Die Konstruktion einer hybriden ›jüdischen Nation‹: Deutscher Zionismus im Spiegel der Jüdischen Rundschau 1902–1914 [1 ed.] 9783737009300, 9783847109303


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Die Konstruktion einer hybriden ›jüdischen Nation‹: Deutscher Zionismus im Spiegel der Jüdischen Rundschau 1902–1914 [1 ed.]
 9783737009300, 9783847109303

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Formen der Erinnerung

Band 68

Herausgegeben von Jürgen Reulecke und Birgit Neumann

Sabrina Schütz

Die Konstruktion einer hybriden ›jüdischen Nation‹ Deutscher Zionismus im Spiegel der Jüdischen Rundschau 1902–1914

Mit 3 Abbildungen

V& R unipress

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet þber http://dnb.d-nb.de abrufbar. Gedruckt mit freundlicher Unterstþtzung der Axel Springer Stiftung, der Buber-RosenzweigStiftung und der Koordinationsstelle Chancengleichheit & Familie der UniversitÐt Regensburg. Die Arbeit wurde im Jahr 2017 von der FakultÐt fþr Philosophie, Kunst-, Geschichts- und Gesellschaftswissenschaften der UniversitÐt Regensburg als Dissertation angenommen. D 355  2019, V& R unipress GmbH, Robert-Bosch-Breite 6, D-37079 Gçttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich gesch þtzt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen FÐllen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Titelseite Jþdische Rundschau, Ausgabe JR, VII. Jg., Nr. 40 (01. 10. 1902). Vandenhoeck & Ruprecht Verlage j www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2198-6169 ISBN 978-3-7370-0930-0

Inhalt

Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I.

II.

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Problemaufriss und Fragestellung . . . . . . . . . . . . . . 2. ›Deutscher Zionismus‹ vor dem Ersten Weltkrieg – der Untersuchungsgegenstand . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Forschungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Zentrale Arbeitsbegriffe und -konzepte, Spezifizierung der Leitfragen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Untersuchungsebenen, Quellenlage und (methodische) Vorgehensweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Zionistisches Laboratorium und Netzwerk: Die Jüdische Rundschau 1902–1914 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Jüdische Rundschau – Stationen in der Geschichte einer zionistischen Zeitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Organisatorische und geistige Voraussetzungen der Gründung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Die finanzielle und strukturelle Krise der Zeitung vor dem Ersten Weltkrieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Blüte und gewaltsames Ende der Zeitung (1918–1938) . . . 2. In der Redaktion: Personalien und Beziehungsgeflechte . . . . 3. Propagandistische Zielsetzung, formale und inhaltliche Charakteristika . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Redaktionelle Räume und Praktiken . . . . . . . . . . . . . . . 5. Profile einer zionistischen Diskursgemeinschaft . . . . . . . . 5.1 Abonnenten und Leser – eine Spurensuche . . . . . . . . . 5.2 Akademiker und Bürgerliche: Soziokulturelles Profil der Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Inhalt

5.3 Zur Bedeutung der Jüdischen Rundschau in der zionistischen Presselandschaft vor dem Ersten Weltkrieg . . III. Die Konstruktion zionistischer Hybridität in der Jüdischen Rundschau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Was ist die ›jüdische Nation‹? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Zwischen ›Nation‹, ›Stamm‹ und ›Staat‹ im Spannungsfeld von ›Deutschland‹ und ›Zion‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 Zionistische Volksbilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2.1 Nationaljüdische Völkerpsychologie und die Suche nach ›Gemeinschaft‹ und ›Ganzheit‹ . . . . . . . . . . . 1.2.2 Jüdische Volksindividualität zwischen ›Kultur‹, ›Ethik‹, ›Universalismus‹ und ›Partikularismus‹ . . . . . . . . . 1.3 Zwischen Negierung, Transformation und Apologie: Zionismus und ›Rasse‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4 Die ›Historisierung des zionistischen Bewusstseins‹ nach deutschem Vorbild, der Makkabäer-Mythos und die Rolle der Hebräischen Bibel als ›(jüdisches) Nationalepos‹ . . . . 1.5 Das hybride Kulturprogramm der Jüdischen Rundschau und die ›Hebraisierung‹ des nationaljüdischen Kollektivs . . . . 1.5.1 ›Deutschtum‹ – ›Judentum‹ – ›Zionismus‹: Eine frühe Debatte (1902/1903) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5.2 Begriff und Programm einer jüdischen Nationalkultur und Nationalliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5.3 Die Sprache(n) der jüdischen Kultur . . . . . . . . . . 2. Was ist ›Zionismus‹? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 ›Einheit‹, ›Einigkeit‹ und ›Einmütigkeit‹: ›Politischer Zionismus‹, ›nationales Homogenisieren‹ und die Unitätsutopie der Jüdischen Rundschau (1902–1905) . . . . 2.1.1 »[G]egen die Fraktionierung des Zionismus«: Zionistische ›Meinungs- und Gewissensfreiheit‹ und ihre Grenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.2 ›Parteidisziplin‹ in der ›Altneuland-Kontroverse‹ und das Herzl-Bild in der Jüdischen Rundschau . . . . . . . 2.1.3 Zwischen ›Nein-Sagern‹ und ›Ja-Sagern‹, ›Palästinensern‹, und ›Landsuchern‹ – das zionistische Kollektiv und die »Ostafrika-Frage« . . . . . . . . . . . 2.2 Auf der Suche nach neuen ›Führern‹ und ›Programmen‹: Das zionistische Kollektiv in der ›Krise‹ (1906–1910) . . . .

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7

Inhalt

2.2.1 Programm-, führer- und orientierungslos? Das zionistische Kollektiv nach Herzls Tod und unter Wolffsohns Präsidentschaft . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.2 Die ›Programm-Debatte‹ nach der Jungtürkischen Revolution (1908/1909) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Das zionistische Kollektiv als ›Kolonisierter‹ und ›Kolonisierer‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.1 Der Antisemitismus und das zionistische Russlandbild als Antithesen zu ›Kultur‹ und ›Zivilisation‹ . . . . . . 2.3.2 Zum ambivalenten Verhältnis von deutschem Zionismus und Kolonialismus . . . . . . . . . . . . . . 3. Wo liegt ›Zionismus‹? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Palästinabilder, Zionismus und Orientalismus . . . . . . . . 3.2 Zionismus zwischen ›West‹ und ›Ost‹: Die »Oppenheimer-Kontroverse« im Jahr 1910 und ›West‹- und ›Ost‹-Konzepte in der Jüdischen Rundschau . . . . . . . . . 3.3 Vom ›hybriden‹ zum ›exklusiven völkischen Nationalismus‹? Der deutsche Zionismus vor dem Ersten Weltkrieg (1910–1914) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.1 Die Forderung nach ›Nationalisierung‹ des deutschen Zionismus und die ›Kulturfrage‹ in den zionistischen Debatten mit dem Centralverein und dem Hilfsverein (1910–1913/4) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.2 Allianzen auf den und um die Delegiertentage/n von Posen (1912) und Leipzig (1914) . . . . . . . . . . . . . 3.3.3 ›Radikaler Nationalismus‹ oder Generationenkonflikt? Erklärungsansätze für die Bedeutungsverschiebung im deutschen Zionismus vor dem Ersten Weltkrieg . . . .

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IV.

Schlussbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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V.

Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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VI. Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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VII. Quellen- und Literaturverzeichnis . . . . 1. Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Ungedruckte archivalische Quellen 1.2 Gedruckte Quellen . . . . . . . . . 1.2.1 Zeitungen . . . . . . . . . . .

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8

Inhalt

1.2.2 Amtliche Druckschriften, zeitgenössische Publikationen, persönliche Quellen, Quelleneditionen . 2. Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Onlinepublikationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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VIII. Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Danksagung

Die vorliegende Arbeit ist die leicht überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die ich im Jahr 2017 an der Universität Regensburg vorgelegt habe. Ohne die Unterstützung vieler, denen ich an dieser Stelle danken möchte, hätte sie doch nicht entstehen können. An erster Stelle möchte ich meinem Doktorvater Prof. Dr. Franz Bauer herzlichst danken, der durch sein großes Vertrauen in meine Person und mein Projekt, seine unermüdliche Begeisterung für das Thema, zahlreiche stimulierende Diskussionen und seine moralische Unterstützung außerordentlich viel zum Gelingen der Arbeit beigetragen hat. Gedankt sei auch meinem Zweitgutachter Prof. Dr. Bernhard Löffler, der ebenso wesentlich dazu beitrug, dass ich mich im Fortgang der Arbeit stets aufgehoben und unterstützt fühlte. Viele Freunde und Kollegen haben Teile der Arbeit in verschiedenen Phasen ihrer Entstehung gelesen und sie durch wertvolle Kommentare und scharfsinnige Kritik verbessert oder mir durch Diskussionen geholfen, mein eigenes Verständnis des Themas zu schärfen und meine eigenen Fragen klarer zu formulieren. Daneben unterstützten sie mich nicht zuletzt durch ihr gutes und ermutigendes Zureden. Mein herzlicher Dank gilt insbesondere Dr. Heike Wolter, Birgit Mirwald, Dr. Dario Vidojkovic´, Dr. Harry Meyer, Dr. Alexander Karrasch, Dr. Thomas Götz, Dr. Elena Köstner, Daniel Heimerl und allen weiteren Mitarbeitern am Institut für Geschichte der Universität Regensburg. Ich bin voll Trauer, dass Christine Wittmann, die mich mit ihren lieben, aufmunternden Worten im Fortgang der Arbeit stets bestärkt hat, die Fertigstellung dieses Buches nicht erlebt hat. Mein weiterer Dank gilt Dr. Frank Schlöffel für sein stets offenes Ohr für meine Anfragen, die Überlassung des unveröffentlichten Manuskripts seiner Dissertation und seine Hilfe beim Auffinden von Quellenmaterial zur Jüdischen Rundschau. Auch Prof. Dr. Stefan Vogt sei herzlich gedankt für die hilfreichen Hinweise zu aktuellen Forschungsfragen und für die Bestätigung der existierenden Forschungslücke zur Geschichte der Jüdischen Rundschau und der in ihr geführten Diskurse. Seine wissenschaftliche Arbeit hatte bei der Formulierung des Themas wesentlichen Anteil. Von Prof. Dr. Michael Nagel und dem Datenbankprojekt des Instituts für Deutsche Presseforschung zur deutsch-jüdischen

10

Danksagung

Presse habe ich außerordentlich profitiert. Ruben Frankenstein teilte mit mir dankenswerter Weise Informationen über seine Großtante Betty. Unverzichtbare Unterstützung habe ich auch durch die Mitarbeiter einer Reihe von Archiven und Bibliotheken erhalten. Danken möchte ich, stellvertretend für deren Kollegen, Rochelle Rubinstein und den Mitarbeitern im Lesesaal in den Central Zionist Archives in Jerusalem, die mir stets humorvoll und klaglos meine umfangreichen Quellenwünsche erfüllt haben, Tanya Zhovner und den Mitarbeitern der Sha’ar Zion Stadtbibliothek (Beit Ariela) in Tel Aviv und Angelika Hindennach vom Landesarchiv Berlin. Mein Dank gilt Ute Simeon und Dr. Rachel Heuberger der Judaica-Abteilung des Portals »Compact Memory« der Universitätsbibliothek Frankfurt am Main für ihr stets kompetentes, freundliches Entgegenkommen bei meinen Anfragen und die Ergänzung des Bestandes zur Jüdischen Rundschau um die Literatur-Beiblätter. Den Mitarbeitern der Bibliothek der Universität Regensburg war nie ein Weg zu weit: Sie machten bei der Literaturbeschaffung auch das Unmögliche noch möglich. Auf ihre stete Hilfsbereitschaft zugreifen zu können, hat immer wieder neuen Auftrieb für die Arbeit gegeben. Die Publikation wurde durch Druckkostenzuschüsse der Axel Springer Stiftung, der Buber-Rosenzweig-Stiftung und der Koordinationsstelle Chancengleichheit & Familie aus den FAS-Mitteln der PKGG-Fakultät der Universität Regensburg möglich gemacht, auch dafür möchte ich herzlich danken. Ganz besonders möchte ich mich bei Dr. Erik Lindner von der Axel Springer Stiftung bedanken. Sein außergewöhnlicher Einsatz und die fachliche wie moralische Unterstützung in der Endphase der Dissertation waren eine unermessliche Hilfe. Schließlich danke ich den Herausgebern für die Aufnahme der Arbeit in die Reihe »Formen der Erinnerung« und dem Verlag V& R unipress für die Aufnahme der Arbeit in sein Programm und vor allem Susanne Köhler für die professionelle und sehr angenehme Betreuung. Meine lieben Freunde Steffie Thiele, Carina Schmitt, Beate Siegmund, Ramona Benedikt und Angela Schrettenbrunner haben mich auf meinem Arbeitsund Lebensweg begleitet. Ihr immenses Vertrauen, ihre Herzlichkeit und ihr Humor waren mir eine unbeschreibliche Hilfe und Unterstützung in allen Phasen dieser Arbeit wie im Leben. Ich danke ihnen und ihren Familien von ganzem Herzen. Nicht zuletzt gilt mein größter Dank meiner lieben Familie, vor allem meinem Ehemann Michael Weinzierl und meinem Vater Erwin Schütz mit seiner Lebensgefährtin Carla Wimmer. Ohne ihre bedingungslose Geduld, Loyalität, Unterstützung und Liebe wäre diese Arbeit nicht möglich gewesen. Ihnen und meiner geliebten Mutter Heidemarie Schütz (1944–1999) ist dieses Buch gewidmet. Regensburg, im August 2018

I.

Einleitung

1.

Problemaufriss und Fragestellung »Wenn wir uns jüdischnational empfinden, so meinen wir nicht, daß es eine dem deutschen Nationalgefühl kongruente Tatsache gäbe, nur daß einfach das Wort deutsch durch das Wort jüdisch ersetzt wäre. So schablonenhaft entstehen keine geschichtlichen Gebilde.«1 »Wenn andere Völker die Berechtigung ihres nationalen Selbstbewusstseins aus der Macht und der Machtbegierde ableiteten, wenn sich mächtige Völker auf Schwert und Panzerfaust stützen, so können wir nur in unserer eigenen Kultur, im Judentume, das die ethische Kultur der europäischen Welt gegeben hat, die Berechtigung unseres Nationalismus erblicken.«2

Diese bemerkenswerten Aussagen finden sich in zwei Artikeln, die in den Jahren 1908 und 1913 in der Jüdischen Rundschau, dem offiziellen Presseorgan der Zionistischen Vereinigung für Deutschland (ZVfD), dem deutschen Landesverband der Zionistischen Organisation (ZO), erschienen. Sie stammen von den deutschen Zionisten Moses Calvary3 und Heinrich Loewe4 und damit von zwei 1 Calvary, Moses: Deutsch-national, in: Jüdische Rundschau (im Folgenden JR), XVIII. Jg., Nr. 16 (18. 04. 1913), S. 157f., hier S. 157. 2 Loewe, Heinrich: Die Berechtigung des Nationalismus, in: JR, XIII. Jg., Nr. 33 (14. 08. 1908), S. 317f., hier ebd. 3 Moses Calvary (1876–1944) wurde als Enkel des Rabbiners Esriel Hildesheimer geboren, der als Begründer der modernen Orthodoxie im späten Kaiserreich galt. Neben Felix Rosenblüth, dem späteren Vorsitzenden der ZVfD von 1920 bis 1923, und dessen Bruder Martin zählte Calvary zu den bekanntesten Mitgliedern des sog. »Messingwerkkreises«, eines Kreises von jungen zionistischen Intellektuellen, die aus dem Dorf Messingwerk bei Eberswalde stammten und zu den Mitgründern und Ideengebern der jüdischen Jugendbewegung Blau-Weiß wurden. Calvary, der sich zeitlebens mit den Erziehungsproblemen der jüdischen Jugend beschäftigte, wurde zu einem prominenten Reformpädagogen, der auch der »palästinensische Pestalozzi« genannt wurde. In Palästina leitete er nach seiner Emigration die Jugenddörfer Ben Schemen und Meir Shefeya für Waisenkinder. Zur Person Calvarys vgl. Hackeschmidt, Jörg: Jüdische Orthodoxie und zionistische Jugendkultur im frühen zwanzigsten Jahrhundert, in: Schatz, Andrea/Wiese, Christian (Hg.): Janusfiguren. ›Jüdische Heimstätte‹. Exil und

12

Einleitung

der wichtigsten Stimmen innerhalb des frühen deutschen Zionismus vor dem Ersten Weltkrieg. Sowohl Calvary als auch Loewe deuteten in ihren Beiträgen das Dilemma an, dass dem deutschen Zionismus sozusagen nichts anderes übrig geblieben sei, als auf einem Felde errichtet und tätig zu werden, das bereits durch den deutschen Nationalismus abgesteckt und vordefiniert worden war. Zugleich machten beide jedoch deutlich, dass der deutsche Zionismus nicht etwa die Absicht hätte, die ideologischen5 und sprachlichen Traditionsbestände des deutschen Nationalismus eins zu eins auch in jedem Fall zu übernehmen. So sollte sich der Zionismus gerade nicht über eine machtideologische Dimension definieren, wie es aus der Sicht deutscher Zionisten etwa deutsche Nationalisten getan hatten, sondern ein jüdischer Kulturnationalismus sein, der einen emanzipatorischen, positiven Gegenentwurf zu den ihn umgebenden chauvinistischen Erscheinungsformen von Nationalismus zu Beginn des 20. Jahrhunderts darstellen sollte.6 Bereits diese kurzen Feststellungen legen die Deutung nahe, im zionistischen Nationalismus in Deutschland in enger Anlehnung an ein in den postcolonial studies entwickeltes Konzept, wie es vor allem von Homi K. Bhabha für die Selbstermächtigungsstrategien der (post-)kolonialen Nationalismen entwickelt wurde, eine hybride Denkweise zu erkennen. Nach dieser entsteht beim Kontakt des ›Einen‹ mit dem ›Anderen‹ etwas ›Drittes‹, das als Hybrid neue Elemente hervorbringt, die sowohl Eigenschaften des ›Einen‹ als auch des ›Anderen‹ in sich aufnehmen, und das damit einem ›(dritten) Zwischenraum‹ gleichkommt.7 Dieser von Bhabha sogenannte »Dritte Raum« funktioniert demnach vielmehr als der »zwischenräumliche Übergang zwischen festen Identifikationen«, der

4 5

6

7

Nation im deutschen Zionismus, Berlin 2005, S. 81–102, hier S. 84–88 und Herrmann, Manja: »Bruch oder Kontinuität? Jüdische Jugendbewegung und Reformpädagogik bei Moses Calvary (1876–1944)«, in: Hering, Sabine u. a. (Hg.): Jüdische Jugendbewegung und soziale Praxis (Schriftenreihe des Arbeitskreises Jüdische Wohlfahrt, Bd. 6), Frankfurt 2017, S. 63– 78. Zu Heinrich Loewe vgl. Kap. II.2. der vorliegenden Arbeit. Zum Begriff der Ideologie vgl. Arendt, Hannah: The Origins of Totalitarianism. New Edition with Added Prefaces, San Diego 1973, S. 468–474; Geertz, Clifford: Ideology as a Cultural System, in: Ders.: The Interpretation of Cultures, London 1973, S. 193–233. Geertz, Ideology, S. 207 definiert Ideologie als »systems of interacting symbols, as patterns of interwoven meanings«, mittels derer konkretes politisches Handeln überhaupt erst sinnhaft und möglich wird. Zu dieser Widersprüchlichkeit vgl. bereits Herrmann, Manja: »[B]eide zu einem harmonischen Ganzen verschmolzen«: Particularism, Universalism, and the Hybrid Jewish Nation in Early German Zionist Discourse, in: MEDAON – Magazin für jüdisches Leben in Forschung und Bildung, 8 (2014), 14, S. 1–13. URL: [letzter Zugriff erfolgt am 16. 10. 2016] und insbes. Vogt, Stefan: Subalterne Positionierungen. Der deutsche Zionismus im Feld des Nationalismus in Deutschland 1890–1933, Göttingen 2016, S. 7–11. Vgl. Bhabha, Homi K.: Die Verortung der Kultur, Tübingen 2007, S. 2 und 42.

Problemaufriss und Fragestellung

13

»die Möglichkeit einer [national-]kulturellen Hybridität« eröffnet, »in der es einen Platz für Differenz ohne eine [eindeutige] übernommene oder verordnete Hierarchie gibt«8. Im Fall des deutschen Zionismus bedeutete dies einerseits, dass er ausgiebig auf das Muster und das Arsenal des europäischen, im Besonderen des deutschen Nationalismus zurückgriff, und andererseits, dass er sich davon zugleich distanzierte. Welche oftmals paradoxen oder widersprüchlichen Produkte diese strategischen Versuche der Adaption, Transformation und Abgrenzung mit sich brachten, soll in der vorliegenden Arbeit untersucht werden. Doch dies war nicht das einzige Spannungsfeld, in dem sich der deutsche Zionismus bewegte. Während der Konstituierungsphase des frühen deutschen Zionismus vor dem Ersten Weltkrieg mussten Zionisten ihre eigenen Vorstellungen eines zionistischen Nationalismus zunächst einmal formulieren und den konkreten praktischen Erfahrungen und Lernprozessen, die bei der politischen Übersetzung der theoretischen Nationsentwürfe gemacht wurden, anpassen und gegebenenfalls modifizieren. Die Frage nach der inhaltlichen Deutung der ›jüdischen Nation‹ war für deutsche Zionisten somit immer auch eng verknüpft mit der eigenen Positionierung gegenüber der Politik der frühen ZO und den verschiedenen ideologischen Strömungen im Zionismus.9 Dies führte zu mitunter kontrovers ausgetragenen Debatten über die ideologischen Grundlagen des zionistischen Nationalismus. Obwohl die Jüdische Rundschau zunächst die Autorität von Theodor Herzls Strategie des ›politischen Zionismus‹ und damit verknüpft die nationale Homogenität wie Geschlossenheit der jungen nationalen Bewegung propagierte, waren die in ihr zirkulierenden Nationsvorstellungen immer auch zutiefst von ›kulturzionistischen‹ und ›praktisch-zionistischen‹ Vorstellungen durchzogen.10 Spätestens seit den 1910er Jahren setzten sich im deutschen Zionismus mehrheitlich Tendenzen durch, welche eine Betonung der Alleinstellungsmerkmale der ›jüdischen Nation‹ propagierten. Seit dem Posener Delegiertentag 1912 und dem Leipziger Delegiertentag 1914 forderten überwiegend jüngere Zionisten, welche wie Kurt Blumenfeld11 in zunehmendem Maße auch in die 8 Ebd., S. 5. Zur Einführung in Homi K. Bhabhas Schriften vgl. Struve, Karen: Zur Aktualität von Homi K. Bhabha. Einleitung in sein Werk (Aktuelle und klassische Sozial- und Kulturwissenschaftler/innen), Wiesbaden 2013. Zur Anwendbarkeit des methodischen Konzeptes auf den deutschen Zionismus vgl. Kap. I.4. der Einleitung. 9 Vgl. dazu das Standardwerk von Shimoni, Gideon: The Zionist Ideology, Hanover 1995. 10 Zu den Merkmalen der verschiedenen ideologischen Strömungen im Zionismus vgl. Kap. I.2 der Einleitung. 11 Kurt Blumenfeld (1884–1963) studierte Rechtswissenschaften in Berlin, Freiburg und Königsberg. 1909 wurde er zum Parteisekretär und Propagandabeauftragten der ZVfD ernannt. Von 1924 bis 1933 war er Vorsitzender der ZVfD. Zu Blumenfeld vgl. seine autobiographische Schrift Blumenfeld, Kurt: Erlebte Judenfrage. Ein Vierteljahrhundert deutscher Zionismus, Stuttgart 1962 und Kap. III.3.3 der Arbeit.

14

Einleitung

Führungspositionen der ZVfD aufstiegen, die deutschen Zionisten auf, »die Übersiedlung nach Palästina in ihr Lebensprogramm aufzunehmen«12, Palästina zum Fluchtpunkt der zionistischen Ideologie und Politik zu erheben und einen exklusiven jüdischen Kulturnationalismus zum wichtigsten Anliegen ihres Zionismus zu machen. Diese Tendenzen, welche im zeitgenössischen zionistischen Diskurs, je nach Zuspruch oder Ablehnung, die Labels »Palästinozentrismus« oder »radikaler Nationalismus«13 erhielten, werfen im Besonderen die Frage auf, in welchem Verhältnis der deutsche Zionismus zu auf den ersten Blick gleichlautenden Tendenzen im deutschen Nationalismus am Vorabend des Ersten Weltkriegs stand. Im Zentrum der vorliegenden Arbeit steht daher die Frage nach den Vorstellungen deutscher Zionisten14 von ›Nation‹ und ›Nationalismus‹ vor dem Ersten Weltkrieg und ihrem möglichen hybriden Gehalt. Die Untersuchung soll am Beispiel des Diskurses in der zionistischen Wochenzeitung Jüdische Rundschau geschehen, die sich vor dem Ersten Weltkrieg zu einer zentralen Kommunikations- und Verhandlungsplattform des zionistischen Nationalismus in Deutschland entwickelte. Die (national-)ideologischen Positionierungen und Produktionsbedingungen der Zeitung sollen schließlich mit der Rekonstruktion der zionistischen Hybriditätspolitik in Beziehung gesetzt werden.

12 Resolution des Posener Delegiertentags der Zionistischen Vereinigung für Deutschland, Juni 1912, abgedr. in: JR, XVII. Jg., Nr. 24 (14. 06. 1912), S. 222. 13 Zu diesen Konzepten und ihrem Verhältnis zum deutschen Nationalismus vgl. Kap. III.3.3 der Arbeit. 14 Aus Gründen der Lesbarkeit wurde in der vorliegenden Arbeit durchgängig die männliche Form (»Zionisten«) gebraucht. Dies trägt auch dem Umstand Rechnung, dass an den im Untersuchungszeitraum der Arbeit betrachteten nationalen Diskursen Frauen nur marginal partizipierten und sich die wenigen von Frauen verfassten Artikel im Untersuchungsmedium in erster Linie mit den Handlungsmöglichkeiten von Frauen im Zionismus und weniger mit ideologischen Grundsatzfragen zum zionistischen Nationalismus beschäftigten (vgl. dazu auch Vogt, Positionierungen, S. 8, Fn. 3). Diese Frage wird am Beispiel der Jüdischen Rundschau von Christine Bovermann im Rahmen ihrer Dissertation aufgegriffen. Vgl. Bovermann, Christine: Jüdischer Nationalismus im Deutschen Kaiserreich. »Gegenwartsarbeit« als Perspektive für Frauen in der Zionistischen Bewegung (Arbeitstitel). Beschreibung des Dissertationsvorhabens. URL: [letzter Zugriff erfolgt am 16. 10. 2016]. Zur Rolle von Frauen im Zionismus vgl. Berkowitz, Michael: Transcending »Tzimmes and Sweetness«. Recovering the History of Zionist Women in Central and Western Europe, 1897– 1933, in: Sacks, Maurie (Hg.): Active Voices. Women in Jewish Culture, Urbana 1995, S. 41– 63; Or, Tamara: Vorkämpferinnen und Mütter des Zionismus. Die deutsch-zionistischen Frauenorganisationen (1897–1938), Frankfurt a. M. 2009; Prestel, Claudia: Frauen und die Zionistische Bewegung (1897–1933). Tradition oder Revolution?, in: HZ 258 (1994), S. 29– 71.

›Deutscher Zionismus‹ vor dem Ersten Weltkrieg – der Untersuchungsgegenstand

2.

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›Deutscher Zionismus‹ vor dem Ersten Weltkrieg – der Untersuchungsgegenstand

Mit Andreas Reinke soll unter »Zionismus« in der vorliegenden Arbeit »die moderne jüdische Nationalbewegung, die unter Anknüpfung an ältere messianische Zionsvorstellungen den Aufbau eines eigenen jüdischen Nationalstaates in Palästina propagiert[e]« und sich »unter dem Eindruck der Entstehung moderner Nationalstaaten einerseits, einem wachsenden und erstarkenden Antisemitismus andererseits«15, entwickelte, verstanden werden. Dennoch werden die Begriffe »jüdischnational« und »nationaljüdisch« im Folgenden synonym zu »zionistisch«, »Zionismus« und »zionistischer Nationalismus« verwendet, da sie den deutschen Zionisten nicht zuletzt als Selbstbezeichnungen dienten und die Intensität des Bezuges ihrer nationalen Selbstverortungen zu »Zion« mitunter erheblich variieren konnte. Der Zionismus – als eine bestimmte Form der Nationsidee im ›langen‹ 19. Jahrhundert – hatte vielfältige Desintegrationsprozesse zur Voraussetzung und bildete zugleich eine Gegentendenz zu diesen. Diese Desintegrationsvorgänge waren unmittelbare oder mittelbare Folgen allgemeiner Leittendenzen und spezifischer innerjüdischer Entwicklungen, welche die Epoche prägten und die deutschen Juden in ihrer Gesamtheit sowie das aus seinen traditionellen Bindungen entlassene Individuum vor ganz spezifische Herausforderungen stellten.16 Als Teil der und in wechselseitiger Auseinandersetzung mit den europäischen Nationalbewegungen17 entwarfen jüdische Intellektuelle wie Moses Hess und Zwi Hirsch Kalischer18 seit der Mitte des 19. Jahrhunderts in ihren 15 Reinke, Andreas: Geschichte der Juden in Deutschland 1781–1933, Darmstadt 2007, S. 103. 16 Zur These der »Desintegration« vgl. Bauer, Franz: Das »lange 19. Jahrhundert«. Profil einer Epoche, 3., durchges. und aktual. Aufl. Stuttgart 2010, S. 65; Volkov, Shulamit: Reflektionen zum »modernen« und zum »uralten« jüdischen Nationalismus, in: Hardtwig, Wolfgang/ Brandt, Harm-Hinrich (Hg.): Deutschlands Weg in die Moderne. Politik, Gesellschaft und Kultur im 19. Jahrhundert, München 1993, S. 145–160. Zur Entstehung des Zionismus vgl. Brenner, David A.: Marketing Identities. The Invention of Jewish Ethnicity in Ost und West, Detroit 1998, S. 28f.; Eloni, Yehuda: Die umkämpfte nationaljüdische Idee, in: Mosse, Werner Eugen/Paucker, Arnold (Hg.): Juden im Wilhelminischen Deutschland 1890–1914, Tübingen 1998, S. 633–688; Reinharz, Jehuda: Zur Einführung, in: Ders. (Hg.): Dokumente zur Geschichte des deutschen Zionismus 1882–1933, Tübingen 1981, S. IX–XLVII, hier S. XXIV; Vital, David: The Origins of Zionism, Oxford 1975, S. 223f. 17 Vgl. Ben-Israel, Hedva: Zionism and European Nationalisms. Comparative Aspects, in: Israel Studies 8/1 (2003), S. 91–104; dies.: Herzl’s Leadership in a Comparative Perspective, in: Shimoni, Gideon/Wistrich, Robert S. (Hg.): Theodor Herzl. Visionary of the Jewish State, Jerusalem 1999, S. 147–164; Hroch, Miroslav : Zionismus als eine europäische Nationalbewegung, in: Stegemann, Ekkehard W. (Hg.): 100 Jahre Zionismus. Von der Verwirklichung einer Vision (Judentum und Christentum; Bd. 1), Stuttgart u. a. 2000, S. 33–40; Shimoni, Gideon: Die Entstehung des Zionismus, in: Ebd., S. 41–52. 18 Vgl. die entsprechenden Texte in Schoeps, Julius H. (Hg.): Zionismus. Texte zu seiner Ent-

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Schriften zionistische Antworten auf den (jüdischen) »Weg in die Moderne«19 und auf die als defizitär empfundenen, ambivalenten Folgen des jüdischen Emanzipationsprozesses seit der Aufklärung. Seit den 1880er Jahren bildeten sich allmählich organisatorische Strukturen heraus und der zionistische Nationalismus entwickelte sich zu »einer komplexen und zusammenhängenden Ideologie«20. Als ›Diaspora-Nationalismus‹ stellte der Zionismus ein transnationales und internationales Phänomen und damit ein Unikum dar,21 wodurch die in der zionistischen Bewegung zirkulierenden Vorstellungen einer ›jüdischen Nation‹ nicht nur zum Beispiel politisch-ideologisch, klassen- oder geschlechtsspezifisch, sondern auch ›national‹ in Bezug auf die Herkunftsländer der Zionisten gebrochen waren.22 In Deutschland sammelten sich die Zionisten neben den zionistischen Ortsgruppen in der im Jahr 1894 in Köln gegründeten NationalJüdischen Vereinigung, die nach dem Ersten Zionistischen Weltkongress in Basel im Jahr 1897 in Zionistische Vereinigung für Deutschland (ZVfD) umbenannt wurde und den offiziellen deutschen Landesverband in der ZO konstituierte.23 Die ZVfD bildete die Denkfabrik des Zionismus in Deutschland, deren Mitglieder sich bei regelmäßigen Tagungen, wie den zumeist jährlichen Delegiertentagen, und in den zionistischen Presseorganen, allen voran der zionistischen Wochenzeitung Jüdische Rundschau, über ihre Nations- und Nationa-

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wicklung, 2., überarb. Aufl., Wiesbaden 1983; Gelber, Nathan Michael: Zur Vorgeschichte des Zionismus. Judenstaatsprojekte in den Jahren 1695–1845, Wien 1927. Zu den Begriffen ›Moderne‹ und ›Modernität‹ sowie der Ablehnung einer normativen Deutung vgl. Bauer, Jahrhundert, S. 36, Fn. 49; Hundert, Gershon David: Re(de)fining Modernity in Jewish History, in: Cohen, Jeremy/Rosman, Moshe (Hg.): Rethinking European Jewish History, Oxford 2009, S. 133–148, hier S. 144. Vogt, Positionierungen, S. 12. Zur These des Zionismus als »Transnationalismus« vgl. Meybohm, Ivonne: Review of HT 2010: Nationalismus, Internationalismus und Transnationalismus im deutschsprachigen Zionismus, in: H-Soz-u-Kult, H-Net Reviews. October 2010. URL: [letzter Zugriff erfolgt am 07. 03. 2016]. Vgl. die pointierte Formulierung von Brenner: »Ein Zionismus oder viele Zionismen?« (Brenner, Michael: Geschichte des Zionismus, München 2002, Inhaltsverzeichnis). Vgl. dazu auch Vogt, Stefan: Neue Forschungen zum deutschsprachigen Zionismus. Einleitung in den Schwerpunkt, MEDAON – Magazin für jüdisches Leben in Forschung und Bildung 8 (2014), 14, S. 1–5, hier S. 3f. URL: [letzter Zugriff erfolgt am 05. 07. 2014]. Vgl. Annahme des Namens »Zionistische Vereinigung für Deutschland«, 31. Oktober 1897, in: Reinharz, Dokumente, S. 47f.; Statuten der »Zionistischen Vereinigung für Deutschland«, 31. Oktober 1897, in: Ebd., S. 48–51. Vgl. zur Geschichte des Zionismus in Deutschland die Standardwerke von Eloni, Yehuda: Zionismus in Deutschland. Von den Anfängen bis 1914 (Schriftenreihe des Instituts für Deutsche Geschichte, Universität Tel Aviv, Bd. 10), Gerlingen 1987; Lavsky, Hagit: Before Catastrophe. The Distinctive Path of German Zionism, Detroit 1996; Poppel, Stephen M.: Zionism in Germany, 1897–1933. The Shaping of a Jewish Identity, Philadelphia 1977.

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lismusvorstellungen verständigten. Die Mitgliederzahl der 1897 gegründeten ZVfD umfasste bei einem leicht sinkenden jüdischen Bevölkerungsanteil im Deutschen Kaiserreich von rund 1 % 1905 und rund 0,95 % 1910 (etwa 512.000 bis 600.000 Juden)24 um die Jahrhundertwende knapp 2.000 und wuchs im Jahr 1914 auf etwa 10.000 Mitglieder an, womit der zionistische Anteil an den Juden im Deutschen Kaiserreich etwa vier Prozent umfasste.25 Die Mehrheit des (liberalen) deutschen Judentums organisierte sich im Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (C.V.), der 1894 etwa 2.000 Mitglieder und zu Beginn des Ersten Weltkriegs bereits etwa 38.000 Mitglieder zählte.26 Auch innerhalb der zionistischen Bewegung bildete der deutsche Zionismus im Vergleich zu den zionistischen Sektionen im Russischen Reich und in den östlichen Teilen Österreich-Ungarns, in denen die meisten Juden ansässig waren, eine deutliche quantitative Minderheit. Dennoch nahm er eine prominente Stellung im Weltzionismus ein, indem deutsche Zionisten vor dem Ersten Weltkrieg die wichtigsten Führungspositionen in der ZO bekleideten und auch seine ideologische Ausrichtung bis in die 1920er Jahre hinein in hohem Maße prägten.27 Die räumliche und sachliche Beschaffenheit des Untersuchungsgegenstandes erscheint demnach auf den ersten Blick in gewisser Hinsicht problematisch:28 Aufgrund der Transnationalität der zionistischen Bewegung wurden die zionistischen Diskurse häufig auch »über Ländergrenzen hinweg geführt«29 und überschnitten sich besonders im deutschsprachigen Zionismus gelegentlich hinsichtlich der behandelten Themen. Dennoch wurde der Untersuchungsgegenstand in der vorliegenden Arbeit auf den deutschen Zionismus begrenzt, da sich in den betrachteten Diskursen deutscher Zionisten in erster Linie eine hybride Bezugnahme auf ihre unmittelbare soziokulturelle (und damit deut24 Vgl. die Zahlen bei Richarz, Monika: Die Entwicklung der jüdischen Bevölkerung, in: Lowenstein, Steven M. u. a. (Hg.): Deutsch-jüdische Geschichte in der Neuzeit, Bd. 3: Umstrittene Integration 1871–1918, München 1997, S. 28. 25 Der Anteil der deutschen Zionisten an der zionistischen Gesamtbewegung lag in den Jahren 1905 bis 1914 durchschnittlich zwischen 6 und 8 Prozent. Vgl. Poppel, Zionism, S. 176. 26 Vgl. Paucker, Arnold: Zur Problematik einer jüdischen Abwehrstrategie in der deutschen Gesellschaft, in: Juden im wilhelminischen Deutschland 1890–1914, hg. von Werner Mosse unter Mitwirkung von Arnold Paucker (Schriftenreihe wissenschaftlicher Abhandlungen des Leo Baeck Instituts, Bd. 33), 2., mit einem Vorwort ergänzte Aufl. London/Tübingen 1998, S. 479–548, hier S. 489; Weigel, Bjoern: Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens, in: Benz, Wolfgang (Hg.): Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart, Bd. 5: Organisationen, Institutionen, Bewegungen, Berlin/Boston 2012, S. 92–95, hier S. 92. Zum Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens vgl. auch Barkai, Avraham: »Wehr Dich!« Der Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (C.V.) 1893–1938, München 2002. 27 Vgl. Vogt, Positionierungen, S. 12f. 28 Vgl. zum Folgenden auch ebd., S. 22f. 29 Ebd., S. 22.

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sche) Lebensumwelt feststellen ließ und sich die ideologischen und semantischen Strukturen des deutschen Zionismus demnach erheblich von anderen europäischen Sektionen der ZO unterschieden. Auch veröffentlichten in der Jüdischen Rundschau in erster Linie Mitglieder deutscher zionistischer Ortsgruppen, wobei allerdings die nationale Herkunft eines Beiträgers nicht ausschlaggebend war, sondern die aus der Sicht der Redaktion subjektiv empfundene Bedeutung seines Beitrages für den zionistischen Nationalismus. Im Besonderen die Nationalitätenkonflikte in Österreich-Ungarn verliehen dem zionistischen Nationalismus dort eine spezifische Note.30 Vergleichende Untersuchungen zur Hybriditätspolitik des Zionismus innerhalb des europäischen Nationalismus stellen daher ein Desideratum dar.31 Mit Stefan Vogt wird die Geschichte des deutschen Zionismus in der vorliegenden Arbeit »als Teil der ideologischen und politischen Debatte um die Nation und den Nationalismus in Deutschland insgesamt«32 interpretiert. Die inneren Widersprüche des deutschen Zionismus können danach nur zum Teil mit innerjüdischen oder innerzionistischen Bedingungen erklärt werden, es müssen darüber hinaus gesellschaftsübergreifende Phänomene der Heimatländer der Zionisten in die Betrachtung miteinbezogen werden.33 Die im Folgenden analysierten Selbstfindungsversuche des Zionismus in Deutschland fielen, um nur den wichtigsten national-ideologischen Referenzrahmen zu nennen, in die wilhelminische Epoche des Deutschen Kaiserreichs, in der sich der Inhalt und die Funktion des ›deutschen Nationalismus‹ erheblich veränderten.34 Dieser 30 Zum zionistischen Nationalismus in Österreich-Ungarn vgl. Gaisbauer, Adolf: Davidstern und Doppeladler. Zionismus und jüdischer Nationalismus in Österreich 1882–1918, Wien 1988; Rozenblit, Marsha L.: Reconstructing a National Identity. The Jews of Habsburg Austria during World War I, Oxford 2001; dies.: Sustaining Austrian National Identity in Crisis. The Dilemma of the Jews in Habsburg Austria. 1914–1919, in: Judson, Pieter M./Dies. (Hg.): Constructing Nationalities in East Central Europe, New York 2005, S. 178–191. 31 Vgl. dazu beispielsweise auch die anregenden Bemerkungen bei Wendehorst, Stephan: Zionism in Britain and Germany. A Comparison, in: Brenner, Michael u. a. (Hg.): Two Nations. British and German Jews in Comparative Perspective, Tübingen 1999, S. 193–218. 32 Vogt, Positionierungen, S. 13. 33 Vgl. ebd., S. 16. 34 Zum Inhalts- und Funktionswandel des deutschen Nationalismus im Deutschen Kaiserreich vgl. die treffliche Synthese von Walkenhorst, Peter : Nation – Volk – Rasse. Radikaler Nationalismus im Deutschen Kaiserreich 1890–1914, Göttingen 2007, S. 38–48. Für einen Forschungsüberblick zum Thema vgl. Weichlein, Siegfried: Nationalismus und Nationalstaat in Deutschland und Europa. Ein Forschungsüberblick, in: NPL 51 (2006), S. 265–351. Aus der umfangreichen Literatur zum Deutschen Kaiserreich vgl. allgemein Berghahn, Volker : Das Kaiserreich 1871–1914. Industriegesellschaft, bürgerliche Kultur und autoritärer Staat (Gebhardt. Handbuch der deutschen Geschichte, Bd. 16), 10., völlig neu bearb. Aufl. Stuttgart 2003; Frie, Ewald: Das Deutsche Kaiserreich (Kontroversen um die Geschichte), Darmstadt 2004; Nipperdey, Thomas: Deutsche Geschichte 1866–1918. Arbeitswelt und Bürgergeist, München 1990; ders.: Deutsche Geschichte 1866–1918. Machtstaat vor der Demokratie, München 1992; Nolte, Paul: 1900. Das Ende des 19. und der Beginn des

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Inhalts- und Funktionswandel erfolgte vor dem Hintergrund eines umfassenden gesellschaftlichen Strukturwandels, wobei die Entstehung einer »Polykratie rivalisierender Machtzentren«35 in der nachbismarckschen Ära und die Fundamentalpolitisierung breiter Gesellschaftsschichten nur zwei Beispiele eines vielfältigen gesamtgesellschaftlichen Transformationsprozesses darstellten.36 Seit der sog. Reichsgründung 1871 stellte die Idee des modernen Nationalstaates den wichtigsten Referenzrahmen und Orientierungspunkt nationalistischen Denkens und Handels dar.37 Daneben existierten jedoch weiterhin tradierte ethnisch-kulturelle Nationsvorstellungen,38 welche die ›deutsche Nation‹ nicht

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20. Jahrhunderts in sozialgeschichtlicher Perspektive, in: GWU (1996), S. 281–300; Radkau, Joachim: Das Zeitalter der Nervosität. Deutschland zwischen Bismarck und Hitler, München/Wien 1998; Torp, Cornelius/Müller, Sven Oliver (Hg.): Das Deutsche Kaiserreich in der Kontroverse, Göttingen 2009; Wehler, Hans-Ulrich: Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3: Von der deutschen Doppelrevolution bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges. 1849–1914, München 1995. Wehler, Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3, S. 1000. Vgl. Wehler, Gesellschaftsgeschichte, Bd. 3, S. 849–854, 993–1006; Nolte, Ende, S. 289–293; Nipperdey, Machtstaat, S. 471–497; Walkenhorst, Nation, 68–79. Vgl. Walkenhorst, Nation, S. 39, 42–45; Breuilly, John: The National Idea in Modern German History, in: Ders. (Hg.): The State of Germany. The National Idea in the Making, Unmaking and Remaking of a Modern Nation-State, London 1992, S. 1–28; Eley, Geoff: Staatsbildung, Nationalismus und politische Kultur im Deutschland des 19. Jahrhunderts, in: Ders.: Wilhelminismus, Nationalismus, Faschismus. Zur historischen Kontinuität in Deutschland, Münster 1991, S. 33–57, hier S. 47; Francis, Emerich K.: Ethnos und Demos. Soziologische Beiträge zur Volkstheorie, Berlin 1965; Langewiesche, Dieter : »Nation« und »Nationalstaat«. Zum Funktionswandel politisch-gesellschaftlicher Leitideen in Deutschland seit dem 19. Jahrhundert, in: Busch, Friedrich W. (Hg.): Perspektiven gesellschaftlicher Entwicklung in beiden deutschen Staaten, Oldenburg 1988, S. 173–182; Schieder, Theodor : Nation und Nationalstaat in der deutschen Geschichte, in: Ders.: Nationalismus und Nationalstaat. Studien zum nationalen Problem im modernen Europa, hg. von Otto Dann und Hans-Ulrich Wehler, Göttingen 21992, S. 145–165. Zu den verschiedenen Formen von Nationalismusvorstellungen vgl. idealtypisch Lepsius, Rainer M.: Nation und Nationalismus in Deutschland, in: Ders.: Interessen, Ideen und Institutionen, Opladen 1990, S. 232–246, hier S. 235–240, 242–244 und Dann, Otto: Nationale Fragen in Deutschland: Kulturnation, Volksnation, Reichsnation, in: FranÅois, Etienne u. a. (Hg.): Nation und Emotion. Deutschland und Frankreich im Vergleich. 19. und 20. Jahrhundert, Göttingen 1995, S. 66–82. Lepsius und Dann unterscheiden darin idealtypisch drei Nationalismusvorstellungen: die »Reichs-« bzw. »Staatsbürgernation«, welche sich über individuelle Staatsbürgerrechte und demokratische Repräsentation legitimierte, die »Volksnation«, die sich auf die gemeinsame ethnische Abstammung ihrer Mitglieder berief und die »Kulturnation«, die sich über eine gemeinsame Geschichte, Sprache und kulturelle Traditionsbestände definierte. Nach Lepsius und Dann konnten sich diese Nationsvorstellungen auf vielfältige Weise überschneiden bzw. überlagern. Peter Walkenhorst bildet für den ›(radikalen) Nationalismus‹ im Deutschen Kaiserreich darüber hinaus als vierte Dimension die »Staatsnation«, welche den (deutschen) Nationalstaat zwar zum Fluchtpunkt nationalen Denkens erhob, sich jedoch gerade aufgrund der empfundenen Inkongruenz von ›Nation‹ und Nationalstaat auf die Konstruktion einer ›Volks- und Kulturnation‹ zurückbezog. Vgl. Walkenhorst, Nation, S. 29.

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als ›Staatsnation‹, sondern in erster Linie über eine gemeinsame Kultur, Sprache, Geschichte und Abstammung deuteten und etwa im romantischen Nationalismus seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert entwickelt worden waren.39 Diese traten nun zu dem neuen etatistischen Nationsverständnis in ein komplexes, konfliktreiches Spannungsverhältnis und bildeten somit den Beginn »eines neuen Nationsbildungsprozesses, der durch das Spannungsverhältnis zwischen den Vorstellungen der Reichsnation und der Volks- bzw. Kulturnation geprägt war«40. Den Anhängern der älteren kultur- und volksnationalistischen Argumentation erschien das neu gegründete Kaiserreich demnach als »unvollendeter Nationalstaat«, da aus ihrer Sicht aufgrund der Existenz deutschsprachiger Bevölkerungsgruppen außerhalb und ethnisch-kultureller Minderheiten, darunter auch die im Deutschen Reich lebenden Juden, innerhalb der Reichsgrenzen ethnisch-kulturell definierte ›Nation‹ und ›Staat‹ nicht zur Deckung gekommen waren.41 Symptom und Konsequenz dieser kognitiven Dissonanz war die Entstehung eines neuen ›radikalen‹, völkischen42 und imperialistischen 39 Vgl. Walkenhorst, Nation, S. 40f.; Echternkamp, Jörg: Der Aufstieg des deutschen Nationalismus (1770–1840), Frankfurt/New York 1996; Dann, Otto: Nation und Nationalismus in Deutschland 1770–1990, 3., erw. Aufl. München 1996, S. 26–72; Koselleck, Reinhart u. a.: Volk, Nation, Nationalismus, Masse, in: Ders. u. a. (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 7: Verw–Z, Stuttgart 1972, S. 141–431, hier S. 307–347; Langewiesche, Dieter : Nation, Nationalismus, Nationalstaat in Deutschland und Europa, München 2000, S. 35–54; 82–84; 103–125; Nipperdey, Thomas: Deutsche Geschichte 1800–1866. Bürgerwelt und starker Staat, München 1994, S. 300–313; Planert, Ute: Wann beginnt der »moderne« deutsche Nationalismus? Plädoyer für eine nationale Sattelzeit, in: Echternkamp, Jörg/Müller, Sven Oliver (Hg.): Die Politik der Nation. Deutscher Nationalismus in Krieg und Krisen (Beiträge zur Militärgeschichte; Bd. 56), München 2002, S. 25–60; Wehler, Hans-Ulrich: Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd, 1: Vom Feudalismus des Alten Reiches bis zur Defensiven Modernisierung der Reformära 1700–1815, München 2008, S. 506–530; ders.: Deutsche Gesellschaftsgeschichte, Bd. 2: Von der Reformära bis zur industriellen und politischen »Deutschen Doppelrevolution« 1815–1845/49, München 2008, S. 394–412; ders.: Der deutsche Nationalismus bis 1871, in: Ders. (Hg.): Scheidewege der deutschen Geschichte. Von der Reformation bis zur Wende 1517–1989 (Beck’sche Reihe; 1123), München 1995, S. 116–129. 40 Vgl. Walkenhorst, Nation, S. 47. Vgl. dazu auch Goltermann, Svenja: Körper der Nation. Habitusformierung und die Politik des Turnens. 1860–1890, Göttingen 1998, S. 214–254; Lepsius, Nation, S. 244. 41 Vgl. Walkenhorst, Nation, S. 45f. 42 In Anlehnung an Stefan Vogt soll dem Begriff ›völkisch‹ im Folgenden ein weites Begriffsverständnis zugrunde gelegt werden, das es ermöglichen soll, die Vorstellungen von zionistischem Nationalismus in Deutschland auch auf ihre Nähe zu völkischen Deutungsmustern zu untersuchen. Im Gegensatz zu einem engen Verständnis von ›völkischer Bewegung‹ wie es etwa Uwe Puschner postuliert, beschränkt sich ein weiteres Begriffsbild nicht ausschließlich auf die so bezeichnete Sammel- und Suchbewegung oder ihre Ideologie, sondern umfasst jede Haltung, die das ›Volk‹ zum Schlüsselbegriff ihres nationalistischen Weltbildes macht und als vor- und überstaatliche, geschlossene und homogene Gemeinschaft sowie naturhafte, authentische Form menschlichen Zusammenlebens begreift. Im

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Nationalismus, der allerdings mehrheitlich die Erlangung seiner Ziele auf der Basis des bestehenden Nationalstaates erreichen wollte.43 Nach Peter Walkenhorst lässt sich die Genese des ›radikalen Nationalismus‹ im Deutschen Kaiserreich auf zwei ideologische Traditionsbestände zurückverfolgen:44 Zum einen auf die Ausprägung einer spezifisch machtstaatlich und expansiv orientierten Denkweise und Erwartungshaltung, welche die Legitimation der ›deutschen Nation‹ im Kontext des Vordringens des europäischen Imperialismus in erheblichen Maße von der tatsächlichen Durchsetzung nationalstaatlicher Interessen und dem Erringen eines deutschen Welt- und Kolonialreiches abhängig machte und für welche die selektive Rezeption der Vertreter der kleindeutschpreußischen Geschichtsideologie, darunter Heinrich von Treitschke, charakteristisch war.45 Zum anderen auf eine konservative Kulturkritik, wie sie seit der Reichsgründung im Bildungsbürgertum wachsende Verbreitung fand und sich zum Beispiel in den »Deutschen Schriften« Paul de Lagardes widerspiegelte. Diese zweite Linie verband ihre Kritik am bismarckschen Machtstaat mit einer kulturnationalistischen Argumentation, welche das ›Volk‹ als überstaatliche, metaphysische Gemeinschaft in den Mittelpunkt rückte und den religiösen Auserwähltheitsglauben auf die so definierte nationale ›Volksgemeinschaft‹ bezog.46 Nur einen, wenn auch zentralen, Bestandteil radikalnationalistischer Vorstellungen bildeten differenzkategorische, antisemitische Deutungsmuster, deren zunehmende Verbreitung vor dem Ersten Weltkrieg Shulamit Volkov mit der Formel des »kulturellen Codes«47 zu erklären versuchte und die der in der

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Gegensatz zur Bezeichnung des ›ethnischen Nationalismus‹ berücksichtigt dieses daher nicht nur biologistisch-rassistische Implikationen, sondern auch Vorstellungen, welche das ›Volk‹ als metaphysische, kulturell-voluntaristische Einheit auffassen. Vgl. hierzu insbesondere Vogt, Positionierungen, S. 7f. Vgl. auch Puschner, Uwe: Völkisch. Plädoyer für einen »engen« Begriff, in: Ciupke, Paul u. a. (Hg.), Erziehung zum deutschen Menschen. Völkische und national konservative Erwachsenenbildung in der Weimarer Republik, Essen 2007, S. 53–66; ders.: Die völkischen Bewegungen im wilhelminischen Kaiserreich. Sprache – Rasse – Religion, Darmstadt 2001; ders. u. a. (Hg.): Handbuch zur »Völkischen Bewegung« 1871–1918, München 1999. Ein weites Verständnisses von »völkisch« findet sich neben Stefan Vogt auch bei Mosse, George L.: The Crisis of German Ideology, New York 1964; ders.: The Influence of the Volkish Idea on German Jewry, in: Ders.: Germans and Jews. The Right, the Left and the Search for a »Third Force« in Pre-Nazi Germany, London 1971, S. 77–115; Hoffmann, Lutz: Das deutsche Volk und seine Feinde. Die völkische Droge – Aktualität und Entstehungsgeschichte, Köln 1994, S. 65–73. Vgl. Walkenhorst, Nation, S. 48. Vgl. ebd., S. 48–59. Vgl. ebd., S. 47. Vgl. ebd., S. 55–59. Vgl. Volkov, Shulamit: Antisemitismus als kultureller Code, in: Dies.: Jüdisches Leben und Antisemitismus im 19. und 20. Jahrhundert, München 1990, S. 13–36; dies.: Antisemitismus und Antifeminismus. Soziale Norm oder kultureller Code, in: Dies.: Das jüdische Projekt der Moderne. Zehn Essays, München 2001, S. 62–81.

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Reichsverfassung von 1871 verankerten rechtlichen Gleichstellung (Emanzipation) der Juden diametral entgegenliefen.48 Im Kontext der nationalistischen Homogenitätsvorstellungen wurden die Juden als »Nation in der Nation« und als »Fremdkörper im Inneren« der gedachten ethnisch und kulturell homogenen nationalen Gemeinschaft betrachtet. Die Stigmatisierung und Marginalisierung der Juden als »innerem Feind« beruhte nicht zuletzt vor allem auf der Ablehnung des mit der erfundenen eindeutigen ›nationalen Ordnung‹ nicht zu vereinbarenden hybriden ›Dazwischenseins‹ der deutsch-zionistischen Selbstverortungen.49 Diese Widersprüchlichkeit zwischen jüdischer Emanzipation und Antisemitismus wurde nach Volkov in den westeuropäischen jüdischen Gesellschaften in zunehmendem Maße selbstreflexiv und führte ihrerseits im westeuropäischen Judentum zu einer »Dynamik der Dissimilation«, die mit unterschiedlichen Optionen jüdischer Existenz, welche eine partikularistische Tendenz besaßen, einhergehen konnte.50 Eine weitere Problematik birgt die Bezeichnung ›deutscher Zionismus‹, da sie nicht darüber hinwegtäuschen soll, dass auch innerhalb des deutschen Landesverbandes unterschiedliche nationalideologische Strömungen und Gruppen existierten, die gerade während der Konstituierungsphase der ZO vor dem Ersten Weltkrieg um Deutungshoheit über den Zionismus rangen.51 Dabei stellte die bereits angesprochene Debatte um die Bedeutungsverschiebung des deutschen Zionismus vor dem Ersten Weltkrieg nur den vorläufigen Höhepunkt einer Reihe von kontroversen Auseinandersetzungen dar, welche den nationalen Diskurs in der Jüdischen Rundschau seit ihrer Gründung im Jahr 1902 geprägt hatten und sich um die Frage, welche Politik52 mit den zionistischen Vorstel48 Vgl. Alter, Peter u. a. (Hg.): Die Konstruktion der Nation gegen die Juden, München 1999; Feldman, David: Was Modernity Good for the Jews?, in: Cheyette, Bryan/Marcus, Laura (Hg.): Modernity, Culture and ›the Jew‹, Stanford 1998, S. 171–187; Volkov, Antisemitismus; dies., Norm; Walkenhorst, Nation, S. 281–303. 49 Vgl. Walkenhorst, Nation, S. 283; Vogt, Positionierungen, S. 15. 50 Vgl. Volkov, Shulamit: Die Dynamik der Dissimilation. Deutsche Juden und die ostjüdischen Einwanderer, in: Dies. (Hg.): Antisemitismus als kultureller Code. Zehn Essays, München 2000, S. 166–180, hier S. 167f. 51 Für einen gelungenen Überblick über die Frühgeschichte der Zionistischen Organisation vor dem Ersten Weltkrieg vgl. Meybohm, Ivonne: David Wolffsohn. Aufsteiger, Grenzgänger, Mediator. Eine biographische Annäherung an die Geschichte der frühen Zionistischen Organisation (1897–1914), Göttingen 2013. Für einen Überblick über die Gesamtgeschichte des Zionismus vgl. Engel, David: Zionism. A Short History of a Big Idea, Harlow 2009; Halpern, Ben/Reinharz, Jehuda: Zionism and the Creation of a New Society, New York 1998; Laqueur, Walter Z.: A History of Zionism, New York 1972; Vital, Origins; ders.: Zionism. The Formative Years, Oxford 1982; ders., Zionism. The Crucial Phase, Oxford 1987. 52 In Anlehnung an Ivonne Meybohm soll in der vorliegenden Arbeit der Begriff ›Politik‹ in einem weiteren Verständnis verwendet werden, das es ermöglicht, auch nichtstaatliche historische Akteure wie die Zionistische Organisation zu charakterisieren, die in ihren Organisations- und Aktionsformen staatliche Strukturen nachahmten. Vgl. Meybohm,

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lungen von ›Nation‹ und ›Nationalismus‹ überhaupt verknüpft werden sollte, drehten. Das »Baseler Programm«, das als »gemeinsames Arbeitsprogramm«53 auf dem Ersten Zionistenkongress in Basel 1897 beschlossen worden war und bis zur Gründung des Staates Israel 1948 bzw. der Unabhängigkeitserklärung die offizielle Leitlinie der ZO bildete, stellte selbst einen Kompromiss zwischen der ›politischen‹, ›praktischen‹ und ›kulturellen‹ Richtung im Zionismus dar,54 was sich auch im Text in den verschiedenen Abschnitten widerspiegelte.55 Die ›politischen Zionisten‹, zu deren bekanntesten Vertretern Theodor Herzl56 und Max Nordau57 gezählt werden, versuchten in erster Linie über diplomatische Bemühungen zu Konzessionen der europäischen Mächte und des Osmanischen Reiches für eine jüdische Besiedlung Palästinas zu gelangen (sog. Charter-Politik). Die ›praktischen Zionisten‹ wie Otto Warburg hingegen, zu deren Vorläufern die Chibbat Zion-Bewegung58 zählte, standen den diplomatischen Versuchen kri-

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Wolffsohn, S. 17. Vgl. dazu auch Frevert, Ute: Neue Politikgeschichte, in: Eibach, Joachim/ Lottes, Günther (Hg.): Kompass der Geschichtswissenschaft, Göttingen 2002, S. 152–164, hier S. 156–158. Meybohm, Wolffsohn, S. 128. Vgl. Shimoni, Ideology. Der Text des »Baseler Programms«, der jeder Nummer der Jüdischen Rundschau in den Jahren nach ihrer Gründung vorangestellt wurde, lautete: »Der Zionismus erstrebt für das jüdische Volk die Schaffung einer öffentlich-rechtlich gesicherten Heimstätte in Palästina. Zur Erreichung dieses Zieles nimmt der Kongress folgende Mittel in Aussicht: 1. die zweckdienliche Förderung der Besiedelung Palästinas mit jüdischen Ackerbauern, Handwerkern und Gewerbetreibenden; 2. die Gliederung und Zusammenfassung der gesamten Judenheit durch geeignete örtliche und allgemeine Veranstaltungen nach den Landesgesetzen; 3. die Stärkung des jüdischen Selbstgefühls und Volksbewusstseins; 4. vorbereitende Schritte zur Erlangung der Regierungszustimmungen, die nötig sind, um das Ziel des Zionismus zu erreichen.« Vgl. Herzl, Theodor : Der Judenstaat. Versuch einer modernen Lösung der Judenfrage, Leipzig 1896. Zur Biographie Herzls vgl. u. a. Avineri, Shlomo: Herzl. Theodor Herzl and the Foundation of the Jewish State, London 2013; Bein, Alex: Theodor Herzl. Biographie, Frankfurt a. M. 1983. Vgl. Schulte, Christoph: Psychopathologie des Fin de SiHcle. Der Kulturkritiker, Arzt und Zionist Max Nordau, Frankfurt a. M. 1997; Stanislawski, Michael: Zionism and the Fin de siHcle: Cosmopolitanism and Nationalism from Nordau to Jabotinsky, Berkeley 2001. Die Bewegung der unter dem hebräischen Namen bezeichneten Chibbat Zion (»Zionsfreunde«) war im Russischen Reich und in Rumänien entstanden und verfügte seit den 1880er Jahren über ein dichtes Netzwerk von Anhängern in Ost- und Westeuropa, den sog. Chowewe Zion. Im Gegensatz zum ›politischen Zionismus‹ unterstützte sie die jüdische Kolonisation Palästinas und landwirtschaftliche Kooperationen mit finanzieller und organisatorischer Hilfe. Im Mittelpunkt der Chibbat Zion standen somit ›praktisch-zionistische‹ Ansätze. In Westeuropa besaß der Chibbat Zion in erster Linie eine philanthropische Ausrichtung, indem unter maßgeblicher finanzieller Unterstützung von etwa Baron Edmond de Rothschild landwirtschaftliche Siedlungen in Palästina errichtet wurden. Auch wenn sich viele Chowewe Zion der Zionistischen Organisation anschlossen, gestaltete sich ihr Verhältnis zu Herzls politischen Konzeptionen mitunter schwierig und viele ›praktische Zio-

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tisch gegenüber und verfolgten die sofortige Ansiedlung von Juden in Palästina, welche aus ihrer Sicht unverrückbare Tatsachen schaffen sollte. Demgegenüber standen die ›Kulturzionisten‹, deren herausragende Vertreter Achad Ha’am für den hebräischen Kulturzionismus und Martin Buber für den deutschen Kulturzionismus Zionismus als kulturelle Erneuerungsbewegung interpretierten. Die genannten Positionen überlagerten sich im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts mit dem aufkommenden ›Ost-West-Konflikt‹ in der ZO, wobei in der historischen Forschung die politischen Zionisten mehrheitlich dem ›westeuropäischen Zionismus‹, die praktischen Zionisten und Kulturzionisten hingegen überwiegend dem ›osteuropäischen Zionismus‹ zugerechnet wurden.59 Gideon Shimoni hat in seiner wegweisenden Untersuchung über die Ideologie des Zionismus den systematischen Unterschied zwischen den, für die vorliegende Untersuchung maßgeblichen, Nationalismuskonzeptionen mit den Begriffen »funktionalistisch« (für den politischen Zionismus) und »organisch« (für den Kulturzionismus) beschrieben, obwohl sich beide Formen nicht immer klar trennen ließen. Die funktionalistische Linie, so Shimoni, »emphasized the external dimension of the Jewish situation – the ›problem of the Jews‹, their physical distress and psychological malaise brought on by their alien status everywhere«60. Die organische Linie hingegen »stressed the internal dimension of the Jewish situation – the ›problem of Judaism‹, that is, the saving and regeneration of Jewish national-cultural individuality«61. Dies könne jedoch nicht bedeuten, dass der Kulturzionismus nicht auch politisch war und der politische Zionismus nicht auch im Sinne eines »civic nationalism« zu verstehen sei.62 Stefan Vogt ergänzt diese Feststellungen noch um die Bemerkung, dass sich diese Unterscheidung zwischen einer Betonung der ›äußeren‹ und ›inneren Form‹ der ›Nation‹ auffallend mit der von John Hutchinson entworfenen Kategorienbildung bezüglich des systematischen Unterschieds zwischen einem politischen und einem kulturellen Nationalismus decke.63 Nach Vogt könne im

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60 61 62 63

nisten‹ standen in Opposition zu ihm. Vgl. Bilz, Marlies: Hovevei Zion in der Ära Leo Pinsker, Hamburg 2007; Vital, Origins, S. 65–229; Meybohm, Wolffsohn, S. 43. Vgl. Penslar, Derek J.: Zionism and Technocracy. The Engineering of Jewish Settlement in Palestine, 1870–1918, Bloomington 1991, S. 163 und Meybohm, Wolffsohn, S. 72, Fn. 115, nennen als Gegenbeispiele Leo Pinsker und Leo Motzkin, welche als Osteuropäer dem ›politischen Zionismus‹ nahe standen sowie Willy Bambus und Davis Trietsch, die als deutsche Zionisten auch einen ›praktischen Zionismus‹ propagierten. Shimoni, Ideology, S. 86. Vgl. dazu auch ausführlich Vogt, Positionierungen, S. 44f. Shimoni, Ideology, S. 86. Vgl. Charbit, Denis: Herzl’s Nationalism. Is it Ethnic oder Civic?, in: Gelber, Mark H./Liska, Vivian (Hg.): From Europe to Zion (Conditio Judaica), Tübingen 2007, S. 23–40. Vgl. Vogt, Positionierungen, S. 44f.; Hutchinson, John: Re-Interpreting Cultural Nationalism, in: Australian Journal of Politics and History 45 (1999), S. 392–407; ders.: The Dynamics of Cultural Nationalism. The Gaelic Revival and the Creation of the Irish Nation State,

›Deutscher Zionismus‹ vor dem Ersten Weltkrieg – der Untersuchungsgegenstand

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Besonderen Hutchinsons Definition eines kulturellen Nationalismus auf die Konzeption des deutschsprachigen Kulturzionismus übertragen werden, der, von einer elitären, künstlerischen Avantgarde getragen, die ›Nation‹ als »a quasinatural institution« und als »a source of unique charisma or creative energy«64 interpretiert hätte. Damit hätten diese »moral innovators«65 das Ziel verfolgt, »to revive what they regard as distinctive and primordial collective personality«66. In praxi existierten die skizzierten Positionen also nicht in Reinform, sondern stellten Idealtypen im Weberianischen Sinne dar,67 welche die deutschen Zionisten zur Polarisierung in einem »Autoritätskonflikt um die Deutungshoheit über den Zionismus«68 instrumentalisierten.69 Demnach werden die Grenzziehungen zwischen politischen, praktischen und kulturellen Zionisten in der vorliegenden Arbeit, ohne die tatsächlichen Unterschiede zwischen den ideologischen Strömungen in der zionistischen Bewegung relativieren zu wollen, in Anlehnung an Derek Penslar und Ivonne Meybohm zuvorderst als diskursive Modi verstanden, mithilfe derer Zugehörigkeiten und Abgrenzungen vorgenommen werden konnten und »Selbstverortungen im ›imaginären zionistischen Raum‹«70 erfolgten. Die Forderung nach einem Ineinandergreifen der verschiedenen Richtungen spiegelte sich nicht zuletzt im Konzept des ›synthetischen Zionismus‹ wider, das von Daniel Pasmanik auf dem Achten Zionistenkongress in Den Haag geprägt und von Chaim Weizmann popularisiert wurde.71 Nach Michael Brenner setzte der Umschwung vom politischen Zionismus zum praktischen Zionismus in der Tendenz mit der Präsidentschaft David Wolff-

64 65 66 67 68 69 70 71

London 1987. Vgl. ähnlich auch Smith, Anthony D.: The Ethnic Origins of Nations, Oxford 1986, der die Begriffe »ethnic« und »cultural« weitgehend deckungsgleich verwendet. Hutchinson, Nationalism, S. 399; Vogt, Positionierungen, S. 45. Hutchinson, Nationalism, S. 402; Vogt, Positionierungen, S. 45. Hutchinson, Nationalism, S. 394; Vogt, Positionierungen, S. 45. Vgl. Weber, Max: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 31968, S. 190–214 (Kap. II.: »Die ›Objektivität‹ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis«). Meybohm, Wolffsohn, S. 25. Dies brachte Berthold Feiwel pointiert zum Ausdruck. Vgl. Feiwel, Berthold: Stroemungen im Zionismus, in: Ost und West 2:10 (Oktober 1902), Sp. 687–694. Meybohm, Wolffsohn, S. 73f. Vgl. Stenographisches Protokoll der Verhandlungen des VIII. Zionisten-Kongresses im Haag vom 14. bis inklusive 21. August 1907, Köln 1907, S. 91–94. In seiner Rede propagierte Daniel Pasmanik, eine »Synthetisierung der verschiedenen Handlungsweisen« (ebd., S. 91) vorzunehmen. Dieser Vorschlag wurde vom darauf folgenden Redner, Dr. J. Niemirower aus Jassy, aufgegriffen, der vom »synthetischen Zionismus« sprach (vgl. ebd., S. 94). Chaim Weizmann machte sich in seinen Memoiren und seiner Rede auf dem Elften Zionistenkongress 1913 in Wien schließlich fälschlicherweise zum geistigen Urheber des neuen politischen Konzeptes. Vgl. Stenographisches Protokoll der Verhandlungen des XI. ZionistenKongresses in Wien vom 2. bis 9. September 1913, Berlin u. a. 1914, S. 155; Weizmann, Chaim: Memoiren. Das Werden des Staates Israel, Zürich 1953, S. 187; Meybohm, Wolffsohn, S. 75.

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sohns (1905–1911) ein,72 während die Zionismusforschung traditionell die Dominanz des praktischen Zionismus erst mit der Präsidentschaft Otto Warburgs (1911–1921) beginnen ließ.73 Penslar und Meybohm fordern hingegen, die strikte Trennung überhaupt aufzugeben, da die nationalideologischen Positionen in der Praxis vielmehr in einem komplexen Wechselverhältnis zueinander standen und sich oftmals überlagerten oder vermischten.74 Entgegen der aktuellen Trends der Zionismusforschung, sich hauptsächlich mit dem deutschen Zionismus im Ersten Weltkrieg und in den 1920er Jahren zu befassen,75 sollen hier die Nationalismusvorstellungen der frühen Protagonisten der ZVfD vor dem Ersten Weltkrieg rekonstruiert werden. Diese ›Grundlagenforschung‹ soll auch ermöglichen und dazu anregen, nach Kontinuitäten und Brüchen im Nationsverständnis der deutschen Zionisten zu fragen. Einen zusätzlichen Anreiz bot die Bedeutungsverschiebung nationaler Deutungsmuster im zionistischen Nationalismus vor dem Ersten Weltkrieg, die bislang noch nicht Gegenstand einer eingehenden diskursanalytischen Untersuchung geworden ist.

3.

Forschungsstand

Die historische Forschung zum hybriden Gehalt des nationalen Diskurses in der Jüdischen Rundschau ist stark fragmentiert und muss insgesamt im Kontext der Forschung zum deutschen Zionismus betrachtet werden. Die vorliegende Studie, welche in erster Linie eine ideengeschichtliche Untersuchung des deutschen Zionismus vor dem Ersten Weltkrieg im Spiegel der zionistischen Wochenzeitung Jüdische Rundschau leisten möchte, knüpft darin an aktuelle Entwicklungslinien der Zionismusforschung seit den 1990er Jahren an, die im Folgenden vor der Folie der aus dieser Sicht traditionell konzipierten Arbeiten der 1970er und 1980er Jahre vorgestellt werden.76 Die älteren Gesamtdarstellungen zum deutschen Zionismus beschränkten sich meist auf die personelle wie organisationsgeschichtliche Betrachtung des Themas und die rudimentäre Darstellung einzelner Debatten, welche überwie72 73 74 75

Vgl. Brenner, Zionismus, S. 57. Vgl. etwa Eloni, Zionismus, S. 260. Vgl. Meybohm, Wolffsohn, S. 25f.; 72–75, bes. S. 75; Penslar, Zionism, S. 41–59. Vgl. u. a. Panter, Sarah: Jüdische Erfahrungen und Loyalitätskonflikte im Ersten Weltkrieg (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Bd. 235), Göttingen 2014; dies.: Zwischen Selbstreflexion und Projektion. Die Bilder von Ostjuden in zionistischen und orthodoxen deutsch-jüdischen Periodika während des Ersten Weltkriegs, in: Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung 59:1 (2010), S. 65–92. 76 Zur Entwicklung der Zionismusforschung vgl. auch den Forschungsüberblick von Stefan Vogt in der Online-Zeitschrift »Medaon«. Vgl. Vogt, Forschungen.

Forschungsstand

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gend aus einer innerzionistischen Perspektive gedeutet wurden.77 Darüber hinaus war die Zionismusforschung bis in die 1980er Jahre hinein noch stark von den innerjüdischen Auseinandersetzungen zwischen einer ›zionistischen‹ und einer ›liberalen‹ Strömung geprägt, welche die Konflikte zwischen dem Zionismus und dem Centralverein auf wissenschaftlicher Ebene fortführten.78 Die für die vorliegende Arbeit wichtigste, in diesem Kontext aufgeworfene Hypothese, die trotz aller methodischen Überholtheit von der aktuellen Zionismusforschung nahezu einstimmig und kritiklos geteilt wird, ist die generationelle These, wie sie Jehuda Reinharz in seinen Untersuchungen bereits in den 1970er Jahren entwickelt hat.79 In seinem Aufsatz »Three Generations of German Zionism« (1978) erklärte Reinharz das Aufkommen und die Herausbildung veränderter Nationalismusvorstellungen im deutschen Zionismus vor dem Ersten Weltkrieg mithilfe eines Generationenmodells, ohne näher auf die theoretischen und methodischen Schwierigkeiten einzugehen, die mit einem solchen Ansatz einhergehen.80 »Generation« definierte Reinharz als »a group of individuals whose Weltanschauung was collectively shaped by similar experiences«81. Nach dieser Definition teilte er den deutschen Zionismus von der Gründung der Zionistischen Vereinigung für Deutschland (1897) bis zum Beginn der Zeit des Nationalsozialismus (1933) in drei Zeiträume ein und wies diesen jeweils eine von »drei Generationen« zu: die Jahre 1897 bis 1910 (bzw. 1912)82 einer »ersten Generation«, die Jahre 1910 (bzw. 1912) bis 1918 einer »zweiten Generation« und die Jahre 1918 bis 1933 einer »dritten Generation« deutscher Zionisten,83 womit im Rahmen der vorliegenden Arbeit vor allem die Erläuterungen von Reinharz zu den ersten beiden Erscheinungsformen von 77 Einen älteren Forschungsstand repräsentieren die Werke von Eloni, Zionismus und Poppel, Zionism. Vgl. auch Lichtheim, Richard: Die Geschichte des deutschen Zionismus, Jerusalem 1954, das jedoch aufgrund des biographischen Hintergrundes des Autors und seiner Rolle in der zionistischen Bewegung in Deutschland nur eingeschränkt als wissenschaftliche Literatur eingestuft werden kann. Weitere synthetische Darstellungen zur zionistischen Bewegung in Deutschland und zu Teilepochen ihrer Geschichte finden sich u. a. in Reinharz, Jehuda: Fatherland or Promised Land. The Dilemma of the German Jew, 1893–1914, Ann Arbor 1975. Die Gesamtdarstellung von Lavsky, Catastrophe, gilt bis heute als wichtigstes Standardwerk zum Thema, verfolgt jedoch methodisch einen eher konservativen Ansatz. Vgl. dazu auch Vogt, Forschungen, S. 1, Fn. 1. 78 Vgl. Schorsch, Ismar: Jewish Reactions to German Anti-Semitism, 1870–1914, New York 1972; Reinharz, Fatherland; Lamberti, Marjorie: Jewish Activism in Imperial Germany. The Struggle for Civil Equality, New Haven 1978. 79 Vgl. Reinharz, Jehuda: Three Generations of German Zionism, in: The Jerusalem Quarterly 9 (1978), S. 95–110; außerdem ders.: Ideology and Structure in German Zionism, 1882–1933, in: Jewish Social Studies 42 (1980), S. 119–146. 80 Vgl. Reinharz, Generations. 81 Ebd., S. 95. 82 Vgl. ebd., S. 99. 83 Vgl. ebd., S. 95.

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zionistischem Nationalismus in Deutschland von Bedeutung sind.84 Die ersten beiden Zeiträume repräsentierten nach Reinharz idealtypisch die drei großen ideologischen Strömungen in der zionistischen Bewegung, einerseits den politischen Zionismus und andererseits den praktischen Zionismus und den Kulturzionismus: So hätte im Besonderen der politische Zionismus Herzlianischer Prägung und die Charter-Idee eine ›erste Generation‹ deutscher Zionisten maßgeblich geprägt.85 Daneben hätten sich die Angehörigen dieser »ersten Generation« in großer Ähnlichkeit zu den Mitgliedern des Centralvereins primär als »deutsche Staatsbürger« verstanden und sich stetig darum bemüht, ihre Loyalität gegenüber dem deutschen Staat unter Beweis zu stellen.86 Demnach hätten sie zwar grundsätzlich die Schaffung einer öffentlich-rechtlich gesicherten Heimstätte in Palästina für das ›jüdische Volk‹ propagiert, seien jedoch »immune to cultural and practical Zionism«87 gewesen und nur selten selbst nach Palästina emigriert.88 Im Gegensatz zu den Angehörigen dieses »[p]hilanthropic Zionism«89 bzw. »philanthropic-political Zionism«90 charakterisierte Reinharz die nationale Ideologie der jüngeren Zionisten in Anlehnung an Kurt Blumenfeld mit dem Begriff der »›Distanz‹-Generation«, da sie Deutschland nur als »stopover on the way to Zion«91 betrachteten und es ihnen in erster Linie um die Herstellung einer kritischen Distanz zur sie umgebenden soziokulturellen (in diesem Fall deutschen) Lebensumwelt, sozusagen um nationale Separation,92 gegangen sei.93 Dies sollte vor der langfristig anvisierten Übersiedlung nach Palästina bereits in der Diaspora mit der Hinwendung zu jüdischer Nationalität, vor allem über die Annahme jüdischer Kultur, beginnen.94 Vor diesem Hintergrund formulierte Kurt Blumenfeld sein Konzept des »postassimilatorischen 84 Die veränderten Rahmenbedingungen zionistischen Denkens und Handelns nach dem Ersten Weltkrieg, die sich bereits mit der Begegnung mit den osteuropäischen Juden und der Balfour-Deklaration ankündigten, hätten zur Entstehung der »dritten Generation« des deutschen Zionismus geführt, die sich mit der Emigration nach Palästina und den politischen Begebenheiten in Palästina ganz konkret auseinandersetzen musste. Reinharz glaubte in ihrer Nähe zur palästinensischen Arbeiterbewegung, ihren Umsetzungsversuchen des praktischen Zionismus, ihrem persönlichen Engagement für eine Wiedergeburt des jüdischen Lebens, die sich auf vielfältige Weise im sozialen und kulturellen Leben in Palästina zeigten, und ihrem Versuch einer Synthese aus Zionismus und Sozialismus ihre wichtigsten Merkmale zu erkennen. Vgl. ebd., S. 105. 85 Vgl. ebd., S. 96. 86 Vgl. ebd., S. 96f. 87 Ebd., S. 97. 88 Vgl. ebd., S. 98. 89 Ebd., S. 96. 90 Ebd., S. 106. 91 Ebd., S. 100. 92 Vgl. Poppel, Zionism, S. 94–96. 93 Vgl. Reinharz, Generations, S. 101f. 94 Vgl. ebd.

Forschungsstand

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Zionismus«95 : Eine harmonische Synthese aus »Deutschtum« und »Judentum« könne es nicht geben; der westeuropäische Jude könne nach der Assimilation nur über den Zionismus wieder zum Judentum und damit zu sich selbst finden.96 Die älteren Mitglieder der ZVfD diffamierten diese jüngeren Zionisten als »assimilationists of the worst kind«97 und deren Vorstellungen von zionistischem Nationalismus spätestens seit dem Delegiertentag in Jena 1929 als »Galuthbejahung«98. Den Zionismus dieser »zweiten Generation« prägte, so Reinharz, vor allem das Konzept des praktischen Zionismus bzw. der »Gegenwartsarbeit«.99 Paradigmatischer Ausdruck dieser Variante von zionistischem Nationalismus seien die Posener Resolution auf dem 13. Delegiertentag der ZVfD im Jahr 1912 und die Beschlüsse des 14. Delegiertentags in Leipzig im Jahr 1914 gewesen. Dennoch zeigten eine Reihe von Statistiken, dass nur wenige Angehörige der »zweiten Generation« im deutschen Zionismus auch selbst nach Palästina übersiedelten.100 Reinharz folgerte daraus abschließend, dass sich die deutschen Zionisten beider Generationen in Anlehnung an die Centralvereinler am besten als »deutsche Staatsbürger jüdischer Nationalität«101 charakterisieren ließen und warf die Frage auf, was ihr zionistischer Nationalismus in Deutschland überhaupt bedeutet hätte.102 Aus seiner Sicht stellte der Zionismus in erster Linie eine Antwort auf die »persönliche Judenfrage«103 dar, welche sich zwischen den Polen »Deutschtum« und »Judentum« bewegt hätte.104 Die unterschiedlichen Nationalismusvorstellungen der historischen Akteure erklärte Reinharz mithilfe der unterschiedlichen Sozialisationsbedingungen, welche die entsprechenden Generationen von Zionisten in Deutschland geteilt hätten. So sei die »zweite Generation« in ihrer Schul- und Studienzeit mit der wachsenden Verbreitung antisemitischer Deutungsmuster in immer breiteren Bevölkerungsschichten im Deutschen Kaiserreich konfrontiert worden, wonach diese Zionisten die tat95 Blumenfeld, Judenfrage, S. 43. Vgl. auch Reinharz, Generations, S. 101f. 96 Vgl. Blumenfeld, Kurt: Ursprünge und Art einer zionistischen Bewegung, in: Bulletin des Leo Baeck Instituts 4 (1958), S. 129–140, hier S. 131. 97 Reinharz, Generations, S. 100. 98 Ebd., S. 104. Vgl. auch Blumenfeld, Ursprünge. Blumenfeld unterscheidet hier wie die Delegierten in Jena 1929 zwischen »Galuth-Verneinung« und »Galuth-Bejahung«. »Galuth« ist das hebräische Wort für »Verbannung« bzw. »Exil«, das im Gegensatz zu »Diaspora« pejorative Konnotationen erzeugen möchte und das jüdische Leben in den Herkunftsländern der Zionisten nur als Durchgangsstadium betrachtet. 99 Vgl. dazu Brenner, Zionismus, S. 95; Buber, Martin: Gegenwartsarbeit, in: Die Welt, Nr. 6 (08. 02. 1901), S. 4f. 100 Vgl. Reinharz, Generations, S. 107; Lichtheim, Geschichte, S. 234f. 101 Vgl. Reinharz, Generations, S. 107. 102 Vgl. ebd., S. 107f. 103 Ebd., S. 106. 104 Vgl. ebd., S. 108–110. Vgl. auch Blumenfeld, Ursprünge, S. 129: »Was war uns die Judenfrage? Sie gab uns Antwort auf unser Persönlichkeitsproblem.«

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sächliche Erlangung gesellschaftlicher Gleichberechtigung zunehmend als illusionär empfunden hätten.105 Fast beiläufig bemerkt Reinharz abschließend, dass die nationale Ideologie der »zweiten Generation« entscheidend von der »cultural crisis of the Kaiserreich« beeinflusst worden sei.106 Seit den 1990er Jahren entstanden erstmals eine Reihe von Untersuchungen, welche sich, wie etwa diejenigen von Michael Berkowitz, mit einzelnen nationalen Deutungsmustern im Hinblick auf den ›westlichen Zionismus‹ insgesamt beschäftigten, wobei sie vor allem Konzepte der cultural studies in die Zionismusforschung einbrachten und die Geschichte des Zionismus als Teil der europäischen Geistes- und Kulturgeschichte deuteten.107 Auch im Hinblick auf die Geschichte des Zionismus in Deutschland lassen sich solche Tendenzen beobachten, indem in einer Reihe von wichtigen Arbeiten damit begonnen wurde, die Verschränkung des zionistischen Diskurses mit bestimmten Diskursfeldern des modernen europäischen Nationalismus, wie dem europäischen Kolonialismus,108 dem Rassediskurs109 und der bürgerlichen Kulturkritik110, in den Blick zu nehmen. Hervorzuheben ist darunter auch die Dissertation von Arndt Kremer zum Sprachendiskurs im deutschen Nationalismus und Zionismus, die sich einer vergleichenden Methodik bedient, um auf die Verschränkung der Diskursfelder aufmerksam zu machen, und auch den Diskurs in der Jüdischen Rundschau zur Thematik in den Blick nimmt.111 Bis vor kurzem wurden jedoch 105 Vgl. Reinharz, Generations, S. 100. 106 Ebd., S. 106. 107 Vgl. Berkowitz, Michael: Zionist Culture and West European Jewry before the First World War, Cambridge 1993; ders.: Western Jewry and the Zionist Project, 1914–1933, Cambridge 1997. 108 Vgl. Penslar, Zionism. 109 Vgl. u. a. Doron, Joachim: Rassenbewusstsein und naturwissenschaftliches Denken im deutschen Zionismus in der Wilhelminischen Ära, in: Jahrbuch des Instituts für Geschichte an der Universität Tel Aviv 9 (1980), S. 339–427; Efron, John M.: Defenders of the Race. Jewish Doctors and Race Scientists in Fin de SiHcle Europe, New Haven 1995; Hart, Mitchell B.: Social Science and the Politics of Modern Jewish Identity, Stanford 2000; Lipphardt, Veronika: Biologie der Juden. Jüdische Wissenschaftler über Rasse und Vererbung 1900– 1935, Göttingen 2008; Wildmann, Daniel: Der veränderbare Körper. Jüdische Turner, Männlichkeit und das Wiedergewinnen von Geschichte in Deutschland um 1900 (Schriftenreihe wissenschaftlicher Abhandlungen des Leo Baeck Instituts, Bd. 73), Tübingen 2009. 110 Vgl. Battegay, Casper : Das andere Blut. Gemeinschaft im deutsch-jüdischen Schreiben, 1830–1930, Köln 2011; Gelber, Mark H.: Melancholy Pride. Nation, Race, and Gender in the German Literature of Cultural Zionism, Tübingen 2000. Vgl. auch die von Gelber herausgegebenen Sammelbände: Gelber, Mark H. (Hg.): Kafka, Zionism, and Beyond, Tübingen 2004; ders. (Hg.): Theodor Herzl. From Europe to Zion, Tübingen 2007. 111 Vgl. Kremer, Arndt: Deutsche Juden – deutsche Sprache. Jüdische und judenfeindliche Sprachkonzepte und -konflikte 1893–1933, Berlin 2007; ders.: »…wir Juden machen jetzt eine ähnliche Bewegung durch wie Deutschland in den Jahren 1770 bis 1870.« Das Konzept der sprachbestimmten deutschen Kulturnation und das kulturzionistische Sprachprojekt in der Jüdischen Rundschau, in: Lappin, Eleonore/Nagel, Michael (Hg.): Deutsch-jüdische

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im Besonderen die zionistischen Vorstellungen von ›Nation‹ und ›Nationalismus‹ stark vernachlässigt und die wenigen Forschungsarbeiten beschränkten sich in erster Linie auf das Feststellen von allgemeinen Gemeinsamkeiten und Unterschieden, im Besonderen hinsichtlich der Nähe von zionistischen und völkischen Narrativen.112 Auch die isolierte Betrachtung einzelner Narrative ließ häufig kaum Aussagen über die dem deutschen Zionismus inhärenten Widersprüchlichkeiten zu. Daneben konzentrierte sich die Erforschung dieser Ambivalenz lange Zeit auf den sog. ›Prager Zionismus‹, d. h. die zionistischen Vorstellungen der Mitglieder der studentischen Bar-Kochba-Vereinigung in Prag, welche sich mit den kulturzionistischen Ideen Martin Bubers auseinandersetzten und die binationalen Vorstellungen der 1920er Jahre wesentlich prägten.113 Ideengeschichtliche Pionierarbeit leisteten daher wenige Forschungsarbeiten, welche vor allem im letzten Jahrzehnt erschienen und sich dezidiert um eine Rekonstruktion der Form und des Inhalts zionistischer Deutungsmuster und deren Einordnung in das ideologische Umfeld des deutschen Nationalismus bemühten.114 So hat Ivonne Meybohm in ihrer Dissertation anhand der Biographik David Wolffsohns, des zweiten Präsidenten der ZO, den Versuch unternommen, die frühe Geschichte des Weltzionismus zu erzählen, unter die sie auch die rudimentäre Betrachtung zeitgenössischer Diskurse und eine kurze Presse und jüdische Geschichte: Dokumente, Darstellungen, Wechselbeziehungen, Bd. 1, Bremen 2008, S. 319–337. 112 Zu den wenigen Arbeiten, die dieses Verhältnis untersuchen, gehören Duarte de Oliveira, Manuel: Passion for Land and Volk. Martin Buber and Neo-Romanticism, in: LBIYB 41 (1996), S. 239–260; Mosse, Influence; Shapira, Avraham: Buber’s Attachment to Herder and German Volkism, in: Studies in Zionism 14 (1993), S. 1–30; Susser, Bernard: Ideological Multivalence. Martin Buber and the German Volkish Tradition, in: Political Theory 5 (1977), S. 75–96; Ulbricht, Justus H.: Mystik und Deutschtumsmetaphysik. Martin Buber, Eugen Diederichs und die religiöse Renaissance um 1900, in: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 65 (2013), S. 105–127; Witte, Bernd: Die Renaissance des Judentums aus dem Geist der Neuromantik. Martin Buber und die Entstehung des Kulturzionismus, in: Ptudes germaniques 59 (2004), S. 305–325. 113 Vgl. u. a. Mendes-Flohr, Paul: From Mysticism to Dialogue. Martin Buber’s Transformation of German Social Thought, Detroit 1989; Shumsky, Dimitry : Zweisprachigkeit und binationale Idee. Der Prager Zionismus 1900–1930, Göttingen 2013; Spector, Scott: Prague Territories. National Conflict and Cultural Innovation in Franz Kafka’s Fin-de-SiHcle, Berkeley 2000; Wiese, Christian: »Doppelgesichtigkeit des Nationalismus«. Die Ambivalenz zionistischer Identität bei Robert Weltsch und Hans Kohn, in: Schatz/Ders., Janusfiguren, S. 213–252. 114 Vgl. die früheren Untersuchungen von Hackeschmidt, Jörg: Von Kurt Blumenfeld zu Norbert Elias. Die Erfindung einer jüdischen Nation, Hamburg 1997; Voigts, Manfred: »Wir sollen alle kleine Fichtes werden!« Johann Gottlieb Fichte als Prophet der Kultur-Zionisten, Berlin/Wien 2003; Weiss, Yfaat: Central European Ethnonationalism and Zionist Binationalism, in: Jewish Social Studies 11 (2004), S. 93–117; Hotam, Yotam: Moderne Gnosis und Zionismus. Kulturkrise, Lebensphilosophie und nationaljüdisches Denken, Göttingen 2010.

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begriffsanalytische Bestimmung des außenpolitischen Vokabulars der Zionisten wie »Charter«, »Heimstätte«, »Staat« und »Nation« zählt.115 Anregend für die vorliegende Studie waren vor allem auch eine Reihe von aktuellen Untersuchungen, welche größtenteils unter Mark H. Gelber als Dissertationen oder Habilitationen entstanden sind. Darunter fallen zunächst die Beiträge von Manja Herrmann, in denen die Autorin den frühen deutschen zionistischen Diskurs anhand des Konzeptes der ›Authentizität‹, d. h. der Vorstellungen von einem »authentischen jüdischen Selbst« und einem »authentischen Judentum«, analysiert und erstmals auf das paradoxe Spannungsverhältnis zwischen Universalismus und Partikularismus sowie die Möglichkeit einer Hybriditätspolitik im deutschen Zionismus verweist.116 Die für die vorliegende Arbeit wichtigste, wegweisende Studie ist die Habilitation Stefan Vogts zur Frage nach dem Verhältnis von deutschem Zionismus und deutschem Nationalismus zwischen den Jahren 1890 und 1933, die der Autor anhand der sechs Themenbereiche »Der deutschsprachige Kulturzionismus«, »Zionismus, Rassediskurs, Orientalismus und Kolonialismus in Deutschland«, »deutscher Zionismus und der Erste Weltkrieg«, »Zionismus und ethischer Sozialismus in Deutschland«, »Zionismus, Jugendbewegung und Konservative Revolution« und »die Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus und Nationalsozialismus« untersucht.117 In enger Anlehnung an ausgewählte Theorien und Methoden der postkolonialen Kritik charakterisiert Vogt den deutschen Zionismus als »subalterne Positionierungen«118, »um die Position des Zionismus im Feld des Nationalismus in Deutschland und die funktionale Differenz zu dessen hegemonialen Ausprägungen zu fassen«119. Der Begriff der »Subalternität«, auf den sich Vogt hier bezieht, stammt ursprünglich von dem italienischen Marxisten Antonio Gramsci und wurde von der zu Beginn der 115 Vgl. Meybohm, Wolffsohn, S. 40. 116 Vgl. Herrmann, Particularism; dies.: Das ›todeswürdige Verbrechen einer Majestätsbeleidigung‹ – Parteidisziplin versus Meinungsfreiheit in der Altneuland-Kontroverse, in: Jewish Lifeworlds and Jewish Thought. Festschrift Presented to Karl E. Grözinger on the Occasion of his 70th Birthday, Wiesbaden 2012, S. 287–295; dies.: Transkulturell, transligual: Deutscher Zionismus und die Konstruktion national-kultureller Hybridität im Zwischenraum, in: Marten-Finnis, Susanne u. a. (Hg.): Promised Lands, Transformed Neighbourhoods and Other Spaces: Migration and the Art of Display, 1920–1950, Bremen 2016, S. 33–48; dies.: Zionismus und Authentizität. Gegennarrative des Authentischen im frühen zionistischen Diskurs, Berlin u. a. 2018 (die Arbeit von Manja Herrmann erschien nach Abschluss des Manuskripts und konnte daher für die vorliegende Arbeit nicht mehr eingesehen werden). Zur These von Universalismus und Partikularismus im Zionismus vgl. auch bereits Lappin, Eleonore: Der Jude, 1916–1928. Jüdische Moderne zwischen Universalismus und Partikularismus, Tübingen 2000. 117 Vogt, Positionierungen. 118 Vgl. ebd., S. 16f.; 34. 119 Ebd., S. 34.

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1980er Jahre gegründeten South Asian Subaltern Studies Group auf das Feld der postcolonial studies übertragen und von Autoren wie Gayatri Chakravorty Spivak weiterentwickelt.120 Vogt versteht darunter eine Diskursposition, die »innerhalb eines gemeinsamen Feldes durch gesellschaftliche und diskursive Praktiken der Exklusion systematisch von hegemonialen Positionen innerhalb des Feldes getrennt ist«121. Der ›subalterne Nationalismus‹ der deutschen Zionisten lässt sich somit nach Vogt als Gegenentwurf zu den hegemonialen deutschen nationalistischen Diskursen und als Versuch der Überwindung der ihnen inhärenten kolonialen Stereotype sowie ›antisemitischen Codes‹ verstehen. Zugleich eignet er sich jedoch hegemoniale Denkstrukturen an und bildet selbst einen Teil des Umgebungsnationalismus.122 Die Herausbildung eines zionistischen Nationalismus möchte Vogt dabei in Anlehnung an Stuart Hall und die poststrukturalistische Sprachtheorie als einen »Prozess der Positionierung«123 und »Identitätspolitik«124 verstehen als »the different ways we are positioned by, and position ourselves within, the narratives of the past«125. Nationalismus definiert Vogt nach Pierre Bourdieu als politisch-ideologisches »Feld«, das sich 120 Zum Konzept der »Subalternität« vgl. Chatterjee, Partha: A Brief History of Subaltern Studies, in: Budde, Gunilla/Conrad, Sebastian/Janz, Oliver (Hg.): Transnationale Geschichte. Themen, Tendenzen und Theorien, Göttingen 2006, S. 94–104; dies.: Nationalist Thought and the Colonial World. A Derivative Discourse?, London 1986; Das, Veena: V. Discussion: Subaltern as Perspective, in: Guha, Ranajit (Hg.): Subaltern Studies, Bd. 6: Writings on South Asian History and Society, Delhi 1989, S. 310–324; Green, Marcus: Gramsci Cannot Speak. Presentations and Interpretations of Gramsci’s Concept of the Subaltern, in: Rethinking Marxism 14:3 (2002), S. 1–24; Chaturvedi, Vinayak (Hg.): Mapping Subaltern Studies and the Postcolonial, London 2000. Klassisch bei Spivak, Gayatri Chakravorty : Can the Subaltern Speak?, in: Nelson, Cary/Grossberg, Lawrence (Hg.): Marxism and the Interpretation of Culture, Basingstoke 1988, S. 271–313; dies.: In Other Worlds. Essays in Cultural Politics, New York 1988. 121 Vogt, Positionierungen, S. 16, Fn. 17. 122 Vgl. ebd., S. 34f.: »Subalterner Nationalismus zielt auf die Zerstörung bestehender Herrschaftsstrukturen und die Konstruktion einer nationalen Gegenidentität zu den kolonialen Zuschreibungen. Damit kann sowohl die emanzipatorische und antihegemoniale Stoßrichtung des Zionismus analysiert werden als auch das Ausmaß, in dem Elemente des hegemonialen Nationalismus in diesen integriert worden sind. Die postcolonial studies haben nämlich gezeigt, dass der antikoloniale Nationalismus den kolonialen Nationalismus zwar unterminiert, jedoch gleichzeitig viele seiner Funktionsweisen reproduziert hat. Mit diesem Konzept lässt sich daher auch verstehen, dass der zionistische Nationalismus in Deutschland zugleich ein Teil des deutschen nationalistischen Diskurses war und ein Gegenkonzept zu diesem. Es erlaubt es, die emanzipatorischen Intentionen und Errungenschaften des subalternen und damit auch des zionistischen Nationalismus ebenso anzuerkennen wie dessen problematische und antiemanzipatorische Aspekte.« 123 Ebd., S. 10. 124 Ebd., S. 35. 125 Hall, Stuart: Cultural Identity and the Diaspora, in: Rutherford, Jonathan (Hg.): Identity, Community, Culture, Difference, London 1990, S. 222–237, hier S. 225; Vogt, Positionierungen, S. 11.

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durch eine uneinheitliche Struktur und eine asymmetrische Machtverteilung auszeichnet.126 Allerdings konzentriert sich die Analyse des zionistischen Nationalismus vor dem Ersten Weltkrieg in seiner Studie, verständlicherweise auch aufgrund des breit angelegten Untersuchungszeitraums, größtenteils auf den deutschsprachigen Kulturzionismus. Die frühen Diskurse in der Jüdischen Rundschau vor dem Ersten Weltkrieg bezieht Vogt hingegen nur in Ausschnitten in die Untersuchung mit ein. Diese aktuellen Forschungsperspektiven greift auch Nathaniel Riemer in seinem Aufsatz zum »Deutsch-Patriotismus« vor und zu Beginn des Ersten Weltkriegs auf, in dem er sich auf den Diskurs in der Jüdischen Rundschau konzentriert, sich dabei allerdings auf wenige allgemeine Feststellungen beschränkt und die herausgearbeiteten Argumentationsmuster nicht näher in die Diskursgeschichte des deutschen Zionismus einordnet.127 Eine weitere Forschungsarbeit, die sich neben anderen zionistischen Zeitungen im europäischen Raum dezidiert auch mit den Diskursen in der Jüdischen Rundschau, allerdings größtenteils beschränkt auf den ›Ost‹-›West‹-Diskurs vor 1910 und wenige Beispiele, beschäftigt, ist die Dissertation von Malgorzata A. Maksymiak.128 Maksymiak rekonstruiert darin den ›Ost‹-›West‹Diskurs im frühen Zionismus (1885–1914) »als Produkt und Teilbereich des zeitgenössischen europäischen mental mapping und bietet gleichzeitig eine Analyse nicht nur des innerjüdischen westeuropäischen Bildes vom jüdischen Osten, sondern auch und vor allem der osteuropäisch-jüdischen Imaginierung des Judentums im Westen.«129 Maksymiaks Studie ist also innovativ, indem sie eine vergleichende, transnationale Perspektive einnimmt und sich damit als Beitrag zur aktuellen Zionismus- und Europaforschung sieht.130 Umso überraschender erscheint es, dass sie die »Oppenheimer-Kontroverse« des Jahres 1910, in deren Zuge das Deutungsmuster ›Ost‹-›West‹ breiten Raum in der Jüdischen Rundschau erhielt, lediglich erwähnt, ohne näher auf die darin aufgeworfenen hybriden Deutungsmuster einzugehen.131 126 Vgl. Vogt, Positionierungen, S. 11. 127 Vgl. Riemer, Nathanael: »Wir zogen in den Krieg, weil wir Zionisten waren, nicht aber : obwohl wir Juden sind.« Nationaljüdischer Deutsch-Patriotismus vor und zu Beginn des Ersten Weltkrieges, in: Historisches Jahrbuch der Görres-Gesellschaft 135 (2015), S. 412– 452. 128 Vgl. Maksymiak, Malgorzata A.: Mapping Zionism. »Ost« und »West« in zionistischen Konzepten einer jüdischen Nation 1897–1914 (Die jüdische Presse-Kommunikationsgeschichte im europäischen Raum/The European Jewish Press-Studies in History and Language, Bd. 13), Bremen 2011. 129 Ebd., Vorwort, S. 1. Unter »mental mapping« versteht Maksymiak die »topographischkartographisch basierte Vorstellung außerhalb des eigenen Erfahrungshorizontes liegender Gesellschaften und Lebensräume« (Ebd., S. 1, Fn. 1). 130 Vgl. ebd., Vorwort, S. 1. 131 Vgl. Kap. III.3.2.

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Neben dem Diskurs in der Jüdischen Rundschau hat die Zionismusforschung auch lange darauf verzichtet, die Produktionsbedingungen der Zeitung eingehend zu rekonstruieren, sondern vielmehr chronologisch und organisationsgeschichtlich die Entwicklung des zionistischen Blattes beschrieben.132 In der älteren Presseforschung standen zudem in erster Linie neben der Gründung der Zeitung die Redaktionsbedingungen während des Nationalsozialismus133 und die Redaktionszeit von Robert Weltsch134 aufgrund der gestiegenen allgemein132 Vgl. Eloni, Zionismus. 133 Zur Gründung und zum Ende der Zeitung vgl. Eloni, Yehuda: Die Geburtswehen der »Jüdischen Rundschau«, in: Qesher-Sonderheft. Jüdische Zeitungen und Journalisten in Deutschland, Tel Aviv 1989, S. 31–36; Riemer, Jehuda: Die letzten Jahre der »Jüdischen Rundschau«. Gespräch mit Walter Gross, in: Qesher-Sonderheft. Jüdische Zeitungen und Journalisten in Deutschland, Tel Aviv 1989, S. 37d–39d. Zur Geschichte der Zeitung und zu ihren Inhalten während des Nationalsozialismus vgl. u. a. Nagel, Michael: Bilder von einer besseren Welt: Die »Kinder-Rundschau«, Beilage der »Jüdische Rundschau« (1933–1938), in: Ders. (Hg.): Zwischen Selbstbehauptung und Verfolgung. Deutsch-jüdische Zeitungen und Zeitschriften von der Aufklärung bis zum Nationalsozialismus (Haskala, Bd. 25), Hildesheim u. a. 2002., S. 315–349; ders.: Palästina und seine arabische Bevölkerung in der Kinder-Rundschau, Beilage der in Deutschland erscheinenden Jüdischen Rundschau 1933– 1938, in: Ders. u. a., Promised Lands, S. 85–108; ders.: Jüdische Rundschau, in: Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur, Bd. 3: He–Lu. Im Auftrag der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig hg. von Dan Diner, Stuttgart/Weimar 2012, S. 253–255 und die Abschnitte in den Gesamtdarstellungen von Diehl, Katrin: Die jüdische Presse im Dritten Reich. Zwischen Selbstbehauptung und Fremdbestimmung (Conditio Judaica, Bd. 17), Tübingen 1997, S. 155–186; Edelheim-Mühsam, Margaret T.: Die Haltung der jüdischen Presse gegenüber der nationalsozialistischen Bedrohung, in: Weltsch, Robert (Hg.): Deutsches Judentum. Aufstieg und Krise. Gestalten, Ideen, Werke. 14 Monographien, Stuttgart 1963, S. 353–379; Freeden, Herbert: Das Ende der jüdischen Presse in Nazideutschland, in: Bulletin des Leo Baeck Instituts 65 (1983), S. 3–21; ders.: Die jüdische Presse im Dritten Reich. Eine Veröffentlichung des Leo Baeck Instituts, Frankfurt a. M. 1987, S. 35–37. Zum Zeitungsprojekt der Jüdischen Welt-Rundschau, mit der Weltsch eine Fortsetzung der Jüdischen Rundschau in Palästina beabsichtigte, vgl. Burger, Hans Georg: Die Auseinandersetzung um die Jüdische Welt-Rundschau. Robert Weltsch zum 80. Geburtstag gewidmet, in: Emuna. Horizonte 6 (1971), S. 317–334; Osten-Sacken, Thomas von der : Aufstieg und Fall einer zionistischen Zeitung: Die Jüdische Welt-Rundschau, in: Qesher, Heft-Nummer 31, Mai 2002, S. 1–12. 134 Vgl. Wiese, Christian: Martin Buber und die Wirkung des Ersten Weltkriegs auf die Prager Zionisten Hugo Bergmann, Robert Weltsch und Hans Kohn, in: Shahar, Galili (Hg.): Texturen des Krieges: Körper, Schrift und der Erste Weltkrieg (Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte, 43), Göttingen 2015, S. 181–222; ders.: Zwischen Verehrung und Entzauberung: Hans Kohns, Robert Weltschs und Hugo Bergmanns Wahrnehmung Martin Bubers im Spiegel ihrer Korrespondenz, in: Naharaim 2013, S. 171–201; ders.: Das ›dämonische Antlitz des Nationalismus‹. Robert Weltschs zwiespältige Deutung des Zionismus angesichts von Nationalsozialismus und Shoah, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 60:7/8 (2012), S. 618–645; ders., Ambivalenz; Strauss, Herbert A.: Robert Weltsch und die Jüdische Rundschau, in: Pazi, Margarita/Zimmermann, Dieter (Hg.): Berlin und der Prager Kreis, Würzburg 1991, S. 31–44. Weltsch, Robert: Redakteur der Jüdischen Rundschau. Ein Kapitel der Geschichte der jüdischen Presse in Deutschland, in: Ders.: Die deutsche Judenfrage. Ein kritischer Rückblick, Königstein/Ts. 1981, S. 83–93.

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jüdischen Bedeutung der Zeitung im Fokus der Aufmerksamkeit. In mehrfacher Hinsicht Neuland betritt daher die Dissertation Frank Schlöffels, welche anhand der Lebensjahre Heinrich Loewes, des ersten leitenden Redakteurs der Jüdischen Rundschau, in Berlin (von den 1880er Jahren bis 1933) sozio-kulturelle Verflechtungsprozesse des zionistischen Kollektivs aufzeigt.135 Im Gegensatz etwa zu Vogt und den aktuellen Trends der Zionismusforschung, welche den Forscherblick größtenteils exklusiv auf den zionistischen Diskurs richten, interessiert sich Schlöffel einerseits für das in verschiedenen räumlich-zeitlichen Kontexten entstehende Wissen und andererseits für die Praxis und Produktionsweise zionistischer Netzwerke und Räume, in denen die Zionisten ihre Vorstellungen von ›Nation‹ und ›Nationalismus‹ formulierten. In enger Anlehnung an die Theorien und Methoden der Jewish Cultural Studies136 untersucht Schlöffel anhand einer Reihe von »Aktionsräume[n] Loewes«137 zentrale »Produktionsstätten zionistischer Kultur«138, darunter auch in Ausschnitten die Gründungs- und frühen Produktionsbedingungen der zionistischen Wochenzeitung Jüdische Rundschau,139 und ihr Wechselverhältnis mit den darin produzierten Diskursen am Beispiel von Loewes Haltung in der sog. »OstafrikaFrage«.140 Noch vor Schlöffel hatte bereits Barbara Schäfer im Rahmen ihrer mikrohistorischen Studie über die entstehende zionistische Vereinslandschaft vor Ort Berlin zum »Paradebeispiel einer ganzen Epoche«141 erklärt und die ›Zionisierung‹ der Großstadt untersucht. Schlöffels Arbeit kann daher als erste, wichtige Spurensuche gelten mit dem Ziel, die Jüdische Rundschau als bedeutende Produktionsstätte des frühen deutschen zionistischen Diskurses offenzulegen. Auch wenn die Studie Schlöffels aufgrund der biographischen Konzentration auf Loewe und ihren breiten zeitlichen Untersuchungsraum nur einen sehr kleinen Ausschnitt der Presse- und Diskursgeschichte der Jüdischen Rundschau behandeln kann, bot sie der vorliegenden Studie wie Stefan Vogts Forschungsarbeit zahlreiche inhaltlich-methodische Anknüpfungspunkte und Anregungen. 135 Vgl. Schlöffel, Frank: Heinrich Loewe (1869–1951). Zionistische Netzwerke und Räume (Jüdische Kulturgeschichte in der Moderne; Bd. 8), Diss. phil. Berlin 2016 (unveröffentl. Manuskript). Schlöffels Dissertation liegt mittlerweile auch in publizierter Form vor: Schlöffel, Frank: Heinrich Loewe. Zionistische Netzwerke und Räume (Jüdische Kulturgeschichte in der Moderne, Bd. 8), Berlin 2018. 136 Vgl. Kap. I.4. der Einleitung. 137 Schlöffel, Loewe, S. 7. 138 Ebd., S. 27. 139 Vgl. ebd., Kap. 6.2 (»Jüdische Rundschau«), Unterkap. 6.2.1 (»In der Redaktion«), S. 224– 235. 140 Vgl. ebd., Kap. 6.2 (»Jüdische Rundschau«), Unterkap. 6.2.2 (»Wo liegt Zionismus?«), S. 235–250. 141 Schäfer, Barbara: Berliner Zionistenkreise. Eine vereinsgeschichtliche Studie, Berlin 2003, S. 157.

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›(Jüdische) Nation‹ und ›(jüdischer) Nationalismus‹ Im Anschluss an die historische Nationalismus-Forschung, in welcher sich seit den 1990er Jahren mehrheitlich ein konstruktivistisches Verständnis von ›Nation‹ und ›Nationalismus‹ durchgesetzt hat, geht auch die vorliegende Studie von der Grundannahme aus, dass die ›(jüdische) Nation‹ keine objektiv-essentialistische Entität wie etwa das primordiale Produkt ethnisch-kultureller Vereinheitlichungsprozesse darstellt,142 sondern das Ergebnis eines ideologischen, subjektiv-modernistischen Konstruktionsprozesses, der stark durch die jeweilige gesamtgesellschaftliche Lebensumwelt der Konstruierenden geprägt ist.143 Ihren paradigmatischen Ausdruck fand diese Vorstellung vom Konstruktcharakter der ›Nation‹ in der Charakterisierung des Konstruierens als »invention of tradition« (Eric Hobsbawm)144 und in der Formel von der ›Nation‹ als »imagined

142 So noch die primordialistische oder ethno-symbolistische Schule, repräsentiert u. a. durch Anthony Smith, Adrian Hastings und John Armstrong. Vgl. dazu als Überblick Smith, Anthony D.: Nationalism and Modernity. A Critical Survey of Recent Theories of Nations and Nationalism, London 1998. 143 Zur Einführung in die historische Nationalismusforschung vgl. die fast schon klassischen Charakter besitzenden Texte von Alter, Peter : Nationalismus, Frankfurt 1985; Anderson, Benedict: Erfindung der Nation. Zur Karriere eines erfolgreichen Konzeptes, Frankfurt 1988; Breuilly, John: Nationalism and the State, Manchester 21993; Deutsch, Karl W.: Nationenbildung – Nationalstaat – Integration, Düsseldorf 1972; Gellner, Ernest: Nationalismus und Moderne, Berlin 1991; ders.: Nationalismus. Kultur und Macht, Berlin 1999; Hobsbawm, Eric J.: Nationen und Nationalismus. Mythos und Realität seit 1780, Frankfurt 1991; ders.: Inventing Traditions, in: Ders./Ranger, Terence (Hg.): The Invention of Tradition, Cambridge 1983, S. 1–14; Wehler, Hans Ulrich: Nationalismus. Geschichte, Formen, Folgen, München 2001. Zum Stand und den Tendenzen der Nationalismusforschung vgl. Hroch, Miroslav : Das Europa der Nationen. Die moderne Nationsbildung im europäischen Vergleich, Göttingen 2005; Kunze, Rolf–Ulrich: Nation und Nationalismus (Kontroversen um die Geschichte), Darmstadt 2005; Langewiesche, Nation; ders.: Nation, Nationalismus, Nationalstaat. Forschungsstand und Forschungsperspektiven, in: NPL 40 (1995), S. 190– 236; Smith, Nationalism; Weichlein, Siegfried: Nationalbewegungen und Nationalismus in Europa (Geschichte kompakt), 2., bibliograph. aktual. Aufl. Darmstadt 2012. Die modernistische Schule der Nationalismusforschung, repräsentiert u. a. durch Eric Hobsbawm, Benedict Anderson und Ernest Gellner, sieht die ›Nation‹ als ideologische Konstruktion der ›Moderne‹. Eine systematische Berücksichtigung der modernistischen Schule der Nationalismusforschung in der Zionismusforschung propagieren u. a. auch Cohen, Mitchell: A Preface to the Study of Jewish Nationalism, in: Jewish Social Studies 1 (1994), S. 73–93 und Wendehorst, Zionism. Vgl. dazu auch Vogt, Positionierungen, S. 36, Fn. 69. 144 Hobsbawm, Inventing.

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community« (Benedict Anderson)145 und »gedachte Ordnung« (Rainer M. Lepsius nach Emerich Francis)146. Darüber hinaus betonte die historische Nationalismusforschung die Bedeutung diskursiver Formationen für die Konstruktion nationalistischer Deutungsmuster, wobei die unterschiedlichen Vorstellungen von ›Nation‹ und ›Nationalismus‹, welche zur Legitimation heterogener Interessen herangezogen werden konnten, in den zionistischen Diskursräumen um Deutungsmacht konkurrierten. Eine vorgestellte ›Nation‹ konstituiert sich, wie alle anderen sozialen Gruppen, als politische oder soziale Handlungseinheit mittels vielfältiger diskursiver Grenzziehungen und Differenzbestimmungen nach innen und nach außen, wobei in diesem Prozess die konkrete inhaltliche Füllung abstrakter Kollektivbegriffe wie ›Volk‹ und ›Nation‹ eine wesentliche Rolle spielt. Reinhart Koselleck hat in seinen theoretischen Ausführungen zur Disziplin der Begriffsgeschichte147 deshalb darauf hingewiesen, dass sich eine Analyse nationaler Deutungsmuster immer auch mit dem konkreten »Erfahrungsraum« und »Erwartungshorizont« der historischen Akteure beschäftigen muss, da sich die Durchsetzung bestimmter Deutungsmuster bei den Zeitgenossen daran knüpfte, dass diese die Erfüllung bestimmter konkreter Erwartungen nach sich ziehen würden.148 Erst durch die dergestalt erfolgende Inhaltsbestimmung und ideologische Bedeutungsaufladung in einer konkreten historischen Situation werden diese allgemeinen Begriffe zum sinnhaften Kern einer nationalen Deutungskultur. Entgegen des Einwands von Dieter Langewiesche, der sich gegen die der konstruktivistischen Schule der Nationalismusforschung angebliche implizite Hypothese, die Konstruktion der ›Nation‹ sei eine »creatio ex nihilo«, richtete,149 zielt der konstruktivistische Ansatz der Geschichtswissenschaft also weniger darauf, das Vorhandensein bestehender politischer, historischer, sprachlicher, religiöser oder gar symbolischer Traditionsbestände zu ignorie145 Anderson, Erfindung, S. 14–17. 146 Lepsius, Nation, S. 233; Francis, Emerich: Wissenschaftliche Grundlagen soziologischen Denkens, München 1957, S. 100–106. 147 Die Begriffsgeschichte versteht Begriffe als gedankliche Konzepte, welche historische Realität indizieren und konstruieren. Zur Begriffsgeschichte allgemein vgl. Jordan, Stefan: Theorien und Methoden der Geschichtswissenschaft (UTB Orientierung Geschichte), 2., akt. Aufl. Paderborn 2013, S. 125–130; Koselleck, Reinhart: Begriffsgeschichte und Sozialgeschichte, in: Ders.: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt 21992, S. 107–129; ders.: Zur historisch-politischen Semantik asymmetrischer Gegenbegriffe, in: Ders.: Zukunft, S. 211–259; ders.: Einleitung, in: Ders. u. a., Grundbegriffe, Bd. 1, Stuttgart 1972, S. XIII–XXIII. 148 Vgl. Koselleck, Reinhart: »Erfahrungsraum« und »Erwartungshorizont«. Zwei historische Kategorien, in: Ders., Zukunft, S. 349–375. Vgl. dazu auch Ders.: Moderne Sozialgeschichte und historische Zeiten, in: Ders., Zukunft, S. 317–335, hier S. 331–335. 149 Vgl. Langewiesche, Dieter : Was heißt »Erfindung der Nation«? Nationalgeschichte als Artefakt – oder Geschichtsschreibung im Machtkampf, in: HZ 277 (2003), S. 593–617.

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ren. Vielmehr möchte er diese als Ausgangs- oder Anknüpfungspunkt nationaler Deutungsmuster begreifen und die voluntaristische Bereitschaft der Träger der Konstruktion, die auf diese Weise entstandene »synkretistische«150 Neuformulierung zum Dreh- und Angelpunkt ihres nationalen Weltbildes zu machen, in den Mittelpunkt der historischen Analysen stellen.151 Nationalismus wird demnach immer auch als relationales, variables Konstrukt verstanden, das als »legitime Ordnung« den Anspruch erhebt, Antworten auf die als defizitär erfahrenen Erscheinungen der ›Moderne‹ darzustellen.152 Im Gegensatz zur heute vorherrschenden Auffassung in der Zionismusforschung, den Zionismus als Teil des europäischen Nationalismus zu betrachten und konstruktivistisch zu verstehen, betonte die ältere zionistische Geschichtsschreibung die »Einzigartigkeit« der jüdischen Geschichte und die »Unvergleichbarkeit« der jüdischen Nationalbewegung.153 Mittlerweile hat sich jedoch auch in der Zionismusforschung in Israel eine neue Sichtweise durchgesetzt, indem mit der sich seit den späten 1980er Jahren herausbildenden historiographischen Strömung der sog. »neuen Historiker«154 eine kritische Art der Auseinandersetzung mit dem Zionismus in Palästina vor 1948 und mit den Narrativen der zionistischen Geschichtsschreibung nach der Staatsgründung beschritten wurde. Diese kann als »postzionistisch« bezeichnet werden kann, zeitigt jedoch gerade bei der Tiefe der Dekonstruktion nationaler Selbstverortungen erhebliche Unterschiede.155 In der Zwischenzeit lässt sich daher von einer 150 Walkenhorst, Nation, S. 25. 151 Vgl. Weber, Max: Ethnische Gemeinschaften, in: Ders.: Gesamtausgabe, Abteilung I: Schriften und Reden, Bd. 22: Wirtschaft und Gesellschaft. Die Wirtschaft und die gesellschaftlichen Ordnungen und Mächte. Nachlass, Teilbd. 1: Gemeinschaften, hg. von Wolfgang J. Mommsen und Michael Meyer, Tübingen 2001, S. 168–190, hier S. 171–182; Echternkamp, Aufstieg, S. 18–29; Gellner, Nationalismus, S. 87; Hobsbawm, Nationen, S. 21. 152 Zum Begriff der »legitimen Ordnung« vgl. Weber, Max: Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, 5., rev. Aufl. Tübingen 1980, S. 16f. (§ 5. Begriff der legitimen Ordnung). 153 Vgl. dazu etwa Dinur, Ben-Zion: Die Einzigartigkeit der jüdischen Geschichte (1968), in: Brenner, Michael (Hg.): Jüdische Geschichte lesen. Texte der jüdischen Geschichtsschreibung im 19. und 20. Jahrhundert, München 2003, S. 127–131; Myers, David N.: Re-Inventing the Jewish Past. European Jewish Intellectuals and the Zionist Return to History, New York 1995; ders.: Is there still a »Jerusalem School?« Reflections on the State of Jewish Historical Scholarship in Israel, in: Jewish History 23 (2009), S. 389–406. 154 Zu diesen werden u. a. die Historiker und Soziologen Benny Morris, Avi Shlaim, Tom Segev, Ilan Pappe, Baruch Kimmerling und Shlomo Sand gezählt. Vgl. u. a. Morris, Benny (Hg.): Making Israel, Ann Arbor, Michigan 2007; Papp8, Ilan (Hg.): The Israel/Palestine Question, London/New York 1999; Sand, Shlomo: Die Erfindung des jüdischen Volkes. Israels Gründungsmythos auf dem Prüfstand, Berlin 2010; ders.: Die Erfindung des Landes Israel. Mythos und Wahrheit, Berlin 2012; ders.: Warum ich aufhöre, Jude zu sein. Ein israelischer Standpunkt, Berlin 2013; Segev, Tom: The Seventh Million. The Israelis and the Holocaust, New York 1993. 155 Zu den »Postzionisten« vgl. Funkenstein, Amos: Jüdische Geschichte und ihre Deutungen,

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sog. »post-postzionistischen« Tendenz in der Zionismusforschung sprechen, welche die inneren Widersprüche des Zionismus noch stärker in den Mittelpunkt rückt und die Entstehung von Zionismus als Teil europäischer Diskurse betrachtet.156 Die lange vorherrschende Sichtweise, nach der sich der deutsche Nationalismus nach der Nationalstaatsgründung 1871 von einem »linken«, emanzipatorischen oder humanistischen, zu einem »rechten«, konservativen, imperialistischen oder aggressiven, Nationalismus entwickelt hätte,157 ist im Folgenden ebenso zu relativieren wie die darauf fußende Interpretation der älteren Zionismusforschung, welche im Zionismus in erster Linie eine Fortsetzung des »linken« Nationalismus und damit einen Gegenentwurf zum deutschen Umgebungsnationalismus sehen wollte.158 Vielmehr tendiert diese Interpretation dazu, die für die Strömungen des frühen Nationalismus wie des frühen Zionismus in Deutschland charakteristische innere Widersprüchlichkeit eines zeitlichen Mit- und Nebeneinanders universaler, emanzipatorischer wie partikularer, differenzkategorischer oder hegemonialer Elemente und die für den nationalen Selbstbestimmungsprozess scheinbar konstitutive Bedeutung von nationalen Feindbildern zu übersehen.159

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Frankfurt 1995; Hazoni, Yoram: The Jewish State. A History of Zionism and Postzionism, New York 2001; Karsh, Efraim: Fabricating Israeli History. The ›New Historians‹ (Israeli History, Politics, and Society 10), London/Portland 22000; Schäfer, Barbara (Hg.): Historikerstreit in Israel. Die »neuen Historiker« zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit, Frankfurt a. M. 2000; Silberstein, Laurence J.: The Postzionism Debates. Knowledge and Power in Israeli Culture, New York/London 1999. Der Begriff »post-postzionistisch« geht auf David N. Myers zurück. Vgl. Myers, Reflections, S. 397. Vgl. auch Likhovski, Assaf: Post-Post-Zionist Historiography, in: Israel Studies 15 (2010), S. 1–24 und Vogt, Positionierungen, S. 28, Fn. 45. Vertreter einer post-postzionistischen Richtung sind u. a. Tamar Berger, Anat Helman, Dafna Hirsch, Ofer Nordheimer Nur, Arieh Saposnik und Rakefet Zalashik. Zur These der Entwicklung des »linken« zum »rechten« Nationalismus vgl. vor allem Winkler, Heinrich August: Der lange Weg nach Westen, Bd. 1: Deutsche Geschichte vom Ende des Alten Reiches bis zum Untergang der Weimarer Republik, München 2000, S. 236– 247; ders.: Vom linken zum rechten Nationalismus. Der deutsche Liberalismus in der Krise 1878/79, in: GG 4 (1978), S. 5–28. Vgl. z. B. Siegemund, Anja: Eine Bürgergesellschaft für den Jischuw. Deutsche liberal nationale Zionisten in Palästina, in: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte 41 (2013), S. 60–81, hier S. 66; Lappin, Jude, S. 203; Mosse, George L.: Deutscher Patriotismus und jüdischer Nationalismus, in: Hardtwig, Wolfgang/Brandt, Harm-Hinrich (Hg.): Deutschlands Weg in die Moderne. Politik, Gesellschaft und Kultur im 19. Jahrhundert, München 1993, S. 161–169. In etwas abgewandelter Form und speziell bezogen auf den Prager Zionismus findet sich diese These auch bei Shumsky, Zweisprachigkeit und bei Schaeder, Grete: Martin Buber. Hebräischer Humanismus, Göttingen 1966. Vgl. zur Deutung des Zionismus die kritischen Bemerkungen bei Vogt, Positionierungen, S. 17f. Vgl. Walkenhorst, Nation, S. 40.

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Von zionistischer Identitäts- zu Hybriditätspolitik Die vorgestellten Ansätze der historischen Nationalismusforschung liefern also wichtige Hinweise darauf, wie die nationaljüdischen Selbstverortungen im Zionismus zu betrachten sind. Die ›Zionist invention of tradition‹ wird demnach als dynamischer, ambivalenter und dialogischer bzw. diskursiver Konstruktionsprozess verstanden. Diese Auffassung deckt sich mit bestimmten Ergebnissen der historischen Forschung zur deutsch-jüdischen Geschichte, die von der Vielfalt, Segmentierung und starken Situationsbezogenheit deutsch-jüdischer Selbstverortungen im Kaiserreich ausgehen.160 Damit weist dieser Ansatz in die Richtung eines ›situativen Ethnizitätskonzeptes‹, wie es vor allem von Till van Rahden in Anknüpfung an die amerikanische Ethnizitätsforschung entwickelt wurde.161 Die Voraussetzung für diese neue Lesart deutsch-jüdischer Geschichte geht bis auf eine Reihe von Untersuchungen seit den 1990er Jahren zurück. Diese wandten sich gegen die bislang vorherrschende Sichtweise in der historischen Forschung, die in den Juden in Deutschland in erster Linie Opfer anti-semitischer Diskriminierung und passive Rezipienten einer partiell gewährten 160 Vgl. dazu Moyn, Samuel: German Jewry and the Question of Identity. Historiography and Theory, in: LBIYB 41 (1996), S. 291–308 und den ausgezeichneten, aktuellen Überblick bei Panter, Erfahrungen, S. 26–30. 161 Zum Konzept der »situativen Ethnizität« vgl. Rahden, Till van: Weder Milieu noch Konfession. Die situative Ethnizität der deutschen Juden im Kaiserreich in vergleichender Perspektive, in: Blaschke, Olaf/Kuhlemann, Frank-Michael (Hg.): Religion im Kaiserreich. Milieus – Mentalitäten – Krisen, Gütersloh 1996, S. 409–434 und ders.: Juden und andere Breslauer. Die Beziehungen zwischen Juden, Protestanten und Katholiken in einer deutschen Großstadt von 1865 bis 1920 (Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, Bd. 139), Göttingen 2000, S. 20: »Das Nebeneinander von Geschlossenheit und Offenheit der modernen deutsch-jüdischen Gruppen- und Identitätsbildung läßt sich am besten als situative Ethnizität charakterisieren. Eine ethnische Gemeinschaft zeichnet sich durch die Vorstellung einer gemeinsamen Abstammung und einer gemeinsamen Kultur aus. Ähnlich wie die moderne Nation ist eine ethnische Gruppe eine ›gedachte Ordnung‹, die auf der ›Erfindung einer Tradition‹ beruht. Zentral für die gedachte Ordnung der ethnischen Gemeinschaft ist die Konstruktion von Grenzen. Ethnizität kennzeichnet kein fester und unveränderbarer Kern von Kultur, Tradition und Religion, sondern eine kulturelle und soziale Grenzmarkierung, die Zugehörigkeit oder Ausschluß signalisiert. […] Die Zugehörigkeit zu einer ethnischen Gemeinschaft schließt demnach die Loyalität gegenüber anderen Sozialformationen und Gruppen wie der Klasse, dem Geschlecht, der Konfession, der Berufsgruppe oder der Nation nicht aus. Gerade das Konzept der situativen Ethnizität, das für die Analyse der deutschen Juden besonders hilfreich erscheint, betont, in welch hohem Maße Ethnizität an die konkrete soziale Situation gebunden sein kann. Spielt also für ein Individuum die Zugehörigkeit zu einer ethnischen Gruppe in spezifischen Situationen, etwa im engeren Familienleben oder bei der Teilhabe am ethnischen Vereinsleben, eine wichtige Rolle, tritt Ethnizität in anderen Situationen ganz zurück, und andere Zugehörigkeitsgefühle werden handlungsleitend.«

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Emanzipation und Integration sehen wollte, und wiesen Juden stattdessen als aktive Partizipienten an der deutschen Gesellschaft aus.162 Im Zuge dieser Erkenntnis wurde auch der Assimilationsbegriff im Sinne der Anpassung einer ›Minderheit‹ an eine ›Mehrheit‹ in Frage gestellt und die implizite Eindimensionalität kultureller Austauschprozesse kritisiert. Till van Rahden interpretierte die unterschiedliche Lesart des Assimilationsbegriffes in der Historiographie zur Geschichte der deutschen Juden daher selbst als subjektive Interpretation und konstruierten Ausdruck einer Auseinandersetzung zwischen »dem Universalen« und »dem Partikularen«163. Darin unterscheidet er die drei Formen »Assimilation als Verrat am Judentum«164, »Assimilation als Schicksal«165 und »Assimilation als Chance«166, wobei er die Deutung »Verrat« der »entschiedenzionistischen Lesart« und die Deutung »Schicksal« der »moderat-zionistischen Lesart« zuweist.167 Auch die begriffliche Unterscheidung zwischen ›Assimilation‹ und ›Akkulturation‹, die zwei differente Formen der Adaptation einer Minderheit an eine Mehrheit unterstellt, legt fälschlicherweise nahe, »dass es eine lineare Rezeption gibt, dass kulturelle Elemente also weitgehend unverändert übernommen werden.«168 Um die Interaktion von Juden und Nichtjuden 162 Für einen guten Überblick über dieses Forschungsfeld vgl. Gotzmann, Andreas u. a. (Hg.): Juden, Bürger, Deutsche. Zur Geschichte von Vielfalt und Differenz 1800–1933, Tübingen 2001; Lässig, Simone: Jüdische Wege ins Bürgertum. Kulturelles Kapital und sozialer Aufstieg im 19. Jahrhundert, Göttingen 2004; Jensen, Uffa: Gebildete Doppelgänger. Bürgerliche Juden und Protestanten im 19. Jahrhundert, Göttingen 2005; Sieg, Ulrich: Jüdische Intellektuelle im Ersten Weltkrieg. Kriegserfahrungen, weltanschauliche Debatten und kulturelle Neuentwürfe, Berlin 2001; Brenner, Michael: The Renaissance of Jewish Culture in Weimar Germany, New Haven 1996; Aschheim, Steven E.: Brothers and Strangers. The East European Jewry in Germany and German Jewish Consciousness, 1800–1923, Madison 1982. Vgl. dazu auch Zimmermann, Moshe: Jewish History and Jewish Historiography. A Challenge to Contemporary German Historiography, in: LBIYB 35 (1990), S. 35–52; Maurer, Trude: Die Entwicklung der jüdischen Minderheit in Deutschland (1780–1933). Neuere Forschungen und offene Fragen, Tübingen 1992, S. 179; Volkov, Shulamit: Reflections on German-Jewish Historiography : A Dead End or a New Beginning?, in: LBIYB 41 (1996), S. 309–320; Friesel, Evyatar : Jewish and German Jewish Historical Views. Problems of a New Synthesis, in: LBIYB 43 (1998), S. 323–336; Hyman, Paula E.: Recent Trends in European Jewish Historiography, in: Journal of Modern History 77 (2005), S. 345–356; Myers, David N.: Jenseits des Einflusses. Hin zu einer neuen Kulturgeschichte?, in: Aschkenas 18/19 (2008 /2009), S. 495–507. 163 Rahden, Till van: Verrat, Schicksal oder Chance. Lesarten des Assimilationsbegriffs in der Historiographie zur Geschichte der deutschen Juden, in: Hödl, Klaus (Hg.): Kulturelle Grenzräume im jüdischen Kontext, Innsbruck 2008, S. 105–132, hier S. 124. 164 Ebd., S. 111. 165 Ebd., S. 113. 166 Ebd., S. 115. 167 Vgl. ebd., S. 111; 113. 168 Hödl, Klaus: Einleitung, in: Ders. (Hg.): Historisches Bewußtsein im jüdischen Kontext. Strategien – Aspekte – Diskurse, Innsbruck 2004, S. 7–12, hier S. 8. Vgl. auch Ders.: From Acculturation to Interaction. A New Perspective on the History of the Jews in Fin-de-SiHcle

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stärker in den Mittelpunkt zu stellen, verwendet die Forschung zur deutschjüdischen Geschichte wie die Zionismusforschung169 daher heutzutage anstelle des Konzeptes des »Beitrages« der Juden zu einer sie umgebenden deutschen »Mehrheitsgesellschaft« den treffenden Begriff der »Ko-Konstitution«170, welcher dazu tendiert, deutsch-jüdische Selbstbestimmungen als in einem mit ihrer Umwelt wechselseitigen Aushandlungsprozess begriffen zu betrachten. In diesem Zuge gerieten auch die Kategorien ›Minderheit‹ und ›Mehrheit‹ in Kritik und Till van Rahden hat vorgeschlagen, diese weniger als Essenz, sondern als Zuweisungen zu verstehen und stattdessen von Prozessen gesellschaftlicher ›Inklusion‹ und ›Exklusion‹ zu sprechen.171 ›Inklusion‹ und ›Exklusion‹ bezeichnen demnach keine Formen der Selbstverortung, sondern Mechanismen innerhalb eines Staates oder einer gesellschaftlichen Gruppe, welche auf Teilhabe oder Ausschluss zielen und sich wechselseitig beeinflussen.172 Gegen diese Analysekategorien muss jedoch ins Feld geführt werden, dass gerade die Kategorien der ›Minderheit‹ und ›Mehrheit‹ die widersprüchlichen, häufig asymmetrischen Diskurspositionen der Juden scharf und deutlich konturieren, im Besonderen auch in Bezug auf den hybriden zionistischen Nationalismus in Deutschland.173 Eine ähnliche Problematik birgt der Begriff der ›(jüdischen) Identität‹: Entgegen der genannten konstruktivistischen Tendenzen in der Zionismusforschung wird in der jüdischen Historiographie zumeist ein positiv konnotierter partikularistischer Identitätsbegriff nicht aufgegeben, da, so Georg Iggers,

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Vienna, in: Shofar 25:2 (2007), S. 82–103; Sorkin, David: Emancipation and Assimilation. Two Concepts and their Application to German-Jewish History, in: LBIYB 35 (1990), S. 17– 33; Mandel, Maud: Assimilation and Cultural Exchange in Modern Jewish History, in: Cohen, Jeremy/Rosman, Moshe (Hg.): Rethinking European Jewish History, Oxford 2009, S. 72–94; Panter, Loyalitätskonflikte, S. 27. Vgl. aktuell auch Vogt, Positionierungen, S. 26f. »Instead of (always somewhat perplexedly) registering the (never easy or comfortable) ›contributions‹ and adaptive presence of Jews within German life, and analysing their integration (or otherwise) into what are taken to be pre-existent, static, normative structures, the very creation of crucial aspects of emergent society, for example of German liberalism, market society, Socialism, intellectual culture and so on, would have to be viewed dynamically as negotiated constructions in which, at critical points, the role of the Jews (whether or not they identified as such) is conceived not simply as contributory but well-nigh co-constitutive.« (Steven E. Aschheim, German History and German Jewry. Boundaries, Junctions and Interdependence, in: LBIYB 43 (1998), S. 315–322, hier S. 316f.). Vgl. auch van Rahden, Till: Jews and the Ambivalences of Civil Society in Germany, 1800 to 1933. Assessment and Reassessment, in: Journal of Modern History 77 (2005), S. 1024– 1047; Lowenstein, Steven M.: Der jüdische Anteil an der deutschen Kultur, in: Ders. u. a., Integration, S. 302–332. Vgl. van Rahden, Ambivalences, S. 1042f. Vgl. ebd.; Fahrmeier, Andreas: Citizenship. The Rise and Fall of a Modern Concept, New Haven 2007, S. 1–8. So auch Vogt, Positionierungen, S. 27.

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»[o]hne jüdische Identität keine jüdische Geschichte« existieren könne.174 Da der Begriff der ›Identität‹ mittlerweile geradezu inflationär verwendet wird und immer weniger klar in seiner Bedeutung zu sein scheint, soll daher in Anknüpfung an Sarah Panter, Rogers Brubaker und Frederick Cooper in der vorliegenden Studie ein Ansatz verfolgt werden, der es erlaubt, »beyond identity« zu gehen, um die nicht-essentialistische Lesart, die dieser Studie zugrunde liegt, zu akzentuieren.175 Denn Identität, so Brubaker und Cooper, »tends to mean too much (when understood in a strong sense), too little (when understood in a weak sense), or nothing at all (because of its sheer ambiguity)«176. Hinzu kommt, dass viele der für den deutschen Zionismus rekonstruierten national-kulturellen Narrative einen ›hybriden‹, widersprüchlichen und gebrochenen »Zwischencharakter« aufweisen, wie er etwa in den postcolonial studies177 für die von Minderheiten in postkolonialen Gesellschaften geführten Diskurse und Deutungsmuster beschrieben worden ist, und daher eine differenzierte, oftmals eigentümliche Begrifflichkeit erfordern.178 Bereits Derek Penslar, welcher sich in seiner Charakteristik von Zionismus auf die Arbeiten des indischen Historikers Partha Chatterjee stützt, kommt zu dem Ergebnis, der Zionismus sei »historically and conceptually situated between colonial, anti174 Iggers, Georg C.: Ohne jüdische Identität keine jüdische Geschichte, in: Brenner, Michael/ Myers, David N. (Hg.): Jüdische Geschichtsschreibung heute. Themen, Positionen, Kontroversen, München 2002, S. 44–54, hier S. 44. Vgl. dazu auch Weiss, Yfaat: Das Fremde in uns Selbst. Über Identität und Wahrnehmung, in: Kaplan, Marion/Meyer, Beate (Hg.): Jüdische Welten. Juden in Deutschland vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart, Hamburg 2005, S. 361–372, hier S. 372 und Panter, Loyalitätskonflikte, S. 29f. 175 Vgl. Brubaker, Rogers/Cooper, Frederick: Beyond »Identity«, in: Theory and Society 29 (2000), S. 1–47 und Panter, Loyalitätskonflikte, S. 29f. 176 Brubaker/Cooper, Beyond »Identity«, S. 5. Vgl. dazu auch Panter, Loyalitätskonflikte, S. 29. 177 Zum Feld der »postcolonial studies« vgl. aus der Fülle an wissenschaftlicher Literatur Hall, Stuart: When was ›The Postcolonial‹? Thinking at the Limit, in: Chambers, Iain/Curti, Lidia (Hg.): The Post-Colonial Question. Common Skies, Divided Horizons, London 1996, S. 242–260; ders.: The West and the Rest, in: Ders./Gieben, Bram (Hg.): Formations of Modernity, Oxford 1992, S. 275–320; Loomba, Ania: Colonialism/Postcolonialism. The New Critical Idiom, London 1998. 178 Für eine ausgewogene Kritik der essentialistischen Lesart von ›Identität‹ und die Forderung nach einer neuen Theorie, Methode und Begrifflichkeit, auch oder vor allem im Hinblick auf die Zionismusforschung, in Anlehnung an die postcolonial studies vgl. Silberstein, Laurence J.: Mapping, Not Tracing: Opening Reflection, in: Ders. (Hg.): Mapping Jewish Identities, New York 2000, S. 1–36; vor allem auch Vogt, Positionierungen und kürzlich jetzt auch Herrmann, Zionismus, S. 33–35. Vogt, Positionierungen, S. 15, sieht als besondere Charakteristik des deutschen Zionismus, ohne auf das Konzept der ›Hybridität‹ näher einzugehen, seine »Ambivalenz und das ›Dazwischensein‹«, eine »Position zwischen Deutschland und ›Zion‹, zwischen Kolonialisten und Kolonisierten, zwischen Nationalismus und Universalismus«. Vgl. in anderem historischen Kontext und eher aus einer literaturwissenschaftlichen Perspektive auch Stähler, Axel: Literarische Konstruktionen jüdischer Postkolonialität. Das britische Palästinamandat in der anglophonen jüdischen Literatur (Anglistische Forschungen), Heidelberg 2009.

