Die Lebensanschauungen grossen Denker: Eine Entwickelungsgeschichte des Lebensproblems der Menschheit von Plato bis zur Gegenwart [3., umgearb. Aufl. Reprint 2020] 9783112363669, 9783112363652


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German Pages 504 [506] Year 1899

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Die Lebensanschauungen grossen Denker: Eine Entwickelungsgeschichte des Lebensproblems der Menschheit von Plato bis zur Gegenwart [3., umgearb. Aufl. Reprint 2020]
 9783112363669, 9783112363652

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LEBENSANSCHAUUNGEN DEB GROSSEN DENKEB

Verlag von VEIT & COMP, in Leipzig.

DER KAMPF UM EINEN

GEISTIGEN LEBENSINHALT. N E U E GRUNDLEGUNG EINER

WELTANSCHAUUNG. Von

Rudolf Eucken. gr. 8. 1896. geh. 7 M. 50 Pfg., geb. in Halbfranz 9 M.

DIE

GRUNDBEGRIFFE DER GEGENWART. Historisch und kritisch entwickelt von

Rudolf Eucken. Zweite, völlig u m g e a r b e i t e t e Auflage, gr. 8. 1893. geh. 6 M., geb. in Halbfranz 7 M. 50 Pf.

DIE

EINHEIT DES GEISTESLEBENS IN BEWUSSTSEIN UND THAT DER MENSCHHEIT.

Untersuchungen von

Rudolf Eucken. gr. 8. 1888. geh. 10 M. Geschichte der philosophischen Terminologie.

Rudolf Eucken.

I m Umriss dargestellt, von

gr. 8. 1879. geh. 4 M.

Uber Silber «nb ®leid)mffe in bev fßljüofopljie. SRuboIf (Süden. 8. 1880. gel). 1 9R. 20

©ine geftfdjrtft.

Zur Erinnerung an K. Ch. F. Krause. Festrede, gehalten zu Eisenberg am 100. Geburtstage des Philosophen, von R u d o l f E u c k e n . 8. 1881. geh. 1 M. 20 Pf. Prolegomena zu Forschungen Ober die Einheit des Geisteslebens in Bewusstsein und That der Menschheit.

Von R u d o l f E u c k e n .

gr. 8. 1885. geh. 3 M.

DIE

LEBENSANSCHAÜUMEN DER

GROSSEN DENKER. EINE

ENTWICKLUNGSGESCHICHTE

DES L E B E N S P R O B L E M S DER MENSCHHEIT VON PLATO BIS ZUR GEGENWART. VON

RUDOLF EUCKEN, PROPK8SOU IN JENA.

DRITTE,

UMGEARBEITETE

AUFLAGE.

LEIPZIG, V E R L A G VON V E I T & COMP. 1899.

Druck von A u g u s t P r i e s in Leipzig.

