Die Lehre von den Leistungsstörungen: Heinrich Stolls Bedeutung für die Entwicklung des allgemeinen Schuldrechts [1 ed.] 9783428480524, 9783428080526


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Die Lehre von den Leistungsstörungen: Heinrich Stolls Bedeutung für die Entwicklung des allgemeinen Schuldrechts [1 ed.]
 9783428480524, 9783428080526

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ANKE SESSLER

Die Lehre von den Leistungsstörungen Heinrich Stolls Bedeutung für die Entwicklung des allgemeinen Schuldrechts

Freiburger Rechtsgeschichtliche Abhandlungen Herausgegeben vom Institut für Rechtsgeschichte und geschichtliche Rechtsvergleichung der Albert-Ludwigs-Universität, Freiburg i. Br.

Neue Folge· Band 19

Die Lehre von den Leistungsstörungen Heinrich Stolls Bedeutung für die Entwicklung des allgemeinen Schuldrechts

Von

Anke Sessler

Duncker & Humblot · Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme

Sessler, Anke: Die Lehre von den Leistungsstörungen : Heinrich Stolls Bedeutung für die Entwicklung des allgemeinen Schuldrechts / von Anke Sessler. - Berlin : Duncker und Humblot, 1994 (Freiburger rechtsgeschichtliche Abhandlungen; N. F., Bd. 19) Zug!.: Freiburg (Breisgau), Univ., Diss., 1991 ISBN 3-428-08052-1 NE:GT

Alle Rechte vorbehalten © 1994 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0720-6704 ISBN 3-428-08052-1 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier gemäß der ANS I-Norm für Bibliotheken

Meinen Eltern

Vorwort Die vorliegende Arbeit lag dem Fachbereich Rechtswissenschaft der Universität Freiburg im Sommersemester 1991 als Dissertation vor. Bedanken möchte ich mich besonders bei Professor Dr. Detlef Liebs. Er hat das Thema angeregt und die Arbeit engagiert und zuverlässig betreut. Großen Dank schulde ich auch Professor Dr. Wemer Schubert, der mir in großzügiger Weise unveröffentlichtes Material zur Verfügung gestellt und damit einen wesentlichen Beitrag zu meiner Arbeit geleistet hat. Weiteres Material erhielt ich von Professor Dr. Hans Stoll und Professor Dr. Fritz Baur. Finanziell gefördert wurde die Arbeit von der KonradAdenauer-Stiftung, die mir überdies durch ihre interessanten Seminare auch viele wissenschaftliche Anregungen gegeben hat. Mit der Erstellung der Reinschrift haben sich Brigitte Brönstrup, Yvonne Kranzdorf und Katrin Siebert große Verdienste erworben. Ihnen allen sei an dieser Stelle gedankt. Besonders dankbar bin ich meinem Mann, der mich treu unterstützt und mir immer wieder Mut gemacht hat.

Frankfurt/Main, im Juni 1994

Anke Sessler

Inhaltsverzeichnis Einführung ...................................................................................................... 15 A. Das Leben Heinrich Stolls .............................................................................. 16 B. Das Werk Heinrich Stolls .............................................................................. 23 1. Kapitel: Stolls Wirken vor 1933 .................................................................. 23

I.

Die Lehre von den Forderungsverletzungen .............................................. 23 I. Das System der Forderungsverletzungen ............................................. 24 a)

Das Schuldverhältnis ................................................................ 24

b) Der Aufbau der Forderungsverletzungen ....................................... 25 aa) Die Arten der Forderungsverletzungen .................................... 25 bb) Die Rechtsfolgen der Forderungsverletzungen ........................... 26 2. Positive Vertragsverletzung ............................................................. 28 a)

Die Lückenhaftigkeit des Gesetzes ............................................... 28

b) Die Lückenergänzung ............................................................... 30 c)

Die Bedeutung der Lehre von der positiven Vertragsverletzung im StolIschen System der Forderungsverletzungen ................................ 31

3. Schädigendes Verhalten während der Vertragsverhandlungen ................... 32 a)

Die Begründung der Haftung für schuldhaftes Verhalten während der Vertragsverhandlungen ........................................................ 32

b) Der Anwendungsbereich der Haftung für schuldhaftes Verhalten während der Vertragsverhandlungen ............................................. 37 c)

Die Rechtsfolgen der vorvertraglichen Haftung ............................... 39

d) Die Haftung für das Verhalten während der Vertragsverhandlungen und das System der Forderungsverletzungen ................................... 39

10

Inhaltsverzeichnis 11. Die Stellung von Stolls Lehre in der wissenschaftlichen Diskussion ................. 41 1. Das System der Forderungsverletzungen ............................................. 41

a)

Das Schuldverhältnis ................................................................ 41

b) Der Aufbau der Forderungsverletzungen ....................................... 45 2. Positive Vertragsverletzung ............................................................. 52 a)

Die Lückenhaftigkeit des Gesetzes ............................................... 52

b) Die Lückenergänzung ............................................................... 56 3. Schädigendes Verhalten während der Vertragsverhandlungen ................... 59 a)

Die Begriindung der Haftung für schuldhaftes Verhalten während der Vertragsverhandlungen ........................................................ 59

b) Der Anwendungsbereich der Haftung für das Verhalten während der Vertragsverhandlungen ........................................................ 65 ill. Die Bedeutung der Methode .................................................................. 67

1. Stolls Methode der Interessenjurisprudenz ........................................... 68

a)

Zielsetzung und Begriindung ...................................................... 68 aal Funktion und Entstehung von Rechtsnormen ............................. 68 bb) Die Bedeutung des Rcchtsstaatsversländnisses ........ .... ................ 70

b) Theorie der Rechtsanwendung .................................................... 76 aal Gesetzesauslegung ............................................................. 76 bb) Lückenergänzung ............................................................... 78 cc) Gebotsänderung und Gebotsberichtigung .................................. 81 c)

Die Bedeutung der Begriffs- und Systembildung .............................. 82

d) Die Bedeutung der Konatruktion .................................................. 86 2. Vergleich mit anderen Vertretern der Tübinger Schule ........ .................... 87 3. Der Einfluß der Methode auf da. schuldrcchtliche Werk ......................... 95 a)

"Haftung für das Verhalten während der Vertragsverhandlunge~" ........ 96

b)

"Abschied von der Lehre von der positiven Vertragsverletzung" .......... 99

Inhaltsverzeichnis

11

2. Kapitel: Stolls Wirken nach 1933 .............................................................. 106 I.

Die Lehre von den Leistungsstönmgen ................................................... 106 1.

Die Zielsetzung der Denkschrift ...................................................... 107

2.

Die Entstehungsgeschichte der Denkschrift ......................................... 109

3. Die Akademie für Deutsches Recht .................................................. 109 4. Darstellung und Begründung der Lehre von den Leistungsstörungen ......... 112 a)

Das Schuldverhältnis ............................................................... 112

b) Die Leistungsstörungen ............................................................ 119 88) Das System der Leistungsstörungen ....................................... 119

bb) Die Rechtsfolgen der Leistungsstörungen ................................ 123 cc) Die Überschreitung der Opfergrenze und der Grundsatz der Ausgleichung ................................................................... 129 dd) Die "alten" Tatbestände der Leistungsstörungen ........................ 134 (1) Unmöglichkeit ............................................................ 135 (2) Verzug ..................................................................... 138 (3) Positive Vertragsverletzung ............................................ 138

(4) Culpa in Contrahendo ................................................... 139 c)

Die rechtspolitischen Leitgedanken der Denkschrift ......................... 139 aa) Der Gemeinschaftsgedanke .................................................. 140 bb) Der Treuegedanke ............................................................. 149 cc) Die sozialistische Vertragsgestaltung ...................................... 153

5. Das Leistungsstörungsrecht in den weiteren Akademieentwürfen .............. 154 a)

Der Entwurf von Larenz .......................................................... 156

b) Der Akademieentwurfvom November 1940 .................................. 167 c)

Der Akademieentwurfvom Mai 1941 .......................................... 175

d) Die endgültige Fassung ............................................................ 176

Inhaltsverzeichnis

12

D. Die Bedeutung der Methode ................................................................. 179 1. Die Interesaenjuriaprudenz im Nationalsozialismus ............................... 179

2. Stolls Lehre der Interessenjurisprudenz .............................................. 186 a)

Die Rechtsanwendung in Theorie und Praxis ................................. 186 aa) Gesetzesauslegung ............................................................ 186 bb) Lüekenergänzung .............................................................. 188 ce) Gebotsänderung und Gebotsberichtigung ................................. 190

b) Zielsetzung und Begründung ....................................... .............. 192 aa) Funktion und Entstehung von Rechtsnormen ............................ 192 bb) Die Bedeutung des Rechtsstaatsverständnisses ........................... 194 3. Kapitel: Die heutige Bedeutung Stolls schuldreehtlicher Lehren I.

..................... 200

Das Sehuldvemältnis .......................................................................... 200

D. Das System der Leistungsstörungen und ihrer Rechtsfolgen .......................... 208 C. Bibliographie des Werkes Heinrich Stolb ......................................................... 218

Literaturverzeiclmis ......................................................................................... 227

Abkürzungsverzeichnis Es finden grundsätzlich nur bekannte Abkürzungen Verwendung. Daneben werden folgende

Abkürzungen benutzt:

a.a.O.

am angegebenen Ort

ABR

Archiv tur bürgerliches Recht

Abs.

Absatz Archiv tur die civilistische Praxis

AcP Aufl.

Auflage

Bd.

Band

BGB

Bürgerliches Gesetzbuch

bzw.

beziehungsweise

ders.

derselbe

d.h.

das heißt

Diss.

Dissertation

DJZ

Deutsche Juristenzeitung Deutsches Recht

DRW f.,ff.

folgende, fortfolgende

FS

Festschrift Halbband

HB hg.

herausgegeben

Jherings Jb.

Jherings Jahrbücher tur die Dogmatik des bürgerlichen Rechts

JöR

Jahrbuch des öffentlichen Rechts der Gegenwart

JuS

JW

Juristische Schulung Juristische Wochenschrift

JZ KrVJSchr.

Juristenzeitung Kritische Vierteljahresschrift tur Gesetzgebung und Rechtswissenschaft

LZ

Leipziger Zeitschrift tur Deutsches Recht

Schmollers Jb.

Seite Jahrbuch tur Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im

Sp.

Spalte

NJW S.

Neue Juristische Wochenschrift

Deutschen Reich u.ä.

und ähnliches

VersR

Versicherungsrecht

ZADR

Zeitschrift der Akademie tur deutsches Recht

Abkürzungsverzeichnis

14 ZgS

Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft

ZHR

Zeitschrift für das gesamte Handelsrecht und Wirtschaftsrecht

zit.

zitiert

Einführung Heinrich Stoll (1891 - 1937) lehrte während der Zeit der Weimarer Republik und des Dritten Reiches in Freiburg und Tübingen. Sowohl seine Vorlesungstätigkeit als auch das Werkverzeichnis belegen, wie vielseitig sein Schaffen war. Nichtsdestoweniger zeigen sich in seinen Arbeiten deutlich zwei Schwerpunkte. Zum einen trat er als bedeutender Vertreter der Methodenlehre der Interessenjurisprudenz hervor, zum anderen gingen von ihm wichtige Anregungen zur Verbesserung und Reform des allgemeinen Schuldrechts aus. Ziel meiner Arbeit ist es, Stolls schuldrechtliche Lehren darzustellen und ihre damalige und heutige Bedeutung herauszuarbeiten. Dies versuche ich vor allem dadurch zu erreichen, daß ich einerseits untersuche, auf welchen Lehren und Auffassungen Stoll bei seiner Forschungstätigkeit aufbaute, und andererseits, welchen Einfluß er selbst auf die nachfolgende Wissenschaft ausübte. Dabei kommt es mir auch darauf an, sein dogmatisches Werk als das Ergebnis der Anwendung einer bestimmten Methodenlehre, nämlich der Interessenjurisprudenz, zu würdigen. Die Gliederung nach Zeitabschnitten - vor 1933, nach 1933 - soll nicht etwa einen Bruch im Werk Stolls, eine Kehrtwendung in seiner wissenschaftlichen Arbeit anzeigen, aber doch einen Wechsel des Tätigkeitsfeldes. Stolls Schriften vor 1933 befaßten sich ausschließlich mit dem Recht de lege lata, und zwar in dogmatischer Hinsicht. Dagegen zielen seine nach 1933 entstandenen Arbeiten auf eine Reform des geltenden Rechts, sind rechtspolitisch ausgerichtet. Aus diesem Grunde erschien eine getrennte Untersuchung geboten. Inwieweit auch inhaltlich seit 1933 Akzente neu gesetzt sind und im festgehaltenen Rahmen der alten Überzeugungen zu Unstimmigkeiten führten, kann nur die Arbeit am Detail erweisen.

A. Das Leben Heinrich Stolls 1 Heinrich Georg Wilhelm Stoll wurde am 4. August 1891 in Weinheim an der Bergstraße geboren. Er war evangelischer Konfession. Sein Vater war der Großherzoglich badische Amtsrichter und spätere Ministerialrat Dr. iur. Wilhelm Stoll, dessen Vorfahren aus Niederösterreich stammten. Der Urgroßvater Heinrich Stolls hatte als österreichischer Regimentsarzt von 1731 bis 1733 einen Feldzug nach Mannheim mitgemacht und sich dort niedergelassen. So war der badische Zweig der Familie Stoll begründet worden. Die Mutter Stolls, Anna Goßler, war pfälzischen Ursprungs. Ihre Familie hatte sich über Generationen in der Papierindustrie betätigt. Heinrich Stoll war das älteste Kind. Er hatte noch eine Schwester und einen zehn Jahre jüngeren Bruder. Von 1897 bis 1909 besuchte Stoll die Schule, die er wegen der häufigen Versetzungen seines Vaters mehrfach wechseln mußte. Eingeschult wurde er zunächst in die Bendersche Schule in Weinheim. Mit sechs Jahren kam er an die Privatschule des Heimatdichters August Ganther in Freiburg. 1900 wurde er dann in das Karlsgymnasium Freiburg aufgenommen. Als sein Vater 1904 als Ministerialrat in das Justizministerium nach Karlsruhe versetzt wurde, wechselte er auf das Karlsruher Gymnasium über, wo er 1909 das Abitur mit "sehr gut" bestand. Für eine Rede über Schill erhielt er den Goldenen Fichtepreis. 1909 bis 1910 diente Stoll als Einjährig-Freiwilliger im 3. badischen Feldartillerieregiment Nr. 50.

1 In der Hauptsache stütze ich mich auf die Kurzbiographien von Heck, AcP 144/S. 3. Kreller, Zeitschrift der Savigny-Stiftung rur Rechtsgeschichte 58/S. 449. Kreuzer, in: Badische Biographien, Bd. ß, S. 269. Schneider, in: Lebensbilder der Tübinger Iuristenfakultät. S. 165. Ferner auf unveröffentlichtes Material.

A. Das Leben Heinrich Stolls

17

Im September 1910 starb sein Vater mit 49 Jahren. So mußte Stoll als Erstgeborener früh Verantwortung für seine Mutter und die Geschwister übernehmen. Im gleichen Jahr begann Stoll mit dem Studium. Lange hatte er zwischen Geschichte und Rechtswissenschaft geschwankt, sich aber schließlich, an der Universität, doch für den Beruf des Vaters entschieden. Insgesamt studierte er sieben Semester in Berlin, Heidelberg, Freiburg, München und abermals in Heidelberg, wo er im Frühjahr 1914 sein Erstes Staatsexamen als Bester von sechzehn mit der Note "gut" ablegte. Am 31. März 1914 wurde er Rechtspraktikant. Vom 3. August 1914 bis zum 7. Januar 1919 stand Stoll im Heeresdienst, seit Mai 1916 als Batterieführer bei der Fußartillerie. Für seine Verdienste wurden ihm das Eiserne Kreuz I. und 11. Klasse, das Ritterkreuz 11. Klasse des Zähringer Löwenordens mit Schwertern und das Ehrenkreuz für Frontkämpfer verliehen. Das Erlebnis des Ersten Weltkriegs mit der Niederlage Deutschlands prägte ihn. 2 Nach Kriegsende setzte er die bereits vor Ausbruch des Krieges begonnene Rechtspraktikantenzeit fort und legte am 1. November 1920 die Zweite juristische Staatsprüfung - wiederum als erster, diesmal mit "sehr gut" - ab. Auch seine Stationszeugnisse lauteten fast durchweg "sehr gut", im übrigen "gut". Danach trat er als Gerichtsassessor in den Karlsruher Justizdienst ein. Gleichzeitig wurde er summa cum laude promoviert mit einer Dissertation über die "Wirkungen des vertragsmäßigen Rücktritts" bei Joseph Partsch, der zu dieser Zeit in Bonn lehrte, StoB aber noch aus dessen Freiburger Studienzeit kannte. 3 Die Doktocwürde wurde ihm am 21. Oktober 1921 verliehen. Am 24. Dezember des gleichen Jahres heiratete er Doris Eberle, die Tochter eines Karlsruher Medizinalrats.

2

Sehr deutlich Stott, AcP 126/5. 174, 194 ff.

3

Die Arbeit wurde nicht gedruckt.

2 Sessler

18

A. Das Leben Heinrich Stolls

Kurz darauf, am 8. Januar 1922, trat Stoll in Heidelberg den Dienst als Staatsanwalt an. Während seiner praktischen Tätigkeit im badischen Justizdienst widmete er sich, seiner alten Neigung zur Geschichte folgend, vorwiegend römischrechtlichen Studien. Als ihr Ergebnis legte er nach knapp zwei Jahren seine bei Endemann und Gradenwitz an der Heidelberger Fakultät entstandene Habilitationsschrift über "Die Rücktrittsverträge nach römischem und nach bürgerlichem Recht" vor, mit der ihm unter dem 14. Februar 1923 die venia legendi für römisches und bürgerliches Recht erteilt wurde. 4 Sein Habilitationsvortrag hatte die "Haftung für das Verhalten während der Vertragsverhandlungen " zum Gegenstand und erschien, leicht verändert, 1923 in der Leipziger Zeitschrift für Deutsches Recht. 5 Am 1. Oktober 1923 wurde Stoll zum Extraordinarius für römisches und bürgerliches Recht der Universität Freiburg ernannt, nachdem er bereits im Dezember 1922 zur Lehre an der juristischen Fakultät Heidelberg abgeordnet worden war. Seine Freiburger Antrittsvorlesung am 21. November 1924 hielt er über das Thema "Rechtsstaatsidee und Privatrechtslehre" .6 Sie wurde zum Fundament seiner Methodenlehre.

1927 wurde er in Tübingen Persönlicher Ordinarius für bürgerliches Recht, römisches Recht und Arbeitsrecht und am 1. Januar 1928 Nachfolger von Blume, also ordentlicher Professor für römisches und bürgerliches Recht. Hier schloß er sich dem Kreis der Tübinger Schule an, deren "erfolgreicher Vorkämpfer" er wurde.? Im Januar 1935 erhielt er einen Ruf nach Leipzig, den er jedoch aus familiären Gründen und wegen des großen Rückhalts, den er in der Universität Tübingen gefunden hatte, ablehnte. Die Tübinger Fakultät hatte gebeten, "nichts unversucht zu lassen, um Herrn Professor Dr. StolI,

4

Eine Drucklegung unterblieb. Nach dem Tode Stolls erwog die Tübinger Fakultät den

Druck, der aber offensichtlich nicht realisiert wurde (vgl. Heck AcP I 44/S. 3, 5 FN 6. Ferner Brief des Dekans Eißer der juristischen Fakultät Tübingen an den Dekan der Fakultät Heidelberg, Krause, unter dem 3.9.1937; unveröffentlicht). s LZ 1923/Sp. 532 ff. 6 1

Ihr entspricht im wesentlichen der gleichnamige Aufsatz in Jherings Jb. 76/S. 134 ff. Schneider, S. 168.

A. Das Leben Heinrich Stolls

19

der zu den angesehensten Vertretern seines Faches gehört, für Tübingen zu erhalten" .8

In Tübingen hielt Stoll jetzt auch Vorlesungen im Sachen- und Familienrecht, ferner im Arbeits- und Zivilprozeßrecht, Gebieten, die soeben erst als eigene Lehrfächer eingeführt worden waren. Vom Sommersemester 1932 bis zum Wintersemester 1933/34 war er Dekan und seine Vorlesungstätigkeit eingeschränkt. Danach dominierte das bürgerliche und zumal das neue Recht, darunter "Die neuen Privatrechtsgesetze (insbesondere Erbhofrecht)" und "Deutsches Bauernrecht" , zu dem Stoll auch ein in mehreren Auflagen erschienenes Lehrbuch verfaßte. 9 Andere Vorlesungen behandelten den alten Rechtsstoff, aber unter neuen Bezeichnungen, so "Bodenrecht" (Immobiliarrecht) oder "Ware und Geld" (Austauschverträge). Romanistische Vorlesungen hielt er nicht mehr. Stoll war ein sehr beliebter Dozent. Immer wieder wurden sein anschaulicher und fesselnder Vortrag, sein pädagogisches Geschick und sein guter Kontakt zu den Studenten gerühmt, ebenso sein lauterer Charakter. 10 Trotz seiner kurzen Lebensspanne war er sehr produktiv und hat viel veröffentlicht. Zu Beginn seiner wissenschaftlichen Laufbahn lag der Schwerpunkt in der Romanistik, im Schuldrecht und in der Methodenlehre. Nach 1933 widmete er sich hauptsächlich dem neuen Bauernrecht, insbesondere Erbhofrecht, und der Erneuerung des Schuldrechts; romanistische Veröffentlichungen gab es keine mehr. Neben den vielen selbstgewählten Gegenständen steht eine große Zahl von Besprechungen fremder Beiträge und Gerichtsentscheidungen. Stoll war viele Jahre Herausgeber des Archivs für die civilistisehe Praxis und der Deutschen Juristenzeitung. Zusammen mit Heinrich Lange gab er eine Grundrißsammlung für den jungen Juristen heraus, in der

8

Brief des akademischen Rektorats der Universität Tübingen an den Kultusminister von

Württemberg unter dem 26.1.1935 (unveröffentlicht). 9 Deutsches Bauernrecht, 1. Aufl., Tübingen 1935; weitere Auflagen s. Bibliographie. 10 Stellvertretend rur alle Baur, Tübinger Chronik vom 10. Juli 1937. 2*

20

A. Das Leben Heinrich Stolls

er selbst die Bearbeitung des Schuldrechts und des Bauernrechts übernahm. 11 Ferner lehrte er an der Württembergischen Verwaltungsakademie. Stark wurde er von seiner Mitgliedschaft in der Akademie für Deutsches Recht beansprucht, der er seit 1933 angehörte, zunächst als Mitglied des Ausschusses für Personen-, Vereins- und Schuldrecht, später auch als Vorsitzender des Ausschusses für Boden- und Fahmisrecht. I2 Obwohl sich Stoll nach 1933 für die sog. nationalsozialistische Rechtserneuerung einsetzte, war er doch nie Mitglied der NSDAP. Sein nationalsozialistisches Engagement beschränkte sich auf die Tätigkeit als Gaufachschaftsberater der Fachgruppe Hochschullehrer im Bunde nationalsozialistischer deutscher Juristen und die Zugehörigkeit zur SA ab Juni 1934. Vorher hatte er, seit 1925, der Deutschen Volkspartei (DVP) angehört, in der er allerdings nie hervorgetreten war. 13 Sein politischer Standort war geprägt von Patriotismus, Rechtsstaatlichkeit und sozialem Gedanken. Er gehörte zu jener Generation national gesinnter Kriegsteilnehmer, die unter der Niederlage von 1918 und den danach folgenden Demütigungen sehr gelitten haben und im Nationalsozialismus, jedenfalls zunächst, das Mittel sahen, Deutschland wieder zu stärken und den anderen europäischen Mächten ebenbürtig zu machen. I4 Ebenso trat er für eine sozialere Gestaltung der Rechtsordnung, besonders der Privatrechtsordnung ein, die in stärkerem Maße als bisher die Belange der Schwachen und der Gemeinschaft berücksichtigen sollte. Wie viele andere erhoffte auch er sich von der nationalsozialistischen Machtübernahme die Verwirklichung dieses Zieles, das häufig mit der nationalsozialistischen Bewegung verbunden wurde, auch wenn es seit Inkrafttreten des BGB von den unterschiedlichsten gesellschaftlichen Kräften verfolgt worden war. Daß Stoll nicht in die Partei eintrat, zeigt auf der anderen Seite seine Distanz zu ihr. So sehr er sich in Vorträgen und anderen wissenschaftlichen Beiträgen für die Ziele der nationalsozialistischen Rechtsumwandlung einsetzte, so deutlich 11 S. Bibliographie. 12 HielZU s. ausführlich u. B. 2. Kapitell.3). 13

Fragebogen des Kultusministeriums/Behörde: Universilit Tübingen zur Durchführung des

Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtenturns vom 7. April 1939 (RGBI. I. S. 175), S. 4 (unveröffentlicht). 14Vgl. AcP 126/S. 174, bes. S. 194 ff.

A. Das Leben Heinrich StoUs

21

brachte er doch immer wieder seine Wertschätzung der Traditionen der geltenden Rechtsordnung zum Ausdruck, an vorderster Stelle die römischrechtlichen Grundlagen des BGB und die Unabhängigkeit von Forschung, Lehre und Rechtsprechung, aber auch die alte Begrifflichkeit; er warnte vor einer radikalen Veränderung der bestehenden Ordnung. 15 Ein öffentliches Bekenntnis zu den Wertvorstellungen der Weimarer Republik legte er noch kurz nach der Machtübernahme durch die NSDAP in seinem Aufsatz "Verfassung und Privatrecht" ab, wo er den Wert der Grundrechte betonte. 16 Später rückte er jedoch von diesen klaren Äußerungen ab; seine Haltung wurde unklar, wie seine Stellungnahmen zur Existenzberechtigung und Bedeutung der Grundrechte im Nationalsozialismus sowie zur Privatautonomie beleuchten. Ob diese Unklarheiten auf für erforderlich gehaltene Anpassung oder aber auf einer inneren Verunsicherung über die Priorität bestimmter Wertvorstellungen beruhten, entzieht sich der Beurteilung. Vieles spricht für die zweite Deutung, wenn man bedenkt, daß Stoll einerseits glühend die Wiederbelebung Deutschlands zu einem starken Nationalstaat herbeiwünschte, sich andererseits aber zu dem liberalen Ideal formeller Rechtsstaatlichkeit bekannte, Vorstellungen, die im Dritten Reich unvereinbar waren. Vielleicht ist Stoll an diesem Widerspruch zerbrochen: Am 19.6.1937 starb er in Tübingen im Alter von 46 Jahren, "nach kurzer schwerer Krankheit", von der er schon wieder genesen zu sein schien; er hinterließ seine Frau und vier Kinder. 17 Die genaue Todesursache blieb der Öffentlichkeit verborgen. Zusammenhänge zwischen seinem Tod und der politischen Lage erscheinen nicht abwegig. In der anläßlich seines fünfzigjährigen DoktOIjubiläums gehaltenen Rede "Erinnerungen an die alte Fakultät" schilderte der langjährige Schüler Stolls, Fritz Baur, seine Eindrücke und Gedanken beim plötzlichen Tod seines Lehrers und Doktorvaters folgendermaßen: "Die Nachricht vom Tode Stolls verbreitete sich wie ein Lauffeuer unter den Studenten; es herrschte tiefe Betroffenheit über den Tod dieses integren Gelehrten. Die schwache Gesundheit des eher schmächtigen Mannes war offenbar den Bela-

15 Sloll, AcP 126/S. 174,202 f. AcP 138/S. 337, 341. Bürgerliches Recht, S. 198 f. 16 SlOll, DJZ 1933/Sp. 278. 11

Krelfer, Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte 58/S. 449.

22

A. Das Leben Heinrich Stolls

stungen seiner vielfältigen Arbeit, aber auch Angriffen von seiten gewisser Kreise der NSDAP nicht mehr gewachsen gewesen. "18 "Böse Anfeindungen" bestätigt auch der wohl gründlichste Biograph Stolls, Karl F. Kreuzer. Ihre Ursache sieht er in Stolls rechtsstaatlicher, ausschließlich der wissenschaftlichen Wahrheit verpflichteten Einstellung. Mit den Angriffen und Anfeindungen war die parteiamtliche Beanstandung der 1. Auflage von Stolls Grundriß "Deutsches Bauernrecht" und die Zensur der für das Sommersemester 1937 vorgesehenen 2. Auflage gemeint, von der Stoll wenige Wochen vor seinem Tode erfahren hatte. In Anbetracht der Haltlosigkeit der von der parteiamtlichen Prüfungskommission zum Schutze des NS-Schrifttums vorgebrachten Vorwürfe muß diese Angelegenheit als eine gegen die Person Heinrich Stolls gerichtete Schikane gewertet werden. 19 Stoll ließ sich nicht einschüchtern, sondern verteidigte seinen Grundriß, vor allem aber die Freiheit der wissenschaftlichen Forschung: 'Vor allen Dingen aber muß ich betonen, daß es einen offenen und schweren Eingriff in die wissenschaftliche Forschung bedeuten würde, wenn jene Beanstandung darauf abzielen wollte, von mir die Vertretung einer bestimmten geschichtlichen Meinung zu verlangen. Denn als Hochschullehrer bin ich verpflichtet, nur das zu lehren und zu schreiben, was ich nach eigenem pflichtgemäßen Urteil vertreten kann. -20 Das waren mutige Worte, die verrieten, wie sehr sich Stoll getroffen fühlte. In einer großen Trauerfeier nahm die Tübinger Universität am 22. Juni Abschied von Heinrich StolI.

18

Baur, Erinnerungen an die alte Fakultät, S. 8 (unveröffentlicht).

19

Vgl. das Schreiben der parteiamtlichen Prüfungskommission zum Schutze des NS-Schrift-

turns an den Verlag J.C.B. Mohr (paul Siebeck) unter dem 22.10.1936 und dazu den Bericht Stolls in einem Brief an den Rektor der Universität Tübingen unter dem 14.4.1937. 2D

StoU in dem eben erwähnten Bericht, S. 4.

B. Das Werk Heinrich Stolls 1. Kapitel: Stolls Wirken vor 1933 I. Die Lehre von den Forderungsverletzungen Das Werkverzeichnis und die weite Spanne der Vorlesungstätigkeit zeigen, wie vielseitig das Schaffen Heinrich Stolls war. Sein besonderer Eifer galt der Lehre der Interessenjurisprudenz und den Störungen des Schuldverhältnisses. Die Beschäftigung mit diesem Gegenstand durchzog sein ganzes Werk. Sie begann 1923 mit dem erwähnten Habilitationsvertrag über die Haftung für das Verhalten während der Vertragsverhandlungen, der in leicht veränderter Fassung erschien. 1 Den Forderungsverletzungen galt die 1932 erschienene Abhandlung "Abschied von der Lehre von der positiven Vertragsverletzung"2, die Grundlage der bedeutsamsten Arbeit Stolls auf dem Gebiet des Schuldrechts, der 1936 veröffentlichten Denkschrift "Die Lehre von den Leistungsstörungen"3; sie reichte über den Bereich der Forderungsverletzungen weit hinaus. Der Titel des AcP-Aufsatzes sagt eine Auseinandersetzung mit der Lehre von der positiven Vertragsverletzung an. Ziel der Untersuchung war eine systemgetreue Einordnung und Behandlung der unter dem Begriff der positiven Vertragsverletzung zusammengefaßten Fallgruppen.

1

StolI. LZ 1923/Sp. 532.

2

StolI. AcP 136/S. 257.

3

StolI. Leistungsstörungen. Tübingen 1936.

24

B. Das Werk Heinrich Stolls

1. Das System der Forderungsverletzungen

Vor dem eben genannten Hintergrund verfolgte Stoll das Ziel, "ein System der Forderungsverletzungen aufzustellen, in dem die verschiedenen Arten der Forderungsverletzungen unter einem einheitlichen Gesichtspunkt geordnet und die einzelnen Gruppen in ihren Voraussetzungen und Rechtsfolgen voneinander abgegrenzt werden "4. Ihm lag daran, die für die gesetzliche Regelung maßgeblichen Gesichtspunkte herauszuarbeiten und auf diesem Wege das dem Gesetz zugrundeliegende System zu erforschen, um die im Gesetz nicht berücksichtigten Fallgruppen der Forderungsverletzungen in dieses System einzuordnen. Neben der wissenschaftlichen Erkenntnis ging es ihm darum, eine durchschaubare, gleichmäßige Rechtsanwendung und -ergänzung, insbesondere die Zuordnung von Rechtsfolgen nach einheitlichen Kriterien zu ermöglichen. a) Das Schuldverhältnis Stoll betrachtete das Schuldverhältnis aus der teleologischen Perspektive, d. h. unter dem Gesichtspunkt der Zweckverfolgung5: "Das Schuldverhältnis bringt die beiden Parteien in eine besondere Rechtsbeziehung, deren Zweck die Befriedigung eines Gläubigerinteresses durch ein Opfer des Schuldners ist. " Er unterschied zwei Arten von Interessen, die durch das Schuldverhältnis berührt würden, nämlich Leistungsinteresse und Schutzinteresse. 6 Als Leistungsinteresse bezeichnete er das Interesse an der Herbeiführung des Leistungserfolges; Pflichten, die seiner Verwirklichung dienen, als Erfüllungspflichten. Kennzeichnend sei für sie, daß sie sich aus dem Vertragsinhalt ergäben. 7 Unter Schutzinteresse verstand Stoll das Interesse, vor Schädigungen bewahrt zu werden, die sich aus der Sonderbeziehung des Schuldverhältnisses ergeben können.

4

StaU. AcP 136/S. 257, 285.

S A.a.O., S. 287. Zu den Gründen S. u. 6

7

A.a.O., S. 288. A.a.O.

m 1).

I. Kapitel: Stolls Wirken vor 1933

25

Die diesem Interesse korrespondierenden Pflichten nannte er Schutzpflichten. Im Gegensatz zu den Erfüllungspflichten sollten sie sich nicht aus dem Vertragsinhalt ergeben, sondern aus dem Gesetz. Den inneren Grund für ihre Existenz sah Stoll in der durch das Schuldverhältnis geschaffenen Sonderbeziehung, die er als gegenseitiges Vertrauensverhältnis charakterisierte. Die aus dem Vertrauensverhältnis folgende Pflicht, sich jeder schädigenden Einwirkung auf Rechtsgüter der anderen Partei zu enthalten, sollte nach dem Grundsatz von Treu und Glauben die den Vertragspartnern durch die Sonderbeziehung eröffnete Einwirkungsmöglichkeit auf Personen und Sachen der anderen Partei kompensieren. 8 b) Der Aufbau der Forderungsverletzungen Die teleologische Betrachtung des Schuldverhältnisses hatte zur Folge, daß Stoll das für den Aufbau der Forderungsverletzungen maßgebliche Kriterium in der Art der Interessenverletzung erblickte und dieses seinem System zugrundelegte. 9 Da er das Schuldverhältnis vorrangig als Mittel zur Befriedigung von Interessen ansah, beurteilte er Störungen des Schuldverhältnisses danach, welche Interessen sie auf welche Art und Weise verletzt hatten. Auf diese Kategorien glaubte er die Regelung des BGB zurückführen zu können.

aal Die Arten der Forderungsverletzungen Wie dargelegt, unterschied Stoll nach dem jeweils berührten Interesse Leistungs- oder Schutzinteresse - zwischen Erfüllungs- und Schutzpflichten. Daneben differenzierte er nach den Verletzungsformen. Gegen die Erfüllungspflicht konnte verstoßen werden durch Vereitelung, Beeinträchtigung oder Gefährdung des Leistungsinteresses. 10 Von einer Interessenvereitelung sprach er, wenn die Verwirklichung des Leistungsinteresses nicht mehr möglich oder das Leistungsinteresse weggefallen war. Als gesetzliche Beispiele führte er die §§ 280 Abs. 1 und 2, 286

A.a.O., S. 288. A.a.O., S. 286. 10 A.a.O., S. 290.

8

9

26

B. Das Werk Heinrich Stolls

Abs. 2, 287 S. 2 BGB an. ll Dagegen sollte es sich um eine bloße Interessenbeeinträchtigung handeln, wenn die Verwirklichung des Leistungsinteresses noch möglich und von Belang war. Als im BGB geregelte Fälle nannte Stoll Verzug (§§ 286 Abs. 1) und zahlreiche Vorschriften aus dem besonderen Schuldrecht. 12 Die dritte Verletzungsform der Interessengefährdung sollte gegeben sein, wenn der Schuldner durch sein pflichtwidriges, schuldhaftes Verhalten die Gefahr der Interessenvereitelung hervorgerufen (objektive Interessengefährdung) oder beim Gläubiger berechtigte Zweifel an der Verwirklichung des Leistungsinteresses geweckt hatte (subjektive Interessengefährdung). Auch hier wurde vorausgesetzt, daß die Erreichung des Obligationszieles noch möglich und von Belang war. Typische Normierungen der Interessengefährdung waren nach Stoll die §§ 283,326 Abs. 1 BGB)3 Für einen Schutzpflichtverstoß verlangte Stoll eine Verletzung des Schutzinteresses durch Gefährdung oder Beeinträchtigung. Das zur Beeinträchtigung und Gefährdung des Leistungsinteresses Gesagte gilt hier entsprechend. bb) Die Rechtsfolgen der Forderungsverletzungen Das StolIsche Haftungssystem war zweistufig. Es unterschied Haftungsgrund und Haftungsinhalt. Der Haftungsgrund, also der Tatbestand, von dem das "ob" der Haftung abhing, bestand in der schuldhaften Verletzung einer schuldrechtlichen Pflicht: "Jede vorsätzliche oder fahrlässige Verletzung einer Verbindlichkeit verpflichtet zum Ersatz des aus ihr entstandenen Schadens. -14 Aus den obigen Ausfiihrungen folgt, daß in irgendeiner Form entweder der Leistungserfolg oder ein bereits vorhandenes Rechtsgut betroffen sein mußte.

A.a.O., A.a.O., 13 A.a.O., 14 A.a.O., 11

12

S. S. S. S.

291. 292. 296 f. 286.

I. Kapitel: StoUs Wirken vor 1933

27

Den Grundsatz der Haftung für schuldhafte Pflichtverletzung leitete Stoll ab aus den "Wertungen, die den einzelnen gesetzlichen Vorschriften zugrunde liegen", in erster Linie aber unmittelbar aus § 276 BGB.15 Für diese Auslegung des § 276 BGB und gegen seine Deutung als bloße Begriffsbestimmung berief sich Stoll auf die Entstehungsgeschichte des Paragraphen und darauf, daß das Werturteil, auf dem diese Norm beruhe, nur auf die Rechtsfolge der Haftung abzielen könne. 16 Der Haftungsinhalt, das "wie" der Haftung, sollte sich dagegen nach der Art des verletzten Interesses richten. 17 So hafte der Schuldner bei Vereitelung des Leistungsinteresses auf das sog. "Erfüllungsinteresse " , d. h. der Gläubiger könne einen Anspruch auf Schadensersatz wegen Nichterfüllung geltend machen oder - bei gegenseitigen Verträgen - wahlweise vom Vertrag zucücktreten.l 8 Dagegen dürfe der Schuldner bei bloßer Beeinträchtigung des Leistungsinteresses die Leistung noch erbringen, der Gläubiger müsse sie annehmen. Er könne aber Ersatz desjenigen Schadens verlangen, der ihm durch die Beeinträchtigung seiner Interessen entstanden sei, das sog. "Ausgleicbsinteresse " .19 Stoll betonte, daß die Entscheidung zwischen Erfüllungs- und Ausgleicbsinteresse nicht von der Art der verletzten Pflicht abhänge, sondern davon, ob das Leistungsinteresse nur beeinträchtigt oder vereitelt worden sei. 20 In gleicher Weise äußerte sich Stoll zum Rücktrittsrecht bei schuldhafter Schlechtleistung durch Verletzung unkIagbarer Nebenpflichten. Auch hier sollte nicht die Art der verletzten Pflicht den Ausschlag geben, sondern ausschließlich die Art der Interessenverletzung. 21 Interessengefäbrdung schließ-

282. 283. 17 A.a.O., S. 290. 18 A.a.O., S. 292. 19 A.a.O., S. 292 f.

16

A.a.O., S. A.a.O., S.

20

SIOU, AcP 144/S.

21

StolI, AcP 136/S.

IS

214, 215. 358. Ebenso AcP

136/S.

359, 360.

B. Das Werk Heinrich Stalls

28

lich hatte durch die trittsrecht Gläubiger schaffen.

einen Anspruch auf Ersatz des "Gefährdungsschadens " , also des Gefährdung entstandenen Schadens, verbunden mit einem Rücknach Fristsetzung zur Folge. 22 Dieses hatte die Funktion, dem Gewißheit über die Erreichbarkeit des Obligationszieles zu ver-

Die Beeinträchtigung von Schutzinteressen verpflichtete nach dem System Stolls zum Schadensersatz, genauer zum Ersatz des Ausgleichsinteresses. Ihre Gefährdung sollte wie im Falle des Leistungsinteresses ein Rücktrittsrecht zur Folge haben, allerdings nur, wenn die Gefahr für Person und Güter des Vertragspartners so groß ist, daß ihm die Durchführung des Vertrages nicht weiter zugemutet werden kann. 23 Nach Auffassung Stolls stand somit an der Spitze des gesetzlichen Haftungssystems der Satz: "Jede schuldhafte Verletzung einer Verbindlichkeit verpflichtet zum Ersatz des daraus entstehenden Schadens. Art und Umfang der Schadensersatzpflicht sowie die Möglichkeit eines Lösungsrechtes richten sich nach der Art des verletzten Interesses und der Stärke der Interessenverletzung. "24 2. Positive Vertragsverletzung

a) Die Lückenhaftigkeit des Gesetzes Stoll verfolgte mit der Herausarbeitung des gesetzlichen Haftungssystems

das Ziel, die Behandlung der unter dem Begriff der positiven Vertragsverlet-

zung zusammengefaßten Fallgruppen nach einheitlichen und systemgerechten Kriterien zu ermöglichen. Ausgangspunkt seiner Untersuchung war die Feststellung einer Gesetzeslücke. Stoll war der Auffassung, daß das Gesetz keine unmittelbare Regelung

AcP 136/S. 257, 297. A.a.O., S. 301. 24 A.a.O., S. 316. 22 StoU,

23

29

I. Kapitel: Sto11s Wirken vor 1933

der Tatbestände der positiven Vertragsverletzung enthalte. 25 In diesem Zusammenhang befaßte er sich insbesondere mit der Tragweite der Unmöglichkeitsvorschriften. Er kam zu dem Ergebnis, daß sie nicht auf jeden Fall der Nichterfüllung der Verpflichtung gemünzt seien, also nicht auch auf Fälle unvollständiger, nicht rechtzeitiger oder am falschen Ort erbrachter Leistung, sondern nur auf die gegenständliche Unmöglichkeit. Ein weiterer Unmöglichkeitsbegriff schien ihm zwar theoretisch denkbar, war jedoch vom Gesetzgeber nach seiner Auffassung nicht übernommen worden. 26 Die den Unmöglichkeitsvorschriften vom Gesetzgeber beigelegte Bedeutung sah er darin, den Gläubiger vor Schadensersatz wegen Nichterfüllung seitens des Schuldners zu schützen, solange der Schuldner imstande sei, die Primärleistung zu erbringen, umgekehrt aber auch darin, den Schuldner in diesen Fällen vor derartigen Ansprüchen des Gläubigers zu bewahren. 27 Danach sollten die Unmöglichkeitsnormen also als zusätzliche Voraussetzung für einen Schadensersatzanspruch wegen Nichterfüllung dazu dienen, den Austausch der Primärleistungen nach Möglichkeit durchzuführen. Diese Funktion könne nur erfüllt werden, wenn nicht jede Nichterfüllung mit teilweiser oder völliger Unmöglichkeit gleichgesetzt werde. 28 Stoll schloß daraus, daß der Unmöglichkeitsbegriff eng auszulegen sei.