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colonial and postcolonial discourse and practice«179. Daneben hat sich die Forschung zur deutsch-jüdischen Geschichte mit Edward Saids bekanntem Werk »Orientalismus« (1978)180 kritisch auseinandergesetzt und die Rolle von Juden im deutschen Kolonialunternehmen und im entsprechenden Diskurs aus post-kolonialer Perspektive untersucht.181 Nach Susannah Heschel besaß der Diskurs über die »Judenfrage« im Deutschen Reich quasi-koloniale Auszüge und muss als Ausdruck einer »proto-colonialist enterprise« betrachtet werden.182 Die von David Biale, Michael Galchinsky und Susannah Heschel für die ambivalente Stellung der Juden in der amerikanischen Gesellschaft entworfene These, dass es 179 Penslar, Derek J.: Zionism, Colonialism and Postcolonialism, in: Journal of Israeli History 20 (2001), S. 84–98, hier S. 85. Penslar bezieht sich dabei auf Chatterjee, Partha: The Nation and its Fragments. Colonial and Postcolonial Histories, Princeton 1993. Vgl. dazu vor allem auch Vogt, Positionierung, S. 34. Vgl. auch Stähler, Axel: Zionism, Colonialism, and the German Empire. Herzl’s Gloves and Mbwampwa’s Umbrella, in: Brunotte, Ulrike/Ludewig, Anna-Dorothea/Ders. (Hg.): Orientalism, Gender, and the Jews. Literary and Artistic Transformations of European National Discourses (Europäisch-jüdische Studien, Beiträge; Bd. 23), Berlin u. a. 2015, S. 98–123. Stähler sieht seinen Beitrag als »part of an ongoing project which enquires into demarcations of Jewishness from, and identifications with, ›blackness‹ in the early twentieth-century German Zionist press and literature and their impact on the Zionist imaginary in relation to the colonial paradigm« (Ebd., S. 100, Anm. 13). 180 Vgl. Said, Edward W.: Orientalism. Western Conceptions of the Orient, London 1978. 181 Vgl. Riegert, Leo W.: Subjects and Agents of Empire. German Jews in Post-Colonial Perspective, in: The German Quarterly 82:3 (2009), S. 336–355; Davis, Christian S.: Colonialism, Antisemitism, and Germans of Jewish Descent in Imperial Germany (Social History, Popular Culture, and Politics in Germany), Ann Arbor 2012; Rohde, Achim: Der innere Orient. Orientalismus, Antisemitismus und Geschlecht im Deutschland des 18. bis 20. Jahrhunderts, in: Die Welt des Islams 45:3 (2005), S. 370–411; Pasto, James: Islam’s »Strange Secret Sharer«. Orientalism, Judaism, and the Jewish Question, in: Comparative Studies in Society and History 40 (1998), S. 437–474. Pasto spricht von der jüdischen Bevölkerung Deutschlands im 18. und 19. Jahrhundert als einer »internal ›oriental‹ colony« (ebd., S. 467). Vgl. für einen guten Forschungsüberblick über das Thema Stähler, Axel u. a.: Orientalism, Gender, and the Jews. Literary and Artistic Transformations of European National Discourses, in: Brunotte/Ludewig, Orientalism, S. 1–16. Im Besonderen Saids Vernachlässigung einer deutschen Variante von ›Orientalismus‹ und die pauschalisierende Tendenz seiner Untersuchung, die sowohl vom ›Westen‹ als auch vom ›Orient‹ als monolithischen Blöcken und von der Einseitigkeit der Projektion ausgeht, wurden von seinen Kritikern in den Mittelpunkt gerückt, die stattdessen eine pluralistische, relationale und dialektische Sicht auf orientalistische und koloniale Diskurse forderten, ohne Saids Forschungsbeitrag schmälern zu wollen. Zur Kritik an Said vgl. ausführlich Kap. III.3.1 der vorliegenden Arbeit und allgemein Polaschegg, Andrea: Der andere Orientalismus. Regeln deutsch-morgenländischer Imagination im 19. Jahrhundert (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte, Bd. 35), Berlin 2005; Wiedemann, Felix: Orientalismus. Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 19. 04. 2012. URL: [letzter Zugriff erfolgt am 12. 03. 2016]. 182 Heschel, Susannah: Revolt of the Colonized. Abraham. Geiger’s Wissenschaft des Judentums as a Challenge to Christian Hegemony in the Academy, in: New German Critique 77 (1999), S. 61–86, hier S. 62f.

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sich bei ihnen um »insiders who are outsiders and outsiders who are insiders«183 handelte, ließe sich demnach auch auf die Zionisten in Deutschland anwenden. Aus beidem ergibt sich auch Heschels Kritik an Said, dessen Untersuchung fälschlicherweise von einer zu strikten Trennung von »colonizer« und »colonized« ausgeht.184 Heschel hingegen stellt die flexible, gegenseitige Beziehung beider Diskurspositionen fest, die sie in erster Linie aus Homi K. Bhabhas »Hybriditätstheorie« ableitet.185 Heschels Thesen und ihre bereits zuvor beschriebene Weiterentwicklung durch Stefan Vogt in Bezug auf den deutschen Nationalismus deuten an, dass eine ebenso ambivalente wie wechselseitige Beziehung zwischen dem Zionismus und den kolonialen Theorien und Praktiken in den Heimatländern der Zionisten wie dem Deutschen Reich bestand.186 Einige der im Kontext der postcolonial studies entstandenen Theorien und Methoden, unter denen das Konzept der ›Hybridität‹ heraussticht, können daher auch für die Zionismusforschung, als deren Teil sich die vorliegende Studie betrachtet, treffende terminologische Akzente setzen und zugleich Erklärungsansätze für die Diskursposition der zionistischen »Zwischenräume« liefern.187 In großer Ähnlichkeit zu Stuart Hall, der anstelle von »Identität« als »naturally-constituted unity«188 die Prozesshaftigkeit (post-)moderner Selbstbestimmung betonte und den modernen nationalistischen Diskurs als kulturell ›hybrid‹ verstand,189 entwickelte Homi K. Bhabha einen anti-essentialistischen, 183 Biale, David u. a.: Introduction. The Dialectic of Jewish Enlightenment, in: Ders. u. a. (Hg.): Insider/Outsider. American Jews and Multiculturalism, Berkeley 1998, S. 1–16, hier S. 5. 184 Heschel, Revolt, S. 64. 185 Vgl. ebd. 186 Vgl. ebd. und Vogt, Positionierungen. Zum Verhältnis von Zionismus und Kolonialismus vgl. auch die Studien und Beiträge von Aaronsohn, Ran: Settlement in Erez Israel – A Colonialist Enterprise? Critical Scholarship and Historical Geography, in: Israel Studies 1 (1996), S. 214–229; Boyarin, Daniel: The Colonial Drag. Zionism, Gender, and Mimicry, in: Afzal-Khan, Fawzia/ Seshadri-Crooks, Kalpana (Hg.): The Pre-Occupation of Post-Colonial Studies, Durham, NC. 2000, S. 234–265; Golan, Arnon: European Imperialism and the Development of Modern Palestine, in: Space & Polity 5:2 (2001), S. 127–143; Penslar, Zionism; Stähler, Konstruktionen; ders.: Orientalist Strategies of Dissociation in a German »Jewish« Novel: ›Das neue Jerusalem‹ (1905) and its Context, in: Forum for Modern Language Studies 45:1 (2009), S. 51–89 [online]. URL: [letzter Zugriff erfolgt am 20. 06. 2016]; ders.: Constructions of Jewish Identity and the Spectre of Colonialism. Of White Skin and Black Masks in Early Zionist Discourse, in: German Life and Letters 66:3 (2013), S. 254– 276 [online]. URL: [letzter Zugriff erfolgt am 20. 06. 2016]. 187 Vgl. allgemein auch Vogt, Positionierungen, S. 34f. 188 Hall, Stuart: Introduction: Who Needs Identity?, in: Ders./du Gay, Paul (Hg.): Questions of Cultural Identity, London 1996, S. 1–17, hier S. 3f. 189 Vgl. ebd.; ders.: Cultural Identity and the Diaspora, in: Rutherford, Jonathan (Hg.): Identity, Community, Culture, Difference, London 1990, S. 222–237; ders.: New Ethnicities, in: Mercer, Kobena (Hg.): Black Film, British Cinema, London 1988, S. 27–31; ders.: Politics

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diskursiv-semiotischen und differentiellen Kulturbegriff, der von der Grundannahme ausgeht, dass sich alle Formen von ›Kultur‹ in einem kontinuierlichen Prozess der Dynamisierung und Bedeutungsgenerierung befinden.190 Im Gegensatz zum Konzept der »cultural diversity«, das er ablehnt, befürwortet Bhabha ein Konzept der »cultural difference«, nach dem Kulturkontakte eine Zone der produktiven »liminality« oder Diskursivität innerhalb wie zwischen den Kulturen erzeugen:191 »The process of cultural hybridity gives rise to something different, something new and unrecognisable, a new area of negotiation of meaning and representation.«192 Nach Bhabha bedeutet ›Hybridität‹ also nicht einfach die Synthese oder den harmonischen Ausgleich zwischen zwei Kulturen, sondern die Erzeugung einer Position des »Dritten Raums«, eines Sprach- und Diskursraumes, in dem neue Bedeutungen geschaffen und ausgehandelt werden und neue Formen der minoritären Artikulation innerhalb eines majoritären Diskurses möglich sind.193 Gerade in diesem »Zwischenraum«194 oder »DaZwischen«195 der »Unentscheidbarkeit«196 oder »De-plazierung«197 verortet Bhabha den minoritären Diskurs und möchte damit die dichotome Beschreibung der Diskurspositionen von ›Kolonisator‹ und ›Kolonisiertem‹ in postkolonialen Gesellschaften überwinden. Die Bedeutung von ›Hybridität‹ als Diskurs-Raum liegt nach Bhabha »in der Umwertung des Symbols der nationalen Autorität zum Zeichen kolonialer Differenz«198. Als Produktionsmodi oder Strategien von ›Hybridität‹ charakterisiert er daher Konzepte wie »Übersetzung« oder »Mimikry«. Unter »Übersetzung«199 versteht Bhabha jedoch nicht eine schlichte Übertragung sondern eine Art ›Trans-formation‹: »Der transformatorische Wert der Veränderung«, so Bhabha, »liegt hier in der Neuartikulierung – oder Übersetzung – von Elementen, die weder das Eine […] noch das Andere […] sind, sondern etwas weiteres neben ihnen, das die Begriffe und

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of Identity, in: Ranger, Terence/Samad, Yunas/Stuart, Ossie (Hg.): Culture, Identity and Politics, Aldershot 1996, S. 129–135. Vgl. Bhabha, Homi K.: The Location of Culture, London 1994, insbes. S. 1–27. Vgl. auch Ders.: Introduction. Narrating the Nation, in: Ders. (Hg.): Nation and Narration, New York/ London 1990, S. 3–8. Vgl. Rutherford, Jonathan: The Third Space. Interview with Homi Bhabha, in: Ders. (Hg): Identity : Community, Culture, Difference, London 1990, S. 207–221, hier S. 209. Ebd., S. 211. Vgl. ebd.: »But for me the importance of hybridity is not to be able to trace two original moments from which the third emerges, rather hybridity to me is the ›third space‹ which enables other positions to emerge.« Bhabha, Verortung, S. 10 (des besseren Textverständnisses halber wird im Folgenden aus der deutschen Ausgabe von Bhabhas »Verortung der Kultur« zitiert). Ebd., S. 2; 185. Ebd., S. 191. Ebd., S. 324. Ebd., S. 168. Ebd., S. 51.

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Territorien von beiden in Frage stellt«.200 Eine zentrale Rolle spielt in diesem Zusammenhang auch die Tatsache der Unübersetzbarkeit bestimmter Aspekte einer Kultur, womit Bhabha vor allem die konkreten Lebensumstände und Überlebensstrategien von Minderheiten in den Zwischenräumen meint.201 Diese führt »zu einer Begegnung mit dem ambivalenten Prozeß der Spaltung und Hybridität, der die Identifikation mit der Differenz der Kultur kennzeichnet«202. Hybridität stellt also demnach nicht nur einen bloßen Gegendiskurs zum hegemonialen Diskurs der Vertreter der scheinbar majoritären Kultur dar, sondern nimmt eine eigentümliche Zwischenposition ein, welche auf die (hegemonialen) »Strategien der kolonialen Macht und des kolonialen Wissens« Bezug nimmt und sich zugleich von diesen abgrenzt.203 Auch bei der Form der »Mimikry« handelt es sich nach Bhabha nicht um bloße Repräsentation, sondern um eine scheinbare Übernahme, die den Kolonisierten dazu dient, unter dem Deckmantel der Nachahmung eine subversive Position innerhalb des hegemonialen kolonialen Diskurses einzunehmen.204 Im Gegensatz zur bislang in der historischen Forschung vorherrschenden Charakterisierung des deutsch-zionistischen Diskurses als dichotomer Zusammensetzung aus »jüdischen« und »deutschen« Elementen soll im Folgenden gezeigt werden, dass dieser im »Darüber-Hinaus« vielmehr oftmals komplexe, hybride Zwischenformen entwickelte, die sich nicht immer eindeutig einem der beiden Bereiche zuweisen lassen.205 Im Gegensatz zu Bhabhas »Mimikry« soll im Folgenden nicht automatisch impliziert werden, dass keine tatsächliche Übernahme hegemonialer Deutungsmuster durch den zionistischen Nationalismus stattfand, sondern vielmehr bewusst die Ambivalenz der zionistischen Diskursposition herausgearbeitet werden. Ziel der vorliegenden Studie ist es, den Diskurs in der Jüdischen Rundschau auf seine mögliche Hybridität hin zu analysieren. Mit Manja Herrmann soll daher im Folgenden anstelle des Begriffes der »Identitätspolitik«, den beispielsweise Stefan Vogt verwendet, von einer positiven, wenn auch mitunter höchst ambivalenten zionistischen »Hybriditätspolitik«206 gesprochen werden, welche deutsche Zionisten in Stellen mit anderen Minderheitsbewegungen teilten und – darüber hinaus – durch welche sie sich von diesen absetzten.207 Gerade vor dem Hintergrund der beschriebenen und weiteren innerzionistischen wie außerzionistischen Rahmenbedingungen vor 200 201 202 203 204 205 206 207

Ebd., S. 42. Ebd., S. 335. Ebd. Ebd., S. 126. Vgl. ebd., S. 134. Vgl. dazu nun kürzlich auch Herrmann, Zionismus, S. 34. Ebd., S. 34f. Vgl. dazu die Beispiele ebd., S. 35.

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dem Ersten Weltkrieg wird im Folgenden insgesamt zu überdenken sein, wie sich die eigentümliche Diskursposition des deutschen Zionismus überhaupt charakterisieren lässt. Darunter fällt auch im Besonderen die Frage, ob und inwiefern die zionistischen Hybriditätskonstruktionen in Deutschland einen Anspruch auf Selbstbehauptung im mit dem deutschen Nationalismus »cohabited space«208 zum Ausdruck brachten.

Zionistisches ›Generation-building‹ Die Zionismusforschung ist bislang der generationellen These von Jehuda Reinharz zur Bedeutungsverschiebung des zionistischen Nationalismus vor dem Ersten Weltkrieg vorbehaltlos gefolgt,209 ohne näher auf die mit einem Generationenmodell verbundene Forschungsproblematik einzugehen. Problematisch erscheint daran zunächst, dass von der historischen Forschung zum deutschen Zionismus bislang nicht zwischen »Generation« als Selbstdeutungsformel und »Generation« als analytischer Kategorie unterschieden wurde.210 Darüber hinaus wurden die generationellen Selbstthematisierungen211 der historischen 208 Ebd., S. 35. 209 Vgl. etwa zuletzt Vogt, Positionierungen, S. 24. 210 Zur Problematik allgemein vgl. den Forschungsüberblick bei Jureit, Ulrike: Generation, Generationalität, Generationenforschung, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 11. 02. 2010. URL: [letzter Zugriff erfolgt am 10. 10. 2016]. Vgl. die Definition von »Generation« bei Jureit, Generation, S. 1: »›Generation‹ ist ein geschichtlicher Grundbegriff. Er verspricht, eine spezifische Ausprägung des Denkens, Fühlens und Handelns zu erklären, indem die unterstellte dauerhafte und gleichartige Wirkung von Sozialisationsbedingungen auf eine Gruppe von Menschen als kollektive Erfahrung aufgefasst wird. Das parallele Erleben von Geschichte, die als vergleichbar empfundene biografische Erfahrungsschichtung sowie die Phantasie, einen gemeinsamen (zeitlichen) Ursprung zu haben – solche Zusammenhänge sind für das Verstehen generationeller Vergemeinschaftungen von grundlegender Bedeutung. Die Annahme, durch die Gleichzeitigkeit des Erfahrungsgewinns entstünde eine gefühlte Verbundenheit zwischen Angehörigen verwandter Jahrgänge, beruht wesentlich auf der modernen Vorstellung von Verzeitlichung, denn zu den entscheidenden Veränderungen der Moderne gehört die Denaturalisierung bis dahin vorherrschender Zeiterfahrungen.« Zum Begriff vgl. auch Jureit, Ulrike/Wildt, Michael: Generationen, in: Dies. (Hg.): Generationen. Zur Relevanz eines wissenschaftlichen Grundbegriffs, Hamburg 2005, S. 7–26. 211 Nach Jureit, Generation, S. 2, soll unter »Selbstthematisierung« im Folgenden verstanden werden: »Selbstthematisierung meint in diesem Zusammenhang zum einen, dass sich jemand in Beziehung zu sich selbst setzt, diese Selbstbetrachtung reflektiert und sich zugleich einem Kollektiv zugehörig fühlt, das er für sein eigenes Selbstverständnis als relevant ansieht und durch das er sich mit anderen, die er als gleich oder zumindest ähnlich erachtet, verbunden glaubt. Zum anderen heißt generationelle Selbstbeschreibung aber auch, dass sich soziale Gruppierungen als ›Generationen‹ imaginieren und artikulieren, um auf diesem Wege bestimmte Interessen oder Bedürfnisse in die Gesamtgesellschaft zu kommu-

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Akteure bislang ausgeblendet oder, sozusagen implizit, zum Anlass genommen, den Wandel des deutschen Zionismus über den Rückbezug auf deren Generationszugehörigkeit zu erläutern.212 Wie die stenographischen Protokolle des Delegiertentages von Leipzig 1914, die sich anschließende Debatte in der Jüdischen Rundschau und zeitgenössische Ego-Dokumente zeigen, wurde das Deutungsmuster ›Generation‹ jedoch bereits von den Zeitgenossen verwendet und zur Legitimation der eigenen Nationalismusvorstellungen instrumentalisiert.213 Um die Problematik des Generationenbegriffs zu relativieren, ohne sein Potential zu vernachlässigen, soll »Generation« daher im Folgenden in Anlehnung an Reinhart Kosellecks Unterscheidung zwischen »Erfahrungsraum« und »Erwartungshorizont«214 und an aktuelle Forschungstendenzen der Generationenforschung in erster Linie als erfahrungsgeschichtliche Kategorie verstanden werden. Demnach ist weniger von Interesse, »wie real, konstruiert oder substanziell solche gefühlten Gemeinschaften eigentlich sind«215, sondern es soll untersucht werden, unter welchen diskursiven Bedingungen die beobachteten generationellen Selbstverortungen stattfanden und zu Stande kamen.216 In Anknüpfung an Ulrike Jureit kann das zionistische generation-building daher als »ein überwiegend im öffentlichen Raum lokalisierter Vergemeinschaftungsprozess und somit Gegenstand und Ergebnis kollektiver Verständigungen«217 definiert werden. Es soll daher erstmalig der dezidierte Versuch unternommen werden, die Veränderungen in den nationalistischen Narrativen im zionistischen Nationalismus in Deutschland vor dem Ersten Weltkrieg mithilfe der Analysekategorie der Hybridität einer eingehenden Diskursanalyse zu unterziehen und sie nicht primär auf innerzionistische Entwicklungen zurückzuführen, sondern etwa auch nach der Wechselbeziehung mit Entwicklungen im deutschen Nationalismus vor 1914 zu fragen.

212 213

214 215 216 217

nizieren. ›Generation‹ ist also sowohl eine individuelle Zuordnungsgröße als auch eine kollektive Selbstbeschreibungsformel.« Vgl. ebd., S. 2. Vgl. Kap. III.3.3 und etwa Blumenfeld, Judenfrage, S. 199: »In Deutschland gab es nur eine zionistische Organisation. Im Unterschied zu allen anderen zionistischen Länderorganisationen war die ZVfD kein Dachverband. Aber es gab eine zionistische Bewegung in allen Altersschichten. Der alten zionistischen Garde erschien ich als ein Führer der Jugend; die wirkliche Jugend aber hatte neue Formen der Bewegung entwickelt.« Vgl. Koselleck, »Erfahrungsraum«. Jureit, Generation, S. 8. Vgl. ebd. Ebd.

Zentrale Arbeitsbegriffe und -konzepte, Spezifizierung der Leitfragen

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Jewish Cultural Studies und ›Doing Zionist Space‹ Jewish Studies zu Jewish Cultural Studies zu erweitern und damit die Eindimensionalität der bisherigen historiographischen Kategorien zu überwinden war auch das Anliegen einer Reihe von Veröffentlichungen seit den späten 1990er Jahren, welche jüdische Kultur als produktive Differenz auffassten und gegen die Marginalisierung von »Jewishness« anschrieben.218 Der Begriff der »Jewishness« wurde darin nicht mehr wie der ältere des »Judaism« ausschließlich in Bezug auf jüdische Religion definiert, sondern es wurde in Überschneidung zu den postcolonial studies von fluiden, heterogenen »cultures of Jews«219 ausgegangen. Daran anknüpfend erweiterte Joachim Schlör das Programm der Jewish Cultural Studies im Zuge des sog. ›Spatial Turn‹ in den Kultur- und Geschichtswissenschaften um das Raumparadigma und fragte in seinen Untersuchungen nach der »Einrichtung (von Individuen und Gruppen) im Raum«220. Schlörs Erweiterung zielte also darauf, nicht bei den Diskursen und Ideen stehen zu bleiben, sondern auch nach den Produktionspraktiken und -modi des Raumes, nach dem »doing Jewish space«221 zu fragen. Die Bedeutung des zionistischen Raums Berlin in den Jahren von 1897 bis 1933 für die Produktion zionistischer Kultur in Deutschland am Beispiel der Biographie von Heinrich Loewe aufzuzeigen war auch das zentrale Anliegen der Dissertation von Frank Schlöffel, die in dieser Hinsicht anregend war und eine erste, treffliche Übersetzung und Anwendung der theoretischen und methodischen Instru-

218 Vgl. Boyarin, Daniel/Boyarin, Jonathan: Introduction/So What’s New?, in: Dies. (Hg.): Jews and Other Differences. The New Jewish Cultural Studies, Minneapolis/London 1997, S. vii– xxii; Biale, David: Preface: Toward a Cultural History of the Jews, in: Ders. (Hg.): Cultures of the Jews. A New History, New York 2002, S. xvii–xxxiii; Bronner, Simon J. (Hg.): Jewishness: Expression, Identity, and Representation (Jewish Cultural Studies, Vol. 1), Oxford u. a. 2008; Heschel, Susannah: Jewish Studies as Counter History, in: Biale u. a.., Insider/Outsider, S. 101–115. Zum Folgenden vgl. den anregenden Überblick zum Forschungsstand und die Vorstellung der eigenen Leitfragen bei Schlöffel, Loewe, S. 21–27. 219 Biale, Cultures. 220 Schlör, Joachim: Jewish Cultural Studies – eine neue Heimat für die jüdische Volkskunde, in: Johler, Birgit/Staudinger, Barbara (Hg.): Ist das jüdisch? Jüdische Volkskunde im historischen Kontext, Wien 2010, S. 415–434, hier S. 420. Einen Überblick (bis 2007) liefern Brauch, Julia u. a.: Exploring Jewish Space. An Approach, in: Dies. u. a. (Hg.): Jewish Topographies: Visions of Space, Traditions of Place, Aldershot/Burlington 2008, S. 1–23; Mann, Barbara E.: Space and Place in Jewish Studies, New Brunswick 2012. Siehe hierzu auch Dies.: A Place in History. Modernism, Tel Aviv, and the Creation of Jewish Urban Space, Stanford 2006, S. 1–25 (Kap. »Jews in Space«). Vgl. dazu auch Schlör, Joachim: Das Ich der Stadt. Debatten über Judentum und Urbanität 1822–1938, Göttingen 2005; ders.: Tel Aviv – vom Traum zur Stadt. Reise durch Kultur und Geschichte, Gerlingen 1996. 221 Brauch u. a., Space, S. 2.

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mentarien auf einen im Rahmen der vorliegenden Studie relevanten Teilausschnitt der Geschichte des deutschen Zionismus leistete.222 Auch die vorliegende Untersuchung knüpft zur Rekonstruktion der konkreten Raum- und Produktionsbedingungen der Jüdischen Rundschau vor dem Ersten Weltkrieg an netzwerktheoretische Überlegungen an, ohne das (gesamte) Instrumentarium, wie es etwa im Kontext der Sozialen Netzwerkanalyse (SNA) und im Rahmen der Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) entworfen wurde, anzuwenden.223 Die diskursiven Hybriditätskonstruktionen des zionistischen Kollektivs im Spiegel der Jüdischen Rundschau waren eingebettet in ein weit verzweigtes, vielfältiges sozioräumliches Beziehungsgeflecht im zionistischen Raum in Berlin und darüber hinaus. Die Erfindung einer hybriden ›jüdischen Nation‹, die sich neben der Ebene der Diskurse auch in der sozialen Formierung von zionistischen Kollektiven vollzog und diese wechselseitig beeinflusste, erfolgte damit immer auch performativ und fand in konkreten räumlich-zeitlichen Konstellationen statt. Diese zeichneten sich »durch spezifische Dynamiken, spezifische Mechaniken der Wirklichkeitsproduktion und spezifische Figurationen von Menschen, Dingen und Ideen«224 aus und ließen zionistische Kulturpraxen erkennen. Die Jüdische Rundschau und die mit ihr verbundenen Räume in Berlin bildeten somit zentrale Schauplätze und Produktionsstätten »jener Prozesse des Aneignens, Umdeutens und Verhandelns«225 von zionistischer Hybridität und wurden wiederum von den diskursiven Prozessen, die sie abbildeten, produziert und untereinander in Beziehung gesetzt. Zionistische Pressearbeit lässt sich demnach in Anlehnung an Tobias Metzler und Frank Schlöffel selbst als Teil einer »Urban Jewish/Zionist Culture«, d. h. als Vorgang des »reclaiming and opening up new territories«226 und der »Aneignung von ›Orten der Moderne‹«227 im urbanen Raum interpretieren. Dieses Netzwerk gilt 222 Vgl. Schlöffel, Loewe, S. 10. 223 Vgl. u. a. Hollstein, Bettina/Straus, Florian (Hg.): Qualitative Netzwerkanalyse. Konzepte, Methoden, Anwendungen, Wiesbaden 2006; Jansen, Dorothea: Einführung in die Netzwerkanalyse. Grundlagen, Methoden, Forschungsbeispiele, 3., überarb. Aufl. Wiesbaden 2006; Latour, Bruno: Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie, Frankfurt a. M. 2007. 224 Schlöffel, Loewe, S. 30. 225 Schlör, Stadt, S. 143; Schlöffel, Loewe, S. 31. 226 Metzler, Tobias: Secularization and Pluralism: Urban Jewish Cultures in Early TwentiethCentury Berlin, in: Journal of Urban History 37:6 (2011), S. 871–896, hier S. 872. Vgl. hierzu auch ders.: Tales of Three Cities. Urban Jewish Cultures in London, Berlin, and Paris (c. 1880–1940) (Jüdische Kultur, Bd. 28), Wiesbaden 2014, S. 150–239 (Kap. »Berlin – Community and Modernity«). 227 Schlöffel, Loewe, S. 31. Die Formulierung verweist auf die Einleitung des gleichnamigen Sammelbandes von Alexa Geisthövel und Habbo Knoch. Vgl. Geisthövel, Alexa/Knoch, Habbo: Einleitung, in: Dies. (Hg.): Orte der Moderne. Erfahrungswelten des 19. und 20. Jahrhunderts, Frankfurt a. M./New York 2005, S. 9–14.

Untersuchungsebenen, Quellenlage und (methodische) Vorgehensweise

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es anhand der auffindbaren Spuren in einem der Diskursanalyse vorgeschalteten Kapitel zu rekonstruieren und mit dieser in Beziehung zu setzen.

5.

Untersuchungsebenen, Quellenlage und (methodische) Vorgehensweise

Die vorliegende Studie untersucht die ambivalenten Hybriditätskonstruktionen im frühen deutschen zionistischen Diskurs im Spiegel der Jüdischen Rundschau und die soziokulturelle Praxis der Produktionsbedingungen der zionistischen Wochenzeitung vor dem Ersten Weltkrieg. Sie versteht sich demnach vor allem als Beitrag zur zionistischen Ideen- und Diskursgeschichte, möchte jedoch auch zur Erforschung der zionistischen Raum-, Kultur- und Pressegeschichte am Beispiel der Jüdischen Rundschau beitragen. Wie aus dem angeführten Forschungsüberblick hervorgeht, wurde der zionistische Nationalismus in Deutschland im Kontext der einleitend erläuterten Spannungsfelder vor dem Ersten Weltkrieg unter Berücksichtigung des Konzeptes der Hybridität bislang nicht systematisch erforscht. Die in die thematische Breite gehende, planmäßige Quer- und Längsschnittuntersuchung der nationalen Deutungsmuster und die auf sie übertragene konsequente Anwendung des Ansatzes der Hybridität stellen daher den besonderen Forschungsbeitrag der vorliegenden Studie dar. Zusammen mit der Konzentration auf die Jüdische Rundschau als einem zentralen und dennoch bislang vernachlässigten Diskursmedium des deutschen Zionismus ist eine neue wichtige Betrachtung der Geschichte des frühen Zionismus in Deutschland möglich. Die Untersuchung setzt mit der Gründung der Jüdischen Rundschau als offiziellem Organ der Zionistischen Vereinigung für Deutschland im Jahr 1902 ein und geht davon aus, dass mit ihrer Gründung und Etablierung in der zionistischen Presselandschaft überhaupt erst ein zentraler Ort für die Austragung innerzionistischer Debatten geschaffen wurde. Die Untersuchung endet zeitlich vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs, der zionistisches Denken und Handeln vor neue Herausforderungen stellte und mit dem neue Topoi in den Mittelpunkt des zionistischen Interesses rückten oder sich bereits vorhandene Spannungsfelder verstärkten.228 Demnach soll die vorliegende Arbeit auch Antworten auf die Frage nach Wandel und Kontinuität der untersuchten hybriden nationalen Deutungsmuster zwischen den Jahren 1902 und 1914 ermöglichen, in deren Zentrum vor allem eine Analyse der möglichen Bedeutungsverschiebung des hybriden Gehaltes im deutschen Zionismus vor dem Ersten Weltkrieg stehen 228 Zum jüdischen Diskurs während des Ersten Weltkriegs vgl. Panter, Loyalitätskonflikte; dies.: Selbstreflexion; Sieg, Intellektuelle.

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wird. Es kann und soll jedoch nicht Gegenstand der vorliegenden Studie sein, eine neue umfassende Gesamtdarstellung des deutschen Zionismus bis 1914 zu leisten. Bei der Auswahl der folgenden Aspekte stand vielmehr im Vordergrund, die vorgestellte Fragestellung anhand bestimmter markanter politisch-ideologischer Themenfelder und Schlüsseldebatten zu analysieren, die bislang in der Forschung noch gar nicht oder noch nicht umfassend rekonstruiert wurden. Auf die große Bedeutung jüdischer Periodika wie Zeitungen und Zeitschriften hat nicht zuletzt die moderne jüdische Presseforschung, wie sie vor allem Michael Nagel theoretisch entwickelt hat, hingewiesen.229 Michael Nagel betont, dass die öffentlich geführten Diskurse in der jüdischen Publizistik stets auch Reaktionen und Antworten auf (empfundene) Fremdwahrnehmungen der nichtjüdischen Umwelt widerspiegelten und somit die Interaktion innerjüdischer Deutungsmuster mit gesamtgesellschaftlich relevanten Phänomenen erkenn- und rekonstruierbar werden lassen.230 In diesem Kontext muss jedoch auch beachtet werden, dass die Diskurse, welche sich in der Jüdischen Rundschau abbildeten, nur von einer verhältnismäßig kleinen Elite innerhalb des deutschen Zionismus geführt wurden.231 Die Verfasserin ist sich bewusst, dass auch in dieser Hinsicht nur ein Teil der Gesamtbewegung berücksichtigt werden kann, jedoch zeichnet sich dieser, da die Jüdische Rundschau im zionistischen Kollektiv in Deutschland breit rezipiert wurde, durch eine hohe Relevanz aus, wie im folgenden Kapitel gezeigt werden soll. Darüber hinaus stellte der Diskurs im offiziellen Organ des deutschen Zionismus nicht immer die jeweiligen Mehrheitspositionen im deutschen Zionismus dar, sondern stand mit diesen mitunter in einem komplexen, spannungsgeladenen Verhältnis. Daher können die betrachteten Diskurse nicht in jedem Fall auch als repräsentativ für die Grundanschauungen der Mehrheit der deutschen Zionisten gelten. Dennoch kann die Studie nicht leisten, in jedem Fall eine detaillierte Aufschlüsselung der verschiedenen Positionen innerhalb der zionistischen Bewegung in Deutschland zu geben und im Einzelnen die Re229 Vgl. Nagel, Michael: Jüdische Presse und jüdische Geschichte. Möglichkeiten und Probleme in Forschung und Darstellung, in: Marten-Finnis, Susanne/Bauer, Markus (Hg.): Die jüdische Presse. Forschungsmethoden, Erfahrungen, Ergebnisse, Bremen 2007, S. 19–38; ders.: Deutsch-jüdische Presse und jüdische Geschichte, in: Welke, Martin/Wilke, Jürgen (Hg.): 400 Jahre Zeitung. Die Entwicklung der Tagespresse im internationalen Kontext, Bremen 2008, S. 379–394; ders.: Zur mentalitätsgeschichtlichen Bedeutung der deutschjüdischen Presse. Eine Skizze, in: Blome, Astrid/Böning, Holger (Hg.): Presse und Geschichte. Leistungen und Perspektiven der historischen Presseforschung, Bremen 2008, S. 259–266; ders./Lappin, Eleonore (Hg.): Deutsch-jüdische Presse und jüdische Geschichte. Dokumente, Darstellungen, Wechselbeziehungen, Bd. 1: Identität, Nation, Sprache – Jüdische Geschichte und jüdisches Gedächtnis – Der Westen im Osten, der Osten im Westen – Konzepte jüdischer Kultur, Bremen 2008. 230 Vgl. Nagel, Bedeutung. 231 Vgl. Kap. II.2 und Kap. II.5 der vorliegenden Arbeit.

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präsentativität der untersuchten Deutungsmuster festzustellen. Daher wurde versucht, die ideologische Position der Jüdischen Rundschau in einem vorangeschalteten Kapitel näher zu bestimmen und stellenweise auch in der folgenden Analyse die Relevanz und Repräsentativität der jeweiligen Positionen, sofern dies für notwendig erachtet wurde und überhaupt im konkreten Einzelfall nachvollziehbar war, kritisch zu bewerten und gegebenenfalls Korrektive durch weitere Quellengattungen, die im Folgenden vorgestellt werden, vorzunehmen. Die Archive der Zionistischen Vereinigung für Deutschland und der Jüdischen Rundschau wurden größtenteils in der Zeit des Nationalsozialismus vernichtet oder gelten als verschollen, wodurch der Historiker, der an einer Rekonstruktion der Geschichte der Zeitung Jüdische Rundschau arbeitet, keineswegs auf einen vollständig erhaltenen oder gar systematisch archivalisch erschlossenen Quellenkorpus zurückgreifen kann. Vielmehr stellte sich die Quellenlage zur Jüdischen Rundschau auf den ersten Blick als äußerst fragmentarisch und verstreut dar. Der Großteil des wenigen erhaltenen Schriftgutes der Redaktion der Jüdischen Rundschau wurde vor allem nach Jerusalem in die Central Zionist Archives (CZA) überführt und ist bislang nur unvollständig inventarisiert oder nur in Ansätzen über die Suche mit den Katalogen des Archivs erschließbar.232 Auch auf Nachfrage beim zuständigen Archivar vor Ort konnten keine genauen Angaben über die Überlieferungsgeschichte der Quellen und ihre Aufbewahrungsorte gemacht werden. Daneben lieferte die Recherche mit den Suchoperatoren des Katalogs oftmals unterschiedliche Treffer, je nach deutscher, englischer oder hebräischer Schreibweise der Eigennamen, und nur wenige direkt unter dem Stichwort »Jüdische Rundschau« katalogisierte Mappen, die darüber hinaus überwiegend Aussagen über die Geschichte der Zeitung nach dem Ersten Weltkrieg zuließen. Ungleich mehr und häufig informativeres Material brachte die manuelle Durchsicht der laufend gesammelten Korrespondenzmappen und Bestände der verschiedenen zionistischen Institutionen und Behörden wie der Zionistischen Zentralbüros. Darunter befanden sich u. a. Entwürfe und Kopien von Briefen und Durchschläge von Akten und Korrespondenzen des Zentralkomitees der ZVfD sowie des Pressekomitees der ZVfD mit der Redaktion und dem Verlag »Jüdische Rundschau« sowie themenrele-

232 Zur Geschichte und Praxis des Archivierens in Israel und im Zentralistischen Zentralarchiv vgl. Bein, Alex: Archives in Israel, in: Archivum. Revue Internationale des Archives 11 (1961), S. 171–181; ders.: Hier kannst du nicht jeden grüßen. Erinnerungen und Betrachtungen, Hildesheim/New York 1996; Herlitz, Georg: Mein Weg nach Jerusalem. Erinnerungen eines zionistischen Beamten, Jerusalem 1964; Jütte, Robert: Die Emigration der deutschsprachigen »Wissenschaft des Judentums«. Die Auswanderung jüdischer Historiker nach Palästina. 1933–1945, Stuttgart 1991, S. 89–100. Zur Frage der Demokratisierung des israelischen Archivwesens vgl. kritisch Schlöffel, Loewe, S. 11f.

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vante Satzungen, Verträge, Zirkulare und Gesprächsprotokolle. Sie lieferten ein wichtiges nicht-öffentliches Korrektiv zu den öffentlich geführten Diskursen. Wertvolle Fundgruben zur Rekonstruktion der ideologischen und organisatorischen Grundlagen der zionistischen Zeitung bildeten auch besonders die privaten Nachlässe der Redakteure der Zeitung und von Führungspersönlichkeiten der ZVfD, die im Rahmen ihrer zionistischen Tätigkeit regelmäßig mit der und über die Jüdische Rundschau kommunizierten. Dies galt beispielsweise in hohem Maße für die Nachlässe von Max Bodenheimer und Arthur Hantke, der ersten beiden Vorsitzenden der ZVfD, und von Heinrich Loewe233. Eine wichtige Ergänzung zu den Quellen in den Central Zionist Archives, Jerusalem, bildete daher auch der Teilnachlass Heinrich Loewes im Kulturzentrum und in der Bibliothek Beit Ariela-Sha’ar Zion in Tel Aviv.234 Um Aussagen über die Rechtsform der juristischen Person der Zeitung und über die Beteiligungsverhältnisse zionistischer Institutionen und Personen an der Zeitung treffen zu können, wurden ergänzend die Handels- und Gewerberegister des Verlages »Jüdische Rundschau« im Landesarchiv Berlin eingesehen. Daneben wurde, falls vorhanden, neben Briefen auf weiteres zeitgenössisches Schrifttum und weitere persönliche Quellen bzw. Ego-Dokumente (Tagebücher, Erinnerungen, Autobiographien, Memoiren) der Redakteure und bedeutender zionistischer Führungspersönlichkeiten zurückgegriffen. Der Rückgriff auf diese Quellenbestände erschien unerlässlich, um das folgende, durch die Diskursanalyse zionistischer Periodika entstehende Bild nicht nur zu ergänzen oder zu bestätigen, sondern gegebenenfalls auch auszudifferenzieren und zu korrigieren. Hinweise auf redaktionelle Zusammenkünfte und personellen wie inhaltlichen Wechsel der Zeitung lieferten nicht zuletzt die einzelnen Ausgaben der Zeitung selbst, in denen sich häufig entsprechende Notizen und stenographische Protokolle fanden. Ergänzend wurden noch vorhandene Quellensammlungen zum Zionismus und deutschen Zionismus wie vor allem diejenigen von Jehuda Reinharz und Julius Schoeps235 und die stenographischen Protokolle der Zionistischen Kon233 Zur Überlieferungsgeschichte des Nachlasses von Heinrich Loewe vgl. ausführlich Schlöffel, Loewe, S. 13 und Niv, Naomi: List of files of the papers of Heinrich Loewe (1869– 1951), Jerusalem 2008. 234 Der in einem zum Achad-Ha’am Lesesaal angrenzenden Raum im Beit Ariela gelagerte Teilnachlass von Heinrich Loewe wurde unter der Leitung von Judith Siepmann und Lina Barouch von den Mitarbeitern des Deutschen Literaturarchivs Marbach und des Franz Rosenzweig Minerva Research Centers (Hebrew University of Jerusalem), die sich im Rahmen einer eigenen Forschungsstelle unter der Ägide von Caroline Jessen seit dem Jahr 2012 mit der Organisation und Erforschung von Nachlässen deutscher Juden in Israel befassen, während des Jahres 2013 geordnet und systematisch erschlossen. Seit dem Frühjahr 2014 ist das Heinrich Loewe Archiv nach Anmeldung für wissenschaftlich interessierte Besucher zugänglich. 235 Vgl. Reinharz, Dokumente; Schoeps, Zionismus.

Untersuchungsebenen, Quellenlage und (methodische) Vorgehensweise

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gresse herangezogen. Dieser dreifache Quellenzugriff auf einen Korpus bestehend aus Publizistik, persönlichen Quellen und Verwaltungsschriftgut zionistischer Behörden erlaubte in der Gesamtschau zwar kein vollständiges Bild, lieferte aber eine breite, aussagekräftige Basis zur Rekonstruktion des hybriden Gehaltes der zionistischen Vorstellungen von ›Nation‹ und ›Nationalismus‹ im Spiegel der Jüdischen Rundschau und der Entstehungs- und Produktionsbedingungen der Zeitung sowie ihrer ideologischen Positionierung vor dem Ersten Weltkrieg. Aus diesen konzeptionellen und quellenkritischen Überlegungen ergeben sich die folgenden Untersuchungsebenen, welche zwei Hauptkapiteln und im zweiten Hauptkapitel idealtypisch drei Unterkapiteln zugeordnet werden, zwischen denen es jedoch auch Querbezüge gibt. Nach der Einleitung (I.) wird in einem ersten Hauptkapitel (II.) zuerst auf die zionistische Wochenzeitung Jüdische Rundschau selbst fokussiert und die untersuchte Diskursgemeinschaft näher eingegrenzt sowie die Produktionsbedingungen der Zeitung untersucht. Anschließend werden in einem zweiten längeren Hauptkapitel (III.) die Diskurse in der Jüdischen Rundschau vor allem anhand der darin veröffentlichten Leitartikel, Kommentare, Berichte und Buchbesprechungen und damit die Konstruktion zionistischer Hybridität an sich in den Blick genommen. Dabei wurden die einzelnen Ausgaben der Wochenzeitung noch um weitere publizistische Quellen wie relevante Artikel und Beiträge anderer zionistischer Periodika, sonstige Presseerzeugnisse und zeitgenössisches Schrifttum ergänzt. Die einzelnen Ausgaben der Jüdischen Rundschau, die sich etwa in gedruckter Form größtenteils vollständig im Lesesaal der Central Zionist Archives, Jerusalem, einsehen lassen, liegen mittlerweile über die umfangreiche Datenbank für deutsch-jüdische Periodika »Compact Memory« der Bibliothek der GoetheUniversität in Frankfurt am Main auch in digitalisierter Form frei zugänglich vor.236 Die historische Diskursanalyse, wie sie etwa Achim Landwehr als methodisches Werkzeug für Historiker aus verschiedenen Ansätzen konzipiert hat, stellt in dieser Studie mit ihrer Erweiterung entlang der zuvor beschriebenen Arbeitskonzepte somit die zentrale Zugangsweise im zweiten Hauptkapitel dar, um sich ihrem Untersuchungsgegenstand anzunähern und zionistische Hybriditätsentwürfe zu rekonstruieren.237 Die Idee, Sprache als Analyseebene in der Geschichtswissenschaft systematisch zu etablieren, geht bis auf die AnnalesSchule sowie die verschiedenen Varianten der Begriffsgeschichte und die Intel236 Vgl. Internetarchiv jüdischer Periodika. URL: sowie [letzter Zugriff erfolgt am 25. 11. 2016]. 237 Vgl. Landwehr, Achim: Historische Diskursanalyse (campus Historische Einführungen, Bd. 4), Frankfurt/New York 22009.

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lectual History zurück.238 Entscheidend wirkten jedoch erst der so genannte ›Linguistic Turn‹ seit den 1990er Jahren und die Postmoderne sowie deren geschichtswissenschaftliche Rezeption etwa im New Historicism, welche die Bedeutung von Sprache als Dimension der Geschichte in den Mittelpunkt der fachwissenschaftlichen Aufmerksamkeit rückten.239 Als entscheidenden Impulsgeber für die historische Diskursanalyse nennt Landwehr zuvorderst Michel Foucaults poststrukturalistische Analytik von Diskursen, die etwa in der kritischen Diskursanalyse zum Beispiel von Siegfried Jäger weiter entwickelt worden ist.240 Demnach bildet Sprache (zeitgenössische Verständnisse von) Wirklichkeit nicht nur ab, sondern trägt auch immer wesentlich zur »gesellschaftlichen Konstruktion von Wirklichkeit«241 bei. In diesem Sinne war Sprache auch für den zionistischen Nationalismus konstitutiv und zwar als Medium und Instrument der Konstruktion nationaler Deutungsmuster. Diskurs im Sinne Foucaults sind regelmäßig produzierte, in einem sprachlichen Sinnzusammenhang stehende Aussagen (8nonc8s), welche nach bestimmten Formationsregeln ablaufen.242 In seinen Arbeiten möchte Foucault im Speziellen auf den Zusammenhang zwischen Diskursen und Machthierarchien, und damit auf die institutionelle wie gesellschaftliche Einbettung von Diskursen aufmerksam machen.243 Auch Homi K. Bhabhas Verfahrensweisen in die »Verortung von Kultur« wie sein vorgestelltes ›hybridization model‹ knüpfen neben anderen Einflüssen wesentlich an die sprach- und diskursanalytischen Zugänge von Michel Foucault an, da für beide die Berücksichtigung von Fragen nach dem Verhältnis von Sprache und Macht von zentraler Bedeutung ist.244 Entscheidend ist jedoch, wie gezeigt

238 Vgl. ebd., S. 26–47. 239 Vgl. ebd., S. 47–59. 240 Vgl. ebd., S. 60–90, insbes. S. 65–79; Jäger, Siegfried: Kritische Diskursanalyse. Eine Einführung (Edition DISS), 6., vollst. überarb. Aufl. Münster 2012. Vgl. hierzu auch u. a. Foucault, Michel: Die Ordnung des Diskurses, Frankfurt a. M. 1991; ders.: Archäologie des Wissens, Frankfurt a. M. 81997. 241 Berger, Peter L./Luckmann, Thomas: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissenssoziologie, Frankfurt a. M. 51980, S. 36–48. 242 Vgl. Foucault, Archäologie, S. 41, 119f., 126–128, 148, 170. Vgl. hierzu auch Landwehr, Diskursanalyse, S. 70–72. 243 Vgl. Foucault, Ordnung. 244 Vgl. Anfeng, Sheng: Minoritization as a Global Measure in the Age of Global Postcoloniality. An Interview with Homi K. Bhabha, in: Ariel. A Review of International English Literature 40 (2009), S. 161–180. URL: . [letzter Zugriff erfolgt am 20. 09. 2016]. Bhabha beschreibt den Einfluss Foucaults auf seine Theorie mit den folgenden Worten (ebd., S. 163f.): »Foucault was important because, for Foucault, to put it very briefly, all discourse is about authorization. There is no discourse that is not implicated in a power struggle; therefore any position, including one of powerlessness, is inherently and potentially invested with the possibility of resistance. This way of seeing power and resistance, or sovereignty and subalternity, as

Untersuchungsebenen, Quellenlage und (methodische) Vorgehensweise

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werden konnte, dass für Bhabha sowohl der dominante, autoritäre als auch der minoritäre Diskurs nicht einstimmig oder eindeutig bleiben muss, sondern dass hybride Artikulationen vielmehr in einem ›dritten‹, dialektischen Diskursraum stattfinden können, in welchem sich »gerade die Dichotomien von (kolonialer) Macht und Ohnmacht, von Sprechen und [subalternem] Schweigen«245 sowie von Repression und Widerstand auflösen können.246 Im Kontext der vorliegenden Arbeit stellen Bhabhas Ansätze also eine wichtige Erweiterung der Foucault’schen Diskurstheorie und damit auch der historischen Diskursanalyse dar, indem sie gerade die Ambivalenz der zionistischen Diskurspositionen angemessen beschreiben können. Hauptaugenmerk auf der sprachlichen Ebene der Diskursanalyse gilt demnach den zionistischen Vorstellungen von ›Nation‹ und ›Nationalismus‹, die als Schlüsselkategorien zionistischen (hybriden) Denkens betrachtet werden. Dem zweiten Hauptkapitel (III.) liegt daher eine innere Dreiteilung zugrunde, welche sich mit den zionistischen Antworten auf die Fragen: »Was ist die ›jüdische Nation‹?«, »Was ist ›Zionismus‹?« und »Wo liegt ›Zionismus‹?« auseinandersetzen wird, wobei sich die darin verorteten Themenfelder und Debatten teilweise inhaltlich überschneiden und überlagern. Neben der Makroebene soll die Mikroebene der zu untersuchenden Quellen jedoch nicht in allen Fällen über die Text- und Satzebene hinaus auch auf der Wortebene und lexikalischen Ebene sowie parasprachlichen Ebene analysiert werden.247 Die im ersten Kapitel (III.1) rekonstruierten zionistischen Vorstellungen über die ›jüdische Nation‹ ergaben sich aufgrund ihrer Häufigkeit und damit Repräsentativität im untersuchten Diskurs fast automatisch und wurden im Besonderen auf ihren hybriden Gehalt hin untersucht. Im zweiten und dritten Kapitel (III.2) und (III.3) konzentriert sich die Untersuchung größtenteils auf eine Reihe von zeitlich aufeinander folgenden Debatten und Themenfeldern, die im Zusammenhang mit den Entwicklungen in der Geschichte des Zionismus in Deutschland als zentral empfunden wurden und zu denen im untersuchten Diskursmedium am häufigsten und am intensivsten berichtet und diskutiert wurde. Somit wurde insgesamt versucht, die so angelegte thematische mit einer chronologischen Gliederung zu verbinden, die allerdings in den drei Kapiteln auch stellenweise durchbrochen und aufgegeben wurde. In den Fokus der Aufmerksamkeit rücken im zweiten Kapitel »Was ist ›Zionismus‹?« (III.2) die (hybriden) Positionierungen der Beiträger in der Jüdischen Rundschau zur Politik der ZO und zu den europäischen Kolonialismus- und Imperialismusdiskursen. being in an ambivalent and agonistic relationship – as a struggle around authority and authorship – made Foucault’s work very compelling to me.« 245 Struve, Aktualität, S. 99. 246 Vgl. Bhabha, Verortung, S. 5. 247 Vgl. Landwehr, Diskursanalyse, S. 100–131.

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Im dritten Kapitel »Wo liegt ›Zionismus‹?« (III.3) geht es um die Frage, wie sich die deutschen Zionisten zum Orientalismus, Konzepten von ›West‹ und ›Ost‹ und den kulturnationalistischen Vorstellungen vor dem Ersten Weltkrieg positionierten. Einen Schwerpunkt bildet hierbei die angesprochene Bedeutungsverschiebung im deutschen Zionismus, die sowohl mit innerzionistischen als auch vor allem mit Entwicklungen im deutschen Nationalismus in Bezug gesetzt werden soll. Die Schlussbetrachtung (IV.) fasst die Ergebnisse der Untersuchung zusammen und versucht, die hybriden Eigentümlichkeiten und, eng damit verbunden, die inneren Widersprüchlichkeiten des zionistischen Nationalismus in Deutschland herauszuarbeiten.

II.

Zionistisches Laboratorium und Netzwerk: Die Jüdische Rundschau 1902–1914

»Wir wollen unsern Vätern nacheifern, die sich unter dem Namen der Juden Bürgerrechte, die Emanzipation, d. h. die Gleichberechtigung des einzelnen Juden erkämpften, wenn wir um die Gleichberechtigung unserer Nation den Kampf aufnehmen. […] Aber gerade weil der Name Jude einen Geschmack von Schimpf an sich hat, weil er von unsern Feinden missbraucht wird, unser Volk zu schmähen wollen wir gerade diesen Namen und keinen andern tragen. Wir nennen uns nicht Israeliten, sondern Juden1! Wir heissen nicht mehr ›Israelitisch‹, wir nennen uns ›Jüdisch‹.«2

Mit den vorangestellten Worten begrüßte Heinrich Loewe die Leser der Jüdischen Rundschau in einem Artikel in der ersten Ausgabe der zionistischen Wochenzeitung, welche am 1. Oktober 1902 zum jüdischen Neujahrsfest Rosch Ha-Shanah erschien. Loewe begründete darin die zionistische Übernahme des Vorgängerblattes und seine Umbenennung von Israelitische Rundschau in Jüdische Rundschau in Anlehnung an Gabriel Riesser, den Juristen, Politiker, Abgeordneten der Frankfurter Nationalversammlung und »Vorkämpfer der Gleichberechtigungsidee im 19. Jahrhundert«3, dessen eigene Zeitschriftengründung unter dem Namen Der Jude. Blätter für Religion und Gewissensfreiheit (1831–1833) erschienen war,4 damit, dass das neue Presseorgan den entschlossenen Willen des deutschen Zionismus zur nationalen Selbstbehauptung und damit einen Wandel im deutsch-jüdischen Selbstbewusstsein versinnbildliche. Es erschien ihm geradezu revolutionär, um die Jahrhundertwende eine Zeitung zu publizieren, welche den Namen »jüdisch« in ihrem Titel trug und damit noch über Riessers Zeitschriftenprojekt hinaus nicht nur persönliche Freiheitsrechte für das Individuum, sondern die Anerkennung der ›jüdischen Nation‹ und des 1 Bei den in den Zitaten der vorliegenden Arbeit kursiv gesetzten Worten oder Passagen handelt es sich um Sperrungen im Original. 2 Loewe, Heinrich: Jude und Israelit, in: JR, VII. Jg., Nr. 40 (01. 10. 1902), S. 3f., hier S. 4. 3 Hamburger, Ernest: Juden im öffentlichen Leben Deutschlands. Regierungsmitglieder, Beamte und Parlamentarier in der monarchischen Zeit 1848–1918 (Schriftenreihe wissenschaftlicher Abhandlungen des Leo Baeck Instituts, Bd. 19), Tübingen 1968, S. 21. 4 Zu Gabriel Riesser vgl. u. a. Herzig, Arno: Gabriel Riesser, Hamburg 2008.

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zionistischen Kollektivs in seiner nichtzionistischen Umwelt forderte. Dennoch verfolgte Loewe auch das Ziel, die zionistische Bewegung in die emanzipatorische Tradition und historische Kontinuität der jüdischen Bestrebungen um bürgerlich-rechtliche Gleichberechtigung in Deutschland zu stellen. Gleichzeitig erhob Loewe somit auch explizit den mit der Gründung der Jüdischen Rundschau verbundenen Anspruch auf Legitimation des zionistischen Nationalismus (in Deutschland), welcher aus dieser Sicht immer auch eine Abwehrhaltung nach außen und eine Auseinandersetzung mit der nichtzionistischen Umwelt zum Ausdruck brachte.5 Im Zuge der Institutionalisierung der Zionistischen Vereinigung für Deutschland (ZVfD) in den späten 1890er Jahren standen deutsche Zionisten vor der Aufgabe, für den sich organisierenden deutschen Zionismus ein offizielles Presseorgan in Form einer zionistischen Wochenzeitung zu schaffen, ihre eigenen Ansprüche und Ziele zionistischer Pressearbeit zu formulieren und durch ihre Arbeit hervorzubringen. Darüber hinaus sollte dieses Organ in einem weiteren Schritt sowohl im deutschen Zionismus als auch in der allgemeinjüdischen und deutschen Presselandschaft etabliert werden. Seine Errichtung und Etablierung gestalteten sich jedoch keineswegs zielgerichtet, sondern waren durch ein komplexes Mit- und Gegeneinander vielfältiger Akteure6 und Strukturen gekennzeichnet. Bereits an diesen einführenden Bemerkungen lässt sich erkennen, dass die Pressearbeit im deutschen Zionismus ein Gemeinschaftsprojekt wie -produkt war, das maßgeblich sowohl durch die darin involvierten historischen Akteure, als auch durch die Programme, Richtlinien und behördlichen Strukturen, die sich die Zionisten selbst auferlegt hatten, geprägt wurde. Hinzu kam die Innenwie Außenwirkung des zionistischen Presseprojekts und die in diesem Zusammenhang gemachten Erfahrungen und Lernprozesse. Die jeweiligen Handlungen der historischen Akteure waren wiederum in ein sie umgebendes berufliches wie persönliches Beziehungsgeflecht eingebettet, das die konkrete inhaltliche Ausgestaltung der zionistischen Pressearbeit nachhaltig beeinflusste. Die sich aus den Beziehungen zwischen den am Produktionsprozess der Zeitung beteiligten Akteuren und den hierarchischen Strukturen innerhalb der 5 Vgl. Loewe, Jude. Auch Martin Bubers kulturzionistische Zeitschriftengründung Der Jude im April 1916 nahm direkten Bezug auf Gabriel Riesser. Vgl. dazu Lappin, Jude, S. 4–7. 6 Der Begriff des »Akteurs« oder »historischen Akteurs« bzw. der »Akteure« wird im Folgenden in Anlehnung an die Theorien und Methoden der Sozialen Netzwerkanalyse (SNA) und der Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) verwendet. Vgl. dazu Hollstein/Straus, Netzwerkanalyse; Jansen, Einführung; Latour, Soziologie. Diese gehen davon aus, dass soziale Formationen oder »Kollektive« nicht von selbst entstehen, sondern als Produkte menschlichen Handelns immer auch die »aktive« Beteiligung von Personen und spezifischen Produktionsstätten erfordern und somit für den Historiker grundsätzlich nachvollziehbar und rekonstruierbar werden. Vgl. dazu auch Schlöffel, Loewe, S. 27–32.

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ZVfD ergebenden Konkurrenzverhältnisse und Spannungsfelder konnten den Fortgang der Arbeit befruchten, aber genauso auch hemmen. Die Einsetzung eines Presseausschusses etwa, der die zionistische Pressearbeit und damit auch die Redaktion der Jüdischen Rundschau beaufsichtigen sollte, nahm Einfluss auf den Handlungsspielraum der Redaktion und führte zu unterschiedlichen Formen von Autoritätskonflikten. Außerdem beanspruchten die Redakteure für die Zeitung mitunter eine bestimmte Rolle innerhalb der zionistischen Bewegung und wollten ihre (national-)ideologische Ausrichtung maßgeblich mitgestalten. Auf diese ideologischen Positionierungen reagierten sowohl die mit den Presseangelegenheiten befassten Führungszirkel innerhalb der ZVfD als auch Einzelpersonen und Allianzen innerhalb des zionistischen Kollektivs, die sich durch die in der Zeitung vertretenen zionistischen Vorstellungen von ›Nation‹ und ›Nationalismus‹ zur direkten Stellungnahme und Verständigung über die Bedeutung von Zionismus herausgefordert fühlten. Die Einbeziehung dieser Faktoren ist unbedingt notwendig, um die Interaktionen zwischen den betrachteten Personen sowie Institutionen zu verstehen und die ideologischen Positionierungen der Zeitung in der zionistischen Bewegung besser beurteilen zu können. Das Profil der betrachteten zionistischen Wochenzeitung Jüdische Rundschau ergibt sich demnach aus der Summe ihrer konkreten organisatorischen, formal-inhaltlichen, raum-zeitlichen und personellen Konstellationen, die in der Summe ein weitläufiges Netzwerk abbildeten, das im Folgenden – soweit möglich – im historischen Kontext rekonstruiert werden soll. Im Mittelpunkt der Analyse stehen zunächst wichtige Stationen in der Geschichte der Jüdischen Rundschau (II.1.), unter denen sowohl die organisatorischen und geistigen Voraussetzungen der Gründung der zionistischen Zeitung in den konkreten Raum-/Zeit-Konstellationen des zionistischen Kollektivs in Deutschland (II.1.1) als auch die finanzielle und strukturelle Krise des Presseorgans vor dem Ersten Weltkrieg (II.1.2) einen Schwerpunkt bilden. Kursorisch wird im Anschluss auf die Blüte der Zeitung nach dem Ersten Weltkrieg und auf die Auflösung von Verlag und Redaktion in der Zeit des Nationalsozialismus geblickt (II.1.3), da diese Phase streng genommen nicht in den eigentlichen Untersuchungsraum der vorliegenden Arbeit fällt, jedoch eine wichtige Kontrastfolie zur Früh- und Konstituierungsphase von Redaktion und Verlag darstellt. Im zweiten Unterkapitel (II.2.) soll die Rekonstruktion der Biographien der Redakteure der Zeitung bis zum Ersten Weltkrieg einen Aufschluss über das persönliche Beziehungsgeflecht der Redaktion geben und Aussagen zulassen über Gemeinsamkeiten und Unterschiede in den Sozialisationsbedingungen der wichtigsten Mitarbeiter der Zeitung in ihrer Bedeutung für die in der Zeitung produzierten zionistischen Vorstellungen. Das dritte Unterkapitel (II.3.) befasst sich mit der propagandistischen Ausrichtung der Zeitung und der Frage, welchen Leserkreis die Jüdische Rundschau erreichen wollte und wie sich im Laufe

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des Untersuchungszeitraumes seit ihrer Gründung Inhalte und formale Charakteristika der Zeitung wandelten. In diesem Zusammenhang interessiert auch, auf welche Motivlagen mögliche Veränderungen zurückgeführt werden können. Das vierte Unterkapitel (II.4.) führt ein in die sich wandelnden Raumbedingungen und Produktionsmodi der Zeitung, wobei im Besonderen die Handlungsmöglichkeiten der Redakteure und ihr Verhältnis zur ZVfD und zum Presseausschuss der Zeitung untersucht werden sollen. Dabei wird auch kritisch nach der Repräsentativität der in der Zeitung verhandelten Bedeutungen von Zionismus und nach der nationalideologischen Positionierung der Zeitung in der zionistischen Bewegung zu fragen sein. Das letzte fünfte Unterkapitel des ersten Hauptkapitels (II.5.) widmet sich – soweit dies die erhalten gebliebenen Quellenbestände zuließen – der Frage nach der Beschaffenheit des Abonnentenund Leserkreises der Jüdischen Rundschau (II.5.1). Zur Annäherung an die Frage nach den Profilen der zionistischen Diskursgemeinschaft, die sich in der Jüdischen Rundschau aktiv an der Abfassung von Beiträgen beteiligte, soll auch im Besonderen das soziokulturelle Profil der Redakteure und der Autoren rekonstruiert werden, die sich als Akademiker und Bürgerliche wiederum wesentliche Sozialisationsbedingungen teilten (II.5.2). Dies alles soll in der Gesamtschau und im Kontext der zionistischen Presselandschaft vor dem Ersten Weltkrieg Aussagen darüber zulassen, ob und inwiefern die Jüdische Rundschau als Laboratorium zionistischer Hybriditätsentwürfe und zentrale Produktionsstätte zionistischer Pressearbeit und Propaganda in Deutschland und als dadurch überhaupt erst etablierter Diskursraum wie Ort zionistischer Begegnungen und Beziehungsgeflechte betrachtet werden kann (II.5.3). Von Interesse ist hier auch die Frage nach möglichen Alleinstellungsmerkmalen der Wochenzeitung in der zeitgenössischen zionistischen Presselandschaft.

1.

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1.1

Organisatorische und geistige Voraussetzungen der Gründung

Noch im Vorfeld des Ersten Zionistenkongresses in Basel trafen sich zehn deutsche Zionisten am 11. Juli 1897 auf Initiative der National-Jüdischen Vereinigung Köln im pfälzischen Bingen, um die Gründung eines eigenen deutschen Interessenverbandes für den deutschen Zionismus unter dem Namen NationalJüdische Vereinigung für Deutschland zu beschließen.7 Nur etwa zwei Monate 7 Vgl. Erster Delegiertentag zu Bingen, 11. Juli 1897, in: Reinharz, Dokumente, S. 42f., hier S. 42.

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nach der Gründung der ZO in Basel, auf dem Dritten deutschen Delegiertentag in Frankfurt am Main, wurde die neue Vereinigung auf Beschluss der versammelten 45 Delegierten des deutschen Landesverbandes in Zionistische Vereinigung für Deutschland umbenannt und erhielt ein eigenes Statut, welches im Wesentlichen auf dem »Baseler Programm« beruhte.8 Die Institutionalisierung des deutschen Zionismus im Sommer 1897 bildete somit einen Teil der »Konstituierung des Zionismus als einer modernen politischen Organisation zwischen 1897 und 1914«9. Wie bei anderen zunächst locker untereinander verbundenen zeitgenössischen Emanzipationsbewegungen, wie der deutschen und internationalen Frauenbewegung oder der Sozialdemokratie, war diese Konstituierungsphase durch die Herausbildung und Verfestigung organisatorischer Strukturen und politischer Aktionsformen sowie durch vielfältige Positionsbestimmungen geprägt.10 Den Kern der zionistischen Delegierten auf dem Frankfurter Delegiertentag bildeten Kölner Zionisten, während mit Leib Estermann und Alfred Klee nur zwei Zionisten aus Berlin angereist waren, um an den Verhandlungen teilzunehmen.11 Das Übergewicht des ›westdeutschen‹ Zionismus spiegelte sich auch in der personellen Zusammensetzung des vom Delegiertentag gewählten ersten Zentralkomitees der ZVfD wider, indem mit Max Bodenheimer als Vorsitzendem, David Wolffsohn, Lipman Prins, Hermann Schapira und Fabius Schach, der von Berlin nach Köln gezogen war, mit Ausnahme von Isaak Rülf aus Memel, ausschließlich Kölner Zionisten das neue Führungsgremium des deutschen Zionismus bildeten.12 Die Dominanz des ›westdeutschen‹ Zionismus im frühen deutschen Zionismus gegen Ende der 1890er Jahre muss in erster Linie auf familiäre und freundschaftliche Beziehungsgeflechte und den ideologischen Einfluss von Persönlichkeiten auf die frühe zionistische Bewegung wie David Wolffsohn und Max Bodenheimer13 zurückgeführt werden, welche sich in Köln niedergelassen hatten und den politischen Zionismus Theodor Herzls propagierten.14 8 Vgl. Eloni, Zionismus, S. 80f.; Schlöffel, Loewe, S. 201f. Vgl. auch Annahme des Namens »Zionistische Vereinigung für Deutschland«, 31. Oktober 1897, in: Reinharz, Dokumente, S. 47f.; Statuten der »Zionistischen Vereinigung für Deutschland«, 31. Oktober 1897, in: Ebd., S. 48–51. 9 Meybohm, Wolffsohn, S. 13. 10 Vgl. ebd., S. 13–15. Zur Unterscheidung von Zionistischer Organisation und zionistischer Bewegung vgl. ebd., S. 14, Fn. 7. 11 Vgl. Eloni, Zionismus, S. 99. 12 Vgl. Statuten der »Zionistischen Vereinigung für Deutschland«, S. 48. 13 Max Bodenheimer war Vorsitzender des Zentralkomitees der ZVfD in Köln. 1910 wurde Arthur Hantke sein Nachfolger. 14 Vgl. Schenker, Anatol: Der Jüdische Verlag 1902–1938. Zwischen Aufbruch, Blüte und Vernichtung (conditio judaica), Tübingen 2003, S. 14f.

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Dennoch hatte in Berlin wie in anderen europäischen Hauptstädten, beispielsweise in Wien, London und Odessa, seit den späten 1880er und frühen 1890er Jahren ein intensiver Prozess der kommunikativen Verdichtung und soziokulturellen Vergesellschaftung eines zionistischen Kollektivs eingesetzt, in dessen Verlauf sich ein engmaschiges Netzwerk von Vereinen, sonstigen Vereinigungen und Presseorganen herausgebildet hatte.15 Dass die ›Nationalisierung‹ des deutschen Judentums neben Köln vor allem in Berlin beobachtet werden konnte, war indes kein Zufall:16 In den Jahren zwischen 1870 und 1900 hatte sich die preußische Residenzstadt in eine europäische Metropole verwandelt, deren Einwohnerzahl sich in der Wilhelminischen Epoche des Deutschen Kaiserreichs verdoppelte und 1895 mehr als 1,6 Millionen zählte.17 Zwei Drittel aller deutschen Juden hatten sich in Preußen niedergelassen, davon fast ein Zehntel in Berlin. Seit der Jahrhundertwende lebten etwa 30 Prozent aller deutschen Juden in der Hauptstadt des Deutschen Kaiserreichs. Berlin stellte damit den Fluchtpunkt im Urbanisierungsprozess der deutschen Juden, der im Vergleich zur Gesamtbevölkerung schneller voranschritt, dar.18 Im Berlin der Jahrhundert15 Zum Folgenden vgl. ausführlich insbes. Schlöffel, Loewe, S. 69–222. Vgl. auch Schäfer, Zionistenkreise. 16 Vgl. dazu auch Guillon, Laurence/Knörzer, Heidi (Hg.): Berlin und die Juden. Geschichte einer Wahlverwandtschaft? (Jüdische Kulturgeschichte in der Moderne, Bd. 9), Berlin 2015. 17 Vgl. Statistisches Jahrbuch der Stadt Berlin 26 (1899), S. 29. Der Anteil der jüdischen Bevölkerung an der deutschen Gesamtbevölkerung schwankte im Untersuchungszeitraum konstant um die Ein-Prozent-Marke. Zur Dokumentation und Analyse der demographischen Entwicklung der jüdischen Bevölkerung wurde das Büro für Statistik der Juden gegründet, das seit 1905 die Zeitschrift für Demographie und Statistik der Juden (ZDSJ) herausgab. Vgl. auch Hettling, Manfred: Sozialstruktur und politische Orientierung der jüdischen Bevölkerung im Kaiserreich, in: Ders. (Hg.): In Breslau zu Hause? Juden in einer mitteleuropäischen Metropole der Neuzeit, Hamburg 2003, S. 113–130; Bullock, Nicholas: A Short History of Everyday Berlin, 1871–1989, in: Goodman, David/Chant, Colin (Hg.): European Cities and Technology. Industrial to Post-Industrial Cities, London 1999, S. 225–256; Schmelz, Usiel O.: Die demographische Entwicklung der Juden in Deutschland von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis 1933, in: Zeitschrift für Bevölkerungswissenschaft 8 (1982), S. 31– 72, insbes. S. 44f. 18 Vgl. Alexander, Gabriel: Die Entwicklung der jüdischen Bevölkerung in Berlin zwischen 1871 und 1945, in: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte 20 (1991), S. 287–314; ders.: Die jüdische Bevölkerung Berlins vom Beginn des 20. Jahrhunderts bis 1939: Demographische und wirtschaftliche Entwicklungen, in: Rürup, Reinhard (Hg.): Jüdische Geschichte in Berlin. Essays und Studien, Berlin 1995, S. 117–148, hier S. 118 und 138 (Tabelle 1, Schaubild 1); Rahden, Till van: Von der Eintracht zur Vielfalt. Juden in der Geschichte des deutschen Bürgertums, in: Ders. u. a. (Hg.): Juden, Bürger, Deutsche. Zur Geschichte von Vielfalt und Differenz, 1800–1933, Tübingen 2001, S. 9–32; Schlör, Urbanität; ders.: Berlin 1900, in: Hermansen Cordua, Christian (Hg.): Manifestoes and Transformations in the Early Modernist City, Ashgate 2010, S. 255–270; Kampe, Norbert: Jews and Antisemites at Universities in Imperial Germany (I). Jewish Students: Social History and Social Conflict, in: LBIYB 30 (1985), S. 357–394, hier S. 360; Lowenstein, Steven M.: The Rural Community and the Urbanization of German Jewry, in: Central European History 13:3 (1980), S. 218–236.

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wende wurden im großstädtischen Judentum Zugehörigkeiten und Abgrenzungen bestimmt und damit auch ›Nationaljudentum‹ als eine dieser Möglichkeiten gedacht und diskursiv weiter entwickelt sowie institutionalisiert.19 Einen beliebten Anlaufpunkt für zionistische Kreise bildeten Berliner Caf8s, Restaurants und Lokale, in denen regelmäßige zionistische Stammtische stattfanden und die dem regen intellektuellen Austausch und der Lektüre von aktuellen Presseerzeugnissen wie Zeitungen und Zeitschriften dienten. Als Beispiele können hier etwa das Caf8 Bauer in der Friedrichstraße oder das, im gleichnamigen, 1888 fertiggestellten Grandhotel gelegene Caf8 Monopol, welches sich in unmittelbarer Nähe vom Bahnhof, ebenfalls in der Friedrichstraße, befand, genannt werden.20 Dass das (offizielle) Zentrum des Zionismus im Deutschen Reich damit der politischen Topographie des Deutschen Reiches entgegenlief, war auch prominenten Berliner Zionisten wie Heinrich Loewe nicht verborgen geblieben, welche diese Diskrepanz für die desolate finanzielle Lage des deutschen Zionismus verantwortlich machten, wie aus einem Brief Loewes an die Leitung der ZVfD vom 28. März 1899 hervorgeht: »Sehr geehrte Herren! Antwortlich Ihres Schreibens […] teile ich Ihnen mit, daß ich die materielle Lage Ihrer Organisation mit Ihnen lebhaft bedauere. Eine Änderung wird erst eintreten können, wenn die Zentrale von der Peripherie in das Zentrum des Reiches verlegt wird. Bis dahin ist eine materielle Stärkung der ZVfD ausgeschlossen.«21

Dieser sichtbare Institutionalisierungsprozess im Berliner Zionismus wurde jedoch von kontroversen Debatten überschattet, welche sich um die Stellung der Berliner Zionisten zur Politik der sich formierenden ZO, im Besonderen der Agenda Theodor Herzls, drehten und die Stabilität des Berliner zionistischen Kollektivs erheblich belasteten.22 In Folge spalteten sich die Berliner Zionisten in

19 Vgl. Wobick-Segev, Sarah E.: German-Jewish Spatial Cultures. Consuming and Refashioning Jewish Belongings in Berlin, 1890–1910, in: Reuveni, Gideon/Roemer, Nils (Hg.): Longing, Belonging, and the Making of Jewish Consumer Culture, Leiden/Boston 2010, S. 39–60. 20 Vgl. Schlöffel, Loewe, S. 207f.; Wobick-Segev, Sarah E.: Buying, Selling, Being, Drinking. Jewish Coffeehouse Consumption in the Long Nineteenth Century, in: Dies./Reuveni, Gideon (Hg.): The Economy in Jewish History. New Perspectives on the Interrelationship between Ethnicity and Economic Life, New York 2011, S. 115–134, hier S. 128; Pinsker, Shachar M.: Literary Passports. The Making of Modernist Hebrew Fiction in Europe, Stanford 2011, S. 120–126; ders.: Spaces of Hebrew and Yiddish Modernism – The Urban Caf8s of Berlin, in: Dohrn, Verena/Pickhan, Gertrud (Hg.): Transit und Transformation. Osteuropäisch-jüdische Migranten in Berlin 1918–1939, Göttingen 2010, S. 56–76, hier S. 61–63. 21 Brief von Heinrich Loewe an ZVfD vom 28. 03. 1899, CZA, A15/504. Vgl. dazu auch Schlöffel, Loewe, S. 207. 22 Zur Loewe-Bambus-Debatte vgl. ausführlich Schlöffel, Loewe, S. 125f., 202–206, 209–211. Zur Biographie von Willy Bambus vgl. Petry, Erik: Ländliche Kolonisation in Palästina. Deutsche Juden und früher Zionismus am Ende des 19. Jahrhunderts, Köln 2004, S. 270–273;

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zwei Gruppen, welche ihre personellen Schwerpunkte um Heinrich Loewe einerseits und um Willy Bambus und Adolf Friedemann andererseits fanden. Die inhaltlichen Gegensätze der beiden Allianzen wurden offen auf der ersten Versammlung der Berliner Ortsgruppe, in deren Verlauf die Berliner Zionistische Vereinigung (BZV) gegründet wurde, ausgetragen. Die Statuten der BZV beruhten wie die der ZVfD größtenteils auf dem »Baseler Programm«.23 Da Heinrich Loewe auf der besagten Gründungsversammlung zum Vorsitzenden der BZV gewählt worden war, beschloss die Gruppe um Bambus im April 1898 die Gründung einer eigenen, zweiten zionistischen Ortsgruppe in Berlin, welche in Folge in Konkurrenz zur BZVauftrat und eigene Kontakte zur Zentrale in Köln unterhielt, während die Differenzen in der Öffentlichkeit bewusst klein geredet wurden.24 Da die Büros der ZVfD weiterhin ihren Sitz in Köln hatten, verschob sich das Gleichgewicht im deutschen Zionismus in den nächsten Jahren zunächst noch eindeutiger in Richtung der Stadt im preußischen Rheinland.25 Erst nach 1904 entwickelte sich Berlin allmählich zur (deutschen) »Hauptstadt des Zionismus«26, womit auch dem sich ausdifferenzierenden, weit verzweigten zionistischen Netzwerk vor Ort Anerkennung gezollt wurde. So beschlossen die anwesenden Delegierten auf dem Delegiertentag der ZVfD in Hamburg im Mai 1904 die Einrichtung eines Zentralbüros in Berlin, dessen Leitung Arthur Hantke, Eduard Leszynsky und Emil Simonsohn übernahmen und für das Betty Frankenstein als Sekretärin, später als Büroleiterin, tätig war.27 Die Büroräume befanden sich in der Friedrichstraße, womit Berlin nun auch institutionell neben Köln, in dem sich weiterhin das Zentralkomitee der ZVfD befand, eine zweite Zentrale des Zionismus im Deutschen Reich bildete. Im November 1907 wurde zudem das Zionistische Zentralbüro der ZO in die Bleibtreustraße nach BerlinCharlottenburg verlegt, dessen Vorsitzender zu dieser Zeit der spätere dritte Präsident der ZO, Otto Warburg, war.28 Daneben hatten auch andere wichtige jüdische Organisationen, beispielsweise der Centralverein und die Jüdisch-Nationale Frauenvereinigung, die erste zionistische Frauenorganisation im Deutschen Reich, unter dem Vorsitz von Lina Bergmann und Lina Tauber, die zu den

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23

ders.: Zwischen nationalem Bekenntnis und Pragmatismus. Heinrich Loewe und Willy Bambus, in: Schatz/Wiese, Janusfiguren, S. 189–212. Vgl. Statuten der Berliner Zionistischen Vereinigung, Berlin 1898, Sha ar Zion, Boxnr. 5, S. 1, §1. Das Statut wurde im Herbst 1902 geändert. Vgl. Statut der Berliner Zionistischen Vereinigung, in: JR, VII. Jg., Nr. 44 (31. 10. 1902), S. 37f.; Schlöffel, Loewe, S. 209–211. Vgl. Eloni, Zionismus, S. 104–109. Vgl. ebd., S. 104. Schlöffel, Loewe, S. 219. Vgl. ebd.; Lichtheim, Geschichte, S. 153–155. Vgl. Protokoll der Sitzung des Zionistischen Centralbureaus, Abteilung Berlin, vom 16. 10. 1907, CZA, Z2/343, S. [2].

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zwei weiblichen Teilnehmerinnen an der Gründungsversammlung der Jüdischen Rundschau zählten, seit ihrer Errichtung im Februar 1900 ihren Sitz in Berlin.29 Nicht zuletzt trug die Gründung und Etablierung zionistischer Presseerzeugnisse in Berlin, allen voran der Jüdischen Rundschau als zentralem Propagandainstrument des deutschen Zionismus, die in einem unmittelbaren Zusammenhang mit der Vernetzung der beschriebenen Berliner Zionistenkreise gesehen werden müssen, erheblich zum Bedeutungszuwachs des ›zionistischen Raums‹ Berlin im deutschsprachigen Zionismus sowie zur weiteren Vernetzung der Berliner zionistischen Topographie(n) bei. Der stufenartigen Gründung der Jüdischen Rundschau gingen bereits mehrere Versuche voraus, ein eigenes Presseorgan für die ZVfD zu etablieren:30 Schon in der zweiten Hälfte der 1890er Jahre hatten Berliner Zionisten Kontakt zum ursprünglich neutralen Wochenund Nachrichtenblatt Berliner Vereinsbote aufgenommen, das von David Wolff 1895/9631 gegründet worden war und »familiäre Verbindung[en]«32 mit den Bnei-Brith-Logen in Berlin unterhielt.33 Seit 1896 erschienen darin Inserate von Berliner jüdischen Vereinen und kurze Mitteilungen aus ihrem Vereinsleben.34 Nur gelegentlich und eher zufällig wurden darin auch Artikel mit zionistischer Tendenz veröffentlicht wie die kurze Berichterstattung Heinrich Loewes über die erste jüdische Palästina-Ausstellung, die im Sommer 1896 in der Abteilung »Kairo in Berlin« als Teil der Allgemeinen Gewerbeausstellung in Treptow bei Berlin stattfand.35 Retrospektiv blieb aus zionistischer Sicht daher nur die »Inhaltlosigkeit« des »armseligen Blättchens« in Erinnerung.36 Unter seinem neuen Redakteur, dem Rabbiner Robert Wohlberg, wurden im Berliner Vereinsboten seit Januar 1899 in Absprache mit der ZVfD schließlich erste Artikel von deutschen Zionisten und Mitteilungen über Versammlungen und Bekanntmachungen von deutschen zionistischen Ortsgruppen veröffent-

29 Vgl. Or, Vorkämpferinnen, S. 55–94 (Kap. »›Kämpferinnen für die Idee‹ – Die JüdischenNationalen Frauenvereinigungen«). Vgl. auch Schäfer, Zionistenkreise, S. 85–88; Schlöffel, Loewe, S. 220. 30 Am ausführlichsten gehen Yehuda Eloni und Frank Schlöffel auf die Vor- und Gründungsgeschichte der Jüdischen Rundschau ein. Vgl. Eloni, Zionismus, S. 154–160; Schlöffel, Loewe, S. 225–227. 31 Loewe, Heinrich: Bis 1908, in: Erinnerungen ehemaliger Redakteure, in: JR, XL. Jg., Nr. 31/ 32 (17. 04. 1935), S. 19f., hier S. 19; Jüdische Rundschau, in: Zionistisches ABC-Buch, hg. von Zionistische Vereinigung für Deutschland, Berlin 1908, S. 85f. 32 Loewe, 1908, S. 19. 33 Vgl. Eloni, Zionismus, S. 154. 34 Vgl. ebd. 35 Vgl. Loewe, Heinrich: Eine jüdische Palästina-Ausstellung in Berlin, in: Berliner Vereinsbote, II. Jg., Nr. 28 (10. 07. 1896), S. 1f; ders.: Eine jüdische Palästina-Ausstellung in Berlin (Fortsetzung), in: Berliner Vereinsbote, II. Jg., Nr. 30 (24. 07. 1896), S. 1–3. 36 Loewe, 1908, S. 19.

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licht.37 Im Jahr 1901 übernahm die in der Neanderstraße 10 ansässige Firma Hanff & Sohn, deren Inhaber und Geschäftsführer Sally Hanff sich durch illegale Geschäftspraktiken einen zweifelhaften Ruf erworben hatte, die Inhaberschaft und redaktionelle Leitung der Zeitung und übergab der ZVfD die Supervision. Dies ging aus einer Mitteilung des neu eingerichteten Presseausschusses der Zeitung, dem Adolf Friedemann, Arthur Hantke und Theodor Zlocisti angehörten, vom 24. Januar 1901 hervor, in der »die Gesinnungsgenossen« zur »weiteste[n] Verbreitung« der Zeitung und »schriftstellerische[n] Mitarbeit«38 aufgefordert wurden. Im Zuge der Umbenennung in Israelitische Rundschau führte die Zeitung in den Jahren 1901 und 1902 bereits den Zusatz »Offizielles Organ der Zionistischen Vereinigung für Deutschland« im Titel.39 Die tatsächliche, offizielle Übernahme der Zeitung durch die ZVfD erfolgte jedoch wohl erst im Juli 1901.40 Die Geschäftsbeziehungen zwischen der ZVfD, im Besonderen dem besagten Presseausschuss, der vom damaligen Vorsitzenden, Max Bodenheimer, auch als »Presskommission«41 bezeichnet wurde und sowohl die redaktionellen als auch die finanziellen Angelegenheiten der Zeitung überwachen sollte, und dem neuen Inhaber Sally Hanff gestalteten sich als äußerst schwierig. Nur wenige Monate nach der Übernahme im Sommer 1901 bemühte sich Hanff offenbar vom Vertrag mit der ZVfD zurückzutreten, was er in mehreren Schreiben an Bodenheimer mit der prekären finanziellen Lage der Zeitung und einem fehlenden festen Abonnentenkreis begründet hatte, welche Bodenheimer jedoch seiner-

37 Vgl. Eloni, Zionismus, S. 154. 38 Der Preßausschuß der Zionistischen Vereinigung für Deutschland: Erklärung, in: Israelitische Rundschau, VI. Jg., Nr. 20 (24. 05. 1901), S. 1. Zur Einrichtung des Preßausschusses vgl. auch die Korrespondenz zwischen Max Bodenheimer und den neuen Mitgliedern des Preßausschusses. Vgl. Brief von Max Bodenheimer an Adolf Friedemann vom 26. 02. 1900, CZA, A15/47/20; Brief von Max Bodenheimer an Adolf Friedemann vom 16. 10. 1900, CZA, A15/47/16; Brief von Max Bodenheimer an Adolf Friedemann vom 26. 10. 1900, CZA, A15/47/ 24; Brief von Max Bodenheimer an Adolf Friedemann vom 10. 12. 1900, CZA, A15/48/8; Brief von Max Bodenheimer an Adolf Friedemann vom 05. 01. 1901, CZA, A15/49/2; Brief von Max Bodenheimer an Arthur Hantke vom 23. 01. 1900, CZA, A15/49/10. Aus diesen Korrespondenzen geht hervor, dass sich Adolf Friedemann zunächst weigerte, dem neuen Presseausschuss als ständiges Mitglied anzugehören, weshalb die Konstituierung desselben von Arthur Hantke, Theodor Zlocisti und Leo Motzkin im Auftrag Max Bodenheimers organisiert werden sollte. Diese verzögerte sich jedoch erheblich, da die mit der Gründung Beauftragten, zur Verärgerung Bodenheimers, zunächst nicht handelten. Vgl. zur Übernahme der Zeitung durch S. Hanff & Sohn auch den Brief von Max Bodenheimer an S. Hanff vom 14. 05. 1901, CZA, A15/50/10. 39 Vgl. Titelblatt der Israelitischen Rundschau, Ausgaben vom 24. 05. 1901 bis zum 26. 09. 1902. 40 Vgl. Brief von Max Bodenheimer an Adolf Friedemann fuer die Presskomission, Berlin vom 02. 09. 1901, CZA, A15/50/18, S. 1. 41 Ebd.

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seits den mangelnden Verlegertätigkeiten Hanffs zuschrieb.42 Arthur Hantke, der über die Auskunftei S. Richter und die BZV, namentlich Ludwig Behr, geheime Nachforschungen über die geschäftliche Tätigkeit Hanffs anstellen ließ und Erkundigungen über seine Person einholte,43 und Theodor Zlocisti, der im Auftrag des Presseausschusses ein brisantes Schreiben an Hanff verfasste,44 warfen Hanff im Januar 1902 schließlich Nachlässigkeit in der Erfüllung seiner redaktionellen Aufgaben und den Bruch der Vertragsbedingungen durch die Übernahme von Artikeln mit antizionistischer Tendenz in das Blatt vor.45 In Folge arbeiteten vor allem die Berliner Zionisten Arthur Hantke und Ludwig Behr an Übernahmeplänen für die sich am Rande des Bankrotts befindliche Zeitung, welche die Inhaberschaft durch ZVfD und ZO vorsahen und das Presseorgan auf eine solide Finanzgrundlage stellen sollten. Zu diesem Zweck trat Hantke zeitgleich in Verhandlungen mit dem Inhaber Sally Hanff, der schnell zusagte, die Zeitung für 2.000 Mark zu verkaufen, dem Zentralkomitee der ZVfD in Köln in Person von Max Bodenheimer und der Exekutive der ZO in Wien in Person von Theodor Herzl.46 Da man sich vermutlich nicht über die Übernahmekonditionen einigen konnte, traten Hantke, Zlocisti und Friedemann aus dem Pressekomitee der ZVfD aus, das damit kurzzeitig aufgelöst wurde, und die Pläne wurden (für den Moment) ad acta gelegt.47 Dies führte letztlich dazu, dass die Inhaberschaft des Blattes ausschließlich von Berliner Zionisten übernommen wurde und die offiziellen Institutionen des Zionismus im Deutschen Reich und in der Welt zunächst nur wenig Einfluss auf die inhaltliche Gestaltung der Zeitung ausübten, wenn auch geringe finanzielle Mittel an die Jüdische Rundschau überwiesen wurden.48 Schließlich versammelten sich am 1. Juli 1902 14 Berliner Zionisten, darunter zwei Zionistinnen, auf Einladung Arthur Hantkes in dessen privater Kanzlei in der Charlottenstraße 70 und gründeten den Verlag »Jüdische Rundschau«,49 der seit dem 23. Juli 1902 42 43 44 45 46 47 48 49

Vgl. ebd., S. 1f. Vgl. Brief von Auskunftei S. Richter an Arthur Hantke vom 09. 11. 1901, CZA, A11/18/1. Vgl. Eloni, Zionismus, S. 157; Schlöffel, Loewe, S. 225f. Vgl. ebd. Vgl. dazu auch das Schreiben der Berliner Zionistischen Vereinigung an Sally Hanff vom 09. 01. 1902, CZA, A15/227. Vgl. Eloni, Zionismus, S. 157. Vgl. Handschriftliche Notiz zum Austritt von Theodor Zlocisti, Adolf Friedemann und Arthur Hantke aus dem Pressekomitee der ZVfD vom 05.[unleserlich].1902, CZA, Z2/401. Vgl. zu den Vorgängen ausführlich auch Schlöffel, Loewe, S. 225f. Vgl. Eloni, Zionismus, S. 159; Schlöffel, Loewe, S. 226. Vgl. Protokoll der Gründungsversammlung der Genossenschaft Jüdische Rundschau vom 01. 07. 1902, CZA, A11/18/1. Die Gründung erfolgte zunächst nicht mit der Bezeichnung »Verlag«. Nach Aufforderung des zuständigen Registergerichts, das genaue Angaben verlangte, wurde die Genossenschaft mit der Beigabe »Verlag« registriert (vgl. Brief von Königliches Amtsgericht I Abt. 88 an Jacob Wagner vom 10. 07. 1902, CZA, A11/18/1). Zu den Gründungsmitgliedern der Genossenschaft »Jüdische Rundschau« zählten: Eduard Les-

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als »eingetragene Genossenschaft mit beschränkter Haftung«50 einen eigenen Aufsichtsrat und Vorstand51 besaß und für die Jüdische Rundschau sowie andere zionistische Publikationen die Finanzierungsgrundlage darstellen sollte.52 Das Zentralbureau der ZVfD informierte fortan in offiziellen Rundschreiben über bestimmte Artikel und, häufig mithilfe angehängter Publikationslisten, über aktuell erscheinende Agitationsschriften, welche über den Verlag »Jüdische Rundschau« bezogen werden konnten.53 Zwei der Gründungsmitglieder, Jacob H. Wagner und Ludwig Behr, welche die Anmeldung der Genossenschaft beim Königlichen Amtsgericht beantragt hatten und den Verlag nach außen vertraten, forderten schließlich am 4. September 1902 Max Bodenheimer, den Vorsitzenden der ZVfD, unter Einlage von »zehn Mark« zum Beitritt zur eingetragenen Genossenschaft auf.54 Auf Vorschlag Hantkes, der von Herzl angenommen wurde, wurde Heinrich Loewe, der bereits seit dem 9. Mai 1902 die Redaktion der Israelitischen Rundschau geleitet hatte, die bis dato in den Räumen seiner Privatwohnung in der Marienstraße 18 redigiert worden war, zum Redakteur der neuen Zeitung bestimmt.55 Entgegen Loewes Vorschlag, der das neue Blatt nach seinem früheren Arbeitgeber in »Jüdische Volkszeitung« umbenennen wollte,56 setzte sich in den entsprechenden Verhandlungen der Name Jüdische Rundschau durch, der den alten Namen

50 51

52 53

54 55 56

zynsky Wagner, Walter Munk, Arthur Hantke, Hermann Gabriel, Berta Majerowitsch, Wilhelm Levy, Emil Simonsohn, Willy Samson, Ludwig Behr, Jacob H. Wagner, Alfred Klee, Theodor Zlocisti, Heinrich Loewe und Lina Tauber (vgl. Protokoll der Gründungsversammlung der Genossenschaft Jüdische Rundschau vom 01. 07. 1902, CZA, A11/18/1). Vgl. dazu auch bereits Schlöffel, Loewe, S. 227, Fn. 112. Vgl. Statut der Genossenschaft Jüdische Rundschau vom 01. 07. 1902, CZA, A11/18/1. Arthur Hantke, Alfred Klee und Theodor Zlocisti stellten den Aufsichtsrat, während Jacob Wagner und Ludwig Behr die Vorsitzenden waren. Den stellvertretenden Vorsitz übernahmen Wilhelm Samson und Hermann Gabriel, die nach dem Vorschlag der Aufsichtsratsmitglieder bestimmt wurden (vgl. Protokoll der Gründungsversammlung der Genossenschaft Jüdische Rundschau vom 01. 07. 1902, CZA, A11/18/1). Vgl. dazu auch bereits Schlöffel, S. 227, Fn. 114. Vgl. Statut der Genossenschaft Jüdische Rundschau vom 01. 07. 1902, CZA, A11/18/1, §2, S. 1. Vgl. dazu etwa Rundschreiben No. 16 des Centralbureaus der Zionistischen Vereinigung für Deutschland vom 30. 12. 1905; Rundschreiben No. 10 des Centralbureaus der Zionistischen Vereinigung für Deutschland vom 11. 11. 1905; Rundschreiben No. 9 des Centralbureaus der Zionistischen Vereinigung für Deutschland vom 10. 11. 1905; Rundschreiben No. 4 des Centralbureaus der Zionistischen Vereinigung für Deutschland vom 22. 09. 1905; Rundschreiben No. 30 des Centralbureaus der Zionistischen Vereinigung für Deutschland vom 02. 05. 1906; Rundschreiben No. 26 des Centralbureaus der Zionistischen Vereinigung für Deutschland vom 14. 03. 1906; Rundschreiben No. 25 des Centralbureaus der Zionistischen Vereinigung für Deutschland vom 08. 03. 1906. Alle CZA, Z2/401. Vgl. Schreiben des Verlags Jüdische Rundschau (unterz. Jacob Wagner und Ludwig Behr) an Max Bodenheimer vom 04. 09. 1902, CZA, A15/227. Vgl. Eloni, Zionismus, S. 158; Schlöffel, Loewe, S. 227. Vgl. Loewe, 1908, S. 19.

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Israelitische Rundschau ablöste.57 Auch die Nebentitel »Centralblatt für die jüdischen Vereine« und »Offizielles«, welche die Israelitische Rundschau noch geführt hatte, wurden getilgt und durch einen Zusatz ersetzt, der die Jüdische Rundschau nun auch offiziell als »Organ der Zionistischen Vereinigung für Deutschland« kennzeichnete.58 Die personelle Besetzung des Aufsichtsrats des Verlags »Jüdische Rundschau« entsprach der des Pressekomitees der ZVfD, die als Redaktionskommission die Aufsicht über die inhaltliche Gestaltung der Zeitung in Person von Arthur Hantke, Theodor Zlocisti und Alfred Klee, der Adolf Friedemann ablöste, führte.59 Daran zeigte sich nicht zuletzt die enge personelle Verzahnung zwischen ZVfD und Jüdischer Rundschau. Die Geschäftsführung des Verlags übernahm zunächst ehrenamtlich60 Berta Majerowitsch.61 Die erste Ausgabe der neuen, bis zum Jahr 1919 einmal wöchentlich, jeden Freitag – vor Beginn des Shabbat –, veröffentlichten Zeitung erschien am 1. Oktober 1902.62 Insgesamt erfolgte die Gründung der Jüdischen Rundschau also weitgehend an den offiziellen Führungskreisen des deutschen Zionismus in Köln und der ZO in Wien vorbei und damit eigenmächtig über einzelne Mitglieder der BZV, die allerdings wie Arthur Hantke in ihrer beruflichen Funktion als zionistische Beamte der ZVfD handelten. Sie muss demnach auch als Ausdruck des Anspruches der beteiligten Mitglieder der BZV auf Macht und Deutungshoheit im deutschen Zionismus gewertet werden. Mit der Niederlassung des offiziellen publizistischen Zentralorgans des deutschen Zionismus in Berlin wurde demnach auch der allmähliche Prozess der Verlagerung der organisatorischen und ideellen Zentren des deutschen Zionismus in die deutsche Hauptstadt in die Wege geleitet und beschleunigt. Das Gelingen des Zeitungsprojektes lastete jedoch demnach im Wesentlichen auf den Schultern der genannten historischen Akteure, die in völlig unterschiedlichem Maße auf bereits vorhandene Erfahrungen im Presse- und Verlagswesen zurückgreifen konnten. Ein maßgebliches Problem bildete daher auch die damit einhergehende dürftige materielle Ausstattung der Zeitung, die im Folgenden zu finanziellen und strukturellen Krisen führte.

˘

57 Vgl. Loewe, Heinrich: Sichronot. Kap. Redaktion und Mitarbeit, CZA, A146/176, S. 9. 58 Vgl. Titelblatt der Jüdischen Rundschau seit der ersten Ausgabe vom 01. 10. 1902. 59 Vgl. Brief von Heinrich Loewe an Hugo Schachtel vom 15. 12. 1902, Sha ar Zion, Boxnr. 5; L., H. [Loewe, Heinrich]: Aus der Bewegung, in: JR, VIII. Jg., Nr. 12 (20. 03. 1903), S. 106f., hier S. 107; Schlöffel, Loewe, S. 228. 60 Vgl. Zirkular des Verlags »Jüdische Rundschau« an die Genossen des Verlags vom 16. 05. 1911, CZA, A15/519. 61 Vgl. Brief von Arthur Hantke/Hans Heymann an Genossen des Verlags Jüdische Rundschau vom 12. 05. 1911, CZA, A146/34. 62 Vgl. JR, VII. Jg., Nr. 1 (01. 10. 1902).

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Die finanzielle und strukturelle Krise der Zeitung vor dem Ersten Weltkrieg

Die Korrespondenzen zwischen den Mitgliedern der Genossenschaft und diverse Protokolle zionistischer Versammlungen belegen, dass sich der Verlag »Jüdische Rundschau« – sozusagen weiterhin – in massiven finanziellen Schwierigkeiten befand, die allerdings anscheinend den Teilhabern des Unternehmens, dem Aufsichtsrat und dem Vorstand trotz Revision und Prüfung der Bilanzen zunächst verborgen geblieben waren.63 Wie aus einem Brief von Arthur Hantke und Hans Gideon Heymann an die mittlerweile 66 Genossen des Verlags vom Mai 1911 rekonstruiert werden kann, waren Vorstand, Aufsichtsrat und Redakteur im Herbst 1910 darüber informiert worden, »dass in der geschäftlichen Gebahrung des Verlages ›Jüdische Rundschau‹ grössere Unregelmässigkeiten vorgekommen sein müssen«64. Wie sich im Dezember 1910 herausstellte, hatte Berta Majerowitsch während ihrer Tätigkeit als Geschäftsführerin mehrmals private Einzahlungen getätigt, um das Konto des Verlags auszugleichen und die Jahresbilanzen des Unternehmens zu schönen.65 Nach einiger Zeit begann sie jedoch aufgrund privater finanzieller Engpässe einen Teil der gezahlten Beiträge wieder aus der Kasse des Unternehmens herauszunehmen, was das Konto des Verlages nun endgültig erheblich belastete.66 Darüber hinaus hatte sie mehrmals die Bilanzen und die Inventuren des Unternehmens gefälscht, indem sie vor allem die Warenvorräte sowie die Einnahmen durch Inserate und den Bücherverkauf des Verlags erheblich höher angesetzt und mitunter Inserate von anderen Zeitungen ohne Vergütung übernommen hatte.67 Selbst einer von Majerowitsch mit der kontinuierlichen Expansion der Verlagsgeschäfte begründeten Aufforderung nach Erhöhung des Betriebskapitals um 4.000 Mark im April 191068, welche durch die Aufnahme eines Kredites finanziert worden war,69 hatte der Vorstand unwissentlich der geschäftlichen Ungereimtheiten stattgegeben, ohne jedoch die Verluste des Unternehmens dadurch kompensieren zu kön-

63 Vgl. dazu auch die kurzen Bemerkungen bei Schlöffel, Loewe, S. 228, Fn. 119. Vgl. Brief von Arthur Hantke/Hans Heymann an Genossen des Verlags Jüdische Rundschau vom 12. 05. 1911, CZA, A146/34. 64 Brief von Arthur Hantke/Hans Heymann an Genossen des Verlags Jüdische Rundschau vom 12. 05. 1911, CZA, A146/34, S. 1. 65 Vgl. ebd., S. 1. 66 Vgl. ebd. 67 Vgl. ebd., S. 2. 68 Vgl. Schreiben des Verlags »Jüdische Rundschau« an Genossen des Verlags vom 16. Mai 1911, CZA, A15/519. 69 Vgl. Heymann, H. G.: Finanzreferat, gehalten auf dem XII. Deutschen Delegiertentag am 12. 09. 1910 in Frankfurt/Main, CZA, Z2/409.

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nen.70 Als Konsequenz wurde die Beschäftigung Berta Majerowitschs zum 31. Dezember 1910 offiziell beendet und die Expedition des Verlags »in die Hände eines Fachmannes« übertragen.71 Wie ein Protokoll der Sitzung des Geschäftsführenden Ausschusses des Zentralkomitees der ZVfD vom 1. November 1910 erkennen lässt, scheinen die Verwaltungsangelegenheiten des Verlags bereits zu dieser Zeit von Betty Frankenstein, der langjährigen Sekretärin des Zentralbüros der ZVfD, übernommen worden zu sein.72 Unter Androhung gerichtlicher Schritte erwirkte der Vorstand von Majerowitsch nach ihrer Entlassung die Rückerstattung eines Teils der von ihr entnommenen Sach- und Geldeinlagen, unter anderem einer Schreibmaschine.73 Die im Schreiben angeführte letzte Jahresbilanz vom März 1911, auf die Hantke und Heymann rekurrierten, zeigte dennoch einen Verlust von etwa 21.000 Mark, womit dem Verlag die unmittelbare Insolvenz drohte.74 Das Schreiben forderte daher die Genossen zur finanziellen Sanierung des Verlages »Jüdische Rundschau« auf, indem die Teilhaber gebeten wurden, ihre Einlagen über die Haftsumme von 50 Mark hinaus erheblich zu erhöhen.75 Dabei appellierten Hantke und Heymann in ihrem Antrag inständig an die Genossen, der Zeitung »im Interesse der Bewegung« aus der Krise zu helfen.76 Zur Sanierung der Finanzen des Verlages hatte der Vorstand daneben konzentrierte propagandistische Maßnahmen eingeleitet, die sich bereits, wie etwa die angeblich gestiegenen Abonnementszahlen und Inseratsgesuche erkennen ließen, bewährt hätten.77 Des Weiteren wurde den Genossen der Vorschlag unterbreitet, die Rechtsform des Unternehmens zu ändern, indem die »Genossenschaft« durch eine »Gesellschaft mit beschränkter Haftung« ersetzt werden sollte, wobei wohl unter dem Eindruck der aktuellen finanziellen Schieflage des Unternehmens die Überlegung ausschlaggebend war, die Teilhaber künftig bis zu einer bestimmten Summe vor privater Haftung für entstandene Verluste zu schützen.78 Den noch fehlenden Anteil für die Gesellschaftsgründung sollte ein Mitglied des Geschäftsführenden Ausschusses der ZVfD einbringen.79 Nachdem Heymann bereits im Dezember 1910 auf der Ple70 Vgl. Brief von Arthur Hantke/Hans Heymann an Genossen des Verlags Jüdische Rundschau vom 12. 05. 1911, CZA, A146/34, S. 3. 71 Ebd., S. 4f. 72 Vgl. Protokoll der vierten Sitzung des Geschäftsführenden Ausschusses des Zentralkomitees vom 01. 11. 1910, CZA, Z2/409, S. 8. 73 Vgl. Brief von Arthur Hantke/Hans Heymann an Genossen des Verlags Jüdische Rundschau vom 12. 05. 1911, CZA, A146/34, S. 4. 74 Vgl. ebd., S. 2. 75 Vgl. ebd., S. 4f. 76 Ebd., S. 4f. 77 Vgl. ebd., S. 5. 78 Vgl. ebd., S. 5. 79 Vgl. ebd., S. 6.

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narsitzung des Zentralkomitees die Führungsriege des deutschen Zionismus in einem Referat über die prekäre finanzielle Lage des Verlages informiert hatte,80 wurden die Genossen des Verlages zur Abstimmung über den Antrag Hantkes und Heymanns schließlich von den Vorständen Jacob Wagner und Max Wollsteiner zu einer ordentlichen Generalversammlung des Verlages am 25. Mai 1911 in die Büros in der Bleibtreustraße 49 gebeten.81 Auf dieser wurde der Antrag Hantke/Heymann übereinstimmend verabschiedet und man einigte sich, aufgrund der Bedeutung der Zeitung für die zionistische Bewegung in Deutschland und der akuten finanziellen Notlage die Sanierung der Genossenschaft schnellstmöglich gemeinschaftlich voranzutreiben.82 Darüber hinaus sollte, wie Kurt Blumenfeld, der Parteisekretär und Vorsitzende der Propagandaabteilung in der ZVfD, anregte, der Bücherverkauf des Verlages gesteigert und die Ortsgruppen zum Abonnement des offiziellen Organs ihres Landesverbandes angehalten werden.83 Erst etwa zwei Jahre darauf, am 18. Juli 1913, wurde der Verlag »Jüdische Rundschau« schließlich in eine »Gesellschaft mit beschränkter Haftung« umgewandelt, deren Eintragung im Handelsregister der bestellte Geschäftsführer beim Amtsgericht Berlin beantragte.84 Die Leitung der Geschäftsführung wurde nun auch offiziell Betty Frankenstein übertragen, die sie bis zum 18. November 1938 ausübte.85 Aus den Akten beim Amtsgericht Berlin, unter denen sich auch die erste Ausfertigung des Gesellschaftsvertrages befindet, geht hervor, dass sowohl Hans G. Heymann und Arthur Hantke als auch Betty Frankenstein bei der notariellen Beurkundung am 18. Juli 1913 anwesend waren. Heymann und Hantke hatten die Gründung der Gesellschaft erwirkt und wurden als haftende Gesellschafter sowie alleinige Inhaber von Geschäftsanteilen ausgewiesen.86 Das Stammkapital der Gesellschaft betrug zunächst 20.000 Reichsmark,87 von denen Heymann 19.500 Mark, Hantke 500 Mark übernommen hatte.88 In § 6 des Gesellschaftsvertrages wurden Aktiva in Höhe von 21.336 Mark genannt, denen Passiva in Höhe von 1.836 Mark gegenüberstanden, was somit einem freien 80 Vgl. Protokoll der Plenarsitzung des Zentralkomitees vom 26. 12. 1910, CZA, Z2/409, S. 3. 81 Vgl. Schreiben des Verlags »Jüdische Rundschau« an die Genossen des Verlags vom 16. Mai 1911, CZA, A15/519. 82 Vgl. ebd. 83 Vgl. Protokoll der Plenarsitzung des Zentralkomitees vom 26. 12. 1910, CZA, Z2/409, S. 8. 84 Vgl. Handelsregister. Königliches Amtsgericht Charlottenburg, Abt. 92/93, Generalakten betreffend Jüdische Rundschau, LA Berlin A Rep. 342-02, Nr. 58622. 85 Vgl. Handelsregister des Amtsgerichts in Berlin, Abteilung B: Band 857, Bl. 68, Einlage, Eintrag vom 04. 10. 1938, ebd. 86 Vgl. Erste Ausfertigung der notariellen Urkunde des Gesellschaftsvertrages, Nr. 398, 18./ 19. Juli 1913, LA Berlin A Rep. 342-02, Nr. 58622/2-6. 87 Vgl. Handelsregister, Königliches Amtsgericht Charlottenburg, Abt. 92/93, ebd. 88 Vgl. Erste Ausfertigung der notariellen Urkunde des Gesellschaftsvertrages, Nr. 398, 18./ 19. Juli 1913, ebd., S. 2–6.

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Aktivbestand von 19.500 Mark entsprach.89 Wie aus einem Schreiben des Notariats Breslauer, mit dem sich die Kanzlei Hantkes ein Büro in der Mohrenstraße 50 teilte, an das Königliche Amtsgericht Berlin-Mitte vom 28. Juli 1913 hervorgeht, ergaben sich die Passiva aus bereits eingegangenen Abonnementsbeiträgen, Rückstellungen »für zweifelhafte Debitoren« und »Creditoren«.90 Der aus Sicht des Amtsgerichtes hohe, mit 12.000 Mark angesetzte, Betrag des von Heymann in die Aktiva der Gesellschaft eingebrachten Verlagsrechtes ergab sich demnach aus dem Abonnentenstand der Wochenschrift und den laufenden Inseraten.91 Die übrigen Aktiva setzten sich aus Waren, Inventar, Kasse und Außenständen zusammen.92 Aufgrund von zwei Verfügungen des Königlichen Amtsgerichts Berlin-Mitte vom 26. Juli 1913 und vom 28. Juli 1913, welche die Eintragung der Firma »Jüdische Rundschau G. m. b. H.« im Handelsregister untersagt und auf dem angeblichen Rechtsbruch beruht hatten, dass das im Gesellschaftsvertrag § 6 ausgewiesene Verlagsrecht, d. h. das Recht auf Herausgabe der Wochenschrift »Jüdische Rundschau«, mit Rechten Dritter belastet gewesen sei und Heymann das ihm ausschließlich zustehende Verlagsrecht als Sacheinlage nicht in die Gesellschaft hätte einbringen können,93 gingen die Gesellschafter in Revision beim Königlichen Landgericht I Berlin.94 Nach einem Prozess, in dem Breslauer und Hantkes Kanzlei die Interessen der Gesellschaft »Jüdische Rundschau« im August 1913 vertraten,95 hob das Landgericht schließlich die Urteile der niederen Instanz auf und die Gesellschaft »Jüdische Rundschau« wurde am 12. September 1913 offiziell mit der Nummer 12477 im H. R. B. eingetragen.96 Während der Verhandlungen hatten die Gesellschafter als Argument für die Sacheinlage Heymanns die zuvor genannte Zusammensetzung der Summe angeführt und »[d]as Recht, eine seit vielen Jahren bestehende und weit verbreitete Zeitschrift zu verlegen«, das aus ihrer Sicht unwiderruflich »einen Geldwert« darstelle.97 Unter Berufung auf verschiedene Rechtsgrundlagen hatte das Landgericht I Berlin der Eintragung vor allem deshalb stattgegeben, weil »die Gesamtheit der Beziehungen«, die ein Verlagsunternehmen wie die »Jüdische Rundschau« un89 90 91 92 93 94 95 96 97

Vgl. ebd. Vgl. Brief von Notar Breslauer an das Königliche Amtsgericht Berlin–Mitte, o. D., ebd., S. 7f. Vgl. ebd. Vgl. Erste Ausfertigung der notariellen Urkunde des Gesellschaftsvertrages, Nr. 398, 18./ 19. Juli 1913, ebd., S. 6. Vgl. Brief von Notar Breslauer an das Königliche Landgericht I Berlin, o. D., ebd., S. 9f.; Brief von Notar Breslauer an das Königliche Landgericht I Berlin, o. D., ebd., S. 11. Vgl. Prozess-Vollmacht für Breslauer, Hantke und Leszynsky vom 08. 08. 1913, ebd.; Beschluss des Königlichen Landgerichts I Berlin, 16. 08. 1913, ebd., S. 13. Vgl. ebd. Vgl. Handelsregister, Königliches Amtsgericht Charlottenburg, ebd. Beschluss des Königlichen Landgerichts I Berlin, 16. 08. 1913, ebd., S. 3, 17–19.

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terhalte, »einen bedeutenden Vermögenswert« darstellen könne und sich dieses daher als Stammeinlage qualifiziere, unabhängig von einer tatsächlichen Bewertung des Unternehmens, die nicht Aufgabe des Gerichts sei.98 Die Jahresbilanz der Zeitung vom 31. Dezember 1913 und die Gewinn- und Verlustrechnung desselben Jahres zeigen, dass das Unternehmen im Jahr 1913 hingegen einen Verlust von 2.730,51 Mark erwirtschaftete.99 Die Ausgaben des Unternehmens setzten sich neben unbestimmten Kontobewegungen und Überweisungen in erster Linie aus Gehältern (3.882,40 M.) und Druckkosten (11.757,78 M.) zusammen, während die größten Posten unter den Einnahmen die Gewinne aus Abonnements (11.560,33 M.) und Inseraten (7.567,64 M.) bildeten.100 Vor allem die Bemühungen um die Sanierung des Unternehmens aber auch der Gründungs- und Organisationsprozess der Zeitung machen deutlich, welche Bedeutung den juristischen und kaufmännischen Kenntnissen des am Konstituierungs- und Umstrukturierungsprozess der Wochenzeitung beteiligten kleinen Kreises zionistischer Akteure zufiel. Unter ihnen stellte Arthur Hantke (1874–1955), der im Untersuchungszeitraum ständiges Mitglied im Presseausschuss der Zeitung, in den Jahren 1910 und 1920 Vorsitzender der ZVfD und zwischen 1911 und 1920 Mitglied des Engeren Aktions-Komitees (EAC) war,101 einen bedeutenden Beiträger im Leben und Werden der Zeitung im Untersuchungszeitraum dar.102 Hantke, der in Berlin als Rechtsanwalt und als Notar tätig war, hatte bereits im Jahr 1905 den »Jüdischen Verlag« vor dem unmittelbaren Konkurs gerettet, indem er eine Umstrukturierung der Geschäftsanteile vorgeschlagen hatte.103 Neben Hantke zählte auch Hans Gideon Heymann (1882–1918) zu den angesehensten Finanzexperten der ZVfD. Heymann stammte aus der bekannten jüdischen Berliner Bankiersfamilie Heymann/Meyer Cohn und war mit Charlotte Kremenezky, der Tochter des Wiener Fabrikanten und Mitglieds des EAC unter Herzl, Johann Kremenezky, verheiratet.104 Johann Kremenezky hatte darüber hinaus in den Jahren 1901 bis 1906 dem Jüdischen Nationalfonds vorgestanden und gehörte ab 1906 unter der Leitung von Max Bodenheimer als 98 99 100 101

Vgl. ebd, S. 4. Vgl. »Jüdische Rundschau«. Bilanz per 31. Dezember 1913, CZA, Z3/1139. Vgl. ebd. Zu Arthur Hantke vgl. Lichtheim, Richard: Rückkehr. Lebenserinnerungen aus der Frühzeit des deutschen Zionismus, Stuttgart 1970, S. 124–127. 102 Vgl. auch Heymann, H. G.: Diskussion über den Delegiertentag. Die Zukunft des deutschen Zionismus, in: JR, XIII. Jg., Nr. 26 (26. 06. 1908), S. 245f. 103 Vgl. Schenker, Verlag, S. 69f. 104 Vgl. Findbuch Sammlung Familie Heymann. Jüdisches Museum Berlin (Konvolut/161. Inv.Nr. DOK 97/12/1-106, FOT 97/12/1-84 [zuvor DOK 97/12/F1-89], VAR 97/12/1-32, VAR 97/ 51/0, BIB/135/0). URL: [letzter Zugriff erfolgt am 20. 11. 2016], hier S. 2.

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Vizepräsident gemeinsam mit Arthur Hantke seinem Vorstand an.105 Nach seiner Promotion in Nationalökonomie war Heymann im Bankhaus August Heinrich Heymann & Co., Unter den Linden 23, tätig und übernahm nach dem Tod seines Onkels Emil Heymann 1911 wohl kurzfristig die Geschäftsleitung.106 Mit Heinrich Loewe verband Heymann seit der gemeinsamen Studienzeit in Berlin ein freundschaftliches Verhältnis.107 Hans Gideon Heymanns Großvater, Aron Hirsch Heymann, ehemaliger Vorsteher der jüdischen Gemeinde Berlin, dessen Lebenserinnerungen Heinrich Loewe 1909 herausgab,108 hatte in den 1830er Jahren das Bank- und Wechselgeschäft und einen Großhandel mit Wolle und Eisenbahnaktien gegründet.109 Neben seinem Freund David Wolffsohn, der die Hochzeit mit Charlotte vermittelt hatte, arbeitete Heymann für die Jüdische Kolonialbank.110 Als Kaufmann und Wirtschaftsbürgerlicher nahm Heymann, wie Wolffsohn, unter den Führungszirkeln der ZVfD eine Außenseiterposition ein, womit ihm daher neben Hantke vor dem Hintergrund der geschilderten finanziellen Schieflage des Verlages große Bedeutung bei der Konzipierung des Reformierungsprogramms zukam.111 Aus der Bilanz der »Jüdischen Rundschau« per 31. 12. 1913 geht hervor, dass die Zeitung beim Bankhaus A. H. Heymann & Co. Schulden in Höhe von 1.992,04 Mark besaß, die wohl Folge eines Kredits waren.112 Hantke und Heymann standen wohl auch als wesentliche Triebkräfte hinter dem personellen Wechsel in der Leitung des Verlages, durch den Betty Frankenstein (1882–1960) Berta Majerowitsch ablöste.113 Betty Frankenstein wurde 1882 in Krone/Posen geboren und war um 1900 nach Berlin umgesiedelt, wo ihr Bruder eine Arztpraxis betrieb.114 Unmittelbar nach der Errichtung des Zentralbüros der ZVfD in Berlin durch Arthur Hantke im Jahr 1904 hatte Betty 105 Vgl. Meybohm, Wolffsohn, S. 102; Reinharz, Dokumente, S. 84. 106 Vgl. Sammlung Familie Heymann, S. 2. Vgl. Heymann, Hans Gideon: Die gemischten Werke im deutschen Grosseisengewerbe, Stuttgart 1904. 107 Loewe, Sichronot. Kap. Zionistische Grundarbeit, CZA, A146/176, S. 2. 108 Vgl. Heymann, A. H.: Lebenserinnerungen. Nach seiner Niederschrift im Auftrage seiner Kinder hg. von Heinrich Loewe, Berlin 1909. 109 Vgl. Sammlung Familie Heymann, S. 1. 110 Vgl. Meybohm, Wolffsohn, S. 102. 111 Zur Entwicklung eines jüdischen Wirtschaftsbürgertums im Kaiserreich vgl. auch Augustine, Dolores L.: Die jüdische Wirtschaftselite im wilhelminischen Berlin. Ein jüdisches Patriziat?, in: Rürup, Geschichte, S. 101–116, hier S. 103. 112 Vgl. »Jüdische Rundschau«. Bilanz per 31. Dezember 1913, CZA, Z3/1139. 113 Vgl. Frankenstein, Ruben: Zionismus: Allein Männersache? Der vergessene Beitrag zionistischer Frauen am Beispiel Betty Frankensteins, in: Haumann, Heiko (Hg.): Der Erste Zionistenkongress von 1897. Ursachen, Bedeutung, Aktualität, Basel 1997, S. 297f.; ders.: Eine zionistische Episode im Leben Ernst Tollers. Über seine Beziehung zu Betty Frankenstein, in: Neuhaus, Stefan (Hg.): Ernst Toller und die Weimarer Republik, Würzburg 1999, 121–131. 114 Vgl. Frankenstein, Männersache, S. 297.

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Frankenstein das Sekretariat übernommen, das sie wohl seit November 1910 mit dem Verlag »Jüdische Rundschau« und der Verwaltung des Jüdischen Nationalfonds in Personalunion bis zu deren Auflösung im Jahr 1938 leitete.115 Durch die bereits bestehende Leitung des Sekretariats des Zentralbüros hatte Frankenstein berufliche Verwaltungserfahrung in einer zentralen zionistischen Behörde erworben, die sie somit unmittelbar in den Organisationsprozess des Verlags einbringen konnte. In den autobiographischen Schilderungen früher Protagonisten der ZO wird Betty Frankenstein als glühende Zionistin charakterisiert, die nicht nur für die Sicherstellung des reibungslosen Ablaufs der Verwaltungsprozesse sorgte, sondern auch ihre eigenen Vorstellungen in der Arbeit für die ZVfD verwirklichte.116 Für die Konstituierungsphase des Verlags »Jüdische Rundschau« ist neben diesem Einbringen fachlichen Wissens auch die Tatsache von Bedeutung, dass Frankenstein über ihre Arbeitsplätze ihr persönliches Netzwerk ständig erweiterte. Die Korrespondenz, die sie über ihre berufliche Tätigkeit mit Führungspersönlichkeiten des deutschen Zionismus und den Abonnenten der Zeitung pflegte, belegt, dass sich Freundschaften mit kollegialen Beziehungen sowohl im Rahmen des Zentralbüros als auch des Verlags verknüpften und Frankenstein für viele Zionisten eine wichtige Vertrauensperson und persönliche Anlaufstelle darstellte. Durch diese Herstellung von Beziehungen wirkte sie selbst auch unmittelbar und maßgeblich an der Konstruktion des weitläufigen Beziehungsnetzwerkes der Zeitung mit.

1.3

Blüte und gewaltsames Ende der Zeitung (1918–1938)

1918 lösten der spätere Vorsitzende der ZVfD, Felix Rosenblüth, und Max Wollsteiner Heymann und Hantke als Gesellschafter ab, indem sie beide jeweils 115 Vgl. ebd. 116 Vgl. Lichtheim, Geschichte, S. 55: »Formell war sie die Verwalterin des Zentralbüros der Zionistischen Vereinigung für Deutschland und die Leiterin des Verlages der ›Jüdischen Rundschau‹. Aber sie war vielmehr als eine ›technische Kraft‹. Mit tiefem Interesse verfolgte sie Entwicklung der Bewegung und ihrer Strömungen. Sie hatte ihre sehr bestimmten Ansichten und urteilte sachverständig über Menschen und Meinungen, doch gleich ihrem verehrten Chef Hantke wusste sie, dass über Menschen und Meinungen die Sache stand, der alle zu dienen verpflichtet waren.« Vgl. auch Aus dem Nachruf Benno Cohns, in: Mitteilungsblatt. Wochenzeitung des Irgun Olej Merkas Europa, Nr. 29 (15. 07. 1960), S. 3: »Vorsitzende, Präsidenten kamen und gingen. Betty blieb. Alle Zirkulare trugen Jahrzehnte lang ihre Unterschrift. Sie wusste, wie eine gute Organisation auszusehen hat, und sie handelte danach. Die Männer diskutierten und analysierten oft bis in die frühen Morgenstunden. Betty führte die Organisation mit starker Hand und ausgestrecktem Arm. Deshalb hat man die Meinekestrasse in Berlin, nach der sie mit dem Büro aus der Sächsischen Strasse übersiedelte, ein Matriarchat genannt.« Vgl. die Zitate auch bei Frankenstein, Männersache, S. 297f.

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10.000 Mark in die im Handelsregister des Amtsgerichts Charlottenburg unter der Nummer HRB 54607 geführte G. m. b. H. einbrachten.117 Damit trat die Jüdische Rundschau nach dem Ersten Weltkrieg schließlich in eine weitere, umfassende Umstrukturierungs- und Professionalisierungsphase, die nach der kurzen Redaktionsphase Fritz Löwensteins in erster Linie dem Verdienst Robert Weltschs zuzuschreiben ist, der wie kein zweiter Redakteur bis heute zum Gesicht und Symbol der Jüdischen Rundschau im jüdischen wie zionistischen Gedächtnis wurde.118 Seitdem erschien die Jüdische Rundschau zweimal wöchentlich und erlangte vor allem nach 1933 durch ihre kontinuierliche Kommentierung tagespolitischer Ereignisse, ihre selbstbewusste, kritische Haltung gegenüber dem Nationalsozialismus und die Schwerpunktsetzung auf Themen, welche den Leser auf die Emigration nach Palästina vorbereiten sollten, ungeahnte Popularität, auch in nichtzionistischen Kreisen, was sich u. a. an den explodierenden Auflagenzahlen, die 1926 noch 10.000, 1931 bereits 15.000 und 1934 bis 1937 37.000 bis 39.000 betrugen,119 zeigte.120 Der Gesellschaftsvertrag der »Jüdischen Rundschau G. m. b. H.« wurde ein erneutes Mal am 19. März 1925 geändert, wobei Hantke nun als Notar fungierte und das Stammkapital der Gesellschaft auf 5.000 Reichsmark umgestellt wurde, welches in zwei Geschäftsanteilen zu je 2.500 Reichsmark eingebracht wurde, um die Differenz zwischen dem Eigenkapital von nominell 20.000 Mark und dem aus der Goldmarkeröffnungbilanz ersichtlichen Reichsmarkvermögen von 5.000 Reichsmark auszugleichen.121 Des Weiteren wurden Max Wollsteiner und Martin Rosenblüth, dem sein Bruder Felix seinen Geschäftsanteil wohl aufgrund seiner nahenden Übersiedelung nach Palästina abgetreten hatte, als alleinige (alt-) neue Inhaber von Geschäftsanteilen der Gesellschaft ernannt.122 Die Eintragung in das Handelsregister erfolgte beim Amtsgericht am 12. Juni 1925.123 Am 12. Juni 1929 wurde das Stammkapital schließlich wieder um 10.000 Reichsmark auf 15.000 Mark erhöht, wobei die Übernahme zu gleichen Teilen durch die

117 Vgl. Brief von Betty Frankenstein an das Amtsgericht Berlin-Mitte vom 26. 01. 1920, Anlage 1, Königliches Amtsgericht Charlottenburg, Abt. 92/93, Generalakten betreffend Jüdische Rundschau, LA Berlin A Rep. 342-02, Nr. 58622. 118 Vgl. Begrüssungen. Frühere Vorsitzende der Z.V.f.D., in: JR, XL. Jg., Nr. 31/32 (17. 04. 1935), S. 22–24. 119 Vgl. Diehl, Presse, S. 155–186; Edelheim-Muehsam, Haltung. 120 Vgl. Diehl, Presse, S. 81. 121 Vgl. Brief von Arthur Hantke an das Amtsgericht Berlin-Mitte vom 02. 06. 1925. Königliches Amtsgericht Charlottenburg, Abt. 92/93, Generalakten betreffend Jüdische Rundschau, LA Berlin A Rep. 342-02, Nr. 58622, S. 36–40. In der Anlage zum Schreiben befindet sich auch eine Kopie der Eröffnungsbilanz der »Jüdischen Rundschau G. m. b. H.« mit einer genauen Auflistung der Aktiva und Passiva (vgl. ebd., S. 40). 122 Vgl. ebd. 123 Vgl. Handelsregister, Königliches Amtsgericht Charlottenburg, ebd.

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bisherigen Gesellschafter erfolgte.124 Am 14. September 1933 folgten auf Wollsteiner und Rosenblüth Willi Preiss und Siegfried Moses,125 der schließlich am 31. Dezember 1937 von Otto Eskeles und am 15. März 1938 von Alfred Rabau abgelöst wurde.126 Am 21. September 1938 wechselte die Geschäftsführung des Unternehmens auf Beschluss der Gesellschafterversammlung von Betty Frankenstein zu Erich Israel Liepmann, der entsprechende Eintrag erfolgte im Handelsregister am 18. November 1938.127 Da die Jüdische Rundschau, wie die gesamte jüdische Presse mit Ausnahme des Jüdischen Nachrichtenblattes, offiziell bereits am 10. November 1938 im Anschluss an die Reichspogromnacht verboten worden war, sollte Liepmann als Liquidator im Arisierungsprozess fungieren.128 Aus den Akten der »Jüdischen Rundschau G. m. b. H.« beim Amtsgericht Berlin nach 1933 geht schließlich hervor, dass die Auflösung der Gesellschaft im Rahmen der ›Arisierung‹ jüdischer Presseunternehmen im Auftrag des »Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda« von Hans Hinkel, dem Sonderbeauftragten für die »Entjudung« der deutschen Kultur,129 persönlich am 21. Dezember 1938 nach Durchsicht der entsprechenden Unterlagen angeordnet wurde.130 In einem Schreiben an das Amtsgericht vom 3. März 1939 machte Hinkel deutlich, dass ihm im Besonderen die vom Amtsgericht am 124 Vgl. Brief von Erich Cohen [Notar] an das Amtsgericht Berlin-Mitte vom 02. 09. 1929, S. 47– 51. Anlagen: Erste Ausfertigung der notariellen Urkunde des Gesellschaftsvertrages, 12. 06. 1929, ebd., S. 49–51. 125 Vgl. Brief der Jüdischen Rundschau G. m. b. H. an das Amtsgericht Berlin–Mitte vom 17. 01. 1934, S. 62f. Anlagen: Erste Ausfertigung der notariellen Urkunde des Gesellschaftsvertrages, 14. 09. 1933, ebd., S. 63. 126 Vgl. Brief der Jüdischen Rundschau G. m. b. H. an das Amtsgericht Berlin-Mitte vom 31. 10. 1937, ebd., S. 70; Brief der Jüdischen Rundschau G. m. b. H. an das Amtsgericht BerlinMitte vom 11. 11. 1938, S. 75–77. Anlagen: Erste Ausfertigung der notariellen Urkunde des Gesellschaftsvertrages, 15. 03. 1938, ebd., S. 76. 127 Vgl. Handelsregister des Amtsgerichts in Berlin, Abteilung B: Band 857, Bl. 68, Eintrag vom 04. 10. 1938, ebd; Brief von Franz Kremer [Notar] an das Amtsgericht Berlin-Mitte vom 21. 09. 1938, ebd., S. 71. 128 Zum rechtlichen Rahmen der jüdischen Presse während der Zeit des Nationalsozialismus im Allgemeinen und der Jüdischen Rundschau im Besonderen vgl. ausführlich Diehl, Presse, S. 63–120, 155–186 129 Zu Hans Hinkel vgl. Diehl, Presse, S. 101–114 (Kap. II.5 »Hans Hinkel – eine Annäherung«); Patzelt, Peter : Ein Bürokrat des Verbrechens. Hans Hinkel und die »Entjudung« der deutschen Kultur, in: Behmer, Markus (Hg.): Deutsche Publizistik im Exil 1933 bis 1945. Personen, Positionen, Perspektiven. Festschrift für Ursula E. Koch, Münster 2000, S. 307– 317; Steinweis, Alan E.: Hans Hinkel and German Jewry. 1933–1941, in: LBIYB 38 (1993), S. 209–219. 130 Vgl. Schreiben des Reichsministers für Volksaufklärung und Propaganda, gez. i. A. Hinkel, an das Amtsgericht Berlin vom 03. 03. 1939, Blattsammlung des Amtsgerichts Berlin, Abt. 564, Generalakten betreffend Jüdische Rundschau, LA Berlin A Rep. 342-02, Nr. 58622, S. 1.

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9. Februar 1939 genehmigte Einsetzung des bisherigen Geschäftsführers des zionistischen Verlagsunternehmens Liepmann als Liquidator missfallen hatte, da dieser aus nationalsozialistischer Sicht »als Jude keine Gewähr für eine ordnungsmäßige Abwicklung der Verlagsauflösung«131 biete und die Emigration nach Palästina plane.132 Auf Liepmann folgten daher im April und Mai 1939 die »deutsche[n] Liquidatoren«133 Karl Wills134 und Margarete Becker, geb. Lücke135. Ein ähnlicher, ideologisch motivierter Personalwechsel fand auch bei der Abwesenheitspflege statt: Die emigrierten ehemaligen Gesellschafter Preiss und Rabau bestimmten Dan Oettinger und Ernst Israel Jacoby136 zu ihren Abwesenheitspflegern, auf die am 31. Dezember 1940 Joachim Klinzmann und Herbert Menzel137 folgten. Im Rahmen ihrer Tätigkeit als Liquidatorin löste Becker schließlich die bestehenden Auslandsbank- und Postscheckkonten der G. m. b. H. auf und führte Verhandlungen über den Verkauf des Hauses Meinekestraße 10 und die Auflösung der Lebensversicherung von Betty Frankenstein.138 Am 16. Mai 1941 wurde dem Antrag der »Reichsvereinigung der Juden in Deutschland« auf Eingliederung der »Jüdischen Rundschau« stattgegeben und diese vom »Reichsministerium des Innern« angeordnet.139 Schließlich wurde im Auftrag der Industrie- und Handelskammer, Registerabteilung Berlin, im Handelsregister die Löschung der »vermögenslose[n] Gesellschaft« am 25. Juli 1941 vermerkt.140 Robert Weltsch, der bereits im Jahr 1938 nach Palästina emigriert war, gab von März 1939 bis Mai 1940 in Jerusalem die Jüdische Welt131 132 133 134

135 136 137 138

139 140

Ebd. Vgl. ebd. Ebd. Die Berufung von Karl Wills war auf Vermittlung von Heidemann, dem Inhaber des Bankhauses Fritz G. Samland, der seit Januar 1939 als Hausverwalter der »Jüdischen Rundschau« tätig war, zu Stande gekommen. Gegen die Bestellung von Wills, die auf Antrag Liepmanns erfolgt war, hatte die Industrie- und Handelskammer Berlin Beschwerde eingelegt, da sie einen »Interessenskonflikt« befürchtete. In einem Brief an das Amtsgericht Berlin versicherte Wills daher, dass er nicht im Interesse Liepmanns handele und diesen nicht persönlich kenne. Vgl. Schreiben der Industrie- und Handelskammer Berlin an Amtsgericht Berlin-Mitte vom 12. 05. 1939, ebd., S. 6; Brief von Karl Wills an das Amtsgericht Berlin-Mitte vom 13. 05. 1939, ebd., S. 5. Brief von Erich Hoffmann an das Amtsgericht Berlin-Mitte vom 22. 05. 1939, Generalakten betreffend Jüdische Rundschau, LA Berlin A Rep. 342-02, Nr. 58622, S. 94–96. Vgl. ebd. Vgl. Einlage Amtsgericht Berlin vom 31. 12. 1940, ebd., S. 102. Vgl. Brief von Margarete Becker an das Amtsgericht Berlin vom 15. 05. 1940, Blattsammlung des Amtsgerichts Berlin, Abt. 564, Generalakten betreffend Jüdische Rundschau, LA Berlin A Rep. 342-02, Nr. 58622, S. 10; Brief von Margarete Becker an das Amtsgericht Berlin vom 24. 05. 1941, ebd., S. 15. Vgl. Schreiben des Reichsministers des Innern, gez. i. A. Eichmann, vom 16. 05. 1941, ebd. Vgl. Handelsregister des Amtsgerichts in Berlin, Abteilung B: Band 857, Bl. 68, Eintrag vom 04. 10. 1938, ebd; Löschungsantrag der Industrie- und Handelskammer zu Berlin an das Amtsgericht Berlin vom 26. 06. 1941, ebd., S. 19.

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rundschau heraus, welche in Paris gedruckt und von dort aus in etwa vierzig Ausgaben verlegt wurde. Sie wollte die Jüdische Rundschau als wöchentlich erscheinendes Nachrichtenblatt fortführen und dem deutschsprachigen Zionismus ein neues Forum bieten.141 In der Nachkriegszeit übernahm 1951 zunächst die United Restitution Organization (URO), Regional Office Berlin,142 die auf Initiative des Council of Jews 1948 in London gegründet worden war, die Vertretung der »Rückerstattungsinteressen der Inhaber der ehemaligen Jüdischen Rundschau G. m. b. H.«143. Die URO Berlin meldete am 12. März 1958144 im Auftrag von Willi Preis und Alfred Rabau Entschädigungsansprüche vor dem Entschädigungsamt Berlin an und führte ein erfolgreiches Entschädigungsverfahren durch, in dessen Rahmen ein Vergleich in Höhe von 45.000 D-Mark erzielt wurde.145 Am 18. Juli 1960 wurde auf Antrag der United Restitution Organization der Leiter des Berliner Büros, Otto Bental, zum Notliquidator für die »Jüdische Rundschau G. m. b. H.« bestellt, den schließlich Hans Tramer im August 1961 ablöste.146 Tramer zählte zu den prominentesten Mitgliedern des in Palästina gegründeten ›Jeckes-Verbandes‹ Hitachdut Olej Germania bzw. Irgun Olej Merkas Europa (IOME) sowie zu den engsten Mitarbeitern von Robert Weltsch beim »Mitteilungsblatt« und mit ihm zu den Gründern des Leo Baeck Instituts in Jerusalem.147 Er hatte sich bereits seit den 1950er Jahren im Auftrag der mitteleuropäischen Einwandererorganisation IOME mit der Jewish Agency for Palestine, dem Central British Fund, dem 141 Vgl. Burger, Auseinandersetzung; Osten-Sacken, Aufstieg. 142 Vgl. dazu Hockerts, Hans Günter : Anwälte der Verfolgten. Die United Restitution Organization, in: Herbst, Ludolf/Goschler, Constantin (Hg.): Wiedergutmachung in der Bundesrepublik Deutschland (Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte, Sonderband), München 1989, S. 249–271; Goschler, Constantin: Schuld und Schulden. Die Politik der Wiedergutmachung für NS-Verfolgte seit 1945, Göttingen 2005. 143 Brief von O. Blumenthal [United Restitution Office, Berlin] an das Amtsgericht Charlottenburg vom 10. 04. 1951, Blattsammlung des Amtsgerichts Berlin, Abt. 564, Generalakten betreffend Jüdische Rundschau, LA Berlin A Rep. 342-02, Nr. 58622, S. 27. 144 Vgl. Brief von F. Pick [United Restitution Office] an das Entschädigungsamt Berlin vom 12. 03. 1958, CZA, J118/173. Zur Thematik insgesamt vgl. Correspondence between the Council and the URO concerning the restitution of the house and of the plot of the »Jüdische Rundschau« in Berlin, Meineckestraße [sic!] 10, 1957–1966, CZA, J118/173. 145 Vgl. Schreiben des United Restitution Office, Berlin, an das Amtsgericht Charlottenburg vom 18. 07. 1960, Blattsammlung des Amtsgerichts Berlin, Abt. 564, Generalakten betreffend Jüdische Rundschau, LA Berlin A Rep. 342-02, Nr. 58622, S. 31; Schreiben des United Restitution Office, Berlin, an Hans Tramer und Siegfried Moses vom 21. 07. 1961, CZA, J118/ 173. 146 Vgl. Einlage Amtsgericht Charlottenburg – 92 HRB 54607, 05. 09. 1960, Blattsammlung des Amtsgerichts Berlin, Abt. 564, Generalakten betreffend Jüdische Rundschau, LA Berlin A Rep. 342-02, Nr. 58622, S. 37. 147 Vgl. Tramer, Hans/Blumenfeld, Kurt (Hg.): Robert Weltsch zum 70. Geburtstag. Von seinen Freunden, Tel Aviv 1961; Tramer, Hans: Geleitwort, in: Weltsch, Robert: An der Wende des modernen Judentums. Betrachtungen aus fünf Jahrzehnten, Tübingen 1972, S. V–XX.

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Council of Jews from Germany (Leo Baeck Charitable Trust) und der The Jewish Trust Corporation for Germany Ltd. in Verbindung gesetzt, um die Organisationen zu bewegen, ihre Anteile am Erlös des Verkaufspreises für das Haus Meinekestraße 10 der neu gegründeten Trustees Association for the Property of the former Zionist Organizations in Germany / Treuhänderausschuss für das Vermögen früherer zionistischer Institutionen in Deutschland zu überweisen. Aus diesen sollten wiederum die ehemaligen zionistischen Angestellten der Jüdischen Rundschau und der zionistischen Behörden Deutschlands entschädigt werden.148 Tramer bezifferte den Erlös des Verkaufs auf 132.792 D-Mark, von denen ursprünglich 76.788,80 D-Mark an die Jewish Agency, 38.403,20 D-Mark an das American Jewish Joint Distribution Committee (kurz: Joint) und 17.600 D-Mark an den Council of Jews from Germany (Leo Baeck Charitable Trust) geflossen waren.149 Diese Rückzahlungen wie die Überweisung der sich auf 45.000 D-Mark belaufenden Entschädigungszahlung des Bundes erfolgten schließlich in Teilen und mit erheblicher zeitlicher Verzögerung bis weit in die zweite Hälfte der 1960er Jahre hinein auf das Treuhänderkonto.150 Unter den Mitgliedern des Treuhänderausschusses befanden sich unter anderem die ehemaligen Protagonisten der zionistischen Pressearbeit in Deutschland Kurt Blumenfeld, Arthur Hantke und Betty Frankenstein.151 Weitere Ansprüche auf »Wiedergutmachung« nach § 31 d BWGöD erhob Mitte der 1960er Jahre beispielsweise auch Gerda (Arlosoroff-Goldberg) Luft (1898–1987),152 deren Anträge belegen, dass die Jüdische Rundschau spätestens seit der zweiten Hälfte der 1920er Jahre über eine eigene Palästinakorrespondentin verfügte und dass sich die schwerpunktmäßige Berichterstattung von der Diaspora auf Palästina verlagert hatte.153 148 Vgl. die umfangreichen Akten und Briefe in der Correspondence concerning the restitution of the house and of the plot of the »Jüdische Rundschau« in Berlin, Meineckestraße [sic!] 10, 1957–1958, CZA, J118/171; Correspondence concerning the restitution of the house and of the plot of the »Jüdische Rundschau« in Berlin, Meineckestraße [sic!] 10, 1959–1967, CZA, J118/172. 149 Vgl. Brief vom Irgun Olej Merkas Europa [Nissenbaum, Helga] an M. Rosenthal, Jewish Agency for Palestine vom 12. 11. 1958, Anhang, CZA, J118/171. 150 Vgl. Brief von Berent, E. an S. Moses vom 08. 06. 1959, CZA, J118/172; Schreiben von M. Rosenthal, Jewish Agency for Palestine, an Hans Tramer und die United Restitutions Organization vom 07. 09. 1961, CZA, J118/173. 151 Vgl. Statuten des Treuhänderausschuss für das Vermögen früherer zionistischer Institutionen in Deutschland vom 28. 07. 1959, CZA, J118/172. 152 Vgl. Luft, Gerda: Chronik eines Lebens für Israel, Stuttgart 1983; dies.: Heimkehr ins Unbekannte. Eine Darstellung der Einwanderung von Juden aus Deutschland nach Palästina vom Aufstieg Hitlers zur Macht bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges 1933–1939, Wuppertal 1977. 153 Vgl. Schreiben des Bundesverwaltungsamts an das Amtsgericht Charlottenburg vom 30. April 1965, Blattsammlung des Amtsgerichts Berlin, Abt. 564, Generalakten betreffend Jüdische Rundschau, LA Berlin A Rep. 342-02, Nr. 58622, S. 54.

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2.

