Die List der Vergangenheit: Musikwissenschaft, Rundfunk und Deutschlandbezug in Italien, 1890-1945 9783205792697, 9783205795254


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German Pages [356] Year 2013

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Die List der Vergangenheit: Musikwissenschaft, Rundfunk und Deutschlandbezug in Italien, 1890-1945
 9783205792697, 9783205795254

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Mauro Fosco Bertola Die List der Vergangenheit Musikwissenschaft, Rundfunk und Deutschlandbezug in Italien, 1890–1945

Musikkulturen europäischer Metropolen im 19. und 20. Jahrhundert Band 11 Wissenschaftlicher Beirat und Herausgeber der Buchreihe: Philipp Ther, Universität Wien (geschäftsführend) Celia Applegate, Vanderbilt University, Nashville Moritz Csáky, Österreichische Akademie der Wissenschaften, Wien Heinz-Gerhard Haupt, Universität Bielefeld Sven Oliver Müller, Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, Berlin Michael Walter, Universität Graz Michael Werner, École des Hautes Études en Sciences Sociales, Paris

Mauro Fosco Bertola

Die List der Vergangenheit Musikwissenschaft, Rundfunk und Deutschlandbezug in Italien, 1890–1945

2014 Böhlau Verlag Wien Köln Weimar

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek  : Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie  ; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Umschlagabbildung  : Karl Günther, Der Radionist; © VBK Wien, 2014; Foto: bpk/ Nationalgalerie, SMB/Klaus Göken

© 2014 by Böhlau Verlag Ges.m.b.H., Wien Köln Weimar Wiesingerstraße 1, A-1010 Wien, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Korrektorat: Katharina Krones, Wien Satz  : Michael Rauscher, Wien Druck und Bindung  : Prime Rate Kft., 1044 Budapest Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Printed in Hungary ISBN 978-3-205-79525-4

Inhaltsverzeichnis Einleitung: Nation, Tradition und das Andere. . . . . . . . . . . . . . . . 9

Von der Erschaffung der Vorgänger  : Der Nationalismus und seine Zeitdimensionen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zwischen Erfindung und Erlösung  : Eine methodologische Standortbestimmung.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Worum es geht  : Die inhaltliche Großstruktur der Arbeit . . . . . . Anstatt eines Fazits und als einleitende Vorbemerkung . . . . . . .

. . 9 . . 12 . . 25 . . 26

Danksagung.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31

I.  Von der kreativen Offenheit der Traditionen  : Palestrina in Berliner und Römischem Rundfunk. Ein Fallbeispiel aus dem Jahr 1925 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1. Die Überwindung des Risorgimento  : Das Palestrina-Gedenkkonzert der Römischen U.R.I. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37

1.1 Amore e guerra  : Wie man Palestrina seltsam ehren kann.. . . . . . 37 1.2 Formen der nationalen Aneignung  : Palestrina, Renaissance und italianità seit dem Risorgimento. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 43 1.3 Zivile Tugenden und integraler Nationalismus  : Umdeutungen einer nationalen Identifikationsfigur. . . . . . . . . . . . . . . . . 47 2.  „Deutscher Geist“ und „Reinmenschlichkeit“  : Das PalestrinaGedenkkonzert der Funk-Stunde Berlin . . . . . . . . . . . . . . . . . 54

2.1 Bildungsideale und konfessionelle Kodierung  : Spannungen und Inkohärenzen der Berliner Repertoireauswahl. . . . . . . . . . . . 54 2.2 Ein musikgeschichtliches Konstrukt zwischen Cäcilianismus und Autonomieästhetik.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 2.3 Funktionen einer nationalen Identifikationsfigur  : Palestrina als Garant der Universalität deutscher Musikkultur.. . . . . . . . . . 67

6 Inhaltsverzeichnis

3. Fazit – „Kultur(en) der Niederlage“  ? Gemeinsamkeit zweier differierender Traditionstypologien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74

II. Nach deutschem Maß  : Integraler Nationalismus und die Erfindung einer neuen musikalischen Tradition Italiens 1890–1945 . . . . . . . . 79 1.  Ziele und Struktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81

1.1 Ein Land des melodramma  ? Nation und Tradition . . . . . . . . . 81 1.2 Eine Trias von Transzendentalen  : Nationalismus, symphonische Tradition und Deutschlandbezug . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 1.3 Vatermord und Tabu  : Luigi Torchi als Schlüsselfigur der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 2. Von Mazzini zu Torchi  : Nation als Deutungshorizont des Musikalischen, 1836–1894 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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2.1 Zukunftsmusik(en)  : Deutungshorizonte des Musikalischen, 1836 und 1894 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 2.2 Die „Jekyll-and-Hyde-Ambivalenz“ des Nationalismus . . . . . . . 98 2.3 Deutschland als Gegenkonstrukt . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 3. Nation als musikalische Kategorie. Die Polemik Torchi – Giani, 1895–1897 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107

3.1 De la méthode oder von dem, was dahintersteckt  : Zwei Deutungsebenen der Polemik . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 3.2 Forschungsmethode und „geistige Richtung“  : Das deutsche Krankenhaus der Romantik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 3.3 Von einem soziologischen Bezug.. . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 4. Torchis Projekt  : Die Erfindung einer neuen nationalen Musiktradition . 133

4.1 Von irreführenden Narrativen  : Ein alternativer Deutungsansatz .. 133 4.2 Die Macht des Konstrukts  : Beethoven und Vivaldi . . . . . . . . . 139 4.3 Von Torchi zu Torrefranca, 1897–1912  : Wie viele Meistererzählungen  ?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152

Inhaltsverzeichnis

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5. Das „deutsche Andere“. Tradition, „italianità“ und die „musica tedesca“ im italienischen Musikdiskurs der 1910er-Jahre . . . . . . . . 5.1 Die Notwendigkeit der Alterität  : Ziele und Struktur des Kapitels .. 5.2 Fausto Torrefranca  : Die Symphonie und die Allmacht des Primats, 1913–1915 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Giulio Silva  : Vokalität und die „mediterrane Rasse“, 1916 . . . . . 5.4 Giacomo Orefice  : Eine „Krise des musikalischen Nationalismus“  ? 1917. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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6. Nach Orefice  : Neuer Nationalismus, symphonische Tradition und das Aufkommen des Faschismus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206

6.1 „Rappel à l’ordre“  : Nationalismus, Faschismus und der italienische Musikdiskurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 6.2 Casella und der Trugschluss eines „Internationalismus“. . . . . . . 211 6.3 Das Manifest von 1932 und die Funktionswandlung der symphonischen Tradition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219

III. Vom nationalen zum totalitären Projekt des Faschismus  : Die symphonische Tradition im Musikprogramm des italienischen Rundfunks 1924–1939 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 1. Faschismus und Nation  : Ziele und Struktur des Kapitels.. . . . . . . . 231

1.1 Die musikalische Kategorie der Nation und das Paradoxon der Kontinuität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 1.2 Ziele und Struktur  : Symphonische Tradition im Radio und die Umdeutung des Nationalen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 2. Die 1920er-Jahre  : Das Nationale und das Musikprogramm . . . . . . . 240

2.1 Radio und Faschismus  : Die nationale Wiedergeburt . . . . . . . . 240 2.2 National- und Kulturauftrag  : Konzeptuelle Leitlinien des Musikprogramms und die Vortäuschung einer Bilanz. . . . . . . . 250 2.3 Die Entdeckung der symphonischen Tradition im Rundfunk 1924–1929.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261

8 Inhaltsverzeichnis

3. Die 1930er-Jahre  : Totalitäres Projekt, symphonische Tradition und die Wiederkehr des Deutschlandbezugs. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281

3.1 Der Faschismus als totale Weltanschauung  : Eine historiografische Standortbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 3.2 Die Ideologisierung der Nation  : Der Rundfunk vor dem totalitären Projekt des Faschismus. . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 3.3 Weitertradierung, doppelte Radikalisierung und Deutschlandbezug  : Funktionen der symphonischen Tradition im totalitären Projekt des Faschismus . . . . . . . . . . . . . . . . 290

Schlussbetrachtung  : Die Wehmut demaskierter Gespenster oder von der Dialektik des Diskurses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315 Literaturverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 Register. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349

Einleitung: Nation, Tradition und das Andere „Ein Rausch aus Schweigen, mehr gibt es nicht.“ Gottfried Benn, Durch jede Stunde

Von der Erschaffung der Vorgänger  : Der Nationalismus und seine Zeitdimensionen

In einem Aufsatz über Franz Kafka schrieb Jorge Luis Borges 1951, dass jeder Schriftsteller seine eigenen Vorläufer erschafft. Weit davon entfernt, irgendeine Art von literarischem Empfängnismysterium zu meinen, will Borges im Gegenteil hervorheben, dass jedem wahren Künstler bzw. jedem wahren Kunstwerk die Kraft innewohnt, die Auffassung der Vergangenheit in seinem eigenen Sinne unwiderruflich umzugestalten.1 Vermutlich kann kein passenderer Satz für das Phänomen des Nationalismus gefunden werden. Der Nationalismus konnte die politische Weltkarte nur neu zeichnen, indem er die Vergangenheit als eine Kette von zu ihm führenden Ereignissen teleologisch umschrieb. Gerade dadurch konnte er jedoch auch zum entscheidenden, die Wahlmöglichkeiten erheblich beeinflussenden Faktor für die Gestaltung der Zukunft werden. Die historische Figur des Vercingetorix zum Beispiel wurde in der schwierigen Lage des postnapoleonischen Frankreichs bereits ab den 1830er-Jahren zur Vorläuferfigur des nationalen Kollektivs gemacht, und eine Vielzahl von Vercingetorix-Denkmälern wurden errichtet  : Die ferne Geschichte des Fürsten, der im Jahr 52 v. Chr. fast alle gallischen Völker in einem Krieg gegen Caesar zu vereinigen wusste, wurde von den Franzosen im Sinne der Nation und in direkter Konkurrenz zu den ersten Bauplänen für das Hermannsdenkmal im

1 „Tatsache ist, dass jeder Schriftsteller seine Vorläufer erschafft. Seine Arbeit modifiziert unsere Auf­fassung von der Vergangenheit genauso wie sie die Zukunft modifiziert.“ Borges 1981, Kafka und seine Vorläufer, 117.

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Teutoburger Wald umgedeutet.2 Dieses Beispiel nationalistischer Umschreibung der Vergangenheit veranschaulicht nicht nur, wie der Nationalismus seine eigenen Vorläufer erschafft. Vielmehr zeigt es, wie der Nationalismus gerade in seinen vorwiegend kulturellen Aspekten eine starke politische Bedeutung erhalten und die Zukunft mit einer gravierenden Hypothek belasten kann  : Vercingetorix, der die militärische Überlegenheit Caesars erkennt und sich nach heldenhaftem Kampf dem Feinde ergibt, um das Leben seiner Landsleute zu retten, wurde nach dem deutsch-französischen Krieg 1870–1871 zur Deutungsfigur des Geschehens. Anhand von Vercingetorix, in dessen Heldenpersönlichkeit man einen vermeintlichen Nationalcharakter verkörpert sah, wurde nicht nur die einzunehmende Haltung gegenüber der Niederlage normiert, sondern zugleich auch das präzise Zukunftsprojekt einer weit aufgefassten revanche artikuliert, die nicht allein bzw. nicht primär auf politisch-militärische Vergeltung zielte. Vercingetorix, der, wie es damals hieß, im Unterschied zum ‚deutschen‘ Hermann dem Cherusker die Zivilisation nicht ablehnte, sondern deren Überlegenheit anerkannte, ohne jedoch die eigene Würde zu verlieren, diente den Franzosen als Vorbild zum Entwurf eines als notwendig empfundenen Auswegs aus der Niederlage, dessen Kern aus einer kulturellen Vereinnahmung der Stärke des Siegers bestand.3 Dieser Weg findet auch im musikalischen Bereich mit der Gründung der Société nationale de musique 1871 seitens Camille Saint-Saëns bekanntlich seine beispielhafte Entsprechung.4 Die politischen Konsequenzen dieses Deutungsmusters der Niederlage mündeten dann 40 Jahre später im Zusammenhang mit einer Vielzahl anderer Faktoren in den Ersten Weltkrieg. Die symbolische Praxis der Vercingetorix-Denkmäler veranschaulicht, wie der Nationalismus als zuordnende Denk- und Wahrnehmungskategorie mensch­licher Erfahrung in allen drei Zeitdimensionen agiert und wie er gerade aus diesem scheinbar vorpolitischen bzw. allgemein kulturellen Moment seine politische Gestaltungskraft erhält. Diese zeitliche Tiefendimension des Nationalismus und die politische Bedeutung seiner kulturellen Erscheinungsformen stellen den Ausgangspunkt der vorliegenden Untersuchung dar. Dabei wurde 2 Siehe Tacke 1996, Nationale Symbole in Deutschland. 3 Siehe Amalvi 1988, De l’art et de la manière, insbesondere 53–87. 4 Vgl. Steinbeck 2002, Romantische und nationale Symphonik, 307–317.



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der Fokus auf die Zeitebene der Vergangenheit und vor allem auf deren Konzeptualisierung in Form von Traditionen bzw. nationalen Traditionen gerichtet, wie der Titel dieser Arbeit in Anlehnung an eine berühmt gewordene Formulierung Hegels verdeutlicht. Als Hegel über die „List der Vernunft“ in seinen 1837 posthum erschienenen Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte schrieb, meinte er bekanntlich jene Täuschungsmanöver des Weltgeistes, für die Napoleon paradigmatisch stand  : Von seiner personellen Machtgier getrieben, diente de facto der aufstrebende Korse, ohne sich je dessen bewusst gewesen zu sein, der weiteren Entfaltung der Vernunft in der Geschichte der Menschheit. Im Rahmen meiner Studie ist die im Titel erwähnte Listigkeit der Vergangenheit jedoch anders zu deuten. Der Genitiv stellt hier nicht wie bei Hegel die Quelle einer Handlung dar (genitivus subjektivus)  : Die Vergangenheit wirft nicht listig ihre Schatten auf die Gegenwart. In Anlehnung an die berühmt gewordene Aufsatzsammlung von Eric Hobsbawm und Terence Ranger aus dem Jahr 1983 über die Erfindung von Traditionen und bereichert durch die weitere Erarbeitung des Themas seitens der sogenannten Cultural Memory Studies beruht meine Arbeit auf der heuristischen Annahme eines allgemeinen Erfindungscharakters der Vergangenheit. Die Vergangenheit und insbesondere deren Konzeptualisierung in Form von Traditionen wird als Resultat eines interessengeleiteten Selektionsprozesses des Gewesenen aufgefasst, der aus der Sicht der Gegenwart erfolgt und immer neu ausgehandelt wird, wie insbesondere Jan und Aleida Assmann ab den 1990erJahren überzeugend zeigen konnten. Traditionen werden damit im Rahmen dieser Arbeit als „listig“ verstanden, indem sie als Rückprojektionen der Gegenwart in Form von identitätsstiftenden Narrativen des Gewesenen die Folge einer perspektivischen Verzerrung darstellen. Nationale Kollektive, die hier im Sinne Benedict Andersons als kommunikativ entstandene „vorgestellte Gemeinschaften“ verstanden werden, artikulieren anhand einer gezielten Auswahl vergangener Ereignisse in Form von nationalen Traditionen ihre eigene kollektive Identität.5 In meiner Arbeit habe ich diesen identitätsstiftenden Selektionsprozess des Vergangenen im Musikbereich untersucht und dabei die ihn bestimmenden Aus5 Für den theoretischen Rahmen der hier besprochenen Auffassung des Traditions- und Nationskonzeptes und für genaue Literaturangaben siehe den nächsten Abschnitt.

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und Einschließungskategorien hervorgehoben und hinterfragt  : Was wurde aus dem Fundus der Musik früherer Epochen als wichtig (oder als vernachlässigbar) empfunden  ? Wie wurde es konzeptualisiert  ? Welche Kriterien lenkten Auswahl und Objektkonstruktion  ? Anhand dieser und ähnlicher Fragen wurden weltanschauliche, politische, ästhetische und wissenschaftliche Annahmen beleuchtet, die den kategorialen Rahmen des italienischen Musikdiskurses zwischen 1890 und 1945 bestimmten. Mittels des Konzepts von nationalen Musiktraditionen ist es hier sozusagen forschungstechnisch möglich geworden, einen Blick auf die intellektuellen Koordinaten und auf die Denk- und Wertkategorien zu werfen, mit denen die Menschen ihre kollektive Gegenwart im Laufe eines halben Jahrhunderts gestalteten und zugleich ihre (und unsere) Zukunft bestimmten. Parallel dazu erlaubt das Konzept von nationalen Musiktraditionen das anschauliche Nachvollziehen der herausragenden Rolle, welche der allzu gerne einer klischeehaften Autonomie überlassene Musikdiskurs gegenüber der Ausbreitung des Nationalismus gespielt hat. In seiner wissenschaftlichen, kompositorischen und konzert- bzw. rundfunkpraktischen Ausprägung wirkte der Musikdiskurs gleichberechtigt mit allen anderen Formen menschlichen Tuns auf jene Ausgestaltung aller drei Zeitdimensionen mit ein, die das Agieren des Nationalismus bestimmen und ihn zu einer holistischen Denk- und Wahrnehmungskategorie machen.

Zwischen Erfindung und Erlösung  : Eine methodologische Standortbestimmung

Aus dem bis jetzt Gesagten geht hervor, wie drei semantische, eng aufeinander bezogene Felder diese Studie bestimmen  : Nation, Tradition und kollektive Identität. Alle drei Aspekte, sowohl in ihrer Verquickung miteinander als auch in ihrer jeweiligen Verbindung zum Musikalischen, kennen eine weit zurückreichende Forschungstradition. Wie positioniert sich diese Arbeit darin  ? Und wie soll der Zusammenhang zwischen den drei Konzepten aufgefasst werden  ? In Salman Rushdies Roman The ground beneath her feet aus dem Jahr 1999 – einer Art (post-)moderner Nacherzählung des Mythos von Orpheus und Eurydike, die sich im Rockmilieu zwischen etwa 1950 und 1990 abspielt – fragt



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an einer Stelle Rai, der Erzähler, verzweifelt  : „But let’s just suppose. What if the whole deal – orientation, knowing where you are, and so on – what if it’s all a scam  ? What if all of it – home, kinship, the whole enchilada – is just the biggest, most truly global, and centuries-oldest piece of brainwashing  ?“6 Die vorige Frage nach dem methodologischen Ansatz der Arbeit geht eigentlich mit dieser zweiten, ebenfalls offenen Frage nach den Konsequenzen einer Infragestellung der Wesenhaftigkeit von Nation, Heimat etc. einher. Ausgehend vom Konzept der Tradition soll im Folgenden auf die antiessenzialistischen Voraussetzungen eingegangen werden, auf denen die vorliegende Untersuchung aufgebaut wurde. Alle drei besagten Termini sollen in ihrem grundsätzlichen Konstruktcharakter erkannt werden, um schließlich die Frage von Rai mutatis mutandis noch einmal aufzuwerfen  : Welches heuristische Potenzial bringt für die Erforschung des italienischen Musikdiskurses ein Ansatz mit sich, der Nation, Tradition und kollektive Identität – Konzepte, die von den damaligen Akteuren als naturgegeben begriffen wurden – stattdessen als soziale, durch einen intersubjektiven, gesellschaftlichen Prozess entstandene Artefakte versteht  ? *** Der Ausgangspunkt für eine historisch ausgerichtete Untersuchung des Tradi­ tionskonzepts bildet sicherlich die von Eric Hobsbawm und Terence Ranger 1983 herausgegebene Aufsatzsammlung The invention of Tradition.7 Wie der Kulturhistoriker Peter Burke in seiner Rezension des Bandes 1986 schrieb, handelt es sich bei diesem schlagwortartigen Titel um eine „splendidly subversive phrase, but it hides serious ambiguities“8. 30 Jahre später hat Hobsbawms und Rangers Konzept von erfundener Tradition sicherlich einiges von seinem subversiven Zug eingebüßt, zugleich hat es auch manches an problematischer Mehrdeutigkeit verloren. Subversiv wirkte der Satz am Anfang der 1980er-Jahre, weil er einen wichtigen Punkt der hermeneutisch orientierten Geschichtsschreibung traf, nämlich jenes Konzept der Tradition (Überlieferung), dem Gadamer in seiner Neuformulierung der Hermeneutik seit den 1960er-Jahren eine normative, einschrän6 Rushdie 1999, The ground, 176–177. 7 Hobsbawm/Ranger (Hg.) 2009, The invention of tradition. 8 Burke 1986, The Invention of Tradition, 317.

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kende Rolle gegenüber der prinzipiellen Offenheit rationeller Deutungsprozesse zuschrieb.9 Die Überlieferung bzw. die Tradition erschien nun im Lichte von Hobsbawms und Rangers Schlagwort nicht als gegebene, sondern als gemachte Sache  : Tradition war nicht mehr ein „an sich“, das mit einer eigenen, den Deutungshorizont bestimmenden Autorität versehen werden könnte. Sie stellte stattdessen ein „für sich“ dar, das von Menschen erzeugt werde und daher als konstitutiv verhandelbar und interessengeleitet aufzufassen sei. Damit trugen Hobsbawm und Ranger zu jener Paradigmenwende der gesamten Geisteswissenschaften bei, die unter dem Namen cultural turn bekannt geworden ist.10 Dies taten sie jedoch malgré eux. Es ist eine Ironie der Rezeptionsgeschichte, dass beide Autoren gerade diesen epochemachenden Zug des Konzepts von erfundener Tradition nicht erkannten. In der Einleitung zur Aufsatzsammlung ist Hobsbawm stattdessen sichtlich darum bemüht, das Alte zu bewahren und eine Trennlinie zwischen genuinen und erfundenen Traditionen zu etablieren. Er zieht sie entlang der Gegenüberstellung zwischen einer gewissen Flexibilität bzw. Adaptabilität, die den echten Traditionen eigen sein sollte, und einer relativ rigiden Unveränderbarkeit, welche stattdessen die erfundenen zu prägen habe. Stilistisch brillant, jedoch eher allzu intuitiv, präzisiert Hobsbawm diese Gegenüberstellung anhand der Metapher eines Richters, der in seinem Tun das Gesetz zu interpretieren und je nach konkretem Fall anzuwenden (wahre Tradition) und zugleich ein ganzes Set an rigide festgelegte Handlungen von der Kleidung bis hin zum Ablauf der Sitzung einzuhalten hat (erfundene Tradition).11 In seiner Rezension bemerkte   9 Gadamer 2010, Wahrheit und Methode, siehe insbesondere den Abschnitt „Vorurteile als Bedingungen des Verstehens“, 281–295. 10 Diesbezüglich siehe die vermutlich beste Einführung in die Thematik  : Bachmann-Medick 2006, Cultural turns, insbesondere das erste Kapitel „Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften“, 7–57. Bachmann-Medick problematisiert den gängigen, einheitlichen Begriff eines einzigen, aus der linguistischen Neuorientierung der Philosophie kommenden cultural turn, indem sie mehrere, einzelne turns hervorhebt, die sich seit den 1970er-Jahren „im Schlepptau des linguistic turn herausgebildet haben“, ebd., S.  7. Wenn auch nun in der Mehrzahl artikuliert, behält sie jedoch de facto den einheitlichen Rahmen dieser Wende der gesamten Geisteswissenschaften bei, die aus einer wie auch immer anders gearteten und sicherlich je nach Gebiet und Forschungsrichtung anders ausfallenden Umstrukturierung der jeweiligen Fragestellungen um das Konzept von Kultur besteht. 11 Hobsbawm 2009, Introduction, 2–3.



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Burke sofort die Unhaltbarkeit dieser Trennung und fragte provokativ  : „[…] where does his ‚adaptability‘ […] end, and invention begin  ?“12 Noch scharfsichtiger, dieselbe Unklarheit hervorhebend, bemerkte in seiner 1984 verfassten Rezension des Buches der Anthropologe Richard Handler  : Eine solche Trennung „may be untenable because all traditions (like all symbolic phenomena) are humanly created […] rather than naturally given“13. Mit der Betonung eines menschlichen statt naturwüchsigen Ursprungs von Traditionen war jener fehlende Zug ausdrücklich genannt worden, der Hobsbawms und Rangers Intuition in die neue, vom cultural turn umstrukturierte Forschungslandschaft der Geisteswissenschaften hinüberführen sollte. Die heuristische Erfindung der zwei englischen Historiker wuchs in den darauf folgenden Jahren über die Intentionen seiner Erfinder hinaus  : Bald wurde nicht mehr von erfundenen Traditionen als von jenen Ausnahmefällen gesprochen, deren Seltenheit Hobsbawm in der Einleitung noch sichtlich betont hatte. Sie wurden nicht mehr als sonderbare Versuche aufgefasst, rapide soziale Veränderungen mittels einer erfundenen Vergangenheit kulturell zu verankern. Und sie wurden auch nicht mehr allein auf vereinzelte Umbruchepochen, wie zum Beispiel die Jahrhundertwende, begrenzt.14 Stattdessen wurden in einem radikalen Bruch mit Gadamer und dessen hermeneutischem Ansatz alle Traditionen als erfunden verstanden. Dahinter stand, wie gesagt, jener sogenannte cultural turn, der in der Anerkennung einer allmächtigen Ubiquität der Kultur jegliche essenzialistische Annahme ablehnte  : Was als externe Wirklichkeit, als naturhafte bzw. gegebene Realität in unserer Alltagserfahrung verstanden wird, sei stattdessen als Resultat sozialer Verständigungsprozesse aufzufassen. Kultur ist damit der diskursive Raum, in dem das vermeintlich Gegebene samt seinem Schein an Naturhaftigkeit erschaffen wird. Dies im Fall des Traditionskonzepts theoretisch zu formulieren, war die Aufgabe einer Forschungsrichtung, die ab den 1990erJahren mit dem Namen Cultural Memory Studies bekannt wurde. Sie erlöste, um es im wagnerschen Jargon zu formulieren, Hobsbawms und Rangers Traditionsverständnis aus dessen immanenter Widersprüchlichkeit und ließ es für die historische Forschung fruchtbar werden. 12 Burke 1986, The Invention of Tradition, 317. 13 Handler 1984, The Invention of Tradition, 1026. 14 Hobsbawm 2009, Introduction, 4–5.

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Den einflussreichsten Ansatz im Rahmen der Cultural Memory Studies stellt sicherlich jene Theorie des kulturellen Gedächtnisses dar, die von Jan Assmann bereits während der 1980er-Jahre entworfen und danach in Zusammenarbeit mit seiner Frau Aleida weiterentwickelt wurde. Im Unterschied zu Hobsbawm, der als einzigen Vorgänger für dieses Forschungsfeld Aby Warburg und dessen Überlegungen um ein „soziales Gedächtnis“ nannte, bildete bei Assmann Maurice Halbwachs’ Konzept einer mémoire collective den Ausgangspunkt der Untersuchung.15 Während der 1930er-Jahre in Frankreich entwickelt und von einer soziologischen, anstatt wie im Fall Warburgs kunsthistorischen Perspektive ausgehend, zeichnet sich Halbwachs’ Ansatz durch eine Charakterisierung der Erinnerungsarbeit als ein aktiver, gestalterischer Prozess aus  : Das Erinnern bestehe sowohl auf der individuellen als auch auf der kollektiven Ebene in einem zugleich selektiven und rekonstruktiven Handeln, welches das, was als Vergangenes zu gelten habe, immer neu umformt bzw. erschafft.16 Entlang der zwei Pole von Erinnern und Vergessen, von Kanonisierung und Zensur wird das Erinnern als ein nie abgeschlossener, immer offener und grundsätzlich interessengeleiteter Selektionsvorgang aufgefasst. Darauf baut die Theorie des kulturellen Gedächtnisses, das – wie Aleida Assmann 2004 resümierend formulierte – als „ein dynamisches und labiles Verhältnis zwischen dem, was gänzlich vergessen, verdrängt, abgestoßen wird, dem, was gespeichert und aufbewahrt wird, und dem, was aktuell von vielen als Teil ihrer kulturellen Identität erinnert wird“, aufgefasst werden soll.17 Hier lässt sich der entscheidende Fortschritt von Assmanns Ansatz genau erkennen, welcher den subversiven Zug bzw. das heuristische Potenzial von Hobsbawms und Rangers Intuition vollständig explizierte. Mit Assmann wird definitiv nicht mehr nach der Echtheit bzw. Unechtheit von Traditionen oder nach deren faktischer Verifizierbarkeit gefragt  ; ins Zentrum des Forschungsinteresses 15 Für einen Überblick über die verschiedenen, zum Teil in ihren theoretischen Prämissen stark divergierenden Richtungen der Cultural Memory Studies siehe Erll/Nünning/Young 2010, A companion. Halbwachs’ Buch erschien posthum im Jahr 1950 unter dem Titel La mémoire collective. Für die deutsche Übersetzung siehe Halbwachs 1991, Das kollektive Gedächtnis. 16 Über Halbwachs siehe Erll 2008, Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen, insbesondere 158–161. 17 Assmann 2004, Zur Mediengeschichte, 59.



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rückt stattdessen die Erörterung der kulturell- und epochenspezifischen Faktoren, die dem Vergangenen mittels Selektion und Rekonstruktion jene relativ stabile Gestalt verleihen, die von den damaligen Akteuren als „Tradition“ erkannt wurde. Der Fokus der Analyse verschiebt sich endgültig und mit einer Klarsicht, die Hobsbawm und Ranger noch unbekannt war, von Traditionen als selbstständig existierenden Objekten, die das Alpha und Omega der Untersuchung bilden, zu den Rahmenbedingungen, welche diese präzise Konfiguration des Vergangenen erschufen. Zentral wird damit die Frage nach den Auswahl- und Rekonstruktionskriterien, die, indem sie während einer Zeitspanne konstant blieben, das Hervorbringen und Überdauern einer spezifischen Traditionsgestalt ermöglichten. Was wurde von dem Vergangenen als relevant wahrgenommen und ausgewählt und was nicht  ? Wie wurden die ausgewählten Vergangenheitsfragmente zusammengestellt  ? Entlang welcher intellektuellen Koordinaten fand diese Erinnerungsarbeit statt  ? Oder, resümierend formuliert, welche kulturspezifischen Faktoren und sozialen Interessen verbergen sich hinter jeglichem Traditionskonstrukt  ? Mit Assmanns Ansatz traten damit bei der Erforschung von Traditionen deren kulturelle, ideologische und politische Zielsetzungen definitiv in den Vordergrund.18 Ein Aspekt bekam dadurch eine theoretische Fundierung, den bereits Hobsbawm als besonders wichtig hervorgehoben hatte. Gemeint ist hier der Symptomcharakter von Traditionen  : Sie sind, in den Worten Hobsbawms, als „important symptoms of problems which might not otherwise be recognized“ aufzufassen.19 Darin liegt schließlich der Endzweck jeglicher historiografischen Auseinandersetzung mit Traditionen, die von der Voraussetzung ihrer grundsätzlichen Erfindung bzw. ihres Konstrukt-Seins ausgeht. Anhand dieser Forschungsperspektive werden Traditionen als Konglomerate unterschiedlicher Faktoren erkannt, die zu einer prägenden Gestalt bzw. zu einer Meistererzählung subsumiert wurden. Alle jene Komponenten, die sonst von den damaligen Akteuren entweder vereinzelt oder gar nicht expliziert wurden, kristallisierten sich zu einem Gebilde, das, als Tradition artikuliert, diese Komponenten und vor allem die oft impliziten Hierarchien ihres Zusammenhangs wiedergab. Tra18 Vgl. Pethes 2008, Kulturwissenschaftliche Gedächtnistheorien, 59–70, insbesondere 65. 19 Hobsbawm 2009, Introduction, 12.

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ditionen öffnen damit aus dieser Perspektive ein Fenster bzw. stellen einen Beobachtungsposten dar, von dem aus man tiefe Einblicke in jenen Raum des damals Sagbaren und Denkbaren gewinnen kann, der seit Foucault unter dem Namen Diskurs bekannt geworden ist. Daran will die vorliegende Arbeit vor allem anknüpfen. Gerade indem sich diese Studie als eine Untersuchung über die Art und Weise artikuliert, in der die eigene musikalische Vergangenheit im Laufe eines halben Jahrhunderts in Italien imaginiert wurde, stellt sie sich zugleich auch als eine Arbeit über die Rolle des Nationalen im italienischen Musikdiskurs dar. Indem die Auffassung der musikalischen Tradition entlang der hier beschriebenen Fragestellung untersucht wurde, bewahrheitete sich also Hobsbawms Gleichstellung von Tradition und Symptom. Die Erforschung der erschaffenen Vergangenheit hat sich auch hier zu jener symptomatischen Folie entpuppt, mit der vor allem ein Aspekt sichtbar gemacht werden konnte, der sonst bis jetzt nicht angemessen erfasst wurde, nämlich die strukturierende Rolle des Nationalen für den gesamten italienischen Musikdiskurs bis 1945. Dies mag jedoch zunächst eher verwundern  ; erstaunt fragt man sich, ob man dies nicht schon längst wusste  : War man sich nicht bereits durchaus darüber im Klaren, dass das Nationale in Italien zu jener Zeitspanne wichtig war  ? Die Antwort steckt im Adjektiv  : Sicherlich war und ist man sich in der Forschung durchaus bewusst, dass das Nationale und italianità die meistdiskutierten Themen während der hier untersuchten Zeitspanne waren. Unklar bzw. unscharf wurde jedoch die strukturierende Funktion erfasst, die das Nationale damals hatte. Um sich der essenzialistischen Sprache jener Zeit hier für einen Moment zu bedienen  : Das Nationale ist zumeist als ein Akzidens der Forschung behandelt worden, als etwas, das „von außen“ hinzukam. Man hat ihm einschränkende oder lenkende Wirkungen gegenüber einem eigenständigen Wesen der Musik zugeschrieben. Im Rahmen dieser Arbeit soll stattdessen am Beispiel des damaligen Traditionsverständnisses veranschaulicht werden, wie das Natio­ nale während jener Zeitspanne die Substanz des Musikalischen konstituierte. Die Musik stand ihm nicht separat gegenüber, sondern was als musikalische Tradition wahrgenommen wurde, ging aus der Art und Weise hervor, auf die das Nationale aufgefasst wurde. Das Nationale, hier im Sinne Benedict Andersons als die Art und Weise verstanden, in der die Gemeinschaft der Nation zu einem



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bestimmten Zeitpunkt von seinen Mitgliedern imaginiert wurde, schränkte nicht allein das ein, was aus der Vergangenheit ausgewählt werden konnte  ; es bestimmte nicht allein, an welche frühere Musikwerke und Komponisten man sich erinnern und welche vergessen werden sollten.20 Das Nationale erschuf zugleich auch, was diese musikalische Vergangenheit überhaupt war  : Als eine Meistererzählung des Gewesenen bestimmte das Nationale auch das, was die ausgewählten Werke „sind“ bzw. zu bedeuten haben. Das Nationale erschuf diese Werke neu  : nicht in den Noten, sondern in deren Bedeutung. Hier scheint der Verdienst des Autors und seiner Untersuchung zu liegen  : Anhand der Voraussetzung eines Konstruktcharakters von Tradition und Nation wurde der Zusammenhang von Traditionsvorstellung bzw. -erfindung und Imagination der Nation im italienischen Musikdiskurs vom Ende des 19. Jahr20 Siehe Anderson 2005, Die Erfindung der Nation. Andersons berühmt gewordene Studie aus dem Jahr 1983 deutet Nationen zu imagined communities um, deren Wirklichkeit aus dem Zusammenwirken von Intellektuellen und Medien konstruiert wird. Darauf aufbauend hat sich ein durchaus fruchtbares Untersuchungsfeld etabliert. Dieses versteht Nationen als „Erinnerungsgemeinschaften“ und erkennt die zentrale Rolle, welche die kulturelle Konstruktion von Traditionen für den Prozess des nation-building spielt. Vgl. Geulen 2004, Nationalismus, insbesondere 444–447. In Bezug auf die Konzeptualisierung von Nationen als Erinnerungsgemeinschaften ist folgende Studie von Aleida Assmann sowohl unter dem methodologischtheoretischen Gesichtspunkt als auch für die darin besprochenen Fallbeispiele grundlegend  : Assmann 2006, Der lange Schatten. Im selben Jahr wie Andersons Studie wurde ein weiterer zentraler Beitrag für die Erforschung des Nationalismus aus der Feder von Ernest Gellner veröffentlicht  : In dieser Arbeit wurde der Prozess der Nationenbildung als die vom modernen Staatsapparat durchgeführte Überstülpung einer hohen Kultur („high culture“, die das Produkt einer intellektuellen Elite darstellt) auf eine kulturell eher unbestimmte und vielfältige Bevölkerung („low cultures“) beschrieben  ; siehe Gellner 1983, Nations and nationalism. Damit beging Gellner wie im Fall Andersons und Hobsbawms eine grundlegende Dekonstruktion der essenzialistischen Ansprüche des nationalistischen Diskurses, wobei die Nation als Konstrukt der westlichen Moderne angesehen wurde (siehe insbesondere ebd., 48–49 und 55–62). Aufgrund der zeitlich zusammenfallenden Veröffentlichung derart zentraler Studien über den Nationalismus sprach Hans-Ulrich Wehler vom Jahr 1983 als dem annus mirabilis der Nationalismusforschung (Wehler 2007, Nationalismus, 8). Für eine autoritative kritische Sicht auf die kulturalistische Wende in der Erforschung des Nationalismus siehe Smith 1999, The Nation. Eine erste hilfreiche Orientierung zur Nationalismusforschung bieten außerdem  : Hutchinson/ Smith 1994, Nationalism, insbesondere die Einleitung, 3–14, sowie das Nachwort von Thomas Mergel zur deutschen Neuauflage von Andersons Pionierarbeit, vgl. Anderson 2005, Die Erfindung der Nation, 281–306. In diesem Nachwort kontextualisiert Mergel die kulturwissenschaftliche Wende der Nationalismusforschung ab 1983. Schließlich sei hier noch auf Baycroft 2006, What is a nation, 1–13 verwiesen.

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hunderts bis 1945 nicht allein „erkannt“. Dieser Zusammenhang konnte sowohl in seiner Entstehung in der italienischen Musikwissenschaft um 1890 als auch in dessen praktischen Auswirkungen im italienischen Musikleben bzw. im Musikprogramm des Rundfunks während des Faschismus genau nachgezeichnet werden. Die große Kontinuität, die der italienische Musikdiskurs in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts trotz bedeutender historischer und politischer Zäsuren aufwies und die von der Forschung oft bemerkt, aber nicht begründet wurde, bekam hier eine Erklärung. Die häufig aufgestellte Hypothese bzw. Behauptung, diese Epoche sei einheitlich unter dem Vorzeichen der Nation zu lesen, konnte hier nicht nur verifiziert, sondern auch vertieft werden. Am Beispiel der Imagination der Vergangenheit wurde das Nationale als der Faktor veranschaulicht, der den italienischen Musikdiskurs während jener Zeitspanne im doppelten Sinne des Wortes strukturierte, d. h., ihn zugleich zuordnete und erschuf. Außerdem wurde der Beginn einer Wirkungsmächtigkeit des Nationalen im Musikdiskurs von den 1910er-Jahren auf das letzte Jahrzehnt des 19.  Jahrhunderts zurückdatiert. Abschließend soll hier noch ein drittes Element erwähnt werden, das als bestimmendes für den gesamten italienischen Musikdiskurs während des hier untersuchten Zeitraums erkannt wurde. Als Diskurs des Eigenen kommt das Nationale nicht ohne ein Anderes aus, das die kohärente Ordnung des Ichs garantiert. Die Rolle binärer Oppositionen in der Konstitution kollektiver Identitäten wurde ab den 1980er-Jahren vor allem in den postkolonialen Studien und insbesondere durch ihre wichtigsten Vertreter Edward Said (hauptsächlich mit seiner bahnbrechenden Monografie Orientalism von 1978) und Homi Bhabha (vor allem in The location of culture aus dem Jahr 1994) hervorgehoben.21 An diesen Forschungsansatz sich frei anlehnend und treu der antiessenzialistischen Annahmen, die allgemein die vorliegende Untersuchung bestimmen, hat man Identität nicht als ein An-Sich, sondern als ein System von Differenzen bzw. im Sinne Derridas von sinn- und identitätsverschiebenden différances aufgefasst. Im 21 Siehe jeweils Said 2009, Orientalismus und Bhabha 2000, Die Verortung der Kultur. In der Fülle der Sekundärliteratur über die postkolonialen Studien bietet Bachmann-Medick 2006, Cultural turns, 184–237 eine anschauliche Einführung. Bezüglich des im Kontext der Globalisierungs-Debatte der 1990er-Jahre stark umstrittenen Denkens Bhabhas siehe Bonz/Struve 2006, Homi K. Bhabha. Siehe außerdem die Fußnote 306, S. 164 in der vorliegenden Arbeit.



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konkreten Verlauf der Arbeit hat man diesen negativen Bezug des italienischen Musikdiskurses im Konstrukt einer „deutschen Musik“ erkannt. Auch in diesem Fall stellt das bloße Anerkennen der wichtigen Rolle dieses Konstruktes in der damaligen ästhetisch-kompositorischen Debatte Italiens nichts Neues für die Forschung dar. Und auch in diesem Fall liegt jedoch die Neuheit dieser Arbeit in ihrer Perspektive, das heißt im Hervorheben der strukturierenden Rolle, die der Bezug zu Deutschland für den italienischen Musikdiskurs jener Zeit hatte  ; einer strukturierenden Rolle, die auch hier im doppelten Sinne des Adjektivs als den Diskurs zugleich zuordnend und erschaffend zu verstehen sei.22 Dies hat konkret die Form eines bewusst asymmetrischen Vergleichs zwischen dem italienischen und dem deutschen Musikdiskurs angenommen  : Der Hauptschwerpunkt der Untersuchung liegt hier deutlich – aber nicht ausschließlich – auf Italien.23 Seit dem Ende der 1980er-Jahre ist eine Umorientierung in der geschichtswissenschaftlichen Forschung zu verzeichnen, die auf eine immer stärkere Infragestellung einer der zentralen Untersuchungseinheiten der Disziplin zielt  : derjenigen der Nation.24 Angeregt durch einen Aufsatz von Marc Bloch aus dem Jahr 1928, in dem der Historiker der Annales über die methodologische Möglichkeit einer Komparatistik für die Geschichte des Europäischen Raums nachdachte, nahm die Thematik des Austausches zwischen Nationalstaaten, aber auch zwischen ethnischen Gruppen oder sogar großangelegten Zivilisationsräumen eine immer prominentere Rolle innerhalb der historiographischen Reflexion ein.25 Dabei spielten auch brisante kulturpolitische Anstöße wie der sogenannte Historikerstreit aus den Jahren 1986–1987 eine Rolle, der die Frage nach einer möglichen Vorbildfunktion der stalinistischen Massenmorde in der 22 Siehe diesbezüglich vor allem § II.4 und II.5 sowie § III.3.3. 23 Über den asymmetrischen (sowie den später im Text erwähnten kontrastiven) Vergleich siehe Haupt/Kocka 1996, Historischer Vergleich und Welskopp 2010, Vergleichende Geschichte. 24 Für eine Gesamtdarstellung der transnationalen Orientierung der Geschichtswissenschaft siehe auf der Online-Plattform Docupedia den Artikel von Gassert 2010, Transnationale Geschichte und in der Online-Zeitschrift Geschichte.transnational den Beitrag von Middell 2005, Transnationale Geschichte. Einen guten Überblick über die unterschiedlichen Ansätze bietet außerdem der Sammelband von Budde (Hg.) 2006, Transnationale Geschichte. Darin ist vor allem folgender Beitrag zu erwähnen  : Haupt 2006, Historische Komparatistik. 25 Bloch 1928, Pour une histoire comparée. Der Aufsatz ist auf Deutsch unter dem Titel „Für eine vergleichende Geschichtsbetrachtung der europäischen Gesellschaften“ in Middell/Sammler (Hg.) 1994, Alles Gewordene hat Geschichte, 121–167 erschienen.

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Sowjetunion für Hitlers Vernichtungspläne und damit das Problem des Austausches zwischen sowie der Vergleichbarkeit von unterschiedlichen historischen Phänomenen aufwarf.26 Zu Beginn der 1990er-Jahre entwarf der französische Historiker Michel Espagne eines der ersten historiographischen Modelle von transnationaler Geschichtsschreibung, das unter dem Namen transfert culturel große Resonanz auslöste.27 Während Espagne in den darauf folgenden Jahren seinen Entwurf in einer ganzen Reihe methodologischer Überlegungen und bahnbrechender Untersuchungen weiter vertiefte, entwickelte 2002 der Germanist Michael Werner zusammen mit der Politikwissenschaftlerin Bénédicte Zimmermann die sogenannte histoire croisée.28 Dieses historiographische Modell nahm verstärkt die Forderung nach einem reflexiven Ansatz zur Thematik des Austausches sowie nach dessen Erweiterung über die Grenze einer allein bilateralen Untersuchung auf  ; zugleich sollte die histoire croisée auch eine vermittelnde Rolle in einer historiographischen querelle annehmen, welcher die Starrheit eines akademischen Stellungskriegs zwischen unterschiedlichen Ansätzen drohte.29 Für mehr als eineinhalb Jahrzehnte schien in der Tat seit den 1990er-Jahren das historiographische Nachdenken über die Konturen einer transnationalen Geschichte in den Engpass einer primär methodologischen Diskussion geraten zu sein, welche paradoxerweise die Form eines nationalen Disputs zwischen Deutschland und Frankreich annahm  : Der seit den 1970er-Jahren vor allem in Deutschland (insbesondere in Bielefeld und Berlin) und in den USA erprobte Ansatz des historischen Vergleichs wurde dem französischen Transfer-Modell 26 Vgl. Kaelble 2006, Herausforderungen an die Transfergeschichte. Über den Historikerstreit siehe auch die Fußnote 436, S. 234 in der vorliegenden Arbeit. 27 Siehe Espagne 1994, Sur les limites du comparatisme sowie Espagne 1999, Les transferts culturels Franco-Allemands. Die Lebendigkeit von Espagnes Transfer‑Ansatz bezeugt auch das große, von Espagne geleitete interdisziplinäre Projekt Labex  : TransferS. Transferts culturels, traductions, interfaces, das 2011 am Collège de France und an der École normale supérieure begonnen wurde. Das Ziel sei dabei, zu beleuchten „how Cultural Transfers have been shaping societies and cultures from Antiquity to the Present Day“, vgl. die Projektankündigung in http://geschichtetransnational.clio-online.net/projekte/id=397, zuletzt geprüft am 18.02.13. 28 Siehe Werner/Zimmermann 2002, Vergleich, Transfer, Verflechtung sowie die spätere, in einigen Punkten veränderte französische Fassung desselben Artikels  : Werner/Zimmermann 2003, Penser l’histoire croisée. 29 Siehe diesbezüglich Kaelble 2003, Die interdisziplinären Debatten, insbesondere 493.



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unversöhnlich gegenübergestellt.30 Im Jahr 2005 äußerte der Historiker Hartmut Kaelble in einem dem Thema gewidmeten Forum der Online-Zeitschrift Geschichte.transnational den Wunsch nach einer „Zeit der Praxis“ und damit nach einer größeren Anzahl konkreter Studien, die sich mit einer methodologisch flexibleren Vorgehensweise einem breiten Spektrum an Themen widmen und die bis dato vorwiegende Fokussierung auf die deutsch‑französischen Beziehungen seit der Aufklärung überwinden sollten.31 Wie sehr dieser Wunsch den „Geist“ der Stunde traf, bezeugt die Vielzahl an Veröffentlichungen, welche in den letzten Jahren der Thematik des Austausches gewidmet wurden.32 Aus der Sicht der Musikwissenschaft ist dabei vor allem die verhältnismäßig große Aufmerksamkeit durchaus interessant, welche der Musik im Rahmen dieser Richtung seit Jahren beständig gewidmet wird  ; etwas, das auch in der erfolgreichen Erprobung durchaus innovativer Ansätze – wie zum Beispiel Manuel Castells Netzwerktheorie – für die historische Untersuchung musikalischer Phänomene ihren Niederschlag gefunden hat.33 Im Rahmen der vorliegenden Arbeit hat die Fokussierung auf den transnationalen Charakter geschichtlicher Erscheinungen zweierlei Ausprägungen angenommen. Einerseits wurde im ersten Teil der Untersuchung eine Komparation der unterschiedlichen Strategien zur nationalen Identitätskonstruktion im deutschen und italienischen Musikdiskurs durchgeführt  : Zu einem vorgegebenen Zeitpunkt und anhand einer gemeinsamen Vergleichsgröße (die Rezeption des Renaissancekomponisten Giovanni Pierluigi da Palestrina im Rundfunk) konnten die zwei Diskurse kontrastierend verglichen werden. Nachdem deren 30 Für eine resümierende Betrachtung der Debatte siehe Kocka/Haupt 2009, Comparison and Beyond. Zur Lage der Debatte in den USA Anfang des Jahres 2000 siehe Bender (Hg.) 2002, Rethinking American history. 31 Vgl. Kaelble 2005, Die Debatte über Vergleich. 32 Insbesondere sei hier auf die Namen von Sebastian Conrad und Jürgen Osterhammel verwiesen, die in den letzten Jahren dezidiert mit einer rein bilateralen Perspektive gebrochen und sich der Perspektive einer Globalgeschichte gewidmet haben  ; siehe vor allem Conrad/Osterhammel (Hg.) 2004, Das Kaiserreich transnational sowie Conrad 2006, Globalisierung und Nation. 33 Siehe zum Beispiel Ther 2006, In der Mitte der Gesellschaft  ; Werner 2002, Deutsch-französische Verflechtungen  ; Werner 2007, Kulturbetrieb und Virtuosentum sowie Osterhammel 2012, Globale Horizonte europäischer Kunstmusik. Für eine methodologische Überlegung über die Anwendungsmöglichkeiten der Netzwerktheorie auf die historische Untersuchung der europäischen Operngeschichte siehe Ther 2009, Comparisons.

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landesspezifische Besonderheiten und epochenbedingte Gemeinsamkeiten hervorgehoben wurden, hat man andererseits in den weiteren zwei Teilen der Arbeit einen asymmetrischen, vornehmlich auf die Beleuchtung der italienischen Verhältnisse ausgerichteten Vergleich zwischen beiden Musikdiskursen gezogen. Das Hauptziel der Untersuchung lag hier darin, die narzisstische Ich‑Konstruktion einer (bzw. mehrerer) musikalischer italianità in ihrer grundsätzlichen Relationalität zu einem deutschen Anderen zu dekonstruieren. Der im Titel der Arbeit erwähnte Begriff eines „Deutschlandbezuges“ soll damit im Rahmen der vorliegenden Untersuchung in diesem doppelten Sinne zugleich als das die kollektiven Identitätsbilder dekonstruierende Andere und als ein der Kontextualisierung geschichtlicher Phänomene dienendes Komparationselement aufgefasst werden. Mittels einer solchen Doppelstrategie möchte diese Studie die zuordnende und zugleich erschaffende Rolle Deutschlands im italienischen Musikdiskurs vom Ende des 19. Jahrhunderts bis 1945 aufzeigen. Angesichts der Fülle an Quellen und des bereits an sich komplexen Vorgehens der Analyse wurde in dieser Arbeit auf die Frage des Transfers zwischen Deutschland und Italien weitgehend verzichtet. Es ist jedoch die Meinung des Autors, dass vor allem im Fall einiger zentraler Konzepte dieser Studie wie „Symphonik“, „Nation“ und selbst „Tradition“ eine auf Transfer‑Phänomene fokussierte Untersuchung – für die höchstwahrscheinlich auch der Einbezug Frankreichs erforderlich ist – nicht nur ergebnisreich, sondern dringend notwendig wäre.34 In diesem Sinn soll diese Arbeit allein als ein Anfang und nicht als ein Ende verstanden werden. *** Nation, Tradition und kollektive Identität im Sinne eines strukturellen Bezugs zu einem Anderen stellen die drei zusammenhängenden Elemente dar, entlang derer sich diese Studie ihren Forschungsweg bahnt.35 Das Voraussetzen von deren sozialer Konstruktion und damit das Erkennen ihres Erfindungs- bzw. 34 Diesbezüglich bleiben auch die etwas älteren Überlegungen über einen Transfer conceptuel von Hans-Jürgen Lüsebrink und Rolf Reichardt weiterhin anregend  ; siehe Lüsebrink/Reichardt 1994, Histoire des concepts. 35 Für eine weitere Spezifizierung und Vertiefung der Funktion dieser Trias innerhalb der vorliegenden Untersuchung siehe auch § II.1.2.



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Konstruktcharakters ist jedoch nicht alleine eine an sich sicherlich nicht neue, auf dem Gebiet der Erforschung des italienischen Musikdiskurses in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts jedoch noch als innovativ zu bezeichnende Untersuchungsperspektive. Ein sozialkonstruktivistischer Blickwinkel hat vor allem eine forschungstechnische und – mag der Leser mir das große und die Grenze dieser Arbeit weit übersteigende Wort verzeihen – ethische Funktion  : Die antiessenzialistische Rückführung von Nation, Tradition und dem Anderen zu ihren sozialen Ursprüngen „erlöst“ den Forschenden – um sich noch ein letztes Mal des wagnerschen Jargons zu bemächtigen – von einer Untersuchung, die mit den Quellen arbeitet, von und in ihnen jedoch gefangen bleibt. Es wird nicht mehr auf der Ebene der Quellen argumentiert, stattdessen wird ein kritischer Ansatz möglich gemacht  : Indem die Untersuchung weiterhin mit den Quellen arbeitet, geht sie zugleich über die Quellen hinaus. Anhand des Quellenmaterials werden jene diskursiven Rahmenbedingungen kenntlich gemacht, die, indem sie den Raum des damals Denkbaren und Sagbaren bestimmten, jenes Quellenmaterial erschufen. Um diese methodologische Verortung der Arbeit noch mit einem Zitat aus dem eingangs erwähnten Roman von Rushdie zugleich zu verdeutlichen und zu beenden  : „The only people who see the whole picture are the ones who step out of the frame.“36 Die Annahme eines Konstruktcharakters aller drei Hauptelemente der Untersuchung hat ein solches step out of the frame ermöglicht. Die Frage nach der Problematik eines solchen Versuchens, sich außerhalb des damaligen Diskurses zu stellen und eine vermeintlich objektive Metaebene der Forschung zu finden, soll in den Schlussbetrachtungen am Ende der Arbeit aufgeworfen werden.

Worum es geht  : Die inhaltliche Großstruktur der Arbeit

Der hier beschriebene Ansatz findet in dieser Untersuchung seinen konkreten Niederschlag in einer dreiteiligen Struktur, mit der beabsichtigt wurde, dem umfassenden Charakter des Nationalismus im italienischen Musikdiskurs zwischen etwa 1890 und 1945 und der engen Vernetzung zwischen Diskurs und 36 Rushdie 1999, The ground, 43.

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Praxis Rechnung zu tragen. In diesem Sinne wird im ersten Abschnitt mit der Rezeption der Figur Palestrinas im deutschen und italienischen Rundfunk im Jahr 1925 ein konkretes Fallbeispiel untersucht, das, der musikalischen Gattung der Ouvertüre ähnlich, sowohl den engen Zusammenhang von musikwissenschaftlicher Forschung und musikalischer Praxis als auch alle wichtigen Themen der Arbeit bereits exemplarisch einführt. Im zweiten und dritten Teil ist Deutschland nicht per se, sondern in seiner Funktion als unentbehrlicher negativer Bezug des gesamten italienischen Musikdiskurses thematisiert. In Anlehnung an die Postcolonial Studies wird veranschaulicht, wie Italien seine eigene musikalische Identität nur in einer bipolaren Opposition zum Konstrukt einer „deutschen“ Musik bis 1945 definierte. Der zweite, umfangreiche Abschnitt befasst sich mit jenem entscheidenden Moment gegen Ende des 19. Jahrhunderts, in dem der Nationalismus zur Urteils- und Zuordnungskategorie des Musikalischen gemacht wurde. Dies wird konkret zuerst anhand einer Polemik zwischen dem wichtigsten italienischen Musikwissenschaftler um 1890, Luigi Torchi, und dem Herausgeber der Rivista musicale italiana, Romualdo Giani, und dann anhand der sogenannten Wiederentdeckung der alten instrumentalen Musik Italiens (Vivaldi, Corelli, Viadana etc.) veranschaulicht. Dabei wird die unentbehrliche Rolle hervorgehoben, welche die Disziplin der Musikwissenschaft hierbei spielte. Der dritte Teil ist dem Faschismus und insbesondere einer Untersuchung der Funktion gewidmet, welche im Kontext der faschistischen Weltanschauung jene musikalische Kategorie der Nation hatte, die in den vorigen Jahrzehnten vonseiten der Musikwissenschaft in den italienischen Musikdiskurs erfolgreich eingeführt wurde. Am Beispiel der Repertoireauswahl und -zusammenstellung im italienischen Rundfunk während der 1920er- und 1930er-Jahre soll gezeigt werden, wie diese Kategorie weiterhin als strukturierender Faktor des Musikalischen wirksam blieb, jedoch im Sinne und im Dienste des Faschismus umgedeutet wurde.

Anstatt eines Fazits und als einleitende Vorbemerkung

Das negativ Faszinierende an dieser Untersuchung war für den Autor vor ­allem die Beobachtung, wie eine kaum definierbare und mit so vielen positiven Erwar-



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tungen aufgeladene Vorstellung wie diejenige der Nation die Menschen so unmenschlich machen konnte. Andererseits war auch die sich im Laufe der Arbeit immer deutlicher abzeichnende Feststellung der herausragenden Rolle wichtig, die dabei die Wissenschaft, die doch aus einem Anspruch an Objektivität und Fortschritt ihre Legitimation erhält, in der Konstruktion eines regelrechten flatus vocis wie der Idee von geschlossenen und wohl definierten nationalen Gemeinschaften und nationalen Musiktraditionen sowie in der Entfaltung deren rückschrittlichen Potenzials gespielt hat. Spätestens seit Ludwik Flecks Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache aus dem Jahr 1935 wissen wir von der gestalterischen Macht von Denkstilen und -kollektiven in der Wissenschaft und damit der gesellschaftlichen Normierung von dem, was Adorno gerne „Tatsachensinn“ genannt hätte.37 Die soziale Konstruktion (negativer) Wirklichkeit und die dabei gespielte Rolle von Wissenschaft und Intellektuellen anhand der eigenen Forschung bestätigt zu bekommen, bedeutet jedoch das Überschreiten jener entscheidenden Trennlinie zwischen rein kognitivem Wissen und ganzheitlichem Erfahren, die einen nicht allein in seinem wissenschaftlichen, sondern auch menschlichen Tun entscheidend prägt. Dies war vielleicht der größte Gewinn, den der Autor aus dieser Arbeit mitnehmen konnte und den er versucht hat, seinen Lesern weiterzugeben. In der siebten These aus Über den Begriff der Geschichte, einem Aufsatz, den Walter Benjamin kurz vor seinem Tod 1940 noch im französischen Exil verfasst hat, ist zu lesen  : „Es ist niemals ein Dokument der Kultur, ohne zugleich ein solches der Barbarei zu sein.“38 Wahr ist auch das Gegenteil  : Es gibt kein Dokument der Barbarei, das nicht zugleich auch an die Zivilisation zurückverweist. Im Bewusstsein dieser Reziprozität von Kultur und Barbarei bzw. von Aufklärung und ihrer Negation – ein Zusammenhang, auf den man im Schlusskapitel dieser Arbeit noch zu sprechen kommen wird – hat man im Folgenden versucht, die zentralen Texte und Rundfunkprogramme, die den Nationalismus in Theorie und Praxis zum bestimmenden Teil des Musiklebens zwischen Ende des 19. Jahrhunderts und 1945 machten, ernst zu nehmen. Das darin artikulierte Abstoßende oder für uns Spätgeborene Absurde wurde so weit wie 37 Fleck 1980, Entstehung und Entwicklung. 38 Benjamin 1991, Über den Begriff, 696.

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möglich weder minimiert bzw. kaschiert, noch betont und nicht zum Anlass für pauschalisierende Anschuldigungen verwendet. Schließlich haben die Menschen, die eine solche Idee vertreten haben, nicht allein gesellschaftliche Erfolge und Karrieren dadurch erkaufen wollen  : In vielen Fällen bedeutete die Artikulierung bestimmter Ansichten, die zwar nationalistisch orientiert waren, jedoch nicht zum nationalistischen mainstream gehörten, kein gesellschaftliches Vorankommen. Ganz im Gegenteil führten sie oft zu Isolation bis hin zur Emigration, wie der im fünften Kapitel des zweiten Teils dieser Arbeit behandelte Fall von Giulio Silva veranschaulicht.39 Nationalismus und Faschismus stellten nicht allein opportunistische Karrieremöglichkeiten dar, sondern verkörperten tief empfundene und weit verbreitete Überzeugungen über Wahrheit und Welt  : Dies soll in einer historischen Untersuchung ernst genommen werden. Gerade aus dieser Feststellung wurde, wie gesagt, auch auf jeglichen anklagenden Ton grundlegend verzichtet  : Zu bequem ist es für uns Nachgeborene, Urteile zu fällen und dadurch an dem „Schleier der Maya“ mit perfidem Eifer weiterzustricken, den wir genau wie unsere mit so wohl klingenden Parolen angeklagten Vorfahren über die täglichen Kompromisse mit der bzw. über die willentliche Bejahung der Unmenschlichkeit ausbreiten. Dass der Autor sich auf den Versuch eingelassen hat, diese Texte und deren Weltanschauung ernst zu nehmen und zu verstehen, heißt selbstverständlich nicht, dass er auch die darin enthaltenen Meinungen teilt. In diesem Sinne ist das der Untersuchung vorangestellte Zitat von Gottfried Benn zu verstehen, einem Dichter, der die Widersprüche des 20. Jahrhunderts und zugleich die verwirrenden Kontinuitäten zwischen dem langen und dem kurzen Jahrhundert am eigenen Leibe und mit schwerwiegenden Fehleinschätzungen erfahren hat  : In dem Rausch aus Worten und Tönen, der den Aufstieg des Nationalismus im Musikdiskurs, seine mühsame Umformung in eine regelrechte Denk-und Urteilskategorie des Musikalischen und schließlich seine Überführung in den Faschismus begleitet und zugleich ermöglicht hat, in diesem Rausch hallt immer lauter, je mehr man sich damit beschäftigt, das schweigende Bewusstsein wider, dass sich hinter Worten und Tönen allein leere Begriffe verbergen. Es waren jedoch gerade solche leeren Begriffe, welche die Macht besaßen, die gestalterische 39 Siehe § II.5.3 in der vorliegenden Arbeit.



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Kraft der Menschen in der Imagination der eigenen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in Anspruch zu nehmen und zu lenken. Was hinter dem leeren Rausch der mobil machenden Kategorien nationalistischer Weltanschauungen stand, welche unmenschlichen Bedürfnisse des Menschen sich verbargen bzw. welche allzu oft enttäuschten menschlichen Bedürfnisse nach Glück dadurch ihren Weg zum negativen Ausdruck fanden, dies ist nicht mehr Objekt der vorliegenden Untersuchung. Diese Frage wird dem Autor selbst und seinen Lesern individuell überlassen in der festen Überzeugung, dass die gute Gesellschaft nur diejenige ist, die sich nie für gut genug hält, wie der Soziologe Zygmunt Bauman in unzähligen Vorträgen und Interviews der letzten Jahre zu mahnen nicht müde geworden ist.40 Wobei der Maßstab für dieses „Gute“, möchte der Autor am Ende dieser Untersuchung ergänzen, weder abstrakte Ideen oder Vorstellungen noch ein mythisch bzw. wissenschaftlich gefärbtes Glücksversprechen, sondern das reale Leiden des konkreten Menschen sein sollte.

40 Siehe zum Beispiel das von Elisabeth von Thadden geführte Interview mit Bauman in Die Zeit vom 17. November 2005, auch online verfügbar unter http://www.zeit.de/2005/47/stbauman_alt, zuletzt geprüft am 15.02.2013.

Danksagung

Die vorliegende Arbeit wurde als Dissertation an der Universität Heidelberg mit dem Titel Die Macht der Vergangenheit. Musikwissenschaft, Rundfunk und Nation im deutsch-italienischen Musikdiskurs 1890–1945 im Juli 2012 eingereicht. Viel zu viele sind die Personen und die Zusammenhänge, die das Privileg möglich gemacht haben, mich einem solchen Thema für einige Jahre widmen und dabei menschlich und wissenschaftlich wachsen zu können, dass ich in diesem Rahmen alle „genau und gründlich“, um Thomas Manns „Vorsatz“ zu Der Zauberberg zu zitieren, nennen bzw. auflisten kann. Wenn auch mit Sicherheit und umso mehr in der Wissenschaft „nur das Gründliche wahrhaft unterhaltend sei“, ist jedoch hier Partialität geboten, dafür entschuldige ich mich bereits im Voraus. In erster Linie sei dem Musikwissenschaftlichen Seminar der Universität Heidelberg und insbesondere dessen Lehrstuhlinhaberin Frau Prof. Dr. Silke Leo­ pold, die diese Arbeit zusammen mit Frau Prof. Dr. Dorothea Redepenning betreut hat, von ganzem Herzen gedankt  : Wenn auch in ihrer Unangemessenheit, wofür ich allein die Verantwortung trage, sei hier diese Studie als Dankeswerk verstanden. Ein großer Dank soll auch der musikwissenschaftlichen Abteilung des Deutschen Historischen Instituts in Rom ausgesprochen werden  : Herr Dr. Markus Engelhardt und Frau Dr. Sabine Ehrmann-Herfort sowie das gesamte Personal des Instituts haben dazu entscheidend beigetragen, dass mein sechsmonatiger Aufenthalt in Rom zu einer wichtigen Station auf dem Weg meiner Promotion wurde. Zu danken ist auch der Landesgraduiertenförderung Baden-Württemberg, die mir ein dreijähriges Stipendium gewährt und eine weitere Forschungsreise finanziert hat. Ich möchte mich auch bei Simone Bader, Sabine Brier, Christine Faist, Samuel Pichlmaier, Timo Sorg, Hanna Walsdorf und Gesa Zur Nieden bedanken, die im Laufe der Zusammenstellung dieser Arbeit bereit waren, meine deutsche Prosa liebevoll zurück in die sicheren Bahnen der Grammatik zu führen. Ganz herzlich möchte ich mich noch bei Eugenio Riversi bedanken, ohne dessen Hilfe diese Arbeit trotz der günstigen Umstände, die mir das Heidelberger Seminar und die vorher erwähnten Institutionen gewährt haben, nicht möglich gewesen wäre.

32 Danksagung

Und nun sei am Ende auch Mihaela Tomi gedankt  : Sie hat an mich nicht nur als Wissenschaftler, sondern auch als Menschen mit Beständigkeit geglaubt und diesem Glauben in der Schwere des Alltags mit Taten erfahrbare Form gegeben. Ob ich so viel lebenserfüllenden Glücks würdig bin, möge auch meinerseits mit Taten stillschweigend beantwortet werden.

I.  Von der kreativen Offenheit der Traditionen  : Palestrina in Berliner und Römischem Rundfunk. Ein Fallbeispiel aus dem Jahr 1925 Als im Jahr 1925 die Berliner und die Römische Rundfunkanstalt zwei Konzerte des Renaissance-Komponisten Giovanni Pierluigi da Palestrina unabhängig voneinander boten, schienen sie fast zur selben Zeit eine eher ungewöhnliche Repertoireentscheidung getroffen zu haben  : Sie ehrten den Schöpfer einer Musik, die zwar das Privileg einer ununterbrochenen Aufführungstradition genoss, zugleich aber auffällig selten in den damaligen Programmen beider Sender vorkam.41 Den Anlass bot – expressis verbis in Italien, höchstwahrscheinlich, auch wenn dies nicht expliziert wurde, auch im Fall des Berliner Senders – der 400. Geburtstag des Komponisten. Wie wurde diese legendenumwobene Figur dem noch jungen Publikum des neuen Mediums dargestellt  ? In ihrer Einfachheit ist eine solche Frage durchaus täuschend. Ihr vermeintlich so klar und deutlich eingegrenztes Untersuchungsobjekt entpuppt sich beim näheren Hinsehen als facettenreicher und das heuristische Potenzial der Fragestellung als weitreichender als man zunächst annehmen würde. Dass sich die folgenden Seiten entlang dieser Frage strukturieren, bedeutet in der Tat nicht, dass dieses Kapitel in erster Linie bestrebt ist, einige Lücken der rezeptionsgeschichtlichen Forschung über Palestrina zu füllen. Dies ist ein erhoffter, jedoch nicht primär angestrebter Nebeneffekt der vorliegenden Untersuchung. Nicht der Beleuchtung der wandelnden Deutungen, die eine Komponistenfigur je nach zeitlichem und kulturellem Kontext erfuhr, sondern vielmehr umgekehrt, der Erhellung der zeitlichen und kulturellen Kontexte, in denen bestimmte Deutungen eines Komponisten entworfen wurden, soll dieses Kapitel dienen. Die vorher formulierte Ausgangsfrage ist damit nicht das Ziel, sondern das heuristische Mittel, eine Art archimedischen Hebels, um eine andere Frage zu beantworten  : Welche kulturpolitische Lage beider Länder zum damaligen Zeitpunkt bilden diese zwei Rundfunkkonzerte mittels der Musik Palestrinas ab  ? 41 Für eine komplette Auflistung des gespielten Repertoires siehe die Abbildung 1 und 2, S. 35 und 36 in der vorliegenden Arbeit.

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In Hinblick auf eine solche Fragestellung kann die Untersuchung zeitlich nicht allein punktuell bzw. synchron erfolgen, das heißt, nur auf die Palestrina-Rezeption des Jahres 1925 beschränkt bleiben. Ein erster Forschungsstrang soll auf der synchronen Ebene der zwei Rundfunkkonzerte einsetzen und die Auswahl und zeitliche Abfolge der aufgeführten Werke beider Sendungen zusammen mit weiteren Elementen wie Betitelung, Programmankündigungen, eventuelle Einführungen zur Sendung, Anlass und Zeitpunkt der Ausstrahlung, Wahl der Interpreten etc. untersuchen. Die damit gewonnenen Erkenntnisse sollen jedoch in einem zweiten Schritt auch in einer diachronen Zeitdimension hinterfragt werden  : Die landesspezifisch differierende Rezeption der Musik Palestrinas durch die Jahrhunderte soll damit in die Untersuchung einbezogen werden. Dabei wird insbesondere jene progressive nationale Aneignung von Komponisten, ästhetischen Richtungen und Gattungen berücksichtigt, die sowohl in Deutschland als auch in Italien seit dem Ausgang des 19. Jahrhunderts begann. Erst aus der Verflechtung der synchronen und diachronen Zeitdimension wird es schließlich in einem dritten Schritt möglich, der Ausgangsfrage Rechnung zu tragen und Rückschlüsse über jene kulturpolitische Lage beider Länder zu Beginn der 1920er-Jahre herleiten zu können, welche die zwei Konzerte mittels der Figur Palestrina zum Ausdruck brachten und zugleich neu aushandelten. Dieses Kapitel, das sich mit einem konkreten und punktuellen Fallbeispiel auseinandersetzt, hat zusätzlich noch eine weitere Funktion, die in Hinblick auf die Gesamtstruktur dieses Buches ansetzt. Als einleitende, anschauliche Einführung in die Thematik und Untersuchungsperspektive der Arbeit konzipiert, soll in der Tat das Kapitel zweierlei darlegen  : zum einen die kreative Offenheit von (Musik-)Traditionen, die, als interessengeleitete Selektionsprozesse der Vergangenheit konzeptualisiert, in der Lage sind, kollektive Identitäten zu vermitteln und immer neu auszuhandeln. Traditionen, wie sie im Rahmen dieser Untersuchung aufgefasst werden, stellen jenen diskursiven Raum dar, in dem historische Prozesse oder sogar Traumata, wie in diesem Fall der für beide Länder problematische Ausgang des Ersten Weltkriegs, gedeutet und unterschiedliche Möglichkeiten der kollektiven Zukunftsgestaltung entworfen werden. Gerade dieser Aspekt wird im zweiten Teil des Buches beim Nachzeichnen der Erfindung und erfolgreichen Durchsetzung einer neuen „symphonischen“ Tradition Italiens



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Abbildung 1  : Repertoire der Römischen Palestrina-Sendung aus dem Jahr 1925 U.R.I. 6. März 1925  ; 21.30–22.20 Uhr „Concerto commemorativo per il IV centenario della nascita di Giovanni Pierluigi da Palestrina“ „Breve conferenza illustrativa del M. Domenico Alaleona“ Canzone di Petrarca  : Chiare, fresche e dolci acque (4-stimmig) Madrigali  : La cruda mia nemica (4-stimmig) Placide l’acque (5-stimmig) Canzonette a tre voci  : Pianto d’amore Il ritratto Madrigali  : O che splendor (4-stimmig) Non son le vostre mani (5-stimmig) Le selv’avea d’intorno (Per la vittoria di Lepanto, 5-stimmig) Mitwirkende  : Quartetto Vocale Romano Cori delle Patriarcali Basiliche Leitung  : Domenico Alaleona

eine zentrale Rolle einnehmen. Zum anderen soll dieses erste Kapitel jenes von der Forschung oft übersehene Semantisierungspotenzial veranschaulichen, das der Repertoirezusammenstellung – das heißt der Auswahl und zeitlichen Abfolge der aufzuführenden Werke einer Sendung – immanent ist. Dieser scheinbar banale Akt des Auswählens und Disponierens unterschiedlicher Werke im Rahmen eines Rundfunkprogramms bzw. eines Konzerts ist höchst kulturell kodiert und versinnbildlicht anschaulich den alles durchdringenden Charakter von Traditionen  : Als ein regelrecht inkorporierter Habitus bestimmen Traditionen unser Handeln bis ins kleinste Detail und zumeist unbewusst, immer

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Abbildung 2  : Repertoire der Berliner Palestrina-Sendung aus dem Jahr 1925 Funk-Stunde 27. Mai 1925  ; 20.30 bis circa 22.30 Uhr „Palestrina und seine Zeit“ Palestrina Oratio Jeremiae (6-stimmig) Haec dies (6-stimmig) Missa „Lauda Sion“  : Benedicte (4-stimmig) Missa „Papae Marcelli“  : Kyrie, Sanctus (6-stimmig) Bach  : Suite für Cello solo Orlando di Lasso  : Missa „Octavi toni“  : Kyrie, Sanctus, Agnus Dei (4-stimmig) Jacobus Gallus  : Ecce quomodo moritur justus (4-stimmig) F Querio  : Laudemus Dominum (8-stimmig) Jan Pieterszoon Sweelinck  : Hodie Christus natus est (5-stimmig) Antonio Lotti  : Crucifixus (6-stimmig) Gregor Aichinger  : Assumpta est Maria (3-stimmiger Frauenchor) Gregor Aichinger  : Regina coeli (6-stimmig) Mitwirkende  : Cello  : Otto Urack Der Basilicachor St. Hedwig Leitung  : Pius Kalt

jedoch kontextabhängig.42 Das Semantisierungspotenzial der Programmzusammenstellung, das hier an zwei paradigmatischen Fallbeispielen hinterfragt werden soll, wird im dritten Teil der Arbeit dann zum zentralen Gegenstand der Untersuchung.43 42 Siehe diesbezüglich die Monografie von Weber 2008, The great transformation sowie den Aufsatz von Pasler 2008, Concert programs. 43 Vgl. insbesondere § III.2.3 und § III.3.2.

1.  Die Überwindung des Risorgimento  : Das Palestrina-Gedenkkonzert der Römischen U.R.I. 1.1  Amore e guerra  : Wie man Palestrina seltsam ehren kann

Am 6. März 1925 um 21.30 Uhr sendete die Unione Radiofonica Italiana (U.R.I.), die damalige und zu jenem Zeitpunkt kaum fünf Monate alte italienische Rundfunkanstalt, eines ihrer ersten musikalischen Sonderprogramme  :44 Zum Anlass von dessen 400-jährigen Geburtsjubiläum widmete sie ein Sonderkonzert Giovanni Pierluigi da Palestrina. Damit traf die U.R.I. eine Entscheidung, die zweifach seltsam war. Seltsam war zum einen, wie eingangs gesagt, die Wahl einer Musik wie der Vokalpolyphonie des 16. Jahrhunderts, die vorher wie nachher eher selten in den italienischen Rundfunkprogrammen erklang. Ungewöhnlich war jedoch vor allem die Wahl der aufzuführenden Werke des Komponisten. Für die Ehrung des Princeps musicae wurde ausschließlich ein sowohl unter rein quantitativen als auch rezeptionsgeschichtlichen Gesichtspunkten eher sekundärer Teil des Schaffens Palestrinas hervorgehoben  : Auf dem Programm standen in der Tat allein weltliche Canzoni und Madrigale Palestrinas mit Texten in italienischer Sprache. Kirchenmusikalische Werke fehlten komplett. Aber damit nicht genug, denn auch die in den aufgeführten Kompositionen angesprochenen Thematiken werfen einige Fragen über interne Kohärenz und die Absichten der Sendung auf. Im Mittelpunkt des Programms stehen vorwiegend erotische Themen  ; das letzte Stück führt jedoch mit dem Evozieren der Seeschlacht von Lepanto (1571) zwischen dem Osmanischen Reich und der Heiligen Liga eine kriegerische Thematik ein. Sie wurde bei der Wiedergabe des Programms in der offiziellen Zeitschrift der Rundfunkanstalt eigens in Klammern hervorgehoben. Eine Deutung der Sendung als unbeholfener Versuch, dem Publikum vor den Rundfunkapparaten ein Kuriosum innerhalb von Palestrinas Œuvre zu bieten, 44 Die italienische Rundfunkanstalt wurde am 6. Oktober 1924 offiziell in Betrieb genommen. Siehe dazu vor allem Monteleone 2005, Storia della radio, 27–39. Eine erste, eher skizzenhafte Schilderung des Musikprogramms des italienischen Rundfunks in den 1920er-Jahren bietet Sablich/Spini 1999, Musica Musica. Bis dato wurde keine umfassende Studie über das Musikprogramm der italienischen Rundfunkanstalt während des Faschismus durchgeführt.

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greift jedoch zu kurz. Dieses Palestrina-Programm erklang nicht zum ersten Mal im Senderaum der U.R.I., sondern war bereits davor außerhalb des Rundfunks dargeboten worden  : Dieselbe Repertoireauswahl und -abfolge sowie dieselben Ausführenden hatten im Monat davor eine Reihe von vier Konzerten eröffnet, welche die angesehenste musikalische Institution der Stadt, die Accademia di S. Cecilia, zu Ehren Giovanni Pierluigi da Palestrinas veranstaltet hatte.45 Von den vier Konzerten war jenes von Alaleona das einzige, das weltliche Werke des Komponisten aufwies  ; die darauf folgenden drei Veranstaltungen bestanden ausschließlich aus kirchlichen Stücken Palestrinas. Warum wurde gerade dieses Konzert unter den vieren ausgewählt und damit für das neue Medium und dessen kulturpolitische Ziele als besonders angemessen angesehen  ? Bevor man auf diese Frage eingehen kann, soll jedoch das „Wie“ geklärt werden, das heißt die Frage  : Wie kam man dazu, für die Ehrung Palestrinas im Rundfunk gerade auf eines der vier Konzerte der Accademia zurückzugreifen  ? Als Mitglied der Accademia di S. Cecilia war der Komponist und in Rom bekannte Musikkritiker der Zeitschrift La tribuna, Alberto Gasco, an der Organisation dieser Konzertreihe direkt beteiligt.46 Einige Monate vor den Palestrina-Konzerten der Accademia hatte Gasco eine weitere Tätigkeit angenommen und war zum künstlerischen Leiter der neu gegründeten italienischen Rundfunkanstalt ernannt worden.47 Auf diese Verschränkung der zwei Bereiche in der Person Gascos lässt sich damit die Idee zurückführen, das Palestrina-Jubiläum auch auf das neue 45 Das Konzert von Alaleona fand am 13. Februar 1925 statt. Es folgten zwei Konzerte unter der Leitung von Raffaele Casimiri (am 15. und 18. Februar), während das letzte Konzert von Alberto Cametti dirigiert wurde. Siehe das vollständige Programm der vier Konzerte in Regia Accademia di S. Cecilia 1933, I concerti, 308–310. Die Konzertreihe wurde von einer Rede Corrado Riccis eröffnet, die die „mystische Sensibilität“ („sensibilità mistica“) von Palestrina besonders betonte und den Komponisten als den „Befreier des Geistes aus der Masche eines quälenden Technizismus’ [des franko-flämischen Kontrapunkts, d. V.]“ bezeichnete, vgl. Ricci 1925, Il Palestrina, jeweils 24 und 12. Über die Accademia di S.Cecilia und ihre Geschichte siehe Giazzotto 1970, Quattro secoli di storia. 46 Über Alberto Gasco siehe Zanetti 1985, Musica italiana, 166–167. Nach dem Tod Gascos wurde eine Anthologie seiner Interviews und Konzertbesprechungen für La tribuna veröffentlicht, vgl. Gasco 1939, Da Cimarosa a Strawinsky. Über Gasco siehe außerdem die Fußnote 469, S. 250 im dritten Teil der Arbeit. 47 Siehe Angelis 1925, Alberto Gasco. Bis heute fehlt jegliche Studie über Gascos langjährige Tätigkeit beim Römischen Sender.



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Medium auszuweiten und eines der Konzerte der Accademia im Radio zu wiederholen. Warum entschied sich jedoch Gasco gerade für das Konzert von Alaleona  ? Die Wahl einer rein weltlichen Repertoireauswahl kann nicht als Konsequenz eines damaligen Sendeverbots für kirchliche bzw. religiöse Musik im Radio erklärt werden. Gerade zwei Tage nach dem Palestrina-Konzert, am Sonntagmorgen, dem 8. März, lässt sich ein Konzert von „musica liturgica“ verzeichnen, bei dem zusammen mit dem Benedictus aus einer Messe von Lorenzo Perosi und anderen kirchlichen Stücken von Licino Refice und Giovanni Battista Casali auch jeweils ein Stück von Tomás Louis de Victoria („O vos omnes“) und Pales­ trina („O bone Jesu“) aufgeführt wurde. Das Konzert wurde mit einem „Inno al Pontefice“ abgeschlossen, der die konfessionelle Kodierung der aufgeführten Musik unmissverständlich machte.48 Es sind die einführenden Worte, die der Komponist, Dirigent und Musikwissenschaftler Domenico Alaleona am Anfang des Konzerts in der Accademia sprach und die vor der Sendung von ihm wiederholt wurden, die einiges Licht auf die Gründe für Gascos Entscheidung werfen können.49 *** Vergegenwärtigen  : Anomalien einer musikalischen Epiphanie des Nationalen Mit folgenden Worten eröffnet Domenico Alaleona sein Palestrina-Konzert  : „Nicht ohne tiefe Rührung kann ich an das baldige musikalische Wachrufen denken, das den Zuhörern die Illusion vermitteln soll, sich in dem göttlichen 48 Vgl. Radiorario 1925, Hft. 7, 7. 49 Domenico Alaleona stellt eine sekundäre, wenn auch durchaus interessante und vielfältige Figur des italienischen Musiklebens am Anfang des 20. Jahrhunderts dar. Seine Karriere als Musikwissenschaftler war durchaus erfolgreich  : 1908 hatte er eine umfassende und weit verbreitete Studie über die Geschichte des Oratoriums in Italien veröffentlicht (Alaleona 1908, Studi su la storia), und um 1912 hatte er den Lehrstuhl für Geschichte und Ästhetik der Musik an dem „Liceo di Santa Cecilia“ in Rom inne. Bereits 1911 hatte er außerdem zwei Aufsätze über die Möglichkeit der Komposition mit zwölf Tönen veröffentlicht (Alaleona 1911, I moderni orizzonti sowie Alaleona 1911, L’armonia modernissima) und diese Technik in seiner Oper, Mirra, partiell angewendet. Über Alaleona siehe Tampieri (Hg.) 1980, Aspetti e presenze sowie, was die neue kompositorische Technik angeht, Homma 2001, Domenico Alaleonas accordo dodecafonico. Der Text von Alaleonas Konzerteinführung wurde im Jahrbuch der Accademia veröffentlicht  ; siehe Alaleona s. d., Parole di Domenico Alaleona.

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Italien der Renaissance zu befinden und damit jenes goldene Zeitalter für einen Moment erneut zu erleben, […] als das gesamte Volk – ich ersetze hier ein Wort aus einem Vers von Carducci – ein Musiker war.“50 Gleich am Anfang seiner Programmeinführung legt damit Alaleona die Funktion der Sendung fest, deren zentrale Aufgabe die Durchführung eines Vergegenwärtigungsakts („rievocare“) darstellt. Dadurch soll mittels der Musik eine gesamte historische Epoche, die Renaissance, zumindest momentan wiederbelebt werden  ; eine Epoche, die – wie im weiteren Verlauf der Rede deutlich wird – in Palestrina ihre musikalische Versinnbildlichungsfigur gefunden hat. Zugleich liefert Alaleona auch eine Definition dieses Zeitalters, indem er es unter der Kategorie des Volks auffasst. Alaleonas hier getroffene Funktionsbestimmung des Programms wirkt für den heutigen Leser frappierend  : Die Handlung des Evozierens soll Themenkomplexe verschränken, deren Zusammenhang aus heutiger Sicht durchaus fragwürdig scheint. Die bereits für sich zu hinterfragende Äquivalenz zwischen Renaissance und Volk soll in der Tat von einer Komponistenfigur wie Palestrina versinnbildlicht werden, deren Unterbringung unter dem Konzept des „popolare“ zunächst durchaus paradox anmutet. Angesichts der hier hervorgehobenen Problematik ist es zunächst wichtig, die Implikationen jenes Akts des „Wachrufens“ genauer zu bestimmen, der für Alaleona das Wesen der Sendung ausmacht. Das Streben des Musikwissenschaftlers nach einer Vergegenwärtigung der Renaissance soll nicht primär als pädagogisches Mittel verstanden werden, um die Neugier der Zuhörer zu wecken. Alaleona, der sich in den Kontext der vielfältigen Erneuerungsbewegung des italienischen Musiklebens stellen lässt, die am Anfang des 20. Jahrhunderts unter dem Namen „Generazione dell’80“ bekannt geworden ist, teilt deren Auffassung von Natur und Funktion der längst vergangenen Musik.51 50 „Non senza profonda commozione io penso che la rievocazione musicale che sta per iniziarsi potrà dare agli ascoltatori l’illusione di trovarsi in un lembo della divina Italia del Rinascimento  : di rivivere per un istante in quei tempi aurei nei quali, […], tutto il popolo – sostituisco una parola in un verso evocatore di Carducci – era musicista.“ Alaleona s. d., Parole di Domenico Alaleona, 117. Für den ausgetauschten Carducci-Vers siehe die Fußnote 53, S. 41. 51 Über die durchaus problematische Kategorie der „Generazione dell’80“ siehe die Fußnote 248, S. 135 im zweiten Teil der Arbeit.



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In einer Konferenz von 1914 über Giacomo Carissimi fasste Alaleona unter folgenden zwei Punkten die Bedeutung zusammen, die die Beschäftigung mit der vergangenen und vergessenen Musik für die Gegenwart besitzt  : Sie dient „dem Anschließen (‚riallacciamento‘) unseres modernen Musikgeistes an den ursprünglichen italienischen Musikgeist“ und dadurch „der Rückkehr zu jener innerlichen und tiefen Gemeinschaft (‚comunione‘) zwischen dem Musikgeist der Künstler und dem des Volkes, die den goldenen Jahrhunderten unserer Musik eigen war und heute verloren gegangen ist“.52 Das Evozieren der Vergangenheit stellt für Alaleona wie für die gesamte 1880er-Generation damit in erster Linie einen Offenbarungsakt des ursprünglichen und damit als wahr und überzeitlich kodierten Wesens des nationalen Kollektivs in der Musik dar. Die Römische Sendung, die in den Worten Alaleonas anhand der Musik Palestrinas das Zeitalter der Renaissance evozieren soll, wird damit von ihm als Moment einer regelrechten Epiphanie des Nationalen verstanden, auf die er in der vorher zitierten Passage aus seiner Rede sofort verweist  : Alaleona spielt auf einen Vers von Carducci an, der aus dem 23. Gedicht der „Odi barbare“, der berühmtesten Sammlung des italienischen Dichters stammt  ; ein Gedicht, das der italienischen Königin Margherita di Savoia (1851–1926) gewidmet ist.53 Im weiteren Verlauf der Rede wird die Verschränkung von „Renaissance“, „Palestrina“ und „italianità“ noch gesteigert und kulminiert im abschließenden Appell auf das Dreigestirn Dante, Petrarca und Palestrina für „die Durchsetzung (‚affermazione‘) eines immer wachsameren, tieferen, italienischeren Bewusstseins für das Schicksal unserer Kunst“.54 Der damalige künstlerische Leiter der U.R.I., Alberto Gasco, 52 Dank der Beschäftigung mit der Musik der Vergangenheit soll man nach Meinung Alaleonas folgende zwei Ziele erreichen  : „Il ���������������������������������������������������������������� riallacciamento della nostra anima musicale moderna con l’anima musicale italiana originaria, e operante nei secoli di più schietto e rigoglioso fiorire, riallacciamento che si potrà ottenere solo applicando amorosamente l’anima nostra alla religiosa contemplazione di quanto di vivo e di grande ha il nostro patrimonio musicale di tutti i tempi  ; e il ritorno a quella comunione intima e feconda fra l’anima musicale degli artisti e l’anima musicale del popolo che è stata propria dei secoli d’oro della nostra musica e che oggi si è perduta.“ Alaleona 1914, Il Rinascimento musicale italiano, zitiert nach Angelis 1922, L’Italia musicale, 20. 53 „Alla Regina d’Italia, X X Nov. M D C C C L X X V I I I “, in Carducci 1954, Odi barbare, 78–80. Der ausgetauschte Vers ist in der vierten Strophe zu finden. 54 „E chiudo invocando i nomi altissimi di Dante, di Petrarca e […] Palestrina, per la affermazione di una coscienza sempre più vigile, sempre più profonda, sempre più italiana, nei destini dell’arte nostra.“ Alaleona s. d., Parole di Domenico Alaleona, 121.

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hatte sich damit bewusst für die Wiederholung des Palestrina-Konzerts von Alaleona im Rundfunk entschieden  : Dieses Programm erschien ihm für das Radio besonders geeignet, da es jene national bildende Funktion erfüllte, die damals als bestimmende Aufgabe des neuen Mediums angesehen wurde und auf die im dritten Teil dieses Buches noch ausführlicher eingegangen wird.55 Sollen damit die vorher festgestellten Problematiken in der Repertoireauswahl der Sendung als Konsequenzen eines unbeholfenen Versuchs seitens Alaleonas verstanden werden, die Figur Palestrina und allgemein die Renaissance in der Funktion der Stiftung einer nationalen Identität zu deuten  ? Das Problem bei einer solchen Interpretation ist gerade die Tatsache, dass Alaleonas Streben nach einer nationalen Kodierung der beiden Elemente nichts Neues in der italienischen Kultur darstellt  : Die Nationalisierung von Renaissance und Palestrina lässt sich zurück bis zum frühen Risorgimento verfolgen. Dabei hatten sich gut etablierte Formen der nationalen Ausdeutung beider Elemente verfestigt. Es sind diese Formen, die Alaleonas Konzert beim Verfolgen desselben nationalbildenden Ziels seiner Vorgänger radikal infrage stellt. Man steht also hier nicht der Plattitüde gegenüber, der Nationalismus der Entscheidungsträger spiegele sich in einer unbeholfenen Repertoireauswahl der Sendung, die einen angeblich kulturpolitisch neutralen Kern ihres Bezugsobjekts verzerrt  : Sowohl Palestrina als auch die Renaissance waren 1925 bereits nationalisiert worden. Wahr ist gerade das Gegenteil  : Die Repertoireauswahl spiegelt einen Nationalismus, der sein Bezugsobjekt, die Nation, anders als vorher konzipiert und daher die tradierten Formen seines kulturellen Ausdrucks, in diesem Fall Palestrina und die Renaissance, verändern muss. Es soll damit nun hinterfragt werden, wie und inwieweit Alaleona bei der Strukturierung der Sendung von den tradierten Formen abwich, durch die Palestrina und die Renaissance seit dem Risorgimento in Italien national kodiert wurden. Erst dann 55 Siehe insbesondere § III.2.1. Welche herausragende (nationale) Bedeutung für Gasco diese Palestrina-Sendung und allgemein die italienische Vokalmusik der Renaissance hatte, lässt sich auch aus der Bilanz entnehmen, die er nach dem ersten Betriebsjahr des Senders im Februar 1926 in der offiziellen Rundfunkzeitschrift der U.R.I. Radiorario zog  : Darin erwähnt er noch einmal das Palestrina-Konzert des vergangenen Jahres und bezeichnet die Musik von Palestrina, Adriano Banchieri und Orazio Vecchi als die „gloriosa musica polifonico-vocale dei secoli XVI e XVII“, vgl. Gasco 1926, Bilancio artistico, 1.



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kann im übernächsten Abschnitt nach der Bedeutung dieser Abweichungen bzw. nach der neuen Vorstellung des nationalen Kollektivs gefragt werden, die das Palestrina-Konzert der U.R.I. zum Ausdruck brachte.

1.2  Formen der nationalen Aneignung  : Palestrina, Renaissance und italianità seit dem Risorgimento

Die Kolportierung Palestrinas als Inbegriff des Italienischen in der Musik lässt sich bereits in Giuseppe Bainis Memorie storico-critiche von 1828 zumindest im Ansatz belegen  : In diesem zentralen Werk der „modernen“ Palestrina-Forschung wird der Renaissance-Komponist als derjenige dargestellt, der Italien ein „musikalisches Primat“ („primazia musicale“) gesichert hatte.56 Die Ernennung Palestrinas zum musikalischen Symbol Italiens geht aber unmissverständlich aus jener Filosofia della musica hervor, die 1836 eine der zentralen Figuren des Risorgimento, Giuseppe Mazzini, veröffentlichte. In dem Traktat kam Mazzini auch auf Palestrina zu sprechen und diesbezüglich behauptete er  : „Die Musik wird im 16. Jahrhundert in Italien mit Palestrina geboren.“57 Einige Seiten weiter identifizierte er in der Melodie das Italienische in der Musik und schrieb, dass, „seitdem Palestrina das Christentum in Noten übersetzt und mit seinen Melodien die italienische Schule gegründet hat, sie diesen [melodischen] Charakter angenommen und beibehalten“ habe.58 In dieser zentralen und sehr dichten Passage, in der eine zunächst schwierig anmutende Verschränkung von „katholisch“, „italienisch“ und „Melodie“ stattfindet, konstruiert Mazzini ein Palestrina-Bild, das den Renaissance-Komponisten nun zur nationalen Versinnbildlichungsfigur erhebt. 56 „Se v’ha emulazione in Italia, io intendo di provocarla con questo scritto, perché la fama del principe della musica non iscemi per me, ma rinvigorisca per le dotte ricerche di alcun famoso scrittore  ; onde […] serbisi alla nostra Italia quel vanto di primazia musicale, che nel secolo di Leone le raffermò Giovanni inalterabilmente per le future età co’suoi impareggiabili talenti.“ Baini 1966, Memorie storico-critiche, VI. 57 „La musica è nata in Italia nel XVI secolo con Palestrina“ Mazzini 1954, Filosofia della musica, 141. 58 „Fin da quando Palestrina tradusse il cristianesimo in note, e iniziò colle sue melodie la scuola italiana, essa assunse questo carattere e lo conservò.“ Ebd., 148–149.

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Mit der Bestimmung der musikgeschichtlichen Bedeutung Palestrinas als Erfinder der (modernen) Melodie gibt Mazzini hier jene Kolportierung des Komponisten als Wegbereiter der seconda prattica und damit der Oper wieder, die sich seit Agostino Agazzaris Generalbasslehre von 1607 anhand der Legende ­einer palestrinischen Rettung der Kirchenmusik aus den Drohungsverboten des Tridentiner Konzils europaweit erfolgreich durchgesetzt hatte.59 Mazzini setzt jedoch hier zusätzlich Melodie und „italianità“ gleich und dadurch nationalisiert er Agazzaris musikgeschichtliches Konstrukt und die Figur Palestrinas  : Indem der Renaissance-Komponist das Aufblühen der Melodie vorbereitet habe versinnbildlichen seine Werke das wahre Wesen der musikalischen „italianità“. Diese Nationalisierung Palestrinas impliziert jedoch nicht eine Hervorhebung der weltlichen Produktion des Komponisten bzw. die Verschleierung von dessen katholischer Zugehörigkeit. Die doppelte Bestimmung der Musik Palestrinas als gleichzeitig katholisch und italienisch ermöglicht ihm vielmehr eine Kolportierung des Renaissance-Komponisten als Versinnbildlichungsfigur jener universellen Mission des italienischen Volkes in der Welt, die in Mazzinis Auffassung zuerst mit dem römischen Kaiserreich und dann im Katholizismus zum Ausdruck gebracht wurde  : Es handelt sich um eine Mission, die Mazzini zufolge nach der Erreichung einer politischen Einheit der Peninsula schließlich in der geistigen Befruchtung Europas durch Italien kulminieren sollte.60 Im Hinblick auf diese groß angelegte nationalistische Vision eines unaufhaltsamen Säkularisierungsprozesses im Laufe der Geschichte kann Palestrina katholisch bleiben und zusätzlich eine identitätsstiftende Funktion für das italienische Kollektiv bekommen. Auch ohne die präzisen Implikationen Mazzinis über die Funktion des Christentums in der Weltgeschichte bleibt das Bild eines zugleich katholischen und 59 So schrieb Agazzari im 20. Paragraph seines Traktats „Del sonare sopra’l basso“  : „che per ­questa cagione non fosse sbandita la Musica da S.  Chiesa, da un Sommo Pontefice, se da Giovan Palestrino non fosse stato preso riparo, mostrando d’essere vitio, ed errore de’componitori, e non della Musica  ; ed à confirmatione di questo fece la Musica intitolata  : M I S S A P A P A E M A R C E L L I . “ Siehe Agazzari 1996, Del sonare sopra’l basso, 30. 60 Im Jahr 1844 schrieb zum Beispiel Mazzini  : „Dalla Roma dei Cesari uscì l’Unità d’incivilimento comandata dalla Forza all’Europa. Dalla Roma dei Papi uscì un’Unità d’incivilimento comandata dall’Autorità a gran parte del genere umano. Dalla Roma del Popolo uscirà quando voi sarete, o Italiani, migliori che oggi non siete, Unità d’incivilimento accettata dal libero consenso dei popoli, all’Umanità.“  ; siehe Mazzini 1877, Ricordi dei fratelli Bandiera, hier 389.



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italienischen Palestrinas in den darauf folgenden Jahrzehnten weiterhin erhalten. Im Jahr 1891 konnte Giuseppe Verdi den Renaissance-Komponisten ohne Widerspruch als „den echten Fürst[en] der geistlichen Musik und den Ewigen Vater der italienischen Musik“ definieren.61 Trotz aller nationalen Rhetorik wurde damit Palestrina in Italien immer als Kirchenkomponist rezipiert  ;62 eine Konstante, die sich auch in musikwissenschaftlichen Studien wie Alfredo Untersteiners Musikgeschichte aus dem Jahr 1893 beobachten lässt, die einen engeren Zusammenhang zwischen dem „Geist“ der Renaissance und der Musik dieser Epoche anstrebte.63 Alaleonas Entscheidung für ein ausschließlich weltliches Palestrina-Repertoire lässt sich damit nicht anhand einer damaligen nationalistischen Palestrina-Rezeption erklären. Für die Verwirklichung der nationalen Intentionen der Sendung hätte der Musikwissenschaftler einfach auf die tradierten Topoi der nationalen Aneignung dieser Komponistenfigur in Italien zurückgreifen können, und dabei wäre es durchaus nicht nötig gewesen, die kirchlichen Werke Palestrinas aus dem Programm zu verbannen. Ähnliches lässt sich auch in Bezug auf Alaleonas durchaus eigenwillige Konzeptualisierung der Renaissance als Zeit­ alter des Volkes (und damit auf die Bestimmung von Palestrina als „popolare“Komponist) sagen. Eine nationalistische Deutung der Renaissance war in der italienischen Kultur seit dem Risorgimento wohl etabliert  :64 Noch im Jahr 1932 61 Brief Verdis vom 15. November 1891 an Giuseppe Gallignani, zitiert nach Casimiri 1924, Giu­seppe Verdi, hier 216. Verdi fügte in dieser Passage noch hinzu  : „Wenn Palestrina besser gekannt und studiert würde, würden wir auf eine italienischere Weise komponieren und ­zugleich auch bessere Patrioten (in Musik) sein“, ebenda. Der italienische Musikwissenschaftler Massimo Mila hat Verdis Palestrina-Begeisterung als „oberflächlich“ abgewertet, vgl. Mila 1980, L’arte di Verdi 72, Fußnote 2 sowie 333. 62 Noch im Palestrina – Lasso Jubiläumsjahr 1894 hatte zum Beispiel der wichtigste italienische Palestrina-Forscher der Jahrhundertwende, Giovanni Tebaldini, einen langen Artikel veröffentlicht, in dem er mit einer „objektiven Studie“ die Überlegenheit des kirchlichen gegenüber des weltlichen Stils Palestrinas beweisen wollte. Darin wendete er sich vehement gegen die Meinung „der jüngsten französischen Kritik“, die Palestrina als den Vertreter des neuen weltlichen Geistes der Renaissance verstehen wollte. Siehe Tebaldini 1894, Giovanni Pierluigi da Palestrina. 63 Untersteiner 1902, Storia della musica. Siehe insbesondere 86–103. 64 Die Verschränkung von „Renaissance“ und „italienischer Nation“ lässt sich bereits auf lexikalischer Ebene feststellen  : Das Wort „Risorgimento“, mit dem man heute den Prozess der nationalstaatlichen Bildung im Italien des 19. Jahrhunderts bezeichnet, erhielt erst ab den 1830erJahren diese Bedeutung  : Das Wort wurde stattdessen in der Historiografie des ausgehenden 18. Jahrhunderts und noch bis zu Leopardis Gedicht „Il risorgimento“ von 1828 für die Benennung

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bemerkte der junge Historiker Delio Cantimori, dass die Renaissance als ­einer jener „Begriffe oder Mythen der Geschichtsschreibung“ bezeichnet werden kann, dem „nicht nur die allgemeine Auffassung der Geschichte und philosophischen Ideen, sondern auch die verschiedensten Gefühle und vor allem politischen und religiösen Vorstellungen zugrunde liegen“.65 Die nationalisierte Auffassung der Renaissance in Italien stand jedoch nicht unter dem Vorzeichen des Volks, sondern vielmehr unter dem des Individuums  : Wie es Mazzini 1840 formuliert hatte, war die Renaissance eine Epoche von „großmütigen Taten, aber von Individuen“.66 Der nationale Diskurs der Renaissance lebte in den Augen der italienischen Historiografie ab dem Risorgimento in einer ungelösten Spannung zwischen Entwürfen einer staatlich geeinten Peninsula und seiner ausschließlichen Beschränkung auf die Intellektuellen  ; einer Spannung, die Carducci mit der Figur des italienischen Intellektuellen der Renaissance prägend verbildlichte, der, verträumt mit einem Kodex unter dem Arm von den Leibeigenen und Baronen ausgelacht wird.67 Alaleonas nationale jener Zeitspanne von Petrarca bis zu Machiavelli verwendet, die man heute in Anlehnung an Burckhardt „Renaissance“ nennt. Siehe Banti 2008, Il Risorgimento italiano, VIII–XI. 65 Cantimori 1969, Zur Geschichte des Begriffes, 37. Prägende Beispiele der nationalen Ausdeutung der Renaissance in Italien im Laufe des 19. Jahrhunderts sind zum Beispiel die berühmte Eröffnungsrede für das akademische Jahr 1861 des idealistischen Philosophen Bertrando Spaventa an der Universität von Neapel oder die damals sehr verbreitete Studie über Machiavelli des Philosophen und Historikers Pasquale Villari von 1877. Über die Verschränkung von Renaissance und „italianità“ bei Spaventa siehe Restaino 1999, Storia della filosofia, 226–227. In der Einleitung zu Machiavelli schrieb seinerseits Villari unter anderem  : „Il Rinascimento italiano […] è il tempo in cui il nostro spirito nazionale ebbe la sua ultima manifestazione, la sua ultima forma veramente originali. Seguì poi un lungo sonno, da cui appena ci siamo svegliati.“ Villari 1912, Niccolò Machiavelli, XXVI–XVII. 66 So schrieb Mazzini über die Renaissance  : „Rimangono fatti generosi, ma d’individui  ; glorie, ma d’arte  ; scoperte feconde spesso di progresso europeo, rivelazioni, nella filosofia specialmente e nelle scienze, d’una potenza intellettuale naturalmente iniziatrice fra le nazioni, ma sterili in Italia, dove la tirannide, se non può rapire al Genio la facoltà di creare, cominciò d’allora a negare quella di tradurre il pensiero in azione“, vgl. Mazzini 1915, Sull’assedio di Firenze, 347. 67 So schrieb Giosuè Carducci in einer Reihe von fünf Reden, die er zwischen 1868 und 1871 an der Universität von Bologna hielt („Svolgimento della letteratura nazionale“)  : „E i baroni dai torrazzi del castello e i servi della gleba per avventura ridevano al veder passare quegl’italiani magri, sparuti, con lo sguardo fisso, con l’aria trasognata, e salire affannosi le scale ruinate di qualche abbazia gotica, e scenderne raggianti con un codice sotto il braccio  : ridevano, e non sapevano che da quel codice era per uscire la parola e la libertà, che dovea radere al suolo quelle torri e spezzare quelle catene“. Carducci 1987, Prose critiche, 321.



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Kodierung der Renaissance in seiner Sendungseinführung fügt sich in diesen Aspekt nicht ein  : Die Renaissance wird von ihm nicht als Epoche vereinzelter großer Komponistenpersönlichkeiten vorgestellt, vielmehr stellt sie für ihn das Zeitalter dar, in dem, wie eingangs zitiert, „das gesamte Volk ein Musiker war“.

1.3  Zivile Tugenden und integraler Nationalismus  : Umdeutungen einer nationalen Identifikationsfigur

Im Jahr 1915 verfasste Alaleona ein Kompendium der Musikgeschichte, das eine weniger assoziativ bzw. evokativ ausgerichtete Gedankenstruktur als die Sendungseinführung besaß.68 Dieses kurze und allein zu Unterrichtszwecken konzipierte Buch gibt einige weitere und wichtige Hinweise, um die eigensinnigen Formen zu deuten, mit denen der Musikwissenschaftler zehn Jahre später die Figur der Princeps musicae im Rundfunk national kodierte. Die musikalische Renaissance wird im Kompendium von Alaleona in zwei Aspekte unterteilt  : Unter einem kirchenmusikalischen Gesichtspunkt soll sie als eine Reaktion auf die „profanen und liederlichen Exzesse“ der Epoche verstanden werden.69 „Die regelrechte musikalische Renaissance“ wird jedoch von Alaleona viel breiter aufgefasst  : Sie würde in der Tat aus jener Ablösung von der mittelalterlichen Polyphonie bestehen, die bereits um das Jahr 1000 einsetzte und in der Oper ihre angemessene Ausdrucksform fand.70 Die in diesem Text allein als rein geistlich aufgefasste Musik Palestrinas wird hier als Zwischenstation in dieser „schrittweise und harmonisch“ erfolgten Entfaltung der musikalischen 68 Alaleona 1915, Corso di cultura. 69 Ebd., 90. 70 „Il Rinascimento musicale […] si manifestò in due momenti, e cioè  : un moto di reazione di carattere religioso agli eccessi sensuali e licenziosi del Rinascimento nei sui effetti sulla vita e sul costume  ; e poi il Rinascimento musicale vero e proprio che si svolse gradatamente e armonicamente dalle prime radici, che van ricercate nel Medio Evo sin verso il mille, alla pienezza della sua fioritura raggiunta tra il finire del XVI e il cominciare del XVII secolo.“ Ebd., 84.„Perché il Rinascimento musicale fosse pieno e completo, occorreva […] tornare al semplice canto monodico, che è stato sempre il linguaggio più adatto alla libera espressione dei sentimenti umani. […] Questo passaggio definitivo […] è legato nella storia musicale con l’episodi della famosa Camerata fiorentina.“ Ebd., 90.

