Oktober 1925 umfaßte diese Hilfe: 1. Unterstützung der von den Sudetendeutschen beim Völkerbund erhobenen Vorstellungen gegen die Bodenreform, 2. Pressepropaganda des Auswärtigen Amtes im In- und Ausland Qber die Lage der Sudetendeutschen, 3. finanzielle Hilfe für deutsche Vereine und Anstalten, besonders für deutsche Schulen, 4. Organisierung von Reisen reichsdeutscher Vereine ins Sudetenland zur moralischen Unterstützung der ilinderheit, 5. wirtschaftliche Hilfe (so z.B. Stützungsmaßnahmengroßen Stils für die "Creditanstalt der Deutschen" in Prag), 6, Verzicht auf Retorsionsmaßnahmenbei Ausführung der deutschen Aufwertungsgesetzgebung, die der Tschechoslowakei gegenüber etwa möglich sein sollten 2). - Entscheidend aber war: Jede politische Einfluß- oder auch nur Stellungnahme wurde abgelehnt. Im Falle der sudetendeutschen ~linderheit bedeutete der Eintritt in den Völkerbund nicht verstärkte politische Unterstützung der iünderheit, sondern das Reich hielt daran fest, die sudetendeutsche Frage als ein vorwiegend innenpolitisches Problem der Tschechoslowakei anzusehen. Dabei wurde die Haltung der deutschen Regierung durch die innere Situation des Sudetendeutschtums geradezu erleichtert. Koch schilderte im Oktober 1925 im Zusannnenhangmit der Wahlbewegungin der Tschechoslowakei den desolaten Zustand in der deutschen Minderheit und beklagte das Nichtzustandekommen einer Einheitsliste: "Es ist niemand da, der legitimiert wäre, für die Deutschen eine Erklärung abzugeben; es besteht, auch in den wichtigsten Fragen, kein einheitliches Progrannn113). Statt dessen suchten die Sudetendeutschen Hilfe vom Reich: "In der Ecke wer1) Koch an AA am 12,9, 1925, AAK 91/K 008 973 f. 2) Aufzeichnung Köpke für den Reichspräsidenten vom 5,10,1925, AAK 91/K 008 975~979. Hindenburg hatte die in Kochs Bericht vom 12,9, (s.o.) enthaltene Empfehlung zur Zurückhaltung auf reichsdeutscher Seite unter Bezugnahme auf die Aufgaben des deutschen Gesandten mit der Bemerkungversehen: "Dazu ist er doch da. Würde Frankreich ebenso denken?" 3) Koch an AA am 29,10,1925, AA1 437/Bd, 9. Vgl. auch Brügel, a.a.O.,
s. 170
f.
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den sie stehen und die Hälse recken, um zu sehen, ob nicht bald der Retter dieses Landes aus dem Reiche kommt. Sie sind ja die 'anne, gedrückte, schutzbedürftige Minorität'. Gewiß, es geht ihnen schlecht; aber das Klagen darüber ist zum guten Teil ein Kokettieren mit der eigenen Schlappheit •.•• Ein Volk, das in einem Staate von 14 Millionen Einwohnern 3 1/2 Millionen zählt, das in geschlossenen Gebieten wohnt, der Mehrheitsnation kulturell überlegen ist, die größten Steuerzahler stellt und den überwiegenden Teil der Industrie mit umfaßt, ist überhaupt keine schutzbedürftige Minderheit, sondern ein wesentlicher Bestandteil des Ganzen"1) • Zu diesem Urteil gelangten auch andere diplomatische Vertreter in der Jschechoslowakei, so der britische Gesandte Clerk, der angesichts dieser Erfahrungen das Interesse an der sudetendeutschen Frage eigenem Bekunden zufolge verlor 2). Waren angesichts dessen die M:iglichkeiten für eine Intervention von außen begrenzt, so zeigte sich,je länger,je mehr, daß nur die Sudetendeutschen selber eine .Änderungihrer Lage durch Beteiligung an der Regierung ihres Landes be- • wirken konnten. Zu diesem Ergebnis führten letzten Endes auch die zwischen der deutschen und der tschechoslowakischen Regierung in Locarno geführten Gespräche über die Sudetendeutsthen 3). Zwar enthielten die Materialien des Auswärtigen Amtes für die Unterredungen mit Außenminister Benesch auch den Grundsatz, daß eine Anerkennung der Grenzen wegen der tschechoslowakischen Minderheitenpolitik schlechthin unmöglich sei, aber eine entscheidende Rolle spielte die Minderheitenfrage in diesem Zusam:nenhangnicht. ZumTeil lag das darin begründet, daß der deutschen Seite exakte Unterlagen fehlten, um die Belange der Sudetendeutschen wirksam vertreten zu können, insgesamt wurde aber eine Intervention hier gewissennaßen nur als Pflichtübung empfunden. Bezeichnend für die Einstellung der reichsdeutschen Politik war z.B., daß Stresemann in den Gesprächen mit den Vertretern der tschechoslowakischen Regierung nicht etwa ein akutes Interesse am Schicksal der Sudetendeutschen anmeldete, sondern dem Gesandten Krofta gegenüber äußerte, Deutschland könne "in Fragen der Sudetendeutschen eiri.e Vermittlerrolle spielen 114), was ja im Prin1) Ebd, Um dieselbe Zeit, mit dem gleichen kritischen de und Idee des nationalen Kampfes der Deutschen in: Deutsche Arbeit 24, S. 92 ff, 2) So Clerk
gegenüber
Koch;
Tenor G. Lerch: "Methoin der Tschechoslowakei",
Koch an AA am 29,10,1925,
3) Vgl. dazu M.Alexander: "Der deutsch-tschechoslowakische 1925 im Rahmen der Locarno-Verträge" ,München 1970, 4) Ebd.,
S.
156,
a.a,0. S,
Schiedsvertrag 154 ff.
von
- 239 -
· zip bedeutete, daß er hier kein Deutschland direkt betreffendes Problem sah, So blieben die den Tschechen vorgelegten Empfehlungen in so allgemeiner Fonn, daß sie deren Prestigeempfinden nicht verletzten; im übrigen wurde das Gespräch über die Minderheitenfrage deutscherseits nicht als Vorbedingung für einen Vertragsabschluß bezeichnet. Damit bestätigten die Verhandlungen in Locarno den vorwiegend innenpolitischen Charakter der sudetendeutschen Frage, wie ihn auch Benesch auf einer Wahlrede im November1925 erläuterte, als er auf die Auswirkungen von Locarno einging: Die Deutschen hätten in einigen Kleinigkeiten recht, aber es handele sich bei ihnen nicht um einen Existenzkampf, sondern um einen Kampfum die Macht im Staate. Voraussetzung für jede Beteiligung der Deutschen an der Regierung sei eine klare Stellungnahme zum Staat. Locarno habe der irredentistischen Bewegungden letzten Stoß gegeben. Andererseits könnten die Tschechen ihren Deutschen nichts besseres bieten als die in Locarno zustandegekommeneVerpflichtung, daß sie von ihrem Staat nicht in einen Kampfmit dem Deutschen Reich getrieben werden würden1). Es war jedoch nicht zu leugnen, daß die sudetendeutsche Frage zumindest eine potentielle Belastung der Beziehungen zwischen beiden Staaten bedeutete. Gewisse Besorgnis knüpfte sich auf tschechoslowakischer Seite vor allem an die deutsche Minderheitenpolitik, war doch zu befürchten, daß Deutschland seine Mitgliedschaft im Völkerbund nutzen werde, um auch die sudetendeutsche Frage zu aktivieren. Benesch war in diesem Zusammenhangin scharfer Fonn von Kramaf interpelliert worden, der es als unerträglich bezeichnete, wenn sich ein besiegtes Volk an der Überwachungder Minderheitenstaaten beteilige. - Die Ungewißheit über die minderheitenpolitischen Absichten der Reichsregierung dürfte der Grund gewesen sein, daß Anfang 1926 die Tschechoslowakei von sich aus ein Gespräch mit dem Reich über die Sudetendeutschen suchte. Bezeichnend ist schon der Umstand, daß die Anregung von Prag ausging, während auf deutscher Seite die Tendenz vorherrschte, sich möglichst jeder Stellungnahme in dieser Frage zu_enthalten, ein Grundsatz, der im übrigen auch für die österreichische Regierung maßgebendwar. So erwiderte der österreichische Bundeskanzler Ramekbei einer Unterredung mit Stresemann im Mirz 1926 auf dessen Frage, ob er, Ramek, es als dem "gesamtdeutschen Interesse" gemäß erachte, den Sudetendeutschen das Experiment des Eintritts in die Regierung anzuraten,
1) Schultheß'
Europ.
Geschichtskalender
66,
S. 220.
- 240 -
daß es nach seiner Auffassung "nicht möglich sei,
den Sudetendeutschen irgendwelche Ratschläge zu geben, da diese sie doch nicht befolgen würden111 ).
mit Zurückhaltung reagierte das Auswärtige Amt daher auf die Anregung des tschechoslowakischen Gesandten Krofta zu einer gemeinsamen Diskussion über die Lage der Sudetendeutschen 2). Nicht bereit war man hier namentlich, die ein z e 1 n e. n Gravamina der deutschen Minderheit mit den Tschechen zu erörtern, zu denen Krofta eine Gegenstellungnalnne seiner Regierung vorlegte. Auch Koch riet, diese Diskussion den Sudetendeutschen selber zu überlassen. Dennoch konnte das Auswärtige Amt ein zumindest allgemeines Eingehen auf die tschechische Initiative schwerlich umgehen. Diese grundsätzliche Bereitschaft zum Gespräch entsprang aber nicht einem minderheitenpolitischen Impuls, sondern war vornehmlich von der Rücksichtnahme auf die deutsch-tschechoslowakischen Beziehungen bestimmt. Denn man mußte damit rechnen, daß eine generelle Ablehnung der Initiative durch das Auswärtige Amt bei den Sudetendeutschen als Desinteresse des Reiches an ihrem Schicksal gewertet werden konnte. Die gleiche Abkühlung der sudetendeutschen Gefühle für das Reich war zu erwarten, wenn das Auswärtige Amt sich auf eine Erörterung der Einzelbeschwerden einließ. Nach Kochs Auffassung wä-re ein großer Teil dieser Gravamina, zumal sämtliches statistische Material bei den Tschechen lag, nicht zu halten gewesen, was den Zorn der Sudetendeutschen von der Tschechoslowakei auf das Reich gelenkt hätte. Hier vermutete Koch auch das Kalkül der Prager Regierung: "Einen Keil treiben zwischen das Reich und die Sudetendeutschen, das ist das Problem113). Kochs Bedenken entsprachen völlig der vomAuswärtigen Amt bisher eingenonnnenenHaltung,auch in der Schlußfolgerung, daß man im Interesse der Beziehungen zwischen beiden Ländern den Gesprächsfaden aufnehmen müsse4), Denn man befürchtete, daß eine Abkühlung des sudetendeutschen Verhältnisses zum Reich die Gefahr einer Isolierung des Sudetendeutschtums heraufbeschwören würde. "Als weitere Folge solcher Isolierung würde dann übrigens unter dem Nur
1) Aui'zeichnung Köpke vom 29.3.1926 Auswärtigen Amt am 27,/28.3.1926, s. 201 ff. 2) Einzelheiten s. 171 ff,
bei Alexander,
3) Koch an AA am 20.2.1926, 4) Aufzeichnung 122-125.
a.a.0.,
über die Aussprache Stresemann-Ramek im Akten zur Deutschen Ausw. Politik B III, S. 182 ff.
Akten zur Deutschen
Bülow für den Reichsminister
Vgl. auch Brügel, Ausw.Politik
vom 3,3,1926,
B III,
a.a.0,, S. 134 ff.
AA K 91/K 009
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Druck der öffentlichen Meinung Deutschlands möglicherweise eine wesentliche Verschlechterung des deutsch-tschechischen Verhältnisses eintreten, die umso unerwünschter wäre, als die tschechische Regierung jede Verantwortung dafür ablehnen könnte" 1) • Das führt zu dem zweiten lvk:>tiv,das - neben der Rücksichtnahme auf das Verhältnis zum Nachbarstaat - die amtliche deutsche Politik in der sudetendeutschen Frage bestimmte: Das starke Interesse der öffentlichen Meinung in Deutschland am Minderheitenproblem. Bei einer allzu großen Zurückhaltung hätte die Reichsregierung den schwerwiegenden Vorwurf riskiert, sie kümmeresich nicht um die Nöte der deutschen Minderheiten. Diesen Eindruck zu vermeiden, 111lli1te sie nicht zuletzt deshalb interessiert sein, weil sie gerade mit dem Hinweis auf die Lage der deutschen Volksgruppen gegenüber nationalistischen Kritikern ihre aktive Völkerbundspolitik begründete. Gerade zur Zeit des tschechoslowakischen Vorstoßes war das Interesse der deutschen Öffentlichkeit an diesen Fragen besonders deutlich geworden,u.a. in der Rede des bayrischen Ministerpräsidenten Held vor dem bayrischen Landtag am 5. Februar 1926, in der dieser direkten Bezug auf die Lage der Deutschen in der Tschechoslowakei nahm2). In einer Unterredung mit Krofta, der gegen diese Rede protestierte, beschwichtigte Stresemann, die Ausführungen des bayrischen Ministerpräsidenten seien kein Akt der deutschen Außenpolitik, und versicherte erneut, daß die Sudetenfrage für die Reichsregierung ein "rein kulturelles Problem" sei. Bei dieser Gelegenheit wies er auch, gleichsam um Verständnis bittend, auf die starke Resonanz im Volke hin 3), kam das Auswärtige Amt zu dem Schluß, daß, nachdem die Diskussion eiIU11al begonnen habe, eine Erwiderung nicht zu umgehen sei. Auf Einzelheiten beschloß man aber nur dann einzugehen, wenn es sich "um die wenigen sudetendeutschen Beschwerden handelt, deren Berechtigung unumstößlich nachweisbar So
1) Ebd.
2) Vgl. Alexander,
a.a.0.,
S. 185,
3) a) Aufzeichnung Schubert vom 9.2.1926, Akten zur Deutschen Ausw.Politik B III, S. 109 ff. Auch Aufzeichnung Köpke vom 23,2,1926 Über einen Besuch des Gesandten Krofta, der u.a. bemerkte, Beunruhigung sei in Prag vor allem durch die Behandlung der Minderheitenfrage in der deutschen Presse entstanden, in der die Dinge entstellt worden seien,in dem Sinne, daß Stresemann bei seiner Reichstagsrede vom 9,2. einer "sehr ernsten" oder II sehr großen" Sorge Ausdruck gegeben habe, und die Wendung vom "rein kulturellen Problem" ganz unterschlagen worden sei.AAL 437/L 128 189-191, b) In diesem Sinne auch Koch an AA am 20.2.1926, a.a.0.
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ist" 1). Grundsätzlich hielt man es für zweckmäßig, eine Stellungnahme auf die Betonung der für das Sudetendeutschtum grundlegenden Tatsache zu beschränken, daß der tschechoslowakische Staat als Nationalstaat statt als Nationalitätenstaat begründet sei und verwaltet werde, daß das herrschende Volle somit die Möglichkeit habe, auf Grund seiner Machtstellung im Staat seinen materiellen Besitzstand dauernd zu erweitern. Die zur Vorbereitung eines Gesprächs mit den Tschechen von der Abteilung II angefertigte Aufzeichnung bekräftigte den Grundsatz, daß man sich in keiner Weise in Angelegenheiten einzumischen gedachte, die, fonnell betrachtet, interne Angelegenheiten der tschechoslowakischen Republik seien 2). Mehr noch: Die sudetendeutsche Frage l.llld ihre Auswirkungen wurden geradezu als lästig empfunden, da durch die Erbitterung der Sudetendeutschen und die dadurch entstandene Beunruhigung der öffentlichen Meinung innerhalb des Reiches "die Bemühungen.der verantwortlichen Staatsmänner, die Beziehungen der beiden Länder vertrauensvoller zu gestalten, i111nerwieder durchkreuzt werden". Nicht aus einem spontanen Interesse am Schicksal der Sudetendeutschen also, sondern unter dem Zwanganderer politischer Erwägungen stellte sich das Auswärtige Amt einem Gespräch zur Verfügung. 'Dabei ging man bezeichnenderweise davon aus, daß die Beunruhigung der öffentlichen Meinung in Deutschland nicht durch den Nachweis bekämpft werden könne, die einzelnen Maßnahmender Prager Regierung seien unter Hinweis auf irgendwelche übergeordneten Gesichtsptmkte zu rechtfertigen, enthielten vor allem keinen Verstoß gegen die vertraglichen Verpflichtllllgen Prags: "Nach den Ergebnissen eines solchen Versuchs würde sich die Stinnnungder Deutschen außerhalb tmd innerhalb des Reiches nicht richten", Als positives Ziel der deutschen Politik in der sudetendeutschen Frage bezeichnete es die Denkschrift, "die nationalen Spannungen in der Tschechoslowakei durch einen Ausgleich zu beseitigen, der die Deutschen in der Tschechoslowakei mit den bestehenden Verhältip.ssen versöhnt und sie zu positiver Mitarbeit in l.llldan diesem Staat gewinnt". Eine Minderung der Spannungen zwischen den beiden Nationalitäten wurde nicht primär im Hinblick auf die Sudetendeutschen, sondern wegen der günstigen Auswirkungen auf das Verhältnis der beiden Nachbarstaaten zueinander befürwortet. Oberhaupt sah man im Auswärti1) Auf'zeichnung
Bülow vom 3.3.1926,
a.a.0.
2) AA-Auf'zeichnung vom März 1926, als Unterlage für die deutsche Erwiderung auf die von Krofta eingereichten Bemerkungen, AA K 91/K 009 116-118.
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gen Amt die Sudetendeutschen nicht als Minderheit, sondern als einen für den tschechoslowakischen Staat l.lllentbehrlichen Bevöllcerungsteil an1). Alles in allem lassen solche Bewertungen erkennen, daß die sudetendeutsche Frage für das Deutsche Reich nicht minderheitenpolitische, sondern - im Aspekt der deutsch-tschechoslowakischen Beziehl.lllgen- allgemein außenpolitische Relevanz besaß. Das galt nicht nur im negativen Sinne, indem man auf deutscher Seite von einem scharfen Nationalitätenkampf in erster Linie die ernsten Rückwirkungen auf das nachbarliche Verhältnis beider Staaten befürchtete, sondern auch positiv, indem man im Falle einer Entspannllllg den Sudetendeutschen die Rolle eines "Fennents in den Beziehungen der beiden Nachbarstaaten" zuwies, zweier Staaten, "die schon vennöge ihrer geographischen Lage l.llldder vielfachen Verflechtung ihrer Wirtschaftsinteressen in besonderem Maße aufeinander 112 angewiesen sind ). Bei allem hielt man es jedoch für am zweckmäßigsten, wenn es einer deutschen Stellllllgnahme für die Sudetendeutschen gar nicht bedurfte. Für sympathischer galt im Auswärtigen Amt der Gedanke, "der Tschechoslowakei nahezulegen, von sich aus, ohne daß von unserer Seite Einzelheiten angeführt werden, rein cavalierement eine andere Haltung dem Deutschtum gegenüber zu finden 113). Im Zeichen von Locarno befand sich die deutsche Seite somit in dem Dilennna zwischen ihrem Wunsch, um eines guten Verhältnisses zur Tschechoslowakei willen die sudetendeutsche Frage als potentielle Quelle von Reibereien möglichst unangerührt zu lassen, und der Notwendigkeit, aus Rücksichtnahme auf die öffentliche Meinung und wegen der aus ihr resultierenden Gefahren für das Verhältnis zum Nachbarstaat sich für die Belange der Sudetendeutschen einzusetzen. 1) AA-Auf'zeichnung vom 5.3.1926: "Material für die Beantwortung der Kroftaschen Auf'zeichnung über die tschech, Stellungnahme zur sudetendeutschen Frage", AA K 91/K 009 126-136. 2) Ebd.
3) Alifzeichnung Freudenthal vom 20.1.1926, AAL 437/L 127 922-924. Die deutschtschechosl. Diskussion Über die sudetendeutsche Frage wurde durch eine Unterredung Stresemann-Benesch am 16.3.1926 in Genf abgeschlossen, in deren Verlauf Benesch von sich aus das Problem anschnitt. "Er hat zunächst behauptet, daß er der panslawistischen Strömung in der Tschechoslowakei mit allen Mitteln entgegentrete, da seiner Ansicht nach die Zukunft der Tschechoslowakei von guten freundschaftlichen Beziehungen zu Österreich und zu Deutschland abhänge. Trotz aller Schwierigkeiten sei er entschlossen, dieses Ziel nicht aus dem Auge zu lassen. Allerdings müsse er dabei vor allem die starke Gegenströmung berücksichtigen, die von den Sudetendeutschen ausgehe. Ein innenpolitischer Friede sei erst dann möglich, wenn es gelänge, die Deutschen zur Teilnahme an der Regierung zu bestimmen ••. ", Brügel, a.a.0., S. 173 f.
Kennzeichnend für diese Situation sind zwei Vorgänge, bei denen die Reichsregierung aufgefordert wurde, zur Lage des Sudetendeutschtums Stellung zu nehmen.Das eine Mal handelte es sich tnn ein Ersuchen führender sudetendeutscher Abgeordneter, der Gesandte Koch möge für sie einen Empfang bei Stresemann erwirken1). Die Parlamentarier wollten die fruchtlose negative Einstellung aufgeben und eine Politik der Mitarbeit am tschechischen Staat einschlagen, meinten aber, tnn sich innenpolitischen Widersachern gegenüber durchsetzen zu können, sich der Zustimmungder Reichsregierung versichern zu sollen. Ebenfalls mit der Bitte tnn einen Empfangbei Stresemann, zugleich aber mit dem handfesteren Ersuchen tnn eine-finanzielle Unterstützung durch das Reich (in Höhe von 100 - 200 000 Reichsmark), wurden etwas später, am 18. Mirz 1926, radikalere Abgeordnete bei Koch vorstellig; das angeforderte Geld sollte propagandistischen Zweckendienen, d.h. der Schaffung von "Stützptmkten" für das Sudetendeutschttnn in England und Amerika2) •· Angesichts der hier zutage tretenden inner-sudetendeutschen Differenzen schien es dem Auswärtigen Amt ratsam, den Empfang der sudetendeutschen Vertreter, wie auch Koch empfohlen hatte, abzulehnen. Stresemann telegrafierte am 4. Mai 1926 an die Deutsche Gesandtschaft in Prag: "In Frag~n der von den Sudetendeutschen innerhalb des tschechoslowakischen Staates zu befolgenden Politik vermag ich weder Vertreter der deutschen Parteien in der Tschechoslowakei amtlich zu empfangen, tnn namens der Reichsregierung in dem zwischen ihnen bestehenden Meinungsstreit Stellung zu nehmen. Auch zu privatem Meimmgsaustausch mit Vertretern der beiden Richtungen ist gegenwärtiger Zeitptmkt mit seinen mannigfachen, zwischen der tschechoslowakischen Regierung und uns noch bestehenden Unklarheiten nicht geeignet 113). Das Motiv für die Ablehnung war die Sorge, die Reichsregierung würde sich mit einem Eingreifen nicht nur in den Streit der sudetendeutschen Parteien einlassen, sondern, wie immer sie sich entscheiden würde, auch die Kritik der reichsdeutschen öffentlichen Meinung auf ihrem Wege finden 4). Das andere Beispiel, das die Rolle der sudetendeutschen Frage in der deutschen Minderheitenpolitik charakterisierte, war die Behandlung einer Reichs1) Einzelheiten
bei Alexander,
a.a.O.,
S. 191 ff.
2) Koch an AA am 18.3.1926, Akten zur Deutschen Ausw. Politik B III, S.171 ff. 3) Alexander, a.a.O., S. 195. 4) Koch an AA am 18.3.1926, a.a.O. ;Zech an Koch am 6.5.1926, AAL 437/L 128 406 f.
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tags-Interpellation der deutschnationalen Abgeordneten Freytag-Loringhoven und Genossen zur tschechoslowakischen Sprachenverordnung vom 3. Februar 1926. Es handelte sich hier um die Durchführungsverordnung zum Sprachengesetz von 1920, nach der Tschechisch als die Amtssprache gelten sollte und den nationalen Minderheiten lediglich bestinnnte Ausnahmerechte - unter sehr einschränkenden Bedingungen - zugebilligt wurden. ilinisterialdirektor Köpke, Leiter der für die Tschechoslowakei zuständigen Abteilung II im Auswärtigen Amt, vermerkte zu dieser Interpellation, es sei sehr bedenklich, sie im Plentnn des 1 Reichstags zu behandeln ). Die Sprachenfrage sei, rein formell betrachtet, eine rein interne Angelegenheit der Tschechoslowakei. Ein deutscher Staatsmann, der sie in der Öffentlichkeit meritorisch behandle, würde auf der anderen Seite ein unerwünschtes Echo auslösen. Somit bleibe als nächstliegende Möglichkeit, eine Beantwortung abzulehnen. Diese Haltung hielt Köpke jedoch ebenfalls nicht dem deutschen Interesse gemäß, da sie in der Öffentlichkeit den Eindruck hätte hervorrufen müssen, das Reich gebe sudetendeutsche Interessen preis. Als Ausweg bleibe somit nur, die Interpellation unter der Hand zu erledigen, d.h. dem für die Tschechoslowakei zuständigen Referenten in der deutschnationalen Fraktion Abgeordneten Lindeiner die Schädlichkeit einer Beantwortung der Interpellation vor Augen zu führen und ihn zu bearbeiten, daß auf die Interpellation stillschweigend verzichtet werde. Sollte eine Beantwortung aber dennoch nicht zu umgehen sein, so müßte diese sich im wesentlichen auf eine allgemeine Sympathie-Erklärung für die Sudetendeutschen beschränken und die ausdrückliche Erklärung enthalten, daß sich die Reichsregierung, so sehr sie - im Interesse der deutsch-tschechoslowakischen Beziehungen - eine seiner zahlenmäßigen und kulturellen Bedeutung entsprechende Behandlung des Sudetendeutschtums wünsche, nur nach dein Eintritt in den Völkerbund und in dem engen Rahmendes Minderheitenschutzverfahrens in die Einzelheiten dieses Problems einmischen könne. Diese Erklärung war das .Äußerste, was im Hinblick auf die Beziehungen zur Tschechoslowakei ratsam erschien. K'dpkewar sich andererseits aber bewußt, daß eine solche Erklärung, gemessen an dem hohen Anspruch der deutschen Minderheitenpolitik,· zu schwach sein würde, wenn er hinzufügte, daß sie kaum dazu dienen könne, die Stellung Deutschlands als des berufenen Sprechers der Minderheiten im Völkerbund zu stärken. Für dringend erwünscht hielt er deshalb, wenn die Regierung um die Beantwortung ganz herumkomme.- Es war im Sinne dieser Argumentation ein günstiger lhnstand, daß es 1) Vermerk Köpke vom 3,3.1926, AAL 437/L 128 159-161.
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nicht mehr zu einer Behandlung der Frage im Reichstag kam, da der Reichstagspräsident in der Debatte über den Etat des Auswärtigen Amtes am 23. März 1926 nach allgemeinen Erklärungen des Reichskanzlers und des Außenministers die Interpellation als erledigt bezeichnete und zum nächsten Punkt der Tagesord1 nung überging ). Die amtliche deutsche Politik konnte es somit nur begriißen, daß im Herbst 1926 zwei sudetendeutsche Politiker, der Agrarier Spina und der Christlichsoziale Mayr-Harting, als Minister in die tschechoslowakische Regierung eintraten und eine ·neue Phase im Verhältnis der Sudetendeutschen zu ihrem Staat einleiteten. Denn mit dieser Entscheidung für den "Aktivisnrus", d.h. eine aktive Mitarbeit der Sudetendeutschen an und in ihrem Staat,schien die Aussicht gegeben, daß die sudetendeutsche Frage künftig nur noch innenpolitische Bedeutung haben und das Reich in ihre Problematik nicht mehr verwickelt werden würde. Auf sudetendeutscher Seite lag dieser Wendedie Einsicht zugrunde, daß die Tschechoslowakei innen- und außenpolitisch eine Realität sei, zudem die Erfahrung, daß man von jenseits der Grenze keine Hilfe erwarten könne2). Eine gewisse Rolle dürften dabe~ auch die Äußerungen maßgebender tschechoslowakischer Politiker gespielt haben, die zur Hoffnung berechtigen mochten, daß die sudetendeutsche Frage in eine die Interessen der deutschen Minderheit beriicksichtigende evolutionäre Entwicklung treten würde. So erklärte Staatspräsident Masaryk im Juni 1926 in einem Zeitungsinterview: "Das Problem unserer deutschen Minderheit ist unser wichtigstes politisches Problem, das von unseren Staatsmännern gelöst werden muß. Sobald die Deutschen unseren Staat nicht mehr negieren und zwecks Mitarbeit eine Regierungspartei werden, werden sich automatisch all jene Konsequenzen einstellen, die für die übrigen Regierungsparteien gelten 113). Wie man sich auf tschechischer Seite die Entwicklung dachte, erläuterte der Gesandte Krofta im September 1926 in einem vertraulichen Vortrag vor Landsleuten in Pilsen: "Das tschechische Ziel ist schrittweises Nachgeben in allen Forderungen der Deutschen bis auf eine: die Änderung der Staatsform. In dieser Beziehung gibt es für keinen Tschechen eine Konzession. Die Deutschen sollsn mit der Zeit alle Freiheit bekorrnnen,darun1) Verhandlungen des Reichstags, Sten.Ber., 25.3.1926, AAL 437/L 128 166.
Bd. 389, S. 6531. AA-Vermerk vom
2) Vgl. E. Zajicek: "Erfolge und Mißerfolge des sudetendeutschen Aktivismus", in: Beiträge zum deutsch-tschech, Verhältnis im 19. u. 20. Jahrhundert, s. 127 ff. 3) Meldung von Wolffs Telegr.
Büro vom 27.6.1926,
AAL 437/L 128 592,
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ter auch die Sprachenautonomie; aber der tschechische Nationalstaat muß bestehen bleiben. In etwa 10 Jahren werden die Deutschen mürbe und reif sein, alles das zu besitzen, was zu ihrem Wohlergehen im tschechischen Staat notwendig ist 111). Doch in der entscheidenden Frage der Staatsform fehlte es weiterhin an einer gemeinsamen Grundlage. Dern auch wenn Krofta sich den Problemen der Sudetendeutschen gegenüber verständnisvoll zeigte und ihnen die Rolle eines Verbindungsglieds zwischen der deutschen und der slawischen Welt zuwies , war er doch nicht bereit, ihnen den ihrer Größe entsprechenden "Anteil an der Macht" zuzugestehen. Die Nationalstaatsfiktion, nach der die Sudetendeutschen zur Rolle einer permanenten ~linderheit verurteilt waren, blieb der entscheidende Kontroverspunkt. Der 'Aktivist Spina erklärte alts ausdriickliches Ziel der aktivistischen Politik die Schaffung eines Nationalitätenstaates, eine Forderung, die aber nicht zum unmittelbaren Gegenstand von Verhandlungen zwischen Sudetendeutschen und Tschechen erhoben wurde2). Vielmehr war die aktivistische Politik von dem Kalkiil bestimmt, durch aktives Eingreifen in die Innenpolitik die minderheitenfeindliche Gesetzgebung zu herrnnen,die vorenthaltenen gleichen Staatsbürgerrechte allmählich zu erzwingen und im Laufe der Zeit eine wachsende Selbstverwaltung durchzusetzen 3). In direkterer Weise hatte Stresemann an die Hinwendungder Sudetendeutschen zumAktivismus die Erwartung minderheitenpolitischer Konzessionen seitens der Prager Regierung geknüpft und den Gedanken in die Debatte geworfen, die Sudetendeutschen sollten den Eintritt in die Regierung von der Sicherung ihrer vollkommenenAutonomie abhängig machen4). Im Auswärtigen Amt glaubte man zeitweise,
die innenpolitische Lage in der Tschechoslowakei ausnutzen zu können, um für die Sudetendeutschen einzutreten. Jedenfalls übermittelte Köpke am 21. September 1926 dem in Genf zur Völkerbundstagung weilenden Staatssekretär v.Schubert Gesprächspunkte für eine Unterredung mit Benesch, wobei er wiederum die starke Resonanz des Problems in der öffentlichen Meinung und seine Bedeutung für die nachbarlichen Beziehun1) Heeren (Deutsche Gesandtschaft Prag) a:n AA vom 22,9,1926. auf Grund eines Berichts des deutschen Konsuls in Pilsen, chen hatte.AAL 437/L 128 695, 2) Zajicek, 3) Bauer,
a.a.O.,
S. 134,
a.a.O.
4) So Stresemann
s.
Heeren berichtet wo Krofta gespro-
442 f.
an Fabrikbesitzer
Schwager am 9.6.1926,
"Vermächtnis"
II,
- 248 gen zwischen beiden Staaten hervorhob: Deutschlands öffentliche Meinung nehme am Schicksal der deutschen Bevölkerungsteile in der Tschechoslowakei so starken .Anteil, daß die Reichsregierung bei der von ihr gewünschten Vertiefung der Beziehungen zur Tschechoslowakei nur dann auf Zustimmungbeim deutschen Volk rechnen könne, "wenn die Stellung der Sudetendeutschen innerhalb des tschechoslowakischen Staates sich in einer Weise gestaitet, die ihrer wirtschaftlichen und kulturellen Bedeutung entspricht, und wenn_ein Ausgleich des tschechisch-deuts_chen Gegensatzes in der Tschechoslowakei erfolgt" 1). Freilich blieb es nicht ohne _Konsequenzen,daß die Sudetendeutschen selber, bevor sie sich auf das Experiment des Aktivisnrus eingelassen hatten, es versälllllt hatten, mit den Tschechen über die Frage der Staatsfonn zu reden: Innerhalb der Minderheit selber gab es eine weitere Äufspaltung; den "Aktivisten" standen die "Negativisten" gegenüber, die der Auffassung waren, allein durch stete Forderung des Selbstbestirrnnungsrechts sei den Sudetendeutschen gedient. Nach außen hin konnte eine Mitarbeit der Sudetendeutschep. in ihrem Staat den Eindruck erwecken, als bedürfe es nun, da die Minderheit ihr Schicksal in die eigene Hand geno~n habe, keiner weiteren Ingerenz durch die internationalen Organe, wie sie der Minderheitenschutzvertrag vorsah. Ja die Aktivisten selber schienen diese für überflüssig zu halten; so teilte der christlichsoziale Abgeordnete Graf Ledebur dem Gesandten Koch Ende 1926 mit, er beabsichtige, den ihm befreundeten österreichischen Völkerbundsdelegierten unter eingehender Darlegung der innenpolitischen Verhältnisse in der Tschechoslowakei zu bitten, den Direktor der Minderheitenabteilung Colban und vielleicht auch Generalsekretär Drumnondunter Fühlungnahmemit dem deutschen Delegierten dahin zu informieren, daß die Teilnahme deutscher Parteien an der Regierung den Versuch darstelle, auf internem Wege eine Besserung in der Lage der deutschen Minderheit herbeizuführen, und daß daher bis auf weiteres eine neue Beschwerde nicht eingebracht und die alte nicht urgiert werde2). Natürl;(ch bot die Politik des Aktivisnrus den Sudetendeutschen Möglichkeiten, ein größeres politisches Gewicht zu gewinnen. Voraussetzung aber war, daß sie es verstanden, ·.die neue Lage auszunutzen. In dieser Erkenntnis rief der 1) Köpke an Schubert 2) Koch an AA (Tel.)
am 21.9.1926,
AAL 437/L 128 691 f. am 1.12.1926, AARef. Völkerbund, Minderheitenbeschwer-
den, Bd. 3 (ungefilmt).
- 249 sudetendeutsche Abgeordnete Senator Medinger in einer Rede am 28. Oktober 1926 seine Landsleute auf: "Unser Auftreten muß jetzt an Festigkeit gewinnen111). Als konkrete Progrannnpunkte der aktivistischen Politik bezeichnete er: "Wir haben die Delegierung eines (Sudeten-)Deutschen zur Hauptversannnlung des Völkerbundes und in dessen Sekretariat als logische Folge der neuen Konstellation zu verlangen, ,rir müssen Diplomatenposten unsererseits in vorsichtiger Wahl besetzen. Wir haben im Konzert aller internationalen Verbände bei allen weltbewegenden Fragen unser Instrument zwar diskret, aber mindestens so ernst wie bisher, weiterzuspielen. Interne Verhandlungen und die Arbeit auf internationalem Boden müssen sich wirksam ergänzen und einander den Ball zuspielen". Insgesamt ergab sich für die Politik des Reiches aus der neuen Lage somit die Konsequenz, daß den Sudetendeutschen endgültig die Berufung darauf genorrnnen war, daß sie eine schwache, schutzlose Minderheit seien, der nur von außen geholfen werden könne2). So meinte Koch, daß eine kluge Unterstützung von außen zu gegebener Zeit zwar nicht ausgeschlossen werden solle, daß der Hebel aber von innen anzusetzen sei und die Sudetendeutschen sich zunächst auf ihre eigenen Kräfte besinnen müßten3). In dieser Hinsicht waren jedoch schon die ersten M:Jnatenach Beginn der aktivistischen Phase entttäuschend, zeigten sie doch, daß die deutschen Minister es an der nötigen Entschlossenheit fehlen ließen, minderheitenpolitische Forderungen durchzusetzen. Statt dessen richteten sie, wie Koch im Februar 1927 berichtete, "ihr Augernnerkhauptsächlich darauf, wie sie sich möglichst lange in ihrer Stellung erhalten. Wenn sie Staatsmänner wären, würden sie daran denken, wie sie sich mit Anstand in die Luft sprengen können. Minister hier zu werden war ja schließlich gar nicht so schwer; aber ehrenvoll aus dem Amte wieder herauszukommen, das ist das Problem114). Koch sprach die Befürchtung aus, daß die Deutschen eines Tages, wenn die alte tschechische Koalition wieder geleimt sei, "mit einem gnädigen Wink" aus der Regierung entlassen werden würden, ohne daß eine minderheitenpolitiZeitung" vom 31.10.1926. 1) "Reichenberger 2) Koch an AA am 15.10.1926, M L 437/L 128 733-737, Dem Reichspräsidenten am 28.10. vorgelegt, dem Reichskanzler am 1.11. vorgetragen. 3) Ebd. 4) Koch an M am 20.2.1927, M L 437/L 128 962-966. Am 4.3, dem Reichspräsidenten, am 5,3. dem Reichskanzler vorgelegt. Vgl. zur Phase des Aktivismus auch Brügel, a.a.O., S. 175 ff., der aber diese negativen Urteile über die Tätigkeit
der aktivistischen
Minister
nicht
erwähnt.
