182 57 14MB
German Pages 272 [276] Year 1993
COMMUNICATl(
)
Band 4
Studien zur europäischen Literatur- und Kulturgeschichte Herausgegeben von Fritz Nies und Wilhelm Voßkamp unter Mitwirkung von Yves Chevrel und Reinhart Koselleck
Annette Graczyk
Die Masse als Erzählproblem Unter besonderer Berücksichtigung von Carl Sternheims »Europa« und Franz Jungs »Proletarier«
Max Niemeyer Verlag Tübingen 1993
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Graczyk, Annette: Die Masse als Erzählproblem unter besonderer Berücksichtigung von Carl Sternheims »Europa« und Franz Jungs »Proletarier« / Annette Graczyk. Tübingen : Niemeyer, 1993 (Communicatio; Bd. 4) NE: GT ISBN 3-484-63004-3
ISSN 0941-1704
© Max Niemeyer Verlag GmbH & Co. KG, Tübingen 1993 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Druck und Einband: Weihert-Druck GmbH, Darmstadt
Inhalt
Zu dieser Arbeit
1
Erster Teil
Die Masse als Begriff, Thema und Darstellungsproblem bis 1920 I.
II.
Die Begriffsgeschichte der Masse. Ein Aufriß
5
A. Der konstitutive Gegensatz von Masse und Individuum 1. Masse — Menge — politische Bewegung — Pöbel. Begriffsabgrenzungen 2. Die Masse als Negativbild zum Leitwert der Persönlichkeit 3. Die Masse als formbarer Stoff 4. Die Polarität von Masse und »großer Persönlichkeit« in der Historiographie B. Die geschichtliche Entwicklung des Massenproblems 1. Die Rolle der Französischen Revolution für die Massenproblematik 2. Die Herausbildung der modernen Massenproblematik im Zuge der Industrialisierung 3. Die Entstehung der Massenpsychologie 4. Literarische Stereotypen in der Massenpsychologie 5. Der Erste Weltkrieg als Erschütterung des traditionellen Menschenbildes
6
Die Masse in der Literatur. Zum Stand der Forschung und zum Gegenstandsfeld
III. Das Darstellungsproblem A. Individualisierende Darstellungsverfahren 1. Das anthropomorphe Modell. Organische Strukturmetapher — Personalisierung — Allegorie 2. Die Typisierung
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VI
Inhalt
Β. Die Darstellung der Masse in ihrer bewegten kollektiven Erscheinungsgestalt 1. Exkurs: Das Darstellungsproblem in der Malerei 2. Das Darstellungsproblem in der erzählenden Literatur . . . a) Die Stillstellung der Bewegung im Tableau. Eugene Sues Les Mystires de Paris (1842/43) b) Fensterblick und Erzählerfokus in Ernst Theodor Amadeus Hoffmanns »Des Vetters Eckfenster« (1821/22) . . c) Die Gliederung der Großstadtmenge durch den soziologisch ausdifferenzierenden Blick in Edgar Allan Poes »The Man of the Crowd« (1840) d) Die Meeres- und FlußVorstellung als rhythmische Bewegungsfigur in Victor Hugos Notre-Dame de Paris (1831), Alfred de Vignys Stelle (1832) sowie Charles Dickens Barnaby Rudge (1841) und A Tale of Two Cities (1859) e) Die Darstellung der Menge in ihrem Bewegungsfluß in Emile Zolas L'Assommoir (1885) f) Zur Ausgangslage des Darstellungsproblems bei Carl Sternheim und Franz Jung
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56
57 63 69
Zweiter Teil
Die Darstellung der Masse in Carl Sternheims Europa und Franz Jungs Proletarier IV. Masse und Ekstase. Carl Sternheims vitalistische Sicht auf Revolution und Reaktion in Europa (1919—1920) A. Situierung und Stellenwert des Massensujets im Roman 1. Europa als Epochendiskussion 2. Zum Romanschauplatz Den Haag. Der ereignisgeschichtliche Hintergrund der Revolutionsdarstellung 3. Die Massenproblematik im Kontext der ästhetischen Besonderheiten des Romans a) Zur Einordnung des Autors b) Zur Anlage des Romans c) Das herausgehobene Individuum als Standpunkt des Erzählers d) Die Titelheldin e) Individualismus und Kollektivismus f) Die metaphorischen Bedeutungsebenen der Handlung . . g) Euras Berliner Versammlungserlebnis als Vorstufe der späteren revolutionären Ekstase 4. Zur Vorgehens weise
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Inhalt
Β. Die Revolution als haltloser Taumel 1. Tumult als expressionistisches Erzählprogramm a) Erzählpartikel und ihre Verdichtung b) Der Standort des Erzählers im Tumult c) Die Heldin als Zentrum des Tumults 2. Die Formierung der Masse im Kampf gegen das Militär . 3. Die Ekstase a) Die Ekstase der Heldin als Verschmelzung von Innen und Außen b) Raum und Zeit in der Ekstase c) Sexualität und Ekstase 4. Die allegorische Ebene a) Eur(op)a als Freiheitsgöttin b) Der antike Europa-Mythos 5. Exkurs: Naturale Metaphernkomplexe a) Der Bildkreis der Naturgewalt in seiner traditionellen Fundierung b) Zum Problem der Übertragung naturaler Vorstellungsmuster auf das Soziale 6. Sternheims poetisch differenzierte Verwendung der Naturmetaphorik a) Blitz, Donner und Sturm als Elementarkräfte der revolutionären Schlacht b) Der Vulkan als Ausdruck der Masse in ihrer Empörung c) Das Meer und die Verschmelzung von Masse und Ich d) Wasser, Masse und Lebenskraft C. Die Integration der jubelnden Menge in das konservative Zeremoniell 1. Der Realismus der Satire. Die Ebene der Karikatur . . . . 2. Die jubelnde Menge als revolutionsabwehrende Gegenbewegung 3. Der Kontrast von revolutionärer und konservativer Masse 4. Der Mißton in der Harmonie. Die ästhetische Sabotage der konservativen Jubelfeier D. Die Massengestaltung im Kontext der kulturkritischen Positionen Sternheims V. Die Bewegung der Masse im gegliederten Raum. Franz Jungs rhythmische Massengestaltung in Proletarier (1921) A. Künstler, Masse und Revolution. Politische, lebensphilosophische und ästhetische Voraussetzungen von Jungs Massengestaltung
ΥΠ
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Vin
Inhalt
1. Jungs »proletarisches« Erzählprogramm der »roten Jahre« 2. Rhythmus, Gemeinschaft und Vitalität 3. Rhythmus als ästhetische Kategorie B. Der formale Niederschlag der Massenthematik in Proletarier. Makroanalyse 1. Allgemeine Charakteristika der Erzählung 2. Massensujet und Gesamtkomposition C. Die futuristisch-zerlegende Darstellung einer Großdemonstration. Mikroanalyse einer Szene 1. Die Bewegung der Massen durch den städtischen Raum a) Bewegung, Raumausschnitt und Perspektive b) Straßennetz, Zentralismus, funktionale Differenzierung des städtischen Raums und dialektische Spannungserzeugung c) Die Freisetzung von Massenströmen durch den Streik und die Eigendynamik von Massengewalt d) Die stimmliche Eroberung des Zentrums als Angriff des Lebens auf die mechanische Zurichtung der Stadt . e) Die Zerlegung von Bewegung und die Erzeugung von Bewegungsfluß 2. Der Gärungsprozeß der Menge auf dem zentralen Kundgebungsplatz a) Bewegungsstau im begrenzten Raum b) Die Gliederung des emotionalen Klangraumes und die Formen der mündlichen Massenkommunikation . . 3. Der Ausbruch der Massenpanik a) Gleichzeitigkeit und Chaos als Darstellungsproblem . . b) Die Zerlegung der Zeit in minimale Phasen c) Erzählerperspektive und die Verdichtung der Menge zur Masse im Singular d) Der Schrei als eruptives Geschehen in Zeit und Raum e) Der Vektor als Beschreibungsmodell gerichteter Bewegung im Tumult f) Technische und vitale Triebkraft 1: die Technik . . . . g) Technische und vitale Triebkraft 2: das Lebendige . . D. Modelle revolutionärer Antriebskraft und Bewegungsform auf der Ebene der Gesamterzählung 1. Naturale und organische Bewegungsmetaphern a) Die Wehe b) Der Sturm c) Die Moräne d) Die Flut e) Der Schrei
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Inhalt
IX
2. Groteske Vitalisierung. Die Dingwelt wird zum Subjekt 3. Die Bewegung des Lebendigen in den vorgeformten Strukturen der gesellschaftlichen Ordnung. Fazit
.
238 242
VI. Die erzählte Masse bei Sternheim und Jung. Konklusion
245
VII. Literaturverzeichnis
249
Index
261
Zu dieser Arbeit
Es ist das Ziel der vorliegenden Arbeit, die noch kaum erforschte Problematik der literarischen Massendarstellung in zwei Schritten zu erschließen und zu konkretisieren. Aufgabe ist es, zunächst in einem grundlegenden Aufriß an das Thema, dessen vielfältige Aspekte und verdeckte Bezüge kaum mehr als punktuell ins Bewußtsein gerückt sind, heranzuführen (Kap. I-III), um es dann beispielhaft auf einem kleinen und vergleichsweise gesicherten Terrain detailliert in seinen ästhetischen, sozialen und politischen Dimensionen zu erschließen (Kap. IV-V). Meine Darstellung beginnt mit einem problemorientierten Überblick über die Begriffsgeschichte der Masse, der eine Verständigungsbasis über den Gegenstand, dessen literarisch-ästhetische Gestalt uns hier im besonderen interessiert, erst herstellen muß (Kap. I). Es gilt zum einen, die durchgängige und historisch weit zurückreichende negative Grundbelastung des Massenbegriffes in ihren sozialen und politischen Implikationen offenzulegen. Zum anderen ist die besondere Brisanz der modernen Massenproblematik herauszustellen, die sich im Zuge des Industrialisierungsprozesses herausbildet und am Ende des 19. Jahrhunderts zu einer differenzierten wissenschaftlichen Kategorienbildung führt. Mit einer Übersicht zum literaturwissenschaftlichen Forschungsstand, die auch Ergebnisse benachbarter Gebiete einarbeitet, verengt sich die Fragestellung sodann auf die »literarische Masse« (Kap. II). Schließlich wird, in zunehmender Zuspitzung auf die erzählte Masse, das grundsätzliche ästhetische Darstellungsproblem an einer Reihe von Textbeispielen entwickelt und in exemplarischen Einzelanalysen konkretisiert (Kap. III). Am Ende dieses Teiles sind problemgeschichtlich wie darstellungsgeschichtlich jene Rahmenbedingungen eingeholt, vor deren Hintergrund die beiden literarischen Texte zu bewerten sind, die im Mittelpunkt des folgenden vertiefenden Interpretationsteiles stehen. Analysiert werden im zweiten Teil zwei ausgewählte Prosatexte am Ausgang des Ersten Weltkrieges. Beide sind an jenem Umschlagspunkt angesiedelt, an dem sich der sogenannte »Materialstand« der Literatur — und der Kunst überhaupt — tiefgreifend verändert. Das komplexe Sujet der Masse trifft hier auf avancierte »moderne« Gestaltungsverfahren. In ausführlichen Interpretationen der Massengestaltung in Carl Sternheims Europa einerseits (Kap. IV) und Franz Jungs Proletarier andererseits (Kap. V) wird, unter Berücksichtigung der Traditionsbezüge, die unterschiedliche Ausprägung
2
Zu dieser Arbeit
zweier besonderer Formensprachen am Umbruch zur Moderne vorgestellt und in ihrer Leistungskraft für die ästhetische Durchdringung des Massenproblems diskutiert. Dazu wird es notwendig sein, die Mikroebene der Texte zu untersuchen, weil das Massensujet den Text auch auf dieser Ebene infiltriert. Zugespitzt auf die Problematik der Zeit um 1920 dürften aus den hier vorgelegten Analysen übertragbare Erkenntnisse abzuleiten sein, die einer künftigen umfassenden Narrativik der Massengestaltung vorarbeiten.
Erster Teil
Die Masse als Begriff, Thema und Darstellungsproblem bis 1920
I.
Die Begriffsgeschichte der Masse. Ein Aufriß
Die Begriffe und Beschreibungsmuster, die das Phänomen der Masse erfassen, es als solches »erkennen«, sind alles andere als wertneutral. Sie bilden sich im Zusammenhang jener sozialen und politischen Spannungen heraus, mit denen die Masse historisch in Erscheinung tritt, schreiben sich dem jeweils herrschenden kulturellen Selbstverständnis ein, beziehen Positionen, sind parteilich bestimmt. Methodisch wäre es unzulänglich, über das Phänomen der Masse so zu sprechen, als sei es realhistorisch unmittelbar zugänglich und vom Kontext seiner (damaligen wie heutigen) historiographischen, politischen, soziologischen oder kulturkritischen Konzeptualisierung abzulösen. Eine begrifflichtheoretische Form der Näherung, die hier zunächst vorgenommen werden soll, erlaubt es, Entwicklungslinien in der Herausbildung der Massenproblematik aufzuzeigen, ohne das Problem ihrer besonderen Mediatisierung im Kontext divergierender sozialer und politischer Theorien zu unterschlagen. In einem zweiten Schritt wird dann eigens auf die besondere Aufgabenstellung der »literarischen«, bzw. der »erzählten Masse« einzugehen sein. Hier handelt es sich um eine dichterisch komprimierte Form solcher Mediatisierung, die unterhalb der Begriffsbildung liegt. Es versteht sich aber, daß die ästhetische Geschichte der Masse sich im selben (historischen, sozialen, ökonomischen, kulturellen und wissenschaftlichen) Kontext wie die begriffsgeschichtliche Entwicklung vollzieht. Daher wird bereits im begriffsgeschichtlichen Teil beispielhaft auch auf inhaltliche Parallelen zur literarischen Massenvorstellung hingewiesen. Die ästhetische Aufbereitung hat der begrifflichen Abstraktion voraus, daß sie einen sinnlichen Eindruck von der Masse vermittelt, sie anschaulich und erfahrbar werden läßt. Keinesfalls besitzt sie damit notwendig auch eine größere Nähe zum Gegenstand. Die Trennung in den begriffsgeschichtlichen und ästhetischen Aspekt soll also nicht ein hierarchisches Verhältnis unterstellen, etwa in dem Sinne, daß das Ästhetische dem Begrifflichen nachgeordnet oder daß umgekehrt im Ästhetischen eine unmittelbarere Wirklichkeitsnähe aufbewahrt wäre. Begriffliche und ästhetische Anschauung partizipieren vielmehr beide in den je eigenen Voraussetzungen am (gesellschaftlichen und sich historisch verändernden) Bild der Masse. Vielfach durchdringen sie sich. Häufig gehen sie auf gemeinsame Erfahrungen zurück, häufiger auf vermittelnde Quellen, die eine prägende, die Anschauung vorformulierende Rolle für die Aneignung von Wirklichkeit haben: Briefe, Reiseberichte, Zeitungsberichte, Memoiren beispielsweise — oder Bilder und Graphiken, später Photographie und Film.
6
Die Begriffsgeschichte der Masse
Zunächst sind einige zentrale Prämissen der Begriffsbildung in ihrer methodischen und weltanschaulichen Tragweite schwerpunktmäßig im systematischen Zusammenhang vorzustellen, bevor eine vertiefte Darstellung des Massenproblems in seiner historischen Entwicklung seit der Französischen Revolution gegeben werden kann. Natürlich sind diese grundsätzlichen Fragen, die das Problem der Massenvorstellung unter dem Blickwinkel der Einstellung und Perspektive behandeln, gleichermaßen für die literarische Anschauung der Masse relevant: Sie betreffen das Subjekt-Objekt-Verhältnis, das im Zusammenhang mit der Masse eine besonders zugespitzte Ausprägung erfährt, allein schon durch die durchgängige hierarchisch-dualistische Grundvorstellung unseres Kulturraumes, die als Gegensatz von Geist und Materie den soziokulturellen Leitwerten und den institutionellen Organisationsformen der Gesellschaft zugrunde liegt.
A.
Der konstitutive Gegensatz von Masse und Individuum
Entscheidend für die Massenvorstellung ist die Opposition von Masse und Einzelnen1. Sie ist geradezu konstitutiv für den Begriff, der aus der Gegensetzung zur Vorstellung des Individuums lebt. Dieser grundsätzliche Gegensatz ist auf den verschiedensten Ebenen der Massenvorstellung wirksam, ob es nun um die Masse als Gesamtheit im Binnenverhältnis zu den Einzelnen, die sie bilden, geht oder ob die Masse (gleichsam blockhaft als Ganzes) einem Einzelnen gegenübertritt. Dieses spannungsvolle Grundverhältnis nach innen und nach außen bestimmt nicht nur die begriffliche Vorstellung der Masse, sie ist gleichermaßen der ästhetischen Anschauung inhärent. Es wird hier durchgängig darauf zurückzukommen sein. Das Massenhafte tritt stets auf Kosten der Individuen hervor, aus denen sich die Masse zusammensetzt. Andernfalls ist nicht von der Masse, sondern von Gruppen oder losen Ansammlungen Einzelner zu reden. Die Opposition nach außen tritt in der Regel als ein soziales oder kulturelles Gefälle in Erscheinung: So erhebt sich beispielsweise die Person des Herrschers über die Masse, der Massenführer ist aus ihr herausgehoben, und der ästhetische, philosophische oder soziologische Betrachter nimmt sich als (künstlerisch-gestaltendes, kontemplierend-räsonnierendes oder beobachtend-analysierendes) Subjekt von der objektiven Gegebenheit der Masse aus. Ein Sonderfall ist die Einsamkeit und Anonymität in der großstädtischen Masse, ebenso wie das Untertauchen in ihr, die beide erst als späte, moderne Erscheinungen hervortreten.
Im folgenden wird systematisch die Großschreibung verwandt, wo es um diesen tragenden Gegensatz von Einzelnem (Einzelnen) und Masse geht.
Der Gegensatz von Masse und Individuum
1.
7
Masse — Menge — politische Bewegung — Pöbel. Begriffsabgrenzungen
Zu unterscheiden von der Masse ist die Menge, denn sie ist durch ein anderes Binnenverhältnis bestimmt: Während die »Menge« nur als loser Verband ohne inneren Zusammenhang besteht (die Menge der schaulustigen Gaffer, der Urbanen Passanten), setzt der Begriff der Masse eine gewisse Dichte ihres Zusammenhanges voraus. Im Gegensatz zur Menge ist der Massenbegriff als eine Einheit bestimmt. Er faßt die aufbegehrende Masse der Erniedrigten und Unterdrückten, wie sie sich politisch insbesondere in Aufruhr und Revolutionen manifestiert, und er faßt die Masse als einen psychologischen Zusammenhang, wie ihn die spätere Massenpsychologie definiert. Es ist dies eine analytische Unterscheidung, die ich im folgenden auch meiner interpretierenden Darstellung zugrunde lege. Wenngleich für beide Erscheinungen eine ähnliche Ausgangslage der Gestaltungsfrage vorliegt, so kommt die Opposition doch insbesondere dann zum Tragen, wenn der Prozeß der inneren Massenbildung als Entwicklung von der »Menge« zur »Masse« zu beschreiben ist. Der Plural (»Massen«) ist grundsätzlich politisch oder soziologisch akzentuiert; häufig wird er im Sinne des proletarischen Klassenbegriffes gebraucht. Er erlaubt soziologische und politische Differenzierungen, während der Singular (»Masse«), soweit er im politischen Sinn gebraucht wird, tendenziell eher integrierend die Masse als totalitären Widerspruch zur herrschenden Klasse setzt. Der Plural erlaubt es beispielsweise auch, trotz einer weitgehenden Verengung des Massenbegriffes im 19. Jahrhunderts auf die proletarischen Massen, das Phänomen der nationalistischen Massen zu fassen. In diesem Zusammenhang ist auf den Begriff der politischen Bewegung hinzuweisen. Seit dem 17. Jahrhundert wird er benutzt zur Beschreibung spontan entstehender, schwach koordinierter Handlungen in einer vorrevolutionären Situation. 2 Seit 1684 ist »bürgerliche Bewegung« als Synonym für »Aufruhr« belegt. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts ist die Verwendung dieses Begriffes zur Bezeichnung von »Aufsehen, Auflauf, Bestürzung unter mehrern« lexikographisch registriert. Geläufiger im politisch-publizistischen Sprachgebrauch ist jedoch das Wort »Umtriebe« (im Gegensatz zur »Revolution« als einer manifesten Umwälzung). Mit der französischen Julirevolution von 1830, in der sich die siegreiche liberale Opposition als »parti du mouvement« bezeichnet, wird der Bewegungsbegriff als gesamteuropäischer politischer Parteiname
Ich beziehe mich im folgenden auf den Lexikonartikel von J. Frese zum philosophischen Stichwort »Bewegung, politische«, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hrsg. v. Joachim Ritter, Darmstadt 1971ff., Bd. 1 (1971), S. 880-82. — Ich verweise darüber hinaus auf Eckart Pankoke: Sociale Bewegung — Sociale Frage — Sociale Politik. Grundfragen der deutschen »Sozialwissenschaft« im 19. Jahrhundert (Stuttgart 1970); sowie auf Werner Hofmann: Ideengeschichte der sozialen Bewegung des 19. und 20. Jahrhunderts (unter Mitw. V. Wolfgang Abendroth u. Iring Fetscher, 6. erweiterte Aufl., Berlin, New York 1979).
8
Die Begriffsgeschichte der Masse
an die Vorstellung eines allgemeinen Fortschritts- und Emanzipationsprozesses geknüpft. In ihm stellt auch die Revolution von 1789 nur ein Glied in der Kette dar. Die Kräfte der »Bewegung« verstehen sich im Gegensatz zu den politischen Gegenkräften der »Reaktion«. Darüber hinaus bahnt sich eine geschichtsphilosophische Verallgemeinerung im Sinne einer sozialen Dynamik an, die von der Erfahrung säkularisierter Beschleunigung im technischen, sozialen und rechtlich-politischen Bereich ausgeht. Der Staatsrechtslehrer und Nationalökonom Lorenz von Stein, der seine sozialphilosophische Begriffsbildung vor allem an den sozialistischen und kommunistischen Bewegungen in Frankreich konkretisiert, 3 sieht in den sozialen Bewegungen seiner Zeit, welche die bloß politischen ablösten, den Versuch, »den Staat durch [ . . . ] das wirkliche Leben der Gesellschaft gestalten und bedingen zu lassen« 4 . »Bewegung« wird mit dem »Leben« der Gesellschaft gleichgesetzt. Seit 1845 — so J. Frese 5 — erhält der Begriff der Bewegung, der auch im weiteren Verlauf die führende Selbstbezeichnung radikaldemokratischer, emanzipatorischer oder sozialistischer Zusammenschlüsse (wie der Frauenbewegung, der Arbeiterbewegung) bleiben wird, zusätzlich die Bedeutung schwach organisierter politischer, sozialer, »geistiger« und religiöser Reformbestrebungen wie sie auch heute für den Bewegungsbegriff vorherrschend ist. Begriffsbestimmend wird (neben dem Gegensatz zur Reaktion) die Opposition der »Bewegung« (als Kristallisation einer spontanen, »lebendigen« Einheit) zur »Organisation«. Der eigentliche Gegensatz — das ist J . Frese gegenüber stärker hervorzuheben — besteht aber gegenüber der (Verkrustung der) Partei; in Deutschland kommt dieser Gegensatz also erst nach der Gründung der Parteien in der Folge der Revolution von 1848 voll zum Tragen. In den begriffsgeschichtlichen Überblicken der verschiedenen Disziplinen sowohl zur »Masse« wie auch zur »Bewegung« wird der Begriff der politischen Massenbewegung im 19. Jahrhundert zu sehr auf die demokratisch-fortschrittlichen und sozialistischen Traditionen eingeengt. Es kommt zu kurz, daß es am Ausgang des Jahrhunderts auch eine Mobilisierung der Masse von konservativ-nationalistischer Seite her gibt. 6 Schon der Nationalismus des Ersten Weltkriegs kann an eine Tradition anschließen, deren Abgrenzung zu den sozialistischen Bewegungen unscharf verläuft. Die faschistische »Bewegung« eignet sich in ihrer Selbstbezeichnung den Bewegungsbegriff in (sozial-)nationalistisch mobilisierender Weise an, wobei sie dessen demokratisch-emanzipatorischen Zielsetzungen im
Der Sozialismus und Communismus des heutigen Frankreichs, Leipzig 1842; 2. Auflage 1848; 3. Auflage 1850 in 2 Bänden unter dem Titel Geschichte der sozialen Bewegung in Frankreich von 1789 bis auf unsere Tage (Nachdruck: Darmstadt 1959). 4 5
6
Zit. nach J. Frese, wie Anm. 2, S. 880. S. Anm. 2.
Vgl. George L. Mosse: Die Nationalisierung der Massen. Politische Symbolik und Massenbewegung in Deutschland von den Napoleonischen Kriegen bis zum Dritten Reich, Frankfurt/M. 1976.
Der Gegensatz von Masse und Individuum
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ursprünglichen radikaldemokratischen und sozialistisch-revolutionären Zusammenhang tilgt und die Opposition sowohl zur »Reaktion« als auch zur »Organisation«/»Partei« verwischt. Bewegung ist nach ihrem (anfänglichen) Theoretiker Carl Schmitt (Staat, Bewegung, Volk. Die Dreigliederung der politischen Einheit, 1933) eine straff hierarchisch geführte Führungselite.7 Für das begriffliche Umfeld der Masse ist weiter erhellend, daß die historisch frühen Formen wie die »Rotte* oder der »Haufen« ihren eigentlichen Entstehungsort im Militärbereich als kleinste Truppenabteilungen haben. Während der »Haufen« sich zu einem pejorativen Begriff ausbildet, der den niederen sozialen und kulturellen Stand der breiten Masse des Volkes zum Ausdruck bringt und noch im 19. Jahrhundert in diesem kulturkritischen Sinne gebraucht wird, wird die »Rotte« negativ besetzt im Sinne einer »schlimmen Schar« oder »Bande«. »Rotte« und »Rottierung« stellen neben dem Ausdruck »Pöbel« das Gegenstück zum englischen mob dar. Dieser Terminus, seit dem 17./18. Jahrhundert der wichtigste pejorative Ausdruck für die Masse, entwickelt sich als Abkürzung aus dem »mobile vulgus«, mit dem im Lateinischen die erregbaren, unbeständigen und aufrührerischen Massen bezeichnet werden. Die »Rotte« gibt als Kategorie den juristischen Tatbestand der »Zusammenrottung« vor, der sich im Kontext der Delikte »Auflauf«, »Aufruhr« und »Landfriedensbruch« im 19. Jahrhundert durchsetzt und schließlich in das Reichsstrafgesetzbuch aufgenommen wird. Neu ist gegenüber der vorausgehenden Rechtstradition, daß die Rottenbildung als solche bereits in die Nähe der Rechtswidrigkeit rückt. Bestraft wird nicht mehr die Teilnahme an bestimmten Handlungen, sondern die Teilnahme an der Massenbildung, der eine gefährliche, weil »ansteckende« Wirkung zugesprochen wird.8 Eine interdisziplinäre Übersicht zur Begriffsund Theoriegeschichte der Masse, wie sie unter Einschluß auch der Militärund Strafrechtsgeschichte wünschenswert wäre, liegt leider nicht vor.
2.
Die Masse als Negativbild zum Leitwert der Persönlichkeit
Die kulturkritische und kulturpessimistische Tradition gebraucht den Begriff vornehmlich amalgamierend im Singular, in Opposition zum sozio-kulturellen Leitwert der Person oder des Individuums. An dieser Stelle wird die entscheidende Spannung, die dem Massenbegriff zugrunde liegt, deutlich als eine
7 8
J. Frese, wie Anm. 2, S. 881. Vgl. hierzu Andreas Roth: Kollektive Gewalt und Strafrecht. Die Geschichte der MassendelUae in Deutschland, Berlin (u.a.) 1990; speziell zu den »Rotten«verbrechen S. 185ff. Roth (S. 198ff.) weist im übrigen auf die geringe praktische Relevanz der »Rottendelikte« in der Rechtssprechung hin: Die Unterdrükung von Aufruhr und Revolution wurde in der Regel militärisch (und auch durch standrechtliche Erschießungen) gelöst. Eine relevantere Präventivmaßnahme stellt dagegen die Einschränkung der Versammlungs- und Koalitionsfreiheit dar, so z.B. das Verbot der politischen Parteien 1832 durch den Bund oder das sogenannte »Sozialistengesetz« 1878 durch das (neu gegründete) Reich (vgl. Roth, S. 200-203).
10
Die Begriffsgeschichte der Masse
soziale Hierarchie bewußt, auf deren ideologische Funktion hier noch weiter einzugehen ist: Die Masse ist ein reiner Gegenbegriff zum Ideal und Bildungsbegriff des Individuums, das seinerseits positiv durch geistige und ethische Sensibilität, Kultur und Urteilsfähigkeit ausgezeichnet wird. Gegenüber den Leitwerten der tätig-strebenden entwickelten Persönlichkeit gilt die Masse als dumpf, träge, unkultiviert und dumm. Sie steht am unteren Ende des sozialen und kulturellen Gefälles, das sie von der Elite trennt. Sie ist das Objekt, das Andere, das Fremde im klassischen Subjekt-Objekt-Verständnis von Kunst und Wissenschaft. Die Wahrnehmung der Masse ist nicht zuletzt ein perspektivisches Problem, das auf den (jeweils normativen) sozialen, kulturellen und ästhetischen Standpunkt des Betrachters verweist, aus dessen Blickpunkt heraus die Masse als ein amorphes Ganzes ohne definierbare Identität erscheint. Klassische Verdikte gegen die Masse gehen bis in die Antike zurück. Die ethisch-soziale Unterscheidung zwischen »Vornehmen« (Adel) und »Masse« (»Pöbel«) ist integraler Bestandteil des klassischen griechischen Staatsdenkens, 9 letztlich aber doch ständisch fundiert. Großgrundbesitzern und Rittern stehen u.a. Jochbauern und Arbeiterstand gegenüber. Piaton, der sich gegen »die Vielen«, gegen Gerede, bloßes Meinen und Überredungstechnik wandte, vergleicht die versammelte Menge (beispielsweise der Volks- oder Gerichtsversammlungen) mit einem großen Tier, dessen Triebregungen und Äußerungen man zwar erkennen und beherrschen könne, denen selbst aber keinerlei Wahrheitswert zukommt; er spricht der Menge grundsätzlich philosophischen Geist ab (Politeia, 6. Buch). Die »philosophisch-kulturelle« Abgrenzung gegen die Masse muß aber wesentlich in ihrer apologetischen Funktion als Herrschaftsideologie verstanden werden: Die »Masse« ist ein Herrschaftsbegriff der Herrschenden gegen die Mehrzahl, die von der Herrschaft ausgeschlossen wird. Die Masse bilden die Unfreien, die Sklaven, die besitzlose Unterschicht der proletarii, das vielfältige Gesellschaftsgefüge der (römischen) plebs, die im Gegensatz zur Schicht der Patrizier stand (und bis zum dritten Jahrhundert v. Chr. schrittweise die politische und gesellschaftliche Gleichberechtigung mit diesen errang, sich dann aber spaltete und zunehmend nivellierte). Unter den verschiedenen, sozial teilweise unbestimmten Namen wie »Vielheit«, »breiter Haufen«, »gemeines Volk«, »Pöbel«, das »vielköpfige Thier Herr Omnes« kristallisiert sich historisch immer eine besondere soziale und politische Spannungssituation aus. Auch der vulgus oder die multitude, gegen die sich die lateinisch sprechenden, vornehmlich philosophisch-humanistisch qualifizierten Bildungsschichten abgrenzen, sind Herrschaftsbegriffe, mit denen die Eliten ihren Führungsanspruch legitimieren. Alle Äußerungen konvergieren darin, daß das »gemeine Volk«, das im vulgus und der multitude angesprochen ist, kein Urteilsvermögen besitzt und damit nicht zur Führung
9
Vgl. Leo Strauss: Naturrecht und Geschichte, dt. Übers, v. Horst Boog, Stuttgart 1956, S. 134ff. (Original: Natural Right and History, Chicago 1953).
Der Gegensalz von Masse und Individuum
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der Staatsgeschäfte befähigt ist. Pierre Charron beschreibt die »Masse« unter dem Stichwort »Peuple ou vulgaire« in seinem moralphilosophischen Werk De la Sagesse (zuerst 1601), das entscheidenden Einfluß auf die Herausbildung des französischen Rationalismus, etwa bei Ren6 Descartes, hatte. Das Kapitel hält die Massenverachtung seiner Zeit und die gängigen Verdikte der gelehrten Tradition, teils im lateinischen Zitat antiker Quellen, gleichsam katalogisch fest. Der breite Haufen des gemeinen Volkes sei »ein seltsames vielköpfiges Tier [...], unbeständig und wandelhaft, nicht weniger rastlos als die Wellen des Meeres«. Jede Neuigkeit locke es im Schwärm herbei, und es laufe wie ein Schaf der Herde nach. Aufsässig, unruhig, aufrührerisch gleicht es dem an sich stillen Meere; das schäumt und tobt, wenn es von wütenden Stürmen aufgetrieben wird; derart unbändig aufgebläht erscheint es als unbezwingbar, ohne Führer aber sei es geschlagen und verschreckt. »Bref«, beschließt Charron seine längere Passage, le vulgaire est une b€te [sie] sauvage, tout ce qu'il pense n'est que vaniti, tout ce qu'il dit est faux et ειτοηέ, ce qu'il reprouve est bon, ce qu'il approuve est mauvais, ce qu'il louS est infame, ce qu'il fait et entreprend n'est que folie [...], la tourbe populaire est mere d'ignorance, injustice, inconstance, idolatre de vanitd, 4 laquelle vouloir plaire ce n'est jamais fait: e'est son mot, vox populi vox Dei, mais il faut dire, vox populi vox stultorum. Or le commencement de sagesse est se garder net, et ne se laisser empörter aux opinions populaires.10
Charron bezieht sich im angeführten Zitat negativ auf ein positives Vorverständnis der Masse, wie es sich in der sprichwörtlichen Rede vom voxpopulus vox dei (»Volkes Stimme gleich Gottes Stimme«) niedergeschlagen hat. Die Ursprünge dieser Maxime, die im christlich-judäischen Glauben wurzelt, sind ungewiß. Spätestens seit dem 8. Jahrhundert ist sie als geläufig belegt.11
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»Kurzum, das gemeine Volk ist ein wildes, rohes Tier; alles, was es sich denkt, ist nichts als eitles Wähnen, alles, was es sagt, ist falsch und voller Irrtum, was es zurückweist ist gut, was es gut heißt ist schlecht, was es lobt ist erbärmlich, was es tut und unternimmt ist töricht [...], der gemeine Haufen ist die Mutter der Ignoranz, der Ungerechtigkeit, der Unbeständigkeit, ist die Liebedienerin der Eitelkeit, ihm kann man unmöglich gefallen: >Volkes Stimme gleich Gottes Stimme< lautet zwar seine Maxime, aber man mufi wohl besser sagen, daß des Volkes Stimme gleich der Torheit Stimme ist. Der erste Schritt zur Weisheit ist also, sich davor zu hüten, sich hinreißen zu lassen, seine Ansichten zu teilen.« (Übers, v. A.G.) Ich zitiere nach dem Nachdruck der zweiten Ausgabe von 1604: Pierre Charron: De la sagesse, texte revu par Barbara de Negroni, Paris 1986,1. Buch, Kap. 52, Langzitat S. 337/8. — Meine Interpretationen beziehen sich im folgenden grundsätzlich auf die Originale. Sofern Übersetzungen bestehen, gebe ich diese als Lesehilfen; eine eingehende philologische Diskussion von Übertragungsproblemen kann im Rahmen dieser Arbeit nicht geführt werden. Bearbeitende Eingriffe und eigene Übersetzungen weise ich aus. Vgl. George Boas: Vox Populi: Essays in the History of an Idea, Baltimore 1969. Boas, der die Konstanz der Vorstellung in verschiedenen ideengeschichtlichen und künstlerischen Zusammenhängen belegt, versucht in seiner Arbeit, eine Brücke von dem im Sprichwort enthaltenen Vorverständnis zum common taste zu schlagen.
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Die Begriffsgeschichte der Masse
Interessant ist, daß die kulturkritische Tradition ihre Skepsis gegenüber der Masse explizit in der Auseinandersetzung mit diesem impliziten positiven Vorverständnis entwickeln muß. Die Maxime selbst erscheint in der Regel immer negativ, als etwas, das es zu bestreiten gilt.12 Aber der wiederholte Rekurs darauf läßt vermuten, daß sie verbreitet war und daß hier möglicherweise die Eliten unter Beweislast standen. Das frühe positive Vorverständnis steht offenbar im Zusammenhang mit der Königs- und Bischofswahl, in der die Tradition der VOlkszustimmung, also der acclamatio, hochgehalten wurde. Es wird in den Quellen aber ausschließlich negativ diskutiert. Man solle nicht auf die hören, die diese Ansicht vertreten, schreibt der angelsächsische Theologe Alkuin um 798 an Karl den Großen, dessen Vertrauter er war: »For the clamor of the crowd [vulgi] is very close to madness«13. Aufschlußreich ist eine Beschreibung Papst Gregors VII. (1021—1085), der in einem Brief schildert, wie er im Jahre 1073 bei der Beerdigung seines päpstlichen Vorgängers, Alexander II. (unter dem er bereits de facto Leiter der kurialen Politik gewesen war), von der Menge zum Papst erhoben wird: Suddenly, while our lord the pope was being carried to his burial in the church of Our Saviour a great tumult and shouting of the people arose, and they rushed upon me like madmen, so that I might say with the prophet, »I am come into deep waters where the floods overflow me. I am weary with my crying, my throat is dried!«14
Die »Verrücktheit« des Volkes klärt sich auf als Durcheinanderschreien, das die eigene Stimme übertönt und ohnmächtig macht. Es ist eine Situation babylonischer Sprachverwirrung, die hier die Erfahrung prägt. Bemerkenswert ist weiter die biblische Wassermetaphorik, die der Papst in diesem Zusammenhang benutzt und die vielleicht einen weiteren Schlüssel für eine der zentralen und durchgängigen Massenmetaphern gibt. 3.
Die Masse als formbarer Stoff
Bereits die etymologische Herkunft des Massenbegriffes ist aufschlußreich für den negativen Wertakzent, der den Terminus begleitet. Das deutsche Wort leitet sich vom griechischen »maza« (Brotteig) und lateinischen »massein« (kneten) her. Es ist diese hier enthaltene Vorstellung des Ungeformten, das von außen her geformt und gestaltet werden muß, welche die entsprechenden Termini auch der anderen Sprachen charakterisiert: Das französische Wort »foule«, das italienische »folla« leiten sich vom lateinischen »fullo« (Walker, Tuchhersteller) ab, enthalten also die Vorstellung von Treten, Pressen,
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Eine positive Verwendung findet sich dagegen bei Michelet, vgl. das weiter unten auf S. 16 angeführte Zitat. Ich zitiere nach der englischen Textwiedergabe bei Boas (wie Anm. 11), S. 9. Brief an Desiderius, Abt von Monte Cassino, v. 23.4. 1073; zit. n. der Textwiedergabe bei Boas (s. Anm. 11), S. 17.
Der Gegensatz von Masse und Individuum
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Verfilzen; das englische »crowd* ist verwandt mit dem mittelhochdeutschen »kroten«, das Pressen und Drängen bedeutet.15 Das Wort »Masse« wird zunächst im naturphilosophischen und physikalischen Sinne von Materie gebraucht; begriffsgeschichtlich kann es in diesem Sinne auf den neuplatonischen Gedanken von der Inaktivität der Materie im Gegensatz zur Aktivität und Spontaneität des Geistes zurückgeführt werden. Seine neue politisch-soziale Bedeutung wird erst nach 1789 virulent (s. weiter unten S. 20).16 Spätestens dann kommt der Dualismus von Geist und Materie voll zum Tragen, der allerdings in den verschiedenen philosophischen Systemen immer schon begriffsbestimmend war, insofern die Masse, bzw. der große Haufen, auf der Seite des Triebhaft-Materiellen angesiedelt war. Darüber hinaus ist jedoch eigens auf die theologische Vorstellung der massa perditionis oder massa damnata in der Lehre des Augustinus hinzuweisen. Mit diesen Begriffen stellte Augustinus einen nachhaltig wirkenden Zusammenhang zwischen dem Terminus »Masse« und der Verlorenheit und Verworfenheit des ganzen, von der Sünde befallenen Menschengeschlechtes her". Nach Piatonismus und Christentum, dem Rationalismus Cartesianischer Prägung, dem deutschen Idealismus besteht der Gegensatz von Geist und Masse schließlich in säkularisierter Weise im Subjekt-Objekt-Verhältnis der Erkenntnistheorie fort. In der polemischen Auseinandersetzung mit Hegel und dem Junghegelianismus hatten Karl Marx und Friedrich Engels den Dualismus, der die »Masse« als bloßen Gegensatz des Geistes, nämlich »Geistlosigkeit«, definierte, kritisiert als »spekulative[n\ Ausdruck des christlich-germanischen Dogmas vom Gegensatz des Geistes und der Materie, Gottes und der Welt*. Sie bringen die legitimierende Funktion auf den Punkt, wenn sie schreiben: »Dieser Gegensatz drückt sich nämlich innerhalb der Geschichte, innerhalb der Menschenwelt so aus, daß wenige auserwählte Individuen als aktiver Geist der übrigen Menschheit als der geistlosen Masse, als der Materie gegenüberstehen.«18 Der Gegensatz von Masse und Geist erweist sich als Ausgangspunkt auch der engagierten »sozialen Literatur«, welche die Masse im Sinne der Humani-
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Vgl. Johannes Chr. Papalekas: »Masse«, in: Handwörterbuch der Sozialwissenschaflen, hrsg. v. E. Beckerath u.a., Göttingen (u.a.) 1956-68; Bd. 7 (1961), S. 220-26. - Die Masse kann aber auch als etwas Aktives, wild Wucherndes verstanden werden; so spricht man in den verschiedenen Sprachen von der politischen Gärung, bezeichnet die »treibenden« oder »zersetzenden« Kräfte als Hefe. Die Gärung beschreibt einen Transformationsprozee, der gängigerweise negativ erscheint: Die Hefe des Volkes (lat./aec) ist sein unterster Bodensatz. Möglicherweise gibt es aber noch eine alternative Vorstellungstradition in den Massenbewegungen selbst, wie z.B. im frühen Christentum, das sich selbst im positiven Sinne als Hefe verstand. E. Pankoke: »Masse, Massen«, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hrsg. v. Joachim Ritter, Darmstadt 1971ff.; Bd. 5 (1980), S. 825-32. Papalekas, wie Anm. 15, S. 220/21. Friedrich Engels u. Karl Marx: Die heilige Familie, oder Kritik der kritischen Kritik (1845), in: MEW, Bd. 2, Berlin (DDR) 1980, S. 89.
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Die Begriffsgeschichte der Mease
tat und Fortschrittsbewegung erziehen will. Gegenüber der kulturkritischen Tradition, die auf der bewußten Abgrenzung zur Masse beruht, wird hier scheinbar ein neues Verhältnis von Künstler und Masse gesucht. Die Abgrenzung bleibt dennoch bestehen, denn der Schriftsteller tritt als »Führer« der Masse auf; er weist sich eine der Masse moralisch und geistig überlegene Sonderstellung zu. Die Aufklärer sahen im Volk das unreife Kind, das — und zwar im jeweils Einzelnen — zur Mündigkeit erzogen werden soll. Der sozialromantische Hugo wendet sich in seinen Reformbestrebungen der Masse des Volkes zu. Er sieht in ihr, die ihm ein Zwitterwesen zwischen Himmel und Hölle ist und die er ästhetisch mit den Kategorien des Grotesken faßt, eine »päte vivante que le pofete va modiler«. Hugo hat sein Kunstprogramm einer Literatur der sozialen Anteilnahme (littärature engagee als Gegensatz zum Programm der impassibiliti etwa des l'artpour l'art) in einer Art künstlerischem Manifest unter dem Titel William Shakespeare19 veröffentlicht. Die entsprechende Stelle im 5. Buch steht unter dem bezeichnenden Titel »Les Esprits et les masses«. Der Autor weist der Dichtung ein besonderes Vermögen zu: Sie bewirke die Verwandlung der Masse in Volk. Hugo führt seine Vorstellungen an dieser Stelle am Beispiel der begeisterten und begeisterungsfähigen Volksmenge (bei einer Gratisvorstellung) im Theater aus. Die barfüßige und zerlumpte Menge Volk, die sich im Theater »aufeinanderhäuft, zusammendrängt, miteinander vermengt und vermischt« ist der lebendige menschliche Stoff — die »päte vivante«, der »bloc humain« — den der Dichter bearbeitet, bildet und formt: La salle est comble [...], la grosse bäte ä mille t£tes est Ii, la »Mob« de Burke, la »Plebs« de Tite-Live, la »Fex urbis« de Cic6ron, eile caresse le beau, eile lui sourit avec la gräce d'une femme, eile est trfcs finement littiraire; rien n'6gale les d61icatesses de ce monstre. 20
Die Macht der Poesie verwandelt den Pöbel in ein verständiges sensibles Publikum, das die ganze Spannbreite menschlicher Gefühle vom Sarkasmus bis zum höchsten Erbarmen (»On y sent Dieu«) kennt. Hugo betont das traditionelle Bild des vielköpfigen Tiers bewußt in der weiblichen Form (»la bete«), indem er dieses zunächst in die Vorstellung einer schönen Frau und dann, im weiteren Textanschluß, in die einer keuschen Jungfrau übergehen
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Ich benutze die chronologisch angelegte, unter der Leitung von Jean Massin herausgegebenen Gesamtausgabe: Victor Hugo: (Euvres completes, Tome 1-16, Paris 1969—1972. William Shakespeare befindet sich in Bd. XII/1 (1969), S. 149ff. Hugo: William Shakespeare, ebd., S. 278. »Der Zuschauerraum ist überfüllt [...], das große tausendköpfige Tier ist da, Burkes Mob, Titus Livius' Pöbel, Ciceros städtischer Bodensatz, die Hefe; voller Zärtlichkeit für das Schöne, lächelt es ihm zu mit der Anmut einer Frau; es hat ausgeprochen literarisches Feingefühl; nichts kommt der Zartfühligkeit dieses Ungeheuers gleich.« (Übers, v. A.G.)
Der Gegensatz von Masse und Individuum
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läßt: die Masse wird dem Dichter zur Muse. Die mitreißende Kraft der Poesie, ihre erhebende Wirkung verwandelt das Zwitterwesen »Masse« aber auch in einen männlichen Helden: unter der Schirmherrschaft der Dichtung wird der als treulos geltende Pöbel zum treuesten Bürger des Staates, der sein Leben für das bedrohte Vaterland einsetzt. Die Masse ist Materie, aber in einem belebten und beseelten Sinn. Sie ist sensibel und selbst durch eine unbewußte spontane Schöpferkraft bewegt. Die sprachbildliche Kraft Hugos bringt hier an einem traditionellen Ort, der aus dem Arbeitsprozeß wie aus dem von materiellen Sorgen bestimmten Alltagsleben herausgehoben ist, eine im Grunde religiös fundierte Anschauung der Masse in ihrem Oszillieren zwischen dem Monströsen (»la grosse bete i mille tetes«) und dem Sublimen (»On y sent Dieu«) hervor. Der Raum des Theaters gibt hier den äußeren und inneren Zusammenhalt der Menge als Zuschauermasse vor. Die Beschreibung müßte allerdings anders ausfallen, hätte Hugo einen für die sozialen Verhältnisse der Epoche brisanteren Ort wie eine belebte Großstadtstraße oder moderne Fabrik gewählt: sie hätten eine ganz andere Masse zum Vorschein gebracht. In der Reduktion der Masse zum Menschenmaterial kommt der materielle Kern des Massenbegriffes zugespitzt auf seinen Punkt. Marx hatte den Begriff für die industrielle Entwicklung im 19. Jahrhundert geprägt. Die Materialschlachten des Ersten Weltkrieges machten schlagartig das Ausmaß seiner Gültigkeit klar. 4.
Die Polarität von Masse und »großer Persönlichkeit« in der Historiographie
Revolutionen zeichnen sich gerade dadurch aus, daß sie Massenphänomene sind. Die Massen sind Träger der politischen Bewegung; sie durchdringen daher alle wesentlichen Bereiche des gesellschaftlichen Lebens, sprengen die Institutionen und erweitern das System der politischen Kultur. Dennoch richtet sich der Blick der herkömmlichen Geschichtsschreibung weitgehend auf das politische Handeln der »großen Männer der Revolution«. Diese Form der Geschichtsbetrachtung geht ohnehin davon aus, daß wesentlich die großen Einzelpersönlichkeiten die bewegenden Kräfte der Geschichte sind; die Geringschätzung der Masse(n) ist diesem Ansatz komplementär. Die komplexen Massenprozesse in ihren divergierenden Gruppeninteressen und Bewegungen werden im Grunde reduziert; der historische Prozeß wird personalisiert. Die »historiographische Masse« hat wie die »erzählte Masse« der Literatur eine narrative Seite: Ihr geht eine Entscheidung für die individuelle oder kollektive Heldenkonstruktion voraus. Und sie hat eine implizite Perspektive, die durch den Standort des Historikers gebunden ist. Der Vergleich zur »erzählten Masse« und ihren Verfahren wäre eine eigenständige Untersuchung wert. Auch die politische Sicht bleibt in der Regel auf die großen Führergestalten der politisch-revolutionären Bewegungen bezogen. Ein Grund liegt zweifelsohne
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Die Begriffsgeschickte der Masse
darin, daB man eigentlich keine genauen Kenntnisse über das »Funktionieren« der Masse besitzt. Hegel hatte das »weltgeschichtliche Individuum« eingeführt. Die Führer der Massen sprechen, ohne es zu müssen, aus, was diese erstreben. Als Führer kommt das Individuum für Hegel nur in Betracht, insofern es Ausdruck einer objektiv-historischen, kollektiven Notwendigkeit ist. Diese Konstellation von Führer und Masse erkennt, wenngleich sie auch den Führer gegenüber der Masse durch das Primat des Geistigen bestimmt, immerhin ein interaktives Modell von Führer und Masse an; die Übereinstimmung wird allerdings in ein teleologisches Geschichtsmodell gelegt. Die romantischen Konzeptionen vom sympathetischen Zusammenhang des Genies mit der Masse können unmittelbar in diesem Zusammenhang gesehen werden. »Le peuple, en sa plus haute idee«, lautet die Umsetzung dieser Vorstellung in Jules Michelets Buch Le Peuple (1846), »se trouve difficilement dans Ie peuple. [...] II n'est dans sa vdrite, ä sa plus haute puissance, que dans l'hoinme de g6nie; en lui r6side la grande äme...«21. Michelet führt seine Vorstellung mit Hilfe einer großen Metapher aus: dem Meeresbild, das bereits bei Charron in einer topischen Beziehung zur »unruhigen« und »ungebändigten« Masse stand: Tout le monde s'6tonne de voir les masses inertes, vibrer au moindre mot qu'il dit, les bruits de i'Ocdan se taire devant cette voix, la vague populaire trainer i ses pieds... Pourquoi done s'en Stornier? Cette voix, c'est celle du peuple; muet en lui-mime, il parle en cet homme, et Dieu avec lui. (ebd.) 22
Der Vergleich des Volkes mit dem brausenden Meer ist bereits biblisch vorgegeben und seit der Antike im weiteren Umfeld der Staatsschiff-Metapher geläufig.23 Demosthenes nennt das Volk eine Woge, die vom Zufall bewegt wird; Cicero wie Livius vergleichen die entfesselte Masse mit einem tosenden Meer. Durch die Naturmetaphorik der Französischen Revolution emphatisch aufgewertet und zugleich konkretisiert geht das Bild vom Volkesozean in die politische Metaphorik der Romantik ein; in Deutschland wird es insbesondere in der Literatur des Vormärz (so bei Heine, Börne oder Herwegh) staats- und zeitkritisch eingesetzt.
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J. Michelet: Le Peuple, hrsg. v. Paul Viallaneix, Paris 1974, S. 186.
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»Das Volk in seiner höchsten Idee ist schwerlich im Volk (an sich) zu finden. [...] In seiner wahrhaftigen Gestalt, in seiner höchsten Machtfiille ist es allein im Genie (verkörpert); in diesem wohnt die große Seele. Jeder wundert sich darüber, wie es möglich ist, daß die unbeweglichen trägen Massen schon beim kleinsten Wort, das es spricht, zu schwingen beginnen, daß die (große) Woge des Volkes sich ihm zu Füßen legt... Ist dies denn so erstaunlich? Diese Stimme ist des Volkes Stimme; stumm in sich selbst, spricht es im Medium dieses Mannes — und Gott mit ihm.« (Übers, v. A.G.) Ich verweise hier auf die grundlegende Arbeit von Dietmar Peil, der im Rahmen der Staatsschiff-Metaphorik mit zahlreichen Belegen ausführlich auf das Meeresbild eingeht: Untersuchungen zur Staats- und Herrschaftsmetaphorik in literarischen Zeugnissen von der Antike bis zur Gegenwart, München 1983, S. 742ff. Peils Arbeit, die nach komplexen Metaphernfeldern vorgeht, ist unmittelbar aufschlußreich für die politische Massenmetaphorik.
23
Der Gegensatz von Masse und Individuum
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Trotz des wachsenden Einflusses der sich organisierenden Massen des 19. Jahrhunderts heftet sich der Blick weiterhin an die großen Führerfiguren der revolutionären Bewegungen. Lenin beispielsweise wird als jemand gesehen, der etwas bewirkt und bewegt. Gleichzeitig wird aber auch zugestanden, daß die Masse ein eigenständiger Faktor ist. Masse und Führer werden nun im direkten politischen Zusammenhang gesehen, der aber verschieden interpretiert werden kann: Der Führer erscheint entweder als Verführer der Masse, oder er ist die positive Figur, welche die Masse im Sinne der Fortschrittsbewegung bündelt. Arbeiten, in denen die Masse eine relevante und differenzierte Kategorie der Geschichtsschreibung darstellt, gehen von dem Vorverständnis aus, daß nicht so sehr die großen Einzelnen, sondern im wesentlichen die Massen die bewegenden Kräfte der Geschichte, die Träger des Fortschrittsprozesses sind. Durch diese ihre »Perspektive« und Voreinstellung unterscheiden sich solche Darstellungen von der erwähnten konventionellen Geschichtsbetrachtung, obgleich auch hier das Zusammenspiel einzelner herausragender Politiker, Führerfiguren und führender Gruppen mit der Masse beachtet wird. Erst das programmatische wissenschaftliche Interesse an der Masse führt zu differenzierten Einsichten in die Infrastrukturen von Massenphänomenen, da sie genauer in ihren sozialen Motivationen wie auch in ihren (vor-)organisatorischen Ausgangsbedingungen untersucht werden. Die Massenbewegungen« — seien es religiöse Aufstände, vorrevolutionäre Hungerrevolten oder revolutionäre Erhebungen — werden in ihrer jeweils konkreten sozialen Schichtung und Zusammensetzung erforscht, die Rolle bestehender Organisationsformen (wie die berufsständischen Korperationen, auch bei den Frauen) wird herausgestellt, und das politische Handeln wird im Zusammenhang traditioneller »Aktionsformen« des Volkes und seines Rechtsempfindens interpretiert (wie sie z.B. auch den vorrevolutionären Brotunruhen zugrunde liegen, in denen Frauen traditionellerweise aktiv werden). Das »unverständliche«, scheinbar »irrationale« Handeln der (Volks-)Massen wird durch die differenzierende Analyse in seiner »Logik« durchsichtig gemacht. Nicht von ungefähr wurde die Rolle der Massen in der Geschichte vor allem von sozialistischer, marxistischer und anarchistischer Seite erforscht. Als jüngere Arbeiten sind hier beispielsweise die Studien Albert Sobouls und Walter Markovs zu den Volksbewegungen der Französischen Revolution zu nennen.24 Im marxistischen Grundansatz, wie
24
1958 erschien Albert Sobouls Habilitationsschrift Les Sans-culottes parisiens en l'An II. Histoire politique et sociale des sections de Paris. 2 juin 1793—9 thermidor An II; 2. Auflage: Paris 1962. Der Mittelteil der Arbeit erschien in der dt. Übers, v. Claus Werner in A. Soboul: Französische Revolution und Volksbewegung. Die Sektionen von Paris im Jahre II, bearb. u. hrsg. von Walter Markov, Frankfurt/M. 1978. Die dt. Übers, seines Pricis d'histoire de la Revolution fran(aise (Paris 1962) erschien 1973 (Die Große Französische Revolution. Ein Abriß ihrer Geschichte (1789—1799), hrsg. u. übers, v. Joachim Heilmann und Dietfrid Krause-Vilmar. Grundlegend sind weiter die Arbeiten von George Rudi: The Crowd in
18
Die Begriffsgeschichte der Masse
er (auch jenseits der staatlich sanktionierten Festlegungen und vielleicht produktiver) in verschiedenen Theorien weitergeführt wurde, ist ein ausgearbeitetes Kategoriensystem bereitgestellt, weil hier die Masse als ein Hebel zu einer umfassenden gesellschaftlichen Umwandlung gesehen wird. Es hat darüber hinaus eine gewisse Eigenlogik, daß die Geschichte der (teilweise verdrängten, abgeschnittenen) politisch-sozialen Traditionen immer wieder von neuem von den politisch-sozialen Folgebewegungen selbst erarbeitet werden muß. Revolutionen konstruieren sich ihre revolutionäre Tradition, indem sie sich retrospektive aufeinander beziehen. Nicht zufällig setzt (in West-Deutschland) im Zuge der Studentenbewegung eine Aufarbeitung der durch den Faschismus unterdrückten und nach 1945 verdrängten Geschichte der Arbeiterbewegung 25 ein. Neuerdings haben Mentalitäts- und Alltagsgeschichte den marxistischen Ansatz aus seiner führenden Rolle auf dem Gebiet verdrängt. Sie erforschen, teils auf breiter materieller Basis und mit statistischen Methoden, Zeugnisse der Alltagskultur, kollektives Gruppenverhalten, ohne die theoretische Voreinstellung des marxistischen Geschichtsmodells. Ihre Tendenz zielt derzeit auf eine integrierte Sozial- und Kulturgeschichte. Einschlägige Debatten in der Geschichtswissenschaft wurden jüngst (darauf wird noch zurückzukommen sein) beispielsweise in der Auseinandersetzung um die Einschätzung der Französischen Revolution geführt. Zwischenzeitlich spielte das Phänomen der faschistischen Masse (das als solches außerhalb des engeren Rahmens meiner Untersuchung liegt) eine entscheidende Rolle für die Bewertung der Masse in der Geschichte. Spätestens seit dem Aufkommen der faschistischen Massenbewegung war das Aufbruchsbild der proletarischen Masse akut in Frage gestellt. Die Auseinandersetzung mit dem Phänomen des Faschismus führte zu neuen theoretischen Ansätzen. Die Erklärungsansätze zur faschistischen Masse griffen verstärkt auf psychoanalytische Deutungsmuster des Masse-Führer-Verhältnisses in der Nachfolge und Erweiterung von Freud zurück (vgl. dazu weiter unten Anm. 37).
History. Α Study of Popular Disturbances in France and England 1730—1848 (New York, London 1964; dt.: Die Volksmassen in der Geschichte. England und Frankreich 1730—1848, aus dem Engl. ν. Sieglinde Summerer u. Gerda Kurz, Frankfurt/M., New York 1977) sowie The Crowd in the French Revolution (Oxford 1959; dt. Üben. v. Angelika Hillmayr u. Rudolf Bischoff: Die Massen in der Französischen Revolution, München, Wien 1961). Die soziale Klassenbildung steht auch im Zentrum der (insgesamt vierbändig angelegten) streng sozialwissenschafilich vorgehenden Arbeit des Historikers Jürgen Kocka: »Weder Stand noch Klasse«. Unterschichten um 1800 und »Arbeitsverhältnisse und Arbeiterexistenzen«. Grundlagen der Klassenbildung im 19. Jahrhundert, Bonn 1990 (als Bd. 1 u. 2 der elfbändigen, von Gerhard A. Ritter herausgegebenen Geschichte der Arbeiter und der Arbeiterbewegung in Deutschland seit dem Ende des 18. Jahrhunderts). 25
Ausführliche Bibliographien bei J. Kocka, wie Anm. 24.