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Renaissance in der Melodie verstanden  : Palestrina habe „den mittelalterlichen Kontrapunkt in einem harmonischen und süßen Wetteifern von expressiven Melodien“ umgewandelt.71 Alaleona gibt damit in seinem Kompendium das wohl etablierte musikgeschichtliche Konstrukt von Agazzari wieder, das im vorigen Abschnitt am Beispiel von Mazzinis Filosofia della musica bereits besprochen wurde  : Palestrina wird auch hier als Wegbereiter der Oper aufgefasst. Wo bleibt aber in diesem früheren Text die Thematik des „popolare“, die in der Renaissance-Darstellung der Sendung von 1925 so zentral wird  ? Am Ende des besagten Kapitels des Kompendiums bemerkt Alaleona zusätzlich, dass der „wirksamste Beitrag“ für die musikalische Erfüllung der Renaissance aus dem Volk kam. Damit meint Alaleona jene „villanelle“, „frottole“ und „canzoni“, die „aus schicksalhafter Eroberungskraft in die Kunstmusik übergingen“ und sie letztlich befruchteten.72 Es sind diese Gattungen, die zum späteren Triumph der Oper und damit des „Renaissancegeists“ in der Musik führten. Die Oper sei damit, wie es Alaleona bereits 1909 formulierte, nicht „eine erstaunliche Entdeckung der viel ausposaunten (‚strombazzata‘) florentinischen Camerata“, sondern eine Ableitung aus den „Volksliedern“ jener Zeit  ; gerade jenen „Volksliedern“, die mit den „villanelle“, „frottole“ und „canzoni“ in die Kunstmusik eindrangen.73 Die zwei auffälligsten Anomalien des Rundfunkkonzerts von 1925 – die strikt weltliche Repertoireauswahl und die Konzeptualisierung der Renaissance bzw. von Palestrina mit Bezugnahme auf die Kategorie des Volks – bekommen nun schließlich, angesichts des im Kompendium dargelegten musikgeschichtlichen Verständnisses Alaleonas ihre Daseinsberechtigung. Indem Alaleona Oper und „popolare“ gleichsetzt, kann der Musikwissenschaftler in der Sendungseinführung durchaus kohärent zu seiner Auffassung 71 Ebd., 87. 72 „Il contributo più efficace e più remoto, la vera spinta iniziale, il vero moto propulsore a questa rivoluzione musicale venne dal popolo. Le melodie appassionate che già vari secoli prima avevano cominciato a risonare sulle bocche dei trovatori, le ‚villanelle‘ o ‚frottole‘ che già nel Quattrocento allietavano con accenti vivaci e commossi le liete brigate, si trasfusero per fatale forza di conquista nella musica d’arte e col loro contatto la fecondarono, le infusero vita.“ Ebd., 89–90. 73 „In particolare il canto monodico dei primi tentativi di melodramma, che si vuol far passare come una strabiliante scoperta della tanto strombazzata Camerata fiorentina, ha uno strettissimo rapporto di derivazione con i canti popolari del tempo“, vgl. Alaleona 1909, Le laudi spirituali italiane, 2–3.



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der Musikgeschichte die musikalische Renaissance, die seiner Meinung nach gerade in der Oper ihre Verwirklichung fand, unter der Kategorie des Volks auffassen. Die Wahl ausschließlich weltlicher Werke von Palestrina für das Programm ist ihrerseits weder als Resultat einer gelehrten Suche nach einem ungewöhnlichen Repertoire noch als Konsequenz jenes schwierigen politischen Zusammenlebens zwischen Katholizismus und dem italienischen Nationalstaat zu deuten, das erst 1929 mit den Patti lateranensi zwischen dem Heiligen Stuhl und Benito Mussolini sein Ende fand. Mit der rein weltlichen Repertoirezusammenstellung will Alaleona stattdessen den Renaissance-Komponisten als Teil eines teleologisch ausgerichteten Prozesses darstellen, der in der progressiven Durchsetzung des Volks sein bestimmendes Ziel hat. Die Beschränkung auf die weltliche Produktion Palestrinas ermöglicht Alaleona, diese Komponistenfigur zusammen mit der musikalischen Renaissance in die Kategorie des „popolare“ einzuordnen. An diesem Punkt angelangt, wird die immanente Kohärenz der PalestrinaSendung von 1925 und ihrer Repertoirezusammenstellung begreiflich. Noch unbeantwortet bleiben jedoch die zwei Ausgangsfragen dieser Untersuchung  : Wie wurde Palestrina im italienischen Rundfunk zu jenem Zeitpunkt rezipiert  ? Und, vor allem, welche kulturpolitische Lage bzw., noch präziser formuliert, welche Auffassung des Nationalen spiegelt die im Konzert zum Ausdruck gebrachte Rezeptionsweise des Renaissance-Komponisten wider  ? Zunächst soll man der ersten Frage nachgehen. In seiner Programmeinführung erläutert Alaleona mit einer gewissen Ausführlichkeit nur zwei Stücke  ; sie verweisen jeweils auf eine der eingangs festgestellten Themenkomplexe der Sendung. Die Petrarca-Canzone am Beginn des Programms wird von dem Musikwissenschaftler als Ansatzpunkt für die Schilderung Palestrinas als erstem Umsetzer der menschlichen Leidenschaften in der Musik herangezogen  : Die erotische Thematik des Gedichts wird damit von Alaleona nicht als solche aufgefasst, sondern dient als Beweis für jene „Entdeckung der Welt und des Menschen“, die die großen Pioniere der RenaissanceForschung des 19. Jahrhunderts, Jules Michelet und Jacob Burckhardt, als prägend für die Physiognomie dieser historischen Epoche ansahen.74 74 Burckhardt 1860, Die Cultur der Renaissance, 280. Der Satz, der als Titel des vierten Ab-

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Das zweite Stück, das Alaleona in seiner Einführung ausführlich schildert, ist das abschließende Madrigal Le selve avea d’intorno, das von Palestrina für den Sieg der heiligen Liga 1571 bei Lepanto drei Jahre später komponiert wurde. Der Musikwissenschaftler räumt diesem Werk „eine besondere Wichtigkeit“ ein und hebt hervor, wie in dieser Komposition die „männlichen und heroischen Beben“ und das „Taumeln von Zivilbewusstsein“ deutlich zum Ausdruck kommen, die von Petrarcas Dichtung All’Italia bis zum „stolzen Zivildichter Dante“ den wahren Charakter der italienischen Renaissance ausmachen  : Die Tatsache, dass diese Epoche Italiens oft allein als „ein ewiges Arkadien“ aufgefasst wurde, stellt für ihn nur das Resultat der vielen minderwertigen Werke dar, die zu jener Zeit von „unglücklichen, schaffenskräftig nachahmenden Künstlern“ geschaffen wurden, denen jegliches Zivilbewusstsein fehlte.75 Aus der Erläuterung des Eröffnungs- und des Schlussstückes des Programms in der Sendungseinführung geht die entscheidende Neuheit von Alaleonas Palestrina-Darstellung gegenüber den wohl etablierten Topoi der nationalen Aneignung des Komponisten seit dem Risorgimento deutlich hervor  : Zwar behält der Musikwissenschaftler die tradierte Ausdeutung Palestrinas als Versinnbildlichung des musikalischen Italiens bei, er erweitert aber in entscheidendem Maß das Bedeutungsspektrum dieses Rezeptionsmusters. Indem er den Schwerpunkt von der geistlichen zur weltlichen Produktion verlagert und Palestrina als „popolare“-Künstler kodiert, wird der Komponist nicht nur allein im stilistischen oder satztechnischen Sinn zum Inbegriff italienischer Musik erklärt, wie es von Baini bis zu Verdi und darüber hinaus noch der Fall gewesen war. Nicht ohne eine gewisse interne Dramaturgie wird Palestrina stattdessen seitens Alaleonas dank der spezifischen Umdeutung der erotischen Thematik von Petrarcas Eröffnungssonett zur Versinnbildlichung der conditio humana in schnitts des Werks dient, ist die wortwörtliche Übersetzung aus Michelets berühmt gewordener Charakterisierung der Renaissance als „la découverte du monde, la découverte de l’homme“, vgl. Michelet 1855, Histoire de la France, II. 75 „Non certo a proposito di questi capolavori e modelli dell’arte, di queste creazioni originali del genio [die Werke Dantes und Petrarcas, d. V.] io soglio affermare che l’Italia per più secoli fu ‚un’eterna Arcadia‘  ; ma a proposito dei disgraziati, prolificissimi iitatori, nei quali mai incontrate un palpito maschio ed eroico, un brivido di coscienza civile. Palpiti maschi ed eroici, brivi di coscienza civile che si trovano invece in Palestrina, come in Petrarca e in Dante.“ Alaleona s. d., Parole di Domenico Alaleona, 120.



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der Moderne erklärt. Zum krönenden Abschluss der Sendung soll der Komponist anhand des Lepanto-Madrigals zusätzlich mit einer ethischen Bedeutung versehen werden  : Er wird zum Exemplum „ziviler“ Tugenden gemacht. Pales­trina stellt nun den zivil engagierten Künstler dar, der die „glänzende und blutige“ Verteidigung der kulturellen Identität des eigenen Kollektivs vor der „fortreißenden und grausamen türkischen Invasion“ schildert und jene „vom Himmel gesendete Erlöserfigur“ des „glücklichen Oberbefehlführers der christlichen Flotte“, Don Juan de Austria, in einem „leisen und religiösen Adagio“ musikalisch evoziert.76 Der Renaissance-Komponist wird von Alaleona zur Versinnbildlichungsfigur einer alles umfassenden, zugleich musikalischen und ethischen „italianità“ erklärt  : Es entsteht eine vollkommene Identität zwischen dem italienischen Volk und dem Komponisten. Dies ist nur möglich, indem Alaleona seine Auffassung einer „popolare“-musikalischen Renaissance verabsolutiert und auf die gesamte Renaissance ausweitet  : Palestrina, Renaissance und die Nation werden anhand des Konzepts des „Popolo“ miteinander verschränkt und zu einem Ganzen gemacht. Alaleonas nationale Aneignung des Komponisten und seines Zeitalters lässt die subtilen, jedoch wichtigen Beschränkungen bzw. Unterscheidungen der tradierten Formen, unter denen beide Elemente seit dem Risorgimento nationalisiert wurden, hinter sich  : Palestrinas „italianità“ ist nicht mehr allein unter einem rein musikalischen Gesichtspunkt zu verstehen, und die nationale Bedeutung der Renaissance ist nicht auf das „Erwachen“ eines Nationalbewusstseins allein bei einigen großen Individuen bzw. Intellektuellen begrenzt, während das Volk daran noch nicht teilhatte. Alle diese aus dem Risorgimento stammenden Distinktionen werden von Alaleona dezidiert ignoriert. Dadurch erweitert sich das Bedeutungsspektrum der Figur Palestrinas gewaltig, die nun ein monolithisches, holistisch aufgefasstes italienisches Volk symbolisieren muss  ; ein Volk, das keine interne Pluralität kennt. 76 „Nella prima parte [des Madrigals „Le selv’ avea d’intorno“, d. V.] la visione commossa della travolgente e crudele invasione turca, nell’ultima quella della sfolgorante e sanguinosa vittoria  ; fra le due parti io ho colto […] un ‚Adagio‘ sommesso e religioso, che evoca la figura del salvatore ‚inviato dal cielo‘  : il giovane guerriero Don Giovanni diAustria, che fu il fortunato duce supremo della flotta cristiana. […] Questo poema musicale di Palestrina fa pensare alla ‚Canzone all’Italia‘ di Petrarca e al Dante fiero poeta civile.“ Ebd., 121.

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Damit ist man schließlich bereits zu der zweiten Ausgangsfrage dieser Untersuchung gekommen  : Das neu entworfene Palestrina-Bild der Sendung soll in der Tat als Zeichen einer anderen, weitreichenden Veränderung aufgefasst werden, die zu jenem Zeitpunkt nicht im strikt innermusikalischen, sondern im gesamten kulturpolitischen Diskurs des Landes stattfand. Das nationale Kollektiv wurde 1925 nicht mehr auf dieselbe Weise wie zur Zeit des frühen Risorgimento imaginiert, als Palestrina und die Renaissance zum ersten Mal „nationalisiert“ wurden. Wenn auch sicherlich nur in Ansätzen und auf indirektem Weg lässt sich jedoch in Alaleonas Palestrina-Programm jenes progressive Zurücktreten der demokratischen, freiheitlichen Komponenten des Nationskonzept zugunsten allein von dessen identitätsstiftenden Zügen ablesen, das unter der Kategorie des „integralen Nationalismus“ historiografisch aufgefasst wird und ab dem Ende des 19. Jahrhunderts in vielen Teilen Europas nachgewiesen werden kann.77 Das Streben nach einer geschlossenen, kulturell homogenen Gemeinschaft war zum bestimmenden Faktor eines nationalen Diskurses geworden, der die interne Komplexität der Nation vergaß und alles als Verkörperung einer einzigen, gültigen, „wahren“ Identität des nationalen Kollektivs ansah. Alaleonas eigenwillige Positionierung gegenüber den tradierten Darstellungstopoi der nationalen Palestrina-Aneignung gibt damit eine Momentaufnahme von jenem kontinuierlichen Umdeutungsprozess der Vorstellung des nationalen Kollektivs wieder, der in den darauf folgenden Jahren mit dem Aufstieg des Faschismus eine „totalitäre Beschleunigung“ erfahren wird.78 Am Ende der Analyse des Römischen Konzerts soll jedoch noch ein letztes offenes Problem angesprochen werden  : In der Einführung zu der Sendung ver77 Für den Begriff des „integralen Nationalismus“ siehe Kunze 2005, Nation und Nationalismus, 93–96 sowie Alter 1985, Nationalismus, 43–56. Alter charakterisiert den integralen Nationalismus unter anderem mit folgenden Worten  : „Im Unterschied zum liberalen RisorgimentoNationalismus, der grundsätzlich von einer Gleichberechtigung der Nationalismen und der Ansprüche nationaler Bewegungen ausgeht, setzt der integrale Nationalismus die Nation absolut. […] Der Kult der Nation wird zum Selbstzweck. […] Die Parole von der nationalen Suprematie, der herausragenden Stellung der eigenen Nation, tritt im integralen Nationalismus an die Stelle der Parole von der nationalen Selbstbestimmung, die in den Jahrzehnten nach der Französischen Revolution dem Risorgimento-Nationalismus seine gewaltige Triebkraft verlieh.“ Ebd., 43–44. 78 Für den Begriff „accelerazione totalitaria“ siehe Gentile 2002, Via italiana al totalitarismo, 138–139. Für die Artikulierung einer neuen, faschistischen Vorstellung der Nation im Musikprogramm des italienischen Rundfunks siehe  : Bertola 2011, Stadt oder Ideologie.



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fährt Alaleona durchaus inkohärent gegenüber seiner eigenen Auffassung der Musikgeschichte, wie er sie 1915 in seinem Kompendium dargelegt hatte. Die „popolare“-Musik Palestrinas sollte in der Tat 1925 eine musikalische Wiedergeburt Italiens heraufbeschwören, die sich nicht in der Oper, sondern in der Symphonie verwirklichen sollte. Die Madrigale und Canzoni aus dem Programm werden von Alaleona nicht als Wegbereiter der Opernmelodie, sondern als „vokale Symphonien“ den Zuhörern vorgestellt, die „der Geburt einer neuen, zugleich modernen und nationalen symphonischen Kunst“ dienen sollten.79 Auf diese letzte Inkohärenz der Sendung soll am Ende des ersten Teils der Arbeit noch kurz näher eingegangen werden.

79 „Occorre restaurare in Italia il culto del canto corale e ricostituire le ‚orchestre vocali‘, per rimettere in vita l’aureo, vivacissimo patrimonio della nostra sinfonia vocale cinquecentesca […]. Solo riallacciandosi a tale patrimonio può nascere una nuova arte sinfonica nello stesso tempo moderna e nazionale.“ Alaleona s. d., Parole di Domenico Alaleona, 121.

2.  „Deutscher Geist“ und „Reinmenschlichkeit“  : Das Palestrina-Gedenkkonzert der Funk-Stunde Berlin 2.1  Bildungsideale und konfessionelle Kodierung  : Spannungen und Inkohärenzen der Berliner Repertoireauswahl

Die Palestrina-Sendung der Funk-Stunde Berlin steht auf vielerlei Weise in scharfem Gegensatz zum italienischen Programm. Eine Kodierung des Konzerts als herausragendes Sonderprogramm wie bei der U.R.I. lässt sich im Fall der deutschen Sendung nicht feststellen  : Das Programm beginnt weder mit einer ad hoc konzipierten Einführung noch wird es in der offiziellen Rundfunkzeitschrift der Funk-Stunde Der deutsche Rundfunk mit besonderem Nachdruck angekündigt.80 Auch gibt es keinerlei Versuch, die Ehrung Palestrinas als Anlass für eine nationalistisch aufgeladene Veranstaltung zu nehmen  : Alle der für das Rundfunkkonzert angesetzten Werke weisen einen eindeutig geistlichen Inhalt auf und wurden vom Chor der St.-Hedwig-Basilika in Berlin ausgeführt. Kurt Weill, der die Rundfunkprogramme des Berliner Senders in Der deutsche Rundfunk wöchentlich besprach, hob das Konzert nicht besonders hervor. Er stufte die „Werke[n] im A-capella-Stil des 16. Jahrhunderts“ als „Kompositionen strengsten kirchlichen Charakters“ ein  ; sie entsprächen einer katholischen Musik, „die in der festen Gebundenheit, in der keuschen, entrückten Erdferne ihrer Tonsprache allen Ansprüchen des Gottesdienstes gerecht wurde“.81 Am Ende seiner kurzen Ankündigung verweist Weill noch auf eine weitere Funktion der Sendung  : „Mit seinen [Palestrinas, d. V.] Werken und denen der wichtigsten Meister um ihn will der Rundfunk nun sein Publikum näher vertraut machen.“82 Auf diese Weise präsentierte Weill das Palestrina-Konzert als Teil 80 Siehe die Programmankündigung von Weill 1925, Vom Berliner Sender. Die Palestrina-Sendung wird von Weill auf 1322 besprochen. Zu den deutschen Rundfunkzeitschriften siehe die reichlich dokumentierte Dissertation von Bauer 1993, Deutsche Programmpresse, insbesondere 35–39 und 56–63, was „Der Deutsche Rundfunk“ betrifft. 81 Weill 1925, Vom Berliner Sender, 1322. 82 Ebenda.



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jenes übergeordneten bildungsfördernden Projekts, dessen Verwirklichung die Funk-Stunde und allgemein die Rundfunkleitung der Weimarer Republik als spezifische Aufgabe des neuen Massenmediums ansah.83 Wie auch der Titel des Programms zusätzlich unterstreicht, versprach die Sendung ein lehrreiches Porträtieren der Renaissance als musikgeschichtlicher Epoche, die als goldenes Zeitalter der Kirchenmusik in die Musikgeschichte einging und in Palestrina ihre Versinnbildlichung fand. Das Kolportieren der musikalischen Renaissance unter dem Gesichtspunkt der Kirchenmusik beinhaltet eine starke konfessionelle Komponente, die bereits in den vorher zitierten Worten Weills flüchtig zur Sprache kam. Berücksichtigt man die Auswahl des Repertoires und der Ausführenden genauer, nimmt dieser konfessionelle Aspekt markante Züge an. In der Tat spannt die Sendung nicht nur einen Bogen von der alttestamentlichen Klage des Propheten Jeremia über die Zerstörung Jerusalems (Palestrinas Oratio Geremiae) bis zu Christi Geburt (Sweelincks Hodie Christus natus est) und Tod (Lottis Crucifixus), sondern hebt zum Schluss auch die Rolle Marias hervor. Dies geschieht in den letzten beiden Stücken von Gregor Aichinger Assumpta est Maria und Regina coeli. Die Sankt-Hedwig-Kathedrale, die zwischen 1747 und 1773 von Friedrich II. für die katholischen Einwanderer aus Schlesien gebaut worden war, gilt außerdem als die erste katholische Kirche Preußens. Durch diesen Aufführungsort und die abschließenden zwei Maria-Hymnen betonte das Konzert eine katholische Identität in einem vorwiegend protestantischen Gebiet.84 Die Wahl des Komponisten der Maria-Hymnen verstärkte diese konfessionelle Botschaft zusätzlich  : Nach der These, die Theodor Kroyer im Jahr 1909 aufgestellt hatte, war Gregor Aichinger als Protestant geboren. Erst zwischen 1584 und 1588 bekehrte er sich zum Katholizismus und um 1600 erhielt er während einer zweiten Reise nach Rom sogar die priesterlichen Weihen.85 83 Siehe dazu Führer 1997, A Medium of Modernity, insbesondere 752–753 sowie Stoffels 1997, Kulturfaktor und Unterhaltungsrundfunk, insbesondere 625–629. 84 Goetz/Elbern/Beyer (Hg.) 2000, Die St.-Hedwigs-Kathedrale, 15–23. 85 Siehe, Kroyer 1909, Gregor Aichingers Leben, XII–XIII. Kroyers These ist jüngst angezweifelt worden  ; siehe Fisher 2004, Music and religious identity, 130. Aichinger, der Zeit seines Lebens unter der Obhut der Familie Fugger stand, ist eine Komponistenfigur, die im Rahmen jenes gegenreformatorischen Impetus kontextualisiert werden muss, den die Jesuiten ab den 1580erJahren in der Stadt Augsburg verfolgten  ; siehe dazu ebd., 129–149.

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Das Konzert lässt sich jedoch nicht allein auf ein konfessionelles Bekenntnis der katholischen Minderheit in Berlin reduzieren. Dagegen sprechen nicht nur die in Weills Programmankündigung geäußerten bildungsbürgerlichen Ansprüche, sondern auch der Sendetag und die Sendezeit des Palestrina-Programms. Welche entscheidende Rolle die sogenannte prime time (die Sendezeit von etwa 20.00 bis 22.00 Uhr) für die Profilbestimmung eines Senders und die Erfüllung seiner Bildungsideale spielte, war den Radiomachern der Zeit durchaus bewusst  : Der musikalische Leiter der Schlesischen Funkstunde, Edmund Nick, bemerkte 1929, „daß hauptsächlich nur die Abendstunden von 20 bis 22 Uhr für die künstlerische Physiognomie des Rundfunks als maßgebend angesehen werden“ sollten, und ein Jahr davor hatte auch der Intendant der Funk Stunde Berlin, Carl Hagemann, betont, dass das Abendprogramm dem Publikum „allmählich, aber bewußt, Höheres und Größeres“ zumuten solle.86 Daran anschließend wurde die abendliche Sendezeit, vor allem an Werktagen, im Normalfall praktisch nie für kirchliche bzw. religiöse Programme vorgesehen. Die Profilierung zwischen musikalischer Kunst und Bildung lässt sich an der Repertoireauswahl deutlich ablesen  : Unmittelbar nach dem Palestrina-Anteil des Konzerts und vor den anderen Vokalstücken aus der Renaissancezeit führte der damalige Kapellmeister der Funk-Stunde, Otto Urack, eine nicht näher bestimmte Cellosuite von Johann Sebastian Bach auf.87 Mit diesem weltlichen Stück des Protestanten Bach setzte der Berliner Sender ein weiteres klares Zeichen gegen eine rein konfessionelle Deutung der Sendung. Freilich wies das gesendete Programm durch die Wahl dieses Stücks eine gewisse Inkohärenz auf  : Bachs Suite fügt sich keinesfalls in den zeitlichen Rahmen ein, auf den sich die Sendung in ihrem Titel berief (Palestrina und seine Zeit). Auch im Zusammenhang mit Weills Schilderung der Figur Palestrinas in der Zeitschrift des Senders wirft diese Entscheidung einige Fragen auf  : Wenn für Weill die Bedeutung Pales­trinas in der Rettung des sakralen Charakters der Kirchenmusik vor dem 86 Vgl. jeweils Nick 1950, Die Unterhaltungsmusik, 305 sowie Hagemann 1950, Die künstlerisch-kulturelle Zielsetzung, 235. Zum Abendprogramm siehe außerdem zusammen mit dem vorher zitierten Artikel von Führer 1997, A Medium of Modernity, insbesondere 745–747, auch Stoffels 1997, Sendeplätze für Kunst, insbesondere 643–650. 87 Über Otto Urack siehe Halefeldt 1997, Sendegesellschaften und Rundfunkordnungen, insbesondere 47 und 108.



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schädlichen Einfluss der „freien Figurationen weltlicher Instrumentalmusik“ bestand, bleibt die Wahl eines nicht nur weltlichen, sondern auch instrumentalen Stücks des großen Protestanten erklärungsbedürftig.88 Minimale Veränderungen, wie zum Beispiel das Weglassen beziehungsweise Ersetzen der zwei Maria-Hymnen oder des Stücks von Bach, sogar einfach eine andere Betitelung hätten gereicht, um die hier festgestellten Unstimmigkeiten und Widersprüche in der Repertoireauswahl zu beseitigen und der Sendung die notwendige Schlüssigkeit zu verleihen. Die Tatsache, dass nichts dergleichen geschah, erlaubt es schließlich, die folgende Hypothese aufzustellen  : Die Spannungen und Inkohärenzen, die sich aus heutiger Sicht feststellen lassen, sind innerhalb der damaligen Palestrina-Rezeption in Deutschland nicht wahrgenommen worden. Sie erhielten anhand eines ihnen übergeordneten Diskurses ihre Daseinsberechtigung beziehungsweise ihre Plausibilität. Um die Züge dieses Diskurses genau zu bestimmen, soll im Folgenden die deutsche PalestrinaRezeption in ihrer diachronen Zeitdimension hinterfragt werden.

2.2  Ein musikgeschichtliches Konstrukt zwischen Cäcilianismus und Autonomieästhetik

Im Deutschland des 19. Jahrhunderts erlebte die Kodierung Palestrinas als genuin katholischer Komponist spätestens mit der Gründung des Allgemeinen Caecilien-Vereins für katholische Kirchenmusik im Jahr 1868 eine institutionell gefestigte Anerkennung.89 Die wissenschaftliche Pflege der Musik Palestrinas 88 Weill 1925, Vom Berliner Sender, 1322. 89 Die Gründung des Vereins durch Franz Xaver Witt markierte zusammen mit der Herausgabe der eigenen Zeitschrift „Musica sacra“ die erste Errungenschaft einer in den darauf folgenden Jahrzehnten durchaus erfolgreichen und internationalen Aktivität, die unter anderem dank der Gründung der Kirchenmusikschule in Regensburg und sieben Jahre später des Gregoriushauses in Aachen weiterwachsen konnte. All dies ermöglichte eine straffe, übernationale Organisation, aus der unter anderem eine ganze Reihe von Palestrina-Forschern hervorging, die die Ideale der Cäcilianer teilten oder ihnen zumindest nahestanden, wie Peter Wagner, Adolf Sandberger, Eugen Schmidt oder Karl Weinmann, was das letzte Viertel des 19. Jahrhunderts angeht. Diese Tradition setzte sich auch am Anfang des 20. Jahrhunderts mit Otto Ursprung und Karl Gustav Fellerer fort, die, wenn auch aus einer durchaus kritischen Perspektive, mit dem Cäcilianismus verbunden waren. Siehe dazu Fellerer 1985, Kirchenmusik

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im deutschsprachigen Raum, die neben Franz Sales Kandler im katholischen Gebiet der k. u. k.-Monarchie in den 1830er-Jahren auch einen herausragenden protestantischen Anfang mit Carl Georg Vivigens von Winterfeld in Berlin verzeichnen konnte, wurde mit der zunehmenden Organisation und Wichtigkeit der cäcilianischen Bewegung zu einem anerkannten Spezifikum des katholischen Südens Deutschlands.90 Diese zunehmende Konfessionalisierung Palestrinas im Sinne seiner Vereinnahmung durch katholische Interessierte hing jedoch nicht allein mit der wissenschaftlichen und organisatorischen Arbeit eines Carl Proskes, Franz Xaver Witts oder Franz Xaverl Habers zusammen. Sie muss auch in Verbindung mit der zu jenem Zeitpunkt parallel stattfindenden Neubewertung der Figur Johann Sebastian Bachs gesehen werden  : Im Laufe des 19. Jahrhunderts etablierte sich in Deutschland eine unterschwellige Rollenverteilung in der Rezeption beider Komponisten  : Palestrina und Bach wurden zu Versinnbild­ lichungsfiguren des Propriums der jeweiligen Konfession.91 In der Rezeptionsgeschichte Bachs verschränkte sich jedoch die konfessionelle Prägung mit markanten nationalen Loyalitäten, sodass sich Bachs identitätsstiftende Funktion nicht allein auf die konfessionelle Sphäre des Protestantismus im 19. Jahrhundert, 124–184 sowie Scharnagl 1988, Regensburg. Für Italien soll hier zumindest der Name Raffaele Casimiri genannt werden  ; siehe Caglio 1988, Der Caecilianismus in Italien. Im Bezug auf die italienische Sektion des Caecilien-Vereins ist auch der Artikel von Antonio Lovato zu nennen, in dem der Forscher auf die Figur des Jesuiten Angelo De Santi (1847–1922) eingeht, der in seiner cäcilianischen Reformbestrebung eine Parallele zwischen der alten liturgischen Musik und Wagners Leitmotivtechnik zog, siehe Lovato 2005, Il movimento ceciliano. 90 Kandler 1834, Ueber das Leben  ; Winterfeld 1832, Johannes Pierluigi von Palestrina. Beide Artikel stellen direkte Antworten auf Bainis Palestrina-Studie dar (siehe Fußnote 56, S. 43 in der vorliegenden Arbeit). Einige Jahre später versuchte Winterfeld, ein spezifisch „protestantisches“ kirchenmusikalisches Vorbild in der Figur des Renaissance-Komponisten Johannes Eccards zu (er)finden, der als Gegengewicht zu Palestrina im protestantischen Bereich fungieren sollte  ; siehe dazu Nowak 1980, Johannes Eccards Ernennung. 91 Bezüglich der Bach-Rezeption im deutsch-protestantischen Milieu zu Beginn des 19. Jahrhunderts bis in die 1950er-Jahre siehe Siegele 1988, Johann Sebastian Bach. Der Autor klammert jedoch in seiner Darstellung die Zeit der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus konsequent aus. Die Verschränkung von deutschnationalen und konfessionellen Aspekten in der Bach-Rezeption ab dem 19. Jahrhundert wird seltsamerweise in dem etwas jüngeren Aufsatz von Hinrichsen 1999, Urvater der Harmonie, weitgehend verschwiegen. Aufschlussreicher ist diesbezüglich Hiemke 2000, Bach-Deutungen, insbesondere 72–75. Siehe außerdem die Fußnoten 109, S. 65 und 122, S. 70 im ersten Kapitel der vorliegenden Arbeit.



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reduzieren ließ. Kann auch im Fall Palestrinas eine vergleichbare deutsch-nationale Vereinnahmung festgestellt werden  ? Im Jahr 1879 rettete die preußische Regierung die in finanzielle Schwierigkeiten geratene Palestrina-Gesamtausgabe von Franz Xaver Haberl. Zu einer Zeit, als sich die Spannungen des bismarckschen Kulturkampfes noch nicht gelegt hatten, setzte sich also Preußen für ein editorisches Projekt ein, das nicht nur einem ausländischen, sondern zugleich auch gegenreformatorischen Komponisten wie Palestrina gewidmet und von einem katholischen Priester wie Haberl geleitet wurde.92 Dieses geschichtliche Kuriosum deutet darauf hin, dass im Deutschland des 19. Jahrhunderts auch die Figur des römischen Renaissance-Komponisten genau wie im Fall Bachs im Sinne der eigenen nationalen Identität verstanden wurde. Auf welche Art und Weise dies damals geschah, soll nun besprochen werden. Das wissenschaftliche Interesse für Palestrina setzte im Deutschland der 1830er-Jahre nicht ex nihilo ein  : Es entstand stattdessen aus der tiefgreifenden Umdeutung heraus, welche die Figur des Komponisten zwischen Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts in diesem Land erfahren hatte.93 In dieser Zeit wurde das Rezeptionsklischee eines Palestrina als Retter der Kirchenmusik, das 92 Siehe Garratt 2000, Prophets looking backwards, 202. Im Palestrina-Lasso-Jahr 1894 bemerkte Philipp Spitta bezüglich dieser Episode (die er auf das Jahr 1880 datiert) und des baldigen Abschlusses von Haberls Palestrina-Ausgabe  : „Es haben sich in diesem Werke, das eine hundertjährige Entwicklung krönt, der Norden und Süden Deutschlands, seine evangelische und katholische Bevölkerung einträchtig die Hand gereicht.“ Und fügte hinzu  : „Italien […] muss uns die Ehre lassen, ihm dasjenige Denkmal aufgethürmt [sic  !] zu haben, zu dem er sich in seinen Werken selbst die Bausteine bereitet hat.“ Spitta 1894, Palestrina, 91–92. 93 Siehe Keil 1994, Die Entdeckung Palestrinas sowie Haar 1985, Music of the Renaissance. Für einen kurzen Überblick über die Rolle Palestrinas im Kontext der (durchaus sekundären) Reformbestrebungen des Tridentiner Konzils im Musikbereich und die unterschiedlichen Umdeutungen, die die „Legende“ der palestrinischen „Rettung der Kirchenmusik“ bis zur Romantik erfuhr, siehe  : Hucke 1988, Palestrina als Klassiker. Durchaus skizzenhaft bleibt diesbezüglich Tenhaef 1998, Musica dell’altro mondo. Durchaus problematisch, wenn auch nicht unbegründet, ist die Trennung der deutschen Palestrina-Rezeption vom Ende des 18. Jahrhunderts bis in die 1830er-Jahre in einen „subjective historicism“ (Hoffmann, Thibaut), der die Figur des Renaissance-Komponisten „idealisierte“, und einen „objective historicism“ (Kandler, Winterfeld), der für eine „quellennahe“ Untersuchung plädierte, wie es in den folgenden zwei Studien unternommen wurde  : Baecker 1989, Zum Palestrina-Bild und Garratt 2000, Prophets looking backwards. Mit einem solchen Ansatz gehen die durchaus vorhandenen Kontaktpunkte zwischen den beiden Perspektiven, wie zum Beispiel die Anfänge der Artikulierung einer deutschen nationalen Identität anhand der Figur Palestrinas verloren.

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sich seit Agostino Agazzaris Generalbasslehre von 1607 fest etabliert hatte, aus seiner traditionellen Einbettung in die Debatte um eine prima und eine seconda prattica herausgelöst.94 Michael Praetorius hatte im Jahr 1619 im dritten Band seines Syntagma musicum Agazzaris Abhandlung und die darin enthaltene Charakterisierung des älteren Renaissance-Komponisten dem deutschsprachigen Raum zugänglich gemacht. Der Topos eines Palestrinas als Retter der Kirchenmusik hatte somit bei Praetorius sowie bei Agazzari eine legitimierende Funktion im Hinblick auf die sich durch Europa verbreitende neue seconda prattica  : Palestrina mit seiner Missa Papae Marcelli habe „die affectus vnd gleichförmigkeit der Wörter“ gerettet, die durch eine exzessive Observanz der „Reguln de Contrapuncta“ abhanden gekommen seien.95 Spätestens in E. T. A. Hoffmanns Aufsatz Alte und neue Kirchenmusik von 1814 wurde Palestrinas „Rettung der Kirchenmusik“ jedoch zur Versinnbildlichung „eines – wie es Heinrich Besseler in seiner berühmten Studie Die Musik des Mittelalters und der Renaissance von 1931 formulierte – neuen Gesamterlebnisses der Musik“.96 Dieses neue Gesamterlebnis bestand ex negativo in der Loslösung der Musikästhetik von der Mimesis-Theorie  : Musik wurde nicht mehr, wie es Friedrich Schlegel 1801 formulierte, mit dem „platten Gesichtspunkt der Natürlichkeit, nach welcher die Musik nur die Sprache der Empfindungen sei“ aufgefasst.97 Praetorius’ und Agazzaris innermusikalische Dichotomie zwischen Palestrinas musikalischer Affekt- und Textdarstellung auf der einen Seite und den alten „Reguln de Contrapuncta“ auf der anderen nahm bekanntlich bei E. T. A. Hoffmann eine epochengeschichtliche Bedeutung an. Der affectus, den Prätorius zum Merkmal von Palestrinas Musik gemacht hatte, wurde von Grund auf neu semantisiert. E. T. A. Hoffmann verortete den affectus nicht mehr auf der Ebene des emotionalen Wortgehalts bzw. in der musikalischen Entsprechung des Textes  : Der „Ausdruck des innern Affekts“, der mit der Musik Palestrinas zum ersten Mal epochenstiftend zur Geltung kam, lag nun in der „Ahnung des Höchsten und Heiligsten, der geistigen Macht, die den Lebensfunken in der ganzen Natur entzündet“  ; einer Ahnung, 94 Siehe die Fußnote 59, S. 44 in der vorliegenden Arbeit. 95 Praetorius 1958, Syntagma musicum, 150. 96 Besseler 1931, Die Musik des Mittelalters, 6. 97 Schlegel 1967, Athenäums-Fragmente, 254.



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die allein „ohne Rücksicht auf Worte und ihren rhythmischen Verhalt“ erfolgen konnte.98 Die Bestimmung ex positivo der genauen Umrisse dieser Loslösung aus der Nachahmungsästhetik hat seitdem in Musikästhetik, Musikwissenschaft und Komponistenkreisen zu verbissenen Auseinandersetzungen geführt. Im Hinblick auf unser Thema ist es wichtig, vor allem Folgendes zu bemerken  : Auch wenn sich dieser „ästhetische Paradigmenwechsel“ vom England des späteren 18. Jahrhunderts ausgehend vollzogen hatte, nahm er im Laufe des 19. Jahrhunderts eine zunehmende deutschnationale Bedeutung an.99 Bereits bei E. T. A. Hoffmann ist eine Verschränkung der Umwälzung musikästhetischer Werthierarchien und der Identifizierung eines eigenspezifischen deutschen bzw. deutschsprachigen Kulturraums in nuce zu beobachten.100 Die Voranstellung eines „neuen Gesamterlebnisses der Musik“ mittels der Figur Palestrinas und seiner Rezeption als Retter der Kirchenmusik resultiert bei E. T. A. Hoffmann aus seiner zwiespältigen Bestimmung der allgemeinen geistigen Lage der Gegenwart zu Beginn des Textes. Die musikalische Situation wird von E. T. A. Hoffmann als charakteristische Spiegelung der kulturellen Lage seiner Epoche verstanden  : Gleich am Anfang skizziert er eine Dichotomie zwischen Theater- und Kirchenmusik als „Tendenz der Zeit“, spricht sich für die  98 Hoffmann 1988, Alte und neue Kirchenmusik, 221.  99 In seiner berühmten Studie über die „Idee“ einer absoluten Musik schrieb Dahlhaus  : „Die Idee der absoluten Musik […] ist zum ästhetischen Paradigma der deutschen Musikkultur des 19. Jahrhunderts geworden.“ Dahlhaus 1994, Absolute Musik, 15. Zur Verwendung des Ausdrucks „Paradigmenwechsel“ im Bezug auf das Aufkommen der am Ende des 18. Jahrhunderts in England entstandenen Autonomieästhetik siehe Gerhard 2002, London und der Klassizismus, 112–118. 100 Auf die Verschränkung von musikkritischer bzw. -ästhetischer Tätigkeit und nationalen Absichten im Fall Hoffmanns ist 1995 Stephen Rumph anhand Hoffmanns berühmter Rezension der fünften Symphonie eingegangen  ; siehe Rumph 1995, A Kingdom. Rumphs Ansatz zur Deutung dieses Zusammenhangs leidet jedoch unter einem allzu einfachen historischen Determinismus, anhand dessen ein – wie die Historikerin Celia Appelgate in ihrer Kritik an Rumphs Aufsatz formuliert hat – „monolithic way“ von Luther über Bismarck zu Hitler konstruiert wird, der historisch verwirrend und anachronistisch ist  ; siehe Applegate 1998, How german is it, 277. Dies unterminiert jedoch nicht die in ihren Konturen sicherlich noch unscharfe, dennoch unwiderlegbare Präsenz nationaler Implikationen in Hoffmanns Musikschrifttum sowie allgemein im Musikdiskurs der Frühromantik in Deutschland, auf den Appelgate selbst im zweiten Teil ihres Artikels lehrreich eingeht.

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Vorherrschaft der Ersteren zu ungunsten der Letzteren aus und unterstreicht den daraus resultierenden, „seit länger als zwanzig Jahren“ waltenden „Leichtsinn ohnegleichen in jede[m] Kunststudium“.101 Diese „Tendenz“ wird von E. T. A. Hoffmann genauer als eine Kunstproduktion beschrieben, die „den Menschen in das befangene, ärmliche Leben festzubannen“ anstrebt und die Hoffmann in der Französischen Revolution und ihrer Weltanschauung verkörpert sah.102 Die gegen Frankreich gerichtete Polemik strukturiert die gesamte historische und musikgeschichtliche Perspektive Hoffmanns von Grund auf, zumal sie im Zeichen einer als gegenpolar empfundenen und als Romantik bezeichneten Weltanschauung erfolgt. Die Musik und insbesondere die Kirchenmusik, verkörpern für Hoffmann als höchste aller Künste das Wesen dieser neuen, sich anbahnenden romantischen Epoche  :103 Die geschichtliche Entfaltung der Musik spiegele unmittelbar jene des Weltgeistes wider. Im weiteren Verlauf des Aufsatzes schildert Hoffmann die Entwicklung des „wahren Wesens“ der Musik, das mit Palestrina zum ersten Mal zum Ausdruck kam, und konstruiert ein musikgeschichtliches Narrativ, das der Legitimierung der neuen Weltanschauung der Romantik diente. Den Ursprung dieser gleichsam erfundenen Tradition setzte er bei Palestrina an.104 Hoffmanns Traditionsbildung für die „moderne“ Romantik trägt dabei ein nicht unbeachtliches identitätsstiftendes Potenzial im Hinblick auf die kulturelle Bestimmung eines spezifischen deutschen Kollektivs in sich. Dies 101 Hoffmann 1988, Alte und neue Kirchenmusik, 219. 102 Ebd., 219–220. 103 „Diese uns jetzt aufgefangene Zeit [die „Morgenröte“ der neuen Epoche, die den „Leichtsinn“ der Französischen Revolution überwinden wird, d. V.] wird jeder leichtsinnigen Entartung in der Kunst Einhalt tun und ihrer tiefsten, geheimnisvollsten Einwirkung durch die Musik des Menschen Brust sich willig öffnen. – Jetzt darf von der Musik, in der tiefsten Bedeutung ihres eigentümlichsten Wesens, nämlich wenn sie als religiöser Kultus in das Leben tritt – von der Kirchenmusik geredet werden.“ Ebd., 221. 104 Die Vorstellung eines Palestrinas als Ursprung der musikalischen Moderne, die bei Agazzari und Praetorius mit der Legendenbildung einer „Rettung“ der Kirchenmusik seitens Palestrinas im Sinne der „seconda prattica“ ihren ersten Ausdruck fand, blieb im Laufe des gesamten 19. Jahrhunderts und bis weit ins 20. Jahrhundert hinein im deutschsprachigen Raum bestehen. Sie ist nicht allein bei Hoffmann anzutreffen  ; siehe zum Beispiel diesbezüglich Stenzl 1989, Palestrina als Komponist, der den Fall von Franz Brendels „Geschichte der Musik in Italien, Deutschland und Frankreich“ aus dem Jahr 1852 bespricht, oder den Artikel von Ackermann 1994, Palestrina und die Idee, der auf das 1918 erstmals erschienene Buch „Geist der Utopie“ von Ernst Bloch verweist.



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erfolgt ex negativo anhand der Polemik gegen Frankreich, welche die „Romantik“ vom herrschenden Kulturparadigma im Europa jener Zeit abgrenzt. Ex positivo lässt sich die Traditionsbildung bei E. T. A. Hoffmann an der Tatsache ablesen, dass der geschichtliche Werdegang des „wahren Wesens“ der Musik seinen Anfang bei Palestrina fand, seine Präsenz in der Gegenwart bzw. unmittelbaren Vergangenheit jedoch allein im deutschsprachigen Raum verortet wird  : Alle jene von Hoffmann genannten Komponisten, welche die Romantik in den vorigen 20 Jahren zum Ausdruck gebracht haben, sind diesem deutschsprachigen Gebiet unmittelbar zuzuschreiben.105 Die vorwärts gerichtete Entfaltung des „waltenden Geists“ der Welt- und Musikgeschichte beschreitet bei Hoffmann damit signifikanterweise einen Weg, der entlang einer geografisch-vertikalen Achse zeitlich nach Norden führt. Das identitätsstiftende Potenzial dieses musikgeschichtlichen Konstrukts um die Figur Palestrina bleibt dabei bei Hoffmann, zumindest im Rahmen dieser Schrift, weitgehend unausgeschöpft. Im Laufe der folgenden Jahrzehnte lässt sich dagegen eine progressive Explizierung der nationalen Implikationen dieses musikhistorischen Verständnisses beobachten. Anhand dieses Konstrukts wurde die Autonomieästhetik mit der deutschen nationalen Identität verbunden und diese mit dem Rekurs auf Palestrina versinnbildlichte Verschränkung vom Nationalen und Ästhetischen fand in den Schriften Richard Wagners eine ihrer zentralen Formulierungen. 105 Hoffmann ist diesbezüglich nicht explizit, wie vorher bereits gesagt wurde  ; die Verortung der neuen, romantischen „Morgenröte“ im deutschsprachigen Raum ist jedoch im Aufsatz unmissverständlich. Unter anderem schreibt Hoffmann an einer Stelle  : „Es ist nämlich wohl gewiß, dass die Instrumentalmusik sich in neuerer Zeit zu einer Höhe erhoben hat, die die alten Meister nicht ahnten […]. Haydn, Mozart, Beethoven entfalteten eine neue Kunst, deren erster Keim sich wohl eben erst in der Mitte des achtzehnten Jahrhunderts zeigte. Daß der Leichtsinn, der Unverstand mit dem erworbenen Reichtum übel haushaltete […], war nicht die Schuld jener Meister, in denen sich der Geist so herrlich offenbarte.“ Hoffmann 1988, Alte und neue Kirchenmusik, 241. Gleich am Anfang des Textes, als Hoffmann die Komponisten aufführt, die in den vorigen 20 Jahren der „ewig waltenden, unsichtbaren Kirche“ der wahren Kunst mit ihrer Musik gedient und ihre „geistige Verklärung“ mit dem eigenen „irdischen Untergang“ bezahlt haben, nennt er zusammen mit Mozart lediglich Johann Friedrich Fasch und Johann Christoph Vogel, deren „deutsche“ Zugehörigkeit ausdrücklich und mit polemischem Unterton erwähnt wird  ; siehe ebd., 220. Über die „nationalen“ Implikationen von Hoffmanns musikkritischer Tätigkeit und ihre problematische historische Zuordnung siehe auch die Fußnote 100, S. 61 in der vorliegenden Arbeit.

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Als Wagner 1849 in seinem Entwurf zur Organisation eines deutschen NationalTheaters für das Königreich Sachsen und zwölf Jahre später in Zukunftsmusik auf Palestrina zu sprechen kam, blieb er sehr nah an der hoffmannschen Vorlage.106 Wie bereits Hoffmann kippte auch Wagner Agazzaris und Praetorius’ Deutung der Rettungslegende komplett um und machte Palestrina zur Versinnbildlichung der ästhetischen Zäsur zwischen Autonomie- und Nachahmungsästhetik. Die Musik Palestrinas wurde von Wagner eindeutig im oben genannten musikgeschichtlichen Konstrukt eingebettet, dessen deutschnationale Implikationen jedoch erst in Beethoven von 1870 expliziert wurden. In dieser Schrift wurde Palestrina als der letzte Repräsentant einer Musik dargestellt, die den universell geltenden „Menschengeist“ kurz vor dessen Degeneration in den „künstlichen Formalismus“ der italienischen Oper vertrat.107 Erst mit Beethoven, „der in der reinsten Sprache aller Völker redete“, wurde dieser Menschengeist von „tiefer Schmach“ erlöst. An einer Stelle schrieb Wagner  : „Wir wissen, daß der ‚über den Bergen‘ so sehr gefürchtete und gehaßte ‚deutsche Geist‘ es war, welcher überall, so auch auf dem Gebiete der Kunst, dieser künstlich geleiteten Verderbniß des europäischen Völkergeistes erlösend entgegentrat.“108 Beethoven als Vertreter des modernen „deutschen Geists“ löste damit gerade jenen übernationalen, universell geltenden „Menschengeist“ ein, der nach Palestrina abhandengekommen war. Das bereits bei Hoffmann vorhandene Nar106 Siehe Wagner s. d. [1914], Entwurf, insbesondere 254 und Wagner s. d. [1914], Zukunftsmusik, insbesondere 90. Über Wagners kompositorische Rezeption der Musik Palestrinas und insbesondere über seine Bearbeitung des Palestrinischen Stabat Mater siehe Garratt 2002, Palestrina and the German, 222–227. 107 So schreibt Wagner an einer Stelle  : „Mit Palestrina’s Musik war auch die Religion aus der Kirche geschwunden, wogegen nun der künstliche Formalismus der jesuitischen Praxis die Religion, wie zugleich die Musik kontrereformirte. So verdeckt der gleiche jesuitische Baustyl der zwei letzten Jahrhunderte dem sinnvollen Beschauer das ehrwürdig edle Rom  ; so verweichlichte und versüßlichte sich die glorreiche italienische Malerei  ; so entstand, unter der gleichen Anleitung, die ‚klassische‘ französische Poesie, in deren geisttödtenden Gesetzen wir eine recht sprechende Analogie mit den Gesetzen der Konstruktion der Opernarie und der Sonate auffinden können.“ Wagner s. d. [1914], Beethoven, 84. 108 Beide Zitate  : ebd.



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rativ einer musikgeschichtlichen Entwicklung entlang einer Achse von Süden nach Norden wird nun explizit für die Beanspruchung einer kulturellen Identität des deutschen Kollektivs verwendet  : Das historische Konstrukt sichert bei Wagner expressis verbis jene Synergie zwischen Beethoven und Palestrina, zwischen „deutschem Geist“ und „Menschengeist“, die die Autonomieästhetik als das Spezifikum eines Deutschen in der Musik bestimmte und sie gleichzeitig zur universell geltenden, allgemein verbindlichen Norm des Musikalischen machte. Damit fungiert Palestrina hier explizit als unentbehrlicher Bestandteil der nationalen Musiktradition Deutschlands   : Als Versinnbildlichungsfigur der mythischen Ursprünge eines angeblich wahren Wesens der Musik und dessen musikgeschichtlichem Werdegangs sicherte er jene Verschränkung zwischen (deutsch-)nationalen und universalen Aspekten, die bereits 1878 Friedrich Nietzsche veranlasst hatte, Palestrina und Bach in einem Atemzug als die Gründungsväter schlechthin der gesamten modernen Musik zu nennen.109 Die Beständigkeit der hier kurz angedeuteten nationalen Aneignung Palestrinas in Deutschland zeigt sich anhand zweier Beispiele der deutschen Pales­ trina-Rezeption aus den Jahren um die Berliner Rundfunksendung. Obwohl in Pfitzners Oper Palestrina von 1917 an keiner einzigen Stelle nationalistische Parolen angeschlagen werden, erkannte Thomas Mann in seinen ein Jahr später erschienenen Betrachtungen eines Unpolitischen sofort die deutschnationalen Implikationen dieses Werkes.110 Die vermeintliche Weltfremdheit Palestrinas, 109 So schrieb Nietzsche im Abschnitt 219 („Religiöse Herkunft der neueren Musik“) des ersten Bands von „Menschliches, Allzumenschliches“  : „Die seelenvolle Musik entsteht in dem wiederhergestellten Katholizismus nach dem Tridentiner Konzil, durch Palestrina, welcher dem neu erwachten innigen und tief bewegten Geist zum Klange verhalf  ; später, mit Bach, auch im Protestantismus, soweit dieser durch die Pietisten vertieft und von seinem ursprünglichen dogmatischen Grundcharakter losgebunden worden war.“ Nietzsche 1969, Menschliches, Allzumenschliches, 181. Zur Bach-Rezeption siehe die Fußnoten 91, S. 58 und 122, S. 70 in der vorliegenden Arbeit. 110 „Ein Werk also, […] deutsch, noch deutsch […] etwas Letztes und mit Bewusstsein Letztes aus der schopenhauerisch-wagnerischen, der romantischen Sphäre, mit seinen dürerischfaustischen Wesenzügen, seiner metaphysischen Stimmung.“ Im weiteren Verlauf des Texts präzisiert Mann seine Ausführung mit folgenden Worten  : „Nicht sowohl um die Krönung der italienischen Kirchenmusik handelt es sich, sondern um den ‚letzten Stein‘ zum Gebäude der romantischen Oper, um den wehmutsvollen Ausklang einer national-künstlerischen Bewe-

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der sich lediglich den ewigen Gesetzen der Kunst beugte, sowie das programmatische Schopenhauer-Zitat am Anfang von Pfitzners Partitur, das den „schuldlosen und nicht blutbefleckten“ Gang der Künste neben – und nicht in – der Weltgeschichte pries, machten die Figur Palestrinas zur Versinnbildlichung ­eines Musikverständnisses, das in der Zeit des Ersten Weltkrieges unmittelbar mit der deutschen „Kultur“ verbunden wurde.111 Als zweites Beispiel für die Beständigkeit der nationalen Aneignung Palestrinas in Deutschland lässt sich ein musikwissenschaftlicher Aufsatz anführen, den der Begründer des musikwissenschaftlichen Seminars in Tübingen, Karl Hasse, im Jahr 1926 veröffentlichte. Hasse hinterfragt vier zentrale „subjektive Komponisten, die ihr Inneres aussprechen, […] ohne Rücksichten auf besondere darzustellende Stoffe“.112 Palestrina, der auch hier als Inbegriff der Ablehnung einer Nachahmungsästhetik fungiert, wird an den Anfang gestellt. Es folgen drei weitere, allesamt deutsche Komponisten  : Heinrich Schütz, Johann Sebastian Bach und Ludwig van Beethoven. Auch in diesem Fall wird Palestrina also in seiner Funktion als symbolischer Gegenpol zur Nachahmungsästhetik in ein geschichtliches Konstrukt eingebettet, das – um es mit dem Titel einer Aufsatzsammlung des Wagnerianers Arthur Seidl aus dem Jahr 1901 zu sagen – Von Palestrina zu Wagner führt.113 Dieses Rezeptionsmuster und seine enge Verbindung mit nationalistischen Intentionen trat auch im Bereich der katholischen Pflege Palestrinas seitens des Cägung […]. Kein christlicher Kosmopolitismus aber kann mich hindern, im Romantischen und Nationalen eine und dieselbe ideelle Macht zu erblicken  : die herrschende des neunzehnten, des ‚vorigen‘ Jahrhunderts.“ Mann 1920, Betrachtungen eines Unpolitischen, jeweils 407–408 und 427–428. 111 Siehe den bei Adolph Fürstner im Jahr 1916 erschienenen Klavierauszug zu Pfitzners „Pales­ trina“. Signifikant ist in dieser Hinsicht auch Pfitzners berühmt gewordene Zusammenfassung der geschichtlichen „Entfaltung“ der Musik, die er in seiner Polemik gegen Busoni mit folgenden Worten formulierte  : „Mir hatte sich die Entwicklung und Erziehung des Kindes Musik im Ganzen anders dargestellt. Ich habe immer mit Befriedigung und Bewunderung auf den Erziehungsgang des schönen Kindes geblickt. Nachdem es bei seiner niederländischen Amme zu einem bewundernswürdig großen, strammen und gesunden Baby aufgewachsen war, verbrachte es selige Zeiten in der italienischen Pension und ist jetzt seit 150 Jahren als schöner und starker Jüngling in unserm Deutschland zu Hause, wo er hoffentlich sich noch lange wohlfühlen wird.“ Pfitzner 1926, Futuristengefahr, 193. 112 Hasse 1926, Palestrina, Schütz, Bach, Hft. 2, 33. 113 Seidl 1901, Von Palestrina zu Wagner.



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cilianismus zunehmend in den Vordergrund. Bereits Spitta hatte im Jahr 1894 in Bezug auf die Anfänge der Palestrina-Forschung in Deutschland zu Beginn des 19. Jahrhunderts bemerkt, dass sowohl der Protestant Carl Georg Vivigens von Winterfeld als auch der katholische Carl Proske „vom Wesen der neuen Zeit“ und damit „von nationaler Begeisterung“ für den Komponisten erfüllt waren.114 Inwieweit die „nationale Begeisterung“ des Cäcilianismus zum Zeitpunkt der Berliner Sendung virulent war, zeigt sich bei Otto Ursprung, der zusammen mit Karl Gustav Fellerer der wichtigste Vertreter der katholischen Palestrina-Forschung im Deutschland der Zwischenkriegszeit war. Im Jahr 1926 schrieb er einen Aufsatz mit dem programmatischen Titel Palestrina und Deutschland.115 Hier betonte er nicht nur die „nordische“ Herkunft der polyfonen Kunst Palestrinas, sondern auch die „einzigartige Mission“ Deutschlands in der Rezeption des Komponisten, die sich durch die Jahrhunderte hindurch bis in die moderne Musikwissenschaft tradiert hatte.116 Auch die „ethische Bedeutung“ Palestrinas sei für Ursprung noch in jüngster Zeit durch Pfitzners Oper in Deutschland hochgehalten worden. Ursprungs Fazit zu den über die Jahrhunderte hinweg äußerst vielfältigen Bezügen zwischen Deutschland und Palestrinas Musik lautete  : „Gerade von Rom aus, nicht der Person nach, sondern als Künstler, so ward er [Palestrina, d. V.] unser.“117 Die nationale Aneignung Palestrinas scheint hier mit der Beanspruchung einer Art „geistigen Deutschtums“ für den Renaissance-Komponisten nun vollkommen.

2.3  Funktionen einer nationalen Identifikationsfigur  : Palestrina als Garant der Universalität deutscher Musikkultur

Anhand der synchronen Zeitdimension ließen sich in der Programmgestaltung der Berliner Palestrina-Sendung von 1925 sowohl eine interne Spannung zwischen allgemeinbildenden und konfessionellen Intentionen als auch eine regelrechte In114 Spitta 1894, Palestrina, 90. 115 Ursprung 1926, Palestrina und Deutschland. 116 „Schon von Anfang an ist er der deutschen Musikkultur unmittelbar nahe gestanden, und umgekehrt war Deutschland in Sachen der Palestrinapflege und der Palestrinaforschung eine einzigartige Mission beschieden.“ Ebd., 192. 117 Ebd.

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kohärenz gegenüber dem im Titel festgesetzten zeitlichen Rahmen des Programms feststellen, der durch Bachs Cellosuite überschritten wurde. Als Leithypothese wurde die Existenz eines den einzelnen kontrastierenden Aspekten übergeordneten und in der Figur Palestrinas symbolisch vermittelten Diskurses angenommen, der die Spannungen und Inkohärenzen damals sinnstiftend harmonisierte und auf den das Konzert in seiner Repertoireauswahl verwies. Aus der Betrachtung der diachronen Zeitebene seit dem beginnenden 19. Jahrhundert kristallisierte sich eine deutsche Palestrina-Rezeption heraus, die die Figur des Renaissance-Komponisten mit einer neuen musikästhetischen Bedeutung versah und diese immer weiter mit einer identitätsstiftenden Funktion zur Herausbildung eines nationalen Kollektivs verschränkte. Diese Verschränkung von ästhetischen und nationalen Momenten nahm die Form eines musikgeschichtlichen Konstrukts an, das sich in der Figur Palestrinas symbolisch artikulierte. Bei einem erneuten Blick auf die Programmzusammenstellung lässt sich die Präsenz gerade dieses Konstrukts als strukturierendes Prinzip der Repertoireauswahl erkennen. Aus dieser Perspektive heraus erhielt die Sendung ihre interne Kohärenz und Plausibilität. Betrachtet man den katholisch kodierten Choranteil des Berliner Programms genauer, lässt sich eine durchaus gezielte Auswahl der aufgeführten Stücke feststellen  : Ausgehend vom päpstlichen Rom, beschreitet die Sendung einen raffinierten stilistischen und geografischen Weg, dessen zweite Station das München des berühmten Zeitgenossen Palestrinas, Orlando di Lasso darstellt. Indem allein für diese beiden Komponisten Ausschnitte aus dem ordinarium missae vorgesehen werden, die – nach der auffälligen Interpolation von Bachs Cellosuite – zudem noch direkt aufeinander folgen, wird vom Programm ein unmittelbarer Vergleich zwischen Palestrina und Lasso suggeriert, der durchaus im Sinne der damaligen Lasso-Rezeption lag. Als der Lasso-Spezialist Adolf Sandberger im Jahr 1924 in einer Festrede für das 165. Jubiläum der Bayerischen Akademie der Wissenschaften die musikgeschichtliche Stellung Palestrinas und Lassos verglich, griff er auf seinen berühmten Aufsatz über Lasso von 1894 zurück und betonte, wie Palestrina in seiner unnachahmlichen Perfektion eine Epoche zu Ende gebracht habe. Lasso habe die Musik stattdessen für die sich anbahnenden neuen Wege geöffnet.118 Gegen 118 Sandberger 1926, Orlando di Lasso und die geistigen Strömungen. Bereits im Jahr 1894 hatte



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Ende seiner Rede bemerkte Sandberger außerdem in Bezug auf die „tiefernste, zerknirschte, weltentsagende Stimmung“, die die spätere Madrigalproduktion Lassos prägt, wie dafür „unfehlbar auch die germanische Unterströmung in seiner (entsprechend den Verhältnissen in den Niederlanden) also so komplizierten Psyche“ verantwortlich gemacht werden müsse.119 Damit wird Lasso explizit als „deutsch“ bzw. als „germanisch“ kodiert. Anhand seines Vergleichs von Lasso und Palestrina deutete Sandberger die Musik Lassos somit als zukunftsorientiert und „germanisch“. Auf diese Weise fügte er Lasso implizit in jenes musikgeschichtliche Konstrukt ein, zu dessen Versinnbildlichung die Figur Palestrinas in Deutschland auserkoren worden war. Die strukturierende Präsenz dieser musikgeschichtlichen Sicht lässt sich auf der Ebene der Sendung jedoch nicht allein (und primär) in der Entscheidung erkennen, Palestrina direkt mit Lasso zu vergleichen. Die Vorstellung eines hegelschen „waltenden Geistes“ der Welt- und Musikgeschichte, der die Essenz der „wahren und guten Music“ Palestrinas, die über die Jahrhunderte hinweg unaufhörlich gen Deutschland trieb, durchdringt, strukturiert die gesamte Repertoireauswahl. Tatsächlich erfolgte die Zusammenstellung der anderen Werke in strikt chronologischer Reihenfolge. Zudem suggeriert sie einen konstanten musikalischen Austausch entlang der Nord-Süd-Achse, der signifikanterweise mit Gregor Aichinger in Deutschland seinen programmgestalterischen Schlusspunkt findet.120 Ausgerechnet Aichinger gilt als einer der Ersten, der um 1600 im deutschen Raum die franko-flämische Vokalpolyfonie ablöste, indem er hier die von seiSandberger die zwei Komponistenfiguren mit folgenden Worten zusammenfassend gedeutet  : „Das aber ist das wunderbare Spiel der Natur, daß in besonders gesegneten Tagen, im Höhepunkt einer Entwicklung die letzte höchste Leistung in der Zweiheit verschiedener Individualitäten zum Ausdruck kommt  ; die Natur scheint sich dieser Zweiheit auch zu bedienen, um gewisse Gegensätze des künstlerischen Schaffens aufrechtzuerhalten, die so alt sind wie das künstlerische Schaffen überhaupt.“ Sandberger 1921, Zur Biographie, 32–33. Sandbergers Lasso-Aufsatz von 1894 wurde im selben Jahr ins Italienische übersetzt und in der soeben gegründeten Rivista musicale italiana veröffentlicht  ; siehe Sandberger 1894, Orlando di Lasso. 119 Sandberger 1926, Orlando di Lasso und die geistigen Strömungen, 27–28. 120 Das restliche Programm des Konzerts geht in der Tat mit Jacobus Gallus (Jacob Handl) nach Zentraleuropa hinauf, kehrt kurz zurück nach Rom mit Felice Anerio und den Ausläufern des Palestrina-Stils, um dann wieder mit Jan Pieterszoon Sweelinck nach Norden zu gehen und danach einen Blick auf die neuen musikalischen Strömungen Venedigs mit Antonio Lotti und Augsburgs mit Gregor Aichinger zu werfen.

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nen Italienreisen mitgebrachte Technik des basso continuo einführte.121 Mit Aichinger geht damit das Konzert nicht nur bis zu den zeitlichen Grenzen der franko-flämischen Vokalpolyfonie, die er anhand der in Italien erlernten seconda prattica auch in Deutschland ablöste. Das Konzert zeichnet zusätzlich noch den Weg der „wahren Musik“ von Italien nach Deutschland nach. Vor diesem Hintergrund macht gerade die vermeintlich inkohärente Wahl der bachschen Cellosuite in der Berliner Sendung das musikhistorische Konstrukt um die Figur Palestrinas sinnfällig, indem sie es noch einmal in seinen nationalen Implikationen vervollständigt. Dies wird nicht zuletzt durch die besondere Platzierung des bachschen Stückes innerhalb des Programms deutlich  : Die Suite erklingt nicht in der Mitte des Konzerts, wo sie indirekt eine Art Pause hätte signalisieren können  ; stattdessen wird sie Palestrina auf programmatische Weise direkt gegenübergestellt. Mit dieser Entscheidung der Rundfunkanstalt erfüllt das weltliche Instrumentalstück Bachs eine zweifache Funktion  : Einerseits trennt es Palestrina zeitlich und stilistisch vom Rest des Programms und konstruiert eine Sonderstellung des Renaissance-Komponisten. Andererseits gibt das Werk Bachs auch die richtige Deutung der Sonderstellung Palestrinas im Sinne des vorher hervorgehobenen musikgeschichtlichen Konstrukts vor  : Die programmgestalterisch konstruierte Heraushebung Palestrinas wird einem Komponisten gegenübergestellt, dessen deutsch-nationale Bedeutung im Jahr 1925 unmissverständlich war.122 Mit Bach wurden dabei jedoch nicht nur die nationalen Konnotationen, sondern auch die ästhetisch-stilistischen Aspekte des besagten Konstrukts wieder121 Dies hatte bereits Aichinger selbst in der Vorrede zu seinen Cantiones ecclesiasticae von 1607 behauptet, indem er schrieb  : „Also hat man newlichen in Italia ein sonderbaren modum componendi erdacht […] welches nuhn vor anderen gar schön vnd fürtrefflich praestiert hat Lodouicus Viadana, welchem Viadana Ich ingegenwertigen opusculo hab wöllen nachfolgen“  ; siehe Aichinger 1972, Cantiones Ecclesiasticae, VIII. Proske bemerkte 1853, wie Aichingers Musik „mit glücklichstem Erfolg das Beste nachgebildet [hat], was die damalige Kunstepoche in Venedig und Deutschland erreicht hatte“, vgl. Proske (Hg.) 1853, Musica Divina sive Thesaurus, XVIII–XIX. 122 Im selben Jahr der Berliner Palestrina-Sendung erschien eine neue Auflage von Forkels berühmter Bach-Biografie aus dem Jahr 1802, die mit einem ausführlichen Vor- und Nachwort von Joseph Müller-Blattau versehen war. Darin resümierte der Musikwissenschaftler durchaus erfolgreich alle Topoi der deutschnationalen Umdeutung der bachschen Figur  ; siehe Forkel 1925, Ueber Johann Sebastian Bach.



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gegeben  : Ausgewählt wurde ein Werk von Bach, das weder religiös noch vokal, sondern weltlich und instrumental ist. Auf diese sehr selektive Weise wurden genau jene Aspekte hervorgehoben, die am meisten und direkt auf die ästhetisch-stilistischen Koordinaten jener Erlösung des „Menschengeistes“ durch den „deutschen Geist“ verwiesen, die Wagner in Beethovens Symphonien verwirklicht sah.123 Das Zusammenspiel der beiden Komponisten, die in der Sendung auf verschiedene Weise herausgestellt wurden, besiegelte nicht nur die Übertragung der „guten vnd wahren Music“ Palestrinas auf Deutschland, sondern auch die besondere ästhetische Ausrichtung dieser deutsch-nationalen, jedoch universell normativ geltenden Aneignung. Der Ursprung dieser Wanderung des „waltenden Geistes“ der Welt- und Musikgeschichte nach Deutschland wird gleich an den Anfang der Sendung gestellt und vom restlichen Programm in chronologischer Abfolge nachgezeichnet  : Aichingers Überführung der seconda prattica nach Deutschland bekommt mit Bach ihre „erlösende“, gleichzeitig „deutsche“ und „reinmenschliche“ Bedeutung. Die Repertoireauswahl und -zusammenstellung der Berliner Sendung fügt sich also in allen ihren Komponenten in das vorher hervorgehobene musikgeschichtliche Konstrukt ein  ; sie ordnet die einzelnen Teilaspekte der Sendung anhand des national-ästhetischen Diskurses, auf den die Figur Palestrinas in Deutschland ab dem beginnenden 19. Jahrhundert symbolisch verwies. Inwieweit dies als eine bewusste Entscheidung der Rundfunkleitung oder als Resultat eines eher unbewussten Agierens im Sinne des musikhistorischen Konstrukts aufgefasst werden muss, ist eine Frage, die sich aufgrund der Quellenlage nicht beantworten lässt. In gewisser Weise ist diese Frage für die vorliegende Untersuchung von einer untergeordneten Wichtigkeit  : Bedeutsamer als die bewusste Instrumentalisierung von Radioprogrammen oder die unbewusste Anpassung an vorherrschende Narrative seitens der Radiomacher ist, zu bemerken, dass das mit dem musikgeschichtlichen Konstrukt eng verbundene nationale Narrativ kaum umgangen werden konnte. In dieser Hinsicht ist der katholische 123 Zu Wagners Verschränkung von national und universal unter dem Vorzeichen einer „deutschen Musik“ siehe Cohen 2008, To the Dresden barricades. Zur Verschränkung von Autonomieästhetik und nationaler Identität im deutschen Musikdiskurs siehe unter anderem Nowak 2001, Vom Trieb nach Vaterländischem sowie die Fußnote 100, S.  61 in der vorliegenden Arbeit.

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Anteil der Sendung signifikant  : Der Aspekt der konfessionellen Zugehörigkeit wird sichtlich hervorgehoben, die Auswahl und die zeitliche Abfolge der Werke erfolgen jedoch im Rahmen der besagten musikgeschichtlichen Perspektive, die schließlich der Herausbildung einer nationalen Musiktradition diente. Die Rundfunkanstalt begnügte sich damit, diese Perspektive durch die Hinzufügung der bachschen Cellosuite zu explizieren. Dies lässt sich auf die Verschränkung von katholischer und deutschnationaler Loyalität zurückführen, die bereits Spitta in seinem Artikel von 1894 bemerkt hatte und die der in der Cäcilianischen Bewegung engagierte Musikwissenschaftler Otto Ursprung ein Jahr nach der Berliner Sendung noch einmal eindeutig unterstrich.124 Kurt Weill hatte stattdessen versucht, in seiner Programmankündigung in Der deutsche Rundfunk sowohl die konfessionellen als auch die deutschnationalen Komponenten der Sendung anhand eines allgemeinen Bildungskonzepts darzustellen. Er hatte dem Publikum die palestrinische „Rettung“ der Kirchenmusik als Lösung eines Konflikts zwischen der sakralen Vokalmusik und den „freien Figurationen weltlicher Instrumentalmusik“ dargestellt.125 Damit verwies er jedoch implizit auf das Palestrina-Bild, das Wagner im Jahr 1849 in Anlehnung an E. T. A. Hoffmann entworfen hatte.126 Weill nahm jedoch an keiner Stelle die bei Wagner präsenten nationalen Implikationen auf und stellte die Sendung vornehmlich als rein pädagogisches Moment dar, das den Intentionen der Rundfunkleitung nach das Publikum mit einem wichtigen Komponisten hätte bekannt machen sollen. Aus der vorigen Analyse des Programms 124 Für Spitta siehe die Fußnote 92, S. 59 im vorliegenden Text. 125 Weill schrieb in der Programmankündigung  : „Als dann die Kirchenkomponisten begannen, die freien Figurationen weltlicher Instrumentalmusik in den Kirchengesängen zu verwenden, da richtete das Tridentiner Konzil (1545–1563) seinen Protest gegen diese Profanierung der Kunst. Palestrina, der bedeutendste Komponist der katholischen Kirche, brachte die Lösung des Konfliktes.“ Weill 1925, Vom Berliner Sender, 1322. 126 Wagner schrieb 1849  : „Pabst Marzellus wollte im 16. Jahrhundert die Musik gänzlich aus der Kirche verweisen, weil die damalige scholastisch spekulative Richtung derselben die Innigkeit und Frömmigkeit des religiösen Ausdruckes bedrohte  : Palestrina rettete die Kirchenmusik vor der Verbannung, indem er diesen nöthigen Ausdruck ihr wieder verlieh  ; […]. Der erste Schritt zum Verfall der wahren katholischen Kirchenmusik war die Einführung der Orchester-Instrumente in dieselbe  : durch sie […] hat sich dem religiösen Ausdruck ein sinnlicher Schmuck aufgedrängt, […] und bald drang der weltliche Operngeschmack vollständig in die Kirche ein.“ Wagner s. d. [1914], Entwurf, 254.



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geht jedoch eindeutig die Untrennbarkeit der „allgemeinbildenden“ und der „nationalen“ Aspekte in der damaligen Palestrina-Rezeption hervor  : Bildung, Konfession, Musikästhetik fanden sich in einem musikgeschichtlichen nationalen Traditionskonstrukt vereint, zu dessen Versinnbildlichung die Figur des Renaissance-Komponisten diente. Palestrina wurde zum Emblem der mythischen, noch anationalen Ursprünge des „wahren Wesens“ der Musik stilisiert und gleichzeitig als krönender Höhepunkt einer untergehenden Epoche verstanden, deren ästhetische Substanz erst mit Bach und dann mit Beethoven in Deutschland zu neuer Blüte kam. Im Einklang mit der sich ab dem 19. Jahrhundert progressiv etablierenden spezifischen Rezeption des Komponisten in Deutschland diente das PalestrinaBild der Berliner Rundfunksendung somit schließlich der Legitimierung der Gemeinschaftsvorstellung einer deutschen Nation, die sowohl eigenspezifische Züge als auch eine Allgemeingültigkeit in der musikalischen Welt beanspruchte. Palestrina sicherte als Versinnbildlichung des hier vorgestellten musikgeschichtlichen Konstrukts die „Reinmenschlichkeit“, das heißt die normative Universalität einer deutschen Musikkultur. Welche kulturpolitische Rolle hatte jedoch ein solches Verständnis der eigenen nationalen Musiktradition im Kontext der Weimarer Republik  ?

3. Fazit – „Kultur(en) der Niederlage“  ? Gemeinsamkeit zweier differierender Traditionstypologien Am Ende der Analyse der Berliner und der Römischen Palestrina-Sendung von 1925 lässt sich in beiden Fällen die Erfüllung jener nationalen Aufgabe eindeutig feststellen, die damals sowohl in Deutschland als auch in Italien als bestimmendes Ziel des neuen Mediums Rundfunk angesehen wurde. Aus der Hinterfragung der zwei Programme entlang der synchronen und der diachronen Zeitdimension gehen jedoch zugleich auch grundlegende Unterschiede in den Modalitäten des Vollziehens dieser Aufgabe und dementsprechend auch der nationalen Aneignung Palestrinas in den zwei Ländern hervor. Es lässt sich vor allem eine deutlich differierende Schwerpunktsetzung in der Darstellung des Komponisten zwischen Rom und Berlin beobachten, die auf zwei unterschiedliche Typologien der nationalen Musiktradition des jeweiligen Landes verweist. In Italien wurde die Figur des Princeps musicae zum Inbegriff ziviler Tugenden und zur Versinnbildlichung eines als holistisch und eindimensional aufgefassten italienischen Volks  ; eines Volkes, das die ungelöste, jedoch immer präsente Spannung zwischen freiheitlichen und identitätsstiftenden Komponenten im Nationskonzept des Risorgimento mit einem verhängnisvollen Verzicht auf den ersten Aspekt auflöste.127 Anhand der Figur des Renaissance-Komponisten wurde ein eigenspezifisches Bild der nationalen Musiktradition artikuliert  : Sie bestand in der progressiven Durchsetzung eines popolare, das entlang der vorher erwähnten Koordinaten aufgefasst wurde und dadurch den nationalen Diskurs 127 Der italienische Historiker Alberto Mario Banti sprach 2004 diesbezüglich von einem „zweideutigen Erbe“ („eredità ancipite“) des Risorgimento. Er konstatierte ab der Regierung der „Sinistra storica“ von Agostino Depretis 1876 eine zunehmende Ausschließung der freiheitlichen, parlamentarischen Aspekte, die den politischen Diskurs des Risorgimento geprägt hatten. Dazu soll auch die Herausbildung einer „patriotischen Pädagogik“ im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts beigetragen habe, die die ideologischen und politischen Unterschiede zwischen den vielfältigen Kräften des Risorgimento nicht mehr berücksichtigte. Prägendes Beispiel einer solchen „Pädagogik“ stellt der Roman „Cuore“ von Edmondo De Amicis aus dem Jahr 1886 dar, vgl. Banti 2008, Il Risorgimento italiano, insbesondere 128–131. Siehe außerdem die Fußnote 77, S. 52 im vorliegenden Text.

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über die Grenze des Risorgimento hinaus in die sich anbahnende Epoche eines totalitären Verständnisses der Nation führte. Dieses popolare wurde jedoch von Anfang an von Alaleona als etwas Verlorenes dargestellt  : Die Bestimmung der Funktion der Sendung als Akt des „Wachrufens“ am Anfang der Einführung setzt in der Tat bereits ein Vergessen voraus, das wiederhergestellt werden soll. Die Konzeptualisierung der Sendung als Epiphanie eines verlorenen nationalen bzw. homogenen Volks verweist auf deren musikalische Ziele und erklärt jene letzte, verblüffende Inkongruenz in der Rede Alaleonas, die am Ende unserer Analyse der Römischen Sendung mit Erstaunen konstatiert wurde  : Alaleona stellte Palestrina 1925 nicht als entscheidendes Bindeglied für die spätere Durchsetzung der Oper und mit ihr des popolare dar, wie er es in seinem früheren musikgeschichtlichen Kompendium von 1915 vorgenommen hatte. Die Musik Palestrinas wurde stattdessen in der Einführung zur Sendung als perfektes Beispiel jenes „symphonischen Singens“ erklärt, aus dem die kompositorischen Prinzipien der (späteren und deutschen) Instrumentalmusik emporwuchsen. Palestrina stellte für Alaleona, wie er am Ende der Rede mit Pathos ausdrücklich hervorhob, die Basis dar, auf dem eine „zugleich moderne und nationale symphonische Kunst“ für Italien aufgebaut werden sollte.128 Anhand dieser schon bereits beschriebenen Verschränkung von Musikalischem und Nationalem entwarf Alaleona, der sich hier als Vertreter der Ansichten der Generazione dell’80 entpuppt, das Bild einer unterbrochenen nationalen Musiktradition Italiens  : Unter dem Vorzeichen des popolare und anhand der Versinnbildlichungsfigur Palestrina konstruiert er sowohl politisch als auch musikalisch die Vision einer nationalen Erneuerung, die ein Verlorenes bzw. Vergessenes voraussetzt. Eine Zäsur mit der unmittelbaren Vergangenheit wird von ihm impliziert und ein unterbrochenes Traditionsbild schließlich entworfen, das die Wiederherstellung der angeblich wahren und zugleich abhandengekommenen nationalen Tradition fordert. In Deutschland stand die Figur Palestrinas im Gegensatz dazu als Garant des universellen Geltungsanspruchs eines allgemein schopenhauerschen Musikverständnisses, dessen prägende Ablehnung der Mimesis-Ästhetik mit der Bestimmung eines musikalisch Deutschen progressiv verschränkt wurde. Das Berliner 128 Alaleona s. d., Parole di Domenico Alaleona, 121.

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Konzert vermittelt ein Bild der nationalen Musiktradition, die nicht wie bei der U.R.I. auf einen Bruch mit der jüngsten Vergangenheit anspielt. Es wird eine Tradition entworfen, die vielmehr auf Kontinuität und Fortschritt verweist und entlang einer teleologisch nach Deutschland ausgerichteten Vision des Gangs der (Welt‑)Geschichte gedacht wird. Im Jahr 2001 prägte der Historiker Wolfgang Schievelbusch den Begriff „Kultur der Niederlage“, anhand dessen er die kulturpolitische Lage des Südens der USA nach dem Bürgerkrieg von 1865, der französischen Gesellschaft nach Sedan 1871 sowie Deutschlands nach 1918 miteinander verglich.129 Prägend für eine solche Kultur sei unter anderem das Entstehen politischer Mythen, mit denen die Niederlage kaschiert und das Versprechen einer nationalen Erneuerung gesellschaftlich vermittelt wurde.130 Gerade eine solche Vision nationaler Wiedergeburt schien auf verschiedenen Wegen sowohl die Berliner als auch die Römische Sendung heraufbeschwören zu wollen. Italien hatte im Ersten Weltkrieg einen militärischen Erfolg erlebt, der vonseiten der rechtsgerichteten Kräfte des kulturpolitischen Lebens jener Zeit jedoch als Niederlage des Nationalen gedeutet wurde.131 Aus dem Versailler Vertrag sei für Italien diplomatisch ein „verstümmelter Sieg“ hervorgegangen  : Die anderen Siegermächte hätten die vor dem Kriegseintritt vereinbarten territorialen Versprechen nicht eingehalten. Die Machtprobe der Okkupation der heute zu Kroatien gehörenden Stadt Fiume seitens einer Gruppe von Ultranationalisten unter der Leitung von Gabriele D’Annunzio zwischen 1919 und 1920 gab dem Mythos eines verstümmelten Sieges schließlich ein politisch fassbares Profil.132 Die U.R.I. formte anhand des Palestrina-Konzerts von Alaleona die Vorstellung einer vergangenen nationalen Gemeinschaft, bei der kulturelles Primat und interne Homogenität des Kollektivs miteinander verschränkt waren. Zu ihrer mu129 Schivelbusch 2001, Die Kultur der Niederlage. 130 Ebd., 39. 131 Über die politische Lage Italiens nach dem Ende des Ersten Weltkrieges siehe unter anderem Reichardt 2007, Der Zusammenbruch. 132 Die Okkupation von Fiume stellt im Hinblick auf Italien eine der ersten konkreten Realisierungen jener „neuen Politik“ („new politics“) dar, auf welchen – nach der Meinung des Historikers George Mosse – die späteren Erfolge des Faschismus beruhten. In diesem Kontext wurden jenes symbolische Repertoire und jener „politische Stil“ entworfen, die der Faschismus bei dem Aufbau seiner Macht später ausschöpfte. Siehe Mosse 1980, Masses and Man.

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sikalischen und allgemein kulturpolitischen Wiederherstellung sollte der Vergegenwärtigungsakt beitragen, der die Sendung von Grund auf strukturierte. Alaleonas abschließender Appell an das Dreigestirn Dante, Petrarca und Palestrina bekräftigte zusätzlich die nationale Erneuerungsfunktion des Programmes. Im Gegensatz zum italienischen Konzert schien die Berliner Sendung zunächst keine Vision einer nationalen Wiedergeburt zu entwerfen. Jedoch muss bedacht werden, welche kompensatorische Funktion das Heraufbeschwören der normativen Universalität einer deutschen Musikkultur gerade in einer Zeit der politischen Niederlage erfüllen konnte. Die Repertoireauswahl stellt auch in diesem Fall ein wichtiges Instrument für die Vermittlung einer präzisen kulturpolitischen Bedeutung dar. Als Eröffnungsstück der Sendung wurde Palestrinas Vertonung des Gebets gewählt, welches das erste Buch der Klagelieder Jeremias abschließt. Das Gebet fängt mit folgenden Worten an  : „Recordare, Domine, quid acciderit nobis  : intuere et respice opprobrium nostrum. / Hae­re­ditas nostra versa est ad alienos  ; domus nostrae ad extraneos.“133 Die dadurch entstandene Parallele zur damaligen Lage Deutschlands ist einleuchtend. Angesichts des musikhistorischen Konstrukts, das im weiteren Verlauf der Sendung entworfen wurde, schien damit auch das Berliner Programm de facto eine kompensatorische Vision nationaler Größe vermitteln zu wollen. Dadurch wurde den Zuhörern ein musikalisches Pendant zum politischen Mythos einer „im Felde unbesiegten“ Armee angeboten  : Palestrina, als bereits seit dem 19. Jahrhundert zunehmend etabliertes Symbol einer „deutschen“ Identität in der Musik, erfuhr Mitte der 1920er-Jahre eine weitere Umdeutung und wurde zur Versinnbildlichungsfigur einer revanchistischen Wiedergeburt der nationalen Gemeinschaft.134 Schließlich entwarfen beide Palestrina-Sendungen anhand einer selektiven Aneignung des Vergangenen ein Bild der jeweiligen nationalen Musiktradition, das die Wiedergeburt des nationalen Kollektivs beteuerte. Wenn man am Ende wie aus der Vogelperspektive unseren zeitlichen Rahmen ausdehnt und die zwei 133 Klgl. 5,1. So lautet der Text in der Übersetzung Martin Luthers (Lutherbibel 1912)  : „­ Gedenke, Herr, wie es uns geht  : schau und sieh an unsre Schmach. / Unser Erbe ist den Fremden zuteil geworden und unsre Häuser den Ausländern.“ 134 Über den Nationalismus in der Weimarer Republik siehe auch Reichardt 2002, Märtyrer der Na­tion.

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Sendungen als Momentaufnahme innerhalb des Prozesses einer nationalen Identitätsbildung in beiden Ländern vom 19. bis zum 20. Jahrhundert betrachtet, kann vermutlich kein besserer Schluss als die Worte gefunden werden, die Nietzsche 1887 in Zur Genealogie der Moral geschrieben hat  : „Es gieng niemals ohne Blut, Martern, Opfer, wenn der Mensch es nöthig hielt, sich ein Gedächtniss zu machen.“135

135 Nietzsche 1968, Zur Genealogie der Moral, 311.

II. Nach deutschem Maß  : Integraler Nationalismus und die Erfindung einer neuen musikalischen Tradition Italiens 1890–1945

1.  Ziele und Struktur 1.1  Ein Land des melodramma  ? Nation und Tradition

Im Jahr 1930 veröffentlichte der Musikkritiker und Komponist Bruno Barilli ein kleines Buch, das den Titel Il paese del melodramma trug.136 Barilli, der zu jener Zeit 50 Jahre alt war, wollte in dieser kurzen Schrift mit poetischer Versiertheit einer Musikgattung die letzte Ehre erweisen, die seiner Meinung nach das Italienische in der Musik wie keine andere versinnbildlichte und die dennoch aus dem Musikleben der Halbinsel seit geraumer Zeit endgültig verschwunden war. Gemeint war die italienische Oper des 19. Jahrhunderts, das melodramma. An einer Stelle schrieb Barilli  : „Nach Verdi geht die italienische Oper abhanden und verschwindet demütig wie ein Ertrunkener. […] Über die eisigen Länder des Nordens fällt das Licht auch beim schönem Wetter so schwach, dass die Stadtbewohner gezwungen sind, alle Straßenlaternen einzuschalten, um genau nachzuschauen, ob die Sonne tatsächlich scheint oder nicht  : Auf dieselbe Art und Weise zünden wir zur Zeit unsere unzähligen Gaslampen an, nur um eine trübe, verengte und niedere Welt ein wenig zu beleuchten […]. Wohin ist der lebhafte Glanz unseres Operntheaters verschwunden  ?“137 136 Barilli 2000, Il paese del melodramma. Bruno Barilli (1880–1952), Komponist und Musikkritiker. Nach dem Studium am Konservatorium in Parma und einer Ausbildung als Orchesterleiter in München unter Felix Mottl, widmete sich Barilli vorwiegend der Musikkritik. Er komponierte zwei Opern  : Medusa (1910, UA 1938) und Emiral (1917, UA 1924). Im Jahr 1925 unterzeichnete er das „Manifest der faschistischen Intellektuellen“ von Giovanni Gentile (21. April 1925). Über Barilli siehe das Nachwort von Fedele D’Amico zur vorher erwähnten Ausgabe des Texts Barillis  : „Barilli, o la caducità del miracolo“, in Barilli 2000, Il paese del melodramma, 135–155, sowie Zanetti 1985, Musica italiana, 648–649. Über das Manifest von Gentile und die umgehende öffentliche Antwort von Benedetto Croce mit dem „Manifest der antifaschistischen Intellektuellen“ (1. Mai 1925) siehe Papa 1958, Storia di due manifesti. 137 „Dopo Verdi il teatro lirico italiano […] va alla deriva e scompare umilmente come un annegato. […] Sui paesi gelati del Settentrione, anche quando fa bello, la luce vien giù così debole e fioca che la gente della città è costretta ad accendere tutti i lampioni per vedere se davvero c’è o non c’è il sole  : allo stesso modo, noi, di questi tempi, diamo fuoco ai nostri innumerevoli

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Nach deutschem Maß

Mit der direkten Thematisierung eines Zentralitätsverlusts der Gattung Oper spricht hier Barilli die sicherlich auffälligste Veränderung an, der das italienische Musikleben ab dem Ende des 19. Jahrhunderts ausgesetzt war. Das Phänomen Wagner hatte in der Tat bereits vor der Aufführung des Lohengrin 1871 in Bologna auch in Italien, wie in ganz Europa, tiefgreifende Spuren hinterlassen und für eine lang anhaltende Debatte über die Zukunft der Gattung Oper in Italien gesorgt.138 Verdi hatte seinerseits spätestens ab Otello 1887 das traditionelle Gattungsprinzip des italienischen melodramma endgültig aufgegeben und sich auf den Weg eines kühnen Experimentierens mit einmaligen, von Oper zu Oper eng auf Sujet und Libretto abgestimmten dramaturgischen und musikalischen Lösungen begeben. Ihm standen ab den 1890er-Jahren die stark umstrittenen und zumeist kurzlebigen Publikumserfolge der veristi unversöhnlich gegenüber. Zunehmend wurde deutlich, dass die Gattung des melodramma ihre soziale, kompositorische und ästhetische, klassenübergreifende Konsensfähigkeit verloren hatte  :139 Unmöglich schien es für die Oper italienischer Manier, den Spagat zwischen europäischer Kunstentwicklung und den Erwartungen eines wachsenden Massenpublikums zu schaffen.140 becchi a gaz […] pur di illuminare da vicino un mondo caliginoso, ridotto e basso […]. Dove è finito lo splendore brioso del nostro teatro  ?“ Barilli 2000, Il paese del melodramma, 24–25. 138 Für den italienischen Wagnerismus siehe insbesondere Miller 1984, Wagnerism, Wagnerians, and Italian, der die Rolle des Wagnerismus in Italien mit folgenden Worten zusammenfasst  : „Wagnerism helped Italian culture define itself. […] In its later phase, then Wagnerism served as a catalyst in the emergence of Italy’s new ‚integral‘ nationalism and in the formulation of its generally illiberal character. The relationship was close and symbiotic and, paradoxically, most effective as Wagnerism appeared to decline.“ Ebd., 197. Für eine chronologische Einordnung und vor allem für eine breite Auswahl an Ausschnitten und bedeutenden Zitaten aus der italienischen Publizistik zum Thema Wagner in den Jahren von 1871 bis 1982 siehe außerdem Ziino 1982, Aspetti della critica wagneriana, insbesondere 317–380 für die Zeitspanne bis 1933. 139 Für die These eines „Verlusts der Gattung unter dem Primat des Ästhetischen“ siehe Döhring Sieghart/Henze-Döhring (Hg.) 1997, Oper und Musikdrama, 327–335. Für eine Analyse von Verdis Otello aus dieser Perspektive siehe außerdem das Kapitel „Dramma musicale  : Von Boitos Mefistofele zu Verdis Otello“, im vorher zitierten Buch von Sieghart Döhring und Sabine Henze-Döhring, 198–216. 140 Für eine knappe, dennoch informative Gesamtschilderung der italienischen Opernlandschaft um die Jahrhundertwende siehe Bernardoni 2005, Puccini and the dissolution. Spezifisch auf Francesco Cilea, Umberto Giordano und Franco Alfano fokussiert, die die wichtigsten italienischen Opernkomponisten der Jahrhundertwende, Puccini ausgenommen, darstellen, ist auch  : Streicher (Hg.) s. d. [1999], Ultimi splendori.



Ziele und Struktur

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Barillis melancholisches Festhalten an der Gattung des melodramma und die Rhetorik des „schönen Abglanzes“ der Oper lassen deutlich seine kulturpessimistische Haltung erkennen. Aus dem anfänglichen Zitat geht jedoch auch etwas anderes hervor  : Barillis durchaus parteiische Schilderung der jüngsten musikalischen Vergangenheit des Landes gestaltet sich de facto als eine indirekte Antwort auf zwei präzise Fragen  : Was ist das Italienische in der Musik  ? Und, was ist die musikalische Tradition Italiens  ? Es sind gerade diese beiden eng zusammenhängenden Fragen, die das gesamte Musikleben Italiens ab dem Ende des 19. Jahrhunderts und bis zum Faschismus von Grund auf strukturierten. Wie es im Jahr 2000 Guido Salvetti deutlich formuliert hat, ist es die Suche nach einer nationalen Musiksprache, die den italienischen Musikdiskurs bis 1943 und z. T. noch darüber hinaus bestimmte.141 Und diese Suche war mit der Frage nach der musikalischen Vergangenheit des Landes eng verbunden, wie Barillis Zitat exemplarisch verdeutlicht.

1.2  Eine Trias von Transzendentalen  : Nationalismus, symphonische Tradition und Deutschlandbezug

Die Vorstellung nationalspezifischer Eigenschaften von Musik und die Diskussion um das eigentümlich Italienische weisen eine lange Vorgeschichte im Musikdiskurs auf, der spätestens mit Giuseppe Mazzinis Filosofia della musica von 1836 einen ersten signifikanten Verdichtungspunkt in Italien erreicht hatte.142 Auf den folgenden Seiten möchte ich jedoch den qualitativen Sprung hervorheben, den diese Diskussion ab den 1890er-Jahren erlebte, und erläutern, wie die Kategorie des Nationalen zu jenem Zeitpunkt eine normative Wirkung annahm, die sich auf alle Aspekte des Musikalischen erstreckte. Dabei wird im Folgenden eine der auffälligsten Konsequenzen als Leitfaden der Untersuchung verwendet, die das In-den-Mittelpunkt-Stellen der Frage nach einem vermeintlichen Italienischen in der Musik mit sich brachte  : Im letz141 Salvetti 2000, Ideologie politiche. 142 Mazzini 1954, Filosofia della musica. Für eine Schilderung des Einflusses von Mazzinis Schrift auf das Theaterleben Italiens bis in die 1860er-Jahre siehe Henze-Döhring 2004, Musica italiana.

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ten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts wurde entlang der intellektuellen Koordinaten eines sich durch ganz Europa ausbreitenden integralen Verständnisses der Nation eine neue musikalische Tradition des Landes erfunden, die das tradierte Selbstverständnis eines Italien als ewigem Land der Oper radikal erschütterte.143 Im Zusammenhang mit der Etablierung der ebenfalls neuen Disziplin Musikwissenschaft wurden ab jenem Zeitpunkt zahlreiche neue Quellen erschlossen, die auf ein kaum bekanntes Repertoire an „italienischer“ Instrumentalmusik verwiesen  : Komponisten wie Pietro Locatelli, Giovanni Battista Sammartini oder Antonio Vivaldi wurden als Teil einer sogenannten symphonischen Tradition Italiens gedeutet, die vor den großen deutschen Klassikern entstanden sein sollte. Für Italien wurde ein Erfindungsprimat im vornehmlich deutschen Bereich der Symphonik in Anspruch genommen. Wie sollte jedoch das Verhältnis dieses neuen nationalen Vergangenheitsbilds gegenüber dem alten, allein auf die Oper fokussierten Traditionsverständnis gestaltet werden  ? Indem diese neue symphonische Tradition nicht ohne Widersprüche mit den Bestrebungen der sich anbahnenden Avantgarde verschränkt wurde, entstand eine konfuse und logisch brüchige Debatte über die musikalische Identität Italiens, die sich scheinbar entlang eines aut-aut zwischen Oper und Symphonie abspielte  : Die Einführung der Instrumentalmusik oder deren Vermeidung, die Akzeptanz einer symphonischen Tradition des Landes oder deren Ablehnung wurden zu zentralen Streitpunkten eines Musikdiskurses, der von Grund auf vom nationalen Gedanken strukturiert wurde. Das Beispiel der symphonischen Tradition verdeutlicht außerdem, wie die Frage nach der eigenen nationalen Identität eng mit der Konstruktion eines „Anderen“ verbunden ist. Die Strukturierung (und Spaltung) des italienischen Musikdiskurses im Namen der Zukunftsvision einer nationalen Musikkultur und die daraus resultierenden Polemiken über die Tradition(en) des Landes wurden zumindest bis zum Ende des Ersten Weltkriegs mit einem festen Referenz­­punkt ausgetragen, und dies war Deutschland bzw. das Konstrukt einer „deutschen Musik“, wie es sich im Laufe des 19. Jahrhunderts international

143 Über das im Rahmen der vorliegenden Arbeit zentrale Konzept des „integralen Nationalismus“ siehe insbesonderen § II.2.2.



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gefestigt hatte.144 Die Auffassung einer neuen, genuin italienischen symphonischen Tradition konnte nur entlang der Koordinaten eines ästhetischen Primats der „wortlosen“ Musik gegenüber der vokalen entworfen werden  ; eines Primats, das sich ab der frühen Romantik in Deutschland kompositorisch und argumentativ gefestigt und schrittweise mit der eigenen nationalen Identität verschränkt hatte.145 In der Erfindung und Strukturierung einer neuen symphonischen Tradition Italiens spiegelten sich damit die Hauptelemente des Konstrukts einer deutschen Musik in verkappter Form wider  : Eine kreative Aneignung der Autonomieästhetik hatte stattgefunden. Fiamma Nicolodi hat im Jahr 1984 den italienischen Musikdiskurs in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts unter einer „thematischen Trias“ („triade tematica“) zusammengefasst  :146 Entlang der zwei Grundpositionen von Konservatismus und Avantgardismus drehte sich dieser Diskurs inhaltlich um die Akzeptanz bzw. Ablehnung der Opernproduktion des 19. Jahrhunderts, des Neoklassizismus und des sogenannten Internationalismus (der Berücksichtigung der anderen europäischen Musikkulturen).147 Die inhaltlich bestimmte Trias 144 Aus der Fülle der Sekundärliteratur über das Thema des „Deutschen“ in der Musik seien hier einige zentrale Veröffentlichungen der letzten Jahre erwähnt, die sich auf die Verquickung zwischen dem Konzept einer „absoluten Musik“ und der Konstruktion einer deutschen nationalen Identität mit besonderer Schärfe fokussiert haben  : Pederson 1994, A. B. Marx  ; Rumph 1995, A Kingdom  ; Applegate 1998, How german is it (sehr kritisch gegenüber Pederson und Rumph)  ; Morrow 2000, Building a national identity  ; Applegate/Potter 2002, Germans as the people of music. 145 Die Autonomieästhetik wurde erst in England im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts formuliert (siehe darüber Seidel 1989, Zählt die Musik sowie Gerhard 2002, London und der Klassizismus, 79–121). Diese Ästhetik ist dennoch wie kaum eine andere im Bewusstsein des 19. und 20. Jahrhunderts unmissverständlich mit Deutschland in Verbindung gebracht worden (als Dahlhaus seine berühmt gewordene Studie über die „Idee der absoluten Musik“ 1978 veröffentlichte, fand er es selbstverständlich, seine Untersuchung allein auf den deutschsprachigen Raum von Herder bis zu Schönberg zu konzentrieren  ; siehe Dahlhaus 1994, Absolute Musik). 146 „Una triade tematica unificabile sotto il profilo ideologico (conservatismo-progressismo), ossia il tema del rapporto con l’Ottocento, del neoclassicismo e dell’internazionalimso.“ Nicolodi 1984, Musica e musicisti, 136. 147 Für ein fundiertes Gesamtbild des italienischen Musiklebens während jener Zeitspanne, das anhand von zahlreichen Quellen nicht nur den kompositorischen, sondern auch den publizistischen Bereich berücksichtigt, siehe die dreibändige Monografie von Zanetti 1985, Musica italiana. Eine erste kenntnisreiche Orientierung bieten Salvetti 1991, La nascita del Nove-

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von Nicolodi wird im Rahmen dieser Arbeit durch eine andere Trias ersetzt, welche die Existenzbedingungen der ersten nennen will  : Nation, symphonische Tradition und Deutschlandbezug werden im Folgenden als die drei Elemente hervorgehoben, die den italienischen Musikdiskurs seit den 1890er-Jahren und bis zum Ende des Faschismus gestalteten. Davon stellt das erste Element, die Nation, die verbindende Komponente dar, welche das gegenseitige Implizieren aller drei Termini sicherte. Diese zweite Trias benennt also nicht primär die Inhalte dieses Musikdiskurses, sie versinnbildlicht stattdessen den Blickwinkel, die vorausgesetzte Perspektive bzw. die kantischen Transzendentalen, aus denen unterschiedliche Themen von den damaligen Akteuren untersucht, debattiert und diskutiert wurden. Ins Zentrum der vorliegenden Untersuchung rückt damit nicht eine inhaltliche, die „Fakten“ nacherzählende Darstellung des italienischen Musikdiskurses jener Zeit. Stattdessen werden Existenz- und Strukturbedingungen dieser Debatte hinterfragt  ; Existenz- und Strukturbedingungen, die, wie gesagt, in Nation, symphonischer Tradition und Deutschlandbezug identifiziert werden  : Auf welche Art und Weise konnte diese „transzendentale“ Trias einem Kompositum von so disparaten Inhalten Stringenz und interne Kohärenz, letztendlich Sinn und Bedeutung, geben, wie demjenigen, das Nicolodi hervorgehoben hat  ? Oder, nun im derridaschen Jargon ausgedrückt  : Wie konnten diese drei Elemente als „signifiés transcendantaux“ gelten, welche dieser Debatte ihre eigenspezifische Gestalt gaben und die von den Debattierenden immer vorausgesetzt und nie hinterfragt wurden  ? Die Arbeit zielt damit nur im untergeordneten Sinne auf das Was, das debattiert wurde  ; darüber gibt es bereits eine breite, wenn auch sicherlich längst nicht alle Lücken abdeckende Sekundärliteratur. Auf den folgenden Seiten wird stattdessen nach dem Wieso gefragt und dies im wortwörtlichen Sinn, das heißt als „Warum auf diese Art und Weise  ?“.

cento, 285–311 sowie Nicolodi 1984, Musica e musicisti, 120–136. Auf die Sekundärliteratur über spezifische Aspekte wird im Laufe dieser Arbeit punktuell verwiesen. Über das Manifest siehe in dieser Arbeit § II.6.3.



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1.3  Vatermord und Tabu  : Luigi Torchi als Schlüsselfigur der Untersuchung

Die transzendentale Trias von integralem Nationalismus, symphonischer Tradition und Deutschlandbezug wird im Folgenden zum größten Teil anhand der Schriften des Komponisten, Musikwissenschaftlers und -kritikers Luigi Torchi (1858–1920) untersucht. Erst in den letzten zwei Kapiteln des zweiten Teils der Arbeit, in denen die Frage nach Kontinuitäten und Brüchen bzw. internen Veränderungen des italienischen Musikdiskurses in den fünf Jahrzehnten nach Torchi aufgeworfen wird, sollen andere Autoren einbezogen werden. Die Entscheidung, Torchi als Folie für die Schilderung einiger grundlegender Aspekte zu nehmen, die das gesamte Musikleben Italiens zu jener Zeitspanne betrafen, mag vielleicht zunächst verwunden  : Warum einen Musikwissenschaftler  ? Und warum gerade Luigi Torchi  ? Im heutigen Verständnis der historischen Bedeutung von Torchi werden vor allem drei Aspekte seiner regen Tätigkeit und seines Schaffens hervorgehoben  :148 Erstens wird seine editorische Pionierarbeit im Bereich der italienischen Musik des 16. bis 18. Jahrhunderts betont, die vor allem in der Veröffentlichung der siebenbändigen Sammlung L’arte musicale in Italia bei Ricordi zwischen 1898 und 1907 ihren wichtigsten Ausdruck fand.149 Zweitens wird die zentrale Rolle erwähnt, die er zusammen mit seinem direkten Vorgesetzten, Giuseppe Martucci, in Liceo musicale in Bologna bei der Verbreitung der Musik und der

148 Außer der Artikel in den üblichen, international etablierten Lexika, gibt es über Torchi folgende, relativ jüngere Publikationen  : Basso 1991–92, Luigi Torchi  ; Criscione 1997, Luigi Torchi  ; Giani 1996, Luigi Torchi traduttore. Torchi wird außerdem in folgenden Veröffentlichungen im Zusammenhang mit der gesamten Entwicklung der italienischen Musikwissenschaft punktuell thematisiert  : Nicolodi 1982, Per una ricognizione und Cavallini 2005, Per uno studio. Interessant für die Rezeption von Torchi unmittelbar nach seinem Tod ist auch der Artikel über ihn in Angelis 1922, L’Italia musicale sowie der Nachruf von Vatielli 1920, Luigi Torchi. 149 Torchi (Hg.) 1898–1907, L’arte musicale. Ursprünglich wurden von Torchi 13 Bände geplant, Ricordi stellte aber nach dem siebten Band das Projekt aus wirtschaftlichen Gründen endgültig ein. Immer wieder wird aber in den Lexika auf die Überholtheit von Torchis Aussetzung des basso continuo hingewiesen. Für die Aussetzung des basso continuo seitens der ersten italienischen Musikwissenschaftler siehe Murata 2004, Wo die Zitronen blühn.

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Musikauffassung Wagners in Italien in den 1890er-Jahren spielte.150 Schließlich wird auch seine intensive redaktionelle Tätigkeit bei der Rivista musicale italiana seit ihrer ersten Nummer 1894 bis ins Jahr 1904 betont. Dabei wird vor allem die Pionierrolle hervorgehoben, die er in der Verteidigung der sich gerade in der Entstehung befindenden Instrumentalmusik in Italien sowie bei der Wiederentdeckung der alten italienischen Instrumentalmusik spielte.151 Damit hat man sicherlich wichtige und – in einer strengen innermusikalischen Sichtweise – zentrale Punkte von Torchis Tätigkeit hervorgehoben. Unerwähnt bleibt aber der Rahmen, in dem sich diese unterschiedlichen Tätigkeiten abspielten. Torchi stellte an die musikwissenschaftliche Forschung Anforderungen, die weit über das Gebiet des Klanglichen hinaus zielten  : Obwohl sich sein Umgang mit den Quellen durchaus an den strengen positivistischen Erkenntnismethoden orientierte, drangen die Frage nach dem Nationalen in der Musik und der Entwurf einer genuin italienischen Zukunft des gesamten Musikdiskurses des Landes tief in seine wissenschaftliche Arbeit ein. Diese starke Präsenz der nationalen Frage in Torchis Tätigkeit wurde von der Forschung oft erkannt, aber dennoch nie angemessen bewertet  : In den wenigen Artikeln und auch in der sonst lobenswerten Monografie von Claudia Criscione über den Musikwissenschaftler wurde dem Nationalismus eine eher akzessorische Rolle innerhalb von Torchis Tätigkeit zugesprochen. Das Engagement Torchis für die Etablierung einer eigenständigen, alle Aspekte des Musiklebens umfassenden nationalen Identität Italiens in der Musik stellte stattdessen das strukturierende Element seiner musikwissenschaftlichen Aktivität dar, wie es auf den folgenden Seiten eingehend erläutert werden soll. Torchi stellt damit im Hinblick auf jene progressive 150 Torchis wissenschaftliches „Debüt“ war die Monographie über Richard Wagner (Torchi 1890, Riccardo Wagner). Darüber siehe Basso 1991–92, Luigi Torchi. Torchi übersetzte außerdem die zwei wichtigsten theoretischen Schriften Wagners  : Das Kunstwerk der Zukunft (Bocca, Torino 1893) und Oper und Drama (Bocca, Torino 1894). Seine Tätigkeit als Wagners Übersetzer endete 1897 in der Rivista musicale italiana mit der Übersetzung von Wagners Das Judentum in der Musik von 1850 (Riccardo Wagner  : „Il giudaismo nella musica“, Rivista musicale italiana 1897, 95–113). Darüber siehe Criscione 1997, Luigi Torchi, 44. Über Torchis WagnerÜbersetzungen siehe außerdem Giani 1996, Luigi Torchi traduttore. 151 Insbesondere soll hier auf die Rezensionen der ersten und der zweiten Symphonie Giuseppe Martuccis verwiesen werden, die Torchi 1896 und 1905 verfasst hatte  ; siehe Torchi 1896, La sinfonia in re und Torchi 1905, La seconda sinfonia.



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Erhebung des Nationalen zum einzigen Deutungshorizont des Musikalischen, die ab dem Ende des 19. Jahrhunderts in Italien begann, eine Schlüsselfigur dar. Er leitete wie kein anderer eine historische Zäsur im italienischen Musikdiskurs ein, die den etwa fünf Jahrzehnten von 1890 bis 1945 trotz der politischen Umstürze ein einheitliches Profil gab. Dass dies erst in den letzten Jahren erkannt wird, ähnelt jenem Prozess der Entstehung des Über-Ichs durch den Vatermord, den Freud in Totem und Tabu 1913 beschrieb. Erst mit dem Mord an dem Vater durch seinen Sohn kommt dem Vater die Funktion des Über-Ichs zu  : Das Inzestverbot, für das der Vater stand, wird von den Nachgeborenen internalisiert und zum allgemein verbindlichen Gesetz erklärt. Torchi erfand die Leitlinien des italienischen Diskurses bis zum Ende des Faschismus  : Erst indem die Zäsur, die er bewirkt hatte, von der darauf folgenden Generation „vergessen“ bzw. verdrängt wurde, konnten diese Leitlinien als nicht hinterfragte, implizit angenommene Voraussetzungen in das Tun seiner Nachfolger übergehen und es umfassend bestimmen. Die diskursiven Rahmenbedingungen von Torchi sind heute längst verschwunden, eine spontane Reaktion der Entfremdung im Umgang mit seiner Figur und seinen Schriften sowie allgemein mit dem italienischen Musikdiskurs bis 1945 ist eingetreten  : Erst jetzt wird es möglich, die Zentralität Torchis angemessen zu erfassen und ihn als den Gründungsvater eines Musikdiskurses zu erkennen, den man in der Musikhistoriografie fälschlicherweise oft erst mit Torrefranca und der sogenannten Generazione dell’80 beginnen lässt.152

152 Über die verzerrenden Konsequenzen dieser weit verbreiteten historiografischen Perspektive siehe § II.4.1.