- 250 sehe Forderung erreicht sei. Halte man dieses Fazit einem Abgeordneten der Regierungsparteien vor, so bekommeman die Antwort, man habe doch seinerzeit Ministerpräsident Svehla den "Wunschzettel" überreicht. "Wie die artigen Kinder zu Weihnachten haben sie den Wunschzettel übergeben und harren nun der Bescherung. Das ist ungemein charakteristisch für das Sudetendeutschtum. Daß von den Tschechen nur im zähesten Kampfetwas zu erreichen ist, unter täglicher Stellung der Kabinettsfrage, unter rücksichtsloser Sabotierung von Staatsnotwendigkeiten, das müßten sie nachgerade wissen 111). Kochs Kritik richtete sich nis::ht nur gegen die Untätigkeit der Regierungsparteien, sondern auch gegen die Taktik der sudetendeutschen Opposition: Auch dieser fehle es an Verständnis für die Aufgabe, durch geschicktes Vorgehen die Stellung der Deutschen in der Regierung zu stärken oder z.B. unbequeme Anträge im Parlament zu stellen, deren Unterstützung sich die deutschen Regierungsparteien nicht hätten entziehen können. Statt dessen beharrten die Oppositionsparteien starr auf ihrem negativistischen Standptmkt und rechneten mit den Regierungsparteien in ihrer Presse ab. Ober dem Einheitsbewußtsein ständen die Sonderziele der P~rteien, und die Opposition berechne im stillen, wie viele Wähler zu ihr üben.rechseln würden, wenn die Regierungsparteien abgewirtschaftet hätten. Der hier geschilderte "Bruderkrieg" unter den Sudetendeutschen steigerte sich bis zu einer Ohrfeige im Parlament; ein Aufruf von 50 angesehenen Sudetendeutschen zur Einstellung des allzu persönlich gewordenen Kampfes blieb im Grunde wirkungslos 2). - Dagegen sah sich Benesch in der Lage, mit Genugtuung auf das Beispiel der Tschechoslowakei zu ven.reisen, in der die Minderheiten langsam begännen, sich in die innere Ordnung des Staates einzugliedern. Die Minderheitenfrage sei weit entfernt, in ~1itteleuropa den gefährlichen Charakter zu besitzen, den ihr die europäische Öffentlichkeit beimesse 3). Deutlicher Ausdruck, daß im Prinzip alles beim alten blieb und die Hauptbeschwerde der Sudetendeutschen auch nach Eintrittdeutscher Parteien in die Regierung gültig blieb, war die im Zuge einer Ven.raltungsreform durchgeführte territoriale Neugliederung des tschechoslowakischen Staatsgebietes 1928. An die Stelle der 1920 vorgesehenen Gaue, von denen zwei fast rein deutsch gewesen wären, wurden wieder Länder als Ven.raltungseinhei1) Koch an AA vom 20.2.1927, 2) Bauer,
a.a.O.
a.a.O.
3) Benesch: "Le probleme des Minorites", lt. Nation und Staat 1, S. 226.
in:
"La Revue des Vivants"
Mai 1927,
- 251 ten eingerichtet. Das einzige Land mit einer deutschen Mehrheit, Schlesien, wurde dabei kassiert und mit Mähren vereinigt, so daß es nun zwei Länder mit tschechischer Mehrheit gab (Böhmenund Mähren), eins mit slowakischer (Slowakei) und eins mit ukrainischer Mehrheit (Karpatho-Rußland) l). Von einer Berücksichtigung des deutschen Bevölkerungsanteils entsprechend seiner Größe und seinem Gewicht konnte also keine Rede sein, und die deutschen Oppositionsparteien nutzten diese Situation zu einem Angriff auf die Regierungsparteien, sie hätten dieser Reform zugestimmt und sich somit zum Totengräber des Gedankens der Selbstven.raltung gemacht. Wenndie Reichsregierung die HinwendungzumAktivismus schon grundsätzlich als Entlastung empfand, so sah sie sich nach den ersten Erfahrungen mit dieser Politik erst recht legitimiert, in der sudetendeutschen Frage Zurückhaltung zu üben. Daß diese Zurückhaltung grundsätzlicher Natur war, zeigte sich daran, daß auch keine Versuche unternommenoder unterstützt wurden, die Politik der sudetendeutschen Parteien zu aktivieren. Für eine solche Einwirkung seitens des Reiches suchte Anfang August 1927 der frühere Leiter der Deutschpolitischen Arbeitsstelle in Prag, Rechtsanwalt Dembitzki, den Gesandten Koch zu gewinnen, indem er ihm mitteilte, unter den an der Regierung nicht beteiligten sudetendeutschen Parteien bereite sich eine gewisse Zusarrnnenarbeitund ein Umschwung in der Stellung zum Staate vor; diese wollten nun auch eine aktivistische Politik betreiben, allerdings nicht mit der "schlappen Haltung" der derzeitigen Regierungsparteien, sondern "eine aktivistische Politik 'mit Postulaten 1112 ). Für diese Neuorientierung ersuchte Dembitzki, der selber eine führende Rolle in dieser Politik spielen sollte, um eine finanzielle Unterstützung durch das Reich. In seinem Bericht über diesen Besuch nahm Koch erneut Gelegenheit, mit der bisherigen Pali tik des Aktivismus abzurechnen: Seine, Kochs, Befürchtungen seien bestätigt; die deutschen Regierungsparteien und ihre Minister hätten zu allen Regierungsfragen, auch zur Verwaltungsreform, Ja und Amengesagt, für das Deutschtum nichts verlangt und infolgedessen auch nichts erhalten. Inzwischen sei die rbchkonjtmktur für die Deutschen vorübergegangen. Jetzt, wo kaum noch etwas zu retten sei, suchten die deutschen Oppositionsparteien in den Wegeinzulenken, den er ihnen oft empfohlen habe. Dahinter stehe aber nicht Solidarität mit den deutschen Regierungsparteien, sondern Spekulation auf Wählerfang. 1) Vgl. E. Franzel: 1918-1938", in: s. 352 f.
"Die Politik der Sudetendeutschen in der Tschechoslowakei Preidel: "Die Deutschen in Böhmen und Mähren", 1950,
2) Koch an AA am 6.8.1927,
AAL 437/L
129 146-151.
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Die Gewährungeiner Reichsrmterstützung an Sudetendeutsche im Kampfgegen Sudetendeutsche sei aber rmter allen Umständen auszuschließen: "Das Reich kennt nur das Sudetendeutschtum in seiner Totalität, aber keine sudetendeutschen Parteien". Eine eventuelle Unterstützung durch eine reichsdeutsche Partei sei etwas anderes, nur müsse diese durch Kanäle erfolgen, "die weit von der Reichsregierung liegen. Im übrigen mögen die Sudetendeutschen sich nach Mitteln im eigenen Lande umsehen. Geld genug ist da ••• " 1) • Das Auswärtige Amt schloß sich den Argumenten des Gesandten an rmd entschied sich gegen eine finanzielle unterstützung, lehnte auch die von Dembitzki gewünschte Fühlungnahme zwischen sudetendeutschen und reichsdeutschen Politikern ab. Es bekannte sich damit erneut zu einer Politik der Nichteinmischung: "Der deutschen Regierung kann es nicht zugemutet werden, zu der Frage verantwortlich Stellrmg zu nehmen, welche Richtrmg die Sudetendeutschen ihrer Politik innerhalb des tschechoslowakischen Staates zweclanäßigerweise zu geben rmd welche Wege sie dabei zu beschreiten hätten 112). Wenndiese Haltung angesichts der inner-sudetendeutschen Verhältnisse auch verständlich war, so wirft es freilich ein eigentümliches Licht auf die deutsche Minderheitenpolitik, wenn man auf amtlicher deutscher Seite sogar Bedenken hatte, den allgemeinen - parteipolitisch irrelevanten - Beschwerden der Sudetendeutschen propagandistische Unterstützung zu geben. So lehnte Reichstagspräsident Löbe ein Ersuchen der Sudetendeutschen Auslandsgemeinschaft in Wien ab, der Reichstag möge des 10. Jahrestages der Proklamierung des sudetendeutschen Selbstbestinnnungsrechts (am 21. Oktober 1928)3) gedenken, mit der Begründung, daß "zeitlich die Dinge recht ungünstig treffen 114). Die österreichischen Verhandlungen wegen einer Anleihe und die deutschen Verhandlrmgen wegen der Rheinlandräumung duldeten es nicht, "daß wir andere Staaten in diesem Augenblick besonders reizen". Eine Krmdgebungin dem gewünschten 1) Ebd.
2) Aufzeichnung Zech vom 7.11.1927, M L 437/L 129 308-312. Dazu Vermerk Stresemann: "Völlig einverstanden". Deutsch-Österr.Nationalversammlung 3) Am 21.10.1918 hatte sich die provisor. in Wien in einem einstimmig angenommenen Beschlußantrag fÜr die Bildung eines selbständigen deutsch-österr. Staates mit Gebietsgewalt auch in den Sudetenländern entschieden. 4) Schreiben der "Sudetendeutschen Auslandsgemeinschaft (Arbeitsamt)" Wien an das Präsidium des Deutschen Reichstags vom 10.10.1928. Antwortschreiben Löbe vom 17.10.1928, M L 437/L 129 760-762.
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Sinne würde daher die Kreise der deutschen Außenpolitiker erheblich stören. Noch eindeutiger lautete die Antwort des Auswärtigen Amtes auf eine Anfrage des Reichsvertreters im überwachungsausschuß der Funkstunde, ob gegen eine vom Sudetendeutschen Heimatbrmd angeregte Aufnahme eines "Sudetendeutschen Abends" in das Sendeprogrannnam 21. Oktober 1928 Bedenken erhoben würden. Sie zeigt ein erstaunliches Maß an Rücksichtnahme auf tschechische Empfindlichkeiten, wenn es darin heißt, die von sudetendeutschen Kreisen in Deutschland und Österreich für diesen Tag geplanten Kundgebungenständen nicht nur im zeitlichen Zusammenhang mit der offiziellen Feier der tschechoslowakischen Regierung zum 10. Gründungstag ihrer Republik am 28. Oktober, sondern "zu dieser auch in innerem Gegensatz, da die Friedensverträge dem deutschen Bevölkerungsteil der Tschechoslowakei das Selbstbestinnnungsrecht nicht gewährt haben". Die Kundgebungfür Freiheit und Selbstbestinnnung stelle somit in erster Linie eine politische Demonstration dar. Dafür den Berliner Rundfunk zur Verfügung zu stellen, erscheine somit sowohl wegen des politischen Charakters der Veranstaltung nicht angezeigt, wie auch besonders daher, "daß sich die Kundgebunggegen den gegenwärtigen staatsrechtlichen Zustand eines Nachbarstaates richtet, mit dem wir in geordneten Beziehungen stehen" 1). In diesem Zusannnenhangverdient auch Beachtung, in welcher Weise der spätere Staatssekretär v. Bülow einen dem Auswärtigen Amt zur Prüfung vorgelegten, für den 4. November 1928 vorgesehenen Rundfunktvortrag von Dr. Kleo Pleyer "Die Bedeutung des Sudetendeutschtums für das Reich" beurteilte. Bülow kritisier, te grundsätzlich, daß sich dieser Vortrag eingehend mit dem Verhältnis Tschechen - Deutsche in der Tschechoslowakei beschäftigte und sogar bis zu Vorschlägen über die künftige staatsrechtliche_Gestaltung dieses Verhältnisses ging: Eine solche "innere Angelegenheit eines fremden Staates" in einem Rundfunkvortrag zu behande1n, sei aus außenpolitischen Gründen nicht angezeigt. Im einzelnen wurde vorgeschlagen, die Stellen zu streichen, in denen Leistrmg und Opfer der Sudetendeutschen im Ersten Weltkrieg denen der Tschechen gegenübergestellt wur-" den - ein Vergleich, der für die Tschechen rmgünstig ausgefallen war. Den Hinweis auf die Bedrängung der Sudetendeutschen in der Tschechoslowakei eJ!Jlfahl Bülow ganz zu streichen, ebenso den Passus, in dem Pleyer Autonomie für die Sudetendeutschen gefordert hatte. Schließlich sollte auch die Bezugnahme auf die Feier des zehnjährigen Bestehens der Tschechoslowakei wegfallen 2). Solche Stellungnahmen lassen fast vergessen, daß seit über drei Jahren das 1) M (Benndorf) an 0berreg.Rat Scholz (Reichsvertreter im Überwachungsausschuß der Funkstunde) am 26.6.1928, M L 437/L 129 615 f. 2) BÜlow an Scholz am 1.11.1928,
M L 437/L 129 801 f.
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Eintreten für die deutschen Minderheiten erklärtennaßen zu den Hauptaufgaben der deutschen Außenpolitik zählte. Sie bestätigen nur, daß in diesem Falle das Verhältnis zum Nachbarstaat absoluten Vorrang besaß, und modifizieren damit natürlich auch Antrieb und Ziele der deutschen Minderheitenpolitik. Dabei muß man freilich daran erinnern, daß die Sudetendeutschen auf Grund ihrer Bedeutung im tschechoslowakischen Staat ohnehin ein zu großes eigenes Gewicht besaßen, als daß die Kategorien dieser Minderheitenpolitik allein ihrer besonderen Problematik hätten gerecht werden können.
4. Die sudetendeutsche Reaktion auf Stresemanns minderheitenpolitische tiative 1929
Ini-
Der besonderen politischen Problematik der sudetendeutschen Minderheit, vor allem ihrer Zersplitterung in eine Vielzahl politischer Richtungen, entsprach es, daß sich sudetendeutsche und reichsdeutsche Politik nicht aufeinander abstimmen ließen. Eine deutliche Anschauung davon vermittelt die sudetendeutsche Reaktion auf Stresemanns große minderheitenpolitische Initiative vor dem Völkerbund im Jahre 1929. Gerade die Tatsache, daß der deutsche Vorstoß allgemein der Idee des Minderheitenschutzes galt, dagegen die besonderen Verhältnisse einzelner Volksgruppen bewußt ausklammerte, ließ eine Solidarisierung der Sudetendeutschen mit Stresemanns Initiative eigentlich als selbstverständlich erscheinen, zumal sie - in der Phase des Aktivismus - schwerlich als Akt der Illoyalität hätte gewertet werden können. Das wurde von einem Teil der Sudetendeutschen auch erkannt. Senator Medinger sprach in diesem Sinne im April 1929 vor der deutschen Völkerbundsliga in der Tschechoslowakei Stresemann Dank aus und erklärte, die Sudetendeutschen seien in der Beurteilung des Problems mit allen anderen nationalen Minderheiten solidarisch. Aber er fügte hinzu: Die Forderungen der Sudetendeutschen als die einer qualifizierten, bodenständigen, zumeist geschlossen siedelnden Gruppe gingen noch weit über die durch die Minderheitenschutzverträge gegebenen Garantien hinaus. Der Senator erinnerte an die in der Petition von 1922 dem Völkerbund vorgetragene Hauptbeschwerde der Sudetendeutschen, an der man nach wie vor festhalte. Solange dieser Klage nicht entsprochen und die aufgezwungene Verfassung nicht durch eine einvernehmliche ersetzt werde, werde man den bestehenden Zustand zwar faktisch, aber nicht als moralisch bindend anerkennen 1). Dieses positive Ur1) Anlage zum Bericht
Koch an AA vom 24.4.1929,
AA K 1773/Bd. 5.
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teil galt dem ideellen Element in Stresemanns Politik, nannte aber auch die Grenzen, die ihr, bezogen auf die sudetendeutsche Frage, gesetzt waren. Statt auf Hilfe von a~en baute Medinger in den konkreten Fragen auf die Strategie eine Verbesserung der Lage "durch Ausnutzung der Abhängigkeit des Staates von unserer politischen und wirtschaftlichen lvlitarbeit zu erreichen" l). Mit dieser Stellungnahme applizierte er Stresemanns Initiative auf die Interessenlage und die Besonderheiten der sudetendeutschen Minderheit. Das aktivistische Sudetendeutschtum war freilich - über solche allgemeinen Erklärungen hinaus - noch in direkterer Weise an der durch Stresemann ausge lösten Diskussion beteiligt. Denn die deutschen Minister waren zwangsläufig urnnittelbar in sie einbezogen, als die tschechoslowakische Regierung zusammen mit den anderen ~linderheitenstaaten dem Londoner Komitee ihre Bemerkungenzur Frage des Minderheitenschutzes vorlegte 2). Sie mußten davon ausgehen, daß es bei der deutschen Anregung auch um die Interessen des gesamten Sudetendeutschtums ging. Mochten sie auch aus Loyalität gegenüber ihrer Regierung sich einer positiven Stellungnahme zu Stresemanns Vorschlägen enthalten, so hätten sie sich aber zweifellos zu einer Abgrenzung gegen die Denkschrift der Minderheitenstaaten veranlaßt sehen müssen, da deren minderheitenfeindliche Tendenz allgemein offenkundig war. Denn dem Ausgangspunkt der aktivistischen Politik entsprechend besaß ohne Zweifel die Solidarität mit den Interessen der eigenen Volksgruppe Vorrang vor der Loyalität gegenüber der Regierung. Nach dem Urteil des Gesandten Koch, der am 9. Mai 1929 dem Auswärtigen Amt über die Vorgänge berichtete, gab es für die sudetendeutschen Minister nur diese Alternative: Waren sie vorher gefragt worden, so hätten sie, als Benesch namens seiner Regierung seine Stellungnahme abgab, Widerspruch einlegen und bei Erfolglosigkeit dieses Schrittes ihr Amt niederlegen müssen. Waren sie nicht gefragt worden, so hätten sie Benesch nachträglich vor dem Ministerrat zur Rechenschaft ziehen und entweder Beneschs Rücktritt erz¾'ingen oder selber demissionieren müssen3). Nichts von dem geschah. Wie Koch berichtete, hüllten sich die !vlinister in Schweigen, die Oppositionsparteien steckten den Kopf in den Sand, nicht weil sie mit der Haltung der Minister einverstanden waren, sondern im Hinblick auf die Wahlen, bei denen man den deutschen Regierungs1) Ebd.
2) S. oben S. 206 f. 3) Bericht Koch an AA: "Die Minderheitenfrage in Genf und die Sudetendeutschen" vom 9.5.1929, AA K 1773/K 436 724-727.
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parteien ihre Sünden vorhalten konnte, lllld erst recht hüteten diese sich, an die Frage zu riihren. "So ergibt sich der äußere Anschein, &ls habe das gesamte Sudetendeutschtlll11mit verschwindenden Ausnahmengegen Beneschs Ausführllllgen vor dem Völkerblllldsrat nicht das mindeste einzuwenden lllld als sei das Deutsche Reich minoritärer eingestellt als seine größte lllld kulturell höchststehende Minorität im Auslande" 1). Ober einen Mittelsmann ließ Koch einen der beiden Minister ausfragen lllld erfuhr dabei, wie sich die Dinge wirklich abgespielt hatten: Benesch hatte, wie der Minister nach langem Zögern mitteilte, vor Abgabe des Memorandumsmit seinen beiden deutschen Kollegen Rücksprache genommenlllld ihr Einverständnis eingeholt. Beide hätten lediglich die FordeTllllg erhoben, daß in dem'Memorandlll11 nicht auf die Teilnahme der Aktivisten an der RegieTllllg als Beweis für die Lösllllg der sudetendeutschen Frage verwiesen werde. Das habe Benesch zugestanden lllld versichert, das Memorandlll11 werde rein juristischen lllld allgemeinen Charakter haben. Bemerkenswert ist die Begriindllllg, die der deutsche Minister für seine lllld seines Kollegen Haltllllg abgab: Sie seien "in dem Dilemmagewesen, entweder ganz zu schweigen, oder aus der RegieTllllg auszutreten(!). Sie haben aber keinen Anlaß gesehen, die Angelegenheit Zlll11 Gegenstand einer Kabinettsfrage zu machen, weil die Vorschläge des Herrn Reichsaußenministers auch ohne das Memorandum Beneschs keinen Erfolg versprechen lllld die ganze Sache ihre Parteien als solche nicht direkt betroffen habe112). Koch, der im Rahmen seiner Berichterstattllllg über das sudetendeutsche Problem dem Auswärtigen Amt bisher grlllldsätzlich Zurückhaltllllg empfohlen hatte, sah sich durch diesen Vorgang in seinem Urteil bestätigt: "Ich habe zu vielen Malen in den vergangenen Jahren über die Trostlosigkeit aller sudetendeutschen Politik lllld über die politische Minderwertigkeit der Sudetendeutschen berichtet. Einen krasseren Beleg dafür als die vorstehende SchildeTllllg habe ich bisher kalll11gefunden. Es ist ein Glück, daß die Bernühllllgendes Herrn Reichsaußenministers ncch anderen Minoritäten gelten lllld zugute kommenals den Sudetendeutschen. Wenn es sich lll11sie allein handelte, so müßte man sich fragen, ob es wohlgetan ist, Leuten hilfreiche Hand zu bieten, die teils im Dämmerzustandeines anspruchslosen Vegetierens im Scheine der RegieTllllgssonne, teils in borniertester Parteipolitik gar keine Hilfe haben wollen 113) • Im Auswärtigen Amt wurde 1) Ebd. 2) Ebd, 3) Ebd.
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Kochs Bericht mit dem Vermerk versehen, seine Erwägoogen sollten auch bei Prüfung der Frage berücksichtigt werden, in welchem Umfangfinanzielle Unterstützllllgen für das Sudetendeutschtlll11noch gerechtfertigt erschienen 1). Die "duckmäuserische Stellllllg" der Aktivisten, das "hinterhältige Schweigen" der Opposition 2), bei beiden also mangelnde Solidarität mit der reichsdeutschen Initiative waren freilich zum großen Teil nur die Kehrseite des von amtlicher deutscher Seite bisher beklllldeten Desinteresses an der sudetendeutschen Frage. Der Anspruch des Reiches, der natürliche lllld allgemein anerkannte Sprecher der deutschen Minderheiten zu sein, ist somit doch stark zu differenzieren lllld traf zumindest nicht lllleingeschränkt auf die größte der deutschen Volksgruppen zu. Immerhin konnte es bei der politischen Vielgestaltigkeit des Sudetendeutschtums nicht ausbleiben, daß das verlegene, die deutsche Minderheitenpolitik geradezu briiskierende Schweigen der deutschen Minister auch Kritik bei ihren Landsleuten hervorrief, so daß schließlich etwas Bewegoogin den "zähen Teig des hiesigen Deutschtums" kam3) • So sahen sich die beiden Minister schließlich, um ihr Gesicht zu wahren, genötigt, mit einer Erklärllllg vor die Öffentlichkeit zu treten, mit der sie von den Bemerkllllgender tschechoslowakischen RegieTllllg zur Minderheitenfrage vorsichtig abrückten, indem sie hervorhoben, daß mit der Teilnahme deutscher Parteien an der tschechoslowakischen RegieTllllg die Minderheitenfrage in diesem Staat nicht gelöst sei 4). Diese Mitarbeit am Staate könne zwar als bedeutsamer Anfang einer Lösllllg, aber noch nicht als endgültige Lösllllg betrachtet werden. Auch hier aber äußerten die Minister die Zuversicht, das Nationali tätenproblem in der Tschechoslowakei innenpolitisch zu lösen,mit der Einschränkllllg, daß dies vornEntgegenkonnnendes tschechischen lllld slowakischen Volkes abhänge. Zur Frage des internationalen Minderheitenschutzes, dem Stresemanns Initiative ja vor allem galt, erklärten sie ganz llllverbindlich, eine "entsprechend verbesserte weitgehende Garantie des Minderheitenrechtsschutzes durch den Völkerblllld" sei "stets geboten". Vorsichtigerweise vermieden die Minister aber jede' Bezugnahmeauf die deutschen Vorschläge lllld beriefen sich statt dessen auf die Verbesserungsvorschläge des 1) Randbemerkung
Reinebeck
2) So Koch an M in seinem in Genf" vom 25,5.1929,
vom
Bericht
vom
"Sudetendeutschtum
M 4555 H/E 147 740-742.
3) Ebd.
4) In: "Bohemia"
15.5.1929, ebd.
16.5.1929.
und Minderheitenschutz
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neutraleren Europäischen Nationalitätenkongresses. - Diese unverbindliche Erklärung war natürlich kaum geeignet, einen Eindruck von Entschlossenheit zu wecken, und blieb eine leere Geste, da keine praktischen Konsequenzen aus ihr gezogen wurden. Die Minister, die eine Gelegenheit zur Offensive versäumt hatten, handelten jetzt aus einer mißlichen Defensive heraus. Koch hielt nach wie. vor ein Ausscheiden der Deutschen aus dem Kabinett für die im Interesse des Sudetendeutschtums beste Lösung; denn, so schrieb er, "die würdelose aktivistische Politik, wie sie von den Regierungsparteien bisher betrieben wurde, droht zu einer vollkoililllenenVerslllilpfungder sudetendeutschen Frage zu führen 111). An der Loyalität
der deutschen Minister gegenüber ihrer Regierung änderte sich durch dieses halbherzige Zugeständnis an die Öffentlichkeit nichts. Das bestätigte sich, als Ministerpräsident Udrzal vor dem Prager Parlament die Minister wegen ihrer Erklärung rügte und sie aufforderte, in den .Äußerungen, die sie als Politiker machten, sorgfältiger die ÜbereinstiTIIlllungmit der Linie der Regierungspolitik einzuhalten 2). Diese Zurechtweisung ließ nun auch in der sudetendeutschen Minderheit, bei den deutsch-oppositionellen Blättern, die Forderung laut werden, die Minister müßten demissionieren. Indessen war die Erklärung des Ministerpräsidenten, wie Minister Spina einem Vertreter der Deutschen Gesandtschaft mitteilte, im Einvernehmen mit den beiden deutschen Ministern erfolgt, "die also mit ihrer offiziellen Desavouierung selbst einverstanden waren113) • Dieser Vorgang läßt es als nicht ausgeschlossen erscheinen, daß auch die erste Erklärung der beiden Minister mit der Regierung abgesprochen war und ihr das gemeinsame Kalkül zugrunde lag, die Minister gegenüber der deutschen Opposition zu salvieren. Um die gleiche Zeit, im Mai 1929, gab Minister Spina in einer Rede vor seiner Partei gleichsam eine Rechtfertigung für sein und seines Kollegen Verhalten und charakterisierte die Beziehung des sudetendeutschen Aktivismus zum Reich: "Wir stehen auf dem Boden des Staates. Wir brauchen nicht nach Deutschland zu schielen, sondern wir schauen frank und frei hinüber. Nicht Deutschland kann uns helfen, nicht Österreich, sie wollen auch nicht, sie können auch nicht •••• Wir sind hier ausschließlich auf unsere eigene Kraft angewiesen, und die genügt uns, wenn 1) Koch an AA am 25.5.1929, 2) Holzhausen 437 173 f. 3) Ebd.
a.a.0.
(Deutsche Gesandtschaft
Prag) an AA am 4.7.1929,
AA K 1773/K
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wir vernünftig sind 111). Koch bewertete diese Äußerungen als ein "geringschätziges Urteil über die Hilfe des reichsdeutschen Bruders" angesichts der materiell-finanziellen Unterstützungen durch das Reich, angesichts der Tatsache, daß das Reich in den letzten fünf Jahren etwa 600 000 Mark für sudetendeutsche Zwecke "a fonds perdu" gegeben und viele Millionen zur Aufrechterhaltung sudetendeutscher Bankunternehmen aufgewandt habe 2). Er riet daher dem Auswärtigen Amt, eine früher befürwortete finanzielle Zuwendungfür den landund forstwirtschaftlichen Zentralverband für Böhmenabzulehnen. waren die aktivistischen ~linister gew~ßnicht repräsentativ für das gesamte Sudetendeutschtum, doch ist bemerkenswert, daß der überwiegende Teil der ~1inderheit den staatsbejahenden Parteien bei den Parlamentswahlen am 27. Oktober 1929 seine ZustiIIIllunggab, obwohl die bisherige deutsche Beteiligung an der Regierung minderheitenpolitisch ohne Erfolg geblieben war. Eine Erfolgsbilanz nach drei Jahren deutsch-tschechischer Zusarrnnenarbeit in der Regierung konnte eher Benesch aufweisen, dessen Vorstellungen von der Lösung des ~Jinderheitenproblems in seinem Lande sich zu realisieren schienen, glaubte der Außenminister jetzt doch erreicht zu haben, "daß eine endgültige Regelung der ~linderheitenfrage die Grundlage unserer nationalen Revolution nicht berühren kann. Die Minderheitenfrage wird vollständig entpolitisiert und ein technisch-administratives Problem werden113). Nun
5. Ausblick und Ergebnis In den folgenden Jahren bis zum Ende der Weimarer Republik blieb das grundsätzliche Verhältnis Reich - Sudetendeutschtum unverändert. Auch nach Hitlers Machtübernahmetrat kein schlagartiger Wandel ein, wenngleich die sudetendeutsche Minderheit nun von der nationalsozialistischen Volkstumspolitik erfaßt wurde und an die Stelle der bisher praktizierten Nichteinmischung das Prinzip der direkten Einflußnahme trat 4) •. Solange es den Sudetendeutschen an innerer Geschlossenheit und an einem klaren, verbindlichen Programmfehlte, 1) Koch an AA am 31.5.1929,
AAL 437/L 130 240 f.
2) Ebd.
3) In einer
Rede in Mähr.0strau,
lt.
"Vossische
Zeitung"
vom 21.10.1929.
4) Aufzeichnung Hüffer vom 28.6.1934 über eine Besprechung betr. deutsche Fragen, AA 6144/E 459 633 f,
sudeten-
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hätte ein direktes Einwirken zu ihren Gunsten, wenn es wirksam sein sollte, ohnehin nur in massiver Fonn geschehen können und eine Konfrontation mit der Tschechoslowakei zur Folge gehabt, die man auf reichsdeutscher Seite "'ie vor 1933,so auch in den ersten Jahren nach Hitlers Jv!.achtübernahme nicht riskieren wollte. Noch Ende 1934 gab der Gesandte Koch einen höchst anschaulichen Bericht von den inneren Verhältnissen in der sudetendeutschen Minderheit, der so wie seine friihere Berichterstattung darauf hinauslief, dem Reich Zurückhaltung zu empfehlen 1). Dieser Bericht befaßte sich mit einem Streit um die Deutsche Universität in Prag, in dem es zunächst nicht um materielle Rechte, sondern um ideelle Güter ging. Nach einem Gesetz aus dem Jahre 1920 gebührte der historische Titel "Karls-Universität" lediglich der Tschechischen Universität in Prag. Damals hatte man den Deutschen aber die Insignien der Karls-Universi tät gelg5'sen, offenbar, um sie nicht unnötig zu verletzten. Erst 14 Jahre später, als ein Chauvinist Rektor der Tschechischen Universität wurde, bestand man auf dem Buchstaben des Gesetzes und verlangte eine Auslieferung der Insignien, was einer symbolischen Kränkung der Deutschen gleichkam und nicht weniger als eine Verletzung materieller Rechte Leidenschaften entfachte. Zudem wurden im Verlaufe der Auseinandersetzung Gebäude und Seminarräume der Deutschen Universität von Tschechen beschädigt. Als Gegenmaßnahme wurde auf deutscher Seite in Minderheitenkreisen - so durch den Volkstumspolitiker Hasselblatt - angeregt,' dem Völkerbund eine Beschwerde über die konkreten Vorgänge oder eine neue allgemeine Eingabe über die Lage der sudetendeutschen Minderheit vorzulegen. Wie Koch berichtete, zeigte jedoch schon die Besprechung mit Hasselblatt, daß ein solcher Schritt eher dazu geeignet war, die Nationalitätenpolitik der tschechoslowakischen Regierung in ein günstiges Licht zu setzen und somit einen anderen als den gewünschten Effekt zu erzielen. Denn auf diese Weise hätte Benesch dem staunenden Ausland vor Augen führen können, "eine wie glückliche Minorität doch die Sudetendeutschen sind, die drei Hochschulen ihr eigen nennen! Was spielen demgegenüber die Frage der Insignien und ähnlicher Dinge für eine Rolle! Das sind doch Schmerzen eines lokalen Fetischismus, mit den kühlen Augen des fernen Auslands betrachtet 112 ). Auch für eine allgemeine - sicher berechtigte - Beschwerde fehlte es an der ersten Voraussetzung: daß die Minderheit nachdrücklich versucht hätte, sich im eigenen Land Gehör zu verschaffen. Koch nahm diese Vorfälle zum Anlaß, allgemein seinen Unmutüber die Entwicklung der sudetendeutschen Frage zu äußern, 1) Geh.Bericht 2) Ebd.
Koch an AA vom 30,11.1934,
AA 9127/E 642 097-103.
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mit der unausgesprochenen Konsequenz, daß das Reich in dieser Frage eigentlich gar nichts tun könne: •~1an muß schon ein gelernter Sudetendeutscher sein, um die Seltsamkeit der hiesigen Lage zu verstehen. Die Deutsche Universität wird, ohne äußeren Anlaß, auf das schwerste in ihren Gefühlen gekränkt - und ein deutscher Minister, der selber Professor dieser Universität ist, dessen Seminar man dabei kurz und klein schlägt, sitzt seelenruhig im Ministerrat und bleibt drin sitzen. Die Deutschen werden tagtäglich in ihren Rechten geschmälert, und zwei deutsche Minister arbeiten im Ministerrat einträchtig mit den tschechischen Ministern zusammen.Und die sudetendeutsche Öffentlichkeit und Presse erhebt sich nicht etwa gegen die beiden Minister und verlangt deren Ausscheiden; nur im kleinen Kreise spricht man über sie achselzuckend und geringschätzig. Auf diese Dinge kann sich allenfalls ein gelernter Sudetendeutscher, wie gesagt, einen Vers machen; für den Völkerbundsrat ist das zuviel. Er wird eine Beschwerde kopfschüttelnd weglegen, zumal die Sudetendeutschen dort nach dem Austritt des Reiches ihren einzigen Fürsprecher verloren haben. Wer sollte übrigens eine solche Beschwerde einreichen? Den nötigen Auftrieb dafür hätte heute allein die Henlein-Front. Die wird sich aber wohl hüten; für sie wäre ein solcher Schritt nur ein Nagel mehr zu ihrem längst vorbereiteten Sarge111 ). - Es bedarf wohl kaum eines deutlicheren Zeugnisses dafür, daß die spätere krisenhafte Zuspitzung der sudetendeutschen Frage und die massive Intervention des Reiches sich weder aus den Bedürfnissen der Sudetendeutschen erklären lassen, noch etwas mit der bisherigen deutschen Minderheitenpolitik gemein hatten, sondern in einem Zusammenhangmit weiterreichenden politischen Ambitionen standen. Der Hinweis auf die innere Situation des Sudetendeutschtums reicht freilich nicht aus, um die Zurückhaltung der Weimarer Republik gegenüber der größten deutschen Volksgruppe - im Zeichen einer aktiven Minderheitenpolitik - zu begründen. Berlin vermied im übrigen ja auch nicht nur eine politische Einwirkung, sondern hielt gelegentlich sogar eine allgemeine propagandistische Unterstützung sudetendeutscher Interessen für unzweckmäßig. Der führende sudetendeutsche Sozialdemokrat Wenzel Jaksch stellte auf Grund eigener Erfahrungen fest, daß sich die Weimarer Demokratie am Schicksal der Sudetendeutschen so gründlich desinteressiert habe, wie sie nur konnte. Es sei z.B. nicht möglich gewesen, in der sozialdemokratischen Presse Deutschlands einen Arti1) Ebd.