Der Gegensatz von Masse und Individuum
B.
Die geschichtliche Entwicklung des Massenproblems
1.
Die Rolle der Französischen Revolution für die Massenproblematik
19
Als eine entscheidende politisch eigenmächtige Kraft sind Volksmassen geschichtlich in der Französischen Revolution ins öffentliche Leben getreten. Der 14. Juli ist das erste Glied in der Folge der großen Volksaufstände, der sogenannten »journies«, mit denen die Pariser Massen über das politische Geschick des Landes entscheiden und seine Umwandlung zunächst in eine konstitutionelle Monarchie, schließlich in eine Republik erzwingen. Ungeachtet der führenden Revolutionspolitiker werden die in Bewegung gesetzten Massen des Volkes nicht nur als Faktor des Politischen, sondern als Vehikel der geschichtlichen Bewegung gesehen. Mit ihrer eigenen Konzeptualisierung als Umbruchsprozeß erarbeitet sich die Revolution zugleich auch ihren eigenen Massen- und Volksbegriff. Immerhin steht sie vor der Aufgabe, das neue demokratische Prinzip des Staates in den politischen und sozialen Institutionen zu verankern, also das Volk in seiner neuen Eigenschaft als politische Öffentlichkeit zu organisieren. Es bildet sich ein neuartiges politisches Vokabular heraus; und es entsteht eine neue politische Rhetorik, deren Erfolgsaussichten nicht zuletzt darauf beruhen, ob sie imstande ist, die Massen politisch zu mobilisieren. Implizit wird die Masse auch hier durch die herausragenden Führer instrumentalisiert. Noch vor der künftigen Entwicklung der sozialen Gegensätze im kapitalistisch-industriellen Zusammenhang kommt es schon während des Revolutionsprozesses zu einer Polarisierung zwischen dem Dritten und dem Vierten Stand. Hatte im Januar 1789 der Abb£ Sieyds in seiner berühmten Streitschrift Qu'est-ce que le tiers itat noch in der Stoßrichtung gegen Klerus und Adel den Dritten Stand zur Gesamtheit der Nation erklärt und dabei die numerische Überlegenheit zu einem politischen Argument gemacht, so melden im Zuge der Revolution nun auch die politisierten Massen der unteren Volksklassen eigenständige Ansprüche an. Ihr Konflikt zum unbeschränkten Rechtsanspruch auf Eigentum, wie ihn das Bürgertum verfassungsmäßig verankern kann, tritt im Verlauf der Revolution immer offener zutage. Bereits zu Beginn der Revolution wird das im Zusammenhang mit der Rezeption und Umdeutung des gelehrten Proletarierbegriffes neugebildete Wort des »Vierten Standes« in die aktuelle politische Auseinandersetzung hineingenommen.26 Insbesondere mit
26
Vgl. den grundlegenden Überblickartikel von Werner Conze zum Stichwortkomplex »Proletariat, Pöbel, Pauperismus«, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zurpolitischsozialen Sprache inDeutschland, hrsg. v. Otto Bmnner, Werner Conze u.a., Stuttgart 1972ff.; Bd. S (1984), S. 27-68. Das Wort tritt schon während der Revolution in der politischen Begriffssprache wieder zurück, wenngleich es 1795 noch eine gewisse Rolle bei Babeuf spielt. Louis-Sibastien Mercier, der bereits selbst in seinem vorrevolutionären Werk Probleme des
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Die Begriffsgeschichte der Masse
der Errichtung der jakobinischen Republik im Sommer 1792 kommt es zu einer dezidierten und umfassenden Politisierung der Volksmassen, ihrer staatsbürgerlich-patriotischen Einbindung in den neuen Staat sowie zu ihrer militärischen Mobilisierung in der »lev6e en masse«. Vor allem im linken Flügel der erstarkten sansculottischen Volksbewegung, die ihren Höhepunkt um 1793 hat, zeigt sich ein neues geschichtlich-revolutionäres Denken an, das die Umwälzung der Gesellschaft mit den materiellen Bedürfnissen der Unterschicht verbindet. Die Mobilisierung der Masse als eine soziale Kraft, ihre Bündelung zur Volksgewalt erweist sich als ein zwiespältiger Faktor des Politischen, dessen Beurteilung im weltweiten Echo heftigste Kontroversen auslöst. In diesem Zusammenhang scheint sich die moderne politisch-soziale Bedeutung des Massenbegriffes (frz. »la masse du peuple«) theoretisch zu etablieren.27 E. Pankokes Überblick zum philosophischen Stichwort »Masse, Massen« zufolge 28 wurde der Begriff im Deutschen 1793 durch Friedrich Gentz eingeführt, der in seiner damals einflußreichen Übersetzung von Burkes konservativer Brandschrift gegen die Revolution, den Reflections on the Revolution in France (1790; dt.: Betrachtungen über die französische Revolution) das englische Wort »crowd« durch den aus dem revolutionären Frankreich stammenden (von dort aus »aufgeladenen«, könnte man vorsichtiger formulieren) Terminus »Masse« übersetzt. In der Folge wird sich das Konzept der Masse in dem Sinne, wie es bei Burke und Gentz verwandt worden ist,
27
28
Vierten Standes behandelt hat (etwa in seinem Stück L 'Indigent, 1772, oder in seiner großen literarischen Sozialreportage Tableau de Paris, 1781—88) nimmt den Begriff des »prolitaire« 1801 in seine Neologie ou Vocabulaire de mots nouveaux auf. In der Großen Enzyklopädie von Diderot, der Encyclopidie, ou Dictionnaire raisonni des sciences, des arts et des mitten (ab 1762), kommt der Begriff der Masse (»masse du peuple« bzw. »foule«) bezeichnender Weise nicht als eigenständiges Stichwort vor. Der von »D. J...«, dem Chevalier de Jaucourt gezeichnete Artikel »Peuple« (ich beziehe mich auf Bd. 25 der Ausgabe Genf: Pellet, 1778) nimmt jedoch bereits eine bemerkenswerte soziale Ausdifferenzierung des Volksbegriffes vor, indem er die großbürgerlichen Schichten der »financiers« und »ndgociants«, der »gens de Loix«, aber auch die »gens de Lettres« explizit aus den konkreten materiellen Lebensbedingungen der niederen Volksklassen ausnimmt und die »masse du peuple* einengt auf die unmittelbar im manuellen Arbeits- und Reproduktionsprozeß stehenden »ouvriers« und »laboureurs«: »la partie la plus nombreuse & la plus n&essaire de la nation«. — Jaucourts Artikel ist eingestandenermaßen die (übrigens sozial wie politisch entschärfende) Kompilation einer Dissertation sur la nature du peuple (17S5), deren Verfasser zwar ungenannt bleibt, aber den eingeweihten Lesern als Gabriel-Franfois Coyer bekannt war. Vgl. ausführlicher zur Differenz der beiden Positionen den Beitrag von Jean Fabre (»L'article >Peuple< de YEncyclopidie et le couple Coyer-Jaucourt«) im Kongreßband Images du peuple au dix-huitiime stiele, Colloque d'Aix-en Provence, 25 et 26 oct. 1969, hrsg. vom Centre Aixois d'dtudes et de recherches sur le dix-huitiime siücle, Paris 1973, S. 11-24. Auf die zahlreichen Beiträge dieses Bandes zur literarisch-künstlerischen und ideengeschichtlichen Volksdarstellung sei hier allgemein verwiesen. S. Anm. 16.
Die geschichtliche Entwicklung des Massenproblems
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weiterbehaupten als eine gesellschaftskritische Kategorie, welche die revolutionären und emanzipatorischen Bewegungen der modernen Gesellschaft begleiten wird. Selbstverständlich lassen sich Massenphänomene bis in die Antike zurückverfolgen. Die Geschichte ist reich an Anlässen und Ereignissen, in denen Massen hervorgetreten sind. Erinnert sei hier nur stichworthaft an die Bauernkriege, Kreuzzüge, an die mittelalterlichen Pestepidemien, an Hexenprozesse, Völkerwanderungen, antike Eroberungskriege und Sklavenaufstände. Inwiefern sich vorrevolutionäre Massenerfahrungen der neueren wie der antiken Geschichte sprachlich und bildlich abgelagert haben, wie sie überliefert worden sind, inwieweit sie sich in den verschiedenen Brechungen ihrer Adaptierung in den wechselnden religiösen, weltanschaulichen und philosophischen Kontexten noch als prägende Muster für die Wahrnehmung künftiger Massenphänomene bewähren — das sind Fragen, die eigene Forschungsperspektiven eröffnen und hier (im punktuellen Verweis etwa auf den biblischen und mythischen Kontext, auf die Graphik des Bauernkrieges, auf die Emblemkunst) allenfalls angeregt werden können. Eine entscheidende Quelle bildet zweifelsohne die gelehrte Kenntnis der Antike. Über die (vermittelnden) lateinischen Autoren fließen beispielsweise pejorative Massenvorstellungen in das Bildungsgut der kulturellen Eliten ein, die teils aus der griechischen, teils aus der römischen Geschichte stammen. Der geradezu sprichwörtliche »Wankelmut« der Massen und der Gemeinplatz von der verbrecherisch-aufrührerischen Natur des Pöbels verbinden sich mit dem Bild der plebejischen Massen auf dem Forum des antiken Roms, auf die turba forensis, wie sie Titus Livius, oder plebs urbana, wie sie Cicero nennt. Hinter den Stereotypen stehen jedoch konkrete historische Erfahrungen, die ihrerseits im Zusammenhang sozialer Ständekonflikte zu sehen sind: So steht hinter dem »Wankelmut« der Menge die Manipulation der Wahlen durch die Käuflichkeit der pauperisierten Großstadtsplebs, die ihrerseits im Zusammenhang der sozialen Plebejerunruhen und der Forderung nach einer umfassenden Bodenreform, dem sogenannten Ackergesetz, zu sehen ist.29 Es zeigt sich an dieser Stelle konkret, daß die entsprechenden Massen-
29
Bemerkenswert ist die explizite Abgrenzung, die der zitierte Artikel »Peuple« der Encyclopidie (s. Anm. 27) gegenüber dem antiken Pöbel, der römischen »populace«, vornimmt. Während der Artikel sich positiv auf die antiken Demokratien, Griechenland und Rom, bezieht und den Stellenwert des Volkes in ihnen hervorhebt, nimmt er den Pöbel aus dem Begriff des Volkes aus: »La populace de Rome, qu'il ne faut pas confondre avec le peuple proprement dit, plebs, itoient des vagabonds, sans feu ni lieu, toujours prets ä exciter des troubles & große< Zeit der Erforschung der Hysterie als psychopathologischer Störung insbesondere der Frau war. Scipio Sighele: La coppia criminale. Studio di psicologia morbosa, Turin, 1893; dt.: Psychologie des Auflaufs und der Massenverbrechen, autorisierte Übers, v. Hans Kurella, Dresden, Leipzig: Carl Reissner, 1897. 189S legt Sighele sein zweites Buch zum Massenverhalten vor: La folia delinquente. Studio di psicologia collettiva.
30
Die Begriffsgeschichte der Masse
der strafrechtlichen Frage der Verantwortung bei Kollektivdelikten (etwa bei Streikunruhen, Demonstrationen, Aufständen) aus. Von hier aus kommen sie zu dem psychologischen Problem, wie es überhaupt zum gleichförmigen Handeln der Masse kommt, warum sich die einzelnen Mitglieder zu Handlungen hinreißen lassen, die sie alleine nicht begehen würden. Tarde und Sighele stützen sich zum Teil auf Schlufifolgerungen, die der Biologe und Tierpsychologe Alfred Espinas aus dem Verhalten von Herden, Rudeln, Vogel- und Bienenschwärmen gezogen hatte und 1878 in Des societäs animates veröffentlicht hatte. Während Tarde im Gesetz der Nachahmung ein Grundgesetz der Soziologie gefunden zu haben glaubt, das gleichermaBen für friedliche wie unfriedliche Gemeinschaften gelte, nimmt Sighele an, daB der Einzelne in der erregten Masse einer psychischen Ansteckung ausgesetzt sei, eine Annahme, die der »Massenseele« Le Bons in Grundzügen bereits nahekommt. Solche Ansteckungsvorstellungen haben allerdings bereits eine lange vorwissenschaftliche Tradition, die sich in solchen Metaphern wie die der (ansteckenden) Epidemie, der (sich ausbreitenden) Gärung oder des (alles entfachenden) Lauffeuers niederschlägt. Von Sighele übernimmt Le Bon den Gedanken der »verbrecherischen« Masse und ihrer Inferiorität, wandelt ihn aber entscheidend ab. Während Sighele trotz reformerischer Ansätze die individuelle Verantwortung bei Kollektivverbrechen nicht gänzlich ausschließen will, lehnt Le Bon die Kategorie der individuellen Schuld aufgrund des Individualitätsverlustes in der Masse ab: »Gewisse Handlungen der Masse sind, an sich betrachtet, sicherlich verbrecherisch, aber doch nur in demselben Sinne, wie die Tat eines Tigers, der einen Hindu verschlingt, nachdem er ihn erst von seinen Jungen zu ihrer Unterhaltung hat zerfleischen lassen.« (S. 117/18) Mit dem Blick vor allem auf die Septembermorde der Französischen Revolution (dem Standardbeispiel der blutrünstigen Masse) meint Le Bon: »Die Verbrechen der Massen sind in der Regel die Folge einer starken Suggestion, und die einzelnen, die daran teilnahmen, sind hinterher davon überzeugt, einer Pflicht gehorcht zu haben. Das ist beim gewöhnlichen Verbrecher durchaus nicht der Fall.« (S. 118)
4.
Literarische Stereotypen in der Massenpsychologie
Sigheles Arbeiten über die »verbrecherische Masse« führen nun auf eine unerwartete Weise unmittelbar in den engeren Zusammenhang der Literatur hinein. Sie zeigen auf eine umstandlose Weise, wie dicht noch der Zusammenhang zwischen der literarischen Massenvorstellung und den sich erst funktional ausdifferenzierenden kriminalistischen und psychologischen Massentheorien ist: Seine theoretischen Einsichten spickt er nicht nur mit moralphilosophischen Betrachtungen und Aphorismen über die Masse; er stützt sie direkt auf prominente fiktionale Massendarstellungen und literarisierte Revolutionsberichte, die er teilweise wie authentische Aussagen über die Masse nimmt. Unter den herangezogenen Beispielen (vorwiegend aus der zeitgenössischen französischen Literatur) befinden sich aufschlußreicherweise die
Die geschichtliche Entwicklung des Massenproblems
31
berühmte Kastrationsszene während des Grubenarbeiter-Streiks in Emile Zolas Roman Germinal, aber auch Memoiren über die Französische Revolution und Schilderungen der Pariser Kommune von Maxime du Camp. Nicht zuletzt hat Sighele auch einen selbständigen Beitrag über die »verbrecherische« Masse bei Eugfene Sue verfaßt. 45 Dank seiner methodischen Unbefangenheit wird hier punktuell klar, daß der Transfer der Massenvorstellung — zumal der negativen, welche die barbarischen und kannibalistischen Züge hervorkehrt — zunächst durchaus auch von der Literatur in die Theorie verläuft. Seit Victor Hugos Notre-Dame de Paris (1831), vor allem aber seit Eugene Sues Les Mysteres de Paris (1841/2) und noch in Hugos Roman der leidenschaftlichen Anteilnahme Les Misirables (1862) kursiert das literarische Bild der Masse als einer verbrecherischen Gegen- und Unterwelt, die von Asozialen, Dieben, Mördern und Prostituierten bevölkert wird. Sue bietet die Masse in seinem populären, mit den Mitteln des Schocks arbeitenden Feuilletonroman als sensationelle Entdeckung einer Welt von Barbaren an, die in unmittelbarer Nachbarschaft seiner Leser lebt. Michelet, der in seinem Buch Le Peuple (1848) eine rehabilitierende »Physiognomik« des Volkes in seiner ideellen Gestalt geben will, beklagt sich explizit über diese grassierende Verzerrung des Volkes in der Literatur: De nobles dcrivains, d'un ginie aristocratique, et qui toujours avaient peint les mceurs des classes ilev6es, se sont souvenus du peuple; ils ont entrepris, dans leur bienveillante intention, de mettre le peuple ä la mode. Iis sont sortis de leurs salons, ont [sie] descendu dans la rue, et demande aux passants oü le peuple demeurait. On leur a indiqu6 les bagnes, les prisons, les mauvais lieux. [...] Iis ont choisi, peint, racont£, pour nous intiresser au peuple, ce qui devait naturellement iloigner et effrayer. »Quoi! le peuple est fait ainsi?« s'est icrii d'une voix la gent timide des bourgeois. »Vite, augmentons la police, armons-nous, fermons nos portes et mettons-y le verrou!«46
In der Tat läßt sich diese — im übrigen sehr profitträchtige und insbesondere von den niederen Schichten gefragte — Literatur, die eine gruselig-schöne Aufbereitung des Schreckens bietet, als ein Reflex auf das Bedrohungsgefühl
45
46
»Eugfene Sue et la Psychologie criminelle«, Revue internationale de sociologie, 16, 1908, S. 321-42. Michelet, Le Peuple, wie Anm. 21, S. 151. — »Edlen Schriftstellern von vornehmem Talent, die immerhin die Sitten unserer hochstehenden Gesellschaftsklassen geschildert haben, kam plötzlich das Volk in den Sinn; wohlmeinend haben sie es unternommen, das Volk als allerneueste Mode zu kreieren. Also sind sie aus ihren Salons heraus in die Straße herabgestiegen und haben die Vorübergehenden gefragt, wo denn das Volk eigentlich wohne. Da hat man ihnen die Zuchthäuser, die Gefängnisse und die Lasterhöllen gezeigt. [...] Um uns das Volk nahezubringen, haben sie genau das gewählt, geschildert und erzählt, was uns mit Sicherheit von ihm entfernen, uns erschrecken mußte. >Ach! So ist es also um das Volk bestellt?rasch, verstärken wir die Polizei, bewaffnen wir uns und schließen wir unsere Wohnungen hinter Schloß und Riegel zu!schaurige< Masse, mit der Sue seine Leser (in einer allerdings politisch bedenklichen und verzerrenden Weise) konfrontiert, gründet ihren Erfolg auf ein vorhandenes diffuses Angstpotential, das hier seine Kanalisierung erfährt. 47 5.
Der Erste Weltkrieg als Erschütterung des traditionellen Menschenbildes
Der Erste Weltkrieg mit seinen Materialschlachten stellt einen tiefgreifenden Einschnitt für die Massen- und Vermassungserfahrung dar. »Das Zeitalter der Massen«, das Le Bon 1895 prognostiziert hatte, zeigte sich 1914 unter einem ganz anderen Gesicht. Mit einem Paukenschlag wird bewuBt, daß wir im mechanischen Zeitalter leben und die Maschine regiert. Die Maschinenhaftigkeit des Krieges, in welcher der einzelne Soldat nur noch als ein Anhängsel fungiert und ihrer Logik unterworfen ist, bringt die Industriegesellschaft schlagartig auf den Punkt: die Degradierung des Menschen zum Material. Die geistesgeschichtlich folgenreiche Erschütterung durch die Erfahrung der Materialschlachten verändert den Blick auf den Menschen, auf die Gesellschaft aber auch auf die Kunst. Mit scharfem Bewußtsein reflektieren die Künstler auf ihre Funktion. Die Maler Schlemmer und Liger bringen als Reaktionen auf den technisierten Krieg ihre Maschinenmenschen in die Bildsprache der Kunst ein: die aus Fertigteilen zusammengesetzten Menschen, die auf einen Blick als künstliche Produkte zu erkennen sind. Die Protestbewegung des Dada nimmt die Zerstörung des gesellschaftlichen Lebens, die im Krieg auf die Spitze getrieben worden war, in ihre Formensprache auf; sie wendet sich damit gegen die Verlogenheit aller künstlerischen Versuche der Sinnstiftung. In den 1920er Jahren enwickelt sich in Anlehnung an die modernen Fertigungs- und Reproduktionsverfahren ein serieller Massenbegriff; die Menschen werden als austauschbare Größen aufgefaßt. Es versteht sich, daß damit die Ausgangslage auch für die literarische Gestaltung der Masse im Vergleich zum 19. Jahrhundert grundlegend verändert ist.
47
»Dieses unermeBliche Gewühl setzte sich als ein morastiger, stinkender Abschaum der Pariser Bevölkerung aus Dieben und ehrlosen Dirnen zusammen, die jeden Tag mit Verbrechen ihr tägliches Brot errangen«, so charakterisiert E. Sue die dichtgedrängte finstere Masse, die sich gegen Ende des Romans in einem lüsternen Bacchanal zum Hinrichtungsplatz begibt (zit. n. der Ausgabe in 4 Bdn, Paris 1977, Bd. 4, S. 246; Übers, v. A.G.).
II.
Die Masse in der Literatur. Zum Stand der Forschung und zum Gegenstandsfeld
In den modernen Avantgarden der 1920er Jahre sprengt die Erfahrung der Masse die Formensprache der einzelnen Künste und führt teilweise zu einer medialen Grenzüberschreitung von Malerei, Photographie, Literatur, Theater und Film.48 Brechts Konzept des epischen Theaters, die avancierten Theaterexperimente der Piscator-Bühne, die neue Bedeutung des filmischen Mediums für die Massendarstellung sowie die innovativen Montagetechniken vor allem des russischen Films sind hinreichend in ihrer Bedeutung bekannt. Im Hinblick auf ihre neue Ästhetik der Masse wurden sie allerdings nicht systematisch im Zusammenhang erforscht. Vor allem ihre Wechselwirkung mit der erzählenden Literatur (wie sie in Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz, 1929, offenkundig ist) ist für das beginnende Jahrzehnt, also vor dem Aufkommen der neusachlichen Querschnittsformen, noch kaum in den Blick geraten. Zwar wird für die frühe expressionistische Prosa ein grundsätzlicher Paradigmenwechsel der ästhetischen Wahrnehmung geltend gemacht, und dieser wird im Zusammenhang mit den neuen Erfahrungsformen der dynamisierten großstädtischen Lebenswelt und der Veränderung der Sehgewohnheiten u.a. auch durch das neue Medium des Films thematisiert49, selten aber werden diese Thesen an den Texten selbst belegt, geschweige denn mit der Erfahrung und Darstellung der Massen in Beziehung gesetzt. Obgleich die soziale und ästhetische Erfahrung der Masse bzw. der Vermassung eines der zentralen Themen des Umbruchsprozesses zur Moderne ist, gibt es erstaunlicherweise keine interdisziplinäre Erforschung dieses Problemfeldes. Auch in der Literaturwissenschaft gibt es so gut wie keine Untersuchung zur ästhetischen Entwicklung der Massenvorstellung. Es besteht im Grunde nur ein punktuelles Bewußtsein von der Problematik, das sich an wenige, in dieser Hinsicht herausragende Werke und Autoren knüpft oder an einzelnen Problemstellungen (der Revolutionsdarstellung, insbesondere im 48
49
Vgl. u.a. John Willett: Explosion der Mitte. Kunst und Politik 1917—1933, aus dem Englischen v. Benjamin Schwarz, München 1981. Vgl. Silvio Vietta: »Großstadtwahrnehmung und ihre literarische Darstellung. Expressionistischer Reihungsstilund Collage«, in: Deutsche Vierteljahresschrift fir Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, 48, 1974, S. 354-73; sowie ders. mit Hans-Georg Kemper: Expressionismus, München 1975.
34
Die Masse in der Literatur
Drama; der literarischen Stadterkundung; der Elendsschilderung, vor allem im Naturalismus; dem Bild des Arbeiters; der Masse-Führer-Problematik im expressionistischen Drama) in den Blick der Forschung geraten ist. Die Darstellungsaspekte bleiben dabei in der Regel unbeachtet. Selbst für die Zeit zwischen den Weltkriegen zeichnen sich nur partiell Konturen ab. 50 Einen gewichtigen Problemaufriß zum Thema hatte in den 1930er Jahren Walter Benjamin im Rahmen seines (Fragment gebliebenen) Baudelaire-Projektes niedergelegt; 1940 war daraus der geschlossene Teilaufsatz »Über einige Motive bei Baudelaire« in der Zeitschrift für Sozialforschung veröffentlicht worden. 51 Benjamin nähert sich in diesen Studien dem Thema im komplexen Zusammenhang der Veränderung der ästhetischen Wahrnehmung, die er im mehrseitigen Verhältnis von Künstler/Masse/ArbeitsprozeB/Literaturmarkt mit den Entwicklungen des technisch-industriellen Komplexes zusammenzubringen versucht. Gemeinsam etwa mit Siegfried Kracauers Aufsätzen aus den 1920er Jahren, die dieser später unter dem Titel Das Ornament der Masse zusammengestellt hatte 52 , wurde Benjamins Ansatz zur strukturellen Veränderung der Kunst durch das Prinzip der Masse (ein Ansatz, zu dem auch sein »KunstwerkeAufsatz zu rechnen ist53), in den 1960er Jahren wiederentdeckt. Von dieser
50
Einen Überblick über die Vision der Masse in den technischen Utopien und Apokalypsen der Literatur zwischen den Weltkriegen (teilweise im RQckgang auf die Entwicklungslinien seit der Jahrhundertwende), ihre Omamentalisierung im Zusammenhang mit der Maschinenwelt sowie ihre Problematisierung in der Zivilisationskritik bietet Jörg Hienger, der das Fortschrittsverhältnis der Periode insbesondere vor dem Hintergrund der Weltkriegserfahrung, der russischen Oktoberrevolution und des Atombombenabwurfs auf Hiroshima untersucht: »Großstadt Masse Maschine in der Literatur«. In: Zwischen den Weltkriegen, (= Neues Handbuch der Literaturwissenschaft, Bd. 20), hrsg. v. Thomas Koebner, in Verbindung m. Walter Baumgartner u.a., Wiesbaden 1983, S. 239-68. Ich verweise weiter auf die verschiedenen Beiträge dieses Bandes, in dem u.a. die Omamentalisierung der Masse in der faschistischen Ästhetik, ihre neue Bedeutung in den Gestaltungsansätzen der künstlerischen Avantgarden und in der Programmatik proletarisch-revolutionärer Kunst in allgemeiner Weise behandelt wird. Es versteht sich, daß der Charakter dieses Überblicksbandes keinen Raum für eingehende Untersuchungen zur Darstellungsproblematik offenhält.
51
Vgl. den unter dem Titel »Charles Baudelaire. Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus« zusammengefallen Aufsatzkomplex in: Gesammelte Schriften, hrsg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Bd. 1/2, Frankfurt/M. 1980, S. 509-690. S. auch den ausführlichen Kommentar der Herausgeber zum Entstehungszusammenhang und zur Verbindung mit Benjamins Passagen-Werk in Bd. 1/3., S. 1064ff.; der Aufsatz »Über einige Motive bei Baudelaire« stellt eine bearbeitete Fassung von »Das Paris des Second Empire bei Baudelaire« (1938 geschrieben) dar, sollte aber in eine neue Verbindung mit der Vorstufe gebracht werden. Erst 1963 erschien diese Sammlung des drei Jahre später Verstorbenen im Frankfurter Suhrkamp-Verlag. »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit«, von dem es zwei Fassungen gibt, erschien 1936 in französischer Sprache in der Zeitschrift β r Sozialforschung; diese ist neben den beiden existierenden Fassungen in deutscher Sprache in der Werkausgabe abgedruckt: Gesammelte Schriften, wie Anm. 51, Bd. 1/2.
52
53
Tum Stand der Forschung und zum Gegenstandsfeld
35
neuen Rezeption gingen vielseitige Impulse für die Literatur- und Kulturgeschichte aus. Die in den 1970er Jahren entstandenen Arbeiten von Hannelore Schlaffer54 und Wolfgang Kemp35, die sich im Rahmen der Germanistik und Kunstgeschichte grundlegender mit der ästhetischen Seite der Massendarstellung in Theater und Bildender Kunst befassen, stehen in diesem Zusammenhang. Ausgangspunkt für beide Arbeiten ist die anspruchsvolle Frage, inwieweit das Thema der Masse (der kollektiven Figur des Volkes im Drama bei H. Schlaffer, der politischen Masse in Malerei und Graphik bei W. Kemp) die am Leitwert des Individuums orientierten Kunstformen bzw. Kunstverfahren der »bürgerlichen Kunst« sprengt. Dieser Untersuchungsansatz birgt allerdings eine immanente Komplexität, der sich Benjamin in seinen Baudelaire-Studien nicht ohne Grund von verschiedenen Seiten angenähert hat: Sowohl das Sujet (hier bei Benjamin v.a. die großstädtische Menge des 19. Jahrhunderts) als auch der Blick darauf verändern sich in der historischen Entwicklung. Das (realhistorische) Phänomen der Menge als ein neues Erscheinungsbild im großstädtischen Getriebe von Arbeit und Kommerz drängt zwar zu einer neuen Sicht und einer neuen Einstellung; es ist aber nicht das alleinige Motiv für die Veränderung der Darstellung. Der künstlerische Impuls — und hier ist noch über Benjamin hinauszudenken — ist selbst jenen technisch-industriellen Prozessen der rationalisierten Durchgestaltung der Gesellschaft samt ihren wissenschaftlichen Verfahrens- und Analyseformen unterworfen, welche die Masse als modernes Phänomen hervorbringen. Diese Prozesse prägen gleichermaßen die Gestalt der Massen wie den Blick auf sie. Der neue Gegenstand und die ästhetische Annäherung des Künstlers (der sogar in seiner Sensibilität, in seinem Kunstverständnis und Verhältnis zum Markt nicht unverändert bleibt) werden durch einen strukturgleichen Prozeß komplementär gemacht. Diese doppelte Form der Historizität fordert die literaturtheoretische Untersuchung stark heraus. Es versteht sich, daß eine rein philologische Annäherung die Komplexität der Problematik gar nicht in den Blick bekommt. Hannelore Schlaffer wählt die Form einer gattungstheoretischen Betrachtung, welche auf die geschichtliche Entwicklung der kollektiven Dramenfigur von ihrer sekundären Rolle im klassischen Drama bis zu ihrer entfalteten Verwirklichung bei Brecht verfolgt: Die Entwicklung der dramatis persona Volk wird als eine »zu sich selbst« aufgezeigt; mit der Neubestimmung der (zunächst als komischer Charakter festgelegten) Volksfigur als einer sozialen
54
35
Dramenformen und Klassenstruktur. Eine Analyse der dramatis persona » Volk«. Stuttgart 1972 (Diss. Erlangen/NOniberg 1971). »Das Bild der Menge (1789-1830)« (in: Stadel-Jahrbuch. Neue Folge, Bd. 4, 1973, S. 249270) sowie »Masse — Mensch« (im Ausstellungskatalog Der Einzelne und die Masse. Kunstwerke des 19. und 20. Jahrhunderts, Ruhrfestspiele Recklinghausen, Recklinghausen 197S, S. 9-20). Insbesondere im ersten Beitrag, der schwerpunktmäßig Davids Entwürfe zum •Ballhausschwur« untersucht, geht W. Kemp explizit von Benjamins Baudelaire-Aufsatz und dem dort thematisierten Problem der literarischen Perspektive aus.
36
Die Masse in der Literatur
(bei Büchner, der einen Wendepunkt markiert) komme sie bei Brecht zu dem, was sie »im Grunde ist«: zu ihrem »Wesen«, das in der Fähigkeit besteht, sich, ihre Umwelt und ihre Situationen zu kommentieren und reflektieren.56 Bescheidener und unprätentiöser nimmt sich die romanistische Arbeit von Wido Hempel aus.57 Sie liest sich, obgleich sie ihre Vorgänger nicht nennt, wie ein Gegenkommentar zu ihnen. Während die Arbeiten in der Folge Benjamins davon ausgehen, daß die Masse als prägende Kraft der Literatur und des literarischen Marktes (mit wenigen Ausnahmen) erst gegen Mitte des Jahrhunderts eine bedeutende Rolle spielt, hebt Hempel die neue Rolle der Masse als geschichtliche Kraft in der von Walter Scott bereits um 1815 popularisierten Gattung des historischen Romans hervor. Mit der Französischen Revolution, dann mit den nationalen Erhebungen gegen die napoleonische Herrschaft war die neue Bedeutung der Masse im geschichtlichen Prozeß für die Zeitgenossen konkret erfahrbar geworden. Der historische Roman erweist sich nun als die Gattung, in der diese ihre Bedeutung am ehesten in ihrer quantitativen Dimension umzusetzen war. Demgegenüber sind dem Drama allein schon in der Personenzahl Schranken auferlegt, ungeachtet dessen, daß hier noch immer die klassizistische Tradition mit ihrer Ständeklausel vorherrschend war. Hempel stellt die Verbindung des Genres zum neuen Geschichtsverständnis des Historikers Augustin Thierry heraus, der sich offen dazu bekennt, daß ihn die Romane Scotts (besonders Ivanhoe, 1819) beeinflußt haben. Nach Alfred de Vignys Cinq Mars ou Une Conjuration sous Louis XIII (1826), Honore de Balzacs Le dernier Chouan ou La Bretagne en 1799 (zuerst 182958) und Alessandro Manzonis Roman Promessi Sposi (1827), der im Mittelpunkt der Untersuchung Hempels steht, gehört noch Victor Hugos Notre-Dame de Paris, 1482 (1831) in die Nachfolge Scotts. Obgleich Hempel den politischhistorischen Kontext, in dem die Gattung entsteht, mitthematisiert, bleibt die politische und soziale Dimension der Masse in seiner Untersuchung blaß. Hempel geht es, »um die literarische Gestaltung von Menschenmengen schlechthin«. Von der erzählerischen Aufgabe her, eine Menschenmenge zur lebendigen Gestalt zu bringen, meint der Verfasser, ist es unerheblich, um welche (soziologische und historische) Form der Masse es sich handelt; im Extremfall stellten die Darstellung einer »aristokratischen« oder »höfischen« Masse und die einer Volksmenge den Künstler vor das gleiche Problem. Das Tableau, die redende Menge und die moralpsychologische Betrachtung geben die Hauptkategorien ab, deren Darstellungsformen Hempel im einzelnen untersucht. (Anregend sind vor allem die Ausführungen zur Abbreviatur und zum
56 57
58
H. Schlaffer, wie Anm. 54, S. 107. Wido Hempel: Manzoni und die Darstellung der Menschenmenge als erzähltechnisches Problem in den »Promessi Sposi», bei Scott und in den historischen Romanen der französichen Romantik, Krefeld 1974. Vgl. auch Anm. 77. Die stark veränderte Fassung von 1834 erschien als Les Chouans ou La Bretagne en 1799.
Zum Stand der Forschung und zum Gegenstandsfeld
37
notwendigen Wechsel von Differenzierung und Synthese als Verfahren.) Auf das Problem der nachrevolutionären Bildsprache in ihrer politischen Codierung und Tradierung geht die Studie nicht ein. Ein größerer Überblick über die Massendarstellung ist im Zusammenhang der literarischen Stadtdarstellung erschlossen worden. Nicht umsonst treibt die literarische Erkundung der sich gegen Mitte des 19. Jahrhunderts stark ausdifferenzierenden und industrialisierenden Städte das Phänomen der Masse als ihr noch unverstandenes »geheimnisvolles« Element hervor. Hier sind Victor Hugos noch auf das mittelalterliche Paris bezogener Stadtroman Notre-Dame de Paris (1831) zu nennen und die seriellen Romanproduktionen von Charles Dickens (u.a. Barnaby Rudge, 1841) und Eugene Sue (Les Mysteres de Paris, 1842/3)59. Durch die Vermittlung Robert Minders ist die französische literarische Stadtdarstellung einem größeren Publikum bekannt geworden.60 Daher ist auch relativ bewußt, welche Bedeutung Paris für das Thema der Volks- und Massendarstellung hat. Die führende Rolle der Hauptstadt schon aufgrund der zentralistischen Verfassung des Landes macht Paris auch zu einem exponierten Schauplatz der Romane. Der gesellschaftliche Aufstieg führt die Helden, deren Weg der französische Sozialroman beschreibt, unweigerlich nach Paris. Louis-S6bastien Merciers Tableau de Paris bildet den Höhepunkt der französischen Stadtliteratur vor 1789.61 Zum ersten Mal wird hier die Stadt in ihrer unendlich komplexen Lebenswirklichkeit beschrieben und reflektiert; bislang ausgeblendete Bereiche werden zu Bewußtsein gebracht. Mercier hat dabei »Erfahrungsschemata« ausgebildet, »die fur die Beziehung des Einzelnen zur großstädtischen Menge während des ganzen 19. Jahrhunderts Gültigkeit haben sollten«62. Balzac, Hugo, Baudelaire gründen in ihren Stadtdarstellungen auf Mercier. Sie aber haben es bereits mit einem Paris zu tun, das der Modernisierungsschub seit dem »Tableau de Paris« stark verändert hat. In den Parisgedichten Baudelaires ist das Phänomen der allgegenwärtigen großstädtischen Menge weitgehend als Erfahrung vorausgesetzt. Walter 39
60
61 62
Vgl. die ausholende komparatistische Darstellung zum Thema von Volker Klotz: Die erzählte Stadt. Ein Sujet ab Herausforderung des Romans von besage bis Döblin, München 1969. Ergänzend verweise ich auf den Beitrag von Raymond Williams: »Städte der Dunkelheit und des Lichts. Zur Londonliteratur des 19. Jahrhunderts«, in: Ders.: Innovationen. Über den Prozeßcharakter von Literatur und Kultur, hrsg. u. Übersetzt v. H. Gustav Klaus, Frankfurt/M. 1977, S. 142-62; zuerst engl, als Einzelbeitrag 1973. Robert Minder: »Paris in der französischen Literatur (1760—1960)«, in: ders.: Dichter in der Gesellschaft, Frankfurt/M. 1966. Zunächst 1781 in 2 Bdn erschienen, dann 1782—88 auf 12 Bde erweitert. Karlheinrich Biermann: »>Stadtbücher< (>Tableaux de ParisEvidenz< aus der lebendigen Einheit des Organismus in seinem gegliederten Funktionszusammenhang bezieht. Die anthropomorphe Metapher ist imstande, immanente Gegensätze und Wechselbezüge zum Ausdruck bringen. Insbeson-
85
86
Vgl. eingehender zur Staatskörper-Metaphorik D. Peil: Untersuchungen zur Staats- und Herrschaftsmetaphorik, (wie Anm. 23), S. 302ff. Vgl. zu den Quellen Paulys Real-Encyclopädie der classischen Altertumswissenschaft, begonnen v. Georg Wissowa, hrsg. v. Wilhelm Kroll, 29. Halbband, Stuttgart: Metzlersche Verlagsbuchhandlung, 1931, S. 840ff.
Individualisierende Darstellungsverfahren
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dere in der Malerei des Manierimus (z.B. bei Arcimboldi) ist die anthropomorphe Metapher als frappierendes Gestaltungsmittel eingesetzt, das aus der Spannung zwischen den Einzelteilen und der Gesamtgestalt lebt. Als Erzählverfahren ist sie aber ungleich undurchsichtiger, denn die Literatur hat nicht die Möglichkeit der unmittelbaren raumbildlichen Zusammenschau. Meist wirkt das anthropomorphisierende Verfahren implizit: Es liegt immer vor, wenn die Menge zu einem (menschlichen) Wesen, einem Großsubjekt gebündelt wird, also etwa, wenn sie (wie) »aus einem Munde« ruft oder sich (geschlossen) »wie ein Mann« erhebt. Es sind dies metaphorische Redeweisen, die ähnlich noch in der Alltagssprache vorliegen, ohne daß das implizite Vorstellungsbild dabei zu Bewußtsein kommt. Wie relevant diese anthropomorphierenden Vorstellungsverfahren sind, zeigt sich schon daran, daß es uns in den beiden modernen Texten, die hier ausführlich zu interpretieren sind, wiederbegegnen wird. Die anthropomorphe Vorstellung kann auch als Verfahren der Personalisierung betrachtet werden. Sie zwingt die Heterogenität des Kollektiven in eine Verkörperung, ob sie nun bildhaft, symbolisch oder allegorisch ist. Freilich hat die anthropomorphe Vorstellung durch Le Bons Konzept der »Massenseele«, die man im Grunde ebenso als Personalisierung auffassen kann, eine theoretische Untermauerung erfahren: Die anthropomorphe Bündelung bezeichnet jetzt genau die Stelle des psychologischen Überganges, an der die Menschenmenge zu einem Massenwesen wird. Ein frühes Beispiel eines personalisierten Auftritt des Volkes ist aus dem Theater, und zwar aus der attischen Komödie, bekannt: In Aristophanes' politisch-pamphletistischem Stück Die Ritter (»Hippes«, 424 v. Chr. aufgeführt 87 ) tritt das Volk von Athen als eine Figur auf: Demos. Die Personalisierung ist hier freilich ein formimmanentes Erfordernis: im antiken griechischen Theater treten — neben dem Chor — überhaupt nur drei Schauspieler als handelnde Personen auf. 88 Um die Gunst von Demos buhlen ein namenloser Gerber und sein Gegenspieler, ein Wurstmacher, der auf den Namen »Pöbelwahl« (»Agorakritos«) hört. Das Stück ist eine Schlüsselkomödie gegen den Staatsmann Kleon (einen Gerbersohn), Nachfolger des Perikles, Vertreter der radikalen Demokratie, der als skrupelloser Demagoge die Massen durch geschickte Manipulationen für sich zu gewinnen weiß. Zielscheibe ist dessen kriegstreiberische Politik für die Fortsetzung des Kampfes gegen Sparta, die
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Ich verweise auf Hans-Joachim Newiger (Hrsg.): Aristophanes und die alte Komödie (Darmstadt 197S; mit Bibliographie); Bernhard Zimmermann: Untersuchungen zur Form und dramatischen Technik der aristophaneischen Komödien (Bd. 1 u. 2: Königstein 1984/84; Bd. 3: Frankfurt/M. 1987); und Victor Ehrenberg: Aristophanes und das Volk von Athen: Eine Soziologie der Altattischen Komödie (Übers, aus dem Engl. v. Grete Feiten, Zürich, Stuttgart 1968; Orig.: The People of Aristophanes, New York 1962). Es versteht sich von selbst, daß die Figur des Demos männlich ist: Selbstredend treten nur männliche Schauspieler auf. Im Begriff des demos sind darüber hinaus weder Frauen noch Sklaven mitgemeint.
48
Das
Darstellungsproblem
der Dichter wiederholt in seinen Stücken geißelt und gegen die er hier mit Hilfe des konservativen Ritterstandes angehen will. Die Ritter treten chorisch auf. Auch dies ist eine immanente Möglichkeit des Theaters, die später von Schiller und Brecht zur Massendarstellung genutzt werden wird.' 9 Der personalisierte Auftritt des Volkes in einer Figur ist die größtmögliche Vereinheitlichung eines Kollektivs. In der Regel erscheint die dramatis persona Volk auf der Bühne als eine Vielzahl von Personen, die allerdings weitgehend wie eine Person handeln und sprechen. Das ist am stärksten der Fall, wenn das Figurenkollektiv (wie der Chor in Schillers Braut von Messina) unisono spricht. Es wird andeutungsweise differenziert, wenn es (wie bei Shakespeare) in ein paar Redekürzeln exemplarischer Sprecher aufgefächert wird. Nicht von ungefähr wird Aristophanes' Stück unter dem Eindruck der Französischen Revolution wiederentdeckt. Wieland, der es zum erstenmal ins Deutsche übersetzt (»Die Ritter oder die Demagogen des Aristofanes«, 179890), stellte angesichts der jüngsten Zeitereignisse die Aktualität seiner politischen Problematik heraus. Von der Französischen Revolution wird die Allegorie zur Darstellung des Volkes eingesetzt. Herkules mit seiner Keule verkörpert es im zwiespältigen Aspekt von ursprünglicher Kraft und Gewalt. Auf einem Berg stehend, der die herrschende Partei der Montagne symbolisiert, wird es auf diese Weise zum Staatsprinzip des republikanischen Staates verklärt: es ist die Gewalt des Volkes, auf die sich der jakobinische Staat der Terreurzeit in seiner allegorischen Selbstinszenierung stützt.91 In den Revolutionsallegorien wie der Liberie oder der Egaliti werden dagegen die Leitwerte und inneren Bestrebungen, welche die revolutionäre Masse bewegen, verkörpert. Insbesondere die Allegorie der Freiheitsgöttin geht in der späteren Revolutionsikonographie einen engen Zusammenhang mit der Masse ein. Die genuine Leistung der personalisierenden und allegorisierenden Verfahren läßt sich ermessen, wenn man sich andere Möglichkeiten vor Augen hält. Im extremen Bild der Masse beispielsweise als tausendköpfiges Untier oder als Krake wird zwar die Pluralität im Zusammenhang betont; gleichzeitig aber wird das Phänomen in seiner Monstrosität hervorgekehrt. Gegen diese Metaphorik des Inhumanen setzt die Personalisierung ein der Humanität verpflichtetes Menschenbild der Masse um. Ähnliches trifft, mit vielfachen Differenzierungen, die hier nicht alle ausgeführt werden können, allgemein für die Tiermetaphorik zu, ebenso wie auf der extremen Gegenseite für die versachlichende Maschinenmetaphorik. Der Effekt einer Enthumanisierung tritt allerdings auch da ein, wo die hyperbolische Übersteigerung das anthropomorphe
89
90 91
Die Implikationen und Einschränkungen dieses dramatischen Mittels können im Rahmen dieses Aufrisses nicht ausgeführt werden; ich verweise auf H. Schlaffer (wie Anm. 54). Attisches Museum, Bd. 2, Zürich/Leipzig. Beispiele bei F. Gross, wie Anm. 73.
Individualisierende Darstellungsverfahren
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Maß verläßt und (wie beispielsweise Goyas Riese Saturn, der seine Kinder frißt) ins Monumentale übergeht. 2.
Die Typisierung
Die Personalisierung zieht die Vorstellung der Masse in einer menschlichen Figur zusammen. Die Typisierung dagegen ist ein Verfahren, in dem beispielhaft an einer Person Kollektives zum Ausdruck kommen soll. Der Abstraktionsgrad der Typisierung ist wesentlich höher als beim anthropomorphen Modell, denn die Typisierung setzt eine differenziert-klassifizierte Wahrnehmung der Masse voraus. Ihr liegen besondere Klassifikationsmerkmaie zugrunde, auf der die Figurengestaltung beruht. Zu verweisen ist auf die Typenbildung der Commedia dell'arte. In der ständischen Gesellschaft liegt eine ständische Typisierung nahe; die gesellschaftliche Ordnung selber gibt hier das (vertikale) Klassifizierungsschema vor. Während der Französischen Revolution greift die pamphletistische Literatur bewußt auf ständische Typisierungen zurück, um in kleinen dialogischen Sketchen die ideologischen Positionen auszutragen. Der ΑΜ>έ, der Financier und der Nationalgardist treten beispielsweise in solchen als Lesestücke konzipierten Texten auf. Als neue revolutionsspezifische Massenfigur taucht insbesondere während der jakobinischen Republik der Sansculotte auf (oft im Kollektiv, in den radikalsten Stücken formiert und bewaffnet in einer Reihe mit den Sansculotti/wiCTi). Die bekannteste Schöpfung dieser Figur ist zum Markenzeichen einer Zeitung geworden: der Pere Duchesne, als Inkarnation des Sansculotten in seiner typisierten Denk- und Ausdrucksweise, war die Sprachmaske der gleichnamigen Zeitschrift H6berts. Die Typisierung ist eine entscheidende Zwischenform zum Kollektiven. Sie bleibt auf der Ebene individueller Erfahrung und Handlungen, wobei diese aber mehr transportieren als das Individuum. Insofern stößt sie auf das Feld des Sozialen vor. Die Typisierung stellt einen Ausweg dar, insofern sie in der Form des Individuellen Kollektives zum Ausdruck bringt. Gleichzeitig aber nimmt das Individuum Schaden, denn die Typisierung will auf das Schema hinaus. Im 19. Jahrhundert fundiert sich die Typisierung zunehmend wissenschaftlich, indem sie eine enge Verbindung mit der Physiognomik und Phreneologie eingeht. Sie ist Ausdruck der Verwissenschaftlichung der Gesellschaft, denn man kann sie als den Versuch betrachten, sich auf den verschiedenen Ebenen von Medizin und Kunst mit dem Massenphänomen vertraut zu machen. Die Typisierung stellt daher die bevorzugte Form der literarischen Gesellschaftserkundung im 19. Jahrhundert dar. Ein Indiz dafür ist die ungeheure Verbreitung und Vielfalt der Gattung der sogenannten »Physiologien«.92
92
Vgl. Hans-Rüdiger Biesbrock: Die literarische Mode der Physiologien in Frankreich (1840-1842), Frankfurt (u.a.) 1978.
50
Das Darstellungsproblem
Sie geben eine typisierende Auffächerung des gesellschaftlichen Lebens nach allen nur möglichen Bereichen und Menschentypen. Vom Straßenhändler, über die Grisette bis hin zum Elegant werden die verschiedensten Charaktere und Berufe umrissen. Der Physiognomik haftet ein konservatives, biologistischrassistisches Element an, das besonders in der Charakterisierung der Verbrechertypen zum Ausdruck kommt. Eugene Sue läßt in seinen Mystkres de Paris ein ganzes Gruselkabinett solcher physiognomisch ausgemalten Verbrechertypen, die so sprechenden Namen wie »Menschenfresser« tragen, aufmarschieren. In seinem umfangreichen Feuilletonroman, der unablässig die Überschwemmung der Stadt durch das Verbrechen beschwört, stellt er die gefährliche Pöbelmasse der Pariser Unterwelt dar, indem er sie in gräßliche Einzelphysiognomien zerlegt. Die Städte, welche die Literatur des 19. Jahrhunderts wahrnimmt, sind trotz der einschneidenden Veränderungen um die Jahrhundertmitte nicht vergleichbar mit dem Urbanisierungs- und Industrialisierungsgrad des 20. Jahrhunderts. Es sind Städte mit einer großen Ansammlung von Menschen, die durch einen soziologischen Blick ausdifferenziert werden. Der Leser soll verstehen, daß die vielgestaltige Menge so und so gegliedert ist. Die Physiologien, das Feuilleton und der Sozialroman wirken dabei mit. Der Kontinent der Großstadt wird erschlossen. Sue, wie Dickens oder Poe, sind ihrem »Geheimnis« auf der Spur. Honor6 de Balzac lehnt sich in seiner Comedie humaine (1842—1848), die er als »soziale Studie« konzipiert, an die Beschreibungsverfahren der zoologischen Gattungen (so bei Geoffroy Saint-Hilaire) an, um die verschiedenen Menschentypen seiner Epoche im Milieu ihrer sich umschichtenden Klassen zu erfassen. Emile Zola geht in seinem Zyklus Les Rougon-Macquart. Histoire naturelle et sociale d'une famille sous le Second Empire (1871—1893) insofern darüber hinaus, als er seine Figurenkonzeption auf der zeitgenössischen Milieu- und Vererbungstheorie aufbaut. Zola ist der Autor, für den die soziale Verfassung der Masse zum bestimmenden Moment seiner Ästhetik wird. Er beschreibt ihr elendes Leben in seinem sozialkritischen Roman L 'Assommoir (1877), und er macht die Masse der streikenden Grubenarbeiter zum kollektiven Helden in seinem Roman Germinal (1885).93 Georg Lukäcs' dogmatisch-marxistische Ästhetik versucht schließlich im 20. Jahrhundert, eine verwissenschaftlichte Form von Typisierung zu begründen. Sein Ansatz ist jedoch ästhetisch konservativ: Er beruft sich auf den französischen Realismus eines Balzac, weil er in ihm die individualisierte Gestaltung des Typischen, die er anstrebt, vollendet sieht. Zolas Naturalismus verwirft er dagegen aufgrund seines deterministischen Menschenbildes. Erst recht lehnt er die modernen Avantgarden des 20. Jahrhunderts ab. In ihren
93
Beide Werke sind aus dem Zyklus Les Rougon-Macquart.
Individualisierende Darstellungsveifahren
51
neuen Formensprachen wird sowohl das traditionelle Menschenbild als auch das Ideal einer gestalteten Realität, die Lukäcs beide retten möchte, gründlich zertrümmert.
B.
Die Darstellung der Masse in ihrer bewegten kollektiven Erscheinungsgestalt
Die eigentliche Problematik der Massendarstellung läßt sich nun schärfer fassen: Es geht im engeren Sinne um die Masse in ihrer kollektiven Erscheinungsgestalt und um die Frage, mit welchen sprachlichen Bildern sie gestaltet werden kann und wie sie sich in ihrer komplexen Struktur innovativ in der Formensprache vor allem der erzählenden Literatur niederschlägt. Die Masse in ihrer kollektiven Erscheinungsgestalt ist immer auch eine bewegte Masse. Eine Masse oder Menge in vollständiger Ruhe oder Regungslosigkeit gibt es nicht. 1.
Exkurs: Das Darstellungsproblem in der Malerei
In der Malerei z.B. stellt sich das Problem der Darstellung einer Menschenmasse in besonders exponierter Weise. Der Eindruck des Massenhaften muB hier auf einen Blick entstehen. Die immanente Dialektik von Masse und Einzelnem, welche die Massenvorstellung ja entscheidend bestimmt, gibt sinnfälligerweise den Ausgangspunkt für das Darstellungsproblem vor: Die Masse kommt nur in dem Maße zum Tragen, in dem die Einzelnen, aus denen sie sich zusammensetzt, als Individuen verblassen und konturlos werden. An der Malerei läßt sich sehr deutlich demonstrieren, daß das ästhetische Ausdruckszeichen der Masse sich nicht ohne weiteres den (historisch) bestehenden Zeichensprachen integrieren läßt. Die »bildliche« Masse tilgt, wenn sie auf die Spitze getrieben wird, die Einzelnen aus. Diese Auslöschung hat etwas Entmenschlichendes; sie entspricht zumindest nicht dem humanistisch-bürgerlichen Menschenbild. Nicht von ungefähr scheitert in der französischen Revolution der Maler Jacques Louis David an der Aufgabe, eine bewegte Menschenmenge darzustellen, als er von der Nationalversammlung den Auftrag erhält, das Ereignis des Ballhausschwurs (20. Juni 1789) in einem angemessenen Gemälde festzuhalten. W. Kemp hat das Problem in der Abfolge der Arbeitsstufen und der Suche nach der richtigen Perspektive ausführlich dokumentiert. 94 David reduziert den Bildvorwurf schließlich auf das Relief von Individualgruppen, die er wie ein Kordon zwischen dem Betrachter (dessen Standpunkt
94
»Das Bild der Menge«, wie Anm. 55.
52
Das Darstellungsproblem
sich im deutlichen Abstand zur Menge befindet und ein wenig erhoben ist) und der sich im Hintergrund verwischenden Menschenmenge stellt. Das menschliche Antlitz einerseits, die innere Bezogenheit kleinerer Gruppen von Individuen, deren zahlenmäßige Größe in etwa der Familie entspricht, andererseits bestimmen die bürgerliche Ästhetik in der Folge Diderots. Der Jakobiner Georg Förster kritisiert beispielsweise zu gleicher Zeit in seinen Ansichten vom Niederrhein95 an einem Gemälde des »Jüngsten Gerichts« von Rubens die entindividualisierende Behandlung der beiden Menschenmengen, d.h. der Seligen und der Verdammten, die im Gemälde zwei gegenläufige Tendenzen von Steigenden und Fallenden bilden. Forster befremdet und ekelt die »dithyrambische(n) Wuth, die durch das Ganze strömt«; die »traubenähnlichen Gruppen von Menschen, die als ekelhaftes Gewürm in einander verschlungen, eine verworrene Masse von Gliedern« bildeten, stellten einen »kannibalischen Fleischmarkt« vor96. Hier soll aber nur die weitere Beschreibung interessieren: »Die Seligen drängen sich in regellosem Streben dicht zusammen, verschränken sich unter einander und mit den Engeln, und bilden eine Pyramide von Köpfen; nur die vordersten Figuren sieht man ganz bis auf die Zehen [...]. Die Verdammten hingegen fallen in der schrecklichsten Verwirrung und Unordnung.«97 Die besondere Kritik gilt aber interessanterweise der entstellenden Darstellung der Seligen, die eine »an sich sehr schöne, hier aber ganz unnatürliche Pyramidalgruppe bilden müssen, welche schon darum verwerflich ist, weil sie allen individuellen Ausdruck schwächt«98. »In diesem ganzen Keil von Menschen«, schreibt Forster weiter, »ist nur Eine Begierde, nur Ein Drängen und Streben hinauf zu gelangen. Vergebens sucht man hier, was diese sonst nur grausenvolle Scene des Gerichts dem Herzen eines Menschen näher zu bringen im Stande wäre [...]«. Er vermißt »eine rührende Beziehung«, »welche die Steigenden und Fallenden anders, als durch die Nebeneinanderstellung verbände«; der Betrachter könne weder Mitleid mit den Verdammten empfinden, noch fühle er sich gereizt, sich in die »Haufen« der Seligen »zu drängen«99. Forster bewertet das Bild vom bürgerlich-individuellen Standpunkt aus. Er beklagt im Grunde, daß hier als Masse ausgeführt ist, was eigentlich nur eine Ansammlung von Einzelnen darstellen dürfte: Denn jeder Einzelne ist selig bzw. verdammt.
95
96 97 98 99
Ansichten vom Niederrhein, von Brabant, Flandern, Holland, England und Frankreich, im April, Mai und Junius 1790(1190), in: Georg Forsters Werk, hrsg. von der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Bd. 9, bearbeitet von Gerhard Steiner, Berlin (DDR) 1958, S. 43ff. (mit einer Abbildung des besprochenen Gemäldes nach S. 48). Ebd., S. 44. Ebd., S. 47. Ebd., S. 48. Ebd., S. 48/49.
Die Darstellung der Masse in ihrer bewegten Erscheinungsgestalt
2.