2. Von Mazzini zu Torchi  : Nation als Deutungshorizont des Musikalischen, 1836–1894 Noch in der Frühphase des Risorgimento, im Jahr 1836, schrieb einer dessen Protagonisten, Giuseppe Mazzini, ein handliches Büchlein, das den anspruchsvollen Titel Filosofia della musica trug. Fast 60 Jahre später, 1894, als die nationalen Träume des Risorgimento seit mehr als drei Jahrzehnten eine zumeist mit Enttäuschung erlebte politische Realität geworden waren, gab Luigi Torchi, der wichtigste italienische Musikwissenschaftler jener Zeit, einen Artikel über den einstimmigen Gesang in Italien im 17. Jahrhundert heraus.153 Die zwei Schriften scheinen zunächst wenig Gemeinsames zu haben  ; schließlich handelt es sich bei dem einen um einen spekulativen, ästhetisch ausgerichteten und bei dem anderen um einen wissenschaftlichen, vom Positivismus stark geprägten Text  : Was soll ein Vergleich dieser beiden Texte bewirken  ? Überraschenderweise stellen sich beide Schriften nicht nur als eine Art italienische Deklination des wagnerschen Themas einer Zukunftsmusik heraus (und dies im Fall Mazzinis sogar ante litteram)  ; sie teilen dabei auch und vor allem zwei zentrale Ansichten  :154 Erstens wird Musik sowohl für Mazzini als auch für Torchi als eine soziale Kunst aufgefasst, das heißt als ein künstlerisches Feld, das eine Schlüsselrolle als Vermittler von Grundwerten in der religiösen und nationalen Erziehung der Massen einnehmen soll.155 Zweitens besteht für beide Au153 Mazzini 1954, Filosofia della musica  ; Torchi 1894, Canzoni ed Arie. Dieser Artikel war einen der ersten Beiträge der im gleichen Jahr gegründeten Rivista musicale italiana, etwas, das seinen in vielerlei Hinsicht programmatischen Charakter zusätzlich verstärkt. 154 Als Einführung über Mazzinis Filosofia della musica siehe Seay 1973, Giuseppe Mazzini’s Filosofia. Seay zieht an einer Stelle eine vorläufige Parallele zwischen Mazzinis Filosofia und der späteren Schrift Wagners Das Kunstwerk der Zukunft von 1850 (ebd., 33). Eine offensichtlich nationalistisch gesinnte Deutung von Mazzinis Traktat als italienische Vorwegnahme des Pamphlets Wagners gab der Komponist Adriano Lualdi, ab 1929 Mitglied des faschistischen „Parlaments“ als Vertreter des Sindacato fascista dei musicisti, vgl. Lualdi 1942, Introduzione, 109. Über Lualdi siehe außerdem § II.6.2 in der vorliegenden Arbeit. 155 „La musica, così com’era [bei den Antiken, d. V.], facea pur nondimeno parte d’educazione religiosa e nazionale alle moltitudini che s’accostavano ad essa come a’ loro sacrifici solenni. Noi non abbiamo fede oggimai, né forti credenze.“ Mazzini 1954, Filosofia della musica, 142. Der Ausdruck „arte sociale“ ist auf S. 132 zu lesen. Für eine Schilderung dieses zentralen Aspekts



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toren die historische Aufgabe der italienischen Nation darin, die Musik (und allgemein die Kultur) einer neuen, sich anbahnenden Epoche zu gebären.156 Von solchen gemeinsamen, den Vergleich ermöglichenden Prämissen ausgehend, entwickeln jedoch diese Schriften zwei diametral entgegengesetzte Zukunftsvorstellungen. Wie konnte dies möglich sein  ? Gerade anhand dieser Frage lässt sich im Folgenden ein Vergleich durchführen, aus dem die entscheidende Veränderung im italienischen Musik- und Nationsdiskurs erklärt werden soll, die während der knapp 60 Jahre zwischen der Entstehung beider Texte stattfand.

2.1  Zukunftsmusik(en)  : Deutungshorizonte des Musikalischen, 1836 und 1894

Giuseppe Mazzini hat in den letzten Jahren eine erhöhte Aufmerksamkeit seitens der Forschung bekommen. Seine kulturpolitische Tätigkeit wird vor allem unter zwei Aspekten erneut untersucht  : Einerseits rückt die Internationalität von Mazzinis Rezeption, die eine zentrale Rolle für die Internationalisierung des Nationalismus im Laufe des 19. Jahrhunderts spielte, immer mehr in den Blick des Interesses. Gefragt wird andererseits aber auch nach den Gründen dieses bis einschließlich in die Zeit des Faschismus hinein anhaltenden Einflusses Mazzinis auf die politische Kultur Italiens.157 Insbesondere wird bezüglich dieses zweiten auch in Mazzinis Schriften über literarische Themen siehe Sorba 2008, Comunicare con il popolo. 156 „Checché si dica, e checché gli Italiani, molti almeno, anche oggi rinneghino, è scritto che tutti, o quasi, i principii delle grandi cose, abbiano ad escir d’Italia.“ Mazzini 1954, Filosofia della musica, 145. Für Torchi kann man unter anderem folgenden Ausschnitt aus dem Vorwort zum dritten Band der Sammlung L’arte musicale in Italia zitieren  : „Allora [wenn sich das Bewusstsein und die Kenntnis der nationalen Vergangenheit in der Musik durchsetzen wird, d. V.] si potrà finalmente sperare che la nostra arte non si limiti ad essere un esercizio, ma sia in grado di prendere il posto eminente che le spetta fra le più potenti manifestazioni dell’ingegno e fra le speculazioni serie, il posto che aveva nella Università e nelle vita della Rinascenza. E questo sarà il secolo nuovo della musica italiana.“ Luigi Torchi  : „Prefazione“, in Torchi (Hg.) 1898–1907, L’arte musicale, Bd. 3 (Composizioni per Organo o Cembalo. Secoli XVI, XVII e XVIII), s. d., VII. 157 Zwei jüngere Veröffentlichungen fokussieren deutlich die neue Schwerpunktsetzung der Forschung über Mazzini  : Sarti 2000, Giuseppe Mazzini und der Tagungsband von Bayly (Hg.) 2008, Mazzini. Außerdem siehe Sullam 2007, Dio e il popolo. Für den italienischen Risorgimento soll auch auf die im letzten Jahrzehnt erschienenen Arbeiten von Alberto Mario Banti

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Punkts die Zentralität hervorgehoben, die die Künste und die Religion als vermittelndes und gleichzeitig auch als konstituierendes Element des politischen Nationalismus gespielt haben  : Sie boten ein Repertoire an ikonografischen Erzähltopoi, an typisierten dramatischen Situationen und Darstellungsmustern, bei denen sich der Nationalismus von Anfang an bediente und nach denen sich seine diskursive Inszenierung und öffentliche Präsenz richtete.158 Die „Aktivierung der Emotionen“, die das zentrale Element des politischen Erfolgs des Nationalismus darstellt, war nur im Rekurs auf dieses Repertoire möglich, wie bereits 1975 der Historiker Georg Mosse erkannte.159 Der strukturierenden Funktion der Ästhetik und der Religion (Symbolik, Rituale, Erlösungsperspektive etc.) für den nationalistischen Diskurs war sich Giuseppe Mazzini immer äußerst bewusst gewesen  : Prophetisch-mystische Töne und Posen stellten prägende Momente seiner Schriften sowie der (Selbst-) Darstellung seiner Person dar.160 Mazzini schenkte aber auch den Künsten und ihrer sozialen Funktion eine große Aufmerksamkeit, die sich in mehreren Traktaten niederschlug.161 Eines davon war dem Problem der Musik, ihrer Rolle, verwiesen werden, die neue Ansichten und einen innovativen Forschungszugang zu diese Epoche ermöglicht haben. Für den Ausdruck „internationalisation of nationalism“ siehe das Vorwort zum vorher erwähnten Tagungsband, Bayly (Hg.) 2008, Mazzini, 5. 158 Antonio Mario Banti hat vor einigen Jahren Topoi und Konstituierung eines nationalistischen Grunddiskurses mittels der Literatur, Malerei, Bildhauerei etc. überzeugend untersucht. Dieser Grunddiskurs trug von der französischen Revolution bis zum Ersten Weltkrieg gemeinsame, gesamteuropäische Züge. Siehe Banti 2005, L’onore della nazione. 159 Das Thema strukturiert die ganze Forschung von Mosse. Insbesondere siehe Mosse 1993, Die Nationalisierung der Massen, aus dem der Ausdruck „Aktivierung der Emotionen“ entnommen wurde (22 der deutschen Ausgabe)  ; sowie Mosse 1980, Masses and Man, in dem verschiedene Aufsätze von Mosse über die Verbindung zwischen Nationalismus und Kunstdiskurs gesammelt wurden. Von Mosse sind grundlegende Impulse für die Erforschung des Nationalismus und der politischen Ideologien des 20. Jahrhunderts ausgegangen. 160 Mazzini als „Prophet“ einer säkularen Religion des Nationalismus stellt nicht nur das Thema der vorher zitierten Monografie von Roland Sarti aus dem Jahr 2000 dar. Auch Simon Sullam hat sich mit dem Thema in verschiedenen Studien auseinandergesetzt  ; siehe u. a. Sullam 2007, Dio e il popolo sowie Sullam 2008, The Moses. 161 Siehe vor allem  : Sorba 2008, Comunicare con il popolo. Der Aufsatz fokussiert sich auf die Schriften über die Literatur und auf die Filosofia della musica. Im gleichen Tagungsband schreibt auch Lucy Riall  : „We should recognise the central role played by Mazzini in transforming the Romantic taste for melancholy, decadence, and redemption into a national, secular, political culture.“ Riall 2008, The Politics of Italian, 186.



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ihrer derzeitigen Lage und ihrer Zukunftsperspektive gewidmet  ; es handelt sich um die eingangs erwähnte Filosofia della musica. In dieser Schrift geht Mazzini auf das Wesen der Musik ein, und diese ist seiner Meinung nach von einem grundlegenden Zwiespalt bestimmt, der den gesamten Gang der Geschichte gestaltet  : Mensch und Menschheit, „individueller“ und „sozialer Gedanke“, sie sind die beiden „ewigen Elemente aller Dinge“, die jeweils für sich einen absoluten Geltungsanspruch erheben. Es entsteht dadurch ein anhaltender Zweikampf beider Prinzipien, der die geschichtliche Entfaltung der Menschheit bestimmt.162 Das Wesen der Musik („concetto fondamentale della musica“) ist ebenfalls von dieser Polarität bestimmt und gleicht damit dem „fortschrittlichen Wesen des irdischen Universums“ („concetto progressivo dell’universo terrestre“)  :163 Im Fall der Musik nimmt die dichotomische Struktur des Universums die Gestalt der Melodie und der Harmonie an. Sie stellen die zwei Bestandteile dar, aus denen die Musik an und für sich besteht. Beide Prinzipien sind außerdem für Mazzini geografisch eindeutig verortet. Er schreibt  : „Zwei Schulen bzw. zwei Felder oder zwei klar getrennte Gebiete entsprechen heutzutage den zwei, aus den [vorher beschriebenen] Elementen hervorgehenden Tendenzen [des Musikalischen]  : Der Norden und der Süden  ; die deutsche und die italienische Musik.“164 Die Musik konstituiert sich damit für Mazzini entlang einer Nord-Süd-Achse, die das gesamte Spektrum des musikalisch Möglichen ausschöpft. Deutschland und Italien bestimmen die musikalische Lage Europas nicht wegen des Ansehens bzw. der künstlerischen Hochrangigkeit ihrer jeweiligen Musikproduktion, sondern weil sie in ihrer Alterität die beiden ewigen Elemente der Musik (und gleichzeitig, freilich in musikalischem Gewand, die beiden Bestandteile des menschlichen Universums) verkörpern. 162 Mazzini 1954, Filosofia della musica, 146–147. 163 Ebd., 134–135. 164 „Oggi alle due tendenze che fan perno dell’uno o dell’altro di quegli elementi, corrispondono due scuole, due campi, anzi due zone distinte  : il nord e il mezzogiorno  ; la musica germanica e l’italiana.“ Ebd., 148.

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Die musikalische Identität Deutschlands und Italiens nimmt schließlich bei Mazzini die Form einer binären Opposition von Prädikaten und Attributen an  : Während Deutschland Harmonie, soziales Denken („pensiero sociale“), Mysti­ zismus, Idee etc. zugewiesen werden, charakterisieren stattdessen Melodie, Indi­ vidualität, Leidenschaftlichkeit etc. Italien.165 Beide Musiknationen sind dadurch im Hinblick auf das Wesen der Musik und allgemein des Seins jeweils unvollkommen  : Jede der beiden fokussiert nur einen Aspekt der Musik, keine aber die Musik in ihrer Gesamtheit. Mazzini bringt dies mit folgenden Worten auf den Punkt  : „Die italienische Musik verkümmert im Materialismus. Die deutsche Musik verdirbt vergebens im Mystizismus.“166 Auf der Grundlage dieser Schilderung der negativen Lage der Musik im Europa des beginnenden 19. Jahrhunderts entwirft Mazzini im weiteren Verlauf seiner Filosofia ein genaues Bild der musikalischen Zukunft. Indem Deutschland und Italien in ihrer Komplementarität das gesamte Spektrum des Musikalischen ausschöpfen, jeweils für sich genommen jedoch grundlegend partiell bleiben, soll sich die Musik der Zukunft nicht entlang des Nationalen entwickeln  ; sie muss stattdessen nach der Vollkommenheit ihres Wesens streben. Die wahre Musik, die Zukunftsmusik sei etwas, das weder deutsch noch italienisch, sondern das Resultat einer Synthese beider Nationen ist  ; einer Synthese, die durchaus he165 Mazzini charakterisiert Deutschland unter anderem mit folgenden Worten  : „Armonica in sommo grado, essa [die deutsche Musik, d. V.] rappresenta il pensiero sociale, il concetto generale, l’idea […]. La musica tedesca addormenta gli istinti e le potenze della materia e leva l’anima in alto, per lande vaste e ignote, ma che una rimembranza debole, incerta, t’addita come se tu le avessi intravvedute [sic  !] nelle prime visioni d’infanzia […]. È musica sovranamente elegiaca  : musica di ricordi, di desiderii, di melanconiche speranze e di tristezza che non possono aver conforto da labbra umane […]. La sua patria è l’infinito, e v’anela.“ Ebd., 155–156. Bezüglich Italiens schreibt Mazzini unter anderem  : „La musica italiana è in sommo grado melodica. Fin da quanto Palestrina tradusse il cristianesimo in note, e iniziò colle sue melodie la scuola italiana, essa assunse questo carattere e lo conservò.“ Ebd., 148–149  ; „L’individualità […] ha ispirato, generalmente parlando, la nostra musica, e la domina tuttavia. […] V’è sensazione prepotente, sfogo rapido e violento.“ Ebd., 149. 166 „La musica italiana isterilisce nel materialismo. La musica tedesca si consuma inutilmente nel misticismo.“ Ebd., 158.



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gelianische Züge trägt.167 Für Mazzini ist damit eine musica italiana 1836 vorhanden, und gerade sie ist das Problem, zu dessen Überwindung er mit seinem Traktat beizutragen versucht. Gerade die Ausgeprägtheit der nationalen Züge in der Musik ist das, was Mazzini zur Feder greifen lässt. Es sind die nationalen Identitäten, welche die vollkommene Entfaltung der Musik behindern. Sie sollen in einer zukünftigen musica europea überwunden werden  : Dies ist die zentrale Forderung seiner Filosofia della musica. Das europäische bzw. das wahre Wesen der Musik stellt damit im Fall Mazzinis den Deutungshorizont dar, aus dem die musikalische Gegenwart betrachtet und die Zukunft entworfen wird. Eine auffallende Inkohärenz ist jedoch in Mazzinis Vision einer Zukunftsmusik vorhanden, die europäisch sein soll und gleichzeitig allein von Italien entwickelt werden muss. Auf diese Inkohärenz soll im nächsten Abschnitt eingegangen werden. 58 Jahre nach Mazzinis Filosofia della musica schildert Luigi Torchi, ein anderer leidenschaftlicher Patriot, die musikalische Lage Europas und insbesondere Italiens. Wenn Mazzini von seiner Epoche als „Zeit des Übergangs“ sprach, versteht Torchi 1894 seine Gegenwart nicht unter der Kategorie des Wandels, sondern der Vermischung bzw. des regelrechten Durcheinanders.168 Er schrieb  : „Unsere Epoche hat als ihren prägenden Zug das Schwanken der Ideen  ; eine klare Gestalt hat sie nicht und die Kunst entkommt diesem Phänomen nicht, das alle Produkte des Wissens und der Vernunft unterwirft.“169 Die gegenwärtige Epoche steht damit für Torchi unter dem Vorzeichen eines allgemeinen „Schwebens der Idee“ („il fluttuare delle idee“), dessen negative Auswirkungen sich auch im Kunstbereich eindeutig beobachten lassen. Insbe167 „La musica che noi presentiamo, la musica europea, non si avrà se non quando le due [die deutsche und die italienische Musik, d. V.], fuse in una, si dirigeranno a un intento sociale – se non quando, affratellati nella coscienza dell’unità, i due elementi che formano in oggi due mondi, si riuniranno ad animarne un solo  ; e la santità della fede che distingue la scuola germanica benedirà la potenza d’azione che freme nella scuola italiana.“ Ebd., 158–159. 168 Mazzini definiert seine Epoche als „tempi di transizione“, ebd., 131. 169 „Questa nostra epoca ha come caratteristica il fluttuare delle idee  ; una impronta netta e precisa essa non l’ha, e l’arte non isfugge all’azione di questo fenomeno, che assoggetta a sé tutti i prodotti del sapere e dell’ingegno.“ Torchi 1894, Canzoni ed Arie, 589–590.

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sondere in der damaligen italienischen Musikproduktion stellt er fest, dass „wir heute das Durcheinander jeglicher Form erlauben und die ausgeprägtesten stilistischen Ungleichheiten tolerieren können“.170 Die Mode ist für ihn zum Leitbegriff der musikalischen Gegenwart geworden  : Kurzlebigkeit und (oberflächlicher) Erneuerungsdrang bestimmen nun das Musikleben Italiens. Zusätzlich zu ihrer Kurzlebigkeit haben diese Moden nach Torchis Ansichten noch einen weiteren prägenden Zug  : Sie sind allesamt als Übernahme von verschiedenen Erfindungen und Stilen aus dem Ausland seitens italienischer Komponisten und ihres Publikums zu verstehen.171 In Anbetracht dieser trostlosen Lage des musikalischen Europas sieht Torchi nur eine einzige Rettungsmöglichkeit. Er schreibt  : „Welche wird die Kraft sein, die die neuen Ideen zügeln und lenken wird  ? Keine andere als die Kenntnis der Vergangenheit.“172 Nur ein Volk, merkt Torchi des Weiteren an, „das seine künstlerische Vergangenheit kennt und in der Lage ist, sie gebührend zu schätzen, kann irgendeine wichtige Rolle in der künstlerischen Bewegung der Gegenwart spielen“.173 Und dennoch, dieses Volk sei zum damaligen Zeitpunkt nicht das italienische, denn „unseren Künstlern fehlen die reinen und radikalen Elemente der italienischen musikalischen Vergangenheit“.174 Nicht zufällig nimmt also Torchi das Thema einer nationalen Musik im Rahmen eines Artikels über „italienische“ Arien und 170 „Nella nostra musica, oggi, noi possiamo ammettere la confusione di ogni forma e tollerare le più marcate disuguaglianze degli stili. Or tutto ciò non è che il prodotto di un’epoca priva di carattere come la nostra, in cui la insufficienza della sana e forte tradizione ha spento ogni idealità.“ Ebd., 590. 171 „La moda [in Italien, d. V.] consiglia l’ignoranza aristocratica e borghese a prendere partito per tutto quanto nell’arte musicale vi ha di straniero o tiene del carattere di prodotto esotico.“ Ebd., 655. 172 „Quale sarà la forza che potrà agire moderando e dirigendo le nuove idee  ? Non altra che la conoscenza del passato.“ Ebd., 590. 173 „Solamente un popolo che consoce il suo passato artistico e sia in grado di apprezzarlo convenientemente, può rappresentare una qualche parte importante nel movimento artistico del presente.“ Ebd., 591. 174 „Ma questo popolo, per ora, non sono gl’Italiani. Agli artisti nostri mancano gli elementi puri e radicali del passato musicale italiano.“ Ebenda.



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Canzoni des 17. Jahrhunderts in Angriff, und mit Absicht wird von ihm auch der Ort der Veröffentlichung gewählt  : Die Rivista musicale italiana war nicht nur im gleichen Jahr 1894 gegründet worden, sie stellte auch die erste im Titel ausdrücklich nationale Plattform für die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Musik dar.175 Torchi will also mit seinem Artikel viel mehr als eine wissenschaftliche Untersuchung längst verklungener Musik liefern, er will stattdessen eine Absichtserklärung abgeben. Der Artikel stellt ein regelrechtes Projekt für eine radikale Reform des italienischen Musiklebens dar, das ein sehr präzises Ziel verfolgt  : der italienischen Musik durch einen Rückbezug auf ihre spezifisch nationalen Wurzeln eine wichtige europäische Rolle zu geben. Am Ende des Artikels angelangt, scheut sich der kultivierte wagnerista nicht, die nicht allzu verkappten Parallelen mit Wagners Ansichten zu explizieren und die Schlussworte der Meistersinger nachzuahmen. In einer abschließenden Mahnung an die italienischen Künstler spielt Torchi bewusst auf Hans Sachs’ Monolog am Ende der Oper an und schreibt  : „Deswegen möchte ich den italienischen Künstlern noch Folgendes sagen  : Seien Sie sich Ihrer nationalen Kunst bewusst und ehren Sie Ihre italienischen Meister, ehren Sie die ausgezeichnete Kunst Italiens.“176 Auf die konkreten Züge von Torchis Reformprojekt soll ausführlich am Ende dieses Kapitels eingegangen werden.177 Wichtig ist es, hier hervorzuheben, wie die Orientierungslosigkeit der europäischen Kultur und insbesondere der italienischen für den Musikwissenschaftler in der unvollkommenen bzw. ganz fehlenden Berufung jedes Landes auf seine eigenen nationalen Eigenschaften beruht  : Nur die Musik, die Ausdruck eines „italienischen Empfindens“ („sentire di Italiani“) ist, kann für Torchi zu einem wahren Kunstwerk werden.178 Allein 175 Über die positivistische Orientierung der Rivista musicale italiana siehe Cavallini 2005, Per uno studio, insbesondere 203–204 sowie Criscione 1997, Luigi Torchi, 71–87. 176 „Perciò agli artisti italiani io vorrei dire  : abbiate la coscienza della vostra arte nazionale, onorate i vostri maestri italiani, onorate la eccellente arte italiana.“ Torchi 1894, Canzoni ed Arie, 656. 177 Siehe II 1.4. 178 „Uscita da noi, Italiani, opera d’arte importante e accreditata non sarà mai se non quella, che sia una schietta espressione del nostro sentire di Italiani.“ Torchi 1894, Canzoni ed Arie, 655

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die Rückbesinnung auf das Nationale in der Musik kann einen Ausweg aus der sonst aussichtslosen Lage der Gegenwart bieten. Im Gegensatz zu Mazzini stellt für Torchi nicht die übermäßige Präsenz, sondern genau das Fehlen des Nationalen das Problem seiner Epoche dar. Für Mazzini ist die italienische Musik 1836 in ihren Zügen klar definiert und lebt in den sicheren Bahnen ihrer Tradition weiter. Sie leidet unter keinen Identitätsproblemen, ganz im Gegenteil. Für Torchi ist 1894 eine italienische Musik ein noch weit in der Zukunft liegendes Ziel, dessen Erreichung das Projekt seines gesamten wissenschaftlichen Lebens darstellt. Wenn Mazzinis Filosofia ein Beispiel für eine europäische Zukunftsmusik darstellt, ist hingegen Torchis Artikel eine bewusste national-italienische Deklinierung desselben Themas  : Die Zukunftsvision des Musikwissenschaftlers verortet sich nicht im Universalen und nimmt nicht die Form einer Synthese an  ; sie spielt sich allein auf der Ebene der Nation ab und ist durch die Betonung spezifischer, nationaler Differenzen konnotiert. Eine übergeordnete, die Pluralität der unterschiedlichen Nationen zusammenführende Perspektive ist bei ihm nicht gegeben. Die Nation wird damit für Torchi zum einzigen Deutungshorizont des Musikalischen  : Nicht die Verfolgung eines wahren Wesens der Musik, sondern die Rückbesinnung auf das Nationale wird dem italienischen Musikleben als Zukunftsziel gestellt. Wie kann jedoch die hier beschriebene Veränderung im Verständnis des Nationalen zwischen Mazzini und Torchi angemessen aufgefasst werden  ? Woher kam ein solcher grundlegender Unterschied  ?

2.2  Die „Jekyll-and-Hyde-Ambivalenz“ des Nationalismus

Seit spätestens 1945 ist in der Geschichtswissenschaft der qualitative Sprung, welchen der nationale Diskurs am Ende des 19. Jahrhunderts erfuhr, allgemein anerkannt worden  : Mit dem Begriff des „integralen Nationalismus“ wird heute jene neue Phase dieses Diskurses üblicherweise bezeichnet, die zwischen etwa 1870 und 1918 in ganz Europa eintrat.179 Im Jahr 1990 veröffentlichte der 179 Vgl. Kunze 2005, Nation und Nationalismus, 93–96 sowie Alter 1985, Nationalismus, 43–56. Alter führt die Prägung des Begriffs auf den französischen Schriftsteller Charles Maurras zu-



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englische Historiker Eric Hobsbawm eine Studie über die Entfaltung des Natio­ nalismus seit dem Ende des 18. Jahrhunderts, die bis heute als Standardwerk gilt.180 Dabei fasst er die Wende des nationalen Diskurses im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts, die er mit der bismarckschen Reichsgründung 1871 zusammenfallen lässt, auf drei prägende Charakteristika zusammen  : Jeder Gemeinschaft wird prinzipiell das Recht auf einen eigenen, souveränen und unabhängigen Staat zuerkannt (Aufhebung des mazzinischen „Schwellenprinzips“), ethnische und sprachliche Zugehörigkeiten werden zu zentralen Kriterien für die Definition des Nationalen, und allgemein wendet sich der nationale Diskurs „zum politischen Rechten“181. Diese Veränderungen, die mit dem zeitgleichen Auftreten des Begriffs Nationalismus auch sprachlich zum Ausdruck kamen, führten zu einer erhöhten Konkurrenz zwischen den einzelnen Nationalstaaten.182 Vier Jahre nach Hobsbawms Studie hat Hagen Schulze in seinem erfolgreichen Buch über die Rolle von Staat und Nation in der europäischen Geschichte diesen letzten Aspekt hervorgehoben, indem er die Umstrukturierung des Nationalismusdiskurses im 19. Jahrhundert mit den Begriffen des „rerück, den er als „einen der einflussreichsten geistigen Väter dieser Form des Nationalismus“ bezeichnet (Alter 1985, Nationalismus, 43). 180 Hobsbawm 2005, Nationen und Nationalismus. Über die dritte Phase des Nationalismus (1870–1918) siehe insbesondere das vierte Kapitel von Hobsbawms Buch. 181 Hobsbawm 2005, Nationen und Nationalismus, 122. Selbstverständlich nahmen diese Veränderungen in jedem Land und je nach Kontext eigenspezifische Ausprägungen an, im Fall Italiens spielte zum Beispiel der „ethnische“ Aspekt zu jenem Zeitpunkt eher eine untergeordnete Rolle  ; siehe Gentile 1997, Grande Italia, 34–43. 182 Für das Auftreten des Nationalismusbegriffs siehe Hobsbawm 2005, Nationen und Nationalismus, 122. Auch ein anderer Neologismus, der Begriff „Antisemitismus“, lässt sich auf dieselbe Zeit datieren, was die Intensivierung der ethnischen gegenüber traditionell religiöser Zugehörigkeit indirekt beweist (ebd., 128–129). Für den Abschied aus den freiheitlichen Komponenten des Nationsdiskurses und eine rechts orientierte Betonung der „inter-nationalen“ Konkurrenz in der Zeit zwischen 1871 und 1918, ebd., 143–144. Peter Alter charakterisiert seinerseits den integralen Nationalismus unter anderem mit den folgenden Worten  : „Im Unterschied zum liberalen Risorgimento-Nationalismus, der grundsätzlich von einer Gleichberechtigung der Nationalismen und der Ansprüche nationaler Bewegungen ausgeht, setzt der integrale Nationalismus die Nation absolut. […] Der Kult der Nation wird zum Selbstzweck. […] Die Parole von der nationalen Suprematie, der herausragenden Stellung der eigenen Nation, tritt im integralen Nationalismus an die Stelle der Parole von der nationalen Selbstbestimmung, die in den Jahrzehnten nach der Französischen Revolution dem Risorgimento-Nationalismus seine gewaltige Triebkraft verlieh.“ Alter 1985, Nationalismus, 43–44.

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volutionären“ (1815–1871) und des „imperialen“ (1871–1914) Nationalstaates prägend zusammengefasst hat.183 Diese qualitative Veränderung, die der Nationalismus am Ende des 19. Jahrhunderts erfuhr, soll jedoch in einen zeitlich breiter aufgefassten Kontext gestellt werden. Sie soll in der Tat als Ausdruck einer Spannung verstanden werden, die dem nationalen Diskurs bereits im Übergang von der Aufklärung zur Romantik immanent war und die im Laufe des 19. Jahrhunderts zunehmend unhaltbar wurde. In dieser Hinsicht sprach 2006 der holländische Historiker Joseph Leerssen von einer „Jekyll-and-Hyde-Ambivalenz“ des Nationalismus  ; einer Ambivalenz, die prägend für die europäische Geschichte bis ins 20. Jahrhundert blieb.184 Von einer Ausdeutung des Nationskonzepts, das in den Ideen der Volkssouveränität sein Zentrum hatte, verschob sich zunehmend die Aufmerksamkeit auf die identitätsstiftende Komponente des Nationsbegriffes  : Nation und Nationalstaat wurden immer deutlicher als homogene Gesellschaftsgruppen, als in sich geschlossene Gemeinschaften verstanden, die gegeneinander konkurrierten  ; die 183 Die zwei Begriffe stellen den Titel jeweils des ersten und des zweiten Kapitels des dritten Teils von Schulzes Monografie, vgl. Schulze 1995, Staat und Nation, 209–243 und 243–278. Das dritte Stadium des nationalistischen Diskurses in Europa ist in Schulzes Darstellung der „totalitäre“ Nationalstaat (bis 1945), ebd., 278–317. Für Schulze setzt die Hinwendung der politischen und staatlichen Kultur Europas in Richtung „totalitärer“ Regimes bereits zur Zeit des Ersten Weltkriegs ein. Diese Entscheidung ist in seinem Forschungsobjekt begründet  : In der Tat verschwand in allen am Ersten Weltkrieg beteiligten Nationen der vor dem Krieg vorherrschende Typus eines in der wirtschaftlichen Sphäre nach dem Prinzip des „laisser-faire“ orientierten Staats  : Eine direkte, massive staatliche Intervention im Hinblick auf eine Unterordnung aller produktiven Kräfte unter die Bedürfnisse des Kriegs setzte sich als Notwendigkeit in ganz Europa durch (siehe insbesondere, ebd., 282–289). Auf einer breiteren, kulturpolitischen Ebene ist jedoch Schulzes Deutung eher mit Skepsis zu betrachten, und viel überzeugender (und in der Forschung verbreiteter) bleiben Alters und später Hobsbawms Thesen, die eine neue, totalitäre Phase des Nationalismus erst mit den faschistischen Diktaturen beginnen lassen. Es sind solche Diktaturen, die die konsequente Unterordnung aller Kräfte unter das Prinzip der Nation zum „normalen“ Regierungsprinzip und zur Norm für die Gestaltung der Gesellschaft machten. Dies ist auch die Ansicht von Emilio Gentile, einem der international einflussreichsten italienischen Faschismus-Forscher der letzten zwei Jahrzehnte, auf dessen These über das Wesen des Faschismus der dritte Teil meiner Arbeit basiert (direkt über das Thema des Faschismus als erstes „totalitäres“ politisches Experiment Italiens siehe unter anderem Gentile 2002, Via italiana al totalitarismo, 129–153  ; sowie Gentile 2001, Religioni della politica, 69–74). 184 Für den Ausdruck „Jekyll-and-Hyde ambivalence“ bezüglich des Nationalismusdiskurses im Übergang von der Aufklärung zur Romantik siehe Leerssen 2006, National thought in Europe, 22.



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nach Volkssouveränität strebenden Bestandteile des Nationaldiskurses wurden zunehmend heruntergespielt.185 Nach 1848 lässt sich diese zunehmende Akzentverschiebung politisch konkret in der hegemonialen Form ablesen, welche die nationale Vereinigung in Italien und Deutschland annahm.186 Bereits bestehende politische Gebilde wie Preußen und Piemont übernahmen die führende Rolle bei der Gründung des Nationalstaates  : Die internen, nach demokratischer Machtverteilung strebenden Kräfte, wie die Anhänger Mazzinis in Italien oder die Demokratische Volkspartei in Südwestdeutschland, wurden dafür in einem komplexen geopolitischen Spiel von diesen Mächten vielseitig ausgenutzt, vom bewussten Einsatz bzw. der Duldung bis hin zu ihrer Ausspielung als Aushängeschild der möglichen Gefahren eines von oben unkontrollierten Nationalismus. Die Bildung der Gemeinschaft, das Erreichen der nationalen, staatlichen Einigung, gewann damit die Oberhand über die umstrittene Forderung nach politischer Freiheit  ; eine Entwicklungslinie, die für das politische Handeln beider neu geschaffener Nationalstaaten – Deutschland und Italien – bestimmend wurde.187 Das spannungsgeladene Verhältnis beider Momente des Nationskonzepts und seine Präsenz bereits am Anfang des 19. Jahrhunderts lässt sich auch in Mazzinis Schriften anschaulich nachweisen. Im Jahr 2008 hat der italienische Historiker Alberto Mario Banti die ambivalente Verwendung des Worts „nazione“ in Mazzinis Schriften deutlich hervorgehoben  :188 Nation verweise bei Mazzini sowohl auf einen Nationalstaat, der als Resultat freiwilliger, aktiver 185 Joseph Leerssen erklärt diesen Prozess anhand der räumlichen Metapher eines vertikalen und eines horizontalen Vektors und schreibt  : „From Enlightenment patriotism to Romantic nationalism  : a process in which civic (‚vertically‘ oriented, intra-national) vindications of popular sovereignity acquired the added ‚horizontal‘ component of inter-national and ethnic rivalry.“ Leerssen 2006, National thought in Europe, 22. 186 Für die Kategorie der „hegemonialen Vereinigung“ und insgesamt eine Kategorisierung des Phänomens des Nation-building siehe Osterhammel 2009, Die Verwandlung der Welt, 586– 596. 187 Für ein historisch gut kontextualisiertes gesamteuropäisches Panorama dieses Prozesses ist der Verweis auf Schulze 1995, Staat und Nation unentbehrlich (siehe insbesondere den dritten Teil „Nationalstaaten“). Auf Schulze aufbauend, dennoch mit Einschließung der außereuropäischen Situation, ist Osterhammel 2009, Die Verwandlung der Welt, insbesondere das achte Kapitel „Imperien und Nationalstaaten  : Die Beharrungskraft der Reiche“. 188 Banti 2008, Sacrality and the Aesthetics, insbesondere 59–68.

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Entscheidungskraft eines Kollektivs verstanden wird, als auch auf das Kollektiv selbst. In diesem zweiten Fall bleibt der freien Entscheidung der Gesellschaft kein Spielraum bewahrt  : Das Kollektiv der Nation ist nun nicht aus einem wie auch immer postulierten Gesellschaftsvertrag hervorgegangen und dadurch von Menschen entschieden worden. Anstatt als Produkt der Kultur wird das nationale Kollektiv in dieser zweiten Verwendungsart als naturaliter gegeben bzw. von Gott (vor)bestimmt verstanden.189 Der politische Appell Mazzinis schwebt damit zwischen zwei Polen  : zwischen einem In-Bewegung-Setzen des menschlichen Willens zur Errichtung eines dem Wohlergehen der Bürger dienenden Nationalstaates und der Heraufbeschwörung einer von Gott vorgegebenen, homogenen Identität des Kollektiven  ; einer homogenen Identität, zu deren Pflege und Bewahrung der Nationalstaat berufen ist und zu deren Entsprechung die Bürger in ihrem Handeln und Sein verpflichtet sind. In der Filosofia della musica liegt der Schwerpunkt auf der sozialen F ­ unktion der Kunst, auf ihrer erzieherischen Rolle im Hinblick auf das Kollektiv. Damit tritt hier die von Banti hervorgehobene zwiespältige Verwendung des Nationskonzepts nicht unter derselben Gestalt auf, die vorher geschildert wurde und die für Mazzinis streitpolitische Schriften üblich ist. Die Zweideutigkeit des Nationskonzepts ist jedoch auch in der Filosofia vorhanden. In erster Linie bleibt die Vorstellung einer Überwindung des nationalen Horizonts im Namen eines universell-europäischen Wesens der Musik in der Ambivalenz eines musikalisch Nationalen gefangen, das als naturwüchsig verstanden wird und zugleich jedoch durch einen bewusst durchgeführten Akt der Synthese überwunden werden muss. Dies gibt in verkappter Form die vorher hervorgehobene Spannung zwischen Natur und Kultur, zwischen Gegebenem und Gemachtem wieder, die in Mazzinis Verständnis dem Nationskonzept innewohnt. Mazzini trennt mit Schärfe die jeweiligen Eigenschaften einer musica italiana und einer musica tedesca, er betrachtet sie als überzeitliche, vorgegebene Charakteristika zweier in sich geschlossener (und sich gegenseitig ausschließender) Musiknationen.190 Ein kultureller Akt der Synthese soll jedoch solche naturgegebenen Unterschiede überwinden. 189 Ebd., 59. 190 Im Fall Italiens führt Mazzini ausdrücklich ihre nationalen Eigenschaften in der Musik auf Palestrina zurück. Siehe Mazzini 1954, Filosofia della musica, 141  ; 148–149.



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Auf dieser ersten Spannung aufbauend, wächst jedoch eine weitere, noch wichtigere Inkohärenz empor  : Die zukünftige Musik soll europäisch sein, zugleich muss sie allein von Italien entwickelt werden. Seit jeher sind für Mazzini „alle, oder fast alle die Anfänge (‚principii‘) der großen Sachen“ allein aus Italien hervorgegangen, dies sei die historische Mission des Landes.191 Nachdem er durch die Berufung auf ein übergeordnetes Wesen der Musik die Konkurrenz zwischen deutscher und italienischer Musik aufgelöst hat, lässt er damit am Ende seiner Argumentation dasselbe entlang nationaler Schranken strukturierte Denken gelten, das überwunden werden sollte. In der Filosofia della musica lässt sich damit das Paradoxon eines national artikulierten Aufgebens des Nationalen feststellen  ; ein Paradoxon, das Mazzinis These von Grund auf strukturiert und das ungelöst bleibt. Dass Mazzinis Überlegungen gerade in einen solchen Widerspruch gerieten, erscheint aus dem vorher Gesagten als nicht zufällig. Wenn es sich dabei um einen argumentativen Fehler handelt, trägt er einen durchaus freudschen Charakter  : Mazzinis Paradoxon eines nationalen Aufgebens des Nationsprinzips, seine widersprüchliche Zurückhaltung, eine rein übernationale, genuin europäische Zukunftsperspektive zu schildern, weist schon in nuce auf die weitere Entwicklung des Nations- und Musikdiskurses in den nächsten Jahrzehnten hin. Anstatt Europäisierung bzw. Entnationalisierung trat 60 Jahre nach der Filosofia della musica eine Auffassung des Musikalischen ein, die einen der Nation übergeordneten Deutungshorizont nicht mehr kennt. Wie es vorher anhand Torchis Schrift von 1894 veranschaulicht wurde, ist die Ambivalenz des Nations­konzepts am Ende des 19. Jahrhunderts nicht mehr vorhanden  : Sie wurde zugunsten desjenigen Teils des Konzepts aufgelöst, der nach fest umschriebenen Identitäten und homogenen, in sich geschlossenen Gemeinschaften strebte.

2.3  Deutschland als Gegenkonstrukt

Die Hervorhebung der Unterschiede zwischen Mazzinis und Torchis Zukunftsvorstellungen soll nicht einen Aspekt verbergen, in dem beide Schriften eine 191 Ebd., 145.

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auffallende Übereinstimmung vorweisen  : Die spezifischen Charakteristika und Attribute, mit denen Mazzini und Torchi eine musikalische italianità zu definieren versuchen, sind im Laufe der knapp 60 Jahre, die zwischen den beiden Texten liegen, und trotz der gegensätzlichen Schlussfolgerungen der Autoren unverändert geblieben. Melodie, Leidenschaftlichkeit, Gesanglichkeit sind Eigenschaften, die sowohl Mazzini als auch Torchi als nationalspezifisch ansehen.192 Es sind sicherlich Attribute, die auf eine lange Tradition zurückblicken können, die sich weit bis ins 16. und 17. Jahrhundert zurückverfolgen lässt, sie sind jedoch auch das Resultat einer besonderen Perspektive, die sowohl Mazzini als auch Torchi in der Konstruktion des Profils einer italianità in musica annehmen.193 Gesanglichkeit, Leidenschaftlichkeit etc. werden in beiden Fällen auf der Grundlage eines Vergleichs mit Deutschland als spezifisch italienisch anerkannt. Allein Deutschland lieferte den Maßstab, aus dem die eigene nationale Identität gewonnen wurde. Nicht nur für Mazzini, wie auf den vorigen Seiten bereits thematisiert, sondern auch für Torchi konstituiert sich in der Tat die Musik aus einer dichotomischen Spaltung zwischen einer musica italiana und einer musica tedesca. In einem weiteren Artikel für die Rivista musicale italiana aus dem Jahr 1897 versucht Torchi, die Eigenschaften der italienischen Musik genauer zu bestimmen  : Nichts ist für ihn in dieser Hinsicht selbstverständlicher, als die musikalische italianità vor der Folie einer „deutschen“ Musik zu lesen.194 Wie bei Maz192 Mazzini schreibt unter anderem  : „La musica italiana è in sommo grado melodica. […] L’individualità […] ha ispirato, generalmente parlando, la nostra musica, e la domina tuttavia. […] V’è sensazione prepotente, sfogo rapido e violento. […] Lirica sino al delirio, appassionata sino all’ebbrezza, vulcanica come il terreno ove nacque, scintillante come il sole che splende su quel terreno.“ (Mazzini 1954, Filosofia della musica, 148–149). Torchi hat in einem weiteren Artikel für die Rivista musicale italiana vom 1897 ähnliche Worte verwendet  : „Gl’italiani credono nell’assoluta genialità dell’invenzione, nel primo effetto dell’idea musicale che si presenta nuova, bella e completa, e la composizione per loro ha qui la sua essenza“, und in der Fußnote zu diesem Abschnitt präzisiert er seine Gedanken weiter, indem er schreibt  : „La musica degli Italiani è naturalmente cantante […], nella musica italiana vi è quasi un desiderio di esibizione.“ (Luigi Torchi  : „La musica istrumentale in Italia nei secoli XVI, XVII e XVIII“, Rivista musicale italiana 1897, jeweils 588 und 589, Fußnote 1). 193 Für die Debatte über eine musikalische italianità bis zum Ende des 18. Jahrhunderts siehe u. a. Leopold 2005, Vom Mythos der Italianità. 194 Dieser Vergleich zwischen dem „Italienischen“ und dem „Deutschen“ in der Musik wird von Torchi in diesem Artikel von 1897 mit nur einigen Veränderungen aus seiner Monografie



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zini strukturiert sich Torchis Argumentation in Form einer binären Opposition von unterschiedlichen Attributen. Eine Liste von punktuellen Gegenüberstellungen, die etwa so aussieht, wird dem Leser am Ende vorgestellt  : „Die italienische Musik ist von Natur aus dem Gesang geneigt, die deutsche richtet sich in ihrem Wesen nach dem Ausdruck. […] Eine Art harmonischen Umhangs bedeckt die deutsche Musik, die schamhaft ist  ; der italienischen Musik ist stattdessen der Wunsch eigen, sich zur Schau zu stellen. In der deutschen Musik steckt mehr Kunst, in der italienischen mehr Leben. In Deutschland hat der sogenannte unbestimmte Ausdruck die neue Instrumentalmusik hervorgebracht  ; in Italien hat die Musik es bevorzugt, sich vom Wort einschränken zu lassen.“195 Von den Anfängen des Risorgimento bis zur Gründung eines Nationalstaates schien sich damit die musikalische Identitätsbildung Italiens in einer grundlegenden Relationalität zu Deutschland abgespielt zu haben  : Deutschland stellte hier das ausschließliche Vergleichsobjekt für die italienischen Bemühungen um eine (Selbst-)Definition der eigenen nationalen Züge in der Musik dar. Die inhaltliche Bestimmung des Konstrukts einer italianità in der Musik erfolgte allein mit dem Rekurs auf ein anderes Konstrukt, dem einer deutschen Musik, und allein in Form einer binären Opposition zwischen den beiden. Dies erklärt die Tatsache, dass die Attribute des Italienischen und des Deutschen in der Musik trotz der differierenden Zukunftsvisionen und Gegenwartdiagnosen von Mazzini und Torchi immer dieselben blieben. Es ist damit notwendig, den Bezug zum Konstrukt eines musikalisch Deutschen als strukturierenden Faktor der musikalischen italianità in die Untersuchung einzubeziehen und die Konstruktion des Italienischen als Gegenentwurf zum Deutschen zu hinterfragen. über Richard Wagner von 1890 übernommen. Siehe darüber in dieser Arbeit den Abschnitt II.5.b. 195 „La musica degli Italiani è naturalmente cantante, quella dei Tedeschi è essenzialmente espressiva. […] Una specie di mantello armonico copre la musica tedesca, che è vereconda  ; nella musica italiana vi è quasi un desiderio di esibizione. Nella musica tedesca vi è più arte, mentre nell’italiana vi ha più vita. In Germania, la così detta espressione indefinita ha prodotto la nuova musica istrumentale  ; in Italia, la musica ha preferito di sentirsi limitata nella parola.“ Torchi 1897–1901, La musica istrumentale, 1897, 589, Fußnote 1.

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Diese grundlegende Relationalität beider Artefakte wird den weiteren Verlauf dieser Arbeit konsequent bestimmen. Die Konstante einer binären Opposition zwischen Deutschem und Italienischem im Übergang von Mazzini zu Torchi soll jedoch nicht missverstanden werden. Sie widerlegt nicht den qualitativen Sprung im nationalen Musikdiskurs, der eingangs postuliert wurde. Ganz im Gegenteil – sie steht gerade für eine solche Zäsur. Dabei soll bemerkt werden, dass am Ende des 19. Jahrhunderts der integrale Nationalismus als ein Element hinzukam, das diese Relationalität nicht inhaltlich, sondern in ihrer Verortung innerhalb des Musikdiskurses grundsätzlich änderte. Die binäre Opposition beider Musiknationen wurde nicht infrage gestellt, sie blieb sehr wohl erhalten  : Verändert hatte sich stattdessen der diskursive Rahmen, in dem sie sich befand. Obwohl inhaltlich gleichbleibend, bekam dadurch die Polarität des Deutschen und des Italienischen eine neue Deutung. Wie in den vorigen Abschnitten bereits besprochen wurde, nahm in den 1890er-Jahren die Gegenüberstellung der zwei Musiknationen bei Torchi die Form einer sozialdarwinistischen, internationalen Konkurrenz an  : Die binäre Opposition siedelte sich innerhalb des Diskurses über eine nationale Musik auf einer Ebene an, die keine übergeordnete Stufe mehr kannte. Ein höheres, die Gegenseitigkeit der zwei nationalen Prinzipien aufhebendes Wesen der Musik war bei Torchi im Unterschied zu Mazzini nicht mehr vorhanden. Wie im nächsten Kapitel veranschaulicht werden wird, bekam dadurch das Nationale und zugleich dessen bipolare Denkstruktur von Identität und Differenz, von Ich und Anderem, von Deutschem und Italienischem die Substanz des Musikalischen. Die binäre Opposition hatte damit ihren Platz innerhalb des Diskurses gewechselt bzw. der Diskurs selber hatte sich um sie herum geändert  : Anstatt wie zur Zeit Mazzinis eine vorläufige, aufhebbare Etappe dieses Diskurses darzustellen, markierte sie nun dessen Grenze. Zu Herkulessäulen des Musikalischen geworden, fand sie zusammen mit dem Nationsprinzip im historiografischen Konstrukt einer symphonischen Tradition Italiens ihre sicherlich folgenschwerste und zugleich widerspruchreichste Verkörperung, auf die im weiteren Verlauf der Arbeit genauer eingegangen werden wird.

3. Nation als musikalische Kategorie. Die Polemik Torchi – Giani, 1895–1897 3.1  De la méthode oder von dem, was dahintersteckt  : Zwei Deutungsebenen der Polemik

Im Jahr 1895 entbrannte in der Rivista musicale italiana eine heftige Polemik, die sicherlich die ausführlichste und im rhetorischen Aufbau des Textes gewichtigste Debatte der ersten Existenzjahre dieser Musikzeitschrift darstellt. Die zwei Kontrahenten waren Luigi Torchi und der Musik- und Literaturkritiker Romualdo Giani, der zusammen mit Torchi den editorischen Kurs der Rivista musicale italiana grundsätzlich bestimmte.196 Anlass der Kontroverse stellte ein langer, zweiteiliger Artikel von Torchi über die Faust-Szenen von Robert Schumann dar, in dem der Musikwissenschaftler die heuristische Kraft einer wissenschaftlichen, nach einer vermeintlichen Objektivität strebenden Forschungsmethode beweisen wollte.197 Fünf Jahre nach der umfangreichen Monografie über Richard Wagner wollte Torchi noch einmal im kleineren Rahmen das Erkenntnispotenzial seines positivistischen Vorgehens in der Erforschung des Musikalischen verdeutlichen.198 Gianis luzide Kritik an dem Kollegen richtete sich insbesondere gegen die wissenschaftliche Objektivität von Torchis Schluss196 Über Romualdo Giani und seine breiten musikalischen Interessen, die von der Musikkritik bis zur Librettistik und zur Musikästhetik reichten, gibt es kaum Sekundärliteratur. Eine erste Hilfe leisten Betta 2010, Romualdo Giani sowie die anderen Aufsätze des Bandes. Betta bleibt jedoch sehr nahe an der umfangreichen Einführung über das italienische Musikleben in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die Luigi Pestalozza 1966 für eine Anthologie von Artikeln aus La Rassegna Musicale verfasst hatte  ; siehe Pestalozza 1966, Introduzione. Dadurch konzentriert sich Betta wie bereits Pestalozza fast ausschließlich auf eine viel spätere Polemik, die Giani am Anfang der 1920er-Jahre in der Rivista musicale italiana gegen die Ästhetik von Benedetto Croce führte. Begrenzte Auskunft über Giani bietet außerdem Pastore 1941, In memoria. 197 Torchi 1895, Robert Schumann. Der Artikel wurde später separat als Monografie veröffentlicht (Bocca, Torino 1898). Die Polemik umfasste folgende Artikel  : Giani 1896, Per l’arte aristocratica  ; Torchi 1896, Una giustificazione necessaria  ; Giani 1896, Senza titolo  ; Torchi 1897, Per l’arte. 198 Torchi 1890, Riccardo Wagner.

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folgerungen  : Er warf dem Musikwissenschaftler einen Rückzug in jene Subjektivität des ästhetischen Urteils vor, die beide mit dem jüngsten Unternehmen der Rivista musicale italiana und durch den Rekurs auf ein rigides, tief positivistisch geprägtes Modell von Wissenschaft definitiv aus der Musikkritik beseitigen wollten. 199 Im Folgenden möchte ich hervorheben, dass sich die Debatte zwischen den beiden Kontrahenten nicht um die Frage nach einer richtigen Methode für die Untersuchung des Musikalischen drehte. Mit Hartnäckigkeit und rhetorischer Gewandtheit wurde stattdessen vielmehr die Frage nach der Rolle debattiert, die der Kategorie des Nationalen im Kontext einer wissenschaftlich objektiven „neuen Musikkritik“ („nuova critica musicale“) zugewiesen werden durfte. Diese Polemik stellt einen entscheidenden Scheidepunkt für die Artikulierung nicht so sehr der Methode, sondern vielmehr der Identität und der Forschungsziele der Musikwissenschaft in ihren ersten Existenzjahren in Italien dar. Damit ist hier eine erste Ebene jener Deutung genannt worden, die im Rahmen dieses Kapitels unternommen werden soll. Die Debatte zwischen den beiden Musikwissenschaftlern soll jedoch im Folgenden nicht allein unter einer strikt fachimmanenten Perspektive als paradigmatisch erkannt werden. Aus der Untersuchung dieser Polemik soll auch und vor allem jenes entscheidende Moment sichtbar gemacht werden, in dem das Nationskonzept zum strukturierenden Element des gesamten italienischen Musikdiskurses gemacht wurde. Auf dieser zweiten, die erste ergänzenden Deutungsebene setzt das Hauptziel dieses Kapitels an. Von seinem Kontrahenten angespornt, explizierte Torchi in seinen Beiträgen, auf welche Art und Weise das Nationale zur ästhetischen Urteilskategorie des Musikalischen umgeformt werden konnte. Es ist im Rahmen dieser Polemik, dass das Nationskonzept zum strukturierenden Element des gesamten italienischen Musikdiskurses umgestaltet wurde. Hier lässt sich die Einführung des ersten und wichtigsten Ele199 Erklärtes Hauptziel der Rivista musicale italiana war es, eine Neustrukturierung der Musikkritik zu bewirken  : In Analogie zu der Literaturwissenschaft, in der dies zu jenem Zeitpunkt bereits geschehen sein sollte, sollte die Musikkritik „zur Würde einer wahren Wissenschaft“ geführt werden, wie es in der anonymen Absichtserklärung in der allerersten Nummer der Rivista zu lesen ist, vgl. Anonymus 1894, La Direzione, 2. Vermutlich wurde dieser Eröffnungstext von Giani verfasst, vgl. Criscione 1997, Luigi Torchi, 82, Fußnote 27.



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ments jener transzendentalen Trias von Nation, symphonischer Tradition und Deutschlandbezug ablesen, die eingangs besprochen wurde. Damit stellte Torchi im Laufe der Debatte die diskursiven Weichen für ein Reformprojekt des gesamten italienischen Musiklebens, das bis zum Ende des Faschismus wirken sollte. *** Verwissenschaftlichung des Wissens und der Nation Der Glaube an die „Fakten“ gegen das „leere Gerede der Philosophen“,200 die Verherrlichung der Wissenschaft als bevorzugtes Mittel für das Vorantreiben des ethischen und materiellen Fortschritts und die Ausweitung der wissenschaftlichen Forschungsmethoden als einzig gültiges, heuristisches Paradigma für die Erschließung der Welt stellen sicherlich die Grundzüge der umfassenden Strömung des Positivismus dar. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde er zu einer leitenden Weltanschauung der gesamten westlichen Kultur.201 Der Positivismus war vermutlich auch der erste gemeinsame kulturelle Horizont der intellektuellen Elite Italiens, die sich 1861 zusammen mit dem neuen italienischen Staat gebildet hatte. Das Projekt einer Öffnung des kulturellen Lebens der neu gegründeten Nation nach Europa wurde nur in den ersten fünf Jahren nach der politischen Vereinigung und unter der charismatischen Figur von Francesco De Sanctis in einer neohegelianischen Richtung artikuliert  ; von etwa 1865 bis 1895 stellte stattdessen der Positivismus das vorherrschende wissenschaftliche und weltanschauliche Paradigma dar  : Anhand dessen fand Italien den erhofften Anschluss zur europäischen Kultur.202 Zu jenem Zeitpunkt lassen sich damit auch in Italien die Anfänge eines Prozesses der Verwissenschaftlichung in allen Wissensbereichen beobachten, der auf 200 Mit diesen Worten soll Alessandro D’Ancona, der einer der Protagonisten der positivistischen Phase der italienischen Literaturwissenschaft am Ende des 19. Jahrhunderts in Italien ist, den Philosophen Giovanni Gentile kritisiert haben, als dieser während seines Studiums an der Scuola Normale in Pisa anfing, für die theoretische Philosophie ein zunehmendes Interesse zu zeigen, vgl. Gentile 1925, La nuova scuola media, 273 (zitiert nach Finotti 2005, Il metodo storico, 231). 201 Siehe Restaino 1999, Storia della filosofia, XVI–XXX. 202 Ebd., 223–231.

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die Bestimmung von ewigen Konstanten und vermeintlich objektiven Fakten zielte.203 Es war der Triumph jener „szientistischen Illusion“, die in der Überzeugung einer uneingeschränkten Übertragbarkeit der Naturgesetze auf den Kulturbereich eine Zurückführung der biologischen und kulturellen Komplexität des menschlichen Lebens auf wenige, allgemeingültige und überzeitlich geltende Gesetze anstrebte.204 Dieser Verwissenschaftlichungsprozess brachte eine zunehmende Spezialisierung, Professionalisierung und Institutionalisierung des Wissens mit sich, die sich in der Herausbildung neuer Disziplinen wie der Psychologie oder der Soziologie widerspiegelte, die in den darauf folgenden Jahrzehnten große Erfolge verzeichneten.205 In diesem Kontext stellt sich auch die „verspätete“ und auf institutioneller Ebene in Italien durchaus problematische Etablierung einer neuen, nach objektiver Wissenschaftlichkeit strebenden heuristischen Herangehensweise an das Musikalische ein, die nicht ohne Polemik den Namen musicologia bekam.206 Am Beispiel der sogenannten wissenschaftlichen Wende der deutschen Historiografie im Laufe des 19. Jahrhunderts hat Wolfgang Hardtwig folgende drei Kriterien hervorgehoben, entlang derer sich diese Neuorientierung abspielte  : eine „traditionskritische Haltung“, das heißt die Notwendigkeit einer rationell203 Munslow 2006, Positivism. Für das Konzept der „Verwissenschaftlichung“ siehe Szöllösi-Janze 2004, Wissensgesellschaft in Deutschland. Szöllösi-Janze verwendet dieses Konzept als Deutungsperspektive für die deutsche Geschichte vom Ende des 19. Jahrhunderts bis zum Aufkommen des Nationalsozialismus. Vgl. außerdem Raphael 1996, Die Verwissenschaftlichung des Sozialen. 204 Für den Ausdruck „szientistische Illusion“ siehe Restaino 1999, Storia della filosofia, XVI. 205 Jensen/Morat 2008, Die Verwissenschaftlichung des Emotionalen, 14. 206 Als Gründungsakt einer modernen Disziplin der Musikwissenschaft wird per Konvention der berühmte Artikel von Guido Adler aus dem Jahr 1885 angesehen (Adler 1885, Umfang, Methode und Ziel). In dieser Schrift unternahm Adler einen der ersten Versuche, das Proprium eines „musikwissenschaftlichen“ Wissens zu definieren und zu systematisieren. Bis heute gibt es keine umfassende Studie, die die Entwicklung dieser Disziplin aus einer sowohl zeitlich als auch geografisch breiten Perspektive untersucht. Zusätzlich zu den Artikeln in den üblichen Fachlexika sei hier auf folgende zwei Aufsätze über die Anfänge der deutschen Musikwissenschaft verwiesen  : Osthoff 1933, Die Anfänge der Musikgeschichtsschreibung und Kümmel 1967, Die Anfänge der Musikgeschichte. Der neueste ist dann der interessante Artikel von Schipperges 1998, Musiklehre und Musikwissenschaft. Für einen Überblick über Geschichte und Identität der Musikwissenschaft, der auf die Verschränkung der Disziplin mit dem Nationalismus und Nationalsozialismus eingeht, soll auch auf den Aufsatz von Gerhard 2000, Musikwissenschaft verwiesen werden.



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logischen sowie dokumentarischen Überprüfung des Überlieferten  ; die Abgrenzung gegenüber anderen Disziplinen, insbesondere der Philosophie, und schließlich die Notwendigkeit einer übergeordneten Bezugstheorie, die die Forschung leiten und strukturieren soll.207 Diese drei Aspekte lassen sich auch als prägende Züge der neuen Disziplin der Musikwissenschaft bzw. der musicologia feststellen.208 Im Jahr 1981 hat Leonardo Pinzauti betont, dass die „Wiederentdeckung“ der alten italienischen Musik nicht „als ein Verdienst („invenzione“) von Torchi oder Chilesotti“ verstanden werden darf  :209 Gelehrte oder Sammler älterer Musik lassen sich in Italien bereits im 18. Jahrhundert finden.210 Die Anmerkung Pinzautis ist sicherlich 30 Jahre später noch gültig, doch gerade mit Oscar Chilesotti oder Torchi wurde das Interesse für das Musikalische zur „Wissenschaft“ und wurden die drei von Hardtwig für die Historiografie des Historismus formulierten Kriterien erfüllt. Chilesotti und Torchi betrachten die musikalische Vergangenheit mit einem Ansatz, der auf eine objektive Verifizierung des Tradierten (von der Quellenkritik bis hin zu ästhetischen Hierarchien der jeweiligen Epoche) zielt  ; beide Forscher verzichten außerdem programmatisch auf den „Subjektivismus“ („soggettivismo“) der Musikkritik der vorigen Jahrzehnte und stellen der deduktiven Herangehensweise der Philosophie eine induktive, wissenschaftliche Erkenntnismethode gegenüber. Schließlich verwenden sie explizit die Sprache und die Methoden des Positivismus, insbesondere mit der Übernahme der sogenannten „historischen Methode“ („metodo storico“) der positivistischen Literaturwissenschaft eines Alessandro D’Ancona oder Domenico Comparetti  ; einer Methode, die an die Bedürfnisse der neuen musikwis207 Hardtwig 2007, Die Verwissenschaftlichung, 309–311. 208 Für die Anfangsjahre der italienischen Musikwissenschaft stehen leider kaum Veröffentlichungen zur Verfügung. Siehe insbesondere Pestelli 1981, La generazione dell’ottanta  ; Nicolodi 1982, Per una ricognizione und Nicolodi 1991, Risvolti nazionalistici. Über die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Musik in Italien während des Positivismus siehe Serravezza 1996, Musica e scienza und Tucci 2000, Mario Pilo. Bezüglich der aktuellen Forschungslage über die Anfänge der musikwissenschaftlichen Disziplin in Italien und der jüngsten Veröffentlichungen siehe die Fußnote 214, S. 113 in diesem Abschnitt. 209 Vgl. Nicolodi (Hg.) 1981, Musica italiana, 410. 210 Dies hob Emilia Zanetti in einer Diskussionsrunde während der Tagung über die „Genera­ zione dell’80“ im Jahr 1980 hervor, aus der der vorher zitierte Band von Fiamma Nicolodi hervorgegangen ist, vgl. ebd., 135.

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senschaftlichen Disziplin angepasst wurde, wie die Forschung in jüngster Zeit anschaulich gezeigt hat.211 Die Polemik zwischen Luigi Torchi und Romualdo Giani bezüglich der richtigen Untersuchungsmethode und deren angemessener Anwendung soll damit in den Kontext eines stattfindenden Verwissenschaftlichungsprozesses des Wissens gestellt werden. Dies heißt jedoch nicht, dass diese Debatte allein in ihren wissenschaftlich-methodologischen Komponenten untersucht werden soll. Die Wissenssoziologie hat seit geraumer Zeit die enge Interdependenz zwischen Wissen und Gesellschaft hervorgehoben.212 Die voranschreitende Verwissenschaftlichung des Wissens hatte nicht nur Auswirkungen auf die gesamte Gesellschaft jener Epoche und wirkte sich bis ins Private aus, wie zum Beispiel im Fall der Emotionen  ; sie war gleichzeitig vom politisch-gesellschaftlichen Kontext, in dem sie stattfand, tiefgreifend strukturiert worden.213 Nach den Pionierarbeiten von Fiamma Nicolodi in den 1980er-Jahren hat die jüngste italienische Forschung im letzten Jahrzehnt anregende Studien über die Anfänge der Musikwissenschaft in Italien hervorgebracht, die oft jedoch gerade eine so zentrale Kategorie der damaligen italienischen bzw. europäischen Gesellschaft wie die der Nation aus der Untersuchungsperspektive ausgeschlossen haben. Ivano Cavallini, dem die wichtigsten Veröffentlichungen und Tagungen der letzten Jahre auf diesem Gebiet zu verdanken sind, hat 2005 in einer Art Forschungsprogramm „das Problem der Bestimmung einiger Denkkategorien, die die Herausbildung der historischen Musikwissenschaft (‚storiografia musicale‘) strukturiert haben“ mit Recht als zentrales Ziel für die Untersuchung 211 Siehe Finotti 2005, Il metodo storico sowie Gonelli 2003, La scuola storica. Die positivistisch orientierte, von der Verwendung des sogenannten „metodo storico“ geprägte italienische Literaturwissenschaft wurde in der Absichtserklärung in der ersten Nummer der Rivista musicale italiana explizit als Vorbild für eine moderne, wissenschaftliche Disziplin des Musikalischen genannt, vgl. Anonymus 1894, La Direzione, insbesondere 1–2. 212 Siehe Knoblauch 2010, Wissenssoziologie, 233–253. 213 Für die „Verwissenschaftlichung der Emotionen“ sei hier noch einmal auf den vorher zitierten Aufsatz von Uffa Jensen und Daniel Morat verwiesen (Jensen/Morat 2008, Die Verwissenschaftlichung des Emotionalen). Siehe außerdem Stöckel 2009, Verwissenschaftlichung der Gesellschaft  ; in diesem Aufsatz bietet Stöckel eine interessante Forschungsperspektive für eine Untersuchung der Interdependenz von Gesellschaft und Wissenschaft anhand einer Erforschung der wissenschaftlichen Zeitschriften, die zwischen dem 19. und 20. Jahrhundert veröffentlicht wurden.



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erkannt.214 Notwendig ist es jedoch, auch jene Denkkategorien als strukturierendes Element des musikwissenschaftlichen Diskurses in Italien zu berücksichtigen, die einen direkten Zusammenhang zum sozialen und politischen Kontext haben. Wie im vorigen Kapitel bereits erwähnt, hatte die Kategorie der Nation bereits während des Risorgimento eine zentrale Rolle im italienischen Musikdiskurs eingenommen. Die Verwissenschaftlichung dieses Musikdiskurses mit der Etablierung der neuen positivistisch orientierten Disziplin einer musicologia soll damit nicht nur in ihren methodologischen und theoretischen Koordinaten hinterfragt, sondern auch in ihrer Interdependenz zum Nationalen untersucht werden. Berücksichtigt werden soll vor allem die Tatsache, dass die Anfänge der musikwissenschaftlichen Disziplin in Italien am Ende des 19. Jahrhunderts mit einem neuen, integralen Verständnis des Nationalen zeitlich zusammenfielen, dessen prägende Züge im vorigen Kapitel geschildert wurden. Der integrale Nationalismus war außerhalb des Musikdiskurses auf vielfältige Weise mit dem parallel stattfindenden Prozess einer Verwissenschaftlichung des Wissens verbunden  : Auf einer europäischen Ebene sind dies zum Beispiel die Jahre der erfolgreichen Verbreitung unterschiedlicher Rassenlehren, die im Bereich der Biologie eine Antwort auf die prägende Frage nach der Identität des nationalen Kollektivs des integralen Nationalismus gaben.215 Wenn auch in Italien nicht so 214 Cavallini 2005, Per uno studio, 227. Im Laufe des letzten Jahrzehnts hat sich Ivano Cavallini um die Erforschung dieser ersten Generation von italienischen Musikwissenschaftlern besonders bemüht. Dank seines Engagements konnten einige wichtige Tagungen organisiert und einige bedeutende Veröffentlichungen realisiert werden. Vgl. in dieser Hinsicht die verschiedenen Beiträge in der oben erwähnten Nummer von Musica e Storia, die aus einem von Cavallini organisierten Kongress vom Oktober 2002 im Stadtmuseum von Bassano hervorgegangen sind, sowie Cavallini (Hg.) 2000, Oscar Chilesotti. 215 Der Historiker Emilio Gentile hat 1997 anhand einer Untersuchung der Artikel „nazione“ und „patria“ in unterschiedlichen zwischen Ende des 19. Jahrhunderts und 1914 erschienenen italienischen Enzyklopädien und Lexika hervorgehoben, dass die Autoren tendenziell viel mehr die kulturellen als die biologisch-rassischen Aspekte des nationalistischen Diskurses in jener Zeitspanne betont hatten, vgl. Gentile 1997, Grande Italia, 34–35. Silvana Patriarca hat jedoch 2010 gezeigt, wie ein rassisch deklinierter Nationalismus zu jener Zeit auch in Italien in einigen einflussreichen Zirkeln durchaus erfolgreich präsent war  ; insbesondere hat sie den Einfluss von Cesare Sergi hervorgehoben, der der wichtigste italienische Anthropologe der letzten zwei Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts war, vgl. Patriarca 2010, Italianità, 88–96. Siehe außerdem in der vorliegenden Arbeit II 2.5.3  ; hier wird ein auffallendes Beispiel für die Verwendung der Rassentheorie im italienischen Musikdiskurs aus dem Jahr 1917 eingehend untersucht.

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sehr die biologischen, sondern vielmehr die sprachlichen Merkmale als InklusionExklusion-Kriterien zur nationalen Gemeinschaft eine Rolle spielten, verbreitete sich auch in der Peninsula eine weitere, für jene Zeit prägende Form der Verschränkung von integralem Nationalismus und Wissenschaft  : der Sozialdarwinismus.216 Mit der voranschreitenden Verwissenschaftlichung des humanistischen Wissens wurden damit die bereits mit der Romantik zum wichtigen Bestandteil der Geschichts- bzw. Literaturwissenschaft gewordene Kategorie der Nation und die Zugehörigkeitskriterien zum nationalen Kollektiv implizit zu regelrechten „Fakten“ erklärt, deren „Objektivität“ derjenigen der Naturgesetze glich. Die neuen oder in ihren Methoden grundlegend erneuerten Geisteswissenschaften konnten ihrerseits Prestige und eine soziale Notwendigkeit gewinnen oder weiterhin erhalten, indem sie sich zum unentbehrlichen Werkzeuge für die Konstruktion der „vorgestellten Gemeinschaft“ der Nation machten.217 Zwischen Wissenschaft und Nation fand damit eine Verschränkung statt, welche die Form einer wechselseitigen Legitimation annahm. Gerade über die Gültigkeit und die Konsequenzen einer solchen Verschränkung für den Musikdiskurs entbrannte die Polemik zwischen Torchi und Giani, der auf den folgenden Seiten nachgegangen wird.

3.2  Forschungsmethode und „geistige Richtung“  : Das deutsche Krankenhaus der Romantik

Torchi eröffnet seinen Artikel über die Faust-Szenen von Schumann mit einer methodologischen Einführung, die einen regelrechten Discours de la méthode auf dem Gebiet des analytischen Umgangs mit der Musik darstellt. Torchi erwähnt Hippolyte Taine als auctoritas und stellt das Problem der Substanz des musikalischen Kunstwerks mit folgenden Worten dar  : 216 Siehe Hobsbawm 2005, Nationen und Nationalismus,128–129 sowie Leonhard 2008, Bellizismus und Nation, 813–814. Vgl. auch Claeys 2000, Survival of the fittest. 217 Siehe Jessen/Vogel 2002, Einleitung. Hier wird die wechselseitige Legitimation von Wissenschaft und Nation im Fall der Naturwissenschaften untersucht. Für Benedict Andersons Konzept der Nation als „imagined communities“ und die daraus resultierende kulturalistische Wende in der Nationalismusforschung am Anfang der 1980er-Jahre siehe die methodologische Einleitung der vorliegenden Arbeit und insbesondere die Fußnote 20, S. 19.



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„Die künstlerische Tätigkeit ist weder [von der Welt] abgeschieden noch willkürlich […]  ; sie ist stattdessen von einem Bündel an Ideen und Gefühlen bestimmt, das zusammen mit der Begabung des Künstlers auf dessen Beschaffenheit und auf dessen Entwicklung Einfluss nahm […]. Wenn man ein Kunstwerk verstehen möchte, muss man das Wesen seines Schöpfers angemessen erkennen. Es handelt sich also auch in diesem Fall um das Prinzip von Taine  ; nach ihm richtet sich die moderne, vollkommen objektive Kritik.“218 Aus der Objektivität einer Analyse der psychologischen Gegebenheiten des Komponisten beabsichtigt Torchi wissenschaftlich fundierte Rückschlüsse über dessen Werk zu ziehen. Torchi betont hier, wie gerade eine solche Methode es überhaupt erst ermöglicht, einen wissenschaftlichen Diskurs über die Musik zu führen  : Nur damit kann die critica musicale aus dem Gebiet der Ästhetik, die nur der Willkür des Geschmacks folgt, in das Gebiet der Wissenschaft überführt werden. Gleichzeitig wird aber mit diesem Standpunkt auch dem Kunstwerk eine Verschiebung seiner Substanz unterstellt, die Torchi äußerst bewusst ist  : Die Musik kann nicht mehr als rein ästhetisches Produkt verstanden werden, ihr Wesen sei nicht das exklusive Resultat der Gesetze der Schönheit, vielmehr liege es, zumindest größtenteils, außerhalb dieser Gesetze. Als zentralen Irrtum sieht er damit einen Forschungsansatz an, den er nicht ohne einen ironischen Unterton einem spezifischen Forscher-Typ zuschreibt, dem „absoluten Musiker“ („musicista assoluto“). Er schreibt  : „Wenn man sich mit jener, sicherlich unentbehrlichen, technischen und formalen Analyse begnügen möchte, nach welcher der absolute Musiker strebt, gelangt man zu einer Kenntnis des Kunstwerkes, die nicht über diejenige eines Kompositionsstudenten hinausgeht. Der absolute Musiker beschränkt sich auf die oberflächliche Betrachtung eines Phänomens, das sich ihm nicht ganz ent218 „Questa attività [die künstlerische Tätigkeit, d. V.], come quella di ogni artista vero, non è isolata e neanche arbitraria […]  ; bensì essa è determinata da un complesso di idee e di sentimenti che, dato l’ingegno, hanno influito sulla sua conformazione e sul suo sviluppo […]. Ci dobbiamo, insomma, se vogliamo comprendere l’opera d’arte, rappresentare chiaramente la natura dell’ingegno che l’ha fatta. Egli è ancora là il principio di Taine, in cui ci imbattiamo e cui la critica moderna, tutta oggettiva, s’informa.“ Torchi 1895, Robert Schumann, 381–382.

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hüllt  ; er bleibt noch auf der Ebene einer rein materiellen und nur vorbereitenden Untersuchung des Kunstwerkes.“219 Der „absolute Musiker“ missversteht die Natur des Kunstwerks, die er untersucht, indem er mit der falschen Annahme arbeitet, dass „das quid der künstlerischen Intuition“, dessen Spuren er verfolgt, „allein in den äußerlichen Verhältnissen der Musik“, also in der Ästhetik, liege.220 Der „absolute Musiker“ beschränkt sich damit auf eine reine „technische und formale Analyse“ des Kunstwerks und bleibt in „einer rein materiellen und vorbereitenden Betrachtung der Kunst“ gefangen.221 Die Notwendigkeit einer formal-stilistischen Analyse wird von Torchi nicht angezweifelt, sie ist jedoch seiner Meinung nach nur ein erster Schritt im Hinblick auf eine objektive wissenschaftliche Historiografie des Musikalischen. Torchi formuliert schließlich in seiner Auseinandersetzung mit Schumanns Musik mit klaren Worten seine analytische Vorgehensweise  : „[In diesem Aufsatz, d. V.] deute ich ein Kunstwerk nicht an sich, isoliert betrachtet, sondern ich führe es immer wieder auf die spezifische Beschaffenheit des Komponisten, auf dessen Tendenzen, auf jene geistige Richtung zurück, aus der er und sein Werk hervorgehen.“222 Gerade in diesem Satz steckt Torchis Unklarheit über das Anwendungsgebiet seiner wissenschaftlichen Methode und gerade auf dieser Unklarheit baut Tor219 „Se volessimo accontentarci dell’esame tecnico e formale del musicista assoluto, il quale esame ci è d’altronde indispensabile, noi, dell’opera d’arte, non potremmo conoscere che quel che ne sa uno studente di composizione musicale. Il musicista assoluto […] si limita all’osservazione superficiale di un fenomeno che non gli si rivela interamente  ; egli rimane ancora circoscritto ad una osservazione puramente materiale e preparatoria dell’arte.“ Ebd., 386–387 220 „Vediamo di togliere questo paziente ed inconscio musicista dal suo tavolo di studio […] per fargli toccare con mano dove sia il fondo di quella intuizione artistica, che egli, ingenuamente e troppo presto contento di sé, cercava e credeva di avere trovato nei soli rapporti esterni della musica.“ Ebd. 386–387. 221 Ebd., 386. 222 „[In diesem Aufsatz, d. V.] non esprimo la mia opinione intorno a una forma d’arte considerata nel suo isolamento, in sé e per sé, ma questa io riferisco continuamente alla speciale intuizione del compositore, alle sue tendenze, alla direzione spirituale, della quale egli e la sua opera sono una emanazione.“ Ebd., 382.



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chi im weiteren Verlauf des Aufsatzes seine Schlussfolgerung auf. Am Anfang des Artikels hatte er für die Notwendigkeit einer wissenschaftlich fundierten Untersuchung der psychologischen Gegebenheiten Robert Schumanns plädiert  : Ohne sie wäre ein korrektes Verständnis der Musik des Komponisten nicht möglich. Nur einige Paragrafen später weitet er das Untersuchungsfeld unvermittelt aus  : Torchi sieht hier die Erforschung der „künstlerischen Tendenzen“, der „geistigen Richtung“ des Komponisten als unentbehrliche Vorbedingung für die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit seiner Musik an. Die Untersuchung der Psyche Schumanns entpuppt sich tatsächlich im weiteren Verlauf des Artikels nicht als die alleinige oder primäre Basis von Torchis musikhistorischem Diskurs  : Vielmehr wird sie auf einen untergeordneten, der Erläuterung der „geistigen Richtung“ dienenden Aspekt seiner Argumentation reduziert. Das harte geschichtliche Urteil über Schumann und sein Werk, das Torchi am Ende ausspricht, geht gerade aus der Untersuchung der „intellektuellen Persönlichkeit“, der „künstlerischen Tendenzen“ und der „geistigen Richtung“ des Komponisten und nicht aus der reinen Analyse von dessen Psyche hervor. Torchi beschränkt sich auf eine sehr knappe Skizze der psychischen Hauptzüge des Komponisten, die im Wesentlichen aus der vagen Feststellung einer Zuneigung für die „intimeren, geheimnisvolleren, ungreifbareren und kompliziertesten seelischen Haltungen“ besteht.223 Er führt diese Charakteristika sofort in ein übergeordnetes Prinzip über  : Das spezifisch deutsche „Gemüth“ [sic  !], wie er mit Verwendung des deutschen Worts in der damaligen Orthografie erklärt. Das deutsche „Gemüth“, wenn es auch ein überzeitliches Charakteristikum dieses Volkes darstellt, ist jedoch vor allem in der Romantik zur vollkommenen Entfaltung gekommen. Er schreibt  : „Ein glühendes, endloses Streben, die Sehnsucht [auf Deutsch im Text, d. V.], ohne ein präzises Ideal, ohne Objekt, dies ist die Drehachse, um die das Kunstwerk kreist […]. Diese Sehnsucht steht im Zusammenhang mit dem Gemüth [sic  !, auf Deutsch im Text, d. V.], sie ist aus ihm abgeleitet […]. Aus einer solchen kindlichen, objektlosen, eitlen Bestrebung, welche die Romantiker zur 223 „La musica di Schumann è alimentata dalle disposizioni d’animo più intime, segrete, vaghe e complicate.“ Ebd., 387.

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Schau stellen, besteht deren wahre Seele  : Sie ist das Alpha und Omega der [romantischen] Dichtung sowie der Musik Schumanns.“224 Damit wird Robert Schumann zur Quintessenz „der exzentrischen Persönlichkeiten, die das deutsche Krankenhaus der Romantik unterbringt“, erklärt.225 Auf dieser Grundlage, baut Torchi seine These auf  : Als er von einer Untersuchung der „psychischen und intellektuellen Persönlichkeit“ („personalità psicologica ed intellettuale“) am Anfang des Artikels schrieb, meinte er damit diese Art der psychologischen Analyse. Nur indem er die psychischen Züge des Komponisten zu den Charakteristika eines aus der Abstraktion gewonnenen Idealtypus eines romantischen Menschen überführt, kann Torchi seine Argumentation fortsetzen. *** Schumann vs. Wagner  : Zwei Ausprägungen eines „deutschen Gemüths“ Die vorbereitende Schilderung des „geistigen“ Kontexts, in dem Schumann agierte, ist nach dieser reductio ad universalem der psychischen Gegebenheiten des Komponisten noch nicht zu Ende. An diesem Punkt seiner Argumentation angelangt, führt Torchi einen entscheidenden Vergleich ein  : Er stellt der vorher in ihren Grundzügen veranschaulichten Persönlichkeit Schumanns diejenige von Richard Wagner gegenüber. Aus dem deutschen „Gemüth“ ist in der Romantik nicht nur Schumann, sondern auch Wagner hervorgegangen und gerade dieser letzte Komponist verkörpert nach Torchi am deutlichsten die andere Ausdrucksmöglichkeit dieses Gemüts. Vor der „unvergleichbaren Kraft und Energie“ der wagnerschen Persönlichkeit tritt der Solipsismus Schumanns unwiderruflich zurück  : 224 „Una aspirazione ardente, infinita, la Sehnsucht, senza ideale determinato, senza oggetto […] è l’asse, intorno al quale si muove l’opera d’arte  ; […] essa è in relazione col Gemüth [sic  !], ne è una derivazione o un succedaneo. […] Questa aspirazione puerile, senza oggetto, vana dunque, che i romantici ostentano […] è l’anima stessa del romantico  : essa è tutto per la poesia ed è tutto per la musica di Schumann.“ Ebd., 388. 225 „Se si considerano un po’ da vicino le personalità eccentriche che […] ricovera lo spedale [sic  !] romantico della Germania, si vede come le diverse loro tendenze si siano tutte raccolte e individuate in questa figura d’artista, che diventa, per ciò, una della più tipiche, in Schumann.“ Ebd., 390.



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„Für Wagner ist die Kunst Teil des Lebens einer Nation  : Sie soll sich auf die Volksmasse herniedersenken wie eine Kraft, welche die deutsche Gesinnung erlöst […]. Für Schumann ist die Bindung des einzelnen Menschen, des einzelnen Künstlers mit der Menschheit und der Nationalidee nichtig. […] Für Schumann ist das individuelle Genie [wichtig], das aus seiner eigenen Kraft zur Geltung kommt  : Sein Ziel ist die Befriedigung seines eigenen Impulses und die Kunst das Mittel dafür. […] Er glaubt nicht, dass sich das Besondere des Ichs dem Allgemeinen der Idee zu unterwerfen habe.“226 Mit dem Vergleich zwischen Schumann und Wagner, der die Schilderung der „geistigen Richtung“ der romantischen Epoche vervollständigte, sind alle vorbereitenden Schritte durchgeführt worden, welche die wissenschaftliche Untersuchungsmethode von Torchi – Taine vorsah. Torchi hat damit das argumentative Terrain für die Ausdeutung Schumanns als selbstzentrierte Persönlichkeit geschaffen und kann nun sein Urteil über die Musik des Komponisten aussprechen  : Auf analogischem Weg (von der Schaffenspersönlichkeit zu deren Werken) kann er nun die schumannsche Musik mit dem Begriff des Solipsismus etikettieren. Der Vorwurf, den Torchi hier an Schumann richtet, ist letzten Endes nicht primär künstlerischer, sondern gesellschaftspolitischer Natur  : Die Musik Schumanns sei unfähig, zum „Volk“ zu sprechen. Sie sei der Spiegel einer selbstzentrierten Seelenhaltung. Damit steht Schumann hier als Inbegriff eines „un­ moralischen“ Kunstverständnisses, dessen Bekämpfung Torchi seine ganze wissenschaftliche Tätigkeit konsequent widmete  : l’art pour l’art, die Kunst für die Kunst.227 In der gesellschaftlichen Funktion sieht Torchi die höchste Aufgabe 226 „Per Wagner l’arte è un elemento della vita nazionale  : essa deve discendere alla massa del popolo, come una virtù redentrice del sentimento germanico […]. Per Schumann la relazione del singolo uomo, del singolo artista colla umanità e colla idea nazionale è tenuta in nessun conto. […] Per Schumann è l’individuo geniale, che si fa valere per sé  : il suo scopo è la soddisfazione del proprio impulso, il mezzo, l’arte. Egli […] non pensa che le particolarità dell’io abbiano a sottomettersi all’idea.“ Ebd., 391. Das vorige, im Fließtext von mir übersetzte Zitat lautet  : „Essa [Schumanns Persönlichkeit, d. V.] cede, rimpicciolisce, indietreggia, scompare quasi, davanti a quella di una personalità artistica di incomparabile potenza ed energia, a quella di R. Wagner.“ Ebenda. 227 „È così si intende di far l’arte per l’arte (una frase assurda e immorale) e non si vede che, senza direzione sulla collettività umana, sul popolo, tutto ciò è puro dilettantismo.“ Ebd., 392.

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und das Existenzrecht der Kunst. Für das tiefere Verständnis dieses zentralen Aspekts ist es nun wichtig, die Kritik Gianis an Torchi genauer zu betrachten. *** Eine aristokratische Kunst  : Romualdo Giani Der Titel des Artikels, mit dem Romualdo Giani die Polemik gegen Torchi begann, ist betont programmatischer Natur  : „Für die aristokratische Kunst“ („Per l’arte aristocratica“).228 Mit seiner Schrift zielt Giani auf eine Zuordnung von Torchis Kunstauffassung in ein demagogisch geprägtes sozialistisches Milieu. Er stellt seine öffentliche Stellungnahme als eine Entscheidung dar, die aus dem akuten Bewusstsein für die Gefahren hervorging, die durch eine Übernahme von Torchis Thesen seitens der neuen wissenschaftlichen Erforschung der Musik drohen würden. Er schreibt  : „Als das Theoretisieren von der Menge auf die Akademie plötzlich emporsteigt und man von den Seiten dieser Zeitschrift […] alle Kunstwerke zu tadeln beginnt, die allein für die Freude der wenigen geschrieben wurden, mein Schweigen darüber würde einer Zustimmung gleichen. […] Denn, heute, sehen Sie, Torchis Opfer hat sich allein auf Robert Schumann beschränkt, aber morgen, wer weiß  ? Mehr als ein Nachahmer […] wird der Versuchung noch kühnerer Taten erliegen.“229 Giani sieht also durchaus deutlich das folgenreiche Potenzial, das in der Übernahme einer solchen Kunstauffassung steckt. Die Auseinandersetzung mit Torchi ist deshalb so heftig, weil es für beide Kontrahenten um viel mehr als um den Stellenwert der schumannschen Musik geht. Beide wissen, dass hier eine Neuorientierung der ästhetischen Paradigmen aufs Spiel gesetzt wurde, deren 228 Giani 1896, Per l’arte aristocratica. 229 „Quando la teorica improvvisamente sale dalla folla alla scuola, e in questa stessa Rivista […] involge in un general biasimo tutte le opere d’arte cui non sia proposto altro fine che il diletto dei pochi – il silenzio, via, potrebbe parere consenso. […] Perché – vedete – oggi, alle mani del Torchi, il sacrificio si è ristretto a Roberto Schumann  ; domani, chi sa  ? Più d’un imitatore […] sarà tentato ad altre prove più ardite.“ Ebd., 93



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Konsequenzen weit über die Grenzen der Ästhetik hinausgehen. Wie Giani eindeutig erkennt, plädiert Torchi mit seinem Artikel für eine Neuschreibung der ästhetischen Urteilskriterien  ; eine Neuschreibung, welche die etablierten musikgeschichtlichen Kategorien und Kanons betrifft und sie auf den Kopf stellt. Auf dem Spiel stehen also – und Giani sieht dies durchaus deutlich – die Herausbildung neuer Künstler-Hierarchien und eine grundlegende Revision der gesamten Musikgeschichte. Die Kritik Gianis zielt daher – ironischerweise im echten marxschen Sinne – vor allem darauf, den Ideologiecharakter der ästhetischen Konzeption Torchis zu demaskieren und sie damit aus dem Gebiet der Wissenschaft auszuschließen. Giani führt daher seine inhaltliche Polemik programmatisch und ausdrücklich auf der Ebene des methodologischen und wissenschaftlichen Diskurses durch. Torchi – stellt Giani in seiner Kritik fest –hat sich auf die ausschließliche Anwendung von Taines Thesen über die Existenz eines direkten Bezugs zwischen Kunstwerk und Gesellschaft beschränkt. Er habe aber nicht verstanden, dass Taines methodologischer Blick in der Geschichte gefangen blieb. Der französische Wissenschaftler konnte oder wollte seinen interpretatorischen Blick nicht einem übergeordneten Kontext öffnen. Taine habe sich damit begnügt, die gesellschaftlichen und kulturellen Einflüsse auf das Kunstwerk in unterschiedlichen historischen Epochen festzustellen. Damit habe er es aber verfehlt, diese Einflüsse im Hinblick auf jenes Substrat zu interpretieren, das das gesamte historische Geschehen und seine Entwicklung lenkt  : die Evolutionslehre. Giani wirft Taine und Torchi vor, die „Naturgesetze“ der Evolution nicht berücksichtigt zu haben. Sie stellen das Substrat dar, anhand dessen alle historischen Tatsachen interpretiert werden sollen. Giani baut seinen argumentativen Standpunkt gegen Torchi auf der Verknüpfung von Taines Interpretation des Kunstwerks einerseits und der evolutionistischen Theorie von Herbert Spencer andererseits auf.230 Als Ausgangspunkt zeigt er eine direkte Parallelität zwischen der Evolution der Organismen und der 230 „Se l’evoluzione è, come non è dubbio, „una continua a traverso tutte le forme di esistenza“, se l’arte, secondo l’espressione del Taine, altro non è, al pari del resto di ogni produzione della società e dell’uomo, se non un fatto naturale […], perché a studiarne con certezza di effetti le manifestazioni non chiederemmo l’interpretazione di questa legge alle scienze oggi meglio avanzate  ?“ Ebd., 97.

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Evolution der Gesellschaft auf. Die Natur sei als eine Entwicklung von einem einfachen Organismus, einem „homogen Undifferenzierten“ („indifferenziato omogeneo“), zu einem komplexeren Organismus zu verstehen. Die Komplexität eines Organismus steigt in dem Maße, in dem dieser Organismus für jede seiner Funktionen ein dafür vorgesehenes Organ besitzt. Auch für die Gesellschaft lässt sich historisch eine entsprechende Entwicklung beobachten  : Der historische Fortschritt besteht aus der progressiven Herausbildung einer immer präziseren Aufgabenverteilung unter den Mitgliedern einer Gesellschaft. Die Parallelität zwischen Natur und Gesellschaft sei selbstverständlich, da der Mensch der Natur angehört  : Den allgemeinen Naturgesetzen, wie dem der Evolution, unterstehen auch die Menschheit und ihre historischen Taten. Die Schlussfolgerung, die Giani aus dieser Sichtweise für die Musik und ihre gesellschaftliche Funktion zog, warf die These von Torchi komplett um. Torchis Position bestand aus der Ansicht, dass das Kunstwerk als Ausdruck einer bestimmten Gesellschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt zu verstehen sei. Dies lehnte Giani grundsätzlich nicht ab. Die von Torchi vertretene Idee einer „populären Kunst“ („arte popolare“), die für eine ganze Gemeinschaft geschaffen sei und sie gleichzeitig widerspiegeln würde, wurde von Giani überraschenderweise beibehalten. Sie stellt aber unter einem evolutionistischen Standpunkt nur ein primitives Stadium in der musikalischen Entwicklung dar. Wie es in dem „homogen Undifferenzierten“ des ersten Organismus keine Verteilung der Funktionen zwischen verschiedenen Organen gibt, so ist die Musik nur in ihrem ersten Entwicklungsstadium für die Befriedigung außermusikalischer, wie zum Beispiel sozialer Bedürfnisse geschaffen worden. Giani führt also die Musik in das Gebiet der Ästhetik zurück  : Das höchste Stadium der musikalischen Entwicklung sei erreicht, sobald die Musik ihr Wesen als rein ästhetisches Phänomen ohne die Hindernisse einer Fremdbestimmung vollkommen entfalten könne.231 In der Hierarchie, die der evolutionistische Standpunkt voraussetzt und impliziert, sei die „populäre Kunst“ minderwertig, weil sie in der Evolution dem Stadium der Selbstbestimmung der Kunst („l’arte per l’arte“) vorausgeht. Torchi 231 „L’arte aristocratica, o se vi piace meglio – usiamo pur la parola – l’arte per l’arte non è (mi perdoni il Torchi) né una cosa ‚assurda e immorale‘, né, tanto meno, ambizione stolta di scioperato o d’illusi  ; è l’ultimo necessario effetto di uno svolgimento che in questa età della critica doveva pur giungere all’affermazione cosciente e sicura.“ Ebd., 127



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verträte daher ein Musikverständnis, das in dem aktuellen Stadium der musikalischen Entwicklung die italienische Musik zwangsläufig in die Dekadenz führen würde  : Wie für die Organismen gerade die höchsten Funktionen die ersten sind, die versagen, wenn der Prozess des Alterns eintritt, so sei auch das letzte und erhabene Prinzip der Entwicklung der Kunst, l’individualità, das erste, das unter dem Eintreten der Dekadenz zu leiden habe.232 Gerade mit einem der letzten Beispiele für den Zusammenhang zwischen künstlerischer Dekadenz und „populärer Kunst“ unterstreicht Giani am Ende seines Artikels noch einmal das eigentliche polemische Ziel. Erwähnt wird die patriotische italienische Literatur um die Mitte des 19. Jahrhunderts  : Im Vergleich zu der vorangegangenen klassizistischen Epoche eines Parini wird sie von Giani als grob und nur auf den Effekt gerichtet erklärt.233 Durch die zweideutige Charakterisierung dieser Literatur mit verschiedenen Attributen, die sich auch für die Musik eignen würden, hebt aber Giani deutlich hervor, worauf er mit diesem Beispiel eigentlich zielt  : Nicht oder nicht nur die patriotische Literatur des 19. Jahrhunderts wird von Giani als geschmacklos verurteilt, sondern und vor allem ist es die patriotische Musikproduktion des 19. Jahrhunderts, die er hier abwerten möchte und deren Inbegriff kein anderer als Giuseppe Verdi war. Damit macht Giani nochmals deutlich, dass hinter Schumann und einem vermeintlich rein ästhetischen Problem vielmehr eine gesellschaftliche Frage diskutiert wird  : die Frage nach dem Einbeziehen des „Volks“ in das politische Geschehen mittels der Kunst. Mit seiner Kritik schafft Giani ein argumentatives Meisterstück, das Torchi in eine unter logischem Standpunkt aussichtslose Lage versetzt  : Torchi muss in seiner Antwort entweder keiner geringeren als der Evolutionslehre wissenschaftlich 232 „Anche è noto come il dissolvimento agisca su l’organismo in un ordine opposto a quello seguito dalla evoluzione  ; cominci dalle forme più elevate, cioè dalle ultime sorte. […] Ora nella decadenza delle arti, il carattere che vedemmo essere il più elevato e il più recente, l’individualità, cede primo al dissolvimento.“ Ebd., 122. 233 „Ma un altro esempio possiamo riferire, più familiare a noi e più conosciuto, la letteratura patriottica e popolaresca italiana del secolo nostro […]. Si volle allora – dirò con frase del Torchi – ‚agire sulla collettività del popolo‘  ; e l’arte, che nel periodo neoclassico aveva dato splendori vivissimi […] abbiosciò miseramente nella ripetizione di pochi concetti comuni, digradò a una forma in cui, con la violenza degli effetti, con la volgar sciattezza dell’espressione, coi facili ritmi concitati, rivissero tutti insieme i rozzi artifizi della estetica primitiva ed incolta.“ Ebd., 126.

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widersprechen oder mit seinem Gegner erkennen, dass die „populäre Kunst“ nur ein erstes, primitives Stadium in der Entwicklung der Kunstmusik sei.

3.3  Von einem soziologischen Bezug

Torchi geht auf Gianis Forderung nicht ein  ; die Logik seines Kontrahenten zwingt ihn jedoch, seine Musikauffassung zum ersten Mal ausführlich zu verbalisieren. Insbesondere wird Torchi hier gezwungen, den mittleren Schritt seiner Argumentation zu präzisieren  : Der logische Übergang von der Erklärung Schumanns zum romantischen Menschentypus zu der Relativierung seiner musikgeschichtlichen Rolle anhand des Vergleichs mit der „populären Kunst“ Wagners war im ersten Artikel praktisch komplett verschleiert worden. Torchi hatte einige verstreute Bemerkungen fallen gelassen, eine genauere wissenschaftliche Verankerung der Überlegenheit des Populären gegenüber Schumanns Solipsismus blieb dennoch ausgeschlossen. In seiner Antwort an Giani muss nun Torchi genauer auf diesen Punkt eingehen, den er als „il nesso sociologico“ („den soziologischen Bezug“) bezeichnet. Damit entwirft er zunächst eine Theorie des Verhältnisses zwischen Künstler und Gesellschaft.234 Der wahre Künstler ist nach Torchi nur derjenige, der gleichzeitig zwei Bedingungen erfüllt. Erstens soll sich seine Seele („l’anima“) durch die höchste Empfindsamkeit für die verschiedenen, kulturellen, sozialen, sogar klimatischen Gegebenheiten seiner bestimmten historischen Epoche auszeichnen. Als zweite Bedingung nennt Torchi die Fähigkeit („il genio“) des wahren Künstlers, den „pensiero dominante“ (die „herrschende Meinung“ bzw. „herrschende Denkweise“) seiner Epoche zum Ausdruck zu bringen.235 Künstler sei also nur derjenige, der die prägenden Züge eines Zeitalters in einem ästhetischen Produkt zu234 Torchi 1896, Una giustificazione necessaria. Über den „nesso sociologico“ schreibt Torchi auf Seite 306  : „La influenza sociologica, il nesso sociologico dell’arte è cosa, del resto, che, allo stato degli studi moderni, non ha bisogno di dimostrazione.“ 235 „L’arte trae forme di produzione da circostanze culturali, oltre le climatologiche e meteorologiche, da un complesso di attività collettive, ossia popolari  ; l’artista non è che l’anima che n’è più d’ogni altra scossa e che natura fornì del genio necessario per manifestare il pensiero dominante.“ Torchi 1896, Una giustificazione necessaria, 305.



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sammenfasst und zur Geltung bringt. Nur darin liege der Unterschied zwischen Künstlertum und Handwerk. Was hier Torchi zwischen den Zeilen macht, ist jedoch nicht nur, eine Theorie des Verhältnisses zwischen Künstler und Gesellschaft zu entwerfen  : Vielmehr entwickelt er eine ziemlich präzise Auffassung über das Wesen des Kunstwerks. In seinem ersten Artikel hatte er das quid eines musikalischen Werks bereits als etwas erklärt, das größtenteils außerhalb der Ästhetik liegt, und hatte dies anhand des Beispiels des „absoluten Musikers“ ex negativo exemplifiziert. Nun formuliert Torchi explizit eine solche Theorie und versucht, die künstlerische Substanz ex positivo zu verorten. Das wahre Kunstwerk ist für Torchi nicht in erster Linie das Resultat eines individuellen Schöpfers, sondern das Produkt einer ganzen Epoche. Es sind also die bestimmenden Eigenschaften eines gesamten Zeitalters, die im Kunstobjekt ans Licht treten. Das Kunstwerk ist für Torchi schließlich nichts anderes als die Offenbarung eines durchaus hegelianisch gefärbten „Zeitgeistes“. Diese Art Offenbarung finde zwar auf dem Gebiet der Ästhetik statt, sie sei aber nicht in ihm ausgeschöpft. Die Substanz eines Kunstproduktes sei nicht in seinen ästhetischen Eigenschaften zu suchen  ; ästhetische Normen und Prinzipien seien nur Mittel zu einem übergeordneten Zweck  : die vom Künstler bewusst oder unbewusst erlebte Offenlegung des „Geistes“ eines historischen Zeitalters. Was Torchi daraus macht, ist, das normative Potenzial dieser Auffassung in seiner Sicht der Musik und der Musikgeschichte konsequent umzusetzen. In seiner Interpretation der musikalischen Vergangenheit stellt Torchi nicht das Schöne oder die Entsprechung gewisser Gesetze, sondern den Grad, in dem das Kunstwerk die herrschende Meinung einer Epoche („pensiero dominante“) wiedergibt, als alleiniges Wertkriterium für das ästhetische Urteil fest. Damit entstehen, wie das Beispiel Schumanns vorbildlich exemplifizierte, neue Hierarchien und eine Neubewertung der gesamten Musikgeschichte. Schumann habe nach Torchis Meinung die Entwicklung des „Zeitgeistes“ nicht verstanden und gerade in einer Epoche, in der die Kunst „von einer bevorzugten Schicht in die Hände des Volkes ging“, habe er dies in seinem Schaffen komplett negiert.236 236 „Egli voleva tutto apprendere e tutto vedere nella pura combinazione della forma sonora, quasi annettendovi una importanza, una significazione mistica, in un periodo in cui l’arte, da una classe favorita passava tra le mani del popolo. Schumann negò tutto ciò e non si prestò a questa

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Das Konzept einer arte popolare, die den Geist einer Epoche in sich trägt und ihn in Erscheinung treten lässt, agiert also im Verständnis Torchis auch auf der Ebene des Normativen  : Das Kunstwerk wird nach dem Grad der Entsprechung dieses Prinzips bewertet. Die Gültigkeit dieses normativen Prinzips sei aber nicht historisch bedingt, sie beschränkt sich nicht auf die Epoche Schumanns, wie es im ersten Artikel suggeriert wurde. In seiner ersten Antwort auf Giani hebt Torchi die Kategorie des popolare zu einem zeitübergreifenden Urteilskriterium für das ästhetische Produkt empor  : Sie sei allgemeingültig.237 Damit entspricht sie genau den Eigenschaften von jenen vermeintlichen Naturgesetzen – von der Evolutionstheorie eines Darwin oder Spencer bis hin zur Physiognomie eines Lombroso und den ersten Schritten der Soziologie–, welche das wissenschaftliche, positivistische Denkmuster des späten 19. Jahrhunderts so prägend charakterisieren. Torchi führt im weiteren Verlauf der Polemik auch einige konkrete Beispiele für die Anwendung dieses Prinzips auf andere Epochen der Musikgeschichte an. Er stellt Vertreter einer arte popolare Vertretern einer arte aristocratica gegenüber und zieht aus dem Vergleich die Überlegenheit des popolare heraus  : Palestrina als „populärer Künstler“ ist Monteverdi überlegen, das „populäre“, englische Oratorium eines Händel ist aus diesem Grund künstlerisch besser als die „aristokratische“ italienische Oper eines Buononcini in London  ; Shakespeare ist größer als Racine oder Corneille und so weiter.238 Die gesamte Geschichte wird von Torchi als trasformazione, non la riconobbe, non se ne rese conto, e ciò lo indusse in una grave falsità di giudizio. Come stavano e come stanno lontani dal sentire del popolo il suo Paradiso e la Peri, le sue Scene del Faust e anche le sue più riuscite Sinfonie  !“ Torchi 1895, Robert Schumann, 405. 237 Torchi schreibt zum Beispiel  : „L’arte vera e grande s’impossessa di una grande e feconda idea, se ne alimenta e la fa vivere in mezzo a tutto un popolo  : essa non vive in un ambiente limitato, non rappresenta gusti, tendenze, interessi limitati.“ Torchi 1896, Una giustificazione necessaria, 306–307. 238 „Ma che cosa sarebbe stata l’arte di Palestrina, se la sua eco non si fosse ripercossa nelle anime del popolo e non le avesse vivificate con grandi, sì con drammatiche commozioni  ? […] L’arte di Monteverdi è aristocratica, quella di Palestrina si dirige al sentimento del popolo. Che cosa è oggi per noi la musica di Monteverdi in confronto con quella di Palestrina  ? La tragedia francese fu arte aristocratica, il dramma di Shakespeare popolare. Che vale per noi una tragedia di Racine e di Corneille in confronto con un dramma di Shakespeare  ? […] Volte le spalle al pubblico aristocratico e al suo prodotto favorito, l’opera italiana, Händel si cercò, a Londra, un pubblico disposto ad ascoltare il melodramma inglese, il dramma musicale biblico e l’oratorio, opere d’arte che rappresentavano un gusto, un indirizzo popolare in opposizione alla cantata e



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progressive Entfaltung bestimmter überzeitlicher Charakteristika (hier das Konzept des popolare) verstanden, die durch einen „natürlichen Selektionsprozess“ in einem zwangsläufig immer vorwärtsstrebenden Heute kulminiert. Torchi zieht aus seinem evolutionistisch geprägten Verständnis der Musikgeschichte die Schlussfolgerung, dass im Laufe der Evolution die Vertreter einer arte aristocratica (Monteverdi, Buonocini, Racine etc.) aller ehemaligen Erfolge zum Trotz am Ende (also „heute“) doch immer auf der Verliererseite stehen. Nur die Vertreter des popolare (Palestrina, Händel, Shakespeare) haben für uns heute einen unbestreitbaren Wert. Torchi – auch hier vollkommen Kind seiner Zeit und in diesem Punkt in perfekter Übereinstimmung mit Giani – versteht also die Musikgeschichte als eine Erfolgsgeschichte. Freilich und im Unterschied zu Giani sieht Torchi in der historischen Entwicklung nicht die Durchsetzung des Prinzips der l’art pour l’art, sondern die des popolare  ; die Durchsetzung einer Kunst, die aus dem Wesen eines ganzen Volks in einer bestimmten Epoche hervorging und genau dies zum Ausdruck bringt. Torchis Ziel ist es schließlich, bei der Analyse von Schumanns Faust-Szenen nur auf einer zweiten, untergeordneten Ebene die positivistische Untersuchungsmethode des Musikalischen auf den Prüfstein zu stellen. Torchis wahre Absicht ist esalso, eine wissenschaftliche Legitimierung der Kategorie des popolo und des popolare zu erreichen. Mit der Theorie des „soziologischen Bezugs“, die Kunst und Gesellschaft verschränkt, schafft er es zumindest aus seiner Sicht, diesen Zusammenhang, der bereits bei Mazzini als nicht hinterfragte Selbstverständlichkeit vorkam, nun auf eine wissenschaftliche Basis zu stellen und ihn zur vermeintlichen Objektivität einer „wissenschaftlichen Tatsache“ zu erheben. Anhand dieses Ergebnisses kann nun Torchi den letzten Schritt seiner Argumentation einschlagen und mit den „positiven“ Mitteln der Wissenschaft eine nationale Auffassung des Musikalischen aufstellen. ***

al melodramma italico. Händel intraprendeva la stessa lotta di Shakespeare. Ariosti e Buononcini erano dagli eletti preferiti a Händel. Oggi che cosa sono per noi questi musicisti di fronte al maestro alemanno  ?“ Ebenda.