-
ZbZ -
kel über die Beschwerden der Sudetendeutschen unterzubringen 1). - Statt dessen befürwortete das Reich ein Arrangement der Sudetendeutschen mit ihrem Staat, das zugleich als Entlastung für die deutsche Pali tik empfunden wurde. Demsteht das massive Eintreten der deutschen Regierllllgen für die Rechte lllld Interessen des Deutschtums in Polen gegenüber. Gewiß lag dies auch daran, daß die objektiven Voraussetzllllgen der beiden Minderheiten verschieden waren: Die Deutschen in Polen standen als ehemalige deutsche Staatsangehörige in engerer Beziehllllg zum Reich als die deutsche Minderheit in der Tschechoslowakei, sie waren zudem im Unterschied zu dieser in ihrer Existenz als Volksgruppe gefährdet und damit schutzbedürftiger. Dennoch läßt sich der Unterschied im Verhältnis des Reiches zu den beiden Minderheiten nicht allein hiermit erklären, zumal es für die Minderheit in Polen ja auch Phasen einer relativen Konsolidierung gab. Entscheidend ist, daß im deutsch-polnischen Verhältnis das Interesse des Reiches an den Deutschen in Polen Vorrang besaß, während in den deutsch-:tschechoslowakischen Beziehllllgen die Minderheitenfrage lllltergeordnet war lllld, insofern es im Interesse dieser Beziehllllgen lag, von Berlin vernachlässigt wurde. Wennes im Auswärtigen Amt, namentlich im Zusannnenhangmit den Erörterungen vor dem Völkerbund 1929, als ein Hauptziel der deutschen Minderheitenpolitik bezeichnet wurde, die Wundeoffenzuhalten und dabei den Finger vor allem auf den originären Zusannnenhangzwischen Minderheitenschutz lllld Territorialordnllllg zu legen, so stand dahinter das Ziel, eine Konsolidierung der Grenzen im Osten zu verhindern, lllld bezog sich insofern lediglich auf Polen. Der als nur vorläufig betrachteten deutsch-polnischen Grenze stand die ganz andere Qualität der deutschen Grenze zur Tschechoslowakei gegenüber, die im Auswärtigen Amt gelegentlich als llllter nationalitätenpolitischem Gesichtspunkt geradezu vorteilhaft bezeichnet wurde. Als Anfang 1931 die Sächsische Gesandtschaft in Berlin Berichte der Kreishauptmannschaft Bautzen vorlegte, denen zufolge die sächs,~schen Grenzgebiete durch das Tschechentum bedroht seien, lllld das Reichsministerium des Innern um Veröffentlichllllg dieses Materials bat, erhob das Auswärtige Amt gegen dieses Vorhaben schwere außenpolitische Bedenken: Die Gesamttendenz der Berichte, wonach Sachsen durch das Tschechentum aktuell gefährdet sei, könne auf die mit den Verhältnissen in den Grenzgebieten vertrauten Kreise keinen Eindruck machen. "Die deutsch-tschechische Grenze llllterscheidet sich von anderen Teilen der deutschen Grenze gerade dadurch, daß das Deutschtum weit über die Grenze in staatsfremdes Gebiet hinübergreift und dort 1) Jaksch,
a.a.O.,
S. 237,
- 263 als ein der Grenze vorgelagertes natürliches Bollwerk gegen das Vordringen des Tschechenturns wirkt" 1) • Als kritischer Punkt wurde allein die Grenze im Osten angesehen: ''Wowie im Osten des Reiches Staatsgrenze mit Volksgrenze zusannnenfällt, besteht die llllrnittelbare Gefahr einer Bedrohllllg deutscher Grenzgebiete, gegen die wir uns auch vor der Öffentlichkeit zur Wehr setzen müssen". Diese Abwehr aber.und die Propaganda der Reichsregierung über die Unhaltbarkeit der Grenzziehllllg im Osten würden, so lautet die Schlußfolgerung, schwer beeinträchtigt werden, wenn die von sächsischer Seite vorgelegten Berichte veröffentlicht würden. Insgesamt verfolgte das Reich in der Frage der sudetendeutschen Minderheit nicht die Taktik ,des Offenhaltens, sondern befürwortete einen inneren Ausgleich und eine KonsolidieTllllg, entsprechend seinem starken Interesse an gepflegten Beziehllllgen zur Tschechoslowakei, das offenbar von den politischen Ambitionen der deutschen Politik gegenüber Österreich mitbestinnnt war. Auf diesen Zusannnenhangweist z.B. die Begründllllg, mit welcher der Gesandte Y,0ch in einem Bericht an das Auswärtige Amt aus dem Sonnner1931'davon abriet, die finanzielle Unterstützung des Deutschpolitischen Arbeitsamts in Prag zu verstärken, obwohl dieses als einziger Kristallisationspunkt für das zersplitterte Parteiwesen große Bedeutllllg besaß: Der Gesandte begründete sein Votum u.a. mit dem Verhalten der Sudetendeutschen gegenüber politischen Interessen des Reiches wie der Zollunion mit österreich 2). Manwußte auf deutscher Seite auch, daß es politische Kreise in der Tschechoslowakei gab, die den Anschluß österreichs an Deutschland für unvenneidbar hielten und ihn - so der Gesandte Krofta - für mindestens so lange hinauszuschieben wünschten, "bis die innenpolitische Lage des tschechischen Nationalstaates gefestigt sein wird" 3). Solche Bemerkungenkonnten demAuswärtigen Amt durchaus als Bestätigllllg dienen, daß Zurückhaltllllg in der sudetendeutschen Frage den allgemeinen Interessen des Reiches am meisten diente. Schließlich vertritt auch der ehemalige Direktor der Minderheitenabteilllllg im Sekretariat des VölkerbIB1desAzc~rate die Auffassung, daß das reichsdeutsche Desinteresse an den Sudetendeutschen auf das Bestreben nach guten Beziehllllgen zur Tschechoslowakei zurückzuführen sei, daß man dieser wiederum wegen der Arnbitionen gegenüber Österreich bedurft habe4). 1) Köpke an das Reichsministerium 613-616. 2) Koch an AA am 3.7.1931, 3) So Krofta
in der Pilsener
4) Azcarate,
a.a.O.,
des Innern am 19.5.1931,
AAL 437/L 130
AA K 91/K 009 551 f.
S. 38 f.
Rede von 1926, s. oben
s~ 247
Anm. ).
- ZM -
Azcärate lmiipft daran eine allgemeine Bemerkung, die auch für unseren Zusammenhangwichtig ist: daß die Minderheitenfragen stets mehr oder weniger mit der allgemeinen politischen Entwicklung verlmi.ipft gewesen seien. Gewiß wurde von amtlicher deutscher· Seite die kulturelle Verbindung zu den Deutschen in der Tschechoslowakei betont, wurden die Sudetendeutschen materiell und finanziell unterstützt; das freilich war das Minimum,das um der Glaubwürdigkeit der deutschen Minderheitenpolitik willen unerläßlich war. Aber politische Bedeutung besaß das sudetendeutsche Problem für die reichsdeutsche Politik im Hinblick auf die Beziehungen zur Tschechoslowakei, nicht dagegen als Problem sui generis. Daraus ergeben sich natürlich auch Rückschlüsse auf die allgemeine deutsche Minderheitenpolitik. Dort,wo sie aktiv war, galt sie vor allem der deutschen Minderheit in Polen, und auch hier stand sie unter dem Vorrang eines übergeordneten politischen Zieles: der Revision der Grenze.
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-
VI. Teil: Die Minderheitenfrage als Aufgabe der deutschen Politik nach Stresemann und als europäisches Problem 1930-1932 1• Die Zwischenfälle in Polen im November 1930 und ihre Behandlung im Völkerbund Die aktive deutsche ~linderheitenpolitik hatte sich bisher vor allem dem grundsätzlichen Problem des Minderheitenschutzes gewidmet und eine Exemplifizierung auf konkrete Fälle vermieden. Das lag im Wesen dieser Politik begründet, ergab sich nicht zuletzt aber auch aus der Struktur des internationalen Minderheitenschutzsystems, in dem konkrete Fälle nur selten vor den Rat und damit zu einer allgemeineren politischen Bedeutung gelangten, sondern meistens hinter den verschlossenen Türen der Dreierkomitees verhandelt wurden. Soweit es sich dabei um vorwiegend juristische Probleme handelte, waren sie auch kaum geeignet, eine breitere Resonanz in der Öffentlichkeit hervorzurufen. Ganz anders die Fälle reinen Terrors, wie sie besonders die Situation· in Oberschlesien kennzeichneten, wo iIIIller wieder - im Zeichen einer "blutenden Grenze" - Leben und Sicherheit der Minderheitsangehörigen gefährdet waren. Zu größerer politischer Bedeutung gelangten solche VorkoillIIIlissefreilich nur dann, wenn sie den Rahmenindividueller Ausschreitungen überschritten und weite Kreise der Minderheit erfaßten. Von solcher Art waren die Zwischenfälle im November 1930 anläßlich der Parlamentswahlen in Polen. Sie verdienen in unserem ZusamnenhangAufmerksamkeit vor allem deshalb, weil sie die Reichsregierung nach Stresemanns grundsätzlicher Initiative von 1929 veranlaßten, zum ersten Male in einem konkreten Fall vor den Völkerbund zu treten, und dieser Schritt im Auswärtigen Amt als grundsätzlich bedeutend mit der Logik der allgemeinen deutschen Minderheitenpolitik begründet wurde. Die Vorgänge waren offenkundig und wurden auch von der polnischen Regierung nicht bestritten 1): Der deutschen Minderheit war die Ausübung des Wahlrechtes in empfindlicher Weise erschwert worden;. Tausenden wurde durch schikanöse Handhabungvon Formalien die Eintragung in die Wahlerliste mit der Begründung streitig gemacht, sie besäßen nicht die polnische Staatsangehörigkeit 2). Gegen diese Maßnahmeblieb den Wahlern nur die Möglichkeit, binnen drei Tagen 1) S. dazu Kaeckenbeeck,
a.a.0.,
S. 239 ff.
2) Die deutsche Note führte allein für Kattowitz von 30 000 solcher Einsprüche an.
und Königshütte
die Zahl
- 266 -
die polnische Staatsangehörigkeit nachzuweisen. Dabei wurden ihnen die größten Schwierigkeiten bereitet, indem polnische staatliche Dokt.nnente(Reise-, Militärpässe etc.) nicht anerkannt, Staatsangehörigkei tsbescheinigtmgen im engeren Sinne aber so spät ausgestellt wurden, daß die Fristen verstrichen. Bei der Ausübung des Wahlrechts schließlich mußten die Angehörigen der Minderheit vielfach den gesetzlich zugesicherten Schutz vermissen, so also z.B. auf geheime StinDnabgabeverzichten. Diese Beeinträchtigtmgen betrafen auch die Deutschen in Posen und Pornrnerellen, das Element von Terror und Gewalt beschränkte sich im wesentlichen auf Oberschlesien, wo vor allem der Insurgentenverband durch massives Auftreten die Wähler einzuschüchtern und so die Wahl zu beeinflussen suchte. Es handelte sich dabei nicht um eine zentralgesteuerte Kampagne, sondern um Schikanen auf regionaler Ebene, die aber schon lange vor den Wahlen eingesetzt hatten, z.B. in Zusammenarbeit mit den Behörden, z.T. von diesen geduldet. Bedeutung gewannen die Aktionen der Insurgenten nicht zuletzt dadurch, daß viele hohe Beamte führende Mitglieder des Verbandes waren, der WoiwodeGrazynski sogar den Ehrenvorsitz innehatte. Die Schwere der Vorkommnissemachte Gegenaktionen der deutschen Regierung geradezu zwangsläufig, war doch die öffentliche Meinung in Deutschland stark erregt worden. Es wirft ein eigentümliches Licht auf die Spontaneität des deutschen Schrittes wie überhaupt der deutschen ~ti.nderheitenpolitik nach Stresemanns Tod, wenn Staatssekretär v. Bülow gegenüber dem Gesandten Rauscher ein Eingreifen der Reichsregierung u.a. mit dem starken innenpolitischen Druck begründete und im Rahmender allgemeinen deutschen Minderheitenpolitik einen etwas deutlicheren Schritt von deutscher Seite - in Fortführung der Stresernannschen Initiative - als "unumgänglich nötig" erachtete1). Weniger spontan, mehr gezwungenennaßenentschloß sich das Auswärtige Amt daher zu dem "ungewöhnlichen Schritt" diplomatischer Demarchen im polnischen Außenministerium 2). Ober seine Unterredung in dieser Angelegenheit mit Zaleski berichtete Rauscher, sie habe zu den schwierigsten gehört, die er je habe führen rnüssen3). Denn mit einer solchen direkten diplomatischen Aktion geriet die deutsche Politik - und dagegen richteten sich auch Rauschers Bedenken - in den Verdacht der 1) Erlaß Bülow an Rauscher vom 18.11.1930, Auch Erlaß Bülow an Rauscher vom 6.11.1930, AA 1 683/1 216 380-383 bzw. 1 216 364-366. 2) Ebd, 3) Rauscher an AA am 8.11.1930 1 216 371-376.
über eine Unterredung
mit Zaleski,
AA 1 683/
innerpolitischen Ingerenz, die im Ergebnis eher "strafverschärfend" wirken konnte. Auf diesen Punkt legte vor allem Zaleski den Finger: "Innen politische Maßnahmenkönnten nicht einmal als Gesprächsstoff dienen bei einer Unterhaltung zwischen dem polnischen Außenminister und dem diplomatischen Vertreter einer fremden Macht111). Bei der Erörterung der konkreten Punkte wurde Rauscher mit einem für den Minderheitenschutz grundsätzlichen Problem konfrontiert: Zaleski erklärte, daß die Deutschen prozentual am wenigsten von den Ausschreitungen betroffen seien. Zwangsläufig ergab sich daraus die Frage, ob, wenn auch andere Bevölkerungsteile, nicht nur die nationalen Minderheiten, sondern z.B. auch die Linksopposition, bedrängt wurden, ja wenn, wie Rauscher schrieb, "ein ganzes Land diesen nicht rumänischen, sondern echt polnischen Praktiken unterworfen wird 112), die angeführten Vorkommnissenoch rninderheitenpolitisch relevant waren. Bedurfte es hier nicht erst in jedem einzelnen Fall eines Nachweises, ob ein Geschädigter qua Minderheitsangehöriger geschädigt worden war? Dieser Auffassung konnte man z.B. auch im Sekretariat des Völkerbundes begegnen; sie ging von dem Grundsatz aus, daß nicht absolute Kriterien, sondern die allgemeinen rechtlichen Verhältnisse des jeweiligen Landes den Maßstab auch für die Behandlung der Minderheiten lieferten 3). Demstand jedoch entgegen, daß sich Polen in der Präambel des Minderheitenvertrages eindeutig auf die "principes de liberte et de justice" festgelegt hatte, so daß es , worauf Bruns in einem Brief an Außenminister Curtius mit Recht hinwies, nicht durch beliebige Herabsetzung seines innerstaatlichen Rechtszustandes jeden Minderheitenschutz illusorisch machen durfte 4). Denn die Grundsätze des internationalen Minderheitenschutzes und nicht die innere Rechtslage waren bei der Beurteilung der Frage maßgebend, ob und inwieweit Minderheiten geschädigt worden waren, waren die Minderheitenverträge den neuen Staaten doch vor allem auferlegt worden "in der Erkenntnis, daß die nationalitätenpolitische Situation des neuen Osteuropa die schwersten Gefahren für ein Absinken des allgemeinen Rechtsniveaus in sich birgt"S). 1) Aufzeichnung Rauscher über die Unterredung 1 683/1 216 377-379, 2) Rauscher an AA am 8.11.1930,
mit Zaleski
5) Ebd.
AA
a.a.0.
3) Bruns an Curtius am 15.1.1931 über eine Unterredung 238/K 068 814-817, 4) Ebd.
vom 8.11.1930,
mit Azcarate,
AA K
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Da die polnische Seite keine Bereitschaft zu einem Gespräch zeigte, entschloß sich die Reichsregierung, den Völkerbund anzurufen. In drei Noten (vom 27. November, 9. Dezember und 17. Dezember 1930) machte sie auf die Vorgänge in Oberschlesien und Posen/Ponnnerellen aufmerksam lmd beantragte, die Angelegenheit auf die Tagesordnlmg der nächsten Ratssitzung zu setzen. Sie erwog zunächst sogar unter dem Druck der öffentlichen Meinung, die sofortige Einberufung des Völkerbundsrats zu verlangen, sah aber davon ab, da ohnehin nur eine kurze Frist bis zur nächsten ordentlichen Ratstagung (im Januar 1931) bestand1). Die deutschen Noten richteten sich vor allem gegen die reinen Terrorfälle. Was die eigentlichen Wahlmodalitäten betraf, so hatte Rauscher diese als für eine Beschwerde in Genf lmverwertbar bezeichnet, da es für sie innnerhin gewisse formaljuristische Erklärungen gebe. Denn in diesen Punkten hätte der deutsche Protest Maßnahmenverurteilen müssen, die nach Rauschers Auffasslmg eine Grundlage für den Existenzkampf der Regierung.Pilsudski waren2). Der deutsche Schritt war insofern bedeutend, als die Reichsregierung damit zum ersten Mal lillmittelbar lmd amtlich als Protektor der deutschen Minderheiten vor den Völkerblmd trat, nachdem sie bisher nur mittelbar für diese eingetreten war, indem sie von den Minderheiten selber ausgehende Beschwerden inspiriert lmd unterstützt hatte. Der Bedeutung des Vorgangs entsprechend, ließ das Auswärtige Amt in gleichzeitigen diplomatischen Demarchenbei den Regierungen in Paris, London, Rom, ~ladrid, Dublin und Oslo durchblicken, daß die Eingaben nach deutscher Auffassung weit über den Rahmenbisheriger Minderheitenbeschwerden hinausgingen und die Angelegenheit in gewissem Sinne ein Prüfstein für den Wert des internationalen Minderheitenschutzes, ja überhaupt des Völkerbundes sei 3). Denn Curtius gab seinem britischen Kollegen Henderson, der an seiner Stelle den Vorsitz auf der Ratstagung übernehmen sollte, zu verstehen, "daß die deutsche Völkerbundspolitik in eine sehr heikle Lage kommenwürde, wenn der Völkerbundsrat dem deutschen Standpunkt hier1) So lt. vertraul. Erlaß Curtius an die Deutschen Botschaften don, Rom, Madrid vom 28.11.1930, AA 3147/D 661 662-665. 2) Rauscher
an AA am 22.11.1930,
in Paris,
Lon-
AAL 683/L 216 391-393.
3) Erlaß Curtius an Deutsche Botschaft London vom 23.12.1930, AAL 683/Bd.28. Andere Erlasse in dieser Sache: Am 19.12.1930 an die Deutschen Botschaften in Paris, London, Rom, Madrid, AAL 683/L 216 425-427; am 24.12.1930 an die Deutschen Botschaften in Rom und Madrid und die Deutschen Gesandtschaften in Oslo und Dublin, ebd./L 216 429-434.
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bei nicht Rechnung tragen würde111). Mit dieser Warnungwollte die Reichsregierung nun allerdings nicht ernsthaft einen Austritt Deutschlands aus dem Völkerbund in Aussicht stellen. Der deutsche Botschafter in London v.Neurath hatte in seiner Demarche bei Henderson stark in diesem Sinne argumentiert, ohne genau zwischen den Tendenzen der öffentlichen Meinung und den Absichten der deutschen Regierung zu differenzieren,und seinen Gesprächspartner damit besonders beeindruckt. Neurath schien es auf Grund dessen angezeigt, diesen Gesichtspunkt in der Presse zu ventilieren, um damit Hendersons Verhalten in Genf im deutschen Sinne zu stärken; denn er meinte, daß die Gefahr eines Austritts Deutschlands aus dem Völkerbund der britischen Labour-Regierung außerordentlich schaden würde2). Eine solche amtliche Einwirkung lehnte Curtius jedoch aus allgemeinen außenpolitischen Überlegungen ab: Gerade am Beispiel Italiens zeige sich ihm, daß die einer Erstarrung der Verhältnisse in Europa opponierenden Länder allen Anlaß hätten, nicht den Völkerbund zu verlassen, sondern ihren Einfluß dort zu stärken. Einen Austritt hielt er Illlr bei den Staaten für politisch verantwortbar, "die nur zeringe europäische Interessen haben oder solche(n), die außerordentliche eigene Kraftquellen besitzen und ungefährdet eine isolierte Stellung einnehmen können113). Im Hinblick auf die öffentliche
Meinung in Deutschland lmd die möglichen Schäden für die deutsche Völkerbundspolitik, damit auch für die deutsche Außenpolitik überhaupt, ließ die Reichsregierung keinen Zweifel, daß sie sich nicht mit einem Ergebnis nach Art der bisherigen Praxis des Völkerbundes würde begnügen können, etwa in dem Sinne, daß die polnische Seite ein gewisses Entgegenkonnnenzeigte und der Völkerbundsrat sich dann darauf beschränkte, die diesbezügliche Mitteilung der polnischen Regierung mit einigen Worten des Vertrauens für die künftige Behandllmg der Minderheit zur Kenntnis zu nehmen4). Zwar verzichtete die deutsche Eingabe auf einen detaillierten Antrag, 5 dennoch verband sich mit ihr ein klares Prograrnm): 1. Der Rat solle sich für eine Bestrafung der Schuldigen und die Wiedergutmachungder Sachschäden aus1) Erlaß
Curtius
an die Deutsche
2) Neurath an AA (Tel.)
Botschaft
am 31.12.1930,
London vom 23,12.1930,
a.a.O.
AA 3147/D 661 696 f,
3) Erlaß Curtius an die Deutsche Botschaft London vom 3.1.1931, AA 3147/D 661 710. 4) So Curtius im Erlaß an Deutsche Botschaft London vom 23,12.1930, a.a.O., mit der Weisung an den deutschen Botschafter, in diesem Sinne bei Henderson vorstellig zu werden. 5) So lt.
AA-Erlassen.
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sprechen sowie das Verhalten der polnischen Behörden ausdriicklich mißbilligen, so daß es auch für die Öffentlichkeit klar werde, daß sich der Völkerbund mit Nachdruck der Minderheiten annehme. 2. Bestimmte allgemeine für die Situation in Oberschlesien entscheidend mitverantwortliche Faktoren sollten beseitigt, so vor allem Maßnahmengegen den Insurgenten-Verband ergriffen werden. 3. Zur Bekräftigung dessen solle der Rat in einer grundsätzlichen Erklärung die strikte Beachtung der Minderheitenrechte fordern. zeigte sich bald, daß die als alarmierend empfundene Sprache der deutschen Presse und die ernsten Vorstellungen der Reichsregierung in Genf und in den europäischen Hauptstädten nicht ohne Eindruck blieben 1). Selbst Briand stellte die Berechtigung der deutschen Beschwerde nicht in Frage, wenngleich er gewisse Bedenken gegen die deutschen Ziele äußerte, da der Völkerbund nicht darauf eingerichtet sei, daß ein Staat einen Erfolg über einen anderen vor_ dem Völkerbundsrat davontrage, da ihm auch der Gedanke einer Mißbilligung oder Rüge fremd sei 2). Indirekt gab er damit zu verstehen, daß er im Minderheitenschutz noch wie im "alten System" einen vorwiegend zwischenstaatlichen Vorgang sah, mit all den negativen politischen Konsequenzen, die zu vermeiden gerade der Sinn des 1919 eingerichteten internationalen Minderheitenschutzsystems war. Es
Voraussetzung für ein Vorgehen des Völkerbundes war natürlich die Verifizierung der Fakten, für die eine neutrale Untersuchungskommission am nächstliegenden gewesen wäre. Um der polnischen Regierung ein solches internationales Eingreifen in die inneren Verhältnisse ihres Landes zu ersparen, empfahl ihr der französische Verbündete, sofort eine Untersuchung in eigener Verantwortung einzuleiten und zu ihr eine neutrale Persönlichkeit hinzuzuziehen 3). Man war hier also um ein möglichst glattes Ergebnis der Verhandlungen in Genf be1) a) Renthe-Fink an Weizsäcker 3147/D 661 704-707.
am 1.1.1931 über die Reaktionen
in Genf, AA
b) Ganz geh.Tel. Schubert (Rom) an AA vom 31.12.1930 über eine Unterredung mit dem ital. Außenminister Grandi, der eine konkrete Unterstützung des deutschen Schrittes zusagte, ebd. /D 661 699. c) Über deutsche Presseäußerungen Bericht Rumbold an Henderson vom 5.1. 1931, F.O. 371/N 133/39/55.
2) Hoesch (Tel.) an AA am 31.12.1930 über eine Unterredung 3147/D 661 694 f. 3) Lt. Bericht 39/55.
Erskine
an das Foreign
Office
vom 30.12.1930,
mit Briand,
AA
F.O. 371/N 127/
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müht. Darauf zielte auch der Vorschlag des Direktors der Minderheitenabteilung im Völkerbundsekretariat Azcarate: Er bemühte sich um ein einvernehmliches Vorgehen mit dem polnischen Delegationsleiter und stellte in Aussicht, daß der Rapporteur den Bericht der polnischen Regierung über ihre Untersuchung zur Grundlage seiner dem Rat zu erteilenden Verfahrensvorschläge machen werde; allerdings hielt auch er die Beteiligung einer internationalen Persönlichkeit für ratsam, damit der polnische Bericht als Grundlage für eine Ratsresolution das nötige Gewicht erhalte 1). Obwohl der Empfindlichkeit der Polen damit in starkem Maße Rechnung getragen war, stellte sich die Regierung in Warschau auf ihren bekannten dogmatischen Standpunkt. Daß sie auch gegenüber einem von Frankreich koßilllendenVorschlag am absoluten Vorrang des Prinzips der staatlichen Souveränität festhielt, zeigte erneut, wie begrenzt die Möglichkeiten für einen wirksamen Minderheitenschutz waren. Außenminister Zaleski erwiderte auf die genannten Vorschläge, Polen könne nicht akzeptieren, was in Wirklichkeit einer neutralen Untersuchungskommission gleichkomme2). Offiziell reagierte die polnische Regierung auf die deutschen Noten in einem Brief an den Generalsekretär des Völkerbundes vorn 6. Januar 19313). Er ist in mancher Hinsicht bezeichnend für die historischen und psychologischen Faktoren, mit denen das deutsch-polnische Verhältnis belastet war und die sich natürlich vor allem in der Minderheitenfrage auswirkten: Zaleski veniahrte sich grundsätzlich gegen den deutschen Schritt, den er als eine mit dem Wesen des internationalen Minderheitenschutzes nicht zu vereinbarende politische Intervention brandmarkte. Besonders die zur Erörterung stehenden Vorkoßilllilisseschienen ihm gleichsam ein klassischer innenpolitischer Fall zu sein: Der Wahlmechanismussei ein integraler Bestandteil der nationalen Souveränität jedes Landes. Seine Überwachungliege im übrigen bei den Gerichten und sei so vor jedem administrativen Eingriff sicher. Eingehend auf die tatsächlichen Vorfälle,warf Zaleski ein Problem auf, das über den konkreten Fall hinaus von erheblicher Tragweite für das politische Schicksal der nationalen Minderheiten nach 1919 überhaupt war. Er stellte die 1) Azcarate schafter
an den zuständigen Völkerbunds-Rapporteur, den japanischen Sato am 26.12.1930, Abschrift in: F.O. 371/N 39/39/55.
2) Erskine an das Foreign Office am 30.12.1930, 3) VB (Ratsdokument) C.66.1931.I.
a.a.O.
Bot-
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Minderheit auf eine Stufe mit de-11 .. Ueineren politischen Parteien, deren Chancen gegenüber den großen politischen Gruppen "automatisch reduziert" seien "gemäß den Prinzi:i:>ien des Verhältnis-Wahlsystems". Diesem Argument entsprach die politische Erscheinung, daß infolge der engen Verbindung zwischen national-kultureller und politisch-sozialer Emanzipation in den neuen Staaten die demokratisch-parlamentarischen Kategorien von Majorität und Minorität auch die nationale Gruppierung der Staatsbevölkerung bestiI1111ten.Die Folge war Dauennajorisierung bei der alltä~lichen politischen Willens?ildung, die wiedeTIImbei den Minderheiten die Anfälligkeit für antiliberales, autoritäres Denken steigerte, Der "antidemokratische Affekt" der deutschen Minderheiten ist nicht zuletzt auf die hier begründeten Zweifel an der Brauchbarkeit des Parlamentarismus und der demokratischen Staatsfonn für den national gemischten Staat zuriickzuführen 1). Zaleski stellte aber immerhin die tatsächlichen Vorgänge nicht in Abrede, wenn er sich zu ihrer Erklärung historischer und aktueller Argumente bediente, die den Kläger belasten und ihn als Verteidiger von Minderheitenrechten disqualifizieren sollten: Die polnische Bevölkerung sei beeinflußt gewesen von der Erinnerung an die Leiden in der Zeit der deutschen Herrschaft, von der Existenz bestimmter Verbindungen der deutschen Minderheit zum Reich, der Unterdriickung der polnischen Volksgruppe in Deutschland, die von den einfachen Leuten in Polen nicht mit "rechtlichen Feinheiten" im Sinne des Völkerrechts beurteilt, sondern "instinktiv" mit der Forderung nach Gerechtigkeit beantwortet werde; schließlich könne die deutsche Minderheit auch nicht den Auswirkungen der Kampagne gegen die Integrität des polnischen Staates entgehen. Erst am Schluß des Memorandumsging der polPische Außenminister auch auf die konkreten Anschuldigungen ein. 1fahrend freilich die deutsche Eingabe eine ausführliche Darstellung gegeben hatte,mit Angaben von Namen, Ort und Zeit, beschränkte sich die polnische Seite darauf, entweder die deutschen Beschuldigungen pauschal zuriickzuweisen oder ihnen die einschlägigen polnischen Gesetzesvorschriften entgegenzuhalten, mit denen also offenbar Fakten geleugnet werden sollten. Natürlich war eine solche Erklärung für die Untersuchungstätigkeit des Völkerbundes ohne Wert. Sie kam angesichts der internationalen Bedeutung dieser Angelegenheit geradezu einer Briiskierung des Völkerbundes und der Großmächte 1) Vgl. dazu E. Viefhaus: "Nationale Autonomie und parlamentarische tie", in: Festschrift Schieder 1968, S. 377 ff., bes. S. 379.
Demokra-
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t.l
j
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durch Polen gleich. Dempolnischen Botschafter in London Skinnunt wurde deshalb mit scharfer Sprache erklärt, daß sich Polen, wenn es sich von irgendwelchen falschen Prestigeriicksichten leiten lasse, auf einen rauhen Wegin der Zukunft gefaßt machen müsse1) • Man muß für die Haltung der polnischen Regierung freilich in starkem Maße auch die Atmosphäre in Oberschlesien verantwortlich machen, i~ofern sie den Handlungsspielraum der Zentrale in Warschau erheblich einschränkte. Schon um ihre nationale Gesinnung von der innenpolitischen Opposition nicht in Frage stellen zu lassen, sah sich die Regierung z. B. den Insurgenten gegenüber zu einer Nachsicht gezwungen, die außenpolitisch kaum zu verantworten war. Demoberschlesischen WoiwodenGrazynski wurden im polnischen Außenministerium schwerste Vorwürfe gemacht2), ohne daß man es freilich wagte, ihn offen zu kritisieren oder aus dem Amt zu entfernen. Das Kernproblem, das jede Minderheitendiskussion überschattete, war für Polen die territoriale Integrität, und in dieser Frage durfte die polnische Regierung keine Nachgiebigkeit zeigen. Auf der Ratstagung am 21. Januar 1931 stand daher vor allem dieser Punkt zur Debatte 3). Zaleski wies dabei auf die stark beachtete Wahlrede des Reichsministers Treviranus vom 10. August 1930 hin, in der dieser mit leidenschaftlichen Worten eine Revision der deutschen Ostgrenze in Aussicht gestellt hatte 4), und machte sie für die Entfesselung der Leidenschaften in Oberschlesien verantwortlich. Es wurde damit abermals nur zu deutlich, daß die Minderheitenfrage in Polen so lange eine offene Wundebleiben mußte, solange die Grenzfrage nicht gelöst war, was umgekehrt wiederum den Absichten der Reichsregierung entgegenkam, die mit dem Hinweis auf die Situation der Minderheit den unbefriedigenden Zustand der Grenzziehung im Osten demonstrieren konnte. Denn Außenminister Curtius ließ auf der Ratstagung keinen Zweifel, daß eine Revision der Grenze das Ziel aller deutschen Regierungen und des deutschen Volkes sei, betonte allerdings , daß man die Revision mit friedlichen Mitteln anstrebe. Bezeichnenderweise kommentierte sein polnischer Kollege diese Erklärung mit der Bemerkung, daß damit die Sache der Minderheiten präjudiziert sei. 1) Aufzeichnung L. Oliphant(Foreign Office) mit Skirmunt, F.O. 371/N 197/39/55,
vom 9,1.1931
über die Unterredung
2) Mündl. Mitteilung von Dr. Jozef Zaleski (ehem.Ref. für Nationalitätenfragen im poln. Außenministerium) gegenüber dem Verfasser während eines Gesprächs in London am 28.7.1970. 3) Wiedergabe
der Debatte
4) Schultheß'
Europ.
in:
Nation und Staat
Geschichtskalender
4, S. 351 ff.
71, 8. 188 f.
-
L./4
-
Der am 24. Januar 1931 vorgelegte Ratsbericht ließ sich nicht auf Einzelheiten ein, sondern stellte lediglich fest, daß in zahlreichen Fällen Art. 75 und 83 der Genfer Konvention für Oberschlesien verletzt worden seien 1). Bezüglich der direkt Verantwortlichen wurde der polnischen Regierung zur Auflage gemacht, rechtzeitig vor der nächsten Ratssitzung einen vollständigen und detaillierten Bericht mit den Ergebnissen ihrer Untersuchungen vorzulegen. Die indirekt Verantwortlichen, also die Behörden, wurden aufgefordert, besondere Zurückhaltung zu üben und sich jeder Teilnahme an Nationalitätenkämpfen zu enthalten. Dementsprach die Forderung nach einem Abbruch der Verbindungen zum Insurgentenverband, von dem der Bericht erklärte, daß er nicht von einem der Versöhnung dienenden Geist beseelt sei. Allgemein wurde es für unerläßlich angesehen, "daß man bei der deutschen Minderheit in der Woiwodschaft Schlesien wieder ein Gefühl des Vertrauens enveckt, das unglücklichenveise tief erschüttert zu sein scheint ••• 11 • Die einstimmige Annahmedes Rapports durch den Völkerbundsrat bedeutete zweifellos einen Erfolg der deutschen Minderheitenpolitik, da er die Wünscheder Reichsregierung in entscheidenden Ptmkten berücksichtigte. Darüber hinaus war das Ergebnis auch für das internationale Minderheitenschutzsystem überhaupt 2 ungewöhnlich ): Der Rat hatte sich nicht damit begnügt, die Stellungnahmen der beiden Parteien zur Kenntnis zu nehmen und dann al];gemeine Wünscheund Envartungen für die Zukunft auszusprechen, also politisch unverbindliche Vermittlerdienste zu leisten, sondern Polen eindeutig schuldig gesprochen - eine Feststellung, die als solche ein Novumbedeutete. Vor allem empfand die deutsche Seite Genugtuung darüber, daß Polen konkrete Maßnahmenzur Auflage gemacht worden waren. Auch die Vertreter der deutschen Minderheiten äußerten sich befriedigt, nachdem nun eine Gelegenheit gegeben war, die Polen unter der Kontrolle des Völkerbundsrats zu halten, da sie Berichte vorlegen mußten3). 1) Art. 75 der Genfer Konvention für Oberschlesien bestimmte, daß a) alle Minderheitsangehörigen in Oberschlesien vor dem Gesetz gleich seien und die gleichen bürgerlichen und politischen Rechte wie die Mehrheitsbevölkerung hätten, b) gesetzliche und administrative Maßnahmen Angehörige der Minderheiten nicht benachteiligen dürften c) Angehörige der Minderheiten von den Behörden in gleicher Weise tatsächlich zu behandeln seien wie die Mehrheitsbevölkerung. Nach Art. 83 der G.K. mußte Polen (bzw. Deutschland) allen Einwohnern Oberschlesiens, ohne Unterschied der Partei, der Nationalität, der Sprache, der Rasse oder der Religion, vollen Schutz des Lebens und der Freiheit gewähren. 2) So die Wertung des Ergebnisses AA 3147/D 661 836-839. 3) Ebd.
durch Curtius
in Tel.
an AA vom 25.1.1931,
- 275 Entsprechend wertete die polnische Presse die Entscheidung nicht nur als eine Demütigung Polens vor dem internationalen Forum, sondern auch als Gefahr für die polnische Stellung im Ausland und als ersten Vorstoß Deutschlands in Richtung auf eine Grenzrevision 1). In gewisser Hinsicht zeigte das Ergebnis somit, welche Möglichkeiten das internationale Minderheitenschutzsystem immerhin bot, ja es konnte gleichsam als Modell für einen wirklich aktiven Schutz der Minderheiten angesehen werden: Der Völkerbundsrat verpflichtete die inneren Instanzen des Minderheitenstaates zu bestinmten Maßnahmenund mußte deren Ausführung zwar der betroffenen Regierung überlassen, gestaltete seine Auflage aber zu einer so unmißverständlichen Kundgebung, daß sich die Regierung ihr schwerlich hätte widersetzen können, ohne einen großen politischen Schaden in Kauf zu nehmen. Denn auch Briand beurteilte das Ergebnis als eine Verurteilung der Polen, wie sie bisher im Völkerbund noch nicht ausgesprochen worden sei 2). Zu diesem Urteil kam auch Curtius, wenngleich er im Ratsbericht noch hier und da "Genfer Jargon" bemängelte 3). Der günstige Eindruck wurde noch dadurch verstärkt, daß in der Schlußsitzung Henderson als Ratspräsident auf Bitten des deutschen Außenministers in feierlicher Form Völkerbund und Minderheitenstaaten an ihre Pflicht zum Schutz der Minderheiten gemahnte und erklärte, er hoffe, von nun an aber glaube er, "daß der heutige Tag den Anfang einer neuen .Ära bedeutet für die Entwicklung der Minderheitenfrage 114). In der Tat sah Curtius, wie er vor dem Auswärtigen Ausschuß des Reichstags ausführte, in der Genfer Entscheidung die Hoffnung begründet, daß mit ihr vielleicht eine Wendein der Minderheitenfrage eingetreten sei; man könne nicht absehen, welche Konsequenzen in Europa dadurch entstehen könnten. Ja, der Außenminister wertete das Ergebnis als "einen Einbruch in die starre Front", den es zu enveitern gelte 5). Man muß jedoch gegenüber solchen Würdigungen daran erinnern,
daß Charakter und Begleitumstände dieses Minderheitenfalls durchaus besonderer Art und daran sich anknüpfende allgemeinere Envartungen für die Zukunft nur bedingt berechtigt waren. Denn die Haltung des Völkerbundes bzw. der Großmächte war einmal davon beeinflußt, daß es sich bei·den von deutscher Seite vorgebrach1) Pressestimmen
wiedergegeben
in:
Nation und Staat
2) Aufzeichnung Curtius vom 25.1.1931 AA 3147/D 661 840-843, 3) Curtius
an AA am 25.1.1931,
4) S. Nation und Staat 5) Am 2.2.1931,
a.a.O.
4, S. 362.
AA 3147/D 661 923-925,
4, S. 363 ff.