53
Das Darstellungsproblem in der erzählenden Literatur
Die Literatur teilt mit der Malerei das grundsätzliche Darstellungsproblem, das in dem Spannungsverhältnis von Einzelnem und Masse begründet liegt. Ihre medienspezifischen Besonderheiten, die ihr seit Lessing bewußt sind, stellen die Aufgabe aber auf eine andere Weise: Sie kann die Masse nicht wie die Malerei oder Graphik in der räumlichen Zusammenschau, also auf einen Blick, zeigen. Dafür hat sie der Malerei voraus, daß sie die Vorstellung einer vielgliedrigen Menschenmenge oder eines Menschenstromes in der zeitlichen Sukzession des Erzählens entfalten kann. Erst der Film wird die beiden getrennten Möglichkeiten von Malerei und Literatur, also unmittelbare räumliche Vergegenwärtigung und zeitliche Tiefe, miteinander verbinden; er stellt sich damit als das synthetisierende Medium für die Darstellung der Masse dar. Die ersten literarischen Darstellungen der Masse gehen von einem Beobachterstandpunkt aus, der außerhalb der Masse (bzw. der Menge) liegt, diese wird also von außen wahrgenommen. Die schwierigste Aufgabe für die Literatur ist es, die Verhältnisse in der Menge zu gestalten, denn hier stößt sie an ein verschärftes Darstellungsproblem: die literarische Vergegenwärtigung von Gleichzeitigkeit. Es ist dies eine Aufgabe, die zu komplexen Raum/ZeitStrukturen führt, die nicht ohne weiteres mit den Möglichkeiten der traditionellen Literatur zu leisten sind und also auch nicht ohne weiteres an eine entsprechende Erfahrung und Rezeptionsgewohnheit des Lesers anknüpfen können.
a)
Die Stillstellung der Bewegung im Tableau. Eugene Sues Les Mystäres de Paris (1842/43)
W. Hempel hat in seiner bereits zitierten Untersuchung zum historischen Roman die Technik des Tableaus als ein Verfahren der Mengendarstellung aufgezeigt, das als ein modifiziertes Gegenstück zum literarischen Individualportrait zu sehen ist. Die von Hempel angeführten Beispiele machen deutlich, wie stark diese Technik einem charakterisierend-klassifizierenden Erzählschema unterworfen ist, das einer konventionellen Lesegewohnheit verbunden bleibt. Die Menge erscheint dem Leser zunächst in ihrem tableau des costumes, dann in ihrem tableau physique und schließlich ihrem tableau moral. Je nach Talent vermögen die Autoren das Schema abzuwandeln und mehr oder weniger durch psychologische Introspektion zu untermauern. Synthetisierte Charakterisierungen wechseln mit differenzierenden Einzelbeobachtungen, in Einzelfällen bewegt sich der Erzähler (mit dem Helden) durch eine (allerdings lose über den Landstrich verstreute) Menge, führt also eine bewegte Perspektive ein, der Eindruck einer bewegten Menge geht daraus aber nicht hervor. In seinem Feuilletonroman von 1842/43, Les Mystäres de Paris, beginnt Eugöne Sue die Beschreibung jener grotesk-bacchantischen Pöbelmenge, deren
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Das DarsteUungsproblem
schauerlicher Karneval einen Schlußstein der Pariser Handlung setzt, mit folgenden Worten: »II faudrait le pinceau de Callot, de Rembrandt ou de Goya pour rendre Γ aspect bizarre, hideux, presque fantastique, de cette multitude«.100 Die Literatur fühlt sich hier offenbar noch nicht in der Lage, mit der Malerei mitzuhalten. Wo Sue die Menge in ihrer kollektiven Gestalt beschreibt, wird die Erzählung stillgestellt zu einem Tableau, das dann der Reihe nach in schöner Klassifizierung nach Geschlecht und Alter, dann nach der Kleidung (von den schlechten Maskeraden bis zu den Lumpenfetzen) und schließlich nach der Schmutzigkeit und der Lasterhaftigkeit beschrieben wird. Die Straße in den grauen Morgenstunden ist derart verstopft, daß kein Durchkommen ist, denn eine ungeheuer dichte Menge ist zur Place de Grfeve unterwegs, um eine Hinrichtung zu sehen. Das Sujet erfordert eine Darstellung der Menge in ihrer gleichzeitigen Drängung und Bewegung, in das die einzelnen (dem Leser schon bekannten) Figuren der Unterwelt eingelassen sind. Sue gelingt es jedoch nicht, dies Ineinander der Binnenbewegungen und Binnenhandlungen im Strom101 der dichten Menschenmenge auch gestalthaft werden zu lassen. Er beschwört mehr, als daß er eine (plastische) Anschauung erzeugt. In der Technik des Tableaus stellt er im Grunde die komplexe Bewegung des Menschenstromes still und löst die Menge in eine Gruppenansicht, schließlich sogar in Einzelportraits auf.102 »Vielleicht hat der tägliche Anblick einer bewegten Menge einmal ein Schauspiel dargestellt, dem sich das Auge erst adaptieren mußte«, schreibt Walter Benjamin in einer Fußnote seiner Studie zu Baudelaire.103 Und an derselben Stelle mutmaßt er: »Das Verfahren der impressionistischen Malerei, das Bild im Tumult der Farbflecken einzuheimsen, wäre dann ein Reflex von Erfahrungen, die dem Auge eines Großstädters geläufig geworden sind.« Es geht in dem Zusammenhang also nicht um die Masse der Unterdrückten oder
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Sue: Les Mystires de Paris, wie Anm. 47, Bd. 4, Kap. III; Zitat S. 246. Tatsächlich greift Sue an dieser Stelle hilfsweise auf die Vorstellung des reißenden Stromes, des »torrent populaire«, zurück, die aber nicht zu einer konsistenten Metaphorik ausgebildet wird. Schon wenig später benutzt er das Bild des Morasts, das einen entgegengesetzten Bewegungswert hat (vgl. das entsprechende Zitat in Anm. 47). Sues schaurig-phantasmagorische Schilderung hebt eher auf die appellativ-emotionale Wirkung der Bildgehalte (hier vor allem die Ekelvorstellungen von Schmutz und Schlamm in Verbindung mit der asozialen Unterwelt des Pöbels) als auf eine realistische Schilderung ab. — Vgl. dagegen die weiter unten behandelten Beispiele einer produktiven Verwendung der Wassermetapher (S. 57ff.). Die ideologisch-metaphysischen Gehalte dieses Popularromans, der sich als ein sozialreformerisches Werk ausgibt und eine große Massenwirksamkeit entfaltet (teils sogar unter der Mitwirkung der Leser, die dem Autor Ergänzungen und Korrekturen unterbreiten, fortgeschrieben wird), können hier nicht ausgebreitet werden. Ich verweise auf die einschlägigen Ausführungen von Friedrich Engels und Karl Marx, die den Roman im 8. Kapitel ihrer Streitschrift Die Heilige Familie, einer polemischen Kritik unterzogen haben (MEW, Bd. 2, wie Anm. 18, S. 172ff.). Vgl. weiter zum Autor Jean-Louis Bory: Eugine Sue, Paris 1962. »Über einige Motive bei Baudelaire«, Gesammelte Schriften, Bd. 1/2, wie Anm. 51, S. 628.
Die Darstellung der Masse in ihrer bewegten Erscheirmngsgestalt
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Aufständischen, sondern um das Phänomen der Großstadtmenge. Benjamin selbst führt zwei — hier bereits genannte — paradigmatische Texte für diese Problematik an, die auch heute in der Forschung als Schlüsseltexte für die Veränderung der Wahrnehmung angesehen werden. Es sind einerseits E.T. A. Hoffmanns Erzählung »Des Vetters Eckfenster« von 1821/22 und andererseits Edgar Allan Poes »The Man of the Crowd« von 1840 (die Benjamin allerdings in der Übersetzung Baudelaires behandelt). Die Forschung hat Benjamins Ausführungen gerade zu diesen beiden Texten inzwischen in entscheidenden Stellen korrigiert. Erst die differenzierte Erforschung der Veränderung der Wahrnehmung im Zusammenspiel mit der technischen Entwicklung auf den verschiedenen Feldern der Gesellschaft läßt erkennen, welcher Stellenwert den beiden Texten zukommt. 104
b)
Fensterblick und Erzählerfokus in Ernst Theodor Amadeus Hoffmanns »Des Vetters Eckfenster« (1821/22)
Hoffmanns Text ist von zentraler Bedeutung, weil er das Problem der Erzählerperspektive und des Fokus, also die Einstellung des Blickes pointiert zu Bewußtsein bringt. Es geht darum, sich in das Sehen der Menge einzuüben. Und es ist dieses Grundproblem, das hier in erster Linie interessieren muß: Aus der entfernten Sicht des Fensters erscheint dem Besucher des »Vetters« (dem Ich-Erzähler) die Menge des Marktes, als »eine einzige, dicht zusammengedrängte Volksmasse«, die von Weitem »den Eindruck eines großen, vom Winde bewegten, hin und her wogenden Tulpenbeets« macht.105 Hoffmann wählt einen traditionellen Ort der Menge, den Wochenmarkt, in dem die Menschenansammlung, hier auf dem Berliner Gendarmenmarkt, als ein buntes Treiben erscheint. Unter der Anleitung des Vetters lernt der Besucher dann einzelnes zu unterscheiden. Er bedient sich dabei des technischen Mittels eines Fernglases, mit dem er Ausschnitte aus dem bunten Getriebe des Marktes >heranholen< und »vergrößern« kann. Schließlich kann er einzelne Leute aussondern und in ihren Bewegungen durch das Marktgedränge verfolgen. Der ans Bett gefesselte Vetter, der hier seinen Besucher initiiert, verfügt mit dem Fernglas über ein Mittel, das verwirrende Spiel der Menge, das sich dem bloßen Auge aus der Ferne bietet, in verschiedene Nahansichten aufzulösen — eine Möglichkeit, die einem Beobachter aus nächster Nähe mit seinem festen Standpunkt beispielsweise nicht offensteht. Aufgrund aber seiner regelmäßigen
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Ich beziehe mich im folgenden auf Hanno Möbius: »Ruhe und Bewegung: »Beobachtung« in Literatur und Wissenschaft im ProzeB der Technisierung des 19. Jahrhunderts«, der sich im umfassenden Überblick zur Wahmehmungsveränderung eingehend mit den beiden Texten auseinandersetzt (in: Literatur in einer industriellen Kultur, hrsg. v. Götz Großklaus u. Eberhard Lämmert, Stuttgart 1989, S. 431-44). Ernst Theodor Amadeus Hoffmann: »Des Vetters Eckfenster«, in: Gesammelte Werke, Textrevision und Anmerkungen von Hans-Joachim Kruse, Bd. 8, Berlin u. Weimar 1976, S. 444.
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Das
Darstellungsproblem
Beobachtungen im Takt des regelmäßig veranstalteten Wochenmarktes ist er darüber hinaus imstande, wie H. Möbius herausarbeitet, 106 zeitliche Rhythmen im Geschehen zu erkennen. Der Eindruck der Masse löst sich allerdings unter den Kenntnissen des Vetters wie unter seiner Fabulierungslust in einzelne Geschichten auf. c)
Die Gliederung der GroBstadtmenge durch den soziologisch ausdifferenzierenden Blick in Edgar Allan Poes »The Man of the Crowd« (1840)
20 Jahre später sitzt der Ich-Erzähler in Poes Erzählung107 in einem Caf6 der belebtesten Straße der Londoner Innenstadt und blickt durch die Scheibe, also aus unmittelbarer, horizontaler Nähe, auf den vorüberziehenden Passantenstrom. Auch er lernt, die Masse zu sehen: mit der Zeit vermag er Gleichförmigkeiten in der Kleidung und dem Verhalten am Fluß der Vorüberströmenden zu erkennen. Es sind keine individuellen Besonderheiten von Einzelpersonen, sondern schichtenspezifische Merkmale, die sich auf diese Weise zu einem Eindruck verfestigen. Als Ergebnis gibt der Ich-Erzähler ein soziologisches Profil der Menge nach ihrem äußeren Erscheinungbild. In einem zweiten Teil führt Poe den Leser auf den Fersen eines alten Mannes durch das Leben Londons, so daß schließlich im Rahmen eines Tages ein Querschnitt durch die Londoner Bevölkerung erschlossen wird, deren Zusammensetzung sich in der Zeit verändert.108 H. Möbius hat den alten Mann, dessen »Geheimnis« der Ich-Erzähler aufspüren will, als eine »Allegorie der Massenseele« interpretiert. Sie sei in ihrer Ruhelosigkeit als Antriebskraft der vielen Einzelnen zu denken. Der alte Mann ist der personifizierte »Umtrieb« der großstädtischen Menschenmenge Londons, die niemals zur Ruhe kommt. Er verkörpert die »Unruhe« des städtischen Lebens, das sich je nach den unterschiedlichen Rhythmen der Stadt im Verlauf des Tages und je nach den unterschiedlichen Ballungszonen im städtischen Raum steigert oder abflaut, immer aber pulsiert und niemals erstirbt. Mithin werden in der Erzählung die äußeren Merkmale der Menschenmenge getrennt von den inneren erforscht. Der Leser muß die soziologischen und psychologischen Ergebnisse dieser Analyse zusammenführen. Damit käme der Erzählung Poes eine herausragende Bedeutung zu: »Wir werden zum analytischen Blick und zur Synthese geführt.« 109 Auch in weiterer Hinsicht ist der Text für die moderne Massendarstellung zentral: »Der Blick Poes auf die äußeren Merkmale weist nicht nur
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108 109
H. Möbius: »Ruhe und Bewegung«, wie Anm. 104, S. 431f. Edgar Allan Poe: »The Man of the Crowd«, in: The Complete Works, hrsg. v. James A. Harrison; ich zitiere nach der 2. Auflage der Werkausgabe, Bd. 4, New York 1979, S. 134-45 (Textfassung von 1845). H. Möbius, »Ruhe und Bewegung«, wie Anm. 104, S. 433. H. Möbius, ebd., S. 434.
Die Darstellung der Masse in ihrer bewegten Erscheinungsgestalt
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auf ein soziologisches Interesse voraus, sondern — und das ist gleich wichtig — auch auf die Verselbständigung des Blickes von dem Bewegten zur Bewegung, zum >minuziösen< Beobachten von Gleichförmigkeiten, Rhythmen der Bewegung selbst.«110 Der Ich-Erzähler befindet sich als Beobachter zunächst außerhalb der Menge: Ihr Erscheinungsbild wird im Ausschnitt — sinnfällig durch die Fensterscheibe — beschrieben. Im folgenden begibt sich der erzählende Beobachter in die Menge selbst, indem er dem alten Mann folgt. Er beschreibt aber nicht die Menge, sondern den alten Mann, der die Unruhe des städtischen Lebens, den inneren Antrieb der Bewegung verkörpert. Als Beobachter hinter der Scheibe nimmt er zwar die Abfolge der Fluktuation wahr, aber als er sich auf den Fersen des alten Mannes in die Menge begibt, hat er noch nicht Teil am großstädtischen Rhythmus der Menge. Poe gliedert die Bewegung im ersten Teil seiner Erzählung, im zweiten Teil allegorisiert er sie in der Unruhe des alten Mannes. Die Bewegung der Menge im kollektiven und vielgestaltigen Zusammenhang, hier der Stadt, geht noch nicht in die Darstellung und in die Darstellungsweise ein. Es bedarf noch eines neuen analytischen Verhältnisses zur Zeit, damit die Darstellung der bewegten Masse selbst rhythmisch dynamisiert werden kann. Dieses neue Verhältnis zur Zeit wird zunächst auf literaturfremden Gebieten entwickelt, so z.B. in der Bewegungsphotographie, der Arbeits Wissenschaft und schließlich im Film.111 Die erzählende Literatur hat aber noch andere Mittel, den Bewegungsfluß der Menge zum Ausdruck zu bringen.
d)
Die Meeres- und Flußvorstellung als rhythmische Bewegungsfigur in Victor Hugos Notre-Dame de Paris (1831), Alfred de Vignys Stelle (1832) sowie Charles Dickens Barnaby Rudge (1841) und A Tale of Two Cities (1859)
Unter den Naturmetaphern nimmt die Wassermetaphorik eine herausragende Bedeutung für die Beschreibung bewegter Menschenmengen oder fluktuierender Massen ein. Sie vermag als Strukturmetapher Rhythmen und Bewegungszyklen zu erfassen und mit den Mitteln der Bildlichkeit eine Dynamisierung der »erzählten Masse« voranzutreiben. Später wird ein geschärftes Bewufitsein der Zeit und die absichtsvolle Gliederung der Erzählzeit den Rhythmus der Masse hervorbringen. Das Wasserbild ist eines der ältesten Mittel zur Beschreibung von Massenabläufen. Seine literarische Tradition läßt sich bis in die Antike zurückverfolgen.112 Auf den politischen Topos vom Volk als
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Ebd. Eingehender dazu H. Möbius, ebd. W. Hempel weist in einer Fußnote auf die Präsenz dieser Metaphorik in der Aeneis hin (vgl. Anm. 57, S. 111/12).
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Das
DarsteUungsproblem
Ozean wurde hier bereits eingegangen; er wird im Verlauf der Arbeit noch im Kontext der Metaphorik elementarer Naturgewalt zu behandeln sein (s. Kap. IV, S. 120ff. und 137ff.). Papst Gregor VII. hatte, wie gezeigt, zur Schilderung seiner Überwältigung durch das Durcheinander der Menge auf eine Überschwemmungsvorstellung im biblischen Kontext zurückgegriffen. Er hatte darüber ein (seltener beschriebenes) Erlebnis in der Menge, nämlich seine Verwirrung, zum Ausdruck gebracht. Der begeisterte Revolutionstourist Joachim Heinrich Campe sieht in der »ungeheuren, aus Menschen aller Stände, jeglichen Alters und beiderlei Geschlechts zusammengeflossenen Volksmasse« des revolutionären Paris einen »sanftwallenden [...] menschlichen Ozean(s)«, in den sich jeder »ungescheut und ohne alle Bedenklichkeit« hineinstürzen könne. Die negative Vorstellung vom aufrührerischen »Volkesozean« wird hier zu einem freiheitlichen Sinnbild egalitärer Mischung und sozialer Schrankenlosigkeit.113 Victor Hugo habe während seines Exils in Jersey der Poesie die Menge als einen neuen Gegenstand erschlossen, schreibt Walter Benjamin. »In seinen einsamen Spaziergängen an der Küste«, so führt Benjamin weiter aus, »gliederte« sich ihm dieser Gegenstand mit Hilfe von einer der »riesigen Antithesen, die seiner Inspiration unerläßlich waren«. Die Menge tritt bei Hugo als ein Gegenstand der Kontemplation in die Dichtung ein. Der brandende Ozean ist ihr Modell und der Denker, der diesem ewigen Schauspiel nachsinnt, ist der wahre Ergründer der Menge, in die er sich verliert wie ins Meeresrauschen. 114
Benjamins Beobachtung ist nur unter Einschränkungen zuzustimmen. Hugo selbst hat die ozeanische Metapher schon in seinem frühen Roman von 1831, und nicht erst in den späteren Gedichten, wie Benjamin es nahelegt, ausgebildet. Und sie ist hier bereits wesentlich differenzierter, als es Benjamin mit dem Modell des »brandenden Ozeans« vermerkt. Nach der Juli-Revolution von 1830 wird das Meeresbild von Hugo, Vigny und Dickens zur tragenden Metapher ausgeformt, mit deren Hilfe das großartige Schauspiel einer bewegten Menschenmenge geschildert wird. Sie ist zunächst mit einem Anblick der Menge von einem weit entfernten Beobachterstandpunkt aus verbunden. Doch hier schon verliert sich der Betrachter, der doch außerhalb der Menge steht, in den Sog ihres elementaren Flutens. Schließlich wandelt sich die Betrachtung von außen zur Kontemplation; die ozeanische Metapher wird zur großen Denkfigur, in der das Wesen der Masse ergründet werden soll.
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Joachim Heinrich Campe: Briefe aus Paris zur Zeit der Revolution geschrieben, reprographischer Druck der Ausgabe Braunschweig 1790, hrsg. v. Hans-Wolf Jäger, Hildesheim 1977, S. 30. Vgl. Brüggemann: »Aber schickt keinen Poeten nach London«, wie Anm. 69, S. 74ff. Benjamin, wie Anm. 51, S. 563. — Eine systematische Berücksichtigung der Poesie ist im Rahmen dieser Arbeit nicht zu leisten, da die Dichtung etwa in Rhythmus und Melodie über ganz andere Mittel der Massendarstellung verfügt, die hier nicht angemessen erörtert werden können.
Die Darstellung der Masse in ihrer bewegten Erscheinungsgestalt
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In Notre-Dame de Paris (1831) hat Victor Hugo die poetische Leistungskraft der Fluß- und Meeresmetaphorik für die rhythmisch-elementare Bewegung der Menschenmenge erwiesen. Von den Türmen der Kathedrale Notre-Dame erscheint dem Glöckner Quasimodo beispielsweise das nächtliche Heranziehen der asozialen Bewohner der »Cour des Miracles«, die sich anschicken, die Kathedrale zu erstürmen, als eine geheimnisvolle Wellenbewegung. Durch die extreme Distanz der Turmperspektive wird ein derart komprimierter Eindruck erreicht, daß die Menschenmenge nur noch in der Form ihrer Bewegung erscheint. Poe greift in seiner (behandelten) Erzählung von 1840 auf diese Vorstellung zurück, wenn er den Ich-Erzähler einer Sogwirkung aussetzt, die von dem erregenden Anblick eines »hoch aufgewühlten Ozeans aus Köpfen« ausgeht: »[...] the tumultuous sea of human heads filled me [...] with a delicious novelty of emotion. I gave up, at length, all care of things within the hotel, and became absorbed in contemplation of the scene without.«115 Anstelle der räumlichen Tiefe bei Hugo, die den wogenartigen Gesamteindruck erzeugt, bringt bei Poe die zeitliche Tiefe, nämlich das fortwährende Vorbeiziehen der Menge am festen Beobachterstandpunkt, die unruhig-wogende Bewegung hervor. Das Wasserbild spielt allerdings in seiner Erzählung nur eine untergeordnete Rolle. Alfred de Vigny verwendet in der dritten Episode von Stelle (1832), »Une histoire de la Terreur«, das Meeresbild im weiteren Umfeld der revolutionären Naturmetaphorik. 116 Am Höhepunkt dieser Geschichte, im Kapitel 35, das die Hinrichtung des unter der Schreckensherrschaft verfolgten Dichters Andre Ch6nier beschreibt, blickt der Ich-Erzähler aus dem Fenster seiner hoch gelegenen Wohnung an der Place de la Revolution abwechselnd mit dem Fernrohr und mit dem bloßen Auge auf den weitum mit einer dichten Menschenmasse angefüllten Hinrichtungsplatz. Unter dem flackernden Abendlicht eines düsteren Gewitterhimmels erscheint ihm mit bloßem Auge die unruhig bewegte Menschenmasse mit ihren schwarzen Hüten und roten Jakobinermützen wie ein mit Blut beflecktes Meer. (Es ist ein Hinweise darauf, daß sich die Masse trotz ihrer komprimierten Gesamterscheinung sozial und politisch konfliktuär zusammensetzt.) Das Stimmengewirr hört sich wie das Geräusch von Meereswogen an, ein Eindruck, der sich unter dem fernen Grollen des Donners noch verstärkt. Vigny erweitert das Meeresbild im folgenden zu einer umfassenden symbolischen Szenerie: Auf dem Meer der Masse bewegt sich der schwer beladene Hinrichtungskarren, dessen Insassen die Köpfe der Menschenmasse überragen, wie ein schwankendes Boot, das dem Kentern nahe ist. Der Wagen, der den Dichter Chdnier mit vielen anderen Verurteilten zur Guillotine fahren soll, wird von einer starken Eskorte aus Gendarmen und
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Poe: »The Man of the Crowd«, wie Anm. 107, S. 135. In Erdstößen und Sturmboen kündigt sich das kommende Ereignis an. Beide Motive werden hier aber nicht zu tragenden Metaphern ausgeformt.
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Das Darstellungsproblem
Sansculotten begleitet, deren Vordringen ebenfalls im Wasserbild beschrieben wird: »Un flot immense de peuple armi de piques enfon?a la vaste mer du peuple d6sarm6 de la place [...]«.117 Vigny bettet die Szene, die nur wenige Tage vor dem Sturz der Jakobiner spielt, in die beginnende kämpferische Auseinandersetzung zwischen Robespierristen und (später so genannten) Thermidorianern ein. Das Aufruhrbild des Meeres ist daher an dieser Stelle politisch positiv besetzt; in ihm drückt sich der (vom Erzähler erhoffte) Widerstand des »Volkes« gegen die Gewaltherrschaft des Schreckens aus. Der Ich-Erzähler wünscht, daß es der Masse gelingen möge, der bewaffneten Eskorte den Weg zum Schafott zu versperren. Am Schluß — so die desillusionierende, ironische Pointe der Passage — löst der einsetzende Regen die Widerstandskraft der Masse auf. Die »Wogen« sind geglättet; in dem nunmehr beruhigten Menschenmeer, in dem vor allem die Schaulustigen zurückgeblieben sind, erreicht der Wagen die Guillotine. Nur weil der Erzähler einen genügend weiten und hohen Abstand zum Geschehen hat, gewinnt er den komprimierten Eindruck, den er in das ozeanische Großbild übersetzt. Emotional ist er am Geschehen beteiligt und geht gleichsam mit der Masse mit. Er ist aber (da auch er politisch verfolgt wird) auf das bloße Sehen zurückgewiesen: »J'itais tout entier hors de ma fenetre, enivr6, 6tourdi par la grandeur du spectacle. [...] J'avais toute 1'äme et toute la vie dans les yeux.«118 Seine emotionale Aufmerksamkeit hat allerdings ein Zentrum, das auch der Schwerpunkt des Erzählabschnitts ist: den Hinrichtungskarren mit dem Dichter Chönier. Von seinem entfernten Standpunkt aus bliebe dieser aber optisch relativ klein, weil er von weitem nur als schwankendes Schiff in den kämpfenden Wogen des revolutionären Meeres auszumachen ist. Mithilfe des Fernrohrs eröffnet Vigny der Szene jedoch einen doppelten Blick. Wenn der Erzähler Einzelheiten auf dem Hinrichtungskarren unterscheiden will, nimmt er das Fernrohr zur Hand. Die Menge der Verurteilten auf dem Karren (insgesamt wird eine Zahl von 80 Personen genannt) beschreibt er in der behandelten zusammenfassend-klassifizierenden Technik des Tableaus als Kollektivportrait. Schließlich konzentriert er sich auf Andre Ch6nier, mit dem er sich innerlich vereinigt, während er dessen letzte Verse laut rezitiert: »Mon äme s'unit ä la sienne«.119 Das Fernrohr ermöglicht eine (kollektive, dann individuelle) >Vergrößerung< der Opfer, die sie erst als einzelne Menschen aus dem Kollektivgeschehen hervortreten läßt und die ihnen auch optisch die Bedeutung verleiht, die sie für die Masse haben. Doch das vergrößerte Einzelbild isoliert die Szene unvermeidlich aus dem gleichzeitigen Gesamtgeschehen. Wenn der Erzähler mit bloßem Auge aus dem Fenster
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Alfred de Vigny: CEuvres, hrsg. v. F. Baldensperger, Bd. I, Paris 1950 (Bibliothfeque de la Pliiade), S. 720. Ebd., S. 721. Ebd., S. 722.
Die Darstellung der Masse in ihrer bewegten Erscheinungsgestalt
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blickt, gewinnt er die großen Dimensionen des Ereignisses zurück, die von ihm mit Hilfe der Meeres-Metapher zu einem Gesamtbild verdichtet werden.120 In Barnaby Rudge (1841), einen Roman über die konfessionell motivierten Aufstände in London um 1780, bemüht Charles Dickens die Meeresmetaphorik, um das tiefgründige Geheimnis des Massenphänomens (hier das des Mobs) auf eine Formel zu bringen. A mob is usually a creature of very mysterious existence, particularly in a large city. Where it comes from or whither it goes, few men can tell. Assembling and dispersing with equal suddenness, it is as difficult to follow to its various sources as the sea itself; nor does the parallel stop here, for the ocean ist not mor fickle and uncertain, more terrible when roused, more unreasonable, or more cruel. 121
Hier wie in seinem Roman von 1859, A Tale of Two Cities, der in der Epoche der Französischen Revolution spielt, stellt das Meeresbild eine zentrale Metapher für die Beschreibung der Aufruhr- und Aufstandsbewegung dar. Teils dient es der konkreten Schilderung, wie sich die Masse in der Stadt ausbreitet, die Einzelnen mitreißt und alles überschwemmt, teils gibt es (wie im obigen Zitat) ein Denkbild vor, in welchem der Autor über das Massenphänomen sinniert. Darüber hinaus wird es aber auch als verselbständigtes Ausdruckszeichen für die entfesselte Gewalt der Volksmassen eingesetzt. »The sea of black and threatening waters, and of destructive upheaving of wave against wave, whose depths were yet unfathomed and whose forces were yet unknown. The remorseless sea of turbulently swaying shapes, voices of vengeance, and faces hardened in the furnaces of suffering until the touch of pity could make no mark on them«, so charakterisiert der Erzähler in A Tale of Two Cities die wild entfesselte Volksmasse des Faubourg Saint-Antoine, dessen Männer und
120
In den Kapiteln »Foule« und »Les Livres«, aus dem Erzählfragment »Daphni«, läßt Vigny eine symbolische Phantasmagoric der Masse entstehen, um — in einer Wetterführung der dialogischen Rahmenstruktur von Stello — das Verhältnis von Dichter und Masse zu erörtern. Vor allem in »Foule« ist die Szenerie sehr eng an die Atmosphäre der behandelten Massenszene aus Stello angelehnt. In »Les Livies« wird die ozeanische Metapher zum >Meer der Zeit< bzw. zum >Meer der Geschichte< ausgedehnt.
121
Charles Dickens: Bamaby Rudge. A Tale of the Riots of 'Eighty, introd. by Kathleen Tillotson, London (u.a.) 1954, S. 396. Deutsch von M. v. Schweinitz, unter dem gleichen Titel, München 1963. Ich verweise auf Volker Klotz, Die erzählte Stadt (wie Anm. 59), der ausführlicher auf die Wassermetaphorik bei Hugo und Dickem eingeht und weitere Literaturangaben gibt; zu Dickens S. 157f., zu Hugo S. 98ff. Vgl. auch S. 141f. zu Hugos Les Misirables. Die deutsche Übersetzung entnehme ich dem Anhang der Arbeit von Klotz (S. 545): »Ein Mob ist gewöhnlich ein Wesen von höchst geheimnisvoller Existenz, zumal in einer großen Stadt. Wenige können sagen, woher er kommt oder wohin er geht. Er sammelt und zerstreut sich mit gleicher Plötzlichkeit, und ihn zu seinen verschiedenen Quellen zu verfolgen ist ebenso schwierig wie beim Ozean; und damit ist die Parallele noch nicht zuende, denn der Ozean selbst ist nicht unsicherer und unbeständiger, nicht schrecklicher, wenn er aufgewühlt ist, nicht unvernünftiger noch grausamer.«
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Das Darstellungsproblem
Frauen soeben die Bastille erstürmt haben.122 Das Folgekapitel steht dann ganz lapidar unter der Überschrift »The Sea still Rises«, ohne daß die Wassermetaphorik in diesem Kapitel weiter bedeutsam würde; das Meeresbild begleitet die Handlung (ebenso wie der Sturm, aber auch das bereits erwähnte »Stricken«) als ein symbolisches Leitmotiv.123 Vor Dickens und Vigny hatte bereits Hugo in seinem Roman von 1831 die Volksmenge der mittelalterlichen Stadt Paris über die Wassermetaphorik als eine in sich differenzierte naturale Bewegungsgestalt zur Anschauung gebracht. Das Meeresbild erlaubt die Vorstellung der gegliederten Bewegungsvielfalt. Exzeptioneller Anlaß einer außerordentlichen Ballung der Volksmenge in der Stadt zu Beginn des Romans ist das Narrenfest am 6. Januar, an dem neben der Wahl des Narrenpapstes auch ein großes Spektakel, ein Mysterienspiel, im Justizpalast gegeben wird. Hugo zeichnet die Menge an dieser Stelle als ein ozeanisches Element, das mit seinem brodelnden und quirligen Leben die Stadt geradezu überschwemmt. Im Wechselspiel mit den architektonischen Gegebenheiten des Raumes wird die steinerne Landschaft der Stadt durch die Menschenmasse mit einer flutenden Bewegung erfüllt. Aber die Menschenmenge paßt sich auch ihrerseits den vorgegebenen städtischen Raumstrukturen an, denn letztlich bestimmen die vorgegebenen Straßen>kanäle< und >Mündungen< der Plätze über das Erscheinungsbild der Massenbewegung; ein Aspekt, der gegenüber der bisherigen Forschungsliteratur besonders zu pointieren ist. Stadt und Masse gehen daher in Hugos Roman des mittelalerlichen Paris eine phantastisch-groteske Synthese ein: [...] La place du Palais, encombrie de peuple, offrait au χ curieux des fenetres l'aspect d'une mer, dans laquelle cinq ou six rues, comme autant d'embouchures de fleuves, digorgeaient i chaque instant de nouveaux flots de tetes. Les ondes de cette foule, sans cesse grossies, se heurtaient aux angles des maisons qui s'avan?aient ςί et lä, comme autant de promontoires, dans le bassin iregulier de la place. Au centre de la haute facade gothique du palais, le grand escalier, sans reläche remonti et descendu par un double courant qui, apris s'etre brisi sous le perron interm£diaire, s'ipandait & larges vagues
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123
Charles Dickens: A Tale of Two Cities, introd. by John Shuckburgh, London (u.a.) 1958, Kap. 21, S. 209. Deutsche Übersetzung von Richard Zoozmann unter dem Titel Eine Geschichte zweier Städte, hrsg. v. Georg Seehase, Berlin (DDR) 1987 ( = Gesanunelte Werke in Einzelausgaben). — Die zitierte Stelle: »Die See der schwarzen, drohenden Wasser, in der Welle gegen Welle zerstörerisch aufstand, die See, deren Tiefen noch unausgelotet und deren Kräfte noch unbekannt waren. Die unbarmherzige See aus wild und haltlos schwankenden Gestalten, Rufen nach Rache und Gesichtern, die das Leiden in seinen Schmelzöfen gehärtet hatte, bis auch das Mitleid spurlos blieb an ihnen.« (Übersetzung S. Wohlfeil) Auch Flaubert stellt die revolutionäre Masse in seinem Roman L 'Education sentimentale (1869) mit Hilfe von Fluß- und Meeresvorstellungen dar. Der Bewegungsaspekt tritt bei ihm jedoch hinter einer kataklysmischen Gesamtgestaltung der Revolution zurück, wie sie ansatzweise auch schon bei Vigny, vor allem aber bei Dickens deutlich wurde. Auf Flauberts Revolutionsgestaltung wird daher im Zusammenhang der kataklysmischen Naturmetaphorik noch ausführlich zurückzukommen sein (vgl. weiter unten Kap. IV, Exkurs, S. 126ff.).
Die Darstellung der Masse in ihrer bewegten Erscheinungsgestalt
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sur les deux pentes latirales, le grand escalier, dis-je, ruisselait incessamment dans la place comme une cascade dans un lac. Les cris, les rires, le trdpignement de ces mille pieds faisaient un grand bruit et une grande clameur. De temps en temps cette clameur et ce bruit redoublaient, le courant qui poussait toute cette foule vers le grand escalier rebroussait, se troublait, tourbillonnait. 1 "
e)
Die Darstellung der Menge in ihrem Bewegungsfluß in Emile Zolas L'Assommoir (1885)
Im Gegensatz zu Hugos pittoresk-grotesker Ansicht der mittelalterlichen Stadt mit ihren Ansammlungen von Gaffern und der asozialen Unterwelt der Cour des Miracles sind die Rhythmen der modernen Stadt des 19. Jahrhunderts, wie sie Zola in seinem naturalistischen Roman des Pariser Milieus der Arbeiterund Handwerkerschichten, L'Assommoir, erfaßt, von der Zweiteilung — Arbeit und Freizeit — bestimmt. In seinem Roman finden sich daher die massierten Bewegungsströme von Arbeits- und Freizeitsmengen beschrieben. Sowohl eine neue dynamisierte Handhabung der Zeit als auch der hilfsweise Rückgriff auf die Bildkraft der Wassersymbolik prägen die Gestaltung fluktuierender Menschenströme in Zolas naturalistischem Großstadtroman. 125 Das Neuartige seines Darstellungsverfahrens erschließt sich erst im Kontext dieser Fragestellung, denn der Roman weist durchaus auch behäbige Muster der Behandlung des Massenthemas auf. Zolas Roman greift das Gestaltungsproblem eines rhythmisierten Passantenstromes, wie es sich schon bei Poe gestellt hat, auf und führt es erzähltechnisch weiter. Das soll im folgenden an einer exemplarischen Textstelle unter dieser verengten Fragestellung vorgestellt werden.
124
Hugo: Notre Dame de Paris, in: (Euvres complites, hrsg. v. J. Massin, Bd. IV/1 (1967), wie Anm. 19, S. 26/27. Ich verweise weiter auf die einschlägigen Ausführungen zur Stelle bei V. Klotz, Die erzählte Stadt, wie Anm. 59, aus dessen Anhang (S. 538/9) ich die folgende Übersetzung übernehme und als Lesehilfe biete; sie basiert auf der Übersetzung von E. v. Schorn: Notre Dame von Paris, Leipzig, 1958. »Der Platz vorm Palast, mit Volle überfüllt, bot den Neugierigen an den Fenstern den Anblick eines Meers, in das fünf oder sechs Straßen, wie ebensoviele Flußmündungen, jeden Augenblick neue Fluten von Köpfen ergossen. Die ständig anschwellenden Wogen dieser Menge brachen sich an den Häuserecken, die da und dort, gleich Gebirgsausläufern, in das unregelmäßige Becken des Platzes hineinragten. Über die große Treppe in der Mitte der hohen gotischen Kathedrale flöß ein doppelter Strom unaufhörlich hinauf und hinab; nachdem er sich an der zwischenliegenden Freitreppe gebrochen hatte, ergoß er sich in großen Wellen über ihre beiden seitlichen Abgänge. Diese große Treppe also rieselte ununterbrochen in den Platz wie ein Wasserfall in einen See. Das Geschrei, das Lachen, das Stampfen all dieser tausend Füße machten unerhörten Lärm und gewaltiges Getöse. Ab und zu schwoll dieses Getöse an — der Strom, der die Menge auf die große Treppe wälzte, flutete zurück, trübte sich, wurde unruhig, strudelte.«
125
E. Zola: L'Assommoir, in: (Euvres complites, hrsg. v. Henri Mitterand, IS Bde, Paris 1966-1970; Bd. 3 (1967), S. 599ff.
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Das Darstellungsproblem
Zu Beginn des Romans beobachtet die Protagonistin Gervaise, die (so die handlungsbestimmte Motivierung) in den frühen Morgenstunden einer durchwachten Nacht nach ihrem untreuen Lebensgefährten Ausschau hält, aus dem Fenster ihres (ärmlichen) Hotelzimmers im ersten Stock den morgendlichen Strom der Arbeiter, der sich von den Vorstädten durch die beiden Zollhäuschen der Stadtschranke, der Barriere Poissonntöre, hindurch nach Paris hinein ergießt: Es ist ein »flot ininterrompu«, eine »ununterbrochen wogende Flut von Menschen, Tieren und Schubkarren«, die über einen größeren Zeitraum hinweg, zunächst etwa ein bis zwei Stunden lang, von den Anhöhen des Montmartre und von La Chapelle herunterwallt. Immer wieder wendet sich Gervaise dieser flutenden Bewegung zu, an deren Anblick sie ihren Kummer, wie es im Text heißt, »betäuben« kann. Der gesamte in Phasen gegliederte Beobachtungszeitraum wird sich über drei Stunden erstrecken, nämlich von 5 bis 8 Uhr. Das Erwachen der Stadt wird zuerst als morgendliches Grollen hörbar, als »grondement matinal«, das hier an der Zollschranke als »piötinement de troupeau« plastisch wird: als das Stampfen und Getrappel der Menschenherde. Die Herdenmetapher, als eines (aus dem breiten Repertoire) der vom Autor bevorzugten Tierbilder, hat hier noch einen überschüssigen Sinn: Noch ist der Geruch gegenwärtig, der als düsteres Vorzeichen vom Schlachthaus herüberweht. Zunächst wird eine bemerkenswerte rhythmische Bewegungsform der Menschenmenge beschrieben, die Zola über die Metaphorik des Wassers erzeugt: »II y avait lä [...] une foule que de brusques arrets 6talaient en mares sur la chaussde«.126 Die plötzliche und (wie das Imparfait angibt) wiederkehrende Stauung führt zu einer Verdichtung des Menschenstromes, der sich (kurzfristig) breit über den Fahrdamm verteilt und »Lachen« bildet. Zola führt auf diese Weise auch den verdichteten Zusammenhang der Menge vor. Die Stelle ist für unsere weitere Untersuchung von Belang: Franz Jung wird 1921, aus vergleichbarer Perspektive, eine ganz ähnliche Bewegungsform beschreiben. Allerdings wird er sich dazu — und man kann dies gleichzeitig als eine Hommage an und eine Abgrenzung gegen das Vorbild verstehen — neuartiger Gestaltungsverfahren bedienen, welche auf eine radikale Versachlichung der Darstellung zielen. In Zolas Text schließt der kurze Blick aus dem Fenster dann schon wieder mit der gleichermaßen zusammenfassenden wie erläuternden Kennzeichnung, daß es Arbeiter auf dem Weg zur Arbeit sind, die hier in einem endlosen Zug vorbeimarschieren: »ihr Handwerkszeug auf dem Rücken, ihr Brot unter dem Arm«. Und noch einmal ist es eine Wassermetapher, die den Bewegungs/fo/0 als solchen zusammenhält und nun auf seine großflächige Bewegungs/ormW bringt: »et la cohue s'engouffrait dans Paris oü eile se noyait, continuellement«. Unablässig verschwimmen und versinken die Vorüberströmenden in dem »Gewühl«, das sich in den Abgrund von Paris hinabstürzt, dennoch besteht der Menschenstrom als solcher fort.
126
Zola: L'Assommoir, ebd., S. 603.
Die Darstellung der Masse in ihrer bewegten Erscheinungsgestalt
65
Nach einer unterbrechenden Nebenhandlung, die das Verstreichen der Zeit vergegenwärtigt, also indirekt die Dauer des Vorbeiströmens der Menschenmassen zum Ausdruck bringt, geht nun der zweite Blick Gervaises auf differenzierendes Beobachten aus. Mit einem einleitenden Satz nimmt der Text den unterbrochenen Faden auf. A la barriire, le piitineraent de troupeau continuait, dans le froid du matin. On reconnaissait les serruriers ä leurs bourgerons bleus, les mafons & leurs cottes blanches, les peintres ä leurs paletots, sous lesquels de longues blouses passaient. Cette foule, de loin, gardait un effacement plätreux, un ton neutre, oü le bleu diteint et le gris sale dominaient. Par moments, un ouvrier s'arretait court, rallumait sa pipe, tandis qu'autour de lui les autres marchaient toujours, sans un rire, sans une parole dite i un camarade, les joues terreuses, la face tendue vers Paris, qui, un & un, les d£vorait, par la rue b£ante du faubourg Poissonniire.127
Wurde die Bewegung zunächst durch die Wassermetaphorik vergegenwärtigt, so kommt nun die Bewegung des Menschenstromes implizit zum Ausdruck: im Verwischen der zuvor berufsmäßig klassifizierten Kleiderfarben zu vorherrschenden Farbtönen. Zolas Verfahren hält in der verwischten abstrakten Bewegungsspur überschüssige soziale Bedeutungselemente fest: Abgenutzheit und Grauschleier weisen auf die Armut hin. Diese erste nähere Einstellung auf den Menschenstrom ist durch einen doppelten Fokus bestimmt: Nach der differenzierenden Annäherung an einzelnes rückt der Blick gleichsam wieder ab, denn das Verschwimmen der Kleiderfarben wird »von weitem« gesehen. Im folgenden wird die Dimension der Zeit und das Moment der Relation zum gliedernden Prinzip. Ab und zu bleibt (irgend-)ein Arbeiter stehen, während die anderen an ihm vorüberziehen. Die so entstehenden Ruhepunkte treiben erst recht das Prinzip des Bewegungsflusses hervor. Neben der großen Bewegung, in dem durch den plötzlichen Rückstau breite Menschen»lachen« entstehen, wird jetzt auch die Binnenbewegung der Einzelnen im Verhältnis zueinander charakterisiert. Wie schon zuvor hält der Erzähler in der Bewegung noch einen soziologischen Befund fest: An den starren Gesichtern und der Reglosigkeit in den Gebärden zeigt sich die Anonymität, die in der Masse
127
Zola: L'Assommoir, ebd., S. 603/04. Ich gebe im folgenden die deutsche Übertragung von Gerhard Krüger: Der Totschläger, München 1975 ( = Die Rougon-Macquart. Natur- und Sozialgeschichte einer Familie unter dem Zweiten Kaiserreich, hrsg. v. Rita Schober, 20 Bde, 1974-1977, Bd. 7); hier S. 11: »An der Zollschranke ging das Herdengetrappel in der Morgenkälte weiter. Man erkannte die Schlosser an ihren blauen Jacken, die Maurer an ihren weiBen Leinenhosen und die Maler an ihren Überziehern, unter denen lange Kittel hervorsahen. Von weitem wahrte diese Menge eine gipsartige Verwischtheit, einen neutralen Ton, in dem verschossenes Blau und schmutziges Grau vorherrschten. Ab und zu blieb ein Arbeiter stehen und zündete seine Pfeife wieder an, während rings um ihn die anderen stets weitergingen ohne ein Lachen, ohne ein an einen Kumpel gerichtetes Wort, die Wangen erdfahl, das Gesicht hingestreckt nach Paris, das sie einen nach dem anderen durch die gähnende Rue du Faubourg-Poissonnifere verschlang.«
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Das Darstellungsproblem
herrscht. Schließlich wird das Schlußbild der vorausgegangenen Textstelle variiert: Die Gesamtbewegung wird zum Sog gebündelt: »einer nach dem anderen« werden die Menschen von Paris »verschlungen«. Implizit bleibt hier das Strömungsbild erhalten, aber der Bewegungsantrieb wird nun nach außen verlagert: in die Stadt, wo — und das ist als funktionales Raumverständnis mitzudenken — von den Werkstätten jene Saugbewegung ausgeht, welche die Arbeiter über den kanalisierenden Schlund der Straße nach Paris herabzieht. Die möglicherweise ursprünglich theologisch-religiöse Herkunft der Bildvorstellung aus dem »bösen Höllenschlund« soll hier nicht weiter verfolgt werden. Belangvoller ist in diesem Zusammenhang, daß das anthropomorphe Bild einen systematischen Strukturzusammenhang herstellt. Es ist dies ein Verfahren, das ebenfalls im späteren Text von Jung wiederkehrt und dort zu diskutieren sein wird. Mit der Beobachtung einer sich vom Hauptstrom der »Herde« abzweigenden Strömungsbewegung kommt der Erzähler zum eigentlichen Thema und Titel des Romans: zur Schnapsbude, im Arbeiterargot »Assommoir« genannt aufgrund der »umhauenden« Wirkung des starken geistigen Getränkes, das — wie es die Quintessenz des soziologisierend-moralisierenden Romans will — auch die Protagonistin unweigerlich zu Fall bringen wird. Cependant, aux deux coins de la rue des Poissonniers, it la porte des deux marchands de vin qui enlevaient leurs volets, des hommes ralentissaient le pas; et, avant d'entrer, ils restaient au bord du trottoir, avec des regards obliques sur Paris, les bras mous, dijä gagn£s ä une journie de flaue. Devant les comptoirs, des groupes s'offraient des toumies, s'oubliaient 14, debout, emplissant les salles, crachant, toussant, s'6claircissant la gorge ä coups de petits verres.12"
Mit diesem Gegenbild öffnet sich die Beschreibung zu einer regelrechten Fluktuationsbewegung. Der beobachtende Blick wird von einem Schwerpunkt innerhalb des Menschenstromes angezogen, der sich durch die Verlangsamung der Bewegung ergibt. Der Autor hat den Ort soziologisch präzise gewählt: Die beiden Kneipen sind an einer Straßenecke gelegen, weil sie so gleichzeitig die Kundschaft zweier Straßenzüge anlocken können. Zola kommt es hier nur auf den Bewegungsvorgang an, daher hat er die potentielle Kundschaft nicht weiter (etwa moralisch oder sozial) klassifiziert. Die Kneipen erweisen sich als ein Magnet, der einen Gegenpol zum Sog der Arbeitsstadt Paris darstellt. Die Männer fechten — wie sich dem Gebärdenspiel entnehmen läßt — noch einen
128
Zola: L'Assommoir, ebd., S. 604. »An den beiden Ecken der Rue des Poissonniers verlangsamten unterdessen an der Tflr der beiden Weinhändler, die ihre Fensterläden abnahmen, Männer den Schritt; und bevor sie eintraten, blieben sie mit schiefen Blicken auf Paris und schlaffen Armen am Rande des Bttrgersteiges stehen, schon gewonnen für einen Tag des Bummelns. Vor den Schanktischen spendierten sich Gruppen unter sich Lagen, vergaßen dort im Stehen die Zeit, füllten die Räume, spuckten, husteten und spülten sich mit hintergekippten Gläschen die Kehle.« (Der Totschläger, ebd., S. 11/12)
Die Darstellung der Masse in ihrer bewegten Erscheinungsgestalt
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kurzen, längst entschiedenen Scheinkampf aus. Der Blick geht dann ins Innere der Kneipen, offenbar durch große Fensterscheiben. Durch eine ebensolche Scheibe wird Gervaise an einer späteren Stelle des Romans aus dem Inneren einer dieser beiden Kneipen heraus auf den gehetzten Strom der Passanten zur Mittagszeit sehen. Nimmt der frühe Fensterblick, mit dem der Roman beginnt, die Perspektive der Vettern bei E.T.A. Hoffmann ein, mit einem wechselnden und vor allem wandernden Fokus (wenn auch ohne das Fernglas), so die spätere Stelle den gleichen Standort wie Poes Ich-Erzähler. Schließlich wird sich die Heldin gegen Ende des Romans mitten im Gedränge und Geschiebe des zurückflutenden Feierabendstromes der Arbeitermassen finden, in dem sie hinund hergestoßen wird. Zola setzt die Perspektive seiner Heldin ebenso wie die Tageszeiten symbolisch ein. Das stufenweise Absinken ihres perspektivischen Abstandes zur Menge auf der Straße ist Ausdruck ihres persönlichen Untergangs. Während Gervaise aus der Fensterperspektive am Romananfang noch eine gewisse Fallhöhe bewahrt, endet sie am Schluß buchstäblich in der Gosse. Verloren in der namenlosen Masse, sucht sie im Rinnstein nach dem verlorenen Bild ihrer Würde. Es ist die Dimension der Zeit, die auch am Schluß der zitierten Passage thematisch wird. Im Gegensatz zur anonymen Hektik, welche draußen herrscht, bietet die Kneipe eine künstliche Gegenwelt der Muße und Geselligkeit, die allerdings dem Alkohol als Mittel und Vermittelndem geschuldet ist. Die trinkenden Arbeiter versinken hier: »sie vergessen sich«, wie es wörtlich im Text heißt. Der Alkohol, als künstliche Lebenskraft, vernichtet die produktive Arbeitskraft, aus der heraus sich das gesellschaftliche Leben regeneriert. Zola zeigt das Fließen der Menge (das mit dem Verfließen der Zeit zusammenfällt) nun auf eine andere, implizite Weise, nämlich vom Raum her: Die beiden Kneipen — so der gemeinte Sachverhalt — füllen sich. Die >durchsichtigen< Kneipengehäuse zeigen den abzweigenden Fluß der Arbeitermenge an. Im Text wird dieser Sachverhalt umgekehrt herum formuliert: Die Gruppen, die sich gegenseitig an der Theke eine Runde spendieren, versinken da, stehend, den Raum ausfällend. Nach einer abermaligen Ablenkung der Protagonistin, die das Moment der Dauer wieder zur Geltung bringt, setzt Gervaise ihre Betrachtung der Menge um zwei weitere Stunden fort. Auch sie verliert sich in der Betrachtung des Bewegungsstromes. Es ist dann mittlerweile so viel Zeit vergangen, daß Veränderungsphasen in der Zusammensetzung der Menge sichtbar werden. Les boutiques s'itaient ouvertes. Le flot de blouses descendant des hauteurs avail cess6; et seuls quelques retardataires franchissaient la barriire ä grandes enjambdes. Chez les marchands de vin, les mSmes hommes, debout, continuaient ä boire, & tousser et ä cracher. Aux ouvriers avaient succ£d£ les ouvriires, les brunisseuses, les modistes, les fleuristes, se serrant dans leurs minces vitements, trottant le long des boulevards ext£rieurs; elles allaient par bandes de trois ou quatre, causaient vivement, avec de ligers rires et des regards luisants jet£s autour d'elles; de loin en loin, une, toute seule, maigre, l'air päle et sirieux, suivait le mur de l'octroi, en 6vitant les coulies d'ordures. Puis, les
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Das Danteilungsproblem employis 6taient passds [...]; des jeunes gens efflanqu6s, aux habits trop courts, aux yeux battus [...]; de petits vieux qui roulaient sur leurs pieds, la face bltme, us6e par les longues heures du bureau, regardant leur montre pour regier leur marche ä quelques secondes prts. 129
In einem soziologisierend-klassifizierenden Gestus werden die aufeinanderfolgenden sozialen Gruppen beschrieben: auf die Arbeiter, nachdem ihr Strom versiegt ist, folgen die Arbeiterinnen, auf diese die Angestellten. Sie werden jeweils in ihrem kollektiven Erscheinungsbild charakterisiert und entweder berufsbezogen oder altersmäßig weiter untergliedert. Bei den Arbeiterinnen herrscht ein kommunikativerer Umgang, denn sie gehen zumeist in kleinen plaudernden und lachenden Zweier- und Dreiergruppen. Die Angestellten sehen kraftlos und bleich aus; die Älteren haben die rationalisierte Zeit, der sie bei ihren Arbeitsvorgängen unterliegen, bereits verinnerlicht, denn sie regeln sogar ihren Gang nach der Uhr. Wieder werden in Gegenpolen Relationen gesetzt. Die Einzelgängerinnen, die hin und wieder zum Vorschein kommen, bestätigen die kommunikative Haupttendenz. Insbesondere aber wird der Phasencharakter innerhalb eines durchgängigen Bewegungs- und Lebensflusses zum Ausdruck gebracht: Die Nachzügler machen deutlich, daß die große Stoßzeit des frühen Arbeiterstromes bereits vorüber ist, ohne daß die Bewegung als solche gänzlich zur Ruhe käme oder der Raum in Menschenleere übergehen würde. Und die »gleichen Männer«, in der (gleichen) Kneipe mit ihrer stillgestellten Zeit, zeigen, daß sie den Anschluß an die Arbeitswelt endgültig verpaßt haben und außerhalb ihres gegliederten Zeitablaufes stehen. Verhalten deutet sich schon eine neue Phase an, die hier allerdings noch nicht zum Tragen kommt: Die Geschäfte haben aufgemacht. Es sind dieselben, die Gervaise um die Mittagszeit voll von wimmelnden Leuten sehen wird, als sie an der späteren Stelle des Romans durch die Glasscheibe der Kneipe schauen wird. Schließlich beruhigt sich das Viertel, auch diesmal ohne in Bewegungslosigkeit oder Unbelebtheit überzugehen. Andere Gruppen treten jetzt hervor:
129
Zola: L'Assommoir, ebd., S. 604/05. »Die Läden waren geöffnet worden. Die von den Anhöhen herabströmende Woge von [Arbeiter-]Kitteln hatte aufgehört, und nur ein paar Nachzügler passierten weit ausschreitend die Zollschranke. Bei den Weinschenken standen dieselben Männer und tranken, husteten und spuckten weiter. Den Arbeitern waren die Arbeiterinnen gefolgt, die Poliererinnen, die Modistinnen und die Blumenmacherinnen, die sich fest in ihre dünnen Kleidungsstücke hüllten und die äußeren Boulevards entlangtrippelten. Sie gingen in Gruppen zu dreien oder vieren, unterhielten sich lebhaft mit leichtem Lachen und in die Runde geworfenen blitzenden Blicken. Hin und wieder ging eine ganz allein, mager, mit blasser und ernster Miene, an der Zollmauer entlang, wobei sie dem Unrat in den Gossen auswich. Dann waren die Angestellten vorbeigekommen [...]: schmächtige junge Leute mit zu kurzen Anzügen und Rändern um die Augen [...], und kleine alte Männer, die mit bleichem, von den langen Bürostunden verbrauchtem Gesicht auf ihren Füßen hin und her schwankten und auf ihre Uhr sahen, um ihren Gang bis auf einige Sekunden genau zu regulieren. (Der Totschläger, ebd., S. 13)
Die Danteilung der Masse in ihrer bewegten Erscheimmgsgestalt
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Et les boulevards avaient pris leur paix du matin; les rentiers du voisinage se promenaient au soleil; les mires, en cheveux, en jupes sales, ber?aient dans leurs bras des enfants au maillot [...]; toute une marmaille mal mouchie, d£braill£e, se bousculait, se trainait par terre, au milieu de piaulement, de rires et de pleurs.130
An der erwähnten späteren Stelle (im völlig umgestalteten Paris 20 Jahre danach), als Gervaise in die Stoßzeit des Feierabendverkehrs gerät, wird Zola die zurückströmenden Arbeitermassen nicht mehr als eigenständigen Strom vergegenwärtigen, sondern als eine ruckartige Verdichtung der Passantenmenge, die ohnehin auf den Straßen und Boulevards fluktuiert. Auf die Behandlung der Zeit in den letzten beiden Textstellen ist noch einmal gesondert hinzuweisen: Zola beschreibt hier einen zweistündigen Vorgang im Wechsel von Plusquamperfekt und dem französischen imparfait, dem der Ausdruckswert von Dauer und Wiederholung zukommt. Er springt von einem raffenden Erzählverhalten, in dem die jeweiligen Durchlaufphasen als vollendete Vorgänge im Plusquamperfekt zusammenfaßt werden, auf eine Vergegenwärtigung der Dauer, in der das Vorüberziehen als solches im imparfait deutlich wird. Damit erreicht er eine dynamisierte Darstellung des gesamten Bewegungsablaufes, denn dieser erscheint weder im stillgestellten Tableau noch im langatmigen Nacheinander, sondern in pointierten Einzelphasen, die aus dem allgemeinen Bewegungsfluß herausragen. Die Erzählzeit wird bewußt (neben der Leitmotiv-Technik) als ein rhythmisierendes Mittel der Bewegungserzeugung eingesetzt.
f)
Zur Ausgangslage des Darstellungsproblems bei Carl Sternheim und Franz Jung
Die Avantgardekünste der Moderne arbeiten an einer weitergehenden Dynamisierung der Darstellungsform von Bewegung; in den abstrakten Ausdrucksformen wird versucht, die Bewegungsi/wr noch weiter von ihrer Gegenständlichkeit zu befreien. Seit im Futurismus die Bewegung als solche zum ästhetischen Programm erhoben wurde, wird in Deutschland vor allem im Expressionismus die rhythmische Bewegung nicht nur für die Darstellung des Einzelnen, sondern auch für die Gestaltung der Masse relevant. Gleichzeitig schärft sich der Blick für das differenzierte Funktionieren der Masse im Raum. Der Blick der künstlerischen Avantgarden auf die gegliederte Bewegung der Masse im Raum ist teils abstrahierend auf die Bewegung/ormen bezogen, teils ist er auf den GesamtZusammenhang der Masse in der Bewegung gerichtet und
130
Zola: L'Assommoir, ebd., S. 605. »Und die Boulevards hatten ihren Morgenfrieden wiedergewonnen. Die Rentiers aus der Nachbarschaft gingen in der Sonne spazieren, die Mütter, mit bloBem Kopf und in schmutzigen Röcken, wiegten in ihren Armen Wickelkinder [...], ein ganzer Schwärm zerlumpter, rotznäsiger Gören balgte sich, kroch unter Plärren, Lachen und Weinen auf der Erde herum.« (Der Totschläger, ebd., S. 14)
70
Das Darstellungsproblem
versucht, diesen über naturale, organische oder anthropomorphe Bildfiguren zum Ausdruck zu bringen. Zu dem sachlich-abstrakten Denken, das die Bewegungsanalyse forciert, kommt also auch ein (gegenläufiges) organischnaturales Moment. Es entsteht daraus eine Spannung, wie sie ja auch aus der expressionistischen Kunst, die teilweise beides miteinander vereint, bekannt ist. Möglicherweise — und das wird als wesentliches Ergebnis meiner Untersuchung aufzuzeigen sein — ist Franz Jung der erste (deutsche) Autor, der eine literarische Bewegungsstudie der Masse aus ihrem kollektiven Schwerpunkt heraus unternimmt. Auch die Massendarstellung Carl Sternheims ist rhythmisch dynamisiert, aber den Schwerpunkt der Bewegung setzt er in das (repräsentative und zugleich herausgehobene) Einzel-Ich.
Zweiter Teil
Die Darstellung der Masse in Carl Sternheims Europa und Franz Jungs Proletarier
IV. Masse und Ekstase. Carl Sternheims vitalistische Sicht auf Revolution und Reaktion in Europa (1919-1920)
Was nottut ist Individualismus! (Oscar Wilde) (Motto zu Sternheims Drama Oskar Wilde, 1925)
A.
Situierung und Stellenwert des Massensujets im Roman
1.
Europa als Epochendiskussion
Unter dem programmatischen Titel Europa erscheinen 1919 und 1920 die beiden Bände von Carl Sternheims einzigem Roman.131 Am Ausgang des Weltkriegs, der ihm als Symptom einer sich schon früher anbahnenden zivilisatorisch-kulturellen Fehlentwicklung gilt, nimmt der Autor hier eine Bestandsaufnahme der zeit- und geistesgeschichtlichen Entwicklung der letzten SO Jahre vor und setzt sich mit den verschiedenen europäischen Erneuerungsbestrebungen seit dem Ende des deutsch-französischen Krieges von 1870/71 auseinander. Es sind die künstlerischen, wissenschaftlichen, sozialen und politischen Strömungen dieser Jahre, die er in seiner an autobiographischen Bezügen überreichen Epochenschau verhandelt. Diese Strömungen münden, wie der Autor konstatieren muß und später im Roman festhalten wird, nicht in eine positive Neuorientierung der abendländischen Kultur, sondern in einen Zusammenbruch: den Weltkrieg. Die Kräfte des Fortschritts versagen, insbesondere die Sozialistische Internationale, auf der im Roman die größte
131
Der erste Band erschien 1919 in München im Musarion Verlag, der zweite 1920 im Mflnchener Kurt Wolff Verlag. (Noch im Erscheinungsjahr wurde auch der erste Band vom Kurt Wolff Verlag übernommen und in seine Buchreihe »Der europäische Roman« eingegliedert). Ich zitiere nach dem von Wilhelm Emrich (ab Bd. 8 unter Mitarbeit von Manfred Linke) besorgten Gesamtwerk, 10 [11] Bände, Neuwied, Berlin: Luchterhand, 1963—1976. Der Roman ist im 5. Bd. der Werkausgabe (Prosa II, 1964, S. 159-476) enthalten; die Belegstellen hieraus erscheinen mit den Seitenangaben in Klammern direkt im Text. Die übrigen Bände der Werkausgabe sind, soweit sie herangezogen werden, unter der Sigle GW — gefolgt von der Bandzahl (kursiv in arabischen Ziffern) und der Seitenzahl — ebf. direkt im Text zitiert.