25

Aa.O., S. 280. Stoll benutzte den Terminus "positive Vertragsverletzung" trotz seiner Bedenken

gegen diese Rechtsfigur aus Gtilnden der Vereinfachung. Er ersetzte mit ihm eine Aufzählung folgender Fallgruppen, die nach seiner Erfahrung der positiven Vertragsverletzung zugerechnet wurden: Zu-

widerhandeln

gegen

eine

Unterlassungspflicht.

mangelhafte

Erfiillungshandlung

oder

"Schlechterfiillung", GeIahrdung des Vertragszwecks in Dauerschuldverhältnissen, mangelhafte Einzelleistung bei Sukzessivlieferungsverträgen, Erfiillungsverweigerung des Schuldners (a.a.O., S. 262

ff.). Diesem Sprachgebrauch schließe ich mich an. 26

A.a.O., S. 274.

27

A.a.O., S. 275.

28

Stell, A.a.O., S. 275 FN 33.

30

B. Das Werk Heinrich Stolls

Trotzdem konnte nach seiner Ansicht von einer "Riesenlücke" keine Rede sein, denn das grundlegende Werturteil des Gesetzes, jede schuldhafte Pflichtverletzung verpflichte zum Schadensersatz, also der Haftungsgrund, stand für ihn außer Zweifel. 29 Eine Lücke bestand nach Stoll aber insoweit, als § 276 BGB zwar einen Haftungsgrund (an sit actio) enthalte, jedoch keine Haftungsform (quae sit actio) angebe. 30 Nur für einige Tatbestände schuldhafter Forderungsverletzungen, die gegenständliche Unmöglichkeit und den Verzug, bestimme das Gesetz konkrete Rechtsfolgen, dagegen belasse es das BGB hinsichtlich anderer Pflichtverletzungen bei der Anordnung der Haftung durch § 276 BGB, ohne die Haftungsfolgen im einzelnen festzulegen. Für Stoll ergab sich die Gesetzeslücke somit nicht daraus, "daß das Gesetz bestimmte Lebenserscheinungen überhaupt nicht gesehen hat", sondern daraus, "daß es ihre Bedeutung nicht richtig gewürdigt und sie deshalb nicht ausreichend geregelt hat". 31 b) Die Lückenergänzung Wie oben gezeigt wurde32 , hatte Stoll durch die Scheidung von Leistungsund Schutzinteresse und die Betonung der Art der Interessenverletzung einen einheitlichen systematischen Aufbau für das Gebiet der Forderungsverletzungen gewonnen. Für jede nach diesen Gesichtspunkten gebildete Gruppe hatte Stoll im Gesetz ganz bestimmte Rechtsfolgen nachgewiesen, die mit der Art der geschützten Interessen zusammenhingen und sich bestimmten Formen der Interessenverletzung zuordnen ließen. Diese auf die Interessenbetrachtung abstellende Zuordnung der Rechtsfolgen ging mitten durch die üblichen Gruppenbildungen der positiven Vertragsverletzung hindurch.

29

30 31

A.a.O., S. 281; ausführlich s. o. l.l)c). A.a.O. A.a.O., S. 282.

321.1).

1. Kapitel: Stolls Wirken vor 1933

31

Um die Lücken der gesetzlichen Regelung bestimmter Fallgruppen zu schließen, d. h. die in Frage kommende Haftungsform zu ermitteln, wandte Stall die §§ 280 bis 326 BGB und Sondervorschriften aus dem besonderen Schuldrecht analog an, indem er ihre Rechtsfolgen nach den diesen Normen zugrundeliegenden, soeben herausgearbeiteten Werturteilen auf die nicht geregelten Sachverhalte übertrug. Um die Rechtsfolge einer positiven Vertragsverletzung bestimmen zu können, mußte somit gefragt werden, welches Interesse durch sie in welcher Art und Weise verletzt worden war. 33 c) Die Bedeutung der Lehre von der positiven Vertragsverletzung im . Stallschen System der Forderungsverletzungen Stall war ein scharfer Kritiker der Lehre von der positiven Vertragsverletzung und hielt es - wie der Titel seiner Abhandlung bekundet - für angezeigt, "Abschied" von ihr zu nehmen. Seine Kritik bezog sich sowohl auf den Terminus als auch auf das Institut selbst. Den Sammelnamen "positive Vertragsverletzung" hielt er für sprachwidrig, "weil bei allen Arten der Interessenverletzungen die Handlung sowohl in einem positiven Tun wie in einem Unterlassen bestehen kann und weil nicht bloß aus Verträgen, sondern auch aus gesetzlichen Schuldverhältnissen Pflichten entstehen können" .34 In der Sache hielt es Stall für systematisch verfehlt, die positive Vertragsverletzung als dritte Gruppe neben Unmöglichkeit und Verzug zu stellen, weil es keinen einheitlichen positiven Grundsatz gebe, der diese Gruppe den Voraussetzungen oder den Rechtsfolgen nach zusammenfasse oder von den beiden genannten Rechtslagen unterscheide. Brauchbar sei nur ein Oberbegriff "Forderungsverletzungen" .35 Eine Bedeutung für die wissenschaftliche Systembildung wollte er dem Begriff der positiven Vertragsverletzung demzufolge nicht zuerkennen.

33

Vgl. die beispielhaften Rechtsfille in AcP 136/S. 257, 301 ff.

34

StoU, AcP 136/S. 257, 314.

3S

A.a.O.

32

B. Das Werk Heinrich Stolls

Insbesondere lehnte Stoll jede Relevanz dieses Begriffs für die Rechtsanwendung ab und wandte sich dementsprechend energisch dagegen, aus ihm Rechtsfolgen abzuleiten. Insgesamt zog Stoll den Schluß, daß die Lehre von der positiven Vertragsverletzung für das Bürgerliche Recht unbrauchbar und irreführend sei. 36 Aus seinem eigenen System der Forderungsverletzungen eliminierte Stoll die positive Vertragsverletzung sowohl als Terminus als auch als Tatbestand und ersetzte sie durch nach der Art des verletzten Interesses und der Intensität der Interessenverletzung gebildete Tatbestände, die die übliche Gruppenbildung überlagerten. Die positive Vertragsverletzung spielte somit im System Stolls keine Rolle mehr. 3. Schädigendes Verhalten während der Vertragsverhandlungen Die Haftung für ein schuldhaftes Verhalten während der Vertragsverhandlungen behandelte Stoll erstmals 1923 in seinem oben genannten Habilitationsvortrag über "Haftung für das Verhalten während der Vertragsverhandlungen".37 a) Die Begründung der Haftung für schuldhaftes Verhalten während der Vertragsverhandlungen Den Schwerpunkt seiner Untersuchung legte Stoll auf die Frage nach der Begründung der Haftung für Verhalten während der Vertragsverhandlungen. 38 Besonders kam es ihm auf den Nachweis primärer Rechtspflichten an, da man nach der Rechtsordnung für sein Verhalten nur dann einzustehen habe, wenn eine Pflicht zu bestimmtem Verhalten bestehe. 39

A.a.O., S. 320. Leicht verändert StoU, LZ 1923/Sp. 532. 38 Stoll sprach von ·Verbalten während der Vertragsverbandlungen., bzw. ·Verbalten vor Vertragsschluß·. Den Ausdruck ·culpa in contrahendo· gebrauchte er nur für Jherings Lehre, deren Anwendungsbereich wesentlich kleiner war. Hier soll er, wie heute allgemein üblich (vgl. Medicus, Bürgerliches Recht, RN 199 fT.), in dem weiten Sinne eines schuldhaften Verbaltens vor Vertragsschluß verwendet werden. 19 StoU, LZ 1923/Sp. 532, 536. 36

37

I. Kapitel: Stolls Wirken vor 1933

33

Aus diesem Grund kritisierte er das häufige Vorgehen, das Schwergewicht der Haftungsbegründung auf die culpa zu legen. 4O Seine Untersuchungen führten ihn zu dem Ergebnis, daß das Gesetz schon für das Stadium der Vertragsverhandlungen bestimmte Rechtspflichten gegenüber der anderen Partei anerkenne. Für die Fälle, in denen die Verhandlungen zu einem Vertragsschluß geführt hätten, nannte er beispielhaft die §§ 122, 179,307, 309,523,524,694 BGB, 41 BörsenG, 6, 14 VersVG; für jene, in denen kein Vertrag geschlossen worden sei, führte er die §§ 149, 663, 675 BGB, 362, 363 HGB, 30 RAD an. 41 Aus diesen Normen zog Stoll den Schluß: "Schon im Stadium der Vertragsvorbereitung gibt es Rechtspflichten unter den Verhandelnden. Die schuldhafte Verletzung dieser Pflichten erzeugt einen Anspruch des Geschädigten auf Ersatz des positiven oder negativen Interesses. "42 Mit dieser Erkenntnis gab Stoll sich aber nicht zufrieden. Vielmehr versuchte er zu klären, weIchem Grund diese Pflichten entstammen, um einem praktischen Bedürfnis folgend Sorgfaltspflichten vor Vertragsschluß generell anerkennen zu können. 43 Auffallenderweise prüfte Stoll vorrangig rechtsgeschäftIiche Geltungsgründe. Den nachfolgenden Vertrag lehnte er allerdings zur Begründung der Pflichten ab: "Entweder gibt es besondere Rechtspflichten gegenüber dem anderen Teil bereits vor Vertragsschluß - dann müssen sie auch ohne ihn gelten, oder aber entstehen diese Rechtspflichten erst durch den Vertragsabschluß dann können sie auch nicht vor, sondern erst mit ihm wirksam werden. "44 Als weiteres Argument gegen den Hauptvertrag als Rechtsgrund führte er das Fehlen eines inneren Grundes für die Beschränkung der Verantwortlichkeit auf Fälle mit nachfolgendem Vertragsschluß an, was besonders dann offen-

40

SlOU, JW 1933/S. 34, 35.

41 SlOU,

LZ 1923/Sp. 532, 537.

A.a.O., Sp. 537 f. Einen Versuch, diese Rechtspflichten näher zu qualifIZieren, machte Stoll nicht. 43 A.a.O., Sp. 543. 44 A.a.O. 42

3 Sessler

B. Das Werk Heinrich Stolls

34

sichtlich sei, wenn der Vertrag aus einem den Parteien unbekannten Grunde nichtig sei. 45 Vehement wandte Stoll sich gegen die Argumentation der h. L., daß nur bei einem gültigen Vertragsschluß ein Verstoß gegen das sog. Vertragsinteresse sanktioniert werden dürfe. Er bestritt, daß es bei der Haftung für Verhalten vor Vertragsschluß um Vertragsinteressen gehe. Stoll unterschied drei verschiedene mit dem Vertrag in Beziehung stehende Interessearten46 : Erstens "Vertragsinteressen" die erst entstünden, wenn der Vertrag perfekt sei, zweitens die durch den Vertragsabschluß zu verfolgenden Interessen, die verletzt würden durch Ausbleiben des Vertragsschlusses oder durch einen Abschluß auf falscher Basis, schließlich drittens die "Interessen - sowohl vor wie nach Vertragsabschluß - die unabhängig von den vertraglich zu verfolgenden Interessen bestehen (z. B. das Interesse an persönlicher Unversehrtheit) " . Stoll bemühte sich hier nicht um eine Begründung dieser Einteilung und eine genauere Abgrenzung der Interessen. Trotzdem war sein Ansatz wegweisend, denn er verdeutlichte, losgelöst vom rechtsgeschäftlichen Begründungsversuch, daß es neben den Interessen, die durch den Vertrag begründet werden, auch vor und unabhängig von einem späteren Vertragsschluß einen Kreis schutzwürdiger Interessen gibt, die durch den vorvertraglichen Kontakt entstehen. Mit dieser Erkenntnis bahnte sich die in seinem späteren System der Forderungsverletzungen durchgeführte Unterscheidung von Leistungs- und Schutzinteressen an. 47 Die Annahme eines Vorvertrages oder eines vertragsähnlichen Verhältnisses scheiterte nach Stolls Auffassung daran, daß solche Rechtsverhältnisse auch bei objektiver Auslegung der konkludenten Erklärungen der Parteien

4S

A.a.O., Sp. 539.

46

A.a.O., Sp. 542. Die Auseinandersetzung mit der h. L. war hier wesentlich ausführlicher

und differenzierter in der Argumentation als im HabilitatioD8Vortrag. Neu war insbesondere die Unterscheidung verschiedener Interessen (vgI. S. 13 ff.). 47 VgI. AcP 136/S. 257, 288 ff.

1. Kapitel: Stolls Wirken vor 1933

35

nicht immer nachweisbar seien. 48 Dazu stand im Widerspruch, daß auch Stoll die vorvertraglichen Pflichten aus einem rechtsgeschäftlichen Schuldverhältnis ableiten wollte. Er ging davon aus, "daß schon im Stadium der Vertragsverhandlungen ein Rechtsverhältnis unter den Parteien besteht, dem eigenartige ( ... ) Pflichten entspringen" .49 Bei diesem sollte es sich um ein einseitiges Rechtsverhältnis handeln, das Stoll auf das Vertragsangebot oder die Aufforderung zum Eintritt in Vertragsverhandlungen stützte, die damit die Qualität von Willenserklärungen erhielten. 50 Diesen Standpunkt behielt er allerdings nicht durchgängig bei. Zwar beharrte er auch zehn Jahre später noch darauf, daß sich das Rechtsverhältnis der Vertragsverhandlungen auf einen "einseitigen Rechtsakt" gründe. 51 Doch läßt diese Formulierung eine Abschwächung seiner früheren Auffassung erkennen. Schließlich gab er zu, daß es besser wäre, von "geschäftsähnlicher Handlung" als von "Rechtsgeschäft" zu sprechen. 52 Noch weitergehend ist er 1928 in einer Urteilsbesprechung von seinem früheren Standpunkt abgecückt53 : "M. E. wird dieses Rechtsverhältnis allein durch die Tatsache des Eintritts in die Vertragsverhandlungen begründet und setzt weder eine besondere Willenserklärung noch eine Vereinbarung voraus." Indem Stoll auf den objektiven Tatbestand des Verhandlungseintritts abstellte, distanzierte er sich von seiner rechtsgeschäftlichen Begründung der culpa in contrahendo und wählte einen objektiven Begründungsansatz.

48

StoU. LZ 1923/Sp. 532, 543.

49

A.a.O., Sp. 544.

50

A.a.O. StoU. Anm. zu RG JW 1927/5. 1086. 1933/5. 33, 34, 36.

51 StoU. JW

A.a.O. Zur Begründung vorvertraglicher Pflichten de lege ferenda vgl. u. 2. Kapitel

52

1.4)b). S3

3'

StoU. Anm. zu RG JW 1928/5. 1285.

B. Das Werk Heinrich Stolls

36

Später kehrte er jedoch - de lege lata - zu seiner alten (rechtsgeschäftlichen) Auffassung zurück. 54 In Anbetracht seiner rechtsgeschäftlichen Begründung der vorvertraglichen Haftung konsequent, bezeichnete er die Sorgfaltspflichten aus Vertragsverhandlungen als "kontraktliche Pflichten" . 55 Bereits in seiner Abhandlung "Haftung für das Verhalten während der Vertragsverhandlungen " streifte Stoll aber auch schon einen anderen Grund für die Normierung vorvertraglicher Pflichten, nämlich "das Vertrauen der Parteien, daß ihre Interessen nicht gegen Treu und Glauben vom Gegner verletzt werden" . 56 Freilich verfolgte er diesen Gesichtspunkt vorläufig nicht weiter. Bemerkenswert war sein Vorgehen zur Begründung der vorvertraglichen Rechtspflichten. Die Aufzählung von gesetzlichen Vorschriften, in denen Pflichten schon vor Vertragsabschluß anerkannt werden, und die Suche "nach dem Grund, dem diese Pflichten entstammen "57, deuteten darauf hin, daß er sie auf eine analoge Anwendung der genannten Normen stützen wollte. Einmal betonte er sogar ausdrücklich ihre Analogietähigkeit. 58 Ihren Grund glaubte er jedoch in einem einseitigen Rechtsgeschäft gefunden zu haben, also im Parteiwillen und nicht im Willen des Gesetzgebers. Wenn auch der rechtsgeschäftliche Ansatz überwog, so darf jedoch nicht übersehen werden, daß Stoll erkennbar Wert darauf legte, daß die vorvertragliche Haftung im BGB anerkannt sei. Während Stoll sich sehr intensiv mit der Begründung vorvertraglicher Rechtspflichten auseinandersetzte, vernachlässigte er die Grundlegung der Haftung selbst. So begnügte er sich damit, das Einstehenmüssen für die schuldhafte Schadensverursachung gewissermaßen Ren passant" auf den allgemeinen Verschuldensgrundsatz und eine Analogie zu den oben bereits genannten Vorschriften zu stützen. 59

54 SroU,

Vertrag und Unrecht, 2.HB., S. 165.

55 SroU, Anm. zu OLG Jena JW 1927/S. 2438, 2439.

56 SroU, LZ 1923/Sp. 532, 542. 57

A.a.O., Sp. 543.

58

A.a.O., Sp. 545.

I. Kapitel: Stolls Wirken vor 1933

37

Da Stoll die Haftung für vorvertragliche Pflichtverletzungen auf ein eigenständiges Rechtsverhältnis stützte, stellte sich die Frage, in welcher Beziehung dieses Rechtsverhältnis zu dem durch die Vertragsverhandlungen angestrebten Schuldverhältnis - sofern es dazu kam - stehen sollte. Zu ihrer Beantwortung verwendete Stoll die Figur des Schuldverhältnisses als Organismus. Dieser Organismus sollte die Grundlage für die gesamten Beziehungen der Parteien bilden. 60 Mit dem Ausdruck "Organismus" betonte er vor allem die Wandelbarkeit des Schuldverhältnisses, das seine "Erscheinungsform beliebig wechseln" könne. 61 Nach seiner Vorstellung entstand das Schuldverhältnis, sobald zwischen den Parteien ein Rechtsverhältnis mit Handlungs- und Unterlassungspflichten begründet war, insbesondere mit der Offerte. Kam es dann zum Vertrag, sollte das Schuldverhältnis nur seine Erscheinungsform ändern. 62 Stoll sah im Rechtsverhältnis der Vertragsverhandlungen und im eigentlichen Vertragsverhältnis also verschiedene Erscheinungsformen eines einheitlichen Schuldverhältnisses.

b) Der Anwendungsbereich der Haftung für schuldhaftes Verhalten während der Vertragsverhandlungen Den Anwendungsbereich der so begründeten vorvertraglichen Haftung setzte Stoll denkbar weit fest mit der Formel, "daß die Ursache für das schädigende Ereignis gesetzt wurde, bevor es zum Vertragsschluß gekommen ist".63 Unter diesem gemeinsamen Merkmal faßte er drei verschiedene Fallgruppen zusammen64 : 1. "Fälle der Haftung für Nichtigkeit des Vertrages". 2. "Fälle der Haftung für Fahrlässigkeit beim Vertragsschluß" . Hier kommt ein gültiger Vertrag zwar zustande, aber eine Partei schädigt die andere durch

S9

A.a.O.

60

A.a.O., Sp. 544 FN A.a.O., Sp. 544.

61

63

A.a.O. A.a.O., Sp.

64

A.a.O., Sp.

62

536. 533.

20.

38

B. Das Werk Heinrich Stolls

ihr Verhalten während der Vertragsverhandlungen oder beim Vertragsschluß, indem sie einen bestimmten Vertragsinhalt veranlaßt oder nicht verhindert. 3. "Fälle der Haftung für das Verhalten vor Vertragsschluß" . In diesem Fall kommt es nicht zum Vertragsschluß, aber schon während der Vorbereitungen wird eine Partei durch das Verhalten der anderen in ihren Integritätsinteressen geschädigt. Die oben wiedergegebene Formel zeigt, was die Fallgruppen eher verschleiern, daß Stoll für eine umfassende vorvertragliche Haftung plädierte. 65 Vorausgesetzt wurde lediglich eine Aufforderung zum Eintritt in Vertragsverhandlungen, die aber auch konkludent abgegeben werden kann, z. B. durch Offenhalten eines Geschäftes. 66 Unabhängig war die Haftung dagegen von einem wirksamen Abschluß des angestrebten Vertrages (vgl. die Fallgruppen 1 und 3). Unklar ist auf den ersten Blick der Zweck der Unterscheidung dieser verschiedenen Erscheinungsformen der culpa in contrahendo. Eine Tatbestandsfunktion kam den Gruppen, wie den vorangegangenen Ausführungen entnommen werden kann, nicht zu. Auch für eine wissenschaftliche Systembildung sind sie offensichtlich ungeeignet. Bei genauerem Hinsehen ergibt sich deutlich, daß Stoll mit diesen Fallgruppen den status quo der wissenschaftlichen Diskussion wiedergab. So bezeichnete die erste Gruppe den Anwendungsbereich der Lehre Jherings von der culpa in contrahendo. Die zweite gab Leonhards Grundsatz der Haftung für Fahrlässigkeit beim Vertragsschluß aus nachfolgendem gültigen Vertrag wieder6 7 . Die dritte Gruppe enthielt schließlich von beiden Theorien und der h. L. nicht berücksichtigte Fälle. In dieser Darstellungsweise offenbart sich die Leistung Stolls, für scheinbar völlig verschiedene Formen der Pflichtverletzung einen einheitlichen Begründungsansatz gefunden zu haben.

6S

Damit war er im Vergleich zu seinem Habilitationsvortrag einen wichtigen Schritt voran-

gekommen. Dort hatte er nur die drei beschriebenen Fallgruppen gebildet, ohne diese Erscheinungsformen einem einheitlichen Prinzip zu unterstellen. Erat dadurch wurde die "Haftung für das Verhalten während der Vertragsverhandlungen" lückenlos (vgl. S. 4 ff.). 66

67

s. o. a).

S. u. II.3)b).

1. Kapitel: Stolls Wirken vor 1933

39

c) Die Rechtsfolgen der vorvertraglichen Haftung Rechtsfolge eines schuldhaften Verhaltens während der Vertragsverhandlungen war die Pflicht zum Schadensersatz. Der Umfang der Haftung sollte sich nach Stolls Auffassung aus den §§ 249 ff. BGB ergeben. Es sei der Zustand herzustellen, der bestehen würde, wenn die Pflicht nicht verletzt worden wäre. Damit sollte sich der "mehr terminologische Streit" erübrigen, ob das sog. positive Erfüllungsinteresse oder nur der sog. Vertrauensschaden zu ersetzen sei. 68 d) Die Haftung für das Verhalten während der Vertragsverhandlungen und das System der Forderungsverletzungen Die hintereinandergeschaltete Darstellung des Systems der Forderungsverletzungen und der Lehre von der Haftung für das Verhalten während der Vertragsverhandlungen provoziert die Frage, welche Übereinstimmungen, Unterschiede und Entwicklungen es zwischen beiden gab. Zu berücksichtigen ist dabei, daß der Aufbau der Forderungsverletzungen in AcP 136 (1932) in erster Linie dazu dienen sollte, die Überflüssigkeit der Lehre von der positiven Vertragsverletzung darzulegen. Die vorvertragliche Haftung wurde dementsprechend nur flüchtig erwähnt. Umgekehrt war sich StolI, als er 1923 seinen Aufsatz über die culpa in contrahendo verfaßte, der größeren Zusammenhänge, in denen diese Haftung steht, wohl noch nicht bewußt. Zwischen diesem Haftungsinstitut und den positiven Vertragsverletzungen sah er zu diesem Zeitpunkt noch "prinzipielle Unterschiede".69 Trotzdem erscheint es möglich und von Interesse, beide Konzepte zu vergleichen. Beide Arbeiten bauten auf der Erkenntnis auf, daß die Voraussetzung für ein Einstehenmüssen die Verletzung einer konkreten Pflicht sei. 70 In der LZ

68

StoU, LZ 1923/Sp. 532, 546. Anm. zu RG JW 1927/S. 1086. Anm. zu RG JW 1927/

S. 2118. JW 1933/S. 33, 34, 35. Anders äußerte Stoll sich noch in seinem Vortrag, wo er ausdrücklich nur einen Ersatz des negativen Interesses zubilligte (S. 17). 69

StoU, LZ 1923/Sp. 532, 547 FN 26.

70

A.a.O., Sp. 536. StoU, AcP 136/S. 257, 290.

B. Das Werk Heinrich 8tolls

40

sprach Stoll allerdings lediglich von "Sorgfalts-, Aufldärungs- und Mitteilungspflichten ", ohne sie von anderen schuldrechtlichen Pflichten abzugrenzen. 71 Eine grundsätzliche Unterscheidung deutete er lediglich an in der Gegenüberstellung von Vertragsinteressen und Interessen, die unabhängig von einem wirksamen Vertragsschluß existieren. 72 Stoll zog jedoch nicht die Querverbindung von diesen Interessenarten zu bestimmten Kategorien von Pflichten. Anders in AcP 136: Hier differenzierte Stoll streng zwischen Leistungs- und Schutzinteressen und, diesen korrespondierend, zwischen Erfüllungs- und Schutzpflichten. 73 Dabei verstand er unter ·Vertragsinteresse" und "Leistungsinteresse" wohl dasselbe, ebenso wie unter den unabhängig vom Vertragsschluß bestehenden Interessen und den "Schutzinteressen" . Einander widersprechende Positionen vertrat Stoll bei der Begründung der vorvertraglichen Pflichten und der Schutzpflichten. Die Schutzpflichten leitete er aus dem Gesetz ab und stützte sie auf den inneren Grund "der durch die Sonderbeziehung erst eröffneten Einwirkungsmöglichkeit in den fremden Rechtskreis und des durch sie begründeten Vertrauensverhältnisses zur Gegenpartei· .74 Im Gegensatz dazu hatte er die vorvertraglichen Rechtspflichten auf ein Rechtsgeschäft gegründet und den Vertrauensgedanken nur kurz erwähnt. Bis zuletzt behielt er diesen Ansatz bei, von einigen wenigen, widersprüchlichen Äußerungen abgesehen.1 5 Das ist um so erstaunlicher, als Stoll in AcP 136 auch für die Zeit vor dem Vertragsschluß von "Schutzinteressen" sprach und die Hafiungsinstitute culpa in contrahendo und positive Vertragsverletzung lediglich danach unterschieden wissen wollte, daß es im einen Fall um die Interessen während der Vertragsverhandlungen gehe, im anderen um die Interessen nach Vertragsschluß.16 Eine Parallele bestand insoweit, als

11

A.a.O., Sp. 545.

72

A.a.O., Sp. 542, 547 FN 26.

13

StoU, AcP 136/S. 257, 288 f.

14

A.a.O., S. 298.

15

Vgl. zuletzt StoU, JW 1933/S. 33, 34, 36 und Vertrag und Unrecht, 2.HB, S. 165.

16

StolI, AcP 136/S. 257, 285 FN 58.

1. Kapitel: Stolls Wirken vor 1933

41

Stoll sowohl die vorvertraglichen Pflichten in LZ 1923 als auch die Schutzpflichten in AcP 136 auf eigenständige Rechtsverhältnisse stützte. Zusammenfassend kann man sagen, daß sich bereits in Stolls Aufsatz über die Haftung für das Verhalten während der Vertragsverhandlungen Gedanken andeuteten, die er später weiterentwickelte und für sein System der Forderungsverletzungen nutzbar machte. Doch nutzte er diese Gedanken noch nicht - jedenfalls nicht de lege lata - für seine Lehre von der Haftung für das Verhalten vor Vertragsschluß.

11. Die Stellung von Stolls Lehre in der wissenschaftlichen Diskussion 1. Das System der Forderungsverletzungen

Im Rahmen des folgenden Abschnitts soll untersucht werden, auf welchem Stand der Wissenschaft Stoll aufbauen konnte, d. h. ob und inwieweit er auf bereits vorhandenes Gedankengut zurückgreifen konnte. Zu diesem Zweck sollen die gängigen und die besonders interessanten Lehrmeinungen der damaligen Zeit dargestellt werden. In einem zweiten Schritt soll der Frage nachgegangen werden, in welchem Maße sich Stall diese Auffassungen zu eigen gemacht, sie modifiziert und eventuell weiterentwickelt hat. Die Untersuchung beschränkt sich dabei auf die markanten Punkte des StolIschen Systems.

a) Das Schuldverhältnis Die schuldrechtlichen Pflichten wurden zur Zeit Stalls unterschiedlich eingeteilt. Die h. M. differenzierte nach der Klagbarkeit zwischen Leistungsund Nebenpflichten. Die Leistungspflichten erfuhren dabei nach dem Grundsatz von Treu und Glauben eine Erweiterung, so daß derjenige, der eine positive Leistung versprach, über die Vornahme dieser Tätigkeit hinaus alles unterlassen mußte, was den Obligationszweck vereiteln oder gefährden könnte, und gegebenenfalls sogar positive Maßnahmen zur Erhaltung der Leistungs-

42

B. Das Werk Heinrich 5tolls

möglichkeit treffen mußte. 77 Die ElWeiterung trug emen unselbständigen Charakter, d. h. ihre Erfüllung konnte nicht durch Klage erzwungen werden. Auf Grund ihrer lediglich vorbereitenden Rolle durfte auch ihre Nichterfüllung nicht selbständig gewertet werden. Eine Verantwortlichkeit des Schuldners begründete sie nur, wenn sie eine Nichterfüllung der Hauptpflicht zur Folge hatte. Die Bedeutung dieser unselbständigen Pflichten lag in der Beantwortung der Frage, ob der Schuldner für die Nichterfüllung der Hauptleistung einzustehen hatte. Dies mußte er eben dann, wenn die Nichterfüllung der Leistungspflicht auf die schuldhafte Verletzung einer Begleitpflicht zuruckzuführen war.18 Die sog. Nebenpflichten wurden ebenfalls aus Treu und Glauben abgeleitet und verpflichteten zu Anzeige und Mitteilung oder zur Erhaltung der Rechtsgüter des Gläubigers. 79 Zwei Varianten der h. M. sind im Hinblick auf das StolIsche System besonders interessant: Kreß unterschied Anspruche auf Leistung und sog. "unentwickelte Schutzanspruche" . 80 Auch Kreß folgte bei dieser Kategorienbildung zumindest unbewußt einer teleologischen Betrachtungsweise, indem er nach den jeweiligen Funktionen der Anspruche fragte. So "dienen" die Schutzanspruche nach Kreß •dem Schutze deIjenigen Güter, welche bei der Abwicklung der schuldrechtlichen Beziehungen oder schon bei dem Abschlusse der Verträge berührt werden" .81 Anders als die Anspruche auf Leistung sollten sie nicht auf Vermehrung von Gütern, Befriedigung oder Erfüllung, sondern auf Abwendung der Verletzung schon elWorbener Güter, also auf Vorbeugung gerichtet sein. 82 Vom

EnnecceruslLehmann. S. 13. in FS Kriiger, S. 263, 274. 79 EnnecceruslLehmann. S. 13. Fril4. S. 16. Lehmann. Unterlassungspflicht, S. 167.

71

78 Zitelmann.

Planclc/Siber. § 280, S. 181. Siber. Jherings Jh. SOlS. 55, 176, 179. 110 Kreß. S. 8. Mit "unentwickelt" meinte Kreß unklagbar (vgl. S. 5). 81 Kreß. S. 5. 82

Kreß. S. 6.

I. Kapitel: Stolls Wirken vor 1933

43

Schuldner verlangten sie deshalb die Unterlassung von Eingriffen in das geschützte Gut, aber auch positive Schutzhandlungen. Auch ohne ausdrückliche Vereinbarung ergaben sich die unentwickelten Schutzansprüche nach Auffassung von Keeß aus dem Schuldverhältnis, entweder durch ergänzende Vertragsauslegung (§ 157 BGB) oder - soweit diese versagte - aus dem die bürgerliche Rechtsordnung beherrschenden Grundsatz von Treu und Glauben. 83 Auch Herholz unterschied zwei Ptlichtenkreise, ebenfalls nach funktionalen Kriterien. Seine Einteilung in Leistungspflichten und solche Pflichten, alles zu unterlassen, was zu einer Verletzung der in den Gefährdungskreis der rechtsgeschäftlichen Beziehungen getretenen Partei geeignet sei, und eventuell alles zu tun, um eine solche Verletzung zu verhindem84 , war jedoch grundsätzlicher als die von Keeß, da Herholz sie zwei voneinander unabhängigen Schuldverhältnissen zuordnete, der "Inhalts- oder Leistungsbeziehung" und der "Rahmenbeziehung " . 85 Zusätzlich stützte er diese Beziehungen auf verschiedene Entstehungsgründe. So wurde die Leistungsbeziehung nach Herholz durch den konkreten Vertrag geschaffen. Die Entstehung der Rahmenbeziehung begründete er dagegen objektiv mit der Tatsache der rechtsgeschäftlichen Beziehung. 86 Dabei stützte er sich auf die gemeinsamen Rechtsgedanken der §§ 149, 122, 118, 307,309,663 BGB. Diesen Regelungen liege jeweils der Tatbestand zugrunde, daß eine Partei durch einseitiges Handeln eine Beziehung rechtsgeschäftlicher Art mit der anderen hergestellt habe.

83

Kreß, S. 580.

Herholz, AcP 130/S. 257, 298. A.a.O., S. 260. 86 A.a.O., S. 276.

84 85

44

B. Das Werk Heinrich Stolls

Die Ptlichten dienten der Begegnung der durch diese Beziehung geschaffenen Gefahren. 87 Dahinter stand der Vertrauensgedanke: "Die Partei, die die Beziehung eröffnet hat, bringt einen Gefahrenkreis mit sich. Sie hat daher die Pflicht, die andere Partei über das Bestehen solcher Gefahren, soweit sie ihr bekannt sind oder bekannt sein müssen, zu unterrichten, damit diese nicht in ihrem prima facie berechtigten Vertrauen getäuscht werde, durch die Eröffnung der Beziehung von der anderen Seite nicht in Gefahren gebracht zu werden. -88 Mit der Gegenüberstellung von Leistungs- und Schutzptlichten knüpfte Stoll sowohl in der Terminologie als auch in der Sache an das Modell von Kreß an. Er ging jedoch weiter als dieser und fundierte diese funktionelle Unterscheidung methodologisch mit dem Interessengedanken. 89 Erst damit ermöglichte er eine scharfe Abgrenzung der Pflichten und ihre Integration in ein teleologisch ausgerichtetes Gesamtkonzept. Von Herholz übernahm Stoll den Gedanken einer durch den rechtsgeschäftlichen Kontakt geschaffenen, auf Gesetz beruhenden Sonderbeziehung, die von ihm als Vertrauensverhältnis bezeichnet wurde. Wie Herholz seine Rahmenbeziehung, gründete Stoll das Vertrauensverhältnis auf die durch den Vertrag geschaffene Einwirkungsmöglichkeit und das in ihr zum Ausdruck kommende Vertrauen. 90 Im Gegensatz zu Herholz gelang es ihm aber, durch die - von Herholz übrigens heftig kritisierte91 - Figur des Schuldverhältnisses als Organismus das Schuldverhältnis als Einheit zu erhalten. Damit konnte das Schuldverhältnis in seinem Inhalt geändert, also z. B. auf ein reines Schutzpflichtverhältnis ohne primäre Leistungsptlicht reduziert werden, ohne seine rechtliche Identität einzubüßen. Allen drei Ansätzen war gemeinsam, daß sie von einem umfassenden Schutzverhältnis ausgingen, das dem Schutz aller bereits vorhandenen

A.a.O., S. 294. A.a.O., S. 295. 89 Vgl. u. m.3). 87 88

90 Herholz, a.a.O., S. 295. StoU, AcP 136/S. 257, 298. Im Moment soll dahingestellt bleiben, inwieweit Herholz dabei aufStolls Aufsatz über die Haftung für das Verhalten während der

Vertrsgsverhandlungen aufbaute. 91 S. u. 3. Kapitel.

1. Kapitel: Stolls Wirken vor 1933

45

Rechtsgüter des Vertragspartners vom Beginn des rechtsgeschäftlichen Kontakts an bis zu seiner Beendigung dienen sollte. 92 Mit der h. M. stimmten Stoll, Kreß und Herholz darin überein, daß auch er die aus dem Vertrauensverhältnis folgende allgemeine Pflicht, sich jeder schädigenden Einwirkung auf die Rechtsgüter der anderen Partei zu enthalten, auf Treu und G lauben stützte. 93 b) Der Aufbau der Forderungsverletzungen Als Stoll sich 1932 mit einer Systematisierung der Forderungsverletzungen und ihrer Rechtsfolgen zu beschäftigen begann, griff er in eine lebhafte, seit langem geführte Diskussion ein, in der die unterschiedlichsten Ansätze vertreten wurden. 94 Einigkeit bestand - von wenigen Ausnahmen abgesehen - darüber, daß dem Begriff der Nichterfüllung eine zentrale Bedeutung beizumessen sei, einerseits als systematischem Oberbegriff, andererseits als allgemeinem Haftungsgrund. Damit fanden die Gemeinsamkeiten aber auch schon ein Ende. Denn tatsächlich wurde dieser Begriff mit sehr unterschiedlichen Bedeutungsgehalten besetzt und unter den verschiedenartigsten Ordnungsgesichtspunkten zergliedert. Titze und ihm folgend Himmelschein sahen, in Anlehnung an die Unmöglichkeitslehre von Mommsen und Windscheid, alle denkbaren Forderungsverletzungen durch den Begriff der Unmöglichkeit erfaßt. Diese Auffassung beruhte auf einem sehr weiten Leistungsbegriff. Nach ihm war der Schuldner verpflichtet, die ihm nach dem Schuldverhältnis obliegende Leistung zu bewirken. Zu dieser Leistung sollten auch sämtliche Haupt- und Nebenpflichten, die die Vertragsbestimmungen, die Verkehrssitte sowie Treu und Glauben dem Schuldner auferlegten, gehören. 95 Voll-

92

Herhalz, a.a.O., S. 276 f. Kreß, S. 5. Stall, AcP 136/S. 257, 285 FN 58.

93

StolI, a.a.O., S. 288.

94

Übersichten finden sich bei Freitag, S. 38 ff. Oertmann, § 280 ID. Stall, AcP 136/S. 257,

286. 95

Himmelschein, AcP 135/S. 255, 289 f.

B. Das Werk Heinrich Stolls

46

ständig war die Leistung nur dann, wenn sie in zeitlicher, örtlicher und gegenständlicher Beziehung exakt erfüllt worden war. 96 Die Leistungspflicht war damit gewissermaßen dreidimensional. Daraus schloß man, daß sie auch in jeder dieser drei Richtungen unmöglich werden könne. 97 So war z. B. eine Leistung, die im Moment der Fälligkeit nicht bewirkt wurde, nach dieser Ansicht bereits nicht mehr vollständig möglich. 98 Unmöglichkeit und Verzug waren demnach nicht gleichrangige Formen der Nichterfüllung, sondern standen im Verhältnis von Gattung und Art.99 Allerdings hatte die Unmöglichkeit bei Himmelschein lediglich die Funktion, nach dem Prinzip der Subsidiarität der Ersatzleistung den Haftungsinhalt zu bestimmen. In Betracht kamen Naturalleistung und Ersatzleistung, die Himmelschein als die beiden Formen des Schadensersatzes betrachtete. Eine Ersatzleistung sollte der Gläubiger nur fordern und der Schuldner nur gewähren dürfen, wenn die Leistung unmöglich war. Den Haftungsgrund sah Himmelschein dagegen in der vorsätzlichen oder fahrlässigen Pflichtverletzung gem. § 276 BGB.l00 Auch Siber unterschied Haftungsgrund und Haftungsinhalt. "Objektiver Haftungstatbestand" , also Haftungsgrund, sei die "Nichtbefolgung des Leistensollens". Die Nichtbefolgung des Leistensollens, d. h. die Nichterfüllung, konnte in zwei Formen geschehen, die den Haftungsinhalt bestimmten: Ein Anspruch auf Schadensersatz wegen Nichterfüllung wurde gewährt, wenn die Schulderfüllung nicht mehr möglich war bzw. als nicht mehr möglich behandelt wurde (Bsp.: § 280 BGB). Solange die Erfüllung noch möglich war, bestand dagegen nur ein Schadensersatzanspruch wegen Verzögerung (Bsp.: § 286 BGB).101 Wie Siber konnte sich auch Heck keine Interessenverletzun-

A .•. O., S. 295. 1itze, S,31. 97 GoldmannlLiüenlluJJ, S. 333. Himmelschein, AcP 135/S. 255, 295. 1itze, S. 32. 98 1i14e, S. 33. 96

99

Himmelschein, •.•. 0., S. 307.

100 101

A.a.O., S. 272. Genauer zu seinem Verständnis von § 276 BGB s. u. Siber, Jherings Jb. 50/S. 55, 176. PlancklSiber, Voroem. §§ 275-292, S. 185. Anders

dagegen später in Schuldrecht, S. 86, wo er eine dritte Form des Schadensersatzes, "Schadensersatz wegen sonstiger nicht gehöriger Erfüllung", anerkannte.

I. Kapitel: Stolls Wirken vor 1933

47

gen vorstellen, "die weder definitiv noch einstweilig sind" .102 Ähnlich wie jener wollte er daher im Zuge einer "allerdings freien Auslegung der §§ 280, 286" die Gesamtheit der Forderungsverletzungen als dauernde oder vorübergehende l..eistungshindernisse einordnen und als Unmöglichkeit oder Verzug behandeln. 103 Den entscheidenden Anknüpfungspunkt hierfür sah er in der "Interessenwirkung" .104 Die h. M. machte die schuldhafte Pflichtverletzung bzw. Nichterfüllung zur Grundlage der Haftung: Jede schuldhafte Verletzung einer obligatorischen Pflicht sollte zum Schadensersatz verpflichten. 105 Hergeleitet wurde dieser Haftungsgrund entweder aus einer Rechtsanalogie zu den gesetzlich geregelten Forderungsverletzungen, besonders Unmöglichkeit und Verzug 106 , oder unmittelbar aus § 276 BGB107. In der gesetzlichen Regelung der Unmöglichkeit und des Verzugs sah die h. M. nicht konstitutive Haftungstatbestände, sondern Normierungen besonderer Rechtslagen als Grundlage einer besonderen Ausgestaltung der Haftung. 108 Im Hinblick auf Stolls System der Forderungsverletzungen sind noch zwei weitere Ansätze von Interesse, weil sie versuchten, die der gesetzlichen Regelung zugrunde liegenden Gesichtspunkte herauszuarbeiten, um mit ihrer Hilfe die Erfassung bestimmter Fallgruppen durch das BGB nachzuweisen bzw. Lücken des Gesetzes zu ergänzen: Fritz glaubte den entscheidenden Anknüpfungspunkt des BGB für die Regelung der Forderungsverletzungen in der Art der Pflichtverletzung gefunden zu haben. Er zerlegte den Begriff der Nichterfüllung in die Verletzungsarten "Nichtleisten " , also das völlige Aus-

Heck, Schuldrecht, S. A.a.O., S. 121. 104 A.a.O., S. 72. 102

120.

103

lOS

EnnecceruslLehmann, S.