Über eine Unterredung
mit Briand,
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ten Rechtsbrüchen um reine Terrorfälle handelte, die naturgemäß die Garantiemächte eher zum Eingreifen veranlaßten als die komplizierteren Beschwerdefälle, daß außerdem die Fakten ungewöhnlich manifest waren. Schon diese Voraussetzungen trafen aber nur für den geringsten Teil aller anfallenden Beschwerden zu. Dementspricht es ja auch, daß die Reichsregierung,in richtiger Einschätzung der Möglichkeiten ihre Beschwerde nicht auf die eigentlichen Vorgänge bei der Wahl gegründet oder gar Neuwahlen gefordert, sondern sich von vornherein auf die Terrorfälle beschränkt hatte. Einen wichtigeren Maßstab für die Bewertung der Ratsentscheidung gewinnt man aber, wenn man sich vor Augen führt, daß das Ausland über die Wirkung der Vorfälle in Oberschlesien auf die deutsche Öffentlichkeit erschreckt war und Sorgen im Hinblick auf die politische Entwicklung in Deutschland hatte. Der Rechtsruck, wie er besonders bei der Reichstagswahl im September 1930 deutlich geworden war, und das verstärkte Desinteresse am Völkerbund, ja das .Anwachsender Zahl der ausgesprochenen Vcilkerbundsgegner in Deutschland spielten deshalb in Genf eine große Rolle, nachdem auch die Reichsregierung mit Nachdruck auf ihre inneren Schwierigkeiten hingewiesen hatte. Die Michte sahen sich angesichts dessen Deutschland gegenüber zu einer Geste gezwungen, nicht um des Prinzips eines aktiven Minderheitenschutzes, sondern um des Ansehens des Völkerbundes willen. Bezeichnend dafür ist, daß man in Genf nach der Ratstagung mit Erleichterung die glatte Lösung einer für den V ö 1 kerb und entstandenen Schwie1 rigkeit konstatierte ). Auch insoweit erwies sich damit die Besonderheit dieses Ratsbeschlusses, die kaum Rückschlüsse für künftige Fälle erlaubte: Das völkerbundspoli tische Momentkonnte zwar im Zusammenhangmit einer konkreten politischen Situation ein brauchbares Instrument sein, andererseits aber von der Reichsregierung nicht nach Belieben als Druckmittel verwandt werden. Auch die praktischen Konsequenzen des Ratsbeschlusses zwangen zu einer nüchterneren Beurteilung. Mangels einer Exekutive war der Völkerbund auf das souveräne EntgegenkoJ1ID1en der polnischen Seite angewiesen, wobei allerdings der diplomatische Druck der Großmächte diesmal nicht unwirksam war. Zunächst jedoch schien man sich in Polen, zumindest auf regionaler Ebene, auf eine Haltung der Obstruktion festzulegen. So interpretierte die dem oberschlesischen Woiwodennahestehende Zeitung "Polska Zachodnia" das Ergebnis _der Ratstagung in einer Weise, die alles andere als eine Beherzigung der Resolution erwar1) Lt. vertraul. Bericht Völckers (Deutsche Völkerbundsdelegation) beck vom 30.1.1931, AA 3147/D 661 858 f.
an Reine-
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ten ließ l) : "Wir hatten gegen uns den formalen Wortlaut der Bestimrrnmgendes Genfer AbkoJ1ID1ens , ferner das Minderhei tsdoktrinärtum Englands , das sich, da es selbst von einer Verpflichtung zum Schutze der Minderheiten frei ist, umso leichter Gesten eines minderheitenbeschützenden LiberalisITillS leisten kann .•• Der polnische Staatsgedanke müßte tatsächlich in den Zustand einer vollkomiilenen Umnebelungund katastrophalen Ohnmacht fallen, um sich mit einem derartigen Programmin Schlesien einverstanden zu erklären •••• Ein solches 'Ideal' kann und wird sich jedOch niemals das seiner Ziele und Großmachtmission bewußte Polen zu eigen machen. • • • Denn wenn uns auch die Genfer 'Gerichte' keine Annehmlichkeit bereiten und unseren Stolz oftmals verletzen, werden wir trotzdem die Interessen des Polentums in Schlesien dem 'guten Ruf' in Genf nicht zum Opfer bringen". - Die Regierung in Warschau vermied natürlich, s:olche Ällßerungen, verhielt sich aber so, als betrachte sie die Angelegenheit mit dem Bericht der Januartagung des Völkerbundsrats als erledigt, obwohl es sich dort nur um einen Interimsrapport gehandelt hatte 2). Sowohl die britische wie die französische Regierung sahen sich deshalb zu energischen Vorstellungen in Warschau gezwungen, die polnische Regierung möge ernsthafte Schritte tun, um dem Ratsbericht Genüge zu leisten 3). Zaleski beantwortete diese diplomatische Intervention mit dem Hinweis auf die Opposition der Nationaldemokraten, die ihn wegen seiner nachgiebigen Haltung in Genf heftig angegriffen hitten 4). Immerhin ließ sich die Einleitung bestiJ1ID1terMaßnahmennicht umgehen. Das delikateste Problem war dabei die Frage der indirekt Verantwortlichen, weil hier die Souveränität des polnischen Staates am empfindlichsten berührt wurde. Insbesondere handelte es sich dabei um die Beziehungen der hohen Beamten, namentlich des Woiwoden, zum Insurgenten-Verband. In diesem Punkte mußte man die polnischen Maßnahmenals völlig unzureichend ansehen: Weder trat der Woiwode vom Ehrenvorsitz des Verbandes zurück, noch wurden entsprechende andere wirksame Maßnahmenim Sinne des Ratsbeschlusses eingeleitet. Die polnische Regierung hielt, in enger Auslegung einer Formel des Ratsberichts, wonach die Be1) Vom 29. 1,1931, zit. an AA vom 4.2.1931,
im Bericht Illgen (Deutsches AA K 238/K 069 230-232.
Generalkonsulat
Kattowitz)
2) Zaleski vor dem Senatsausschuß für Auswärtige Angelegenheiten am 4.2.1931; dazu Bericht Erskine an Henderson vom 11.2.1931, F.0. 371/N 1102/39/55, 3) Erskine an Henderson am 11.4.1931 über die Demarche bei Zaleski; ders. am 29.4.1931 über die Demarche des franz. Botschafters in Warschau bei Zaleski. F.0. 371/N 2426/39/55. 4) Ebd.
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hörden ihre Beziehungen Zlllll Insurgenten-Verband lösen sollten, "falls andere Mittel fehlen", gelegentliche verbale Beteuerungen des Woiwoden, daß die Minderheit "in einem sehr liberalen Geist und weit über die streng rechtliche Interpretation hinaus" geschützt werde, oder einen Appell an den InsurgentenVerband, der die Notwendigkeit einer Zusammenarbeit mit den Minderheiten betonte, für ein angemessenes Mittel im Sinne des Berichts 1). Grammatikalisch war gegen eine solche Interpretation nichts einzuwenden, der Sinn des Ratsbeschlusses war aber, wie im Foreign Office betont wurde, daß alle hohen Beamten in Oberschlesien ihre Verbindung zu den Insurgenten aufgeben sollten 2). Lediglich in der Frage der materiellen Entschädigungen wurde deutscherseits eine befriedigende Regelung vennerkt. Zur Frage der Gerichtsverfahren berichtete der deutsche Generalkonsul in Kattowi tz, die Untersuchungen der Ermittlungsbehörden wie auch die Arbeit der Gerichte seien nach Ansicht weitester Kreise der Minderheit wie auch des Präsidenten der Gemischten Kommission für Oberschlesien Calonder "nichts als eine grobe Komödie113) , lediglich bestinnnt, das Gesicht zu wahren. Der britische Vertreter meldete vorsichtiger, er ziehe es vor, sich des Konnnentars zu enthalten, wie weit die polnischen Maßnahmen auch dem Geist des Ratsbeschlusses entsprächen 4). Innnerhin war es schwerlich möglich, an diesem Teil der Erledigung des Ratsbeschlusses Kritik zu üben, da einem solchen Einspruch der international anerkannte Grundsatz von der Unabhängigkeit der Gerichte entgegenstand. Über ihre Maßnahmenlegte die polnische Regierung dem im Mai 1931 tagenden Völkerbundsrat einen 34 Großfolioseiten starken Bericht vor, machte ihn den Ratsmitgliedern jedoch erst am zweiten Tage der Sitzung zugänglich, so daß diese angesichts der Kürze der Zeit keine Möglichkeit hatten, sich noch während der laufenden Tagung ein Bild darüber zu machen, ob die Polen ihren Verpflichtungen nachgekonnnenwaren. Es hatte den Anschein, als beabsichtige die polnische Delegation, auf diese Weise die Ratsmitglieder zu übernunpeln. Sie strebte nämlich entschieden einen Abschluß der Angelegenheit auf der Maisitzung an und drohte sogar, "im Falle einer Vertagung der Angelegenheit würde die polnische Regierung die Verantwortung für neue Zwischenfälle und neue Spannungen im 'hannonischen Zusannnenleben' der polnischen Bevölkerung und der 1) Aufzeichnung des Leiters der Abt. IV im Ausw.AmtTrautmann ~om 7,5, 1931 AAK 238/K 096 571-578. . ' 2) Foreign · Office-Aufzeichnung (o.U.) vom 1viii.rz1931, F.O. 371/N 1684/39/55. 3) Illgen an AA am 18.4.1931, AA K 238/K 069 527-549. 4) MemorandumCollier vom 1.8.1931, F.O. 371/N 5490/39/55,
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deutschen Minderheit in Oberschlesien nicht übernehmen111). Unterstützt wurde Polen darin vom französischen Delegierten Fran~ois-Poncet, der erklärte, man wäre froh, wenn man für alle Punkte der Tagesordnung solch eine lange Frist zur Verfügung hätte 2), und eine Einigung auf der Grundlage des von dem japanischen Delegierten Yoshizawa ausgearbeiteten Ratsberichts befürwortete; dieser hatte lediglich die in dem polnischen Bericht angeführten Maßnahmenzur Kenntnis genommenund pauschal eine "wirkliche und endgültige Entspannung, sowie eine sehr merkliche. Besserung in den Beziehungen zwischen Behörden und Minderheit" konstatiert 3). Der Forderung des Januarberichts nach Auflösung der Bindungen zwischen den Behörden und dem Insurgenten-Verband glaubte der Rapporteur durch ein Rundschreiben des WoiwodenGenüge getan, in dem dieser die Starosten und Polizeidirektoren instruiert hatte, die Tatsache seiner Ehrenpräsidentschaft über den Insurgenten-Verband dürfe den Behörden keinen Vorwand liefern, einen solchen Verband zu unterstützen. -Begreiflicherweise war ein solches Ergebnis für die deutsche Regierung unannehmbar. Es zeigte sich hier, daß die an die Januartagung geknüpften Hoffnungen doch vo_reilig gewesen waren. Curtius beantragte deshalb eine Vertagung der Debatte, mit der Absicht, die Polen weiter unter Druck zu halten 4) • Seinem Antrag wurde schließlich stattgegeben, nachdem der Ratspräsident Henderson sich der deutschen Auffassung angeschlossen und die polnische Regierung mit Nachdruck an ihre Verantwortung erinnert hatte. Am 19. September 1931 wurde ein neuer Ratsbericht
vorgelegt, der einige Verbesserungen enthielt. Inzwischen waren nämlich auf britischer Seite die Zweifel gewachsen, ob die im Mai konstatierte Entspannung wirklich den Realitäten entsprach und der polnische Rechenschaftsberip-1t in diesem Sinne als befriedigend anzusehen war 5) • Der neue Rapport berücksichtigte diese Bedenken, indem er die im Mai-Bericht enthaltene Feststellung über eine Entspannung in Oberschlesien nicht mehr erwähnte und auch die bisherigen Maßnahmender polnischen Regierung nicht mehr ausdrücklich anerkannte, sondern lediglich auf die Zukunft abstellte, wenn er die Erwartung aussprach, daß die Rechte der Minderheiten von jetzt an gewährleistet werden würden und die polnische Regierung 1) F. Rathenau: "Im Kampfum den Minderheitenschutz", 7, s. 541.
in: Europäische Revue
2) Ebd.
3) Wiedergabe der Ratsdebatte in: Nation und Staat 4, S. 637 ff. 4) Aufzeichnung Trautmann vom 7.5.1931, a.a.O. 5) MemorandumCollier vom 1.8.1931, a.a.O.
- 280 durch geeignete Maßnahmendas Vertrauen der Minderheit wiedergewinnen werde, wenn schließlich der polnischen Regierung entsprechende neue Zusicherungen abverlangt wurden1). Das bedeutete insofern innnerhin einen gewissen Erfolg für die deutsche Seite, als die Angelegenheit weiter offen blieb, auch wenn der konkrete Fall formell abgeschlossen war. In diesem Sinne bewertete auch Curtius das Ergebnis: Es sei eine Basis geschaffen, auf Grund deren man neue Beschwerden unbelastet durch die alten Vorgänge erneut wirksam vor den Rat bringen könne und die es den Minderheiten ennögliche, bei einer neuen Beeinträchtigung ihrer Rechte ihre Beschwerden außer auf die Vertragsbestinnnungen auf die neu übernommenenVerpflichtungen zu griinden2). Damit war, wie in der Grundsatzdiskussion, so auch in diesem konkreten Fall deutlich geworden, daß schwerlich mehr zu erreichen war, als daß die Minderheitenfragen für die Zukunft offenblieben.
2. Die allgemeine Erörterung der Minderheitenfrage,vor bundsversannnlungen 1930-1932
allem auf den Völker-
Waren die Ratsbeschlüsse zur deutschen Wahlterror-Beschwerde von 1931 schon auf Grund des besonderen Charakters des verhandelten Falls und vor allem im Hinblick auf die Begleitumstände schwerlich als minderheitenpolitischer Durchbruch zu werten, so auch deshalb, weil das eigentliche Terrain der deutschen Minderheitenpolitik die grundsätzliche Seite des Problems war und wirkliche Erfolge in diesem Bereich errungen werden mußten. Stresemanns Tod hatte hier zunächst ein gewisses Vaktn.ungeschaffen und die Frage nach der Kontinuität der deutschen Minderheitenpolitik aufgeworfen. Angesichts des starken persönlichen Anteils, den Stresemann an dieser Politik gehabt hatte, konnte in der europäischen Öffentlichkeit die Frage auftauchen, ob die Beschäftigung des Reiches mit der Minderheitenfrage nicht überhaupt mehr eine persönliche Sache des Außenministers gewesen sei als eine ernsthafte und dauernde Richtlinie der deutschen Außenpolitik. Wie die deutschen Minderheitenführer im August 1930 berichteten, griff besonders in Südosteuropa der Gedanke um sich, daß man sich hinsichtlich der Vertretung des Nationalitätengedankens doch mehr auf Ungarn.als auf Deutschland verlassen könne, weil das Intei:esse des Deut1) Ratsbericht
2) Curtius
in:
Nation
an AA (Tel.)
5, S. 68 f. am 20.9.1931, AAL 683/Bd. 29, und Staat
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sehen Reiches im Abflauen begriffen sei 1). Bruns und Schiemann mahnten deshalb bei einem Besuch bei Staatssekretär v.Bülow im Juli 1930 mit Nachdruck an die Pflicht der Reichsregierung, die von Stresemann eingeleitete Entwicklung kontinuierlich weiterzuführen. Sie äußerten dabei die aus eigenen Beobachtungen gewonnene Überzeugung, daß jedes Verhalten der deutschen Regierung, das als Zurückweichen auch nur gedeutet werden könne, gleichgültig, ob es von der deutschen Regierung so gemeint sei, nach dem Tode Stresemanns von der gesamten öffentlichen Meinung als grundsätzliches Abschwenkenvon der bisherigen Linie der deutschen Minderheitenpolitik aufgefaßt werden würde und dazu führen müsse, daß die minderheitenfeindlichen Strömungen anwüchsen und die Bereitschaft der Minderheitenstaaten, ihren Verpflichtungen nachzukommen, nachlasse 2). Die beiden Minderheitenpolitiker bestätigten damit nur die Erfahrungen auch der amtlichen Politik, daß Erfolge in der :tv'dnderheitenfrage nur · mit hartnäckiger Insistenz und entsprechender propagandistischer Begleitung zu erringen waren. Bestreben der Reichsregierung mußte es demgemäßvor allem sein, in der europäischen Öffentlichkeit das Bewußtsein von der Bedeutung des Problems wachzuhalten. An diese Aufgabe erinnerten Bruns und Schiemann und bei einem Besuch im Auswärtigen Amt im August 1930 auch der Führer der Siebenbürger Sachsen Brandsch; sie erhoben - als praktische Schlußfolgerung daraus - die Forderung, Deutschland als größter Interessent in der Minderheitenfrage müsse sich weiterhin die Initiative für eine großzügige Behandlung des Problems vorbehalten und auf der ersten Vollversannnlung des Völkerbunds nach 3 Stresemanns Tod die von ihm verfolgte Linie wieder aufnehmen ). Konkret bedeutete das, die Ergebnisse von Madrid weiterzuspinnen und für eine Verbesserung des Verfahrens einzutreten. Aber auch auf ideologischem Gebiet forderten die deutschen Minderheiten eine eigene deutsche Konzeption. So stand die Tagung der deutschen Volksgruppen im August 1931 in Bad Schandau im Zeichen einer allgemeinen Überzeugung, "daß auf alle Fälle um die Herausarbeitung der Ideologie des Volkes als be1) Aufzeichnung zur Tagung des Verbandes der deutschen Volksgruppen in Europa (Ende August 1930 in Stuttgart), von Bruns und Brandsch Weizsäcker ausgehändigt, AA K 1773/K 437 491-493,
2) Bruns an Roediger
am 18.7.1930 mit dem Resümee einer Besprechung zwischen Bruns, Schiemann und Staatssekr. v.Bülow betr. die Behandlung der Minderheitenfrage auf der kommenden Völkerbunds-Versammlung, AA K 1773/K 437
417-424.
3) Aufzeichnung
Weizsäcker
vom 1.9.1930, AA K 1773/K 437 494.
sonderer Gemeinschaft in und neben den Staaten - im Gegensatz zur französischen zentralistischen Auffassung vom alleinigen und allgewaltigen Staate unablässig auf dem Kampfplatze der internationalen Meinungsbildung gerungen werden nüsse' 11). Dieses 1deologische Momentsollte die deutsche Regierung unabhängig von der Problematik der Minderheitenverträge - als ihren besonderen Beitrag in die europäische Diskussion einbringen, .Angesichts der Bedeutung der Minderheitenfrage als eines europäis c h e n Problems war es nur natürlich, daß sie auf deutscher Seite auch im Zusannnenhangmit dem Memorandum Briands über eine europäische Union vom Mai 1930 bzw. mit der Europa-Kommission des Völkerbunds diskutiert wurde. Briands Memorandumließ die Nationalitätenfrage, obwohl sie eine entscheidende Rolle in diesem Zusammenhangspielte, gänzlich unberücksichtigt 2). In ihrer .Antwortnote auf das Memorandumsetzte sich die deutsche Regierung deutlich gegen seine politischen Ausführungen ab und forderte, in der Überzeugung, daß die Notlage Europas ihre Ursachen in hohemMaß in der gegenwärtigen politischen Gestal twig des Kontinents habe, die .Anwendungbestimmter Grundsätze, um die Ursachen für die bestehenden Schwierigkeiten zu beseitigen 3). Konkret nannte sie die Fragen der Sicherheit, der Abrüstung, der nationalen Minderheiten sowie des Ausbaus einzelner Artikel der Völkerbundssatzung und verwies auf ihre bereits bekannten Auffassungen zu diesen Punkten. Der Gedankengang war dabei der, daß, wenn überhaupt ein europäisches Bundesverhältnis begründet werden solle, dies nicht auf der Grundlage des gegenwärtigen politischen Status qua geschehen könne. Was die Minderheitenfrage betraf, so hielt man es freilich für angebracht, im Zuge dieser Diskussion, die 1931 in dem vom Völkerbund eingesetzten Europa-Ausschuß fortgesetzt wurde, allenfalls den allgemeinen Volkstumsgedanken zur Sprache zu bringen, um eine Entlastung des Völkerbundes zu vermeiden4). Indessen stellte sich 1931 dieses Problem schon nicht mehr, da die Frage der Begründung eines engeren politischen BundesveI1) 0. Junghann: "Die 8. Tagung der deutschen Völkerbund 4, S. 67 f. 2) Briand-Memorandum vom 17.5.1930, 71, s. 460 ff.
in:
Volksgruppen
Schultheß'
in Europa",
in:
Europ. Geschichtskalender
3) Deutsche Antwort auf das Briand-Memorandum vom 11.7.1930,
ebd. S. 469 ff.
4) Auf diese Notwendigkeit wies Graf Bernstorff (für die Deutsche Völkerbundsliga) in einem Brief an das AA vom 19.12.1930 hin; dazu grundsätzlich zustimmend: Aufzeichnung Roediger vom 30.12.1930. AA K 1764/K 432 686-688.
hältnisses aus den Diskussionen des Europa-Ausschusses ausgeschaltet w11rdAund dieser sich auf die Aufgabe beschränkte, einzelne spruchreife Fragen praktisch zu lösen, wobei wirtschaftliche Probleme im Vordergrund standen. Damit entfielen auch die Voraussetzungen, von denen aus die deutsche Regierung in ihrer .Antwort auf das Briand-Memorandumbesonderes Gewicht auf die politischen Fragen gelegt hatte, und empfahl sich Zurückhaltung hinsichtlich einer Aufrollung der Minderheitenfrage im Europa-Ausschuß1) • überhaupt war, worauf der GeneralselTetär des Europäischen Nationalitätenkongresses Ammendeden deutschen Außenminister mit Nachdruck hingewiesen hatte, eine Reorganisation in der Behandlung des Minderheitenproblems nur im Rahmendes Völkerbunds selbst möglich 2 und mußte jede Parallel-Behandlung der Sache schaden ). Es wurde deshalb von den Sprechern der deutschen Minderheiten befürwortet, daß die Reichsregierung - entsprechend der Ankündigung Stresemanns - auf der Völkerbundstagung im September 1930 unter allen Umständen die Überweisung der Minderheitenfrage an die 6. Kommissionder Vollversammlung beantragte. Mit diesem Vorgehen sollte wenigstens erreicht werden, daß die Diskussion im Fluß blieb. Auch im Auswärtigen Amt wurde die Notwendigkeit eines deutschen Schrittes anerkannt, wenngleich man es hier für wenig aussichtsreich hielt, jetzt schon materielle Verbesserungen, in Weiterführung der Madrider Beschlüsse, auf das Programmzu setzen. In einer Aufzeichnung für den deutschen Delegierten auf der Septembertagung der Vollversammlung 1930 Koch-Weserwurde es als Ziel des deutschen Vorgehens bezeichnet, die Minderheitenfrage auf der Höhe zu halten, auf die sie Stresemann 1929 gebracht habe, und ihr durch Überweisung an die 6. Kommissionim europäischen Bewußtsein den gleichen politischen Rang 3 zu geben, wie ihn andere wichtige Fragen besäßen ). Man legte dabei Wert darauf, dem deutschen Vorgehen jeden Anschein einer außergewöhnlichen Aktion zu nehmen und beschränkte sich auf das allgemeine Ziel, die Kontinuität der deutschen Minderheitenpolitik zu behaupten. Deshalb unternahm das Auswärtige Amt 1) a) Aufzeichnung Weizsäcker vom 13.4.1931 über die Behandlung der Minderheitenfrage im Europa-Ausschuß, AA K 1764/K 432 717-720, b) Aufzeichnung Roediger vom 23.2.1931 "Die Europa-Konferenz und der Minderheitenschutz", ebd. /K 432 702-707. 2) Aufzeichnung Ammende zum Briand-Memorandum, nister übersandt, AA K 1764/K 432 640-642.
Juni
1930 dem Reichsaußenmi-
3) AA-Aufzeichnung für Koch-Weser vom 9.7.1930, AA K 1773/K 437 429. Aufzeichnung Freytag für den Reichsminister vom 28.8.1930 "Die deutschen Schritte in der Minderheitenfrage auf der bevorstehenden Völkerbunds-Versammlung", ebd. /K 437 467-475.
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zur Vorbereitung der Tagung diplomatische Sondierungen bei den Regierungen einiger kleinerer Staaten, die sich in der Vergangenheit gelegentlich minderheitenfreundlich geäußert hatten, um dem deutschen Antrag eine möglichst breite Unterstützung zu ·sichern 1). Das konkrete Sachprogrammder deutschen Regierung für die Vollversammlung war bescheiden: Man verzichtete darauf, neue Vorschläge zu unterbreiten, und stellte sich lediglich darauf ein, die gegenwärtige Praxis des Völkerbunds, wie sie sich nach den Entscheidungen von Madrid entwickelt hatte, Revue passieren zu lassen 2). Bestenfalls hielt man im Auswärtigen Amt eine Ratsresolution_allgemeiner Natur für erreichbar, die auf die Bedeutung des Minderheitenschutzes hinwies und den Minderheitenstaaten entsprechende Empfehlungen gab, u.U. auch den Dreierkomitees die volle Ausnutzung der durch die Madrider Beschlüsse geschaffenen Möglichkeiten ans Herz legte 3). Einen Ausbau des Systems zog man erst für einen späteren Zeitpunkt in Erwägung, zu dem, nach einer längeren praktischen Erfahrung mit der Madrider Prozedur, ein Urteil über ihre Wirksamkeit möglich sei. Somit war die deutsche Aktion diesmal von vornherein auf den durch das Petitionswesen geregelten Minderheitenschutz begrenzt und ließ Möglichkeiten einer umfassenderen Minderheitenschutztätigkeit des Völkerbunds unberücksichtigt. 1) Runderlaß Curtius an die Deutschen Gesandtschaften in Haag, Bern, Stockholm, Oslo, Helsingfors, Budapest, Sofia vom 19.8.1930, AA K 1773/K 437 436-441. Eindeutig positiv reagierte die ungarische Regierung lt. Tel. Schoen an AA vom 25.8.1930, ebd. /K 437 449. Bemerkenswert ist die zurückhaltende Reaktion anderer - prinzipiell minderheitenfreundlicher - Staaten, die erkennen läßt, auf einer wie schmalen diplomatischen Basis die deutsche Regierung in der Minderheitenfrage operieren mußte: 1. v.Rosenberg (Stockholm) meldete (am 23.8.1930), die schwedische Regierung habe für den deutschen Wunsch Verständnis, wolle sich aber nicht in den Vordergrund stellen, da sie sich schon zu oft die Finger verbrannt habe. Auch sei fraglich, ob die bevorstehende Völkerbunds-Versammlung zur Wiederanschneidung der Minderheitenfrage geeignet sei. Der schwedische Gesprächspartner halte es für die glücklichste Lösung, wenn England die Initiative ergreife. Ebd. /K 437 447 f. 2. Boltze (Haag) berichtete (Tel. vom 26.8.1930), der holländische Außenminister habe Verständnis für die deutsche Auffassung, meine aber, daß das heikle Minderheitenproblem vorsichtig behandelt werden müsse, um die erreichten bescheidenen Erfolge nicht zu gefährden. Ebd. /K 437 453 f. 3, Renner (Helsingfors) meldete (Tel. vom 30.8.1930), dem finnischen Außenminister Procope liege für Genf vor allem seine Präsidentschaftskandidatur, die Finanzhilfeund die Alkoholschmuggelbekämpfungsfrage am Herzen und er wolle sich nicht durch eine ausgesprochene Stellungnahme in der Minderheitenfrage belasten. Ebd. /K 437 458. 2) Runderlaß
Curtius
3) Aufzeichnung
vom 19.8.1930,
Freytag
vom 28.8.1930,
a.a.O. a.a.O.
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Es gelang Curtius in der Vollversammlung ohne Schwierigkeiten, die Überweisung des die Minderheitenfrage betreffenden Teils im Jahresbericht des Generalsekretärs an die 6. Kommissiondurchzusetzen 1). In dem vorher abgesteckten Rahmenerläuterte dort der deutsche Delegierte Koch-Weserdie Vorstellung seiner Regierung: Die Regeln für die Zulässigkeit der Petitionen sollten liberal gehandhabt werden; den Dreierkomitees müsse man ermöglichen, Petitionen bis in die Details zu prüfen; sie sollten zu dem Zweckvon dem Recht Gebrauch machen, auch außerhalb der Ratstagungen zusammenzukommen. Schließlich erinnerte Koch-Weseran die in der Madrider Resolution festgelegte Möglichkeit von Veröffentlichungen und forderte dazu auf, stärker von dieser Möglichkeit Gebrauch zu machen, da die bisher veröffentlichten Mitteilungen zu knapp seien, um einen Einblick in einen Beschwerdefall zu verschaffen. Die deutsche Delegation hielt sich damit an ihre Linie, lediglich eine extensive Auslegung der Madrider Beschlüsse zu fordern, und verzichtete auch darauf, eine formelle Resolution zur Diskussion zu stellen. Statt dessen stellte sie eine schriftliche Zusammenfassungihrer Anregungen dem Berichterstatter zur Verfügung, damit er sie für seinen Bericht verwerten könne. Diese bestanden aus drei Punkten: 1. Die Verpflichtung des Völkerbundes gegenüber den ~!inderheiten ist zu bekräftigen; 2. die Regeln hinsichtlich der Petitionen sollen so liberal wie möglich gehandhabt werden; 3. der Jahresbericht des Generalsekretärs soll möglichst viel Einzelheiten über die ~!inderheiten bringen. Der deutschen Stellungnahme, der sich der Vertreter Ungarns und in gewisser Hinsicht auch die britische Delegation anschlossen, stellte die Gegenseite, repräsentiert durch Briand, Benesch, Zaleski, ihre bekannten Auffassungen gegenüber, so vor allem die These, daß die gegenwärtige Prozedur über den Rahmen der Verträge hinausgehe und jede Erweiterung des Verfahrens der Zustimnnmg der Minderheitenstaaten bedürfe. Darüber hinaus ging Zaleski, der erneut den Gedanken einer Generalisierung des Minderheitenschutzes in die Debatte warf und damit erneut Polens Sonderstellung in der Minderheitenfrage vor Augen führte. Wie schon 1929 stieß der polnische Außenminister auch diesmal auf den entschiedenen Widerstand seines französischen Kollegen, der kategorisch erklärte, eine solche Frage dürfe nicht aufgerollt werden, und er hoffe, daß sie niemals mehr vor dieser Kommissionerwähnt werden würde. In diesem Punkte wenigstens bestand eine Gemeinsamkeit auf deutscher und französischer Seite, wenngleich sich beide von verschiedenen Motiven leiten ließen. 1) Wiedergabe
der Debatte
in:
Nation
und Staat
4,
S. 130 ff.
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Ging es der französischen Regierung um die Aufrechterhaltung des bevorrechtigten Status der Großmächte und lag ihrem Widerstand die Furcht vor einem übergreifen der Minderheitenbewegung auf Frankreich zugrunde, so hielt die deutsche Delegation daran fest, daß im Hinblick auf die neuen Staaten "die Minderheitenschutzverträge ein Servitut sind, welches die Bedingung zu ihrer Geburt gewesen ist", mit allen sich daraus für die Territorialordnung ergebenden Konsequenzen. Allerdings deutete Curtius eine gewisse Bereitschaft an, auch die Möglichkeit einer Verallgemeinerung zu erwägen. In dieser yorsichtigen Form trug er dem Umstand Rechnung, daß entsprechend der ideellen Komponente in der deutschen Minderheitenpolitik der Minderheitenschutzgedanke zumindest als moralisches Prinzip Allgemeingültigkeit beanspruchte. Demvorsichtigen Tenor des deutschen Beitrags entsprach der gesamte Verlauf der Debatte. Man begnügte sich im wesentlichen damit, die eigene Auffassung noch einmal zu entwickeln und die jeweils kontroversen Thesen zur Kenntnis zu nehmen. So war denn auch der von dem Schweizer Delegierten Motta vorgelegte und am 24. September 1930 einstimmig angenorrnneneBericht über die Aussprache nicht mehr als eine Synthese der verschiedenen Diskussionsbeiträge, in der die gemeinsame Oberzeugung von der Bedeutung des Minderheitenproblems für den Weltfrieden, von dem Zusannnenhangzwischen den Minderheitenverträgen und der Entwicklung eines neuen Geistes in den internationalen Beziehungen, schließlich von der Notwendigkeit einer vertrauensvollen Zusarrnnenarbeit zwischen Mehrheitsbevölkerung und Jlünderheit in ihrem Staat ausgedrückt wurdel). Bezüglich der deutschen Anregungen stellte der Bericht lediglich fest, niemand habe bestritten, daß alle M:iglichkeiten des Madrider Verfahrens ausgeschöpft werden niißten. - Jllit diesem Ergebnis war natürlich praktisch wenig anzufangen, zumal die Stellungnahmen Polens und der Staaten der Kleinen Entente der deutschen Seite kaum Fortschritte verhießen. Dennoch war es in gewissem Sinne berechtigt, wenn von sei ten des Auswärtigen Amtes die Debatte in der 6. Konnnission und der MJtta-Bericht als Erfolg gebucht wurden, wobei man freilich hinzufügen muß, daß sich die Reichsregierung von vornherein auf ein nach der Logik der deutschen Minderheitenpolitik unerläßliches Minimalprograrrnnbeschränkt 2 hatte ): 1. Die Kontinuität der deutschen Minderheitenpolitik war deutlich ge1) Ratsbericht
in: Nation und Staat
4, S. 141 f.
2) In diesem Sinne Runderlaß Bülow vom 5,11.1930 mit der politischen Wertung der Minderheitendebatte auf der Völkerbundsversammlung, AA K 1773/K 437 550-561. Auch Tel. Zechlin an AA vom 24.9.1930, M 3147/D 661 493 f.
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worden; 2. aus der Tatsache, daß führende Politiker erneut die Minderheitenfrage debattiert hatten, zog man die Gewißheit, "daß das Minderheitenproblem nicht mehr durch eine Bagatellisierung aus der Welt geschaffen werden kann und daß auch die gegnerischen Staaten sich sachlich damit auseinandersetzen müssen"; 3. die Bekräftigung einiger Ideale des Minderheitenschutzes bot der deutschen Seite moralische Unterstützung und propagandistische Handhaben. Angesichts einer solchen Wertung stellt sich jedoch die Frage, welche weiterreichende Konzeption dahinterstand, in die das Ergebnis hätte eingeordnet werden können. Auch eine Grundsatzdebatte konnte auf die Dauer doch nur Sinn haben, wenn sie einem Fortschritt in den konkreten Fragen diente, zumal bei einer ausschließlichen Betonung des propagandistischen Elements dieses je länger,je mehr an Wert verlieren mußte. Eine solche längerfristige Konzeption mit konkreten Vorstellungen über das weitere minderheitenpolitische Vorgehen im Völkerbund hat es im Auswärtigen Amt offenbar nicht gegeben. Manbegnügte sich im wesentlichen mit dem allgemeinen Grundsatz, die Minderheitenfrage offenzuhalten, und orientierte sich, was darüber hinausgehende konkrete Vorschläge betraf, an den taktischen Gegebenheiten der jeweiligen politischen Situation. Allgemein läßt sich sagen, daß Stresemanns Minderheitenpolitik von seinen Nachfolgern zwar übernommenwurde, daß diese sich auch zur politischen Aufgabe bekannten, die Linie dieser Politik weiterzuführen, sich dieser Aufgabe aber gleichsam wie einer Pflichtübung unterzogen. Bezeichnend ist, daß das Foreign Office für 1930 mit weiterreichenden Vorschlägen gerechnet und sich nicht nur darauf eingestellt, sondern sogar ein eigenes Prograrrnnentwickelt hatte, das man eher auf deutscher Seite erwartet hätte 1): Die britische Seite hatte sich darauf vorbereitet, erhebliche materielle Verbesserungen anzuregen, die z.T. schon den deutschen Idealforderungen nahekamen: Eine ständige Konnnission - allerdings nur zur Behandlung von Petitionen, nicht zur allgemeinen überwachung der Minderheitenverträge; mehr Publizität im Verfahren - in Form einer Ergänzung der Jahresstatistik durch Informationen über Natur und Schicksal der Petitionen; schließlich eine Benachrichtigung des Petitionärs, ob seine Eingabe positiv oder negativ entschieden sei. Ein energischer deutscher Vorstoß hätte also an der britischen Delegation eine starke Stütze gefunden. Da sich das Reich aber zurückhielt, sah die britische Regierung keine Veranlassung, ihrerseits die Initiative zu ergreifen und gewissermaßen päpstlicher zu sein als der Papst. 1) "Record on a Meeting held on July 24th to consider the policy tobe adopted by the British Delegation at the forthcoming Assembly", F.0.371/W 7628/14/98.
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Symptomatisch für ein Nachlassen des amtlichen deutschen Interesses an der Minderheitenfrage war auch, daß die Minderheitenführer an Einfluß im Auswärtigen Amt einbüßten, nachdem sie in der Stresemann-Ära maßgebend auf die Gestaltung der deutschen Minderheitenpolitik hatten einwirken können. So sah sich bald nach Stresemanns Tod Weizsäcker veranlaßt, die Zusammenarbeit zwischen dem Auswärtigen Amt und den Vertretern der deutschen Volksgruppen auf eine neue Basis zu stellen 1). Er erinnerte an konkrete Fälle, in denen Minderheitenführer über den ihnen natürlicherweise zukonnnendenHandlungsspielralllll hinausgegangen seien. So hätte~ sie z.B. die Frage der Nachfolge Colbans auf dem Posten des Direktors der iünderheitenabteilung im Völkerbundsekretariat falsch eingeschätzt; auch sei es vorgekonnnen, daß ein Minderheitensprecher sein Mißtrauen gegen einen Referenten des Auswärtigen Amtes bei dessen vorgesetzter Dienststelle geäußert habe,mit dem Ziel, eine Ablösung dieses Referenten zu erwirken; schließlich hätten die Vertreter der Minderheiten auf den letzten Tagungen des Völkerbundsrats und der Bundesversammlungim internen Dienst der deutschen Delegation eine Stellung usurpiert, die ihnen nicht zukonnne.Weizsäcker wollte den Sprechern der deutschen Volksgruppen offenbar nicht mehr politischen Einfluß einräumen als der Völkerbundsliga, wenn er die gute Zusammenarbeit zwischen ihr und dem Auswärtigen Amt als Beispiel anführte. Es schien ihm daher zweclonäßig, "nicht nur aus Gründen der Sparsamkeit, sondern auch aus pädagogischen Überlegungen" den Etat der Minderheitenvertreter zu kürzen und von vornherein auch Sonderbewilligungen neben diesem Etat auszuschließen 2). Angesichts dessen entsprach es durchaus einer allgemeinen Entwicklung der deutschen Minderheitenpolitik, wenn deutsche VolkstlllllSpolitiker auf Fortführung der Stresemannschen Initiative drängen mußten und 1) Vermerk Weizsäcker "betr. den Minoritätenvertretern"
die Zusa.nnnenarbeit zwischen dem Ausw. Amt und vom 31.3.1930, AA K 1764/K 432 628-630.
2) Ebd. mit der Bemerkung: "Die Genehmigung des Herrn Reichsministers zu einem solchen Vorgehen wird m.E. unschwer zu erlangen sein". In diesem Sinne auch Aufzeichnung ~low für den Reichsminister vom 26.4.1930, AA K 1764/K 432 631-635. Dort wird auf das Ersuchen des Verbandes der deutschen Volksgruppen um Erhöhung des finanziellen Zuschusses durch das Ausw. Amt Bezug genommen. B. plädiert dafür, nicht von vornherein so starke Mittel zur Verfügung zu stellen, daß der Verband die Möglichkeit habe, ohne Einflußnahme des Amtes eine selbständige Politik zu verfolgen, die u.U. den reichsdeutschen Interessen zuwiderlaufe. Es habe sich nämlich immer mehr herausgestellt, daß der Verband sich vielfach dem Einfluß des AA zu entziehen suche und ihm bei politischen Aktionen, so bei Völkerbunds-Tagungen, oft recht unbequem werde. Vor allem wird abgelehnt, mit dem Verband in eine De~atte über ~inzelne Etatposten einzutreten, "schon um aus politischen Gru~den den Eindruck zu vermeiden, als ob es sich um eine spezielle Organisation des Auswärtigen Amtes handelt".