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Für eine moderne Musikkritik  : „Popolo“ und „Plebe“ Das Kunstwerk bringt nach Torchis Ansicht dank des „soziologischen Bezugs“ die „vorherrschende Denkweise“ („pensiero dominante“) einer historischen Epoche zum Ausdruck. Die pensiero dominante soll jedoch nicht mit der Meinung des größten Teils der Bevölkerung gleichgesetzt werden. Doch genau dies unterstellt Giani seinem Gegner Torchi, um dessen Glaubwürdigkeit im wissenschaftlichen Bereich zu schmälern. Torchis Auffassung des pensiero dominante ist aberweit davon entfernt, verkappte sozialistische Propaganda zu verbreiten, wie Giani explizit suggeriert. Ganz im Gegenteil ist sie tief antidemokratisch geprägt  : Torchi unterscheidet zwischen Volk („popolo“), dem der Zeitgeist einer Epoche (die „idea“) innewohnt und sich in einem Kunstwerk offenbart, und der konturlosen Masse („plebe“), als reiner numerischer Mehrheit der Bevölkerung, die aber am wahren Leben des Geistes nicht teilhat. Mit folgenden unmissverständlichen Worten beschreibt Torchi die „populäre Kunst“ von Palestrina, Wagner oder Shakespeare  : „Diese Genies [es war vorher die Rede von Palestrina und Wagner, d. V.] sind in ihrem Schöpfen von einer Idee getrieben, die den künstlerischen Impuls lenkt  ; sie hören die kräftige Stimme des Volkes, das sie erobern und an sich binden. Diese Stimme des Volkes – es soll nicht vergessen werden – zeichnet den Weg, entflammt die Begeisterung, führt zum Triumph. Aber, verstehen Sie mich hier richtig, dieses Volk [popolo] ist nicht der Pöbel [plebe] und diese Kunst ist die große Kunst. Wenn die [große] Kunst, die in ihrem Wesen aristokratisch und nicht gemein ist, [auch] einen großen Kreis erreicht, bei dem gewöhnliche Gefühle vorherrschen, werde ich diese Tatsache begrüßen  : Eine solche Kunst ist jedoch mehr das Resultat eines kollektiven Mitwirkens als das Ergebnis eines einzelnen Individuums.“239 239 „Questi geni [es war vorher die Rede von Palestrina und Wagner, d. V.] operano guidati da una idea che domina, governa lo stimolo artistico, sentono la voce potente del popolo che essi conquistano e traggono a sé. Questa voce del popolo, non bisogna dimenticarlo, è dessa che segna la via, inspira gli entusiasmi, guida ai trionfi. Ma, intendiamoci, questo popolo non è la plebe, e quella è l’arte dei grandi. Se l’arte, di sua natura aristocratica e non plebea, si dirigerà ad una vasta cerchia ove predominano sentimenti comuni, noi plaudiremo al fatto  : ma essa



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Zusammen mit einer tiefen Abneigung gegen alle demokratischen bzw. freiheitlichen Komponenten, die den nationalen Diskurs während des Risorgimento zu einem erheblichen Teil geprägt hatten, lassen sich jedoch auf eigentümliche Weise in Torchis Auffassung des popolare Ansichten erkennen, die kennzeichnend für die Reflexionen der Frühromantik zu diesem Thema gewesen waren. Torchi ist von der Existenz eines popolo fest überzeugt. Er weigert sich aber, dieses Volk mit einem bestimmten Teil der reellen Bevölkerung zu assoziieren. Er bleibt einer Auffassung des Konzepts des Volks schuldig, die in vielen Aspekten jenem „Volksgeist“ gleicht, den Herder, Hegel oder Mazzini am Anfang des 19. Jahrhunderts als handelndes Subjekt der Geschichte erkannt hatten. Torchis unscharf umrissenes popolo erinnert an jene Entitäten, die einmalig ab aeterno vorgegeben werden oder, wie im Fall Hegels, sich in einem unaufhörlichen Entfaltungsprozess befinden und mit spezifischen Eigenschaften versehen den Gang der Geschichte gestalten.240 Dieses Volk wird außerdem von Torchi, wie es im politischen Denken des 19. Jahrhunderts üblich war, sofort mit „Nation“ synonymisch gleichgesetzt.241 Unter anderem schreibt Torchi an einer Stelle  : „Das Herz des Volks, der Nation, ist es, das zusammen mit dem Herz des Künstlers unisono schlägt.“242 Das Konzept des popolo wird unverzüglich in dem der Nation verklärt. sarà opera della collettività, più che dell’individuo isolato, e meno esposta ad errori.“ Torchi 1896, Una giustificazione necessaria, 306. 240 Für eine erste Einführung in Herders Ausdeutung der Kategorien „Volk“ und „Nation“, vgl. Müller-Funk 2010, Kulturtheorie, 78–92. Hegel hat den „Volksgeist“ und sein Verhältnis zur „Weltgeschichte“ mit folgenden Worten definiert  : „Es ist diese geistige Gesamtheit, welche ein Wesen, der Geist eines Volkes ist. Ihm gehören die Individuen an  ; jeder Einzelne ist der Sohn seines Volkes und zugleich […] der Sohn seiner Zeit […]. Dies geistige Wesen ist […], woraus er hervorgeht und worin er steht. Der bestimmte Volksgeist selbst [ist] nur ein Individuum im Gange der Weltgeschichte. Denn die Weltgeschichte ist die Darstellung des göttlichen, absoluten Prozesses des Geistes in seinen höchsten Gestalten, dieses Stufenganges, wodurch er seine Wahrheit, das Selbstbewußtsein über sich erlangt. Die Gestaltungen dieser Stufen sind die welthistorischen Volksgeister, die Bestimmtheit ihres sittlichen Lebens, ihrer Verfassung, ihrer Kunst, Religion und Wissenschaft. […] Die Weltgeschichte zeigt nur, wie der Geist allmählich zum Bewußtsein und zum Wollen der Wahrheit kommt  ; […] am Ende gelangt er zum vollen Bewußtsein.“, vgl. Hegel 1970, Vorlesungen über die Philosophie, 72–73. Im Bezug auf Mazzini siehe Banti 2008, Sacrality and the Aesthetics. 241 Koselleck 1990, Volk, Nation, Nationalismus, Masse,284. 242 „È il cuore del popolo, della nazione, che batte all’unisono col cuore dell’artista.“ Torchi 1896, Una giustificazione necessaria, 305.

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Torchis leidenschaftliches Plädoyer für eine arte popolare bzw. für den soziologischen Bezug zum Kunstverständnis ist schließlich ein Plädoyer für eine in erster Linie nationale Kunst. Der nesso sociologico, den Torchi für das wissenschaftliche Verständnis von Musik als unentbehrlich ansieht, öffnet in erster Instanz das Kunstwerk für die Dimension des Sozialen  ; die Sphäre des Gesellschaftlichen wird jedoch von Torchi rasch auf die soziologisch unbestimmte Kategorie Volk/Nation verengt. Torchi stellt damit eine verabsolutierte und im überzeitlichen Bereich a priori angesiedelte Kategorie des Nationalen ins Zentrum des musikalischen Kunstwerks. So verabsolutiert, wird diese Kategorie der Nation auf die gesamte Musikgeschichte projiziert. Die Musikgeschichte sei am Ende nichts anderes als eine Geschichte von Musiknationen  : Die Erfolgsgeschichte des popolare in der Kunst ist die Erfolgsgeschichte des nazionale im historischen Weltgeschehen. Die Substanz des künstlerischen Schaffens wird in dessen Fähigkeit verortet, die Identität eines nationalen Kollektivs zum Ausdruck zu bringen, und die Nation wird damit von Torchi schließlich zu einer regelrechten musikalischen Kategorie gemacht. Die bestimmenden Aufgaben der moderna critica musicale, wie Torchi hier die neue Disziplin bezeichnet, die einige Jahre später musicologia benannt wird, sind aus Torchis Thesen deutlich abzulesen  : Sie soll Interpretationskriterien, historiografische Einordnungen und Erzählmuster schaffen, die die Musik und ihre Geschichte zum (überzeitlichen) Konzept der Nation zurückführen. Das Natio­ nale wird damit für Torchi zum strukturierenden Faktor der Identität der sich zu jenem Zeitpunkt im Entstehen befindenden Musikwissenschaft in Italien. Die moderna critica musicale soll damit nicht nur unter einem rein erkenntnistheoretischen Standpunkt und dank der Anwendung einer positivistisch orientierten Untersuchungsmethode auf derselben Ebene mit den anderen bereits etablierten Geisteswissenschaften situiert werden. Sie soll auch zusammen mit jenen anderen Disziplinen an der Mission des „fare gli italiani“ („die Italiener gestalten“) gleichberechtigt teilhaben, an der seit einiger Zeit die Geschichtsoder die Literaturwissenschaft bereits beteiligt waren.243 Der musicologia steht die Aufgabe zu, mit den „positiven“ Mitteln der Wissenschaft die Züge einer gemeinsamen musikalischen Identität der Peninsula durch die Jahrhunderte ex 243 Über die sprichwörtlich gewordene Phrase „fare gli italiani“ und ihre (falsche) Zuschreibung an Massimo d’Azeglio siehe Bauer 1995 Nation und Moderne, insbesondere 16.



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post zu konstruieren und damit den neuen staatlichen Organismus des Hauses Savoia auch in diesem Bereich zu legitimieren. *** Durch den Ansporn der argumentativ höchst luziden und rhetorisch beispielhaft aufgebauten Artikel von Romualdo Giani liefert Torchi tiefere Einblicke in seine musikgeschichtliche und ästhetische Auffassung. Gianis Urteilskraft war ungewöhnlich scharf und er war sich der Konsequenzen von Torchis Thesen bewusst, zum Teil noch bewusster als deren Autor selbst. Giani erkannte sofort, dass Torchis Artikel nolens volens zu einer Neuschreibung der musikalischen Wertkriterien führen würden und dass der Musikwissenschaftler eine Art laizistisches Absolutes, das alles umfassende unum der Nation, ins Zentrum des Musikalischen gestellt hatte.244 Gleich zu Beginn seines ersten Artikels gegen Torchi schrieb Giani unmissverständlich  : „Gewisse Bewunderer von Savonarola können sich vielleicht an dem Gedanken an die schönen Flammen der Scheiterhaufen erfreuen, welche die Werke – nutzlosen Luxusobjekten gleichend – von denjenigen verbrennen werden, die sich der Suche nach der Volkswahrheit [realtà popolare] verweigert haben. Meinerseits […] möchte ich mich jedoch nicht daran anpassen.“245 Giani versteht außerdem, dass Torchi, gerade in dem Moment, in dem er anhand der Theorie des soziologischen Bezugs eine objektive und wissenschaftliche moderna critica musicale zu gründen versucht, er jedoch ihre strukturierenden Voraussetzungen unterminiert  : Indem Torchi das Nationskonzept ins Zentrum der neuen Disziplin stellt, führt er ein a priori ein, das das strenge induktive Prozedere der positivistischen Wissenschaft widerlegt. 244 „Dunque – perché non dovrei confessarlo  ? – ò errato. Nelle parole di Luigi Torchi mi parve di veder adombrata una teorica d’arte  ; tra i fiori della retorica profusi si dissimulava invece una fede.“ Giani 1896, Senza titolo,756. 245 „Ora a qualche tardo ammirator del Savonarola può forse arridere in pensiero la bella fiammata de’ roghi su cui divamperanno – oggetto d’inutile lusso – le opere degli artefici colpevoli di non aver mirato ‚alla realtà popolare‘. Ma, quanto a me, […] non mi vi so acconciare.“ Giani 1896, Per l’arte aristocratica, 93.

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Giani ist außerdem bewusst – und das vorige Zitat belegt dies anschaulich –, dass Torchis Projekt eine regelrechte Neuschreibung der Wertehierarchien für die Einordnung der musikalischen Vergangenheit impliziert  : Werke, Komponisten, Epochen sollen nun anhand der Kategorie der Nation in ihrer Fähigkeit neu bewertet werden, der überzeitlichen und überindividuellen kollektiven Identität zu entsprechen, die Torchi popolo nennt. Der Artikel über Schumann und die verstreuten Verweise auf Palestrina, Monteverdi oder Händel im Laufe der Polemik hatten nur einige erste, punktuelle Beispiele eines viel breiter aufgefassten Projekts gegeben, das Torchi in jenen Jahren in der Rivista musicale italiana zu verwirklichen begann. Entlang der hier explizierten Forschungskoordinaten beschäftigte sich Torchi bis Anfang des 20. Jahrhunderts hauptsächlich damit, eine neue „symphonische“ Tradition Italiens zu entwerfen, die die Mittel der Quellenkritik und der Textanalyse im Dienst der Größe der eigenen Nation und in direkter Konkurrenz zum damals musikalisch führenden Deutschland einsetzte. Dies wird im nächsten Kapitel ausführlich untersucht werden.

4. Torchis Projekt  : Die Erfindung einer neuen nationalen Musiktradition 4.1  Von irreführenden Narrativen  : Ein alternativer Deutungsansatz

Torchis Auseinandersetzung mit Romualdo Giani, die im vorigen Kapitel eingehend untersucht wurde, hat die zentrale Bedeutung sichtbar gemacht, die das Nationale am Ende des 19. Jahrhunderts im italienischen Musikdiskurs bekam. Torchi ordnete auf radikale Art und Weise die Substanz eines Werkes dem Natio­nalen unter  : Das Konzept der Nation wurde in eine unentbehrliche „musikalische Kategorie“ verwandelt. In diesem Kapitel soll es darum gehen, die konkreten Konsequenzen dieser Neuschreibung der ästhetischen Wertekategorien im Hinblick auf das Nationskonzept in Torchis Arbeit aufzuzeigen. Mit der Entwertung der musikgeschichtlichen Stellung Robert Schumanns und den kurzen Verweisen auf Palestrina, Monteverdi und Händel hatte Torchi in der Polemik mit Giani bereits signalisiert, dass das Nationale nicht als historisch gewordene, sondern als gegebene, überzeitliche Kategorie zu verstehen sei, die als Selektions- und Rekonstruktionskriterium auf die gesamte Musikgeschichte projiziert werden müsse. Das heuristische Potenzial dieser neuen Kategorie des Musikalischen wurde jedoch von Torchi nicht in der Kontroverse mit Giani, sondern in anderen Schriften entfaltet, insbesondere in einer mehrteiligen Studie, die Torchi unter dem Titel „La musica istrumentale in Italia nei secoli X V I , X V I I e X V I I I “ zwischen 1897 und 1901 in der Rivista musicale italiana veröffentlichte.246 In dieser umfangreichen Arbeit analysierte Torchi sys­tematisch damals kaum bekannte Instrumentalkompositionen „italienischer“ Komponisten, die in einer Zeitspanne von etwa drei Jahrhunderten, von den Lautentabulaturen eines Antonio Rotta von 1546 bis hin zu Muzio Clementis Werken, entstanden waren. Dabei wandte er die Methode der moderna critica musicale diesmal nicht für separate Werturteile über die Musik einzelner Komponisten an. Anhand der neuen musikalischen Kategorie der Nation führte er stattdessen die einzelnen Werke dieses Fundus zu einer „Einheit“ zusammen, 246 Torchi 1897–1901, La musica istrumentale.

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die er hier zum ersten Mal konstruierte. Er entwarf ein homogenes, zusammenhängendes Korpus an Werken und Komponisten, dem er die Form einer „symphonischen Tradition“ Italiens gab. In diesem Kapitel wird hervorgehoben, wie das Konzept der Nation bei der Konstruktion dieser historiografischen Kategorie nicht als neutrales, rein räumliches Einordnungskriterium des Vergangenen agierte. Das Nationale stellte stattdessen präzise Anforderungen an dessen Rekonstruktion  : Das Nationskonzept konstruierte und bestimmte durch Kanonisierung und Zensur, durch Inklusion und Exklusion erst, was überhaupt „Vergangenheit“ sein sollte. Die symphonische Tradition, die Torchi in diesem Essay anhand seiner im vorigen Kapitel besprochenen Forschungsmethode entwarf, wird im Folgenden als ein intellektuelles Produkt des integralen Nationalismus des Fin de Siècle untersucht. Sie wird also als musikhistorisches Konstrukt aufgefasst, das die intellektuellen Koordinaten und die Forderungen dieses Verständnisses des Nationalen in die Form einer neuen Musiktradition Italiens bringen wollte. *** Die zentrale Bedeutung, welche die sogenannte Wiederentdeckung der älteren Instrumentalmusik für das italienische Musikleben in der ersten Hälfte des 20.  Jahrhunderts einnahm, ist durchaus bekannt und historiografisch ausführlich geschildert worden.247 Weniger bekannt ist jedoch die Tatsache, dass diese alte Instrumentalmusik damals als eine symphonische Tradition verstanden wurde. Dies zu betonen und dieses musikhistorische Artefakt als solches zu hinterfragen, ist das Ziel dieser Untersuchung. Seitens der Musikforschung wurde das Interesse für die alte, italienische Instrumentalmusik immer gerne in Verbindung zur Generazione dell’80 gebracht, das heißt der jungen Generation von Komponisten, Musikwissenschaftlern und -kritikern, die um die 1880er-Jahre geboren wurden und sich spätestens um 1910 mit polemischem Gestus im italienischen Musikleben bemerkbar mach-

247 Vgl. u. a. Zanetti 1985, Musica italiana, 155–176 für die Schilderung der musikästhetischen Debatte, die diese „Wiederentdeckung“ begleitete  ; Salvetti 1991, La nascita del Novecento, 285–290, Nicolodi 1982, Per una ricognizione sowie Nicolodi 1984, Musica e musicisti, 120– 136.



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ten.248 Dabei hat sich ein festgefahrenes Erzählmuster etabliert, das bis in die jüngste Zeit hineinwirkt und das man ein Narrativ der ‚nationalen Modernisierung aus dem Geist der Vergangenheit‘ nennen könnte. Den zentralen Kern dieser historiografischen Meistererzählung bildet dabei folgender Gedankengang  : Die Rückkehr zu einem vermeintlich vergessenen Corpus vorwiegend instrumentaler Musik seitens der Generazione dell’80 habe im Laufe der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine Öffnung des italienischen Musiklebens gegenüber den musikalischen Entwicklungen in Europa bewirkt. Dadurch habe Italien zugleich eine moderne, nationalspezifische Musiksprache bekommen, die Schluss mit den ästhetisch sowie kompositorisch veralteten Formen des italienischen melodramma machte.249 So schrieben zum Beispiel Andrea Della Corte und Guido Pannain im Jahr 1942 in ihrer dreibändigen Storia della musica  : „Es soll nun auf diejenige musikalische Bewegung Italiens eingegangen werden, die nicht nur chronologisch, sondern auch im geistigen Sinne regelrecht zum 20. Jahrhundert [Novecento] gehört […]. Die Tendenzen und die [stilistischen] Versuche, die sich in dieser Bewegung versammelt haben, sind vielfältig und 248 Über die durchaus problematische musikhistorische Kategorie einer „Generazione dell’80“, die von Massimo Mila im Jahr 1963 historiografisch geprägt wurde (vgl. Mila 1992, Breve storia della musica, 419–433), bleiben grundlegend der – leider etwas ältere – Tagungsband von Nicolodi (Hg.) 1981, Musica italiana sowie die resümierenden Anmerkungen in Nicolodi 1984, Musica e musicisti, 120–121. Angesichts der Problematik, die dieser historiografischen Kategorie innewohnt, kam Zanetti ein Jahr später zum Beschluss, sie als ungeeignet zu deklarieren und grundsätzlich abzulehnen („In Italia non vi fu una scuola e tale denominazione non si può neppure applicare ai musicisti che si è soliti raggruppare nella ‚generazione dell’Ottanta‘, poiché non giunsero mai a consolidare un’unità vera di poetiche e di stili, di tecniche e di linguaggio, insomma la realtà appunto di ‚scuola‘“. Zanetti 1985, Musica italiana, 174). Die Kategorie lebt jedoch in der Sekundärliteratur bis heute weiter. Für eine erste Einführung über die zentralen Komponistenfiguren der 1880er-Generation auf Deutsch siehe außerdem Stenzl 1990, Von Giacomo Puccini. 249 Ein Beispiel für die Zählebigkeit dieses Narrativs bis in die jüngste Vergangenheit bietet unter anderem das vierbändige Kompendium zur Musikgeschichte von Elvidio Surian aus dem Jahr 1999  : Das Kapitel über das frühe 20. Jahrhundert in Italien wird mit einem Abschnitt mit dem Titel „La ‚generazione dell’Ottanta‘ e i primordi della musicologia italiana“ eröffnet  ; siehe Surian 1999, Manuale, 873–881. Ein weiteres Beispiel für die ununterbrochene Fortwirkung dieses Narrativs in der Forschung wird anhand der dreibändigen Geschichte der italienischen Musik im 20. Jahrhundert von Roberto Zanetti im Folgenden besprochen (Zanetti 1985, Musica italiana).

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werden den zukünftigen Historikern bedeutende Zeugnisse einer kulturellen Lage liefern, in der die Kontakte mit den Werken ausländischer Komponisten, von Debussy über Ravel und bis zu Stravinsky und Hindemith, eine entscheidende Rolle gespielt haben. Zeitgleich hatte sie auch das Bewusstsein für die alten Formen der Instrumentalmusik geweckt, in denen sich in der Vergangenheit die musikalische Seele Italiens widergespiegelt hatte  : Es ist jene Musik, [deren Entwicklung] am Ende des 18. Jahrhunderts abbrach und mit der man [heutzutage] eine geistige Kontinuität wiederherstellen möchte.“250 43 Jahre später, im Jahr 1985, griff Roberto Zanetti in seiner lobenswert akribisch recherchierten Monografie über die italienische Musikgeschichte im 20. Jahrhundert dieses Narrativ auf, ohne es zu hinterfragen.251 Zanetti sieht die Trennlinie zwischen 19. und 20. Jahrhundert im Fall des italienischen Musiklebens im Übergang von einer Phase der unreflektierten Übernahme deutscher Instrumentalmodelle zu einer Epoche des „eigenständigen Gebrauchs“ („uso originale“) dieser Modelle. Diese Epoche lässt er mit dem Tod des prominentesten italienischen Instrumentalkomponisten des 19. Jahrhunderts, Giuseppe Martucci, im Jahr 1909 zusammenfallen.252 Es ist interessant zu beobachten, wie Zanetti diese musikhistorische These anhand eines ausführlichen Zitats aus einem Artikel stützt, den Alfredo Casella im Jahr 1930 über Giuseppe Martucci geschrieben hatte.253 In diesem Text hatte Casella ebenfalls eine klare Trennlinie zwischen der Instrumentalproduktion Martuccis und der seiner Generation, zwischen Ottocento und Novecento gezogen  ; gleichzeitig hatte er diese Trennlinie entlang der „Wiederentdeckung“ der alten Instrumentalmusik konstruiert. So schrieb Casella  : 250 „Dovremmo parlare, ora, del nuovo movimento musicale, in Italia, che appartiene al Novecento vero e proprio, in senso spirituale, oltre che cronologico […]. Le tendenze e i tentativi che a questo movimento si collegano sono molteplici e forniranno allo storico futuro documenti significativi di uno stato di cultura nel quale hanno giocato una parte importante i contatti con le opere di musicisti stranieri, da Debussy e Ravel fino a Stravinsky e Hindemith. Ma contemporaneamente si avvalora il sentimento delle antiche forme strumentali in cui si era specchiata, nel passato, l’anima musicale degl’Italiani  : quella musica che abbiamo visto interrompersi alla fine del secolo XVIII e con la quale si vorrebbe riallacciare un rapporto di continuità spirituale.“ Della Corte/Pannain 1942², Storia della musica, 1687–1688. 251 Zanetti 1985, Musica italiana, 46–51 („Un problema di datazione“). 252 Ebd., 48–49. 253 Casella 1930, Difesa ed illustrazione.



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„Man muss jedoch auch noch bedenken, dass zur Zeit Martuccis unsere vergangene, vor dem 19. Jahrhundert entstandene Instrumentalmusik in Italien praktisch unbekannt war. Martucci konnte damit nichts Besseres [tun], als beharrlich auf den Brenner [hinaus] schauen.“254 Das Erreichen eines kreativen Umgangs mit der symphonischen Musik und der Einzug Italiens in die Moderne sei für Casella vor allem als Resultat einer Rückkehr Italiens zu einer vergessenen Instrumentalmusik zu verstehen.255 Zanetti und mit ihm ein großer Teil der Forschung übernimmt damit für die Untersuchung der italienischen Musikgeschichte im frühen 20. Jahrhundert eine Deutung, die von einem Teil der damaligen Akteure entwickelt wurde. Nicht hinterfragt bleiben die diskursiven Voraussetzungen einer solchen Deutung, die nicht wertneutral, sondern interessengeleitet und dezidiert partiell (und parteiisch) gegenüber ihrem Deutungsobjekt ist  : Die Forschung auf diesem Gebiet wird mit einer solchen unhinterfragten Übernahme bereits im Vorfeld vorstrukturiert. Die Vorgaben, die dieses Narrativ der wissenschaftlichen Erschließung dieser Zeitspanne italienischer Musikgeschichte implizit unterstellt, lassen sich unter folgenden zwei Punkten zusammenfassen  : 1. Die Rückkehr zur Beschäftigung mit der Instrumentalmusik der Vergangenheit wird fast ausschließlich im Bezug zur Generazione dell’80 untersucht, als würde es sich dabei um ein Phänomen handeln, das erst mit dieser Generation anfing. Diese Perspektive ist verzerrend, weil die Generazione argumentativ und kompositorisch de facto mit einem historiografischen Konstrukt arbeitete, das 254 „D’altra parte, bisogna ancora ricordare che ai tempi di Martucci il passato nostro strumentale preottocentesco era praticamente lettera morta in Italia ed allora Martucci […] nulla poteva fare di meglio che guardare ostinatamente dalla parte del Brennero.“ Casella 1930, Difesa ed illustrazione, zitiert nach Zanetti 1985, Musica italiana, 50. 255 So schrieb zum Beispiel Casella 1938  : „I grandi nomi di Vivaldi, Scarlatti, Frescobaldi, Monteverdi, Da Venosa, che ai tempi di Martucci anora erano totalmente ignorati dai musicisti italiani ad esclusivo profitto del Romanticismo tedesco, tornavano adesso a rivivere nell’attualità nazionale. Si determinava insomma un rapido processo evolutivo, a traverso il quale scompariva ogni traccia di assimilazione straniera e si formava celermente una nuova coscienza musicale ed anche uno stile italiano inconfondibile cogli altri europei.“ Casella 1941, I segreti della giara, 300. (Aus dem im November 1938 verfassten Kapitel  : „Constatazioni, idee e conclusione“, 297–318).

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sich bereits vor ihr konstituiert hatte. Dies wird im Rahmen der vorliegenden Arbeit zum ersten Mal in aller Schärfe thematisiert, und im letzten Abschnitt dieses Kapitels wird auch die grundlegende Umdeutung hervorgehoben, der Torchis Konstrukt im Übergang zu Polemiken der 1910er-Jahre von Fausto Torrefranca, einem der zentralen Protagonisten der Generazione dell’80, im musikwissenschaftlichen und musikästhetischen Bereich unterzogen wurde. 2. Die „Rückbesinnung“ des italienischen Musiklebens auf die alte Instrumentalmusik vor 1800 wird nie per se untersucht, sondern sofort der übergeordneten Frage nach einem italienischen Weg in die Moderne unterstellt  : Die sogenannte Wiederentdeckung der Instrumentalmusik der Vergangenheit wird als kompositionstechnisches Mittel aufgefasst, das zu den ersten Erfolgen der Generazione dell’80 und später zum regelrechten crescendo in der internationalen Anerkennung von Komponisten wie Luigi Dallapiccola, Luciano Berio, Bruno Maderna oder Luigi Nono geführt hat. Unter einem allgemeinen soziokulturellen Gesichtspunkt wird sie dann als Medium für einen Anschluss Italiens an die jüngsten Entwicklungen im europäischen Musikdiskurs gelesen  ; einen Anschluss, der von der Einführung einer wissenschaftlichen Erforschung des Musikalischen bis hin zur Etablierung eines modernen Konzertlebens und eines dafür ausgebildeten Publikums reicht. Die „Rückkehr“ zur alten Musik und das historische Artefakt einer symphonischen Tradition werden damit einer Erfolgsgeschichte der Modernität untergeordnet  ; einer Modernität, die in ihren ästhetischen und kulturellen Umrissen von einigen der zentralen Protagonisten jener Zeit und in primis von Alfredo Casella definiert wurde. Ein Narrativ, das als Legitimationsmittel einer präzisen Position in der damaligen Debatte diente, kann im Rahmen einer musikhistorischen Untersuchung nicht unhinterfragt übernommen werden  : Die „Wiederentdeckung“ der alten italienischen Instrumentalmusik am Ende des 19. Jahrhunderts soll im Folgenden von diesem Narrativen abgekoppelt werden. Dies heißt konkret, sie entlang zweier Kategorien zu untersuchen  : Tradition und Nation. Anstatt danach zu fragen, wie sich die Erschließung der Instrumentalmusik früherer Epochen auf die Modernisierung des italienischen Musiklebens ausgewirkt hat, soll im Folgenden nach den intellektuellen Koordinaten gefragt werden, die zur Ent-



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stehung eines Interesses für diese Art Musik beitrugen und zur Ausformung und erfolgreichen Weitertradierung der Vorstellung einer vergessenen Musiktradition Italiens im Zeichen der Symphonik führten. Das Ziel ist, diese neue Tradition per se als eigenständiges (aber nicht vom Kontext abgetrenntes) Untersuchungsobjekt wahrzunehmen und deren Konstruktcharakter hervorzuheben  : Sie wird als intellektuelles Produkt einer Epoche aufgefasst, die sich entlang eines integralen Verständnisses der Nation strukturierte. Dies wird ermöglichen, im letzten Kapitel des zweiten Teils sowie im gesamten dritten Teil der Arbeit die Frage nach Kontinuitäten und Umbrüchen im Umgang mit der alten italienischen Instrumentalmusik seitens des Faschismus zu stellen.256

4.2  Die Macht des Konstrukts  : Beethoven und Vivaldi

Die Konturen einer neuen symphonischen Tradition Italiens werden von Torchi, wie eingangs erwähnt, im Rahmen eines umfangreichen, mehrteiligen Aufsatzes über die italienische Instrumentalmusik des 16. bis 18. Jahrhunderts skizziert, den der Musikwissenschaftler zwischen 1897 und 1901 für die Rivista musicale italiana verfasste.257 Bereits im ersten Beitrag behauptet Torchi, sich bezüglich der Ziele seiner Arbeit vollkommen im Klaren zu sein, und gleich zu Beginn schreibt er  : „Ich möchte die Musiker auf verschiedene Entwicklungsphasen unserer [musikalischen] Kunst aufmerksam machen und insbesondere auf eine Art Kunst, die mit gewissem Leichtsinn als minderwertig gegenüber gleichen ausländischen 256 Wenn man die intellektuellen Koordinaten nicht berücksichtigt, innerhalb derer die Musik früherer Epochen am Anfang des 20. Jahrhunderts konzeptualisiert wurde, lässt sich in der Tat eine Untersuchung der Verquickung zwischen Nationalismus bzw. Ideologie und „Wiederentdeckung“ älterer Musik nur bedingt durchführen. In diesem Sinne siehe zum Beispiel Pozzi 2001, L’ideologia neoclassica, insbesondere 461–462. Pozzi setzte das Interesse an älterer Musik am Anfang des 20. Jahrhunderts in den breiten Kontext des europäischen Neoklassizismus, geriet jedoch in Schwierigkeiten, als er die Verquickung zwischen „Wiederentdeckung“ älterer Musik, Neoklassizismus und autoritären Regimen der 1930er-Jahre hinterfragen wollte. 257 Es sei hier nochmals die komplette Auflistung aller Beiträge wiedergegeben  : Torchi 1897– 1901, La musica istrumentale.

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Erscheinungen angesehen wurde und wird. Eine Sorte Kunst, die – und das ist ein großes Unrecht – gar keinen oder fast keinen Platz in unserer künstlerischen Ausbildung gefunden hat und die ein vulgäres Vorurteil unter den Ruinen einer anderen von verdorbenem und schlechtem Geschmack geprägten Epoche, also der Epoche ab dem Ende des 18. Jahrhunderts, die dem [vorigen] wahren und echten Blühen der italienischen Instrumentalmusik folgte, vergraben hält.“258 Torchi stellt hierbei sofort zwei Punkte fest  : Erstens, es gibt eine „echte und unverfälschte“ („vera e genuina“) italienische Musik, die instrumental ist und im 16., 17. und 18. Jahrhundert komponiert wurde  ; zweitens, diese Musik wurde vergessen („sepolta“) und die Hauptschuld dafür liegt einerseits beim italienischen melodramma des 19. Jahrhunderts, andererseits beim „gewöhnlichen Vorurteil“ („pregiudizio volgare“) einer Überlegenheit der ausländischen Instrumentalmusik gegenüber der italienischen. Torchi versteht seine Beschäftigung mit dieser Musik der Vergangenheit als einen Akt der Gerechtigkeit, dessen Zweck pädagogischer Natur ist. Sechs Jahre zuvor hatte bereits Giuseppe Verdi die Notwendigkeit einer radikalen Umgestaltung der Lehrpläne der italienischen Conservatori zum wiederholten Mal betont und die Dringlichkeit eines stärkeren Einbeziehens der alten italienischen Musik in den Unterricht hervorgehoben.259 Verdi hatte damit die Vokalmusik und insbesondere diejenige von Palestrina gemeint.260 Torchi schlägt jedoch 258 „Voglio richiamare l’attenzione dei musicisti sopra varie fasi evolutive dell’arte nostra e più particolarmente sopra una specie d’arte, che con qualche leggerezza si è creduta e si continua a credere inferiore a specie straniere analoghe, che non è entrata per nulla o quasi, e questo è un torto grave, nella nostra educazione artistica, una specie d’arte, che un pregiudizio volgare tiene sepolta sotto le rovine di un’epoca artistica di gusto corrotto e cattivo, l’epoca che seguì la fioritura vera e genuina della musica istrumentale italiana, la fine del secolo XVIII.“ Torchi 1897–1901, La musica istrumentale, 1897, 581–582. 259 Für einen Überblick über die Reformen (bzw. die unzähligen Debatten darüber) der Lehrpläne der italienischen Musikhochschulen im Laufe des 20. Jahrhunderts siehe Sanguinetti 2003, La formazione dei musicisti, insbesondere 21–22 für die Situation am Ende des 19. Jahrhunderts. 260 So schrieb Giuseppe Verdi am 15. November 1891 an Giuseppe Gallignani, der zu jenem Zeitpunkt die Mailänder Domkapelle leitete  : „Cogli arditissimi trovati armonici della musica moderna, Palestrina non si può fare, ma se fosse meglio conosciuto e studiato, noi scriveressimo [sic  !] più italianamente e saressimo [sic  !] migliori patrioti (in musica, s’intende).“ Zitat aus Casimiri 1924, Giuseppe Verdi, 216.



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in seinem Aufsatz eine andere Art Musik vor, die nicht vokal, sondern instrumental ist. Sie stellt nach der Meinung des Musikwissenschaftlers den besten Unterrichtsstoff für die nationale Erziehung der italienischen Musiker dar, weil sie weder vom schlechten Geschmack des melodramma noch von der späteren, auf fremdem Boden sich abspielenden Entwicklung der Instrumentalmusik korrumpiert wurde. Torchi führt durch seine Untersuchung dieses Repertoires von alten instrumentalen Kompositionen ein neues Element in diese Diskussion und allgemein in das Verständnis eines vermeintlichen Italienischen in der Musik ein. Im vorigen Zitat deutet er auch ein präzises Bild der historischen Entwicklung der Musik an, das er auf den folgenden Seiten ausführlicher darstellt. Im Zentrum des musikgeschichtlichen Verständnisses von Torchi steht ein Komponist, dem er eine ungeheure historische Bedeutung zuerkennt. Überraschenderweise handelt es sich hier um keinen Italiener, sondern um einen Deutschen  : Ludwig van Beethoven. Torchi schreibt  : „Beethoven ist eine künstlerische Erscheinung von immenser historischer Bedeutung  ; er ist der Vertreter des aus der Französischen Revolution herausgekommenen Menschen. Für neue Empfindungen ein neuer Stil.“261 Für Torchi symbolisiert Beethoven einen deutlichen Einschnitt in der musikalischen Entwicklung  : Mit ihm traten „nuovi sentimenti“ und demzufolge „un nuovo stile“ in der Musik auf. Mit ihm fing aber auch die Vorherrschaft der deutschen Instrumentalmusik an. Mit diesem paradox anmutenden BeethovenBild, das sich dennoch zu jener Zeit europaweit nachweisen lässt, kommt Torchi zum entscheidenden Punkt seiner Argumentation  :262 „Um zu diesem Ergebnis zu gelangen [also Beethoven], hatte Italien allein alle Mittel vorbereitet. Ausschließlich aus seinen eigenen Kräften hatte Italien sie 261 „Beethoven è un’apparizione artistica di immensa importanza storica  ; egli è […] il rappresentante dell’uomo uscito dalla rivoluzione francese. A nuovi sentimenti, dunque, un nuovo stile.“ Torchi 1897–1901, La musica istrumentale, 1897, 582. 262 Für die zentrale Bedeutung Beethovens am Ende des 19. Jahrhunderts im europäischen Musikdiskurs siehe Buch 2000, Beethovens Neunte, 191–221.

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allesamt entwickelt und alles gemacht  : im 16. Jahrhundert mit der Vokalpolyfonie, im 17. Jahrhundert mit der Vokalkammermusik, der Instrumentalmusik und der Oper, im 18. Jahrhundert mit der weiteren Befruchtung all dieser Formen.“263 Beethoven – für Torchi die Ikone der deutschen Musikkultur – wäre ohne Italien nicht möglich gewesen. Italien habe praktisch alle musikalischen Gattungen erfunden  : die Vokalpolyfonie, das Lied, die Oper und natürlich die Instrumentalmusik. Torchi übernimmt damit einen im Laufe des Risorgimento häufig rekurrierenden Topos für die Charakterisierung des „Italienisch-Seins“  : Die Überzeugung, Italien sei geschichtlich das Mutterland jeglicher geistiger Erneuerung der westlichen Zivilisation gewesen, reichte damals vom politischen (man denke an Vincenzo Giobertis Del primato morale e civile degli Italiani aus dem Jahr 1843) bis hin zum philosophischen (wie zum Beispiel im Fall der berühmten Rede von Bertrando Spaventa an der Universität von Neapel im Jahr 1861) sowie zum musikalischen Bereich (die in den vorigen Kapiteln besprochene Filosofia della musica von Giuseppe Mazzini ist in dieser Hinsicht aufschlussreich).264 Die Tatsache, dass Torchi in seinem Aufsatz das Erfindungsprimat nicht nur allein im Bezug auf die Vokalmusik erwähnt, sondern auch auf die Instrumentalmusik ausweitet, stellt sicherlich ein Novum im italienischen Musikdiskurs dar. Zunächst einmal ist es jedoch wichtig, die Art und Weise hervorzuheben, wie Torchi diesen Primat-Topos in seine Untersuchung der älteren Instrumentalmusik Italiens einbezieht. In der Tat fügt er dieses tradierte Argument einer nationalen Überlegenheit in einen gegenüber dem Risorgimento völlig veränder263 „Per arrivare a questo risultato, […], l’Italia aveva preparato da sè ogni specie di materiali, colle sue sole forze tutti li aveva sviluppati ed aveva fatto tutto  : nel secolo XVI con la polifonia vocale, nel XVII con la lirica musicale individuale, la musica istrumentale e il melodramma, e nel XVIII con l’ulteriore fecondazione di tutte queste forme.“ Torchi 1897–1901, La musica istrumentale, 1897, 582–583. 264 Über diese synonymische Auffassung von nationaler Identität und Primat in der Zeitspanne von Torchi bis zum Ende des Faschismus siehe Gentile 2002, Mito dello stato nuovo, 83–138 sowie Patriarca 2010, Italianità, 39–108. Über die Rede Bertrando Spaventas, der einer der wichtigsten Philosophen in Italien um die Mitte des 19. Jahrhunderts war, siehe Restaino 1999, Storia della filosofia, 226–227.



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ten kulturellen Kontext ein  : Auf den vorigen Seiten wurde deutlich gemacht, wie Torchi die Nation zum einzigen Deutungshorizont des Musikalischen erklärte und sie zu einer regelrechten musikalischen Kategorie erhob. Mit diesen radikalen Schritten hatte Torchi die methodologischen und weltanschaulichen Prämissen geliefert, die dem italienischen Musikleben am Ende des 19. Jahrhunderts einen qualitativen Sprung in die neue Dimension eines integralen Nationalismus ermöglichten. Nun wendet er dieses spezifische Verständnis des Nationalen auch normativ für die Erforschung der musikalischen Vergangenheit an  : Er entwirft eine neue Tradition, die sich entlang eines der prägenden Züge des integralen Nationalismus des Fin de Siècle strukturiert – des Sozialdarwinismus.265 Die Vorstellung einer Welt, in der allein the fittest, wie Herbert Spencer bereits 1852 pointiert ausführte, eine Überlebenschance bekommt, schlug sich in der Tat bei Torchi in einem Primatzwang nieder, der die Musikgeschichte auf einen regelrechten Patentstreit reduziert und als Abfolge von führenden nationalen Leitkulturen darstellt. Im Unterschied zu Mazzini ist nun keine Deutungsperspektive des Musikalischen gegeben, die dem ewigen Kampf der Nationen übergeordnet ist  : Um dem eigenen Land eine Überlebenschance in diesem Kampf zu gewähren, eignet sich Torchi die musikästhetischen Kategorien derjenigen Nation an, die zu jenem Zeitpunkt am „fittesten“ war, und dies war am Ende des 19. Jahrhunderts zweifelsfrei Deutschland. Die Gattungen und die musikalische Sprache, die aus der deutschen Romantik am Anfang des 19. Jahrhunderts hervorgingen, stellten 1897 die unangefochtene koiné der westlichen Musikkultur dar  : Die sogenannten Nationalschulen verwirklichten ihre Absichten in den Formen und nach den Regeln der deutschen Musik.266 Torchis Verinnerlichung des integralen Nationalismus in Form eines Primat­ zwangs führt in der Tat zu einer bipolaren Konfrontation zwischen Italien und Deutschland. Frankreich wird konsequent aus dem musikhistorischen Szenario ausgeschlossen und dies aus dem Grund, weil diese Nation kein „symphonisches 265 Für den Sozialdarwinismus sei hier auf folgende Titel verwiesen  : Claeys 2000, Survival of the fittest und Crook 1994, Darwinism. Für eine direkte Thematisierung des Zusammenhangs zwischen integralem Nationalismus und Sozialdarwinismus siehe Hobsbawm 2005, Nationen und Nationalismus, 128–129 sowie Wehler 2007, Nationalismus, 80–81. 266 Siehe Taruskin 1996, Introduction sowie Taruskin 2001, Nationalism.

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Primat“ aufweisen kann. Dies kommt deutlich an der einzigen Stelle zum Ausdruck, an der Torchi direkten Bezug zur Instrumentalmusik Frankreichs nimmt. Er schreibt  : „Die italienische Instrumentalmusik ist die Mutter der französischen und deutschen Instrumentalmusik, sie hat ihnen ihre Formen und ihre Strukturen gegeben. Die französische Instrumentalmusik blieb immer in einer assimilierenden Kraft gefangen, sie verfeinerte nach dem eigenen, nationalen Geschmack das, was sie sich aneignete, gelangte aber nie zu einem eigenen, individuellen Ausdruck und wurde nie richtig groß und originell. Die deutsche Musik hat stattdessen ihre eigene Individualität und Kraft gefunden, nachdem sie sich von der italienischen Musik vollständig emanzipiert hatte. Deswegen soll sie im Folgenden mit unserer Instrumentalmusik gelegentlich verglichen werden.“267 Die Instrumentalmusik Frankreichs, die gerade in jenen Jahren ihre ersten nationalen Erfolge feierte, wird als „assimilatrice“ abgewertet.268 Indem Torchi Nationalcharakter und Primat gleichsetzt, spricht er der symphonischen Musik Frankreichs einen Nationalcharakter ab, weil diese Nation nie ein Primat auf diesem Gebiet errungen hat. Frankreich bleibt deswegen im weiteren Verlauf des Aufsatzes als Referenzpunkt ausgeschlossen, und Torchi konstruiert die Grundzüge einer neuen nationalen Musiktradition Italiens, die nach intellektuellen Koordinaten gestaltet wird, die seit dem Anfang des 19. Jahrhunderts eng mit Deutschland und dem Konstrukt einer deutschen Musik verbunden waren. Das Primat deutscher Musikkultur beruhte vor allem auf der allgemeinen Akzeptanz eines Paradigmenwechsels im ästhetischen Diskurs, der am Anfang des 267 „La musica istrumentale italiana è stata la madre della musica istrumentale francese e tedesca, ha passato loro le sue forme, i suoi modelli. Ma se la musica istrumentale francese visse sempre di una virtù assimilatrice, raffinando, secondo il genio proprio della nazione, ciò che prendeva in imprestito, e non s’individuò mai e non fu mai veramente grande ed originale, la musica istrumentale tedesca, che per ciò, sola, dovrà essere tratta eventualmente in rapido confronto colla nostra, ha invece trovato la sua originalità e la sua forza a punto dopo essersi completamente emancipata dalla musica italiana.“ Torchi 1897–1901, La musica istrumentale, 1897, 582 268 Über die Situation der Instrumentalmusik in Frankreich zu jener Zeit siehe Steinbeck 2002, Romantische und nationale Symphonik, 307–338.



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19. Jahrhunderts stattfand und zu dessen kompositorischer Versinnbildlichung Ludwig van Beethoven und sein symphonisches Schaffen retroaktiv gemacht wurden  : Nicht mehr die wortgebundene, sondern die Instrumentalmusik, die sogenannte absolute Musik, sei die einzige wahre Musik.269 Das Wesen der Musik liege in der exklusiven Eigenschaft, das Unaussprechliche jenseits des Textes zum Ausdruck zu bringen.270 Deutsche Musik war also – man denke nur an 269 Im letzten Jahrzehnt hat sich vor allem die englischsprachige Forschung mit der Herauskristallisierung dieser Verquickung zwischen autonomieästhetischem und nationalistischem Musikdiskurs in Deutschland im ausgehenden 19. Jahrhundert wiederholt auseinandergesetzt (für einige im Rahmen meiner Studie wichtige Veröffentlichungen siehe Fußnote 144, S. 85). Daraus ist eine durchaus fruchtbare Diskussion entbrannt, die zusammen mit methodologischen Anregungen dennoch auch eine gewisse Verworrenheit in der Terminologie hervorgebracht hat. Allgemein wird von der Forschung eine Kontinuitätslinie für die Ästhetik der absoluten Musik vom ausgehenden 19. Jahrhundert bis tief in das 20. Jahrhundert anerkannt (siehe darüber die in Inhalt und Ansatzpunkt sonst deutlich unterschiedlichen Stichworte über „absolute Musik“ bzw. „Absolute Music“ jeweils von Seidel 1994, Absolute Musik und von Scruton 2001, Absolute Music). Zwei große Lager lassen sich dennoch für die Definition des Untersuchungsobjekts „absolute Musik“ in dieser Debatte unterscheiden  : Einige Forscher neigen zu einem breiten Verständnis dieses Diskurses, der oft in der englischsprachigen Literatur auch als „serious music“ bezeichnet wird (siehe zum Beispiel Gramit 2002, Cultivating Music sowie Weber 2008, The great transformation). Dies ermöglicht die Hervorhebung der Kontinuitätselemente und vor allem der progressiven nationalen Kodierung dieser Ästhetik und ihren Niederschlag im Konzertrepertoire. Dies bringt dennoch eine oft irritierende terminologische Unklarheit über Wesen und Grenzen einer Autonomieästhetik hervor (dafür siehe die berechtigte Kritik von J. Garratt in seiner Rezension von Gramits Buch in Music & Letters, 2004, Hft. 3, 440–445). Andere Forscher neigen zu einer präziseren Umschreibung ihres Forschungsobjektes und betonen zum Beispiel die Unterschiede zwischen hoffmanscher Musikauffassung am Anfang des 19. Jahrhunderts und dem „autonomen“ Musikverständnis von Hanslick 1854. Dies führt oft zur Vernachlässigung der Verbindungen zwischen ästhetischem und nationalistischem Diskurs (siehe zum Beispiel den anregenden Artikel von Bonds 1997, Idealism and the Aesthetics). Im Rahmen dieser Studie wird eine mittlere Position eingenommen  : Als „absolute Musik“ wird der vorwiegend instrumentale Werkekanon deutscher symphonischer Musik verstanden, wie er sich am Ende des 19. Jahrhunderts herauskristallisiert hatte und auch die sogenannte „Programmmusik“ einschloss. Dadurch wird ein relativ klar umrissenes Repertoire an Gattungen, Werken und Stilrichtungen eingeschlossen. Diese Werke werden dennoch auch als Vertreter eines Kunstverständnisses erkannt, das im Zentrum Konzepte wie „Innigkeit“, „Tiefe“ oder „Bildung“ hatte und das sich als Gegenzug zu einem hedonistischen Musikgenuss begriff, der mit der Oper gleichgesetzt wurde. Für die Querverbindungen zwischen der Ästhetik der „absoluten Musik“ und dem deutschen Pietismus im Kontext eines gesellschaftlichen Säkularisierungsprozesses siehe Geiger 2003, Innigkeit und Tiefe sowie Watkins 2004, From the Mine. 270 Fubini 1990, The history of music, 289–295.

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die Tätigkeit von Adolf Bernhard Marx in Berlin ab den 1820er-Jahren – die Symphonik.271 Wie und wie tief sich dieser Paradigmenwechsel international durchgesetzt hatte, kommt deutlich aus einem detaillierten, 40-seitigen Bericht über den Stand des italienischen Musiklebens zum Ausdruck, der im Jahr 1900 in den Sammelbänden der im Jahr zuvor gegründeten „Internationalen Musikgesellschaft“ erschien.272 Bei diesem Beitrag handelt es sich in der Tat um einen dop­pelten Blick von außen auf die Lage Italiens zu Beginn des 20. Jahrhunderts  : Einerseits wird hier ein Bericht über Italien von Oscar Sonneck, einem in Deutschland ausgebildeten amerikanischen Musikwissenschaftler, verfasst, andererseits wendet hier Sonneck für die Analyse der italienischen Lage nicht nur die deutsche Sprache, sondern auch Urteilskriterien an, die dem vorher erwähnten, aus Deutschland stammenden ästhetischen Paradigmenwechsel entsprechen.273 Seinen Artikel Zum Wiederaufschwung des italienischen Musiklebens eröffnet Sonneck mit der pointierten Bemerkung  : „Ein Wideraufschwung setzt natürlich einen Tiefstand voraus“. Auf den ersten Seiten des Textes schildert er dann, worauf dieser Tiefstand beruht und schreibt  : „Der Verfall des italienischen Musiklebens beginnt nicht erst mit diesem Jahrhundert. So grotesk das klingen mag, seine Anzeichen beginnen und mehren sich gerade zur Zeit der unbestrittenen Vorherrschaft der Italiener, und zwar als Begleiterscheinung der sich im Seicento und mehr noch im Settecento mächtig entwickelnden Oper, zumal von dem Moment an, als sie nicht mehr ausschließlich zum Zeitvertreib der Vornehmen dient, sondern – seit 1637 in Venedig – anfängt, Volksschauspiel zu werden.“274

271 Siehe Pederson 1994, A. B. Marx 272 Sonneck 1900, Zum Wiederaufschwung. Die „internationale Musikgesellschaft“ wurde 1899 gegründet und löste sich mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs im Jahr 1914 auf. 273 Über Oscar Sonneck siehe auch den Eintrag über ihn in Steinzor 1989, American musicologists, 253–62. Für eine Schilderung der Rolle Sonnecks bei der Herausbildung der historischen Musikwissenschaft in den USA siehe Crawford 1990, Sonneck, 266–83. 274 Beide Zitate  : Sonneck 1900, Zum Wiederaufschwung, 630.



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Der Tiefstand des italienischen Musiklebens liegt damit für Sonneck einzig und allein in der Vorherrschaft einer spezifischen, „italienischen“ Gattung  : der Oper. Der amerikanische Musikwissenschaftler spricht hier ein vernichtendes Urteil aus  : Gegenüber einer zu jenem Zeitpunkt 300-jährigen Geschichte der Oper spart Sonneck halbwegs – und nur implizit – die ersten drei Jahrzehnte ihrer Existenz von der Kritik aus. Nach Peri, Caccini und den ersten Opern Monteverdis ist die Entwicklung der Oper nach Sonnecks Auffassung einzig und allein eine Verfallsgeschichte. Das negative Urteil trifft damit die Oper in ihrer musikästhetischen Substanz an sich, verurteilt wird hier von Sonneck nicht eine präzise Form, sondern die Gattung selbst. Die Zeichen, die der Musikwissenschaftler für den zum Zeitpunkt des Berichts langsam voranschreitenden „Wiederaufschwung“ des musikalischen Italien angibt, sind ihrerseits auffällig. Es sind die Rezeption der Musik Richard Wagners, die „die Einbürgerung der Zukunftsmusik“ bedeutet, die Etablierung einer wissenschaftlichen Musikforschung (und Sonneck erwähnt und lobt hier explizit die Tätigkeit Luigi Torchis) und schließlich die Durchsetzung einer eigenständigen Instrumentalmusik auf der Ebene der Rezeption sowie der Komposition.275 Die von Sonneck gewählten Indikatoren für den kulturmusikalischen Fortschritt Italiens und seine Etikettierung der Oper als reinen Zeitvertreib, der geschmacklos wirkt, wenn er zum „Volksschauspiel“ wird, lassen deutlich erkennen, wie der amerikanische Musikwissenschaftler den vorher erwähnten ästhetischen Paradigmenwechsel verinnerlicht hatte und in welchem Maße jene Indikatoren zu jenem Zeitpunkt international verbreitet waren. In seiner Erforschung der alten Instrumentalmusik Italiens übernimmt Torchi stillschweigend diese ästhetischen Koordinaten und setzt damit eine Schilderung der musikgeschichtlichen Bedeutung Beethovens an den Anfang einer Studie über die italienische Musik zwischen 1500 und 1700. Er konstruiert mittels der Wissenschaft eine symphonische Tradition Italiens, die als unentbehrliche Voraussetzung für die deutsche Instrumentalmusik gedient haben soll. Infolge 275 Die Rezeption Wagners in Italien wird von Sonneck im Rahmen des erwähnten Aufsatzes insbesondere auf 647–656 besprochen. Für die Anfänge einer musikwissenschaftlichen Forschung in Italien und die Zentralität von Torchis Arbeit siehe ebd., 668. Für die italienische Instrumentalmusik siehe insbesondere ebd., 668–670. Für die Definition der Wagner-Rezeption als „Einbürgerung der Zukunftsmusik“, ebd., 651.

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seiner sozialdarwinistischen Umdeutung des traditionellen Primat-Arguments konstruiert Torchi eine neue Musiktradition Italiens, die sich nach dem deutschen Diskurs einer absoluten Musik richtet. Gleichzeitig liefert er unter einem argumentativen Standpunkt ein regelrechtes Meisterstück  : Durch diese erfundene symphonische Tradition Italiens konnte Torchi das gegenwärtige Primat deutscher Musik relativieren und den Weg für einen freieren Umgang mit der Instrumentalmusik in Italien öffnen. Dank des Primats Italiens in der Erfindung der Instrumentalmusik waren italienische Komponisten und das italienische Konzertpublikum bei der Rezeption deutscher Musik nicht mehr dem Vorwurf ausgesetzt, sie verrieten dadurch die eigene nationale Identität  : Die Aneignung dieser Musik bedeutete stattdessen die Rückkehr zu den wahren Wurzeln italienischen Musizierens. Gleichzeitig stellte dies nach Torchi auch die einzige Möglichkeit dar, die Musikkultur Italiens in den modernen musikalischen Zeitgeist zu überführen und sie in Europa konkurrenzfähig zu machen.276 Torchis teleologische Sicht der Musikgeschichte erlaubte keine Koexistenz alternativer ästhetischer Kriterien innerhalb einer Epoche  : Die Herausbildung einer eigenen nationalen Identität in der Musik – und dies hieß für Torchi, die Gewinnung einer Vorrangstellung im europäischen Musikleben – spielte sich allein auf dem Terrain der Instrumentalmusik ab. Es ist dieses Dreierbündnis von spencerschem Kulturparadigma, Musikästhetik und nationaler Politik, das Viadana, Corelli, Scarlatti, Vivaldi etc. plötzlich wertvoll für die Forschung machte. Mit den Mitteln der musikwissenschaftlichen Forschung konstruierte Torchi eine Vergangenheit, die tief in den kulturellen, musikästhetischen und politischen Koordinaten seiner Gegenwart verwurzelt war. Er gab auf dem musikalischen Gebiet eine Antwort auf die kulturpolitischen Bemühungen des jungen italienischen Nationalstaates um innere Einheit

276 Bereits 1894 hatte Torchi den zentralen Zusammenhang zwischen der Pflege der eigenen nationalen Vergangenheit und dem Erringen eines musikalischen Primats in der Gegenwart ausdrücklich betont. Er schrieb  : „Solamente un popolo che consoce il suo passato artistico e sia in grado di apprezzarlo convenientemente, può rappresentare una qualche parte importante nel movimento artistico del presente.“ Torchi 1894, Canzoni ed Arie, 591). Auch im Laufe seines Aufsatzes über die alte italienische Instrumentalmusik kommt dieser Zusammenhang häufig zum Ausdruck (siehe zum Beispiel Torchi 1897–1901, La musica istrumentale, 1897, 585  ; 1899, 701–704, 711).



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und äußere Machtpolitik.277 Gleichzeitig zeigte Torchi den kulturpolitischen Wert der neuen Disziplin der Musikwissenschaft auf, die zu jenem Zeitpunkt nach institutioneller Anerkennung und einem klaren Forschungsprofil strebte. Die Nationalisierung der musikalischen Vergangenheit, die mit Torchi und mit der Etablierung der Musikwissenschaft als eigenständiger Disziplin anfing, bestand also nicht nur aus einer ahistorischen nationalen Zuordnung von Komponisten und aus deren Gruppierung in Nationalschulen.278 Sie war ein selektiver Blick auf die Musikgeschichte, der die Vergangenheit gezielt in Hinsicht auf die Gegenwart strukturierte. Daraus entstand das Konstrukt einer symphonischen Tradition Italiens, dessen paradox anmutende Auswirkungen sich besonders gut am Beispiel der Rezeption Antonio Vivaldis erläutern lassen.279 *** Vivaldis „symphonischer“ Genius Im Laufe seines Aufsatzes über die alte italienische Instrumentalmusik kommt Torchi auch auf Antonio Vivaldi zu sprechen und der prete rosso wird mit folgenden Worten charakterisiert  : „Als Symphoniker ist seine Bedeutung enorm  : Er steht an den Anfängen der neuen Musik, an den Anfängen des Geistes, der in der Musik der neuen Zeiten, der Zeiten Haydns und Mozart lebte. Diesen Komponisten bleibt er in seiner symphonischen Kraft überlegen und ahnt den musikalischen Ausdruck Beethovens voraus.“280 277 Einen fundierten Überblick über die Bemühungen der italienischen Regierung um die Herausbildung und Vermittlung einer nationalen Identität um die Jahrhundertwende bietet  : Gentile 1997, Grande Italia, insbesondere 9–70 (für die Zeit bis 1912). Siehe außerdem  : Tobia 1995, Una cultura. 278 Für das Konzept der „Nationalisierung“ siehe Mosse 1993, Die Nationalisierung der Massen, insbesondere 10–32. 279 Über die Rezeption Vivaldis im 20. Jahrhundert siehe Abbado 1971, Vivaldi nel nostro secolo  ; Basso 1978, Introduzione  ; Nicolodi 1979, La riscoperta di Vivaldi  ; Nicolodi 1980, Vivaldi nell’attività di Casella  ; Basso 1987, Introduzione sowie Sebastiani 2006, Alberto Gentili. Für den bibliografischen Hinweis auf den Ausstellungskataloge bedanke ich mich herzlich bei Prof. Dr. Anselm Gerhard (Bern). 280 „Come sinfonista la sua importanza è immensa  : egli sta alle origini della musica nuova, dello

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Vivaldi wird hier, wie es einige Zeilen vorher heißt, „genio sinfonista“ („Genie der Symphonik“) genannt und zum direkten Vorläufer Beethovens deklariert. Vor dem Hintergrund, dass Vivaldi mehr als 600 Konzerte, 94 Opern und dazu noch unzählige kirchenmusikalische Werke komponierte, liefert uns Torchis Bezeichnung Vivaldis als „genio sinfonista“ und nicht, wie es wohl angebrachter gewesen wäre, als „genio del concerto“, ein seltsames Bild des prete rosso. Die Quellenlage war 1897 erheblich schlechter als heute  ; Torchi setzte dennoch nicht wegen der dürftigen Quellensituation die Musik Vivaldis in direkten Vergleich zu derjenigen Haydns, Mozarts und Beethovens. Hier wirkten stattdessen die intellektuellen Koordinaten, die zur Erfindung einer symphonischen Tradition Italiens geführt hatten. Sie brachten das verzerrte Bild von Vivaldi als „Vater der Symphonie“ hervor, das Torchi hier entwirft. Wenn man die Spuren der Rezeption Vivaldis seitens der italienischen Musikwissenschaft in den darauf folgenden Jahren weiter verfolgt, lässt sich der Erfolg von Torchis Vergangenheitskonstruktion sehr wohl feststellen. 1910 veröffentlichte Fausto Torrefranca, eine der einflussreichsten Figuren der italienischen Musikwissenschaft in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, einen Aufsatz, dessen Titel eindeutig programmatischer Natur war  : La creazione della Sonata dramatica [sic  !] moderna rivendicata all’Italia.281 Auch ohne auf den Inhalt des Aufsatzes genauer einzugehen, lässt sich hier die gleiche Art der Argumentation wie bei Torchi 13 Jahre zuvor beobachten  : Die „objektiven“ Methoden der Musikwissenschaft dienen auch in diesem Fall der Suche nach einem kulturellen Primat Italiens. Wie bei Torchi findet diese Primat- bzw. Identitätskonstruktion auf dem Gebiet der Instrumentalmusik statt  : Die Fokussierung des Aufsatzes auf das Problem der Herausbildung der Sonatenhauptsatzform im 18. Jahrhundert zielt anhand der eher sekundären Figur Giovanni Benedetto Platti auf die Beanspruchung einer solchen Erfindung für Italien. Der Name Vivaldi taucht unvermittelt am Schluss des Artikels an der wichtigsten Stelle auf  : spirito che visse nella musica de’ tempi nuovi, de’ tempi di Haydn e di Mozart, ai quali in forza sinfonica egli rimane superiore, prevenendo l’espressione di Beethoven.“ Torchi 1897–1901, La musica istrumentale, 1899, 706–711, 709. 281 Torrefranca 1910, La creazione della sonata. Über Torrefranca und seine Stellung im Panorama des italienischen Musiklebens jener Zeit siehe Pinzauti 1981, Torrefranca a Firenze sowie Nicolodi 1993, Fausto Torrefranca.



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„Dies ist die historische Entdeckung, die ich anhand auch anderer Quellen mit gutem Recht glaube, formulieren zu dürfen  : Der moderne Instrumentalstil, der zunächst in Deutschland verfallen war und nur in Beethoven gipfelte, hat in Italien seinen Ursprung und wurde von der venezianischen Schule von Vivaldi bis Galuppi befördert.“282 Der Zusammenhang zwischen der Tastenmusik Plattis und der Sonatensatzform einerseits und Vivaldi andererseits wird von Torrefranca nicht thematisiert. Er wiederholt stattdessen fast wörtlich das Gedankengut von Torchi, wenn auch der Name seines älteren Fachkollegen an keiner Stelle erwähnt wird. Torrefranca verwendet dasselbe Denkmuster wie Torchi und arbeitet an der wissenschaftlichen Konstruktion einer symphonischen Tradition Italiens weiter.283 Die Suche nach einer nationalen Identität in Form einer kulturellen Vormachtstellung des eigenen Landes bildet das gemeinsame Verbindungselement zwischen Torchi, Torrefranca und den folgenden dreieinhalb Jahrzehnten  : Bis zum Ende des Faschismus sicherte diese synonymische Auffassung von Identität und Primat den Wirklichkeitsanspruch einer solchen Vergangenheitskonstruktion. Dementsprechend wird an dem eben geschilderten Bild Vivaldis in den nächsten Jahren trotz der erheblich verbesserten Quellenlage nichts verändert  : Als im Jahr 1943 eine mehr als 500-seitige Monografie von Mario Rinaldi über Vivaldi erscheint, lässt sich genau das gleiche Darstellungsmuster wie bei Torchi nachweisen, und der venezianische Komponist wird zum Vater der Symphonie erklärt.284 Ohne den zuvor skizzierten musikhistorischen Kontext 282 „Questa è dunque la scoperta storica che io, forte anche di altri documenti, mi credo in diritto di formulare  : lo stile strumentale moderno che, da prima decaduto in Germania, culmina poi nel Beethoven, ha origine in Italia e fu promosso dalla scuola veneziana dal Vivaldi al Galuppi.“ Torrefranca 1910, La creazione della sonata, 357. 283 Wie konsequent Torrefranca in seiner wissenschaftlichen Tätigkeit dabei vorging, beweist auch folgende Anekdote  : Der ungarisch-amerikanische Musikwissenschaftler P. H. Lang wies noch 1962 mit folgenden Worten auf Torrefranca hin  : „The good old Torrefranca of pleasant memory, who firmly believed that if you scratch a German you will find an Italian under his musical skin.“ (Lang 1962, Palestrina across the centuries,301). 284 Rinaldi 1943, Antonio Vivaldi. Im gleichen Jahr erschien eine weitere, dennoch schmalere Monografie über Vivaldi aus der Feder von Abbado s. d. [ca. 1943], Antonio Vivaldi. Auch hier wurde Vivaldi als Symphoniker und als Vorfahre der „celebre scuola di Mannheim“ bezeichnet (ebd., 12).

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hatte eine solche Auffassung der Musik Vivaldis keine Rechtfertigung. Das Stichwort „Vivaldi, Antonio“ aus dem im gleichen Jahr wie Torrefrancas Aufsatz erschienenen Grove Dictionary of Music liefert ein Beispiel dafür  : Von Vivaldi wird ein negatives Bild vermittelt  ; sein Stil wird als Effekthascherei abgewertet und es wird sogar behauptet, Vivaldi habe in dem VierjahreszeitenZyklus eine gewisse schöpferische Kraft gezeigt, „but in a limited degree“.285 Vivaldi war nur dadurch ein „sinfonista“, dass die musikalische Identität der Nation in Form eines Primats auf dem Terrain der Ästhetik einer absoluten Musik imaginiert wurde.

4.3  Von Torchi zu Torrefranca, 1897–1912  : Wie viele Meistererzählungen  ?

Torchis Konstrukt einer symphonischen Tradition Italiens erlebte in den fast fünf Jahrzehnten nach ihrer Erfindung einen dauerhaften Erfolg, der sich in der vorigen Skizzierung der Vivaldi-Rezeption im italienischen Musikdiskurs bis zum Ende des Faschismus deutlich ablesen lässt. Das Konstrukt behielt in den darauf folgenden Jahrzehnten eine ununterbrochene Geltung für die Interpretation der älteren Instrumentalmusik des Landes und war in der Lage, seine Deutungshoheit trotz einer ständigen Verbesserung der Quellenlage unangefochten zu behalten. Die Wirkung der symphonischen Tradition bis 1945 signalisiert ihrerseits die Weitertradierung der intellektuellen Voraussetzungen, aus denen sie am Ende des 19. Jahrhunderts hervorging und die vor allem in einem integralen Verständnis der Nation identifiziert wurden. In diesem Abschnitt und in den darauf folgenden zwei Kapiteln soll nun entlang des Leitfadens von Torchis Vergangenheitskonstrukt auf die Weiterwirkung des nationalistischen Rahmens des italienischen Musikdiskurses eingegangen werden. Die erstaunliche Kontinuität eines Musikverständnisses, das als strukturierendes Zentrum die Bestimmung der Identität des nationalen Kollektivs hatte, wurde jedoch nur um den Preis vielschichtiger Veränderungen möglich.

285 Grove 1910, Vivaldi, Antonio.



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Eine erste entscheidende Rolle nahm dabei für die Zeit um die 1910er-Jahre Fausto Torrefranca ein  : Der Musikwissenschaftler setzte Torchis intellektuelle Koordinaten und dessen daraus resultierendes Projekt grundsätzlich fort (und nahm beides als sein alleiniges Verdienst für sich in Anspruch), gleichzeitig passten sich diese Koordinaten dem neuen kulturellen Klima jener Zeit an. Es sind die Jahre einer radikalen Ablehnung des positivistischen Szientismus der vorigen Jahrzehnte im Namen unterschiedlicher philosophischer Positionen, die von Henri Bergsons Umkehrung von Darwins deterministischer Evolutionstheorie zugunsten einer „évolution créatrice“, die Freiheit und „élan vitale“ als Gestaltungsprinzipien hat, bis hin zum fideistischen Pragmatismus eines William James’ („The will to believe“ von 1897) reicht.286 Dies verschränkt sich etwas später in Italien mit der idealistischen Philosophie von Benedetto Croce, die auch im italienischen Musikdiskurs einen entscheidenden Einfluss hatte und deren Vorreiter auf dem musikalischen Gebiet gerade Fausto Torrefranca wurde.287 Es sind jedoch auch die Jahre einer immer deutlicheren und stringenteren Profilierung des integralen Nationalismus, der von der Gründung nationalistischer Verbände bis hin zum Vordrängen neuer Nationalstaaten wie Deutschland reichte  ; eines integralen Nationalismus, der, wie der Historiker Hagen Schulze 1994 pointiert formuliert hat, in einem charakteristischen Schwanken zwischen einerseits „Bedrohungs- und Unterlegenheitsmanie“ und andererseits „Über­ legen­heits- und Sendungsbewusstsein“ gefangen war.288 Torrefrancas Adaption von Torchis Konstrukt einer symphonischen Tradition am Anfang der 1910er-Jahre nahm alle diese Einflüsse wahr und gestaltete sich in einer Radikalisierung, welche die von Torchi verwendeten Einordnungskriterien der Vergangenheit zuspitzte und die Kanonisierungs- bzw. Zensurprozesse in der Konstruktion einer nationalen Tradition ins Extreme trieb. Dank der 286 Über das Kulturpanorama jener Jahre siehe Restaino 1999, Storia della filosofia, XXII–XXX sowie über Bergson 309–319 und über James 323–327. 287 Zanetti 1985, Musica italiana, 155. Über den Einfluss von Croces Ästhetik auf den italienischen Musikdiskurs siehe außerdem die Fußnote 297, S. 158 in diesem Abschnitt. 288 Vgl. Schulze 1995, Staat und Nation, 269. Die Ausbreitung des integralen Nationalismus über ganz Europa um die Jahrhundertwende lässt sich auch aus folgenden Gründungsdaten nationalistischer Verbände anschaulich ablesen  : 1891 wurde der „Alldeutsche Verband“, 1898 von Charles Maurras die Action française und – auch in diesem Fall etwas später – 1910 von Enrico Corradini die Associazione nazionalisti italiani gegründet.

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radikalen Stringenz und logischen Unnachgiebigkeit von Torrefrancas scharf umrissenen Positionen lassen sich damit alle jene unterschiedlichen Stränge deutlich ablesen, die zur erfolgreichen Weitertradierung von Torchis Vergangenheitskonstrukt in das neue Jahrhundert beitrugen. *** Torrefrancas Übernahme von Torchis Vergangenheitskonstrukt um die 1910erJahre scheint sich als Versuch zu gestalten, eine grundlegende Inkongruenz bzw. Unklarheit zu beseitigen, die der Formulierung seines älteren Fachkollegen immanent war. Die Hervorhebung eines Erfindungsprimats Italiens auf allen Gebieten des Musikalischen ging bei Torchi in der Tat mit einer deutlichen Schwerpunktsetzung auf die Instrumentalmusik und einem zurückhaltenden bis negativen Urteil über das italienische melodramma des 19. Jahrhunderts Hand in Hand.289 Hinter der Heraufbeschwörung eines allgemeinen Erfindungsprimats Italiens in der Musik lässt sich damit eine gewisse Spannung zwischen der neuen symphonischen Tradition und der damals allgemein verbreiteten Meistererzählung eines Italiens als Opernnation feststellen. In welchem Verhältnis sollten vokale und instrumentale Tradition zueinander stehen  ? Torrefranca entwirft in seinen ästhetischen Schriften und insbesondere im Pamphlet gegen Giacomo Puccini von 1912 eine radikale und berühmt gewordene Lösung für diesen Widerspruch. Zugleich gestaltet sich seine Antwort als eine „Überantwort“, als eine übertriebene Lösung, die ihn in eine isolierte Position in der damaligen „italianità“-Debatte führte. Die zentrale Bedeutung Torrefrancas für das Weitertradieren des Artefakts einer symphonischen Tradition liegt jedoch nicht primär in der Lösung, sondern vielmehr in der Erschaffung dieses Widerspruchs begründet. Die Kodierung der zwei Traditionen als miteinander konkurrierend und als sich potenziell gegenseitig ausschließend ist in der Tat nicht der ihm allein zuzuschreibende, aber sicherlich der bei ihm am auffälligsten formulierte Beitrag von Torrefranca für das italienische Musik­leben der nächsten drei bis vier Jahrzehnte  : In einer gewissen Weise lässt sich der italieni289 Siehe Torchis Rezensionen der ersten und der zweiten Symphonie Giuseppe Martuccis  : Torchi 1896, La sinfonia in re und Torchi 1905, La seconda sinfonia. Siehe außerdem Criscione 1997, Luigi Torchi, 85–98 und 105–107.



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sche Musikdiskurs vom Ende des 19. Jahrhunderts bis etwa 1945 als ein hermeneutischer Kampf um die Deutung dieses Widerspruchs auffassen, wie in den nächsten zwei Kapiteln dieser Arbeit eingehend veranschaulicht werden soll. Torrefranca „erschuf“ in der Tat ein aut-aut zwischen vokaler und symphonischer Tradition, das bei Torchi nirgends zu finden ist. Selbstverständlich ist es nicht so, dass Torchi die zwei Traditionen als solche nicht wahrgenommen hatte. Was er im Unterschied zu Torrefranca aber nicht wahrnahm, ist die Fragestellung  : Sie markiert de facto den entscheidenden Unterschied im Übergang von der ersten zur zweiten Generation italienischer Musikwissenschaftler und allgemein vom kulturellen und musikalischen Diskurs der 1890er-Jahre zu dem der 1910er-Jahre. Torrefrancas Frage nach der (einzig) wahren Tradition Italiens konnte innerhalb Torchis intellektueller Koordinaten keinen Platz haben  : Sie war wortwörtlich unvorstellbar. Die Betonung der instrumentalen Vergangenheit Italiens entsprach in erster Linie der Forderung, die Torchi bereits 1894 an die Erforschung der alten italienischen Musik gestellt hatte  : Sie sollte nicht nur ein „historisches Interesse, sondern auch einen praktischen Charakter und praktische Auswirkungen haben“.290 Unter den Koordinaten eines sozialdarwinistisch deklinierten Fortschrittsglaubens, der ästhetische, moralische und allgemein weltanschauliche Wertehierarchien der Gegenwart auf die Zukunft projizierte, war die Erreichung einer prestigeträchtigen italienischen Symphonik in der Gegenwart das sicherlich wichtigste „praktische Ziel“, das Torchi mit seiner Erforschung der Vergangenheit erreichen wollte. Daraus die Erhebung einer alten, als symphonisch gedeuteten Instrumentalmusik als einzig wahre Tradition Italiens abzuleiten, hätte jedoch eine Verabsolutierung dieses Vergangenheitskonstrukts bedeutet, die Torchis Weltanschauung noch fernlag. Wenn auf den vorigen Seiten der Zusammenhang zwischen der neuen symphonischen Tradition und den intellektuellen Koordinaten des integralen Natio­ nalismus besonders hervorgehoben wurde, soll jedoch nicht vergessen werden, dass Torchi in einigen Aspekten noch älteren, aus dem Risorgimento stammenden Kategorien verpflichtet blieb, wie aus der vorher untersuchten Polemik zwischen ihm und Romualdo Giani anschaulich hervorging. Vor allem im Fall des 290 „[An die Beschäftigung mit dieser Musikd, d. V.] non vi attribuisco soltanto un interesse storico, ma anche un carattere e un effetto pratico.“ Torchi 1894, Canzoni ed Arie, 587.

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Konzepts des popolo bzw. des popolare wandte Torchi die frühromantische Vorstellung eines soziologisch durchaus unbestimmten „Volksgeistes“ an.291 Auch unter einem rein innermusikalischen Gesichtspunkt blieb Torchis Tätigkeit, wie bereits 1981 Guido Salvetti bemerkt hat, in einer gewissen Weise den alten Polemiken um Wagners Musik der 1870er-Jahre verbunden.292 Die konsequente Umsetzung der Vorgaben eines integralen Nationalismus war in der Tat erst die Aufgabe von Torrefranca, und diese Umsetzung nahm die Form einer Radikalisierung von Torchis Positionen an. Die Frage nach dem Verhältnis zwischen instrumentaler und vokaler Tradition Italiens blieb bei Torchi ungestellt  : Das Erfindungsprimat Italiens implizierte für ihn eine gegenseitige Ergänzung beider Traditionen, wenn auch die bereits bei ihm einsetzende Polemik gegen das melo­ dramma die Konturen einer solchen Komplementarität offenlässt. Torrefranca, indem er nun den Sprung zum integralen Nationalismus und die Übernahme der Autonomieästhetik definitiv vollzogen hat, nimmt ein Problem wahr, das es für Torchi einfach nicht gab. Er expliziert (und „erschuf “ damit erst) den potenziellen Widerspruch zwischen den zwei Traditionen und zugleich verabsolutierte er die ästhetischen und weltanschaulichen Wertehierarchien, mit denen Torchi das Artefakt einer symphonischen Tradition Italiens im vorigen Jahrzehnt konstruiert hatte. Ergiebig ist es in dieser Hinsicht, einen Blick auf die Auffassung der musikalischen Vergangenheit Italiens zu werfen, so wie sie aus dem berüchtigten Pamphlet gegen Giacomo Puccini hervorgeht, das Fausto Torrefranca im Jahr 1912 verfasste  ; ein Text, der eine zentrale Bedeutung für das Verständnis des intellektuellen Klimas der 1910er-Jahre besitzt.293 291 Siehe II 2.3.2. 292 Salvetti 1981, La generazione dell’80, insbesondere 45. 293 Torrefranca 1912, Giacomo Puccini. Auf Torrefrancas Schrift gegen Puccini wird oft in der Sekundärliteratur verwiesen. Studien, die sie direkt thematisieren, sind jedoch selten. Es sei hier auf folgendes Buch von Wilson 2007, The Puccini Problem, verwiesen, insbesondere auf das fünfte Kapitel, das allein der Untersuchung von Torrefrancas Schrift gewidmet ist (dieses Kapitel wurde bereits 2001 in Form eines Artikels separat veröffentlicht  ; siehe Wilson 2001, Torrefranca vs. Puccini). Wilson analysiert Torrefrancas Pamphlet vorwiegend aus der Perspektive der Gender Studies mit einem besonderen Augenmerk auf die (impliziten) antisemitischen Äußerungen des Musikwissenschaftlers. Sie lässt jedoch die spezifische musikhistorische Sicht Torrefrancas und allgemein die Erörtung seiner Position innerhalb der gesamten Generazione dell’80 weitgehend unberücksichtigt.



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In seiner Schmähschrift gegen Giacomo Puccini fasst Torrefranca die Musikgeschichte Italiens in Form eines „ideellen Dualismus“ („dualismo ideale“) zwischen Palestrina und Monteverdi zusammen.294 Beide italienischen Komponisten werden von Torrefranca an den Anfang der gesamten westlichen Musikkultur gesetzt und als deren Begründer verstanden. Sie verkörpern jedoch zwei entgegengesetzte musikästhetische Prinzipien  : Palestrinas Musik versinnbildlicht „die Nostalgie des Wortes, sich zu vergöttern und auszuweiten und dadurch sich in die Musik zu verlieren“, Monteverdis Schaffen beweist stattdessen trotz der „Humanität“ dieses Komponisten „die Angst einer Musik, die das Wort sucht, um die eigene Bedeutung zu finden“.295 Während auf Monteverdi die Gattung der Oper zurückzuführen sei, sieht Torrefranca die Musik Palestrinas als Idealtyp für die Autonomieästhetik, die in der deutschen Instrumentalmusik ihre moderne Form annahm. An einer Stelle vermerkt Torrefranca  : „Die palestrinische Sehnsucht flüchtete sich verschüchtert und zugleich hochmütig in die Instrumentalmusik, als Italien mit Corelli und Veracini, Vivaldi und Vitali, Pasquini und Platti seine eigenen Beethoven, Mozart und Haydn verzeichnete. Und nicht nur das, in Italien entstanden damals auch die moderne dramatische Sonate [Sonata dramatica moderna] und die klassische Symphonie  : Die musikalische Seele Italiens fließt in Haydn, in Mozart und sogar in Beethoven ein. Während sich die Gunst des Volkes der Oper zuwandte, ging aus Italien eine ganz neue Musikkultur hervor  : die Kultur der modernen absoluten Musik [musica pura moderna].“296 294 Torrefranca 1912, Giacomo Puccini, 13–16. Die ästhetisch-philosophischen Grundlagen für die Neukontextualisierung von Torchis „symphonischer Tradition“ hatte Torrefranca in einer komplexen, an Schopenhauers Musikverständnis und Bendetto Croces Ästhetik anknüpfenden Schrift zwei Jahre zuvor ausführlich behandelt (Torrefranca 1910, Vita musicale dello spirito). Dazu siehe in dieser Arbeit auch die Fußnote 345, S. 181. 295 „L’arte italiana raggiunse il sommo della potenza musicale quando essa espresse, col Palestrina, la nostalgia di farsi divina della parola che si amplia e si sperde nella musica e non quando, sia pure con un genio ricco di umanità, quanto il Monteverdi, incarnò l’ansia della musica che cerca la parola per dare un senso preciso a sè stessa, per tentare di riconoscersi, di possedersi, di darsi un volto, di farsi umana.“ Ebd., 13–14. 296 „Ma l’anelito palestriniano s’era rifugiato, tra l’intimidito e lo sdegnoso, nel vivo cuore della musica strumentale quando l’Italia aveva avuto i suoi Beethoven, i suoi Mozart, i suoi Haydn che si chiamavano Corelli e Veracini, Vivaldi e Vitali, Pasquini e Platti. E anzi l’Italia creava la

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Torrefranca gibt hier mit der Kolportierung von Monteverdi und Palestrina als Versinnbildlichung zweier entgegengesetzter ewiger Prinzipien des Musikalischen eine Auffassung der Musikgeschichte wieder, die stark auf eine intuitive Synthese und Stereotypenbildung zielt und eindeutig die Züge der sich damals vollzogenen Hinwendung der neuen Generation italienischer Intellektueller zum Idealismus von Benedetto Croce trägt.297 Gleichzeitig übernimmt er explizit die musikästhetischen Kategorien des vornehmlich deutschen Diskurses einer absoluten Musik, wie vorher am Beispiel des vernichtenden Urteils Oscar Sonnecks über die Gattung Oper geschildert wurde. Nicht zufällig gibt hier Torrefranca die musikgeschichtliche Deutung der Figur Palestrinas wieder, die prägend für die Konstruktion einer musikalischen Identität Deutschlands seit dem Anfang des 19. Jahrhunderts wurde, wie im ersten Teil dieser Arbeit erläutert wurde.298 In diesem für den italienischen Musikdiskurs jener Zeit zentralen Text wird damit Torchis Ausweitung des Primatarguments auf die Instrumentalmusik übernommen. Die intellektuellen Koordinaten, die zur Erfindung einer symphonischen Tradition Italiens geführt hatten, werden jedoch nicht nur viel deutlicher als bei Torchi expliziert, sie werden vor allem verabsolutiert und radikalisiert. Sie dienen nicht mehr allein der Erfindung bzw. Aufrechterhaltung des Konstrukts einer symphonischen Tradition Italiens, wie es bei Torchi der Fall war  ; sie werden stattdessen auf die gesamte Musikgeschichte übertragen. Sonata dramatica [sic  !] moderna e la Sinfonia classica e la sua anima musicale si trasfondeva nello Haydn, nel Mozart e nello stesso Beethoven. Mentre il favore popolare si volgeva tutto all’opera in musica, l’Italia creava tutta una nuova cultura musicale  : quella della musica pura moderna.“ Ebd., 15–16. 297 Darüber siehe Pestalozza 1966, Introduzione, inbesondere XIV–XVI. Pestalozzas Einleitung ist im Allgemeinen sehr veraltet und von einer rigoros marxistischen Anwendung der Kategorie des „Bürgertums“ belastet, bleibt jedoch eine der interpretativ klugsten Gesamtdarstellungen des italienischen Musiklebens in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Vor allem stellt sie einen der wenigen Versuche vor dem eingangs zitierten Artikel von Salvetti (Salvetti 2000, Ideologie politiche) dar, diese Zeitspanne als Einheit zu betrachten. Die Hinwendung der gesamten italienischen Intellektuellen zum Idealismus von Benedetto Croce wird mit Recht von Pestalozza besonders hervorgehoben und als bestimmendes Moment für die Entwicklung des italienischen Musikdiskurses bis zum Ende des Faschismus gesehen. Eine erste Einführung über Benedetto Croce und die Lage des italienischen Kulturlebens im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts bietet Restaino 1999, Storia della filosofia, 329–331 und 333–336. 298 Siehe den ersten Teil der vorliegenden Arbeit, insbesondere § I.2.2.



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Torrefranca erhebt die Autonomieästhetik zum Deutungsprinzip der gesamten Musikgeschichte und nicht nur allein des „wiederentdeckten“ Repertoires der Instrumentalmusik der Vergangenheit. Die Spannung zwischen zwei differierenden ästhetischen Paradigmen, auf die Torchi zwei unterschiedliche nationale Traditionen zurückführte, wird damit von Torrefranca als ein aut-aut verstanden und auf radikale Art und Weise gelöst  : Die Ästhetik der absoluten Musik wird zum einzig gültigen Deutungsmuster des Musikalischen erhoben. Dementsprechend sieht Torrefranca nur eine einzige „wahre“ nationale Musiktradition Italiens vor, die in Torchis symphonischer Tradition liegt. Nachdem er den „ideellen Dualismus“ zwischen Palestrina und Monteverdi mit einem klaren Werturteil zugunsten des ersten gelöst hat, betitelt er nicht zufällig den übernächsten Abschnitt seiner Schrift mit folgenden Worten  : „Die Geschichte der italienischen Musik ist nicht die Geschichte der Oper.“299 Eine ideelle Spaltung zwischen Oper und Symphonie, zwischen vokaler und instrumentaler Tradition des Landes wurde geboren, die in dieser radikalen Form nur bei Torrefranca (und auch bei ihm nur bis Anfang der 1930erJahre) anzutreffen ist.300 Seine Position veranschaulicht jedoch gerade in ihrer Eigenwilligkeit, welche bestimmende Rolle das Konstrukt einer symphonischen Tradition im Kontext des italienischen Musiklebens jener Jahre einnahm  : Wie eine Art semantisches Feld, das eher brüchig unter einem logischen Standpunkt, dafür jedoch noch kräftiger in seiner rhetorischen Wirksamkeit Elemente zusammenbindet und Differenzen zu anderen Feldern markiert, polarisierte die299 „La storia della musica italiana non è la storia dell’opera in musica“. Torrefranca 1912, Giacomo Puccini, 19–20. 300 Die Radikalität Torrefrancas in Bezug auf die Trennung in eine national richtige und eine falsche Tradition entlang der Gegenüberstellung von Instrumental- und Vokalmusik führte unter anderem zum Bruch mit Giannotto Bastianelli im Jahr 1912, der zusammen mit ihm die sogenannte idealistische Wende der italienischen Musikkritik in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts bewirkt hatte (Salvetti 1991, La nascita del Novecento, 293)  : Bastianelli verstand die Oper weder als ästhetisch minderwertig noch als „unnational“ und auch in seiner Polemik gegen den Verismus vertrat er gemäßigtere Positionen als Torrefranca. In seiner Schrift gegen Mascagni (Bastianelli 1910, Pietro Mascagni) bemühte er sich, in diesem Komponisten die Züge eines „italienischen Charakters“ zu erkennen, der sicherlich „reformbedürftig“ war, jedoch auch positive Aspekte aufwies (siehe u. a. Zanetti 1985, Musica italiana, 157–159). Über Bastianelli und die idealistische Wende des italienischen Musiklebens am Anfang des 20. Jahrhunderts siehe außerdem im Rahmen dieser Arbeit die Fußnote 345, S. 181.

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ses Konstrukt bis gegen Ende des Ersten Weltkriegs den gesamten italienischen Musikdiskurs. Gerade um dieses Konstrukt herum bildeten sich zu jener Zeit die zwei Grundpositionen von Avantgarde und Konservatismus im Musikbereich heraus. Der Frage, welche Konsequenzen dies mit sich brachte, wird im nächsten und übernächsten Kapitel dieser Arbeit nachgegangen werden.

5. Das „deutsche Andere“. Tradition, „italianità“ und die „musica tedesca“ im italienischen Musikdiskurs der 1910er-Jahre 5.1  Die Notwendigkeit der Alterität  : Ziele und Struktur des Kapitels

In den vorigen Kapiteln wurde hervorgehoben, wie Torchi die neue Disziplin der Musikwissenschaft als Hilfswissenschaft für die Erarbeitung einer kollektiven Identität für den jungen Nationalstaat strukturierte. Entlang der Koordinaten eines integralen Nationalismus hatte er die Vergangenheit zum Ort der nationalen Besinnung und die Nation zu einer regelrechten musikalischen Kategorie gemacht, mit der er eine neue symphonische Tradition des Landes konstruierte. Ein sowohl die Vokal- als auch die Instrumentalmusik umfassendes allgemeines Erfindungsprimat Italiens gegenüber Deutschland wurde geboren. Diese Primatsbeanspruchung seitens Torchis sah jedoch ein problematisches Zusammenleben zwischen den zwei unterschiedlichen, zu jenem Zeitpunkt bereits seit Jahrzehnten sich gegenseitig feindlich gesinnten Kategorien Nachahmungs- und der Autonomieästhetik, zwischen Oper und Instrumentalmusik vor. Im letzten Abschnitt des vorigen Kapitels wurde am Beispiel Fausto Torrefran­ cas exemplifiziert, wie diese bereits bei Torchi durchaus fragliche Koexistenz der zwei ästhetischen Kategorien um die 1910er-Jahre zusammenbrach. Die Frage nach einer vokalen oder instrumentalen Identität des Landes wurde zur vexata quaestio der musikalischen Debatte Italiens  : Der Grad an Akzeptanz oder Ablehnung der symphonischen Tradition bzw. des melodramma des 19. Jahrhunderts wurde zur identitätsstiftenden Frage, um die sich die führenden Gruppierungen des italienischen Musiklebens jener Zeit konstituierten.301 In dieser Hinsicht stellt Torrefrancas radikale Ablehnung der Oper im Namen einer genuin 301 Auch Fiamma Nicolodi erkennt die Ablehnung oder Akzeptanz des „Ottocento“ als eine der grundlegenden Trennlinien des italienischen Musikdiskurses bis zum Ende des Faschismus  ; siehe Nicolodi 1984, Musica e musicisti, 136. Für die Debatte um das „Ottocento“ und die Rolle der symphonischen Tradition am Anfang der 1930er-Jahre siehe auch § II.6.3.

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nationalen symphonischen Tradition Italiens eine vereinzelte Extremposition dar, die jedoch gerade in ihrer Radikalität die gewonnene Brisanz von Torchis musikhistorischem Konstrukt im italienischen Musikleben jener Zeit besonders anschaulich hervorbringt  : Sowohl Casella als auch Malipiero liebäugelten in jenen Jahren mit ähnlichen Ansichten und zwischen 1909 und 1910 ist auch der ephemere Gründungsversuch einer Società Italiana di Autori di Musica zu verzeichnen, die einen mit heftigen Polemiken begleiteten Wettbewerb für die beste italienische Symphonie ausschrieb.302 Im Jahr 1911 wurde außerdem das Manifest der sogenannten Lega dei cinque (Pizzetti, Malipiero, Respighi, Bastianelli und Renzo Bossi) von Giannotto Bastianelli verfasst, die sich im Namen eines „neuen Risorgimento“ die „Entdeckung und Pflege der erhabenen (‚alta‘) symphonischen Musik“ mit expliziter Erwähnung der – instrumentalen und vokalen – Vergangenheit Italiens vor dem melodramma zum Programm machte.303 Am anderen extremen Pol lassen sich die Aussagen eines Pietro Mascagnis finden („Wenn meine Fantasie müde wird, werde ich anfangen, Symphonien zu kom302 Alfredo Casella schien in jenen Jahren – jedoch nicht ohne auffällige Widersprüche – Positionen zu vertreten, die nah an denen eines Torrefranca waren, wie zum Beispiel im Fall einer der ersten heftigen Polemiken zwischen Casella und Ildebrando Pizzetti im Jahr 1913  : Casella hatte in einem Artikel Donizetti und Verdi als „hommes d’affaires“ bezeichnet (Casella 1913, L’avenir musicale), was zur prompten Antwort Pizzettis in Verteidigung des „Ottocento“ führte (Pizzetti 1913, Parole di un musicista)  ; siehe dazu Nicolodi 1984, Musica e musicisti, 137. Die Società Italiana di Autori di Musica bestand aus Vincenzo Tommasini, Vittorio Gui, Gennaro Napoli, Francesco Santoliquido, Corrado Barbieri und Alfredo Morelli. In der Jury des Wettbewerbs saßen Arturo Toscanini, Ermanno Wolf-Ferrari und Leone Sinigaglia, vgl. Zanetti 1985, Musica italiana, 169–170. 303 Folgende Worte sind im Manifest bezüglich der nationalen Vergangenheit und der Ablehnung der Oper zu lesen  : „Ma non vi ricordate voi più che in Italia non è fiorita soltanto l’aria sensuale del seicento, ma ancora la limpida religiosità celestiale di Palestrina, il fratello musicale del Beato Angelico, la profondità cromatica di Girolamo Frescobaldi […]  ; non sapete voi più […] che la polifonia vocale – oggi dimenticata o quasi –, che l’arte dell’arco e del cembalo, che il sinfonismo almeno al suo inizio, che il dramma musicale del Monteverdi e dei suoi fratelli, hanno rivaleggiato nella storia dell’arte italiana e non italiana, con le più alte manifestazioni della poesia e della pittura  ? […] Vogliamo operare il risorgimento della musica italiana, della vera, della nostra grande musica, la quale dalla fine dell’aureo settecento ad oggi è stata, con ben poche eccezioni, strascinata nella tristezza e nell’angustia dell’affarismo e del filisteismo  !“����������������������������������� Bastianelli 1911, Per un nuovo Risorgimento, zitiert nach Nicolodi 1984, Musica e musicisti, 126–127. Der Wortlaut des im Text übersetzten Zitats aus dem Manifest ist  : „scoprire e coltivare l’alta musica sinfonica“,Bastianelli 1911, Per un nuovo Risorgimento, zitiert nach Zanetti 1985, Musica italiana, 171. Über die „Lega dei cinque“ siehe außerdem Zanetti 1985, Musica italiana, 170–172.



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ponieren“) oder die polemischen Positionen eines Adriano Lualdi oder Raffaello De Rensis.304 Die Gattung der Symphonie und die Auseinandersetzung mit der symphonischen Tradition wurden sowohl von den Befürwortern als auch von den Gegnern als ein überlebensnotwendiges Moment im Daseinskampf der eige­ nen Nation empfunden. Je mehr Torchis Konstrukt an Bedeutung gewann, desto aufdringlicher wurde jedoch die Frage nach der musikalischen Identität Italiens. Die im Laufe des 19. Jahrhunderts selbstverständlich gewordene nationale Zuordnung der zwei Musikgattungen Oper (Italien) und Symphonie (Deutschland) wurde in dieser Hinsicht zunehmend unhaltbar  :305 Indem die musikwissenschaftliche Forschung immer deutlichere Beweise für eine reiche Produktion an Instrumentalmusik in Italien vor dem 19. Jahrhundert vorlegte und diese Musik unhinterfragt als symphonisch gedeutet wurde, konnte die Symphonik an sich nicht mehr als „musica tedesca“ pauschal abgewertet werden. Die Vertreter einer Öffnung Italiens für die Instrumentalmusik konnten nun auf derselben Ebene des Nationalen wie ihre Gegner argumentieren  : Nicht zufällig sprach Torrefranca von einem „ideellen Dualismus“ der zwei Gattungen, der sich nun jedoch innerhalb der italienischen Tradition und nicht in Form einer Gegenüberstellung zwischen Deutschland und Italien abspielte. Die Verteidiger einer vokalen Identität des Landes konnten nun die Gegner nicht einfach als „Nationalfremde“ abstempeln. Die vorige Polemik zur Überlegenheit der „musica italiana“ oder der „musica tedesca“ nahm nun die Form eines aut-aut zwischen zwei Modellen e­ iner vermeintlich wahren Musiktradition Italiens an, deren Unversöhnlichkeit die musikalische Identität des Landes zu einer tiefgreifenden Spaltung führte. Der tradierte Bezug zu Deutschland in der Bestimmung der eigenen Identität schien 304 „Quando la mia fantasia sarà stanca mi metterò a comporre delle sinfonie.“ So der Wortlaut von Mascagnis Bonmot in einem Interview mit Arnaldo Fraccaroli in „Il corriere della sera“ vom 18. Oktober 1910 (zitiert nach Zanetti 1985, Musica italiana, 163). Über Lualdis Ansichten siehe § II.6.2 in dieser Arbeit. 305 Siehe zum Beispiel die häufig anzutreffende Gegenüberstellung von deutscher und italienischer Musik in der Korrespondenz von Giuseppe Verdi. Im April 1878 schrieb der Komponist zum Beispiel in einem nicht adressierten Brief  : „12 o 15 anni fa […] mi nominavano Presidente d’una Società del Quartetto. Rifiutai e dissi  : ma perché non istituite una Società del Quartetto vocale  ? Questa è la via italiana. L’altra è tedesca  !“ Cesari/Luzio (Hg.) 1913, I copialettere, 626.

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angesichts eines Italiens als „Erfinder aller musikalischen Gattungen“ zu verschwinden. Wie es die Postcolonial Studies zum eigenen Forschungsthema gemacht haben und auch die historische Forschung in den letzten Jahrzehnten als Ausgangspunkt für innovative Studien erkannt hat, ist jedoch das Konstrukt eines erkennbaren und wohldefinierten „Anderen“ ein unentbehrliches Moment für die Bestimmung des Selbst.306 Kollektive Identitäten artikulieren sich zumeist in Form binärer Oppositionen und erhalten ihre Bedeutung erst durch das kulturelle Artefakt eines Gegenpols, das in grundlegender Alterität zum „Ich“ bzw. „Wir“ steht. Torchis allgemeines Primatsargument und sein Konstrukt einer symphonischen Tradition bedeuteten damit, gerade in dem Moment, in dem sie eine Überlegenheit des Landes gegenüber Deutschland begründeten, einen möglichen Identitätsverlust, indem sie die Alterität eines „deutschen“ Gegenpols schwächten. Wenn aus Italien auch die Symphonie hervorging, stellte sich nun die Frage nach den Unterschieden des Italienischen zum Deutschen neu  : Eine solche Frage konnte nicht mehr mit einem klaren Gattungsdualismus beantwortet werden und die Konturen des Eigenen und des Fremden drohten zu verschwinden. Eine Zurückgewinnung der grundlegenden Alterität des „Deutschen“ gegenüber dem „Italienischen“ war damit notwendig. In diesem Kapitel soll am Beispiel von drei Artikeln, die zwischen 1913 und 1917 in der Rivista musicale italiana erschienen, der Zusammenhang zwischen der Radikalisierung des integralen Nationalismus und der Neustrukturierung der binären Opposition zum Konstrukt eines musikalisch „Deutschen“ um die 1910er-Jahre veranschaulicht werden. Es soll hervorgehoben werden, wie mit 306 Über die Postcolonial Studies siehe die Fußnote 10, S. 14 in der vorliegenden Arbeit. Siehe außerdem auch Straub 2004, Identität, insbesondere den dritten Abschnitt. Hier hebt Straub das Gewaltpotenzial des Konzepts der kollektiven Identität hervor, das immer durch Ausschließung und Ausgrenzung ein grundlegend „Anderes“ postulieren muss, um seine Plausibilität aufrechtzuerhalten. In Bezug auf die Fruchtbarkeit dieser Erkenntnis für die Geschichtsschreibung kann die seit den 1990er-Jahren bestehende besondere Aufmerksamkeit für die Konstruktion von Feindbildern für die Bestimmung der eigenen nationalen Identität gelten. Siehe in dieser Hinsicht Jeismann 1992, Das Vaterland der Feinde. Jeismann hebt hier am Beispiel der deutsch-französischen Identitätskonstruktionen im Laufe des 19. Jahrhunderts nicht nur die zentrale Rolle des jeweiligen Feindbilds für die Definition des eigenen Kollektivs hervor, sondern macht auf die Zählebigkeit dieser Konstrukte aufmerksam, die unter völlig anderen sozialen, politischen und kulturellen Bedingungen auch nach Jahrzehnten ihres Verschwindens aus dem nationalen Diskurs in kürzester Zeit reaktiviert werden können.



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der progressiven Durchsetzung eines integralen Verständnisses des Nationalen sowohl das Ich als auch das Andere neu geschrieben werden mussten. In dieser Hinsicht wird im Folgenden die Position derjenigen unberücksichtigt bleiben, die jegliche Auseinandersetzung mit der vergangenen Instrumentalmusik-Produktion in Italien ablehnten  ; eine Position, die Mascagni in seinen rekurrierenden Polemiken vertrat  : Sie erkannten nicht die Konsequenzen (oder wollten sie nicht erkennen), welche sich aus der „Wiederentdeckung“ dieser alten Instrumentalmusik für die Formulierung einer nationalen Identität ergaben und begnügten sich damit, die tradierte Typisierung zwischen „musica italiana“ als Oper und „musica tedesca“ als Instrumentalmusik zu wiederholen. Neu war dabei nur die Vehemenz des polemischen Gestus. Eine Figur wie Mascagni blieb zum Beispiel in den darauf folgenden Jahren im italienischen Musikleben durchaus präsent, jedoch nicht in Bezug auf dessen zentrale (sowohl kompositorische als auch intellektuelle) Brennpunkte.307 Im ersten Abschnitt dieses Kapitels wird am Beispiel eines vierteiligen Beitrags von Fausto Torrefranca über die Anfänge der Symphonie das Fortleben und gleichzeitig die Veränderung von Torchis Traditionskonstrukt in den 1910er-Jahren thematisiert  ; eine Veränderung, die auf eine Rehabilitierung der Alterität eines nun symphonisch gewordenen „Italienischen“ zum musikalisch „Deutschen“ und gleichzeitig auf eine Radikalisierung der Überlegenheit dieses „Italienischen“ zielte.308 Im zweiten Abschnitt wird ein Aufsatz von 1916 aus der Feder von Giulio Silva untersucht, der zu jener Zeit Gesang am römischen Konservatorium unterrichtete. In diesem Text versucht der Autor, eine vokale Identität Italiens in der Musik zu verteidigen, welche die instrumentale Vergangenheit des Landes jedoch nicht verleugnet. Dabei nutzt Silva die zwei Konstrukte Rasse und biologisch begründete „Vokalität“ und bemüht sich, mithilfe von ihnen die grundlegende Alterität und Überlegenheit der italianità

307 Für die Rolle Mascagnis im italienischen Musikleben nach dem Ersten Weltkrieg siehe Nicolodi 1984, Musica e musicisti, 40–58 und 372–412. 308 Torrefranca 1913–1915, Le origini della sinfonia. Dieser lange Aufsatz wurde 1915 in Form ­einer eigenständigen Monografie verlegt (Torrefranca 1915, Le sinfonie dell’imbrattacarte). Im Folgenden wird man ausschließlich aus den Artikeln für die Rivista musicale italiana zitieren.

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gegenüber der deutschen Autonomieästhetik zu sichern.309 Schließlich wird ein Artikel besprochen, der die Debatte über das Italienische in der Musik mit der Offenlegung ihrer Inkonsistenz beenden wollte, sie jedoch noch stärker entfachte  : Giacomo Orefices Schrift über eine vermeintliche Krise des musikalischen Nationalismus aus dem Jahr 1917 beweist seitens des Autors einen hohen Grad an Bewusstsein für den Konstruktcharakter des „italianità“-Begriffs und des damit zusammenhängenden Traditionskonzepts.310 Vor dem Hintergrund eines musikalischen Prestigeverlustes des traditionellen, „deutschen Anderen“ und gleichzeitig vor dem täglichen Entbrennen einer nationalistischen Polemik, die in jenen Kriegsjahren ad absurdum geführt wurde, versucht Orefice im ersten Teil seines Artikels den nationalistischen Rahmen des italienischen Musikdiskurses grundlegend infrage zu stellen.311 Trotz des Scheiterns seiner Absichten markiert dieser Beitrag einen ersten Zeitpunkt für das progressive Zurücktreten Deutschlands und allgemein der Autonomieästhetik aus seiner privilegierten Stellung als Referenzpunkt für die Bestimmung des „Italienischen“ in der Musik. Die Debatte über die musikalische Identität Italiens wurde in den nächsten Jahrzehnten weitergeführt, wie es im letzten Kapitel dieses Teils thematisiert wird. Die Form einer binären Opposition zwischen den zwei Ländern tritt jedoch eher in den Hintergrund  ; erst am Ende der 1930er-Jahre wird sie mit dem Bündnis zwischen Faschismus und Nationalsozialismus eine Reaktivierung erfahren.

309 Silva 1916, Alcune riflessioni. 310 Orefice 1917, La crisi del nazionalismo. Einige Artikel, die als Reaktion auf Orefices Beitrag in den darauf folgenden Monaten erschienen, werden in Zanetti 1985, Musica italiana, 381–385 erwähnt und kurz besprochen. 311 Eine der extremsten Episoden des musikalischen Nationalismus in Italien in den Jahren des Ersten Weltkriegs stellt der Boykott der Aufführung des Trauermarschs aus Wagners „Götterdämmerung“ während eines Konzertes von Toscanini im Augusteo in Rom am 19. November 1916 dar. Dies sollte als „Vergeltung“ für die einen Tag davor stattgefundene Bombardierung der Stadt Parma von „deutschen“ Flugzeugen wirken. Siehe darüber sowie allgemein bezüglich des Boykotts deutscher Musik in Italien zwischen 1915 und 1918, Zanetti 1985, Musica italiana, 353–355.



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5.2  Fausto Torrefranca  : Die Symphonie und die Allmacht des Primats, 1913–1915

Torchi hatte bereits im Rahmen seiner Monografie über Richard Wagner aus dem Jahr 1890 das Profil einer „italianità in musica“ in Form einer grundlegen­ den Alterität zur „musica tedesca“ definiert.312 Sieben Jahre später, in seiner Arbeit La musica istrumentale in Italia nei secoli XVI, XVII e XVIII (1897–1901), übertrug Torchi die tradierten nationalen Charakteristika eines musikalisch Italienischen und ihre strukturelle Opposition zu einer deutschen Musik auf das von ihm neu entdeckte Gebiet einer symphonischen Tradition Italiens.313 Dabei griff er nicht zufällig auf die frühere Passage seiner Wagner-Studie zurück und fügte sie nun um einiges verändert in diesen neuen Kontext ein. Torchi gab damit das bereits in Mazzinis Filosofia della musica von 1836 vorhandene bipolare Schema des Musikalischen wieder, das für jedes Element der Gegensatzpaare Melodie versus Harmonie, Musikalität versus motivisch-thematischer Arbeit, Natürlichkeit versus Künstlichkeit eine nationale Zuschreibung jeweils zu Italien oder zu Deutschland vorsah. Torchi erfand dabei keine neuen Topoi des musikalisch „Italienischen“, er weitete sie jedoch auf den Bereich der Instrumentalmusik aus. Dabei musste er sie auf dem neuen Gebiet dementsprechend adaptieren  : Die Kategorisierung der Oper als „Melodie“ und der Symphonie als „Harmonie“ mag auf einer rein intuitiven Ebene noch eine gewisse Plausibilität haben, für die Aufrechterhaltung der Vorstellung eines „melodiösen“ Italienischen und eines „harmonischen“ Deutschen allein im Bereich der Instrumentalmusik bedarf es jedoch einer entscheidend komplexeren Gedankenkons312 Torchi 1890, Riccardo Wagner, siehe vor allem 25–35. Siehe außerdem Criscione 1997, Luigi Torchi, 56–69. Criscione führt diese Charakterisierung des Italienischen auf Hyppolite Taines Philosophie de l’art en Italie von 1866 zurück, indem sie Passagen über das Italienische aus Taines Werk und Torchis Wagner-Monografie einander gegenüberstellt, die auffallende Ähnlichkeiten aufweisen, insbesondere den Vergleich zwischen dem „Italienischen“ und dem „Deutschen“ in der Kunst (siehe insbesondere Criscione 1997, Luigi Torchi, 57–58). Sicherlich liegen jedoch diese Ähnlichkeiten auch in der Teilhabe beider Autoren an einem viel komplexeren und verzweigten Diskurs über ein „Latinentum“ in Opposition zum „barbarischen“ Norden, der weit bis in die Renaissance zurückgeht und noch Montesquieus Klimatheorie (auf die Taine und Torchi aufbauen) einbezieht. Siehe darüber Richter 2009, Der Süden, 127–141. 313 Torchi 1897–1901, La musica istrumentale, hier 1897, 588–591. Einige Passagen wurden bereits in der Fußnote 192, S. 104 zitiert.