MEINER LIEBEN SCHWIEGERMUTTER

FRAU ATHENAEA PASSOW (iE WIDMET

Vorwort zur zweiten Auflage. Bei aller Veränderung im einzelnen hat unser Werk in der zweiten Auflage den Plan der ersten durchaus festgehalten. Es möchte durch eine geschichtliche Vorführung der Lebensanschauungen der großen Denker zunächst dafür wirken, daß die Helden des Gedankens nicht bloß wie leblose und gleichförmige Schatten an uns vorüberziehen, sondern daß ihre Gestalten Fleisch und Blut gewinnen und zugleich einen eigentümlichen Charakter zeigen; so allein kann die Kraft und Leidenschaft, welche ihre Schöpfungen durchströmt, auch unserer eigenen Arbeit zufließen. Insofern darf das Werk sich als ein Supplement zu allen Darstellungen der Geschichte der Philosophie geben, ohne sie irgend ersetzen zu wollen. Zugleich aber hofft es der Philosophie selbst einen Dienst zu leisten, indem es eine Art Einleitung in die Hauptprobleme der Philosophie bietet. Die Lebensanschauung eines großen Denkers läßt sich gar nicht entwickeln, ohne daß diese Probleme deutlich zur Sprache kommen, sie müssen sich hier, in dem Zusammenhange mit dem Ganzen der lebendigen Persönlichkeit und ihrem heißen Streben nach Glück, besonders durchsichtig und eindringlich darstellen. Endlich kämpft das Werk für einen engern Zusammenhang der Philosophie mit dem allgemeinen Leben. Die gegenwärtige Spaltung, die Gleichgiltigkeit weiterer Kreise gegen die Philosophie .und die Abschließung der Philosophie zu einer gelehrten Fachwissenschaft, ist ein großer Schaden für beide Teile; es gehört zur Gesundung unsers geistigen Lebens, daß man sich wieder mehr um einander kümmere. Ist aber nicht die Lebensanschauung ein Punkt, wo die philosophische Arbeit dem reinmenschlichen Interesse besonders nahe kommt? Sollte es nicht alle Gebildeten treiben, bei einer Frage, die so sehr unser eigenes Glück angeht, eine Fühlung mit den Meistern des Gedankens zu gewinnen? Die Hoffnung, die wir bei der ersten Auflage äußerten, hat uns nicht betrogen, das Buch hat viele Freunde gefunden, und so kann es jetzt in einer, wie ich hoffe, wesentlich verbesserten Gestalt neu erscheinen. Es ist vornehmlich in drei Punkten geändert. Früher fehlte

Vili

Vorwort.

das rechte Gleichmaß der Zeiten; die Neuzeit, namentlich das 19. Jahrhundert, kam entschieden zu kurz; jetzt hoffen wir jenes Gleichmaß hergestellt zu haben. Ferner enthielt die frühere Behandlung zu viel Reflexion; das eigene Bild der Denker wurde bisweilen dadurch getrübt. Auf eine Beleuchtung und Beurteilung der Denker können wir auch jetzt nicht verzichten, aber sie soll jetzt mehr aus der Darlegung selbst hervorgehen; solche größere Sachlichkeit wird auch die Anschaulichkeit erhöhen. Endlich ist mehr Mühe darauf verwandt, das Verhältnis der Denker zu ihrer Zeit zu entwickeln, den Hintergrund ihres Schaffens zu zeichnen. Einer Ableitung der großen Werke aus der gesellschaftlichen Umgebung bleiben wir dabei so feindlich wie zuvor, die Unmöglichkeit einer solchen Ableitung dürfte jetzt eher noch deutlicher erhellen. — Die Darstellung suchten wir einfacher, anschaulicher, lebendiger zu gestalten. Ein Buch, welches sich mit den tiefsten Problemen des Menschenlebens befaßt, läßt sich nicht ohne alle eigene Arbeit aufnehmen, aber wir haben mit größtem Eifer gestrebt, diese Arbeit nicht unnütz zu vermehren. So hoffen wir, daß das Buch sich in der neuen Gestalt einen noch größeren Kreis von Freunden erwerben wird. Jena, im Herbst 1896.

Vorwort zur dritten Auflage. Die dritte Auflage bringt gegen die zweite nicht so große Veränderungen wie diese gegen die erste, doch ist nicht nur die gesamte Darstellung im Sinne einer größeren Klarheit, Einfachheit, Flüssigkeit sorgfältig revidiert, und es sind dabei namentlich die einleitenden Erwägungen umgestaltet, sondern es ist auch in der Anordnung einiges verändert, namentlich bei der Neuzeit, und es ist endlich im Inhalt manches kräftiger ausgeprägt, einzelnes, wie der Abschnitt über die deutsche Romantik, neu hinzugefügt. Sehr bereichert ist das Sachregister. So hofft das Buch mit der neuen Gestalt in noch weitere Kreise Eingang zu finden; unter den alten Freunden aber fühlt es sich namentlich denen zu Dank verpflichtet, die es entweder durch eingehende Besprechungen förderten, oder es durch Übersetzungen dem ausländischen Publikum näher zu bringen suchen. J e n a , im Mai 1899. Rudolf Eucken.