Zionistisches Laboratorium und Netzwerk: Die Jüdische Rundschau 1902–1914

In der Redaktion: Personalien und Beziehungsgeflechte

Neben der komplexen Organisationsstruktur der Zeitung und den geschäftlichen Verbindungen des Verlages spielten für die Positionierung der Wochenzeitung innerhalb der ZVfD und der ZO vor allem ihre Mitarbeiter eine erhebliche Rolle. Darunter verdienen neben dem genannten juristischen und kaufmännischen Fachpersonal in erster Linie die Redakteure besonderes Augenmerk, die eine Vielzahl von Aufgaben bei der zionistischen Pressearbeit und damit bei der Produktion zionistischer Kultur übernahmen. Über ihre persönlichen und beruflichen Beziehungsgeflechte trugen sie wesentlich zur Herausbildung des Netzwerkes der Zeitung und ihres ideologischen Profils bei. In den ersten sechseineinhalb Jahren ihres Bestehens zwischen den Jahren 1902 und 1908 leitete Heinrich Eljaqim Loewe (1869–1951) die Redaktion der Jüdischen Rundschau.154 Heinrich Loewe wurde am 11. Juli 1869 als jüngstes von fünf Kindern im kleinen preußischen Städtchen Wanzleben bei Magdeburg in eine jüdische Familie geboren.155 Die Eltern von Loewe legten Wert auf die Einhaltung von religiösen Feiertagen, des Shabbat und von Speisevorschriften, während die Erziehung der Kinder mit Ausnahme von gelegentlichem Hebräischunterricht größtenteils säkular und bürgerlich geprägt war.156 Loewe charakterisierte die kulturelle Zwischenexistenz der Familie – sozusagen als jüdisches Eiland inmitten des protestantisch geprägten preußisch-deutschen Wanzlebens – retrospektiv mit dem Begriff der »Grenzbewohner«157. Nach dem Umzug der Familie nach Magdeburg besuchte Loewe parallel zum Unterricht am nur äußerlich säkularisierten Pädagogikum Unser Lieben Frauen den Unterricht an der Schule der Magdeburger jüdischen Gemeinde bei Rabbiner Moritz Rahmer.158 Im April 1889 begann Loewe ein Geschichtsstudium an der Philosophischen Fakultät der Wilhelms-Universität in Berlin und nahm an Veranstaltungen an der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums teil.159 Mit dem Wechsel nach Berlin begann auch die zionistische Tätigkeit Loewes, indem 154 Zur Biographie Heinrich Loewes vgl. ausführlich Schlöffel, Loewe. Für eine kurze biographische Übersicht vgl. darin im Besonderen das Kapitel »1.2 Biographische Notizen«, S. 3– 9. 155 Vgl. Loewe, Heinrich: Sichronot. Kap. Gross–Wanzleben, CZA, A146/61; Schlöffel, Loewe, S. 3. 156 Vgl. ders.: Judentum in Wanzleben, CZA, A146/61; ders.: Sichronot. Kap. Häusliches Leben in Wanzleben, CZA, A146/61; Schlöffel, Loewe, S. 2f. 157 Loewe, Heinrich: Sichronot. Einfügung bei Berta Plaut – Loewe, CZA, A146/61, S. [1]; Schlöffel, Loewe, S. 4. 158 Vgl. Zeugnis der Reife von Heinrich Loewe vom 19. 03. 1889. Pädagogikum zum Kloster Unser Lieben Frauen, CZA, A146/001; Loewe, Sichronot. Kap. Kloster Unser Lieben Frauen, CZA, A146/61; Schlöffel, Loewe, S. 5f. 159 Vgl. Loewe, Sichronot. Kap. Kloster Unser Lieben Frauen, CZA, A146/61.

In der Redaktion: Personalien und Beziehungsgeflechte

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er entscheidend an der Entwicklung zionistischer Netzwerke und Diskurse vor Ort beteiligt war und zu den aktivsten sowie vielseitigsten Berliner wie deutschen zionistischen Propagandisten um die Jahrhundertwende gezählt werden kann.160 Für Richard Loewe galt sein jüngster Bruder Heinrich deshalb geradezu als Sinnbild für das zionistische Kollektiv in Berlin: Er »sei eigentlich die Seele dessen, was als jüdische Bewegung in Berlin sich abspiele«161. So gehörte Heinrich Loewe beispielsweise neben bekannten osteuropäischen Zionisten wie Leo Motzkin, Schmarja Levin, Joseph Lurije und Nachman Syrkin als einziges deutsches Mitglied dem Russisch-jüdisch wissenschaftlichen Verein an162 und übernahm ab 1895 die Schriftleitung der unter dem Namen Jüdische Volkszeitung, später Zion, herausgegebenen Zeitung, die ursprünglich von Nathan Birnbaum in Wien unter dem Titel Selbst-Emancipation erschienen war.163 Bereits drei Jahre zuvor, im Mai 1892, war auf seine Initiative mit Jung Israel eine weitere bedeutende zionistische Kommunikationsplattform entstanden.164 Unter anderem gemeinsam mit Willy Bambus, seinem späteren Konkurrenten im ›Berliner Zionismusstreit‹, bereiste Loewe Palästina und gehörte somit zu den wenigen deutschen Zionisten, die das Territorium einer zukünftigen jüdischen Besiedlung aus eigener Anschauung um die Jahrhundertwende kennengelernt hatten.165 Nach dem zweiten Zionistenkongress im Jahr 1899 hatte Loewe kurzzeitig eine Tätigkeit als Vorsitzender der BZV übernommen und auf vielfältige Weise zur »Neuvermessung des zionistischen Terrains Berlin«166 nach dem Ersten Zionistenkongress beigetragen.167 Auch in den Institutionen der ZO konnte Loewe auf eine erfolgreiche Karriere zurückblicken: 1907 war er zum Referenten für »Palästina-Kulturfragen« in das in Berlin neu gegründete Zentralbüro berufen worden, wo er sich beispielsweise an der Gründung der Organisation für hebräische Sprache und Kultur, Histadrut Ivrit, beteiligte, welche maßgeblich die hebräische Erziehungsarbeit in der Diaspora und damit die ›Zionisierung‹ und ›Hebraisierung‹ des jüdischen Berlin vorantrieb.168 Im Januar 1914 wurde Heinrich Loewe zum Direktor der Hauptsammelstelle für die Jüdische National- und Universitätsbibliothek in Berlin ernannt.169 Parallel dazu, in den Jahren 1899 bis 1933, vor seiner Auswanderung nach Palästina, arbeitete 160 Vgl. Schlöffel, Loewe, S. 421–428 (Zusammenfassende Betrachtungen). 161 Weinberg, Jehuda Louis/Weinberg-Schalit, Hanna: Jahrhundertwende. Eine Novelle in Briefen. Im Privatbesitz, S. 52, zit. n. Schlöffel, Loewe, S. 7. 162 Vgl. Schlöffel, Loewe, S. 69–80. 163 Vgl. ebd., S. 149–165. 164 Vgl. ebd., S. 126–142. 165 Vgl. ebd., S. 165–179. 166 Ebd., S. 201. 167 Vgl. ebd., S. 201–222. 168 Vgl. ebd., S. 270–283. 169 Vgl. ebd., S. 284–287; 318–324.

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Loewe an der Bibliothek der Wilhelms-Universität, wo er bis zum Bibliotheksrat aufstieg und umfassendes bibliothekarisches Wissen erwarb, das er in das jüdische Kollektiv im Yishuv einbringen konnte und damit maßgeblich zur Gründung einer Jüdischen National- und Universitätsbibliothek (JNUL) in Jerusalem und zahlreicher Bildungs- und Kulturprojekte beitrug.170 1933 emigrierten Heinrich Loewe, seine Ehefrau Johanna Auerbach und die beiden Kinder Hadassa (* 1902) und Gideon (* 1907) nach Tel Aviv, wo er bis zum Jahr 1948 die Stadtbibliothek Sha’ar Zion, die heute in das Kulturzentrum Beit Ariela, das sich auf dem Shaul-Ha-Melech-Boulevard befindet, integriert ist, leitete.171 Heinrich Loewe starb mit 82 Jahren am 2. August 1951 in Haifa, wo er seinen Lebensabend in einem von der IOME betriebenen Altenheim verbracht hatte.172 Das Interesse Loewes an journalistischer Tätigkeit lässt sich bis in seine Schul- und Studienzeit zurückverfolgen173, bevor er sich mit seiner erfolgreichen Arbeit an Zion und Jung Israel auch praktisch in das Betätigungsfeld vertiefte. Bereits Anfang 1899 im Rahmen seiner intensiven Suche nach einer festen Anstellung über zionistische Institutionen hatte Loewe der ZVfD die Gründung einer nationaljüdischen, kulturwissenschaftlichen Zeitschrift mit dem Titel Der Orient. Monatsschrift für Kultur und Leben der jüdischen Nation vorgeschlagen, was jedoch wohl an der dürftigen Konkretion der Pläne und der fehlenden Finanzierungsmöglichkeit sowie mangelhaften Interesses seitens der ZVfD gescheitert war.174 Im Mai 1902 wurde Loewe jedoch schließlich die Redaktion der Israelitischen Rundschau übertragen, womit er sich wohl vor dem Hintergrund seiner Position im Berliner Zionismus fast automatisch für das Amt des neuen Chefredakteurs ihrer Nachfolgerin Jüdische Rundschau empfahl. Frank Schlöffel beschreibt in seiner Biographie zu Loewe eindrucksvoll »die einzigen Indizien für die Bedeutung des Raumes«175, die auf das Gedenken an Heinrich Loewe im öffentlichen Gedächtnis Tel Avivs (noch immer) hinweisen, wo eine Straße, die Elyqum Straße, nach dem zionistischen Aktivisten der ›Gründerzeit‹ benannt ist. Im ersten Stock des Kulturzentrums Beit Ariela lässt sich daneben ein Relief und eine Fotografie Loewes finden, die in ihrer Formensprache stark an zeitgenössische Portraits Theodor Herzls, wie die bekannte Fotografie von Ephraim Moses Lilien aus dem Jahr 1901, erinnern.176 Das Grab 170 171 172 173

Vgl. ebd., S. 250–269; 371–404. Vgl. ebd., S. 405–420. Vgl. ebd., S. 33–50. Vgl. Loewe, Sichronot. Kap. Kloster Unser Lieben Frauen, CZA, A146/61; Schlöffel, Loewe, S. 5f. 174 Vgl. Brief von Heinrich Loewe an Zentralkomitee der ZVfD vom 30. 01. 1899, CZA, A15/504. 175 Schlöffel, Loewe, S. 43. 176 Vgl. ebd., S. 42f. Bei Schlöffel finden sich auch angefertigte Fotographien des Grabsteins, der Straße und des Reliefs.

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von Loewe, das sich auf dem Alten Friedhof in der Trumpeldor Straße im Herzen der »ersten hebräischen Stadt«177 Tel Aviv in unmittelbarer Nähe zu Gräbern zionistischer Größen wie Chaim Nachman Bialik, Max Nordau und Achad Ha am befindet178 und im Rahmen der vorliegenden Arbeit besichtigt werden konnte, trägt die folgende Inschrift in hebräischen Lettern: »Loewe / Hier ruht R’ Eljakim Ben Jehuda / Prof. Dr. Heinrich Loewe / [Einer] unter den Gründern der zionistischen Bewegung / 3. Aw 5629–29. Tamus 5711 [11. Juli 1869–2. August 1951]«.179 Die Schwerpunkte des (halb-)öffentlichen Gedenkens an Loewe in Israel, die heute in erster Linie eine geistige Brücke zu seiner Kultur- und Bildungsarbeit im neuen Staatswesen sowie im urbanen Raum Tel Aviv und nicht zu seiner journalistischen Tätigkeit in der Diaspora schlagen, decken sich im Wesentlichen mit Loewes autobiographischer Sicht auf seinen Lebenslauf: Seine Tätigkeit als Redakteur der Jüdischen Rundschau charakterisierte er retrospektiv nur als »Nebenamt« und wies ihr, vermutlich auch aufgrund der dabei angedeuteten Enttäuschung über sein unglückliches Ausscheiden aus der Redaktion, in der Hierarchie seiner journalistischen Stellungen hinter der Arbeit an der Selbst-Emanzipation und an ihrem Nachfolgeblatt Zion nur den dritten Platz zu.180 Dennoch deutet auch die Grabinschrift die universale Bedeutung Loewes für das zionistische Kollektiv in seiner Formierungs- und Konstituierungsphase an, für die im deutschen Zionismus seine Arbeit für die Jüdische Rundschau geradezu paradigmatisch stehen kann. In Konsequenz der noch im Detail zu beschreibenden internen Konflikte wurde die Redaktion der Zeitung Anfang des Jahres 1909 an Julius Becker (1881– 1945) übertragen, der Loewe bereits zwischen Dezember 1904 und Januar 1906 in der Redaktionsarbeit assistiert hatte.181 Julius Becker wurde 1881 in Gottesberg in der preußischen Provinz Schlesien (heute: poln. Bogusz´ow/Niederschlesien) in eine akkulturierte deutsch-jüdische Familie geboren, die ihren Lebensunterhalt wie Loewes Vater über den Handel bestritt.182 Gottesberg, das 1742 im Rahmen der polnischen Teilung an Preußen gelangt war, wies im Jahr 1890 7.201 Einwohner auf, unter denen sich nur 25 Juden befanden,183 womit

177 Schlör, Tel Aviv, S. 130–135 (Kap. »Ha’ir ha’iwrit ha’rischona – die erste hebräische Stadt«); Schlöffel, Loewe, S. 41. 178 Vgl. Schlöffel, Loewe, S. 41. 179 Vgl. dazu auch ebd., S. 42. 180 Loewe, 1908, S. 19. 181 Vgl. Die Redaktion der Juedischen Rundschau: Mitteilung, in: JR, XI. Jg., Nr. 3 (19. 01. 1906), Beilage »Aus der zionistischen Bewegung«. 182 Vgl. Schwarz, Johannes Valentin: Becker, Julius, in: Skolnik, Fred/Berenbaum, Michael (Hg.): Encyclopaedia Judaica, Bd. 3: Ba–Blo, Detroit u. a. 22007, S. 245; Lichtheim, Geschichte, S. 157, 195. 183 Vgl. Gottesberg, in: Keil, Wilhelm: Neumanns Orts-Lexikon des Deutschen Reichs, Ein

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Becker wie Loewe während seiner Kindheit in einer deutsch geprägten Umwelt und säkularen Familie nur »wenig Gelegenheit [hatte], vom Judentume etwas zu hören oder zu erlernen«184. Sein Studium absolvierte Becker seit dem Ende der 1890er Jahre an der Universität Bern in der Schweiz, das er wie Loewe erfolgreich mit einer Promotion, in Graphologie, abschloss.185 In diese Zeit scheint auch seine Hinwendung zum Zionismus zu fallen, indem er während seines Aufenthaltes in der Schweiz in Kontakt zu Chaim Weizmann kam, der seit 1901 eine Position als Dozent für Biochemie an der Universität Genf innehatte. Wohl auf Initiative Weizmanns trat Becker der im Jahr 1901 gegründeten Demokratischen Fraktion bei. Nach seiner ›zionistischen Bekehrung‹ zog Becker nach Berlin, wo er zwischen 1904 und 1905 in der Redaktion der Jüdischen Rundschau arbeitete. Im Anschluss an seine erste Mitarbeit beim Presseorgan der deutschen Zionisten verfasste er unter dem Akronym »JB« in den Jahren 1906 bis 1913 eine Reihe von Artikeln für das offizielle Leitmedium der ZO, Die Welt. Noch kurz vor der Übernahme der Schriftleitung der Jüdischen Rundschau 1909 gehörte Becker neben den späteren Revisionisten Richard Lichtheim und Vladimir Jabotinsky einem zionistischen Komitee an, das nach Konstantinopel gesandt wurde, um dort das Wohlwollen des neuen Regimes nach der Jungtürkischen Revolution gegenüber den Zionisten sicher zu stellen. Nach seiner Zeit bei der Jüdischen Rundschau im Oktober 1911 nahm Becker einen rasanten Aufstieg in den zionistischen Gremien Deutschlands und wurde sowohl in das Zentralkomitee der ZVfD als auch in deren Exekutivkomitee gewählt.186 Kurz vor dem Ersten Weltkrieg begann er eine journalistische Tätigkeit für verschiedene deutsche Zeitungen, die in unmittelbarer Nachbarschaft zur Jüdischen Rundschau im Ullstein Verlag erschienen, so etwa für die Berliner Morgenpost (1898 gegr.) und für die »Tante Voß«, die Vossische Zeitung,187 welche seit dem 1. Januar 1914 in das Verlagsprogramm integriert worden war.188 Becker bildete somit auch die direkte personell-ideelle Verbindungslinie zwischen dem zionistischen und dem deutsch-liberalen, jüdisch dominierten Pressewesen in Berlin und im Deutschen Reich. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde Becker Korrespondent für die Vossische Zeitung beim neu eingerichteten Völkerbund in Genf, wo er zeitweise als Vorsitzender aller dort ansässigen Korrespondenten fungierte. Seit 1925 assistierte Becker Victor Jacobsohn in seiner Rolle als Delegierter der Jewish Agency

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geographisch-statistisches Nachschlagebuch für deutsche Landeskunde, 3., neu bearb. und verm. Aufl. Leipzig/Wien (Bibliographisches Institut) 1894, S. 262. Loewe, Heinrich: Judentum in Wanzleben, CZA, A146/61, S. 2. Vgl. Schwarz, Becker. Vgl. ebd. Zur Vossischen Zeitung vgl. Bender, Klaus: Die Vossische Zeitung (1617–1934), in: Fischer, Heinz-Dietrich (Hg.): Deutsche Zeitungen des 17. bis 20. Jahrhunderts (Publizistik-historische Beiträge 2), Pullach 1972, S. 25–39. Vgl. Schwarz, Becker.

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beim Völkerbund, wonach er diesen schließlich im August 1934 ablöste. Noch vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs siedelte Becker wieder in die Schweiz über, von wo aus er als ›Staatenloser‹ 1941 nach den Vereinigten Staaten von Amerika emigrierte und dort im amerikanischen Exil im Jahr 1945 verstarb.189 Für Richard Lichtheim, der Becker in seiner »Geschichte des deutschen Zionismus« (1954) würdigte, war dieser »ein sehr begabter Journalist und liebenswürdiger Gesellschafter, der dem Zionismus durch seine zahlreichen Verbindungen viele Dienste erwies«190. Bereits während der Schriftleitung Heinrich Loewes war Fritz Abraham (unbek. – 1915) als Mitarbeiter in den Herstellungs- und Produktionsprozess der Jüdischen Rundschau involviert gewesen,191 bis er schließlich selbst im November 1911 die Redaktion von Becker übernahm.192 Nach Aussage von Julius Becker stammte Abraham »aus ganz assimilierten Berliner Kreisen« und hatte über den jüdischen Sport in Berlin zum Zionismus gefunden.193 Parallel zu seiner Mitarbeit an der Jüdischen Rundschau wirkte Abraham als Vorstandsmitglied in der »Jüdischen Turnerschaft«194, dem 1903 während des Sechsten Zionistenkongresses in Basel gegründeten Dachverband ›jüdisch-national‹ gesinnter Turnvereine, dem sich zunächst elf Vereine mit ca. 1000 Mitgliedern angeschlossen hatten. Er erträumte sich, ein »jüdisch-nationales Olympia zu erleben«195. Seit August 1907196 stand er des Weiteren als Geschäftsführer der Jüdischen Turnzeitung. Monatsschrift für die körperliche Hebung der Juden, die seit November 1903 das offizielle Organ der »Jüdischen Turnerschaft« darstellte, vor und redigierte häufig gemeinsam mit Erich Burin die einzelnen Ausgaben der Zeitung, in denen er zahlreiche Beiträge veröffentlichte.197 Die Jüdische Turnzeitung, die ursprünglich seit 1900 zunächst als Organ des jüdischen 189 190 191 192 193 194 195 196 197

Vgl. ebd. Lichtheim, Geschichte, S. 157. Vgl. Loewe, 1908, S. 19. Zu Fritz Abraham vgl. den Nachruf Fritz, Abraham [Nachruf, Redaktion der »Jüdischen Rundschau«], in: JR, XX. Jg., Nr. 38 (17. 09. 1915), S. 310; Berger, Julius: Fritz Abraham, in: ebd., S. 310f.; Burin, Erich: Fritz Abraham, in: JR, XX. Jg., Nr. 39/40 (23. 09. 1915), S. 318. Becker, Julius: Die »Jüdische Rundschau vor dem Kriege«, in: Erinnerungen ehemaliger Redakteure, in: JR, XL. Jg., Nr. 31/32 (17. 04. 1935), S. 19f., hier S. 19. Vgl. Berger, Fritz Abraham, S. 310. Abraham, Fritz: Sportabteilungen, in: Jüdische Turnzeitung (JTZ), XII. Jg., Nr. 3 (März 1911), S. 51–53, hier S. 53. Vgl. Mitteilung der Geschäftsstelle, in: JTZ, VIII. Jg., Nr. 8 (August 1907), S. 154. Vgl. z. B. A., F. [Abraham, Fritz]: Ch. N. Bialik. Betrachtungen zu seinem Gedichte »Im Felde«, in: JTZ, IX. Jg., Nr. 1 (Januar 1908), S. 6–8.; Abraham, Fritz: Das Küren im Programm unserer Schauturnen [sic!], in: JTZ, IX. Jg., Nr. 3 (März 1908), S. 42–45; ders.: Sportabteilungen, in: JTZ, XII. Jg., Nr. 3 (März 1911), S. 51–53; ders.: Weit von hier grabt mir den Graben, in: JTZ, XIII. Jg., Nr. 1 (Januar 1912), S. 7–9. Zur »Jüdischen Turnerschaft« und zum »Jüdischen Turn- und Sportverein Bar Kochba« vgl. auch Schäfer, Zionistenkreise, S. 70–73.

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Turnvereins »Bar Kochba« herausgegeben worden war und zu deren Mitarbeitern der ersten Stunde auch Loewes Schwager, Elias Auerbach, zählte, erschien monatlich und glich in inhaltlicher wie formaler Aufmachung und dem Arrangement der Werbeanzeigen, wenn auch weniger professionell ediert, auffallend der Gestaltung der Jüdischen Rundschau. Die Geschäftsstelle der Jüdischen Turnzeitung befand sich während der ersten zwei Monate der Leitung unter Abraham zunächst in der Spenerstraße 32 im Nordwesten Berlins und zog im Oktober 1907 in die (in nächster Nähe gelegene) Rathenower Straße 25 um. Die Redaktion hingegen hatte sich anfänglich im Stadtteil Halensee in der Friedrichsruher Straße 23 niedergelassen, bevor beide Büros im Februar 1908 in der Rathenower Straße 25 zusammengelegt wurden.198 Die Redaktions- und Verwaltungsgebäude der Zeitung befanden sich damit im Berliner Stadtviertel Moabit in unmittelbarer Nähe zu denen der Jüdischen Rundschau und bildeten mit ihnen über Abraham und andere Autoren ein Kommunikationsnetzwerk.199 Wie aus verschiedenen Anzeigen in der Zeitung hervorgeht, war Abraham in seiner Tätigkeit als Geschäftsführer auch für die Verwaltung der Abonnementsbeiträge und Geldsendungen sonstiger Art verantwortlich.200 Die Formierung einer (national-)jüdischen Turnbewegung, die sich zum Ziel machte, die Propagierung von ›Männlichkeit‹, körperliche Ertüchtigung und Erziehung zum Nationaljudentum zu verbinden,201 wurde wesentlich von parallelen Erscheinungen im ›deutschen Nationalismus‹ wie der Turnbewegung Friedrich Jahns und den entsprechenden Ideen bekannter Zionisten wie Max Mandelstamm und Max Nordau geprägt. Sie schrieb den jüdischen Turnvereinen eine wesentliche Rolle bei der Umsetzung des Bildes eines nationaljüdisch gesinnten, selbstbewussten und starken Juden zu, für den der Begriff ›Muskeljudentum‹ sinnbildlich wurde.202 Abraham, der bis September 1913 die Schriftleitung der Jüdischen Rundschau ausübte, fiel Ende August 1915 im Ersten Weltkrieg in den Gefechten deutscher Truppen um den Njemen-Übergang.203 In seinen Nachru198 Vgl. das Titelblatt der JTZ. Vgl. Mitteilung der Redaktion, in: JTZ, IX. Jg., Nr. 2 (Februar 1908), S. 18. 199 Vgl. Kap. II.4. der vorliegenden Arbeit. 200 Vgl. z. B. Die Geschäftsstelle: An unsere Abonnenten, in: JTZ, IX. Jg., Nr. 1 (Januar 1908), S. 1. 201 Vgl. dazu auch das Leitwort der Jüdischen Turnzeitung im Vorwort jeder Ausgabe: »Die jüdischen Turnvereine bezwecken die Pflege des Turnens und der national-jüdischen Gesinnung unter ihren Mitgliedern. Unter national-jüdischer Gesinnung verstehen wir das Bewusstsein der Zusammengehörigkeit aller Juden auf Grund gemeinsamer Abstammung und Geschichte, sowie den Willen, die jüdische Stammesgemeinschaft auf dieser Grundlage zu erhalten.« 202 Vgl. Wildmann, Körper; Schäfer, Zionistenkreise, S. 70–78. 203 Fritz Abraham sandte seine Eindrücke von der Ostfront als Beitrag an die Jüdische Rundschau, die posthum am 17. September 1915 veröffentlicht wurden. Abraham schilderte darin den Alltag der deutschen Truppen während des Rückzugs aus dem russischen

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fen, die von militaristischer Metaphorik geprägt waren und in der Jüdischen Rundschau erschienen, wird Abraham als fleißiger, treuer und bescheidener Mitarbeiter geschildert, der wie ein »braver zionistischer Soldat«204 in seiner »Arbeit an der Jüdischen Rundschau stets die unvergleichliche Echtheit und Zuverlässigkeit eines vom reinsten Idealismus erfüllten Juden und Menschen«205 zeigte. Die auf Abraham folgenden Redakteure, auf deren Tätigkeitsdauer und -form der Erste Weltkrieg und die veränderten Handlungsbedingungen des Zionismus in der Zwischenkriegszeit einen entscheidenden Einfluss nahmen, entstammten mit Ausnahme von Max Mayer206 und Fritz Löwenstein207 dem ›Prager Zionismus‹. Dieser entwickelte sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Umfeld der Prager Studentenorganisation »Bar Kochba«, einem Kreis junger zionistischer Intellektueller, welche tief von den kulturzionistischen Ideen Martin Bubers geprägt waren, wie Dimitry Shumsky in seiner Arbeit zum Thema zeigen konnte.208 Nach Shumsky muss ihre Formulierung einer spezifischen Variante der national-jüdischen Idee in einem engen Zusammenhang mit den besonderen Bedingungen der tschechisch-deutsch-jüdischen Kultur im Prag nach der Jahrhundertwende betrachtet werden. Die Verknüpfung von essentialistischen und ethnisch-partikularen Nationskonzepten mit Elementen eines humanistischen Universalismus, die eine Reformulierung von Bubers Kulturzionismus darstellte,209 könne, so Shumsky, wesentlich auf die Zweisprachigkeit der Prager zionistischen Kultur und die kulturelle Zwischenexistenz der jungen Intellektuellen zwischen deutscher, tschechischer und jüdischer Kultur im Kontext des

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Gouvernement Suwalki – heute Polen – im Oktober 1914. Der Bericht, der eine deutlich subjektive Färbung besitzt, beschreibt die Begegnung des Soldaten mit der einheimischen polnischen wie jüdischen Bevölkerung. Abraham hob darin im Folgenden die Gastunfreundlichkeit der polnischen und russischen Bauern sowie das Vorherrschen des Antisemitismus in der polnischen Bevölkerung hervor, denen er das emotionale, authentische »Brudererlebnis« des Aufeinandertreffens mit dem trotz Armut gastfreundlichen ›Ostjuden‹ entgegensetzt. Am Ende des Beitrags argumentiert Abraham zugunsten der Befreiung seiner jüdischen ›Brüder‹ in einem »autonomen Polen«. Vgl. Abraham, Fritz: Erlebnis im Felde, in: JR, XX. Jg., Nr. 38 (17. 09. 1915), S. 310. Berger, Fritz Abraham, S. 310. Redaktion der »Jüdischen Rundschau«: Fritz Abraham, in: JR, XX. Jg., Nr. 38 (17. 09. 1915), S. 310. Vgl. Mayer, Max: Die Rundschau im Weltkrieg. Ein Erinnerungsblatt, in: Erinnerungen ehemaliger Redakteure, in: JR, XL. Jg., Nr. 31/32 (17. 04. 1935), S. 19f., hier S. 20. Vgl. Löwenstein, Fritz: Aus meinen Rundschautagen, in: Erinnerungen ehemaliger Redakteure, in: JR, XL. Jg., Nr. 31/32 (17. 04. 1935), S. 19f., hier S. 20. Vgl. Shumsky, Zweisprachigkeit. Vgl. Vogt, Stefan: Rezension zu: Dimitry Shumsky : Zweisprachigkeit und binationale Idee. Der Prager Zionismus 1900–1930, in: MEDAON – Magazin für jüdisches Leben in Forschung und Bildung, 8 (2014), 14, S. 1–4, hier S. 2f. URL: [letzter Zugriff erfolgt am 08. 09. 2016].

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sich verschärfenden Nationalitätenkonflikts in der Habsburgermonarchie vor dem Ersten Weltkrieg zurückgeführt werden.210 Gerade ihre Partizipation an einem praktischen Multikulturalismus hätte die entscheidende Grundlage für ihre Offenheit gegenüber anderen Kulturen und ›Nationen‹ gebildet und sei schließlich in die späte Forderung nach einem binationalen Gemeinwesen in Palästina gemündet, die Shumsky teilweise als eine direkte Übersetzung der für Tschechien und Österreich-Ungarn entwickelten politischen Konzepte auf das jüdische Gemeinwesen in Palästina versteht.211 Diese bildete schließlich den ideologischen Kern der in den 1920er Jahren für binationale Lösungen in Palästina eintretenden Gruppe Brit Shalom, deren Ideenhaushalt die Jüdische Rundschau intensiv abbildete.212 Für die auf Abraham folgenden Redakteure treffen diese Feststellungen auf Hugo Herrmann (1887–1940), Leo Herrmann (1888–1951)213 und Robert Weltsch (1891–1982)214 zu. 210 Vgl. Shumsky, Zweisprachigkeit, S. 74–126. 211 Vgl. ebd., S. 127–303. 212 Vgl. dazu auch Weltsch, Robert: Rechenschaft, in: JR, XL. Jg., Nr. 31/32 (17. 04. 1935), S. 18: »Prinzipiell wichtiger war die politische Diskussion. Wir traten dafür ein, daß die Tatsache der Existenz einer Landesbevölkerung Palästinas in die politische Konzeption des Zionismus einbezogen wird. Die alte Formel ›das Land ohne Volk dem Volk ohne Land‹, so sagten wir, war eine abstrakte Formel, die der Wirklichkeit nicht entsprach. Zwar gibt es ein Volk ohne Land, aber es gibt kein Land ohne Volk.« 213 Leo Herrmann wurde 1888 in Landskron (tsch. Lansˇkroun), einer Kreisstadt im südöstlichen Sudetenland, geboren, die wie Mährisch-Trübau eine deutsche Enklave im tschechischen Umland bildete. Nach einem Rechtsstudium in Prag, trat er ebenfalls der jüdischen Studentenvereinigung »Bar Kochba« bei und stand ihr vor Hugo Herrmann als Obmann im Studienjahr 1908/09 vor. Wie sein Vetter Hugo Herrmann arbeitete er in den Jahren 1910 bis 1913 als Redakteur der zionistischen Wochenschrift Selbstwehr. Er verfasste auch Beiträge für weitere zionistische Zeitungen wie die Jüdische Volksstimme in Brünn (tsch. Brno) und die Jüdische Zeitung in Wien. 1913 zog Leo Herrmann nach Berlin, wo er vor seiner Beschäftigung bei der Jüdischen Rundschau als Sekretär der ZO tätig war. Während des Ersten Weltkriegs unterstützte er daneben seinen Lehrer und Mentor Martin Buber in der Redaktion seiner kulturzionistischen Zeitschrift Der Jude, die zwischen 1916 und 1928 erschien. 1919 nahm er als Teilnehmer der tschechoslowakischen Delegation an den Friedensverhandlungen der Versailler Konferenz teil. 1920 trug er neben Berthold Feiwel wesentlich zur Gründung des »Keren Hayessod« bei, für den auch sein Vetter Hugo später tätig sein sollte. 1926 emigrierte Leo Herrmann nach Jerusalem, wo er als Sekretär des »Keren Hayessod« bis zu seinem Tod im Jahr 1951 arbeitete. Zu seinen kulturzionistischen Beiträgen zählen auch Filmproduktionen wie Le-Hayim hadashim (engl. Titel »A New Life«; ˙ ˙ (engl. »Land of Promise«), welche 1934–1935) und der gleichnamige Le-Hayim hadashim ˙ ˙ die Leistungen des ›jüdischen Pioniers‹ im Palästina der 1920er und 1930er Jahre abbilden sollten. Bereits seit den 1920er Jahren wirkte Leo Herrmann zudem wie sein Vetter Hugo und Robert Weltsch bei der Propagierung der binationalen Ideen des Zirkels Brit Shalom mit. Vgl. Herrmann, Emmy : Meine Erinnerungen an Leo, LBI, Archiv New York (OnlineAusgabe), AR 7185 Robert Weltsch Collection, MF 491, 4/24; Herrmann, Leo: Recollections of a Sudeten-German Zionist, CZA, A145/85/5. 214 Robert Weltsch (1891–1982) wurde 1891 als Sohn des Advokaten Theodor Weltsch und Cousin von Felix Weltsch, dem späteren Redakteur der tschechoslowakischen zionistischen

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Hugo Herrmann, der die Redaktion der Jüdischen Rundschau von Oktober 1913 bis unmittelbar vor dem Kriegsausbruch im Juli 1914 leitete,215 wurde 1887 in einer »deutschen Sprachinsel«216 in der überwiegend tschechisch besiedelten Stadt Mährisch-Trübau (tsch. Moravsk#-Trˇebov#) geboren.217 Er zählte zu den Mitbegründern der erwähnten jüdischen Studentenorganisation »Bar Kochba« in Prag und wurde im Studienjahr 1909/10 zu ihrem Obmann gewählt.218 In Prag hatte er bereits als Journalist und Literaturkritiker an der Redaktion der zionistischen Selbstwehr mitgewirkt. Nach dem Ersten Weltkrieg war er in den Jahren 1919 bis 1922 als Redakteur des Jüdischen Volksblattes in Mähren-Ostrau tätig.219 Im Anschluss daran erhielt er eine Stellung beim »Keren Hajessod«, dem am 24. Dezember 1920 gegründeten Sammelfonds für den Aufbau des Yishuv.220 1934 emigrierte Herrmann nach Jerusalem, wo er 1940 starb.221 Nachdem Hugo Herrmann nach Kriegsausbruch wie Fritz Abraham an die Ostfront versetzt worden war, übernahmen Heinrich Loewe und der spätere Vorsitzende der ZVfD, Kurt Blumenfeld, im August 1914 interimsweise die Leitung der Jüdischen Rundschau, bevor im Oktober 1914 Hugo Herrmanns

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Zeitschrift Selbstwehr, in eine alte Prager jüdische Familie geboren. Wie Leo Herrmann und Hugo Herrmann gehörte auch Weltsch dem Bar-Kochba-Verein an. Nach der gewaltsamen Auflösung der Jüdischen Rundschau, die er als Chefredakteur zwischen 1919 und 1938 geleitet hatte, emigrierte Weltsch nach Palästina, wo er in den Jahren 1939 und 1940 die Jüdische Welt-Rundschau herausgab. Nach dem Zweiten Weltkrieg siedelte Weltsch nach London über, wo er für verschiedene zionistische Institutionen Pressearbeit leistete und das Leo-Baeck-Institut London leitete. Seinen Lebensabend verbrachte Weltsch in Israel, wo er seit 1978 für die israelische Tageszeitung Haaretz tätig war. Einen Ruf erwarb sich Weltsch auch als Historiker. Zu Robert Weltsch vgl. die umfangreiche Korrespondenz in CZA, A167 sowie die Veröffentlichungen von Christian Wiese und Stefan Vogt. Vgl. Wiese, Ambivalenz; ders., Antlitz; ders., Buber ; ders., Verehrung; ders.: No ›Love of the Jewish People‹? Robert Weltsch’s and Hans Jonas’s Correspondence with Hannah Arendt on Eichmann in Jerusalem, in: Ders. (Hg.): German-Jewish Thought between Religion and Politics. Festschrift in Honor of Paul Mendes-Flohr on the Occasion of his Seventieth Birthday, Berlin 2012, S. 387–432; ders.: Resisting the Demonic Forces of Nationalism: Robert Weltsch’s Response to Nazism and Kristallnacht, in: Jewish Quarterly 212 (Dezember 2008), S. 50–53; ders.: The Janus Face of Nationalism. Zionist Identity in the Correspondence between Robert Weltsch and Hans Kohn, in: LBIYB 51 (2006), S. 103–130; Vogt, Stefan: Robert Weltsch and the Paradoxes of Anti-Nationalist Nationalism, in: Jewish Social Studies 16 (2010), S. 85–115. Vgl. Herrmann, Hugo: Redakteur 1913–1914, in: Erinnerungen ehemaliger Redakteure, in: JR, XL. Jg., Nr. 31/32 (17. 04. 1935), S. 19f., hier ebd. Shumsky, Zweisprachigkeit, S. 107. Vgl. ebd., S. 107f.; 124–126. Vgl. ebd., S. 12. Vgl. ebd., S. 107f.; 124–126. Vgl. Herrmann, Hugo: Keren Hajessod. Anfa¨ nge ju¨ discher staatsma¨ ssiger Finanzpolitik, Jerusalem 1938. Vgl. Herrmann, Hugo: Eine werdende Welt. Reiseeindrücke aus Palästina, Prag 1925; ders.: Palästina wie es wirklich ist: Mit 72 Bildern nach Originalaufnahmen und 2 Landkarten, Leipzig 1933; ders.: Palästina heute. Licht und Schatten, Tel Aviv 1935.

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Cousin, Leo Herrmann, die Redaktion, offiziell nur in Vertretung »i. V.«, übernahm.222 Da Leo Herrmann gleichzeitig mit Martin Buber dessen kulturzionistische Zeitschrift Der Jude ko-redigierte, leitete Max Mayer als stellvertretender Redakteur de facto die Redaktion.223 Da die Welt, das offizielle (deutschsprachige) Organ des Weltzionismus, im Jahr 1914 ihr Erscheinen einstellte, erhielt die Jüdische Rundschau, die nun als einzige Zeitung auf Deutsch über die aktuellen Vorgänge zionistischen Interesses und die Entwicklungen an der Front mit Bezug auf den Zionismus informierte, einen erheblichen Bedeutungszuwachs. Die auf Heinrich Loewe (* 1869) folgenden Redakteure waren also mehrheitlich in den 1880er Jahren geboren und traten in der Regel noch zu Beginn ihrer beruflichen Laufbahn als Journalisten in die Redaktion der Jüdischen Rundschau ein. Vergleicht man die Lebensläufe der leitenden Redakteure der Zeitung, so zeigt sich, dass es sich bei den meisten von ihnen um Berufsjournalisten handelte, die ursprünglich einen akademischen Abschluss erworben hatten, jedoch im betrachteten Zeitraum nunmehr hauptberuflich als Schriftsteller und Mitarbeiter zionistischer Periodika aktiv waren. Ihr Fachwissen, das sie durch ihre journalistische Tätigkeit vor oder während ihrer Tätigkeit bei der Jüdischen Rundschau erworben hatten oder erwarben, qualifizierte sie im besonderen Maße für ihr Mitwirken in der Redaktion. Somit konnten sie Erfahrungen vielfältiger Art in den Produktions- und Herstellungsprozess der Zeitung einbringen. Neben ihrer Anstellung in der Redaktion übten einige zusätzlich ein oder mehrere Ämter in zionistischen Behörden oder ehrenamtliche Tätigkeiten für die ZO aus. Damit unterschieden sich die Produktionsbedingungen der Jüdischen Rundschau auch insgesamt wesentlich von denjenigen, welche noch in der deutschsprachigen jüdischen Presse um den ersten Zionistenkongress in Basel 1897 vorherrschend waren. Im 19. Jahrhundert wurden jüdische Periodika in der Regel nicht von Berufsjournalisten, sondern von Rabbinern geleitet, welche ihrer redaktionellen Tätigkeit meistens ehrenamtlich und im Nebenerwerb nachgingen.224 Die Produktionsbedingungen der Jüdischen Rundschau zeichneten sich demnach durch einen vergleichsweise höheren Professionalisierungsgrad aus. Das jeweilige Beziehungsgeflecht der Redakteure und ihr Wirkungskreis beeinflusste auch wesentlich die Außenwahrnehmung der Zei222 Vgl. Herrmann, Leo: Ein Stück Selbstbiographie, in: Erinnerungen ehemaliger Redakteure, in: JR, XL. Jg., Nr. 31/32 (17. 04. 1935), S. 19f., hier S. 20. 223 Vgl. ebd.; Mayer, Rundschau. 224 Vgl. Jaeger, Achim/Wunsch, Beate: Zion und ›Zionismus‹. Die deutsch-jüdische Presse und der Erste Baseler Zionistenkongreß, in: Dies./Terlau, Wilhelm: Positionierung und Selbstbehauptung. Debatten über den Ersten Zionistenkongreß, die »Ostjudenfrage« und den Ersten Weltkrieg in der deutsch-jüdischen Presse (Conditio judaica, Bd. 5), hg. von Hans-Otto Horch, Tübingen 2003, S. 1–66, hier S. 6.

In der Redaktion: Personalien und Beziehungsgeflechte

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tung und ihren Aktionsradius. Über die Entwicklung und Erweiterung ihres persönlichen Netzwerkes trugen die Redakteure wesentlich dazu bei, dass neues fachliches Know-How in den Herstellungsprozess der Zeitung eingebracht werden konnte und sich die Zeitung in verschiedenen Gruppierungen des zionistischen Kollektivs etablieren konnte. Was Ivonne Meybohm für die ZO festgestellt hat, lässt sich demnach auch auf die Redaktion der Jüdischen Rundschau übertragen: Gerade die freundschaftlichen und kollegialen Beziehungen der Redakteure bildeten ein »mobilisiertes Netzwerk von Netzwerken«225. Darin wurden Verwandte, Freunde und Arbeitskollegen für die Nachfolge und Mitarbeit in der Redaktion überzeugt und es ergaben sich wiederum durch die gemeinschaftliche Arbeit an der zionistischen Sache neue Freundschaften, die sich zu geschäftlichen Beziehungen ausweiten konnten. Auch in Bezug auf ihren familiären Hintergrund teilten die Redakteure wesentliche Merkmale: Der überwiegende Teil kam aus kleinbürgerlichen Familien, welche häufig erst in der ersten oder zweiten Generation aus den östlichen Landesteilen Preußens oder dem Habsburgerreich nach Berlin, nach Preußen oder in das Deutsche Reich zugewandert waren.226 Die meisten von ihnen stammten aus Kaufmannsfamilien, deren gesellschaftliches Ansehen im Deutschen Kaiserreich relativ gering war.227 Hinsichtlich ihrer Sozialisation, die mitunter an völlig unterschiedlichen Orten vor der gemeinsamen zionistischen Erfahrung in Berlin stattgefunden hatte, einte die späteren Redakteure die folgende Tatsache: Sie waren entweder in Gegenden an der Peripherie, in ›Grenzräumen‹, wie Loewe es nannte, oder in einer multikulturellen Umwelt aufgewachsen, in denen Zionismus nur eine von vielen möglichen Optionen jüdischer Existenz bzw. in ihren Familien häufig nicht die Option erster Wahl dargestellt hatte. Die Neigung zum Zionismus hatten sie entweder alleine oder im Kollektiv sowie in Auseinandersetzung mit ihren Elternhäusern und ihrer nichtjüdischen Umwelt entwickelt, indem sie sich häufig auch ihres (gefühlten) Status als diskriminierter Minderheit entledigen wollten. Ihr kulturelles Dasein zeichnete sich damit im Besonderen durch ein »Dazwischensein« aus.

225 Meybohm, Wolffsohn, S. 102. 226 Vgl. Lowenstein, Urbanization. 227 Vgl. Kampe, Jews I, S. 378; Jarausch, Konrad H.: Students, Society, and Politics in Imperial Germany. The Rise of Academic Illiberalism, Princeton 1982, S. 294–332.

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3.

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Propagandistische Zielsetzung, formale und inhaltliche Charakteristika

Im Laufe ihres Bestehens wechselte die Jüdische Rundschau mehrmals ihre äußere Gestalt und inhaltliche Struktur, was gleichermaßen auf ästhetische, funktionale und ideologisch-propagandistische Gründe zurückgeführt werden kann, die im Folgenden, gemeinsam mit den Veränderungen, aufgezeigt werden. Ein Überblick über die vielfältigen Veränderungen der formalen Charakteristika der Zeitung findet sich in der Sonderausgabe zum 40-jährigen Bestehen der Jüdischen Rundschau im Jahr 1935 (siehe Abbildung 1). Das Titelblatt des Berliner Vereinsboten, das eine Reihe von verspielten, allegorischen Elementen enthielt, ähnelte optisch dem verschnörkelten Kopf einer Urkunde, was zusammen mit der unmittelbar auf der Kopfseite dargebotenen »Vereinstafel« den Charakter des Nachrichtenblattes für die jüdischen Vereine Berlins unterstrich.228 Bereits unmittelbar nach der Umbenennung und der beginnenden redaktionellen Koordination der Zeitung durch die ZVfD erhielt die Israelitische Rundschau im Mai 1901 eine moderne Schriftsetzung in Fraktur und in ihrem Untertitel erschien seitdem der Zusatz »Offizielles Organ der zionistischen Vereinigung für Deutschland«.229 Seit der Ausgabe vom 28. Juni 1901 zeigte das Titelblatt jedoch vorübergehend einen Monat lang einen veränderten Schriftzug, der unter dem maßgeblichen Einfluss der Epoche des Jugendstils stand:230 Die Kopfseite der Zeitung bildete während dieser kurzen Zeitspanne auf der linken Seite Patriarch und Engel, auf der rechten Seite die Zionsburg und den Sonnenuntergang an einem südlichen Meer ab, die von einem großen Magen David (Davidstern) und den hebräischen Lettern für »Zion« umrahmt wurden.231 Nach der zionistischen Neugründung der Zeitung als Jüdische Rundschau unterlag die Titelseite der Zeitung einer weiteren »Zionisierung der Typographie«232 und nationaljüdischen Emblematisierung, indem zwei kleine Davidsterne und ab der zweiten Ausgabe der Zeitung neben dem gregorianischen auch der jüdische Kalender auf das Titelblatt aufgenommen wurden.233 Des Weiteren

228 Vgl. Titelblatt des Berliner Vereinsboten. Central-Organ für die jüdischen Vereine Berlins, Berlin 1895–1901. 229 Vgl. Titelblatt der Israelitischen Rundschau. Offizielles Organ der Zionistischen Vereinigung für Deutschland. Centralblatt für die jüdischen Vereine, Berlin 1901f. 230 Die Veränderung zeigte sich auf dem Titelblatt zwischen dem 28. Juni und dem 26. Juli 1901. Vgl. Titelblatt der Israelitischen Rundschau, VI. Jg., Nr. 25 (28. 6. 1901) und VI. Jg., Nr. 29 (26. 07. 1901). 231 Vgl. ebd. 232 Schlöffel, Loewe, S. 231. 233 Vgl. Titelblatt der JR, VII. Jg., Nr. 40 (01. 10. 1902); Titelblatt der JR, VII. Jg., Nr. 41 (10. 10.

Propagandistische Zielsetzung, formale und inhaltliche Charakteristika

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wurden in der Kopfzeile zwei Vertikalleisten eingefügt, von denen die rechte die Adressen von Redaktion und Verlag enthielt, während die linke über die verschiedenen Arten von Abonnements und deren Preise informierte. Mit der Übernahme der Zeitung wurde zudem die im äußeren Bild der Zeitung vorherrschende Fraktur auf Initiative Loewes allmählich durch Antiqua ersetzt.234 Loewe deutete die Veränderung im Schriftbild der Zeitung als Modernisierungsprozess, in dessen Verlauf Inhalt und Form zusammengeführt wurden, und verwies daneben auf die nun erreichte höhere Lesbarkeit der Zeitung unter den Juden im Ausland.235 Seit dem 6. Januar 1905 hielt sich wie bereits bei der Israelitischen Rundschau zuvor für kurze Zeit ein größerer Magen David mit den hebräischen Lettern für ›Zion‹ in der Mitte der Kopfzeile, bevor man etwa einen Monat später zu den parallel angeordneten kleineren Davidsternen zurückkehrte und der deutsche Titel der Zeitung fortan in vom Hebräischen inspirierten Buchstaben erschien (siehe Abbildung 2).236 Diese hybriden Formen hielten sich bis zur letzten Ausgabe der Jüdischen Rundschau im Jahr 1908, was somit zeitlich mit der offiziellen Entlassung Loewes zum 31. Dezember 1908 zusammenfiel.237 Mit dem Wechsel in der Redaktion zu Julius Becker im Januar 1909 erhielt auch die Zeitung ein neues Gesicht, indem der hebraisierte Schriftzug auf dem Titel durch runde, deutsche Lettern und eine ökonomische, typographische Aufmachung ersetzt wurde, welche einen kleineren Druck ermöglichte und damit mehr Platz für Beiträge schuf.238 Anstelle der Vertikalleisten umrahmten nun zwei Kästen die Geschäftsvermerke.239 Diese Formen hielten sich bis auf ein kurzes Intermezzo im Jahr 1915, in dem die Titelschrift mit schwarzer Farbe gefüllt wurde,240 bis Anfang Dezember 1916 (siehe Abbildung 3). Die nochmalige Verkleinerung des Druckes während des Ersten Weltkriegs wurde in der Zeitung nicht auf die Rohstoffknappheit während des Krieges, sondern auf die Initiative der Redaktion zurückgeführt. Man habe sich »zu einer wesentlichen Vergrößerung der Zeitung entschlossen, die durch modernere und ökonomischere Anordnung des Textes und eine erhebliche Vergrößerung des

234 235 236 237 238 239 240

1902). Zu den Veränderungen des Layouts der Zeitung während der Redaktionszeit Loewes vgl. auch den Überblick bei Schlöffel, Loewe, S. 231. Vgl. ebd. Loewe, Sichronot. Kap. Redaktion und Mitarbeit, CZA, A146/176, S. 9. Vgl. Titelblatt der JR, X. Jg., Nr. 1 (06. 01. 1905); Titelblatt der JR, X. Jg., Nr. 5 (03. 02. 1905). Vgl. Titelblatt der JR, XIII. Jg., Nr. 52 (25. 12. 1908). Vgl. Becker, Julius [Die Redaktion der »Jüdischen Rundschau«]: Zur Einführung, in: JR, XIV. Jg., Nr. 1 (01. 01. 1909), S. 1. Vgl. Titelblatt der JR, XIV. Jg., Nr. 1 (01. 01. 1909). Vgl. Titelblatt der JR, XX. Jg., Nr. 1 (01. 01. 1915) bis einschließlich Titelblatt der JR, XX. Jg., Nr. 30 (23. 07. 1915).

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Satzspiegels die Möglichkeit bietet, die Fülle von Aufsätzen und Nachrichten aufzunehmen, die der Redaktion in immer steigendem Maße zuströmen«241.

Auch der Umfang und die inhaltliche Zusammensetzung der Jüdischen Rundschau wurden mehrmals umgestaltet, was den jeweils aktuellen Vorgaben und Vorlieben der Redakteure und der ZVfD entsprach.242 Während die einzelnen Exemplare der Jüdischen Rundschau bis zur Ausgabe vom 20. Februar 1903 im Durchschnitt acht Seiten umfassten, enthielten die folgenden Ausgaben die doppelte Seitenzahl. Seit der Ausgabe vom 27. Februar 1903 wurden den eigentlichen Nummern der Zeitung jeweils ein Inhaltsverzeichnis und ein im Durchschnitt drei bis fünf Seiten umfassender Werbe- und Annoncenteil vorangestellt. Seit dem Jahr 1907 erschien der Werbeteil oftmals zweigeteilt und wurde teilweise der neugeschaffenen Beilage »Aus der Bewegung« vorangestellt. Seit dem Jahr 1908 wurden die Annoncen auf etwa zwei Seiten gekürzt und dem offiziellen Teil angehängt oder in die letzten Seiten der Zeitung, welche in der Regel die Spenden für den Nationalfonds auswiesen, eingewoben. Während der nächsten drei Jahre erschien auf der Titelseite seitdem auch eine fett eingerahmte Inhaltsübersicht, welche die zentralen Beiträge unter Ausweis der jeweiligen Autoren dem Leser empfahl und den Text des »Baseler Programms« enthielt, der nach dem Wegfall der Inhaltsangabe fortan alleine in einem Kasten auf der Titelseite präsentiert wurde. In den Jahren 1909 bis 1914 umfasste eine Ausgabe aufgrund der Ökonomisierung der Schriftsetzung nur noch zwölf Seiten. Auf den oder die Leitartikel, die meistens aus der Feder des Chefredakteurs oder seiner engsten Mitarbeiter stammten, folgten bestimmte Rubriken und Dossiers. In der Rubrik »Aus der Bewegung« erschienen beispielsweise Berichte über zionistische Ortsversammlungen oder Vortragsabende sowie bestimmte Ereignisse, welche das zionistische Innenleben betrafen. Im Gegensatz dazu dokumentierte die Rubrik »Rundschau« in Anlehnung an die Korrespondenzspalten großer jüdischer Tageszeitungen wie die der Jüdischen Presse historische Ereignisse und Entwicklungen in den jüdischen Gemeinden, welche das gesamte Judentum betrafen. Daneben existierten die Rubriken »Sprechsaal«, »Briefkasten der Redaktion«, »Chronik«, »lustige Ecke« und das Feuilleton, das seit April 1905 auch das von Loewe herausgegebene »Literatur-Beiblatt« umfasste. Ferner schlossen die einzelnen Ausgaben der Zeitung mit der häufig mehrseitigen Rubrik ›Nationalfond‹, in der die Spendenbeiträge von Privatpersonen und Organisationen für den Erwerb von palästinischem Boden mit der entsprechenden Namensangabe alphabetisch aufgelistet wurden.243 241 Der Verlag: An die Freunde und Leser der Jüdischen Rundschau, in: JR, XXI. Jg., Nr. 49 (08. 12. 1916), S. 409. 242 Vgl. zum Folgenden auch Schlöffel, Loewe, S. 232. 243 Vgl. dazu auch die zu diesem Zweck geführte Korrespondenz zwischen Redaktion und dem

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Abb. 1: Jubiläumsnummer zum 40-jährigen Bestehen der Jüdischen Rundschau (1935)

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Abb. 2: Veränderungen des Titelblatts der Jüdischen Rundschau, 1902–1905

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Abb. 3: Veränderungen des Titelblatts der Jüdischen Rundschau, 1909–1916

Alles in allem stellten die verschiedenen Rubriken in der Jüdischen Rundschau ein dynamisches Diskursrepertoire dar, das die laufende Verständigung und kommunikative Vernetzung des zionistischen Kollektivs abbildete. Die von verschiedenen Autoren in der Jüdischen Rundschau veröffentlichten Beiträge umfassten Stellungnahmen in zionistischen Debatten, welche sich um zentrale ideologische Grundsatzfragen des zionistischen Nationalismus in Deutschland drehten. In ihr fanden sich neben stenographischen Protokollen, Berichten und Kommentaren zu den Delegiertentagen der ZVfD, zu den Zionistenkongressen, zu Konferenzen und zu Versammlungen der verschiedenen Ortsgruppen, zahlreiche unterschiedliche Artikel und Aufsätze, welche zentrale Themen der jüdischen Lebenswelt und der allgemeinen Gegenwart zu Beginn des 20. JahrHauptbureau des Jüdischen Nationalfonds, CZA, KKL 1/230; CZA, KKL 1/267/2. Vgl. dazu auch Schlöffel, Loewe, S. 232; Shilony, Zvi: Ideology and Settlement. The Jewish National Fund, 1897–1914, Jerusalem 1998; Berkowitz, Michael: Toward an Understanding of Fundraising, Philanthropy and Charity in Western Zionism, 1897–1933, in: Voluntas. International Journal of Voluntary and Nonprofit Organizations 7:3 (2009), S. 241–258; ders., Jewry, S. 77–90 (Kap. »Fundraising and Catastrophe«).

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hunderts aufgriffen und sich mit vielfältigen historischen Ereignissen im Hinblick auf den Zionismus auseinandersetzten. Anstelle von eigens verfassten Artikeln wurden in der Zeitung auch gelegentlich Beiträge oder deren Auszüge aus anderen zionistischen oder unterschiedlichen nichtzionistischen Zeitungen und Zeitschriften veröffentlicht. Diese sollten den Leser zur kritischen Auseinandersetzung mit bestimmten Themen und Positionen anregen oder der Untermauerung der eigenen Argumentation des Zitate einsetzenden Beiträgers dienen. Die Jüdische Rundschau sollte ursprünglich ausschließlich zur zionistischen Außenpropaganda in jüdischen und deutschen Kreisen genutzt werden244 und der Verlag »Jüdische Rundschau E. G. m. b. H.« durch Herausgabe der Zeitung und weiterer propagandistischer Broschüren »die Zionistische Bewegung in Deutschland […] unterstützen, […] ohne grössere Geldmittel zu erfordern«245. Dennoch entwickelte sich die Zeitung seit ihrer Gründung zu einem zentralen Diskursforum, in dem innerzionistische Debatten zunehmend offen ausgetragen und innenpolitische Themen kontrovers diskutiert wurden. Dieser Prozess war auch dem Presseausschuss, der die Zeitung überwachte, nicht verborgen geblieben und stieß auf wenig Gegenliebe. Im Besonderen die Berichterstattung der Jüdischen Rundschau in der sog. ›Uganda-Kontroverse‹ in den Jahren 1903 bis 1905 und ihre Parteinahme zugunsten der sog. ›Nein-Sager‹ und damit Palästinas als singulärem Territorium der jüdischen Besiedlung246 provozierten ein Protestschreiben gegen die Redaktion. Dieses hatten über zwanzig deutsche Zionisten und Vereine unterzeichnet, was den Presseausschuss der Zeitung schließlich zur Neukonzeption der inhaltlichen und formalen Gestaltung der Zeitung bewog.247 Arthur Hantke begründete diese Entscheidung unter der Ägide des Zentralbüros der ZVfD, die mit der ersten Nummer des Jahres 1906 umgesetzt werden sollte, in einem Zirkular, das am 21. Februar 1906 an alle deutschen Zionisten erging, wie folgt: »Die ›Jüdische Rundschau‹ ist von den deutschen Zionisten im Jahre 1902 erworben worden, um in erster Reihe zur Aussenpropaganda verwandt zu werden. Im Laufe der Jahre haben aber die Artikel über innere zionistische Themata in der ›Jüdischen Rundschau‹ einen so breiten Raum eingenommen, dass sich der Charakter der Zeitung wesentlich änderte. Diese Entwicklung, die sich aus dem intensiven Interesse weiter Kreise für die inneren Fragen der Bewegung und aus der Tatsache, dass zur Besprechung dieser Fragen nur die ›Jüdische Rundschau‹ zur Verfügung stand, erklärt, muss 244 Vgl. Rundschreiben No. 25 der Zionistischen Vereinigung für Deutschland vom 21. 02. 1906, CZA, Z2/401, S. 1. 245 Vgl. Schreiben des Verlags »Jüdische Rundschau« an die Genossen des Verlags vom 16. 05. 1911, CZA, A15/519. 246 Vgl. dazu Kap. III.2.1.3 der vorliegenden Arbeit. 247 Vgl. Tubal: Zur Pressefrage, in: JR, X. Jg., Nr. 35 (01. 09. 1905), S. 507f.

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jetzt aber eingeschränkt werden. […] In der ›Jüdischen Rundschau‹ sollen in Zukunft derartige Angelegenheiten nur in aussergewöhnlichen Fällen zur Behandlung gelangen, sodass die Zeitung wieder für die Aussenagitation und die Erörterung allgemeinjüdischer Fragen frei wird.«248

Für Hantke und viele deutsche Zionisten stellte also gerade der Prozess der Entwicklung der Jüdischen Rundschau zu einem beliebten innerzionistischen Kommunikationsort ein Problem dar, da die Zeitung demzufolge zum einen erheblich zur Sichtbarwerdung der inneren Fragmentierung im Zionismus sowie damit zur Verschärfung von innerzionistischen Konflikten beigetragen hatte und zum anderen für das nichtzionistische Publikum nur wenig attraktiv schien. Auch die Parteinahmen der Redaktion, die aus der Sicht vieler deutscher Zionisten und des Pressausschusses nichts im offiziellen, neutralen Leitmedium des deutschen Zionismus zu suchen hatten, sollten unterbleiben.249 Die geforderte Umstrukturierung äußerte sich in der Zeitung schließlich auf vielfältige Weise, indem das Presseorgan des deutschen Zionismus zunächst im Januar 1906 den neuen Nebentitel »Allgemeine Jüdische Zeitung« erhielt.250 Damit sollte wohl ganz unmittelbar eine breitere thematische Ausrichtung des Blattes suggeriert werden, die demnach ein größeres (jüdisches) Publikum als bisher ansprechen sollte. Wie Frank Schlöffel treffend bemerkt, erinnerte die neue nominelle wie inhaltliche Gestaltung der Zeitung fortan unmittelbar an die Allgemeine Zeitung des Judentums, welche die jüdische Presselandschaft dominierte und das Forum für allgemeinjüdische Fragen bildete.251 Des Weiteren wurde unter dem Titel »Aus der zionistischen Bewegung« eine neue Beilage entworfen, die nunmehr die Berichterstattung über die zionistischen Ortsgruppen, die offiziellen Meldungen der Leitung der ZVfD und die Listen über die Spenden für den Jüdischen Nationalfonds aus dem eigentlichen Hauptteil der Zeitung entfernen und in sich aufnehmen sollte.252 Daneben wurden die Ortsgruppen aufgefordert, intensiv Werbung für die Zeitung zu betreiben und an die Redaktion Mitteilungen »über alle Ereignisse des jüdischen Lebens in Deutschland«253 zu senden, mit deren vermehrtem Abdruck die Leitung der ZVfD offenbar beabsichtigte, die Attraktivität der Zeitung für den Leser zu steigern und die Propagandawirkung des Blattes zu verstärken.254 248 Rundschreiben No. 25 der Zionistischen Vereinigung für Deutschland vom 21. 02. 1906, CZA, Z2/401, S. 1. 249 Zum Umstrukturierungsprozess der Zeitung vgl. auch Schlöffel, Loewe, S. 233f. 250 Vgl. Rundschreiben No. 25 der Zionistischen Vereinigung für Deutschland vom 21. 02. 1906, CZA, Z2/401, S. 1; Titelblatt der Jüdischen Rundschau, XI. Jg., Nr. 1 (05. 01. 1906). 251 Vgl. Schlöffel, Loewe, S. 234. 252 Vgl. Rundschreiben No. 25 der Zionistischen Vereinigung für Deutschland vom 21. 02. 1906, CZA, Z2/401, S. 1. 253 Ebd., S. 2. 254 Vgl. ebd., S. 2f.

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Wie ein erst zweieinhalb Jahre später, im August 1908, verfasstes »Memorandum über die Pressefrage« aus dem Zionistischen Zentralbüro der ZVfD in Berlin belegte, das wohl von Arthur Hantke stammte, hatten die im Jahr 1906 durchgeführten Neuerungen nicht den von der ZVfD erwarteten Erfolg mit sich gebracht. Das Pressekomitee störte darin in erster Linie das noch immer deutlich vorhandene Übergewicht an innenpolitischen zionistischen Themen, die in der Mehrzahl der Artikel im Hauptteil behandelt wurden, und die noch nicht wunschgemäße Verbreitung unter jüdischen Lesern.255 Nach einem offiziellen Leitfaden für die Vertrauensmänner in den Ortsgruppen aus dem Jahr 1910 sollte die Zeitung im Besonderen auch bei der zionistischen Propagandaarbeit in den jüdischen Jugendvereinen eingesetzt werden.256 Mit der äußeren Neugestaltung nach dem Wechsel in der Redaktion zu Julius Becker erhielt das Blatt seit Januar 1909 auch eine erneute inhaltliche Umgestaltung, die wohl ihrerseits wiederum auf das Rundschreiben des Zentralbüros zurückgeführt werden kann. Fortan wurden die Mitteilungen der ZVfD und die Spenden für den JNF nicht mehr in einer Extrabeilage ausgewiesen, sondern unter dem Titel »Zionistische Bewegung« wieder dem redaktionellen Teil der Zeitung nachgestellt. Des Weiteren wurden neue Rubriken geschaffen, welche das für den Zionismus relevante Weltgeschehen in die unterschiedlichen Dossiers »Aus aller Welt«, »Aus den Gemeinden«, »Palaestina-Rundschau« und »Vom Zionismus« unterteilten. Darüber hinaus erhielten zionistische wie jüdische Organisationen ihre eigenen Rubriken, wie beispielsweise »Vom Hilfsverein« und »Vom Bezalel«. Interessante Presseerzeugnisse anderer Periodika fanden sich fortan unter der Rubrik »Rundschau der Presse«. Mitteilungen von zionistischen Vereinen und Berichte über Sitzungen und Vorträge wurden künftig im Dossier »Vereins-Rundschau« gesammelt. Diese eher politischen Ressorts wurden noch ergänzt durch die Dossiers »Miscellen«, »Literarische Notizen« und »Briefkasten der Redaktion«. Daneben existierten die Beilagen »Literarische Rundschau« und »Jung-Israel«, die abwechselnd im 14-tägigen Rhythmus erschienen. Während die Beilage »Literarische Rundschau« im Wesentlichen die Funktion der unter Loewe geschaffenen »Literatur-Beilage« übernahm, Buchempfehlungen aussprach und den Leser mit der hebräischen Literatur und ihren bekanntesten Werken und Vertretern vertraut machen sollte, übernahm die Beilage »Jung-Israel« in erster Linie unterhaltende Funktion und bot dem Leser Sprichwörter, Rätsel, Lieder und Erzählungen dar, die sich zum Teil aus eingesandten Leserbeiträgen zusammensetzten. Unmittelbar vor dem 255 Vgl. Memorandum über die Pressefrage (1. Anlage eines Schreibens von Julius Becker an David Wolffsohn vom 04. 08. 1908), CZA, Z2/323, S. 5f. 256 Vgl. Schreiben des Zentralbureaus der Zionistischen Vereinigung für Deutschland (1. Anlage: Leifaden für die Tätigkeit der zionistischen Vertrauensmänner in den jüdischen Jugendvereinen) vom 04. 12. 1910, CZA, Z2/409.

Redaktionelle Räume und Praktiken

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Ersten Weltkrieg wurden diese Beilagen durch eine unbetitelte neue Beilage abgelöst, welche fortan längere Kommentare und Beiträge zu innerzionistischen Grundsatzfragen aufnahm.

4.

Redaktionelle Räume und Praktiken

Neben den personellen Beziehungsgeflechten der Mitarbeiter sollen im Folgenden zuerst die konkreten Raumkonstellationen rekonstruiert werden, in denen der Herstellungsprozess der Zeitung stattfand. Im Anschluss daran sollen die redaktionellen Produktions- und Zensurbedingungen näher untersucht werden. Bis zur ›Arisierung‹ und dem offiziellen Verbot der Zeitung im November 1938 im Zuge der Reichspogromnacht wechselten die Redaktions- und Verwaltungsräume der Jüdischen Rundschau im ›urbanen Raum‹ Berlin mehrmals ihren Ort.257 Anfänglich befand sich die Redaktion in den Privaträumen von Heinrich Loewe, der von seinen Privatwohnungen in der Lehrter Straße 14–15, »in einem nahezu vierzig Wohneinheiten zählenden Mietshaus«258, und (ab Oktober 1904) in der Melanchthonstraße 4 im Berliner Bellevueviertel, im Stadtteil Moabit, aus die Redaktion der Jüdischen Rundschau leitete.259 Das Bellevueviertel, das, so Sammy Gronemann260 in seinen »Erinnerungen«, im jüdischen Volksmund auch »Nebbichwesten« genannt wurde,261 stellte gewissermaßen das ›nationaljüdische‹ Berlin dar, da hier die meisten Zionisten wohnten.262 Loewes Privatwohnungen befanden sich somit auch in unmittelbarer Nähe zum am anderen Ufer der Spree gelegenen Hansaviertel, welches schon von den Zeitgenossen als Zentrum einer »jüdischen Gelehrtenrepublik« charakterisiert wurde.263 Die Verwaltung der Jüdischen Rundschau hingegen wurde zunächst in der Auguststraße 49a untergebracht, die in West-Ost-Richtung durch die Spandauer Vorstadt zwischen dem traditionell überwiegend Vgl. dazu mit einem Schwerpunkt auf Loewe insbes. auch Schlöffel, Loewe, S. 224–228. Ebd., S. 228. Vgl. die jeweiligen Adressen auf dem Titelblatt der Ausgaben der Zeitung. Vgl. Mittelmann, Hanni: Sammy Gronemann (1875–1952). Zionist, Schriftsteller, Satiriker in Deutschland und Palästina, Frankfurt a. M. 2004. 261 Gronemann, Sammy : Erinnerungen. Aus dem Nachlass, hg. von Joachim Schlör, Berlin/ Wien 2002, S. 256. Das Wort »Nebbich« stellt eine Entlehnung aus dem Westjiddischen dar und bedeutet »armes Ding, armer Kerl«. 262 Vgl. Heinrich Loewe: Sichronot. Kap. Zionistische Grundarbeit, CZA, A146/62, 12. S. 2; Schlöffel, Loewe, S. 57. 263 Badt-Strauss, Bertha: Eine jüdische Gelehrten-Republik, zit. n. Schlöffel, Loewe, S. 224. Zum Hansaviertel vgl. außerdem Janiszewski, Bertram: Das alte Hansa-Viertel in Berlin. Gestalt und Menschen, Norderstedt 2008.

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jüdisch besiedelten Scheunenviertel264 und der Friedrichstraße lief und in der sich das jüdische Krankenhaus befand.265 Etwa ein halbes Jahr vor der Entlassung Loewes im April 1908 wurden die Räumlichkeiten von Redaktion und Verlag schließlich in einem Haus zusammengelegt, das in der Zimmerstraße 77 lag.266 Damit grenzten die Redaktions- und Verwaltungsräume unmittelbar an die großen Pressehäuser von Mosse, Ullstein und Scherl,267 was somit nun auch räumlich-konkret die Etablierung der Jüdischen Rundschau im ›Presseraum Berlin‹ abbildete. Im April 1911 erfolgte ein weiterer Umzug der Bürogebäude in Richtung des Stadtwestens in die Bleibtreustraße 49, im Stadtteil Charlottenburg, in unmittelbarer Nähe des Bahnhofs Savignyplatz. Dort teilten sich seitdem die Redaktion und der Verlag der Jüdischen Rundschau ein Haus mit dem Zentralbüro der Zionistischen Vereinigung für Deutschland unter der Leitung von Arthur Hantke und Betty Frankenstein, welches aus »drei oder vier Zimmern«268 bestand.269 Diese Zusammenlegung von Jüdischer Rundschau und einer der zentralen Behörden der ZVfD, welche auch ganz praktische Konsequenzen für die Redaktionsarbeit mit sich brachte, blieb bis zum Jahr 1938 erhalten. Im September 1911 folgte der Umzug in die Sächsische Straße 8, im April 1924 in die Meinekestraße 10. Vorübergehend befanden sich in den Räumlichkeiten in der Sächsischen Straße 8 auch die Büros der ZO, bevor diese nach London übersiedelten.270 Das Haus Meinekestraße 10 war vom Verlag »Jüdische Rundschau G. m. b. H.« erworben worden und beherbergte als »Zentrale des deutschen Zionismus« daneben auch das Palästinaamt und spätestens seit 1935 auch die Sammelstelle

264 Vgl. Saß, Anne-Christin: Scheunenviertel, in: Diner, Dan (Hg.): Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur (EJGK), Bd. 5: Pr – Sy, Stuttgart/Weimar 2014, S. 352–358. Zu antisemitischer Gewalt im Scheunenviertel in der Frühphase der Weimarer Republik vgl. Large, David Clay : »Out with the Ostjuden«. The Scheunenviertel Riots in Berlin, November 1923, in: Hoffmann, Christhard u. a. (Hg.): Exclusionary Violence. Antisemitic Riots in Modern German History, Michigan 2002, S. 123–140. 265 Vgl. Schlör, Joachim: Ahawah. Eine Berliner Tiefenbohrung, in: Bargur, Ayelet: Ahawah heisst Liebe. Die Geschichte des jüdischen Kinderheims in der Berliner Auguststraße. Aus dem Hebräischen übersetzt von Ulrike Harnisch, München 2006, S. 194–214; Helas, Horst: Juden in Berlin-Mitte. Biografien – Orte – Begegnungen, hg. vom Verein zur Vorbereitung einer Stiftung Scheunenviertel Berlin e. V., Berlin 2000. 266 Vgl. die jeweiligen Adressen auf dem Titelblatt der Ausgaben der Zeitung; Schlöffel, Loewe, S. 224. 267 Vgl. Mendelssohn, Peter de: Zeitungsstadt Berlin. Menschen und Mächte in der Geschichte der deutschen Presse, Frankfurt a. M. 1982; Sösemann, Bernd: Berlin im Kaiserreich. Stadt großer Zeitungen und Verleger, in: Berbig, Roland u. a. (Hg.): Berlins 19. Jahrhundert. Ein Metropolen-Kompendium, Berlin 2011, S. 215–228; Schlöffel, Loewe, S. 224. 268 Vgl. Becker, Rundschau, S. 19. 269 Vgl. ebd.; Schlöffel, Loewe, S. 224f. 270 Vgl. Schlör, Stadt, S. 267.

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für die Jüdische National- und Universitätsbibliothek in Jerusalem.271 Eine Ausnahme dieser räumlichen Konstellationen bildeten die deutschen Delegiertentage und die Zionistischen Kongresse, während derer die Redaktion unmittelbar vor Ort berichtete und produzierte und die Zeitung im Anschluss als Kongresszeitung erschien. Die vielfältigen Aufgaben der Redakteure der Jüdischen Rundschau umfassten aufgrund der knappen finanziellen Mittel des Verlags nicht nur die eigentliche Schriftleitung, d. h. die inhaltliche und graphische Gestaltung der Wochenzeitung, die Produktion eigener Beiträge und die kritische Rezension, Korrektur und textuelle Anordnung eingereichter Artikel, sondern auch die gelegentliche Vertretung der Zeitung nach außen und die Koordination des Drucks der Zeitung mit der zuständigen Buchdruckerei.272 Den Druck der Zeitung übernahm zunächst die im Mai 1885 gegründete Buchdruckerei und Verlagsgesellschaft F. Lenz & Comp. GmbH in der Holzmarktstraße 4 an der Jannowitzbrücke.273 Während der Redaktionszeit Julius Beckers ging der Druck der Zeitung, wohl auch aufgrund des frühen Todes von Friedrich Lenz am 15. Januar 1909,274 schließlich an die Buchdruckerei Siegfried Scholem über, welche für den Druck bis zur Auflösung des Blattes verantwortlich war.275 Die 1900 gegründete Buchdruckerei Scholem befand sich in Berlin-Schöneberg, Hauptstraße 8, und war von Siegfried (Scholem) Scholem, dem Großvater von Gershom Scholem, gegründet worden. Nach dem Tod Siegfried Scholems übernahmen seine Söhne Max und Theobald Scholem die Druckerei.276 Die Mitarbeiter der Buchdruckerei besaßen einen wichtigen Anteil am Produktionsprozess der Zeitung, indem sie vereinzelt selbst noch Korrekturen am Text vornahmen und die Zeitung auslieferten.277 Aus der Korrespondenz zwischen Buchdruckerei, Verlag »Jüdische 271 Reissig, Harald: Das Haus der Zionistischen Organisationen. Meinekestraße 10, in: Engel, Helmut u. a. (Hg.): Geschichtslandschaft Berlin. Orte und Ereignisse, Bd. 1: Charlottenburg, Teil 2: Der Neue Westen. Berlin 1985, S. 424–441, hier S. 425. Vgl. auch Schlör, Stadt, S. 267f.; Schlöffel, Loewe, S. 225. 272 Vgl. Becker, Rundschau, S. 19. Vgl. dazu auch Schlöffel, Loewe, S. 229; Die Redaktion (Schriftleitung), in: Handbuch der Presse für Schriftsteller, Redaktionen, Verleger überhaupt für Alle, die mit der Presse in Beziehung stehen, hg. v. Joseph Kürschner. Berlin u. a. 1902, Sp. 1575f. 273 Das Unternehmen wurde von Friedrich Lenz und Oscar Kresse geführt (vgl. Handbuch der Gesellschaften mit beschränkter Haftung im Deutschen Reiche, S. 295). F. Lenz & Comp. druckte auch andere vom Verlag »Jüdische Rundschau« publizierte Presserzeugnisse und Schriften. Vgl. auch Schlöffel, Loewe, S. 229f. 274 Vgl. Friedrich Lenz, in: JR, XIV. Jg., Nr. 4 (22. 01. 1909), S. 43. 275 Vgl. Becker, Rundschau, S. 19. 276 Vgl. Scholem, Gershom: Von Berlin nach Jerusalem. Jugenderinnerungen, Frankfurt a. M. 1994, S. 12f. 277 Vgl. Auerbach, Elias: Pionier der Verwirklichung. Ein Arzt aus Deutschland erzählt vom Beginn der zionistischen Bewegung und seiner Niederlassung in Palästina kurz nach der

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Rundschau« und Schriftleitung geht zudem hervor, dass die Herstellung und Auslieferung der Zeitung häufig fehlerhaft erfolgte und sich gerade in den ersten Monaten nach der Gründung vorerst noch keine Routine in den Arbeitsprozessen abzeichnete.278 Ein sichtbarer Ausdruck des Personalmangels und häufigen Zeitdrucks sind die vermehrten Druck-, Grammatik- und Rechtschreibfehler, die vor allem während der ersten Jahre der Redaktionszeit Loewes in den einzelnen Ausgaben der Zeitung zu finden sind.279 Bereits unter der Leitung von Heinrich Loewe entwickelte sich die Jüdische Rundschau dennoch zu einem zunehmend modernen, nationaljüdisch geprägten und professionellen Presseorgan und »zu einem vielseitigen und modernen Propaganda- und Kommunikationsmittel des zionistischen Kollektivs«280. Zum 40-jährigen Jubiläum der Zeitung charakterisierte Loewe in einer kurzen Stellungnahme die Herausforderungen sowie Schwerpunkte und den zeitgeschichtlichen Kontext seiner Schriftleitung wie folgt: »Aber die Hauptsache war doch, dem Blatte eine jüdische Note, einen nationaljüdischen Inhalt und frisches junges Leben zu geben. Es galt auf der einen Seite den Kampf mit der Assimilation zu führen, auf der andern Seite die Widerstände in den eigenen Reihen zu überwinden. Es war eine schwere Zeit, aber gleichwohl und vielleicht auch deshalb eine wunderbar schöne Zeit, eine Zeit der Kämpfe und des seelischen Aufbaues. Es war die Zeit, wo an der Spitze der Zionistischen Organisation Dr. Theodor Herzl stand, die Zeit der Grundlegung und des Heroismus. Aber es war auch die Zeit, wo die großen Pogrome von Kischinew und Homel wie ein blutiges Fanal auf das jüdische Volk wirkten. […] In dieser erregten Zeit, die den Zionismus bis in seine Grundlagen erschütterte, war Herzl gestorben. Da kam der siebente Kongreß, der Territorialismus und das Uganda-Projekt.«281

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Jahrhundertwende, Stuttgart 1969, S. 128; Schlöffel, Loewe, S. 229. Dies betont auch Julius Becker in seinen Redaktionserinnerungen. Vgl. Becker, Rundschau, S. 19. Vgl. Brief von F. Lenz & Comp. GmbH an Verlag Jüdische Rundschau vom 14. 11. 1902, Sha ar Zion, Boxnr. 4; Brief von F. Lenz & Comp. GmbH an Verlag Jüdische Rundschau vom 10. 11. 1902, Sha ar Zion, Boxnr. 4; Brief von Heinrich Loewe an [Betty Frankenstein] vom 25. 12. 1902, Sha ar Zion, Boxnr. 5; Brief von Verlag Jüdische Rundschau an Heinrich Loewe vom 13. 11. 1902, Sha ar Zion, Boxnr. 6; Heinrich Loewe: An unsere geehrten Mitarbeiter und Leser, in: JR, VII. Jg., Nr. 41 (10. 10. 1902), S. 9. Vgl. dazu auch Schlöffel, Loewe, S. 230. Darauf verwies auch Heinrich Loewe selbst in einem Brief an Erich Bischoff. Vgl. Brief von Heinrich Loewe an Erich Bischoff vom 05. 06. 1905, CZA, A146/34, S. 3. Vgl. dazu auch die Lesermitteilung Heinrich Loewes auf der Titelseite in der zweiten Ausgabe der Zeitung, in der es heißt: »Gleichzeitig bittet die Redaktion höfl. um gefl. Nachsicht wegen der haarsträubenden Druckfehler u. der mehr als krausen Anordnung in No. 40. Der Grund liegt darin, dass uns von der Druckerei keinerlei Korrekturen gesandt worden sind, und wir daher ausser Stande waren zu korrigieren und die Anordnung anzugeben.« Vgl. [Loewe, Heinrich]: An unsere geehrten Mitarbeiter u. Leser, in: JR, VII. Jg., Nr. 41 (10. 10. 1902), S. 9. Schlöffel, Loewe, S. 230. Loewe, 1908, S. 19.

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Zunächst stand also im Mittelpunkt der Redaktionsarbeit, der Zeitung eine zionistische Polung zu geben und sich darin an Theodor Herzls Vorstellung von ›politischem Zionismus‹, die als erhabene ›Gründerzeit‹ geschildert wird, auszurichten. Heinrich Loewe selbst nahm, in noch höherem Maße als die auf ihn bis zum Ersten Weltkrieg folgenden Redakteure, wesentlichen Einfluss auf die formale und inhaltliche Gestaltung der Zeitung. So prägte er etwa maßgeblich ihre Typographie und Struktur sowie ihren Inhalt, wobei er, auch unter Pseudonymen wie Heinrich Sachse, Borusso-Judaeus, Maarabi282 und Eljaqim,283 mehr als 200 Artikel selbst verfasste.284 Frank Schlöffel hat anhand der Analyse mehrerer Stellen der Autobiographie von Loewes Schwager, Elias Auerbach,285 die Produktionsbedingungen des Blattes, das zunächst einem (privaten) Familienunternehmen glich, in den ersten Jahren nach seiner Gründung anschaulich herausgearbeitet.286 Die Redaktion der Zeitung erfolgte aufgrund der beschriebenen Kongruenz von Arbeitsund Wohnstätte unter Loewe zunächst in einem Zimmer der Privatwohnung Loewes in der Lehrter Straße, das sich mehrere Familienmitglieder, darunter Loewes Frau Johanna, seine Tochter Hadassa und sein Schwager Elias Auerbach teilten.287 Entscheidenden Anteil an der Herstellung und dem Vertrieb der Zeitung hatten demnach in den ersten Jahren des Erscheinens neben Loewe auch diverse Mitglieder seiner Familie wie Elias Auerbach und seine Schwägerin Nanny Margulies-Auerbach288 sowie Berta Majerowitsch, die Geschäftsführerin des Verlages: »Die Woche über diente dieses Zimmer als Aufenthalt der Redaktion, in ihm schrieb Loewe auch seine Artikel, und wir beide lasen dort Korrekturen. An einem besonderen Tisch in der Ecke des Zimmers befand sich die Geschäftsverwaltung der Zeitung. An diesem Tische thronte eine umfängliche Dame. […] Sie war eine treue Zionistin dieser ersten Jahre der Bewegung und leitete jahrelang diese nicht geringe Arbeit der Ver282 Dieses Pseudonym wurde auch von Kurt Blumenfeld verwendet. 283 Vgl. Loewe, 1908, S. 19. 284 Vgl. dazu auch die Schriftenliste von Heinrich Loewe im Anhang bei Schlöffel, Loewe, S. 434–455. 285 Vgl. Auerbach, Pionier. 286 Vgl. Schlöffel, Loewe, S. 228–230. 287 Vgl. ebd., S. 228f. 288 Vgl. Margulies-Auerbach, Nanny : Erinnerungen. Zionismus wird Leben. Im Privatbesitz, S. 12, zit. n. Schlöffel, Loewe, S. 229: »Ich hatte sogar damals die erste Lektion in Herausgabe und Redaktion einer Zeitung […] und zwar half ich soviel wie moeglich meinem Schwager bei der Arbeit fuer die ›Jüdische Rundschau‹ […]. Diese Redaktionstage und meistens Abende (denn Loewe war Koeniglicher Bibliothekar […]) waren grossartig, bis tief tief in die Nacht hinein, und ich half korrigieren und was sonst so nötig war.« Nanny Auerbach war später als Sekretärin David Wolffsohns tätig. Von 1935 bis 1966 hatte sie die Leitung der Publicity-Abteilung der Women’s International Zionist Organization (WIZO) inne.

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waltung und Expedition ohne eine Hilfskraft und ohne jegliches Entgelt. Am Tag der Expedition herrschte sie über das gesamte Zimmer. Da hatten wir alle mitzuhelfen, damit die Zeitung den Lesern zugestellt werden konnte. Die Zeitung mußte gefaltet, Beiblätter eingelegt, ein Papierband herumgelegt werden, und vor allem waren ja die Adressen zu schreiben.«289

Mögliche Geschäftspartner und Beiträger konnten über eine Sprechstunde Kontakt zu Loewe aufnehmen.290 Die Produktion der Zeitung erfolgte somit zumindest in den ersten Jahren teilweise in einer fast intimen, familiären Atmosphäre bzw. unter Berücksichtigung der Besucher in einem »halböffentliche[n] Raum«.291 Auch in seinem Rückblick auf die Redaktionsarbeit hob Loewe den wertvollen Beitrag seiner teilweise ehrenamtlich agierenden Mitarbeiter im Herstellungsprozess der Zeitung hervor, wobei er namentlich Elias Auerbach, Salo Translateur292, dessen Anteil vor allem an der Korrekturarbeit gewürdigt wird, Fritz Abraham und Hans Goslar293, zu dieser Zeit noch ein »halbes Kind«, 289 290 291 292

Auerbach, Pionier, S. 128. Vgl. das Titelblatt der Zeitung. Schlöffel, Loewe, S. 229. Vgl. Translateur, Salo: Erinnerungen aus meiner ersten zionistischen Tätigkeit in Breslau. Schlesien, von 1898 bis 1904, Miami Beach, Florida, August 1963 [typewritten manuscript]. Leo Baeck Institut New York (LBI), LBIAR LBIMC ME 644 MM 77. Translateur war Mitglied und Finanzsekretär der zionistischen Ortsgruppe in Breslau (vgl. ebd., S. 1), bevor er nach Berlin ging und dort in der zionistischen Pressearbeit eingesetzt wurde. In seinen »Erinnerungen« beschrieb er seine Rolle im Produktionsprozess der Zeitung wie folgt: »Sie wurde dann abgelöst durch die später sehr bekannte und weit verbreitete ›jÜdische [sic!] Rundschau‹ in Berlin, zu deren Leitung bekanntlich Heinrich Löwe berufen wurde; und zwar wurde die vorher erwähnte ›Jüdische Wochenschrift‹ [sic!] von der ZO aufgekauft, deren Name und Tendenz von Löwe sofort geändert wurde. Hierbei möchte [sic!] kurz bemerken, dass ich kurz nach meiner Übersiedlung nach Berlin, Ende 1904, gleich zur Mitarbeit an der Rundschau herangezogen wurde, und von da ab verband mich mit Löwes [sic!] innige Freundschaft bis zu seinem Tode. Die ›Redaction‹ befand sich in Loewes Wohnung wo [sic!] ich mich einige Male nach meiner Berufsarbeit, d. h. in den Abend und Nachtstunden [sic!] einfand. In den Jahren 1908 und 1909 während Loewe sich vorübergehend von öffentlicher Tätigkeit als Redacteur zurückziehen musste, zeichnete ich als ›Verantwortlicher Redacteur‹ die Rundschau, während Loewe die eigentliche Arbeit weiter machte. Ich erinnere mich, dass ich einige Male gewisse Schärfe in seinen Artikeln beim Correcturlesen mildern musste. Ausser gelegentlichen Erwähnungen meines Namens in der antisemitischen ›Staatsbürgerzeitung‹ hatte ich keinerlei Unannehmlichkeiten. Übrigens half auch Hans Goslar in der Arbeit.« (Ebd., S. 3). 293 Hans Goslar (1889–1945) wurde als Sohn einer jüdischen Kaufmannsfamilie in Hannover geboren und siedelte 1894 nach Berlin über, wo er sich der zionistischen Jugendbewegung anschloss und wesentlich zu ihrer ideologischen Ausgestaltung beitrug. Neben der Jüdischen Rundschau arbeitete er u. a. für die Deutsche Allgemeine Zeitung und ab 1914 auch für die Handelsredaktion der Vossischen Zeitung. In der Weimarer Republik leitete er die Pressestelle des preußischen Staatsministeriums. Vgl. Goslar, Hans, in: Biographisches Handbuch der deutschsprachigen Emigration nach 1933, hg. von Werner Röder u. a., Bd. 1: Politik, Wirtschaft, Öffentliches Leben, München u. a. 1980, S. 237; Lau, Matthias: Pressepolitik als Chance. Staatliche Öffentlichkeitsarbeit in den Ländern der Weimarer Repu-

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erwähnte.294 Unter Julius Becker vergrößerte sich der Anteil Fritz Abrahams, der später selbst die Schriftleitung übernehmen sollte, an der Produktion der Zeitung noch wesentlich, indem er sozusagen zum zweiten wichtigen Mann neben dem »Allein-Redakteur«295 Becker aufstieg. In seinen Erinnerungen an die gemeinsame Redaktionsarbeit schilderte Becker anschaulich das vertraute Redaktionsklima und den intensiven, regen Austausch zwischen den beiden gleichgestellten Männern, in dem die Produktion der Zeitung erfolgte.296 Vor dem Hintergrund der Funktion der Jüdischen Rundschau als offiziellem Presseorgan der ZVfD und der Existenz einer von der ZVfD eingerichteten Pressekommission, unter deren Aufgaben auch die inhaltliche Zensur des Blattes fiel, stellt sich berechtigterweise die Frage nach den Handlungsmöglichkeiten der Redakteure und der ideologischen Positionierung der Zeitung in der zionistischen Bewegung. Auch wenn aufgrund der problematischen Quellenlage die Zensurpraxis nicht in allen Einzelheiten rekonstruiert werden kann, ergeben sich einige Anhaltspunkte über die Produktionsbedingungen der Zeitung und mögliche Spannungsfelder aus den erhaltenen Korrespondenzen zwischen der Schriftleitung und dem Presseausschuss sowie einzelnen Führungspersönlichkeiten der ZVfD. So führte Heinrich Loewe beispielsweise eine kontinuierliche Korrespondenz mit den Mitgliedern des Presseausschusses, vor allem mit Arthur Hantke und Theodor Zlocisti, und hielt teilweise in umstrittenen Redaktionsangelegenheiten auch direkt Rücksprache mit dem ersten Vorsitzenden der ZVfD, Max Bodenheimer.297 Demnach sandten interessierte Beiträger ihre Artikelentwürfe entweder direkt an die Redaktion, an die zionistischen Behörden in Berlin oder lieferten diese persönlich bei Heinrich Loewe in den redaktionellen Sprechstunden ab. Über die tatsächliche Aufnahme in die Zeitung entschied – häufig alleinverantwortlich – Loewe, wobei wohl in der Regel aufgrund des angesprochenen Termindrucks nicht immer die Zeit bestand, ein fertiges Probeexemplar bzw. Manuskript dem Kontrollkomitee vorzulegen. Dennoch wurden gelegentlich auch Artikel zur Vorkorrektur an die Mitglieder der Pressekommission gesandt, die schließlich mit Anmerkungen wieder an die Redaktion zurückgingen. Während des gesamten Untersuchungszeitraums wurden bestimmte Themenwünsche und vorgefasste stenographische Notizen, die in der Zeitung zum Abdruck gebracht werden sollten, mit einer entsprechenden Anweisung

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blik (Beiträge zur Kommunikationsgeschichte, Bd. 14), Stuttgart 2003, S. 104–115. Vgl. auch Goslar, Hans: Die Krisis der jüdischen Jugend Deutschlands. Ein Beitrag zur Geschichte der jüdischen Jugendbewegung, Berlin 1911. Loewe, 1908, S. 19. Becker, Rundschau, S. 19. Vgl. ebd. Vgl. dazu etwa Brief von Heinrich Loewe an Max Bodenheimer vom 30. 04. 1904, CZA, A15/ 459; Brief von Heinrich Loewe an Max Bodenheimer vom 15. 12. 1904, CZA, A15/459.

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vom Vorsitzenden der ZVfD über den Presseausschuss an die Redaktion geleitet.298 Dieser relativ große Handlungsspielraum der Redakteure schwand wohl auch im Zuge der räumlichen Zusammenlegung der Redaktions- und Bürogebäude von Jüdischer Rundschau und ZVfD in der Bleibtreustraße und anschließend in der Sächsischen Straße im Jahr 1911 nicht wesentlich, jedoch veränderte sich die Redaktionspraxis in Richtung einer weiteren ›Kollektivierung‹ und eines Hineinwachsens in die ZVfD erheblich. Da Redaktion und Presseausschuss ab diesem Zeitpunkt sozusagen nur noch eine Etage voneinander entfernt agierten, erfolgte die Produktion der Zeitung seitdem nahezu gemeinschaftlich. Aufschlussreich sind in diesem Zusammenhang auch die kontinuierlichen Spannungen zwischen der Redaktion der Jüdischen Rundschau und einzelnen zionistischen Persönlichkeiten oder zionistischen Ortsgruppen wie der BZV299 bzw. dem Presseausschuss, Zentralkomitee und Zentralbüro der ZVfD, welche sich in der Korrespondenz der zionistischen Behörden und den stenographischen Protokollen von den Delegiertentagen und Zionistischen Kongressen in der Zeitung abbildeten.300 So erreichte Loewe bereits im Gründungsjahr der Zeitung ein Schreiben von Hugo Schachtel, Mitgründer und Vorsitzender der Breslauer Ortsgruppe, in dem sich dieser über die Haltung der Redaktion in der Jeremias-Auerbach-Debatte301 beschwerte, die aus seiner Sicht eine »Animosität gegen Breslauer Zionisten« erkennen ließ.302 In seinem Antwortschreiben vom 15. Dezember 1902 beschwichtigte Loewe in der Angelegenheit und beteuerte: »Im Uebrigen bemüht sich die Redaktion der Jüdischen Rundschau bei etwaigen uns übrigens nicht bekannten persönlichen Differenzen zwischen Gesinnungsgenossen,

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298 Vgl. Brief und Redaktionsnotiz von Arthur Hantke an die Redaktion der Jüdischen Rundschau vom 01. 05. 1912; Brief und Redaktionsnotiz von Arthur Hantke an die Redaktion der Jüdischen Rundschau vom 14. 05. 1912; Brief und Redaktionsnotiz von Arthur Hantke an die Redaktion der Jüdischen Rundschau vom 21. 05. 1912; Brief und Redaktionsnotiz von Arthur Hantke an die Redaktion der Jüdischen Rundschau vom 31. 05. 1912, CZA, A15/524; Brief von Max Bodenheimer an Arthur Hantke vom 13. 05. 1904, CZA, A15/ 54/22; Brief von Max Bodenheimer an Heinrich Loewe vom 18. 05. 1904, CZA, A15/54/43; Brief von Max Bodenheimer an die Redaktion der Jüdischen Rundschau vom 02. 07. 1905, CZA, A15/67/2; Brief und Redaktionsnotiz von Max Bodenheimer an die Redaktion der Jüdischen Rundschau vom 20. 09. 1904, CZA, A15/57/15; Brief und Redaktionsnotiz von Max Bodenheimer an die Redaktion der Jüdischen Rundschau vom 21. 04. 1904, CZA, A15/ 53/23. 299 Vgl. Brief von Heinrich Loewe an Verlag Jüdische Rundschau vom 19. 08. 1904, Sha ar Zion, Boxnr. 5. 300 Vgl. dazu auch Weltsch, Robert: Rechenschaft, in: JR, XL. Jg., Nr. 31/32 (17. 04. 1935), S. 18. 301 Vgl. dazu Kap. III.1.5.1 der vorliegenden Arbeit. 302 Brief von Jüdische Rundschau, Redaktion an Hugo Schachtel vom 15. 12. 1902, Sha ar Zion, Boxnr. 5.

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völlig neutral zu bleiben. Wir wüssten nicht, dass in unserer Zeitung diese Unparteilichkeit nach irgend einer Richtung hin verletzt wäre.«303

Wie aus den erhaltenen Protokollen der Sitzungen des Geschäftsführenden Ausschusses des Zentralkomitees der ZVfD hervorgeht, wurde bei verschiedenen zionistischen Zusammenkünften auch über die Form von zionistischer Propaganda und über die Rolle, welche der Jüdischen Rundschau in diesem Prozess zugedacht wurde, diskutiert. Dies schloss wesentlich auch die Frage ein, innerhalb welcher Grenzen – zumindest der Theorie nach – die Erörterung innerzionistischer Themen in der Zeitung stattfinden sollte.304 So unterrichtete beispielsweise Bodenheimer im Februar 1904 die Mitglieder des Zentralkomitees über die Gewährung einer einmaligen Sonderzahlung an den Verlag in Höhe von 250 Mark und über die unbequeme Tatsache, »dass gegen die Rundschau erhebliche Beschwerden vorgebracht worden sind, deren Abstellung dem Presskomite [sic!] ans Herz gelegt wird«305. Offenbar hatte Bodenheimer daraufhin während seiner Dienstreise nach Berlin erwartet, dass Loewe mit ihm das persönliche Gespräch in der Angelegenheit suchen würde, um die Differenzen aus der Welt zu schaffen. Dies war jedoch, wie aus einem Schreiben Bodenheimers an Hantke hervorgeht, unterblieben, wobei Bodenheimer im Besonderen empörte, »dass die Redaktion der offiziellen Zeitschrift es nicht der Muehe wert findet sich darueber zu informieren wie der Vorsitzende der Organisation ueber die Redaktion des offiziellen Blattes denkt«306. Aus Briefen im Nachlass von Bodenheimer geht des Weiteren hervor, dass sich Ortsgruppen und Einzelpersonen seit der Gründung der Zeitung mitunter direkt an ihn und die Leitung der ZVfD wandten, um ihre Kritik an der Redaktion des offiziellen Organs der deutschen Zionisten zum Ausdruck zu bringen. Im Speziellen beschwerte sich etwa die Mannheimer Ortsgruppe mit einer eigens verabschiedeten Resolution bei Bodenheimer und beim Presseausschuss im Februar des folgenden Jahres 1905 »über den Ton in [sic!] welchem die Redaktion einige in freundl. Gesinnung unterbreitete Anregungen durch eine Briefkastennotiz beantwortete«307. Die Mannheimer Zionisten machten deutlich, dass ihnen vor allem die Parteinahme der Zeitung missfiel, da sie vom 303 Ebd. 304 Vgl. Protokoll der fünften Sitzung des Geschäftsführenden Ausschusses vom 15. November 1910 (Anlage 1), CZA, Z2/409; Brief von Max Bodenheimer an die Mitglieder des Zentralkomitees der ZVfD vom 04. 02. 1904, CZA, A15/53/5. 305 Brief von Max Bodenheimer an die Mitglieder des Zentralkomitees der ZVfD vom 04. 02. 1904, CZA, A15/53/5. 306 Vgl. Brief von Max Bodenheimer an Arthur Hantke, den Vorsitzenden des Pressausschusses, vom 26. 04. 1904, CZA, A15/53/28. 307 Kopie eines Schreibens der Mannheimer Ortsgruppe mit einer Resolution dieser Ortsgruppe die Jüdische Rundschau betreffend, in: Brief von Max Bodenheimer an den Pressausschuss, z. H. des Vorsitzenden Arthur Hantke vom 07. 02. 1905, CZA, A15/62.

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offiziellen Organ des deutschen Zionismus grundsätzliche Neutralität gegenüber anderslautenden Meinungen erwarteten. Im dazugehörigen Schreiben, mit dem Bodenheimer die Beschwerde der Ortsgruppe an den Vorsitzenden des Presseausschusses Arthur Hantke weiterleitete, brachte der Vorsitzende der ZVfD zum Ausdruck, dass er die Resolution begrüße, da sie nicht zuletzt seine eigenen Bedenken gegenüber der Redaktion der Jüdischen Rundschau, die er in einem Zirkular an die Mitglieder des Zentralkomitees formuliert hätte, zum Ausdruck bringe.308 Offenbar war selbst Bodenheimer der genaue Ablauf der Redaktionsarbeit verborgen geblieben und ihn erstaunten die anhaltenden Beschwerden über den Ton der Zeitung. So hatte er bereits am 25. Januar 1905 im Namen des Zentralkomitees der ZVfD ein Schreiben an Arthur Hantke verfasst, in dem er diesen über genaue Auskunft über die Einflussmöglichkeiten von Seiten Hantkes und der Mitglieder des Presseausschusses auf die Redaktionsangelegenheiten gebeten hatte.309 Im Besonderen interessierte ihn, ob die in der Zeitung abgedruckten Artikel vor Veröffentlichung dem Presseausschuss »zur Genehmigung vorgelegt würden« und er instruierte Hantke, »ein stetiges Zusammenwirken zwischen Presseausschuss und Redaktion« herbeizuführen.310 Auch sollte die ZVfD offenbar auf keinen Fall mit der (ideologischen) Tendenz der Jüdischen Rundschau in Verbindung gebracht werden, weshalb die Redaktion aufgefordert wurde, »kenntlich zu machen, daß nur die vom Central Büro des C. C. publizierten Mitteilungen als offizielle zu betrachten sind und der übrige Inhalt keinerlei officiellen Charakter trägt«311. Aus der Retrospektive erscheinen diese Bemerkungen für ein als offizielles Presseorgan geführtes Blatt bemerkenswert. Ein ähnlich aufgebrachtes Schreiben erreichte Bodenheimer und den Presseausschuss vom Bureau des »Misrachi« für Westeuropa in Frankfurt am Main im selben Monat. Wie aus dem entsprechenden Antwortschreiben Max Bodenheimers und Theodor Zlocistis, der als Mitglied des Pressekomitees mit der Angelegenheit betraut worden war, hervorgeht, wurde darin die ablehnende Haltung der Jüdischen Rundschau gegenüber der Bildung von Zusammenschlüssen in der zionistischen Bewegung und der religiösen, orthodox-zionistischen Überzeugung der Mitglieder des »Misrachi« scharf kritisiert.312 In der 308 Vgl. Brief von Max Bodenheimer an den Pressausschuss, z. H. des Vorsitzenden Arthur Hantke vom 07. 02. 1905, CZA, A15/62/1/2. 309 Vgl. Brief von Max Bodenheimer an den Pressausschuss, z. H. des Vorsitzenden Arthur Hantke vom 25. 01. 1905, CZA, A15/61/15. 310 Ebd. 311 Ebd. Vgl. auch den Brief von Max Bodenheimer an Alfred Klee vom 23. 01. 1905, CZA, A15/ 61/13. 312 Vgl. Brief von Max Bodenheimer an das Bureau Misrachi, Frankfurt, vom 08. 02. 1905 mit einer Kopie des Briefes von Theodor Zlocisti an Max Bodenheimer, CZA, A15/62.

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Kopie des Briefes von Zlocisti an Bodenheimer in der Angelegenheit wird deutlich, dass beide die kritische Haltung der Redaktion in religiösen Fragen strikt ablehnten und Zlocisti dafür Sorge tragen sollte, dass erneute tendenziöse Stellungnahmen in der Sache ausblieben.313 Wiederholt forderte Bodenheimer auch die Redaktion auf, bestimmte Textpassagen, die er als fehlerhaft, politisch inkorrekt oder unklar empfand und die entweder die offizielle Linie der ZVfD oder seine persönlichen Interessen betrafen, zu bereinigen und in kommenden Nummern »ausdruecklich klar zu stellen«314.315 Auch in seinen Antwortschreiben an die Beschwerdeführer distanzierte er sich mitunter explizit von den Inhalten der Zeitung und empfahl den Kritik Äußernden den Weg, über den Delegiertentag und die Wahl von Vertretern in den Presseausschuss Einfluss auf die inhaltliche Gestaltung der Jüdischen Rundschau zu nehmen.316 Der Unmut und die Unzufriedenheit einiger deutscher Zionisten und des Presseausschusses über die Fortschritte und die Haltung der Jüdischen Rundschau gehen auch aus mehreren Rundschreiben und Memoranden, wie den bereits zitierten der Jahre 1906 und 1908, stenographischen Berichten von zionistischen Versammlungen und Leserbriefen hervor.317 Auch auf den Delegiertentagen wurde von den Mitgliedern des Presskomitees regelmäßig in Form von Referaten über die Redaktionsarbeit und die finanzielle Lage des Verlages berichtet, wobei den anwesenden Delegierten im Anschluss daran die Möglichkeit zur Diskussion gegeben wurde.318 Die darin geäußerte Kritik konzentrierte sich insgesamt vor allem auf den Vorwurf, dass sich die Jüdische Rundschau nicht – wie offenbar von ihr als Gesamtrepräsentantin des deutschen Zionismus erwartet – parteilos und neutral in verschiedenen Grundsatzdebatten

313 Vgl. Brief von Max Bodenheimer an das Bureau Misrachi, Frankfurt, vom 08. 02. 1905 mit einer Kopie des Briefes von Theodor Zlocisti an Max Bodenheimer, CZA, A15/62/7; Brief von Max Bodenheimer an Theodor Zlocisti vom 14. 01. 1905, CZA, A15/61/5. 314 Brief von Max Bodenheimer an die Redaktion der Jüdischen Rundschau vom 30. 05. 1904, CZA, A15/54/48. 315 Vgl. ebd.; Brief von Max Bodenheimer an den Vorstand der Zionistischen Vereinigung Berlin vom 16. 01. 1905, CZA, A15/61/9; Brief von Max Bodenheimer an Arthur Hantke vom 25. 01. 1905, CZA, A15/61/15; Brief von Max Bodenheimer an die Redaktion der Jüdischen Rundschau vom 07. 07. 1905, CZA, A15/67/6; Brief von Max Bodenheimer an die Redaktion der Jüdischen Rundschau vom 29. 06. 1905, CZA, A15/66/30. 316 Vgl. Brief von Max Bodenheimer an das Bureau Misrachi für Westeuropa, Frankfurt, vom 14. 01. 1905, CZA, A15/61/6. 317 Vgl. Rundschreiben der Zionistischen Vereinigung für Deutschland No. 25 vom 21. 02. 1906, CZA, Z2/401; Memorandum über die Pressefrage (1. Anlage eines Schreibens von Julius Becker an David Wolffsohn vom 04. 08. 1908), CZA, Z2/323. 318 Vgl. etwa den Brief von Max Bodenheimer an Arthur Hantke vom 03. 05. 1904, CZA, A15/54/ 3.

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verhalten, sondern offen und dezidiert sozusagen eine bestimmte Variante von Zionismus propagiert und Deutungshoheit für sich beansprucht hätte. Der Anspruch, den einzigen ›richtigen‹ Zionismus zu repräsentieren, äußerte sich auch in Heinrich Loewes Selbstzeugnissen. Bezug nehmend auf seine opponierende Haltung gegen Herzls Uganda-Plan und gegen den Presseausschuss der Jüdischen Rundschau in den Jahren 1903 bis 1905319 schilderte sich Loewe beispielsweise in seinen Redaktionserinnerungen im Jahr 1935 in eklatanter Ähnlichkeit zur späteren Charakterisierung durch seinen Freund Sammy Gronemann als unbeirrbaren, »ewigen Kämpfer[s]«320, der die Stellung des ›nationalen Raumes‹ Palästina im Zionismus und die nationale Homogenität der zionistischen Bewegung unermüdlich verteidigt hätte. Als Druckmittel, seine eigenen Vorstellungen im Inhalt der Zeitung durchzusetzen, nannte Loewe die knappen (finanziellen) Ressourcen des Blattes und seine Bereitschaft, trotz des unverhältnismäßigen Arbeitsaufwandes für nur geringe Entschädigung die Redaktionsarbeit zu leisten: »Im vollen Gegensatz zur großen Mehrheit der deutschen Zionisten, in schwerstem Streit gegen den ihr vorgesetzten Kontroll- und ›Presseausschuß‹ führte die Redaktion den heftigsten Kampf gegen Uganda und gegen den Territorialismus. Der beste Bundesgenosse war der Mangel an Mitteln. Solange die Arbeit mehr kostete, als sie einbrachte, fand sich schon aus diesem Grunde kein Ersatz in der Redaktion. Mußte doch der Redakteur – rein mechanisch – immer mehr als drei Viertel des Blattes selbst schreiben. […] Schwere Kämpfe musste die Redaktion innerhalb der zionistischen Partei führen, bei denen die Delegiertentage fast ausschließlich den Angriffen auf die Schriftleitung dienten. […] Die Kämpfe gegen die Rundschau erfolgten nicht bloß von seiten der Ugandisten, obgleich dies der Ausgangspunkt der Kritik war, sondern von rechts und links. Die Redaktion vertrat den Standpunkt eines ungeteilten, eines integralen Zionismus. Sie lehnte die Spaltung in Parteien innerhalb der Bewegung ab, und wurde von den entstehenden Parteien als Hindernis auf ihrem Wege empfunden. […] Der Hauptkampf, den die Jüdische Rundschau in jener Zeit führte, galt der Gewinnung von Juden für das Judentum, für einen synthetischen Zionismus, der die nationalen und politischen Bestrebungen mit den kulturellen Werten und der wirklichen PalästinaArbeit vereinigen sollte, der sich selbst als die organische Fortsetzung der jüdischen Geschichte ansah. Heute kann vielleicht ein komischer Beigeschmack dabei empfunden werden, daß es damals eine Gruppe von Zionisten gab, die sich selbst ›Zione-Zion‹, d. h. die auf Zion gerichteten Zionisten nannten. Aber es war nicht so leicht und so einfach, namentlich innerhalb der deutschen Zionisten, die Vorherrschaft des Palästina-Gedankens zu erkämpfen. Es war eine Zeit des Kampfes, aber auch der vollen Siegesgewißheit.«321

319 Vgl. dazu Kap. III.2.1.3 der vorliegenden Arbeit. 320 Gronemann, Sammy : Heinrich Loewe s. a., in: Mitteilungsblatt (10. 08. 1951), S. 3. 321 Loewe, 1908, S. 19.

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Die angeführte Stelle ist aus mehreren Gründen aufschlussreich: Zum ersten betonte Loewe darin, dass sich in den Leitartikeln der Redaktion, vor allem während der sog Uganda-Kontroverse, nicht immer automatisch die Mehrheitsmeinung im deutschen Zionismus abgebildet hätte. Vielmehr räumte er ein, dass er, als leitender Redakteur, durchaus die Möglichkeit besaß, auch unbequeme Artikel gegen den Willen des Presseausschusses zum Abdruck zu bringen, die in erster Linie seiner (subjektiven) Vorstellung von Zionismus entsprochen hätten. Dennoch verfolgte die Jüdische Rundschau im Allgemeinen die Leitlinie, in kontroversen Debatten die Meinungen verschiedener, auch als oppositionell empfundener Seiten zu Wort kommen zu lassen, auch wenn man in angehängten Stellungnahmen häufig dezidiert herausstellte, dass man die Meinung des zuvor gehörten Beiträgers nicht teilen könne.322 Zweitens deutete Loewe hier an, dass im Besonderen mit den Delegiertentagen und in der dort vorherrschenden direkten Kommunikation – sozusagen vis / vis, von Zionist zu Zionist bzw. Plenum, – ein noch der Pressekommission übergeordnetes Korrektiv bestanden hätte. Auf diesen Versammlungen konnte die in der Jüdischen Rundschau jeweils vorherrschende Definition von Zionismus kontrovers verhandelt werden und es konnten entscheidende Weichenstellungen bzw. Grenzziehungen vorgenommen werden. Dieser Prozess wurde gewissermaßen noch ergänzt durch die (halb-)öffentliche Kommunikation mittels verschiedener Korrespondenzen sowie die eingesandten Beiträge und Leserkommentare. Drittens sollte durch Loewe in der Erinnerungsnummer zur Jüdischen Rundschau fast dreißig Jahre nach seiner Redaktionszeit eine nachträgliche Apologie des frühen nationalideologischen Programmes der Jüdischen Rundschau erfolgen, das in der Retrospektive beschönigt und mit nicht zeitgemäßen Begriffen versehen wurde. Die frühe Haltung der Jüdischen Rundschau in den Grundkonflikten während der ideologischen Ausdifferenzierung, welche die ZO nach dem Ersten Zionistenkongress 1897 prägten, kann am besten mit der Strategie des (nationalen) »Homogenisierens« charakterisiert werden.323 Dem Bild der »inneren Zerrissenheit und zunehmenden ideologischen Fragmentierung«324 des Zionismus stellten Heinrich Loewe und die Jüdische Rundschau die Vision eines einheitlichen, einmütigen Kollektivs und einer gleichgesinnten politischen Organisation gegenüber,325 welche die dafür erforderliche Integrationswirkung in erster Linie und für lange Zeit dem politischen Zionismus zuwies. Dieses ›Gegenprogramm‹ der Jüdischen Rundschau, das Loewe im obigen 322 Vgl. ebd.; Kap. III.2.1.1 der vorliegenden Arbeit. 323 Vgl. Kap. III.2.1 der vorliegenden Arbeit; diese Charakterisierung wird auch verwendet von Schlöffel, Loewe, S. 211. 324 Schlöffel, Loewe, S. 211. 325 Vgl. dazu auch den kurzen, instruktiven Hinweis bei Schlöffel, Loewe, S. 211.

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Zitat als »synthetischen Zionismus« auswies, entlehnte die hier verwendete Begrifflichkeit jedoch aus der sich erst unter der Präsidentschaft David Wolffsohn offen kommunizierten Vorstellung einer harmonischen Synthese aus der politischen, praktischen und kulturellen Richtung von Zionismus. Diese stellte jedoch in erster Linie eine Folge der Legitimationskrise des politischen Zionismus dar und begann sich erst allmählich unter der Redaktionszeit von Julius Becker oder in Ansätzen in der Spätphase der Redaktionszeit Loewes auch in der inhaltlichen Ausrichtung der Jüdischen Rundschau abzuzeichnen.326 Dennoch: Auch wenn sich Loewe in der Jüdischen Rundschau zunächst energisch gegen die Fraktionierung in der zionistischen Bewegung und damit auch die Gründung der Demokratischen Fraktion aussprach, so zeigten seine Beiträge doch stets, dass er mit seinen eigenen Vorstellungen von einer ›jüdischen Nation‹ und ›jüdischem Nationalismus‹ ganz erheblich an der Konstruktion einer kulturzionistischen Ideologie partizipierte. Im Juni 1908 äußerten eine Reihe von zionistischen Ortsgruppen und Persönlichkeiten, unter denen sich auch der zweite Präsident der ZO, David Wolffsohn, befand, auf dem Delegiertentag in Breslau und in der internen Korrespondenz327 ihre Unzufriedenheit mit der als oppositionell eingestuften Haltung der Jüdischen Rundschau in zionistischen Interna.328 Auch die inhaltliche Gestaltung der Zeitung, welche als wenig attraktiv für nichtzionistische Leser empfunden wurde, und die kontinuierlichen finanziellen Probleme des Verlags wurden der Schriftleitung zum Vorwurf gemacht,329 mit der es nach Ansicht Max Bodenheimers »nicht mehr weiter gehen« könne.330 Dennoch wussten erfahrene Zionisten wie Bodenheimer Loewes Beitrag zur ›Zionisierung‹ und Professionalisierung der Jüdischen Rundschau wohl zu schätzen, da Loewe nicht sofort und vollständig vom Herstellungsprozess der Zeitung aus326 Vgl. Kap. III.2.2.1 der vorliegenden Arbeit. 327 Vgl. Brief von David Wolffsohn an Heinrich Loewe vom 08. 09. 1907, CZA, W528. 328 Vgl. dazu auch Loewe, Heinrich: An unsere Leser, in: JR, XIII. Jg., Nr. 52 (25. 12. 1908), S. 513: »Im Anschluss an den Breslauer Delegiertentag hat mir der geschäftsführende Ausschuss des Zentralkomitees von dem allgemeinen Misstrauen sämtlicher deutscher Zionisten Mitteilung gemacht und mir dringend klar gemacht, dass es notwendig wäre, dass die Schriftleitung in andere Hände übergehe. Die allgemeinen Klagen aller Zionisten, die am heftigsten aus Frankfurt am Main und Posen gekommen wären, machten die Entlassung wünschenswert. Die Klagen der oberschlesischen Zionisten liessen sie notwendig erscheinen.« 329 Rundschreiben der Zionistischen Vereinigung für Deutschland No. 25 vom 21. 02. 1906, CZA, Z2/401, S. 1. Vgl. Memorandum über die Pressefrage (1. Anlage eines Schreibens von Julius Becker an David Wolffsohn vom 04. 08. 1908), CZA, Z2/323, S. 5f. 330 Brief von Max Bodenheimer an Adolf Friedemann vom 29. 06. 1908, CZA, A15/46. Vgl. zur Entlassung Loewes auch Schlöffel, Loewe, S. 234f.; Eloni, Zionismus, S. 211–215 (Kap. »Die Entlassung Heinrich Loewes«); Loewe, Heinrich: An unsere Leser, in: JR, XIII. Jg., Nr. 52 (25. 12. 1908), S. 513.

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geschlossen wurde, sondern eine Stelle im Aufsichtsrat angeboten bekam und weiterhin das Literatur-Beiblatt der Zeitung herausgeben sollte.331 In der vierten Sitzung des geschäftsführenden Ausschusses der ZVfD, die Arthur Hantke als Vorsitzender leitete, wurde schließlich beschlossen, dass auf einen entsprechenden Antrag von Loewe selbst innerhalb des Zentralkomitees der ZVfD über seine Entlassung abgestimmt werden sollte.332 Dieses entschied schließlich mit absoluter Stimmenmehrheit, dass das Dienstverhältnis Loewes zum 31. Dezember 1908 beendet werden sollte.333 In einem Beitrag in der Jüdischen Rundschau vom 25. Dezember 1908, mit dem Loewe sich bei seinen Lesern verabschiedete, brachte der langjährige Redakteur der Zeitung seinen Wehmut über das Ausscheiden aus der Schriftleitung zum Ausdruck, beschwichtigte jedoch mit Verweis auf die neue, junge Redaktion, welche frischen Wind in die redaktionellen Angelegenheiten bringen würde.334 Für die Zukunft der Pressearbeit der Zeitung, welche Loewe in der Tradition der von ihm gegründeten Zeitschrift Zion sehen wollte, wünschte er sich, dass sie ihren ideologischen Fluchtpunkt nie verliere: »das Judentum in seiner ganzen nationalen Bedeutung und der Zionismus auf Grundlage des Baseler Programms«335. Nach der Absetzung Loewes sank das redaktionelle ›Oppositionspotential‹ jedoch beträchtlich, was auch die retrospektiven Redaktionserinnerungen von Julius Becker in der besagten Jubiläumsnummer der Zeitung bestätigen. Becker betonte darin die unbedingte Leitlinie seiner Redaktion, entgegen persönlicher Vorlieben, neben der weiteren nationalideologischen Politisierung des Blattes vor allem zur zionistischen Propaganda und zu einer Politik des Ausgleichs zwischen den verschiedenen rivalisierenden Allianzen im zionistischen Kollektiv beizutragen: »Ein ›politisches‹ Blatt sollte die Rundschau werden als das deutsche Organ der zionistischen Bewegung. Und im Rahmen der Vorkriegsverhältnisse waren die jüdischpolitischen Probleme innerhalb und außerhalb der zionistischen Bewegung ernst genug. Der Kongreß in Haag (1907) lag hinter uns, der neunte Hamburger Kongreß mit 331 Vgl. Brief von Max Bodenheimer an Adolf Friedemann vom 29. 06. 1908, CZA, A15/46. 332 Protokoll der 4. Sitzung des geschäftsführenden Ausschusses der ZVfD vom 13. 07. 1908, CZA, Z2/405; Eloni: Zionismus in Deutschland, S. 213; Schlöffel, Loewe, S. 293. 333 Vgl. Brief von Arthur Hantke an den Vorstand und Aufsichtsrat des Verlags Jüdische Rundschau vom 30. 06. 1908, CZA, A11/18/1; Brief von Heinrich Loewe an Max Bodenheimer vom 30. 06. 1908, CZA, A15/492; Brief von Arthur Hantke an den Vorstand und Aufsichtsrat des Verlags Jüdische Rundschau vom 03. 07. 1908, CZA, A11/18/1; Loewe, Leser, S. 513: »Dieser Sachlage entsprechend beschloss das Zentralkomitee unter dem Vorantritt seines Präsidenten mit 15 gegen 2 Stimmen (bei zwei Stimmenthaltungen) meine Entfernung aus der Redaktion. Daraufhin erhielt ich ordnungsgemäss vom Vorstand der Genossenschaft Jüdische Rundschau die vom Aufsichtsrat bestätigte Kündigung.« 334 Vgl. Loewe, Leser, S. 513. 335 Ebd.

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seinen schweren und ernsten Kämpfen um die Leitung der ganzen Bewegung stand bevor. Trotz der Sympathien für die damalige Opposition, die der leitende Redakteur der ›Rundschau‹ nicht verbergen wollte und konnte, mußte die ›Jüdische Rundschau‹ doch das Organ aller deutschen Zionisten sein, ja, sie hatte darüber hinaus den Ehrgeiz, ihren Wirkungskreis auch auf die immer größer werdenden Kreise in Deutschland auszudehnen, die uns freundlich gegenüberstanden, ohne doch den Anschluß an die zionistische Bewegung finden zu können. Ich hatte oft in späteren Jahren den Eindruck, daß ihr gerade auf diesem Gebiete nicht die schlechtesten Erfolge beschieden waren. Wenn man bedenkt, daß damals zionistische Arbeit in Deutschland zum guten Teile Propaganda sein mußte, so wird man auch die an heutigen Maßstäben gemessen bescheidene Arbeit der damaligen ›Rundschau‹ zu werten wissen. […] Theodor Herzl war uns damals noch nahe. Trotz manchem Interregnums war schon damals Chaim Weizmann der kommende Führer der zionistischen Bewegung. So ›zwischen den Zeiten‹ am zionistischen Tagewerk tätigen Teil gehabt zu haben, ist mir eine tiefe innere Genugtuung, wenn ich heute sehe, welchen glänzenden Aufschwung unsere kleine ›Jüdische Rundschau‹ von 1908 zusammen mit der zionistischen Bewegung genommen hat.«336

Die hier vorgenommene nachträgliche Bedeutungszuschreibung der Jüdischen Rundschau in der als krisenhaft geschilderten Umbruchszeit der ZO nach Herzls Tod stimmt auffallend mit den Vorgaben der ZVfD aus dieser Zeit überein, in denen die Ausdehnung des lesenden Zielpublikums auf jüdische, nichtzionistische Kreise propagiert wurde. Dennoch lässt sich zwischen den Zeilen lesen, dass auch Becker seine (persönliche) oppositionelle Haltung gegenüber Wolffsohn und der neuen Führung der ZO nicht vollständig aus seinen Artikeln heraushalten konnte. Auch die Charakterisierung David Wolffsohns und der ihm nachfolgenden Präsidenten der ZO als bloße Lückenfüller zwischen den Amtszeiten der ›großen Führer‹ Herzl und Weizmann spricht Bände. Dennoch konnten Becker wie auch der ihm folgende Abraham, wohl auch aufgrund ihrer vergleichsweise kurzen Redaktionszeiten, kaum eigene, bleibende Akzente in der Redaktionsarbeit setzen oder einen maßgeblichen Einfluss auf die ideologische Entwicklung der Zeitung ausüben. Dass die Alleinverantwortlichkeit der auf Loewe folgenden Redakteure für die innere Gestaltung der Jüdischen Rundschau vor dem Ersten Weltkrieg abnahm und die Redaktionsphase Becker/Abraham daher gewissermaßen selbst einen Übergang zwischen der Loewes und der Hugo Herrmanns darstellte, belegen das kurze Interim Loewe/Blumenfeld und die Einschätzungen Hugo Herrmanns, der sich selbst als loyalen, wenn auch wenig ambitionierten, Erfüllungsgehilfen für die Pressearbeit der ZVfD schilderte.337 Herrmann räumte, wenn auch in ver336 Becker, Rundschau, S. 19. 337 Herrmann, Hugo: Redakteur 1913–1914, in: Erinnerungen ehemaliger Redakteure, in: JR, XL. Jg., Nr. 31/32 (17. 04. 1935), S. 19f., hier S. 19.

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mutlich zu bescheidenen Tönen, explizit seinen geringen Einfluss auf den Herstellungs- und Produktionsprozess der Jüdischen Rundschau ein, den er vor allem auf seine relative journalistische Unerfahrenheit zurückführte.338 Vielmehr hielt er die zuvor nicht stattgefundene, enge Zusammenarbeit mit dem Zionistischen Zentralbüro, also der ZVfD und der ZO, im Besonderen dem »Engeren Aktions-Comit8«, und ihrem Presseorgan, der Welt, die mit der Redaktion der Rundschau nach der beschriebenen Zusammenlegung in einem Gebäude in der Sächsischen Straße 8 eine »enge Wohn- und Werkgemeinschaft« bildeten, für das eigentliche zentrale Charakteristikum und Novum seiner Redaktionsarbeit.339 Die neue Praxis der Produktionsbedingungen der Jüdischen Rundschau, in deren Verlauf sich eine noch engere ideologische und personelle Verzahnung mit der ZVfD bzw. der ZO herausbildete, und die Rollen der daran beteiligten Personen, beschrieb er im Folgenden so: »Wir bildeten eine Familie, eine Denk- und Arbeitsgemeinschaft; es gab keine strenge Abgrenzung von Kompetenzen, ebensowenig aber auch formelle ›Sitzungen‹ zur gemeinsamen Information und Meinungsbildung. […] Von den Mitgliedern des E. A. C. nahm allein Dr. Hantke, der zugleich Vorsitzender der Z. V. f. D. war, unmittelbar Einfluß auf die ›Rundschau‹, aber als ich in der zweiten Hälfte meines Redaktionsjahres eine Zeitlang vertretungsweise auch die ›Welt‹ redigierte (für Kurt Blumenfeld, der auf Hochzeitsreise in Palästina war), und in jeder großen und kleinsten Frage den Einfluß der wirklich überlegenen Weisheit Dr. Tschlenows erfuhr, färbte das natürlich auch auf die ›Rundschau‹ ab. Dr. Hantke, mein eigentlicher ›Vorgesetzter‹, ließ mich, einen jungen unerfahrenen Menschen, der die Verhältnisse in Deutschland kaum kannte, fast völlig frei gewähren, aber seine gelegentlichen, immer von Lebensklugheit und praktischem Sinn bestimmten Belehrungen, meist in aphoristischem Stil, haben mir nicht nur für meine damalige Arbeit, sondern für mein ganzes Leben und meine weitere zionistische Wirksamkeit viel gegeben. Ich schäme mich schließlich nicht, hier offen zu sagen, daß ich auch über Fragen der Redaktionsführung oft und gern mit dem Verlag, das heißt mit Betty Frankenstein, sprach und nützliche Belehrung von ihr annahm, die damals schon lange und glücklicherweise bis heute die Seele der Zionistischen Organisation in Deutschland war und ist.«340

Herrmann deutete seine Arbeit als Schriftleiter der Jüdischen Rundschau also vor allem als kollektiven Erfahrungsprozess, in dessen Verlauf Kompetenzen verschwammen und die zionistische Wochenzeitung als Gemeinschaftsprodukt weiter entwickelt wurde. Darin scheint zumindest ein gewisser Grad an – wenigstens subjektiv empfundener – Familiarität bestehen geblieben zu sein: Beim Erwerb journalistischen Fachwissens unterstützten Herrmann im Wesentlichen Arthur Hantke, der damit den einzigen Faktor personeller Kontinuität im Her338 Ebd. 339 Ebd. 340 Ebd.

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stellungsprozess der Zeitung seit ihrer Gründung darstellte, und Betty Frankenstein, die über ihre Sekretariatsrolle hinaus eine wichtige beratende Tätigkeit ausübte und eine Vertrauensstellung für die Redaktion einnahm. Als zentrale Themen seiner Redaktionszeit identifizierte Herrmann den »Sprachenstreit«, die Kontroverse zwischen Zionismus und dem »Hilfsverein deutscher Juden« und die Debatte um den »›Nationalismus im Zionismus‹«341 auf dem Delegiertentag in Leipzig 1914.342 Wie Herrmann abschließend in seinen Redaktionserinnerungen verdeutlichte, verstand er selbst seine Rolle als leitender Redakteur am Vorabend des Ersten Weltkriegs vielmehr als Wegbereiter für seine ihm nachfolgenden gleichgesinnten Verwandten und Freunde Leo Herrmann und Robert Weltsch, welche die Professionalisierung und Verbreitung der Zeitung weiter vorantrieben.343 Hugo Herrmanns Redaktionszeit stellte demnach gewissermaßen einen vorübergehenden Höhepunkt im Produktionsprozess zionistischer Kultur durch die Jüdische Rundschau dar, der wohl am Besten mit den Begriffen der weiteren ›Zionisierung‹ und des Hineinwachsens in die behördlichen wie ideellen Strukturen der ZVfD beschrieben werden kann. Damit einherging auch die wachsende Herstellung von Öffentlichkeit und Transparenz innerhalb der ZVfD für den Produktionsprozess der Zeitung selbst. Die Jüdische Rundschau nahm somit zumindest vorübergehend vor dem Ersten Weltkrieg auch tatsächlich die ihr zugedachte Rolle eines offiziellen Presseorgans des deutschen (Mehrheits-)Zionismus wahr.

5.

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5.1

Abonnenten und Leser – eine Spurensuche

Die Jüdische Rundschau konnte im Untersuchungszeitraum ausschließlich im Abonnement, entweder über die Expedition oder über das Postabonnement, bezogen werden. Der Abonnementspreis für die Zeitung, der vierteljährlich berechnet und erhoben wurde, veränderte sich über die Jahre und war abhängig von der Art des Abonnements und des Bezugs.344 In den Jahren 1902 bis 1908 variierte der Preis der Zeitung bei Bezug durch die Expedition zunächst danach, ob die Zeitung aus Berlin (90 Pfennig), aus dem auswärtigen Inland (1 Mark) 341 342 343 344

Ebd., S. 20. Vgl. ebd. Vgl. ebd. Der Abonnementspreis wurde jeweils auf der Titelseite der einzelnen Ausgaben der Jüdischen Rundschau oben links verzeichnet. Die folgenden Daten ergeben sich aus der Durchsicht der einzelnen Ausgaben der Jahre 1902–1914.

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oder aus dem Ausland (1,50 Mark) bezogen wurde. Für das Postabonnement wurde vierteljährlich hingegen einheitlich 1,25 Mark berechnet. Neben dem Einzelabonnement existierte daneben die Möglichkeit des Sammelbezugs, der für die zionistischen Ortsgruppen eingerichtet worden war, damit diese zum Abonnement der Zeitung angehalten wurden. Auffallend ist, dass der Abonnementspreis für den Sammelbezug über die Ortsgruppe mit 60 Pfennig explizit nur auf der Titelseite der Ausgaben vom 2. Oktober 1902 (und damit der ersten Ausgabe der Zeitung) bis zum 17. Oktober 1904 ausgewiesen wurde. Die günstigsten Varianten stellten also in diesen ersten Jahren des Erscheinens der Zeitung der Bezug über die Expedition in Berlin und der Sammelbezug über die Ortsgruppe dar, die teuersten der Bezug aus dem Ausland und das Postabonnement bzw. Einzelabonnement.345 Mit den angesprochenen Änderungen im Format und im Inhalt der Zeitung veränderte sich ab der Ausgabe vom 1. Januar 1909 auch der Abonnementspreis der Zeitung, der fortan für den Bezug durch die Expedition und das Postabonnement vereinheitlicht wurde und vierteljährlich 1,25 Mark betrug. Der Bezug der Zeitung aus dem Ausland wurde ebenfalls auf 2 Mark erhöht und dahingehend erweitert oder spezifiziert, dass auch Österreich-Ungarn explizit zum Inland gezählt wurde. Vermutlich sollte damit der sich vergrößernde Kreis an bereits vorhandenen Abonnenten in Österreich-Ungarn zur Beibehaltung des Abonnements motiviert werden und neue deutschsprachige Abonnenten aus dem Nachbarstaat gewonnen werden. Auch wurde die Vergünstigung für den Sammelbezug wieder ausdrücklich erwähnt, indem die Titelseite seitdem auswies, dass der Abonnementspreis für Mitglieder jüdischer Vereine im Sammelbezug durch den Verein 1 Mark betragen sollte.346 Interessant ist in diesem Zusammenhang auch die Erweiterung für Vergünstigungen im Hinblick auf eine jüdische und nicht nur zionistische Leserschaft, die damit wohl auch der neuen inneren Ausrichtung des Blattes entsprechen sollte. Eine erneute Erhöhung des Abonnementspreises erfolgte ab der Ausgabe vom 12. Januar 1912, auf deren Titelseite die Kosten für das Abonnement durch Expedition und Post auf 1,50 Mark festgesetzt wurden.347 Im Vergleich zum Abonnementspreis für andere wöchentlich erscheinende jüdische und zionistische Zeitungen wie beispielsweise der ebenfalls in Berlin im Mosse Verlag erscheinenden Allgemeinen Zeitung des Judenthums (1902–1914: vierteljährlich 3 Mark, 16 bis 20 Seiten)348 und der Welt (1902: vierteljährlich 3,45 Mark für Deutschland, 3 Kronen für Österreich-Ungarn, 1914: vierteljährlich 2,50 Mark 345 346 347 348

Vgl. die Titelseiten der Ausgaben der JR der Jahre 1902–1908. Vgl. Titelseite der Ausgabe vom 01. 01. 1909. Vgl. Titelseite der Ausgabe vom 12. 01. 1912. Vgl. die Angaben auf den Titelseiten und in den einzelnen Nummern der Zeitung der Jahre 1902–1914.

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für Deutschland, 3 Kronen für Österreich-Ungarn)349 war der Abonnementspreis der Jüdischen Rundschau somit verhältnismäßig niedrig. Das Presseorgan des Centralvereins, die monatlich erscheinende Zeitschrift Im deutschen Reich, lag mit einem Abonnementspreis im Jahr 1902 von 3 Mark jährlich für Nichtmitglieder und dem kostenfreien Bezug für Vereinsmitglieder somit zwar unter dem Preis der Jüdischen Rundschau, umfasste jährlich jedoch deutlich weniger Ausgaben.350 Der öffentliche Verkauf über Zeitungshändler sowie der Bezug einer Einzelnummer, den beispielsweise die Konkurrenten Die Welt und Im deutschen Reich ihren Lesern für 30 Pfennige ermöglichten,351 war im Falle der Jüdischen Rundschau hingegen im Untersuchungszeitraum nicht vorgesehen. Eine allmähliche Erhöhung erfuhr auch der Preis für Inserate bzw. Anzeigen in der Zeitung, der in den Jahren 1902 bis 1908 noch 25 Pfennig für eine viergespaltene Petitzeile352 (oder deren Raum) betragen hatte.353 Mit diesem Anzeigenpreis pro Zeile unterbot die Jüdische Rundschau geringfügig beispielswiese den Anzeigenpreis der Allgemeinen Zeitung des Judenthums (30 Pfennig) und der Welt (30 Heller) im selben Zeitraum. Des Weiteren suchte der Verlag in Annoncen in der Zeitung nach »tüchtige[n], repräsentationsfähige[n] Annoncen-Acquisiteure[n] […] in allen, besonders grösseren Städten«354. In Folge des veränderten Formats der Zeitung erhielt der Inserent seit dem 1. Januar 1909 in der Jüdischen Rundschau zum selben Preis eine fünfgespaltene Petitzeile (oder deren Raum), während nun auch Stellenangebote und Stellengesuche sowie Vereinsmitteilungen und »Kleine Anzeigen« für 15 Pfennig möglich waren. Seit der Ausgabe vom 7. April 1911 stieg der Anzeigenpreis für die fünfgespaltene Petitzeile (oder deren Raum) auf 40 Pfennig und der für Stellenangebote und -gesuche sowie Vereinsmitteilungen und »Kleine Anzeigen« auf 30 Pfennig. Die in den ersten Jahren bis zur letzten Ausgabe im Dezember 1904 ausgewiesene Möglichkeit einer Inseratenbeilage für 15 Mark wurde hingegen aus dem Programm genommen.355 Über die Auflagenzahl der Jüdischen Rundschau im Untersuchungszeitraum liegen hingegen nur wenige Informationen aus Sperlings Zeitschriften-Adressbuch vor, wobei die dort abgedruckten Zahlen in allen Fällen auf den Selbstauskünften der jeweiligen Redaktionen und Zeitungsverleger, an die Fragebögen 349 Vgl. ebd. 350 Vgl. ebd. 351 Vgl. dazu die Angaben auf den Titelseiten und in den einzelnen Nummern der Zeitung und das Schreiben von Max Bodenheimer an das Centralbureau der Zionistischen Vereinigung für Deutschland vom 14. 10. 1905, CZA, A15/69/3, S. 2. 352 Die Petit ist ein Schriftgrad von acht Punkt. 353 Vgl. die Titelseiten der Ausgaben der JR der Jahre 1902–1908 oben rechts. 354 Vgl. JR, VIII. Jg., Nr. 10 (06. 03. 1903), Annoncenteil. 355 Vgl. die Titelseiten der Ausgaben der JR der Jahre 1902–1905 oben rechts.

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verteilt worden waren, beruhten.356 Spätestens im Jahr 1908 umfasste die Auflagenstärke des Presseorgans demnach 2.500 gedruckte Exemplare, womit die Auflagenzahl der Jüdischen Rundschau beispielsweise höher als die der Allgemeinen Zeitung des Judenthums im selben Jahr war (2.300 Exemplare).357 Bis zum Jahr 1911 wuchs die Auflagenzahl laut Sperlings Zeitschriften-Adressbuch auf 3.000 gedruckte Exemplare,358 was somit deutlich unter der Auflagenzahl der Welt (im selben Jahr 8500 Exemplare, im Jahr 1908 noch 4000 Exemplare) lag.359 Aufgrund der ebenfalls nicht mehr erhaltenen Abonnementslisten der Zeitung können auch über die Verbreitung der Zeitung und ihre Abonnenten bzw. ihren tatsächlichen Leserkreis nur indirekt und allenfalls lückenhaft Informationen rekonstruiert werden, die sich in erster Linie aus den überlieferten Korrespondenzen bzw. dem Geschäftsschriftgut der zionistischen Behörden und Hinweisen in der Zeitung selbst ergeben. Aus der Bilanz per 31. Dezember 1913 und der ihr angehängten Gewinn- und Verlustrechnung desselben Jahres etwa geht hervor, dass die Einnahmen aus Abonnements im Jahr 1913 rund 11.560 Mark betrugen.360 Dividiert man diesen Betrag durch den zu dieser Zeit jährlichen Abonnementspreis von 4 x 1,50 Mark = 6 Mark, der sozusagen auch den Mittelwert zwischen dem jährlichen Preis für das Sammelabonnement und das Auslandsabonnement bildete, ergibt sich eine fiktive Abonnentenzahl von etwa 356 Vgl. dazu die entsprechenden Hinweise im Vorwort der Herausgeber in den jeweiligen Ausgaben von Sperlings Zeitschriften-Adressbuch. 357 Vgl. Sperlings Zeitschriften-Adressbuch enthaltend die Zeitschriften und hervorragenden politischen Tagesblätter Deutschlands, Österreichs und der Schweiz. Hand- und Jahrbuch der deutschen Presse, 44. Ausgabe, hg. v. H. O. Sperling, Stuttgart 1908, S. 243. Das offizielle Organ des Centralvereins, Im Deutschen Reich, erschien im selben Jahr hingegen bereits mit einer Auflage von 17.000 gedruckten Exemplaren (vgl. ebd., S. 179). Vgl. dazu auch Schlöffel, Loewe, S. 230. 358 Vgl. Sperlings Zeitschriften-Adressbuch enthaltend die Zeitschriften und hervorragenden politischen Tagesblätter Deutschlands und Österreichs, sowie der deutschen der Schweiz und Russlands. Hand- und Jahrbuch der deutschen Presse, hg. von H. O. Sperling, 46. Ausgabe, Stuttgart 1911, S. 270. Die Ausgaben von Sperlings Zeitschriften-Adressbuch der Jahre 1910, 1912 und 1914 enthalten hingegen keine Hinweise auf die Auflagenzahl der Jüdischen Rundschau: Vgl. Sperlings Zeitschriften-Adressbuch enthaltend die Zeitschriften und hervorragenden politischen Tagesblätter Deutschlands, Österreichs und der Schweiz. Hand- und Jahrbuch der deutschen Presse, 45. Ausgabe, hg. v. H. O. Sperling, Stuttgart 1910; Sperlings Zeitschriften-Adressbuch. Die deutschen Zeitschriften und hervorragenden politischen Tagesblätter Deutschlands und seiner Schutzgebiete, Österreichs, der Schweiz und Russlands. Hand- und Jahrbuch der deutschen Presse, hg. von H. O. Sperling, 47. Ausgabe, hg. v. H. O. Sperling, Leipzig 1912; Sperlings Zeitschriften-Adressbuch. Die deutschen Zeitschriften und hervorragenden politischen Tagesblätter Deutschlands und seiner Schutzgebiete, Österreichs, der Schweiz und Russlands. Hand- und Jahrbuch der deutschen Presse, hg. von H. O. Sperling, 48. Ausgabe, Leipzig 1914. 359 Vgl. Sperlings Zeitschriften-Adressbuch 1911, S. 271; Sperlings Zeitschriften-Adressbuch 1908, S. 243. 360 Bilanz per 31. Dezember 1913, CZA, Z3/1139.