74
Masse und Ekstase: Sternheims »Europa«
Erwartung ruht. Der nationale Taumel — er wird im vorletzten Kapitel, teils mit wörtlichen Zitaten, etwa aus Hauptmanns chauvinistischer Lyrik, dokumentiert — erfaßt in den verschiedenen Ländern sowohl die Massen als auch die Eliten. Er desavouiert die soziale Fortschrittsbewegung eines ganzen Jahrhunderts und macht den tatsächlichen geistigen Bankrott der Epoche offenbar. Sternheim selbst erleidet im August 1914 einen Nervenzusammenbruch als Reaktion auf den Kriegsausbruch.132 Der chronologisch fortschreitende Roman, der seine Erkundung um 1871 mit der Geburt der Titelheldin in Amsterdam beginnt, schließt mit dem Ausbruch und dem Scheitern einer revolutionären Erhebung in Den Haag. Er erreicht damit die Gegenwart seiner Entstehungszeit, die schwerpunktmäßig zwischen Januar 1919 und Februar 1920 liegt.133 Der holländische Aufstand ereignet sich unmittelbar nach der deutschen Novemberrevolution. Er wird als Teil einer revolutionären >Welle< charakterisiert, die in der Folge der russischen Oktoberrevolution den europäischen Kontinent am Kriegsende erfaßt und in »Vorboten« (468) den holländischen Regierungssitz erreicht. Begierig greifen die radikalen Fortschrittskräfte, verkörpert in der Titelheldin, diesen letzten Impuls eines erneuernden Umbruchs als einen Ausweg aus dem katastrophalen Zusammenbruch auf. Hier erst, am Romanschluß, stellt sich mit dem Revolutionsereignis auch das Phänomen der Masse als Darstellungsproblem, nachdem es bis zu diesem Punkt zwar als das beherrschende Thema der Epoche behandelt, reflektiert und diskutiert, nicht aber im eigentlichen Sinne gestaltet worden war. Erst das Sujet der revolutionären Ereignisse in Holland fordert den Autor des »bürgerlichen Heldenlebens« zu einer eingehenderen ästhetischen Auseinandersetzung mit dem Massenthema heraus. Die engere Textanalyse wird sich daher wesentlich auf das Schlußkapitel konzentrieren.
132
Es ist dies eine psychische Reaktion, die sich später bei ähnlichen Krisen noch wiederholen soll. Vgl. Manfred Linke: Carl Sternheim in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten (Reinbek 1979, S. 85f.), der hier den biographischen Hintergrund für das den Weltkrieg behandelnde vorletzte Kapitel des Romans skizziert.
133
Die eingeschobene Erzählung »Der Rheinländer«, vermutlich 1918 entstanden, ist 1919 gesondert erschienen und wurde erst später in den Roman eingefügt. Zur Entstehungsgeschichte verweise ich auf die Anmerkungen zum Roman in GW 5, 503-10 und GW 10/1, 1074. Vgl. auch die Chronik in GW 10/2, 1207ff., die auch Hinweise auf die Lektüre Stemheims während des Zeitraums gibt (z.B. Spenglers Der Untergang des Abendlandes während der Arbeit am zweiten Band). — 1931 hat Sternheim eine (fragmentarisch gebliebene) Überarbeitung der ersten Romanhälfte vorgenommen, die auf äußerste Verknappung ausgerichtet war, aber nicht die hier zu behandelnde Schlußszene betrifft (Abdruck in GW 10/1).
Der Stellenwert des Massensujets im Roman
2.
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Zum Romanschauplatz Den Haag. Der ereignisgeschichtliche Hintergrund der Revolutionsdarstellung
Daß Sternheim Den Haag für den Schluß seines Romans wählt, deckt sich insofern mit seinen biographischen Erfahrungen, als er (ähnlich wie seine Heldin im Roman) Ende Oktober 1918 von seinem Wohnsitz in Belgien (wohin er schon vor dem Weltkrieg einmal übergesiedelt war134) in die neutralen Niederlande übergewechselt war, um der gespannten Lage am Kriegsende in Belgien, wo sich der Haß gegen die deutschen Besatzer zu entladen drohte, zu entgehen: Hier in Holland erfährt er im November vom Ausbruch der deutschen Revolution, die er in einer Artikelserie, großteils im Haager Nieuwe Courant, publizistisch begleitet und schließlich in ihrem Scheitern >geistesgeschichtlich< analysiert.135 Historische Vorlage für Sternheims Revolutionsdarstellung ist jedoch nicht die deutsche Novemberrevolution, sondern ein gescheiterter sozialistischer Umsturzversuch in Holland. Darauf muß mit Nachdruck hingewiesen werden. Am 12. November 1918 verneint der sozialistische Arbeiterführer Pieter Jelles Troelstra (1860—1930), Mitbegründer der Sociaaldemocratische Arbeiderspartij in Nederland und ihr prominentester Vertreter im Parlament, die Einschätzung des rechten Flügels seiner Partei und ruft in der »Zweiten Kammer« die Revolution aus. Die Massenerhebung bleibt jedoch aus; die Regierung tritt nicht ab. Zutiefst erschrocken und alarmiert verbünden sich die bürgerlich-liberalen und kirchlichen Kräfte, die neben der sozialistischen Bewegung die beiden Hauptsäulen der holländischen Gesellschaft bilden, mit der Monarchie. Sie organisieren eine massive antirevolutionäre Gegenbewegung, auf die sich Sternheim in seinem Roman direkt bezieht. Entscheidend ist (auch für das Verständnis der Szene), daß sich diese Gegenbewegung großteils aus den Arbeitermassen rekrutiert: Die konfessionellen Verbände erweisen sich in Holland als maßgebliche Kraft, der es gelingt, die Arbeiterschaft mehrheitlich ins Lager der politischen Rechtsparteien einzubinden. Innerhalb von weniger als einer Woche ist die revolutionäre Bewegung abgedrängt. Troelstra (der sich in der Vergangenheit eher als ein gemäßigter
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1914 kommt Stemheim, der bereits 1912 nach Belgien übergesiedelt war, nach Deutschland zurück, um sich den Militärbehörden zu stellen (wird aber als untauglich zurückgestellt). 1916 kehrt er in das mittlerweile besetzte Belgien zurück, wo er mit der deutschen »Kriegskolonie« verkehrt und freundschaftliche Kontakte zu Carl Einstein und Gottfried Benn unterhält. Mit letzteren plant er 1917 (wie im Roman die Protagonistin mit ihrem sozialistischen Mitstreiter Doktor Rank) eine »Enzyklopädie zum Abbruch bürgerlicher Ideologie«, von der 1918 eine »Erste Seite« erscheint. Die Artikel bringen dem Verfasser den Verdacht des »Bolschewismus« bei der niederländischen Regierung ein. Im März 1919 sieht er sich gezwungen, das Land zu verlassen; er siedelt schließlich in Uttwil in der Schweiz. Die fünf Aufsätze wurden unter dem Titel »Die deutsche Revolution« zusammengefaBt und erschienen 1919 als geschlossener Komplex in einem Sonderheft der Aktion-, enthalten in GW 6, 71-86.
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»Europa«
Reformer gezeigt hat) muß sich eingestehen, daß er, angestachelt durch das russische Vorbild und die deutschen Revolutionsereignisse, im revolutionären Überschwang die tatsächlichen Machtverhältnisse in seinem Land völlig verkannt hat. Künftig werden die Sozialisten auf längere Zeit von der Regierungsverantwortung ausgeschlossen sein.136 Die Lokalisierung des Revolutionsausbruches in Holland hat ihr thematisches wie politisches Eigengewicht, auch wenn der Autor eine scheinbar zeitenthobene Darstellung gibt. Zwar scheitert auch in Deutschland die Errichtung einer sozialistischen Republik; aber der Umsturz fuhrt aus dem Kaiserreich heraus in eine Republik. In Holland dagegen (wo der abgesetzte deutsche Kaiser übrigens um Asyl anfragt und sein Exil finden wird) konsolidiert der fehlschlagende Revolutionsversuch auf Dauer die Monarchie. Auf der Folie der politischen Verhältnisse in Holland kann der Autor daher ein grundsätzlicheres Mißlingen des revolutionären Erneuerungsversuches zeigen, indem er die Revolution in ihr konservatives Gegenteil umkippen läßt. In einer sarkastischen Gegenszene, die der Revolutionsdarstellung unmittelbar folgt, gestaltet Sternheim die >Reinthronisierung< der Monarchie. In einer Folge also von zwei kontrapunktischen Massenszenen schlägt der revolutionäre Taumel, der die Stadt zunächst ergreift, in eine konservative Jubelfeier um. Die entfesselte Triebdynamik des Aufruhrs wird in einem Huldigungsritual für die Königin gebändigt und kanalisiert.
3.
Die Massenproblematik im Kontext der ästhetischen Besonderheiten des Romans
a)
Zur Einordnung des Autors
Die Zuordnung des schwer festzulegenden Autors ist in der Forschungsliteratur137 umstritten. Während Sternheim (1878—1942) sich selbst zumindest
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Überblicke zu Troelstra, der übrigens übrigens unter dem Namen Pieter Jelles ein bekannter friesischer Dichter war, bieten (in holländischer Sprache) das Biografisch woordenboek van Nederland (onder eindredactie van J. Chariti, 's-Gravenhage: Martinus Nijhoff, 1979, eerste deel, S. 590-94) und das Biografisch woordenboek van het socialisme en de arbeidersbeweging in Nederland (onder redactie van P.J. Meertens, Mies Campfens u.a., Amsterdam: Stichting tot beheer van materialen op het gebied van de sociale geschiedenis (IISG), 1986, deel 1, S. 133-37). Eine knappe Charakterisierung in deutscher Sprache gibt das Lexikon des Sozialismus (hrsg. v. Thomas Meyer, Karl-Heinz Klär u.a., Köln: Bund-Verlag, 1986, S. 683). Weiter verweise ich auf E. Hueting/ F. de Jong Edz./ R. Ney: ft moet, het is mijn roeping: een politieke biografie van Pieter Jelles Troelstra (Amsterdam 1981). — Zu den Revolutionsereignissen in Holland vgl. H. J. Scheffer: November 1918: Journaal van een revolutie die met doorging, Amsterdam 1971 [seitengleich mit der Erstausg. v. 1968].
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Einen Überblick über die Sekundärliteratur bis zum Beginn der 70er Jahre gibt das StemheimKompendium von Rudolf Billetta: Carl Sternheim — Werk, Weg, Wirkung, Wiesbaden 1975. Grundlegend bleibt die Arbeit von Wolfgang Wendler: Carl Sternheim. Weltvorstellung und
Der Stellenwert des Massensujets im Roman
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stilistisch zum Expressionismus zählt und zweifelsohne Einflufi auf die Herausbildung expressionistischer Stilmittel hat,138 ist seine umstandslose Zuordnung zu dieser Strömung (mit der er sich implizit in Europa kritisch auseinandersetzt) zweifelhaft. 139 Als widersprüchlicher Autor des »bürgerlichen Heldenlebens«, der die ästhetisch-vitale Selbstbehauptung seiner Bürgerhelden vertritt, dabei aber deren krude Verrenkungen in einer Weise aufdeckt, die ihn — wider Willen?140 — zum Satiriker macht, hat Irritationen ausgelöst. Gegen die vorschnelle Einschätzung Sternheims als Satiriker — eine Deutung, die dieser selbst für sich abgelehnt hatte — intervenierte in den 1960er Jahren Wilhelm Emrich als Herausgeber der Gesamtausgabe an exponierter Stelle. Sternheims Dichtung sei »weder durch >Satire< noch durch >herzlosen Zynismus< bestimmt, sondern durch den Willen, das Vorhandene wirklich zu >kennen< und >mit Inbrust zu liebenrevolutionäre< Umgestaltung der Gesellschaft vermuten läßt. Was er jedoch vor allem mit der revolutionären Bewegung teilt, ist die Kritik am — saturierten — Bürgertum. Im Grunde bekämpft er nicht so sehr das »Bürgertum« im Sinne einer Klasse, es ist vielmehr die spießig-materialistische Geisteshaltung der »Verbürgerlichung«, gegen die er seine Invektiven lanciert. Und es ist diese Haltung, die er nicht nur dem Bürgertum, sondern auch dem Proletariat nach dem 9. November zum Vorwurf macht und die er an den Pranger stellt. Letztendlich steht er einer »proletarischer Erneuerung der Gesellschaft skeptisch gegenüber. Im »Arbeiter« nämlich (so Sternheims
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So Winfried Georg Sebald: Carl Sternheim. Kritiker und Opfer der Wilhelminischen Ära (Stuttgart 1969), der Sternheims Sprache »schizoide Züge« (S. 86) unterstellt. Vgl. Ludwig Marcuse: »Bürger Sternheim«, in Blätter des deutschen Theaters, Jg. 11, Nr. 7, Berlin 1924, S. 50-51. S. auch Wolfgang Paulsen: »Carl Sternheim. Das Ende des Immoralismus«, in: Akzente, 3, 1956, S. 273-88, hier S. 278. Bernhard Diebold: »Sternheim der Grandseigneur«, in: ders: Anarchie im Drama, Frankfurt/M. 1921, S. 75-132. Enthalten in GW 6 (»Zeitkritik«, 1966).
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typisierende Ausdrucksweise für die organisierte Arbeiterbewegung) sieht er vor allem die Angleichung an den Bourgeois: »Mit seinen Ausbeutern war der Arbeiter durch gleiche Ziele am Geschäft, am Staat und seiner Macht interessiert und erhob sich, als der Krieg kam, mit ihnen zu seiner Rettung«, schreibt Sternheim im November 1918 in seinem vierten Aufsatz über die deutsche Revolution (GW 6, 80/81). Und schärfer noch heißt es in seiner essayistischen Abrechnung von 1920, Berlin oder Juste milieu, in der er sich (in einer für ihn typischen selbstgefälligen Weise) im (übrigens ungenauen) Selbstzitat auf den angeführten Artikel von 1918 bezieht: Als zum Erstaunen der ganzen Welt der drohend erhobene Arm des deutschen Arbeiters mit gelähmter Faust plötzlich in der Luft stehen blieb, schrieb ich [...] für den Haager Nieuwe Courant: »Seit Jahrzehnten sind Deutschlands Proletarier durch hohen Verdienst und Rentenhysterie eng den bürgerlich kapitalistischen Lebensbedingungen verschweißt und mit Überzeugungstreue gesellt.« (GW 6, 160) Der angesprochene Aufsatz von 1918 läßt in Grundzügen den Denkansatz erkennen, aus dem heraus Sternheim zu diesem vernichtenden Urteil kommt: D e m »deutsche[n] Arbeiter, der heute revolutioniert«, sei [...] nie und nirgends, in keinem Wort und keiner Geste seiner Führer eingefallen, die Methoden des deutschen Geschäfts selbst einmal auf ihren geistigen Inhalt zu prüfen, sondern er hat dieses Freibeutertum, das auf der kahlen, unmenschlichen Prämisse ruht, in möglichst verminderter Arbeit möglichst erhöhtes Arbeitsergebnis zu schaffen [...] einfach akzeptiert und nur zugesehen, für seine Person nach Kräften am Geschäft teilzunehmen und den Staat, der der bewaffnete Schutzengel des Ganzen war, mit zu beherrschen. Kein Führer beider Parteiteile der organisierten Arbeiter, der Regierungsund der unabhängigen Sozialisten, hat je daran gedacht, den deutschen Proletarier aus geistiger Verkalkung und der einzigen Absicht, seine Arbeitskraft im Sinn der höchsten Profitrate auszuschlachten, emporgehoben [sie., lies: emporzuheben]. (GW 6, 80/81) Die kulturrevolutionäre Programmatik, die Sternheim in diesen Jahren entwickelt, läßt sich in diesem Sinne als ein Umsturz der Bewußtseinsinhalte im Namen eines nunmehr »politisierten« Hedonismus charakterisieren. 147 »Hand w e g von Margarine!« lautet denn auch die »revolutionäre« Losung, die er den Arbeitern 1922 anzubieten hat. 148
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Burghard Dedner: »Zum Verhältnis von Politik und Ästhetik bei Carl Stemheim«, in: Carl Sternheim. Materialienbuch, hrsg. v. W. Wendler (wie Anm. 137), S. 164-88. Die Aktion (4.2. 1922), in GW 6, 227/8. »Margarine« — das meint nicht nur die falsche Bescheidung. Wesentlich ist, daB Margarine — im Gegensatz zu Butter in ihrer im Rhythmus der Jahreszeiten wechselnden Vielseitigkeit — selbst ein künstliches (und schlechteres) Produkt des industriellen Prozesses ist. »Hand weg von [der] Margarine«, meint also auch die Weigerung, die Arbeits- und Produktionsbedingungen mitzutragen, an deren Ende dann doch nur »Margarine« — und nicht Butter — stehen wird. Es ist dennoch kein Zufall, daB Sternheims hedonistisch-ästhetizistische Kritik vor allem die Seite der Konsumtion betont; einer vertieften Analyse, wie denn für alle »Butter« auf den Tisch gelangen kann, entzieht er sich.
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Erst 192S — also schon in der Phase der relativen Stabilisierung, mit der ein genereller Rückgang der (literarischen) Politisierung zu verzeichnen ist — kommt es zum Bruch mit seinen linkssozialistischen Freunden, als Sternheim sich in seinem Drama Oskar Wilde offen zum Individualismus bekennt. b)
Zur Anlage des Romans
Die grundsätzliche Problematik des Sternheimschen Ansatzes reicht in ihren verschiedenen Aspekten in die Interpretation des Europa-Romans hinein. Gleichwohl ist sie dort modifiziert, denn der Roman geht von einem geschichtlichen Scheitern aus, das er, vermittelt durch seine Protagonisten, analysiert. Die Figuren treten dabei sowohl als Kommentatoren der Zeitgeschichte als auch als Ausdruck bestimmter geistesgeschichtlicher Haltungen auf. Weil der Roman punktuell zwar handlungsbetont, zugleich aber diskursive Suche und Bestandaufnahme ist, weitet er sich stellenweise formal zum Essay aus. In anderen Partien aber schrumpft er als Epochenschau gelegentlich zur Chronik, die stellenweise sogar in einen Kulturfahrplan überzugehen droht. Kriterien wie formale Geschlossenheit, psychologische Kausalität und lineare Handlungsentfaltung sind unangebracht, weil sie die Eigenart des Sternheimschen Versuches nicht treffen. Die zeitgenössische Kritik hat vorwiegend negativ auf den Roman reagiert. Und die spätere Sternheim-Forschung, weitgehend im Banne einer inhaltsbezogenen Auseinandersetzung, die das Ästhetisch-Innovative nicht zur Kenntnis nimmt, hat sich kaum aus diesem negativen Vorverständnis herausbewegt.149 In seiner Besprechung von 1920 schreibt Max Krell:
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Hans Kaufmann (Krisen und Wandlungen der deutschen Literatur von Wedekind bis Feuchtwanger, Berlin (DDR), Weimar 1969 [1. Aufl. 1966], S. 347-50) und Fritz Hofmann (»Carl Sternheim. Sein Leben und Werk«, in: Carl Sternheim: Gedichte. Frühe Dramen, Gesammelte Werke, Berlin (DDR), Weimar 1968, S. 71-78), bewerten den Roman in ihren knappen Überblicksdarstellungen vor allem aus ideologisch-weltanschaulicher Sicht negativ, übersehen dabei aber (teils aufgrund konservativer ästhetischer Kriterien) die innovativen Momente, auf denen der Stellenwert des Romans im Umbruch zur Moderne beruht. Kaufmann, S. 349f.: »Die erzählerische Fiktion ist eine nur dflnne Hülle zeit- und ideologiegeschichtlicher Erörterung und Dokumentation. Dokumente, mit denen Sternheim zeittypische Erscheinungen (Hauptmanns chauvinistische Lyrik, die Erklärung der Dreiundneunzig zur Verteidigung des deutschen Militarismus) charakterisieren will, montiert er unabhängig von jeder erzählerischen Fiktion ein.« Europa sei zwar »ein Roman aus der Retorte«, aber im Hinblick auf die weitere Romanentwicklung dennoch »von bedeutendem Interesse«. — Eine vernichtende Kritik der »trivialen« Handlungsmuster gibt Sebald (wie Anm. 143; speziell zu Europa, Kap. IV, S. 98-113). Sein Beitrag ist insofern von Interesse, als er wider Willen die >modernen< Momente des Romans aufdeckt: die Rastlosigikeit der Heroine, das jagende Tempo des Erzählens, die »Collage« sind Sebald Ausdruck eines künstlerischen Unvermögens, das keine Entwicklung und gestaltete Zeit kenne. Fixiert auf seine These vom pathologischen Charakter des Sternheimschen (Euvre fragt er nicht nach den zeittypischen Voraussetzungen jener »Verdinglichung von Raum und Zeit«,
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Der Roman schneidet als Novelle ab, sobald er Handlung, Reise, Geschehen, Tat, Namen unmotorisch auffahren läßt; er läuft sich stumpf, wenn er Essays in. Abbreviaturen, Tagprobleme durchpflügend, historisch fundiert, mit Exzerpten witzig beklebt — zum Selbstzweck aufschreibt, aber die Dynamik in Mensch und Umstand ihnen verbietet.
Krell hält zwar das Experiment für eine »chemisch« mißlungene Synthese,
die sich ihm so stark am Text aufdrängt. Sebald: »Die von einem abnormal bedingten Bewußtsein selektierten Sachgehalte erscheinen von vornherein als Stereotype. Sie widersetzen sich dem künstlerischen Prinzip der Entwicklung. Anders als bei Proust und Kafka, die ihre jeweiligen psychologischen und soziologischen Restriktionen in der ethisch-ästhetischen Kompromifilosigkeit ihrer Kunst überwanden [...], gelingt es Sternheim nicht, die Klischees seiner individuellen Konstitution zu transformieren. Er kann sie nur anbieten, indem er ohnmächtig das Immergleiche variiert, indem er dem Prinzip der künstlerischen Entwicklung jenes mechanistischer Collage substituiert. [...] Raum und Zeit eines Kunstwerks werden durch eine derart häufige Verwendung solcher [im einzelnen aufgezeigten] einleitenden Phrasen verdinglicht und dem Gefühl entzogen wie in den Aufsätzen von Kindern oder in Schriftstücken Geisteskranker [...]. Rein formalistisch gibt Stemheim eine Entwicklung vor, die sich tatsächlich nirgends vollzieht [...]. Die Absenz einer inneren Evolution bewirkt aber, daßnoch nicht einmal das Ende der Protagonistin das Eis der Oberflächlichkeit zu durchbrechen vermag, denn ihr schlieBlicher Tod ist nichts anderes als das Eingeständnis der Totgeburt [...]« (S. 108/09). Damit hat Sebald — allerdings — eine zentrale Aussage des Romans erfaßt: Eine (positive) Entwicklung wird im Roman tatsächlich negiert. Schwächen des Romans zeigt auch Wilhelm Krull anhand der theoretischen Passagen auf (»Sozialpathologie des Kaiserreichs: Carl Sternheims Chronik von des zwanzigsten Jahrhunderts Beginn und Europa«. In: Ders.: Politische Prosa des Expressionismus, Frankfurt/M., Bern 1982, S. 177-210; speziell zum Roman: S. 198-210). In ihnen »kristallisiere« weder »eine adäquate Kritik ihres Gegenstandes noch eine klar umrissene Position der Figur« aus (S. 203); Krull erklärt die Inkonsistenz aus der zeitbedingten Unsicherheit des Autors heraus: »Der ambivalenten Struktur des Romans entspricht Sternheims zwiespältige Einstellung zur politischen Funktionalisierung der Literatur und seine zwischen Euphorie und Skepsis schwankende Einschätzung der Chancen revolutionärer Gesellschaftsveränderung.« (S. 209) Um eine Neubewertung bemüht ist der Aufsatz von Anke Weig, die eine eng am Text gehaltene (jedoch nicht immer genaue) Lektüre der sich gegenseitig relativierenden Positionen der Protagonisten unternimmt. Leider bleibt der Beitrag in einem moralisierend-psychologisierenden Gestus befangen, dem die eigene Einsicht in den völlig unpsychologischen Charakter des Romans widerspricht (»Carl Stemheim: Europa. Aktion oder Kontemplation«, in: Spiegel im dunklen Wort: Analysen zur Prosa des frühen 20. Jahrhunderts, hrsg. v. Hans Schumacher, Bd. 2, Frankfurt/M., Bern 1986, S. 193-230). Die Auseinandersetzung W. Wendlers mit dem Roman an den verschiedenen Stellen seiner weitgespannten Untersuchung von 1966 (vgl. Anm. 137) bleibt produktiv, weil sie (im Gegensatz zu allen anderen Näherungen) die Ebene des Ästhetischen erreicht. — Vgl. weiter Rhys W. Williams: »Carl Sternheim's Image of Marx and his Critique of the German Intellectual Tradition« (German Life and Letters, N.S. 32, 1978/79, S. 19-29), der zwei Quellen zu den theoretischen Passagen des Romans erschließt, sowie den sprachwissenschaftlichen Beitrag von Eberhard Iffland: »Carl Sternheim und die deutsche Syntax in seinem Roman Europa: Versuch einer syntaktischen Analyse« (Acta Universitatis Lodziensis, Folia Germanica, Ser. 1, H. 22, 1978, S. 71-89). Eine bei Billetta aufgeführte ungedruckte Arbeit, die den Roman im Zusammenhang mit dem übrigen Erzählwerk behandeln soll, war mir nicht zugänglich: Carla Quaglia: Carl Stemheim als Erzähler, Tesi di läurea, Universitä degli Studi di Venezia, 1970/71, 227 S. (Masch.).
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sieht aber gerade in diesem Scheitern den Bezug zur Zeitgeschichte: »Das Resultat, so sagen die Gewehre, ist: Alles bleibt beim Alten [...]«. lso Im Mittelpunkt des Romans steht das Liebespaar Europa Fuld und Carl Wundt, die sich beide gegenseitig in ihren jeweiligen geistesgeschichtlichen Entwicklungen und ihrem Weltverhältnis kommentieren und sich dabei aus ihren konträren Grundhaltungen heraus relativieren. Da nun aber beide Figuren, insbesondere in den theoretischen Passagen, offensichtlich Träger der kulturkritischen Ansichten ihres Autors sind, ihrerseits aber von Grundpositionen ausgehen, die miteinander unvereinbar sind und überdies, in letzter Konsequenz, nicht aus dem Dilemma der Epochenproblematik herauszuführen vermögen, entsteht für den Leser eine grundsätzliche Ratlosigkeit, wie der Roman eigentlich zu nehmen ist. Da die konträren Positionen im Roman nicht vermittelt werden, dürfen sie nicht künstlich eingeebnet werden.151 Das Buch muß wesentlich als Selbstklärung des Autors verstanden werden, der hier in seinen Protagonisten eigene Widersprüche in einen offenen Widerstreit zueinander treten läßt. Im Rahmen meiner Untersuchungsperspektive kann es kein vorrangiges Ziel sein, im einzelnen die theoretisch-essayistische Auseinandersetzung mit der Zeitgeschichte im Roman nachzuvollziehen und die jeweiligen vorgestellten >zeittypischen< Haltungen aus der Abstraktion des Romans heraus in den politisch-historischen und philosophisch-theoretischen Kontext zu überfuhren. Das ist — mit wenig Erfolg — versucht worden, wobei die im Roman vorherrschende geistesgeschichtliche Ebene zu einer einseitigen Perspektive verführt hat, welche die gleichwohl vorhandenen historischen Bezüge vernachlässigt.152 Im Zentrum dieser Arbeit steht die ästhetische Leistung der Massengestaltung, die nun allerdings auch im Kontext der ästhetischen und weltanschaulichen Prämissen des Autors zu reflektieren ist. Statt aber durch theoretische Vorgriffe die konkrete Textanalyse zu präjudizieren, gilt es vielmehr umgekehrt, aus den Ergebnissen der Interpretation heraus Sternheims ästhetischen
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»Romane 1920«, Die neue Rundschau, H. 2, 1920, S. 1413-22; zum Europa-Roman, den Krell in einen interessanten Zusammenhang mit der Verdrängung der Gattung durch den Essay bringt, S. 1413f. W. Wendler löst die antithetische Struktur, die er als Polarität von »Statik« und »Ekstase« faßt, letztendlich wieder auf, indem er die >statische< Position des Dichters Wundt zur gültigen Warte einer dadurch wieder einheitlich werdenden Sicht erhebt (Carl Sternheim. Weltvorstellung und Kunstprinzipien, 1966, wie Anm. 137, hier insbesondere S. 185-89). Einen Ausweg bietet W. Krall (wie Anm. 149), indem er vorschlägt, Sternheim — mit einer an Nietzsche angelehnten Formulierung — als »Schauspieler des Geistes« zu fassen, der mit mehreren Masken gleichzeitig operiert (S. 183 u. 198). So auch im Beitrag von A. Weig (wie Anm. 149). Nicht zufällig werden beispielsweise in keinem Beitrag zum Roman (s. ebf. Anm. 149) Schauplatz und historisches Ereignis des holländischen Novemberaufstandes ernst genommen. (A. Weig situiert die Schlußhandlung, auf die sie nicht näher eingeht, fälschlicherweise in Amsterdam.)
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Ansatz zu problematisieren. Im folgenden soll der Roman daher in seinen thematischen und ästhetischen Besonderheiten soweit entfaltet werden, wie es zur Herausarbeitung der Massenproblematik wesentlich ist. c)
Das herausgehobene Individuum als Standpunkt des Erzählers
Europa ist nicht durch einen Handlungsfortgang im eigentlichen Sinne bestimmt. Ein durchgehender Erzählstrang ist das schwierige Liebesverhältnis von Europa Fuld und Carl Wundt, die sich aufgrund ihrer entgegengesetzten Lebenshaltungen und politischen Anschauungen mehrmals von einander trennen und wieder zueinander streben. Durch diese Anlage wird der nur stellvertretende und symbolische Charakter der Handlung klar: Der Liebe fallt die schwierige Aufgabe zu, eine Vermittlung der Gegensätze zu versuchen. Die Handlung selbst bleibt dabei rudimentär. Sie ist kaum mehr als ein Vorwand für die ständigen Beobachtungen, Gedanken, Empfindungen und Diskussionen der Protagonisten, aus denen das Portrait der Epoche in seinen wesentlichen Zügen, Gegensätzen und Tendenzen sichtbar werden soll. Sternheim versucht, den gleichzeitigen Charakter des >Weltgeschehens< in seinen internationalen Verflechtungen zum Ausdruck zu bringen, dennoch aber auch Ordnungsmuster, Entwicklungstendenzen sichtbar zu machen. Daher entsteht eine Mischung aus Chronik und Kommentar. Zeitgeschehen und Kulturgeschichte erscheinen zugleich als »geistiges Erlebens denn die Figuren beobachten nicht nur, sondern reagieren auch intellektuell und emotional auf das Weltgeschehen. Die Zeitgeschichte wird also auf das Subjekt bezogen und in diesem Bezug auf das Subjekt verstanden vor allem in einem geistigseelischen Sinn. Nur umrissen bleibt dagegen, wie die Protagonisten als soziale Personen im gesellschaftlichen Leben stehen. Ein realhistorisches Bild der sozialen Triebkräfte der Epoche, ihres technisch-industriellen Zusammenhangs, der konkreten sozialen Lebensverhältnisse in ihr oder der Infrastruktur politischer Bewegungen vermittelt der Roman nicht. In ihrer materiell-sozialen Existenz, ihrer etwaigen Verstrickung in Ausbeutung und Herrschaft, bleiben die Protagonisten wesentlich unreflektiert. Sie selbst scheinen den unmittelbaren Zwängen, die das Leben der Millionen bestimmen, nicht ausgeliefert zu sein. Nur in ihrem geistig-seelischen Leben und Erleben werden sie von den Zeitläuften berührt. Den konkreten Erfahrungen können sie sich durch Unabhängigkeit, Mobilität und Vermögen auf eine souveräne Weise entziehen. Ihre politischen Entscheidungen sind »frei« und nicht durch materielle Not bestimmt. Insofern nähert sich der Roman dem Massenproblem — sozial, politisch und perspektivisch — vom Gegenpol des weit über die Masse erhobenen, selbstherrlichen Individuums aus an. Europa Fuld und Carl Wundt verkörpern zwei extreme Positionen der Zeit, weil sie unabhängig von Not, Durchschnitts Vorstellungen und Konventionen ihre spezifische eigene »Nuance« vollkommen ausprägen können. Es versteht sich, daß dieser elitäre Zug des Romans, der durchaus mit den seigneurialen Vorlieben seines Autors in
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Einklang steht, auf eine vehemente Ablehnung der linken Kritiker stoßen mußte. d)
Die Titelheldin
Im Zentrum steht die Titelheldin Europa Fuld, Tochter eines reichen Amsterdamer Kunsthändlers, kurz Eura genannt.153 Carl Wundt tritt mit Unterbrechungen an den entscheidenden Wendepunkten ihres Lebens auf. Sternheim hat die 1871 während des deutsch-französischen Friedensschlusses geborene Heroine, die ihren bedeutungsschweren Namen einer »pazifistischen Wallung« des Vaters verdankt, als exponierte Verkörperung der geistesgeschichtlichen Entwicklung des Kontinents entworfen. Der Lebensweg der reichen Erbin, die sich in verschiedenen Hauptstädten niederläet (vor allem in Berlin und Paris, vorübergehend in Brüssel und in Zwischenetappen in ihrem Geburtsort Amsterdam) und die auf Reisen die Grand Hotels weiterer Metropolen bezieht, ist die Folie, auf der — gleichsam aus der sozialen >Höhenlage< — ein kulturelles und politisches Psychogramm und Soziogramm der Epoche entfaltet werden soll. Eura ist durch Schönheit, Weiblichkeit, Kunstsinn, geistige Beweglichkeit, Lebensfreude und Vitalität ausgezeichnet, und sie ist zugleich reich. Sie hat Zugang zu den höchsten Errungenschaften von Kunst und Kultur, partizipiert am exquisiten Leben der höchsten Gesellschaftskreise und wird dennoch von einem ursprünglichen Lebensbezug bestimmt, von dem aus der Roman die Brücke zur politischen >Fronde< und zum sozialen Engagement schlagen kann. Die Heldin, in die der Autor zahlreiche eigene Züge und lebensexperimentelle Neigungen gelegt hat,154 hat nicht nur die Traditionslinien des abendländischen Denkens in sich aufgesogen, sondern nimmt auch die einander ablösenden neuen Tendenzen in der zeitgenössischen Kunst, Philosophie und Politik in sich auf. Sternheim hat in ihr eine Art weiblichen Zeitgeist verkörpert: Sensibel für zeitgemäße Strömungen und hochgradig anpassungsfähig, schließt sie sich den jeweils avanciertesten Erneuerungs- und Befreiungsideen an. Sie strebt dabei auf doppelte Weise die Umgestaltung der Gesellschaft an: Sie nimmt, weitgehend im Rahmen der sozialistischen Bewegung, für den sozialen Kampf der Arbeitermassen Partei. Gleichzeitig setzt sie sich als Frau, die auch persönlich vehement ihre sexuelle Befreiung aus der Trieb-»Mechanik« des Mannes betreibt, für die Emanzipation ihrer Geschlechtsgenossinnen ein. Das Thema des sozialen Kampfes überlagert sich
133 154
Sie wird hier im folgenden als Eura oder Eur(op)a geführt. Neben dem Judentum und dem damit verbundenen Assimilationskomplex sind es die autobiographischen Momente einer libertinären Durchgangsphase, der Luxus einer aristokratischen Lebensführung und nicht zuletzt der exquisite Bezug zur Kunst, die Sternheim, der Kunstsammler und Bankierssohn, der sich auf der Grundlage des Vermögens seiner Frau Thea die Lebensführung eines Schloßherrn leistet, auf seine Protagonistin überträgt.
Der Stellenwert des Massensujets im Roman
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mit dem des Geschlechterkampfes153; beide Stränge werden am Schluß des Romans in der Revolutionsszene zusammengeführt. Die Heldin versteht ihren sozial progressiven Impuls als spezifisch weiblich. Er sei imstande, aus der Kraft des Gefühls heraus die Schablonen und Verkrustungen einer sich in Prinzipien- und Zieldiskussionen verrennenden >männlichen< Kultur aufzulösen. Im entscheidenden Augenblick aber, 1914, bleibt der politische Impuls der Frauen ebenso wie der der Sozialisten aus. Im Wortlaut heißt es an der entsprechenden Stelle, die zugleich eine erste Probe der eigenwilligen Diktion Sternheims geben mag: Nachdem gegen den Ausbeuter im historischen Moment der Arbeiter versagt, Befehlen seiner Repräsentanten sich begeistert gefügt hatte, am Boden kroch, Arsch leckte und Gewehr schulterte, schrie, in Stunde der Gefahr lasse er das Vaterland nicht im Stich, als sechsunddreiBig Millionen mobilisierte Proletarier, die man im Weigerungsfall nicht hätte an die Wand knallen können, auf Parlamentsbefehle marschierten, war Eura nicht überrascht, daB auch die Frauen gegen solchen Ausbruch ursprünglicher Barbarei nichts mehr vermochten oder nichts unternehmen wollten. (4S3/4)
Eura, die zunächst als junge Frau im Berlin der späten 1890er Jahre politische Versammlungen der Sozialdemokratie besucht, in die Partei eintritt und sich einer oppositionellen linksradikalen Gruppierung innerhalb der SPD anschließt, wird — nach der Gegenphase einer luxuriös-libertären Existenz als Lebedame, in der sie sich hemmungslos und rücksichtslos auslebt — ihre Tatkraft und ihren Reichtum gänzlich in den Dienst des sozialen Fortschritts stellen. Sie gründet ein Institut für sozialwissenschaftliche Forschung, arbeitet — mit einer weiteren Hauptfigur des Romans, dem erst in der Spätphase auftretenden Doktor Rank156 — an sozialreformerischen Plänen wie dem Achtstundentag, setzt ihre Mittel zur Bekämpfung der Massenarmut ein, >sponsort< mit ihrem Vermögen fortschrittliche Kräfte und läßt aufklärerische Schriften drucken. All diese Handlungsmomente werden erwähnt, aber nicht eigens ausgeführt. Daher bleiben auch die großen Themen — soziale Frage, Fortschritt, Arbeitermassen und Sozialismus — auf eine eigentümliche Weise abstrakt und blaß, obgleich die Protagonistin direkt mit der Arbeiterbewegung (so in Berlin kurz vor ihrem 26. Geburtstag; Kap. IV) oder dem Phänomen der Massenarmut (so in Brüssel, wo sie nach der Jahrhundertwende u.a. Asyle für schwangere Mädchen aufsucht; Kap. XV) in Berührung kommt oder etwa vor dem Ersten Weltkrieg »in demonstrierenden Öffentlichkeiten sichtbarer« wird (wie es in 155
156
»Gegenüber dem Versagen des Mannes war mir das Schicksal des Weibs interessant«, schreibt Sternheim 1920 in einem offenen Brief an Kasimir Edschmid über seinen Roman (vgl. GW 5, 507). Mit der Figur des Doktor Rank (der Züge des sich zur Entstehungszeit des Romans bereits von Sternheim abwendenden Freundes Franz Blei trägt) spaltet Sternheim die sozialistische Haltung der Heroine durch eine weitere Variante auf. Sternheim überträgt ihm im Roman sein eigenes Projekt einer »Enzyklopädie zum Abbruch bürgerlicher Ideologie« (vgl. Anm. 134).
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Masse und Ekstase: Stemheims »Europa«
einer typisch gerafften Form in Kap. XX heißt). Auf ähnliche Weise werden die Arbeit, die Unterdrückung, die Frauenfrage, das Volk, das Elend, die Massenmentalität, die russische Revolution (1917), der Marxismus, der Kapitalismus, der Imperialismus u.ä. thematisiert, ohne daß die Begriffe spezifisch inhaltlich gefüllt würden oder gar die sozialen Kämpfe der Epoche in das Erzählgeschehen hineinreichten (so der Massenstreik, der Feminismus als Bewegung, die großen Wahlrechtsdemonstrationen). Von einer im engeren Sinne »politischen« Auseinandersetzung kann keine Rede sein. Angeschnitten wird zum Beispiel der Taylorismus, und zwar als eine drohende Verschlechterung der Arbeitssituation. Hochgehalten wird das Prinzip der Produktivität. Aber der (industrielle) Arbeitsprozeß selbst, als ein entscheidender Faktor der modernen Massengesellschaft, rückt (wie die Fabrik oder die tatsächlich arbeitenden Massen) gar nicht in den Blick. Sternheim wählt weder die Ebene »realistischen Beschreibung noch die Ebene theoretisch-analytischer Erörterung, um die Epoche und ihre politischen Themen zu gestalten. Die Zeitgeschichte wird vielmehr in geistesgeschichtlichen und vitalistischen Vorstellungsmustern erfaßt. e)
Individualismus und Kollektivismus
Da Sternheim den Roman aus der Perspektive eines Erzählers konzipiert, der vom Individuum ausgeht, geht es im Roman nicht eigentlich um das Phänomen der Masse, sondern um paradigmatische Haltungen von Individuen zu dem von der Massenfrage beherrschten Zeitgeschehen. Eura und ihr Geliebter Carl Wundt verkörpern antipodisch die Haltungen von Kollektivismus und Individualismus, deren zentraler Gegensatz auch den Hintergrund für die zu behandelnde Schlußpartie des Romans abgibt. Euras Lebenselement ist das der Zeitgenossenschaft: In der hemmungslosen Hingabe an die Gegenwart erlangt sie die gesteigerte Ausdrucksform ihrer Existenz. Sie gewinnt ihre Lebensdichte aus der Veräußerung ihres eigenen Ichs und wird zur Vertreterin des Kollektivismus. Sie übersteigert dabei den Konformismus auf eine paradoxe Weise, indem sie sich zum markantesten Ausdruck des jeweils Konformen macht. Diese Grundvoraussetzung ihres Charakters, der in einer forcierten Assimilation den unbedingten Anschluß an das kollektive Zeitgeschehen will, bildet sich schließlich im Rahmen ihres sozialistischen Engagement zu einer Haltung des politischen Kollektivismus und Aktionismus aus. Am Schluß des Romans löst sie ihr Bekenntnis unmittelbar ein, indem sie sich als sozialistische Agitatorin mitten in das revolutionäre Kampfgetümmel begibt. Sie wird zur Masse — aber als deren exponierteste Verkörperung. Mit der Figur ihres Freundes, des >an der Zeit kranken< Dichters Carl Wundt, hat ihr der Autor antipodisch eine nonkonformistische, eine Haltung des >Geistes< gegenübergestellt. Carl Wundt, der als Dichter Carl Sternheims
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literarisches Credo vertritt,157 sich wie dieser auf Flauberts Programm der impassibiliti bezieht, verkörpert eine Position des konsequenten Individualismus und Ästhetizismus, die sich schließlich zu einer fundamentalen Kritik am abendländischen Denken überhaupt radikalisiert. Sternheim hat die Symptome seiner erwähnten eigenen Nervenkrise (s. oben S. 74) auf die Figur Carl Wundt transponiert und diese damit zu einem Symbol der sich anbahnenden Epochenkrise gemacht. Im Roman befällt die Krankheit den Dichter um 1904 vor dem Hintergrund diffuser Kriegsgerüchte und anläßlich einer Diskussion mit Eura über Masse, Massenmentalität und soziales Engagement. Nachdem sich das kontroverse Paar gerade erst anläßlich der Geburt der gemeinsamen Tochter wiedergefunden hat, macht Eura deutlich, daß sie Sozialismus und Klassenkampf über die Liebesbeziehung stellt: [...] Volk gälte es überall! Und sie wolle es bald in Deutschland Wiedersehen. Carl erblaßte, wurde so totenbleich, daß Eura erschrak und ergriffen fragte, was er hätte. Aber er antwortete nicht, denn würgender Ekel war geistig Ober die Metapher: Volk! Er muBte sich fiebernd zu Bette legen, und eiterndes Geschwür brach in Pusteln aus seinem Leib [...]. Elementar wiederholten sich Anfälle. Schon bei des allmächtigen Denkens Vorstellung überschwemmte ihn Übelkeit, die erst nach neuen Eruptionen sich minderte. Sprachlos pflegte sie ihn, weil sie begriff, Wort sogar widere ihn an [...]. (419f.)
Sternheim greift hier eine kataklysmische Metaphorik auf, die in der Revolutionsdarstellung wiederkehren wird. Neben der Eruption und der überschwemmenden Flut greift bereits eine weitere Naturgewalt in das Geschehen ein: Aber dann blies Wind kalt, kamen von auBenher heutige Gerüche, nicht mißzuverstehender Laut, und kraB kannten sie ihr anderes, zeitliches, unentrinnbares Schicksal. (421)
Der »Sturm« trennt hier, wie auch in der späteren Revolutionsszene, das Liebespaar. Während Eura zu einem internationalen sozialistischen Kongreß nach Bern fährt, verläßt Carl, der Sohn eines deutschen Ingenieurs und einer Afghanin, mit der gemeinsamen Tochter Adirah den europäischen Kontinent. Eura dagegen wird schon an einer sehr frühen Stelle des Zweiten Buches über die Metaphorik des Wassers und des Strudels charakterisiert: Wieder wurde ihre ursprüngliche Einstellung, daß Intensität und Willensgrad in Handlungen sie mehr als Ziele bestimmen und begeistern konnten, entscheidend, und von neuem kam sie über Klippen des erkannten und von ihr zu erlebenden Gegensatzes durch den vitalen Elan hinweg, mit dem sie kopfüber sich in die Katarakte des um sie geschehenden Lebens warf.
157
Die Teilidentifikation mit Carl Wundt, der auch den Vornamen des Autors trägt, wird schon darin greifbar, daß der Dichter Wundt im Roman als Verfasser von Werken auftritt, die authentische Titel von Stemheim sind.
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Masse und Ekstase: Stemheims »Europa« Und in ihnen um so höher sprang, je unsicherer noch Zurechtfinden war, indem von Stufe zu Stufe sich schleudernd, die Gischthöhe einer Woge sie bestimmte, sich ihr anzuvertrauen, da sie wohl Strudelgewalt in ihr, doch nicht das Fallvermögen schätzen konnte. (239)
Es ist dies ein Bild, daß in der späteren Szene unmittelbar, nun aber in den revolutionären Kontext eingebunden, umgesetzt erscheint. Sternheim verknüpft auch auf der bildlichen Ebene die verschiedenen Teile seines Romans. Kurz vor dem Ausbruch der Revolution kehrt Carl aus seinem >zivilisationsfreien< außereuropäischen Idyll (auf Java) zurück, um Eura vor eine letzte Alternative zu stellen. Unmittelbar vor der entscheidenden Szene, in der sich Eura in die Revolution stürzt und sich damit gegen ihn entscheidet, kritisiert er noch einmal fundamental die abendländische Zivilisation. Von seiner Warte aus erscheint auch Euras Revolutionsideal abendländischen Denkmustern immanent. Die Revolution (und gemeint ist im engeren Sinne die Diktatur des Proletariats) liefe auf dieselbe Verrechnung des Menschen in seine materiellen Gegebenheiten hinaus, wie sie dem Kapitalismus eigen sei. Kapitalismus und sozialistischer Klassenkampf seien gleichermaßen vom »Willen zur Macht« bestimmt. Gegen diese vitalistische Devise, die das abendländische Denken mit einem Schlüsselbegriff Nietzsches charakterisiert, setzt Wundt eine alternative Losung, die aber ebenfalls dem lebensphilosophischen Kontext eingebunden bleibt: Wundt strebt keine expansive Machtentfaltung an, er will zugleich bescheidener, vor allem aber herrschaftsfrei »zum Trieb reinen Lebens hin« (470). Die Kategorien, mit denen die Protagonisten die gesellschaftliche Realität und ihre weltanschaulichen Zielvorstellungen beschreiben, die Bilder, in denen der Autor Figuren und Handlung gestaltet, sind nicht dem Bereich politischer oder ökonomischer Theorie entlehnt. Sie sind vielmehr der zeitgenössischen Kulturkritik entlehnt, wie sie sich unter den vitalistischen und lebensphilosophischen Einflüssen Nietzsches, Bergsons (dessen »61an vital« dem zitierten Strudelbild zugrunde liegt) und Simmeis ausprägte. Sie greifen überdies die literarische und ästhetische Aufbruchstimmung des Expressionismus auf, die Sternheim vor allem in seiner Heldin verkörpert hat. Wundt gibt noch eine weitere Losung in diesem Zusammenhang: »Wegbruch von Zwangsvorstellungen zur Beziehungsfreiheit!« (ebd.) Das zielt gegen jegliche Art von Bevormundung, sei sie staatlicher, moralischer oder ideologischer Art. Konsequenz daraus ist die Enthaltung von jeglicher eigener Einwirkung auf die Zeitgeschichte und von jeglicher Mobilisierung der Massen für ein bestimmtes Ziel: »Das wäre Regisseur [...] wieder Ausnahme, der neue Aristokrat. Ich bin Plebejer.« (471) Am Schluß des Romans kehrt Carl dem Kontinent für immer den Rücken. Sternheims Meinung geht jedoch nicht in der seines dichterischen Alter ego Carl Wundt auf. Während der Dichter Wundt die ästhetisch-kulturkritische Haltung des Autors trägt, hat Sternheim seine politischen Affinitäten in die Heldin gelegt. Als Paar, das trotz seiner Liebe nicht zu einer dauerhaften
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Verbindung gelangen kann, verkörpern Carl und Eura den unversöhnlichen Zwiespalt zwischen den Ansprüchen ästhetischer Existenz und lebendig mitwirkender Zeitgenossenschaft. Mit dem Ausbruch der Revolution am Ausgang des Werkes erreicht der Konflikt seinen Höhepunkt: Das brisante Zeitgeschehen fordert dem Intellektuellen (dem »Geistigen« heißt es im Jargon der Zeit) die endgültige Entscheidung zwischen Individualismus und Kollektivismus ab. Auf der Handlungsebene des Romans entzweit sich hier im Moment der möglichen Neugestaltung der Gesellschaft, die beide, Carl und Eura wünschen, das Paar: Während Eura sich in das revolutionäre Geschehen stürzt, denkt Carl zuhause darüber nach, wie in einer neuen kollektivistischen Ordnung die Freiheit des Individuums gewahrt werden kann. Auf der Metaebene der Künstlerproblematik in ihrem autobiographischen Bezug zur Revolution wird damit die Entzweiung des Autors mit sich selbst reflektiert. Der fundamentale Widerspruch von Individualismus und Kollektivismus als Zuspitzung des Gegensatzes von Kunst und Leben bleibt im Roman ungelöst.1S8
f)
Die metaphorischen Bedeutungsebenen der Handlung
Zwar tritt die Handlung im Roman stark zurück, doch bindet das essayistische Formexperiment die Handlungsebene auf eine innovative Weise ein. Figuren und Handlung werden zu einer geistesgeschichtlichen Figuration zusammengeführt, in der das Geschehen kein Eigengewicht hat, sondern zum ausdrucksstarken Zeichen typischer geistesgeschichtlicher Mentalitäten, Haltungen oder Strömungen der Epoche wird. In hypertroph übersteigerten Situationen, Bildern, Gesten und Gebärden wird die essayistische Reflexion auf eine anschaulich-eindringliche Weise verdichtet — und wieder ins Gedankliche aufgelöst. Ein Beispiel: Als Eura erfahrt, daß ihr Mitstreiter Rank sich kurz vor dem Weltkrieg in den Schoß der Kirche gerettet hat, heißt es: [...] statt aller Antwort an den pflichtvergessenen Abtrünnigen schnellte mit unvergleichlichem Impuls Eura sich mehr in die Kampffront nach vorn, wurde in demonstrierenden Öffentlichkeiten sichtbarer. (447)
158
Auf eine mögliche Synthese, die im Roman aber nicht entfaltet wird, verweist die gemeinsame Tochter Adirah, die im utopischen Raum auf Java als ein vollkommenes Geschöpf, frei von den Verformungen der Zivilisation aufwächst. In ihr sind Ruhe und Bewegung, Statik und expansive Dynamik in rhythmischer Ausgewogenheit: Als »Feuer und Kraftquelle [...], die lebt und Leben gibt«, beschreibt sie Wundt, als »Zentrum, das sprüht, und wie der Bromokrater Welt um sich zur Bewegung aus den Angeln hebt, doch in dessen Trichter man zu Ruh und Götterversöhnung auch verschwinden kann. Es flutet und ebbt. Flutet nicht nur.« (466) — Sternheim hatte offenbar den Plan, einen »Adirah«-Roman als Fortsetzung zu Europa zu schreiben; vielleicht ist es kein Zufall, daB er diese Fortsetzung, in der die Widersprüche des Europa-Ronans zu einer Aussöhnung hätten gelangen müssen, nicht verwirklicht hat. Vgl. Manfred Linke: »Carls Sternheims >Werkstatt«. Verschollene Werke und nicht verwirklichte Pläne. Ein Bericht«, in: Literaturwissenschaft und Geschichtsphilosophie, Festschrift für Wilhelm Emrich, hrsg. v. Helmut Arntzen u.a., Berlin, New York 1975, S. 490-506; S. 504).
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Masse und Ekstase: Sternheims »Europa«
Öffentliches und Persönliches werden in einer pointierten metaphorischen Wendung in der Weise >übereinandergelegtSprungspringt< aus dem Privaten in das Soziale hinein. Essay und expressionistische Überformung, so gilt es festzuhalten, gehen zumindest stellenweise eine Synthese ein: Das Geistige wird in die Gefühlswucht expressionistischer Bildlichkeit und Stilgebärde überführt. Nur einer oberflächlichen Betrachtung scheint dies ein Widerspruch zu sein. Der Expressionismus will trotz seiner emphatischen Stilgebärde auf die Abstraktion hinaus: Er formuliert sie allerdings in einer hypertrophen Übersteigerung, und nicht in einer zurückgeführten analytischen Begrifflichkeit. Das Lebensgefühl der Protagonistin entspricht dieser ästhetischen Weltanschauung, die den zusammenhaltenden Kern der auseinanderspringenden Epoche visionär-empfmdungsmäßig sucht (vgl. Europa, Kap. XXI). Entscheidend im Zusammenhang der hier durchgeführten Untersuchung ist, daß den expressionistisch überformten Handlungsmomenten ein essayistisch-diskursiver Stellenwert zukommt, daß sie also auf einer symbolisch-abstrakten Ebene zu verstehen sind. Diese Ausgangslage verhindert grundsätzlich, daß die Masse unmittelbar als ein realgeschichtliches Phänomen im Roman Kontur erhält. Masse und Heldin werden zu einer Figuration zusammengeführt, die selbst zum Ausdruckszeichen zeittypischer Haltungen und Strömungen wird. Gefühl und Eros, als hypertrophe Übersteigerung des >Weiblichenlinken Radikalismus in Deutschland. Ein Versuch, Frankfurt/M. 1976, S. 38-73. Euras angedeutetes mit boh£mehaften Zügen versehenes zeitweiliges Kommuneleben könnte eine Anspielung auf die (seit den 1880er Jahren existierende) Friedrichshagener Bohimekolonie im Osten Berlins (auf die sich beispielsweise Wille mit anderen nach dem Scheitern der innerparteilichen Revolte zurückgezogen hatte) oder die »Neue Gemeinschaft« der Brüder Hart am Schlachtensee sein. — Der Name Fritz Fahring mag eine Kritik an autoritären Zügen im Anarchismus sein.
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Masse und Ekstase: Sternheims »Europa«
die Erstarrungsformen der SPD programmatisch die »Begeisterung« setzen. Im Roman übt Fritz Führing explizit Kritik an der »schleichenden historischen Notwendigkeit« von Marx (220). Das spontaneistische Prinzip der Begeisterung, das die Heldin auch 1918 in ihrem Handeln bestimmen wird, ist in der zitierten Textstelle metaphorisch umgesetzt als ein Gegenmoment gegen die Strategie der SPD. Hier liegt eine Energie, die der Roman in veränderter Weise für das Jahr 1918 wieder aufnehmen wird. Perspektivisch ist die elementar-vitale Wiedergabe des Vorgangs an die Wahrnehmung des (nur ephemer auftretenden) Fritz Führing geknüpft, während das Entrückungserlebnis ein Gefühl der Protagonistin ist. Ungeachtet dieser Perspektivierung nimmt die Szene bereits zentrale Momente der späteren Revolutionsdarstellung vorweg, ohne sie hier schon in eine ästhetisch überzeugende Ausgestaltung zu integrieren: Es sind wörtliche Formulierungen wie das »lecken«, das als Triebmoment auch in der späteren Szene eine Rolle spielt, oder die »wankenden Knie«, die später aber nicht die Heldin, sondern die Masse charakterisieren. Vor allem aber wird die rote Symbolik der Lebenskraft — Feuer und kochendes Blut — wieder aufgenommen und in den (impliziten) Bildkomplex der Lava überführt. Die elementar-vitalistische Metaphorik ist jedoch überhaupt ein Stilmerkmal des Sternheimschen Erzählens, nicht nur in diesem Roman, 160 in dem das ekstatische Prinzip eines überschießenden elan vital sich auch in einer Kompression von Sprache und Handlung niederschlägt. Während die elementarvitalistische Sprache und expressionistische Überformung im Verlauf des Romans nur zu punktuellen Situationsverdichtungen führen, in denen das Phänomen der Masse nicht mehr als angedeutet werden kann, verbinden sie sich in der Revolutionsgestaltung am Ende des Romans mit einer traditionellen revolutionsbezogenen Bildlichkeit. Es entsteht eine integrierte ästhetische Darstellung, in der dem Autor eine virtuose Sprachleistung gelingt.
4.
Zur Vorgehens weise
Die beiden Massenszenen des Romans werden im folgenden nacheinander detailliert interpretiert. Die erste, umfangreichere (Europa, S. 472-75), schildert den erwähnten revolutionären Aufruhr in Den Haag, die zweite eine konservative Jubelfeier nach dessen Niederschlagung (S. 475/76). Da die erste Szene für das spezielle Untersuchungsthema ästhetisch weit gewichtiger ist, wird sie auch ausholender zu behandeln sein. Zunächst gilt es, innerhalb der Revolutionsdarstellung die »expressionistischen« Gestaltungsverfahren herauszuarbeiten und sie in ihrer prägenden Leistung für das Thema zu erkennen. In gesonderten Untersuchungen wird
160
Vgl. dazu W. Wendler: Carl Sternheim. Weltvorstellung und Kunstprinzipien, Anm. 137, S. 197-201.
1966, wie
Der Stellenwert des Massensujets im Roman
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dann eigens die bildlich-symbolische Überformung der Szene zu erschließen und zu interpretieren sein. Einen besonderen Stellenwert nehmen dabei die naturalen Metaphernkomplexe ein. Ihre grundlegende bildsprachliche Leistung für den Textaufbau muß hier ausführlich beschrieben werden. Dabei gilt es, sie sowohl im Kontext der traditionellen Revolutions- und Massenmetaphorik als auch in Sternheims — vorrangig vitalistisch motivierter — eigenwilliger Verwendung zu beachten. Anschließend wird, ebenfalls detailliert am Text, die Darstellung der konservativen jubelnden Masse vergleichend zu analysieren sein.
B.
Die Revolution als haltloser Taumel
Die revolutionäre Massenszene gehört zu den gelungensten Stellen des Romans. In ihrer bildstarken Dichte und Handlungsballung fällt sie auffällig aus der bis dahin vorherrschend abstrakt-theoretisch vermittelten Epochenschau heraus. Erst in dem Moment, in dem das Erleben der Heldin während der Revolution mit dem der Masse zusammenfällt, greift der Roman auch die Masse als ein eigenständiges Thema auf. Das Erzählgeschehen taucht hier in das aktionistische Feld der Geschichte ein. Die revolutionäre Situation verstärkt realgeschichtlich das Problem und bietet die Chance zu einer neuen Synthese zwischen der Masse und dem Individuum. Deren mögliche Produktivität untersucht Sternheim in der Aufruhrszene literarisch — und lotet sie gleichsam versuchsweise aus. Dabei leitet ihn die grundsätzliche Frage, ob aus der Synthese eine neue Epoche hervorgehen wird. Zunächst die Textstelle im Wortlaut: Da — mit erhobener Hand riß sie plötzlich das Fenster auf, hing sich w e i t hinaus, w o todstiller Donner, dumpfes Brausen w a r , schrie »Ahl«, schwenkte Hut an Bändern, warf Kußhand und stürzte zur Straße fort.