Vili

Vorwort.

das rechte Gleichmaß der Zeiten; die Neuzeit, namentlich das 19. Jahrhundert, kam entschieden zu kurz; jetzt hoffen wir jenes Gleichmaß hergestellt zu haben. Ferner enthielt die frühere Behandlung zu viel Reflexion; das eigene Bild der Denker wurde bisweilen dadurch getrübt. Auf eine Beleuchtung und Beurteilung der Denker können wir auch jetzt nicht verzichten, aber sie soll jetzt mehr aus der Darlegung selbst hervorgehen; solche größere Sachlichkeit wird auch die Anschaulichkeit erhöhen. Endlich ist mehr Mühe darauf verwandt, das Verhältnis der Denker zu ihrer Zeit zu entwickeln, den Hintergrund ihres Schaffens zu zeichnen. Einer Ableitung der großen Werke aus der gesellschaftlichen Umgebung bleiben wir dabei so feindlich wie zuvor, die Unmöglichkeit einer solchen Ableitung dürfte jetzt eher noch deutlicher erhellen. — Die Darstellung suchten wir einfacher, anschaulicher, lebendiger zu gestalten. Ein Buch, welches sich mit den tiefsten Problemen des Menschenlebens befaßt, läßt sich nicht ohne alle eigene Arbeit aufnehmen, aber wir haben mit größtem Eifer gestrebt, diese Arbeit nicht unnütz zu vermehren. So hoffen wir, daß das Buch sich in der neuen Gestalt einen noch größeren Kreis von Freunden erwerben wird. Jena, im Herbst 1896.

Vorwort zur dritten Auflage. Die dritte Auflage bringt gegen die zweite nicht so große Veränderungen wie diese gegen die erste, doch ist nicht nur die gesamte Darstellung im Sinne einer größeren Klarheit, Einfachheit, Flüssigkeit sorgfältig revidiert, und es sind dabei namentlich die einleitenden Erwägungen umgestaltet, sondern es ist auch in der Anordnung einiges verändert, namentlich bei der Neuzeit, und es ist endlich im Inhalt manches kräftiger ausgeprägt, einzelnes, wie der Abschnitt über die deutsche Romantik, neu hinzugefügt. Sehr bereichert ist das Sachregister. So hofft das Buch mit der neuen Gestalt in noch weitere Kreise Eingang zu finden; unter den alten Freunden aber fühlt es sich namentlich denen zu Dank verpflichtet, die es entweder durch eingehende Besprechungen förderten, oder es durch Übersetzungen dem ausländischen Publikum näher zu bringen suchen. J e n a , im Mai 1899. Rudolf Eucken.

Inhalt. Seite 1

Einleitung Erster Teil. Das Griechentum. A. Die Denker der klassischen Zeit. 1. Vorbemerkungen über griec.hisr.he Art und Entwickeliing

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2. Plato a. b. c. d. e. f.

Einleitendes Die Ideenlehre Die Lebensgüter Weltflucht und Weltverklärung Der Gesamtanblick des Menschenlebens Die einzelnen Lebensgebiete. «. Die Religion ß. Der Staat y. Die Kunst '»'»'»'InnrRININII V»TIWIVI'I*'•i"i"rrri*i*i*i*iii*i"i*i'i'i'i'i*i*i*'i*i*i*»*i*i'i'i'i'i'i^'i'i'i*i'i*i'i*I*i*i'i*i*i*i*i*i*i*i'i**i'i*i*I*i*i*i*i*i*I*I*i*I*i*i****T*I*****««•»"""«•