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truktion. Es ist Torchis Adaption dieser tradierten musikalischen Charakterisierung beider Länder, welche die Vorlage für die weitere Auseinandersetzung von Torrefranca in den 1910er-Jahren lieferte. Daher soll zuerst auf Torchis Position eingegangen werden, um in einem weiteren Unterabschnitt die Konturen von deren Radikalisierung bei Torrefranca genau nachzuverfolgen. *** Luigi Torchi  : Von einem „deutschen Genie der Assimilation“ Eine gewisse Zurückhaltung und eine grundlegende Unklarheit prägen Torchis Versuch, die „italianità“ auch auf dem Gebiet der Instrumentalmusik zu definieren  : Er verschob die entsprechenden Passagen innerhalb seines Artikels zum Teil in eine umfangreiche Fußnote, als würde es sich dabei um einen eher sekundären Aspekt seiner Schrift handeln. Außerdem relativierte er noch zusätzlich seine Erkenntnisse über das Italienische in der Musik, indem er die Ausführung mit Beispielen von Komponisten aus beiden Ländern schloss, bei deren Musik die „italienischen“ und die „deutschen“ Charakteristika vermischt bzw. vertauscht erscheinen.314 Unklar blieb jedoch vor allem – und daher vermutlich das vorsichtige Zusammenfassen dieser Eigenschaften größtenteils in einer Fußnote –, welche konkrete Form diese eher abstrakten Attribute in der Instrumentalmusik der Vergangenheit aufwiesen. Am Anfang seiner Schrift versuchte Torchi die Grundzüge eines systematischen Vergleichs zwischen Deutschem und Italienischem zu entwerfen, die er entlang der Kategorien von jeweils „Innerem“ („lato interiore“) und „Äußerlichem“ („lato esteriore“) bestimmte.315 Die Grenzen und die genaue, konkrete musikalische Gestalt dieser Unterscheidung bleiben jedoch im weiteren Verlauf des Textes weitgehend vager Natur.316 In den vielen Analysen der älteren itali314 „Ma bisogna distruggere i pregiudizi. Mozart e Schumann, Weber e Wagner hanno provato di quale melodia musicale sia suscettibile la lingua tedesca.“ Torchi 1897–1901, La musica istrumentale, 1897, 589, Fußnote 1. 315 „Gl’italiani trovano la forma della musica istrumentale e l’usano con tendenza a svilupparne il lato esteriore. I tedeschi, ricevuta che l’abbiano, la lavorano internamente più tardi, con maggiore indipendenze, con uno spirito nuovo ed energicamente riformatore.“ Ebd. 1897, 588. 316 Sofort nach der nationalen Zuordnung von „Innerem“ und „Äußerlichem“ schrieb Torchi zum Beispiel  : „Nel seicento e nel settecento gl’italiani […], sanno, in gran parte, conservare



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enischen Instrumentalkompositionen lassen sich in der Tat oft punktuelle Vergleiche mit dem späteren symphonischen Schaffen eines Haydn, Mozart oder Beethoven sowie mit den Werken Bachs und Händels finden. Diese Vergleiche lassen sich jedoch nur bedingt systematisieren und können nur begrenzt mit der nötigen Stringenz auf das Schema von Innerem und Äußerem zurückgeführt werden, das Torchi am Anfang der Studie entworfen hatte. Im Fall der Musik von Francesco Maria Veracini brachte Torchi zum Beispiel folgende Vergleiche mit deutschen Klassikern  : „Er geht nicht auf die Formeln von Bach, Händel oder Clementi direkt ein und versucht nicht, sie zu nutzen, um sich vor Verirrungen zu schützen. Stattdessen geht er an ihnen vorbei, ohne sie anzutasten, wie es auch Beethoven machen wird. Veracini ist in der Tat das Alter Ego Beethovens, wie es nur im 18. Jahrhundert möglich war.“317 Ähnliche Gegenüberstellungen lassen sich in der gesamten Schrift belegen und Torchi scheut sich gelegentlich nicht, sowohl das Erfindungsprimat der Italiener als auch die künstlerische Überlegenheit einiger Komponistenfiguren gegenüber ihren deutschen Zeitgenossen bzw. den späteren „Klassikern“ hervorzuheben.318 un giusto equilibrio tra il significato della forma interiore e quello della forma esteriore, cioè tra il valore dell’espressione nella melodia e quello delle aggiunte ornamentali, delle varianti nel contrappunto e nel ritmo. Nello stesso tempo, […] e più nel secolo XVIII, essi smarriscono questo senso della proporzione e propendono verso una maggiore considerazione ed un maggiore sviluppo della forma esterna.“ Ebd. 1897, 588. Die beste italienische Instrumentalmusik besteht also für Torchi aus einem gelungenen Gleichgewicht zwischen „Innerem“ und „Äußerlichem“, was die vorige nationale Zuordnung der zwei Charakteristika de facto widerlegt. 317 „Egli non dà di piglio alle formule di Bach, di Händel e di Clementi, come per assicurarsi una via in cui non si smarrire, ma gira loro attorno senza toccarle, come Beethoven. E Veracini è di Beethoven l’imagine [sic  !], l’espressione possibile nel settecento.“ Ebd. 1899, 694. 318 So zum Beispiel im Fall Locatellis  : „Così nel fugato come nel libero allegro il suo stile è paragonabile a quello di Händel  ; se non che l’italiano sorpassa il tedesco nell’animazione dei disegni, nell’impeto della passione e nella varietà, nella veramente sorprendente varietà dei tempi in forma di scherzi, nei quali si vede quanto fu ricco il materiale sì ideale che tecnico, il quale passò a musicisti come Haydn, Mozart e Beethoven e come essi lo studiarono e ne profittarono abbondantemente.“ Ebd. 1899, 695–696. Im weiteren Verlauf des Aufsatzes verglich Torchi einige Passagen aus Locatellis Konzerten sogar mit Wagners orchestraler Schreibweise im Rheingold und in der Walküre und kam zu dem Schluss  : „Oh noi italiani, […] nell’istessa

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Bereits am Anfang seines Unterfangens, im ersten Teil seines Aufsatzes aus dem Jahr 1897, hatte Torchi in der Tat programmatisch vermerkt  : „Im 17. und 18. Jahrhundert erlebte Italien eine Blüte an Instrumentalmusik, die nicht minderwertiger als diejenige Deutschlands war  : Sie kommt dieser letzten gleich, und gelegentlich übertrifft sie sie sogar.“319 Vor allem lässt sich nach Torchi ein qualitatives Übertreffen der späteren deutschen Musik im Fall der Werke von Giovanni Battista Sammartini am deutlichsten belegen. In seiner Musik lasse sich die Erfindung der Sonatenhauptsatzform aufzeigen und „die fabelhafte Kühnheit, die melodische Frische von Sammartini“ sind nach Torchis Meinung in keiner Sonate von Haydn und Mozart mehr zu finden.320 Die Betonung der Überlegenheit italienischer Instrumentalmusik gegenüber der deutschen bleibt jedoch bei Torchi fast ausschließlich auf die Figur Sammartinis beschränkt und bezieht sich in viel geringerem Ausmaß auf die Musik Veracinis, Locatellis und Vivaldis. Torchis Konstruktion einer binären Opposition zwischen Deutschem und Italienischem in der Instrumentalmusik schlug am Ende zum größten Teil fehl  : Durch die begrenzte und unsystematische Verwendung der beiden „ästhetischen“ Kategorien von Innerem und Äußerem bleibt das angestrebte quod erat musica istrumentale, viste bene le cose come stanno, ci possiamo vantare di non dover nulla a nessuno.“ Ebd. 1899, 700. 319 „Nel secolo XVII e nel XVIII, l’Italia ha avuto una fioritura di musica istrumentale, che non è meno importante di quella della Germania, che la equivale e che qualche volta perfino la sorpassa.“ Ebd. 1897, 583. 320 So schrieb Torchi bezüglich der Erfindung der Sonatenhauptsatzform bei Sammartini   : „Donde prese Sanmartini questa forma così netta, logica e decisa, nella quale hanno lavorato Haydn, Mozart e Beethoven  ? Essa è semplicemente un accomodamento, uno sviluppo della forma bipartita adottata, dopo i chiari tentativi del sec. XVII, universalmente in Italia, nella prima metà del settecento, ma non toccata ancora, nè in questo paese nè fuori, prima del nostro Sanmartini.“ Ebd. 1899, 718–719. Über die Überlegenheit von Sammartinis Musik gegenüber deutschen „Klassikern“ schrieb er außerdem  : „Non è egli sentito a bastanza [sic  !] modernamente  ? Non ha egli la purezza del disegno di Haydn, lo slancio di Weber  ? Non ha, l’artista che ha scritto questa composizione, tanta musica in sè quanta ne hanno i due grandi musicisti tedeschi  ? Che più  ? Nessuna delle suonate di Haydn e di Mozart offre due pezzi di musica, in cui sia la fantastica gagliardia, lo slancio e la freschezza melodica della sonata di Sanmartini.“ Ebd. 1899, 719.



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demonstrandum eines musikalischen Propriums in der Symphonik der jeweiligen Nation in seinen Umrissen unklar. Die Aspekte, die ein genuin Italienisches der älteren Instrumentalmusik ausmachen, sind undeutlich. Greifbar bleibt stattdessen allein ein zeitliches Erfindungsprimat Italiens, entlang dessen die vielen punktuellen Vergleiche zwischen der älteren Instrumentalmusik der zwei Nationen de facto strukturiert werden. Es soll hier außerdem hervorgehoben werden, dass der zeitliche Vorrang Italiens in der Erfindung einer modernen Instrumentalmusik bei Torchi keineswegs zu einer Abwertung der späteren deutschen Symphonik führt. Für das „deutsche Genie der Assimilation“ empfindet Torchi nur offene Bewunderung  : „Als sich die Musik veränderte und im Zuge der Romantik ihren Schwerpunkt von der Form zum Ausdruck verschob, hat die deutsche Musik ihre Überlegenheit bewiesen  : Dafür stehen Beethoven und Wagner. Für den umgekehrten Fall soll Rossini als Beispiel genommen werden.“321 Die nach Sammartini, Vivaldi oder Locatelli eintretende Dekadenz der Instrumentalmusik ist allein auf Italien zu beziehen  : Nicht die Instrumentalmusik als solche, sondern das in seiner Analyse nie eindeutig umrissene Proprium des Italienischen ist das Element, das mit der Entfaltung der deutschen Symphonik verfällt und allein dies ist für Torchi bedauernswert.322 Ein Jahrzehnt später wird bei Torrefranca die bipolare Gegenüberstellung von Deutschem und Italienischem eine andere Gestalt annehmen. Der Unterschied liegt jedoch nicht in der Zuschreibung der vermeintlich nationalen Charakteristika, sondern in der systematischen Stringenz, mit der Torrefranca diese tradierten Topoi in den Noten konkret feststellt, sowie in der Betonung einer bis zu seiner Zeit anhal321 „Quando la musica ha spostata la sua ragion d’essere, affermando romanticamente l’importanza dell’espressione più che quella della forma, la musica tedesca ha dichiarata la sua maggiore competenza  : vedete Beethoven e Wagner. Nel caso contrario, osservate Rossini.“ Ebd., 1897, 589, Fußnote 1. Für den Ausdruck eines „deutschen Genies der Assimilation“ siehe Ebenda. 322 „Va bene che l’opera degli stranieri sia un risultato di studi e di ampliamenti di quante forme e quanti stili vennero d’Italia, ma è un risultato, nel quale ciò che vi aveva di proprio e puro sentire italiano è stato alterato e distrutto […]. Questo influsso, dunque, che sull’arte nostra viene dall’arte forestiera, è pernicioso, perché distrae e paralizza le forze della nostra fantasia e della nostra facoltà speciale di sentire di italiani.“ Ebd., 1898, 489.

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tenden Dekadenz, der die Instrumentalmusik nach der Übergabe des Primats an Deutschland ausgesetzt sei. *** Von „ungestümen Quellen“ und „wohlüberlegten Bewässerungssystemen“  : Fausto Torrefranca Die Aufgabe, den nationalen Charakteristika auch im Bereich der alten Instrumentalmusik ein fassbares Profil zu geben, nahm in den 1910er-Jahren Fausto Torrefranca auf. Torchis schwere Krankheit im Jahr 1907 markierte seinen progressiven Rückzug aus der Lehre am Liceo musicale in Bologna und seine wissenschaftliche Tätigkeit für die Rivista musicale italiana beschränkte sich ab diesem Zeitpunkt auf das Verfassen von Rezensionen zu neuen Veröffentlichungen.323 Nach 1907 stellte Torrefranca die wichtigste Referenzfigur der Rivista dar und prägte bis Anfang der 1920er-Jahre deren wissenschaftliche und künstlerische Orientierung.324 Unter dem Titel Le origini della sinfonia veröffentlichte Torrefranca zwischen 1913 und 1915 einen vierteiligen Aufsatz, in dem er mit den analytischen Mitteln der Musikwissenschaft in der italienischen Instrumentalmusik des 18. Jahrhunderts die nationalen Charakteristika und ihre grundlegende Opposition zum musikalisch Deutschen aufzufinden versuchte, die Torchi bereits 1897 genannt hatte.325 Im Gegensatz zum Beitrag seines Vorgängers, der sich über die Instrumentalmusik Italiens vom 16. bis 18. Jahrhundert erstreckte, beschränkte sich Torrefranca allein auf die instrumentale Produktion des 18. Jahrhunderts und insbesondere auf die Figur von Giovanni Battista Sammartini, der bereits bei Torchi als ein Höhepunkt der „italianità“ in der Instrumentalmusik verstanden worden war.326 Mit dieser deutlichen Eingrenzung der Untersuchung 323 Siehe Criscione 1997, Luigi Torchi, 32–33. Das Jahr 1907 markierte auch das frühzeitige Ende von Torchis ambitioniertem Editionsprojekt L’arte musicale in Italia. Ursprünglich in 32 Bänden geplant, wurde diese von Ricordi edierte Sammlung „italienischer“ Musik vom 13. bis zum 18. Jahrhundert nach dem siebten Band frühzeitig von Torchi abgebrochen. 324 Zanetti 1985, Musica italiana, 39. 325 Es sei hier noch einmal auf die bibliografischen Angaben der vier Beiträge von Torrefranca verwiesen  : Torrefranca 1913–1915, Le origini della sinfonia. 326 Siehe die Fußnote 320, S. 170 in der vorliegenden Arbeit.



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konnte Torrefranca anhand von Notenbeispielen und -vergleichen die „nationalen Eigenschaften“ dieser Musik viel einfacher als Torchi 16 Jahre vorher mit konkreten Zügen versehen.327 Torchis Argument eines Erfindungsprimats Italiens (auch) im Bereich der Instrumentalmusik strukturiert den gesamten Artikel von Torrefranca, der seine Schrift als eine offene Polemik gegen Hugo Riemanns These einer deutschen Erfindung der Symphonie und der Sonatenhauptsatzform konzipiert, die an der Mannheimer Hofkapelle des Kurfürsten Carl Theodor von der Pfalz erfolgt sein sollte.328 Torrefranca setzt hier seine Polemik gegen die deutsche Musikwissenschaft und insbesondere gegen Hugo Riemann fort, die er bereits 1909 mit einigen Artikeln über die italienische Tastenmusik des 18. Jahrhunderts angefangen hatte.329 Mit seinem jüngsten Beitrag kommt er nun auf die „höchste“ 327 Torrefranca baute de facto seine gesamte wissenschaftliche Karriere auf die Arbeit Luigi Torchis im Bereich der Instrumentalmusik der Vergangenheit auf. Er erwähnte jedoch in seinen Schriften den älteren Kollegen kaum. Die wenigen Male, die dies doch geschah, nahm er einen überlegenen bis spöttischen Ton an  : So definierte er zum Beispiel 1919 den bahnbrechenden, im vorigen Kapitel dieser Arbeit besprochenen Aufsatz von Torchi über die alte italienische Instrumentalmusik aus den Jahren 1897–1901 als „semplice recensione di quanto la biblioteca del Liceo di Bologna conserva di musica istrumentale“. Torrefranca 1919, Intermezzo di date, 148. Die Stellung Torrefrancas im Panorama des italienischen Musiklebens jener Zeit bleibt jedoch weitgehend zweideutig  : Nicolodi hat Torrefranca mit Recht als einen „musicologo di cerniera fra positivismo e idealismo“ bezeichnet, vgl. Nicolodi 1984, Musica e musicisti, 130. Siehe außerdem dazu die Fußnote 333, S. 174 in der vorliegenden Arbeit. 328 Hugo Riemann formulierte seine Thesen erstmals im Jahr 1902 und bekräftigte sie vier Jahre später, vgl. Hugo Riemann  : „Die Mannheimer Schule“, in ders.  : Sinfonien der Pfalzbayerischen Schule (Mannheimer Symphoniker), Leipzig 1902 (Denkmäler der Tonkunst in Bayern, Jg. 3, Bd. 1), IX–XXX sowie ders.  : „Der Stil und die Manieren der Mannheimer“, in ders.  : Sinfonien der Pfalzbayerischen Schule (Mannheimer Symphoniker), Leipzig 1906 (Denkmäler der Tonkunst in Bayern, Jg. 7, Bd. 2), XV–XXV. Damit vertrat er gegen Guido Adler eine in „Deutschland“, anstatt in Wien erfolgte Erfindung der Symphonie. Siehe Pelker 1996, Mannheimer Schule, insbesondere Sp. 1650–1651. 329 Torrefranca hatte die Polemik gegen Riemann über die Erfindung der Sonatenhauptsatzform im Jahr 1909 programmatisch mit folgenden Worten angefangen  : „La conoscenza di questo periodo della Sonata [1730–1740, d. V.] indurrà a molte e necessarie modificazioni di fatto e di apprezzamento sull’estetica, sullo svolgimento e sulla così detta forma della Sonata. Già si può dire che la riforma stilistica di Ph. E. Bach sia null’altro che una leggenda e che anche il risalire dal Bach allo Stamitz come fa il Riemann non basti ancora  : occorre rifarsi alla produzione italiana, ricca e diffusissima intorno al 1730–40, senza lasciarsi impressionare troppo, come fa il Seiffer, dall’epiteto leggero di galante che le si suole accompagnare.“ Torrefranca 1909, Per un catalogo tematico,872. Er setzte sie dann immer in Bezug zur Tastenmusik und

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Gattung der Symphonie zu sprechen und setzt auch in diesem Fall das bereits erprobte Muster einer Beanspruchung Italiens für die Erfindung der gesamten Instrumentalmusik ein.330 Vor allem im ersten Teil seines Artikels bemüht sich Torrefranca jedoch, den Charakter einer italienischen Symphonie jener Zeit unter einem kompositorischen Gesichtspunkt eindeutig zu definieren.331 Dabei greift er genau wie vor ihm Torchi auf die wohlbekannten Topoi des Italienischen in der Musik zurück, die er auf die Instrumentalmusik überträgt  : Er spricht damit unter anderem von „sovrabbondante musicalità“, „trasparente tessuto“, „signorilità inventiva“ und „fugacità melodiche“.332 Genau wie bei Torchi und vor ihm bei Mazzini stehen diese Eigenschaften auch bei Torrefranca in einer radikalen Gegensätzlichkeit zu den Charakteristika eines musikalisch Deutschen. Im Übergang von Torchis Positivismus zu Torrefrancas Idealismus lassen sich jedoch eindeutige Veränderungen beobachten  :333 Torchis Unbehagen in Bezug auf die eher vagen Konturen der nationalen Eigenschaften, das ihn zu deren Relativierung mit Gegenbeispielen zwang, ist bei Torrefranca nicht vorhanden. Der jüngere Musikwissenschaftler zieht ohne Zögern aus der binären Opposition zwischen italienischer und deutscher Musik und aus den daraus gewonmit analytischem Raffinement in folgenden zwei Artikeln fort  : Torrefranca 1910, La creazione della sonata und Torrefranca 1911–1912, Le sonate per cembalo. 330 Guido Salvetti hat für diese zu jenem Zeitpunkt in Italien besonders geliebte „Gattung“ des wissenschaftlichen Schreibens den Ausdruck „articoli di rivendicazione“ verwendet, vgl. Salvetti 1991, La nascita del Novecento, 286. 331 Siehe insbesondere Torrefranca 1913–1915, Le origini della sinfonia, 1913, 313–314, 327– 328 und 334. 332 Ebd., 327. 333 Sowohl Torchis Positivismus als auch Torrefrancas Idealismus sind nicht frei von internen Spannungen und Widersprüchen. Im Fall Torchis siehe insbesondere § II.3.3. Für Torrefranca sei hier nur auf die strenge Verwendung textanalytischer Methoden verwiesen, die im Kontext der stark vom Positivismus beeinflussten Musikwissenschaft am Ende des 19. Jahrhunderts entwickelt worden waren. Torrefrancas Idealismus führte in der Tat zu einer gewissen Verengung der Fragestellung in der Erforschung der Musik der Vergangenheit  : Gesellschaftliche und allgemein soziokulturelle Komponenten, die bei Torchi im Konzept eines „soziologischen Bezugs“ („nesso sociologico“) eine nicht sekundäre Rolle spielten, blieben im Fall Torrefrancas zugunsten eines rein textanalytischen Ansatzes zu einem großen Teil aus dem Forschungshorizont ausgeschlossen. Über Torrefrancas musikwissenschaftliche Tätigkeit siehe insbesondere Nicolodi 1993, Fausto Torrefranca.



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nenen Eigenschaften eines „genuin Italienischen“ alle Konsequenzen  : Anhand konkreter Notenbeispiele will er dem „Abgrund“ („abisso“) zwischen der Musik der zwei Nationen eine fassbare, wissenschaftlich belegbare Physiognomie geben.334 Bevor er auf die Analyse des Notensatzes von Sammartinis Symphonien eingeht, entwirft Torrefranca daraus eine gegenpolare Charakterisierung der italienischen und der deutschen Symphonie, die systematisch sowohl in der thematischen als auch in der rhythmischen Struktur zwei entgegengesetzte nationale Verfahrensweisen vorsieht  : Während die deutsche Symphonie durch die Dichte der motivisch-thematischen Arbeit geprägt ist, soll nach Torrefranca die „rhythmische Entwicklung“ („svolgimento ritmico“) das Proprium der italienischen Symphonie darstellen, die sich damit durch eine „Vielfalt in der Erfindung“ („ricchezza di invenzione“) und durch ein „Gespür für die rhythmische Modulation“ („senso della modulazione ritmica“) auszeichnet.335 Insgesamt sieht Torrefranca ein „thematisches Vorgehen“ als typisch deutsch und ein „rhythmisches Vorgehen“ als italienisch an und verweist unter anderem auf seine vorigen Schriften über die alte italienische Tastenmusik, in denen diese Unterscheidung bei der Analyse dieser Kompositionen bereits Verwendung gefunden hatte.336 Am Ende dieser systematischen Einleitung geht nun Torrefranca – in diesem Punkt viel konsequenter als Torchi – auf eine separate textanalytische Untersuchung erst der thematisch-melodischen und dann der rhythmischen Begebenheiten von Sammartinis Symphonien ein, um die hier getroffene Unterscheidung zwischen den zwei nationalen Charakteristika konkret am Notentext zu exemplifizieren. Bereits bei der Analyse der motivischen Eigenschaften dieser Symphonien beschränkt er sich allein auf die Hervorhebung eines zeitlichen Erfindungs334 Torrefranca 1913–1915, Le origini della sinfonia, 1913, 327–328. 335 „La sinfonia italiana – sopra tutto nel primo tempo […] – non si svolge secondo il criterio della elaborazione tematica. […] La sinfonia italiana procede dal criterio, prettamente ellenico, dello svolgimento ritmico che richiede due qualità vive  : inesausta ricchezza di invenzione e senso della modulazione ritmica  ; la quale finisce per rilegare armoniosamente, tra di loro, i ritmi apparentemente più disparati.“ Ebd., 313. 336 „Il procedimento tematico è specialmente germanico […]. Il procedimento ritmico invece – quasi esclusivamente italiano –.“ Ebd., 314. Für die Verweise auf die eigenen Schriften siehe die Fußnote 2, ebd., 313–314.

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primats seitens Sammartinis  : Er habe kompositorische Merkmale verwendet, die Riemann als eigenspezifisch für die „Mannheimer Schule“ ansah, wie zum Beispiel im Fall der „melodischen Seufzer“ („sospiri melodici“).337 Die qualitative Trennung der nationalen Charakteristika der zwei Musiknationen verliert damit bereits an diesem ersten Punkt viel an Schärfe. Als Torrefranca den Abgrund zwischen „italianità“ und „Deutschtum“ auf der Ebene zu demonstrieren versucht, die er in seiner einleitenden Systematik als das spezifische Merkmal des Italienischen erklärt hatte, nämlich auf der Ebene des Rhythmus, scheint sein bipolares Schema vor dem Notentext grundsätzlich zusammenzubrechen. Der große Unterschied zwischen den beiden Ländern in der rhythmischen Gestaltung der Symphonie, den Torrefranca hier „Abgrund“ nennt und konkret beweisen will, lässt sich in der Tat aus dem Notenvergleich eigentlich nicht ablesen. Torrefranca greift damit auch in diesem Fall – und auch hier ohne diesen ausdrücklich zu nennen – auf Torchis Argument eines zeitlichen Erfindungsprimats zurück. Er gibt ihm jedoch eine neue argumentative Wendung, mit der er sein „analytisches“ Modell von „italianità“ doch zu retten versucht  : „Zwischen den italienischen Symphonien, die auf einer nach dem harmonischen Verlauf voranschreitenden Entwicklung einschneidender, eckiger Marsch-, Lied- und Menuett-Themen basieren, und den deutschen Symphonien besteht ein Abgrund. Oder, besser gesagt, es würde ein Abgrund bestehen, wenn die italienischen Symphonien nicht eine Fundgrube an rhythmischen Erfindungen für die Deutschen gewesen wären.“338 Die auffallenden Ähnlichkeiten, die Torrefranca trotz der am Anfang postulierten binären Opposition der zwei musikalischen Nationen im Notensatz zu erkennen gezwungen war, werden damit von ihm mit dem zeitlichen Vorrang Italiens in der Erfindung von stilistischen Merkmalen kaschiert, die die deutschen Symphoniker später in ihren Kompositionen übernahmen. Die deutsche 337 Siehe ebd., 321–322. 338 „Tra queste sinfonie italiane e le tedesche, fondate sullo svolgimento, essenzialmente armonico, di temi incisivi e quadrati, da marcia,da lied, da kolo o da minuetto, c’è un abisso. O meglio, ci sarebbe se queste sinfonie non fossero state una vera miniera di ritmi per i tedeschi.“ Ebd., 327.



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Musik sei damit historisch gesehen nur ein Derivat, eine weitere Evolution der in Italien entstandenen Instrumentalmusik. Torrefranca hat jedoch im Unterschied zu Torchi kein Wort der Bewunderung für den „genio assimilatore“ der Deutschen  : Mit der Übernahme der Eigenschaften der italienischen Instrumentalmusik haben die deutschen Komponisten keine entscheidende qualitative Veränderung in der Satzstruktur bewirkt. Vielmehr stellt Torrefranca diesen gegen Ende des 18. Jahrhunderts stattfindenden Übergang als eine Dekadenz dar. Wenn Torchi die Vorstellung eines Verfalls der Instrumentalmusik gegen Ende des 18. Jahrhunderts explizit auf die italienische Musikproduktion bezog, stellt nun Torrefranca die Übernahme der führenden Rolle seitens Deutschlands auf diesem Gebiet als einen ästhetischen Qualitätsverlust dar  : „Alles, was hier [in den Symphonien Sammartinis, d. V.] nicht entwickelt bleibt, weil es eben nicht entwickelt werden muss und man es allein als einen reinen rhythmischen Eindruck und sonst nichts wahrnehmen soll, wird stattdessen von den Deutschen auseinandergelegt, ausgerollt wie eine Rolle Papier.“339 Torrefranca verdeutlicht des Weiteren die verschlechternde Wirkung der deutschen Aneignung italienischer Instrumentalmusik anhand einer bildlichen Metapher  : Die Deutschen haben die in sich kohärente Gesamtheit, die die verschiedenen Elemente der italienischen Instrumentalmusik bildeten, auf einem eckigen Tisch aufgerollt und mit einer Nadel an jeder der vier Ecken befestigt.340 Mit einem abschließenden Vergleich zwischen den Symphonien von Giovanni Battista Sammartini und denen Joseph Haydns „beweist“ schließlich Torrefranca die Überlegenheit des Italienischen gegenüber dem Deutschen in der Instrumentalmusik und lässt auch diesen Vergleich in eine weitere Metapher münden  : Der „lebendigen und ungestümen Quelle“ der Symphonien Sammartinis steht das „wohlüberlegte Bewässerungssystem“ der Instrumentalmusik Haydns

339 „Tutto ciò che qui [in den Symphonien Sammartinis, d. V.] non è svolto, perchè non deve essere svolto, perché vuol restare pura impressione ritmica e nulla di più, dai tedeschi viene aperto, come un rotolo di carta chiusa.“ Ebenda. 340 Vgl. ebenda.

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gegenüber.341 Die deutsche Symphonik stellt schließlich für Torrefranca nichts anderes als die (nutzlose) Überarbeitung des in sich bereits perfekten Gebildes der italienischen Instrumentalmusik dar. Nur vor der Größe Beethovens macht Torrefrancas radikale Kritik an der deutschen Musik des 18. und frühen 19. Jahrhunderts halt. In der dritten Symphonie habe Beethoven des „alten italienischen Verfahrens der rhythmischen Modulation“ gedenken können. Die Entwicklung der Symphonie schlug jedoch mit Beethoven nach Torrefrancas Meinung einen neuen Weg ein  : Vor allem durch die zeitliche Ausdehnung der Kompositionen waren nun andere ästhetische Qualitäten wichtig geworden und von dem „impressionismo“ der italienischen Symphonik des 18. Jahrhunderts ging man zum „epischen Pathos“ der Romantik über.342 *** Torrefranca oder die (Ohn-)Macht der Analyse Im Grunde genommen schreibt Torrefranca in diesem langen Aufsatz nichts Neues, weder über die Eigenschaften der italienischen Musik noch über die symphonische Tradition Italiens  : Er begnügt sich damit, Torchis Vergangenheitskonstrukt zu bestätigen. Auch bei Torrefranca, wie bereits bei Torchi, wird das musikalisch Italienische nur im Hinblick auf Deutschland und nur als argumentatives Mittel für das übergeordnete Ziel einer Primatbestimmung thematisiert. Indem er jedoch viel konsequenter als Torchi bei der Untersuchung des Notentextes verfährt, stellt Torrefranca mit den Mitteln der musikalischen 341 „Paragoniamo la musica all’acqua di un fiume e allora potremo dire che, mentre questa del Sanmartini è l’arte vera, fresca, viva, irruente che pullula come una sorgente, l’arte di un Haydn è spesso, con tutto il rispetto che le si deve, un meditato sistema di irrigazione, tutto canali, chiuse e stramazzi ben disegnati e ben regolati, e che raccoglie ogni benché tenue goccia d’acqua italiana, per distribuirla, a tempo e luogo, con una ben calcolata econonmica.“ Ebenda. 342 „Solo il Beethoven dell’Eroica, col suo politematismo e il suo amore per gli episodi, riesce a rendere omaggio all’antico principio italiano della modulazione ritmica. Ma le vaste proporzioni delle sue composizioni fanno sì che l’impressionismo diventi pathos epico, per quell’intima armonia che, in ogni opera d’arte ben riuscita, è sempre tra la sua durata e la consistenza ideale del contenuto o, come altri direbbe, tra la forma e la sostanza.“ Ebd., 327–328.



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Analyse einen Vergleich an, dessen Spitzfindigkeit und Realitätsferne nur mit dem zu demonstrierenden Konstrukt einer „italianità in musica“ zu vergleichen ist. Er stellt unter den vermeintlich „objektiven“ Blick der Notenanalyse gerade das, was er für seine Demonstration braucht und schreibt damit das quod erat demonstrandum, das er von Anfang an beabsichtigt hatte  : Torrefranca versucht nicht die Gattung Symphonie im jeweiligen Land und zur jeweiligen Zeit zu kontextualisieren. Er versucht nicht den unterschiedlichen kulturellen Einflüssen, den Wechselbeziehungen und den unterschiedlichen Epochen gerecht zu werden, die die unterschiedlichen Komponenten seines Vergleichs – von den Kompositionen Sammartinis bis hin zur Instrumentalmusik Haydns, Mozart oder sogar Beethoven – prägten, sondern stellt anhand eines festen Glaubens an die Selbstgenügsamkeit und Erklärungsmacht des „reinen“ Notentextes im aseptischen Labor des philologischen Textvergleichs gerade das Experiment an, das er braucht. Wie alle vorigen (und späteren) Versuche, nationale Charakteristika „in den Noten“ konkret zu benennen, scheitert jedoch auch das Bemühen von Torrefranca darin, konkrete Beweise für die postulierte grundlegende Alterität der symphonischen Tradition der zwei Nationen zu liefern. Er verwendet Metaphern und bleibt wie alle seine Vorgänger in einem eher abstrakten Bereich. In dem Eifer, der „vorgestellten Gemeinschaft“ der Nation ein musikalisches Profil zu geben, das noch stringenter definiert ist als bei Torchi, muss Torrefranca auf eine noch größere Vielzahl an Konstrukten rekurrieren, als das bei seinem älteren Kollegen der Fall war  : Zusätzlich zum Erfindungsprimat und zur symphonischen Tradition sollen noch weitere analytische Artefakte miteinbezogen bzw. ad hoc von ihm herausgebildet werden, wie die unscharf umrissenen Konstrukte einer „rhythmischen Entwicklung“ oder einer „rhythmischen Modulation“. Nur innerhalb der nationalistischen Koordinaten des italienischen Musikdiskurses jener Zeit könnten alle diese Mittel ihre Plausibilität erhalten. In diesem Sinne stellt Torrefrancas Artikel einen bedeutenden Schritt in der Verwissenschaftlichung des Konstrukts einer „italianità“ dar  : Dank der Eingrenzung des Untersuchungsgebiets, durch eine konsequente Einsetzung einer textanalytischen Herangehensweise und mit einer radikalen Verabsolutierung von Torchis Thesen über die vergangene Instrumentalmusik Italiens hypostasierte und legitimierte er weiterhin diesen Scheinbegriff und sicherte damit den

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weiteren Zusammenhalt des Zweibündnisses von „italianità“ und Primat für die nächsten drei Jahrzehnte.

5.3 Giulio Silva  : Vokalität und die „mediterrane Rasse“, 1916

Mitten im Ersten Weltkrieg, im Jahr 1916, erscheint in der Rivista musicale italiana ein Artikel, der programmatisch bereits im Titel das Problem einer italienischen Identität in der Musik thematisiert und das Wort „italianità“ benennt  : Alcune riflessioni intorno al „Vocalismo“ e all’„Italianità“ nella musica.343 Der Autor ist der Komponist, Dirigent und Gesangslehrer Giulio Silva, der zu jener Zeit am S. Cecilia-Konservatorium in Rom lehrte.344 Im Unterschied zu Torrefranca stellt Silvas Artikel innerhalb der damaligen Debatte über die wahre musikalische Identität Italiens eine eher sekundäre, durchaus fragile Position dar, die kaum Anhänger fand und dazu führte, dass Silva im Jahr 1920 sichtlich enttäuscht in die USA zog. Im Hinblick auf die vorliegende Untersuchung ist jedoch Silvas Artikel unter zwei Gesichtspunkten wichtig. In erster Linie stellt diese Schrift hinter scheinbar vermittelnden Argumenten eine deutlich entgegengesetzte Position zu den Ansichten Torrefrancas dar, die auf den vorigen Seiten geschildert wurden. Silva versucht hier in der Tat das autaut Oper oder Symphonie zu überwinden und verschiebt dafür den Fokus der Debatte von dem einfachen Gattungsdualismus auf die Ebene der Ästhetik. Da343 Silva 1916, Alcune riflessioni. 344 Giulio Silva (1875- unbekannt, nach 1954), in Parma geboren, erhielt seine musikalische Ausbildung im Fach Komposition am Konservatorium von S. Cecilia in Rom. Später schlug er eine Karriere als Dirigent ein und residierte zwischen 1905 und 1912 in Frankreich und Deutschland. 1912 kehrte er als Gesangslehrer ans Konservatorium zurück nach Parma und 1915 wurde er in der gleichen Funktion an das römischen Conservatorio berufen. Ab 1912 erschienen in der Rivista eine Reihe von Aufsätzen unter seinem Namen, die die Interrelationen zwischen Phonetik und Gesang thematisierten. Außerdem veröffentlichte er einige Monografien zur Gesangspädagogik (Il canto e il suo insegnamento razionale, Torino 1913  ; Advice in singing, New York 1922  ; Il maestro di canto, Torino 1928). Im Jahr 1920 emigrierte Silva nach New York und unterrichtete dort Gesang am Mannes-College  ; später ging er nach San Francisco und zwischen 1939 und 1954 lebte er in San Rafael, Kalifornien. Über Silva siehe die spärlichen Notizen in Angelis 1922, L’Italia musicale, sub vocem sowie Anonymus 1988, Silva.



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bei greift er direkt den Kern der ästhetischen Positionen von Torrefranca an, die die Grundlagen für die Verabsolutierung von Torchis symphonischer Tradition gebildet hatten. Silva versucht in seinem Artikel, die grundlegende Unterscheidung zwischen Autonomie- und Nachahmungsästhetik zu überwinden und dadurch den „ideellen Dualismus“ zwischen einer absoluten, wortunabhängigen und einer ästhetisch minderwertigen wortabhängigen Musik aufzuheben, der im letzten Abschnitt des vorigen Kapitels besprochen wurde.345 Bei einer genaueren Untersuchung des Artikels entpuppt sich Silvas Überwindungsversuch jedoch als täuschend  : Silva lehnte die Unterscheidung zwischen „absoluter“ („pura“) und „nicht absoluter“ („non pura“) Musik vordergründig ab  ; die Auffassung des Musikalischen, die er durchsetzen möchte, schrieb jedoch der Musik allein eine emotional-expressive Funktion zu. Wenn auch unter einem anderen Namen und anhand eines ad hoc konzipierten Konstrukts (des „vocalismo musicale“) verteidigte Silva de facto, wie im Folgenden verdeutlicht wird, ein ästhetisches Profil der Musik, das auf die Nachahmungsästhetik zurückgeführt werden kann. Silvas gedanklich komplexe und nuancenreiche Schrift stellt damit trotz der vermittelnden Position auf der Ebene des Gattungsdualismus einen regelrechten Gegenentwurf zu den historisch-ästhetischen Ansichten eines Torrefranca dar und bestätigt schließlich die tiefgreifende Spaltung, die entlang der erwähnten zwei ästhetischen Kategorien das italienische Musikleben jener Jahre prägte. Diese Schrift von Silva ist auch unter einem zweiten Gesichtspunkt im Rahmen dieser Untersuchung wichtig. Dabei soll vor allem die argumentative Strategie berücksichtigt werden, die Silva zur Durchsetzung seiner These einsetzt. 345 Seine musikästhetischen Auffassungen hatte Torrefranca zwei Jahre vor der Schmähschrift gegen Puccini in seiner Monografie Vita musicale dello spirito von 1910 ausführlich behandelt (Torrefranca 1910, Vita musicale dello spirito). Dieses Buch stellt zusammen mit La crisi musicale europea von Giannotto Bastianelli aus dem Jahr 1912 den zentralen Text für die Formulierung des neuen, von der idealistischen Philosophie Benedetto Croces stark geprägten intellektuellen Klimas des italienischen Musiklebens der 1910er-Jahre dar (Bastianelli 1976, La crisi musicale europea). Dazu siehe Fubini 1990, The history of music, 397–411 sowie Zanetti 1985, Musica italiana, 155–159. Über Bastianellis Schrift siehe außerdem Mila 1981, Bontempelli. Über Bastianelli siehe außerdem in der vorliegenden Arbeit die Fußnote 300, S. 159. Für den „dualismo ideale“ zwischen Palestrina und Monteverdi bei Torrefranca siehe den Abschnitt II.4.g in dieser Arbeit.

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Er versucht in der Tat, das Italienische nicht punktuell an bestimmten musikalischen Beispielen oder an bestimmten Komponisten festzulegen, wie es vorher Torchi und Torrefranca gemacht hatten. Silva verlässt die philologischen Methoden der Musikwissenschaft und bedient sich stattdessen der damaligen Anthropologie, insbesondere der Rassenlehre. Mit Silva wird die „italianità“ zu einer rassenspezifischen Konstante erhoben. Gleichzeitig bekommt dadurch auch die tradierte binäre Opposition zu Deutschland eine neue Qualität  : Das historische Erfindungsprimat Italiens und die Konfrontation mit dem musikalisch Deutschen wird mit genetischen, ab aeterno vorgegebenen biologischen Elementen verquickt. Die Hypostasierung der zwei „nationalen Charaktere“ als ewig unveränderbare Gegebenheiten des Musikalischen, die bei Torchi oder Torrefranca implizit bereits vorhanden war, wird hier anhand des Konstrukts der Rasse radikal expliziert. Auch Silvas Text veranschaulicht damit die immer radikalere Fokussierung des italienischen Musikdiskurses jenes Jahres auf die musikalische Kategorie des integralen Nationalismus  : Daraus resultiert eine noch engere Dependenz des „italianità“-Begriffs zum Artefakt einer deutschen Musik und gleichzeitig die noch stärkere Bemühung, die Überlegenheit des Italienischen zu beweisen. Noch radikaler als vorher strukturiert er nun die gesamte Debatte anhand der Kategorie der Nation einzig und allein in Form einer Auseinandersetzung über die Inklusion-Exklusion-Kriterien zu einer quer durch alle inhaltlichen Spaltungen als homogen und in sich geschlossen verstandenen nationalen Gemeinschaft. *** Biologische Alterität von Deutschem und Italienischem und der „vocalismo“ Gleich am Anfang seines Artikels nimmt Silva eine Unterteilung der westlichen Zivilisation in drei Rassen vor  : die mediterrane, die keltisch-germanische und die slawische Rasse. Sie weisen einen gemeinsamen Ursprung in den „asiatischen Völkern“ auf, in der modernen Epoche haben sie jedoch eher wenig gemeinsam, vor allem wenn es um die Musik geht. Silva bringt die unterschiedlichen Musikverständnisse der drei Rassen mit folgenden Worten auf den Punkt  : „Eine komparatistische Untersuchung der unterschiedlichen Ausprägungen, die das künstlerische Empfinden bei den wichtigen Rassen Europas annimmt, kann



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anschaulich beweisen, wie unsere Gruppe, die mediterrane, die Musik in erster Linie als Ausdruck der Empfindungen und nur nebensächlich als intellektuelles Ausdrucksmittel verstanden hat. Das Gegenteil ist bei den keltischen und bei den deutschen Völkern zu verzeichnen  ; die slawischen Völker weisen eine Mischung aus beiden Tendenzen auf.“346 Indem er die musikalische Veranlagung der „slawischen Völker“ als Mischform zwischen dem Musikverständnis der zwei anderen Gruppe erklärt, strukturiert Silva die gesamte Erörterung der musikalischen „italianità“ in den darauf folgenden Seiten in Form der tradierten binären Opposition zwischen Italienischem und Deutschem, die jedoch nun rassisch dekliniert wird. Silva nimmt damit für seine Argumentation Bezug auf das Konstrukt der Rasse, das im westlichen Kulturraum ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zunehmend an Prestige gewonnen und – oft in Zusammenhang mit Frauen abwertenden Geschlechtstheorien – eine weite Verbreitung gefunden hatte.347 Der Rassismus fand auch im italienischen Musikdiskurs einen, wenn auch eher begrenzten, Einzug  : 1897 veröffentlichte zum Beispiel die Rivista musicale italiana „der großen Nachfrage unserer Leserschaft nachkommend“ eine von Torchi angefertigte italienische Übersetzung von Wagners Schrift Das Judentum in der Musik.348 Bereits seit der ersten Nummer der Rivista sind außerdem immer wie346 „Un’analisi comparativa dei caratteri del sentimento artistico musicale nelle razze principali europee, […], ci può chiaramente dimostrare che il gruppo nostro, il mediterraneo, ha sempre concepito la musica prevalentemente come espressione di sentimento, secondariamente come espressione puramente intellettuale, mentre l’opposto avvenne presso i popoli celtici e presso i germanici  ; un temperamento misto di queste diverse tendenze riscontrasi nei popoli slavi.“ Silva 1916, Alcune riflessioni, 572. 347 Bahnbrechend war in dieser Hinsicht L’essai sur l’inégalité des races humaines von Arthur Comte de Gobineau, das zwischen 1852–1854 in Paris in vier Bänden erschien. Zentrale Schriften des Rassismus des Fin de Siècle waren Lois psychologiques de l’évolution des peuples von Gustave Le Bon, 1894 sowie  : Grundlagen des 19. Jahrhunderts von Houston Stewart Chamberlain aus dem Jahr 1899. Als Einführung über die Rassenlehre in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und um die Jahrhundertwende siehe u. a. Geulen 2007, Geschichte des Rassismus, 61–89 sowie Koller 2009, Rassismus, 41–52. 348 Wagner 1897, Il giudaismo nella musica. Der Übersetzung wurde eine Fußnote vorangestellt, in der deren Veröffentlichung mit folgenden Worten begründet wurde  : „Molti lettori ci hanno chiesto di leggere questo scritto non pubblicato mai in italiano e solo inserito in francese in un giornale di Bruxelles nel 1869  ; crediamo quindi di far cosa gradita a tutti nel pubblicare la

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der Aufsätze zu verzeichnen, die klar im Rahmen einer positivistischen, stark biologisch-genetisch orientierten Anthropologie stehen, wie etwa von Cesare Lombroso.349 Alle diese Artikel befassen sich jedoch nicht direkt mit der Frage einer musikalischen Nationalidentität. In den Jahrzehnten vor Silvas Artikel lässt sich die Artikulierung der Gegenüberstellung einer „nordischen“ und einer „südlich-mediterranen“ Kultur in Form einer unversöhnlichen, biologisch bestimmten Konfrontation zwischen zwei Rassen vor allem im außermusikalischen Diskurs belegen. Bereits im Jahr 1900 erschien zum Beispiel Gabriele D’Annunzios Roman Il fuoco, der ein erster Kristallisationspunkt bereits vorhandener Ansätze des Autors in dieser Hinsicht darstellt.350 Der Roman dreht sich um die Hoffnung auf eine genuin italienische Kunst in Form eines Volksschauspiels, das das Wesen der mediterranen Rasse zum Ausdruck bringen und sie aus der Vorherrschaft eines mit Wagners Musikdramen versinnbildlichten „barbarischen“ Nordens befreien würde. Die alte italienische Musik (vokal sowie instrumental) wird immer wieder leitmotivartig als Versinnbildlichung genuiner „italianità“ in die Erzählung einbezogen.351 Silva greift damit in seinem Artikel von 1916 auf eine viel mehr im außer- als im strengen innermusikalischen Diskurs bereits etablierte biologisch-rassische Deklinierung der binären Opposition zwischen Italienischem und Deutschem zurück. Die Originalität seines Beitrags bestand darin, diesen rassischen Ansatz nun auf die innermusikalische Debatte zu übertragen und ihn unter e­ inem strengen „wissenschaftlichen“ Anspruch zu systematisieren. In der Rivista musicale italiana ist er der Erste, der die Frage nach der italienischen Identität in presente traduzione.“ Ebd., 95. Daraus eine antisemitische Haltung seitens Torchi zu schließen, ist jedoch falsch. Torchi äußerte sich 1885 abfällig über Wagners Antisemitismus und ironisierte die in Wagners Pamphlet enthaltene Polemik gegen Meyerbeer und Mendelssohn  ; siehe Torchi 1885, A proposito sowie Criscione 1997, Luigi Torchi, 44. 349 Siehe zum Beispiel von Lombroso 1894, Le più recenti inchieste. 350 D’Annunzio 1996, Il Fuoco. Siehe darüber Re 2010, Italians and the Invention, insbesondere 16. Die zentrale „rassische“ Idee des Romans beruht auf einer Wahlrede D’Annunzios aus dem Jahr 1897, die große Resonanz in der italienischen Presse jener Zeit fand und Giovanni Pascoli ausdrücklich zustimmte. Siehe ebd., Fußnote 61. 351 Siehe insbesondere D’Annunzio 1996, Il Fuoco, 92  ; 105  ; 160  ; 324. Über die Funktion der „alten italienischen Musik“ im Werk D’Annunzios siehe Minardi 2008, D’Annunzio sowie im direkten Bezug zum Roman „Il fuoco“ Celestini 2007, Denkmäler italienischer Tonkunst, insbesondere 282–284.



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der Musik so eindeutig und konsequent in Verbindung mit der Rassenlehre bringt.352 Die Radikalisierung der tradierten Gegenüberstellung vom musikalisch Deutschem und Italienischem in Form biologisch verankerter Rassencharakteristika spiegelt sicherlich die Radikalität eines historischen Moments wider, in dem der zu jenem Zeitpunkt stattfindende Weltkrieg von allen Beteiligten als Kampf zwischen deutscher „Kultur“ und westlicher „Zivilisation“ gedeutet wurde.353 Die Verwendung der Rassenlehre bei Silva ist jedoch nicht allein als ein äußerliches Merkmal einer eher sprachlich-rhetorischen Intensivierung der Alterität der zwei Musiknationen zu verstehen, sie strukturiert stattdessen von Grund auf den gesamten Gedankengang des Artikels und stellt im Hinblick auf die von Silva verfolgten Ziele einen argumentativ unentbehrlichen Schritt dar. Mit dem Rassenkonzept zog Silva in der Tat bereits am Anfang seines Unterfangens eine nun von beiden Seiten definitiv unüberwindbare Trennlinie zwischen Deutschem und Italienischem und verschob damit die Verortung des Profils einer „italianità in musica“ vom historischen Bereich in den der abstrakten, ewig geltenden Prinzipien. Silva reagierte damit geschickt auf die Präsenz 352 Bastianelli hatte zum Beispiel bereits 1914 zwischen drei Rassen (italienischer, deutscher und slawischer) unterschieden und ihre jeweilige Art der „Kriegsmusik“ untersucht  ; dabei spielte jedoch das Rassenkonzept keine mit dem späteren Artikel von Silva vergleichbare Rolle  ; siehe Bastianelli 1914, Le tre razze europee (der Artikel ist in Zanetti 1985, Musica italiana, 1560– 1564 vollständig wiedergegeben). Eine interessante Erwähnung des Rassenkonzepts lässt sich auch in einem Artikel von Alfredo Casella aus dem Jahr 1917 finden, auf den im weiteren Verlauf der vorliegenden Arbeit, wenn auch aus einer anderen Perspektive, eingegangen wird § II.6.2. In diesem Text schrieb Casella an einer Stelle  : „La bellezza non conosce patria, come non conosce religione. Anzi si può sostenere che il concetto di bellezza è eterno, e quello di patria transitorio, invece, fra la nozione primitiva di tribù e l’idea futura di razza.“ Casella 1917, La nuova musicalità italiana, 2. Meines Wissens hatte jedoch vor Silva niemand an einer so prominenten Stelle wie in der Rivista musicale italiana eine derart systematische Anwendung des Rassenkonzepts im italienischen Musikdiskurs versucht. 353 Als zeitgeschichtliches Dokument für die Verwendung der zwei Konzepte von „Kultur“ und „Zivilisation“ im Kontext einer kriegsstiftenden Propaganda im Deutschland jener Zeit ist der Text von Mann 1993, Gedanken im Kriege, beispielhaft. Für eine Analyse dieser Debatte unter den Intellektuellen jener Zeit in Deutschland siehe Hoeres 2004, Krieg der Philosophen, insbesondere 213–293. In dieser umfangreichen Studie vergleicht der Autor den philosophischen Diskurs in Deutschland und in England während des Ersten Weltkriegs und hebt die aktive Mitwirkung der Philosophen beider Länder an der Konstruktion und Erhaltung der jeweiligen Feindbilder entlang der beiden Konzepte „Kultur“ und „Zivilisation“ hervor.

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des neuen Konstrukts einer symphonischen Tradition Italiens in der Diskussion über die musikalische Identität des Landes  : Er verzichtete von Anfang an auf einen argumentativ schwachen Versuch, diesen in seinen Konturen immer deutlicher werdenden vergangenen Fundus an Instrumentalmusik zu verleugnen oder aus der Debatte auszuklammern. Silva war durchaus bewusst, dass Torrefrancas Verabsolutierung der symphonischen Tradition als einzig wahre musikalische Identität des Landes nicht auf dem Terrain der historischen Tatsachen überzeugend angegriffen werden konnte. Er entwickelte stattdessen eine Gegenargumentation, die das allgemeine historische Erfindungsprimat Italiens in der Musik zwar beinhaltete, jedoch die ästhetischen Voraussetzungen demontierte, auf denen Torrefrancas Erklärung der Instrumentalmusik als einzig wahrer Identität Italiens beruhte. Die radikale Adoption des Rassenkonzepts und die damit zusammenhängende Biologisierung der binären Opposition zwischen Italienischem und Deutschem stellt somit den ersten notwendigen Schritt in diese Richtung dar und erleichtert die auf den nächsten Seiten erfolgte Abwendung der Debatte von der Dimension der Geschichte und ihre Hinwendung zu der der Ästhetik. Im weiteren Verlauf seines Aufsatzes richtet Silva seinen Fokus auf den Beweis einer Inkonsistenz der Unterscheidung zwischen Autonomie- und Nachahmungsästhetik. Sofort nach der vorher besprochenen Schilderung der drei Grundrassen Europas lässt Silva eine Erörterung der Frage nach der Substanz des Musikalischen folgen, die er anhand eines weiteren, nun von ihm ad hoc entworfenen Konstrukts eines „vocalismo musicale“ beantwortet. Der „vocalismo musicale“ stellt für Silva das strukturierende „Parameter“ des Musikalischen dar und seine Definition lautet  : „Alle künstlerischen Phänomene, die einen direkten oder indirekten Zusammenhang mit der Stimme haben und die den Geist des Komponisten mit dem des Aufführenden und dem des Zuhörenden mit innerer Notwendigkeit verbinden, bilden den sogenannten musikalischen Vokalismus [vocalismo musicale]. Anhand dieses Vokalismus [wird es möglich, dass] der Komponist seine Inspiration nach der musikalischen Beschaffenheit der Stimme [manifestazioni musicali della voce] richtet […]  ; der Aufführende, seinem Vokalinstinkt folgend, die Absichten des Komponisten treu wiedergibt […]  ; der Zuhörer eine perfekte



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Entsprechung zwischen Komposition, Aufführung und seinen naturgegebenen künstlerischen Eigenschaften erlebt […]. Die Kunstwerke sprechen damit die Emotivität von Aufführendem und Zuhörer an und wirken damit in einem vorgegebenen Bereich, der allen drei Momenten gemeinsam ist  : Dieser Bereich ist der Vokalismus.“354 Als „vocalismo“ bezeichnet Silva ein Bündel von künstlerisch-kompositorischen Faktoren, die die Interkommunikation zwischen Komponist, Interpret und Publikum sichern. Was damit konkret gemeint ist, welche diese „Phänomene künstlerischen Charakters“ sind, die zum Konzept des „vocalismo musicale“ gehören, bleibt im Laufe des gesamten Aufsatzes eher unklar. Was jedoch von Anfang an mit dem „vocalismo“ eindeutig postuliert wird, ist das grundlegende emotionalemotive Wesen des Musikalischen. Der „vocalismo“ sorgt in der Tat für einen angemessenen Austausch zwischen Produktion, Reproduktion und Konsum, der allein auf einer emotionalen Ebene stattfindet  ; einer Ebene, die das Spezifikum der „künstlerischen Erscheinungen“ („manifestazioni artistiche“) ausmacht. Mit folgenden Worten hatte Silva einige Paragrafen davor seinen Aufsatz eröffnet  : „Der Komponist, der in seiner Inspiration Gefühlen folgt, die emotiven oder intellektuellen Ursprungs sind, versucht diese Gefühle mittels klanglicher Zusammenstellungen abzubilden, welche die Kraft besitzen, dem Publikum diese Gefühle ganz oder zumindest partiell zu vermitteln.“355 354 „Tutti quei fenomeni di carattere artistico, che hanno una diretta od una indiretta relazione colla voce e che collegano necessariamente ed indissolubilmente lo spirito del compositore a quello dell’interprete e a quello dell’uditore, costituiscono nel loro assieme il cosidetto [sic  !] vocalismo musicale. Per esso il compositore si ispira secondo le manifestazioni musicali della voce […]  ; l’esecutore, guidato dal suo istinto vocale, riproduce efficacemente le intenzioni del compositore […]  ; l’ascoltatore trova allora nella composizione e nell’esecuzione una corrispondenza perfetta con le proprie attitudini artistiche naturali […]. Queste manifestazioni artistiche vengono dunque ad operare emotivamente, rispetto all’interprete e all’ascoltatore, in un campo che ha un sostrato omogeneo preesistente simile al loro proprio originale  : questo campo è quello del vocalismo.“ Silva 1916, Alcune riflessioni, 571 355 „Il musicista compositore ispirato sotto l’impero di emozioni intime d’origine sentimentale od intellettuale cerca di fissare […] un riflesso di queste emozioni per mezzo di combinazioni sonore siffatte che abbiano il potere […] di comunicare all’uditore in tutto o in parte quelle emozioni stesse.“ Ebd., 570.

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Allein in seiner emotiven Komponente liegt die „Daseinsberechtigung“ („ragion d’essere“) des Kunstwerkes begründet.356 Die künstlerische „Emotion“ ist jedoch für Silva ausschließlich „von vokalem Charakter“ („di carattere vocale“), wenn dies auch die Instrumentalmusik aus dem Bereich der Kunst grundsätzlich nicht ausschließt.357 Silvas Gedankenkomplex beruht in der Tat auf einer auf den darauf folgenden Seiten nicht ohne Mühe in ihren Konturen umrissenen Gleichsetzung von „emozione“ (Emotion), „vocalità“ (Vokalität), „voce“ (Stimme) und „lingua“ (Sprache), die das Konzept eines „vocalismo musicale“ zusammenhalten und gleichzeitig darunter subsumiert werden sollen. Besondere Aufmerksamkeit schenkt Silva der Deutung der Sprache als erster Erscheinungsebene der Musik. In der vorwiegend durch den Wechsel von Vokalen und Konsonanten bestimmten klanglichen Struktur einer Sprache offenbart sich Silva zufolge die emotional-emotive Veranlagung einer Rasse.358 Er hebt hervor, dass Lust und Schmerz individuelle und vor allem rassenspezifische Erscheinungen sind, denen wiederum besondere, gruppenspezifische Empfindungs- und Ausdrucksweisen zugrunde liegen („sensibilità espressiva“). Diese unterschiedlichen „expressiven Sensibilitäten“ finden in der klanglichen Ebene der Sprache ihre erste, noch unvollkommene „symbolische Versinnbildlichung“ („rappresentazione simbolica“) und die Kunstmusik tritt in einem späteren Stadium der menschlichen Evolution als Verfeinerung und angemessener Ausdruck dieser rassisch spezifischen emotiven Substanz ein.359 Die Musikalität des 356 „Affinché l’opera d’arte musicale debba produrre l’effetto che giustifica la sua ragion d’essere, è necessario perciò che il compositore, l’interprete e l’uditore vengano a trovarsi successivamente in uno stato psicologico emotivo simile.“ Ebenda. 357 „Allorché l’esecuzione dell’opera d’arte influisce così per riflessione, psicologicamente e fisiologicamente, in modo speciale sulla funzione vocale dell’uditore, diciamo che quest’emozione è di carattere vocale  ; e affinché tal fatto si produca non è necessario che l’interprete adoperi la voce per provocarlo, ma a tal uopo è sufficiente spesso anche il semplice mezzo istrumentale.“ Ebd., 570–571. 358 „È chiaro che i caratteri fonetici musicali delle lingue di una razza […] debbano fornirci un indice sicuro della psicologia musicale di quei popoli.“ Ebd., 572–573. 359 „Osservando però che il piacere ed il dolore si presentano sotto aspetti molto diversi […] nei varî individui e nei varî aggruppamenti di essi, popoli e razze, constatiamo che a queste differenze corrispondono altrettante attitudini speciali per l’espressione del piacere e del dolore che costituiscono la cosidetta sensibilità espressiva ne’ suoi varî gradi e caratteri. È chiaro perciò che a questa diversa sensibilità deve corrispondere una varietà di forma e di sostanza nella rappresentazione simbolica di essa che è la musicalità della parola, cioè nel vocalismo musicale.“ Ebd.,



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Wortes ist damit die erste und einfachste konkrete Erscheinung des „vocalismo musicale“, der in seinem Wesen aus einem biologisch verankerten Bund von Emotion, Klang und Sprache besteht. Der „vocalismo“ wird in Silvas Argumentation zum Garant für die nationalspezifische Artikulation des Musikalischen gemacht  : Indem die Musik auf den klanglichen Ausdruck eines emotiven Gehaltes reduziert wurde, der in jeder Rasse eine andere, eigenspezifische Gestalt annimmt, wie die Vielfalt der Sprachen veranschaulicht, ist für Silva die Postulierung einer „Universalität“ der Musik ein grundlegender Irrtum.360 Der „vocalismo“ sichert die Interkommunikation zwischen (emotiven) Empfindungen und künstlerischem (musikalischem) Ausdruck und nimmt damit eine besondere Gestalt je nach emotionaler Veranlagung der Rasse an  : Ein musikalischer „Internationalismus“ ist grundsätzlich nicht gegeben.361 Silvas durchaus komplexe und stark ins Abstrakte tendierende Argumentation trägt jedoch, an diesem für ihn entscheidenden Punkt angelangt, etwas Paradoxes in sich  : Er hat jeder Rasse eine eigenspezifische „expressive Sensibilität“ zuerkannt, die in der Sprache eine erste konkrete Gestalt annimmt und auf der der „vocalismo musicale“ beruht. Dem Pluralismus der verschiedenen emotionalen, biologischen und sprachlichen Veranlagungen jeder Rasse stellt er jedoch die qualitative, substanzielle Singularität des „vocalismo“ gegenüber. Aus der Pluralität der je nach Völkern und Rassen variierenden emotiven Begebenheiten resultiert nicht eine qualitative Mannigfaltigkeit nebeneinander existierender „vocalismi“. Silva konstruiert stattdessen eine quantitative Hierarchie, die sich je nach Grad und Stärke des Besitzes eines in seinem Wesen einzigen „vocalismo“ 585. Und kurz davor schrieb Silva  : „La parola espressiva è un simbolo non del tutto adeguato al suo fondamento, espressione che spiega la necessità dell’arte musicale, la quale ingrandisce e sviluppa questo simbolo espressivo rendendolo sempre più adeguato al suo fondamento.“ Ebd., 584–585. 360 „La musica è un linguaggio comune ai diversi popoli civili soltanto nelle sue apparenze esteriori, ma […] intimamente invece costituisce, come le lingue, la caratteristica spiccata ed individuale di ogni razza, di ogni nazione, e ne’ suoi minimi particolari persino dei singoli individui.“ Ebd., 571–572. 361 „È in base a questo vocalismo che possiamo riconoscere e stabilire il carattere sentimentale e musicale di un popolo  ; è in base alla constatazione di esso nelle sue varie forme di manifestazione che noi dobbiamo negare all’arte musicale quel carattere di internazionalismo che generalmente tendesi oggidì ad attribuirle.“ Ebd., 571.

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definiert  : Mit der biologischen Vielfalt korrespondiert auf paradoxe Weise die Einfalt des einzig wahren Musikalischen.362 Die Gegenüberstellung zwischen musikalisch Deutschem und Italienischem nimmt damit bei Silva nicht nur die Form einer biologisch begründeten Alterität an, sie gestaltet sich zusätzlich, wie es bereits bei Torrefranca der Fall war, wie eine Werthierarchie. *** Die Überlegenheit des Italienischen und das Problem seiner Definition Die logische Fragwürdigkeit einer Alterität, die nach einer gemeinsamen Maßeinheit bemessen und hierarchisch zugeordnet wird, ist jedoch nicht die einzige Paradoxie seiner Schrift  : Zumindest zweifelhaft bleibt die Tatsache, dass diese „objektive“ Maßeinheit (der „vocalismo“) von Silva selbst am Anfang seines Artikels ad hoc konstruiert wurde. Daraus folgt, wie zu erwarten war, eine strukturelle Überlegenheit des musikalisch Italienischen gegenüber dem Deutschen. Anhand seines Konstrukts wiederholt Silva im weiteren Verlauf seines Texts die von Mazzini bis Torchi und Torrefranca immer wieder anzutreffenden Stereotypen, die die binäre Opposition von musikalisch Deutschem und Italienischem geprägt hatten  : In der Gegenüberstellung von „Natürlichkeit“ (Italien) und „Künstlichkeit“ (Deutschland) schreibt er damit den „musicisti tedeschi“ einen – nun jedoch rassisch bedingten – „indole speculativa“ sowie ein „temperamento più intellettuale che sentimentale“ zu.363 Diese Charakteristika der „keltisch-germanischen“ Rasse stellen jedoch für Silva nicht nur den Gegenpol zu den „mediterranen“ Eigenschaften dar, sie sind auch als grundsätzlich negativ zu verstehen. Sie verstoßen in der Tat gegen den „vocalismo musicale“ und widersetzen sich damit dem Wesen der Musik, das für Silva, wie vorher 362 „Alcuni individui ed alcuni popoli hanno sviluppatissimo questo vocalismo musicale, altri meno. Un’attenta osservazione ci rivelerà che appunto sulla misura varia di questo vocalismo fondasi la differenziazione qualitativa dello spirito musicale degli individui e delle razze.“ Ebd., 571. 363 „Lo spirito musicale dei popoli nordici dell’Europa e quello dei popoli mediterranei sono nettamente differenziati fra loro dal vocalismo, che nei popoli mediterranei è base fondamentale dell’arte ed ha impresso ad essa un carattere eminentemente sentimentale, nei nordici è invece accessorio e secondario elemento dell’arte loro, che ha sempre avuto e conservato un carattere prevalentemente intellettuale.“ Ebd., 571–572.



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veranschaulicht wurde, allein in der Sphäre des Emotionalen bzw. Emotiven liegt und in der die „Stimme“ („voce“, „lingua“, „canto“) ihre natürlichen Ausdrucksmittel findet. Die „keltisch-germanische“ Rasse litt damit von Silvas Standpunkt aus unter einem strukturellen Mangel an „vocalismo“, der ihr einen angemessenen Umgang mit dem Musikalischen unmöglich machte. Dies habe die deutsche Musik zu einer künstlerischen Entfaltung gezwungen, die allein in den instrumentalen Gattungen erfolgen konnte.364 Dem „vocalismo“ vollkommen zu entsprechen, ist ein Charakteristikum der italienischen Musik, die sowohl vokal als auch instrumental sein kann.365 Gegenüber der Musik der „keltisch-germanischen“ Rasse hat damit das musikalisch Italienische ein Primat, das für Silva sowohl ästhetischer als auch historischer Natur ist  : Es seien historisch allein die „mediterranen Völker“, in primis die Altgriechen gewesen, die das wahre, emotive Wesen der Musik entdeckt haben, und die italienische Musik ist für Silva eine direkte Fortsetzung des altgriechischen Musizierens.366 Die verspäteten „musicisti tedeschi“ haben für die Herausbildung ihrer nationalen Musik allein die formalen Mittel des musikalisch Italienischen übernehmen können, nicht jedoch dessen „Geist“ („lo spirito“). Dazwischen stand die unüberwindbare Barriere der biologischen Gegebenheiten. Die Instrumentalmusik, das Proprium der „musicisti tedeschi“, ist gegenüber dem musikalisch Italienischen von einem historischen Gesichtspunkt 364 „I musicisti tedeschi si servirono appunto prevalentemente dell’orchestra per esprimere le loro concezioni puramente intellettuali, mistiche e fantastiche  ; svilupparono in modo ammirevole l’orchestrazione e la composizione istrumentale come quel mezzo che meglio d’ogni altro poteva prestarsi, secondo il loro temperamento, all’espressione delle loro concezioni artistiche.“ Ebd., 582. 365 „La concezione della musica come espressione del sentimento ha fatto sviluppare nelle nostre razze la musicalità della voce, per ciò il ‚vocalismo‘ è la base naturale del nostro temperamento musicale.“ Ebd., 572. 366 Silva widmet zwei Seiten seiner Studie der Schilderung einer rätselhaften Kurzgeschichte der historischen Entfaltung des „vocalismo“ in der westlichen Musik, die eigentlich einer separaten Untersuchung Wert ist  : Aus der gemeinsamen Abstammung der drei westlichen „Rassen“ von den asiatischen Völkern, deren Musik einen „spekulativen Charakter“ trug, gelang auf eher unerklärliche Weise allein der „mediterranen“ Rasse die Entdeckung des wahren Wesens der Musik. Die „keltisch-germanische“ Rasse blieb stattdessen in diesem ursprünglichen „spekulativen Charakter“ gefangen und nur später gelangte sie zu einer zweifelhaften, allein auf das Äußerliche beschränkten Assimilation der „mediterranen“, wahren Musik. Siehe ebd., 573–574.

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aus parasitär und in ihrem Wesen grundsätzlich minderwertig. Der Übergang von einer Vorherrschaft der „musica italiana“ zu der einer „musica tedesca“, von der Vokal- zur Instrumentalmusik im 19. Jahrhundert, wird damit von Silva als eine rassisch bedingte künstlerische Dekadenz verstanden, die aus einer Pervertierung der expressiven Mittel der italienischen Musik besteht.367 Silva kippt die vorherrschende und von Torrefranca mit polemischem Gestus übernommene ästhetische Hierarchie zwischen Autonomie- und Nachahmungsästhetik um. Vor dem Hintergrund eines einzig wahren Wesens der Musik definiert er die Unterscheidung zwischen „musica pura“ und „musica non pura“ als ein – von den „nordischen“ Komponisten erfundenes – „gewaltiges Missverständnis“ und belegt mit zahlreichen Nietzsche-Zitaten diese These, die das Argument einer „Sklavenmoral“ aus Nietzsches Genealogie der Moral (1887) auf das musikästhetische Gebiet vermutlich nicht zufällig zu übertragen schien.368 Nachdem Silva die Ewigkeit und konstitutive Überlegenheit der „italianità“ mit den Mitteln der Wissenschaft demonstriert hat, konfrontiert er den Leser am Ende seines Aufsatzes mit der musikalischen Gegenwart und kritisiert stark die damalige italienische Opernszene  : Die jüngsten Triumphe des Verismus sind nach Silva nicht die Triumphe des rassisch gerechten „vocalismo musicale“, sie sind vielmehr das extreme Resultat einer Dekadenz des Italienischen, die aus einer Vermischung mit der pervertierten Musik der „keltisch-germanischen“ Rasse erfolgte.369 Im ersten und im letzten Paragrafen des Artikels rekurriert 367 „I compositori nordici attingono la linfa vitale dell’arte loro dall’arte italiana  ; si assimilano culturalmente in modo più o meno profondo i nostri mezzi espressivi eminentemente vocali, ma non il nostro spirito  ; per cui questi mezzi, a contatto della loro indole speculativa e del loro temperamento più intellettuale che sentimentale, generano lo sviluppo di quella formidabile arte istrumentale che era destinata a vincere e a soggiogare l’arte semplice e naturale italiana.“ Ebd., 580 368 „Essi [die „nordischen“ Komponisten, d. V.] giunsero a fare della musica istrumentale la sola forma d’arte moderna vera ed elevata, e relegarono la musica vocale al grado di forma d’arte inferiore  ; crearono quell’equivoco, per noi madornale, basato sulla distinzione di essenza e di valore artistico fra musica pura (l’istrumentale) e musica non pura (la vocale), equivoco derivato e derivante dall’insufficienza del vocalismo musicale.“ Ebd., 582. 369 „E questa orribile decadenza della lirica la dobbiamo al barbarismo che necessariamente ha creato l’impurità della musica vocale. Lo sviamento nel percorso evolutivo della lirica, e specialmente dell’opera, è cominciato da quando, per opera di musicisti stranieri, si è voluto distruggere il cosidetto ‚convenzionalismo‘ per fare del ‚verismo‘, arrivando così all’assurdo, cioè alla quintessenza del convenzionalismo e dell’irrealismo.“ Ebd., 591. Auch an anderen Stellen



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Silva damit gerade auf Torrefrancas Konstrukt einer „musica internazionale“, um die Gefahr für die „italianità“ (und gleichzeitig für das „wahre Wesen“ der Musik) zu benennen und zu einem „energischen Kampf“ gegen „das monströse Gebäude, das die Fremden auf dem heiligen Boden der italienischen Kunst errichtet haben“, aufzurufen.370 Was ist jedoch letzten Endes die „italianità“, die Silva unter dem Konstrukt eines „vocalismo musicale“ proklamiert und vehement verteidigt hat  ? Am Ende seiner Bemühungen angelangt, muss Silva implizit eingestehen, dass das, was er anhand der Konstrukte des „vocalismo musicale“ und der Rasse definieren wollte, die „italianità“, de facto immer noch in ungreifbarer Ferne bleibt  : „Ich muss gestehen, dass ich ein innerliches Unbehagen bei dem Gedanken fühle, dass heutzutage den Musikern nur mittels Beweisführungen die Bedeutung der italianità erklärt werden kann. Viele fragen nach aktuellen Modellen  : Ich weiß, dass solche Modelle entweder nicht vorhanden oder noch unbekannt sind. Auf alle Fälle liegt es nicht in unserer barbarischen modernen Musik, dass man sie suchen muss  : Sie sollen stattdessen in unserem Klassizismus gesucht werden, dessen Wesen im Inneren unserer künstlerischen Psyche wachgerufen werden soll.“371 Nach so gelehrtem Argumentieren kann Silva immer noch kein einziges konkretes Beispiel für das musikalisch „Italienische“ nennen  : „italianità“, „vocalismo“, ist von „triste recentissimo passato“ und von dem „dilettantismo“ in den Gesangskompositionen „anche rispetto ai più illustri musicisti viventi“ die Rede (ebd., 595). Für weitere Kritiken Silvas an der zeitgenössischen italienischen Opernproduktion siehe auch den Vortrag von Silva vom ersten nationalen Musikkongress 1921 in Turin (Silva s. d. [ca. 1921], L’arte del canto). 370 „Aspetta noi, insegnanti, nelle scuole e i giovani musicisti nell’arte e fra il popolo una lotta energica […] per demolire il mostruoso edificio innalzato dagli stranieri sul sacro suolo dell’arte italiana.“ Silva 1916, Alcune riflessioni, 594. 371 „Devo confessare che […] provo un intimo senso di rammarico pensando che debba ora esser necessario ricorrere a dimostrazioni per spiegare a musicisti che significa l’italianità musicale. Molti chiedono dei modelli attuali di italianità musicale  : lo so che questi modelli o non esistono o, se forse esistono, sono sconosciuti  ; ma non è ad ogni modo nella nostra barbara musica moderna che dobbiamo cercarli  : cerchiamoli invece nel nostro classicismo, rievochiamone l’immagine nell’intimo della nostra psiche artistica.“ Ebd., 593.

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„musica internazionale“, „mediterrane“ und „keltisch-germanische“ Rasse entpuppen sich bei der Frage nach ihren konkreten Inhalten als das, was sie sind  : rein intellektuelle Konstrukte, ein einziges flatus vocis, das Silva nicht logischargumentativ zu meistern weiß. Den Ausweg aus diesem argumentativen cul de sac sucht Silva wie bereits Torchi und Torrefranca in einem weiteren intellektuellen Artefakt, in dem Konzept der „Tradition“  : Er nimmt am Ende seines Artikels Bezug auf die „Klassiker“, die nun als Garanten und Behüter des Nationalen evoziert werden. Silva wagt jedoch auch nicht, diese „Klassiker“ konkret beim Namen zu nennen  : In dem Versuch, eine Mittelposition zwischen den Extremen eines Torrefranca und eines Mascagni zu bilden, weiß er, dass er dabei leicht den Konsens verlieren kann. „Tradition“, „vocalismo“ und „Rassen“ helfen Silva nicht, seiner Position ein erkennbares Profil zu geben, und darauf folgt bei ihm in den folgenden Jahren eine rasche Enttäuschung. *** Fazit  : Silvas ideologisches Fantasieren oder von den Enttäuschungen einer f­­ehl­geschlagenen Quadratur des Kreises Silvas Versuch, das tradierte Bild einer vokalen Identität Italiens neu zu formulieren, um es dadurch zu retten, schlug rasch fehl. Ausschlaggebend war dabei vermutlich nicht so sehr die betonte Abstraktheit seines zentralen Konstrukts eines „vocalismo musicale“, sondern viel mehr seine Position in der damaligen Spaltung des italienischen Musiklebens  : Silva verteidigte gegenüber Torrefranca und vielen der führenden Köpfe der neuen Komponistengeneration trotz der Öffnung zur Instrumentalmusik und der Kritik am Verismus grundsätzlich ein vokales Profil des musikalisch Italienischen, was ihm den Zugang zum avantgardistischen Lager erschwerte. Für die konservativen Positionen war andererseits seine grundlegende Kritik am Verismus und allgemein an der italienischen Opernproduktion jener Zeit viel zu radikal. Silva hatte sich mit seinem Artikel in eine unvorteilhafte Mitte gestellt, die ihm keinen Erfolg versprach. Aufgrund der Undurchführbarkeit seiner Pläne sieht sich Silva schließlich 1920 zur Emigration in die Vereinigten Staaten gezwungen. Er lässt dies aber



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noch 1921 demonstrativ seine Kollegen in Italien wissen, indem er den Text eines Vortrags für den Primo congresso italiano di musica in Turin aus New York schickt. Dort schildert sich Silva nach dem alttestamentarischen Muster der vox clamans in deserto als unfreiwilliger Emigrant vor einer „Patria“, die es ihm nicht erlaubt, die „konstruktive und gleichzeitig zerstörende Anstrengung“ durchzuführen, die seiner Meinung nach doch so nötig ist.372 Warum sich jedoch schließlich mit einer Rand- und Ausnahmefigur wie Silva beschäftigen  ? Sollte man doch nicht lieber diesen schwerfälligen Aufsatz im Schauerkabinett der Geschichte der Musikwissenschaft verstauben lassen  ? Im Jahr 1989 gab der slowenische Philosoph Slavoj Žižek unter dem Titel The sublime object of Ideology eine Monografie heraus, welche das bis dato übliche Ideologiekonzept vielfach auf den Kopf stellte.373 Aus dieser Monografie möchte ich nur einen, dennoch wichtigen Aspekt betonen. Für Žižek stellt die Ideologie nicht eine Illusion dar, welche die wahren Zustände verdeckt. Die Ideologiekritik besteht damit nicht aus einem Akt der rationalen Demaskierung, welcher ideologisch verzerrte Vorstellungen mit der Realität konfrontiert. Žižek greift stattdessen auf Lacan und auf dessen Neuformulierung der freudschen Psychoanalyse zurück und definiert damit Ideologie als eine unbewusste Fantasie, welche die soziale Realität (was wir als „Wirklichkeit“ erfahren) strukturiert.374 Was bedeutet „eine unbewusste Fantasie“  ? Für Žižek ist Ideologie sicherlich eine Illusion, eine Meistererzählung, eine Fantasie eben  ; es handelt sich jedoch um eine Illusion der besonderen Art, nämlich eine Illusion, die sich entlang eines traumatischen Zentrums strukturiert  ; eines traumatischen Zentrums, das im besten freudschen Sinne verdrängt wer-

372 „Io vado laggiù [in die USA, d. V.] momentaneamente chiamato a contribuire alla diffusione della cultura italiana fra quel mondo musicale  : […] Le condizioni attuali del nostro Paese sembrano purtroppo tali da non permettere per ora alle nostre energie uno sforzo costruttivo e demolitore nello stesso tempo nel campo dell’arte del canto.“ Silva s. d. [ca. 1921], L’arte del canto, 214. 373 Siehe Žižek 2008, The sublime object. Über Žižeks Denken siehe die anschauliche Einführung von Myers 2003, Slavoj Žižek. 374 So schreibt Žižek zum Beispiel an einer Stelle  : „The fundamental level of ideology, however, is not that of an illusion masking the real state of things but that of an (unconscious) fantasy structuring our social reality itself.“ Ebd., 30.

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den muss.375 Die Funktion der Ideologie ist damit nicht das Vertuschen der realen Zustände. Die Funktion der Ideologie ist stattdessen, die „Realität“ so einzurichten, dass sie eine traumatische, nur unbewusst wahrgenommene Erfahrung erfolgreich verdrängen kann. Wahre Ideologiekritik ist damit nicht das Hervorheben der Unfähigkeit ideologischer Konstrukte, die realen Zustände zu beschreiben. Wahre Ideologiekritik ist stattdessen die Offenlegung jenes traumatischen Zentrums, für dessen Verdrängung die ideologische Fantasie entwickelt wurde. Wenn Silvas Aufsatz als eine solche ideologische Fantasie, als eine Meistererzählung aufgefasst wird, welche die gesamte musikalische und soziale Erfahrung seines Autors von Grund auf strukturierte, würde nun die Frage lauten  : Was versucht Silva anhand seines Konstrukts eines Vokalismus zu verdrängen  ? Gerade in der Antwort auf diese Frage findet man das Moment der Wahrheit in Silvas abstruser Argumentation und zugleich auch die Antwort auf die Frage nach dem Nutzen dieses Randtextes für das Verständnis der Musikwissenschaft in Italien zu jener Zeit. Denn was Silvas rassisches Fantasieren verdrängt, ist nicht weniger als das Fehlschlagen des gesamten Forschungsprojekts der ersten zwei Generationen italienischer Musikwissenschaftler, so wie es im Rahmen dieser Arbeit bisher geschildert wurde. Das Forschungsprogramm der Gründungsväter der Disziplin in Italien bestand grundsätzlich aus zwei Punkten  : aus Positivismus und integralem Nationalismus. Die neue Disziplin der Musikwissenschaft konstituierte sich auch in Italien um die 1890er-Jahre entlang eines Verständnisses von Wissenschaft als einem Wissen der radikalen Objektivität. In Anlehnung an den am Ende des 19. Jahrhunderts in ganz Europa vorherrschenden epistemischen Diskurs des Positivismus bedeutete damit Wissenschaft, sich über das Untersuchungsobjekt zu stellen und einen vermeintlich wertneutralen, objektiven Standpunkt einzunehmen. Dafür war es notwendig, die Existenz von Fakten, von reinen, gegebenen und nicht weiter hinterfragbaren Tatsachen zu postulieren  : Bei den Fakten zu bleiben, hieß, objektiv und wertneutral zu forschen. Es ist vielleicht eine Ironie des Schicksals, dass eine der ersten dieser unhinterfragten Tatsachen zusammen mit dem Konzept vom „Werk“, dem blin375 „The function of ideology is not to offer us a point of escape from our reality but to offer us the social reality itself as an escape from some traumatic, real kernel.“ Ebd., 45.



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den Glauben an das Selbsterklärungspotenzial des Notentextes etc., gerade das Konzept der Nation war. Nach Benedict Andersons „imagined communities“ und der kulturalistischen Wende der Nationalismusforschung am Anfang der 1980er-Jahre mutet das Glauben dieser frühen Musikwissenschaftler an die Faktizität der Nation naiv bis befremdlich an. In der Tat war das Projekt der italienischen Musikwissenschaft von Anfang an problematisch, wie aus dem bisher Gesagten anschaulich hervorgeht  : Die Kluft zwischen dem Vorsatz der reinen Tatsachenbeschreibung und dem Rekurs auf immer komplexere, interpretatorisch offene Erklärungsmodelle für den gesuchten Zusammenhang von Musik und Nation, wuchs von der ersten zur zweiten Generation italienischer Musikwissenschaftler beständig  : Wenn Torchi am Anfang der 1890er-Jahre die musikalische „italianità“ von Corelli eher flott, mit kurzen Notenbeispielen und einem Vergleich mit Wagners Rheingold „objektiv“ feststellen konnte, sah sich Fausto Torrefranca mehr als ein Jahrzehnt später gezwungen, eine komplexe Rhythmustheorie zu entwerfen, um die „italianità“ der Symphonien Sammartinis mit einiger Unzufriedenheit zu beweisen. Bereits am Anfang der 1910er-Jahre kündigten sich, wie am Anfang des Kapitels erwähnt, zuerst in der Ästhetik mit Giannotto Bastianelli und wieder Torrefranca die ersten Anzeichen einer Wende vom Positivismus zu einem idealistisch geprägten Ansatz in der Musikforschung an. Die Antwort von Silva auf das Trauma des progressiven Denouement der Inkonsistenz des positivistischen Forschungsprojekts ist radikal ideologisch im Sinne Žižeks. Sie besteht in einer noch radikaleren Artikulierung des Traums der Objektivität und des objektiven Zusammenhangs von Musik und Nation  : Wenn die Textphilologie und die Noten- und Kontextanalyse versagt haben, dann wird die Biologie helfen. Mit dem Konzept der Rasse will Silva endlich festen Boden unter den Füßen haben. Er setzt auf positivistische „Wissenschaftlichkeit“, auf reine, unhinterfragbare biologische Tatsachen. Silva ist damit in einer gewissen Weise die paradoxe Verwirklichung des Traums (also der ideologischen Fantasie), welcher das Forschungsprojekt der ersten zwei Generationen von italienischen Musikwissenschaftlern ausmachte. Silva verfährt im Sinne des Objektivitätsanspruchs dieses Projekts  : Mit einer höchst interdisziplinär ausgerichteten Forschungsperspektive überträgt er die damals neuesten, in einer vermeintlichen Natur verankerten, „objektiven“ Erkennt-

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nisse der rassischen Anthropologie auf den Musikbereich und verbindet dadurch Musik und Nation. Die Verwirklichung der Fantasie ist bekanntlich nicht das Erreichen des Traums, sondern das Offenlegen des Verdrängten, also ein Alptraum. Moralisch ist Silvas Aufsatz sicherlich ein solcher Alptraum. Auf den vorigen Seiten habe ich veranschaulicht, wie Silvas Text mit seinen logischen Brüchen und zirkulären Konstrukten auch rein argumentativ seinen eigenen Anspruch an rationelle Klarheit widerlegt. Die Widersprüche von Silvas Argumentation sollen jedoch nicht ihm allein zur Last gelegt werden. Sie liegen stattdessen im Projekt selber, das den Anfängen der italienischen Musikwissenschaft zugrunde lag. Silva ist damit nur das auffälligste Symptom für eine Wissenschaft, die sich als „Tatsachenbeschreibung“ versteht, die ihre eigenen Kategorien, mit denen sie gerade diese „Tatsachen“ konstruiert, nicht kritisch hinterfragt, sondern hypostasiert. Eine Wissenschaft also, die das Sein und das Sein-Sollen, verschränkt und dadurch bestehende Gewalt- und Herrschaftsverhältnisse bestätigt  ; eine Wissenschaft schließlich, die das befreiende Projekt der Aufklärung widerlegt.

5.4 Giacomo Orefice  : Eine „Krise des musikalischen Nationalismus“  ? 1917

Ein Jahr nach Silvas radikalem Versuch, die italianità als rassenspezifische, biologisch verankerte Kategorie wissenschaftlich zu fundieren, hebt der Komponist Giacomo Orefice wiederum zum Thema einer italienischen Identität in der Musik die Feder.376 Diesmal liefert er aber einen der kritischsten Beiträge gegen den musikalischen Nationalismus, den man bis zu jenem Zeitpunkt in der Rivista finden konnte. Orefice führt in seinem Artikel eine regelrechte Dekonstruktion des musikhistorischen Diskurses durch, der dem Musikverständnis der Nationalisten zugrunde liegt, und zeigt mit Scharfsinn die Partialität und den Konstruktcharakter ihrer Argumentationen.

376 Orefice 1917, La crisi del nazionalismo.



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Orefice bleibt, wie im Weiteren verdeutlicht wird, nichtsdestotrotz ein Vertreter des musikalischen Nationalismus  : Wenn auch die luziden Argumente gegen jegliche vermeintliche nationale Eigenschaft in der Kunstmusik zunächst einmal eine radikale Ablehnung jeglichen Nationalismus in der Musik vermuten lassen, war Orefices Absicht nicht, ein Ende des Konstrukts einer musikalischen italianità zu bewirken. Orefices Aufsatz stellt nicht das Verschwinden der Kategorie der Nation aus ihrer privilegierten Stellung im italienischen Musikdiskurs jener Jahre dar, er markiert stattdessen den Zeitpunkt, in dem das Konstrukt der italianità in eine neue Phase eintrat  : Mit bzw. nach dem damals stark diskutierten Artikel von Orefice wird sich die Debatte um die Eigenschaften eines Italienischen in der Musik aus der ausschließlichen Konfrontation mit einem musikalisch Deutschen herauslösen. Die vexata quaestio einer „italianità in musica“ und die tradierte Profilierung der unterschiedlichen Positionen entlang einer (zumeist lautstark) beschworenen Alterität zu Deutschland werden nach dem Ende des Ersten Weltkriegs zunehmend anhand einer breiteren Perspektive debattiert  : Frankreich und allgemein das musikalische Geschehen in ganz Europa werden in die Diskussion einbezogen und Deutschland bleibt nicht mehr das einzige Bezugselement für die Definition der eigenen Identität.377 *** Am Anfang seines Aufsatzes wiederholt Orefice die Wechselwirkung zwischen Gesellschaft und Kunstwerk, die bereits bei Torchi unter der Bezeichnung „soziologischer Bezug“ („nesso sociologico“) dem Nationskonzept die Erlangung seiner uneingeschränkten zentralen Bedeutung im Musikdiskurs seit dem Ende des 19. Jahrhunderts ermöglicht hatte  : Jedes Kunstwerk wird damit auch von Orefice als „Reflex“ („riflesso“) des historischen Moments verstanden, in dem es entstand.378 Dementsprechend beteuert er die Richtigkeit eines musikalischen Nationalismus gerade zum damaligen Zeitpunkt des Weltkrieges, bei dem die Vielfalt der verschiedenen Kunstauffassungen im Hinblick auf die Bekämpfung des gemeinsamen Feindes „zu einem einzigen Willen“ zusammengeführt wer377 Siehe § II.6.2 in der vorliegenden Arbeit. 378 „Fu detto giustamente che ogni forma d’arte è un riflesso del momento storico in cui nasce e si evolve.“ Orefice 1917, La crisi del nazionalismo, 300.

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den muss.379 Auf den folgenden Seiten richtet Orefice seine Kritik jedoch auf den argumentativen Rahmen, in dem die gesamte Diskussion über die musikalische Identität Italiens bis dato geführt wurde. In einem ersten Schritt hebt er die Inkonsistenz einer Debatte hervor, die sich entlang des Konzepts einer „wahren“ Tradition strukturiert hatte. Er schreibt  : „Reichen allein diese zwei Jahrhunderte [das 18. und das 19. Jahrhundert, d. V.], in denen man sich auf die Oper konzentriert hat, um unsere musikalische Tradition zu bestimmen  ? Reichen sie, um die Existenz und Unveränderbarkeit dieser nationalen Charakteristika zu beschwören  ? Wenn ja, dann muss man mit Mut auch auf Palestrina, Monteverdi, Scarlatti, Frescobaldi […] und auch ein bisschen (es sei auch dies gesagt) auf den Verdi von Otello und Falstaff verzichten.“380 Orefice lässt hier seine eigene Position für eine Hinwendung Italiens zur Instrumentalmusik deutlich erkennen und richtet seine explizite Kritik nur an die Vertreter einer ausschließlich vokalen, auf die Oper fokussierten Auffassung der musikalischen Identität Italiens. Zumindest implizit wird jedoch bereits am Anfang seiner Schrift auch Torrefrancas Verabsolutierung der symphonischen Tradition als einziger Versinnbildlichung der „italianità in musica“ als weiteres Beispiel einer Verengung des musikgeschichtlichen Blicks angegriffen. Gleichzeitig verdeutlicht das Zitat auch die einfache, rhetorisch jedoch wirksame Strategie von Orefices Dekonstruktion des nationalistischen Diskurses in der Musik. Er verzichtet programmatisch auf den Rekurs auf intellektuelle Konstrukte (wie bei Silva) oder auf die abstrakte, systematische Kategorisierung 379 „Oggi, […] in musica precisamente come in politica, non vi sono, o almeno non vi dovrebbero essere più partiti. Tutti, […] siamo fusi, siamo concentrati in un solo sforzo, in un’unica volontà. Ed è perciò che il nazionalismo, piccolo nucleo prima della guerra, battagliero ma isolato, ha invaso oggi ogni campo della vita nazionale. È perciò che in musica tutti siamo oggi nazionalisti.“ Ebenda. 380 „Questi due secoli di storia [das 18. und das 19. Jahrhundert, d. V.], concentrati esclusivamente nell’opera […], bastano essi per stabilire le nostre tradizioni musicali e per permetterci di giurare sull’esistenza e sull’immutabilità dei loro caratteri nazionali  ? Se sì, bisogna rinunciare coraggiosamente al Palestrina, al Monteverdi, allo Scarlatti, al Frescobaldi, a tutti quei grandi che ho testè nominati, e un po’ anche (diciamolo pure) al Verdi dell’Otello e del Falstaff…“ Ebd., 305.



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kompositorischer Merkmale nach Völkern (wie bei Torrefranca). Er verschiebt die Diskussion auch nicht auf die Ebene einer ästhetischen Debatte. Mit radikaler Einfachheit häuft Orefice in seinem Aufsatz historische Beweise für die Pluralität des Musikalischen innerhalb eines einzigen Kulturraums an und hebt die gleichzeitige Existenz vergleichbarer, vermeintlich nationalspezifischer Charakteristika in unterschiedlichen Völkern hervor. Er zielt damit auf eine Diskreditierung des gesamten nationalistischen Musikdiskurses als Deutungsstrang des Musikalischen, der einem realitätsfernen Theoretisieren verfallen sei. Dem setze er allein die reinen „Fakten“ entgegen. In einem zweiten Schritt greift dann Orefice die – zumeist unausgesprochene – Voraussetzung auf, auf der beide Lager der damaligen Diskussion um die „italianità“ ihre Positionen aufgebaut hatten  : Er dekonstruiert die Plausibilität einer Postulierung überzeitlicher nationaler Charakteristika, die in ihrem Kern konstant im Laufe der historischen Entwicklung bleiben sollten. Orefice schreibt hier  : „Man hat immer gedacht, dass die Charakteristika der verschiedenen Nationalschulen von jeher, seit dem Ursprung dieser Schulen, vorhanden waren und dass sie sich unverändert erhalten haben, außer wenn jene Epochen von Dekadenz eintraten, während derer sie Fremdeinflüssen unterlagen. Man hat solche Fremdeinflüsse als schädlich bezeichnet, weil sie die Kunst einer Nation entarten würden. Nun, nichts ist falscher als diese Vorstellung. Alle von mir gesammelten Beweise veranschaulichen stattdessen, wie nicht einmal die musikalischen Charakteristika von einer einzigen Nation als ihr ausschließlicher und ewiger Besitz angesehen werden können.“381 Der Glaube an ab aeterno vorgegebene Merkmale des Italienischen (sowie des Deutschen) hatte Torchi und Torrefranca dazu veranlasst, solche Züge in der 381 „Si è sempre pensato […] che i caratteri che contraddistinguono […] le varie scuole musicali, siano sempre esistiti fino dalle origini delle scuole stesse, e si siano mantenuti di continuo immutati, salvo nelle loro epoche di decadenza, in cui esse parvero obbedire all’influenza straniera. Perniciosa influenza, si è detto, poiché tende a snaturare l’arte di una nazione. […] Ora, nulla di più errato di questa concezione. […] Tutti i fatti che ho raccolti, ci dimostrano ad evidenza che […] neppure i caratteri musicali […] – fatta eccezione per la musica popolare – possono esser posseduti esclusivamente e perpetuamente da una nazione.“ Ebd., 311–312.

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Musik der Vergangenheit mit den analytischen Mitteln der Musikwissenschaft zu suchen. Silva hatte sie seinerseits in der menschlichen Biologie unmissverständlich mit dem Konzept der Rasse verankert. Orefice hebt stattdessen die Veränderbarkeit solcher Züge hervor. Gleichzeitig greift er, wenn auch nur partiell, die zweite Voraussetzung an, auf der der gesamte nationalistische Diskurs jener Zeit beruhte  : die Vorstellung der Nation als einer organischen, holistisch in sich geschlossenen Gemeinschaft. Wie aus dem vorigen Zitat eindeutig hervorgeht, stellt er dieses Diskursmerkmal grundsätzlich nicht infrage, er grenzt jedoch dessen Geltungsbereich allein auf die „musica popolare“ ein. Im Fall der Kunstmusik (die „altra musica“) ist nach Orefice die Vorstellung nationalspezifischer Charakteristika ein Irrtum  : Die Kunstmusik sei seiner Meinung nach gerade als Resultat einer durch die Jahrhunderte entstandenen Interkommunikation zwischen den verschiedenen Völkern zu begreifen  : In ihrem historischen Werdegang ist die „altra musica“ für Orefice endgültig „internazionale“ geworden.382 In seinem Artikel schließt Orefice damit die Anwendbarkeit der Vergangenheit in Form von Tradition für die Strukturierung einer nationalen Identität in der Musik radikal aus  : Traditionen stellen für ihn eine immer zur Partialität verurteilte Selektion aus dem Fundus des Geschehens dar. Das Traditionskonzept als argumentatives Werkzeug für eine kollektive Identitätsbildung einzusetzen, ist außerdem nach Orefice ein in seinen intellektuellen Voraussetzungen durchaus fragliches Unterfangen  : Es wird eine Unveränderbarkeit gewisser Charakteristika postuliert, die für ihn unter einem historischen Gesichtspunkt nur eine auf die „musica popolare“ begrenzte Geltung haben. Vielmehr beweist die Geschichte die Pluralität und die Koexistenz unterschiedlicher, von verschiedenen Kulturräumen geteilte Eigenschaften, und dies ist für ihn vor allem im Fall der Kunstmusik besonders deutlich. Interessanterweise wird die „italianità“ negiert, gerade in einem Artikel wie dem von Orefice, der gleichzeitig noch ein anderes, tradiertes Element in der 382 „Un nazionalismo musicale, nel senso in cui fu inteso finora, non esiste e non può esistere che nella musica popolare  ; […] che nascendo istintivamente […] porta seco le impronte di tutti i suoi caratteri di razza, di tradizione, di ambiente. L’altra musica, invece, quella che è il prodotto della elaborazione scientifica e della costruzione tecnica, […] tenderà necessariamente, nel suo divenire, a perdere i caratteri ristretti di nazionalità per assumere invece quelli più vasti dell’internazionalismo.“ Ebd., 310.



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Diskussion über Nationalität in der Musik negiert  : das Primat. Italien soll sich nicht um eine musikalische Vorherrschaft bemühen, es muss stattdessen „seinen ergänzenden Beitrag im Hinblick auf die universelle Evolution der Musik bringen“.383 Orefice skizziert damit ein klares Bild der seiner Meinung nach richtigen musikalischen Verhältnisse zwischen den verschiedenen Nationen in der Musik  : Kooperation und Synthese. Es gibt keine ewig gültigen Nationalcharakteristika in der Kunstmusik, wohl aber sich im ständigen Wandel befindende und nie fest umrissene musikalische Stile, die sich zum Teil vorübergehend bestimmten Nationen zuordnen lassen. Diese Stile müssen miteinander in Berührung kommen und sich im Hinblick auf einen ewig andauernden Prozess der Perfektibilität miteinander verbinden. Ein nationales Primat ist für Orefice ein Absurdum und die Suche danach eine gefährliche Chimäre. Zusammen mit der „italianità“ und dem „primato“ wird in Orefices Artikel auch das dritte für den Versuch, die musikalische Identität Italiens zu definieren, bis dato konstitutive Element widerlegt  : der alleinige Bezug auf Deutschland. Die Standortbestimmung der italienischen Musik – „italienisch“ ist in diesem Fall als rein geografische Bezeichnung zu verstehen – definiert sich nun zum ersten Mal im Hinblick auf eine gesamteuropäische Ebene. In diesem Punkt ist Orefice besonders deutlich und schreibt  : „Bis vor einigen Jahren war man gewohnt, jeden Kompositionsversuch außerhalb der Oper mit einem einfachen Aphorismus zu erledigen  : ‚Die Italiener sind Opernkomponisten, die Deutschen schreiben Symphonien. Lassen wir den Deutschen die Symphonie und begnügen wir uns mit der Oper.‘ Eine groteske Oberflächlichkeit […]. Heutzutage handelt es sich nicht mehr allein um ein ‚EntwederOder‘ zwischen Oper und Symphonie. Es handelt sich stattdessen zum Beispiel um den Impressionismus [….]. Es gibt heute gar keinen Grund, unserer Kunst das Recht abzusprechen, sich diese neuen Ausdrucksformen anzueignen.“384 383 Italien soll „portare […] il suo contributo integrante alla evoluzione universale della musica“. Ebd., 314. 384 „Fino a qualche anno fa era costume di liquidare ogni nostro tentativo musicale fuori del campo dell’opera con un aforisma assai semplicista  : ‚Gli italiani sono operisti, i tedeschi sinfonisti‘. Lasciamo la sinfonia ai tedeschi e accontentiamoci dell’opera. Semplicismo grottesco […]. Oggi non si tratta più soltanto di opera o di sinfonia. Si tratta, per esempio di impressionismo

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Orefices Artikel macht mit seiner radikalen Negation von „italianità“, „primato“ und Deutschlandbezug deutlich, wie eng diese drei Elemente in der Diskussion miteinander verwoben waren, und lässt die Möglichkeit eines Deutungshorizonts des Musikalischen aufleuchten, der außerhalb des Nationalen steht. Man darf Orefices durchaus kühnen Artikel freilich nicht überinterpretieren  : Wie bereits erwähnt wurde, plädiert Orefice im zweiten Teil seines Beitrags für einen „nuovo nazionalismo“, der auf die Erkenntnisse der vorangehenden pars destruens des Artikels Rücksicht nimmt. Trotz der durchaus luziden Infragestellung der intellektuellen Voraussetzungen des nationalistischen Musikdiskurses jener Zeit zielt Orefice mit seiner Schrift schließlich nicht auf eine grundlegende Abschaffung des Nationalismus in der Musik ab.385 Vielmehr beabsichtigt er die Demaskierung jener Ausprägung des musikalischen Nationalismus, die jegliche Form der Öffnung gegenüber dem kulturellen Panorama Europas ablehnt. Diese Art des musikalischen Nationalismus, den er als „groteske Oberflächlichkeit“ („semplicismo grottesco“) bezeichnet, würde das Land in einen kulturellen Isolationismus führen, den Orefice um jeden Preis vermeiden möchte. Der „neue Nationalismus“ muss stattdessen nach Ansicht Orefices die zwei Pole der „Volksseele“ und der gegenwärtigen sowie vergangenen gesamteuropäischen Kunstmusikproduktion gleichberechtigt beachten und in Einklang bringen. Orefice vertritt hier eine durchaus unklar umrissene Position, der es aufgrund der Suche nach einer alle Seiten der Debatte zufriedenstellenden Lösung an der notwendigen Klarheit für eine konkrete Umsetzung mangelt. Die Dekonstruktion der Ewigkeit und der Volksgebundenheit vermeintlich nationaler Charakteristika bleibt jedoch ein scharfer und origineller Gedanke. In der Bekämpfung des kulturellen Isolationismus hatte sich bereits vor Orefices Artikel und trotz der Vielfalt der einzelnen Positionen eine ganze Generation […]. Per nessuna ragione sarebbe lecito contestare all’arte nostra il diritto che tali nuove forme faccia sue proprie.“ Ebd., 314, Fußnote 1. 385 „Crisi, dunque, del nazionalismo  ; la quale, però, deve risolversi – è bene intenderci chiaramente, e proclamarlo ben alto – non già nella rinuncia al nazionalismo […], ma nella formazione di un nuovo nazionalismo. […] Un nazionalismo, che pur ricercando […] i caratteri più stabilmente tradizionali della musica italiana, e traendo maggior prodotto di quanto abbia fatto finora da quelli che le derivano direttamente dall’anima popolare, non rinunci ad ascoltare e a fare oggetto di studio e di assimilazione i prodotti più importanti e significativi della letteratura musicale straniera, classica e contemporanea.“ Ebd., 313.



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von Komponisten, Musikwissenschaftlern und -kritikern zusammengefunden, die sogenannte „Generazione dell’80“. Die letzten Konsequenzen aus Orefices Dekonstruktion und aus der Ablehnung eines nationalen Verständnisses von Musik wollte aber keiner von ihnen ziehen, sogar Orefice selbst nicht. Der Nationalismus blieb bis weit in die 1940er-Jahre hinein fester Bestandteil der italienischen Musikkultur und Orefices Artikel markiert damit nicht das Ende der Geschichte der „italianità“.

6. Nach Orefice  : Neuer Nationalismus, symphonische Tradition und das Aufkommen des Faschismus 6.1  „Rappel à l’ordre“  : Nationalismus, Faschismus und der italienische Musikdiskurs

Das Ende des Ersten Weltkriegs markiert sicherlich nicht das Ende der strukturierenden Rolle des Konzepts der Nation in Europa  : Woodrow Wilsons Vierzehn-Punkte-Programm, das in vielen wesentlichen Aspekten stark verändert in den Versailler Vertrag mündete, sah die Aufhebung des von Mazzini eindeutig in seiner strategischen Notwendigkeit postulierten Schwellenprinzips im nationalen Selbstbestimmungsrecht der Völker vor.386 Die konsequente Umsetzung der bis dato radikalsten Ausweitung des Nationalitätsprinzips ging jedoch nicht mit einem angemessenen Aufbau des auch in Wilsons Plan enthaltenen Projekts eines Völkerbunds einher.387 Ohne die Beteiligung der USA war dieser als oberste und schlichtende Instanz vorgesehene Organismus kaum fähig, das europäische Gleichgewicht zu sichern. Daher blieb keine andere Alternative als die erneute 386 Wie es in jüngster Zeit der Historiker Jürgen Osterhammel pointiert formuliert hat, war das 19. Jahrhundert sicherlich die „Epoche des Nationalismus“, „das 20. Jahrhundert war [jedoch, d. V.] die große Epoche des Nationalstaates. Im 19. Jahrhundert war das Imperium, noch nicht der Nationalstaat, die im Weltmaßstab dominante territoriale Organisationsform von Macht.“ Osterhammel 2009, Die Verwandlung der Welt, 606. Siehe außerdem ebd., 583–585. Die Aufhebung des „Schwellenprinzips“ mit Wilsons Friedensplan bedeutete die konkret politische Bestätigung von etwas, das mit dem Übergang vom „Risorgimento“-Nationalismus zum integralen Nationalismus am Ende des 19. Jahrhunderts auf der Ebene des kulturellen Nationalismusdiskurses bereits geschehen war  : Ab jenem Zeitpunkt schien es zunehmend legitim, dass jede Gemeinschaft von Menschen, die sich als eine Nation betrachteten, das Recht auf Selbstbestimmung, d. h. auf einen eigenen, souveränen und unabhängigen Staat, beanspruchen konnte  ; vgl. Hobsbawm 2005, Nationen und Nationalismus, 122. 387 Wilsons „fourteen points“ für den Frieden, mit ihrer Ausweitung des nationalen Selbstbestimmungsrechts der Völker im Zusammenhang mit der Errichtung eines „Völkerbunds“ stellten in der Tat den faktisch fehlgeschlagenen Versuch dar, eine zukunftsorientierte Antwort auf das Ende des „age of empires“ zu geben. Über Wilsons Friedensplan siehe außerdem Schwabe 2011, Weltmacht und Weltordnung, 66–72.

Nach Orefice  : Neuer Nationalismus, symphonische Tradition und das Aufkommen des Faschismus

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Bildung einer machtpolitischen Einflusssphäre  ; eine tradierte Lösung der europäischen Frage, die sich im Hinblick auf die Sicherung eines dauerhaften Friedens auf dem Kontinent mit dem Ersten Weltkrieg als unzulänglich erwiesen hatte.388 Die Neuschreibung der politischen Karte Europas im Namen des Nationenprinzips am Ende des Ersten Weltkriegs legte damit nicht den Grundstein für den versprochenen „ewigen Frieden“. Vielmehr ermöglichte sie die geopolitische Umsetzung sozialdarwinistischer intranationaler Konkurrenz, die ihr destruktives Potenzial in den darauf folgenden zweieinhalb Jahrzehnten entfalten sollte.389 Auch in Italien stellte die Erfahrung des Krieges keine Voraussetzung für eine Abschwächung des nationalistischen Diskurses dar. Der integrale Nationalismus hatte bereits in den Tagen des sogenannten „strahlenden Mai“ („maggio radioso“) im Jahr 1915 seine Fähigkeit gezeigt, breite Schichten der Gesellschaft für seine Ziele zu mobilisieren, und deutlich gemacht, welche konkreten Möglichkeiten für eine zukünftige „Revolution von Rechts“ in Italien bestanden  : Durch anhaltende Massendemonstrationen und eine effektive Pressekampagne war es den Nationalisten gelungen, eine unter der Realpolitik Giolittis bewusst neutral gesinnte politische Klasse regelrecht zur Intervention zu zwingen.390 Der Krieg hatte in der Tat eine Verschränkung zwischen dem Mythos der N ­ ation als homogenem Kollektiv, das nach einer prestigeträchtigen Großmachtpolitik strebt, und dem traditionell dem freiheitlich-demokratischen Diskurs zuzuordnenden Mythos der Revolution bewirkt  ; eine Verschränkung, auf der der Faschismus seinen Erfolg in den darauf folgenden Jahren aufbauen konnte.391 Der italienische Nationalismus schaffte es bereits während der Friedensverhandlungen durch die Parole eines „verstümmelten Sieges“ („vittoria mutilata“), der aus der Nichteinhaltung der vor Kriegseintritt vereinbarten territorialen Versprechen durch die anderen Siegermächte resultieren sollte, die verheerenden wirtschaftlichen und sozialen Folgen einer Kriegsteilnahme zu kaschieren, die de facto 388 Hobsbawm 1994, Age of extremes, 34. 389 Vgl. Schulze 1995, Staat und Nation, 288–293. 390 Siehe Lönne 1999, Die Entwicklung des italienischen Nationalismus, insbesondere 392–397. 391 Siehe Gentile 1997, Grande Italia, 140–145. Der faschistische Gründungsmythos der „Marcia su Roma“ stellt ein anschauliches Beispiel für diese Verschränkung zwischen der Vorstellung einer „Revolution aus dem und für das Volk“ und der Idee einer „nationalen Wiedergeburt“ als (Wieder-)Herstellung eines in sich homogenen und international mächtigen nationalen Kollektivs dar.