Schuldrecht, S. 542. 106 EnnecceruslLehmann, S.

192. Lehmann, 193.

Daringer/HachenburglWemer, Anm. §§ 275-282, Anm. CI4. 107

108

Unterlassungspflicht, S.

273, 277. Leonhard,

382. StaudingerlWemer, 9. Aufl., Vorbem. zu

Besonders deutlich EnnecceruslLehmann, S.

193. Lehmann, Unterlassungspflicht, S. 273.

B. Das Werk Heinrich Stolls

48

bleiben der Leistung, und "Schlechtleisten ", die mangelhafte Leistung. 109 Ferner differenzierte er zwischen verschiedenen Arten von Pflichten, nämlich Haupt- und Nebenpflichten. Bei den letztgenannten unterschied er nochmals zwischen klagbaren und unldagbaren Pflichten. 110 Die Rechtsfolgen der Pflichtverletzungen sollten sich danach richten, welche Art von Pflicht in welcher Weise verletzt worden war. Nach Auffassung von Fritz griffen die §§ 280, 286 bzw. 325, 326 BGB nur im Falle der Nichtleistung klagbarer Haupt- und Nebenpflichten ein. Bei Schlechtleistung und Nichtleistung unldagbarer Nebenpflichten sollte sich der Anspruch auf Schadensersatz direkt aus § 276 BGB ergeben. 111 Beachtenswert sind ferner die Überlegungen Leonhards, der ebenfalls versuchte, die Forderungsverletzungen nach einheitlichen Gesichtspunkten zu systematisieren und dabei auch teleologische Aspekte einfließen ließ. Leonhard erkannte, daß Forderungsverletzungen die Zwecke des Vertrages verletzen. 112 Allerdings nutzte er diese Einsicht nicht konsequent zu seiner Systembildung. So hätte z. B. die Fragestellung nahegelegen, auf welche Weise die Vertragszwecke verletzt werden können. Stattdessen setzte Leonhard den Gedanken des Vertragszwecks lediglich zur Abgrenzung von anderen Unrechtshandlungen, besonders den unerlaubten Handlungen, ein. Innerhalb der Pflichtverletzungen erhob er die" Art des Schadens" zum entscheidenden Kriterium und differenzierte zwischen "Leistungshinderungen" , geregelt in §§ 280, 286 BGB, und "nicht leistungshindernden Schuldverletzungen" oder auch "Begleitschädigungen " , für die analog §§ 280, 286 BGB gehaftet werde. 113 Konsequenzen für die Rechtsfolgen zog er aus diesem Unterscheidungsmerkmal nicht. Andere behandelten die Nichterfüllung nur als Unterbegriff im Sinne eines völligen Ausbleibens der Leistung und stellten sie unter dem Oberbegriff der

109 Fritz.

S. 6.

110

A.a.O., S. 9.

111

A.a.O., S. 19,24. Schuldrecht, S. 541. A.a.O., S. 541 f.

112 Leonhard. 113

49

1. Kapitel: Stolls Wirken vor 1933

Vertragsverletzung der Schlechterfüllung bzw. der mangelhaften Leistung gegenüber. 114 Hier schien es sich allerdings letztlich um einen terminologischen Streit zu handeln, wie insbesondere ein Vergleich mit der Auffassung von Fritz verdeutlicht. In allen Fällen wurde die Art der Pflichtverletzung zum entscheidenden Kriterium erhoben. 115 Zum Schluß soll noch auf das Verständnis von § 276 BGB eingegangen werden. Seine Bedeutung war zur Zeit Stolls umstritten. Viele erblickten in ihm lediglich eine Begriffsbestimmung und damit verbunden die Angabe eines HafhlngsDlaßstabes. 116 Besonders Heck sprach wiederholt in ausführlichen Darlegungen, unter Heranziehung der systematischen Stellung der Vorschrift zwischen § 275 und § 280 BGB, ihres Wortlauts und vor allem der Entstehungsgeschichte, § 276 BGB eine weitergehende Bedeutung ab. 117 Viele legten aber auch § 276 BGB als Hafhlngsgrund aus und sahen in ihm den Grundsatz verankert: "Jede schuldhafte Verletzung einer Vertragspflicht hat, soweit nicht besondere Vorschriften des Gesetzes eingreifen, allgemein die Verpflichtung des Schuldners zum Schadensersatz zur Folge. "118 Eine wieder etwas andere Bedeutung legte Himmelschein § Auch er hielt § 276 BGB für einen "Rechtssatz von normaler Tatbestand und Rechtsfolge. Die Rechtsfolge war jedoch nach sung lediglich ganz allgemein die Anordnung der Hafhlng, schon die Verpflichtung zum Schadensersatz.

276 BGB bei. Struktur", mit seiner Auffasdagegen nicht

114

Freitag, S. 1. Zitelmann, in FS KriJger, S. 281.

115

F~itag, S. 46 f., 90. Fri14, S. 19,24. Zitelmann, in FS KriJger, S. 275. Übrigens stellten

die Vertreter dieser Ansicht tatsächlich, ähnlich wie Leonhard, auf den Erfolg und nicht auf die Art der Pflichtverletzung ab. Inkonsequenterweise wandten alle drei Unmäglichkeitsrecht auch

dann an, wenn eine fehlerhafte Leistungshandlung zu Nichterfiillung/Nichtieisten führte. 116

Hedemann, Schuldrecht, S. 168. Leonhard, Schuldrecht, S. 542. Rabel, Gesammelte

Aufsätze, Bd. 1, S. 56, 75. Siber, Jherings Jb. SOlS. 55, 195. Schuldrecht, S. 99. 117

Heck, Schuldrecht, S. 119.

118

Daringer/HachenburglWemer, Anm. 382. Ähnlich StaudingerlWemer, 9. Aufl., Vor-

bem. zu §§ 275-282, Anm. CD. 4 Sessler

50

B. Das Werk Heinrich StolJs

Diesen Schluß zog er aus seiner Auslegung der Wendung "zu vertreten haben", die er mit "die nachteiligen Folgen eines Umstandes auf sich nehmen" gleichsetzte. 119 StoU schloß sich, wie ausgeführt, der Richtung an, die in § 276 BGB einen Haftungsgrund sah. Zur Begründung seiner Auffassung griff er häufig und ausdrücklich auf Argumente Himmelscheins zurück. 120 Anders als Himmelschein sah er allerdings in § 276 BGB - vorbehaltlich gesetzlicher Sondervorschriften - eine Verpflichtung zum Ersatz des entstandenen Schadens, genauer, des sog. Ausgleichsinteresses, angeordnet. 121 Auch bei der Unterscheidung von Haftungsgrund und Haftungsinhalt konnte StoU auf Vorbilder zurückgreifen. 122 Der kurze Überblick über den wissenschaftlichen Stand der damaligen Zeit zeigt, daß StoUs Verdienst in der Analyse der die Forderungsverletzungen regelnden Normen und der auf dieser Analyse aufbauenden Zuordnung von Rechtsfolgen zu gesetzlich nicht berücksichtigten FaIIgruppen nach einheitlichen, methodisch fundierten Kriterien lag. 123 Wie wir sahen, waren derartige Versuche nicht neu. InjÜDgerer Zeit hatten sich besonders Freitag, Fritz und Leonhard dieser Problematik angenommen. Fritz und StoU verband dabei die Differenzierung innerhalb des Haftungsinhalts zwischen dem Gegenstand der Verletzung (welche Pflicht, welches Interesse?) und der Art und Weise seiner Verletzung. Parallelen im Aufbau waren also festzusteUen. Ein grundlegender Unterschied bestand in den systematischen Anknüpfungspunkten. StoU steUte die Interessenverletzung in den Mittelpunkt seines Systems, weil er das Schuldverhältnis teleologisch betrachtete und deshalb nach seinem Zweck fragte, den er in der Befriedigung

119

Himmelschein, AcP 135/S. 255, 271 f. Ebenso wohl Jung, S. 477, 722.

AcP 136/S. 257. 280. A.a.O., S. 282 f. Den weiten Unmöglichkeitabegriff HimmelscheißB bekämpfte Stoll dagegen energisch, wenngleich auch er die Funktion deI UßffiÖglichkeitabegriffs darin sah, das Prinzip der Subsidiarität der Ersatzleistung zu verwirklichen (S. o. 1.2)a». 122 EnnecceruslLehmann, S. 190. Himmelschein, AcP 135/S. 255, 273. Lehmann, Unterlas· sungspflicht, S. 273. Rabel, Gesammelte Aufsätze, Bd. 3, S. 119, 134. 123 Zur Bedeutung der Methodenlehre für den Aufbau des Systems der Forderungsverletzungen S. u. m.3). 1~ StoU,

121

1. Kapitel: Stolls Wirken vor 1933

51

der Gläubigerinteressen zu erkennen meinte. Die Forderungsverletzungen verband er mit Rechtsfolgen je nach dem, in welchem Maße die Forderungsverletzung welches Interesse des Gläubigers betreffe. Fritz, nach dessen Auffassung es vor allem darauf ankam, ob Hauptpflichten oder (klagbare oder unklagbare) Nebenpflichten verletzt worden waren, stellte dagegen auf formale Ordnungsgesichtspunkte ab. Sein Ansatz war zwar für die wissenschaftliche Systembildung geeignet, nicht aber für die Rechtsanwendung. Dagegen hatte bereits Leonhard den Aspekt der Verletzung der Vertragszwecke berücksichtigt, ihn jedoch nicht in seiner vollen Bedeutung gewürdigt. Mit der Einteilung der Forderungsverletzungen in Leistungshinderungen und Begleitschädigungen nahm Leonhard andeutungsweise Stolls Unterscheidung der Verletzung von Leistungs- und Schutzinteressen vorweg, ohne sie jedoch für die Zuordnung von Rechtsfolgen nutzbar zu machen. Stoll gelang es dagegen, aus dem Gesetz herauszuarbeiten, daß bei Begleitschädigungen - von Stoll als Verletzungen des Schutzinteresses bezeichnet - nur das Ausgleichsinteresse gewährt werde, während Leistungshinderungen - gleichzusetzen mit Verletzungen des Leistungsinteresses - einen Anspruch auf das Erfüllungsinteresse nach sich zögen. Ähnlichkeiten im Ansatz fanden sich auch bei Heck. An ihn scheint sich Stoll terminologisch angelehnt zu haben. So hatte Heck bereits vor ihm von "Interessenwirkung" und "Vereitelung der Interessenbefriedigung" gesprochen, was in Stolls Aufsatz dann zu "Interessenverletzung" und "Interessenvereitelung" wurde. 124 Diese begrifflichen Parallelen können aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß Hecks Systemautbau im Vergleich zu Stolls nur als fragmentarisch bezeichnet werden kann. So vermißt man bei Heck einen Hinweis darauf, welche Interessen bzw. welche Arten von Interessen er meint. Auch den Begriff der Interessenwirkung dachte Heck nicht zu Ende. Er bezeichnete mit ihm, nur vordergründig am Wortlaut des Gesetzes orientiert, die Rechtslagen der Unmöglichkeit und des Verzuges. 125 Hier bedeutete die Abhandlung Stolls insofern eine Weiterentwicklung, als sie nicht den

124 125 4'

Heck, Schuldrecht, S. 42, 73. A.a.O., S. 120 f.

52

B. Das Werk Heinrich Stolls

Wortlaut des Gesetzes in den Mittelpunkt stellte, sondern die dahinter stehende Interessenlage. Insgesamt leistete Stoll eine am Interessengedaoken orientierte Analyse der schuldrechtlichen Bestimmungen. Die dabei gewonnenen Regelungskriterien ermöglichten es ihm, die Forderungsverletzungen neu zu ordnen und den dabei entstehenden Gruppen spezifische Rechtsfolgen zuzuordnen. Auf diese Weise gelang es ihm, auch die im BGB nicht berücksichtigten Fallgruppen systemgerecht und nachvollziehbar zu lösen.

2. Positive Vertragsverletzung

a) Die Lückenhaftigkeit des Gesetzes Der Aufbau des Systems der Forderungsverletzungen durch Stoll beruhte auf der Annahme, daß die gesetzliche Regelung lückenhaft sei. Diese Annahme war nicht unumstritten. Eine Reihe von Autoren ging davon aus, daß das Gesetz die Gesamtheit der Pflichtverletzungen lückenlos geregelt habe, wenn sie sich auch nicht darüber einig waren, in welcher Weise dies geschehen sei. Wie oben dargestellt l26 , vertrat ein Teil der Lehre die Auffassung, der Unmöglichkeitsbegriff sei weit auszulegen und erfasse jede gegenständlich, zeitlich und örtlich unvollständige Leistung. 127 Damit war jede Pflichtverletzung durch die §§ 280, 325 BGB abgedeckt, auch die unter dem Sammelnamen positive Vertragsverletzung zusammengefaßten Fallgruppen. Zum Ergebnis einer lückenlosen gesetzlichen Regelung kamen auch diejenigen, die alle Forderungsverletzungen entweder als einstweilige oder als

126 I1.1)b). 127 GoIdmann/UUenlluJJ,

S. 333. Himmelschein, AcP 135/S. 255, 295. 7i1Ze, S. 32.

1. Kapitel: Sto11s Wirken vor 1933

53

endgültige Nichterfüllung behandeln zu können glaubten und dementsprechend entweder Unmöglichkeits- oder Verzugsregeln anwenden wollten. 128 Ganz anders begründete Fritz die Vollständigkeit des Schuldrechts. Auf die vorläufige oder endgültige Nichtleistung von Leistungspflichten wandte er die §§ 280, 286, 325, 326 BGB an, für die übrigen Fälle, d. h. Nichterfüllung durch Schlechtleisten und Verletzung unklagbarer Nebenpflichten, bejahte er einen Anspruch auf Schadensersatz nach § 276 BGB.129 Die h. M. war dagegen von der Unvollständigkeit der im BGB normierten Haftungstatbestände überzeugt und versuchte, die Gesetzeslücken zu ergänzen. Art, Größe und rechtliche Qualifikation der Lücken wurden dabei unterschiedlich beurteilt. Überwiegend vertrat man die Ansicht, daß sich die übersehenen Fallgruppen nicht durch gemeinsame positive Merkmale auszeichneten, sondern nur negativ definiert werden könnten als all diejenigen Vertragsverletzungen, die weder Unmöglichkeit noch Verzug begründen. 130 Das wohl härteste Urteil über die Lehre von der positiven Vertragsverletzung fällte Siber in seinem Grundriß. 131 Danach handelte es sich bei der positiven Vertragsverletzung um einen "sprachwidrigen Sammelnamen" für eine Reihe von Forderungsverletzungen, für die es keine einheitlichen Grundsätze geben könne. Stoll schloß sich dieser Kritik in seiner Abhandlung ersichtlich an. 132 Allerdings glaubte Siber die Lehre von der positiven Vertragsverletzung durch eine Reduktion auf "selbständige UnterbleibensansptÜche" retten zu können. 133 Vollständig verworfen hat die Lehre von der positiven Vertragsverletzung vor Stolls "Abschied" nur Himmelschein. 134 Er nannte sie ein

128

PlancklSiber, Vorbem. §§

275-292, S. 185. Siber, Jherings Jb. 50/S. 55, 180. Nicht

ganz deutlich Heck, Schuldrecht, S. 121 f., der einerseits von einer Gesetzeslücke sprach, andererseits aber sämtliche Forderungsverletzungen durch eine "freie Auslegung" der §§ 280, 286 BGB als Urunöglichkeit oder VelZUg behandeln wollte. 129 Fril%, S. 19, 24. 130 Brecht, Jherings Jb. 53/S. 213, 225. DUringerlHachenburglWemer, Arun. 382. EnnecceruslLehmann, S.

149. Flad, S. 401. Rabei, Gesammelte Aufsätze, Bd. I, S. 56, 74. 183.

Siber, Schuldrecht, S. 100. PlancklSiber, Vorbem. zu §§ 275-292, S. 132 SIOU, AcP 136/S. 257, 314. 131

98.

133

Siber, Schuld recht, S.

134

Himmelschein, AcP 1351S.

255, 308 ff.

54

B. Das Werk Heinrich Stolls

"überaus schädliches Gewächs" .135 Seine Kritik traf sowohl den Begriff selbst als auch auf seine Bedeutung für die Systembildung und die Rechtsanwendung und wurde von Stoll in vielen Punkten aufgegriffen. Gewöhnlich zählte man zu den positiven Vertragsverletzungen folgende Erscheinungen: Ursprünglich Zuwiderhandeln gegen Unterlassungspflichten und fehlerhafte Bewirkung der Leistung l36 , später auch endgültige und ernsthafte Erfüllungsverweigerung, Gefährdung des Vertragszwecks in Dauerschuldverhältnissen und mangelhafte Einzelleistung bei Sukzessivlieferungsverträgen 137 . Abweichend von der h. M. wurde auch die Auffassung vertreten, die Lückenfälle könnten unter gemeinsamen, übergeordneten Merkmalen zusammengefaßt werden. So sah Staub, der "Entdecker" der positiven Vertragsverletzung, ihr Charakteristikum in der Verletzung einer Verbindlichkeit durch positives Tun und in der fehlerhaften Leistungsbewirkung. Das BGB regle zwar die Fälle, in denen jemand eine Leistung nicht bewirke, die er zu bewirken verpflichtet sei, in denen jemand unterlasse, was er tun soll. Dagegen enthalte das Gesetzbuch eine gleiche Vorschrift nicht für die zahlreichen Fälle, in denen jemand eine Verbindlichkeit dadurch verletze, daß er tue, was er unterlassen soll.138 Ähnlich urteilten Lehmann und Hedemann, die unter positiver Vertragsverletzung jede Zuwiderhandlung gegen unselbständige Unterlassungspflichten verstanden. 139 Andere sahen die Besonderheit der in Frage stehenden Forderungsverletzungen in der Eigenart der verletzten Pflichten. Sie verstanden unter positiver Vertragsverletzung jene Verletzung von Nebenpflichten, die das BGB nicht geregelt habe. 140

A.a.O., S. 309. Die positiven Vertragsverletzungen, S. 5. 137 DaringeriHachenburg/Wemer, Arun. 385 ff. Staudinger/Wemer, 9. Aufl., Voroem. zu §§ 275-282, Arun. C14. 138 Staub, Die positiven Vertragsverletzungen, S. 5. Ebenso Hedemann, Schuldrecht, S. 167. Kreß, S. 591. Lehmann, AcP 96/S. 60, 68. 139 Lehmann, Unterlassungspflicht, S. 68, 77. Hedemann, Schuldrecht, S. 167. 140 SchJesinger, Österr. Zcntralblatt 1926/S. 721, 722. Kreß. S. 591 für die Verletzung von Schutzpflichten. 135

136

Staub,

1. Kapitel: Stolls Wirken vor 1933

55

Zitelmann und Freitag waren der Meinung, daß das Gesetz Pflichtverletzungen durch Nichtbeachtung der gebotenen Leistungsweise übersehen habe. 141 Freitag sprach deshalb von "mangelhafter Leistung", die er weiter aufteilte in Schlechterfüllung und Schlechterbringung.142 Dagegen fand Leonhard das Gemeinsame der Fälle nicht in der ursächlichen Verhaltensweise, sondern in der Art des durch sie verursachten Schadens. Ihre Eigenart bestehe darin, daß die Erfüllung selbst nicht, auch nicht vorübergehend, vereitelt werde. Leonhard nannte sie deshalb "Begleitschädigungen ", im Gegensatz zu den durch die §§ 280, 286, 325, 326 BGB geregelten "Leistungshinderungen " .143 Stoll bekämpfte energisch die Auffassung, daß die Lückenfälle unter einem gemeinsamen positiven Merkmal zusammengefaßt werden könnten: "Es gibt keinen einheitlichen positiven Grundsatz, der sie den Voraussetzungen oder den Rechtsfolgen nach zusammenfassen oder von den beiden genannten Rechtslagen (Unmöglichkeit und Verzug) unterscheiden würde. Weder nach der Art der verletzten Pflicht (Unterlassungspflicht, Nebenpflicht), noch nach der Form der Verletzung (Begleitschäden, Verletzung von Schutzinteressen) weisen die Tatbestände der p VV irgendwe1che Einheitlichkeit auf. "144 Damit schloß er sich der h. M. an. Doch ging er über sie hinaus, wenn er auch die Berechtigung der negativen Definition anzweifelte. 145 Nicht nur die rechtliche Qualifikation der Regelungslücke, sondern auch ihr Umfang wurde unterschiedlich beurteilt. Während die Mehrheit der Ansicht war, der Gesetzgeber habe bei Schaffung des BGB bestimmte Pflichtverletzungen völlig vergessen zu regeln, differenzierten einige zwischen der Haftung an sich und ihrer näheren Ausgestaltung.

S. 55. Zitelmann, in PS Krüger, S. 281. S. 1. 143 Leonhard, Schuldrecht, S. 542. Vgl. bereits o. 1)b). 144 SroU, AcP 136/S. 257, 314. 141

Freitag,

142 Freitag,

145

A.a.O.

B. Das Werk Heinrich Stolls

56

So sah schon Lehmann im BGB das allgemeine Haftungsprinzip ausgesprochen, daß jede schuldhafte Verletzung einer obligatorischen Pflicht zum Ersatz verpflichte. 146 Stoll machte sich diese Auffassung zu eigen. Wie oben dargelegt, verstand er § 276 BGB als allgemeine Anordnung der Haftung für schuldhafte Pflichtverletzungen und zog daraus den Schluß, daß die Regelungslücke lediglich in der unzureichenden Normierung der einzelnen Rechtsfolgen bestimmter Gruppen von Forderungsverletzungen liege. 147 b) Die Lückenergänzung Die nach h. M. bei den Forderungsverletzungen bestehende Gesetzeslücke wurde hauptsächlich auf drei Arten ergänzt. Staub, der zuerst eine Theorie der positiven Vertragsverletzungen entwikkelte, wollte die Verzugsvorschriften, also die §§ 286 und 326 BGB, analog anwenden: Wenn das Gesetz schon bei bloßem Verzug einen Schadensersatzanspruch gewähre, müsse dieses Recht um so mehr in Fällen unmittelbarer Zuwiderhandlung gegen den Vertrag gegeben sein.l 48 Kreß hielt dagegen nur eine entsprechende Heranziehung der Bestimmungen über die zu vertretende nachträgliche Unmöglichkeit (§§ 280, 325 Abs. 1 BGB) für geeignet. 149 Überwiegend sprach man sich dafür aus, die Haftung für die gesetzlich nicht geregelten Pflichtverletzungen allgemein einer Analogie zu den vom Gesetz berücksichtigten Pflichtverletzungen, also besonders Unmöglichkeit und Verzug, zu entnehmen.

146

Lehmann, Unterlassungspflicht, S. 273. Ebenso EnneccemslLehmann, S. 192 f. Stau-

dinger/Wemer, 9. Autl., VOIuem. zu §§ 275-282, Anm. CU. Ferner Rabel, Gesammelte

Aufsätze, Bd. 3, S. 119, 134. Er sah allerdings den Haftungsgrund nicht in § 276 BGB, sondern in der romanistischen Verschuldenslehre (a.a.O., Bd. I, S. 56, 75). 147 S. o. 1.2)a). 148

Staub, Die positiven Vertragsverletzungen, S. 15. Staub/Koenige, Anh. zu § 374 RN

174. 149

Kreß, S. 591.

1. Kapitel: StoUs Wirken vor 1933

57

Teilweise geschah dies ausdcücldich l50 , teilweise wird die Analogie deutlich, wenn man die gebildeten Haftungstatbestände analysiert l51 . Wie oben bereits kurz dargestellt 152 und unten unter methodischen Gesichtspunkten näher zu untersuchen ist l53 , leitete auch Stoll den Haftungsinhalt aus einer entsprechenden Anwendung der Unmöglichkeits- und Verzugsvorschriften bzw. Regelungen des besonderen Schuldrechts her. Hier stellt sich die Frage, worin das Besondere des Stollschen Ansatzes liegt. Ihm kam es darauf an, in möglichst enger Anlehnung an das Gesetz die Merkmale herauszuarbeiten, welche die Rechtsähnlichkeit begründen. Nur dann schien ihm eine Analogie gerechtfertigt, also die Übertragung der für einen Tatbestand oder für mehrere, untereinander ähnliche Tatbestände im Gesetz gegebenen Regel auf einen vom Gesetz nicht geregelten, ähnlichen Tatbestand 154. Zwei Tatbestände sind nach allgemeiner Auffassung dann ähnlich, wenn sie in den für die rechtliche Bewertung maßgeblichen Hinsichten übereinstimmen. 15S Bekanntlich fand Stoll das gesuchte Merkmal in der Art der Interessenverletzung und differenzierte dementsprechend bei der Verknüpfung von Fallgruppen und gesetzlichen Rechtsfolgen. Die anderen Vertreter der h.M. ließen es demgegenüber zumeist dabei bewenden, eine entsprechende Anwendung der §§ 280,286, 325, 326 BGB pauschal anzuordnen, ohne zwischen den verschiedenen Typen der Vertragsverletzungen und den diversen Rechtsfolgen, insbesondere einfachem Schadensersatz, Schadensersatz wegen Nichterfüllung und Rücktritt, zu unterscheiden. 156 Nur wenige, z. B. Freitag

ISO

Enneccerus/Lehmonn, S. 192. HedermJnn, Schuldrecht, S. 168. Leonhard, Schuldrecht,

S. 542. Oer1nUJnn, § 280, S. 180. Zitelmann, in FS Krager, S. 281. ISI Freitag, S. 57 ff. 1S2I.l)b). 1S3 m.3). 154 Larenz,

ISS

Methodenlehre, S. 366.

A.a.O.

156

S. 180.

Enneccerus/Lehmonn, S. 192. HedermJnn, Schuldrecht, S. 168. Oer1nUJnn, § 280,

58

B. Das Werk Heinrich Stolls

und Leonhard, versuchten wie Stoll, im Gesetz die entscheidenden Gesichtspunkte für die Übertragbarkeit der gesetzlichen Vorschriften aufzuzeigen. Beide benutzten jedoch die von ihnen als entscheidungserheblich erachteten Maßstäbe (Art der Pflichtverletzung, Art des Schadens) nur, um die Haftung im allgemeinen zu begründen, nicht aber, um zwischen den Rechtsfolgen im einzelnen zu differenzieren. 157 Zu diesem Zweck zogen beide andere Entscheidungsmaßstäbe heran, deren Verhältnis zu den eben genannten unklar blieb. Leonhard wollte z. B. ein völliges Abgehen vom Vertrag, d. h. Rücktritt oder Schadensersatz wegen Nichterfüllung, nur dann anerkennen, wenn das Interesse an der Vertragserfüllung weggefallen war.l 58 An ähnliche Voraussetzungen band auch Freitag das Rücktrittsrecht. Er verlangte "Interessenwegfall" oder "Ungewißheit über das Schicksal der Vertragsleistung".l59 Diese Vorstellungen glichen durchaus denjenigen Stolls, stimmten teilweise sogar mit seiner Terminologie überein. Anders als bei StolI, hatte das Merkmal des Interessenwegfalls bei Freitag und Leonhard jedoch keinerlei Bezug zu den von ihnen aufgestellten Entscheidungsmaßstäben. Ein systematischer Zusammenhang war nicht erkennbar. Aus dem Wegfall des Interesses bestimmte Rechtsfolgen abzuleiten, ist aber nur dann sinnvoll, wenn das Haftungssystem insgesamt auf der Interessenwirkung aufbaut. Hier zeigt sich, daß der Wert der Stollschen Arbeit weniger in einer neuartigen Behandlung schuldrechtlicher Erscheinungen zu suchen ist, als vielmehr in der dogmatisch und methodologisch fundierten Begründung bereits anerkannter rechtlicher Lösungen. So schloß Stoll sich, was die Behandlung der unter dem Sammelnamen positive Vertragsverletzung zusammengefaßten Fallgruppen anging, der h. M. an, die die Rechtsfolgen der gesetzlich berücksichtigten Pflichtverletzungen analog anwandte. Durch eine differenzierte Behandlung dieser Fallgruppen nach der Art der Interessenverletzung und die Verknüpfung der neu gebildeten systematischen

Freitag, S. 48 ff. Leonhard, Schuldrecht, S. 542 f. Leonhard, Schuldrecht, S. 543. 159 Freitag, S. 99 ff. 151

158

1. Kapitel: Sto11s Wirken vor 1933

59

Einheiten mit spezifischen Rechtsfolgen gelang es ihm jedoch, den Lösungsansatz der h. M. zur Behandlung der positiven Vertragsverletzungen wesentlich zu verfeinern und auf eine festere Grundlage zu stellen. Ein besonderes Verdienst lag dabei in der Berücksichtigung der großen, übergeordneten Zusammenhänge. Er begnügte sich, als er die Lehre von der positiven Vertragsverletzung verwarf, nicht mit der Untersuchung gerade dieser Lehre, sondern stellte sie in den Gesamtzusammenhang schuldrechtlicher Forderungsverletzungen. Mit der systematischen Durchdringung der Gesamtheit schuldrechtlicher Pflichtverletzungen versuchte er nachzuweisen, daß die Lehre von der positiven Vertragsverletzung überflüssig und durch andere Kategorien zu ersetzen ist. Dabei lag der Fortschritt in der Herausarbeitung und konsequenten Durchführung eines einheitlichen systematischen Ansatzes.

3. Schädigendes Verhalten während der Vertragsverhandlungen

a) Die Begründung der Haftung für schuldhaftes Verhalten während der Vertragsverhandlungen Als Stoll seine Abhandlung über die Haftung für das Verhalten während der Vertragsverhandlungen schrieb, gab es zahlreiche divergierende Ansichten über die Begründung der Haftung für eine vor Vertragsabschluß begangene schuldhafte Pflichtverletzung. Jhering führte mit seiner Theorie von der culpa in contrahendo zuerst den Gedanken einer Haftung für das Verhalten während der Vertragsverhandlungen in die Wissenschaft ein. Da sie lange vor dem Inkrafttreten des BGB entstand, nimmt sie im Vergleich zu den anderen Theorien eine Sonderstellung ein, was es gerechtfertigt erscheinen läßt, sie - ohne Rücksicht auf systematische Darstellung - vorab zu behandeln. Unter culpa in contrahendo verstand Jhering "die culpa, begangen bei Gelegenheit eines intendirten Contractsverhältnisses", bei dem der eine Teil dadurch Schaden erlitten hat, daß er einen äußerlich zustande gekommenen, tatsächlich aber nichtigen Vertrag ausführt. 160 Die Haftung für culpa in contrahendo stützte er auf eine Sorgfalts-

16.l Jhering,

Jherings Ib. 4/5. 1,7.

60

B. Das Werk Heinrich Stolls

pflicht, die bereits mit der Offerte entstehe. "Wer contrahirt, tritt damit aus dem rein negativen Pflichtenkreis des außercontractlichen Verkehrs in den positiven der Contractsphäre ( ... ), und die erste und allgemeine Verpflichtung, die er damit übernimmt, ist die: beim Contrahiren selbst bereits die nöthige diligentia aufzuwenden. "161 Diese Konstruktion beruhte wiederum auf der richtungweisenden Unterscheidung verschiedener Verbindlichkeiten, die der Vertrag nach Auffassung Jherings hervorbringe, nämlich der "Verbindlichkeiten auf Erfüllung" und der "Verbindlichkeiten anderer Art". Nur die Erfüllungsverbindlichkeiten sollten von der Nichtigkeit des Vertrages betroffen werden, nicht aber die Verbindlichkeiten anderer Art, also die Sorgfaltspflichten. 162 Jhering kannte damit schon Pflichten, die zwar in einer unmittelbaren Beziehung zum Schuldverhältnis standen, aber nicht von dessen Wirksamkeit abhingen. Doch vermißt man in seinen Ausführungen eine befriedigende Erklärung für die Entstehung dieser Pflichten. Nach seiner Ansicht wurden sie durch den Vertrag "hervorgebracht" .163 Wie wir eben sahen, verlangte Jhering aber gerade nicht das Bestehen eines gültigen Vertragsverhältnisses, nicht einmal den wirksamen Abschluß eines Vertrages. Vielmehr meinte er mit "Vertrag" in diesem Zusammmenhang den rein äußerlichen Akt des Vertragsschlusses, das "Contrahiren". Er vertrat damit gewissermaßen eine objektive Theorie. Eine innere Begründung vermochte er für diese Konstruktion nicht zu geben. Für das geltende Recht waren zunächst jene Begründungsansätze von Bedeutung, die man als "Zielvertragstheorien" bezeichnen kann, da sie die Haftung auf den abzuschließenden Vertrag stützen. 164 Ihr herausragender Anhänger und Wegbereiter war Leonhard. Gestützt auf

§ 463 BGB vertrat er die Auffassung: "Der Schuldner haftet für seine Schuld

161

A.a.O., S. 42 f. Dabei verstand Jhering unter der diligentia selbst eine Pflicht und nicht

nur die Art und Weise, in der Pflichten zu erfüllen sind. 162 Jhering, A.a.O., S. 29. 163 A.a.O. 164

Vgl. Hildebrandl, S. 51.

I. Kapitel: Stolls Wirken vor 1933

61

bei der Vertragserfüllung; ebenso muß er auch für seine Schuld beim Vertragsschlusse haften. "165 Entsprechend der Pflicht zu ordentlicher Erfüllung nach Vertragsschluß bestehe bereits beim Vertragsschluß "eine ganz gleiche Pflicht zur Sorgfalt", die aus der anerkannten Haftung für Arglist folge. 166 Zur Voraussetzung der Haftung erklärte er die schuldhafte, d. h. vorsätzliche oder fahrlässige Pflichtverletzung. 167 Da er die Sorgfaltspflicht, entsprechend seiner auf § 463 BGB gestützten Argumentation, als eine vertragliche begriff, verlangte er konsequent einen gültigen Vertragsabschluß. "Wird ein Vertrag nicht abgeschlossen, fehlt es an dem Moment, das die Parteien zu besonderer Aufmerksamkeit veranlaßt und verpflichtet. "168 Wie Leonhard befürwortete auch Oertmann, unter Heranziehung des § 463 BGB, eine Haftung für Verhalten beim Vertragsschluß unter denselben Bedingungen wie bei der Vertragserfüllung. 169 Später setzte er sich auch mit der Möglichkeit einer Verantwortlichkeit ohne wirksamen Vertragsschluß auseinander. Daß bereits die Einleitung von Vertragsverhandlungen, eventuell das bloße Stellen eines Angebots, eine gewisse Sorgfaltspflicht begründe, bezeichnete er als "sehr beachtenswerten rechtspolitischen Gedanken, der vielleicht noch eine große Zukunft hat, jedenfalls der vollsten Aufmerksamkeit würdig ist" .1 70 Entsprechende Erweiterungen der Haftung befürwortete er jedoch nur "mit großer Vorsicht" . 171 Innerhalb der Gruppe der Zielvertragstheorien verdient schließlich noch Richter erwähnt zu werden. Für die Haftung aus culpa in contrahendo verlangte auch er ein wirksames Schuldverhältnis l72 , erblickte jedoch in der Lehre der vorvertraglichen Verschuldenshaftung bereits den Niederschlag ei-

165

LeonharrJ. Verschulden beim Vertrag88Chlusac, S. 42.

166

A.a.O., S. 44.

167

A.a.O., S. 60, 63.

168

A.a.O., S. 58.

169

OerlnUlnll, LZ 1914/Sp. 513, 519.

110 OerlnUlnll, 171

AcP 121/S. 122, 127.

A.a.O.

172 Richler,

1W 1921/S. 664.

62

B. Das Werk Heinrich Stolls

nes allgemeinen Grundsatzes: "Wer Vertragsinteressen verletzt (gefährdet), hat dafür einzustehen (Schadensersatz zu leisten). "173 Dabei erkannte er Parallelen zwischen culpa in contrahendo und positiver Vertragsverletzung, so daß er beide Haftuogsinstitute lediglich nach dem zeitlichen Moment unterschied: culpa in contrahendo während, positive Vertragsverletzung nach Vertragsschluß. 174 Eine zweite wichtige Gruppe leitete vorvertragliche Pflichten aus einem dem eigentlichen Vertrag vorgelagerten Haftungsvertrag oder vertragsäholichen Schuldverhältnis her. Hildebrandt bezeichnete sie deshalb als Haftuogsvertragstheorien. 175 Besonders Siber wollte Anzeige- und Erkundigungspflichten, aber auch Erhaltungspflichten, auf einen eigenen, vorbereitenden Vertrag gründen, der nach seiner Auffassung auch stillschweigend geschlossen werden konnte. 176 Auch einen Vorvertrag oder eine dauernde Geschäftsverbindung zog er als Grundlage derartiger Pflichten in Betracht}77 Andeutungsweise ließ er sogar, gewissermaßen als letzte Möglichkeit, eine Begründung der Pflichten durch das bloße Offenhalten von Verkaufsräumen zu. Rechtlich qualifizierte er diesen Tatbestand als einen Vertrag durch Antrag an eine unbestimmte Person, der durch Annahme gern. § 151 BGB zustandekomme. 178 Die Gründung der vorvertraglichen Pflichten auf ein einseitiges Schuldverhältnis lehnte Siber ab, weil die Zahl der einseitigen Schuldverhältnisse, ebenso wie die der nur vertragsäholichen Verhältnisse, geschlossen sei. 179

In keinem Fall sollte die Entstehung einer Ersatzpflicht vom Zustandekommen des Hauptvertrages abhängen, weil die Ersatzpflicht die "Verletzung

665.

174

A .•.O., S. A .•. O.

l7S

Hildebrandl, S. 51.

l7J

PlancklSiber, Voroem. §§ 275-292, S. 193 f. Siber, Jherings Jb.70/S. m PlancklSiber, •.•. 0. 178 A .•. O., S. 194. Siber, Jherings Jb.70/S. 223, 260. 179 PlancklSiber, •.•. 0.

176

223, 258.

1. Kapitel: StoUs Wirken vor 1933

63

einer schon bei den Hauptvertragsverhandlungen bestehenden, also nicht erst durch den Hauptvertrag begründeten primären Pflicht" voraussetze. 180

In dieselbe Richtung, wenn auch weniger konkret, gingen die Vorschläge v. Tuhrs. Dieser ging davon aus, daß schon im Stadium der Vorverhandlungen ein - nicht näher qualifiziertes - Rechtsverhältnis unter den Parteien bestehe, aus dem insbesondere Aufldärungspflichten hervorgingen. 181 Mit dem Entstehungsgrund dieses Rechtsverhältnisses befaßte er sich nicht. Stolls Begründungsversuch der Haftung für das Verhalten während der Vertragsverhandlungen lehnte sich stark an die Theorien der zuletzt genannten Gruppe an. V. Tuhrs Begründungsmodell nannte er den "richtigen Weg" .182 Übereinstimmend mit ihm stützte Stoll die vorvertraglichen Pflichten auf ein eigenständiges, dem Hauptvertrag vorgelagertes Schuldverhältnis, das von ihm sog. "Rechtsverhältnis der Vertragsverhandlungen" 183 , und machte sie damit vom wirksamen Bestand eines Hauptvertrages unabhängig l84 • Allerdings lehnte er die Sibersche Konstruktion eines vorbereitenden, stillschweigend geschlossenen Vertrages wegen der befürchteten Beweisschwierigkeiten ab. 185 Statt dessen suchte er den Entstehungsgrund des Rechtsverhältnisses in der von Siber nur kurz gestreiften, eher subsidiär verstandenen Möglichkeit eines einseitigen Rechtsgeschäfts durch den Eintritt in Vertragsverhandlungen. 186 Hildebrandt rechnete den StolIschen Ansatz deshalb zu den sog. Eintrittstheorien. 187 Eine besondere Hervorhebung verdient dabei Stolls Bemühen, anders als z. B. Siber188 die gesamte Haftung für vorvertragliche Pflichtver-

181

A.a.O., S. 192. Siber, Jherings Ib.70/S. 223, 261. V. Tuhr, S. 463.

182

StoU, LZ 1923/Sp. 532, 543.

183

A.a.O., Sp. 545.

184

A.a.O., Sp. 539.

1110

A.a.O., Sp. 545. A.a.O., Sp. 544. Ausführlich o. I.3)a). 187 HildebrandJ, S. 51.

185

186

188

Vgl. PlancklSiber, Vorbem. zu §§ 275-292, S. 192 f.

64

B. Das Werk Heinrich StoIls

letzungen, SO unterschiedlich die hierher gehörenden Fallgruppen auch waren, auf eine einheitliche Grundlage zu stellen und damit erstmals für den gesamten Bereich vorvertraglicher Pflichtverletzungen ein einheitliches Haftungsinstitut zu schaffen. Soweit ersichtlich, war auch der Versuch Stolls neu, das Verhältnis des Hauptvertrages und des Rechtsverhältnisses der Vertragsverhandlungen zueinander zu erklären. Hierfür griff er auf den bei Siber vorgefundenen Begriff des Schuldverhältnisses als Organismus zurück, dem er neue Aspekte abgewann. Siber hatte Organismus und Einzelanspruch einander gegenübergestellt und auf diese Weise verdeutlichen wollen, daß unter dem Schuldverhältnis grundsätzlich die gesamten Rechtsbeziehungen der Parteien zu verstehen seien, also ein alle Rechte und Pflichten umfassendes Verhält-

nis}89

Stoll betonte mit dem Begriff des Organismus vor allem die Wandelbarkeit des Schuldverhältnisses, indem er das Schuldverhältnis an sich, den Organismus, von seiner Erscheinungsform unterschied. 190 Wegweisend war dabei die freilich nur knapp angedeutete Erkenntnis, daß der Organismus des Schuldverhältnisses mehrere Entwicklungsstadien, eben die genannten Erscheinungsformen, durchlaufen könne, die sich durch die in ihnen verfolgten Interessen unterschieden l91 • Andeutungsweise war dieser Gedanke übrigens schon in Jherings, gleichfalls bereits zweckorientierter Differenzierung zwischen "Verbindlichkeiten auf Erfüllung" und "Verbindlichkeiten anderer Art" aufgetaucht. 192 Die Nichtigkeit des Vertrages sollte sich nur auf die Erfüllungspflichten auswirken; dagegen sollten die Sorgfaltspflichten vom Bestand des Vertrages unabhängig sein. 193 Während diese Verbindlichkeiten bei Jhering quasi in der Luft hingen, versuchte Stoll die verschiedenen Interessen in ein dogmatisches Gesarntkonzept, das Schuldverhältnis als Organismus, einzuordnen.

189 PlanclclSiber, VOIbcm. § 241, S. 4. 190

StoU, LZ 1923/Sp. 532, 544 FN 20.

191 A.a.O., Sp. 542. 192

Jhering, Jhcrings IbA/S. 1,29.