immer mehr eine göttliche Einrichtung, nicht eine menschliche Ordnung; die ihr gezollte Ehre scheint Gott selber erwiesen, ihre Kränkung ihm zugefügt. Nur durch sie, die Mutter der Christen, giebt es einen Weg zum göttlichen Vater: „niemand kann Gott zum Vater haben, der nicht die Kirche zur Mutter hat" (Cypbian). Der Einzelne schuldet ihr Gehorsam und Pietät, alle Absonderung von ihr gilt als ein böswilliges Verschmähen, ein dünkelhafter Eigensinn. So werden Schisma und Härese zum allerschlimmsten Frevel gestempelt, von dessen Folgen selbst das Martyrium nicht befreien kann. Denn alles andere Vergehen trifft Einzelne, dieses aber die ganze Gemeinde. So einfach und für die Lateiner überzeugend dieser Gedankengang ist, es erwuchsen schwere innere Verwickelungen daraus, daß die Einen — eben wegen der Hochhaltung der Kirche — auf einer gewissen sittlichen Qualität der Inhaber von Kirchenämtern bestanden und die Rechtsgiltigkeit amtlicher Handlungen an solche Beschaffenheit der Personen knüpften, während die Anderen dieses Verlangen als eine Gefährdung der objektiven Ordnung verwarfen; dort behauptet das Moralische eine Selbständigkeit, hier weicht es ganz den religiösen und kirchlichen Bedürfnissen. Diese letztere Richtung siegte bekanntlich, das Verlangen nach fester Ordnung und sicherer Hilfe hat alle moralischen Bedenken überwunden. Aber zugleich ist die Kirche aus einer Gemeinde der Heiligen mehr und mehr zu einer bloßen Rechtsanstalt geworden. Der Erhöhung der Kirche entsprach die Absonderung eines eigenen Priesterstandes. Die Priester, vornehmlich die Bischöfe, werden zu Vermittlern zwischen Gott und der Gemeinde, zu Spendern der göttlichen Gnade. Namentlich erhöht die wachsende Macht der Opferidee ihre Stellung. Der Opferidee konnte sich das Christentum von Anfang an nicht entziehen, aber zunächst überwog die Opposition gegen die heidnische Ajrt des Opfers. Eine durchaus ethisch gestimmte Religion sah nur in der Darbringung des eigenen Herzens das echte Opfer. „Unschuld und Gerechtigkeit zu pflegen, sich alles Betruges zu enthalten, Menschen der Gefahr zu entreißen, das sind unsere Opfer, das ist Gott heilig. Bei uns gilt einer um so frommer, je gerechter er ist." So Minucius Felix, der mit besonderer Wärme die Richtung auf die schlichte Moral, den Verzicht auf alle eigenttümlich religiösen Leistungen als einen unterscheidenden Vorzug des Christentums pries. Auch noch Lactanz meint: „das ist der wahre Kultus, in dem der Geist des Verehrenden sich selbst Gott als ein unbeflecktes Opfer darbringt". Aber in den Kämpfen und Erfahrungen

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Das Christentum.

des Lebens entwickelte sich zu immer größerer Stärke auch eine Opferidee spezifischen Charakters. J e schwerer die Furcht vor dem richtenden und strafenden Gott auf den Gemütern lastete, — und sie wurde im Abendlande in keiner Weise durch philosophische Spekulationen abgeschwächt, — je mehr man sich zugleich des eigenen Unvermögens bewußt war, desto stürmischer erhob sich das Verlangen nach außerordentlicher Hilfe und Sühne. Hier tritt nun „das sündentilgende Werk Christi in den Vordergrund. Nicht sowohl die Inkarnation — diese ist Voraussetzung — als der Tod Christi wird als das punctum saliens betrachtet, und er wird bereits nach allen denkbaren Richtungen hin als Opfertod, als Versöhnung, als Erkaufung, als stellvertretende Leistung des Kreuzestodes behandelt" (Habnack). Zur Erhöhung des Priestertums wirkt diese Wendung namentlich, seit sich von Cypbian her die Vorstellung befestigte, der Priester wiederhole in der Darbringung das Opfer Christi. So wird der „Priester Gottes" weit über die Gemeinde hinausgehoben und mit eigentümlicher Heiligkeit ausgestattet. In der Vorstellung jener Zeit verhindert aber die Überzeugung von der sühnenden Kraft des Todes Christi keineswegs den Gedanken besonderer Verdienste einzelner Gemeindeglieder; wer das allen auferlegte Maß der Verpflichtung durch besondere Leistungen überschreitet, der erwirbt ein überschüssiges Verdienst; dieses aber kann der Not der Anderen zur Hilfe gereichen. So denkt man zunächst von den Märtyrern, den Blutzeugen des Glaubens; so aber weiter auch von denen, die durch peinliche Enthaltung von weltlichen Gütern und Genüssen Gott ein Opfer darbringen, wie durch Fasten, Aufgeben alles Besitzes, Ehelosigkeit. Solchen verdienstlichen Werken wird die Kraft zugesprochen, Sünden zu tilgen, jene leichteren wenigstens, welche nach stoischem Vorgange als verzeihliche Fehltritte (peccata venialia) von den Todsünden deutlich geschieden werden. In dem allen eine Schätzung der Leistung als Leistung, eine Abstufung des Wertes nach der Größe des Werkes; zugleich die Aufgabe, Schuld und Verdienst gegeneinander abzuwägen. Es erwächst ein System von Kompensationen, die Moral erhält mehr und mehr den Charakter einer rechtlichen Ordnung. Die Verwalter dieser Ordnung aber sind die Priester. Der Gedanke des allgemeinen Priestertums wird durch solche Entwicklung nicht völlig aufgehoben, wohl aber für das praktische Leben und die unmittelbare Empfindung weit zurückgedrängt. So sehen wir von dem großen Körper der Gemeinde sich heilige