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von ihm angestrebt worden war. Die Machtprobe der Okkupation der heute zu Kroatien gehörenden Stadt Fiume seitens einer Gruppe von Ultranationalisten unter der Leitung von Gabriele D’Annunzio gab diesem Mythos ein konkret fassbares Profil, das die demokratisch gewählte politische Klasse weiterhin delegitimierte.392 Die Herrschaft des Faschismus markierte definitiv das Ende jeglicher gangbaren Alternativen zu einer nationalistischen Ausrichtung des kulturpolitischen Lebens des Landes, und der Nationalismus blieb im politischen wie im musikalischen Diskurs das zentrale, strukturierende Anliegen der italienischen Musikschaffenden während der 1920er- bis 1940er-Jahre mit deutlichen personellen und thematischen Kontinuitäten zu der vorhergehenden Zeit.393 Wie in den vorigen Abschnitten am Beispiel der Artikel von Torrefranca und Silva verdeutlicht wurde, war das integrale Verständnis der Nation spätestens um die 1910er-Jahre zu einer regelrecht musikalischen Kategorie des italienischen Musikdiskurses gemacht worden, die unabhängig von der künstlerischen Orientierung sowohl im Bereich der Avantgarde als auch bei den konservativen Kräften eine Rolle spielte. Weder Torrefranca noch Silva hatten die Zentralität des Nationskonzepts im Musikdiskurs infrage gestellt, vielmehr hatten sie seine Wirkungsmacht auf das Verständnis des Musikalischen in ihren Arbeiten weiter 392 Wegweisend für die spätere Forschung über die zentrale Bedeutung der „impresa di Fiume“ für die Herausbildung des symbolischen Repertoires und des „politischen Stils“ des Faschismus bleibt Mosse 1987, The poet. Dabei hebt Mosse die (Massen-)Kommunikationsmechanismen hervor, mit denen der noch am Anfang des Jahrhunderts elitär gesinnte integrale Nationalismus während des ersten Weltkriegs die Masse für sich entdeckt. Die Okkupation von Fiume stellte damit eine der ersten konkreten Realisierungen dieser „neuen Politik“ („new politics“) im politischen Diskurs Italiens dar, auf der nach Mosses Meinung die späteren Erfolge von Faschismus und Nationalsozialismus beruhten. 393 Weder eine wohl vorhandene, jedoch in dieser Hinsicht nicht entscheidende „ästhetische Unentschiedenheit“ des Faschismus (Vitzthum 2007, Nazionalismo e Internazionalismo, 162) noch eine „Lethargie“ des musikalischen Establishments Italiens gegenüber einem „modernisierenden“ Faschismus (Principe 1990, Das Schicksal, 182) sind für die auffällige Kontinuität des italienischen Musiklebens von den 1910er-Jahren bis 1945 verantwortlich. Vielmehr ist es die grundsätzliche Kontinuität im „integralen“ Verständnis des Nationalen, das allein in seinen identitätsstiftenden Komponenten wahrgenommen wurde, was den fast bruchlosen Übergang vom Musikdiskurs der 1910er-Jahre zu dem der 1920er- bis 1940er-Jahre ermöglichte. Dies bedeutet jedoch nicht, dass der Faschismus in seinem Streben nach der Errichtung eines „totalitären“ Systems den nationalistischen Diskurs weiteren Veränderungen aussetzte (siehe auch die nächste Fußnote).

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radikalisiert  : Beide hatten versucht, das Nationale in Form von kompositorischen Charakteristika oder (behaupteten) biologisch-rassischen Gegebenheiten zu systematisieren und ihm ein weitgehend konkretes Profil zu verleihen. Die Trias von nationaler Identität, kulturellem Primat und Tradition wurde von beiden nie angezweifelt und in ihrem Konstruktcharakter nicht anerkannt. Das integrale Verständnis des Nationalen beherrschte damit trotz erheblicher Meinungsverschiedenheiten in Bezug auf die inhaltliche Bestimmung der drei Elemente bereits am Anfang des 20. Jahrhunderts den gesamten italienischen Musikdiskurs. Die Machtübernahme durch die Faschisten zu Beginn der 1920er-Jahre bedeutete de facto keine grundlegende Veränderung der intellektuellen Koordinaten des italienischen Musikdiskurses  : Der Faschismus, der sich als „nationale Wiedergeburt“ verstand und den integralen Nationalismus im Hinblick auf den Aufbau eines totalitären Staates fortspann, konnte auf diese zwischen den unterschiedlichen Lagern des italienischen Musikdiskurses bestehende Gemeinsamkeit aufbauen.394 In dieser Hinsicht ist es nicht verwunderlich, dass man die Grundpositionen des italienischen Musikdiskurses bis zum Ende des Faschismus in einer gewissen 394 Der Historiker Roger Griffin hat in seinem erfolgreichen Buch von 1993 als identitätsstiftenden Zug des sogenannten „generischen Faschismus“ ein integrales Verständnis der Nation erkannt  : „Fascism is a genus of political ideology whose mythic core in its various permutations is a palingenetic form of populist ultra-nationalism.“, vgl. Griffin 1993, The Nature of Fascism, 2. Die Kontinuitätslinie von den extremen Formen des Nationalismus der italienischen (literarischen) Avantgarde am Anfang des 20. Jahrhunderts zum Faschismus ist zu Beginn der 1990er-Jahre von Walter L. Adamson in einer Reihe von Artikeln und schließlich in einer Monografie hervorgehoben worden (siehe u. a. Adamson 1989, Fascism and culture sowie Adamson 1993, Avant-garde Florence). Insbesondere hat Adamson sein Augenmerk auf die Florentiner Avantgardezeitschriften jener Zeit wie „La voce“, „Leonardo“ und „Lacerba“ gerichtet (und die Beiträge über die Musik weitgehend unberücksichtigt gelassen). Der Schwerpunkt seiner Analyse lag nicht so sehr in der Erörterung der Kontinuitäten in der Vorstellung des nationalen Kollektivs von der Avantgarde der 1910er-Jahre zum Faschismus, sondern vielmehr in der Rückführung verschiedener Elemente des „neuen politischen Stils“ des Faschismus auf diese frühere nationalistische Avantgarde. In diesem Sinne stellt die Arbeit Adamsons eine Fortsetzung der von Georg Mosse am Beispiel der Okkupation von Fiume seitens D’Annunzio begründeten Forschungslinie dar (vgl. Mosse 1987, The poet). Es muss jedoch vor einer pauschalen Kategorisierung des integralen Nationalismus der (literarischen) Avantgarde der 1910er-Jahre als „protofascismo“ (etwa „Vorfaschismus“) gewarnt werden, vgl. Gentile 2002, Mito dello stato nuovo, XIII (siehe außerdem das gesamte zweite Kapitel „Papini, Prezzolini e le origini del nazionalismo italiano“, ebd., 83–104).

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Weise bereits aus den Reaktionen ablesen kann, die auf die Veröffentlichung von Giacomo Orefices vorher besprochenem Artikel in der Rivista musicale italiana im Jahr 1917 folgten.395 Die Dekonstruktion der nationalistischen Trias des italienischen Musikdiskurses, die Orefice im ersten Teil seiner Schrift unternahm, stellte in der Tat, wie es vorher gesagt wurde, eine der wenigen signifikanten Versuche einer konsequenten Infragestellung der diskursiven Rahmenbedingungen dar, unter denen die italienische Debatte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts geführt wurde. Die auch in Bezug auf die spätere Entwicklung der italienischen Musikdebatte vereinzelt anzutreffende Radikalität von Orefices Kritik am musikalischen Nationalismus, welche die pars destruens des Artikels prägte, wurde im zweiten Teil der Schrift mit der Unterscheidung zwischen einer national verankerten „musica popolare“ und der „altra musica“ (der kosmopolitisch gesinnten Kunstmusik) einerseits und dem Eintreten für einen „neuen Nationalismus“ andererseits bereits von Orefice selbst abgeschwächt. Die Reaktionen auf Orefices Schrift im Jahr 1917 zielen trotz der unterschiedlichen ästhetischen und allgemein weltanschaulichen Standpunkte ebenfalls alle auf eine Rückführung des Musikdiskurses in seinen nationalen Kontext. Im folgenden Abschnitt werde ich die Reaktion von Alfredo Casella auf Orefices Artikel untersuchen. Casellas Parteinahme für den älteren Komponistenkollegen, der in seiner Schrift unter dem Vorzeichen eines sogenannten neuen Nationalismus viele der im Umkreis der „1880er-Generation“ bereits formulierten Ansichten wiedergegeben hatte, stellte in einer gewissen Weise eine selbstverständliche Geste dar. In meiner Untersuchung werde ich Casellas Schrift jedoch als einen regelrechten „rappel à l’ordre“ auffassen, der die von Orefice partiell versuchte Dekonstruktion der nationalistischen Koordinaten des Musikdiskurses in Italien geschickt zurückwies und durch Innovation die Weitertradierung des integralen Nationalismus für die nächsten drei Jahrzehnte des italienischen Musiklebens ermöglichte. Im letzten Abschnitt dieses Kapitels soll schließlich der Frage nach den Funktionen nachgegangen werden, die Torchis Vergangenheitskonstrukt vor dieser veränderten Deklinierung des integralen Nationalismus im italienischen Musikdiskurs in den 1920er- und frühen 1930er-Jahren zukamen  ; einer Frage, auf 395 Über Orefices Artikel siehe § II.5.4.

Nach Orefice  : Neuer Nationalismus, symphonische Tradition und das Aufkommen des Faschismus

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die man noch im dritten Teil dieser Arbeit anhand der italienischen Rundfunkmusikprogramme eingehen wird.396

6.2 Casella und der Trugschluss eines „Internationalismus“

Im Februar 1918 fasste der Musikkritiker Guido Maria Gatti in einem Beitrag für die Zeitschrift „Rivista musicale“ die Kontroverse zusammen, die Orefices Artikel ausgelöst hatte.397 Darin bemerkte er, dass einen Extrempunkt dieser Kontroverse eine Schrift des 33-jährigen Komponisten Adriano Lualdi bildete. Für die stark nationalistisch ausgerichtete Zeitschrift „Musica“ von Raffaello De Rensis schrieb Lualdi im August 1917 ein ausdrücklich gegen Orefices Artikel gerichtetes Plädoyer für eine nationale Musik, die auf musikalischer Ebene der zentralen Forderung des integralen Nationalismus nach einem in sich geschlossenen, homogenen Kollektiv Ausdruck verlieh.398 Lualdi vermied mit den großen Parolen von Patria, Nation und nationalem Charakter eine reale Auseinandersetzung mit den von Orefice aufgeworfenen Fragen nach der Plausibilität eines musikalischen Nationalismus und reagierte auch nicht auf das Problem 396 Siehe insbesondere § II.3.3. 397 Vgl. Gatti 1918, Ha detto male. Zanetti, der dem Artikel Gattis eine „überparteiliche“ Qualität in der nationalistischen Debatte zuspricht, zitiert daraus ausführlich, vgl. Zanetti 1985, Musica italiana, 381–383. Die „Überparteilichkeit“ Gattis in der gesamten Diskussion stellt eine eher verstellte Perspektive auf diese Schrift dar, die auf die grundsätzliche Entscheidung Zanettis zurückgeführt werden muss, die Entwicklung des italienischen Musiklebens in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vorwiegend aus der (eher unhinterfragten) Perspektive Casellas zu erzählen (siehe darüber meine Überlegungen über die Narrative einer „nationalen Modernisierung aus dem Geiste der Vergangenheit“ in § II.4.1). Der Musikkritiker Guido Maria Gatti vertrat in der Tat Ansichten, die denen der „Generazione dell’80“ sehr nahe standen (siehe zum Beispiel die Rezensionen Gattis von Werken Pizzettis und Malipiero in der Rivista musicale italiana ein Jahr später  : Gatti 1919, Le liriche di Pizzetti und Gatti 1919, Le espressioni drammatiche). Seine Kritik am extremen, engstirnigen Nationalismus eines Lualdi entspricht in vielen Punkten den Argumenten Casellas (siehe weiter unten in diesem Kapitel). 398 So schrieb zum Beispiel Lualdi an einer Stelle  : ��������������������������������������������� „Universali, internazionali, ultramoderni anche, se vogliamo, nei mezzi, che sono quasi la parte materiale dell’opera d’arte  ; assolutamente italiani ed indipendenti da ogni influsso straniero nello spirito, nell’idealità, nel concetto informatore di essa.“ Lualdi 1917, Per una crisi, zitiert nach Zanetti 1985, Musica italiana, 382.

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einer Neudefinition des musikalisch Italienischen vor dem zunehmenden Zentralitätsverlust der Musikproduktion Deutschlands im kompositorischen Panorama Europas. Auf die andere extreme Seite der Orefice-Kontroverse soll sicherlich Alfredo Casella gestellt werden, der im Dezember zur Feder griff, um gegen Lualdis Schrift und für Orefices Ansichten Partei zu ergreifen.399 Orefice hatte in der Tat in der pars construens seines Artikels eine Position vertreten, die in vielen Punkten die bereits vor dem Krieg oft wiederholten Anschauungen des avantgardistischeren Teils der „1880er-Generation“ wiedergab. Schon 1914 kann man zum Beispiel diese charakteristische, ungelöste Spannung zwischen Nationalem und Internationalem in dem Manifest der sogenannten „Giovane scuola italiana“ ablesen, die einen der ersten Gruppierungsversuche des fortschrittlich gesinnten Teils der jüngeren Generation italienischer Komponisten darstellte und unter anderem auch von Casella unterschrieben wurde.400 In diesem Manifest wurde die Absicht formuliert, die italienische Musik enger an das europäische Musikschaffen anzubinden  ; etwas, das jedoch – so weit wie möglich – ohne die Preisgabe des „nationalen Charakters“ erfolgen sollte.401 Diese Spannung hatte auch Orefices Text sowohl in seinem rhetorischen Aufbau als auch in seinen inhaltlichen Positionen strukturiert.402 In seinem Artikel vom Dezember 1917 wiederholte Casella diese und ähnliche Ansichten und hob die vielen Gemeinsamkeiten mit Orefices Schrift hervor. Gerade durch die enge Bezugnahme auf den Text des älteren Komponistenkol399 Casella 1917, La nuova musicalità italiana. 400 „Giovane Scuola Italiana“ wurde die Gruppe von Komponisten genannt, die auf dem Programm eines von Casella in Zusammenarbeit mit der italienischen Botschaft in Paris organisierten Konzerts am 2. Februar 1914 an der Salle des Agriculteurs stand (Vincenzo Tommasini, Ildebrando Pizzetti, Alfredo Casella, Francesco Malipiero, Giannotto Bastianelli, Vincenzo Davico, Giuseppe Ferranti). Sie waren alle „junge“ Komponisten, die um die 1880er-Jahre geboren worden waren. Siehe darüber Zanetti 1985, Musica italiana, 173–174. 401 Für das Zitat aus dem, dem Konzertprogramm vorangestellten, kurzen „Manifest“ der „Giovane Scuola Italiana“ siehe Zanetti 1985, Musica italiana, 173. 402 Weitere vor Orefices Artikel formulierte Entwürfe eines „europäisch“ gesinnten Nationalismus kann man zum Beispiel in der zweiten Nummer von Musica aus dem Jahr 1916 in den Beiträgen von Malipiero („La mania dei concorsi … e i trovatori“), Casella („Arte e Patria“) und Sebastiano Arturo Luciani („Nazionalismo musicale“) finden. Über diesen Artikel von Casella aus dem Jahr 1916 siehe Vitzthum 2007, Nazionalismo e Internazionalismo, 81–86.

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legen fallen jedoch die zunächst eher unscheinbaren, dennoch tiefgreifenden Unterschiede zwischen den beiden Ansätzen auf. *** Vordergründig greift Casella auf Orefices Trennung zwischen einer national verankerten musikalischen Folklore und der Kunstmusik zurück und spricht von einem „unwägbaren“ („imponderabile“) Nationalismus der wahren Kunstmusik. Diese Art Nationalismus sei dem anderen, „folkloristischen“ Nationalismus überlegen und stelle das Resultat von „tausenden verborgenen (‚occulte‘) Gründen“ wie Rasse, Kultur und „Atavismus“ („atavismo“) dar.403 Anhand dieses „unwägbaren Nationalismus“, den Casella nicht weiter konkretisiert, führt er das Konzept einer nationalen Musik ein, die italienisch und gleichzeitig gegenüber dem europäischen Musikdiskurs aufgeschlossen sein soll.404 Die Ähnlichkeit dieser Vorstellung der wahren italienischen Musik mit Orefices Kategorie des „neuen Nationalismus“ ist offensichtlich, zugleich ist sie aber täuschend. An einer weiteren Stelle des Textes lehnt Casella jene Kategorie des „Internationalismus“ expressis verbis ab, die Orefice zusammen und doch im direkten Widerspruch zur eigenen Formulierung eines „neuen Nationalismus“ als Entwicklungstendenz der Kunstmusik angegeben hatte.405 Der Unterschied scheint 403 Casella schreibt  : „Esistono in musica due specie di nazionalità. Primo, quella folcloristica o popolare, la più immediatamente afferrabile (tipo Grieg, Rimski-Korsakov, Albeniz ecc.) […]. V’ha poi un’altra nazionalità  : quella che è per cosi dire imponderabile, perché costituita da mille casue occulte di razza, di coltura, di atavismo, di gusto, di tecnica, ecc. Questa è la nazionalità di uno Schumann o di un Debussy, nazionalità che io reputo di gran lunga superiore all’altra, perché assai più profonda.“ Casella 1917, La nuova musicalità italiana, 3. 404 Mit folgenden Worten beschreibt Casella die nahe Zukunft der modernen italienischen Kunstmusik  : „Una specie di classicismo, che compendierà in una armoniosa euritmia tutte le ultime innovazioni italiane e straniere e differirà tanto dall’impressionismo francese, quanto dalla decadenza straussiana, dalla primitività stravinskiana, dal freddo scientifismo di Schönberg, dalla sensualità iberica, dall’audace fantasia degli ultimi ungheresi. Questo è, secondo me, il vero nostro ‚futurismo‘ musicale.“ Ebenda. 405 Casella schreibt explizit, dass seine Auffassung einer modernen, italienischen Kunst, die sowohl „national“ als auch „europäisch“ sein soll, auf keinen Fall „als hybrider und unsicherer („incerto“) Nationalismus“ verstanden werden darf (ebenda). Orefice hatte stattdessen in seinem Artikel betont, dass die Kunstmusik in ihrer Entwicklung „die Enge der nationalen Züge“ zugunsten der breiten Charakteristika eines „Internationalismus“ zunehmend verlieren werde

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minimal zu sein und könnte als Glättung des logischen Widerspruchs von Orefices Text interpretiert werden.406 Beim weiteren Vergleich beider Schriften wird jedoch zunehmend offensichtlich, wie weit auseinander die An- und Absichten beider Komponisten de facto liegen. Durch das Einbeziehen der Musik von Scarlatti, Monteverdi oder Palestrina als Teil einer nationalen Musiktradition hatte Orefice, wie gesagt, auf eine Hervorhebung der historisch-stilistischen Vielfalt der Vergangenheit abgezielt. Gerade eine solche Vielfalt sollte das Traditionskonzept an sich als adäquates argumentatives Mittel für die Stiftung einer nationalen Identität delegitimieren  : Vor der Mannigfaltigkeit der musikalischen Vergangenheit schien jeder Versuch, daraus eine für die Gegenwart verbindliche nationale Musiktradition abzuleiten, grundlegend dem Vorwurf der Partialität ausgesetzt zu sein. Eine radikale Dekonstruktion der argumentativen Rahmen des italienischen Musikdiskurses jener Zeit wurde dadurch möglich gemacht  : Zusammen mit dem Konzept von nationaler Musiktradition wurde von Orefice schließlich die Postulierung nationaler Identitäten in der Musik bis hin zum Argument eines musikalischen Primats Italiens grundsätzlich infrage gestellt. Eine Form von Traditionskritik ist durchaus auch in Casellas Artikel präsent. So schreibt er zum Beispiel an einer Stelle  : „Die Geschichte der Musik im 19. Jahrhundert könnte nicht ohne die Namen von Beethoven, Chopin, Schumann, Liszt, Wagner und sogar Mussorgsky geschrieben werden  ; alle diese Komponistenfiguren sind unentbehrliche Glieder jener jahrhundertalten Tradition, welche die Zeiten Monteverdis mit unseren verbindet. Auf die Namen von Verdi, Donizetti oder Boito könnte man jedoch (Orefice 1917, La crisi del nazionalismo, 310). Für das komplette Zitat aus Orefices Artikel siehe die Fußnote 382, S. 202 in der vorliegenden Arbeit. 406 Gegen eine solche Deutung spricht zusätzlich die konsequente Ablehnung des Wortes „Internationalismus“ seitens Casellas bis weit in die 1930er-Jahre. Noch im November 1938, als Casella erstmals eindeutig Kritik am Nationalismus des italienischen Musikdiskurses übte, lehnte er jedoch auch in diesem Fall das Wort „Internationalismus“ für die neue Musik explizit ab und plädierte stattdessen für „europeismo“, vgl. „Constatazioni, Idee, conclusioni“, in Casella 1941, I segreti della giara, 297–318. Dieser Text wurde den Angaben Casellas zufolge bereits im November 1938 verfasst. Siehe außerdem über die „europäische“ Ausrichtung der faschistischen Musikpolitik gegen Ende der 1930er-Jahre § III.3.1 in der vorliegenden Arbeit.

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in einer solchen Musikgeschichte verzichten. Wenn diese Komponisten nicht existiert hätten, würde die moderne, internationale Kunst genauso wie heute aussehen.“407 Später im Text ist Casella noch deutlicher in seiner Ablehnung des ästhetischen Werts des melodramma  : Die Italiener sollten seiner Meinung nach endlich begreifen, dass „die Symphonik keine Oper („teatro“) ist und dass die Oper nur episodische und zufällige Verbindungen zur Musik hat“.408 Casella beabsichtigt damit, durch den Rückbezug auf Monteverdi und andere „italienische“ Komponisten vor 1800 eine inhaltliche Trennung zwischen einer wahren und einer falschen Tradition zu etablieren  : Er unterscheidet zwischen einer Tradition vor dem 19. Jahrhundert und einer des 19. Jahrhunderts, die allein auf die Oper fokussiert gewesen sei  ; die erste sei national richtig, die zweite national falsch  ; die eine musikgeschichtlich relevant, die andere überflüssig.409 Casella versucht jedoch seine historisch eher fragliche Trennung der zwei Traditionen argumentativ zu bekräftigen, indem er sie auf der Ebene der Ästhetik ansiedelt und mit Torrefrancas Unterscheidung zwischen „musica pura“ und „musica non pura“ an der vorher zitierten Stelle verschränkt.410 Mit weniger ästhetisch-philoso407 „Non si può scrivere la storia dell’evoluzione musicale nel XIX secolo senza i nomi di Beethoven, di Chopin, di Schumann, di Liszt, di Wagner o perfino di Mussorgski, anelli indispensabili della tradizione secolare che riallaccia l’epoca di Monteverdi alla nostra. Ma si potrebbe benissimo fare a meno dei nomi di Verdi, di Donizetti o di Boito. Se questi musicisti non avessero [sic  !] esistito, l’arte moderna internazionale risulterebbe nondimeno identica a quella che conosciamo.“ Casella 1917, La nuova musicalità italiana, 2. 408 „Il sinfonismo non è teatro, e che il teatro […] non ha rapporti colla musica che frammentari ed accidentali.“ Ebd., 3. Casella verwendet hier das Wort „teatro“, das im Italienischen sowohl „Oper“ als auch „Schauspiel“ bedeuten kann. Diese semantische Unklarheit ändert jedoch nicht den Sinn des Satzes, der auf die Betonung einer Trennung zwischen einer „rein musikalischen“, „absoluten“ Ästhetik und einer (minderwertigen) Nachahmungsästhetik zielt. 409 Casella wird im Laufe der Jahre immer deutlicher in dieser Gegenüberstellung von „richtiger“ und „falscher“ Tradition. Zu Pietro Mascagni im Jahr 1929 schrieb er zum Beispiel polemisch  : „Com’è abbondantemente noto, tradizione italiana si diceva da noi, […], quella melodrammatica, l’unico stile nostro quello del melodramma ottocentesco. Ma già agli albori del presente secolo si faceva strada un’altra verità ben altrimenti più importante  ; la coscienza cioè che la musica italiana avesse radici assai più profonde, più remote che non il melodramma ottocentesco.“ Aus „Lettera aperta a S. E. Pietro Mascagni (15. Dezember 1929)“, in Casella 1931, 21+26, 223–237, 232–233. 410 Siehe die Fußnote 295, S. 157 für das Zitat.

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phischem Raffinement als Torrefranca wiederholt Casella hier die Ansicht einer grundlegenden Überlegenheit der „absoluten“ gegenüber der „dramatischen“ Musik, die Torrefranca in La vita dello spirito im Jahr 1910 und am Anfang von Puccini e l’opera internazionale von 1912 radikal vertreten hatte.411 Casellas Traditionskritik ist damit in ihrer Trennung von national wahrer und falscher Tradition qualitativ anders als die seines älteren Komponistenkollegen. Casella teilt mit Orefice die Zielscheibe der Polemik und richtet damit seine Argumentation gegen die Vertreter eines engstirnigen musikalischen Nationalismus, der für Italien eine ausschließlich auf die Vokalmusik beschränkte Identität vorsieht. Casellas Parteinahme für Orefice beschränkt sich jedoch allein auf diese inhaltliche Ebene der Debatte  : Die argumentativen Voraussetzungen, mit denen damals diskutiert wurde, teilt er stattdessen mit der entgegengesetzten Extremposition. Casella baut seinen Standpunkt entlang intellektueller Koordinaten auf, die nicht denjenigen Orefices, sondern denen Lualdis entsprechen. Hier, in der Aufdeckung der paradoxen Doppelbödigkeit von Casellas Text wird dessen zentrale Bedeutung für das Verständnis des italienischen Musikdiskurses bis zum Ende des Faschismus sichtbar. In der Tat hängt Casella seine Auseinandersetzung mit Lualdi an der Frage auf, welche die richtigen Inhalte der nationalen Musiktradition Italiens 411 Es ist anzumerken, dass Casella in der kurz vorher zitierten Passage aus diesem Artikel von 1917 die „wahre“ Tradition mit dem Namen von Claudio Monteverdi identifiziert hatte. Damit übernahm Casella gerade jene Komponistenfigur, die Fausto Torrefranca fünf Jahre davor in seinem Pamphlet gegen Puccini als Inbegriff der „falschen“, direkt zur Oper des 19. Jahrhunderts führenden Musiktradition Italiens genannt hatte (siehe vorige Fußnote). Casella verstrickt sich hier eindeutig in einen logisch-argumentativen Widerspruch  : Er versucht seine Polemik gegen das melodramma des 19. Jahrhunderts mit Torrefrancas Trennung zwischen Autonomie- und Nachahmungsästhetik zu verschränken, er meint jedoch eigentlich etwas anderes als Torrefranca. Wie bereits vorher erwähnt wurde, hatte Torrefranca mit seiner Unterscheidung zwischen den beiden Ästhetiken und seiner konsequenten Ablehnung jeglicher Form von Oper eine Extremposition im italienischen Musikdiskurs eingenommen, die kaum Anhänger fand. Casella und andere Vertreter der 1880er-Generation (wie zum Beispiel Malipiero) zielten vor allem auf eine Polemik gegen das italienische „Ottocento“ im Namen eines sich anbahnenden „Neoklassizismus“. Die Hervorhebung der Instrumentalmusik stellte damit für Casella und Malipiero eine Schwerpunktsetzung dar, die kompositorisch das Abstandnehmen zur „falschen“ Tradition des 19. Jahrhunderts stützen sollte, sie war jedoch nicht primär unter ästhetischen Kategorien gedacht, wie es bei Torrefranca der Fall war. Die argumentative Unbeholfenheit von Casella in seinem Artikel von 1917 liefert in diesem Sinne einen weiteren Beweis dafür.

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seien  ; er hebt die kompositionsgeschichtliche Irrelevanz des melodramma des 19. Jahrhunderts hervor und stellt ihm die europäische Bedeutung der älteren italienischen Musikproduktion gegenüber. Die Angemessenheit des Traditionskonzepts für eine nationale Identitätsstiftung wird jedoch im Unterschied zu Orefice und im impliziten Einklang mit Lualdi nicht in Zweifel gezogen. Casella stellt als Kernfrage der Debatte um eine Musiktradition des Landes nur das Problem einer Definition von deren richtigen Inhalte dar  ; ob man überhaupt von nationalen Musiktraditionen sprechen darf, wird nie gefragt. Stillschweigend bestätigt er damit die Existenz von nationalen Identitäten in der Musik sowie die Adäquatheit des Traditionskonzepts im Hinblick auf deren Profilbestimmung. Weit davon entfernt, sie zu widerlegen, gibt Casella de facto alle argumentativen Voraussetzungen von Lualdi wieder, wenn auch in einer sicherlich moderateren Form, sobald er auf der Ebene der konkreten Inhalte auf diese Tradition eingeht. Casella schreibt hier einen nationalistischen „rappel à l’ordre“ fort, der in seiner logischen Stringenz durchaus überzeugender als das widersprüchliche Schwanken Orefices zwischen Internationalismus und neuem Nationalismus ist. Dabei rehabilitiert er implizit auch beide vertrauten Grundelemente des musikalischen Nationalismusdiskurses in Italien  : die Existenz einer überzeitlichen „italianità“ und das Erfindungsprimat des Landes gegenüber allen anderen Nationen. Während das Letztere im Rahmen des Artikels nur indirekt thematisiert wird und erst in den Schriften der darauf folgenden Jahre einen immer deutlicheren Platz einnehmen wird, verwendet der Komponist in Bezug auf die zentrale Thematik der nationalen Identität bereits hier klare und unmissverständliche Worte.412 An einer Stelle verteidigt Casella explizit nicht nur die Gültigkeit nationaler Charakteristika in der Musik, er unternimmt sogar einen Versuch, die musikalische „italianità“ genauer zu definieren, indem er schreibt  : 412 Die Idee eines italienischen Erfindungsprimats kommt in der vorher zitierten Passage gegen Donizetti und Verdi implizit vor  : Die Musik von Beethoven, Schumann oder Chopin wird als Brücke zwischen Monteverdi und der modernen Zeit dargestellt, und damit wird ein italienischer Ursprung der deutschen Instrumentalmusik bzw. der Musik allgemein beansprucht. An einer anderen Stelle schrieb Casella außerdem gegen die „Dilettanten“, die „vorrebbero soffocare o per lo meno ritardare l’avvento in Italia di un’arte moderna e degna di una nazione che, più di qualsiasi altra, noblesse oblige“ und verweist unmissverständlich auf ein italienisches Erfindungsprimat, vgl. Casella 1917, La nuova musicalità italiana, 2.

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„Welche sind die jahrhundertealten, oder sogar ewigen Charakteristika des italienischen Geistes  ? Hier sollte Einigkeit herrschen  : Die wichtigen dieser Charakteristika sind Größe, Ernsthaftigkeit, Robustheit, Kürze, Schlichtheit, Einfachheit der Linien, plastische Fülle und architektonisches Gleichgewicht, Lebendigkeit, Kühnheit und eine unersättliche Suche nach Neuem. Ein viel breiteres Programm also, als jenes ‚Melodische‘, das unsere unergründlichen Kritiker vertreten.“413 Die Mannigfaltigkeit der aufgelisteten Charakteristika führt bei Casella nicht zu einer Verwerfung der Anwendbarkeit des Nationskonzepts auf die Musik, wie es Orefice vor der stilistischen Vielfalt der nationalen Traditionen getan hatte. Casella bleibt auch in diesem Fall in einem bipolaren Verständnis von einem richtigen und einem falschen Nationalen in der Musik gefangen. Das widersprüchliche Konzept einer italienischen und zugleich europäischen Musik, das in den nächsten Jahren unter der Formel einer „musica modernamente italiana“ von Casella propagiert wird, ist damit nicht als reale Alternative zum Nationalismus der Mehrheit italienischer Musikschaffender jener Zeit zu verstehen.414 Casellas Vision einer nationalen und gleichzeitig gegenüber dem europäischen Musikdiskurs aufgeschlossenen Musik stellt vielmehr eine Extremlösung dar  : Vor dem Verlust der normierenden Rolle eines „deutschen Anderen“ entwarf 413 „Quali sono le caratteristiche secolari – per non dire eterne – dello spirito italiano  ? Qui dovremmo tutti essere d’accordo  : le principali sono  : grandiosità, severità, robustezza, concisione, sobrietà, semplicità di linee, pienezza plastica ed equilibrio architettonico, vivacità, audacia ed instancabile ricerca di novità. Un programma assai più vasto, come si vede, di quello ‚melodico‘ dei nostri ineffabili critici.“ Ebd., 3. 414 Die Formel „una musica modernamente italiana“ für die Benennung des „höchsten“ Ziels des italienischen Musiklebens wird von Casella eindeutig in der Einleitung („Proemio“) zu Casella 1931, 21+26, 11–30, insbesondere 16 verwendet. Stenzl hat 1991 die These einer aus politischem Opportunismus erfolgten „nationalistischen Selbststilisierung“ seitens Casella formuliert  : Der Komponist hätte damit in seiner Musik keinen „wahren“ Nationalismus vertreten  ; siehe Stenzl 1991, Nationalistische Selbststilisierung  : Alfredo Casella. Wie Guido Salvetti neun Jahre später schrieb  : ����������������������������������������������������������� „Egli [Casella, d. V.] è, infatti, sdoppiato in modo stupefacente nelle due attività di musicografo […] e di compositore. Se un’attenta individuazione dei suoi modelli […] riuscirà, un giorno, a mostrare la felice acquiescenza del compositore ai modelli che veniva via via studiando e ammirando nel panorama europeo e americano […], il musicografo rientra perfettamente nell’alveo nazionalista.“ Salvetti 2000, Ideologie politiche, 117.

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Casella mit dem Projekt einer „musica modernamente italiana“ die Grundzüge eines italienischen Musikdiskurses, der den Gegenpol des musikalisch „Deutschen“ in einer Pluralität von „Anderen“ auflöste. Durch diese notwendig gewordene Öffnung zielt Casella jedoch auf die Beibehaltung des nationalistischen Rahmens des italienischen Musikdiskurses. Die spätestens seit Torchi strukturierend wirkende Trias von sozialdarwinistischem Primat, Tradition und nationaler Identität wurde von Casella in ihrer Gültigkeit bestätigt und gleichzeitig in ihrer konkreten Ausformung neu gestaltet. Der „neue Nationalismus“ einer „musica modernamente italiana“ stellte damit am Ende des Ersten Weltkriegs die zeitgemäßere Deklinierung jenes integralen Verständnisses der Nation dar, das im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts seine strukturierende Macht im italienischen Musikdiskurs gewonnen hatte.

6.3  Das Manifest von 1932 und die Funktionswandlung der symphonischen Tradition

An der Wende von den 1920er- zu den 1930er-Jahren wurde im italienischen Musikschrifttum vielfach der Eindruck artikuliert, „etwas“ erreicht zu haben. Beispiele dafür sind etwa Ettore Desderis Artikelreihe „Le tendenze attuali della musica“ für die Rivista musicale italiana (sieben Beiträge zwischen 1928 und 1930), Guido Maria Gattis Artikel „Aspetti della situazione musicale in Italia“ von 1932 in der Rassegna musicale oder die Veröffentlichung eines Konzertführers von Giulio Cesare Paribeni im selben Jahr, der ausschließlich der modernen, italienischen Instrumentalmusik gewidmet ist.415 In allen diesen Schriften wird ein musikalisches Profil der Nation zwar nicht als erreicht betrachtet, aber als in greifbarer Nähe liegend erklärt.416 Casellas Aufsatzsammlung 21+26 von 1931 415 Vgl. Desderi 1928–1930, Tendenze attuali und Gatti 1966, Aspetti della situazione musicale. Gatti zeigt sich hier kritisch gegenüber Casellas Auffassung einer „Stabilisierung“ („stabilizzazione“) des italienischen Musiklebens. Er konstatiert jedoch das Eintreten einer zweiten Phase („secondo tempo“) in der „Krise“ der italienischen Musik, in der nach der chaotischen Suche der vorangegangenen Jahre ein erwünschtes Nachdenken über das Erreichte anfängt. Die dritte Phase der wahren Schöpfung („creatività“) soll jedoch seiner Ansicht nach noch kommen. Paribeni 1932, Sinfonisti italiani. 416 Zum Beispiel schreibt Desderi am Ende seines ersten Beitrags von 1928  : „L’atmosfera che oggi

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und Adriano Lualdis Monografie Il rinnovamento musicale italiano von 1932 stellen die beiden gewichtigsten Veröffentlichungen dar, die eine Art umfassende Zwischenbilanz des italienischen Musiklebens der letzten 30 Jahre versuchen  : Trotz der deutlich verschiedenen Perspektiven über Eigenschaften und Charakter einer genuin italienischen Musik gehen beide von der Annahme aus, dass in den letzten Jahrzehnten „etwas“ in Sachen nationaler Musik erreicht wurde.417 Was dieses „etwas“ eigentlich sei, formuliert Casella am deutlichsten in einem Artikel von 1930, den er in 21+26 wiedergibt  : „Das Phänomen, welches heutzutage unser ganzes Musikleben beherrscht, ist der endgültige Verzicht, die italienische Musik allein unter der Kategorie des melodramma (das heißt als vokale Musik bzw. als Oper) aufzufassen. Es wird zugegeben, dass die Wurzeln unserer Musikalität vielfältiger und tiefschichtiger [als allein die Opernmusik] sind.“418 Diese Einsicht („ravvedimento“) der italienischen Musikschaffenden, die er aber noch auf eine geistige Elite („élite del pensiero“) beschränkt, bestehe also aus der ci circonda offre ormai non poche oasi d’azzurro e le dense nubi dileguano rapide lontano  : ci avviamo decisamente verso un linguaggio più nitido e preciso di quello che agli albori del secolo fosse lecito presagire e sperare.“ (Desderi 1928–1930, Tendenze attuali, 1928, 262). Auch Paribeni bemerkt im Jahr 1932  : „Oggi, nelle pagine dei nostri migliori, non è difficile trovare […] atteggiamenti che […] potranno contribuire alla formazione di una fisionomia nettamente italiana del sinfonismo futuro.“ (Paribeni 1932, Sinfonisti italiani, 9). 417 Vgl. Casella 1931, 21+26 und Lualdi 1932, Rinnovamento musicale. So schrieb zum Beispiel Lualdi am Ende seiner Monografie und vor dem angehängten Komponisten- und Werkverzeichnis der wichtigen Figuren des italienischen Musiklebens ab dem Anfang des 20. Jahrhunderts  : „Ora basta con le parole. Alle pagine seguenti, l’eloquenza dei fatti. Gli elenchi di nomi e di opere che sono qui avanti ordinati dimostreranno nel modo più evidente e completo la grandiosa mole di lavoro e la grandiosa opera di rinnovamento compiuta, e ancora in atto, dai nuovi musicisti d’Italia in quest’ultimo ventennio  : il ventennio della guerra vittoriosa, e della Rivoluzione Fascista.“ Ebd., 82. 418 „Il fenomeno che domina oggi tutta la nostra vita musicale, è quello dell’avvenuta definitiva rinuncia a considerare la musica italiana esclusivamente sotto la sagoma ‚melodrammatica‘ (cioè vocale-operistica) e dell’ammettere nuovamente che altre ben diverse più profonde sono le radici della musicalità nostra.“ Casella 1931, 21+26, 36, aus „Della nostra attuale ‚posizione‘ musicale e della funzione essenziale dello spirito italiano nel prossimo avvenire della musica europea“ (Februar 1930), 35–48.

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mehr und mehr konsensfähigen Aufhebung des Vorurteils einer rein vokalen Identität Italiens und damit einer zunehmenden Akzeptanz und Anerkennung der instrumentalen, „symphonischen“ Vergangenheit des Landes.419 Dies war in erster Linie möglich, weil die veristi und die Oper als Gattung nach dem Ersten Weltkrieg zunehmend an zentraler Bedeutung verloren hatten  : Mit dem Erfolg anderer modernerer Formen der Massenunterhaltung wie dem Kino konnten selbst die marktorientierten dramaturgischen und musikalischen Strategien der veristischen Formel nicht mithalten. Die sogenannte Krise der Oper war ein Problem, das in den 1920er- und 1930er-Jahren weit über den Fachkreis der Opernschaffenden hinausging und zum Diskussionsstoff für Zeitschriften und Illustrierte wurde.420 Andererseits hatte auch die italienische Instrumentalmusik vor allem in ihrer moderaten Variante von Respighi und Pizzetti zunehmend an Prestige und Akzeptanz gewonnen  : Zumindest seit der programmatischen Verbindung von Italien-Thematik und Instrumentalmusik in Respighis „Fontane di Roma“ von 1916 war es nicht mehr möglich, jegliche Form von Symphonik unvermittelt als Import abzuwerten.421 Vor diesem Hintergrund wuchs das sogenannte „Manifesto dei dieci“, das am 17. Dezember 1932 in verschiedenen nationalen Zeitungen erschien und unter anderem durch die prestigeträchtige Unterzeichnung von Ildebrando Pizzetti und Ottorino Respighi eine breite öffentliche Resonanz erfuhr.422 Gerade durch 419 Ebenda. 420 Siehe zum Beispiel Lualdi 1930, La crisi del teatro. Im ersten Beitrag machte Lualdi ausdrücklich zusammen mit anderen Faktoren auch das Kino und das Radio für die zurückgehenden Publikumszahlen der italienischen Opernhäuser verantwortlich („la spietata concorrenza che agli spettacoli lirici e di prosa fanno i luoghi sportivi  ; il cinematografo  ; il film sonoro  ; la radio  ; sissignori  : anche la radio“. Ebd., Hft. 8, 8). 421 Für den sofortigen Publikumserfolg von Respighis symphonischer Dichtung und für einige Überlegungen über Respighis Rezeption während des Faschismus siehe Flamm 2008, Ottorino Respighi, insbesondere 786–801 sowie 801–808 für die Möglichkeit einer Deutung von Respighis symphonischem Schaffen, die dessen ästhetisch-intellektuelle Nähe zu „Strapaese“ hervorhebt. Siehe außerdem Flamms früheren Artikel über das Thema  : Flamm 2004, Tu, Ottorino. 422 Über das „Manifesto dei dieci“ bzw. „Un manifesto di musicisti italiani per la tradizione dell’arte romantica dell’800“, das am 17. Dezember 1932 in verschiedenen nationalen Zeitungen erschien, siehe Nicolodi 1984, Musica e musicisti, 140–149  ; Zanetti 1985, Musica italiana, 621–624  ; Stenzl 1990, Von Giacomo Puccini, 79–87 und Vitzthum 2007, Nazionalismo e Internazionalismo, 127–166. Vitzthum hat gegenüber den vorigen Autoren neues Archivmaterial sichten und den Entstehungsprozess des Manifests – vor allem die wichtige

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die Unterschrift dieser beiden bekannten Vertreter der Reformbestrebungen der „1880er-Generation“ am Anfang des 20. Jahrhunderts brachte das Manifest, das sich explizit gegen die Avantgarde richtete, eine schon längst präsente Spaltung innerhalb der „Generazione dell’80“ zwischen „Modernisten“ (Casella und Malipiero, die unmissverständlich, wenn auch implizit, die Zielscheibe des Manifests darstellten) und „Moderaten“ (Pizzetti und Respighi) öffentlich zum Ausdruck. Fiamma Nicolodi und in jüngster Zeit Thomas Vitzthum haben bereits die politisch-taktischen Überlegungen anschaulich hinterfragt, die gerade zu jenem Zeitpunkt zur Austragung dieser seit Langem bestehenden und bereits mehrmals öffentlich debattierten Spaltung innerhalb der 1880er-Generation geführt haben  : Das Manifest stellt tatsächlich den strategischen Versuch dar, die Unterschiede zwischen den beiden Lagern hervorzuheben, um für sich und gegen die Avantgarde eine inoffizielle Anerkennung als genuin faschistische Musikrichtung zu beanspruchen.423 Das Manifest, das gleich zu Anfang eine seit 20 Jahren anhaltende alliterationsreiche „biblica confusione babelica“ („eine biblisch-babylonische Verwirrung“) im Musikleben feststellt und sich gegen die „sogenannte objektive Musik“ richtet, die keinen „menschlichen Inhalt“ habe und „den lebendigen Ausdruck“ des Ich-Schöpfers negiere, stellte in der Tat unter einem kompositionstechnischen sowie ästhetischen Gesichtspunkt keine neue Rolle von Ottorino Respighi – besser beleuchten können. Resümierend und sehr treffend stellt Christoph Flamm in seiner Habilitationsschrift von 2008 fest, wie das Manifest de facto „ästhetische Grabenkämpfe innerhalb einer durch den Nationalismus ideologisch geeinten Musikwelt [zog], die sich praktisch ungehindert in alle Richtungen ausbreiten durfte“. Flamm 2008, Ottorino Respighi, 784. Der Wortlaut des Manifests ist in folgenden Veröffentlichungen wiedergegeben  : Nicolodi 1984, Musica e musicisti, 141–143 und Zanetti 1985, Musica italiana, 1623–1624. 423 Die polemischen Auseinandersetzungen zwischen Casella und Pizzetti über den künstlerischen Wert der italienischen Oper des „Ottocento“ lassen sich bis zum Anfang der 1910er-Jahre zurückverfolgen  ; siehe diesbezüglich die Fußnote 302, S. 162. Die primär politische Bedeutung des Manifests wird sowohl von Fiamma Nicolodi als auch von Thomas Vitzthum hervorgehoben  : Nicolodi betont, dass die meisten Unterzeichnenden des Manifests dem Vorstand des „Sindacato nazionale fascista dei musicisti“ angehörten, Nicolodi 1984, Musica e musicisti, 140. Vitzthum zitiert stattdessen ausführlich aus der Korrespondenz zwischen Alceo Toni und Ottorino Respighi einerseits und Gian Francesco Malipiero und Alfredo Casella andererseits und lässt damit anschaulich hervortreten, wie sich beide Gruppen um die Gewinnung von Mussolinis Gunst bemühten  ; siehe Vitzthum 2007, Nazionalismo e Internazionalismo, 130 und 133–135.

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bzw. relevante Äußerung dar.424 Die kompositorischen Unterschiede zwischen den beiden Gruppierungen waren außerdem vorher sicherlich größer gewesen, als es nun 1932 der Fall war. Bereits ein Jahr zuvor hatte sich Casella in vielen Punkten konzessionsbereit gezeigt und die zugespitzten Töne über die italienische Oper des 19. Jahrhunderts beiseite gelegt.425 Das Manifest stellt damit in erster Linie einen strategischen Versuch vonseiten eines moderat-konservativen Lagers dar, eine Vorrangstellung im italienischen Musikdiskurs zu gewinnen. Das Manifest sollte außerdem als künstlerisch-musikalische Leitlinie des Regimes profiliert werden. Das Manifest spiegelt jedoch auch die innermusikalischen Veränderungen wider, die das italienische Musikleben an der Wende von den 1920er- zu den 1930er-Jahren prägten. Die Gruppenidentität der Unterzeichnenden strukturiert sich in der Tat entlang zweier Faktoren  : Der eine, auf den ich jedoch in diesem Rahmen nicht eingehen möchte, ist das Konzept des „Romanticismo“, das im Manifest als genuin nationale Alternative zur „Unmenschlichkeit“ der avantgardistischen „Sachlichkeit“ („oggettività“) beansprucht wird.426 Der andere ist 424 Die beiden Zitate aus dem Manifest lauten jeweils  : „Nel campo musicale, più che altrove, c’è davvero la biblica confusione babelica. Da vent’anni s’accozzano le tendenze più diverse e più disparate in una caotica rivoluzione.“  ; „Siamo contro alla cosiddetta musica oggettiva che, per essere tale, non rappresenterebbe che il suono preso a sé, senza l’espressione viva del soffio animatore che lo crea. Siamo contro quest’arte che non dovrebbe avere e non ha nessun contenuto umano.“ Zitiert nach Nicolodi 1984, Musica e musicisti, 142–143. 425 So schrieb Casella im Jahr 1931  : „È tramontata l’epoca ove la melodia faceva schifo al solo nominarla, ed i musicisti si sarebbero creduti disonorati scrivendo quattro battute di canto fresco ed ingenuo.“ Casella 1931, 21+26, 29  ; „A me, afferrata la mia meta, poco cale di aver in tempi più o meno remoti disprezzato il melodramma nostro, misconosciuto Verdi, creduto supinamente al ‚ballo russo‘, alla ‚atonalità‘ od alla morte della sinfonia o dell’opera […]. Il fine raggiunto giustifica sempre qualsiasi mezzo, e tutto concorre alla vittoria, anche gli errori.“ Ebd., 27–28  ; „Ed allora ritrovato il segreto mirabile della nostra commedia buffa, restituite alla nostra musica strumentale quelle stupende e salde ed elastiche forme del ’600 e del ’700 nostri, si rinnoverà anche ciò che fu il vero ‚melodramma italico‘ e che non vogliamo veder morire, ma che deve però adattarsi alle nuove epoche.“ Ebd., 29. 426 Die Romantik wird im Manifest mit folgenden knappen Worten beschrieben  : „Il romanticismo di ieri, che fu del resto di tutti i grandi nostri, ed è vita in atto, in gioia e in dolore, sarà anche il romanticismo di domani.“ (Zitiert nach Nicolodi 1984, Musica e musicisti, 143). Die Romantik wird damit als der wesentliche Zug der Identität des Landes dargestellt, aus ihrer historischen Bedingtheit herausgelöst und zu einem überzeitlichen Nationalcharakteristikum des Italienischen erklärt. Was die Manifest-Gruppe unter Romantik genau verstand,

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Torchis Vergangenheitskonstrukt einer symphonischen Tradition, das hier von der Seite dieser konservativ gesinnten Gruppierung nicht vehement abgelehnt, sondern in einer umfassenderen Traditionsauffassung subsumiert wird. Fast am Anfang des Manifests sind folgende Worte zu lesen  : „Eine ideelle Kette bindet Vergangenheit und Zukunft. Deswegen fühlen wir, dass nichts aus unserer Vergangenheit verleugnet werden muss. [….] Gabrieli, Monteverdi, Palestrina, Frescobaldi, Corelli, Scarlatti, Paisiello, Cimarosa, Rossini, Verdi, Puccini […], alle stellen die glänzende, vielfältige Blüte der italienischen Musikalität dar. Ja, meine Herren, wir möchten uns auch als Nachkommen von Verdi und von Puccini verstehen und wir wollen es sein.“427 Gerade das, was Casella 1930 über die geänderte Lage der italienischen Musik angenommen und Lualdi einige Monate vor dem Manifest in seiner Monografie bestätigt hatte, wird im Manifest nun eindeutig zum Ausdruck gebracht  :428 Das bleibt jedoch weitgehend unklar. Einen Hinweis gibt uns gerade derjenige, der die Zielscheibe des polemischen Manifests war  : Alfredo Casella. Casella fasste die Romantik-Kategorie seiner Gegner zwei Jahre vor dem Manifest unter dem Begriff des „passionale-melodrammatico“ zusammen und bezog sie auf die alte Gruppierung der Verteidiger einer ausschließlich vokalen Identität des Landes wie Mascagni. Er schrieb  : „Dove però il dissidio fra italiani intelligenti ed analfabeti diventava insanabile […] stava nel fatto che, per tutta quella brava gente, italianità si intendeva unicamente nel senso ‚passionale-melodrammatico‘, mentre invece i nuovi italiani volevano una musica […] liberata dai difetti inerenti ad un’epoca a noi vicina nel tempo, ma più di ogni altra remota come sensibilità  : il romanticismo.“ Casella 1931, 21+26, 22 („Proemio“). Die Manifest-Gruppe verteidigte in der Tat die Oper des „Ottocento“, im Unterschied zu Mascagni und den „alten“ Konservativen leugnete sie jedoch nicht die kompositorische Möglichkeit einer italienischen Instrumentalmusik und die „symphonische Tradition“. Siehe dazu die Überlegungen im weiteren Verlauf dieses Abschnitts. 427 „Una catena ideale lega il passato all’avvenire. Per questo, nulla del nostro passato ci sentiamo di dover rinnegare e rinneghiamo. […] I Gabrielli [sic  !] e i Monteverde, i Palestrina e i Frescobaldi, i Corelli, gli Scarlatti, i Paisiello, i Cimarosa, i Rossini, i Verdi e i Puccini […] sono la smagliante fioritura polivoca della musicalità italiana. Sissignori. Anche di Verdi e di Puccini amiamo crederci e desideriamo di essere diretta progenie.“ Zitiert nach Nicolodi 1984, Musica e musicisti, 142. 428 In seinem „Il rinnovamento musicale italiano“ benannte der konservativ gesinnte Lualdi explizit die Notwendigkeit der Öffnung Italiens für die Instrumentalmusik und der Anerkennung einer „symphonischen Tradition“ des Landes. Er schrieb  : „I nuovi artisti italiani […] proprio intorno al 1910 gettavano le basi […] di quella che oggi può ben dirsi la nuova musica italiana. […] Essi volgevano compatti […] le loro fatiche verso alcune finalità molto chiare e precise  :

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historische Artefakt einer symphonischen Tradition und die Instrumentalmusik allgemein werden zunehmend von allen Lagern des italienischen Musiklebens als gleichberechtigter Teil der nationalen Tradition anerkannt. Das Manifest benennt in einem ausdrücklich antiavantgardistischen Kontext wichtige Symbolfiguren dieses Konstrukts, wie etwa Frescobaldi, Corelli oder die beiden Gabrieli. Spätestens ab diesem Zeitpunkt wird klar, dass die Avantgarde den Alleinanspruch auf Torchis Artefakt verloren hat. Gleichzeitig stellt das Einbeziehen von Instrumentalkomponisten in dieses Bild der Tradition auch eine Absichtserklärung seitens der Unterzeichnenden dar  : Nicht für die alten Argumente und Forderungen der Konservativen wird hier geworben  ; man steht stattdessen für etwas Neues, das die alten, konservativen Ansprüche zwar nicht unberücksichtigt lässt (Verdi und Puccini werden als wichtige Figuren einer musikalischen „italianità“ anerkannt), sie aber neu kontextualisiert. Der alte Gattungsdualismus Oper versus Instrumentalmusik wird im Manifest ausdrücklich aufgehoben  : Mascagni, der diesen Dualismus noch vehement verteidigte, wird vom Manifest implizit weiter nach „rechts“ gerückt, und die Unterzeichnenden stellen sich als moderne Moderate dar, die eine aktuelle, in der Gegenwart verankerte Alternative zur Avantgarde und zu den alten Veristen anbieten. Das Manifest von 1932 ist also der Versuch, die Deutungs­hoheit für jenes quer durch alle Positionen anzutreffende Gefühl, „etwas erreicht zu haben“, das vorher erwähnt wurde, für sich in Anspruch zu nehmen. Eine konsensfähige Mitte in einer absichtlich als extrem polarisiert dargestellten Diskussion um die musikalische Identität des Landes sollte mit dem Manifest begründet werden. Gleichzeitig strebte man damit unter einem machtpolitischen I°, la ripresa di antiche tradizioni nazionali abbandonate da quasi due secoli e concernenti la musica pura, nel senso di ridare all’Italia un repertorio di musica da camera istrumentale e vocale, e un repertorio di musica sinfonica  ; II°, lo studio, la riedizione, la divulgazione delle musiche dei grandi maestri italiani del ’5, ’6, ’700  ; ciò che avrebbe significato, con l’andar degli anni, l’abluzione entro queste antiche fonti e l’approfondimento dello stile musicale italiano.“ Lualdi 1932, Rinnovamento musicale, 54. Dies wird von Lualdi abschließend als positiv bewertet. Er führt aus, wie diese „neuen italienischen Künstler“ die nationale Erneuerung Mussolinis („l’impetuoso ridestarsi di tutte le più belle e ardite energie della Nazione“) mit ihren Bemühungen am Anfang des 20. Jahrhunderts vorausgeahnt hätten  : „Gli artisti italiani, e i musicisti compositori in ispecial modo […] furono, anche questa volta, i barometri più sensibili e più antiveggenti del ‚tempo‘ che stava per mutare.“ Ebd., 55.

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Standpunkt nach der Anerkennung der Ansichten dieser Gruppierung durch die faschistische Partei als offizieller künstlerischer Linie des Regimes  : Nicht zufällig sind die zehn Unterzeichnenden nicht nur Komponisten, sondern decken fast programmatisch viele wichtige Bereiche des italienischen Musikwesens wie Rundfunk (Alberto Gasco), Lehre (Guido Guerrini), Musikjournalismus (Alceo Toni) und faschistische Kulturorganisationen (Giuseppe Mulè) ab.429 Gerade zu einem Zeitpunkt, in dem sich der Faschismus auf die Suche nach einem eigenständigen Profil im Kulturbereich machte, machten damit die „Moderaten“ des Manifests ein konkretes Angebot, das breite Teile des Musiklebens des Landes zufriedenzustellen versprach. In der vorher zitierten kurzen Passage aus dem Manifest werden dennoch nicht nur die Argumente der alten Konservativen, sondern auch Torchis symphonische Tradition Italiens neu kontextualisiert. Die Hervorhebung Puccinis und Verdis wird im Manifest als Zug der Gerechtigkeit gegen den Missbrauch dieser nationalen Instrumentaltradition durch die Avantgarde dargestellt. Die Avantgardisten haben, so die Auffassung der Manifestgruppierung, die symphonische Vergangenheit Italiens zur einzig wahren Tradition gemacht, und gegen diesen schwerwiegenden Fehler will sich das Manifest einsetzen  : Die Instru429 Aus kompositorischer Sicht waren die bekanntesten Unterzeichner des Manifests sicherlich Ottorino Respighi und Ildebrando Pizzetti. Riccardo Zandonais größter Erfolg („Francesca da Rimini“, UA 1914) lag zu diesem Zeitpunkt bereits weit zurück  ; er war jedoch 1932 noch immer aktiv im italienischen Musikleben. Auch der Komponist und von 1936 bis 1949 Leiter des Mailänder Konservatoriums Riccardo Pick-Mangiagalli (1882–1949) genoss zu jenem Zeitpunkt ein gewisses Ansehen. Andere Unterzeichner des Manifests waren eher sekundäre Figuren des italienischen Musiklebens jener Zeit, die jedoch wichtige Positionen in der Lehre oder in kulturellen Institutionen innehatten, wie zum Beispiel der accademico di Santa Cecilia, Musikkritiker der römischen Zeitung La Tribuna und seit ihrer Gründung künstlerischer Leiter der italienischen Rundfunkgesellschaft Alberto Gasco, der Komponist Guido Guerrini (1890–1965), der im Laufe seiner Karriere Leiter der Konservatorien von Florenz, Bologna und Neapel wurde. Zwei weitere Unterzeichner waren mit der faschistischen Partei bekanntlich direkt verbunden  : Alceo Toni war der angesehene Musikkritiker der faschistischen Zeitschrift „Il popolo d’Italia“, während Giuseppe Mulè „Segretario nazionale“ des „Sindacato nazionale fascista dei musicisti“ und Leiter des römischen Konservatoriums war. Das Bündnis um das Manifest stellte also gemäß seiner Absichten einen breiten Schnitt aus dem italienischen Musikleben jener Zeit dar, der vom Bildungswesen bis zu Schlüsselpositionen in alten und neuen Medien wie Rundfunk und Presse reichte und kompositorisch große Teile der beiden letzten Generationen (1860 und 1880) vertrat.

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mentalmusik wird nicht als die einzig wahre Tradition des Landes dargestellt, sie wird stattdessen als Teil einer umfassenderen Tradition verstanden  ; ein Teil, der im gleichberechtigten Verhältnis zur Oper steht. In gewisser Weise handelt es sich hierbei um eine Rückkehr zu Torchis stolzer Beanspruchung von einem allgemeinen Erfindungsprimat Italiens in allen musikalischen Gattungen  ; einer Beanspruchung, die erst die Erfindung einer symphonischen Tradition möglich gemacht hatte. Wichtig ist es jedoch, sich die radikale Funktionswandlung zu vergegenwärtigen, die Torchis musikhistorisches Artefakt gegenüber der Zeit seiner Entstehung am Ende des 19. Jahrhunderts nun 1932 erlebt. Torchi hatte mit seiner Deutung der Instrumentalkompositionen von Vivaldi, Corelli, Viadana etc. eine Darstellung Italiens als „Mutter“ aller musikalischen Gattungen erst möglich gemacht, gleichzeitig hatte er in seiner wissenschaftlichen Arbeit und in seinen häufigen Appellen an die italienischen Komponisten und Musiker vor allem die Instrumentalmusik hervorgehoben  : Vor dem Hintergrund eines integralen, vom Sozialdarwinismus stark geprägten Verständnisses der Nation spielte sich die Konkurrenz der Völker auf der musikalischen Ebene nur entlang der Gattung ab, die das damals vorherrschende ästhetische Paradigma einer „absoluten“ Musik verkörperte  : der Symphonie. So wurde das Thema der Symphonik zum zentralen Streitpunkt des italienischen Musikdiskurses bis in die 1910er-Jahre  ; eines Diskurses, der brennende kompositorische, weltanschauliche und musikalisch-organisatorische Probleme des Musiklebens Italiens versinnbildlichte. Der progressive Bedeutungsverlust der Symphonik gegen Ende des Ersten Weltkriegs wurde bereits auf den vorigen Seiten mehrmals besprochen. Das Manifest stellt in dieser Hinsicht den Endpunkt dieses Prozesses dar  : Das Artefakt einer symphonischen Tradition Italiens wird nun von den konservativ ausgerichteten Kräften als Teil einer breit aufgefassten Pluralität („smagliante fioritura polivoca“) vereinnahmt und in einem Atemzug mit dem zu Beginn der 1910erJahre zum Hauptfeind dieser instrumentalen Tradition erklärten Giacomo Puccini genannt. Mit der Anerkennung von Torchis Vergangenheitskonstrukt setzt sich diese Gruppe der „Moderaten“ von den veralteten Konservativen nach Mascagnis Manier unmissverständlich ab. Zugleich beweist dies den vollständigen Verlust jeglichen Innovationspotenzials dieses musikhistorischen Artefakts  : Gerade indem Torchis symphonische Tradition nun von allen Lagern des itali-

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enischen Musiklebens gleichermaßen anerkannt wird, wird offensichtlich, dass das Konstrukt nun seine Fähigkeit endgültig verloren hat, den Musikdiskurs zu strukturieren und dessen Brennpunkte zu versinnbildlichen. Spätestens zu Beginn der 1930er-Jahre verlor Torchis Vergangenheitskonstrukt seine rein innermusikalische Funktion  : Kompositionsgeschichtlich war die sogenannte italienische Symphonik eine mehr oder weniger „gemachte Sache“, und relevant für die musikalische Debatte wurden Themen wie der Neoklassizismus oder die Rolle eines modernen, den ideologischen Anforderungen des Regimes entsprechenden Opernspektakels.430 Das intellektuelle Artefakt einer symphonischen Tradition verfiel jedoch nicht in eine Zwecklosigkeit und spielte stattdessen im Kontext des italienischen Musiklebens des „ventennio“ eine immer wichtigere Rolle. Dies wurde nicht wegen der inner-, sondern wegen der außermusikalischen Funktionen dieses Konstrukts möglich. Im Hinblick auf das faschistische Projekt einer Erneuerung des nationalen Kollektivs im Namen einer „zivilisatorischen“ Machtpolitik bekam das Konstrukt eine herausragende Bedeutung. Anhand Italiens symphonischer Tradition konnte auf der kulturellen Ebene jenes Primat versinnbildlicht werden, nach dessen politischer Umsetzung der Faschismus strebte. Vor allem ab dem spannungsgeladenen und von Minderwertigkeitskomplexen geplagten Bund des Faschismus mit dem Nationalsozialismus in den späteren 1930er-Jahren wird Torchis Vergangenheitskonstrukt noch stärker eingesetzt. Dessen „antideutsche“ Bedeutung wurde im Faschismus gezielt reaktiviert, und die symphonische Tradition wurde zum symbolischen Vermittler eines kulturell begründeten Vorrechts Italiens gegenüber Deutschland in der Schöpfung einer neuen politischen Ordnung Europas gemacht. Dies wird im dritten Teil der vorliegenden Arbeit anhand der Musikprogramme des italienischen Rundfunks während der 1920er- und 1930er-Jahre eingehend untersucht werden.

430 Siehe in dieser Hinsicht das erste Kapitel von Nicolodi 1984, Musica e musicisti, 17–31, in dem die italienische Musikwissenschaftlerin die vom faschistischen Ispettorato del teatro zentralistisch bestimmten Spielpläne der italienischen Opernhäuser für die Jahre 1935 bis 1943 systematisch hinterfragt. Siehe außerdem den Aufsatz von Steinberg/Stewart-Steinberg 2009, Fascism and the operatic unconscious.

III. Vom nationalen zum totalitären Projekt des Faschismus  : Die symphonische Tradition im Musikprogramm des italienischen Rundfunks 1924–1939

1. Faschismus und Nation  : Ziele und Struktur des Kapitels 1.1  Die musikalische Kategorie der Nation und das Paradoxon der Kontinuität

Im Jahr 1953 schrieb Giuseppe Prezzolini, eine wichtige Figur der um die Zeitschrift La Voce versammelten, künstlerischen Avantgarde Italiens der 1910erJahre, rückblickend  : „Mussolini war die Verwirklichung der Idealen von La Voce. […] Willentlich oder nicht hatten wir zu der Entstehung des Faschismus beigetragen“431. Damit thematisierte er eine historiografisch durchaus problematische kulturelle Kontinuität zwischen der Zeit vor bzw. unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg und dem faschistischen ventennio  ; eine Kontinuität die sich, wie am Ende des zweiten Teils dieser Arbeit bereits exemplifiziert wurde, um die Kategorie des Nationalen strukturierte. Im innermusikalischen Diskurs spiegelt sich die ununterbrochene Zentralität einer solchen Kategorie nicht nur in der Weitertradierung des musikhistorischen Konstrukts einer symphonischen Tradition, das spätestens mit dem Manifest von 1932 sogar eine explizite Allgemeinakzeptanz im Musikdiskurs erlangte. Auch eine personelle Kontinuität lässt sich von den 1910er-Jahren bis in die späteren 1940er-Jahre feststellen, die von der führenden Rolle der Hauptprotagonisten der sogenannten 1880erGeneration und ihrer divergierenden ästhetischen Positionen geprägt war.432 431 „Mussolini era la realizzazione degli ideali de La Voce. […] Volendo o no, avevamo collaborato alla formazione del fascismo.“ Prezzolini 1953, L’Italiano inutile, 180. 432 Vgl. insbesondere § II.6.3. Über das sicherlich komplexe und jeweils von Fall zu Fall genau nach Bedeutung und Funktion zu hinterfragende Verhältnis der Vertreter der „Generazione dell’80“ gegenüber dem Faschismus schrieb Nicolodi bereits 1984 resümierend  : „In ������������ ogni occasione, fasto celebrativo, avvenimento politico in cui l’opportunismo culturale e la propaganda fascista tenteranno di correggere l’immagine di un movimento tutta azione ma poco cervello […] i membri di questa pattuglia [die Hauptvertreter der 1880er-Generation, d. V.] si troveranno a essere recuperati e insigniti a dovere.“ Nicolodi 1984, Musica e musicisti, 121. Bezeichnenderweise und mit Recht argumentiert Nicolodi in diesem zusammenfassenden Satz nicht aus der Perspektive der einzelnen Akteure, sondern aus der des Faschismus  : In einer historischen Analyse des gesamten italienischen Musiklebens in dieser Zeitspanne sind in der Tat nicht die hinter den getroffenen Entscheidungen stehenden Intentionen der einzelnen Be-

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Vor dieser frappierenden Kontinuität stehen vordergründig nur zwei Erklärungsmodelle zur Verfügung, welche beide durchaus paradox anmuten. Das eine sieht den qualitativen Sprung des italienischen Musiklebens am Ende des 19. Jahrhunderts entlang der Kategorie des integralen Nationalismus und insbesondere die Tätigkeit der Generazione dell’80 als „geistige Vorankündigung“ der politischen Revolution des Faschismus  : Die Erneuerungsbewegung der 1910erJahre sei damit als eine kulturelle Form von Protofaschismus aufzufassen  ; eine Deutung, die im Laufe des ventennio einige wichtige Figuren des italienischen Musikdiskurses jener Zeit wie Alfredo Casella oder der Komponist und Vertreter des Sindacato fascista dei musicisti Adriano Lualdi verbreitet haben.433 teiligten, sondern die Funktion dieser Entscheidungen im Hinblick auf das Herrschaftssystem des Faschismus von Bedeutung. Es ist diese zweite, „funktionelle“ Sichtweise, welche dem letzten Teil der vorliegenden Arbeit zugrunde liegt. 433 So schrieb zum Beispiel Casella im Jahr 1930  : „Alla piccola Italia borghese dell’epoca umbertina, rappresentata dal melodramma verista, […], la gioventù italica sorta dal fronte e dalla marcia su Roma intende opporre un nuovo pensiero italiano, ed una nuova arte.“, Casella 1931, 21+26, 44–45. Noch eindeutiger in dieser Rückprojizierung der kulturpolitischen Lage der Nachkriegszeit auf die 1910er-Jahre war Adriano Lualdi (über Lualdi siehe auch § II.6.2 in der vorliegenden Arbeit). Im Jahr 1932 hebt er als prägenden Zug seiner Zeit hervor „l’impetuoso ridestarsi di tutte le più belle e ardite energie della Nazione chiamate a raccolta e risollevate dal mortale abbattimento dalla gran voce di Benito Mussolini“ und stellt damit fest, dass „gli artisti italiani, e i musicisti compositori in ispecial modo, presentirono tutto questo  ; furono, anche questa volta, i barometri più sensibili e più antiveggenti del ‚tempo‘ che stava per mutare.“ (Beide Zitate  : Lualdi 1932, Rinnovamento musicale, 55). Anhaltspunkt für diese politisierte Meistererzählung der jüngsten Musikgeschichte des Landes war die harte Kritik, welche die 1880er-Generation gegen das Bürgertum geführt hatte. Für die „Generazione“ waren das veristische Musiktheater und die Ausschließung der Instrumentalmusik aus dem Spektrum des Nationalen Ausdruck eines „spirito borghese“, der künstlerisches und politisches Leben des neuen Nationalstaates von Beginn an gleichermaßen mit verheerenden Folgen geprägt hatte. Diese Kritik am Bürgertum der „piccola Italia dell’epoca umbertina“ war in der Tat der gemeinsame Nenner einer breiten, alle Künste umfassenden Erneuerungsbewegung, die um die 1910er-Jahre in einigen Zeitschriften der künstlerischen Avantgarde in Florenz wie Il Regno, La Voce oder La Ronda zum Ausdruck kam. Zu diesen losen, in ihren künstlerischen Tendenzen durchaus nicht einheitlichen Gruppierungen gehörte unmissverständlich auch die „Generazione dell’80“. Sowohl Casella als auch Lualdi wiederholen in ihren Schriften der 1930er-Jahre die Topoi dieser Kritik und schildern ein liberales Bürgertum, das sich „wenig um die erhabenen Ideale („superiori idealità“), sondern vielmehr um die alltäglichen Notwendigkeiten des Lebens kümmerte“. („Una borghesia aliena dalle grandi imprese, ciò che le faceva fraintendere e misconoscere e rovesciare un uomo di Stato come Francesco Crispi […]  ; ed abbandonare – come troppo pericolosa e vasta – la guerra d’Africa subito dopo la battaglia



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Wenn diese strikt teleologische Erklärung der Kontinuität des Musiklebens im Übergang vom liberalen zum faschistischen Italien historiografisch unhaltbar ist, gibt es jedoch ein zweites Deutungsmodell, das in einer gewissen Weise den umgekehrten Weg geht und zunächst plausibler anmutet  : Der Faschismus sei im Grunde genommen nichts anderes als eine ins Extreme gehende Fortsetzung des Nationalismus. In seinem bedeutenden Buch von 1993 hat zum Beispiel der Historiker Roger Griffin den Faschismus als die „palingenetische Form eines populistischen Ultranationalismus“ definiert.434 Aus diesem Grund habe Mussolinis Herrschaft vor allem im kulturellen Bereich – einem Bereich, der in den Jahrzehnten davor bereits ausgiebig nationalisiert wurde – keine tiefgreifende d’Adua. Lontana dalle più alte e coraggiose manifestazioni dell’arte e della scienza  : ciò che la rendeva mediocremente sensibile ad un miracolo d’arte come Falstaff, appunto, o ai primi saggi di poesia del Carducci […], o alla pittura di un Segantini  ; e le permetteva di assistere quasi impassibile alla emigrazione di un Guglielmo Marconi.“ Lualdi 1932, Rinnovamento musicale, 22). Dieses Bürgertum, drückte sich politisch in der „Italietta“ des liberalen Systems und musikalisch im „verismo“ aus (��������������������������������������������������������� „Chi voglia dunque guardare con serenità l’opera dei ‚veristi‘, e non scelga come osservatorio per le proprie contemplazioni la vetta del Parnaso, non può né deve giudicarla con disprezzo, in quanto essa rispecchiò il nostrano spirito borghese del tempo che fu. Questi musicisti […] sono i legittimi e genuini rappresentanti della classe che dominò l’Italia fra l’80 e il 1910.“ Ebd., 23). Zu diesem Aspekt siehe außerdem Piccardi 2001, La musica italiana. Die Kritik am Bürgertum war auch dem Faschismus von Anfang an eigen, und sie stellt zweifellos ein deutliches Kontinuitätselement zwischen künstlerischer Avantgarde der Vorkriegszeit und Faschismus dar, wie Walter Adamson ab den 1990er-Jahren anschaulich hervorgehoben hat (siehe insbesondere seinen resümierenden Aufsatz Adamson 2002, Impact of World War I sowie die weiteren bibliografischen Angaben in § II.6.1, Fußnote 394, S. 209). Dennoch bedeutet dieser Filiationsprozess keineswegs eine Zurücksetzung des Faschismus von der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg in die Zeit davor  : Der nicht zu leugnende Einfluss der Avantgarde der Vorkriegszeit auf den Faschismus schließt die ebenso nicht zu leugnende Tatsache nicht aus, dass diese Kontinuitätselemente unter dem Faschismus eine tiefgreifende Neu-Kontextualisierung erlebten, wie Adamson selbst ausdrücklich betont (���� „Because their aim was nothing less than the construction of a new culture and of a new relation between culture and society for the modern world, the vociani did not in any simple manner ‚anticipate‘ fascism. Yet the model of anticipation and fulfilment is not the only one which should be used in investigating the cultural origins of fascism. Individuals and avant-garde groups should also be considered when they offer the styles, inspirations, myths and ideas which fascism transmuted in order to take its ideological bearings.“ Adamson 1989, Fascism and culture, 430). 434 ������������������������������������������������������������������������������������������������� „Fascism is a genus of political ideology whose mythic core in its various permutations is a palingenetic form of populist ultra-nationalism.“ Griffin 1993, The Nature of Fascism, 2. Über Griffins Faschismustheorie siehe Reichardt 2004, Faschismus praxeologisch.

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Umstrukturierung bedeutet  : Vielmehr habe eine einfache Übernahme von Topoi und kulturellen Formen des Nationalismus stattgefunden  ; eine Übernahme, die sich im Wesentlichen auf die Radikalisierung dieser nationalisierten Kultur beschränkte. Die Forschung hat in den letzten Jahrzehnten eine solche Deutung überzeugend relativiert und hervorgehoben, wie der Faschismus sowohl im politischen als auch im kulturellen Bereich gegenüber dem Nationalismus durchaus eigene Züge trug.435 In seiner erfolgreichen Gesamtdarstellung der unterschiedlichen Formen des sogenannten „generischen Faschismus“ in Europa der Zwischenkriegszeit aus dem Jahr 1995 hat der Historiker Stanley Payne auf die Spezifität hingewiesen, die Hitlers oder Mussolinis Regimes gegenüber anderen rechtsgerichteten Bewegungen jener Zeit eigen war  :436 Der Faschismus teilte zusammen mit den unterschiedlichen Formen der neuen Rechten, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstanden waren, den Bruch mit dem Konservatismus des 19. Jahrhunderts. Anstatt weiterhin eine ablehnende Haltung gegenüber der Modernität einzunehmen, wurden aktuellere Formen der staatlichen Herrschaft gesucht, 435 Siehe diesbezüglich auch § III.3.1, Fußnote 529, S. 287 in der vorliegenden Arbeit. 436 Payne 2001, Geschichte des Faschismus. Diesbezüglich siehe insbesondere die Seiten 26–33, in denen Payne die Vielfalt der „neuen“, in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entstandenen rechtsgerichteten Bewegungen in Europa auf drei Grundmodelle zurückführt  : Die „konservative autoritäre Rechte“, die „radikale Rechte“ und den Faschismus. Indem Payne eine vergleichende Perspektive anstrebt, verweist der Begriff „Faschismus“ im Rahmen seiner vorher erwähnten Monografie nicht allein auf die italienische Bewegung, gemeint ist stattdessen der sogenannte „generische Faschismus“. Dieser regelrecht, im Sinne Max Webers aus der Abstraktion gewonnene „Idealtypus“ von Faschismus ermöglicht den Aufbau eines anregenden Vergleichs, der zur Gewinnung eines einheitlichen und resümierenden historischen Blicks auf die Zwischenkriegszeit entscheidend weiterhilft  ; der „generische Faschismus“ hat jedoch in den vergangenen Jahrzehnten auch für unzählige Diskussionen gesorgt, von denen die sicherlich bekanntesten der sogenannte Historikerstreit in den 1980er-Jahren war, darüber siehe unter anderem Herbert 2008, Der Historikerstreit. In seinem Beitrag hebt Herbert resümierend die unterschiedlichen Interessen nicht nur wissenschaftlicher Natur hervor, die in die Entfesselung und Strukturierung der Polemik involviert waren. Über die ab den 1990er-Jahren im englischsprachigen Raum einsetzenden Veränderungen innerhalb der vergleichenden Faschismusforschung und über deren verspätete Rezeption in Deutschland ab dem Jahr 2000 siehe Reichardt 2007, Neue Wege und Reichardt 2008, Cos’è successo. Einen ersten Überlick über den kulturpolitischen Transfer zwischen Faschismus und Nationalsozialismus und die Vergleichbarkeit der zwei politischen Systeme bietet der Sammelband von Reichardt (Hg.) 2005, Faschismus in Italien.



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die der Konkurrenz von Marxismus und Liberalismus standhalten konnten.437 Solche Formen bedeuteten jedoch zumeist unterschiedliche Arten von autoritären Regierungssystemen, die sich mittels moderner Kommunikationsmedien und Kontrollstrategien auf traditionelle Werte und Legitimationsformen, insbesondere religiösen Charakters stützten. Dies ist zum Beispiel der Fall bei Hindenburg oder Brüning in Deutschland, Salazar in Portugal oder Horthy in Ungarn.438 Der Faschismus verwarf eine solche Lösung und den oft damit verbundenen Elitismus, der Figuren wie Papen in Deutschland oder die Associazione Nazionalisti Italiani prägten.439 Payne betont damit, wie der Faschismus vor allem in seinem aktiven Einbeziehen der Massen „nicht gleichbedeutend mit sämtlichen autoritären nationalistischen Gruppen“ jener Zeit war.440 Die genauen Konturen, welche diese Spezifität des Faschismus gegenüber den neuen Rechten ausmachten, bleiben jedoch bei Payne eher unklar. Vor allem hält der Historiker an der Vorstellung fest, dass der Faschismus „die extremste Ausdrucksform des modernen europäischen Nationalismus“ darstelle  :441 Damit bleibt bei Payne die Frage, ob der Faschismus rein quantitativ (als „die extremste Ausdrucksform“ des Nationalismus) oder doch auch qualitativ von den anderen rechtsgerichteten Regierungsformen der 1920er- und 1930er-Jahre zu unterscheiden sei, de facto offen. Viel konsequenter als Payne baut auf dieser Spezifität des Faschismus der Historiker Emilio Gentile auf  : In den letzten drei Jahrzehnten hat Gentile eine umfassende Auslegung der faschistischen Eigenart entworfen, die sowohl deren politische als auch deren kulturelle Bedeutung her437 Payne 2001, Geschichte des Faschismus, 27. 438 Siehe die von Payne entworfene Übersichtstabelle, ebd., 28. 439 Über die Associazione Nazionalisti Italiani, die Payne als „die radikalste aller rechtsautoritären Bewegungen Europas“ definiert (ebd., 22), siehe Lönne 1999, Die Entwicklung des italienischen Nationalismus. Lönne beschreibt den Werdegang der A.N.I., die 1910 von Enrico Corradini gegründet und als Gegenkonzept zu Giolittis Integrationspolitik entworfen wurde. Nach dem Ersten Weltkrieg trat die Associazione unter der Führung von Alfredo Rocco in eine Phase „ideologischer Systematisierung“ entlang von Sozialdarwinismus und Imperialismus ein. Im Jahr 1923 fusionierte schließlich die A.N.I. mit dem „Partito Nazionale Fascista“ (im Folgenden wird der Partito Nazionale Fascista mit PNF abgekürzt). Über die zentrale Rolle Roccos beim Aufbau eines faschistischen Staates während der 1920er-Jahre siehe vor allem die Fußnote 443, S. 236 in der vorliegenden Arbeit. 440 Payne 2001, Geschichte des Faschismus, 26. 441 Ebd.

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vorhebt.442 Der Faschismus stellte sich nach Gentile während der 1920er-Jahre als Ordnungsmacht und als kulturpolitische Kraft einer nationalen Wieder­ geburt dar, die durch den Aufbau eines autokratischen Regimes erreicht werden sollte. Erst ab den 1930er-Jahren unternahm der Faschismus konkrete Schritte, um eine neue Form staatlicher Organisation aufzubauen, die nicht allein auf Kontrolle, sondern auf ein aktives Einbeziehen der Massen in die Politik und in die faschistische Weltanschauung zielte  :443 Ein „totalitäres Projekt“ wurde 442 Gentile hat eine Vielzahl an Studien und Monografien veröffentlicht, in denen er sich aus einer kulturwissenschaftlichen Perspektive mit dem Faschismus und allgemein mit der Geschichte Italiens vom Ende des 19. Jahrhunderts bis 1945 auseinandergesetzt hat. Gentiles Ansatz geht von den Arbeiten über die „symbolischen Formen“ und insbesondere das „mythische Denken“ von Ernst Cassirer am Anfang des 20. Jahrhunderts und von der Untersuchung der in Europa erst ab dem 18. Jahrhundert zu datierenden Verbindung von Mythos und politischem Agieren seitens Johan Huizinga aus (siehe diesbezüglich Gentiles methodologische Äußerungen in Gentile 2002, Mito dello stato nuovo, 269–277). Im Hinblick auf die in der vorliegenden Arbeit behandelten Thematiken sind vor allem zusätzlich zu der vorher erwähnten Monografie folgende drei Studien von Gentile wichtig  : In erster Linie ist Gentile 2007, Fascismo. Storia e interpretazione zu nennen, weil der Historiker hier eine resümierende Perspektive seines gesamten Ansatzes zusammenfasst und eine ausführliche Definition des Faschismus vorlegt, die der Vielfältigkeit des Phänomens in seinen politischen, kulturellen, ideologischen und sozialen Komponenten gerecht werden will. Vielfach anregend ist Gentile 2007, Il culto del littorio. In dieser Monografie widmet sich Gentile einer detaillierten Analyse des symbolischen Repertoires des Faschismus, die einen tiefen Einblick in den tiefgreifenden Umdeutungsprozess ermöglicht, den der Faschismus in der Vorstellung des nationalen Kollektivs in Italien bewirkte (siehe diesbezüglich § III.3.1 in der vorliegenden Arbeit). Wichtig ist auch Gentile 2002, Via italiana al totalitarismo. Hier expliziert Gentile ausführlich seine Deutung des Faschismus als „totalitäres Projekt“  ; eine Deutung, die eine maßgebliche Rolle in der Interpretation des symphonischen Programms des italienischen Rundfunks am Ende der 1930er Jahre im folgenden dritten Kapitel der vorliegenden Arbeit spielen wird. 443 Gentile hat diese Zweiteilung des ventennio in zwei differierende Jahrzehnte auf der Grundlage seines Verständnisses des Faschismus als einer „totalen Weltanschauung“ gedeutet, die ein „totalitäres Projekt“ anstrebte  : Sie würde auf zwei stark differierende Auslegungen des Faschismus verweisen, die jeweils die 1920er- und die 1930er-Jahre geprägt haben sollten und wofür er zwei, zu unterschiedlichen Zeiten wichtige Akteure beim Aufbau des faschistischen Staates als Versinnbildlichungsfiguren wählt  : Alfredo Rocco und Giuseppe Bottai, vgl. Gentile 2002, Mito dello stato nuovo, jeweils 171–210 und 211–236. Rocco würde eine „autoritäre Tendenz“ des Faschismus während der 1920er-Jahre vertreten, die den Faschismus als eine „moderne Version des Absolutismus“ verstand, welche das Machtverhältnis zwischen Massen und Politik nach dem traditionellen Muster von „Gehorsam und Befehl“ konzipierte (ebd., 238). Bottai würde stattdessen eine für die 1930er-Jahre charakteristische „totalitäre Tendenz“ vertreten, die den Faschismus nicht primär als Ordnungsmacht, sondern als eine „Erneuerung



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verfolgt, welches das Nationale nicht verwarf und weiterhin verwendete, jedoch tiefgreifend umdeutete und ideologisierte.444 Entlang dieser historiografischen Ausdeutung des faschistischen Phänomens soll nun im Folgenden die vordergründige Kontinuität der musikalischen Kategorie der Nation während der 1920er-, 1930er- und 1940er-Jahre hinterfragt werden. Wie und inwieweit können jedoch die symphonische Tradition und das Musikprogramm der italienischen Rundfunkanstalt, welche die Untersuchungsobjekte des dritten Teils der Arbeit darstellen, einer solchen Fragestellung angemessen dienen  ?

des Gewissens“ verstand („Un rinnovamento di coscienze“, vgl. Bodrero 1939, ������������� Roma e il fascismo, 52, zitiert nach Gentile 2002, Mito dello stato nuovo, 246)  : Die Masse sollte in Form einer kontinuierlichen, von oben geleiteten Mobilisierung an der Macht „aktiv“ teilhaben. Dies bedeutet selbstverständlich nicht eine Infragestellung der „Top-Down“-Machtdynamik des Faschismus bzw. eine Beteiligung der Masse an den Entscheidungsprozessen des Regimes  ; gemeint ist stattdessen eine Internalisierung des Wertesystems und der Weltanschauung des Faschismus seitens der einzelnen Individuen, die nicht nur dazu führen sollte, den von oben erteilten Befehlen „spontan“ zuzustimmen, sondern sogar zu einer „autonomen“ Aktivierung des Einzelnen im Sinne des Faschismus(„Anthropologische Revolution“, Gentile 2002, Mito dello stato nuovo, 245–252). Siehe diesbezüglich und für weitere bibliografischen Angaben § III.3.1 in der vorliegenden Arbeit. 444 In diesem Sinne sind der Krieg mit Äthiopien 1935–1936 und die daraus hervorgegangene Gründung des „Impero“ ein erster, entscheidender Kristallisationspunkt dieser Entwicklung  : Sie stellen den regelrechten „point of no return“ dar, auf dem die „totalitäre Wendung“ („svolta totalitaria“, vgl. Tranfaglia 1995, La prima guerra mondiale, 629) der darauf folgenden Jahre aufgebaut wurde. Diese „Wendung“ lässt sich nicht nur auf politischer Ebene (außer des äthiopisch-italienischen Kriegs ist auch die Beteiligung Italiens an dem spanischen Bürgerkrieg zusammen mit dem nationalsozialistischen Deutschland auf der Seite von Franco 1936–1939 zu nennen) oder im staatlich-organisatorischen Bereich ablesen (die Gründung des „Ministero della Stampa e Propaganda“ im Juni 1935 und seine Neuorganisation in „Ministero della Cultura Popolare“ zwei Jahre später sowie die Verabschiedung der Rassengesetze 1938)  : Die Konturen einer „svolta totalitaria“ gehen auch aus einer Untersuchung des (politischen) Programms des italienischen Rundfunks anschaulich hervor (siehe Monticone 1978, Il fascismo al microfono, 119–134) und finden auch im Musikleben eine Entsprechung, wie zum Beispiel der Austritt Italiens aus der Internationalen Gesellschaft für neue Musik im Jahr 1939 gut veranschaulicht  : Gerade das faschistische Italien hatte in den Jahren 1925 (Venedig), 1928 (Siena) und 1934 (Florenz) die jährlichen Festivals der I.G.N.M. zum Teil mit großer Resonanz veranstaltet  ; siehe dazu Zanetti 1985, Musica italiana, 520–531 sowie Nicolodi 1981, Alcuni aspetti). Auf die konkreten Züge dieser „Ideologisierung der Nation“ soll im § III.3 ausführlich eingegangen werden.

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1.2  Ziele und Struktur  : Symphonische Tradition im Radio und die Umdeutung des Nationalen

Das historiografische Konstrukt einer symphonischen Tradition versinnbildlicht bereits für sich die Kontinuität des italienischen Musiklebens vom Ende des 19. Jahrhunderts bis 1945  : Nicht nur erstreckt sich seine Wirksamkeit auf die besagten fünf Jahrzehnte, sondern dies stellt zugleich auch eines der wichtigsten intellektuellen Produkte jenes Nationalismus dar, auf den diese Kontinuität zurückgeführt werden soll. Es zu untersuchen, heißt damit, den Umdeutungsprozess der musikalischen Kategorie der Nation im Übergang vom liberalen zum faschistischen Italien am Beispiel einer seiner auffälligsten Konkretisierungsformen zu erforschen. Der Rundfunk, erst 1924 in Italien offiziell eingeführt, ermöglicht seinerseits wegen dessen Eigenschaft als neues und zugleich rein akustisches Medium der Massenkommunikation, eine der bedeutendsten Veränderungen in die Analyse des Musiklebens miteinzubeziehen, die das Aufkommen des Faschismus für Italien bedeutete  :445 Der Faschismus stellte den ersten Versuch seit der Gründung eines Nationalstaates 1861 dar, die Massen am politischen und kulturellen Leben des Landes zu beteiligen  ; eine aktive Beteiligung, die, wie gesagt, unter dem Vorzeichen und in den Modi einer totalitären Herrschaft geschah.446 Aus der Verschränkung der zwei Untersuchungsobjekte von symphonischer Tradition und Rundfunkprogramm werden damit die Veränderungen sichtbar, welche die Auffassung des Nationalen während des Übergangs vom liberalen zum faschistischen Italien erfuhr. 445 Für die Zeit vor der Gründung der ersten staatlichen Rundfunkanstalt in Italien („Unione Radiofonica Italiana“) siehe Monteleone 2005, Storia della radio, 7–17. 446 Über den Faschismus als Antwort auf das Aufkommen der Massen als Akteure der Geschichte siehe Gentile 2002, Mito dello stato nuovo, 267–268. Mit dem Adjektiv „aktiv“ in Bezug auf das kulturpolitische Einbeziehen der Massen seitens des Faschismus wird hier deren „Aktivierung“ im Sinne einer andauernden, von oben verordneten Mobilisierung gemeint. Es handelt sich selbstverständlich nicht um eine Beteiligung der Massen an den Entscheidungsprozessen der Macht  ; siehe diesbezüglich auch § III.1.1, Fußnote 443, S. 236 in der vorliegenden Arbeit. Für die Definition des Faschismus als „Totalitarismus“ und für eine Erläuterung der Bedeutung, die im Rahmen dieser Studie diesem umstrittenen Begriff zugeschrieben wird, siehe außerdem § III.3.1.



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Im folgenden Kapitel soll auf die Lage in den 1920er-Jahren eingegangen werden. Welche Aufgaben zu jenem frühen Zeitpunkt dem neuen Medium zugewiesen wurden und anhand welcher konzeptueller Leitlinien das gesendete Programm ausgewählt, strukturiert und vermittelt wurde, sind die Untersuchungsobjekte der ersten zwei Abschnitte des Kapitels. Im dritten Abschnitt soll direkt auf die Musiksendungen und insbesondere auf die Verwendung der alten italienischen Instrumentalmusik im symphonischen Programm des Rundfunks im Laufe der 1920er-Jahre eingegangen werden. Das abschließende dritte Kapitel befasst sich mit der zunehmenden politischen und ideologischen Funktion, welche die symphonische Tradition im Radio gegen Ende der 1930er-Jahre annahm. In einem ersten Abschnitt werden die Veränderungen angesprochen, die den Faschismus in seinem kulturpolitischen sowie organisatorisch-staatlichen Agieren zu diesem späteren Zeitpunkt betrafen. Im letzten Abschnitt soll schließlich die Austragung dieses Prozesses auf das Musikprogramm des Radios nachgezeichnet werden. Damit soll der Endpunkt einer erfundenen Musiktradition wie jener einer symphonischen Tradition Italiens geschildert werden, die mit dem Zusammenbruch des Faschismus auch das Ende ihres diskursiven Rahmens erlebte.

2. Die 1920er-Jahre  : Das Nationale und das Musikprogramm 2.1  Radio und Faschismus  : Die nationale Wiedergeburt

Die Aufgaben und Ziele, die das neue Medium des Rundfunks in Italien zu erfüllen hatte, wurden während der 1920er-Jahre fast ausschließlich zu besonderen Anlässen wie im Fall der Eröffnung eines neuen Senders oder bei kulturpolitischen Ereignissen formuliert. Dabei begnügte man sich oft mit großen Parolen und flüchtete gerne in allgemeine und durchaus vage Formulierungen wie zum Beispiel „Bildung“ („educazione“), „hohe Ideale“ („nobili ideali“), „Kultur“ („cultura“) oder „Unterhaltung“ („svago“). Auch im Fall des Musikprogramms hat die Rundfunkanstalt nur bedingt und punktuell eine Reflexion über die verfolgten Ziele öffentlich durchgeführt. Die sich hinter den Kulissen abspielenden Entscheidungsprozesse lassen sich heute wegen des Mangels an Quellen bzw. an Verständnis seitens der R.A.I., die sie für die Forschung nicht zur Verfügung stellt, kaum rekonstruieren.447 447 Eine Programmgeschichte des italienischen Rundfunks, wie zum Beispiel im Fall der Weimarer Republik von Joachim-Felix Leonhard im Jahr 1997 oder für das ernste Musikprogramm zur Zeit des Nationalsozialismus von Nanny Drechlser 1988, die in Deutschland versucht wurde (vgl. jeweils Leonhard (Hg.) 1997, Programmgeschichte des Hörfunks und Drechsler 1988, Die Funktion der Musik), bleibt bis heute (2013) ein Forschungsdesiderat. Der Sammelband von Parola (Hg.) 1999, E poi venne la radio stellt vor allem wegen der stark schwankenden Qualität der Beiträge und des Fehlens jeglicher Bemühung, den Lesern ein Gesamtbild des Rundfunkprogramms der 1920er-Jahre in Italien anzubieten, keinen umfassenden bzw. ernst zu nehmenden Versuch in diesem Sinne dar. Der darin enthaltene Artikel über das ernste Musikprogramms der URI, der sich bereits durch die konsequent durchgehaltene Vermeidung jeglicher Fußnote auszeichnet, ist trotz vieler guten Intuitionen wegen seines unsystematischen Vorgehens kein Ansatzpunkt für weitere Recherchen, vgl. Sablich/ Spini 1999, Musica Musica. Einen ersten Versuch, der zumindest partiell in Richtung einer Programmgeschichte der italienischen Rundfunkanstalt bis 1945 geht, stellt die Arbeit von Gianni Isola dar, die jedoch durch seinen frühen Tod im Jahr 2000 ein abruptes Ende und keinen ernsthaften Nachfolger gefunden hat, vgl. den nicht signierten Nachruf an Isola auf der Homepage der „Società Italiana per lo studio della Storia Contemporanea“, http://www.sissco. it/index.php  ?id=1216, zuletzt geprüft am 15.01.2012. Isola schrieb1998 programmatisch  : „È nostra intenzione riportare alla luce gli aspetti più correnti e quotidiani di quel modo di fare



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Im Folgenden werden zwei Artikel untersucht, die in der Radiorario, der offiziellen Zeitschrift der italienischen Rundfunkanstalt, jeweils im Januar 1925 und April 1926 erschienen sind. Sie stellen die ersten Texte dar, in denen die neu gegründete italienische Sendegesellschaft Unione Radiofonica Italiana (U.R.I.) ihre Aufgaben und Ziele im Umgang mit dem neuen Medium öffentlich formulierte. *** Das Radio als „fattore di civiltà“ oder von der dreifachen Bedeutung eines Zitats Am 6. Oktober 1924 begann die URI ihre Sendetätigkeit. Nach knapp vier Monaten regelmäßigen Betriebs erschien am 18. Januar 1925 die erste Ausgabe der offiziellen Zeitschrift des Senders, Radiorario, in der das Programm der Woche den Hörern vorgestellt und einige Themen vorwiegend sende- bzw. empfangstechnischer Natur kurz besprochen wurden.448 In der zweiten Nummer der Zeitschrift erschien ein Artikel, der sich mit den Zielen und den Aufgaben des neuen Mediums auseinandersetzte. Für lange Zeit sollte dies der einzige Text sein, der auf das Thema direkt einging und es aus einer allgemeinen Perspektive besprach. Der Beitrag erschien unter dem Titel „La radiofonia, fattore di civiltà“ und trug die Unterschrift eines der ersten Ingenieure der italienischen Rundfunkanstalt, Renato Santamaria.449 Die hochgesteckten Ziele, die der Titel des Artikels radio  ; in essi forse il lettore potrà trovare non solo l’eco di anni passati, ma proprio quella vera, continua, insistita propaganda ispirata alla triade ‚educare, istruire, divertire‘, a cui i programmisti Eiar costantemente si attennero.“ Vgl. Isola 1998, L’ha scritto, XXIX. 448 Die Zeitschrift wurde ab dem ersten Januar 1930 in Radiocorriere umbenannt und deren Direktorium („Direzione generale“) von Turin nach Rom verlegt  ; siehe Monticone 1978, Il fascismo al microfono, 45. Alle Hefte des Radiorario bis einschließlich 1929 wurden vollständig digitalisiert und sind in Form von drei CD-ROMs als Beigabe zum Sammelband von Parola (Hg.) 1999, E poi venne la radio zu erwerben. 449 Santamaria 1925, La radiofonia. Über Renato Santamaria habe ich in meiner Recherche nichts Näheres erfahren. In den allerersten Jahren des italienischen Rundfunks soll er eine zweitrangige, jedoch nicht unbedeutende Rolle für den Aufbau des neuen Mediums gehabt haben  : Sein Name taucht ein Jahr nach dem hier besprochenen Artikel zu einem anderen wichtigen Anlass des italienischen Rundfunks nochmals auf, vgl. „L’inaugurazione della nuova stazione di Roma“, in Radiorario (1926), Hft. 15, 1–5,1.

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für das Medium formuliert, stehen durchaus im Einklang mit einer allgemeinen, nicht allein auf Italien beschränkten Tendenz jener Zeit, die für den Rundfunk große Aufgaben bis hin zur Sicherung des endgültigen Weltfriedens vorsah.450 Santamaria stellt in dem Artikel unmissverständlich fest, welche Aufgaben dem neuen Medium zukommen, und definiert, welche vollkommen neuen Möglichkeiten der Rundfunk für deren Umsetzung eröffnet. Er schreibt  : „Der Rundfunk stellt das wirksamste, verlockendste, umfassendste und rapideste Mittel für die Bildung und Erziehung eines Kollektivs dar. […] Die Radiofonie ist in der Tat fast das einzige Medium, mit dem das Publikum in seinem Zuhause erreicht werden kann. Ohne das zu merken, wird das Publikum zum Hören von dem bewegt, was man möchte. Die Radiofonie ist fast das einzige Instrument, das die moderne Technik zur Verfügung stellt, um den Menschen im Herzen seiner Familie zu erziehen und zu bilden, indem man ihn amüsiert.“451 Das besondere Ziel des neuen Mediums sieht Santamaria in Erziehung („educare“) und Bildung („istruire“). Dabei handelt es sich um Tätigkeiten, die für Santamaria, nur dem Staat zustehen, denn zu jenem Zeitpunkt und de facto noch bis in die Mitte der 1970er-Jahre hat der Staat allein das Rundfunk-Monopol inne.452 Die entscheidende Neuheit, die für Santamaria dem Radio innewohnt, liegt damit gerade in der Tatsache, dass nun der Staat zum ersten Mal in der Geschichte seine ethische bzw. erzieherische Aufgabe nicht allein in der 450 Siehe zum Beispiel im Fall Deutschlands den Artikel von Krützfeldt 1926, Rundfunk als Erlöser. 451 „Esso [der Rundfunk, d. V.] costituisce il più efficace, il più allettante, il più vasto, il più rapido mezzo d’istruzione e di educazione collettiva. […] Gli è che la Radiofonia è quasi l’unico mezzo per raggiungere il pubblico nelle case e per condurlo inconsapevolmente ad ascoltare quel che si desidera fargli ascoltare  : è quasi l’unico mezzo che la tecnica moderna conti per educare l’uomo ed istruirlo, divertendolo, nel seno stesso della famiglia.“ Santamaria 1925, La radiofonia, 3. 452 Entscheidend ist in diesem Sinne die Rechtsprechung des Verfassungsgerichts („Corte Costituzionale“) Nr. 202 vom 28. Juli 1976, mit dem private Rundfunk und Fernsehanstalten zumindest auf lokaler Ebene offiziell erlaubt wurden, vgl. Monteleone 2005, Storia della radio, 392–396. Hier bietet außerdem Monteleone auch einen ersten Überblick über die Vervielfachung der privaten Rundfunkanstalten in den 1970er-Jahren in Italien.



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Öffentlichkeit, sondern auch in der Privatsphäre der Familien ausüben kann. Santamaria gibt bereits eine klare Vorgabe, wie dies erfolgen soll, und bietet eine Art moderner Neuformulierung der horazschen Vorschrift des „utile et dulce“  : Das neue Medium soll erziehen und bilden, allein auf unterhaltsame Weise („divertendo“). In welchem Sinne soll aber die URI ihr Publikum „unterhaltend“ erziehen  ? Welche Art Bildung soll sie den Rundfunkhörern nahebringen  ? Der Text gibt keine direkte Antwort auf diese Fragen. Einiges lässt sich jedoch auf indirekter Weise mit ziemlicher Präzision erschließen. In einer Passage kritisiert Santamaria offen das Vorgehen der aktuellen (faschistischen) Regierung bezüglich des Rundfunks und schreibt  : „Vor dem Umfang und der Wichtigkeit der Aufgabe, die der Radiofonie bevorsteht, ist es notwendig, dass diejenigen, die sich auch in unserem Land für die hohen Ziele dieses Mediums einsetzen, eine solche Aufgabe nicht vergessen, um ‚Schmetterlinge unterm Titusbogen zu suchen‘. Nicht gerade wir, die Landsmänner von Marconi, sollen die Ersten sein, die die Entfaltung dieses wunderbaren Instruments der Zivilisation lahmlegen.“453 Die im vorigen Zitat enthaltene vage Formulierung einer „erzieherischen“ und „bildenden“ Aufgabe des neuen Mediums bekommt hier ein durchaus geschärftes Profil  : Entscheidend ist in dieser Hinsicht das Zitat, das Santamaria in Verbindung mit der Erwähnung der „hohen Ziele“ („alte finalità“) des Rundfunks fast beiläufig fallen lässt. „Schmetterlinge suchen unterm Titusbogen“ („Cercar farfalle sotto l’arco di Tito“) ist in der Tat ein Vers aus den Odi barbare, einer der berühmtesten Gedichtsammlungen von Giosuè Carducci, der zusammen mit dem etwas jüngeren Giovanni Pascoli der wichtigste italienische Dichter der Zeit nach der nationalen Einigung und bis zum Ersten Weltkrieg ist.454 Der zu 453 „Dinnanzi alla vastità ed all’importanza del compito che spetta alla Radiofonia, occorre, che quanti vogliano assicurare anche nel nostro Paese, il raggiungimento delle sue alte finalità, non perdano di vista quel compito per cercar ‚le farfalle sotto l’arco di Tito‘. Poiché non dobbiamo essere proprio noi, i conterranei di Marconi, i primi a tentar di paralizzare questo magnifico strumento di civiltà.“ Santamaria 1925, La radiofonia, 3. 454 Siehe dazu § I.1.1 in der vorliegenden Arbeit, wo die Verwendung seitens des Komponisten,

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jener Zeit sprichwörtlich gewordene Vers stammt aus einem der berühmtesten Gedichte der Sammlung, das den Titel Roma trägt. So fängt diese Dichtung an  : Roma, ne l’aër tuo lancio l’anima altera volante  : accogli, o Roma, e avvolgi l’anima mia di luce. Non curioso a te de le cose piccole io vengo  : chi le farfalle cerca sotto l’arco di Tito  ?455 […]

Am Anfang des Gedichts und insbesondere im vorher erwähnten Vers berichtet der Dichter, wie er nach Rom gekommen ist, um seine stolze („altera“) Seele nicht mit Belanglosigkeiten („cose piccole“) zu erfüllen  : Unter der architektonischen und historischen Größe des Titusbogens soll man sich nicht mit Lappalien wie der Suche nach „Schmetterlingen“ beschäftigen. Im weiteren Verlauf des Gedichts präzisiert Carducci unmissverständlich, welche ethische Aufgabe die Ewige Stadt der jungen italienischen Nation auferlegt  : Die explizite Verbindung des modernen Roms eines liberalen Italiens zu der alten Kaiserstadt, die das gesamte Gedicht inhaltlich bestimmt, dient der expliziten Aufforderung der italienischen Intellektuellen und der politischen Klasse zur bedingungslosen Übernahme jener zivilisatorischen Mission, die für Carducci die historische Bedeutung der Ewigen Stadt und das wahre Ziel des neuen, aus dem Risorgimento hervorgegangenen staatlichen Gebildes darstellt.456 Als Santamaria aus diesem Gedicht zitiert und den Vers von Carducci in unmittelbaren Zusammenhang mit der Erwähnung der „hohen Ziele“ setzt, die das neue Medium verfolgen und welche die politische Klasse fordern soll, macht er auch deutlich, welche Inhalte der Rundfunk für die Erziehung und die Bildung der Menschen in der Privatsphäre der Familie zu vermitteln habe  : Der Rundfunk ist „Schöpfer der Zivilisation“, wie der Titel des Artikels beteuMusikwissenschaftlers und Chordirigenten Domenico Alaleonas von einem anderen berühmten Gedicht aus derselben Sammlung von Carducci an einer bedeutenden Stelle der Einführung zum Palestrina-Konzert der URI vom 6. März 1925 besprochen wird. 455 Vgl. „Roma“, in Carducci 1954, Odi barbare, 30. 456 Im weiteren Verlauf des Gedichts sind folgende Verse zu lesen  : „mentr’io dal Gianicolo ammiro l’imagin de l’urbe, / nave immensa lanciata vèr l’impero del mondo.“ Ebd., 31.



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ert, diese „Zivilisation“ wird jedoch von Santamaria im Sinne einer nationalen Größe aufgefasst, die nach einer politischen und/oder kulturellen Hegemonial­ stellung Italiens in Europa strebt. Der italienische Rundfunkteilnehmer, vom neuen Medium „im Schoße der eigenen Familie zerstreut“, soll damit „auf ahnungslose Weise“ („inconsapevolmente“) zum wahren Bürger eines zukünftigen großen Italien erzogen werden, der die historisch auferlegte zivilisatorische Mission seines Landes wahrnimmt und umsetzt.457 Das Carducci-Zitat ist jedoch noch auf einer weiteren Ebene von zentraler Bedeutung, um den Text von Santamaria und damit die das Alltagsprogramm strukturierenden Ziele der neu gegründeten italienischen Rundfunkanstalt in ihren ersten Existenzjahren richtig zu verstehen. Santamarias Artikel erschien in Radiorario am 24. Januar, drei Wochen vorher war derselbe Vers aus Roma in einem anderen Zusammenhang verwendet worden  : Am 3. Januar 1925 hatte Benito Mussolini diesen Vers an der konzeptuell wichtigsten Stelle einer Rede vor dem italienischen Parlament zitiert, die berühmt werden sollte. Nach der Ermordung des sozialistischen Abgeordneten Giacomo Matteotti durch eine Gruppe von Faschisten am 10. Juni 1924 steckte Mussolinis Bewegung in einer tiefen Krise. Mussolini amtierte zu jenem Zeitpunkt als Ministerpräsident einer parlamentarischen Koalition, die er nach der Kraftprobe der „marcia su Roma“ vom 28. Oktober 1922 mit Genehmigung des Königs Vittorio Emanuele III. zusammengestellt hatte. Die interne Struktur der Partei schien nach zwei Regierungsjahren gespalten in die Befürworter einer sofortigen, vollständigen Übernahme der Macht mittels eines erneuten Gewaltakts und in die Moderaten, die für eine Fortsetzung der bereits eingeschlagenen Kompromissstrategie plädierten. Gleichzeitig waren auch die gesellschaftliche Akzeptanz und das wirtschaftliche Interesse für politische Gewalt angesichts der relativen Normalisierung der Gesellschaft, die der Faschismus in seinen zwei Regierungsjahren erzwungen 457 Der imperiale Traum ist ein kulturpolitisches Leitmotiv, das sich vom liberalen zum faschistischen Italien ohne Unterbrechungen zurückverfolgen lässt  ; siehe diesbezüglich Del Boca 1996, L’impero. Nach der Proklamation des „Impero“ im Zuge des äthiopisch-italienischen Kriegs im März 1936 nahmen jedoch dieser koloniale „Traum“ und die Vision eines Italiens, das eine europäische Machtpolitik führen sollte, eine neue, genuin ideologische Bedeutung an  ; siehe diesbezüglich § III.3.1 und für ihre Verbreitung mittels des symphonischen Programms im Rundfunk § III.3.2, Unterabschnitt „Ideologisierung  : Die symphonische Tradition zwischen Autarkie und Deutschlandbezug“.