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Als Eura ihrem Instinkt nach atemlos in die Mitte der Stadt zum Buitenhof kam, barst der Platz vor Gedränge kochender Menschheit. Irgendwo schrillten Pfiffe, von Kreischen und Heulen aufgenommen. Hüte wehten, Menschen reckten den Kopf und warfen Arme, w u ß t e n nicht, w o und was es galt; begriffen nichts, bebten. Säuerlich und heiß stand eine Wolke Schweiß steil. Staub schwirrte. Zittern fuhr durch die M e n g e und Stimmen krächzten heiser. Gewalt stampfte, die nicht W e g und Ausgang hatte, sich um sich selbst drehte. Pulse hob. Eura schwang sich in eine Woge und schwamm hin, w o es am schwülsten und dichtesten im Gewühl war. Plötzlich sieht sie Ketten Helme blitzen, Bandeliere. Ruck des Ganzen sprengt sie rückwärts gegen eine Hausmauer, an die sie hochgeschraubt wird. Seitenstraßen sind mit Druck von Dragonern und Gendarmen in den
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Masse und Ekstase: Sternheims »Europa« Platz gestemmt. Waffenglanz reckt sich und klirrt. Pferde mit schnaubenden Nüstern tanzen auf Massen zu. Irgendwohin läßt sie sich zurückheben, schwebt. Dann in johlendem Schwärm, Qualm und Gliedergefuchtel stürzt sie hüpfend und stolpernd hundert Meter vor, um mit den übrigen jäh an eine Stelle anzuwachsen. Flackernde Augen tauchen in ihre, fragen. Sie weiß nicht, sieht nicht. Schmeckt, hört nur Rauch und Leidenschaft. Umarmt Laterne, die im Weg steht. Ein Leierkasten spielt, stockt. Schärpe, Fahne weht. Branntweindunst. Plötzlich bricht knatternd Feuerstreif auf und entzündet Augen und Nerven. Da reißt es sie weiter vorwärts und gierig leckt sie mit anderen Entscheidung entgegen. Alles hat Atem, den sie nie gespürt. Urworte rollen auf, Muttersprache versteht und heult sie stürmisch wie Niegehörtes aus der Brust hoch. Schimpft und speit Flammen Dynamit. Köstlich wie Segel wölbt sich ihr Rock, an aufgesperrten Mäulern, Mähnen, gereckten Fäusten fliegt sie vorbei. Hält vor leerem Raum. Kavallerie, Säbel steif in der Luft. Alles steht. Säule Schreck wächst zwischen den Parteien. Nur ein Pferd wiehert laut. Auf Ballonmützen, zwischen Zähne festgekrampfte Zigarettenstummel sieht sie. Taucht in tausend Augenpaare, in denen Feuer glüht. Erwartet ein Zeichen, das man von ihr fordert. Auf einen Prellstein, von dem eine eiserne Kette zum nächsten läuft, setzt sie den Fuß. Da ist sie hochgehoben und thront über Menge. Ein Meer Menschen, das an sie brandet, mündet mit elektrischen Drähten in sie. Sie steigert sich zu mächtiger Geste, und Entzücken, wie sie es seit jener Stunde, in der sie vor zwei Jahrzehnten in Berlin Massen durch Anruf weckte, nicht fühlte, schwillt in ihr. Das wächst, hebt ihr Schenkel und Bauch, bricht ihr das Herz auf, daß gebannt Proletarier an ihren entfesselten Gliedern hängen. Jetzt kommt es darauf an, spürt sie, jetzt im Moment muß Leben gipfeln, Mensch und Mitmensch, Kommunion und Exhibition sein, und während Knie an Knie Zuschauer wanken, reckt sie mit riesiger Gebärde sich über sich selbst, klafft wie einen Schalltrichter des Jenseits das Maul auf und schleudert plastisch kolossalen Schimpf auf Militär, daß obsköne [sie] Wahrheit Alarm kreischt. Doch da in gellendem Schrei brüllt Volk auf und wirft sich Lawine auf Bewaffnete. Wie Schaum ist Eura an die Spitze senkrecht in heißes Geschehen geschmettert, das sie von Bedingtem freibrüht. Zu Wasser schmilzt sie, schwenkt Waffe und zielt. Noch einmal stemmt sich ein Wall gegen sie, an den sie pralle Brüste wirft, ihn endlich zu zerreißen. Da klatscht ein Knall, Singen zischt — und von herkulischem Pfeil ist sie tief zwischen den Brüsten entjungfert, daß Entscheidendes einreißt und Blut in Fontänen aus ihr zwitschert. In Orgasmus, der sie mit roter Tinte überschwemmt, sinkt sie hin. Dann schmeicheln ihr zarter rosa Horizonte. Wollust ein letztes Mal zu kulminieren, greift sie den Soldatenstiefel, der steil in ihren Unterleib fährt, zieht ihn tief in zuckende Gedärme und entblättert in einem so gänzlichen Lächeln, daß der Sergeant seinen Tritt bremst und mit Hinblick auf die ekstatische Tote unwillkürlich »Pardon!« neuen Nachstürzenden zumurmelt. (472-75)
Die Revolution als haltloser Taumel
1.
Tumult als expressionistisches Erzählprogramm
a)
Erzählpartikel und ihre Verdichtung
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Die Handlungsebenen der drei Akteure — revolutionäre Masse, Heldin, militärische Ordnungsmacht — sind miteinander zu einem mehrseitigen rhythmischinteraktiven Bewegungs- und Reaktionsgefüge verbunden. Mit stilistischen Mitteln, über den Satzbau, im Satzrhythmus und einer bewußt komponierten Perspektivierung bildet der Erzähler dabei das Tumultuarische des Vorgangs mimetisch nach. Es entsteht der Eindruck eines hochdynamischen, wirren Simultangeschehens, das alle Sinne gleichzeitig affiziert, aber nicht ohne weiteres zu durchschauen ist. Damit wird die chaotische Situation des Aufruhrs nachvollziehbar gemacht. Der Eindruck der Simultaneität wird dadurch erzeugt, daß vieles gleichzeitig geschieht, das scheinbar unzusammenhängend nebeneinander steht. Verräumlichung von Zeit und Prozessualität, Aufbrechen von Kausalität und Linearität sind die Bedingungen, unter denen sich die literarische Gestaltung von Gleichzeitigkeit vollzieht.161 Das Erzählgeschehen findet sich daher in einzelne Partikel aufgelöst, die scheinbar miteinander unverbunden sind. Sternheims Text ist charakterisiert durch eine unruhige Verzerrung, Unbeständigkeit und Bewegungsintensität. Alles scheint übermäßig dicht, nah, gedrängt, übervoll, übersteigert und überhöht. Der Satzbau ballt und verklammert die gleichzeitigen Handlungs-, Bewegungs- und Erfahrungsmomente, während das Erzählgeschehen in einen Strudel von Erzählpartikeln, Einzelheiten und Wahrnehmungssplitter aufgesprengt ist. Die Sprache ist auf eine expressionistisch-futuristische Verdichtung und Dynamisierung angelegt: Die >unwichtigen< Füllwörter wie Artikel, Attribute, fallen weg, so daß die (bedeutungs-)tragenden Teile des Satzes unvermittelt aneinanderrücken und auch im sprachlichen Duktus der Eindruck ruckartiger Drängung und Kompression entsteht. Bewegungsintensive Verben herrschen vor. Die Hypotaxe mit ihren zeitlichen, kausalen, konsekutiven Abhängigkeiten tritt zurück; ein parataktischer Satzbau prägt den Text.162 Es gibt kein Beharren, keinen 161
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Einen Aufriß der Problematik künstlerisch-literarischer Gestaltung von Gleichzeitigkeit im Kontext ihrer Genese im historisch-industriellen Zusammenhang gibt Hanno Möbius: »Gleichzeitigkeit als Modell sozialer und poetischer Zeit«, Die Neue Gesellschaft f rankfurter Hefte, 9, 1990, S. 812-18. Der elliptische Duktus der Sternheimschen Sprache fDgt sich im untersuchten Szenenzusammenhang den weiteren (expressionistischen) Gestaltungsmitteln der Tumultdarstellung ein. Die stilistische Besonderheit kommt hier also gewissermaßen mit dem Sujet zur Deckung. Von hier aus ergeben sich weitere interessante Fragestellungen zum Zusammenhang des Sternheimschen Sprachverfahrens mit der allgemeinen >modemen< Erfahrung von Bewegimg, Gleichzeitigkeit und Beschleunigung, die über den von Wendler dargelegten vitalistischen Zusammenhang hinausführen könnten (Carl Sternheim. Weltvorstellung und Kunstprinzipien, wie Anm. 137). Eine eingehende Untersuchung der Sternheimschen Sprache ist allerdings nicht Gegenstand dieser
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Masse und Ekstase: Sternheims »Europa«
wirklichen Stillstand. Ein Zustand geht jeweils in einen anderen über. Es gibt nur Metamorphosen, Steigerungen oder Peripetien; nirgends aber verharrt die Energie. Noch die Stille »wächst« als »Säule Schreck« aus dem leeren Raum empor. Übermäßig verdichtet sich die Spannung im Raum. Übermäßig greift das Geschehen in die Vertikale aus. Es herrscht eine derartige räumliche Drängung und Stauung, daß der Überdruck nicht anders als in die Höhe ausweichen kann. Die Situation wird beherrscht von Lärm, Bewegung, Hitze, Rauch, Gedränge, Flirren. Alles ist von einer flackernden Unruhe, Erregung durchbebt, die unvermutet in heftige Bewegungsschübe übergeht. Alles steht unter einer eruptiven Spannung, die sich teils in Zittern, Flackern, Blitzen, Sprengen, Bersten, Brechen, Zucken entlädt, teils in turbulenten Strudelbewegungen ein Ventil zu schaffen sucht. Der Platz birst unter dem Überdruck des Menschengedränges. Beben, Zittern und Schwirren durchzucken Menschen und Raum. Die Masse ist in wirres Gliedergefuchtel aufgelöst. Die Heldin, als ein Teil der Menge, wird zumckgesprengt, dann hochgeschraubt. Später bricht knatternd ein Feuerstreif auf. Schließlich greift die Sprengung auch ins Innere der Heldin hinein: Erst bricht sich die eruptive Kraft des Vulkanischen163 in ihr Bahn und rollt archaische Tiefenschichten auf, dann überflutet sie ein ozeanisches Verschmelzungsgefühl164: Ihr Herz bricht auf. Sie wird als schäumende Gischt versprengt und löst sich auf in das ozeanische Element. Sternheims Aufruhrszene bleibt jedoch nicht auf die Darstellung des Chaos beschränkt. Bewegungsabläufe, Entwicklungsprozesse zeichnen sich im Verlauf der Passage ab. Die wesentliche Frage lautet daher: Wie gelingt es dem Erzähler, ein Chaos darzustellen, aus dem eine Handlung erwächst? Es wird im einzelnen zu zeigen sein, daß sich die Simultaneität in dem Maße auflöst, in dem das Verfahren der Verdichtung, das der Fragmentarisierung entgegenwirkt, greift. Dies geschieht auf ganz unterschiedliche Weise. Auf der äußeren Ebene schlägt die Verdichtung z.B. in dem Moment durch, in dem die Masse Gestalt gewinnt, so beispielsweise, als sie sich zur »Lawine« zusammenzieht. Auch auf der inneren Ebene kommt die Verdichtung etwa dann zum Tragen, wenn die Menge durch eine Emotion gebündelt wird, die alles unter sich zwingt. Schließlich wird die Verdichtung auch in dem Maße wirksam, in dem die Darstellung von einem einheitlichen Gefühl getragen wird oder sich zu einer Vision zusammenfügt. Wesentlich für Sternheims Erzählverfahren ist aber, daß die Verdichtung zu keiner wirklichen Beruhigung der ruhelosen Bewegung und des unbeständigen Wandels führt. Konturen, Gestalten, Formationen lösen sich wieder auf,
163 164
Arbeit; ich verweise an dieser Stelle auf den sprachwissenschaftlichen Beitrag von E. Iffland speziell zur Syntax in Europa (s. Anm. 149). Zur vulkanischen Überformung der Szene, weiter unten S. 135ff. Zur ozeanischen Metaphorik, weiter unten S. 137ff.
Die Revolution als haltloser Taumel
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die Emotionen bleiben nicht stabil. Statt zu einer Beruhigung kommt es im Gegenteil zu einer unruhigen Intensivierung auf der Ebene des Erzählvorgangs selbst. Da die aufsprengende Streuung und die bündelnde Verdichtung zu keinem Ausgleich gelangen können, entsteht ein Schwanken auf der Ebene der Darstellung: Das sinnkonstituierende Verfahren scheint sich beständig selbst zu unterlaufen und damit als solches zu zerstören. Dieses zerstörende Konterkarieren wird auf der Ebene des literarischen Verfahrens, der Metaphorik und des Stils wirksam. Es dringt jedoch nicht auf die Ebene des sprachlichen Gefüges vor: Sternheim komprimiert und dynamisiert die Syntax, läßt aber ihre Ordnung im wesentlichen bestehen. Sprengung und Verdichtung sind jeweils im Zusammenhang weiterer Textverfahren zu sehen. Die aufsprengend-zerstreuende Erzählbewegung geht einher mit einem unruhigen Schwanken der Perspektive; sie wird zudem noch durch ein irritierendes Gleiten des Stils und überraschenden Wechseln auf der Bild- und Bedeutungsebene verstärkt. Die Verdichtung greift auf der Handlungs-, Bild- und Erfahrungsebene: Gleichzeitige Vorgänge, Bewegungen, Erfahrungen werden gebündelt oder miteinander verzahnt, zu einer Metapher oder einem Bildkomplex zusammengezogen, zusätzlich aber noch überfrachtet durch eine extreme Schichtung symbolischer Sinnbezüge. Diese konterkarierende Bewegung gleichzeitiger Sprengung und Verdichtung bestimmt den gesamten Textaufbau. Sprengung und Verdichtung stehen beide in einem direkten Wirkzusammenhang: Aus der übersteigerten Drängung und Verdichtung resultiert die Explosion. Die gegenläufigen Gestaltungsverfahren gleichzeitiger Sprengung und Verdichtung binden sich in der Szene unmittelbar ein in die Thematik von Revolution und Krieg. Der eruptive Ausbruch kollektiver Energien verdichtet und zerstört den Raum. Unter dem Überdruck der entfesselten Energien bricht das raum/zeitliche Gefüge auseinander. Das Ich hat keinen Zugriff mehr auf die Realität; es wird selbst von archaischen Kräften, elementaren Gewalten beherrscht. Unter dem gewaltigen Ereignis stülpen sich Himmel und Erde, Innen und Außen ineinander; archaische Gewalten greifen aus verschütteten Untiefen in die Gegenwart; Mythisches tritt hervor und Transzendentes ragt in die Realität hinein. b)
Der Standort des Erzählers im Tumult
Der Text gestaltet die Wahrnehmung und Erfahrung unter der Reizüberflutung und den tumultuarischen Bewegungsschüben des explosiven Simultangeschehens nach. Alles scheint in eine Vielzahl zerstreuter Eindrücke, sinnlicher Reize und Empfindungssplitter aufgelöst. Nur ausschnitthaft und fragmentarisch erschließt sich dem Leser die großflächige Gesamtsituation aus der Bewegung. Abrupte Richtungswechsel, wenn sich die Front verlagert, vertikale Auftürmung, wenn es zum Rückstau kommt, beschleunigte Dynamisierung,
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Masse und Ekstase: Sternheims »Europa«
wenn die revolutionäre Masse gegen den Gegner ausfallt, sind die Hauptachsen einer impliziten großflächigen Kampfbewegung, in welche die engere Erzählhandlung eingebettet ist und die je nach Heftigkeit des Zusammenpralls und je nach dem Standort in der Menge in ihren Auswirkungen spürbar wird. Der Text gestaltet das übergreifende Bewegungspiel des Kampfes teils konkretistisch, teils metaphorisch überformend nach. Der Sturmlauf beispielsweise, mit dem die Menge zum Angriff übergeht, macht sich an der >beflügelnden< Wirkung des Windes fest: mit einem zum Segel aufgeblähten Rock fliegt die Heldin an den wehenden Haaren — »Mähnen« — ihrer Mitkämpfer vorbei. Die ruckartigen Bewegungsabläufe im Kampf — Halten, Stau, Vorschnellen und Rückstau — gehen durch den Rhythmus in die Darstellung ein: Hält vor leerem Raum. Kavallerie, Säbel steif in der Luft. Alles steht. Säule Schreck wächst zwischen den Parteien. (Zeile 35-36)
Dem Leser wird die architektonische Anlage des Platzes, die wesentlich die Frontstellung zwischen der aufständischen Masse und der militärischen Ordnungsmacht bestimmt, nur ansatzweise, nach Maßgabe des Bewegungsverlaufes deutlich: Es kommt zunächst zu einem Zurückstau der Menge an einer rückseitigen Häuserfront des Buitenhofes, weil aus den Seitenstraßen berittenes Militär und Polizei auf den Platz vorrücken. Im Gegenzuge stürmt die aufständische Masse gegen die offenbar in einer zweifachen Etappe zurückweichende Frontlinie vor: eine »Laterne, die im Wege steht«, schließlich ein »Prellstein, von dem eine eiserne Kette zum nächsten läuft«, markieren, wie die Menge allmählich räumlich ausgreift und sich über die Grenzen des Platzes hinausbewegt. Der Text baut also nicht den Eindruck eines souveränen Zugriffs auf das Geschehen auf. Die das Erzählen konstituierende Perspektive geht nicht von einem erhobenen Standpunkt aus, von dem etwa die Bewegungsformationen beider massierter Kräfte, der aufständischen Masse und des Militärs, zu überblicken wären. Zwischen Erzählperspektive und Simultaneitätsdarstellung besteht ein grundsätzlicher Zusammenhang: Ein über den Dingen stehender Erzähler, der das Gemenge überblickte (also durchschaute), würde die Ordnung im Chaos, und nicht das Chaos selbst zur Darstellung bringen. Sternheims Text führt den Leser mitten in das unruhige Gedränge der aufgebrachten Menschenmenge, die den Platz beherrscht, hinein. Er siedelt seinen perspektivischen Schwerpunkt mitten in diesem unstet schaukelnden Gemenge und dessen ruckartigen Bewegungsstößen an. Die militärische Truppenbewegung bleibt vorwiegend im Hintergrund. Teils aber wird sie punktuell sichtbar, teils aber pflanzen sich ihre Attacken im Gedränge fort, so daß der Erzählerstandpunkt mit in die Bewegung hineingezogen wird.
Die Revolution als haltloser Taumel
c)
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Die Heldin als Zentrum des Tumults
Genau in dem Moment, in dem die Heldin in das Menschengedränge >eingetaucht< und damit selbst zum Teil der Menge geworden ist, wechselt das Tempus des Erzählens vom Imperfekt, mit dem die Szene beginnt, auf das Präsens: »Eura schwang sich in eine Woge und schwamm hin, wo es am schwülsten und dichtesten im Gewühl war«, heißt es noch zunächst. Und schon im nächsten Satz »sieht sie« plötzlich Ketten blitzen, ein erstes Anzeichen der auf die Masse zureitenden Ordnungsmacht. Von nun ab waltet die Gegenwart, und zwar bis weit in die Szene hinein fast ausschließlich im Aspekt überraschender Plötzlichkeit. Die Zeitadverbien wechseln zunächst vorrangig zwischen »da«, »plötzlich«, »jäh«. Das Gefühl für den Fluß der Zeit verschwimmt; es gibt keinen festen Maßstab, keine objektivierbaren Koordinaten dafür. Wesentlich ist, daß — mit einer Ausnahme165 — alle Zeitangaben auf die Heldin bezogen sind. In der ersten Szenenhälfte zeigen sie punktuelle Verdichtungen ihres Jetzt-Empfindens an, die mit Umschwüngen von Bewegung oder Steigerungen ihres Lebensgefühls verbunden sind. Das Schema S. 100 macht deutlich, daß ein gegliederter Zeitaufbau, zumindest in der ersten Szenenhälfte, keine Rolle spielt. Getragen wird das rudimentäre zeitliche Gerüst durch ein Dutzend temporaler Adverbien; temporale Konjunktionen treten in dem eher parataktisch ausgerichteten Satzbau ohnehin zurück. Gegen Ende der Szene greift allerdings eine neue Zeitstruktur in die bis dahin vorherrschende gegenwärtige Unmittelbarkeit ein; im Zusammenhang der Ekstase wird darauf eigens zurückzukommen sein. Hier gilt es zunächst festzuhalten, daß die Perspektive der Heldin eindeutig eine Achse durch das >simultane< Erzählgeschehen legt. Das Nebeneinander der (äußeren) disparaten Handlungsfragmente tritt zwar in dem Maße zurück, in dem die Handlungsebene der Heldin, die weitgehend mit ihrer (ekstatischen) Emotion zusammenfällt, Relief gewinnt, es kommt aber zu keiner wirklichen Konsolidierung, denn Euras Gefühl erweist sich als eine problematische Bindekraft, insofern es — selbst in sich schwankend — kein Gleichgewicht zustande bringt. Das nachfolgende Schema gibt eine Übersicht über den Aufbau der Zeit ab Zeile 5, soweit er sich grammatisch über die Adverbien, Konjunktionen und das Tempus vollzieht. Groß-und Kleinschreibung sind beibehalten, um die Adverbien am Satzbeginn von denen im Satz zu unterscheiden.
165
Die einzige Stelle, an der das Zeitadverb sich nicht unmittelbar oder mittelbar auf die Heldin bezieht, ist signifikant: Es ist genau der Umschlagspunkt der Szene, an dem die Masse selbst zum Handelnden wird.
100
Zeile
Masse und Ekstase: Sternheims »Europa«
Adverb
5
Konjunktion
Kontext
Als
Ankunft der Heldin auf dem Platz
15
Plötzlich
Eura in der Menge und in der (fernen) Kampfsituation
20
Dann
Die Masse (mit Eura) stürmt gegen das Militär vor.
22
jäh
Der Sturmlauf wird abgebremst.
28
Da
erneuter Sturmlauf
41
Da
Euras Erhöhung zur Führerin
4344
(seit jener Stunde vor zwei Jahrzehnten)
Rückblick auf das Berliner Versammlungserlebnis (vgl. S. 90ff.)
4749
Jetzt
54
Doch da
Höhepunkt der Bewegung der Masse und Bewegungsumkehrung
5758
Noch einmal ... endlich
Euras Kampf gegen den Widerstand des »Walls«
59
Da
Euras Erschießung/Entrückung
62
Dann
Euras Entrückung
63
ein letztes Mal
das letzte Todeszucken der Heldin
während
Höhepunkt der Bewegung der Heldin
Schema 1: Zeitgefüge
Ebenso wie die Zeit nicht in ihrem gegliederten Fluß zur Geltung kommt, sondern vorwiegend sprunghaft zu punktuellen Momenten des jähen Wechsels oder Umschlags zusammengezogen wird, die selbst präsentischen Charakter haben, bleibt auch der Raum nicht als geordnetes (und orientierendes) Gefüge bestehen. Ruckartig wechseln die räumlichen Bezüge. Es herrscht Richtungslosigkeit und Orientierungsverlust. Wesentlich aber ist, daß auch der Raum in seinem sprunghaften Wechsel auf die Protagonistin bezogen bleibt. Zeit und
Die Revolution als haltloser Taumel
101
Raum — zugleich konturlos und springend — haben dennoch in der Protagonistin ihren Angelpunkt. Das Erleben im Gemenge ist weiter durch erregte Erwartung, aber auch Passivität, und vor allem durch eine unberechenbare Spontaneität bestimmt. So wird die Heldin von der Menge fort- und mitgerissen, getragen und zur Führerin erhoben. Sie wird — zunächst von außen, dann auch in ihrem Innern — von den elementaren und triebdynamischen Kräften, die das Geschehen beherrschen, erfaßt. Eura ist nicht nur das perspektivische Zentrum der Masse selbst. Sie ist auch perspektivischer Schnittpunkt der Auseinandersetzung der Masse mit dem Militär. Ihre Position ändert sich damit sowohl innerhalb der Masse als auch im Verhältnis zum Militär. Und der Text vollzieht diese doppelte Bewegung mit, indem das Geschehen unmittelbar aus der Perspektive der Protagonistin geschildert wird. Der Erzähler macht sich zu ihrem Schatten und folgt ihr mitten in das tumultuarische Gemenge hinein, in dem sie nun ihrerseits umherstolpert, mit dem sie hoch- und niederwogt, zurückgestaut oder vorwärtsgerissen wird. So wird der Blick zunächst durch Euras Stellung innerhalb des Gedränges, allgemeinen Gliedergefuchtels und Köpfereckens bestimmt, mit dem sich die Menge gegenseitig die Übersicht versperrt. Irgendwo schrillten Pfiffe, von Kreischen und Heulen aufgenommen. Hüte wehten, Menschen reckten den Kopf und warfen Arme, wußten nicht, wo und was es galt [...]. (Zeile 7-9)
In dem Moment aber, als die Heldin durch einen Rückstau hochgerissen wird, weitet sich auch das Gesichtsfeld aus und die großflächige Verwicklung des Kampfvorgangs, der zuvor nur akustisch und taktil erfahrbar war, rückt ins Bild: Plötzlich sieht sie Ketten, Helme blitzen, Bandeliere. Ruck des Ganzen sprengt sie rückwärts gegen eine Hausmauer, an die sie hochgeschraubt wird. Seitenstraßen sind mit Druck von Dragonern und Gendarmen in den Platz gestemmt. Waffenglanz reckt sich und klirrt. Pferde mit schnaubenden Nüstern tanzen auf Massen zu. (Zeile 15-19)
In der Umkehrung von Ursache und Wirkung arbeitet der Text die besondere Bewegungserfahrung in der Masse heraus: Eura verspürt die Wirkung der Kettenreaktion unmittelbar, während sich die auslösende ferne Ursache (der Druck) in den unübersichtlichen Verhältnissen erst nachträglich offenbart. Selbst die bildlichen Überformungen fügen sich in die perspektivische Grundanlage ein: Während Eura sich anfänglich in eine einzelne Woge schwingt, überschaut sie auf dem ersten Höhepunkt der Szene das ganze Menschenmeer. Der Text geht also wesentlich darüber hinaus, lediglich das ohnehin schon unruhig-chaotische äußere Treiben zu vergegenwärtigen. Es ist wesentlich die Eigenart der sinnlichen Erfahrung und des Erlebens innerhalb des tumultuarischen Gemenges, die über das gezielte Verfahren der schwankenden Perspektive unmittelbar zum Ausdruck kommt. Im sensuellen Strudel der sich zuneh-
102
Masse und Ekstase: StemJieims »Europa«
mend zerstreuenden und auflösenden Erfahrung bilden sich überdies der Bewegungsrausch und Sinnentaumel nach, in den die Protagonistin in der explodierenden Überfülle und Erlebnisdichte des Tumults gezogen wird. Es ist ein Schwindel und Taumel, der sie allmählich aus der Realerfahrung entrücken wird. Im Text drückt sich dies durch einen zunehmenden Realitätsschwund aus. Rauschhaftes Erleben und ekstatische Entrückung prägen daher in sich verstärkendem Maße den Textaufbau. Der Erzähler blickt seiner Heldin jedoch nicht nur über die Schulter, er beschreibt auch sie selbst in ihrer Interaktion mit dem Kollektivgeschehen. Sie wird in ihrer körperlichen Vermengung und Angleichung an die Masse sichtbar gemacht. Ihre zunehmende Regression und ihre sich rauschhaft steigernde Leidenschaft werden zum Ausdruck gebracht. Sie wird in ihrer exponierten Führungsrolle in der revolutionären Binnenentwicklung herausgestellt. Schließlich wird ihre ekstatische Entgrenzung ausgeführt. Obgleich sich der Erzähler eng an den Erfahrungs- und Erlebnishorizont der zunehmend berauschten und entrückten Protagonistin hält, bewahrt er Distanz zu ihr. Er verdichtet als sprach- und bildmächtige Instanz ihr ekstatisches Erleben, während die Heldin selbst sich im rauschhaften Taumel verlieren wird. Schließlich — auch darauf soll hier im Vorgriff schon verwiesen werden — unterminiert er die eigene identifizierende Darstellungsweise, indem er sie durch konterkarierende Stilund Handlungsmomente bricht.166
2.
Die Formierung der Masse im Kampf gegen das Militär
Eura partizipiert unmittelbar am eruptiven Binnengeschehen innerhalb der aufständischen Masse. Damit ist sie zugleich auch beteiligt an dem großflächigen Kampfvorgang der Masse mit der militärischen Ordnungsmacht. Während sich die aufständische Menschenmenge im Buitenhof amorph zusammendrängt, wird der Platz von außen durch die geschlossenen Reihen berittener Kavallerie und Polizei umstellt und abgesperrt. Im Grunde ist es also der Zusammenprall zweier gegnerischer Massen, der in der Szene in seiner Entwicklung gestaltet wird. Nach einem anfänglichen Rückstau der Masse durch vorreitende Kavallerie bewegt sich die Masse, an deren vorderster Front die Heldin ist, etappenweise, in mehreren Wechseln von Sturmlauf und Stau, über den Platz hinweg auf die entscheidende Frontlinie vor. Die Konfrontation kulminiert am Ende der Szene, als die Masse die Absperrung durchbricht und sich als »Lawine« auf die blockhaft formierten Truppen wirft. Am Szenenschluß wird Eur(op)a, verblutend am Boden liegend, von den ihrerseits vorpreschenden Truppen der Infanterie überrannt. Sternheim betont die Heterogenität der beiden Massen schon auf der begrifflichen Ebene: Während er die Masse in ihrer amorphen Leiblichkeit
166
Vgl. weiter unten S. U l f .
Die Revolution als haltloser Taumel
103
(kochende Menschheit), Vielzahl (Menge, Menschenmeer, Schwärm) oder körperlichen Vielgestaltigkeit (Köpfe, Arme, Gliedergefuchtel, gereckte Fäuste, tausend Augenpaare) beschreibt, kehrt er die militärische Ordnungsmacht allein schon dadurch in ihrer hierarchischen Struktur hervor, daß er sie jeweils in militärischen Rängen (Dragoner, Gendarmen, Kavallerie; Sergeant) und militärischen Attributen (Waffen und Uniform) charakterisiert. Sie sitzt großteils hoch zu Roß, während die aufständische Menge ihrerseits >verwildert< und tierische Gestalt annimmt: »an aufgesperrten Mäulern, Mähnen« fliegt die Heldin vorbei, die selbst drachenartig Feuer speit; am Umschlagspunkt der Szene »brüllt« [das] Volk »auf«: es gleicht einem zum Sprung ansetzenden wilden Kollektivtier. Gereckte Fäuste, Köpfe, Hüte oder Mützen einerseits, Säbel, Helme, Bandeliere oder Schärpe andererseits werden zu Abbreviaturen der gegnerischen Massen im tumultuarischen Kampf. Während das großflächige Kampfgeschehen nur vom Hintergrund her deutlich wird, steht im Vordergrund das eruptive Binnengeschehen in der revolutionären Masse, deren kinetische, klimatische, physiologische, physiognomische und triebdynamische Besonderheiten gleichsam in einer Nahaufnahme zusammen mit der Heldin vorgestellt werden. Sternheim hat in stilisierter Weise durch die Kopfbedeckung auch soziale Zonen in der Masse angezeigt: Eura dringt aus einer bürgerlichen Zone an der Peripherie, wo die Leute Hüte tragen, in den heißen Kernbereich des wilden »proletarischen« Kampfes, wo es nach »Branntwein« riecht und sie auf »Ballonmützen« blickt. Nach einer anfanglich diffusen Richtungslosigkeit kommt es zu einem Reaktionszusammenhang, in dem unter der katalysierenden Rolle der Heldin das vielgestaltige, amorphe Gebilde »Masse« sich punktuell zum Kollektivsubjekt »Volk« zusammenzieht und sich zu einer gebündelten Schlagkraft (»Lawine«) formiert. Sternheim gebraucht an dieser Stelle bewußt den staatsbürgerlichen Begriff »Volk«. Es ist dies der eigentliche Augenblick der revolutionären »Erhebung«, denn erst jetzt richtet sich die Masse — und zwar in ihrem »proletarischen« Teil — als eine eigenständige Gewalt auf und konstituiert sich damit als eine einheitliche Körperschaft. Sternheim durchkreuzt aber die politische Ebene, indem er das »Volk« gleichzeitig wieder natural überformt zum Tier und zur Elementargewalt. Sternheim komponiert die Erzähleinheiten so, daß sich Bewegung, Rhythmus, Sinnlichkeit, taktile Dichte, räumliche Drängung, Bildlichkeit mit der Erfahrungsebene der Heldin einerseits und mit den beiden übergreifenden Komplexen »Masse« und »Kampf« andererseits verklammern. Trotz der ungeordneten Verhältnisse im Tumult werden Kampflärm und Kampfbewegung in ihrer rhythmisch-interaktiven Wechselwirkung aufgebaut. Und trotz der tendenziellen Auflösung und Fragmentarisierung entsteht durch seine körperlichtaktile Dichte der Eindruck eines in sich zusammenhängenden Gemenges. Als Eura [...] zum Buitenhof kam, barst der Platz vor Gedränge kochender Menschheit. Irgendwo schrillten Pfiffe, von Kreischen und Heulen aufgenommen. Hüte wehten, Menschen reckten den Kopf und warfen Arme [...] begriffen nichts, bebten. Säuerlich
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Masse und Ekstase: Sternheims »Europa«
und heiß stand eine Wolke Schweiß steil, Staub schwirrte, Zittern fuhr durch die Menge und Stimmen krächzten heiser. Gewalt stampfte, die nicht Weg und Ausgang hatte, sich um sich selbst drehte, Pulse hob. Eura schwang sich in eine Woge und schwamm hin, wo es am schwülsten und dichtesten im Gewühl war. (Zeile 5-14)
»Pfiffe«, »Kreischen und Heulen« sind in der zitierten Passage interaktiv aufeinanderbezogen und evozieren akustisch das noch nicht zu überblickende Kampfgeschehen. Später wird der Kampfvorgang unmittelbar als interaktives Bewegungsgeflecht vergegenwärtigt: Plötzlich sieht sie Ketten Helme blitzen, Bandeliere. Ruck des Ganzen sprengt sie rückwärts gegen eine Hausmauer, an der sie hochgeschraubt wird. Seitenstraßen sind mit Druck von Dragonern und Gendarmen in den Platz gestemmt. [...] Pferde mit schnaubenden Nüstern tanzen auf Massen zu.
Die Masse erscheint als ein den Raum überspannendes vielgliedriges, enges Körpergewirr. Als »Gewühl« oder »Gedränge« — beides selbst substantivierte Verben, die Kraft und Bewegungsdruck anzeigen — ist ihr enger Körperkontakt vorgestellt, gleichzeitig aber wird auch ihre vielgliedrige Zusammensetzung betont; es ist eine Vielheit in der Gleichförmigkeit. »Gewühl« und »Gedränge« halten die Vorstellung des ungeordneten Durcheinander fest. Es herrscht eine zu enge Nähe. Die Masse steht sich in ihrer Richtungslosigkeit selbst im Wege, sie hindert sich und ist sich selbst Widerstand. Aber noch etwas leistet die Vorstellung des vielgliedrigen Gedränges: Sie führt mitten in die Menge hinein. Gedränge ist eine Binnenerfahrung in der Masse, denn die Masse wird hier aus ihrer Mitte heraus taktil erfahren. Weil die Heldin in die Masse eintaucht, und sich als Teil der Menge in der Masse bewegen wird, ist es nötig, die Vielgliedrigkeit zu betonen. Explizit wird vor allem in der ersten Szenenhälfte das Miteinander von Heldin und Menge in der gemeinsamen Bewegung betont: Eura stürzt in johlendem »Schwärm«, Qualm und »Gliedergefuchtel« vor, und sie wächst mit »den übrigen« an eine Stelle an; sie leckt »mit anderen« [einer] Entscheidung entgegen. Die Heldin steht in einem verdichteten Zusammenhang, der sich seinerseits aber selbst — als Folge oder Ursache der Kampfhandlung — durch die Masse bewegt. In dem Augenblick, als die Heldin in die Masse >eintauchtrealen< Handlung Phänomene der kollektiven Regression, des Elementaren und des Archaischen zum Ausdruck zu bringen. Gleichzeitig soll das Kollektive auch als Erlebensform erscheinen: Sinnenrausch, Ich-Auflösung, Ekstase sind die Stufen eines Prozesses, in dem die Masse in ihrer Emotionalität beschrieben wird. Der Text muß sich aber innerhalb der Bildlichkeit Übergänge schaffen, auf denen er von der phänomenologischen Wirklichkeit auf die transzendente Ebene gelangen kann. Er erreicht dies über das bereits benannte Gleiten und Schwanken des Stils, der mit seinen unerwarteten Wechseln auf der Beschreibungs-, Bild- und Bedeutungsebene einen destabilisierenden und desorientierenden Zwischenbereich schafft. Dies soll an einem Beispiel detailliert vorgeführt werden (vgl. Schema 2, S. 106f.). Der Text: Da klatscht ein Knall, Singen zischt — und von herkulischem Pfeil ist sie tief zwischen den Brüsten entjungfert, dafi Entscheidendes einreiBt und Blut in Fontänen aus ihr zwitschert. In Orgasmus, der sie mit roter Tinte überschwemmt, sinkt sie hin. Dann schmeicheln ihr zarter rosa Horizonte.
Das vordergründige Geschehen, Euras Erschießung, ist durch die Dehnung und Zersplitterung seiner Abfolge in symbolisch und allegorisch überfrachtete Einzelmomente kaum noch erkennbar. Die Prozessualität des Schusses verdichtet sich zu dem Dingsubjekt eines phallischen Riesenpfeiles. Das tödliche Eindringen der Kugel verbildlicht sich als Koitus. Der Vorgang zersetzt sich in trancehaft synästhetische Eindrücke. Dabei werden die aus der Verzückung und Agonie Euras erklärbaren synästhetischen Verbindungen (Fühlen, Hören) zu ambivalenten Sinnbildern visualisiert (Fontänen; rosa Horizonte). Die in den Text hineingewebten elementaren Großmetaphern (Feuer und Wasser) stellen eine Verbindung des individuellen ekstatischen Vorgangs zum Kollektiv-
106
Masse und Ekstase: Sternheims »Europa«
Pleonasmus
Da klatscht
Wasser, metaphorisch: Heldin und Masse verschmolzen
Chiasmus
ein Knall,
Schuß, Realität
Pleonasmus
Singen
Dingsubjekt (die singende Sehne des Bogens), Euphemismus
zischt —
Wasser und Feuer, metaphorisch: Heldin und Masse im Vulkanischen verschmolzen
und von herkulischem
mythische Ebene
Pfeil
Archaismus, Sexualsymbol: Überlagerung von Eros und Tod
ist sie tief zwischen den Brüsten
Stellvertretung
entjungfert.
Sexualisierung: Übertragung. Mythologisierter Zeugungsakt (allegorische Ebene: antiker EuropaMythos)
daß Entscheidendes einreiBt
Herz und Hymen: Übertragung; pars pro toto (Heldin): Euphemismus; mystische Ebene: Vordringen zum >Wesenskern
umschmeichelninneren< Einblick in das Massenphänomen. Der massenspezifische Charakter des Vorgangs erscheint als eine Entgrenzungsbewegung des Ichs zur Masse, die in einer ekstatisch-dionysischen Verschmelzung kulminiert. Der Ausgang der Massenanalyse beim Ich hat daher notwendigerweise massentheoretische Implikationen, auch wenn der Autor nicht von dezidiert massenpsychologischen oder psychoanalytischen Ansätzen, sondern von eher vitalistischen Grundvorstellungen ausgeht. Dennoch ist es hilfreich, die freudianische Trias von Ich, Es und Überich zum Verständnis der Szene heranzuziehen, da eine Verbindung zwischen der Es-Vorstellung und der vitalistischen Annahme einer auch triebenergetisch zu verstehenden Lebensenergie besteht.168 Euras Bewegung vom Ich zur Masse vollzieht sich über die Stufen Ich-Schwund, Verschmelzung und Entrückung. Es ist ein Weg vom zunächst isolierten Ich bis zur ekstatischen Vereinigung. Der Ich-Schwund wird motivisch ausgedrückt im Hervortreten der >niederen< Sinne — Schmekken, Riechen — und der (sexuellen) Leidenschaft. Eura fügt sich in einen allgemeinen Prozeß der Regression ein, der bis ins Tierische und sogar
16
* Freuds Massenpsychologie und Ich-Analyse, die an Le Bons Massenpsychologie von 1895 (s. oben, Kap. I., S. 25ff.) anschließt und sich kritisch mit ihr auseinandersetzt, erscheint 1921 (also ein Jahr nach dem Europa-Roman). Sie erklärt die Massenbildung aus der (individualpsychologischen) Bindimg der einzelnen Massenglieder an den Führer als ihr Ich-Ideal. Eine gewisse Nähe Stemheims zu solchen Erklärungsmustern wird insbesondere in der zweiten Massenszene deutlich, in der es darum geht, die Triebenergie der Masse durch den Auftritt der Königin im Zeremoniell zu binden. Solche Ähnlichkeiten (die ihre Grenze u.a. darin haben, daB Freuds Erklärungsansatz von der Vater-Gesellschaft ausgeht) dürften allerdings eher gemeinsamen Wurzeln der Psychoanalyse, des Vitalismus und auch des Expressionismus geschuldet sein, denen allen es um die Erkundung der Seele geht.
Die Revolution als haltloser Taumel
109
Archaische zurückreicht (sie fliegt in einem »Schwärm«, an »Mäulern« und »Mähnen« vorbei, »speit« Flammen, »leckt« w i e in einem Rudel mit anderen [der] Entscheidung entgegen 1 6 9 ). Ihre Entrückung schlägt sich nieder in e i n e m zunehmenden Schwund der RealitätsWahrnehmung. Mehr und mehr wird die äußere Wirklichkeit verdrängt durch ein ekstatisch-halluzinatorisches Erleben, das im Text von zunehmend stärker schwankenden Bildschichten und synästhetischen Formulierungen begleitet wird. Den Bereich des DionysischEkstatischen drückt Sternheim vorwiegend durch eine Thematik orgiastischer Entfesselung aus. D i e Entrückung der Heldin wird als orgiastische Ver-
169
Die Charakterisierung der Masse durch Tiermetaphern ist Jahrtausende alt, ihre Tradition wurde bereits im Überblicksteil gestreift, so im Zitat Charrons (s. S. 11), der sich seinerseits auf klassische Muster bezieht. Dietmar Peil geht in seiner Untersuchung zur Staats- und Herrschaftsmetaphorik (s. Anm. 23) in zwei ausführlichen Kapiteln auf die politische Verwendung des Herden- und Bienenbildes ein: Die Herdenvorstellung einerseits ist als Teil des dichotomischen Bildes von Herde und Hirten im antiken griechischen Staatsdenken geläufig, reicht aber bis in die Blütezeit der altbabylonisch-assyrischen Kultur zurück. Im Bild vom »guten Hirten« hat sie darüber hinaus eine eigenständige biblische Tradition, die im Spätmittelalter wirksam wird. Mit der gleichzeitigen Aristoteles-Rezeption setzt eine verstärkte politische Verwendung des Bildes als Staatsmetapher ein, die — aufgrund ihrer Affinität zum System der absoluten Monarchie — bis weit ins 18. Jahrhundert erfolgreich war. Im Zuge des demokratischen Gesellschaftsdenkens seit der Französischen Revolution verliert das Bild seine positive Verbindlichkeit und wandelt sich in eine kritisch-polemische Metapher: Es enlarvt die >Schlächter< in den Hirten oder prangert das dumpfe Verhalten der unmündigen >Herde< an. Es überlebt im politischen Schlagwort vom »Stimmvieh«, während der Bezug auf den Hirten obsolet geworden ist. (Peil, S. 29ff.) Der »staats«gründende Bienenschwarm andererseits gibt im Bereich der politischen Tiermetaphorik das differenzierteste Denkmodell der frühen Staatstheorie ab. (Aus ihm leitet sich übrigens im 16. Jahrhundert der offizielle Name für die religiöse Massenbewegung der »Schwärmer« ab.) Die naturwissenschaftliche Erkenntnis über die Bienen, die Entdeckung des wahren Geschlechts des vermeintlichen »Bienenkönigs«, führte allmählich dazu, dafi das Bild, das zunächst zur Absicherung der (natürlichen) Überlegenheit der Monarchie diente, seine Beweiskraft verlor und auch hier kritische Bildvarianten (die Ausbeutung durch den Imker, die Bedrohung durch den Bären) in den Vordergrund traten. (Peil, S. 166ff.) — Interessant ist nun, daß die am Ausgang des 19. Jahrhunderts entstehende Massenpsychologie entscheidende Impulse von der Zoologie erhielt, mithin die alte Metaphorik in wissenschaftlicher Gestalt wiedererscheint: Tarde und Sighele wurden durch die Nachahmungs-Theone des Biologen und Tierpsychologen Alfred Espinas beeinfluBt, der (wie erwähnt) das Verhalten von Herden, Rudeln und Bienenschwärmen untersucht hat. Le Bon, der an Tarde und Sighele anknüpft, setzt an die Stelle der »Nachahmung«, bzw. der psychischen »Ansteckung« (Sighele), den Begriff der Suggestion (s. oben, Kap. I., S. 25ff ). Die Auseinandersetzung mit dem »Herdentrieb« bestimmt auch um 1920 die Diskussion. Freud (der sich hier speziell auf eine englische Untersuchung von W. Trotter bezieht) spricht sich in Massenpsychologie und IchAnalyse (Kap. IX u. X) ausdrücklich gegen die Vorstellung eines (unzerlegbaren) »Herdeninstinktes« aus. Stattdessen geht er von der Grundvorstellung der »Urhorde« als eine von einer starken Vaterfigur beherrschten Masse aus. Am Rande bezieht er sich auch auf das »Bienenmodell«, mit dem er den Übergang der Massenpsychologie in Individualpsychologie demonstrieren will: Es muß im Bedarfsfall möglich sein, aus jeder Larve statt einer Arbeiterin eine Königin zu ziehen.
110
Masse und Ekstase: Sternheims »Europa*
zückung angezeigt. Sternheim überhöht das Orgiastische stellenweise zu einem gebrochen sublimen Vorgang, indem er es mit Themen aus dem Bereich des Heiligen, des Magischen oder Mythischen unterlegt. So wird die archaische Regression zunächst zu einem höheren Ur-Wissen und Ur-Verstehen: Alles hat Atem, den sie nie gespürt. Urworte rollen auf, Muttersprache versteht und heult sie stürmisch wie Niegehörtes aus der Brust hoch. (Zeile 30/31)
Der dionysische Liebestaumel wird zum katholischen Kommunionsritual, in dem Eura, zugleich Venus und Madonna, als Priesterin und Sprachrohr des Jenseits fungiert. Jetzt kommt es darauf an, spürt sie, jetzt im Moment muB Leben gipfeln, Mensch und Mitmensch, Kommunion und Exhibition sein, und während Knie an Knie Zuschauer wanken, reckt sie mit riesiger Gebärde sich über sich selbst, klafft wie einen Schalltrichter des Jenseits das Maul auf und schleudert plastisch kolossalen Schimpf auf Militär [...]. (Zeile 47-52)
Schließlich flicht der Autor auf eine travestierende Weise mit dem »herkulischen Pfeil« in Anlehnung an den antiken Europa-Mythos den mythologischen Zeugungsakt mit in die orgiastische Motivschicht ein. Als Zielpunkt der gewaltigen Entfesselungsbewegung erscheint in der Szene die Ekstase. In der ekstatischen Erfahrung finden Sprengung und Verdichtung ihren gemeinsamen Schnittpunkt außerhalb des kategorialen Systems der Realität. Die Ekstase ist zugleich höchste Entfesselung und höchste Verdichtung des Erlebens. Sie ist das Erfahrungsmuster, in dem die Zerstörung sich ins Positive kehrt: Das Ich wird gesprengt, um in ein höheres Leben und Erleben aufzugehen. Die Ekstase als ein Muster »individueller* Entgrenzungserfahrung vermittelt daher zugleich das kollektive mit dem individuellen Elementarereignis. Von hier aus erklärt sich der narrative Ausgangspunkt der Szene bei der Heldin, die kompositorische Verankerung der Massengestaltung im individuellen Ich. Wesentlich für die Ekstase ist die Transzendierung des Ichs. In diesem Sinne also ist die Ekstase das Muster einer überindividuellen Erfahrung, die aber (vergleichbar mit der Initiation) vom Ich selbst ausgeht. Die Ekstase als ein Beschreibungsmuster der Massenerfahrung formuliert das Massenereignis daher notwendigerweise aus der Perspektive des Ichs. Im Prozeß der ekstatischen Auflösung und Entgrenzung Euras in die Masse wird das Massenphänomen daher als ein Weg vom Ich zur Masse beschrieben, der zugleich aber über die Masse hinaus zu einer Schicht des >absoluten< Erlebens führt. Die Masse ist nicht Ziel, sondern Durchgangsstadium. Sie ist das Medium einer ekstatischen Lebenssteigerung. Daher werden Ich-Auflösung und Nivellierung als negative Angleichung an die Masse in eine Kulminierungs- und Steigerungssymbolik überführt. Sternheim bringt die allmähliche Entrückung seiner Heldin als eine Entzweiung mit der Realität zum Ausdruck, indem er die ekstatische Lebenssteigerung zunächst mit dem Prozeß einer realen Erhöhung einhergehen läßt (Eura wird als Königin der Masse inthronisiert), dann aber
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den sublimen Vorgang durch krasse Vorgänge auf der >realen< Ebene krude unterläuft und bricht (während die Protagonistin in >höchster< Verzückung >schwebtoben< und >unteninnen< und >außen< nicht mehr greifen. Die existentielle Polarität von Leben und Tod selbst wird außer Kraft gesetzt, denn die Ekstase ist genau durch ihre Zwischenstellung zwischen beiden Polen bestimmt. Und diese Zwischenstellung drückt sich auf der Ebene des Textes aus in einem durchgängigen bildsprachlichen Oszillieren zwischen Leben und Tod. Eura erlebt den Todespfeil als Liebespfeil. Sie löst sich sterbend in höchste Wollust auf, die der Autor in einer lebenskultlichen Motivik unterstreicht. Und in den »rosa Horizonten«, die ihr »zarter« schmeicheln, fallen Morgenröte und Abendrot, Tagesanbruch und Tagesuntergang, Hoffnung und Verblassen ununterscheidbar zusammen. Auf dieses letzte, sehr verhalten ausgeführte Bild des rosa Horizontes (Zeile 62) soll hier näher eingegangen werden, weil Sternheim durch eine Überlagerung von revolutionärer und vitalistischer Bildtradition eine Überblendung von politischer Vision und individuell ekstatischem Empfinden schafft. Das Bild greift zum einen auf eine zugleich konterkarierende Weise auf den traditionellen Topos der Aurora zurück, der bereits in der Revolutionssymbolik von 1789 eine zentrale Rolle spielt und in zahlreichen Revolutionsgemälden aufzufinden ist. In der Vorstellung der aufgehenden Sonne symbolisiert sich die Revolution von 1789 als Anbruch einer neuen Ära, in der die Vernunft der natürlichen Ordnung (symboliert in der Sonne) regiert. Diese Vorstellung eines aufgehenden Zeitalters der Freiheit und Vernunft wird zu einer bestimmenden Metapher der bürgerlichen Geschichtsphilosophie. Hegel prägt das berühmte Bild von der Revolution als »herrlichem Sonnenaufgang«. Die aufgehende »Sonne der Freiheit« geht als Aufbruchssymbol in die revolutionäre Liedkultur, Malerei und Graphik ein. Noch die konstruktivistischen und formalistischen Avantgarden zur Zeit der Oktoberrevolution greifen den
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Topos auf, wandeln ihn dabei aber vom Naturemblem zu einer künstlichen Sonne um.170 Einen apokalyptischen Gegenentwurf findet der Topos im Zeichen der »blutroten Sonne«. Ihm scheint der »rote Untergang«, als ein Leitmotiv der expressionistisch-vitalistischen Literatur, verwandt.171 Sternheim greift aber gerade an dieser Stelle nicht die Intensität der roten Sonnenglut auf, in deren untergehenden Brand alles apokalyptisch eingetaucht wäre, sondern im Gegenteil, er deutet äußerst verhalten ein sanftes An- bzw. Ausklingen der Farbkraft an (»rosa« zu »rot«, bzw. umgekehrt »rot« zu »rosa«). In ihm drückt sich (auf der realen Ebene) das Versiegen der Lebenskraft in der verblutenden Heldin aus — ein Versiegen, das (auf der halluzinatorisch-visionären Ebene) von der verzückt-entrückten Protagonistin als Aufbruch zu neuen Horizonten erlebt wird. In diesem Sinne überlagern sich Transzendenz und politische Utopie. Das Bild läßt sich auf der anderen Seite aus einer weiteren vitalistischen Bildtradition verstehen, die auf Nietzsches Vorstellung vom »großen Mittag« zurückgeht, als Metapher für den Punkt, an dem der Mensch die absolute
170
Das Emblem der Freiheit und Vernunft fügt sich damit ikonographisch einem umfassenden technisch-industriellen Umgestaltungsprozeß der Gesellschaft ein und verläßt damit die naturalen Kategorien, unter denen das vorindustrielle 18. Jahrhundert in die Moderne aufgebrochen war.
171
Eine Überlagerung des Topos der revolutionären Morgenröte durch einen apokalyptisch grundierten Sonnenuntergang könnte Sternheim beispielsweise in Georg Heyms Novelle »Der fünfte Oktober« (1911) vorgefunden haben (erschienen 1913 in Der Dieb. Ein Novellenbuch; im folgenden zitiert nach G. Heym: Dichtungen und Schriften, Gesamtausgabe, 6 Bde, hrsg. v. K. L. Schneider, Hamburg, München 1960—68, Bd. 2 (»Prosa und Dramen«, 1962), S. 6-18): Der Hungeraufstand der Pariser Volksmassen im Herbst 1789 ist der stoffliche Anlaß zu einer vitalistischen Revolutionsdarstellung. Die Novelle wird schließen mit dem Aufbruch der Masse nach Versailles, der zugleich als eine Chiffre für den inneren Aufbruch aus einer erstarrenden Lethargie zu verstehen ist. An der entsprechenden Stelle wird zunächst die »blutrote« Fahne als »Oriflamme der Freiheit« mit der Morgenröte zusammengebracht: Sie flackert dem Menschenzug im Abendhimmel voraus wie eine Morgenröte. Aufbrach und Untergang fallen jedoch im weiteren Textanschluß zusammen: »Und das Abendrot lief über sie hin, über ihre Gesichter und brannte auf ihre Stirnen einen ewigen Traum von Größe. Die ganze meilenweite Straße brannten tausend Köpfe in seinem Lichte wie ein Meer, ein urewiges Meer. Ihre Herzen, die in der trüben Flut der Jahre [...] erstickt waren, fingen wieder an, zu brennen, sie entzündeten sich an diesem Abendrot. Sie gaben sich die Hände auf dem Marsche, sie umarmten sich. [...] [...] Und die Sonne zog ihnen voraus, den Abend herab, sie entzündete die Wälder, sie verbrannte den Himmel. [...] Aber die gewaltigen Pappeln der Straße leuchteten wie große Kandelaber, jeder Baum eine goldene Flamme, die weite Straße ihres Ruhmes hinab.« (S. 17f.) — Vgl. eingehender zur Motivik des »roten Unterganges« Gunter Martens: Vitalismus und Expressionismus. Ein Beitrag zur Genese und Deutung expressionistischer Stilstrukturen und Motive, Stuttgart 1971, S. 240ff. (»Der rote Untergang — ein Übergang«; mit einer Interpretation zu Heym S. 246-49).
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Bejahung des Lebens erreicht.172 Eur(op)a hätte danach bereits ihren Zenit überschritten. Die Metapher deutete damit auch auf der symbolischen Ebene auf den nahenden Untergang voraus, den die Heldin selbst (ebenso wie den Todespfeil, ebenso wie die eigene Agonie) >irrtümlich< als Symbol des Aufbruchs und des Lebens erlebt. Diese Deutung wird gestützt durch den adverbialen Aufbau der Zeit in der zweiten Szenenhälfte, auf den das nächste Interpretationskapitel eingehen wird. Die Ambivalenz von Tod und Leben, Sonnenaufgang und Sonnenuntergang, fügt sich einer noch größeren Ebene ein: Das gesamte Geschehen ist — das wird im einzelnen noch deutlicher werden — eingetaucht in eine elementare Entfesselung der Natur. Es unterliegt damit einer grundsätzlichen Spannung zwischen Eros und Tod, Zeugung und Untergang, Apokalypse und Neubeginn. Auch in diesem Sinne greift die Ekstase das elementare Ereignis einer epochalen Erneuerung auf der Ebene des Individuums auf. b)
Raum und Zeit in der Ekstase
Raum und Zeit sind, wie bereits gezeigt wurde, als reale Kategorien bald schon außer Kraft gesetzt. Die Ekstase wird von anderen Erlebensdimensionen bestimmt. Im Vordergrund steht daher nicht die architektonische Struktur des Platzes, sondern das rauschhafte Raumgefühl der Heldin innerhalb der den Platz überschwemmenden Menschenmasse, die nur wechselhafte Konturen und Raumverhältnisse kennt. Dichte, Eintauchen, Strudel, Entgrenzung, Verschmelzung, Erhöhung, Sturzflug, Widerstand konstituieren Euras ekstatischen Erlebensraum. Teils sind reale Raumfaktoren — so die Laterne, so die absperrende Kette — mit in die übergreifende Entgrenzungssymbolik hineingezogen. Teils wird das ekstatische Raumgefühl über die bildlichen Überformungen zum Ausdruck gebracht. So ist Euras Wogen auf dem Meer der Masse mit dem Gefühl, zu schweben, getragen- oder emporgehoben zu werden, verknüpft. Oder sie erlebt, als Teil des Menschenmeeres, den Widerstand des »Walls«, der ihrem expansiven Überflutungsdrang entgegensteht. Die ekstatische Überformung des Raumes betrifft neben der horizontalen Entgrenzung in besonderer Weise den vertikalen Raumaufbau. Es wurde bereits darauf verwiesen, wie stark die Vertikale den Textaufbau beherrscht; sie wurde in dem Zusammenhang als Funktion der räumlichen Drängung kenntlich gemacht. An einer späteren Stelle der Untersuchung wird darüber hinaus auf ihre Verbindung zum Vulkanischen einzugehen sein (vgl. S. 135ff.). Wesentlich für den vertikalen Raumaufbau ist die Vorstellung der Woge, die einen zweifachen Höhepunkt der Szene erzeugt. Am ersten kulminiert die Energie der Masse in der Heldin. Ihre >Erhöhung< zur Führerin (sie thront als von der Masse erhobene Königin über dem Men-
172
Vgl. Martens, Vitalismus und Expressionismus, wie Anm. 171, S. 49.
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schenmeer) ist zunächst eine Steigerung der persönlichen Lebenskraft und Macht. Eura wird monumentalisiert, sie »steigert sich zu mächtiger Geste«, »reckt mit riesiger Gebärde sich über sich selbst«, »klafft ... das Maul auf« und wirft »kolossalen« Schimpf aus. Größe, Macht, Potenz und Höhe sind in einer Symbolik der Gipfelung zusammengeführt. Die Heldin beginnt paradoxerweise in dem Moment mit der Masse zu verschmelzen, als sie an deren herausgehobenster Stelle steht. Die Nivellierung vollzieht sich über ein hierarchisches Modell der Exponierung. Eura will in ihrer Erhebung Stifterin einer neuen mitmenschlichen Gemeinschaft sein, die hier in diesem Augenblick entstehen soll: Jetzt kommt es darauf an, spürt sie, jetzt im Moment muB Leben gipfeln, Mensch und Mitmensch, Kommunion und Exhibition sein [...].