Die Anbahnung einer kirchlichen Lebeneordnung.

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Werke und Menschen abheben und eine andächtige Verehrung erlangen. Äußerlich wird damit das Eigentümliche des neuen Glaubens schärfer ausgeprägt, im Grunde aber erfolgt ein Eindringen der antiken Art, den Menschen nicht nach einem Ideal sittlicher Vollkommenheit, sondern nach seinem Verhältnis zu anderen Menschen zu messen; die absolute Schätzung weicht zurück vor einer relativen, die göttliche vor der menschlichen. Überhaupt wird hier das christliche Leben tief hereingezogen in die Vorstellungen und in die Interessen der Menschen, eine große Veräußerlichung und Vergröberung ist unverkennbar, magische Elemente gefährden die Substanz des sittlich-religiösen Lebens. In jener Entwickelung des Gefühles der Hilfsbedürftigkeit und jenem Suchen einer festen Stütze steckt sicherlich auch ein echtreligiöser Zug, aber dieser Zug vermag sich einstweilen noch nicht zur Selbständigkeit aufzuringen und die Gestaltung zu beherrschen, die edleren Empfindungen bleiben noch verschleiert. Bei allem Ausbau der Organisation und aller Emsigkeit der Leistung fehlt ein gehaltvolles Innenleben, eine geistige Tiefe. Die schlichte Moral ist geschädigt, eine Innerlichkeit religiösen Lebens aber nicht gewonnen. Das war eine zwiespältige Lage, in ihrer Zwiespältigkeit unerquicklich und ohne Aussicht auf eine große Zukunft. Wenn irgend in der Geschichte des Christentums, so war ihm jetzt ein ursprünglicher und schaffender Geist nötig, um es vor jähem Fall zu behüten. In Wahrheit erschien ein solcher Mann in AUGUSTIN. Sein Biesengeist hat jenen Widerspruch überwunden, er hat dem aufstrebenden religiösen Verlangen zu vollem Siege verholfen, eine eigentümlich religiöse Lebensführung wissenschaftlich entwickelt, dem kirchlichen System einen geistigen Inhalt gegeben. Er führt auch die christliche Lebensanschauung auf ihre philosophische Höhe.

2. Augustin. a. Die allgemeine Art. AUGUSTIN (354—430) ist der einzige große Philosoph auf dem eigenen Boden des Christentums. Alle Wirkungen der Vergangenheit und alle Anregungen der eigenen Zeit nimmt er in sich auf, um Neues und Größeres aus ihnen zu machen; in lateinischer Umgebung wurzelnd, empfängt er starke Einflüsse griechischer und orientalischer Art; Altchristlichem und Neuplatonischem giebt er eine neue Mischung, in der das Christliche seine Besonderheit kräftiger wahrt, und deren Ergebnis, angreifbar wie es ist, alle weitere Geschichte des Christen-