193 A.a.O.

1. Kapitel: Stolls Wirken vor

1933

65

b) Der Anwendungsbereich der Haftung für das Verhalten während der Vertragsverhandlungen Die obige Darstellung hatte versucht, die Verschiedenartigkeit der BegfÜndungsansätze aufzuzeigen. Um die zum Teil sehr großen Unterschiede zu begreifen, bedarf es der Einsicht, daß unter "culpa in contrahendo"194, "Verschulden beim Vertragsschlusse"195, "Verhalten während der Vertragsverhandlungen"196 etc. nicht immer das gleiche verstanden wurde; zumal ihr Anwendungsbereich verschieden beurteilt wurde. Jhering hatte die culpa in contrahendo entwickelt, um im Falle eines nichtigen Vertrages demjenigen, der auf die Gültigkeit des Vertrages vertraut hatte, gegen den anderen Teil, der den nichtigen Vertrag schuldhaft herbeigeführt hatte, einen Schadensersatzanspruch gewähren zu können, also besonders für die schuldhafte Verletzung von Aufldärungspflichten über Umstände, die der Wirksamkeit des Vertrages entgegenstehen. 197 Ihre Funktion war also bloß Bereitstellung eines Haftungsinstituts für die schuldhafte Täuschung des Vertrauens, einen wirksamen Vertrag abgeschlossen zu haben. Schon von dieser Aufgabe her verbot es sich, für die Entstehung vorvertraglicher Sorgfaltspflichten ein wirksames Vertragsverhältnis zu fordern. Ganz andere Fälle hatte dagegen Leonhard vor Augen. Ihm ging es um eine Haftung für schuldhafte Verletzung von Aufldärungs- und Erkundigungspflichten mit Bezug auf den Vertragsgegenstand, also z. B. die Kaufsache. Im einzelnen nannte er das schuldhafte Verschweigen von Fehlern der Ware, die fahrlässige Abgabe eines Versprechens und das schuldhafte Unterlassen des Verkäufers, sich über die Eigenschaften der Ware, besonders durch deren Untersuchung zu unterrichten. 198

194

Jhering. A .•. O., S. 1.

195

Leonhard. Schuldrecht, S. 544. Planck./Siber. Vorbem. zu §§ 275-292, S. SwU. LZ 1923/Sp. 532.

196

197 Jhering. 198

Jherings Jb .4/S. 1, 7.

Leonhard. Haftung des Verkäufers, S. 5, 22, 31.

5 Sessler

190.

66

B. Das Werk Heinrich Stolls

Die Haftung für das Verschulden beim Vertragsschluß bildete damit in gewissem Sinne ein Parallelinstitut zur Haftung für Verschulden bei der Vertragserfiillung. Dieses Argument, nämlich die bloße Vorverlagerung des Anknüpfungspunktes für das Einstehenmüssen, zog Leonhard zur Begründung der vorvertrag lichen Verantwortung heran und stützte darauf auch gleichzeitig seine Forderung nach einem wirksamen Vertragsschluß als Voraussetzung der Haftung. 199 Schädigungen der Rechtsgüter des Vertragspartners erfaßte Leonhard nur, soweit sie durch den Vertragsgegenstand selbst verursacht waren. Siber befürwortete dagegen eine vorvertragliche Verantwortlichkeit nicht nur für die Verletzung von Aufklärungs- und Erkundigungspflichten, sondern auch in vollem Umfange für die Verletzung von Erhaltungspflichten, auch wenn sie nicht mit dem Vertragsgegenstand zusammenhing. 2OO Schon diese wenigen Beispiele zeigen deutlich, daß die Ansichten über die Funktion der vorvertraglichen Haftung weit auseinandergingen, mit Auswirkungen auch für die Haftungsbegründung. Besonders weit lagen Jhering und Leonhard auseinander. Dieser ging so weit zu behaupten, daß es bei "seiner" Haftung für Verschulden beim Vertragsschlusse um etwas ganz anderes gehe als bei der Jheringschen Theorie von der culpa in contrahendo. 201 An diesem Punkt setzte Stoll an. Er erkannte, daß es in beiden Fällen um dasselbe Problem ging. Die Gemeinsamkeit erblickte er in dem Einstehenmüssen für ein Verhalten vor Vertragsabschluß202 , also in dem rein zeitlichen Aspekt; außerdem, wenn das auch nicht deutlich zum Ausdruck kam, in den verletzten Interessen203 . Es gelang ihm zwar noch nicht, die vorvertrag lichen Pflichten in einer befriedigenden Weise positiv zu charakterisieren. Immerhin grenzte er schon deutlich die durch sie verfolgten Interessen von den

199

Leonhard, Verschulden beim Vertragsschlusse, S. 42, 44, 48. Ebenso Oertmann, LZ

1914/Sp. 514, 519. 200 Planck/Siber, Vomem. ZU §§ 275-292, S. 193 f. 201 Leonhard, Verschulden beim Vertragsschlusse, S. 58. 'lJ12 Stall, LZ 1923/Sp. 532. 203 Stall, A.a.O., Sp. 542.

1. Kapitel: Stolls Wirken vor 1933

67

"Vertragsinteressen ", also denjenigen Interessen, die erst durch einen wirksamen Vertragsschluß hervorgerufen werden, ab. 204 Diese umfassende vorvertragliche Haftung berücksichtigte neben den eben erwähnten, schon früher hierher gerechneten Fallgruppen ausdrücklich eine weitere Form der Pflichtverletzung, die bisher - soweit ersichtlich - in diesem Zusammenhang noch keine Beachtung gefunden hatte, nämlich den Abbruch der Vertragsverhandlungen, bevor es zu einem Vertragsschluß gekommen war. 205 Im Anschluß an Siber dehnte Stoll den Anwendungsbereich der vorvertraglichen Haftung chronologisch nach vorne aus, indem er Pflichten bereits mit der Aufforderung zum Eintritt in die Vertragsverhandlungen entstehen ließ, also z. B. schon mit dem Offenhalten von Verkaufsräumen. Hierdurch wurde eine problemlose Erfassung der damals viel diskutierten "Kaufbausfälle" ermöglicht. Stoll kann somit für sich in Anspruch nehmen, daß er die bisher verstreuten Anwendungsfälle vorvertraglicher Pflichtverletzungen zusammengefaßt, sie auf eine einzige Rechtsgrundlage gestellt, mit einheitlichen Rechtsfolgen versehen und dadurch ein umfassendes, einheitliches Rechtsinstitut der Haftung für das Verhalten während der Vertragsverhandlungen geschaffen hat.

ill. Die Bedeutung der Methode Neben dem Leistungsstörungsrecht galt Stolls wissenschaftlicher Eifer in besonderem Maße der Methodenlehre. Mit seinen Werken "Rechtsstaatsidee und Privatrechtslehre"206, "Begriff und Konstruktion in der Lehre der Interessenjurisprudenz"207 und "Juristische Methode"208 war er als einer der bedeu-

204

A.a.O.

:11lS

A.a.O., Sp. 535 f.

206

Jherings Jb. 76 (1926 )/S. 134.

:11l7

Festgabe für Philipp Heck:, Max Rümelin und Arthur Benno Schmidt, Beiheft zu AcP 133

(l931)/S. 60. 208

5*

In: "Leben in der Justiz", hg. von Heinrich Richter, Berlin 1934, S. 83.

68

B. Das Werk Heinrich Stolls

temlsten Vertreter der Methode der Interessenjurisprudenz hervorgetreten. In der zuerst genannten Abhandlung, seiner Freiburger Antrittsvorlesung, erörterte er Gesetz, Recht und darauf aufbauend das Problem der Gesetzesauslegung. Seine umfangreichste Arbeit auf methodologischem Gebiet war sein Festschriftbeitrag für Heck, Rümelin und Schmidt. In ihm befaßte er sich ausführlich mit der Bedeutung der Begriffs- und Systembildung in der Interessenjurisprudenz und den Folgerungen, die sich aus dieser Lehre für die Begriffe und Systeme ergeben. Damit ergänzte er die Methodenlehre der Interessenjurisprudenz in einem wichtigen Bereich. Die dritte methodologische Arbeit war ein Vortrag, den Stoll in der Schulungswoche preußischer Gemeinschaftsleiter im Gemeinschaftslager "Hanns Kerrl" 1934 gehalten hatte. Auf sie wird im 2. Kapitel zurückzukommen sein. 1. Stolls Methode der Interessenjurisprudenz a) Zielsetzung und Begründung Ziel der Interessenjurisprudenz, wie sie von Stoll vertreten wurde, war, kurz gesagt, die Verwirklichung des im Gesetz geschaffenen Kräfteausgleichs in der Rechtsanwendung, d. h. vor allem durch die rechtsprechende Gewalt. 209 Dieser Forderung und ihrer Umsetzung lagen ein bestimmtes Verständnis von Entstehung und Funktion der Rechtsnormen zugrunde, ferner ein bestimmter Rechtsstaatsbegriff. Beide Vorstellungen sollen unter besonderer Berücksichtigung ihrer Bedeutung für die Methode der Interessenjurisprudenz untersucht werden. aa) Funktion und Entstehung von Rechtsnormen Aufgabe und Zustandekommen des positiven Rechts versuchte die sog. "genetische Interessentheorie" zu klären, eine Teillehre der Interessenju-

209

StoU, Rechtsstaatsidee, S. 161.

1. Kapitel: Stol1s Wirken vor 1933

69

risprudenz, und deshalb auch wesentlicher Bestandteil der StolIschen Methodenlehre. 210 Zentrale Funktion des Rechts, ist, wie Stoll es ausdrückte, seine Eigenschaft als soziale Friedenssatzung: "Das Recht als soziale Friedenssatzung dient der Erhaltung oder Herbeifübrung bestimmter sozialer Zustände und damit dem Frieden unter den Rechtsgenossen. Die Ordnung in der Gemeinschaft kann nur aufrecht erhalten werden, wenn alle Rechtsgenossen sich bestimmten Regeln fügen. "211 Dementsprechend zielten die Rechtssätze auf eine Abgrenzung der Betätigungssphären der Individuen untereinander, besonders aber zwischen Staat und Individuum ab. 212 Die Rechtsordnung sollte also Konflikte gerade auch zwischen Staat und Bürger entscheiden. Um diese Aufgabe zu erfüllen, fordere das Gesetz ein bestimmtes Verhalten und lege fest, mit welchen Mitteln es erreicht werden könne. Daraus schloß StolI, "daß das Recht zweckbewußt vom Menschen geschaffen wird und daß alle Rechtssätze auf die Vorstellung und Verfolgung, die Ausgleichung und Durchsetzung von Interessen zurückzuführen sind", also Interessenkonflikte regeln. 213 Stoll verstand das Wort "Interesse" im weitesten Sinne als jede "kulturelle Begehrungsdisposition", so daß darunter nicht nur wirtschaftliche, materielle, sondern auch ideelle Begehren fielen. 214 Nach seiner Auffassung ermittelte der Gesetzgeber die widerstreitenden Interessen aus der Anschauung der Lebensverhältnisse. Über die dabei zutage tretenden Interessenkonflikte fälle er ein Werturteil, indem er nach seinen Begehrungsvorstellungen, d. h. Wertmaßstäben, bestimmte Bestrebungen anerkenne und bevorzuge oder unter ihnen einen Ausgleich schaffe. 215 Die Beur-

210

Kallfass, S. 9. Urspr. Heck, Begriffsbildung, S. 31. Die andere Teillehre der Interessen-

jurisprudenz, die ·produktive Interessentheorie ., zog aus diesen Grundlagen die methodischen Schlußfolgerungen für die richterliche Fallentscheidung und die Gestaltung der wiasenschaftlichen Arbeit. 211 StolI, Begriff, S. 64. Rcchtastaatsidcc, S. 145 f. Begriff, S. 66. 214 A.a.O., S. 67. 212 StolI, 213 StoU,

215

StoU, Rcchtastaatsidcc, S. 147. Begriff, S. 67 f.

70

B. Das Werk Heinrich Stolls

teilungsmaßstäbe des Gesetzgebers wie Rechtssicherheit, Billigkeit etc. zählte Stoll übrigens auch zu den Interessen, nämlich zu den "ideellen Interessen", die der Gesetzgeber bei der Normbildung mitwerte. 216 Der Begriff "Interesse" bezeichnete damit bei Stoll sowohl das Bewertungsobjekt als auch den Bewertungsmaßstab. 217 Insgesamt war der Entstehungsvorgang des Rechts also zweistufig: Auf der ersten Stufe wurden die Lebensverhältnisse analysiert, d. h. der zu regelnde Sachverhalt und die dabei berührten Interessen ermittelt. Auf der zweiten Stufe wurden diese Verhältnisse bzw. die sich in ihnen zeigenden Interessen beurteilt. Damit stufte Stoll die Rechtsnorm nach Heinrich Maiers Psychologie des emotionalen Denkens als Ausdruck einer auf Begehrungsvorstellungen beruhenden Wertung, als das "Erzeugnis nicht kognitiver, sondern volitiver Phantasie" ein. 218 bb) Die Bedeutung des Rechtsstaatsverständnisses Wie bereits erwähnt, sah Stoll die Aufgabe der Interessenjurisprudenz darin, den im Gesetz geschaffenen Ausgleich in der Rechtsanwendung umzusetzen. Die Forderung nach Verwirklichung des gesetzlichen Kräfteausgleichs durch die Rechtsprechung entsprang Stolls Rechtsstaatsverständnis, das er vor allem in den beiden Freiburger Arbeiten "Für den Rechtsstaat und richterliche Unabhängigkeit"219 und - in seiner Bedeutung für die Methodenlehre "Rechtsstaatsidee und Privatrechtslehre"220 ausführlich darlegte. Es soll hier näher untersucht werden. Stoll bekannte sich ausdrücklich zur formaljuristischen Rechtsstaatsidee. 221 Ähnlich wie seinem Rechtsnormenverständnis lag auch diesem Rechtsstaatsbegriff der Gedanke zugrunde, "daß dem Individuum eine Sphäre freier Betä-

216 SlOll, 217

Begriff, S.

67 FN 13.

Hierzu kritisch Larenz, Methodenlehre, S.

65. 219 Bad. Rechtsprax.is 1925/S. 129. nI Jherings Jb. 76/S. 134. 221 StolI, Rechtsstaatsidee, S. 142. 218 SlOll,

Begriff, S.

57.

1. Kapitel: Stolls Wirken vor 1933

71

tigung gesichert sein müsse" durch Gewährleistung von Rechtssicherheit. 222 Das Ideal der Rechtssicherheit hatte für Stoll gleich mehrere Bedeutungen223 : Garantie gegen staatliche Übergriffe, Rechtsbestimmtheit, d. h. Erkennbarkeit von Inhalt und Geltung der Rechtsnormen, schließlich Rechtsstetigkeit, also Gleichmäßigkeit und Voraussehbarkeit der Rechtsprechung. In diesen Anforderungen zeigte sich deutlich das formaljuristische Rechtsstaatsverständnis. Es verbot sich, irgendwelche inhaltlichen Anforderungen an die Rechtssätze zu stellen, und ging von der formalen Allmacht der Staatsgewalt aus. So sagte StolI: "Uns kommt es darauf an, daß der Gesetzgeber die Macht hat, jede Rechtsfrage mit ausschließlicher Geltung zu regeln. "224 Und noch deutlicher: "Mag das staatliche Gebot sittlich nicht verpflichtend sein, mag es weder anerkannt noch befolgt werden, gegen seine Mißachtung sind die staatlichen Machtmittel gegeben. Insofern ist es staatliches und geltendes Gebot und es muß vom Richter angewandt werden, gleichgültig, ob man es in sittlicher Wertung "Recht" oder "Gewalt" nennen will. "225 Die Allmacht des Gesetzgebers begründete Stoll mit der Autonomie der Rechtsgemeinschaft. 226 Vorausgesetzt wurde allerdings die Selbstbeschränkung des Gesetzgebers durch die Verfassung. "Die irgendwie in der Verfassung erfolgte Grenzziehung zwischen staatlicher Macht und persönlicher Freiheit nimmt sie (die formaljuristische Rechtsstaatsidee), so wie gegeben, hin. "227 Darin lag kein Widerspruch. Gelegentlich wird zwar die Auffassung vertreten, daß der Rechtsstaatsbegriff schon durch die Forderung nach Verfassungsmäßigkeit der Gesetze eine materielle Komponente enthalte. 228

m A.a.O., S. 138, 200. Als Gegenpol der Rechtssichemeit betrachtete Stall die Angemessenheit, der er jedoch - jedenfalls zur damaligen Zeit - keine Bedeutung für den Rechtsstaat beimaß (a.a.O., S. 137 ff.). 223 A.a.O. 224

A.a.O., S. 150 FN 2.

m A.a.O., Rechtsstaatsidee, S. 150 FN 2. '127

A.a.O., S. 143, 202. A.a.O., S. 142. Die Klammer enthält eine Anm. der Verfasserin.

228

MaunzIDUriglHenog, Art.20 Vß RN 19 FN I.

226

B. Das Werk Heinrich Stolls

72

Das ist aber, jedenfalls für damals, falsch: Die Bindung des Gesetzgebers an die Verfassung führte dazu, daß das den formalen Rechtsstaatsbegriff konstituierende Merkmal der Gesetzmäßigkeit auf einer höheren Ebene, nämlich derjenigen der Verfassung, verwirklicht wurde. Es handelt sich hier somit lediglich um ein Problem der Rechtsquellenhierarchie. Entscheidend ist, daß der Verfassungsgeber frei in der Grenzziehung zwischen staatlicher Macht und persönlicher Freiheit ist. Dies sagte Stoll ausdrücklich. 229 Die dem formellen Rechtsstaatsprinzip eigene Idee der Allmacht der Legislative war damit gewahrt. Sie wurde durch die Selbstbindung nicht berührt. Die von Stoll mitunter postulierte Bindung des Gesetzgebers an die "Natur der Sache" oder an Wesen und Sinn eines Sachverhalts widersprach dem ebensowenig, da sich diese Forderung ausschließlich auf die Begriffsbildung, also Formulierungsfragen, auf die Erforschung und Würdigung der Sachlage, nicht aber auf die inhaltliche Wertung der Interessen bezog. 230 Zum Schutze der Rechtsetzungsautonomie verlangte der formelle Rechtsstaatsbegriff, daß der in Verfassung und Gesetz erzielte Kräfteausgleich aufrechterhalten wird. 231 Sein Inhalt bestand folglich in der Garantie des einmal gesetzten Rechts gegenüber obrigkeitlichen Eingriffen und widerstrebenden Bürgern. Somit war der Adressat seiner Forderungen nicht der - ungebundene - Gesetzgeber, sondern der Rechtsanwender , vor allem der Richter. Damit stellte sich auch im Privatrecht das Problem, wie der dem Bürger versprochene Rechtsschutz, so wie er im Gesetz angeordnet war, gewährleistet werden konnte, also das Problem der Wahrung des gesetzlich geschaffenen Friedenszustandes bei der Rechtsanwendung. Die Lösung lag nach Stolls Auffassung in der strikten Trennung von Rechtsetzung und Rechtsprechung, die er auf dreifache Weise zu erreichen suchte. Die Rechtssätze sollten technisch klar und fest formuliert werden, die Beachtung der Verfassungsschranken durch den Staat sollte von unabhängigen

Rechtsstaatsidee, S. 142. Vgl. SIOU, Begriff, S. 104 f. SIOU, Rechtsstaatsidee, S. 142, 144.

Z29 SIOU, 2JO 231

1. Kapitel: Stolls Wirken vor 1933

73

Gerichten übetwacht werden, und die Gerichte sollten an das Gesetz gebunden sein. 232 Hier ist die letzte Forderung von Interesse, da Stoll gerade sie mit seiner Methodenlehre vetwirklichen wollte. Vor einer Untersuchung dieser Methodenlehre soll aber zunächst noch Stolls Rechtsstaatsverständnis näher analysiert und eingeordnet werden. Die Betonung der Aspekte Rechtssicherheit, Gewaltenteilung und Allmacht des Gesetzgebers wies Stoll als einen Anhänger des Rechtsstaatsbegriffs der spätkonstitutionellen Staatsrechtslehre aus. 233 Im Zeichen des Positivismus aller staats- und verfassungstheoretischen Vorstellungen entkleidet, handelte es sich bei ihm um einen staatsrechtlichdogmatischen Begriff, der keine bestimmte Staatsform, sondern, als Gegenbegriff zum Polizeistaat des 18. Jahrhunderts, ein Verfahren der Machtausübung bezeichnete. Weit verbreitet war die Begriffsbestimmung von Anschütz, nach der der Rechtsstaat "auf eine bestimmte Ordnung des Verhältnisses zwischen Gesetz, Vetwaltung und Individuum" gehe. 234 Sie war ersichtlich vom Gedanken der Gewaltenteilung geprägt. Auf ihm beruhte Stolls Forderung nach einer Methodenlehre, die in der Lage ist, eine Vermengung von Rechtsetzung und Rechtsprechung bei der Rechtsanwendung zu verhindern. Die Allmacht des Gesetzgebers wurde besonders stark von Thoma betont: "Die Rechtsstaatsidee wird, wenn man es so ausdrücken will, preisgegeben, insoweit sie den Staat als Ganzes unter irgendein, menschlicher Satzungsgewalt spottendes, absolutes Recht beugen will, sie wird um so entscheidender erfaßt, insofern sie unterhalb der Gesetzgebung die vollkommene Rechtmäßigkeit und Gesetzmäßigkeit der Staatsvetwaltung und Rechtsprechung postuliert. "235 In der Reduktion der Rechtsstaatsidee auf formale Aspekte zeigte

Bad. Rechtspraxis 1925/S. 129. Rechtsstaatsidee, S. 145. Vgl. die verschiedenen Ausprägungen des Rechtsstsatsbegriffs bei Böckenforde, in FS

232 SIOU, 233

Arndt, S. 59 ff. 234 Meyer/A.nscharz, S. 29 FN 6. 235 1homa, JöR 191/S. 196,204. Stoll bezog sich in "Rechtsstaatsidee und Privatrechtslehre" mehrfach auf diesen Aufsatz.

74

B. Das Werk Heinrich Sto11s

sich der Einfluß des Positivismus, der jede innere Legitimation der Gesetzesherrschaft als metajuristisch ablehnte. Gleichzeitig stand hinter dieser Auffassung aber auch eine entschieden liberale und demokratische Grundhaltung, nämlich die Einsicht in die Friedensfunktion des positiven Rechts und der gesetzgeberischen Letztentscheidung angesichts einer sozial und weltanschaulich nicht mehr homogenen Gesellschaft. 236 Beide Tendenzen, sowohl die positivistische als auch die liberaldemokratische, kamen auch in Stolls Grundlegung der Interessenjurisprudenz zum Ausdruck, da er die Rechtsordnung vom Entstehungsprozeß her als eine "Schöpfung des menschlichen Willens" und unter funktionellen Aspekten als "soziale Friedenssatzung" beschrieb. 237 In diesen Formulierungen wird ganz deutlich, daß Stoll die Funktion des Rechts nicht in der Errichtung einer gerechten Ordnung sah, sondern in einem beliebigen Ausgleich der Kräfte zur Befriedung der Rechtsgenossen, sofern dieser Ausgleich nur als Produkt der autonomen Rechtsgemeinschaft in einem bestimmten Verfahren zustande gekommen war. Noch eindeutiger trat dieses Weltbild in folgender Passage zutage: "Wenn wir prüfen wollen, was die Rechtsstaatsidee unserem geltenden Privatrecht zu sagen hat, so können wir uns nicht irgendeiner der rechtspolitischen, philosophischen Anschauungen des 19. Jahrhunderts anschließen. Denn diese Ideen setzen eine bestimmte Weltanschauung voraus und stellen von ihr aus bestimmte Postulate auf, wie die Gesetze in Zukunft inhaltlich gestaltet sein müßten; sie können also auf allgemeine Zustimmung jedenfalls nicht rechnen und vermögen für das bestehende Recht nur kritische Beiträge zu liefern. "238 Und weiter: "Was im Einzelfall gerecht ist, wird aber immer auf gefühlsmäßigen, individuell verschiedenen Eindrükken beruhen. "239 Die Beschränkung der Rechtsstaatsidee auf formelle Aspekte muß schließlich auch vor dem Hintergrund betrachtet werden, daß in Deutschland zu die-

236

Böckenforde, in FS Arndt, S. 65.

231

StoU, Begriff, S. 64, 68.

238

StolI, Rechtsstaatsidee, S. 138.

239

A.a.O., S. 140.

1. Kapitel: Stolls Wirken vor 1933

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ser Zeit bereits nahezu überall konstitutionelle Verfassungen in Kraft waren. Dadurch wurde die Allmacht des Gesetzgebers auch inhaltlich eingeschränkt, allerdings nur in der Weise, daß sich das Problem der materiellen Gestaltungsfreiheit der gesetzgebenden Organe auf eine höhere Ebene, nämlich die des Verfassungsgebers, verlagerte. In diesen Verfassungen waren viele Forderungen verwirklicht, die ursprünglich im Rechtsstaatsbegriff beschlossen waren, der nun gewissermaßen von diesem "Ballast" befreit werden konnte. Dazu gehörten Gewährleistung der bürgerlichen Freiheit, rechtliche Gleichheit, der rechtsstaatliche Gesetzesbegriff in seiner inhaltlichen und organisatorischen Dimension, Unabhängigkeit der Richter, rechtsstaatliche Gestaltung des Strafverfahrens etc. 24O Auch Stoll setzte die Existenz der Verfassung ausdrücklich voraus: "Sie (die formelle Rechtsstaatsidee) ist nur verständlich, wenn man sich bewußt bleibt, daß sie erst nach dem Sieg des Verfassungsstaates geboren wurde. Sie setzt es als selbstverständlich voraus, daß der Absolutismus überwunden und in der Verfassung die staatsbürgerliche Freiheit gewährleistet ist. "241 Zwischen Rechtsstaatsidee und Verfassung bestand damit eine Beziehung dergestalt, daß materielle Rechte in der Verfassung gewährt wurden, während der auf formale Gehalte reduzierte Rechtsstaatsbegriff ihre Umsetzung in Rechtsanwendung garantierte. Mit der Gewährleistung von Rechtssicherheit diente der formelle Rechtsstaatsbegriff also letztlich der Sicherung von Freiheit und Eigentum des Bürgers, was auch Stoll mehrfach betonte. 242 Aus heutiger Sicht wird der formelle Rechtsstaatsbegriff deshalb als stabilisierender Faktor der bestehenden Gesellschaftsordnung eingestuft, insbesondere im Hinblick auf die Güterverteilung. 243 Festzuhalten ist somit, daß Stolls Forderung nach Verwirklichung des gesetzlichen Ausgleichs der Interessen in der Rechtsanwendung auf seinem spätkonstitutionellen Rechtsstaatsverständnis beruhte, das vor dem Hintergrund

240

Böckenjörde, in FS Amdt, S. 60.

241

StolI, Rechtsstaatsidee, S. 141 FN 3, 142. Die Klammer enthält eine Arun. der Verfas-

serin. 242

A.a.O., S. 138,143, 144.

243

Böckenforde, a.a.O., S. 66.

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B. Das Werk Heinrich Stalls

einer positivistisch und liberaldemokratisch geprägten Weltanschauung seine Funktion nicht in der inhaltlichen Einflußnahme auf den Interessenausgleich sah, den die als autonom betrachtete Rechtsgemeinschaft vorgenommen hatte, sondern in der Garantie des in der vorgeschriebenen Weise zustande gekommenen Ausgleichs. b) Theorie der Rechtsanwendung Zu erläutern ist nun die Methode, mit der Stoll glaubte, die vom formaljuristischen Rechtsstaatsbegriff gebotene Erhaltung des gesetzlichen Kräfteausgleichs in der Rechtsanwendung leisten zu können. aa) Gesetzesauslegung Wie wir oben sahen244 , enthält nach Stolls Auffassung jeder Rechtssatz ein Werturteil über einen Interessenkonflikt. Bei der Auslegung des Gesetzes soll dieses abstrakte Werturteil auf einen konkreten Sachverhalt übertragen werden. Erreichen wollte Stoll das mit einem zweistufigen Verfahren. In einem ersten Schritt sollte der Richter den Willen des Gesetzgebers, die ratio legis, erforschen. Der zweite Schritt bestand in einer interessenvergleichenden teleologischen Subsumtion. 245 Unter dem Willen des Gesetzgebers verstand Stoll im Anschluß an Heck nicht den psychologischen Willen "irgendwelcher bei der Gesetzgebung beteiligter Personen oder gar einer fingierten Person", sondern einen normativen Willen, "die zusammenfassende Bezeichnung für diejenigen Gemeinschaftsinteressen, welche in dem Gesetz zur Geltung gelangt sind". 246 Als maßgeblich betrachtete er den Willen des historischen Gesetzgebers, vertrat also die sog. subjektive Theorie. 247 Dagegen fragten die Anhänger der objektiven Theorie danach, was ein verständiger Jurist heute unter dem Gesetzestext ver-

244

l)a)aa).

24S

StoU, Begriff, S. 70.

246

A.a.O., S. 165.

241

StoU, Rechtsstaatsidee, S. 167. Begriff, S. 71.

1. Kapitel: Stolls Wirken vor 1933

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stehen würde. Stoll warf ihnen vor, mit dem Gesetzesgehorsam, also dem Gebot der Bindung des Richters an das Gesetz, zu brechen, da an die Stelle der gesetzlichen Interessenbewertung - bewußt oder unbewußt - die subjektive Auffassung des Interpreten trete. 248 Wie diese Kritik schon .zeigt, hielt Stoll diesen Standpunkt für eine zwingende Folge seines Rechtsstaatsverständnisses, wonach der im Gesetz einmal geschaffene Interessenausgleich durch die Praxis der Rechtsanwendung verwirklicht werden müsse. Stoll betonte, daß nur der Gedanke der Autonomie der Rechtsgemeinschaft die historische Auslegung fordere, dagegen nicht die Interessenforschung als solche. 249 Für die Erforschung des legislatorischen Willens sollte der Richter die den Geboten zugrunde liegenden Interessenabwägungen herausarbeiten, d. h. jeden Rechtssatz auf seinen Interessengehalt prüfen. Dazu müßten Interessengrundlage und Interessenwirkung des Rechtssatzes analysiert werden. 250 Auslegungsmittel war in erster Linie der Gesetzestext; aber auch Veranlassung und Zweck des Gesetzes, historische Entwicklung des in ihm verkörperten Rechtsgedankens, soziale Verhältnisse, Rechtsübung und Verkehrsauffassung, Stand der Wissenschaft zur Zeit des Erlasses sowie Äußerungen ein.zeIner, bei der Gesetzgebung beteiligter Persönlichkeiten, wie sie aus den Gesetzesmaterialien zu ermitteln sind, wurden berücksichtigt. 251 Diese anderen Auslegungsmittel waren besonders bei Formulierungsmängeln wichtig, also wenn Begriffe und Worte des Gesetzestextes mehrdeutig, der Ausdruck unbestimmt oder unvollständig war. Sodann war im Wege der interessenvergleichenden, teleologischen Subsumtion zu untersuchen, ob der konkrete Rechtsfall dieselbe Interessenlage enthielt. Nur dann konnte die Norm auf ihn angewendet werden. 252 Dieser

248

StoU, Rechtastaatsidee, S. 163, 166 f.

Begriff, S. 71. A.a.O., S. 69. 251 StoU, Rechtsstaatsidee, S. 163. 252 StoU, Begriff, S. 69 f. 249 StoU,

2SO

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B. Das Werk Heinrich Stolls

Vorgang war wertender Natur. Das formallogische Subsumtionsverfahren lehnte Stoll als Rechnen mit Begriffen grundsätzlich ab. 253 Dies war eine Folge seines Rechtsnormenverständnisses, das die gesetzlichen Begriffe als abgekürzten Ausdruck für bestimmte Interessenlagen und deren Wertungen ansah. Stoll schloß daraus, daß sich der Inhalt dieser Begriffe nur durch eine teleologische Subsumtion, also durch Erforschung des Interessengehalts der Rechtsbegriffe, erschließen lasse. Allerdings akzeptierte er das formallogische Subsumtionsverfahren "aus Gründen der Stetigkeit wie der Schnelligkeit der Rechtspflege" bei glatter Sachlage und stufte es in diesen Fällen sogar als unentbehrlich ein, sofern nur die Begriffs- und Systembildung der Rechtsschöpfung nachfolge und die in teleologischer Auslegung gewonnenen Ergebnisse auf einfache logische Formeln gebracht würden. 254 bb) Lückenergänzung Von Lücken sprach Stoll in allen Fällen, in denen die Rechtsordnung für die Entscheidung des konkreten Tatbestands kein unmittelbares Werturteil bot. 255 Dabei war vom Standpunkt der teleologischen Auslegung aus allen Lücken gemeinsam, daß das fehlende Werturteil auf Anschauungsmängeln beruhte, der Gesetzgeber sich den fraglichen Tatbestand also nicht vorgestellt hatte. Denn ein Rechtssatz könne nur maßgeblich sein für die vom Gesetzgeber angeschauten Fälle. 256 Da der Gesetzgeber ein allgemeines Prinzip nur aufstellen könne nach der Vorstellung, die er nach Durchdenken einer beschränkten Anzahl einzelner Fälle gewonnen habe, könne das Gesetz nur typische Maßstäbe für die Verhältnisse seiner Zeit geben. Aus dieser Erkenntnis heraus vertrat Sto11 den Grundsatz der Lückenhaftigkeit der Rechtsordnung.

253

A.a.O., S. 89.

2S4

StaU, A.a.O., S. 90.

255 StaU,

Rechtsstaatsidee, S. 175.

2S6 StaU,

Begriff, S. 68. Rechtsstaatsidee, S. 151 f.

1. Kapitel: Stolls Wirken vor

1933

79

Stoll unterschied zwei Arten von Lücken. Als "unecht" bezeichnete er solche, bei denen der Richter mittelbar aus vorhandenen Werturteilen auch für den neuen Tatbestand die Entscheidung finden konnte, sofern der Rechtsordnung nur überhaupt ein Werturteil für den fraglichen Tatbestand zu entnehmen war. "Echt" waren dagegen Lücken, wenn der Richter über den neuen Tatbestand ohne solche gesetzlichen Hinweise selbst ein Werturteil abgeben mußte. 257 Der Lückenergänzung stellte Stoll die richterliche Delegationstätigkeit gleich, d. h. jene Fälle, in denen der Gesetzgeber durch Verwendung von "Ausfüll- und Würdigungsbegriffen" bewußt von einem eigenen Werturteil abgesehen hatte. 258 Auch hier traten die beiden genannten Varianten auf, d.h. Sachverhalte, für die die Gesamtrechtsordnung ein Werturteil bereit hielt, und solche, für die es der Richter selbst bilden mußte. Für beide Arten von Lücken galt: "Wo (unmittelbare) gesetzliche Werturteile fehlen, muß der Richter die Rechtssätze in schöpferischer, interessenwertender Tätigkeit neu schaffen ( ... ). "259 Stoll betonte den schöpferischen Aspekt der richterlichen Tätigkeit, den er in der eigenständigen Bildung von Rechtssätzen für den Einzelfall sah. Gleichzeitig wies er aber auch darauf hin, daß es sich bei der Lückenausfüllung um eine Tätigkeit in Anlehnung an das Gesetz handele. 260 Unechte Lücken sollten durch Beurteilung der neu aufgetretenen, gesetzlich nicht anerkannten Tatbestände in Anlehnung an verwandte Interessenwertungen des positiven Rechts ergänzt werden oder, wie Stoll es ausdrückte, "unter Fernwirkung der gesetzlichen Werturteile".261 "Wenn der Richter feststellt, daß der konkrete Fall einen vom Gesetz nicht anerkannten und daher nicht geregelten Konflikt enthält, so hat er zu prüfen, ob im Gesetz verwandte Inter-

']j7 StoU,

Rechtsstaatsidce, S.

175. Stoll Begriffe (a.a.O., S. 154). 2S8

A.a.O., S.

Begriff, S. 68. Die Klammem enthalten Anm. der Verfasserin. Rechtsstaatsidce, S. 177. StoU, Begriff, S. 73.

']j9 StoU, 260 StoU, 261

176 FN 3.

meinte damit hauptsächlich Generalklauseln, aber auch nonnative

80

B. Das Werk Heinrich Stolls

essenlagen entschieden sind. Eine so gefundene Wertung ist für den Richter richtungsweisend. "262 Stoll wollte die unechten Lücken also durch Analogie ergänzen, wobei er rur die erforderliche Rechtsähnlichkeit des geregelten und des zu beurteilenden Sachverhalts auf das Kriterium der Verwandtschaft der Interessenlagen abstellte. Zur Ausrullung echter Lücken sprach sich Stoll rur eme richterliche Rechtsfortbildung durch Gebotsergänzung aus. Danach hatte der Richter - wie der Gesetzgeber - die neuen Interessengegensätze zu ermitteln und in selbständiger Wertung zu entscheiden. 263 Da die selbständige Wertung wegen Stolls Rechtsstaatsverständnis keine freie Willensentscheidung sein durfte, forderte er eine "methodische, objektiv begründete Rechtsfindung". 264 Zu diesem Zweck stellte er eine Rangfolge der zu konsultierenden Rechtsquellen auf. Sei kein Hinweis aus dem Rechtssystem zu gewinnen, so solle der Richter versuchen, aus den in der Rechtsgemeinschaft herrschenden Anschauungen einen Anhalt zu gewinnen. Damit meinte Stoll Verfassung und Verkehrssitte. 265 Nur wenn dort keine Bewertungsmaßstäbe zu finden waren, durfte der Richter auf die Idee der Gerechtigkeit zurückgreifen. Doch auch dann sollte er die intuitiv gefundene Lösung durch methodisches Vorgehen überprüfen, z. B. durch Suchen nach einer Regel. 266 Stoll befand sich hinsichtlich der Ergänzung echter Lücken - ebenso wie die anderen Anhänger der 10teressenjurisprudenz - in einem Zwiespalt, weil er die Existenz allgemein verbindlicher, überpositiver Wertmaßstäbe verneinte. Die Verweisung des Richters auf die Idee der Gerechtigkeit war deshalb nicht nur wenig hilfreich, sondern sogar widersprüchlich. Diesen Mangel sollte die methodische Überprüfung des Urteils bzw. die wissenschaftlich gesicherte Bildung von Regeln an-

262

A.a.O., Begriff, S. 73.

263 StoU, 264

265 StoU, 266

Rechtastaataidee, S. 180. Begriff, S. 68, 75.

StoU, Rechtastaataidee, S. 179.

Begriff, S. 74.

A.a.O., S. 74 f. Eine noch größere Bedeutung kam dem Aufstellen von Regeln in

"Rechtastaataidee und Privatrcchtalehre", S. 180, zu. Dort sollten die allgemeinen Regeln nicht nur der Überprüfung des Werturteils dienen, sondern bereita der Rechtafindung selbst.

1. Kapitel: Stolls Wirken vor 1933

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scheinend kompensieren. Methodisches Vorgehen sollte fehlende Wertüberzeugungen ersetzen. Für die Fälle der echten Gebotsergänzung verneinte Stoll die Geltung der subjektiven Theorie. Der Richter mußte somit nicht so entscheiden, wie der historische Gesetzgeber entschieden hätte. Nach Stoll fehlte ja in diesen Fällen gerade ein historisches Werturteil. Die historische Auslegung diente ihm nur zur Erhaltung des erzielten Interessenausgleichs "nicht um das Denken und Fühlen einer vergangenen Zeit um ihrer selbst willen zu konservieren" .267 ce) Gebotsänderung und Gebotsberichtigung Unter dem Stichwort "Gebotsänderung" behandelte Stoll die Frage, ob die Rechtsprechung um "der höheren Zwecke der Rechtsordnung willen" oder um sich dem Rechtsbewußtsein des Volkes anzupassen, von dem klar erkannten Urteil des historischen Gestzgebers abweichen darf. 268 Zu diesem Problem bezog er eindeutig Stellung: "Soll der im Gesetz zustande gekommene Interessenausgleich erhalten bleiben, so muß der Richter dem Gesetz auch dann Gehorsam schulden, wenn es ihn im Einzelfall zu einer unbilligen Entscheidung zwingt, ja er bleibt selbst in den Fällen gebunden, in denen die Wertungen des Gesetzes mit den geänderten Anschauungen der Rechtsgemeinschaft in Widerspruch stehen. "269 Abhilfe wollte er nur durch den Gesetzgeber dulden. Deutlich erkennt man hier den Einfluß der formalen Rechtsstaatsidee. Von dem Problemkreis der Gebotsänderung schied Stoll jedoch scharf die Fälle schlechter Formulierung. Getreu der teleologischen Ausprägung seiner Lehre ging er davon aus, daß der Richter nicht an den Wortlaut des einzelnen Rechtssatzes und auch nicht an das einzelne Gebot in seiner Isolation, sondern an die Werturteile des Gesetzgebers gebunden sei, die sich nur aus der Gesamtrechtsordnung, nicht aus der Einzelnorm, ermitteln ließen. 270 Daraus

'UJ7

StaU, Rechtsstaatsidee, S. 179 FN 4.

A.a.O., S. 183. A.a.O., S. 186. m A.a.O., Rechtsstaatsidee, S. 183.

268

2m

6 Sessler

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schloß StolI, daß der Richter den Wortlaut des einzelnen Rechtssatzes nach dem Zweck des Gebotes berichtigen dürfe. Ferner gestattete und gebot er eine Abänderung des einzelnen gesetzlichen Werturteils dann, wenn dieses höheren Werturteilen der positiven Rechtsordnung widersprach. In diesem Fall mußte es den höheren Geboten angepaßt werden. 271 c) Die Bedeutung der Begriffs- und Systembildung Mit der Stellung der Begriffs- und Systembildung in der Lehre der Interessenjurisprudenz setzte sich Stoll vor allem in seinem Festschriftbeitrag "Begriff und Konstruktion in der Lehre der Interessenjurisprudenz" (1931) auseinander. Nach dem Urteil Hecks füllte Stoll mit dieser Abhandlung eine Lücke in den Schriften der Tübinger Schule. 272 "Stoll hat als erster in eingehender Darstellung diejenigen Folgerungen gebracht, die sich aus unseren Grundanschauungen für diese Probleme ergeben. " Die Tübinger Schule hatte sich ursprünglich auf die Rechtsgewinnung und die richterliche Rechtsanwendung konzentriert und mußte sich deshalb häufig gegen den Vorwurf zur Wehr setzen, sie vernachlässige die Begriffs- und Systembildung. 273 Diese Angriffe und die durch sie veranIaßten Reaktionen führten dazu, daß die "wichtigste methodologische Auseinandersetzung dieses Jahrhunderts - die zwischen Begriffsjurisprudenz und Interessenjurisprudenz nicht zuletzt eine Kontroverse über Sinn, Art und Grenzen juristischer Systembildung" wurde. 274 Stoll definierte das juristische System allgemein als "eine Zusammenfassung von Rechtssätzen und Rechtsbegriffen zu einem einheitlich geordneten Ganzen".27S Die Verbindung und Gegenüberstellung der Rechtssätze, die

271

A.a.O.

272 Heck, AcP 144/S. 3, 8 f. Vgl. auch die Beurteilung von Canaris, der die Bedeutung Stolls auf diesem Gebiet gerade gegenüber Heck hervorhob (Systemdenken, S. 40 FN 109). 273 Vgl. die Zitate in Begriff, S. 64 FN 7. 274 Canaris, Systemdenken, S. l. 27S StaU, Begriff, S. 77.