Im mystischen Akt der Kommunion sind die gesellschaftlichen Ränge außer Kraft gesetzt, obgleich das Ritual hierarchisch angeordnet ist. Der zweite Höhepunkt folgt unmittelbar auf den ersten. Er ist durch den aufsteigenden Schrei der Masse angezeigt, mit dem diese sich in Bewegung setzt. Während zuvor Eura Trägerin des Geschehens war, wird jetzt die Masse aktiv: Doch da in gellendem Schrei brüllt Volk auf und wirft sich Lawine auf Bewaffnete.
Eura wird durch die Eigendynamik der Masse, die sich zu einer Sturzwelle aufrollt, von ihrem >Thron< herab mitten ins Kampfgemenge gestoßen. Am Szenenausgang liegt sie — buchstäblich — am Boden; sie blickt von unten auf den Soldatenstiefel, der sie überrennt. Die Position hat sich ins Gegenteil verkehrt, dennoch hält der Text die orgiastische Steigerungssymbolik bei: Die ekstatische Überformung gleitet über den Bruch, welcher der Umkehrung zugrunde liegt, hinweg. Ähnliches gilt für die Entgrenzungssymbolik: Während sich der Verschmelzungswunsch vorher auf die revolutionäre Masse bezog, umgreift er nun >bruchlos< auch die militärische Masse. Zunächst will Eura den gegnerischen Wall »zerreißen«, ihre auflösend-flutende Kraft ist also kämpferisch und aggressiv. Stattdessen wird sie selbst zerrissen. Aber auch hier gleitet das ekstatische Erleben über die Umkehrung hinweg: Am Schluß umschlingt sie den Soldatenstiefel im rauschhaften Liebestaumel. Während die Szene bislang von einer >Unzeit< beherrscht wurde, bringt gerade Euras ekstatische Verzückung eine neue Zeitstruktur hervor. Sie greift aus in die bis dahin vorherrschende Plötzlichkeit, die dem Erleben im Tumult mit seinen unberechenbaren Abläufen und Peripetien entspricht (vgl. das Schema S. 100, das in diesem Zusammenhang noch einmal zugrunde zu legen ist). Die Veränderung zeigt sich an über die Adverbien »noch einmal«, »endlich«, »zum letzten Mal«, die das Zeiterleben von einer Ankunft her strukturieren. Am ersten Szenenhöhepunkt, an dem die ekstatische Verschmelzung der Heldin mit der Masse eingeleitet wird, verschiebt sich der Zeitaspekt zu einem durativen »Jetzt«, das zudem durch die gleichzeitige Dauer im tempo-
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ralen Nebensatz (»während«) festgehalten und herausgehoben wird. Hier ist ein Glücksgefühl erreicht, in dem sich etwas verdichtet, das die Heldin 20 Jahre zuvor im Kontakt mit der Masse erfahren hat und nun bewahren will. Eura hat ihren >Zenit< erreicht. Die Wendung im Geschehen durchkreuzt Euras Bestreben, denn die Dynamik der Masse zerstört die erreichte Situation. Es ist ein Bruch, den, wie bereits am Beispiel des Raumes ausgeführt, die ekstatische Überformung überspielen will. Daher gebraucht der Text an dieser Stelle eine zweideutige Wendung: »doch da«, scheinbar kaum unterschieden von dem bislang verwendeten »da«. Es ist sowohl als Ausdruck der höchsten dramatischen Spannung zu verstehen als auch als Einleitung einer Peripetie. Höhepunkt und Wendepunkt fallen zusammen. Die Adverbien »noch einmal«, »endlich«, »zum letzten Mal« weisen aber eindeutig auf einen Umschlag hin: Die Transzendenz, bereits im »Jetzt« des mystischen Gemeinschaftsaktes punktuell erreicht, reicht jetzt vom Endpunkt, vom Tode her strukturierend in die Wirklichkeit hinein.
c)
Sexualität und Ekstase
Euras triebhafte Entfesselung ist durch den doppelten Bezug auf der einen Seite zur revolutionären Masse und auf der anderen Seite zum Militär bestimmt: Sie wird durch Gemeinschaftsrausch einerseits und Kampfrausch andererseits beseelt und enthemmt. Beide Rauschvorgänge sind im Text durch die gemeinsame Motivschicht des Sexuellen angezeigt. Eura wird als Frau sowohl zur Masse als auch zum Militär in ein polarisiertes Geschlechtsverhältnis gesetzt. Schon bevor sie den Platz erreicht, wird ihre revolutionäre Leidenschaft erotisch konnotiert: [...] schwenkte Hut an Bändern, warf Kußhand [...]. Dann im Gemenge, in einem ungerichteten überbordenden Glücksgefühl, umarmt sie die Laterne, die im Wege steht. Grundsätzlich ist die Masse — und auch die Heldin als ihr Teil — durch eine androgyne Symbolik besetzt: Es vermischen sich die männlich-phallische Gewalt des Vulkans mit der weiblich-flutenden Kraft des Ozeans (ausführlicher zur ozeanischen Metaphorik weiter unten, S. 137ff. u. 141ff.). Die Menge wird durch eine symbiotische Verschmelzung nach innen und eine aggressive Entladung nach außen geprägt. Im entscheidenden Moment der Szene transformiert sich aber die Masse in einem katalytischen Prozeß: Eura verdichtet das phallische Element der Masse, indem sie sich als Frau in ein lebenssteigerndes erotisches Spannungsverhältnis zur Masse setzt. Während sie selbst von einem überbordenden Verschmelzungsgefühl überschwemmt wird, das auf ein kommunitäres Erleben hinauswill, >ermannt< sich die Masse zum aufständischen Volk. Es wirft sich nicht in einen Liebestaumel, sondern in den Kampf mit der militärischen Ordnungsmacht. Eura, die in ihrer rauschhaften Verzückung und Entrückung keine Gegensätze mehr kennt
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zwischen Oben und Unten, Freund und Feind, Ich und Außen, Leben und Tod, bezieht am Ende, im Sterbeakt, sogar noch den Soldatenstiefel — Insignium der Gewalt — in ihren ekstatischen Verbrüderungs- und Liebestaumel ein. Sie entgrenzt in ihrer Entfesselung den Eros zum Tod. Nicht erst am Schluß tritt das sexuelle Verhältnis Euras zum Militär hervor. Von Anfang an ist der Text dem Muster eines Geschlechtsakts nachgebildet. Die militärische Gewalt wird in ihren Attributen, den Waffen und dem Stiefel, mit einer phallischen Symbolik unterlegt. Der klirrende und sich reckende »Waffenglanz« blendet die Heldin und präsentiert sich ihr als tänzelndes und sich brüstendes Werbeverhalten. Das Aufeinandertreffen mit der Kavallerie skandiert eine Erektion: [...] Säbel steif in der Luft. Alles steht. [...]
Eura bündelt in sich die ozeanische Energie. Sie kämpft mit ihrer auflösendüberflutenden Kraft gegen den »Wall« der Soldaten an. Sie läßt ihre Brüste zu Kampfwaffen anschwellen: Noch einmal stemmt sich ein Wall gegen sie, an den sie pralle Brüste wirft, ihn endlich zu zerreißen. (Zeile 57/59)
Der entjungfernde Pfeil< hebt die sexuelle Symbolik in eine drastische Bildlichkeit. Sie steigert sich am Szenenschluß kraß im Bild der ekstatischen >Hingabe< an den Soldatenstiefel, das bar jeglicher mythologischen Überformung ist. Bemerkenswert ist, daß der Autor am Schluß auch den Sergeanten individualisiert. Für einen kurzen Augenblick werden die revolutionäre Frau und der soldatische Mann als individuelles >Paar< aus dem Simultangeschehen herausgelöst. Erst der Hinweis auf die >nachstürzenden< Soldaten löst die momentane Isolierung — nun aber im Blick auf die den Platz zurückerstürmende Gegenseite — wieder in das kollektive Kampfgeschehen auf.173 Es kann nicht Aufgabe dieser Arbeit sein, der gewaltbesetzten Sexualitätsdarstellung nachzugehen, wie sie sich auch in anderen Zusammenhängen in Sternheims Werken findet. Als Ausdruck der vitalen Lebenskraft spielt die Sexualität eine herausragende Rolle in seinem Werk.174 Auf die grundsätzliche Aufhebung der Gegensätze in der Ekstase wurde bereits verwiesen. Gerade in der Vermengung von Lust und Gewalt, Liebe und Vergewaltigung soll das Entfesselte und Wilde des Vorgangs, das sich an keine moralischen Konventionen hält, zum Ausdruck kommen. Sternheim hat das krasse Ende
173
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Die Szene endet mit einem bewußten perspektivischen Bruch: Mit dem Blick auf den Sergeanten führt der Autor aus einem ekstatischen Erlebensraum hinaus, der im Verlauf der Szene das Erzählgeschehen aufgesogen hat. Einen ähnlich grotesk anmutenden ekstatischen Tod wie die Heldin erlebt in der Erzählung Busekow (1913) der gleichnamige Verkehrspolizist, der im entrückten Hochgefühl seines gerade neugewonnenen Liebesglückes bei der Arbeit im Straßenverkehr überfahren wird. Vgl. die entsprechende Passage in GW 4, S. 26.
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der Heldin bewußt als Kontrapunkt zu zwei früheren Stellen des Romans angelegt, an denen das Thema des Geschlechterkampfes angegangen wird. In der ersten Passage, genau in der Mitte des Romans, >vergewaltigt< Eura als Akt der Selbstbefreiung ihren Freund Carl Wundt. Die zweite Passage spielt in dem (bereits erwähnten) belgischen Asyl für schwangere Mädchen, denen Eura »anbrechendes Evangelium vollkommen revolutionierter Gemeinschaft zwischen Weib und Mann« verheißen will. Aber sie konnte in Mienen fassungsloses Staunen nicht verkennen, sprach sie vom Mann, der fQr die Insicheingesperrten furchtbares Tier sein mußte, wie von Leichtzuflberwindendem. Als in Schwung und außer sich sie wieder einmal weissagte, hob mit Ruck vor allen andern eine mickrige Schwarze Rock vorn über den Nabel, und auf ihres Unterleibs Bombe malte sich blau eines Stiefelabsatzes vollständiger Druck. Während grinsend die Mädchen hinsahen, war Eura in Blutwelle purpurn getaucht und ballte Fäuste am Leib. Sturmschritt lief sie, von Segeln Haß nach Haus geweht. In diesen Augenblicken stand nur die Carl gegenüber durchgesetzte weibliche Gewalt auf ihres Lebens sonst leerer Habenseite. (358; Hervorh. v. A.G.)
Der Soldatenstiefel, den sich die ekstatische Eura (nach dem Willen ihres Autors) verzückt in die Gedärme zieht, desavouiert — und zwar im Augenblick des versuchten revolutionären Umsturzes selbst — gleichermaßen ihr politisches wie ihr feministisches Engagement. Ihr ekstatischer Taumel schlägt allen aufgeklärt-politischen Zielen ins Gesicht. Sternheim setzt dem Ganzen noch eine zusätzliche Spitze auf: Die barbarische Wildheit geht in der Aufruhrszene von der Protagonistin, und nicht von dem Soldaten, der verstört seinen Tritt bremst, aus. In einer letzten konterkarierenden Bewegung nimmt der Autor ausgerechnet den Soldaten, der als Teil der repressiven Kriegsmaschinerie kein Eigenleben besitzt, als »einzigen Menschen« aus dem allgemeinen Taumel aus. Dennoch hält Sternheim seine Szene bis zum Ende in einer charakteristischen Ambivalenz, die auch der perspektivische Bruch im letzten Satz, in dem die Diskrepanz zwischen dem ekstatischen Vorgang in seinen >sublimen< Merkmalen und dem brutalen Realgeschehen kraß hervortritt, nicht auflöst. Noch in dem »Lächeln«, in das Eu(ro)pa unter dem Stiefel des Soldaten verzückt »entblättert«, ist (in der Bedeutungsspanne zwischen entlauben, welken und enthüllen) ein Oszillieren zwischen Leben und Tod bewahrt. Eura mag in ihrer Ekstase dennoch an jenen >wahreren< Lebenskern gelangen, nachdem sie zeit ihres Lebens strebte. Und der Soldat mag ihr irritierter Zeuge dabei sein. 4.
Die allegorische Ebene
a)
Eur(op)a als Freiheitsgöttin
Stemheims Szene ist vor allem allegorisch zu deuten, wenngleich hier durchaus auch eine ungute Verbindung von Masse, Frau und Sexualität entsteht. Es liegt auf der Hand, daß der Autor traditionelle Muster der
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Masse und Ekstase: Sternheims
»Europa«
Revolutionssymbolik aufgreift und sie zugleich in einer konterkarierenden Darstellung untergräbt. Eura ist offenbar sehr eng an die allegorische Verkörperung der Revolution im erotischen Bild der Freiheitsgöttin angelehnt. Dem Kunstkenner und Kunstsammler Sternheim dürfte die ikonographische Tradition bekannt gewesen sein, die 1789 entsteht und über das 19. Jahrhundert hinaus in das beginnende 20. Jahrhundert reicht. In dem berühmten Gemälde von EugÄne Delacroix aus dem Jahre 1830, »Die Freiheit führt das Volk«, in dem der Maler verschiedenste Revolutionsdarstellungen seit 1789 verarbeitet, ist die Göttin eine Synthese aus Venus und Bellona (als »Gassenvenus«, als »seltsame Mischung von Phryne, Poissarde und Freiheitsgöttin« charakterisiert sie Heinrich Heine175). Sie führt mit Gewehr und Trikolore die Arbeiter und Bürger der Pariser Juli-Revolution an. Als Kämpferin vergrößert und herausgehoben aus der Masse, die unter ihrer Emphase aus dem Bildraum auf den Betrachter zustürmt, ist sie zugleich als einzige Frau als erotischer Gegenpol zu der ausschließlich männlichen Masse angelegt: Sie ist ein mitreißendes Freiheitssymbol, weil sie mit der politischen auch die sexuelle Befreiung verheißt. Daher lenkt Delacroix den Blick verstärkt auf den entblößten Busen (der als ikonographisches Zeichen bereits zur revolutionären und republikanischen Allegorientradition gehört), indem er dessen Entfesselung* aus der Kleidung betont.176 Auch Sternheim hat seine Heldin als eine Mischung aus Venus und Amazone vorgestellt, beide Züge aber krasser ins Ekstatische und Sexuelle überspitzt. Eur(op)a, die ebenfalls überhöht als Kämpferin und Frau aus der — männlichen? — Masse herausgehoben ist, verheißt innerhalb der Masse politische Freiheit und neue Gemeinschaft über ihren >entfesselten< Leib, und sie setzt als Heldin des kämpferischen Frauentums ihren Busen als Waffe gegen den »Wall« der Soldaten ein.177 Die Interpretation stößt hier an das Problem der geschlechtlichen Differenz in der Sprache: Ist die Masse männlich, wenn nicht eigens auf die Präsenz von Frauen hingewiesen wird, die Masse grundsätzlich aber (eben um des Eindruckes des Massenhaften wegen) in ihrer personalen Zusammensetzung unscharf bleibt? In den Abbreviaturen (Hüte, Ballonmützen, Zigarettenstummel, Branntweindunst) ist kein Merkmal
175
»Französische Maler« (in: Sämtliche Schriften, 12 Bde, hrsg. v . Klaus Briegleb, Frankfurt/M., Berlin, Wien: Ullstein, 1981, Bd. 5, S. 40).
176
V g l . zu den weiblichen Allegorien der Französischen Revolution (la Liberti, la Raison, la Ripublique) Maurice Agulhon: Marianne au combat. L'Imagerie
et la symbolique
ripubli-
cainesde 1789 ä 1880, Paris 1979. Die »Marianne« entsteht zunächst im revolutionssatirischen Kontext des Jahres II als ein spöttischer Spitzname für die der Republik. 177
Von der ursprünglichen Bedeutung her wird die Amazone (griech. ν. α und mazos, also busenlos) darüber charakterisiert, dafl ihr als Bogenkämpferin eine Brust fehlt. Der Begriff wird aber im erweiterten Sinn gebraucht für die weibliche Kämpferin, wobei der Kontrast zur konventionellen
Rollenfestschreibung
gern
im
Gegensatz
von
Busen
Sexualattribut) und Gewehr (als phallisches Symbol) hervorgehoben wird.
(als
weibliches
Die Revolution als haltloser Taumel
119
des Weiblichen enthalten. An der entscheidenden Stelle werden Heldin und Masse erotisch polarisiert: Es sind (männliche) Proletarier, die gebannt an Eur(op)as entfesselten Gliedern hängen. Das Bild könnte sich direkt auf ein Motiv im Gemälde Delacroix' beziehen: Hier ist es ein individualisierter Kämpfer (der Mann mit dem Kopftuch), welcher der Freiheitsgöttin in einer hingebungsvoll-verehrenden Pose zu Füßen liegt. Der explizite Hinweis auf Euras Busen kann als Beleg dafür erachtet werden, daß hier tatsächlich die Tradition der Liberte aufgegriffen wird. Aller Dynamik des Bildaufbaus zum Trotz bewahrt die vorwärtsstürmende Liberte bei Delacroix eine gewisse verhaltene, >antike< Pose, von der sich die ekstatische Auflösung der Heldin Sternheims weit entfernt. Entfesseltere Bearbeitungen des Themas bieten spätere Künstler, so beispielsweise Theophile Alexandre Steinlen 188S in seinem Gemälde »Louise Michel auf der Barrikade«, und 1904, vor allem in »Die Befreierin«, in der die Freiheitsgöttin wie im Sturm hoch über die Köpfe der proletarischen Masse herausragt. Auch wenn es sich hier nicht darum handeln kann, direkte Bildeinflüsse auf Europa nachzuweisen (dazu wäre eine eingehende rezeptionsgeschichtliche Untersuchung der Bilder selbst erforderlich), ist darauf zu verweisen, wie präsent diese Bildtradition noch war. Rudolf Schlichters Aquarell »Straßenkampf. Französische Revolution« datiert von 1912, also aus Sternheims unmittelbarer Zeitgenossenschaft. b)
Der antike Europa-Mythos
Im antiken Mythos wird Europa von Zeus verführt, der ihr in der Gestalt eines Stieres erscheint. Sie wirft sich mit ihm in die Fluten und ereicht einen neuen Kontinent, der ihren Namen tragen wird. Sternheim spielt in seiner Szene auf den Mythos an. Vor allem nimmt er dabei den antiken Gründungsmythos auf. Auffällig ist, daß wohl die neue Heldin feststeht, aber unklar ist, in welcher modernen Metamorphose eigentlich Zeus erscheint: Eura schwankt in der Wahl ihres Liebhabers offenbar zwischen der revolutonären Masse und dem Militär. Sternheim symbolisiert den mißlungenen Erneuerungsversuch des Mythos im phallischen Pfeil, der sich als Todespfeil — und nicht als Liebespfeil — erweist. Da Sternheim seine Wortkunstkomposition so absichtsvoll durchgestaltet, scheint es angemessen, ihn beim Wort zu nehmen: Der Autor spricht von einem herkulischen Pfeil. Er überträgt damit ein Revolutionssymbol auf das Militär: In Herkules wird konventionellerweise die Gewalt des revolutionären Volkes symbolisiert. Andererseits brüllt in der behandelten Szene die Masse, und zwar als »Volk«, wie ein Tier — ein Stier? — auf, und Eura, oben auf, stürzt sich mit ihm ins Meer. Das Volk als revolutionärer Stier« scheint zunächst befremdlich. Die konventionelle Revolutionssymbolik kennt zwar das Volk als ungezähmtes wildes Tier, aber nicht seine Ausprägung als Stier. Unter dem Titel »Der rote Stier träumt« aber gestaltet Ren6 Schickele, in einem Gedicht der Sammlung
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Masse und Ekstase: Stemheims »Europa«
Weiß und Rot (1910), die 1920 in der zweiten Auflage erscheint, die erregte Menschenansammlung eines politischen Meetings als ein »zum Flug « bereites »apokalyptisches Tier«, »riesenhaft« und »mit tausend Herzen glühend«. Schickele koppelt hier ein biblisches Motiv mit dem expressionistisch-vitalistischen Bildkomplex des »roten Untergangs«. Daß die Zeugung des Neuen mißlingen wird, kündigt eine Motivschicht an, welche die Bilder des intensiven Erlebens mit einer Todessymbolik unterlegt: Wollust schlägt um in Agonie, (Tages-) Aufgang in Untergang. Carl, der am Romanende den »alten Erdteil« verlassen wird, läßt in seinem Schlußfazit keinen Zweifel über den allegorischen Hintersinn dieses >Hoch-Zeit-Martyriums< der Eura Fuld: [...] aus unüberwindlichen Zwängen hätte es so kommen müssen [...] — Europa war tot! Und wie mit den Worten aus einer Unfallchronik setzte er für sich hinzu: Wiederbelebungsversuche wären aussichtslos. (476)
5.
Exkurs: Naturale Metaphernkomplexe
a)
Der Bildkreis der Naturgewalt in seiner traditionellen Fundierung
Sternheim markiert den Einbruch der Revolution mit einem zeitlich-punktuellen, demonstrativen »da«, dem nach einer deutlichen Zäsur »todstiller Donner, dumpfes Brausen« folgt (Zeile 2). Das Ereignis bricht plötzlich und unvermittelt in das Zwiegespräch der Protagonisten, Carl und Eura, ein, die hier ihre letzte entscheidende Auseinandersetzung führen. Die beiden meteorologischen Metaphern zeugen davon, daß gerade eine Zündung stattgefunden hat: der dem Donner vorausgehende Blitz. Es muß ein folgenschweres Naturereignis sein, darauf weist das gravitätische Oxymoron »todstiller Donner« hin. Augenblicklich bricht sich die elementare Entladung in Eura Bahn. Euphorisch reißt es sie fort. »Instinktiv« findet sie zum Epizentrum des revolutionären >BebensKlimata< verdichtet werden. Mit dem Gewitter im besonderen aber greift Sternheim, wie schon Dickens, darüber hinaus auf einen Bildumkreis der traditionellen Revolutionsmetaphorik zurück, der den Schriftstellern wie auch den Lesern durch die relative Aktualität der Französischen Revolution im 19. Jahrhundert geläufig ist. Das Bild des Gewitters, auf das hier zunächst gesondert eingegangen wird, entstammt einer Metaphorik der Naturgewalten, von der im folgenden Abschnitt noch die Rede sein wird. Als eine offizielle Revolutionsmetapher prägt sich das Gewitterbild im naturphilosophischen Kontext aus, den die Französische Revolution von der Aufklärung übernimmt. Unter den naturrechtlich gewendeten mythisch-transzendentalen Bildprämissen geht das Gewitter als ein zentrales Symbol in die revolutionäre Selbstdarstellung von 1789 ein: Hier überlagern sich die implizite Vorstellung der Natur als gleichsam heilige ausgleichende Gerechtigkeit mit der Erfahrung — noch natural gefaßter — revolutionärer Volksgewalt. Das Gewitter verleiht dem Ereignis eine gleichsam transzendente Würde, verankert es in einer kosmischen Dimension. Es symbolisiert den gewaltsamen Umbruch zu einer neuen Ära. Wenn es sich »aufklärt«, werden die Kräfte der Finsternis vertrieben sein, und die >strahlende< Ordnung der Vernunft geht auf.178 In der Folge bürgert sich die politische Bedeutung der Metapher in den verschiedenen literarischen Genres — Pamphlet, Essay, Dichtung — ein. Die Revolutionen des 19. Jahrhunderts bestätigen die politische Bildverwendung und erweitern sie durch den eigenen Revolutionsbezug. Als »Märzensdonnerwetter« beispielsweise bezeichnet ein Zeitgenosse die deutsche Revolution von 1848 in einem — übrigens reaktionären — Pamphlet.179 Sternheims eigenes Beispiel belegt die Virulenz der Metapher im Kontext der expressionistisch-vitalistischen Bildlichkeit und im Bezug auf die Revolution von 1918/19."°
178
In den Zusammenhang der traditionellen naturalen Revolutionssymbolik gehört auch das Bild der Aurora, auf das Sternheim aber nur in verhaltener Weise anspielt und das er nicht zu einem tragenden Metaphernkomplex macht (vgl. S. l l l f . ) . — Zur Licht- und Schattenmetaphorik der Revolution vgl. Jean Starobinski: 1789 — Les Emblimes de la raison, Paris 1973 (dt. v. Gundula Göbel, München [1989]).
179
Aufklärung über die Grundursachen des Merzen-Donnerwetters, veröffentlicht unter dem Namen Antoni Bauernfreund, Augsburg 1848; erwähnt bei Hans-Wolf Jäger: Politische Metaphorik im Jakobinismus und im Vormärz, Stuttgart 1971, S. 32. Jäger gibt (S. 29-34) weitere sinnfällige deutsche Literaturbeispiele zur revolutionären Bildverwendung des Gewitters, u.a. bei Hölderlin. Bemerkenswert ist der explizit sensitive Begründungszusammenhang, den Fanny Lewald in einer Tagebucheintragung vom 18. März 1848 für die Bildverwendung gibt: »Heute lag wirklich wieder die Revolution in der Luft, wenn man so sagen darf. Man fühlte, man ahnte sie wie ein herannahendes Gewitter« (zit. n. Jäger, S. 31).
180
Noch die jüngsten Veröffentlichungen zum 200. Jahrestag der Französischen Revolutionkehren signalhaft in Titeln und Buchaufmachungen auf die Gewittermetaphorik zurück; vgl. etwa die Buchillustration der deutschen Ausgabe von Andr€ Castelot: Die Französische Revolution
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Masse und Ekstase: Sternheims »Europa«
Bemerkenswert ist, daß der Kontext der behandelten Passage zugleich die gegenläufigen Konnotationen aktualisiert, die das Bild traditionellerweise seit 1789 grundieren: Während die positiv besetzte Bildtradition, welche die reinigende Kraft und regenerierende Wirkung des Gewitters hervorhebt, in den euphorischen Handlungsmomenten der Szene fortlebt, klingt im »todstillen Donner« untergründig auch das bedrohliche Potential des Unwetters an. Sternheim durchkreuzt in seiner doppelbödigen Bildverwendung die utopischemphatische Deutung des Ereignisses durch einen apokalyptischen Gegensinn. Vom Schluß der beiden Massenszenen her gesehen — vom Tod der Protagonistin, der zudem noch durch den reaktionären Umschlag in der folgenden Szene in seiner Vergeblichkeit hervorgehoben wird — erfüllt sich das verwendete Gewitterbild in seiner Bedeutung als rein energetisches Naturphänomen: Das Revolutionsereignis stellt sich als eine — geschichtlich wie politisch folgenlos bleibende — eruptive Entladung gestauter kollektiver Energien dar. Das Motiv des loskrachenden Gewitters kündigt bereits den Grundtenor der gesamten Szene an. Sternheim greift auch im Textanschluß auf weitere Großmetaphern zurück, die er wie das Gewitter dem Bereich der elementaren Naturgewa/f entlehnt. Es lassen sich im besonderen zwei zentrale Motivbereiche herauskristallisieren. Zum einen findet sich das revolutionäre Geschehen zu einem vulkanischen Ereignis überformt, zum anderen wird die entfesselte Dynamik des Massenaufruhrs in der Vorstellung eines aufgewühlten Meeres durchgeführt. Die fundierende Leistung dieser beiden Bildkomplexe für den bildsprachlichen Aufbau der Szene wird im einzelnen noch aufzuzeigen sein. Hier geht es zunächst darum, die übergeordnete Bildschicht aufzudecken, in der Gewitter, Vulkan und Meer ineinandergreifen. Ihr die Szene beherrschendes Zusammenspiel ist es, das die Kernaussage formuliert: Die Revolution erscheint wesentlich als ein elementarer Aufruhr der Natur. Dabei steht Sternheims zentrale Metaphorik als Ganzes in einem gleichermaßen literarischen wie ikonographischen Zusammenhang: Der Bereich der elementaren Naturgewalt ist die tragende Bildschicht überhaupt, aus der die traditionelle Revolutions- und Massendarstellung ihre Beschreibungsmuster entlehnt. In der politischen Bedeutung als Revolutionsmetapher fixiert sich der Bildkreis (wie das Gewitterbild, das ihm eingeschrieben ist) in der Französischen Revolution. In der Vorstellung plötzlicher meteorologischer Erscheinungen oder heftiger Naturkatastrophen suchen die Zeitgenossen von 1789 das geschichtliche Großereignis in seinem kollektiven Charakter und Ausmaß zu fassen. Antirevolutionäre Kritiker wie Revolutionsanhänger greifen dabei auf ähnliche Grundvorstellungen zurück: Vulkanausbruch, Gewitter, Überschwemmung, Orkan. Die Kritiker sehen dabei die unheilvolle Katastrophe, das Chaos
(Casimir Katz Verlag, 1988), die das Ereignis ikonographisch als stürmisches Unwetter inszeniert; oder den Titel von Jochen Köhler: Das Gewitter der Freiheit (Eichhorn, 1987).
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und die Zerstörung, während die Revolutionäre darin emphatisch das erhabene Wirken und die Kraft einer sich regenerierenden Natur hervorkehren wollen. Natürlich sind die naturalen Bilder schon 1789 mit einer geschichtlich weit zurückreichenden mythischen, biblischen und symbolisch-religiösen Bedeutungsschichtung angereichert. Ihr politisches Sinnpotential ist so alt wie die historischen Erfahrungen von Massenphänomenen und politischen Einbrüchen, die sich bildsprachlich darin abgelagert haben. Solche Ablagerungen sind beispielsweise in den Mythen oder in biblischen Spruchweisheiten lebendig (»Wind sähen sie und ernten Sturm« 181 ). Das derart angereicherte System der naturalen Metaphern steht — unter den historisch wechselnden weltanschaulich-religiösen Prämissen — als Beschreibungs- und Deutungsmuster auch f ü r die politischen Massenphänomene der Neuzeit bereit, wie sie ja längst vor 1789, u.a. im Bauernkrieg, in Erscheinung treten. Eine Vorstellung wie die »revolutionäre Sintflut«, die das Kataklysmische einbindet in eine Vorstellung des göttlichen Strafgerichts, weist auf die Virulenz solcher älteren Muster der Verarbeitung von Massenerfahrungen hin. Wie langlebig sie noch in der Folge sein werden, dokumentiert der Titel, den noch im späteren 19. Jahrhundert Julius Rodenberg f ü r seinen Roman über die französischen Revolutionsepoche von 1789 wählt: Die neue Sündfluth1*2. Rodenberg ist hier von Interesse, weil er an einer komprimierten — allerdings sentenziösen, nicht gestalteten — Stelle alle wesentlichen Vorstellungen zusammenfaßt, die auch Sternheims Szene grundieren (es geht an der entsprechenden Stelle um die Radikalisierung des Revolutionsprozesses durch die Flucht des Königs im Sommer 1791, die den Zusammenbruch der Konstitutionellen Monarchie zur Folge haben wird): Aber die Revolution, wenn sie in vollem Gang ist, macht nicht immer da Halt, wo man es ihr gebietet. Sie will ihre Bahn vollenden. Sie ist von elementarer Gewalt [sie] und der dämonische Zufall regiert sie. Sie ist ein Erdbrand, eine rollende Lawine, ein Bergsturz, ein Deichbruch — sauve qui peut! Die aufrührerische Natur und das aufrührerische Volk bleiben vor keinem Gesetzbuch stehen. (Hervorh. v. A.G.)
Den Revolutionären von 1789 fehlt das Bewußtsein, daß ihr naturales revolutionäres Metaphernsystem selbst geschichtlich vorgebildet ist. Sie nehmen die historischen Ausdrucksformen, in die sie ihre zeitgenössischen Kämpfe kleiden, als authentisch an. Die Revolution in ihrer offiziellen Selbstdarstellung drückt sich unter den naturphilosophischen Denkvoraussetzungen der Aufklärung in einem emphatischen Naturverständnis aus. Sie unterstellt der Natur,
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Hos. 8.7. Berlin 1865. Nachfolgendes Zitat, S. 232/33. — Rodenberg (eigentlich Julius Levy, 1831—1914), der Begründer der Deutschen Rundschau (1874), hat zahlreiche realistischabgeklärte Romane und Reise- und Stadtbeschreibungen verfaßt, darunter Alltagsleben in London. Ein Skizzenbuch (1860) und Bilder aus dem Berliner Leben (1888, in mehreren Auflagen erschienen).
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die sie gleichsam divinisiert, geschichtlichen Sinn: Der kollektive gewaltsame Umbruch gilt ihr als eine »Umkehr« der Natur, die sich, beleidigt durch die aristokratische Depravierung ihrer Ordnung, über die entfesselten Energien der Volksmassen wieder in ihre Rechte setzt. Hinter dem naturalen Geschichts- und Volksverständnis steht der Glaube an eine vitale Regenerationsfähigkeit der Natur, aus deren Kraftquell die »natürliche« Ordnung der Gesellschaft »wiedererstehen« soll. Die Revolution, als der gewaltsame Umbruch der Gesellschaft, gibt sich nicht als Menschheitsgeschichte, sondern als Naturgeschichte aus. Aber dieser Naturgeschichte hat sie ihre zeitbezogenen gesellschaftlichen und politischen Ziele unterlegt. Entscheidend aber ist, daß in den Bildern der elementaren Naturgewalt als neuer geschichtsmächtiger Faktor die Masse erfaßt und als Trägerschicht der Revolution sichtbar wird: »Der Eintritt der Volksmassen ins Feld historischen Handelns«, so konstatiert Hans-Wolf Jäger im Rahmen seiner Untersuchung zur politischen Metaphorik in der deutschen Literatur des Jakobinismus und Vormärz, »schafft sich unter den Bildern meteorologischer Erscheinungen und naturaler Katastrophen — Gewitter, Überschwemmung, Vulkanausbruch — seinen gemäßen Ausdruck. Gegen die autokratische Regierung des Einen, gegen die Klügelei oligarchischer Kabinette setzt — und sei's als Wunsch und Beschwörung — das Naturargument metaphorisch die elementare Wucht des bewußt und fordernd gewordenen Volks.«183 Wie aber kommt es dazu, daß sich das Soziale überhaupt über das Naturale definiert? Leider deckt Jäger diese grundsätzlich Problematik mit einer schwammigen Verlegenheitsformulierung zu, wenn er von dem ihm »gemäßen Ausdruck« (!) spricht, den sich »der Eintritt der Volksmassen ins Feld historischen Handelns« »schaffe«. b)
Zum Problem der Übertragung naturaler Vorstellungsmuster auf das Soziale
Die Naturmetapher ist ein Vehikel, das 1789 in das noch unbekannte Neue des Sozialen führt. Den Trägerschichten der Revolution enthüllt sich erst im Prozeß ihres revolutionären Handelns die neue Dimension ihres politischen Tuns. Sie führt zu einem umfassenden Umbruch auf allen Ebenen des gesellschaftlichen Lebens und seines institutionellen Gefüges, ohne daß der Ausgang bereits absehbar wäre. Die Naturphilosophie der Aufklärung bildet dabei eine terra cognita für die ungewisse Zukunft. Angestrebt wird ein neues Gleichgewicht: Die Zuversicht der Revolutionäre, daß der entfesselte Umbruchprozeß nicht in eine generelle Zerstörung überschießt, gründet sich auf ihre optimistische Annahme einer im Grunde selbstregulierten und sich selbstregulieren-
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Hans-Wolf JSger: Politische Metaphorik im Jakobinismus und im Vormärz (wie Anm. 179), S. 83.
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den Natur, aus der von sich aus eine >vernünftige< Ordnung hervorgehen würde. Mit der Naturmetapher wird zwar die Eigendynamik der Revolution als Kollektivvorgang erfaßt. Aber die Beschreibung bleibt auf einer gleichsam physiognomischen Ebene stehen. Eine begrifflich-analytische Erkundung der neuen Kategorie des Sozialen kann das Bild von sich aus nicht leisten. Die neuartige Erscheinung und Wirkungsdimension des kollektiven Prozesses tritt zwar hervor; die Dynamik seiner erstaunlichen Verbreiterung, Geschwindigkeit und Wucht wird im Vergleich zur Naturgewalt erfaßt, und auch die emotionalisierende Wirkung, die von der Gesamtbewegung auf den einzelnen ausgeht, wird zum Ausdruck gebracht. Aber die Träger der Revolution, die Gesellschaftlichkeit der Masse, ihre spezifischen Haltungen usw. werden damit allenfalls nur von außen benannt. Als differenzierte soziale Triebkräfte mit ihren je eigenen Sozialisationsformen, Motiven, Zielen bleiben sie unerkannt. Die naturale Metaphorik bietet das Phänomen der Masse in seiner energetischen Erscheinungs- und Bewegungsform. In die Infrastruktur der Massenerscheinung dringt sie nicht. Die »Natur« als die Bezugsebene sowohl der Revolution als auch der Reaktion ist im Grunde Ausdruck einer Sprachnot, die sich hinter der Faszination verbirgt: Das Gesellschaftliche als die Dimension, die mit hervorgebracht wird, aber eigenmächtig wirkt, bleibt als das Neue begrifflich unerfaßt. Immerhin: Die Masse und die sozialen Vorgänge sind auch als Naturphänomene anzusehen, insofern die Menschen auch Naturwesen sind. In ihrer naturalen Basis sind die revolutionären Vorgänge durch Emotionen bestimmt. Während die deskriptiv-analytische Revolutionsdarstellung sich von den Naturmetaphern zugunsten des Sozialen entfernen wird, greifen die Beschreibungen, denen es um die Dimension des Emotionalen geht, in besonderer Weise darauf zurück. Der kataklysmisch-elementare Vorstellungskreis durchzieht die Revolutionsdarstellung des gesamten 19. Jahrhunderts und färbt auch entscheidend die Massendarstellung ein. Er bleibt dabei nicht auf die Große Französische Revolution beschränkt, sondern greift (wie bereits am Beispiel der Gewittermetaphorik gezeigt) auch auf die Folgerevolutionen aus. Er ist virulent in der romantischen Überhöhung des Volkes zu einer elementaren Urkraft, die quasi im Unbewußten wirkt. So prägt beispielsweise Victor Hugo in Frankreich im Zusammenhang mit der Juli-Revolution von 1830, die literarisch folgenreiche Meeresmetapher aus.184 Die naturale Metaphorik beherrscht aber auch die apokalyptisch-kulturpessimistische Sicht, die im Phänomen der Masse einen
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Ein Aphorismus Victor Hugos erhellt in prägnanter Weise seine Sicht, aus deren Geist heraus auch seine ozeanischen Massendarstellungen in Notre-Dame de Paris und Les Misirables zu verstehen sind: »Wenn man die Revolution für das Werk von Menschen ausgeben wollte, so müBte man auch Ebbe und Fluth für das Werk der Wellen ausgeben« (zit. nach Jäger, wie Anm. 179, S. 83). Vgl. weiter oben S. 57ff. zur literarischen Verwendung der Meeresmetapher bei Hugo, Vigny und Dickens.
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archaischen Einbruch sieht. In seinem Roman über die Generation der Revolution von 1848, L'Education sentimentale (1869), breitet Gustave Flaubert ein ganzes Spektrum solcher apokalyptisch-kataklysmischen Visionen aus. Sie malen sich seinem Helden als Naturbilder in die abseits gelegene Landschaft des Bois de Fontainebleau ein, während zur selben Zeit in Paris — nach der Februar-Revolution, in die der Protagonist zufällig geraten war — die JuniAufstände der Arbeiter ausbrechen und blutig niedergeschlagen werden. Im Roman folgen zwei in unserem Zusammenhang relevante Szenen aufeinander. Zunächst wird das tatsächliche Geschehen in Paris nach der Schließung der Nationalwerkstätten geschildert. Flaubert nutzt das gesamte naturmetaphorische Repertoire, um zu vergegenwärtigen, wie sich das kommende Ereignis in der versammelten Masse der empörten Arbeiter >zusammenzieht>. Es wird sich zeigen, daß von dieser Schilderung aus ein direkter Weg zu Sternheim führt. Vers neuf heures, les attroupements formds & la Bastille et au Chätelet reflu£rent Sur le boulevard. De la porte Saint-Denis ä la porte Saint-Martin, cela ne faisait plus qu'un grouillement enorme, une seule masse d'un bleu sombre, presque noir. Les hommes que Γ on entrevoyait avaient tous les prunelles ardentes, le teint päle, des figures amaigries par la faim, exalties par l'injustice. Cependant des nuages s'amoncelaient; le ciel orageux chauffant l'ilectricitd de la multitude, eile tourbillonnait sur elle-mdme, ind6cise, avec un large balancement de houle; et Ton sentait dans ses profondeurs une force incalculable; et comme l'dnergie d'un 61ement."!
Vor der sich ankündigenden Katastrophe zieht sich der Protagonist mit Absicht in die »ewige Natur« zurück. So wie in der früheren Szene das gesellschaftliche Geschehen als Naturgeschehen geschildert wurde, ist jetzt die Schilderung der Natur aufgeladen mit kulturgeschichtlichen und zivilisatorischen Assoziationen. In der Natur kehrt die verdrängte Geschichte zurück. Die Szene ist überreich an einer politischen Symbolik, deren ausführliche Entfaltung hier jedoch aus dem thematischen Kontext herausführte. Daher soll nur auf eine zentrale Bildfolge eingegangen werden, in der Kulturgeschichte und
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Ich zitiere nach der zweibändigen Werkausgabe in der Bibliothique de la P16iade: L 'Education sentimentale. Histoire d'un jeune homme ((Euvres, Bd. 2, texte £tabli et annote par Albert Thibaudet et Ren6 Dumesnil, Paris 1979), hier S. 350. Als Lesehilfe gebe ich an dieser Stelle die Übersetzung von Ε. A. Reinhardt, die hier treffend die Metaphorik wiedergibt: Die Erziehung des Herzens. Der Roman eines jungen Mannes, zweite Auflage, Leipzig 1981: »Gegen neun Uhr fluteten die Massenansammlungen, die sich bei der Bastille und dem Chätelet gebildet hatten, auf den Boulevard zurück. Nun war von der Porte Saint-Denis bis zur Porte Saint-Martin ein ungeheures Gewimmel, eine einzige Masse von einem dunkeln, beinahe schwarzen Blau. Alle Männer, die man erblickte, hatten brennende Augen und fahle, vom Hunger abgemagerte und von der erlittenen Ungerechtigkeit erregte Gesichter. Unterdessen ballten sich Wolken zusammen; der Gewitterhimmel lud die Menge mit Elektrizität, und unentschieden kreiste sie wirbelnd um sich selber, breite Wogen schlagend wie die hochgehende See. Und in ihrer Tiefe war eine unberechenbare Kraft, etwas wie eine Elementargewalt zu fühlen.« (S. 385)
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Naturgeschichte sich überlagern. Reminiszenzen und Symbole untergegangener b z w . neuerstehender Kulturarbeit (antike Torsos, Hausruinen untergegangener Städte, Steinbruch und Arbeit am Stein) koppeln sich mit den Visionen mythischer Kämpfe und erdgeschichtlicher Katastrophen. Der apokalyptischnaturalen Vision im engeren Sinne geht daher die Projektion eines vorgeschichtlichen Kampfes der Titanen voraus: II y avait des chenes rugueux, 6normes, qui se convulsaient, s'etiraient du sol, s'etreignaient les uns Ies autres, et, fermes Sur leurs troncs, pareils ä des torses, se lanfaient avec leur bras nus des appels de desespoir, des menaces furibondes, comme un groupe de Titans immobilises dans leur colore.' 8 ' Frederic und seine Begleiterin gelangen an einen Steinbruch, in d e m Arbeiter die Felsen bearbeiten. D i e Felsbrocken, die »roches«, [...] se multipliaient de plus en plus, et finissaient par emplir tout le paysage, cubiques comme des maisons, plates comme des dalles, s'6tayant, se surplombant, se confondant, telles que les ruines miconnaissables et monstrueuses de quelque cit6 disparue. Mais la furie meme de leur chaos fait plutöt rSver k des volcans, ä des d61uges, aux grands cataclysmes ignoris. Fr6d6ric disait qu'ils itaient lä depuis le commencement du monde et resteraient ainsi jusqu'ä la fin; Rosanette d6tournait la tete, en affirmant que »(a la rendrait folle« [...]."' D i e V i s i o n einer untergegangenen Zivilisation überlagert an dieser Stelle die Kulturarbeit, das symbolisch zu verstehende Behauen des Steins. Der Stein der Arbeit, e i n altes Motiv mit biblischer Tradition, eröffnet hier ein vielschichtiges Bedeutungsfeld. Es bindet die Stelle thematisch an das Motiv des Torso zurück, das in dieser Spannung zur Arbeit als eine symbolische R e f l e x i o n über Kunst und Geschichte erscheinen kann. Eine geschichtliche D i m e n s i o n erschließt sich über die Freimaurer-Assoziation: Auch die unterirdische Arbeit an der Geschichte ist mitgemeint. Das zentrale Thema aber, das die Land-
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Ebd.; die weiter herangezogenen Textstellen stehen auf S. 356/7. Ich greife an dieser Stelle (abweichend von Anm. 185) auf die hier angemessenere Übersetzung von Heidi Kirmße zurück: Die Erziehung der Gefihle, Berlin (DDR) 1982, S. 348/9: »Man sah riesige, knorrige Eichen, die sich wie verkrampft vom Boden erhoben, einander umklammerten und sich, solide auf ihren Stämmen ruhend wie Torsos, mit ihren nackten Armen verzweifelte Rufe und wütende Drohungen entgegenschleuderten wie eine Gruppe von im Zorn versteinerten Titanen.« »Die Felsbrocken wurden immer zahlreicher, schließlich füllten sie die gesamte Landschaft aus; sie waren würfelförmig wie Häuser, flach wie Platten, sie stützten sich gegeneinander, überlagerten und überragten sich, waren ineinander verkeilt wie die unkenntlichen, ungeheuerlichen Trümmer einer untergegangenen Stadt. Aber viel mehr noch ließ ihr wütendes Durcheinander einen an Vulkane, an Sintfluten, an große unbekannte Erdkatastrophen denken. Fr£d£ric sagte, daß diese Brocken seit Anbeginn der Welt hier lägen und bis zu ihrem Ende hier liegen bleiben würden. Rosanette wandte ihren Kopf ab und meinte, >so etwas könne einen ganz toll machen« [...].« (überarbeitete Fassung der Übersetzung von Ε. A. Reinhardt, s. Anm. 185, S. 393)
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schaft mit der verdrängten Hauptstadt verbindet, bleibt implizit: Während Fr6d6ric und seine Gefährtin gebannt auf die »Trümmer« sehen, werden im selben Augenblick in Paris die Barrikaden errichtet. Die Barrikade ist folgerichtig das erste Zeugnis der vorausgegangenen revolutionären Kämpfe, auf die Fr£d6ric bei seiner Rückkehr nach Paris stoßen wird. Es ist die Barrikade, die der Thematik von Aufbau und Untergang ihre politisch-soziale Brisanz verleiht: Der Stein ist ebenfalls Symbol für den, der nichts mehr hat: Der Pflasterstein der Arbeiter, denen die Nationalwerkstätten wieder weggenommen worden sind, ist die Bedrohung der (gerade errichteten) bürgerlichen Republik. Nachdem die Landschaft auf diese Weise mit den versteinerten Erinnerungen kulturgeschichtlicher und naturgeschichtlicher Umwälzungen enggeführt und mit dem Thema des Wahns verbunden ist, läßt Flaubert die sintflutlicharchaischen Welten plötzlich lebendig werden und in die Gegenwart hereinreichen: Us arrivferent un jour ä mi-hauteur d'une colline tout en sable. Sa surface, vierge de pas, ötait rayie en ondulations symitriques; ς& et lä, telles que des promontoires sur le lit dess6ch£ d'un oc6an, se levaient des roches ayant de vagues formes d'animaux, tortues avanfant la tete, phoques qui rampent, hippopotames et ours. Personne. Aucun bruit. Les sables, frapp6s par le soleil, 6blouissaient; — et tout i coup, dans cette vibration de la lumifere, les betes parurent remuer. Iis s'en retournirent vite, fuyant le vertige, presque effray 6s. 18 '
Es ist eine archaisch-atavistische Dimension im Menschen als Doppelwesen (das in der Kultur- wie Naturgeschichte verwurzelt ist), die mit dem Ausbruch der Revolution lebendig wird. Sternheim spielt in seiner Szene auf beide Bildtraditionen, die archaischapokalyptische wie die emphatische an. Seine eigene elementare Bildschicht ist in eine vitalistische Grundsicht eingespannt, in der sich beide Bildtraditionen überlagern und gleichzeitig relativieren. In der Hervorkehrung der natural-elementaren Seite wird das (politisch-geschichtliche) Ereignis jedoch um seine kulturell-soziale Dimension verkürzt. Dem eignet eine Tendenz zur Mystifizierung, wie sie sich bereits in der Eröffnung der Szene andeutet: Das einleitende »da« impliziert eine Plötzlichkeit und Überraschung, eine punktuelle geschichtliche Verdichtung und Gleichzeitigkeit, welche in der Analogie
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»Eines Tages kamen sie auf halber Höhe eines Hügels an, der ganz aus Sand bestand. Seine jungfräulich unberührte Oberfläche war von gleichmäßigen Wellenlinien durchzogen. Da und dort erhoben sich wie Vorgebirge aus dem ausgetrockneten Bett eines Ozeans Felsen in ungewissen Tiergestalten: Schildkröten mit vorgestrecktem Kopf, kriechende Robben, Flußpferde und Bären. Weit und breit kein Mensch, kein einziger Laut. Blendend leuchtete der Sand unter der niederstürzenden Sonne. Und auf einmal schienen sich die Tiere in dem flirrenden Licht zu bewegen. Schnell machten die beiden kehrt und flohen, beinahe entsetzt, vor dem Schwindel, der sie ergriff.« (überarbeitete Fassung der Übersetzung ν. Ε. A. Reinhardt, ebd., S. 393)
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zum Naturphänomen Gewitter nur gesetzt, nicht aber in ihrer Ursächlichkeit und sozialen Genese gedeutet wird. Eine derartige analytische Vertiefung des Sozialen kann man im Gegensatz zur Literatur des 19. Jahrhunderts durchaus einfordern, nachdem die Soziologie und mit Le Bon auch die Massenpsychologie als Wissenschaft von der Masse entstanden sind. Zwar bleibt auch Le Bons Begründung einer psychologischen Massentheorie weitgehend noch im Banne des Naturalen, eine Abkehr von den naturalen Hilfskonstruktionen und Metaphern zeichnet sich jedoch ab. Sternheim dagegen zielt bewußt auf eine elementar-naturale Überformung des Geschehens ab. Er greift den revolutionären Vorgang in seinen irrationalen und triebdynamischen Aspekten auf. Entsprechend rekurriert er auf den Instinkt, der Eura zum Brennpunkt des Geschehens treibt. Gerade das Defizit einer bewußten inhaltlichen Zielsetzung kennzeichnet denn auch die Massenansammlung auf dem Platz: »Menschen [...] wußten nicht, wo und was es galt; begriffen nichts« — und es fällt ein charakteristisches Verb — »bebten«. An die Stelle des Verstandes treten irrationales Leben und Erleben. Sternheim benutzt dazu ein bewußt antiintellektualistisches Vokabular aus den Bereichen des Sensuellen (schmecken, riechen, spüren) und des Sexuellen. Sinnenrausch, Leidenschaft und ekstatischer Taumel charakterisieren das eruptive Massengeschehen auf dem Platz. Bis in Einzelheiten der Szene hinein arbeitet Sternheim an einer Remythisierung der Revolution (einer Remythisierung, die er im Verlauf der Szene allerdings wieder konterkarierend relativiert): Es ist eine dionysische Entfesselung, die im Aufruhr zum Ausbruch kommt, ein kollektives >Bebentrunken< macht. Die politische Logik der Situation und des Handelns werden so ausgeblendet. Nicht der »Instinkt«, sondern ihre politische Kenntnis der räumlich-sozialen Machtstruktur müßte die sozialistische Führerin Eura Fuld sonst ans Zentrum der Macht geleiten: Der Buitenhof nämlich ist der »Vorhof« (wörtlich »Außenhof«) zum abgeschirmten »Binnenhof«, der nur durch ein Tor zugänglichen Palastanlage, in der die beiden Kammern des holländischen Parlaments untergebracht sind. Hier ruft der Arbeiterführer Troelstra am Dienstag, dem 12. November, nach einer vorausgegangenen spektakulären »revolutionären Rede« am Montag in Rotterdam, die Revolution aus.189 Wenngleich sich die historischen Ereignisse in Holland, ausgelöst durch die Ankunft des geflüchteten deutschen Kaisers am 10. November, auch überschlagen — im Roman jedenfalls hat die Heldin, die in der Folge der deutschen Ereignisse
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Möglicherweise spielt Stemheim auf eine Demonstration der Den Haager SD AP an, die durch massive Präsenz vor dem Parlamentsgebäude im Binnenhof den Abgeordneten Troelstra in der »Zweiten Kammer« bei seiner Proklamation der Revolution am 12. November unterstützen sollte, offenbar aber verhindert (oder abgewehrt?) worden war. Eine entsprechende Kurzerwähnung bei Scheffer (wie Anm. 136, S. 119/20) bleibt leider sehr unklar. Eine solche Kundgebung läge im politischen Sinn der Sache, weil dadurch die (um 1 Uhr beginnende) parlamentarische Versammlung in eine Volksversammlung umgewandelt worden wäre.
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die Revolution erwartet und mit vorbereitet, sich agitatorisch »in Versammlungen und randalierende Haufen« gemischt und »zu Zwecken der Revolution über ihres Vermögens Reste verfügt« (468). Freilich hat Sternheim schon im Vorfeld der Szene auch die irrationalen Momente von Euras Revolutionsbegeisterung betont, die hier bruchlos in die Revolutionsdarstellung übergehen: Lenins und Trotzkis Namen nahm sie wie Süßigkeit in den Mund, entzückte sich, machte verliebte Augen, strahlte. [...]. (468)
Anstelle der inhaltlichen Auseinandersetzung tritt die erotisch-ekstatische Überformung. Über das Netz politischer Metaphern und Allegorien aus der traditionellen Revolutionssymbolik wird dennoch auf eine sehr abstrakte Weise die Ebene des Politischen ästhetisch-gestalthaft hergestellt. Anstelle des Realgeschichtlichen treten symbolische Bezüge zur Revolution wie das Gewitter, die Morgenröte oder die Liberte. Und es sind abstrakt-symbolische Handlungsmomente, in denen ein politisches Handeln der Masse verdeutlicht werden soll (die Masse >erhebt< Eura zur Führerin; sie >steht< als »Volk« gegen die Staatsmacht >aufpsychologisch< zu umschreibende Verhältnis von Masse und Individuum.
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Blitz, Donner und Sturm als Elementarkräfte der revolutionären Schlacht
Es zeigt sich bei genauerer Betrachtung, daß die Gewittermetaphorik im weiteren Szenenverlauf in einer Gegenbewegung zu Vulkan und Meer, den zentralen Metaphernkomplexen für die revolutionäre Masse, verwendet wird. Die Logik dieser Opposition erschließt sich erst im gesamten Szenenzusammenhang, der hier allerdings in seiner komplexen Bild- und Symbolschichtung nur allmählich entfaltet werden kann. Sternheim hat das einleitende Wetterbild mehrschichtig zusammengesetzt. Es sind zwei nahe beieinanderliegende und dennoch heterogene Wettervorstellungen, die er lautmalerisch zum Ausdruck bringt und »musikalisch« aufeinander bezieht. Auf der Ebene der vordergründigen Handlung und phänomenologischen Wahrnehmung ist es das ferne Getöse der gerade ausbrechenden Straßenschlacht, die hier in ihrer Bewegung aus der entfernten Fensterperspektive über das Gehör vergegenwärtigt wird. »Es braust ein Ruf wie Donnerhall, / Wie Schwertgeklirr und Wogenprall [...]« lautet es beispielsweise im populären Kriegslied von Max Schneckenburger, »Die Wacht am Rhein« (1840), das in der Melodie von Karl Wilhelm (1854) noch über den ersten Weltkrieg hinaus weiteste Verbreitung fand. Sternheim selbst spielt in seinem Roman direkt darauf an, um damit die kriegerisch-chauvinistische Atmophäre unmittelbar vor Kriegsausbruch zu charakterisieren190. Angehalten war der Gegenwart Herzschlag, und widrige Vergleiche zu Vergangenheiten herrschten wie nie zuvor. Es rauschte mit Wogenprall kriegerische Metapher; rauflustige Wut rauchte zum Himmel. Der Mann, schwertrasselnd, sprang wieder im Weltall vor [...]. (446)
Die Revolutionsszene nimmt den Motivzusammenhang von Donner, Wogenprall und Schwertgeklirr unmittelbar auf. In Schneckenburgers Versen wird, romantisierend, der >erzene< Klang des Donners mit der Waffengewalt konnotiert: Schwertgeklirr. Das Beispiel Schneckenburgers bringt die mythologischen Wurzeln der Gewittermetaphorik zu Bewußtsein und weist auf die phallische Symbolik des Blitzes hin, die letztlich auch dem Gewitter als Revolutionsmetapher zugrundeliegt. Es ist die phallische Gewalt des Blitzes, auf die in den verschiedenen Mythen der oberste Gott seine (patriarchalische) Herrschaft gründet. In der griechischen Mythologie liegt sie beim Blitze schleudernden Göttervater Zeus, in der germanischen Mythologie bei Wotan, der zugleich Donner- und Kriegsgott ist, und in der altnordischen bei Thor mit seinem Blitzhammer. Die mythologische Grundierung von Sternheims Revolutionsdarstellung ist im Zusammenhang des antiken Europa-Mythos bereits
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Im gleichen Kontext spricht Stemheim auch vom gebrüllten »Sturmgebraus« (445).
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angesprochen worden. Am Szenenende jedenfalls ist es ein »herkulischer191 Pfeil«, der Eu(rop)a »entjungfert« und damit eine phallische (Todes-)Symbolik erfüllt, die hier zu Szenenbeginn bereits als ein apokalyptischer Unterton im »todstillen Donner« anklingt. Die phallisch-militärische Bezogenheit der Blitzsymbolik ist deshalb nicht sogleich zu ersehen, weil die Szene noch von einem weiteren Feuersymbol, dem Vulkan, beherrscht wird. Der Vulkan entfesselt aber seine Kraft in einer grundlegenden Gegenbewegung zum Feuer des Blitzes, das aus der Höhe von oben nach unten niedergeht. Sternheim betont die enge Verbindung des Blitzes zu den militärischen Waffen, indem er den >blitzenden< Glanz der Uniformen und Waffen herausstreicht oder die phallische Symbolik der Säbel (»Säbel steif in der Luft«) betont. Der phallische Todespfeil steht also am Endpunkt einer genauen Komposition. Es ist zu fragen, ob Euras erotisches Entzücken beim Ausbruch des Gewitters sich nicht einer verborgenen Präsenz des Gottes Zeus verdankt, dessen Erscheinen dem Mythos nach von Blitz und Donner begleitet wird. Dem stummen Blitz (er ist in seiner flüchtigen Augenblicklichkeit nur als ein Fingerzeig signalisert: »da«) folgt, wie man weiß, der Donner nach. In der Zeitdauer zwischen Blitz und Donnerschlag mißt sich der Abstand zum Einschlagspunkt. Im »todstillen Donner« aber, den Sternheim evoziert, sind die spezifischen Eigenschaften des Blitzes, nämlich stumm und zugleich tödlich zu sein, mit dem dunklen Dröhnen des Donners zu einer paradoxen Klangvorstellung zusammengefaßt: Es ist die gefährliche Stummheit des Blitzes, welche die Atmosphäre beherrscht und den Donner, dem Eu(rop)a — weit aus dem Fenster heraus gelehnt — in feierlicher Erwartung entgegenhorcht, in der Schwebe hält. Sternheim erzeugt hier eine Wirkung, welche die situative Spannung unterstreicht: Im »todstillen Donner« wird das >explosive< Ereignis zunächst als implodierende Stille >hörbarSturmflug< zum Angriff übergeht. Er wirkt, in seiner pneumatischen Eigenschaft als ein Atem, der plötzlich alles beseelt und trägt; und er ist in Euras Stimme, wenn sie »stürmisch« aus ihrer Brust verschollene Urworte »hochheult«. Im »dumpfen Brausen« der Sturm-Metapher jedenfalls wird auf der vordergründigen Handlungsebene das alles überlagernde, vielstimmige Geschrei der Menge hörbar. Es bricht — nach einer Pause regungsloser Stille — als »stürmische« Reaktion, die dem blitzenden Feuer folgt, zusammen mit dem Donner aus. Auch Donner und Blitz sind zunächst wie das Brausen ambivalent eingesetzt: Sie können sich sowohl auf den »vulkanischen Ausbruch« beziehen als auch auf die Eröffnung des Feuers durch das Militär, die beide im Szenenanschluß noch deutlich werden. Die Ambivalenz der Metapher entspricht ihrer doppelten Funktion: Blitz, Donner und Sturm stehen (als umfassendes »Unwetter-Bild) für das Ganze (die Revolution), dann aber auch für den Kampf der zwei Parteien, Masse und Militär. Später, als die Heldin den Kampfschauplatz erreicht, differenziert sich dann aus nächster Nähe das Klanggeschehen: Mit »Kreischen« und »Heulen« nimmt die erregte Menschenmenge die >schrillen< »Pfiffe« der Ordnungsmacht auf; nach schreckhaftem Zurückweichen vor einschüchterndem Waffengeklirr geht sie >johlend< zum Angriff über; und während mit Geknatter Feuersalven auf die Menge niedergehen, speit Eura, inmitten der lärmenden Menge >schimpfend< »Flammen Dynamit« gegen die Soldaten; schließlich hält sie eine aufhetzende Schimpftirade, aus der »obsköne Wahrheit Alarm kreischt«. Über die akustische Ebene wird das Geschehen von Anfang an als rhythmisches, interaktivisches Kampfgeschehen aufgebaut, noch bevor die beiden
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Einen historischen Überblick über die differenzierte Bedeutung der Sturmmetapher, die sich (ähnlich wie beispielsweise, mit leichten Verschiebungen, im Französischen) v.a. in die Bedeutungsfelder Streit/Gezänk, Schlacht/Scharmützel, Tumult/Aufruhr, stOrmische (kriegerische oder revolutionäre) Zeitenläufte teilt und im militärischen Bereich eine Bedeutungsverengung zu Angriff/Erstürmung erfahren hat, erlaubt das Deutsche Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm (10. Bd., IV. Abteilung, S. 576ff.) Die frühesten Beispiele, die Grimm für die Verwendung in der Bedeutung von Aufruhr angibt, die hier von besonderem Interesse ist, gehen auf den Bauernkrieg, 1525, zurück.