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Das Christentum.

tums beherrscht. Die Gedankenentwickelung ist hier in hervorragender Weise Ausdruck der Persönlichkeit, ja unmittelbares persönliches Leben. Alle Arbeit dient im Grunde der einen Aufgabe, das eigene Sein zu entfalten und zu befriedigen; in aller Verzweigung des Strebens bleibt das Hauptziel, dem ganzen Wesen zu seinem Wohlbefinden zu verhelfen. Glück, Seligkeit, das ist es, worauf das ausschließliche Sinnen und leidenschaftliche Verlangen dieses Mannes geht, Glück nicht in dem kleinen Sinne der älteren lateinischen Väter, sondern als Vollbefriedigung des ganzen Wesens, als Belebung aller Kräfte, als Beseligung bis zum tiefsten Grunde des Seins. Daher kann dieses Streben alles in sich ziehen und die geistige Arbeit nicht bloß begleiten, sondern durchdringen. Ein solches Glück darf nicht als ferne Hoffnung vorschweben, es muß zu lebendiger Gegenwart und zu vollem Besitz werden. Denn „wer bloß in der Hoffnung glücklich ist, ist noch nicht glücklich; erwartet er doch erst in Geduld das Glück, welches er noch nicht besitzt". Daß wir aber glücklich werden können und werden müssen, das steht dem Denker fest als das Allersicherste; diese Überzeugung bedarf für ihn keiner Begründung und duldet keinen Zweifel, vielmehr bildet sie die stärkste Wehr gegen allen Zweifel. Dieses Glücksverlangen überwindet allen Widerstand und schmilzt auch das Feindlichste zusammen; aus ihm strömt Leben, Liehe, Leidenschaft in alle Arbeit und erfüllt sie mit den stärksten Affekten. Das giebt allem Beginnen Augustins eine feurige Glut und stürmische Erregung. Das religiöse Streben der Menschheit, sonst oft der Ausdruck einer müden und entsagenden Stimmung, wird hier zur Sache allerkräftigsten Lehens; selbst das Erkennen wird zu einer Selbstbehauptung und Wesenserhöhung. Diese Verflechtung einer titanischen, von verzehrendem Glücksdurst erfüllten Subjektivität mit der ganzen Weite der Geistesarbeit, sie bildet zugleich die Größe und die Schwäche Augustins. Wie damit alle Welt- und Lebensanschauung der Besonderheit dieser Natur folgen muß, so steht sie namentlich unter dem Einfluß der Thatsache, daß in derselben große Gegensätze zusammenstoßen und das Denken in unablässige Bewegung versetzen. Einmal ein Drang, das ganze Sein in einem zu ergreifen, das Leben in sich selbst zu konzentrieren, sich mit dem Ganzen des Wesens der Seligkeit unmittelbar zu versichern; hier ein Hinausstreben über alle Formen und Begriffe, ein Leben und Weben im reinen Gefühl. Zugleich aber das Verlangen, die Weite des Alls zu umspannen und mit dem Denken zu durchleuchten, auch das Innere klar zu explizieren

Augustin.