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Über- und Unterordnung der Begriffe, erfolge unter bestimmten Gesichtspunkten und nach bestimmten Grundprinzipien. Die Vollständigkeit des Systems liege in der einheitlich durchgeführten Grundanschauung. 276 Damit schloß Stoll sich den in der Tradition Kants stehenden Definitionen des Begriffs "System" an, in denen "Ordnung" und "Einheit" eine zentrale Rolle spielten. 277 Kant definierte "System" als "die Einheit der mannigfaltigen Erkenntnisse unter einer Idee" bzw. als "ein nach Prinzipien geordnetes Ganzes der Erkenntnis"278. Nach den ihnen zugeordneten Begriffen unterschied Stoll zwei Arten von Systemen, denen er verschiedene Funktionen zuwies. Das erste war das wissenschaftliche System, das auf den sog. Ordnungsbegriffen aufbaute. 279 Stoll verstand unter "Begriff" einen "Komplex von Urteilen". Davon unterschied er das Wort, das diesen Urteilskomplex zu emer (sprachlichen) Einheit zusammenfasse, so daß man mit dem Begriff arbeiten könne. 280 Gegenstand der wissenschaftlichen Begriffsbildung waren nach Stoll die Normen der vorhandenen positiven Rechtsordnung. Gebildet wurden die Ordnungsbegriffe durch Absehen von Nebensächlichem und Betonung des Gemeinsamen und Wesentlichen. 281 Bei dem wissenschaftlichen System handelte es sich somit um ein nach den Regeln der formalen Logik, also durch kognitive Denkvorgänge gebildetes System der abstrakt-allgemeinen Begriffe. Von Heck wurde es als "äußeres System" bezeichnet. 282 Der Entstehungsweise entsprach der Aufgabenkreis, den Stoll dem wissenschaftlichen System zugestand. Stoll sah seine Funktion

276

A.a.O.

2n Canaris, Systemdenken, S. 278 A.a.O. 279

StoU, Begriff, S.

2llO

A.a.O., S. A.a.O., S.

2111

282

6"

103 f. 80.

12 f.

79, 107.

Heck, Begriffsbildung, S. 142 f.

84

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in der Rechtsbetrachtung, der Beherrschung und Ordnung des Gesetzesstoffes, also im erkenntniskritischen Bereich. 283 Nach seiner Auffassung enthielt es nur Aussagen darüber, in welchem Verhältnis die positiven Rechtssätze und Begriffe zueinander stehen und wie man den Inhalt des positiven Rechts logisch-begrifflich ordnen kann, um ihn in dieser Form leichter zu beherrschen. 284 Dagegen wandte Stoll sich scharf gegen die Heranziehung des wissenschaftlichen Systems als Quelle von Rechtsnormen. 285 Die Ordnungsbegriffe durften damit weder als Grundlage der Auslegung oder Lückenergänzung noch zur Bildung neuer Rechtsnormen herangezogen werden. "Wie könnte ein Sollen entstehen, wenn ein Wollen gar nicht vorhanden war. "286 Denn wie wir bereits oben sahen, sollten für die Rechtsschöpfung nach der Lehre der Interessenjurisprudenz maßgeblich sein die Vorstellungen über soziale Zustände, wie sie sind und wie sie sein sollen. Die Ordnungsbegriffe wurden aber auf dem Wege der Erkenntnis, der Durchdringung der bereits vorhandenen Rechtsordnung gewonnen. Weil das Gesetz gerade nicht von einer logischen Struktur getragen sei, sondern von einer teleologischen, könne aus einem formallogischen System kein Rechtssatz abgeleitet werden. 287 Als ein weiteres System erkannte Stoll das Gesetz an, in dem er mehr sah als eine Summe von Rechtssätzen. Nach seiner Auffassung war die Gesetzgebung "von der Tendenz zu harmonischer Einheit erfüllt". Sie enthalte eine bestimmte Ordnung, sei von Grundanschauungen getragen und wolle in sich widerspruchslos sein. 288 Damit wies sie alle Merkmale auf, die der Systembegriff nach Stoll beinhaltete.

283

SlOU, Begriff, S. 79 f.

284

A.a.O., S. 97 f.

A.a.O., S. 99. 286 A.a.O., S. 98.

28S

287

Vgl. a.a.O., S. 96.

288

A.a.O., Begriff, S. 95 f.

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85

Die Begriffe, auf denen das gesetzliche System aufbaute, bezeichnete er als "Gebotsbegriffe" . 289 Sie sollten auf den Zweclevorstellungen beruhen, die den Gesetzgeber bei der Gebotsbildung leiten, also - anders als die Ordnungsbegriffe - auf volitivem Denken und der abgekürzte Ausdruck für bestimmte Interessenlagen und -wertungen sein. 290 Dementsprechend stufte er dieses System als eine teleologische Ordnung ein. Den Zweck der gesetzlichen Begriffsbildung sah er in der übersichtlichen Ordnung der rechtlichen Beziehungen, der leichteren Erfaßbarkeit der rechtlichen Vorstellungen und der Ermöglichung einer gleichmäßigen Rechtshandhabung. 291 Nach seiner Auffassung war nur dieses System zur Auslegung und Fortbildung der Rechtsordnung und somit zur Rechtsschöpfung geeignet. 292 Schließlich unterschied Stoll, im Anschluß an Heck293 , noch eine dritte Art von Begriffen, die sog. "Interessenbegriffe" , die er jedoch nicht einem eigenen System zuordnete. 294 Sie sollten durch Hervorhebung der für die Interessenwirkung bezeichnenden Merkmale gewonnen werden. Gegenstand der Interessenbegriffe waren also die Gebotsbegriffe. Er sah ihre Funktion darin, durch die begriffliche Erfassung der für die Interessenwertung entscheidenden Merkmale der Rechtsanwendung die Erkenntnis der gesetzgeberischen Zweclevorstellungen zu erleichtern. 295 Der Vorgang der Bildung von Interessenbegriffen bildete somit eine Vorstufe zur Rechtsanwendung. Damit in engem Zusammenhang stand die Bedeutung der Interessenbegriffe für das gesetzliche System. Nur weil und soweit die Bildung derartiger Begriffe möglich war, weil also bestimmte Prinzipien nachgewiesen werden

2119

A.a.O., S. 79.

290 291

A.a.O., S. 89. A.a.O., S. 88.

292

A.a.O., S. 96.

Heck, Begriffsbildung, S. 142 f. 294 StoU, Begriff, S. 80. 295 A.a.O. 293

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B. Das Werk Heinrich Stolls

konnten, nach denen der Gesetzgeber seine Gebote bildet, konnte überhaupt vom Gesetz als einem System gesprochen werden. Anderenfalls hätte es an der von Stolls Systembegriff geforderten Einheitlichkeit der Grundanschauungen gefehlt. Nur wenn die Rechtssätze auf allgemeinen Prinzipien beruhen, ist das Gesetz mehr als eine Summe von Rechtssätzen. d) Die Bedeutung der Konstruktion Ausgehend von der Begriffsbestimmung Hecks und Rümelins defInierte Stoll die Konstruktion als "ein begrifflich-logisches Verfahren, das in der Praxis die Subsumtion zu ergänzen, in der Theorie das System zu vervollständigen und seine Einheit zu erweisen sucht". 296 Im Rahmen seiner Untersuchung unterschied er auch hier die Bedeutung der Konstruktion als Darstellungs- und Erkenntnismittel und ihre Rolle für die Rechtsanwendung. Als Mittel der Rechtsanwendung gestand Stoll der Konstruktion nur eine beschränkte Tauglichkeit zu, nämlich als sog. "Subsumtions- und Analogiehypothese ".297 Er akzeptierte die formallogische Subsumtion und ihre Ergänzung durch Einfügen formallogischer Begriffe, also durch Konstruktion, als etwas VorläufIges, verlangte aber sorgfältige Überprüfung der mit ihrer Hilfe gefundenen Ergebnisse durch Erforschung der konkreten Interessenlage und Vergleich mit den Interessenwertungen des Gesetzgebers. Grundsätzlich verneinte er jedoch die Brauchbarkeit der Konstruktion zur Lückenfüllung. 298 Dagegen schätzte er sie mit Rümelin als "ein nahezu unentbehrliches Darstellungsmittel" und mit Triepel als ein "unübertroffenes Mittel der (formallogischen) Systembildung" ein. 299 Die These von der" Äquivalenz der Konstruktionen", also ihrer Gleichwertigkeit, lehnte er ab: "Nur diejenige Konstruktion ist richtig, die die vom Gesetz festgesetzten oder durch teleologische Auslegung ermittelten Folgen als die logische Durchführung des wis-

298

A.a.O., Begriff, S. 113. A.a.O., S. 114. A.a.O.

299

A.a.O., S. 116. Die K1anuner enthält eine Anm. der Verfasserin.

296 291

I. Kapitel: Stolls Wirken vor 1933

87

senschaftlichen Systems, in dessen Diensten sie steht, erscheinen läßt und damit erklärt. "300 Ausgehend von einem konkreten wissenschaftlichen System konnte nach Sto11s Ansicht also nur eine bestimmte Konstruktion richtig sein. 2. Vergleich mit anderen Vertretern der Tübinger Schule Unter der Bezeichnung "Tübinger Schule der Interessenjurisprudenz" faßte man die drei in Tübingen lehrenden Hauptvertreter der Interessenjurisprudenz, Philipp Heck, Max Rümelin und Heinrich Stoll zusammen. 301 Obwohl sich ihre Beiträge zur Ausbildung der Lehre nach Umfang und Bedeutung deutlich unterschieden, muß die klassische Lehre der Interessenjurisprudenz als ein Gemeinschaftswerk angesehen werden, an dem ihre drei Vertreter arbeitsteilig zusammenwirkten. Heck hatte sich nach eigenem Bekunden zunächst auf die Normgewinnung, sowohl auf die genetische Interessentheorie als auch auf Gesetzesauslegung und die praktische Anwendung der Methode, konzentriert. 302 Erst später setzte er sich auch ausführlich mit Begriffs- und Systembildung auseinander. 303 Er darf als "der eigentliche Vater der Interessenjurisprudenz" gelten304 , da er die Lehre überhaupt erst zu einer bis in die Einzelheiten fest umrissenen Methodologie ausgearbeitet hat. Angeregt und befruchtet wurde er dabei von Max Rümelin, dessen wissenschaftliches Werk sich vor allem in seinen Preisverteilungsreden niederschlug,

300

A.a.O.

301

Zur Entwicklung der Interessenjurisprudenz ausführlich Edelmann, Die Entwicklung der

Interessenjurisprudenz, Bad Homburg 1967. 302

Heck, AcP 144/S. 3, 8. Zu nennen sind besonders "Gesetzesauslegung und Interessenju-

risprudenz", AcP 112/S. 1 und die Rektoratsrede "Das Problem der Rechtsgewinnung", Tübingen 1932 (2. Aufl.), erstmals 1912. 303 Begriffsbildung und Interessenjurisprudenz, Tübingen 1932. 304 Speiger, S. 2.

88

B. Das Werk Heinrich Stolls

die er alljährlich als langjähriger Kanzler der Universität Tübingen gehalten hat. 305 Rümelin untersuchte vor allem die methodische Haltung einer Reihe bedeutender Juristen, so Windscheids, Jherings und Eugen Hubers. Ferner bemühte er sich darum, Inhalt und Bedeutung zentraler Begriffe wie Gerechtigkeit, Billigkeit, Rechtssicherheit, Gleichheit etc. zu erforschen. Ausführlich befaßte er sich mit der Begriffsjurisprudenz. 306 Stolls Schwerpunkte lagen auf der Begründung der Interessenjurisprudenz, auf einer umfassenden Ergänzung und Fortbildung der Begriffs- und Systembildung und nicht zuletzt, wie bei Heck, auf der praktischen Anwendung der methodischen Grundsätze in zahlreichen Abhandlungen wie "Rücktritt und Schadensersatz"307, "Gegenwärtige Lage der Vereine ohne Rechtsfähigkeit"308 und "Abschied von der Lehre von der positiven Vertragsvedetzung"309, um nur die wichtigsten zu nennen. Die Frage nach Abweichungen unter den drei Genannten wurde recht unterschiedlich beurteilt. Sie selbst versicherten wiederholt die Übereinstimmung ihrer Ansichten. Insbesondere Heck betonte vor dem Hintergrund der zahlreichen Angriffe auf seine Lehre in den Jahren nach 1933 immer wieder, daß sich die Methodenlehre Stolls in nichts von der seinigen unterscheide310 oder jedenfalls nur in Formulierungen und unwichtigen Details3ll . Dieser Bewertung schloß sich - aus heutiger Sicht - KalIfass an, der, "von geringen

305

Besondere Hervorhebung verdienen seine Reden "Bemhard Windscheid und sein Einfluß

1907; "Das neue schweizerische Zivil1908; "Rudolf v. Jhering", Tübingen 1922;

auf Privatrecht und Privatrechtswissenschaft", Tübingen gesetzbuch und seine Bedeutung für uns", Tübingen

vor allem aber die letzte Preisverteilungsrede "Erlebte Wandlungen in Wissenschaft und Lehre", Tübingen

1930 und die Vortragsreihe "Gesetz, Rechtsprechung und Volksbetätigung auf dem 122 (1924)/S. 145 ff., 265 ff.

Gebiete des Privatrechts", AcP 307

Besonders in "Erlebte Wandlungen". AcP 131/S. 141.

308

In: "Die Reichsgerichtspraxis im deutschen Rechtsleben 11",

306

136/S. 257. 310 Heck. AcP 142/S. 129,297. 311 Heck. AcP 144/S. 3, 9 ff.

309

AcP

1929, S. 49.

1. Kapitel: StoUs Wirken vor 1933

89

Ausnahmen abgesehen, völlige Übereinstimmung" konstatierte. 312 Stoll brachte seine grundsätzliche Zustimmung zu den Lehren Hecks und Rümelins deutlich zum Ausdruck, gab jedoch auch abweichende Auffassungen zu erkennen. 313 Prinzipielle Unterschiede meinte dagegen Larenz zu entdecken, und zwar vor allem in der Beurteilung der Entstehung von Rechtsnormen. Danach fasse Stoll im Gegensatz zu Heck die Rechtssätze nicht als bloße Produkte kausaler Interessenbestrebungen auf, sondern betone, daß jeder Rechtssatz bestimmte Interessen bewerte. Daraus schloß Larenz auf eine Distanzierung Stolls von Hecks positivistischem Rechtsbegriff. 314 Auf Grund dieser unterschiedlichen Bewertungen soll der Frage nach Übereinstimmungen und Abweichungen im folgenden kurz nachgegangen werden. Minimal waren die Differenzen im Bereich der Rechtsanwendung. Man war sich im wesentlichen darüber einig, daß bei der Auslegung die Begehrungsvorstellungen des Gesetzgebers maßgeblich seien, also das teleologische Subsumtionsverfahren gelte. 315 In unproblematischen Fällen ließ Stoll aber zur Entlastung und Beschleunigung der Rechtspflege die formallogische Subsumtion zu, wobei er sich auf ähnliche Äußerungen Rümelins stützen konnte. 316 Heck akzeptierte diese Ausnahme nicht, überspielte den Gegensatz aber, indem er erklärte, daß in diesen Fällen die Interessenlage ohne weiteres klar sei. 317 Stoll schloß sich dieser Sicht später an, so daß diese Meinungsverschiedenheit tatsächlich als beigelegt betrachtet werden kann. 318

312

Kallfass, S. 8.

313

StoU, Begriff, S. 67 FN 13, 103, 114.

314 Laren;., Rechts- und Staatsphilosophie, S. 24 f. 3IS

Heck, Rechtsgewinnung, S. 27, 33. AcP 144/S. 3, 9. StoU, Begriff, S. 89.

316 SlOU, Begriff, S. 89 f., 95. RiJmelin, Windscheid, S. 47 f. 317

Heck, AcP 144/S. 3, 12.

318

SlOU, Juristische Methode, S. 91. Vgl. Kallfass, S. 8.

90

B. Das Werk Heinrich Stalls

Was die Begriffs- und Systembildung anging, bestanden zunächst terminologische Unterschiede, die aber keine Rolle spielten. 319 Allerdings räumte Stoll im Gegensatz zu Heck ein, daß die Interessenjurisprudenz dazu neige, die Bedeutung der Begriffe und Formen für das theoretische System zu unterschätzen, und wandte sich gegen die Annahme der Äquivalenz von Konstruktionen und Formulierungen. 320 Heck und Rümelin dagegen hielten, unter der Voraussetzung, daß die in Frage stehenden Konstruktionen überhaupt logisch möglich seien, unterschiedliche Konstruktionen in weitem Umfange für zulässig. 321 Diese Divergenz hatte vor allem zwei Ursachen: Eine grundsätzliche lag in der unterschiedlichen Bedeutung, die Stoll und Heck der "theoretischen Rechtswissenschaft" beimaßen. So sah Stoll die Aufgabe der Wissenschaft nicht nur in der Vorbereitung der Rechtsanwendung, sondern wies ihr auch eine "theoretische Aufgabe" zu, die Suche "nach den Grundsätzen, von denen aus die Masse der positiven Rechtssätze als eine widerspruchslose, in sich geschlossene Ordnung von Begriffen und Formen verstanden werden kann", aus dem der Wissenschaft innewohnenden Erkenntnisdrang. 322 Heck lehnte demgegenüber die Möglichkeit einer theoretischen Rechtswissenschaft sowie die Aufstellung rein theoretischer wissenschaftlicher Ziele kategorisch ab. 323 Der zweite Grund lag in einem abweichenden Verständnis des Begriffs. Heck sah in der Begriffsbildung hauptsächlich eine Wortgebung und behandelte daher verschiedenartige Konstruktionen lediglich als Formu-

319

Vgl. SroU, Begriff,

s. 79 FN 44.

A.a.O., s. 108. Vgl. auch Canaris, Systemdenken, S. 40 FN 109. 321 Heck, Begriffsbildung, S. 184, 188 ff. Schuldrecht, S. 480 ff. RiJmelin, Konstruktion, S. 353. AcP 122/S. 265, 353. Erlebte Wandlungen, S. 21. 322 SroU, Begriff, S. 107. 323 Heck, Begriffsbildung, S. 22. 320

I. Kapitel: Stolls Wirken vor 1933

91

lierungsprobleme. 324 Stoll definierte den Begriff dagegen ursprünglich als einen Komplex von Urteilen, der durch das Wort nur faßbar gemacht werde. 325 Der Begriff war für ihn somit ein Inhalt und nicht nur eine Form. Später näherte sich Stoll Hecks Linie, indem er in Begriffen und Konstruktionen nur noch Ausdrücke für Interessenwertungen sah und ihre einzige Funktion darin erblickte, die gefundenen Wertungen in die beste Form zu bringen. 326 Andererseits betonte er noch 1937, anläßlich seiner Besprechung der Heckschen Schrift "Rechtserneuerung und juristische Methodenlehre", daß der Begriff nicht nur eine Ordnungsaufgabe habe, sondern auch Träger einer Idee sei. Wegen dieser widersprüchlichen Äußerungen zum Begriffsverständnis kann nicht mit Sicherheit gesagt werden, wie Stoll sich zuletzt zur Gleichwertigkeit der Konstruktionen stellte und ob er später mit Heck in dieser Frage übereinstimmte, wie dieser behauptete. 327 Geringe Unterschiede sind zur Bedeutung der Konstruktionen festzustellen. Heck sprach der Eingliederung rechtlicher Einzelerscheinungen in die Begriffe des wissenschaftlichen Gesamtsystems jede Relevanz für die Fallentscheidung ab. 328 Stoll und vor ihm bereits Rümelin ließen die Konstruktion dagegen als Analogiehypothese zu, wenn sie dann auch im Wege einer sorgfältigen Überprüfung durch Erforschung der dem Sachverhalt zugrunde liegenden Interessenlage und einen Vergleich mit den Interessenwertungen des Gesetzgebers bestätigt werden mußte. 329 Am weitesten setzte sich Stoll mit seiner Grundlegung der Interessenjurisprudenz von der übrigen Tübinger Schule ab, zunächst im Bereich der Entstehung der Rechtsnormen. Allerdings handelte es sich auch hier eher um eine Akzentverschiebung als um wirkliche Gegensätze. Deshalb überzeichnet Larenz den Gegensatz, wenn er sagt, Heck betrachte die Rechtsnormen als Pro-

32A

A.a.O., S. 189.

325

StolI, Begriff, S. 103 f.

326

StoII, Leistungsstörungen, S. 125.

In diesem Sinne Heck, AcP 144/S. 3, 11. Kallfass, S. 77 FN 286. Heck, Begriffsbildung, S. 184 f. 329 StoU, Begriff, S. 114. RümeUn, Erlebte Wandlungen, S. 26. Konstruktion, S. 354. Huber, S. 62. 321 328

92

B. Das Werk Heinrich StoUs

dukte kausaler Interessenbestrebungen, während Stoll sie auf ein Werturteil zurückführe. 330 Richtig ist, daß Stoll die Formulierung "kausale Interessen" nicht gebrauchte. Andererseits beschrieb aber auch Heck die Arbeit des Gesetzgebers häufig als Interessenabwägung und Werturteil, ohne darin einen Widerspruch zur Kausalität der Interessen zu erblicken. 331 Es handelte sich wohl nur um eine mißverständliche Formulierung. 332 Heck selber hat oft klargestellt, daß er keine naturwissenschaftliche Kausalität meine. Außerdem betonte er zurecht, daß Stoll die These, jeder selbständige Rechtssatz enthalte ein mittelbares Werturteil über die ihm zugrunde liegenden Interessen, auf seine, Hecks, Ausführungen stütze. 333 Auch wenn mithin beide die Entstehung von Rechtsnormen auf die Abwägung von Interessen zurückführten, bestand insofern ein Unterschied, als Stoll diesem Aspekt eine größere Bedeutung beimaß. In der Bewertung der Interessenlagen sah er den entscheidenden Vorgang der gesetzgeberischen Tätigkeit und im Nachvollziehen dieses Vorgehens durch den Richter das entscheidende Charakteristikum seiner Methodenlehre. Im Gegensatz zu Heck bemühte sich Stoll deshalb darum, die für die Auslegung und Fortbildung des Privatrechts maßgeblichen Bewertungsmaßstäbe zu ermitteln. Dementsprechend wollte er die Interessenjurisprudenz in "Wertungsjurisprudenz" umbenennen, womit er der heutigen Zivilrechtswissenschaft das Stichwort gab, die auf der von Stoll geschaffenen Grundlage versucht, allgemeingültige Wertmaßstäbe zu gewinnen. 334 Am augenfälligsten hob sich Stoll von den übrigen Verfechtern der Interessenjurisprudenz wohl durch die überragende Rolle ab, die der Rechtsstaatsgedanke in seiner Methodenlehre spielte. Stolls formaljuristischer Rechtsstaats-

330 Laren1.,

331

Rechts- und Staatsphilosophie, S. 24.

Heck, Gesetzeaauslegung, S. 48, 52. Rechtsgewinnung, S. 30, 35, 38. Begriffsbildung,

S. 144, 183. 332 Ebenso KaU/ass, S. 17 FN 56 a.E. 333

Heck, AcP 142/297, 309. SroU, Rechtsstaatsidee, S. 160 FN 2.

SroU, Begriff, S. 67 FN 13, 75 FN 35. Die Bezeichnung "wertende Jurisprudenz" hane zuerst Heck gebraucht, jedoch dem Ausdruck Interessenjurisprudenz ohne nähere Begründung den Vonug gegeben (Schuldrecht, S. 473 FN 1). 334

1. Kapitel: 5tolls Wirken vor 1933

93

begriff beeinflußte sowohl seine Vorstellung von der Entstehung der Rechtsnormen (genetische Interessentheorie) als auch die Methode der Rechtsanwendung (produktive Interessentheorie). Nach diesem Rechtsstaatsverständnis oblag dem Recht die Funktion, Bahnen und Grenzen des staatlichen Wirkungskreises und der freien Sphäre seiner Bürger zu bestimmen. Stoll schloß daraus, daß die Rechtsordnung einen Kräfteausgleich zwischen Staat und Bürger verkörpere und die einzelnen Rechtssätze durch entsprechende Interessenabwägungen entstünden. 335 Interessen in diesem Sinne waren damit vorrangig die Machtanspruche des Staates auf der einen und Freiheit und Eigentum der Bürger auf der anderen Seite. Nach Heck verfolgte die Rechtsordnung dagegen das Ziel, die Lebensbedürfnisse zu befriedigen. 336 Die Regelung von Konflikten zwischen privaten und öffentlichen Interessen wurde nur beiläufig neben anderen Interessenkonflikten erwähnt. 337 Hecks Sichtweise war somit eher eine psychologische. Der unterschiedliche Ansatz druckte sich auch in der Wortwahl aus. So sprach Stoll von "Kräften"338 , "Gegensätzen "339 und "Interessengegensätzen "340, Heck in erster Linie von "Begehrungsdispositionen "341, "WÜDschen"342 und "Neigungen"343. Später, erstmals in seinem Festschriftbeitrag "Begriff und Konstruktion in der Lehre der Interessenjurisprudenz" , verwendete auch Stoll den Ausdruck "Begehrungsdispositionen" .344 Das lag zum einen daran, daß es in diesem Beitrag nicht um die Begründung der Interessenjurisprudenz ging, sondern um die Darstellung der Lehre der Tübinger

JJ6

Stoll. Rechtsstaatsidee, S. 142,245. Ausführlich s. o. Heck. Gesetzesauslegung, S. 11.

JJ7

Heck. Bcgriffsbildung, S.

JJS

Stoll. Rechtsstaatsidee, S. JJ9 A.a.O., S. 144. JJ8

340 341

39 FN 2. 142.

A.a.O., S. 160. Heck. Rechtsgewinnung, S.

30.

Heck.. AcP 142/S. 129, 180; 297, 34J Heck. Rechtsgewinnung, S. 27. J44 S. 67 FN 13. 342

303.

1)8).

94

B. Das Werk Heinrich Stolls

Schule, wie sie insbesondere von Heck und Rümelin vertreten wurde. Im übrigen kann man davon ausgehen, daß sich Stoll in seiner Tübinger Zeit, bedingt durch den engen Kontakt und den dadurch ermöglichten regen Austausch mit Heck und nach wachsender Kritik an der Lehre der Interessenjurisprudenz beherrscht von dem Wunsch nach Geschlossenheit, bei der Begründung der Interessenjurisprudenz Heck anpaßte. Dafür spricht ferner, daß der Rechtsstaatsgedanke auch in den folgenden methodologischen Arbeiten Stolls jedenfalls zur Begründung der Interessenabwägung keine bedeutende Rolle mehr spielte. Dem formellen Rechtsstaatsverständnis liegt nach Stoll der Gedanke der Autonomie der Rechtsgemeinschaft zugrunde, woraus die Forderung nach Gewaltenteilung resultiert. Daraus leitete Stoll schließlich das Gebot der historischen Interessenforschung ab. Auch Heck stützte seine Forderung nach historischer Auslegung auf die Autonomie der Rechtsgemeinschaft. 345 Auf eine ausführlichere Begründung ließ er sich jedoch nicht ein. Insbesondere verzichtete er darauf, dieses Postulat in den größeren Zusammenhang eines bestimmten Rechtsstaatsverständnisses einzuordnen. Der Gewaltenteilungsgrundsatz erhielt bei ihm eine ganz andere Bedeutung als bei StoII. Heck sah seinen Sinn nicht vorrangig in der Selbstbindung der staatlichen Gewalt zum Schutze der bürgerlichen Individualsphäre, sondern darin, den in Gesetzesform erklärten Willen der Gesamtheit der Bürger demjenigen des Richters als einzelnem Staatsbürger (!) voranzustellen. 346 Ging es Stoll, als einem Anhänger des konstitutionellen Rechtsstaatsbegriffs, um die Abgrenzung staatlicher Macht und persönlicher Individualsphäre, d.h. letztlich um den Schutz des Einzelnen vor der Staatsgewalt, so kam es Heck darauf an, die Gesamtheit der Staatsbürger vor willkürlichen Eingriffen einzelner Staatsbürger zu schützen. Seine Begründung der historischen Interessenforschung hatte somit eine ganz andere Stoßrichtung als die Stolls. Es ist schon zweifelhaft, ob Heck die so verstandene Autonomie der Rechtsgemeinschaft überhaupt mit dem Rechtsstaat in Verbindung brachte und die historische Auslegung dementsprechend als rechtsstaatliche Forderung verstanden

345 346

Heck. Gesetzesauslegung. S. 13. Rcchtsgewinnung. S. 37. Heck. Gesetzesauslegung, S. 13.

1. Kapitel: Stolls Wirken vor 1933

95

wissen wollte. In diesem Fall ginge Heck aber immer noch von einem ganz anders gearteten Rechtsstaatsverständnis als Stoll aus; ohnehin nahmen solche Ausführungen bei ihm nur geringen Raum ein. Heck kam es vor allem darauf an, zu verdeutlichen, daß und warum der Wille der hinter dem Gesetzgeber stehenden Menschen ("Gesamtwille") sicherer durch die Anwendung der subjektiven Theorie ermittelt werden könne. Er bewegte sich damit im Bereich von Zweckmäßigkeitserwägungen. Die Frage, warum auf diesen Willen abzustellen sei, vernachlässigte er dagegen und bot so den Anhängern der objektiven Auslegungstheorie eine breite Angriffsfläche, die erst Stoll beseitigte. Rümelin widmete einem Gesichtspunkt der Rechtsstaatlichkeit, nämlich der Rechtssicherheit, eine ganze Rede, worin er sich bemühte, Bezüge zur Methodenlehre herauszuarbeiten. 347 So leitete er aus dem Gebot der Rechtssicherheit die "Bindung der Richter an die Interessenwertungen des Gesetzgebers, der in seiner historischen Bedingtheit aufzufassen ist", ab. 348 Wie der Ansatz Hecks blieb jedoch auch der seine fragmentarisch, weil es auch ihm am Bewußtsein für die größeren Problemzusammenhänge fehlte. Stoll hob sich somit in der Grundlegung seiner Methodenlehre von Heck und Rümelin deutlich ab. Gleichzeitig kann man aber feststellen, daß das keine Auswirkungen auf die anderen Problembereiche der Interessenjurisprudenz hatte. Vielmehr bestand hier, später noch mehr als zu Anfang, bis auf einen geringfügigen Unterschied in der Einschätzung der Bedeutung der Konstruktion für die Rechtsanwendung und kleinen Abweichungen bei der Rolle des Wertungsvorgangs nahezu völlige Übereinstimmung. 3. Der Einfluß der Metbode auf das scbuldrecbtlicbe Werk

Nachdem soeben Stolls Methodenlehre der Interessenjurisprudenz dargestellt wurde, soll nun im Rahmen dieses Abschnitts an den Arbeiten "Haftung für das Verhalten während der Vertragsverhandlungen" und "Abschied von

347

Rümelin, Die Rechtssichemeit, Tübingen 1924.

348

A.a.O., S. 60.

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der Lehre von der positiven Vertragsverletzung" beispielhaft untersucht werden, inwieweit Stolls dogmatische Erkenntnisse, besonders sein System der Forderungsverletzungen, gerade auf diese Methodologie zurückzuführen sind. Dabei muß zunächst jeweils geprüft werden, ob und in welchem Maße Stoll seine methodologischen Ausführungen praktisch umgesetzt hat. a) "Haftung für das Verhalten während der Vertragsverhandlungen" Vorweg muß gesagt werden, daß Stoll die Abhandlung über culpa in contrahendo lange vor seinen methodologischen Arbeiten geschrieben hat. Gerade dadurch wird es aber möglich, den StolIschen Entwicklungsprozeß in der Methodenlehre zu verfolgen. Ziel des genannten Aufsatzes war die Untersuchung, ob und weshalb die Parteien auch schon vor Vertragsschluß für schädigendes Verhalten einzustehen haben. Zu diesem Zweck wollte Stoll einen allgemeinen Haftungstatbestand herausarbeiten. Dabei vollzog er drei Schritte: 1) Erkennt das Gesetz schon vor Vertragsschluß Rechtspflichten unter den Verhandelnden an? 2) Aus welchem Grunde können diese Pflichten allgemein gefordert werden? 3) Setzt ein entsprechender Schadensersatzanspruch ein Verschulden voraus? Der zweite Schritt zeigt, daß Stoll von einer Gesetzeslücke hinsichtlich der vorvertraglichen Pflichten ausging, auch wenn er dies nicht ausdrücklich feststellte. Nach seinem methodologischen Lückenbegriff lagen Lücken in allen Fällen vor, in denen die Rechtsordnung für die Entscheidung des konkreten Tatbestands kein unmittelbares Werturteil anbot. 349 Ob das Gesetz für den zu entscheidenden Fall ein solches Werturteil enthielt, war durch Auslegung zu klären. Stoll deckte diese Gesetzesauslegung mit dem ersten Prüfungsschritt ab. Indem er die Frage nach der gesetzlichen Festlegung vorvertraglicher Pflichten dahingehend beantwortete, daß die bestehende Rechtsordnung tatsächlich "eine Reihe" solcher Pflichten aufgestellt habe350 , gab er gleichzeitig die Überzeugung zu erkennen, daß es an einer umfassenden gesetzlichen Normierung der vorvertraglichen Pflichten fehle. Nach der Lehre der Interes-

349

SroU, Rechtsstaatsidee, S. 175.

350

SroU, LZ 1923/Sp. 532, 537.

1. Kapitel: Stolls Wirken vor 1933

97

senjurisprudenz mußte Stoll weiter untersuchen, ob es sich um echte oder unechte Lücken handelte, d. h. ob die den geregelten Sach-verhalten zugrunde liegenden Interessenlagen denjenigen der ungeregelten verwandt waren, wenn er die Vorschriften analog anwenden wollte. 351 Um die Verwandtschaft der Interessenlagen zu beurteilen, verlangte Stoll später, die sog. Interessenbegriffe, d. h. die für den Gesetzgeber bei der Interessenwertung entscheidenden Merkmale, hervorzuheben. 352 Diesen Schritt ließ Stoll in seinem weiteren procedere aus. Allerdings gab seine zweite Leitfrage nach dem allgemeinen Grund vorvertraglicher Pflichten zu erkennen, daß es nach seiner Auffassung zwischen den geregelten und den ungeregelten Fällen Gemeinsamkeiten geben müsse, die die generelle Anerkennung vorvertraglicher Pflichten rechtfertigten. Stoll versuchte aber nicht, den Willen des Gesetzgebers durch Herausarbeiten der Interessenlagen und ihrer Beurteilung zu erforschen. Er untersuchte nicht, welche Interessen die rechtsetzenden Organe dazu veranlaßt hatten, in einigen Normen vorvertragliehe Rechtspflichten anzuordnen, und ob diese Interessen auch in den nicht geregelten Fällen bestehen. In diesem Zusammenhang wäre darzulegen gewesen, welchem Zweck die vorvertraglichen Pflichten dienen sollten und welches Verhalten den Parteien durch ihre Auferlegung abverlangt werden sollte. Mit seinem knappen Hinweis auf die durch die Vertragsverhandlungen berührten Interessen und der Frage nach dem inneren Grund einer Haftung vor dem Vertragsabschluß schlug Stoll den richtigen Weg ein, verfolgte ihn aber nicht bis zum Ende. 353 Stattdessen sucht er den allgemeinen Grund für das Vorhandensein vorvertraglicher Rechtspflichten in konstruktiven Erwägungen. So stützte er sie auf das durch einseitiges Rechtsgeschäft entstandene Rechtsverhältnis der Vertragsverhandlungen. Aus der gesetzlichen Existenz einzelner Pflichten vor Vertragsschluß folgerte er das Bestehen eines Schuldverhältnisses, das er wiederum auf ein einseitiges Rechtsgeschäft zurückführte. 354 Er argumentierte somit ganz auf der begrifflich-logischen Ebene, indem

351

StoU, Begriff, S. 73.

352

A.a.O., S. 80. StoU, LZ 1923/Sp. 532, 542. A.a.O., Sp. 544.

353

354

7 Sessler

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er Lücken des Gesetzes durch Einordnung einer rechtlichen Erscheinung in das wissenschaftliche System schließen wollte. 355 Sein Vorgehen wies alle Kennzeichen der Konstruktion auf, wie er sie in späteren Arbeiten definierte und abgesehen von der beschränkten Verwendung als Analogiehypothese zur Rechtsanwendung, besonders zur Lückenergänzung, ablehnte. 356 Das zeigte sich auch bei der Begriffswahl. In seiner Methodenlehre differenzierte Stoll nach Verwendungszweck, Art und Weise ihrer Bildung und Systemzugehörigkeit zwischen Gebots- und Ordnungsbegriffen. Für die Bildung der Gebotsbegriffe waren nach Stoll Zweckvorstellungen maßgeblich. Dagegen wurden die Ordnungsbegriffe unter dem Aspekt der Beherrschung und Ordnung des Gesetzesstoffes gebildet. 357 Die von Stoll zur Begründung der vorvertraglichen Pflichten herangezogenen Begriffe "Schuldverhältnis" und "einseitiges Rechtsgeschäft" beruhten nicht auf einer teleologischen Betrachtung der tatsächlichen Lebensverhältnisse, sondern waren klassische Instrumente der Jurisprudenz zum Zwecke der wissenschaftlichen Systembildung. Von seinem späteren methodologischen Standpunkt aus war die Verwendung dieser Begriffe zur Lückenergänzung somit unzulässig; als ein Akt der Rechtsschöpfung sollte sie nur auf der Grundlage teleologischer Begriffe stattfinden. 358 Im dritten Prüfungsabschnitt, der sich mit dem Erfordernis des Verschuldens befaßte, argumentierte Stoll wieder stärker mit dem Gesetz, indem er die "allgemeine Auffassung des Gesetzgebers" als maßgeblich bezeichnete. 359 Auch hier unterließ er jedoch eine genaue Analyse der Interessenlage und ihrer Bewertung durch die Legislative und begnügte sich mit dem pauschalen Hinweis, daß die Erweiterung einzelner Sondervorschriften (§§ 122, 179

VgL StoU, Begriff, S. 110 FN 124. A.a.O., S. 114. 357 A.a.O., S. 79 f. 355

356

358 StoU, 359

Rechtsstaatsidee, S. 177. Begriff, S. 89, 97, 106.

StoU, LZ 1923/S. 532, 546.

1. Kapitel: Stolls Wirken vor 1933

99

BGB) niemals zur Verdrängung des Grundprinzips der Verschuldenshaftung führen dürfe. 360 Insgesamt ergibt die Überprüfung des Aufsatzes, daß Stoll sich damals über sein methodisches Vorgehen kaum Rechenschaft ablegte. Sein Verfahren war noch unbeeinflußt von der Methode der Interessenjurisprudenz. Nur wenige Äußerungen lassen eine Berücksichtigung teleologischer Gesichtspunkte erkennen. Vielmehr war seine Argumentation noch stark begriffsjuristisch beeinflußt, was sich am deutlichsten in der Lückenergänzung durch eine auf Begriffen des wissenschaftlichen Systems aufbauende Konstruktion zeigte. b) "Abschied von der Lehre von der positiven Vertragsverletzung" Anders als die "Haftung für das Verhalten während der Vertragsverhandlungen " stammte dieser Aufsatz aus der Zeit nach Veröffentlichung der ersten beiden methodologischen Schriften Stolls über die Interessenjurisprudenz. Man durfte also eine Anwendung dieser Methode erwarten. Stoll hielt das Gesetz hinsichtlich der unter der Bezeichnung "positive Vertragsverletzungen" zusammengefaßten Fallgruppen für lückenhaft. Nach seinen methodologischen Ausführungen bestand eine Gesetzeslücke dann, wenn die Rechtsordnung für die Behandlung des konkreten Tatbestands kein unmittelbares Werturteil bereithielt. 361 Dem entsprach seine Feststellung, "daß von einer unmittelbaren Regelung der Tatbestände der positiven Vertragsverletzung durch das Gesetz nicht die Rede sein kann". 362 Zu diesem Ergebnis gelangte er durch Auslegung der in Betracht kommenden Vorschriften. In diesem Rahmen setzte er sich mit der Auffassung Himmelscheins auseinander, nach der das Gesetz die Unmöglichkeit im weiten Sinne der Unmöglichkeit zu exakter Leistung verstehe und somit unter diesem Begriff auch die fraglichen Fallgruppen regle. 363

7'

360

A.a.O.

361

StoU, Rechtsstaatsidee, 5. 175.

362

StoU, AcP 136/5. 257, 280.

363

Hi1TllMlschein, AcP 135/S. 255, 295.

100

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Die Auslegung im Sinne der Interessenjurisprudenz verlangte die Erforschung der den Geboten zugrundeliegenden Interessenabwägungen, also eine Prüfung von Interessengrundlage und Interessenwertung des Rechtssatzes nach dem historischen Willen des Gesetzgebers. 364 Methodisch richtig war deshalb die Frage Stolls, wob denn dem Gesetz dieser weite Unmäglichkeitsbegriff zugrundeliegt" .365 Zur Beantwortung dieser Frage zog er die Motive und Entwürfe zum BGB heran, ein deutliches Indiz für das Verfahren der historischen Interessenforschung. Auf sie stützte er seine Ansicht, daß der Gesetzgeber des BGB die fraglichen Fallgruppen nicht der Unmöglichkeitslehre habe unterstellen wollen und sich auch sonst über ihre Rechtsfolgen im einzelnen keine Gedanken gemacht habe. 366 Folgerichtig setzte er sich nicht mit Himmelscheins Konstruktion selbst auseinander und ließ die logische VorsteIlbarkeit des weiten Unmöglichkeitsbegriffs ausdrücklich gelten; es kam eben nach der Methodenlehre der Interessenjurisprudenz gar nicht darauf an, ob eine Subsumtion der positiven Vertragsverletzungen unter den Unmöglichkeitsbegriff logisch möglich war, sondern nur darauf, ob der Gesetzgeber sie tatsächlich darunter subsumieren wollte. Entsprechend dem Grundsatz der Interessenjurisprudenz, daß ein Rechtssatz nur für die vom Gesetzgeber angeschauten Tatbestände maßgeblich sein könne, lehnte Stoll die Anwendung der Unmöglichkeitsvorschriften auf die positiven Forderungsverletzungen ab und bejahte eine Lücke. Ihren Umfang schränkte er allerdings dahingehend ein, daß das Gesetz lediglich die Eigenart und allgemeine Bedeutung dieser Fälle nicht erkannt und die verschiedenen Erscheinungsformen der Vertragsverletzungen nicht genügend beachtet habe. 367 Dafür berief er sich auf seine Auslegung von § 276 BGB, dessen unmittelbare Anwendbarkeit er prüfte und guthieß. Seine Begründung stellte darauf ab, daß es entscheidend "nicht auf den Wortlaut und

364

StoU, Rcchtsstaatsidee, S. 167. Begriff, S. 69, 73.