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1927 Abonnenten, was damit einem relativ überschaubaren Abonnentenzirkel entsprochen hätte. Zu dieser fiktiven Abonnenten- und Auflagenzahl kämen noch die Freiexemplare der Zeitung sowie noch ausstehende Abonnementsbeiträge hinzu. Beispielsweise wurden auf Vorschlag von zionistischen Funktionären und Ortsgruppen kostenfreie Probeexemplare direkt an potentiell interessierte Einzelpersonen versandt.361 Auch forderten in regelmäßigen Abständen Annoncen in der Zeitung die deutschen Zionisten auf, neue Leser für das Blatt zu werben und die Zeitung an öffentlichen Versammlungsorten und kommunikativen Knotenpunkten wie in Caf8s, Restaurants, Lesehallen und Bahnhöfen zu verteilen oder auszulegen.362 Von der häufigen Versäumnis von Abonnenten, die fälligen Abonnementsbeiträge zu überweisen, zeugen auch die in der Zeitung gedruckten Mahnungen, welche die Abonnenten auf die Zahlung der noch ausstehenden Überweisungen hinwiesen.363 Ergiebigeres Material über die Zusammensetzung des Abonnentenkreises der Jüdischen Rundschau findet sich im Aktenbestand des Zionistischen Zentralbureaus, welcher auch den Schriftverkehr mit der Administration und der Schriftleitung der Jüdischen Rundschau in den Jahren seit 1913 enthält.364 So ergaben sich daraus einige Hinweise darauf, welche Personenkreise die Zeitung abonnierten und in welche Länder die Zeitung versandt wurde, da Abonnementsbeträge zum Teil irrtümlicherweise direkt bei der Kasse des Zionistischen Zentralbureaus eingingen und von dort an die Konten des Verlags weitergeleitet wurden. Darüber hinaus beschwerten sich Abonnenten häufig bei der zionistischen Leitung Deutschlands über Verzögerungen bei der Auslieferung von Ausgaben der Zeitung oder gar nicht erst erhaltene Ausgaben aufgrund des Kriegsgeschehens.365 Dennoch zeitigte der Quellenkorpus aus der Zeit nach 1913 das Problem, dass sich in den Korrespondenzen nicht immer Aussagen über den Beginn der jeweiligen Abonnements fanden und diese daher eventuell erst während des Ersten Weltkriegs und damit im Anschluss an den behandelten Untersuchungszeitraum abgeschlossen wurden. Bei der Frage nach der Ver361 Vgl. Rundschreiben No. 26 des Centralbureaus der Zionistischen Vereinigung für Deutschland vom 14. 03. 1906, CZA, Z2/401; Brief von Kurt Löwenstein an die Jüdische Rundschau vom 19. 07. 1916, CZA, Z3/1139. 362 Vgl. z. B. die Annoncen auf den Titelblättern der Zeitung im Jahr 1903. Vgl. z. B. JR, VIII. Jg., Nr. 9 (27. 02. 1903), Titelblatt. 363 Vgl. z. B. die entsprechenden Anzeigen in den folgenden Ausgaben: JR, VII. Jg., Nr. 40 (01. 10. 1902), S. 8; VII. Jg., Nr. 41 (10. 10. 1902), S. 16; VIII. Jg., Nr. 5 (30. 01. 1903), S. 40; XI. Jg., Nr. 3 (19. 01. 1906), S. 40. 364 Vgl. für die Korrespondenzen der Jahre 1913–1916 vor allem den Bestand CZA, Z3/1139. 365 In einer Notiz aus dem Jahr 1915 bedauerte Betty Frankenstein beispielsweise die Verzögerung der Auslieferung von Exemplaren an Abonnenten in die besetzten Ostgebiete um zwei Wochen und wies darauf hin, dass sich verzögert zugestellte Exemplare aufgrund der mangelnden Aktualität des Mediums nicht mehr problemlos verkaufen ließen. Vgl. Notiz von Betty Frankenstein an Julius Berger o. D. [vermutl. Dezember 1915], CZA, Z3/1139.

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breitung der Jüdischen Rundschau seit dem Ersten Weltkrieg muss darüber hinaus stets mitgedacht werden, dass die Welt als zweites prominentes Medium des deutschsprachigen Zionismus ihr Erscheinen mit der letzten (32.) Nummer am 25. September 1914 einstellte. Dieser Faktor trug neben weiteren wie der Option auf Versand der Zeitung an die Front366 und in Kriegsgefangenenlager sowie Lazarette367 und der Aufnahme von Listen von Verschollenen und Gefallenen368 wohl nicht unwesentlich zur größeren Verbreitung der Jüdischen Rundschau durch Gewinnung von Neuabonnenten bei. Auch wurden Sondernummern zum Chanukkahfest an die jüdischen Soldaten an der Front versandt.369 Unter den Abonnenten der Zeitung befanden sich namentlich gelistete Einzelpersonen, darunter Männer und Frauen sowie überwiegend zionistische Funktionäre, zionistische Ortsgruppen, andere zionistische Landesverbände, zionistische Behörden wie der Jüdische Nationalfonds370 und zionistische wie deutsch-jüdische Periodika. Häufig wurde durch Korrespondenten sowie Redaktionen anderer Zeitungen und Zeitschriften im Inland und Ausland um den unentgeltlichen Austausch von Exemplaren der Zeitungen gebeten, worauf die Expedition in der Regel nach entsprechender Anweisung des Zentralbureaus einging.371 Spätestens seit 1913 bzw. während des Ersten Weltkriegs verfügte die Jüdische Rundschau über Abonnenten in einer Reihe von Ländern, die sich sowohl über Europa als auch bis nach Übersee erstreckten. So versandte die Expedition abonnierte gedruckte Exemplare nach den Vereinigten Staaten von Amerika

366 Zu diesem Zweck wurden im Verlag Feldkartotheken für die verschiedenen Kriegs- und Zustellgebiete angelegt. Vgl. Notiz von Leo Herrmann für Fräulein Frankenstein vom 17. 01. 1915, CZA, Z3/1139. In einem Schreiben von der Redaktion an den Verlag bezog sich Leo Herrmann auf einen Brief von Hugo Bergmann, der zu dieser Zeit als k. u. k. Leutnant diente und den Wunsch an Herrmann herantrug, mehr Exemplare der »Jüdischen Rundschau« an die Ostfront zu senden, »da er schreibt, dass unter den jüdischen Soldaten in seinem Regiment ein grosses Interesse für die Rundschau besteht«. Vgl. Notiz von Leo Herrmann für die österr. Feldkartothek der Jüdischen Rundschau vom 03. 10. 1916, CZA, Z3/1139. 367 Vgl. Notiz des ZZ für die Administration der »Jüdischen Rundschau« vom 14. 03. 1916, CZA, Z3/1139. Vgl. auch den Hinweis von Kurt Löwenstein an den Verlag, Exemplare der Jüdischen Rundschau unter jüdischen Soldaten zu verteilen, die sich in Lazaretten befanden, welche von jüdischen Organisationen der deutschen Heeresverwaltung übergeben wurden. Vgl. Notiz des ZZ für die »Jüdische Rundschau« vom 12. 07. 1915, CZA, Z3/1139. 368 Vgl. dazu die zahlreichen Notizen für die Jüdische Rundschau in den Jahren 1914–1916, welche sich mit aufzunehmenden oder zu tilgenden Namen in die in der Zeitung veröffentlichten Listen von Verschollenen befassen. Vgl, CZA, Z3/1139. 369 Vgl. Brief von Leo Herrmann an Josef Bloch vom 12. 12. 1916, CZA, Z3/1139. 370 Vgl. Notiz für die Jüdische Rundschau vom 18. 11. 1914, CZA, Z3/1139. 371 Vgl. dazu die Notiz von Max Mayer für Kurt Löwenstein o. D. [vermutlich Mai 1916], CZA, Z3/1139.

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(z. B. nach New York),372 nach Palästina (z. B. nach Haifa, Jaffa und Jerusalem),373 nach Italien (z. B. nach Ravenna und Rom),374 nach Dänemark (z. B. nach Kopenhagen),375 nach Schweden (z. B. nach Stockholm und Malmö)376, nach Rumänien,377 in die Schweiz (z. B. nach Zürich, Genf und Neuch.tel)378 und in das Russische Reich bzw. in die besetzten Ostgebiete (z. B. nach Łjdz´, Warschau und Białystok)379. Die überwiegende Mehrheit der Abonnements im europäischen Ausland existierte jedoch, wohl in erster Linie aufgrund der fehlenden Sprachbarriere und der zahlreichen dort ansässigen deutschsprachigen Juden sowie der thematischen Verwandtschaft des zionistischen Diskurses, in Österreich-Ungarn, das wohl auch deshalb hinsichtlich des Abonnementspreises seit Januar 1909 zum Inland gezählt wurde. So wurde die Jüdische Rundschau vor allem nach Wien,380 daneben auch nach Linz, nach Mähren und Böhmen, wie nach Prag und Theresienstadt,381 nach Galizien,382 nach Kroatien,383 nach Ungarn,384 nach Bosnien385 und in die Bukowina386 versandt. Im Zuge des Ersten Weltkriegs und der Pläne von deutschen Zionisten, die expansionistischen Bestrebungen der deutschen Regierung mit den Interessen der osteuropäischen Juden zu verbinden, die sich u. a. in der Gründung des Komitees zur Befreiung der russischen Juden unter der Leitung von Adolf Friedemann, Franz Oppenheimer und Max Bodenheimer, das im November 1914 in Komitee für den Osten (KfdO) umbenannt wurde, niederschlugen, erhielt die Jüdische Rundschau daneben die wachsende Aufmerksamkeit der

372 Vgl. Notiz für die Jüdische Rundschau vom 30. 10. 1914, CZA, Z3/1139. 373 Vgl. Notiz für die Administration der Jüdischen Rundschau, o. D. [vermutlich November 1914], CZA, Z3/1139; Notiz für die Jüdische Rundschau vom 20. 03. 1916, CZA, Z3/1139. 374 Vgl. Notiz für die Jüdische Rundschau vom 10. 11. 1914, CZA, Z3/1139; Notiz für die Jüdische Rundschau vom 17. 11. 1914, CZA, Z3/1139. 375 Vgl. Notiz für die Jüdische Rundschau vom 25. 11. 1914, CZA, Z3/1139; Notiz für die Jüdische Rundschau, Redaktion, vom 28. 05. 1915, CZA, Z3/1139. 376 Vgl. Notiz für die Administration der Jüdischen Rundschau vom 15. 03. 1916, CZA, Z3/ 1139; Notiz für die Jüdische Rundschau vom 09. 06. 1916, CZA, Z3/1139. 377 Vgl. Notiz für die Expedition der Jüdischen Rundschau vom 22. 03. 1915, CZA, Z3/1139. 378 Vgl. Notiz für Frl. Salz vom 28. 02. 1916, CZA, Z3/1139; Notiz für die Administration der Jüdischen Rundschau vom 18. 05. 1916, CZA, Z3/1139; Notiz für die Jüdische Rundschau vom 14. 06. 1916, CZA, Z3/1139. 379 Vgl. Notiz von Betty Frankenstein an Julius Berger o. D. [vermutlich Dezember 1915], CZA, Z3/1139; Notiz für die Administration der Jüdischen Rundschau vom 28. 07. 1916, CZA, Z3/ 1139. 380 Vgl. Notiz an die Jüdische Rundschau vom 31. 05. 1915, CZA, Z3/1139. 381 Vgl. Notiz an die Jüdische Rundschau vom 22. 03. 1915, CZA, Z3/1139. 382 Vgl. Notiz für die Expedition der Jüdischen Rundschau vom 22. 03. 1915, CZA, Z3/1139. 383 Vgl. Notiz an die Jüdische Rundschau vom 31. 05. 1915, CZA, Z3/1139. 384 Vgl. Notiz für die Jüdische Rundschau vom 11. 11. 1915, CZA, Z3/1139. 385 Vgl. Notiz für Fräulein Liebert vom 10. 11. 1915, CZA, Z3/1139. 386 Vgl. Notiz an die Jüdische Rundschau vom 03. 12. 1915, CZA, Z3/1139.

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deutschen Regierung.387 Auf Anfrage von Kurt Blumenfeld empfing das Zionistische Zentralbureau zur Weiterleitung an Otto Warburg, den dritten Präsidenten der ZO, nach eingehender Prüfung am 22. März 1915 die ausdrückliche Bestätigung der »Zentralstelle für Auslandsdienst«, die am 5. Oktober 1914 zu Propagandazwecken durch das Auswärtige Amt gegründet worden war, »dass die ›Jüdische Rundschau‹ für den Aufklärungsdienst bei der ZO im Auslande im Dienste der verbündeten deutschen und österreichisch-ungarischen Interessen durchaus nützlich wirkt.«388 Seit Juli 1916 befand sich darüber hinaus etwa auch der bayerische Major Franz Carl Endres unter den Abonnenten der Jüdischen Rundschau,389 der in seinen Schriften, welche in extenso in der Zeitung erörtert und zitiert wurden, die Bedeutung der zionistischen Kolonisation für die deutsche Orientpolitik herausstellte und eine gemeinsame deutsch-zionistische Interessenspolitik propagierte.390 Auch die Inserate und Kleinanzeigen in der Zeitung lassen mindestens bis zum Ende des Jahres 1912 und dem personellen Wechsel in der Geschäftsführung des Verlags aufgrund der genannten Ungereimtheiten in der Annoncenverwaltung unter Berta Majerowitsch nur eingeschränkt weitere Rückschlüsse auf den Leserkreis der Zeitung zu. Der Annoncenteil der Zeitung, der sich seit der ersten Ausgabe erheblich erweiterte, enthielt überwiegend die Werbeanzeigen von jüdischen Unternehmen, Sanatorien, Restaurants, Caf8s und Pensionen, welche oftmals auf namentliche Empfehlung für koschere Speisen und rituelle Fertigung warben. Des Weiteren fanden sich darin Stellengesuche und Stellenangebote, kurze Mitteilungen zur Eröffnung von Arztpraxen und Anwaltskanzleien sowie zu Dienstleistungen unterschiedlicher Art, Hinweise auf Bucherscheinungen, Presserzeugnisse und Verlage wie die über die Expedition 387 Vgl. dazu etwa Zechlin, Egmont: Die deutsche Politik und die Juden im Ersten Weltkrieg. Unter Mitarbeit von Hans–Joachim Bieber, Göttingen 1969, S. 126–138 (Kap. 7: »Die Konzeption des Deutschen Komitees zur Befreiung der russischen Juden«). 388 Vgl. das Schreiben der Zentralstelle für Auslandsdienst (Freiherr von Mumm, Kaiserlicher Botschafter a. D.) an Otto Warburg, Präsident des Zionistischen Actions-Comit8s, Berlin vom 22. 03. 1915, CZA, Z3/1139. Während des Ersten Weltkriegs verschärften sich auch die Zensurbedingungen für die Jüdische Rundschau maßgeblich. So bat etwa das Kriegsministerium um Vorlage von Artikeln, die sich mit der Behandlung von Gefangenen in deutschen Kriegsgefangenenlagern beschäftigen. Vgl. Schreiben des Kriegsministeriums an die Redaktion der Jüdischen Rundschau vom 21. 07. 1916, CZA, Z3/1139. Vgl. auch das Schreiben der Presse-Abteilung beim Oberkommando in den Marken an das ZZ vom 13. 12. 1916, CZA, Z3/1139. 389 Vgl. Notiz für die Jüdische Rundschau vom 13. 07. 1916, CZA, Z3/1139. 390 Vgl. H., L. [Herrmann, Leo]: Ein Urteil, in: JR, XXII. Jg., Nr. 3 (19. 01. 1917), S. 23f.; Endres, Franz Carl: Zionismus und deutsche Politik (Abdruck aus den Münchener Neuesten Nachrichten), in: JR, XXII. Jg., Nr. 37 (14. 09. 1917), S. 303. Vgl. dazu auch Kreutzer, Stefan M.: Dschihad für den deutschen Kaiser. Max von Oppenheim und die Neuordnung des Orients (1914–1918), Graz 2012; Loth, Wilfried/Hanisch, Marc (Hg.): Erster Weltkrieg und Dschihad. Die Deutschen und die Revolutionierung des Orients, München 2014.

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der Jüdischen Rundschau zu beziehenden Werke oder den »Jüdischen Verlag«, daneben auch Bekanntmachungen zu Hochzeiten, Verlobungen und sonstigen Festen. Außerdem kündigten die zionistischen Ortsgruppen in kurzen Anzeigen die Termine und Räumlichkeiten ihrer Versammlungen an. Der Anzeigenteil der Zeitung bildete somit immer auch zionistische Beziehungsgeflechte ab und stellte neue Kontakte zwischen unterschiedlichen Mitgliedern des zionistischen Kollektivs her.

5.2

Akademiker und Bürgerliche: Soziokulturelles Profil der Autoren

Über ihre Beiträge partizipierten die in der Jüdischen Rundschau veröffentlichenden Autoren ganz erheblich an der Formulierung nationaljüdischer Narrative und trugen zur weiteren Vernetzung der zionistischen Diskurslandschaften bei. Neben den Redakteuren und den Mitarbeitern der Zeitung, welche die Hauptlast der journalistischen Produktion trugen und die überwiegende Mehrzahl der Artikel verfassten, veröffentlichte in der Jüdischen Rundschau ein Autorenkreis, der sich in erster Linie aus prominenten zionistischen Führungspersönlichkeiten, den Vorständen und Mitgliedern zionistischer Ortsgruppen,391 und daneben gelegentlich auch Vertretern auswärtiger Landesverbände zusammensetzte. Insgesamt handelte es sich bei den Redakteuren, Mitarbeitern und Autoren der Zeitung fast ausschließlich um Akademiker, welche ein Hochschulstudium absolviert und darüber hinaus wie beispielsweise Heinrich Loewe und Julius Becker nicht selten auch promoviert hatten, wodurch die Autoren eine überwiegend sozial homogene Diskursgemeinschaft bildeten. Umso überraschender scheint es, dass bislang so gut wie keine Untersuchungen zur Sozialstruktur des deutschen Zionismus vorliegen. Dass der deutsche Zionismus, wie er sich in der Jüdischen Rundschau äußerte, im Wesentlichen von jüdischen Akademikern getragen und konstruiert wurde, blieb auch den historischen Akteuren nicht verborgen. So thematisierten sie sowohl ihre zentrale Rolle im Nationalisierungsprozess des deutschen Judentums als auch das Prekariat ihrer gesellschaftlichen Schicht offen. Elias Auerbach etwa forderte die Einrichtung einer eigenen »Organisation der zionistischen Akademiker« in der ZVfD, welche noch im Jahr 1902 realisiert wurde: »Wir haben mit der Tatsache zu rechnen, dass der deutsche Zionismus von den jüdischen Akademikern getragen und verbreitet wird, und dass wir dazu bestimmt sind, die älteren Kräfte nach und nach abzulösen. Für diese große Aufgabe haben wir uns 391 Dies lässt sich an der Angabe des Ortes der zionistischen Ortsgruppe nach dem Autorennamen in der Zeitung erkennen.

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vorzubereiten; wir haben uns von dem verantwortungsvollen Bewusstsein leiten zu lassen, dass der deutsche Zionismus zum grossen Teil das sein wird, was wir aus ihm machen.«392

Dieser Befund deckt sich mit der trendmäßigen Entwicklung der beruflichen und sozialen Struktur der jüdischen Bevölkerung im Deutschen Kaiserreich: Im Verhältnis zu ihrem Anteil an der deutschen Gesamtbevölkerung waren Juden an den deutschen Universitäten überdurchschnittlich stark repräsentiert, indem beispielsweise an preußischen Hochschulen zwischen der zweiten Hälfte der 1880er Jahre und dem Jahr 1911 jüdische Studenten mit einem Sieben- bis Fünffachen ihres Bevölkerungsanteils vertreten waren.393 Berlin bildete dabei neben Breslau den Hauptanziehungspunkt für das jüdische Universitätsstudium.394 Arthur Ruppin etwa, der spätere Leiter des 1908 eingerichteten Palästinaamtes in Jaffa, erklärte sich 1905 den hohen Anteil jüdischer und damit auch zionistischer Studenten und das jüdische Streben nach (säkularer) Bildung über die verhältnismäßig hohe Verstädterung der jüdischen Bevölkerung im Deutschen Kaiserreich und die in der jüdischen Tradition verwurzelte Hochschätzung von Lernen und Wissen.395 Neben dem Interesse am Studium eines akademischen Faches hatten oftmals auch die kleinbürgerliche Herkunft vieler Zionisten und damit materielle Beweggründe den Ausschlag gegeben, durch ein Studium einen ausreichenden Lebensunterhalt und eine angesehene gesell392 Auerbach, Elias: Organisation der zionistischen Akademiker, in: JR, VII. Jg. Nr. 43 (22. 10. 1902), S. 26–29, hier S. 27. 393 Zur Thematik der jüdischen Studenten und Akademiker im Deutschen Kaiserreich vgl. den ausgezeichneten Überblick bei Rührup, Miriam: Ehrensache. Jüdische Studentenverbindungen an deutschen Universitäten 1886–1937 (Hamburger Beiträge zur Geschichte der deutschen Juden, Bd. XXXIII), Göttingen 2008, S. 45–80; Kampe, Norbert: Akademisierung der Juden und Beginn eines studentischen Antisemitismus. Die Berliner Universität unter dem Rektorat Hofmann 1880/81, in: Dreßen, Wolfgang (Hg.): Jüdisches Leben, Berlin 1985, S. 10–23, hier S. 12. Kampe macht an dieser Stelle auf die Problematik des Begriffs »Überrepräsentierung« aufmerksam, der von der impliziten, pejorativen Vorstellung eines gestörten gesellschaftlichen Gleichgewichts ausgeht, den er jedoch angesichts der zeitgenössischen Forderung nach der Beschränkung des Zugangs von Juden zum Studium in diesem Zusammenhang für angemessen hält. Vgl. auch Kampe, Jews I, S. 358, 384; Pickus, Keith H.: Constructing Modern Identities. Jewish University Students in Germany 1815– 1914, Detroit 1999; Richarz, Monika: Der Eintritt der Juden in die akademischen Berufe. Jüdische Studenten und Akademiker in Deutschland 1678–1848, Tübingen 1974. 394 Vgl. Rührup, Ehrensache, S. 76; Lowenstein u. a., Integration, S. 58; Toury, Jacob: Soziale und politische Geschichte der Juden in Deutschland 1847–1871. Zwischen Revolution, Reaktion und Emanzipation, Düsseldorf 1977, S. 177; Kampe, Akademisierung, S. 12–14; ders.: Jews and Antisemites at Universities in Imperial Germany (II). The Friedrich-Wilhelms-Universität of Berlin: A Case Study on the Students’ »Jewish Question«, in: LBIYB 32 (1987), S. 43–101, hier S. 51, 90 (Tabelle: »Religion der Studenten in Berlin 1886–1925«). 395 Vgl. Ruppin, Arthur : Die Juden auf preußischen Universitäten, in: Zeitschrift für Demographie und Statistik der Juden 1 (1905) Nr. 9, S. 12–16; Rührup, Ehrensache, S. 77.

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schaftliche Stellung zu erreichen, welche in dieser Sichtweise mit dem Status des Akademikers und Bildungsbürgers einhergehen sollten.396 Schwerpunktmäßig lassen sich unter den Autoren der Jüdischen Rundschau Absolventen der Studiengänge Jura und Medizin sowie geisteswissenschaftlicher Studiengänge finden, was somit ebenfalls allgemeinjüdischen Trends entsprach: Beispielsweise 1905/06 studierten in Preußen 41 Prozent aller jüdischen Studenten Jura, 25 Prozent Medizin und 34 Prozent in der Philosophischen Fakultät.397 Obwohl den deutschen Juden spätestens mit der Gründung des deutschen Nationalstaates 1871 die Emanzipation bzw. rechtliche Gleichstellung und damit auch der gleichberechtigte Zugang zu öffentlichen Ämtern gewährt worden war,398 öffneten sich ihnen Staatspositionen oder Universitätskarrieren nur selten.399 Die ohnehin schon prekären Beschäftigungsmöglichkeiten verschlechterten sich noch einmal in Folge der strukturellen Krisen des akademischen Arbeitsmarktes seit den späten 1880er Jahren und nicht wenige jüdische Hochschulabsolventen übten befristete oder nicht entgoltene berufliche Tätigkeiten aus.400 Beispielsweise bei Heinrich Loewe ist vor seiner Beschäftigung als Redakteur der verzweifelte langjährige Versuch dokumentiert, eine Festanstellung zu erlangen.401 Dem Weg der sog. »Karrieretaufen«, den viele jüdische Akademiker gingen, um eine Anstellung zu erhalten, widmete die Jüdische 396 Vgl. Schlöffel, Loewe, S. 51f., 89; Kampe, Jews I, S. 362–364; Schatzker, Chaim: Jüdische Jugend im Zweiten Kaiserreich. Sozialisations- und Erziehungsprozesse der jüdischen Jugend in Deutschland, 1870–1917, Frankfurt a. M. u. a. 1988, S. 189. 397 Die Spitzenreiterposition des Faches Jura muss auch vor dem Hintergrund der Freigabe des Rechtsanwaltsberufs in Preußen gesehen werden, der seit 1879 nicht mehr von staatlicher Zulassung abhing. Vgl. Rührup, Ehrensache, S. 78; Lowenstein u. a., Integration, S. 59; Schatzker, Jugend, S. 190. 398 Hinter der ideologischen Motivation der Gesetzgeber für die Emanzipation steckte nicht zuletzt auch weiterhin das seit der Aufklärung zirkulierende Deutungsmuster von der »bürgerlichen Verbesserung« der deutschen Juden (Christian Wilhelm Dohm), welches an die Gewährung von rechtlicher Gleichstellung die Aufgabe jeglicher »Eigenart« knüpfte und die Juden als bloße Religionsgemeinschaft definierte. Jonathan Hess charakterisiert dieses Motiv daher als den Versuch einer »internal colonization«. Vgl. Hess, Jonathan M.: Germans, Jews and the Claims of Modernity, New Haven 2002, S. 44; Rührup, Ehrensache, S. 49. 399 Peter Pulzer spricht in diesem Zusammenhang auch von einer »halb geöffneten Tür«. Vgl. dazu Pulzer, Peter : Rechtliche Gleichstellung und öffentliches Leben, in: Lowenstein u. a., Integration, S. 150–192; Rührup, Ehrensache, S. 49. Zu den Formen der Diskriminierung unter den jüdischen Juristen vgl. Heinrichs, Helmut u. a. (Hg.): Deutsche Juristen jüdischer Herkunft, München 1993; Jarausch, Konrad H.: Jewish Lawyers in Germany, 1848–1938 – The Disintegration of a Profession, in: LBIYB 36 (1991), S. 171–190; Kampe, Norbert: Jüdische Professoren im Deutschen Kaiserreich, in: Erb, Rainer/Schmidt, Michael (Hg.): Antisemitismus und jüdische Geschichte. Studien zu Ehren von Herbert A. Strauss, Berlin 1987, S. 185–214. 400 Vgl. Rührup, Ehrensache, S. 79. Vgl. dazu auch Anon.: Prozess Nardenkötter, in: JR, VIII. Jg., Nr. 8 (20. 02. 1903), S. 57f. 401 Vgl. Schlöffel, Loewe, S. 214.

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Rundschau eine Reihe von Artikeln, in denen sie dieses ›assimilatorische Mittel‹ wie die anhaltende Diskriminierung von jüdischen Akademikern in Preußen scharf verurteilte.402 Die aussichtsreichsten Möglichkeiten auf eine Beschäftigung hatten jüdische Akademiker als Rechtsanwälte in einer Anwaltskanzlei oder freischaffende Ärzte. So waren diese beiden freien Berufe mit einem hohen Prozentsatz nicht nur unter den Juden, sondern im Besonderen auch unter den Zionisten im untersuchten Medium vertreten, die häufig im Annoncenteil der Zeitung ihre Niederlassung bekannt gaben.403 Selbst im Falle einer Beschäftigung erreichten Juden jedoch meistens allenfalls die Stellung von »etablierten Aussenseitern«, denen die traditionell mit bestimmten Berufen einhergehende gesellschaftliche Anerkennung häufig verwehrt blieb.404 Darüber hinaus galten sie häufig »als soziale Aufsteiger und wurden als solche und als Juden zweifach diskriminiert«405. Aus einer schriftstellerischen Tätigkeit für die Jüdischen Rundschau ließ sich indes nur wenig bis gar kein Gewinn schlagen: Die in der Regel im Nebenberuf tätigen oder freischaffenden Autoren, welche Beiträge zur Veröffentlichung in der Zeitung einsandten, und häufig auch die Mitarbeiter der Redaktion erhielten keine Bezahlung und waren somit ehrenamtlich im zionistischen Pressewesen tätig. Auch das Monatsgehalt des Chefredakteurs, das sich unter Loewe zunächst auf unter 200 Mark belief und vermutlich schließlich auf die gewünschte Summe aufgestockt wurde, war relativ bescheiden.406 Wie die Belege für Gehaltsauszahlungen an Hugo Herrmann zeigen, scheint sich dieser Betrag über die Jahre

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402 Vgl. Sachse, Heinrich: Parität und Gesinnungslosigkeit, in: JR, VIII. Jg., Nr. 12 (20. 03. 1903), S. 101f.; Loewe, Heinrich: Die Königswahl in Serbien, in: JR, VIII. Jg., Nr. 25 (19. 06. 1903), S. 243f., hier S. 243; Tykocinski (Leipzig): Assimilation oder Zionismus, in: JR, IX. Jg., Nr. 26 (01. 07. 1904), S. 277f., hier S. 277. 403 Vgl. Lowenstein u. a., Integration, S. 59–61. 404 Rührup, Ehrensache, S. 99. Vgl. dazu auch Sieg, Ulrich: Der Preis des Bildungsstrebens. Jüdische Geisteswissenschaftler im Kaiserreich, in: Gotzmann u. a., Juden, S. 67–96. 405 Rührup, Ehrensache, S. 79. Vgl. auch Kampe, Jews I, S. 362–364; Schatzker, Jugend, S. 189. 406 Vgl. Brief von Heinrich Loewe an Verlag Jüdische Rundschau vom 10. 08. 1904, Sha ar Zion, Boxnr. 5: »Auf Grund der Aeusserungen des Vorstandsmitglied, Herrn Behr, in der gestrigen Generalversammlung der Berliner Zionistischen Vereinigung, dass ich doch in erster Linie als bezahlter Redakteur zu betrachten bin, stelle ich den Antrag, dass man mir da darauf hin wenigstens ein solches Honorar zahlt, dass Herr Behr in der nächsten Versammlung eine Aeusserung mit gutem Gewissen wiederholen kann. Nun weiss ich sehr wohl, dass die Rundschau noch lange nicht in der Lage ist, meine Arbeitsleistung angemessen zu honorieren. Ich begnüge mich daher mit einer Erhöhung meines Gehalts auf 200 Mark monatlich, und der verehrliche Vorstand wird selbst zugestehen, dass dass [sic!] der geleisteten Arbeit gegenüber ein Minimim ist, da er ja so gut imstande ist, den wert [sic!] geistiger Arbeit zu schätzen. Einer baldigen zustimmenden Antwort sehe ich um so eher entgegen, als mein Antrag von Herrn Behr gewiss auf das lebhafteste unterstützt werden wird.«

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nicht verändert zu haben, der somit wohl gerade zum Bestreiten des täglichen Lebensunterhalts genügte.407 Während ihrer Studentenzeit an den akademischen Hochschulen als zentralen »Sozialisationsagenturen«408 wurden die späteren Autoren der Jüdischen Rundschau mit zwei Phänomenen konfrontiert: Erstens gehörte ein großer Teil der Studenten an den deutschen Universitäten im Kaiserreich zur »Trägerschicht«409 eines neuen, seit den 1880er Jahren primär rassistisch begründeten Antisemitismus. Diese Entwicklung zeigte sich paradigmatisch an der »durch den antisemitischen kulturellen Code gesteuerte[n] Aufnahmepraxis«410 einer Vielzahl von deutschen Studentenverbindungen wie der »Vereine deutscher Studenten« (VDSt), an der »Antisemitenpetition« und an der als »Antisemitismusstreit« bezeichneten öffentlichen Kontroverse, die ihren Ursprung an der Berliner Universität hatte.411 Die Universität zählte damit neben der Schule und dem Militär zu den Orten, an denen deutsche Juden antisemitischer Diskriminierung und Zurücksetzung am intensivsten ausgesetzt waren.412 Miriam Rührup konnte in ihrer Studie über jüdische Studentenverbindungen an deutschen Universitäten darüber hinaus aufzeigen, dass auch viele der liberalen Seite zugeneigte jüdische Studenten die gepflegten Deutungsmuster internalisierten und sich teilweise eher »notgedrungen«413 an der Gründung von studentischen Abwehrvereinen beteiligten.414 407 Vgl. Brief vom Zionistischen Zentralbureau an die Jüdische Rundschau vom 04. 02. 1914, CZA, Z3/1139. 408 Rührup, Ehrensache, S. 46. 409 Kampe, Studenten, S. 205–207; Rührup, Ehrensache, S. 54, 58. 410 Rührup, Ehrensache, S. 60. 411 Vgl. ebd., S. 45f., 53–73; Kampe, Akademisierung, S. 18; ders.: Von der »Gründerkrise« zum »Berliner Antisemitismusstreit«. Die Entstehung des modernen Antisemitismus in Berlin 1875–1888, in: Rürup, Geschichte, S. 85–100; Boehlich, Walter (Hg.): Der Berliner Antisemitismusstreit, Frankfurt a. M. 1965; Hammerstein, Antisemitismus, S. 48. Mit der sog. »Antisemiten-Petition«, die im Zuge des »Berliner Antisemitismusstreits« von Max Liebermann von Sonnenberg und anderen Antisemiten und Mitgliedern der sog. »Berliner Bewegung« initiiert wurde, forderten etwa eine Viertel Million Unterzeichnende von Reichskanzler Otto von Bismarck, die Emigration von osteuropäischen Juden zu unterbinden, Juden von »obrigkeitlichen Stellungen, insbesondere vom Richteramt« auszuschließen, jüdische Lehrer an Volksschulen zu verbieten, die Zahl jüdischer Lehrer an weiteren Schulen stark zu begrenzen und die amtliche Statistik über die jüdische Bevölkerung wieder aufzunehmen (Antisemiten–Petition, in: Der »Berliner Antisemitismusstreit«, 1879–1881. Eine Kontroverse um die Zugehörigkeit der deutschen Juden zur Nation. Kommentierte Quellenedition, hg. von Karsten Krieger im Auftrag des Zentrums für Antisemitismusforschung, Bd. 2, München 2003, S. 579–583). Zum Studium von Juden vgl. auch die zeitgenössische Schrift von Breslauer, Bernhard: Die Zurücksetzung der Juden an den Universitäten Deutschlands. Eine Denkschrift im Auftrage des Verbandes der deutschen Juden, Berlin 1911. 412 Vgl. Rührup, Ehrensache, S. 54. 413 Vgl. ebd., S. 61.

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Eine wichtige Rolle für die Abwehr antisemitischer Vorurteile und die zionistische Besetzung des öffentlichen Universitätslebens spielten daher die zionistischen Studentenverbindungen, welche nach dem Vorbild der von Nathan Birnbaum und Moritz Schnirer gegründeten Wiener national-jüdischen Studentenverbindung »Kadimah« seit den späten 1880er Jahren vor allem in Berlin entstanden und denen viele der späteren in der Jüdischen Rundschau publizierenden Autoren angehörten.415 Darunter fiel zunächst der 1889 gegründete »Russisch-jüdische wissenschaftliche Verein«, dem neben Chaim Weizmann und Schmarja Levin etwa Heinrich Loewe als einziges deutsches Mitglied angehörte, und den Frank Schlöffel zu den »zentralen national-jüdischen Think Tanks«416 und Aktionsräumen im deutschsprachigen Raum zählt.417 Zweck des Vereins war es, der Jugend die »Möglichkeit zu geben, mit den Interessen und Bedürfnissen des jüdischen Volkes bekannt zu werden«418. Kurt Blumenfeld, der ebenfalls an einer Sitzung des Vereins während seiner Studienzeit teilnahm, schreckte hingegen die starke »ostjüdische Zusammensetzung« und die prominente Betonung sozialistischen Gedankengutes ab.419 Unter der Vorbildwirkung des »Russisch-jüdischen wissenschaftlichen Vereins« wurde schließlich am 31. März 1892 in Berlin der Jüdisch-nationale Verein »Jung Israel« gegründet, dessen Vorsitz Heinrich Loewe übernahm und zu dessen Mitgliedern Theodor Zlocisti und Sammy Gronemann zählten.420 Zu den Zielen des Vereins zählte vor allem, »das Bewußtsein der nationalen Zusammengehörigkeit des jüdischen Volkes zu wecken, jüdisches Leben und jüdische Wissenschaft zu pflegen«.421 Nur ein Jahr danach wurde die mit »Jung Israel« eng verbundene »Jüdische Humanitätsgesellschaft« von Max Oppenheimer ins Leben gerufen, der neben Adolf Friedemann auch Alfred Klee und Arthur Hantke angehörten.422 1895 schlossen sich schließlich beide Vereine zur »Vereinigung jüdischer Studierender« (VJSt) zusammen, die seit der Jahrhundertwende in »Verein jüdischer Studenten an der Universität Berlin« umbenannt wurde, und sich sowohl gegen die antisemitischen VDSt als auch gegen den liberal-deutschnationalen 414 415 416 417

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Vgl. ebd., S. 61–64. Vgl. zu den zionistischen Studentenverbindungen Rührup, Ehrensache, S. 98–114. Schlöffel, Loewe, S. 61. Vgl. ebd., S. 61, 69–80; Bertz, Inka: Zionismus und Jüdische Renaissance im wilhelminischen Berlin, in: Rürup, Geschichte, S. 149–180, hier S. 151f.; Brenner, Identities, S. 28f.; Lavsky, Catastrophe, S. 20; Reinharz: Zur Einführung, in: Ders., Dokumente, S. IX–XLVII, hier S. XXIV; Schäfer, Zionistenkreise, S. 29; Vital, Origins, S. 223f.; Volkov, Juden, S. 62. Statuten des russisch jüdischen wissenschaftlichen Vereins, Januar 1890, in: Reinharz, Dokumente, S. 19. Vgl. Blumenfeld, Judenfrage, S. 42. Vgl. Schlöffel, Loewe, S. 126–139; Rührup, Ehrensache, S. 102. Statuten des Jung-Israel, jüdisch-nationaler Verein zu Berlin, o. Dat. [1892], CZA, A231/1/2, zit. n.: Rührup, Ehrensache, S. 102. Vgl. Schlöffel, Loewe, S. 139f.; Rührup, Ehrensache, S. 102.

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»Kartell-Convent der Verbindungen deutscher Studenten jüdischen Glaubens« wandte.423 Neben Berlin entstanden weitere VJSt-Verbindungen etwa in Leipzig und Breslau sowie in anderen Orten, die sich 1901 zu einem Dachverband vereinigten, dem »Bund jüdischer Corporationen« (BJC).424 Die VJSt und der BJC wie ihre Vorläufer können als wesentlicher Sozialisationsort deutscher Zionisten betrachtet werden, indem aus ihren Mitgliedern viele der späteren Autoren der Jüdischen Rundschau hervorgingen. Wie Heinrich Loewe 1902 für den BJC und dessen Verbandszeitschrift, der Jüdische Student, waren diese neben ihrer Tätigkeit für die Rundschau häufig auch an der Herstellung von Presseerzeugnissen für die zionistischen Studentenvereinigungen, die sich zunehmend als elitäre Avantgarde der Juden im Kaiserreich begriffen, beteiligt. Von Kurt Blumenfeld, der dem VJSt Berlin angehörte, wurde die Entwicklung des Vereins generationell gedeutet: Aus seiner Sicht waren die Beziehungen der Vereinsmitglieder untereinander zwischen 1895 und 1904 eher lose. Erst in den Folgejahren nahm der Verein, so Blumenfeld, den »festen Charakter einer studentischen Verbindung an und wurde mehr und mehr eine Art Orden. […] Ohne dass es uns recht bewusst wurde, spielte […] die Autorität des Bundes eine immer stärkere Rolle«425. Zweitens waren viele der jungen jüdischen Studenten, welche seit den 1880er Jahren an Universitäten drangen und überwiegend aus ›akkulturierten‹ jüdischen Familien stammten, von dem Streben gekennzeichnet, in die akademische, bürgerliche Mittelschicht aufzusteigen. Insgesamt gehörten im Deutschen Kaiserreich um die Jahrhundertwende über drei Viertel bis vier Fünftel der jüdischen Bevölkerung den oberen und mittleren Schichten des Bürgertums an.426 Die soziokulturelle Entwicklung vieler Juden im Deutschen Kaiserreich wurde von der historischen Forschung daher auch per se als »Verbürgerlichungsprozess« charakterisiert.427 Bevorzugtes Integrationsziel bildete im Kai423 Vgl. Schlöffel, Loewe, S. 140–143; Rührup, Ehrensache, S. 103. 424 Der BJC vereinigte sich am 19. Juli 1914 mit dem Kartell(verband) Zionistischer Vebindungen (KZV) zum Kartell Jüdischer Verbindungen (KJV). Vgl. Rührup, Ehrensache, S. 109–114. 425 Blumenfeld, Judenfrage, S. 59. 426 Vgl. Mosse, Werner : Die Juden in Wirtschaft und Gesellschaft, in: Ders. (Hg.): Juden im Wilhelminischen Deutschland 1890–1914, Tübingen 1976, S. 57–115; Nipperdey, Arbeitswelt, S. 396–413; Richarz, Monika: Berufliche und soziale Struktur, in: Lowenstein u. a., Geschichte, S. 39–68, hier S. 41. 427 Vgl. Volkov, Shulamit: Die Verbürgerlichung der Juden in Deutschland. Eigenart und Paradigma, in: Kocka, Jürgen (Hg.): Bürgertum im 19. Jahrhundert. Deutschland im europäischen Vergleich, Bd. 2: Verbürgerlichung, Recht und Politik, München 1988, S. 343–371. Zur Thematik der Bürgerlichkeit vgl. allgemein Kocka, Jürgen (Hg.): Bürger und Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert, Göttingen 1987; Lundgreen, Peter (Hg.): Sozial- und Kulturgeschichte des Bürgertums. Eine Bilanz des Bielefelder SFB 1986–1997, Göttingen 2000. Einen guten Überblick über den Forschungsstand zu Beginn des 21. Jahrhunderts bietet

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serreich das Bildungsbürgertum.428 »Verbürgerlichung« zeigte sich in der Vermischung jüdischer Traditionen mit einem »bürgerlichen Wertehimmel«429, welcher zuvorderst den kollektiven Werten Selbstdisziplin und Bildungserwerb, bürgerlicher Leistungsethik und der bürgerlichen Familie als Privat-, Schutzund Rückzugsraum besondere Bedeutung beimaß.430 Wie der Diskurs über die ›jüdische Nation‹ und den ›jüdischen Nationalismus‹ in der Jüdischen Rundschau zeigt, trifft diese Feststellung überraschend deutlich auch auf den deutschen Zionismus zu. Wie für die meisten Juden stellte »Bürgerlichkeit« darin primär ein »kulturelles Bezugssystem«431 dar.432 Auch der Prozess der »Verbürgerlichung« deutscher Zionisten ging mit der Übernahme, Aneignung und

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auch Mergel, Thomas: Die Bürgertumsforschung nach 15 Jahren, in: Archiv für Sozialgeschichte 41 (2001), S. 515–569. Vgl. Rührup, Ehrensache, S. 51–53; Toury, Jacob: Zur Problematik der jüdischen Führungsschichten im deutschsprachigen Raum 1880–1933, in: Ders.: Deutschlands Stiefkinder. Ausgewählte Aufsätze zur deutschen und deutsch-jüdischen Geschichte (Schriftenreihe des Instituts für Deutsche Geschichte, Universität Tel Aviv, Bd. 18), Gerlingen 1997, S. 159–189, hier S. 120. Zu statistischen Daten zum Eintritt der deutschen Juden in das Bürgertum bzw. in das Bildungsbürgertum vgl. Kampe, Akademisierung, S. 10. Zum Bildungsbürgertum als Integrationsziel der jüdischen Gesellschaft vgl. Volkov, Shulamit: The Ambivalence of Bildung, in: Berghahn, Klaus L. (Hg.): The German-Jewish Dialogue Reconsidered, Frankfurt a. M. 1996, S. 81–97; Lässig, Wege; Kaplan, Marion: Jüdisches Bürgertum. Frau, Familie und Identität im Kaiserreich, Hamburg 1997; Toury, Jacob: Der Eintritt der Juden ins deutsche Bürgertum, in: Liebeschütz, Hans/Paucker, Arnold (Hg.): Das Judentum in der Deutschen Umwelt 1800–1850. Studien zur Frühgeschichte der Emanzipation, Tübingen 1977, S. 139–242; ders.: Der Eintritt der Juden ins deutsche Bürgertum. Eine Dokumentation, Tel Aviv 1972. Aus der umfangreichen Literatur zum deutschen Bildungsbürgertum und einer bürgerlichen Wertekultur allgemein vgl. vom Bruch, Rüdiger : Bürgerlichkeit, Staat und Kultur im Deutschen Kaiserreich, Stuttgart 2005, S. 52–83; Engelhardt, Ulrich: »Bildungsbürgertum«. Begriffs- und Dogmengeschichte eines Etiketts, Stuttgart 1986; Hettling Manfred/Hoffmann, Stefan-Ludwig (Hg.): Der bürgerliche Wertehimmel. Innenansichten des 19. Jahrhunderts, Göttingen 2000; Schulz, Andreas: Lebenswelt und Kultur des Bürgertums im 19. und 20. Jahrhundert, München 2005. Hettling/Hoffmann, Wertehimmel. Vgl. ebd.; Rührup, Ehrensache, S. 51–53; Kampe, Jews I, S. 357, 368; Kaplan, Marion: Dritter Teil: Konsolidierung eines bürgerlichen Lebens im kaiserlichen Deutschland 1871– 1918, in: Geschichte des jüdischen Alltags in Deutschland vom 17. Jahrhundert bis 1945. Mit Beiträgen von Marion Kaplan, Robert Liberles, Steven M. Lowenstein und Trude Maurer. Übersetzt aus dem Englischen von Friedrich Griese, Georgia Hanenberg und Alice Jakubeit, hg. im Auftrag des Leo Baeck Instituts von Marion Kaplan, München 2003, S. 226– 345; dies., Bürgertum. Zur »bürgerlichen Kultur« vgl. Hettling, Manfred: Bürgerliche Kultur – Bürgerlichkeit als kulturelles System, in: Lundgreen, Sozial- und Kulturgeschichte, S. 319–340; Kaschuba, Wolfgang: Deutsche Bürgerlichkeit nach 1800. Kultur als symbolische Praxis, in: Kocka (Hg.), Bürgertum, Bd. 2, S. 92–127. Vgl. Hettling, Manfred: Sozialstruktur und politische Orientierung der jüdischen Bevölkerung im Kaiserreich, in: Ders. (Hg.): In Breslau zu Hause? Juden in einer mitteleuropäischen Metropole der Neuzeit, Hamburg 2003, S. 113–130, hier S. 126; van Rahden, Eintracht.

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Transformation ›bürgerlicher Kultur(kritik)‹ einher, wie im folgenden Hauptkapitel gezeigt wird.433 Die Mitgliedschaft in der ZVfD konstituierte sich über die Zahlung des »Schekels« an die ZO. Obwohl die Ortsgruppen zum Bezug der Jüdischen Rundschau angehalten wurden, beteiligten sich also nur wenige Zionisten direkt an den in ihr geführten Debatten. Ähnlich eklatant ist ebenso die ungleiche Beteiligung von Männern und Frauen an der journalistischen Produktion in der Jüdischen Rundschau.434 Insbesondere Frauen, die einen nicht unerheblichen Teil der Mitgliedschaft stellten, traten in den ideologischen und politischen Debatten kaum in Erscheinung. Die wenigen von Zionistinnen verfassten Artikel beschäftigten sich in erster Linie mit der Frage nach den Handlungsmöglichkeiten von Frauen in der zionistischen Bewegung. So forderte Maria Baer, als eine der ersten weiblichen Beiträgerinnen in der Jüdischen Rundschau, in ihrem Artikel »An unsere Frauen«, der am 1. Juli 1904 erschien, die »intensive Mitarbeit der Frau«435 und eine eigene »Frauenbeilage« für die Zeitung, in der Zionistinnen Gelegenheit und Raum gegeben werden sollte, sich über nationaljüdische Angelegenheiten – sozusagen aus Frauensicht – auszutauschen436. Auffallend sind in diesem Zusammenhang ebenfalls der direkte Bezug zu den Personalia, Aktivitäten und Organisationsformen der bürgerlichen Frauenbewegung und die große Ähnlichkeit der in den Raum gestellten Deutungsmuster mit den ihr impliziten Werten.437 Insgesamt lässt sich also bereits an dieser Stelle festhalten, dass die deutschen Zionisten, welche maßgeblich an der Entstehung und Entwicklung der Jüdischen Rundschau beteiligt waren, ihre Vorstellungen von zionistischem Nationalismus in Deutschland selbst aus einer äußerst widersprüchlichen Position in der deutschen Gesamtgesellschaft heraus formulierten. Auf der einen Seite agierten sie aus der Position einer diskriminierten Minderheit heraus, wobei sie sich als Akademiker häufig gleich in besonderem Maße mit antisemitischen Anfeindungen und Zurücksetzungen auseinandersetzen mussten. Ihre Vorstellungen von Zionismus stellten daher immer auch Bewältigungsstrategien von Antisemitismus dar und wiesen in unterschiedlichem Maße eine emanzipatorische Dimension auf. Auf der anderen Seite entfaltete die deutsche ›bürgerliche Ge433 Vgl. Kap. III.1.2 der vorliegenden Arbeit. 434 Zur Stellung von Frauen in der zionistischen Bewegung allgemein vgl. Or, Vorkämpferinnen; Prestel, Frauen; Berkowitz, History. 435 Baer, Maria: An unsere Frauen, in: JR, IX. Jg., Nr. 26 (01. 07. 1904), S. 273–276, hier S. 273. 436 Vgl. ebd., S. 276. 437 Vgl. dazu auch Or, Vorkämpferinnen, S. 23–54 (Kap. 1: »Politische Frauen(t)räume – Deutsch-bürgerliche und zionistische Konstruktionen von Männlichkeit, Weiblichkeit und Nation«). Vgl. zeitgenössisch auch Feitelberg, Lisbeth: Bund jüdischer Frauenvereine, in: JR, IX. Jg., Nr. 25 (24. 06. 1904), S. 263f.

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sellschaft‹, im Besonderen die ›bürgerliche Kultur‹, auf sie eine besondere Anziehungskraft. Als Bildungsbürger entstammten sie nicht zuletzt derselben Schicht, die zu den zentralen Trägern und Konstrukteuren der unterschiedlichen Strömungen des deutschen Nationalismus zählte. Auch aus dieser ambivalenten Position in der deutschen Gesellschaft im Kaiserreich heraus muss die Formulierung verschiedener Formen einer zionistischen Hybriditätspolitik im Untersuchungsmedium gesehen werden.

5.3

Zur Bedeutung der Jüdischen Rundschau in der zionistischen Presselandschaft vor dem Ersten Weltkrieg

Die Gründung der Jüdischen Rundschau und ihre Konstituierung erfolgten zu einer Zeit, in der sich die zionistische Presselandschaft ausdifferenzierte und eine Reihe von zionistischen Presserzeugnissen neu auf dem Markt erschien. Dazu zählten vor allem Ost und West (seit Januar 1901), Palästina (seit 1902) und die nur für kurze Zeit existierende wissenschaftliche Monatsschrift Altneuland (seit Januar 1904), die allesamt in der »Zeitungsstadt Berlin«438 herausgegeben und von dort vertrieben wurden.439 Die genannten Zeitschriften erschienen allerdings im »Jüdischen Verlag«, der um die Jahreswende 1901/1902 kurz vor dem Fünften Zionistenkongress im Umfeld der Demokratischen Fraktion in Berlin gegründet worden war, um dem deutschsprachigen Kulturzionismus ein publizistisches Forum zu bieten.440 Im Gegensatz zur Jüdischen Rundschau bediente der »Jüdische Verlag« in seinen Publikationen damit dezidiert und exklusiv die kulturelle Erneuerungsbewegung, die sich unter maßgeblichem Einfluss von Martin Buber seit der Jahrhundertwende unter der Bezeichnung »jungjüdisch« hervortat und eine jüdische kulturelle Identität, vor allem über die Mittel Sprache und künstlerische Ästhetik, propagierte.441 Die von Leo Winz herausgegebene illustrierte Kulturzeitschrift Ost und West, deren erste Ausgabe den formgebenden programmatischen Beitrag von Buber unter dem Titel »Jüdische Renaissance« enthielt, stellte zunächst die erste grö438 439 440 441

Mendelssohn, Zeitungsstadt Berlin. Vgl. dazu auch Schlöffel, Loewe, S. 223. Vgl. Schenker, Verlag. Vgl. u. a. Buber, Martin: Jüdische Renaissance, in: Ost und West 1 (1901), Sp. 7–10; ders.: Jüdische Künstler, Berlin 1903; Feiwel, Berthold/Lilien, Ephraim Moses (Hg.): Jüdischer Almanach 5663, Berlin 1902. Vgl. dazu auch das Schriftenverzeichnis des Jüdischen Verlags, in: Schenker, Verlag, S. 535–605. Ein bereits für das Jahr 1904 unter dem Titel Der Jude geplantes Zeitschriftenprojekt scheiterte zunächst, konnte jedoch unter demselben Titel 1916 realisiert werden. Vgl. Lappin, Jude. Vgl. dazu allgemein auch Gelber, Mark H.: The jungjüdische Bewegung. An Unexplored Chapter in German-Jewish Literary and Cultural History, in: LBIYB 31 (1986), S. 105–119; Witte, Renaissance.

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ßere und damit wohl wichtigste jungjüdische Kommunikationsplattform dar.442 Dabei stand die Zeitschrift, die ursprünglich mit dem Untertitel »Illustrierte Monatsschrift für modernes Judentum« im Jahr 1901 gegründet worden war, nicht nur Zionisten, sondern verschiedenen Strömungen im Judentum offen. Im April 1903, als ihr Herausgeber Leo Winz die deutsche Übersetzung von Achad Ha’ams Kritik an Theodor Herzls utopischem Roman Altneuland veröffentlichte, entspann sich zwischen dem zionistischen Zentralorgan Die Welt und Ost und West eine kontroverse und heftige Debatte, in der sich Max Nordau und Leo Winz unter anderen als Protagonisten in ihren gegenseitigen Repliken hervortaten.443 Um eine Verknüpfung von kulturzionistischen und praktisch-zionistischen Herangehensweisen bemühte sich hingegen Palästina, die von Alfred Nossig, dem Gründer und Vorsitzenden des Vereins für jüdische Statistik, und von Davis Trietsch herausgegeben wurde und, wie bereits der Untertitel auswies, Fragen der »culturelle[n] und wirtschaftliche[n] Erschließung des Landes« behandeln sollte.444 Wichtige Konkurrenz- und Ergänzungslektüre zur Jüdischen Rundschau bildete bis zu seiner Einstellung im Jahr 1914 vor allem auch das Zentralorgan der zionistischen Bewegung, Die Welt, das von Theodor Herzl im Mai 1897 in Wien gegründet worden war, im eigenen Verlag in Berlin erschien und ebenfalls auf Deutsch verfasst wurde. Die Welt sollte den zionistischen Leser in erster Linie über tagespolitische Ereignisse informieren, die für das Judentum bzw. den Weltzionismus im Allgemeinen von Interesse waren, und offizielle Bekanntmachungen der ZO und der zionistischen Zentralbehörden publizieren. Einen Schwerpunkt der Berichterstattung bildeten daneben die Kolonisationsbemühungen in Palästina. Gelegentlich erschienen auch Übersetzungen aus der hebräischen und jiddischen Literatur.445 Ziel der Redaktion der Jüdischen Rundschau musste es also sein, Alleinstellungsmerkmale ihrer zionistischen Wochenzeitung herauszuarbeiten und diese 442 Vgl. Buber, Renaissance; Brenner, Identities. 443 Vgl. Ha’am, Ahad: Altneuland., in: Ost und West 3 (1903), Sp. 227–244; Nordau, Max: Achad–Ha’am über Altneuland, in: Die Welt, Nr. 11 (13. 3. 1903), S. 1–5; Die Juden von Gestern (Eine Erwiderung), in: Ost und West 3 (1903), Sp. 217–226. Zur »AltneulandKontroverse« vgl. Goldstein, Yossi: Eastern Jews vs. Western Jews.The Ahad Ha’am-Herzl Dispute and its Cultural and Social Implications, in: Jewish History 24 (2010), S. 355–377; Schäfer, Barbara: Zur Rolle der Demokratischen Fraktion in der Altneuland-Kontroverse, in: Jewish Studies Quarterly 2 (1995), S. 292–308 und Kap. III.2.1.2 der vorliegenden Arbeit. 444 Vgl. dazu das Titelblatt der Zeitschrift Palästina. 1907 wurde die Zeitschrift dem Münchner Verlag C. Barth eingegliedert. In den Jahren 1904 bis 1906 wurde Palästina vorübergehend durch die Zeitschrift Altneuland ersetzt, die von Franz Oppenheimer, Selig Soskin und Otto Warburg herausgegeben wurde. Zu Alfred Nossig vgl. auch Hart, Mitchell B.: Moses the Microbiologist. Judaism and Social Hygiene in the Work of Alfred Nossig, in: Jewish Social Studies 2 (1995), S. 72–97. 445 Vgl. Die Welt. Zentralorgan der Zionistischen Bewegung, Berlin 1897–1914.

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in der Praxis zu etablieren und beim zionistischen wie jüdischen Leserpublikum bekannt zu machen. Von den genannten zionistischen Periodika hob sich die Jüdische Rundschau auf den ersten Blick schon durch ihre Funktion als Zentralorgan der ZVfD ab, in Folge derer in der Zeitung – sozusagen exklusiv – die Mitteilungen des eigenen Landesverbandes und die stenographischen Protokolle der Delegiertentage sowie der Sitzungen zionistischer Ortsgruppen erschienen. Darüber hinaus konnte der Leser nur der Jüdischen Rundschau eine Vielzahl von Veranstaltungshinweisen im deutschen zionistischen Kollektiv entnehmen. Wie sich zeigte, etablierte sich das Blatt zunehmend auch als zentraler Austragungsort innerzionistischer Debatten im deutschen Zionismus und erarbeitete sich dadurch, wenn auch von offizieller Seite ungewollt, ein eigenständiges und eigentümliches nationalpolitisches Profil, mit dem es sich weiter von anderen Periodika in der zionistischen Presselandschaft absetzte. Noch vor der Welt, die in viel höherem Maße organisationspolitisch instrumentalisiert und zensiert wurde, bündelte und ermöglichte die Jüdische Rundschau im deutschsprachigen Raum lange Zeit als einzige Zeitung einen relativ freien öffentlichen zionistischen Diskurs, der sich in erster Linie auf vornehmlich politische und allgemeinjüdische Themen bezog. David Wolffsohn beispielsweise, der zweite Präsident der ZO, der oftmals zensorisch auf die in der Welt zu veröffentlichenden Artikel einwirkte und die kritischen Töne bezüglich seiner politischen Führung in der Jüdischen Rundschau verurteilte, lehnte eine Fusion der Jüdischen Rundschau mit der Welt, wie sie von Heinrich Loewe und anderen zeitweilig in den Raum gestellt wurde, um die Zeitung aus ihren finanziellen Schwierigkeiten zu befreien, kategorisch ab.446 Vielmehr propagierte er stattdessen, dass Die Welt, die er weniger als neutrales Organ der Gesamtbewegung, sondern als persönliches Propagandainstrument der politischen Führung verstanden haben wollte,447 preiswert an deutsche Zionisten versandt werden sollte, was durchaus auch von einer gewissen inneren Konkurrenz beider Blätter zeugt.448 Obwohl die Redakteure der Jüdischen Rundschau für ihre eigenen Vorstellungen von Zionismus in unterschiedlichem Maße auch in der Zeitung Deutungshoheit beanspruchten, blieb das Verbandsorgan prinzipiell offen für konkurrierende nationale Deutungsmuster und folgte der Leitlinie, in innerzionistischen Kontroversen alle Seiten, wenn auch nicht immer in gleichem Maße, zu Wort kommen zu lassen. Selbst Heinrich Loewes Vorstellungen von ›jüdischem Nationalismus‹, die der Redakteur in der Zeitung zum Besten gab, 446 Vgl. Brief von David Wolffsohn an Heinrich Loewe vom 08. 09. 1907, CZA, W528. 447 Vgl. Brief von David Wolffsohn an Kann vom 14. 03. 1912, CZA, W522/131. 448 Vgl. dazu auch Meybohm, Wolffsohn, S. 158f.

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waren zutiefst kulturzionistisch beeinflusst. Die Jüdische Rundschau gerierte sich demnach auch als ›Ort der Konfrontation‹, an dem die unterschiedlichen Allianzen und Fragmente im zionistischen Kollektiv aufeinander prallten und sich über ihre unterschiedlichen Vorstellungen von ›Nationaljudentum‹ und ›Zionismus‹ verständigten. So wurde die Jüdische Rundschau vor dem Ersten Weltkrieg nicht zuletzt zum diskursiven Kampfschauplatz der Auseinandersetzung um die Ausrichtung des zionistischen Kollektivs auf Palästina.449 Diese Tatsache erlangte zusätzliche Bedeutung, da das Deutsche Kaiserreich nach Österreich bis zum Ersten Weltkrieg das politische Zentrum der zionistischen Bewegung darstellte. In Deutschland befanden sich die zentralen Behörden der ZO und deutsche Zionisten stellten das Gros ihres Führungspersonals. Selbst während des Ersten Weltkriegs und in den 1920er Jahren, als Großbritannien und Palästina zu den Zentren des Weltzionismus aufstiegen, nahm der deutsche Zionismus trotz seiner quantitativ geringen Größe weiterhin eine wichtige Bedeutung innerhalb der Gesamtbewegung hinsichtlich der Formulierung zionistischer Ideologie ein. Der entstehende zionistische ›Kommunikationsraum‹ Jüdische Rundschau muss somit auch als bedeutendes Laboratorium des nationaljüdischen Experimentierfeldes in Zentraleuropa und als Knotenpunkt des zionistischen Netzwerkes in Deutschland und darüber hinaus betrachtet werden. Dadurch bestimmte er auch maßgeblich das Bild vom Zionismus mit, das sich in der deutschen und internationalen Öffentlichkeit entwickelte. Im Ausland wie in Palästina spielte die Jüdische Rundschau damit eine wichtige Rolle als Forum des deutschsprachigen Zionismus und als häufig einzige originär deutschsprachige Publikation in einer von fremdsprachigen Zeitungen dominierten Presselandschaft. Zum vierzigsten Jubiläum der Jüdischen Rundschau im Jahr 1935, in das bezeichnenderweise die Bestandszeit des Berliner Vereinsboten und der Israelitischen Rundschau miteingerechnet worden war, um eine lange Tradition und hohe Kontinuität des zionistischen Pressewesens bis in das 19. Jahrhundert hinein zu konstruieren, enthielt die Sonderausgabe der Zeitung neben den genannten »Erinnerungen ehemaliger Redakteure« auch Beglückwünschungen an die Redaktion unter Robert Weltsch. Diese kamen von den ehemaligen Vorsitzenden der ZVfD, Arthur Hantke (1910–1920), Felix Rosenblüth (1920–1923), Alfred Landsberg (1923–1924) und Kurt Blumenfeld (1924–1933),450 von Führungspolitikern der ZO wie Chaim Weizmann, Nahum Sokolow, Martin Buber, Schmarja Levin und Arthur Ruppin, von jüdischen Künstlern wie Hermann 449 Vgl. Kap. III.3. und Blumenfeld, Kurt, o. T., in: Begrüssungen. Frühere Vorsitzende der Z.V.f.D., in: JR, XL. Jg., Nr. 31/32 (17. 04. 1935), S. 24. 450 Begrüssungen. Frühere Vorsitzende der Z.V.f.D., in: JR, XL. Jg., Nr. 31/32 (17. 04. 1935), S. 22–24, hier S. 24.

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Struck und Gerson Stern, von zionistischen Vereinigungen wie der »Unabhängigen Misrachi Landesorganisation Deutschlands« sowie des »Makkabi-Vereins Berlin« und von prominenten jüdischen Persönlichkeiten wie Leo Baeck und Otto Hirsch, den Vorsitzenden der »Reichsvertretung der deutschen Juden«, Heinrich Stahl, dem Vorsitzenden der Berliner Jüdischen Gemeinde, J. L. Magnes, dem Kanzler der Hebräischen Universität Jerusalem, Julius Brodnitz, dem Vorsitzenden des Centralvereins von 1920 bis 1936, und von Ismar Elbogen, dem ehemaligen Rektor der Hochschule der Wissenschaft des Judentums in Berlin.451 Darin betonten die Gratulanten einstimmig die große Bedeutung der Jüdischen Rundschau für das zionistische Narrativ und die zionistische Bewegung.452 Auffallend ist darunter jedoch die weit verbreitete retrospektive Sichtweise, die Jüdische Rundschau sei erst unter dem Eindruck des Nationalsozialismus und der zunehmenden Aufnahme von Emigrationsfragen, welche einen immer breiter werdenden allgemeinjüdischen Kreis interessiert hätten, von einem »Nachrichtenblatt für einen kleinen Kreis […] für die öffentliche Meinung der deutschen Juden zum Spiegel und zum Wegweiser zugleich geworden, aus einem Parteiorgan zum Mahner und Wahrer jüdischer Solidarität«453. Ganz ähnlich verglichen Redaktion und Beiträger wie Schmarja Levin die bisherige Entwicklung der Jüdischen Rundschau daher mit der israelitischen »40jährigen Wanderung durch die Wüste«454. Dennoch: Auch wenn die Jüdische Rundschau nicht in gewünschtem Maße Leser in innerjüdischen Kreisen bereits vor der Zwischenkriegszeit gewinnen konnte,455 so zeigte sich doch, wie sich paradigmatisch etwa an den Debatten zwischen dem zionistischen Organ und dem publizistischen Organ des Centralvereins, Im deutschen Reich, in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg ablesen lässt, dass der frühe zionistische Diskurs in der Jüdischen Rundschau auch den Verlauf innerjüdischer Debatten um Abgrenzungen und Zugehörigkeiten wesentlich beeinflusste. Somit forderte er auch im (liberalen) Judentum ganz erheblich zur Formulierung von (Gegen-)Narrativen und zum kritischen Überdenken eigener Identitätsentwürfe heraus.456 Eine ähnliche Feststellung lässt sich für das Verhältnis des Zionismus zum deutschen Nationalismus vermuten, wobei wohl spätestens seit dem Ersten Weltkrieg der Diskurs in der Jüdischen Rundschau auch durch deutsche Politiker und Ange451 Vgl. Begrüssungen, S. 22–24. 452 Vgl. ebd. 453 Vgl. Dr. Otto Hirsch schreibt uns, in: Begrüssungen, in: JR, XL. Jg., Nr. 31/32 (17. 04. 1935), S. 22–24, hier S. 23. 454 Vgl. Dr. Shmarja schreibt uns aus Jerusalem, in: Begrüssungen, in: JR, XL. Jg., Nr. 31/32 (17. 04. 1935), S. 22–24, hier S. 22. 455 Vgl. Memorandum über die Pressefrage (1. Anlage eines Schreibens von Julius Becker an David Wolffsohn vom 04. 08. 1908), CZA, Z2/323, S. 5f. 456 Vgl. Kap. III.3.3.1 der vorliegenden Arbeit.

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hörige des Auswärtigen Amtes intensiver rezipiert wurde, welche nach den Gemeinsamkeiten von zionistischer und deutscher Politik in Bezug auf Palästina und den erdachten Raum ›Orient‹ fragten.457 Insgesamt lässt sich die Bedeutung der Jüdischen Rundschau in der zionistischen Presselandschaft vor dem Ersten Weltkrieg letztlich vor allem über ihre Informations-, Kommunikations-, Integrations- und Verständigungsfunktion definieren. Damit trug sie wesentlich dazu bei, einerseits die Position des Zionismus nach außen abzugrenzen und vielfältige hybride Stellungnahmen des Zionismus gegenüber nichtzionistischen Lebenswelten zu ermöglichen und andererseits die Ideologie des zionistischen Nationalismus nach innen auszudifferenzieren, was Arthur Hantke in seinem Rückblick auf die Geschichte der Jüdischen Rundschau wie folgt formulierte: »Vierzig Jahre ›Jüdische Rundschau‹ – Vorzeit, organisatorischer Aufbau, geistige Entwicklung des Zionismus in Deutschland werden vor uns lebendig. Weit über den Kreis des deutschsprachigen Zionismus hinaus war die ›Jüdische Rundschau‹ in all diesen Jahren eines der Hauptinstrumente des Zionismus. Ihr [sic!] spiegelte sich jahrein, jahraus das Niveau der Bewegung. Sie war eine der eisernen Klammern, die den Zionismus in Deutschland und darüber hinaus zu einem einheitlichen Körper heranwachsen ließen und über alle Differenzierungen des modernen jüdischen Lebens hinaus die Einheit sicherten.«458

Was Sarah E. Wobick-Segev für die vielfältigen (realen) Versammlungsorte der Juden in Berlin konstatiert hat, kann somit auch auf die Jüdische Rundschau übertragen werden, die demnach einen Knotenpunkt zionistischer Kommunikation darstellte, an dem Vorstellungen von einem nationaljüdischen Selbst konstruiert, arrangiert und zur Schau gestellt werden konnten, als »ideal place[s] where belonging and self-identification could be displayed and even staged«.459 Nicht zuletzt Nationalismus-Historiker wie Benedict Anderson und Karl W. Deutsch haben in ihren Studien auf die besondere Rolle sozialer Kommunikation im Allgemeinen und der modernen Printmedien wie Zeitungen im Besonderen für die Entstehung der modernen ›Nationalismen‹ hingewiesen.460 Nach Anderson wurden durch die zunehmende Verbreitung und die Lektüre von Presseerzeugnissen immer breitere Bevölkerungsschichten an die ›Idee der 457 Zum Verhältnis von deutschem Zionismus und deutscher Politik während des Ersten Weltkriegs vgl. Vogt, Positionierungen, S. 197–251. 458 Hantke, Arthur, o. T., in: Frühere Vorsitzende der Z.V.f.D, in: JR, XL. Jg., Nr. 31/32 (17. 04. 1935), S. 24. 459 Wobick-Segev, Spatial Cultures, S. 48. 460 Anderson, Benedict R.: Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, London/New York 2006, S. XXX; Deutsch, Karl W.: Nationalism and Social Communication. An Inquiry into the Foundations of Nationality, Cambridge, Mass., u. a. 2 1966.

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Nation‹ gewöhnt, womit es den Menschen ermöglicht wurde, »to think about themselves, and to relate themselves to others, in profoundly new ways«.461 Nach dem kommunikationstheoretischen Ansatz von Deutsch erfolgt die Entstehung von gefühlten ›nationalen Kollektiven‹ in mehreren Stufen über die Verdichtung von (sozialer) Kommunikation.462 In diesem Zusammenhang muss auch die Rolle der Jüdischen Rundschau innerhalb des zionistischen Kollektivs gesehen werden, die als wichtiges zionistisches Propagandamedium auch wesentlich zur Konstruktion einer Imagined (Hybrid) Zionist Community beitrug. Damit koproduzierte auch sie die Idee der ›jüdischen Nation‹ »as a continuous narrative of national progress«463, wie Homi K. Bhabha dies umschreibt. Durch ihr regelmäßiges wöchentliches Erscheinen gab sie einem in Entwicklung begriffenen, diskursiv wie physisch agierenden, ›nationaljüdischen‹ Kollektiv die Möglichkeit, sich in einem Diskursraum zu versammeln und zu vernetzen, und einen Ort, sich über die Varianten seiner ›gedachten (nationalen) Gemeinschaft‹ auszutauschen und zu verständigen. Wie die Delegierten auf den zionistischen Kongressen und in den Versammlungslokalen der Ortsgruppen stellten auch die publizierenden Autoren über ihre Artikel und Repliken sowie über Leserbriefe und die Rubrik »Sprechsaal« Beziehungen zueinander und mit den Lesern her und verknüpften dabei bestimmte Narrative und historische Ereignisse auf vielfältige Weise miteinander.464 In den Korrespondenzen der zionistischen Führungspersönlichkeiten und Institutionen wurde beispielsweise häufig auf die Jüdische Rundschau als Ort und Medium der zionistischen Information verwiesen und somit die diskursive Vernetzung von Ereignis, Kommunikationsplattform und Kollektiv unterstützt.465 Vor dem Leser entspann sich dadurch eine mannigfaltig vernetzte Diskurslandschaft, welche historische Ereignisse gekonnt in das zionistische Narrativ einwob und auf diese Weise eine ›nationaljüdisch‹ und ›zionistisch‹ gepolte ›mentale Landkarte‹ beim Leser entstehen ließ. Die Jüdische Rundschau hielt somit nach und nach ihren Einzug in das ›Gedächtnis des deutschen Zionismus‹.

461 Anderson, Communities, S. 36. 462 Vgl. Deutsch, Inquiry. 463 Bhabha, Introduction, S. 2. Vgl. das Zitat in anderem Zusammenhang auch bei Schlöffel, Loewe, S. 81. 464 Vgl. dazu auch Anderson, Communities, S. 33. 465 Vgl. die folgenden Beispiele: Brief von Max Bodenheimer an Louis Franck (Altona) vom 21. 04. 1904, CZA, A15/53/20; Schreiben des Jüdischen Nationalfonds, Centrale für Deutschland, an Max Bodenheimer vom 01. 12. 1911, CZA, A15/519; Rundschreiben vom Zentralbüro der Zionistischen Vereinigung für Deutschland an die Ortsgruppenvorstände vom 21. 12. 1910, CZA, Z2/409; Bericht des Geschäftsführenden Ausschusses der Zionistischen Vereinigung für Deutschland vom Dezember 1910, CZA, Z2/409, S. 1.

III.

Die Konstruktion zionistischer Hybridität in der Jüdischen Rundschau

1.

Was ist die ›jüdische Nation‹? »Die Etymologie hilft wenig; es gibt Werte, die sich weit von ihrem Ursprung entfernt haben. Eine Geschichte des Wortes ›national‹ könnte weiter führen; aber sie sagt doch nur dem etwas, der geschichtlich zu sehen gelernt hat. So halten wir uns lieber an den heutigen Sprachgebrauch. Das Wort ›Nationalgefühl‹ gehört zu den Wörtern, in denen eine Fülle der verschiedensten Gedanken und Stimmungen sich zu einem fast unentwirrbaren Komplex zusammengefunden hat. Das Wort wurde mit einer gewissen Plötzlichkeit in die Sphäre des allgemeinen Volksbewußtseins gehoben, hier von der Wärme und dem Enthusiasmus des Gemeinschaftswillens erfüllt und von ihm getragen. Das ist auch andern Begriffen so gegangen, und immer zeigt sich in solch einem Worte die Tendenz, möglichst viele Einzelinhalte zu umfassen und ihnen von seiner Wärme abzugeben. Es gilt nun, den Begriff wieder in seine hauptsächlichen Elemente zu zerlegen.«1

Nachdem auf das Netzwerk der Zeitung geblickt wurde, sollen nun die in ihr geführten Diskurse im Mittelpunkt der folgenden Untersuchung stehen, um beide miteinander in Beziehung setzen zu können. Wie bereits einleitend skizziert, herrscht in der historischen Nationalismusforschung wie Zionismusforschung überwiegend Konsens darüber, dass die Konstruktion der ›jüdischen Nation‹ stets mit bestimmten Selbst- und Fremdzuschreibungen einherging, die Zugehörigkeit und Abgrenzung markierten und in einem engen Verhältnis wechselseitiger Bedingtheit standen. Dabei wurden der imaginierten ›jüdischnationalen Gemeinschaft‹ spezifische Charakteristika durch eine gemeinsame Abstammung, historische Tradition und/oder Sprache und Kultur attribuiert.2 1 Calvary, Deutsch-national, S. 157. 2 Vgl. Kap. I.4 der Einleitung und aus der umfangreichen Literatur zum Thema Anderson, Erfindung, S. 14–17; Deutsch, Karl W.: Der Nationalismus und seine Alternativen, München 1972, S. 9; Elwert, Georg: Nationalismus und Ethnizität. Über die Bildung von Wir-Gruppen, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 41:3 (1989), S. 440–464; Gellner, Moderne, S. 15–17, 83–97; Hobsbawm, Nationen, S. 11–24; Hoffmann, Lutz: Die Konstitution des Volkes durch seine Feinde, in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung 2 (1993), S. 13–57;

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Diese politischen, sozialen oder kulturellen Grenzziehungsvorgänge gelten mitunter als konstitutiv für Prozesse der kollektiven Selbstbestimmung und Gruppenbildung.3 Als besonders prägnantes Medium oder Mittel der Grenzziehung diente die Definition von bestimmten politisch-sozialen Kollektivbegriffen, mittels derer sich die historischen Akteure als nationale und politische Handlungseinheiten verstanden und organisierten.4 Wie das vorangestellte Zitat des deutschen Zionisten Moses Calvary andeutet, umfassten Begriffe wie ›Nation‹, ›national‹ oder ›Nationalgefühl‹ oftmals mehrere Bedeutungsinhalte, was die Rekonstruktion ihrer Komponenten nicht nur für die heutige Geschichtswissenschaft maßgeblich erschwerte,5 sondern auch bereits für die Zeitgenossen, die bei ihren Definitionsbemühungen nicht selten vor der Komplexität der Begriffe kapitulierten. Bei der näheren Betrachtung der Schlüsselbegriffe des zionistischen Nationalismus in Deutschland, ›jüdische Nation‹, ›jüdischer Nationalismus‹ und ›Zionismus‹, reifte schnell die Erkenntnis, dass diskursive Strategien und damit die eigentümliche hybride Diskursposition deutscher Zionisten bei der folgenden Diskursanalyse im Mittelpunkt stehen sollten, die anhand einzelner Beispiele herausgearbeitet werden und somit eine Erweiterung der bisherigen Forschung und der in ihr beschriebenen festen, überwiegend dichotomischen Identitätszuschreibungen nahelegen. Daneben fiel auf, dass weitere Leitbegriffe in die Analyse mit einbezogen werden mussten, da sich diese mit den zuerst genannten im Untersuchungszeitraum zu einem differenzierten Bedeutungsnetz bzw. -feld entwickelt hatten und semantische Nuklei nationaljüdischer Hybriditätsentwürfe im späten Deutschen Kaiserreich bildeten. Die deutschen Zionisten entlehnten die für sie konstitutiven Kollektivbegriffe zur Bezeichnung der eigenen ›nationalen Gemeinschaft‹ überwiegend der politisch-sozialen Sprache des ›deutschen Nationalismus‹.6 Tradierte Begriffe und

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Koselleck u. a., Volk, S. 142–151, 405f.; Richter, Dirk: Nation als Form, Wiesbaden 1996, S. 72– 151; Walkenhorst, Nation, S. 24–33, 80–82. Vgl. hierzu auch Assmann, Aleida/Assmann, Jan: Aspekte einer Theorie des unkommunikativen Handelns, in: ders./Harth, Dietrich (Hg.): Kultur und Konflikt, Frankfurt a. M. 1990, S. 11–48; Assmann, Jan: Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität, in: ders./Hölscher, Tonio (Hg.): Kultur und Gedächtnis, Frankfurt a. M. 1988, S. 9–19; Koselleck u. a., Volk, S. 142–151; Koselleck, Semantik, S. 212; Jeismann, Michael: Das Vaterland der Feinde. Studien zum nationalen Feindbegriff und Selbstverständnis in Deutschland und Frankreich 1792–1918, Stuttgart 1992. Vgl. Koselleck, Semantik, S. 212: »Eine politische oder soziale Handlungseinheit konstituiert sich erst durch Begriffe, kraft derer sie sich eingrenzt und damit andere ausgrenzt, und d. h. kraft derer sie sich selbst bestimmt. […] Ein Begriff in diesem hier verwendeten Sinne indiziert nicht nur Handlungseinheiten, er prägt und schafft sie auch. Er ist nicht nur Indikator, sondern auch Faktor politischer oder sozialer Gruppen.« Zur semantischen Polyvalenz des Nationsbegriffes vgl. auch Koselleck u. a., Volk. Zum Plädoyer für eine Verknüpfung der Ideengeschichten von Zionismus und deutschem Nationalismus vgl. Vogt, Positionierungen; ders., Zionismus.

Was ist die ›jüdische Nation‹?

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ihre semantischen Strukturen wurden somit einem vielschichtigen Prozess der hybriden Bedeutungsgenerierung und Brechung unterworfen. Reinhart Koselleck hat darauf hingewiesen, dass selbst der Begriff ›Zionismus‹ eine analoge Wortbildung darstellte, indem er durch eine Ableitung von ›Zion‹7 mit dem Morphem ›-ismus‹ analog zu anderen politisch-sozialen »Bewegungs- und Aktionsbegriffen«8 der deutschen Sprache wie ›Nationalismus‹ oder ›Sozialismus‹ gebildet wurde.9 Nur ein besonders aussagekräftiges Beispiel für die Anleihen des zionistischen Nationalismus in Deutschland beim deutschen Nationalismus, das auf die folgenden Kapitel einstimmen soll, ist der Artikel »1813« von Robert Weltsch10, der zum Zentenarium der »Völkerschlacht« bei Leipzig in der Jüdischen Rundschau erschien und in dem die deutsche Nationalbewegung zum Leitbild der jüdischen stilisiert wird.11 Weltsch würdigte darin zunächst ehrfürchtig »das 7 Ursprünglich bezeichnete ›Zion‹ die Burg auf dem Hügel südlich des späteren Stadtgebiets bzw. südlich des Tempelberges, des ursprünglichen Ortes der kanaanäischen Siedlung, die bereits zu dieser Zeit den Namen Jerusalem trug. Unter David erhielt die Burg ›Zion‹ den Namen »Stadt Davids« und wurde zu einem Palast umgebaut (vgl. 2. Samuel 5,6–10; I. Chronik 11,4). Nach der Überführung der Bundeslade von Shilo nach Jerusalem wertete Davids Sohn Salomo die Stadt weiter auf, indem er mit dem Tempelbau begann. Dieser Prozess der »Staatsgründung« bzw. »Normalisierung Israels« bildete laut Gudrun Krämer, die sich auf den Judaisten Moshe Weinfeld beruft, in Analogie zu anderen altorientalischen Reichsgründungen, die entscheidende Weichenstellung in der Geschichte Israels, indem sie den Wandel der tribalen zur dynastisch-monarchischen Verfasstheit und die Entwicklung Jerusalems zu einem festen religiösen Zentrum und heiligen Symbol mit sich brachte. Vgl. Krämer, Gudrun: Geschichte Palästinas. Von der osmanischen Eroberung bis zur Gründung des Staates Israel (beck’sche reihe), München 32002, S. 34f. 8 Koselleck, Reinhart: Die Geschichte der Begriffe und Begriffe der Geschichte, in: ders.: Begriffsgeschichten. Studien zur Semantik und Pragmatik der politischen und sozialen Sprache. Mit zwei Beiträgen von Ulrike Spree und Willibald Steinmetz sowie einem Nachwort zu Einleitungsfragmenten Reinhart Kosellecks von Carsten Dutt (suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1926), Frankfurt a. M. 2010, S. 56–76, hier S. 69. 9 Vgl. Koselleck, Geschichte, S. 69; Schoeps, Julius H.: Modern Heirs of the Maccabees. The Beginning of the Vienna Kadimah, in: LBIYB 28 (1982), S. 155–170, hier S. 164. Angeblich geht diese Wortbildung auf den Wiener Schriftsteller Nathan Birnbaum (1864–1937) zurück, der das Wort »Zionismus«, das vermutlich bereits zuvor in studentischen Kreisen in Gebrauch war, erstmals schriftlich in der von ihm herausgegebenen Zeitschrift Selbst-Emancipation! am 16. Mai 1890 verwendete. Er verstand darunter in erster Linie eine »Kulturbewegung« wie er in seiner Rede auf dem Ersten Zionistenkongress (1897) deutlich machte. Birnbaum selbst wandte sich jedoch nach kurzer Zeit vom Zionismus ab und vertrat zunächst Ideen eines Diaspora-Nationalismus. Danach wurde er Jiddischist und Agudist. Vgl. Herrmann, Leo: Nathan Birnbaum. Sein Werk und seine Wandlung, Berlin 1914; Doron, Joachim: Jüdischer Nationalismus bei Nathan Birnbaum (1883–1897), Tel Aviv 1984; Olson, Jess: Nathan Birnbaum and Jewish Modernity. Architect of Zionism, Yiddishism and Orthodoxy, Stanford 2013. 10 Zu Robert Weltsch, dem langjährigen Leiter der Redaktion der Jüdischen Rundschau, vgl. Kap. II.2. der vorliegenden Arbeit. 11 Weltsch, Robert: 1813, in: JR, XVIII. Jg., Nr. 12 (21. 03. 1913), S. 113f., hier S. 113: »Es gibt

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Andenken des großen Befreiungskampfes«12 und hob zugleich den Anteil der jüdischen Soldaten am deutschen Befreiungswerk hervor.13 Daran anschließend stellte er die grundlegende Forderung an die deutschen Zionisten, »das große Schauspiel jener nationalen Erhebung in seiner allgemeinen Bedeutung als ein Beispiel [zu] nehmen, aus dem wir den Sinn der Weltgeschichte lesen können«14. Nach Weltsch bestand die besondere Parallelität der historischen Situation darin, dass sich das deutsche Volk nach seiner Niederlage im Vierten Koalitionskrieg wie das Judentum seiner Zeit am tiefsten Punkt seiner nationalen Existenz befunden hätte. Dessen Ursache machte er an ganz ähnlichen inneren Entwicklungen fest, allen voran an der zunehmenden Verbreitung von Materialismus und »kleinliche[n] Sonderinteressen« und den »mißverstandenen Ideen des Aufklärungszeitalters von Kosmopolitismus, von Individualismus«,15 die er augenscheinlich mit der Assimilation und geistiger Sklaverei gleichsetzte.16 Der nationale Weckruf, der zur Entstehung der deutschen Nationalbewegung geführt hätte, sei jedoch nicht in erster Linie ein Produkt der napoleonischen Expansion oder des preußischen Reformwerks gewesen, sondern gehe auf die Ideen namhafter Vertreter des deutschen Idealismus und der Weimarer Klassik wie Goethe, Schiller und Kant sowie junge »Romantiker« wie Schleiermacher, Kleist, Arndt und vor allem Fichte zurück, »die den Stolz auf die eigene Vergangenheit, auf das eigene nationale Wesen und den nationalen Kulturboden […] weckten«.17 Ihrem nationalen Geist sollten nun auch deutsche Zionisten nacheifern, um: »[d]ieses faule und träge Volk aufzurütteln, das Volk von Krämern zu einem Volk von starken wollenden Männern zu machen. Vor allem aber uns selbst dazu zu machen. Wir müssen das Volk erziehen, auf daß der Geist in es fahre; und jeder fange bei sich selber an, und suche das Falsche, das Schlechte, das Sklavische aus seiner Seele zu bannen. Auch uns steht das nationale Werk erst bevor ; und wenn wir keinen Fichte heute haben, so muß jeder einzelne von uns ein kleiner Fichte werden und zur jüdischen Nation reden.«18

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zwei Arten, die Bedeutung, die vergangene Ereignisse für uns haben, zu werten. Wenn wir aus der Geschichte lernen wollen, dann gilt es, die lebendige Beziehung von uns und unsern Verhältnissen zu den Menschen und Geschehnissen der betrachteten Epoche zu erfassen. Diese Beziehung kann nun bestehen in dem Anteil, den wir selbst oder unsere Vorfahren oder die Gruppe, der wir angehören, an den Begebenheiten hatten; oder aber in der Verwandtschaft, die wir mit den Menschen fühlen, die sich in einer der unsern ähnlichen Situation befinden.« Ebd., S. 113. Vgl. ebd. Ebd. Ebd. Vgl. ebd. Ebd., S. 114. Ebd.

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Weltsch knüpfte mit seinem Rekurs auf Fichte an einen bekannten Topos des deutschen Kulturzionismus an, der aus heutiger Sicht wie auch sein Rekurs auf Arndt auf den ersten Blick überrascht, verwendeten beide Autoren doch auch judenfeindliche Deutungsmuster in ihren Reden und Schriften.19 Ein ganz ähnliches Argumentationsmuster lässt sich auch in einem Aufsatz von Fritz Abraham20 aus dem Jahr 1911 erkennen: »Er [Fichte; Anm. S. S.] wußte, daß alle politische Arbeit erfolglos bleiben mußte, wenn der Erhebung nicht eine durchgreifende Erziehung und Läuterung des Volkes vorangang, und er glaubte, durch einen groß entworfenen Erziehungsplan bei der Jugend den Anfang machen zu müssen. Gleich jenen alten Propheten war er im tiefsten Innern überzeugt von der Mission, die seinem Volke als Volk unter den Völkern vorbehalten sei. […] Dieser Geist, der dem alten Israel nicht fremd war und aus dem auch Herzls ›Judenstaat‹ geboren wurde. Der Satz, den Fichte aus der Weltgeschichte vor 1813 ableitet, galt auch für dieses große Freiheitsjahr der Deutschen, er wird gelten in alle Ewigkeit auch für unser Judentum.«21

Die Fichte-Rezeption im deutschen Kulturzionismus, die verstärkt um 1910 einsetzte,22 ist nur ein Beispiel dafür, wie deutsche Zionisten ältere, vorgefertigte (deutsch-)nationale Deutungsmuster mit den konkreten Erfahrungen und Erwartungen ihrer spezifisch jüdischen Vorstellungswelt verknüpften und mit veränderten Inhalten belegten. Erst durch diese neuen, hybriden Verbindungen schrieben sie ihnen Bedeutung und Sinnhaftigkeit für die Konstitution der eigenen ›nationalen Gemeinschaft‹ zu. Die besondere Anziehungskraft, die Johann Gottlieb Fichte (1762–1814) und im Besonderen seine »Reden an die deutsche Nation« (1807/08) auf junge Zionisten wie Weltsch und Abraham ausübte, beruhte gleich auf mehreren solchen gedanklichen Transferprozessen, die Manfred Voigts in seiner Studie zur Fichte-Rezeption durch den deutschsprachigen Kulturzionismus zwischen 1900 und 1925, ausgehend von einer historischen Analyse des Werks Fichtes (1800–1814), anschaulich herausgearbeitet hat.23 Voigts kann darin zeigen, dass sich die deutschen Zionisten Fichtes ambivalenten Volks- und Nationsbegriff, der eine besondere Spannung zwi-

19 Vgl. Puschner, Marco: Antisemitismus im Kontext der Politischen Romantik. Konstruktionen des »Deutschen« und des »Jüdischen« bei Arnim, Brentano und Saul Ascher (conditio Judaica), Tübingen 2008, S. 147–203. Zur jüdischen Fichte-Rezeption zu Beginn des 19. Jahrhunderts vgl. Becker, Hans-Joachim: Fichtes Idee der Nation und das Judentum. Den vergessenen Generationen der jüdischen Fichte-Rezeption (Fichte Studien Supplementa; Bd. 14), Amsterdam/Atlanta, GA 2000. 20 Zu Fritz Abraham, dem Redakteur der Jüdischen Rundschau, vgl. Kap. II.2. 21 Abraham, Fritz: Johann Gottlieb Fichte, in: JR, XVI. Jg., Nr. 28 (14. 07. 1911), S. 318f. 22 Vgl. Voigts, Fichte, S. 119. 23 Vgl. ebd.

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schen universalen und partikularen Elementen beinhaltete,24 und seine Forderung nach nationaler Selbstemanzipation und der Unterordnung des Einzelnen unter die »Gemeinschaft seines Volkes«25 zu eigen machten.26 Gerade junge zionistische Intellektuelle wie Weltsch betonten damit, dass der Zionismus sich nicht im reinen politischen oder praktischen Tun erschöpfe, sondern eine geistige Vorbereitung auf Palästina und die Verwirklichung der nationalen »Aufgabe der Erziehung zum vollkommenen Menschen«27 erfordere.28 Dies wurde selbst auf die Person Herzls übertragen, der in diesem Zusammenhang nicht in erster Linie als Politiker erscheint, sondern als vorbildhafter Erzieher, der mittels seiner »vollkommene[n] sittliche[n] Persönlichkeit«29 – ganz im Sinne Fichtes – zur nationalen Erweckung und Erneuerung inspiriere.30 Fichtes Abgrenzung des deutschen Volkes nach außen durch eine Befreiung von fremden Kultureinflüssen entsprach dabei paradoxerweise der zeitgenössischen Forderung mancher Zionisten nach einer ›Entwurzelung‹ des Juden aus dem deutschen Kulturboden.31 In Fichtes metaphysischer Vorstellung von einer ›Mission‹ des eigenen Volkes, welche dieser mit Herder teilte, glaubten die meisten Kulturzionisten die messianischen Botschaften ihrer eigenen israelitischen Propheten wiederzuerkennen.32 Im ersten Kapitel »Was ist die ›jüdische Nation‹?« (III.1) werden die zionistischen Nationsvorstellungen, die in der Jüdischen Rundschau zirkulierten, in den Blick genommen. Den Ausgangspunkt bildet eine Analyse der zionistischen Grundkoordinaten ›Nation‹ und ›Volk‹. Relevanz erlangte die Definition des zentralen Grundbegriffs ›Nation‹ für deutsche Zionisten vor allem im Rahmen der öffentlichen Diskussion um die Frage der Staatsangehörigkeit im Deutschen Kaiserreich und vor dem Hintergrund des weit verbreiteten (antisemitischen wie allgemeinjüdischen) Vorurteils, ein zionistischer Nationalist könne nicht zugleich ein guter Staatsbürger des Deutschen Reiches sein. Um sozusagen eine Kompatibilität zwischen ihren zionistischen Zugehörigkeits- und ihren staatsbürgerlichen Loyalitätsvorstellungen zu erzielen, konstruierten deutsche Zio24 Vgl. dazu auch Reiß, Stefan: Fichtes ›Reden an die deutsche Nation‹ oder: Vom Ich zum Wir, Berlin 2006, S. 163–168. 25 So Weltsch, Robert: Zum Fichte-Jubiläum, in: Die Welt, XVI. Jg., Nr. 23 (07. 06. 1912), S. 690f., hier S. 691. 26 Vgl. Voigts, Fichte, S. 119–160. 27 Fichte, Johann Gottlieb von: Reden an die deutsche Nation, Berlin 1808, S. 197. 28 Vgl. Weltsch, Fichte-Jubiläum, S. 691. 29 Ebd. 30 Vgl. ebd. 31 Vgl. Voigts, Fichte, S. 137–149 und Kap. III.3.3 der vorliegenden Arbeit. 32 Vgl. Voigts, Fichte, S. 121–137. Kritik an der Fichte-Rezeption im Zionismus übte hingegen der deutsche Zionist Margulies, Heinrich: Kritik des Zionismus, I. Teil: Volk und Gemeinschaft, II. Teil: Der Zionismus als Volksbewegung, Wien/Berlin 1920.

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nisten diffizile Bedeutungsunterschiede zwischen den Begriffen »Nation«, »Stamm« und »Staat«, deren Rekonstruktion Gegenstand des ersten Unterkapitels sein wird (III.1.1). Im zweiten Unterkapitel (III.1.2) werden zionistische Volksbilder in der Jüdischen Rundschau betrachtet, welche immer auch stark von kulturzionistischen Vorstellungen geprägt waren und sich zwischen verschiedenen Spannungsfeldern, vor allem zwischen Universalismus und Partikularismus, bewegten. Weit verbreitet waren im untersuchten Medium Einflüsse der Völkerpsychologie und der (konservativen) deutschen Kulturkritik, welche das ›Volk‹ als metaphysische Gemeinschaft definierten und Antworten auf die als defizitär empfundenen Auswirkungen der modernen Industriegesellschaft versprachen (III.1.2.1). Darunter erhielt das Deutungsmuster ›Kultur‹ von deutschen Zionisten besondere Aufmerksamkeit, dessen wachsende Popularität im zionistischen Nationalismus nicht zuletzt auch auf der starken ›Verbürgerlichung‹ des deutschen Zionismus beruhte und dessen semantischer Beschaffenheit daher ein eigenes Unterkapitel gewidmet wurde (III.1.2.2). Hier interessiert vor allem auch die Nähe der untersuchten Narrative zum romantischen Nationalismus und zum völkischen Nationalismus. Im Zuge der wachsenden Wissenschaftspopularisierung und ›Biologisierung‹ der wilhelminischen Gesellschaft hielt auch das Deutungsmuster ›Rasse‹ zunehmend Einzug in das zionistische Grundvokabular (III.1.3). Einigen Autoren diente der Begriff als Differenzkategorie, mithilfe derer sich die jüdische biologische Abstammungsgemeinschaft sowohl in der Diaspora als auch in Palästina nach außen abgrenzen ließ. Dennoch war gerade die zionistische Verwendung des Begriffes ›Rasse‹ keineswegs homogen strukturiert, sondern in besonderem Maße – nicht zuletzt aufgrund der Instrumentalisierung des Deutungsmusters im antisemitischen Diskurs – auch von ambivalenten Aushandlungsprozessen geprägt, welche sich zwischen den Polen (völliger) Negierung, Transformation und Apologie bewegten. Im vierten Unterkapitel (III.1.4) wird der zionistische Versuch, nach dem Vorbild der preußisch-kleindeutschen Nationalgeschichtsschreibung, vor allem Heinrich von Treitschkes, eine ›Historisierung des zionistischen Bewusstseins‹ zu erzielen, thematisiert. Von herausragender Bedeutung in der Jüdischen Rundschau war etwa die zionistische Version des Makkabäer-Mythos, welche nicht zuletzt der Herstellung von historischer Kontinuität und der Legitimation der eigenen nationaljüdischen Vorstellungen über vielfältige Gegenwartsbezüge diente. Des Weiteren instrumentalisierten die deutschen Zionisten die Hebräische Bibel als ›jüdisches Nationalepos‹, indem sie die ursprüngliche Bedeutung der religiösen Feiertage in direktem Bezug auf ihre eigene Gegenwart (mitunter säkular) nationalpolitisch umdeuteten. Das letzte Unterkapitel (III.1.5) behandelt das hybride Kulturprogramm der Jüdischen Rundschau und die Frage, inwiefern sich in der zionistischen Wochenzeitung, die nicht zu den explizit kulturzionistischen deutschsprachigen Zeitschriften

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und Zeitungen gezählt werden kann, der Versuch erkennen lässt, die ›Hebraisierung‹ des zionistischen Kollektivs voranzutreiben. Zu diesem Zweck soll zunächst eine frühe Debatte unmittelbar nach Gründung der Zeitung in den Jahren 1902 und 1903 in den Blick genommen werden, in welcher sich deutsche Zionisten um die Frage nach der kulturellen Ausrichtung des zionistischen Nationalismus in Deutschland stritten (III.1.5.1). Sodann werden die zionistischen Formulierungsversuche einer jüdischen Nationalkultur und Nationalliteratur in der Jüdischen Rundschau in den Blick genommen und die Frage aufgeworfen, ob sich die Zeitung an eine bestimmte (hybride) Programmatik hielt und wie diese beschaffen war (III.1.5.2). Das letzte Unterkapitel analysiert die Bedeutung der Sprache(n) der jüdischen Kultur, wobei die Positionierung deutscher Zionisten in der ›Sprachenfrage‹ zwischen Deutsch/Jiddisch und Hebräisch untersucht wird (III.1.5.3).

1.1

Zwischen ›Nation‹, ›Stamm‹ und ›Staat‹ im Spannungsfeld von ›Deutschland‹ und ›Zion‹

An der Fichte-Rezeption im deutschen Zionismus wird exemplarisch deutlich, dass auch für die deutschen Zionisten ›Nation‹ und ›national‹ grundlegende Schlüsselbegriffe darstellten, mittels derer sie »ihre Wahrnehmung der sozialen Wirklichkeit strukturierte[n], Erfahrungen interpretierte[n] und politisches Handeln motivierte[n]«33. Eine Nation sei »eine historische Menschengruppe von erkennbarer Zusammengehörigkeit, die durch einen gemeinsamen Feind zusammengehalten wird«34. Mit diesen Worten antwortete Theodor Herzl in einem Aufsatz, den er 1899 für die »North American Review« unter dem Titel »On Zionism« verfasst hatte, der jedoch niemals erschien und erst posthum veröffentlicht wurde,35 auf die Frage, welche Merkmale das Wesentliche einer Nation darstellten. Was verstanden die zionistischen Autoren in der Jüdischen Rundschau nun unter ›jüdischer Nation‹ und in welchem historischen Kontext erlangten ihre Definitionen besondere Geltung? In den frühen Ausgaben der Zeitung finden sich indes nur wenige Beiträge, die sich mit einer genauen Bestimmung der für das zionistische Selbstverständnis konstitutiven Begriffe beschäftigen. Eine Rolle mag dabei die angesprochene Schwierigkeit gespielt haben, die abstrakten Kollektivbegriffe über33 Walkenhorst, Nation, S. 82. 34 Herzl, Theodor : Zionismus, in: Ders.: Theodor Herzls Tagebücher, Bd. 1: Tagebücher, Berlin 1922, S. 372. 35 Dieser bei einigen Autoren immer noch umstrittene Befund ergibt sich nach einer Durchsicht der entsprechenden Bände der North American Review des Jahres 1899. Fälschlich: Schoeps, Julius H.: Theodor Herzl und der Judenstaat, in: Ders., Zionismus, S. 17.

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haupt definitorisch zu fassen. Umso wertvoller ist daher ein im Jahr 1902 erschienener anonymer Beitrag, der sich mit dem Wesen sowie den Zielen des Zionismus auseinandersetzte. Darin verdeutlichte der Autor, ganz im Einklang mit der offiziellen Linie der Jüdischen Rundschau unter Heinrich Loewe,36 zunächst seine Nähe zum politischen Zionismus und begründete dann die »Zugehörigkeit zur jüdischen Nation […] durch Bande des Blutes, also Geburt und Abstammung, sodann durch gemeinsame Sprache, wohl auch Sitte und Kultur.«37 Das Nationalitätsbewusstsein werde »erweckt und lebendig gehalten durch das Eindringen in die nationale Geschichte, insbesondere auch in die Geschichte der nationalen Kultur und Wissenschaften.«38 Der Nationsbegriff wurde hier also zunächst mittels einer Kombination aus vorstaatlichen ethnischen und historisch-kulturellen Kriterien gefüllt, indem die ›nationaljüdische Gemeinschaft‹ nach außen durch gemeinsame Abstammung, Kultur und Geschichte abgegrenzt wurde.39 Diese wiesen eine starke Ähnlichkeit zu den wesentlichen ethnonationalen definitorischen Grundlagen des frühen deutschen Nationalismus auf, die selbst nach der Gründung des Nationalstaates 1870/71 nicht an Bedeutung verloren hatten40 und in der Formulierung der »deutschen 36 Zu den ideologischen Strömungen im Zionismus und zur Stellung der Jüdischen Rundschau vgl. Kap. I.2. der Einleitung und Kap. II.4. der vorliegenden Arbeit. 37 Anon.: Der Zionismus, in: JR, VII. Jg., Nr. 44 (31. 10. 1902), S. 34f., hier S. 34. 38 Ebd. 39 Die historische Nationalismusforschung hat darauf hingewiesen, dass der Begriff ›Nation‹ erst mit der Französischen Revolution (1789–1799) zu einem Grundbegriff der politischsozialen Sprache in Deutschland wurde. Analog zur lat. Wortwurzel (»natio«) wurde darunter zunächst eine ethnonationale Gemeinschaft mit gleicher Abstammung (d. h. ethnische Gemeinschaft) verstanden, erst mit der neuzeitlichen Staatsbildung sei die ›Nation‹ als Träger der staatlichen Souveränität bzw. als politisches Verfassungsmodell imaginiert worden, was sich im Begriff ›Nationalstaat‹ bzw. ›Nationalbürgerstaat‹ paradigmatisch gezeigt hätte. Demnach sei jede nationale Bewegung zuerst als gemeinsame Sprach- und Kulturbewegung in den Köpfen von Eliten entstanden und hätte sich erst allmählich zur politischen Bewegung entwickelt. Der politische Nationsbegriff hätte daher analog zur Renanschen ›Willensnation‹ stets ein voluntatives Element beinhaltet und sich mit zunehmender massenkommunikativer Verdichtung und der Herausbildung eines kollektiven Bewusstseins in der Breite einer Bevölkerungsgruppe verankert. Auf den Zionismus lassen sich diese Grundlagen und Merkmale deutscher Nationsbildung nicht eins zu eins übertragen. Vgl. zur Nationalismustheorie Koselleck u. a., Volk; Dann, Nation, S. 26–35; Deutsch, Nationalism; Langewiesche, Nation, S. 14–34. 40 Vgl. Bollenbeck, Georg: Bildung und Kultur. Glanz und Elend eines deutschen Deutungsmusters, Frankfurt 1996; Walkenhorst, Nation, S. 39–48, 80–165. Vgl. hier zum Beispiel die auffallend ähnlichen Definitionen radikaler Nationalisten wie ihres Chefideologen Ernst Hasse (1846–1908), Vorsitzender des Alldeutschen Verbandes von 1893 bis 1908, der sich die ›deutsche Nation‹ als »eine Gesamtheit von Menschen gemeinsamer Abstammung, die eine und dieselbe Sprache sprechen, eine gemeinsame politische und kulturelle Entwicklung durchgemacht haben und das Bewußtsein der Zusammengehörigkeit besitzen« (Hasse, Ernst: Das Deutsche Reich als Nationalstaat, München 1905, S. 7, zit. bei Walkenhorst, Nation, S. 82) vorstellte. Auch bei den Definitionen der Radikalnationalisten fehlte die Be-

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Kulturnation«, die den deutschsprachigen Kulturzionismus nachhaltig beeinflusste,41 ihre pointierte Zuspitzung finden sollten.42 Zugleich betonte der Autor jedoch, dass es Ziel des Zionismus sei, »das Bewusstsein der Zusammengehörigkeit aller Juden, auf Grund ihrer Zugehörigkeit zur jüdischen Nation zu erwecken.«43 Die naturhaft erkennbare Teilhabe aller Juden an der ›nationaljüdischen Gemeinschaft‹ sollte hier also als Voraussetzung zur Stärkung des Zusammengehörigkeitsgefühls dienen, nicht umgekehrt. Somit wurde die WillensKomponente zu einer natürlichen Folge des Nationalgefühls.44 Auffallend an dieser Enumeration notwendiger Merkmale der ›jüdischen Nation‹ ist das Fehlen jeglicher Bezugnahme auf die Begriffe ›Volk‹ und ›Staat‹. Die bewusste Auslassung verweist auf den zu dieser Zeit häufig anzutreffenden konstitutiven Gegensatz von ›(jüdischer) Nation‹ und ›(deutschem) ›Staat‹ in den zionistischen Hybriditätskonstruktionen in der Jüdischen Rundschau. Nach den Worten des anonymen Autors hätten die Gegner des jüdischen Nationali-

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zugnahme auf den ›Staat‹, womit sie ihren ethnisch-kulturellen Vorstellungen von »Nation« den Eindruck von Vorstaatlichkeit verleihen wollten, um deren alleinigen Legitimitätsanspruch zu untermalen. Vgl. bereits Walkenhorst, Nation, S. 82f. Vgl. Vogt, Positionierungen, S. 45f. Vgl. Der Begriff ›Kulturnation‹ wurde vom deutschen Historiker Friedrich Meinecke (1862– 1954) in seinem Werk »Weltbürgertum und Nationalstaat« (1908) popularisiert. Gebräuchlich war er bereits seit der Spätaufklärung. Vgl. Kallscheuer, Otto/Leggewie, Claus: Deutsche Kulturnation vs. französische Staatsnation. Eine ideengeschichtliche Stichprobe, in: Berding, Helmut (Hg.): Nationales Bewußtsein und kollektive Identität, Frankfurt a. M. 1994, S. 112–62. Meinecke gab auf die Frage nach dem Wesen einer Nation die folgende Antwort: »Die Antwort kann nur sein, daß es keine Formel gibt, welche allgemeingültig die Merkmale dafür angibt. Nationen, so sieht man wohl auf den ersten Blick, sind große mächtige Lebensgemeinschaften, die geschichtlich in langer Entwicklung entstanden und in unausgesetzter Bewegung und Veränderung begriffen sind, aber deswegen hat das Wesen der Nation auch etwas Fließendes. Gemeinsamer Wohnsitz, gemeinsame Abstammung – oder genauer gesagt, da es keine im anthropologischen Sinne rassenreinen Nationen gibt –, gemeinsame oder ähnliche Blutmischung, gemeinsame Sprache, gemeinsames geistiges Leben, gemeinsamer Staatsverband oder Föderation mehrerer gleichartiger Staaten – alles das können wichtige und wesentliche Merkmale einer Nation sein, aber damit ist nicht gesagt, daß jede Nation sie zusammen besitzen müßte, um eine Nation zu sein.« (Meinecke, Friedrich: Weltbürgertum und Nationalstaat. Studien zur Genesis des deutschen Nationalstaates, 2., durchges. Aufl. München/Berlin 1911, S. 1). Des Weiteren unterschied er idealtypisch in »Kulturnationen und Staatsnationen, in solche, die vorzugsweise auf einem irgendwelchen gemeinsam erlebten Kulturbesitz beruhen, und solche, die auf der vereinigenden Kraft einer gemeinsamen politischen Geschichte und Verfassung vor allem beruhen. […] Kann man also innerlich Kultur- und Staatsnationen nicht ganz streng und säuberlich voneinander unterscheiden, so kann man es auch äußerlich nicht tun. […] Aber verlor der Elsässer, der vor 1870 der französischen Staatsnation und zugleich auch Kulturnation angehören wollte, darum die tiefen Spuren der deutschen Kulturnation, in der er wurzelte?« (Meinecke, Weltbürgertum, S. 2–4). Anon., Zionismus, S. 34. Vgl. dazu z. B. Renan, Ernst: Qu’est-ce qu’une nation? Paris 1887. Renan gibt auf die Frage »Qu’est-ce qu’une nation?« die Antwort »un pl8biscite de tous les jours« (ebd., S. 27).

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tätsprinzips übersehen, »dass das Staatsbürgerrecht ganz unabhängig ist von der Nationalität. […] Die verschiedenen Nationen bilden das deutsche Volk, welches das deutsche Staatswesen ausmacht.«45 Die Begriffe ›(jüdische) Nation‹ und ›(deutsches) Volk‹ bzw. ›(deutscher) Staat‹ wurden hier also klar voneinander abgegrenzt und bezeichneten unterschiedliche Gemeinschaften, die sich jedoch in der Menge überschnitten, da nach dieser Definition ein ›Volk‹ (wie das deutsche) aus mehreren ›Nationen‹ (wie der jüdischen) bestehen konnte. Neben der ›jüdischen Nation‹ galt dies ebenso für »Staatsbürger polnischer, dänischer, wendischer, slavischer, französischer Nationalität«46, jedoch müssten sich gerade die Angehörigen der ›jüdischen Nation‹ häufiger Angriffe von außen auf ihre Nationalität erwehren. Dem Autor lag daher, wie er abschließend betonte, nicht zuletzt daran, festzustellen, dass aus seiner Sicht die Zugehörigkeit zur ›jüdischen Nation‹ keinen Widerspruch zur Teilhabe am ›deutschen Staatswesen‹ und am ›deutschen Staatsbürgerrecht‹ darstellte.47 Daneben diente der konstruierte Gegensatz auch zur Untermauerung des »Baseler Programms«48, das von einer »öffentlich-rechtlichen Heimstätte«49 und eben nicht von der Errichtung eines eigenen »Staates« in Palästina sprach.50 Die Formulierung der »Heimstätte« stellte gewissermaßen einen realpolitischen Minimalkonsens dar, nachdem Herzl nach seinem ersten Regierungsbesuch in Konstantinopel im Juni 1896 und den sich anschließenden kontroversen Debatten in der zionistischen Bewegung noch vor dem Ersten Zionistenkongress erkennen musste, dass sich seine Maximalforderung eines »Judenstaates«, wie er sie in seinem gleichnamigen Grundlagenwerk des ›politischen Zionismus‹ formuliert hatte, weder nach innen noch nach außen durchsetzen ließ.51 Selbst ein 45 Anon.: Der Zionismus, in: JR, VII. Jg., Nr. 44 (31. 10. 1902), S. 34f., hier S. 34. 46 Ebd., S. 35. 47 Vgl. ebd.: »Es folgt daraus, dass die Zugehörigkeit zu der nicht vorherrschenden Nation durchaus kein Grund zur Verkürzung staatsbürgerlicher Rechte abgibt.« 48 Vgl. zum »Baseler Programm« und seiner Bedeutung für die Jüdische Rundschau Kap. III.2.1.1 der vorliegenden Arbeit. 49 Für eine kurze historische Analyse des Begriffes »Heimstätte« vgl. Meybohm, Wolffsohn, S. 266–269. 50 Vgl. Anon., Zionismus, S. 35: »Der Zionismus erstrebt für das jüdische Volk die Schaffung einer öffentlich-rechtlich gesicherten Heimstätte in Palästina. Es ist nicht gerade die Begründung eines selbstständigen Judenstaates, in irgend einer der bekannten Staatsformen, sondern die einer Gemeinschaft mit Selbstverwaltung beabsichtigt, die öffentlich-rechtlich, also von den andern Staatswesen anerkannt und so der Willkür politischer Machthaber entzogen ist, gleichgültig welchem andern Staate diese Gemeinschaft angegliedert ist.« 51 Vgl. Böhm, Adolf: Die Zionistische Bewegung: Eine kurze Darstellung ihrer Entwicklung, I. Teil: Die Bewegung bis zum Tode Theodor Herzls, Berlin, 1920, S. 273; Bodenheimer, Max I.: So wurde Israel. Aus der Geschichte der zionistischen Bewegung. Erinnerungen von Dr. Max Isidor Bodenheimer, hg. von Henriette Hannah Bodenheimer auf Basis der hebräischen unvollendeten Biographie von 1952, Frankfurt a. M. 1958, S. 83f.; Eloni, Zionismus, S. 81f.; Friedman, Isaiah: Germany, Turkey and Zionism. 1897–1918, Oxford 1977, S. 95; Halpern,

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erster Entwurf des »Baseler Programms«, der noch von einer »völkerrechtlich« gesicherten Heimstätte sprach, wurde in »öffentlich-rechtlich« abgewandelt.52 Dass Herzl jedoch selbst, im Geheimen sozusagen, die Idee eines souveränen53 jüdischen Staates54 weiterhin verfolgte, zeigte sein viel zitierter Tagebucheintrag vom 3. September 1897, in dem er schrieb: »Fasse ich den Baseler Kongress in ein Wort zusammen – das ich mich hüten werde öffentlich auszusprechen – so ist es dieses: in Basel habe ich den Judenstaat gegründet. Wenn ich das heute laut sagte, würde mir ein universelles Gelächter antworten. Vielleicht in fünf Jahren, jedenfalls in Fünfzig wird es jeder einsehen. […] Der Staat ist wesentlich im Staatswillen des Volkes, ja selbst eines genügend mächtigen Einzelnen (l’8tat c’est moi Ludwig XIV) begründet. Territorium ist nur die konkrete Unterlage, der Staat ist selbst, wo er Territorium hat immer etwas Abstraktes. Der Kirchenstaat besteht auch ohne Territorium, sonst wäre der Papst nicht souverän.«55

Die angeführte Stelle ist nicht nur für Herzls politisches Selbstbewusstsein und seine prophetische Gabe, indem er hier gewissermaßen die Gründung des Staates Israel im Jahr 1948 voraussagte, bezeichnend, sondern zuvorderst für seine Staatsauffassung.56 Wie hier und in seiner »Staatsschrift«57 »Der Juden-

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Ben: The Idea of the Jewish State, Cambridge, MA 21969, S. 30; Meybohm, Wolffsohn, S. 263– 266; Shapira, Anita: Reality and Ethos. Attitudes towards Power in Zionism, in: Kozodoy, Ruth/Sidorsky, David/Sultanik, Kalman (Hg.); Vision Confronts Reality. Historical Perspectives on the Contemporary Jewish Agenda, Rutherford 1989, S. 68–119, hier S. 69; Vital, Origins, S. 366. Zur Diskussion um die Formulierung des Baseler Programms vgl. Friedman, Germany, S. 95 und die Rede Max Nordaus auf dem Neunten Zionistenkongress, in: Stenographisches Protokoll der Verhandlungen des neunten Zionisten-Kongresses in Hamburg vom 26. bis inkl. 30. Dez. 1909, Köln 1910, S. 22f. Vgl. z. B. Herzl, Theodor : Der Judenstaat (1896), in: Schoeps, Julius (Hg.): Wenn ihr wollt, ist es kein Märchen. Altneuland/Der Judenstaat, Kronberg 1978, S. 197–250, hier S. 211 und 212. Zum Begriff der »Souveränität« vgl. Meybohm, Wolffsohn, S. 274f. Wie seine Schriften und Tagebucheinträge verdeutlichen sollte der Staatsgründung zunächst die Gründung einer »Kolonialgesellschaft« auf Aktienbasis vorausgehen, die anschließend verstaatlicht werden sollte. In »Altneuland« wurde das jüdische Gemeinwesen in Palästina von der »Neuen Gesellschaft« auf genossenschaftlicher Basis verwaltet. Vgl. Herzl, Theodor : Tagebucheintrag vom 12. 06. 1895, in: Herzl, Theodor: Briefe und Tagebücher, Bd. 2: Zionistisches Tagebuch 1895–1899, bearb. von Johannes Wachten und Chaya Harel in Zusammenarbeit mit Daisy Ticho u. a., Berlin u. a. 1983, S. 117; ders.: Altneuland, in: Schoeps, Julius H. (Hg.): Wenn ihr wollt, ist es kein Märchen. Altneuland/Der Judenstaat, Kronberg 1978, S. 17–193; Meybohm, Wolffsohn, S. 266. Herzl, Theodor : Tagebucheintrag vom 03. 09. 1897, in: Tagebuch, S. 538f. Bislang existiert keine Studie, die auf systematische Weise die Deutungsmuster in Herzls Schriften untersucht. Die bislang beste Untersuchung bildet immer noch die kurze Dissertationsschrift von Döbertin, Winfried: Der Zionismus Theodor Herzls. Ein ideengeschichtlicher Beitrag zu den historischen Voraussetzungen des Staates Israel, Hamburg 1964. Vgl. zum Staats- und Nationsbegriff Herzls weiter seine Bemerkungen zur Verfasstheit der »Society of Jews« in Herzl, Judenstaat, S. 238–240. Aus der umfangreichen Sekundärliteratur zu Herzl vgl. Charbit, Nationalism; Meybohm, Wolffsohn, S. 265f.; Avineri, Shelomoh:

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staat« (1896) erkennbar wird, bestand für Herzl der Theorie nach eine mehr oder weniger weitgehende Übereinstimmung zwischen ›Stamm‹, ›Nation‹ bzw. ›Nationalität‹ und ›Staat‹ bzw. ›Staatsangehörigkeit‹. Der Idee des Staates maß er darüber hinaus die entscheidende Bedeutung für die Übersiedelung des ›jüdischen Volkes‹ in ein eigenes Territorium zu.58 Wie Ivonne Meybohm deutlich macht, formulierte Herzl als kundiger Jurist, der mit den vorherrschenden Diskursen und rechtswissenschaftlichen Ideen seiner Zeit sehr gut vertraut war, aufgrund der realpolitischen Bedürfnisse des Zionismus und den Bedingungen jüdischer Existenz in der Diaspora Georg Jellineks »Drei-Elemente-Lehre« um.59 Nach Jellinek (1851–1911) waren Staatsterritorium, Staatsvolk und Staatsgewalt die konstituierenden Merkmale eines Staates.60 Da es der zionistischen Bewegung bis dato nicht gelungen war, ein eigenes (staatliches) Gemeinwesen zu erlangen, relativierte Herzl nun paradoxerweise das Kriterium des Territoriums und definierte den Staat als abstrakte Größe, indem er idealistische Staatstheorien mit der Idee des Machtstaates verband.61 Gleichermaßen rechtfertigte er so die (symbolische) politische Vertretung des Kollektivs nach außen durch sich und andere Führungsfiguren des politischen Zionismus, die mit ihren diplomatischen Bemühungen in erster Linie ein eigenes Territorium für die Juden erhandeln wollten. Bereits seit dem »Judenstaat« definierte er die ›jüdische Nation‹ bzw. das ›jüdische Volk‹ nicht wie der Kulturzionismus primär als innere geistige und kulturelle Einheit, sondern als historische Schicksalsgemeinschaft, welche sich durch die gemeinsame Erfahrung der Verfolgung und Diskriminierung durch den europäischen Antisemitismus als zusammengehöriges Kollektiv wahrnehmen sollte.62 Wie er griffen viele frühe ›politische Zionisten‹ je-

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Theodor Herzl und die Gründung des jüdischen Staates, Berlin 2016, S. 165–199. Zur Rolle Theodor Herzls für das kollektive Gedächtnis in Israel vgl. Livnat, Andrea: Der Prophet des Staates. Theodor Herzl im kollektiven Gedächtnis Israels, Frankfurt u. a. 2011. So Herzl, Judenstaat, S. 199, selbst im Vorwort. Vgl. ebd., S. 205: »Niemand ist stark oder reich genug, um ein Volk von einem Wohnort nach einem anderen zu versetzen. Das vermag nur eine Idee. Die Staatsidee hat wohl eine solche Gewalt.« Vgl. Meybohm, Wolffsohn, S. 265. Vgl. ebd.; Jellinek, Georg: Allgemeine Staatslehre, Darmstadt 1960 [1900]. Vgl. dazu auch Schoeps, Herzl, S. 17. Nach Jellinek, Staatslehre, S. 426, käme dies einem absurden Kunstgriff gleich: »Die einzelnen Elemente des Staates bedingen sich nämlich gegenseitig, und es ist daher nur hypothetisch möglich, eines von ihnen zu isolieren, da jedes das andere zur Voraussetzung hat.« Vgl. Herzl, Judenstaat, S. 197, 201f., 207–211. Auf S. 211 im Unterkapitel »Wirkung des Antisemitismus« findet sich die folgende Selbstbeschreibung: »Nur der Druck preßt uns wieder an den alten Stamm, nur der Haß unserer Umgebung macht uns wieder zu Fremden. So sind und bleiben wir denn, ob wir es wollen oder nicht, eine historische Gruppe von erkennbarer Zusammengehörigkeit. Wir sind ein Volk – der Feind macht uns ohne unseren Willen dazu, wie das immer in der Geschichte so war. In der Bedrängnis stehen wir zusammen, und da entdecken wir plötzlich unsere Kraft. Ja, wir haben die Kraft, einen Staat,

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doch paradoxerweise zum Mittel der kompensatorischen Überbetonung scheinbar vorstaatlicher, überzeitlicher ethnonationaler Kategorien, die eine enge geistige Verwandtschaft zu kulturzionistischen Vorstellungen aufwiesen. Parallel zur (bi-)polaren semantischen Struktur von ›Nation‹ und ›Volk‹ bzw. ›Staat‹ verwendeten deutsche Zionisten auffallend gehäuft ein weiteres dichotomisches Begriffspaar, das exemplarisch an einer Rede mit dem Titel »Alte und neue Makkabäer« gezeigt werden kann, die der bekannte zionistische Soziologe Franz Oppenheimer im Januar des Jahres 1906 im Gedenken an die gefallenen jüdischen Teilnehmer der Russischen Revolution des Jahres 1905 hielt.63 Oppenheimer unterstrich darin die Berechtigung der jährlichen Makkabäerfeier der Berliner Zionistischen Vereinigung: »In diesem Bewußtsein dürfen wir das Makkabäerfest feiern und bleiben doch gute Deutsche, wenn wir der trotzighohen Ahnen mit Stolz gedenken. Das Blut macht den Stamm aus, nicht das Volk. Was heut Deutsche heißt, ist ein Gewebe, in das Germanen, Kelten, Slawen, Romanen, einzelne Mongolen und Finnen und wir Juden als Fäden eingegangen sind. Was uns mit unserem verschiedenen Blut dennoch alle zu Deutschen macht, ist die gemeinsame Sprache und gemeinsame Geschichte, gemeinsames Glück und gemeinsame Not; unsere Väter haben auf den Schlachtfeldern des 19. Jahrhunderts mit ihrem Blute den Vertrag unterzeichnet, der sie ins deutsche Volk aufnahm; und die Genien Lessings, Herders und vor allem Goethes haben auch unsere Jugend umschwebt. Und doch sind und bleiben wir und nennen uns mit Stolz: Juden!«64

Oppenheimers Rede ist nun in mehrfacher Hinsicht aufschlussreich: Zunächst ist auffallend, dass auch für ihn das ›deutsche Volk‹ die Folie bildete, vor der er seine Selbstbestimmung vornahm, indem er den Begriff ›Stamm‹ zur Charakterisierung der ›nationaljüdischen Gemeinschaft‹ verwendete und dem Begriff des ›Volkes‹ gegenüberstellte.65 Darüber hinaus ist festzuhalten, dass Oppenheimer die Teilhabe an der so entworfenen Gemeinschaft noch stärker eingrenzte, indem er sich auf einen ethnisch-organischen Nationsbegriff zurückzog, der nur die Gemeinsamkeit der Abstammung als Kriterium jüdisch-nationaler Zugehörigkeit gelten ließ und die Bedeutung von Sprache und und zwar einen Musterstaat zu bilden. Wir haben alle menschlichen und sachlichen Mittel, die dazu nötig sind.« 63 Die Rede wurde in der Jüdischen Rundschau retrospektiv fälschlicherweise dem Jahr 1905 zugeordnet und wurde nach dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges im August des Jahres 1914 auszugsweise abgedruckt, um die Parallelität der »Ideale des Freiheitskampfes in Rußland« zu betonen. Vgl. Oppenheimer, Franz: Alte und neue Makkabäer, in: JR, XIX. Jg., Nr. 35 (28. 08. 1914), S. 353–355; ders.: Alte und neue Makkabäer [= Gedenkrede über die russischjüdischen Revolutionäre, gehalten auf der jüdischen Gedenkfeier zu Berlin am 22. Januar 1906], Berlin 1906. 64 Oppenheimer, Franz: Alte und neue Makkabäer, in: JR, XIX. Jg., Nr. 35 (28. 08. 1914), S. 353– 355, hier S. 353. 65 Zur Bedeutung von ›Stamm‹ im zionistischen Diskurs bislang nur Reinharz, Fatherland, S. 81, 128–133, 136, 227f.

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Geschichte relativierte. Gleichzeitig schwächte er diese Exklusivität jedoch ab, indem er denselben semantischen Code auch zur Kennzeichnung der deutschjüdischen ›Blutgemeinschaft‹ verwendete. Um den Mangel an ›Volkscharakter‹ des deutschen Judentums noch zu unterstreichen, stellte Oppenheimer dem ›jüdischen Stamm‹ im Folgenden zwei vollwertige ›jüdische Völker‹ gegenüber : das historische Ahnenvolk der Israeliten und die russische Judenheit der Gegenwart.66 Letzteres begründete er folgendermaßen: »Und dann, weil die Juden Rußlands kein Vaterland haben, nicht einmal ein Stiefvaterland wie wir, sondern überhaupt kein Vaterland. […] Ihre Sprache und ihre Tradition ist nicht die russische, ihre Kultur ist die alljüdische, gemischt mit der westeuropäischen; […] Ja, diese russischen Juden sind nicht nur, wie wir, Glieder eines über alle Welt zerstreuten Stammes, nein, sie sind auch ein Volk mit gemeinsamer Sprache, Ueberlieferung und Kultur. Nichts fehlt ihnen, um ganz ein Volk zu sein, als ein Land eigenen Rechtes.«67

Gerade die gesellschaftliche Situation im Osten Europas, im Besonderen die fortdauernde staatliche Diskriminierung der Juden des Russischen Reiches,68 hätte also die Ausbildung eines echten Loyalitätsverhältnisses zum russischen Staat verhindert, jedoch dadurch die autonome jüdische Kultur konserviert und somit den (vollwertigen) Charakter des ›jüdischen Volkes‹ im Osten überhaupt erst ermöglicht. Anders gesagt: Die Emanzipation der Juden im Westen und ihre emotionale Verbundenheit mit dem politischen und kulturellen Leben Deutschlands hätte ihre Volkswerdung verhindert und ›Assimilation‹ begünstigt. In auffallender Parallelität bzw. Kontrastbildung zum Beiwort ›alldeutsch‹, das z. B. von radikalen deutschen Nationalisten nicht nur zur Bezeichnung des gleichnamigen Verbandes, sondern auch zur Charakterisierung ihres gesamten Weltbildes benutzt wurde, wurde der Begriff ›alljüdisch‹, der sowohl bei völkischen Antisemiten wie Heinrich Claß69 als auch bei Kulturzionisten70 weit ver66 67 68 69

Vgl. Oppenheimer, Makkabäer, S. 353f. Ebd., S. 353. Vgl. dazu Kap. III.3.1 der vorliegenden Arbeit. Vgl. z. B. Einhart [Claß, Heinrich]: Deutsche Geschichte, Leipzig 1919 [1909], S. 609: »Immer maßloser wurde der Kampf gegen die ›Alldeutschen‹, womit alle diejenigen getroffen werden sollten, die bei siegreichem Ausgang des Krieges das deutsche Volk vor der Wiederkehr solcher Gefahr behüten wollten; das Wort ›alldeutsch‹, mit dem nach Belieben der ›Verzichtler‹ die Konservativen und Nationalliberalen, die Landwirtschaft und die Industrie, die freien Berufe und Handwerkerverbände gekennzeichnet wurden, sobald sie sich im Sinne der Erfüllung deutscher Daseinsnotwendigkeiten im Falle des Sieges aussprachen, wurde geradezu zum Schmähwort, und es beleuchtet die Lage, daß die also Angegriffenen ihre Gegner als ›Alljuden‹ oder alljüdisch beeinflußt darstellten.« bzw. Deutsche Zeitung, Ausg. B., Nr. 29 (16. 01. 1920), S. 2, zit. n. Schmitz-Berning, Cornelia: Alljuda (Alljude, alljüdisch), in: Dies.: Vokabular des Nationalsozialismus, Berlin 2007, S. 22f.: »Ja, Ja! Alljuda muß es sich schon gefallen lassen, daß man es beim rechten Namen nennt. Alldeutsch gegen alljüdisch!

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breitet war, hier auf die Vorstellung einer ethnisch oder kulturell homogenen, naturhaften Gemeinschaft bezogen. In einem weiteren Aufsatz, der im Jahr 1910 in der Welt und in der Jüdischen Rundschau erschien und eine Kontroverse auslöste, elaborierte Oppenheimer sein Konzept, indem er den angesprochenen semantischen Strukturen eine weitere Dimension im Kontext des sich verfestigenden zionistischen Diskurses über die sog. »Ostjudenfrage« verlieh.71 Auch wenn die Repräsentativität der Vorstellungen Oppenheimers nur vermutet werden kann,72 zeigten diese, dass sich das Argumentationsmuster ›Stamm‹ weiter verfestigt und das ethnohistorische Verständnis der ›westeuropäischen Zionisten‹ im Untersuchungsmedium noch verstärkt hatte. Einen wahren Höhepunkt erlebte die Selbstbestimmungsdebatte um den Nationsbegriff schließlich im Jahr 1913, als es zu einer scharfen, öffentlichen Kontroverse zwischen der ZVfD und dem Centralverein kam.73 Auslöser der Auseinandersetzungen waren die Beschlüsse in der Delegiertenversammlung des Centralvereins vom 30. März 1913, den Zionisten von der Mitgliedschaft

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All-Deutschland gegen All-Juda! So heißt heute die Parole!« Schmitz-Berning vermutet die Entstehung von »alljüdisch« im Umfeld der radikalen Nationalisten im späten Deutschen Kaiserreich, die damit die in den angeführten Zitaten deutlich gewordene totale Kontrastbildung zu »Alldeutsche, alldeutsch« zum Ausdruck bringen wollten. Die Verwendung im kulturzionistischen Umfeld erwähnt sie nicht. Vgl. dazu auch Leicht, Johannes: »Alldeutsch – vielleicht alljüdisch?« Rassistische und antisemitische Semantiken in der Agitation des Alldeutschen Verbandes in den Jahren 1891 bis 1919, in: Jahrbuch für Antisemitismusforschung 13 (2004), S. 111–137. Vgl. dazu etwa Willemsen, Martina: Fritz Mordechai Kaufmann und »die Freistatt«. Zum ›alljüdischen‹ Literaturkonzept einer deutsch-jüdischen Monatsschrift (conditio judaica), Tübingen 2007. Vgl. Kap. III.3.1 der vorliegenden Arbeit und Weiss, Westjuden; Aschheim, Brothers; Maksymiak, Zionism; Weiss, Yfaat: East European Jewry as a Concept and Ostjuden as a Presence in German Zionism, in: Schatz/Wiese, Janusfiguren, S. 149–165. So Aschheim, Brothers, S. 96–98 und Reinharz, Fatherland, S. 128–133. Reinharz, Fatherland, S. 133 betont, dass »most German Zionists and the entire leadership of the ZVfD supported his point of view«. Nach der Gründung der ZVfD hatte ursprünglich ein neutrales, wenn auch nicht immer konfliktfreies Verhältnis zwischen den beiden Organisationen bestanden, was sich u. a. in zahlreichen parallelen Vereinsmitgliedschaften und gelegentlichen Berichten in den Vereinszeitungen Jüdische Rundschau bzw. Im deutschen Reich geäußert hatte. Zwischen den Jahren 1910 und 1913 verschlechterte sich das Verhältnis des Centralvereins zur ZVfD jedoch erheblich, indem beide Organisationen für sich den Alleinvertretungsanspruch für das deutsche Judentum offensiver reklamierten und eine zunehmend feindliche Position zueinander entwickelten. Sichtbares Zeichen dieser veränderten Haltung waren mehrere Debatten, in denen über das Verhältnis von »Deutschtum« und »Judentum« und über das Wesen des Judentums öffentlich gestritten wurde. Die Haltung der Jüdischen Rundschau in diesen Debatten wie der »Sombart-Debatte« und der »Kunstwart-Debatte« wird in Kap. III.3.3.1 Gegenstand einer kurzen Analyse sein. Zur Sichtweise des Centralvereins in diesen Debatten vgl. Barkai, Centralverein, S. 35–54; Dietrich, Christian: Verweigerte Anerkennung. Selbstbestimmungsdebatten im »Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens« vor dem Ersten Weltkrieg, Berlin 2014, S. 83–121.

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auszuschließen, »der ein deutsches Nationalgefühl leugnet, sich als Gast im fremden Wirtsvolk und national nur als Jude fühlt […].«74.75 In einer Reihe von Artikeln setzten sich deutsche Zionisten im Anschluss nicht nur mit den Vorwürfen der Centralvereinler, sondern damit auch mit der Definition der ›jüdischen Nation‹ auseinander.76 Sie sind in diesem Zusammenhang von Interesse, da sie belegen, dass die angesprochenen Argumentationsmuster mittlerweile von vielen deutschen Zionisten als konstitutiv für das Selbstverständnis des zionistischen Nationalismus empfunden wurden. Daneben zeigen sie, dass die oben beschriebenen semantischen Differenzierungen vor allem im Kontext zionistischer Loyalitätskonflikte und der Abwehr des Vorwurfs einer Vernachlässigung staatsbürgerlicher Pflichten, der sich vor dem Hintergrund des deutschen Diskurses um die Nationalisierung der Staatsangehörigkeit intensivierte, Geltung beanspruchten. In einem anonymen Leitartikel, der mit dem Schlagwort »National« überschrieben war und exemplarischen Charakter in der Debatte trug, formulierte der Autor seine Definition von ›jüdischem Nationalismus‹ wie folgt: »Was wir unter national verstehen, ist die geburtsmäßige Stammeszugehörigkeit. Diese ist einer der wirksamsten Faktoren in der Welt. Die legitime Bezeichnung dafür ist ›national‹. Es gibt keinen anderen kurzen und klaren Ausdruck dafür, und darum halten wir an ihm fest, gleichviel, ob andere ihn verdrehen möchten oder ihn mißverstehen. Nationalgefühl und Patriotismus sind aber nicht dasselbe. Manchmal sind es Gegensätze, weil Vaterland und Nation nicht selten im Gegensatz zu einander stehen. 74 Anon.: Diskussion [Protokoll], in: Im deutschen Reich, Jg. 19, Heft 5/6 (Mai 1913), S. 224– 247, hier S. 247. Im vollen Wortlaut: »Der Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens bezweckt nach § 1 seiner Satzungen, die deutschen Juden ohne Unterschied der religiösen und politischen Richtung zu sammeln, um sie in der tatkräftigen Wahrung ihrer staatsbürgerlichen und gesellschaftlichen Gleichstellung sowie in der unbeirrten Pflege deutscher Gesinnung zu bestärken. Hieraus ergibt sich die Stellung des Centralvereins zu den Zionisten. Wir verlangen von unseren Mitgliedern nicht bloß die Erfüllung der staatsbürgerlichen Pflichten, sondern deutsche Gesinnung und die Betätigung dieser Gesinnung im bürgerlichen Leben. Wir wollen die deutsche Judenfrage nicht international lösen. Auf dem Boden des deutschen Vaterlandes wollen wir als Deutsche an deutscher Kultur mitarbeiten und unserer durch unsere Religion und unsere Geschichte geheiligten Gemeinschaft treu bleiben. Soweit der deutsche Zionist danach strebt, den entrechteten Juden des Ostens eine gesicherte Heimstätte zu schaffen oder den Stolz des Juden auf seine Geschichte und seine Religion zu heben, ist er uns als Mitglied willkommen. Von dem Zionisten aber, der ein deutsches Nationalgefühl leugnet, sich als Gast im fremden Wirtsvolk und national nur als Jude fühlt, müssen wir uns trennen.« (Ebd., S. 246f.). 75 Vgl. dazu Dietrich, Anerkennung, S. 108–121. 76 Vgl. Anon.: National, in: JR, XVIII. Jg., Nr. 15 (11. 04. 1913), S. 135: »Man mag über die Bedeutung der Erlaubnis im Zentralverein mittun zu dürfen der einen oder der anderen Meinung sein, aber die Gelegenheit ist nicht ungünstig dem Unfug der Begriffsverschiebung einmal auf den Leib zu rücken. Hat doch das viele Hin und her selbst unter Zionisten dazu geführt, daß Viele den Begriff des Nationalen für unklar und strittig halten. Das ist er aber durchaus nicht!«

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Auch mit Kulturbewußtsein, Staatsbürgertum usw. ist das Nationalgefühl nicht identisch. Ein Dutzend Generationen einer gutjüdischen Familie kann ein Dutzend Staatszugehörigkeiten aufweisen und ebenfalls eine reiche Auswahl verschiedener stark wirkender Kultureinflüsse, und es gibt zahlreiche jüdische Familien von heute, deren Glieder den verschiedensten Staaten und Kulturkreisen angeboren. – Nationalität aber ist keine Sache der freien Wahl, sie ist das unveränderliche Resultat des Faktums der Geburt. Geborene Juden (aus jüdischem Stamm geborene) können nur jüdisch national sein. Deutscher Nation – d. h. deutschen Stammes – sind wir nicht und können es nicht sein. Deutscher und jüdischer Nation – was manche sein möchten – sind sehr wenige: nämlich Kinder aus Mischehen zwischen Deutschen und Juden. Diese aber legen meist keinen Wert darauf, neben ihrem Deutschtum auch ihr Judentum zu betonen. Nationale Deutsche sind wir deutschen Juden also nicht, aber auch viele andere deutschen Staatsbürger sind nicht deutscher Nationalität. […] Man sieht aus diesen wenigen Andeutungen, daß die tatsächlichen Beziehungen zwischen Nationalität und Patriotismus, Kulturgemeinschaft und Staatsbürgertum ganz andere sind, als die Centralvereinler denken oder zu denken vorgeben.«77

Vielleicht noch prägnanter als in den oben zitierten Beispielen wird der Nationsbegriff hier auf die Kategorie der gemeinsamen Abstammung bzw. das Geburtsprinzip78 verengt und so auf seinen etymologischen Grundgehalt zurückgeführt.79 Lediglich die in den Quellen nun gehäuft auftretende Verwendung von Begriffsbildungen mit »-gefühl« und »-bewusstsein« lässt vermuten, dass sich bei den Zionisten durchaus auch ein Bewusstsein für die Subjektivität der Bedeutungsgehalte und das Vorhandensein einer voluntaristischen Komponente ausgebildet hatte.80 77 Ebd. 78 Vgl. analog zum »deutschen Nationalgefühl« Wassermann, Ludwig: Deutsches Nationalgefühl, in: JR, XVIII. Jg., Nr. 15 (11. 04. 1913), S. 135: »Alle diese staatsbürgerlichen Eigenschaften und Gefühle haben nichts gemein mit dem Nationalgefühl. Deutsches Nationalgefühl kann auch der Oesterreicher haben oder der Schweizer. Nationalgefühl und staatsbürgerliches Gefühl sind also ganz verschiedene Dinge. Wichtiger für den Staat ist das letztere. Oft entspringt es dem ersteren, doch kann es dies nur, wo gewisse Voraussetzungen gegeben sind. Diese Voraussetzungen aber liegen in der Geburt. Darum kann kein Jude deutsches Nationalgefühl haben, er kann und mag der beste deutsche Staatsbürger sein!« 79 Darauf wies auch Moses Calvary in seiner Besprechung eines Artikels von Ludwig Wassermann hin. Calvary, Deutsch-national, S. 157: »In dem Aufsatz, den Ludwig Wassermann an dieser Stelle gegen den Zentralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens schrieb, wird der Versuch gemacht, das Wort ›national‹ negativ dadurch zu definieren, daß es in einen Gegensatz zum staatsbürgerlichen Gefühl gestellt wurde. Positiv verweist der Verfasser auf das Zusammengehörigkeitsgefühl, das auf der Bluts- und Familienverwandtschaft, sowie der gemeinsamen Vergangenheit begründet ist. Zu dieser Auffassung, die sicher im wesentlichen berechtigt ist, stimmt die Etymologie des Wortes: nasci – abstammen.« 80 Vgl. dazu auch die Bemerkung ebd., S. 157: »Das Nationalgefühl aber umfaßt beide: die Nation und die Nationalität. Das unterscheidet es vom bloßen Stammesgefühl, daß der Stamm nur eine Blutseinheit bedeutet, gewissermaßen in die Naturgeschichte gehört, wahrend Nation und Nationalität den Stamm darstellen, soweit er auch zur Kulturgemeinschaft erwächst, ein Begriff des Geisteslebens. Ein Volk, schreibt Gundolf in seinem

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Der Begriff ›Stamm‹, den zahlreiche deutsche Zionisten mittlerweile zur Lösung ihrer Loyalitätskonflikte instrumentalisierten und der die Komponente der Abstammung im Wortlaut aufnahm, konnte auf eine lange Verwendungsgeschichte im (deutsch-)nationalen, antisemitischen und (liberal-)jüdischen Diskurs zurückblicken.81 So wurde er bereits in der Bibelübersetzung Luthers zur Bezeichnung der ›zwölf Stämme Israels‹ verwendet, die nach dem Tanach, der hebräischen Bibel, im Besonderen der Bereschit, dem ersten Buch Moses, in ihrer Gesamtheit das von JHWH erwählte ›Volk Israel‹ bilden.82 Seine moderne Bedeutung erhielt der Begriff erst seit dem 19. Jahrhundert.83 Wie ein Lexikoneintrag aus dem Jahr 1819 im Brockhaus zeigt, hatte sich spätestens zur Zeit des deutschen Frühliberalismus die Vorstellung etabliert, dass sich das ›deutsche Volk‹ aus verschiedenen ›Stämmen‹ zusammensetze.84 Autoren wie Ernst Moritz Arndt85 oder Wilhelm Heinrich Riehl86 verwendeten den Begriff ›Stamm‹ im entsprechenden Sinne um die Jahrhundertmitte, um die in den Quellen des Mittelalters und der Frühen Neuzeit noch als Angehörige der ›deutschen Völker‹ (z. B. Franken, Bayern, Sachsen, Pfälzer) bezeichneten ›Deutschen‹ zu ver-

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Shakespearebuch, entsteht und besteht nicht durch biologische Bande, auch nicht durch Institutionen und Wirtschaftsnetze, sondern durch ein (von all diesen ursprünglich unabhängiges) gemeinsames Pathos, eine Gesamtspannung, einen zentralen Willen, der durch alle seine Glieder waltete.« Zum Begriff ›Stamm‹ in deutsch-nationalen und liberal-jüdischen Diskursen vgl. Kaplan, Marion A.: Redefining Judaism in Imperial Germany. Practices, Mentalities and Community, in: Jewish Social Studies 9 (2002), S. 1–33; Koselleck u. a., Volk, S. 174–179; Brenner, Michael: Religion, Nation oder Stamm. Zum Wandel der Selbstdefinition unter den Juden, in: Haupt, Heinz-Gerhard/Langewiesche, Dieter (Hg.): Nation und Religion in der deutschen Geschichte, Frankfurt/New York 2001, S. 587–601; van Rahden, Till: Germans of the Jewish Stamm. Visions of Community between Nationalism and Particularism. 1850 to 1933, in: Gregor, Neil/Roemer, Nils/Roseman, Mark (Hg.): German History from the Margins, Bloomington/Indianapolis 2006, S. 27–48; Hirschfelder, Gunther/Winterberg, Lars: Das ›Volk‹ und seine ›Stämme‹: Leitbegriffe deutscher Identitätskonstruktionen sowie Aspekte ihrer ideologischen Funktionalisierung in der ›Volkskunde‹ der Weimarer Republik und des ›Dritten Reichs‹, in: Fischer, Erik (Hg.): ›Deutsche Musikkultur im östlichen Europa‹: Konstellationen – Metamorphosen – Desiderata – Perspektiven (Berichte des interkulturellen Forschungsprojektes »Deutsche Musikkultur im östlichen Europa«; Bd. 4), Stuttgart 2012, S. 22–44; Cresti, Silvia: German and Austrian Jews’ Concept of Culture, Nation and Volk, in: Liedtke, Rainer/Rechter, David (Hg.): Towards Normality? Acculturation and Modern German Jewry (Schriftenreihe wissenschaftlicher Abhandlungen des Leo-BaeckInstituts; Bd. 68), London/Tübingen 2003, S. 271–290, hier vor allem S. 277–280. Vgl. Koselleck u. a., Volk, S. 174. Vgl. ebd., S. 171. Vgl. z. B. Art. Volk – Volksstamm, in: Brockhaus. Conversations-Lexicon oder encyclopädisches Handwörterbuch für gebildete Stände, Bd. 10, Leipzig 1819, S. 371. Der Literaturhinweis findet sich bei van Rahden, Stamm, S. 45, Fn. 32. Vgl. Arndt, Ernst Moritz: Versuch in vergleichender Völkergeschichte, Leipzig 1843. Vgl. Riehl, Wilhelm Heinrich: Die Naturgeschichte des Volkes als Grundlage einer deutschen Social-Politik, 4 Bde., Stuttgart/Augsburg 1851–1869.