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hatte, geringer als zur Zeit der marcia su Roma. Mit seiner Rede vom 3. Januar 1925 stellte Mussolini die Weichen für die erfolgreiche Beendigung dieser politischen Krise.458 Dies geschah mit eben jenem Zitat aus Carduccis Roma, mit dem Mussolini den entscheidenden Punkt seiner Rede einführte  : „Aber dann, meine Herren, welche Schmetterlinge suchen wir unterm Titusbogen  ? Also, ich erkläre hier, vor dieser Versammlung und vor dem gesamten italienischen Volk, dass ich allein die politische, ethische und historische Verantwortung für das Geschehen übernehme.“459 Hier nahm Mussolini öffentlich und unmissverständlich, wenn auch nur in Form einer Andeutung („alles, was geschah“  ; „tutto quanto è avvenuto“), die Verantwortung für die Ermordung Matteottis auf sich, die er im weiteren Verlauf der Rede als einen von den Exzessen der politischen Lage herbeigeführten und nicht mehr wiederholbaren Extrempunkt seiner Politik darstellt  ; einen Extrempunkt, der nur für das Wohl der Nation erreicht werden musste.460 Mussolini stellt sich dann als Sprachrohr der „Stimme des Volkes“ dar, denn „das Volk“ war es, das „noch bevor ich es aussprach, gesagt hatte  : ‚Basta  ! Das Maß ist voll‘“.461 Indem er sich als Verkörperung eines einheitlichen und homogenen nationalen Gemeinwillens versteht, stellt nun Mussolini seine Figur, den Faschismus und schließlich dessen Gewaltpolitik als Diener der Nation dar  ; die Rede geht in der Tat mit folgenden Worten zu Ende  :

458 Siehe diesbezüglich Payne 2001, Geschichte des Faschismus, 111–171 und 265–301. 459 „Ma poi, o signori, quali farfalle andiamo a cercare sotto l’arco di Tito  ? Ebbene, dichiaro qui, al cospetto di questa Assemblea e al cospetto di tutto il popolo italiano, che io assumo, io solo, la responsabilità politica, morale, storica di tutto quanto è avvenuto.“ Mussolini 1960, Discorso alla Camera, 238. 460 So schreibt Mussolini kurz nach der vorher zitierten Passage  : „Io ho voluto deliberatamente che le cose giungessero a quel determinato punto estremo, e, ricco della mia esperienza di vita, in questi sei mesi ho saggiato il Partito […]. Ho saggiato me stesso, e guardate che io non avrei fatto ricorso a quelle misure se non fossero andati in gioco gli interessi della nazione. Ma un popolo non rispetta un Governo che si lascia vilipendere  !“ Mussolini 1960, Discorso alla Camera, 239. 461 „Il popolo, prima ancora che lo dicessi io, ha detto  : Basta  ! La misura è colma  !“ Ebenda.



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„Wir alle wissen, dass das, was ich beabsichtige, keine persönliche Laune, kein Machtstreben, keine niederträchtige Leidenschaft, sondern allein die unermessliche und mächtige Liebe für das Vaterland ist.“462 Das Zitat aus Carduccis Gedicht Roma, das einige Zeilen davor beim entscheidenden Punkt der Rede eingeführt worden war, hatte damit die Funktion, die Größe der Nation indirekt zu evozieren und das argumentative Endziel des Textes vorzubereiten  : Der Faschismus sei im Unterschied zu Sozialismus und Kommunismus keine selbstständige Ideologie bzw. im doppelten Sinne des Wortes „parteiliche“ Weltanschauung, sondern allein der (wohlgemerkt einzige) wahre Diener der Nation, der dem Willen und dem Charakter des nationalen Kollektivs entspricht. Santamarias Verwendung desselben Carducci-Zitats drei Wochen später hatte somit die Funktion, seinen Appell für eine angemessene Anerkennung und finanzielle sowie institutionelle Förderung des neuen Mediums seitens des Faschismus zu bekräftigen, indem er dieselben Worten wie der Führers der regierenden Partei gebrauchte  : Wie das Parlament den Faschismus als die geeignetste Ausdrucksform des Nationalen erkennen sollte, so sollte der Faschismus das Radio als das angemessenste Medium für die Verwirklichung seiner nationalen Mission verstehen. Das erwähnte Zitat trug jedoch in dem programmatischen Artikel des Radiorario noch eine dritte, nun direkt politische Bedeutung mit sich. Wie bereits erwähnt, artikulierte Santamaria mittels des Verses von Carducci eine regelrechte „nationale Aufgabe“ für die neue italienische Rundfunkanstalt  : Die URI sollte eine „Zivilisation“ formen, die allein unter der Kategorie der (eigenen) Nation konzeptualisiert wurde und deren strukturierendes Element das Streben nach einer kulturellen bzw. politischen Größe des Landes darstellte.463 Dies 462 „Tutti sappiamo che ciò che ho in animo non è capriccio di persona, non è libidine di Governo, non è passione ignobile, ma è soltanto amore sconfinato e possente per la patria.“ Ebd., 240. 463 Santamaria meint in seinem Artikel mit dem Wort „Zivilisation“ weder eine „europäische“ noch eine „westliche“ oder sogar „allgemeinmenschliche“ Kulturform. Zwar ist der Rundfunk für ihn die technische Erfindung zur Erziehung der Menschen, die Inhalte dieser Erziehung sind jedoch jeweils auf die eigene Nation fokussiert, wie die zwei vorher im Text erwähnten Zitate aus dem Artikel anschaulich verdeutlichen.

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ist jedoch dieselbe Aufgabe, die Mussolini in seiner vorher zitierten Rede vom 3. Januar 1925 für den Faschismus in Anspruch nahm. Santamarias Artikel formuliert, wenn auch auf indirekte Weise, die kulturpolitischen Ziele des neuen Mediums und sein Verhältnis zur bestehenden politischen Macht mit ziemlicher Präzision  : Die URI dient zusammen mit dem Faschismus einer Wiedergeburt der Nation, die den Risorgimento vollenden soll. Faschismus und Radio arbeiten bei jener „nationalen Wiederherstellung“ zusammen, die Mussolini in seiner Rede formuliert hatte und das kulturpolitische Agieren des Faschismus für fast ein Jahrzehnt prägen sollte.464 *** Die Palingenese der Nation  : Der Nationalauftrag des Rundfunks und der Faschismus Der oben untersuchte Artikel von Renato Santamaria stellte ein Jahr lang den einzigen Beitrag dar, in dem die italienische Rundfunkanstalt Überlegungen bezüglich der Ziele und Aufgaben ihrer Sendetätigkeit aufstellte. Santamarias Appell an die Regierung für eine stärkere Förderung des neuen Mediums schien 1926 Realität geworden zu sein  : Die Eröffnung eines neuen, stärkeren Sendehauses in Rom wird zum Anlass für eine regelrecht politische Veranstaltung, die die Erwartungen des anwesenden Santamaria erfüllt haben soll. In Radiorario wurde das Ereignis mit Nachdruck hervorgehoben und die Zeitschrift druckte auch einige Reden sowie eine Liste der wichtigsten Persönlichkeiten aus Politik und Kultur ab, die der am 31. März 1926 stattgefundenen Einweihungszeremonie beigewohnt hatten.465 Der Artikel schlägt sofort einen den Faschismus preisenden Ton an und betont die unentbehrliche Rolle der Politik beim Aufbau des neuen Mediums  : Die Teilnahme an der Zeremonie seitens 464 Siehe darüber Gentile 1997, Grande Italia, insbesondere 153–162. Dabei muss man Gentile sicherlich zustimmen, dass die unterschiedlichen Phasen im Verhältnis des Faschismus zum Nationalen „confluiscono l’una nell’altra, in una sorta di svolgimento a spirale, come momenti della cultura e della politica fasciste“. Ebd., 153. 465 „L’inaugurazione della nuova stazione di Roma“, Radiorario 1926, Hft. 15, 1–5.



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verschiedener politischer Persönlichkeiten wird ausdrücklich als Anerkennung der Wichtigkeit der noch jungen Rundfunkanstalt gedeutet.466 Im Vergleich zum Artikel von Santamaria ist jedoch 1926 nicht nur die uneingeschränkte Huldigung des Regimes vorhanden. Im Laufe seiner Rede formuliert der Präsident der URI, „Gran Ufficiale“ und „Ingegnere“, Enrico Marchesi in aller Deutlichkeit einen „nationalen Auftrag“ des Radios, auf den bereits Santamaria indirekt hingewiesen hatte und der nun als Wesen und bestimmendes Ziel des neuen Mediums mit folgenden Worten vom Präsidenten der URI geradlinig ausgesprochen wird  : „Durch dieses starke und anziehende Instrument der kulturellen Bildung im Inneren und der Propaganda der italianità im Ausland [also, durch den Rundfunk, d. V.] wollen wir alle unsere Kräfte einsetzen, um unserer Nation nützlich zu sein […]. Mit Stolz können wir laut beteuern, dass [nun] ein ruhiges und fleißiges Italien seinen geliebten König verehrt, seinem Duce folgt und ihn verherrlicht und dem Schicksal vertraut, das Gott für das Land vorgesehen hat.“467 Die kulturpolitischen Leitlinien für die Strukturierung des Programms des italienischen Rundfunks sind hier von Marchesi anschaulich formuliert worden  : Das Radio dient der Verbreitung der eigenen nationalen Kultur im In- und Ausland und zielt damit auf die Verwirklichung jener „von Gott auferlegten Kulturmission Italiens“, die auch der Faschismus zu jenem Zeitpunkt als identitätsstiftende Aufgabe übernahm. Marchesi bestätigt damit jenen „nationalen 466 „Coll’aver voluto presenziare l’inaugurazione della nuova Stazione radiofonica die Roma, le E.V. non soltanto hanno fatto un onore grandissimo alla nostra Società, ma hanno altresì dimostrato in quale importanza tengono il Servizio che dal Governo ci è stato affidato. […] È merito del Governo di S. E. Mussolini, e in modo particolare di S. E. Ciano e del suo esimio collaboratore comandante Pession, se, finalmente, anche l’Italia ha oggi un servizio di radioaudizioni circolari.“ Ebd., 1–2. 467 „Con questo potente e simpatico mezzo di propaganda culturale all’interno e di propaganda di italianità all’Estero noi vogliamo adoperare tutte le nostre forze per essere utili al nostro Paese […]. È nostro orgoglio il poter affermare alto e forte, da Roma, che l’Italia tranquilla e operosa, venera il suo amato Sovrano, segue ed esalta il suo Duce, ha fiducia nei destini, che le sono assegnati da Dio.“ Ebd., 3.

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Auftrag“ des Rundfunks, den Santamaria zuvor nur angedeutet und im Carducci-Zitat verklausuliert hatte. Marchesis Worte beweisen jedoch zusätzlich, wegen der direkten Formulierung und der unüberhörbaren Verweise auf den Faschismus, das Voranschreiten jenes komplexen Verschränkungsprozesses zwischen Idealen des „Risorgimento“, integralem Nationalismus des liberalen Italiens und spezifischen Inhalten faschistischer Ideologie, welches der Historiker Emilio Gentile als „Ideologisierung der Nation“ bezeichnet hat.468 Wie wirkte sich jedoch der „nationale Auftrag“ des neuen Mediums auf die Gestaltung des Musikprogramms aus  ?

2.2  National- und Kulturauftrag  : Konzeptuelle Leitlinien des Musikprogramms und die Vortäuschung einer Bilanz

Im März 1926 veröffentlichte der künstlerische Leiter der URI, der Komponist und Musikkritiker Alberto Gasco im Radiorario eine „künstlerische Bilanz“ („bilancio artistico“), in der er zum ersten Mal die Tätigkeit des römischen Senders während seines ersten Betriebsjahrs resümierend zusammenfasste.469 Mit Zufriedenheit stellte er dabei Folgendes fest  :

468 Vgl. Gentile 1997, Grande Italia, 149. Über das Konzept einer „Ideologisierung der Nation“ siehe § III.3.1, insbesondere die Fußnote 534, S. 290. 469 Eine kurze Biografie von Alberto Gasco (1879–1938) wurde in Radiorario veröffentlicht, vgl. Angelis 1925, Alberto Gasco. Ein Nachruf erschien außerdem in Radiocorriere 1938, Hft. 29, 11, aus dem jedoch keine weiteren wichtigen Informationen über Gasco hervorgehen. Ein erster Überblick über Gascos Leben und seine verschiedenen Tätigkeiten bietet Teodori 1999, Gasco. Die Forschung hat sich jedoch mit dieser Figur nie eingehend beschäftigt  ; einige allgemeine, vor allem auf Gascos Kompositionen bezogene Hinweise gibt Zanetti 1985, Musica italiana, 166, Fußnote 199. Auch meine zusätzlichen Recherchen nach weiteren Quellen bzw. unveröffentlichten Dokumenten, die über Gascos Tätigkeit im Rundfunk Auskunft geben könnten, sind fehlgeschlagen (zusätzlich zu den üblichen Bibliotheken und Suchverfahren habe ich auch in Rom beim „Archivio Centrale dello Stato“, den zwei RAI-Bibliotheken von viale Mazzini und via Teulada und beim Archiv der „Bibliomediateca“ der Accademia di S. Cecilia, bei der Gasco Mitglied war, vergeblich gesucht). Eine Auswahl aus den Rezensionen, die Gasco für La Tribuna im Laufe seines Lebens verfasst hatte, wurde kurz nach seinem Tod von Guido Puccio getroffen und in Form eines Sammelbandes veröffentlicht, vgl. Gasco 1939, Da Cimarosa a Strawinsky.



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„[Diejenigen, welche die römischen Rundfunkkonzerte regelmäßig und mit Aufmerksamkeit im Laufe des vorigen Jahres gehört haben, d. V.] kennen nun ein breites Repertoire von Werken jedes Genres, jeder Epoche und jeder Nation. Wir können damit mit Zufriedenheit behaupten, dass die Radiofonie in Italien ihre hohe Mission, den Kult der guten Musik zu verbreiten, nicht verleugnet hat.“470 Beim Verfassen seiner Bilanz, die den ersten Versuch seitens der italienischen Rundfunkanstalt darstellt, ihre Repertoireentscheidungen und ihre Programmstruktur im Musikbereich zu erläutern und ein einheitliches Sendeprofil bzw. eine kohärente Musikpolitik zu suggerieren, setzt Gasco den Schwerpunkt auf Vielfalt und Bandbreite des gesendeten Repertoires. Im weiteren Verlauf des Artikels behauptet er, in der Strukturierung der Musikprogramme „keiner Vorliebe für die eine oder die andere der großen europäischen Schulen“ gefolgt zu sein sowie weder die „alten noch die modernsten Komponisten“ ausgeschlossen zu haben.471 Mittels eines solchen Strebens nach stilistischer und historischer Vielfalt in der Zusammenstellung des Repertoires soll damit für Gasco auf dem Gebiet des Musikprogramms jene Erziehungsrolle des Rundfunks gegenüber seinen Hörern erfüllt werden, die sowohl Santamaria als auch der Präsident der Rundfunkanstalt Enrico Marchesi von Anfang an für das neue Medium als wesensbestimmend angesehen hatten. Ein grundlegender Widerspruch trotz der gemeinsamen llgemeinen Formulierung einer bildenden Aufgabe des Radios lässt sich jedoch zwischen den Worten Gascos und denen von Marchesi oder Santamaria erkennen  : Der künstlerische Leiter spricht hier von einer stilistischen und historischen Vielfalt des Musikprogramms, die den Zielen der „Verbreitung des Kultus der guten Musik“ dienen soll und der dementsprechend eine übernationale Dimension innewohnt, 470 „[Diejenigen, welche die römischen Rundfunkkonzerte regelmäßig und mit Aufmerksamkeit im Laufe des vorigen Jahres gehört haben, d. V.] possono dire di conoscere ormai un importante complesso di lavori musicali di ogni genere, d’ogni tempo e d’ogni nazione. Abbiamo quindi la soddisfazione di poter dire che la radiofonia, in Italia, non ha tradito la sua alta missione di divulgare il culto della musica buona.“ Gasco 1926, Bilancio artistico, 2. 471 „Nessuna esclusione di autori antichi o modernissimi, nessuna predilezione per l’una o l’altra delle grandi scuole europee“, ebenda.

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wie er ausdrücklich bemerkt („d’ogni nazione“). Als Santamaria und Marchesi in den vorher untersuchten Artikeln über die Erziehungsaufgabe des Rundfunks schrieben, hatten sie jedoch ein Bildungsmodell vor Augen, das eindeutig in der eigenen Nation verankert war. In dieser Hinsicht ist es vor allem nötig, das Konzept der „guten Musik“ („musica buona“) zu hinterfragen, das Gasco im Text als eine Selbstverständlichkeit einführte und wofür er keine direkte Erklärung gab. Aus dem weiteren Verlauf des Artikels lässt sich erschließen, wie Gasco mit dem Rekurs auf dieses Konzept eine ganze Reihe von Annahmen stillschweigend aktivierte, die normativ auf die Gestaltung des Musikprogramms wirkten. Bereits am Anfang des Artikels hebt Gasco die „kulturelle Wichtigkeit“ („importanza culturale“) der Musiksendungen hervor, dabei meint er jedoch offensichtlich nicht das gesamte Musikprogramm  ; in der Tat nennt er allein zwei präzise Sparten  : Die „symphonisch-chorische Musik“ („musica sinfonico-corale“) und die Oper.472 Es sind offensichtlich nur diese zwei Musikgenres, denen nach Gascos Ansicht die Ausübung einer kulturellen bzw. bildenden Rolle innerhalb des Musikprogramms zusteht. Auch die Schwerpunktsetzung bei der eingehenden Behandlung des Musikprogramms im weiteren Verlauf des Artikels spiegelt die Zentralität dieser Zweiteilung deutlich wider  : Die leichte Musik wird an keiner Stelle erwähnt, der Operette werden insgesamt sechs Zeilen gewidmet – gegenüber 38, 18 und 29 für Symphonik, Chormusik und Oper. Auch auf die Kammermusik geht Gasco – „aus Platzgründen“, wie er schreibt – überhaupt nicht ein.473 Die „musica buona“, die den Kulturauftrag des Senders erfüllt, besteht damit zu jenem Zeitpunkt für den künstlerischen Leiter der URI grundsätzlich aus den zwei Musikgenres des Symphonisch-Chorischen und der Oper. Diese Unterteilung wirft jedoch bereits an sich einige weitere Fragen auf, vor allem wenn man bedenkt, dass Gasco mit der Bezeichnung „symphonisch-chorische Musik“ nicht Symphonie mit chorischer Besetzung meint  : In der detaillierten Besprechung des gesendeten Repertoires werden solche Werke an keiner 472 „In questo periodo [das erste Betriebsjahr, d.V.] […] si è svolto nello studio della detta Stazione un ampio programma di musica sinfonico-corale e d’opera, dilettevole, eclettico e di incontestabile importanza culturale.“ Ebenda. 473 Der Kammermusik widmet Gasco nur folgende Worte  : „Non parleremo, per economia di spazio, dei pezzi per pianoforte, violino, violoncello, canto, quartetto di archi, trio, ecc.  ; l’elenco sarebbe davvero interminabile.“ Ebenda.



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Stelle erwähnt. Unter der Kategorie des Symphonisch-Chorischen werden aus zunächst einmal schwer nachvollziehbaren Gründen rein orchestrale Instrumentalmusik und a cappella-Vokalkompositionen des 16. und des 17. Jahrhunderts zusammengezogen. Angesichts der an keiner Stelle des Textes erklärten Eigenwilligkeit dieser Zweiteilung muss nach den Gründen gefragt werden, die Gasco zur Wahl eines solchen Zuordnungsprinzips bewegt haben könnten. Dabei ist es wichtig, hervorzuheben, dass weder diese Kategorisierung noch die zusätzliche Erläuterung im weiteren Verlauf des Artikels dem de facto gesendeten Musikprogramm der URI im Jahr 1925 entsprechen. Die Vorstellung, die Gasco im Titel und im Text hervorhebt, es handle sich bei diesem Beitrag um eine reine Bilanz des Gewesenen, ist täuschend  : Wenn man das Abendprogramm, das im Februar und im Oktober 1925 gesendet wurde, mit der Kategorisierung im Artikel vergleicht, lässt sich deutlich erkennen, wie die Ebene der Praxis und jene der Konzeptualisierung nur bedingt in Verbindung miteinander gebracht werden können (siehe Abbildung 4 und 5, S.  275 und 276). Gerade die Kammermusik, das heißt – in den Worten Gascos – jene „Stücke für Klavier, Violine, Violoncello, Gesang, Streichquartett, Trio etc.“ für die er im Artikel kaum ein Wort übrig gehabt hatte, stellten in Form des sogenannten gemischten Konzerts („concerto variato“) sowohl im Februar als auch im Oktober den Hauptteil der gesendeten Musik dar.474 Diese in den Anfangsjahren des italienischen Rundfunks sehr beliebte Art von Musiksendung strukturierte sich entlang des einfachen, jedoch effektiven Gestaltungsprinzips der varietas  : Das Programm bestand aus der Zusammenstellung einer Vielfalt von meistens kurzen Stücken für unterschiedliche kammermusikalische Besetzungen  ; die einzelnen Nummern kontrastierten auf verschiedene Weise (Gattung, Epoche, Stil etc.), während große Formen wie Sonate, Suite oder Symphonie entweder überhaupt nicht oder nur in Ausschnitten in das Programm einbezogen wurden.475 474 Für den italienischen Wortlaut der hier zitierten Passage aus dem Artikel von Gasco siehe die Fußnote 473, S. 252. 475 Für ein Beispiel einer solchen Programmgestaltung siehe die Auflistung der am Samstagabend, den 7. Februar 1925, gesendeten Werke, Abbildung 6, S. 277. Den Schwerpunkt dieses „gemischten Konzerts“ bildete sicherlich die Oper, eine Gattung, aus der fast die Hälfte der gespielten Nummern stammten (zehn von insgesamt 21 Stücken) und bei denen eine Vorliebe

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Gascos eigenwillige Kategorisierung des Musikprogramms resultiert damit nicht aus der Alltagspraxis der Radioanstalt und findet im gesendeten Programm keine Entsprechung. Wegen ihrer besonderen Zusammenführung von symphonischer und chorischer Musik kann sie außerdem nicht als unbedachte Übernahme ­eines locus communis für die Klassifizierung des Musikalischen erklärt werden. Die Bestimmung einer grundsätzlichen Zweiteilung des Musikprogramms in symphonisch-chorische Werke und Oper sowie die daraus resultierende Hierarchiebildung gegenüber den anderen, im Programm vertretenen Musikgattungen schien stattdessen der Erfüllung einer anderen, für den künstlerischen Leiter der URI viel wichtigeren Funktion als jener einer Bilanz des vorigen Rundfunkjahrs zu dienen. Schließlich stellt sich nun die etwas paradoxe Frage  : Was soll eigentlich das von Gasco verwendete Zuordnungsprinzip der Musiksendungen ordnen  ? *** Widersprüche eines vorgestellten Musikprogramms im Sinne der Nation Es ist sicherlich auffällig, dass Gasco an keiner Stelle seines Beitrags den von Santamaria und Marchesi formulierten Nationalauftrag des Mediums direkt erwähnt. In seiner Besprechung des Musikprogramms führt er stattdessen das Konzept einer guten Musik ein, die das Radio zu pflegen habe, und artikuliert damit für den Musikanteil der Sendungen einen verbindlichen „Kulturauftrag“. Kultur- und Nationalauftrag haben zwar eine erzieherische Funktion gegenüber den Hörern gemeinsam, Gasco scheint jedoch das Musikprogramm in einem Sonderbereich wie dem der Kultur strukturell verankern zu wollen, das zunächst wie eine Verortung über bzw. außerhalb der Nation und der nationalen Aufgabe anmutet  : Gleich am Anfang des Artikels hatte Gasco die, keine stilistische, zeitliche oder nationale Grenze kennende, Vielfalt und Bandbreite des gesendeten Repertoires ausdrücklich betont. Die Thematik des Nationalen lauert aber durchaus hinter der bis jetzt hervorgehobenen Internationalität. Noch bevor er für die populären Opern des verismo leicht zu erkennen ist (die Hälfte der Opernnummern). Das Programm, in dem sich sechs unterschiedliche Besetzungen abwechseln, deckt aber ein breites Spektrum von Frescobaldi bis hin zum erst vor sieben Jahren uraufgeführten Trittico von Puccini ab und scheut sich nicht vor den Salonromanzen eines Tosti oder Tirindelli.



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das gesendete Repertoire detailliert bespricht, schreibt der künstlerische Leiter der URI  : „Was die Oper angeht, in der Italien durch die Jahrhunderte über allen Nationen immer vorherrschte, wurde unseren Komponisten ein fast absolutes Übergewicht mit Recht reserviert.“476 Gasco kodiert hier expressis verbis eine Sparte der „guten Musik“, die Oper, als italienisch und expliziert damit das latente nationalistische Potenzial der vorher eingeführten Zweiteilung des Musikprogramms.477 Der die Musiksendungen strukturierende Kulturauftrag steht damit für Gasco weder außerhalb noch im Gegensatz zur Nation  ; das Nationale ist stattdessen auch in der musikalischen „Kultur“ durchaus präsent. Das Konzept der guten Musik und die Verortung des Musikprogramms im Bereich der Kultur sind nicht als Mittel aufzufassen, die der Ausschließung der Thematik des Nationalen dienen. Wahr ist vielmehr das Gegenteil, wie im Folgenden genauer erläutert wird  : Gasco beansprucht eine Sonderstellung des Musikprogramms im Rahmen des Nationalauftrags des Mediums, gerade um das Gesendete so weit wie möglich in die Kategorie des Nationalen zu integrieren und damit in die Bahnen jener Erziehungsrolle im Sinne der Nation zurückzuführen, aus welcher der Rundfunk seine Legitimation im Rahmen der faschistischen Weltanschauung und Regierungspraxis zu jenem Zeitpunkt erhielt. Aus Gascos Perspektive konnte allein ein Bruchteil der gesendeten Musik als genuin italienisch aufgefasst werden  : Opernmusik stellte in der Tat weniger als zwei Drittel des wöchentlichen Abendprogramms dar und dies nur im Oktober 1925, vorher fiel der Anteil noch niedriger aus. Mit dem Konzept einer guten Musik erschuf sich Gasco jedoch ein intellektuelles Artefakt, das zusammen mit einem gewissen rhetorischen Überzeugungspotenzial (die Kultur) ausreichend durchlässige bzw. unbestimmte inhaltliche Konturen besaß  : Dadurch konnte er im Rahmen seiner Bilanz das vage Konstrukt einer guten Musik ad hoc gestal476 „Quanto alla musica d’opera, nella quale l’Italia ha avuto sempre, attraverso i tempi, il predominio su tutte le Nazioni, è stato giustamente dato ai nostri autori un dominio quasi esclusivo.“ Gasco 1926, Bilancio artistico, 2. 477 Siehe insbesondere § II.4 in der vorliegenden Arbeit.

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ten und damit die faktische Internationalität des Musikanteils der Sendungen erfolgreich kaschieren. Dank der Ausschließung der Kammermusik und der dadurch ermöglichten Zweiteilung der „musica buona“ in symphonisch-chorische Werke und Oper konstruierte Gasco für seine Leser eine (Ideal-)Vorstellung des musikalischen Rundfunkprogramms, welche die gesendete Musik bereits zur Hälfte problemlos dem Italienischen zuordnete. Wie ein regelrechter éminence grise strukturiert der an keiner Stelle des Artikels explizit erwähnte Nationalauftrag de facto das imaginäre Bild des Musikprogramms von Gasco  ; etwas, das das Zusammenziehen von chorischer und symphonischer Musik zusätzlich (und auffällig) bestätigt. Auch in diesem Fall steht eine solche Kategorisierung in keinem Verhältnis zum Gesendeten  : Die Ausstrahlung von Chormusik stellte eine Ausnahme innerhalb der gängigen Musiksendungen dar, und die symphonische Musik fand erst ab September 1925 und nur einmal in der Woche einen bescheidenen Platz im Programm.478 Ein enger Zusammenhang zwischen den zwei Musikgenres konnte außerdem in keiner Weise aus den damaligen Musiksendungen erschlossen werden  : Programme, die Chor- und Orchestermusik direkt in Verbindung brachten, sei es in Form von Symphonien mit Chorbesetzung oder mittels einer gemischten Zusammenstellung des Repertoires, stellten zu jenem Zeitpunkt durchaus eine Seltenheit im Alltagsprogramm des italienischen Rundfunks dar. Wenn man auf die Auflistung des gespielten Repertoires eingeht, die Gasco im weiteren Verlauf des Artikels für diese zweite Sparte der „guten Musik“ vornimmt, fällt jedoch die Tatsache auf, dass im Fall der Orchestermusik alle ge478 Die erste „symphonische“ Sendung des italienischen Rundfunks, das heißt ein „Abendkonzert“, dessen Repertoire nicht allein aus einer Zusammenstellung verschiedener Stücke unterschiedlicher Gattungen, Epochen und Stilebenen bestand, fand erst am Freitag, dem 11. September 1925, statt. Angekündigt als „großer Abend symphonischer Musik“ („Grande serata di musica sinfonica“) standen Beethovens „Coriolan“-Ouvertüre sowie eine Auswahl aus Jules Massenets zwölf Scènes pittoresques auf dem Programm. Ab diesem Zeitpunkt wurde der Freitagabend beim römischen Sender der symphonischen Musik gewidmet, und zwischen dem 25. September und dem 27. November fand zu dieser Sendezeit sogar eine Art kleiner Beethoven-Zyklus statt  : Wenn auch nicht als Zyklus angekündigt, so wurden doch in einer auffällig kurzen Zeitspanne die fünfte (25. September), die siebte (23. Oktober), die sechste (6. November) und die dritte (27. November) Symphonie Beethovens gespielt. Meine Untersuchung der Rundfunkprogramme hat bis Februar 1926 keine weitere Aufführung von Beethovens Symphonien zu dieser Sendezeit belegen können.



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nannten Komponisten keine Italiener sind. Die einzige Ausnahme bildet dabei die ebenfalls in der Kategorie enthaltene Untergattung der Opernouvertüre.479 Die Lage ändert sich schlagartig, als Gasco auf die Chormusik zu sprechen kommt. Er schreibt  : „Bezüglich der glorreichen Vokalpolyfonie des 16. und 17. Jahrhunderts soll erwähnt werden, wie mehrmals der willige Chor der Sala degli Operai Werke von Palestrina, Banchieri und Orazio Vecchi aufgeführt hat  : Dem unerreichbaren Pierluigi da Paelstrina wurde zum Anlass seines 400. Jubiläums ein ganzes Konzert gewidmet, das vom maestro Domenico Alaleona geleitet wurde.“480 Gasco bekräftigt hier implizit die vokale Identität Italiens, die er vorher anhand der Oper explizit betont hatte  : Die von ihm genannten Komponisten sind nicht nur alle – nach seinem Denkmuster – Italiener, sie wirkten (und starben) auch vor der Entstehung der venezianischen Oper 1637 und damit vor der Etablierung jener Opernform, die den definitiven Durchbruch der bis dato nur punktuell anzutreffenden musikalischen Gattung des „recitar cantando“ unter einem sowohl ästhetischen als auch sozialen Gesichtspunkt sicherte.481 Gascos Auffassung der italienischen Musikgeschichte ist damit die einer kontinuierlichen Entfaltungslinie im Zeichen der Vokalmusik  ; einer Entfaltungslinie, die in der Vokalpolyfonie des 16. und 17. Jahrhunderts ihren ersten glorreichen Höhepunkt erlebte („gloriosa musica polifonico-vocale“), um schließlich mit der Oper in eine europäische Vorherrschaft zu münden („il predominio su tutte le nazioni“).482 Diese musikhistorische Meistererzählung, die hier den Lesern suggeriert wird, widerspricht jedoch direkt der vorher besprochenen Zweiteilung der „guten Mu479 Vgl. Gasco 1926, Bilancio artistico, 1. 480 „Riguardo alla gloriosa musica polifonico-vocale dei secoli XVI e XVII, è da rammentarsi che più volte il valoroso Coro della ‚Sala degli Operai‘ ha interpretato brani del Palestrina, del Banchieri, di Orazio Vecchi  : al sommo Pierluigi da Palestrina, in occasione del IV centenario della sua nascita, è stato dedicato un intero concerto diretto dal M. Domenico Alaleona.“ Ebenda. Das Palestrina-Konzert, auf das Gasco hier verweist, ist selbstverständlich die Sendung für das 400. Jubiläum des Komponisten, die im ersten Teil der vorliegenden Arbeit eingehend untersucht wurde  ; siehe § I.1. 481 Siehe Leopold 2004, Die Oper im 17. Jahrhundert, 129–172. 482 Siehe die vorher zitierte Passage aus Gascos Artikel auf S. 259 der vorliegenden Arbeit.

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sik“. Eine Unterbringung der Chormusik in die ebenfalls als italienisch kodierte Kategorie der Oper und damit eine tradierte Gegenüberstellung von Orchesterund Vokalmusik wäre die unmittelbare Konsequenz eines solchen Verständnisses der Musikgeschichte gewesen. Gasco führt stattdessen das „Nationalgut“ der Vokalpolyfonie mit der ausländischen Orchestermusik zusammen und konstruiert jene Kategorie des Symphonisch-Chorischen, die, der Oper entgegengesetzt, die zweite Hälfte der „guten Musik“ darstellt. Nur im Hinblick auf den Nationalauftrag wird Gascos eigentümliche Klassifikation nachvollziehbar  : Nur indem er die italienisch kodierte Vokalpolyfonie mit der Orchestermusik verschränkte, konnte er das Risiko vermeiden, dass die zweite Hälfte seines vorgestellten Musikprogramms vollkommen außerhalb des Nationalauftrags liegen würde. Gerade dies wäre das Resultat gewesen, wenn er im Einklang mit seiner Auffassung der musikalischen Identität Italiens das Musikprogramm entlang der tradierten Zweiteilung von Orchester- und Vokalmusik konzeptualisiert hätte. Noch eine letzte Unterkategorie von Gascos Klassifikationssystem soll hier berücksichtigt werden, nämlich jene „Alte Musik“ („antica musica“), die der künstlerische Leiter der URI noch vor der Besprechung der Vokalpolyfonie einführt und der symphonisch-chorischen Sparte des Musikprogramms zuordnet. Auch in diesem Fall gibt er keine Definition des Gemeinten, sondern beschränkt sich auf eine Auflistung von Komponisten, die unter anderem die Namen von Johann Sebastian Bach, Georg Friedrich Händel, Arcangelo Corelli, Luigi Boccherini oder Jean-Baptiste Lully aufweist.483 Damit meint er offensichtlich jene kammermusikalisch besetzten Stücke alter Instrumentalmusik, die im Laufe der abendlichen gemischten Konzerte gespielt wurden und die aus einzelnen Tanzsätzen, aus Violinsonaten oder aus kleinen, ausnahmslos auf dem Klavier gespielten Stücken für Cembalo bestanden.484 Damit verfängt sich Gasco auch in diesem Fall in einer Reihe von weiteren Kontradiktionen zu seinem eigenen Kategorisierungssystem bzw. zu der Musik, 483 „Gli adoratori dell’antica musica hanno certamente goduto ascoltando le composizioni di Giovanni Sebastiano e Friedman [sic  !] Bach, Haendel, Corelli, Tartini, Lulli, Rameau, Nardini, Veracini, Boccherini ecc. ripetutamente eseguite nei concerti della Stazione di Roma.“ Gasco 1926, Bilancio artistico, 1. 484 Für ein konkretes Beispiel des aufgeführten Repertoires im Rahmen der gemischten Konzerte der URI zu jenem Zeitpunkt siehe die Abbildung 6, S. 277.



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die er bespricht  : Am Anfang des Artikels hatte er die Kammermusik aus der grundsätzlichen Zweiteilung der „musica buona“ ausgeschlossen, nun führt er in der detaillierten Besprechung dieses Konstrukts Werke an, die offensichtlich kammermusikalischer Natur sind. Indem er weder Werke noch einzelne konkrete Sendungen benennt, schafft er es jedoch, diese zusätzliche Verstellung des gesendeten Programms zu kaschieren. Was Gasco zu dieser weiteren Anstrengungsprobe seines bereits an sich widersprüchlichen Kategorisierungssystems des Musikprogramms bewegt, ist jedoch auch in diesem Fall die Erfüllung des Nationalauftrags  : Mit der Unterbringung der gesendeten kammermusikalischen Werke Alter Musik in der Kategorie des Symphonisch-Chorischen, konnte er den unter dem Gesichtspunkt der „italianità“ durchaus problematischen Bereich der Instrumentalmusik mit weiteren „italienischen“ Komponistennamen bereichern. Wenn man Gascos Konstrukt einer guten Musik und dessen kategoriale Unterteilung aus der Vogelperspektive resümierend betrachtet, muss man schließlich feststellen, dass dem künstlerischen Leiter der URI in seiner angeblichen Bilanz eine Art Wunderstreich gelungen ist  : Er hat sich ein intellektuelles Artefakt geschaffen, aus dem ein Idealbild des Musikprogramms hervorgeht, das – wenn man die Zweiteilung der „musica buona“ und deren Unterkategorien ernst nimmt – zu 75 Prozent aus genuin italienischer Musik besteht  : Die Oper stellt bereits eine Hälfte der „guten Musik“ dar und die Vokalpolyfonie teilt den Rest ex aequo mit der Symphonik, was weitere 25 Prozent rein „italienisches“ Musikprogramm bedeutet. Das letzte Viertel der Musiksendungen ist schließlich für die Orchestermusik reserviert, bei der viele ausländische Komponisten vorkommen  : Opernouvertüren und Alte Musik sorgen jedoch dafür, dass auch in dieser Unterkategorie Italien vertreten wird. *** Ambivalenzen der guten Musik  : Die Dichotomie zwischen National- und Kulturauftrag im Musikprogramm des Rundfunks Nicht aus dem realiter gesendeten Musikprogramm gewonnen, stellt Gascos gesamtes Kategorisierungssystem der Musiksendungen ein (Ideal-)Bild des Musikprogramms dar, das allein im Hinblick auf die Anforderungen des Nationalauf-

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trags des Mediums entworfen wurde. Das argumentativ wichtige Konstrukt der „guten Musik“ übernahm jedoch in Gascos Artikel noch eine weitere Funktion  : Es sicherte auch die Existenzberechtigung jener problematischen Unterkategorie der Symphonik, die sich nicht vollständig auf Italien reduzieren ließ. Wenn auch die symphonische Musik nur partiell dem Nationalen zugeordnet werden konnte, wurde jedoch ihre Präsenz im Musikprogramm anhand der Kategorie der „musica buona“ legitim gemacht  : Sie gehörte expressis verbis zur „guten Musik“ und damit zu jenem Bereich der „musikalischen Kultur“, dem das Musikprogramm zu dienen hatte.485 „Musikalische Kultur“ und „Nation“ waren schließlich nur zum Teil deckungsgleich und das Konstrukt der „musikalischen Kultur“ diente sowohl der Eingliederung des Musikprogramms in das Nationale als auch der Legitimierung jener Teile der Musiksendungen, die daraus ausgeschlossen blieben. Angesichts der doppelten Funktion, die dem Konzept der „guten Musik“ im Rahmen des Artikels zukam, entstand damit innerhalb des Musikprogramms eine schwer vermittelbare Dichotomie zwischen einem Kultur- und einem Nationalauftrag des Rundfunks. Der künstlerische Leiter der URI sowie die anderen Funktionäre und Sendeleiter der italienischen Rundfunkanstalt sollten in den darauf folgenden Jahren immer wieder, bewusst oder unbewusst, weitere Lösungsversuche in der offiziellen Rundfunkzeitschrift versuchen. Dabei handelten sie die einzelnen Bestandteile der „musica buona“ und das gesamte hier untersuchte Kategoriensystem des Musikprogramms je nach Anlass neu aus. Das Konstrukt einer „guten Musik“ blieb jedoch in seiner Doppelfunktion für die Strukturierung des Musikanteils der Sendungen weiterhin notwendig. Damit blieb die hier hervorgehobene Dichotomie zwischen National- und Kulturauftrag bis zum Ende des Faschismus erhalten und wurde zu einem bestimmenden Faktor für die Gestaltung des Musikprogramms. Viel besser als das hier von Gasco entworfene fragile Kategorisierungssystem konnte jedoch eine „große Erzählung“ die jeweiligen Unterschiede und die potenzielle Dichotomie zwischen den zwei Polen der Musiksendungen zugleich 485 Gasco hatte diesen Aspekt am Schluss des Artikels noch einmal explizit betont, indem er die „Internationalität“ des Musikprogramms („musica d’ogni nazione“) im Zusammenhang mit dem dadurch ermöglichten „Kultus der guten Musik“ positiv hervorhob, vgl. Gasco 1926, Bilancio artistico, 2 (die Passage wurde bereits vorher in der vorliegenden Arbeit zitiert, vgl. 255).



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bestätigen und zusammenhalten  : Die Meistererzählung einer symphonischen Tradition Italiens. Sie sollte in den darauf folgenden Jahren eine der erfolgreichsten Narrative werden, die diese Aufgabe erfüllte.

2.3  Die Entdeckung der symphonischen Tradition im Rundfunk 1924–1929

Die alte italienische Instrumentalmusik fand von Anfang an Eingang in das Musikprogramm des italienischen Rundfunks (Unione Radiofonica Italiana, U.R.I.). Bereits beim Eröffnungskonzert des allerersten Senders Italiens („Stazione di Roma 1RO“) am sechsten Oktober 1924 erklangen in einer wohldurchdachten Auswahl und Zusammenstellung einige kurze Sätze aus kammermusikalischen Werken von Francesco Maria Veracini und Attilio Ariosti (siehe Abbildung 3  : Eröffnungskonzert der italienischen Rundfunkanstalt am 6. 10. 1924, S.  274). Das Adagio und die Allemande von Veracini sowie das Largo von Ariosti markierten eindeutig jeweils den Anfang und das Ende des „italienischen“ Teils des Konzerts, das nur zum Schluss und diesmal jedoch allein im Bereich der leichten Musik mit den zwei Romanzen von Stefano Donaudy und Luigi Denza noch einmal „italienische“ Werke vorsah. Das Eröffnungskonzert gibt in seiner Repertoirezusammenstellung jenes Organisationsprinzip des gemischten Konzerts programmatisch wieder, das für die darauf folgenden drei bis vier Jahre zu einem großen Teil das Musikprogramm des italienischen Rundfunks strukturieren sollte. Die Präsenz alter italienischer Instrumentalmusik, wenn sicherlich mit nationalem Unterton kodiert, kann jedoch hier kaum in Verbindung mit dem musikhistorischen Konstrukt einer symphonischen Tradition gebracht werden.486 Dieses Konstrukt wird in der Sendung auf keine Weise suggeriert  : Nicht nur wird aus technischen und organisatorischen Gründen keine Orchester-, sondern nur Kammermusik gespielt, sondern die zeitliche Abfolge der ausgewählten Stücke konstruiert bzw. sugge486 Für einige allgemeine Auskünfte über die nationale Ausrichtung des gesamten Programms der italienischen Rundfunkanstalt während der 1920er-Jahre siehe Monticone 1978, Il fascismo al microfono, 16–20  ; Monteleone 2005, Storia della radio, 40–42 sowie den guten Aufsatz von Tranfaglia 1999, Radio e Fascismo.

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riert auch keine Meistererzählung von einem italienischen gegen Deutschland gerichteten Erfindungsprimat im Bereich der Instrumentalmusik. Auch wenn man den „italienischen“ Block des Programms im ersten Teil per se betrachtet, kann den beiden Instrumentalwerken allein eine Umrahmungsfunktion zuerkannt werden. Sie bilden den Rahmen für eine vorwiegend auf die Vokalmusik fokussierte Kodierung der musikalischen Identität Italiens  : Zwei „Volkslieder“, die genau den Norden (Lombardei) und den Süden (Sizilien) des Landes bündeln, verankern die Vokalmusik im nationalen „Volk“  ; mit Verdi wird ein Komponist ins Programm einbezogen, der wie kein anderer zur Symbolfigur des „Risorgimento“ gemacht worden war, und mit Cileas Arlesiana wird zusätzlich eine erfolgreiche und zu jener Zeit sehr beliebte Art des Musiktheaters, der Verismus, aufgenommen.487 Die „Aria del ’600“ von Antonio Cesti sorgt schließlich für eine historische Verankerung des vorwiegend vokalen Bilds der musikalischen Identität Italiens, das die Sendung suggeriert. Torchis musikhistorisches Artefakt einer symphonischen Tradition des Landes spielt damit im Rahmen des Eröffnungskonzerts der URI kaum eine Rolle und fungiert hier sicherlich nicht als Zuordnungsprinzip für die Auswahl und Zusammenstellung des aufzuführenden Repertoires. Diese allererste Sendung der italienischen Rundfunkanstalt stellt sich damit auch in diesem Sinne als programmatisch dar  : Trotz der signifikanten Präsenz alter italienischer Instrumentalmusik in den Musiksendungen wird sie bis Ende des Jahres 1928 weder explizit in den Programmankündigungen noch implizit durch die Repertoirezusammenstellung mit dem Narrativ einer symphonischen Tradition in Verbindung gebracht. Sie ist ein oft anzutreffender Bestandteil der abendlichen gemischten Konzerte der URI  ; es handelt sich jedoch fast ausschließlich um Kammermusik, die mit modernen Instrumenten und nicht als Orchestertranskription aufgeführt wird. Diese Werke werden außerdem im Laufe der Konzerte so positioniert, dass deren Präsenz allein dem Prinzip der „varietas“ verpflichtet scheint. Als prägnantes Beispiel dafür kann das Kuriosum eines nicht näher angegebenen „Konzerts in G-Dur“ von Antonio Vivaldi 487 Im Fall Cileas handelt es sich vermutlich um die berühmte Arie „È la solita storia“, die noch heute als einzige Nummer der sonst fast vergessenen Oper Arlesiana von Cilea zum Standardrepertoire jedes Tenorkonzerts gehört.



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gelten, das am zweiten Dezember 1925 in einer Transkription für Soloklavier erklang (siehe Abbildung 8, S. 279). Die Platzierung des vivaldischen Konzerts innerhalb dieser Abendsendung zielt eindeutig nicht auf eine Gegenüberstellung des Werks mit dem vorher gespielten ersten Satz aus Beethovens Violinkonzert op. 61  ; vielmehr wird das Stück des „prete rosso“ durch italienische und französische Volkslieder davor und die Orchestersuite „Jeux d’enfants“ von Georges Bizet danach von jeglicher „nationalen“ Determinierung ferngehalten. Das Werk und das Kuriosum von dessen Widergabe als Klaviertranskription sollen stattdessen zu der Erfüllung jenes übergeordneten Zuordnungsschemas des Repertoires beitragen, welches dieses spezifische Abendkonzert strukturiert und allein dem „Varietas“-Prinzip gehorcht  : Die Sendung besteht in der Tat aus einer dreimaligen Wiederholung von einer festgelegten Abfolge aus orchestral, chorisch und schließlich kammermusikalisch besetzter Musik, die nur zum dritten Mal in leicht variierter Reihenfolge erklingt. Der Verzicht auf eine orchestrale Besetzung im Fall Vivaldis und zugleich die Entscheidung für die Orchesterfassung der Suite von Bizet – ein Werk, von dem auch eine vom Komponisten selber verfertigte Version für Klavier zu vier Händen vorliegt – unterstreichen zusätzlich die Abwesenheit jeglicher Intention seitens der Rundfunkanstalt, mit der Auswahl eines Instrumentalkonzerts Vivaldis das Narrativ eines symphonischen Erfindungsprimats Italiens hervorzuheben.488 Im Rahmen der insgesamt 22 zwischen Dezember 1924 und April 1926 ausgestrahlten „Sondersendungen“ („Trasmissioni speciali“) erklang am 21. April 1926 um 20.35 Uhr ein „Sonderkonzert alter italienischer Musik“ („Serata speciale di musica antica italiana“, siehe Abbildung 7, S. 278).489 Dieses Konzert stellt das 488 Bizets Miniaturenzyklus „Jeux d’enfants“ op. 22 wurde 1871 komponiert. Fünf der insgesamt zwölf Stücke wurden von Bizet orchestriert und zu einer kleinen Suite umgearbeitet („Petite Suite“). 489 Siehe die vollständige Auflistung der bis dato ausgestrahlten musikalischen Sondersendungen der italienischen Rundfunkanstalt in „Ciò che è vero“, Radiorario 1926, Hft. 20, 1–4, 2–3. In diesem langen Artikel vom Mai 1926 listete die Leitung der URI diese Sendungen vollständig auf, um den kulturellen Wert ihres Programms gegen nicht näher spezifizierte Vorwürfe hervorzustreichen, die der Rundfunkanstalt öffentlich vorgeworfen worden waren. Der von der URI herausgegebene Radiorario war auf jeden Fall nicht die einzige Rundfunkzeitschrift, die zu jener Zeit in Italien erschien  : Es gab noch einige andere, unabhängige Veröffentlichungen,

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einzige unter den „Sonderprogrammen“ dar, das explizit ein „Italienisches“ in der Musik der Vergangenheit zu kodieren und damit das Profil einer nationalen Musiktradition zu definieren versucht. Dessen Repertoirezusammenstellung bestätigt und erklärt zugleich die Abwesenheit von Torchis Konstrukt einer symphonischen Tradition in der Gestaltung des Musikprogramms des italienischen Rundfunks zu jenem frühen Zeitpunkt. Auch in diesem Konzert lässt sich in der Tat die Präsenz alter italienischer Instrumentalmusik erkennen, sie bleibt jedoch gegenüber dem vokalen bzw. mit der Gattung Oper direkt verbundenen Teil des Programms durchaus sekundär  : Es handelt sich allein um fünf Titel – die Opernouvertüre ausgenommen –, davon ist nur für zwei Stücke eine orchestrale Besetzung vorgesehen. Auch unter einem qualitativen Gesichtspunkt sind Giovanni Battista Sammartinis „Canto amoroso“ (vermutlich aus der Violinsonate in A-Dur op. 1, Nr. 4) und Luigi Boccherinis „Minuetto“ aus dem Streichquintett G 275 kaum geeignet, um auf Torchis Konstrukt zu verweisen  : Es handelt sich um vereinzelte, für Orchester transkribierte Sätze aus kammermusikalischen Werken  ; durch eine Betitelung und die Trennung aus dem Werkkontext werden sie außerdem im Abendkonzert eher als Albumblätter kodiert anstatt als Beweise eines symphonischen Erfindungsprimats Italiens wahrgenommen. Der Rest des Programms, der sich vom selbsternannten „Erfinder des Sologesangs“ Giulio Caccini über Vivaldi und die Opera buffa bis hin zu Spontinis Vestale erstreckt, konstruiert ein Bild der alten italienischen Musik, dessen Schwerpunkt eindeutig in der Vokalproduktion liegt. Die wenigen Instrumentalwerke stellen dabei sicherlich willkommene, jedoch sekundäre Pausen gegenüber dem Hauptnarrativ eines Italien als ewigem Land der Oper dar. Erst gegen Ende der 1920er-Jahre änderte sich die Lage diesbezüglich entscheidend. Dies hing eng von denen sei hier vor allem die zwischen 1924 und 1928 herausgegebene Zeitschrift Radiofonia genannt, die sich durch eine sehr kritische Haltung gegenüber der URI auszeichnete. Am 10. April 1926 wurde zum Anlass des dritten Existenzjahres der Zeitschrift ein ebenfalls langer Artikel, in dem starke Kritik an der URI geübt wurde, veröffentlicht, vgl. „Anno terzo“, Radiofonia 1926, Hft. 7, 141–142. An einer Stelle stand zum Beispiel die Bemerkung  : „Perché, lo ripetiamo per l’ennesima volta, e lo ripeteremo sino alla noia, sino all’eccesso, sino alla nausea  : la radio in Italia è ancora un’intenzione. È una buona intenzione o, per meglio dire, era una buona intenzione che prometteva di diventare una ottima realtà. Realtà che non si è avverata“, ebd., 142. Vermutlich ist der einen Monat später im Radiorario erschienene Artikel die Antwort auf diese Kritik von Radiofonia.



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mit einer Neustrukturierung des gesamten italienischen Rundfunksystems im Jahr 1927 zusammen, welche einschneidende Auswirkungen auf unterschied­ lichen Ebenen des Musikprogramms hatte. *** Die Rundfunkreform vom November 1927  : Torchis musikhistorisches Konstrukt als Gestaltungsprinzip des Rundfunkprogramms Am 17. November 1927 wurde die URI in Ente Radio Audizioni Italiane (E.I.A.R.) umbenannt.490 Die Strukturen und das Personal der URI wurden dabei vollständig übernommen. Darüber hinaus wurde jedoch ein „Comitato Superiore di Vigilanza“ (Aufsichtsrat) gegründet, der die Inhalte der Sendungen überwachen und konkrete Richtlinien für die Zusammenstellung der Programme entwickeln sollte.491 Der Faschismus hatte zu jenem Zeitpunkt die erste schwierige Etablierungsphase und die schwerwiegende Krise im Zuge der Ermordung Matteottis erfolgreich überstanden.492 Der Jurist Alfredo Rocco war nun darum bemüht, den gesetzlichen und organisatorischen Rahmen zu schaffen, um dem Faschismus dauerhaft eine solide institutionelle und politische Alleinherrschaft zu sichern.493 Der Aufbau eines Aufsichtsrats und viele der Maßnahmen, die mit der Reform vom November 1927 und der Umbenennung der italienischen Rundfunkanstalt getroffen wurden, bedeuteten den ersten Schritt eines Prozesses, der vor allem ab Anfang der 1930er-Jahre zunehmend 490 Regio Decreto Legge 17. November 1927, Nr. 2207, Art. 1. Der Text des Dekrets wurde in Radiorario 1927, Hft. 52, 3–6 publiziert. Der Radiorario veröffentlichte im Januar auch das Protokoll der außerordentlichen Aktionärsversammlung der URI vom 15. Januar 1928, in der die Umbenennung der URI in EIAR entschieden wurde, vgl. Radiorario 1928, Hft. 4, 2–4. 491 Regio Decreto Legge 17. November 1927, Nr. 2207, Art. 2–7. Siehe darüber Cannistraro 1975, La fabbrica del consenso, 229–236, 245–247 sowie Monticone 1978, Il fascismo al micro­fono, 37–69. Die Mitglieder des ersten Aufsichtsrats wurden in Radiorario 1928, Hft. 3, 6 aufgelistet. Die Entscheidungsprozesse lassen sich nur zum Teil rekonstruieren  ; siehe Archivio Centrale dello Stato, Pres. Cons. 1927, 13–1–4581 (insbesondere den Brief von Costanzo Ciano an Benito Mussolini vom 12. Dezember 1927. Hier stellte Ciano dem Duce eine Liste der möglichen Kandidaten vor. Für die Musikprogramme schlug er Arturo Toscanini und Pietro Mascagni vor. Mussolini entschied sich schließlich für Letzteren). 492 Siehe dazu § III.2.1, insbesondere 245. 493 Siehe dazu § III.1.1, Fußnote 443, S. 236 in der vorliegenden Arbeit.

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sichtbar wurde  : Der Faschismus fing an, das Radio immer bewusster als ein Medium aufzufassen, das nicht allein kontrolliert, sondern als aktives Propagandainstrument eingesetzt werden sollte.494 Die Folgen der Neuorganisation des Radios von 1927 wurden erst im Oktober des darauf folgenden Jahres in den Programmen deutlich sichtbar. Dabei gehörte die bewusste Verwendung des „symphonischen“ Vergangenheitsbilds Italiens zu den auffälligsten Zeichen der musikalischen Programmerneuerung. Am 7. Oktober 1928 stellte die italienische Rundfunkanstalt im Radiorario das geplante Musikprogramm des römischen Senders für das kommende Jahr vor.495 Bis dahin waren zufällig erschienene Berichte über das bereits ausgestrahlte Programm die Norm gewesen, wie zum Beispiel die im vorigen Abschnitt besprochene Bilanz von 1926 über das Musikprogramm des Vorjahrs.496 Mit dem unsignierten Artikel vom Oktober 1928, der höchstwahrscheinlich der Feder des künstlerischen Leiters des Senders, Alberto Gasco, zugeschrieben werden muss, legte sich die Rundfunkanstalt zum ersten Mal auf eine konkrete, längerfristige Sendepolitik fest.497 Ähnlich der Opernhäuser und Konzertsäle, die zu jenem Zeitpunkt dem Radio künstlerisch weit überlegen waren, wagte der EIAR es sogar, seine Sendepläne als „musikalische Saison“ zu bezeichnen  : Gasco wollte damit den Qualitätssprung unmissverständlich betonen, den sich die in Radiorario besonders hervorgehobene strukturelle Reform der Rundfunkorganisation vom November 1927 vorgenommen hatte. Die Radioanstalt, die nun über ihr 494 Siehe Monticone 1978, Il fascismo al microfono, 119–134  ; Monteleone 2005, Storia della radio, 81–108 und Isola 1998, L’ha scritto, 1–6. Für eine Analyse der inhaltlichen Veränderungen, die dieser Prozess für das Musikprogramm der italienischen Rundfunkanstalt bedeutete, siehe § III.3.2 in der vorliegenden Arbeit. 495 Vgl. Gasco 1928, La prossima stagione. 496 „Ciò che è vero“, Radiorario 1926, Hft. 20, 1–4. 497 Der die Tätigkeit der URI für das kommende Jahr ankündigende Artikel vom November 1926 mit dem Titel „La radiotelefonia nella prossima stagione 1926–1927“, Radiorario 1926, Hft. 45, 1 enthielt keine konkrete Angabe über das Musikprogramm. Nach dem vorher zitierten Artikel von Gasco vom Oktober 1928 folgten zwei weitere Artikel, die jeweils für den Mailänder und den Neapolitanischen Sender der URI die Schwerpunktsetzung innerhalb des musikalischen Repertoires für das kommende Rundfunkjahr erläuterten  ; siehe jeweils „La musica ad 1MI nel 1928–1929“, Radiorario 1928, Hft. 44, 1–2 und „La stagione musicale alla Stazione di Napoli“  ; Radiorario 1928, Hft. 45, 3. Beide Artikel enthalten jedoch keinen Hinweis auf die alte italienische Instrumentalmusik oder auf die symphonische Tradition.



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römisches Programm von einer „stagione musicale“ sprach, schien damit insbesondere einen wichtigen Punkt vermitteln zu wollen  : Das Programm solle nicht mehr aus einer Abfolge von mehr oder weniger zusammengewürfelten Stücken in Form eines gemischten Konzerts bestehen, wie das vorher fast ausschließlich geschehen war. Der Rundfunk hatte Ende 1928 die Infrastruktur und den Willen, seinen Musikprogrammen eine deutlichere Profilierung zu geben, und der Artikel will den Rundfunkhörern die Züge dieses Qualitätssprungs vermitteln. In diesem Zusammenhang taucht an einer prominenten Stelle des Textes zum ersten Mal unmissverständlich das Konstrukt einer symphonischen Tradition auf und dies mittels jener Komponistenfigur, die wie keine andere bereits bei der bahnbrechenden Forschung von Luigi Torchi am Ende des 19. Jahrhunderts zur Versinnbildlichung dieses musikhistorischen Konstrukts gedient hatte  : Antonio Vivaldi.498 Das kommende Musikprogramm sollte im Artikel Gattung für Gattung vorgestellt werden, und direkt zu Beginn des Abschnitts über die „musica sinfonica“ heißt es  : „Symphonische Musik  : Es werden die vier Konzerte der Jahreszeiten von Antonio Vivaldi und der gesamte Zyklus der neun Symphonien von Beethoven aufgeführt.“499 Vivaldis Konzerte die Vier Jahreszeiten wurden damit im Artikel nicht unter der Rubrik Konzerte genannt, wie es in Bezug auf die Gattung richtig gewesen wäre, zumal sie dort auch als solche aufgelistet worden waren. Sie wurden stattdessen unter Symphonik eingeordnet und direkt den neun Symphonien von Beethoven gegenübergestellt. Der Unterschied zu der bisherigen Art und Weise, wie die alte italienische Instrumentalmusik in der Besprechung des Musikprogramms konzeptualisiert wurde, ist in diesem programmatischen Artikel radikal. In seiner allerersten Bilanz des bereits gesendeten Musikprogramms im März 1926 hatte Gasco die vor Haydn entstandene Kammermusik als Alte Musik („Antica Musica“) bezeichnet und sie ohne jegliche Erklärung der orchestralen Sparte des Musikprogramms zugeordnet.500 Signifikanterweise wurde dabei kein konkretes Werk genannt und die Alte Musik als national „gemischtes“ Musikgenre dargestellt, dem von Gasco nach der Benennung der zwei „großen“ (deutschen) Namen Bach und Händel weitere italienische, deutsche (Wil498 Siehe § II.4.2 in der vorliegenden Arbeit. 499 „Musica sinfonica  : Si daranno i quattro Concerti delle stagioni di Antonio Vivaldi e l’intero ciclo delle nove sinfonie di Beethoven“, Gasco 1928, La prossima stagione, 1. 500 Siehe die Fußnote 483, S. 258 für das vollständige Zitat.

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helm Friedemann Bach) und französische (Lully und Rameau) Komponisten in bunter Rheinfolge zugerechnet wurden. Die „Antica Musica“ wurde außerdem nicht an den Anfang, sondern ans Ende der Besprechung der Orchestermusik gestellt  : Zu diesem frühen Zeitpunkt wollte offensichtlich der künstlerische Leiter der damaligen URI mit der Erwähnung dieser alten Kammermusik seinem Publikum noch keine musikhistorische Meistererzählung suggerieren. Die alte Instrumentalmusik wurde nicht als rein italienische Erfindung vermittelt, auf welche die späteren, „ausländischen“ Symphonien zurückzuführen seien. Die Alte Musik bildete innerhalb jener ersten Zuordnung des Musikprogramms aus dem Jahr 1926 eine Unterkategorie des Orchestralen, die Gasco weder explizit noch implizit in eine eindeutige gattungstypologische bzw. entwicklungsgeschichtliche Beziehung zur Symphonik stellte  : Wie im vorigen Abschnitt veranschaulicht wurde, lag die Funktion der Alten Musik im Jahr 1926 ausschließlich in einer Verringerung der unumgänglichen Anzahl ausländischer Werke und Komponisten, die das gesendete Musikprogramm der URI außerhalb der Sparte der Oper aufwies. Nur dadurch konnte zu jenem Zeitpunkt die gesendete Musik so konzeptualisiert werden, dass sie den Anforderungen des Nationalauftrags der Rundfunkanstalt zu entsprechen vermochte. Mehr als zweieinhalb Jahre später wird zum ersten Mal das Programm des römischen Senders für das kommende Jahr in Radiorario besprochen und dabei mit der Erwähnung von Vivaldi nicht allein eine der zentralen Versinnbildlichungsfiguren des musikhistorischen Konstrukts von Torchi angesprochen  : Gasco geht nun 1928 noch weiter und klassifiziert Vivaldis Vier Jahreszeiten nicht als Alte Musik  ; er reiht sie auch nicht in eine separate (Unter-)Kategorie des Symphonischen ein. Vivaldis Konzerte werden stattdessen gleich am Anfang der Besprechung der „musica sinfonica“ erwähnt und vor allem in einer direkten Verbindung mit den Werken einer anderen Komponistenpersönlichkeit, Ludwig van Beethoven, verortet, die wie keine andere zum Symbol der „deutschen Symphonik“ geworden war und eine zentrale Bedeutung in Torchis musikhistorischer Erfindung hatte.501 Die erfundene Tradition eines symphonischen Primats Italiens kam hier in der Konzeptualisierung des Musikprogramms zum ersten Mal deutlich zum Vorschein  : 31 Jahre nach Torchis Schriften wird 501 Siehe diesbezüglich § II.4.2.



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Vivaldi – nun auch im Radio – zum „genio sinfonista“ erklärt und Beethoven gegenübergestellt.502 In diesem Artikel dient die Erwähnung der alten italienischen Instrumentalmusik nicht mehr, wie es 1926 der Fall war, dazu, eine vorwiegend aus „ausländischen“ Werken bestehende Sparte des Musikprogramms mit einigen italienischen Komponistennamen zu füllen. Sie dient stattdessen, wenn auch hier noch auf indirekte Weise vermittelt, der Beanspruchung eines Erfindungsprimats Italiens gegenüber Deutschland im Bereich der Symphonik  ; jenes Erfindungsprimats, das eines der bestimmenden Elemente vom Torchis Konstrukt einer symphonischen Tradition Italiens darstellte. *** Vivaldi versus Beethoven  : Repertoirezusammenstellung und symphonisches ­Programm des Rundfunks, 1929­ Wenn man nun auf das tatsächlich gesendete Musikprogramm des Jahres 1929 eingeht, lässt sich erkennen, dass diese Gegenüberstellung von Vivaldis Vier Jahreszeiten und Beethovens neun Symphonien keine rhetorische, allein auf eine wirksame Gestaltung des Artikels beschränkte Strategie von Gasco war  : Sie verwies stattdessen auf signifikante Veränderungen im Musikprogramm des gesamten EIAR, die sowohl unter einem quantitativen als auch einem qualitativen Gesichtspunkt im Laufe des folgenden Rundfunkjahrs deutlich zu beobachten sind. Bei der Untersuchung des Musikprogramms tritt jedoch noch ein weiterer Aspekt hervor  : Gascos Artikel, der allein dem römischen Programm gewidmet war, kündigte Veränderungen an, die in den folgenden Monaten nicht so sehr im römischen als vielmehr in den anderen Sendern des EIAR, insbesondere in Mailand und Genua, in Erscheinung treten sollten und dies, obwohl sich die Leiter der anderen Stationen dazu nicht geäußert hatten  : Der künstlerische Leiter des Mailänder Senders, der Komponist Attilio Parelli, verwies zum Beispiel in seiner zwei Wochen nach Gascos Text in Radiorario erschienen Besprechung des Musikprogramms für das kommende Jahr weder auf die alte Musik noch auf das Narrativ der symphonischen Tradition.503 Gasco scheint damit in sei502 Siehe § II.4.2, S. 150 in der vorliegenden Arbeit. 503 „La musica ad 1MI nel 1928-1929“, Radiorario 1928, Hft. 44, 1–2.

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nem Pionierartikel in Bezug auf die alte italienische Instrumentalmusik von Tendenzen sprechen zu wollen, welche die Rundfunkanstalt in ihrer Gesamtheit betrafen und die in Rom mit etwas Verspätung eine Widerspiegelung in der Strukturierung der Musiksendungen haben sollten. Innerhalb des gesamten Musikprogramms des EIAR für das Jahr 1929 lässt sich in erster Linie eine bedeutende quantitative Steigerung von Sendungen feststellen, die ausschließlich der alten italienischen (vokalen und instrumentalen) Musik gewidmet wurden. Drei Monate nach Gascos Artikel vom Oktober 1928 fand diese Tendenz im Musikprogramm des Mailänder Senders einen ihrer auffälligsten Höhepunkte. Nach einigen Artikeln in Radiorario, die das Unterfangen ausgiebig ankündigten, begann am 8. Januar 1929 im Studio des EIAR in Mailand eine Reihe von insgesamt 25 Sendungen, welche die Aufführung alter italienischer Musik zum alleinigen Ziel hatten.504 Das wöchentliche 90-minütige Programm stellte nicht nur das bis dato größte langfristige Projekt der italienischen Rundfunkanstalt überhaupt dar, sondern sah zusammen mit der Aufführung dieser „wiederentdeckten“ Musik auch einen Moderator vor, der die Werke einführen und dem Publikum ihre musikgeschichtliche Bedeutung vermitteln sollte. Diese Aufgabe wurde einem Musikwissenschaftler erteilt, der sich wie kein anderer Torchis Konstrukt für seine Forschung zu eigen gemacht und das italienische Erfindungsprimat im Bereich der Symphonik in seinen Schriften mit gewolltem (und reichlich genossenem), polemischem Gestus beansprucht hatte  : Fausto Torrefranca.505 Die einführenden Texte der Sendungen wurden nicht in Radiorario veröffentlicht  ; die Präsenz eines Verfechters des ita504 Die Sendungen wurden immer dienstags zwischen 20.30 und 22.00 Uhr ausgestrahlt, und die Reihe war vom Januar 1929 bis Ende Juni desselben Jahres konzipiert. Die Reihe wurde mit einem kurzen unsiginierten Artikel im Radiorario eine Woche vor Sendebeginn angekündigt  ; siehe „La nostra bella musica antica per trasmissione radiofonica“, Radiorario 1929, Hft. 1, 2. Ein weiterer, unsignierter kurzer Artikel folgte („La diffusione della musica antica italiana“, Radiorario 1929, Hft. 3, 2). Ein Monat nach Sendebeginn wurde schließlich ein Beitrag veröffentlicht, in dem über die Ziele dieses ambitionierten Unterfangens ausführlich berichtet wurde. Der Artikel wurde von Fausto Torrefranca, der für die musikhistorischen Einführungen der Sendungen zuständig war, und Giacomo Benvenuti, der mit der musikalischen Leitung des Ensembles betraut worden war, unterschrieben  ; siehe Torrefranca/Benvenuti 1929, Iniziative dell’E.I.A.R. Im weiteren Verlauf der Reihe folgten keine weiteren Artikel. 505 Über die Figur des Musikwissenschaftlers Fausto Torrefranca sei hier auf § II.4.3 sowie § II.5.2 in der vorliegenden Arbeit verwiesen.



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lienischen Primats in der Erfindung der Symphonie wie Torrefranca als Moderator und Gestalter dieser Sendereihe und die Tatsache, dass der kalabresische Musikwissenschaftler in seinen Artikeln die Reihe explizit unter das Siegel der faschistischen Kulturpolitik stellte, lässt jedoch folgende Feststellung zu  :506 Das Konstrukt einer symphonischen Tradition Italiens und die Beanspruchung eines allgemeinen Erfindungsprimats des Landes im Bereich der vokalen und der instrumentalen Musik stellten das erste große Kulturpropaganda-Projekt einer italienischen Rundfunkanstalt dar, die immer deutlicher faschistisiert wurde. Entscheidend ist jedoch nicht nur der quantitative Zuwachs an Sendungen, die ausschließlich der alten italienischen Instrumentalmusik gewidmet wurden. Wenn man auf die Spuren der im Oktober 1928 angekündigten Aufführung der vivaldischen Vier Jahreszeiten im Musikprogramm des EIAR geht, erkennt man eindeutig, welche grundlegende qualitative Veränderung in der Vermittlung der „Antica Musica“ und deren Einbeziehung innerhalb des symphonischen Programms hier von Gasco angedeutet wurde. Abgesehen von einem Programm des römischen Senders vom 4. April 1929, das zum größten Teil noch der Form des gemischten Konzerts folgte und bei dem aus dem vivaldischen Zyklus allein das Konzert „Primavera“ gespielt wurde, wurden die Vier Jahreszeiten in ihrer Gesamtheit erst Ende 1929 gesendet.507 506 „Il Governo Nazionale ha affrontato l’immenso problema [der Verbreitung der alten italienischen Musik, d. V.] con due coraggiose iniziative  : l’annunciata creazione di un Istituto Storico Musicale […] e la circolare che impone alle scule medie l’organizzazione di concerti per gli alunni, in prevalenza di musiche italiane. La EIAR ha accolto l’annuncio di questi provvedimenti dovuti a diretta ispirazione del Duce che, come tutti sanno, è un appassionato e profondo cultore di musica, col migliore degli entusiasmi  : quello che si traduce in fatti.“ Torrefranca/Benvenuti 1929, Iniziative dell’E.I.A.R., 4. 507 Im gesamten Programm des römischen Senders im Jahr 1929 konnte ich nur die einmalige Aufführung eines Konzertes aus dem Vivaldi-Zyklus feststellen  : Am 4. April 1929 um 20.45 Uhr wurde ein „Frühlingskonzert“ („Concerto di musiche ispirate alla primavera“) gesendet, das von Vivaldis Primavera eröffnet wurde. Diese Sendung entspricht trotz des thematischen Leitfadens dem Typus des gemischten Konzerts  : Das Repertoire, das nach Vivaldis Konzert gespielt wurde, bestand aus einer bunten Folge von Werken aus unterschiedlichen Epochen und für unterschiedliche Besetzungen. Wie vorher gesagt wurde, ist es in dieser allein entlang des Prinzips der „varietas“ strukturierten Art der Programmgestaltung durchaus schwierig, irgendein übergeordnetes Zuordnungsprinzip für die Repertoirezusammenstellung zu erkennen. Die Wahl eines Vivaldi-Konzerts ist sicherlich bedeutend im Hinblick auf die zunehmend breitere Rezeption dieses Komponisten in den italienischen Konzertsälen jener Jahre, kann jedoch

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Dies geschah jedoch nicht beim römischen, sondern beim genuesischen Sender des EIAR, der am 22. November 1929 ein symphonisches Programm unter dem Titel Natur und Landschaft in der Musik ausstrahlte (siehe Abbildung 9, S. 280). Im ersten Teil spielte man die sechste Symphonie Beethovens, im zweiten den gesamten Zyklus der Vier Jahreszeiten. Der Rest des Programms zog einen zusätzlichen Bogen von Vivaldi zur modernen Orchesterproduktion des Landes. Mittels dieser besonderen Art der Repertoirezusammenstellung wurde das Argument eines italienischen Primats deutlich in den Vordergrund gestellt, wobei die nationalistische Ausrichtung der Sendung von einem Wortbeitrag über Dante Alighieri höchstwahrscheinlich noch verstärkt wurde.508 Unmittelbar nach den Vier Jahreszeiten wurden zwei Stücke von Ildebrando Pizzetti und Ottorino Res­ pighi gespielt. Beide Komponisten gehörten zu den wichtigsten Vertretern der instrumental-musikalischen Erneuerung Italiens, die die sogenannte „Generazione dell’80“ zu Beginn des 20. Jahrhunderts eingeleitet hatte.509 Sie waren im Programm mit zwei Orchesterliedern vertreten und damit mit einer Gattung, die eindeutig mit der deutschsprachigen Musikwelt verbunden war. Abschließend wurden noch zwei weitere symphonische Werke gespielt  : Sicilia canora von Giuseppe Mulè aus dem Jahr 1924 und I paesaggi toscani von Vincenzo Tommasini von 1922. Beide sehr klangmalerischen Stücke hatten nicht nur die Funktion, die Wiederbelebung der symphonischen Tradition Italiens zu beweisen  : Mit der expliziten regionalen Konnotation ihrer Titel einten sie auf ideelle Weise Norden und Süden des Landes und unterstrichen zum Schluss unmissverständlich die nationalistischen Absichten der Sendung. Beethovens sechste Symphonie fungierte in diesem Programm damit als deutsche Zwischenstufe in der italienisch geprägten Geschichte der Instrumentalmusik von ihren venezianischen Ursprüngen bis zu ihrer ebenfalls italienischen Gegenwart. Zusätzlich wurde unterschwellig auch dem Faschismus als dem neuen Mäzen der „echten“ für sich genommen nicht auf eine gezielte Verwendung des Konstrukts einer symphonischen Tradition seitens der Programmgestalter verweisen. 508 Dante als geistigen Vater der Nation zu stilisieren, war seit dem Ende des 19. Jahrhunderts zu einem locus communis der italienischen Dante-Exegese geworden. Siehe unter anderen Tobia 1997, La statuaria dantesca. 509 Über die 1880er-Generation und ihre Rolle im Bezug auf das Konstrukt einer symphonischen Tradition Italiens siehe § II.4.1, insbesondere die Fußnote 248, S. 135.



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Instrumentaltradition Italiens gehuldigt  : Giuseppe Mulè, der im ersten Aufsichtsrat des EIAR saß, war der bekannte Generalsekretär der Unione Fascista dei Musicisti.510 Die Übernahme des musikhistorischen Konstrukts einer symphonischen Tradition Italiens bot damit der Rundfunkanstalt eine zumindest partielle Lösung für jenes grundlegende Problem ihrer Programmpolitik, das im vorigen Abschnitt besprochen wurde  : Das Musikprogramm des EIAR, so wie Gasco es 1926 formuliert hatte, stand unter einer potenziellen Dichotomie zwischen der Förderung der eigenen nationalen Musikkultur und der Vermittlung einer musikalischen Allgemeinbildung, für die die symphonischen Standardwerke des internationalen Repertoires unentbehrlich waren.511 National- und Kulturauftrag des Mediums drohten im Musikprogramm kontinuierlich auseinanderzufallen. Das Narrativ einer symphonischen Tradition sicherte nun ihre Koexistenz und die Daseinsberechtigung der deutschen bzw. ausländischen Symphonik als Teil der Musiksendungen  : Die symphonische Musik Deutschlands bildete keinen Gegenentwurf zur italienischen Identität, wie noch 1926 stillschweigend von Gasco angenommen wurde, sondern stellte lediglich die Weiterentwicklung einer genuin italienischen Erfindung dar. Mit dem Einbeziehen der zeitgenössischen Orchesterproduktion des Landes suggerierte man dann auch eine moderne, den Bemühungen des Faschismus zuzuschreibende Rückgewinnung und Pflege dieser „Tradition“. Auf der Grundlage einer sol510 Über Giuseppe Mulè siehe Nicolodi 1984, Musica e musicisti, 427–429. 511 Die angestrebte Balance zwischen National- und Kulturauftrag konnte ohne eine Übernahme des Konstrukts einer symphonischen Tradition Italiens und deren prägender Typologie der Repertoirezusammenstellung auch zu unbeholfenen Programmentscheidungen führen  : Am 3. Januar 1927 dirigierte Richard Strauss zum Beispiel das Orchester des römischen Senders mit einem Programm, das ausschließlich aus seinen eigenen Kompositionen bestand. Dies stellte ein regelrechtes Ereignis im sonst bescheidenen und stark auf das italienische Musikleben gerichteten Alltagsprogramm der italienischen Rundfunkanstalt zu jener Zeit dar. Gleichzeitig entstand jedoch durch diese Sendung eine Dichotomie zwischen National-und Kulturauftrag des Senders. Gascos Lösung vermittelt noch bis heute, dass das „Problem“ damals besonders stark empfunden wurde und wie tief das Nationale als Zuordnungskriterium für die Programmgestaltung gewirkt haben muss  : Dem Strauss-Konzert wurde ein „instrumentales und vokales Konzert italienischer Musik“ vorangestellt, welches das Gewicht zwischen National- und Kulturauftrag „angemessen“ halten sollte („Concerto strumentale e vocale di musica italiana“, römischer Sender, 3. Januar 1927, 21.00 Uhr)  ; siehe außerdem Gascos Rezension des strausschen Konzerts in Radiorario 1927, Hft. 2, 1–2).

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Abbildung 3  : Eröffnungskonzert der italienischen Rundfunkanstalt am 6. 10. 1924 URI-Eröffnungskonzert 6. Oktober 1924  ; 21.00–22.30 Uhr 21  :00 Uhr – Teil I

Haydn  : 1. u. 2. Satz aus dem Streichquartett op. 7 Thomas  : Non partire, aus Amleto (Sopran) Ariosti  : Lezione III  : Adagio, Allemanda (Cello) La Peppinetta, Lombardisches Lied A la Casteddammarisa, Sizilianisches Lied (Chor) Cilea  : Arlesiana Cesti  : Aria del ’600 (Tenor) Verdi  : Credo, aus Otello (Bartion) Veracini  : Largo (Violine) 21  :20 Bollettino meteorologico e notizie di Borsa Intervallo 21  :30 Le radio-audizioni circolari – Che cosa sono – Come funzionano – Modalità e facilitazioni per l’abbonamento 21  : 40 Uhr – Teil II

Mozart  : Menuett und Finale aus dem Streichquartett Nr. 15 Mozart  : Deh vieni, aus Le nozze di Figaro (Sopran) Lalo  : Russische Gesänge (Cello) Donaudy  : Madonna Renzuola (Tenor) Denza  : Occhi di fata (Bariton) Jenő Hubay  : Serenata (Violine) 22  :23 Ultime notizie 22  :30 Fine della trasmissione. Inni.

chen Meistererzählung konnten schließlich National- und Kulturauftrag der italienischen Rundfunkanstalt verknüpft werden  : Ihre potenzielle Dichotomie wurde aufgehoben.



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Abbildung 4  : Art der Musiksendungen im Abendprogramm der URI (Februar 1925) Februar 1925 Art der Sendung Gemischtes Konzert  : Musik Wort-Musik Orchesterkonzert Kammermusikkonzert Komponistenkonzert Mottokonzert  : Musik Wort-Musik Oper Operette U-Konzert Wort-Sendungen

Häufigkeit (Sendungen pro Woche) 1. Woche

2. Woche

3. Woche

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5 2 – – –

4 3 – – –

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Abbildung 5  : Art der Musiksendungen im Abendprogramm der URI (Oktober 1925) Oktober 1925 Art der Sendung Gemischtes Konzert  : Musik Wort-Musik Orchesterkonzert Kammermusikkonzert Komponistenkonzert Mottokonzert  : Musik Wort-Musik Oper Operette U-Konzert Wort-Sendungen

Häufigkeit (Sendungen pro Woche) 1. Woche

2. Woche

3. Woche

4. Woche

3 – 1 – –

3 – 1 – –

3 – 1 – –

3 – 1 – –

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– – 1 1 1

– – 2 – 1

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Abbildung 6  : Beispiel eines gemischten Konzerts im Abendprogramm der URI URI Samstag 07.02.1925, 20.35–22.15 Uhr Rossini  : Tancredi, Sinfonia (Orchester) Frescobaldi  : Passacaglia Chopin  : Notturno in la Albeniz  : Triana (Klavier) Mascagni  : Amica, Aria Cilea  : L’Arlesiana, Romanza (Bariton) Mozart  : Marcia turca Rimski-Korsakow  : Sadko, Chant Indou (Orchester) Tosti  : Carmela, ballatella Tirindelli  : Buon di miseria (Sopran) Porpora  : Sonata per violino e pianoforte Saint-Saëns  : Concerto in si min. Op. 61, Andantino quasi allegretto (Violine) Wagner  : Lohengrin, Fantasia (Orchester) Puccini  : Il Tabarro, Scorri fiume eterno (Bariton) Puccini  : Suor Angelica, [Aria] (Sopran) Dayda  : Otto variazioni su un tema del carnevale di Venezia di Nicolò Paganino [sic  !] (Violine) Massenet  : Werther, Ah non mi ridestar Halens [Halévy]  : L’Ebrea, Allor che Dio Leoncavallo  : Pagliacci, Un tal gioco (Tenor)

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Abbildung 7  : Beispiel eines Sonderkonzerts von alter italienischer Musik im Rundfunk, 1925 URI 21. April 1925  ; 20.35–22.15 Uhr „Serata speciale di musica antica italiana“ Cimarosa  : Orazi e Curiazi, Ouvertüre (Orchester) Fasolo  : Lungi, lungi amor da me Anonimo  : O leggiadri occhi belli (Sopran) Nardini  : Sonata in re  : Larghetto, allegretto (Violine) Cimarosa  : Matrimonio segreto, Udite tutti, udite (Bass) Sammartini  : Canto amoroso Boccherini  : Minuetto (Orchester) Caccini  : Amarilli Vivaldi  : Un certo non so che (Sopran) Cocchi  : La scaltra governatrice, Aria buffa (Bass) Veracini-Corti  : Largo Sammartini-Corti  : Canzonetta (Violine) Spontini  : La Vestale  : a. Avran pietà gli dei b. Ah  ! No, s’io vivo ancora (Tenor) Cimarosa  : Il matrimonio segreto, Ouvertüre (Orchester) Mitwirkende  : Enza Messina, Sopran Nicola Matarese, Bass Claudia Astrologo, Violine

Orchestrina A. Paoletti, Leitung



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Abbildung 8  : Abendkonzert vom 2. Dezember 1925 URI 2. Dezember 1925  ; 20.40 Uhr „Concerto vocale e strumentale“ Mozart  : Il flauto magico, Ouvertüre (Orchester) Beethoven  : Primo tempo del Concerto in re maggiore per violino e orchestra Su le più alte cime, canzone popolare friulana Ninna-nanna, canzone popolare sarda La vache egarée, canzone popolare francese (Chor) Vivaldi  : Concerto in sol magg. (Klavier) Bizet  : Giochi di bambini (Orchester) Tommasini  : Madrigale Massarani  : I sposi, canzone popolare lombarda Massarani  : Cerese, canzone popolare lombarda (Chor) Porpora-Corti  : Aria  ; Minuetto (Violine) Rieti  : Barabau Lamento della fanciulla, canzone popolare polacca Alaleona  : Ben venga maggio (Chor) Turina  : Suite Femmes d’Espagne, L’Andalouse sentimentale (Klavier) Albeniz  : Aragona Massenet  : Manon, fantasia (Orchester) Mitwirkende  : Corrado de Matteis, Klavier Claudia Astrologo, Violine

Coro della Sala degli Operai Orchestra della U.R.I.

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Abbildung 9  : „Natur und Landschaft in der Musik“, Rundfunkkonzert am 22. November 1929, 1 GE EIAR – Stazione di Genova 1 GE 22. November 1929  ; 21.15–23.00 Uhr „La natura ed il paesaggio nella musica“ 21.00–21.15 Illustrazione del concerto sinfonico • Beethoven  : 6a Sinfonia (pastorale) Nel mondo Dantesco (Prof. T. Curtarelli) • Vivaldi  : Le quattro stagioni per archi e cembalo [Orchester] Respighi  : Acqua, da Le Deità silvane Pizzetti  : I pastori [Sopran und Orchester] Mulè  : Sicilia canora • Tommasini  : I paesaggi toscani [Orchester] Mitwirkende  : EIAR-Orchester Genua Daniele Amfitheatrof, Leitung

3. Die 1930er-Jahre  : Totalitäres Projekt, symphonische Tradition und die Wiederkehr des Deutschlandbezugs 3.1  Der Faschismus als totale Weltanschauung  : Eine historiografische Standortbestimmung

Wie bereits im einleitenden Kapitel dieses dritten Teils der Arbeit angedeutet wurde, lassen sich im Laufe der 20-jährigen Hegemonie des Faschismus in Italien zwei unterschiedliche Herrschaftsformen grob unterscheiden  :512 Die eine, die zeitlich den 1920er-Jahren grob zugerechnet werden kann, ist durch das Streben nach dem juristischen und organisatorischen Aufbau eines diktatorischen Regimes gekennzeichnet, das vor allem auf Kontrolle über die Gesellschaft und alleinige Ausübung der Macht zielte. Die zweite, mit den 1930erJahren einsetzende Phase baute auf der ersten auf, weitete sie jedoch aus, indem nicht allein Kontrolle und Machtsicherung, sondern und vor allem eine aktive Beteiligung der Massen für die zu erreichenden ideologischen und politischen Ziele („Mobilisierung“) angestrebt wurde  :513 Ein „totalitäres Projekt“ wurde mit zunehmender Kompromisslosigkeit auf staatlicher, symbolischer und allgemein kultureller Ebene verfolgt, das den Faschismus nicht allein als moderne Artikulierung eines absolutistischen Machtsystems, sondern als eine regelrechte Weltanschauung etablieren sollte. Dieser mythische (und durchaus mystische) Aspekt des Faschismus, dem die Forschung spätestens ab den 1990er-Jahren und im Zuge der Pionierarbeiten von George L. Mosse über die sogenannte Ästhetik der Politik eine zunehmende Aufmerksamkeit gewidmet hat, wurde im Laufe des „ventennio“ auf verschie512 Siehe § III.1.1 und insbesondere die Fußnoten 442 und 443, S. 236. 513 Für Payne ist „der hervorstechendste Zug [des Faschismus, d. V.] die Art und Weise, in der er Populismus mit Elitedenken verband“. (Payne 2001, Geschichte des Faschismus, 25). Dies war dadurch möglich, dass dem Faschismus nicht so sehr eine Ideologie, sondern eine mythische „Weltanschauung“zugrunde lag („Der Faschismus war bestrebt, den Verlust mythischer Orientierungen in der Moderne durch den Entwurf neuer Mythenstrukturen auszugleichen.“ Ebd., 19).

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dene Weise von den wichtigen Vertretern des Faschismus ausdrücklich betont. Im Jahr 1925 definierte zum Beispiel der Philosoph Giovanni Gentile, der zumindest bis Anfang der 1930er-Jahre einer der wichtigsten Theoretiker des Faschismus war, den Faschismus als „eine totale Lebensauffassung“ („una concezione totale della vita“) und im ersten Teil der teilweise zusammen mit Benito Mussolini verfassten Einleitung zum Artikel „Fascismo“ für den 14. Band der Enciclopedia italiana (1932) schrieb er bekanntlich  : „Der Faschismus ist eine religiöse [Welt-]Auffassung, bei der der Mensch in seinem immanenten Verhältnis zu einem übergeordneten Gesetz, einem objektiven Willen erkannt wird, welches das Einzelne transzendiert und es zum bewussten Mitglied einer spirituellen Gemeinschaft erhebt.“514 Im Jahr 1930 wurde außerdem in Mailand die „Scuola di mistica fascista ‚Sandro Italico Mussolini‘“ gegründet, die unter der Leitung von Niccolò Giani der Vertiefung des „Komplexes von moralischen, sozialen und politischen, kategorischen und dogmatischen Postulaten“ des Faschismus („complesso di postulati morali, sociali e politici, categorici e dogmatici“) gewidmet war.515 Die Verwendung des Begriffs „totalitäres Projekt“ und die Betonung des Faschismus als totaler Weltanschauung – beides Aspekte, die auf der Grundlage der Studien des italienischen Historikers Emilio Gentile hier erfolgen – be514 „Il fascismo è una concezione religiosa, in cui l’uomo è veduto nel suo immanente rapporto con una legge superiore, con una Volontà obiettiva che trascende l’individuo particolare e lo eleva a membro consapevole di una società spirituale.“ Gentile 1925, Cos’è il fascismo, 63. Der Ausschnitt ist auch im Artikel „Fascismo“ in Enciclopedia italiana, I. Teil „Idee fondamentali“, Punkt 5, zitiert nach Gentile/Mussolini 1961, La dottrina del fascismo, 118, zu lesen. Der gesamte erste Teil des Faschimus-Artikels der Enciclopedia wurde höchstwahrscheinlich allein von Gentile verfasst. Über die Rolle von Gentile in der philosophischen Systematisierung einer „faschistischen“ Weltanschauung siehe Bedeschi 2002, La fabbrica delle ideologie, insbesondere 109–116 und 247–256. 515 Das Zitat stammt aus einem programmatischen Manifest, das Giani für diese Schule verfasste. Das Manifest ist im Archivio Centrale dello Stato, Segreteria Particolare del Duce, carteggio ordinario, N. Giani 509017, fasc. SMF  ; zitiert nach Grandi 2004, Gli eroi di Mussolini, 32. In dieser bis 1943 funktionierenden Schule sollten die Eliten des „neuen Italiens“ zusammen mit einem vagen Voluntarismus vor allem zu einem starken Kultus des „Duce“ erzogen werden  ; siehe Gentile 2007, Il culto del littorio, 243–244.



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dürfen jedoch einiger zusätzlicher Erklärungen.516 Dies ist auch angesichts der Verwendung eines von unzähligen und stark ideologisch gefärbten Polemiken geplagten Begriffs wie jenem des Totalitarismus notwendig. Wenn auch das Totalitarismuskonzept zum ersten Mal vermutlich im Jahr 1923 von antifaschistischer Seite in einem Zeitungsartikel des liberalen Abgeordneten Giovanni Amendola verwendet wurde,517 wurde der Begriff ­jedoch schnell vom Faschismus selbst übernommen und positiv umgedeutet.518 Die wichtigste Ausprägung des Totalitarismuskonzepts in der Nachkriegszeit war sicherlich diejenige von Hannah Arendt, die das nationalsozialistische Deutschland und die Sowjetunion unter Stalin als „Variationen des gleichen Modells“ und als die bis dahin einzigen Formen des Totalitarismus bezeichnete.519 Arendts Ausschließung des faschistischen Regimes in Italien aus dem Kreis der totalitären Herrschaften wurde vom Historiker Alberto Aquarone in den 1970er-Jahren übernommen  : Aus einer sozialgeschichtlichen Perspektive legte Aquarone eine minuziöse und Maßstäbe setzende Studie der staatlichen Organisation des ­Faschismus vor und verneinte damit aus historischer Sicht die Auffassung einer Anwendbarkeit des politikwissenschaftlichen Konzepts von Arendt im Fall Italiens.520 Aquarones detailreiche und gut begründete Schlussfolgerung und vor allem die allgemeinen Bedenken der Geschichtswissenschaft gegenüber der Verwendung eines Konzepts wie jenes des Totalitarismus, das sich für unterschiedliche politische Zielsetzungen leicht instrumentalisieren ließ und in einer gewissen Weise als ideologisches Produkt des kalten Krieges verstanden werden konnte, führten zu einer breiten Akzeptanz von Arendts und Aquarones These eines nicht totalitären 516 Diese zwei von Emilio Gentile besonders hervorgehobenen Merkmale des Faschismus werden von ihm als sich gegenseitig bedingend gedeutet  ; siehe diesbezüglich insbesondere Gentile 2001, Religioni della politica, 69–74. 517 Vgl. Petersen 1996, Die Geschichte des Totalitarismusbegriffs, 15. 518 In diesem Sinne bleibt die oft in der Sekundärliteratur zitierte Passage aus dem bereits erwähnten Faschismus-Artikel von Giovanni Gentile und Benito Mussolini in der Enciclopedia italiana von 1932 bedeutend  : „Per il fascista, tutto è nello Stato, e nulla di umano o spirituale esiste, e tanto meno ha valore, fuori dello Stato. In tal senso il fascismo è totalitario“, vgl. I. Teil „Idee fondamentali“, Punkt 7, zitiert nach Gentile/Mussolini 1961, La dottrina del fascismo, 119. 519 Vgl. Arendt 1986, Elemente und Ursprünge, 640. 520 Aquarone 1978, L’organizzazione dello stato totalitario.

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Charakters des faschistischen Regimes Italiens in der Geschichtsschreibung.521 Gentile hat jedoch bereits ab den 1980er-Jahren und vor allem mit seiner Monografie über das Thema Mitte der 1990er-Jahre das Konzept des Totalitarismus in die Diskussion über den italienischen Faschismus wieder eingeführt.522 Gentiles Perspektive und sein Verständnis von Totalitarismus unterscheiden sich grundlegend von Aquarones (und Arendts) Auffassung  ; vor allem verlässt er die sozialgeschichtliche Perspektive Aquarones zugunsten eines kulturwissenschaftlichen Ansatzes  : Gentile versteht den totalitären Charakter des Faschismus nicht als – gegebenes oder nicht gegebenes – Faktum, das in einer bestimmten staatlichen oder sozialen Organisation seine Entsprechung fand (oder nicht fand)  ; Gentile fasst stattdessen den Totalitarismus als „Experiment“, als utopisches, jedoch konkret wirksames Ziel auf, welches das kulturpolitische Agieren des Faschismus bestimmte.523 Die totalitäre Qualität faschistischer Herrschaft beruht für Gentile damit in erster Linie auf dem Anspruch des Faschismus, eine alle Aspekte des Lebens umfassende Weltanschauung zu sein  ; eine totale Weltanschauung, die mythische und mystische Züge trug.524 Das Totalitarismuskonzept hat damit bei Gentile eine doppelte Konnotation, indem es einerseits als strukturierendes Zuordnungsprinzip des konkreten institutionellen und politischen Agierens des Faschismus aufgefasst wird (ohne dass dieses Konzept jedoch mit den nach ihm modellierten jeweiligen Institutionen identifiziert werden kann) und andererseits auf die kulturelle Grundierung dieses Agierens in der faschistischen Weltanschauung verweist. Gentiles Deutungsmodell ermöglicht damit eine genuin kulturwissenschaftliche Untersuchung des faschistischen Phänomens, welche das gegenseitige Entsprechen von Gesellschaft, Politik und kulturellen Ausdrucksformen hervorhebt. Diese Doppelkon521 Für den Totalitarismus als „ideologisches Produkt“ des Kalten Krieges siehe Gleason 1995, Totalitarianism. 522 Gentile 2002, Via italiana al totalitarismo. 523 „Definendo il totalitarismo come un esperimento, piuttosto che come un regime, si è inteso appunto […] dare risalto al totalitarismo come un processo continuo, che non può essere considerato compiuto in nessun particolare stadio della sua attuazione“, Gentile 2001, Religioni della politica, 73. 524 Diesbezüglich verwendet Gentile das am Ende der 1930er Jahre vom Philosophen und Politikwissenschaftler Erich Vogelin erarbeitete Konzept der „politischen Religion“, siehe Gentile 2002, Fascismo come religione.



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notation des Totalitarismuskonzepts bei Gentile wird im Rahmen dieser Studie übernommen und den zwei wichtigsten Kategorien von „totalitärem Projekt“ und „totalitärer Weltanschauung“ wird hierbei eine zentrale Rolle eingeräumt  : Dadurch wird eine Untersuchung der tiefgreifenden politischen Bedeutung kultureller Ausdrucksformen wie jener der symphonischen Tradition konzeptuell möglich, die besonders dieses abschließende Kapitel anstrebt.

3.2  Die Ideologisierung der Nation  : Der Rundfunk vor dem totalitären Projekt des Faschismus

Das totalitäre Projekt des Faschismus hinterließ selbstverständlich auch im Rund­funk deutliche Spuren und gestaltete sowohl die Aufgabe als auch die Inhalte des Mediums tiefgreifend um.525 Im nächsten Abschnitt soll dies im 525 Siehe diesbezüglich vor allem Monticone 1978, Il fascismo al microfono, 119–134 und Monteleone 2005, Storia della radio, 81–108. Auch auf einer institutionell-organisatorischen Ebene lässt sich der progressive Zuwachs an Kontrolle über das Medium seitens des Faschismus im Laufe der 1930er-Jahre deutlich beobachten. Der 1927 gegründete Aufsichtsrat („Comitato Superiore di Vigilianza“, siehe in der vorliegenden Arbeit § III.2.3, S. 271) unterlag zwischen 1934 und 1937 einer Reihe von Änderungen, die darauf abzielten, dem Faschismus nicht nur eine „politische Kontrolle“ über die Rundfunkanstalt, sondern deren regelrechte „politische Führung“ zu sichern (Monticone spricht diesbezüglich vom „processo di formalizzazione e di sistemazione istituzionale del controllo politico, anzi della gestione politica dell’EIAR“, vgl. Monticone 1978, Il fascismo al microfono, 55). Mit dem Regio Decreto Legge 3. Dezember 1934, Nr. 1989 wurde der vorige Aufsichtsrat abgeschafft und durch einen Ausschuss („Commissione“) von insgesamt vier Personen ersetzt, der für die „künstlerischen Leitlinien“ des gesamten Programms sorgen sollte  ; siehe Monteleone 2005, Storia della radio, 83 sowie die Fußnote 8, S. 104 (in diesem Ausschuss saß als musikalischer „Kunstexperte“ der Komponist Umberto Giordano). Diese Umgestaltung des Aufsichtsrats, die vor allem auf eine starke Reduzierung von deren Mitgliederzahl zielte, war die direkte Antwort auf der Ebene des Rundfunkwesens auf die Errichtung des „Untersekretariats für Presse und Propaganda“ („Sottosegretariato per la Stampa e la Propaganda“, Regio Decreto Legge 6. September 1934, Nr. 1434). Dieses Untersekretariat, das ein Jahr später zu einem regelrechten Ministerium aufgebaut wurde („Ministero della Stampa e Propaganda“, Regio Decreto Legge 24. Juni 1935, Nr. 1009), sollte die Koordination und Vorantreibung der „anthropologischen Revolution“ des Faschismus in der Gesellschaft sichern. Im September 1935 wurde auch die Kontrolle und Zensur über die Rundfunkprogramme offiziell dem neuen Ministerium übergeben, und einige Monate später wurde der vierköpfige „Ausschuss“ von 1934 um drei weitere Mitgliedern erweitert, von denen eines direkt vom Sekretär des PNF designiert werden sollte (Decreto Legge 3. Februar

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direk­ten Bezug auf das Musikprogramm dargelegt und entlang des heuristischen Leitfadens der symphonischen Tradition eingehend hinterfragt werden. Zuerst soll aber auf die neue Rolle kurz eingegangen werden, die das Nationale in der Formulierung der Aufgaben des Mediums am Ende der 1930er-Jahre einnahm  : Jener für die 1920er-Jahre bestimmende Nationalauftrag des Rundfunks blieb bestehen, seine Bedeutung wurde jedoch grundlegend verändert. Dies kommt deutlich zum Vorschein, wenn man jene Definition, die 1939 der Generaldirektor des EIAR, Raoul Chiodelli, über die Rolle des Mediums gab, mit jenen Worten vergleicht, die 1926 der damalige Präsident der Rundfunkanstalt, Enrico Marchesi, zu diesem Thema fand und die bereits im vorigen Kapitel hinterfragt wurden.526 Marchesi schrieb dem Radio eine nationale Mission zu und kodierte es als Propagandainstrument der „italianità“ sowie als Diener der Nation. Der Faschismus wurde zwar zusammen mit der Monarchie als Teil der nationalen Kräfte erwähnt, Mussolinis Partei wurde aber dennoch hinter diese nationale Aufgabe und hinter den König zurückgestellt. Im Jahr 1939 fand Raoul Chiodelli andere Worte, als er mit einem Kapitel, das den programmatischen Titel „Der Rundfunk im Dienste des Regimes“ trug, das Jahrbuch des EIAR über die Sendetätigkeit des Vorjahrs eröffnete  : „Das Radio ist das disziplinierte und eifrige Werkzeug des Regimes. Der Rundfunk schöpft aus seinen täglichen Erfahrungen immer neue Anregungen für ein tieferes Verständnis der faschistischen Realität, in der die universelle Idee Roms erneut zum Vorschein kommt.“527 1936, Nr. 654)  : Der Faschismus stellte damit nun explizit auch auf organisatorischer Ebene nicht nur eine „kontrollierende“ Instanz dar, sondern nahm einen direkten Einfluss auf das Entwerfen der Rundfunkprogramme  ; siehe Monticone 1978, Il fascismo al microfono, 52–55. Den „Endpunkt“ dieser Entwicklung stellte der sogenannte „Ispettorato per la Radiodiffusione e la Televisione“ dar. Der im April 1937 gegründete „Ispettorato“, eine weitere Umgestaltung des vorigen „Ausschusses“, weist auf eine letzte signifikante Veränderung in der gesamten institutionellen Struktur der faschistischen Kulturpolitik hin  : Die Errichtung des „Ministero per la Cultura e la Propaganda“ im Mai desselben Jahres, welches das vorige Ministerium ablöste und zu dem der „Ispettorato“ – vom EIAR nun endgültig getrennt – direkt gehörte. Damit, wie Monticone bemerkt, „il centro propulsivo dell’azione della cultura, dell’informazione e della propaganda politiche passava dalle strutture dell’EIAR agli uffici ministeriali“, vgl. ebd., 55. 526 „L’inaugurazione della nuova stazione di Roma“, Radiorario 1926, Hft. 15, 1–5, 3. Das Zitat ist im § III.2.1, S. 254 der vorliegenden Arbeit wiedergegeben. 527 „Strumento disciplinato e volenteroso del Regime, dalle sempre nuove esperienze essa trae



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Das Radio wird hier schlichtweg und im auffälligen Unterschied zu den Worten Marchesis 13 Jahre zuvor allein als treuer Diener und Sprachrohr des Faschismus dargestellt. Die Aufgabe des Mediums liegt für Chiodelli insbesondere in einem immer tieferen Eindringen in das Wesen des Faschismus, dessen prägender Zug in der Universalität der „Idee Roms“ erkannt wird. Mit diesem Begriff bringt der Generaldirektor der EIAR den Anspruch an eine übernationale, allgemeine Gültigkeit der faschistischen Botschaft zum Ausdruck  : Einige Zeilen weiter charakterisiert er in der Tat die „Idea di Roma“ als eine Art Botschaft, „die sich an alle Völker der Erde wendet, die nach Glauben, Gerechtigkeit, Ordnung und Gleichgewicht streben“.528 Wenngleich bei Marchesi das Nationale im Vordergrund stand, sollte der italienischen Nation 13 Jahre später nur auf indirekte Weise ein Platz innerhalb der Aufgaben des Rundfunks reserviert sein  : Das Nationale wird der Universalität des Faschismus hierarchisch untergeordnet und kommt allein mit der Erwähnung der Ewigen Stadt indirekt zum Ausdruck. Das Radio hat als Ziel und Daseinsberechtigung allein die Ergründung und Wiedergabe einer faschistischen und nicht unbedingt allein italienischen Realität.529 ispirazione per una diffusa comprensione della realtà fascista, nella quale riappare il volto della universale idea di Roma.“ Chiodelli o. D. [1939], La radio, o. S. 528 „Questa idea [die Idee Roms, d. V.] che si rivolge a tutti i popoli della terra desiderosi di fede e di giustizia, di ordine e di equilibrio.“ Ebenda. 529 Gerade aus dem Anspruch des Faschismus, eine totale Weltanschauung zu sein, wuchs die Spannung zwischen nationaler Verankerung und universellem Geltungsanspruch, die so prägend für diese Bewegung war. In einem unsignierten Artikel vom 15. August 1930 für die Zeitschrift Critica fascista, der den eloquenten Titel „In Richtung Europa“ („Verso l’Europa“) trug, ist zum Beispiel zu lesen  : „Per noi [die Faschisten, d. V.] la nazione è la premessa necessaria, il punto di partenza per l’espansione, ed espansione significa non tanto conquista territoriale, quanto soprattutto conquista spirituale e politica“, zitiert nach Gentile 1997, Grande Italia, 181. Im Mai 1939 brachte Mario Rivoire diese Spannung zwischen „Nationalem“ und „Universalem“ in einem für die Zeitschrift Dottrina fascista verfassten Artikel unter dem programmatischen Titel „Der Faschismus ist kein übertriebener Nationalismus“ („Il fascismo non è nazionalismo esagerato“) mit folgenden Worten genau auf den Punkt  : „L’Italiano ha nella patria e nella nazione la base, la piattaforma saldissima […] della sua azione civile, ma questa mira anche al mondo. L’Italiano è patriota e nazionalista in funzione universale“, zitiert nach Gentile 1997, Grande Italia, 185. Mit seiner Definition des Faschismus als „Nationalismus im Hinblick auf das Universale“ artikuliert Rivoire hier die Tatsache, dass sich der Faschismus im Unterschied zum Nationalismus nicht allein als „Liebe zum Vaterland“ versteht. Wie auch der Titel der Zeitschrift Dottrina fascista klar macht, in der Rivoires Artikel veröffentlicht worden war, muss die universalistische Anforderung des Faschismus gerade auf die religiös-mythische

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Mit dem Konzept einer Idee Roms griff Chiodelli hier und der Faschismus allgemein einen zentralen Topos von Giuseppe Mazzinis politischem Denken auf, der in großen Teilen seiner Auffassung des „Risorgimento“ auf die Vision einer zukünftigen „terza Roma“ aufbaute  : Mazzinis Idee sah eine Ewige Stadt vor, die, indem sie zur Hauptstadt und symbolischen Versinnbildlichung einer italienischen Republik geworden war, ihre historische Mission wieder aufnehmen konnte und ihre Bestimmung als „magistra gentium“ und als Wegbereiter einer neuen, sich unter dem Zeichen der Demokratie und der nationalen Emanzipation abspielenden Epoche der gesamten Menschheit vollkommen ausführte.530 Der Rückgriff auf diese Vorstellung stellt jedoch eine tiefgreifende Umdeutung dieser Idee und allgemein des „Risorgimento“ seitens des Faschismus dar  :531 Die universale Mission Italiens, welche die Ewige Stadt bei Mazzini versinnbildlichte, wird nun 1939 nicht allgemein „dem italienischen Volk“, sondern allein dem Faschismus zugeschrieben  ; einzig der Faschismus ist der legitime Träger und die deutende Instanz dafür.532 Dimension dieser Bewegung, auf deren Anspruch, eine „Doktrin“, eine Lehre des richtigen Lebens zu sein, zurückgeführt werden  : Während der Nationalismus zwangsläufig national dachte, verstand sich der Faschismus, zumindest in seinen radikaleren, um die Figur von Giuseppe Bottai zentrierten Ausprägungen als internationales Denkmodell, als universale Weltanschauung. 530 Für Mazzini siehe Mazzini 1877, Ricordi dei fratelli Bandiera, 389. Die Stelle wurde ausführlich in § I.1.2, Fußnote 60, S. 44 zitiert. 531 Die Rom-Symbolik stellte von Anfang an einen wichtigen Teil der faschistischen Weltanschauung dar. Bereits am 21. April 1922, noch vor seinem Aufstieg an die Macht, sagte Mussolini öffentlich  : „Roma e l’Italia sono infatti due termini inscindibili […]. Roma è il nostro punto di partenza e di riferimento  ; è il nostro simbolo o, se si vuole, il nostro mito. Noi sogniamo l’Italia romana, cioè saggia e forte, disciplinata e imperiale. Molto di quel che fu lo spirito immortale di Roma risorge nel fascismo  : romano è il Littorio, romana è la nostra organizzazione di combattimento, romano è il nostro orgoglio e il nostro coraggio  : ‚Civis romanus sum‘.“ Siehe Mussolini 1956, Passato e avvenire. Interessant ist es zu bemerken, wie zu jenem frühen Zeitpunkt der größte Teil der römischen Bevölkerung von Mussolinis Ideen nicht überzeugt war. So schrieb zum Beispiel ein früherer „squadrista“ aus der Toskana nach dem dritten nationalen Kongress der „Fasci di combattimento“, der vom 7. bis 10. November 1921 in Rom stattfand  : „Porca città veramente, questa Roma, fiacca, inerte, senza midollo, vile […]. Poi avemmo súbito la sensazione che i pantofolai romani ci squadrassero dall’alto in basso, come plebe facinorosa e selvagggia che volesse invadere la Basilica Sacra“, vgl. Piazzesi 1980, Diario di uno squadrista, 199–200, zitiert nach Gentile 2007, Il fascismo di pietra, 11. 532 Für die Funktion der Stadt Rom als symbolische Versinnbildlichungsfigur eines spirituellen Bundes des modernen Italiens mit dem Kaiserreich der alten Römer während des Faschismus siehe Falasca-Zamponi 1997, Fascist spectacle, 90–99 sowie für einen ersten Überblick Giar-



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Aus der Gegenüberstellung der zwei Aussagen von Marchesi und Chiodelli lassen sich auf der Mikroebene einer sprachlichen Formulierung Veränderungen ablesen, die nicht nur die Aufgaben des italienischen Rundfunks betreffen, sondern die weit über die Grenze des Mediums hinausgehen. Die Ausschaltung des Parlamentarismus, die sicherlich den auffälligsten politischen Bruch des Faschismus mit dem liberalen Italien darstellt, und die kontinuierliche Ausweitung des Wirkungsbereichs der Partei im Laufe des „ventennio“ sind nur als Teilaspekte eines umfassenderen Umwertungsprozesses zu verstehen, der auf der symbolischen und kulturellen Ebene die gesamte italienische Gesellschaft jener Zeit betraf. Aus der Gegenüberstellung der zwei Aufgabenbestimmungen des Rundfunks wird in der Tat das Voranschreiten jenes totalitären Projekts des Faschismus sichtbar, das von Anfang an in nuce vorhanden war, jedoch erst ab der zweiten Hälfte der 1930er-Jahre zunehmend beschleunigt und erkennbar wurde.533 Der Vergleich der Formulierungen von Marchesi und Chiodelli veranschaulicht vor allem eine Komponente dieses Projekts, die für die vorliegende Untersuchung besonders relevant ist  : die neue Rolle, die im Zuge dieses Prozesses dem Nationalen zugewiesen wurde. Die seit dem „Risorgimento“ entwickelten kulturellen Formen im Hinblick auf die Vorstellung eines italienischen Kollektivs wurden bei der Umsetzung des totalitären Projekts immer konsequenter mit Elementen faschistischer Weltanschauung verschränkt und für die kulturellen, propagandistischen sowie innenund außenpolitischen Anliegen des Faschismus umfunktionalisiert. Es kam zu einer progressiven Umdeutung dieser tradierten Formen der nationalen Imagination, wie das Beispiel von Chiodellis Verwendung des mazzinischen Topos dina/Vauchez 2000, Il mito di Roma, 212–296. Der Faschismus sah im römischen Kaiserreich eine erste historische Verwirklichung des Totalitarismus und damit eine weitere Bestätigung der „zivilisatorischen Mission“ Italiens in der Weltgeschichte,  ; siehe diesbezüglich Zunino 1985, L’ ideologia del fascismo, 63–129 sowie Gentile 2007, Il culto del littorio, 129–137. 533 „Quel che appare oggi evidente a chi osserva la realtà del fascismo nella seconda metà degli anni Trenta, dopo il successo della conquista d’Etiopia, è l’accelerazione, consapevole e programmata, del processo di totalitarizzazione della società e dello Stato.“, vgl. Gentile 2002, Via italiana al totalitarismo, 137. Siehe außerdem diesbezüglich Gentile 2007, Fascismo. Storia e interpretazione, 28–30. Auch der Historiker Nicola Tranfaglia hat seinerseits für die Jahre ab der Gründung des „Impero“ 1936 von einer „totalitären Wendung“ („svolta totalitaria“) des Faschismus gesprochen, vgl. Tranfaglia 1995, La prima guerra mondiale, 629. Siehe außerdem in der vorliegenden Arbeit § III.1.1, Fußnote 443, S. 236.