136/S. 257, 274. A.a.O., S. 279. 367 A.a.O., S. 282. 36S StoU, AcP J(i6

1. Kapitel: Stolls Wirken vor 1933

101

die Reihenfolge der Gesetzesparagraphen, sondern auf ihren Gehalt, die in ihnen enthaltenen Werturteile" ankomme. 368 Zur Ermittlung der Werturteile untersuchte er auch hier die Entstehungsgeschichte der Vorschrift und entnahm ihr die Anordnung einer Haftung für schuldhafte Pflichtverletzungen. 369 Darin lag ein klares Bekenntnis zur historischen Interessenforschung. Stoll wandte hier seine Erkenntnis an, daß eine gesetzliche Regelung, also ein unmittelbares Werturteil, nur dann, aber auch immer insoweit vorliege, als sich der Gesetzgeber den konlaeten Tatbestand vorgestellt und den in ihm enthaltenen Interessenkonflikt erkannt habe und regeln wollte. Allerdings versuchte er seine Meinung auch mit dem Hinweis zu erhärten, § 276 BGB sei als bloße Begriffsbestimmung der Verantwortung des Schuldners sinnlos, weil es sich dann um eine lex imperfecta handeln würde. 370 Hinter dieser Argumentation stand deutlich die Frage, was die Rechtsetzungsorgane mit § 276 BGB vernünftigerweise gewollt haben könnten. Dies war aber die klassische Fragestellung der von Stoll abgelehnten objektiven Theorie, die nicht den wirklichen gesetzgeberischen Willen erkundete, sondern darauf abstellte, welchen Sinn der Gesetzgeber gegenwärtig als verständiger Mensch seinen Gesetzesworten beigelegt hätte. 371 Mit diesem Argument machte sich Stoll folglich einer Inkonsequenz schuldig. Keine Vernachlässigung der Methode lag in der Charakterisierung der Lücke: "Eine Lücke des Gesetzes kann sich eben nicht bloß daraus ergeben, daß das Gesetz bestimmte Erscheinungen überhaupt nicht gesehen hat, sondern auch dadurch, daß es ihre Bedeutung nicht richtig gewürdigt und sie deshalb nicht ausreichend geregelt hat. "372 Die Formulierung weckt auf den ersten Blick Zweifel daran, ob Stoll sich hier noch von dem rechtsstaatlich fundierten Lückenverständnis seiner methodologischen Arbeiten leiten ließ. Danach beruhten alle Lücken auf einer fehlenden oder unzureichenden Vorstellung des zu entscheidenden Sachverhalts. 373 Mit der eben zitierten Stelle erweckte

A.a.O., S. 281. A.a.O., S. 282. 370 A.a.O., S. 283. 311 StolI, Rechtsstaatsidee, S. 166. 372 StolI, AcP 136/S. 257, 282. 313 StolI, Rechtsstaatsidee, S. 176. 368 369

102

B. Das Werk Heinrich Stolls

Stoll aber den Eindruck, als ob der Gesetzgeber den Tatbestand zwar gesehen, aber nach Stolls Auffassung nicht richtig gewertet habe, was gegen das Postulat der Allmacht des Gesetzgebers verstoßen hätte. Der Textzusammenhang zeigt jedoch, daß Stoll nur darlegen wollte, daß sich der Schöpfer des BGB zwar grundsätzlich der Existenz anderer Vertragsverletzungen als der Unmöglichkeit und des Verzuges bewußt war, die Häufigkeit ihres Vorkommens und ihre Verschiedenartigkeit jedoch nicht erkannt hatte. Beide Defizite liegen auf der Ebene der Anschauung und sind somit geeignet, eine Gesetzeslücke im Sinne der Interessenjurisprudenz zu begründen. Nach den Lehren der Interessenjurisprudenz hätte Stolls weiteres Vorgehen von der Art der Lücke abhängen müssen. Er unterschied zwischen echten und unechten Lücken. Als unecht bezeichnete er sie, wenn der Rechtsanwender mittelbar aus vorhandenen Werturteilen auch für den neuen Tatbestand die Entscheidung fmden konnte. Das war der Fall, wenn das Gesetz verwandte Interessenlagen geregelt hatte, so daß deren gesetzliche Wertung auf den nicht geregelten Sachverhalt übertragen werden konnte. 374 Die Interessenlage bei den positiven Vertragsverletzungen entsprach nach Stoll sowohl hinsichtlich der Schutzwürdigkeit des Geschädigten wie hinsichtlich der Zumutbarkeit der Ersatzpflicht derjenigen bei den typischen Formen der Unmöglichkeit und des Verzuges. "Alle Begründungen für die sog. positiven Vertragsverletzungen laufen letzten Endes immer darauf hinaus, das gesetzliche Werturteil aus § 276 BGB, aus den Vorschriften über Unmöglichkeit und Verzug oder aus den Sonderbestimmungen der einzelnen Schuldverhältnisse abzuleiten ... 375 Dem Zweck, die verschiedenen Arten der Forderungsverletzungen, der geregelten wie der ungeregelten, unter dem Gesichtspunkt der Interessenlage zu systematisieren, um ihnen Rechtsfolgen zuordnen zu können, sollte das System der Forderungsverletzungen dienen. 376 Allerdings drängt sich hier der Gedanke auf, Stoll habe mit dem Mittel der wissenschaftlichen Systembildung die gesetzlichen Gebote ergänzen wollen. Die Lehre der Interessenjurisprudenz lehnte es jedoch ab, Lücken der gesetz-

374

A.a.O., S. 176 Fn 3.

375

StolI, AcP 136/S. 257, 284.

376

A.a.O., S. 285.

1. Kapitel: Stolls Wirken vor 1933

103

lichen (teleologischen) Ordnung durch Bildung formallogischer Begriffe und Konstruktionen des wissenschaftlichen Systems auszufüllen. 377 Auch die Interessenjurisprudenz erblickte aber in jeder Kodifikation eine von Grundanschauungen getragene Ordnung mit Tendenz zu harmonischer Einheit, also ein System. Die Ermittlung der inneren Zusammenhänge und Grundprinzipien, die Ergänzung und Fortbildung des Gesetzes aus diesen Grundgedanken heraus zählte sie zu den Hauptaufgaben der Auslegung.378 Entscheidend war dabei, daß teleologisch vorgegangen wurde, also nicht mit formallogischer Subsumtion und Konstruktion. Stoll ging es darum, die Grundprinzipien der gesetzlichen Regelung herauszuarbeiten. Sein Ziel war, durch Bildung sog. Interessenbegriffe die für die Rechtsetzungsorgane bei der Interessenwertung entscheidenden Merkmale hervorzuheben, um durch ihre begriffliche Erfassung die Erkenntnis der gesetzgeberischen Zweckvorstellungen zu erleichtern und so die Lücken ergänzen zu können. 379 Bei der Lückenergänzung handelte es sich somit um eine Rechts- oder Gesamtanalogie, die hinsichtlich der erforderlichen Rechtsähnlichkeit auf das Kriterium der Interessenlage abstellte. 380 Stoll baute hier also gar kein wissenschaftliches System auf, sondern ein teleologisches, das zur Ergänzung des Gesetzes geeignet war. Zur Grundlage seines Systems wählte Stoll die Interessenverletzung, weil das BGB nach seiner Auffassung für die Interessenwertung an dieses Merkmal anknüpfte. Ausgehend von der Notwendigkeit einer teleologischen Betrachtungsweise hielt er die Wahl gerade dieses Unterscheidungskriteriums für zwingend: ·Wer aber der Überzeugung ist, daß eine teleologische Betrachtungsweise nottut und wer, wie die Interessenjurisprudenz, ganz besonders eine Untersuchung der Interessenlage verlangt, der muß auf die zu schützenden Interessen und die Art ihrer Verletzung abheben, um unter dem Gesichtspunkt der Interessenverletzung ein System der Forderungsverletzungen aufzubauen, und in dieses auch die Fälle der sog. positiven Vertragsverletzungen richtig einzuordnen. ·381 Mißverständlich war es

)TI

378

StaU, Begriff, S. A.a.O.

96.

80.

379

A.a.O., S.

3SO

Vgl. Laren1., Methodenlehre, S.

381

Stall, AcP 136/S.

257, 287.

368.

B. Das Werk Heinrich Stolls

104

allerdings, in diesem Zusammenhang von • zu schützenden Interessen" zu sprechen, da es ja nach dem Dogma der historischen Interessenforschung nur auf die nach dem Willen des (historischen) Gesetzgebers tatsächlich geschützten Interessen ankommen konnte. Der VelWeis auf Heck erhellt jedoch, daß Stoll die Gesetzeslage meinte: "Gläubigerinteressen und Schuldnerinteressen, das sind die beiden Größen, die abzuwägen sind. Auf einer solchen Abwägung beruhen die Vorschriften des Gesetzes. "382 Durch eine Differenzierung innerhalb des Interessenbegriffs der Obligation nach dem jeweils geschützten Interesse kam Stoll zu der Einteilung des Schuldinhalts in Erfüllungs- und Schutzpflichten. 383 Auch diese Unterscheidung beruhte auf historischer Interessenforschung. Stoll stützte sich dabei auf Kreß384, der den Materialien zum BGB entnommen hatte, daß das Gesetz zum Schutze der Güter des Gläubigers neben den in der Rechtsordnung normierten noch weitere Schutzpflichten gelten lassen wolle. Nachdem Stoll dergestalt versucht hatte, den Inhalt der Schuldverhältnisse unter Hervorhebung der für den Gesetzgeber nach seiner Auffassung entscheidenden Aspekte begrifflich zu fassen, wandte er sich der Haftungsproblematik zu. Den Haftungsgrund, die schuldhafte Pflichtverletzung, sah er, wie bereits gesagt, unter Zuhilfenahme der Materialien zur Entstehung des BGB in § 276 BGB verankert. Hinsichtlich des Haftungsinhalts galt Stolls Augenmerk, methodisch konsequent, dem Zweck der Haftung. Aufbauend auf der Einsicht, daß dieser in der Sicherung des Gläubigerinteresses liege, kam er zu dem Ergebnis, daß sich der Haftungsinhalt nach der Interessenverletzung richten müsse, und zwar sowohl nach der Art des verletzten Interesses wie auch nach der Form der Interessenverletzung. 385 Gemeinsam war allen Verknüpfungen von Interessenverletzungsarten mit bestimmten Rechtsfolgen, daß Stoll aus der Betrachtung der gesetzlichen Regelung die gemeinsamen, für die Interessenwertung des Gesetzgebers bedeutsamen Merkmale herauszuschälen versuchte und sie zu abstrakten Begriffen verdichtete, um auf dieser Grundlage allgemeine Rechtssätze zu bilden, die der Ausfüllung der GesetzesSchuldrecht, S. 6. AcP 136/S. 257, 287 ff. 384 Kreß, S. 580. 385 SlOll, AcP 136/S. 257, 290. Zu den Einzelheiten s.

382

Heck,

383

StolI,

o. I.l)b).

I. Kapitel: Stolls Wirken vor 1933

105

lücken dienen sollten. Dieses Verfahren entsprach den Grundsätzen der Interessenjurisprudenz. Das Ergebnis war ein einheitlicher systematischer Aufbau der Forderungsverletzungen, der für nach rationalen, methodologisch fundierten Kriterien gebildete Tatbestandsgruppen einheitliche Rechtsfolgen vorsah. Stoll wandte die von ihm mitbegründete und verbreitete Methode der Interessenjurisprudenz also tatsächlich auch praktisch an. Geringfügige Inkonsequenzen wirkten sich im Ergebnis nicht aus. Nach diesen Ausführungen überrascht unser Ergebnis nicht, daß zwischen der von Stoll praktizierten Methode der Interessenjurisprudenz und seinen dogmatischen Erkenntnissen ein spezifischer Zusammenhang bestand: Seine konkrete dogmatische Lösung läßt sich gerade auf die Anwendung dieser Methode zurückführen. Allerdings darf man nicht dem Irrtum verfallen, die korrekte Anwendung der Interessenjurisprudenz führe zwangsläufig zu einem ganz bestimmten Ergebnis. Das wird schon dadurch widerlegt, daß Heck, der die Tübinger Schule begründet hatte, hinsichtlich der Frage der positiven Vertragsverletzungen eine andere Auffassung vertrat. 386 Trotz der Rationalität ihrer Grundsätze konnte auch die Interessenjurisprudenz nicht sämtliche subjektiven Momente aus dem Prozeß der Rechtsgewinnung ausscheiden. Das lag zum einen daran, daß schon die einfache Subsumtion eine Wertung verlangt, nämlich hinsichtlich der Übereinstimmung der Interessenlagen. 387 Zum anderen lassen sich die Interessenwertungen der Rechtsgemeinschaft nicht immer mit Sicherheit erkennen. Trotzdem kann man Verflechtungen von Methode und Dogmatik erkennen. Die Begriffe Leistungs- und Schutzinteresse stellten als Verkörperungen der vom Gesetzgeber anerkannten Begehrungsdispositionen typische Gebilde der Interessenjurisprudenz dar. Eine enge Verbindung zeigte sich auch im Ansatz der Lückenergänzung, in der Wahl der Interessenverletzung als Grundlage des systematischen Aufbaus und den nach diesem Kriterium gebildeten Begriffen. Stoll hielt die Auswahl gerade dieses Gesichtspunkts für ein zwingendes Gebot der Interessenjurisprudenz. 388

386

Vgl. Heck, Schuldrecht, § 45.

387

Stall, Begriff, S. 69. Vgl. Kallfass, S. 58. Stall, AcP 136/S. 257, 287.

388

106

B. Das Werk Heinrich StoJls

Zusammenfassend kann man feststellen, daß Stolls System der Forderungsverletzungen und seine Begrifflichkeit spezifische Produkte einer konsequenten Anwendung der Methodenlehre der Interessenjurisprudenz waren. Dogmatik und Methode sind hier ein enges Verhältnis eingegangen.

2. Kapitel: Stolls Wirken nach 1933 I. Die Lehre von den Leistungsstörungen "Die Lehre von den Leistungsstörungen " lautete der Titel der Denkschrift, die Stoll 1934 dem Ausschuß für Personen-, Vereins- und Schuldrecht der Akademie für Deutsches Recht vorlegte. Gegenstand der Denkschrift war die Reform des Rechts der allgemeinen Leistungsstörungen und der Sachmängelhaftung unter rechtspolitischen und dogmatischen Gesichtspunkten. I Die Denkschrift bestand aus zwei Hauptteilen. Im ersten setzte Stoll die Grundgedanken der Neuregelung auseinander, im zweiten folgte ein Entwurf in Paragraphenform mit Erläuterungen. Entsprechend den Aufgaben der Akademie für Deutsches Recht sollte die Arbeit einerseits die Praxis beeinflussen, andererseits Vorarbeit für den Gesetzgeber leisten, auch wenn eine Neuregelung des Schuldrechts in naher Zukunft allgemein ausgeschlossen wurde. 2 Aus diesem Grunde wollte Stoll den Entwurf nicht als endgültig verstanden wissen, sondern als Mittel der Veranschaulichung und Rechenschaft. Der Entwurf sollte demonstrieren, wie sich bestimmte Grundsätze im einzelnen auswirken und wie sie sich in das Schuldrecht insgesamt einfügen. Darüber hinaus wollte Stoll mit der Fassung in Gesetzesform den Nachweis erbringen, daß sich seine systematische Erfassung des Rechts der Leistungsstörungen als Grundlage einer gesetzlichen Regelung eigne. 3 Bei der Beurtei-

1 Die

folgende Untersuchung bezieht sich allein auf das allgemeine LeistungssLÖrungsrecht.

LeistungssLÖrungen, S. A.a.O., S. 5.

2 SlOU, 3

m, 4.

2. Kapitel: Stolls Wirken nach 1933

107

lung der Denkschrift ist zu berücksichtigen, daß Stoll, im Einklang mit dem Ausschuß 4 , lediglich eine sog. Teilreform im Sinne einer Ergänzung und Abänderung der Normen des BGB-Schuldrechts anstrebte. Dahinter stand die Absicht, die Neuregelungen in das Recht der vertraglichen Schuldverhältnisse des BGB einzufügen und auf diese Weise zu einer einheitlichen Ordnung zu gelangen. 5 Besonders deutlich trat diese Absicht in Stolls Vorentwurf zutage, der sich bei der Numerierung der neuen Paragraphen nach der jeweils ersetzten alten BGB-Vorschrift richtete. Deshalb mußten selbstverständlich bei der Umsetzung der neuen Gedanken Kompromisse eingegangen werden, die aber wiederum beachtliche Kontinuität zwischen Denkschrift und BGB zur Folge hatten. 6 Abgesichert wurde "Die Lehre von den Leistungsstörungen " von zwei Aufsätzen, "Gemeinschaftsgedanke und Schuldvertrag"7 und "Unmöglichkeit und Uozumutbarkeit"8, die zentrale Gedanken des Reformvorschlags vertieften und deshalb, ebenso wie der zweibändige Grundriß "Vertrag und Unrecht", in die Untersuchung miteinzubeziehen sind, wenn auch bei diesem insofern eine Einschränkung zu machen ist, als er das Recht de lege lata behandelte. 1. Die Zielsetzung der Denkschrift

Stoll wollte das Recht der Leistungsstörungen sowohl in dogmatischer als auch in rechtspolitischer Hinsicht erneuern. Dogmatisch ging es ihm vor allem darum, die Leistungsstörungen unter einheitlichem Gesichtspunkt neu zu fassen. Mit Hilfe des neuen Systems wollte er durch Vereinheitlichung das Recht vereinfachen und Lücken ergänzen, mit anderen Worten den durch außergesetzliche Rechtsfortbildung und Wandel der Rechtsanschauung ent-

4

Vgl. Protokoll 19.12.1934 in Schuben, ADR, Bd.

m, 2, S. 157, 159 f.

Leistungsstörungen, S. 20. 6 Vgl. besonders Oerrmann, Kritische Vierteljahresschrift 29/S. 116, 122.

5 StolI,

1936/Sp. 414. ZADR 1936/S. 628.

7 DlZ 8

108

B. Das Werk Heinrich Stolls

standenen Zustand der Unübersichtlichkeit und Rechtsunsicherheit beseitigen. 9 Rechtspolitisch war Stoll daran gelegen, die Bedeutung der nationalsozialistischen Rechtsidee für die Leistungsstörungen herauszuarbeiten und auf ihr die neue Ordnung aufzubauen. Darüber hinaus waren Richtlinien für eine gesetzgeberische Neuentwicklung dieses Rechtsgebiets aufzustellen. Trotz des Strebens nach Vereinfachung sollten deshalb auch neue Rechtsbildungen aufgenommen werden. Stoll setzte bei seiner Reform sieben Schwerpunkte: 1. Hervorhebung des Gemeinschaftsgedankens, 2. Verdrängung der UDmÖglichkeitslehre aus ihrer zentralen Stellung, 3. Berücksichtigung der veränderten Umstände, 4. Angleichung der Mängelhaftung bei den einzelnen Schuldverhältnissen bzw. Klärung des Verhältnisses von allgemeinen und Sondervorschriften, 5. Begrenzung des Schadensersatzrechts unter Einschaltung des richterlichen Ermessens, 6. Frage nach der Abstufung der Rechtsbehelfe und 7. Bildung von Sondervorschriften für Gattungsschulden, Sukzessivlieferungsverträge, Dauerschuldverhältnisse und kleinere Geschäfte. 10 Stoll kam es aber nicht nur auf eine inhaltliche Erneuerung an. In Anknüpfung an gängige Ideen wollte er das Recht auch sprachlich verbessern, das hieß vor allem vereinfachen. Das neu zu schaffende Recht sollte auch sprachlich ein "Volksrecht" werden. 11 Dafür waren eine einfache und volkstümliche Sprache und ein übersichtlicher Aufbau notwendig. Allerdings sah er selbst, daß ihm hier Grenzen gesetzt waren. Da er sich für eine Teilreform entschieden hatte, die sich in das geltende BGB einfügen lassen sollte, durfte sich die Ausdrucksweise nicht zu sehr von der des BGB entfernen. Aus dem gleichen Grunde blieb Stoll an den Aufbau des geltenden Schuldrechts gebunden. 12

9

Vgl. auch Hedemann. Protokoll 19.12.1934 in Schuhen. ADR, Bd.

10

Protokoll 19.12.1934 in Schuhen, ADR, Bd.

m, 2, S.

und 7 werden in der folgenden Untersuchung nicht berucksichtigt. 11

StolI, Leistungsstörungen, S. 21.

12

Protokoll 19.12.1934 in Schuhen, ADR, Bd.

m, 2, S.

m, 2, S.

150.

157 ff., bes. S. 159. Die Punkte 4

151, 153.

2. Kapitel: StoUs Wirken nach 1933

109

2. Die EotstehuogsgfSChichte der Denkschrift

"Die Lehre von den Leistungsstörungen " ging zurück auf ein Referat, das Stoll am 5. Oktober 1934 in Jena als Mitglied und im Auftrag des Ausschusses für Personen-, Vereins- und Schuldrecht der Akademie für Deutsches Recht vor demselben gehalten hatte. Das Recht der Leistungsstörungen war nach dem Mietrecht der zweite Arbeitsstoff, den dieser Ausschuß behandelte. 13 Das Referat begleiteten in Paragraphenform gefaßte Vorschläge mit BegrüDdung. 14 Im November 1934 fertigte Stoll eine schriftliche Ausarbeitung dieses Referats an, die sich fast vollständig mit seinem Bericht deckte und lediglich sprachliche Verbesserungen anstrebte. 15 Diese schriftliche Fassung war Gegenstand zweier Beratungen im Ausschuß. 16 Die erste Beratung fand am 19. Dezember 1934, ebenfalls in Jena, statt. Zu einer zweiten Sitzung traf der Ausschuß im Juni 1935 zusammen. Leider sind von dieser zweiten Tagung im Gegensatz zur ersten keine Protokolle erhalten. 17 Aus den Beratungen ging die endgültige Fassung der Denkschrift, abgeschlossen im September 1935, hervor. Sie wurde im Oktober desselben Jahres dem Präsidenten der Akademie für Deutsches Recht, Hans Frank, überreicht und im Jahre 1936 in der Reihe "Schriften der Akademie für Deutsches Recht" veröffentlicht. 18

3. Die Akademie für Deutsches Recht

Zum besseren Verständnis der Denkschrift und der nachfolgenden Untersuchung sollen an dieser Stelle, soweit es im Rahmen dieser Darstellung von In-

13

Protokoll 19.12.1934 in Schuhen, ADR, Bd. m, 2, S. 150.

14

Abgedruckt in Schuhen, ADR, Bd.

IS

Abgedruckt in Schuhen, ADR, Bd.

m, 2, S. 207 ff. bzw. 213 ff. m, 2, S. 190 ff. Wenn im folgenden

gesprochen wird, ist diese Ausarbeitung gemeint. 17

Srou, Leistungsstörungen, S. m. Schuhen, ADR, Bd.m, 2, S. 3.

18

StoU, Leistungsstörungen, S.

16

m.

von "Bericht"

110

B. Das Werk Heinrich Stolls

teresse ist, die Akademie für Deutsches Recht und ihr Tätigkeitsfeld vorgestellt werden. Die Akademie für Deutsches Recht war am 26.6.1933 im Bayrischen Justizministerium ins Leben gerufen worden. Ihr Begründer war der Bayrische Justizminister und "Reichskommissar für die Gleichschaltung der Justiz in den Ländern und für die Erneuerung der Rechtsordnung" Hans Frank. 19 Mit der Akademie sollte eine wissenschaftliche Zentralstelle geschaffen werden für die Mitarbeit an der Umgestaltung und Fortbildung der Rechtsordnung im Sinne der nationalsozialistischen Weltanschauung. Sie hatte sich deshalb mit den Problemen des Rechtslebens, der Rechtspflege und der Gesetzgebung auseinanderzusetzen. Die gesetzgebenden Faktoren sollte sie durch Bereitstellung von tatsächlichem und rechtlichem Material, durch Vermittlung von wissenschaftlichen und praktischen Arbeitskräften, vor allem aber durch Anregung und Begutachtung von Gesetzesentwürfen, Verwaltungs- und sonstigen Maßnahmen auf den verschiedensten Gebieten des öffentlichen Lebens unterstützen. Von Akademien im hergebrachten Sinne unterschied sie sich durch die Auswahl ihrer Mitglieder. Zwar dominierten auch in ihr Wissenschaftler, darunter schon zu höchstem beruflichen Erfolg aufgestiegene Rechtslehrer wie Heinrich Lehmann, Eduard Kohlrausch und Carl Schmitt, ferner begabte Nachwuchswissenschaftler , wie Georg Dahm, Karl August Eckhardt, Karl Larenz und Wolfgang Siebert. 20 Sie wurden jedoch ergänzt durch juristische Praktiker, also Richter, Anwälte, Vertreter der öffentlichen Verwaltung und Rechtsberater aus Industrie und Handel, ferner durch Vertreter detjenigen Kreise, deren Lebensverhältnisse Gegenstand der rechtlichen Regelung sein sollten, und schließlich - angesichts der weltanschaulichen Dimension der Akademieaufgaben nicht verwunderlich - durch Führer des Staates und der NSDAP.21 Diese auf die Repräsentation unterschiedlichster Bevölkerungskreise angelegte Beru-

:lII

Hallenhauer, JuS 1986/S. 680. Zu den Motiven der Griindung s. dort. A.a.O., S. 681.

21

Schuben, ADR, Bd.l, S. X.

19

2. Kapitel: Stolls Wirken nach 1933

111

fungspraxis verdeutlichte eine weitere Funktion der Akademie: Ihre Mitwirkung bei der Gesetzgebung sollte nach dem Willen Franks in gewisser Hinsicht die in den Hintergrund getretenen, ihrer Funktion beraubten Parlamente ersetzen. "Sie sollte die drohende selbstherrliche Gesetzesbürokratie der Ministerien kritisch begleiten und gesetzgeberisches Fachwissen zur Verfügung stellen. "22 Sitz der Akademie für Deutsches Recht war zunächst München. Daß man sich nicht im Zentrum der politischen Macht, in Berlin, traf, hatte durchaus symbolische Bedeutung. Wenn die Akademie auch 1934 in den Rang einer Körperschaft des Reiches erhoben wurde, so scheiterte sie doch bei dem Versuch, auf politischem Gebiet Fuß zu fassen. 23 Das lag u.a. daran, daß das ohnehin geschwächte Justizministerium alles daran setzte, den Einfluß der Akademie für Deutsches Recht, insbesondere auf die Gesetzgebung, gering zu halten. 24 Stoll hatte die Denkschrift in seiner Eigenschaft als Mitglied des Ausschusses für Personen-, Vereins- und Schuldrecht angefertigt, der unter dem Vorsitz von Justus Wilhelm Hedemann zunächst allein für die Reform des Allgemeinen Teils und des Schuldrechts zuständig war. 25 Erst ab 1938 wurde dieses Gebiet nach und nach auf schließlich sieben Ausschüsse aufgeteilt. 26

22

2J

Hattenhauer, in FS Gmür, S. 262. Hattenhauer, JuS 1986/S. 680, 681.

A.a.O., S. 682. Ferner in FS Gmür, S. 260. 2S Eine AulZählung aller Ausschußmitglieder findet sich bei StoU, Leiatungsstörungen, S. IV.

:1A

26

ADR,

StoU, Bericht in Schuhen, ADR,

Bd. m, 2, S. 1.

Bd.m,

1, S. 1,25. Auflistung der Ausschüsse, Schuhen,

B. Das Werk Heinrich Stolls

112

4. Darstellung und Begründung der Lehre von den Leistungsstörungen

a) Das Schuldverhältnis Stoll sah im Begriff des Schuldverhältnisses die Grundlage für eine systematische Erfassung des Gebiets der Leistungsstörungen. 27 In den Vordergrund stellte er den Zweck des Schuldverhältnisses. Bisher war das Schuldverhältnis allgemein als eine privatrechtliche Sonderbeziehung zwischen zwei Personen aufgefaßt worden, kraft deren der Berechtigte (Gläubiger) vom Verpflichteten (Schuldner) ein bestimmtes Verhalten (Leistung) zur Befriedigung eines schutzwürdigen Interesses fordern konnte. Der Schuldvertrag wurde also allein aus der Perspektive der Parteien und ihrer Interessen als das Mittel betrachtet, mit dem die einzelnen Rechtsgenossen ihren Bedarf an Gütern decken und ihre besonderen Wünsche befriedigen konnten. Auch Stoll sah das Charakteristikum des Schuldverhältnisses darin, daß der Schuldner dem Gläubiger zu einer Leistung verpflichtet sei. 28 Aus der nationalsozialistischen Rechtsanschauung zog Stoll jedoch die Schlußfolgerung, daß das Schuldverhältnis vorrangig in seiner Funktion für die Gemeinschaft, als die Rechtsform der Güterbereitstellung und -verteilung, "unentbehrlich, um das Leben der Gemeinschaft zu ermöglichen und um Höchstleistungen zu erzielen", gesehen werden müsse. 29 So erblickte Stoll im Schuldverhältnis nicht wie früher nur eine Sonderbeziehung, sondern in erster Linie eine Gemeinschaftsbeziehung, "ein Stück des gesamtem Wirtschaftslebens" .30 Danach war das Schuldverhältnis also zweidimensional: Von den Parteien aus gesehen lag sein Ziel, die Verwirklichung des Leistungserfolges, in der Gläubigerbefriedigung durch Aufwand des Schuldners31 , für die Ge-

TI

StoU, Bericht in Sclwben, ADR, Bd.

m, 2, S. 194. Leistungsstörungen, S. 13. Protokoll

19.12.1934, a.a.O., S. 153. 28 Vgl. Leistungsstörungen, § 1 Abs. 1. Verzichtet wurde auf eine Begriffsbestimmung des Schuldverhältnisses. Nur seine Wirkungen wurden festgesetzt.

StoU, Bericht in Sclu4ben, ADR, Bd. m, 2, S. 194. Leistungsstörungen, S. 7. StoU, Bericht in Schuhen, ADR, Bd. m, 2, S. 194. Vertrag und Unrecht, S. 123. Ausführlich ZADR 1936/S. 628, 629 f. 29

30

31

StoU, Leistungsstörungen, S. 13. Vertrag und Unrecht, S. 121.

2. Kapitel: Stolls Wirken nach 1933

113

meinschaft in seinem Beitrag zur "großen Aufgabe der Güterbeschaffung und -verteilung "32 . Die Struktur des Schuldverhältnisses leitete Stoll aus einem anderen Leitgedanken der nationalsozialistischen Rechtsidee, nämlich der Treuptlicht im Sinne einer Gemeinschaft der Parteien, ab. Nach seiner Auffassung verpflichtete der Treuegedanke die Parteien zu vertrauensvoller Zusammenarbeit, weil nur auf diese Weise der Leistungserfolg erreicht werden könne. Das Schuldverhältnis sollte sich nicht in der Erfüllung der Leistungspflichten erschöpfen, sondern vielmehr ein umfassendes Rechten- und Ptlichtenverhältnis darstellen, das Stoll als "Organismus" bezeichnete. 33 Der Begriff des Schuldverhältnisses als Organismus spielte, wie wir sahen, auch schon in früheren Arbeiten Stolls eine Rolle. Bereits 1923 gebrauchte Stoll diesen Terminus bei der Begründung der Haftung für Verschulden während der Vertragsverhandlungen. 34 Eine zentrale Stellung nahm er ferner in der Abhandlung "Rücktritt und Schadensersatz"35 ein, wo Stoll mit seiner Hilfe darlegte, daß der Rücktritt das Schuldverhältnis nicht vernichte, sondern lediglich in ein Rückabwicklungsschuldverhältnis umwandle, und somit auch im Falle des Rücktritts Anspruche auf Schadensersatz denkbar seien. Seitdem hatten sich aber die Akzente verschoben. In den genannten Aufsätzen kam dem schuldrechtlichen Organismus vor allen Dingen eine systemtheoretische Bedeutung zu. Siber, der den Begriff geprägt hatte, gebrauchte ihn, um die Vereinigung mehrerer Anspruche in einem Gebilde zu kennzeichnen. Er wollte mit ihm veranschaulichen, daß die am Schuldverhältnis Beteiligten nicht nur durch eine Leistungsbeziehung miteinander verbunden seien, sondern durch vielfältige Rechte und Pflichten. Seine Funktion lag somit in der Abgrenzung der ge-

32 SroU, 33

S.26.

Leistungsstörungen, S. 13.

Protokoll 19.12.1934 in Schuhen, ADR, Bd.

1923/Sp. 532, 544. S. o. 1. Kapitel 1.3). 131/S. 141.

34

SroU, LZ

35

AcP

8 Sessler

m, 2, S. 158.

SroU,

Leistungsstörungen,

B. Das Werk Heinrich Stolls

114

samten Sonderverbindung von der einzelnen Forderung auf eine bestimmte Leistung. 36 Der zweite wichtige Aspekt war, daß das Schuldverhältnis seine Erscheinungsform wandeln konnte, ohne dadurch seine Identität zu verlieren. D. h. Änderung, Untergang oder Neuentstehung einzelner Rechte und Pflichten änderten nichts am Fortbestand des Schuldverhältnisses an sich. In seinen späteren Arbeiten stellte Stoll dagegen besonders die rechtspolitische Seite des Begriffs heraus. Betont wurde jetzt vor allem, daß der Leistungsanspruch in ein umfassendes Pflichtenverhältnis eingebettet sei und durch diese Pflichten beschränkt werde. Im Zusammenspiel mit dem Gemeinschaftsgedanken eignete sich dieses Bild sehr gut zur Demonstration nationalsozialistischer Rechtsideale, was ihm große Popularität verschaffte. Seinem Verständnis des Schuldverhältnisses als einem umfassenden Pflichtenverhältnis entsprechend unterschied Stoll in seinem Entwurf zwischen einem Leistungsverhältnis (§ 1 Abs. 1) und einem Vertrauensverhältnis (§ 2 Abs. 1), in seinem Grundriß auch Grundverhältnis genannt37 . Er nahm an, daß zwischen den auf Grund der Treupflicht zu einer engen Rechtsgemeinschaft zusammengeschlossenen Vertragspartnern ein Vertrauensverhältnis bestehe, das dem Schutz jeder Partei vor einer Beeinträchtigung ihrer Interessen diene. 38 Das Vertrauensverhältnis fand seinen Grund allerdings nicht im tatsächlichen Entgegenbringen von Vertrauen, sondern in der durch das Schuldverhältnis eröffneten besonderen Einwirkungsmöglichkeit auf Person und Güter des anderen, also in einem normativen Vertrauen. 39 Diese Begründung führte konsequenterweise dazu, daß das Vertrauensverhältnis bereits in dem Moment entstand, in dem sich die Parteien erkennbar zum Zwecke des Vertragsschlusses gegenübertraten, und bis zu dem Augenblick andauerte, in dem die letzten

36

Planck/Siber, Vorocm. zu § 241, S. 4.

37 SIOU, Vertrag und Unrecht, S. 124. 38

SIOU, Lcistungsstörungen, S. 26.

39

A.a.O., S. 27.

2. Kapitel: Stolls Wirken nach 1933

115

Wirkungen aus dem Leistungsverhältnis erloschen. 40 Bereits in seinen Gesetzesvorschlägen aus dem Jahre 1934 maß Stoll dem Vertrauensverhältnis große Bedeutung bei, daran abzulesen, daß er eine entsprechende Regelung an die Spitze der Neuordnung stellte. 41 Mit Leistungsverhältnis war diejenige Beziehung gemeint, die dem Gläubiger das Recht verlieh, vom Schuldner ein bestimmtes Verhalten zu fordern. Leistungs- und Vertrauensverhältnis sollten unabhängig voneinander sein. 42 Nicht ganz klar kam zum Ausdruck, ob Stoll diese beiden Beziehungen als selbständige Schuldverhältnisse verstand oder nur als verschiedene Teile eines einheitlichen Schuldverhältnisses. Für ersteres läßt sich sein Hinweis auf Herholzens Theorie der "konstanten Rahmenbeziehung" anführen, der die dem Vertrauensverhältnis entsprechende Rahmenbeziehung als eigenständiges Schuldverhältnis ansah. 43 Zahlreiche Äußerungen sprechen jedoch für die zweite Alternative. So bezeichnete Stoll mit dem Terminus Schuldverhältnis immer nur das umfassende Rechtsverhältnis zwischen den Parteien und vertrat weiterhin seine These von den verschiedenen Erscheinungsformen des Schuldverhältnisses. 44 Für ein einheitliches Schuldverhältnis spricht auch die häufige Berufung auf Siber, der mit dem Bild des Organismus gerade den Zweck verfolgt hatte, das Schuldverhältnis als ein einheitliches Rechten- und Ptlichtenverhältnis zu verdeutlichen. 45 Sowohl dem Leistungsverhältnis als auch dem Vertrauensverhältnis ordnete Stoll bestimmte Pflichten zu. Danach war das Leistungsverhältnis Grundlage der Leistungspflichten. Diese dienten ausschließlich der Verwirklichung des Gläubigerinteresses und oblagen daher nur dem Schuldner. 46 Ihnen lag der

«I

StoU, Leistungsstörungen, S. 26. § 2 Abs. 1.

m, 2, S. 207.

41

StoU, Vorschläge in Schuben, ADR, Bd.

42

StoU, Leistungsstörungen, S. 26. Vertrag und Unrecht, S. 125.

43

StoU, Leistungsstörungen, S. 126. Herhoiz, AcP 130/S. 257, 276, 298.

44 StoU, Leistungsstörungen, S. 126.

8'

4S

Planclc/Siber, Vorbem. zu § 241, S. 4.

46

StoU, Leistungsstörungen, § 1 Abs.2. DJZ 1936/Sp. 628, 630.

116

B. Das Werk Heinrich StoUs

Austauschgedanke zugrunde, d. h. Schuldner- und Gläubigerpflichten bedingten einander und standen im wechselseitigen Verhältnis der Angemessenheit. 47 Dem Gläubiger- oder Leistungsinteresse dienten alle Pflichten, die zu seiner Verwirklichung notwendig waren, also auch solche, die die Erfüllung lediglich vorbereiteten, unabhängig von ihrer Einstufung als Haupt- oder Nebenpflichten. Welche Pflichten das waren, ergab sich aus dem Vertragsinhalt. 48 Da die Leistungspflichten auf das positive Ziel des Schuldverhältnisses, die Herbeiführung des Leistungserfolges, gerichtet waren, setzten sie die gültige Begründung und den Bestand eines Schuldverhältnisses voraus. 49 Neben diese Leistungspflichten stellte Stoll die aus dem Vertrauensverhältnis fließenden Schutzpflichten. Sie sollten ausschließlich Schädigungen abwehren, die sich aus Anlaß der Vertragsvorbereitung und -durchführung ergeben können. so Stoll betonte nachdrücklich, daß Schutz- und Nebenpflichten nicht, wie häufig behauptet wurde, identisch seien. Nach seiner Terminologie bildeten Neben- und Hauptpflichten eine Untereinteilung der Leistungspflichten. Im Gegensatz zu den Leistungspflichten galten die Schutzpflichten in gleichem Maße für den Gläubiger. Ferner standen sie auch nicht unter dem Austauschgedanken, sondern unter dem • Vertrauensgedanken " .51 Sowohl inhaltlich als auch in ihrem Bestand hingen sie nicht vom Vertrag ab, da auch das Vertrauensverhältnis seinerseits keinen gültigen Vertrag voraussetzte, sondern nur die erkennbare Anbabnung vertraglicher Beziehungen. Im Gegensatz zu der im Entwurf vorgenommenen Verankerung aller Schutzpflichten im gesetzlichen Vertrauensverhältnis stützte Stoll de lege lata die Entstehung vorvertraglicher Schutzpflichten weiterhin auf ein einseitiges Rechtsgeschäft. 52

47 SroU, Leistungsstörungen, s. 27. Bericht in Schuhen, ADR, Bd. und Unrecht, S. 126. 48 SroU, Leistungsstörungen, S. 28. Vertrag und Unrecht, S. 155. 49 SroU, Begründung in Schuhen, ADR, Bd. m, 2, S. 214. so SroU, Leistungsstörungen, § 2 Abs. 3. DJZ 1936/Sp. 628, 630. 51 SroU, Leistungsstörungen S. 27. Vertrag und Unrecht, S. 126. 52 Sroll, Vertrag und Unrecht, S. 165.

m,

2, S. 196. Vertrag

2. Kapitel: Stolls Wirken nach 1933

117

Umstritten war im Ausschuß die Reihenfolge der Vorschriften über Leistungs- und Schu~flichten im Entwurf des zukünftigen Schuldrechts. In seinem ersten Vorschlag hatte Stoll das Vertrauensverhältnis mit den auf ihm beruhenden Schutzpflichten als Ausprägung des Gemeinschaftsgedankens an den Anfang seines Entwurfs gestellt. Die Leistungspflichten normierte er erst danach. 53 Der Ausschuß folgte jedoch insoweit einem Gegenentwurf Lehmanns, der die Leistungspflicht an die Spitze stellte, mit der Begründung, beim Schuldverhältnis denke man zunächst an die Leistung. 54 Unklar blieb, welche Bedeutung der Treupflicht in Stolls Entwurf zukam. In § 2 Abs. 1 der Denkschrift hatte Stoll eine wechselseitige Treupflicht festgelegt. Ebenso wie die in Abs. 3 derselben Vorschrift normierte Schutzpflicht, rechtfertigte er sie mit dem Vertrauensverhältnis. In der Begründung erläuterte Stoll, daß sie die Leistungspflicht des Schuldners bestimme und von beiden Parteien positiv ein Zusammenarbeiten verlange, damit der Leistungserfolg erreicht werden könne. 55

Hier erscheint die Treupflicht somit als eine dritte Art von Pflicht neben Leistungs- und Schutzpflichten; sie soll die Art und Weise der Erfüllung bestimmen und damit die Leistungspflicht ergänzen. In diesem Sinne taucht die Treupflicht auch in § 15 der Denkschrift auf. An anderer Stelle stellte er die Treupflicht den Leistungspflichten gegenüber und sprach davon, daß • durch die Scheidung zwischen Leistungs- und Treupflichten vielfach eine Vereinfachung und Klärung der Vorschriften über die Leistungssrorungen erreicht werden kann·.56 Stoll gebraucht den Begriff hier synonym für Schutzpflicht. Schließlich bezeichnete Stoll mit der Treupflicht auch einen Leitgedanken der nationalsozialistischen Weltanschauung, eine besondere, auf die Vertragsparteien bezogene Ausprägung des auf die Volksgemeinschaft bezogenen

StoU, Vorschläge und Begründung in Schuhel1, ADR, Bd. m, 2, S. 207, 213. Protokoll 19.12.1934 in Schuhert, ADR, Bd. m, 2, S. 160 f. ss StoU, LcistungsslÖrungen, S. 61. S6 StoU, Lcistungsstörungen, S. 26.

S3

54

118

B. Das Werk Heinrich Stolls

Gemeinschaftsgedankens. 57 Die Denkschrift gab dem Begriff der Treupflicht also drei verschiedene Bedeutungen. In Stolls ursprünglichen Vorschlägen war von einer Treupflicht keine Rede. Erstmals verwandte er diesen Begriff in der Beratung, und zwar im Sinne der oben zuerst genannten Auffassung als einer konkreten schuldrechtlichen Pflicht zu vertrauensvoller Zusammenarbeit. 58 Die Treupflicht als Leitgedanke des Entwurfs wurde während der Beratung von Günther ins Spiel gebracht. Er grenzte sie jedoch nicht vom gleichfalls erwähnten Gemeinschaftsgedanken ab und verquickte sie außerdem mit den Schutzpflichten. 59

Ähnlich vage Vorstellungen von dem Gedanken der Treupflicht schien auch der Vorsitzende Hedemann zu haben, dessen Redewendung "Treu- und Schutzgedanke w einerseits eine gedankliche Verbindung zur Schutzpflicht andeutete, andererseits aber wohl auch die Rolle eines Leitmotivs für den Gesamtentwurf spielen sollte. 60 Die Untersuchung zeigt jedenfalls, daß Stoll selbst den Begriff der Treupflicht ursprünglich nicht gebraucht hatte, sondern insofern fremde Vorstellungen in den Entwurf aufnahm, die sowohl in sich als auch untereinander widersprüchlich waren, was seine unterschiedlichen, sich widersprechenden Verwendungsformen erklären mag. Abschließend kann man festhalten, daß Stolls Konzeption das Schuldverhältnis nicht mehr lediglich als Sonderbeziehung, sondern auch als Gemeinschaftsbeziehung ausgestaltete, d. h. ihm eine gemeinnützige Funktion zuwies. Von seiner Struktur her betrachtete Stoll das Schuldverhältnis als Organismus, der neben der Leistungsbeziehung - aufbauend auf dem nationalsozialistischen Treuegedanken - ein Vertrauensverhältnis umfaßte. Entsprechend der Unterscheidung von Leistungs- und Vertrauensverhältnis differenzierte er zwischen den aus dem Vertrag fließenden, auf Herbeiführung des vereinbarten Erfolges gerichteten Leistungspflichten und den aus dem Vertrauensverhältnis fließenden Schutzpflichten, die in Anbetracht der durch die rechtsgeschäftli-

57

A.a.O., S. 10.