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schiedenen ›Stämmen‹ des ›deutschen Volkes‹ zu machen.87 Der ›Stamm‹ übernahm hier in erster Linie also kompensatorische Funktion, indem er zu einem Medium wurde, vorstaatliche, vornationale oder föderale ethnische Zugehörigkeiten und Partikularidentitäten auszudrücken und diese dem neuen omnipotenten Ordnungsmodell der ›Nation‹ beizuordnen bzw. ihnen auf diesem Weg neue Legitimität zu verleihen.88 Dazu boten sich die Unschärfe des Begriffes und die Metaphorik des Wortes ›Stamm‹ geradezu an: So evozierte er nicht nur die Konnotation einer weitverzweigten und mit unterschiedlichen Merkmalen ausgestatteten, wenn auch auf gemeinsame Abstammung zurückzuführenden, biologischen Spezies oder die eines im Boden fest verwurzelten, unveränderlichen Substrates, sondern wurde auch im (historisch-) anthropologischen Sinne zur Bezeichnung einer größeren Gruppe von Menschen mit gemeinsamen ethnischen und historisch-kulturellen Merkmalen verwendet.89 Gerade nach der Gründung des Deutschen Kaiserreichs wurde der Rekurs auf den ›Stamm‹ prominent, indem die ›deutschen Stämme‹ nun den ›deutschen Nationalstaat‹ bildeten.90 Selbst in den Reden der deutschen Kaiser diente das Deutungsmuster ›Stamm‹ als ein beliebtes Anrede- oder Erzählmuster.91 Eine öffentliche Klimax der Verwendung fand der Begriff ›Stamm‹ im Umkreis des sog. Berliner Antisemitismusstreits, einer scharfen, öffentlichen Debatte, die vom Jahr 1879 bis in die 1880er Jahre andauerte und durch den Aufsatz »Unsere Aussichten« des konservativen Historikers Heinrich von Treitschke ausgelöst wurde.92 Auch wenn sich Heinrich Graetz, der wohl prominenteste jüdische Historiker des 19. Jahrhunderts, gegen den Treitschkes Polemik in erster Linie gerichtet war, Heinrich von Treitschke und weitere Beteiligte wie Theodor Mommsen in ihren Argumentationsmustern wesentlich unterschieden, sprachen sie in ihren Schriften doch übereinstimmend vom ›jüdischen Stamm‹.93 87 88 89 90

Vgl. Koselleck u. a., Volk, S. 174. Ähnlich auch van Rahden, Stamm, S. 36f. Vgl. Hirschfelder/Winterberg, Leitbegriffe, S. 27f. Vgl. Green, Abigail: Fatherlands. Building and Nationhood in Nineteenth-Century Germany, Cambridge 2001, S. 174–176. 91 Vgl. z. B. die Thronrede Kaiser Wilhelms II. vor den Abgeordneten des Reichstags, Eröffnungssitzung im Weißen Saale des Königlichen Schlosses zu Berlin am Dienstag, den 4. August 1914, in: Verhandlungen des Reichstags. Stenographische Berichte. Dreizehnte Legislaturperiode. Zweite Session, Berlin 1914, Bd. 306, S. 1–2, hier S. 2: »An die Völker und Stämme des Deutschen Reichs ergeht Mein Ruf, mit gesamter Kraft, in brüderlichem Zusammenstehen mit unseren Bundesgenossen, zu verteidigen, was wir in friedlicher Arbeit geschaffen haben.« In der zitierten Rede teilte Kaiser Wilhelm II. den Reichstagsabgeordneten die Mobilmachung der deutschen Armee und den Eintritt des Deutschen Reiches an der Seite Österreich-Ungarns in den Ersten Weltkrieg mit. 92 Vgl. van Rahden, Stamm, S. 27. Zum ›Berliner Antisemitismusstreit‹ vgl. Boehlich, Antisemitismusstreit; »Berliner Antisemitismusstreit«. 93 Vgl. Cresti, Concept, S. 278–280; van Rahden, Stamm, S. 29, 37.

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Treitschke, der wohl bekannteste Vertreter einer deutschen Nationalgeschichtsschreibung im Kaiserreich, der einen historischen und etatistischen Nationalismus vertrat, verwendete den Begriff ›Stamm‹ nun in Bezug auf die deutschen Juden, um zu zeigen, dass das »fremde[s] Element […] in unserem Leben einen allzu breiten Raum eingenommen hat«94.95 Mit dieser Sicht stellte sich Treitschke unbewusst in die Tradition einiger Autoren, die bereits vor der Nationalstaatsgründung den Begriff ›Stamm‹ in Opposition zu ›Nation‹ verwendet und betont hatten, dass es vor der Entstehung der deutschen Nationalidee kein »echtes Nationalbewußtsein«, sondern »nur Stammgefühl und nichts Höheres« gegeben hätte.96 Das ›Stammesgefühl‹ und die Existenz der ›Stämme‹ konnten somit zu einem entscheidenden Hindernis für die Nationalstaatsbildung erklärt werden.97 Auch die Argumentation Treitschkes, dass die jüdische Bevölkerung ihre partikulare Sonderidentität ablegen sollte, da er diese für unvereinbar mit der Nationsbildung im jungen Nationalstaat hielt, war an sich nicht neu, sondern ein wesentlicher Bestandteil emanzipatorisch-etatistischer Leitvorstellungen seit der Aufklärung: Den Juden sollten zwar gleiche (staatsbürgerliche) Rechte gewährt werden, dies sollte aber mit der Übernahme gleicher Pflichten und der Aufgabe ihrer Identität als eigener gesellschaftlicher Gruppe bzw. als »Staat im Staate« und ihren besonderen beruflichen, kulturellen und religiösen Traditionen sowie korporativen Selbstverwaltungsrechten einhergehen.98 Während das Deutungsmuster ›Stamm‹ in den 1880er und 1890er Jahren auch in antisemitischen Kreisen zunehmend beliebter wurde,99 um die so wahrgenommene jüdische Unfähigkeit zur Assimilation zu charakterisieren, wurde es nach der Gründung des deutschen Nationalstaates auch vermehrt von jüdischen Autoren aus dem liberalen Milieu aufgegriffen.100 Letztere argumentierten ge-

94 Treitschke, Heinrich von: Unsere Aussichten, in: Preußische Jahrbücher 44 (1879), S. 559– 576, hier S. 575. 95 Vgl. Wyrwa, Ulrich: Genese und Entfaltung antisemitischer Motive in Heinrich von Treitschkes »Deutscher Geschichte im 19. Jahrhundert«, in: Bergmann, Werner/Sieg, Ulrich (Hg.): Antisemitische Geschichtsbilder (Antisemitismus: Geschichte und Strukturen Bd. 5), Essen 2009, S. 83–101; ders.: Heinrich von Treitschke. Geschichtsschreibung und öffentliche Meinung im Deutschland des 19. Jahrhunderts, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 51:9 (2003), S. 781–792. 96 Rückert, Heinrich: Deutsches Nationalbewußtsein und Stammesgefühl im Mittelalter (Hist. Taschenbuch, 4. F.; Bd. 2), 1861, S. 371, zit. nach Koselleck u. a., Volk, S. 175. 97 Vgl. ebd. 98 Vgl. Erster Teil. 1780–1847, in: Brenner, Michael u. a.: Deutsch-jüdische Geschichte in der Neuzeit, Bd. II: Emanzipation und Akkulturation. 1780–1871, München 1996, S. 15–285. 99 Vgl. zum Judenbild der radikalen Nationalisten z. B. Walkenhorst, Nation, S. 281–303. 100 Cresti, Concept, und van Rahden Stamm, nennen als Träger u. a. Adolf Jellinek, Walter Rathenau, Moritz Lazarus, daneben die Allgemeine Zeitung des Judenthums, Israelitische

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radezu in umgekehrter Weise, die deutschen Juden nur als einen weiteren ›Stamm‹ neben den anderen ›deutschen Stämmen‹ zu betrachten. Nach van Rahden muss das Aufkommen des Begriffes ›Stamm‹ in diesen Kreisen in erster Linie vor dem Hintergrund der fortschreitenden Verweltlichung und Pluralisierung jüdischer Vorstellungswelten im 19. Jahrhundert betrachtet werden, in deren Folge das neue Kriterium der ›Stammeszugehörigkeit‹ neben religiös konnotierte Gemeinschaftskonzepte101 trat.102 Für viele Vertreter der liberalen Strömung im Judentum bildete ›Stamm‹ gewissermaßen auch einen Kompromiss zwischen ›Religion‹ und ›Nation‹.103 Dass auch zionistische Autoren auf das Deutungsmuster des ›jüdischen Stammes‹ zurückgriffen, zeigt, dass sie darin ein wirkungsvolles Argumentationsmuster erkannt zu haben glaubten, um ihre ethnische und historisch-kulturelle Eigenart zu rechtfertigen und zu legitimieren. Mehr noch: Durch die Verwendung eines sowohl in (deutsch-)nationalen wie jüdischen Kreisen wohl etablierten Narrativs konnten sie ihrer eigenen hybriden Diskursposition besondere Glaubwürdigkeit und Attraktivität verleihen und an bereits vorhandene Deutungen anknüpfen, die sie an ihre eigenen Erfahrungs- und Erwartungswelten anpassten. Da sie sich als ›nationale Gemeinschaft‹ imaginierten, gebot es ihre Logik, ›Stamm‹ komplementär mit ›Nation‹ zu verwenden und dann entsprechend vom ›deutschen Staat‹ oder vom ›deutschen Volk‹ zu sprechen. Übereinstimmung bestand auch bei der situativen Begriffsverwendung, indem die semantische Unterscheidung zwischen ›Nation‹/›Stamm‹ und ›Staat‹ fast durchgängig in Gesprächszusammenhängen getroffen wurde, die sich mit der Loyalität der Zionisten zum ›deutschen Staat‹ und zum zionistischen Nationalismus beschäftigten. Dabei dienten die Deutungsmuster zugleich auch als Gegennarrativ und als Differenzkategorie, um die Vorwürfe der Vernachlässigung staatsbürgerlicher Pflichten seitens assimilierter, liberaler Juden wie der Centralvereinler und seitens radikaler Nationalisten gleichermaßen zu entkräften.104

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Wochenschrift und die K.C.-Blätter, Bnei Brith und den Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens. Vgl. van Rahden, Stamm, S. 29, der hier vom Konzept der »individual Mosaic confession« spricht. Vgl. ebd., S. 30f. Nur ein spätes Beispiel für die Nebeneinanderstellung beider Konzepte ist der bekannte Aufsatz »Glaube und Heimat« (1917) von Eugen Fuchs, dem Mitgründer und Vorsitzenden des Centralvereins (1917–1919). Fuchs, Eugen: Glaube und Heimat, in: Neue jüdische Monatshefte. Zeitschrift für Politik, Wirtschaft und Literatur in Ost und West, I. Jg., Nr. 22 (25. 08. 1917), S. 629–641, hier S. 633, definierte darin das Judentum als »eine Religions-, eine Stammesgemeinschaft, keine Nation«. Vgl. dazu auch Gotzmann, Andreas: Zwischen Nation und Religion. Die deutschen Juden auf der Suche nach einer bürgerlichen Konfessionalität, in: Ders. u. a. (Hg.): Juden. Bürger, Deutsche. Zur Geschichte von Vielfalt und Differenz 1800–1933, Tübingen 2001, S. 241–261. Vgl. van Rahden, Stamm, S. 31. Vgl. Oppenheimer, Makkabäer, S. 353: »Haben wir dennoch das Recht, diese fast ver-

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Gerade in den frühen Ausgaben der Jüdischen Rundschau distanzierten sich die deutschen Zionisten daher explizit von anderen nationalen Minderheiten in Preußen oder im Deutschen Reich, wie den Polen oder den Dänen, die aus ihrer Sicht die (tatsächliche) staatliche Unabhängigkeit und »Loslösung« von »Kaiser und Reich« anstrebten.105 In unmittelbarer Reaktion auf den Beschluss im Centralverein hatte zum Beispiel auch die ZVfD eine Resolution gefasst, in der sie sich für die Berechtigung der eigenen Sache aussprach und ausdrücklich erklärte, dass die »jüdischnationale Gesinnung und Betätigung«, die sie im ersten Absatz analog zu den genannten Autoren kraft der Klammer von gemeinsamer Abstammung und Überlieferung sowie der »historische[n] Kontinuität des Judentums«106 definierte, in keinem Widerspruch zur Wahrnehmung der staatsbürgerlichen Pflichten durch die deutschen Zionisten stände.107 schollene Heldentat einer zersprengten Nation zu feiern? Die Frage ziemt sich, denn nicht wenige unserer Mitbürger arischer Abstammung, ja, sogar viele unserer eigenen Religionsgenossen schauen scheel auf solche ›national-jüdischen‹ Anwandlungen. Sie wollen, daß wir nichts als Deutsche, Franzosen, Engländer usw. seien, keine Nation, nein, nur eine Religions-Genossenschaft. […] So dürfen auch wir, unbeschadet unserer Staatsbürgerpflicht, unbeschadet unserer Liebe zu dem Vaterlande, das uns gebar, die hohen Ahnen feiern.«; Anonym, National, S. 135: »Was aber die staatsbürgerliche Gleichstellung der Juden in Deutschland betrifft, so erstreben wir diese ebenso kräftig wie irgend wer sonst. Wir wissen uns darin einig mit allen anständigen und ehrenwerten Juden, sind ober um so mehr der Ueberzeugung, daß diese – alle guten Elemente der deutschen Judenheit einigende Bestrebung den denkbar ungeeignetsten Rahmen für innerjüdische Differenzen abgeben sollte.«; Wassermann, Nationalgefühl, S. 135: »Da und dort haben sogenannte Notabeln, Rabbiner und auch sonst im jüdischen Gemeinwesen angesehene Männer immer wieder versucht, uns in unserer Eigenschaft als gute deutsche Staatsbürger zu verdächtigen, weil wir Zionisten sind. Zionismus und Staatsbürgertum sind zwei voneinander völlig unabhängige Faktoren. Man kann Zionist und dabei ein recht schlechter Staatsbürger sein und man kann andererseits sich als bewußter Nationaljude fühlen und als der beste deutsche Staatsbürger wirken.« 105 Vgl. z. B. Anon.: Litteraturbericht, in: JR, VII. Jg., Nr. 42 (15. 10. 1902), S. 20f.: »Wir halten uns an die Rede des Deutschen Kaisers, die er kürzlich in dem Städtehaus in Posen hielt, wo es heisst: ›Der zweite Irrtum ist der, dass die Besorgnis wach erhalten wird, dass die Stammeseigentümlichkeiten und Überlieferungen ausgelöscht werden sollen. Dem ist nicht so. Das Königreich Preussen setzt sich aus vielen Stämmen zusammen, welche stolz sind auf ihre frühere Geschichte und ihre Eigenart. Das hindert sie jedoch nicht, vor allen Dingen brave Preussen zu sein!‹ Darum lassen wir uns eben nicht ein- und aufreden, dass man unsere jüdisch-nationalen Bestrebungen in eine Parallele mit den polnisch-nationalen oder dänisch-irredentistischen stellen darf; denn wir streben weder unsere Loslösung noch die eines Landesteils von Preussen an, sondern halten unverärgert und unverbittert treu zu Kaiser und Reich. Aber wir sind jüdisch-national im bewussten Gegensatze zur Assimilation. Führt diese aus dem Judentum hinaus, so wollen wir in das Judentum erst recht hinein.« Zu den nationalen Minderheiten im Deutschen Kaiserreich vgl. Kleßmann, Christoph: Nationalitäten im deutschen Nationalstaat, in: Langewiesche, Dieter (Hg.): Das deutsche Kaiserreich 1867/71. Bilanz einer Epoche, Freiburg/Würzburg 1984, S. 128–138. 106 Das Zentralkomitee der Zionistischen Vereinigung für Deutschland, Rechtsanwalt Dr. Hantke, Vorsitzender : Erklärung, in: JR, XVIII. Jg., Nr. 14 (04. 04. 1913), S. 135. 107 Vgl. ebd., 3. Abs.: »Diese jüdischnationale Gesinnung und Betätigung berührt in keiner

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Um dies anschaulich zu belegen, bemühten sich die deutschen Zionisten nicht selten um eine Zerlegung des »Staatsbürgergefühls« in seine einzelnen Komponenten wie »Patriotismus«, »Liebe zum Vaterland«, »Heimatsgefühl« oder »Heimatbewußtsein«.108 »Patriotismus« und »Vaterland« traten besonders gehäuft auf, wobei das männlich konnotierte Deutsche Reich einen auffallenden geschlechtsspezifischen Gegensatz zum »mütterlichen Boden«109 und der »Mutter«110 Palästina bildete und somit wohl im zeitgenössischen Diskurs typische geschlechterdifferente Assoziationen hervorrief.111 Der Begriff ›Patriotismus‹ hingegen hatte seit seinem ersten Auftreten in der Luther-Bibel eine markante Bedeutungsverschiebung erfahren, indem ihn Intellektuelle in der deutschen Spätaufklärung zur Bezeichnung der Pflichten des Staatsbürgers gegenüber seinem ›Vaterland‹ und seiner Tugendhaftigkeit einsetzten.112 Seinen kosmopolitischen Beigeschmack verlor der Begriff schließlich im Laufe des 19. Jahrhunderts, als er von der deutschen Nationalbewegung vereinnahmt und synonym mit ›Nationalismus‹ verwendet wurde.113 Gemeinsam mit dem Begriff

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Weise die Interessen des Deutschen Reiches, noch steht sie mit unserer aufrichtigen staatsbürgerlichen Gesinnung und Betätigung im öffentlichen Leben Deutschlands in Widerspruch. Wenn der Zentralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens einen solchen Widerspruch zu konstruieren sucht, so liegt darin eine Verkennung des nationalen Charakters des Judentums und der historisch gegebenen Beziehung des Judentums zum Deutschtum. Unsere staatsbürgerliche Auffassung schließt nicht nur die formale Erfüllung unserer Pflichten, sondern eine auf der Erkenntnis von der sittlichen Bedeutung des Staates beruhende Treue und Hingabe ein, die aber niemals zur Aufhebung des auf viertausendjähriger Geschichte beruhenden nationalen Zusammenhanges führen kann, der uns mit allen Juden verbindet. Wir weisen daher den vom Zentralverein unternommenen Versuch, unsere staatsbürgerliche Zuverlässigkeit vor der Oeffentlichkeit zu verdächtigen, und unsere tätige Anteilnahme an dem öffentlichen Leben Deutschlands mit den Konsequenzen für unvereinbar zu erklären, die wir aus unserer Zugehörigkeit zur jüdischen Nation zu ziehen haben, auf das Entschiedenste zurück.« Vgl. hier auch Wassermann, Nationalgefühl, S. 135: »Wir lieben das deutsche Vaterland, weil wir genau wissen: guter Staatsbürger und guter Zionist sein, das ist kein Widerspruch!« Vgl. Calvary, Deutsch-national. Loewe, Heinrich: Martinique in Kischinew, in: JR, VIII. Jg., Nr. 19 (08. 05. 1903), S. 174–176, hier S. 176. Anon. [Loewe, Heinrich]: Der Weg zum Ziel, in: JR, IX. Jg., Nr. 13 (25. 03. 1904), S. 119–122, hier S. 120. Vgl. Frevert, Ute: Geschlechter-Identitäten im deutschen Bürgertum des 19. Jahrhunderts, in: Assmann, Aleida/Friese, Heidrun (Hg.): Identitäten. Erinnerung, Geschichte, Identität 3, Frankfurt a. M. 1998, S. 181–216. Zur Geschlechterdifferenz im nationalen Diskurs Deutschlands vgl. z. B. Brandt, Bettina: Germania und ihre Söhne. Repräsentationen von Nation, Geschlecht und Politik in der Moderne, Göttingen 2010; Planert, Ute: Vater Staat und Mutter Germania. Zur Politisierung des weiblichen Geschlechts im 19. und 20. Jahrhundert, in: dies. (Hg.): Nation, Politik und Geschlecht. Frauenbewegungen und Nationalismus in der Moderne, Frankfurt 2000, S. 15–65. Gewissermaßen ersetzten die deutschen Zionisten somit ›Germania‹ durch ›Palästina‹. Vgl. Koselleck u. a., Volk, S. 309–314, 320. Vgl. dazu Kronenberg, Volker : Patriotismus in Deutschland, Perspektiven für eine welt-

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des ›Vaterlandes‹ gehörte er spätestens im Deutschen Kaiserreich zum Grundrepertoire deutscher Nationalisten, wobei seine »freiheitliche Komponente«114 immer mehr zurückgedrängt wurde und er zunehmend zum Agitationsbegriff rechtskonservativer und radikalnationalistischer Kreise wurde.115 Um eine besonders prägnante Begründung der Vereinbarkeit von ›Zionismus‹ und ›Patriotismus‹ bemühte sich beispielsweise der Münchner Zionist Ludwig Wassermann, indem sein Zionismus, mittels dem sich das Individuum dem Kollektiv unterordnet, gewissermaßen zur Schule des Staatsbürgers erklärt wird: »Das Gefühl des Staatsbürgers für den Staat, das sich in: Patriotismus in der Liebe zum Land und zum Herrscher (als dem Repräsentanten des monarchischen Staates) äußert, basiert auf der Gleichheit der Interessen, auf der Einsicht, daß alle wirtschaftlichen und kulturellen Wohltaten die Existenz des Staates zur Voraussetzung haben. Darum wird der gute Staatsbürger ganz selbstverständlich den Staat fördern, ihn schützen und mit Gut und Blut für ihn eintreten. In diesem Sinne glaube ich gibt es nicht das leiseste Hindernis für den Juden (gleichviel, ob Zionist oder nicht) guter Staatsbürger zu sein; ja der Zionismus ist geradezu geeignet, zum guten Staatsbürger zu erziehen, indem er in uns den ungesunden Egoismus erstickt und uns die Augen öffnet über die höheren Pflichten, die dem Einzelindividuum, als Teil der Gesamtheit, erwachsen. Erzieht der Zionismus uns zu sittlich höher stehenden Menschen, so leistet er dabei gleichzeitig (wenn auch ohne direkte Absicht) staatsbürgerliche Erziehung.«116

Eine ähnliche begriffliche Sezierung unternahm auch der Posener Rechtsanwalt und Zionist Max Kollenscher, dessen kurze Broschüre »Zionismus und Staatsbürgertum«, die auf Initiative der Ortsgruppe Posen im Jahr 1904 im »Verlag Jüdische Rundschau« herausgegeben wurde,117 in Auszügen auch in der Jüdischen Rundschau erschien.118 Kollenscher unterteilte darin »Staatsbürgertum«, das aus seiner Sicht ebenfalls nichts mit ›Nationalität‹ zu tun hätte,119 in die Bestandteile »Patriotismus«, der hier wiederum einen Oberbegriff bilden sollte,120 und »staatsbürgerliche Pflichten«,121 wobei er letztere weiter in »Gehorsamspflicht und Treupflicht«122 zerlegte.123 Das Deutsche Kaiserreich definierte

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offene Nation, 3., überab. und akt. Aufl. Wiesbaden 2013, S. 24–30, 147, 190, 315; König, Daniel: Patriotismus in Deutschland, Hamburg 2002, S. 84–87. König, Patriotismus, S. 87. Vgl. Kronenberg, Patriotismus, S. 147, 190; König, Patriotismus, S. 87. Wassermann, Nationalgefühl, S. 135. Vgl. Kollenscher, Max: Zionismus und Staatsbürgertum, hg. von der Zionistischen Ortsgruppe Posen, Berlin 1904. Vgl. Kollenscher, Max: Zionismus und Staatsbürgertum, in: JR, IX. Jg., Nr. 30 (29. 07. 1904), S. 319f.; ebd. (Schluss), in: JR, IX. Jg., Nr. 31 (05. 08. 1904), S. 333–335. Vgl. Kollenscher, Zionismus [Broschüre], S. 2. Vgl. ebd., S. 2–6. Ebd., S. 1, 6–8. Ebd., S. 7. Vgl. dazu auch ebd., S. 1.

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er demnach als (bloßes) »Staatsvolk«, dem auch die Zionisten angehörten.124 Insgesamt beabsichtigte er mit seiner kurzen Abhandlung zu zeigen, »[d]ass Zionismus und Patriotismus sich sehr wohl mit einander vertragen […]«125 und die »national-jüdischen Interessen […] mit den Deutschen Reichsinteressen nicht im geringsten Widerspruch«126 ständen. Die deutschen Zionisten partizipierten mit ihren Bemerkungen über ›Nationalgefühl‹ und ›Staatsbürgergefühl‹ darüber hinaus an den Diskursen über den Nationalstaatscharakter des Deutschen Reiches wie sie einen öffentlichen Höhepunkt in den Jahren 1912 und 1913 in der Debatte um das Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz (1913) fanden.127 Die Ursache für diese Debatte lag im Wesentlichen in den beschriebenen konkurrierenden Nationsvorstellungen, die im deutschen Nationalismus zirkulierten. Seit der Reichsgründung hatte der »Nationalstaat« als neues nationales Deutungsmuster eine prominente Stellung im nationalistischen Denken und Handeln eingenommen,128 jedoch zeigte sich im Verlauf der Debatte, dass die konkrete begriffliche Formulierung des Reichsund Staatsangehörigkeitsgesetzes stark durch radikalnationalistische Agitationsverbände und deren ethnisch-kulturelle Deutungsmuster beeinflusst wurde.129 Im Ergebnis schrieb das Gesetz in seiner endgültigen Fassung vom 22. Juli 1913 die »Nationalisierung des Staatsbürgers im Sinne einer Angleichung der Staatsangehörigkeit an vorstaatlich-vorpolitische Nationsvorstellungen im ius sanguinis«130 fest. Insgesamt zeigte die Debatte, welche Bedeutung die Ge124 125 126 127 128

Ebd., S. 3. Ebd., S. 7f. Ebd., S. 3. Vgl. zur Debatte Walkenhorst, Nation, S. 149–165. Vgl. Breuilly, Nationalism; ders., National Idea; Eley, Geoff: Place in the Nation. The Meaning of »Citizenship« in Wilhelmine Germany, in: Ders./Retallack, James (Hg.): Wilhelminism and its Legacies. German Modernities, Imperialism and the Meaning of Reform. 1890–1930, New York 2003, S. 16–33; Gosewinkel, Dieter : Einbürgern und Ausschließen. Die Nationalisierung der Staatsangehörigkeit vom Deutschen Bund bis zur Bundesrepublik, Göttingen 2001; ders.: Staatsbürgerschaft und Staatsangehörigkeit, in: GG 21 (1995), S. 533–556; Langewiesche, Funktionswandel; Mackert, Jürgen: Kampf um Zugehörigkeit. Nationale Staatsbürgerschaft als Modus sozialer Schließung, Opladen 1999; Messerschmidt, Manfred: Reich und Nation im Bewußtsein der wilhelminischen Gesellschaft, in: Schottelius, Herbert/Deist, Wilhelm (Hg): Marine und Marinepolitik im kaiserlichen Deutschland 1871–1914, Düsseldorf 21981, S. 11–33; Walkenhorst, Nation, S. 39–48. 129 Vgl. Walkenhorst, Nation, S. 149–165; Eley, Geoff: Die Staatsangehörigkeit als Institution des Nationalstaats. Zur Entstehung des Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetzes von 1913, in: Grawert, Rolf u. a. (Hg.): Offene Staatlichkeit, Berlin 1995, S. 359–378; Mommsen, Wolfgang J.: Nationalität im Zeichen offensiver Weltpolitik. Das Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz des Deutschen Reiches vom 22. Juni 1913, in: Hettling, Manfred/Nolte, Paul (Hg.): Nation und Gesellschaft in Deutschland. Historische Essays. Hans-Ulrich Wehler zum 65. Geburtstag, München 1996, S. 128–141. 130 Gosewinkel, Einbürgern, S. 325f. [Hervorhebung im Original]. Vgl. dazu auch Wippermann, Wolfang: Das Blutrecht der Blutsnation. Zur Ideologie- und Politikgeschichte des ius

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sellschaft des Deutschen Kaiserreichs der Frage der Zugehörigkeit zum deutschen Nationalstaat und der Staatsangehörigkeit beimaß. Diese Priorisierung und die Vorstellung einer »Blutsnation«131 war auch den Zionisten als Staatsbürgern des Deutschen Reiches nicht verborgen geblieben und hatte – wie der beschriebene Diskurs zeigte – ihre eigene Selbstwahrnehmung tief beeinflusst und zu komplexen Hybriditätsentwürfen geführt. Aus der Sicht Calvarys beispielsweise, dessen Artikel eine Doppelseite in der Jüdischen Rundschau im April 1913 gewidmet wurde, bildete der Staat einen neuen, unverzichtbaren allgemeinen Machtfaktor,132 wodurch das »Staats- und Heimatsbewußtsein« zu einem wesentlichen Bestandteil des »Nationalgefühls des deutschen Staatsbürgers« geworden war.133 Dass das neue etatistische Nationsverständnis jedoch in einem Spannungsverhältnis zu den angesprochenen ethnonationalen Vorstellungen stand, wurde auch von Calvary wahrgenommen, der nun von einem überwölbenden »deutschen Nationalgefühl« sprach, in das nicht nur die genannten Komponenten, sondern auch die Vorstellung einer gemeinsamen Abstammung, Geschichte und vor allem Sprache und Kultur eingegangen waren.134

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sanguinis in Deutschland, in: Ders. u. a. (Hg.): Blut oder Boden, Doppel-Pass, Staatsbürgerrecht und Nationsverständnis, Berlin 1999, S. 10–48; ders.: Das »ius sanguinis« und die Minderheiten im Deutschen Kaiserreich, in: Hahn, Hans Henning/Kunze, Peter (Hg.): Nationale Minderheiten und staatliche Minderheitenpolitik in Deutschland im 19. Jahrhundert, Berlin 1999, S. 133–143. Wippermann, Blutsnation. Vgl. Calvary, Deutsch-national, S. 157: »In diesem Sinne kann kaum ein Zweifel sein, daß heute auch das deutsche Staatsbewußtsein mitverstanden wird, wenn man von deutschem Nationalbewußtsein redet. Seitdem die individuelle Staatsauffassung, nach der der Staat berufen ist, dem einzelnen zu dienen, geschwunden oder im Schwinden begriffen ist, seitdem wir erkannt haben, daß im Staat, insofern er nicht nur die individuellen Leistungen steigert, sondern die Welt um einen neuen, überindividuellen Wert bereichert hat, sich eine höchste menschliche Kraft manifestiert, seitdem hat der Staatsgedanke eine innere Beseelung erfahren, die ihm auch in der Vorstellung ›deutsches Nationalgefühl‹ eine beherrschende Stellung anwies.« Zur Stellung von nationalen Minderheiten im Nationalstaat allgemein vgl. Jaworski, Rudolf: Nationalstaat, Staatsnation und nationale Minderheiten. Zur Wechselwirkung dreier Konstrukte, in: Hahn, Hans Henning/Kunze, Peter (Hg.): Nationale Minderheiten und staatliche Minderheitenpolitik in Deutschland im 19. Jahrhundert, Berlin 1999, S. 19–27. Calvary, Deutsch-national, S. 157. Vgl. ebd.: »Wenn aber beide Erlebnisse, das Staats- und das Heimatbewußtsein, nur den Bürger Deutschlands – im geographischen und staatlichen Sinne des Wortes – erfassen können, so erhebt doch das deutsche Nationalgefühl den Anspruch, auch für den Deutschen Oesterreichs und der Schweiz zu gelten. Hier eben wird der Begriff der gemeinsamen Abstammung wichtig, nicht im Sinne einer germanischen Rasse, sondern eben eines deutschen Stammestums, mag dieses wie immer keltisch-romanisch-germanisch-slawisch gemischt sein. Aber entscheidend ist sie nicht: der Deutsch-Amerikaner ist im Begriff, in ein amerikanisches Nationalgefühl hineinzuwachsen. Den Ausschlag scheint die Sprache zu geben: aus welch anderem Grunde hätte der Schweizer, nicht aber der Holländer deutsches Nationalgefühl. Die Sprache aber ist, neben der Sitte und neben der gemeinsamen Geschichte ein Hauptmerkmal der Kultur : in dem Bewußtsein deutscher Kulturgemeinschaft

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Ihm war auch nicht entgangen, dass dieses Spannungsverhältnis zu Bedeutungsverschiebungen im deutschen Nationalismus geführt hatte – vermutlich spielte Calvary auf das (radikalnationalistische) Konzept des ›Deutschtums im Ausland‹135 an,136 das bei konsequenter Anwendung beispielsweise auch »den Deutschen Oesterreichs und der Schweiz«137 oder den »Deutsch-Amerikaner«138 einschließen müsse.139 Bestimmte Komponenten des auf diese Weise definierten »deutschen Nationalgefühls«, so die entschiedene Forderung Calvarys, ständen jedoch auch uneingeschränkt und ohne Abstriche allen Staatsangehörigen des Deutschen Reiches zu und somit auch den deutschen Zionisten.140 Um die eigene (minoritäre) (Diskurs-)Position zu verdeutlichen, griffen die Zionisten nun auch verstärkt zum Mittel der Analogiebildung und verglichen sich mit anderen nationalen Minderheiten wie der polnischen Bevölkerung im Deutschen Reich und den nationalen Minderheiten im Vielvölkerstaat Österreich-Ungarn.141 Während die deutschen Zionisten nach der Gründung des deutschen Nationalstaates also ständig aufs Neue versuchten, ihre Loyalitätskonflikte als Angehörige einer (gefühlten) nichtdeutschen nationalen Gemeinschaft und als Angehörige des deutschen Nationalstaates zu lösen, entwickelten sie hybride Begriffskonstruktionen wie ›Stamm‹ und ›Staat‹ und verliehen damit vorgefertigten Deutungsmustern eine neue, eigentümliche Prägung.

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steckt das vierte wichtige Moment des deutschen Nationalgefühls. […] Das also ist deutsches Nationalgefühl: der Wille zu einer auf gemeinsamer Abstammung und Geschichte beruhenden gemeinsamen Kultur, der aber für die Bürger Deutschlands die Liebe zur gemeinsamen Heimat, den Zusammenschluß zu einem gemeinsamen Machtstaate mit in sich umfaßt.« Zum Begriff vgl. Weidenfeller, Gerhard: VDA – Verein für das Deutschtum im Ausland. Allgemeiner Deutscher Schulverein (1881–1918). Ein Beitrag zur Geschichte des deutschen Nationalismus und Imperialismus im Kaiserreich, Frankfurt 1976, S. 74–97. Vgl. Calvary, Deutsch-national, S. 157: »Um dieses Unterschiedes willen, der das Nationalgefühl des deutschen Staatsbürgers von dem ebenso vorhandenen der anderen Deutschen scheidet, scheint eine Abbiegung in der Bedeutung des Wortes ›Nationalität‹ stattgefunden zu haben: während es früher die Volkseigenheit bezeichnete, wird es heute meist im Sinne von Volkstum gebraucht, eben für die Volksteile, die von dem Staate abgesplittert sind.« Ebd. Ebd. Vgl. ebd., Fn.: »Eine Differenzierung bildet sich: das von Puristen gebildete Wort ›deutschvölkisch‹ wird mehr für die Gefühle der Nationalität gebraucht, ohne Beziehung auf Heimat und Staat, während es ursprünglich das Wort ›deutsch-national‹ überhaupt ersetzen sollte.« Vgl. ebd., S. 158. Vgl. zu diesen Analogien z. B. Wassermann Nationalgefühl, S. 135: »Pole und Tscheche können gleichartig fühlen als Staatsbürger Oesterreichs. Diese staatsbürgerlichen Gefühle ähneln dem Nationalgefühl, aber sie sind ihm absolut nicht identisch. Sie sind auch nur da ähnlich, wo nationale Interessen und Staatsbürgerinteressen sich nicht feindlich gegenüberstehen, wie es z. B. beim Polentum in Deutschland der Fall ist.«

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Zionistische Volksbilder

1.2.1 Nationaljüdische Völkerpsychologie und die Suche nach ›Gemeinschaft‹ und ›Ganzheit‹142 Neben den bereits beschriebenen hybriden semantischen Nuancierungen und diskursiven Strategien, die vor allem die Auseinandersetzung deutscher Zionisten mit ihrem Verhältnis zum deutschen Nationalstaat veranschaulichen, wurden die Begriffe ›Nation‹ (bzw. ›Stamm‹) und ›Volk‹ in anderen Gesprächszusammenhängen gewöhnlich synonym verwendet. Eine höhere Allgemeinheit und Verwendungsdichte besaß in der Regel der Volksbegriff, so in vielzitierten Begriffsverbindungen wie »jüdisches Volk«143, »[jüdisches] Volkstum«144, »Judenvolk«145 und »Volksjudentum«146. Mehr noch als der Nationsbegriff diente der Volksbegriff im ›politischen Zionismus‹ als universaler und zentraler Bewegungs- und Aktionsbegriff. In einem eher abstrakten Sinn sollte damit der Alleinvertretungsanspruch der zionistischen Bewegung für das Judentum betont werden: »Wir sind national weil wir unsere Ziele und unsere Kräfte aus den immanenten Kräften und Zielen des Gesamtvolkes – wie sie in den Jahrtausenden der Diaspora sich immer wieder dokumentierten – schärfen. Nicht eine Gruppe im jüdischen Volk sind wir mit spezifischer Anschauung und spezifischen Zwecken – sondern das jüdische Volk! […] Der Zionismus ist das jüdische Volkstum, weil er die durch die jüdische Kultur und die jüdische Geschichte sichtbar gewordenen Volkstendenzen in der ihm eigenen Bewegungsrichtung erhalten will. Weil wir ganze Juden sind, sind wir Zionisten. […] Dass der Zionismus das jüdische Volkstum ist, muss uns die magna charta unserer Ueberzeugungen werden.«147

So wurde der Begriff des »Volkes« nicht selten dem der »Partei« oder dem der »Gruppe« gegenübergestellt, um zu verdeutlichen, dass nur der politische Zio142 Vgl. dazu den Titel von Harrington, Anne: Die Suche nach Ganzheit. Die Geschichte biologisch-psychologischer Ganzheitslehren. Vom Kaiserreich bis zur New-Age-Bewegung, Reinbek 2002. 143 L., H. [Loewe, Heinrich]: Rosch-hasch-schanah, in: JR, VII. Jg., Nr. 40 (01. 10. 1902), S. 1–3, hier S. 1, 2. 144 Loewe, Heinrich: Fasten, wie es uns geboten wurde, in: JR, VII. Jg., Nr. 41 (10. 10. 1902), S. 1f., hier S. 2.; L., H. [Loewe, Heinrich]: Die Makkabäer, in: : JR, VII. Jg., Nr. 52 (24. 12. 1902), S. 97–99, hier S. 98. 145 Redaktion: Litteraturbericht »Die Lehrer der Mischnah«, in: JR, VIII. Jg., Nr. 4 (23. 01. 1903), S. 27; Loewe, Heinrich Das Jüdische Volk in seiner Trauer, in: JR, IX. Jg., Nr. 27 (08. 07. 1904), S. 284f., hier S. 284. 146 Democratissimus (Erster Berliner Gemeindebrief): Der grüne Tisch, in: JR, IX. Jg., Nr. 49 (09. 12. 1904), S. 429. 147 Zlocisti, Theodor : Zur Situation des Zionismus (II), in: JR, X. Jg., Nr. 10 (10. 03. 1905), S. 105f., hier S. 106.

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nismus die Gesamtheit des Judentums symbolisiere und in dessen Interesse handele.148 Die Deutungsmuster ›Einheit‹, ›Einigkeit‹ und ›Einmütigkeit‹ besaßen gerade im frühen politischen Zionismus wie schon bei Herzl149 und Nordau herausragende Bedeutung, wobei (politischer) Zionismus als »Volksbewegung«150 inszeniert wurde.151 Gerade die Verbindung des Wortes »jüdisch« mit dem Volksbegriff sollte das Selbstbewusstsein der zionistischen Bewegung und den Anspruch auf nationale Selbstbehauptung demonstrieren.152 In der Jüdischen Rundschau wurden daneben häufig entsprechende Komposita wie »Volksbrüder«153 oder Volksgenossen»154 zur Bezeichnung der Mitglieder des (eigenen) zionistischen Kollektivs verwendet, womit »persönliche Vergemeinschaftsbeziehungen«155 erzeugt werden sollten. Herzl würdigten deutsche Zionisten der ersten Stunde wie Israel Auerbach, Adolf Friedemann, Heinrich Loewe und Max Bodenheimer in ihren Nachrufen als »Vater des Jüdischen Volkes«156, »Fürst des Volkes«157 oder »grosse[n] Volksführer«158.159 Nach Herzl spielte der äußere Druck und die Erfahrung von Antisemitismus eine wesentliche Rolle bei der Entstehung von Zusammengehörigkeitsgefühl unter den Juden und deren »Volkswerdung«.160 Das »jüdische Volk« stellte aus seiner Sicht das Volk dar, das in der Geschichte am meisten an Verfolgung und Unterdrückung gelitten und gerade in diesen Herausforderungen und Widrigkeiten seine Beharrungsfähigkeit und Einzigartigkeit unter Beweis gestellt hätte.161 Viele zionistische Autoren nahmen dieses Bild in der Jü-

148 Vgl. Anon. [Loewe, Heinrich]: Der Weg zum Ziel, in: JR, IX. Jg., Nr. 13 (25. 03. 1904), S. 119– 122, hier S. 119: »Wir bilden keine politische Partei im gewöhnlichen Sinne und wollen keine bilden. Wir wollen das jüdische Volk selbst sein.« 149 Vgl. Herzl, Judenstaat, S. 201: »Wir sind ein Volk, ein Volk.« 150 Ebd., S. 240. 151 Vgl. dazu auch Kap. III.2.1 der vorliegenden Arbeit. 152 Vgl. Loewe, Heinrich: Jude und Israelit, in: JR, VII. Jg., Nr. 40 (01. 10. 1902), S. 3f. 153 Loewe, Fasten, S. 2. 154 Loewe, Heinrich: Der Landsucher, in: JR, X. Jg., Nr. 3 (20. 01. 1905), S. 23–25. 155 Weber, Gemeinschaften, S. 176. 156 Loewe, Heinrich Das Jüdische Volk in seiner Trauer, in: JR, IX. Jg., Nr. 27 (08. 07.1904), S. 284f., hier S. 284. 157 Ebd. 158 Anon. [Loewe, Heinrich]: Hänsel und Gretel, in: JR, IX. Jg., Nr. 50 (16. 12. 1904), S. 439f., hier S. 439. 159 Zum Herzl-Bild in der Jüdischen Rundschau vgl. auch Kap. III.2.1.2 der vorliegenden Arbeit. 160 Vgl. Herzl, Judenstaat, S. 211: »So sind und bleiben wir denn, ob wir es wollen oder nicht, eine historische Gruppe von erkennbarer Zusammengehörigkeit, Wir sind ein Volk – der Feind macht uns ohne unseren Willen dazu, wie das immer in der Geschichte so war. In der Bedrängnis stehen wir zusammen, und da entdecken wir plötzlich unsere Kraft.« 161 Vgl. ebd., S. 202: »Durch Druck und Verfolgung sind wir nicht zu vertilgen. Kein Volk der Geschichte hat solche Kämpfe und Leiden ausgehalten wie wir.«

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dischen Rundschau auf, indem sie den Volksbegriff mit Attributen wie »arm«162 verbanden, um Nationaljudentum als historische Schicksalsgemeinschaft oder Leidensgemeinschaft zu definieren.163 Indem der Volksbegriff so mit konkreten Adjektiven attribuiert wurde, wurden dem ›jüdischen Volk‹ durch die rhetorische Figur der fictio personae charakteristische Wesensmerkmale zugeschrieben, die es gegenüber anderen Kollektiven besonders auszeichnen und ihm Singularität verleihen sollten. Gleichzeitig wurde dadurch dem Zionismus als nationalpolitischer Idee und Bewegung Legitimität verliehen. Peter Walkenhorst hat in seiner begriffsgeschichtlichen Analyse des radikalen Nationalismus im Deutschen Kaiserreich darauf hingewiesen, dass sich der Begriff des ›Volkes‹ auch deshalb im Besonderen für die nationale Sinngebung eignete, da er die Bildung zahlreicher Komposita und Derivate ermöglichte164 »und damit die Konstruktion eines semantischen Feldes, dessen einzelne Begriffe aufeinander verwiesen und sich so wechselseitig in ihrem Bedeutungsgehalt stützten«165. Dies spiegelte sich auch in zionistischen Begriffsverbindungen wie »Volksvermögen«166, »Volkswille«167, »Volkscharakter«168, »Volksindividualität«169, »Volksgeist«170 oder »Volksseele«171 wider, kraft derer dem zionistischen Kollektiv weitere menschliche Züge und Eigenschaften verliehen werden sollten. Das ›jüdische Volk‹ sollte so zu einem selbständigen Kollektivsubjekt erklärt werden, das zu eigenem Fühlen, Denken und Handeln fähig war und die Entwicklung der Geschichte erheblich mitbestimmte und mitgestaltete. Auch im hebräischen Kulturzionismus bei Achad Ha’am tauchte die Vor162 Vgl. etwa Friedemann, Adolf: Kopf hoch!, in: JR, IX. Jg., Nr. 30 (29. 07. 1904), S. 321f., hier S. 321. 163 Vgl. auch die Rhetorik in den Nachrufen auf Herzl wie bei Auerbach, Israel: Tröstet, tröstet mein Volk!, in: JR, IX. Jg., Nr. 27 (08. 07.1904), S. 308 [Anm., S. S.]: »Der Trost-Sabbath naht. Wieder haben wir bleich und gebückt auf der Erde gesessen und die alten wehmütigen Klagen angestimmt, in deren Melodie der tausendjährige Schmerz eines ganzen Volkes um sein Höchstes gebannt ist.« 164 Vgl. Walkenhorst, Nation, S. 86f. 165 Ebd. 166 L., H. [Loewe, Heinrich]: Zur Erforschung von Palästina, in: JR, VII. Jg., Nr. 47 (21. 11. 1902), S. 59–61, hier S. 59. 167 Loewe, Heinrich: Die Waisen von Kischinew, in: JR, VIII. Jg., Nr. 23 (05. 06. 1903), S. 221f., hier S. 221. 168 Jeremias, Carl: Unnötige Sorgen. Eine Erwiderung auf den Artikel des Herrn E. Auerbach, in: JR, VII. Jg., Nr. 49 (05. 12. 1902), S. 73f., hier ebd.; Anon. [Loewe, Heinrich]: Prozess Nardenkötter, in: JR, VIII. Jg., Nr. 8 (20. 02. 1903), S. 57f., hier S. 58. 169 Tykocinski (Leipzig): Assimilation oder Zionismus, in: JR, IX. Jg., Nr. 25 (24. 06. 1904), S. 264f., hier S. 265. 170 Loewe, Heinrich: Wer spricht Jargon, in: JR, IX. Jg., Nr. 4 (22. 01. 1904), S. 33–35, hier S. 33; Anon., Hänsel, S. 439. 171 Loewe, Erforschung, S. 59.

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stellung von der Individualität eines Volkes im Begriff der »Volksseele«172 auf. Nach Ha’am hätte sich ein grundlegender Wandel derselben in der Diaspora vollzogen, da das Einzelinteresse der Volksindividuen das Interesse für das Wohl der Allgemeinheit verdrängt hätte und sich der Einzelne nicht mehr bedingungslos in den Dienste seines Volkes stelle.173 Dieser Egoismus könne nur über eine »Wiederbelebung der Herzen«174 überwunden werden. Viele der in der Jüdischen Rundschau zirkulierenden zionistischen Volksbilder bedienten sich demnach auch bereitwillig und intensiv bei kulturzionistischen Vorstellungen oder trugen selbst wesentlich zur Formulierung einer deutschsprachigen kulturzionistischen Ideologie bei.175 Vor allem Heinrich Loewe, der nicht zuletzt bereits während seiner Studienzeit über seine beschriebene Mitgliedschaft beim »Russisch-jüdischen wissenschaftlichen Verein« mit den kulturzionistischen Schriften Achad Ha’ams in Berührung gekommen war, entwickelte in seinen zahlreichen Beiträgen zum Thema einen Volksbegriff, der ›Volk‹ und ›Nation‹ zur Deckung brachte und ihre »internal dimension« (Gideon Shimoni) in den Fokus rückte: »Denn das ist eben der Unterschied zwischen Volk und Nation auf der einen Seite, zwischen blosser Bevölkerung und Rasse andererseits, dass die beiden letztgenannten Begriffe auf rein äusserlichen Unterscheidungsmerkmalen beruhen, während das Volkstum geistige Faktoren zu seiner Voraussetzung hat.«176

Die Komplementarität von ›Volk‹ und ›Nation‹ und die Vorstellung eines ›Volkes‹ als Individualpersönlichkeit wurde von Johann Gottfried Herder (1744– 1803) in die Nations- und Volkstheorie eingeführt,177 auf den sich einige Beiträger auch direkt bezogen.178 Nach Herder besaß jedes ›Volk‹ einen essentialistischen, individuellen Charakter, der in erster Linie in seiner ureigenen au172 173 174 175

Haam, Achad: Nicht dies ist der Weg!, in: Schoeps, Zionismus, S. 95–105, hier S. 101, 102. Vgl. ebd., S. 102. Ebd., S. 103. Zum deutschsprachigen Kulturzionismus mit einem Schwerpunkt auf Martin Buber und Robert Weltsch vgl. Vogt, Positionierungen, S. 41–112. Auch Vogt betont den wichtigen Beitrag Heinrich Loewes zum deutschsprachigen Kulturzionismus, geht jedoch nur in wenigen Sätzen auf den Inhalt seiner Nationalismuskonzeptionen ein. Vgl. Vogt, Positionierungen, S. 44 und 95f. 176 Loewe, Heinrich: Kanaan und Hellas (1), in: JR, IX. Jg., Nr. 8 (19. 02. 1904), S. 70–74, hier S. 70. 177 Vgl. Koselleck u. a., Volk, S. 316–319. Zum Volksbegriff Herders vgl. auch Koepke, Wulf: Das Wort ›Volk‹ im Sprachgebrauch Johann Gottfried Herders, in: Lessing Yearbook 19 (1987), S. 209–221; Sauerland, Karol: Herders Auffassung von Volk und Nation, in: Razbojnikova-Frateva, Maja (Hg.): Interkulturalität und Nationalkultur in der deutschsprachigen Literatur, Dresden 2006, S. 21–34; Gaier, Ulrich: Herders Volksbegriff und seine Rezeption, in: Borsche, Tilman (Hg.): Herder im Spiegel der Zeiten. Verwerfungen der Rezeptionsgeschichte und Chancen einer Relektüre, Paderborn 2006, S. 32–57. 178 Vgl. z. B. Michaelis, Paul: Die neue Jugend, in: JR, XIX. Jg, Nr. 21, (21. 05. 1914), S. 221.

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thentischen Poesie, Kultur, Tradition und Sprache zum Ausdruck kam. In Herders Sprach- und Kulturtheorie findet sich in Auseinandersetzung mit der Rousseau’schen Erziehungs- und Gesellschaftsphilosophie die Schlussfolgerung für das Verhältnis des Einzelnen zu der ihn umgebenden ›nationalen Gemeinschaft‹: Der Mensch sei »in seiner Bestimmung ein Geschöpf der Herde, der Gesellschaft«179 und kein »Selbstgeborener«180. Menschsein verwirkliche sich daher erst über die Teilnahme an den kulturellen und ästhetischen Ausdrucksformen eines Volkes.181 Besondere Bedeutung komme in diesem Prozess, so Herder, der Sprache zu, deren »Fortbildung […] dem Menschen so natürlich als seine Natur selbst«182 sei. Obwohl Herder prinzipiell von einem allgemeinen Humanitätsideal ausging und die Mannigfaltigkeit des menschlichen Geistes hervorhob, glaubte er in den unterschiedlichen kulturellen Ausdrucksformen der Völker und Nationen Unterschiede in deren ›Kultiviertheit‹ zu erkennen.183 Herder beeinflusste nicht zuletzt die kulturzionistischen Vorstellungen von Heinrich Loewe und anderen Beiträgern wesentlich.184 Die Deutung von ›Volk‹ und ›Nation‹ als »geistige[n] Individuen«185 fand ihre wohl prägnanteste Ausprägung in der Jüdischen Rundschau in einer zweiteiligen Artikelserie von Heinrich Loewe, die im August und im November 1908 erschien. Die dort vorherrschenden Deutungsmuster hatte Loewe im Wesentlichen bereits in mehreren Beiträgen in der Zeitschrift Zion und in einem längeren, gleichnamigen Aufsatz mit dem Titel »Nation und Nationalismus« entwickelt, der im Zentralorgan des »Bundes Jüdische Corporationen« (BJC), Der jüdische Student, dessen Schriftleitung er bis März 1903 übernommen hatte, im Oktober 1902 erschienen war.186 Loewe relativierte darin die Bedeutung von ›objektiven‹ Nationalismuskriterien zur Bestimmung eines ›Volkes‹, bei denen es sich aus seiner Sicht um (bloße) ›Äußerlichkeiten‹ wie »Sprache, Territorium, Sitten und Bräuche, Staatsangehörigkeit, Religion, gemeinsame Abstammung, 179 Herder, Johann Gottfried: Abhandlung über den Ursprung der Sprache (1772), Zweiter Teil, Berlin 2015, 2. Naturgesetz, S. 81. 180 Ders.: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, 2 Bde., Bd. 1, Berlin/Weimar 1965, Zweiter Teil, 9. Buch, 1. Kap., S. 334. 181 Ebd., S. 334–353. 182 Ders., Sprache, S. 74. 183 Ders., Ideen, S. 352. 184 Vgl. dazu Kap. III.1.5.3 der vorliegenden Arbeit und allgemein auch Vogt, Positionierungen, S. 13, 46–48. 185 Loewe, Heinrich: Nation und Nationalismus, in: Der Jüdische Student 1:7/8 (1902), S. 110– 122, hier S. 111. 186 Vgl. Loewe, Heinrich: Der Nationalismus, in: Zion, 15. 02. 1895, S. 1–8; 15. 03. 1895, S. 33– 41; ders.: Nation und Nationalismus, in: Der Jüdische Student, 1. Jg., Nr. 7–8 (1902), S. 110– 122; ders. [Eljaqim]: Die Berechtigung des Nationalismus, in: JR, XIII. Jg., Nr. 33 (14. 08. 1908), S. 317f.; ders. [Eljaqim]: Die Grundlage des Nationalismus. in: JR, XIII. Jg., Nr. (13. 11. 1908), S. 451f. Vgl. dazu auch Schlöffel, Loewe, S. 98–100.

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Rasse und gemeinsame politische Zukunft«187 handelte. Er erläuterte sein Verständnis von ›Volk‹ und ›Nation‹ mittels einer Kombination aus ›objektiven‹ und ›subjektiven‹ Kategorien, im welcher letztere eine deutliche Priorisierung erfuhren: »Die Nation ist nun eine bestimmt abgegrenzte Gruppe von Menschen, die sich ihrer Eigenart bewusst ist. Ihr Wesen beruht nicht in Sprache, Territorium etc, sondern in der gemeinsamen Vergangenheit, die sie durchlebt. Sie hat eine bestimmte Individualität, und die Volksseele ist ebenso real wie die Seele des Einzelwesens. Wenn es die Aufgabe der Psychologie ist, den Tatbestand des individuellen Bewusstseins zu beschreiben, und inbezug auf seine Elemente und Entwicklungsstufen in einen erklärenden Zusammenhang zu bringen, so betrachtet ihrerseits die Wissenschaft der ›Völkerpsychologie‹ die Nation als ein Individuum, auf das sie die Gesetze allgemeiner Psychologie anwenden muss. Denn ebenso wie das Wesen des Menschen nicht auf einer Zusammensetzung von Rumpf und Gliedern oder auf der organischen Verbindung chemischer Elemente beruht, so dürfen wir auch das Wesen von Nationen nicht im Äusserlichen suchen. Die Nation ist in erster Reihe eine sittliche Individualität, die nach geistigen und kulturellen Gesetzen beurteilt sein will. Sie ist ein historisches Produkt und ihr Merkmal ist die gemeinsame Geschichte.«188

Nach Loewe beruhte die Zugehörigkeit zur ›jüdischen Nation‹ bzw. zum ›jüdischen Volk‹ also in erster Linie auf gemeinsamen, geistig erfassbaren innerlichen und verinnerlichten Werten. Die ›jüdische Nation‹, deren innere Form im Mittelpunkt der Definition von Loewe steht, erscheint in diesem Zusammenhang als individuelle, geschichtlich gewachsene Persönlichkeit und zugleich als nationalkonkret erfahrbarer »kollektive[r] Individualismus«189.190 Die so definierte, idealisierte Vision ›nationaler Gemeinschaft‹ könne allerdings, so Loewe in einem weiteren Beitrag in der Jüdischen Rundschau mit dem Titel »Kanaan und Hellas« im Jahr 1904, wie schon bei Herder und Ha’am zuvor, nur realisiert werden, wenn sich das Individuum bedingungslos der Allgemeinheit einfüge und seine Interessen dem Allgemeinwohl unterordne. Individualität verwirklicht sich demnach bei Loewe immer nur im (nationalen) Kollektiv, d. h. in der Tatsache, dass der Einzelne den ihm zugedachten Platz in der Gemeinschaft einnimmt und in ihrem Sinne tätig wird: »Wenn wir so das einseitig Individuelle als schädlich zurückweisen müssen, so bleibt für uns kein Zweifel, dass der Einzelne nur dann eine grosse und dauernde Wirkung haben kann, wenn seine Individualität ein integrierender Teil der Allgemeinheit, und seine Tätigkeit ein wesentlicher Teil der gemeinsamen Arbeit ist. Gilt dies von dem Einzelnen innerhalb seiner Familie und in der Gesamtmenschheit, so hat es dieselbe 187 188 189 190

Loewe, Nation, S. 121. Ebd. Ebd., S. 110. Vgl. ähnlich auch Schlöffel, Loewe, S. 99f.

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Bedeutung auch für den Mann in seinem Verhältnisse zu dem Volke, dem er angehört. Wer daher innerhalb seiner Nation wirksam arbeiten will, der muss sein Augenmerk und seine Tätigkeit stets auf das lenken, was das Beste seines Volkes erheischt. Er kann dies nur dadurch erreichen, dass er die in seinem Volke wirklich schlummernden Gedanken sich selbst zum Bewusstsein bringt […].«191

Als theoretisches Fundament für sein Nationsverständnis, auf das er explizit mehrmals in seinen Beiträgen verwies, diente Heinrich Loewe die akademische Disziplin der »Völkerpsychologie«, die im Wesentlichen von Moritz Lazarus und Heymann Steinthal seit den 1850er Jahren in ihren Schriften und in der von ihnen gegründeten Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft (1859) entwickelt worden war.192 Frank Schlöffel hat in seiner Biographie über Heinrich Loewe nachgewiesen,193 dass dieser während seiner Studienzeit in Berlin Vorlesungen von Lazarus besuchte, die seine kulturzionistischen Vorstellungen stark beeinflussten.194 Nach Lazarus sollte die Völkerpsychologie als »Volksgeisteslehre«195 »das Wesen des Volksgeistes und sein Thun psychologisch«196 erforschen, um »das Gesetz der Wechselwirkung zwischen Volksgeist und Individuum«197 zu erklären und allgemeine Gesetze zu formulieren, nach denen »eine wahre und echte Nationalbildung und Nationalerziehung einzurichten ist […]«198. Der Kern dieser kulturzionistischen Argumentation Loewes glich auffallend den Thesen, die Lazarus in seinem Vortrag »Was heißt national?« am 2. Dezember 1879 vor der Generalversammlung der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums in Reaktion auf den Berliner Antisemitismusstreit vertreten 191 192 193 194 195

Loewe, Kanaan (1), S. 72. Vgl. dazu auch Schlöffel, Loewe, S. 95, 98–100. Vgl. ebd., S. 98f. Vgl. ebd., S. 95, 98–100. Lazarus, Moritz: Ueber den Begriff und die Möglichkeit einer Völkerpsychologie [1851], in: Ders.: Grundzüge der Völkerpsychologie und Kulturwissenschaft, hg. von Klaus Christian Köhnke, Hamburg 2003, S. 3–25, hier S. 11. Vgl. auch Ders.: Das Leben der Seele in Monographien über seine Erscheinungen und Gesetze. Berlin 1883, Bd. 1, S. 323–411 (Kap. »Ueber das Verhältnis des Einzelnen zur Gesammtheit«); ders./Steinthal, Heymann: Einleitende Gedanken über Völkerpsychologie als Einladung zu einer Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft, in: Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft 1:1 (1860), S. 1–73. Vgl. hierzu Schlöffel, Loewe, S. 95, 98–100, 280, 422; Kalmar, Ivan: The »Völkerpsychologie« of Lazarus and Steinthal and the Modern Concept of Culture, in: Journal of the History of Ideas 48 (1987), S. 671–690; Schmid, Hans Bernhard: Plural Action Essays in Philosophy and Social Science, Dordrecht/New York 2009, S. 181–196 (Kap. »›Volksgeist‹: Lazarus’ Social Ontology«); ders.: »Volksgeist«. Individuum und Kollektiv bei Moritz Lazarus (1824–1903), in: Zeitschrift für Kulturphilosophie 16:1 (2005), S. 157–170. 196 Lazarus, Begriff, S. 4. 197 Ebd., S. 20. 198 Ebd., S. 24.

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hatte.199 Lazarus, der kein Zionist, sondern davon überzeugt war, dass die deutschen Juden »Deutsche«200 seien, »nichts als Deutsche, wenn vom Begriff der Nationalität die Rede ist«201, hatte darin unter Verweis auf die Statistiker und kulturellen Nationalisten Gustav Rümelin und Richard Boeckh wie Loewe nach ihm einen rein objektiven Nationsbegriff abgelehnt. Objektivistische Kriterien wie Sitten und Bräuche, Verfassung, territoriales Zusammenleben, Staatsangehörigkeit, Religion, Abstammung und selbst Sprache, die er für »das wichtigste objective Element«202 hielt, erklärte er für nicht ausreichend zur Wesensbestimmung einer Nation.203 ›Volk‹ und ›Nation‹ müssten vielmehr als »subjective[r], freie[r] Act der Selbsterfassung«204, d. h. als innerer Willensakt verstanden werden.205 In bewusster Abgrenzung zu Hegel, der eine ähnliche Begrifflichkeit verwendete, bildete ›Volk‹ oder ›Nation‹ nach Lazarus in erster Linie eine metaphysische, auf Voluntarismus gegründete Kollektiveinheit, die sich als »Volksgeist«206 im Produkt der Erfahrung und Bewusstwerdung ihrer Mitglieder als Gemeinschaft überhaupt erst konstituiere bzw. äußere.207 Individuelle Selbstreflexion oder Selbsterkenntnis wird somit zur Voraussetzung für Gemeinschaftsbildung überhaupt erklärt, durch die »Fähigkeit von Individuen, sich auf der Grundlage eines reflektierten Selbstverhältnisses immer neu als das Kollektiv zu identifizieren, das man ist und das man künftighin sein will«208. Dieser so definierte »subjective Zusammenhang«209 sei nach Lazarus, »weil innerlich erlebt, am meisten durch die Geschichte«210 erfahrbar, wobei sich das 199 Vgl. Lazarus, Moritz: Was heißt national?, Berlin 1880 (Microfiche-Ausgabe). Vgl. hierzu auch Schlöffel, Loewe, S. 98f. 200 Lazarus, national, S. 18. 201 Ebd. 202 Ebd., S. 11. 203 Vgl. ebd., S. 7–13. Vgl. hierzu auch Schlöffel, Loewe, S. 99. 204 Lazarus, national, S. 14. 205 Vgl. ebd., S. 17: »Der Begriff des Volks ist nicht durch rein objective Merkmale fest umgrenzt, sondern er erfordert auch die subjective Empfindung. Mein Volk sind diejenigen, die ich als mein Volk ansehe, die ich die Meinen nenne, denen ich mich verbunden weiß durch unlösbare Bande.« 206 Ebd., S. 13: »Das Volk ist ein rein geistiges Wesen ohne irgend etwas, was man anders als blos nach Analogie, ganz eigentlich seinen Leib nennen könnte […]. Volk ist ein geistiges Erzeugniß der Einzelnen, welche zu ihm gehören; sie sind nicht ein Volk, sie schaffen es nur unaufhörlich. Genauer ausgedrückt ist Volk das erste Erzeugniß des Volksgeistes; denn eben nicht als Einzelne schaffen die Einzelnen das Volk, sondern insofern sie ihre Vereinzelung aufheben. Das Bewußtsein von dieser Selbstaufhebung und von dem Aufgehen in einem allgemeinen Volksgeiste spricht sich aus in der Vorstellung Volk. Der Volksgeist schafft die Vorstellung und damit auch die Sache Volk.« 207 Vgl. ebd. 208 Tietz, Udo: Die Grenzen des Wir. Eine Theorie der Gemeinschaft, Frankfurt am Main 2002, S. 77. 209 Lazarus, national, S. 14. 210 Ebd.

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»subjective Band der Zugehörigkeit zu einander«211 prozesshaft entwickle, »[i]n dem Maße als ein Einzelner mit seiner Familie, und diese vollends in der Abfolge mehrerer Geschlechter an dem Laufe der Geschichte passiven und activen Antheil genommen«212 hätten. Durch die Übertragung der Völkerpsychologie auf den Zionismus gelang Loewe, so Schlöffel, die »Transformation eines wissenschaftlichen Theoriemodells in ein Fundament politischer Ideologie«213 : Jüdischer Nationalismus ließ »sich in diesem Zusammenhang als angewandte Völkerpsychologie denken«214. Die Volksvorstellungen von Loewe und von anderen Beiträgern, die in eine ähnliche Richtung argumentierten, bildeten zugleich auch eine hybride (Gegen-)Narration, die auf deutsch-nationalistische Visionen Bezug nahm, die auf kulturell-voluntaristischer Basis eine homogene geistige ›(deutsch-)nationale Gemeinschaft‹ konstruierten, welche die Juden konsequent ausschloss oder zumindest die Aufgabe ihrer kulturellen Besonderheit forderte. Nur ein sehr prominentes Beispiel darunter stellten die kulturphilosophischen Volksentwürfe des Orientalisten Paul de Lagarde (1827–1891) dar, der in seinen »Deutschen Schriften« (1878) die geistige Grundverfassung eines Individuums zur Voraussetzung seiner Zugehörigkeit zum ›deutschen Volk‹ erklärte. Von ihm stammte das bekannte Zitat, das auch von den Mitgliedern des Centralvereins rezipiert wurde: »Das Deutschthum liegt nicht im Geblüte, sondern im Gemüthe«.215 Die Volkskonstruktionen deutscher Zionisten befriedigten, um mit den Worten von Moritz Lazarus zu sprechen, somit immer auch deren »Sehnsucht nach einer vollen einheitlichen Lebensgemeinschaft«216, was sich nicht zuletzt in der häufigen Verwendung des Begriffes ›Gemeinschaft‹ in den Beiträgen widerspiegelte. Ihren paradigmatischen Ausdruck fand diese Suche des ›jüdischen Volkes‹ nach ›Gemeinschaft‹ schließlich in der auch von deutschen Zionisten verwendeten Metapher der »Volksgemeinschaft«, wie sie beispielsweise Heinrich Loewe der »mosaischen Religionsgemeinschaft« als Idealvision der »Vergemeinschaftung« bereits in den 1890er Jahren gegenüberstellte.217 Damit grif211 212 213 214 215

Ebd. Lazarus, national, S. 14. Schlöffel, Loewe, S. 99. Ebd. Vgl. de Lagarde, Paul: Deutsche Schriften, Göttingen 51920; ders.: Ausgewählte Schriften, München 1924. Zum ambivalenten Volksbegriff von Paul de Lagarde und den impliziten antisemitischen Deutungsmustern vgl. Sieg, Ulrich: Deutschlands Prophet. Paul de Lagarde und die Ursprünge des modernen Antisemitismus, München 2007; ders.: Die Sakralisierung der Nation. Paul de Lagardes Deutsche Schriften, in: Ders./Bergmannn, Werner (Hg.): Antisemitische Geschichtsbilder, Essen 2009, S. 103–120; Walkenhorst, Nation, S. 55–59. 216 Lazarus, national, S. 17. 217 Vgl. Loewe, Heinrich: Ueber das Verhältnis von Nation und Religion der Juden, in:

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fen sie einen Topos auf, der im zeitgenössischen öffentlichen Diskurs sowie auch unter deutschen Nationalisten weit verbreitet war und damit bereits bestimmte Besetzungen mit sich brachte.218 Die radikalnationalistische Version der ›Volksgemeinschaft‹ beispielsweise implizierte neben der Vorstellung strikter ethnisch-kultureller Homogenität und innerer Geschlossenheit des nationalen Kollektivs stets auch eine autoritäre und totalitäre Stoßrichtung.219 Bevölkerungsminderheiten wie Juden, Polen oder Dänen schloss diese semantische Konstruktion konsequent aus.220 Ein Beispiel für die Verwendung in der Jüdischen Rundschau ist etwa der bereits in anderem Zusammenhang zitierte Artikel von Ludwig Wassermann aus dem Jahr 1913, in dem sich dieser um eine Erklärung des Begriffs »Nationalgefühl« bemühte und die ›Volksgemeinschaft‹ auf ein Produkt aus subjektiven und objektiven Nationskriterien zurückführte: »Was ist Nationalgefühl? Zweifellos ein Gefühl, das der Tatsache entspringt, daß man Angehöriger einer Volksgemeinschaft ist. Es gibt Staaten, in denen nur eine oder hauptsächlich nur eine Volksgemeinschaft existiert, z. B. Frankreich; Staaten, wo viele Völker nebeneinander auskommen müssen und miteinander den Staat bilden, z. B Oesterreich. Die Gemeinschaft des Volkes beruht auf der Bluts- und Familienverwandtschaft, der gemeinsamen Vergangenheit und den durch diese Faktoren begründeten gemeinsamen Zusammengehörigkeitsgefühlen. So denke ich mir die Grundlage des Nationalgefühls! Neben dem Nationalgefühl gibt es noch andere Gefühle ähnlicher Art, welche nicht auf der Blutsgemeinschaft aufgebaut sind.«221

Die hier zum Einsatz kommende Rhetorik, allen voran der Begriff der ›Volksgemeinschaft‹ in Verbindung mit der Formel von der (jüdischen) ›Blutsgemeinschaft‹ und ›Familiarität‹ lehnte sich stark an der Kategorienbildung von »Gemeinschaft« an, die Ferdinand Tönnies in seiner einflussreichen Schrift »Gemeinschaft und Gesellschaft« (1887) formuliert hatte.222 Den Mittelpunkt

218

219 220 221 222

Selbstemancipation Nr. 2 (01. 06. 1890), S. 1–4, hier S. 2. Vgl. auch das Zitat und die hilfreichen Erläuterungen bei Schlöffel, Loewe, S. 98f. Zum Begriff ›Volksgemeinschaft‹ vgl. Nolte, Paul: Die Ordnung der deutschen Gesellschaft. Selbstentwurf und Selbstbeschreibung im 20. Jahrhundert, München 2000, S. 167–171, 192–205; Koselleck u. a., Volk, S. 409–415; Walkenhorst, Nation, S. 88f. Zu Kontinuität und Wandel des Konzeptes im Kontext des Ersten Weltkriegs vgl. Bruendel, Steffen: Volksgemeinschaft oder Volksstaat: Die »Ideen von 1914« und die Neuordnung Deutschlands im Ersten Weltkrieg, Berlin 2003; Verhey, Jeffrey : Der »Geist von 1914« und die Erfindung der Volksgemeinschaft, Hamburg 2000. Vgl. Walkenhorst, Nation, S. 88–93. Vgl. ebd., S. 89. Wassermann, Nationalgefühl, S. 135. Vgl. Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie, Darmstadt 1972, S. 3–5; ders.: Studien zu Gemeinschaft und Gesellschaft (Klassiker der Sozialwissenschaften), hg. von Klaus Lichtblau, Wiesbaden 2012. Zu Tönnies vgl. Mitzmann, Arthur : Tönnies and German Society 1887–1914: From Cultural Pessimism to Celebration of the Volksgemeinschaft, in: Journal of the History of Ideas 32:4 (1971),

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der Schrift, mit der Tönnies ein neues Analyseinstrumentarium für die »Grundprobleme des socialen Lebens«223 schaffen wollte, bildete, wie der Titel bereits andeutete, das antagonistische Begriffspaar »Gemeinschaft« und »Gesellschaft«. »Gemeinschaft« konstruierte Tönnies als ideale und real-naturhafte Form der sozialen Bindung, deren Mitglieder über biologisch-organische und historische gewachsene Tatsachen wie »Geburt«, »Blut« und »Boden«, gemeinsame Sprache, Religion, Bräuche, Sitten und Traditionen miteinander verbunden seien.224 Tönnies verstärkte dieses Bild, indem er »Gemeinschaft« in Anlehnung an die zeitgenössische kollektivistische Sozialphilosophie mit Blut- und Körpermetaphoriken belegte und als »Organismus« charakterisierte, der über die Einheit seiner Teile (Individuen) wirke.225 Allerdings bildete schon bei Tönnies die »Gemeinschaft des Geistes« als »Zusammenhang des mentalen Lebens« die »eigentlich menschliche und höchste Art der Gemeinschaft« gegenüber der »Gemeinschaft des Blutes« (Geburt/Familie) und der »Gemeinschaft des Ortes« (Nachbarschaft).226 Demgegenüber beschrieb Tönnies »Gesellschaft« als »Öffentlichkeit«, »Welt« oder »Fremde«,227 d. h. als künstliche, von äußeren Zwängen bestimmte Form menschlichen Zusammenlebens, welche über die Einbindung des Individuums in den Staat im Sinne der naturrechtlichen Vertragstheorie geregelt würde.228 Auffallend ähnliche Deutungsmuster in Bezug auf die »Gemeinschaft des jüdischen Volkes«, die den entstehenden deutschsprachigen Kulturzionismus zutiefst prägten, verwendete auch Martin Buber in seinen »Drei Reden an das Judentum«, welche er vor der Prager Studentenverbindung »Bar-Kochba« in den Jahren 1909 bis 1911 hielt.229 In seiner ersten Rede »Das Judentum und die

223 224 225 226 227 228 229

S. 507–524; Schneidereit, Nele: Die Dialektik von Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe einer kritischen Sozialphilosophie (Politische Ideen; Bd. 22), hg. von Herfried Münkler, Berlin 2010, S. 34–130; Walkenhorst, Nation, S. 88. Obwohl Tönnies ursprünglich beabsichtigte, die Veränderungen gesellschaftlicher Beziehungen von gemeinschaftlichen zu gesellschaftlichen Strukturen im Kontext der Herausbildung einer modernen, kapitalistischen Industriegesellschaft herauszuarbeiten, wurde seine soziologische Schrift schon bald als Mittel der kulturpessimistischen Kritikäußerung an den als defizitär empfundenen Erscheinungsformen der pluralistischen Massengesellschaft interpretiert und instrumentalisiert (vgl. Schneidereit, Dialektik, S. 34–46). Tönnies, Gemeinschaft, S. XV. Vgl. Schneidereit, Dialektik, S. 47. Vgl. ebd., S. 47f. Vgl. Tönnies, Gemeinschaft, S. XXXIII. Vgl. Tönnies, Gemeinschaft, S. 14. Zum Gemeinschaftsbegriff von Tönnies vgl. Schneidereit, Dialektik, S. 48–52. Vgl. Tönnies, Gemeinschaft, S. 3. Vgl. ebd., S. 40–61. Zum Gesellschaftsbegriff von Tönnies vgl. Schneidereit, Dialektik, S. 52–57. Vgl. Buber, Martin: Drei Reden über das Judentum, Frankfurt a. M. 1916 [1911]. Zur Rolle von Martin Buber für den deutschsprachigen Kulturzionismus vgl. Vogt, Positionierungen, S. 64–82.

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Juden« vom 20. Januar 1909, die am 29. April 1910 in der Jüdischen Rundschau in einer Herzl-Gedenknummer mittels einer stenographischen Mitschrift zum ersten Mal in längeren Auszügen veröffentlicht und damit einem größeren Publikum vorgestellt wurde,230 wollte Buber die »innere Wirklichkeit« des Wesens der jüdischen »Gemeinschaft« ergründen:231 Da das jüdische religiöse Leben sich in der Gegenwart durch Säkularisierung und geistige Verflachung auszeichne und somit für die Beschreibung der eigenen »Gemeinschaft« nicht mehr brauchbar sei,232 rückte für Buber die Frage nach der ›nationalen Existenz‹ des Judentums in den Mittelpunkt.233 Dabei beschäftigte ihn vor allem, was einem Menschen, im Besonderen einem Juden, »sein Volk zur autonomen Wirklichkeit in seiner Seele und in seinem Leben« mache und was ihn »das Volk nicht bloß um sich«, sondern »in sich« fühlen ließe.234 Die Entdeckung von »Gemeinschaft« stellte Buber sich im Folgenden wie einen natürlichen entwicklungspsychologischen Prozess vor, in dessen Verlauf das Individuum sich zum ersten Mal zu einem »Volk« zugehörig fühle, indem es eine gemeinsame »Heimat, Sprache und Sitte« in seiner »Umwelt« unmittelbar erfahre.235 Dieser ›Gemeinschaft‹ der »konstanten Elemente des Erlebens«, die Buber in erster Linie auf äußere, vergängliche Merkmale zurückführte, stellte er die »Gemeinschaft des Blutes« gegenüber,236 die sich durch ihre existentielle Substanz, Dauerhaftigkeit und tiefe Innerlichkeit auszeichne: »Dieser junge Mensch, den der Schauer der Ewigkeit angerührt hat, erfährt in sich, daß es ein Dauern gibt. Und er erfährt es noch nackter und noch heimlicher zugleich, mit all der Einfalt und all dem Wunder, die um das Selbstverständliche sind, wenn es angesehen wird, in der Stunde, da er die Folge der Geschlechter entdeckt, die Reihe der Väter und der Mütter schaut, die zu ihm geführt hat, und inne wird, was alles an Zusammenkommen der Menschen, an Zusammenfließen des Blutes ihn hervorgebracht, welcher Sphärenreigen von Zeugungen und Geburten ihn emporgerufen hat. Er fühlt in 230 Vgl. Buber, Martin: Der Sinn des Judentums, in: JR, XV. Jg., Nr. 17 (29. 04. 1910), S. 198– 200. 231 Buber, Martin: Das Judentum und die Juden, in: Ders.: Drei Reden über das Judentum, Frankfurt a. M. 1916, S. 9–31, hier S. 12. Zu den Reden insgesamt vgl. Vogt, Positionierungen, S. 68–76; Schaeder, Humanismus, S. 95–112; Shumsky, Zweisprachigkeit, S. 137– 174. 232 Vgl. Buber, Judentum, S. 12–14. 233 Vgl. ebd., S. 14–31. 234 Ebd., S. 15. 235 Vgl. ebd., S. 15–17 und ebd., S. 17: »Auf diesen drei konstanten Elementen seines Erlebens, Heimat, Sprache und Sitte, baut sich das Zugehörigkeitsgefühl des Einzelnen zu einer Gemeinschaft auf, die weiter ist als die urgegebene Gemeinschaft der Familie und die wahlgeborene Gemeinschaft der Freunde. Er fühlt sich denen zugehörig, die mit ihm die gleichen konstanten Elemente des Erlebens haben, und ihre Gesamtheit empfindet er auf dieser Stufe als sein Volk.« 236 Vgl. ebd., S. 17.

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dieser Unsterblichkeit der Generationen die Gemeinschaft des Blutes, und er fühlt sie als das Vorleben seines Ich, als die Dauer seines Ich in der unendlichen Vergangenheit. Und dazu gesellt sich, von diesem Gefühl gefördert, die Entdeckung des Blutes als der wurzelhaften, nährenden Macht im Einzelnen, die Entdeckung, daß die tiefsten Schichten unseres Wesens vom Blute bestimmt, daß unser Gedanke und unser Wille zu innerst von ihm gefärbt sind. Jetzt findet und empfindet er : die Umwelt ist die Welt der Eindrücke und Einflüsse, das Blut ist die Welt der beeindruckbaren, beeinflußbaren Substanz, die sie alle in ihren Gehalt aufnimmt, in ihre Form verarbeitet. Und nun fühlt er sich zugehörig nicht mehr der Gemeinschaft derer, die mit ihm gleiche konstante Elemente des Erlebens haben, sondern der tieferen Gemeinschaft derer, die mit ihm gleiche Substanz haben. Einst kam er zu dem Gefühle der Zugehörigkeit aus der äußeren Erfahrung, nun aus der inneren. Auf der ersten Stufe repräsentierte das Volk ihm die Welt, nun die Seele. Jetzt ist ihm das Volk eine Gemeinschaft von Menschen, die waren, sind und sein werden, eine Gemeinschaft von Toten, Lebenden und Ungeborenen, die zusammen eine Einheit darstellen; und dies ist eben die Einheit, die er als den Grund seines Ich empfindet, seines Ich, das in diese große Kette als ein notwendiges Glied an einem von Ewigkeit bestimmten Orte eingefügt ist.«237

Stefan Vogt hat in seiner Analyse der Reden Bubers darauf hingewiesen, dass Martin Buber hier »seinen Zuhörern gewissermaßen eine prägnante Zusammenfassung des völkischen Denkens«238 gab. Das Konzept der »Gemeinschaft des Blutes«, das zum Grundvokabular völkischer Nationalisten239 zählte, besaß bei Buber immer »sowohl eine geistig-metaphorische wie auch eine ganz konkrete, biologisch-anthropologische Bedeutung« und implizierte somit »ein radikal essentialistisches und partikularistisches Verständnis von Gemeinschaft«240. Bubers kulturzionistische Vorstellungen, die Elemente ›völkischnationalen‹ und neoromantischen Denkens aufwiesen, beeinflussten den deutschsprachigen zionistischen Nationalismus nachhaltig.241 Viele der kulturzionistischen Volksbilder müssen als eine spezifisch zionistische Gegenutopie und Antwort auf jüdische Krisenerfahrungen in der ›Moderne‹ gelesen werden, die von außen wie innen gleichermaßen auf die jüdische Gesellschaft einwirkten. Diese bildeten einerseits einen Teil allgemeiner Krisenerfahrungen und Krisenempfindungen um die Jahrhundertwende, welche in erster Linie eine Reaktion auf den säkularen Prozess gesamtgesellschaftlichen 237 Ebd., S. 18–20. Eine ähnliche inhaltliche Deutung der ›Volksgemeinschaft‹ wie bei Martin Buber findet sich auch im hebräischen Kulturzionismus Ha’ams, in dem die Historizität der ›nationalen Gemeinschaft‹ als »lange Kette« von Generationen imaginiert wird (Haam, Weg!, S. 100). 238 Vogt, Positionierungen, S. 71. 239 Vgl. zur Definition von ›völkisch‹ Kap. I.2 der Einleitung. 240 Vogt, Positionierungen, S. 72. 241 Vgl. ebd., S. 13. Zu den völkischen Elementen im Kulturzionismus Martin Bubers vgl. auch Mendes-Flohr, Mysticism; Shapira, Attachment; Duarte de Oliveira, Passion; Witte, Renaissance; Ulbricht, Mystik.

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strukturellen Wandels im ›langen‹ 19. Jahrhundert in Folge der sich entwickelnden pluralistischen, industriekapitalistisch geprägten Massengesellschaft darstellten.242 Andererseits gesellten sich zu diesen Transformationsprozesse, welche die Juden im Deutschen Kaiserreich vor ganz spezifische Herausforderungen stellten. Für diese können die fortschreitende Pluralisierung jüdischer Lebenswelten, die Modernisierung des jüdischen Gemeindelebens, Rollenveränderungen im Bereich der jüdischen Familie und die ambivalenten Begleiterscheinungen der jüdischen Emanzipation exemplarisch stehen.243 Wie die Dichte und die Intensität der Beiträge in der Jüdischen Rundschau bezeugen, bildete die jüdische Erfahrung von antisemitischer Diskriminierung und Ausgrenzung sowie von ›assimilatorischen‹ Entwicklungen im deutschen Judentum einen elementaren Bestandteil der zionistischen Krisenempfindung in Deutschland. Mehr noch als auf die antisemitische Zurücksetzung konzentrierte sich die zionistische Berichterstattung auf die antisemitischen Pogromwellen im Russischen Reich. Die zionistische Auseinandersetzung mit den Ausschreitungen der Jahre 1903 und 1906 in Kischinew und Homel wurden bezeichnenderweise als Antithese zu ›Kultur‹ und ›Zivilisation‹ und als Symptom des ›kulturellen Verfalls‹ und des Rückschrittes in der Fortschrittsgeschichte der Menschheit empfunden. Im Besonderen die Kontinuität der subjektiven Erfahrung von Antisemitismus führte dazu, dass sich bei einigen Zionisten die Ansicht durchsetzte, dass der Antisemitismus in seinen verschiedenen europäischen Erscheinungsformen selbst ein pathologisches Merkmal der ›modernen Gesellschaft‹ sei, gegen das nur der Zionismus ein wirksames Gegenmittel stelle.244 Ein anschauliches Bild für die als disparat empfundenen Akkulturationstendenzen im deutschen Judentum glaubten die deutschen Zionisten auch in 242 Aus der umfangreichen Literatur zum Thema vgl. Beßlich, Barbara: Wege in den »Kulturkrieg«. Zivilisationskritik in Deutschland 1890–1914, Darmstadt 2000; Drehsen, Volker/ Sparn, Walter: Die Moderne. Kulturkrise und Konstruktionsgeist, in: Drehsen, Volker (Hg.): Vom Weltbildwandel zur Weltanschauungsanalyse. Krisenwahrnehmung und Krisenbewältigung um 1900, Berlin 1996, S. 11–29; Grunewald, Michel/Puschner, Uwe (Hg.): Krisenwahrnehmungen in Deutschland um 1900. – Zeitschriften als Foren der Umbruchszeit im Wilhelminischen Reich, Bern u. a. 2010; Koselleck, Reinhart: Krise, in: Brunner u. a., Grundbegriffe, Bd. 3, Stuttgart 1982, S. 617–650; Nolte, Ende; vom Bruch, Rüdiger : Kaiser und Bürger. Wilhelminismus als Ausdruck kulturellen Umbruchs um 1900, in: Ders./Liess, Hans-Christoph (Hg.): Bürgerlichkeit, Staat und Kultur im Kaiserreich, Stuttgart 2005 [1989], S. 25–51; ders./Graf, Friedrich Wilhelm/Hübinger, Gangolf: Einleitung. Kulturbegriff, Kulturkritik und Kulturwissenschaften um 1900, in: Dies. (Hg.): Kultur und Kulturwissenschaften um 1900. Krise der Moderne und Glaube an die Wissenschaft, Stuttgart 1989, S. 9–24. 243 Aus der umfangreichen Literatur zum Thema vgl. Kaplan, Bürgertum; Lässig, Wege; Lowenstein u. a., Integration; van Rahden, Juden; Schorsch, Reactions. 244 Vgl. dazu Kap. III.2.3.1 der vorliegenden Arbeit.

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den zeitgenössischen Metaphern des ›Volkskörpers‹ und des ›Volksorganismus‹ gefunden zu haben, die sie mit vielfältigen Krankheitsmetaphoriken belegten. Die metaphorische Übertragung der biologischen Begriffe auf den Bereich der Gesellschaft und die Politik reichte bis in die Antike zurück und konnte positiv oder negativ besetzt werden.245 In dieser Sichtweise wurde das deutsche Judentum mit einem menschlichen Körper und lebendigem Organismus verglichen, dessen Funktionstüchtigkeit durch die fehlerhafte Funktion seiner Glieder gefährdet sei.246 Der Krankheitszustand des jüdischen Kollektivs konnte als körperlicher oder als geistiger oder als Kombination aus beiden imaginiert werden, wobei auch die Vorstellung eines nicht intakten, zerrissenen Seelenlebens durch die kulturelle Ambiguität des Juden eine wichtige Rolle spielte. Auch Assimilation wurde somit mit einem pathologischen Zustand verglichen, der eine erhebliche Gefahr für die jüdische ›Gemeinschaft‹ darstellen würde. Die so vorgenommene Diagnose konnte dabei so weit gehen, Auflösungs- und Zerfallstendenzen im deutschen Judentum zu prognostizieren und diese Prognosen mit kulturpessimistischen Deutungsmustern wie ›Untergang‹ und ›Degeneration‹ zu verbinden.247 In diesem Sinne versprach nur der Zionismus ein wirkungsvolles Heilmittel, das zur innerlich-geistigen Revitalisierung, Gesundung oder »Wiedergeburt des jüdischen Volkes«248 führen könne.249 Bei Heinrich 245 Zu den Begriffen ›Volkskörper‹ und ›Volksorganismus‹ vgl. Bergdolt, Klaus: Mikrokosmos und Makrokosmos. Der menschliche Körper als staatstheoretisches Modell, in: Depenheuer, Otto (Hg.): Staat und Schönheit. Möglichkeiten und Perspektiven einer Staatskalokagathie, Wiesbaden 2005, S. 131–144; Ulbricht, Justus H.: »Französische Krankheit« oder : Politische Gefahren am »deutschen Volkskörper«. Diskurse über die Krankheit der Epoche im weltanschaulichen Schrifttum des Wilhelminismus, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Technischen Universität Dresden 47:3 (1998), S. 59–64. 246 Vgl. z. B. Sachse, Heinrich: Und am Jom-Kippur allemal, da mieten wir aus Mangel an Tempeln uns ein Betlokal in einem Tingeltangel!, in: JR, IX. Jg., Nr. 37 (16. 09. 1904), S. 397f., hier S. 397: »«Mit wuchtigen Worten geisselt der ›Schlemiel‹ die Zustände, die das Galuth (hebr.) bei uns hervorruft. Die Ursache dieser schweren Leiden am jüdischen Volkskörper ist das Galuth (hebr.) und wird erst entschwinden, wenn das Jüdische Volk nicht mehr in der Zerstreuung weilt.« Zu den Körperbildern im deutschen Zionismus vgl. auch Wildmann, Körper, S. 106–172; Edelmann-Ohler, Eva: Sprache des Krieges. Deutungen des Ersten Weltkriegs in zionistischer Publizistik und Literatur (1914–1918) (conditio judaica), Berlin/Boston 2014, S. 57–78. 247 Vgl. etwa die Schrift von Teilhaber, Felix A.: Der Untergang der deutschen Juden. Eine volkswirtschaftliche Studie, München 1911. Vgl. dazu ausführlich Ciminski, Judith: Zwischen ›Untergang‹ und ›kultureller Wiedergeburt‹. Jüdische Krisenerfahrung in der Zeitschrift Ost und West in den Jahren 1901–1914, in: Grunewald/Puschner, Krisenwahrnehmungen, S. 153–175; Hart, Social Science; Vogt, Stefan: Between Decay and Doom. Zionist Discourses of »Untergang« in Germany, 1890 to 1933, in: Aschheim, Steven E./Liska, Vivian (Hg): The German-Jewish Experience Revisited, Berlin 2015, S. 75–102. 248 Kollenscher, Max: Zionismus und Staatsbürgertum (1), in: JR, IX. Jg., Nr. 30 (29. 07. 1904), S. 319f. (Schluss folgt), hier S. 319. 249 Vgl. z. B. Tykocinski (Leipzig): Assimilation oder Zionismus, in: JR, IX. Jg., Nr. 26 (01. 07.

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Loewe beispielsweise wurde Nationaljudentum mit einer »Rückkehr ins Judentum« gleichgesetzt, mittels derer das ›jüdische Volk‹ zu einem »auferstehende[n] altneue[n] Volk«250 würde. Die zionistische Idee und Bewegung sollten so das aus seinen traditionellen Bindungen gelöste, desorientierte Individuum wieder einfangen und in die ›organische Ganzheit‹ des Kollektivs, die Einheit, Einheitlichkeit, Geborgenheit und verbindliche Weltdeutungsmuster versprach, einbetten, wobei die jeweilige Diagnose und die angesetzten Heilmittel unter dem Spektrum des Zionismus im Einzelfall völlig unterschiedlich ausfallen konnten. Insgesamt reformulierten und relativierten die deutschen Zionisten somit mit ihren Konstruktionen auch die streng biologistische radikalnationalistische Version des ›kranken deutschen Volkskörpers‹, die sich nicht zuletzt gegen die jüdische Bevölkerung richtete.251 Deutsche Radikalnationalisten wie Heinrich Claß verwendeten ihre Variante der Krankheitsmetaphorik, um ihrer Forderung nach ethnisch-kultureller Homogenität der deutschen Gesellschaft und deren »Säuberung« Ausdruck zu verleihen, die so weit ging, jegliche Andersartigkeit zu »Keime[n] des Verfalls« zu erklären, die »rücksichtslos [ge]tötet« werden müssten.252 Die Rhetorik und der semantische Grundgehalt der kulturzionistischen Volksbilder, die in der Jüdischen Rundschau zirkulierten, zeichneten sich demnach in unterschiedlicher Intensität durch eine eigentümliche Mischung aus holistischen, neoromantischen, kulturpessimistischen und kulturkritischen253, lebensphilosophischen254 und lebensreformerischen255 Denkfiguren des Fin de SiHcle aus. Daneben beinhalteten sie völkische Narrative und völkische Rheto-

250 251 252 253 254 255

1904), S. 277f., S. 278: »Die Assimilation führt in letzter Konsequenz zum Taufbecken und das Taufbecken zum Grabe des Judentums. Die Assimilation ist entschieden ein radikales Mittel, das unfehlbar die Leiden des jüdischen Volkes beseitigt. aber mit den Leiden auch die Seele. […] Ist uns jedoch das Judentum noch zu lieb, wollen wir nicht, dass unser Volk absterbe, wollen wir, dass es zu einem neuen Leben erwache, dann müssen wir uns um die Fahne Zions sammeln. Nur Zion kann unser hinsiechendes Volk zu neuem Leben erwecken.« Sachse, Heinrich: Die Rückkehr ins Judentum, in: JR, IX. Jg., Nr. 32 (12. 08. 1904), S. 352. Vgl. Walkenhorst, Nation, S. 96f. Claß, Heinrich: Kaiser, S. 105, zit. nach Walkenhorst, Nation, S. 97. Vgl. Walkenhorst, Nation, S. 96f. Vgl. Beßlich, Wege; Bollenbeck, Georg: Eine Geschichte der Kulturkritik. Von Rousseau bis Günther Anders, München 2007; vom Bruch u. a., Krise. Zur Strömung der Lebensphilosophie vgl. Albert, Karl: Lebensphilosophie. Von den Anfängen bei Nietzsche bis zu ihrer Kritik bei Luk#cs, Freiburg i. Br. 1995; Kozljanic, Robert: Lebensphilosophie. Eine Einführung (Reclam), Stuttgart 2004. Zur Lebensreformbewegung vgl. insbes. Krabbe, Wolfgang R.: Gesellschaftsveränderung durch Lebensreform. Strukturmerkmale einer sozialreformerischen Bewegung im Deutschland der Industrialisierungsperiode, Göttingen 1974; Krebs, Diethart/Reulecke, Jürgen (Hg.): Handbuch der deutschen Reformbewegungen 1880–1933, Wuppertal 1998.

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rik.256 Diese Elemente eines ›völkischen Nationalismus‹ bezogen sich wie bei Heinrich Loewe im Wesentlichen auf die Verklärung einer vorgestellten geschlossenen und national homogenen Gemeinschaft, in die sich der Einzelne zum Wohle des Kollektivs bedingungslos und konform einfügen sollte. Daneben beinhalteten sie stets auch eine implizite Kritik an den Erfahrungen der ›Moderne‹, die Zionismus als unumgängliche, singuläre Antwort auf die ›Suche nach Ganzheit‹ und ›Gemeinschaft‹ bzw. als deren ideale Verkörperung deutete. Somit wiesen die kulturzionistischen Volksbilder in der Jüdischen Rundschau in Anknüpfung an Bubers Volksbegriff häufig ebenfalls beide Dimensionen, eine biologistische wie eine geistig-innere, auf, wobei die Tendenz zu einer innerlichen, metaphysischen oder kulturellen Bedeutungsaufladung deutlich überwog. Ihre Metaphorik lehnte sich darin primär an der Vorstellung einer überindividuellen, metaphysischen Gemeinschaft an, die in ihrem semantischen Grundgehalt an die deutsche Kulturkritik anschloss, wie sie etwa Paul de Lagarde vertreten hatte und deren Ideal im Prozess der »Sakralisierung der Nation« vor allem die innere geistige Einheit der vorgestellten ›Volkgemeinschaft‹ beschwor.257 Allerdings transformierten nicht wenige deutsche Zionisten entsprechend ihrer eigenen Erfahrung als Mitglieder einer diskriminierten Minderheit in der Regel die tradierten Volksbilder, die nun primär mit kulturalistischen und geistig-ideellen Deutungsmustern konstruiert wurden und sich der rechtsnationalen Überhöhung des eigenen Volkes entzogen, wie auch in den beiden folgenden Kapiteln gezeigt werden soll.258 1.2.2 Jüdische Volksindividualität zwischen ›Kultur‹, ›Ethik‹, ›Universalismus‹ und ›Partikularismus‹ Worin bestand nun, um im Bild zu bleiben, die besondere ›Psychologie‹ des ›jüdischen Volkes‹? Als paradigmatisch können hier die Beiträge Heinrich Loewes in der Jüdischen Rundschau gelten, in denen sich der Autor wie in einer dreiteiligen Artikelreihe mit dem Titel »Kanaan und Hellas«, die im Jahr 1904 in der Jüdischen Rundschau erschien,259 und einem kurzen Aufsatz mit dem Titel 256 Vgl. zur Definition von ›völkisch‹ Kap. I.2 der Einleitung. 257 Vgl. Sieg, Sakralisierung. 258 Ähnlich auch Horch, Hans Otto/Schicketanz, Till: »Volksgefühl und Jüdischkeit«. Julius und Fritz Mordechai Kaufmanns Alljüdische Revue »Die Freistatt«, in: Hackl, Wolfgang/ Krolop Kurt (Hg.) unter Mitarbeit von Astrid Obernosterer : Wortverbunden – Zeitbedingt. Perspektiven der Zeitschriftenforschung, Innsbruck u. a. 2001, 183–197, hier S. 193: »Der zum Teil ›völkisch‹ klingende Sprachduktus mancher Beiträge sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass es um eine wesentlich kulturell modellierte Identitätsdebatte ging und nicht primär um ein biologistisches Konstrukt, das zu Recht in die Nähe der Blut- und Boden-Ideologie gerückt werden könnte.« 259 Vgl. Loewe, Kanaan (1); ders.: Kanaan und Hellas (2), in: JR, IX. Jg., Nr. 13 (25. 03. 1904),

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»Gibt es eine Judenfrage?« im Jahr 1905260 eingehend mit dem »ausgeprägten Volkscharakter«261 des ›jüdischen Volkes‹ auseinandersetzte: »Je mehr man beflissen ist, in unserem nationalen Kampfe nach Art gewisser chauvinistischer Richtungen europäisch-nationaler Parteien eine politische Ueberreiztheit erblicken zu wollen, von der glücklicherweise gerade im nationaljüdischen Lager nichts zu merken ist, um so nachdrücklicher und entschiedener muss es unsererseits betont werden, dass wir in allererster Linie einen Kulturkampf führen. Denn wenn wir überhaupt in der ›Nation‹ nicht eine farblose Gemeinschaft zufällig vereinigter Menschen, etwa eine auf gewissen geographischen Punkten gemeinsam wohnende Gruppe erblicken, sondern in ihr die historisch gewordene Kulturgemeinschaft sehen, so ist es nur natürlich, dass wir in strenger Denkfolge das Wesen nationaler Arbeit im Kampfe für die volkstümliche Kultur erblicken.«262

Loewe charakterisierte darin das Wesen des ›jüdischen Volkes‹ im Wesentlichen kraft des Deutungsmusters ›Kultur‹, das aus seiner Sicht »das Grundprinzip des ganzen Volkslebens«263 darstellte. Nationaljudentum wurde hier als »historisch gewordene Kulturgemeinschaft«264 gedacht und der Begriff »Kulturkampf« auf die jüdischnationale Ebene übertragen und zum Wesensmerkmal zionistischen Daseins erklärt.265 Die Verwendung der Metapher »Kulturkampf« erzeugte einen kognitiven Rahmen, der zum einen auf den multidimensionalen Konflikt zwischen dem staatlichen Universalanspruch und einer (religiösen) Minderheit um Beibehaltung ihrer besonderen kulturellen Lebensweisen und Normen und zum anderen auf die Definitionsmacht über das Selbstverständnis und die Wertvorstellungen einer ›Nation‹ anspielte. Auch wenn die Bedeutung des Konzeptes ›Kultur‹ im zionistischen Diskursmilieu jeweils nur aus dem konkreten historischen Kontext heraus erschlossen werden kann, können die Argumentationsmuster, die sich bei Loewe finden, als paradigmatisch gelten, da die Vorstellung vom ›jüdischen Volk‹ als ›Kulturvolk‹ zum Kernbestand zionistischer Selbstdeutungen im betrachteten Quellensample zählte. Entsprechende Deutungsmuster, die das ›jüdische Volk‹ als ›Kulturerzeuger‹, ›Kulturträger‹, ›Kulturstifter‹, ›Kulturbringer‹ und ›Kulturvermittler‹ zeigen, wurden in den Beiträgen in der Jüdischen Rundschau

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S. 120–122; ders.: Kanaan und Hellas (Schluss), in: JR, IX. Jg., Nr. 14 (ohne deutsches Datum, 02. 04. 1904), S. 134–139. Vgl. Sachse, Heinrich: Gibt es eine Judenfrage? (2), in: JR, X. Jg., Nr. 14 (07. April 1905), S. 149f. Loewe, Kanaan (3), S. 135. Loewe, Kanaan (1), S. 70. Loewe, Kanaan (2), S. 121. Vgl. Loewe, Kanaan (1), S. 70. Vgl. ebd.

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kontinuierlich reproduziert und durch die Gegenüberstellung mit dem zionistischen Antisemitismusbild verstärkt.266 Das Narrativ vom ›jüdischen Kulturvolk‹ konnte wie bei Heinrich Loewe mit einem kulturalistischen Weltdeutungsentwurf unterlegt und in eine umfassende Geschichtsnarration eingebunden werden, was ihm den Anschein von besonderer Sinnhaftigkeit und Wissenschaftlichkeit verleihen sollte. Loewes Narration lebt von dualistischen Deutungsmustern, indem ihr Autor jede Beschreibung der kulturellen Eigenschaften des ›jüdischen Volkes‹ vor der Folie des »Griechentume[s]«267 entwickelt: In Bezug auf seine kulturellen Leistungen könne nur das ›griechische Volk‹, die »Hellenen« bzw. »Hellas«, überhaupt mit dem ›jüdischen Volk‹, den »Hebräer[n]« bzw. »Kanaan«268, verglichen werden, indem beide »wahrhaft klassischen Völker der europäischen Kulturwelt«269 die Pfeiler und Schöpfer der »modernen Zivilisation«270 und des »modernen Geistes«271 darstellten. Das Gegenbild zur »naturwüchsigen und originellen Kultur Alt-Israels«272 bildete bei Loewe die römische Kultur, die nicht auf eigenständigen, schöpferischen Leistungen beruhe, sondern sich »nur ein verwässertes und entartetes Griechentum […] zu eigen gemacht«273 hätte. Diese Authentizität und Tiefe der ›jüdischen Kulturgemeinschaft‹ setzte geradezu die Existenz eines nationalen Kollektivs voraus, »[d]enn Kultur ohne Volkstum war ihrem Denken ebenso unfassbar, wie Volkstum ohne Kultur«274. Nach Loewe setzte sich die europäische ›moderne Kulturgeschichte‹ im Wesentlichen aus der Summe der jüdischen und der griechischen Kultur zusammen, die er jedoch anhand der Beschaffenheit ihrer kulturellen Produkte unterschiedlich charakterisierte: »Die moderne Kultur nun, deren Früchte wir geniessen, besteht aus der ästhetischen und der ungleich wichtigeren ethischen Kultur. Verdanken wir den Athenern, den Griechen die Kunst und die Schönheit, so beruht alle ethische Kultur der europäischen Welt auf dem, was die Hebräer in ihrem Vaterlande geschaffen haben. Denn wenn wir alles Uebernatürliche ausscheiden, so bleibt doch die Tat des Judentums übrig, die in der Bibel und ihrer Geisteswelt zum Ausdruck kommt.«275

Während die griechischen Kulturformen also »in Apollo, dem Gotte der Schönheit, jenes Ideal des Ebenmasses schufen, wusste der Jude, dass sein Volk 266 267 268 269 270 271 272 273 274 275

Vgl. dazu Kap. III.2.3.1 der vorliegenden Arbeit. Loewe, Kanaan (1), S. 72. Ebd., S. 70. Loewe, Kanaan (2), S. 121. Loewe, Kanaan (1), S. 72. Ebd. Loewe, Kanaan (2), S. 121. Ebd. Loewe, Kanaan (3), S. 135. Sachse, Judenfrage? (2), S. 149.

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ein Erbe sei dem Gotte der Sittlichkeit und Liebe«276.277 Der griechische Beitrag zur menschlichen Kulturentwicklung sei demnach die »ästhetische Kultur«, die im antiken, klassischen Griechenland entstanden sei und sich vor allem im schöpferischen, künstlerischen Schaffen und im sinnlich wahrnehmbaren, stilvoll Schönen erschöpfe. Demgegenüber beschreibt Loewe den jüdischen Beitrag als »ethische Kultur«, als deren Fundament die hebräische Bibel betrachtet wird und die sich in den darin festgeschriebenen geistig-ideellen Grundsätzen, Werten und Normen äußere, die von der »gewaltigen geistigen Grösse seiner Urheber« bzw. »der ureigensten Geistesart Israels«278 zeugten. Die Begriffe »ethisch« und »sittlich« wurden von deutschen Zionisten meist synonym gebraucht, wobei sie damit sowohl die Reflexion über die Bedeutung und Geltung moralischer Grundsätze als auch deren Konkretion im nationalen Gemeinschaftsleben zum Ausdruck bringen wollten. Die besondere Daseinsberechtigung des jüdischen Nationalismus ergebe sich daher aus dem »Judentume, das die ethische Kultur der europäischen Welt gegeben hat«279. In dieser Eigenschaft glaubte Loewe das zentrale Charakteristikum der »[jüdischen] Zivilisation«280 erkannt zu haben, das er weiter mit dem Begriff der »Humanität«281 und der »milde[n] Gerechtigkeit«282 umschrieb. Den Inbegriff der »ethischen Kultur« des Judentums bildete nach Loewe die althebräische Kultur und im Besonderen die »mosaische Kulturgesetzgebung« bzw. der sogenannte »Mosaismus«.283 Darunter verstand Loewe die Gesamtheit der von Moses für die Israeliten geschaffenen politischen Institutionen, Gesetze und sittlich-religiösen Bräuche, unter denen er die Sozialgesetzgebung und die Idee der »sozialen Fürsorge« des Staates für den Einzelnen, die unabhängig von seiner sozialen Stellung garantiert wurde, hervorhob.284 Gleichzeitig verband Loewe diese binäre Narration der modernen, europäischen Kulturgeschichte mit einer grundsätzlichen ›Kritik des Ästhetischen‹ und der Formel von der prinzipiellen kulturellen Höherwertigkeit der Juden. Die 276 277 278 279 280 281 282 283 284

Loewe, Kanaan (2), S. 121. Vgl. ebd. Loewe, Kanaan (1), S. 73. Loewe, Berechtigung, S. 318. Loewe, Kanaan (3), S. 135. Ebd., S. 136, 138. Ebd., S. 135. Vgl. ebd., S. 136, 138. Sachse, Judenfrage? (2), S. 149: »Denn die ethische Kultur, die in der Bibel niedergelegt ist, und die als Grundlage für jede sittliche Weltordnung dient, ist von den Hebräern geschaffen worden und ist nichts anderes als eben die Kultur der Israeliten. Die Hebräer waren die ersten und die einzigen, die aus sich heraus, ohne fremde Einflüsse, eine soziale Fürsorge schufen, und die einzigen, die einen sozialen Staat hatten. Das Gesetz, das Mose den Juden gegeben, ist das einzige nationale Gesetz, das für den Armen ebenso sorgt wie für den Mächtigen, wenn es auch sich genötigt sah, das Eigentum abzuschaffen.«

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griechischen »ästhetischen« Kulturformen wurden demnach als ›materiell‹, ›materialistisch‹, ›äußerlich‹, ›oberflächlich‹ und ›vergänglich‹ charakterisiert, während die Juden, »der ursprünglich asiatische Stamm« bzw. »die Nachkommen des kleinen altsemitischen Stammes«285, die europäische Kulturwelt in doppelter Weise bereichert hätten, nämlich durch die »uralte hebräische Kultur« und die gegenwärtigen »modernen künstlerischen, dichterischen und wissenschaftlichen [jüdischen] Grössen«286.287 Auch wenn das heutige ›jüdische Volk‹, »wie alle übrigen europäisch-zivilisierten Völker«288, noch stark von der griechischen Kultur beeinflusst sei,289 hätte »das verachtete Judentum […] mit seinen biblischen Büchern mehr zur Gestaltung und Umgestaltung der Herzen und Geister beigetragen, als alle hellenischen Kulturerzeugnisse zusammen je vermögen«290. Der jüdische Beitrag zur »modernen Kultur« wurde also als dauerhafter und signifikanter empfunden, wobei der Einfluss der »ethischen jüdischen Kultur« auf die Weltreligionen und die geistigen Werte des Abendlandes als universaler geschildert wird.291 Aus den Texten Loewes und anderer zionistischer Autoren geht hervor, dass aus der Sicht vieler deutscher Zionisten der als singulär empfundene Beitrag der ›jüdischen Kultur‹ und damit des nationaljüdischen Kollektivs zur ›modernen‹, ›abendländischen Kultur‹, die als menschliche Fortschrittsgeschichte interpretiert wurde, den wesentlichen Faktor bei der Begründung der Daseinsberechtigung des ›jüdischen Volkes‹ und somit auch des Zionismus darstellte. Darüber hinaus konnte dadurch die Forderung nach Erhaltung der ›jüdischen Kultur‹, die 285 Loewe, Kanaan (1), S. 73. 286 Ebd. 287 Vgl. ebd.: »Zu der Zeit, wo das jüdische Volk der Welt einen Spinoza schenkte, wusste man in Europa kaum etwas davon; dass an den Grenzen Asiens noch Nachkommen von Hellas’ Söhnen existierten. Heute, wo den Griechen durch die ihnen glückbringende Zugehörigkeit zur christlichen Gemeinschaft ein Gebot Europas zu Teil geworden, das ihnen politische Selbständigkeit gegeben hat, sind doch die Griechen im Reiche des Geistes ein Nichts, während die Juden der staatlichen Freiheit entbehren müssen, aber ein mehr oder minder selbständiges Geistesleben führen. Das Griechentum ist schon seit mehr als ein und einem halben Jahrtausend von der Schaubühne der Welt abgetreten, und führt trotz allem in der Jetztzeit nur noch ein ganz kümmerliches Dasein; dagegen arbeiten auf allen Gebieten der Kunst und Wissenschaft die Nachkommen des kleinen altsemitischen Stammes.« 288 Loewe, Kanaan (1), S. 73. 289 Vgl. ebd. 290 Ebd. 291 Vgl. Sachse, Judenfrage? (2), S. 149: »Und wenn heute die moderne Kulturwelt stolz darauf ist, dass sie christliche Gedanken der ganzen Welt übermittelt, so muss man nicht vergessen, dass das Christentum eine Schöpfung der jüdischen Nation ist. Auch der Islam enthält nichts in seiner Moral, das er nicht der jüdischen Kultur bewusst entlehnt hätte. Gewiss haben Kong-Fut-Se und Buddha ihre eigene ethische Welt unabhängig vom Judentum geschaffen, und wir erkennen gern die gewaltig grosse Bedeutung der süd- und ostasiatischen ethischen Kultur an. Aber in der europäisch-christlichen und islamischen Welt ist alles Ethisch-Kulturelle geistiges Eigentum des hebräischen Stammes.«

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einen grundlegenden Bestandteil zionistischer Erziehungsarbeit darstellte, als unumgängliche Notwendigkeit charakterisiert und gerechtfertigt werden: »Es ist darum gar nicht nötig zu zeigen, welche hervorragende Poesie, welche grossen Philosophen und Denker das Judentum hervorgebracht hat, um zu begreifen, dass es in hervorragender Weise von Wert für die Menschheit gewesen ist, und dass seine Begabung so sehr auf anderem Gebiete liegt als die der anderen Nationen, dass es wohl wert ist, seine Eigenart der Menschheit zu erhalten. […] Wenn man ferner bedenkt, dass die Juden in allen Ländern, in denen sie leben, auf der Kulturstufe stehen, welche das jeweilige Land einnimmt, in vielen Ländern aber bedeutend über ihr, so muss man gestehen, dass sie mehr auf Weiterexistenz als Volk Anspruch erheben können, als so viele andere Nationen, die sich der allgemeinen Sympathie erfreuen, wenn sie ihr armseliges Eigenwesen erhalten oder zum Ausdruck bringen wollen. Das Judentum stellt für die Menschheit eine so eigenartige Individualität dar, dass ihr Untergang einen schweren Verlust für die Menschheit bedeuten würde. Darum darf das Judentum, ohne sich an der Menschheit zu versündigen, sich selbst nicht aufgeben. Es muss der Menschheit einen Kulturfaktor erhalten, der einmal eine Bibel geschaffen hat, dem die abendländische Welt ihre ganze ethische Kultur verdankt, und der noch Grosses für die Gesamtheit zu leisten imstande sein wird, wenn es als Individualität nicht aufhört zu existieren. Um seiner selbst willen, um der Menschheit willen und um der Kultur willen, darf das jüdische Volk nicht in der umgehenden Menschheit spurlos verschwinden wollen. Das Judentum hat so Grosses geleistet, dass man sich billig von seiner Fortexistenz Grosses versprechen darf und muss. Der Schöpfer der Bibel und der ethischen Kultur darf nicht untergehen!«292

Aus der zionistischen Vorstellung des kulturell hoch bzw. höher stehenden ›jüdischen Volkes‹, die nicht zuletzt der eigenen Legitimation diente, ergab sich ein widersprüchlicher Diskurs. Einerseits gingen deutsche Zionisten von der unterschiedlichen kulturellen Wertigkeit und »Begabung« einzelner ›Völker‹ aus. Andererseits konstruierten sie – nicht zuletzt vor dem Hintergrund des Narrativs der »jüdischen Minderwertigkeit« und »jüdischer Unfähigkeit zu produktiver kultureller Leistung« im antisemitischen Diskurs – kleinteilige, nicht immer plausible nuancenhafte Bedeutungsunterschiede. So differenzierten sie beispielsweise zwischen »Begabung« und »Größe« oder betonten die grundsätzlich unterschiedliche kulturelle Entwicklungsfähigkeit verschiedener »Völker«.293 292 Sachse, Judenfrage? (2), S. 149f. 293 Vgl. ebd., S. 149: »Wenn andere Völker ihre Existenz in jeder Weise verteidigt haben, so haben sie nicht erst nach der Berechtigung ihrer Fortexistenz gefragt, sondern sie haben erst einmal gekämpft. Aber wenn auch sonst die Berechtigung zur Fortexistenz nicht erwiesen zu werden braucht, so soll doch die Frage der Existenzberechtigung des Judentums nicht einfach bejaht werden, ohne untersucht zu sein. Im allgemeinen liegt das Recht, als Individuum zu existieren, in der Tatsache der Existenz allein, denn alles, was existiert, hat das Recht zu sein. Es gibt Menschen und Völker, die nicht nur durch ihre Zahl zur Menschheit beigetragen haben. Ein Goethe oder ein Spinoza, ein Lessing und ein Men-

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Die von Loewe postulierte Einheit zwischen ›Volksgeist‹ bzw. ›Volkscharakter‹ und ›Kultur‹ und der daraus entwickelte semantische Code, der zur Charakterisierung der eigenen kulturellen Fähigkeiten auf das klassische Griechenland Bezug nimmt, während er gleichzeitig die Erzeugnisse der römischen Kultur mit einem negativen Stigma belegt, rekurrierte in hybrider Form auf prominente Deutungsmuster des zeitgenössischen völkischen und kulturkritischen Diskurses. Zugleich bildete er einen Gegendiskurs zu den ihnen immanenten antisemitischen Geschichtsbildern. Eine auffallend analoge Kategorienbildung, die von »Individualität«, »Volksgeist« und »Kultur« ausgeht, verwendete beispielsweise auch Julius Langbehn in seiner kulturkritischen Schrift »Rembrandt als Erzieher. Von einem Deutschen« (1890)294, in der die Einheit der Konzepte, die Langbehn idealtypisch in der Figur des »Niederdeutschen«, dem Maler Rembrandt, verkörpert sah, und die Einbindung des Einzelnen in das Volksganze gefordert wird, um die verloren geglaubte ›Ganzheit‹ des Individuums wiederherzustellen.295 Auch bei Langbehn, so in seiner Dissertation zu den »Flügelgestalten der ältesten griechischen Kunst« (1881), verbanden sich Kulturkritik und »Griechensehnsucht«296, indem er das ›deutsche Volk‹ mit den Griechen verglich. Hingegen bildete eine »Verfallsgeschichte der griechischen Kunst im Zeichen orientalischer Einflüsse«297, die ihre historische Parallele in

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delssohn waren unendlich viel mehr wert als viele ungezählte Menschen, die nichts zum Fortschritt und allgemeinen Besten beigetragen haben. Ebenso gibt es auch Unterschiede unter den Nationen, ohne dass damit gesagt sein soll, dass es von Hause aus Unterschiede unter den Menschenrassen geben müsste nach ihrer Bewertung. Wir kennen keine inferioren oder superioren Rassen. Nur die Art der Begabung ist verschieden, nicht ihre Grösse. Aber darum kann nicht geleugnet werden, dass beispielsweise das rumänische Volk für die Kulturgeschichte von gar keiner Bedeutung ist, und dass die Menschheit diesem Volke nichts zu verdanken hat. Dagegen hat das winzige Athen, oder allgemeiner gesagt, das auch recht kleine Griechentum, die ganze ästhetische Kultur geschaffen, die unser Leben verschönt. Ohne die rumänische Nation würde die Menschheit nichts entbehren, ohne Hellenentum aber unendlich viel.« Vgl. Langbehn, Julius: Rembrandt als Erzieher. Von einem Deutschen, Weimar 1922 [1890]. Zu den Deutungsmustern in Julius Langbehns »Rembrandt als Erzieher« vgl. Gräfe, Thomas: Rembrandt als Erzieher (August Julius Langbehn, 1890), in: Benz, Wolfgang (Hg.): Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart, Bd. 6: Publikationen, Berlin 2013, S. 595–598; Heinßen, Johannes: Kulturkritik zwischen Historismus und Moderne: Julius Langbehns »Rembrandt als Erzieher«, in: Bergmann/Sieg, Geschichtsbilder, S. 121–138; Lobenstein-Reichmann, Anja: Julius Langbehns »Rembrandt als Erzieher«. Diskursive Traditionen und begriffliche Fäden eines nicht ungefährlichen Buches, in: Müller, Marcus/Kluwe, Sandra (Hg.): Identitätsentwürfe in der Kunstkommunikation. Studien zur Praxis der sprachlichen und multimodalen Positionierung im Interaktionsraum »Kunst« (Sprache und Wissen; Bd. 10), Berlin/New York 2012, S. 295–318. Sünderhauf, Esther Sophia: Griechensehnsucht und Kulturkritik. Die deutsche Rezeption von Winckelmanns Antikenideal 1840–1945, Berlin 2004. Vgl. auch Heinßen, Kulturkritik, S. 132f. Heinßen, Kulturkritik, S. 133.

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der Korrumpierung der deutschen Kultur durch jüdische Einflüsse in »Rembrandt als Erzieher« findet, die Grundlage seines Geschichtsbildes. Darüber hinaus stellte die Narration Loewes auch ein Gegenmodell zu prominenten universalhistorischen, rassentheoretischen Kulturphilosophien dar, die das Deutungsmuster ›Kultur‹ mit dem der ›Rasse‹ verbanden und Parallelen zwischen rassisch-biologischer und historisch-kultureller Entwicklung zu erkennen glaubten. So setzten sich deutsche Zionisten intensiv mit Joseph Arthur Comte de Gobineaus (1816–1882) »Essai sur l’in8galit8 des races humaines« (dt.: »Versuch über die Ungleichheit der Menschenrassen«, 1853–1856)298 oder Houston Stewart Chamberlains (1855–1927) »Die Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts« (1890)299 auseinander. Obwohl Gobineau und Chamberlain von einem unterschiedlichen Rassenbegriff ausgingen, bildete ›Rasse‹ für beide den Schlüsselbegriff zur Weltdeutung und die wesentliche Grundlage menschlicher Existenz, die das Zusammenleben zwischen den ›Völkern‹ entscheidend bestimmte und als zentrales Kriterium für die Kulturfähigkeit der Mitglieder eines ›Volkes‹ angesehen werden müsse. Während Loewe im »Kulturkampf« das Wesen nationalen Daseins in seiner Gegenwart zu erkennen glaubte und einen ›rassistischen Nationalismus‹, der die Unterlegenheit und Überlegenheit von ›Völkern‹ implizierte, explizit ablehnte,300 gingen Gobineau und Chamberlain bei Anwendung sozialdarwinistischer Deutungsmuster von einem ständigen »Rassenkampf« als Antriebskraft des Geschichtsprozesses aus. Auch bei Chamberlain beispielsweise nimmt die menschliche Kulturentwicklung zwar im antiken »Hellas« ihre »Ursprünge«, das als »Wiege der Kultur« und »Blüte des Menschengeistes« bezeichnet wird,301 298 Vgl. Gobineau, Arthur : Essai sur l’in8galit8 des races humaines, Paris 1853–1856. Zur Bedeutung Gobineaus in den Rassediskursen des ›langen‹ 19. Jahrhunderts vgl. Geulen, Christian: Wahlverwandte. Rassendiskurs und Nationalismus im späten 19. Jahrhundert, Hamburg 2004, S. 59–71; Conze, Werner/Sommer, Antje: Rasse, in: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 5: Pro–Soz, Stuttgart 1984, S. 135–178, hier S. 161–163; Young, Earl J.: Gobineau und der Rassismus. Eine Kritik der anthropologischen Geschichtstheorie, Meisenheim am Glan 1968; Sieferle, Rolf Peter : Die Krise der menschlichen Natur. Zur Geschichte eines Konzepts, Frankfurt 1989, S. 129–141. 299 Vgl. Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts, 2 Bde., München 1899. Zu Chamberlain vgl. Lobenstein-Reichmann, Anja: Kulturchauvinismus. Germanisches Christentum. Austilgungsrassismus. Stewart H. Chamberlain als Leitfigur des deutschnationalen Bürgertums und Stichwortgeber Adolf Hitlers, in: Heer, Hannes (Hg.): »Weltanschauung en marche«. Die Bayreuther Festspiele und die Juden 1876 bis 1945, Würzburg 2013, S. 169–192; dies.: Houston Stewart Chamberlain. Zur textlichen Konstruktion einer Weltanschauung. Eine sprach-, diskurs- und ideologiegeschichtliche Analyse (Studia Linguistica 95), Berlin/New York 2008; dies.: Houston Stewart Chamberlains rassentheoretische Geschichtsphilosophie, in: Bergmann/Sieg, Geschichtsbilder, S. 139–166. 300 Vgl. dazu Kap. III.1.3. 301 Chamberlain, Grundlagen, Bd. 1, S. 70.

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jedoch geht dieser wie Langbehn von einem fortschreitenden Verfall von »Kultur« und »Zivilisation« aus. Die Ursachen dieses Verfalls sah er in Analogie zu Gobineau in der kontinuierlichen Vermischung von kulturell höher stehenden mit kulturell ›minderwertigen‹ ›Rassen‹. Dieser Prozess der fortschreitenden Degeneration und Zerstörung von ›Kultur‹ nahm nach Chamberlain seinen Ausgang im »Völkerchaos« des antiken Rom im Auftreten des Juden in der Geschichte und erreichte seinen Tiefpunkt in »Judäa«.302 Erst mit dem »Erwachen der Germanen zu ihrer welthistorischen Bestimmung als Begründer einer durchaus neuen Civilisation und einer durchaus neuen Kultur«303, die das Erbe der griechischen Kultur antreten sollte, hätte der Kampf gegen die kulturellen Auflösungserscheinungen begonnen. Während ›der Germane‹ also bei Chamberlain wie bei anderen zeitgenössischen Autoren zum Inbegriff des kulturellen Schöpfers und zum alleinigen Träger von kulturellem und zivilisatorischem, d. h. menschlichem, Fortschritt per se stilisiert wird,304 gilt ›der Jude‹ oder ›Semit‹ als kulturzersetzendes Element, das zu keinerlei schöpferischer kultureller Leistung befähigt sei.305 Wie die römische Kultur bei Loewe beschränkt sich die kulturelle Produktion des jüdischen Volkes bei Chamberlain auf die Nachahmung und auf die Anteilnahme an ›germanischer‹ kultureller Produktion.306 Loewe verwendete in seinen Beiträgen somit eine auffallend ähnliche Begrifflichkeit wie Chamberlain, indem auch er von »Hellas« und den Juden als »Semiten« oder »Asiaten«307 sprach. Gleichzeitig transformierte er jedoch die Geschichtsdeutung Chamberlains, indem die Juden in seinen Beiträgen als »altes Kulturvolk«308 im Besonderen über die jüdische Religion die »europäische Kulturwelt« bereicherten. Jüdische Geistes-, Kultur- und Schöpferkraft wurde bei Loewe nunmehr erhöht und bildete den Mittelpunkt seiner Narration. Bereits im Jahr 1903 hatte die Jüdische Rundschau einen Artikel des deutschitalienischen Soziologen Robert Michels mit dem Titel »Judentum und öffentliche Achtung« abgedruckt, der eine ähnliche Sichtweise – unter anderen semantischen Vorzeichen – vertrat.309 Michels, der Judentum darin als »Stamm«, »Rasse« und »Willensgemeinschaft« charakterisierte, definierte in Anlehnung an die Studie »L’Italia Giovane« des liberalen italienischen Historikers und Schriftstellers Guglielmo Ferrero die »ethische Weltverbesserungssucht« als 302 303 304 305 306 307 308 309

Vgl. ebd., S. 70, 263–459. Ebd., S. 8. Vgl. ebd., S. 9, 81, 463–529. Vgl. ebd., S. 8, 302. Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 154, 162, 382. Sache, Heinrich: Zum Pessachfest, in: JR, VIII. Jg., Nr. 15/16 (10. 04. 1903), S. 138. Michels, Robert: Judentum und öffentliche Achtung, in: JR, VIII. Jg., Nr. 17 (24. 04. 1903), S. 151–153.

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einen wesentlichen Bestandteil des »semitischen Volkscharakters«.310 In seinem Aufsatz wollte Michels die »Entstehungsursachen des heutigen Antisemitismus« untersuchen, wobei er diese in erster Linie auf das »mangelnde[s] Selbstbewusstsein« des Juden zurückführte.311 Einen Ausweg aus diesem Dilemma könne allein der Zionismus bieten: »Wenn der Jude das Wort ›Jude‹, selbst wenn es als Schimpfwort ihm entgegengeschleudert wird, nicht mehr als ein solches auffasst, sondern sich mit Stolz zu ihm bekennt, wenn der Jude, ob seiner Nationalität geschmäht, emporschnellt und dem Angreifer mit stolzen Mienen antwortet, dass er vielleicht noch mehr Grund zu einem Nationalstolz […] habe, als jener, weil er einem älteren Kulturvolk angehöre, das bereits zu einer Zeit höchste Kulturarbeit verrichtet habe, als die braven Germanen und Kelten noch Menschenopfer brachten, wenn der Jude dem Nichtjuden entgegenhält, dass die lange Reihe der Spinoza, Marx, Lassalle, Bernstein, Lombroso, Heine, Börne, Israels, Rubinstein, Franchetti, MendHs, Bizet, M. Mendelsohn, Liebermann, Joachim u. v. a. ein Beweis dafür sei, dass das Judentum in der Neuzeit nicht nur Kulturträger gewesen, sondern sogar auf den Hauptgebieten menschlicher Fortschritte als Kulturerreger bahnbrechend vorgegangen sei und noch immer weiter vorgehe, erst dann wird der Antisemitismus zu einem Extrakt von Irrenhäuslerei und Delinquententum zusammenschrumpfen.«312

Insgesamt knüpften die deutschen Zionisten, die vom ›jüdischen Volk‹ als »Kulturvolk«313 sprachen, an das spezifisch deutsche bürgerliche Bildungs- und Kulturideal an, in dessen Mittelpunkt nach der aufklärerisch-humanistischen Tradition der universal gebildete Mensch stand.314 Die Reproduktion des Deutungsmusters »Kultur« entsprach dem bürgerlichen Bedürfnis nach Weltdeutung und sollte daneben auch die soziale Stratifizierung und kulturelle Hegemonie des Bildungsbürgertums sowie die bürgerliche »Leistungsethik« recht310 311 312 313

Ebd., S. 151. Ebd., S. 152. Ebd., S. 152f. Loewe, Kanaan (1), S. 70–74; K.: Eine Tischrede und Glossen dazu, in: JR, IX. Jg., Nr. 26 (01. 07. 1904), S. 276f. 314 Vgl. Bauer, Franz J.: Bürgerwege und Bürgerwelten. Familienbiographische Untersuchungen zum deutschen Bürgertum im 19. Jahrhundert (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 43), Göttingen 1991, S. 15f., 179; Bollenbeck, Glanz, S. 126–224; Simmel, Georg: Der Begriff und die Tragödie der Kultur, in: Ders.: Philosophische Kultur. Gesammelte Essais, Leipzig 1911, S. 245–277; Tenbruck, Friedrich H.: Bürgerliche Kultur, in: Neidhardt, Friedhelm u. a. (Hg.): Kultur und Gesellschaft. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 27, Opladen 1986, S. 263–285; vom Bruch, Rüdiger : Wilhelminismus, S. 25–51; ders. u. a., Einleitung; Vondung, Klaus: Zur Lage der Gebildeten in der wilhelminischen Zeit, in: Ders. (Hg.): Das wilhelminische Bildungsbürgertum. Zur Sozialgeschichte seiner Ideen, Göttingen 1976, S. 20–33; Schäfer, Michael: Geschichte des Bürgertums. Eine Einführung, Köln u. a. 2009, S. 114–124.

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fertigen.315 Nicht zuletzt zeugt das Auftreten kulturalistischer Nationsvorstellungen selbst von der starken »Verbürgerlichung« des deutschen Zionismus, die bereits im vorhergehenden Kapitel konstatiert wurde.316 Der deutsche Kulturbegriff diente in der modernen Industriegesellschaft nicht zuletzt auch dem Ausdruck bürgerlicher Kulturkritik. Loewe beispielswiese verband das Deutungsmuster ›Kultur‹ mit einer grundsätzlichen Kulturund Zivilisationskritik, aus der er wiederum Forderungen für eine Idealform von Nationalismus in der Gegenwart ableitete, die auch von anderen zionistischen Autoren im betrachteten Medium im Anschluss geteilt und reproduziert wurde. Während in zeitgenössischen Diskursen wie bei Tönnies das Konzept der »Zivilisation«, das die gesellschaftliche Degeneration beschreibt, zum Antonym von »Kultur« wurde, bildeten die Begriffe bei Loewe in aufklärerischer Tradition noch eine Einheit. Loewes Text ist der Gegenentwurf zu einer als krisenhaft empfundenen Gegenwart, der jedoch bei ihm auf eine moderne Nationalismuskritik verengt wird und in der Forderung nach einem ›ethischen Nationalismus‹ mündet: »Griechenland soll uns ein Vorbild sein mit jener flammenden Vaterlandsliebe, die allen Hellenen gemein war, und die trotz aller Auswüchse nichts hatte von dem eifersüchtelnden Hasse, mit dem moderne Nationen einander verfolgen. Judentum und Hellenismus haben den modernen Geist in erster Reihe geschaffen; aber er ist noch weit zurückgeblieben hinter dem Punkte, wo diese Klassiker der Weltgeschichte schon vor zwei- und dreitausend Jahren standen. Hatte Hellas die ästhetische Kultur geschaffen, so war Israel die Mutter ethischer Kultur, deren Betätigung freilich dem modernen Europa noch immer unbekannt geblieben ist.317

Im Gegensatz zu anderen Völkern, so Loewe, die erst durch nationalen Chauvinismus, »Macht und […] Machtbegierde […] Schwert und Panzerfaust«318, »Raub und Jagd […] in die Kulturentwicklung eintraten, und bei denen Machtgelüste auch für die Zeiten ihres höchsten Kulturstandes bezeichnend bleiben«319 hätte sich das ›jüdische Volk‹ stets von der Unterdrückung anderer Völker, Expansion und Sklaverei ferngehalten und dem Prinzip der »Vergeistigung« verschrieben. Darin erblicke es »das Wesen der Kultur und die Berechtigung der Existenz der Nationen«320. Die Überwindung des ›nationalistischen Dilemmas‹ sah Loewe in einer Rückbesinnung durch Verschmelzung321 von griechischer und jüdischer Kultur, 315 316 317 318 319 320 321

Vgl. Bollenbeck, Bildung, S. 193–224. Vgl. Kap. II.5.2 der vorliegenden Arbeit. Loewe, Kanaan (3), S. 138f. Loewe, Berechtigung, S. 318. Ebd., S. 317. Ebd. Vgl. Loewe, Kanaan (3), S. 138f.: »Wir Anhänger einer monistischen Weltauffassung

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d. h. »Aesthetik und Ethik, der Schönheit und der Sittlichkeit«322 und im gegenwärtigen »Kulturkampf«323 des jüdischen Volkes, dessen Aufgabe eine »neue[n] jüdische[n] Kultur [sei], deren Ziel der ethische Fortschritt ist im Einklange mit den Lehren der Wissenschaft und Kunst«324. Demnach bildeten politischer Zionismus und Kulturzionismus aus der Sicht Loewes »keine Gegensätze, vielmehr die notwendigen Ergänzungen von einander und in Wahrheit nur zwei Seiten derselben nationalen Bewegung der Volksseele«325. Der »Vorbereitung des Landes« müsse die »Vorbereitung des Volkes«326 vorangehen, die, so Loewe, ausschließlich mittels der »Vertiefung im Zionismus«327 durch Aneignung jüdischer Kultur erreicht werden könne.328 Diese Vorstellung von Zionismus als kultureller »Volkserziehung«329 und sittlicher Idee, die ethische Anforderungen an das nationaljüdische Kollektiv stellt und dieses gewissermaßen als nationale Mustergemeinschaft begreift, wurde wiederholt im Besonderen im kulturzionistischen Diskurs aufgegriffen.330 Eine besondere Variante dieser Forderung nach ›Ethik im Nationalismus‹ findet sich in einem Artikel in der Jüdischen Rundschau von Ibn Asrak aus dem Jahr 1903, in dem unter Bezug auf die »modernen Nationalitätsbestrebungen«331 ein ausgeglichenes Verhältnis von partikularen und universalen Elementen im jüdischen Nationalismus gefordert wird und dessen Deutungsmuster im zionistischen Diskurs im Folgenden wiederholt aufgegriffen wurden.332 Ibn Asrak

322 323 324 325 326 327 328 329 330 331 332

müssen aber zu dem Gedanken kommen, dass das höchste Gut und das höchste Schöne schliesslich identisch sein müssen und Griechentum und Judaismus endlich gleichbedeutend sein müssten, wenn sie ihr Ideal erreicht haben. Für uns heute ist in erster Linie Israels Altertum das leitende Ideal, wenn auch durchaus nicht das allein massgebende. […] Denn was uns fehlt, ist noch ein ganz Teil Hellenismus und noch bedeutend mehr des klassischen Judentums. Beides ist unser Ziel, wenn wir uns auch bewusst bleiben, dass entschwundene Zeitalter nicht mehr neu zu beleben sind, wohl aber ihre Ideale!« Ebd., S. 139. Ebd. Ebd. Loewe, Berechtigung, S. 317. Ebd., S. 318. Ebd. Vgl. ebd. Loewe, Heinrich: Eine Dorfschule in Palästina, in: JR, IX. Jg., Nr. 43 (28. 10. 1904), S. 357f., hier S. 357. Vgl. z. B. zur Beziehung von ›Ethik‹ und ›Nationalismus‹ in Martin Bubers Zeitschrift »Der Jude« (1916–1928) Lappin, Jude, S. 148–166. Asrak, Nationalismus, S. 2. Vgl. zu den Deutungsmustern »Partikularismus« und »Universalismus« im frühen deutschen Zionismus und zum Artikel Asraks und den dort entwickelten Deutungsmustern bereits die kurze Diskussion (in engl. Sprache und die Zitate in engl. Übersetzung) bei Herrmann, Particularism, S. 11f. Vgl. allgemein auch Lappin, Jude, S. 434–438. Vgl. zur Bedeutung der Narrative in der jüdischen Aufklärung, Haskalah, auch Schulte, Christoph: Universalisme et particularisme. Vers une d8finition de la Haskala en Allemagne, in: Revue des 8tudes juives 159 (2000), S. 131–144.

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nahm in seinem Artikel Bezug auf den jüdischen Gelehrten Hillel (110 v. Chr.–9 n. Chr.), den Verfasser der sieben Auslegungsregeln (Middot) zur Exegese der Tora, und die von ihm formulierten ethischen Maximen, die sich in den Pirke Avot (»Sprüche der Väter«), einer Abhandlung der Mischna im Seder Nesikin, die sich mit Fragen der Ethik befasst, finden lassen.333 Ibn Asrak kritisierte, dass sich viele Zionisten nur den ersten Teil eines Ausspruchs aus den ethischen Leitsätzen Hillels zur Begründung ihres Nationalismus aus dem hebräischen Schrifttum zu eigen machten, der lautete: »Wenn ich nicht für mich bin, wer soll denn für mich sein?« (»Hu hajah ’omer, ’im ’en ’ani li, mi li«) [Pirke Aboth, Hillel, I, 14]. Nach Asrak beinhalte dieser Teil für sich allein genommen nur »den Egoismus, den Individualismus« und hätte daher allenfalls als Berechtigungsformel eines »bizarren Nationalismus« dienen können.334 Zur Vermeidung dieses rein partikularistischen Nationsverständnisses müsse vielmehr der unterschlagene mittlere Teil des entsprechenden Zitates verinnerlicht werden, da die Formel »Und wenn ich nur für mich bin, was bin ich dann?« (»Uch’asch8r le atzm&, mah ’ani«) [Pirke Aboth, Hillel, I, 14] »den Altruismus, den Sozialismus« in Bezug »auf eine Personenmehrheit, eine Volksgemeinschaft« und daher aus der Sicht Asraks »den Universalismus« per se im Gegensatz zum »Nationalismus« versinnbildliche.335 Auch dieser Teil dürfe jedoch nicht isoliert zur Anwendung kommen, da er sonst, wie bereits in der Vergangenheit geschehen, zu einem »blossen Kosmopolitismus« führe, der »grosse Teile des Volkes aus dem Volkskörper ausschied«.336 Zionismus oder jüdischer Nationalismus war nach Asrak vielmehr als Synthese beider Teile zu verstehen: »Keine der entgegengesetzten Weltanschauungen allein, sondern beide zu einem harmonischen Ganzen verschmolzen – das ist der grosse Gedanke, den Hillel ausspricht. Er warnt sein Volk vor jeder Einseitigkeit, sowohl vor einem starren, nackten Nationalismus, als auch vor einem verschwommenen, nichtssagenden Universalismus und Kosmopolitismus. Nationalismus mit einer Portion Universalismus, Universalismus mit einer Dosis Nationalismus – das ist das Rezept, welches er uns empfiehlt. Die Mischung soll zu einem einheitlichen Elemente werden, das nicht zerlegt werden darf. Einen oder den anderen der Urbestandteile allein anwenden, heisst Hillels Worte fälschen.«337

Diese Einheit von ›Partikularismus‹ oder ›Nationalismus‹ und ›Universalismus‹ oder ›Kosmopolitismus‹ beruhte für Asrak im Sinne Hillels also ganz selbst333 Vgl. dazu Hillel, in: Personenregister [Anhang], in: »Lehre mich, Ewiger Deinen Weg« (Ps. 86:11). Ethik im Judentum, hg. vom Zentralrat der Juden in Deutschland und Schweizerischen Israelitischen Gemeindebund, Berlin 2015, S. 312–322, hier 313. 334 Asrak, Nationalismus, S. 2. 335 Ebd. 336 Ebd. 337 Ebd.