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auf der Jahrestagung des Verbandes der deutschen Volksgruppen im August 1931 erneut die Sorge ZlllllAusdruck kam, daß die "Flitterwochen des Reiches mit dem Auslandsdeutschturn'' vorbei seien 1). Für unbedingt notwendig erachtete man hier eine Behandlung der lvlinderheitenfrage in der 6. Kommissionder Völkerbundsversammlung auch in diesem Jahr, da sonst die Auffassung entstehe, Deutschland nehme seine Minderheitenpolitik nicht ernst. Im Interesse
einer gerechten Beurteilung der deutschen Minderheitenpolitik muß man freilich bedenken, daß in der allgemeinen Krise Anfang der dreißiger Jahre aktuellere, dringlichere Probleme die politische Diskussion beherrschten, zumal die Minderheitenpolitik ohnehin auf Erfolge erst in einer langfristigen Entwicklung orientiert war. Dieser Umstand bestimmte auch die Erörterung der Minderheitenfrage - nun schon traditionsgemäß - in der 6. Kommission der Völkerbundsversammlung 19312). Curtius beschränkte sich darauf, einige Prozedurmängel zur Sprache zu bringen, wobei er sich an die taktische Linie des Vorjahres hielt: Er beantragte nicht einen Ausbau des Verfahrens, sondern plädierte lediglich für weitgehende Ausnutzung der geltenden Madrider Beschlüsse. Vor allem regte er an, daß der Wegder Veröffentlichung öfter beschritten und von der Möglichkeit, die Zahl der Mitglieder eines Minderheitenkomitees von drei auf fünf zu erhöhen, häufiger Gebrauch gemacht werde. Die anderen Delegierten beschränkten sich weitgehend darauf, an ihre im Jahr zuvor abgegebenen Stellungnahmen zu erinnern. Allgemein war die Ansicht, wie sie der ungarische Delegierte Graf Apponyi vertrat, daß die Zeit nicht geeignet sei, eine eingehende Betrachtung über die Minderheitenfrage anzustellen. So brachte diese Debatte nichts Neues und rechtfertigte eher die Erwartung, daß die deutsche Initiative versanden werde. Nicht zuletzt waren aber auch die ersten Erfahrungen mit der Wirkungsweise der Madrider Beschlüsse alles andere als eine Ermutigung, sondern eher geeignet, auf deutscher Seite zur Resignation zu führen. Das betrifft besonders die Frage der Publizität innerhalb des Verfahrens. Die Madrider Resolution hatte die Möglichkeit geschaffen, von Fall zu Fall das Ergebnis der Untersuchungstätigkeit eines Dreierkomitees - mit Zustimmungder beklagten Regierung - zu veröffentlichen. Vom13. Juni 1929 (dem Datllllldes Madrider Ratsbeschlusses) bis 1) Bericht über die Jahrestagung des Verbandes der deutschen Europa (vom 23.-26.8.1931), AA K 1001/K 261 839-842. 2) Wiedergabe
der Debatte
in:
Nation
und Staat
5, S. 65 ff.
Volksgruppen
in
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zum 1. Januar 1932 waren 63 Beschwerden von den Dreierkomitees abschließend geprüft worden1) • Von diesen wurden 18 veröffentlicht. Die Nichtveröffentli chung war zum größten Teil dem Veto Polens , Griechenlands und der Staaten der Kleinen Entente zuzuschreiben. Aufschlußreich ist, in welchen Fällen diese Staaten ihre Zustimmungzur Publizierung erteilten: Es handelte sich dabei um Beschwerden, die einmal begrenzter, oft rein persönlicher Art waren, also nicht Lebensfragen einer gesamten Minderheit betrafen, zum anderen um Fälle, in denen die Maßnahmender beteiligten Regierungen in nicht ungünstigem Licht bzw. die Klagen als unberechtigt oder als unnötige Belästigungen des Völkerbundes erschienen. Als Beitrag für eine Weiterentwicklung des Minderheitenschutzgedankens war ein derart praktiziertes Publikationswesen somit kaum geeignet. Nachdemschon die statistische Liste sich als unzulänglich erwiesen hatte, um den Wünschennach mehr Infonnation Rechnung zu tragen, wurde nun auch in diesem Punkt eine als Verbesserung gedachte Verfahrensmodalität in einer völlig einseitigen, die schwerwiegende Bedeutung des europäischen Nationalitätenproblems in den Augen der öffentlichen Meinung b~gatellisierenden Weise ausgenutzt. Erst für 1932, nach dem Auftakt der Debatten in den beiden Vorjahren, beschloß die Reichsregierung, den Faden mit einem konkreten Programmweiterzuspinnen und in der 6. Kommissioneinige positive Vorschläge für den Ausbau der Verfahrensvorschriften einzubringen. Freilich dachte man sich im Auswärtigen Amt auch diese als bloße Anregungen, da man befürchtete, daß die überwiegende ~lehrheit der Staaten Deutschland die Gefolgschaft versagen würde. Auch die Erörterung der tatsächlichen Lage der Minderheiten wurde nun in das Programmeinbezogen, allerdings in einer sehr vorsichtigen und allgemeinen Weise, bei der man die Nennung einzelner Namenvermeiden konnte 2). - Dennoch bewegte sich der deutsche Delegierte v.Rosenberg bei der Debatte in der 6. Kommission am 6. Oktober 1932 im wesentlichen in eingefahrenen Bahnen3): Er gab Anregungen zu einer besseren Ausnutzung der geltenden Verfahrensmöglichkeiten und ging lediglich mit der Forderung nach einer ständigen Minderhei1) H.v.Truhart: "Die Publizität der Entscheidungen der Minderheiten-Komitees des Völkerbundes", in: Nation und Staat 5, S. 598 ff. 2) Aufzeichnung Roediger vom 9.9.1932: "Wie gestaltet sich das· deutsche Vorgehen in der Minderheitenfrage vor der 6. Kommission der Bundesversammlung?", AA K 1773/K 437 783-802. 3) Wiedergabe der Debatte in: Nation und Staat 6, S. 200 ff.
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tenkommission - bestehend aus unabhängigen Sachverständigen, die den Dreierkomitees bei der Prüfung von Minderheitenbeschwerden zur Seite stehen sollten - über diesen Rahmenhinaus. Diesmal griffen einige weitere Staaten die deutschen Anregungen positiv auf, indem neben Österreich, Ungarn und Bulgarien auch Norwegen, Holland und Dänemark, in gewissem Maße auch Großbritannien ihrerseits Kritik an der Praxis des gegenwärtigen Verfahrens äußerten. Allerdings handelte es sich hier um ebenso unverbindliche Aussagen, dem Charakter dieser Debatte entsprechend, die keine konkrete .Änderungder Situation bewirkten. Auf der Gegenseite standen wieder die Minderheitenstaaten und Frankreich, die auf dem Status quo beharrten und ohne die eine Modifizierung des Minderheitenschutzsystems nicht zu erreichen war. Ein etwas delikater Punkt für die deutsche Delegation war die Frage der Generalisierung des Minderheitenschutzes, die Zaleski diesmal wieder zur Forderung erhob. NachdemCurtius in der 6. Kommission der Völkerbundsversammlung von 1930 eine deutsche ZustiIIIIIllil1g hierzu nicht grundsätzlich ausgeschlossen hatte, schien es aus minderheitenpolitischen Gründen nicht ratsam, von dieser Erklärung abzugehen. Andererseits hatte die deutsche Minderheitenpolitik jedoch stets den Charakter der Minderheitenverträge als einer besonderen Auflage betont, die in engem Zusammenhang mit der territorialen Regelung stand. Wennder deutsche Delegierte auch diesmal eine positive Prüfung des polnischen Vorschlags zusagte, so mit dem Zusatz, daß auch die anderen Staaten sich beteiligen rriißten, eine Voraussetzung, die angesichts früherer Debatten über diesen Punkt ohnehin keine Aussicht hatte,verwirklicht zu werden. Im übrigen stellte die deutsche Seite eine Generalisierung auf eine verbesserte internationale Atmosphäre ab, in der sich der Gedanke einer Aufhebung von einseitigen Diskriminierungen bestimmter Staaten, für den auch Deutschland kämpfe, durchsetzen werde. Eine aktuelle deutsche Unterstützung des polnischen Vorschlags läß.t sich aus der Erklärung des deutschen Delegierten demnach nicht herauslesen. Denn darüber bestand im Auswärtigen Amt kein Zweifel, daß bei dem derzeitigen Stand der Minderheitenfrage eine Generalisierung keine Stärkung, sondern nur eine Verwässerung des Minderheitenschutzgedankens bedeuten würde1). Der Ratsbericht über diese Debatte faßte die Diskussion wieder im Stil des Einerseits-Andererseits zusammen. Die Erfolgsbilanz des Auswärtigen Amtes war 1) AA-Aufzeichnung (o.U.) als Detailmaterialbeitrag für die bevorstehende Völkerbundsdebatte September 1932: "Die Frage der Generalisierung des Minderheitenschutzes", AAK 1773/K 437 803-807.
- 292 nllll schon stereotyp zu nennen 1): 1, Es sei das internationale Interesse wachgehalten worden; 2, Einzelne Mängel des Verfahrens seien zur Sprache gebracht lllld der Boden für eine Verbesserung vorbereitet worden; 3. Deutschland habe zu diesem Zweck die Unterstützllllg anderer Staaten gewonnen. Die Hauptbedeutung der abgelaufenen Debatte liege darin, daß eine sich konsolidierende Gruppe von Staaten im Entstehen begriffen sei, die einer Entwicklllllg des Minderheitenschutzverfahrens günstig gesonnen sei. - Die nach wie vor starre Ablehnllllg jeder Veränderung durch die Gegenseite war freilich eine Realität, die ebenso:"enig verschwiegen werden konnte. Benesch hatte die Aussprache in der 6. Kommission gelobt mit der Bemerkung, sie sei "klar, ehrlich lllld höflich" gewesen; das letzte Wort traf sicher zu. Man wird deshalb alles in allem dem Urteil von "Nation und Staat" zustimmen müssen, das die Debatten in der 6. Kommission von 1930 bis 1932 dahingehend kommentierte, "daß auch das Rechtsproblem eines tatsächlichen Schutzes durch den Völkerbund in scheinbar unübersteigbaren Mauern gefangen gehalten wird lllld nicht ins Freie geführt werden kann. Wird die eine Tür durch die mangelnde Publizität versperrt, so die andere durch die FordeTllllg der GeneralisieTllllg lllld die dritte durch die Verweigerung derselben seitens der Staaten, die sich zu der Frage nicht zu äußern wünschen. Vor allen Türen aber liegt ein dichtes Netz des zwischenstaatlichen diplomatischen Spiels, das die Behandlung der Minderheitenfrage als ein Rechtsproblem mit Erfolg behindert. • •• Man konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, daß die besonders bei Herrn Benesch sehr beliebte Kennzeichnllllg des ~linderheitenproblems als eine sehr 'delikate' Frage den Unterhaltungen gewissermaßen dauernd den Stempel zartfühlendster Zurückhaltung verliehen hat 112). Vor dem Hintergrund dieser Erfahrungen ist sicher das Urteil berechtigt, daß die minderheitenpolitische Lage im Jahre 1932 gekennzeichnet war durch "erstarrte Fronten".
1) AA-Erlaß (v. Kamphoevener) vom 1,11.1932 an die deutschen gen mit der Wertung des Ergebnisses der Völkerbundsdebatte, 2) "Erstarrte
Front"
(o. Verf.),
in:
Nation und Staat
AuslandsvertretunAA K 1773/Bd. 15.
6, S. 70 ff.
- 293 VII. Teil: Das internationale Minderheitenschutzsystem nach Hitlers M_a_chtergreifung (1933/34) 1. Die Konfrontation des Dritten Reiches, vor allem der nationalsozialistischen Judenpolitik, mit dem internationalen Minderheitenschutz vor dem Völkerblllld 1933 Hitlers ~1achtergreiflll1g bedeutete eine Wendein der deutschen Minderheitenpolitik und gab zugleich der internationalen Diskussion über die Minderheitenfrage noch einmal einen Anstoß, nicht weil das neue Regime auf diesem Gebiet sofort mit dem Anspruch eines eigenen Programmsvor die Öffentlichkeit getreten wäre, sondern weil seine Ideologie lllld allgemeine Politik das Minderheitenproblem aktualisierten lllld erneut in ein breiteres europäisches Bewußtsein brachten. Das Bekenntnis des Nationalsozialismus zum Volkstumsgedanken lllld zur "völkischen Einheit der deutschen Volksgruppen" traf bei diesen zweifellos auf eine gewisse Affinität, die sich bald nach der Machtübernahme in Aufrufen lllld Ergebenheitsbeteuerungen für Hitler äußerte. Damit verband sich auch die Hoffnllllg, daß sich der neue Staat in der Minderheitenfrage energischer einsetzen lllld gegenüber dem Auslandsdeutschtum seine "gesamtdeutsche ~lission" übernehmen werde1). Nicht zuletzt sprach bei der Beurteilllllg des neuen Regimes die Enttä1:15chllllgüber den Völkerblllld mit, dessen Unzulänglichkeit erst im Oktober 1932 allgemein offenkundig geworden war. So vollzog sich auch in der Arbeit der Minderheiten, schon rein personell, eine Wandlllllg, Die nach dem Tage von Potsdam erschienenen Hefte von "Nation lllld Staat" und anderen ~linderheitenzeitschriften waren von den Lesern im Ausland nur im Sinne einer Zustimnllllg zu den neuen Machthabern zu deuten. Andererseits aber sah sich ein großer Teil der Auslandsdeutschen bald nach Hitlers Machtübernahmeverschärften Verfolgungen ausgesetzt, die u.a. darauf zurückzuführen waren, daß die betreffenden Minderheitenstaaten über den Kurs der neuen deutschen RegieTllllg beunruhigt waren. Vor dem Hintergrund dieser Erfahrllllg stellte sich natürlich zwangsläufig die Frage, ob die Auslandsdeutschen im nationalsozialistischen Deutschland tatsächlich einen natürlichen Anwalt ihrer Interessen sehen konnten,vor allem angesichts dessen, daß die überbetonllllg des Völkischen als des schlechthin obersten Prinzips des politischen 1) H.A. Jacobsen: "Nationalsozialistische 1968, s. 167 ff.
Außenpolitik
1933-1938",
Frankfurt
- l!:J4 -
Lebens gnmdsätzlich für gleichberechtigte nationale Minderheiten neben dem Mehrheitsvolk keinen Raumließ. Eine übertragung dieses Prinzips auf die Staaten Ostmitteleuropas mußte zu einer Verschlechterung der Lage der dort lebenden deutschen Volksgruppen führen, zumindest aber konnte die völkische Ideologie des Nationalsozialismus diesen Staaten als Alibi für ihre eigene Nationalitätenpolitik dienen. Allgemein bedeutete ein intoleranter oder doch wenigstens klassifizierender Nationalismus einen Bruch mit den Prinzipien der bisherigen deutschen Minderheitenpolitik, auch wenn diese Einsicht bei den deutschen Volksgruppen selber in der Euphorie des Umschwungsim Reich vielfach verdrängt wurde. Zu denen, die diese Bedeutung des Machtwechsels für die Minderheiten früh erkannten, gehörte Paul Schiemann, der schon auf der Jahrestagung des Verbandes der deutschen Volksgruppen 1932 eindringlich vor der neuen nationalistischen Welle gewarnt hatte 1), Er wußte, daß es im Nationalsozialismus ein genuines Recht auf Volkstum, losgelöst vom Staatsraum, nicht geben würde, und daß sich der Nationalsozialismus, in dem der Staatsbegriff mit dem völkischen eng verbunden war, eine Erhaltung des Auslandsdeutschtums nur durch Einbeziehung in den deutschen Staatsraum oder wenigstens durch unmittelbaren Eingriff des staatlichen Machtwillens vorstellen konnte. Für die Minderheiten selber mußte eine solche Ideologie zu der Konsequenz führen, daß ihnen dort, wo aus außenpolitischen Gründen weder ihre Einbeziehung in den deutschen Staatsraum noch die Durchsetzung eines staatlichen Machtwillens erreichbar war, jegliche Möglichkeit genommenwerden würde, einen Rechtsanspruch auf Erhaltung des Volkstums geltend zu machen. Hier lag ein elementarer Unterschied der nationalsozialistischen Volkstums- zur bisherigen deutschen Minderheitenpolitik: Diese hatte sich als einen Kampfmit geistigen Mitteln verstanden, dem die Erkenntnis zugnmdelag, daß machtpolitische Mittel Deutschland nicht zur Verfügung standen und der Erfolg solcher Mittel überhaupt fragwürdig war, d~r vor allem von dem Bewußtsein eines eigenständigen Rangs der Minderheiten ausging, wie es sich in der Forderung nach kultureller Autonomie äußerte. Zu der von Stresemann entwickelten Konzeption hatte als ein wesentliches Element eine vorbildliche Politik des Reiches gegenüber seinen eigenen Nationali1) "Die neue nationalistische Welle", Rede Schiemann, gehalten auf der Jahrestagung des Verbands der deutschen Volksgruppen am 26.6.1932, lt. Nation und Staat 5, S. 799 ff.Zu Schiemann vgl. auch H.v.Rimscha: "Paul Schiemann als Minderheitenpolitiker", in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte IV, s. 43 ff.
- 295 täten gehört. Diese Voraussetzung wurde in dem Augenblick hinfällig, als das neue Regime mit seiner Judenpolitik eine Minderheit im eigentlichen Sinne des Wortes diskriminierte, sie überhaupt erst aussonderte. Auch in diesem Punkte hatte Schiemann schon 1932, mit Blick auf die zu erwartenden Konsequenzen einer judenfeindlichen Politik für die Lage der deutschen Volksgruppen,gewarnt, "daß gerade im Osten der Deutsche vielfach sehr ähnlich als eine Gefahr empfunden wird, wie sie in Mitteleuropa der Jude darstellen soll. , , • Wie sollen wir um das Recht ~d um die Freiheit kämpfen, wenn man uns Tag für Tag entgegenhält, daß gerade diese Rechte von einer stetig wachsenden Zahl unserer 1 eigenen Volksgenossen gnmdsätzlich bestritten werden?" ). Daß es zwischen der deutschen Judenpolitik, bei aller Besonderheit ihrer Problematik, und der allgemeinen Nationali tätenfrage einen Zusammenhanggab, konnte namentlich in bezug auf Ostmittel- und Südosteuropa nicht bestritten werden. Wennz.B. der Führer der Siebenbürger Sachsen Brandsch von den Nationalsozialisten angegrif2 fen wurde, weil er eine politische Verbindung mit Juden nicht ablehnte ), so übersah eine solche Attacke, daß die Juden in den meisten Staaten dieses Raumes anerkannte Minderheiten im Sinne der Verträge waren, daß sie politisch genauso wie andere Minderheiten oft mit den deutschen Volksgruppen gemeinsame Sache gemacht hatten. Damit zu brechen, mußte den Existenzkampf der Auslandsdeutschen erschweren, die ihre Kraft nicht zuletzt aus dem Bewußtsein der Solidarität mit allen anderen europäischen Minderheitengruppen bezogen. Auch im Sekretariat des Völkerbundes, wie allgemein im Ausland, wurde die Entwicklung der Judenfrage in Deutschland unter dem Gesichtspunkt der Rückwirkungen auf allgemein minderheitenpolitischem Gebiet beurteilt. Man war hier überzeugt, daß die deutsche Judenpolitik den vertragsgebundenen Minderheitenstaaten als schlechtes Beispiel dienen, daß besonders Polen unter dem Schlagwort der Gleichberechtigung es als moralisch unzumutbar ablehnen werde, den Minderheitenschutz einseitig bei sich aufrechtzuerhalten 3), - Im Auswärtigen Amt war man sich durchaus dessen bewußt, welche Tragweite die antijüdischen Maßnahmen der neuen Regierung für die deutsche Minderheitenpolitik besaßen. Besorgnisse, wie sie Schiemann geäußert hatte, entsprachen hier der Erkenntnis, "daß die Entwicklung der Dinge im Reich unter Umständen weittragende Folgen für die deutschen Volksgruppen im Auslande haben könnte", und dem Bemühen, die Interes1) Nation und Staat
5, S. 809, 2) Vgl. Nation und Staat 6, S. 131 ff. 3) Reuthe-Fink an Kamphoevener am 4.4.1933, M 9294/E 660 132 f.
- 298 die bisherigen Reichsregierungen als Grundlage geltenden Genfer Minderheitenschutz sprach Boehmhier jede Verbindlichkeit für die deutsche Politik ab. So sah er auch keinen Sinn darin, daß Deutschland weiterhin an dem Prinzip festhielt, nach dem - wegen des Zusammenhangsmit den territorialen Fragen - an der vertraglichen Belastung der Minderheitenstaaten und ihrem besonderen Status festgehalten werden müsse. Vielmehr äußerte er Verständnis für diese Staaten, "die in ihrer Art das Opfer der Politik von Wilson, Lloyd George und vor allem Clemenceaus geworden sind". Das internationale Minderheitenschutzsystem besaß für ihn nur den Wert eines politischen Tauschobjekts, wenn er vorschlug, Deutschland solle sich durch Anmeldung seines Desinteresses an den bestehenden Formen des internationalen Minderheitenschutzes entsprechende Gegenleistungen von den vertragsgebundenen Staaten einhandeln. Eine ausdrückliche Absage erteilte Boehmden "liberalistischen Grundprinzipien" des bisherigen minderheitenpolitischen Kurses. Positiv bekannte er sich zu "gewachsenen, selbstbewußten, auf ihre völkische Sonderart stolzen Minderheiten"; sie als solche zu erhalten, nicht im liberalistischen Sinne den Angehörigen einer Sondergruppe individuelle Rechte zu sichern, darin sah Boehmdie Aufgabe eines Minderheitenschutzes. Unter diesen Voraussetzungen beurteilte er den Zusammenhang zwischen Juden- und Minderheitenfrage: Die Juden in Deutschland verständen sich nicht als eine Volksgruppe eigenen Stammes, die eine Abgrenzung vom deutschen Volk anstrebe, und könnten insofern auch keine ''Volksgruppenrechte" beanspruchen, um die es in der Minderheitenfrage allein gehe. Statt dessen handele es sich bei ihnen um ein "Assimilationsjudentum", dem gegenüber die deutsche Judenpolitik - im Gegensatz zu den Assimilationsbestrebungen der Minderheitenstaaten - auf Dissimilation, Aussonderung auf Grund politisch-soziologischer Tatbestände ausgerichtet sei. An die Juden selber gerichtet verwahrte sich Boehmdagegen, daß sie die deutsche ''Volksgruppenpolitik" durch ein''rabulistisches''Verfahren auf die entgegengesetzten Interessen des Assimilationsjudentums festzulegen versuchten. Erst wenn sie bereit seien, nach tragbaren Formen zu suchen, um im Deutschen Reich ihrem Volkstum "artgerecht und traditionsgetreu" leben zu können, könne ein Gespräch beginnen, "vorher können wir die Tragik eurer Sonderlage von Fall zu Fall mit so viel Verständnis und Mitgefühl anerkennen, wie der Einzelne dazu aufzubringen vermag". BoehmsArgumentation gipfelte in dem Resümee: "Echte Volksgruppeninteressen • • • und kritiklose Verehrung einer liberalen Toleranzpolitik sind nie miteinander identisch gewesen".
- 299 Freilich vermied es das Auswärtige Amt, offenbar im Bewußtsein, soweit wie möglich eine Knntinuität zur traditionellen Minderheitenpolitik wahren zu müssen, das von Boehmentwickelte Programmals verbindlich zu übernehmen, Der Entwurf des Begleiterlasses enthielt die Bemerkung, der Verfasser gebe, bei aller Subjektivität seines Standpunktes, der noch eingehender Prüfung bedürfe, "eine im wesentlichen brauchbare übersieht über den Fragenkomplex"; dieses Urteil wurde in der endgültigen Fassung dahingehend abgeändert, daß der Artikel lediglich die persönliche Ansicht des Verfassers enthalte und die darin behandelten Probleme noch eingehender Prüfung bedürften 1). - Es sollte sich bald an einem konkreten Fall erweisen, wieweit diese Grundsätze geeignet waren, demAuswärtigen Amt als minderheitenpolitische Orientierung zu dienen. Im Mai 1933 richtete ein Jude deutscher Staatsangehörigkeit Franz Bernheim, der in Deutsch-Oberschlesien ansässig gewesen war, eine dringende Petition an den Völkerbund, in der er Klage führte, daß er im Zusammenhangmit den antijüdischen ~laßnahmender deutschen Regierung seine Stellung verloren habe. zugleich legte er gegen die allgemeine Verschlechterung der Rechtslage der Juden in Deutsch-Oberschlesien Beschwerde ein. Er berief sich dabei auf die Genfer Konvention von 1922, die über ihren rechtlichen Wirkungsbereich hinaus wegen ihrer Verbindung mit dem allgemeinen Genfer Minderheitenschutz stets auch in den Zusammenhangder allgemeinen deutschen Minderheitenpolitik gehört hatte 2). Damit stand Deutschland zum ersten Male im Rahmendes internationalen Minderheitenschutzsystems ernsthaft unter Anklage, handelte es sich doch hier ·nicht nur, wie bisher, um einen individuell begrenzten Fall, sondern um eine ganze Bevölkerungsgruppe betreffende Maßnahmen,Wegenihrer Dringlichkeit wurde die Beschwerde vom Generalsekretär auf die Tagesordnung der nächsten Ratstagung gesetzt. Die Vertreter des Reiches in Genf erkannten bald, daß der Fall Bernheim weitreichende Folgen haben werde,und hatten den Eindruck, daß die Gegner Deutschlands nun eine Generaloffensive auf dem Gebiet der Juden- und Minderheitenfrage vorbereiteten, nachdem Hitlers letzte Reichstagsrede (vom 17. Mai 1933) ihnen in der Abrüstungsfrage den Wind aus den Segeln genommenhabe 3). Nach 1) Erlaß vom 19,5,1933,
a.a.O.
2) Vgl, dazu Kaeckenbeeck,
a.a.O.,
S. 261
3) So der deutsche Vöikerbundsdelegierte AAL 1420/L 380 878-882.
ff,
Keller
an AA (Tel.)
am 23,5.1933,
sen des Deutschtums im Ausland nach Möglichkeit vor ungünstigen Rückwirkungen durch innere Maßnahmenzu bewahren. Freilich bestand im Auswärtigen Amt kein Zweifel, "daß mit Rücksicht auf die :Entwicklung der Dinge im Reich neue Möglichkeiten gesucht werden müssen111). Nach Verabschiedung des gegen die Juden gerichteten Gesetzes "Zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums" vom April 1933 wies Reichsaußenminister v. Neurath den neuen Reichsinnenminister Frick in einem Schreiben auf die möglichen außenpolitischen Konsequenzen der deutschen Judenpolitik hin und prophezeite "starke Rückwirkungen auf unsere allgemeine Minderheitenpolitik, die ja in erster Linie zur Erhaltung der für das Reich wichtigen deutschen Volksgruppen im Ausland geführt wird 112). Nicht nur, daß Deutschland den moralischen Anspruch verlor, im internationalen Rahmenals Sprecher der Minderheiten aufzutreten: Neurath warnte den Innenminister auch vor den rechtlichen Komplikationen, die sich aus den antijüdischen Maßnahmenergeben würden, bedeuteten diese doch, soweit sie Ober:schlesien betrafen, einen Bruch des Genfer Abkommensvon 1922, das Deutschland zum Schutz der dort lebenden Minderheiten verpflichtete. Mit diesem Hinweis auf die rechtliche Tragweite der deutschen Judenpolitik machte Neurath deutlich, daß nicht nur Deutschlands Minderheitenpolitik, sondern zugleich das internationale Ansehen des neuen Regimes auf dem Spiel stand, das natürlich auch danach beurteilt werden würde, in welcher Weise es seinen internationalen Verpflichtungen nachkam~ Diese allgemeine außenpolitische Erwägung dürfte mindestens ebenso gewichtig gewesen sein wie das eigentliche minderheitenpolitische Motiv, wenn der Außenminister versicherte, daß er gegen das grundsätzliche Problem des neuen Gesetzes keine Einwände habe, daß aber "die neue Gesetzgebung uns mit internationalen Verpflichtungen in Konflikt bringt, die das Reich nun einmal übernommen hat". Solche höheren Erwägungen lagen dem Innenminister jedoch offenbar ferner; denn in seiner Erwiderung auf Neuraths Schreiben gab er zu verstehen, daß die rassenpolitischen Grundsätze der NSDAP Vorrang besäßen, und lehnte jede Abschwächung der judenfeindlichen Maßnahmenab. Dieser Vorgang verdeutlicht,daß sich das Auswärtige Amt nun anderen Prioritäten unterordnen mußte.Daß es den neuen Machthabern im Grunde an Verständnis für die Problematik der Minderheiten mangelte, zeig1) Aufzeichnung des Leiters der Kulturabteilung im Ausw. Amt Stieve für den Staatssekretär vom 4.5.1933 (für eine Besprechung mit dem Minderheitenpolitiker Hasselblatt), AAL 1420/1 380 819 f. 2) Neurath an Frick am 21.4.1933, AA 9293/E 660 058-061.
- 297 te sich schon insofern, als Frick davon ausging, "daß der Umstand, daß Deutschland aus staatspolitischen Notwendigkeiten gegen eine Minderheit in genau begrenzter Richtung vorgeht, Polen im schlimnsten Fall nur zu entsprechend beschränkten Maßnahmengegen Juden auf seinem Staatsgebiete, nicht aber zur Loslösung vom Genfer Abkonnnenin toto berechtigen könnte, so daß eine allgemeine Gefährdung der Interessen unserer deutschen Landsleute in Polen nicht zu befürchten wäre" 1) • Kennzeichnend für die neue Situation war es auch, daß sich das Auswärtige Amt in völliger Ungewißheit über den Kurs der neuen Regierung wie in der Judenfrage, so allgemein in der Minderheitenpolitik befand. So wurden die deutschen Auslandsvertretungen in einem Runderlaß vom 19, Mai 1933, angesichts der Reaktion der internationalen Öffentlichkeit auf die deutsche Judenpolitik und im Hinblick auf die Folgen für die deutsche Minderheitenpolitik um II geeignetes Material und Anregungen zur Widerlegung der gegnerischen Angriffe sowie zur Vermeidung von Gefahren für die nationalen Minderheiten" ersucht 2). Es war nur Ausdruck der eigenen Verlegenheit, wenn das Auswärtige Amt auf eine Sprachregelung vorerst verzichten mußte,und sich darauf beschränkte, dem Erlaß "zur vorläufigen Orientierung über einige Probleme, die sich aus der Auseinandersetzung mit den Nichtariern in.Deutschland für die Minderheitenpolitik ergeben", einen Aufsatz von Max H. Boehm, dem Leiter des Instituts für Grenz- und Auslands-Studien,unter dem Titel "Minderheiten, Judenfrage und 3 das neue Deutschland" beizufügen ). Dieser Aufsatz war das Ergebnis einer Aussprache des Verfassers mit anderen 4 Volkstumspolitikern und dem Referenten des Auswärtigen Amtes Roediger ), enthielt daher wohl mehr als nur die subjektive Meinung des Verfassers. Er war progrannnatisch, indem er - in Abgrenzung gegen die bisherige deutsche Minderheitenpolitik
- die Konzeption einer Volksgruppenpolitik
entwickelte.
Demfür
1) Frick an Neurath am 22.5,1933, AAL 1420/1 381 030 f. 2) AA-Erlaß vom 19.5.1933 an die Deutschen Botschaften in London, Madrid, Pa-
ris, Rom, Washington und an die Deutschen Gesandtschaften in Bern, Brüssel, Haag, Helsingfors, Oslo, Stockholm.AAL 1420/1 380 806-808. 3) Erschienen in: Der Ring 6, H. 17, In diesem Sinne auch F.v.Uexküll-Gülden~ band: "Deutschlands volkspolitisches Programm", in: Nation und Staat 6, S. 536 ff., der ebenfalls für eine Trennung von Juden- und Minderheitenfrage plädiert und die deutsche Judenpolitik im Sinne der Dissimilation interpretiert, aber doch die Notwendigkeit anerkennt, "nach Wegen zu suchen, wie die von uns vertretenen Grundsätze in der Nationalitätenfrage sinngemäß auf das Judentum in Deutschland angewandt werden können". 3) Lt. Brief Boehman Stieve vom 29.4.1933, AA9293/E 660 071-073,
- 300 eingehender Beratung über die Beschwerde empfahlen sie dem Auswärtigen Amt, im gegenwärtigen Zeitpunkt jede unliebsame Erörterung zu vermeiden. Statt dessen hielten sie eine beruhigende Erklärung für unerläßlich, daß Deutschland internationale Verträge wie die Genfer Konvention achten und sich auch im vorliegenden Fall entsprechend verhalten werde. Auch sie waren offenbar noch vom Prinzip der Kontinuität bestimmt, wenn sie den Sinn der vorgeschlagenen Erklärung auch darin sahen, "unsere bisherige Minderheiten- und Revisionspolitik nicht zu gefährden". - Damit war eine Formel gefunden, die auch in Berlin geeignet erschien, tnn in dieser Phase _unerwünschte Komplikationen zu vermeiden. Auf einer Olefbesprechung der beteiligten Ministerien am 24. Mai 1933 vereinbarte man, die deutsche Delegation in Genf zu einer Erklärung zu ermächtigen, daß Deutschland loyal zu seinen internationalen Verpflichtungen stehe und, falls es in Deutsch-Oberschlesien Zuwiderhandlungen gegen die Genfer Konvention gegeben habe, dies nur "irrtümliche Maßnahmennachgeordneter Organe auf1 grund einer falschen Auslegung der Gesetze" sein könnten ). Ein solches Vorgehen ließ fonnal imner noch einen gewissen Zusammenhangmit der bisherigen Minderheitenpolitik erkennen, ihm dürfte vor allem aber die außenpolitische Erwägung zugrunde gelegen haben, daß alles vermieden werden müsse, was Deutschlands internationalem Ansehen schade und damit die Konsolidierung des neuen Regimes erschwere, Das mag auch der Grund gewesen sein, wartnn der Erlaß an die deutsche Völkerbundsdelegation die ausdrückliche Anweisung enthielt, in der vorgesehenen Erklärung Hitlers Reichstagsrede vom 17. Mai nicht zu erwähnen. Hitler hatte hier die Möglichkeit eines Austritts aus dem Völkerbund angedeutet2). Es war jedoch nicht zu leugnen, daß sich Deutschlands minderheitenpolitische Position wesentlich verschlechtert hatte. Denn die deutsche Seite mußte sich nun, tnn innenpolitische Maßnahmenzu decken, auf einen engen formalrechtlichen Standpunkt zurückziehen: Während sie früher dafür eingetreten war, in Minderheitenfragen den Zugang ztnn Völkerbund möglichst zu erleichtern, behielt sie sich jetzt das Recht vor, zunächst die Legitimation Bernheims als Minderheitenangehöriger zu prüfen; war es früher eine der deutschen Hauptforderungen, daß nicht nur individuelle Beschwerdepunkte, sondern stets auch die gesamte Situation der Minderheit in das Untersuchungsverfahren des Völker1) Neurath an Deutsche Delegation 892-894. 2) Schultheß'
Genf (Tel.)
Europ. Geschichtskalender
am 24.5.1933,
74, S. 137,
AAL 1420/L 380
- 301 -
bundes einbezogen werden müßten, sprach die Reichsregierung dem Petitionär von vornherein das Recht ab, "über die generelle Frage der Anwendbarkeit deutscher Gesetze in Oberschlesien Beschwerde zu führen"; schließlich: im Gegensatz zur bisherigen deutschen Minderheitenpolitik, die sich über eine formale Bindung hinaus immer auch zu einer allgemeinen moralischen Verpflichtung ztnn Minderheitenschutz bekannt und sich auf eine vorbildliche eigene Minderheitenregelung gestützt hatte, wurde die deutsche Delegation jetzt angewiesen, jeder Diskussion im Rat, die über den begrenzten Fall hinaus sich mit der innerdeutschen Gesetzgebung befassen sollte, "mit äußerster Schärfe entgegenzutreten". - Immerhin wurde nicht bestritten, daß die Bestimmungender Genfer Konvention auch auf den jüdischen Bevölkerungsteil in Oberschlesien zutrafen. In einer Denkschrift des Auswärtigen Amtes wurde dementsprechend festgestellt: 1. Es sei schwer zu leugnen, "daß die jüdischen Einwohner Oberschlesiens von dem Augenblick ab eine Minderheit bilden, wo sie als eine solche behandelt werden"; 2. es bestehe kein Zweifel, daß die antijüdischen Gesetze eine Sonderbehandlung der Juden bezweckten und ihnen Rechte entzögen, die sie bisher als deutsche Staatsbürger genossen hätten, daß diese Gesetze somit nicht im Einklang mit der Genfer Konvention ständen l). Man konnte schließlich auch nicht leugnen, daß die Genfer Konvention im Gegensatz zu den Minderheitenverträgen auch Privatpersonen das Recht gewährte, den Apparat des Völkerbundes von sich aus in Bewegungzu setzen. Doch wies Staatssekretär v.Bülow den Völkerbundsdelegierten v.Keller an, während der Verhandlungen in Genf die "natürliche (n) Grenzen" dieses Rechts zu betonen in dem Sinne, daß es mit einer "sinngemäßen Interpretation" unvereinbar sei, wenn der Angehörige einer Minderheit gegen Gesetze oder MaßnahmenBeschwerde einlege, durch die er persönlich nicht betroffen sei. Ein Petitionsrecht solle Bernheim nur insoweit zugestanden werden, als es sich tnn ihm persönlich erwachsene Nachteile handele. Für diese aber sei das lokale Verfahren gemäß der Genfer Konvention heranzuziehen2). Am 26. Mai gab Keller im Völkerbundsrat die auf der Ressortbesprechung vereinbarte Erklärung ab, die darauf abzielte, der Debatte einen glatten Verlauf zu geben und eine große Aussprache zu verhindern. In diesem Bestreben traf sich Wo man offenbar Wert der deutsche Delegierte mit dem Völkerbundsekretariat, darauf legte, dem Deutschen Reich möglichst wenig Schwierigkeiten zu bereiten. 1) Aufzeichnung
(o.U.)