58

Protokoll 19.12.1934 in Schuhert, ADR, Bd. A.a.O., S. 162. A.a.O.

59 (j()

m, 2, S. 158.

2. Kapitel: Stolls Wirken nach 1933

119

chen Beziehungen begründeten besonderen Einwirkungsmöglichkeit auf Person und Vermögen der anderen Partei gebührende Rücksichtnahme auf diese Rechtsgüter verlangten. b) Die Leistungsstörungen aa) Das System der Leistungsstörungen Mit dem Ausdruck Leistungsstörungen bezeichnete Stoll Hemmungen und Hindernisse, die bei der Verwirklichung des Zieles des Schuldverhältnisses entstehen. 61 Ausdrücklich bezog er auch die vor Vertragsschluß liegenden Störungen ein. 62 Stoll begrenzte das Gebiet der Leistungsstörungen durch das Ziel des Schuldverhältnisses, die Verwirklichung des Leistungserfolges. Unter Rückgriff auf seine Ausführungen zum Schuldverhältnis definierte Stoll den Leistungserfolg dualistisch: Für die Parteien bestehe er in der Gläubigerbefriedigung durch Aufwand des Schuldners, für die Gemeinschaft in der Förderung der Güterverteilung in sinnvoller und gerechter Weise. 63 Eine Leistungsstörung sollte dementsprechend vorliegen, wenn das Schuldverhältnis gar nicht oder nicht im Einklang mit diesen Zwecken durchgeführt werden konnte. 64 Aus dieser Begriffsbestimmung schlossen einige, daß nur Umstände erfaßt seien, die die Leistung oder den Leistungsgegenstand selbst beträfen65 , wozu die Formulierung verführen konnte; jedoch spricht - von zahlreichen anderslautenden Äußerungen Stolls abgesehen - entscheidend dagegen, daß Stoll die Schutzpflichten letztlich aus dem Treuegedanken, einer besonderen schuldrechtlichen Ausprägung des Gemeinschaftsgedankens, ableitete. Ihre Verlet-

61

Stall, Bericht in Schubert, ADR, Bd. lII, 2, S. 194. Leistungsstörungen, S. 13. Ähnlich

Vertrag und Unrecht, S. 171. Proto1collI9.12.1934 in Schubert, ADR, Bd. lII, 2, S. 153. 62

Stall, Bericht in Schubert, ADR, Bd. lII, 2, S. 199.

63

Sroll, Leistungsstörungen, S. 13.

64

Proto1collI9.12.1934 in Schubert, ADR, Bd. lII, 2, S. 153.

6S

Oertmann, Kritische Vierteljahresschrift 29/S. 116, 117.

120

B. Das Werk Heinrich Stolls

zung berührte somit den Gemeinschaftszweck des Schuldverhältnisses und wurde deshalb von der Begriffsbestimmung erfaßt. Stoll unterschied folgende Störungsarten: 1. Verletzung des Gemeinschaftszwecks, 2. Vereitelung, Beeinträchtigung oder Gefährdung des Leistungsinteresses, 3. Beeinträchtigung oder Gefährdung des Schutzinteresses. 66 Auf welchem Wege Stoll zu dieser Begriffsbildung gekommen war, erklärte er in seinem Bericht67 : "Wir müssen ausgehen von der Interessenlage und ihrer Beurteilung nach den höchsten politischen Zielen, also von der Bewertung der Interessenkonflikte. Wir müssen diese Interessenkonflikte erkennen und müssen sie werten. " Diese Grundsätze führten ihn dazu, die verschiedenen Störungsarten nach der Art des verletzten Interesses und dem Grund ihrer Verletzung in Begriffe zu fassen. 68 Daß diese Ausführungen keinen Eingang in die Denkschrift fanden, beruhte möglicherweise darauf, daß sich der Ausschuß nicht zum Befürworter der ihnen zugrunde liegenden, im Nationalsozialismus heftig angegriffenen Methode der Interessenjurisprudenz machen wollte und deshalb diese Passagen nicht übernahm. Als Störungsgrund kamen nach Stolls Auffassung Pflichtverletzungen, aber auch "andere Ursachen" in Betracht, z. B. Überschreitung der Opfergrenze. 69 Die Systematisierung nach den genannten Störungsarten läßt deutlich die Kontinuität zwischen dem BGB und Stolls Teilreform erkennen. Auf den engen Zusammenhang zwischen der Denkschrift und dem" Abschied von der Lehre von der positiven Vertragsverletzung" hatte bereits 1933 Simonetos in seiner Untersuchung der Denkschrift hingewiesen. 70 Geringfügige Abweichungen, z. B. die unklare Stellung des Interessenwegfalls, änderten daran nichts. Wie oben dargestellt, handelte es sich bei den genannten Formeln um sog. Interessenbegriffe, d. h. komprimierte Wiedergaben der Interessenlage, die der BGB-Gesetzgeber nach Auffassung Stolls bei der Kodifizierung vor Augen gehabt hatte. Indem Stoll

66

SIOU, Lcistungsstörungen, S. 14.

67

SIOU, Bericht in Schuben, ADR, Bd.

68

A.a.O., S. 199.

69

SlOU, Lcistungsstörungen, S. 14.

iO

SimonelOs, Lcistungsstörungen, S. 12.

m, 2, S.

197.

2. Kapitel: Stolls Wirken nach 1933

121

diese Begriffe übernahm, machte er sich auch die hinter ihnen stehenden gesetzgeberischen Vorstellungen zu eigen. Er knüpfte häufig an jenen Aufsatz an, so daß man ihn als den Kern des Neuentwurfs bezeichnen kann. Diesen Kern eIWeiterte Stoll, indem er unter dem Begriff der Leistungsstörungen neben den im "Abschied" behandelten Beeinträchtigungen des Schuldverhältnisses auch sonstige, nicht auf Pflichtverletzungen beruhende Störungen zusammenfaßte und vor allem mit dem Schuldverhältnis einen weiteren Zweck, eine gemeinnützige Güterverteilung, verband. Die wesentliche Weiterentwicklung des Entwurfs auf dogmatischem Gebiet lag also - das kann schon hier gesagt werden - in der Bildung einer dritten Kategorie von Leistungsstörungen, der Verletzung des Gemeinschaftszwecks des Schuldverhältnisses, insbesondere durch Überschreitung der Opfergrenze. Stoll erläuterte die einzelnen Störungsarten nicht näher. 7 1 Auch der Entwurf sah keine Begriffsbestimmungen vor. Ferner gebrauchte er - außer für Paragraphenüberschriften - nur selten die in der Grundlegung veIWendeten Begriffe der Störungsformen, sondern bevorzugte Umschreibungen oder konkretere Begriffe. Exemplarisch ist § 9 der Denkschrift, der laut Begründung Vereitelung und Beeinträchtigung des Leistungsinteresses behandelt, aber keinen dieser Begriffe im Gesetzestext benutzt. 72 So gebraucht der die Interessenvereitelung regelnde Abs. 2 die Formulierung "wenn sein Leistungsinteresse weggefallen ist" bzw. stellt auf die Bewirkbarkeit der Leistung ab und bezeichnet damit offensichtlich Unterfälle der Interessenvereitelung. 73 Vielversprechend ist § 12 "Leistungsgefährdung" überschrieben, verheißt also, die Gefährdung des Leistungsinteresses zu regeln. Anstatt aber mit Hilfe

11 Eine Ausnahme bildete die Überschreitung der Opfergrenze, die wegen ihrer großen Bedeutung gesondert besprochen werden soll (cc).

m, 2, S. 208.

12

Anders noch in den Vorschlägen, Schuhert, ADR, Bd.

13

In der Begriindung sprach StoU allerdings davon, daß der Interessenwegfall der Interes-

scnvereitelung gleichstehe und stellte ihn neben Vereitelung und Beeinträchtigung des Leistungsinteresscs (Schuhert, ADR, Bd. m, 2, S. 218 f.). Dies widersprach sowohl dem Gesctzestext als auch der Grundlegung, in der der Interesscnwegfall als systematische Kategorie nicht auftauchte.

122

B. Das Werk Heinrich Stolls

abstrakter Tatbestandsmerkmale festzulegen, wann die Leistung gefährdet ist, enthält die Vorschrift nur zwei immerhin typische Sonderfälle, nämlich die beiden Hauptfälle bestimmte und endgültige Verweigerung der Leistung und rechtskräftige Verurteilung zur Leistung. In diesen Fällen räumte Stoll dem Gläubiger die Möglichkeit ein, eine Frist mit Ablehnungsandrohung zu setzen und nach deren fruchtlosem Ablauf Schadensersatz wegen Nichterfüllung zu verlangen oder vom Vertrag zurückzutreten. Schwer zu deuten ist, welche Stellung die den Vertrauensbruch im allgemeinen und im besonderen regelnden §§ 15 und 16 der Denkschrift im System haben sollten. Der Tatbestand fordert zunächst die Verletzung einer Schutzoder Treupflicht. Daß es hier um keine normale Schutzpflichtverletzung ging, erhellt jedoch schon die angeordnete Rechtsfolge: kein Anspruch auf das Ausgleichsinteresse, sondern ein Rücktrittsrecht in Verbindung mit einem Anspruch auf Ersatz des Vertrauensschadens. Weiteres Tatbestandsmerkmal war ein durch die Pflichtverletzung verursachter Vertrauensbruch, der in Stolls System nur schwer einzuordnen ist. Vermutlich war die Erschütterung des Vertrauensverhältnisses infolge einer schuldhaften Verletzung der Treupflicht gemeint, hier im Sinne einer Pflicht zu vertrauensvoller Zusammenarbeit. Von einigen sachlichen Unklarheiten abgesehen, verfehlte Stoll letztlich sein Ziel, durch klare, einheitliche Terminologie und Aufbau des Neuentwurfs nach seinem System ein leichter verständliches Gesetz zustandezubringen. In der Grundlegung zu seinem Reformvorschlag ist es ihm zwar gelungen, die Leistungsstörungen methodisch fundiert zu systematisieren. 74 Weniger überzeugt dagegen die Umsetzung dieses Systems in Gesetzesworte.

74

1.1).

Hier kann auf die Ausführungen zu AcP 136/S. 257 velWiescn werden, s. o. 1. Kapitel

2. Kapitel: Stolls Wirken nach 1933

123

bb) Die Rechtsfolgen der Leistungsstörungen Für die Bestimmung der Rechtsfolgen legte die Denkschrift vier Grundsätze fest.1 5 An der Spitze stand das Verschuldensprinzip bzw. der Grundsatz der Haftung für schuldhafte Pflichtverletzung: "Jede Partei haftet für die Folgen schuldhafter Verletzung ihrer Pflichten, sei es der Leistungspflichten oder der Schutzpflichten. "76 Haften bedeutete dabei soviel wie Verpflichtung zum Schadensersatz, und zwar Ersatz der entstandenen Einbußen, des sog. Ausgleichsinteresses. Der Erfüllungsanspruch blieb daneben bestehen. Eine Erfolgshaftung sollte es nur ausnahmsweise geben. 77 Die allgemeine Erfolgshaftung wurde abgelehnt, weil sie in besonderem Maße die Gläubigerinteressen auf Kosten des Schuldners bevorzuge und damit die im Gemeinschaftsgedanken verankerte Forderung nach Angemessenheit des Schuldneraufwands verletze. 78 Der Grundsatz der Gewährung des Ausgleichsinteresses bei schuldhafter Pflichtverletzung wurde für einige Tatbestände modifiziert. So wurde bei Vereitelung und Wegfall des Leistungsinteresses ein Anspruch auf Schadensersatz wegen Nichterfüllung gewährt, bei Gef"ahrdung des Leistungsinteresses ein KlarsteIlungsrecht, auf Grund dessen der Verletzte eine Frist mit Ablehnungsandrohung setzen und nach fruchtlosem Ablauf der Frist Schadensersatz wegen Nichterfüllung verlangen konnte.1 9 In gegenseitigen Verträgen hatte der Gläubiger bei Vorliegen dieser Fälle außerdem (wahlweise) die Möglichkeit, vom Vertrag zurückzutreten. 80

75 In seinem Bericht sprach SroU noch gemäß der Tenninologie der Interessenjurisprudenz von Werturteilen (Schuhen, ADR, Bd. m, 2, S. 199 f.). 76 Sroll, Leistungsstörungen, S. 15. 77 78

A.a.O. Vgl. die Ausnahmevorschriften §§ 4, 5, 6 der Denkschrift. StolI, Leistungsstörungen, S. 15.

79 A.a.O., S. 35, § 12. Ebenso bereits in den Vorschlägen, Schuhen, ADR, Bd. S.208.

80

m, 2,

StolI, Leistungsstörungen, § 22 Abs.I. Ebenso bereits Vorschläge, Schuhen, ADR, Bd.

m, 2, S. 210. Bericht, a.a.O., S. 202. Protokoll 19.12.1934, 8.a.0., S. 156.

B. Das Werk Heinrich Stolls

124

Außerdem bestand ein Lösungsrecht bei Erschütterung des Vertrauensverhältnisses. 81 Das Nebeneinander von SchadensersatzanspfÜchen und Lösungsrechten galt als problematisch. Nach allgemeiner Ansicht verlangte der Gemeinschaftsgedanke, an einem einmal eingeleiteten Geschäft so lange als möglich festzuhalten, um die Gemeinschaftsaufgabe der Güterverteilung nicht zu vereiteln und eine nutzlose Aufopferung wirtschaftlicher Werte zu verhindern. 82 Deshalb forderten einige Ausschußmitglieder, besonders Lange, eine Abstufung der Rechtsbehelfe. 83 Die Parteien sollten gezwungen werden, zunächst die weniger schwerwiegenden Rechtsbehelfe zu ergreifen. Eine einseitige Lösung vom Vertrag kam danach nur als "allerletztes Mittel" in Betracht. Stoll stellte in seinem Bericht klar, daß er dem "Grundgedanken, die Verwirklichung der Obligation zu erreichen, solange das irgend möglich ist", zustimme, wollte dieses Ziel aber auf einem anderen Weg erreichen, nämlich durch Abgrenzung und Verschärfung der Lösungsvoraussetzungen. 84 Anscheinend konnte er sich mit dieser Auffassung durchsetzen, denn sein Entwurf schrieb keine Abstufung der Rechtsfolgen vor, betonte aber immer wieder die hohen tatbestandlichen Anforderungen an eine Lösung vom Vertrag. 85 Ein deutliches Beispiel für dieses Vorgehen war § 22 Abs. 1 der Denkschrift, der die Gewährung von Schadensersatz nach der Differenztheorie, also Befreiung von der eigenen Leistung gekoppelt mit Schadensersatz in Geld, wegen der einer Rückabwicklung des Vertrages gleichkommenden Wirkung von dem Nachweis abhängig machte, daß die Bewirkung der eigenen

81

StoU, Leistungsstönmgen, S. 16, § 15. EbeßBO bereits Vorschläge in Schuhen, ADR, Bd.

m, 2, S. 209. 82

StoU, LeistungsslÖrungen, S. 52.

83

StoU, Bericht in Schuhen, ADR, Bd.

ADR, Bd. m, 2, S. 159. 84 A.a.O. 85

StoU, Leistungsstörungen, S. 52, 76.

m,

2, S. 202. Protokoll 19.12.1934 in Schuhen,

2. Kapitel: Stolls Wirken nach 1933

125

Leistung unzumutbar sei. 86 Beim Schadensersatz wegen Nichterfüllung hatte die Austauschtheorie also Vorrang vor der Differenztheorie. Sehr umstritten war § 277 des Stollschen Vorentwurfs, der im Entwurf der Denkschrift dann auch nicht mehr enthalten war. Orientiert am Billigkeitsgedanken des § 829 BGB, erstrebte Stoll - einer der sieben Hauptpunkte seiner Reform - die Möglichkeit einer Minderung der Schadensersatzpflicht bei geringem Verschulden oder Armut des Schuldners unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen Verhältnisse des Gläubigers. Auch ohne Anrufung des Gerichts sollte diese Milderung ohne weiteres gelten. Gegen diesen Vorstoß wurden vielfältige Bedenken erhoben. Hingewiesen wurde insbesondere auf die Erschütterung der Vertragstreue, die Möglichkeit von Vermögensänderungen, die Auswirkungen auf die Schuldnermoral und die Natur des Zivilrechts. 87 Zahlreiche Altemativvorschläge wurden eingebracht. So wollte Lehmann der Vorschrift einen weiteren Satz hinzufügen, der die Achtung der Vertragstreue betonen sollte. 88 Nipperdey schlug vor, das Problem im Vollstreckungsrecht zu lösen. 89 Andere wiederum wollten die Schadensersatzpflicht lediglich stunden. 90 Günther schließlich lehnte jede Haftungserleichterung ab. 91 Zu einer Einigung kam es nicht. In der Denkschrift wurde das Problem nicht mehr aufgeworfen. Vielmehr stellte man die Frage zurück, um sie im Gesamtzusammenhang der Schadenslehre zu überprüfen, wo sich Stolls Auffassung allerdings ebensowenig durchsetzen konnte. 92

86

A.a.O., S. 77.

17

Protokoll 19.12.1934 in Schuhen, ADR, Bd.

88

A.a.O., S. 182.

89

A.a.O., S. 185.

90 91

A.a.O., S. 183 f. A.a.O., S. 184.

92

Vgl. §§ 40 ff. der endgültigen Fassung für das VGB, Schuhen, ADR, Bd.

S. 146 ff.

m, 2, S.

182 ff.

m, I,

B. Das Werk Heinrich Stolls

126

Der zweite Grundsatz für die Zumessung von Rechtsfolgen war das Entlastungsprinzip.93 Es besagte, daß der Gläubiger ohne Rücksicht auf sein Verschulden für die von ihm verursachten Störungen des Leistungsinteresses einzustehen habe, und ergänzte den Verschuldensgrundsatz somit durch das VeranJassungsprinzip. Da lediglich eine Selbstschädigung vorlag, konnte der Gläubiger, der das Leistungsinteresse verletzt hatte, nicht mit einer Schadensersatzpflicht belegt werden. Andererseits mußte der Schuldner entlastet oder gar befreit werden, da es ihm nicht zumutbar war, Hindernisse zu überwinden, die der Gläubiger selbst der Erfüllung bereitet hatte. 94 Wie sich aus der beispielhaften Erwähnung des Annahmeverzugs ergab, verstand Stoll unter Entlastung anscheinend Haftungserleichterungen für den Schuldner, wie Haftungsbeschränkung und Gefahrübergang. Befreiung bedeutete, daß der Schuldner von seiner Leistungspflicht, d. h. sowohl von der primären Leistungspflicht als auch von der Ersatzpflicht, frei wurde. Für die zufällige Vereitelung des Leistungserfolges, durch wen auch immer, galt der Befreiungsgrundsatz. Nur ausnahmsweise mußte der Schuldner Schadensersatz leisten, so bei vertraglicher Garantie und bei Störung infolge mangelnder persönlicher Fähigkeit oder durch schuldhaftes Verhalten von Hilfspersonen. 95 Der letzte Grundsatz, als Ausgleichungsgrundsatz oder Grundsatz der Opfergrenze bezeichnet, soll gesondert behandelt werden. 96 An der Spitze der Neuordnung der Leistungsstörungen stand somit der Grundsatz der Haftung für jede schuldhafte Pflichtverletzung. Dieser wurde für sonstige Einwirkungen auf das Schuldverhältnis (schuldhafte und unverschuldete Verletzungen von Gläubigerobliegenheiten, Zufall) ergänzt durch die Grundsätze der Entlastung und Befreiung. Die konkrete Rechtsfolge einer Pflichtverletzung, d. h. der Umfang des Schadensersatzes und eventuelle Lö-

S.

m, 2, 2, S. 156.

93

StoU, Bericht in Schubert, ADR, Bd.

19.12.1934 in SchubeT1, 904

ADR, Bd. m, StoU, Leistungsstörungen, S. 16.

95

StoII, Leistungsstörungen, S.

96

S. u. ce).

156.

16.

Protokoll

S. 200. Leistungsstörungen, S.

19.12.1934

16.

Protokoll

in Schubert, ADR, Bd.

m,

2,

2. Kapitel: Stolls Wirken nach 1933

127

sungsrechte, ergab sich aus diesen obersten Prinzipien in Verbindung mit der Art des verletzten Interesses (Leistungs- oder Schutzinteresse) und dem Umfang seiner Verletzung (Vereitelung, Beeinträchtigung oder Gefährdung), schließlich aus der Art des Rechtsgeschäfts (einfache Obligation oder gegenseitiger Vertrag). 97 Zu untersuchen ist, wie dieses Haftungssystem im Entwurf der Denkschrift verwirklicht wurde. Den .zentralen Grundsatz der Schadensersatzpflicht bei schuldhafter Pflichtverletzung legte Stoll in § 3 nieder. Die Ausnahmen von diesem Prinzip folgten in den §§ 4 - 6. Hinsichtlich der Rechtsfolgen im ein.zelnen unterschied Stoll, wie er es in seiner Grundlegung gefordert hatte, zunächst nach der Art des verletzten Interesses zwischen Leistungs- und Schutzpflichten. So wiederholte § 8 noch einmal ausdrücklich die an sich bereits in § 3 festgelegte Rechtsfolge des einfachen Schadensersatzes für die Verletzung von Schutzpflichten. In den §§ 9 - 14 regelte er die Fälle einer Verletzung des Leistungserfolges. § 9 enthielt die Anordnung einer Schadensersatzpflicht bei Nichterfüllung oder nicht gehöriger Erfüllung der Leistungspflicht und wiederholte insoweit § 3. Unvollständig war die Überschrift von § 9, "Rechtsfolgen der Nichterfüllung", da der Tatbestand der Nichterfüllung nach Stolls eigener Ansicht auch bei der Verletzung von Schutzpflichten erfüllt war, § 9 sich jedoch nur auf Leistungspflichten beziehen sollte. 98 Abs. 2 normierte die Voraussetzungen für Schadensersatz wegen Nichterfüllung. Getreu der Forderung, einen einmal in Gang gesetzten Güteraustausch nach Möglichkeit durchzuführen, gewährte Stoll diesen Anspruch nur bei Interessenwegfall, Interessenvereitelung, wenn also die Leistung nicht mehr bewirkt werden konnte, und bei vorsätzlicher Beeinträchtigung des Leistungsinteresses. Grundsätzlich rechtfertigte die schlichte Beeinträchtigung des Leistungsinteresses diese Rechtsfolge nicht, sondern nur einen Anspruch auf das Ausgleichsinteresse. Bei vorsätzlicher Beeinträchtigung der Leistungspflicht wurde aber die Treupflicht zu vertrauensvoller Zusammenarbeit verletzt und damit das Vertrauensverhältnis so erschüttert, daß ein weiteres Festhalten am Vertrag

97

StolI, Leistungsstörungen, S. 34. ZADR 1936/5.628,630.

98

StoU, Leistungsstörungen, S. 66.

128

B. Das Werk Heinrich Stolls

unzumutbar wurde. Es handelte sich somit um eine Parallelvorschrift zu § 15, der den Vertrauensbruch durch Verletzung von Schutzpflichten behandelte und als Rechtsfolge ein Rücktrittsrecht in Verbindung mit einem Anspruch auf Ersatz des Vertrauensschaden festlegte. Falsch war deshalb die Auffassung von Simonetos, der in § 9 geregelte Fall der vorsätzlichen Schädigung sei schon ausreichend in § 15 geregelt. 99 In § 9 legte Stoll gemäß dem Befreiungsgrundsatz fest, daß der Schuldner von seiner Verpflichtung frei werde, wenn die Erfüllung infolge eines nicht zu vertretenden Umstandes unterbleibt. Diese Formulierung lud zu Mißverständnissen ein. Nach ihrem Wortlaut wurde der Schuldner auch dann von seiner Leistungspflicht befreit, wenn die Erfüllung lediglich auf Grund einer Verzögerung der Leistung ausgeblieben war, was Stoll ersichtlich nicht beabsichtigt hatte. Vielmehr sollte eine Befreiung nur bei Interessenvereitelung und des Interessenwegfalls eintreten. 100 In § 12, der die Leistungsgefährdung regelte, räumte Stoll dem Gläubiger die Möglichkeit ein, eine Frist mit Ablehnungsandrohung in Lauf zu setzen und nach deren fruchtlosem Ablauf Schadensersatz wegen Nichterfüllung zu verlangen oder vom Vertrag zurückzutreten. In konsequenter Verwirklichung seines Konzepts ordnete er auch hier einer bestimmten Form der Interessenverletzung eine spezifische Rechtsfolge zu. Durch das zusätzliche, umstrittene Erfordernis der Fristsetzung blieb er seiner ZielSetzung treu, einmal geschlossene Verträge nach Möglichkeit aufrechtzuerhalten und Lösungsrechte nur bei Vereitelung oder Wegfall des Leistungsinteresses zu gewähren. Eine letzte Einwirkung auf das Leistungsinteresse, den Verzug, regelten die §§ 13 und 14. Da es sich beim Verzug um einen Sonderfall der Beeinträchtigung des Leistungsinteresses handelte, stand dem Gläubiger ein einfacher Schadensersatzanspruch zu. Erforderlich war allerdings in der Regel eine Mahnung. lOl Besonderheiten für gegenseitige Verträge enthielten die §§ 20 - 24. Besonders erwähnenswert ist das dem Gläubiger als Alternative zum Schadensersatz

99

Simonetos, Leistungsstörungen, S. 37.

100

StoU, LeistungsslÖrungen, S. 16.

101

A.a.O., S. 70.

2. Kapitel: Stolls Wirken nach 1933

129

wegen Nichterfüllung gewährte Rücktrittsrecht bei schuldhafter Verletzung der Leistungspflicht durch den Schuldner (§ 22 Abs. 1). Insgesamt muß man anerkennen, daß es Stoll gelungen ist, auch im Gesetzesentwurf Tatbestände und Rechtsfolgen nach den oben genannten Werturteilen einander zuzuordnen. cc) Die Überschreitung der Opfergrenze und der Grundsatz der Ausgleichung Neben der Verletzung von Leistungs- und Schutzinteressen war eine dritte Kategorie der Leistungsstörungen die Beeinträchtigung des Gemeinschaftszwecks des Schuldverhältnisses durch Überschreiten der Opfergrenze. Von den beiden anderen Kategorien unterschied sie sich grundlegend, weil diese Leistungsstörung nicht in einer Pflichtverletzung, sondern in der bloßen Veränderung der dem Vertrag zugrundeliegenden Umstände begründet war. Eine allgemeine Regel, nach der die Veränderung maßgeblicher Umstände des Vertragsverhältnisses zu berücksichtigen sei, kannte (und kennt) das BGB nicht. Der Grund dieser Unterlassung lag hauptsächlich darin, daß man das Vertrauen in den Bestand vertraglicher Verpflichtungen durch eine derartige Norm als gefährdet ansah. Lediglich einige spezielle Anwendungställe der Lehre von der cIausula rebus sic stantibus fanden Eingang in das BGB (vgl. §§ 321, 519, 542, 553, 570, 605, 610, 626, 696 Satz 2, 723 Satz 2 und 3, 775 Abs. 2)102. Auch die Irrtumslehre hatte die Fälle des Wegfalls der Geschäftsgrundlage außer Betracht gelassen. Die Zeiten wirtschaftlicher Ruhe und Prosperität, in denen das BGB entstanden war, ließen derartige Normen als überflüssig erscheinen. Dies änderte sich schlagartig nach dem Ersten Weltkrieg, als infolge von Güterverknappung, Produktionserschwerung und vor allem Geldentwertung das unbedingte Festhalten am unveränderten Bestand eingegangener Verpflichtungen offenbar unbillig erschien und zur massenhaften Vernichtung wirtschaftlicher Existenzen führte, so daß sich das Reichsgericht in einer sehr umstrittenen Entscheidung dazu veranIaßt sah, eine Aufwertung zuzulassen und dem Richter Recht und Pflicht zuerkaOnte, nach Treu und Glauben einen billigen Ausgleich zwischen Gläubiger und Schuldner unter

102

MK-Roth, § 242 RN 471.

9 Sessler

130

B. Das Werk Heinrich StoUs

Berücksichtigung aller Umstände des einzelnen Falles zu finden. 103 Stoll stellte 1930 die kritische Frage, ob Gerechtigkeit und Billigkeit durch die Unsicherheit der freien Aufwertung nicht zu teuer erkauft worden seien und das Reichsgericht nicht sich und die Untergerichte mit dieser Aufgabe überfordert habe. 104 Um solche Gefahren für die Zukunft zu vermeiden, nahm er mit dem Beifall des Ausschusses eine die Berücksichtigung außergewöhnlicher Umstände regelnde Vorschrift in die Denkschrift auf. Systematisch knüpfte er dabei an den von Heck geprägten Begriff der Opfergrenze an. 105 Wie Stoll war auch Heck davon ausgegangen, daß der Zweck des Schuldverhältnisses in der Befriedigung des Gläubigerinteresses durch Aufwand des Schuldners liege. 106 Mit dem Begriff der Opfergrenze ergänzte Heck diesen Grundsatz dahingehend, daß die Aufwandspflicht des Schuldners begrenzt sei. Nach seiner Auffassung mußte der Schuldner frei werden, wenn die Mittel, die er zur Befriedigung des Gläubigers aufwenden sollte, erschöpft waren, auch wenn der angestrebte Leistungserfolg noch nicht eingetreten war. 107 Die Begrenzung des Aufwands im Einzelfall sollte sich einerseits aus dem konkreten Inhalt der Verpflichtung (sog. spezielle Opfergrenze) ergeben, andererseits aus den allgemeinen Vorschriften der §§ 242, 904 BGB (allgemeine Opfergrenze).108 Heck und Stoll stimmten darin überein, daß das Prinzip der Opfergrenze dem Recht der Leistungsstörungen des BGB zugrunde liege. 109 Stoll ging dabei so weit, die Suche nach dem richtigen Ausgleich zwischen der Aufwands-

107/S. 78 vom 28.11.1923. StoU, AcP l32/S. 213, 215. lOS Heck, Schuldrccht, S. 85. 106 A.a.O., S. 71.

103

RG Z

104

86. Schuldrccht, S. 86, 88. 109 A.a.O., S. 86 ff. StoU, Bericht in Schuhen, ADR, Bd. m, 2, S. 200. Leistungsstörungen, S. 42, 126. 107

A.a.O., S.

1111

Heck,

2. Kapitel: Stalls Wirken nach 1933

131

pflicht des Schuldners und der Opfergrenze als das "Kemproblem des ganzen Gebiets der Leistungsstörungen " zu bezeichnen. 110 Rechtspolitische Grundlage war bei Stoll allerdings weniger eine § 242 BGB entsprechende Treupflicht der Parteien untereinander, als vielmehr der Gemeinschaftszweck des Schuldverhältnisses. Diesen sah er in einer sinnvollen Güterverteilung, die nur dann erreicht werden könne, wenn die Haftung des Schuldners nicht sinnlos überspannt werde. lll "Denn es mindert das Nationalvermögen, wenn die Aufwendungen, die dem Schuldner obliegen, in keinem Vergleich mehr zu dem Erfolg stehen, der schließlich für den Gläubiger erreicht werden könnte. -112 Aus der Einsicht heraus, daß die Aufwandspflicht des Schuldners im Gemeinschaftsinteresse zu begrenzen sei, wollte Stoll in der Neukodifikation des Schuldrechts dem Schuldner bei Störungen des Äquivalenzverhältnisses zwischen Schuldneraufwand und Gläubigererfolg, im Falle gegenseitiger Verträge auch bei Störungen der subjektiven Gleichwertigkeit von Leistung und Gegenleistung, die Möglichkeit geben, sich auf die das Mißverhältnis verursachenden außergewöhnlichen Umstände zu berufen. ll3 Erforderlich war, daß das Schuldverhältnis zwar noch durchgeführt werden konnte, -aber nur unter außergewöhnlichen, dem Schuldner nicht zumutbaren Aufwendungen· .114 Die Zumutbarkeit bildete somit die Grenze der Leistungspflicht des Schuldners. Obwohl Stoß bestrebt war, die Voraussetzungen einer Berufung des Schuldners auf außergewöhnliche Umstände eng zu fassen l15 , gelang ihm keine konkretere Fassung der Tatbestandsmerkmale, insbesondere desjenigen der Zumutbarkeit. Und da er die Berufung auf außergewöhnliche Umstände

110

StaU, a.a.O.

111

StaU, Leistungsstörungen, S. 17. ZADR 1936/S. 628, 630. Ebenso bereits Begründung in

Schubert, ADR, Bd.

9*

m, 2, S. 215 f.

112

StaU, Leistungsstörungen, S. 18.

113

A.a.O., S. 17,40.

114

A.a.O., S. 17.

115

Stall, Leistungsstörungen, S. 68.

132

B. Das Werk Heinrich Stolls

mit dem Gemeinschaftsgedanken begründete, war es widersprüchlich, beim gegenseitigen Vertrag auf die subjektive Gleichwertigkeit von Leistung und Gegenleistung abzustellen. Denn für die Auswirkungen des Schuldverhältnisses auf die Gemeinschaft bzw. das Nationalvermögen war die objektive Relation beider Leistungen ausschlaggebend. Die Rechtsfolgen sollten sich nach Stoll aus dem sog. Grundsatz der Ausgleichung ergeben, dem vierten Werturteil der Rechtsfolgenzuordnung. StollS Ziel war auch hier, das Schuldverhältnis nach Möglichkeit aufrechtzuerhalten. 1l6 Aus diesem Grunde sollten die Lasten, die notwendig waren, um den Leistungserfolg trotz der außergewöhnlichen Verhältnisse zu erreichen, auf beide Parteien verteilt werden. Diese Ausgleichung hatte grundsätzlich durch Herabsetzung der Leistung des Schuldners zu erfolgen, bei gegenseitigen Verträgen auch durch eine Erhöhung oder Änderung der Gegenleistung)17 An eine Auflösung des Vertrages durfte erst gedacht werden, wenn die Anpassung des Vertrages durch Ausgleichung scheiterte oder für den Gläubiger unzumutbar war. 118 Rechtstechnisch sollte die Berufung auf außergewöhnliche Umstände als Einrede ausgestaltet und durch Antrag auf richterliche Entscheidung geltend gemacht werden. 119 Auch das widersprach, ebenso wie schon das Abstellen auf die subjektive Angemessenheit von Leistung und Gegenleistung, der Begründung der Opfergrenze mit dem Gemeinschaftsgedanken. Lag die Einhaltung der Opfergrenze im Gemeinschaftsinteresse, so durfte die Ausgleichung nicht in das Belieben der Parteien gestellt werden.

116

A.a.O., S.

117

A.a.O., S.

118

119

79. 19, 40.

A.a.O., S. 40. Ebenso bereits Begründung in Schuhen, ADR, Bd. m ,2, S. 216 f. StoU, Leistungsstörungen, S. 40. Ebenso schon Begründung in Schuben, ADR, Bd.

2, S. 216 f.

m,

2. Kapitel: Stolls Wirken nach 1933

133

Um dem Gedanken der Vertragstreue Rechnung zu tragen, wollte Sto11 die Möglichkeit der Ausgleichung als streng zu handhabende Ausnahme verstanden wissen. 120 Im Ausschuß waren zwei Punkte der Stollschen Vorschläge besonders umstritten gewesen: Er hatte das gestörte Verhältnis von Schuldneraufwand und Gläubigererfolg einerseits und das Mißverhältnis von Leistung und Gegenleistung andererseits ursprünglich in verschiedenen Vorschriften behandelt (§§ 327 b, 327 c der Vorschläge), weil er die Interessenlage für "nicht ganz gleich" gehalten hatte. 121 Um das Interesse des Schuldners an der Gegenleistung zu schützen, wollte er im zweiten Fall auf Ausgleichung bestehen. Er konnte sich mit dieser Differenzierung im Ausschuß jedoch nicht durchsetzen, so daß im endgültigen Entwurf beide Sachverhalte in einer Vorschrift einheitlich geregelt wurden. 122 Gravierender war der zweite Streitpunkt. Soweit ersichtlich, wollte Sto11 als einziger die fehlerhafte Einschätzung der Verhältnisse bereits bei Vertragsschluß ihrer späteren Änderung gleichsetzen. Entscheidend für diese Wertung war die nach seiner Ansicht in beiden Fällen gleiche Interessenlage, die er durch die Überschreitung der Opfergrenze gekennzeichnet sah. l23 Vor allem Lehmann, der die Einstandspflicht des Schuldners für seine ursprüngliche Leistungsfähigkeit betonte, hielt eine unterschiedliche Bewertung der Sachlagen für angebracht. Für Härtefälle verwies er auf die Wucherbestimmungen. 124 Arnold berief sich darauf, daß die clausula rebus sic stantibus immer nur auf nachträgliche Veränderungen angewandt worden sei. l25 Schließlich wurde eingewandt, daß bei anfänglichem Fehlen der Geschäftsgrundlage die

120

SroU, Begründung in Schuhen, ADR, Bd.

m, 2, S. 215 f. Protokoll 19.12.1934,

8.8.0.,

S. 167, 169. Andeutungsweise LeistungsslÖnmgcn, S. 68. 121

SroU, Begründung in Schuhen, ADR, Bd. § 24 Abi. 5 der Denkschrift.

m, 2, S. 222.

122 Vgl.

123 SroU, Begründung in Schuhen, ADR, Bd. m, 2, S. 216 f. Protokoll 19.12.1934, •.•. 0., S. 169. Leistung&atörungen, S. 38. 124 Protokoll 19.12.1934, in Schuhen, ADR, Bd. m, 2, S. 168. 125 A .•. O.

134

B. Das Werk Heinrich StoBs

Möglichkeit der Irrtumsanfechtung bestehe. 126 Die Meinungsverschiedenheit konnte nicht beigelegt werden. Stoll hielt auch im Entwurf der Denkschrift an seiner Auffassung fest (vgl. § 11 Abs. 5), stellte in seiner Grundlegung aber auch die Alternativvorschläge von Lehmann und Amold vor, die sich ansonsten nur in der Formulierung von seinem unterschieden. 127 Mit den §§ 11 und 24 seiner Denkschrift deckte Stoll nur einen Teil der von Lehre und Rechtsprechung zum Problemkreis der Geschäftsgrundlage gerechneten Fallgruppen ab, nämlich nur die, in denen sich infolge der veränderten Umstände das Verhältnis von Leistung und Gegenleistung bzw. von Aufwand und Erfolg gewandelt hatte. Dagegen wurde die Störung des Verwendungszwecks einer Sache durch Zweckvereitelung oder Zweckerreichung nicht erfaßt. Diese Fälle ordnete Stoll den Störungen des Leistungsinteresses in Form von Interessenvereitelung oder Interessenwegfall zu. Damit unterstanden sie nicht dem Ausgleichungsgrundsatz, sondern dem Verschuldensprinzip. Festzuhalten bleibt, daß Stoll durch eine dritte Kategorie von Leistungsstörungen das Gemeinschaftsinteresse an der Durchführung von Schuldverhältnissen zur Geltung brachte, das er durch eine Überschreitung der Opfergrenze bedroht sah und durch die Möglichkeit, sich auf außergewöhnliche Umstände zu berufen, wahren wollte. Da diese Form der Leistungsstörung auf keiner Pflichtverletzung beruhte, konnte der Verschuldensgrundsatz hier nicht weiterhelfen. Stolliegte deshalb als Wertungsprinzip, im Interesse einer weitgehenden Aufrechterhaltung des Schuldverhältnisses, den Grundsatz der Ausgleichung zugrunde. Dieser sah eine Verteilung der Lasten und nur subsidiär eine Auflösung des Schuldverhältnisses vor. dd) Die "alten" Tatbestände der Leistungsstörungen Schon dem flüchtigen Leser der Denkschrift fällt auf, daß Tatbestände, die im BGB eine zentrale Rolle spielen, z. B. die Unmöglichkeit, jedenfalls unter ihrer angestammten Bezeichnung in Stolls Neuentwurf nicht mehr vorkom126

StoU, Leistungsstörungen, S. 39.

127

A.a.O., S. 37 f.

2. Kapitel: Stolls Wirken nach 1933

135

men. Deshalb soll jetzt untersucht werden, welcher Stellenwert den alten Formen der Forderungsverletzung in seinem neuen System zukam. (1) Unmöglichkeit

Wie oben bereits kurz angesprochen, war die ·Verdrängung der Unmöglichkeitslehre aus ihrer zentralen Stellung· ein Hauptanliegen der StolIschen Reform. 128 Während der Unmöglichkeitsbegriff im BGB an der Spitze der Forderungsverletzungen steht, wollte Stoll ihn in der Denkschrift ·vollständig beseitigen" . 129 Etwas gemäßigter äußerte er sich in der Beratung seiner Reformvorschläge: "Die Unmöglichkeitslehre ist zwar nicht vollkommen umzustürzen, wohl aber aus ihrer zentralen Stellung zu beseitigen. "130 Stoll verstand die Unmöglichkeit im rein physischen Sinne. Die sog. wirtschaftliche Unmöglichkeit, von ihm als Unzumutbarkeit bezeichnet, behandelte er getrennt von der Unmöglichkeit unter dem Aspekt der Opfergrenze. 131 Er differenzierte zwischen der Unmöglichkeit als Haftungsgrund und als Befreiungsgrund. Als Haftungsgrund hielt er die Unmöglichkeit für entbehrlich. Haftungsauslöser war für ihn allein die Tatsache der zu vertretenden Nichterfüllung. Dafür, daß der Schuldner die dem Gläubiger gebührende Leistung nicht oder nicht in der gehörigen Weise erbracht hatte, mußte er einstehen. Dabei sollte es nicht darauf ankommen, ob die Nichterfüllung auf Unmöglichkeit, Verzug oder positiver Vertragsverletzung beruhte. 132 Auf den Unmöglichkeitsbegriff als Befreiungsgrund glaubte Stoll dagegen nicht verzichten zu können, soweit es um das Freiwerden vom primären Anspruch auf Leistung ging, wenn feststand, daß die Leistung nicht erbracht

Protokoll 19.12.1934 in Schuhen, ADR, Bd.

m, 2, S.

159.

StaU, ZADR 1936/S. 628, 629. 130 Protokoll 19.12.1934 in Schuhen, ADR, Bd.

m, 2, S.

158.

12B 129

StaU, ZADR 1936/S. 628 ff. Protokoll 19.12.1934 in Schuhen, ADR, Bd. m, 2, S. 163. 132 Stall, Lcistungsstörungen, S. 31. ZADR 1936/S. 628, 630. Ebenso Lehmann in Protokoll 19.12.1934 in Schuhen, ADR, Bd. m, 2, S. 162 f. 131

136

B. Das Werk Heinrich Stolls

werden kann. Die Befreiung von Sekundäransprüchen, also von Scha-densersatzpflichten, sollte sich dagegen nach dem Verschuldensgrundsatz richten. 133 Stolls ursprünglicher Vorschlag arbeitete dementsprechend noch ausdrücklich mit dem Unmöglichkeitsbegriff als Befreiungsgrund von der primären Leistungspflicht, verzichtete aber schon dort auf seine Verwendung als Haftungsgrund. 134 Im Entwurf der Denkschrift tauchte die Unmöglichkeit, im Widerspruch zu den theoretischen Ausführungen, dagegen nicht einmal mehr in ihrer Funktion als Befreiungsgrund auf. Abgelöst wurde der Unmöglichkeitsbegriff als Haftungsgrund durch den Grundsatz der Haftung für schuldhafte Pflichtverletzung, der nun seinerseits an die Spitze des neuen Haftungssystems trat. Für die Bestimmung des Haftungsinhalts wurde dieser Grundsatz ergänzt durch die Anordnung konkreter Rechtsfolgen nach der Art der Interessenverletzung. Die im BGB mit der Unmöglichkeit verknüpfte Rechtsfolge des Schadensersatzes wegen Nichterfüllung wurde in StoIIs Reformvorschlag an Interessenvereitelung und Interessenwegfall gebunden, wobei Stoll Interessenvereitelung und Unmöglichkeit gleichsetzte. 135 Ganz deutlich wurde das in § 9 Abs. 2 der Denkschrift, wo Stoll den Tatbestand der Interessenvereitelung mit der Wendung, 'soweit die Leistung noch bewirkt werden kann", umschrieb. 136 An diesem Punkt entzündete sich die Kritik. Zwar wurde der Versuch, die Bedeutung der Unmöglichkeit zurückzudrängen, befürwortet, ihre völlige Ausschaltung aber als zu

133

StaU, Leistungsstörungen, S. 31. ZADR 1936/S. 628, 630.