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verständlich auf der grundlegenden Vorannahme, dass der Einzelne immer Teil zweier Gemeinschaften, der nationalen im engeren Sinne und der ihr übergeordneten Gemeinschaft aller Menschen im weiteren Sinne, sei. Daraus ergab sich für ihn die logische Schlussfolgerung, dass die Leistung und die Errungenschaften des Einzelnen wie des nationalen Kollektivs, dem er angehörte, nicht nur dem eigenen ›Volk‹, sondern immer auch dem Wohl der gesamten Menschheit dienen und zur Verfügung stehen müssten. Zionismus oder Nationaljudentum wird bei Asrak also immer auch als gegenwärtige sittliche oder ethische Aufgabe oder Verantwortung im Dienst einer allgemeinen übernationalen Humanität gedacht. Zionismus, so Asrak, ist daher immer auch »Gegenwartsmessianismus«, dessen Berechtigung und Unmittelbarkeit er mit dem letzten Teil des Hillelschen Ausspruches »Und wenn nicht jetzt, wann denn?« (»We’im lo achsh#w emat#j«) [Pirke Aboth, Hillel, I, 14] untermalte: »Da kommt uns auch wieder unser alter Hillel zu Hilfe, indem er seine Lehre beendet mit den Worten […] (und wenn nicht jetzt, wann denn)? Also auch zeitlich sollen beide Prinzipien eine geschlossene Einheit bilden. Ferner, sie sollen vereint die Grundlage für ein Gegenwartsprogramm sein, keine Zukunftsmusik! – Was verbietet uns Hillel? Unsere Person, unser Leben, unsere Kultur, unser Denken und Fühlen, unser Wissen und Können gegen Einflüsse und Eindrücke, die von wo anders her als aus dem eigenen Volke kommen, hermetisch abzuschliessen und nur für unsere engere Gemeinschaft zu wirken und zu streben. Was gebietet er uns? Unsere Eigenart zu bewahren, rastlos für das jüdische Volk zu arbeiten und dabei auch stets an das Ganze an die grosse, alle Menschen umfassende Gemeinschaft zu denken. – So lassen sich zwei moderne Gegensätze zu einer wahrhaft idealen Weltanschauung vereinigen, zu einer echt jüdischen Auffassung, zu einer Art Gegenwartsmessianismus. Und wir können stolz darauf sein, dass der Mann, der jene Anschauung schuf, ein Mann unseres Stammes ist.«338

Bezeichnenderweise erläuterte Asrak die »Wechselwirkung jener beiden Weltanschauungen« wie Loewe für das ›jüdische Volk‹ am Beispiel der »Früchte des spezifisch jüdischen Geisteslebens«, deren Produktion nicht nur dem eigenen ›Volk‹ diene, sondern seinen »Einfluss auf das gesamte menschliche Geistesleben« garantiere, indem das einzelne Glied des ›Volkes‹ »ein treuer Diener der universalen Geistesbildung« werde.339 Das Deutungsmuster ›Ethik‹, auf das hier Bezug genommen wurde, wurde also als wirksame Gegennarration zu anderen zeitgenössischen Nationalismen und der ihnen inhärenten Überlegenheit des ›Eigenen‹ und Abwertung des ›Anderen‹ empfunden. Diese Forderung nach einem ethischen Zionismus, die mit Warnungen deutscher Zionisten vor einem »abstrakten jüdischen Nationalismus«340 korrespondierte, bildete so auch ein Gegengewicht gegenüber 338 Ebd. 339 Ebd. 340 Ebd., S. 2f.

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zeitgleich existierenden partikularistischen Nationsentwürfen und Ethnisierungstendenzen sowie entsprechenden hegemonialen kolonialistischen Deutungsmustern im deutschen Zionismus. So betonte beispielsweise auch Heinrich Loewe, dass »Kosmopolitismus und Nationalismus einerseits, und wiederum Nationalismus und Partikularismus auf der anderen Seite, keine Gegensätze«341 seien und dass sich »die wahre Kultur«342 einer ›Nation‹ gerade in der Achtung vor und in der Akzeptanz von Heterogenität ihrer Glieder äußere.343 Wie gezeigt werden konnte, ließ die so gedachte Synthese von ›Universalismus‹ und ›Partikularismus‹ im Zionismus im frühen deutschen zionistischen Diskurs allerdings durchaus auch die Vorstellung von Unterschieden in der kulturellen Entwicklung oder (jüdischer) kultureller Überlegenheit zu. Sie wurde von vielen Zionisten wie Loewe mit der Forderung nach einer vom Geist der Humanitas durchdrungenen Gesinnung und der Verantwortung für das Allgemeinwohl der Menschheit begründet, nach der die kulturelle Leistungen des ›jüdischen Volkes‹ allen ›Völkern‹ zu Gute kommen sollten.

1.3

Zwischen Negierung, Transformation und Apologie: Zionismus und ›Rasse‹

Neben den genannten Deutungsmustern konnten die im Kapitel zuvor beschriebenen Gemeinschaftsmetaphoriken auch mit unterschiedlichen Entwürfen, Juden als ›Rasse‹ oder biologische Gruppe zu verstehen, verknüpft werden. Die zionistische Diskussion über eine ›jüdische Rasse‹ stellte einen Bestandteil der übergreifenden Debatte über die »Biologie der Juden«344 dar, die sowohl einen Teil des öffentlichen als auch des wissenschaftlichen Diskurses bildete und in ihre intensivste Phase im ersten Drittel des 20. Jahrhundert trat.345 An dieser 341 342 343 344 345

Loewe, Nationalismus, S. 122. Ebd. Vgl. ebd. Lipphardt, Biologie der Juden. Vgl. ebd., S. 53. Im Folgenden sollen in erster Linie die Beiträge in der Jüdischen Rundschau zu dieser Debatte näher analysiert werden, die bislang von der Forschung nur wenig oder keine Aufmerksamkeit erhielten. Für eine ausführliche Diskussion des Diskurses um die Frage einer »jüdischen Rasse« vgl. allgemein hingegen Kiefer, Annegret: Das Problem einer ›jüdischen Rasse‹. Eine Diskussion zwischen Wissenschaft und Ideologie (1870–1930) (Marburger Schriften zur Medizingeschichte, Bd. 29), Frankfurt u. a. 1991, insbes. S. 9–37; Lipphardt, Biologie, S. 53–130; Przyrembel, Alexandra: »Rassenschande«. Reinheitsmythos und Vernichtungslegitimation im Nationalsozialismus. Mit 13 Abbildungen und 13 Tabellen sowie einem Dokumentenanhang, Göttingen 2003, S. 23–62. Zum Rassendiskurs im ›langen‹ 19. Jahrhundert allgemein vgl. Geulen, Wahlverwandte; Olender, Maurice: Die Sprachen des Paradieses. Religion, Philologie und Rassentheorie im 19. Jahrhundert. Aus dem Französischen von Peter D. Krumme, Frankfurt a. M. u. a. 1995; Poliakov, L8on: Der

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Debatte, die sich mittels eines breiten Spektrums an (pseudo-)wissenschaftlichen Veröffentlichungen vor allem in (populär-)wissenschaftlichen Fachzeitschriften wie der Politisch-anthropologischen Revue (PAR), dem Archiv für Rassen- und Gesellschaftsbiologie (ARGB) und der Zeitschrift für Demographie und Statistik der Juden (ZDSJ), artikulierte, beteiligten sich sowohl jüdische, nichtzionistische und zionistische, als auch nichtjüdische Wissenschaftler und Laien.346 Die zionistischen Debatten über das Konzept ›Rasse‹347 und die Existenz einer ›jüdischen Rasse‹ spiegelten somit auch die wachsende »Wissenschaftspopularisierung«348 im ›langen‹ 19. Jahrhundert und die sich daran anschließende »Biologisierung des Sozialen«349 sowie in ihrer Folge die »Biologisierung der Nation«350 ab, kraft derer der Rassenbegriff mit wissenschaftlicher Autorität bis weit in die Gesellschaft hineingetragen wurde und einen festen Platz im bildungsbürgerlichen Denken einnahm.351 Gewissermaßen lag auch diesem Prozess der (bildungs-)bürgerliche Anspruch zugrunde, eine umfassende, verbindliche Gegenwarts- und Zukunftsdeutung mittels eines leicht verständlichen, wissenschaftlichen und daher scheinbar objektiven Prinzips vorzunehmen.352 Versuche, Juden mit (pseudo-)wissenschaftlichen Methoden als biologische Gruppe mit gemeinsamen physischen und/oder psychischen Merkmalen zu beschreiben oder eine »Pathologisierung des jüdischen Körpers«353 vorzunehmen, reichten bis in das späte 18. Jahrhundert zurück. Die biohistorischen Narrative

346 347 348 349 350 351

352 353

arische Mythos. Zu den Quellen von Rassismus und Nationalismus, Hamburg 1993; ders. u. a.: Rassismus. Über Fremdenfeindlichkeit und Rassenwahn, Hamburg u. a. 1992; Sieferle, Krise; ders.: Rassismus, Rassenhygiene, Menschenzuchtideale, in: Puschner u. a., Handbuch zur Völkischen Bewegung, S. 436–448. Zum Rassediskurs im zionistischen Diskurs und Kulturzionismus vgl. Doron, Rassenbewusstsein; Efron, Defenders, insbes. S. 20–24; Gelber, Melancholy, S. 125–160; ders.: Deutsche Rassentheorie und Kulturzionismus, in: Schatz/Wiese, Janusfiguren, S. 103–123; Vogt, Positionierungen, S. 113–157. Zu den Gründen für den sprunghaften Anstieg empirischer Untersuchungen zur »jüdischen Rassenfrage« und (pseudo-) wissenschaftlichen Rassetheorien um 1900 vgl. Lipphardt, Biologie, S. 63f. Vgl. Lipphardt, Biologie, S. 168–173. Zum Rassenbegriff vgl. Conze/Sommer, Rasse. Daum, Andreas: Wissenschaftspopularisierung im 19. Jahrhundert. Bürgerliche Kultur, naturwissenschaftliche Bildung und die deutsche Öffentlichkeit, 1848–1914, 2., erg. Aufl. München 2002. Lipphardt, Biologie, S. 39. Walkenhorst, Nation, S. 102. Vgl. die Bemerkungen und Beispiele bei Conze/Sommer, Rasse, S. 168–172. Vgl. auch Herbert, Ulrich: Traditionen des Rassismus, in: Ders.: Arbeit, Volkstum, Weltanschauung. Über Fremde und Deutsche im 20. Jahrhundert, Frankfurt 1995, S. 13; Lipphardt, Biologie, S. 39. Vgl. Geulen, Wahlverwandte, S. 154–158. Hödl, Klaus: Die Pathologisierung des jüdischen Körpers. Antisemitismus, Geschlecht und Medizin im Fin de SiHcle, Wien 1997; Lipphardt, Biologie, S. 53.

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über die »Konstanz, Reinheit und Isolation«354 der ›jüdischen Rasse‹ auf der einen Seite und ihre »Vielfalt und Mischung«355 auf der anderen Seite, welche die wissenschaftliche Debatte um 1900 und den zionistischen Diskurs zutiefst prägten, waren bereits im Verlauf des 19. Jahrhunderts aufgekommen.356 Von antisemitischen Rassentheoretikern wurden beide Narrative nicht selten zur Begründung ihrer Vorstellung von der ›jüdischen Rasse‹ als »race inf8rieure«357 instrumentalisiert und entsprechend fortentwickelt.358 Die Anfänge der Professionalisierung und Institutionalisierung der »Anthropologie der Juden«359 als einer eigenen naturwissenschaftlichen Disziplin fielen in die 1880er Jahre und müssen in enger Wechselwirkung mit der sich gleichzeitig intensivierenden gesellschaftlichen Debatte über die »Judenfrage« und aufkommenden antisemitischen Stereotypen über die »›Fremdheit‹ und ›Andersartigkeit‹ der Juden«360 gesehen werden.361 Insgesamt überlagerten sich in den Debatten ältere, biohistorische oder biokulturelle, Narrationen mit wissenschaftlichen Narrationen und neuen, empirischen Forschungsergebnissen oder erstere wurden mithilfe letzterer in wissenschaftlichen Begriffen neu formuliert.362 Neben dem modernen, naturwissenschaftlichen Rassenbegriff oder eng mit ihm verknüpft existierte beispielsweise weiterhin eine eher geschichtsphilosophische oder kulturphilosophische Lesart und ein vorwissenschaftliches Begriffsverständnis. Dieses identifizierte ›Rasse‹ u. a. mit der Vorstellung einer (edlen) »langen Ahnenreihe«363 oder »Generationsabfolgen«364.365 Die Vorstellung einer generationenübergreifenden, durch das Abstammungsprinzip verbundenen Gemeinschaft, die aus heutiger Sicht eher an die Vorstellung einer Familie, Sippe oder (adligen) Dynastie erinnert, beeinflusste wohl auch zionistische Autoren, wie die Beispiele zur inhaltlichen Füllung des Begriffes ›Volksgemeinschaft‹ zeigten, die damit ihre Vorstellung von der historischen Kontinuität des nationalen Kollektivs semantisch zementieren wollten. In der biologisch-naturwissenschaftlichen Lesart wurde die ›jüdische Rasse‹ im Rassediskurs schließlich auch zum Bestandteil naturwissenschaftlicher Theorien wie der Evolutions- und Deszendenztheorie 354 355 356 357 358 359 360 361 362 363 364 365

Lipphardt, Biologie, S. 56. Vgl. zu diesem Narrativ ausführlich ebd., S. 56–60. Ebd., S. 60. Vgl. dazu ausführlich ebd., S. 60–62. Vgl. ebd., S. 53–62; Efron, Defenders, S. 20. Lipphardt, Biologie, S. 54. Vgl. Walkenhorst, Nation, S. 102–119; Müller, Jost: Mythen der Rechten. Nation, Ethnie, Kultur (Edition ID-Archiv), Berlin u. a. 1995, insbes. S. 91–138. Lipphardt, Biologie, S. 53, leitet diesen Begriff aus dem Titel zeitgenössischer Untersuchungen her. Ebd., S. 54. Vgl. ebd., S. 54, 60; Efron, Defenders, S. 22f.; Kiefer, Problem. Vgl. Lipphardt, Biologie, S. 60. Conze/Sommer, Rasse, S. 138. Ebd., S. 139. Vgl. ebd.

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von Charles Darwin (1809–1882)366 bzw. des Neodarwinismus nach z. B. August Weismann (1834–1914)367 und den Vererbungstheorien von Gregor Mendel (1822–1884) und Jean Baptiste de Lamarck (1744–1829) bzw. des Neolamarckismus368.369 In der Jüdischen Rundschau erschienen seit ihrer Gründung unterschiedliche Artikel, die sich zum einen mit dem Verhältnis von Zionismus und Rassenideologie im Allgemeinen und zum anderen mit dem ›jüdischen Rassenproblem‹370 und zionistischen Rassentheorien im Speziellen beschäftigten. Bei ihnen handelte es sich um Beiträge verschiedener Art wie Buchbesprechungen rassenanthropologischer ›Klassiker‹ und zeitgenössischer Schriften, Bestandsaufnahmen, Relativierungen sowie Kritiken von empirischen Forschungsergebnissen und Rassentheorien sowie eigene zionistisch-rassentheoretische Formulierungsversuche in Kommentaren und Leitartikeln. Die ersten Jahre der Zeitung sowie die Jahre zwischen 1910 und 1912 stellten deutliche Höhepunkte dar, sowohl was die Dichte an publizierten Leitartikeln und Beiträgen, als auch die Intensität der geführten Debatten und Diskussionsbeiträge betraf, was somit in etwa den allgemeinen Diskurstrends entsprach.371 Insgesamt nahmen die 366 Vgl. ebd., S. 163f. Charles Darwin, der den Menschen als Teil einer umfassenden »Evolution« begriff, erklärte beispielsweise die »Variabilität« von Arten mittels des Prinzips der »Selektion«, das sich in der Spannung zwischen Nahrungsspielraum und Überbevölkerung bewegte. In diesem »Kampf ums Dasein« könnten nur die leistungsstärksten und an ihre Umwelt angepassten Arten überleben, während unangepasste und schwache Arten ausschieden, was in Form eines natürlichen Zuchtprozesses in letzter Konsequenz die Mutation des Erbguts und die Anpassung einer Art zur Folge hätte. 367 Der Neodarwinismus, wie er in erster Linie durch August Weismann und Alfred Russell Wallace formuliert und etabliert wurde, geht vom klassischen Darwinismus, im Besonderen Charles Darwins Schrift zur »Entstehung der Arten« (1859), aus. Er entwickelte die Darwin’sche Abstammungslehre dahingehend weiter, dass es keine Vererbung erworbener Körpereigenschaften gäbe, wie sie von Darwin (und mit ihm beispielsweise auch von Lamarck) ursprünglich noch behauptet worden war. Zu diesem Zweck beschäftigten sich seine Anhänger beispielsweise mit der Ursache der Variabilität in Tier- und Pflanzenpopulationen und entwickelten die Keimplasmatheorie. Nach den Theorien der Neodarwinisten ist das »Prinzip der natürlichen Selektion« der einzig wirksame Vererbungsmechanismus. Zum Neodarwinismus vgl. ausführlich Lipphardt, Biologie, S. 96–101. 368 Der Neolamarckismus propagierte im Gegensatz zum Neodarwinismus in Weiterentwicklung zur Abstammungs- und Evolutionslehre von Jean Baptiste de Lamarck, dass erworbene Eigenschaften von Organismen an ihre Nachkommen weitervererbt werden können. Zum Neolamarckismus vgl. ausführlich ebd. Zur Debatte zwischen Neodarwinisten und Neolamarckisten allgemein vgl. Bowler, Peter J.: Evolution. The History of an Idea, Berkeley 3 2003, S. 224–324 und Weingart, Peter u. a.: Rasse, Blut und Gene. Geschichte der Eugenik und Rassenhygiene in Deutschland, Frankfurt a. M. 1992, S. 324–326. 369 Vgl. Conze/Sommer, Rasse, S. 163f. 370 Vgl. Zollschan, Ignaz: Das Rassenproblem. Unter besonderer Berücksichtigung der theoretischen Grundlagen der jüdischen Rassenfrage, 3., verm. und verb. Aufl. Wien 1912. 371 Vgl. zu den Phasen der Debatte insgesamt Lipphardt, Biologie, S. 64–71. Lipphardt unterscheidet in der Debatte zwei große Phasen, die durch den Ersten Weltkrieg voneinander

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deutschen Zionisten in der Debatte um das Konzept der ›Rasse‹ allerdings eine Position ein, die in starkem Maße eine ambivalente Zwischenstellung beanspruchte, in der sie sowohl rassistisches als auch antirassistisches, antihegemoniales Denken pflegten und miteinander verbanden. Im Folgenden sollen daher zunächst zionistische Rassentheorien vorgestellt und im Anschluss daran erörtert werden, wie sich das Verhältnis zwischen Zionismus und Rassenideologie im Untersuchungsmedium überhaupt abbildete. In einer kurzen, nichtdatierten Schrift mit dem Titel »Die Juden als Rasse«, die wohl an die bekannte gleichnamige Schrift des polnischen Arztes Ignacy Maurycy Judt angelehnt war, die im Jüdischen Verlag erschienen war,372 folgerte Heinrich Loewe, dass es sich bei den Juden »um eine einheitliche nationale Rasse [handele], die bei aller individuellen Verschiedenheit in geistiger und körperlicher Hinsicht zeigt, dass sie von einer einzigen Volksfamilie abstammt«373. Im Gegensatz zu den Deutschen, die für Loewe keine einheitliche Rasse darstellten, qualifizierte sich die ›jüdische Rasse‹ bei ihm dadurch, dass sie die Vermischungsprozesse, welche andere Rassen betroffen hätten, relativ unverändert überstanden hätte.374 Loewe richtete sich in seiner Stellungnahme in der Debatte also nicht zuletzt auch gegen das Narrativ vom ›arischen Mythos‹ oder ›Germanenmythos‹, das in entsprechenden Rassentheorien häufig mit einer rassistischen Abwertung der ›jüdischen Rasse‹, einherging und im Späteren noch eingehend behandelt wird.375 Die Bedeutung der Rassenideologie für den Zionismus betonte auch Adolf Friedemann in einem Leitartikel, der im Dezember 1902 in der Jüdischen Rundschau erschien, und kam zu dem Ergebnis, dass das jüdische Nationalge-

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getrennt wurden. Nach einem ersten Auftakt in den Jahren 1900–1905, in denen verstärkt erste empirische Studien und Monografien zum Thema auf den Markt kamen und die wichtigsten Fachzeitschriften und Foren der Debatte, die PAR seit 1902, das ARGB seit 1904 und die ZDSJ seit 1905, zum ersten Mal erschienen, folgte die Verstetigung der Debatte zwischen 1905 und den ersten Jahren des Ersten Weltkriegs bis etwa zum Jahr 1915 in verschiedenen Publikationsforen. Diese erste Phase der Debatte erreichte ihren Höhepunkt in den Jahren 1910–1913, sowohl was die Dichte an Veröffentlichungen, als auch die Intensität der Wissenschaftspopularisierung betraf. In die zweite Phase trat die Debatte nach dem Ersten Weltkrieg, die einen zweiten Höhepunkt um 1926/7 erkennen ließ und insgesamt u. a. stärker durch Reflexionen über die Wissenschaftlichkeit der Beiträge und die jüdische Herkunft bestimmter Wissenschaftler sowie neue Narrationen, wie die über den »jüdischen Geist«, und stärker werdende antisemitische Stereotypen geprägt war. Vgl. Judt, Ignacy Maurycy : Die Juden als Rasse. Eine Analyse aus dem Gebiete der Anthropologie. Mit 24 Abbildungen, 1 Karte und mit im Text abgedruckten Tabellen. Deutsche Ausgabe, Berlin 1903. Vgl. außerdem die Zusammenfassung der zionistischen Rassendiskussion bei Besser, Max: Die Juden in der modernen Rassentheorie, Köln 1911. Loewe, Heinrich: Die Juden als Rasse, o. D., CZA, A146/85. Vgl. ebd. Vgl. dazu auch Vogt, Positionierungen, S. 121f. Vgl. Poliakov, Mythos.

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fühl nicht primär ein »psychologisches Phänomen«376 darstelle, sondern vielmehr »Rasse« seine unabdingbare Voraussetzung und Grundlage bilde.377 Friedemann, der nicht wie Gobineau von der Existenz bestimmter »Urrassen« ausging, sondern unter »Rasse« »die Glieder einer Mischrasse, die vermocht hat einen einheitlichen Typus zu schaffen«, verstand, glaubte an die Existenz bestimmter feststellbarer physischer und psychischer Merkmale der Juden.378 Der subjektive Wille des Einzelnen, einer ›nationalen Gemeinschaft‹ anzugehören, sei somit die logische »Entwicklungsfolge […] von bestimmten Rasseeigenschaften, die von den Nationalen als gemeinsames Merkmal empfunden werden«379. Zionismus wurde so als Ausdruck eines von äußeren Faktoren verstärkten, natürlich angelegten inneren Antriebes verstanden, der das Bild eines auf Befriedigung lebensnotwendiger Bedürfnisse zielenden Dranges hervorruft: »Das Nationalitätsgefühl war in uns latent eine Weile lang; die äusseren Momente Hass, wirtschaftlicher Druck, Verletzung des Ehrgefühls haben die vorhandenen Triebe geweckt und das Selbstbewusstsein geschaffen, das sich heute in der Volksbewegung äussert. Indem das Nationaljudentum entstand, also der Wille zum jüdischen Volke zu gehören, war bereits das Vorhandensein der Eigenart bewiesen, weil ja eben der Wille nur das bis zum Selbstbewusstsein gesteigerte Triebleben verkörpert und die Triebe Folgen der Veranlagung sind.«380

Auch Aaron Sandler, ein jüdischer Arzt, der hauptsächlich durch seinen in Buchform erschienenen Vortrag »Anthropologie und Zionismus« (1904) bekannt wurde,381 erklärte in einem Artikel im April 1904, »dass das Zusammengehörigkeitsgefühl der Juden nicht allein durch gleiche historische Erinnerungen und den gleichen Glauben, sondern zum guten Teil durch Rassengemeinschaft gegeben ist«.382 Auch wenn die ›jüdische Rasse‹ mittlerweile keine einheitliche Beschaffenheit mehr aufweise, stände sie »in einem deutlichen anthropologischen Gegensatz zu der umwohnenden Bevölkerung«383. Sandler ging also wie Loewe davon aus, dass Rassen erkennbare, jedoch Veränderungsprozessen unterworfene Entitäten darstellten, auf die äußere Faktoren wie Bevölkerungskontakt und historische Entwicklung Einfluss nahmen und die 376 Friedemann, Adolf: Das Nationalgefühl als psychologisches Phänomen, in: JR, VII. Jg., Nr. 51 (19. 12. 1902), S. 88–91, hier S. 89. 377 Vgl. ebd., S. 88–91. 378 Ebd., S. 90. 379 Ebd. 380 Ebd., S. 91. 381 Vgl. Sandler, Aron: Anthropologie und Zionismus. Ein populär-wissenschaftlicher Vortrag, Brünn 1904. Zu Sandler vgl. Doron, Rassenbewustsein, S. 408–410 und Vogt, Positionierungen, S. 134f. 382 Sandler, Aaron: Mischehe und jüdisch-nationale Gesinnung, in: JR, IX. Jg., Nr. 16 (22. 04. 1904), S. 161–164, hier S. 163. 383 Ebd.

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sich demnach mit anderen ›Rassen‹ zu neuen ›Rassenprodukten‹ vermischen konnten. Die beiden, zunächst in Opposition zueinander stehenden Narrative von der ›jüdischen Rassenreinheit‹ bzw. der ›Inzuchtrasse‹ und der ›jüdischen Mischrasse‹ bestimmten also auch die Debatte in der Jüdischen Rundschau wesentlich. Zu den aktivsten Beiträgern und zunächst treuesten Anhängern der These von der ›Reinheit der jüdischen Rasse‹ zählte auch Heinrich Loewes Schwager, Elias Auerbach, der sich darin ursprünglich auch gegen seinen akademischen Lehrer und Doktorvater Felix von Luschan (1854–1924), der zu den bekanntesten Anthropologen seiner Zeit zählte, wandte.384 Luschan war nach diversen anthropologischen Reihenuntersuchungen zu dem Ergebnis gelangt, dass die ›jüdische Rasse‹ eine »Mischrasse« darstelle, die sich in der Antike aus drei ›Rassen‹ entwickelt und seitdem unverändert erhalten hätte, der »arabisch-semitischen Rasse«, der »vorderasiatisch-hethitischen Rasse« und der »arisch-amoritischen Rasse«, wobei aus seiner Sicht in dieser Mischung das »vorderasiastischhethitische Rassenelement« den größten Anteil einnehme.385 Luschan, dessen Thesen bereits kurz nach ihrer Veröffentlichung zur gängigen Lehrmeinung avancierten, verband mit seinen Ergebnissen einen Appell an die »gebildeten Europäer«, ihre »jüdischen Mitbürger« als ihre »besten und treuesten Mitarbeiter und Streitgenossen im Kampfe um […] den Fortschritt und die Freiheit« zu akzeptieren.386 Elias Auerbach veröffentlichte im Jahr 1907 einen Artikel im ARGB unter dem Titel »Die jüdische Rassenfrage«, der eine wissenschaftliche Kontroverse auslöste und in dem er im Gegensatz zu Luschan die »Reinheit« der »jüdischen Rasse« hervorhob. Der natürliche Lebensraum der jüdischen Rasse sei Palästina, weshalb der Zionismus eine vollkommen natürliche Bewegung sei, welche die Juden an den Ort zurückführe, an den sie biologisch angepasst seien.387 Mit dieser Auffassung widersprach Auerbach auch der gegenläufigen Formel von der hohen Akklimatisationsfähigkeit der Juden, die sich an das subtropische Klima 384 Zu Auerbach vgl. Auerbach, Pionier ; Efron, Defenders, S. 127–141; Lipphardt, Biologie, S. 72–74, 213–222; Vogt, Positionierungen, S. 127–130, 135–137. Auerbach zählte wie Sandler zu den Beiträgern, die sich gegen die Vererbbarkeit erworbener Eigenschaften wandten und sich demnach vor allem den Neodarwinisten anschlossen. Vgl. hierzu auch Auerbach, Elias: Rasse und Kultur, in: Neue jüdische Monatshefte 4 (1919/20), S. 11–17, hier S. 15. 385 Vgl. Luschan, Felix von: Die anthropologische Stellung der Juden, in: Korrespondenz-Blatt der Deutschen Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte 3 (1892), S. 94–102. Zu Luschan vgl. Lipphardt, Biologie, S. 61, 78; Laukötter, Anja: Von der »Kultur« zur »Rasse« – vom Objekt zum Körper? Völkerkundemuseen und ihre Wissenschaften zu Beginn des 20. Jahrhunderts, Bielefeld 2007, S. 102–124. 386 Luschan, Stellung, S. 100. Vgl. dazu auch Lipphardt, Biologie, S. 61. 387 Vgl. Auerbach, Elias: Jüdische Rassenfrage, in: ARGB 4 (1907), S. 332–373, hier S. 333, 336.

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der Region flexibel biologisch angepasst hätten.388 Seine Thesen wiederholte er in einem kürzeren Artikel in der Jüdischen Rundschau, der etwa zur selben Zeit erschien. Darin folgerte er, nach einer Abhandlung über die historische Entwicklung von ›Rassenmischungen‹: »Die jüdische Rasse ist aus 2000jähriger Zerstreuung fast rein hervorgegangen«389 und hielt in den Worten Gobineaus abschließend fest, dass »ein Volk niemals sterben würde, wenn es ewig aus denselben nationalen Bestandteilen zusammengesetzt bliebe«390. Folgerichtig polemisierte Auerbach in der Jüdischen Rundschau daher auch gegen die ›jüdisch-deutsche Mischehe‹, die aus dieser Sicht trotz der eingeräumten Möglichkeit einer Vermischung mit »qualitativ hochwertigem« Material einen »Menschenverlust für die jüdische Rasse«391 bedeuten würde. Unter dem Titel »Mischehe und jüdisch-nationale Gesinnung« veröffentlichte auch Aaron Sandler, der neben Auerbach die These von der ›Reinhaltung der jüdischen Rasse‹ und mit ihr die ›Rasseninzucht‹ am vehementesten vertrat, im Jahr 1904 einen Artikel in der Jüdischen Rundschau. Darin forderte er die Reinhaltung des jüdischen »Rassenblutes« und »die Förderung und Pflege der Rassensolidarität«, welche die Voraussetzung für die Erhaltung der »jüdischen Eigenart in einem fremden Milieu« und somit auf lange Sicht des Nationaljudentums sei.392 Aus seiner Sicht stellte jegliche Form der »Blutmischung« eine fatale »Gefahr für den Volksorganismus« oder jüdischen »Volkskörper« dar, da sie die »Tilgung des jüdischen Nationalgefühls« und des »Einheitsgedanken[s]« zur Folge hätte.393 Dagegen gelte es »die Einheit zu betonen und zu wahren, zumal die Einheit des Blutes. Deshalb begeht der Nationaljude, der von dem Prinzip der Rasseninzucht abweicht, eine Sünde an seinem Volke. Die Gefahr der Mischehen, in denen die Frau ›Jüdin‹ ›geworden ist‹, besteht also in einer Schädigung der jüdischen Familienerziehung, in der Zuführung fremden Rassenblutes. Deshalb verwerfen wir diese Mischehe. Die Gefahr der Mischehen, in denen die Frau Christin bleibt, besteht in der schwersten Schädigung oder Beseitigung des jüdischen Familienlebens, in der Zuführung fremden Rassenblutes, oft genug auch darin, dass sich die Nachkommenschaft teilweise oder gänzlich von der

388 Vgl. Lipphardt, Biologie, S. 72f. 389 Elias Auerbach, Rassenmischungen der Juden, in: JR, XII. Jg., Nr. 11 (15. 03. 1907), S. 110– 114, hier S. 113. 390 Ebd. 391 Vgl. Auerbach, Elias: Litteraturbericht. Rezension von: Singer, Heinrich: Allgemeine und spezielle Krankheitslehre der Juden, in: JR, IX. Jg., Nr. 33 (19. 08. 1904), S. 365f., hier S. 365. 392 Sandler, Aaron: Mischehe und jüdisch-nationale Gesinnung, in: JR, IX. Jg., Nr. 16 (22. 04. 1904), S. 161–164. Zur zionistischen Rassentheorie Sandlers im Spiegel seiner Schrift »Anthropologie und Zionismus« vgl. auch Vogt, Positionierungen, S. 134–136. 393 Sandler, Mischehe, S. 163.

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jüdischen Religion abwendet und dem jüdischen Volke verloren geht. Deshalb verdammen wir diese Mischehe!«394

Sandler wandte sich in seinem Artikel also vor allem gegen die »Mischehe«, weil sie nach ihm nicht nur erhebliche nachteilige Auswirkungen auf den Zionismus, sondern auch auf das Fortbestehen des Judentums an sich über eine Beeinflussung demographischer Faktoren wie Fruchtbarkeit und Geburtlichkeit sowie erhöhte Scheidungsziffern brächte.395 Gegen die von Auerbach und Sandler vertretenen Positionen wandte sich ein Autor, der unter dem Pseudonym »Simplicissimus« in der Jüdischen Rundschau im Mai 1904 eine Replik veröffentlichte.396 Er propagierte darin, dass die Mischehe vielmehr unter einem positiven Blickwinkel zu betrachten sei, wonach die darin existente »Rassenmischung« auch zu einer Optimierung des biologischen Erbgutes führen könne und ihr somit der Vorzug vor der »Rasseninzucht« bzw. »Reinhaltung der Rasse« gegeben werden müsse.397 Als Beweis für die Vorteile, »Mischlinge in die [jüdische] Volksgemeinschaft hineinzubringen«398, dienten »Simplicissimus« »diejenigen Völkerfamilien […], die allgemein als die edelsten anerkannt sind – das sind die grossen Kulturnationen« der Antike und Gegenwart, die allesamt »aus der Mischung verschiedener Rassen hervorgegangen sind«.399 Der von Sandler befürchtete Verlust der Rassensolidarität sei auf absehbare Zeit nicht zu erwarten, da die in die Mischehe eingeheiratete Frau »eine jüdische Hausfrau« werde, »die ihre Kinder auch in diesem Sinn zu erziehen hat«.400 Gerade die politischen Eigenschaften der »arischen Rasse« und ihre militärische Begabung könnten dem nationaljüdischen Kollektiv von Vorteil sein: »Die arische Frau, mag sie Deutsche, Französin, Engländerin, Russin sein, entstammt Volksstämmen von hervorragend kriegerischer und staatenbildender Befähigung, die ausserdem von glühendem Eifer für die Unabhängigkeit und die Grösse ihrer resp. Länder erfüllt sind. Könnten wir diese Eigenschaften der ganzen jüdischen Jugend im Sinne des Zionismus einflössen, so wäre damit die Judenfrage gelöst.«401

In seiner Erwiderung auf »Simplicissimus«, die etwa zwei Wochen darauf erschien, betonte Sandler erneut die »enorme Bedeutung des Inzuchtprinzips für 394 Ebd. 395 Ebd., S. 162. 396 Vgl. Simplicissimus: Ueber Mischehen und jüdisch-nationale Gesinnung. Zu dem Artikel von Dr. Sandler in No. 16 der »Jüdischen Rundschau«, in: JR, IX. Jg., Nr. 18 (06. 05. 1904), S. 189f. 397 Vgl. ebd. 398 Ebd., S. 189. 399 Ebd. 400 Ebd., S. 190. 401 Ebd.

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den Fortbestand des Judentums« und verwies auf seine Broschüre »Anthropologie und Zionismus«402.403 Auch die Redaktion der Jüdischen Rundschau fühlte sich aufgrund der Intensität der Debatte zu einer Klarstellung herausgefordert, indem sie die »Mischehe« als Ehe zwischen »den Kindern verschiedener Nationen« definierte und Sandler in seiner Ablehnung bestätigte, da Verbindungen dieser Form den nationalen Bestand gefährden würden.404 Mit ihrer Zurückweisung der ›deutsch-jüdischen Mischehe‹ aufgrund der ihr beigemessenen Auflösungstendenz für die rassisch hoch stehende ›jüdische Rasse‹ kehrten die Zionisten nicht zuletzt einen Topos um, der auch im rassenantisemitischen Diskurs weit verbreitet war und zu dessen Trägern u. a. Eugen Dühring, Houston Stewart Chamberlain und nach dem Ersten Weltkrieg im Besonderen auch Artur Dinter zählten.405 Im Jahr 1911 druckte die Jüdische Rundschau das Referat ab, das der in Niederösterreich geborene jüdische Arzt und Anthropologe Ignaz Zollschan auf dem X. Zionistenkongress in Basel im August gehalten hatte.406 Zollschan beschäftigte sich in seinem Vortrag primär damit, »den Kulturwert, den Rassenwert der Juden darzustellen«407, wobei es ihm wie Auerbach und Sandler in erster Linie darum ging, den »Auflösungsprozess«408, in dem er die Juden begriffen glaubte, aufzuhalten. Auerbach hatte bereits ein Jahr zuvor in einem Beitrag für die »Literarische Rundschau«, dem Beiblatt der Jüdischen Rundschau, die Bedeutung von Zollschans Schrift »Das Rassenproblem unter besonderer Berücksichtigung der theoretischen Grundlagen der jüdischen Rassenfrage«409 (1909) in der Sache erkannt und ihr das zionistische Prädikat »[b]esonders wertvoll«410 verliehen. Die besondere Attraktivität der Schrift Zollschans für deutsche Zionisten wie Auerbach lag in der Aufgabe, die sie dem Zionismus im Kampf gegen »den historischen Prozess der Auflösung«411 zuwies. Als Ursachen 402 Vgl. Sandler, Anthropologie. 403 Sandler, Aaron: Noch einmal die Mischehe, in: JR, IX. Jg., Nr. 20 (20. 05. 1904), S. 208–210, hier S. 208. 404 Vgl. Nachbemerkung der Redaktion, zu: Sandler, Aaron: Noch einmal die Mischehe, in: JR, IX. Jg., Nr. 20 (20. 05. 1904), S. 210. 405 Vgl. dazu ausführlich Przyrembel, Reinheitsmythos, S. 33–42. 406 Vgl. Zollschan, Ignaz: Rassenproblem und Judenfrage, in: JR, XVI. Jg., Nr. 34 (25. 08. 1911), S. 394–397 und Nr. 35 (01.09. 1911), S. 410–414. Vgl. dazu auch Adolf Böhm, Die neuen Grundlagen des Zionismus, in: Die Welt, Nr. 40 (06. 10. 1911), S. 1053–1056; Goldstein, Moritz: Das jüdische Rassenproblem, in: Die Welt, Nr. 48 (05. 12. 1913), S. 1625f. Zu Zollschan vgl. bereits Vogt, Positionierungen, S. 123–125; Lipphardt, Biologie, S. 70, 252–257. 407 Zollschan, Rassenproblem und Judenfrage, 25. 08. 1911, S. 396. 408 Ebd. 409 Vgl. Zollschan, Rassenproblem, 1912. 410 Auerbach, Elias: Die Rassentheorie und die Juden, in: JR, XV. Jg., Nr. 25 (24. 06. 1910), Literarische Rundschau, S. 299. 411 Zollschan, Rassenproblem, 1912, S. 429.

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dieses Auflösungsprozesses identifizierte Zollschan die schwerpunktmäßige Erwerbsstruktur der jüdischen Bevölkerung im Handel, die Auflösung der »Ghettokultur«, die Säkularisierung, den Antisemitismus und die »Assimilation«, »vor allem aber die Diaspora selbst«412.413 Dagegen könne nur der Zionismus Abhilfe schaffen, indem die zionistische Bewegung die »Erhaltung der Zusammengehörigkeit durch territoriale Vereinigung«414 zum Ziel hätte. Zollschan, der sich noch im März desselben Jahres auf Lesereise, u. a. beim zionistischen Verein Bar Kochba in Prag,415 befunden hatte, nahm schließlich im Auftrag der Prager Zionisten noch im selben Jahr am Ersten Welt-RassenKongress in London teil. Dieser wandte sich gegen eine hegemoniale, hierarchische Deutung des Rassenbegriffs, ohne jedoch die Verschiedenheit der ›Rassen‹ und ›Kulturen‹ grundsätzlich in Frage zu stellen.416 Wie die Beispiele von Sandler und Zollschan zeigen, wurden die zionistischen Rassentheorien und mit ihnen biologistische Narrative auch mit kultur- und zivilisationskritischen Deutungsmustern verbunden, indem etwa eine Missachtung der aufgestellten Verhaltens- und Reproduktionsregeln und die Folgen der ›Mischehe‹ als Weg in die ›Degeneration‹417 oder ›Auflösung‹ des deutschen Judentums interpretiert wurden.418 Einen hohen Bekanntheitsgrad erreichte in diesem Kontext auch der Münchner Gynäkologe und Zionist Felix Theilhaber mit seiner Schrift »Der Untergang der Juden«, welche im Jahr 1911 veröffentlicht wurde und in der Jüdischen Rundschau wohlwollend rezensiert wurde.419 Theilhaber, der neolamarckistische Vorstellungen propagierte und nach pathologischen Eigenschaften der Juden, vor allem nach erhöhten Immunitäten forschte, prognostizierte darin mittels einer Interpretation von Geburts-, Sterbeund Ehestatistiken den bevorstehenden ›Untergang‹ bzw. die ›Auflösung‹ des 412 413 414 415 416

Ebd., S. 424. Vgl. ebd. Ebd., S. 430. Vgl. Vogt, Positionierungen, S. 123. Vgl. dazu ausführlich ebd., S. 124f.; Holton, Robert John: Cosmopolitanism or Cosmopolitanisms? The Universal Races Congress of 1911, in: Global Networks 2 (2002), S. 153–170. Vgl. auch Schirbel, Gabriele: Strukturen des Internationalismus. First Universal Races Congress, London 1911. Der Weg zur Gemeinschaft der Völker, 2 Bde., Münster 1991. 417 So z. B. Sandler, Aaron: Noch einmal die Mischehe, in: JR, IX. Jg., Nr. 20 (20. 05. 1904), S. 208–210 und Zollschan, Rassenproblem, 1912, S. 429. 418 Vgl. Lipphardt, Biologie, S. 105, 132; Vogt, Positionierungen, S. 144–157; ders.: Decay. 419 Vgl. Theilhaber, Felix: Der Untergang der Juden. Eine volkswirtschaftliche Studie, München 1911. Vgl. dazu die Anmerkungen bei Anon.: Der Untergang der deutschen Juden, in: JR, XVI. Jg., Nr. 29 (21. 07. 1911), S. 332 und die ähnlichen Feststellungen mit einem Verweis von Wassermann, Ludwig: Religionsstatistik, in: JR, XVI. Jg., Nr. 27 (07. 07. 1911), S. 308f. Vgl. auch Theilhaber, Felix: Das sterile Berlin. Eine volkswirtschaftliche Studie, Berlin 1913; ders.: Die Schädigung der Rasse durch soziales und wirtschaftliches Aufsteigen bewiesen an den Berliner Juden, in: ARGB 10 (1913), S. 67–92. Zu Theilhaber vgl. auch Efron, Defenders, S. 141–153.

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deutschen Judentums.420 Die sinkende Fruchtbarkeit und Eheschließungsrate führte Theilhaber in enger Anlehnung an zeitgenössische kulturkritische wie lebensreformerische Topoi in erster Linie auf die pathologischen Auswüchse des Großstadtlebens und die Landflucht der deutschen Juden zurück.421 Andere zionistische Autoren glaubten daher, den Beweis für oder gegen eine ›Degeneration‹ der ›jüdischen Rasse‹ in deren Anfälligkeit für bestimmte Krankheitsbilder bzw. Immunitäten gegenüber anderen gefunden zu haben oder beschäftigten sich mit den »Unterschiede[n] in der Empfänglichkeit für Krankheiten zwischen Juden und Nichtjuden«422.423 So verwies ein Autor mit den Initialen B. L. in seinem Artikel »Zur Pathologie der jüdischen Rasse« beispielsweise bereits im Jahr 1902 auf den Beitrag »La patologia comparata degli ebrei« des Arztes Ludwig Silvagni in der italienischen Zeitschrift »Rivista critica di Clinica Medica«. Dieser hatte darin nach den Ursachen für die längere Lebensdauer der Juden und ihre niedrigeren Sterblichkeitsraten im Vergleich zur übrigen Bevölkerung, die er als Folge einer geringeren Kindersterblichkeit interpretierte, gesucht.424 Als wichtigste Ursache führte Silvagni und mit ihm B. L. die jüdische Immunität gegenüber schweren Infektionskrankheiten, »den grossen Volksseuchen«425, »wie Tuberkulose, Lungenentzündung, Typhus, Wechselfieber«426 an. Als »Grund dieser auffälligen Widerstandsfähigkeit« nannte er die Abstinenz der Juden gegenüber dem Alkohol und ihre geringere Anfälligkeit für Syphilis427 sowie die Religionsvorschriften im Judentum, die eine besondere Hygiene bei der Auswahl und Zubereitung von Speisen sowie eine strenge Einhaltung der religiösen Feiertage gewährleisten würden.428 Dies sei daher eine »grosse[n] Wohltat, die das Judentum der Kulturmenschheit geliefert hat«. Gleichzeitig warnte der Autor jedoch davor, dass »mit der zunehmenden Assimilierung der Juden an die übrige Bevölkerung ihre auffällige Immunität gegenüber den grossen Volksseuchen schwindet«, woraus er folgerte, dass die Anfälligkeit der Juden für bestimmte Krankheiten bzw. ihre Immunität gegenüber anderen keine Folge ihrer spezifischen Rasseeigenschaften, sondern der 420 Vgl. Theilhaber, Untergang. Mit Auerbach, der die »Rasseneigenart der Juden« weniger in pathologischen Merkmalen als in »in Merkmalen des Körperbaus und vor allem in einer seelischen Eigenart« zu erkennen glaubte, befand sich Theilhaber deswegen in einer Kontroverse um die »Sterblichkeit der Juden«. Vgl. Lipphardt, Biologie, S. 74. 421 Vgl. dazu auch Bergmann, Klaus: Agrarromantik und Grosstadtfeindschaft, Meisenheim am Glan 1970. 422 L., B.: Zur Pathologie der jüdischen Rasse, in: JR, VII. Jg., Nr. 46 (14. 11. 1902), S. 49f., hier S. 49. 423 Vgl. Hödl, Pathologisierung. 424 L., B., Pathologie, S. 49. 425 Ebd., S. 50. 426 Ebd., S. 49. 427 Ebd. 428 Ebd., S. 50.

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Besonderheiten ihrer Lebensführung sei. Demgegenüber führte Silvagni die größere Anfälligkeit der Juden gegenüber Diabetes und den »Krankheiten des Gehirns und der Nerven« an, welche er als Folge des Lebens vieler Juden in der Großstadt und ihrer mehrheitlichen Beschäftigung in Berufen, »die eine angestrengte geistige Arbeit erfordern«, erläuterte. Für den zionistischen Autor waren Silvagnis Arbeiten schließlich der Beweis, »dass die Juden eine keineswegs entartete Rasse bilden, und dass Elend und die Verfolgungen […] ihre Widerstandskraft eher erhöht als vermindert haben«.429 Mit der Behauptung der besonderen Veranlagung der Juden für die »organischen Geisteskrankheiten«430 griffen Silvagni und B. L. einen weiteren gängigen Topos des zeitgenössischen Diskurses als auch ein weit verbreitetes Stereotyp auf. Seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkrieg etablierte sich die Beschäftigung mit psychosomatischen Störungen fest im öffentlichen Diskurs des Deutschen Kaiserreichs und machte das Deutungsmuster ›Nervosität‹ bzw. ›Nervenschwäche‹ zu einem allgegenwärtigen Massenphänomen.431 Die Neurasthenie setzte sowohl eine rege medizinischwissenschaftliche als auch gesellschaftspolitische Auseinandersetzung in Gang, die sich mit den als pathogen und krisenhaft empfundenen Folgen des Industrialisierungsprozesses und der Veränderung sämtlicher gesellschaftlicher Bereiche beschäftigte und daher auch als Ausdruck von Zivilisationskritik gewertet werden muss.432 Zeitgleich bescheinigten verschiedene empirische Studien und psychiatrische Gutachten den Juden eine besondere Veranlagung für bestimmte Geistes- und Nervenkrankheiten.433 Neben der Betrachtung von Nervenkrankheiten im engeren Sinne untersuchten die Autoren auch die Gehirnbeschaffenheit der ›jüdischen Rasse‹ und Begabungsunterschiede zwischen den Konfessionen.434 Gerade von Autoren mit jüdischem oder zionistischem 429 Ebd. 430 Vgl. dazu auch Auerbach, Elias: Rezension von: Singer, Heinrich: Allgemeine und spezielle Krankheitslehre der Juden, in: JR, IX. Jg., Nr. 33 (19. 08. 1904), S. 365f., der hier von den »organischen Geisteskrankheiten« (ebd., S. 365) spricht, und ders.: Die Geistesstörungen unter den Juden, in: Die Umschau 12 (1908), S. 562. 431 Vgl. dazu Radkau, Nervosität. 432 Vgl. ebd. 433 Vgl. z. B. Beadles, Cecil F.: The Insane Jew, in: Journal of Mental Science 26 (1900), S. 731– 737 und die Replik von Benedikt, Moritz: The Insane Jew. An Open Letter to Cecil F. Beadles, in: Journal of Mental Science 27 (1901), S. 503–509; Brosius-Sayn: Die Psychose der Juden, in: Allgemeine Zeitung für Psychiatrie 60 (1903), S. 264–272; Pilcz, Alexander: Geistesstörungen bei den Juden, in: Wiener klinische Rundschau 47 (1901), S. 888–890. Zum Topos der ›jüdischen Nervosität‹ vgl. auch Adams, Andrea: »Rasse«, Vererbung und »jüdische Nervosität«. Über Reichweite und Grenzen wissenschaftlicher Paradigmen im psychiatrischen Diskurs Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts, in: Transversal 2 (2003), S. 118–133; Lipphardt, Biologie, S. 125–128. 434 Vgl. Lipphardt, Biologie, S. 125, 127.

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Hintergrund wurde die Veranlagung der Juden für Krankheiten des Geistes und damit ihre Neigung zu Nervosität und Nervenschwäche mit den speziellen Lebensbedingungen des jüdischen Kollektivs in der Diaspora in Verbindung gebracht.435 Neben der angeblichen jüdischen Veranlagung für bestimmte pathologische seelische Zustände interessierte die zionistischen Autoren auch die Veranlagung der Juden zur Kriminalität und zu bestimmten Delikten, die beispielsweise mittels der Auswertung von entsprechenden konfessionell getrennten, staatlichen oder eigens erhobenen Kriminalitätsstatistiken untersucht wurde.436 Die angeblich geringe Beteiligung von Juden an Kapital- und Gewaltverbrechen und ihre Neigung zu Eigentumsdelikten wurde beispielsweise in einem Beitrag in der Jüdischen Rundschau vom März 1903 von Ibn Asrak auf die Berufs- und Sozialstruktur der Juden und ihren »jüdischen Stammescharakter« zurückgeführt.437 Für den leichten bis erheblichen Anstieg der Kriminalität machten die Zionisten wiederum die zunehmenden Assimilationstendenzen im deutschen Judentum verantwortlich, aus denen nur der Zionismus mittels seiner Förderung von »Stammeseigentümlichkeiten« einen wirkungsvollen Ausweg böte.438 Neben diesen psychischen Dispositionen versuchten einige zionistische Autoren den Juden des Weiteren ein eindeutiges körperliches Erscheinungsbild zuzuschreiben, wobei die biologischen Merkmale auf unterschiedliche Faktoren wie beispielsweise Selektion oder bestimmte Lebensbedingungen zurückgeführt wurden,439 und Möglichkeiten für eine »jüdische Rassen-Hochzucht«440 eröffnen sollten. Im Rahmen der Kraniometrie (Schädelmessung) etwa wurden der ›jüdischen Rasse‹ bestimmte Schädelmerkmale unterstellt, so ihre »Kurzschädeligkeit« (Brachycephalie), die wiederum von antisemitischen Rassentheoretikern häufig mit dem Narrativ der (kulturellen) »Minderwertigkeit« der Juden verbunden wurde, während die »Langschädeligkeit« (Dolichocephalie) der ›germanischen Rasse‹ deren geistige Überlegenheit demonstrieren sollte.441 Unter anderem deswegen interessierte die deutschen Zionisten die Dissertation »Das isocephale blonde Rassenelement unter Halligfriesen und Jüdischen Taubstummen« des deutschen Arztes Alfred Waldenburg, der sich aus der Sicht 435 436 437 438 439

Vgl. ebd., S. 117. Vgl. Asrak, Ibn: Zur Kriminalität der Juden, in: JR, VIII. Jg., Nr. 10 (06. 03. 1903), S. 81f. Vgl. ebd. Vgl. ebd. Vgl. als Beispiele etwa Sofer, Leo: Zur Biologie und Pathologie der jüdischen Rasse, in: ZDSJ 2:6 (1906), S. 85–92; Ruppin, Arthur : Begabungsunterschiede christlicher und jüdischer Kinder, in: ZDSJ 2:8/9 (1906), S. 129. 440 Waldenburg, Alfred: Jüdische Rassen-Hochzucht, in: JR, XVI. Jg., Nr. 36 (08. 09. 1911), S. 422–424. 441 Vgl. dazu auch Gould, Stephen Jay : Der falsch vermessene Mensch, Basel 1983, insbes. S. 25–117; Przyrembel, Reinheitsmythos, S. 26–29.

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seines zionistischen Rezensenten Adolf Friedemann mit der »Frage der jüdischen Rassenreinheit, de[n] Folgen der Inzucht und der angeblichen Decadence unseres Stammes« beschäftigte.442 Waldenburg, der sich in seinem Lebenslauf als Angehöriger des »mosaischen Glaubens« charakterisierte, selbst in der Jüdischen Rundschau veröffentlichte443 und eine enge Freundschaft mit Heinrich Loewe pflegte, hatte kraniometrische und psychiatrische Untersuchungen an Berliner Juden und unter den Bewohnern der Halligfriesen durchgeführt.444 Ihn überraschte der hohe Prozentsatz »isokephaler«, d. h. stark brachycephaler bzw. »extremkurzköpfig[er]« Typen und das Fehlen des »germanische[n] Langschädel[s]« unter den blondhaarigen Bewohnern der Halligen. Gleichzeitig glaubte er deren Veranlagung zur »Geisteskranheit bzw. Taubstummheit« zu erkennen, woraus er schloss, dass »Isokephalie« ein degeneratives »Zeichen von Belastung« des »Körpers und Geistes« sei, wobei er einen Zusammenhang zwischen den diagnostizierten Merkmalen und der Neigung der Halligfriesen zum Alkohol herstellte.445 Nach genealogischen Untersuchungen kam Waldenburg zu dem Ergebnis, dass Isolation und starke »Inzucht« unter manchen Inselbewohnern die degenerativen Merkmale verstärkt hätten, jedoch in gesunden Familien keine negativen Folgen hätten.446 Bestätigung für seinen Befund glaubte er im gleichzeitig gemessenen hohen Prozentsatz »isokephaler Kinder« unter »blonden, blauäugigen« Juden zu finden, der jedoch ausschließlich auf die Gruppe taubstummer Juden beschränkt war.447 Darüber hinaus stellte er einen erheblichen Anteil von »Langschädel[n] in einem jüdischen Inzuchtherd« unter ausschließlich schwarzhaarigen Juden fest, welcher dem von Luschan beschriebenen »semitische[n] Typus in seiner klassischen Form« entsprochen hätte, wobei Waldenburg die Pigmentarmut selbst als degeneratives Symptom und »amoritischen Atavismus« einschätzte.448 Waldenburg folgerte aus seinen empirischen Forschungsergebnissen und der festgestellten Korrelation zwischen »Degeneration« und bestimmten, miteinander auftretenden Merkmalen – in diesem Fall »geisteskrank«, »taubstumm«, »blond«, »blauäugig« und »iso442 Friedemann, Adolf: Neue Forschungen über Rasse und Degeneration, in: JR, VIII. Jg., Nr. 10 (06. 03. 1903), S. 80f., hier S. 80. 443 Vgl. Waldenburg, Rassen-Hochzucht. 444 Vgl. Waldenburg, Alfred: Das isocephale blonde Rassenelement unter Halligfriesen und Jüdischen Taubstummen, Berlin 1902, S. 12. Vgl. dazu auch in anderem Zusammenhang Lipphardt, Biologie, S. 109f. 445 Friedemann, Forschungen, S. 80. 446 Vgl. Waldenburg, Rassenelement, S. 12–40. 447 Friedemann, Forschungen, S. 81. Vgl. auch die Rezension zu Waldenburg von Meisner, Hugo: Isocephalie und Degeneration, in: ARGB 2 (1905), S. 76–85 und den Beitrag von Sofer, Leo: Der Kulturwert der brachycephalen (turanischen) Rasse, in: ZDSJ 5:7 (1909), S. 106–110. 448 Friedemann, Forschungen, S. 81.

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kephal« – somit, dass die von ihm beobachteten »Extremkurzköpfe […] aus dem fremden amoritischen Bluteinschlag«, d. h. dem »arischen Element« nach Luschan in der »jüdischen Rassenmischung« stammten. Dieses würde jedoch »in Gestalt der Taubstummen aus der jüdischen Rasse ausgeschieden«.449 Waldenburg interpretierte die »Inzucht« in den jüdischen Taubstummen-Familien also nicht wie bei den Halligfriesen als Ursache oder Verstärkung der »degenerativen Merkmale«, sondern als deren Folge und als einen positiven Selektionsfaktor.450 Für Friedemann wie Waldenburg stand daher fest, dass die ›jüdische Rasse‹, die über einen Selektionsmechanismus verfüge, nicht im selben Grad wie die ›germanische Rasse‹ zur ›Degeneration‹ neige. Demnach, so folgerte Friedemann pointiert, könnten Waldenburgs Forschungsergebnisse antisemitische Rassentheorien sowie die ihnen implizite Erhöhung der »arischen Rasse« vollständig widerlegen und seien daher »zweifellos von grossem allseitigem Interesse. Sie zeigen klare, von niemand streitbare Besonderheiten der jüdischen Rasse, die grosse Lebenskraft derselben und die Unschädlichkeit der Inzucht, die vielleicht sogar kräftigend auf den Stamm wirkt.«451 Für Friedemann hatte Waldenburg also mit seiner Untersuchung nicht nur den pointierten Beweis für die ›Degeneration‹ der ›germanischen Rasse‹ geliefert. Noch darüber hinaus hatte er kraft seiner Bemerkungen über die positive Wirkung der jüdischen Religionsvorschriften, vor allem der verordneten Abstinenz vom Alkohol, und die hohe Qualität des jüdischen Erbgutes gezeigt, dass die bei den Juden anzutreffenden »Abnormitäten prozentual sehr gering« seien. Er hatte damit den Beweis erbracht, dass die ›jüdische Rasse‹ »unter allen Völkern der gesunden physiologischen Norm am nächsten kommt«.452 Dem hier besprochenen Befund, der Alkohol in Zusammenhang mit körperlicher und geistiger Erkrankung brachte, entsprachen auch häufige Warnungen deutscher Zionisten, sich vor Alkoholund Zigarettenkonsum fernzuhalten.453 Neben denjenigen, die eine ›Degeneration‹ der ›jüdischen Rasse‹ oder gar deren Aussterben fürchteten und daher vor einer ›Mischung‹ mit anderen ›Rassen‹ warnten, gab es jedoch auch Stimmen deutscher Zionisten, die einen drohenden ›Rassenverfall‹ aufgrund der schieren Stärke des jüdischen biologischen Erbgutes schlicht für unmöglich hielten. So wies Abraham Schapira, ein ehemaliger Oberrabiner, beispielsweise in seinem Nachruf auf Moses Hess (1812–1875) und dessen bekanntes Werk »Rom und Jerusalem« darauf hin, dass Hess die ›jüdische Rasse‹ für »durch Mischehen unvernichtbar« hielt, wenn449 450 451 452 453

Ebd. Vgl. Lipphardt, Biologie, S. 110. Friedemann, Forschungen, S. 81. Ebd. Vgl. z. B. Anon.: Ein Wort an die jüdische Jugend, in: JR, VIII. Jg., Nr. 13 (27. 03. 1903), S. 114f.

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gleich es, trotz entsprechender Beispiele, bislang keine »stichhaltige[n] Beweise« dafür gäbe, dass Mischehen der ›jüdischen Nation‹ nicht schadeten.454 Auch Gustav Seidemann spielte in seinem Appell für die Wiedereinführung jüdischer Vornamen und gegen die ›Assimilationsbestrebungen‹ des deutschen Judentums mit Stereotypen, die das äußere Erscheinungsbild der Juden betrafen, um klar zu stellen, dass ›der Jude‹ »ausgesprochene Rassenmerkmale [hätte], die in den meisten Fällen ein sofortiges Erkennen ermöglichen. Taufe und Assimilation haben noch keine krumme Nase gerade gestreckt.«455 Jegliche Form von »Assimilationsbestrebungen« sei daher »nicht nur zwecklos, sondern gefährlich«456, da »[d]er Assimilationsjude« durch die Ableugnung seines wahren Charakters den Respekt der ihn umgebenden ›Völker‹ verliere.457 Für Conrad Marcus, einen Zionisten aus Hannover, hatte die »Regeneration der [jüdischen] Rasse«458 bzw. ihre »Renaissance«459 durch eine Rückbesinnung auf jüdische Werte und Traditionen vielmehr bereits eingesetzt. Conrad begriff sich als Teil einer »zweite[n] Generation« deutscher männlicher Zionisten, die Frauen geehelicht hätten, die »durchweg selbstbewusste Jüdinnen aus gesetzestreuen Familien« seien und sich nicht schämten, »wenn wir in die hochdeutsche Rede, in [sic!] und wieder ein jüdisches Wort einfliessen lassen«.460 Aus der Sicht Arthur Ruppins beispielsweise diente die Mischehe vielmehr als Instrument der Selektion, das Elemente ausscheide, aber nur wenige aufnähme, wonach sich die »jüdische Rasse« »rein« erhalten hätte.461 Die zionistischen Rassentheorien knüpften mit ihren gesellschaftspolitischen Implikationen auch an gleichlautende Narrative der Rassen- oder Sozialanthropologie an und setzten sich gleichzeitig von ihnen inhärenten hegemonialen und antisemitischen Topoi ab.462 Die Rassenanthropologie, die seit den 1890er 454 Schapira, Abraham: Moses Hess (Forts.), in: JR, X. Jg., Nr. 18 (05. Mai 1905), S. 199–203, S. 203. 455 Seidemann, Gustav : Die jüdischen Vornamen, in: JR, VIII. Jg., Nr. 20 (15. 05. 1903), S. 188f., hier S. 189. 456 Ebd. 457 Ebd. 458 Marcus, Konrad (Conrad) (Hannover): Jüdische Vornamen, in: JR, VIII. Jg., Nr. 13 (27. 03. 1903), S. 113f., hier S. 114. 459 Ebd, S. 113. 460 Ebd. 461 Ruppin, Arthur : Die Mischehe, in: ZDSJ 4:2 (1908), S. 17–23, hier S. 18. 462 Vgl. dazu auch Lipphardt, Veronika: »Jüdische Eugenik«? Deutsche Biowissenschaftler mit jüdischem Hintergrund und ihre Vorstellungen von Eugenik. 1900–1935, in: Wecker, Regina u. a. (Hg.): Wie nationalsozialistisch ist die Eugenik?, Köln 2008, S. 151–163; Weingart u. a., Rasse, S. 91–103. Zu den Beispielen für antisemitische Deutungsmuster vgl. Weindling, Paul: Health, Race and German Politics between National Unification and Nazism, 1870–1945, Cambridge 1993, S. 106–154. Vgl. auch die umgekehrte Beeinflussung: Wilser, Ludwig: Besprechung von Felix A. Theilhaber, Der Untergang der deutschen Juden, in: PAR 11 (1912), S. 335f.

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Jahren vor allem in den Schriften von Otto Ammon (1842–1916), Ludwig Wilser (1850–1923) und Ludwig Woltmann (1871–1907) entwickelt worden war, stellte ein eklektizistisches Konglomerat von Rassentheorien, Geschichtsphilosophie und völkischem Nationalismus dar. Dieses stand ebenfalls sozialdarwinistischen Deutungsmustern nahe und trug wesentlich zur Formulierung und Etablierung eines »Germanenmythos« im Deutschen Kaiserreich bei.463 Das sozialanthropologische Ziel bestand auch hier in der biologischen (und somit kulturellen) Optimierung der Gesellschaft durch rassenpolitische und protektionistische Maßnahmen. Ihr Ideal bildete die Entwicklung »einer deutsch-nationalen Sozial- und Bildungsaristokratie der geistig und sittlich Hochstehenden«464 und die ›Hochzüchtung‹ des ›arischen Menschen‹, des »Vollblutgermanen« als Vertreter »der höchstentwickelten Menschenrasse (Homo europaeus), zugleich der Stammrasse aller indogermanischen Kulturvölker«465. In einer zionistischen Buchbesprechung, die sich mit dem Werk »Rasse und Milieu« des Rassentheoretikers Heinrich Driesmans und seiner Variante der sog. ›Milieu-Theorie‹ beschäftigte,466 schrieb der Rezensent zunächst auf einer Linie mit Driesmans Erziehung und Familie eine wichtige Rolle bei der Verwirklichung der biologischen Erbanlagen zu und nahm dann polemisch Bezug auf den ›Germanenmythos‹.467 Driesmans hätte in seinen Untersuchungen in einer eigentümlichen Synthese von Milieu- und Rassentheorie und demnach einer irrtümlichen Anpassung der Milieu-Theorie von Henry Thomas Buckle an seine Rassenideologie fälschlicherweise Schlussfolgerungen für die kontrovers diskutierte Frage nach der »Ur-Heimat der (Indo-)Germanen« gezogen. In falscher Analogie und in Anlehnung an Ludwig Wilser hätte er die körperlichen und 463 Vgl. Wiwjorra, Ingo: Die deutsche Vorgeschichtsforschung und ihr Verhältnis zu Nationalsozialismus und Rassismus, in: Puschner u. a., Handbuch, S. 186–207, hier S. 194–196; ders.: Der Germanenmythos. Konstruktion einer Weltanschauung in der Altertumsforschung des 19. Jahrhunderts, Darmstadt 2006; ders.: »Ex oriente lux« – »Ex septentrione lux«. Über den Widerstreit zweier Identitätsmythen, in: Leube, Achim (Hg.): Prähistorie und Nationalsozialismus. Die mittel- und osteuropäische Ur- und Frühgeschichtsforschung in den Jahren 1933–1945, Heidelberg 2002, S. 73–106; Kipper, Rainer : Der Germanenmythos im Deutschen Kaiserreich. Formen und Funktionen historischer Selbstthematisierung (Formen der Erinnerung, Bd. 11), Göttingen 2002. 464 Kipper, Germanenmythos, S. 319. 465 Wilser, Ludwig: Ludwig Woltmann als Rassenforscher, in: PAR 5 (1906–1907), S. 41–45, hier S. 43. 466 Zu Driesmans und seinen völkischen, biologistisch-anthropologischen Narrativen sowie zur Milieu-Theorie vgl. Köck, Julian: »Die Geschichte hat immer Recht«. Die Völkische Bewegung im Spiegel ihrer Gesichtsbilder (Campus Historische Studien), Frankfurt a. M. 2015, S. 301–311 und Wiwjorra, Ingo: German Archaeology and Its Relation to Nationalism and Racism, in: Diaz-Andreu, Margarita/Champion, Timothy (Hg.): Nationalism and Archaeology in Europe, London 1996, S. 164–188. Vgl. auch Driesmans, Heinrich: Rasse und Milieu, Berlin 1902; ders.: Deutsche Kulturliebe, Berlin 1912. 467 Vgl. Driesmans, Rasse.

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geistigen Merkmale der »germanischen Rasse« durch das eiszeitliche »Ur-Milieu« erklärt.468 Es sei jedoch vielmehr »alles Rassenhaftige aus dem Milieu hervorgegangen«469. »Rasse« sei daher »nichts anderes als die Summe der durch ein Milieu erworbenen und vererbten Eigenschaften«470. Driesmans These (wie die anderer völkischer Nationalisten), die Urheimat der »arischen Rasse« im europäischen Norden oder Osten zu suchen,471 sei demnach eine »auf unbewiesenen Voraussetzungen beruhende Behauptung«472. Die ihr zugrunde gelegte Analogiebildung als auch die Bezeichnung und die Theorie einer »arischen Rasse«, die auf der Basis der indogermanischen Philologie erstellt sei, sei an sich unwissenschaftlich.473 Dennoch versäumte es der Rezensent nicht, zu betonen, dass »vieles in seinem [Driesmans] Buche von Bedeutung, das meiste interessant und alles von dem ernsten Streben nach Wahrheit eingegeben […]«474 sei. Neben der Rassenanthropologie entwickelte sich die mit ihr eng verwandte Rassenhygiene, zu deren Begründern in Deutschland Alfred Ploetz (1860–1940) und Wilhelm Schallmayer (1857–1919) zählten.475 Schallmayer und Ploetz forderten in Auseinandersetzung mit der britischen ›Eugenik‹ zuvorderst eine »Nationalbiologie«476, die für die Verhinderung der physischen Degeneration der Gesellschaft und »die drohende körperliche Entartung der Kulturmenschheit«477 sorgen sollte. Als konkrete Maßnahmen sah diese einerseits im Sinne einer ›positiven Eugenik‹ die staatlich gesteuerte, gezielte Auslese und Vermehrung höher bewerteter Erbanlagen und andererseits im Sinne einer ›negativen Eugenik‹ die Reduktion ›minderwertiger‹ Erbanlagen durch gesellschaftsund bevölkerungspolitische Maßnahmen wie staatliche Eltern- und Nach468 Ebd., S. 10–21. 469 Litteraturbericht, [Rezension über] Driesmans, Heinrich: Rasse und Milieu, Berlin 1902, in: JR, VIII. Jg, Nr. 15/16 (10. 04. 1903), S. 147–149, hier S. 148. 470 Ebd. 471 Vgl. dazu auch Wiwjorra, Widerstreit. 472 Litteraturbericht, 1903, S. 149. 473 Vgl. ebd. 474 Ebd. 475 Vgl. Conze/Sommer, Rasse, S. 166. Vgl. Ploetz, Alfred: Die Tüchtigkeit unsrer Rasse und der Schutz der Schwachen. Ein Versuch über Rassenhygiene und ihr Verhältnis zu den humanen Idealen, besonders zum Socialismus. Berlin 1895; Schallmeyer, Wilhelm: Vererbung und Auslese im Lebenslauf der Völker. Eine staatswissenschaftliche Studie auf Grund der neueren Biologie, Jena 1903; ders.: Vererbung und Auslese. Grundriß der Gesellschaftsbiologie und der Lehre vom Rassedienst. 3., umgearb. und verm. Aufl. Jena 1918. Vgl. auch Becker, Peter Emil: Zur Geschichte der Rassenhygiene (Wege ins Dritte Reich), Stuttgart u. a. 1988, S. 1–56 (Kap. »Wilhelm Schallmayer«) und S. 57–136 (Kap. »Alfred Ploetz«); Breuer, Stefan: Ordnungen der Ungleichheit. Die deutsche Rechte im Widerstreit ihrer Ideen 1871–1945, Darmstadt 2001, S. 47–76, insbes. S. 61–64; Weingart u. a., Rasse. 476 Schallmayer, Wilhelm: Beiträge zu einer Nationalbiologie, Jena 1905. 477 Schallmayer, Wilhelm: Über die drohende körperliche Entartung der Kulturmenschheit und die Verstaatlichung des ärztlichen Standes, Berlin 1891.

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wuchsförderung sowie Eheverbote, Geburtenverhütung, Zwangssterilisation und die erbtechnische Erfassung sowie Typologisierung der Bevölkerung vor.478 Im Sozialdarwinismus wurde die Lehre Darwins wie bei Ernst Haeckel (1834– 1919) und Alfred Kirchhoff (1838–1907) schließlich auf die Geschichte der menschlichen Kultur und die gesellschaftliche Entwicklung übertragen, die als teleologische zivilisatorische Fortschrittsgeschichte interpretiert wurde. An ihrem Ende stände stets »das physisch und sittlich tüchtigere Volk«479, während kulturell und sittlich ›minderwertige Völker‹ ausgeschieden würden.480 Eine Zuspitzung fand diese Interpretation im Rahmen einer nationaldarwinistischen Weltsicht, der »wahrscheinlich einflußreichste[n] bildungsbürgerliche[n] Geschichtsphilosophie der wilhelminischen Epoche«481. Diese vertrat etwa Felix von Luschan, der im »(nationalen) Kampf ums Dasein« die eigentliche Aufgabe der Anthropologie sah, welche mittels Forschungen und Gesetzgebung die »Wehrkraft« einer »Nation« erhöhen müsse, um diese konkurrenzfähig zu halten.482 Eine explizite Bezugnahme auf Ludwig Woltmann, Felix von Luschan und Wilhelm Schallmayer sowie auf sozialdarwinistische Thesen findet sich beispielsweise bei Arthur Ruppin.483 Seine zionistische Rassentheorie entwickelte 478 Vgl. Conze/Sommer, Rasse, S. 166. 479 Kirchhoff, Alfred: Ueber den Darwinismus in der Völkerentwicklung [1884], zit. n.: Conze/ Sommer, Rasse, S. 165. 480 Vgl. Conze/Sommer, Rasse, S. 163–168; Walkenhorst, Peter : Der »Daseinskampf des Deutschen Volkes«. Nationalismus, Sozialdarwinismus und Imperialismus im wilhelminischen Deutschland, in: Echternkamp, Jörg/ Müller, Sven Oliver (Hg.): Die Politik der Nation. Deutscher Nationalismus in Krieg und. Krisen 1760–1960 (Beiträge zur Militärgeschichte, Bd. 56), München 2002, S. 131–148. Die Übertragung sozialdarwinistischer Deutungsmuster und der Metapher des ›Daseinskampfes‹ auf die Ebene des Nationalen findet sich auch bereits bei Paul de Lagarde, der in seinen »Deutschen Schriften« expansionistische Bestrebungen zur Lebensfrage der ›deutschen Nation‹ stilisiert. Vgl. Lagarde, Paul de: Ueber die gegenwärtigen Aufgaben der deutschen Politik. Ein Vortrag gehalten im November 1853, in: Ders.: Deutsche Schriften. Gesamtausgabe letzter Hand, Göttingen 5 1920, S. 18–39, hier S. 30. 481 Walkenhorst, Nationalismus, S. 147. Walkenhorst weist auch darauf hin, dass »die evolutionistische Deutung der Selektionstheorie […] zugleich den Ausgangspunkt für die diskursive Konstruktion einer dynamischen Nationenvorstellung [bildete], denn sie ermöglichte es, die Krisen, Brüche und Diskontinuitäten der ›nationalen Entwicklung‹ als Voraussetzung und Bedingung nationaler Vergemeinschaftung darzustellen« (ebd., S. 135). 482 Vgl. Conze/Sommer, Rasse, S. 166. 483 Vgl. Ruppin, Arthur : Die Juden der Gegenwart. Eine sozialwissenschaftliche Studie, Berlin 1904; ders.: Die Juden der Gegenwart. Eine sozialwissenschaftliche Studie, 2., erw. Aufl. Berlin 1911; ders.: Darwinismus und Sozialwissenschaft, Jena 1903. Zu Ruppins zionistischer Rassentheorie vgl. Bloom, Etan: Arthur Ruppin and the Production of Pre-Israeli Culture, Leiden 2011; Hart, Social Science; Morris-Reich, Amos: Arthur Ruppin’s Concept of Race, in: Israel Studies 11 (2006), S. 1–30; Penslar, Zionism, S. 80–102 und ausführlich jetzt auch Vogt, Positionierungen, S. 131–134.

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Ruppin, der zu den Protagonisten der jüdischen Kolonisation in Palästina gezählt werden muss und vor seiner Übernahme des Palästinaamts in Jaffa das Büro für jüdische Statistik in Berlin leitete, zunächst in seiner Schrift »Die Juden der Gegenwart« aus dem Jahr 1904.484 Ganz auf der Linie von Auerbach, Sandler und Zollschan vertrat Ruppin darin die Meinung, dass die ›jüdische Rasse‹, die bei ihm dennoch ein Gemisch bildete, »rein« erhalten werden müsse und eine »Vermischung« mit der nichtjüdischen Bevölkerung vom rassenhygienischen Standpunkt aus zu vermeiden sei.485 Da Ruppin neolamarckistische Positionen vertrat, existierte für ihn grundsätzlich die Möglichkeit, auf die Beschaffenheit der ›jüdischen Rasse‹ mittels des umliegenden Milieus und damit bevölkerungspolitischer Maßnahmen Einfluss zu nehmen.486 Durch die Hervorhebung der jüdischen »Rassenbegabung«487 zielte Ruppin darauf, ein wirksames Gegennarrativ zur ›minderwertigen‹ ›jüdischen Rasse‹ zu entwickeln.488 Auch wenn der zionistische Diskurs über die ›Rasseninzucht‹ mit einer tatsächlichen Zunahme der geschlossenen ›Mischehen‹ im Deutschen Reich einherging,489 besaß die Frage der »Rassenmischung« für die deutschen Zionisten wohl gerade deshalb eine so hohe Bedeutung, weil sich an sie gekonnt die Frage knüpfen ließ, welche gesellschaftspolitischen Aufgaben der Zionismus in der Diaspora und in Palästina übernehmen sollte. Über die Betonung der Beeinflussbarkeit der Rasseneigenschaften durch das Milieu konnte die jüdische Besiedlung Palästinas, zionistische Gegenwartsarbeit in der Diaspora und die Erziehung der zionistischen Jugend gerechtfertigt werden. Nicht zuletzt dienten die geschilderten Narrative daher immer auch der Erzeugung von Legitimation für das zionistische Projekt. Ob sich verschiedene Familien oder ›Rassen‹ vermischen dürften, stand schließlich auch im Mittelpunkt bürgerlicher und kolonialer Diskurse im Deutschen Kaiserreich.490 Unter dem Einfluss von kolonialen Debatten und 484 Vgl. Hart, Social Science, S. 56–73; Bloom, Etan: The ›Administrative Knight‹ – Arthur Ruppin and the Rise of Zionist Statistics, in: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte 35 (2007), S. 183–203; Vogt, Positionierungen, S. 131. 485 Vgl. Ruppin, Juden, 1904, S. 214f., 264. Vgl. dazu auch Vogt, Positionierungen, S. 132. 486 Vgl. Ruppin, Juden, 1904, S. 117–120; Vgl. dazu auch Vogt, Positionierungen, S. 132f. 487 Ruppin, Juden, 1911, S. 229. 488 Vgl. dazu ausführlich Vogt, Positionierungen, S. 133f. 489 Vgl. Meiring, Kerstin: Die Christlich-jüdische Mischehe in Deutschland 1840–1933 (Studien zur jüdischen Geschichte, Bd. 4), Hamburg 1998, S. 27f. und 94f. Die Einführung der Zivilehe erfolgte am 06. 02. 1875 durch das Gesetz über die »Beurkundung des Personenstandes und die Eheschließung«. Damit wurden auch die interkonfessionellen Eheschließungen legalisiert, die allerdings wie bisher den Gegenstand heftiger, kontroverser Debatten bildeten. Zwischen den Jahren 1901 und 1932 wuchs die Zahl der gemischt Heiratenden beispielsweise von 7,8 auf 23 Prozent an. 490 Vgl. Becker, Frank (Hg.): Rassenmischehen – Mischlinge – Rassentrennung. Zur Politik der Rasse im deutschen Kolonialreich, Stuttgart 2004; Kundrus, Birthe: Von Windhoek nach

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bürgerlichen Wertvorstellungen »galt die Sorge der ›guten‹ ehelichen Verbindung und der darin zum Ausdruck gebrachten Nähe oder Distanz zum Eigenen und zum Fremden«491. Eine Zuspitzung erfuhr die öffentliche Debatte etwa im Jahr 1912, als der deutsche Reichstag über ein Verbot der sog. ›Rassenmischehen‹ zwischen ›weißen Deutschen‹ und ›farbigen Eingeborenen‹ in den deutschen Kolonien diskutierte.492 Die Debatte, in der neben rassistischen Denkmustern auch männliche Vorstellungen von ›Sexualität‹ und der Beziehung der Geschlechter zur Schau gestellt wurden, zielte nicht zuletzt auf die Beschränkung des Staatsbürgerrechts in den Kolonien.493 Die Beeinflussung durch gleichzeitige kolonialistische Diskurse spiegelte sich auch in zionistischen Rassentheorien wider, in welchen die Disposition der ›jüdischen Rasse‹ für bestimmte Krankheiten oder ihre Immunität gegenüber anderen, die mit biologischer Veranlagung oder bestimmten Lebensgewohnheiten erklärt wurden, auch mit der jüdischen Eignung zur ›Kolonisation‹ und künftigen Regeln für die ›Reproduktion‹ in den Kolonien in Verbindung gebracht wurden. So druckte die Jüdische Rundschau einen Vortrag zu den »Hygienischen Betrachtungen zur Ostafrikafrage« ab, den der jüdische Arzt, ehemalige Vorsitzende der BZV und Leiter des jüdischen Turnvereins Bar Kochba Berlin Julius Katz494 zum Jahreswechsel 1903/04 vor der BZV gehalten hatte. Darin hatte Katz das Angebot der britischen Regierung eines Territoriums in Ostafrika für die zionistische Besiedlung495 »vom ärztlichen und hygienischen Standpunkt« sowie »vom volkshygienischen Standpunkt« erörtert, um eine »gedeihliche Entwicklung der Kolonisten und späterer Generationen« zu gewährleisten.496 Katz brachte seine Bedenken gegenüber einer Kolonisation Afrikas zum Ausdruck und warnte im Besonderen vor der Gefahr, »in den jüdischen Proletariermassen« ein »sehr geeignetes Ansiedlungselement zu erblicken«. Diese entstammten einer »durchweg städtischen und der körperlichen

491 492 493 494 495 496

Nürnberg? Koloniale ›Mischehenverbote‹ und die nationalsozialistische Rassengesetzgebung, in: Dies. (Hg.): Phantasiereiche. Zur Kulturgeschichte des deutschen Imperialismus, Frankfurt a. M. 2003, S. 110–131; Lipphardt, Biologie, S. 104; Przyrembel, Reinheitsmythos, S. 43–48. Lipphardt, Veronika: Zwischen »Inzucht« und »Mischehe«. Demographisches Wissen in der Debatte um die »Biologie der Juden«, in: Tel Aviver Jahrbuch für deutsche Geschichte 35 (2007), S. 45–66, hier S. 65. Vgl. dazu Przyrembel, Reinheitsmythos, S. 43–48 und Essner, Cornelia: Zwischen Vernunft und Gefühl. Die Reichstagsdebatte von 1912 um koloniale »Rassenmischehe« und Sexualität, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 45 (1997), S. 503–519. Vgl. ausführlich Essner, Vernunft, hier insbes. S. 510. Zu Julius Katz vgl. Eloni, Zionismus, S. 104–114. Vgl. dazu auch Kap. III.2.1.3 der vorliegenden Arbeit. Katz, Julius: Hygienische Betrachtungen zur Ostafrikafrage. Vortrag, gehalten in der Berliner Zionistischen Vereinigung, abgedruckt in: JR, IX. Jg., Nr. 1 (01. 01. 1904), S. 2–6, hier S. 2.

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Arbeit mehr oder minder entwöhnten Bevölkerung« und seien dem subtropischen Klima und der hohen Leuchtfeuchtigkeit in Afrika nicht gewachsen.497 Damit wiesen sie nach Katz gegenüber den weit verbreiteten Tropenkrankheiten wie Malaria, Cholera, Pest, Beri-Beri, Schlafkrankheit usw. keine besondere Immunität auf.498 Auch für Katz war daher »die nüchterne und im allgemeinen hygienische Lebensweise der Juden«, welche einen deutlichen Gegensatz zum ausschweifenden Lebensstil der anderen europäischen Völker und ihrem maßlosen Alkoholkonsum darstellte, entscheidend für das Gelingen des Kolonisationsprojektes.499 Neben den genannten Faktoren sah er auch im Besonderen in der jüdischen »Akklimationsfähigkeit, die die der arischen Völker bei weitem übertrifft«500 den Erfolg der jüdischen Kolonisation begründet. Schon die Juden hätten durch ihre Verlagerung »aus den heissen Gegenden Oberägyptens nach dem kühleren Palästina ein sog. petit acclimatement durchgemacht und so die Fähigkeit der Akklimatisation in noch höherem Grade erworben«501. Im Gegensatz zu Afrika eigne sich Palästina aufgrund der natürlichen, ›(semitischen) Rasseeigenschaften‹ der Juden als geborenen ›Orientalen‹ im besonderen Maße für die jüdische Kolonisation: »Wie schön ist es, dass ähnliche Zweifel und Bedenken uns nicht zu beunruhigen brauchen bei der Besiedelung Palästinas, diesem, nach der Erklärung unseres Führers Herzl unverrückbaren Endziel all unserer Wünsche und Bestrebungen. Das semitischorientalische Blut, das in uns fliesst, und das sich in der grossen Akklimatisationsfähigkeit der Juden ganz besonders deutlich offenbart, weist uns geradezu auf die alte Heimat unseres Volkes hin.«502

Um die natürliche Disposition der jüdischen Rasse zur Kolonisation (Palästinas), welche sie gegenüber den nordeuropäischen Völkern auszeichne, zu erhalten, sei nun im Gegensatz zu den »großen Kolonialnationen« wie Frankreich, England und Deutschland, für welche die »Vermehrung ihrer politischen Machtstellung und Vergrösserung ihrer Handelsbeziehungen« oberste Priorität besäße, die »Reinerhaltung der Rasse […] wichtigstes Axiom in der jüdischen Volksseele«503. Die Vermeidung von ›Mischehen‹ sei daher oberstes Gebot und wesentliche Voraussetzung für die Souveränitätsgarantie des kolonisierenden Volkes.504 Katz stellte hier also sowohl für die Diaspora als auch für die zukünftige jüdische Gesellschaft in Palästina Reproduktionsregeln auf, welche eine 497 498 499 500 501 502 503 504

Ebd. Vgl. ebd. Ebd., S. 5. Ebd., S. 4. Ebd., S. 5. Ebd. Ebd., S. 4. Vgl. ebd.

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›Vermischung‹ mit der ansässigen Bevölkerung größtenteils ausschlossen. Dass dies sozusagen im Besonderen auch die deutsche Bevölkerung meinte, wurde in einer Besprechung der Zeitschrift »Altneuland« deutlich, in der Elias Auerbach die Tendenz zur »Degeneration« und mangelnde Akklimatisationsfähigkeit der »germanischen Elemente« in Palästina wie der deutschen Templer hervorhob, denen er die natürliche Eignung der Juden für das Klima in Palästina gegenüberstellte.505 Obwohl die Autoren in der Jüdischen Rundschau somit keine einmütige Haltung zum Rassenbegriff einnahmen, zeigte die wiederholte Beschäftigung mit dem Thema sowie ein Eintrag im »Zionistischen A-B-C-Buch« aus dem Jahr 1908 unter dem Stichwort »Rasse, Juden als« doch, dass das Deutungsmuster zu einem festen Eintrag im zionistischen Wörterbuch geworden war. Die Existenz einer ›jüdischen Rasse‹ wurde in ihrer Grundsätzlichkeit von vielen deutschen Zionisten nicht (mehr) bezweifelt.506 Der entsprechende Eintrag im »Zionistischen A-B-C-Buch« lehnte sich interessanterweise primär an die Forschungsergebnisse Felix von Luschans und Ignacy Maurycy Judts507 an, indem er vom »reinen Rassengemisch« sprach, womit sich das zionistische Kollektiv gewissermaßen den kanonischen wissenschaftlichen Standards um 1900 anpasste. Die Formel vom »reinen Rassengemisch«, welche sozusagen die kompromisshafte Mittelposition zwischen der These von der ›reinen Rasse‹ und der des ›Rassengemischs‹ bildete, erlaubte es, ältere Narrationen von der ›Reinheit der jüdischen Rasse‹ beizubehalten und mit der mittlerweile etablierten Lehrmeinung von der ›Rassenmischung‹ zu verbinden. Zu diesem Zweck wurde behauptet, dass die Juden seit ihrer ›Vermischung‹ mit anderen ›Rassen‹ in der Antike eine durch reproduktive Abgeschlossenheit bzw. »Inzucht« und lange Isolation gekennzeichnete biologische Gruppe darstellten.508 Dass mit der kontinuierlichen Berichterstattung zum Thema ›Rasse‹ insgesamt auch dem Wunsch der Leser nachgegeben würde, wurde bereits im Jahr 1903 explizit thematisiert, indem das große Interesse des Lesepublikums am »Rasseproblem« eingeräumt wurde.509 Auch das »Arbeitsprogramm für zionistische Ortsgruppen« des Jahres 1904, das in der Jüdischen Rundschau abgedruckt wurde, sah unter dem ersten Punkt »Theorie des Zionismus« neben der Thematisierung der »Judenfrage« in den 505 Vgl. Auerbach, Elias: »Altneuland« (Besprechung), in: JR, IX. Jg., Nr. 9 (26. 02. 1904), S. 81– 83, hier S. 82. 506 Rasse, Juden als, in: Zionistisches A-B-C-Buch, hg. mit Unterstützung zahlreicher sachverständiger Mitarbeiter von der Zionistischen Vereinigung für Deutschland, Berlin 1908, S. 230–232. 507 Vgl. Judt, Juden. 508 Vgl. Lipphardt, Biologie, S. 74. 509 Vgl. Litteraturbericht, 1903, S. 149: »Jeder, der Interesse für das Rasseproblem hat – und auch unter unseren Lesern sind deren nicht wenige – sollte nicht achtlos […] vorübergehen.«

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verschiedenen Ländern Europas bereits die Aufklärung der Zielgruppen über die »Die Juden als Rasse« und die Begriffe »Rasse, Nation, Volk, Staat. Inzucht und Mischehe« vor.510 Allerdings war das Verhältnis deutscher Zionisten zur Rassenideologie, wie bereits an mehreren Stellen angedeutet wurde, insgesamt immer auch in hohem Maße von einer eigentümlichen Transformation bestehender Narrative, so im Besonderen von einer Zurückweisung des antisemitischen Topos von der ›Minderwertigkeit‹ der Juden und der rassistischen Abwertung anderer ›Rassen‹ geprägt. So machten einige zionistische Autoren explizit auf den Konstruktcharakter der Rassenideologie aufmerksam511. Andere warnten in ihren Aneignungen des Rassenkonzeptes vor den Gefahren einer unreflektierten, hegemonialen Verwendung der modernen Rassenideologie im Zionismus, der sich nicht auf eine Stufe mit der antisemitischen Argumentation stellen dürfe.512 Heinrich Loewe etwa kritisierte in seiner Berichterstattung über den Russisch-Japanischen Krieg 1904/05 offen, dass die kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen den beiden Kaiserreichen in der deutschen und englischen Presse zu einem Daseinskampf zwischen der »weissen« und »gelben Rasse« stilisiert würden, der von einer dritten »Rasse«, der »schwarzen«, wohlwollend verfolgt würde: »Die ganze Erde, die ganze Menschheit, deren Mitglieder sich eben im blutigen Kriege gegenseitig zerfleischen, sind doch nur eine Familie, ein Haus, in dem nichts geschieht, was nicht alle zugleich angeht. […] Diese selben Schwarzen, denen man keine Menschenrechte einräumt, weil sie eine inferiore Rasse darstellen, müssen denn doch nicht gar so inferior sein, wie die europäische Welt sie hinzustellen für gewöhnlich beliebt. Wir haben niemals an das Vorhandensein superiorer und inferiorer Rassen in geistigem und moralischem Sinne glauben können, ohne freilich den Wert zu verkennen, den eine ererbte Kultur für ihren Träger hat. Aber die Völker mit alter Zivilisation allein sind nicht die Träger der Kultur für alle Zeiten. Und wie es eine Zeit gab, in der das Jüdische Volk am Abschluss einer anderhalbtausend jährigen nationalen Kulturge510 Arbeitsprogramm für zionistische Ortsgruppen, in: JR, IX. Jg., Nr. 44 (04. 11. 1904), S. 370f., hier S. 371. 511 Vgl. beispielsweise Anon.: Rundschau. Wallfisch in Berlin, vom Judentum zum Christentum übergetreten, in: JR, IX. Jg., Nr. 37 (16. 09. 1904), S. 400–402, hier S. 401: »Freilich muss man wissen, dass sich die feinen Leute der superioren Rasse immer dann der jüdischen Abstammung der verschiedensten Leute aller Rassen und Völker erinnern, wenn sie glauben, dass der Konvertit oder auch jemand, der niemals mit dem jüdischen Stamme etwas zu tun gehabt hat, beschimpft werden kann.« 512 Vgl. etwa Eljaqim [Loewe, Heinrich]: Weiss und Gelb, in: JR, IX. Jg., Nr. 8 (19. 02. 1904), S. 69f., hier S. 69: »Man hat nicht ohne Geschick versucht, aus dem Streite der beiden Nationen einen Rassekrieg zu konstruieren. […] Aber wir wenigstens sollten uns davon fern halten, von der Gefahr zu faseln, die der weissen Rasse durch die gelbe drohe. Denn wir sollten uns erinnern, dass man uns gerade von diesem gleichen falschen und gefälschten Rassestandpunkte aus das schwerste Unrecht zufügt.«

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schichte stand, während sich die Germanen eben anschickten, sich aus den allerprimitivsten Zuständen mühsam herauszuwinden, so wissen wir, dass in jedem Volke und in jeder Rasse der Keim steckt, sich aus sich selbst heraus zu einem Kulturvolk zu entwickeln.«513

Loewes Rhetorik lehnte sich hier offenkundig an die Begrifflichkeiten an, wie sie vor allem von den bekannten, bereits zuvor genannten Rassentheoretikern Joseph Arthur Graf de Gobineau und Houston Stewart Chamberlain entworfen worden waren, und bildete zeitgleich einen Gegendiskurs zu ihnen. So übernahm Loewe die Unterscheidung in eine ›weisse‹, eine ›gelbe‹ und eine ›schwarze Rasse‹ von Gobineau, welche dieser in seinem vierbändigen Werk »Essai sur l’in8galit8 des races humaines« formuliert hatte, das 1898 in deutscher Übersetzung erschienen war.514 Obwohl Gobineau die Juden in seinem Werk nicht negativ stigmatisierte, sondern Anerkennung für ihre Leistungen zollte, galt für ihn die ›weiße Rasse‹ als eigentliche Triebkraft des Geschichtsprozesses.515 In Analogie zu Gobineau sah auch Houston Stewart Chamberlain, dessen Argumentationsmuster die Jüdische Rundschau wiederholt pointiert karikierte,516 in der kontinuierlichen Vermischung von kulturell höher stehenden mit kulturell minderwertigen ›Rassen‹ den Verfall der Weltgeschichte und spitzte dies in seinen »Grundlagen« zu einer antisemitischen Geschichtsphilosophie zu.517 Die Popularität beider Autoren und die Anziehungskraft ihrer Werke lässt sich unter anderem daraus erklären, dass sie vorwissenschaftliche und wissenschaftliche, anthropologische, kultur- und geschichtsphilosophische mit biologistischen Deutungsmustern kombinierten. Nach Walkenhorst konnten antisemitische Rassentheoretiker wie Chamberlain so »den traditionellen antisemitischen Vorurteilen und Stereotypen eine neue Legitimation auf vermeintlich wissenschaftlicher Grundlage«518 in einer »radikalnationalistische[n] Rassenseman513 Sachse, Heinrich: Ostasien und Südafrika, in: JR, X. Jg., Nr. 1 (06. 01. 1905), S. 1f. 514 Vgl. Gobineau, Essai. Unter ›Rasse‹ verstand Gobineau ein biologisch determiniertes Kollektiv bzw. »eine in ihren körperlichen und psychischen Merkmalen einheitliche Gruppe mit ›ursprünglich reinem Blut‹, die im Gattungsvorgang ihr Erbe weitergibt«, wobei sich der Idealtypus »reiner Rasse«, der noch in einer Urform existiert hatte durch den Prozess einer »Rassenmischung« entscheidend verändert hätte. Je nach Beschaffenheit und Quantität des sich mischenden Materials konnte dieser Vorgang entweder kulturfördernd oder kulturzersetzend wirken, wobei die konkrete »Rassenmischung« selbst die »Degeneration« der »Rasse« und das Sterben von ganzen Völkern und Zivilisationen zur Folge haben konnte. Zentrale Bewegungskraft der gesamten historischen Entwicklung stellte daher bei Gobineau der Kampf zwischen den Völkern oder Nationen um Erhalt ihrer »Rassenkraft« dar, der letztlich über die Kontinuität und das Bestehen einer Abstammungsgemeinschaft entschied. Vgl. Conze/Sommer, Rasse, S. 162–166. 515 Vgl. Conze/Sommer, Rasse, S. 162. 516 Vgl. z. B. Friedemann, Forschungen, S. 81. 517 Conze/Sommer, S. 173. 518 Walkenhorst, Nation, S. 109.

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tik«519 verleihen. Die implizite Forderung nach biologisch-rassischer Homogenität diente nicht zuletzt der wissenschaftlichen Legitimation der biologischen Determiniertheit kultureller Leistungen sowie der Konstruktion eines semantischen Codes, der »faktisch auf eine radikale Exklusion all jener ethnischen und sozialen Gruppen hinaus[lief], die – aus welchen Gründen auch immer – nicht zur nationalen Abstammungsgemeinschaft dazugehören sollten«520. Elias Auerbach etwa betonte, dass Chamberlains »Grundlagen« ein »glänzend geschriebenes Buch sei«, während er seine wissenschaftliche Arbeit gleichzeitig abqualifizierte als »ziemlich das tollste Zeug, das je durch die Druckerpresse gegangen ist«.521 Andere Zionisten wie Arthur Ruppin und Ignaz Zollschan bezogen sich offen positiv auf Chamberlain und stimmten ihm vor allem darin zu, dass »die Verschiedenheit der Rasse auch eine Verschiedenheit im Empfinden, Denken und Wollen mit sich bringt«522. Stefan Vogt konnte darüber hinaus zeigen, dass Martin Buber und Ignaz Zollschan Chamberlain persönlich kontaktierten, um mit ihm in einen wissenschaftlichen Austausch zu treten und ihn zu einem Beitrag an Bubers sozialwissenschaftlicher Schriftenreihe »Die Gesellschaft« zu bewegen, was jedoch erfolglos blieb.523 Dass gerade die zionistische Abwehr antisemitischer Deutungsmuster einer grundsätzlichen und vertieften Aneignung der Rassenideologie durch den Zionismus nicht im Wege stehen dürfte, stand im Zentrum des Leitartikels »Zur jüdischen Frage« von Max Besser (1877–1941), einem jüdischen Arzt und Vorstandsmitglied der zionistischen Ortsgruppe in Hamburg.524 Besser kritisierte darin, dass die Berichterstattung in der Allgemeinen Zeitung des Judentums die Ergebnisse der anthropologischen Forschung, aus seiner Sicht vordergründig zum Zweck der Zurückweisung antisemitischer Rassentheorien, völlig ignoriert und die Existenz einer ›jüdischen Rasse‹ zugunsten einer ›jüdischen Religionsgemeinschaft‹ geleugnet hätte.525 Allerdings wisse »[j]edes Kind […], dass es Menschengruppen mit Verschiedenheit der Kopf- und Gesichtsbildung, des Wuchses, der Haare, der Hautfarbe, der Intelligenz, des moralischen Empfindens u. s. w. gibt«526. ›Rasse‹ könne daher, so Besser, mit Elektrizität verglichen werden, da nur wenige gesicherte Erkenntnisse oder gar Beweise für die Existenz beider Phänomene beständen, man daraus jedoch nicht darauf schließen könne, 519 Ebd. 520 Ebd., S. 108. 521 Auerbach, Rasse und Kultur, S. 13. Vgl. zum Folgenden ausführlich Vogt, Positionierungen, S. 129f. 522 Ruppin, Arthur : Der Rassenstolz der Juden, in: ZDSJ 6 (1910), Nr. 6, S. 88–92, hier S. 89. 523 Vgl. Vogt, Positionierungen, S. 129f. 524 Vgl. Besser, Max: Zur jüdischen Rassenfrage, in: JR, VIII. Jg., Nr. 2 (09. 01. 1903), S. 9–11. 525 Vgl. ebd., S. 9. 526 Ebd., S. 10.

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dass sie nicht auch tatsächlich existierten.527 In einem weiteren Beitrag, der etwa einen Monat später in der Jüdischen Rundschau erschien, präzisierte er, dass die zionistische Auseinandersetzung mit naturwissenschaftlichen Erkenntnissen »keine Rücksicht auf missbräuchliche Anwendung ihrer Resultate durch Antisemiten nehmen kann, und dass das Hineintragen apologetischer Tendenzen von jüdischer Seite unstatthaft ist«528. Diese Ansicht von der unstatthaften ›Apologie‹ elaborierte Besser schließlich in einer kurzen Schrift mit dem Titel »Die Juden in der modernen Rassentheorie«, welche im Jahr 1911 erschien.529 Besser bedauerte im Vorwort, dass die vielen Rassentheorien inhärenten antisemitischen Deutungsmuster den Blick vieler Juden auf wissenschaftliche Theorien überhaupt verschlossen hätten. Obwohl oder gerade weil die »Rassenforschung […] mehr als jedes andere Wissensgebiet der Tummelplatz tendenziöser Phantastereien und politischer Leidenschaften geworden« sei, müssten sich auch jüdische Kreise intensiv dem »Studium der Rassenfrage« widmen und zu einer vertieften Kenntnis des »anthropologischen Tatsachenmaterials« gelangen.530 Einen Wandel in der bislang vorherrschenden »Vogelstraußpolitik« hätte nur die »jungjüdische Bewegung« gebracht, die sich intensiv mit der Rassenforschung beschäftige.531 Das Ziel der Überblicksdarstellung Bessers bestand im Folgenden überwiegend darin, an verschiedenen Beispielen den Konstruktcharakter der These »von der Überlegenheit der arischen Völker und der Minderwertigkeit der semitischen Völker«532 bzw. der »Germanentheorie«533 aufzuzeigen und damit ihre Unwissenschaftlichkeit und den dahinter stehenden »chauvinistischen Rassendünkel«534 zu veranschaulichen.535 Den »phantastischen Übertreibungen« namentlich bekannter antisemitischer Rassentheorien von Gobineau, Ernest Renan, Eugen Dühring, Chamberlain und Adolf Bartels sollte eine »wohlbegründete naturwissenschaftliche Betrachtung der Rassenfrage« gegenüber gestellt werden.536 Besser beteiligte sich somit durch seinen Beitrag auch an der Diskussion um »den Wert und die Grenzen naturwissenschaftlicher Erkenntnis im allgemeinen«537,538 wobei sich jedoch nur wenige Zionisten überhaupt explizit am 527 Vgl. ebd., S. 9f. 528 Besser, Max: Hexenglaube und Judenrasse. Eine Erwiderung, in: JR, VIII. Jg., Nr. 6 (06. 02. 1903), S. 41. 529 Vgl. Besser, Max: Die Juden in der modernen Rassentheorie, Köln u. a. 21911. 530 Besser, Rassentheorie, Vorwort. 531 Ebd., S. 14. 532 Ebd., S. 7. 533 Ebd., S. 8. 534 Ebd., S. 9. 535 Ebd., S. 5. 536 Ebd., S. 13. 537 Ebd., S. 9.

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»umstrittenen Begriff der Rasse«539 störten. In einer Replik auf Besser kritisierte ein anonymer Autor daher die Pseudowissenschaftlichkeit vieler Beiträge zum Thema und spielte auf den subjektiven Konstruktcharakter des »unwissenschaftlichen Begriff[s] der Rasse«540 an, der aus seiner Sicht »ein Hilfsmittel menschlichen Denkens« darstelle und »ganz verschiedene Erscheinungen zusammenfasse, über deren Bedeutung und Tragweite kaum zwei Menschen einig sind«541. Nur weil ein Begriff im Umlauf und den Menschen vertraut sei, könne daraus noch nicht auf die tatsächliche Existenz des historischen Phänomens geschlossen werden. Rassedenken sei daher mit dem Hexenglauben des 16. Jahrhunderts zu vergleichen, bei dem das menschliche Bewusstsein »viel Unsinn« hervorgebracht hätte. ›Rasse‹ oder Abstammung sei nicht das Wesensmerkmal der nationaljüdischen Gemeinschaft, sondern die »gemeinsame Vergangenheit mit einem Gefühl einer noch andauernden Gemeinsamkeit ihrer Schicksale«542 und der Wille, der eigenen Gemeinschaft anzugehören.543 Der anonyme Autor bewegte sich mit seiner Argumentation also ganz auf der Linie einer Zurückweisung oder Relativierung der Rassenideologie im nationalen Ideenhaushalt insgesamt. Wie bereits anklang, konnte das Narrativ ›Rasse‹ dabei auch »rein äusserlichen Unterscheidungsmerkmalen« zugeordnet werden, was nicht selten eine Voluntarisierung des Nations- oder Volksbegriffes nach sich zog.544 Wie gezeigt werden konnte, lag die Anziehungskraft des Konzeptes ›Rasse‹ für die deutschen Zionisten in erster Linie in seinen gesellschaftlichen und nationalpolitischen Implikationen.545 Der Begriff der ›Rasse‹ verlieh dem zionistischen Projekt eine neue, mit dem Nimbus objektiver Wissenschaftlichkeit ausgestattete Legitimation, indem Zionismus selbst als konkrete sozialtechnologische Maßnahme und als wesentliches Mittel zur Züchtung und »Reinerhaltung« der ›jüdischen Rasse‹ und damit zur Erhaltung der ›jüdischen Rassenkraft‹ im Prozess ihrer ›Auflösung‹ stilisiert werden konnte. Zionismus galt demnach durch die Produktion bestimmter Verhaltens- und Reproduktionsregeln sowie die implizite Ablehnung von Taufe und ›Mischehe‹ als Zielutopie der 538 Vgl. zur Debatte über die Wissenschaftlichkeit der Beiträge an sich auch die meist nichtzionistischen Beispiele bei Lipphardt, Biologie, S. 74–77; 163–184. 539 Anon.: Rundschau. Berlin. Bericht über die öffentliche Mitgliederversammlung des Zentralvereins in Berlin, Vortrag von Dr. Heinrich Meyer-Cohn, in: JR, VIII. Jg., Nr. 9 (27. 02. 1903), S. 72. 540 Anon. (H. C.): Elektrizität und Rasse, in: JR, VIII. Jg., Nr. 4 (23. 01. 1903), S. 27. 541 Ebd. 542 Ebd. 543 Vgl. ebd. 544 Loewe, Kanaan (1), S. 70. Vgl. dazu auch Kap. III.1.2.2 der vorliegenden Arbeit. 545 Vgl. dazu auch die instruktiven Bemerkungen in Bezug auf den deutschen radikalen Nationalismus von Walkenhorst, Nation, S. 102–119.

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›rassisch reinen‹ und ›biologisch gesunden‹ jüdischen Gesellschaft, während die Assimilation als Bedrohung und Gefährdung inszeniert wurde und den Zionisten zufolge in die ›Degeneration‹ führte. Die biologische Determiniertheit des nationaljüdischen Kollektivs bewies demnach die Notwendigkeit der jüdischen Kolonisation und die Substanz- und Sinnlosigkeit assimilierender Tendenzen im deutschen Judentum gleichermaßen. Darüber hinaus wurde ›Rasse‹ für die Zionisten auch als Differenzkategorie wirksam, kraft derer die Abschließung des nationaljüdischen Kollektivs nach innen wie außen wissenschaftlich begründet und semantisch unterlegt werden konnte. Wie das Beispiel der betrachteten zionistischen Rassentheorien zeigt, ergab sich aus der zionistischen Aneignung der Rassenideologie ein hybrider Diskurs. Einerseits gingen deutsche Zionisten zwar grundsätzlich von der Existenz unterschiedlich entwickelter ›Rassen‹ und ›Kulturen‹ sowie, damit verbunden, der Verschiedenheit einer ›jüdischen Rasse‹ aus. Andererseits lehnten sie eine damit verbundene Hierarchisierung, wie die von Gobineau zum Grundprinzip der historischen Entwicklung erhobene ungleiche Wertigkeit unterschiedlicher Rassentypen, a priori ab und betonten häufig die grundsätzliche kulturelle Entwicklungsfähigkeit aller ›Rassen‹ und ›Völker‹. Die vielen zeitgenössischen Rassentheorien inhärente Erhöhung einer ›weißen‹, ›arischen‹ oder ›germanischen Rasse‹ bei gleichzeitiger Abwertung anderer ›Rassen‹ wurde daher von zionistischen Autoren zurückgewiesen und häufig mit der ironischen Pointe kommentiert, dass die ›Germanen‹ noch in den kulturellen Kinderschuhen gesteckt hätten, während andere ›Kulturnationen‹ (wie die jüdische) schon hoch entwickelt gewesen wären.546 Daneben wurden die positiven Merkmale, die der ›germanischen Rasse‹ im Diskurs angedichtet wurden, als ursprüngliche Fähigkeiten der ›semitischen Rasse‹ zuerkannt.547 Heinrich Loewe ging in seinen Beiträgen zum Thema noch darüber hinaus, indem er sich mit anderen als ›minderwertig‹ stigmatisierten ›Rassen‹ solidarisierte, wie im zitierten Beispiel mit der ›schwarzen Rasse‹, die als gängiger Topos von der zunehmenden ›Ethnisierung‹ der kolonialistischen und imperialistischen Diskurse im Deutschen Kaiserreich zeugte.548 546 Vgl. Anon.: Allerlei, in: JR, VII. Jg., Nr. 44 (31. 10. 1902), S. 38: »Man muss nicht glauben, dass Houston Stewart Chamberlain etwas besonders Neues schuf, als er der germanischen Rasse alles vindizierte, was er bei anderen Stämmen, besonders bei den Semiten Begehrenswertes fand. Im Gegenteil haben schon viele vor ihm versucht, überall die Germanen und speziell die Deutschen zu wittern.« 547 Vgl. Sachse, Heinrich: Zum Pessachfest, in: JR, VIII. Jg., Nr. 15/16 (10. 04. 1903), S. 138: »Denn germanisch ist der ganze Komplex von Ideen des Blutgenusses und seiner zauberhaften Wirkung von der Tötung des Fafner an und dem Lecken seines Blutes durch Sigurd (Anm.: altnordische Sage) bis auf die letzten Ausläufer des Aberglaubens, der noch immer in den Herzen des Landvolkes nicht minder als der Städter thront.« 548 Vgl. dazu auch Kundrus, Birthe: Moderne Imperialisten. Das Kaiserreich im Spiegel seiner

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Aufgrund der häufigen Verbindung der modernen Rassenideologie mit antisemitischen Deutungsmustern und dem Signum der ›Minderwertigkeit‹ der Juden wurde der Rassenbegriff von einigen zionistischen Autoren, die in der Jüdischen Rundschau publizierten, jedoch insgesamt als semantisch (zu) besetzt empfunden und einer mitunter eigentümlichen zionistischen Aneignung unterworfen, welche einer rechtsnationalen »Biologisierung des Volksbegriffs«549 diametral entgegenlief. Insgesamt war die zionistische Auseinandersetzung mit dem Deutungsmuster daher ganz besonders immer auch durch Hybriditätskonstruktionen geprägt, die gleichermaßen eine Position zwischen Affirmation, Transformation und Negierung von Rassenideologie und der hegemonialen wie hierarchischen Wertung von ›Rassen‹ darstellten. Im Hinblick auf den untersuchten Gesamtdiskurs im Spiegel der Jüdischen Rundschau besaß das Deutungsmuster ›Rasse‹ wohl auch deshalb nicht den Stellenwert, den etwa das Deutungsmuster ›Kultur‹ in der nationalen Weltanschauung der Zionisten einnahm.

1.4

Die ›Historisierung des zionistischen Bewusstseins‹550 nach deutschem Vorbild, der Makkabäer-Mythos und die Rolle der Hebräischen Bibel als ›(jüdisches) Nationalepos‹551

Nach Jan Assmann und der kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung bildet auch die Vorstellung einer »in die Tiefe der Zeit zurückreichenden Kontinuität« ein wesentliches Element in der Konstruktion von nationalen Zugehörigkeitsgefühlen.552 Als ihre Dimensionen gelten der ›Raum‹, die ›Zeit‹ und deren Semantisierung, wobei die wesentlichen Bestandteile der Dimension ›Zeit‹ durch das ›kollektive Gedächtnis‹ gestiftet werden:553 »Die Gegenwart hege-

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Kolonien, Köln 2003; dies.: »Die Farbe der Ehe«. Zur Debatte um die kolonialen Mischehen im Deutschen Kaiserreich, in: Waltraud Ernst/Ulrike Bohle (Hg.): Geschlechterdiskurse zwischen Fiktion und Faktizität, Hamburg 2006, S. 135–151. Walkenhorst, Nation, S. 118. Diese Formulierung wurde von der Verfasserin gebildet in Anlehnung an Weichlein, Nationalbewegung, S. 112, der von der »Historisierung des nationalen Bewusstseins« spricht. Vgl. auch die Verwendung des Begriffs bei Meybohm, Ivonne: Erziehung zum Zionismus. Der Jüdische Wanderbund Blau-Weiß als Versuch einer praktischen Umsetzung des Programms der Jüdischen Renaissance (Zivilisationen & Geschichte, Bd. 2), Frankfurt a. M./ Berlin 2009, S. 60. Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 62007, S. 133. Die Theorie des ›kollektiven Gedächtnisses‹ geht in erster Linie auf den französischen Soziologen Maurice Halbwachs zurück. Seiner Ansicht nach konstituiert sich das ›kollektive Gedächtnis‹ durch sog. »cadres sociaux de la m8moire« (»soziale Rahmen«), in die das Individuum eingebettet ist. Zwar verfügt nur der Einzelne über ein Gedächtnis, aber dieses

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Die Konstruktion zionistischer Hybridität in der Jüdischen Rundschau

monisiert Vergangenheit und Zukunft und konstruiert sie neu.«554 Eine Weiterentwicklung dieses Modells zu einer geschichtswissenschaftlichen Theorie findet sich im Begriff der ›Erinnerungskultur‹ bzw. einer ›Topologie der Erinnerungskulturen‹, welche neben der Pluralität von Vergangenheitsbezügen auch deren Funktionalität stärker betonen möchte.555 Einen wichtigen Bestandteil beider Modelle bilden ›Mythen‹, denen im Prozess der Herausbildung eines ›kollektiven Gedächtnisses‹ besondere Bedeutung zugeschrieben wird.556 Die wichtigste Eigenschaft eines ›Mythos‹557 ist die

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ist wesentlich durch das Kollektiv geprägt und sozial bedingt. Erst über Kommunikation und die Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe ordnet das Individuum seine inneren Bilder so, dass daraus sinnhafte Erinnerungen entstehen. Vgl. Assmann, Gedächtnis, S. 35f.; Halbwachs, Maurice: Das Kollektive Gedächtnis. Mit einem Geleitwort von H. Maus, Marburg/Stuttgart 1967. Joggerst, Karin: Getrennte Welten – getrennte Geschichte(n)? Zur politischen Bedeutung von Erinnerungskultur im israelisch-palästinensischen Konflikt (Konfrontation und Kooperation im Vorderen Orient, Bd. 6), Münster 2002, S. 20. Vgl. dazu auch Zerubavel, Yael: Antiquity and the Renewal Paradigm: Strategies of Representation and Mnemonic Practices in Israeli Culture, in: Mendels, Doron (Hg.): On Memory. An Interdisciplinary Approach, Bern u. a. 2007, S. 331–348, hier S. 331: »National memory is the product of a dialogue between the present and the past that selectively highlights certain continuities and discontinuities in support of the nation’s vision of its collective identity and future development. Collective memory is transmitted through a wide range of mnemonic practices that commemorate specific figures and events and articulate fundamental principles underlying the perception of the past.« Nach den aktuellen Tendenzen der Forschung erscheint es sinnvoll ›Erinnerungskultur‹ in Anlehnung an Christoph Cornelißen als »einen formalen Oberbegriff für alle denkbaren Formen der bewussten Erinnerung an historische Ereignisse, Persönlichkeiten und Prozesse zu verstehen, seien sie ästhetischer, politischer oder kognitiver Natur. […] Versteht man den Begriff in diesem weiten Sinn, so ist er synonym mit dem Konzept der Geschichtskultur, aber er hebt stärker als dieses auf das Moment des funktionalen Gebrauchs der Vergangenheit für gegenwärtige Zwecke, für die Formierung einer historisch begründeten Identität ab. Sehr deutlich wird dies in den untergeordneten Begriffen der Erinnerungs-, Vergangenheits- oder Geschichtspolitik.« (Cornelißen, Christoph: Erinnerungskulturen, Version: 2.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 22. 10. 2012. URL: [letzter Zugriff erfolgt am 24. 05. 2016]). Vgl. dazu auch Cornelißen, Christoph: Was heißt Erinnerungskultur? Begriff – Methoden – Perspektiven, in: GWU 54 (2003), S. 548–563; Sandl, Marcus: Historizität der Erinnerung/Reflexivität des Historischen. Die Herausforderung der Geschichtswissenschaft durch die kulturwissenschaftliche Gedächtnisforschung, in: Oesterle, Günter (Hg.): Erinnerung, Gedächtnis, Wissen. Studien zur kulturwissenschaftlichen Gedächtnisforschung, Göttingen 2005, S. 89–119. Zur Rolle von Nationalmythen in der israelischen Erinnerungskultur vgl. Joggerst, Welten, S. 31 und Zerubavel, Yael: Transforming Myths, Contested Narratives. The Reshaping of Mnemonic Traditions in Israeli Culture, in: Bouchard, G8rard (Hg.): National Myths. Constructed Pasts, Contested Presents, London/New York 2013, S. 173–190. Assmann, Gedächtnis, S. 76 gibt folgende Definition eines ›Mythos‹: »Ein Mythos ist eine Geschichte, die man sich erzählt, um sich über sich selbst und die Welt zu orientieren, eine Wahrheit höherer Ordnung, die nicht einfach nur stimmt, sondern darüber hinaus auch noch normative Ansprüche stellt und formative Kraft besitzt.«

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Sinnhaftigkeit des Erzählten und somit seine Sinnstiftungsfunktion, weniger die historische Richtigkeit des Ereignisses.558 Historische Daten und Fakten werden demnach selektiv zusammengestellt, mittels bestimmter literarischer Verfahren aufbereitet und zu narrativen Sequenzen verbunden, um einen ganz bestimmten Zweck zu erfüllen.559 Dabei werden »bestimmte historische Personen oder ›Aktanten‹ (oft semantisch als Helden ausgewiesen) spezifischen Narrationen (Handlungen, Interaktionen etc.) zugeordnet«.560 Die einzelnen semantischen und narrativen Strukturen, die einen ›Mythos‹ bilden, können mit dem Begriff ›Mythem‹ bezeichnet werden.561 Diese ›Mythisierung‹ von historischen Personen und Ereignissen »kann somit als spezielles Angebot von ›Sinn‹ verstanden werden, das schon bei der Konstitution grundlegender Ideologeme […] eine Rolle spielt«.562 Im Folgenden soll daher rekonstruiert werden, auf welche (historischen und religiösen) Bezugspunkte und Werte deutsche Zionisten zurückgriffen und welche Leitbilder sie entwickelten, wobei auch dem Aspekt der Mythenbildung besondere Aufmerksamkeit zugewendet werden soll. Neben den historischen Personen, Ereignissen und Strukturen, die den deutschen Zionisten als Rückbezugspunkte dienten, soll auch untersucht werden, welche möglichen »Blindstellen«563 im zionistischen Geschichtsbild gelassen wurden. Wie intensiv auch im zionistischen Diskurs an der Konstruktion einer historischen Kontinuität der ›jüdischen Nation‹ gearbeitet wurde, zeigen exemplarisch die zahlreichen Beiträge von Heinrich Loewe in der Jüdischen Rundschau. Loewe definierte die ›jüdische Nation‹ darin als »Wir alle, die wir von jüdischen Eltern geboren sind, wir alle, die wir eine gemeinsame Geschichte haben, auch in allen vergangenen und noch kommenden Geschlechtern.«564 Nach Loewe sollte die Bereitstellung eines historischen Traditionsangebotes wohl ganz automatisch die Ausdehnung der geschichts- wie gesellschaftsbezogenen Dimensionen des Geschichtsbewusstseins565 und damit die generelle 558 Vgl. Wülfing, Wulf u. a.: Historische Mythologie der Deutschen. 1789–1918, München 1991, S. 3. 559 Vgl. ebd., S. 9. 560 Ebd. 561 Ebd., S. 5. 562 Ebd. Vgl. Joggerst, Welten, S. 32. 563 Weichlein, Nationalbewegungen, S. 150; Meybohm, Erziehung, S. 60. 564 Anon. [Loewe, Heinrich]: Der Weg zum Ziel, in: JR, IX. Jg., Nr. 13 (25. 03. 1904), S. 119–122, hier S. 120. 565 Vgl. Pandel, Hans-Jürgen: Dimensionen des Geschichtsbewusstseins – Ein Versuch, seine Struktur für Empirie und Pragmatik diskutierbar zu machen, in: Geschichtsdidaktik 12:2 (1987), S. 130–142. Vgl. hierzu auch Sauer, Michael: Geschichte unterrichten. Eine Einführung in die Didaktik und Methodik, 5., aktual. u. erw. Aufl. Seelze 2006. »Geschichtsbewusstsein« soll hier in Anlehnung an Pandel verstanden werden als Synthese aus verschiedenen Dimensionen, die in einer engen Wechselbeziehung zueinander stehen. Pandel unterscheidet in seinem Modell einen geschichts- und einen gesellschaftsbezogenen Be-

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›Historisierung des zionistischen Bewusstseins‹ nach sich ziehen. Beim Leser sollte somit die Überzeugung entstehen, dass er Teil eines bis weit in die Vergangenheit zurückreichenden, historisch begründeten Kollektivs sei, dessen Fortbestand, Werte und Traditionen in der Gegenwart aufrecht erhalten und gepflegt werden müssten. Die »Historisierung des nationalen Bewusstseins«566 erfolgte im untersuchten zionistischen Medium auf unterschiedlichen Wegen. Von entscheidender Bedeutung war jedoch stets die ›Erfindung von (historischen) Traditionen‹ über die Herstellung fiktiver historischer Kontinuitätslinien und die konstruierte Erinnerung an eine bestimmte, gemeinsame Vergangenheit und gemeinsame Werte.567 Die Kenntnis der eigenen Geschichte568 wurde im Rahmen des zionistischen Erziehungsprogramms sowohl als wesentliche Voraussetzung für die reich, wobei sich die dem gesellschaftlichen Bereich zugeordneten Dimensionen erst entwickeln können, wenn jene Bewusstseinsebenen im geschichtlichen Bereich ausgebildet sind, mit denen die »drei fundamentalsten Differenzierungen« (Pandel, Dimensionen, S. 132) vorgenommen werden: Temporal- oder Zeitbewusstsein, Wirklichkeitsbewusstsein, Historizitäts- oder Wandelbewusstsein. Erst wenn diese drei Dimensionen entwickelt sind, können die weiteren vier gesellschaftlich-sozialen Dimensionen zum Tragen kommen: Identitätsbewusstsein, Politisch-historisches Bewusstsein, Ökonomisch-soziales Bewusstsein, Moralisches Bewusstsein. Von besonderem Interesse erscheint in diesem Zusammenhang das Identitätsbewusstsein, das im Besonderen auch die Fähigkeit schult, »historisch begründete Zugehörigkeitsgefühle bei sich und anderen wahrzunehmen« (Sauer, Geschichte, S. 16). 566 Weichlein, Nationalbewegung, S. 112. 567 Hobsbawm definiert die ›erfundene Tradition‹ als »a set of practices, normally governed by overtly or tacitly accepted rules and of a ritual or symbolic nature, which seek to inculcate certain values and norms of behaviour by repetition, which automatically implies continuity with the past. In fact, where possible, they normally attempt to establish continuity with a suitable historic past. […] However, insofar as there is such reference to a historic past, the peculiarity of ›invented‹ traditions is that the continuity with it is largely factitious. In short, they are responses to novel situations which take the form of reference to old situations, or which establish their own past by quasi-obligatory repetition« (Hobsbawm, Traditions, S. 1f.). Zur Bedeutung von ›Tradition‹ im Judentum vgl. Volkov, Shulamit: Die Erfindung einer Tradition. Zur Entstehung des modernen Judentums in Deutschland (Schriften des Historischen Kollegs; Vorträge 29), München 1992. Volkov, Erfindung, S. 8, die in ihrem Vortrag Judentum als »kulturelles System« verstanden haben möchte, charakterisiert die (jüdische) ›Erfindung einer Tradition‹ in ihrer Gesamtheit als »das umfassendste, vielleicht sogar das hervorragendste kollektive jüdische ›Projekt der Moderne‹.« Zur Herstellung von ›Tradition‹ im Zionismus vgl. das mittlerweile klassische Werk von Zerubavel, Yael: Recovered Roots: Collective Memory and the Making of Israeli National, Chicago 1995. 568 ›Geschichtswissenschaft‹ soll im Folgenden verstanden werden nach Hayden White, der die These vertritt, dass geschichtliche Darstellungen hauptsächlich als fiktionale literarische Texte funktionieren. Jede Art von Geschichtsschreibung sei notwendig narrativ, d. h. erst der Historiker verleihe einer historischen Ereignisfolge eine Plotstruktur und damit ihren (subjektiven) Sinn. Vgl. White, Hayden: Auch Klio dichtet oder Die Fiktion des Faktischen. Studien zur Tropologie des historischen Diskurses. Mit einer Einf. v. Reinhart Koselleck, aus d. Amerikan. von Brigitte Brinkmann-Siepmann und Thomas Siepmann, Stuttgart 1986.

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Entstehung und Verinnerlichung von ›jüdischem Nationalbewusstsein‹ als auch als wichtigste Folge derselben gewertet: »Die Nation ist ein historisches Produkt, und niemand anders als der Historiker sollte bestimmen, was eine Nation ist. Darum entstehen nationale Bewegungen im engsten Anschluss an die Volksgeschichte und die jüdisch-nationale Bewegung, die im Zionismus nach dem Ausdruck ihrer Ideen ringt, ist ein Ergebnis und die wichtigste Folge der historischen Studien und des geschichtlichen Sinnes, der im neunzehnten Jahrhundert in einem Teile unseres Stammes erwachte. Wer also jüdisch-nationale Gesinnung als die feste und unerschütterliche Grundlage der zionistischen Bewegung pflanzen will, muss an die Quelle dieser Gesinnung gehen und den historischen Sinn durch historische Kenntnisse wecken. Denn ohne Wissen von der Geschichte ist eine ernste Auffassung nationaler Ideen unmöglich. Daher sollte jeder von uns, dem es ernsthaft um die nationale Grundlage unserer zionistischen Ziele zu tun ist, daran denken, erst einmal bei sich selbst, dann aber bei den anderen durch Kenntnisse von der Geschichte den nationalen Sinn zu pflegen, der nichts anderes ist, als das Bewusstsein des innigen unzertrennlichen Zusammenhanges aller Geschlechter des Stammes in allen Zeiten.«569

Aus Loewes Sicht stand die Vorstellung von der historischen Gewordenheit des ›Nationaljudentums‹, seiner Werte und Traditionen also in einem engen Zusammenhang mit der gleichzeitigen Etablierung einer ›Geschichtskultur‹570 und der Entstehung einer ›modernen‹ jüdischen Historiographie.571 Wohl nicht zuletzt aus diesem Grund hatte Heinrich Loewe selbst Geschichte an der Universität Berlin studiert und Vorlesungen an der Hochschule für die Wissenschaft des Judentums besucht.572 Während seiner Studienzeit hörte Loewe neben Richard Sternfeld, Wilhelm Wattenbach und Albert Naudes Vorlesungen von Heinrich von Treitschke. Wie Frank Schlöffel in seiner Biographie zu Heinrich Loewe treffend bemerkt, zählte Treitschke zum »Pflichtprogramm«573 junger jüdischer Berliner Geschichtsstudenten und hatte beim jungen Zionisten wohl 569 Eljaqim [Loewe, Heinrich]: Die Grundlage des Nationalismus, in: JR, XIII. Jg., Nr. 46 (13. 11. 1908), S. 451f. 570 Zum Begriff vgl. Rüsen, Jörn: Historische Orientierung. Über die Arbeit des Geschichtsbewusstseins, sich in der Zeit zurechtzufinden (Forum historisches Lernen), Böhlau 1994, S. 209–258. 571 ›Moderne‹ Geschichtswissenschaft soll hier verstanden werden nach Stefan Jordan als Wissenschaftsform, die einem wissenschaftlichen Vernunftpostulat und wissenschaftlicher Rationalität verpflichtet ist und in deren Rahmen eine eigene Methodologie existiert, die allgemeine Prinzipien vorgibt, auf deren Grundlage geschichtswissenschaftliches Arbeiten durch den Historiker erfolgen soll. Zu den wichtigsten dieser Prinzipien zählen die quellengestützte Forschung und quellenkritische Verfahren sowie die Prinzipien von Plausibilität und Diskursivität (d. h. die grundsätzliche Nachvollziehbarkeit der Erkenntnisgewinnung und Öffentlichkeit bzw. Kritisierbarkeit der Forschungsergebnisse). Vgl. Jordan, Theorien, S. 40. 572 Vgl. Schlöffel, Loewe, S. 96. 573 Ebd.

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einen ambivalenten Eindruck »als antisemitischer Polemiker, zugleich aber auch als ein nationalistischer Konstrukteur von deutschen, italienischen und anderen Nationen«574 hinterlassen. Die Verknüpfung von kulturnationalistischen und methodologischen Ausführungen bei Heinrich von Treitschke hatte Loewe dabei so beeindruckt, dass er rückblickend feststellte, dass ihm die »Methode der deutschen Geschichtsschreibung ein Muster für das Studium jüdischer Geschichte werden«575 sollte. Die Entstehung einer ›modernen‹ Geschichtswissenschaft, die Popularisierung von Geschichte und die wachsende Verbreitung historistischen Denkens in bürgerlichen Gesellschaftsschichten im ›langen‹ 19. Jahrhundert bildete zugleich eine Folge als auch ein Gegenmodell zur Aufklärungsphilosophie und wurde begleitet durch Fortschrittsdenken und das Hineintragen teleologischer Deutungsmuster in die Geschichte.576 Aufgrund seiner narrativen Flexibilität und Mehrdimensionalität stellte der »Kult der Geschichte« so ein wesentliches Merkmal vieler europäischer Nationalbewegungen dar, in deren Fahrwasser die wissenschaftliche Erforschung von Geschichte eine wesentliche Instrumentalisierung in der »bürgerlichen Gesellschaft« und im jungen deutschen Nationalstaat erfuhr.577 Gerade Heinrich von Treitschke zählte neben anderen Historikern zu den Flaggschiffen der Nationalgeschichtsschreibung im Deutschen Kaiserreich, die auch wesentlich an der Entwicklung von Geschichtswissenschaft in eine moderne wissenschaftliche Fachdisziplin beteiligt waren.578 Die zionistische Betrachtung der jüdischen Geschichte konkurrierte daneben auch mit der theologischen Auslegung der jüdischen Geschichte579 und der Wissenschaft des Judentums580 um Deutungshoheit, wobei vor allem letztere 574 Ebd., S. 97. Vgl. dazu auch Wyrwa, Genese. 575 Loewe, Heinrich: Sichronot. Kap. Die Promotion, CZA, A146/60, S. 1, zit. nach: Schlöffel, Loewe, S. 97. 576 Zur Popularisierung von Historismus im ›langen‹ 19. Jahrhundert vgl. Bauer, Jahrhundert, S. 39f.; Daum, Wissenschaftspopularisierung; Jäger, Friedrich/Rüsen, Jörn: Geschichte des Historismus. Eine Einführung. München 1992; Jordan, Theorien, S. 41–43. 577 Vgl. Weichlein, Nationalbewegungen, S. 112–141; Birtsch, Günter : Die Nation als sittliche Idee. Der Nationalstaatsbegriff in Geschichtsschreibung und politischer Gedankenwelt Johann Gustav Droysens (Kölner Historische Abhandlungen; Bd. 10), Köln/Graz 1964. 578 Vgl. Gerhards, Thomas: Heinrich von Treitschke. Wirkung und Wahrnehmung eines Historikers im 19. und 20. Jahrhundert, Paderborn u. a. 2013; Bußmann, Walter : Treitschke. Sein Welt- und Geschichtsbild (Göttinger Bausteine zur Geschichtswissenschaft, Band 3/4), Göttingen u. a. 21981. 579 Vgl. Gotzmann, Andreas: Jüdische Theologie im Taumel der Geschichte. Religion und historisches Denken in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, in: Wyrwa, Ulrich (Hg.): Judentum und Historismus. Zur Entstehung der jüdischen Geschichtswissenschaft in Europa, Frankfurt a. M./New York 2003, S. 173–202; Roemer, Nils: Jewish Scholarship and Culture in Nineteenth-Century Germany. Between History and Faith (Studies in German Jewish Cultural History and Literature), Madison/WI/London 2005. 580 Vgl. Carlebach, Julius (Hg.): Wissenschaft des Judentums. Anfänge der Judaistik in Europa,

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neben dem klassischen Historismus bzw. der deutschen Nationalgeschichtsschreibung im Kaiserreich den deutschen Zionisten auch zum Vorbild wurde.581 Die sich seit der Haskalah, der jüdischen Aufklärung, entwickelnde Wissenschaft des Judentums, in deren ideellem und institutionellem Rahmen zum ersten Mal eine ›moderne‹ jüdische Geschichtsschreibung entstand, stellte im Kontext der Säkularisierung gewissermaßen den neuen Anspruch des bildungsbürgerlichen Judentums dar, »Judentum nur noch als Kulturerbe bewahren«582 zu wollen und mittels eines universalen Vernunftbegriffes zu deuten. Die Anwendung der historisch-kritischen Methode auf die Untersuchung und Interpretation rabbinischer Literatur und der gesamten jüdischen Kultur verstanden die Vertreter der Wissenschaft des Judentums demnach auch als einen Gegendiskurs zur dominierenden, hegemonialen christlich-theologischen Deutung des Judentums, welche die Juden weitgehend negativ stigmatisiert und marginalisiert hatte.583 Susannah Heschel spricht in diesem Zusammenhang in ihrer Untersuchung über die Wissenschaft des Judentums am Beispiel des jüDarmstadt 1992; Ehrenfreund, Jacques: M8moire juive et nationalit8 allemande. Les juifs berlinois / la Belle Ppoque, Paris 2000; Wyrwa, Ulrich (Hg.): Judentum und Historismus. Zur Entstehung der jüdischen Geschichtswissenschaft in Europa, Frankfurt a. M./New York 2003; Brenner, Michael/Rohrbacher, Stefan (Hg.): Wissenschaft vom Judentum. Annäherungen nach dem Holocaust, Göttingen 2000; Schulte, Christoph: »Die Wissenschaft des Judentums«, in: Kotowski, Elke-Vera u. a. (Hg.): Handbuch zur Geschichte der Juden in Europa, Bd. 2, Darmstadt 2001, S. 268–284. 581 Vgl. dazu auch die folgenden Artikel von Loewe, Heinrich: Die Wissenschaft des Judenthums (Berliner Brief VI.) in: Jüdische Volkszeitung, 17. 07. 1894, S. 1f.; ders.: Leopold Zunz, in: Jüdische Volkszeitung, 21. 08. 1894, S. 3f.; ders.: Jüdische Geschichtsvereine (Berliner Brief IX.) in: Jüdische Volkszeitung, 21. 08. 1894, S. 1f.; Eljaqim [ders.]: Die Lehranstalt für die Wissenschaft des Judentums, in: JR, XII. Jg., Nr. 43 (25. 10. 1907), S. 465f. 582 Carlebach, Julius: Einleitung, in: Ders., Wissenschaft, S. VII–XIII, hier S. X. 583 Diese Deutung der jüdischen Historiographie des 19. Jahrhunderts findet sich vor allem bei Susannah Heschel. Vgl. Heschel, Revolt. Zur Entwicklung der jüdischen Geschichtsschreibung in Deutschland vgl. allgemein Brenner, Michael: Propheten des Vergangenen. Jüdische Geschichtsschreibung im 19. und 20. Jahrhundert, München 2006; ders.: Geschichte als Politik – Politik als Geschichte. Drei Wege jüdischer Geschichtsauffassung in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in: Hödl, Sabine/Lappin, Eleonore (Hg.): Erinnerung als Gegenwart. Jüdische Gedenkkulturen, Berlin/Wien 2000, S. 55–78; ders. (Hg.): Jüdische Geschichte lesen. Texte der jüdischen Geschichtsschreibung im 19. und 20. Jahrhundert, München 2003; ders./Myers, David N. (Hg.): Jüdische Geschichtsschreibung heute. Themen, Positionen, Kontroversen, München 2002; Funkenstein, Geschichte; Meyer, Michael A.: The Emergence of Jewish Historiography : Motives and Motifs, in: Rapoport-Albert, Ada (Hg.): Essays in Jewish Historiography (History and Theory, Beiheft 27), Middletown/Conn. 1988, S. 160–175; Schorsch, Ismar : The Emergence of Historical Consciousness in Modern Judaism, in: LBIY 28 (1983), S. 413–437; Yerushalmi, Yosef Hayim: Zachor. Erinnere Dich. Jüdische Geschichte und jüdisches Gedächtnis, Berlin 1988. Während Yerushalmi in seinem Buch »Zachor«, S. 18–132, die relative Schwäche des historischen Bewusstseins im modernen Judentum konstatiert, betont Funkenstein, Geschichte, diese.

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dischen Gelehrten Abraham Geiger daher von einer »revolt of the colonized«584, die sich somit auch die Zionisten aneigneten. Kritik wurde im zionistischen Diskurs hingegen an der übertriebenen Theologisierung und damit auch Verfälschung der Vergangenheit geübt, welche die Vertreter der Wissenschaft des Judentums angeblich zeitigten.585 Geradezu zum »Propheten einer neuen Heilslehre«586, sowohl was die Sichtweise auf die jüdische Geschichte als auch die Entwicklung eines theoretischen und methodischen Zugangs zu ihr betraf, wurde für die deutschen Zionisten jedoch vor allem der jüdische Historiker Heinrich Graetz (1817–1891).587 Graetz, der als Professor Jüdische Geschichte am jüdisch-theologischen Seminar in Breslau lehrte und ein lineares, teleologisches Geschichtsbild vertrat, legte mit seiner elfbändigen »Geschichte der Juden von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart« (1853–1875) in bewusster Abgrenzung zu Isaac Marcus Jost eine jüdische Nationalgeschichte vor. In der Einleitung zum fünften Band postulierte er die Kontinuität des jüdischen »Volksstamms« durch Verfolgung und Zerstreuung hindurch.588 Für Loewe beispielsweise war die Geschichtsdeutung von Graetz damit »kristallisierter jüdischer Patriotismus«589 und er schrieb ihr neben der Bibel seine zionistische Konversion zu.590 In zwei Nachrufen, die 584 Heschel, Revolt. 585 Vgl. Loewe, Lehranstalt, S. 465f. Vgl. dazu am Beispiel von Gershom Scholem auch Schulte, Christoph: Scholems Kritik an der Wissenschaft des Judentums und Abraham Geiger, in: Wiese, Christian u. a. (Hg.): Jüdische Existenz in der Moderne. Abraham Geiger und die Wissenschaft des Judentums, Berlin 2013, S. 407–424. 586 Schlöffel, Loewe, S. 67. 587 Vgl. zum Folgenden insbes. Schlöffel, Loewe, S. 67f., 96–98. Zu Graetz vgl. auch Brenner, Propheten, S. 79–128; Pyka, Marcus: Jüdische Identität bei Heinrich Graetz (Jüdische Religion, Geschichte und Kultur (JRGK), Bd. 5). Göttingen 2008; Meyer, Michael A.: Heinrich Graetz and Heinrich von Treitschke: A Comparison of their Historical Images of the Modern Jew, in: Modern Judaism 6 (1986), S. 1–11. 588 Vgl. Graetz, Heinrich: Geschichte der Juden von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart, 1853–1875, Bd. 5: Vom Abschluss des Talmuds (500) bis zum Aufblühen der jüdisch-spanischen Kultur (1027), Leipzig 1909, S. 15: »Die Geschichte des nachtalmudischen Zeitraums hat also noch immer einen nationalen Charakter, sie ist keineswegs eine bloße Religions- oder Kirchengeschichte, weil sie nicht bloß den Entwicklungsverlauf eines Lehrinhaltes, sondern auch einen eigenen Volksstamm zum Gegenstande hat, der zwar ohne Boden, Vaterland, geographische Umgrenzung und ohne staatlichen Organismus lebte, diese realen Bedingungen aber durch geistige Potenzen ersetzte.« 589 Loewe, Heinrich: Ueber das Verhältnis von Nation und Religion der Juden, Teil 1, in: SelbstEmancipation, 01. 06. 1890, S. 1–4, hier S. 2. 590 Vgl. Loewe, Sichronot. Kap. Die Promotion, S. 1, zit. nach Schlöffel, Loewe, S. 97: »Für mich war in diesem Augenblick die fast zweitausendjährige Lücke zwischen dem Falle des jüdischen Staates und der Gegenwart, ja mit der nationalen Zukunft ideell vollkommen geschlossen.« Vgl. Loewe, Heinrich: Sichronot. Kap. Kloster Unser Lieben Frauen, CZA, A146/60, S. 3f., zit. nach Schlöffel, Loewe, S. 66: »Es war mir auch klar, dass ich studieren würde, und zwar solche Sachen, wie sie in diesem Buche erzählt wurden, jüdische Geschichte studieren. Man hat mich später oft gefragt, wann und wie ich Zionist geworden bin.

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Loewe Heinrich Graetz widmete, zeigte sich die Bedeutung, die er seiner nationalen Universalgeschichtsschreibung für seine zionistische Weltsicht und historiographische Auffassung einräumte.591 Michael A. Meyer, der die Theorie und Methode von Geschichtswissenschaft bei Heinrich Graetz und Heinrich von Treitschke verglichen hat, kommt zu dem Ergebnis, dass beide Historiker eine auffallend ähnliche Geschichtsschreibung entwickelten, bei der weniger die wahrheitsgetreue, objektive Abbildung vergangener historischer Ereignisse im Zentrum stand, sondern die zweckmäßige (subjektive) Rekonstruktion von Geschichte(n), welche die Erziehung und Beeinflussung ihres Publikums erlaubte.592 Beide interpretierten Geschichte – ganz im Sinne des klassischen Historismus – als fortlaufende Entwicklung, deren Subjekte und somit Triebkräfte in erster Linie ›große Individuen‹ waren, in deren Handlungen die nationale Idee zum Ausdruck gekommen sei.593 Graetz wie Treitschke entwickelten ihre Geschichtsnarrationen demnach in erster Linie als ein »many thousand year heroic drama (Heldendrama)«, indem sie das ›jüdische Volk‹ bzw. das ›deutsche Volk‹ als »Heldenvolk« konstruierten, das sich mit göttlicher Hilfe und kraft seiner Heldentaten gegen seine Feinde behauptet hätte.594 Gerade dieses »Wechselspiel aus Objektivität und Urteil«595 machte diese Art der Geschichtsschreibung für die deutschen Zionisten interessant, die diesen theoretischen und methodischen Zugang zum Unterbau ihrer eigenen zionistischen Geschichtsschreibung und Geschichtsphilosophie596 machten. Eine umfassende, zionistische Geschichtsschreibung wurde in der Jüdischen Rundschau dennoch nicht versucht, vielmehr wählten die Beiträger aus dem vielfältigen »Erinnerungsarsenal«597 der jüdischen Geschichte bestimmte historische Ereignisse und Personen aus, um diesen eine neue verbindliche na-

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Ich habe das zwei Büchern zu verdanken, den geschichtlichen Teilen der Bibel und dem fünften Band von Graetz‹ Geschichte der Juden. Natürlich war dieser mir von Anfang an immanente Zionismus, der von den Vätern ererbt war, trotz dieser Anregungen naiv und kindlich, oft unklar seiner selbst zeitweilig unbewusst. Aber er war da und war unauslöschlich. Er wurde oder war das Grundwesen meines Ich.« Vgl. Loewe, Heinrich: Professor Dr. H. Graetz, in: Selbst-Emancipation, 18. 09. 1891, S. 2; ders.: H. Graetz (Zu seinem 100. Geburtstage.), in: Israelitisches Gemeindeblatt Köln, 26. 10. 1917, S. 1–3; 02. 11. 1917, S. 1–3. Vgl. Meyer, Comparison, S. 1. Vgl. ebd., S. 2. Ebd. Vgl. dazu insbes. auch Schlöffel, Loewe, S. 96f. Schlöffel, Loewe, S. 97. »Als Geschichtsphilosophie bezeichnet man ursprünglich eine Form philosophischen Denkens, die mit Blick auf die Geschichte Aufschlüsse über das Leben und Denken des Menschen sowie über den allgemeinen Werdegang der Welt zu erzielen sucht.« (Jordan, Theorien, S. 25). Zimmermann, Moshe: Die Antike als Erinnerungsarsenal. Vorbilder des jüdischen Sports, in: Hotam, Yotam/ Jacob, Joachim (Hg.): Populäre Konstruktionen von Erinnerung im deutschen Judentum und nach der Emigration, Göttingen 2004, S. 33–51.