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und für alles Thun Grund und Bechenschaft zu geben; damit eine Entfernung vom nächsten Eindruck, ein großer Gedankenbau, eine wissenschaftliche Vermittelung der geistigen Wirklichkeit. Aus beidem zusammen eine gewaltige religiöse Spekulation, in der sich Fühlen und Denken, unmittelbares und vermitteltes Leben untrennbar verschlingen. — Mit diesem Gegensatz durchkreuzt sich vielfach ein anderer. Einerseits ein rastloses Streben nach reiner Geistigkeit, eine Verwandelung der Dinge ins Gedankenhafite, die Ursprünglichkeit und Selbständigkeit eines weltüberlegenen Innenlebens; andererseits eine glühende Sinnlichkeit, ein Bestehen auf handfesten Daten, einem sicheren Berühren und Halten, einem lustvollen Kosten und Genießen der Dinge; beides zusammenschießend in einer grandiosen Phantasie, welche nicht nur vor keiner äußeren Grenze Halt macht, sondern auch den dunklen Tiefen der Innenwelt deutliche Gestalten abringt. — In demselben Manne einmal ein unermüdlicher Schaffensdrang und eine ungestüme Energie des Lebensprozesses, zugleich aber ein tiefer moralischer Zwiespalt, das Bewußtsein einer Hilflosigkeit gegenüber seiner eigenen Natur, ein sehnsüchtiges Verlangen nach Errettung durch übernatürliche Mächte und Versetzung in einen Stand von Buhe und Frieden. Das allgemeine moralische Problem verschärft sich individuell dadurch, daß Augustins Sinnlichkeit nicht naiver, sondern raffinierter Art ist, daß sie daher alles Streben zu vergiften und zum Niederen, ja Gemeinen herabzuziehen droht. Auch darin endlich zeigt Attgustin eine Doppelnatur, daß er zugleich erlebt, tief und wahrhaftig erlebt, und über das Erlebnis kühl zu reflektieren vermag, als sei es etwas Fremdes. Alle diese Bichtungen werden nicht unter Einfügung in ein umfassendes System von Grund her ausgeglichen, etwa in der Art eines Aristoteles gleich anfanglich zu einander gestimmt, sondern jede einzelne entwickelt sich zunächst ungestört; dann erst erfolgt eine Berührung und Verbindung. So verbleibt es bei schroffen Kontrasten, einem sprunghaften Verfahren, einem Hin- und Herwirken und vielfachen Sichdurchkreuzen der Gegensätze. Das ergiebt manche Widersprüche nicht nur in kleinen, sondern auch in großen Dingen, eine stete Unruhe, in der es blitzartig durcheinander schießt; aber es ergiebt auch eine unablässige Spannung und Schwingung des Lebens, ein immer frisches Neueinsetzen des Schaffens, den lebendigsten Fluß aller Dinge. Wenn solches Durcheinander widersprechender Elemente den Gedankenbau oft arg verwickelt, so hindert es keineswegs eine reiche Entfaltung durchaus ursprünglicher, inniger Gefühle, das HerEucken, Lebensanschaunngen. S. Aufl.

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DAS Christentum.

vorbrechen reiner Naturtone schlichtmenschlicher Art. Namentlich erlangt hier das religiöse Gemütsleben eine kindliche Einfalt und eine feurige Sprache des Herzens, wie die Litteratur sie nur an seltenen Höhepunkten bietet. Solches Durcheinanderwirken von Gegensätzen erschwert nicht nur ein zutreffendes Verständnis der Lehren AUGUSTINS, sondern auch eine gerechte Würdigung seines Wesens. AUGUSTIN, bei seiner starken Empfindung vom jeweiligen Eindruck weit fortgerissen, kann lange Zeit ausschließlich Einer Richtung nachgehen und alles Andere darüber vergessen; so kommt er zu extremen, fanatischen Sätzen, die ganz sein eigen sind, nicht aber das Ganze seiner Überzeugung bedeuten; bisweilen verurteilt er hier schroff was er dort liebt und verehrt. Der kirchliche Christ in ihm kann von der Kultur reden wie ein engherziger Sektenmensch, aber es kann auch der weltumspannende, wesenergründende Denker die kirchliche Ordnung mit ihrer Autorität und ihrem Glauben von oben herab wie eine Sache bloßer Zweckmäßigkeit behandeln, wie eine Einrichtung, die nur dem großen Haufen und der menschlichen Schwäche dient. So läßt sich der eine AUGUSTIN wider den anderen ausspielen und die Ehrlichkeit des ganzen Menschen angreifen. Ein Teil dieser Widersprüche verschwindet freilich bei einer genaueren Beachtung der inneren Entwickelung des Mannes, die ihn von einer universalen und philosophischen Betrachtung der Dinge mehr und mehr zu einer positiven und kirchlichen trieb; die schwersten Gegensätze aber erhalten sich durch allen Wandel, in ein System läßt sich AUGUBTIN unmöglich zwängen. Aber wir brauchen nur das Ganze seiner Persönlichkeit aufzurufen, um ein Band aller Mannigfaltigkeit und ein Verständnis aller Widersprüche zu finden. Wie diese Persönlichkeit eine unermeßliche Weite des geistigen Horizontes mit einer starken Erregbarkeit für jedes Einzelne, ein großes Schaffen ursprünglicher Art mit stetem Reflektieren über das Schaffen verbindet, so läßt sie sich nicht in den Rahmen der formalen Logik spannen; die Widersprüche aber, welche das Innere durchwogen, wird die Arbeit herausstellen. Nun und nimmer hätte AUGUSTIN wirken können, was er gewirkt hat, hätte hinter der Rhetorik des Ausdrucks nicht eine große Wahrhaftigkeit des Wesens gestanden. So schon bleibt bei ihm viel Unerquickliches zu verwinden. In der wunderbaren Mischung der Elemente, welche in dieser Natur zusammenrinnen, sind Edelsinn und Gerechtigkeit nicht stark genug vertreten, um nicht bisweilen den Wallungen der Leidenschaft gänzlich zu unterliegen. Besonders aber ist AUGUSTIN keine reine, keine lautere