134

StaU, Vorschläge in Schuben, ADR, Bd. m, 2, S. 207. Inkonsequenterweise knüpfte er

aber eine Haftung direkt an das anfiingliche Unvennögen, was er durch den Kunstgriff des argumentum e contrario zu veroergen suchte (§ 275 Abs. 2: "Der Schuldner kann sich auf sein Unvennögen zur Leistung berufen, wenn es nach der Entstehung des Schuldverhältnisses eingetreten ist und von ihm nicht zu vertreten ist. "). Vgl. dazu auch die Begründung, a.a.O., S. 214 ff.

135 Stall, Begründung in Schuben, ADR, Bd. m,2, S. 215 f. Leistungsstörungen, S. 66. 136 Ähnlich bereits in § 280 der Vorschläge: "Soweit die Leistung noch erfüllt werden kann ... " (Schuben, ADR, Bd. m, 2, S. 208).

2. Kapitel: Stolls Wirken nach 1933

137

weitgehend und nicht praktikabel abgelehnt. 137 In diesem Zusammenhang wurde darauf hingewiesen, daß es auch Stoll nicht gelungen sei, ohne die Unmöglichkeit auszukommen, er sie vielmehr nur durch andere Formulierungen ersetzt habe. 138 Hier rächte es sich abermals, daß Stoll die Begriffe seines Systems nicht auch im Gesetzestext verwandte. Denn wenn der Begriff der Interessenvereitelung auch dieselben Phänomene wie der Unmöglichkeitsbegriff zusammenfaßte, so tat er dies doch unter einem anderen Gesichtspunkt, nämlich dem der Interessenwirkung an Stelle der Bewirkbarkeit der Leistung, so daß Stoll hier mit Recht von einem neuen Begriff hätte sprechen können. Dagegen handelte es sich bei der in § 9 Abs. 2 benutzten Wendung, "soweit die Leistung noch bewirkt werden kann", lediglich um eine andere Formulierung des Unmöglichkeitsbegriffs. Ebensowenig geglückt war der Versuch, auf die Unmöglichkeit als Befreiungsgrund zu verzichten. Das bloße Unterbleiben der Erfüllung sollte den Schuldner ersichtlich auch nach Auffassung Stolls nicht von seiner Pflicht zur Erbringung der Primärleistung befreien (vgl. § 9 Abs.3). Immerhin war es Stoll gelungen, die Unmöglichkeit als Haftungsgrund und somit als den grundlegenden Begriff des BGB-Haftungssystems zu verdrängen. Als Befreiungsgrund und als Bezugspunkt der Rechtsfolge Schadensersatz wegen Nichterfüllung blieb sie jedoch auch in der Denkschrift präsent. Anders als das BGB machte der Reformentwurf keinen Unterschied zwischen anfänglicher und nachträglicher, objektiver und subjektiver Unmöglichkeit. Stolls ursprünglicher Vorschlag hatte das Unvermögen noch einer gesonderten Regelung unterworfen. 139 Der Ausschuß war aber Lehmann gefolgt, der in dieser Differenzierung eine zu beseitigende "Spielerei" sah und nur die persönlich zu erbringende Leistung gesondert regeln wollte.1 40 Eine derartige Regelung hatte - allerdings nur zur Klarstellung 141 - bereits Stolls

lJ7

Oertmann, Kritische Vierteljahresschrift 29/S. 116, 118.

138

Simonetos, Leistungsstörungen, S. 35.

139

StoU, Vorschläge in Schubert, ADR, Bd.

140 141

m, 2, S. 208. Protokoll 19.12.1934 in Schubm, ADR, Bd. m, 2, S. 164. StoU, Begriindung in Schubert, ADR, Bd. m, 2, S. 215 f.

138

B. Das Werk Heinrich Stolls

Vorentwurf in § 275 Abs. 3 enthalten. Sie wurde jetzt als § 4 in die Denkschrift übernommen. Der Verzicht auf die Kategorien der anfänglichen oder nachträglichen und der objektiven oder subjektiven Unmöglichkeit bedeutete einen großen Fortschritt an Einfachheit und Klarheit. (2) Verzug Die wichtige Leistungsstörungsform des BGB, den Verzug, behielt Stoll als Sondervorschrift bei, obwohl es sich bei ihm an sich um eine Beeinträchtigung des Leistungsinteresses handelte. Zur Begründung führte er die praktische Bedeutung des Verzugs an. 142 Richtiger ist wohl, daß sich der Verzug dem allgemeinen Haftungsgrund der schuldhaften Pflichtverletzung nicht ohne weiteres unterordnen ließ, weil die Haftung beim Verzug auch im künftigen Schuldrecht nicht schon durch bloße (schuldhafte) Pflichtverletzung, also Nichtleisten trotz Fälligkeit ausgelöst werden sollte, sondern erst in Verbindung mit einer Mahnung. Um den Verzug unter § 3 der Denkschrift erfassen zu können, hätte Stoll diese Vorschrift somit in dem Sinne erweitern müssen, daß die Pflichtverletzung durch Nichtleisten den Schuldner erst dann zum Schadensersatz verpflichte, wenn der Gläubiger den Schuldner mahnt. Eine Sonderregelung war also in keinem Fall vermeidbar. Eine besondere Vorschrift für gegenseitige Verträge wie das BGB in § 326 enthielt der Reformvorschlag nicht. Die Verzugsregelungen der §§ 13 und 14 der Denkschrift galten für alle Verträge. Sie enthielten auch eine dem § 326 BGB entsprechende Vorschrift. Da es sich bei dem in § 326 BGB behandelten Sachverhalt um eine Gefährdung des Leistungsinteresses handelte, war er übrigens - abgesehen vom Erfordernis der Mahnung - bereits von § 12 erfaßt. (3) Positive Vertragsverletzung Ebenso wie die Unmöglichkeit wollte Stoll auch das außergesetzliche Rechtsinstitut der positiven Vertragsverletzung aus dem Recht der Leistungsstörungen streichen, die mit ihm bezeichneten Fallgruppen aber lückenlos im

142

StaU, Leistungsstörungen, S. 70.

2. Kapitel: Stolls Wirken nach 1933

139

neuen Schuldrecht erfassen. Für das geltende Recht hatte er dies bereits in seinem oben behandelten Aufsatz •Abschied von der Lehre von der positiven Vertragsverletzung" versucht, an den er in der Denkschrift anknüpfte. Eine Vorschrift, die die unter der Bezeichnung positive Vertragsverletzung zusammengefaßten Fallgruppen einheitlich regelte, enthielt der Neuentwurf dementsprechend nicht. Ihre Rechtsfolgen richteten sich vielmehr ebenso wie bei den anderen Leistungsstörungen nach der Art der Interessenverletzung. 143 Dabei betonte StolI, daß eine sog. positive Vertragsverletzung sowohl im Verstoß gegen Leistungspflichten als auch gegen Schutzpflichten liegen könne. l44 Auf diese Weise ging die positive Vertragsverletzung im System auf. (4) Culpa in contrahendo Die bisher ebensowenig gesetzlich verankerte Haftung für das Verhalten während der Vertragsverhandlungen wurde im Entwurf systematisch als Störung des Vertrauensverhältnisses durch Verletzung einer Schutzpflicht behandelt. Entscheidend war, daß die Denkschrift Schutzpflichten bereits mit dem Beginn der Vertragsverhandlungen entstehen ließ und damit die leidigen Streitpunkte der Erforderlichkeit eines wirksamen Vertragsschlusses und der Begründung vorvertraglicher Rechtspflichten endgültig ad acta legte. Die Haftung für vorvertragliche Pflichtverletzungen sollte sich nunmehr aus dem Grundsatz der Haftung für schuldhafte Pflichtverletzung (§ 3) in Verbindung mit der Normierung der Schutzpflichten (§ 2 Abs. 1,3) ergeben. Eine spezielle Regelung existierte nicht. Immerhin stellte § 8 der Denkschrift ausdrücklich klar, daß die Haftung für die Verletzung von Schutzpflichten nicht von einem wirksamen Vertrag abhänge. c) Die rechtspolitischen Leitgedanken der Denkschrift Mit seinem Reformvorschlag verfolgte Stoll das Ziel, die nationalsozialistische Rechtsanschauung - soweit sie für das Recht der Leistungsstörungen von

143

StolI, ZADR 1936/S. 628, 632.

144

StolI, Leistungsstörungen, S. 28.

140

B. Das Werk Heinrich Stolls

Bedeutung sein konnte - herauszuarbeiten, näher zu präzisieren und in konkrete Regelungen umzusetzen. Er leitete aus der nationalsozialistischen Rechtsidee für das Schuldrecht drei Leitgedanken ab, auf denen er das Leistungsstörungsrecht aufbaute: Gemeinschaftsgedanke, Treuegedanke und sozialistische Vertragsgestaltung. Diese Prinzipien setzte er auf zwei verschiedenen Wegen in den Entwurf um: Zum einen natürlich durch Einarbeitung in einzelne Bestimmungen, was zum Teil ausdrücklich, in generalklauselartiger Form geschah (z. B. §§ 1 Abs. 3, 2 Abs. 2), sich im übrigen aber erst durch (teleologische) Auslegung ergab (z. B. §§ 15 und 33). Ihr besonderes Gewicht erhielten die Leitgedanken durch eine Präambel, den sog. Vorspruch, den Stoll dem Entwurf voranstellte. In dem Vorspruch manifestierte sich die Bedeutung des Gemeinwohls und der Vertragstreue für das Schuldrecht, insbesondere auch als Auslegungsgrundsätze. Stoll wollte mit dieser im Dritten Reich beliebten Technik die Grundgedanken seiner Neuregelung klar herausstellen; ihre volkstümliche Formulierung sollte das Rechtsempfinden wachrufen. 145 Der ursprüngliche Vorschlag hatte noch keinen Vorspruch enthalten. Erst während der Beratungen regte Stoll an, den Gemeinschaftsgedanken wegen seines großen Gewichts für die Regelung in einer Präambel vorauszuschicken. 146 Im übrigen war man sich im Ausschuß darüber einig, daß der Gemeinschaftsgedanke, wie schon in Stolls erstem Entwurf, auch im eigentlichen Gesetzestext an der Spitze stehen sollte. 147 Ein anderslautender Vorschlag Lehmanns stieß auf Ablehnung. 148 aa) Der Gemeinschaftsgedanke So ungewiß und unklar uns heute die nationalsozialistische Weltanschauung erscheint, so kann doch als ein gesichertes NS-Dogma der Gemeinschaftsgedanke gelten, der in vielfältigen Formeln wie "Interessen der Allgemeinheit", "Nutzen aller", "nationale Bedürfnisse", "gemeinnützige Zwecke", "Volks-

145

Sroll, Leistungsstörungen, S. 21.

146 147

Protokoll 19.12.1934 in Schuben, ADR, Bd. 111, 2, S. 161. A.a.O. Vgl. Sroll, Vorschläge in Schubel1, ADR, Bd. 111, 2, S. 207.

148

Protokoll 19.12.1934 in Schubel1, ADR, Bd. 111, 2, S. 160.

2. Kapitel: Stolls Wirken nach 1933

141

wohl", "Gemeininteressen ", "Gemeinwohl" und vor allem in dem Grundsatz "Gemeinnutz vor Eigennutz" auftauchte. 149 Indiz für die große Rolle, die der Gemeinschaftsgedanke im Dritten Reich spielte, war die Aufnahme des Satzes "Gemeinnutz geht vor Eigennutz" in Punkt 24 des Parteiprogramms der NSDAP vom 24.2.1920. Seine herausgehobene Stellung wurde durch besondere Druckanordnung und Fettdruck unterstrichen. 150 Auch an zahlreichen anderen Stellen verwendete das Parteiprogramm Gemeinwohlformeln. 151 Nach Stolls Auffassung war der Gemeinschaftsgedanke zur "maßgeblichen Betrachtungsweise auf allen Rechtsgebieten " geworden. 152 Stoll sah in ihm "nicht nur eine Weisung an den Gesetzgeber, sondern auch ein Gebot für die Ausübung privater Rechte und eine maßgebliche Wertung für die Auslegung der Rechtssätze wie für die schöpferische Rechtsfindung" .153 Die Gemeinwohlidee stellte somit Forderungen sowohl an die Staatsgewalten als auch an den Bürger. Als einer der wenigen unterzog sich Stoll der "schwierigen Aufgabe ( ... ), den Auswirkungen dieses Gedankens im einzelnen nachzugehen" .154 Gemeinschaft bedeutete für Stoll Volksgemeinschaft. Darunter verstand er - allerdings kaum anschaulicher - das "genossenschaftliche Verbundensein im Volke" .155 Die Struktur der Gemeinschaft sei gekennzeichnet durch das Vorhandensein von Führer und Gefolgschaft. Das Verhältnis von Gemeinschaft und Persönlichkeit betrachtete Stoll dialektisch als "untrennbare Einheit": Die Gemeinschaft werde zu lebendiger Wirklichkeit erst durch die genossenschaftliche Haltung der ihr angehörenden Persönlichkeiten und zerfalle mit

149

Vgl. Stolleis, Gemeinwohlfonneln, S. 1 f., 10 f.

ISO Stolleis, 8.8.0., S.

76.

151 Vgl. a.a.O., S. 77. 152

StolI, DJZ 1936/Sp. 414.

153 StolI, Bürgerliches Recht, S. 154

StolI, DJZ 1936/Sp. 414.

155 A.8.0.,

Sp. 415.

190.

142

B. Das Werk Heinrich Stolls

diesen. 156 Die Gemeinschaftsordnung sollte danach erst aus der Wechselwirkung zwischen Gemeinschaft und Gemeinschaftsgliedern erwachsen und sich durch sie stetig erneuern. 157 Vom einzelnen erwartete Stoll Gemeinschaftsempfinden, Pflichtbewußtsein und Einordnung in die Gemeinschaft. 158 Seinem Gemeinschaftsbegriff entsprechend beschrieb er Gemeinschaftsdenken als die "Betrachtung der Rechtsbeziehungen unter dem Blickpunkt der Volksgemeinschaft". Rechtliche Vorgänge müßten daraufhin untersucht und danach beurteilt werden, welche Bedeutung sie für die Gemeinschaft haben und welche Gemeinschaftsaufgabe durch sie erfüllt werde. 159 Für das Schuldverhältnis zog Stoll aus dem Gemeinschaftsgeclanken konkrete Schlußfolgerungen, insbesondere hinsichtlich der Anforderungen an das Verhalten der Vertragsparteien. So sollte das Gemeinschaftsempfinden im Schuldverhältnis zum Verzicht auf rücksichtslose Verfolgung der eigenen Interessen "und dafür zur Verwirklichung eigener Ziele im Einklang mit dem Wohl der Gesamtheit und unter Rücksichtnahme auf andere Volksgenossen, sowohl bei Abschluß wie bei Durchführung des Vertrages" ffihren. 160 Das Pflichtbewußtsein konkretisierte sich im Schuldverhältnis zum Vollzug des rechtsgeschäftlichen Handelns im Dienste der Gemeinschaft. 161 Die Einordnung in die Gemeinschaft bedeutete im Schuldrecht schließlich die Pflicht, nur volkswirtschaftlich vernünftige Zwecke zu verfolgen und in Ausübung der Gläubigerrechte billige Rücksicht auf den Schuldner zu nehmen. 162 Nicht nur die Vertragspartner waren in die Gemeinschaft eingegliedert, sondern auch das Schuldverhältnis selbst. Gerade auch für das Privatrecht

156

Stoll, Vertrag und Unrecht, S. 123. Ebenao Bürgerliches Recht, S. 178 für das Staats-

recht. 158

SroU, DJZ 1936/Sp. 414, 416. A.a.O.

159

A.a.O.

160

161

A.a.O., S. 417. A.a.O.

162

A.a.O.

157

2. Kapitel: Stolls Wirken nach 1933

143

betonte Stoll, daß sich die Rechtsbeziehungen der Volksgenossen dem Volksganzen einordnen müßten. 163 In der theoretischen Grundlegung seines Gesetzesvorschlags wies Stoll der Ausgestaltung des Schuldverhältnisses durch den Gemeinschaftsgedanken eine überragende Stellung zu, indem er nicht nur einzelne isolierte Forderungen und Regeln aus ihm ableitete, sondern den Gemeinschaftsgedanken gleichsam zu einer Säule seines Systems der Leistungsstörungen machte. Dies geschah dadurch, daß er dem Schuldverhältnis neben der Befriedigung der Gläubigerinteressen durch Aufwand des Schuldners die weitere Funktion der Förderung eines der Volksgemeinschaft nützlichen, d. h. sinnvollen und gerechten Güteraustausches zuordnete. 164 Vor dem Ausschuß betonte Stoll, daß das "wesentlich Neue" seines Entwurfs in dem Versuch liege, "das Schuldverhältnis nicht von den Parteien aus zu rechtfertigen, sondern es in die Gemeinschaft hineinzustellen und ihm auch von dieser Seite aus seine Rechtfertigung zu geben" .165 Das Schuldverhältnis wurde dadurch gewissermaßen zweidimensional. Einerseits stellte es nach wie vor eine Sonderbeziehung dar; andererseits wurde es jetzt auch als eine im öffentlichen Interesse liegende Gemeinschaftsbeziehung - Wieacker sprach treffend von Aufgabengemeinschaft 166 - angesehen. Die Beibehaltung der alten Sinngebung des Schuldverhältnisses als Mittel der Gläubigerbefriedigung erweckte die Vorstellung, Stoll bleibe, trotz Einbeziehung nationalsozialistischen Gedankenguts, der traditionellen Auffassung des Schuldverhältnisses treu und füge die Forderung nach Gemeinnützigkeit des Güteraustausches dem alten Verständnis gewissermaßen nur hinzu. Diese Vorstellung wurde dadurch noch verstärkt, daß Stoll das subjektive Recht an keiner Stelle ausdrücklich in Frage stellte oder sich auch nur mit seiner Tragweite auseinandersetzte, obwohl das eines der meistdiskutierten Probleme daStoU, ZADR 1937/S. 155. Bürgerliches Recht, S. 190. StoU, Bericht in Schuhen, ADR, Bd. m, 2, S. 194. LeiatungsBlÖrungen, S. 5. Vertrag und Unrecht, S. 123. Zustinunend Wieacker, DRW 1937/S. 22. 165 Protokoll 19.12.1934 in Schuhen, ADR, Bd. m, 2, S. 157. VgI. auch Lehmann, 8.a.0., S.160. 166 Wieacker, DRW 1937/S. 22, 23. 163

164

144

B. Das Werk Heinrich Stolls

mals war. Vielfach wurde aus dem Gemeinschaftsgedanken die Folgerung gezogen, der Begriff des subjektiven Rechts sei zu eliminieren und durch eine Bindung der Gläubigerbefugnisse an die Gemeinschaft, wie sie z. B. die Lehre von der Rechtsstellung vornahm, zu ersetzen; allenfalls könne er in seiner formalen Ordnungsfunktion beibehalten werden. 167 Stoll dagegen tastete das subjektive Recht im Kern scheinbar nicht an, sondern schränkte es lediglich von außen her ein durch stärkere Betonung der Pflichten im Rahmen des Vertrauensverhältnisses. Dadurch entstand der Eindruck einer friedlichen Koexistenz der subjektiven Parteienrechte und der Gemeinschaftsforderung nach einem volkswirtschaftlich nützlichen Güteraustausch. Der Konflikt mußte aber ausbrechen, wenn sich Parteiinteresse und Gemeinschaftsinteresse widersprachen. Stolllöste diesen Konflikt eindeutig zugunsten des letzteren: "Das Gläubigerinteresse darf nur dann rechtlich verwirklicht werden, wenn es unter dem Gesichtspunkt des Gemeinwohls als schutzwürdig erscheint. Das ist nicht bloß dann niemals der Fall, wenn der Vertrag gesetz- oder sittenwidrig ist, sondern auch dann, wenn die Durchführung des Vertrages nicht mehr zu einem sinnvollen Güteraustausch führen würde. "168 Schuldrechtlicher Interessenausgleich bedeutete also, daß die Parteiinteressen dem höheren Gemeinschaftszweck unterzuordnen waren. Die Einzelpersönlichkeit und ihre subjektiven Rechte wurden zwar anerkannt, aber nur als Mittel zur Verwirklichung eines fiir die Gemeinschaft nützlichen Austausches von Gütern, nicht um ihres Eigenwertes willen. 169 Es ging lediglich darum, die menschliche Triebfeder des Eigennutzes im Gemeinschaftsinteresse einzusetzen l70 , was bedeutete, daß die Existenzberechtigung des Schuldverhältnisses durch den Gemeinschaftszweck begrenzt war - weit über die (negative) Grenze der Sittenwidrigkeit hinaus. Auch Stoll hat das subjektive Recht also stark relativiert. Das in der Denkschrift und den begleitenden Arbeiten zum

161

Vgl. hierzu umfassend 1hoss, S. 39 ff.

168

StoU, Vertrag und Unrecht, S. 123. Sinngemäß Leistungsstörungen, S. 8, 13.

169

StoU, DJZ 1936/Sp. 414, 419.

170

StoU, Bericht in Schuhen, ADR, Bd.

m, 2, S. 195.

2. Kapitel: Stolls Wirken nach 1933

145

Ausdruck kommende Verständnis des Schuldverhältnisses unterschied sich deutlich vom hergebrachten. Das Schuldverhältnis erhielt, um eine Formulierung von Stolleis zu gebrauchen, ein öffentlich-rechtliches Element. Die Betonung dieses öffentlich-rechtlichen Elements wirkte sich auch auf die Privatautonomie aus, das Prinzip der Selbstgestaltung der Rechtsverhältnisse durch den einzelnen nach seinem Willen, mit anderen Worten, auf die schuldrechtliche Vertragsfreiheit. 171 Zwar sollte es zwingende Vorschriften und eine Erweiterung des richterlichen Gestaltungsrechts nach dem Willen Stolls nur bei "lebenswichtigen Rechtsverhältnissen oder zur Schlichtung von Streitfragen bei außergewöhnlichen Verhältnissen" geben. In Auch die vertragliche Entfaltungsfreiheit wurde jedoch nur um der Gemeinschaft willen gewährt: "Eine Rechtsordnung, die die Bedeutung der persönlichen Tatkraft für die Ordnung des Wirtschaftslebens des einzelnen bewußt zur Erreichung immer höherer Leistungen in der Gemeinschaft einsetzt, wird auch vor den Mitteln nicht scheuen, die notwendig sind, die Einzelleistungen anzuspornen und der tatkräftigen Persönlichkeit Entfaltungsmöglichkeiten zu geben. Das rechtspolitische Mittel hierzu ist die schuldrechtliche Vertragsfreiheit. "173 "Vertragsfreiheit ist nur ein Mittel zum Zweck. "174 Am deutlichsten kam die Rolle der Vertragsfreiheit an folgender Stelle zum Ausdruck: "Die Vertragsfreiheit kann heute nicht mehr als ein Freiheitsrecht gegen den Staat aufgefaßt werden, sondern sie muß zu einer Befugnis werden, die der einzelne Volksgenosse nur im Dienste der Gemeinschaft ausüben darf. Auch bei ihr muß an die Stelle des Eigennutzes der Gedanke des gemeinen Nutzens treten. "175 Dementsprechend legte Stoll in § 1 Abs. 3 der Denkschrift fest, die Parteien hätten bei Abschluß des Vertrages dem Gemeinwohl gebührend Rechnung zu tragen. Die Vertrags freiheit wurde also ebenso wie das subjektive Recht

s.

171

F/ume,

1"72

SroU, Lcistungsstörungen, S. 12.

173

1.

A.a.O. Ebenso Bürgerliches Recht, S. 168. DJZ 1936/Sp. 414, 420. m, 2, s. 205.

174

Schubert, ADR, Bei.

175

SroU, Lcistungsstörungen, S. 55 f. Sinngemäß für das geltende Recht Vertrag und Un-

recht, S. 6. 10 Sessler

146

B. Das Werk Heinrich Stolls

durch das Gemeinwohl begrenzt und damit letztlich zur Disposition gestellt. Konsequent zu Ende gedacht bedeutete das, daß die Gestaltungsfreiheit lediglich insoweit erhalten blieb, als die Parteien bestimmen konnten, in welcher Weise sie einen gemeinnützigen Güteraustausch fördern wollten. l76 Immerhin war Stoll mit dieser Auffassung noch wesentlich liberaler als z. B. Lange, der eine Pflicht zu objektiver Angemessenheit statuierte, indem er auch dort, wo das Gesetz keine Gemeinschaftsinteressen durchsetzte, eine iusta causa, also einen billigenswerten Grund, verlangte, wenn die Parteien vom Gesetz abweichen wollten. 177 Hinter der Einschränkung der Vertragsfreiheit stand die Vorstellung, daß der Vertrag für das gemeinschaftsbewußte Rechtsdenken nicht lediglich eine Summe von einzelnen Willenserklärungen darstelle, sondern ein Ausschnitt aus der Lebensordnung des Volkes sei, was das auch immer konkret bedeuten sollte. l78 Das neue Verständnis des Schuldverhältnisses wirkte sich auf das System der Leistungsstörungen aus: Aus dem Gemeinschaftszweck des Schuldverhältnisses folgerte Stoll, daß das Gebiet der Leistungsstörungen nicht mehr allein aus dem Gesichtspunkt der Zweckverfolgung der Parteien, sondern auch unter gesamtwirtschaftlichen Aspekten zu beurteilen sei. Der Nutzen des Güteraustausches für die Volksgemeinschaft sei in Frage gestellt, wenn die Haftung des Schuldners überspannt werde, da eine wirtschaftliche Vernichtung des Schuldners, z. B. in der Form des Konkurses oder der Betriebsaufgabe, auch das Nationalvermögen mindere. Aus diesen Überlegungen heraus entwickelte Stoll als weitere Form der Leistungsstörung die Schädigung der Gemeinschaftsinteressen durch Überschreitung der Opfergrenze und stellte sie als dritte Säule neben die Verletzung von Leistungs- und Schutzinteressen. 179 Abgesehen von seinem Einfluß auf die Grundlagen des Schuldrechts wirkte sich der Gemeinschaftsgedanke auch auf einzelne Regelungen und RechtsinVgl. DöUe, Bürgerliches Recht, S. 663. Larmz, Vertrag und Unrecht, S. 18. m Lange, Vom alten zum neuen Schuldrecht, S. 63. 118 Vgl. Lange, •.•. 0., S. 66. StoU, DJZ 1936/ Sp. 414, 418. 119 StoU, Bericht in ScluUJel1, ADR, Bd. m, 2, S. 196. Leistungsswrungen, S. 13. Ausführlich s.o. 4)b)aa) bzw. cc). 116

2. Kapitel: Stolls Wirken nach 1933

147

stitute aus. So stützte Stoll auf den aus der Gemeinschaftsidee entwickelten Gedanken der Opfergrenze die beiden Vorschriften über die Berufung auf außergewöhnliche Umstände. 180 Geregelt wurden der Wegfall sowohl der subjektiven als auch der objektiven Geschäftsgrundlage, d. h. sowohl der Irrtum über das Verhältnis von Leistungserfolg und Aufwand als auch das gänzliche Fehlen einer diesbezüglichen Vorstellung, in § 24 außerdem für gegenseitige Verträge das subjektive Mißverhältnis von Leistung und Gegenleistung. Vorrangige Rechtsfolge war die Abänderung des Vertrages durch richterlichen Gestaltungsakt. Schon oben wurde angedeutet, daß die Herleitung dieser Vorschriften aus dem Gemeinschaftsgedanken nicht zu rechtfertigen war. Das gilt zunächst für die Berücksichtigung subjektiver Faktoren. Für das Gemeinwohl ist es irrelevant, ob die Parteien das Verhältnis von Leistung und Gegenleistung als unangemessen empfinden oder ob sie sich falschen Erwartungen hingegeben haben, solange der Güteraustausch für die Gemeinschaft objektiv sinnvoll ist. Das Abstellen auf die Vorstellungen der Vertragspartner diente nicht dem Interesse der Gemeinschaft, sondern dem Schutz der Parteiautonomie und auch dem Treuegedanken, der es nicht zuließ, daß ein gemeinsamer Irrtum beider Parteien zu einer extremen Mehrbelastung einer Partei führte. Zur Verfolgung gesamtwirtschaftlicher Ziele hätten die Vorschriften anders gestaltet werden müssen. 181 Ebensowenig vermochte das Gemeinschaftsdenken zu begründen, warum der Vertrag im Falle eines objektiven Mißverhältnisses von Schuldneraufwand und Gläubigererfolg nur dann durch richterliche Gestaltung abgeändert werden sollte, wenn die hierfür verantwortlichen Umstände von den Parteien weder in Rechnung gezogen werden mußten noch tatsächlich in Rechnung gezogen worden waren. Denn das Gemeinwohl wird allein durch die Äquivalenzstörung beeinträchtigt, unabhängig davon, wie die Parteien sich zu ihr stellen. 182

180

SlOU, Leistungsstörungen, S. 36. DJZ 1936/Sp. 414, 421. S. o. 4)b)cc).

Richtig Lange, Nationslsozialismus und bürgerl. Recht, S. 943. Vom alten zum neuen Schuldrecht, S. 72. Andeutungsweise SlOU, ZADR 1936/S. 631. 182 In diesem Sinne Larenz, Vertrag und Unrecht, S. 164. 181

10'

148

B. Das Werk Heinrich Stolls

Auch in dieser Aufteilung der Risikosphären spiegelte sich der Treuegedanke wider. Dem eigentlichen Schutzzweck der Regelungen entsprechend, aber im Widerspruch zum Volkswohlgedanken, gestaltete Stoll die Berufung auf außergewöhnliche Umstände als Einrede aus. Da es im Belieben der betroffenen Parteien stand, von dieser Möglichkeit Gebrauch zu machen, wurde das Gemeinwohl zu ihrer Disposition gestellt. Dagegen schlugen z. B. Dölle und Lange, konsequent vom Gemeinschaftsgedanken ausgehend, vor, dem Staatsanwalt ein Eingriffsrecht in solche Verträge einzuräumen. 183 Abschließend kann man feststellen, daß Stoll die §§ 11 und 24 der Denkschrift zu Unrecht auf den Gemeinschaftsgedanken stützte. Aus dem Gemeinschaftsgedanken leitete Stoll weiter die Notwendigkeit ab, zur Werterhaltung und Vermeidung unnötiger Verluste einseitige Vertragslösungsrechte, also Rücktritt und Kündigung, jedenfalls bei fortgeschrittener Vertragsdurchfiihrung zu beschränken. 184 Hand in Hand mit der oben beschriebenen Relativierung der schuldrechtlichen Vertragsfreiheit und der Privatautonomie insgesamt durch ihre Verpflichtung auf das Volkswohl ging eine Ausweitung des richterlichen Gestaltungsrechts. 185 Da Verträge, die gegen das Gemeinwohl verstießen, im Nationalsozialismus keinen Bestand haben durften, andererseits aber der Austausch von Gütern und deshalb auch die Durchführung von Verträgen im Interesse der Volksgemeinschaft zu fördern war, sollten gemeinschaftsschädliche bzw. gemeinschaftsschädlich gewordene Verträge nicht einfach mit der Rechtsfolge

DöUe, Bürgerliches Recht, S. 664. lAnge, Vom alten zum neuen Schuldrccht, S. 56. StoU, Lcistungsstörungen, S. 52 f. DJZ 1936/Sp. 414, 420. Ebenso, wenn auch gestützt auf den Gedanken der Vertragstrcue, lAnge, Nationalsozialismus und bürgerI. Recht, S. 943. Vom alten zum neuen Schuldrccht, S. 67. Im übrigen s.o. 4)b)bb). 185 Eine Aufzählung der nationalsozialistischen Gesetze, in denen ein richterliches Gestaltungsrccht angeordnet wurde, findet sich bei SttwdingerlWeber, 10. Aufl., Ein!. zu Bd.n I, RN 535. 183

184

2. Kapitel: Stolls Wirken nach 1933

149

der Nichtigkeit belegt, sondern durch eine im Ermessen des Richters stehende Abänderung nach Möglichkeit erhalten werden. 186 Die Denkschrift sah eine richterliche Vertragsgestaltung bei Berufung auf außergewöhnliche Umstände vor (§§ 11 und 24), außerdem bei mißbräuchlicher Freizeichnung von Gewährleistungspflichten (§ 33).187 Besonders die Regelung des § 24 wurde in der Literatur als "Ansatz" zur Etablierung des richterlichen Gestaltungsrechts gewürdigt. 188 Darüber, wie diese Vertragsänderung im einzelnen beschaffen sein sollte, besonders über den zulässigen Umfang der Abänderung, sagte Stoll nichts. bb) Der Treuegedanke Während der Gemeinschaftsgedanke auf die gesamte Volksgemeinschaft abzielte, erfaßte der Treuegedanke diejenige Gemeinschaft, die Gläubiger und Schuldner eines Vertrages bilden. 189 Der Treuegedanke stellte somit eine besondere Ausprägung des Gemeinschaftsgedankens dar und war von vornherein speziell auf das (vertragliche) Schuldverhältnis bezogen. 190 Stolls ursprünglicher Entwurf hatte den Treuegedanken noch nicht erwähnt. Erst in der Beratung erkannte man die Notwendigkeit, zwischen der Gemeinschaft als Volksgemeinschaft und derjenigen der Vertragspartner untereinander zu differenzieren. 191 Die Unterscheidung fand großen Beifall, weil man auf diese Weise die Verflachung des Gemeinschaftsgedankens durch die Verbindung mit alltäglichen Lebensgeschäften vermeiden zu können glaubte. 192 Der Treuegedanke verlangte von den Parteien, im Gegner den Rechts- bzw. Volksgenossen zu sehen, und statt gegeneinander zu arbeiten, zusammenzuwirken, um den Lei-

Ausführlich StaudingerlWeber, •.•. 0., RN 522, 526, 528. ferner StaU, Vertrag und U=ht, S. 83. 188 Bötticher, DRW 1942/S. 125, 138. 189 StaU, DJZ 1936/Sp. 414, 415. Zust. zu dieser Unterscheidung StaudingerlWeber, 10.

186

187 Vgl.

Aufl., Eint. zu Bd.ll 1, RN 241, der .ußerdem den typisch deutschen Charakter dieser Rechtsidee betonte. 190 Stall, Leistungsstörungen, S. 10, 16. 191 Protokoll 19.12.1934 in Schuhen, ADR, Bd. m, 2, S. 161. 192 SlaudingerlWeber,

10. Aufl., Eint. zu Bd.ll 1, RN 351.

150

B. Das Werk Heinrich Stolls

stungserfolg ZU verwirklichen. 193 Den Bezug dieser Forderung zum Gemeinschaftsgedanken verdeutlichte besonders gut Dölle, der vom Treuegedanken ausgehend verlangte, "daß ein zwischen zwei Personen bestehendes Schuldverhältnis nicht als Kampfverhältnis aufgefaßt werden darf, innerhalb dessen jeder seine individuellen Interessen rücksichtslos unter dem Schutze der Rechtsordnung verfolgen darf, sondern als eine Gemeinschaftsbeziehung, aus der ein für die Gesamtheit ersprießliches Ergebnis erwachsen soll". 194 Die Parteien wurden also zum Zusammenwirken verpflichtet, weil der Gemeinschaftszweck des Schuldverhältnisses die Verwirklichung des Leistungserfolges verlangte. Auch der Treuegedanke stellte keinen absoluten Wert dar, sondern ebenfalls nur ein Mittel zum Zweck. Nicht ganz klar war das Verhältnis der nationalsozialistischen Treupflicht zur BGB-Formel Treu und Glauben. Anscheinend wollte Stoll mit dem Treuegedanken die in § 242 BGB verkörperten Regeln erfassen. 195 Dafür spricht auch, daß er in § 2 Abs. 2 der Denkschrift die Formel Treu und Glauben verwendete und in der Begründung in diesem Zusammenhang von Treupflicht sprach. 196 Die Einstufung der Treupflicht als nationalsozialistisches Gedankengut war dennoch gerechtfertigt, weil sie im Unterschied zu § 242 BGB unter dem "Primat des Gemeinwohls" stand. 197 So bezeichnete Stoll die Vertragstreue in der Präambel seines Entwurfs als "Grundlage des Rechtsverkehrs und einer gesunden Wirtschaft" .198 Ihr Bruch schädige die Gemeinschaft. Sehr deutlich brachte Larenz den Unterschied zwischen Treu und Glauben und dem Treuegedanken zum Ausdruck: "Wenn eine vergangene Zeit in liberalistischer Verkennung des Rechts unter Treu und Glauben teilweise nichts anderes verstanden hat als einen billigen Ausgleich der einander widerstreitenden Interessen der Vertragspartner , so ist das eine Verkümme-

193 SIOII,

Leistungsstörungen,

s.

10. Ebenso SlaUdinger/Weber, •.•. 0., RN 241. lAnge, Na-

tionalsozialismus und bürgerliches Recht, S. 942. Liberalismus, Nationalsozialismus und Bürgerliches Recht, S. 16. 194 Dölle, Bürgerliches Recht, S. 664. 195 SIOU,

DJZ 1936/Sp. 414, 417 f.

196 SIOII,

Lcistungsstörungen, S. 61. Für Identität auch Sraudinger/Weber, a.a.O., RN 352.

197

SIOUeis, Gemeinwohlformeln, S. 104.

198

SIOU, Leistungsstörungen, S. 58 f.

2. Kapitel: Stolls Wirken nach 1933

151

rung des echten Wesensgehaltes gewesen, die wir heute als solche zu erkennen vermögen. Die Forderung der Treue geht weiter als die einer mäßigen Beschränkung des eigenen Interesses; sie verlangt ein Handeln, das jederzeit die Verbundenheit mit dem andern und darüber hinaus die große Gemeinschaft im Auge behält, der wir verantwortlich sind. 0199 Auch Treu und Glauben wurde somit in Beziehung zum Gemeinwohl gesetzt, was den öffentlich-rechtlichen Charakter des Schuldverhältnisses verstärkte. Der Treuegedanke hatte großen Einfluß auf die Ausgestaltung des Schuldverhältnisses. Hatte der Gemeinschaftsgedanke den Zweck des Schuldverhältnisses neu definiert, so bestimmte der Treuegedanke die Struktur des Schuldverhältnisses. Aus dem Treuegedanken wurde allgemein die gegenseitige Pflicht der Vertragspartner zu Rücksichtnahme und Zusammenwirken abgeleitet. Darauf stützte Stoll seine Auffassung, daß sich das Schuldverhältnis nicht auf die Leistungsbeziehung beschränke, sondern ein umfassendes Rechtenund Pflichtenverhältnis sei, das neben der Leistungsbeziehung auch ein sog. Vertrauensverhältnis umfasse. Dieses war wiederum die Grundlage der zur Rücksichtnahme auf die Rechtsgüter des Vertragspartners verpflichtenden Schutzpflichten. 200 Das gesamte Gebilde bezeichnete Stoll als Organismus. 201 In seinem ersten Vorschlag hatte er das Vertrauensverhältnis übrigens noch aus dem Gemeinschaftsgedanken hergeleitet. 202 Allerdings machte er damals noch keinen Unterschied zwischen Gemeinschafts- und Treuegedanken. Stoll und viele andere benutzten den Treuegedanken, um die Haftung für positive Vertragsverletzungen und für das Verhalten während der Vertrags-

199

Larenz, Vertrag und Unrecht, Bd. I, S. 109.

DI

S. o. 4)a). Zustimmend SroudingerlWeber, 10. Aufl., EinI. zu Bd.ll I, RN 349, 403.

Wieacker, DRW 1937/ S. 3, 23. 201

StoU, LeistungsslÖrungen, S.26. Ebenso Lange, Vom alten zum neuen Schuldrecht,

S. 70. SroudingerlWeber, a.a.O., RN 350. Sinngemäß Wieacker, DRW 1937/S. 3, 21. 202 StoU, Begnindung in Sclwbert, ADR, Bd. m, 2, S. 207. ProtokoU19.12.1934, a.a.O., S. 154, 157 f.

152

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verhandlungen zu rechtfertigen. 203 Die meisten Begründungsansätze griffen aber zu kurz. Da das Leitmotiv der Treupflicht speziell für vertragliche Schuldverhältnisse galt, bedurfte es einer zusätzlichen Begründung, um vorvertragliche Pflichten darauf zu stützen. Lange z. B. sah diesen Grund darin, daß Verpflichtungen nicht allein auf dem Willen der am Vertrag Beteiligten beruhten, sondern auf der Gemeinschaftsordnung und der Gemeinschaftspflicht. Vom Verschulden bei den Vertragsverhandlungen sprach er deshalb als einer "auf dem Pflichtgedanken beruhenden Rechtsverletzung".204 Er schloß daraus, daß die Scheidung zwischen Vertragsbeteiligten und unbeteiligten Dritten an Schärfe verliere. 205 Auch Larenz sah die Grundlage der vorvertraglichen Pflichten in der Bindung des einzelnen durch die Gemeinschaft. Dem Vertrag gestand er lediglich die Wirkung zu, diese "immer schon gegebene Bindung" für das Verhältnis der Vertragsschließenden in einer bestimmten Richtung hin näher auszugestalten. 206 Beide Begründungsansätze vermochten nicht zu befriedigen. Unklar blieb zunächst, warum die Bindung des einzelnen durch die (Gesamt-) Gemeinschaft eine Verpflichtung gerade gegenüber einem bestimmten Gemeinschaftsglied auslösen sollte, das sich, betrachtet unter dem Aspekt des Gemeinschaftsgedankens, von anderen Volksgenossen in keiner Weise unterschied. Die besondere Sorgfaltspflicht bestand eben nicht - anders als die allgemeinen Verkehrssicherungspflichten - gegenüber der Gesamtheit der Volksgenossen. Vor allem war es nach der Hypothese einer rechtsgeschäftsähnlichen Bindung bereits durch die Gemeinschaft - wie Lange zutreffend erkannt hatte (s.o.) - hinfällig, zwischen Vertragspartnern, Verhandelnden und unbeteiligten Dritten zu unterscheiden. Ein wertvoller Fortschritt war es deshalb, wenn Stoll nach einem Kriterium suchte, das es rechtfertigte, über die unter allen Volksgenossen bestehende Gemeinschaftsbeziehung hinaus eine Sonderbeziehung zwischen den sich in

2113

SIOIl, Begründung in Schuhen, ADR, Bd.

m, 2, S. 213. Leistungsstörungcn, S. 10,26.

Lange, Nationalsozialismus und bürgerlichcs Recht, S. 943. 2115 A.a.O. 204

206

Laren