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tionale Lesart und Symbolik zu verleihen. Für diesen Prozess der »Fiktionalisierung« oder »Narrativisierung«598 boten sich historische Phänomene an, die einen Bezug zur unmittelbaren (nationaljüdischen) Gegenwart erlaubten und sich sinnhaft in das zionistische Weltbild sowie den Erfahrungs- und Erwartungshorizont seiner (potentiellen) Träger integrieren ließen. Wie bei Graetz und Treitschke diente Geschichte auch bei den deutschen Zionisten in erster Linie zur subjektiven Sinnstiftung und historischen Legitimation der eigenen ›nationalen Idee‹. Geschichte erfüllte für die deutschen Zionisten somit den Zweck einer Orientierungswissenschaft und wurde zu einer zentralen Sinngebungs- und Rechtfertigungsinstanz erklärt.599 Die »gemeinsam durchlebte Geschichte«, die in der Regel als sich wiederholende, abstrakte Leidens- und Heldengeschichte eines nationalen Großkollektivs interpretiert wurde, sollte als »einigende[s] Moment« ein Zusammengehörigkeitsgefühl hervorrufen.600 Zugleich wandten auch die deutschen Zionisten sich somit in einer »revolt against the Christian colonization of Judaism«601 gegen die bislang vorherrschende christliche Lesart des Judentums,602 der sie, wie der traditionellen rabbinischen Deutung, ihre hybriden Entwürfe einer zionistischen ›Gegengeschichte‹ entgegenstellten. Im Gegensatz zur deutschen Nationalgeschichtsschreibung verbanden sie mit ihnen also nicht (ausschließlich) hegemoniale, expansionistische Deutungsmuster, sondern immer auch eine antihegemoniale, emanzipatorische Stoßrichtung. Obwohl sich deutsche Zionisten auch von der von Treitschke u. a. auf Kosten des Judentums verordneten national-kulturellen Homogenität für die ›deutsche Nation‹ absetzten, diente die zionistische Geschichtsschreibung, wie sie sich im Untersuchungszeitraum in der Jüdischen Rundschau abbildete, nicht zuletzt – und damit über die Programmatik der Wissenschaft des Judentums hinausgehend – immer auch der Historisierung und damit Überhöhung der eigenen ›(jüdischen) Nation‹. 598 Vgl. White, Klio; ders.: Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa, Frankfurt a. M. 1991. 599 Vgl. z. B. Hardtwig, Wolfgang: Geschichtsreligion – Wissenschaft als Arbeit – Objektivität. Der Historismus in neuer Sicht, in: HZ 252 (1991), S. 1–32; ders.: Vorwort, in: Ders.: Geschichtskultur und Wissenschaft, München 1990, S. 7–11; Hausen, Karin: Geschichte als patrilineare Konstruktion und historiographisches Identifikationsangebot. Ein Kommentar zu Lothar Gall »Das Bürgertum in Deutschland«, in: L’Homme 8 (1997), S. 109–131; Heinssen, Johannes: Historismus und Kulturkritik. Studien zur deutschen Geschichtskultur im späten 19. Jahrhundert (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, Bd. 195), Göttingen 2003. Vgl. dazu auch Pyka, Marcus: Geschichtswissenschaft und Identität. Zur Relevanz eines umstrittenen Themas, in: HZ 280 (2005), S. 381–392. 600 L., H.: Der neue Jahrgang, in: JR, VIII Jg., Nr. 1 (02. 01. 1903), S. 1f., hier S. 2. 601 Heschel, Revolt, S. 72f.; ausführlicher dies.: Der jüdische Jesus und das Christentum. Abraham Geigers Herausforderung an die christliche Theologie, Berlin 2001, S. 303–367. 602 Vgl. dazu auch Wiese, Christian: Wissenschaft des Judentums und Protestantische Theologie im Wilhelminischen Deutschland. Ein »Schrei ins Leere«?, Tübingen 1999.

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Den primären Rückbezugspunkt für die zionistische (Re-)Konstruktion einer gemeinsamen nationaljüdischen Vergangenheit bildete daher auch in der Jüdischen Rundschau die Epoche der Antike.603 Moshe Zimmermann und Ivonne Meybohm konnten für den jüdischen Sport und den jüdischen Wanderbund Blau-Weiß zeigen, dass die nationale Rekonstruktion und Instrumentalisierung antiker Vorbilder einen wesentlichen Faktor im zionistischen Erziehungsprogramm spielte.604 Die Wahl der Zionisten fiel auf die Antike, da die Beschaffenheit des historischen Materials sich mit den Erfahrungen und Erwartungen der Zionisten in Verbindung bringen ließ und Vergleiche mit der eigenen Gegenwart erlaubte. Jüdische Geschichte in der Antike umfasste nach dieser Sichtweise die Epoche der Eigenstaatlichkeit und ›Geschichte der Israeliten‹, die sich zu einem eigenen ›Volk‹ mit einer eigenen Kultur und eigenem nationalen Charakter entwickelt hätten und bis zur Zerstörung des herodianischen Jüdischen Tempels im Jahr 70 n. Chr. bereits über ein unabhängiges Staatswesen und ein eigenes Territorium auf dem Gebiet Palästinas verfügten.605 Unter Rückgriff auf antike Vorbilder konnten die deutschen Zionisten nicht zuletzt ihre eigenen Argumentationsmuster veranschaulichen und ihr Ziel der Gründung einer eigenen ›Heimstätte‹ im Palästina der Gegenwart historisch legimitieren.606 Durch die Herstellung vielfältiger fiktiver Bezüge der Vergangenheit auf die Gegenwart konstruierten die zionistischen Autoren so eine historische Kontinuität des ›jüdischen Volkes‹ und nationaler Werte durch die Jahrhunderte hindurch. Jüdisches Leben in der Antike und in biblischen Zeiten charakterisierte sich aus ihrer Sicht in eklatanter Gegensätzlichkeit zum Leben in der Diaspora durch die enge Verbundenheit von Individuum, ›Volk‹ und Territorium (Boden) und somit der Natürlichkeit des Lebens sowie der Gesellschafts- und Kulturformen in Palästina.607 Diesen Rückgriff auf die Alte Geschichte und deren nationale Instrumentalisierung teilte der Zionismus mit anderen Nationalbewegungen wie der griechischen, italienischen und deutschen, »die ebenfalls auf die Antike als Blütezeit ihrer Völker zurückgriffen«.608 Wie in anderen zionistischen Medien erfuhren auch in der Jüdischen Rundschau das Mittelalter und die Frühe Neuzeit, welche sich aus zionistischer Sicht 603 Vgl. dazu ausführlich auch Zerubavel, Antiquity, S. 332 und immer noch aktuell dies.: Roots, S. 6f., 13–36. 604 Vgl. Zimmermann, Antike; Meybohm, Erziehung. 605 Vgl. Meybohm, Erziehung, S. 60. Zur jüdischen Geschichte in der Antike vgl. Schäfer, Peter : Geschichte der Juden in der Antike. Die Juden Palästinas von Alexander dem Großen bis zur arabischen Eroberung, 2., durchges. Aufl. Tübingen 2010; Bringmann, Klaus: Geschichte der Juden im Altertum. Vom babylonischen Exil bis zur arabischen Eroberung, Stuttgart 2005. 606 Vgl. Meybohm, Erziehung, S. 60; Zimmermann, Antike, S. 33–51. 607 Vgl. L., H.: Rosch-hasch-schanah, in: JR, VII. Jg., Nr. 40 (01. 10. 1902), S. 1–3, hier S. 2. 608 Zimmermann, Antike, S. 38.

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in erster Linie durch Diskriminierung, Verfolgung und Zerstreuung kennzeichneten und an welche die Zionisten daher nicht oder nur schwer anknüpfen konnten, eine deutliche Marginalisierung.609 Dennoch wurden diese historischen Teilepochen der jüdischen Geschichte nicht völlig ausgespart und vor allem Heinrich Loewe versuchte in seinen Artikeln, positive Rückbezüge zur mittelalterlichen Geschichte des Judentums über die Betonung der Bedeutung des jüdischen Handels für das nationale Kollektiv und den europäischen Kaufmannsstand herzustellen.610 Unter das zionistische Projekt der ›Historisierung des nationalen Bewusstseins‹ in der Jüdischen Rundschau fiel damit ganz wesentlich auch die ›Nationalisierung‹ der Hebräischen Bibel, welche die primäre Quelle für die Frühzeit des Judentums bildete. Die Konstrukteure der ›jüdischen Nation‹ knüpften in diesem Zusammenhang mit ihren Geschichtserzählungen an bestehende religiöse Deutungen und Traditionen an und setzten anstelle der bzw. neben die überlieferten, theologischen Motive ihre säkulare, nationale Umdeutung der Vergangenheit. Dabei ging es ihnen jedoch nicht um eine Exegese der Bibelstellen oder um eine wissenschaftliche, historisch-kritische Aufarbeitung der vergangenen Ereignisse, sondern um die Herstellung eines subjektiven zionistischen Wissens von der Vergangenheit und die Konstruktion einer gemeinsamen Nationalgeschichte. Ivonne Meybohm und Shlomo Sand sprechen von der Hebräischen Bibel daher in diesem Zusammenhang auch als »Nationalepos« bzw. »Mythohistorie«, um ihre Infunktionsnahme durch die zionistische Geschichtsdeutung als historischer Quelle und Gründungsmythos zu betonen.611 Aus der Sicht vieler deutscher Zionisten wie Heinrich Loewe hatte sich darüber hinaus die ›jüdische Nationalität‹ im Wesentlichen in der religiösen Überliefe609 Vgl. Meybohm, Erziehung, S. 60; Pyka, Marcus: »Israel« und Diaspora in der jüdischen Geschichtsschreibung, in: Bar-Chen, Eu/Kauders, Anthony (Hg.): Jüdische Geschichte. Alte Herausforderungen, neue Ansätze 2003 (Münchner Kontaktstudium Geschichte, Bd. 6), München 2003, S. 35–46; Yerushalmi, Yosef Hayim: Exil und Vertreibung in der jüdischen Geschichte, in: Ders.: Ein Feld in Anatot. Versuche über jüdische Geschichte (Kleine Kulturwissenschaftliche Bibliothek, Bd. 44), Berlin 1993, S. 21–38. 610 Vgl. Loewe, Heinrich: Zur Geschichte des jüdischen Handels im Mittelalter, in: JR, VII. Jg., Nr. 45 (07. 11. 1902), S. 42–45; ders.: Zur Geschichte des jüdischen Handels im Mittelalter, in: JR, VII. Jg., Nr. 46 (14. 11. 1902), S. 50f.; ders.: Zur Geschichte des jüdischen Handels im Mittelalter, in: JR, Jg., Nr. 47 (21. 11. 1902), S. 58–60. Diese erschienen bereits in den 1890er Jahren. Vgl. Zur Geschichte des jüdischen Handels im frühen Mittelalter. Eine historische Skizze von Heinrich Loewe, in: Allgemeine Zeitung des Judentums, 24. 06. 1892, S. 305–308; ders.: Zur Geschichte des jüdischen Handels im frühen Mittelalter. Eine historische Skizze von Heinrich Loewe, in: Allgemeine Zeitung des Judentums, 24. 06. 1892, S. 305–308. 611 Vgl. Meybohm, Erziehung, S. 60; Sand, Erfindung des jüdischen Volkes, S. 109. In der vorliegenden Arbeit wurde dem Begriff des »Nationalepos« Vorzug gegeben, um auf die Anleihen des Zionismus bei der deutschen Nationalgeschichtsschreibung aufmerksam zu machen.

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rung und den religiösen Traditionen des Judentums konserviert, was das eigentümliche Verhältnis zwischen ›Nation‹ und ›Religion‹ im Zionismus begründete.612 Daher stellten Bibel wie Talmud beispielsweise für Heinrich Loewe nicht nur die »Grundlage aller ethischen Kultur des Abendlandes«, sondern auch die »nationalste Errungenschaft des jüdischen Stammes« dar.613 In den Fokus der historischen Wahrnehmung der deutschen Zionisten geriet vor allem die Spätphase der Antike, in welcher die seleukidische Herrschaft (200–135/63 v. Chr.) und römische Herrschaft (6–135/565 n. Chr.) zu wiederholten jüdischen Aufständen geführt hatte.614 In den Mittelpunkt der Beiträge in der Jüdischen Rundschau und somit des zionistischen Gedächtnisses rückten neben den biblischen Stammvätern und den Königen Saul und David vor allem historische Personengruppen wie Bar Giora, Bar Kochba und die Makkabäer, die in zahlreichen Beiträgen zu »Nationalhelden der jüdischen Nation« erklärt wurden.615 Eindeutige Priorisierung erfuhren darunter die Makkabäer, die von den Autoren in der Jüdischen Rundschau zum zentralen ›Nationalmythos‹ erhoben wurden. Damit griffen die Autoren gängige Topoi des zionistischen Diskurses um die Jahrhundertwende auf.616 Bereits in seiner Rede zum II. Zionistischen Kongress 1898 hatte etwa Max Nordau sein einflussreiches Konzept des »Muskeljudentums« formuliert, das den »neuen Juden« der Diaspora schaffen sollte.617 Zur Untermauerung ihrer Forderung nach einer »Auffrischung der Volksideale«618 durch die körperliche Ertüchtigung der Juden und ihren Einsatz für das Kollektiv bediente sich die jüdische Turnbewegung bei unterschiedlichen historischen Vorbildern wie Bar Kochba und den Makkabäern, was sich nicht zuletzt in der Benennung vieler um die Jahrhundertwende neu gegründeter Vereine widerspiegelte.619 612 Vgl. L., H.: Fasten, wie es uns geboten wurde, in: JR, VII. Jg., Nr. 41 (10. 10. 1902), S. 1f., hier S. 1; ders.: Ueber das Verhältnis von Nation und Religion der Juden, in: Selbst-Emancipation, 16. 06. 1890, S. 2–4; 01. 07. 1890, S. 1–5. 613 L., H.: Bemerkungen über die Nationalbibliothek zu Jerusalem, in: JR, VII. Jg., Nr. 42 (15. 10. 1902), S. 19–21, hier S. 19. Vgl. dazu auch L., H.: Der neue Jg., in: JR, VIII. Jg., Nr. 1 (02. 01. 1903), S. 1f. und Loewe, Heinrich: Die Bibel, in: Literatur-Beiblatt der JR, IV. Jg., Nr. 14 (11. 12. 1908), S. 109–114. 614 Vgl. zur jüdischen Geschichte in der Spätantike Schäfer, Geschichte; Bringmann, Geschichte. 615 Anon.: Rundschau, in: JR, VII. Jg., Nr. 42 (15. 10. 1902), S. 22f., hier S. 23. 616 Zum Makkabäermythos vgl. Zimmermann, Antike; Meybohm, Erziehung, S. 60, 63–65 und insbes. Don-Yehiya, Eliezer: Hanukkah and the Myth of the Maccabees in Zionist Ideology and in Israeli Society, in: The Jewish Jorunal of Sociology 34:1 (1992), S. 5–23. Vgl. auch die früheren Artikel von Heinrich Loewe: Loewe, Heinrich: Die Makkabäer, in: Zion, 29. 12. 1895, S. 317–321; ders.: Die Makkabäer, in: Die Welt, 24. 12. 1897, S. 3–5. 617 Vgl. Nordau, Max: II. Kongreßrede, in: Ders.: Zionistische Schriften, Berlin 1923, S. 58–76. 618 Ebd., S. 72. 619 Vgl. dazu auch Wildmann, Körper, S. 230.

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Die wichtigsten historischen Quellen für die Geschichte des MakkabäerAufstandes lieferten den deutschen Zionisten die apokryphen, (der katholischen Bibel nach) deuterokanonischen und z. T. auf Griechisch verfassten sog. Makkabäerbücher, der Fest- und Bußkalender Megillat ta’anit und die Geschichtswerke von Flavius Josephus, der auf diesen aufbauend im ersten Jahrhundert n. Chr. seine »Geschichte des jüdischen Krieges« und »Jüdische Altertümer« verfasste.620 Der Begriff »Makkabäer«, der sich vom aramäischen »Makkaba« für Meißel oder Hammer ableitet, bezeichnete darin die Protagonisten eines jüdischen Aufstandes gegen die Herrschaft der Seleukiden unter Antiochos IV. und der ihnen angeschlossenen Gruppierungen in Judäa im Jahr 165 v. Chr. Eine führende Rolle spielten dabei der Überlieferung nach der jüdische Priester Mattatias aus dem adligen Geschlecht der Hasmonäer und seine fünf Söhne, vor allem Judas, der den Beinamen Makkabäus erhielt. Nach dem Sieg der Makkabäer über die Seleukiden begründeten diese für einhundert Jahre lang (165 v. Chr. bis 63 v. Chr.) eine Erbherrschaft über die Juden mit einem eigenen Staatswesen in Judäa.621 Die deutschen Zionisten hingegen wurden nicht müde, in ihren Beiträgen in der Jüdischen Rundschau zu betonen, dass es sich bei der makkabäischen Erhebung um eine säkulare Aufstandsbewegung gehandelt hätte, welche – wie der Zionismus – als »Volkspartei« charakterisiert werden könne.622 Sie sei durch »die Liebe zum eigenen Volke und Volkstume« entstanden.623 Die Nichtbeachtung der Makkabäer in der jüdischen Überlieferung kritisierten die Zionisten scharf und mahnten zum Gedenken an die »Helden unseres Stammes«624. Dass die neue nationale die alte religiöse Symbolik jedoch nicht völlig verdrängt hatte, zeigte sich in der gleichzeitigen Charakterisierung der Makkabäer als »Kämpfer für Glaubens- und Gewissensfreiheit«625, mit der die Zionisten zumindest teilweise ihren eigenen Versuch der Säkularisierung des Topos selbst konterkarierten. Im Besonderen in den Beiträgen Heinrich Loewes wurden die Makkabäer zu 620 Zu den historischen Quellen des ›Makkabäer-Mythos‹ vgl. Anon.: Die Judendichtung Otto Ludwigs. 2. Die historischen Voraussetzungen der ›Makkabäer‹, in: JR, IX. Jg., Nr. 31 (05. 08. 1904), S. 333–336 und aus der umfassenden Literatur zum Thema z. B. Gal-Ed, Efrat: Das Buch der jüdischen Jahresfeste, Frankfurt a. M. 2001, S. 160–177 (Kap. »Chanukkah«); Schäfer, Geschichte, S. 62–77; Zimmermann, Antike, S. 33f.; de Vries, Simon Philip: Jüdische Riten und Symbole, Reinbek bei Hamburg 112010, S. 111–114. 621 Vgl. Zimmermann, Antike, S. 34. 622 Anon.: Rundschau, in: JR, VII. Jg., Nr. 42 (15. 10. 1902), S. 22f., hier S. 23. 623 Sachse, Heinrich: Das Fest des Zionismus, in: JR, IX. Jg., Nr. 48 (02. 12. 1904), S. 415f., hier S. 415. 624 L., H. [Loewe, Heinrich]: Die Makkabäer, in: JR, VII. Jg., Nr. 52 (24. 12. 1902), S. 97–99, hier S. 98. 625 Sachse, Fest, S. 415.

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Vorbildern für alte und junge Zionisten ausgerufen, welche für ihr Recht, die Beibehaltung jüdischer Traditionen und die Unabhängigkeit ihres nationalen Gemeinwesens eingetreten wären.626 Die Revitalisierung des antiken Beispiels sollte somit nicht zuletzt der Förderung von Nationalstolz dienen. Die Mytheme, die den Makkabäer-Mythos in der Jüdischen Rundschau konstituierten, waren in erster Linie der jüdische Heroismus und das bereitwillige Martyrium der Kämpfer, d. h. das erst mit dem Opfertod endende schwere Leiden um der eigenen (nationalen) Überzeugung willen. Eine wesentliche Rolle spielte darin die Vorstellung bedingungsloser Hingabe für die nationale Idee und die völlige Unterordnung des Einzelnen unter das Volksganze, die bis zur individuellen Selbstaufopferung im Dienst des Allgemeinwohls gehen sollten. So heißt es in einem Aufsatz mit dem Titel »Die Makkabäer« von Heinrich Loewe aus dem Jahr 1902: »Wir haben schon zu lange der Helden unseres Stammes vergessen, haben schon zu lange uns lieber anderer Grosstaten gerühmt, als der des eigenen Stammes, um uns nicht mit um so grösseren Stammesstolze der herrlichsten Söhne unseres Blutes zu erinnern, die auf dem Felde der Ehre für die Erhaltung unseres Volkstums geblutet haben. Ihr Blut soll auch für uns nicht umsonst geflossen sein. Wie nur durch die Makkabäer und ihren Heldenkampf das Judentum bis auf unsere Tage fortbestehen konnte, so sollen sie auch durch ihre machtvolle Begeisterung, durch ihr Aufgehen in ihr Volkstum, durch ihre keinen Augenblick schwankend gewordene Hingebung an ihre Nation uns ein leuchtendes Beispiel bleiben und uns aneifern in Liebe für unser Volk ihnen nachzufolgen. Die Ehre, die wir den Makkabäern erweisen, zollen wir unserem Stamme. Wie das hasmonäische Heldengeschlecht wollen wir unsere höchste Ehre und unseren einzigen Ruhm in der Ehre und dem Ruhme unserer Nation suchen und sehen. Wir wollen für unser Judentum leben, wie sie für ihr, für unser Volk gelebt haben und in den Tod gegangen sind.«627

Darüber hinaus wurden die Situation der antiken, biblischen Gestalten und die augenblickliche Lage der deutsch-jüdischen Bevölkerung bzw. des zionistischen Kollektivs zu Beginn des 20. Jahrhunderts parallelisiert.628 Anknüpfungspunkte ergaben sich für die deutschen Zionisten in erster Linie in dem angeblichen parallelen Aufkommen der nationalen Idee als Folge einer Bedrohung jüdischer Identität von innen und außen. Als konstitutiv für die innere Bedrohung wurde das Vorhandensein assimilatorischer Tendenzen in der antiken und zeitgenössischen Gesellschaft erachtet: »Nicht um ein Härchen anders sind heute die Verhältnisse, als sie vor zwei Jahrtausenden waren. Wie damals rütteln Unverstand und Feindschaft an den Grundlagen 626 Vgl. Anon.: Rundschau, in: JR, VII. Jg., Nr. 42 (15. 10. 1902), S. 22f., hier S. 23; Loewe, Makkabäer. 627 Loewe, Makkabäer, S. 98. 628 Vgl. dazu auch Oppenheimer, Makkabäer.

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unseres nationalen Bestandes. Wie damals hat der Feind von aussen, tausendmal mehr aber die Feindschaft im Innern das nationale Gefühl in Wallung und zu lebendigem Bewusstsein gebracht und will Taten zeugen. […] In die grosse Makkabäerzeit versetzen uns die Kämpfe der Gegenwart. Sie erinnern uns, dass wir der Väter gedenken sollen, die erst dann den Kampf mit den feindlichen Mächten draussen siegreich zu Ende führen konnten, als sie den Feind im eigenen Innern bezwungen hatten. Auf den Schlachtfeldern von Bethoron und Emmaus unterlagen nicht nur die Syrer, sondern am meisten und für alle Zeiten die hellenistischen Juden, die ihre eigene Ehre verkauft hatten, weil es ihnen gut ging und sie reich wurden im syrischen ›Golus‹. Die Makkabäer vernichteten die Assimilationssucht, und in zwei Jahrtausenden vermochte diese nicht aufzuerstehen. Als sie im neunzehnten Jahrhundert sich noch einmal erhob, da zeugte die Reform, die das Judentum einsargen wollte, jene Partei des Lebens, die da Zionismus heisst. […] Wie der Hellenismus die Makkabäer ins Feld rief, so hat der neueste Angriff auf das Leben und die Existenz der jüdischen Nation den Zionismus, die heutige bewusst national-jüdische Partei geschaffen. So war und ist die Assimilation ein Teil von jener Kraft, die durch den Versuch der Zerstörung das Leben schafft. Und so wurde die Makkabäerfeier mit vollem Fug und Recht das Fest des Zionismus.«629

Hier wurden also explizit die ›hellenisierten‹ Juden der Antike mit den ›assimilierten‹ Juden der jüdisch-deutschen Emanzipationsära und der Gegenwart des Autors verglichen, während die Makkabäer eindeutig mit den Zionisten identifiziert wurden. Sowohl die makkabäische Erhebung als auch der Zionismus wurden von Loewe als von diesen Assimilationstendenzen beeinflusste bis generierte nationale Bewegungen betrachtet. Das Beispiel der Makkabäer sollte den deutschen Zionisten zeigen, wie sie sich im konkreten Bedrohungsfall verhalten sollten, indem zu Aktionismus und Kampf gegen die akute Bedrohung im Inneren aufgerufen wurde. Relevant wurde der historische Vergleich in den Jahren nach der Gründung der Jüdischen Rundschau auch besonders, da sich das zionistische Kollektiv nach dem Tod Theodor Herzls wie das makkabäische nach dem Tod Jehuda Makkabis »führerlos«630 empfand und daher seine Einheit neu unter Beweis stellen müsste.631 Das makkabäische Verhalten sollte den deutschen Zionisten daher beschwichtigen und ihm als Muster dienen, dass gerade der Tod des ›geliebten Führers‹ auch einheitsstiftend wirken könne.632 629 630 631 632

Sachse, Fest, S. 416. Ebd., S. 415. Vgl. dazu auch Kap. III.2.1 und Kap. III.2.2 der vorliegenden Arbeit. Vgl. Sachse, Fest, S. 415: »Die schwerste Zeit für diese Makkabäer und ihre Anhänger, war es, als der anerkannte Führer der Fünf, die an der Spitze des Volkes standen, das mit den von aussen herandrängenden Feinden und mehr noch mit den zerstörenden Kräften im Innern um seine Freiheit rang, jäh aus ihrer Mitte gerissen worden war und das Volk führerlos gelassen hatte. Das Herz des Volkes schien getroffen zu sein, als Jehudah Makkabbi auf dem Felde von Elasa den Heldentod für sein Volk erlitten hatte. Aber nicht lange währte die Erstarrung, die durch den Tod des Führers die Kämpferschar getroffen zu haben schien. Bald fanden sich die Kämpfer von neuem zusammen, und scharten sich um die Brüder und

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Die Wahl der Zionisten fiel wohl gerade deshalb auf die Makkabäererzählungen, da sich die historischen Verhältnisse für die geplante Analogiebildung eigneten. Des Weiteren erschlossen sich die Mytheme selbst dem historisch kaum bewanderten Laien einfach und zeichneten sich nicht durch eine besonders hohe Komplexität aus. Darüber hinaus erlaubte die Marginalisierung der makkabäischen Erhebung durch die religiöse jüdische Überlieferung eine eigene säkulare, nationale Umdeutung oder Vermischung beider Varianten. Die Zionisten vermieden somit auch Konflikte mit dem orthodoxen Lager, indem sie ihrer Geschichtsdeutung historische Phänomene zugrunde legten, bei denen es sich nicht um Schlüsselstellen der Hebräischen Bibel für das religiöse jüdische Selbstverständnis handelte.633 Die von den Zionisten so erfundene und sich im 20. Jahrhundert verfestigende neue nationale Symbolik und historische Tradition kann durchaus als erfolgreich bezeichnet werden, wie die heutige reformulierte ›nationaljüdische‹ inhaltliche Deutung634 des vergleichsweise jungen Chanukkahfestes, das Anzünden der Chanukkah-Lichter im jüdischen Festkalender635 und die anhaltende Symbolkraft der Makkabäer, beispielsweise für das Selbstverständnis des gegenwärtigen israelischen Sports, zeigt.636 Die in der Mischnah nur beiläufig erwähnten Erzählungen von den Makkabäern besaßen in der rabbinischen Traditionen ursprünglich nur eine marginale, beigeordnete Rolle und galten nicht als heilig.637 Traditionell symbolisierte das Fest die Vertreibung der Dunkelheit durch das Licht von Gott. Nicht der nationale Heroismus einer kleinen Gruppe von Männern stand dort also im Mittelpunkt, sondern die durch das Anzünden von Lichtern begangene Neueinweihung des von den Hellenisten entweihten Jerusalemer Tempels und die Wiederaufnahme der jüdischen Kultpraxis und des religiösen Lebens unter Betonung des Monotheismus.638 Neben Chanukkah widmeten sich viele Leitartikel und Beiträge zum jeweils passenden Zeitpunkt des jüdischen Festkalenders zentralen jüdischen Festen und Feiertagen, die neben der Torah auf unterschiedliche Quellen zurückgeführt

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Mitkämpfer des Gefallenen, und was er im Leben nicht erreicht hatte, das gelang ihm durch seinen Tod: die grosse Mehrheit seines Volkes als ein einziges einmütiges Bruderheer hinter die Fahne der nationalen Freiheit zu scharen.« Vgl. dazu auch die Bemerkungen bei Meybohm, Erziehung, S. 60. Vgl. Gal-Ed, Buch, S. 175f. Vgl. Loewe, Heinrich: Weihnachten und Chanukah, in: JR, VIII. Jg., Nr. 1 (02. 01. 1903), S. 4; ders.: Chanukah, in: JR, XII. Jg., Nr. 48 (29. 11. 1907), S. 514. Vgl. Gal-Ed, Buch, S. 160– 177 und Trepp, Leo: Die Juden. Volk, Geschichte, Religion, Reinbek bei Hamburg 2006, S. 361–363. So tragen beispielsweise viele jüdische und israelische Sportvereine den Namen »Makkabi«, so z. B. der größte Sportverein »Makkabi Tel Aviv«. Vgl. Meybohm, Erziehung, S. 65, Fn. 273. Vgl. Gal-Ed, Buch, S. 166. Vgl. ebd., S. 166–168.

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werden konnten.639 Dazu zählten etwa Rosch Ha-Shanah, Purim, Pessach und Yom Kippur, deren traditionelle und ursprünglich religiöse Symbolik ebenfalls im nationaljüdischen Kontext gedeutet wurde und Bezüge zur Situation des deutschen Judentums zu Beginn des 20. Jahrhunderts hergestellt wurden. Auffallend ist, dass selbst hier die nationale Deutung die religiöse weniger verdrängte, sondern sich vielmehr neben diese stellte oder sogar eng auf diese bezog. Daraus ergab sich die eigentümliche Folge, dass sich religiöse und nationale Narrative überlagerten bzw. die nationale Deutung der traditionellen religiösen lediglich eine weitere Dimension verlieh. Nicht zuletzt sollten die deutschen Juden auch mit den jüdischen Festtagen und der Begehung der Feiertage – in nationaler Lesart sozusagen – vertraut gemacht werden und diese somit im ›zionistischen Gedächtnis‹ fest verankert bzw. etabliert werden. Eine weitere, besonders prägnante Umdeutung erhielt im deutschen Zionismus im Spiegel der Jüdischen Rundschau etwa Rosch Ha-Shanah (wörtlich: »Haupt des Jahres«), das vermutlich selbst eine Umdeutung des biblischen Yom Teruah (»Tag des Halls«) und Yom Sikkaron (»Tag des Gedenkens«) am 1. des siebten Monats (Tischrej) darstellte und unter babylonischem Einfluss hervorgegangen war.640 Die Auslegungen in der Mischnah deuteten Rosch Ha-Shanah als jüdisches Neujahrsfest, das eine Vielzahl an Ereignissen feiert, darunter wohl den Tag der Verkündigung der Königsherrschaft Gottes und den Tag, an dem der Mensch Rechenschaft über seine Taten ablegt und vor Gott im Gericht steht (Yom Hadin, »Tag des Gerichts«).641 Rosch Ha-Shanah fordert somit als der erste der »Zehn Tage der Tschuwa (Rückkehr/Umkehr)«, die in Jom Kippur, dem Versöhnungstag, gipfeln, zur individuellen Prüfung und Reue des Menschen auf.642 Aus der Sicht Loewes war diese Deutung, nach der das Neujahrsfest »weniger als andere jüdische Feiertage einen ausgesprochen nationalen Charakter«643 trage, jedoch verfehlt: Rosch Ha-Shanah sei in Wahrheit, »wenn das möglich ist, noch zionistischer […], als selbst die jüdischen Nationalfeiertage«644, indem es in besonderem Maße an die »Palästinaliebe« des ›jüdischen Volkes« und somit an die Einheit von ›(jüdischem) Volk‹ und ›Land‹ bzw. »Zion und Israel«645 erinnere. Das Neujahrsfest wurde somit zum kollektiven, nationalen Gedenktag erklärt, der die Eingebundenheit des Einzelnen in sein ›Volk‹ 639 Zur Bedeutung des Festes im jüdischen Jahreskalender vgl. ebd., S. 13f., 23–25; Trepp, Juden, S. 342–345; Solomon, Norman: Judentum. Eine kurze Einführung. Aus dem Englischen übersetzt von Ekkehard Schöller. Mit 12 Abbildungen, Stuttgart 1999, S. 65–79. 640 Vgl. Gal-Ed, Buch, S. 106–123 (Kap. »Ro’sch ha-Schanach«); Trepp, Juden, S. 347–351; de Vries, Riten, S. 80–84. 641 Vgl. Gal-Ed, Buch, S. 108–111, 116–121. 642 Vgl. ebd., S. 116. 643 Loewe, Heinrich: Das neue Jahr, in: JR, X. Jg., Nr. 39 (29. 09. 1905), S. 493f., hier S. 494. 644 Ebd. 645 Ebd., S. 493.

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und die Einmütigkeit der ›nationalen Gemeinschaft‹ vor Augen führen sollte und gleichzeitig veranschaulichte. Weniger individuelle Buße und göttliche Schöpfung sollten im Mittelpunkt stehen, sondern das Gedächtnis eines ›Volkes‹, des jüdischen, an diesem Tag begangen und an die Geschichte des eigenen ›Volkes‹ erinnert werden: »Für uns Juden ist der Tag des beginnenden neuen Jahres ein Tag, an dem sich die jüdische Gesamtheit in ihren Gemeindehäusern vereinigt, um in der überlieferten Form ernst und streng einen Jom haz-zikaron, einen Tag der Erinnerung zu begehen. Wenn aber alle Feste und Gebete, alle Freuden- und Trauertage des jüdischen Volkes nicht dem einzelnen Individuum gelten, sondern das ganze Israel als eine untrennbare Einheit auffassen, so ist auch das bedeutende ›Ich‹ und ›Wir‹ gerade an unserm Neujahrsfeste kein anderes als das ganze jüdische Volk. Nicht der einzelne betet, dass er in das Buch des Lebens eingeschrieben werde, sondern der ganze Stamm Jakobs. Nicht der Einzelne bittet um Vergebung seiner Sünden, sondern die ganze Nation. Scheinbar das individuellste Fest ist Rosch-hasch-schanah in Wahrheit ein Tag, an dem das jüdische Volk mehr als an einem andern Tage sich als eine grosse Nation von Brüdern fühlt, in der der einzelne in der Gesamtheit aufgeht. […] In dem ›Zikaron‹ in dem Gedenken liegt das wesentlich Jüdische. Wir gedenken nicht nur, was unser Volk im vergangenen Jahre erlebt und erlitten hat, wir erinnern uns auch, dass das vergangene Jahr mit allem Guten und Bösen, das es uns bot, nur ein kleines Glied in der Kette unseres historischen Lebens ist, dass dieses Glied aber in nichts Wesentlichem von der langen Reihe von Jahren abweicht, die die Kette der jüdischen Geschichte ausmacht.«646

Auch hier knüpfte Loewe also an die traditionelle, religiöse Überlieferung an, indem er die Fähigkeit des Gedenkens (»Zikaron«) bzw. der Erinnerung und die Handlung des Gedenkens und sich Erinnerns, die in der Hebräischen Bibel im Begriff bzw. Konzept »Zachor« (»Erinnere Dich!«) zum Ausdruck kommt, zur Essenz des Nationalen erklärte und in den Dienst des Zionismus stellte.647 An diese frühen zionistischen Narrative wurde nicht zuletzt nach der Gründung des Staates Israel im Jahr 1948 in der israelischen Erinnerungspolitik im Kontext des israelisch-palästinensischen Konfliktes angeknüpft. Unter der Bezeichnung Yom Hazikaron wurde ein israelischer Nationalfeiertag ins Leben gerufen, der sowohl den Veteranen und den gefallenen Soldaten als auch den Zivilisten gedenkt, welche im modernen Nahostkonflikt und als »Opfer des Terrorismus« gestorben sind.648 Selbst die ursprüngliche Bezeichnung und Deutung von Rosch Ha-Shanah in der Torah (Leviticus Kap./Vers 23:23–25; 29:1–6) als erstem Tag des Siebten 646 L., H.: Rosch-hasch-schanah, in: JR, VII. Jg., Nr. 40 (01. 10. 1902), S. 1–3, hier S. 1. Vgl. dazu auch Loewe, Heinrich: Das neue Jahr, in: JR, X. Jg., Nr. 39 (29. 09. 1905), S. 493f., hier S. 494. 647 Vgl. zum Begriff »Zachor« und seiner Bedeutung im Judentum Yerushalmi, Zachor. 648 Vgl. dazu auch die offizielle Seite der israelischen Regierung zum Gedenktag. URL: [letzter Zugriff erfolgt am 13. 06. 2016].

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Die Konstruktion zionistischer Hybridität in der Jüdischen Rundschau

Monats (Tischrei) bzw. Yom Teruah (»Tag des Lärmblasens« / »Tag des Halls / Schalls«), die dem babylonischen Einfluss vorangegangen war, griff Loewe auf. Er erklärte die Tradition des Shofarblasens649 zur nationalen und das aus Widderhorn gefertigte Musikinstrument als »das nationale Instrument des hebräischen Stammes«650. Dabei knüpfte Loewe an eine bestimmte (marginale) Lesart in der Hebräischen Bibel an, die den Ursprung des Shofars weniger als Offenbarungssymbolik für die Königsherrschaft Gottes sowie die Erlösung des Menschen im göttlichen Gericht und damit liturgischen Zwecken sah,651 sondern seine Funktion als weltlichem Schlacht- und Kampfesruf bzw. Warn- und Signalton hervorhob. Loewe verglich diese mit der »Geburtsstunde des jüdischen Volkes im Lande Israel« und der »Sterbestunde Israels« sowie mit der heroischen Selbstverteidigung und dem Beispiel der Makkabäer.652 Im heutigen Israel wird an diese säkulare, nationale Deutung symbolisch erinnert, indem das Shofar bei der Vereidigung des israelischen Präsidenten geblasen wird.653 Auch Purim (wörtlich: »Los«), das nach der Überlieferung und (wohl) nachträglichen jüdischen Prägung im Buch Esther am 14. des Monats Adar an die (physische) Rettung des jüdischen Volkes vor Vernichtung im antiken persischen Reich erinnert,654 wurde von den Zionisten zum jüdischen »Nationalfeiertag« erklärt,655 nachdem zunächst auf den als wenig national empfundenen, überlieferten Charakter des jüdischen Festes Bezug genommen wurde, der mit dem Schlagwort »Fest des Golus« bezeichnet wurde.656 In den Mittelpunkt der zionistischen ›Narrativisierung‹ rückte nunmehr die Deutung als »Fest des jüdischen Nationalismus unter dem Drucke des Golus«, d. h. als Überwindung einer Bedrohung durch innere und äußere Feinde. Diese wurden wiederum in erster Linie mit den Assimilationsbestrebungen und mit antisemitischer Diskriminierung in Vergangenheit und Gegenwart gleichgesetzt.657 Die biblische Überlieferung von Purim im Buch Esther erlaubte den Zionisten so, dem Leser den Sieg des jüdischnationalen Gedankens in einem Kollektiv vor Augen zu führen, in dem ihm »keineswegs die stolzen Gestalten früherer Geschlechter und der alten Heimat entgegentreten, sondern die geschwächten Glieder des zer649 Zum Shofar als Symbol im Judentum vgl. Gal-Ed, Buch, S. 106, 112–115; de Vries, Riten, S. 80–84. 650 L., H., Rosch-hasch-schanah, S. 2. 651 Vgl. Gal-Ed, Buch, S. 106; 112–116. 652 L., H., Rosch-hasch-schanah, S. 2; ders.: Schofartöne, in: JR, XI. Jg., Nr. 38 (19. 09. 1906), S. 561f. 653 Vgl. Gal-Ed, Buch, S. 112–116. 654 Vgl. ebd., S. 191–204 (Kap. »Purim«); de Vries, Riten, S. 123–127. 655 Loewe, Heinrich: Purim, ein Nationalfeiertag, in: JR, IX. Jg., Nr. 9 (26. 02. 1904), S. 79f. 656 L., H.: Purimfreude, in: JR, VIII. Jg., Nr. 11 (13. 03. 1903), S. 89–91, hier S. 90. Vgl. dazu auch die Bezeichnung bei Gal-Ed als »Fest der Diaspora« (Gal-Ed, Buch, S. 194). 657 Vgl. Sachse, Heinrich: Purim. Ein Fest im Golus, in: JR, X. Jg., Nr. 11 (17. 03. 1905), S. 113f.

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streuten Volkes, denen ebenso das Vertrauen zu ihrem alten Gott wie zu sich selbst verloren gegangen war«.658 Somit bildete die zionistische Narration zu Purim auch einen deutlichen Gegensatz zum Makkabäer-Mythos und erzeugte somit ein weiteres, wirksames Identifikationsangebot: Wie Esther und Mordechai sollte sich auch der junge Zionist stolz und offen zu seiner (national-)jüdischen Bestimmung bekennen und sich gegen die Gefährdung des Kollektivs von innen wie außen zur Wehr setzen.659 Als vergleichsweise wenig innovativ erwies sich hingegen die zionistische Deutung des Pessach-Festes,660 das von Loewe als »Fest unserer nationalen Freiheit« und »Fest des Mosaismus« betitelt wurde.661 In enger Anlehnung an ältere religiöse und volkstümlich-historische Narrative (vgl. Deuteronomium 26:5–8, Haggadah) nutzte Loewe Pessach, um dem Leser in seinen Beiträgen »das Gefühl der historischen Kontinuität und des gemeinsamen Schicksals aller Generationen« vor Augen zu führen.662 Pessach wurde dennoch vielleicht noch mehr als die bereits erwähnten Feste zum nationalen ›Gründungsmythos‹ des Zionismus erhoben, indem die Befreiung der Israeliten aus der Versklavung in Ägypten mit der bevorstehenden Befreiung der deutschen und osteuropäischen Juden durch den Zionismus und der Übersiedlung nach Palästina verglichen wurde: »Pessach ist das Fest der Freiheit, das Fest der nationalen Freiheit im Lande Israel. Heute hier auf fremdem Boden, im kommenden Jahre in Jerusalem und nur in Jerusalem!«663 Des Weiteren dienten Loewe die mit Pessach eng verknüpften Prophetengestalten, vor allem Moscheh bzw. Mose und die von ihm in dieser Sicht begründeten Traditionen und Gesellschaftsentwürfe,664 um die ethische Natur wie Berechtigung des jüdischen Nationalismus zu entwerfen.665 Die Grundlagen des »Mosaismus«, in denen er »die nationale Gestalt des Judentums« verkörpert sah und als deren Kern er soziale Gleichheit, Freiheit, »das allgemeine Menschenideal und den selbstbewussten Individualismus« identifi-

658 Sachse, Purim, S. 113. 659 Vgl. ebd., S. 114; ders.: Purim in: JR, XI. Jg., Nr. 10 (09. 03. 1906), S. 137f. 660 Vgl. Gal-Ed, Buch, S. 34–67 (Kap. »Pessach«); Trepp, Juden, S. 365–368; de Vries, Riten, S. 127–129. 661 Sachse, Heinrich: Zum Pessachfest, in: JR, VIII. Jg., Nr. 15/16 (10. 04. 1903), S. 138. 662 So Gal-Ed, Buch, S. 43 über die überlieferte Deutung des Pessach-Mahls in Erinnerung an die Befreiung aus Ägypten. 663 Sachse, Heinrich: Freiheitsfest und Freiheitsland, in: JR, X. Jg., Nr. 16/17 (19. 04. 1905), S. 177f., hier S. 178. Vgl. dazu auch: Loewe, Heinrich: Gesindel. Auch eine Pessachfestbetrachtung in: JR, XI. Jg., Nr. 14/15 (06. 04. 1906), S. 195f.; ders.: Osterzeit und Pessach, in: JR, X. Jg., Nr. 13/14 (29. 03. 1907), S. 129–132; ders.: Das Pessachfest der Zukunft, in: Die Welt, 18. 04. 1913, S. 490–492. 664 Vgl. dazu Gal-Ed, Buch, S. 48f. 665 Vgl. dazu Kap. III.1.2.2 der vorliegenden Arbeit.

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Die Konstruktion zionistischer Hybridität in der Jüdischen Rundschau

zierte, sollten sich die deutschen Zionisten zum Vorbild und Angelpunkt ihrer (nationalen) Weltanschauung machen.666 Yom Kippur, der dem biblischen und rabbinischen Verständnis nach den Höhepunkt der zehn Bußtage, den »Tag der Versöhnung«, markiert,667 an dem Gott den Israeliten die Sünde des Goldenen Kalbes verzieh und sie von ihren Vergehen läuterte,668 wurde von Heinrich Loewe den Lesern als das »im Grunde nationalste aller jüdischen Feste in seiner durchaus religiösen Form« präsentiert.669 Seine nationale Prägung hätte das Fest der Läuterung bzw. der »Versöhnungstag«, so Loewe, demnach erst im Kontext der Assimilationstendenzen im deutschen Judentum erhalten, wobei die Vorschrift des Fastens erst allmählich »eine gewisse aktuelle nationale Bedeutung« angenommen habe.670 Aus der Aufgabe der individuellen Läuterung vor Gott machte Loewe sozusagen die kollektive Aufgabe der ›assimilierten Juden‹, die nicht ›zurück‹ zu Gott, sondern ›zurück‹ zum (National-)Judentum finden und darin an der kollektiven ›nationaljüdischen Läuterung‹ Teil haben sollten. Loewe unternahm hier den Versuch, die überlieferten rituellen Praktiken und religiösen Verhaltens- und Speisevorschriften, die aus seiner Sicht zur bloßen, erstarrten Form herabgesunken waren, mit einem neuen, nationalen, mitunter weltlichen Sinn zu belegen und ihnen somit im nationalen Gewand neues Leben einzuhauchen. Gleichzeitig erweiterte er den Kanon der Riten im zionistischen Sinne: Gerade vor dem Hintergrund der akuten Verfolgung der »Volksbrüder« im Osten und der wachsenden Verbreitung antisemitischer Deutungsmuster und -praktiken könne der deutsche Jude der Gegenwart nicht bei der individuellen Kasteiung und völligen Enthaltung von Speisen, Getränken und Genussmitteln stehen bleiben. Er forderte den Juden auf, zum »Fasten, wie es uns geboten wurde«, wonach er es zu seiner Aufgabe machen sollte, sich am zionistischen Projekt zu beteiligen und damit »den Hungernden und Heimatlosen, den Beraubten und Unterdrückten eine Heimat zu schaffen, in der jegliches Joch zerbrochen sein soll«.671 Eine ähnliche nationale, wenn auch weniger explizite Deutung erhielten in der Jüdischen Rundschau und in anderen zionistischen Medien auch das Laubhüttenfest (Sukkoth)672, das Schabuothfest673 und Tischah-B’Ah674.

666 Sachse, Heinrich: Freiheitsfest und Freiheitsland, in: JR, X. Jg., Nr. 16/17 (19. 04. 1905), S. 177f., hier S. 177. 667 Vgl. Gal-Ed, Buch, S. 126–140 (Kap. »Yom Kippur«); Trepp, Juden, S. 351–354; de Vries, Riten, S. 94–98. 668 Vgl. Gal-Ed, Buch, S. 130f. 669 L., H.: Fasten, wie es uns geboten wurde, in: JR, VII. Jg., Nr. 41 (10. 10. 1902), S. 1f., hier S. 1. 670 Ebd., S. 2. 671 Vgl. ebd. 672 Vgl. Loewe, Heinrich: Hüttenfest, in: JR, X. Jg., Nr. 41 (13. 10. 1905), S. 517f.; ders.: Laubhüttenfest, in: Israelitisches Gemeindeblatt Köln, 11. 10. 1916, S. 2–4. Vgl. dazu auch

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Das Projekt der (hybriden) ›Historisierung des zionistischen Bewusstseins‹, an dem in der Jüdischen Rundschau im gesamten Untersuchungszeitraum, wenn auch mit unterschiedlicher Hingabe und Intensität, kontinuierlich gearbeitet wurde, wurde zutiefst von den unter der Redaktionszeit Heinrich Loewes und von ihm formulierten und etablierten Themen sowie ›Mythemen‹ geprägt. Loewes national-kulturelle Umdeutung der religiösen Feiertage und ihrer Symbolik etwa setzten bleibende Akzente, die bis weit über den Untersuchungszeitraum hinaus und bis in die heutige israelische Gesellschaft fortwirkten. Im Besonderen erwies sich jedoch der Makkabäer-Mythos als ausgesprochen flexible und vielfältige Narration, da die Parallelisierung der vergangenen und gegenwärtigen Ereignisse und Personengruppen je nach zionistischer Bedürfnislage instrumentalisiert und adaptiert wurde. So erfuhren die Makkabäer ein erneutes Aufleben im Kontext des Ersten Weltkriegs, indem die tradierte zionistische Geschichtsphilosophie im Lichte militaristischer Metaphorik einer nochmaligen Transformation unterzogen wurde.675 Nach dem, vom deutschen Kaiser ausgerufenen, sog. ›Burgfrieden‹ sollten die jüdischen Soldaten ihre Loyalität im »Dienste des deutschen Vaterlandes«676 bezeugen und in Rückbesinnung auf ihre makkabäischen Vorfahren ihren eigenen Heldenmut unter Beweis stellen.677 Der Kriegseinsatz auf Seiten der deutschen Regierung wurde

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Gal-Ed, Buch, S. 143–158 (Kap. »Sukkot); Trepp, Juden, S. 355–361; de Vries, Riten, S. 103– 107. Vgl. Loewe, Heinrich: Bilder zur Bibel. Zum Schabuothfeste, in: Die Welt, 13. 06. 1913, S. 751–753. Vgl. Gal-Ed, Buch, S. 70–88 (Kap. »Schawu’ot«); Trepp, Juden, S. 373. Vgl. Loewe, Heinrich: Tischah-b’Abh, in: Israelitisches Gemeindeblatt Köln, 04. 08. 1916, S. 2–4. Vgl. Gal-Ed, Buch, S. 90–103 (Kap. »Tisch’ah be-’Aw«). Vgl. dazu auch die Beispiele in anderem Kontext bei Meybohm, Erziehung, S. 78–81. Loewe, Heinrich: Feinde ringsum!, in: JR, XIX. Jg., Nr. 32 (07. 08. 1914), S. 343f., hier S. 343. Vgl. dazu u. a. Anon.: Makkabäerfeier der Berliner Zionistischen Vereinigung, in: JR, XIX. Jg., Nr. 51 (18. 12. 1914), S. 462; Buber, Martin: Die Tempelweihe. Rede, gehalten bei der Makkabäerfeier der Berliner Zionistischen Vereinigung am 19. Dezember 1914, in: JR, XX. Jg., Nr. 1 (01. 01. 1915), S. 2–4; Herrmann, Hugo: Makkabäerfest. Ein Beitrag zu dem Thema: Zionismus und Religion, in: JR, XIX. Jg., Nr. 12 (20. 03. 1914), S. 121f.; Lamm, Louis: Makkabäa. Jüdisch-literarische Sammlung für unsere Krieger, Berlin 1915; Michaelis, Paul: Eine Kriegs- und Chanukkabetrachtung, in: JR, XIX. Jg., Nr. 50 (20. 11. 1914), S. 451; Weltsch, Robert: Dienstpflicht (Aus der Chanukkah-Sondernummer der »Jüdischen Rundschau« für die Freunde im Felde), in: JR, XXI. Jg., Nr. 52 (29. 12. 1916), S. 430f.; Zuckermann, Hugo: Makkabäer 5675, in: JR, XX. Jg., Nr. 2 (08. 01. 1915), S. 11. Vgl. dazu auch Loewe, Feinde, S. 343: »Wir Juden, wir Zionisten, die wir in den Zeiten des Friedens uns scheuten, mit Patriotismus zu prunken, die wir allen Nachdruck auf unser Judentum legten, das der Betonung mehr bedurfte als unsere selbstverständliche Treue zum deutschen Vaterlande, wir werden heute als deutsche Bürger freudig alle Forderungen an Hab und Gut, an Leben und Blut erfüllen. Es bedarf sicherlich nicht erst unseres Aufrufes an unsere jungen Gesinnungsfreunde, in die Reihen der Kämpfer zu treten. Alle unsere jungen Hasmonäer und V.J.St.er, alle Bar-Kochbaner und Makkabäer stehen bereits in den Reihen der Kriegsfreiwilligen. Nicht mit lärmendem Geschrei und nicht mit leeren Demonstra-

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auf diese Weise mit dem Unabhängigkeitskampf des ›jüdischen Volkes‹ in der Antike auf eine Stufe gestellt und semantisch verflochten.678 Mehr noch: Der Erste Weltkrieg erhielt im deutschen Zionismus somit selbst eine sinnstiftende Funktion, wonach er zu einer einzigartigen historischen Möglichkeit stilisiert wurde, den eigenen Heroismus praktisch zu erproben.679 Selbst der Soldatentod erhielt somit eine nachträgliche Legitimation, indem er mit dem »Heldentod«680 und Märtyrertod der Makkabäer parallelisiert wurde.681 Erst allmählich setzten sich im Gegensatz zur frühen Phase des Krieges angesichts der horrenden Verluste in den bislang unbekannten Material- und Menschenschlachten, der rechtsnationalen Aufladung der ›deutschen Volksgemeinschaft‹ und der nicht zufrieden stellenden Behandlung der ›Ostjudenfrage‹ und des zionistischen Projektes durch die deutsche Regierung unter den deutschen Zionisten Töne der Enttäuschung und Kritik durch, welche an der Sinnhaftigkeit des Krieges und des Phänomens des modernen Nationalismus gleichermaßen zweifelten.682

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Das hybride Kulturprogramm der Jüdischen Rundschau und die ›Hebraisierung‹ des nationaljüdischen Kollektivs

1.5.1 ›Deutschtum‹ – ›Judentum‹ – ›Zionismus‹683 : Eine frühe Debatte (1902/1903) Neben der soeben beschriebenen ›Historisierung des zionistischen Bewusstseins‹ beteiligten sich die Beiträger in der Jüdischen Rundschau auch intensiv an den Debatten über die Frage der kulturellen Ausrichtung des (national-)jüdi-

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tionen, sondern in ernster Lebensauffassung und ruhiger Entschlossenheit greifen wir mit Alldeutschland zu den Waffen, um für das Vaterland zu tun, was jeder an seiner Stelle vermag. Wir deutschen Juden kennen trotz aller Anfeindungen in den Zeiten des Friedens heute keinen Unterschied gegenüber andern Deutschen. Brüderlich stehen wir mit allen im Kampfe zusammen.« Vgl. dazu auch Meybohm, Erziehung, S. 80. Vgl. z. B. Weltsch, Dienstpflicht, S. 430. Loewe, Feinde, S. 343. Vgl. z. B. Zuckermann, Makkabäer 5675. Vgl. dazu auch Meybohm, Erziehung, S. 81. Vgl. u. a. M., M. [Mayer, Max]: Judenzählung, in: JR, XXI. Jg., Nr. 43 (27. 10. 1916), S. 351; H., L. [Herrmann, Leo]: Toleranz und ihre Grenzen, in: JR, XXII. Jg, Nr. 28 (13. 07. 1917), S. 229; Anon.: Grenzschluß gegen Juden in Deutschland, in: JR, XXIII. Jg., Nr. 30 (26. 07. 1918), S. 229. Vgl. dazu auch den trefflichen Gesamtüberblick am Beispiel des deutschsprachigen Kulturzionismus von Vogt, Stefan: The First World War, German Nationalism, and the Transformation of German Zionism, in: LBIYB 57 (2012), S. 267–291. Die Formulierung ist angelehnt an den Titel eines Beitrags von Hugo Schachtel, der im Folgenden wie die dazugehörige Debatte in den Jahren 1902 und 1903 Gegenstand einer eingehenden Analyse sein wird. Vgl. Schachtel, Hugo: Judentum – Zionismus – Deutschtum, in: Die Welt, VII. Jg., Nr. 3 (16. 01. 1903), S. 1f.

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schen Kollektivs und somit der (kultur-) erzieherischen Aufgabe von Zionismus. Auch wenn die Jüdische Rundschau, was die Programmatik und Tiefe ihres zionistischen Kulturprogramms betrifft, nicht (immer) mit dezidiert kulturzionistischen Zeitschriften wie etwa Ost und West (1901–1923)684 und Martin Bubers Der Jude (1916–1928)685 verglichen werden kann, wurden in den in ihr geführten Debatten und veröffentlichten Beiträgen doch kulturzionistische Deutungsmuster formuliert, etabliert, adaptiert und verhandelt, welche die innerzionistische Diskussion um eine eigene Nationalkultur bis in den Ersten Weltkrieg hinein wesentlich prägten. Die beteiligten Beiträger verständigten sich darin nicht nur über die Konstruktion einer eigenen nationalen Sprache und Kultur, sondern auch über den Anteil deutscher und jüdischer Kultur im Zionismus. Die Geschichts-, Kultur- und Literaturwissenschaft hat sich bis dato mit unterschiedlichen Schwerpunkten mit der allgemeinen innerjüdischen Diskussion über das Thema im gesamten 19. und frühen 20. Jahrhundert auseinandergesetzt.686 In den Studien, die ein zionistisches Diskursfeld erschlossen, standen bislang in erster Linie der deutschsprachige Kulturzionismus am Beispiel von Martin Buber,687 die öffentlichkeitswirksame ›Kunstwart-Debatte‹688 im Jahr 1912 und die Debatte zwischen Martin Buber und Hermann Cohen während des Ersten Weltkrieges im Mittelpunkt der Analysen.689 Die Deutungsmuster in den innerzionistischen Selbstbestimmungsdebatten in der Jüdischen Rundschau 684 Vgl. dazu Kap. I.2. und Kap. II.5.3 der vorliegenden Arbeit und Brenner, Identities; Rosenfield, Gavriel D.: Defining ›Jewish Art‹ in Ost und West, 1901–1908. A Study in the Nationalisation of Jewish Culture, in: LBIYB 39 (1994), S. 83–110. 685 Vgl. insbes. Lappin, Jude. 686 Aus der umfangreichen Literatur zum Thema vgl. u. a. von Borries, Hans Joachim: Deutschtum und Judentum. Studien zum Selbstverständnis des deutschen Judentums, Hamburg 1971; Mendes-Flohr, Paul: German Jews. A Dual Identity, New Haven/London 1999; ders.: Jüdische Identität. Die zwei Seelen der deutschen Juden. Aus dem Amerikanischen von Dorthe Seifert, München 2004; Horch, Hans Otto (Hg.): Handbuch der deutsch-jüdischen Literatur, Berlin/Boston 2016; Schulte, Christoph: Nicht nur zur Einleitung. Deutschtum und Judentum. Ein Disput unter Juden aus Deutschland, in: Ders. (Hg.): Deutschtum und Judentum, Stuttgart 1993, S. 5–27. Hans Otto Horch definiert in seiner Einleitung zum Handbuch der deutsch-jüdischen Literatur beispielsweise deutschjüdische Literatur selbst als »›Zwischenraum‹: Zwischen den Sprachen, zwischen Ost und West, zwischen Ideologien, zwischen Tradition und Avantgarde, zwischen den Nationen« (Horch, Hans Otto: Einleitung, in: Ders., Handbuch, S. 4, hier S. 1–6). Eine Auswahl zentraler Texte zum Thema beinhaltet Schulte, Christoph (Hg.): Deutschtum und Judentum. Ein Disput unter Juden in Deutschland, Stuttgart 1993. 687 Vgl. Vogts, Positionierungen, S. 41–112 und Kilcher, Andreas B.: Jüdische Renaissance und Kulturzionismus, in: Horch, Handbuch, S. 99–121. 688 Vgl. Voigts, Manfred: Die ›Kunstwart-Debatte‹. Kontroversen um Assimilation und Kulturzionismus, in: Horch, Handbuch, S. 122–134 und Kap. III.3.3.1 der vorliegenden Arbeit. 689 Vgl. dazu vor allem Sieg, Intellektuelle, S. 23–52, 231–255 und Lappin, Jude, S. 139–142, 143–149, 163–171.

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wie in der frühen Jeremias/Schachtel-Auerbach-Debatte der Jahre 1902 und 1903 hingegen wurden bislang nur unsystematisch in den Blick genommen wie vor allem in den Monographien von Jehuda Reinharz690. Dies erscheint umso überraschender, da die Positionierung einzelner Zionisten in der ›Kulturfrage‹ der historischen Forschung nicht zuletzt zur Diagnose des ›Generationenkonflikts‹ im deutschen Zionismus diente,691 welche im letzten Kapitel des Hauptteils eingehend untersucht werden soll.692 Daneben lässt gerade die wiederholte Thematisierung die Bedeutung erkennen, welche die deutschen Zionisten dem Thema selbst beimaßen. Die zionistischen Vorstellungen von einer eigenen Nationalkultur berührten demnach nicht zuletzt immer auch die Frage, wie sich das zionistische Kollektiv zur Kultur und Geschichte des eigenen Herkunftslandes positionieren sollte, was darüber hinaus stets praktische Implikationen für die zionistische Agitation und Propaganda mit sich brachte.693 Dass die auf dem Delegiertentag in Leipzig 1914 formulierten, konkurrierenden kulturalistischen Narrative zumindest in Ansätzen bereits im deutschen Zionismus um die Jahrhundertwende etabliert waren und die Frage nach dem Verhältnis des deutschen Zionismus zur deutschen Kultur demnach einen Grundkonflikt bildete, der die ZO in Deutschland seit ihrer Gründung begleitete, kann exemplarisch an einer in den Jahren 1902 und 1903 in der Welt und in der Jüdischen Rundschau geführten Debatte gezeigt werden. Diese wurde vor allem zwischen den Breslauer Zionisten Carl Jeremias und Hugo Schachtel auf der einen Seite und Elias Auerbach auf der anderen Seite ausgetragen. Auslöser für die Debatte war ein Artikel, den Carl Jeremias im November 1902 im Zentralorgan der zionistischen Bewegung, Die Welt, veröffentlicht hatte und in dem er den Versuch unternahm, »in die psychologischen Tiefen des deutschen Judentums«694 zu blicken und die Ursachen für die aus seiner Sicht zu langsamen Fortschritte des Zionismus im deutschen Judentum zu finden.695 Jeremias kam schließlich zu dem Ergebnis, dass das wichtigste Hindernis für die Verbreitung zionistischen Gedankenguts in Deutschland in der weiten Verbreitung der Assimilation unter den deutschen Juden und in ihrer tiefen Anhänglichkeit an der ›deutschen Kultur‹ bestände.696 Die Gründe für deren Anziehungskraft glaubte er weiter in der Ähnlichkeit zwischen Deutschen und Juden, der beiden ›Stämme« 690 691 692 693

Vgl. hier vor allem Reinharz, Fatherland. Vgl. Reinharz, Generations. Vgl. dazu Kap. I.3 der Einleitung und Kap. III.3.3 der vorliegenden Arbeit. Vgl. dazu auch Auerbach, Elias: Deutsche Kultur im Zionismus, in: JR, VIII. Jg., Nr. 7 (13. 02. 1903), S. 49–51, hier S. 51: »Diese ganzen Auseinandersetzungen haben nicht nur theoretisches Interesse, sondern greifen tief in die Taktik der zionistischen Agitation ein.« 694 Jeremias, Carl: Das deutsche Judentum und der Zionismus, in: Die Welt, VI. Jg., Nr. 46 (14. 11. 1902), S. 3–5, hier S. 3. 695 Vgl. ebd. 696 Vgl. ebd.

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bzw. »Volkscharaktere«697, die er vor allem auf gemeinsame bürgerliche Werte und Errungenschaften der Aufklärung zurückführte, zu erkennen, die zu einer erheblichen jüdischen Mitgestaltung an deutscher Kultur, Politik und Wissenschaft geführt hätten.698 Sich von jenen abzulösen, setze daher die Aufgabe der Bequemlichkeit des deutschen Juden im Allgemeinen voraus, die dieser von seinen deutschen Mitbürgern, dem »Deutschen Michel«, übernommen hätte.699 Für Jeremias war Zionismus insgesamt auf lange Sicht unvereinbar mit der Übernahme deutsch-kultureller oder inter- bzw. multikultureller Vorstellungen, wobei er forderte, dass der Zuwendung zum Zionismus daher stets »ein hartes Ringen mit der Anhänglichkeit an die liebgewordenen [deutschen] Kulturgüter« und eine allmähliche und schmerzvolle Distanzierung und Ablösung von diesen vorausgehen müsse.700 In einem weiteren Artikel, der nur wenige Wochen darauf in der Jüdischen Rundschau Anfang Dezember 1902 erschien,701 bekräftigte Jeremias seine Haltung. Er erweiterte seine Position noch dahin gehend, dass die verordnete national-kulturelle Separation aus seiner Sicht nicht nur das Kulturempfinden, sondern einen »ganzen Komplex von Fragen« wie »Staatsbürgertreue, Heimatsgefühl, Vaterlandsliebe«702 sowie das Verhältnis dieser Komponenten zum jüdischen Nationalgefühl und die Frage nach deren grundsätzlicher Vereinbarkeit überhaupt beträfe.703 Seine Ausführungen verband er schließlich mit der grundsätzlichen Forderung nach einer »Rückkehr ins Judenland«, die nur über die Schaffung einer »neujüdischen Kultur« erreicht werden könne: »Vor allem aber wird die jüdische Renaissance auf die heranwachsende Generation machtvolle Wirkung entfalten; diese wird nicht mehr in einseitig deutschem Kulturmilieu sich entwickeln, nicht später vor die schwere Wahl zwischen zwei Kulturwelten gestellt werden. Sie muss gleich in das neujüdische Bildungs- und Empfindungsleben, die alte Heimatssehnsucht und das neue Vaterlandsgefühl hineinwachsen und so noch im Golus ein geschlossenes jüdisches Leben führen lernen, das ›durch fremde Einflüsse nicht verdeckt und verkümmert‹ wird. Dass mit also exklusivem Judaismus sich die Hochachtung vor einer ›fremden‹, z. B. der deutschen Kultur, sehr wohl verträgt, das bedarf keiner Ausführung.«704 697 Ebd. 698 Vgl. ebd. Jeremias nannte hier u. a. den Rationalismus, die Bedeutung der bürgerlichen Familie, die geschlechtsspezifischen bürgerlichen Tugenden von Mann und Frau und den Individualismus. 699 Vgl. ebd. 700 Ebd. 701 Vgl. Jeremias, Carl: Unnötige Sorgen. Eine Erwiderung auf den Artikel des Herrn E. Auerbach, in: JR, VII. Jg., Nr. 49 (05. 12. 1902), S. 73f. 702 Ebd., S. 74. 703 Vgl. ebd. 704 Ebd.

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Jeremias Ausführungen stießen auf den entschiedenen Widerspruch Elias Auerbachs. In einem ersten Aufsatz, der in der Jüdischen Rundschau unter dem Titel »Unnötige Sorgen« im November 1902 erschien,705 polemisierte Auerbach im Besonderen gegen die Forderung von Jeremias nach unmittelbarer kultureller Abschließung und Exklusivität, die er zumindest aufgrund der momentanen tiefen Verwurzelung des ›deutschen Juden‹ in der ›deutschen Kultur‹ für illusorisch hielt. Dieser setzte er daher die Tiefe und Wahrhaftigkeit seiner »Liebe zum Deutschtum«706 und seine »Vaterlandsliebe«707 entgegen, die er in einem fiktiven Bewusstseinsmonolog an seine deutschen Mitbürger beschwor.708 Zugleich brachte er darin jedoch in zionistisch-kulturkritischer Manier sein Bedauern über die kulturelle Zerrissenheit des Juden in der Diaspora zum Ausdruck, die er mit einem Krankheitszustand verglich und für den Verlust des holistischen Charakters der jüdischen Lebensweise verantwortlich machte: »Nicht ein Ringen ist es, das ist ein falsches Wort, sondern ein bedauerndes Gefühl, das mein Wesen aus diesen unharmonischen Elementen gebildet, kein einheitliches, geschlossenes Ganzes ist. Aber hat mit der Stellung zum Zionismus nicht das Geringste zu tun [sic!], an diesem Uebel krankt der zionistische Jude ebenso wie der nichtzionistische, es ist das allgemeine Elend der Verbannung. Eins aber empfinde ich wahr und tief, die Sehnsucht, aus diesem Zustande herauszukommen, deren Erfüllung für uns unmöglich sein mag, aber unsere höchste Arbeit für unsere folgende Generation ist. […] Wir stellen demnach den Leitsatz auf: Kein deutscher Jude, der zum Zionismus kommt, gebe sein Deutschtum oder die Liebe zum Deutschtum auf. Er habe nur das Bewusstsein, dass unser jetziger Zustand ein innerlich kranker ist, und den Willen, an einer Entwicklung mitzuarbeiten, die dem jüdischen Volk gestattet, seine natürlichen Anlagen zur Entfaltung zu bringen, ohne dass sie durch fremde Einflüsse verdeckt und verkümmert werden.«709

Auch wenn Auerbach also die Hinwendung zum Zionismus für sich und seine Mitbürger nicht mit der grundsätzlichen Forderung nach einer sofortigen Abwendung von der deutschen Kultur verbinden wollte, sprach er dennoch der Position von Jeremias nicht ihre Legitimität ab. Vielmehr zeigte er sich an dieser Stelle einer kulturalistisch-partikularistischen Lesart von ›jüdischem Nationalismus‹ gegenüber noch prinzipiell offen, verbannte diese jedoch vehement in Vgl. Auerbach, Elias: Unnötige Sorgen, in: JR, VII. Jg., Nr. 48 (28. 11. 1902), S. 65–67. Ebd., S. 66. Ebd., S. 65. Vgl. ebd., S. 66: »Wer sagt Euch denn, dass ich weniger Liebe zur deutschen Kultur habe, als Ihr? Beugt ihr Euch in tieferer Achtung vor den Heroen deutschen Geistes als ich? Seid ihr mehr in deutscher Bildung aufgewachsen als ich? Lest ihr Goethe und Schiller inniger? Könnt ihr die nationale Wiedergeburt des deutschen Volkes eindringlicher erfassen als ich, der ich für die nationale Wiedergeburt meines Volkes arbeite? Ihr solltet einmal hören, wie ich von deutscher Kultur gegenüber dem Mitglied eines anderen Volkes spreche!« 709 Ebd.

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den Bereich der Zukunft. Der Zionismus sollte also auch bei Auerbach die Aufgabe übernehmen, den Juden (in diesem Fall der folgenden Generation) aus dem diagnostizierten Krankheitszustand kultureller Entzweiung zu befreien, wobei er jedoch nicht näher auf das konkrete emanzipatorische Mittel einging. Schließlich beteiligte sich auch Hugo Schachtel an der Debatte, der gewissermaßen eine Vermittlerposition zwischen beiden Extrempositionen einnahm. In seinem Aufsatz »Judentum – Zionismus – Deutschtum«, der im Anschluss an Auerbachs ersten Beitrag in Die Welt710 im Januar 1903 veröffentlicht wurde, versuchte Schachtel, die Thesen von Jeremias zu relativieren, wobei er (irrtümlicherweise) darauf hinwies, dass Jeremias nur von einem »Ringen« und nicht einem »Sichlossagen« gesprochen hätte.711 Auch nach seiner Meinung könne der Zionist, der in seiner Sozialisation wie Erziehung mit der deutschen Kultur eng in Berührung gekommen sei und diese verinnerlicht habe, diese Komponenten seines Ichs nicht plötzlich ablegen und sich davon frei machen. Dennoch forderte auch Schachtel, dass eine künftige nationaljüdische Erziehung autonom und national-individualistisch sein müsse.712 In einem zweiten Beitrag mit dem Titel »Deutsche Kultur im Zionismus«713, der einen Monat nach Schachtels Beitrag im Februar 1903 in der Jüdischen Rundschau abgedruckt wurde, schloss Auerbach vorerst die Debatte, wobei er seine Sichtweise auf die »kulturelle Assimilation«714 des deutschen Zionisten 710 Vgl. Schachtel, Hugo: Judentum – Zionismus – Deutschtum, in: Die Welt, VII. Jg., Nr. 3 (16. 01. 1903), S. 1f. 711 Ebd., S. 1. 712 Ebd., S. 1: »Und das Ringen mit der Anhänglichkeit an eine Kultur ist doch wohl etwas anderes als ein Sichlossagen von einer Kultur selbst. Das ist etwas überhaupt unmögliches. Eine Kultur, die ich in mir aufgenommen, kann ich doch nie mehr aus mir bannen. Ein anderes ist es, wenn ich der Kultur, in der ich aufgewachsen, nicht die Anhänglichkeit bewahre, sie ohne weiteres meinen Kindern einimpfen zu wollen. Wir streben doch nach eigener jüdischer Kultur. Auerbach, der nicht einmal Verwandtschaft zwischen deutschem und jüdischem Wesen zugibt, wird sicher nicht behaupten, dass diese beiden Kulturen identisch wären?« 713 Vgl. Auerbach, Elias: Deutsche Kultur im Zionismus, in: JR, VIII. Jg., Nr. 7 (13. 02. 1903), S. 49–51. 714 Ebd., S. 49: »Und nun […] wie steht der Zionist zum Deutschtum und deutscher Kultur? […] Ich leugne, dass der zionistische Jude eine wesentlich andere Stellung zur deutschen Kultur einnehme als der nichtzionistische. Was wir für die deutschen Juden im allgemeinen gesagt haben, gilt ohne Rückhalt auch für den Zionisten. Wie der deutsche Jude in der grossen Mehrzahl der Fälle trotz des redlichen Willens nicht restlos Deutscher sein kann, weil zu viel spezifisch jüdische Elemente in sein Gefühlsleben eingegangen sind, so ist auf der anderen Seite der deutsche Zionist trotz des redlichsten Willens ausser stande, ganz und gar Jude zu sein, weil vier Generationen des übermächtigen deutschen Kulturlebens nicht spurlos an ihm vorübergegangen sind. Er ist nicht weniger assimiliert als jeder andere Jude, auch wenn ihn die Assimilationssucht ein Greuel ist, und aus dem Bilde unseres heutigen Geisteslebens sind die deutschen Elemente schlechterdings nicht fortzudenken. Ist diese Art der Assimilation zu verdammen? Ich weiss es nicht. Man mag überzeugt sein, dass sie

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nachdrücklich bestätigte. Er pflichtetete Jeremias bei, dass das Verhältnis zwischen ›Judentum‹, ›Zionismus‹ und ›Deutschtum‹ eng mit der grundsätzlichen Frage nach der gegenwärtigen »Stellung des Judentums zum Deutschtum, des jüdisch-nationalen zum deutsch-nationalen Denken, […] der Judenheit zum deutschen Volke«715 und somit mit dem Verhältnis von ›jüdischem Nationalismus‹ und ›deutschem Nationalismus‹ überhaupt verbunden sei. Auerbach hielt daher in gewohnt enger Anlehnung an neolamarckistische Thesen Erziehung, Umwelt und Vererbung auch in der ›Kulturfrage‹ für entscheidend.716 Die Lösung für das Kulturproblem lag für Auerbach jedoch nicht in einer einfachen Übernahme osteuropäischer Lebensformen, die er mit nationalem »Chauvinismus«717 und einer Propaganda des »Durchaus-Judentums«718 gleichsetzte, womit er wohl auch dem Kulturzionismus eine starke osteuropäische Prägung unterstellte.719 In bewusster Absetzung von (gefühlten) hegemonialen, kulturell-partikularistischen Nationsvorstellungen entwickelte Auerbach im Folgenden daher ein ambivalentes Modell national-kultureller Hybridität, das dem deutschen Zionismus selbst eine Zwischenposition zwischen jüdischer und deutscher Kultur zuwies und gerade in dieser Interkulturalität seine Eigentümlichkeit und Berechtigung zu erkennen glaubte. Die besondere Qualität wie Aufgabe des deutschen Zionismus lag nach Auerbach nämlich darin, dass er im Prozess der Aufnahme und Verarbeitung deutsch-kulturalistischer wie nationaljüdischkulturalistischer Denkfiguren dem Individuum – sozusagen als übergreifender geistiger Rahmen – überhaupt erst ermögliche, das Verhältnis zwischen jüdischen und deutschen Komponenten in seiner Persönlichkeit zu gewichten. Erst im Anschluss daran könne der Zionist die Priorität seiner jüdischen Wesensbestandteile entdecken und fördern.720 Selbst in Auerbachs Variante einer hy-

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nicht dem Ideal eines jüdischen Nationalismus entspricht, der auf einer eigenen Kultur fusst, einer Volkskultur […], man mag den Wunsch oder die Sehnsucht haben, aus diesem nicht rund in sich geschlossenen Zustande herauszukommen.« Ebd., S. 49. Vgl. ebd., S. 49–51. Ebd. Ebd. Vgl. Vogt, Positionierungen, S. 43, der dieses, von zionistischer Seite, oftmals unterstellte Argument widerlegt. Auerbach, Kultur, S. 49f.: »Wodurch unterscheidet sich nun der Zionist von andern deutschen Juden? Einfach dadurch, dass erst der Komplex nationaljüdischer Ideen ihn befähigt, kritisch zu sichten in seinem Innern, wie gross die jüdische, wie gross die deutsche Komponente seines Geisteslebens ist, oder vielmehr überhaupt erst ihn befähigt zu erkennen, dass grosse und intime Teile seines Wesens nicht deutschen, sondern jüdischen Ursprungs sind. Aus dieser Erkenntnis folgt für den werdenden Nationaljuden, dass er nicht gut daran tut, diesen Kern seines Wesens bewusst abzutöten, sondern zu erwecken und zu entwickeln. Und hat er erkannt, dass das Jüdische in ihm das Primäre und Naturgemässe, Adäquate ist, so ist alles übrige nur Konsequenz. Dieser jüdische Wille unterscheidet den

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briden national-kulturellen Erziehungsarbeit sollte darauf geachtet werden, den jüdischen Kindern »von der deutschen Kultur und ihren herrlichen Schätzen nichts vorzuenthalten, auch nicht die kerndeutschen Märchen und Sagen, unbeschadet ihrer nationaljüdischen Erziehung.«721 In der Auseinandersetzung zwischen Auerbach, Jeremias und Schachtel manifestierten sich Argumentations- und Deutungsmuster, welche die entsprechenden zionistischen Diskurse bis zur Debatte auf dem Delegiertentag in Leipzig (1914) und darüber hinaus prägen sollten. Dabei stellten die Positionen Auerbachs und Jeremias im innerzionistischen Diskurs die Extrempositionen bzw. Pole dar, zwischen denen die Meinungen oszillierten. Wie Christoph Schulte betont, bildete die Debatte um ›Deutschtum‹, ›Judentum‹ und ›Zionismus‹ im deutschen Zionismus einen Binnen- und Außendiskurs: Über ihre subjektiven Zugehörigkeits- wie Abgrenzungsentwürfe verständigten sich die zionistischen Autoren nicht nur über die Form und Bedeutung einer jüdischen Nationalkultur, sondern positionierten sich mit der öffentlichen Festschreibung der Narrative zugleich gegenüber den Aussagen des innerjüdischen wie deutschnationalen bzw. antisemitischen Diskurses, in denen über dieselben Komponenten verhandelt wurde.722 So berührte die Debatte um ›Deutschtum‹ und ›Judentum‹ bzw. ›Zionismus‹ etwa auch empfindlich das Verhältnis der ZVfD zu anderen jüdischen Organisationen im Deutschen Kaiserreich wie dem Centralverein,723 der nach seinen Gründungsstatuten primär darum bemüht war, die »deutsche Gesinnung« unter den Juden in Deutschland zu pflegen und ihr ›Deutschtum‹ und ›Judentum‹724 zu einer harmonischen Synthese zu bringen.725 Auch wenn die kulturellen Selbst-

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Zionisten vom Nichtzionisten. Mit der Liebe zur deutschen Kultur hat er nichts zu tun, und ein ›Ringen mit der Anhänglichkeit an die liebgewordenen Kulturgüter‹ steht mit ihm in keinem kausalen Zusammenhange.« Ebd., S. 50. Vgl. allgemein Schulte, Einleitung, S. 16f. Zu den ideologischen Positionen des Centralvereins, die auch zionistische Positionen beeinflussten vgl. Barkai, Centralverein; Bernstein, Reiner: Zwischen Emanzipation und Antisemitismus. Die Publizistik der deutschen Juden am Beispiel der »C.V.–Zeitung«, Organ des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens, 1924–1933, Diss. phil. Berlin 1969; Friesel, Evyatar : The Political and Ideological Development of the Centralverein before 1914, in: LBIYB 31 (1986), S. 121–146; Reinharz, Jehuda: Deutschtum und Judentum in the Ideology of the Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens 1893–1914, in: JSS 36 (1974), S. 19–39. Vgl. auch die Schrift des früheren CV-Vorsitzenden und Mitgründers des »Verbandes der deutschen Juden« Fuchs, Eugen: Um Deutschtum und Judentum, Frankfurt a. M. 1919. Vgl. Fuchs, Eugen: Rede in der Hauptversammlung des Centralvereins im Mai 1913, in: IdR, Bd. 5–6, Nr. 5 (Mai 1913), S. 194. »The overriding position of the C.V. before World War I was the advocacy of Deutschtum as the primary loyalty above all other loyalties including Judentum. […] One of the major ideological tasks of the C.V. until World War I was, therefore, to construct a complete theory

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bestimmungsentwürfe der Mitglieder des Centralvereins in der Zeit bis zum Ersten Weltkrieg und teilweise darüber hinaus bis in die Zeit der Weimarer Republik relativ konstant blieben, so haben mehrere Studien zum Centralverein doch gezeigt, dass sie mitunter mit recht ambivalenten Deutungsmustern einhergehen konnten und in einem engen Wechselverhältnis zum zionistischen Nationalismus in Deutschland standen.726 Vor diesem Hintergrund scheint es auch kein Zufall, dass die frühe Debatte in den Jahren 1902/03 gewissermaßen zwischen der Jüdischen Rundschau und der Welt stattfand, wobei in der Welt als dem offiziellen, eher nach innen gerichteten Organ der ZO die Forderung nach kultureller Abschließung erhoben wurde, während in der Jüdischen Rundschau, die zumindest offiziell eine nichtzionistische Leserschaft anstrebte und der möglichen Gewinnung neuer Anhänger im deutschen Judentum dienen sollte, die Formulierung einer national-kulturellen Hybridität zirkulierte. Gleichzeitig antworteten die deutschen Zionisten mit der Formulierung und Etablierung der beschriebenen Deutungsmuster einstimmig, wenn auch unterschiedlich, auf entsprechende hegemoniale, antisemitische Argumentationsmuster727 radikaler Nationalisten und prominenter Kulturnationalisten wie Richard Wagner, Heinrich Treitschke, Paul de Lagarde, Adolf Bartels und Houston Stewart Chamberlain, indem sie dem Narrativ der ›kulturellen Minderwertigkeit‹ der Juden ihre Varianten des jüdischen ›Kulturwertes‹ entgegensetzten. Nicht selten erzeugten diese Auseinandersetzungen jedoch an sich widersprüchliche Gegennarrative, wobei Autoren wie Elias Auerbach ihre eigenen antihegemonialen Vorstellungen unterliefen, indem sie in ihren Beiträgen von der scheinbaren »Übermächtigkeit«728 einer deutschen »Menschheitskultur«729 sprachen, der sich der »jüdische Geist«730 und damit auch der Zionist nicht entziehen könne. Die Sicht des engen Abhängigkeitsverhältnisses zwischen ›Deutschtum‹ und (westeuropäischem) ›Judentum‹ konnte dabei im zionistischen Sprachgebrauch wie bei Franz Oppenheimer durch die Charakterisierung des Zionisten als eines »Kulturdeutschen« auf die Spitze getrieben werden, der die Zugehörigkeit zu einer deutschen »Kulturgemeinschaft« ein- und zu einer jüdischen »Kulturgemeinschaft« konsequent ausschloss.731 Zugleich müssen beide Konzepte sowie der Kulturzionismus an sich in der Tradition der zeitge-

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in which both Deutschtum and Judentum could be components of the Weltanschauung of the German Jew, with Judentum relegated to a place of secondary importance.« (Reinharz, Ideology, S. 28f.) Vgl. hierzu ebd., S. 29, Fn. 60 und für die Zeit der Weimarer Republik Bernstein, Publizistik. Vgl. hier auch die Beispiele bei Kilcher, Renaissance, S. 99. Auerbach, Kultur, S. 51. Ebd., S. 49. Ebd., S. 51. Oppenheimer, Franz: Stammesbewusstsein und Volksbewusstsein, in: Die Welt, Nr. 7 (18. 02. 1910), 139–143, hier S. 143.

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nössischen Betonung der (deutschen) ›Kulturnation‹, die in ihrer Wirkmächtigkeit auf den zionistischen Diskurs bereits zuvor beschrieben wurde, betrachtet werden.732 Diese doppeldeutige Hybridität des frühen zionistischen Diskurses im Untersuchungsmedium zeigte sich nicht zuletzt an der Verwendung von Kollektivbezeichnungen wie ›Deutschtum‹ und ›Judentum‹ selbst, kraft derer die Zeitgenossen die Gesamtheit der für ›die Deutschen‹ und ›die Juden‹ typischen Lebensäußerungen und Merkmale erfassen wollten.733 Im Gegensatz zum Begriff ›Judentum‹, der bereits seit der jüdischen Aufklärung, Haskalah,734 und der impliziten Bedeutungsabnahme der durch den Talmud geprägten, religiös-orthodoxen Tradition in innerjüdischen Selbstbestimmungsdebatten bzw. in deren Auseinandersetzung mit der europäischen Aufklärung breite Verwendung gefunden hatte,735 wurde der Begriff ›Deutschtum‹ wohl erst ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, wie ein entsprechender Eintrag im Deutschen Wörterbuch der Gebrüder Grimm im Jahr 1860 vermuten lässt, geläufig. Dort heißt es, der noch junge Begriff werde anstelle von »Deutschheit« in ironischer Absicht verwendet, um »damit übertriebene Anhänglichkeit an deutsches Wesen [zu] bezeichnen«736. Folgerichtig erfreute sich der Begriff ›Deutschtum‹ im Deutschen Kaiserreich vor allem im nationalistischen Diskurs zunehmend großer Beliebtheit und diente unter radikalen Nationalisten wie im bekannten Schlagwort »Deutschtum im Ausland« in aller Regel dazu, der wahrgenommenen Spannung zwischen dem reichsdeutschen Nationalstaat und einem älteren, fortdauernden ethnisch-kulturellen Nationsverständnis und somit expansionspolitischen Überzeugungen Ausdruck zu verleihen.737 Doch wohl gerade aufgrund des mitschwingenden emphatischen Bekenntnisses zur ›deutschen Kultur‹ wurde der Begriff auch für jüdische Autoren aus dem liberalen Milieu attraktiv, die ihn in Synthese oder Opposition zu ›Judentum‹ stellten, um ihre Loyalität zum deutschen Staat und zur deutschen Kultur zum Ausdruck zu bringen.738 732 Vgl. hierzu auch Kap. III.1.1 und Kap. III.1.2 der vorliegenden Arbeit. 733 Zur Absurdität der Begriffe vgl. auch Schulte, Einleitung, S. 40: »Deutschtum und Judentum ist ein unmögliches Thema. Deutschtum ist ein Unding, und Judentum ist ein Unding.« 734 Vgl. Schulte, Christoph: Jüdische Aufklärung (»Haskala«), in: Kotowski, Elke-Vera u. a. (Hg.): Handbuch zur Geschichte der Juden in Europa, Bd. 2: Religion, Kultur, Alltag, Darmstadt 2001, S. 240–257. 735 Vgl. Schulte, Einleitung, S. 18–21; Niewöhner, Friedrich: Art. »Judentum, Wesen des Judentums« und »Judentum, Wissenschaft des Judentums«, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. von Joachim Ritter und Karlfried Gründer, Bd. 4, Basel/Stuttgart 1976, Sp. 649–658. Vgl. z. B. Ascher, Saul: Die Germanomanie, Berlin 1815, S. 13f. 736 Grimm, Jacob/Grimm, Wilhelm: Deutsches Wörterbuch, Bd. II, Leipzig 1860, S. 1053; bereits Flohr, Identität, S. 20, Fn. 21. 737 Vgl. Walkenhorst, Nation, S. 65; Weidenfeller, Verein, S. 74–99. 738 Vgl. dazu am Beispiel des Centralvereins auch Reinharz, Ideology, S. 28f.

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Für Zionisten wie Auerbach, Jeremias und Schachtel war die Frage nach dem Verhältnis von ›Zionismus‹, ›Judentum‹ und ›Deutschtum‹ also im Zuge der fortschreitenden Säkularisierung neben der politischen ebenfalls auf eine ›Kulturfrage‹ zusammengerückt, deren Lösung sie in der Gründung einer neuen, hybriden oder mehr oder weniger dezidiert jüdischen bzw. hebräischen, Kulturbewegung sahen. Diese kulturellen Perspektiven besaßen im politischen Zionismus herzlianischer Prägung, welcher in erster Linie die Befreiung aus der »Judennot« anstrebte und den die Jüdische Rundschau zunächst vordergründig unterstützte, eine unter- oder beigeordnete Stellung, wie sich beispielsweise an den vagen Formulierungen in Herzls Schrift »Der Judenstaat« (1896) erkennen lässt, der säkular und kosmopolitisch ausgerichtet ist.739 Dennoch hatte auch Herzl die Bedeutung der Schaffung einer jüdischen Nationalkultur erkannt und räumte dem deutschsprachigen Kulturzionismus etwa auch umfangreichen diskursiven Raum im offiziellen Organ der Bewegung, Die Welt, ein, das zwischen 1900 und 1901 von Berthold Feiwel und Martin Buber redigiert wurde.740 Die Idee einer autonomen und partikularistischen national-individualistischen Kultur wurde maßgeblich von Ascher Ginzberg alias Achad Ha’am geprägt, der bereits seit den 1880er Jahren in Odessa unter dem Einfluss der Chibbat-ZionBewegung seine kulturzionistischen Vorstellungen formulierte.741 Im Vorwort seiner gesammelten Schriften postulierte Achad Ha’am etwa zeitgleich mit Herzl, »daß die Befreiung unseres Geistes unserer nationalen Befreiung vorausgehen müsse«742. Als Mittel dieses kulturalistischen, gemeinschaftsstiftenden »geistigen« oder »inneren« Zionismus sollten u. a. die Wiederbelebung des Hebräischen als authentischer jüdischer Sprache und die Schaffung einer neuhebräischen Literatur, die im Werk von Achad Ha’ams Schüler Chaim Nachman Bialik und in seinen Vorstellungen vom »hebräischen Buch« Wirklichkeit werden sollte, dienen.743

739 Vgl. Herzl, Judenstaat. 740 Vgl. Vogt, Positionierungen, S. 42. 741 Zum Einfluss von Achad Ha’am und zum deutschsprachigen Kulturzionismus vgl. Kilcher, Renaissance; Reinharz, Haam; Vogt, Positionierungen, S. 41–112. Vgl. auch Anon.: Achad Haams Jubiläum (mit einem Abdruck von Haam, Achad: Der Weg des Lebens und Worten Achad Haams), in: JR, XXI. Jg., Nr. 33 (18. 08. 1916), S. 271–274; Kruppnik, B.: AchadHaam und sein »Haschiloah«, in: ebd., S. 274f.; Uscher Ginzberg (Achad Haam). [Jubiläumsnummer] Zum 70. Geburtstag (25.Ab 5686), JR, XXXI. Jg., Nr. 60 (03. 08. 1926); Meyer, Max: Achad Haam und unser hebräisches Kulturstreben, in: ebd., S. 434. 742 Ha’am, Achad: Vorwort des Verfassers zur ersten hebräischen Auflage (1895), in: Ders.: Am Scheidewege. Aus dem Hebräischen von Israel Friedlaender, Bd. 1, 2., verb. und verm. Aufl. Berlin 1913, S. 10–20, hier 14. 743 Zum Konzept der neuhebräischen Literatur, zu Chaim Nachman Bialik und zu den Vertretern einer ›hebräischen Moderne‹ in Berlin vgl. Lappin, Jude, S. 320–340 und Or, Tamara: Berlin, Nachtasyl und Organisationszentrum. Die hebräische Bewegung 1909–1933, in:

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Der Einfluss Achad Ha’ams und seiner kulturzionistischen Vorstellungen, denen Nathan Birnbaum im Jahr 1903 ein kleines biographisches Büchlein widmete744, auf die zuvor beschriebene Debatte kann nur vermutet werden, da Ha’ams Schriften erst seit der Jahrhundertwende in Deutschland in Übersetzung erschienen. Von größerer Bedeutung in diesem Zusammenhang ist jedoch die Entwicklung eines deutschsprachigen Kulturzionismus, der unter den deutschen Zionisten bereits zur selben Zeit prominente Anhänger gefunden hatte, die sich u. a. in der Demokratischen Zionistischen Fraktion zusammenfanden und »als eine loyale Opposition«745 innerhalb der zionistischen Bewegung und unter Herzls Führung die kulturellen Tendenzen fördern wollten.746 Bereits in seinem Referat über »Jüdische Kunst« auf dem Fünften Zionistenkongress, der Ende Dezember 1901 in Basel stattfand, hatte Martin Buber747 die Existenz einer »jüdischen Volkscultur«748 und »jüdischen Kunst«749 als »Mittel zur Erziehung«750 hervorgehoben und »die Vertiefung und Verinnerlichung des Zionismus«751 als Folge beschrieben. Obwohl er zunächst ganz allgemein von Kultur und Kunst sprach, dachte Buber in erster Linie an die bildende Kunst und an die Dichtung. Ähnlich ambivalent wie Auerbach und mit fast synonymer Begrifflichkeit – zwischen »Reichtum« bzw. »Schönheit« und »Zerspaltung« bzw. »Krankheit« – beurteilte Buber das Wesen der Dichtungsformen in der Diaspora: »Diese Dichtung entfaltet sich in drei grossen Zweigen: In der hebräischen Moderne, in der Jargonpoesie und in der Dichtung in fremden Sprachen. In dieser Dreiteilung drückt sich die ganze Zerrissenheit des heutigen Judenthums aus; hinter dieser Verschiedenheit der Sprachen ist etwas wie eine Zerspaltung der Seele. Und doch liegt wieder ein seltener Reichthum darin, namentlich in der Zweiheit von hebräischer und jüdischer Dichtung. Freilich ist es kein heimatlicher Reichthum, nicht der Reichthum

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Dohrn, Verena/Pickhan, Gertrud (Hg.): Transit und Transformation. Osteuropäisch-jüdische Migranten in Berlin 1918–1939, Göttingen 2010, S. 136–155. Vgl. Acher, Mathias [Birnbaum, Nathan]: Achad Ha-am, Ein Denker und Kämpfer der Jüdischen Renaissance, Berlin 1903. Vogt, Positionierungen, S. 42. Zur Demokratischen Fraktion vgl. u. a. Reinharz, Jehuda: Chaim Weizmann. The Making of a Zionist Leader, New York 1985, S. 65–91; Vital, Formative Years, S. 189–198 und zu ihrem Verhältnis zu Herzl vgl. auch Vital, Zionism, S. 194–195; Berkowitz, Culture, S. 40–45; Vogt, Positionierungen, S. 42f. Vgl. u. a. Weltsch, Robert: Was wir Buber danken, in: JR, XXXIII. Jg., Nr. 11 (07. 02. 1928), S. 76. Zu Buber und seinen kulturzionistischen Vorstellungen vgl. ausführlich Vogt, Positionierungen, S. 64–83. Buber, Martin: Jüdische Kultur, in: Stenographisches Protokoll der Verhandlungen des V. Zionisten–Congresses in Basel. 26., 27., 28., 29. und 30. Dezember 1901, Wien 1901, S. 151– 170. Ebd., S. 157. Ebd., S. 152. Ebd., S. 157.

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des friedlich Gesegneten, in Ruhe Geniessenden, sondern es ist ein Reichthum des Hazard, ein Reichthum der Wanderschaft, der Reichthum eines Königs in der Verbannung. […] Dagegen halte ich leider die jüdische Dichtung in nichtjüdischer Sprache für etwas Anormales, Tragisches, beinahe für eine Krankheit. Aber wie es Menschen, Thiere und Pflanzen gibt, die durch ihre Krankheit eine zaubervolle Schönheit erlangen, wie die Perle nicht anders als aus der Krankheit der Muschel geboren werden kann, so sehe ich so viel Glanz, so viel eigenthümliche Schönheit in dieser Dichtung, dass ich sie für eine den anderen Formen ebenbürtige Macht halte, dass ich ihrer Entwicklung mit freudiger Hoffnung entgegensehe.«752

Auch der Begriff der »jüdischen Renaissance«, den Jeremias verwendete, ging auf Martin Buber zurück753 und konnte als Ausdruck kultureller Nationalimusvorstellungen im deutschsprachigen Zionismus um die Jahrhundertwende gelten.754 Buber hatte in seinem Essay unter dem gleichen Titel das Programm einer nationaljüdischen kulturellen Erneuerungsbewegung formuliert, die sich in der Dialektik von Altem und Neuem formen und die Krankheit des Individuums in der »Wiedergeburt des ganzen Menschen«755 überwinden sollte. Diese Forderung nach einer spezifisch »jüdischen« Erneuerung sollte jedoch, wie Buber selbst betonte, im allgemeinen Kontext mit den modernisierungskritischen kulturellen Reformbewegungen in Deutschland und Europa um die Jahrhundertwende erfolgen, als deren Teil sich die jüdische begriff.756 Buber betonte weiter in einem Aufsatz aus dem Jahr 1905, dass er die wesentliche Aufgabe von Zionismus in der nationalen Erziehung757 der Jugend sehe. Dazu müssten allerdings keine neuen Werte geschaffen werden, da die überlieferten jüdischen Kulturwerte in der hebräischen Sprache, jüdischen Volksliedern und Sagen, jüdischen Denkfiguren und Taten weiterbestanden hätten und nur zu neuem Leben erweckt werden müssten.758 Wie er sich das Verhältnis zur deut752 Ebd., S. 166. 753 Vgl. Buber, Martin: Jüdische Renaissance, in: Ost und West 1:1 (1901), Sp. 7–10. 754 Vgl. Bertz, Inka: »Eine neue Kunst für ein altes Volk«. Die jüdische Renaissance in Berlin 1900 bis 1924, 25.9.–15. 12. 1991, Jüdisches Museum (Abt. d. Berlin-Museums) (Ausstellungsmagazin/Museumspädagogischer Dienst, Bd. 28), Berlin u. a. 1991; Brenner, Michael: Jüdische Kultur in der Weimarer Republik. Aus dem Englischen übersetzt von Holger Fliessbach, München 2000, S. 21–46; Herzog, Andreas: Zur Modernitätskritik und universalistischen Aspekten der »Jüdische Renaissance« in der deutschsprachigen Literatur zwischen Jahrhundertwende und 1918, in: TRANS. Internet-Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Nr. 2 (November 1997), URL: [letzter Zugriff erfolgt am 17. 03. 2016]; Meybohm, Erziehung, S. 25–35; Vogt, Positionierungen, S. 64–83. 755 Buber, Renaissance, Sp. 8. 756 Vgl. ebd. 757 Vgl. Buber, Martin: Das jüdische Kulturproblem und der Zionismus, in: Die Stimme der Wahrheit. Jahrbuch für wissenschaftlichen Zionismus, I. Jg., Nr. 1 (1905), S. 2013–216, hier S. 213. 758 Vgl. ebd., S. 213–216.

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schen Kultur dachte, geht aus der bereits in Auszügen in den vorhergehenden Abschnitten betrachteten Rede über »Das Judentum und die Juden« (1909) hervor : »Eine Wahl: das kann nicht so gemeint sein, als ob es darauf ankäme, das eine oder das andere auszuschalten, aufzugeben, zu überwinden; es wäre sinnlos, sich etwa von der umgebenden Kultur freimachen zu wollen, die ja von unseres Blutes innersten Kräften verarbeitet und uns eingeeignet worden ist. Wir wollen und dürfen uns bewußt sein, daß wir in einem prägnanteren Sinne als irgendein anderes Volk der Kultur eine Mischung sind. Aber wir wollen nicht die Sklaven, sondern die Herren dieser Mischung sein. Die Wahl meint eine Entscheidung über die Suprematie, über das, was das Herrschende und was das Beherrschte in uns sein soll.«759

Jeremias war in seinen Forderungen sieben Jahre zuvor also noch über die Forderungen von Martin Buber, den Apostel des deutschsprachigen Kulturzionismus, hinaus gegangen, als er die unbedingte Distanz zur deutschen Kultur und damit Exklusivität des zionistischen Kulturnationalimus gefordert hatte, die von Buber wie von Auerbach zu diesem Zeitpunkt noch als unmöglich betrachtet wurden. Wie Auerbach und Schachtel forderte Buber lediglich ein bestimmtes Verhältnis zwischen deutschen und jüdischen Kulturwerten, über das der deutsche Zionist selbst bestimmen und in dem die jüdische Kultur eindeutig priorisiert werden sollte. Diese Argumentation stellte gewissermaßen also einen Kompromiss oder Kunstgriff dar, indem sie die deutsche Kultur oder die nationale Literatur »in nichtjüdischer Sprache«, jedenfalls solange die Forderung nach einer neuhebräischen Kultur in der Diaspora wie in Palästina noch nicht erfüllt war, in das Konzept des Kulturzionismus integrierte.760 1.5.2 Begriff und Programm einer jüdischen Nationalkultur und Nationalliteratur761 Bereits aus diesen Feststellungen wird erkennbar, dass auch die Jüdische Rundschau, obwohl es sich bei ihr um kein dezidiert kulturzionistisches Organ handelte, an der Konstruktionsarbeit an einer eigenen jüdischen Nationalkultur eingehend teilnahm. Die Beiträge, die in ihr zu diesem Zweck erschienen und sich mit der Erfindung einer nationaljüdischen Kultur, Sprache und Literatur 759 Buber, Judentum, S. 26f. 760 Am Beispiel des deutschsprachigen Kulturzionismus ähnlich auch Kilcher, Renaissance, S. 103–105. 761 Vgl. dazu die in der Jüdischen Rundschau im Dezember 1912 und Januar 1913 veröffentlichte Artikelreihe von Max Mayer unter dem Pseudonym Mei’r ben Elieser, welche sich die Thesen von Moritz Goldsteins gleichnamiger Veröffentlichung in einem zionistischen Gegenentwurf aneignete und im Folgenden Gegenstand einer näheren Betrachtung sein wird.

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sowie der Stellung des hebräischen wie deutschsprachigen Kulturzionismus im zionistischen Nationalismus beschäftigten, illustrieren nicht zuletzt, dass sich viele deutsche Zionisten primär als ›jüdische Kulturgemeinschaft‹ bzw. als ›jüdische Kulturnation‹ begriffen.762 Für Heinrich Loewe etwa stellte die Beschäftigung mit den »volkstümlichen«, überlieferten Formen jüdischer Literatur einen wesentlichen Faktor im zionistischen Erziehungsprogramm dar, kraft derer, mehr noch als über historische Quellen, ein unmittelbarer Zugang zur Geschichte des nationaljüdischen Kollektivs und damit einhergehend ein nationales Bewusstsein erlangt werden könne: »Wenn aber so die Geschichte und ihre Kenntnis das feste Band ist, das die Nachkommen an die Väter knüpft, so ist sie zwar das wesentliche Moment der nationalen Anschauung, aber doch nicht das einzige. Denn auch eine ganze Reihe anderer Momente wirken insoweit zur Erzielung nationalen Sinnes mit, als sie eben auch nur Seiten der Geschichte sind. Dahin gehört das ganze volkstümliche Schrifttum. Die Literatur, vor allem die klassischen Bücher jüdischen Geistes, geben ja den besten Spiegel jüdischen Wesens, und sie sind die Quellen, aus denen wir die Kenntnisse unserer Vergangenheit schöpfen. Insofern kommt den Literaturdenkmalen als den eigentlichen Geschichtsquellen mehr Bedeutung zu, als den Darstellungen der Geschichte, da sie die alte Geschichte unmittelbarer aufleben lassen, als jede aus ihnen schöpfende Darstellung.«763

Loewe propagierte hier also (noch) nicht die Produktion einer eigenen neuen literarischen Tradition, sondern in erster Linie die Rezeption bereits überlieferter hebräischsprachiger Literatur, wobei er neben klassischen oder biblischen Texten auch an populäre Erzählungen dachte.764 Dass ihm wie im deutschen ›romantisch-kulturellen Nationalismus‹ der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert im Besonderen an der Entwicklung und Pflege einer ›jüdischen Volksliteratur‹ gelegen war,765 zeigt eine Artikelreihe mit kurzen Erzählungen, die Loewe selbst verfasste und unter dem Titel »Aus meinem Märchenbuche« in der Jüdischen Rundschau veröffentlichte.766 Diese knüpften an ältere Überlieferungen 762 Vgl. dazu auch Kap. III.1.2.2 der vorliegenden Arbeit. 763 Eljaqim: Die Grundlage des Nationalismus, in: JR, XIII. Jg., Nr. 46 (13. 11. 1908), S. 451f. 764 Zu den kulturellen Vorstellungen und Aktionen Heinrich Loewes in den Jahren 1908 bis 1933 vgl. allgemein auch Schlöffel, Loewe, S. 270–404. Zum Konzept einer jüdischen ›Volkskunde‹ und ›Volkskultur‹ vgl. Daxelmüller, Christoph: Jüdische Volkskunde – jüdische Volkskultur, in: Kotowski u. a., Handbuch, Bd. 2, S. 204–217. 765 Vgl. Nipperdey, Thomas: Auf der Suche nach der Identität. Romantischer Nationalismus, in: Ders.: Nachdenken über die deutsche Geschichte: Essays, München 1986, S. 110–125; Müller-Funk, Wolfgang: »Sauget, Mütter und Weiber, das schöne Blut der Schlacht!« Überlegungen zum Zusammenhang von Literatur, Mythos und Nation, in: Ders./Schuh, Franz (Hg.): Nationalismus und Romantik, Wien 1998, S. 25–55; Planert, Plädoyer. 766 Vgl. Loewe, Heinrich: Aus meinem Märchenbuche. Die Wunderblume, in: JR, VII. Jg., Nr. 49 (05. 12. 1902), S. 76f.; ders.: Aus meinem Märchenbuche. Der Sonnenstrahl, in: JR,

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an und sollten gerade den jungen Leser mit der jüdischen Vorstellungswelt vertraut machen und eine gemeinsame volkstümliche Kultur schaffen. In seinem Artikel »Hänsel und Gretel«, der im Dezember 1904 in der Jüdischen Rundschau erschien, bedauerte Loewe, dass das nationaljüdische Kollektiv nicht wie das deutsche über eine eigene volkstümliche literarische Tradition verfüge, da er das Potential zu erkennen glaubte, dass hinter dieser Literaturgattung, im Besonderen dem Genre der Märchen, für eine Erziehung der Jugend im nationalen Sinn stecke: »Was hat aber die Judenheit und das Judentum auf diesem Gebiete geleistet? Wir müssen mit Beschämung und tieftraurig eingestehen, dass uns ein Märchenbuch mit jüdischem Milieu fehlt, und dass uns die ganze grosse Jugendliteratur, die wir bei andern Nationen immer weiter wachsen und blühen sehen, vollkommen fehlt. Nicht für die Kleinen und nicht für die Heranwachsenden haben wir Bücher, die ihrem Geiste und ihrer Auffassung entsprechen. […] Wir bedürfen der Literatur, wie sie bei andern Nationen im jugendlichen Herzen Unternehmungsgeist anregt und Liebe zum Eigenwesen mächtig anfacht. Damit meinen wir beileibe nicht eine mechanische Nachahmung fremden Volksgeistes. Wir wissen sehr wohl, dass Hänsel und Gretel das deutsche Volksmärchen bleibt, wenn wir auch die Namen durch Channah und Schemuel ersetzen würden. […] Eine ganze jüdische Renaissance wächst heran und will seiner schönen Blüte entgegengehen, aber das wichtigste Gebiet, das Gebiet der Jugendliteratur, ist unberührt geblieben. […] Und doch hat die Judenheit die Kräfte zur Schaffung einer Jugendliteratur, wie jener Rudolf Löwenstein beweist, der mit am meisten dazu beigetragen hat, dass heute die deutsche Nation einen so überreichen Besitz auf diesem für das innere Leben einer Nation so notwendigen Gebiete aufweisen kann. Der Winter mit seinen langen Abenden ruft uns die alten Kinderstuben ins Gedächtnis, in denen wir von Hänsel und Gretel erzählten, von den schönen Schlaraffenländern träumten und in denen wir nach Liliput und Blefusku reisten. Aber nichts Jüdisches war in dieser Kinderstube, was zugleich kindlich war. Wir wollen aber kein Volk von Greisen, kein Volk, das seine Jugenderinnerungen im fremden Volkstume hat. Und wenn wir unsere Jugend bei unserem Volke erhalten wollen, wenn wir ihr die Ideale geben wollen, zu denen wir uns zum Teil in schwerem Lebenskampfe durchgerungen haben, so müssen wir dafür sorgen, dass wir Bücher haben, die in der Kinderstube gelesen werden, wie Hänsel und Gretel.«767 VII. Jg., Nr. 50 (12. 12. 1902), S. 83f.; ders.: Nur ein Luach, in: JR, VII. Jg., Nr. 50 (12. 12. 1902), S. 81f.; ders.: Aus meinem Märchenbuche. Die Orange ein Chanukahgeschenk für unsere Kinder, in: JR, VII. Jg., Nr. 52 (24. 12. 1902), S. 98–104; ders.: Aus meinem Märchenbuche. Der Ring des Propheten Elijjahu, in: JR, X. Jg., Nr. 43 (27. 10. 1905), S. 550–553; ebd., in: JR, X. Jg., Nr. 48 (01. 12. 1905), S. 624–629; ebd., in: JR, X. Jg., Nr. 50 (15. 12. 1905), S. 664–666; ebd., in: JR, X. Jg., Nr. 52 (29. 12. 1905), S. 692–695; ebd., in: JR, XI. Jg., Nr. 3 (19. 01. 1906), S. 32–36; ebd., in: JR, XI. Jg., Nr. 7 (16. 02. 1906), S. 92–94; ebd., in: JR, XI. Jg., Nr. 10 (09. 03. 1906), S. 138–142; ebd., in: JR, XI. Jg., Nr. 12 (23. 03. 1906), S. 164–167; ebd., in: JR, XI. Jg., Nr. 13 (30. 03. 1906), S. 180–183; ebd., in: JR, XI. Jg., Nr. 14/15 (06. 04. 1906), S. 196–198; ebd., in: JR, XI. Jg., Nr. 17 (27. 04. 1906), S. 236–239 (bereits 1894 in der Jüdischen Volkszeitung veröffentlicht). 767 Loewe, Heinrich: Hänsel und Gretel, in: JR, IX. Jg., Nr. 50 (16. 12. 1904), S. 439f.

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Die ›jüdische Kulturnation‹ sollte sich also das Beispiel der ›deutschen Kulturnation‹ aneignen, zu deren Entstehung auch jüdische Schriftsteller wie Rudolf Löwenstein (1819–1891)768 mit ihren Kindergedichten beigetragen hatten, und zu einer eigenen Sammlung und Produktion von ›Volksliteratur‹ und ›volkstümlichen Erzählungen‹ im jüdischnationalen Sinne angeregt werden. Loewe hatte hier zuvorderst die Funktion von Märchen in der zionistischen Erziehungsarbeit im Sinn, wobei er, wie schon die Brüder Grimm vor ihm, die Bedeutung der ›volkstümlichen Literatur‹ als »Nationalepos im Kinderzimmer«769 zu erkennen glaubte. Nicht zuletzt zählte er deshalb in einem weiteren Beitrag wohl auch die Hebräische Bibel zur jüdischen ›Volksliteratur‹.770 In einigen Beiträgen in den Jahren 1907 bis 1912, die u. a. im Literaturblatt der Jüdischen Rundschau veröffentlicht wurden, beschäftigte sich Loewe des Weiteren explizit mit der Frage, welchen »Kulturaufgaben« sich das zionistische Kollektiv in Zukunft widmen sollte.771 Neben der Schaffung einer »jüdische[n] Kulturgemeinschaft in hebräischem Geiste«772 betonte er darin die Bedeutung einer nationaljüdischen Erziehungsarbeit für die jüdische Jugend, deren Ziel in der Vertiefung der »Kenntnisse vom Judentum und Liebe zu ihm« bestehen solle.773 Zu diesem Zweck forderte er die Einrichtung zionistischer Bildungsinstitutionen wie Schulen, Universitäten und Berufsschulen sowie die Einstellung geschulten Lehrpersonals, welche sich mit geeigneten Lehrbüchern der Erziehung »in jüdischem Geiste« widmen sollten.774 Dass es der Jüdischen Rundschau und Heinrich Loewe nun jedoch auch um die Produktion einer eigenen hebräischsprachigen literarischen Tradition ging, zeigte sich in weiteren Beiträgen Loewes775 und im Artikel eines anderen Autoren namens Loewy, der im Juni 1907

768 Vgl. Löwenstein, Rudolf, in: Lexikon deutsch-jüdischer Autoren/Archiv Bibliographia Judaica, Bd. 16: Lewi–Mehr, hg. von Renate Heuer und Andrea Boelke-Fabian, München 2008, S. 125–130. 769 Detering, Heinrich: Das Nationalepos im Kinderzimmer. Die »Kinder- und Hausmärchen« der Brüder Grimm, in: Ders. (Hg.): Nationalepen zwischen Fakten und Fiktionen. Beiträge zum komparatistischen Symposium, 6. bis 8. Mai 2010 Tartu, Tartu 2011, S. 114–126. 770 Vgl. Loewe, Heinrich: Die Bibel, in: Literaturblatt der JR, IV. Jg., Nr. 14 (11. 12. 1908), S. 109–114. 771 Vgl. Loewe, Heinrich: Einige Kulturaufgaben für die nächste Zeit, in: Literaturblatt der JR, IV. Jg., Nr. 13 (20. 11. 1908), S. 102f.; ebd. (Fortsetzung), in: Literaturblatt der JR, IV. Jg., Nr. 16 (25. 12. 1908), S. 125–127; ders.: Eine einzelne Kulturaufgabe, in: Die Welt, 04. 08. 1911, S. 761f.; ders.: Ein Weg zur jüdischen Kultur, in: Die Welt, 12. 01. 1912, S. 36–38. 772 Loewe, Kulturaufgabe, S. 761. 773 Ebd. 774 Vgl. Loewe, Kulturaufgaben, S. 103; ders., Kulturaufgaben (Fortsetzung), S. 125–127. 775 Vgl. u. a. Sachse, Heinrich: Gegenwartsarbeit in Palästina, in: JR, XII. Jg., Nr. 28 (12. 07. 1907), S. 285–287.

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von der Bedeutung des Hebräischen für den Kulturzionismus und vom besonderen »Geist der hebräischen Poesie«776 sprach. In Heinrich Loewes Beiträgen zum Thema spiegelte sich nicht zuletzt auch die herausragende Rolle wider, die er selbst in der hebräischen Kulturbewegung in Berlin und für den deutschsprachigen Kulturzionismus spielte.777 So nutzte er die Jüdische Rundschau intensiv, um seine Projekte einer Nationalbibliothek in Jerusalem, eines hebräischen Gymnasiums und einer jüdischen Hochschule mit Universitätsbibliothek propagandistisch zu unterstützen.778 Auch die Aufnahme eines eigenen Literatur-Beiblattes unter dem Titel »Literaturblatt« in die Jüdische Rundschau im Jahr 1905, das bis zum Jahr 1908 Bestand hatte und in den Jahren 1909 bis 1911 als Beiblatt »Literarische Rundschau« fortgeführt wurde, in dem kulturnationalistische Deutungsmuster einen eigenen Raum erhielten und das zionistische Kulturprojekt auf ganz unterschiedliche Weise verhandelt wurde, beruhte wesentlich auf seiner Initiative.779 Neben Beiträgen, die sich mit kulturellen Fragen theoretischer Natur beschäftigten, erschienen in der Jüdischen Rundschau somit auch kurze Erzählungen, Auszüge aus bestimmten literarischen Publikationen, Rezensionen zu einschlägigen literarischen Veröffentlichungen und kurze Portraits zu jüdischen Künstlern und bekannten Vertretern der hebräischen Kulturbewegung wie Ephraim Moses Lilien.780 Georg Orkin etwa empfand rückblickend – aus heutiger Sicht wohl verfrüht – bereits die Zeit zwischen dem Sechsten und dem Siebten Zionistenkongress in den Jahren 1903 bis 1905 als Phase des Umbruchs, in der sich die zionistische 776 Loewy : Vom Geist der hebräischen Poesie, in: JR, XII. Jg., Nr. 25 (21. 06. 1907), S. 256. 777 Vgl. dazu die aufschlussreichen Abschnitte bei Schlöffel, Loewe, S. 270–404. Vgl. dazu auch Schäfer, Barbara: Hebräisch im zionistischen Berlin, in: Brenner, Michael (Hg.): Jüdische Sprachen in deutscher Umwelt. Hebräisch und Jiddisch von der Aufklärung bis ins 20. Jahrhundert, Göttingen 2002, S. 68–75; Pinsker, Passports, S. 29–38; Lappin, Jude, S. 320–340; Or, Berlin. 778 Vgl. dazu u. a. Loewe Heinrich: Bemerkungen über die Nationalbibliothek zu Jerusalem, in: JR, VII. Jg., Nr. 42 (15. 10. 1902), S. 19–21; ders.: Eine jüdische Hochschule, in: JR, VII. Jg., Nr. 47 (21. 11. 1902), S. 57f.; ders.: Die Jüdische Nationalbibliothek; der vom VII. Kongress angenommene Antrag, in: Literaturblatt der JR, I. Jg., Nr. 11 (01. 09. 1905), S. 87–89; ders.: Eine Anregung für unsere Nationalbibliothek, in: Literaturblatt der JR, I. Jg. Nr. 14 (29. 09. 1905), S. 109–111; ders.: Eine Nationalbibliothek für das jüdische Volk, in: Literaturblatt der JR, I. Jg., Nr. 1 (14. 04. 1905), S. 1–3; ders.: Ein hebräisches Gymnasium, in: Literaturblatt der JR, II. Jg., Nr. 23 (09. 11. 1906), S. 185–189; ebd., (Fortsetzung), in: Literaturblatt der JR, II. Jg., Nr. 24 (16. 11. 1906), S. 197f.; ders.: Für die jüdische Nationalbibliothek, in: Literaturblatt der JR, II. Jg., Nr. 9 (06. 04. 1906), S. 65f.; ders.: Auch ein Wort über unsere Nationalbibliothek, in: JR, XI. Jg., Nr. 32 (10. 08. 1906), S. 469f.; ders.: Eine hebräische Universitätsbibliothek zu Jerusalem, in: JR, XIX. Jg., Nr. 23 (05. 06. 1914), S. 242f.; ders.: Aufruf!, in: Literaturblatt der JR, II. Jg., Nr. 9 (06. 04. 1906), S. 67f. 779 Vgl. dazu auch Kap. II.4 der vorliegenden Arbeit. 780 Vgl. Loewe, Heinrich: Jüdische Künstler, in: JR, VIII. Jg., Nr. 49 (04. 12. 1903), S. 525f.; ders.: Ephraim Moscheh Lilien, in: Literaturblatt der JR, I. Jg., Nr. 2 (19. 04. 1905), S. 9–11.

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Bewegung unter wachsendem Einfluss des ›osteuropäischen Zionismus‹ praktisch-zionistischen und kulturzionistischen Fragen zugewandt und die hebräische Sprache zunehmend an Einfluss im Kanon kulturzionistischer Vorstellungen gewonnen hätte.781 In einem Leitartikel zum Achten Zionistenkongress, der vom 14. bis 21. August 1907 in Den Haag stattfand und sich mit der praktischen Gegenwartsarbeit in Palästina beschäftigte, betonte auch Heinrich Loewe, dass der Schwerpunkt des zionistischen Nationalismus zwar weiterhin auf der politischen Arbeit liege, dass neben diese nun jedoch »die kulturellen Arbeiten in Palästina« bzw. die »Kulturfragen« getreten seien, unter denen die Pflege der hebräischen Sprache einen herausragenden Platz einnehme.782 Aus der Sicht Loewes dürfte diese Pflege jedoch nicht bei der Förderung der sprachlichen Kenntnis der »Volks- und Landessprache« über die Lektüre bereits vorhandener hebräischsprachiger Zeitschriften und zionistischer Schulpolitik Halt machen, sondern müsse ein weit vernetztes, durchdringendes Kultur- und Bildungsmilieu schaffen. Dieses sollte »hebräisch, jüdisch und palästinisch«783 zugleich sein und den Raum für eine wechselseitige, positive Produzenten- und Rezipientenkultur schaffen.784 Mit und in Folge der wachsenden Bedeutung praktisch-zionistischer und kulturzionistischer Strömungen im deutschsprachigen zionistischen Kollektiv überhaupt öffnete sich die Jüdische Rundschau zunehmend auch Beiträgen über bzw. von namhafte(n) kulturzionistische(n) Vertreter(n) wie Martin Buber und Achad Ha’am. Daneben berichtete sie ausführlich über kulturzionistische Projekte wie den Kongress für hebräische Sprache und Kultur im Januar des Jahres 1910785 und den in London ansässigen Jüdischen Kulturfonds »Kedem«,786 des781 Vgl. Orkin, Georg: Deutscher Zionismus und hebräische Sprache, in: JR, XIX. Jg., Beiblatt Nr. 31, Nr. 31 (31. 07. 1914), S. 65–68, hier S. 66: »Es ist klar, daß der Herzlsche Zionismus die hebräische Sprache nicht brauchte. Herzls Zionismus fing ja mit dem Judenstaat an. Das Land sollten wir sofort haben und es war nur nötig, die Leute mit ›zionistischer Beweisführung‹, welche ihnen ihr äußeres und inneres Judenleid vor Augen führte, zu bewegen, hinüber zu gehen. Dazu reichte diese Agitation schließlich aus und das Hauptagitationsmittel sollte ja der Charter sein, den Herzl so bald zu bekommen hoffte. In der Zeit des 6. und 7. Kongresses trat der große Umschwung ein. Die Uebersiedlung in unser neues Land schien den meisten von uns nur als Resultat jahrzehntelanger Arbeit erreichbar. […] Es waren zwar keine Pharisäer, aber ein junges Geschlecht im Osten war da, das die alten Formen neu belebte, das in seiner Kindheit noch die hebräische Sprache fast als Muttersprache gelernt hatte. Und dieses Geschlecht übernahm alle positiven Elemente des Herzlschen politischen Zionismus und fühlte sich berufen, die Leitung weiter zu führen. […] Die Kongresse sind mittlerweile zu hebräischen geworden, alle Errungenschaften in Palästina, seien es kolonisatorische, seien es kulturelle, rühren von einigen westlichen Pionieren vielleicht abgesehen – von den Juden des Ostens her.« 782 Sachse, Gegenwartsarbeit, S. 285. 783 Ebd., S. 287. 784 Vgl. ebd., hier S. 286f. 785 Vgl. Buber, Martin: Die hebräische Sprache und der Kongress für hebräische Kultur, in: JR,

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sen Einrichtung im September 1913 in Berlin beschlossen wurde und der die Entwicklung der hebräischen Kultur in Palästina fördern sollte.787 Einen vorläufigen Höhepunkt erreichte die theoretische Diskussion in der Jüdischen Rundschau um den zionistischen Kulturbegriff und die damit verbundene Programmatik im Jahr 1912, als Moritz Goldstein, ein jüdischer Schriftsteller und Journalist, mit seinem Aufsatz »Deutsch-jüdischer Parnaß« (1912),788 eine kontroverse Debatte um die »kulturelle Judenfrage« auslöste.789 Goldsteins Aufsatz war im »Kunstwart«, dem Flaggschiff der deutschen Lebensreformbewegung, erschienen und forderte eine jüdische Literatur in deutscher Sprache. Unter den Beiträgen, die als Teil der sog. »Kunstwart-Debatte« und auf Goldsteins Folgeveröffentlichung »Begriff und Programm einer jüdischen Nationalliteratur« in der Jüdischen Rundschau erschienen,790 befanden sich auch

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XV. Jg., Nr. 2 (14. 01. 1910), S. 13f.; ders.: Die hebräische Sprache und der Kongress für hebräische Kultur, in: JR, XV. Jg., Nr. 3 (21. 01. 1910), S. 25; ders.: Der Sinn des Judentums, in: JR, XV. Jg., Nr. 17 (29. 04. 1910), S. 199. Vgl. Die Verhandlungen des IX. Kongresses, in: JR, XVIII. Jg., Nr. 37 (12. 09. 1913), S. 381– 394, insbes. S. 392–394; Loewe, Heinrich: Der jüdische Kulturfonds »Kedem«, in: Die Welt [Kongressausgabe], 07. 09. 1913, S. 59f. Zum Jüdischen Kulturfonds »Kedem« vgl. Schäfer, Barbara: The KEDEM – A Cultural Foundation for Hebrew Culture in Palestine. An Attempt that Failed, in: Borr#s, Judit T./ S#enz-Badillos, Angel (Hg.): Jewish Studies at the Turn of the Twentieth Century, Bd. 2, Leiden 1999, S. 368–374. Zum Beitrag von Heinrich Loewe am Projekt vgl. ausführlich Schlöffel, Loewe, S. 276–284. Vgl. Goldstein, Moritz: Deutsch-jüdischer Parnaß, in: Der Kunstwart 11 (1912), S. 281–294; ders.: Begriff und Programm einer jüdischen Nationalliteratur, Berlin 1913; ders.: German Jewry’s Dilemma. The Story of a Provocative Essay, in: LBIYB 2 (1957), S. 236–254; ders.: Professor Dr. Julius Goldsteins Kritik meines Kunstwart-Aufsatzes, in: IdR 19:3 (1913), S. 97–101. Aus der ausführlichen Literatur zur sog. »Kunstwart-Debatte« vgl. Goldstein, Moritz: Texte zur jüdischen Selbstwahrnehmung aus dem Nachlass. Mit einer Einführung hg. von Elisabeth Albanis, in: Aschkenas. Zeitschrift für Geschichte und Kultur der Juden 7:1 (1997), S. 79–135; Grözinger, Karl E. u. a.: Deutsch-jüdischer Parnaß. Rekonstruktion einer Debatte, Berlin/Wien 2002; Kilcher, Renaissance; Ubbens, Irmtraud: Moritz Goldstein: »… die anderen fühlen uns ganz undeutsch«. 100 Jahre Deutschjüdischer Parnaß. Eine Kulturdebatte in der jüdischen Presse (1912), in: MEDAON – Magazin für jüdisches Leben in Forschung und Bildung, 7. Jg., 2013, Nr. 12, S. 1–16. URL: [letzter Zugriff erfolgt am 21. 07. 2016]; Voigts, Manfred: Moritz Goldsteins ›Deutsch-jüdischer Parnaß‹. Politische Kampfschrift und unpolitisches Bekenntnis, in: Aschkenas. Zeitschrift für Geschichte und Kultur der Juden 24:1 (2014), S. 145–194; Voigts, Kontroversen, S. 122–134. Vgl. Anon.: Glossen. Kulturkonflikt, in: JR, XVII. Jg., Nr. 13/14 (29. 03. 1912), S. 114; Anon.: Kulturkonflikt, in: JR, XVII. Jg., Nr. 33 (16. 08. 1912), S. 209; Witkowsky, Gustav : »Judenpresse« und jüdische Politik, in: JR, XVII. Jg., Nr. 38 (20. 9. 1912), S. 360f.; Mei’r ben Elieser [Mayer, Max]: Begriff und Programm einer jüdischen Nationalliteratur (1), in: JR, XVII. Jg., Nr. 52 (27. 12. 1912), S. 503f.; ders.: Begriff und Programm einer jüdischen Nationalliteratur (2), in: JR, XVIII, Nr. 2 (10. 01. 1913), S. 12f.; ders.: Begriff und Programm einer jüdischen Nationalliteratur (3), in: JR, XVIII, Nr. 3 (17. 01. 1913), S. 22f.

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solche, kraft derer überzeugte Kulturzionisten ihre Kritik an Goldsteins Thesen im »Kulturkonflikt«791 mit einem eigenen positiven Gegenentwurf für eine jüdische Nationalkultur verbanden. Max Mayer beispielsweise, der unter dem Pseudonym Mei’r ben Elieser eine dreiteilige Artikelreihe im Dezember 1912 und Januar 1913 in der Jüdischen Rundschau veröffentlichte, warf Goldstein vor, die »gesunden Anfänge einer modernen jüdischen Nationalliteratur«792 und die Entstehung eines »originell-jüdischen Kulturleben[s]«793 im Ostjudentum ignoriert zu haben, wobei er sowohl die hebräische als auch die jiddische Literatur als nationale verstand. Aus seiner Sicht bildete die Kulturfrage im Westen einen »Teil des Achad-ha-Amistischen Problems«, indem in Folge der Wissenschaft des Judentums und ihrer »einschläfernde[n] und in die schmerzlose Selbstvernichtung hinüberleitende[n] Wirkung«794 den jüdischen »Volkskörper« eine »Krankheit« befallen hätte.795 Mayers Gegenentwurf vom »›Begriff und […] Programm‹ des zukünftigen westeuropäischen Dichters der Juden«796 sah in Ha-am’scher Tradition stattdessen eine enge innere Verknüpfung mit der hebräischen Kulturbewegung in Palästina vor: »Und nichts beweist meine frühere Behauptung, daß wir im Gegensatz zu Osteuropa keine jüdische Kultur besitzen, mehr, als die Tatsache, daß Osteuropa so rasch innere Beziehungen zu Palästina fand, während wir im Westen äußerlich (Aneignung einer semitischen Sprache) und innerlich (Distanzierung von der uns umgehenden Kultur) ungeheure Schwierigkeiten zu überwinden haben, wenn anders wir nicht auf das Miterleben der im Entstehen begriffenen palästinensischen Kultur so gut wie verzichten und bloß wie unmündige Kinder über zauberhafte Erscheinungen erstaunt sein wollen. Und hier scheint mir der Faden gefunden, der uns Westeuropäer einzig und allein aus dem Labyrinth der Fragen retten kann, die bei der Behandlung des Dilemmas: ›Begriff und Programm einer jüdischen Nationalliteratur‹ auftauchen. Unser zukünftiger Nationaldichter wird derjenige produktive Jude sein, dessen Schaffen im innigsten Zusammenhang mit der hebräisch-palästinensischen Kultur stehen wird, der sich endgültig aus dem europäischen Kulturzusammenhang zu reißen und sich allein der Morgenröte seines Volkes zuzuwenden vermag, und dies scheint mir die einzige wirklich berechtigte Forderung zu sein, die wir an unseren Dichter in Zukunft stellen dürfen: daß seine Produktion irgendeine direkte oder indirekte Beziehung zum Palästinismus hat.«797

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Anon., Kulturkonflikt. Mei’r ben Elieser, Begriff (1), S. 503. Ebd., S. 504. Ebd. Vgl. ebd. Mei’r ben Elieser, Begriff (2), S. 13. Mei’r ben Elieser, Begriff (3), S. 22.

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Max Mayer forderte hier also dezidiert in der Tradition der Resolution des Posener Delegiertentages des Jahres 1912798 die exklusive, partikularistische Ausrichtung der jüdischen Nationalkultur auf Palästina, die, wie schon bei Carl Jeremias, notwendig mit einer Loslösung vom europäisch-deutschen Kulturkreis einhergehen sollte. Das Ziel der zionistischen Entwicklung und Förderung einer jüdischen Nationalkultur und Nationalliteratur mit eigenen Künstlern und einem festen Publikum könne, so Mayer, nur über die Voraussetzung der Schaffung eines unabhängigen jüdischen ›Volkslebens‹ in der Diaspora und der Herstellung eines engen Kontakts zum Kulturkollektiv in Palästina verwirklicht werden. Als deren geradezu natürliche Folge würde sich das zionistische Ideal, »den jüdischen Normaldichter und sein Werk: den jüdischen Helden«799 zu schaffen, erfüllen.800 1.5.3 Die Sprache(n) der jüdischen Kultur801 Daneben äußerte sich das Projekt der jüdischen ›Kulturnation‹ in der Jüdischen Rundschau auch in der »Konstruktionsarbeit«802 an einer eigenen Nationalsprache, die, wie schon bei Nathan Birnbaum,803 im Untersuchungsmedium im Wesentlichen auf die Kontrastierung zweier Sprachen, Jiddisch und Hebräisch, hinauslief.804 Sprache wurde von den daran beteiligten Kulturzionisten wie Heinrich Loewe in enger Anlehnung an die Sprach- und Kulturphilosophie von Johann Gottfried Herder und Wilhelm von Humboldt805 als wesentliche 798 799 800 801

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Vgl. Kap. III.3.3 der vorliegenden Arbeit. Mei’r ben Elieser, Begriff (2), S. 13. Vgl. ebd., S. 12f. Vgl. dazu den Titel einer zweiteiligen Artikelreihe von Heinrich Loewe in Die Welt: Loewe, Heinrich: Die Sprache der jüdischen Kultur, in: Die Welt, 24. 03. 1911, S. 260–262; ders.: Die Sprache der jüdischen Kultur (Fortsetzung), in: Die Welt, 31. 03. 1911, S. 283–286 und die Kapitelbenennung bei Schlöffel, Loewe, S. 288–306, Kap. 7.2 »Die Sprache(n) der Juden«. Schlöffel, Loewe, S. 288. Vgl. B[irnbaum], N[athan]: Der jüdische Jargon, in: Selbst-Emancipation, 02. 11. 1890, S. 1f.; Birnbaum, Nathan: Hebräische Sprache, in: Selbst-Emancipation, 18. 07. 1892, S. 140f. Vgl. dazu auch Schlöffel, Loewe, S. 288f. Zu den Positionen in der Jüdischen Rundschau und im deutschsprachigen Kulturzionismus zum Thema Sprache vgl. ausführlich auch Kremer, Juden, S. 288–401 und zur Sprachphilosophie Heinrich Loewes insbes. Schlöffel, Loewe, S. 288–306. Vgl. dazu auch Loewe, Heinrich: Sichronot. Kap. Sprache und Sprechen. CZA A146/175; ders.: Die Sprachen der Juden, Köln 1911. Die »Organisation für hebräische Sprache und Kultur (Histadruth: Ibrith)« kommentierte die Neuerscheinung von Loewes Schrift mit den Worten: »An dieser Stelle sei besonders auf […] »Die Sprachen der Juden« hingewiesen, das wertvolle Dienste für die hebräische Propaganda leistet.« (Mitteilungen der »Organisation für hebräische Sprache und Kultur (Histadruth: Ibrith)«. Neuerscheinungen, in: JR, XVII. Jg., Nr. 5 (02. 02. 1912), S. 36. Zu Herder und Humboldt und ihrer Bedeutung für den deutschsprachigen Kulturzionis-

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Grundlage und Trägerin des ›jüdischen Nationalismus‹, Medium und Form einer ›nationalen Kultur‹ und als natürliche Bewusstseinsäußerung der ›jüdischen Volksseele‹ und des ›jüdischen Volksgeistes‹ wahrgenommen.806 Die hebräischsprachige ›Kulturnation‹ sollte also in einem Prozess der Aneignung und Transformation auf denselben sprachphilosophischen Fundamenten wie schon die sprachbestimmte ›deutsche Kulturnation‹ errichtet werden. Hebräisch galt den meisten Autoren wie Heinrich Loewe traditionsgemäß als ursprüngliche, natürliche Ursprache der Juden bzw. als »alte angestammte Muttersprache«807 und qualifizierte sich daher besonders als jüdische »Nationalsprache«808. In ihren Augen hing die gesamte Existenz des Judentums von der Bewahrung der hebräischen Sprache ab. Hebräisch wurde als »Lebensnerv des Judentums«809 empfunden, ohne den das nationaljüdische Kollektiv nicht existieren könne: »Es giebt [sic!] kein Judentum ohne Hebräisch, wie es keine Kirche ohne Kreuz gibt.«810 Der hebräische Sprachunterricht sollte daher ein verpflichtender Teil des jüdischen Religionsunterrichts an den Gemeinde- und Volksschulen in Preußen und im Deutschen Reich bleiben und wesentlich in die zionistische Erziehungsarbeit in der Diaspora und in Palästina integriert werden.811 Eine wesentliche Rolle spielte bei diesen Überlegungen die Tatsache, dass Hebräisch die Originalsprache der klassischen jüdischen Literatur und der Bibel darstellte und daher aus zionistischer Sicht einzig und allein einen authenti-

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mus vgl. auch Kap. III.1.2.1 der vorliegenden Arbeit; Vogt, Positionierungen, S. 46f.; Schlöffel, Loewe, S. 291f.; Schoeps, Julius H.: Das kollektive jüdische Bewusstsein. J. G. Herders Volksgeistlehre und der Zionismus, in: Schulte, Christoph (Hg.): Hebräische Poesie und jüdischer Volksgeist. Die Wirkungsgeschichte von Johann Gottfried Herder im Judentum Mittel- und Osteuropas, Hildesheim 2003, S. 181–189; Shapira, Attachment; Stukenbrock, Anja: Sprachnationalismus. Sprachreflexion als Medium kollektiver Identitätsstiftung in Deutschland (1617–1945), Berlin 2005, insbes. S. 195f., 217–222; Volkov, Shulamit: Sprache als Ort der Auseinandersetzung mit Juden und Judentum in Deutschland, 1780–1933, in: Dies.: Das jüdische Projekt der Moderne, Bremen 2001, S. 83–96. Vgl. dazu auch Humboldt, Wilhelm von: Schriften zur Sprache, Frankfurt a. M. 2008. Vgl. Loewe, Heinrich: Wer spricht Jargon, in: JR, IX. Jg., Nr. 4 (22. 01. 1904), S. 33–35, hier S. 33: »Wenn die national-jüdische Partei eine Wiederbelebung des jüdischen Volksgeistes als notwendige Ergänzung einer politischen Wiedergeburt Israels ansieht, und wenn nur eine jüdische Kultur unserem Nationalwesen in Zukunft bleibenden Wert verleihen kann, so gewinnt die nationale Sprache als Trägerin dieser Kultur die denkbar grösste Bedeutung.«; Aufruf [des »Zionistischen Zentralvereins«, Wien], in: JR, XI. Jg., Nr. 46 (16. 11. 1906), S. 684; Carlebach, Joseph: Ein jüdisches Lehrerseminar, in: JR, XIII. Jg., Nr. 3 (17. 01. 1908), S. 22–24. Loewe, Jargon, S. 34. Ebd.; Carlebach, Lehrerseminar, S. 22f. Loewe, Heinrich: Judentum ohne Hebräisch, in: JR, VIII. Jg., Nr. 5 (30. 01. 1903), S. 33f., hier S. 34. Ebd., S. 33. Vgl. ebd.