2) Bülow an Keller
vom 22.5.1933,
(Tel.)
am 1.6.1933,
AAL 1420/L 381 032-034, AAL 1420/L 380 981-984.
- 302 -
So erklärten sich der Generalsekretär und der als Rapporteur bestinnnte irische Delegierte Lester bereit, die Ratsvertreter zum Verzicht auf eine eingehende Erörterung zu bewegen1). Maßgebendwar hier - wie schon bei früheren GeInteresse, Krisen und Verlegenheiten dieser Art_, das völkerbundspolitische wicklungen zu vermeiden und den Völkerbund vor einem Eklat zu bewahren. Freilich war die Angelegenheit von größerer politischer Tragweite, als daß sie mit einem taktischen Manöver hätte erledigt werden können. Denn im Grunde stand mit dem Fall Bernheim der gesamte politische Kurs der neuen Reichsregierung auf der Tagesordnung, ging es also auch um das Verhältnis der europäischen Mächte zum nationalsozialistischen Regime. Es bot sich den Ratsmitgliedern Argumenten hier eine Gelegenheit, das neue Deutschland mit den traditionellen der deutschen Minderheitenpolitik auf die Anklagebank zu ziehen. So beobachtete Keller eine "Neigung zu politischer Stinmungsmache112), die sich in dem Bestreben der Ratsmächte äußere, im Rapport über den Fall Bernheim auch eine klare Stellungnahme zum Gesamtproblem zu verankern. Angesichts dieser Tendenzen entbehrten die intensiven Verhandlungen zwischen dem Generalsekretär, dem Direktor der Minderheitenabteilung, dem Rapporteur und dem deutschen Delegierten, in denen man sich gemeinsam um einen Ratsbericht bemühte, von vornherein jeder Geschäftsgrundlage. Denn eimnal ließen sich die Ratsmächte nicht zu bindenden Zusagen bewegen, auf eine Debatte zu verzichten, zum andern deuteten auch solche Staaten, die bisher den deutschen Standptmkt in der Minderheitenfrage regelmäßig unterstützt hatten, an, sie würden auch diesmal prinzipiell Minderheitenfreundlichkeit bekunden, um nicht in den Verdacht der Parteilichkeit zu geraten 3). Demgegenüber lief die Taktik der deutschen Delegation darauf hinaus, die Beschwerde Bernheim auf die Bedeutung eines individuell begrenzten Falles herunterzuspielen, ja ihn auch als solchen nur mit dem Vorbehalt anzuerkennen, daß sich die Legitimation des Petitionärs - er war inzwischen nach Prag übergesiedelt - erweisen würde, im übrigen aber auf die lokalen Instanzen in Oberschlesien zu verweisen. Man strebte einen Rapport an, der eine in diesem Sinne gehaltene Erklärung der deutschen Delegation sowie die allgemeine Versicherung enthielt, Deutschland werde die Genfer Konvention respektieren; dabei sollte sich der Rat darauf beschränken, diesen Bericht zur Kenntnis zu nehmen 1) Keller 2) Keller 3) Ebd.
an AA (Tel.)
am 26.5.1933,
an AA (Tel.)
am 28,5.1933,
AAL 1420/L 380 899. ebd. /L 380 919 f.
- 303 und den Fall als erledigt zu betrachten 1). Besonders deutlich wurde der Unterschied zur bisherigen deutschen Position, wenn Bülow dem deutschen Delegierten die Weisung erteilte, jede Auflage des Völkerbundsrats abzulehnen und sich auch der Einfügung einer Restitutions- und Rechenschaftsklausel in den Bericht zu wi.dersetzen, die Deutschland verpflichten würde, geschädigte Personen wieder in den früheren Stand einzusetzen und dem Rat einen Bericht über diese Maßnahmenvorzulegen 2). Gerade auf diese Modalität hatte die deutsche Seite bei früheren Gelegenheiten großen Wert gelegt, so bei ihrer WahlterrorBeschwerde 1930/31, im Bestreben, die anstehende Frage offenzuhalten und den beklagten Staat weiterhin unter Druck zu halten. Jetzt war sie es, die bestrebt war, eine Erörterung möglichst schnell abzuschließen. ~fit Recht verwies auch der Generalsekretär auf diesen Präzedenzfall und warnte, daß sich Polen künftig nach deutschem Vorbild ebenfalls weigern werde, in Minderheitenfällen Rechenschaft abzulegen 3). In der Ratssitzung am 30. Mai legte der irische Delegierte seinen Bericht vor. Nachdemdie Vorverhandlungen in den grundsätzlichen Fragen zu keiner Annäherung der Standptmkte geführt hatten, behandelte der Rapport auch die allgemeine Situation der Juden in Deutsch-Oberschlesien und hielt im Prinzip auch an der Restitutions- und Rechenschaftsklausel fest, wenngleich diese durch eine Kompromißformelabgeschwächt war: Die Reichsregierung wurde verpflichtet, statt eines formellen Rechenschaftsberichts an den Rat den Rapporteur durch ihren Ratsvertreter formlos über die weitere Entwicklung der Angelegenheit zu unterrichten 4). Immerhin waren die deutschen Wünscheim wesentlichen auf Ablehnung gestoßen, so daß Keller nichts übrig blieb, als den Bericht abzulehnen. überhaupt machte die Ratsdebatte die lhnkehrung der Fronten geradezu augenfällig: Der polnische Delegierte bediente sich jetzt derselben Argumente, deren sich die deutsche Seite früher in ihrem Kampfgegen die polnische Minderheitenpolitik bedient hatte. So habe Deutschland früher innner für eine weitgehende Auslegung der Minderheitenschutzbestinnnungen plädiert, weiche jetzt aber, da es selber betroffen sei, von diesem Grundsatz ab; formalrechtlich gehe es zwar nur um Oberschlesien, aber zumindest moralisch hätten die Ratsmit1) Bülow an Keller
(Tel.) am 27.5.1933 mit dem Entwurf eines Ratsberichts, wie er im Auswärtigen Amt als annehmbar beurteilt wird, AAL 1420/L 380 916-918.
2) Weisung Bülow an Keller 3) Keller
(Tel.)
(Tel.)
vom 29,5,1933,
an AA am 28.5.1933,
4) Wiedergabe der Ratsdebatte
in:
AAL 1420/L 380 936-937,
AAL 1420/L 380 921-924.
Nation und Staat
6, S. 593 ff.
- 304 -
glieder das Recht, für die Juden in ganz Deutschland minderheitsrechtlichen Schutz zu fordern. Damit diente der Fall Bernheim der polnischen Seite letzten Endes nur zur Unterstützung ihrer grundsätzlichen Kritik am Minderheitenschutzsystem: Die Beschränkung auf Oberschlesien zeige seine Unvollständigkeit und mache erneut die Notwendigkeit einer Revision deutlich 1). Auf Vorschlag des Rapporteurs beschloß der Völkerbundsrat in dieser Situation die Einsetzung eines Juristenkomitees, das die strittigen Fragen klären sollte: 1, Ist Bernheim Angehöriger der Minderheit und somit legitimiert, eine Petition einzubringen? 2. Ist er berechtigt, auch Fragen allgemeinerer Natur in seiner Beschwerde aufzuwerfen? - In beiden Fragen kam das Juristengremium zu einer positiven Antwort 2). Gegen dieses Gutachten Einwände zu erheben, schien nun auch der deutschen Delegation nicht ratsam. Keller argumentierte ganz in den Denkvorstellungen der traditionellen deutschen Minderheitspolitik, wenn er dem Auswärtigen Amt gegenüber die Annahme eines auf diesem Gutachten basierenden Berichtes befüruurtete und seine Stellungnahme mit dem Hinweis begründete, auf diese Weise biete sich der deutschen Politik eine neue Möglichkeit, "Grundlagen für Aktivierung unserer allgemeinen Minderheitenpolitik wieder herzustellen und allgemeine Stinmrunggegenüber Deutschland zu verbes sern 113). Indessen übersah diese Einschätzung der Lage einen entscheidenden Umstand: Ober den Fall Bernheim hinaus wurde in der internationalen Öffentlichkeit die Situation der Juden in Deutschland allgemein mit dem Anspruch der deutschen Minderheitenpolitik konfrontiert, so daß die Reichsregierung, um als Sprecher der deutschen Volksgruppen im Völkerbund wieder glaubwürdig zu werden, ihre Judenpolitik hätte aufgeben müssen. Daß sich die neuen ~1achthaber in dieser Frage zu mehr als nur taktischen Konzessionen bereitfinden würden, damit war freilich schon deshalb nicht zu rechnen, weil diese einer außenpolitischen Konzeption gegolten hätten, die ohnehin nicht mehr als innerlich verpflichtend empfunden wurde. So sah sich Keller, um den. hier begründeten prinzipiellen Vorbehalt aufrechtzuerhalten, zugleich aber außenpolitische Friktionen zu vermeiden, gezwungen, in der Ratssitzung am 6. Juni bei der Abstimmungüber die endgültige Fassung des Berichts Stimmenthaltung zu üben 4). Damit stand einer Annahmedes Berichts nichts entgegen. Der Völkerbundsrat verurteilte die antijüdischen Gesetze und Maßnahmen,soweit sie 1) Ebd. 2) Ebd. 3) Keller
an AA (Tel.)
run. 3.6.1933,
AA L 1420/L 380 990 f.
4) Keller
an AA (Tel.)
am 5,6.1933,
AA L 1420/L 380 ·992.
- 305 in Oberschlesien angewandt wurden, als Verstöße gegen die Genfer Konvention, nahm aber zugleich die Erklärung der deutschen Regierung zur Kenntnis, daß sie die ~1inderheitenschutzbestimnrungen achten werde und eventuelle Verstöße gegen sie als Irrtümer nachgeordneter Behörden anzusehen seien, die korrigiert werden würden. Schließlich wurde die Reichsregierung zur Vorlage eines Rechenschaftsberichts über ihre Maßnahmenzur Wiedereinsetzung der geschädigten Personen angehalten. Damit war der Fall Bernheim zunächst abgeschlossen. Er hatte die deutsche Außenpolitik immerhin in eine gewisse Verlegenheit gebracht und zugleich deutlich werden lassen, daß es für eine aktive deutsche Minderheitenpolitik im alten Sinne künftig keine Grundlage mehr geben würde. So hatten auf deutscher Seite in dieser Diskussion ja auch weniger minderheitenpoli tische, als vielmehr allgemeine außenpolitische Erwägungen - die Sorge um die internationale Reputation des neuen Regimes - den Ausschlag gegeben. Dementsprach es, wenn die Reichsregierung, um eine neue Konfrontation zu vermeiden und innerdeutsche Vorgänge aus der internationalen Diskussion herauszuhalten, bald nach der Ratstagung Maßnahmeneinleitete, wie sie der Ratsbericht zur Auflage machte. Am 16. Juni 1933 wurden das Reichsministerium des Innern und das Preußische Staatsministerium durch das Auswärtige Amt von der Genfer Entscheidung unterrichtet und ersucht, Anordnungen zu erlassen, die der deutschen Erklärung und dem Ratsbericht Genüge leisten würden1). Wenige Tage vor der Oktobersitzung des Völkerbundsrats am 30. September 1933 legte die deutsche Delegation in 2 Genf dem Rapporteur einen Bericht über die Schritte ihrer Regierung vor ). Die persönliche Seite des Falls Bernheim, die an die lokalen Instanzen für Oberschlesien verwiesen worden war, trat nun völlig vor dem allgemeinen Problem zurück. Im einzelnen konnte der deutsche Bericht folgende Maßnahmenvorweisen: 1, Die Reichsregierung hatte am 21. Juni sämtliche Ministerien des Reiches, die Hauptverwaltung der Reichsbahngesellschaft, das Reichsbankdirektorium und das Preußische Staatsministerium ersucht, dafür zu sorgen, daß Gesetz vom 7. April 1933 und entsprechende andere Gesetze nicht das anzuwenden seien, wenn sie im Widerspruch zur Genfer Konvention ständen. Dem wurde durch besondere Weisung der Reichs- und preußischen Zentralstellen an 1) BÜlow an den Reichsminister des Innern und an das Preuß. Staatsministerium (mit dem Vermerk: "Eilt sehr!") am 16.6.1933, AAL 1420/L 381 035-038. 2) Deutsche Delegation 646 125-127.
Genf (Adelmann) an Lester
am 30.9.1933,
AA 9185/E
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alle nachgeordneten Behörden entsprochen. Auch für die Durchführung dieser Weisung hatte die Reichsregierung geeignete Maßnahmengetroffen. 2. Die Stadtverwaltungen in Oberschlesien waren fonnell angewiesen worden, sich jeder wirtschaftlich oder sonstigen unterschiedlichen Behandlung der jüdischen Bevölkerung zu enthalten. Gegenteilige Beschlüsse und Maßnahmenwaren für rechtsungültig erklärt, ihre Anwendunguntersagt worden. 3. Der Preußische Justizminister hatte die Justizbehörden darauf hingewiesen, daß eine unterschiedliche Behandlung von arischen und nichtarischen Rechtsanwälten, Notaren etc. nicht stattfinden dürfe. Entsprechendes wurde vom Deutschen Juristenbund berichtet. 4. Mit der Veröffentlichung der Erklärung des deutschen Delegierten vor dem Völkerbundsrat durch das amtliche Deutsche Nachrichten-Büro hatte die Reichsregierung vor der Weltöffentlichkeit klargestellt, daß sie entschlossen war, die Genfer Konvention einzuhalten. - Immerhin wurde damit deutlich, daß der Genfer Minderheitenschutz wirksam sein konnte, wenn ein allgemeines außenpolitisches Kalkül - bzw. diplomatischer Druck - einen beklagten Staat zum Einlenken zwangen. Mit der Erledigung der Beschwerde war freilich die am Fall Bernheim entfachte grundsätzliche Diskussion nicht abgeschlossen. Denn die unveränderte Haltung der deutschen Regierung in der Judenfrage lenkte die allgemeine Erörterung wieder auf das Problem der Generalisierung des Minderheitenschutzes - angesichts dessen, daß rechtlich nur die Juden in Oberschlesien geschützt, tatsächlich aber der jüdische Bevölkerungsteil in ganz Deutschland schutzbedürftig war. Der Verlauf der Ratstagung im Mai und die internationale Propaganda gegen die deutsche Judenpolitik veranlaßten auch das Auswärtige Amt zur Annahme, daß auf der Herbsttagung der Völkerbundsversammlung die Judenfrage unter minderheitenpolitischem Gesichtspunkt aufgerollt werden würde1). Angesichts der dort zu erwartenden unangenehmen Erörterungen sah man sich deshalb vor die Frage gestellt, ob Deutschland auch in diesem Jahr - traditionsgemäß die Oberweisung der Minderheitenfrage in die 6. Kommissionder Vollversannnlung beantragen solle. Da jedoch in jedem Falle ein gegnerischer Vorstoß zu erwarten war, der Deutschland von vornherein in die Defensive gedrängt hätte, hielt man es im Auswärtigen Amt für zweckmäßiger, wenn die deutsche Delegation, in Erwartung des Sturms, von sich aus die Initiative ergriff und dadurch den Anschein eines schlechten Gewissens vermied 2). Allerdings bestand auch Klarheit 1) AA-Aufzeichnung (o.U.) für den Staatssekretär 381 099-101. 2) Dgl. vom 7.9.1933, AA 9294/E 660 135-140.
vom 8.9.1933,
AAL 1420/1
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darüber, daß ein deutsches Programmfür die Vollversannnlung der veränderten Situation Rechnung tragen mußte und ein bloßes Wiederanknüpfen an die Verhandlungen von 1932 nicht möglich war. Die Oberlegungen des Auswärtigen Amtes gingen dahin, daß Deutschland auf der Herbsttagung mit einer profilierten Aussage auf dem Gebiet der Minderheitenideologie hervortreten und seine Auffassung von Volk und Volkstum den Prinzipien eines sich im Genfer Verfahren erschöpfenden Minderheitenschutzes entgegenhalten müsse. Doch war ein solches Vorgehen, mit dem man darauf abzielte, die Initiative in der Minderheitenfrage zurückzugewinnen, wiederum entscheidend durch die deutsche Judenpolitik belastet, mußte man doch auf der Vollversammlung mit dem Vorwurf rechnen, Deutschland habe durch Entrechtung eine Minderheit geschaffen, die des internationalen Schutzes bedürfe. Die zur Vorbereitung der Völkerbundsdebatte im Auswärtigen Amt angefertigte Referenten-Aufzeichnung ließ klar erkennen, daß dies der entscheidende Punkt war, an dem Deutschland gegen jeden gegnerischen Angriff ungerüstet sein würde1). Dabei wurde das Bedenkliche nicht in den antijüdischen Maßnahmen an sich gesehen, sondern in der Ungewißheit über das weitere Schicksal der Juden: Der Erklärung, es handele sich bei der Judenfrage in Deutschland nicht um ein Minderheitenproblem im Sinne des internationalen itinderheitenschutzes, würde von den Gegnern stets entgegengehalten werden können, daß die Lage der Juden im Reich gegenwärtig und in Zukunft noch völlig unsicher sei. Deshalb wurde es hier für dringend angezeigt gehalten, "daß wir in der Debatte auf eine klare Erklärung der Reichsregierung über die künftige Rechtslage der Juden in Deutschland verweisen können112). Freilich war mit einer solchen verbindlichen Erklärung nicht zu rechnen - entsprechend dem Wesen der deutschen Judenpolitik - , womit abermals zutage trat, daß es für die im Auswärtigen Amt noch vertretenen Prinzipien der traditionellen Minderheitenpolitik im politischen Programmdes nationalsozialistischen Regimes keine Kontinuität gab. Angesichts dessen dürften es nur allgemeine politische Erwägungen, nicht die Aussicht auf ein konkretes Verhandlungsergebnis gewesen sein, die den deutschen Außenminister auf der Tagung der Völkerbundsversannnlung im Oktober 1933 veranlaßten, auch diesmal wieder die Verweisung der Minderheitenfrage an die 6. Kommission zu beantragen. Die vom 3. - 10. Oktober dort ablaufende Debatte 1) Ebd. 2) Ebd,
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führte noch einmal zu einer grundsätzlichen Auseinandersetzung mit der deutschen Minderheitenpolitik. In seiner Eröffnungsrede am 3. Oktober sprach der deutsche Delegierte v.Keller ohne Umschweife die Kontroverspunkte an 1): Statt um bloße Verfahrensfragen gehe es um die Nationalitätenfrage als grundsätzliches Problem. Als für die deutsche Auffassung entscheidend stellte Keller den Begriff des "Volkstl.Dils"heraus, in dem sich die Zusammengehörigkeit aller Angehörigen eines Volkes über die Staatsgrenzen hinweg ausdrücke. So wie diese Glieder einer organischen Gemeinschaft seien, so müßten sie auch rechtlich als Gruppe anerkannt werden. Der Redner .sprach in diesem Zusammenhangvon einem "allgemeinen Wandel der Weltanschauung", aber er bewegte sich dabei noch im Bereich der Vorstellungen, wie sie die deutschen Minderheitenführer schon vor 1933 entwickelt hatten. Neu war lediglich, daß diese Volkstl.Dilsideologie nun vor dem Völkerbtmd als offizielles Programmder deutschen Regierung - in Abgrenzung gegen die individualistische Konzeption des Genfer Minderheitenschutzes - vorgetragen wurde. Dabei ist freilich daran zu erinnern, daß sich auch die Reichsregierungen vor 1933 stets zur Zusammengehörigkeit des Volkes bekannt und mit der Forderung nach kultureller Autonomie zu erkennen gegeben hatten, daß sie in einem individualistischen Minderheitenschutz nicht eine auf die Dauer befriedigende Lösung der Nationalitätenfrage sahen, sondern die Anerkennung des Volksgruppenstatus für die deutschen Minderheiten anstrebten. Sie hatten sich aber immer orientiert am bestehenden Minderheitenschutzsystem und ihr Programmauf dieses ausgerichtet. Der eigentliche Kontroverspunkt lag jedoch nicht hier, sondern in der Judenfrage. Nachdemdie deutsche Delegation auf der Ratstagung im Mai den Juden in Oberschlesien grundsätzlich Minderheitenstatus zugebilligt hatte, war es nun ihr Ziel, jede über Oberschlesien hinausgehende Erörterung der Judenfrage als Minderheitenproblem zu verhindern. Keller bemühte sich deshalb, den anderen Ratsmitgliedern die Judenfrage in Deutschland als ein "bevölkerungspolitisches und soziales Problem" zu erläutern, "ein Problem sui generis, das als solches auch eine besondere Lösung wird erfahren müssen". Mit Entschiedenheit lehnte er jede Diskussion über die innere Gesetzgebung Deutschlands ab. Die konkreten Anregungen, die er der Kommissionunterbreitete, konnten somit nur theoretisch-unverbindlichen Charakter haben, zumal sie auch über qen Rahmendes Genfer Minderheitenschutzsystems hinausgingen. So stellte Keller bilaterale 1) Debatte
wiedergegeben
in: Nation und Staat
7, S. 56 ff.
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Minderheitenverträge zur Diskussion, alternativ eine allgemeine Minderheitenschutzkonvention, schränkte beide Vorschläge in ihrer praktischen Bedeutung aber gleich wieder ein, wenn er zur Bedingung machte, daß sich die Partner zuvor über grundsätzliche Aspekte des Minderheitenschutzes, vor allem über den Volkstumsgedanken einigen müßten. Schließlich blieb es auf deutscher Seite bei einer unverbindlichen Bekräftigung der schon in den vergangenen Jahren unterbreiteten Vorschläge für eine Verbesserung des Verfahrens, ohne daß diese noch einmal spezifiziert wurden. In der nachfolgenden Diskussion wurde nur zu offenkundig, daß sich Deutschland in der Defensive befand und isoliert war. Der französische Delegierte Senator Berenger stellte die Debatte gleich auf die konkrete Lage in Deutschland ab und brach so mit der Gepflogenheit, nach der in der 6. Konnnissionniemals ein Einzelfall zumAnlaß genonnnenwurde, einen besonders genannten Staat zu apostrophieren. Auch Italien, das im Mai mit Deutschland gestimmt hatte, zeigte ein gewisses Befremden über die Darlegung des Volkstumsgedankens. Eine Unterstützung des deutschen Standpunkts durch Neutrale schließlich war diesmal nicht zu erwarten 1). Freilich erschöpfte sich die Gemeinsamkeit der anderen ilächte weitgehend in der Ablehnung des deutschen Standpunkts. Denn im übrigen riß die Frage der Generalisierung auch unter ihnen wieder Fronten auf, Der polnische Delegierte Graf Raczynski und der tschechoslowakische Außenminister Benesch nahmen - unterstützt vom schwedischen Delegierten Sandler - die Situation der Juden in Deutschland zumAnlaß, erneut ein allgemeines Minderheitenschutzabkommenzu fordern. Dieser Koalition stand der unveränderte Widerstand Frankreichs, Großbritanniens und Italiens gegenüber, die sich nach wie vor jeder Beeinträchtigung ihres Großmachtstatus widersetzten, so daß der Generalisierungsvorschlag abermals scheiterte. Berenger bekräftigte im Verlaufe der Diskussion die französische Einstellung zu diesem Problem mit der Bemerkung, daß der Völkerbund "nicht ein Bund von Idealisten, sondern von realdenkenden und interessierten Staaten" sei 2). Von britischer Seite wurde eine Verallgemeinerung, wie schon bei früheren Gelegenheiten, wegen der unabsehbaren Folgen für das Britische Empire abgelehnt 3). Dennoch empfand man es allgemein 1) Keller
an AA (Tel.)
run 7,10.1933,
AA 3147/D 665 593,
2) Am 7,10. in dem von der 6. Kommission eingesetzten Unterausschuß, Keller an AA vom 7,10.1933 (abends). AA 3147/D 665 597-601. 3) Keller
an AA (Tel.)
run 6.10.1933,
AA 3147/D 665 586-591,
lt.
Tel.
-
jiU
-
als notwendig, der gemeinsamen Kritik an der deutschen Judenpolitik auch im Rahmendieser Minderheitendebatte Ausdruck zu geben. Da es aber, nach Ablehnung des Generalisierung$VOrschlags, keine rechtliche Handhabe gab, um die allgemeinen Maßnahmender deutschen Regierung in der Judenfrage zu verurteilen, blieb nur die Möglichkeit, bestimmte allgemein-verbindliche moralische Prinzipien zu bekräftigen und damit indirekt ein Urteil auszusprechen. Die Diskussion konzentrierte sich daher auf einen Vorschlag des französischen Delegierten, der eine Neuauflage der Resolution der .Völkerbundsversammlungvom 21. September 1922 forderte, in welcher auch die vertraglich nicht gebundenen Staaten angehalten wurden, ihren Nationalitäten mindestens das gleiche Maß an Schutz zu gewähren, wie es die Minderheitenschutzverträge vorschrieben 1) • Ein von der Kommissioneingesetzter Unterausschuß erarbeitete schließlich einen Resolutionsentwurf, der über eine Bekräftigung der Entschließung von 1922 noch hinausging, wenn er in Punkt 2 forderte, daß die Grundsätze des Minderheitenschutzes "ohne Ausnahmeauf alle Kategorien von Staatsbürgern" bezogen werden sollten, "die sich von der Mehrheit der Bevölkerung durch Rasse, Sprache oder Religion unterscheiden' 12). Nach der voraufgegangenen Diskussion war kein Zweifel, daß diese extensive Auslegung des Minderheitenbegriffs - die Resolution von 1922 sprach nur von ''Minderheiten" - ausschließlich auf die deutsche Judenpolitik gemünzt war. Das wurde auch von der deutschen Delegation so empfunden, die sich dieser Weiterung natürlich entschieden widersetzte. Keller hatte gar nicht einmal unrecht, wenn er sich auf Ausführungen anderer Redner berief, die vor einer Belastung des Völkerbunds mit heiklen Fragen gewarnt hatten3). Denn es wirkte wenig glaubwürdig, wenn der Vertreter Frankreichs, der früher jede auch nur verbale Bekräftigung oder gar Ausdehnung des Minderhei tenschutzprinzips abgelehnt hatte, nun, offenbar in der Absicht, Deutschland zu isolieren, die "Verpflichtungen höherer Art" beschwor, die den Völkerbund zwängen, gegen die ungerechte Behandlung einzelner Minderheiten zu protestieren4), Darüber hinaus illustrierte die Debatte die Fragwürdigkeit des Völkerbunds überhaupt, wenn die entscheidenden Mächte, nachdem sie sich vor 1933 nicht zu prinzipiellen Zugeständnissen an die deutsche Seite auf dem Gebiet des Minderheitenschutzes bereitgefunden hatten, nun, wiederum gegen Deutschland, z.T. ähnlich argumentierten wie damals die deutschen Delegationen. 1) 2)
s. s.
oben S.23. Nation und Staat
3) Keller
4) Ebd.
an AA (Tel.)
7, S. 66 f. am 7,10.1933
(abends),
a.a.O.
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In einer namentlichen Abstinmnmgwurde der Resolutionsentwurf mit allen Stimmen gegen die des deutschen Delegierten angenommen;lediglich Italien und Ungarn bekundeten Loyalität gegenüber Deutschland, indem ihre Delegierten erklärten, daß sie durch die Annahmedes umstrittenen Punktes keine Einmischung in die inneren Angelegenheiten eines fremden Staates beabsichtigten 1). Damit konnte der Entwurf über die 6. Kommissionder Vollversammlung zugeleitet werden, in der der finnische Delegierte Holsti als Rapporteur über die Debatten in Kommissionund Unterausschuß berichtete. Er bezeichnete gleichsam das noch verbliebene gemeinsame Band, wenn er konstatierte, die verschiedenen Thesen hätten in einer "Atmosphäre allgemeiner Höflichkeit frei entwickelt werden können112 ). Da Einstimmigkeit erforderlich war, gelang es der deutschen Seite, mit ihrem Veto den fraglichen Punkt der Resolution zu Fall zu bringen, so daß das formelle Ergebnis dieser Minderheitendebatte im wesentlichen nur eine Bestätigung der Resolution von 1922 war. Durch den Austritt Deutschlands aus dem Völkerbund wurde jedoch auch dieses Ergebnis obsolet. Die von Stresemann eingeleitete auf den Völkerbund orientierte aktive ~ünderheitenpolitik ging damit endgültig zu Ende. Doch wurde der Genfer ~ünderheitenschutz auf deutscher Seite nun nicht etwa als erloschen betrachtet, sondern durchaus noch in ein politisches Kalkül eingespannt, zumal sich durch den deutschen Schritt an der rechtlichen Verbindlichkeit der Minderheitenschutzverträge nichts änderte. Das galt nicht nur für die Genfer Konvention für Oberschlesien, sondern auch für das allgemeine Minderheitenschutzsystem. Nach dem Austritt aus dem Völkerbund konzentrierte sich das minderheitenpolitische Interesse des Reiches auf das den Minderheitenschutzverträgen zugrunde liegende politische Prinzip, gleichsam den Kern der deutschen Minderheitenpolitik: Der genuine Zusammenhangzwischen Territorialregelung und Minderheitenschutz bot immer noch eine Möglichkeit, jederzeit unter Hinweis auf die Nichterfüllung von Vertragsverpflichtungen auch die Territorialfragen aufzuwerfen. Unter diesem Aspekt wurde auf einer Ressortbesprechung der beteiligten Reichs- und preußischen Ministerien iin Auswärtigen Amt am 20. November 1933 die grundsätzliche Frage erörtert, welche Haltung Deutschland, nachdem es Genf verlassen hatte, gegenüber dem Völkerbund als Instanz in Minderheitenfragen einnehmen solle. Man stellte fest, "daß 1, Deutschland keine Veranlassung habe, die Arbeit des Völkerbundes zu erleichtern oder seine Autorität zu 1) Keller
an AA (Tel.)
2) Nation und Staat,
am 7.10.1933 a.a.O.
(abends),
a.a.O,
- 312 stärken, 2. daß aber trotz unseres Austritts aus dem Völkerbund internationale Abkommen wie das Genfer Abkommen,in denen der Völkerbund als Instanz figuriere, weiterhin geltend für Deutschland seien und die Völkerbundsorgane auch uns gegenüber diejenigen Befugnisse und Zuständigkeiten behalten, die wir ihnen durch dieses Abkommen übertragen haben111). Damit bekannte man sich zu den eingegangenen vertraglichen Bindungen, um legitimiert zu sein, ggf. auch die Gegenseite an ihre Verpflichtungen zu erinnern. Manbeschloß - als Folge der allgemeinen deutschen Völkerbundspolitik -, sich in Zukunft "formal passiv" zu verhalten, d.h. dem Völkerbund bei etwaigen Minderheitenbeschwerden keine Gegenbemerkungenvorzulegen, hielt sich aber grundsätzlich eine Tür offen, das Minderheitenschutzsystem als InstTiljllent für allgemeine außenpolitische Ziele einzusetzen. Die eigentliche Betreuung·der deutschen Minderheiten wurde nun "gleichgeschaltet". Am 27. Oktober 1933 übernahm der "Stellvertreter des Führers" Rudolf Heß die Obhut für "sämtliche Fragen des Deutschtums jenseits der Grenzen (Grenzund Auslandsdeutschtum) und die Fragen der Stärkung und Einheit des Gesamtdeutschtums, sowie alle damit zusammenhängendenAngelegenheiten im Innern des Reiches 112). Als Beratungs- und Vollzugsorgan wurde ein ''Volksdeutscher Rat" berufen, der nach außen nicht in Erscheinung trat. Schon bald nach seiner Konstituierung registrierten amtliche Stellen mit Besorgnis, daß er die Tendenz zeige, sich der amtlichen Fonds für die ~linderheitenarbeit zu bemächtigen 3). Damit deutete sich an, daß an die Stelle der vom Auswärtigen Amt maßgeblich 1) Niederschrift über die Besprechung in: AA Abt. IV Polen, Pol. 6, OS, Bd. 10 (ungefilmt). Beteiligt waren an der Besprechung: Auswärtiges Amt, Reichsministerium des Innern, die preußischen Ministerien des Innern, der Justiz, für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, Preuß. Staatsministerium. 2) Streng
vertraul.
Verfügung
vom 27,10.1933,
AA 8772/E 611 267.
3) Aufzeichnung über die Ressortbesprechung vom 10.11.1933 betr. Zusammenarbeit der zuständigen Reichs- und preußischen Ressorts in Volkstums- und Mi~derheitenfragen, AAL 437/Bd. 22. Dort: Es bestehe anscheinend innerhalb des Volksdeutschen Rates der Wunsch, sich mit den von amtlichen Stellen verwalteten Fonds zu beschäftigen. Um jeden Zweifel auszuschließen, daß die Verfügung über amtliche Fonds ausschließlich den zuständigen Ressorts untersteht, habe der Reichsminister des Auswärtigen am 3.11. ein Schreiben an Heß gerichtet, in dem diese Auffassung ausdrücklich betont wird. Der Vertreter des Reichsfinanzministeriums versicherte, daß-der Reichsfinanzminister ein ähnliches Schreiben an Heß aufgesetzt habe, und betonte die Notwendigkeit, auf die der OSSA und der Deut~chen Stiftung zur Verfügung stehenden Gelder vollen Einfluß zu behalten. Im gleichen Sinne der Ve_rtreter des Reichsministeriums des Innern.
- 313 bestimmten und verantwortlich geleiteten amtlichen deutschen Minderheitenpolitik nun, auch organisatorisch und personell sichtbar, die "geheime Zentralisation der Volkstumsführung" 1) trat.
2. Polens Rückzug vom internationalen a) Die polnische Minderheitenpolitik deutschen Minderheit in Polen
~linderheitenschutzsystem
(1934)
und die Alkohollizenzen-Beschwerde der
Trotz der Veränderung der minderheitenpolitischen Situation durch die Ereignisse des Jahres 1933 blieb die formalrechtliche Lage unberührt: Die Minderheitenverträge behielten ihre Gültigkeit, zumal sich auch Deutschland zu seinen vertraglichen Verpflichtungen auf diesem Gebiet bekannt hatte. Dennoch lag es in der Natur der Sache, daß hier, wo stets mehr politische als juristische Gesichtspunkte maßgebend gewesen waren, die politischen Veränderungen einschneidend wirkten. Zunächst mußte der Völkerbund als Garant des Minderheitenschutzes durch Deutschlands Rückzug aus Genf zweifellos an Autorität einbüßen. Insbesondere aber konnten sich die Minderheitenstaaten entlastet sehen, da ihnen nun im Völkerbund kein Ankläger mehr gegenüberstand. Amunmittelbarsten wirkte sich die Veränderung auf die polnische Minderheitenpolitik aus, war Polen auf diesem Gebiet doch stets der Hauptkontrahent des Reiches gewesen. Gerade um diese Zeit beschäftigte den Völkerbund eine Polen betreffende Minderheitenbeschwerde, an deren Erledigung die veränderte Situation besonders deutlich wurde. Es handelte sich dabei um einen Fall, der einmal wegen seines materiellen Beschwerdegrunds von erheblicher Bedeutung war, vor allem aber allgemeine völkerbundspoli tische Relevanz bekam, was nicht zuletzt auch darin begründet lag, daß dem zuständigen Dreierkomitee der Vertreter Großbritanniens angehörte. Zugleich illustrierte dieser Fall noch einmal die Wirkungsweise des internationalen Minderheitenschutzsystems und zeigte, in welcher Weise Behandlung der Minderheitenfrage und allgemeine politische Entwicklung zusammenhingen. Der Fall hatte eine längere Vorgeschichte: Am 28. Juli 1930 hatte der Sprecher der deutschen Minderheit in Polen, der Abgeordnete Graebe, eine Petition an den Völkerbund gerichtet, in der er gegen die diskriminierende Behandlung 1) Jacobsen,
a.a.O.,
S. 160 ff.
- 314 der deutschen Gastwirte bei der Zuteilung von Alkohollizenzen Beschwerde einlegte1). Schon seit Jahren würden ihnen Lizenzen entzogen bzw. neue verweigert, ohne daß Gleiches auch für die polnischen Gastwirte zutreffe. Die angeführten Maßnahmentrafen - und darin lag ihre Bedeutung - die deutsche Minderheit insgesamt, da sie mit der Schädigung der deutschen Gasthäuser zugleich das für den Zusannnenhalt des DeutschtlllßS wichtige Vereinsleben beeinträchtigten2). Bevor Graebe den Völkerbund anrief, hatte man sich bereits - den-minderheitenpolitischen Vorstellungen der polnischen Regierung entsprechend - im Lande selber Gehör zu verschaffen gesucht. Ein entsprechendes Memorandum des Deutschen Parlamentarischen Clubs an den polnischen Finanzminister war jedoch unbeantwortet geblieben, Solche Erfahrungen zeigten natürlich auch, was von der Forderung zu halten war, Minderheitenbeschwerden sollten zunächst im eigenen Land vorgebracht werden. Das Völkerbundsekretariat leitete die Petition am 9. August 1930 an die polnische Regierung weiter, um ihr die Gelegenheit zu Gegenbemerkungen zu geben. Am 1. September 1930 legte die polnische Völkerbundsdelegation ein Schreiben vor, in dem sie, ohne auf Einzelheiten einzugehen und zu den materiellen Vorwürfen Stellung zu nehmen, erklärte, daß die Frage der Erteilung und des .Entzugs von Alkohollizenzen nichts mit Minderheitenrechten zu tun habe. Da infolgedessen in der Praxis der polnischen Behörden keine Anderung eintrat, sah sich Graebe veranlaßt, am 19. Mai 1931 abermals eine Petition zu demselben Gegenstand einzureichen. Inzwischen hatte sich die polnische Regierung eine rechtliche Handhabe geschaffen, um ihre Maßnahmennachträglich abzusichern. Einern Gesetz vom 21. ~1ärz 1931 zufolge sollten die Alkohollizenzen in ganz Polen der Zahl nach begrenzt und gleichmäßig auf die Woiwodschaften verteilt werden. In seiner neuen Petition führte Graebe an, daß in der Praxis nicht nur einseitig deutsche Wirte vom Entzug der Lizenzen betroffen würden, sondern Angehörige der Mehrheitsbevölkerung sogar neue Lizenzen erhalten hätten und die Gesamtzahl der Lizenzen gegen die erklärte Absicht des neuen Gesetzes um 10%angewachsen sei. Auch hier hatte Graebe der Loyalitätsforderung Genüge getan und abermals versucht, die Angelegenheit mit dem polnischen Finanzminister zu klären, war aber wieder ohne Antwort geblieben. 1) Die Petitionen Graebe und die Gegenbemerkungen der polnischen Regierung zusammengefaßt in: VB (Ratsdokument) C. 107.1934.I. (Am 26.3.1934 vom Generalsekretär an die Ratsmit,glieder verteilt.) Journal Officiel XV, 574 ff.