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Masse und Ekstase: Sternheims »Europa«
gegnerischen Kräfte selbst — revolutionäre Masse einerseits, bewaffnete Ordnungsmacht andererseits — differenzierter als Akteure in Erscheinung treten. Damit kommt es innerhalb der naturalen Bildebene zu einer ersten Übertragung, da sich die Bilder nun unmittelbar auf die menschliche Kampfhandlung, also das Soziale, und zwar zunächst in seinem äußeren Aspekt beziehen. Sternheim spaltet das >revolutionäre< Wetter auf, weil er die Revolution in ihrem kriegerischen Aspekt als Schlacht betonen will. Daher spielt er das Bild in einer militärischen Bedeutungstradition aus, die der Revolutionsmetapher ohnehin zugrunde liegt und im patriotischen Kontext eine eigenständige Bildtradition ausgebildet hat. Stille und Lärm treten nun deutlich in ihrer Bezogenheit auf den Rhythmus des Kampfes hervor: So wie zuvor die Stille zwischen Blitz und Donner als Spannung hörbar wurde, wird, als sich die beiden gegnerischen Kräfte plötzlich frontal gegenüberstehen, das räumliche >Nichts< unter psychische Spannung gesetzt: Es »wächst« als »Säule Schreck« zwischen den beiden Parteien empor. Hier bereits hat eine zweite Transformation der naturalen Ebene stattgefunden, da sie sich nun auf das Emotionale der menschlichen Handlung bezieht. Diese Transformation der naturalen Bedeutungsebene ins Innere wird noch im einzelnen aufgezeigt werden. Zunächst soll das Motiv des zur »Säule« aufgerichteten Schreckens näher erhellt werden. Auf den ersten Blick fällt es vielleicht nicht auf, daß auch dieses Motiv zum Bildkreis der Naturgewalt gehört. Das Bild greift in verkürzter Form einen biblischen Topos auf: Lots Weib erstarrt angesichts des untergehenden Sodoms, nach dem sie sich entgegen dem Verbot umwendet, zu einer Salzsäule (1. Mos. 19). Die biblische Salzsäule baut auf dem Naturphänomen der Windhose auf. Sternheim nimmt das Motiv ohne das Element des Salzes auf.193 Abermals erweist sich der Wind als eine Kraft im Hintergrund. Jetzt erst entfaltet sich das Bild in seiner ganzen Dynamik: Es ist nicht
193
Möglicherweise hat Sternheim sein Motiv nicht direkt der Bibel, sondern einer Quelle entlehnt, die es direkt in den Zusammenhang einer Revolutionsdarstellung bringt. In der konventionellen Revolutionsmetaphorik jedenfalls ist es meiner Kenntnis nach nicht geläufig. Eine mögliche Quelle wäre die bereits erwähnte Novelle »Der fünfte Oktober« von Georg Heym (s. Anm. 171); sie mag überhaupt eine entscheidende Anregung für Stemheims elementare Überformung gewesen sein. Sturm, Feuer und Meer sind bei Heym als zentrale dynamisierend-vitalisierende Kräfte eingesetzt. Das Motiv der Schreckenssäule steht in der Novelle in einem gegenteiligen avitalen Textzusammenhang, der in unserem Kontext keine Rolle spielt. Von Interesse ist aber die genaue Formulierung, weil sie wie eine sprachliche Vorstufe zu Stemheims Bildverwendung wirkt. Auch Heym unterdrückt das Moment des Salzes und stellt eine explizite Verbindung zur Stille her, hält aber noch die Verbindung zum biblischen Kontext bei, die Sternheims verknappte Formulierung fallen läßt. Heym charakterisiert die Lethargie der Menschenmasse vor dem Umschwung, indem er sie mit Figuren vergleicht, die inmitten eines düsteren Menuetts zu »riesigen, schwarzen Steinhaufen« erstarrt sind: »gebannt und erfroren von den Qualen, Säulen des Schweigens. Unzählige Lots, die die Flamme eines höllischen Gomorra in ewige Starre geschmolzen hatte« (S. 12; Hervorh. v. A.G.).
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nur durch vertikales Wachsen, sondern auch durch eine Spiralbewegung bestimmt. Es nimmt damit die beiden Haupttendenzen der Szene, das Vertikale und die Wirbel- bzw. Strudelbildung, auf. Hier schon wird eine grundlegende Behandlung der naturalen Metaphorik deutlich: Während die literarische und künstlerische Moderne insbesondere nach dem Weltkrieg, soweit sie überhaupt noch die naturale Metaphorik bzw. auf naturale revolutionäre Emblemata zurückgreift, versucht, diese mit in den Prozeß der gesellschaftlich-technischen Umwandlung einzubeziehen — also die revolutionäre Sonne künstlich umzuformen oder den Krieg in »Stahlgewitter« (Ernst Jünger, 1920) umzuschmieden —, akzentuiert sie Sternheim in einer bewußt archaisierenden Tendenz: Kometenfeuer, biblische Windhose, mythologischer Blitz und Pfeil prägen — trotz einiger eingestreuter technischer Metaphern — seine Bildlichkeit. Mehr noch: die revolutionäre Szene scheint als ein bewußtes Gegenbild zur >Maschinenmetapher< komponiert, in der Sternheim in seinem Roman vorwiegend den technisch-industriellen Komplex, aber auch den militärischen Drill beschreibt.194
b)
Der Vulkan als Ausdruck der Masse in ihrer Empörung
Im >Epizentrum< des revolutionären >Bebens< auf dem zentralen Platz der Stadt wird das >Naturereignisaufbegehrenden< Masse ausgestaltet wird, sich von unten nach oben bewegt, geht das himmlische Feuer von oben aus den Lüften auf die Menge nieder: so der kometenhafte Feuerstreif, der knatternd in der Luft aufbricht. Wie parallel die beiden Feuerkräfte aufeinander bezogen sind, zeigt sich daran, daß selbst die Ausdünstungen, die von der aufständischen Masse aufsteigen — Schweiß und Branntweindunst — im niedergehenden Qualm und Rauch der Feuersalven konterkariert werden. Gegenüber der Spannbreite der vulkanischen Hitzemetaphorik nimmt sich allerdings der Bildbereich des Blitzes verschwindend aus.
Die Revolution als haltloser Taumel
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Wie der Blitz hat auch die vulkanische Kraft phallische Züge. Auch sie wird im Doppelaspekt von (männlich-) sexueller Potenz und Todesgewalt betont. Der Unterschied ist, daß die vulkanische Gewalt nur mit der reinen Urkraft kämpft, während die der uniformierten Ordnungsmacht über Waffen verfügt, in der sie die Gewalt des Feuers kanalisiert. Am Extrempunkt der Szene werden beide Bildbereiche antithetisch miteinander verschränkt, als sich die Masse aufbäumt und sich als Lawine auf die formierten Reihen der Bewaffneten wirft. Die Stimme wird dabei in einer einzigen gemeinschaftlichen Regung zum Träger eines einzigartigen kollektiven Kraftausbruches; die vulkanische Elementargewalt erreicht hier ihre räumliche und energetische Klimax: »Doch da in gellendem Schrei brüllt Volk auf und wirft sich Lawine auf Bewaffnete«. Es ist der Moment, in dem die Masse, und zwar als Subjekt, zum Singular wird. An genau dieser Stelle wechselt der Text begrifflich von der Vorstellung der zusammengesetzten Vielzahl (Menschen, Massen, Menge, Proletarier; bzw. stellvertretend Arme, Stimmen, Mäuler, Fäuste, tausend Augenpaare) zum zusammenfassenden Kollektivum »Volk«. Hier wird deutlich, daß das Vulkanbild nicht allein die Transformation der Naturgewalt in die Masse leistet; es ermöglicht auch die Verschmelzung der Masse zum Subjekt »Volk«. Das aufbegehrende Volk (Sternheim benutzt den Begriff artikellos) richtet sich in einer einzigen gemeinschaftlichen Bestrebung auf >wie ein einziger Mann< (und der sexualisierte Kontext im Bezug zur Protagonistin erlaubt es, hier das Maskulinum zu setzen), um sich in gebündelter Kraft als eine riesige Lawine auf das Militär zu stürzen. In der raschen Wechselbewegung vom aufbegehrenden Volk zur niedergehenden »Lawine« geht die nur punktuelle Subjektbildung »Volk« (als Vorstellung eines hyperbolischen Einzelwesens) schon wieder über in die (veräußerlichte) Form kollektiver Gewalt (Lawine). Das Element des Chtonischen als eine noch ungebändigte archaische Erdgewalt prallt zusammen mit der gebändigten, da formierten, bewaffneten Gegengewalt errichteter Macht.
c)
Das Meer und die Verschmelzung von Masse und Ich
Über die flüssigen Eigenschaften der Lava verknüpft Sternheim die zentrale vulkanische Metaphorik mit dem Wasserelement. Das Wasser ist von Anfang an als Vorstellung in den schmelzend-verschmelzenden und dunstig-dampfenden Umwandlungsprozessen innerhalb des vulkanischen Hitzetiegels präsent. Sternheim prägt, ohne die vulkanische Motivschicht aufzugeben, das Wasserbild zu einer eigenständigen Bildschicht aus, wenn er in ozeanischen Vorstellungsbildern die wogende Bewegungsform der miteinander verschmolzenen Menge charakterisiert: So schwingt sich Eura in eine Woge und schwimmt hin, wo es am schwülsten ist. Auch die weiteren Bewegungen der Heldin in und mit der Menge sind nach dem Muster sich >drehender< Strudel- und Wellenbewegungen komponiert. So wird Eura zusammen mit dem Menschengedränge, das sie umgibt, rückwärts gegen eine Hausmauer gesprengt und hoch-
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Masse und Ekstase: Sternheims »Europa«
geschraubt (die Masse in ihren amorphen Eigenschaften türmt sich aufgrund des Druckes der Dragoner aus den Seitenstraßen senkrecht auf), und wogenartig wird sie wieder zurückgehoben und fortgerissen, als die Menge, ihrerseits zum Gegensturm übergehend, wieder Raum gewinnt. An einem ersten Höhepunkt thront Eura, von der Menge hochgehoben, über dem Menschenmeer, das an sie brandet. Sie ragt als Einzelne aus dem Meer heraus. Am Umschlagspunkt der Szene rollt sich das entfesselte Menschenmeer senkrecht zu einer riesigen Sturzwelle auf, die sich im Überschlagen auf die gegnerischen Truppen wirft. Das Wasserbild ist bis in Kleinstmomente hinein durchkomponiert. Noch das >Brüllen< der zur Sturzflut aufgerollten Masse ist absichtlich (auch) als ein Wasserbild gesetzt (man spricht vom >Brüllen der Seeerhebenden< Masse zum Ausdruck kommt, charakterisiert der Autor das Ozeanisch-Strömende als ein weibliches Prinzip: Es ist die auflösend-verschmelzende Kraft weiblicher Sexualität, die (über die Protagonistin) zu einem Charakteristikum auch der Masse wird. In dem Moment, als Eura als exponierte Führerpersönlichkeit zum verdichteten Ausdruck der Masse wird, fließt ihr die elementare Kraft der Menschenmenge in einer untergründigen Strömung zu. Sternheim faßt diese Strömung in einem technischen Bild: Ein Meer Menschen, das an sie brandet, mündet mit elektrischen le 41/42)
Drähten in sie. (Zei-
Die vulkanisch-ozeanische Kraft der Masse wird also in erotische Spannung transformiert. Sternheim überlagert Lebenskraft und Sexualität, indem er die elementare Bildlichkeit mit einer erotischen Bedeutung auflädt und dabei Masse und Heldin in ein (teilweise) polares Spannungsverhältnis setzt: Eura verdichtet die erotische Energie der Masse im Ausdruck ihrer eigenen gesteigerten Weiblichkeit. Aber es ist das ozeanische Element der Masse, das in ihrem Innern als eigene sexuelle Vitalkraft zu strömen und zu fluten beginnt: Sie steigert sich zu mächtiger Geste, und Entzücken [...] schwillt in ihr. Das wächst, hebt ihr Schenkel und Bauch, bricht ihr das Herz auf, daB gebannt Proletarier an ihren entfesselten Gliedern hängen. (Zeile 42-47)
In der erotischen Überhöhung des ozeanisch-verschmelzenden Prinzips der Masse zur symbiotischen Liebeskraft wird das Wasser zum Symbol ihres utopischen Gemeinschaftsideals. Eura verdichtet und übersteigert in sich die gemeinschaftliche und gemeinschaftsbildende Energie der Masse im Hinblick auf das kommunitäre Ziel der Revolution. Jetzt kommt es darauf an, spürt sie, jetzt im Moment muß Leben gipfeln, Mensch und Mitmensch, Kommunion und Exhibition sein [...].
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Masse und Ekstase: Sternheims »Europa«
Die Anspielung auf das kirchliche Sakrament (heilige Wandlung und Abendmahl197) macht deutlich, daß dem Erotischen ebenfalls nur Symbolcharakter zukommt. Es kehrt in aller Deutlichkeit die transzendentale Dimension des Vorgangs hervor, in dem es um eine mystische Wandlung geht. Die hierarchische Kristallisation der Masse im Symbol ihrer weiblichen Führerin dient einer mystischen Entgrenzung. An dieser Stelle setzt der Prozeß der inneren Verschmelzung zwischen Heldin und Masse ein, der in der völligen Auflösung Euras enden wird. Die Nivellierung erscheint jedoch als Erhöhung und vitale Steigerung, die Sternheim über die sexuelle Symbolik und den vertikalen Bildaufbau zum Ausdruck bringt. Und sie wird auch dann thematisch als Steigerung fortgeführt, als sich die räumliche Hierarchie verkehrt und Eura »wie Schaum [...] senkrecht in heißes Geschehen geschmettert« wird, »das sie von Bedingtem freibrüht«. Die ekstatische Steigerung wird hier als ein Eintauchen ins >Absolute< über die Hitze, Vertikalität und Wucht formuliert, während die Nivellierung im (durchgehenden) Wasserbild beibehalten ist. Eura löst sich in die elementare Kraft des Wassers auf, und ihr Erleben ist nunmehr durch das >elementare< Sein bestimmt: Sie ist das Meer, und sie empfindet in sich seinen flutend-überflutenden Drang. Dabei wird die sexuelle Symbolik des Wassers weitergeführt, nun aber nicht in seinem symbiotischen, sondern in seinem destruktiven Charakter hervorgekehrt. Das Ozeanisch-Weibliche wird zu einer >amazonischen< Kraft: Eura kämpft, indem sie ihre Brüste zu Kampfmitteln aufbläht, mit der Kraft des Auflösens, Verschmelzens und Überflutens gegen den »Wall« der Soldaten an. Der Kampf zwischen der Masse und dem Militär, bildlich bereits überformt zum elementaren Gegensatz zwischen Flut und Damm, wird auf der symbolisch-allegorischen Ebene zum Geschlechterkampf. Die entfesselte Kraft des Ozeanisch-Weiblichen kehrt sich gegen das, was sich seinem symbiotisch-auflösenden Verlangen und seiner expansiven Dynamik als feindliches Prinzip entgegenstellt. Die weibliche Verkörperung der Masse in der Heldin entfaltet ihre geschlechtsspezifische Logik: Der Kampf zwischen Masse und Militär wie der >Sozialismuskommunitäre< Prinzip in der Masse, erscheinen in einer sexualisierten Symbolik, in der das Revolutionäre als weiblich und das Militärische als männliches Gegenprinzip gekennzeichnet ist. Das Muster des aufgewühlten Meeres ist also die zentrale Großmetapher, in deren Bildlichkeit Sternheim verschiedene Bedeutungspotentiale aktualisiert und Abläufe auf den verschiedenen Ebenen des Geschehens zum Ausdruck bringt. So spielt er das Wasserelement in seiner mehrschichtigen und tiefgründigen Bedeutung aus als Bewegungsmetapher, als Sinnbild der ewigen Wandlung und Unbeständigkeit, als elementare Urkraft in ihren überrollenden
197
Die »Exhibition« ist ebenfalls ein Teil der gottesdienstlichen Handlung: Nach der vollzogenen »Wandlung« werden den Gläubigen die in Christi Leib und Blut verwandelten Speisen, Brot und Wein, gezeigt.
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Eigenschaften, als Bild der strömenden Lebenskraft und schließlich auch als Ausdruck der Eigenschaften weiblicher Sexualität. Sternheim greift mit der Vorstellung der Masse als Menschenmeer auf ein traditionelles Bild zurück, weitet die bildimmanenten Möglichkeiten der ozeanischen Volksmetapher aber auf eine ungewöhnliche Weise aus, indem er sie mit dem grundlegenden lebenssymbolischen Potential der Wasser- und Meeresbilder anreichert. d)
Wasser, Masse und Lebenskraft
Das Wasser als Element bietet sich an als umfassende Analogie zur Beschreibung der Masse in ihrer flüssig-amorphen Bewegung. In dieser Funktion läßt es sich, wie gesagt, bis in die Literatur der Antike zurückverfolgen,19* und auch in der geläufigen Alltagssprache greifen wir auf Wassermetaphern zurück, wenn wir Bewegungen eines Menschenrtrom&f beschreiben wollen. Die Plausibilität der >flüssigen< und >wogenden< Bewegungsform der Masse scheint — zumindest im europäischen Kontext — verschiedenen Kultur- und Sprachräumen vertraut zu sein. Sie läßt sich nicht nur sprachbildlich finden, sondern findet sich auch als grundierendes Muster in der Malerei und Graphik ausgeprägt. Auch der Film setzt Massenbewegungen in die Vorstellung von Wasserbewegungen um. Der sowjetische Revolutionsfilm beispielsweise greift dabei auch bewußt in einem appellativen Sinn auf das Wasser als eine >revolutionierende< Revolutionsmetapher zurück: Der Bewegungstrom der Masse wird beispielsweise in Analogie zum schnellen Stromlauf eines Flusses (aber auch zum geschwinden Zug der Wolken) gesetzt; der Zuschauer soll mit in die politische (Aufbruchs-)Bewegung gezogen werden und von ihrer >Strömungskraft< durchdrungen werden. Es scheint also ein doppelter Zusammenhang zum Wasser zu bestehen: Zum einen legt das physiognomische Erscheinungsbild der Masse den Vergleich mit dem Wasser nahe. Zum anderen geht von der Wassersymbolik offenbar — zusätzlich zur allgemein mitreißenden Dynamik der elementaren Naturmetaphorik — eine besonders intensive Tiefenwirkung aus. Die besondere ästhetische Leistung des Wasserbildes besteht darin, daß es zugleich mit der Bewegung auch den (gleichsam stofflichen) Zusammenhang des Bewegungsträgers zum Ausdruck bringt. Das Wasser ist die zentrale Metapher nicht nur für kollektive Bewegungsformen, sondern für die Bewegung schlechthin: Es unterscheidet zwischen Fließen, Strömen, Fluten, zwischen heftigen Aufwallungen, sich aufbäumendem Wogen und langsamem Versickern199; es vergegenwärtigt die flüssige Bewegung kanalisierter Menschenströme, zeigt ihr Zusammenfließen an; als Menschenmeer hält es die
198 199
Vgl. S. 16 u. S. 57f. So spricht man vom Versickern einer (politischen oder gar revolutionären) Massenbewegung. Und es wird nach (geistesgeschichtlichen oder politischen) »Strömungen« unterschieden.
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Masse und Ekstase: Stemheims »Europa«
unüberschaubare Ausdehnung der Menge fest, und als ansteigende Flut zeigt es ihr quantitatives Anwachsen an; schließlich vermag es im Wechsel von Ebbe und Flut auch kollektive Rhythmen zu gestalten. Die prominentesten Beispiele der literarischen Massengestaltung greifen auf diese Spannbreite der Analogie zurück. Als heftig bewegtes, aufgewühltes oder entfesseltes Meer ist das Wasser das Bild schlechthin für den Massenaufruhr (vgl. oben, Kap. I., S. 11 u. 16). An dieser Stelle gilt es sich bewußt zu machen, daß dem Begriff »Aufruhr« selbst bereits das Wasserbild zugrundeliegt: Die Menge ist in Aufruhr, weil sie »aufgerührt* wurde. Und tatsächlich ist das aufgerührte oder aufgewühlte Meer ein stürmisches Meer: Es ist der Sturm der Leidenschaft, der Sturm der Empörung, der die Menge aufpeitscht und gegen die Obrigkeit erhebt. Das vom Sturm entfesselte Meer ist also ein Doppelbild, in dem der Vorgang des Aufruhrs in einen aktiven und passiven Teil aufgespalten ist: Der Sturm, in seiner pneumatischen Herkunft, ist das beseelende Element des Aufstands, der revolutionäre Elan, während die Vorstellung der Masse selbst in ihrer flüssigen Bewegungseigenschaft (sprach-)bildlich an das Element des Wassers gebunden bleibt. So treten beide Metaphern häufig auch in Verbindung miteinander auf, etwa in der topischen Charakterisierung der revolutionären Masse als ein >aufgepeitschtes< Meer. Die aufpeitschende Wirkung kann dabei auch von einem Einzelnen, Führer oder Demagogen, ausgehen, der mit seiner revolutionären Leidenschaft einen Sturm entfacht und so die elementare Gewalt der Masse, das wogende Meer in Bewegung setzt. Das elementare Doppelbild des stürmischen Meeres ist die Revolutionsmetapher par excellence in Literatur und Bildender Kunst, weil sie die Bewegung und Erregung der aufrührerischen Masse, Tumult und Gefühl, in einem Bild zusammenzieht. Sternheim greift aber nicht so sehr auf den Sturm als ein revolutionierendes Prinzip zurück, sondern er stellt das Feuer, die Hitze in den Mittelpunkt. Eura >feuert< die Masse mit einer >Brandrede< an, indem sie ihr vulkanisches Element zum Sprechen bringt. Und bereits in ihrer ersten Versammlungsrede zu Anfang des Romans war es Feuer, mit dem sie ihre Zuhörer entzündet hatte. Feuer, nicht Sturm, ist für Sternheim das entscheidende Element der Lebenskraft. Der Sturm als bewegendes Element ist in seiner Szene (etwa im Gegensatz zu Blitz und Vulkan) nicht in eine spezifisch revolutionäre und eine militärische Kraft geschieden: Der Sturm, als »Säule Schreck«, also als Windhose, faßt beide Parteien zusammen. Er wirkt als eine archaisch-entfesselnde Kraft in der militärischen Bildtradition. Die revolutionäre Tradition, die das Bild wesentlich als den »Sturm der Geschichte« aktualisiert, kommt bei Sternheim, dessen Revolutionsgestaltung bewußt ahistorisch pointiert ist, nicht zum Zuge. 200
200
Auf den Sturm als eine Geschichts- und Revolutionsmetapher wird im Zusammenhang mit Franz Jung zurückzukommen sein.
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Sternheims sehr eigenwillige Bildverwendung bringt die symbolische Aufgeladenheit des Wassers zu Bewußtsein — eine Aufgeladenheit, die sich in der Verwendung des Elementes als Massenmetapher auch auf die Massenvorstellung selbst überträgt. Sie ist zum einen dadurch zu erklären, daß das Wasser als ein >lebensspendendes< Element für Mensch und Natur insbesondere in den historisch zurückliegenden agrarischen Gesellschaftsformen eine zentrale kultische Rolle spielte, die ja auch in den christlichen Taufritualen fortexistiert. Damit allein aber läßt sich die hohe sexuelle Aufladung der Wassersymbolik als Fließendes, Strömendes, Flutendes, wie sie ja auch von Sternheim deutlich in Szene gesetzt wird, nicht erklären. Im Wasserbild wird die Entgrenzung vom Ich zum Es formuliert. Und es ist die weibliche Sexualität, die in besonderer Weise in der Wassersymbolik repräsentiert wird und der >LebensMeer< des Fruchtwassers. Venus ersteht aus dem Meer. Das Meer aber ist das Symbol des Werdens schlechthin. Und es ist die Analogie des Wassernetzes in der Natur zu den inneren Körperströmen, zur Blutzirkulation und zu den Ausscheidungen, welche die Wassersymbolik so körpernah macht. In Lebenskult und Vitalismus nehmen die Wasser- und Meeresmetaphorik eine zentrale Rolle ein. Friedrich Nietzsche machte die Lebensmetapher des Meeres zu einem zentralen Symbol in seiner Lebensphilosophie, der Sternheim möglicherweise den ästhetisch-kategorialen Gegensatz von Dionysischem und Apollinischem verdankt.201 In einem Aphorismus des Nachlasses beschreibt Nietzsche sein Prinzip des Dionysischen. Die Stelle scheint aufschlußreich für die besondere Ausprägung der elementaren Bildlichkeit in Sternheims Szene. Diese »meine dionysische Welt des Ewig-sich-selber-Schaffens, des Ewig-sichselber-Zerstörens« stellt Nietzsche in der Metaphorik des Meeres dar als: ein Ungeheuer von Kraft, ohne Anfang, ohne Ende, [...] ein Meer in sich selber stürmender und fluthender Kräfte, ewig sich wandelnd, ewig zurücklaufend, mit ungeheuren Jahren der Wiederkehr, mit einer Ebbe und Fluth seiner Gestalten, aus den einfachsten in die vielfältigsten hinaustreibend, aus dem Stillsten, Starrsten, Kältesten hinaus in das Glühendste, Wildeste, Sich-selber-widersprechendste, und dann wieder [...] heimkehrend [...] zur Lust des Einklangs, sich selber bejahend noch in dieser Gleichheit seiner Bahnen
201
Der Einfluß Nietzsches auf Sternheim wird in der Forschung unterschiedlich beurteilt. Vgl. die entsprechenden Hinweise bei Wendler: Carl Stemheim. Weltvorstellung und Kunstprinzipien (wie Anm. 137) und Herbert Reichardt: »Nietzsche und Carl Sternheim« (in: Nietzsche und die deutsche Literatur, Bd. 2, hrsg. v. Bruno Hillebrand, Tübingen 1978, S. 11-33). Leider greift H. Reichardt nur die theoretischen Schlüsselbegriffe auf, geht aber überhaupt nicht auf die Ebene der Gestaltung ein. H. S. Reiss (»Sternheim — ein Satiriker^?«, wie Anm. 140, S. 321) weist (im Widerspruch zur Geringschätzung von Sternheims NietzscheKenntnissen bei Wendler und Reichardt) darauf hin, daß Sternheim möglicherweise 1906 bei Rickert eine Vorlesung über Nietzsche gehört hat.
144
Masse und Ekstase: Stemheims »Europa«
und Jahre, sich selber segnend als das, was ewig wiederkommen muB, als ein Werden, das kein Sattwerden, keinen ÜberdruB, keine Müdigkeit kennt [,..].202
Eine weitere Ebene ist in diesem Zusammenhang anzusprechen: Klaus Theweleit203 hat beispielhaft am Metaphern-Umfeld der deutschen Freikorpsliteratur die grundsätzlichen psychoanalytischen Untiefen der Wasser- und Strömungsbilder im Zusammenhang mit der Massenvorstellung erschlossen. Grundlegend ist die Assoziation der Masse mit der weiblichen Sexualität (und zwar über die Wassermetaphorik), die sich als angstbesetztes Faszinosum in den von Theweleit untersuchten Beispielen niederschlägt. Theweleit geht davon aus, daß die Übertragung unbewuBt sei. Sternheim jedenfalls schlachtet die Überlagerung von Wasser, Masse und weiblicher Sexualität bewußt aus. Sein Ziel ist aber ein übergeordnetes vitalistisches Prinzip: Er will über die elementare Bildlichkeit, über die lebenskultliche Wassersymbolik und über die Sexualität das dionysische Prinzip als Antrieb der revolutionären Masse zur Anschauung bringen (das offenbar auch Theweleits Autoren einen so großen Lustschrecken einjagt — einen Lustschrecken übrigens, der vielleicht gar nicht so unbewußt ist, wie Theweleit meint). Dazu setzt er die Auflösungs- und Verschmelzungseigenschaften des Wassers ein und überformt die Szene mit dem Meeresmotiv, dem Symbol der ständigen Bewegung, des Werdens, des ewig wiederkehrenden Seins und damit des Lebens schlechthin. Die Masse, in der konservativen Sicht das Wankelmütige und Unbeständige, Gestaltlose schlechthin, wird damit einerseits in ihrer Nichtigkeit bestätigt, zugleich aber wird sie zur reinen Lebenskraft erhöht.
C.
Die Integration der jubelnden Menge in das konservative Zeremoniell
Zunächst im Wortlaut der Text:
5
202
203
Carl in Katarakten weher Gefühlsstürme wollte entrinnen und seines Aufenthalts letzten Tag auf dem Land einsam verbringen; als er frühmorgens aber das Hotel verließ, waren Straßen und Plätze von festlich geschmückter Menge schon so überfüllt, d a ß kein Weiterkommen w a r , Wagen und Trams nicht marschierten [...]. Keine Brust, die nicht mit des Hauses Oranien gel-
Diese Welt, so übrigens schließt Nietzsche die Passage emphatisch ab, sei »der Wille zur Macht — und nichts außerdem!« (Friedrich Nietzsche: Aphorismus 1067 (nach der Zählung von Elisabeth Nietzsche-Förster und Peter Gast in Der Wille zur Macht, IV); in: Kritische Gesamtausgabe, hrsg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, Bd. VII/3, Berlin (u.a.) 1974, S. 338/9.) Männerphantasien, 2 Bde, Frankfurt/M. 1977 u. 1978. Vgl. insbesondere Bd. 2, Kap. 1 (»Die Masse und ihre Gegenbildungen«).
Die jubelnde Menge im konservativen Zeremoniell
10
15
20
25
1.
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b e n K o k a r d e n b e p f l a s t e r t w a r , kein A u g e , d a s n i c h t f r ö h l i c h f u n k t e . G e b ä u d e , jeder Pfeiler u n d M a s t , e l e k t r i s c h e Bahnen u n d S c h i f f e w i m p e l t e n s o im e r d e n k l i c h e n F l a g g e n s c h m u c k , d a ß H i m m e l k u n t e r b u n t w a r . B r ü s t e der S c h u t z l e u t e z u F u ß u n d z u Pferd k e u c h t e n m e d a i l l e n s c h a u k e l n d . Es g e n ü g t e , die K ö n i g i n und das b l o n d e P r i n z e ß c h e n i m w e i ß e n P e l z m a n t e l bei ihr f u h r e n in mit vier o r a n g e g e l b e n R ö s s e r n έ la Daumont bespannter K u t s c h e ein paarmal über den Paradeplatz, d a ß aller Holländer Herzen o h n e U n t e r s c h i e d d e s S t a n d e s w i e s c h o n seit langem nicht g e s c h w e l l t w a r e n , kein A u g e t r o c k e n blieb, u n d v o n innerer B e w e g u n g s c h l i e ß l i c h fanatisierte M e n g e die v o m G e s c h r e i e r m ü d e t e n und s c h o n n e r v ö s g e w o r d e n e n Falben a b s c h i r r t e , s i c h e i n s p a n n t e , und eine gerührte, vor A u f r e g u n g s c h w i t z e n d e K ö n i g i n unter n e u e n V i v a t s t ü r m e n in ihr Palais s c h l e i f t e , v o n d e s s e n B a l k o n s i c h die korpulente D a m e u n z ä h l i g e m a l g e g e n das bunte G e k r i b b e l v e r n e i g t e . V o n da bis in s p ä t e N a c h t b e g o ß N a t i o n Freude über ihre S o u v e r ä n i n mit S t r ö m e n A l k o h o l , u n d B ü r g e r s c h a f t u n d A d e l b e s o n d e r s k o n n t e n s i c h bis z u s o völliger T r u n k e n h e i t nicht f a s s e n , d a ß R e s t a u r a n t s u n d H o t e l s ä l e s c h l i e ß l i c h in t r ü b e n L a c h e n s c h w a m m e n u n d Hollands s p r ö d e s t e J u n g f e r n s i c h f e u c h t e t e n . B i s z u m M o r g e n h ö r t e C a r l immer v o n n e u e m in sein Elend u n d Bett hinein T u s c h und H y m n e gebrüllt: Wilhelmus von Nassauwen ben ick van duytschen bloet. Den vaederlandt getrouwhe blyf ick tot in den doedtl ( 4 7 5 / 6 )
Der Realismus der Satire. Die Ebene der Karikatur
Zugespitzt zu einem drastischen Bild nationaler Unterwerfung und freiwilliger Knechtschaft gestaltet Sternheim in der Szene die >Reinthronisierung der Monarchiec Das Volk — als Höhepunkt seiner begeisterten patriotischen Hingabe — spannt sich selbst vor den >Karren< der Monarchie. In einem bewußt raffend-distanzierten Gestus (»Es genügte [...]«, Zeile 10) wird die königliche Paradefahrt zu einer satirisch-grotesken Szene überzeichnet, wie sie vor allem in der politischen Karikatur anzutreffen ist.204 Das Volk — gerade erst durch die Revolution dem gemeinsamen Staat >ausgespannt< — nimmt aus freien Stücken seinen herkömmlichen Platz wieder ein, der den »Karren« am laufen hält. Es macht als doppelt betrogener Esel übereifrig den Karren für die anderen flott. Bürgerschaft und, wie der Text betont, besonders der Adel können sich »nicht fassen« vor Lachen, weil das Volk sich über alle Erwartung hinaus affirmativ und knechtisch in das symbolische Spiel der Parade fügt, in dem sein Schicksal auf Dauer besiegelt wird. Dennoch, aller Überzeichnung zum Trotz, gestaltet Sternheim einen realgeschichtlichen Ablauf nach. Als überraschendes Ergebnis stellt sich heraus: Die Wirklichkeit übertrifft die Karikatur. Die Szene bezieht sich auf die breitange-
204
Die Kutsche der holländischen Königin spielt tatsächlich eine bedeutende zeremonielle Rolle im öffentlich-politischen Leben des Landes. So fährt die Königin jeweils am 3. September, »Prinsjestag« genannt, mit ihrer goldenen Kutsche in den Binnenhof ein, um das Parlament zu eröffnen.
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Masse und Ekstase: Sternheims »Europa«
legte nationale Huldigungskampagne für die Königin, die mit der Feier in Den Haag am 18. November 1918 eröffnet worden war. Tatsächlich spannt sich in einer scheinbar spontanen spektakulären Geste eine Schar junger Männer unter dem frenetischen Jubel der Menge anstelle der Rösser vor die Kutsche der Königin. Die massenwirksame Inszenierung bleibt ein Bestandteil auch der weiteren Huldigungsfeiern, die in der Folge in Gegenwart der Herrscherin in den verschiedenen Städten des Landes zur Konsolidierung der Monarchie veranstaltet werden. Freilich gibt es einen gravierenden Unterschied zu Sternheims Szene: Die Ausführenden entstammten in Wirklichkeit nicht, bzw. nicht unmittelbar der Masse des Volkes, sondern gehörten militärischen und paramilitärischen Verbänden an.205 Die Darstellung des Vorgangs in De Nederlander vom 18.11.1918 sei hier im folgenden zitiert. Der Zeitungsbericht (selbst eine Mediatisierung und politische Filterung des historischen Ereignisses) kann hier natürlich nicht als unmittelbarer Zugang zum historischen Vorfall gewertet werden. Er mag aber beispielhaft für ähnlich zugängliche Quellen stehen, aus denen Sternheim seine Informationen bezogen haben mag. Vor allem macht er deutlich, wie eng sich Sternheim an den historischen Vorgang selbst, bzw. an seine offizielle Darstellung gehalten hat; er bearbeitet das Ereignis nur in einem pointierenden Sinn. Te 1 uur precies kwamen de twee hofrijtuigen längs de Princessegracht aangereden; in bet eerste rijtuig hadden plaats genomen de Koningin met den Prins en Prinses Juliana, in het tweede rijtuig eenige hofdames. Tot de Boschbrug werd het rijtuig getrokken door twee paarden, bestuurd door een hofkoetsier. Maar toen veranderde het! Aan den ingang van het Malieveld stonden gereed de 2e sectie der Schoolcompagnie en le sectie van den Vrijwilligen Landstorm, die den verwonderden koetsier verzochten af te stijgen, — de paarden voor het Koninklijke rijtuig äfspanden en onder groot enthousiasme van de dicht opeengepakte omgeving zelf het rijtuig met zijn kostbaren last naar het Malieveld voortbewogen. Een onbeschrijfelijk enthousiasme maakte zieh op het gezicht van dit tooneel van de duizenden meester. Men wuifde met hoeden, handen, petten ... Leve
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De Nederlander vom 18.11.1918 nennt die Reihen einer militärischen Schulkompagnie und des »Freiwilligen Landsturms«. Vermutlich ging der Plan vom Bund der Regierungstreuen (»Bond van Regeeringsgetrouwen«) aus, der die Kundgebung maßgeblich vorbereitet hatte. Die Ausführung wird der Mannschaft der »3e compagnie, le bataljon« des »Regiment Grenadiers« zugeschrieben, deren Kapitän, W. van Ittersum, Ort und Zeitpunkt mit dem persönlichen Sekretär der Königin durchgesprochen haben soll. Die >Inszenierung< soll sogar vorher eigens in den Stallungen der Königin einstudiert worden sein. In der »Zweiten Kammer« des Parlamentes kommt es im übrigen zu einer offenen Aussprache fiber den Vorfall, der von den Rechtsparteien als Ausdruck einer spontanen Sympathiebekundung hingestellt wird. Vgl. die ausführliche Darstellung und Diskussion des Vorfalls bei H. J. Scheffer: November 1918: Joumaal van een revolutie die niet doorging (wie Anm. 136), insbesondere Kap. X, sowie passim zu den Vorbereitungen der königstreuen Kundgebung. — Ein derart eindeutiger Rückbezug auf die historischen Ereignisse in den Niederlanden wie bei der hier behandelten Szene läßt sich für die vorausgegangene Revolutionsdarstellung Stemheims in den von Scheffer ausgebreiteten Materialien allerdings nicht ausmachen.
Die jubelnde Menge im konservativen Zeremoniell
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Oranje! Leve de Prins! Leve bet Prinsesje! daverde het door de lucht en toen de Kon. Militaire Kapel het Wilhelmus inzette en dit door duizenden werd medegezongen, toen onze Koningin zieh ζόό zag gedragen door haar volk, toen alles steeds meer opdrong om een groet van Koningin of Prinses te mögen ontvangen ... toen werd het haar te machtig. Daar stond zij, onze Vorstin, tot tränen geroerd, met de arm gestagen om Haar dochter, die met beide handjes meewuifde.204
In seiner überspitzenden Verallgemeinerung erfaßt Sternheim unmittelbarer den Kern des Spektakels: Der politische Sinn — im Moment des politischen Aufbegehrens der Massen — besteht genau in jener symbolisch-rituellen Unterwerfung, die Sternheim in einem unmittelbar kurzschließenden Verfahren, das die symbolischen Vermittlungsschritte wegläßt, zur Darstellung bringt. In der historischen Veranstaltung stimmt das Volk seiner Unterwerfung zu, indem es sich mit dem vorgeführten Ergebenheitsgestus identifiziert und diese Identifikation im begeisterten Jubel zum Ausdruck bringt. Es versteht sich, daß der herrschaftliche Charakter der Parade von sich aus keine direkte Partizipation der Massen erlaubt. Es gehört vielmehr zum Wesen des monarchischen Festes, daß die Menge bei aller inneren Beteiligung wesentlich doch Zuschauer der königlichen Machtentfaltung bleibt. Sternheim vermeidet bedeutsamerweise den Begriff der Masse, bzw. den der Massen (er hat, wie gesagt, im Plural einen betont politischen Sinn). Nur der Terminus »Menge« kommt in der Beschreibung der konservativen Feier vor. Es wird zwar ein oberflächlicher Eindruck von >allen< und »jedermann« erzeugt (»aller Holländer Herzen«, »kein Auge, das nicht [...]«), aber die soziale Zusammensetzung der jubelnden Menge bleibt undifferenziert. Während später eigens auf Bürgerschaft und Adel hingewiesen wird, bleibt die
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Zit. nach Scheffer, wie Anm. 136, S. 221/2. Meine Übersetzung vermeidet bewußt eine Glättung des Wortbestandes, um Rückschlüsse auf die Revolutionsszene zuzulassen, in der ja einige der (auch?) hier auftauchenden Formulierungen geradewegs als szenische Elemente umgesetzt zu sein scheinen: »Um genau 1 Uhr kamen die zwei Hofkutschen längs der Princessegracht angefahren; in der ersten Kutsche saßen die Königin mit dem Prinzen und der Prinzessin Juliana, in der zweiten einige Hofdamen. Zu der Boschbrücke wurde die Kutsche von zwei Pferden gezogen, gelenkt von einem Hofkutscher. Dann aber veränderte sich das [Bild]! Am Eingang des Paradefelds standen die 2. Abteilung der Schoolcompagnie und die 1. Abteilung des freiwilligen Landsturms bereit, die den verwunderten Kutscher baten abzusteigen — [dann] die Pferde vor der Königlichen Kutsche ausspannten und unter der großen Begeisterung der dicht gedrängten Umgebung selbst die Kutsche mit ihrer kostbaren Last weiter fortbewegten. Ein unbeschreiblicher Enthusiasmus bemächtigte sich der Tausenden beim Anblick dieser Szene. Man winkte mit Hüten, Händen, Mützen ... Lang lebe Oranien! Lang lebe der Prinz! Lang lebe das PrinzeBchen! Es donnerte durch die Luft, als die Königliche Militärkapelle den >Wilhelmus< anstimmte und [das Lied] von Tausenden mitgesungen wurde[;] als unsere Königin sich so von ihrem Volk getragen sah, als alles sich immer dichter herandrängte, um einen GruB von der Königin oder dem PrinzeBchen empfangen zu dürfen ... da war sie [völlig] überwältigt. Da stand unsere Fürstin zu Tränen gerührt, den Arm um ihre Tochter geschlungen, die mit beiden Händchen mitwinkte.«
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Masse und Ekstase: Sternhelms »Europa«
Kategorie »Proletariat« oder »Arbeiterschaft« auffällig unerwähnt. Statt des staatsbürgerlichen Begriffs des Volkes, mit dem der Höhepunkt der revolutionären Masse im Moment ihrer politischen Vereinigung zum Gesamtsubjekt gekennzeichnet war, fungiert hier die »Nation« als scheinbar ständeübergreifender integrierender Gesamtbegriff. 2.
Die jubelnde Menge als revolutionsabwehrende Gegenbewegung
Im Text wird die Szene lose mit der Perspektive des skeptischen Individualisten und Außenseiters Carl Wundt verknüpft. Wundts Begegnung mit der konservativen Menge ist überschattet durch seine persönliche Bestürzung und Trauer: Am Vortag hat er erfahren, daß »mit sieben Opfern [...] die unverehelichte Fuld bei einem Krawall von Truppen erschossen und von wütender Bürgerschaft ihr zertrampelter Kadaver ins Wasser geworfen« worden sei. Ohnehin der Masse gegenüber grundsätzlich negativ eingestellt, stößt Wundt in seinem Einsamkeitsbedürfnis unfreiwillig auf eine massive über die ganze Stadt verteilte regierungstreue Menge, die das städtische Verkehrsleben lahmlegt und ihn persönlich behindert und stört. Seine Wehmut prallt auf ein unpassendes nationales Freudenfest, in dem nicht die kleinste Spur der Betrübnis oder des Aufbegehrens über die niedergeschlagene Erhebung auszumachen ist. Der Konformismus, der topische Wankelmut der Massen scheint offen zutage zu liegen. Entsprechend pointiert der Text an den verschiedenen Stellen nicht (positiv) die Gemeinsamkeit (>alleFlutgleichmacherisch< mit Wimpeln und Flaggenschmuck überdeckt, daß der Unterschied zwischen Menschen und Sachen — zwischen der Festmenge, den Verkehrsmitteln und den städtischen Gebäuden — gleichsam eingeebnet ist. Alles ist von einer aufdringlich heiteren Feststimmung getragen, deren Programmatik in der dekorativen Ausstattung bereits vorgegeben ist. Menge und Schutzleute — die einen tragen gelbe Kokarden, die anderen (güldene) Medaillen an der stolzen Brust — sind wie zwanglos ineinander vermengt: Der latente Gegensatz von Volk und Staatsgewalt, der erst die strukturierend-überwachende Präsenz der Polizei erforderlich macht, ist in der festlichen Verkleidung zugedeckt. Nirgends zeigt sich ein Widerspruch zu dem »kunterbuntfen]« Agglomerat aus Menschenmenge und Festschmuck, das die Stadt geradezu zu verstopfen scheint. Noch das >fröhlich funkende Auge« der Menge (Zeile 6), das Carl Wundt als die innerste Zustimmung zum Spektakel gelten muß, fügt sich auf eine zugleich gedrosselte Weise als belebendes Element in das bunte Allerlei der Festkulisse ein. Für übersprühende Funken, für eigene Farbnuancen bleibt — buchstäblich — kein Raum. In Wahrheit nämlich ist die Stadt von den bunten Wimpeln geradezu verhängt, denn nicht einmal der Blick auf den Himmel ist frei. Es ist von vornherein verhindert, daß der Elan der Menge übermäßig
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Vgl. genauer zu den realhistorischen Aktivitäten der konfessionellen Vereinigungen, Katholiken wie auch Protestanten, Scheffer (wie Anm. 136) Kap. IX. In Den Haag ließ der Bürgermeister den Aufruf, sich am Montagmittag auf dem Paradefeld zu versammeln, mit der ausdrücklichen Aufforderung, »Flagge zu zeigen und orange zu tragen«, verbreiten und anschlagen (Scheffer, S. 192/3).
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Masse und Ekstase: Sternheims »Europa«
in die >Höhe< schießen oder sich flächig ausbreiten kann. Der Festschmuck verhüllt und verkleidet die räumlich-hierarchische Machtstruktur, die im Paradespektakel auf eine heiter-prunkvolle Weise fortbesteht und den scheinbar spontanen Charakter der Sympathiekundgebung untergründig kanalisiert. Im kunterbunten Flaggenschmuck wird auf der einen Seite zwar das potentielle »Rot« der Revolution abgewehrt. Auf der anderen Seite aber wird die Farbe des Hauses Oranien,»gelb-orange« zum bestimmenden Ton. Der Glanz der Macht hat sich gleichmäßig auf die kokarden>bepflasterte< Menge, die medaillenüberfrachtete Polizei, das blonde Prinzeßchen und die orange-gelben Rösser vor der königlichen Kutsche herabgesenkt. Alle werden so als farbentragendes Zugpferd für die königliche Sache eingespannt. Die Treue zum Königshaus stiftet das >Wir-Gefiihl< als Nation; dessen Bedingung aber ist es, Untertan zu bleiben. An die Stelle der aufbrechenden Dynamik der revolutionären Masse, mit ihren mitreißenden Strudelbildungen und ihren vertikalen Aufwärts- und Fallbewegungen, tritt die statische Gefühlsentladung eines organisierten Festes. Die dekorative Festverkleidung soll dabei darüber hinwegtäuschen, daß die Schranken zwischen den Menschen in Wirklichkeit nicht aufgehoben sind. Während die Revolutionsgestaltung die Überwindung des sozialen Raumes im elementar-ekstatischen Massentaumel vorführte, wird der Raum hier auf eine aufdringliche Weise hervorgekehrt. Alle Bewegungen in ihm folgen einem moderierten Hin und Her ohne wirkliche Klimax. Es >wimpelt< und »schaukelt·. Die königliche Kutsche fährt »ein paarmal über den Paradeplatz«. Die Königin verneigt sich »unzähligemal«. Es sind wiederholte Pendelausschläge kleinsten Umfangs. Die Begeisterung der Menge ist eine innere >Schwellungfröhlich funkenden Augeals Frau< die überspannte Erregung der Menge keinesfalls verdient. Die >störenden< Konkretismen unterlaufen jenes Spiel der idealisierenden Überhöhung der Macht, deren zeremoniellen Vollzug der Text zugleich beschreibt und konterkariert. Durch eine zu große und grobe Nahaufnahme sabotiert der Autor den Mechanismus des idyllischen farbenprächtigen Identifikationsspektakels, das wesentlich auf der respektheischenden Distanz zwischen Volk und Herrscherin beruht. Sternheim durchzieht die Darstellung mit einem Mißton, der eindrucksvoll durch die Verknüpfung von Tusch und Hymne entsteht. Mißstimmig scheint der >nationale< Freudentaumel, wenn sich Adel und Bürgerschaft in den
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Masse und Ekstase: Sternheims »Europa»
besseren Vergnügungslokalen befinden. Im Gegensatz zur Revolutionsszene sorgt hier der Alkohol für befreite Emotionen. Und im Gegensatz zu Euras dionysischer Vereinigung mit der Masse brauchen Hollands »sprödeste Jungfern« den Alkohol als Mittel zur Stimulation. In den Vergnügungslokalen »verschwimmen« die Räume in »trüben Lachen« (Zeile 22). Diente das Element des Wassers in der Revolutionsszene dazu, die verschmelzende Energie der Masse in ihrer nach außen drängenden Dynamik nachzubilden, so kennzeichnet hier die Eigenschaft des >stehenden Wassers* die allgemeine Stimmungslage, insbesondere der führenden Schichten, die mittlerweile dazu übergegangen sind, den unverhofften Sieg auf feucht-fröhliche Weise zu feiern und zu begießen. Hier verwirklicht sich nun auf eine allerdings schmutzigtrübe Weise jene Entfesselung der Triebenergie, die der konservativen Menge in der hierarchisierten Form der Paradefeier vorenthalten war: Den Betrunkenen entgrenzen sich die hierarchischen Räume zugleich mit den Anstandsgrenzen. Die ekstatische Trunkenheit der revolutionären Masse, mit ihren — wenngleich gebrochen — sublimen Momenten, ist zu einem alkoholisierten Rausch schmutzig-trivialer Enthemmung verkommen. Euras identifizierender Expressionismus von unten findet schließlich in einem perspektivischen Impressionismus »von oben< sein konservatives Gegenmodell. Der herrschaftliche Blick auf das »bunte Gekribbel« deklassiert alle und mit gleichem Maß — nämlich dem Maß des hierarchischen Abstands. Die Menge als Insekten, die Menschen als Zugpferde — es sind harmlose oder gezähmte Tiere, in die sich die Menge freiwillig verwandelt, bzw. verwandeln läßt. Es waren dagegen ungebändigte archaisch-wilde Tiere, die in der Revolution entfesselt worden sind.
D.
Die Massengestaltung im Kontext der kulturkritischen Positionen Sternheims
Zeigte Sternheim in der Revolutionsgestaltung bereits ein gebrochenes Verhältnis zum ekstatischen Taumel seiner Heldin in der aufständischen Masse, so ist seine Darstellung der konservativen Menge nun eindeutig negativ. Während er seine erhaben-elementare Überformung des Massenaufruhrs durch konterkarierende Gegenverfahren des Stils und der Perspektivierung durchkreuzt und ins Grotesk-Triviale umschlagen läßt, greift seine sabotierende Darstellung der Huldigungsfeier auf die Mittel satirischer Überzeichnung und karikaturistischer Typisierung zurück. Im Kontrast aber zur knechtischen Selbstunterwerfung der domestizierten konservativen Menge tritt indirekt noch einmal die wilde Erhabenheit der entfesselten Masse in ihrer elementaren Vitalität hervor. Offenbar begegnet der Autor dieser ursprünglichen Vitalität der aufbegehrenden Masse mit Sympathie, obgleich die Gestaltung der revolu-
Die Massengestaltung im Kontext von Stemheims Kulturkritik
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tionären Erhebung zwiespältig bleibt. Es stellt sich daher die grundsätzliche Frage, wie seine ambivalente Haltung zu verstehen ist. In seiner Schrift Berlin oder Juste milieu, von 1920, die in weiten Teilen, bezogen auf das Wilhelminische Berlin, ein essayistisches Gegenstück zu seinem Roman darstellt, schreibt Sternheim: Als ich im November 1918 [...] im Haag in Holland nachzudenken begann, was ich Greueln des Juste milieu und einem Staats- und Regierungsbolschewismus, der mir mit einer Handbewegung fast das gesamte irdische Gut geraubt hatte, mit meiner Vernunft und heiligen Überzeugung entgegensetzen könnte, [...] lehnte ich vorläufig alles als Programm der Erlösung mir Entgegengebrachte ab, mich selbst gründlicher und gewissenhafter zu orientieren.
Und im Anschluß führt er zur Bedeutung seines Romans aus: Ich schrieb von Seite zu Seite strauchelnd »Europa«, den Roman, als Abrechnung [Hervorh. v. A G ] und die größte mir mögliche Aufklärung gegen das menschenfressende einseitige [Hervorh. im Original] Gespenst des »vernünftigen Entwicklungsgesetzes«, das Franzosen trotz August Comtes Lehre von der völligen Unterordnung des Individuums unter kausale Naturgesetzlichkeit noch gerade überwinden konnten, während die Deutschen ihm, soweit sie bis dahin nicht schon weichgekocht waren, durch Hegel und Marx völlig erlagen. (GW 6, 168)
Sternheims Massenszenen sind in diesem Sinne als die poetische Unterminierung eines deterministischen Fortschrittsverständnisses aufzufassen. Sie richten sich in erster Linie gegen die politischen Arbeiterparteien, und hier insbesondere gegen die SPD, denen Sternheim letztendlich die Korrumpierung und Verbürgerlichung der Arbeiterbewegung zum Vorwurf macht (s. oben, S. 78f.). In den politischen Massenbewegungen, so führt er in der Darstellung sowohl der revolutionären als auch der konservativen Masse polemisch vor, geht es nicht um die Verwirklichung vernünftiger Ideen, sondern um irrationale Gefühlswelten. In diesem Sinne spielt der Autor sowohl das Modell der anarchisch-revolutionären Überschreitung als auch das Modell der affirmativ-konservativen Unterwerfung durch. Beide Modelle, das konservative wie das anarchische, beruhen auf der affektgeladenen Beziehung von Masse und Führerin. Die weibliche Führerin — Eur(op)a im einen, die Königin im anderen Fall — bündelt als sichtbares Symbol der Masse deren Triebenergie. Während aber Eura eine katalysierende Funktion übernimmt, indem sie die Masse zu ihrem eigenen Ausdruck bringt, bindet die holländische Königin die Energie der Menge in ein hierarchisches Knechtschaftsverhältnis zu sich ein. Mit dem >trübenbrülltAugen links!< und hundert Leute warfen wirklich mit Ruck Augen links und verharrten glotzende Karpfen. Dann scholl es: >Augen rechts!< und es schmiB der Troß Augen rechts. Und nun folgte: Augen links — rechts — links — rechts — links — [...]. Und es kippten hundert junge deutsche Augäpfel an Stielen grauenhaft geblendet von rechts nach links, hinüber, herüber [...].« — Hier wird, wie Eura meint, die »Frage der Beziehungsinhalte«, auf die einfachste »Formel« von Gehorsam und Vernichtung gebracht: »Sie lautete, tauchte links hoher Vorgesetzter auf: Augen links! Junge Seele und ganzen Menschen hatte man an goldene Litzen, Achselstücke und Heldenantlitz zu schmeiBen; Welt geradeaus und rechts lebte nicht, bis General in sie fortgeschritten war. Stand aber der von Staats wegen als >Feind< Bezeichnete gegenüber, hieß Kommando: Feuer! und man rottete aus.« (448) Die (vorwiegend indirekte) Darstellung des Militärs in der Revolutionsszene folgt (soweit sie nicht durch die ekstatische Emotion der Heldin aufgeladen wird) dieser Auffassung. Aber sie durchbricht sie auch: Der Sergeant, der seinen Tritt bremst, fällt aus dem rein maschinenhaften Ablauf heraus. Das Motiv des »Brüllens« ist hier schon deshalb zu entfalten, weil auch in dem Textbeispiel von Franz Jung die menschliche Stimme — hier aber als (expressionistischer) Schrei — bedeutsam wird und somit auf eine eigentümliche Weise Berührungspunkte deutlich werden. Während im Schrei vor allem die existentielle Bedrängnis, also Not, zum Ausdruck kommt, ist im Brüllen das >ungebändigte Tier< im Menschen, seine ursprüngliche Wildheit angezeigt.
Die Massengestaltung im Kontext von Stemheims Kulturkritik
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bürgerlichen Vergesellschaftung — mit dem Blick der vitalistischen Kulturkritik — als eine devitalisierende Zurichtung des Menschen. Mit Kants »kategorischem Imperativ« — so führt Sternheims selbst in Berlin oder Juste milieu und so auch seine Protagonistin in Europa aus — setze geistesgeschichtlich jener Prozeß zunehmender Freiheitsbeschneidung und Entmündigung ein, der das Individuum in die Zwänge der Gesellschaft einbinde und an eine Herrschaft von »Zwangsvorstellungen« fessele. Offenbar versucht der Autor diesen Prozee umfassender mit der mechanistischen Ausprägung der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft zusammenzudenken. 210 Während Kants Sittengesetz den Verzicht auf die eigene Person im Moralischen einleite (Europa, 193), kette Hegel den Menschen an den Staat und die Idee einer vernünftigen und notwendigen Entwicklung seiner Geschichte an (194). Vollender dieses Denkens aber sei Marx: [...] nach ihm bewegt mit allem andern sich der Mensch und menschliche Gesellschaft nach ehernen Gesetzen, ohne Gelegenheit für genialen Eingriff fort, und nichts als Unterwerfung unter Naturgesetze und die in ihm hauptsächlich wirkende Bewegungstendenz bleibt. Durch Marx wird größte und schwerste »Notwendigkeit« Ober den deutschen Menschen verhängt: kausale. In ihr lebt alles technisch, psychologisch Vorauszusetzende; aber gar nichts vorzugsweise Vernünftiges, an sich Wertvolles, oder gar Metaphysisches mehr. Nur das Gewisse. (194/5)
Es kann sich hier nicht darum handeln, Sternheims problematische Aneignung von Kant, Hegel und Marx sowie seine Auseinandersetzung mit ihnen im einzelnen zu diskutieren.211 Hier interessiert primär, wie sich Sternheims Gestaltung der Revolution als irrationaler Taumel in diesen Denkzusammenhang stellt. Birgt die anarchisch-revolutionäre Entfesselung der Masse, ihre befreite Triebstruktur ein positives antiautoritäres Gegenprogramm zu dem vom Autor als repressiv charakterisierten Kulturzusammenhang? Oder ist sie als reiner Affront zu verstehen, der von sich aus zu keiner gesellschaftlichen Positivität gelangt?