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Natur, wie etwa ein PLATO, er kann sich auch im höchsten Aufschwung nicht aller Mitführung niederer Elemente entziehen, er kann die tiefsten Tiefen nicht aufregen, ohne viel trüben Schlamm an die Oberfläche zu bringen. Das setzt aller Anerkennung AUGUSTINS eine Schranke. Aber was immer sich gegen ihn einwenden läßt, alle seine Äußerungen und Lehren zeigen, in ihre Wurzel verfolgt, ein echtmenschliches, wohlbegreifliches Streben, einen ganzen und gewaltigen Menschen, dem nichts Menschliches fremd ist. Und wenn unter den Heiligen der Kirche kaum einer so wenig heilig, so sehr leidenschaftlicher Mensch mit allen Fehlern und Schwächen war, wie AUGUSTIN, SO liegt in solcher Menschlichkeit wohl auch eine Versöhnung, jedenfalls aber das Geheimnis seiner Macht über die Gemüter.

b. Die Seele des Lebensprozesses.

Den Ausgang der augustinischen Lebensanschauung und einen durch ihre ganze Entwickelung wirksamen Zug bildet die tiefste Unzufriedenheit mit der natürlichen Welt und hauptsächlich der Lage des Menschen. Kaum sind die Leiden des menschlichen Daseins irgend aus bewegterem Herzen und mit stärkeren Farben geschildert als bei AUGUSTIN. Die Not des Einzelnen, wie die Mißstände der Gesellschaft, die Spaltungen und Kriege der Völker, die Irrungen im Recht, die Verflechtung in alle Sorgen der Freunde, die Fülle der Versuchungen, das stete Schweben des Menschen zwischen Furcht und Hoffnung, die peinliche Unsicherheit unserer Lage, sie kommen hier zu ergreifender Aussprache; der Empfindung des allgemeinen Unglücks geben dabei die traurigen Zustände jener sinkenden Zeit außerhalb wie innerhalb des Christentums ein individuelles Kolorit. Das von philosophischer Seite empfohlene Mittel, sich gegen alles dieses Leid innerlich abzustumpfen und die Empfindung des Schmerzes heroisch niederzukämpfen, gilt AUGUSTEN, wenn überhaupt als wirksam, so als sittlich unstatthaft; jene Abstumpfung würde eine rohe Gefühllosigkeit, eine Verhärtung des Wesens, ein Erlöschen der Liebe ergeben. Auch umfangt uns das Böse keineswegs bloß von außen, es wohnt in unserem eigenen Innern, es ist in Sinnenlust und Hochmut die treibende Kraft unseres Handelns; den guten Vorsätzen, die wir fassen, fehlt in schmerzlicher Weise die Kraft der Ausführung. Dazu endlich das geistige Unvermögen des Menschen, sein Versenktsein in Zweifel, seine Ohnmacht gegenüber der Wahrheit. In solchen Nöten und Widerständen droht eine völlige 14*

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Das Christentum.

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