2) Vgl. R. Breyer: s. 124.
"Das Deutsche
Reich und Polen
1932-1937",
Würzburg 1955,
- 315 Die zweite Petition, der eine umfangreiche Liste mit den Namender Betroffenen und eingehende Erläuterungen beigegeben waren, wurde der polnischen Regierung am 5. Juni 1931 weitergeleitet; diese antwortete dem inzwischen eingesetzten Dreierkomitee am 15. August 1931 mit dem Hinweis auf das inzwischen verabschiedete Gesetz und verzichtete im übrigen auch diesmal auf Erläuterungen zu den konkreten Vorwürfen. Die grundsätzliche Schwierigkeit war hier wie auch bei anderen Minderheitenbeschwerden der Nachweis, daß die angeführten Maßnahmenauch minderhei tenpoli tisch relevant waren. Darüber aber konnte nur eine zuverlässige Statistik Auskunft geben, aus der hervorging, ob eine unterschiedliche Behandlung von deutschen und polnischen Gastwirten vorlag. Diesem Erfordernis trug Graebe Rechnung, indem er angesichts des offenkundigen Mißerfolgs seiner früheren Eingaben in zusätzlichen Petitionen Statistiken, Graphiken und Beispiele vorlegte, um die Benachteiligung der deutschen Minderheit zu dokumentieren. Auf die dritte Petition Graebes vom 7. September 1931, die am 15. September 1931 an Polen weitergeleitet wurde, antwortete die polnische Regierung mit einem bloßen Hinweis auf ihre früheren Gegenbemerkungen.Für diese Antwort ließ sie sich dreieinhalb Monate, bis zum 30. Dezember 1931, Zeit. Erst auf eine neuerliche Petition vom 22. Januar 1932, die wieder mit ausführlichen Statistiken untermauert war, reagierte Warschau am 9. Mai 1932 mit Gegenbemerkungen, die jedoch wiederum eine konkrete Aussage umgingen und mehr eine allgemeine Stellungnahme bedeuteten, mit der die polnische Regierung ihre grundsätzliche Einschätzung des Falles zu erkennen gab: Es wurde als Anmaßungbezeichnet, daß Graebe namens der deutschen Minderheit zu sprechen vorgebe, und man warf ihm vor, daß er Beschwerden vorbringe, deren Zweck es sei, die Beziehungen zwischen der Minderheit einerseits und der polnischen Regierung bzw. der Mehrheitsbevölkerung andererseits zu vergiften, daß er insgesamt die Situation nur verwirren wolle. Damit sollte offenbar begründet werden, warum Polen ein detailliertes Eingehen auf die Beschwerden verweigerte - eine Praxis, mit der freilich jede Eingabe nach Belieben diskriminiert und das Minderheitenschutzverfahren zur Farce werden konnte. Im Grunde sah die polnische Regierung in jedem Appell an den Völkerbund mehr oder weniger einen, wie sie in diesem Falle erklärte, feindlichen Akt, durch den sie sich in ihrer Souveränität angegriffen und legitimiert glaubte, eine Stellungnahme zu verweigern. Damit war aber dem Dreierkomitee mangels anderer Informationsquellen jede Möglichkeit genoimnen,sich ein Bild zu machen und zu einem Ergebnis
- 316 zu kommen.Es beschloß deshalb :iJJlSeptember 1932, nun nicht mehr die ins Belieben der polnischen Regierung gestellten Gegenbemerkungenabzuwarten, sondern Polen direkt zur Vorlage detaillierter Informationen aufzufordern. Damit trat die Behandlung der Bescliwerde in ein neues Stadium. Manmuß hier daran erinnern, daß es die polnische Regierung nach der Struktur und Praxis des Minderheitenschutzsystems auch bei Vorlage von Gegenbemerkungendurchaus in der Hand gehabt hätte, die weitere Entwicklung des Falles in ihrem Sinne zu beeinflussen. Denn die Bemerkungender beklagten Regierung galten doch in der Regel als das letzte Wort, wareri auf alle Fälle aber einer objektiven Kontrolle entzogen. Die polnische Obstruktion dürfte deshalb weniger in der Furcht begründet gewesen sein, in diesem konkreten Fall eine Niederlage zu erleiden, sondern war sicher eher eine Bekundungdes prinzipiellen Widerstandes gegen das Minderheitenschutzsystem. Erst das förmliche Ersuchen des Dreierkomitees, dem :iJJlmerhindie Vertreter von zwei Großmächten (Großbritannien und Italien) angehörten, führte zu einem gewissen Einlenken. Im Januar 1933 kündigte die polnische Völkerbundsdelegation die Vorlage von Informationen an, erklärte aber, daß ihre Regierung für die Zusammenstellung des Materials noch eine geraume Zeit benötige. Im Mai des Jahres wurde diese Erklärung erneuert, ohne daß ein genauerer Termin in Aussicht gestellt worden wäre, so daß es den Anschein hatte, als arbeite die polnische Seite mit Verzögerungstaktik. Angesichts dessen sah sich das Dreierkomitee im Juni zu einer ersten Warnunggenötigt, es werde die Angelegenheit dem Völkerbundsrat übergeben, falls Polen nicht bald das gewünschte Material vorlege 1). Wenige ~1onate später, :iJJlOktober, trat eine neue Wendeein: Wahrend sie bisher eine Vorlage von Informationen grundsätzlich zugesagt hatte, antwortete die polnische Regierung auf das Drängen des Dreierkomitees nun mit einer "glatten Weigerung112). In einem Brief an den Direktor der Minderheitenabteilung im Völkerbundsekretariat teilte sie am 16. Oktober 1933 mit, sie sei nach eingehender Prüfung zu dem Ergebnis gelangt, daß die angeforderten statistischen Informationen kein wesentli3 ches Element zur Beurteilung des Falles bildeten ). Immerhin ließ das Schreiben indirekt erkennen, daß die Klagen der deutschen Minderheit substantiell 1) Außenminister 55. 2) Foreign 3) Abschrift
Sir John Simon an Erskine
Office-Aufzeichnung
(o.u.)
am 8.5.1934,
vom 23.4.1934,
in: F.O. 371/N 7873/39h/55,
F.O. 371/C 2564/242/
F.O. 371/C 2565/242/55.
- 317 berechtigt waren: Die Alkohollizenzen wurden als Privilegien :iJJlSinne besonderer Ehrungen bezeichnet, auf die man keinen Rechtsanspruch geltend machen könne. Denn der Minderheitenschutzvertrag garantiere Rechte, nicht aber Privilegien; deshalb werde ein strikte Anwendungdes Gleichheitsgrundsatzes diesem besonderen Fall nicht gerecht. Eine Erklärung für das Verhalten der polnischen Regierung ist in der allgemeinen Entwicklung im Völkerbund zu finden: Die voraufgegangenen Auseinandersetzungen um die deutsche Minderheitenpolitik ließen erwarten, daß man, nachdem sich Deutschland selber auf diesem Gebiet diskreditiert hatte, den Beschwerden nicht weiter nachgehen werde. In diesem Stadium jedoch wurde die Angelegenheit geradezu zu einem Prüfstein für die Funktionsfähigkeit des Völkerbundes , was die Mitglieder des Dreierkomitees schließlich auch bewog, die Autorität des Bundes voll einzusetzen. Im Januar 1934 beantragten sie nämlich, den Fall auf die Tagesordnung der nächsten Ratstagung zu setzen,mit der Begründung, daß den Petitionen zufolge prima facie eine Verletzung von ~1inderheitenschutzbestimmungen vorliege. Inzwischen trat aber ein weiteres Ereignis ein, das nach dem Austritt Deutschlands aus dem Völkerbund die allgemeine minderheitenpolitische Situation abermals veränderte: Im Januar 1934 schlossen Polen und Deutschland einen Nichtangriffspakt, der die Beziehungen zwiIm Hinblick auf andere schen beiden Ländern auf eine neue Grundlage stellte. Prioritäten vermied es die Reichsregierung von nun an, sich der Belange der deutschen Minderheit in Polen anzunehmen. Das spiegelte sich auch in der reichsdeutschen Presse wider, in der über alles, was die Situation der deutschen Volksgruppe in Polen betraf, der Mantel des Schweigens gedeckt wurdel) Die deutsche Minderheit selber geriet zeitweilig in eine doppelte Front: gegen die nationalstaatliche Räson Polens und das außenpolitische Interesse des " Deutschen Reiches. Auf Grund des neuen Verhältnisses zu Deutschland sah sich die polnische Regierung erst recht legitimiert, das internationale Minderheitenschutzsystem als obsolet zu betrachten. Vor der entscheidenden Ratstagung setzte si~ alles daran zu erreichen, daß die Frage von der Tagesordnung abgesetzt würde. Im Foreign Office ließ sie durch ihren Botschafter mitteilen, daß der deutsch-polnische Pakt den Fall sozusagen von selbst erledigt habe, und protestierte gegen dessen weitere Erörterung :iJJlVölkerbund, die nur ge2 eignet sei, die neuen deutsch-polnischen Beziehrn1genzu stören ). Ja die Ent1) S. Breyer, a.a.O., s. 258 u. 277, 2) Aufzeichnung H.W.'.falkin (brit. Mitglied des f'iir diese Frage eingesetzten Dreierkomittes) vom 19.4.1934, über einen Besuch des Counsellor der poln, Botschaft, F.O. 371/2524/242/55,
- 318 -
scheidung des Dreierkomitees wurde als ein "unfreundlicher Akt" bezeichnet, der die Frage nur unnötig wiederbelebt habe. London bewertete den Protest der Polen als "a piece of sheer impertinence 111), "characteristic of the way in which they deal with min~rity questions 112). Mit Recht wurde im Foreign Office vennerkt, die deutsch-polnische Annäherung hätte doch eigentlich auch ein Nachgeben der Polen in der ~1inderheitenfrage bewirken müssen. Wenndie britische Regierung den polnischen Protest mit Nachdruck zurückwies, so geschah dies im Bewußtsein der allgemeinen völkerbundspolitischen Situation: Es ging ihr nicht so sehr um die Erledigung .einer konkreten Beschwerde, um die Befriedigung eines Rechtsanspruchs, sondern mehr um die Wahrungdes internationalen Minderheitenschutzes als Prinzip, um das ''Völkerbunds-Prinzip" gegenüber dem sich im deutsch-polnischen Pakt manifestierenden neuen Element in der politischen Ordnung Europas. Dieses Gewicht maß schließlich die polnische Seite selber der Auseinandersetzung bei, wenn sie durchblicken ließ, sie würde bei einer für sie unbefriedigenden Regelung der Angelegenheit einen prinzipiellen Vorstoß gegen das Minderheitenschutzsystem unternehrnen3). Zunächst freilich versuchte sie, im Rahmendes ordentlichen Verfahrens einen günstigen Abschluß der Untersuchung zu erreichen. Unmittelbar vor der Tagung des Völkerbundsrates vornMai 1934 legte sie dem Dreierkomitee formlos eine Stellungnahme vor, die jedoch ebensowenig wie frühere geeignet war, zur Aufklärung der strittigen Punkte beizutragen 4). Im wesentlichen beschränkte sie sich auf die pauschale Behauptung, daß es keinen Zusammenhangzwischen Entzug bzw. Zuteilung von Alkohollizenzen und Nationalität gebe; zusätzlich erklärte sie, daß Alkohollizenzen Privilegien für Kriegsversehrte seien und fügte statistische Angaben zu diesem Personenkreis bei, die aber den minderheiterrpolitischen Aspekt völlig unberücksichtigt ließen, da sie auf das Verhältnis der Nationalitäten bei den Betroffenen in keiner Weise eingingen. Dennoch -NUr-• de, auch wenn das Dreierkomitee dieses Schreiben als völlig unzureichend ansah, schon die bloße Angabe von Informationen als ein gewisser Fortschritt angesehen, der geneigt machte, der polnischen Regierung noch einmal eine 1) Simon an Erskine munt im Foreign
am 8.5.1934 nach einem Besuch des poln. Office, F.O. 371/C 2564/242/55,
2) Aufzeichnung H.W. Malkin vom 25,4.1934, 3) Simon an Erskine am 8.5.1934, a.a.O. 4) Annex zu Aufzeichnung
Botschafters
Skir-
ebd.
H.W. Malkin vom 14.5.1934, F.O. 371/C 3155/242/55,
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Chance zu geben; man bat sie, zusätzliche Informationen vorzulegen, wodurch die Angelegenheit zu einem auch ihren Vorstellungen entsprechenden Abschluß gebracht werden könne. Auf diesen Vorschlag, der auf eine einstweilige Vertagung hinauslief, gab die polnische Regierung eine schroffe und unmißverständliche Antwort: Das überreichte Dokumentsei ihr letztes Wort in dieser Frage, jede weitere Unterhaltung darüber sei zwecklos1). Das maßgebliche polnische Regierungsblatt "Gazeta Polska" deutete'bereits grundsätzliche Konsequenzen an: Wer die Vorlage vor dem Rat ausgearbeitet habe, habe lediglich den Völkerbund bloßgestellt; Polen werde sich nicht an einer Debatte über "Dummheiten" beteiligen, und eine Aussprache in Genf über die Vergabe von Alkoholli2 zenzen in Polen könne und werde kein Ergebnis zeitigen ). Tatsächlich blieb Außenminister Beck den Verhandlungen über diese Frage auf der Maisitzung des Völkerbundsrats demonstrativ fern. Es zeigte sich bereits, daß nicht nur im vorliegenden konkreten Fall, sondern im Minderheitenschutzsystem allgemein mit der für sein Funktionieren unerläßlichen Mitarbeit der polnischen Regierung nicht mehr zu rechnen war. Der Beschluß des Völkerbundsrats auf seiner Sitzung am 18. ~!ai 1934, die Angelegenheit bis zur nächsten Ratssitzung zu vertagen, wurde somit kaum in Erwartung eines befriedigenden Abschlusses - auf Grund neuer Informationen der polnischen Regierung-, sondern im Hinblick auf die sich andeutende grundsätzliche Veränderung im internationalen Minderheitenschutzsystem gefaßt. Sie beeinflußte schließlich auch den fonnellen Abschluß der Beschwerde3).
b) Der Vorstoß des polnischen Außenministers gegen das internationale heitenschutzsystem in der Völkerbundsversammlung 1934
Minder-.
Nach dem Austritt Deutschlands aus dem Völkerbund schien vollends der deutschpolnische Pakt vom Januar 1934 das Desinteresse des Reiches an einer Vermittlerinstanz zu dokumentieren und auf polnischer Seite. die Erwartung zu rechtfertigen, als gedenke Deutschland künftig beide Seiten interessierende Fragen auf bilateralem Wege zu regeln. In diesem Sinn, mit direktem Bezug auf das ~linderheitenproblern, wurde gelegentlich auch vonseiten des Reiches der polnischen Regierung gegenüber der Zweckdes Abkommensinterpretiert: "deutsch-pol1) Aufzeichnung H.W. Malkin vom 14,5,1934, a.a.O. 2 ) Lt. Ber~cht Moltke (Deutscher Gesandter in Warschau) an AAvom 26.5.1934, AA 9295/E 660 170 175, 3) S. unten S. 332 f.
- 320 nische Fragen nicht vor internationalen Instanzen, sondern im unmittelbaren Gedankenaustausch zu erörtern"; Deutschland habe auch "Verständnis dafür, daß sich Polen durch ein internationales Kontroll verfahren beeinträchtigt fühle" 1). Tatsächlich aber fehlte es auf beiden Seiten sowohl an den Voraussetzungen als auch am Interesse, um die Minderheitenfrage zum Gegenstand zweiseitiger Erörterungen zu machen. Am wenigsten kam die deutsch-polnische Vereinbarung den Deutschen in Polen selber zugute, glaubte Warschau jetzt doch offenbar, freie Hand zu haben, um das Problem der deutschen Minderheit durch einen Prozeß der Polonisierung zu lösen 2). Manberief sich auf polnischer Seite dabei auf eine Art innerer Gemeinsamkeit mit Deutschland, wenn z.B. Staatssekretär Morawski, der als erstes polnisches ~ti.tglied der Gemischten Kommissionfür Oberschlesien einer der Verantwortlichen der polnischen Minderheitenpolitik war, im April 1934 erklärte, Polen strebe ebenfalls dem Prinzip des totalen Staates zu, um dann unter Verneinung der Notwendigkeit eines besonderen ~linderheitenschutzes im faschistischen Sinne eine möglichst vorzeitige Lösung Polens aus seinen minderheitsvertraglichen Bindungen herbeizuführen 3). Dartiber hinaus kam der polnischen Regierung die allgemeine Entwicklung im Völkerbund zugute, in dem nach Deutschlands Austritt die Mächte wieder die Oberhand gewannen, für die der Minderheitenschutz nur eine untergeordnete Rolle spielte. Der damalige Leiter der ~ti.nderheitenabteilung im Völkerbundsekretariat Rasting zog ein Jahr nach Deutschlands Rückzug aus Genf in einem Gespräch mit dem deutschen Minderheitenpolitiker Graebe die Bilanz der Entwicklung: Seit dem Austritt Deutschland sei der Völkerbund völlig unter den Einfluß Frankreichs geraten, gegen den sich niemand aufzulehnen wage, da der Gegen1) Erlaß Neurath an die Deutsche Gesandtschaft Warschau vom 14.11.1934, Dokumente zur Vorgeschichte des Krieges, Auswärtiges Amt 1939, Nr.2, 2) So der Bericht geschickt und weitergeleitet gesprächsweise Bericht Malkin
in:
8., 62.
eines auslandsdeutschen Beobachters in Genf, der Graebe zuvon diesem zur vertraulichen Kenntnisnahme an das Ausw. Amt wurde( vom 29.6.1934), AA 6197/E 466 638-645. Ebenso Graebe gegenüber dem britischen Völkerbundsdelegierten Malkin lt. an das Foreign Office vom 21.1.1934, F.O. 371/C 592/143/55.
3) Morawskis Äußerungen wiedergegeben im AA-Erlaß (Roediger) an die Deutsche Gesandtschaft Warschau vom 21.4.1934. Dort wird auch erwähnt und mit der Morawskis Bemerkungen zugrundeliegenden Tendenz erklärt, daß die polnischen Mitglieder der Gern. Kommission für Oberschlesien in letzter Zeit entgegen ihrer früheren Taktik den deutschen Standpunkt bei den anhängigen Judenbeschwerden auffallend unterstützt hätten. AA 9295/E 660 166168.
- 321 spieler fehle. Italien, das Deutschlands Haltung in der Minderheitenfrage noch teilweise unterstützt habe, rucke immer näher an England und Frankreich heran. Es vollziehe sich somit ein Umbaudes Völkerbundes in aller Stille, "aber 111 nicht auf Grund der M::>ralund des Rechts, sondern auf dem der Macht ). - Von den Großmächten kam als Fürsprecher der Minderheiten allenfalls noch Großbritannien in Frage; das war auch auf der Ratstagung am 18. Mai 1934 deutlich geworden, auf der der britische Völkerbundsdelegierte Eden - bei der Erörterung der Alkohollizenzen-Beschwerde - mit seinem Appell an Polen weitgehend allein stand, so daß der britische Vertreter im Dreierkomitee resignierend vermerkte, Großbritannien werde wenig Unterstützung finden in dem Beniihen, die Sache zu einem befriedigenden Abschluß zu führen 2). Doch beurteilte ja auch die britische Regienmg die Minderheitenfrage nicht als Problem sui generis, sondern unter übergeordneten Gesichtspunkten. Als im Sommer1933 im Foreign Office auf Drängen der englischen Völkerbundsliga wieder einmal Möglichkeiten für eine Verbesserung des Völkerbundsverfahrens erörtert und Vorschläge für den britischen Delegierten auf der bevorstehenden Völkerbundsversammlung ausgearbeitet wurden, stellte Eden als damaliger Unterstaatssekretär in einem Aktenvermerk die für die grundsätzliche Haltung der britischen Regierung zum Minderheitenproblem bezeichnende Frage: "Do we want to perpetuate the problem? Having facilitated the methods of complaints do we not invite an increased number of complaints? Is this desirable in the interests of Euro p e an t ranq u i 1 1 i t y ?113). Solange man das Minderheitenschutzsystem nur als Instrument für einen begrenzten politischen Zweck, für die furbeiführung der politischen Stabilität in Europa, bewertete und ihm gleichsam die Funktion eines Sicherheitsventils zuwies - eingebaut zwischen Art. 10 der Völkerbundssatzung, der die territoriale Integrität der Mitgliedstaaten garantierte, und Art. 19, der die Revisionsfrage bertihrte - , konnten die Minderheitenverträge ihre Bedeutung in dem Maßeverlieren, wie sich die politischen Verhältnisse in dem betroffenen Raumfestigen 4). Im konkreten Fall ließ sich der deutsch-polnische 1) Vertraulicher Bericht Graebe über die Unterredung vom Deutschen Konsulat Genf (Krauel) am 13.9.1934 geleitet, AA 9295/E 660 186-188. 2) Aufzeichnung
Malkin vom 18.5.1934,
mit Rasting am 11.9.1934, an das Ausw. Amt weiter-
F.O. 371/C 3157/242/55.
3) Vermerk Eden vom 12.8.1933 zu einem Memorandum betr. die Prozedurfrage von A. Clarke vom 22.6.1933, F.O. 371/W 7583/191/98. Hervorhebung durch Verf. 4) So Rasting in einer "Note confidentielle au sujet de la proposition de 1934 et relative a la generalisation naise soumise a l'assemblee traites de minorites" vom 21.6.1934, F.O. 371/W 6187/289/98.
polodes
Pakt durchaus als ein Zeichen der Konsolidienmg des polnischen Staates deuten, schien sich Deutschland doch vorerst mit dem territorialen Status qua seines östlichen Nachbarn abzufinden. Eine solche Deutung hätte es rechtfertigen können, den Minderheitenschutzvertrag nun als obsolet anzusehen. Die Frage war jedoch: Erschöpfte sich die Bedeutung des Minderheitenschutzes in der Funktion des Sicherheitsventils? In einem vertraulichen und persönlichen ~!emorandum wies Rasting im Juni 1934 auf diesen entscheidenden Punkt hin: Welche Auffassung man von der Zukunft des Minderheitenschutzes hatte; hing davon ab, von welchem Verständnis des Minderheitenschutzes man ausging, ob man in ihm ein bloßes Sicherheitsventil sah oder ihn als "premier acquis des idees liberales relatives aux droits de l'homme111) bewertete. In letzterem Falle mußte man an den Verträgen festhalten, solange Minderheiten gefährdet waren; auch die Forderung nach Generalisienmg war eine durchaus logische Konsequenz. Im Friihjahr 1934 konnte die polnische Regienmg
· den Zeitpunkt für geeignet halten, einen grundsätzlichen Vorstoß gegen das bestehende Minderheitenschutzsystem zu unternehmen. Am 10. April 1934 stellte sie beim Völkerbund einen Antrag auf Verallgemeinenmg des Minderheitenschutzes, ein Schritt, der unmittelbar veranlaßt worden war durch die bevorstehende Aufnahme der Sowjetunion in den Völkerbund. Es handelte sich bei dem polnischen Antrag in dieser Situation gewissermaßen um eine Antwort auf das Vorgehen der Großmächte, die in dieser Frage auf eine Reihe von Staaten mehr oder weniger Druck ausgeübt 2 hatten ). Gegenüber dieser Politik der Bevormundungdiente der Vorstoß der polnischen Regienmg zur Bekräftigung ihrer eigenen Souveränität, war er Ausdruck ihres Großmacht-Bewußtseins und Akt einer Prestigepolitik. Vomminderhei tenpoli tischen Gesichtspunkt war jedoch entscheidend, daß mit der Sowjetunion eine Macht in den Völkerbund eintreten sollte, auf die sich nun eine starke konnationale Minderheit in Polen, die Ukrainer, berufen konnte und 'TOD der man erwarten mußte, daß sie, wie vorher Deutschland, die Mitgliedschaft im Völkerbundsrat dazu benutzen würde, ihrem Nachbarn Schwierigkeiten zu beAufzeichnung zu Rostings Note vom 17,7.1934 ('ebd.) bekräftigte Eden, daß man das Minderheitenproblem nicht verewigen wolle, sprach sich a?er gegen ~ie einseitige Lösung vertraglicher Bindungen seitens der polnischen Regierung aus und plädierte - gegen die Politik des fait accompli für die einstweilige Aufrechterhaltung des bestehenden Syst~ms. Polen wolle sich nur seiner Verpflichtungen entledigen. "In this we should not help them". Diese Benerkung zeigt, daß die britische Einstellung zum internationalen Minderheitenschutzsystem auch stark vom rechtlichen Prinzip bestimmt wa.r.
1) Ebd. In einer
2) Lt. Bericht
Graebe vom 11,9,1934,
a.a..O.
- 323 reiten. Die Polen sahen in der Sowjetunion nämlich noch weithin die alte Teilungsmacht Rußland und befürchteten eine Wiederaufnahme der traditionellen Einmischungspolitik mit Hilfe der Minderheitenverträge. Nach den Erfahrungen der vergangenen Jahre freilich konnte es für die polnische Regierung kaum zweifelhaft sein, daß ihr Antrag ebenso wie friiher auf die grundsätzliche Opposition der Großmächte stoßen würde. Insofern dürfte er von vornherein darauf berechnet gewesen sein, unter dem Schlagwort der Gleichberechtigung eine Befreiung vom Minderheitenvertrag vorzubereiten. Rasting hielt gegenüber dem polnischen Antrag irrnnerhin ein begrenztes Entgegenkommen· für möglich, wenn er feststellte, daß sich das bestehende System überlebt habe: Die Regelnhinsichtlich der Zulässigkeit von Petitionen seien "byzantinisch"; die Arbeit der Komitees gehe zu langsam vonstatten; das System insgesamt sei geradezu absurd, indem es Individuen erlaube, einen trägen Mechanismus in Gang zu setzen, der die Minderheitenkomitees zwinge, in gleicher Weise Bagatellen wie schwerwiegende Fälle zu behandeln. Die ganze Prozedur sei, wenn sie auch ihre Verdienste gehabt habe, nunmehr diskreditiert. Weder könne sie die Minderheiten zufriedenstellen noch die Staaten, "pour lesquels elle represente une intolerable politique a coups d'epingles 111). Wennjedoch auch weiterhin nicht mit einer Zustinmrungder Großmächte zumpolnischen Antrag zu rechnen war, so deshalb, weil ihr Widerstand, entsprechend der politischen Bedeutung des Minderheitenschutzsystems, von grundsätzlichen Überlegungen bestimmt war. Frankreich, Großbritannien und Italien sahen im Minderheitenschutzsystem nicht eine naturrechtliche und damit allgemein und für immer verbindliche Idee, sie werteten ihn zu diesem Zeitpunkt wohl auch nur zum geringeren Teil als Sicherheitsventil. Politisch bedeutend wurde der Minderheitenschutz für sie vielmehr deshalb, weil er ein Element der von ihnen begriindeten und bestinmten europäischen Ordnung und des diese Ordnung repräsentierenden Völkerbundes war. Der Aufrechterhaltung eben dieser Ordnung galt das übergeordnete Interesse der Großmächte, und das Festhalten am Minderheitenschutzsystem war nicht von der Rücksicht auf die Minderheiten bestimmt, sondern sollte der Bekräftigung des Völkerbundsgedankens dienen. Daß dieser übergeordnete Gesichtspunkt maßgebend war, bestätigte sich, als die Großmächte schließlich doch bereit waren, Polen Konzessionen zu machen und auf eine praktische Ausübung ihrer Garantiefunktion zu verzichten. Angesichts dessen, daß Polen einer Aufnahme der Sowjetunion in den Völkerbund Schwierigkeiten zu 1) Note Rasting
vom 21.6.1934,
a.a.O.
- 324 bereiten drohte, fand, wie Rasting in einem vertraulichen Gespräch mit Graebe mitteilte, "ein unerträglicher Kuhhandel hinter den Kulissen statt, der es nicht ratsam erscheinen lasse, im Augenblick irgendeine konkrete Minderheitenfrage gegen Polen öffentlich behandeln zu lassen 111). Gegen bestimmte Zugeständnisse von französischer, britischer und italienischer Seite war Polen schließlich bereit, sich der Aufnahme der Sowjetunion nicht länger zu widersetzen2). Es handelte sich dabei um Zusicherungen, die mit den Pflichten dieser Mächte schwer in Einklang zu bringen waren: das Versprechen, sid1 stets für die Wiederwahl Polens in den Rat einzusetzen, und die Zusage, Polen bei der Erörterung von Minderheitenbeschwerden im Völkerbundsrat künftig keine Schwierigkeiten mehr zu bereiten 3). Von besonderer Bedeutung war auch die formelle Zusicherung der Sowjetunion selber, sich nicht in die inneren Angelegenheiten Polens einzumischen 4) , eine Vereinbarung, die, wie der Leiter der Minderheitenabteilung bemerkte, ausdrücklich im Widerspruch zur Garan5 tiepflicht der Ratsmächte stand ). Diese Vorgänge kennzeichnen nur, daß der Minderheitenschutz zu diesem Zeitpunkt seine praktische Funktion weitgehend verloren hatte und nur noch als Prinzip aufrechterhalten wurde; Polen hatte damit vor Beginn der Völkerbundstagung im September 1934 bereits eine erhebliche Auflockerung seiner Minderheitenschutzverpflichtungen erreicht. In dieser Situation schlug die Erklärung des polnischen Außenministers Beck in der Vollversammlung am 13. September 1934 wie eine Bombeein 6). Die polnische Regierung sah jetzt den Zeitpunkt gekommen,mit dem gesamten ~ünderheitenschutzsystem abzurechnen. Wennsie einen solchen Schritt nach den weitgehenden Zugeständnissen der Gror.mächte noch für notwendig erachtete, so bestätigte sich darin, daß sie nicht so sehr die eigentlichen minderheitenpolitischen Konsequenzen aus den Minderheitenschutzverträgen fürchtete, sondern das Kon1) Bericht
Graebe vom 11.9.1934,
a.a.O.
2) Lt. Bericht des Deutschen Konsulats Genf (Krauel) an AA vom 28.9.1934, in dem dies als Ergebnis einer Unterredung zwischen dem franz. Außenminister Barthou und seinem polnischen Kollegen Beck mitgeteilt wird. Der Bericht wird am 3.10.1934 als Runderlaß den deutschen Auslandsvertretungen übermittelt. AA 3147/D 665 736-748. 3) Ebd.
4) Notenaustausch 10.9.1934, in: s. 199. 5) Bericht
zwischen der polnischen Freund, Weltgeschichte
Graebe vom 11.9.1934,
6) Wiedergabe
der Debatte
in:
und der sowjetischen Regierung vom der Gegenwart in Dokumenten, Teil 1,
a.a.O.
Nation und Staat
8, S. 60 ff.
- :szs trollsystem abschütteln wollte, in dem sich der - gemessen an den Großmächten - minderberechtigte internationale Status des polnischen Staates ausdrückte. Insofern war die polnische Erklärung Akt einer Gleichberechtigungs-Politik. Beck nannte die Praxis des gegenwärtigen Systems enttäuschend, da es den Minderheiten keinen Nutzen gebracht, stattdessen aber in weitem lhnfang als Mittel diffamierender Propaganda oder gar politischen Drucks gegenüber den Minderheitenstaaten gedient habe, Die "paradoxe Situation eines dem Organisnrus des Völkerbunds aufgepfropften Ausnahmeregimes" habe die sittlichen Grundlagen des Völkerbunds korrumpiert. Durch diese Entwicklung sehe sich die polnische Regierung gezwungen, "von heute ab sich jeder Zusammenarbeit mit den internationalen Organen zu versagen, soweit es sich um die Kontrolle der Anwen~ dung des Systems des Minderheitenschutzes durch Polen handelt", Diese Erklärung ließ formell die Vertragsbestimmungen als solche unangetastet. Beck stellte nämlich die innerstaatliche Fortgeltung der Minderheitenrechte nicht in Zweifel und versicherte, daß Polen auch in Zukunft die allgemeinen Grundsätze des Minderheitenschutzes achten werde1). In diesem Sinne wurde die Erklärung auch vom polnischen Botschafter in Berlin Lipski im Auswärtigen Amt erläutert: An den Beziehungen seiner Regierung zur deutschen Minderheit werde sich in keiner Weise etwas ändern 2). Formell richtete sich der polnische Vorstoß nur gegen die Organe-des internationalen Minderheitenschutzes, gegen die Prozedur und gegen die als Bevormundungempfundene einseitige Belastung durch ein internationales Statut, nicht gegen die Verpflichtungen selbst. Auch befristete die polnische Regierung ihre Weigerung, mit den Organen des Völkerbunds zum Schutz der Minderheiten zusammenzuarbeiten, bis zum Zeitpunkt der Einrichtung eines allgemeinen Schutzsystems. Doch bestand kein Zweifel, daß Polen mit dieser Erklärung seine internationalen Verpflichtungen, soweit sie aus dem allgemeinen Minderheitenschutzvertrag stammten, nun als erloschen betrachtete. Denn ein wesentlicher Bestandteil der Minderheitenschutzverträge war doch ihre Garantie durch die Ratsmächte, die wiederum ein System der überwachung erforderlich machte, wie es in den Organen des Völkerbundes bestand. Becks Erklärung rührte somit in Wahrheit an die Wurzel der Minderheitenschutzverträge3). Ihre praktische Konsequenz war, daß die Dreierko~tees künftig 1) Vgl. dazu G.A. Walz: "Die deutsch-polnische Verständigung zur Minderheitenfrage", in: Zeitschrift für Völkerrecht Bd. XXII, S. 411. 2) Aufzeichnung s. 59 f.
Bülow vom 13.9.1934,
Dokumente zur Vorgeschichte
des Krieges,
3) In diesem Sinne auch die Wertung der Beck-Erklärung durch das Foreign fice, Aufzeichnung vom 18.9.1934. F.O. 371/W 8380/289/98.
Of-
- jzb -
nicht mehr mit Infonnationen seitens der polnischen Regierung rechnen konnten, so daß es ihnen von nun an geradezu unmöglich sein mußte, sich in einem Beschwerdefall ein Bild zu machen. In der an Becks Erklärung anschließenden Grundsatzdebatte traten noch einmal die unterschiedlichen Positionen der einzelnen Staaten zutage und zeigte es sich, daß es im Völkerbund keine gemeinsam-verbindliche Grundlage für einen aktiven Minderheitenschutz gab. Daß die Staaten der Kleinen Entente das polnische Streben nach Generalisierung unterstützten, verstand sich von selbst. Auch einige neutrale Staaten (Schweden und die Schweiz) bekannten sich zur Verallgemeinerung, da sie im Minderheitenschutz eine vorwiegend ideelle Aufgabe sahen, die nicht an politischen Grenzen haltmachen dürfe. Indessen ging es nach Becks Erklärung ja schon nicht mehr nur um die Frage der Generalisierung. Der polnische Vorstoß war viel weiterreichend, ja geradezu revolutionierend, da er zwangsläufig - der Genesis des Minderheitenschutzsystems entsprechend - das Revisionsproblem aufwarf. Mochte dies auch zunächst nur eine theoretische Konsequenz sein,so konnte man doch nicht ausschließen,daß Becks Erklärung Revisionsbewegungen Nahrung geben würde. Ernste Befürchtungen in dieser Richtung wurden in Rlllllänien laut, das sich in der Minderheitenfrage stets in einer Front mit Polen befunden hatte und auch in dieser Debatte für eine Generalisierung stimmte. Die rlllllänische Presse lehnte aber einhellig "mit großer Bestürzung" Becks Erklärung ab, mit der sich Polen praktisch von seinen Verpflichtungen löste, "denn das wäre Revisionismus, das wäre ein Spiel mit dem Feuer, das nach lh:!garn übergreifen könnte" 1). über diesen Punkt kam es zu einer Differenz· zwischen Polen und Rlllllänien, da der polnische Gesandte in Bukarest auf massive Weise die rl.llilänische Presse für den polnischen Standptmkt einzufangen versuchte 2). Wichtiger aber als dies: Bei den Großmächten war die Bestürzung darüber vorherrschend, daß Polen einseitig und ohne Absprache mit anderen Mächten einen 1) Pochhammer an AA am 17.9.1934,
AA 9295/Bd.
1.
2) Pochhammer an AA am 19.9.1934, ebd. Dem Bericht zufolge hatte der polnische Gesandte behauptet, die rumänischen Pressestimmen seien auf politische Kreise zurückzuführen, "denen die Ideale und nationale Eigenliebe Rumäniens fremd sind". Diese Erklärung wurde von der rumänischen Presse auf Weisung Titulescus scharf zurückgewiesen. Ergänzend dazu berichtete Junghann aus Genf (Brief an Dr. Kirchhoff vom 18.9.1934, ebd.), es sei darüber beinahe zu einer Ohrfeigenszene zwischen Beck und Titulescu gekommen.