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eines „dritten Roms“ veranschaulicht. Mit zunehmender Klarheit und vor allem ab den 1930er-Jahren reihte sich der Faschismus nicht mehr hinter dem Nationalen ein, sondern weitete den politischen Bruch mit dem liberalen Italien aus, welcher mit der gewaltsamen Aufhebung einer demokratischen Regierungsform bereits 1922 erfolgt war. Gegenüber dem liberalen Italien verschwand in der Tat unter dem Faschismus nicht nur der für den gesamten kulturpolitischen Diskurs des Risorgimento zentrale Aspekt der Freiheit des einzelnen Bürgers. Vor allem verschwand die Vorstellung der Nation als ein den politischen, religiösen, kulturellen und sozialen Unterschieden übergeordneter, allen Bürgern gemeinsamer Horizont der (Ver-)Handlung  : Die Nation wurde zur faschistischen Nation gemacht, die von starken Inklusions/Exklusionskriterien bestimmt war, und die „patria degli italiani“ wurde zur „patria dei fascisti“. Emilio Gentile hat diesbezüglich 1997 von einer „Ideologisierung der Nation“ gesprochen.534 Gerade anhand dieses Konzepts lässt sich der „ventennio“ vor allem auf kultureller Ebene angemessen erforschen und beschreiben  : Bei der Untersuchung handelt es sich nicht mehr vordergründig darum, Kontinuitäten oder Brüche gegenüber dem liberalen Italien festzustellen, sondern die Leitlinien eines Umdeutungsprozesses des Tradierten, eine Aushandlung der Bedeutungen nachzuvollziehen und zu hinterfragen, welche gleichzeitig erneuert und bewahrt werden. Wie dieser Prozess auf das Musikprogramm des Rundfunks einwirkte und wie zugleich die Musiksendungen in der Lage waren, der Ideologisierung der Nation zu dienen und sie weiterzuführen, soll im nächsten Abschnitt besprochen und anhand der Präsenz der symphonischen Tradition in den Rundfunkprogrammen der späteren 1930er-Jahre untersucht werden. 3.3  Weitertradierung, doppelte Radikalisierung und Deutschlandbezug  : Funktionen der symphonischen Tradition im totalitären Projekt des Faschismus

Im Jahr 1959 schrieb rückblickend der Komponist und Musikkritiker Mario Labroca folgende Zeilen über die Präsenz des Rundfunks im Alltagsleben der Italiener während des Faschismus  : 534 Siehe Gentile 1997, Grande Italia, 149 und 151.



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„Um 1932 begann das Radio, in das italienische Musikleben vorzudringen […]. Am Anfang schenkte keiner dem neuen Medium besondere Beachtung, plötzlich stand jedoch der Rundfunk in seiner vollen Reife und mit dem Ziel da, zusammen mit alten und glorreichen Institutionen und Organisationen als par inter pares gleichberechtigt mitzuwirken.“535 Es scheint damit, dass das Radio erst zu Beginn der 1930er-Jahre seinen eigentlichen Einzug in das Alltagsleben der Italiener fand. Dies geschah im Zusammenhang mit einer ständigen Erweiterung der Zahl der Rundfunkteilnehmer, deren größter Zuwachs im Jahr 1936 mit dem Kolonialkrieg in Äthiopien verzeichnet werden konnte.536 Im Lauf dieser Dekade nahm die Präsenz des Konstrukts einer symphonischen Tradition im Musikprogramm auffällig zu und jene Art der Repertoirezusammenstellung, die am Ende des vorigen Kapitels am Beispiel des Konzerts vom 22. November 1929 im genuesischen Sender verdeutlicht wurde, wurde ein gängiges Gestaltungsprinzip der symphonischen Rundfunkkonzerte. Ab etwa 1929 lässt sich immer häufiger die Wahl von italienischen Instrumentalwerken beobachten, die vor der Zeit von Haydn, Mozart oder Beethoven entstanden waren  : Sie wurden neben „deutschen“ bzw. „ausländischen“ symphonischen Kompositionen und/oder mit Orchesterwerken zeitgenössischer italienischer Komponisten gesendet. Eine solche Praxis der Repertoirezusammenstellung gab klanglich das Narrativ der symphonischen Tradition Italiens wieder. Zusammen mit dem Argument des Erfindungsprimats des Landes gegenüber Deutschland betonte sie jedoch zugleich auch eine wiedergewonnene Lebendigkeit dieser instrumental-musikalischen Tradition  ; eine Lebendigkeit, die nun je nach Angelegenheit explizit oder implizit in Zusammenhang mit dem neuen Regime gebracht wurde. *** 535 „La radio, appunto, vero il 1932 circa, aveva cominciato a penetrare nella vita musicale italiana […]. La radio fu uno strumento al quale nessuno da principio dette gran peso, e che tutto d’un tratto apparve nella solida struttura della maturità, con la buona intenzione di sedere, par inter pares, tra organismi e istituzioni carichi di anni e di gloria.“ Labroca 1959, L’usignolo di Boboli, 183. 536 Gegenüber dem Vorjahr wuchs 1936 die Zahl der Rundfunkteilnehmer um mehr als 300.000  ; siehe „Gli abbonamenti alla radio e alla televisione dal 1927 al 1984“, in Ortoleva/Scaramucci (Hg.) 2003, Enciclopedia della radio, 1014–1015.

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Weitertradierung  : Symphonisches Programm und eine Typologie der Repertoire­ zusammenstellung Im Jahr 1934 brachte zum Beispiel die italienische Rundfunkanstalt nach einem ersten erfolgreichen Versuch im Jahr davor die zweite „symphonische Saison des EIAR“ („Stagione sinfonica dell’EIAR“) zustande, die das Prestige der Rundfunkanstalt und vor allem deren Orchesters sichern sollte  ; eines symphonischen Orchesters, das 1931 gegründet wurde und in Turin ansässig war.537 In der nun in „Radiocorriere“ umbenannten offiziellen Zeitschrift der Rundfunkanstalt wurde eine effektive Werbestrategie umgesetzt  : Sie sollte für eine große öffentliche Wahrnehmung der insgesamt 16 Konzerte sorgen, die zwischen Januar und April an jedem Freitag um 21.00 Uhr aus dem „Teatro di Torino“ von den Sendestationen in Norditalien ausgestrahlt wurden.538 Ganzseitige Artikel über die kommenden Konzerte, die vor allem auf die zumeist auch international renommierten Interpreten Bezug nahmen und das gespielte Repertoire knapp schilderten, standen zusammen mit den Bildern der Aufführenden wöchentlich im „Radiocorriere“. Sie bildeten einen auffälligen Kontrast zu den sonst eher kursorisch gehaltenen Erläuterungen, die einzelnen Musiksendungen in der Rundfunkzeitschrift gewidmet wurden.539 Wenn man auf das im Rahmen der Saison gespielte symphonische Repertoire eingeht, lässt sich nicht nur dessen systematische Durchdringung mit Werken alter italienischer Instrumentalmusik zumeist in modernen, von Italienern ver537 Das Orchester des EIAR ging aus der Fusionierung der Orchester der Mailänder und der Turiner Sender im Jahr 1931 hervor. Eine eigene Spielstätte erhielt es jedoch erst 1932 mit der Übernahme des „Teatro di Torino“ seitens der Rundfunkanstalt  ; eine Übernahme, die bereits für sich einen politischen Akt darstellte  ; siehe diesbezüglich Zanetti 1985, Musica italiana, 531–535. Im Laufe des Jahres 1932 gab das neue Orchester eine Reihe von symphonischen Konzerten, die von der Standard Oil Company finanziert wurden. Der „Qualitätssprung“ wird jedoch auf 1933 datiert, als die erste „symphonische Saison des EIAR“ organisiert wurde  ; siehe Righini 1983, Cinquant’anni di vita, insbesondere 57–59. 538 Über die Umbenennung der Rundfunkzeitschrift im Jahr 1930 siehe die Fußnote 448, S. 241 in der vorliegenden Arbeit. 539 Die Reihe sah die Teilnahme national und auch international wichtiger Komponisten und Interpreten vor. Unter anderen nahmen im Laufe dieser zweiten Saison von 1934 Riccardo Zandonai (12. Januar), Ernst Bloch (19. Januar), Sergei Prokofjew (26. Januar), Erich Kleiber (23. Februar) und Fritz Reiner (16. März) teil.



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fassten Transkriptionen für großes Orchester beobachten. Viele dieser Konzerte wurden zusätzlich nach der vorher erwähnten Typologie der Programmzusammenstellung strukturiert  : Sie thematisierten damit offensichtlich die Meistererzählung einer symphonischen Tradition des Landes.540 Die allererste „symphonische Saison des EIAR“ wurde 1933 festlich mit einem Programm eingeläutet, das noch ausschließlich aus Werken von Ottorino Respighi unter der Leitung des Komponisten selbst bestand. Das Eröffnungskonzert der zweiten Saison am 5. Januar 1934 sah jedoch bereits anders aus  :541 Nach der Aufführung der 540 Werke alter italienischer Instrumentalmusik wurden im Laufe dieser zweiten symphonischen Saison des EIARs in insgesamt sieben der 16 Konzerte der Reihe gespielt, jeweils am 5. Januar (G. Frescobaldi/G. F. Ghedini  : Toccata), 12. Januar (D. Scarlatti/C. De Nardis  : Burlesca in do minore  ; L. Boccherini  : Concerto in si bemolle maggiore für Violoncello und Orchester), 9. Februar (A. Vivaldi/G. Gentili  : Concerto in sol minore für Violine und Orchester, G. B. Pergolesi/V. Gui  : Adagio aus der Sonata in sol maggiore  ; Intermezzo aus der Kantate Orfeo), 2. März (A. Vivaldi/B. Molinari  : Concerto in la minore), 31. März (M. Clementi/R. Selvaggi  : Suite di danze), 6. April (T. A. Vitali/O. Respighi  : Ciaccona für Violine, Streicher und Orgel) und am 20. April (S. S. Sammartini/F. Torrefranca  : Sinfonia n. 3 in sol maggiore). Außerdem wurden zwei Werke von J. S. Bach in von Ottorino Respighi und Vittorio Gui angefertigten Orchestertranskriptionen gespielt  : am 26. Januar (J. S.  Bach/O. Respighi  : Passacaglia in do minore) und am 2. Februar (J. S. Bach/V. Gui  : Arioso aus den Goldberg Variationen). Alle sieben Konzerte, in denen alte italienische Instrumentalmusik aufgeführt wurde, lassen die im § III.2.3 beschriebene Programmtypologie erkennen  : Sie brachten diese „alten“ Instrumentalwerke konsequent in Verbindung mit der zeitgenössischen symphonischen Produktion des Landes. Auch die häufige Verwendung moderner Transkriptionen, die alle ausnahmslos von italienischen Komponisten oder Dirigenten angefertigt worden waren, und vor allem die explizite Vermerkung der Namen der Transkribierenden in den Programmangaben im Radiocorriere unterstreichen die bewusste Verwendung seitens des EIARs des Narrativs einer symphonischen Tradition Italiens. Die einzige partielle Ausnahme scheint das Konzert am 31. März zu bilden, in dem eine „Tanzsuite“ von Clementi gespielt wurde. Es handelt sich jedoch um ein modernes Pastiche, das vom Komponisten Rito Selvaggi (1898–1972) – seit 1927 Mitglied des Aufsichtsrats der italienischen Rundfunkanstalt – angefertigt worden war. Die Verbindung zwischen Altem und Neuem, auf die das Narrativ der symphonischen Tradition zielte, ist damit auch im Fall dieses Konzertes grundsätzlich bewahrt. 541 Die Repertoireauswahl für das Eröffnungskonzert der ersten „stagione sinfonica dell’EIAR“ am Abend des 6. Januars 1933 sah folgende Werke von Respighi unter der Leitung des Komponisten vor (in der Reihenfolge der Aufführung)  : Trittico botticelliano, Gli uccelli und der „trittico per concerto in un atto diviso in tre episodi“ Maria Egiziaca. Diese erste symphonische Saison umfasste wie die zweite insgesamt 16 Konzerte und sah ebenfalls die Teilnahme international renommierter Komponisten und Interpreten, unter anderem Igor Strawinsky (17. Februar), Otto Klemperer (24. März) und Fritz Reiner (21. April) vor. Siehe die Ankün-

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„Egmont“-Ouvertüre von Beethoven wurde eine „Toccata“ von Girolamo Frescobaldi in der Transkription von Giorgio Federico Ghedini gespielt, einem der Protagonisten der jüngeren Generation italienischer Komponisten jener Zeit (siehe Abbildung 10, S.  310)  : Beethoven wurde damit direkt sowohl der alten als auch der jüngeren italienischen Instrumentalmusik gegenübergestellt. Es folgte die symphonische Dichtung des schon damals berühmten italienischen Dirigenten und Komponisten Victor De Sabata, die den lateinischen Titel „Juventus“ trug  : Nicht nur lag dadurch die Assoziation mit dem offiziellen Hymnus des Faschismus „Giovinezza“ nahe, sondern die Platzierung eines Werkes mit einem solchen Titel direkt nach Frescobaldi und der Versinnbildlichungsfigur deutscher Symphonik, Beethoven, hob nun die Wiedergeburt der „genuin italienischen“ instrumentalmusikalischen Tradition in einer vom Faschismus zu neuer Jugend gebrachten Nation unmissverständlich deutlich hervor. Rossinis Ouvertüre aus dem „Guglielmo Tell“ schloss den ersten Teil des Eröffnungskonzerts ab und glich mit einem italienischen Beitrag aus derselben Gattung die eröffnende Ouvertüre Beethovens aus. Nachdem das musikhistorische Konstrukt der symphonischen Tradition in allen seinen zentralen Implikationen betont worden war, lässt die Zusammenstellung des Repertoires im zweiten Teil des Programms deutlich einen Stimmungswechsel erkennen  : Mit der Evozierung eines märchenhaften Mittelalters im Scherzo aus Alexander Glasunows „Suite du Moyen-Age“ oder mit der erregten Atmosphäre in Roger Ducasses „Au jardin de Marguerite“, aus dem allein das Interlude gespielt wurde, und schließlich mit Wagners Vorspiel zum ersten Akt der Meistersinger schlug das Konzert offensichtlich den Ton einer gehobenen Heiterkeit an  :542 Daraus blieb die alte italienische Instrumentalmusik bezeichnenderweise ausgeschlossen.

digung dieser ersten „stagione“ in „I concerti sinfonici dell’EIAR nella stagione invernale“, Radiocorriere 1932, Hft. 52, 5. 542 Die symphonische Dichtung für Soli, Chor und Orchester Au jardin de Marguerite von Roger Ducasse (1873–1954) basiert auf der Faust-Legende und wurde zwischen 1901 und 1905 komponiert. Aus der Nachbesprechung des Konzerts im Radiocorriere zwei Wochen später geht deutlich hervor, dass im Rahmen dieses Konzerts allein der Interlude, welcher den damals bekanntesten Teil des Werks darstellte, aufgeführt wurde  ; siehe Carlandrea Rossi  : „Il concerto De Sabata“, Radiocorriere 1934, Hft. 3, 8.



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Doppelte Radikalisierung  : Torchis Konstrukt im Rundfunkprogramm 1938–1939 Zusammen mit der Weitertradierung einer solchen Typologie der Programmzusammenstellung lässt sich gegen Ende der 1930er-Jahre auch deren Radikalisierung erkennen. Diese Radikalisierung setzte sowohl in den Darbietungsformen des Konstrukts einer symphonischen Tradition innerhalb des Musikprogramms als auch auf der Ebene der gesendeten Inhalte ein. Rein formal lässt sich beobachten, wie in den Jahren unmittelbar vor dem Zweiten Weltkrieg die ideelle Verbindung von alter italienischer Instrumentalmusik und zeitgenössischer symphonischer Produktion in Italien nicht allein auf der Mikroebene der Programmzusammenstellung einzelner Sendungen unterstrichen wurde  : Zunehmend wurde sie als bewusstes Gestaltungsprinzip auch auf der Makroebene des gesamten Musikprogramms eingesetzt und zeigte sich in der Form groß angelegter Sendereihen, die dadurch diesen mit eindeutigen propagandistischen Absichten aufgeladenen Teilaspekt des musikhistorischen Artefakts von Torchi noch deutlicher zum Ausdruck brachten. Zwischen Ende 1938 und Oktober 1939 wurden zum Beispiel zwei Reihen herausgebracht, die als besondere Errungenschaften des EIAR angesehen und als solche sogar in der jährlichen Aktionärsversammlung erwähnt wurden  : Die vierteilige „Il sinfonismo italiano contemporaneo“ und die darauf folgende dreiteilige „Polifonia strumentale italiana dei secoli XVI–XVIII“.543 Die progressive Radikalisierung der Meistererzählung einer symphonischen Tradition im Laufe der 1930er-Jahre kann jedoch auch auf einer zweiten Ebene beobachtet werden. Dabei betraf sie nicht allein die Darbietungsformen des Konstrukts, sondern direkt dessen Inhalte. Die Praxis der Repertoirezusammenstellung in den Jahren 1938 bis 1939 lässt in vielen Fällen auch eine neue Ausbalancierung der unterschiedlichen Teilaspekte erkennen, die das Konstrukt 543 Die vier Sendungen der Reihe Il sinfonismo italiano contemporaneo wurden vom zweiten Programm des EIAR um 21.00 Uhr jeweils am 7. November 1938, 18. Dezember 1938, 2. Januar 1939 und 23. Januar 1939 ausgestrahlt. Die drei Konzerte der Reihe Polifonia strumentale italiana dei secoli XVII–XVIII fanden am 29. April 1939 (erstes Programm, 21.00 Uhr), 23. Mai 1939 (drittes Programm, 20.35 Uhr) und am 13. Oktober 1939 (zweites Programm, 21.00 Uhr) statt. Für die Erwähnung dieser letzten Sendereihe in der Aktionärsversammlung vom 30. März 1940 siehe EIAR (Hg.) 1940, Esercizio 1939, 30.

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in sich trug. Auch in diesem Fall stellen die Eröffnungskonzerte der symphonischen Saison des EIAR ein hervorragendes Beispiel für die Bestimmung dieser Veränderungen dar. Am 22. November 1939 wurde um 21 Uhr die achte „stagione sinfonica“ mit einem festlichen Konzert eröffnet (siehe Abbildung 12, S. 312). Ganz am Anfang stand ein Doppelkonzert jenes Komponisten, der wie kein anderer zur Versinnbildlichungsfigur des musikalischen Erfindungsprimats Italiens im Bereich der Symphonik auserkoren worden war  : Antonio Vivaldi. Es folgte ein weiteres Stück aus dem Fundus der alten italienischen Instrumentalmusik  : Eine ursprünglich für Cembalo komponierte Burlesca in g-moll von Domenico Scarlatti wurde in einer Bearbeitung für kleines Orchester des Komponisten und Pädagogen Camillo De Nardis (1857–1951) gespielt. Im weiteren Verlauf bezog das Konzert Werke von Ildebrando Pizzetti, einem der wichtigsten Vertreter der 1880er-Generation, und Goffredo Petrassi ein, welcher der darauf folgenden Generation angehörte und die „Pionierarbeit“ der vorigen auf ideale Weise fortsetzte. Auch hier lässt sich also die Vorstellung der lebendigen Weitertradierung einer nationalen Tradition beobachten  ; einer Vorstellung, die mit Petrassis neoklassizistischer „Partita“ aus dem Jahr 1932 auch auf der rein klanglichen bzw. stilistischen Ebene eine weitere, verstärkende Entsprechung erfuhr. Erst aus dem weiteren Hinterfragen der Repertoirezusammenstellung lässt sich zusammen mit diesen vertrauten Aspekten auch noch etwas grundsätzlich Neues erkennen  : Das Konzert stellte das Bild eines historischen Entwicklungsgangs der symphonischen Tradition dar, das von jenem von Torchi, Torrefranca oder Casella abwich. Eine zentrale Rolle kommt diesbezüglich der „Novelletta“ von Giuseppe Martucci zu, einem der wenigen Komponisten, die sich im Italien des 19. Jahrhunderts konsequent der Instrumentalmusik gewidmet hatten.544 Große Teile des Publikums und der Musikkritik, inklusive Luigi Torchi oder Alfredo Casella, hatten dem 1909 – und damit kurz vor den heftigen Polemiken der 1910er-Jahre – gestorbenen Komponisten vorgeworfen, antinationale oder zumindest zu streng nach dem deutschen Modell konzipierte Musik geschrie544 Über Giuseppe Martucci siehe Rostagno 2003, La musica italiana, 182–204 sowie den im Rahmen der Tagung vom 1. bis 2. Dezember 2006 zum Anlass des 150. Jubiläums von Martucci erschienenen Band Caroccia/Maione/Selleri (Hg.) 2008, Giuseppe Martucci.



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ben zu haben.545 In den 1930er-Jahren erhielten aber gerade seine Werke eine Neubewertung  : Diese Kompositionen wurden jetzt als Vorläufer der aktuellen sinfonischen Produktion Italiens dargestellt. Sie konnten auch in der Zusammenstellung von symphonischen Programmen, wie in diesem Fall, als optimales Mittel dienen, um die deutsche Symphonik vollständig aus dem gespielten Repertoire auszuklammern  : Man sah sich nicht mehr gezwungen, Vivaldi direkt mit Beethoven zu vergleichen. Ein weiteres signifikantes Beispiel dafür zeigt auch das Eröffnungskonzert der siebten symphonischen Saison, das am 25. November 1938 um 21 Uhr stattfand (siehe Abbildung 11, S. 311)  : Nach der Ouvertüre aus der Oper „Iphigénie en Aulide“ von Christoph Willibald Gluck folgte ein ausschließlich italienisches Programm, bei dem allein das zweite Klavierkonzert von Giuseppe Martucci den Bogen vom alten italienischen Oratorium mit Giacomo Carissimis „Jephte“ zur Gegenwart mit der Aufführung des ein Jahr zuvor fertiggestellten Oratoriums „Natalitia“ von Lorenzo Perosi schlagen sollte.546 Martuccis Klavierkonzert, das dem brahmsschen Modell sowohl in formaler als auch musikalischer Hinsicht gehorcht, stellte mit seiner 40-minütigen Aufführungsdauer das gewichtigste Werk des Programms dar und entsprach allein der gesamten Länge beider Oratorien zusammen. In beiden Eröffnungskonzerten wurde damit den Instrumentalkompositionen von Giuseppe Martucci eine präzise Funktion zugeschrieben  : Mittels einer sorgfältigen Zusammenstellung des aufzuführenden Repertoires innerhalb der jeweiligen Sendung wurden Martuccis orchestrale Werke aus dem 19. Jahrhundert als Bindeglied zwischen „alter“ Musik und der Produktion der Gegenwart kodiert. Das neue Bild des „Ottocento“ wurde dadurch als ein Jahrhundert vermittelt, das musikalisch nicht allein aus der Oper bestand. Insbesondere die spätere Sendung vom 22. November 1939 suggeriert einen Werdegang der 545 Siehe Torchi 1896, La sinfonia in re und Torchi 1905, La seconda sinfonia. Noch im Jahr 1930 schrieb Alfredo Casella bezüglich der italienischen Komponisten von symphonischer Musik während des „Ottocento“  : „Dei compositori sinfonici (Martucci, Sgambati, Bossi ecc.) ognuno conosce la assoluta soggezione al penisero germanico. […] La musica nostra era piena di buone intenzioni, ma difettava certamente di quel carattere nazionale che si impone senza discussioni.“ Vgl. Casella 1931, 21+26, 21. 546 Für die Spezifität der Aufführung oratorischer Werke im Rahmen eines symphonischen Konzerts siehe später im Text, vor allem 307.

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italienischen Symphonik, der keine Unterbrechung im 19. Jahrhundert mehr kennt   : Fast didaktisch konstruiert die Repertoirezusammenstellung dieses Konzerts das Narrativ des italienischen Primats im Bereich der Symphonie, das einen kontinuierlichen Akt des „tradere“ vorsieht. Torchis Meistererzählung und deren seit etwa 1929 wohl etablierte Vermittlungstypologie im Rundfunkprogramm wird damit in diesem Fall nicht infrage gestellt oder grundsätzlich verändert  : Die Zäsur des „Ottocento“, die Torchi als die Zeit eines Primatverlusts im Bereich der Instrumentalmusik und Casella als die Epoche einer grundsätzlichen Dekadenz des gesamten italienischen Musiklebens auffassten, wird jedoch hier sorgfältig kaschiert bzw. in sein Gegenteil verkehrt. Das Narrativ, welches dem musikhistorischen Konstrukt einer symphonischen Tradition zugrunde lag, erfuhr am Ende der 1930er-Jahre eine inhaltliche Radikalisierung  : Ein Bild des musikalisch „Italienischen“ wurde gezeichnet, das noch straffer und in seinem geschichtlichen Entfaltungsgang in sich geschlossener erschien als zuvor. Auch das Eröffnungskonzert der symphonischen Saison vom November 1938 vermittelt dank des markanten Einbeziehens von Martuccis Komposition dieses neue, radikalere Narrativ eines ununterbrochenen musikalischen Primats in Italien durch die Jahrhunderte. Aus der Repertoirezusammenstellung dieser Sendung geht jedoch auch noch etwas anderes hervor  : die ästhetische und gattungstypologische Einheit der musikalischen Tradition Italiens. Das Konzert mutet in der Tat unter einigen Gesichtspunkten durchaus paradox an  : In der Zusammenstellung des Repertoires werden fast programmatisch Vokal- und Instrumentalmusik vermischt, und es wird eine musikalische Entwicklungsbahn des Italienischen konstruiert, die für das „Ottocento“ eine kontraintuitive Schwerpunktsetzung auf die Symphonik vorsieht. Eigentümlich ist jedoch vor allem die Tatsache, dass der EIAR zur Eröffnung einer über 20 Sendungen konzipierten symphonischen Saison zwei Oratorien wählt und ein Gestaltungsprinzip für die Repertoireauswahl etabliert, das innerhalb der Reihe nicht allein auf dieses Konzert beschränkt bleibt. In der siebten Sendung der Saison wurde das Oratorium von Licinio Refice Trittico francescano für Soli, Chor und Orchester aus dem Jahr 1926 aufgeführt. Der rote Faden in der Geschichte dieser nicht gerade symphonischen Gattung wurde in der allerletzten Sendung der Saison noch einmal unmissverständlich hervorgeho-



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ben  : In einer Art krönendem Abschluss wurde der gesamte Messiah von Georg Friedrich Händel aufgeführt.547 Diese paradoxe Vermischung vom Instrumental- und Vokalmusik im symphonischen Programm, die auch mit dem Einbeziehen weiterer nicht der Gattung Oratorium angehörender Vokalwerke systematisch die gesamte siebte „stagione sinfonica“ von 1938/1939 durchdrang, kann im Hinblick auf die Veränderungen gedeutet werden, die in jenen Jahren den innermusikalischen Diskurs betrafen und die im zweiten Teil der Arbeit besprochen wurden. Eine solche Typologie der Repertoirezusammenstellung spiegelt in der Tat das Eindringen von jener Aufhebung des „ideellen Dualismus“ zwischen der Nachahmungs- und Autonomieästhetik in die Praxis der Programmgestaltung wider, die bereits im Artikel von Giacomo Orefice aus dem Jahr 1917 und später im Manifest von 1932 thematisiert wurde.548 Die Betonung der Einheit der italienischen Tradition seitens der Unterzeichner des „Manifesto dei dieci“ vom 17. Dezember 1932 markierte in der Tat nicht nur die gewonnene Allgemeinakzeptanz des Konstrukts der symphonischen Tradition im italienischen Musikdiskurs, sondern zugleich auch die Überwindung des ästhetischen Gattungsdualismus Oper versus Symphonie. In der Programmzusammenstellung des Eröffnungskonzerts vom 25. November 1938 fand damit – um es mit den Worten des Manifests zu formulieren – „das blendende, vielseitige Aufblühen der italienischen Musikalität“, welches Monteverdi, Frescobaldi oder Corelli mit Rossini, Verdi und Puccini zusammenführte, seine klangliche Entsprechung.549 In gewisser Weise handelte es sich dabei um eine Rückführung des Artefakts auf seinen Ursprung bei Torchi  : In seinem Artikel von 1897, in dem 547 Der Trittico von Refice wurde am 13. Januar 1939 gesendet, und die Aufführung von Händels Messiah fand am 24. März 1939 statt. Am 20. Januar, eine Woche nach der Einspielung von Refices Werk, wurde die Petite messe solennelle von Gioachino Rossini im Rahmen der symphonischen Saison gesendet  ; ein Werk, das sicherlich kein Oratorium ist, jedoch bereits der Besetzung nach nicht als „symphonisch“ bezeichnet werden kann. Am 6. Januar wurde außerdem zusammen mit anderen orchestralen Werken des Komponisten die Messa da Requiem von Ildebrando Pizzetti aus dem Jahr 1922 ausgestrahlt  : Diese Totenmesse von Pizzetti sieht eine reine A-cappella-Besetzung vor. 548 Siehe § II.6.3 in der vorliegenden Arbeit. 549 „La smagliante fioritura polivoca della musicalità italiana“, zitiert nach Nicolodi 1984, Musica e musicisti, 142. Für das komplette Zitat aus dem Manifest siehe 229 im zweiten Teil der vorliegenden Arbeit.

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er diese erfundene Tradition zum ersten Mal besprach, hatte er ein allgemeines Erfindungsprimat für Italien proklamiert, das sowohl die vokale als auch die instrumentale Musik betraf.550 Die angebliche Rückkehr zu Torchi soll jedoch nicht täuschen. Eine inhaltliche Radikalisierung des Konstrukts ist in beiden Eröffnungsprogrammen, wie gesagt, deutlich spürbar  : Mit dem betonten Einbezug der Instrumentalmusik des „Ottocento“ wird von beiden Sendungen ein musikalisch Italienisches nachgezeichnet, das in seinem historischen Werdegang keinen Bruch mehr kennt. Die symphonische Tradition thematisiert am Ende der 1930er-Jahre nicht ­einen zerrissenen Faden und damit ein zu überwindendes Manko der „italianità“ in der Musik. Diese „italianità“ wird nun nicht mehr von einem Vergessenen durchdrungen und dadurch in ihrem Anspruch an Einheit und selbstgenügsame Geschlossenheit enttäuscht und aufgebrochen. Die symphonische Tradition fügt sich stattdessen nahtlos sowohl ästhetisch (mit dem Aufgeben der gattungstypologischen Trennung zwischen Oper und Symphonie) als auch historisch (mit dem Einbezug der Instrumentalmusik des „Ottocento“) in die übergeordnete Vorstellung einer alles umfassenden, durch die Jahrhunderte in ihrem Kern unveränderten und allerseits geteilten kollektiven Identität Italiens in der Musik ein. Erst in dieser reifen Phase des Faschismus ist es in einer gewissen Weise möglich geworden, von „italianità in musica“ im Singular anstatt in der Mehrzahl zu sprechen. Erst jetzt ist das Bild eines gemeinsamen Werdens, einer zukunftsgestaltenden, kollektiv geteilten Tradition auf der diskursiven Ebene tatsächlich erreicht. Jene Annahme einer ästhetischen sowie kompositorischen Zäsur am Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert, die von Torchi bis zum frühen Casella bestimmend für den gesamten Diskurs um eine nationale Musiktradition gewesen war, ist nun endgültig aufgehoben. Sicherlich werden je nach Komponisten, Musikwissenschaftlern und -kritikern andere Schwerpunkte innerhalb dieser Tradition gesetzt, sie stellen jedoch nun individuelle oder gruppenspezifische Vorlieben innerhalb eines geteilten diskursiven Rahmens dar  : Was zur nationalen Musiktradition gehört und was nicht, ist nicht mehr Gegenstand einer 550 Torchi 1897–1901, La musica istrumentale, 1897, 582–583. Für das komplette Zitat siehe 143 in der vorliegenden Arbeit.



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Debatte. Dafür fehlt jener von Torchi eingeführte Riss zwischen einer bewussten und einer verdrängten musikalischen Vergangenheit des Landes  : Nur dieser Riss hatte differierende und konkurrierende Auffassungen der musikalischen Identität Italiens erst möglich gemacht. Nur jetzt, auf der Grundlage einer ästhetisch sowie historisch einheitlichen Vorstellung der musikalischen Tradition des Landes, gelingt es dem Konzept einer „italianità in musica“, sich als imaginäre Form einer regelrecht kollektiven Identifikation wahrhaft zu etablieren. Der Preis einer solchen Vollständigkeit lag sicherlich in einem Verlust von Schärfe und klarer Profilierung. Das formell Umfassende drohte zum inhaltlich Beliebigen zu werden und die hier festgestellte veränderte Auffassung der nationalen Musiktradition und damit der musikalischen Identität des Landes am Ende der 1930er-Jahre deutet auf ein problematisches Verständnis des Nationalen hin  ; eines Nationalen, das zu jenem Zeitpunkt durch das totalitäre Projekt des Faschismus bereits tiefgreifend umgestaltet worden war. *** Ideologisierung  : Die symphonische Tradition zwischen Autarkie und Deutschlandbezug Die hervorgehobene Radikalisierung der symphonischen Tradition im Musikprogramm des EIAR während der späteren 1930er-Jahre ist nur im Kontext jenes fortschreitenden Prozesses einer Ideologisierung des Nationalen zu verstehen, der eingangs des Kapitels besprochen wurde und eng mit dem totalitären Projekt des Faschismus in seiner späteren Phase zusammenhing. Diese Radikalisierung, deren Hauptmerkmale in der Hervorhebung von straffer Kontinuität und der grundsätzlichen Einheit einer alles umfassenden italienischen Musiktradition erkannt wurden, stellt ein Epiphänomen und zugleich das Resultat dieses Prozesses dar  : Sie kann nicht allein mit den Entwicklungen begründet werden, die im Laufe der 1920er- und 1930er-Jahre im rein innermusikalischen Diskurs stattfanden. Die Aufhebung der tradierten bipolaren Gegenüberstellung von Vokal- und Instrumentalmusik und die progressive Allgemeinakzeptanz von Torchis musikhistorischem Artefakt liefern nur die argumentativen Voraussetzungen, aus denen eine inhaltliche Radikalisierung des Narrativs erst möglich bzw. denkbar wurde. Sie können jedoch per se nicht den Übergang von

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der potenziellen Radikalisierung des Konstrukts zu dessen tatsächlicher Umsetzung begründen. Dafür ist eine interessengeleitete Kraft notwendig, welche die diskursive Möglichkeit in Taten umsetzt  ; diese interessengeleitete Kraft ist selbstverständlich der Faschismus. Als Mussolini nach einer langen Phase politischer Spannungen am 2. Oktober 1935 den Befehl zum Angriff auf Äthiopien gab, wurden Italien im November 1935 wirtschaftliche Sanktionen seitens des Völkerbunds auferlegt.551 Mussolini nutzte die Gelegenheit, um eine ökonomische Selbstständigkeit des Landes auszurufen und dadurch in der Verwirklichung seines totalitären Projekts noch einen Schritt weiterzugehen  : Mittels dieser sogenannten Autarkie („autarchia“) sollte auch in ökonomischer Hinsicht jenes geschlossene, sich selbst genügende System aufgebaut werden, das der Faschismus auf allen Ebenen seines politischen und kulturellen Agierens anstrebte. In diesem Sinne nahmen diese zunächst rein wirtschaftlichen Maßnahmen bald auch kulturelle Züge an, von denen das Musikleben nicht verschont blieb  : Im Jahr 1939 wurde zum Beispiel eine Reform der Studienpläne der Konservatorien ernsthaft erwogen, die eine Ausbildung von Musikern, Komponisten und Musikwissenschaftlern im Sinne autarker Prinzipien sichern sollte („autarchia musicale“).552 Dabei wurde unter anderem versucht, das von ausländischen Autoren verfasste Unterrichtsmaterial der Konservatorien durch didaktische Werke rein italienischen Ursprungs zu ersetzen, die zum Teil ad hoc neu verfasst werden mussten  ; eine Maßnahme, welche unter anderem auch die Begeisterung von Gian Francesco Malipiero weckte.553 551 Siehe dazu Tranfaglia 1995, La prima guerra mondiale, 585–598. 552 Siehe Sanguinetti 2003, La formazione dei musicisti, insbesondere 40–46. 553 Siehe das lange Zitat aus Malipieros Artikel für La Rassegna Musicale vom 6. Juni 1942 in Sanguinetti 2003, La formazione dei musicisti, 45–46 (der Artikel ist vollständig in Zanetti 1985, Musica italiana, 1642–1646 wiedergegeben). Entscheidend dagegen war Alfredo Casella, der 1938 folgende Worte schrieb  : „Questa volta ancora, la migliore intelligenza nazionale si trova di fronte la mediocrità che tenta di isolare il pensiero italiano e di creare un’atmosfera di diffidenza e di disprezzo verso la cultura straniera, instaurando per lo spirito una ‚autarchia‘ simile a quella delle materie prime. Mentre invece è oggi il momento di aprire i confini e di assumere finalmente il nostro posto di creazione e di tendenza entro il grande travaglio della cultura europea.“ Vgl. Casella 1941, I segreti della giara, 310. Wie Italien diesen „Platz in der Qual der europäischen Kultur“ nach der Meinung Casellas finden sollte, geht deutlich aus einem Aufsatz des Komponisten aus dem Jahr 1941 hervor, in dem er die Worte wiedergab,



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Der EIAR, der 1939 die Bilanz seiner gesamten Aktivitäten im vorangegangenen Jahr unter dem Titel „Die Sendungen im Betriebsjahr 1938. Der EIAR für die Autarkie“ veröffentlichte, setzte zu jenem Zeitpunkt das Prinzip der Autarkie nicht allein auf wirtschaftlicher und organisatorischer Ebene um. In besagter Bilanz ist unter anderem, Folgendes zu lesen  : „Im künstlerischen Bereich hat der EIAR autarkische Maßnahmen in zwei Richtungen ergriffen  : Jene ausländische Produktion wurde aus den nationalen Programmen ausgeschlossen, die nicht unseren politischen und ethischen Anschauungen entspricht, stattdessen wurde die nationale Produktion bevorzugt. […] Die Programme des EIARs entsprechen nun kraft ihrer unnachgiebigen Nachprüfung einer strikt autarkischen Zielrichtung.“554 Wie solche Worte nicht allein rhetorische Konzessionen an die Propaganda des Regimes machten, sondern direkt bis in die Praxis der Repertoirezusammenstellung eindrangen, haben die im vorigen Unterabschnitt besprochenen Eröffnungskonzerte der symphonischen Saison des EIARs von 1938 und 1939 anschaulich bewiesen. Die darin zum Ausdruck gebrachte Radikalisierung von Torchis Konstrukt entsprach damit der faschistischen Vorgabe einer „autarchia musicale“. In seinem Streben nach einer neuen, dem Zeitalter der Massen angedie sein „liebster Freund“, der Bildungsminister Giuseppe Bottai, ein Jahr zuvor an ihn adressiert hatte  : „Un’arte italiana esiste, e l’abbiamo difesa. Ora le compete una posizione avanzata nella grande offensiva che l’ordine nuovo porta all’antico“, Casella 1966, Considerazioni sull’attualità musicale, 413. 554 „Nel campo artistico l’azione autarchica dell’Eiar si è sviluppata in due direzioni  : esclusione dai programmi nazionali della produzione straniera non rispondente al nostro costume politico e morale e valorizzazione della produzione nazionale. […] I programmi dell’Eiar, per la inflessibile revisione, sono improntati ad un indirizzo strettamente autarchico.“ EIAR (Hg.) 1939, Le trasmissioni, 11. Der Text setzt sich dann folgendermaßen fort  : „Autarchia in senso artistico non significa però proibizionismo intransigente  : l’arte per nutrirsi ed alimentarsi richiede scambi di idee e di impressioni tra Paese e Paese  ; a questi scambi, così utili, la Radio provvede limitandosi a porre il veto per una difesa che è ad un tempo artistica ed economica alla produzione che sotto il travestimento artistico cela l’insidia della corruzione e a tutta la produzione bottegaia la di cui importazione non si risolve che in un danno per l’economia nazionale.“ Einige Zeilen weiter im Text kam man damit zu dem Schluss  : „In conclusione si può dire che l’autarchia, intesa nel senso più lato, ha trovato nell’attività dell’Eiar lo strumento ideale della sua affermazione e della sua propaganda.“ Ebd., jeweils 11 und 12.

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messenen totalitären Herrschaftsform, auf welche die Autarkie schließlich zielte, bediente sich der Faschismus zentraler Elemente des Nationalen und deutete sie allein im Hinblick auf seine Ziele neu um, wie in diesem Fall der Vorstellung einer symphonischen Tradition. Das Regime tritt nun zu diesem späteren Zeitpunkt immer bewusster als einzige deutende Instanz dieses Repertoires an Topoi kollektiver Identifikation auf. Diese verlieren dadurch ihren Status als kulturpolitisch vage bzw. unterdeterminierte Komponenten eines den jeweiligen politischen Ausdeutungen gemeinsamen und übergeordneten Diskurses. Politisch determiniert, hat das Nationale nun einen erheblichen Autonomieverlust und dessen instrumentelle Ideologisierung seitens des Faschismus wird zunehmend sichtbar. Dies trat noch auf eine zweite Art und Weise im Musikprogramm des EIARs während der späteren 1930er-Jahre hervor. Mit der impliziten Übernahme einer eng mit Deutschland verbundenen ästhetischen Position wie jener der Autonomieästhetik und zugleich mit der expliziten Beanspruchung eines Erfindungsprimats Italiens im „deutschen“ Bereich der Symphonie stand Torchis Konstrukt von Anfang an in einem zweifachen Bezug zu Deutschland. Dieser Teilaspekt der symphonischen Tradition erfuhr nun eine tiefgreifende Umdeutung, die allein im Hinblick auf die geopolitischen Pläne des Faschismus geschah. Seit dem Italienisch-Äthiopischen Krieg und der abschließenden Proklamation des „Impero“ 1936 sowie vor Hitlers internationalen Erfolgen sah sich der Faschismus gezwungen, sein Profil immer mehr auf einer europäischen Ebene und in Bezug zum problematischen Bund mit Deutschland zu definieren.555 In seiner viel zitierten Rede „antiborghese“ vom 25. Oktober 1938 schilderte Mussolini mit folgenden Worten das Europa der nahen Zukunft  : „Das Europa von morgen wird ein Komplex von drei oder vier demografischen Massen sein, um die herum sich noch einige kleine Satelliten befinden. Wir werden eine dieser großen Massen sein.“556 Das Recht, eine dieser großen Massen zu werden, beruhte nicht nur auf den militärischen Erfolgen. Die Anziehungskraft einer kulturellen Hegemonie war ebenso wichtig und Torchis Konstrukt, insbeson555 Siehe Woller 2010, Hitler, Mussolini sowie Payne 2001, Geschichte des Faschismus, 282–301. 556 „L’Europa del domani sarà un complesso di tre o quattro masse demografiche, attorno alle quali saranno dei piccoli satelliti. Noi saremo una di quelle grandi masse.“ Vgl. Mussolini 1959, Al Consiglio Nazionale, 196. Die Rede wurde auf dem Palazzo Littorio in Rom g­ ehalten.



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dere sein Bezug zu Deutschland, nahm in diesem Kontext eine weitere wichtige Rolle innerhalb des Rundfunksprogramms ein. In den späteren 1930er-Jahren scheute sich der EIAR in der Zusammenstellung der Musiksendungen nicht vor einem direkten Vergleich alter italienischer Instrumentalmusik mit den Werken der „Alten Meister“ des nun verbündeten Deutschland  : Am 2. Dezember 1939 wurde zum Beispiel ein Programm gesendet, das ausschließlich concerti von Vivaldi und Bach enthielt.557 In der kurzen und sonst sehr sachlich gehaltenen Vorankündigung im „Radiocorriere“ stand folgende Bemerkung über das Doppelkonzert für zwei Violinen und Orchester in d-moll von Johann Sebastian Bach  : „Viele melodische und stilistische Elemente nähern es [das bachsche Konzert, d. V.] der vivaldischen Musik an, die aber ihm vorausgeht.“558 Das Erfindungsprimat Italiens blieb damit weiterhin der bestimmende Faktor für die Rezeption alter Instrumentalmusik und seine anti-deutsche Komponente wurde hier explizit hervorgehoben.559 In welchem 557 „Concerto dedicato a Vivaldi e a Bach“, EIAR, zweites Programm, 2. Dezember 1939, 17.10 Uhr. Folgende Stücke von Vivaldi standen auf dem Programm  : Inverno, aus den Vier Jahreszeiten  ; La notte, für Flöte und Orchester und ein Doppelkonzert für zwei Violinen und Orchester in a-moll. Abschließend wurde das Doppelkonzert für zwei Violinen und Orchester in d-moll, BWV 1043 von J. S. Bach aufgeführt (Radiocorriere 1939, Hft. 48). Ein weiteres Beispiel für ein direktes Nebeneinanderstellen Vivaldis mit den deutschen „alten Meistern“ bietet das Konzert vom 12. Mai 1939 („Concerto sinfonico di musiche italiane e tedesche a cura della ‚Dante Alighieri‘“, zweites Programm, 20.45 Uhr)  : Hier wurde die Sendung mit einem Violinkonzert in a-moll von Vivaldi begonnen und mit einem Konzert in d-moll von Händel beendet. Für die Kurzbeschreibung des Konzerts siehe Radiocorriere 1939, Hft. 19, 8. 558 „Molti elementi lirici e stilistici lo avvicinano alle musiche vivaldiane che lo precedono.“ Ebd., 37. 559 Ein weiteres Beispiel für solche Anspielungen auf das Konstrukt einer symphonischen Tradition in den Vorankündigungen der Programme im Radiocorriere bietet der kurze Einführungstext zum Konzert vom 29. Mai 1939 (I. Programm, 21.45 Uhr), auf dessen Programm ein nicht näher spezifiziertes „Concerto“ von Antonio Vivaldi stand. Der venezianische Komponist wird als „il culmine raggiunto dalla musica sinfonica italiana nel secolo XVIII“ definiert, vgl. Radiocorriere 1939, Hft. 22, 16 (Hervorhebung d. V.). Der Verweis auf die symphonische Tradition mutet in diesem Fall besonders paradox an, weil die Sendung allein kammermusikalische Werke für Violine und Klavier vorsah (der Violinist war Arrigo Serato und der Pianist Renato Josi). Auf dem Programm standen zusammen mit dem vivaldischen Konzert, das in der Mitte platziert worden war, noch folgende zwei Werke  : Eine „Violinsonate in B-Dur“ von W. A. Mozart (entweder die Violinsonate KV 378 oder die KV 454) und J. Brahms  : Violinsonate in d-moll, op. 108. Vivaldi als „symphonisches Genie“ zu bezeichnen und die alte italienische

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Sinne dieser Teilaspekt des Konstrukts nun am Ende der 1930er-Jahre innerhalb des Musikprogramms des Rundfunks grundlegend umfunktionalisiert wurde, wird jedoch erst aus einer Untersuchung der deutsch-italienischen „Austauschkonzerte“ („Concerti scambio“) ersichtlich, die ab etwa 1938 jene sogenannte geistige Nähe zwischen dem nationalsozialistischen Deutschland und dem italienischen Faschismus beweisen sollten. Sie nahmen den Stahlpakt vom 22. Mai 1939 vorweg. In der Analyse der Repertoirezusammenstellung dieser Austauschkonzerte scheint sich jedoch vielmehr das gegenseitige Misstrauen der zwei Regimes widerzuspiegeln. Dies lässt sich gerade an der Verwendung der alten italienischen Instrumentalmusik ablesen. Am 10. November 1938 wurde ein Concerto sinfonico italo-tedesco zur Eröffnung der Sonderprogramme des EIAR für Deutschland gesendet (siehe Abbildung 13, S. 313). Das Konzert stand im Zusammenhang mit dem 13 Tage später unterzeichneten deutsch-italienischen Kulturabkommen, das einen engeren Austausch der beiden Rundfunkanstalten vorsah.560 Nach den Reden des Generaldirektors des EIAR, Raoul Chiodelli, des ministro per la cultura popolare, Dino Alfieri, des deutschen Botschafters in Rom, Hans Georg von Mackensen und des Generaldirektors der Reichsrundfunkgesellschaft, Heinrich Glasmeier, wurden zwei Stücke gespielt, welche die beginnende enge kulturpolitische Zusammenarbeit der beiden Regimes im Radio symbolisch besiegeln sollten  : Arcangelo Corellis achtes Concerto grosso und Richard Wagners Ouvertüre aus Tannhäuser.561 Die symphonische Vergangenheit Italiens kommt hier einer kulturpolitischen Aussage über die europäische Rolle des Faschismus im Verhältnis zu seinem deutschen Verbündeten gleich. Die Hervorhebung eines italienischen Instrumentalmusik in toto zur Vorstufe der deutschen Symphonik zu deuten, scheint damit zu jenem Zeitpunkt fast zum Automatismus in Italien geworden zu sein. 560 Auswärtiges Amt  : Übersicht über die zu den einzelnen Artikeln des deutsch-italienischen Kulturabkommens vom 23. November 1938 auf den Tagungen des deutsch-italienischen Kulturausschusses in Berlin im Juni 1939, in Rom im Februar 1940 und in München im April 1941 angenommenen Entschließungen, Reichsdruckerei, Berlin 1941 (Deutsche Botschaft in Rom  : An, Pak. 1561, 1/336  ; Eine Kopie befindet sich beim Deutschen Historischen Institut in Rom, Historische Bibliothek, La 102414). Dem Musikprogramm ist vor allem der XXIX. Artikel gewidmet. Über das Abkommen siehe Petersen 1986, L’accordo culturale. 561 Für den Bericht über die stattgefundene Sendung, in dem auch der Text der gehaltenen Rede wiedergegeben wurde, siehe „Le trasmissioni culturali italo-tedesche“, Radiocorriere 1938, Hft. 47, 7.



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Primats in der Erfindung der modernen westlichen Musikkultur soll ein Land darstellen, das sich in der Geschichte immer wieder als Wegbereiter neuer kultureller Epochen in Europa versteht. Die Hegemonialansprüche des italienischen Faschismus seien damit nicht machtpolitisch motiviert, sie würden stattdessen einer zivilisatorischen Mission des Landes entsprechen, die Italien historisch auferlegt sei. Das Konstrukt der symphonischen Tradition nahm damit nun am Ende der 1930er-Jahre eine genuin politische Funktion an  : Durch die massive Präsenz der alten italienischen Instrumentalmusik im Rahmen der deutsch-italienischen Austauschkonzerte brachte der Faschismus seine Führungsansprüche innerhalb des Bündnisses mit Deutschland zum Ausdruck und betonte die „zivilisatorische“ Mission Italiens in Europa. Nicht zufällig begann in der gleichen Woche, in der dieses Konzert stattfand, auch die Sendereihe Italienische Symphonien der Gegenwart. Das Primat Italiens, auf das die symphonische Tradition verwies, bezog sich nicht nur auf die Vergangenheit, sondern sollte als lebendiger Bestandteil der Gegenwart dargestellt werden. Dass diese Implikationen von Deutschland durchaus bewusst wahrgenommen wurden, beweist unter anderem das Konzert, das am 12. Januar 1939 der Deutschlandsender zur Eröffnung der Sonderprogramme ausstrahlte, die er seinerseits für Italien veranstalten wollte (siehe Abbildung 14, S. 313)  : Zusammen mit Wagner und Beethoven wurde auch ein Stück alter Instrumentalmusik aufgeführt. Dies war jedoch ein Präludium und Fuge von Bach. Italien war in diesem „deutsch-italienischen Austauschkonzert“ nur dadurch vertreten, dass Bachs Werk in einer Orchesterfassung von Respighi aufgeführt wurde. Weder die moderne noch die alte symphonische Tradition Italiens wurde in der Sendung erwähnt. Die politischen Implikationen dieser „Tradition“ wurden in Deutschland wahrgenommen und die alte italienische Instrumentalmusik wurde aus der Sendung bewusst ausgeschlossen. Wenn man auf die Repertoirezusammenstellung der weiteren, aus Deutschland für das Publikum des EIAR ausgestrahlten Musiksendungen eingeht, lässt sich dieser programmatische Charakter zusätzlich bestätigen, welcher der Repertoireauswahl des Eröffnungskonzerts vom Januar 1939 eigen war  :562 An keinem Abend wurden 562 Bei meiner Recherche habe ich sowohl die deutschen als auch die italienischen symphonischen

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Stücke alter italienischer Ins­trumentalmusik gespielt, stattdessen führten die Orchester der verschiedenen deutschen Sender zu diesen Anlässen fast ausschließlich Werke „deutscher“ bzw. „großdeutscher“ Komponisten auf. Der Bezug zu Italien wurde, wenn überhaupt, immer aus einer deutschen Perspektive hergestellt, indem man zum Beispiel das Jugendwerk „Aus Italien“ von Richard Strauss hervorhob.563 Bei den wenigen Malen, in denen das Konstrukt der symphonischen Tradition und die eingangs hervorgehobene Typologie der Repertoirezusammenstellung auch in deutschen Austauschsendungen aufgegriffen wurden, handelt es sich bezeichnenderweise um Konzerte, die gemeinsam mit faschistischen Organisationen veranstaltet wurden  : Am 27. April 1939 um 20.15 Uhr strahlte der Breslauer Sender ein „Deutsch-Italienisches Konzert“ aus, dessen Repertoireauswahl mit der Gegenüberstellung von Giovanni Gabrielis Sonata pian e forte und Alfredo Casellas Scarlattiana sowie Ottorino Respighis Fontane di Roma die für das Konstrukt prägende Verbindung von alter und neuer italienischer Instrumentalmusik wiedergab (siehe Abbildung 15, S. 314). Der deutsche Teil des Programms enthielt mit dem Namen Richard Strauss und vor allem mit Programme eines gesamten Jahres untersucht (vom September 1938 bis September 1939). Dabei habe ich drei verschiedene Arten der Zusammenarbeit zwischen den Rundfunkgesellschaften beider Länder hervorheben können  : 1. Sendungen, die in einem Land produziert und in beiden ausgestrahlt wurden, wie im Fall des vorher besprochenen „deutsch-italienischen“ Konzerts vom 12. Januar 1939 (Abbildung 14, S. 313)  ; 2. Regelrechte „Austauschsendungen“, die von Vertretern beider Länder gemeinsam veranstaltet und ausgestrahlt wurden, wie im Fall des Konzerts vom 27. April 1939 (Abbildung 15, S. 314)  ; 3. Gastdirigate, auf die in der vorliegenden Arbeit nicht näher eingegangen werden soll. Im Fall der ersten Kategorie lässt sich als auffällig feststellen, wie trotz des beiderseitigen Versprechens seitens der zwei Rundunkanstalten diese Art der Zusammenarbeit eher bescheiden ausfiel  : Was die von Deutschland nach Italien übertragenen Konzerte angeht, konnte ich insgesamt allein 13 Konzerte verzeichnen, die ohne erkennbare Regelmäßigkeit stattfanden  : 17.10.1938 aus München  ; 21.12.1938 Deutschlandsender  ; 02.02.1939 aus Stuttgart  ; 06.02.1939 aus Köln  ; 07.03.1939 aus Berlin  ; 08.05.1939 aus Stuttgart  ; 18.05.1939 aus Berlin  ; 31.05.1939 aus Leipzig  ; 31.05.1939 aus Berlin  ; 05.06.1939 aus Berlin  ; 10.06.1939 aus Wien  ; 03.07.1939 aus Saarbrücken und 07.08.1939 aus Hamburg. Wenn man jedoch die Zusammenarbeit zwischen den zwei Rundfunkgesellschaften in ihrer Gesamtheit berücksichtigt und alle drei vorher besprochenen Kategorien des Austausches in Betracht zieht, wird das bedeutende Ausmaß dieser Zusammenarbeit deutlich. 563 Im Rahmen der deutschen Sendungen für Italien wurde Aus Italien am 06.02.1939 und am 07.03.1939 aufgeführt.



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Max Regers Vaterländischer Ouvertüre, einem Werk, das Reger für den Eintritt Deutschlands in den Ersten Weltkrieg 1914 ad hoc schrieb, durchaus betonte nationale Implikationen.564 Die Ausstrahlung eines 1928 entstandenen Orches­terwerks von einem so prominenten Vertreter des Nationalsozialismus im Musikbereich wie Paul Graener („Comedietta“ [sic  !], op. 82) garantierte zusätzlich den Bezug zum neuen, im Sinne der NS-Ideologie wieder auferstandenen Deutschland. Torchis Narrativ eines Erfindungsprimats Italiens in der Symphonik wurde vom deutschen Teil der Sendung nicht infrage gestellt, sondern vielmehr mit der Wahl von Werken jüngeren Datums auf indirekte Weise bestätigt. Dieses im Breslauer Sender ausgestrahlte Konzert war jedoch nicht allein von der Rundfunkanstalt organisiert worden  : Wie in der Programmankündigung explizit vermerkt worden war, stellte dies eine „Gemeinschaftsveranstaltung des Reichssenders Breslau mit dem Fascio, Ortsgruppe Breslau“ dar.565 Diese einzige Ausnahme von der konsequenten Abwesenheit von Torchis Narrativ in der Programmzusammenstellung der deutschen Austauschsendungen bestätigt damit zusätzlich die neue, konkret geopolitische Funktion, die in den späteren 1930er-Jahren dem Konstrukt einer symphonischen Tradition vom Faschismus zugewiesen wurde. Wenn der Bezug zu Deutschland eine zentrale Rolle für die Erfindung und Durchsetzung dieses Narrativs am Ende des 19. Jahrhunderts gespielt hatte, trägt der Deutschlandbezug zu diesem späteren Zeitpunkt keine innermusikalische Funktion und Bedeutung mehr  : Die symphonische Tradition dient weder der Etablierung einer italienischen Instrumentalproduktion, die jener Deutschlands vergleichbar wäre, noch der Übernahme eines erfolgreichen „deutschen“, ästhetischen Prinzips. Die anti-deutschen Implikationen des Konstrukts haben ihre Existenzberechtigung allein im Hinblick auf die geopolitische Strategie des Faschismus  : Torchis Erfindung ist nun endgültig ideologisiert worden.

564 Siehe dazu Cadenbach 2004, Max Regers Vaterländische Ouvertüre. 565 Vgl. die Programmankündigung in Die Sendung 1939, Hft. 17.

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Abbildung 10  : Eröffnungskonzert der zweiten symphonischen Saison des EIARs am 5. Januar 1934 EIAR – Tutti i programmi 05. Januar 1934  ; 21.00–23.00 Uhr „Concerto sinfonico“ I. Teil Beethoven  : Egmont, Ouverture Frescobaldi-Ghedini  : Toccata De Sabata  : Juventus, poema sinfonico Rossini  : Guglielmo Tell, sinfonia Vincenzo Constatini  : „L’arte nelle città e nelle campagne“. II. Teil Glasunow  : Trovatore, Serenata  ; Suite du Moyen-Age, Scherzo Roger Ducasse  : Au jardin de Marguerite Wagner  : Die Meistersinger von Nürnberg, Vorspiel zum I. Akt Mitwirkende  : EIAR-Orchester Victor De Sabata, Leitung



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Abbildung 11  : Eröffnungskonzert der siebten symphonischen Saison des EIARs am 25. November 1938 EIAR – Secondo Programma 25. November 1938  ; 21.00–23.00 Uhr „Concerto sinfonico“ Gluck  : Ifigenia in Aulide, Ouverture Carissimi  : Jefte, Oratorio Martucci  : Concerto in si bemolle maggiore per pf. e orchestra Perosi  : Natalitia, canticum quatuor vocibus cum solo comitantibusque intrumentibus Rossini  : Guglielmo Tell, sinfonia Mitwirkende  : Vico La Volpe, Klavier EIAR-Chor EIAR-Orchester Armando La Rosa Parodi, Leitung

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Abbildung 12  : Eröffnungskonzert der achten symphonischen Saison des ­EIARs am 22. November 1939 EIAR – Primo Programma 22. November 1939  ; 21.00–22.00 Uhr „Musiche sinfoniche italiane“ Vivaldi  : Concerto in la minore per due violini principali ed orchestra d’archi Domenico Scarlatti  : Burlesca (trascr. Camillo De Nardis) Martucci  : Novelletta op. 82 Pizzetti  : da La pisanella  : a) La danza dello sparviero b) Sul molo di Famagosta Petrassi  : da Partita  : a) Gagliarda b) Giga Zandonai  : Danza del torchio e cavalcata, episodio sinfonico dall’opera „Giulietta e Romeo“ Mitwirkende  : EIAR-Orchester Willy Ferrero, Leitung



Die 1930er-Jahre

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Abbildung 13  : Eröffnungskonzert der Sonderprogramme des EIARs für Deutschland am 10. November 1938 EIAR – Tutti i programmi 10. November 1938  ; 20.15–21.00 Uhr „Trasmissione inaugurale dei programmi dedicati alla Germania“ Corelli  : Ottavo concerto grosso per archi e organo Wagner  : Tannhäuser, ouverture dell’opera Mitwirkende  : EIAR-Orchester Francesco Previtali, Leitung

Abbildung 14  : Eröffnungskonzert der deutschen Sonderprogramme für Italien am 12. Januar 1939 Deutschlandsender 12. Januar 1939  ; 20.15–21.00 Uhr „Festliches Konzert zur Eröffnung der Deutsch-Italienischen Sendereihe“ Richard Wagner  : Ouvertüre aus Rienzi Ludwig van Beethoven  : Symphonie Nr. 7 Johann Sebastian Bach  : Präludium und Fuge D-Dur (Orchesterfassung von O. Respighi) Mitwirkende  : Großes Orchester des Deutschlandsenders H. Weissbach, Leitung

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Vom nationalen zum totalitären Projekt des Faschismus

Abbildung 15  : Deutsch-Italienisches Konzert des Breslauer Senders am 27. April 1939 Breslauer Sender 27. April 1939  ; 20.15–22.00 Uhr „Deutsch-Italienisches Konzert. Gemeinschaftsveranstaltung des Reichssenders Breslau mit dem Fascio, Ortsgruppe Breslau“ Gabrieli  : Sonata pian e forte für Bläser Casella  : Scarlattiana Strauss  : Don Juan Respighi  : Fontane di Roma Graener  : Commedietta Reger  : Vaterländische Ouvertüre In der Pause (21.10 Uhr)  : „Gracie [sic  !] Camerata tedesco“. Eine Erzählung aus den Kämpfen in den Dolomiten v. H. Heß Mitwirkende  : Großes Rundfunk-Orchester A. Niegsch, Klavier E. Prade, Leitung

Schlussbetrachtung  : Die Wehmut demaskierter Gespenster oder von der Dialektik des Diskurses „I felt that I had ruined my one genuine, hall-marked ghost story. Had I only stopped at the proper time, I could have made anything out of it. That was the bitterst thought of all  !“ Rudyard Kipling  : My own true ghost story

Am Ende von Rudyard Kiplings kurzer Novelle My own true ghost story aus dem Jahr 1888 entdeckt der Erzähler, ein englischer Kolonialbeamter, dass alle unheimlichen Geräusche, die er während der Nacht in einer abgelegenen Baracke in der indischen Provinz gehört hat, nicht von Gespenstern, sondern allein von banalen, irdischen Zusammenhängen verursacht wurden. In seiner rationalen Weltanschauung bestätigt, lässt er jedoch seine Erzählung mit dem wehmütigen Satz schließen, der an den Anfang dieses Kapitels gesetzt wurde. Am Ende ­einer Untersuchung wie der vorliegenden angelangt, könnte man ebensogut wie der kiplingsche Protagonist ausrufen, dass das Projekt viel schöner und größer geplant war, als es nun geworden ist. Dies hilft jedoch dem Leser nicht, der nun berechtigterweise ein Fazit erwartet, das er als handliche summa summarum des Gesagten mit sich in die Erinnerung nehmen kann. Nur auf einer anderen Ebene kann die Wehmut des Erzählers über die eigene, erfolgreiche rationale Demaskierung des Unheimlichen als zusammenfassender Satz dieser Arbeit aufgefasst werden. *** Auf den vorigen Seiten wurden anhand einer Trias von Elementen die Leitlinien eines Diskurses nachgezeichnet, der während eines Zeitraums von 50 Jahren das italienische Musikleben vom Grund auf strukturierte. Anstatt das Geschehen nachzuerzählen, fragte die Arbeit nach seinen Rahmenbedingungen  : Es wurde

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Schlussbetrachtung  : Die Wehmut demaskierter Gespenster oder von der Dialektik des Diskurses

also versucht, jenen Raum des Sagbaren und Denkbaren genau zu identifizieren, den das foucaultsche Wort „Diskurs“ bekanntlich benennt. Nation, symphonische Tradition und Deutschlandbezug wurden als Faktoren hervorgehoben, die einen solchen Raum auf zweifache Weise bestimmten. In erster Linie stellten sie die Herkulessäulen der Debatte dar, welche die Grenzen markierten, die von den damaligen Akteuren nicht übertreten werden konnten. Als beispielsweise Giacomo Orefice 1917 das Nationale als ästhetisches Urteilskriterium des Musikalischen zu verbannen versuchte, schlug sein Unternehmen mehrfach fehl.566 Sein Versuch fand nicht nur keine wirkliche Unterstützung, sondern Orefice fehlte regelrecht die Sprache, die eine übernationale Dimension des Musikalischen konsequent formulieren hätte können  : Ihm versagten die Worte, um sein Wahrnehmen eines a-nationalen Wesens der Musik gedanklich schlüssig zu erfassen und argumentativ kohärent zu artikulieren. Als Orefice die Grenzen des italienischen Musikdiskurses zu überwinden versuchte, fand er keinen größeren bzw. umfassenderen Diskurs vor sich, sondern allein die Trümmer des alten. Die Trias von Nation, symphonischer Tradition und Deutschlandbezug konnte in ihrer Funktion als Herkulessäulen des Diskurses nicht überwunden, sondern allein von einem anderen Diskurs mit dessen entsprechenden Grenzen ersetzt werden. Indem diese Trias den Limes zeichnete, der nicht zu übertreten war, schuf sie zugleich das, was innerhalb dieser Grenzen gesagt und gedacht werden konnte. Dies ist die zweite Funktion der Trias innerhalb des italienischen Musikdiskurses. Sie besaß die Macht, das heißt jenen foucaultschen pouvoir im wortwörtlichen Sinne des „Machen-Könnens“  : Sie wirkte negativ als Grenze und zugleich kreativ als Quelle, aus der die Inhalte des Diskurses hervorgingen. Man denke nur, um den kompositorischen Teildiskurs zu berücksichtigen, an den italienischen Neoklassizismus der 1920er- und 1930er-Jahre mit seiner Suche nach einer modernen nationalen Musiksprache in einer vergangenen „italienischen“ Instrumentalmusik oder an Casellas Ablehnung der Musik Schönbergs, die sich – aus dem Zusammenwirken aller Elemente der Trias hervorgehend – auf die stilistische und satztechnische Faktur der gesamten italienischen Musikproduktion jener Zeit auswirkte. Unter den Inhalten, die aus dieser Trias hervorgingen, 566 Über Orefices Versuch siehe § II.5.4.

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gab es jedoch auch die Trias selbst, und auf die ist die vorliegende Untersuchung eingegangen. Es wurde also versucht, dieser doppelten Funktion von Nation, symphonischer Tradition und Deutschlandbezug als inhaltlicher Teil und zugleich als strukturierende Rahmenbedingungen des italienischen Musikdiskurses Rechnung zu tragen. Indem Texte erörtert wurden, die zumindest eines der drei Elemente direkt ansprachen, wurde diese Trias in ihrer Funktion als Objekt bzw. Inhalt des Diskurses hinterfragt  : Wie entwickelte sich damals die Diskussion um das Nationale oder um die wahre nationale Musiktradition  ? Wie wurde das musikalisch Deutsche in die Debatte einbezogen  ? Welche Aspekte der alten italienischen Instrumentalmusik wurden hervorgehoben  ? Solche und andere Fragen stellen einen großen Teil dieser Arbeit dar. Zugleich wurde ebenfalls versucht, die Rolle der Trias als Garant dieses Musikdiskurses hervorzuheben – das heißt als Instanz, welche den Sinn bzw. das „Sinn machen“ aller debattierten Inhalte für die Beteiligten garantierte und die nicht übertreten werden konnte. Auf diese zweite Funktion der drei Elemente gelangte man vor allem, indem die historiografische Rekonstruktion des Diskurses als dessen argumentative Dekonstruktion gestaltet wurde. Die untersuchten Texte wurden nicht allein erläutert und kontextualisiert, gesucht wurde vor allem und mit Absicht auch nach deren immanenter Widersprüchlichkeit. Dabei war kein intellektueller Leistungssport beabsichtigt  : Die Brüchigkeit bzw. Offenheit jeglicher vermeintlich kohärenten Sinnkonstruktion zu betonen, ist nach der semiotischen Revolution der Postmoderne längst kein épater les bourgeois mehr. Die logische Inkonsistenz der Argumentation in den Vordergrund zu stellen, war hier stattdessen das Mittel, um zu den impliziten oder als solche nicht thematisierten Voraussetzungen des Diskurses zu gelangen, das heißt die Dimension des Unhinterfragten, des Kantisch Transzendentalen zu fokussieren, welche die Sinnhaftigkeit des Gesagten sicherte. Anhand dieser Art der Dekonstruktion wurde außerdem eine Dezentrierung bzw. Verfremdung der Untersuchungsperspektive gegenüber jener des zu untersuchenden Objekts garantiert. Das Risiko wurde vermieden, die Anschauungen solcher Schriften oder Teile davon in die Metaebene der Untersuchungsperspektive unbedacht einzubeziehen  ; ein Anliegen, das dem Autor angesichts der politisch und allgemein gesellschaftlich hohen Fragwürdigkeit solcher Texte besonders am Herz lag.

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Schließlich soll hier von der Ebene des Diskurses zu jener der Praxis und damit vom zweiten zum dritten Teil der Arbeit übergegangen werden. Dabei wurde die musikwissenschaftliche bzw. ästhetisch-kompositorische Diskussion verlassen und der Forschungsblick stattdessen dem konkreten Musikleben gewidmet, das am Beispiel des Musikprogramms des italienischen Rundfunks während der 1920er- und 1930er-Jahre exemplarisch hinterfragt wurde. Dieser Übergang sollte zweierlei dienen. Erstens sollte er die Funktion des Musikdiskurses als strukturierendem Prinzip der musikalischen Praxis veranschaulichen  : Die vorher untersuchte Trias von Nation, symphonischer Tradition und Deutschlandbezug sollte in den Rundfunksendungen wieder erkannt und als konstitutiv für deren Organisation sichtbar gemacht werden. Darauf zielte das Hinterfragen der Rolle, die das Nationale hinter den hochfliegenden Parolen eines Kulturauftrags des neuen Mediums in der Konzeptualisierung der gesendeten Musik spielte  : Genau wie im Musikdiskurs bestimmte das Nationale sowohl auf der Makroebene des Gesamtprogramms als auch auf der Mikroebene der einzelnen Sendung die Repertoireauswahl. Eine präzise Typologie der Programmzusammenstellung wurde außerdem im symphonischen Bereich identifiziert, welche die zwei weiteren Elemente der diskursiven Trias wiedergab und symphonische Tradition und Deutschlandbezug gerade zu einer Zeit weitertradierte, in der sie in der Musikwissenschaft und in der ästhetischen bzw. kompositorischen Diskussion nur gelegentlich explizit debattiert wurde.567 Gerade dadurch wurde es möglich, rückwirkend auch die Veränderungen innerhalb des Musikdiskurses unter dem Einfluss des Faschismus zu erfassen. Dies stellte die zweite Ebene dar, welche der Verschiebung der Untersuchung in die Praxis dienen sollte. Auf diesem Weg konnte nicht nur der Kontinuität, sondern auch den sich dahinter abspielenden internen Veränderungen des Diskurses selbst nachgegangen und die Spannung zwischen äußerer Kontinuität und interner Sinnverschiebung innerhalb des diskursiven Raums angemessen veranschaulicht werden. Dies ist schließlich in die Beleuchtung jener Fähigkeit der Trias gemündet, dem neuen politischen und kulturellen Projekt des Faschismus zu dienen.568 567 Siehe diesbezüglich das gesamte zweite Kapitel des dritten Teils der Arbeit. 568 Siehe dafür § III.3.

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Bereits auf der Ebene der Analyse des Musikdiskurses hatte sich im Laufe der Arbeit die Notwendigkeit weiterer, eine solche Untersuchung vertiefender Studien bemerkbar gemacht. Auf dem beschrittenen Weg waren zu wenige Vorgänger zu finden  : Auch wenn für diese Zeitspanne von der Forschung noch viel an Quellenarbeit geleistet werden muss, scheint jedoch dem Autor, dass die Not an einer angemessen historiografischen Kontextualisierung des bereits erfassten Wissens noch größer ist. Bei vergangenen Auseinandersetzungen mit dieser Periode italienischer Musik stieß man viel zu oft nicht so sehr auf ein vollständiges Auslassen des kulturellen Kontexts zugunsten einer reinen Kompositions- bzw. Stilgeschichte, sondern vielmehr auf eine problematische und durchaus einschränkende Auslegung des Wortes „Kontext“. Zumeist unreflektiert wird das cum testo des Wortes so gedeutet, als ob zwei separate, jedoch parallel verlaufende Objekte den Gegenstand der Analyse darstellen würden  : Eine Musik (der Text) und eine Kultur (der Kontext) werden postuliert, die sicherlich enge, wechselseitige Beziehungen unterhalten, jedoch im Grunde als zwei separate Substanzen aufzufassen sind. Dieser monadologischen Auslegung des Wortes sei hier vehement widersprochen. Die ästhetischen und musikwissenschaftlichen Diskussionen des italienischen Musiklebens als Musikdiskurs zu lesen, heißt gerade, dieses cum des Wortes „Kontext“ andersherum zu deuten  : Text und Kontext sollen als ein und dasselbe begriffen werden bzw. der Text soll allein im Kontext, das heißt als dessen Produkt gelesen werden. Die Frage ist damit, wie der Text (die Musik bzw. was als „Musik“ verstanden wird) aus dem Kontext geschaffen wird, wie der Eindruck einer Trennung zweier separater Elemente entsteht, die jedoch ein unum darstellen. Hier wurde ein erster Ansatz in diesem Sinne versucht, weitere Studien sollen jedoch folgen. Das Fehlen einer angemessenen Anzahl von Vorgängern gilt umso mehr für die Ebene der Praxis. Vor allem auf dem Gebiet des Musikprogramms des italienischen Rundfunks hat diese Studie im Alleingang Pionierarbeit geleistet. In einer gewissen Weise scheint damit dem Autor, dass seine Arbeit gerade in der Erkennung eines noch breiten Forschungsraums sowohl im Hinblick auf den Ansatz als auch auf die zu untersuchenden Objekte eines der wichtigsten Resultate zu verzeichnen hat. Und schließlich sei noch ein Wort dem gewidmet, was auf den vorigen Seiten nicht erwähnt wurde. Im Rahmen dieser Arbeit wurde der Ansatz einer Kompositionsgeschichte radikal verlassen. Dies schien dem Autor notwendig, um auf jene Ebene des

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damalig Denkbaren und Sagbaren zu gelangen, ohne die seiner Meinung nach keine angemessene Interpretation des Musikalischen möglich ist. Zugleich soll der hier erprobte Ansatz nicht als ausschließend, sondern als einschließend gegenüber jenem der Werkbetrachtung verstanden werden. Der Wunsch sei hiermit geäußert, dass der Forschungsblick anhand der gewonnenen Erkenntnisse auch zurück auf die hier ausgeschlossene Perspektive gelenkt werde und sich die Analyse des Kompositorischen als Ausgangspunkt für eine Erweiterung und Problematisierung unseres Bewusstseins für den substanziellen Zusammenhang von Musik und Kultur beweisen könne. *** Dieses Kapitel trägt sensu stricto einen falschen Titel. Wehmütig über die Demaskierung der nächtlichen Gespenster sind in Kiplings Novelle selbstverständlich nicht die Gespenster selber, die sich am Ende als nicht existierend entpuppen  ; wehmütig ist stattdessen der Erzähler, der über den eigenen Akt der Demaskierung trauert. In einem anderen Sinn jedoch erfährt der Titel dieses Kapitels am Ende doch seine Berechtigung  : Die Demaskierung ist in Wahrheit ein doppelter Akt. Gerade im selben Augenblick, in dem der Erzähler die Gespenster als illusorische Entitäten entlarvt, ist er in der Tat gezwungen, sie als irrationale Produkte des eigenen Selbst zu erkennen. Es ist in diesem entscheidenden, zwiespältigen Augenblick, dass sich die Gespenster von furchterregenden Entitäten, welche die externe Welt verseuchen, in Objekte der Sehnsucht verwandeln, welche die innere Welt besiedeln. Sie werden zum wehmütigen Platzhalter für jenen Teil des Selbst, den der westliche Erzähler, dessen Identität sich im Glauben auf objektive Fakten und deren rationale Verifizierbarkeit konstituiert, nicht als eigenen anerkennen darf und ihm doch konstitutiv bleibt. Gerade dadurch haftet diesen idola, diesen demaskierten Gespenstern die Wehmut des Titels an. Kipling erkennt damit, wenn auch vermutlich malgré soi, dass Indien, dieses geografische Andere des Irrationalen, doch ein Eigenes des westlichen Subjekts ist. Die Novelle entpuppt sich tatsächlich als narrative Verkörperung jenes dialektischen Wesens der Vernunft, das von Siegmund Freud und Max Weber ausgehend und bis hin zu Jacques Derrida und der sogenannten Postmoderne als Kennzeichen westlicher Kultur erkannt wurde. Das reflexive, rationell errungene Bewusstsein über das eigene Selbst und die Welt bemächtigt sich der Welt

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und der individuellen Kräfte und unterwirft beide seiner Herrschaft. Diese rationelle Reflexivität schlägt jedoch dadurch von einer befreienden in eine repressive Instanz um, welche das mit ihr nicht Identische verdrängt. Sich entfaltende Rationalität und verdrängtes Andere der Vernunft schließen sich gegenseitigen aus, zugleich ruft jedes der beiden Elemente das andere hervor. Kiplings Novelle macht uns auch zusätzlich klar, dass diese Dialektik auf einer ganz präzisen Ebene stattfindet, nämlich auf der Ebene des Diskurses, in diesem Fall eines Kolonialdiskurses. Als Anderes ist Indien der Ort, an dem die verbotene Sehnsucht des westlichen Subjekts nach Ganzheit, nach Überwindung der Schranken einer verengenden Auffassung von Rationalität erlebt werden kann, ohne Gefahr zu laufen, aus der Gemeinschaft des rationalen Westens ausgeschlossen zu werden. Zugleich bietet jedoch das indische Andere auch eine Bestätigung für die Ich-Konstruktion des Erzählers als rein rationales Wesen  : Indem die Gespenster vom Inneren des Subjekts zum Äußeren eines irrationalen Indien verlegt werden, führt deren abschließende Demaskierung zu einer erneuten Selbstvergewisserung des Erzählers über dessen eigene konstitutive Rationalität, was schließlich in eine Ratifizierung der Legitimität herrschender Kolonialpraxis mündet. Der Kolonialdiskurs ist damit der Ort, an dem diese dialektische Kooperation von Verdrängendem und Verdrängtem bzw. von verbotenem Über-Ich und dem Gesetze übertretenden Es stattfindet. Hier liegt die wahre Macht des Kolonialdiskurses. Und hier trifft Kiplings Novelle schließlich das Fazit dieser Arbeit. Auch in dem italienischen Musikdiskurs lässt sich in der Tat während der hier untersuchten Zeitspanne jenes Zusammenwirken beider Momente nachweisen, das den Prozess eines rationalen Erfassens der Welt prägt. Auch hier lässt sich dieselbe schädliche Dialektik einer vernunftgeleiteten Erkundung des Musikalischen ablesen, die in eine Rückkehr des Irrationalen umschlägt  ; eine Rückkehr, die sich gerade anhand der vorher rationell gewonnenen Konstrukte entfalten kann. Die Trias von Nation, symphonischer Tradition und Deutschlandbezug, die im Rahmen der vorliegenden Arbeit als konstitutives Element dieses Diskurses erkannt und untersucht wurde, trägt diese dialektische Ambivalenz in sich. Alle drei Komponenten gehen in erster Instanz aus unterschiedlichen (und zugleich zusammenhängenden) Demaskierungsakten hervor. Das moderne, aus der Französischen Revolution stammende Konzept der Nation stellte sich als

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rationale Kritik des Absolutismus und seiner Verquickung von metaphysischer Ordnung und irdischer Macht in der Figur des Souveräns dar. Ein Gesellschaftsvertrag, als rationaler Akt der Verständigung eines nationalen Kollektivs von vernunftgeleiteten und daher gleichberechtigten Menschen, sollte Bossuets rationell schwer haltbare Formel einer göttlichen Sagesse ersetzen, die ihre weltliche Entsprechung allein im König finden soll.569 Die symphonische Tradition ging ihrerseits aus einem Demaskierungsakt hervor  : In der sogenannten Wiederentdeckung älterer Musik fand die Musikwissenschaft ihr vornehmliches Gebiet, um die Gespenster des Vergessens mittels Philologie und Quellenkritik rationell wegzujagen. Schließlich ging jener Bezug zu Deutschland, der den italienischen Musikdiskurs so markant strukturierte, aus dem durchaus nach rationeller Reflexivität strebenden Wunsch hervor, ein Bewusstsein über die eigene Identität als Kollektiv zu gewinnen. Als das Andere wurde Deutschland unentbehrlich für die Suche nach einer rationell fassbaren Definition des Selbst. Nichtsdestotrotz wurden alle diese drei Elemente spätestens in den fünf Jahrzehnten zwischen 1890 und 1945 gerade dank ihres rationellen, aufklärerischen Ursprungs, der ihnen eine zusätzliche Mobilisierungskraft gab, zum Platzhalter des Irrationalen, wie diese Arbeit anschaulich dargestellt hat. Beim Entfalten ihrer Suche nach Reflexivität, nach der Gewissheit über das Eigene in der Welt und der Geschichte verwandelten sich die drei Komponenten in ihr Gegenteil  : Je mehr man die eigene Identität als Kollektiv definieren wollte, desto mehr Raum für Hass und Fremdfeindlichkeit wurde geschaffen, wie das Beispiel von Fausto Torrefranca oder Giulio Silva anschaulich beweist. Je mehr die ältere Instrumentalmusik erforscht wurde, desto mehr diente sie der Verbreitung des Nationalismus und schließlich dem totalitären Projekt des Faschismus. Diese Ambivalenz der Diskurse oder zumindest des hier untersuchten italienischen Musikdiskurses als Träger eines rationalen Demaskierungsprojekts und zugleich als Entfaltungsraum für eine re-maskierende Rückkehr des Verdräng569 So schrieb Bossuet in einer seiner Rede für Louis XIV im letzten Viertel des 17. Jahrhunderts  : „Les rois règnent par moi, dit la Sagesse éternelle  : ‚Per me reges regnant‘  ; et de là nous devons conclure non seulement que les droits de la royauté sont établis par ses lois, mais que le choix des personnes est un effet de sa providence.“ Bossuet 1845, Sermon sur les devoirs, 219. Für die Theorie eines Gesellschaftsvertrages siehe selbstverständlich Rousseau 1977, Vom Gesellschaftsvertrag.

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ten erscheint dem Autor schließlich als Fazit seiner eigenen Untersuchung. Wenn der Schwerpunkt dabei auf die Hervorhebung der Irrationalität dieses Diskurses, auf die Betonung von dessen gegen-aufklärerischem Charakter als Vehikel für eine politisch verhängnisvolle „Rückverzauberung“ gelegt wurde, soll jedoch nicht vergessen werden, wie dieser Diskurs und dessen Komponenten als demaskierende Akte der rationalen Weltbeherrschung von den damaligen Akteuren gedacht wurden. Die übergeordnete Frage dieser Arbeit, die sie zugleich abschließt und die für den Autor offenbleibt, ist damit, wo eigentlich die Gespenster innerhalb des Diskurses liegen bzw. was angesichts deren diskursiver Ubiquität dem Menschen zu entscheiden übrig bleibt  : Wenn sich das Verdrängte mit und in demselben Akt von seiner Verdrängung entfaltet und De- und Re-Maskierung schließlich ein und dasselbe bedeuten, (re-)produziert nicht diese Arbeit in ihrem betonten Demaskierungsdrang genau dieselbe fatale Dialektik  ? Hier verbirgt sich die Wehmut des Autors, der diese Frage offen in sich trägt und offen seinem geduldigen Leser weitergibt in der Hoffnung, dass sie für dessen eigene Untersuchung dienen kann.

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Register Agazzari, Agostino 44, 48, 60, 64 Aichinger, Gregor 36, 55, 69, 70 Alaleona, Domenico 35, 38, 39, 40–53, 75–77, 257, 279 Albeniz, Isaac 277, 279 Alfieri, Dino 306 Amendola, Giovanni 283 Amfitheatrof, Daniele 280 Anderson, Benedict 11, 18, 197 Aquarone, Alberto 283, 284 Arendt, Hannah 283, 284 Ariosti, Attilio 261, 274 Assmann, Aleida 11, 16 Assmann, Jan 11, 16, 17 Astrologo, Claudia 278, 279 Austria, Don Juan de 51 Bach, Johann Sebastian 36, 56–59, 65, 66, 68, 70, 71, 73, 169, 258, 267, 268, 305, 307, 313 Bach, Wilhelm Friedemann 267 Baini, Giuseppe 43 Banchieri, Adriano 257 Banti, Alberto Mario 101, 102 Barilli, Bruno 81, 82, 83 Bastianelli, Giannotto 162, 197 Bauman, Zygmunt 29 Beethoven, Ludwig van 64–66, 71, 73, 139, 141, 142, 145, 147, 149–151, 157, 169, 171, 178, 179, 214, 263, 267–269, 272, 279, 280, 291, 294, 297, 307, 310, 313 Benjamin, Walter 27 Benn, Gottfried 9, 28 Bergson, Henri 153 Berio, Luciano 138 Besseler, Heinrich 60 Bhabha, Homi 20 Bizet, Georges 263, 279 Bloch, Marc 21 Boccherini, Luigi 258, 264, 278

Boito, Arrigo 214 Borges, Jorge Luis 9 Bossi, Renzo 162 Bossuet, Jacques Bénigne 322 Brüning, Heinrich 235 Buononcini, Giovanni Battista 126 Burke, Peter 13, 15 Caccini, Giulio 147, 264, 278 Caesar, Caius Iulius 9, 10 Cantimori, Delio 46 Carducci, Giosuè 40, 41, 46, 243–247, 250 Carissimi, Giacomo 41, 297, 311 Carl Theodor von der Pfalz 173 Casali, Giovanni Battista 39 Casella, Alfredo 136–138, 162, 210–220, 222– 224, 232, 296, 298, 300, 308, 314, 316 Castell, Manuel 23 Cavallini, Ivano 112 Cesti, Antonio 262, 274 Chilesotti, Oscar 111 Chiodelli, Raoul 286–289, 306 Chopin, Frédéric 214, 277 Cilea, Francesco 262, 274, 277 Cimarosa, Domenico 224, 278 Clementi, Muzio 133, 169 Cocchi, Claudio 278 Comparetti, Domenico 111 Corelli, Arcangelo 26, 148, 157, 197, 224, 225, 227, 258, 299, 306, 313 Corneille, Pierre 126 Corte, Andrea Della 135 Croce, Benedetto 153, 158 Curtarelli, T. 280 Dallapiccola, Luigi 138 D’Ancona, Alessandro 111 D’Annunzio, Gabriele 76, 184, 208 Dante Alighieri 41, 50, 77, 272 Darwin, Charles 126, 153

350 Register

Dayda, N.N. 277 Debussy, Claude 136 De Nardis, Camillo 296 Denza, Luigi 261, 274 De Rensis, Raffaello 163, 211 Derrida, Jacques 20, 320 De Sabata, Victor 294, 310 Donaudy, Stefano 261, 274 Donizetti, Gaetano 214 Ducasse, Roger 294, 310 Espagne, Michel 22 Fasolo, Giovanni 278 Fellerer, Karl Gustav 67 Ferrero, Willy 312 Fleck, Ludwik 27 Foucault, Michel 18 Frescobaldi, Girolamo 200, 224, 225, 277, 294, 299, 310 Freud, Siegmund 320 Friedrich II., König 55 Gabrieli, Giovanni 224, 225, 308, 314 Gallus, Jacobus 36 Galuppi, Baldassare 151 Gasco, Alberto 38, 39, 41, 226, 250–260, 266–271, 273 Gatti, Guido Maria 211, 219 Gentile, Emilio 235, 236, 250, 282–285, 290 Ghedini, Giorgio Federico 294, 310 Giani, Niccolò 282 Giani, Romualdo 26, 107, 112, 114, 120–124, 126–128, 131–133, 155, 282 Gioberti, Vincenzo 142 Giolitti, Giovanni 207 Glasmeier, Heinrich 306 Glasunow, Alexander 294, 310 Gluck, Christoph Willibald 297, 311 Graener, Paul 309 Griffin, Roger 233 Guerrini, Guido 226 Haberl, Franz Xaver 58, 59

Hagemann, Carl 56 Halbwachs, Maurice 16 Halévy, Jacques Fromental 277 Händel, Georg Friedrich 126, 127, 132, 133, 169, 258, 267, 299 Handler, Richard 15 Hardtwig, Wolfgang 110 Hasse, Karl 66 Haydn, Joseph 149, 150, 157, 169, 170, 177, 179, 267, 274, 291 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 11, 129 Herder, Johann Gottfried 129 Hermann der Cherusker 10 Hindemith, Paul 136 Hindenburg, Paul von 235 Hitler, Adolf 22, 234, 304 Hobsbawm, Eric 11, 13–18, 99 Hoffmann, E. T. A. 60–64, 72 Horthy, Miklós 235 Hubay, Jenő 274 James, William 153 Kaelble, Hartmut 23 Kafka, Franz 9 Kalt, Pius 36 Kandler, Franz Sales 58 Kipling, Rudyard 315, 320, 321 Kroyer, Theodor 55 Labroca, Mario 290 Lacan, Jacques 195 Lalo, Édouard 274 La Rosa Parodi, Armando 311 Lasso, Orlando di 36, 68, 69 La Volpe, Vico 311 Leerssen, Joseph 100 Leoncavallo, Ruggero 277 Liszt, Franz 214 Locatelli, Pietro 84, 170, 171 Lombroso, Cesare 126, 184 Lotti, Antonio 36 Lualdi, Adriano 163, 211, 212, 216, 217, 220, 224, 232

Register

Lully, Jean-Baptiste 258, 268 Mackensen, Hans Georg von 306 Maderna, Bruno 138 Malipiero, Gian Francesco 162, 222, 302 Mann, Thomas 31, 65 Marchesi, Enrico 249, 251, 252, 254, 286, 287, 289 Marconi, Guglielmo 243 Martucci, Giuseppe 87, 136, 137, 296, 297, 311, 312 Marx, Adolf Bernhard 146 Massarani, Renzo 279 Mascagni, Pietro 162, 165, 194, 225, 227, 277 Massenet, Jules 277, 279 Matarese, Nicola 278 Matteis, Corrado de 279 Matteotti, Giacomo 245, 246, 265 Mazzini, Giuseppe 43, 44, 46, 48, 83, 90–95, 98, 101–106, 127, 129, 142, 143, 167, 174, 190, 206, 288 Messina, Enza 278 Monteverdi, Claudio 126, 127, 132, 133, 147, 157–159, 200, 214, 215, 224, 299 Mosse, George L. 281 Mozart, Wolfgang Amadeus 149, 150, 157, 169, 170, 179, 274, 277, 279, 291 Mulè, Giuseppe 226, 272, 273, 280 Mussolini, Benito 49, 231, 233, 234, 245, 246, 248, 282, 286, 302, 304 Nardini, Pietro 278 Nick, Edmund 56 Nicolodi, Fiamma 85, 86, 112, 222 Niegsch, A. 314 Nietzsche, Friedrich 65, 78, 192 Nono, Luigi 138 Orefice, Giacomo 166, 198, 199–206, 210–214, 216, 217, 218, 299, 316 Paisiello, Giovanni 224 Palestrina, Giovanni Pierluigi da 23, 26,

351

33–77, 126–128, 132, 133, 141, 157–159, 200, 214, 224, 257 Pannain, Guido 135 Paoletti, A. 278 Parelli, Attilio 269 Paribeni, Giulio Cesare 219 Parini, Giuseppe 123 Pascoli, Giovanni 243 Pasquini, Bernardo 157 Payne, Stanley 234, 235 Peri, Jacopo 147 Perosi, Lorenzo 39, 297, 311 Petrarca, Francesco 35, 41, 49, 50, 77 Petrassi, Goffredo 296, 312 Pfitzner, Hans 65, 66, 67 Pinzauti, Leonardo 111 Pizzetti, Ildebrando 162, 221, 222, 272, 280, 296, 312 Platti, Giovanni Benedetto 150, 151, 157 Porpora, Nicola Antonio 277, 279 Prade, E. 314 Praetorius, Michael 60, 64 Previtali, Francesco 313 Prezzolini, Giuseppe 231 Proske, Carl 58, 67 Puccini, Giacomo 154, 156, 157, 216, 224– 227, 277, 299 Querio, F 36 Racine, Jean 126, 127 Rameau, Jean-Philippe 268 Ranger, Terence 11, 13–17 Ravel, Maurice 136 Refice, Licino 39, 298 Reger, Max 309, 314 Respighi, Ottorino 162, 221, 222, 272, 280, 293, 307, 308, 313, 314 Riemann, Hugo 173 Rieti, Vittorio 279 Rimski-Korsakow, Nikolai Andrejewitsch 277 Rinaldi, Mario 151 Rocco, Alfredo 265 Rossini, Gioachino 171, 224, 277, 294, 299, 310, 311

352 Register

Rotta, Antonio 133 Rushdie, Salman 12, 25 Said, Edward 20 Saint-Saëns, Camille 10, 277 Salazar, António de Oliveira 235 Salvetti, Guido 83, 156 Sammartini, Giovanni Battista 84, 170–172, 175–177, 179, 197, 264, 278 Sandberger, Adolf 68 Santamaria, Renato 241–245, 247–252, 254 Savoia, Margherita di 41 Savonarola, Girolamo 131 Scarlatti, Domenico 148, 200, 214, 224, 296, 312 Schievelbusch, Wolfgang 76 Schopenhauer, Arthur 66 Schulze, Hagen 99, 153 Schumann, Robert 107, 114, 116–120, 123–127, 132, 133, 214 Seidl, Arthur 66 Shakespeare, William 126–128 Silva, Giulio 28, 165, 180–198, 200, 202, 208, 322 Sonneck, Oscar 146, 147, 158 Spaventa, Bertrando 142 Spencer, Herbert 121, 126, 143 Spitta, Philipp 67, 72 Spontini, Gaspare 264, 278 Strauss, Richard 308, 314 Stravinsky, Igor 136 Sweelinck, Jan Pieterszoon 36 Taine, Hippolyte 114, 115, 119, 121 Tirindelli, Pier Adolfo 277 Tommasini, Luigi 272, 279, 280 Toni, Alceo 226 Torchi, Luigi 26, 87–90, 95–98, 103–109, 111, 112, 114–134, 138–144, 147–156, 158, 159, 161–179, 181–183, 190, 194, 197, 199, 202, 210, 219, 224–228, 262, 264, 265, 267–270, 295, 296, 298, 300, 301, 303, 304, 309

Torrefranca, Fausto 89, 138, 150–159, 161, 163, 165, 167, 168, 171–182, 186, 190, 192–194, 197, 200, 201, 208, 215, 216, 270, 271, 296, 322 Tosti, Francesco Paolo 277 Turina, Joaquín 279 Untersteiner, Alfredo 45 Urack, Otto 36, 56 Ursprung, Otto 67, 72 Vecchi, Orazio 257 Veracini, Francesco Maria 157, 169, 170, 261, 274, 278 Vercingetorix 9, 10 Verdi, Giuseppe 45, 50, 81, 82, 123, 140, 200, 214, 224–226, 262, 274, 299 Viadana, Lodovico Grossi da 26, 148, 227 Victoria, Tomás Louis de 39 Vitali, Tomaso Antonio 157 Vittorio Emanuele III., König 245 Vitzthum, Thomas 222 Vivaldi, Antonio 26, 84, 139, 148–152, 157, 170, 171, 227, 263, 264, 267–269, 272, 278–280, 296, 297, 305, 312 Wagner, Richard 63–66, 71, 72, 82, 88, 97, 107, 118, 119, 124, 128, 147, 156, 167, 171, 183, 184, 197, 214, 277, 294, 306, 307, 310, 313 Warburg, Aby 16 Weber, Max 320 Weill, Kurt 54, 55, 56, 72 Weissbach, H. 313 Werner, Michael 22 Wilson, Woodrow 206 Winterfeld, Carl Georg Vivigens von 58, 67 Witt, Franz Xaver 58 Zandonai, Riccardo 312 Zanetti, Gasparo 136, 137 Zimmermann, Bénédicte 22 Žižek, Slavoj 195, 197

MUSIKKULTUR EUROPÄISCHER METROPOLEN IM 19. UND 20. JAHRHUNDERT HERAUSGEGEBEN VON PHILIPP THER BD. 1 | PHILIPP THER IN DER MITTE DER GESELLSCHAFT OPERNTHEATER IN ZENTRALEUROPA 1815–1914 2006. 465 S. BR. ISBN 978-3-7029-0541-5 [A], 978-3-486-57941-3 [D] BD. 2 | SVEN OLIVER MÜLLER, JUTTA TOELLE (HG.) BÜHNEN DER POLITIK DIE OPER IN EUROPÄISCHEN GESELLSCHAFTEN IM 19. UND 20. JAHRHUNDERT 2008. 225 S. BR. ISBN 978-3-7029-0562-0 [A], 978-3-486-58570-4 [D] BD. 3 | PETER STACHEL,

BD. 5 | SVEN OLIVER MÜLLER, PHILIPP THER, JUTTA TOELLE, GESA ZUR NIEDEN (HG.) OPER IM WANDEL DER GESELLSCHAFT KULTURTRANSFERS UND NETZWERKE DES MUSIKTHEATERS IM MODERNEN EUROPA 2010. 331 S. BR. ISBN 978-3-205-78491-3 [A], 978-3-486-59236-8 [D]

PHILIPP THER (HG.) WIE EUROPÄISCH IST DIE OPER? DIE GESCHICHTE DES MUSIKTHEATERS ALS ZUGANG ZU EINER KULTURELLEN TOPOGRAPHIE EUROPAS 2009. 226 S. BR. ISBN 978-3-205-77804-2 [A], 978-3-486-58800-2 [D] BD. 4 | JUTTA TOELLE BÜHNE DER STADT MAILAND UND DAS TEATRO ALLA SCALA ZWISCHEN RISORGIMENTO UND FIN DE SIÈCLE 2009. 212 S. BR. ISBN 978-3-205-77935-3 [A], 978-3-486-58958-0 [D]

BD. 6 | GESA ZUR NIEDEN VOM GRAND SPECTACLE ZUR GREAT SEASON DAS PARISER THÉÂTRE DU CHÂTELET ALS RAUM MUSIKALISCHER PRODUKTION UND REZEPTION (1862–1914) 2010. 432 S. 32 S/W ABB. BR. ISBN 978-3-205-78504-0 [A],

UG236

978-3-486-59238-2 [D]

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MUSIKKULTUR EUROPÄISCHER METROPOLEN IM 19. UND 20. JAHRHUNDERT HERAUSGEGEBEN VON PHILIPP THER

BD. 7 | SARAH ZALFEN

BD. 9 | FABIAN BIEN

STAATS-OPERN?

OPER IM SCHAUFENSTER

DER WANDEL VON STAATLICHKEIT

DIE BERLINER OPERNBÜHNEN IN DEN

UND DIE OPERNKRISEN IN BERLIN,

1950ER-JAHREN ALS ORTE NATIONALER

LONDON UND PARIS AM ENDE DES

KULTURELLER REPRÄSENTATION

20. JAHRHUNDERTS

2011. 349 S. 6 S/W-ABB. BR.

2011. 452 S. BR.

ISBN 978-3-205-78754-9 [A],

ISBN 978-3-205-78650-4 [A],

978-3-486-70666-6 [D]

978-3-486-70397-9 [D]

BD. 10 | PHILIPP THER (HG.) BD. 8 | GERHARD BRUNNER,

KULTURPOLITIK UND THEATER

SARAH ZALFEN (HG.)

DIE KONTINENTALEN IMPERIEN IN

WERKTREUE

EUROPA IM VERGLEICH

WAS IST WERK, WAS TREUE?

2012. 248 S. BR.

2011. 224 S. 9 S/W-ABB. BR.

ISBN 978-3-205-78802-7 [A],

ISBN 978-3-205-78747-1 [A],

978-3-486-71211-7 [D]

UG236

978-3-486-70667-3 [D]

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ULRICH DRÜNER, GEORG GÜNTHER

MUSIK UND „DRITTES REICH“ FALLBEISPIELE 1910 BIS 1960 ZU HERKUNFT, HÖHEPUNKT UND NACHWIRKUNGEN DES NATIONALSOZIALISMUS IN DER MUSIK

In der Musik beginnt das „Dritte Reich“ nicht erst 1933 und endet nicht wirklich 1945. Dies ist die Einsicht , wenn man die Musik der Zeit von 1900 bis 1960 studiert. Der Band ist aus einem Antiquariatsprojekt von etwa 700 Dokumenten entstanden und begnügt sich nicht , wie bisher üblich , die musikalischen Makrostrukturen des „Dritten Reichs“ anhand von 30 bis 40 Titeln zu illustrieren. Vielmehr wird in breiter dokumentarischer Fülle den Fragen nachgegangen , aus welchen Traditionen Musik und Musikwissenschaft der Nazis kamen , worin ihre ideologisch-ästhetische „Eigenart“ besteht und wie sie nach 1945 weiter wirken. Ferner werden die „Entartete Musik“ und die auf ihre Autoren gerichtete „Eliminierungs-Literatur“ sowie die Musik in Exil und Emigration dargestellt. Viele Dokumente zeigen in erschütternder Direktheit , mit welchen Problemen die Musiker jener Zeit konfrontiert waren. 2012. 390 S. 45 S/W-ABB. GB. 170 X 240 MM | ISBN 978-3-205-78616-0

This is an admirable book based on meticulous research and immense knowledge. […] It has to be essential reading for all those interested in the subject. Journal of Contemporary European Studies

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AMAURY DU CLOSEL

ERSTICKTE STIMMEN „ENTARTETE MUSIK“ IM DRITTEN REICH

Im Mai 1938 wurde in Düsseldorf unter der Ägide der nationalsozialistischen Kulturverantwortlichen eine Ausstellung mit dem Titel „Entartete Musik“ eröffnet. Diffamiert wurden darin der „Musikbolschewismus“, die atonale Musik, der Jazz und natürlich die Musik jüdischer Komponisten. Viele jener Künstler, die im Namen der Säuberung des deutschen Musiklebens damals auf den Index gesetzt wurden, haben – durch Deportation oder in der Anonymität des Exils verschwunden – ihren gebührenden Platz im heutigen Musikschaffen noch nicht wiedererlangt. Das große Verdienst von Amaury du Closels Buch besteht darin, dass es sich nicht nur auf die bekannten Namen wie Schönberg, Weill, Zemlinsky oder Schreker beschränkt, sondern das Leben und Wirken von rund 200 Komponisten rekonstruiert, die heute fast vergessen sind. Nach Erläuterung des ideologischen Konzeptes „Entartete Musik“ beschreibt der Autor jene Institutionen und Gesetze, die die systematische Auslöschung der „unerwünschten“ Elemente in der deutschen Musikwelt überhaupt erst ermöglichten. Im letzten Teil des Buches werden die Schicksale und Biografien der Komponisten im Exil in Frankreich, Großbritannien, der Schweiz, in den USA und Südamerika sowie in Japan dargestellt. 2010. 506 S. GB. 170 X 240 MM. | ISBN 978-3-205-78292-6

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