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Stemheim behandelt die Entwicklung der bürgerlich-mechanistischen Gesellschaft im Roman allerdings unter einem Doppelaspekt: Die Vorherrschaft der Zahl, das mechanistische Denken, das die gesellschaftliche Entwicklung beherrscht, schlägt seinerseits in eine unbändige Technik und Ökonomie um, deren Phänomene, >wilde< Produktion und >enfesselter< Konsum, Sternheim vor allem in der ersten Hälfte des Romans im Zusammenhang des entfesselten Imperialismus und seiner ungehemmten Expansion thematisiert. Das Mechanistische bringt also auf seine Weise ein irrational-anarchisches Element hervor; es erzeugt einen künstlichen ilan vital. Eura zitiert an einer Stelle beispielsweise Däubler: »Die Mechanik mag sich mit der Zahl vertragen,/ in Maschinen treten Leidenschaften auf.« (343) Ich verweise auf die einschlägige Erörterung bei W. Krull (wie Anm. 149, S. 204ff.), sowie auf den Aufsatz von Rhys W. Williams »Carl Stemheims Image of Marx and his Critique of the German Intellectual Tradition« (ebf. wie Anm. 149).
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Masse und Ekstase: Stemheims »Europa«
Die revolutionäre Masse hebt sich in ihrer Darstellung bei Sternheim von der chauvinistischen Entfesselung der Massen ab, wie Sternheim sie am Beginn des Weltkriegs erfahren hat und auch in Europa verarbeitet, indem er dort das hemmunglose Mitwirken der kulturellen Eliten an der Phraseologie des Hasses und Wahns dokumentiert. Die oben zitierte Stelle aus dem Artikel »Morgenröte?« (zur Kultur als Drillsystem) pointiert, warum diese Form der Entgrenzung kein mögliches Gegenmodell zum mechanistischen Determinismus darstellen kann: Der lärmende Paukenschlag — so das zitierte Bild — weckt nicht, sondern übertönt das brüllende Tier. Am Ende >marschieren< die Massen im Rhythmus der Marschmusik. Sie revoltieren nicht. Eine ähnliche Funktion erfüllen im Roman Tusch, Hymne und Vivatgeschrei im Rahmen des konservativen Huldigungszeremoniells. Ist dann die revolutionäre Entfesselung ein taugliches Gegenmodell der Entfesselung? Immerhin fügt sich der ekstatische Taumel der revolutionären Masse nicht jenem Schema materialistischer »Rentenhysterie« ein, die Sternheim (wie an anderer Stelle bereits ausgeführt) insbesondere in seinem Essay Berlin oder juste milieu (1920) den — deutschen — Arbeitern und ihrem halbherzigen Revolutionsversuch zum Vorwurf macht (vgl. oben S. 78f.). Gegenüber der kulturkritischen Distanz des Dichters Wundt zur Masse und zur lebendigen Zeitgenossenschaft lotet Sternheim in Eur(op)a den Reiz der revolutionär-ekstatischen Verschmelzung mit der Masse aus. In der anarchischen Situation der Revolution, in der, wie es die Szene gestaltet, die herrschenden Kausalgesetze aufgehoben sind, bricht die unterdrückte elementare Natur des Menschen durch. Das intuitiv-irrationale Gefühlsvermögen der Heldin, das sie zur >natürlichen< Führerin im Prozeß der Massenbildung bestimmt, kann sich voll entfalten. Eur(op)a wird zum >Genius< der Revolution, indem sie sich selbst zu ihrem größtmöglichen Lebensvermögen befreit, ihren persönlichen >Zenit< erreicht. Aus dieser vitalistisch-ästhetizistischen Perspektive nehmen sich sowohl das zeremonielle Modell der Königin als auch der triviale Rausch der führenden Schichten ungleich unbefriedigender aus. Die hochgemute Emotion der Heldin und die Realität entzweien sich zwar, schmälern aber die Dichte ihres persönlichen Erlebens nicht. Das Groteske der Situation wird nur dem Leser offenbar. Dennoch: die Vitalität der revolutionären Masse wird zwar freigesetzt, aber sie versprüht. Die Triebenergie der konservativen Menge dagegen wird gezähmt und in eine Ordnungsstabilisierende Emotion, Anbetung nämlich, überführt. Das revolutionäre Modell ist vital, aber unstabil. Letztendlich — und das ist entscheidend — hat es einen hohen Preis: Die Kehrseite von Euras Verschmelzung mit der Masse ist, daß sie selbst ihre Individualität — zusammen mit ihrer herausgehobenen Stellung als Führerin — verliert: Sie wird in die Masse nivelliert. Am Endpunkt der revolutionären Entfesselung steht — von der Warte des herausgehobenen Individuums aus — nicht das befreite Ich, sondern die Auflösung des Individuums.
Die Massengestaltung im Kontext von Sternheims Kulturkritik
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Es ist das Schicksal des herausgehobenen Individuums in der Masse, das Sternheim in seiner Heldin — versuchsweise — erforscht. Die Masse als solche interessiert ihn nur als deren Gegenpol. Der Roman bleibt damit seiner Anlage als Künsterproblematik treu: Er fragt letztendlich nach einer menschlichen Möglichkeit des eigenen (Künstler-)Ichs. Auf eine skurril anmutende Weise verbindet sich die Faszination am Anarchischen mit dem individuellen Führertum. Wie selbstverständlich gestaltet Sternheim die anarchisch-spontane Selbstorganisation der Masse in elitären Kategorien: Die Masse braucht das übergroße Individuum, das sie zu ihrem eigenen Ausdruck bringt. — In dem Moment, in dem sich das Individuum auflöst, so läßt sich folgern, muß auch die Masse zerfallen.
V.
Die Bewegung der Masse im gegliederten Raum. Franz Jungs rhythmische Massengestaltung in Proletarier ( 1 9 2 1 )
A.
Künstler, Masse und Revolution. Politische, lebensphilosophische und ästhetische Voraussetzungen von Jungs Massengestaltung
1.
Jungs »proletarisches« Erzählprogramm der »roten Jahre«
Anders als der in seiner großbürgerlichen Existenz abgesicherte Carl Sternh e i m ist der u m zehn Jahre jüngere Franz Jung ( 1 8 8 8 — 1 9 6 3 ) , ein Schriftsteller vehement antibürgerlicher Opposition, aus linksanarchistischen und linksexpressionistischen Boheme-Kreisen der Münchener und Berliner Vorkriegsjahre hervorgegangen. U m 1 9 1 1 / 1 2 gehört er dem sozialistischen Bund u m Gustav Landauer und Erich Mühsam an, seit 1913 zählt er zum Kreis u m Franz Pfemferts Zeitschrift Die Aktion. Er hat sich bereits als expressionistischer Prosaist und Mitinitiator des Berliner Polit-Dada einen Namen gemacht, als die Novemberrevolution jenen neuen Lebensabschnitt einleitet, d e n Jung selbst später in seiner Autobiographie als seine »roten Jahre« bezeichnen wird 2 1 2 und der bis zum Beginn der relativen Stabilisierung der Weimarer
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So die Überschrift des zweiten Kapitels in Jungs späterer pessimistischer Selbstdeutung: Der Weg nach unten. Aufzeichnungen aus einer großen Zeit, Neuwied/Berlin 1961. Neudruck am selben Ort unter dem Titel Der Torpedokäfer (1972) sowie in der Hamburger Edition Nautilus [1985]. Ich zitiere nach der Textausgabe in: Schriften und Briefe in zwei Bänden, hrsg. v. Klaus Behnken, Petra u. Uwe Nettelbeck, Salzhausen/Frankfurt 1981, Bd. 1, S. 205-700. — Eine grundlegende Darstellung des ästhetisch-politischen Schaffenskontextes in dieser Phase geben Walter Fähnders u. Martin Rector in Linksradikalismus und Literatur. Untersuchungen zur Geschichte der sozialistischen Literatur in der Weimarer Republik unter dem Titel »Franz Jungs literarische Arbeiten der >roten Jahre« (2 Bde, Reinbek 1974, Bd. 1, S. 159-220, mit einem Abschnitt speziell zu Proletarier, S. 196-210; im folgenden zitiert als Unksradikalismus und Literatur). Vgl. darüber hinaus die Einleitungen der beiden Verfasser zusammen mit Helga Karrenbrock zu den von ihnen in der Edition Luchterhand herausgegebenen Prosatexten Jungs: Joe Frank illustriert die Welt. Die roten Jahre 1, (1972, S. 9-29) und Die Eroberung der Maschinen. Die roten Jahre 2 (1973, S. 7-19); s. ferner das Nachwort W. Fähnders zum zweiten Band der von Lutz Schulenburg besorgten Werkausgabe Jungs in der Edition Nautilus: »>Was soll der Proletarier lesen? Franz Jung.< — Versuche zum revolutionären Leben«, in:
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Die Bewegung der Masse im Raum: Jungs »Proletarier«
Republik um 1923/24 reicht. Der »polit-ästhetische« Rebell, der in Berlin aktiv an den Novemberkämpfen teilnimmt — so am Umsturz des 9. November 1918, am Spartakusaufstand im Januar 1919 —, wendet sich der revolutionären Arbeiterbewegung zu und stellt sein künstlerisches wie essayistisches Schaffen in den Dienst des proletarischen Klassenkampfes. Nachdem er sich zunächst der neugegründeten Kommunistischen Partei Deutschlands, der KPD, angeschlossen hat (aber schon im Herbst 1919 zusammen mit der gesamten Linksopposition aus dieser wieder ausgeschlossen wird), ist er im April 1920 unter den Mitbegründern der Kommunistischen Arbeiter-Partei, der KAPD, die im bewuBten Gegensatz zum Zentralismus-Konzept der KPD ein dezidiert rätesozialistisches Programm verficht. Die Erzählung Proletarier gehört zu jener Reihe von Kurzromanen und Dramen, die Jung zwischen September 1920 und Februar 1921 im Gefängnis schreibt, als er aufgrund einer spektakulären Schiffsentführung in Untersuchungshaft sitzt (er hatte sich die Überfahrt erzwungen, um als KAPDDelegierter an der Tagung der Kommunistischen Internationale in der Sowjetunion teilnehmen zu können). Zunächst für die kommunistische Tagespresse bestimmt, erschienen diese Erzählungen mehrheitlich im Malik-Verlag,
Chronik einer Revolution in Deutschland (I) (Hamburg 1984, S. 211-32). Um ideologische Einordnung bemüht ist Bärbel Schräder: »Wegstücke zur sozialistischen Literatur. Notizen über Franz Jung«, in: Der tolle Nikolaus. Prosa, Briefe, hrsg. v. Cläre M. Jung u. Fritz Mierau (Frankfurt/M. 1981, S. 433-51; auch: Weimarer Beiträge, 24, 1978, Heft 11, S. 69-83). Zu Jungs Einbettung in die verschiedenen >Ismen< des literarisch-künstlerischen Lebens zwischen 1910—1920 verweise ich auf den Abrifi von Horst Denkler, der Jungs Literatur der »roten Jahre« — nach dezidiert subjektivistischen Literaturprogrammen — als eine mit dem Dada einsetzende Hinwendung zur Sachanalyse und Gegenständlichkeit interpretiert: »Der Fall Franz Jung: Beobachtungen zur Vorgeschichte der >Neuen Sachlichkeit««, in: Die sogenannten Zwanziger Jahre, hrsg. v. Reinhold Grimm u. Jost Hermand (Bad Homburg/Zürich 1970, S. 75-108). Vgl. weiter die entsprechenden Abschnitte zu Jung in der Dissertation von Harald Maier-Metz: Expressionismus, Dada, Agitprop. Zur Entwicklung des Malik-Kreises in Berlin 1912—1924 (Frankfurt/M. (u.a.) 1984) sowie den Aufsatz von David Bathrick: »Die Berliner Avantgarde der Zwanziger Jahre. Das Beispiel Franz Jung«, in: Literarisches Leben in Berlin 1871-1933, hrsg. v. Peter Wrack (Bd. 2, Berlin/DDR 1987, S. 45-78). - Speziell zu Jungs expressionistischer Prosa verweise ich auf die Dissertation von Karl-Wilhelm Schmidt: Revolte, Geschlechterkampf und Gemeinschaftsutopie. Studien zur expressionistischen Prosa Franz Jungs und Curt Corrinths, Frankfurt/M. (u.a.) 1988. — Gesamtdarstellungen zu Leben und Werk geben die Dissertationen von Arnold Imhof: Franz Jung. Leben, Werk, Wirkung (Bonn 1974), Wolfgang Rieger: Glückstechnik und Lebensnot. Leben und Werk Franz Jungs (Freiburg i.Br. 1987; mit einer Franz-Jung-Bibliographie v. Walter Fähnders im Anhang, S. 252-68), sowie zuletzt die Studie von Jennifer E. Michaels: Franz Jung. Expressionist, Dadaist, Revolutionary and Outsider, New York (u.a.) 1989. Vgl. darüber hinaus Fritz Mierau: »Leben und Schriften des Franz Jung. Eine Chronik«, in: Franz Jung: Feinde Ringsum, Prosa und Aufsätze 1912-1963, Hamburg 1981, S. 9-65 (= Werke, Bd. 1/1).
Künstler, Masse und Revolution: Voraussetzungen
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wo Proletarier als erster Band die »Rote-Roman«-Serie eröffnete. 213 Zusammen mit Joe Frank illustriert die Welt (1921) und dem nach seiner Teilnahme an den Märzkämpfen 1921 entstandenen »utopischen Zeitroman< Die Eroberung der Maschinen (1923) bilden Proletarier, Die Rote Woche (1921) und Arbeitsfriede (1922)214 eine thematische und in gewisser Hinsicht auch stilistische Einheit. Sie geben Zeugnis von den revolutionären Klassenkämpfen in Deutschland im Umfeld von Novemberrevolution und Kapp-Putsch und gelten als die avanciertesten Versuche einer eigenständigen, im revolutionären Sinne »proletarischen« deutschen Erzählkunst um 1920. Ebenso wie Jungs dramatisches Schaffen dieser Jahre (die ebenfalls in der Haft entstandenen, am »Proletarischen Theater« in Berlin aufgeführten Stücke Wie lange noch? und Die Kanaker von 1921 sowie das Zechen-Schauspiel Annemarie von 1922)215 stehen Jungs Erzählungen thematisch und formal im Kontext des experimentellen Bestrebens, gegenüber dem bürgerlichen Kunstbetrieb einen selbständigen »proletarischen« Kulturzusammenhang zu schaffen. Es versteht sich, daß diese politischen Voraussetzungen mit einem neuen Kunstverständnis verknüpft waren, in dem die Massenthematik — und zwar in mehrfacher Hinsicht — eine Schlüsselstellung einnahm: Es galt für und über die (politisierte) Arbeiterschaft zu schreiben.
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Eine Aufschlüsselung der verschiedenen Teilausgaben seit den 1970er Jahren gibt die JungBibliographie von Walter Fahnders im Anhang zur Dissertation Wolfgang Riegers (s. Anm. 212), S. 265f. Die meisten Texte Jungs liegen inzwischen in der Werkausgabe der Edition Nautilus vor: Franz Jung: Werke in Einzelausgaben, besorgt v. Fritz Schulenburg, Hamburg, 1981ff. Die hier herangezogenen Bände werden im folgenden zitiert unter der Sigle W, gefolgt von der Bandzahl (kursiv in arabischen Ziffern) sowie ggf. der Seitenzahl; Zitate hieraus erscheinen in dieser Form direkt im Text belegt. Eine Aufschlüsselung der Bände dieser Ausgabe findet sich in der Bibliographie am Ende dieser Arbeit. — Der ursprünglich vom Märkischen Museum in Ost-Berlin verwaltete Jung-NachlaB befindet sich seit Ende 1989 im Ost-Berliner Literaturarchiv an der Akademie der Künste: Vorausgehende Bearbeitungsstufen von Proletarier, auf die hier gerne im Hinblick auf die detaillierte Textanalyse zurückgegriffen worden wäre, scheinen — im Gegensatz zu anderen Manuskripten der »roten Jahre« — nicht erhalten zu sein; es lassen sich auch keine Hinweise darauf aus den vorhandenen Materialien erschließen (vgl. insbesondere das zum Archiv gehörende sogenannte »Findbuch«). — Die Erzählung Proletarier ist vorgesehen für den dritten Band der Werkausgabe. Ich benutze den Nachdruck in der von Walter Fähnders, Helga Karrenbrock und Martin Rector unter dem Titel Joe Frank illustriert die Welt. Die roten Jahre 1 herausgegebenen Prosa-Sammlung Jungs (s. Anm. 212), S. 71-141; er wurde verglichen mit der Erstausgabe im Malik-Verlag, 1921. Die Zitate hieraus werden im folgenden nur unter Angabe der Seitenzahl in Klammem direkt im Text zitiert.
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Joe Frank illustriert die Welt, Die Rote Woche und Arbeitsfriede sind nachgedruckt in W 2, Die Eroberung der Maschinen in W 4. — Eine Interpretation der Roten Woche unternimmt W. Rieger in Glückstechnik und Lebensnot (wie Anm. 212, S. 99-110). Weitere Literaturhinweise in Anm. 212. Alle Stücke enthalten in W 7. Vgl. zum Theaterschaffen der »roten Jahre« Fähnders/Rector: Linksradikalismus und Literatur (s. Anm. 212, Abschnitte f. und h.).
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Die Bewegung der Masse im Raum: Jungs »Proletarier«
Gegenüber der traditionalistischen Kunstauffassung, an der die wesentlich am «fortschrittlichen« bürgerlichen Erbe orientierte Arbeiterbewegung mehrheitlich festhielt, setzten die literarischen Ansätze des der >Moderne< verpflichteten Autors Jung neue Akzente. Seine experimentellen und avantgardistischen Impulse konnten zu einer radikaleren Durchdringung der Aufgabenstellung «proletarischer« Literatur vorstoßen, als es die Ausrichtung an den überkommenen Mustern — mit ihrer impliziten Übernahme auch der weltanschaulichen Voraussetzungen — vermocht hatte. Als neuartig stießen Jungs literarische Arbeiten, Drama wie Prosa, daher — über alle Grabenkämpfe hinweg — auf größtes Interesse im gesamten Spektrum der Linkspresse. Diese verbreitete seine Erzählungen in zahlreichen Vorab- und Nachdrucken innerhalb der proletarischen Leserschaft. In der Roten Fahne, dem Zentralorgan der KPD, wird Jung den Lesern als einziger zeitgenössischer Autor neben Zola, Büchner, Heine und (dem jungen). Hauptmann zur Lektüre empfohlen. »[...] was Franz Jung schreibt«, heißt es dort in einer anonymen Kritik, und zwar sowohl über Jungs Erzählungen und Dramen wie auch seine Schilderungen aus der Sowjetunion216, »ist immer etwas grundsätzlich anderes als alles, womit sich der Bürger unterhält«. Und treffend pointiert die Besprechung Jungs ästhetische Intention, wenn sie betont: »Es sind keine Agitationsbücher oder Anklageschriften, man könnte sie Versuche zum revolutionären Leben nennen.«217 Jung ist es nicht allein mit einem weltanschaulich-inhaltlichen Bekenntnis der Literatur zur Revolution getan. Ihm geht es vielmehr um eine Revolutionierung des narrativen Grundgefüges selbst. Diese Revolutionierung nimmt ihren Ausgang in der Thematik der Masse, die programmatisch nicht nur für das Was, sondern auch das Wie seines Erzählens wird. Hier setzt folgerichtig das spezifische Interesse dieser Arbeit ein. Während die «bürgerliche« Literatur weitgehend von einer individualistischen Heldenkonzeption ausgeht — selbst da, wo sie sich positiv dem Phänomen der Masse öffnet, sozial und politisch Partei ergreift —, versucht Jung umgekehrt, beim Kollektiv anzusetzen, es als Subjekt zur Darstellung zu bringen. Jung lasse das »Proletariat selbst, die Masse reden, handeln, kämpfen und leiden«, hebt Richard A. Schaefter 1921 an Proletarier in der Roten Woche hervor.218 Und auch Jungs Freund, der
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Vgl. Reise in Rußland, Berlin 1920 (Nachdruck in Schriften und Briefe in zwei Bänden, wie Anm. 212, Bd. 1) sowie Hunger an der Wolga, Berlin 1922. Anonym: »Was soll der Proletarier lesen? Franz Jung«, Die Rote Fahne (Nr. 331), 23.7.1922. Nachdruck in Manfred Brauneck (Hrsg.): »Die Rote Fahne«: Kritik, Theorie, Feuilleton, 1918—1933 (München 1973, S. 162-65; 164) sowie in WS, 361-64. - Vgl. zur zeitgenössischen Rezeption Fähnders/Rector: Linksradikalismus und Literatur (wie Anm. 212, S. 203f.). Allerdings nimmt Schaefter die »in nichts von bürgerlicher Kunst sich unterscheidende Erzählung eines Proletarierschicksals« im zweiten Teil, die Episode der Einzelfigur Fritz Küter, ausdrücklich von seinem positiven Urteil aus. »Über proletarische Dichtung«, Die Rote Fahne (Nr. 87), 22.2.1921; Nachdruck: Brauneck (wie Anm. 217, S. 110-13; S. 112).
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Schriftsteller Max Herrmann-Neisse, betont in einer einfühlsamen Würdigung gerade an dieser Erzählung, daß hier »das Seelische der proletarischen Existenz [...] nicht von oben herab oder von außen her, sondern aus dem Kern, aus dem magischen Eingehen in die Luft dieser Schicht« gezeigt werde. Jung weise hier den Weg für eine neue Dichtung, in der »das kollektive Bewußtsein rhythmisch erfaßt und zum Motor der Gestaltung genommen ist«. 2 " Ebenfalls über Proletarier heißt es in einer Regionalausgabe der Roten Fahne, welche die Erzählung 1922 in Fortsetzungen abdruckt, daß Jung im Gegensatz zur idealisierenden »Dekorationsmalerei« gewisser (expressionistischer) Revolutionslyrik »keine Ekstase, keine Ruhmrednerei«, sondern nur »die herbe Seele des Proletariats biete«.220 Diese Kritiker bescheinigen Jung also eine erfrischend unüberhebliche Darbietungsweise, die vor dem Hintergrund der vorausgegangenen sozial anklagenden Elendsschilderungen des Naturalismus einerseits und angesichts des zeitgenössischen Expressionismus andererseits zu sehen ist. Diesen Kunsttendenzen gegenüber loben sie an Jung also eine Authentizität der Darstellung, die letztlich unterstellt, daß er die Masse nicht durch eine spezifische Ästhetik überformt. Es ist dies ein Eindruck, der zu überprüfen sein wird. Tatsächlich bietet Jung die Masse in einem eher unterkühlten, weitgehend sachlichen Erzählduktus dar. Dabei ergänzt er ihren äußeren Lebensraum durch eine Sicht auch in den inneren Erlebnisraum, bringt sie von außen wie von innen zur Sprache. Im Falle von Proletarier, einer Übergangserzählung zwischen Jungs expressionistischer Prosa und seinen sachlich-proletarischen Erzählungen, wird auch auf die spezifische Behandlung der expressionistischen Elemente im Text einzugehen sein und auf die besondere Funktion, die sie für die Massenthematik haben. Die zitierten Kritiker berühren in ihren Besprechungen zwar eine zentrale Fragestellung, loten sie aber nicht wirklich aus. Zwischen dem Künstler und der Masse als seinem Sujet besteht grundsätzlich ein problematisches Verhältnis: Dieses ist bestimmt durch eine immanente Polarität von Individuum und Masse, die dem künstlerischen Schaffensprozeß ja bereits als solchem zugrunde liegt und damit eine konstituierende Voraussetzung des Erzählens ist. Es ist das individuelle Ich des Autors, zugleich aber auch der erzählenden Instanz, das jene Vielheit, die sein Gegenstand ist, als sein >Anderes< gestaltet, formt und perspektivisch zusammenfaßt. In traditionellen Texten wird dieser implizite Gegensatz durchaus bejaht und nicht als solcher hinterfragt: Als Ich, als Individuum — sowohl im künstlerischen Selbstverständnis (auf den Ebenen von Leben und Werk) wie auch als weitgehend noch intakte Erwartungs-
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Max Herrmann-Neisse: »Franz Jungs neues Schaffen«, Die Aktion, 11, 1921, Sp. 136f.; Nachdruck in W 8, 364-66. Peter Maslowski: »Proletarier. Erzählung von Franz Jung«, Die Rote Fahne für Oberschlesien, 16.3.1921; zit. n. Fähnders/Rector: Linksradikalismus und Literatur (s. Anm. 212, S. 203).
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haltung an den Autor — fühlt sich das schaffende Künstler-Subjekt nicht einbegriffen in den Vermassungsprozeß, den es — noch in der engagierten Darstellung der unterdrückten Volksklassen — als ein Phänomen außerhalb seiner selbst festmacht. Für die meisten Texte ist es gerade eine Voraussetzung, daß sich der Autor in seiner eigenen Differenz zur Masse setzt. (Deutlich war dies bei der Ausgestaltung und thematischen Einbindung der Massenszenen bei Sternheim abzulesen.) Aber es ist darüber hinaus auch sehr erhellend, zu verfolgen, wie die verschiedenen Autoren trotz ihrer ernstgemeinten Versuche, ein positives Verhältnis zur Masse zu gewinnen und dies ästhetisch fruchtbar zu machen, ständig damit enden, ihre eigene >Ichhaftigkeit< als eine wie immer geartete Führerschaft gegenüber der Vielheit der >anderen< zu behaupten.221 Anders als der in seiner großbürgerlichen Enklave lebende Sternheim, der sich durch die katastrophale Entwicklung, die er in seinem Roman Europa beschreibt, um nichts in seiner Identität als Künstler in Frage gestellt zu fühlen scheint, zeigt Jung sich sensibel für Entfremdungs- und Verelendungsphänomene. In seiner frühen expressionistischen Prosa macht er sie am Ich fest und faßt sie vornehmlich psychisch. Durch das Kriegserlebnis wird ihm die gesellschaftliche Dimension dieser Verelendung zunehmend deutlicher.222 Künstlerisch reagiert er zunächst mit der Zertrümmerungshaltung des Dada. Später bekommt seine Haltung zur Verelendung innerhalb der revolutionären Arbeiterbewegung eine klassentheoretische Fundierung. Nicht mehr die Verelendung des Ichs, sondern die Massenprozesse treten in den Vordergrund. Sie werden für Jung zu einem Hebel der gesellschaftlichen Veränderung, den es für die Schaffung einer neuen positiven Kollektivität anzusetzen gelte. Der Stellenwert von Jungs »revolutionärem« Kunstansatz und die Bedeutung seiner Erzählung Proletarier liegen darin, daß hier erstmals radikal der Versuch unternommen wird, sich als Künstler der Masse gegenüber zu öffnen, den Schritt über die eigene Ich-Abgrenzung hinaus zu tun. Es ist der Weg von einer Prosa als Spiegel des schreibenden Ichs (selbst wenn die Masse die Projektionsfläche bildet, wie dies in Sternheims Europa der Fall ist) zu einer neuen Prosa der Masse. Nur wenn der Erzähler tendenziell in ihr
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Einige Beispiele aus dem anarchistischen Umfeld gibt Walter Fühnders: Anarchismus und Literatur: Ein vergessenes Kapitel deutscher Literaturgeschichte zwischen 1890 und 1910, Stuttgart 1987. Eine Scharnierstelle innerhalb Jungs expressionistischer Prosa bildet in diesem Zusammenhang seine 1919 vollendete Erzählung Der Fall Gross (zunächst 1920 in der Erde, dann 1921 selbständig erschienen). Entgegen einer froheren Bearbeitung (»Die Telepathen«, 1914) begreift er hier die authentischen Verfolgungsphantasien des an Paranoia erkrankten Anton Wenzel Grosz (dessen persönliche Aufzeichnungen Jung seinem Text zugrunde legte) als Sinnbild eines allgemeinen Bedrohungsgefühls. Nachdruck und Dokumentation der Entstehungsgeschichte in: Grosz/Jung/Grosz, hrsg. v. Günter Bose und Erich Brinkmann unter Mitarbeit v. Peter Ludewig, Berlin 1980.
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aufgeht — so Jungs implizite Hoffnung —, ist es ihm möglich, die Masse selbst zur Darstellung zu bringen.223 Letztendlich aber sind dieser Öffnung immanente Grenzen gesetzt: die Erzählerinstanz selbst läßt sich schlechterdings nicht überspringen. Wie ist dann überhaupt der Schritt vom Künstler zur Masse möglich? Zeugenschaft und Dokumentation können die Trennung zwischen dem schreibenden Subjekt und dem beobachteten Objekt nicht aufheben. Im Gegenteil: sie haben diese gerade zur Voraussetzung. Der Schritt vom Künstler zur Masse ist daher denkbar nur in der Erlebnisdimension: Es muß den Autor etwas affizieren, das er als einen >authentischen< Ausdruck der Masse ergreifen und in die Textebene transponieren kann. Zwischen dem schreibenden Ich und der Masse muß ein fluktuierendes Moment bestehen, das über den Sprung zwischen beiden hinweggeht, so daß der Erzähler es in sich aufnehmen, in sich erleben und schließlich auf das Papier bannen kann. Als dieses fluktuierende Moment wird sich — und es ist Aufgabe dieser Arbeit, dies aufzuzeigen — der Rhythmus erweisen, dessen Bedeutung bereits Max HerrmannNeisse in seiner Besprechung angedeutet hatte. Er ist als gemeinschaftlicher Rhythmus, als Gemeinschaftsrhythmus, das sich mitteilende Element zwischen Erzähler und Masse. Der Rhythmus macht den Erzähler zum Aufzeichner der Masse im Sinne eines Seismographen, der ihre Schwingungen in sich auffängt und registriert. Dabei tritt er zugleich in ein neuartiges Verhältnis zu seinem Gegenstand: Er ist nunmehr Einzelner innerhalb der Masse. Damit ist das genaue Problemfeld abgesteckt, in das die weitere Untersuchung eingebettet ist. Die Bedeutung des Rhythmus-Begriffs für Jungs literarisches Schaffen der »roten Jahre« kann kaum überschätzt werden. Er ist hier als eine produktions- und rezeptionsästhetische Kategorie zu untersuchen. Es gilt im folgenden, zunächst den Rhythmus-Begriff aus Jungs eigenen Denkvoraussetzungen zu entfalten, bevor seine zentrale Wirksamkeit in Proletarier anhand einer eingehenden Textinterpretation herausgearbeitet werden kann. Erst über ein Verständnis des Rhythmus' als zentrale ästhetische Kategorie wird es dann möglich sein, genauer zu bestimmen, wie Jung die Massenbewegung nicht nur inhaltlich beschreibt, sondern sie direkt in die Bewegung des Textes umsetzt. In diesem Sinne wird der Rhythmus als ein formgebendes Gestaltungsmoment des literarischen Textes auszumachen sein, was zu einer völligen Neubewertung der Erzählung Proletarier führen muß.
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Wenn hier vertiefend den erzähl theoretischen Prämissen von Jungs Massengestaltung nachgegangen wird, so muß festgehalten werden, daB Jung selbst keine expliziten Aussagen dazu macht. Ganz allgemein läßt sich darüber hinaus sagen, daB Jungs spärliche Ausführungen nicht über ein Tasten an Konzepten hinausgehen. Sie stellen eher Werkstattsberichte als stringente Ableitungen dar. Dennoch finden sich überall Spuren der besprochenen Problematik. Die verstreuten Einzelaspekte gilt es zusammenzufahren, um eine theoretische Position zu extrapolieren, die hier zwangsläufig in pointierterer Form erscheint, als es die eher diffuse Begrifflichkeit bei Jung selbst zuläBt.
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Die Bewegung der Masse im Raum: Jungs »Proletarier«
Rhythmus, Gemeinschaft und Vitalität
»Kunst« — so schreibt Jung in einem knappen Beitrag, der unter dem Titel »Proletarische Erzählkunst« (1920) Ausschau hält nach den Anknüpfungspunkten für ein proletarisches Kunstschafften — Kunst »ist« und »muß« »im Gegensatz zur allgemeinen marktgängigen Anschauung ausschließlich Produkt der Klasse, der Klassenideologie und des Klassengegensatzes« sein.224 Jung bedient sich auch im folgenden einer Terminologie des Klassenkampfes, die für heutige Ohren krude klingen mag. Es wäre jedoch völlig verfehlt, die aggressive politische Frontstellung, in der sich Jungs politisch-ästhetisches Denken um 1920 bildet und bewegt und die ihn direkt zu der Massenproblematik führt, hier mit einer neuen, neutralisierenden Begrifflichkeit künstlich zu verdecken. »Der Ausgebeutete«, lautet es weiter bei Jung, »lebt und empfindet [...] das gleiche anders als der Ausbeuter, und zwar empfindet und sieht er es anders als Klasse, als Allgemeinheit [...]«. Während das Selbstverständnis des Proletariers also gerade durch das »wir« seiner Klassenexistenz bestimmt sei, durch die kollektive Situation seiner Unterdrückung, halte die bürgerliche Klasse am Individualismus, am Ich-Begriff als ihrer spezifischen Klassenideologie fest: Der »Bürgerliche«, so drückt es Jung aus, schäme »sich gerade als Klasse des gesamtverbindenden Rückhaltes seiner Klassenideologie«, er gebe vor, »nur als einzelner zu empfinden und darin völlig unabhängig von den von ihm selbst aufgerichteten Gesetzen zu sein«. Jung zielt in seinem Beitrag gegen eine Verwechslung von proletarischer Kunst mit dem »Proletkult«225. Dieser sei in Deutschland nur ein »Tummelplatz von Literaten, die auch nicht das geringste mit dem Proletariat zu tun« hätten.(W 1/2, 242) »Man verwechselt in Deutschland die Darstellung des Proletariats mit proletarischer Kunst, ein Beweis, daß deutscher Proletkult noch eine rein bürgerliche Angelegenheit ist.« (W1/1, 241) »Die bürgerliche Kunstanschauung«, so pointiert Jung, »gestattet sich den Luxus und damit den doppelten Betrug, individuell und allgemeinmenschlich zu sein« (ebd.). Sie sei
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»Proletarische Erzählkunst«, Proletarier (Theoretisches Organ der KAPD), Nr. 1, 1920; in W 1/1, 241-44; dieses wie auch das folgende Zitat S. 241.
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Jung kritisiert am russischen Proletkult, daß er, statt an eigenständigen Ansätzen anzuknüpfen, die aus dem Proletariat schon »vor Jahrzehnten« hervorgegangen seien, »sich auf eine Riesenpropaganda der K u n s t ß r das Proletariat« versteife (W1/2, 244). Dagegen glaubt Jung seine Vorstellungen in Ansätzen der westeuropäischen und anglo-amerikanischen Prosa verwirklicht, in der er den »Gemeinschaftsgedanken einer unterdrückten Klasse« bereits angelegt sieht (S. 242). Seine Hinweise bleiben in diesem Zusammenhang zu spärlich, als daß sie hier zu einer produktiven Auseinandersetzung mit dem sowjetischen Proletkult führen könnten. Vor allem wendet er sich gegen eine Präjudizierung dessen, was »proletarische Kunst« zu sein habe: »Proletkult« kann für ihn »bestenfalls mit eins von vielen Mitteln sein [...], die proletarische Kunst zu entwickeln« (S. 241). — Vgl. zum sowjetischen Proletkult Peter Gorsen und Eberhard Knödler-Bunte: Proletkult, 2 Bde, Stuttgart/Bad Cannstatt 1974 u. 1975.
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jedoch gar nicht in der Lage, »aus der Urkraft der Gemeinschaft aller heraus« zu schöpfen, da sie in einem Vampirverhältnis zu der von ihr unterdrückten Klasse stehe: »Sie ist nur schöpferisch«, so formuliert es Jung, »für den Teil ihres Lebens, der, um >lebendig< zu sein, das Leben der anderen benötigt, der [sie] ökonomischen Bedingungen, der Arbeit und des Geldes«, (ebd., Hervorh. v. A.G.) Dieses grundsätzliche Ausbeutungsverhältnis geht nach Jung auch in das künstlerische Schaffen ein, wenn es vorgibt, für oder über das Proletariat zu schreiben: Bürgerliche Kunst sei »schöpferisch, um diese [anderen] hintanzuhalten, einzufangen, zu >erziehen< und darzustellen« (ebd.) Proletarische Literatur beruht für Jung dagegen auf einer Identität von Literatur und Leben, für die er in Deutschland noch keine Voraussetzungen sieht. Wegweisende Impulse findet er im Werk von Jack London. Er gilt ihm als »ein Dichter der Arbeiterklasse«, weil er unmittelbar aus dem sozialen und psychologischen Erlebnisraum des Proletariats geschrieben habe. »Überall und in jeder Zeile«, schreibt Jung 1924 in einem Kurzportrait des Autors, »spricht er das, was er gesehen und in sich aufgenommen hat und was er schildern will [,] mit den gleichen Worten und von denselben Gesichtspunkten aus, wie es der amerikanische Arbeiter, der sein Leser ist, getan haben würde«. Das genau zeichne diesen Autor aus vor einem bloßen literarischen »Herold der sozialistischen Revolution, der zwar in seinem Werk der Arbeiterklasse näherzukommen wünscht und für sie arbeitet, als Mensch aber und vor allem als Klassengenosse ihr fremd ist«.226 In dem erwähnten Beitrag von 1920, »Proletarische Erzählkunst«, faßt Jung den ästhetischen Impuls Londons unter einer Kategorie, die über das verbindende Moment des gemeinsamen Erlebnisraumes Amerika und des gemeinsamen Klassenstandpunktes hinausgeht. Er spricht vom Rhythmus des kollektiven Geschehens, der in Londons Werk enthalten sei: »Es ist der Rhythmus des gemeinsamen, gemeinschaftlichen Erlebens, gemeinsamer Empfindung von Freude und Schmerz, gemeinschaftlicher Hoffnungen und Enttäuschungen.« Als eine Folge daraus verschwände das »individuelle Schicksal«, das nun, statt »Mittelpunkt« zu sein, auf eine »Nuance bunter Erläuterung« zusammenschrumpfen würde. (W 1/1, 243) Die Theorie des Gemeinschaftsrhythmus' nimmt eine zentrale Stellung im ästhetischen wie politischen Denken Jungs ein. Daher soll sie im folgenden in Zuspitzung auf den spezifischen Kontext dieser Arbeit knapp skizziert werden. Ich lehne mich dabei — unter Hinzuziehung der entsprechenden Schriften Jungs — weitgehend an die konzise Darstellung von Fähnders und Rector an,227 welche die psychoanalytischen und lebensphilosophischen Wurzeln von Jungs Vorstellung herausgearbeitet haben, um daran die spezifischen 226
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»Jack London, ein Dichter der Arbeiterklasse«, (Rezension in) Arbeiter-Literatur, Nr. 5/6, Juni 1924; W1/2, 283/4. Linksradikalismus und Literatur (s. Anm. 212, Abschnitte a., c. undd.). — Vgl. ferner K.W. Schmidt: Revolte, Geschlechterkampf und Gemeinschaftsutopie (wie Anm. 212, insbesondere Kap. 3, 7 sowie teilweise 5).
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Denkvoraussetzungen seiner linkskommunistisch-spontaneistischen w i e Literaturkonzeption festzumachen.
Massen-
Jung hatte seinen lebensphilosophisch geprägten Ansatz bereits während d e s Weltkrieges vorgebildet und später mit seiner neuen politischen Überzeugung zu vermitteln gesucht. Niedergelegt sind seine Gedanken seit 1915 u.a. in der v o n ihm initiierten und mitbetreuten Flugschriftenreihe Die Freie Strasse 228, vor allem aber in den beiden Folgen seiner »Technik des Glücks« (Die Technik des Glücks (1921) und Mehr Tempo! Mehr Glück! Mehr Macht! (1923); beide in W 6). Ihre grundlegenden Prämissen gehen auf die Einflüsse des eng mit Jung verbundenen und mit ihm arbeitenden anarchistischen Psychoanalytikers Otto Gross zurück. 2 2 9 Dessen Annahme eines Grundkonfliktes zwischen d e m »Eigenen« und d e m »Fremden« 230 verband Jung mit Vorstellungen d e s Vitalismus. 2 3 1 Otto Gross, der unter den expressionistischen Literaten der Schwabinger B o h e m e einflußreiche >dissidente< Freudschüler, 2 3 2 wollte im Gegensatz z u m Konzept der Triebregulierung — für die psychoanalytische Hauptströmung Grundvoraussetzung aller Kultur — die Triebe selbst für die Kulturarbeit befreien. Er sah in ihnen wertvolle eigenständige Orientierungskräfte des
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Die Freie Strasse: Erste bis Sechste Folge der Vorarbeit (Berlin 1915—1917), s. Folge 1 u. 6. Reprint: Nendeln/Liechtenstein 1978. Jung hatte Gross um 1911/12 kennengelemt. Als dieser 1913 auf Veranlassung seines Vaters, eines konservativen Grazer Kriminalisten, in Berlin verhaftet wird (in Jungs Wohnung laut dessen Autobiographie), aus Deutschland ausgewiesen und in Österreich als »geisteskranker Anarchist« in die Irrenanstalt Troppau eingewiesen wird, initiiert Jung eine landesweite, schließlich erfolgreiche Befreiungskampagne. Er gibt eine Sondernummer der Zeitschrift Revolution heraus (Nr. 5, 20.12.1913), die ein von ihm mitunterzeichnetes Manifest enthält: »Der bekannte Kriminalprofessor Hans Gross in Graz«; Nachdruck in W1/1, 82/3. Vgl. Jungs Autobiographie (Schriften und Βπφ in zwei Bänden, wie Anm. 212, S. 29Iff)· — Zu Gross: Emanuel Hurwitz: Otto Gross: Paradiessucher zwischen Freud und Jung, Zürich 1979. Vgl. ferner weiter unten Anm. 232. Vgl. beispielsweise Jungs so pointierten Beitrag »Vom Konflikt des Eigenen und Fremden« in der von ihm herausgegebenen 4. Folge der Freien Strasse, 1916 (s. Anm. 228). Jung war persönlich mit dem Haeckel-Schüler Raoul Franci bekannt, um den sich vor dem Ersten Weltkrieg in München die vitalistische Bewegung als eine Art intellektueller Modeströmung gruppierte. Vitalistischen Gedankengängen bleibt Jung auch später verbunden, so der Biosophie Emst Fuhrmanns (mit dem er um 1930 in seiner Zeitschrift Der Gegner zusammenarbeitet und dessen biologisch-philosophische Schriften er 1962 herausgeben wird), darüber hinaus aber auch der Theorie der Orgon-Energie Wilhelm Reichs, in dem er eine Verbindung von Psychoanalyse und vitalistischen Ansätzen gefunden haben dürfte. Weiterführende Hinweise zu Franci und Fuhrmann bei K.-W. Schmidt: Revolte, Geschlechterkampf und Gemeinschaftsutopie (s. Anm. 212), S. 194-200. Jennifer E. Michaels: Anarchy and Eros. Otto Gross' Impact on German Expressionist Writers: Leonard Frank, Franz Jung, Johannes R. Becher, Karl Otten, Curt Corrinth, Walter Hasenclever, Oskar Maria Graf, Franz Kafka, Franz Weifet, Max Brod, Raoul Hausmann and Berlin Dada [...], New York (u.a.) 1983.
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Menschen. Als natürliche Anlagen seien sie individuell wie sozial vollkommen zweckmäßig. Aber durch die autoritativen Institutionen der patriarchalischen Gesellschaft, durch Staat und Familie, seien sie unterdrückt und verkrüppelt worden. Daher geht es der psychoanalytischen Arbeit von Gross um die emanzipatorische Freilegung dieser — verkümmerten — angeborenen »Eigenwerte« des Menschen. Die so verstandene Analyse der Psyche strebt »die Befreiung der vom eigenen Unbewußten gebundenen Individualität« an. Indem sie den Menschen »zur Freiheit innerlich fähig« mache, setze sie als Vorarbeit einen revolutionären Prozeß in Gang: erst einmal freigesetzt, würden nämlich die natürlichen Freiheitsinstinkte von sich aus gegen die gesellschaftlichen Instanzen ihrer Unterdrückung rebellieren.233 Jung faßt Gross' Widerspruch zwischen dem Eigenen und dem Fremden unter dem übergreifenden Gegensatz zwischen dem Lebendigen und dem Toten, zwischen der (den Menschen umfassenden) organischen Natur und der (den gesellschaftlichen Zwangsverhältnissen entsprechenden) leblosen Mechanik. Dieser Polarität unterliege die gesamte menschliche Existenz. Gegenüber den lebensfeindlichen, künstlichen Organisationsprinzipien, auf denen die auf Besitz und Herrschaft fußende gesellschaftliche Ordnung beruhe, welche Vereinzelung und Lebensangst erzeuge, sieht Jung die lebendige Natur durch eine organische Eigengesetzlichkeit bestimmt: den Rhythmus, der originär dem Lebendigen angehöre und Mensch und Natur durchpulse. An Gross kritisierte Jung später, daß er die zentrale Bedeutung der organischen Bewegung nicht erkannt habe. »Ihm fehlte die Einsicht von dem Bewegenden als dem ursprünglich Organischen«, schreibt er 1921 in einer Manuskript gebliebenen Einführung in das Denken des im Jahr zuvor gestorbenen Otto Gross, die er fur eine von ihm geplante Ausgabe von Aufsätzen des Psychoanalytikers verfaßt hatte und in der er auch kurz auf das Verhältnis ihrer jeweiligen Positionen eingeht.234 Nur in einer Gemeinschaftsordnung, die auf dem lebendigen Rhythmus aufbaue, könne der Mensch glücklich sein, denn er strebe danach, im Einklang mit diesem Gemeinschaftsrhythmus zu schwingen. Es ist nicht zu verkennen, daß Jung den Rhythmus-Begriff inflationär gebraucht — so auch das Urteil von Fähnders und Rector235. Er dehnt ihn auf Bewegungsprozesse des politisch-gesellschaftlichen Lebens und — überraschenderweise — selbst der Ökonomie aus: Der »Rhythmus der >Profitratemonistischen< Prinzip des Lebensstromes festhält, dem er in letzter Instanz noch seine Gegenbildungen zuschlägt. Gleichzeitig ist er sichtlich bemüht, ein dem organischen Rhythmus gegenläufiges Prinzip zum Ausdruck zu bringen, das er hier »Gegenrhythmus«, bzw. »maschineller Rhythmus« nennt. Es dürfte in vielerlei Hinsicht durch den Begriff des Taktes (den Jung hier nicht einfuhrt) angemessener bezeichnet sein. So wird es auch der technisch-mechanische Takt sein, der sich in der Erzählung Proletarier als Gegenbewegung zum Lebendigen gestaltet findet. Offenbar tritt dieser zugrunde liegende Takt selbst aber in einer rhythmischen Gestalt an die Oberfläche und damit in Erscheinung. So ist es im Kontext der hier zitierten Stelle das regelmäßige Auf und Ab der Profitrate, die sogenannte Konjunktur, die — auf der Oberfläche — wie eine
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rhythmische (und nicht mechanische) Gesamtbewegung der ökonomischen Gesellschaft erscheint. Es ist unverkennbar, daß Jung am Vorstellungsbild des organischen Rhythmus einerseits und an dessen Gegenbild, dem maschinenhaften Takt, andererseits arbeitet. Seine Vorstellung vom Lebensstrom fügt sich unvermeidlicherweise nicht zwanglos in diesen Gegensatz ein, weil das Gegenbild zum Lebendigen, das Tote, als absolute Negation unmöglich die (entfremdete gesellschaftliche) Bewegung bezeichnen kann. Auch die Bewegung des Anorganischen bedarf der Zuführung lebendiger Energie. Jungs Versuche der theoretischen Klärung sind in dieser Hinsicht weniger prägnant als die Untersuchung, die er im Medium der Literatur selbst vornimmt: Die Erzählung Proletarier wird auf der Ebene sinnlicher Erfahrung in der erzählerischen Gestaltung weit über die theoretischen Überlegungen hinausgehen. Obgleich die zentrale Bedeutung des Rhythmus-Begriffs für Jungs Denken feststeht, hat sich die literaturwissenschaftliche Forschung — was die Bedeutung der Bewegung bei Jung oder anderen Vertretern der Expressionisten-Generation angeht — kaum näher mit dem (zeitgenössischen) RhythmusBegriff selbst auseinandergesetzt, sondern sich damit begnUgt, auf vitalistischirrationalistische Strömungen zu verweisen.236 Hanno Möbius hat in einer grundsätzlicheren Perspektive die Entwicklungslinie der Konzeptualisierung menschlicher Bewegung in Wissenschaft und Kunst herausgearbeitet:237 Seit 1900 und forciert in unmittelbarer Zeitgenossenschaft zu Jungs Begriffsentwicklung wird der Rhythmus-Begriff in einer verstärkten und neuartigen Weise zu einem eigenständigen Untersuchungsgegenstand der wissenschaftlichen Erforschung von (menschlicher) Bewegung. Auf so unterschiedlichen Feldern wie der Arbeits-, Tanz- und Sprachwissenschaft wird an deren mathematisierbarer Darstellung gearbeitet. Anfang der 1920er Jahre liegen im Bereich der Arbeits- wie der Sprachwissenschaft eigenständige Modelle vor, die eine formalisierte Anschauung menschlicher Bewegung geben — bis hin zum individuellen dichterischen Rhythmus. Jungs Anstrengungen stehen also im Einklang mit einer zeitgenössischen wissenschaftlichen Tendenz, mit der er die Annahme eines eigenständigen organischen Antriebs im Menschen teilt.238 Jungs lebensphilosophischer Ansatz hatte sich bereits zur Zeit der Niederschrift seiner Technik des Glücks im politischen Zusammenhang mit der
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Zuletzt Schmidt, 1988, mRevolte, Geschlechterkampf und Gemeinschaftsutopie (s. Anm. 212). Hanno Möbius: »Teilung und Zusammensetzung. Heinrich von Kleist und die Entwicklung zum Rhythmus-Begriff in Tanz und Arbeit sowie der Literatur«, in: Die Mechanik in den Künsten. Studien zur ästhetischen Bedeutung von Naturwissenschaft und Technologie, hrsg. v. H. Möbius u. J. J. Berns, Marburg 1990, S. 169-82. Der Hinweis auf die Rhythmus- und Bewegungsforschung mag hier verdeutlichen, wie notwendig eine differenzierte Betrachtung und Herleitung der neuen Zeit- und Bewegungserfahrung im industriellen Prozeß ist.
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Die Bewegung der Masse im Raum: Jungs »Proletarier«
Arbeiterbewegung erweitert.239 Der Gemeinschaftsgedanke bildet dabei das zentrale Bindeglied zwischen der vitalistischen Grundannahme einer organischen Bewegungsform einerseits und der politischen Massenbewegung andererseits: Die Masse selbst trägt die Möglichkeit eines lebendigen Gemeinschaftsrhythmus in sich, der ihre erzwungene Kollektivität in eine lebendige Gemeinschaft überführen könnte. Dennoch setzt Jung zur Überwindung der Entfremdung nicht beim Umsturz der bestehenden Verhältnisse an, sondern bei der Sensibilisierung des Einzelnen. Mit einer »Technik« zur Steigerung der inneren Erlebnisfahigkeit soll der »dumpfe Kontakt zum Lebendigen« (W 6, 65) im Einzelnen geweckt werden. Der Einzelne soll sich der kosmischen allumspannenden Lebenskraft bewußt werden, damit er fähig wird, in den Rhythmus der Gemeinschaft einzuschwingen und als »Intensitätsmensch« (ebd., 34) zur Intensivierung der gesamten Erlebnissphäre beizutragen. Wenn auch die Glückserfahrung selbst erst einer utopischen Gesellschaft vorbehalten ist, so kann sie dennoch schon antizipiert werden, und zwar sowohl in der gesteigerten Leiderfahrung wie auch in der vitalen Regung des Widerstandes und des Widerspruchs zu den Kompromissen der Lebensangst: in beiden ist der lebendige Kontakt zum Leben, das Gemeinschaftliche bereits enthalten. »Revolution« schließlich ist für Jung »rhythmisches, lebendige Gemeinschaft gewordenes Geschehen, ist der Bewegung des Weltatems nachgehender und angepaßter, melodisierter Widerspruch« (ebd. 20). In diesem Sinne kann man von einer Renaturalisierung der Revolution, bzw. des revolutionären Impulses sprechen, da Jung — auf der Grundlage seines monistischen Ansatzes — den Impuls zur Aufhebung der gesellschaftlichen Verdinglichung in das Lebendig-Natürliche verlegt. Die Kriegserfahrung hat Jungs politisches und ästhetisches Denken radikalisiert, ein Aspekt, der in den bestehenden Studien zu kurz kommt.240 In der
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Jung gebt in seiner Glücks-Technik, insbesondere in der zweiten Folge, Mehr Tempo! Mehr Glück! Mehr Macht!, von der Vorstellung eines »Kampf[es] um die organisch-technische Neugestaltung der Gesellschaft« (W 6, 88) aus: Der mechanisch-naturwissenschaftlichen Umgestaltung setzt er eine auf der organischen Natur beruhende Umgestaltung entgegen, in der dann auch der Technik-Begriff eine positive, weil umgewertete Besetzung findet. Auch Fähnders/Rector, die sich in Linksradikalismus und Literatur (s. Anm. 212) nur auf die anarchistischen Wurzeln von Jungs Kapitalismus-Kritik beziehen, haben die Rolle des Weltkrieges nicht systematischer für Jungs Schaffen untersucht. Dafl der Krieg in Jungs expressionistischer Prosa — zumindest was den sozialen und ökonomischen Begrflndungszusammenhang angeht — weitgehend ausgeblendet sei, konstatiert K.-W. Schmidt (wie Anm. 212, S. 216): »Jung nimmt den Krieg als apokalyptisches Untergangsszenarium passiv hin. >Private< Probleme überlagern eine wirkliche Beschäftigung mit den Kriegsgründen. Es bleibt bei einer Deskription dieser >Naturkatastrophedie Gewalt der Straße* sichtbar, und zwar als ein zunehmend stärkeres und heftigeres Eindringen der Straße in die Fabrik. Alle drei Fallbeispiele führen nun das Thema der Massengewalt durch. In allen Fällen erscheint diese gleichsam anonymisiert, denn sie wird nur als Ergebnis berichtet, als Spur der Beschädigungen und Verwüstungen, die sie hinterläßt. Kaum rückt die Masse als >Täter< differenzierter ins Bild. Grammatisch drückt sich dies bereits im vorwiegenden Gebrauch des Passivs aus. Das Thema der Massengewalt stellt wohl den brisantesten Aspekt der Massenvorstellung überhaupt dar: Es überlagert sie mit einem Schrecken, der sich ein weitreichendes metaphorisches Umfeld erschlossen hat. Wie geht nun Jung mit
Die Darstellung einer Großdemonstration: Mikroanalyse
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diesem zentralen, historisch und politisch aufgeladenen Thema um? Der Fall des »vollgefressenen Uniformierten« (Zeile 26-29), in seiner sprachlich provokanten Wendung, scheint einen Kommentar geradezu herauszufordern. Handelt es sich hier um eine — plumpe — Parteilichkeit des Autors, die hier kraB und unvermittelt in den Erzählerbericht springt? Jung greift an dieser Stelle eine topische Konstellation auf, nämlich die Gewalt der Masse gegen den Einzelnen. Aber er greift das Sujet auf eine verstörende Weise auf: Er verweigert nämlich jene Identifizierung mit dem Opfer, die eine >selbstverständliche< Grundvoraussetzung des Topos ist. An der MiBhandlung des Opfers ist vorzüglich der antihumane Aspekt der Masse, ihre unterdrückende Wirkung gestaltet worden. Und die Kunst hat am Beispiel und im Maß seiner Mißhandlung beunruhigt den Grad einer allgemeineren Gefährdung des Individuums durch die Masse sichtbar machen wollen. Seit 1789 ist darin die traumatische Erfahrung der Revolution gleichsam archetypisch konserviert und wird als Bearbeitungsmuster für erneute Revolutionserfahrungen — so 1830, 1848, 1870, 1917 — immer wieder aktualisiert. Seine Schubkraft aber bezieht das Schreckensmuster aus einer größeren brisanten topischen Konstellation. Es ist im Grunde die Vorstellung einer atavistischen Dimension der Masse, die hier durchschlägt und sich im konservativen Kontext eine langlebige (durchaus auch lustbetonte) gruselige Bildwelt schafft: die Vorstellung nämlich eines Einbruchs der Verwilderung ins sittlichzivile Leben. In diesem Sinne stehen die »barbarischen MassenVerwilderungsphänomenenBlick unter die Gürtellinie< unterläuft die Verbindung von Revolution und (geschichtlicher) Vernunft subversiv. Beide Autoren erarbeiten innovative ästhetische Verfahren, wobei die vom Sprachduktus her anscheinend >modernere< Schreibweise Sternheims stärker konservativen Traditionen verhaftet bleibt als das analytische Vorgehen Jungs. Trotz der unterschiedlichen Intentionen der beiden Autoren sind ihre Verfahren in der Konzentration auf Bewegungsaspekte (Verschmelzung, Verdichtung, Expansion, Ballung und Explosion) und auf die Perspektive (Individuum in der Masse, Opposition von Masse und Ich, Erzähler als Seismograph, Auge oder Ohr der Masse) deshalb verwandt, weil sie dem Eigencharakter der Masse gerecht werden wollen. Jung und Sternheim antworten am Ausgang des Ersten Weltkrieges auf die Herausforderung durch neuartige Erfahrungen von Massenprozessen. Der künstlerische Wert ihrer Texte liegt darin, daß sie dieser Herausforderung nicht nur auf der Handlungsebene begegnen, sondern zu einer innovativen Formensprache vorstoßen.
VII.
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Da ich die Forschungsliteratur an den geeigneten Stellen thematisch und autorenspezifisch detailliert erschließe, wird hier auf eine nochmalige inhaltliche Gliederung zugunsten einer alphabetischen Übersicht nach Autoren und Herausgebern verzichtet. Adorno, Theodor W., mit Bruno Bettelheim u.a.: The Authoritarian Personality. Studies in Prejudice, hrsg. v. Max Horkheimer und S. H. Flowerman, New York 1950; gekürzte dt. Fassung unter dem Titel Der Autoritäre Charakter: Studien über Autorität und Vorurteil, 2 Bde, Amsterdam: de Munter, 1968. Agulhon, Maurice: Marianne au combat. L'Imagerie et la symbolique republicaines de 1789 ä 1880, Paris: Flammarion, 1979. Alemin, Mateo: Guimän de Alfarache, con un estudio prelim., notas y bibliogr. seleccionada por Josi Onrubia de Mendoza, Barcelona, Bogotä (u.a.): Bruguera, 1972. Alkuin: [Brief an Karl den GroBen um 798], zit. bei George Boas: Vox Populi: Essays in the History of an Idea, Baltimore: The Johns Hopkins Press, 1969, S. 9. Anonym: »Was soll der Proletarier lesen? Franz Jung«, Die Rote Fahne (Nr. 331), 23.7.1922; Nachdruck in Manfred Brauneck (Hrsg.): »Die Rote Fahne»: Kritik, Theorie, Feuilleton, 1918—1933, München: Fink, 1973, S. 162-65. [Auch in: Franz Jung: Werke, Bd. 8, Hamburg: Edition Nautilus, 1986, S. 361-64]. Aristophanes: Hippes (424 v. Chr.); dt. v. Christoph Martin Wieland: »Die Ritter oder die Demagogen des Aristofanes«, Attisches Museum, Bd. 2, Zürich/Leipzig 1798. [Werkausg.: Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1968.] Arnold, Heinz Ludwig (Hrsg.): Carl Sternheim, München: Edition Text u. Kritik, 1985. Bathrick, David: »Die Berliner Avantgarde der Zwanziger Jahre. Das Beispiel Franz Jung«, in: Literarisches Leben in Berlin 1871—1933, hrsg. v. Peter Wruck, Bd. II, Berlin (DDR): Akademie-Verlag, 1987, S. 45-78. Baudelaire, Charles: (Euvres computes, hrsg. v. Claude Pichois, 2 Bde, Paris: Gallimard, 1975-76 (Bibliothique de la P16iade). Benjamin, Walter: »Charles Baudelaire. Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus«, in: Ders.: Gesammelte Schriften, hrsg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1980, Bd. 1/2. — »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit«, in: Ders.: Gesammelte Schriften, hrsg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt/M.: Suhrkamp, 1980, Bd. 1/2. Biermann, Karlheinrich: Literarisch-politische Avantgarde in Frankreich, 1830—1870. Hugo, Sand, Baudelaire u.a., Stuttgart (u.a.): Kohlhammer, 1982. — »Vom Flaneur zum Mystiker der Massen«, Romanistische Zeitschrift flr Literaturgeschichte, 2/3, 1978, 298-325.
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