-
jZ/
-
internationalen Vertrag praktisch aufkündigte. Besondere Verstimmung herrschte natürlich bei den Franzosen, weil die Polen ihnen gegenüber ihre aus dem Verbündetenverhältnis resultierende Pflicht zu gemeinsamemHandeln offen verletzt hatten 1). Der polnische Schritt wurde als Ausdruck einer Politik des fait accornpli beurteilt, der dem Völkerbundssystem den bisher empfindlichsten Schlag versetzt habe, indem er die Autorität der Verträge und der dem Völkerbund aufgetragenen Mandate gefährde 2). Man hatte in Paris das Empfinden, daß Polen den Versailler Vertrag in einer Weise aufgebrochen habe, wie dies nicht einmal Hitler gewagt habe 3). Deshalb wurde sogar die Vennutung geäußert, daß Polen seinen Schlag mit Berlin abgesprochen habe, zumindest sah man Grund zur Befürchtung; daß Hitler sich jetzt zu weiteren Stößen gegen den Versailler Vertrag ermächtigt fühlen würde4) • Darin lag somit die Brisanz der polnischen Erklärung: Gegenüber der Front der Status qua-Mächte drohte Polen in das Gegenlager und in eine Anti-Versailles-Front abzuschwenken, Denn Beck eruog für den Fall daß sich die anderen Mächte zum Druck auf Polen entschließen würden, die Mögl~chkeit, den Völkerbund zu verlassen. Auf die Frage, ob ihn nicht der Einzug der Sowjetunion in den Völkerbund bewege, eine solche Konsequenz auszuschließen, antwortete er: "Sollten wir Genf in dem Augenblick verlassen, wo Rußland daselbst Einzug hält, so würde der Völkerbund dem Wartezimmer eines 5 Zahnarztes gleichen: die einen kommen,die anderen gehen" ). - Im Hinblick auf eine solche Konsequenz zogen es die Großmächte vor, sich mit der polni1) Köster (Paris) an AA am 16.9.1934 über das Pariser Echo auf Becks Erklärung, ebd. 2) In diesem Sinne die Reden Barthous in der Vollversammlung und Edens in der 6. Kommission. Über die italienische Reaktion: Bericht Smend an AA v~m 20. 9.1934, AA 9295/E 660 194 f. Becks Erklärung sei hier ~t großer Z1;ll"~ckhaltung aufgenommen worden. "Man empfindet den Vorstoß in erster ~inie ~s eine scharfe Absage an den Völkerbund und ein unverkennbares ~Zeichen~ eine fortschreitende Lockerung der polnisch-französischen Beziehungen, die auch hier stark zu denken gibt. Die Unsicherheit des italienischen Standpunkts der neuen Lage gegenüber wird ve:stä1;1dlich, wenn ~n bede~t, daß Italien sich mit seiner Förderung des _Eintritts Rußlands in den Volkerbw,d und der russisch-französischen Ostpaktpläne in das Lager der 'S~a~us-quoMächte' begeben hat und diesen Übergang nunmehr mit seiner traditionellen Haltung in der Revisionsfrage in Einklang bringen muß". 3) Tel. des brit. Botschafters in Paris Clerk an das Foreign Office vom 14.9. 1934 über die Reaktion auf Becks Erklärung in Paris. F.O. 371/W 8277/289/98. 4) Ebd.; auch Runderlaß des Ausw. Amtes vom 4.10.1934 Wertung der Völkerbundstagung. AA 3147/D 665 730 f. 5) So gegenüber einem Vertreter AA vom 16.9.1934, a.a.O.
des "New York Herald"
lt.
mit der politischen Bericht
Köster
an
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sehen Erklärung abzufinden, und ließen es dabei bewenden, Polen verbal die kalte Schulter zu zeigen, Denn eine wichtigere Aufgabe sahen sie darin, Polen nicht in eine Isolierung und an die Seite Deutschlands abzudrängen. Damit konnte die polnische Regierung einen großen außenpolitischen Erfolg verbuchen, der auch in der polnischen Öffentlichkeit als solcher verstanden wurde. Becks Erklärung wurde dort von Rechts bis Links mit seltener Einmütigkeit als eins der wichtigsten politischen Ereignisse der letzten Zeit aufgenommen. Große Demonstrationen feierten in ganz Polen den Gedanken, daß nun die letzte Fessel Polens gefallen und Polen von einer _sein Prestige verletzenden internationalen Kontrolle befreit sei. Da es sich hier um eine nationale Ehrenfrage handelte, wurde auch jede Kritik des französischen Verbündeten am polnischen Vorgehen mit Empörungzurückgewiesen 1). Das Deutsche Reich hatte bei der Beurteilung der polnischen Erklärung drei Faktoren zu berücksichtigen: 1. Die politisch-rechtliche Grundlage des Minderheitenvertrags; 2. das deutsche Verhältnis zum Völkerbund; 3. die deutsch-polnischen Beziehungen. Der Logik des neuen deutsch-polnischen Verhältnisses entsprach es, wenn in der deutschen Presse Verständnis für das polnische Vorgehen geäußert, zumindest aber keine Kritik an ihm geübt wurde. Eine solche Bewertung lag auch im Hinblick auf Deutschlands Einstellung zum Völkerbund nahe, konnte man doch die neuerliche Bloßstellung des Bundes geradezu als Genugtuung empfinden. Dennoch hielt das Auswärtige Amt auch jetzt - noch den Vorstellungen traditioneller deutscher ~tinderheitenpolitik entsprechend - an der Völkerbundsgarantie fest und verurteilte deshalb den polnischen Schritt. Der entscheidende Gesichtspunkt war dabei der Zusammenhangzwischen Minderheitenschutz und territorialer Regelung. Neuraths Weisung an den deutschen Gesandten in Warschau sprach demgemäßvon der "Gefahr, daß die Servitut, mit der im Jahre 1919 die Abtretung deutscher Gebietsteile belastet worden ist, beseitigt wird, und daß sich damit der ganze Stand der östlichen Grenzfragen zuungunsten Deutschlands wesentlich verschlechtert 112). In einem Runderlaß wurden 1) Bericht Moltke an das AA vom 18.9.1934 über die Reaktion Öffentlichkeit auf Becks Erklärung, AA 9295/E 660 191 f.
der polnischen
2) Erlaß Neurath an die Deutsche Gesandtschaft in Warschau vom 14.11.1934, a.a.o., Der AA-Runderlaß vom 4.10.1934 (a.a.O.) verwies aber auch auf die Konsequenzen auf minderheitenpolitischem Gebiet und ließ somit erkennen, daß man im Minderheitenschutzsystem immerhin doch eine gewisse Sicherung sah: Die deutsche Minderheit in Polen sei ohne die Genfer Kontrolle jetzt völlig dem Belieben der polnischen Behörden preisgegeben; der Völkerbundsrat werde sich in Zukunft schwerlich noch ernsthaft mit Minderheitenbeschwerden befassen, die sich gegen die polnische Regierung richten.
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die deutschen Auslandsvertretungen angewiesen, in diesem Sinne Deutschlands Einstellung zumpolnischen Schritt zu erläutern 1). Allerdings war man sich im Auswärtigen Amt auch darüber im klaren, daß ein wirkliches Anschneiden der Revisionsfrage im Augenblick nicht in Frage kam. Deshalb entschied man sich abermals dafür, alle aus der Beseitigung des Minderheitenschutzes zu ziehenden Folgerungen für die Zukunft offenzuhalten und ihnen nicht zu präjudizieren 2). Wennauch das Deutsche Reich inzwischen eine von den Prinzipien des internationalen Minderheitenschutzes völlig verschiedene Volksgruppenpolitik eingeschlagen hatte, glaubte das Auswärtige Amt dennoch grundsätzlich, an der Verbindlichkeit des polnischen Minderheitenvertrags festhalten zu müssen, weil es in ihm eine Rechtsposition sah, die eines Tages für eine Aufrollung der Grenzfragen nutzbar zu machen sei. Freilich mutet dieser grundsätzliche Vorbehalt reichlich abstrakt an angesichts dessen, daß man der polnischen Seite gleichzeitig Verständnis dafür bekundete, daß sie sich durch ein internationales Kontrollverfahren beeinträchtigt fühle 3). muß hier jedoch daran erinnern, daß es um diese Zeit keine einheitlichverbindliche deutsche Minderheitenpolitik mehr gab und minderheitenpolitische Grundsätze traditioneller Art nicht nur durch die nationalsozialistische Volksgruppenpolitik relativiert, sondern mehr noch mit den allgemeinen Tendenzen und Interessen der neuen deutschen Außenpolitik konfrontiert wurden. So erinnerte man die polnische Regierung einerseits daran, daß die Minderheitenverträge "ein integrierender Bestandteil der Gesamtregelung von 1919" seien, versicherte ihr aber andererseits, "daß die Deutsche Regierung nicht daran denke, ihr Eintreten für die deutsche Minderheit in Polen in der einen oder anderen Weise zum Hebel für eine Aufrollung von Grenzfragen zu machen114). Im Man
1) Runderlaß Bülow vom 14.9.1934 an die Deutschen Botschaften in London, Paris, Rom und Moskau und an die Deutsche Gesandtschaft Warschau. AA 9295/ Bd. 1. 2) Ebd. Selbst als Deutschland und Polen im November 1937 eine bilaterale Minderheitenerklärung abgaben, blieb die grundsätzliche Verbindlichkeit des polnischen Minderheitenvertrags unberührt; vgl. Walz, a.a.O., S. 396 u. 412. 3) Erlaß
Neurath
vom 14.11.1934,
a.a.O.
4) Ebd. In diesem Zusammenhang ist auch die Unterredung zwischen dem britischen Botschafter in Berlin Phipps und Dieckhoff, dem späteren Botschafter in den USA, bemerkenswert. Dieckhoff, damals Ministerialdirektor im Ausw. Amt, erklärte dabei, es sei ein Fehler, auf Grund der Presseäußerungen anzunehmen, die deutsche Regierung billige Becks Erklärung: Der Korridor wäre Polen nicht übertragen worden, wenn Polen nicht die Minderheitenschutzverpflichtungen übernommen hätte. Auf Phipps' Frage, ob er nun eine bilaterale Regelung vorziehe, ließ Dieckhoff durchblicken, daß Deutschland dem Völ-
- 330 Interesse der neuen deutsch-polnischen Beziehungen veTIIliedes das Auswärtige Amt, die polnische Regierung selber für die aus ihrem Schritt entstehenden grundsätzlichen Konsequenzen verantwortlich zu machen, und beurteilte die Angelegenheit mehr unter dem Gesichtspunkt der allgemeinen europäischen Politik, wobei der Hauptton darauf gelegt wurde, "daß der Völkerbund, der schon in der Abrüstungsfrage vollkommen versagt hat, nun auch in der wichtigen Minderheitenfrage den Boden unter den Füßen verliert". In diesem Sinne bezeichnete es der Runderlaß als das Bestreben der deutschen Politik, "die Verantwortung des Völkerbundes und der Signatarmächte auf die Zukunft festzunageln". Eine solche Wertung, die sich noch innner an dem Ziel orientierte, die Minderheitenfrage grundsätzlich offenzuhalten, konnte doch nur bedeuten, daß sich auch Deutschland in einer bestimmten politischen Situation unter Berufung darauf, daß der Völkerbund seine Garantiepflicht nicht erfüllt habe, ebenso einseitig von den territorialen Bestimmungendes Versailler Vertrags lösen würde, wie sich Polen vom Minderheitenvertrag zurückgezogen hatte. Denn um die Minderheitenfrage für eine mit den Westmächten, vor allem mit Großbritannien, abgestimmte Revisionspolitik nutzbar zu machen, dazu fehlte es nach Deutschlands Rückzug aus Genf und angesichts der allgemeinen politischen Isolierung des Reiches an den Voraussetzungen. Die eigentlichen nationalitätenpolitischen Fragen wurden von Polen nun voll in den Bereich der eigenen Zuständigkeit übernommen. Freilich war Becks Versicherung, der Schritt seiner Regierung richte sich nur gegen die Leute im Völkerbund, "die nichts könnten, als sich und anderen Ärger zu bereiten 111), und berühre nicht das Los der deutschen Minderheit, ein höchst unvollkommener Ersatz für eine vertragliche Vereinbarung. Das Auswärtige Amt regte deshalb in Warschau für die praktische Aufgabe des Minderheitenschutzes eine bilaterale Regelung mit der polnischen Seite an 2). Der deutsche Gesandte v. M:Jltke kerbund die Aufgabe überlasse, Polen zur Einhaltung seiner Verpflichtungen anzuhalten; hier sei eine Gelegenheit für den Völkerbund, seine Stärke zu zeigen. Tel. Phipps an das Foreign Office vom 18.9.1934, F.O. 371/W 8394/ 289/98. Dazu die Aufzeichnung im Foreign Office vom 20.9.1934 (ebd. ): Dieckhoffs Bemerkungen seien ein wenig überraschend. Es sei wenig folgerichtig für Deutschland, an der Überwachung der Minderheitenverträge durch den Völkerbund festzuhalten, und es sei schwierig zu glauben, daß die Sorge um die deutsche Minderheit in Polen stärker sei als die Genugtuung Über den neuerlichen Schlag gegen die Autorität des Völkerbundes. 1) Moltke an AA am 19.11.1934 Vorgeschichte des Krieges, 2) Erlaß
Neurath
Über seine S. 63 ff.
vom 14.11.1934,
a.a.O.
Demarche bei Beck, in:
Dokumente zur
- 331 begründete die Notwendigkeit einer solchen Vereinbarung auch damit, daß es immer schwerer werde, die bisherige Zurückhaltung in der Presse zu wahren, da sie mit dem Volksempfinden zu wenig im Einklang stehe. Beck beschränkte sich in seiner Erwiderung auf unverbindliche Zusagen für eine Besserung der Zustände, wobei er für noch bestehende Schwierigkeiten die Wirtschaftskrise in Polen, die Praxis unterer Verwaltungsorgane und eine jüdische Presse verantwortlich machte 1). Damit wurde deutlich, daß sich Polen und das Deutsche Reich zwar in der Ablehnung des Genfer Systems einig waren, daß diese Gemeinsamkeit aber dort aufhörte, wo es um die positive Aufgabe eines Minderheitenschutzes ging. Ein eindrucksvolles Zeugnis für die minderheitenpolitische Situation, wie sie sich - von den Voraussetzungen der traditionellen deutschen Minderheitenpolitik - im Herbst 1934 darstellte, ist der Bericht des deutschen Volkstumspolitikers Dr. Jurtghann, den er Anfang Oktober dem Auswärtigen Amt vorlegte 2). Junghanns Resümee gründete sich auf eigene Beobachtungen während_der Völkerbundsversammlung und des 10. Europäischen Nationali tätenkongresses: Die Sache der deutschen Minderheiten sei geschwächt durch die Behandlung der Juden in Deutschland und durch den deutsch-polnischen Vertrag, der es den Deutschen nicht mehr erlaube, wie Stresemann auf den Tisch zu schlagen. Auch Vertreter neutraler Staaten, die die deutsche Auffassung in der Minderheitenfrage früher unterstützt hätten, lehnten es jetzt ab, von den Minderheiten zu sprechen, seit Deutschland begonnen habe, seine Staatsbürger ungleich zu behandeln. Die These, daß die Juden ein Sonderproblem darstellten, werde nirgends akzeptiert. In dieser Situation habe die polnische Regierung in ihrem Bestreben, den internationalen Minderheitenschutz abzustreifen, bei den Großmächtenweitgehendes Verständnis gefunden. Der Direktor der Minderheitenabteilung sei selber der Auffassung, daß das Empfinden für die moralischen Grundlagen und die natürliche Selbstverständlichkeit des Minderheitenrechts im Völkerbund in letzter Zeit einen Stoß erhalten habe. übrig geblieben sei bei den Großmächten lediglich das Gefühl für die Notwendigkeit, "aus Gründen des Völkerbunds-Prestiges" die Verträge aufrechtzuerhalten. Als gefährliche Entwicklung beurteil1) Moltke an AA am 19.11.1934,
a.a.O.
2) "Bericht über minderheitenpolitische Beobachtungen anläßlich der 15. Bundesversammlung des Völkerbundes in Genf und des X. Europäischen Nationalitätenkongresses in Bern", von Junghann "nach bestem Wissen und Gewissen" abgefaßt und unter dem 4.10.1934 "pflichtgemäß" dem Ausw. Amt vorgelegt. AA K 1764/K 432 823-840.
- 332 te Junghann auch die innere Zerreibllllg der deutschen Volksgruppen, die starke Schwächungihrer Widerstandskraft durch Aufspaltung in Anhänger und Gegner des Dritten Reiches, die den beteiligten RegieTllllgen erwünschte Gelegenheit gebe, im Truben zu fischen. Damit sprach er ein wesentliches Unterscheidllllgsmerkmal der nationalsozialistischen Volksgruppenpolitik gegenüber der traditionellen deutschen Minderheitenpolitik an: Diese war in gewissem Sinne innner ein Bindeglied der deutschen Minderheiten gewesen und hatte eine Konzentrationsbewegllllg unter ihnen gefördert, was nicht zuletzt ja auch darin begrundet lag, daß die deutschen Minderheiten starken Anteil an dieser Politik gehabt hatten. - Allgemein konstatierte Jllllghann mit tiefer Sorge die ''Vereisung der Atmosphäre um das vereinsamende Deutschland", eine Entwicklung der Dinge, die gegen Deutschland und gegen den Bestand der deutschen Volksgemeinschaft im Ausland laufe. Eine M:iglichkeit für das Reich, minderheitenpolitisch - und damit auch revisionspolitisch - wieder aktiv zu werden, sah Jungbann nur in einer Politik, die zu den angelsächsischen Mächten zurückführte, da sie am ehesten bereit seien, für eine Revision des Versailler Vertrags Verständnis aufzubringen. Allerdings setze dies voraus, daß Deutschland seine Judenpolitik abbaue lllld in den Völkerbund zurückkehre. In ähnlicher Weise äußerte sich der deutsche ~linderheitenpolitiker Graebe gegenüber dem britischen Völkerbundsdelegierten Malkin: Die einzige Hoffnung der Minderheiten liege nllll beim Völkerbund1). Dort freilich herrschte nun die Tendenz vor, der Minderheitenfrage ein "decent burial" zu geben. Malkin konnte in seinem Bericht an das Foreign Office diesen Zug nur bekräftigen; es gab handfeste Grunde, die es ratsam erscheinen ließen, sich mit den Polen in der Minderheitenfrage nicht mehr anzulegen 2). Die praktischen Konsequenzen aus der allgemeinen VerändeTllllg zeigten sich schon bei der Erledigllllg der Alkohollizenzen-Beschwerde, die im September 1934 noch einmal bis zur nächsten Ratssitzung vertagt worden war. Am 18. Januar 1935, viereinhalb Jahre nach Vorlage der ersten diesbezüglichen Petition, kam der Rat zu einem Abschluß. Der Bericht des spanischen Delegierten de abgefaßt, stellte dann ~1adariaga war ganz im Stil des Einerseits-Andererseits aber fest, daß einige der von der Minderheit zur Verfügllllg gestellten und von der polnischen RegieTllllg nicht widerlegten Informationen anzuzeigen schienen, 1) Malkin an das Foreign 2) Ebd.
Office
am 21.1.1935,
a.a.O.
- 333 -
daß die lokalen Behörden den Prinzipien des Minderheitenschutzes nicht innner Rechnung trugen. In zurückhaltender Form sprach der Rat daher an die Adresse der polnischen RegieTllllg die Bitte aus, sie möge diese Behörden zur Einhaltung der ~linderheitenschutzbestinnnungen anhalten, und· äußerte sich überzeugt, daß die polnische Regierung in jedem Fall einer Zuwiderhandlung einschreiten werde1). Diese Entschließung erreichte den Adressaten nicht einmal mehr: Der Vertreter Polens hatte sich während der Verhandlung über diesen Pllllkt demonstrativ zurückgezogen und kehrte erst nach Abschluß der Angelegenheit an den Ratstisch zuruck 2) • Eine 1938 angefertigte Schlußbilanz der deutschen Minderheitenbeschwerden ergab, daß im Laufe der Jahre 131 (mit Oberschlesien 185) Beschwerdefälle in 213 Petitionen dem Völkerbund vorgelegt worden waren, von denen sich 100 auf Polen, 24 auf die Tschechoslm,akei, je 2 auf Estland, Lettland und Jugoslawien und 1 auf Rumänien bezogen3). Es handelte sich hierbei um Beschwerden, die zum größten Teil von·weitreichender Bedeutung für den Bestand der Minderheiten waren. Dies traf besonders für die Klagen gegen die Bodenpolitik der Minderheitenstaaten zu, ergaben doch Untersuchllllgen, daß der Verlust an deutschem Volksboden durch derartige Entnationalisierllllgsmaßnahmeri die gesamte durch den Versailler Vertrag abgetretene Fläche an lhnfang übertraf. Insgesamt gelangten nur 7 der deutschen Eingaben vor den Völkerbundsrat, der sich meistens damit begnügte, Vergleiche anzuregen lllld unverbindliche Wünschefür die Zukunft zu äußern. Vor dem Hinterg=d dieser Bilanz gab Rasting als ehemaliger Direktor der Minderheitenabteilung im Völkerblllldsekretariat ein vernichtendes Urteil über das gesamte internationale Minderheitenschutzsystem ab, wenn er offen den Austritt seines Heimatstaats Dänemarkaus dem Völkerbund forderte, "da die Mitgliedschaft einer so kompromittierenden Einrichtung kompromittierend sei 114 ). 1) Journal
Officiel
XVI, 1935, S. 150.
2) Im September 1935 brachte ein Dreierkomitee zum. ersten Male eine Polen bevon englischen Parlamentariern zur Lage treffende Beschwerde (eingebracht der ukrainischen Minderheit in Polen) zum. Abschluß, ohne daß die polnische Regierung zu den Beschwerdepunkten Stellung genommen hatte. Die Beschwerde wurde abgelehnt, wobei sich das Dreierkomitee fÜr seine Entscheidung lediglich auf eine Reihe von Gesetzestexten und auf Zeitungsmeldungen stützte. Lt. Bericht Deutsches Konsulat Genf (Krauel) an AAvom 10.10.1935, AA K 1764/ Bd. 13. 3) Truhart: "Schlußbilanz Staat 11, S. 609 ff. 4) Ebd.
der deutschen
Beschwerden
in Genf",
in:
Nation und
- 334 -
Ein Jahr, bevor der letzte noch wirksame Bestandteil des Genfer ~linderheitenschutzes, die Konvention für Oberschlesien, auslief, nahm - im April 1936 die offiziöse polnische Zeitung "Polska Zachodnia" zur Frage der weiteren Gestaltung des Minderheitenschutzes Stellung und zog auf ihre Weise Bilanz 1): Die Bestimmungendes Genfer Minderheitenschutzes seien eine "Konzeption der Freimaurerkreise und des Weltjudentums, ein wahres jüdisches Kuckucksei". Es seien durch sie nur eine Reihe kostspieliger internationaler Instanzen geschaffen worden; deren Arbeit sei "gedroschenes Stroh und eine traurige .Ährenlese des Schweizer Liberalismus des -19. Jahrhunderts". Die Deutschen, die eine Phase des verstärkten Nationalbewußtseins durchmachten, würden am besten verFürsorge kein Verständstehen, daß auch Polen für diese Art internationaler nis mehr habe. Was das Genfer Abkommenspeziell betraf, so hielt man es für das beste, es seinem "natürlichen Schicksal", d.h. "dem Prozeß des Erlöschens" zu überlassen; alle Versuche, dieses Thema zur Sprache zu bringen, würden einen gründlichen Mißerfolg erleben. Bemerkenswert ist in diesem Artikel wieder die Berufung auf eine innere Gemeinsamkeit mit dem neuen Deutschland. Ihr entsprach, daß beide Staaten eine Politik des Revisionismus betrieben, die sich bei Polen gegen den internationalen Minderheitenschutz, bei Deutschland gegen den Versailler Vertrag richtete. Inhaltlich strebten beide aber ganz entgegengesetzte Ziele an, und gleichsam im Schnittpunkt dieser Interessenlinien stand die deutsche Minderheit selber. Während der polnische Staat sein Nationalitätenproblem a la longue aus der Welt schaffen wollte, wurde die Minderheitenfrage auf deutscher Seite zum entscheidenden Hebel einer revolutionären Außenpolitik.
1) Vom 16.4.1936, lt. Bericht Nöldeke (Deutsches an AAvom 22.4.1936, AA 466/2, Bd. 10.
Generalkonsulat
Kattowitz)
SCHLUSSBEIRACHTUNG Das Erlöschen des Genfer Minderheitenschutzsystems im Zusammenhangmit der allgemeinen politischen Veränderung 1933/34 war nicht Ausdruck einer neuen Bewertung der Minderheitenfrage, sondern entsprach durchaus dem Rang, der ihr seit 1919 zukam, Rechtlich und politisch-gehörte der Minderheitenschutz zum Gesamtsystem der politischen Neuordnung nach dem Ersten Weltkrieg: "Das Recht der Minderheitenverträge ist notwendiger Bestandteil des Systems der Friedensverträge mit den Mittelmächten. Keine Gesamtgeltung dieses Vertragssystems ohne Geltung-des Minderheitenrechts 111). Von dieser Ausgangslage ließ sich einmal die Deutung ableiten, daß es sich beim Minderheitenschutz um eine Aufgabe von allgemein-politisch hohem Rang handle, der man größte Aufmerksamkeit widmenmüsse; andererseits lag hier aber, was für die weitere Entwicklung der Minderheitenfrage von viel größerer Tragweite war, auch die Begründung dafür, daß jede minderheitenpolitische Erörterung in starkem Maße auch von allgemeinen politischen Erwägungenbestimmt, ja ihnen untergeordnet und eine Behandlung der Minderheitenfrage als eines absoluten Problems nicht möglich war. Vor allem die Westmächte ließen sich bei Stellungnahmen zu dieser Frage stets von übergeordneten politischen Gesichtspunkten leiten,nach Maßgabeihrer europäischen Interessen. Einmal lag ihnen daran, gegen die Generalisierungstendenzen der vertragsgebundenen Staaten ihren bevorrechtigten Status im Minderheitenschutzverfahren und damit auch ihre Vorrangstellung in der europäischen Ordnung zu behaupten. Eine natürliche Solidarität verband sie auch dort, wo es um Ansehen und Autorität des Völkerbundes ging, was je nach politischer Lage sie entweder zu einer minderheitenfreundlichen Kimdgebungveranlaßte oder aber ihnen besondere Zurückhaltung nahelegte. Wenndiese Überlegungen nicht im Spiel waren, gab auf französischer Seite die Rücksicht auf das enge Verhältnis zu den ostmi tteleuropäischen Minderheitenstaaten den Ausschlag, während sich die britische Regierung - schon mit direkterem Bezug auf die Nationalitätenfrage vom Interesse an der politischen Stabilität in Europa leiten ließ. Auch die deutsche aktive Minderheitenpolitik, wie sie um 1925 konzipiert wurde, ging von der Grundtatsache aus, daß es sich bei der Minderheitenfrage um ein Problem der allgemeinen europäischen Ordnung handelte, Nicht zufällig wurde das Programmdieser Politik im Zusammenhang mit einer allgemeinen Umstellung 1) C.G. Bruns: s. 70,
"Minderheitenrecht
als
Völkerrecht",
in:
Gesammelte
Schriften,
- 336 -
der deutschen Außenpolitik entwickelt. Daß es überhaupt zu einer eigenständigen minderheitenpolitischen Konzeption kam, unterschied das Reich von den übrigen Mächten, deren Haltung in dieser Frage im wesentlichen re-aktiv war. Begründet war dieser Umstand zunächst darin, daß Deutschland als Mutterland bedeutender .europäische.r Minderheiten ein besonderes Interesse an der Minderheitenfrage besaß. Zumandern wurde - dieser Sonderlage entsprechend eine aktive Minderheitenpolitik auch als ~dium verstanden, das eine Sonderstellung des Reiches in Europa begründen konnte. In diesem Sinne war sie ·Element einer aktiven Völkerbundspolitik, insofern die Propagierung des Minderheitenschutzgedankens dazu dienen sollte, Deutschland gegen das System von Versailles abzugrenzen. Es wäre jedoch falsch, der Minderheitenfrage einen fest umrissenen Platz im Rahmender deutschen Außenpolitik zuzuordnen, hier gar von einem strategischen Plan zu sprechen 1) , vielmehr verbanden sich mit ihr eine Reihe von Vorstellungen, die einander nicht auszuschließen brauchten, die der deutschen Minderheitenpolitik aber doch einen sehr komplexen Charakter verliehen. Stresemann selber sah in der Minderheitenfrage vor allem das Friedensproblem, das große Beachtung deshalb verdiente, weil es die mit Locarno eingeleitete Entwicklung gefährden konnte. In diesem Sinne erläuterte er noch kurz vor seinem Tode seine Auffassung: Wennder Völkerbund sich scheue, die ihm übertragenen Pflichten zu erfüllen, so würden auch die Minderheitenstaaten sich nur allzu leicht ihren Verbindlichkeiten gegenüber den Minderheiten entziehen. Die Folge werde sein, daß unter stillschweigender Duldung des Völkerbundes ein überspannter Nationalismus an die Stelle nationaler To1) H.L. Bretton: "Stresemann and the Revision of Versailles", Stanford 1953, S. 135 ff. Bretton glaubt,folgende "strategische" Linie in Stresemanns Minderheitenpolitik entdecken zu können: 1. Die Minderheiten sollen ermuntert werden, auf ihren Rechten zu beharren und an ihrer Eigenart festzuhalten; 2. bei Verletzung ihrer Rechte sollen sie zu Eingaben an den Völkerbund ermutigt werden; 3, damit die deutschen Volksgruppen einen Fürsprecher im Völkerbund haben, soll Deutschland einen Sitz im Völkerbunds4. wenn keine Petitionen vonseiten der Minderheiten einrat anstreben; gehen, soll die deutsche Regierung selber Klagen vor den Rat bringen; 5, Polen ist aus dem Rat herauszuhalten. - Wie weit diese - nach den gegebenen Verhältnissen - für einen effektiven Minderheitenschutz zumeist selbstverständlichen Forderungen im Sinne einer groß angelegten Strategie gedeutet werden können, als ein "deliberate attempt to encourage and to foster irredentism in Polish lands", leuchtet nicht ein. Nach Punkt 4 dieses Konzepts hätte Deutschland alles daran setzen müssen, unter Umständen auch selber den Rat mit Beschwerden zu überhäufen, auf jeden Fall minderheitenpolitisch eine dynamische Rolle im Völkerbund zu spielen. Dem steht aber die auffallende Zurückhaltung des Reiches auf diesem Gebiet in den ersten Jahren nach dem Eintritt in den Völkerbund entgegen.
- 337 -
leranz trete. Das Hervorkehren der nationalen Gegensätze zwischen Staatsvolk und Minderheiten verhindere aber nicht nur die Konsolidierung der Staaten, sondern ziehe auch das Verhältnis zwischen Völkern und Staaten in Mitleidenschaft da anerkanntermaßen kein Volk sich am Schicksal der außerhalb seiner 1 Grenze~ wohnendenVolksgenossen desinteressieren könne ). Stresemann gewärtigte aber nicht nur die aus dem Minderheitenproblem erwachsenden Gefahren, viel mehr sah er auch positiv die Entwicklung auf diesem Gebiet als einen Prüfstein für seine Außenpolitik überhaupt an, für die in der innenpolitischen Auseinandersetzung der Hinweis auf die Minderheiten als nationales ~lotiv diente. Bei allem aber ging er, wie allgemein die deutsche Politik, davon aus, daß die Möglichkeiten des internationalen Minderheitenschutzes der Problematik der Minderheiten nur in begrenztem Maße gerecht werden könnten und insbesondere für die deutsche Minderheit in Polen unzureichend seien. Hier war es das Ziel der aktiven ~'.linderheitenpolitik, die europäische Diskussion über das Nationalitätenproblem nicht abbrechen zu lassen und stets auf die Untragbarkeit der Zustände hinzuweisen, auf lange Sicht also den Boden für eine friedliche Revision der deutschen Ostgrenze vorzubereiten. Fortschritte auf dem Gebiet des positiven ~!inderheitenrechts, materielle Verbesserungen für die Lage der Minderheiten sollten dabei den Bestand der Volksgruppen bis zu diesem Zeitpunkt sichern, sie kamen im übrigen, dem universalen Anspruch der deutschen Minderheitenpolitik entsprechend, allen deutschen Volksgruppen zugute. Auf alle Fälle machten sie nicht die revisionspolitische Forderung obsolet, da diese zweifellos übergeordnet war. Zu diesem Urteil muß man kommen,wenn man mit dem starken Interesse der deutschen Regierungen am Deutschtum in Polen die überaus zurückhaltende Einstellung des Reiches in der sudetendeutschen Frage vergleicht, die nur z.T. mit den inneren Verhältnissen in der sudetendeutschen Volksgruppe, mehr aber mit dem übergeordneten Interesse des Reiches an guten Beziehungen zur Tschechoslowakei zu erklären ist. Das führt zur Frage, wie sich das Programmder deutschen Minderheitenpolitik in die politische Realität einordnete. Erst 1929 verwirklichte die Reichsregierung die mit dem Eintritt in den Völkerbund verbundene·Ankündigung, ihre Mitgliedschaft für eine Aktivierung des Minderheitenschutzes zu nutzen, und selbst jene Debatte von 1929 ging auf eine spontane Anregung, nicht auf einen strategischen Plan zurück; schließlich traten noch während der Verhandlungen 1) Stresemann: "Die Minderheitenfrage als Friedensproblem", in: Kölnische Volkszeitung, Sonderbeil. "Die Frage der nationalen Minderheiten" August 1929.
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akutere politische Fragen wieder in den Vordergrund. Die Regierungen nach Stresemanns Tod begnügten sich geradezu mit einem minderheitenpolitischen Minimalprogramm, mit dem sie die allgemeine Diskussion wachhielten. Diese Zurückhaltung ist natürlich in starkem Maße auf die enttäuschenden Erfahrungen mit dem Genfer Minderheitenschutz zurückzuführen, sie erklärt sich vor allem aber daraus, daß die Minderheitenfrage angesichts der allgemeinen Krise Ende der zwanziger, Anfang der dreißiger Jahre von dringlicheren politischen Aufgaben in den Hintergrund gedrängt wurde. So konzentrierte sich das Interesse des Reiches schließlich auf die Aufgabe, das Minderheitenproblem offenzuhalten, vor allem stets den Zusammenhangzwischen Minderheitenschutz und territorialer Ordnung herauszustellen. Erfolge auf diesem Gebiet,gar im Sinne einer weiterreichenden politischen Konzeption,erforderten überdies eine Politik mit langem Atem. Der ehemalige Danziger Senatspräsident Rauschning sprach gelegentlich von der Chance, die Deutschland gehabt habe, die Fesseln von Versailles auf dem Wegeeiner "europäischen Lösung" zu sprengen, einer Lösung, die besagte, daß sich Deutschland Zlilll Verfechter einer höheren Rechtsidee machte, in einen gewissen, nicht schroffen Gegensatz Zlilll Westen trat, sich an die Spitze eines eigenen Ordnungsbereichs in Europa setzte, "der zwar nicht als Domäneeines deutschen Hegernonieanspruchs aufzufassen war, aber als die legitime und friedliche Auswirkung eines natürlichen Gewichtes der großen zentraleuropäischen Nation mit ihren weit in den Osten und Südosten hinausgreifenden Volksgruppen111). Eine solche Politik sei nur in Gang zu bringen gewesen, bevor Deutschland den Völkerbund verließ und sich in einen scharfen Gegensatz Zlilll Westen brachte, sie hätte so lange wie möglich "in der schützenden Eihaut des bisherigen Vertragssystems" wachsen müssen. - Oberlegungen dieser Art wurden, im Zeichen der aktiven Minderheitenpolitik, ja auch im Auswärtigen Amt angestellt. Daß sie nicht zum Zuge kamen, wird man nicht zuletzt darauf zurückführen nüssen, daß dieser Politik nur ein relativ kurzer Zeitralil!l zur Verfügung stand. Mit der Hinwendung des nationalsozialistischen Deutschland zu einer Politik der revolutionären Veränderung der Versailler Ordnung - statt ihrer evolutionären Oberwindung-, verlor auch die Minderheitenfrage ihre Bedeutung als Element einer "europäischkonservativen" Revision, wurde sie bloßes Medilil!lfür eine totale Neuordnung.
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(4569) (4571) (4587)
3. Politische Abteilung II: Tschechoslowakei: Nationalitätenfrage, Fremdvölker
(L 437 u. L 440)
4. Politische Abteilung IV: a) Oberschlesien. Juden. Fall Bernheim b) Polen. Deutschtum c) Oberschlesien. Rassenfrage, Nationalitätenfrage, Fremdvölker, Schutz der Minderheiten 5. Abteilung VI (Kultur): a) Förderung des Deutschtums in der Tschechoslowakei b) Schutz der Minderheiten c) Minderheiten und Völkerbund d) Volksdeutscher Rat e) Minderheiten im Reich f) Minderheitsregelung im Reich g) Verband deutscher Volksgruppen in Europa h) Minderheiten und Völkerbund i) Minderheiten und Völkerbund j) Minderheiten und Völkerbund. Bestrebungen auf Beseitigung der Minderheitsschutzverträge k) Minderheiten und Judenfrage 6. Presseabteilung: Nationale Minderheiten. Allgemeines 7. Referat Völkerbund: a) ~linderheitsfragen. Allgemeines b) Revision des Minderheitenverfahrens c) Deutschland d) Minderheitenbeschwerden
(4555 H) (4556)
(9185) (L 682 u. L. 683)
(ungefilrnt; Az.Po.6 OS)
(9127) (K 1768) (K 1769) (8772) (5063) (5035)
(K 1001) (K 1772 u. K 1773)
(9294)
(9295) (9293 u. L. 1420) (K 1766) (K 1764) (K 2366)
(L 1837)
(ungefilrnt)
- 340 -
8. Geheimakten 1920-1936: a) Polen. Nationalitätenfrage b) Polen (Oberschlesien). Polnischer Terror gegen deutsche Minderheiten in Oberschlesien anläßlich der Wahlen 1930 c) Polen (Oberschlesien). Deutschtum im Ausland d) Polen. Politische Beziehungen Polen-Deutschland e) Polen. Deutschtum im Ausland f) Tschechoslowakei. Nationalitätenfrage, Fremdvölker g) Tschechoslowakei. Nationalitätenfrage
(K 91) (6144)
9. Nachlaß Stresemann: Aus dem Nachlaß Stresemann von Konsul Bernhard dem M übergebene Schriftstücke
(7414)
10.Direktoren, Dirksen
(5462)
(6197)
(K 238) (K 233) (K 170) (K 197)
Handakten:
11.Alte Reichskanzlei: Auslandsdeutschtum
(3226)
fI, Public Record Office, London Foreign Office, Political Correspondence
(=
F.O. 371)
Die Materialien des Foreign Office zur Minderheitenfrage sind nicht auf bestimmte Aktengruppen systematisch konzentriert, sondern je nach ihrem Einschlag über die für Europa und den Völkerbund zuständigen Abteilungen verstreut.
III. Archiv des Völkerbundes. Genf
(= VB)
1. Section 4: Commissions administratives et Minorites 2. Section 41: Commissions administratives et Minorites 3. Les collections de publications et "documents" de la S.D.N. (Dieser Gruppe sind vor allem Presseberich. te und Ratsdokumente entnommen.)
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