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schen Zugang zur ›jüdischen Kultur‹ und den biblischen Erzählungen bot, womit sie den »historischen Zusammenhang zwischen den frühesten und spätesten Geschlechtern«812 im ›jüdischen Volk‹ abbildete: »Aber ein wahres und unverfälschtes Bild bekommt man von der biblischen Literatur nur, wenn man sie in ihrem originalen Texte lesen kann. Dazu bedarf es aber der Kenntnis des Hebräischen, das zugleich für andere Perioden jüdischen Geisteslebens, dessen Quellen nicht in Uebersetzungen vorliegen, absolut unentbehrlich ist. Hieraus ergibt sich der ungeheure Wert der hebräischen Sprache auch für alle die Zionisten und Juden, für die nicht wie im Lande Israel das Hebräische als die neuerwachende Einheitssprache der Nation gebieterisch inbetracht kommt. Dass ohne die intensive Pflege des Hebräischen ein Aufblühen nationalen Lebens in Palästina unmöglich ist, das kann niemand bezweifeln, der auch nur einen Blick nach dem Orient hineingeworfen hat, das muss auch jeder verstehen, der aus der Geschichte gelernt hat, dass der mächtigste Faktor, eine Nation erstehen zu lassen, in der nationalen Sprache liegt.«813

Neben dieser Charakterisierung des Hebräischen als alter, ›organischer‹ Kultursprache des Judentums,814 existierte noch eine zweite Lesart, die das Hebräische als »Volkssprache« beschrieb und die Kontinuität der hebräischen Literatur bis in das Mittelalter und die Neuzeit hinein in Schriftstellern wie »Gordon, Smolensky, Bialik, Achad Haam«815 konstatierte. Arndt Kremer konnte zeigen, dass darunter das Deutungsmuster von der ungebrochenen »Vitalität« oder »Lebendigkeit« der totgeglaubten bzw. totgeredeten hebräischen Sprache eine wesentliche Rolle für die deutschen Zionisten spielte.816 In einer zugespitzten Variante konnte diese These so weit geführt werden, dass sich der Zionismus selbst nur in hebräischer Sprache und hebräischen Kulturformen weiter entwickeln könne und dass der Hebraismus die wesentliche Grundlage und Voraussetzung für den Zionismus und die Verbindung zum zionistischen Kollektiv in Palästina darstelle.817 Hebraismus wurde so in den Augen Einiger zum 812 Loewe, Jargon, S. 34. 813 Loewe, Grundlage, S. 451. Vgl. dazu auch ders.: Judentum, S. 33: »Einen grossen Teil der krankhaften Zustände im Judentum verdanken wir ausschliesslich der Unkenntnis unserer Sprache, der Sprache, in der unsere grossen Propheten zu uns sprechen, in der unsere Dichter gesungen haben und in der wir unsere jüdischen Hoffnungen aussprechen.« 814 Vgl. dazu auch Kremer, Juden, S. 323–327. 815 Aufruf [des »Zionistischen Zentralvereins«, Wien], S. 684. 816 Vgl. Kremer, Juden, S. 320–323. Vgl. dazu etwa den Aufruf [des »Zionistischen Zentralvereins«, Wien], S. 684: »Die vielverbreitete Meinung, dass die hebräische Sprache tot sei, ist entschieden falsch: denn von der Zeit an, da unser Volk die alten erhabenen Werke indieser [sic!] Sprache hervorbrachte, bis über das Mittelalter […] lebte sie in einer grossen Literatur fort bis auf unsere Tage.« 817 Vgl. Orkin, Zionismus, S. 65f.: »Jede jüdische Form aber beginnt mit der hebräischen Sprache. Und nur diese eröffnet uns, vorläufig hauptsächlich in den Sprachformen selbst und in der Literatur, Formen, für welche wir uns begeistern können, weil sie sich täglich fortentwickeln. Es kann kein Zweifel sein, daß sie uns auch bald gesellige Umgangsformen,

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Gradmesser für die Intensität der ›Nationalisierung‹ des zionistischen Nationalismus.818 Doch wie stellten sich die Zionisten den Erwerb der hebräischen Sprache im Konkreten vor? Aufschlussreich ist das Programm des sog. »Hebräischen Klubs« des »Zionistischen Zentralvereins« in Wien, das in der Jüdischen Rundschau veröffentlicht wurde und einen Einblick in die zionistischen Bemühungen, die Kenntnis des Hebräischen in der Diaspora zu verankern, gibt:819 Neben der Lektüre hebräischsprachiger Zeitungen, dem Besuch von hebräischen Theaterstücken, Konzerten und Vorträgen über die hebräische Kultur und der Herausgabe hebräischer Schriften sah es die tägliche Lektüre hebräischer Literatur, Hebräisch-Kurse und Konversationsübungen für die Klubmitglieder vor.820 Uneinigkeit herrschte im zionistischen Kollektiv jedoch zunächst darüber, ob der Erwerb der hebräischen Sprache auf Palästina beschränkt bleiben oder auch in der Diaspora verpflichtend gemacht werden sollte. Nach Orkin beispielsweise, der in einem vierseitigen Artikel im Juli 1914 der Frage nach dem Verhältnis von »Deutsche[m] Zionismus und hebräisch[r] Sprache« nachging, richtete sich die Forderung nach dem Erwerb der hebräischen Sprache, der insgesamt erheblich intensiviert werden sollte, in erster Linie an die Jugend und an die Akademiker, an eine ›hebräische Elite‹, sozusagen.821 Auch aus seiner Sicht sollte das Erlernen

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beispielsweise bei der Feier unserer nationalen Feste, bringen wird, selbstverständlich unter Einwirkung Palästinas. […] Wenn also unser Zionist sich in der hebräischen Sprache und Literatur ausleben könnte, wenn er sich in mächtiger und anhaltender Begeisterung die hebräische Sprache erobern könnte, die ihm alle alten und sich neu entwickelnden Formen erschließt, ihm unsere nationalen Dichter erstehen läßt, da könnte er sich, ein entsprechendes Milieu Gleichgesinnter vorausgesetzt, in Formen und Werten bewegen, die wirklich nationalen Wert haben und die ihm auch eine ständige Entwicklung garantieren. Selbstverständlich kann er nur so an der Entwicklung Palästinas teilnehmen, wohin ihn die Liebe zur Sprache mehr als einmal in seinem Leben führen wird.« Vgl. zu diesem Argument auch Kremer, Juden, S. 327–329. Vgl. ebd., S. 68: »Wenn man einmal zu der Ueberzeugung gekommen ist, daß der Zionismus sich proportional der hebräischen Sprachbewegung entwickeln wird (ebenso wie die Entnationalisierung mit der Abschaffung des Hebräischen fortgeschritten ist), daß wir, mag unsere Lage noch so anomal sein, als wirksamstes Agitationsmittel die Sprache besitzen, und mag sie sich noch so schwer einbürgern wollen, so muß natürlich in der ganzen jüdischen Welt hier der Hebel angesetzt werden.« Vgl. Aufruf [des »Zionistischen Zentralvereins«, Wien], S. 684. Vgl. ebd. Vgl. Orkin, Zionismus, S. 66f.: »Wir müssen unseren Nationalismus mit der hebräischen Sprache beginnen, und das erste Ziel ist es, die hebräische Sprache unter alle begeisterten Zionisten, vor allem natürlich die Akademiker, zu tragen, bis sie zur Umgangssprache unter ihnen wird. Es darf ferner kein Kind zionistischer Eltern geben, welches nicht einen gründlichen hebräischen Sprachunterricht bekommt. Es muß eine übermächtige und anhaltende Begeisterung alle durchdrungenen Zionisten erfassen, sich das Wertvollste, was ihnen in dem ungeheuren Entnationalisierungsprozesse entrissen wurde, wieder zu erwerben. Und sollte sich diese Begeisterung noch erwecken lassen, so könnte es auch vielleicht in einem Teil der Masse Mode werden, ihre Kinder wieder hebräisch lernen zu lassen.

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der Fremdsprache klubmäßig betrieben werden, wobei auch das Selbststudium eine wichtige Rolle spiele.822 Im Allgemeinen blieben die Programme für die Diaspora bis in die 1910er Jahre jedoch wenig elaboriert und die zionistische Aufmerksamkeit widmete sich in erster Linie der Funktion der hebräischen Sprache in Palästina. Neben den zuvor genannten Argumenten, die eher auf den ideellen Wert des Hebräischen für den zionistischen Nationalismus in der Diaspora und Palästina, sozusagen als Schlüssel zum ›wahren‹, ›ursprünglichen‹ ›Nationaljudentum‹, abzielten, rückte auch der praktische Wert des Hebräischen in einigen Beiträgen in den Mittelpunkt. Hebräisch wurde darin als Esperanto oder Verkehrssprache deklariert, in der sich die Juden aus aller Welt, die sich in Palästina begegnen würden, und damit alle »Angehörigen der Nation« oder »Glieder einer Nation«823 verständigen könnten.824 Trotz aller nationalen Lobgesänge auf die hebräische Sprache, verschwiegen die Autoren nicht die Schwierigkeiten, die sich der hebräischen Sprachbewegung in der Diaspora entgegen stellten und die Tatsache, dass der Fremdsprachenerwerb eine große, wenn auch unumgängliche Herausforderung darstelle, der sich der Einzelne stellen müsse.825 Während Heinrich Loewe beispielsweise in früheren Texten aufgrund der Schwierigkeit des Hebräischen auf die Ersatzfunktion der Geschichte zur nationalen Sinnstiftung verwies,826 betrachtete er das Erlernen der hebräischen Sprache nur wenige Jahre darauf als notwendige Pflicht. Die Mühen, die den Lerner erwarteten, würden durch die Schönheit der Sprache und ihrer literarischen Erzeugnisse mehr als belohnt.827 Eine ausführ-

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Dies wäre dann das einzige Mittel, um die Massen an das Judentum zu fesseln, denn Theorien und Probleme taugen nur für die (der Zeit nach) allerersten Träger der Bewegung und verlieren ihre Wirkung sehr bald auch auf die intelligenten Kreise. Eine gesprochene Sprache aber taugt für alle. Sollte sich diese Begeisterung unter den deutschen Juden aber nur bei den wenigsten erwecken lassen, so müßten wir dennoch diesen Weg gehen, da es keinen anderen Weg gibt, und wenigstens ein kleiner Teil von uns würde dann Volljude werden, auch außerhalb Palästinas. […] Und dieser kleine Teil würde sich dasselbe Ziel nationaler Kultur für das Galuth setzen, wie der Jude in Palästina, nur mit dem Unterschiede, daß es dort jedem Bauern möglich ist, Volljude zu sein, hier dagegen nur einem kleinen Kreis auserlesener, national begeisterter Männer und Frauen, welche selbstverständlich kulturell von Palästina abhängig wären.« Vgl. ebd., S. 67. Loewe, Jargon, S. 33. Vgl. Loewe, Grundlage, S. 451; ders., Jargon, S. 34. Vgl. Loewe, Grundlage, S. 451; Orkin, Zionismus, S. 65. Vgl. dazu auch Kremer, Juden, S. 330–336. Vgl. Loewe, Jargon, S. 34: »Erst müssen wir durch innere Begeisterung unsere Stammesbrüder in Deutschland wieder zu uns zurückgeführt haben, ehe wir uns mit dieser schwierigsten Kulturaufgabe abgeben dürfen. Inzwischen muss uns die jüdische Geschichte ersetzen, was uns die Sprache nicht leisten kann.« Vgl. Loewe, Grundlage, S. 451f.

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liche Berichterstattung und propagandistische Presseagitation erfuhren in der Jüdischen Rundschau auch die Bemühungen um den »Kongress für hebräische Sprache und Kultur«, die letztlich zur Gründung der »Organisation für hebräische Sprache und Kultur« (Histadruth Ibrith) führten.828 Daneben unterstützte die Jüdische Rundschau auch die Position der ›Hebraisten‹ im sog. »Sprachenkampf« in Palästina propagandistisch.829 Dem Jiddischen gegenüber, das in den Artikeln der deutschen Zionisten auch als »Jüdisch«, »Jüdisch-Deutsch« oder »Jargon« bezeichnet wurde,830 nahmen die zionistischen Autoren eine äußerst ambivalente Haltung ein.831 Aus der Sicht der meisten deutschen Zionisten stellte Jiddisch einen »jüdischen Dialekt«832 dar, dem allenfalls der Status einer »Pseudo-Nationalsprache«833 zugesprochen werden könne. Zionisten wie B. G. R. Ünhut etwa warfen dem Jiddischen dabei in erster Linie seine ›Verunreinigung‹ mit ›fremden‹ Elementen vor, wonach es eine »deutsche Mundart mit hebräischen und einigen slavischen Ausdrücken«834 bilde, welche mit anderen deutschen Dialekten »wie Plattdeutsch, Schwäbisch 828 Vgl. dazu ausführlich Schlöffel, Loewe, S. 299–303. Vgl. dazu die folgenden Artikel: Buber, Sprache (1).; ders., Sprache (2); Mitteilungen der Organisation für hebräische Sprache und Kultur, in: JR, XV. Jg., Nr. 43 (28. 10. 1910), S. 490f.; W., Sch.: Die russische Landeskonferenz der Organisation für hebräische Sprache und Kultur (1), in: JR, XV. Jg., Nr. 45 (11. 11. 1910), S. 516; Die russische Landeskonferenz der Organisation für hebräische Sprache und Kultur (2), in: JR, XV. Jg., Nr. 46 (18. 11. 1910), S. 527f.; Aus der hebräischen Bewegung. Mitteilungen der Organisation für hebräische Sprache und Kultur (Histadruth Ibrith), in: JR, XVII. Jg., Nr. 5 (02. 02. 1912), S. 36; Hebraeisch. »Der Waad-Halaschon«, in: JR, XVII. Jg., Nr. 26 (28. 06. 1912), S. 243; Organisation für hebräische Sprache und Kultur, in: JR, XVIII. Jg., Nr. 16 (18. 04. 1913), S. 160; Hebräische Konferenz in Wien, in: JR, XVIII. Jg., Nr. 34 (22. 08. 1913), S. 350; Die hebräische Weltkonferenz (Ein Epilog), in: JR, XVIII. Jg., Nr. 36 (05. 09. 1913), S. 373f.. Vgl. dazu auch Mittwoch, Eugen: Aufruf des deutschen Komitees für hebräische Sprache und Kultur, in: Die Welt, 15. 07. 1910, S. 684f.; Das Zentralkomitee der »Histadruth Ibrith«: Hebräertag, in: Die Welt, 01. 05. 1914, S. 445f.; Sondertagungen, in: Die Welt, 22. 08. 1913, S. 1106; Die Welt (Kongressausgabe), 03. 09. 1913, S. 17f. 829 Vgl. zum »Sprachenkampf« Kap. III.3.3.1 der vorliegenden Arbeit. 830 Vgl. z. B. Loewe, Jargon; ders.: Jüdisch-Deutsch und Hebräisch, in: Literaturblatt der JR, I. Jg., Nr. 3 (1905), S. 17–19; Ünhut, B. G. R.: Jargon oder Jüdische Sprache, in: JR, X. Jg., Nr. 49 (08. 12. 1905), S. 647f.; Pinkus, Lazar Felix: Jüdisch oder Hebräisch?, in: JR, X. Jg., Nr. 50 (15. 12. 1905), S. 665f.; Simon, Julius: Jüdisch oder Hebräisch?, in: in: JR, X. Jg., Nr. 50 (15. 12. 1905), S. 666f. 831 Ausführlicher beschäftigen sich Arndt Kremer und Frank Schlöffel mit dem Status des Jiddischen bei Loewe (vgl. Kremer, Juden, S. 356–358 und Schlöffel, Loewe, S. 291f.). Beide machen die Feststellung, dass Loewe sich in seinen Veröffentlichungen von der jiddischen Sprache distanzierte, indem er sie in der Regel nicht als Jiddisch charakterisierte, sondern als »Jargon«, »Dialekt«, »Pseudo-Nationalsprache« und »Jüdisch-Deutsch« tituliere (vgl. Kremer, Juden, S 356f. und Schlöffel, Loewe, S. 291, Fn. 132). Diesem Befund widersprechen die im Fließtext folgenden Feststellungen. 832 Loewe, Jargon, S. 34. 833 Ebd. 834 Ünhut, Jargon, S. 647.

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etc.«835 auf einer Stufe stände. Auch der Druck des Jiddischen »mit deutschen Lettern«836 spräche gegen die Wahl des Jiddischen zur jüdischen Nationalsprache. Daher verhalte sich das Jiddische zum Hebräischen, wie etwa Heinrich Loewe pointiert zuspitzte, »wie eine aufgeputzte Vogelscheuche zu einem munteren Mädchen«.837 Mit dem Bild der »Vogelscheuche«, das beim Leser die Vorstellung eines wenig attraktiven, geschmacklosen Negativs einer Vorlage evozierte, spielte Loewe auf die von ihm dem Jiddischen zugestandene (bloße) Funktionsnatur zur Fernhaltung ›ungebetener Gäste‹ an, indem es, so die These, die jüdische Besonderheit bewahrt und das jüdische Kollektiv von umgebenden fremden Kultureinflüssen geschützt hätte.838 Bei diesen Beschreibungen schwang häufig zugleich die Vorstellung von der Rückständigkeit der »altertümelnden Formen«839 mit, welche die westeuropäischen, deutschen Zionisten in erster Linie mit den »mindergebildeten Volksschichten«840 im Ostjudentum verbanden. Im Gegensatz dazu betonten die deutschen Zionisten zugleich die wichtige, wenn auch provisorische Interimsfunktion des Jiddischen als Verständigungsmittel, indem die »Volkssprache«841 bzw. der »Volksdialekt«842 in Ermangelung der breiten Kenntnis des Hebräischen den »Mangel einer Nationalsprache« für den Moment (noch) kompensieren müsse.843 Die Aufgabe des Jiddischen käme somit, wie Hugo Bergmann, der Prager Kulturzionist und ehemalige Obmann des Vereins Bar Kochba,844 im März 1914 im Beiblatt der Jüdischen Rundschau betonte, einem »Akt des nationalen Verrates« gleich.845 Bergmann, der in seinem Beitrag vor den Gefahren einer hebräischen Elitenbewegung bei gleichzeitiger Ablösung vom Jiddischen warnte, forderte des Weiteren, dass der Kulturzionismus der Entwicklung entgegenwirken müsse, nach der das »Jiddische mehr und mehr enthebraisiert, germanisiert« würde, denn »[n]ur als jüdische Kultur kann die jiddische ihre Einheitlichkeit bewahren«.846 Vor dem Hintergrund 835 836 837 838 839 840 841 842 843 844 845 846

Ebd. Ebd., S. 648. Loewe, Jargon, S. 34. Vgl. ebd. Ebd. Ünhut, Jargon, S. 648. Bergmann, Hugo: Unsere Stellung zum Jiddischen, in: JR, XIV. Jg., Beiblatt Nr. 9/10, Nr. 10 (06. 03. 1914), S. 21–23, hier S. 23. Loewe, Jargon, S. 34. Vgl. ebd. Zu Hugo Bergmann vgl. Shumsky, Zweisprachigkeit; Spector, Scott: Another Zionism. Hugo Bergmann’s Circumscription of Spiritual Territory, in: Journal of Contemporary History 34 (1999), S. 87–108. Bergmann, Stellung, S. 23. Ebd.

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dieser wichtigen Funktion des Jiddischen für das nationaljüdische Kollektiv wurden von Heinrich Loewe auch die abwertenden Bezeichnungen des Jiddischen als »›Jargon‹ ›Kauderwälsch‹, ›Gaunerdialekt‹, ›im Munde eines Ausländers entstellte Sprache eines Volkes‹« abgelehnt, welche als Ausdruck antisemitischer Ressentiments interpretiert wurden, und der Erhalt der jüdischen Dialekte gefordert: »Fort mit dem Schimpfworte Jargon!«.847 Die zionistischen Sprachkonzepte zeichneten sich damit in hohem Maße auch durch eine innere Widersprüchlichkeit aus, wonach das Jiddische einerseits in auffallender Ähnlichkeit zum antisemitischen848 und (mitunter ambivalenten) liberal-jüdischen Diskurs849 abwertend als ›verunreinigte‹ ›Mischsprache‹ oder ›Jargon‹ charakterisiert wurde oder mit einem Vorwurf der »Mimikry«850 belegt wurde. Andererseits sollte mit anderslautenden aufwertenden Stellungnahmen ein expliziter Gegendiskurs zu antisemitischen Narrativen entworfen werden, der sich jedoch wiederum selbst die ›Reinigung‹ der Sprache von fremden Elementen auf die Fahne schrieb. Gelegentlich finden sich in den Beiträgen auch vereinzelte Stimmen, die den Thesen der jiddischen Kulturbewegung nahe standen, den sog. »Jiddischisten«, die von den sog. »Hebraisten« mit dem pejorativen Begriff der »Jargonisten« bezeichnet wurden.851 So heißt es beispielsweise in einem Aufruf des Wiener akademischen Vereins, den die Jüdische Rundschau im Jahr 1905 veröffentlichte, dass das Jiddische keine Mundart, sondern eine eigene, neue Sprache sei.852 Als Beweis für den Status des Jiddischen als Sprache führten die Befürworter die simple Tatsache an, dass es »von der Mehrheit des jüdischen Volkes gesprochen« würde853 und eine eigene jiddische Literaturtradition existiere854. Auch wenn die 847 Loewe, Jargon, S. 35. 848 Zum antisemitischen Diskurs vgl. ausführlich Kremer, Juden, S. 90–160. 849 Zum liberal-jüdischen Sprachkonzept am Beispiel des Centralvereins vgl. ausführlich ebd., S. 161–287. 850 Zum »Mimikry-Vorwurf« im antisemitischen Diskurs vgl. ausführlich ebd., S. 120–125. 851 Vgl. Jüdische Sprachkonferenz, in: JR, XIII. Jg., Nr. 42 (16. 10. 1908), S. 417. Vgl. dazu auch Fishman, Joshua A.: The Tshernovits Conference Revisited. The First World Conference for Yiddish, 85 Years Later, in: Ders. (Hg.): The Earliest Stage of Language Planning. The »First Congress« Phenomenon, Berlin/New York 1993, S. 321–332; Fishman, David E.: The Rise of Modern Yiddish Culture, Pittsburgh 2005, S. 48–61; Weiser, Kalman/Fogel, Joshua A. (Hg.): Czernowitz at 100. The First Yiddish Language Conference in Historical Perspective, Lanham 2010; Goldsmith, Emanuel S.: Modern Yiddish Culture. The Story of the Yiddish Language Movement, New York 1997. 852 Vgl. die Replik von Ünhut, Jargon, S. 647. 853 Pinkus, Lazar Felix: Jüdisch oder Hebräisch?, in: JR, X. Jg., Nr. 50 (15. 12. 1905), S. 665f., hier S. 666. 854 Vgl. Ünhut, Jargon, S. 647. Vgl. dazu auch Jüdische Sprachkonferenz, S. 417: »Man kann nur sagen, dass die Stimmung, die jetzt über die Konferenz, allgemein herrscht, durchaus berechtigt ist. Die jüdisch-deutsche Mundart zieht ihre niemals bezweifelte Existenzberechtigung ebenso wie jeder andere Dialekt aus einer gewissen historischen Entwicklung,

Was ist die ›jüdische Nation‹?

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Mehrheit der Beiträger dem Jiddischen den Status als jüdische Nationalsprache verweigerte, mussten viele jedoch einräumen, dass das Jiddische die »heutige [jüdische] Volkssprache«855 sei, in der »die jüdische Volksseele sich in so unendlicher Feinheit und Grösse, in allen ihren Golusnöten und nationalen Empfindungen […] offenbart hat«856. Auch das Jiddische besitze daher die grundsätzliche Berechtigung, studiert, gepflegt und ausgebaut zu werden, »um in ständiger Fühlung mit dem Wünschen und Streben, dem Fühlen und Denken der übergroßen Mehrheit unseres Volkes zu bleiben«857. Neben »dieser Kenntnis der jüdischen Volksseele überhaupt«858 wurde das Jiddische also auch als wichtiges Mittel der Verständigung zwischen West- und Ostjudentum gewertet, ohne dabei die grundsätzliche Priorisierung des Hebräischen in Frage zu stellen.859

855 856 857 858 859

und er ist infolgedessen als Verständigungsmittel mit einem Teil der jüdischen Massen nicht zu entbehren; auch ist anzuerkennen, dass er eine ziemlich grosse Literatur geschaffen hat, die aber doch fast durchweg alle Kennzeichen einer Dialekt-Literatur aufweist. Das macht sie zu einer interessanten Quelle des Studiums für jeden, der sich mit dem Leben der jüdischen Massen beschäftigen oder davon etwas erfahren will: Aber das alles macht die anspruchsvolle Resolution der Czernowitzer Konferenz nicht weniger grotesk, als sie der grossen Oeffentlichkeit von vornherein erschien. Immerhin sind die nun hervorgerufenen Angriffe auf diese ›Jargon‹ geschimpfte Sprache ungerecht und schiessen, wie die Konferenz selber, über ihr Ziel hinaus. Unsere Nationalsprache ist zweifelsohne nur das Hebräische oder soll es nur sein. Aber die Angriffe auf das Jüdisch-Deutsche verursachen sein Verschwinden nicht zu Gunsten des Hebräischen, sondern des Russischen und Polnischen, befördern also in ausserordentlich wirksamer Weise die Assimilation. Und sollten wir Nationaljuden am allermeisten meiden! [sic!]« Pinkus, Jüdisch, S. 666. Ebd. Eine ähnliche Begrifflichkeit und Argumentation findet sich bei Simon, Jüdisch, S. 667. Pinkus, Jüdisch, S. 666. Simon, Jüdisch, S. 667. Vgl. ebd.: »Ich kenne das ›Jüdische‹ sehr wenig noch. Aber ich ergreife jede Gelegenheit, mein Verständnis für diese eigenartige Sprache zu vertiefen. Und ich rate allen westlichen Juden, die es ernst meinen mit der Verbrüderung mit dem jüdischen Osten, das gleiche zu tun.« Vgl. auch Judaeoborussus: Jüdisch-Stammestümlich, in: JR, XIII. Jg., Nr. 22 (28. 05. 1908), S. 189f., hier S. 190 und Herrmann, Hugo: Alljudentum, in: JR, XIV. Jg., Beiblatt Nr. 5/7, Nr. 7 (13. 02. 1914), S. 14f., hier S. 14: »Wir sollten uns viel mehr mit diesen Tages– und Lebensfragen des Ostjudentums beschäftigen; unter anderem auch, um falschen Auffassungen und Folgerungen entgegentreten zu können. Dann wird auch die in manchen – zum Glücke kleinen und immer kleineren – Kreisen des Zionismus übliche Geringschätzung des ›Jargons‹ und des ›Jiddischismus‹ einer gerechten Würdigung Platz machen. Wir können und wollen nicht verkennen, daß in diesem ›Jargon‹ lebendiges jüdisches Leben pulsiert, daß sich in ihm genau wie im Zionismus der Lebenswille des jüdischen Volkes ausspricht. Wir leben in einer Zeit, wo das Judentum nach Mitteln sucht, seinen Lebenswillen zur Tat werden zu lassen, wo das jüdische Volk den Weg zu seiner Zukunft sucht. Und es gibt keinen Weg zur Zukunft als durch die Gegenwart. Jiddisch ist Gegenwart. Allein wir müssen auch klar erkennen, daß Jiddisch nicht die Zukunft ist.« Vgl. aus der Literatur zum Thema auch Bechtel, Delphine: Cultural Transfers between »Ostjuden« and

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Die Konstruktion zionistischer Hybridität in der Jüdischen Rundschau

Politische Beachtung und damit eine prinzipielle Wertschätzung erhielt Jiddisch schließlich im Kontext des Ersten Weltkriegs, indem der zionistische Nationalismus in Deutschland und mit ihm die Jüdische Rundschau propagandistische Pressearbeit für das Komitee für den Osten (KfdO) leisteten.860 Im Auftrag des KfdO erschienen Aufsätze und Schriften über die Kulturerscheinungen der osteuropäischen Juden, worunter auch deren Sprache fiel. Ein Beispiel hierfür ist die Schrift »Die jüdischdeutsche Sprache der Ostjuden«, die Heinrich Loewe im Auftrag des KfdO verfasste.861 Im Gegensatz zur überwiegenden Mehrheit der betrachteten Beiträge und Veröffentlichungen noch vor dem Ersten Weltkrieg wurde Jiddisch von Loewe nun gleichermaßen als »Mundart« und als »Muttersprache von 10 Millionen Menschen«862 mit eigenständiger Grammatik und Orthographie863 charakterisiert. Gerade aufgrund der »eigentümliche[n] Tatsache, daß die Juden auch außerhalb des Deutschen Reiches in ihrer großen Mehrheit ebenfalls deutsch verstehen«864, worunter er im Speziellen auf die Juden Osteuropas anspielte, könne die jiddische Sprache, vor allem in expansionistischer Hinsicht, »auch zugleich das beste Mittel sein, der deutschen Sprache den Weg in den weiten Osten zu bahnen«865.

2.

Was ist ›Zionismus‹? »Wo eine grosse Anzahl Menschen in einem Bestreben sich zusammenfinden, da erreichen sie nur dann etwas, womit sie am Ende alle einigermassen zufrieden sind, wenn sie ihre sich widersprechenden Interessen und Anschauungen auch rechtzeitig zur Geltung gebracht haben. […] Sind wir nun davon durchdrungen, dass der Zionismus nicht nur eine Partei im Judentum ist, sondern dass er die einzige Möglichkeit der Existenz des jüdischen Volkes bietet, so dürfen wir konsequenter Weise auch nie von der zionistischen Partei sprechen, sondern immer nur von der zionistischen Bewegung.«866

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»Westjuden«. German-Jewish Intellectuals and Yiddish Culture, 1897–1930, in: LBIYB 42 (1997), S. 67–83. Vgl. dazu auch Schlöffel, Loewe, S. 291f., Fn. 31. Vgl. Loewe, Heinrich: Die jüdischdeutsche Sprache der Ostjuden. Ein Abriß. Im Auftrage des »Komitees für den Osten«, Berlin 1915. Schlöffel, Loewe, S. 291f., Fn. 31, weist darauf hin, dass Loewe zu einem späteren Zeitpunkt das ursprüngliche Manuskript überarbeitete und darin »Jüdischdeutsch« durch »Jiddisch« ersetzte. Vgl. den späteren Entwurf in Loewe, Heinrich: Jiddisch, CZA, A146/44. Loewe, Sprache, S. 16. Vgl. ebd., S. 15. Ebd., S. 1. Ebd., S. 16. Becker, Julius: Organisation oder Desorganisation (I), in: JR, VIII. Jg., Nr. 25 (19. 06. 1903), S. 246f., hier S. 246f.

Was ist ›Zionismus‹?

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Ungeachtet ihrer unterschiedlichen Vorstellungen von ›jüdischer Nation‹ und ›jüdischem Nationalismus‹ fanden sich die deutschen Zionisten seit dem Ende der 1880er Jahre unter der Bezeichnung »zionistische Bewegung« zusammen. Sie verstanden sich demnach, wie aus dem vorangestellten Zitat des späteren Redakteurs der Jüdischen Rundschau, Julius Becker, hervorgeht, als ein einheitliches Kollektiv, welches sich zur Durchsetzung eines gemeinsamen Zieles zusammengeschlossen hatte und den Anspruch erhob, das gesamte Judentum zu repräsentieren.867 Der Begriff der »Bewegung« sollte weiter die Dynamik und Gerichtetheit der gemeinsamen Aktionen veranschaulichen und zielte auf die Erzeugung von Gemeinschaftsgefühlen über die Betonung eines gemeinsamen Gesinnungs-, Organisations- und Handlungszusammenhanges. Wenn also auch mit dem Begriff der »zionistischen Bewegung« der prinzipielle Eindruck nach innen wie außen vermittelt werden sollte, dass es sich beim zionistischen Nationalismus in Deutschland um einen Zusammenschluss von politisch gleichgesinnten Individuen handelte, so täuschte er doch darüber hinweg, dass sich unter ihm tatsächlich vielmehr mitunter völlig unterschiedliche ideologische Strömungen und Allianzen versammelt hatten, welche um die Deutungshoheit über den Zionismus stritten. Die Gründung der Jüdischen Rundschau im Jahr 1902 fiel beispielsweise in eine Zeit, in welcher der politische Zionismus, wie Ivonne Meybohm glaubhaft zeigen konnte, einen anfänglichen Verlust an Legitimität und Glaubwürdigkeit erlitt und sich unter den deutschen Zionisten allmählich die Erkenntnis durchzusetzen begann, dass die Erlangung eines Charters868 von der Hohen Pforte und der Unterstützung der europäischen Mächte, allen voran des Deutschen Reichs, um die sich Theodor Herzl und die ›politischen Zionisten‹ bemühten, ein aussichtsloses Unterfangen oder zumindest mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden war.869 In den Grundkonflikten und Debatten, welche die Frühphase der ZO seit ihrer Gründung in Basel 1897 prägten, wurden auch in der Jüdischen Rundschau fortwährend Zugehörigkeiten und Grenzen zwischen ›Dissidenten‹ und ›wahren Zionisten‹ sowie ›politischen Zionisten‹, ›praktischen Zionisten‹ und ›Kulturzionisten‹ produziert, die in der folgenden Untersuchung exemplarisch nachgezeichnet werden. Der Bewegungsbegriff, der wie der »Führer«-Begriff, den die deutschen 867 Vgl. dazu auch Loewe, Heinrich: Die Waisen von Kischinew, in: JR, VIII. Jg., Nr. 23 (05. 06. 1903), S. 221f., hier S. 22; Zlocisti, Theodor: Zur Situation des Zionismus (II), in: JR, X. Jg., Nr. 10 (10. 03. 1905), S. 105f., hier S. 105: »Es schien mir wichtig, in einer Zeit, da neue Tendenzen sich in unserer Bewegung bemerkbar machen und allerlei in ihren Ursachen durchsichtige, in ihrem Wesen aber unklare und unruhige Einseitigkeiten den lebendigen Geist unserer Gemeinschaft ein- und abzuspüren scheinen, nochmals an die Ganzheit unserer Bestrebung zu mahnen.« Vgl. dazu auch die Rubrik »Aus der Bewegung«, welche in der Jüdischen Rundschau unter der Redaktionszeit Heinrich Loewes zu finden ist. 868 Vgl. zum Begriff Kap. III.2.2.2 der vorliegenden Arbeit. 869 Vgl. Meybohm, Wolffsohn, S. 73.

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Die Konstruktion zionistischer Hybridität in der Jüdischen Rundschau

Zionisten ebenfalls extensiv gebrauchten, in der historischen Forschung bislang in erster Linie im Zusammenhang mit den europäischen Faschismen der Zwischenkriegszeit und dem Nationalsozialismus eine begriffsgeschichtliche Aufarbeitung erfahren hat, hatte im Kontext des ›langen‹ 19. Jahrhunderts bereits sowohl verschiedenen emanzipatorischen politischen Strömungen seit dem Vormärz als auch nationalen Strömungen wie den deutschen Radikalnationalisten zur Selbstbezeichnung gedient.870 Um den aus ihrer Sicht grundsätzlich emanzipatorischen Charakter der eigenen Bewegung zum Ausdruck zu bringen,871 verglichen sich einige deutsche Zionisten auch mit der »sozialdemokratischen Bewegung«, während sich das Verhältnis zwischen Sozialdemokratie und Zionismus ansonsten entsprechend der bürgerlichen Prägung des deutschen Zionismus und damit der eigenen klassenspezifischen Mentalität insgesamt äußerst ambivalent gestaltete.872 In einem Beitrag mit dem Titel »Wir und die Sozialdemokratie« beispielsweise, der im Dezember 1906 in der Jüdischen Rundschau erschien, räumte der Verfasser »Tubal« zwar die grundsätzliche Gemeinsamkeit beider Bewegungen, der zionistischen wie der sozialdemokratischen, hinsichtlich ihrer oppositionellen Stoßrichtung ein,873 warnte jedoch die »jüdischen Intellektuellen« vor dem »nackte[n] Klasseninteresse« des »Proletariats«874 und möglichen unangenehmen Sanktionen seitens der deutschen Regierung, sollten sich die Zionisten mit den Sozialdemokraten solidarisieren. Er schloss daher mit der Empfehlung an die deutschen Zionisten, lieber nationalliberal als sozialdemokratisch zu wählen.875 Am ehesten interessierten die 870 Aus heutiger Sicht bezeichnet der Begriff »Bewegung« einen eher lockeren Zusammenschluss von Menschen, die sich zur Durchsetzung eines gemeinsamen [politischen] Zieles assoziiert haben. Vgl. dazu Hein, Dieter: Partei und Bewegung. Zwei Typen politischer Willensbildung, in: HZ 263 (1996), S. 69–97; Rucht, Dieter u. a.: Soziale Bewegungen auf dem Weg zur Institutionalisierung. Zum Strukturwandel »alternativer« Gruppen in beiden Teilen Deutschlands, Frankfurt a. M. 1997, S. 19–58. 871 Vgl. Anon.: Quid novi de Africa?, in: JR, VIII. Jg., Nr. 3 (16. 01. 1903), S. 17f., hier S. 17: »Unter solchen freien Verhältnissen kann der Jude beginnen sich frei zu fühlen, und so ist es nur naturgemäss, wenn die zionistische Bewegung, die sich als ein Freiheitsringen kennzeichnet, gerade in dem freien Lande sich am mächtigsten entfaltet. Unsere südafrikanische Zentrale ist eine der grössten Organisationen, die unsere Freiheitsbewegung zählt.« 872 Zum Verhältnis von Sozialdemokratie und Zionismus bzw. bürgerlicher Sozialreform vgl. ausführlich Kessler, Mario: Sozialismus und Zionismus in Deutschland 1897–1933, in: Heid, Ludger/Paucker, Arnold (Hg.): Juden und deutsche Arbeiterbewegung bis 1933. Soziale Utopien und religiös-kulturelle Traditionen, Tübingen 1992, S. 91–102; Eloni, Yehuda: The Zionist Movement and the German Social Democratic Party, 1897–1918, in: Studies in Zionism 5 (1984), S. 181–199; Wistrich, Robert S.: German Social Democracy and the Problem of Jewish Nationalism 1897–1917, in: LBIYB 21 (1976), S. 109–142; Vogt, Positionierungen, S. 253–270. 873 Vgl. Tubal: Wir und die Sozialdemokratie, in: JR, XI. Jg., Nr. (07. 12. 1906), S. 726f. 874 Ebd., S. 726. 875 Vgl. ebd., S. 726f.

Was ist ›Zionismus‹?

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Zionisten noch die Bezüge der Sozialdemokratie zum Nationalismus und Kolonialismus, wobei sie etwa Ferdinand Lassalle und seine Vorstellungen über einen ›nationalen Sozialismus‹ ins Blickfeld nahmen, dabei jedoch kritisierten, dass er diesen für das ›deutsche Volk‹ und nicht für sein eigenes, das ›jüdische‹, entwickelt hätte.876 Obwohl im zionistischen Nationalismus in Deutschland also Vorstellungen vom emanzipatorischen Charakter der eigenen ›Bewegung‹ zirkulierten, war der deutsche Zionismus, allein schon wegen seiner Kolonisationspläne für Palästina, immer auch herausgefordert, sein Verhältnis zu den Diskursen des (deutschen) Kolonialismus und Imperialismus und damit auch deren ideologischen Grundlagen zu bestimmen.877 Als die ZO im ausgehenden 19. Jahrhundert offiziell gegründet wurde, hatte die koloniale und imperialistische Expansion einen vorübergehenden Höhepunkt erreicht und die nationalistische Forderung nach einer deutschen »Weltpolitik« war im deutschen Kolonialbesitz zumindest vordergründig Wirklichkeit geworden.878 Vor diesem Hintergrund erschien es den politischen Zionisten wie Theodor Herzl zunächst nur folgerichtig, die diplomatische Unterstützung und Protektion für die zionistische Kolonisation in Palästina und damit für den Anspruch auf eine eigene Kolonisationstätigkeit bei den europäischen Kolonialmächten zu suchen und die Vorteile der eigenen Kolonisationsbemühungen in den Diskurs des europäischen Kolonialismus und Imperialismus einzuschreiben.879 Tatsächlich gestalteten sich die Kolonisationskonzepte deutscher Zionisten jedoch weitaus komplexer und sie entwickelten in Zurückweisung antisemitischer wie hegemonialer Diskurse und Praxen bei gleichzeitiger grundsätzlicher Bejahung kolonialistischer Narrative auch auf diesem Gebiet einen äußerst ambivalenten (hybriden) Diskurs, der neben der Haltung der Beiträger in der Jüdischen Rundschau zu den ideologischen Strömungen in der ZO abschließend Gegenstand der folgenden Untersuchungen sein wird. In den Fokus der Aufmerksamkeit rücken im zweiten Kapitel »Was ist ›Zionismus‹?« (III.2.) zunächst die Positionierungen der Beiträger in der Jüdischen Rundschau zur Politik der ZO. Als unverzichtbare Voraussetzung für den (diplomatischen) Erfolg des (politischen) Zionismus galt in der Jüdischen Rundschau über mehrere Jahre nach ihrer Gründung die Vorstellung der nationalen Homogenität und Geschlossenheit des zionistischen Kollektivs, welche sich in der formelhaften Forderung nach der ›Einheit‹, ›Einigkeit‹ und ›Einmütigkeit‹ 876 Vgl. Oppenheimer, Franz: Lassalle (Zu seinem vierzigsten Todestag), in: Die Welt, Nr. 36 (02. 09. 1904), S. 12–14; Lichtwitz, Alfred: Ferdinand Lassalle. Zum 31. August 1911, in: Die Welt, Nr. 36 (08. 09. 1911), S. 945f. Vgl. dazu auch Vogt, Positionierungen, S. 266–270. 877 Vgl. dazu insbes. auch Vogt, Positionierungen, S. 113–118. 878 Vgl. dazu auch Walkenhorst, Nation, S. 166–249. 879 Vgl. dazu auch Vogt, Positionierungen, S. 113.

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Die Konstruktion zionistischer Hybridität in der Jüdischen Rundschau

des zionistischen Nationalismus widerspiegelte (III.2.1). Diese Unitätsutopie, welche sich für die zionistische Innen- wie Außenpolitik programmatisch in erster Linie am politischen Zionismus Theodor Herzls und an den Leitlinien des »Baseler Programms« ausrichtete und vermutlich sowohl in Nachahmung als auch in Distanzierung vom deutschen Nationalismus formuliert worden war, beeinflusste maßgeblich die Haltung der Jüdischen Rundschau in den frühen Grundsatzdebatten, welche die ZO seit ihrer Gründung prägten. Kapitel III.2.1.1 beschäftigt sich daher mit den Stellungnahmen in der Jüdischen Rundschau zur ideologischen Ausdifferenzierung der zionistischen Bewegung und der Entstehung zionistischer Fraktionen und Gruppierungen wie der Demokratischen Fraktion in den Jahren nach dem Ersten Zionistenkongress. Kapitel III.2.1.2 geht der Frage nach, wie die sog. »Altneuland-Kontroverse« in den Jahren 1902 und 1903 im Kontext des Deutungsmusters ›Parteidisziplin‹ im offiziellen Presseorgan der ZVfD abgebildet wurde und welche Rolle darin das Herzl-Bild für die Legitimation der eigenen Zionismusvorstellungen spielte. Kapitel III.2.1.3 befasst sich mit der Haltung der Jüdischen Rundschau in der sog. »Ostafrika-Frage« oder »Uganda-Kontroverse« in den Jahren von 1903 bis 1905. Kapitel III.2.2 widmet sich im Anschluss daran der Frage, wie sich die Beiträger nach Herzls Tod in der Jüdischen Rundschau zum politischen Programm der neuen Leitung der ZO positionierten und wie sie die veränderten innenpolitischen und außenpolitischen Konstellationen wahrnahmen. Auf die Strategie des ›nationalen Homogenisierens‹ folgte eine Phase, in der sich das zionistische Kollektiv nach neuen Führungspersönlichkeiten und nach nationalideologischer Unterfütterung der zionistischen Politik sehnte und in der das Deutungsmuster der ›Krise‹ weite Verbreitung fand (III.2.2.1). Wesentlichen Einfluss auf die Vorstellungen von zionistischem Nationalismus nahmen in diesem Kontext nicht zuletzt die politischen Erwartungen, welche deutsche Zionisten in der ›Programmdebatte‹ mit der Jungtürkischen Revolution (1908/ 09) verbanden und die sie mit einer Kritik am europäischen Imperialismus verknüpften (III.2.2.2). Im abschließenden dritten Unterkapitel (III.2.3) wird die ambivalente Diskursposition des zionistischen Kollektivs zwischen ›Kolonisiertem‹ und ›Kolonisierer‹ behandelt. Um das ›Dazwischensein‹ des Zionismus besser bewerten zu können, wurde der Betrachtung der zionistischen Kolonialismuskonzeptionen ein Kapitel vorangestellt, welches sich dezidiert der Frage widmet, mit welchen Narrativen die deutschen Zionisten die antisemitische Erfahrung in West- und Osteuropa belegten und welchen Einfluss diese auf ihre eigenen Selbstbestimmungsentwürfe nahmen (III.2.3.1). In Kapitel III.2.3.2 wird der Frage nachgegangen, wie sich die Zionisten zu den europäischen Kolonialismusdiskursen stellten und welchen Einfluss diese auf den zionistischen Nationalismus in Deutschland ausübten.

Was ist ›Zionismus‹?

2.1

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›Einheit‹, ›Einigkeit‹ und ›Einmütigkeit‹: ›Politischer Zionismus‹, ›nationales Homogenisieren‹ und die Unitätsutopie der Jüdischen Rundschau (1902–1905)

Als geradezu logische Folge ihrer Funktion als Organ des deutschen Landesverbandes der ZO positionierte sich die Jüdische Rundschau unter der Leitung von Heinrich Loewe programmatisch offiziell auf der Seite des politischen Zionismus, worin sicherlich auch das frühe Abgrenzungsbedürfnis Theodor Herzls880 zu den Anhängern praktisch-zionistischer Konzeptionen eine wichtige Rolle spielte. Darin lag für die Redaktion auch ein gewisses Konfliktpotential begründet, indem einerseits die Mitglieder der ZVfD von der Jüdischen Rundschau erwarteten, dass diese als neutrale Kommunikationsplattform für Beiträge aller ideologischen Strömungen im zionistischen Nationalismus offen stehen würde und andererseits die politische Führung erhoffte, die Wochenzeitung würde den Anspruch des politischen Zionismus auf Autorität und Deutungshoheit in der zionistischen Bewegung propagandistisch unterstützen. Heinrich Loewes persönliche Vorstellungen von ›Nation‹ und ›Nationalismus‹ beispielsweise zeigten geradezu paradigmatisch, wie sich politisch-zionistische mit praktisch-zionistischen und kulturzionistischen Konzeptionen vermischten.881 Dennoch gab es für die Jüdische Rundschau offiziell »nur einen Zionismus, ein Programm, ein grosses Ziel«882, indem das »Baseler Programm« zum offiziellen Leitprogramm der Zeitung unter der Schirmherrschaft des politischen Zionismus erklärt wurde. Seinen grundlegenden Anspruch auf bestimmende Gesetzmäßigkeit für die zionistische Bewegung untermauerte die Jüdische Rundschau noch, indem sie das Programm jeder Ausgabe der Zeitung voranstellte und als »Grundgesetz«883 und »neue Lehre des jüdischen Volkes«884 titulierte. 880 Meybohm, Wolffsohn, S. 74. 881 Auch etwa Elias Auerbach forderte in seiner Besprechung der ›praktisch-zionistischen‹ und ›kulturzionistischen‹ Zeitschrift »Altneuland« die Kombination von diplomatischen, wirtschaftlichen und kulturellen Maßnahmen. Vgl. Auerbach, Elias: »Altneuland« [Buchbesprechung], in: JR, IX. Jg., Nr. 9 (26. 02. 1904), S. 81–83. 882 Anon. [Loewe, Heinrich]: Der Weg zum Ziel, in: JR, IX. Jg., Nr. 13 (25. 03. 1904), S. 119–122, hier S. 120. 883 Unser Grundgesetz [Baseler Programm], in: JR, XI. Jg., Nr. 1 (05. 01. 1906), S. 1. 884 Vgl. L., H. [Loewe, Heinrich]: Der neue Jahrgang, in: JR, VIII. Jg., Nr. 1 (02. 01. 1903), S. 1f., hier S. 1.: »Und da glauben wir nicht fehl zu gehen, wenn wir annehmen, dass es die zionistische Idee ist, die wir unentwegt vertreten. Wir haben uns bemüht, den politischen Gedanken, wie er im Baseler Programm der zionistischen Partei zum Ausdruck kommt, klar und deutlich auszusprechen. Ungeschminkt haben wir es immer wiederholt, dass all unser Streben danach geht, dem jüdischen Volke in Palästina eine öffentlich-rechtlich gesicherte Heimstätte zu schaffen. Das ist der ganze Inhalt des Zionismus, und das ist der einzige Ton, der aus diesen Blättern immer und immer wieder an die Oeffentlichkeit dringt.«

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Die Konstruktion zionistischer Hybridität in der Jüdischen Rundschau

Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang auch ein vierseitiger Artikel, der am 25. März 1904 in der Jüdischen Rundschau erschien, und in dem Heinrich Loewe die Bedeutung des »Baseler Programms« für die zionistische Bewegung erläuterte.885 Nach Loewe stellte die besondere Leistung der frühen politischen Zionisten wie Theodor Herzl auf dem Ersten Zionistenkongress dar, dass sie die ›Nationalität‹ wieder zum zentralen Bezugspunkt kollektiven Denkens und Handelns gemacht und das ›jüdische Volk‹ somit wieder zu innerer Geschlossenheit geführt hätten: »Auch wir Zionisten haben ein Programm – und das bedeutet: Das jüdische Volk hat ein Programm, ja ein Programm der Zukunft Israels. […] Unser Programm kann nur das Zauberwort der jüdischen Einheit, das gemeinsame grosse Ziel enthalten. Was uns alle verbindet, das ist das geschichtliche Bewusstsein und die Leiden unserer Brüder, unsere Leiden. Nicht mehr und nicht weniger. Es gibt kaum eine religiöse, politische oder kulturelle Frage, in der der Baseler Kongress leicht hätte einig werden können. Einig aber sind wir alle in dem Bestreben, für unsere Ehre und für die Zukunft unseres Stammes einzustehen. Wir bilden keine politische Partei im gewöhnlichen Sinne und wollen keine bilden. Wir wollen das jüdische Volk selbst sein. […] Erst dem Kulturhistoriker der Zukunft wird es vergönnt sein, die Tragweite des ersten Zionistenkongresses für das Geschick des jüdischen Volkes zu schildern. Uns Zionisten selbst aber brachte er, was uns am meisten not tat: Klarheit, Wahrheit und Einheit. […] Nach dem materiellen Zion für die enterbten Brüder des Ostens, nach dem geistigen Zion für die ihrer Eigenart entfremdeten westeuropäischen Juden, für uns alle nach dem Zion nationaler Freiheit und Selbständigkeit. Uns ist die Judenheit eine Einheit, eine grosse Familie […].«886

Auffallend ist in diesem Zusammenhang neben der politisch-zionistischen Hervorhebung der »external dimension of the Jewish situation« (Gideon Shimoni)887 zur Begründung des eigenen Zionismus die wiederholte Verwendung des Begriffs »Einheit«, der sich in zahlreichen Artikeln in der Jüdischen Rundschau während der Redaktionszeit Loewes und noch darüber hinaus nachweisen lässt. Das Deutungsmuster der ›Einheit‹ »im« und »durch« den Zionismus, das auch in den Varianten ›Einigkeit‹ oder ›Einmütigkeit‹ auftrat, wurde von Loewe mit der Diversität des ›jüdischen Volkes‹ in der Diaspora kontrastiert, das von ihm mit Schlagworten wie »Zerklüftung«888 und »Dualismus«889 charakterisiert wurde. Die Unitätsutopie wurde somit zum Wesensmerkmal des zionistischen

885 Vgl. Loewe, Weg. 886 Ebd., S. 119. 887 Shimoni, Ideology, S. 86. Zur Charakterisierung des ›politischen Zionismus‹ durch Shimoni vgl. auch Kap. I.2 der Einleitung. 888 Loewe, Weg, S. 119. 889 Ebd., S. 122.

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Nationalismus erklärt:890 Das Idealbild der ›jüdischen Nation‹, wie es Loewe sich hier ausmalte, war demnach eine homogene und geschlossene Gemeinschaft, deren Mitglieder sich durch eine weitgehende Übereinstimmung ihrer Gesinnung auszeichneten und dadurch handlungsfähig waren. Obwohl er selbst sozusagen durch seine kulturzionistischen Vorstellungen seine eigene Konstruktion einer neuen, integrierenden Einheitsvorstellung durchbrach, negierte Loewe hier jegliche Form nationalpolitischer Differenz und legte die Grenzen des politisch Sagbaren fest. Jede als Differenz oder potentielle Bedrohung für diese Gemeinschaftsutopie wahrgenommene ideologische Position wurde von Loewe und weiteren Zionisten wie Adolf Friedemann daher als deviant oder spalterisch diffamiert.891 Dass Loewe nur dem politischen Zionismus die nötige Integrationskraft und Autorität für die Aufrechterhaltung seiner nationalen Vision zugestand, zeigte sich schon darin, dass er in seinen Beiträgen dem ersten Abschnitt des »Baseler Programms«, in dem für ihn die Essenz des Zionismus als politischer Ideologie kristallisiert worden war, alle folgenden unterordnete.892 Somit erhob er die »Schaffung einer öffentlich-rechtlich gesicherten Heimstätte in Palästina« zur absoluten Priorität und zementierte den Führungsanspruch des politischen Zionismus im zionistischen Nationalismus, da darin »die Proklamierung der Judenheit als Nation und der Weg zu seiner Wiederaufrichtung auf dem geschichtlich geweihten Boden seiner Väter«893 formuliert sei. Aus dieser Vorstellung einer homogenen, konfliktfreien ›nationalen Gemeinschaft‹, so die These, muss die Haltung der Jüdischen Rundschau in den Debatten, die in der ZO vor und seit ihrer Gründung 1902 aufbrachen, erklärt werden.894 Heinrich Loewe verfolgte darin immer auch eine Strategie des ›na890 Vgl. ebd., S. 120: »Und die Einheit! Welch ein unerreichbares Ideal […]! Und das Unglaubliche ist erreicht, spielend erreicht worden. Wir haben uns im Zionismus geeinigt« 891 Vgl. Friedemann, [Adolf]: Der kleine Kongress, in: JR, VII. Jg., Nr. 43 (22. 10. 1902), S. 25f., hier S. 26: »Es wird und darf unter uns keine Zersplitterungen und Fraktionen geben, keine Unduldsamkeit gegen religiöse oder unreligiöse Anschauungen. Wir kennen in der Partei keine Orthodoxen und keine Neologen, keine Demokraten und keine Aristokraten, wir kennen nur einen Zionismus, nämlich den des Baseler Programms. Sonderprogramme, sie mögen von rechts oder links kommen, lehnen wir ab, denn wir wollen nicht eine Richtung sein im Judentum, wir wollen es in seiner Gesamtheit umfassen und vertreten.« 892 Vgl. Loewe, Heinrich: Der neue Jahrgang, in: JR, VIII. Jg, Nr. 1 (02. 01. 1903), S. 1f., hier S. 1: »Das ist der ganze Inhalt unserer Lehre und alles andere ist Kommentar, oder – wenn man so will, – Mittel zum Zweck. Gewiss ist es eine unabweisbare Notwendigkeit, die Besiedelung Palästinas durch jüdische Ackerbauer, Handwerker und Gewerbetreibende zweckdienlich zu fördern, gewiss […] müssen wir das jüdische Nationalgefühl und Volksbewusstsein stärken und fördern, […] aber das alles sind nur Mittel dazu, für das jüdische Volk eine Heimstätte in Palästina zu schaffen.« 893 Loewe, Weg, S. 120. 894 Dass es sich dabei um ein konstruiertes Narrativ handelte, wurde von einigen deutschen Zionisten wie dem Kulturzionisten Berthold Feiwel sehr wohl erkannt. Vgl. Feiwel, Stroe-

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tionalen Homogenisierens‹, indem er wiederholt gegen die Herausforderer und Gegner des politischen Zionismus in den eigenen Reihen polemisierte und zur inneren ›Einheit‹ des zionistischen Kollektivs aufrief. Mit welchen Narrativen er diese im Einzelnen verband, soll in den folgenden Kapiteln rekonstruiert werden. Die Unitätsutopie Loewes, die in der Jüdischen Rundschau breiten Raum erhielt, und die mit ihr einhergehende Wertschätzung von nationaler Homogenität und Geschlossenheit lassen sich auch als Gegendiskurs zum Bild der inneren Zergliederung des Zionismus, das Zionisten, Nicht- und Anti-Zionisten wie Antisemiten gleichermaßen pflegten, interpretieren.895 Dass die subjektive Fremdwahrnehmung des Zionismus eine gewichtige Rolle beim Prozess der Selbstdeutung der Zionisten spielte, geht aus einigen Beiträgen hervor, kraft derer die Vitalität und Homogenität der zionistischen Bewegung der These von der Totsagung des Zionismus explizit entgegen gestellt wurde.896 Der Einheitsdiskurs sollte somit der Integration nach innen dienen und als Abwehrmechanismus nach außen wirken. Laut einem Eintrag im »Deutschen Wörterbuch« der Brüder Grimm aus dem Jahr 1862 war das Wort »Einheit« ein »früher noch nicht hergebrachter ausdruck«, der »erst seit dem vorigen j[ahr]h[undert] in schwang« gekommen sei.897 Gebräuchlich waren die Begriffe »Einheit« und »Einigkeit« wohl zunächst primär im religiösen Kontext und bezogen sich in der christlichen Theologie auf die Wesenseinheit Gottes in drei Personen (Trinität).898 Auf diese Weise konnte der ›Nation‹ also wiederum auch ein Hauch sakraler Mystik und Feierlichkeit verliehen werden. Im Laufe des 19. Jahrhunderts wurden die Begriffe auch von verschiedenen Strömungen in der deutschen Nationalbewegung verwendet, um ihre unterschiedlich geformten Ideal- und Zielvorstellungen eines vereinten deutschen Nationalstaates zum Ausdruck zu bringen. Teilweise wurde darin zwischen den Begriffen »Einheit« und »Einigkeit« differenziert, um die Idee

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mungen. Zur Unitätsutopie vgl. auch Sachse, Heinrich: Die Rückkehr ins Judentum, in: JR, IX. Jg., Nr. 32 (12. 08. 1904), S. 352: »Wir deutschen Zionisten werden freilich, wie wir immer betonen, es für unsere besondere Pflicht erachten, uns von allen Sonderbestrebungen im Zionismus fernzuhalten, in der festen Ueberzeugung, dass nur absolute Einheit und Einmütigkeit bei voller Duldsamkeit und Gewissensfreiheit das jüdische Volk zur Freiheit führen kann. […] Und der Zionismus ist nicht der Privatbesitz einer kleinen Gruppe, die eine bestimmte Richtung im Judentum vertritt, sondern die Rückkehr des ganzen Judenvolks zum Judentum vor der Rückkehr ins Judenland.« Zur Wahrnehmung des Zionismus in der deutschen Gesellschaft vgl. etwa Meybohm, Wolffsohn, S. 83–90. Vgl. Loewe, Heinrich: Die Erben des Zionismus, in: JR, IX. Jg., Nr. 2 (08. 01. 1904), S. 11–13, hier S. 11. Einheit, in: Grimm, Jacob/Grimm, Wilhelm: Deutsches Wörterbuch, Bd. III: E–Forsche, Leipzig 1862, Sp. 198f., hier Sp. 198. Vgl. ebd.

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einer Föderativnation mit der Vorstellung eines Nationalstaates zu vereinen, wobei sich beispielsweise Abgeordnete im sächsischen Landtag in den 1850er Jahren vom Deutschen Bund erhofften, »auch auf politischem Felde die deutschen Völker […] wenn nicht zur Einheit, doch zur Einigkeit zu führen«899. Die deutschen Zionisten partizipierten mit ihrer nationalen unitären Gemeinschaftsutopie wie auch andere Strömungen des deutschen Nationalismus im Kaiserreich, die ähnliche Deutungsmuster entwickelten, nicht zuletzt an einer weit verbreiteten Krisenempfindung in der wilhelminischen Gesellschaft, die sich als Reaktion auf die (selbstreflexiv gewordene) Fragmentierung, Pluralisierung und Veränderung in allen gesellschaftlichen Bereichen im Zuge des Industriekapitalismus und der modernen Massengesellschaft deuten lässt. In ihr manifestierte sich die Suche nach neuen verbindlichen, solidarisierenden und sinnstiftenden Weltdeutungsmustern.900 Sie diente den zionistischen Autoren, die sie u. a. in ihren Beiträgen in der Jüdischen Rundschau vertraten, demnach immer auch als Projektionsfläche für ihr subjektives Krisenbewusstsein, in welchem sie die Kontroversen um die politische Ausrichtung des zionistischen Nationalismus als existentielle Grundkonflikte interpretierten. Allerdings bezog sich die in diesem Kontext betrachtete zionistische Vision ›nationaler Homogenität‹ weitestgehend auf die politische Dimension des Zionismus. Sie ging damit rein äußerlich zwar mit gleichlautenden Tendenzen im deutschen Nationalismus einher, implizierte jedoch in diesem Kontext keine hegemoniale Dimension wie etwa die »radikalnationalistische Homogenitätsutopie«901, welche sich primär durch den »Nexus von Homogenität, Effizienz und Macht«902 und damit rechtsnationalistische Semantiken auszeichnete, »deren Spektrum von gesellschaftlicher Exklusion bis hin zu gewaltsamen ›ethnischen Säuberungen‹ reichte«903.904

899 Sitzung des Landtags Sachsen vom 18. 2. 1858, zit. in: Neeman, Andreas: Landtag und Politik in der Reaktionszeit. Sachsen 1849/50 bis 1866, Diss. phil. Tübingen 1998, S. 188, 191, 224, 415, 417, zit. n.: Langewiesche, Dieter : Föderativer Nationalismus als Erbe der deutschen Reichsnation. Über Föderalismus und Zentralismus in der deutschen Nationalgeschichte, in: Ders./Schmidt, Georg (Hg.): Föderative Nation. Deutschlandkonzepte von der Reformation bis zum Ersten Weltkrieg, München 2000, S. 215–242, hier S. 220. 900 Vgl. dazu auch Kap. III.2.2 der vorliegenden Arbeit. Vgl. dazu auch den Sammelband von Grunewald/Puschner, Krisenwahrnehmungen. 901 Walkenhorst, Nation, S. 98. 902 Ebd., S. 93. 903 Ebd., S. 97. 904 Vgl. ebd., S. 80–101.

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2.1.1 »[G]egen die Fraktionierung des Zionismus«905 : Zionistische ›Meinungsund Gewissensfreiheit‹ und ihre Grenzen Die Diskreditierung der vom ›Normalfall‹ des politischen Inhaltes des »Baseler Programms« als abweichend empfundenen Zionismuskonzeptionen traf zunächst die Mitglieder bestimmter ideologischer Strömungen und Fraktionen, die sich in den Jahren 1901 und 1902 organisierten. Die Debatte um die »Fraktionierung des Zionismus« entzündete sich in der Jüdischen Rundschau in erster Linie um die als ›Dissidenten‹ charakterisierten Zusammenschlüsse ›demokratischer‹ und ›religiöser‹ Zionisten. Diese verblieben zwar offiziell in der ZO, unterhielten aber eigene Büros und propagandistische Aktivitäten und traten auf den Zionistischen Kongressen als geschlossene Gruppierungen auf.906 Unmittelbar vor dem Fünften Zionistenkongress in Basel im Dezember 1901 hatten vorwiegend junge Intellektuelle, darunter bekannte Zionisten wie Berthold Feiwel, Ephraim Moses Lilien, Martin Buber, Chaim Weizmann und Leo Motzkin, die Demokratisch-zionistische Fraktion gegründet. Diese wollte unter dem Einfluss der kulturnationalistischen Forderungen Achad Ha’ams907 und des Wiener Schriftstellers Nathan Birnbaum908 die Demokratisierung der zionistischen Einrichtungen und die Intensivierung der nationalen Kulturarbeit in der ZO vorantreiben.909 Das »Programm und Organisations-Statut der Demokra905 Das Zitat stammt aus einem Redaktionskommentar im folgenden Beitrag: [Vorbemerkung der Redaktion]: Die Fraktionierung des Zionismus, in: JR, IX. Jg., Nr. 41 (14. 10. 1904), S. 335. 906 Seit 1907 wurde das landsmannschaftliche Prinzip durch thematisch untergliederte Fraktionen ergänzt. Vgl. Meybohm, Wolffsohn, S. 129. 907 Zu Achad Ha’am vgl. auch Zipperstein, Steven J.: Elusive Prophet. Ahad Ha’am and the Origins of Zionism, London 1993; ders.: Symbolic Politics, Religion, and the Emergence of Ahad Haam, in: Almog, Shmuel u. a. (Hg.): Zionism and Religion, Hanover/London 1998, S. 55–66. Zur Frage des Einflusses Achad Ha’ams auf die deutschen Zionisten und die Fraktion vgl. Reinharz, Jehuda: Achad Haam und der deutsche Zionismus, in: Bulletin des Leo Baeck Instituts 61 (1982), S. 3–27; ders.: Ahad Ha-Am, Martin Buber and German Zionism, in: Kornberg, Jacques (Hg.): At the Crossroads. Essays on Ahad Ha-Am, Albany 1983, S. 142–155. 908 Vgl. Birnbaum, Nathan: Die nationale Wiedergeburt des jüdischen Volkes in seinem Lande, als Mittel zur Lösung der Judenfrage. Ein Appell an die Guten und Edlen aller Nationen, Wien 1893. Zu Nathan Birnbaum vgl. Olson, Birnbaum; Wistrich, Robert S.: The Clash of Ideologies in Jewish Vienna (1880–1918). The Strange Odyssey of Nathan Birnbaum, in: LBIYB 33 (1988), S. 201–230. 909 Vgl. dazu auch Kap. III.1.5 der vorliegenden Arbeit. Die Demokratisch-zionistische Fraktion trat zum ersten Mal auf dem Fünften Zionistenkongress in Basel als »geschlossene Gruppe« (Feiwel, Stroemungen, Sp. 694) in Erscheinung und forderte eine dezidierte zionistische Kulturpolitik. Max Nordau hatte am 27. Dezember 1901 die »geistige Hebung« des Judentums als »leere Redensart« und »Phantasien« bezeichnet und Achad Ha’am verunglimpft (Nordau, Stenographisches Protokoll 1901, S. 114f.). Daraufhin hielt Martin Buber seine Rede über die Bedeutung einer »jüdischen Kunst« (Buber, Stenographisches Protokoll 1901, S. 157), die »Mittel der Erziehung« zur Entfaltung einer »jüdischen Volkscultur«

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tisch-Zionistischen Fraktion«, welches im Juni 1902 veröffentlicht wurde und sich an den Kulturzionismus Achad Ha’ams anlehnte,910 betonte in einer »Synthese zwischen jüdischem Geist und allgemeiner Kultur« im Besonderen »diejenigen Arbeiten […], welche unmittelbar zur Förderung des geistigen Niveaus führen. […] 1. Die Erlernung der hebräischen Sprache. 2. Das Studium der jüdischen Geschichte. 3. Die Förderung der hebräischen Nationallitteratur. 4. Die Förderung der jüdisch-nationalen Litteratur in jüdisch-deutschem Dialekte und in den verschiedenen europäischen Kultursprachen […].«911

Trotz ihrer kurzen Lebensdauer hinterließ die Demokratische Fraktion deutliche Spuren im zionistischen Nationalismus insgesamt und im Bereich der nationalen Kulturarbeit.912 Darunter fallen beispielsweise die Errichtung des »Jüdischen Verlags«, der Bubers Konzept einer »Jüdischen Renaissance« programmatisch verfolgte und dessen Gründung auf dem Fünften Zionistenkongress noch abgelehnt worden war, die Einrichtung eines eigenen zionistischen Kulturfonds »Kedem« in der ZO, der analog zum Nationalfonds die finanzielle Grundlage für die zionistische Kulturarbeit schaffen sollte, und die Errichtung einer eigenen hebräischen Universität in Jerusalem.913 Stefan Vogt betont in seiner Analyse des deutschsprachigen Kulturzionismus in enger Anlehnung an Jehuda Reinharz, David Vital und Michael Berkowitz, dass der Kulturzionismus allerdings nicht als unpolitische Strömung charakterisiert werden dürfe, da er seine kulturzionistische Agenda stets auch als genuin politische Konzeption verstanden hätte. Darüber hinaus hätte »keine grundsätzliche, sondern lediglich eine strategische und graduelle Differenz zum politischen Zionismus Herzls«914 bestanden. Die Demokratische Fraktion hätte sich selbst immer auch »als eine

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(Buber, Stenographisches Protokoll 1901, S. 151f.) sein sollte. Zu den Diskussionen über ein nationales Kulturprogramm und die Aufgaben des »Cultur-Ausschusses« auf dem V. Zionistenkongress vgl. Stenographisches Protokoll 1901, S. 151–170, 389–402 und 417–431. Aus der Literatur vgl. Reinharz, Weizmann, S. 65–91; Vital, Zionism, S. 189–198; Vogt, Positionierungen, S. 41–49. Vgl. Feiwel, Stroemungen, Sp. 694. Vgl. auch ders., Geleitwort zur ersten Ausgabe [1902], in: Ders. (Hg.), Jüdischer Almanach, teilw. veränd. Neuausg., Berlin 1904, S. 17. Programm und Organisations-Statut der Demokratisch-Zionistischen Fraktion, hg. von der Programm- und Organisations-Kommission der Demokratisch-Zionistischen Fraktion, Charlottenburg 1902, S. 16. Bereits 1904 löste sich die Gruppe wieder auf. In der kurzen Zeit ihres Bestehens unterhielt die Demokratisch-Zionistische Fraktion ein von Weizmann geführtes Sekretariat in Genf, dessen Aktivitäten sich aber hauptsächlich auf den mit der Fraktion verbundenen »Jüdischen Verlag« sowie auf die Propaganda für das Projekt einer jüdischen Hochschule beschränkten. Vgl. Schenker, Verlag. Vgl. Schenker, Verlag; Berkowitz, Culture, S. 40–45. Vogt, Positionierungen, S. 42.

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loyale Opposition innerhalb der Bewegung, die Herzls Führung nie grundsätzlich infrage stellte«,915 betrachtet.916 Die Mitglieder des sog. »Misrachi« (Abk. für »Merkas Ruchani«, »geistiges Zentrum«), welche einen religiös fundierten Zionismus vertraten und sich 1902 auch in Opposition zur Demokratisch-zionistischen Fraktion zusammenfanden, forderten hingegen, dass der Zionismus »im Geiste unserer heiligen Thora geleitet«917 würde.918 Ebenfalls auf dem Fünften Zionistenkongress 1901 hatte sich Rabbiner Isaak Jacob Reines gegen die Aufnahme der »Culturfrage« in das »Baseler Programm« gewandt, wobei er »Cultur« und »Religion« als Gegensätze und die Erfindung einer mehrheitlich säkularen, nationalen Kultur als Bedrohung für den orthodoxen Zionismus gedeutet hatte.919 Die deutschen Zionisten wurden also in der Debatte um den »Misrachi« auch vor die Herausforderung gestellt, das Verhältnis des zionistischen Nationalismus zur ›Religion‹ zu bestimmen. Dies stellte sie angesichts der ambivalenten Beziehung zwischen ›Nation‹ und ›Religion‹ im Zionismus vor keine leichte Aufgabe:920 Einerseits gab sich die ZO als dezidiert säkulare Nationalbewegung, andererseits griff sie zur ›Erfindung einer (eigenen nationalen) Tradition‹ auch ganz wesentlich auf die religiöse Überlieferung und die Hebräische Bibel zurück.921 Theodor Herzl selbst hatte auf dem Ersten Zionistenkongress 1897 in Basel, nachdem Rabbiner Cohn die Vorbehalte der Orthodoxen gegenüber dem Zionismus zusammengefasst hatte, die offizielle Agenda herausgegeben, dass die ZO nichts beabsichtige, »was die religiöse Ueberzeugung irgend einer Richtung innerhalb des

915 Ebd. 916 Vgl. ebd., S. 42f.; Berkowitz, Culture, S. 40–45; Reinharz, Jehuda: Herzl’s Loyal Opposition – Chaim Weizmann, in: Kozodoy, Ruth u. a. (Hg.): Vision Confronts Reality., Historical Perspectives on the Contemporary Jewish Agenda, London/Toronto 1989, S. 120–170; Vital, Zionism, S. 194f. 917 Vgl. Winter, A. J.: Misrachi, in: JR, VIII. Jg., Nr. (20. 03. 1903), S. 102–104, hier S. 103. 918 Zum »Misrachi« vgl. Feiwel, Stroemungen, S. 693f.; Luz, Ehud: Parallels Meet. Religion and Nationalism in the Early Zionist Movement (1882–1904), Philadelphia u. a 1988; Oelmann, Christin: Vom Judenstaat zum jüdischen Staat. Die Bedeutung Theodor Herzls für die Bewegung des religiösen Zionismus nach 1900, München 2010, insbes. S. 30–56; Schwartz, Dov : Religious-Zionism. History and Ideology. Translated by Batya Stein, Boston 2009, S. 10–18. 919 Vgl. Rabb. Reines, in: Stenographisches Protokoll 1901, S. 395. Vgl. dazu auch Reinharz, Jehuda: Zionism and Orthodoxy. A Marriage of Convenience, in: Almog, u. a., Zionism, S. 116–139. 920 Vgl. Avineri, Shlomo: Zionism and the Jewish Religious Tradition. The Dialectics of Redemption and Secularization, in: Almog, u. a., Zionism, S. 1–9. 921 Vgl. dazu auch Kap. III.1.4 der vorliegenden Arbeit. Zum Verhältnis von ›Zionismus‹ und ›Religion‹ im Allgemeinen vgl. Almog, u. a., Zionism; Meybohm Wolffsohn, S. 90–101; Salmon, Yosef: Religion and Zionism. First Encounters, Jerusalem 2002.

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Judenthums verletzen könne«922. Die Frage des Verhältnisses von ›Zionismus‹ und ›Religion‹ betraf nicht zuletzt auch das Verhältnis der zionistischen Bewegung zu den jüdischen Gemeinden, unter denen die religiös liberalen Gemeinden seit dem Ende des 19. Jahrhunderts eine Mehrheit bildeten,923 von Zionismus und Orthodoxie924 und von Zionismus und Reformjudentum925.926 Der »Misrachi« in Deutschland bildete den Landesverband der »Misrachi«-Weltorganisation, die auf der sog. Preßburger Konferenz im Jahr 1904 gegründet wurde und ihren Hauptsitz im selben Jahr nach Frankfurt am Main verlegte.927 Wie schon die Demokratische Fraktion befanden sich die Misrachisten jedoch auch in »loyaler Opposition«928 zu Herzls politischem Zionismus. In den sich an die jeweiligen Fraktionsgründungen anschließenden Debatten ergab sich nun ein äußerst widersprüchlicher Diskurs in der Jüdischen Rundschau, wobei in ihr einerseits gemäß ihrer Rolle als neutralem Presseorgan des deutschen Zionismus das Narrativ der ›Meinungsfreiheit‹ im Zionismus offiziell propagiert wurde. Das zionistische Ziel könne, so Loewe, nur erlangt werden »bei gleichmässiger Achtung aller Anschauungen im Judentum und bei völliger Gewissensfreiheit auf nationaler Grundlage«929. Dabei folgte die Redaktion stets derselben Strategie, nach der einzelnen Mitgliedern der Fraktionen Gelegenheit gegeben wurde, die Ziele und Gründe ihrer Zusammenschlüsse selbst in kurzen Beiträgen und Stellungnahmen darzulegen oder Auszüge aus den Programmen der Gruppierungen abgedruckt wurden.930 Das Recht auf freie Meinungsäuße-

922 Präsident, in: Zionisten-Congress in Basel (29. 30. und 31. August 1897). Officielles Protokoll, Wien 1898, S. 190f., hier S. 190. 923 Vgl. Lowenstein, Stephen M.: Das religiöse Leben, in: Ders. u. a., Integration, S. 101–122; Meybohm, Wolffsohn, S. 100f. 924 Zur Orthodoxie im Deutschen Kaiserreich vgl. Breuer, Mordechai: Jüdische Orthodoxie im Deutschen Reich 1871–1918. Sozialgeschichte einer religiösen Minderheit, Frankfurt a. M. 1986. Zur ambivalenten Haltung der Orthodoxie gegenüber dem Zionismus vgl. Zur, Yaakov : German Jewish Orthodoxy’s Attitude toward Zionism, in: Almog u. a., Zionism, S. 107–115; Reinharz, Marriage. 925 Die jüdische Reformbewegung entwickelte sich in Folge der jüdischen Aufklärung (Haskalah). Obwohl die Reformbewegung teilweise eine Voraussetzung für den Zionismus bildete und einige Anhänger der Reformbewegung mit dem Zionismus sympathisierten, grenzten sich beide öffentlich voneinander ab. Vgl. Friedlander, Albert H.: Gegner Herzls und des politischen Zionismus aus der Reformbewegung, in: Stegemann, Ekkehard W. (Hg.): 100 Jahre Zionismus. Von der Verwirklichung einer Vision (Judentum und Christentum, Bd. 1), Stuttgart u. a. 2000, S. 119–125; Meyer, Michael A.: Liberal Judaism and Zionism in Germany, in: Almog u. a., Zionism, S. 93–106. 926 Vgl. dazu auch Meybohm, Wolffsohn, S. 93; Reinharz, Fatherland, S. 55f. 927 Vgl. Eloni, Zionismus, S. 382–406, insbes. S. 383f. 928 Reinharz, Opposition. Vgl. dazu Eloni, Zionismus, S. 383. 929 Loewe, Heinrich: Die demokratisch-zionistische Fraktion, in: JR, IX. Jg., Nr. 41 (14. 10. 1904), S. 336. 930 Vgl. dazu auch [Loewe, Heinrich]: An unsere Leser, in: JR, X. Jg., Nr. 1 (06. 01. 1905), S. 1.

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rung, »Gewissensfreiheit«931 und »Toleranz«932 gegenüber zionistisch Andersdenkenden wurde nun seinerseits in kurzen redaktionellen Vor- oder Nachbemerkungen als notwendige Pflicht zur Erhaltung der Funktionalität und inneren ›Einheit‹ der Bewegung sowie als Ausdruck des Selbstverständnisses der ZO als Repräsentantin des Gesamtzionismus ausgewiesen.933 Andererseits wurde gleichzeitig die zuvor beschriebene übergeordnete Tendenz des ›nationalen Homogenisierens‹ nicht aufgegeben. So bürgerte es sich ein, dass die Redaktion häufig in denselben Stellungnahmen oder in zusätzlichen Kommentaren im Anschluss an die Beiträge der fraktionellen Vertreter ihre eigene, persönliche Sichtweise auf die »Fraktionierung des Zionismus« kundtat.934 Prinzipiell wurden die genannten Fraktionen darin als ›Devianten‹ vom ›offiziellen‹ Programm des politischen Zionismus Herzls und des Kongresses charakterisiert, womit der Anschluss an diese Untergruppierungen als bestandsgefährdend und daher als unattraktiv gekennzeichnet werden sollte. Stilistisch untermalt wurden diese Argumentationsmuster mit den bekannten Homogenitäts- und Unitätsmetaphoriken.935 931 Sachse, Heinrich: Die Rückkehr ins Judentum, in: JR, IX. Jg., Nr. 32 (12. 08. 1904), S. 352. 932 Ebd. 933 Vgl. L., H. [Loewe, Heinrich]: Nachbemerkung der Redaktion, in: Winter, A. J.: Misrachi, in: JR, VIII. Jg., Nr. 12 (20. 03. 1903), S. 102–104, hier S. 104: »Wie wir der demokratischzionistischen Fraktion das Wort in unserm Blatte gegeben haben, erachten wir es für eine Pflicht ausgleichender Gerechtigkeit, auch die andere Fraktion, den ’Misrachi’ zu Worte kommen zu lassen. Als freiheitlich gesinnte Zionisten halten wir es eben für unsere Pflicht, den Standpunkt des andern Flügels unserer Bewegung nicht zu verschweigen; und wo wir ihn nicht teilen, können wir ihm doch die Hochachtung für seine ehrliche Gesinnung und ihre redliche Betätigung nicht versagen. Wir marschieren auf verschiedenen Wegen, hoffen aber, dass uns beide Wege zum besten unseres Stammes in Zion zusammenführen werden.« Vgl. dazu auch die folgende Bemerkung in Zusammenhang mit der Uganda-Kontroverse in der Nachbemerkung der Redaktion zu Tschernichoff, M. (Odessa): Das ostafrikanische Projekt des sechsten Zionistenkongresses. XII. Ein Wort an die Neinsager en chef, in: JR, IX. Jg., Nr. 4 (22. 01. 1904), S. 31–33, hier S. 33: »Überhaupt kann es nur nützen, wenn jede ehrliche Meinung im Zionismus zur Sprache kommt. Nicht Meinungen schädigen die Einheitlichkeit der Partei, wohl aber das Misstrauen, das entstehen könnte, wenn man Meinungen nicht zum Ausdruck kommen liesse, die ja doch existieren. Je grösser die Duldsamkeit innerhalb der Partei sein wird, gegenüber verschiedenen Anschauungen, um so fester gefügt ist unsere Organisation und unser bester Kampf gegen Versuche, unsere Organisation zu stören ode [sic!] zu zerstören, ist neben dem unentwegten Eintreten für unsere selbstgesetzte Führung die grösstmögliche Duldsamkeit im ahmen [sic!] des Baseler Programms.« 934 Vgl. z. B. L., H. [Loewe, Heinrich]: Nachbemerkung der Redaktion, in: Winter, A. J.: Misrachi, in: JR, VIII. Jg., Nr. 12 (20. 03. 1903), S. 102–104. 935 Vgl. dazu etwa Loewe, Heinrich [Die Redaktion]: Der neue Jahrgang, in: JR, IX. Jg., Nr. 1 (01. 01. 1904), S. 1f., hier S. 2: »Der Standpunkt der ›Jüdischen Rundschau‹ aber hat sich ebenso wenig geändert, wie die Prinzipien der zionistischen Partei. Fest und unerschütterlich halten wir fest am Baseler Programm! Keinen Augenblick sind wir daran irre geworden, dass unser erstes Ziel und unser letztes Ziel, unser einziges Ziel ist die Schaffung

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Auch die Begrifflichkeiten in der Debatte sind aufschlussreich, da im Kontext der ›Fraktionierung des Zionismus‹ im eklatanten Gegensatz zu den sonst üblichen universal-jüdischen Kollektivbezeichnungen von der zionistischen Bewegung häufig als »Partei« gesprochen wurde, deren »Einheit keinen Schaden nehmen«936 dürfe. Beide Begriffe verorteten die Debatte somit in den Bereich des Politischen und der Öffentlichkeit, wobei der Fraktionsbegriff den Leser an den festen, häufig oppositionellen Zusammenschluss einer Sondergruppe innerhalb einer Partei in einem Parlament erinnerte, der die Funktionsfähigkeit des gesamten Parteilebens bis politischen Systems stilllegen oder zumindest erheblich behindern könne.937 Vor dem Hintergrund der ›symbolischen Politik‹938 der frühen ZO lässt sich die Begriffsverwendung darüber hinaus als Strategie deuten, zukünftige Strukturen und Gremien eines jüdischen Staates wie Exekutive und Legislative gedanklich vorwegzunehmen.939 Dass sich Heinrich Loewe jedoch insgeheim von den dezidiert kulturzionistischen Ansätzen der Demokratischen Fraktion durchaus angesprochen fühlte, hatte er bereits in einem Leitartikel in der Israelitischen Rundschau gezeigt, der am 19. September 1902 auf den Abdruck des Fraktionsprogramms gefolgt war.940 Darin betonte Loewe, dass das Programm der Demokratischen Fraktion »vom strengen Parteistandpunkte aus gelesen und beurteilt«941 werden müsse, da sich die Fraktion zumindest vordergründig kraft der programmatischen »Aner-

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einer öffentlich-rechtlich gesicherten Heimstätte für das jüdische Volk im Palästina. Wir haben uns dabei das Recht freier Kritik, offen und freimütig gewahrt, und auch dem anständigen Gegner gern das Wort gestattet.« [Vorbemerkung der Redaktion]: Die Fraktionierung des Zionismus, in: JR, IX. Jg., Nr. 41 (14. 10. 1904), S. 335. Vgl. dazu auch die Aussage Herzls in einem Brief an Gregoire Belkowsky aus Sofia vom 06. 04. 1897, der Zionistische Kongress des Jahres 1897 sei »die erste jüdische Nationalversammlung«, zit. n. Meybohm, Wolffsohn, S. 127. Vgl. Meybohm, Wolffsohn, S. 144–146. Ivonne Meybohm betont, dass Theodor Herzl und die frühen Politiker der ZO, durch ihre Handlungen den noch nicht existierenden jüdischen Staat auf einer symbolischen Ebene strategisch vorwegnahmen und somit Legitimität für die eigene politische Herrschaft und das zionistische Projekt erzeugen wollten. Die Mittel dieser »symbolischen Politik« umfassten etwa die hohe Wertschätzung und Beachtung des diplomatischen Protokolls und die öffentliche Inszenierung anlässlich eigener wie fremder Feste und Amtseinführungen sowie anlässlich von Geburtstagen, Vermählungen und Trauerfeiern europäischer Monarchen. Meybohm, Wolffsohn, S. 144, definiert »symbolische Politik« mit Ute Frevert als »Zeichensystem […], das via Kommunikation politische Wirklichkeiten konstruiert« (Frevert, Politikgeschichte, S. 161). Vgl. auch in anderem Zusammenhang Berkowitz, Michael: Die Schaffung einer jüdischen Öffentlichkeit. Theodor Herzl und der Baseler Kongress von 1897, in: Requate, Jörg/ Schulze-Wessel, Martin (Hg.): Europäische Öffentlichkeit. Transnationale Kommunikation seit dem 18. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 2002, S. 79–91. Vgl. Loewe, Heinrich: Die Fraktion und ihr Programm, in: Israelitische Rundschau, VII. Jg., Nr. 38 (19. 09. 1902), o. S. [S. 1f.]; Allgemeines Programm der demokratisch-zionistischen Fraktion, in: Israelitische Rundschau, VII. Jg., Nr. 38 (19. 09. 1902), o. S. [S. 2–4]. Vgl. Loewe, Programm, S. 1.

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kennung des Zionismus als einzigen Prinzips für das Dasein des jüdischen Volkes«942 auf den Boden des »Baseler Programms« gestellt hätte.943 Der überzeugte Zionist müsse durchaus einräumen, »dass der einleitende Grundsatz und die zionistischen Leitsätze ernst und reiflich durchdacht sind, und dass sie zum Besten gehören, was programmatisch über die nationalen Bestrebungen im Judentume gesagt worden ist«944. Zwischen den Zeilen und aus einem weiteren Beitrag, der in der Jüdischen Rundschau am 14. Oktober 1904 zur Fraktion erschien,945 lässt sich lesen, dass Loewe vor allem die (sachliche) Klarheit und Tiefe der kulturzionistischen Vorstellungen im Fraktionsprogramm faszinierte, wonach vor allem die Aufnahme kultureller Fragen »frischen Hauch[s]«946 in den Zionismus gebracht hätte.947 Gleichzeitig unterstellte er der Demokratischen Fraktion jedoch mangelnde Integrität, indem er kritisierte, dass das Programm etwas artikuliere, das es selbst nicht einhalte, da zwar die genannten (freiheitlich-demokratischen) Grundwerte gefordert würden, jedoch die Tatsache der Fraktionsbildung »im Rahmen der ›Partei in der Partei‹«948 das Prinzip der freiwilligen Unterordnung des Einzelnen unter das Kollektiv und damit die »unteilbare Einheit und Einigkeit des Gesamtzionismus«949 unwiderruflich verletze.950 Aus der folgenden Formulierung geht hervor, dass für Loewes Haltung nicht nur die Tatsache der Fraktionierung an sich und die implizite Relativierung der Mehrheitsbeschlüsse der Instanz Kongress einen Unterschied machten, sondern in erster Linie das Prinzip der Deutungshoheit über den Zionismus und die Frage, wer einen authentischen, legitimen und mehrheitsfähigen Zionismus repräsentiere, eine wesentliche Rolle spielte: »Wir erkennen gern die Vortrefflichkeit der Ausführungen des fraktionellen Programms an, aber wir erklären ebenso bestimmt und bündig, dass unsere Gesinnungsgenossen den festen Boden bestehender Thatsachen verlassen haben, als sie sich durch Vorgänge auf dem fünften Kongress bestimmen liessen, sich innerhalb der Gesamtpartei als die besseren Zionisten zusammenzuschliessen. […] Wir wollen dem jüdischen Stamme die verlorene Freiheit wieder erringen, und bedürfen dazu der Zusammenfassung aller seiner Glieder. Der Zionismus ist die Einheitspartei des Judentums. Er will das Volk in seiner starken Hand zusammen fassen. Und der ist der 942 943 944 945 946 947 948 949 950

Allgemeines Programm der demokratisch-zionistischen Fraktion, S. 2. Vgl. Loewe, Programm, S. 1. Ebd. Vgl. Loewe, Heinrich: Die demokratisch-zionistische Fraktion, in: JR, IX. Jg., Nr. 41 (14. 10. 1904), S. 336. Ebd. Vgl. Loewe, Programm, S. 1; ders.: Fraktion, S. 336. Loewe, Fraktion, S. 336. Ebd. Vgl. ebd.

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konsequentere Zionist, der einen Teil seiner eigenen Individualität aufgeben kann, um in der Gesamtheit mitzuarbeiten. […] Nicht ausserhalb des grossen Parteiganzen kann und muss man demokratisieren, sondern in der Partei, deren Prinzipien eben die sind, welche von der Fraktion als ihre besonderen ausgegeben werden. […] Wir werden niemals den Fraktionellen zugestehen, dass sie bessere Demokraten sind als wir. Im Gegenteil, wir halten den Anschluss ohne Bedingungen, die Unterordnung ohne Cautelen, den Gehorsam gegenüber den Kongressbeschlüssen für demokratischer als die feinste Kalkulation über das demokratische Wesen des Zionismus. […] Das lateinische Wort ›Fraktio‹ bedeutet ein Abbröckeln, ein Abbrechen. Das wollen gerade diese Gesinnungsgenossen am allerwenigsten. Darum hätten sie sich rechtzeitig überlegen sollen, dass sie besser gethan hätten, ihre, unsere Grundsätze in der Partei ohne Fraktionierung energisch zu vertreten. Sie schwächen die entschieden-nationale Kernmasse des Zionismus durch ihr Fraktionsspielen und geben den andern rückständigen Gruppen den Weg, Bresche in die Einigkeit der Partei zu schlagen. […] Aber der unüberbrückbare Gegensatz ist dort, wo wir erklären: Kein Zionismus, der teilbar ist. Wie wir nur ein Judentum kennen, das alle umfasst, so kennen wir auch nur einen Zionismus, der das ganze Judentum erlösen soll. Und die Einheit dieses Zionismus lassen wir uns von keiner Seite antasten.«951

Folgerichtig erklärte Loewe die Demokratisch-zionistische Fraktion für »tot« und folgerte, dass die wahren »freiheitlich-demokratischen Zionisten sich der freiheitlich-demokratischen Fraktion gegenüber gestellt«952 hätten. In Loewes Beiträgen zeigten sich exemplarisch die grundlegenden Argumentationsmuster, welche in der Jüdischen Rundschau in der Debatte über die »Fraktionierung im Zionismus« bestimmend waren und als reproduzierbar galten. Relativierend auf die präskribierte Narration von der unbedingten ›Einheit‹ und nationalen Homogenität des Zionismus wirkten lediglich solche Stellungnahmen, welche die subjektive Überzeugung von der grundsätzlichen Notwendigkeit und sachlichen Richtigkeit der Argumentation der ›Dissidenten‹ erkennen ließen, jedoch argumentativ stets den Gemeinschaftsmetaphoriken untergeordnet wurden. Loewes Wortwahl suggeriert, dass er die Gründungen auch gerade deshalb als störend empfand, weil sie zu einem Zeitpunkt auftraten, an dem sich die junge Nationalbewegung noch in ihrer Konsolidierungs- und Konstituierungsphase befand und damit noch nicht zu ihrer gewünschten inneren Stabilität gefunden hätte. Eine ähnlich ambivalente Haltung nahmen viele Beiträger und die Redaktion der Jüdischen Rundschau auch gegenüber dem Sonderverband »Misrachi« ein, wobei hier ganz automatisch auch das Verhältnis zwischen ›Nation‹ und ›Religion‹ im Zionismus mitverhandelt wurde. Nachdem sich bereits in der Israelitischen Rundschau einige Artikel mit dem Verhältnis von Orthodoxie und Zio951 Loewe, Programm, S. 2. 952 Loewe, Fraktion, S. 336.

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nismus beschäftigt hatten,953 in denen beispielsweise Sammy Gronemann die Bedeutung des »Einheitsprinzip[s]«954 für den Zionismus betont hatte, erschienen im Oktober des Jahres 1904 in allen Ausgaben der Zeitung unter der Überschrift »Die Fraktionierung des Zionismus« eine Reihe von Artikeln, in denen auch die »Misrachifrage«955 eingehend behandelt wurde.956 In der ersten Nummer im besagten Monat wurde zunächst ein Artikel von Max Jungmann publiziert, der als leitender Redakteur der satirischen, zionistischen Zeitschrift Schlemiel. Jüdische Blätter für Humor und Kunst tätig war.957 Jungmann sprach sich darin wie Loewe und Gronemann gegen jede Fraktionierung im Zionismus aus und forderte die Bewahrung der »Einheit« der »Einheitspartei des Judentums«958. Im Besonderen die religiösen Anschauungen der Zionisten dürften nicht zur Ausbildung von Fraktionen führen, so Gronemann, da es sich beim Kriterium ›Religion‹ nicht um ein wesensbestimmendes Merkmal des zionistischen Kollektivs handele.959 Auch für Jungmann spielte also wie schon für Gronemann zuvor die Tatsache eine wichtige Rolle, dass der Zionismus eine säkulare Bewegung sei und dass die Religion nicht die zionistische Gesinnung beeinflussen dürfe. In der sich anschließenden Debatte veröffentlichte die Jüdische Rundschau mehrere Gegenartikel zur Position Jungmanns, darunter einige von prominenten Misrachisten und einige von deutschen Zionisten, die selbst nicht Mitglied im »Misrachi« waren.960 In seinem Artikel vom 14. Oktober 1904 verstand Ephraim Adler, Mitbegründer und aktives Mitglied der deutschen Misrachigruppe in Lübeck, Zionismus als geradezu logische Konsequenz der jüdischen Religion, indem er hervorhob, dass die religiösen Traditionen und Werte, die der orthodoxe Jude mitbringe, »ein recht hochwertiges Material für die Zionisten abgeben«961 würden. Aus seiner Sicht bestand also eine besondere, geradezu natürliche innere und geistig-emotionale Verbindung von Zionismus und jüdischer Religion. Gleichzeitig rekurrierte Adler auf die ›Meinungsfreiheit‹ im Zionismus und die Bedeutung der Tatsache, seine Gedanken frei austauschen zu 953 Vgl. Gronemann, Sammy : Israelit, Orthodoxie und Zionismus (2), in: Israelitische Rundschau, Nr. 28 (11. 07. 1902), o. S. [S. 4]; Rabbiner und Zionisten, in: Israelitische Rundschau, Nr. 29 (18. 07. 1902), o. S. [S. 1f.]. 954 Gronemann, Israelit (2), o. S. [S. 4]. 955 Loewe, James H.: Zur Misrachifrage, in: JR, IX. Jg., Nr. 42 (21. 10. 1904), S. 348f. 956 Vgl. die folgenden Ausgaben der Jüdischen Rundschau: JR, IX. Jg., Nr. 40 (07. 10. 1904), Nr. 41 (14. 10. 1904), Nr. 42 (21. 10. 1904), Nr. 43 (28. 10. 1904). 957 Vgl. Jungmann, Max: Erinnerungen eines Zionisten, Jerusalem 1959. 958 Jungmann, Max: Misrachi, in: JR, IX. Jg., Nr. 40 (07. 10. 1904), S. 326–328, hier S. 326. 959 Vgl. ebd, S. 326f. Vgl. dazu auch Levy, Emil: Non liquet, in: JR, IX. Jg., Nr. 43 (28. 10. 1904), S. 360f., hier S. 361. 960 Vgl. dazu auch Eloni, Zionismus, S. 388–391. 961 Adler [Ephraim]: Misrachi, in: JR, IX. Jg., Nr. 41 (14. 10. 1904), S. 336–338, hier S. 337.

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dürfen. Auch beteuerte er, dass der »Misrachi« keine Abspaltung von der Gesamtorganisation plane, sondern mit allen Zionisten gemeinsam zu »ernster, einmütiger, echt zionistischer Arbeit«962 bereit sei. Diese Sicht teilte er mit James H. Loewe, einem englischen Misrachisten, der in seinem Beitrag noch offensiver die prinzipielle Kongruenz von »Zionismus und Misrachismus« propagierte. Dieser betonte, dass der Zionismus nicht »nur als eine politische Bewegung«963 betrachtet werden könne, sondern dass der Kampf gegen die Assimilation und die Stärkung des jüdisch-nationalen Bewusstseins ganz wesentlich auch kulturelle Fragen berühre, wozu der »Misrachi« durch seinen Rekurs auf die Hebräische Bibel und den traditionellen religiösen Wertekanon einen wesentlichen Beitrag leiste.964 James H. Loewe machte klar, dass aus seiner Sicht das einigende Band des zionistischen Nationalismus in erster Linie die jüdische Religion sei, welche das »Ideal eines heiligen Volkes«965 pflege. Unter den Beiträgen, die nicht von überzeugten Misrachisten stammten, nahmen im Besonderen die Artikel von Fritz Sondheimer und Julius Katz, die in derselben Nummer wie Adlers Beitrag erschienen, eine vermittelnde Stellung ein, die zur Versöhnung zwischen den Parteien motivieren wollte. Sondheimer, der wie die Redaktion der Jüdischen Rundschau die Fraktionierung im Zionismus grundsätzlich ablehnte, brachte in seinem Artikel die nüchterne Ansicht zum Ausdruck, dass es zum Wohl der Gesamtorganisation geschickter sei, sich mit den Misrachisten, die sich auf den Boden des »Baseler Programms« gestellt hätten, zu verständigen, um eine weitere Spaltung des Zionismus zu verhindern.966 Diese Ansicht teilte auch Julius Katz in seinem Beitrag und fügte hinzu, dass die ›Gewissensfreiheit‹ im Zionismus im Besonderen auch die Religion des Einzelnen einschließe.967 Um den »religiösen Frieden in der Partei« zu erhalten, dürfe man weder »die religiös Indifferenten«, noch »die Orthodoxen« stigmatisieren oder gar ausschließen.968 In seiner Erwiderung auf die Beiträge wies Jungmann energisch zurück, dass er sich pauschal »gegen das Festhalten an Thora und Talmud«969 gewandt hätte. Als »kulturfeindlich« müssten die Zio962 963 964 965 966

Ebd., S. 338. Vgl. Loewe, Misrachifrage, S. 349. Vgl. ebd. Ebd., S. 349. Vgl. Sondheimer, Fritz: Misrachi, in: JR, IX. Jg., Nr. 41 (14. 10. 1904), S. 338f. Diese Ansicht teilte auch Hanauer in einem weiteren Beitrag in der Ausgabe vom 21. Oktober 1904, der darauf hinwies, dass die Bildung von Misrachivereinen in den Ortsgruppen zulässig sei, solange dadurch die ›Religion‹ die innere Einheit der Gesamtorganisation nicht gefährde. Vgl. Hanauer : Zur Misrachifrage, in: JR, IX. Jg., Nr. 42 (21. 10. 1904), S. 349f., hier S. 350. 967 Vgl. Katz, Julius, in: JR, IX. Jg., Nr. 41 (14. 10. 1904), S. 339f. 968 Vgl. ebd., S. 339f. 969 Jungmann, Max: Noch einmal Misrachi. Eine Erwiderung, in: JR, IX. Jg., Nr. 42 (21. 10. 1904), S. 350f., hier S. 350.

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nisten jedoch bestimmte Teile des orthodoxen Judentums empfinden, welche Judentum als bloße »Glaubensgemeinschaft«970 identifizierten. Aus den Beiträgen in der Jüdischen Rundschau spricht insgesamt die Ambivalenz und die Vorsicht, welche den Umgang der deutschen Zionisten mit dem Thema ›Religion‹ prägte, und die Schwierigkeit, eine eindeutige Grenzziehung zwischen ›Nation‹ und ›Religion‹ im zionistischen Nationalismus vorzunehmen. Entgegen der offiziellen Haltung »gegen die Fraktionierung des Zionismus«971 ließ sich nach dem Sechsten Zionistenkongress gerade bei Heinrich Loewe und bei Julius Becker auch eine neue Lesart des Themas erkennen, die sich wohl auch aus einer realpolitischen Wahrnehmung der Fraktionsgründungen ergab. Eine Rolle spielte dabei mit hoher Wahrscheinlichkeit auch die Kritik an der Parteinahme der Jüdischen Rundschau, welche sich in der internen Korrespondenz ausdrückte.972 So wurde nun eingeräumt, dass die Fraktionierung im Zionismus nicht grundsätzlich zu verwerfen sei. Julius Becker beispielsweise verdeutlichte in einem Artikel im Juni 1903, dass die Gründung von Fraktionen als eine natürliche, geradezu zwangsweise Entwicklung in einer großen Nationalbewegung betrachtet werden müsse und die Existenz von oppositionellen Gruppierungen durchaus fruchtbare Auswirkungen auf die intellektuelle Entwicklung der zionistischen Gesamtorganisation zeitigen könne.973 Auch Heinrich Loewe versuchte der Gründung von Fraktionen im Nachhinein etwas Gutes abzugewinnen: So entwickelte er eine geschickte Mittelposition, die es erlaubte, beide Narrative beizubehalten, ohne von der Strategie des ›nationalen Homogenisierens‹ abzurücken, indem er herausstellte, dass die zu beobachtende Fraktionierung insgesamt die Lebenskraft der zionistischen Bewegung unter Beweis gestellt hätte, jedoch in der Gesamtsache zu vorzeitig aufgetreten sei.974 Daneben 970 971 972 973

Ebd. [Vorbemerkung der Redaktion], Fraktionierung, S. 335. Vgl. dazu Kap. II.4 der vorliegenden Arbeit. Vgl. Becker, Julius: Organisation oder Desorganisation (1), in: JR, VIII. Jg., Nr. 25 (19. 96. 1903), S. 246f. 974 Vgl. Loewe, Nachbemerkung der Redaktion, S. 104: »Wir haben unsern Standpunkt gegenüber der Demokratisch-zionistischen Fraktion dahin klargelegt, dass wir grundsätzlich die Fraktionierung des Zionismus bedauern. Wir halten sie für verfrüht. Aber wir können die Tatsache durch unser Bedauern nicht aus der Welt schaffen, dass sich Fraktionen gebildet haben, erst der orthodoxe Misrachi und dann die Demokratisch-zionistische Fraktion, welche letztere auf das nationale Moment den allerschärfsten Nachdruck legt. Unsere Leser wissen, auf welcher Seite unsere eigenen Sympathien sind und welche Anschauungen uns beseelen, wenn wir uns auch stets sorgsam gemüht haben, unsern eigenen Sonderstandpunkt hinter dem gemeinsamen Interesse der Zionistischen Partei, das das Allgemeininteresse des gesamten Jüdischen Volkes ist, zurückzustellen. Jedenfalls kann die Tatsache der Existenz von Fraktionen nicht aus der Welt geschafft werden, und es kann nur als ein weiterer Beweis der Lebenskraft unserer Partei und unseres Stammes betrachtet werden, dass die Parteien nicht zu Parteiungen führen, und dass es möglich wurde, im Zionismus angesprochene Sonderanschauungen zu pflegen, ohne dass die Einheit der

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stilisierte er fortan die ideologische Ausdifferenzierung des zionistischen Nationalismus zu einer historisch einzigartigen Möglichkeit, die innere Stabilität und »Einheit der Gesamtpartei«975 unter Beweis zu stellen und die politische Reifung des Zionismus zu vollziehen.976

2.1.2 ›Parteidisziplin‹ in der ›Altneuland-Kontroverse‹ und das Herzl-Bild in der Jüdischen Rundschau Eine weitere, sich zeitgleich abspielende Debatte, die neben der Welt und Ost und West auch in der Jüdischen Rundschau ausgetragen wurde, stellte die sog. »Altneuland-Kontroverse« des Jahres 1903 dar, welche sich vordergründig als »litterarische Fehde«977 an dem von Theodor Herzl im Jahr 1902 veröffentlichten Roman »Altneuland«978 und der darin formulierten Herzl’schen Utopie einer neuen jüdischen Gesellschaftsordnung in Palästina entfachte.979 Das Narrativ der unbedingten ›Einheit‹ und nationalen Homogenität im Zionismus wurde in diesem Kontext, so die These, in der Jüdischen Rundschau semantisch mit der Deutung der Debatte als Autoritätskonflikt und der Frage nach der Repräsentation des ›wahren‹, ›authentischen‹ Zionismus verwoben. Die Infragestellung und Kritik an den Thesen Herzls wurde von Heinrich Loewe auf einer Linie mit zionistischen Aktivisten wie Max Nordau, welche den politischen Zionismus

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Gesamtpartei auch nur im geringsten Einbusse erlitten hat. Und wenn selbst religiöse Strömungen nicht imstande sind, das Band zu sprengen, das uns alle einmütig umschliesst, so ist der Beweis der Alleinheit des Zionismus schlagend geliefert.« Ebd. Vgl. dazu auch Loewe, Jahrgang 1904, S. 2: »Die Meinungsverschiedenheiten über taktische Fragen im Zionismus haben nur von neuem die unteilbare Einheit dieser Einheitspartei erwiesen und die Stellung des zionistischen Aktionskomitees, die die Trübseefischer erschüttern wollten, noch mehr gefestigt. So hat der sechste Kongress dazu beigetragen, den Zionismus agitatorisch zu verbreiten und zugleich durch das Aufeinanderplatzen der Meinungen die Ansichten zu klären und die Anschauungen zu vertiefen. Mehr als die früheren Kongresse ist er ein politischer gewesen und hat unendlich viel dazu beigetragen, den Zionismus mehr noch als früher in eine politische Partei zu verwandeln.« Nordau und Achad-Haam, in: JR, VIII. Jg., Nr. 18 (24. 04. 1903), S. 153. Wie Schlöffel, Loewe, S. 236, Fn. 154, treffend betont, verfolgte die Jüdische Rundschau mit der Charakterisierung der Grundsatzdebatte als »litterarische Fehde« wohl nicht zuletzt die Strategie, die Bedeutung der Ha’am’schen Kritik klein zu reden und dadurch zu relativieren. Herzl, Theodor : Altneuland, Leipzig 1902. Vgl. dazu Feuchert, Sascha: Fahrplan nach Palästina. »Altneuland« von Theodor Herzl (1902), in: van Laak, Dirk (Hg.): Literatur, die Geschichte schrieb, Göttingen 2011, S. 102–117; Peck, Clemens: Im Labor der Utopie. Theodor Herzl und das »Altneuland«-Projekt, Berlin 2012. Vgl. dazu Herrmann, Parteidisziplin; Heymann, Michael: The State of the Zionist Movement on the Eve of the Sixth Congress, in: Ders. (Hrsg.): The Uganda Controversy, Bd. 1, Jerusalem 1970, S. 14–39, hier S. 21f.; Schlöffel, Loewe, S. 236, Fn. 154; Zudrell, Petra: Der Kulturkritiker und Schriftsteller Max Nordau. Zwischen Zionismus, Deutschtum und Judentum, Würzburg 2003, S. 172–177 (Kap. »Die Altneuland-Kontroverse«).

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Herzls mitentwickelten und unterstützten, als Verletzung unbedingter zionistischer ›Parteidisziplin‹ und ›Loyalität‹ gegenüber dem »hochverdienten Führer«980 des zionistischen Kollektivs, Theodor Herzl, scharf verurteilt. Nicht zuletzt zu diesem Zweck partizipierte auch die Jüdische Rundschau an der Konstruktion des Herzl-Bildes, kraft derer Theodor Herzl zur verehrten Führerfigur der zionistischen Bewegung und zur Personifizierung nationaler Geschlossenheit verklärt wurde, wie im Folgenden gezeigt werden soll.981 Ausgangspunkt für die Altneuland-Kontroverse war ein Artikel Achad Ha ams in der hebräischsprachigen Zeitschrift Ha-Shiloach, der in der MärzAusgabe von Ost und West abgedruckt wurde.982 Darin charakterisierte Achad Ha am Herzls Vision aufgrund ihrer mangelnden Bezüge zu einer jüdischen Nationalkultur unter anderem als »mechanisches Nachäffen ohne jegliche nationale Eigenheit«983. In der Welt und der Jüdischen Rundschau erschien daran anschließend eine polemische Replik Max Nordaus984, in der Nordau Ha’ams Kritik an Herzls Thesen weniger auf sachlicher Ebene entgegnete, sondern dieser vielmehr grundsätzliche Berechtigung absprach, da sie die natürliche Autorität Theodor Herzls und die Deutungshoheit des politischen Zionismus verletzt hätte.985 Aus Nordaus Sicht wäre deshalb der Zionismus Ha’ams, der es wage, »sich selbst für einen Zionisten auszugeben und vom wirklichen, vom einzig existierenden Zionismus mit wohlberechneten Verachtungsmienen als von ›diesem‹, vom ›politischen‹ Zionismus zu sprechen«986, »überhaupt kein Zionismus«987. In seiner Polemik diskreditierte Nordau Achad Ha’am unter anderem als »weltlichen Protestrabbiner«, womit er ihn mit der so bezeichneten orthodoxen Opposition gegen den Zionismus verglich, welche verhindert hatte, dass der Erste Zionistenkongress nicht wie geplant in München stattfinden hatte können.988 Auffallend ist weiter, dass Nordau Herzls Roman unter Rekurs auf die ›überlegene‹ ›Kultur‹ des ›westeuropäischen Juden‹ verteidigte und somit die Debatte auch in den ›Ost‹-›West‹-Diskurs im Zionismus einschrieb.989 Um

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980 Stark, Lothar : Dem ›Wurzelständigen‹ ein ›Jude‹ von ›gestern‹!, in: JR, VIII. Jg., Nr. 20 (15. 05. 1903), S. 185f., hier S. 185. 981 Zur Entwicklung des Herzl-Bildes mit einem Schwerpunkt auf dem heutigen Staat Israel vgl. Livnat, Prophet. 982 Vgl. Haam, Achad: Altneuland, in: Ost und West 3:4 (April 1903), Sp. 227–244. 983 Ebd., Sp. 244. 984 Zur Stellung Max Nordaus in der frühen ZO vgl. Meybohm, Wolffsohn, S. 105–110. 985 Vgl. Nordau, Achad-Haam (1), S. 92; ders.: Achad-Haam (2), S. 106. 986 Nordau, Achad-Haam (2), S. 106. 987 Ebd. 988 Vgl. Herzl, Theodor : Die Verlegung des Kongresses. Ein Briefwechsel, in: Die Welt, Nr. 5 (02. 07. 1897), S. 1f. 989 Nordau, Max: Achad Haam über »Altneuland« (1), in: JR, VIII. Jg., Nr. 11 (13. 03. 1903),

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Haams Diskursposition zu schwächen, kontrastierte er – sozusagen stellvertretend – ›Europa‹ und ›Asien‹ und damit aus seiner Sicht ›Kultur‹ und ›Barbarei‹990. Dem Leser sollten Theodor Herzl und Achad Ha’am somit als typische Repräsentanten zweier Kulturkreise erscheinen, wobei Herzl die ›(zivilisierte) westeuropäisch-jüdische Kultur‹ und Ha’am die ›(minderwertige) osteuropäisch-jüdische Kultur‹ personifizierte.991 Dass die Position Nordaus – im Besonderen seine Ausfälle gegen Ha’am, welche von seinen Gegnern als zu persönlich, unsachlich und beleidigend empfunden wurden – nicht von allen deutschen Zionisten geteilt wurde, zeigte beispielsweise eine Protesterklärung, welche in der Jüdischen Rundschau veröffentlicht wurde. Sie war in erster Linie von jungen Intellektuellen unterzeichnet worden, die der Demokratischen Fraktion angehörten, darunter beispielsweise Martin Buber, Chaim Weizmann, Berthold Feiwel und Davis Trietsch.992 Auch die Redaktion der Jüdischen Rundschau interpretierte die Debatte zunächst »als Ergebnis weniger vielleicht verschiedener Richtungen und Anschauungen als der Verschiedenheit der Charaktere«993, womit sie wohl auch die Bedeutung der ideologischen Auseinandersetzung klein reden wollte. Auf diese Gegenrede folgte eine Reihe von Kommentaren in der Jüdischen Rundschau, welche sich mit den kontroversen Positionen in der Debatte auseinandersetzten. Darunter ist in diesem Zusammenhang ein zweiteiliger Artikel Sammy Gronemanns von Interesse, in dem der Autor um die Versöhnung zwischen »Ost und West«, so der Titel des Beitrags, bemüht war.994 Auch wenn Gronemann einräumte, dass »Altneuland« aus seiner Sicht inhaltlich nicht den

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S. 92–96; ders.: Achad Haam über »Altneuland« (2), in: JR, VIII. Jg., Nr. 12 (20. 03. 1903), S. 105f.; ders.: Achad Haam über »Altneuland«, in: Die Welt, 13. 03. 1903, S. 1–5. Vgl. zu den Konzeptionen von ›Ost‹ und ›West‹ im Zionismus am Beispiel der »Oppenheimer-Kontroverse« auch Kap. III.3.1 der vorliegenden Arbeit. Nordau, Achad-Haam (1), S. 94: »Seine Eigenart wird das jüdische Volk innerhalb der allgemeinen westlichen Kultur entfalten, wie jedes andere gesittete Volk, nicht aber ausserhalb, in einem kulturfeindlichen, wilden Asiatentum, wie Achad-Haam es zu wünschen scheint.« Ganz ähnlich erklärte auch Adolf Friedemann im Nachhinein die Entstehung der »UgandaKontroverse«: »Dieser ganze unselige Zwist, alle diese Anfeindungen persönlicher Natur haben nicht den Ugandafall zur Ursache, sondern das krasse Misstrauen gegen den Westen, dem auch Herzl entstammt«. Friedemann, Adolf: Vertrauen, in: JR, IX. Jg., Nr. 17 (29. 04. 1904), S. 173f., hier S. 173. Sprechsaal/Erklärung, in: JR, VIII. Jg., Nr. 16 (10. 04. 1903), S. 147. Vorbemerkung der Redaktion, in: JR, VIII. Jg., Nr. 17 (24. 04. 1903), S. 153. Vgl. dazu auch die Diskussion in der Jüdischen Rundschau über Martin Bubers Artikel »Herzl und die Historie«, der in Ost und West erschienen war. Vgl. Veritas: Wahrheit für Wahrheit, in: JR, IX. Jg., Nr. 45 (11. 11. 1904), S. 380–383; Buber, Martin: Zur Aufklärung, in: JR, IX. Jg., Nr. 48 (02. 12. 1904), S. 417f. Vgl. Gronemann, Sammy : Ost und West (1), in: JR, VIII. Jg., Nr. 18 (24. 04. 1903), S. 155– 157; ders.: Ost und West (2), in: JR, VIII. Jg., Nr. 19 (01. 05. 1903), S. 162–164.

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politischen Zionismus widerspiegele, verurteilte er die Kritik Ha’ams als grundsätzlichen »Ansturm gegen das Fundament unserer Organisation, – gegen die Parteidisziplin«995. Auf eine Ebene mit dem Narrativ ›Parteidisziplin‹ stellte er jedoch das der ›Meinungsfreiheit‹ im Zionismus, wobei er die Wechselbeziehung beider Prinzipien hervorhob und betonte, dass die konsequente Einhaltung der Beschlüsse der Instanz ›Kongress‹, zu denen vor allem die Befolgung des »Baseler Programms« zu zählen sei, nicht ausschließe,996 die unterschiedlichen Meinungen in der ZO auszutauschen und zu diskutieren.997 Gleichzeitig forderte er die Wiederherstellung der ›Unität‹ im Zionismus, ohne die grundsätzliche metaphorische Dichotomie zwischen ›Ost‹ und ›West‹ zu relativieren, indem er ein grundsätzliches Disziplindefizit im ›osteuropäischen Judentum‹ feststellte: »Er [Max Nordau, Anm. S. S. ] will einen Gegensatz zwischen Ost und West gewaltsam konstruieren. Ein solcher Gegensatz besteht in unserer Partei nicht und wird hoffentlich trotz aller Versuche, Misstrauen zu säen, niemals entstehen. Es liegt nur Folgendes vor : Ein Häuflein grossenteils westeuropäischer Zionisten, meist Männer von stürmischem Idealismus und unfähig, mit der Masse gleichen Schritt zu halten, haben in Wort und Schrift seit lange ihre Ideale vertreten und und [sic!] ihre Ungeduld gezeigt. Die an Parlamentarismus und Disziplin geschulteren Zionisten des Westens haben weniger lebhaft reagiert, als die des Ostens: nur so erschien allmählich der Osten als der Sitz jener Bestrebungen. […] Es existiert kein innerlich gegründeter Zwiespalt zwischen Ost und West; es existiert auch kein irgend verbreitetes Misstrauen gegen unsere Führer. Nur unsere Parteidisziplin ist noch nicht überall gleich gefestigt […]. Ost und West muss unsere Parole sein, und nicht Ost gegen West; die Juden des Ostens und des Westens aber werden ihre Augen öffnen und Ausschau halten, wer ihre mühsam errungene Einigkeit zu untergraben versucht.«998

Die große Mehrheit der Stimmen, die sich in der Jüdischen Rundschau in der Debatte äußerten, interpretierten Ha’ams Kritik an »Altneuland« auf einer Linie mit Gronemann als Verletzung der zionistischen ›Parteidiziplin‹ und des Sicheinfügens in die als natürlich verstandene innere Ordnung des zionistischen Nationalismus. Auch in der sog. »Altneuland-Kontroverse« spielte also die Vorstellung nationaler Homogenität eine wesentliche Rolle, die darüber hinaus auf die Spaltung des Zionismus in ›Ost‹ und ›West‹ projiziert wurde. Dies illustriert auch ein Artikel von Julius Moses (1869–1945), dem bekannten Mannheimer Zionisten, Arzt und Heilpädagogen,999 in dem es heißt, dass der 995 996 997 998

Gronemann, Ost und West (1), S. 157. Vgl. ebd., S. 155–157. Vgl. Gronemann, Ost und West (2), S. 162. Ebd., S. 163f. In ganz ähnlicher Weise äußerte sich auch Moses, Julius: Zwischen zwei Kongressen, in: JR, VIII. Jg., Nr. 24 (12. 06. 1903), S. 232–234. 999 Vgl. Nadav, Daniel: Julius Moses und Alfred Grotjahn. Das Verhalten zweier sozialdemokratischer Ärzte zu Fragen der Eugenik und Bevölkerungspolitik. in: Der Wert des Men-

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zionistische Nationalismus »keine besseren und keine schlechteren Zionisten, keine östliche Abart und keine westliche, keine Zionisten von ehedem, gestern oder heute« kenne, sondern »nur Zionisten des Baseler Programms«1000, durch das die »eiserne Notwendigkeit der Unterordnung […], die Einigkeit und Schaffensfähigkeit des jüdischen Volkes verbürgt ward«1001. Einen wesentlichen Bestandteil der so verstandenen ›Parteidisziplin‹ bildete für die Anhänger des »Baseler Programms« nicht zuletzt die Vorstellung von der freiwilligen Subordination unter den Präsidenten der ZO, Theodor Herzl, d. h. die »bedingungslose Unterordnung unter den Mann, der stärker ist«1002, wobei auch die Tatsache seiner demokratischen Wahl auf dem Kongress für seine Legitimation eine wichtige Rolle spielte.1003 Loewe verglich dieses Prinzip mit der »Alleinherrschaft eines Mannes«, die aus seiner Sicht paradoxerweise die »vollendetste [Form der] Demokratie«, eine Variante der »attische[n] Demokratie« darstellte.1004 Die Formulierung Loewes legt nahe, dass er mittels einer explizit demokratischen Begründung des Alleinvertretungsanspruches Herzls auch die Forderungen nach Demokratisierung in der ZO delegitimieren wollte. Den Anspruch auf Repräsentation des gesamten zionistischen Nationalismus und damit auch auf Personifikation ihrer Unitäts- und Homogenitätsutopie brachten die deutschen Zionisten im »Führer«-Begriff zum Ausdruck: »Führer einer Bewegung ist nicht absolut identisch mit Leiter der Bewegung. Führer einer Volksbewegung kann nur sein, wer in seinem Wesen ein Produkt der Bewegung, der möglichst vollkommene Ausdruck der Bewegung ist.«1005 Diese Mythisierung der historischen Person Herzl hatte bereits zu seinen Lebzeiten eingesetzt und zielte darauf, bestimmte Aspekte seines Lebens und Wirkens herauszuheben und im kollektiven Gedächtnis des Zionismus zu verankern, wobei jedoch unterschiedliche Erinnerungen an Herzl miteinander

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schen. Medizin in Deutschland 1918–1945, hg. von der Ärztekammer Berlin, Berlin 1989, S. 143–152, hier S. 130f. Moses, Kongressen, S. 234. Ebd. Loewe, Heinrich: Die Tagung des grossen Aktionskomitees, in: JR, IX. Jg., Nr. 14 (30. 03. 1904), S. 133f., hier S. 134. Vgl. Loewe, Jahrgang 1904, S. 2: »Wir werden auch im neuen Jahre nicht von diesen bewährten Gewohnheiten abweichen und auch weiter das notwendige Mass ehrlicher Kritik mit dem zähen Festhalten an der Parteieinheit verbunden und auch weiter unserm in demokratischer Wahl uns von uns selbst gesetzten Führern das Vertrauen entgegenbringen, das sie verdienen. Wir werden uns auch ferner nicht durch die falschen Sirenentöne unserer ebenso falschen Freunde von unsern Führern weglocken lassen und ihnen den Dienst leisten, für sie unsere Organisation zu stören und zu zerstören. Unsere Taktik wird auch im kommenden Jahre sein, mit unserm verehrten Führer an der Spitze und unter seiner ausschliesslichen Leitung einzig und allein für die Errichtung einer Heimat des jüdischen Volkes in Palästina zu arbeiten.« Loewe, Tagung, S. 134. Rosenberg, Egon: Wolffsohn der Führer, in: JR, IX. Jg., Nr. 52 (25. 12. 1914), S. 468.

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konkurrierten.1006 Einen Höhepunkt erreichte die Herzl-Glorifizierung in der Jüdischen Rundschau in den Nachrufen auf Theodor Herzl, welche in Sonderausgaben der Zeitung, den sogenannten Herzl-Nummern, als Reaktionen auf seinen Tod im Jahr 1904 und zum Anlass seines fünften und zehnten Todestages, in Form von Trauergedichten, Würdigungen und persönlichen Erinnerungen, erschienen.1007 In ihnen lässt sich die allgemeine Tendenz erkennen, weniger an konkrete politische Taten Herzls oder an bestimmte historische Ereignisse zu erinnern, sondern die Persönlichkeit Herzls an sich und ihren Beitrag zum Zionismus in den Vordergrund zu stellen und zu mythisieren.1008 Die Beiträger brachten in ihren Nachrufen ihre Trauer und ihre Überraschung über den Tod Herzls zum Ausdruck, der wie das böse Erwachen aus einem Traum empfunden wurde.1009 Entscheidend war für sie, dass die Trauer nicht nur den Einzelnen, sondern das gesamte Kollektiv, das ›jüdische Volk‹ an sich, betreffe.1010 Herzl wurde nicht nur als geliebter, »treue[r]«1011 »Führer«,1012 »Held«1013, »guter und getreuer Arbeiter«1014 oder sogar »Abgott«1015 geschildert, 1006 Zum Herzl-Bild im Zionismus vgl. Gelber, Mark H.: The Life and Death of Herzl in Jewish Consciousness. Genre Issues and Mythic Perspectives, in: Ders./Liska, Vivian (Hg.): Theodor Herzl. From Europe to Zion (conditio judaica), Tübingen 2007, S. 173–88; Berkowitz, Michael: Reimagining Herzl and other Zionist Sex Symbols, in: Gelber/Liska, Herzl, S. 73–84; Livnat, Prophet. Dass Herzl selbst sich dieses Prozesses durchaus bewusst war und dies wohl politisch instrumentalisierte, beweist ein Tagebucheintrag vom 15. Juli 1896, in dem es heißt: »Ich sah und hörte zu, wie meine Legende entstand. Das Volk ist sentimental; die Massen sehen nicht klar. Ich glaube, sie haben schon jetzt keine klare Vorstellung mehr von mir. Es beginnt ein leichter Dunst um mich herum aufzuwallen, der vielleicht zur Wolke werden wird, in der ich schreite.« (Herzl, Theodor : Tagebucheintrag vom 15. Juli 1896, in: Herzl, Tagebuch, S. 485). 1007 Vgl. JR, IX. Jg., Nr. 27 (08. 07. 1904). 1008 Vgl. dazu auch Livnat, Prophet, S. 40. 1009 Vgl. Auerbach, Elias: Herzl tot!, in: JR, IX. Jg., Nr. 27 (08. 07. 1904), S. 285; Friedemann, Adolf: Theodor Herzl, in: JR, IX. Jg., Nr. 27 (08. 07. 1904), S. 286f., hier S. 286. 1010 Vgl. Auerbach, Herzl, S. 285: »Es weitet, weitet sich mein Fühlen. Ich bin das jüdische Volk. Mich packt seine stille Verzweiflung, sein dumpfer Schmerz. Nie sah ich ein Auge in solchem Leid wie das seine sich erheben, zum Himmel, wo mein frommes Volk mit irrem Blick seinen Gott sucht. Mein armes Volk! […] Hunderttausend Hoffnungen steigen zu Grabe, und sie alle, alle muss ich mit zu Grabe geleiten. Wehe mir! Wie soll ich tragen eure Last, ihr Tausende!« 1011 Loewe, Heinrich: Das Jüdische Volk in seiner Trauer, in: JR, IX. Jg., Nr. 27 (08. 07. 1904), S. 284f., hier S. 285: »Aber seine treue Liebe vermag kein Grab einzuschliessen, nicht sein liebendes Herz, das dem Volke schlug, das ihm gehört. Und ebenso bleibt unsere Liebe zu ihm unvergänglich. So lange wir leben, werden wir ihn lieben!« 1012 Loewe, Trauer, S. 285; Auerbach, Israel: Am frischen Grabe, in: JR, IX. Jg., Nr. 27 (08. 07. 1904), S. 296. 1013 Auerbach, Herzl; Auerbach, Grabe. 1014 Friedemann, Adolf: Theodor Herzl, in: JR, IX. Jg., Nr. 27 (08. 07. 1904), S. 286f., hier S. 286. 1015 Loewe, Trauer, S. 284.

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sondern als Symbol der ›zionistischen Gemeinschaft‹, als Verkörperung des ›jüdischen Volkes‹ an sich, das die nationale Homogenität und den Zusammenhalt des Kollektivs versinnbildliche und gewährleiste.1016 Einen beliebten Topos in den Nachrufen stellte auch die äußere wie innere ›Schönheit‹ Herzls dar, welche sich in der »edle[n] Gestalt«1017 und in Herzls gesamten Habitus gezeigt hätte und die in ihrer Eigenart als ›jüdischer Volkstypus‹ geschildert wurde.1018 Herzl hätte sich demnach nicht dadurch ausgezeichnet, den zionistischen Nationalismus erfunden, sondern das zionistische Kollektiv zu innerer ›Einheit‹ und politischer Handlungsfähigkeit zusammengeführt zu haben.1019 Um Herzls einheitsstiftende und homogenisierende Rolle für die ›nationale Gemeinschaft‹ noch zu verdeutlichen, wiesen die Beiträger ihm verschiedene Rollen zu und verglichen ihn mit familiären, historischen und biblischen Ge-

1016 Vgl. Loewe, Heinrich: Die Erben des Zionismus, in: JR, IX. Jg., Nr. 2 (08. 01. 1904), S. 11– 13, hier S. 12. 1017 Loewe, Trauer, S. 285. 1018 Ebd., S. 284: »Unmöglich ist es uns, wo die Leiche unseres Vaters vor uns liegt, zu sagen, was er uns gewesen. Er war unsere Hoffnung und unser Stolz, unser Eines und unser Alles. Denn in ihm verkörperte sich, was es in unserem Volke an leiblicher und geistiger Schönheit gab […]. Schön war er an Körper, bezaubernd schön von Antlitz, und wer ihn einmal gesehen, konnte niemals wieder den unendlich feinen und festen und doch so wunderbar weichen und traurigen, milden Ausdruck seiner schwarzen Augen vergessen. Er war uns so der edelste Idealtypus unseres Stammes, dessen Schönheit sich in dem einen Manne vereinigt zu haben schien. Und doch war seine Seelenschönheit unendlich viel grösser als alle Schönheit seines Leibes und sogar seines Auges. Er war der Inbegriff aller edlen Stammestugend und der Liebe des Jüdischen Volkes, mit der es trotz aller Abirrungen unwandelbar an seinem Volkstum und an seinem Lande hängt.« 1019 Vgl. ebd., S. 284: »Wir hatten ja für den Zionismus gekämpft und hatten jeder nach seiner Kraft und nach seinem Vermögen für die Wiederherstellung unseres Volkes in unserem Lande gearbeitet, ehe er in unsere Mitte trat. Aber wir wurden erst zu einem Volke, zu einem einzigen grossen Willen, als der Mann sich uns schenkte, der allein aus eigener innerer Grösse heraus uns alle vereinigte in seiner starken Hand zu dem einen Ziel.« Vgl. auch Friedemann, Herzl, S. 286: »Wie oft haben wir unseren grossen Führer vor uns gesehen, wenn er zum Volke sprach, haben wir mit staunender Bewunderung gesehen, wie jedes seiner Worte Stürme der Begeisterung entfesselte. Es gab doch so viele, die das Wort besser meisterten – und doch war die ganze Volksbewegung nur von einem Worte getragen: von dem Klang seines Namens. Der Name Theodor Herzl war wie die Fahne in der Schlacht, war das Panier, das dem Volke voranleuchtete auf dem schweren Wege, den wir schreiten müssen.« Vgl. auch Auerbach, Grabe, S. 296: »Wem die Geschichte unserer Bewegung nicht gar so fremd ist, der weiss, dass Herzl so wenig ihr ›Erfinder‹ gewesen, als ihr einziger Träger und Erhalter. Nur ihr genialer Gestalter war er, und so gross die innere Kraft und der Ewigkeitsgehalt seiner Schöpfung, dass sein lebendiger Geist in ihr treiben und weben wird, dass ihre Räder unermüdlich laufen werden, auch wenn der Finger ihres Werkmeisters sie nicht mehr stösst.« Vgl. auch Loewe, Heinrich: Der Kleine Kongress, in: JR, IX. Jg., Nr. 32 (12. 08. 1904), S. 347f., hier S. 347: »Und wenn es vielleicht Differenzen gegeben hat, so sind die in demselben Augenblick verschwunden, wo der Tod in unsere Reihen trat und uns unseren Führer raubte, in dem wir unsere Einheit sehen durften.«

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stalten.1020 Das zionistische Kollektiv wurde als verwaistes Kind imaginiert, das mit Herzl »Mutter« und »Vater« in einer Person verloren hätte.1021 Auf der einen Seite wurde Herzl als enger, vertrauter Familienangehöriger oder als »beste[r] Freund«1022 ausgegeben, auf der anderen Seite wurde er mit monarchischen und aristokratischen Attributen charakterisiert und als ungekrönter Adliger, »Erstgeborener«1023 oder König literarisch inszeniert:1024 Er sei »kein gekröntes Haupt, aber der geborene und auserkorene Fürst des Volkes«.1025 Der besondere Reichtum des Monarchen Herzl hätte im Gegensatz zu anderen weltlichen Herrschern darin bestanden, nicht gekrönt, jedoch von seinem ›Volk‹ geliebt worden zu sein.1026 Die historischen Parallelen zwischen Herzl und Mos(ch)e, Josua und Joseph1027 hingegen bestanden für deutsche Zionisten in erster Linie in der Mobilisierung des ›jüdischen Volkes‹ zu nationaler Geschlossenheit und im Martyrium der genannten Personen für die rückwirkend als zionistisch interpretierte Sache. Wie Mos(ch)e und Josua die Israeliten nach Kanaan sollte auch Herzl das ›jüdische Volk‹ aus dem ›Galuth‹ in das ›versprochene Land‹ Palästina führen, wie Joseph hätte auch Herzl (testamentarisch) verfügt, seine Gebeine nach Palästina überführen zu lassen, was von seinen Nachkommen als historischer Schwur interpretiert würde.1028 Wie bei den biblischen Stammvätern ver1020 Vgl. z. B. Loewe, Heinrich: Joseph ward eingetan zu seinen Vätern, in: JR, IX. Jg., Nr. 27 (08. 07. 1904), S. 285. Zum Vergleich Herzls mit Mose vgl. Veritas: Wahrheit für Wahrheit, in: JR, IX. Jg., Nr. 45 (11. 11. 1904), S. 380–383, hier S. 382; Auerbach, Israel: Tröstet, tröstet mein Volk, in: JR, IX. Jg., Nr. 29 (22. 07. 1904), S. 308. 1021 Loewe, Trauer, S. 284. 1022 Friedemann, Herzl, S. 286. 1023 Auerbach, Herzl, S. 285. 1024 Vgl. ebd.: »Theodor Herzl ist tot. Gefallen ist die Krone von seinem Haupte. […] Mir ist als hätten wir einen königlichen Traum geträumt.« 1025 Loewe, Trauer, S. 284. 1026 Vgl. Friedemann, Herzl, S. 286: »Die Tränen, die hier geweint werden, sind echt, echter als die um viele Herrscher dieser Welt vergossen werden. Die heissen Tränen, die hier fliessen, sind ja das einzige Zeichen unserer Liebe und Dankbarkeit, Theodor Herzl, der du ein König warst ohne Land, aber reicher als ein solcher, ein König in unseren Herzen.« 1027 Vgl. z. B. Loewe, Heinrich: Joseph ward eingetan zu seinen Vätern, in: JR, IX. Jg., Nr. 27 (08. 07. 1904), S. 285. Zum Vergleich Herzls mit Mose vgl. Veritas: Wahrheit für Wahrheit, in: JR, IX. Jg., Nr. 45 (11. 11. 1904), S. 380–383, hier S. 382; Auerbach, Volk, S. 308. 1028 Vgl. Loewe, Heinrich: Joseph ward eingetan zu seinen Vätern, in: JR, IX. Jg., Nr. 27 (08. 07. 1904), S. 285: »Und Joseph sprach zu seinen Brüdern: ›Ich sterbe, aber Gott wird euer gedenken und euch herausführen aus diesem Lande in das Land, welches er zugeschworen dem Abraham, dem Jizchak und dem Jaakob.‹ Und Joseph liess die Kinder Israels schwören mit den Worten: ›Gott wird euer gedenken, dann bringt auch meine Gebeine hinauf von hier.‹ Und Joseph starb – und sie balsamierten ihn ein, und man legte ihn in eine Lade in Mizrajim. – (1 Mos. 50, 21–26). Und Moscheh nahm die Gebeine Josephs mit sich. Denn Joseph hatte die Söhne Israels schwören lassen: ›Wenn der Ewige euer gedenken wird, dann führt meine Gebeine mit euch von dannen!‹ (2 Mos. 13, 19).«

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banden sich auch mit dem Tod Herzls Trauerklage und Trost-Sabbath, Stillstand und Fortgang, zugleich:1029 »Der Führer ist tot, die Bewegung lebt!«1030 Aus zionistischer Sicht ist es nicht der nahende (göttliche) Messias, der Abhilfe schafft, sondern die Geborgenheit im homogenen Kollektiv und die bereits erreichte und zukünftige Arbeit, die selbst als Remedium charakterisiert werden.1031 Gleichzeitig wurde der Tod Herzls selbst zur historischen Bewährungsprobe stilisiert, in der die nationale Gemeinschaft ihre ›Einigkeit‹ und Geschlossenheit beweisen müsse.1032 So verbanden viele der Trauergedichte, die in der Jüdischen Rundschau und anderen zionistischen Zeitungen erschienen, den klagenden Ton der Elegie mit dem gewohnten Einheitsnarrativ und einem allgemeinen Appell zur Mobilisierung, der in Rhetorik und Bildsprache militaristisch gefärbt war und an einen vormodernen ›Ruf zu den Waffen‹ erinnerte. Die ›Erlösung‹ des Leichnams Herzls bildete in den Nachrufen ein beliebtes Argument für die unbedingte Fortführung der zionistischen Arbeit.1033 Ein besonders prägnantes Beispiel hierfür ist das Gedicht »Dem toten Fürsten« von Israel Auerbach, welches am 15. Juli 1904 auf der Titelseite der Jüdischen Rundschau erschien. Darin stellte der Autor den aristokratischen Charakter Herzls heraus und deutete seinen Tod als einen Aufruf an die Zionisten, sich intensiver für die zionistische Sache zu engagieren und den Leichnam Herzls nach Palästina zu überführen:

1029 Vgl. Auerbach, Volk, S. 308: »Der Trost-Sabbath naht. Wieder haben wir bleich und gebückt auf der Erde gesessen und die alten wehmütigen Klagen angestimmt, in deren Melodie der tausendjährige Schmerz eines ganzen Volkes um sein Höchstes gebannt ist. […] Auch wenn unser Held nicht mehr vor uns einherzieht, der mit seinem Wort, wie mit einem scharfen hell blinkenden Schwert, das Gestrüpp und die Dornen vor uns hinweggeräumt, unter dessen Fuss jedes Tal sich hob und jeder sperrende Gipfel stürzte, werden unsere Schritte nicht stille stehen. […] Auch als Mose tot war, blieb nicht sein Volk in der Wüste, und so werden auch wir unseren Josua nicht vermissen. Keine Verzweiflung und keine Unruhe herrscht in unseren Stämmen und Gruppen, zum Trotz unserer Gegner! Die Bewegung geht weiter und geraden Wegs, schon haben unsere Führer, die von langher bewährt sind, von sich hören lassen und gezeigt, dass sie den Kopf durchaus nicht verloren. Sie sorgen und handeln emsig weiter in unserem Sinne und im Geist unseres Herzl, sie arbeiten zehnfach wie vordem.« 1030 Ebd. 1031 Vgl. ebd. 1032 Loewe, Trauer, S. 285. 1033 Vgl. Auerbach, Grabe, S. 296: »Denn nicht um den alten Kampfpreis allein mehr geht’s, sondern auch um unseres Führers Leichnam. Der geheiligte Leib unseres Vaters wartet in fremder Erde, dass wir ihn erlösen. Wenn wir den strahlenden Weg unserer Freiheit gehen, dann tragen wir die Gebeine unseres Herzl mit im Freiland hinüber auf unseren jungen Schultern. Auf, auf zur Erlösung!«

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»Dem toten Fürsten! Still! Kein Geschluchze mehr! Kein Klagelied! Die Asche und den Staub streicht aus dem Haar! Noch eine Träne bringt dem Toten dar Und einen letzten Seufzer gebt dem Süd! Dann aber auf! Ein jeder such’ sein Schwert Und jeder seinen Trotz und seine Stärke! Denn euer Vater ruft, habt ihr gehört? Der Tote aus dem Grabe ruft zum Werke. Soll sein Gebein in der Verbannung ruhn? In fremder Gruft vergehn sein heilger Staub? Soll eurer Feinde Erde ewgen Raub An eures Vaters heilgen Gliedern tun? Ein Grab nur ist, das seinem Leib gebührt! Dem toten König bangt nach seinem Lande! Er aber liegt verscharrt im fremden Sande, Bis ihn sein Volk zur Heimat überführt. Wohl war die Träne köstlicher als Tau, Süss, mit dem Winde und der Weide trauern, Dahingestreckt in Halmen auf der Au Zum Himmel aufschrei’n in Erinnrungsschauern, Wild irren durch den Wald – bis gross und hehr Aus dem Gewölk, das weinend überhängt, Die Sonn’ ihr funkelnd Antlitz niedersenkt, Und unsre Lippen beben: so ging Er – – Nun aber kein Geschluchz! Kein Klagelied! Die Trän‹ wird Frevel, Seufzer wird Verderben. Die Faust an’s Schwert! Für euren Fürsten zieht! Ihn zu erlösen – siegen oder sterben –! Mit eurer Freiheit löst ihr seine Bande. Harrt er umsonst, bis seine Stunde schlägt? Bis ihn sein Volk in seine Heimat trägt? Den toten König bangt nach seinem Lande!«1034

Mit bzw. nach dem Tod Herzls und damit des Symbols wie Garanten der Unitätsund Homogenitätsutopie des frühen deutschen Zionismus im Spiegel der Jüdischen Rundschau schufen deutsche Zionisten wie die Beiträger zur Erinnerungsnummer an Herzl eine neue Narration. Nach dieser wurde der Tod Herzls rückwirkend als schicksalshafte, notwendige Begebenheit gedeutet, kraft derer die wahre Erlangung der inneren »Einigkeit und Einmütigkeit«1035 der trau-

1034 Auerbach, Israel: Dem toten Fürsten, in: JR, IX. Jg., Nr. 28 (15. 07. 1904), S. 295. 1035 Sachse, Heinrich: Der Zionismus unterwegs, in: JR, IX. Jg., Nr. 34 (26. 08. 1904), S. 367f., hier S. 367.

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ernden Gemeinschaft überhaupt erst ermöglicht und freigesetzt würde.1036 Das zionistische Kollektiv sollte und würde mit vereinten Kräften die nationaljüdische Vision Herzls fortführen und vollenden, nur das ›jüdische Volk‹ könne einvernehmlich und geschlossen an die Stelle seines ›Führers‹ treten.1037 Der Tod Herzls wurde in dieser Sichtweise zur entscheidenden Voraussetzung und zum Anlass der Versöhnung zwischen den unterschiedlichen ideologischen Strömungen und zwischen ›Ost‹ und ›West‹ im Zionismus stilisiert.1038 Der Einzelne sollte also seine persönlichen Vorlieben und Differenzen zurückstellen »vor dem einen grossen Gedanken der unantastbaren und unverletzlichen Einheit des Zionismus« und der Zionismus als »eine einzige geschlossene Masse« hervortreten, damit die »absolute Einheit gewahrt würde«1039. Herzls ›charismatische‹ Persönlichkeit sollte die Bewegung, die zunehmend von heterogenen Positionen geprägt war, noch über seinen Tod hinaus zusammenhalten, wobei die Idealisierung seiner Person nach seinem Tod noch größer wurde.1040 In der kultischen 1036 Vgl. dazu auch die Passage im bekannten Sonnett von Israel Zangwill, das in der Erinnerungsnummer für Herzl in Ost und West im August 1904 mit einer Übersetzung von Berthold Feiwel erschien und am 4. Juli 1904, an Herzls Todestag, verfasst wurde: »To save a people leaders must be lost / By friends and foes alike be crucified« (Zangwill, Israel: Theodore Herzl, in: Ost und West, IV. Jg., Nr. 8/9 (August 1904), Sp. 543). Vgl. dazu auch Gelber, Life, S. 179f. 1037 Vgl. dazu auch Auerbach, Grabe, S. 296: »Niemals aber war unsere Pflicht zur Tat so dringend, als eben jetzt, wo die Trauer unseren Herzen süsser als Honig wäre. Wir haben kein Recht, uns von ihr einlullen zu lassen. […] Niemand auf Erden kann uns unseren Herzl ersetzen, aber wir alle, einmütig, wir können es. Wir müssen es, wenn wir sein Werk nicht schänden wollen! Wir müssen es, wollen wir sein grosses Leben nicht Lügen strafen!« 1038 Vgl. Friedemann, Adolf: Kopf hoch!, in: JR, IX. Jg., Nr. 30 (29. 07. 1904), S. 321f., hier S. 321: »Ihr fragt, wer Herzls Nachfolger sein wird, wer jetzt die Arbeit tun soll? Nicht ein Mann! Der eine Mann war ein Geschenk der Vorsehung, wie es nicht alltäglich gegeben wird. Zeigen wir jetzt, dass wir wert waren, ihn zu besitzen. Wer Herzls Nachfolger sein wird? Wir alle – das ganze Volk – werden es sein, nicht nur die Grossen und Klugen, auch die Kleinsten und Einfältigsten unter uns, wenn sie nur ganz erfüllt sind von reinem und darum geheiligtem Wollen. Jetzt kommt die Feuerprobe für unser Volk und wir werden sie bestehen. Von heute an darf es keinen Unterschied mehr geben zwischen ›Ost‹ und ›West‹, zwischen den Anhängern dieser und jener Richtung, von heute an darf es nur noch eine einheitliche Partei geben, durchdrungen von dem unabänderlichen, zielbewussten Wollen, unserem armen Volke die ersehnte Heimat zu schaffen.« 1039 Loewe, Kongress, S. 347. 1040 Die Charakterisierung von Herzls Führungsstil als »charismatisch« beruht auf der Unterscheidung von Max Weber, nach der »Charisma« weniger auf realen Eigenschaften dieser Person beruht, sondern als Folge von Rollenzuschreibungen innerhalb einer Gruppe entsteht, mittels derer diese die Autorität einer Person als maßgeblich akzeptiert. Ein charismatischer Führungsstil besteht jedoch meistens nur so lange, wie es um die Theorie und Einsetzung von Herrschaft geht. Beginnt die politische Arbeit in der Praxis, ist auch der »charismatische Herrscher« gezwungen, seine politischen Visionen und die Ansprüche seiner Anhänger in die Wirklichkeit umzusetzen, d. h. auch seine Herrschaft zu legalisieren und legitimieren. Zum Konzept der »charismatischen Herrschaft« vgl. Weber,

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Verehrung Herzls zeigte sich nicht zuletzt auch die in bestimmten Teilen des Bürgertums verbreitete mentale Disposition, nach einer (autoritären) Führerpersönlichkeit zu suchen,1041 womit der Herzl-Mythos stellenweise semantische wie funktionale Ähnlichkeiten zum Bismarck-Mythos im deutschen Nationalismus, wie er sich bereits vor dem Ersten Weltkrieg ausbildete, aufwies.1042 Obwohl die (nationalen) Bismarckverehrer mitunter völlig unterschiedliche Erwartungen an ihre Konstruktion knüpften, stimmten sie doch »in der Forderung nach größerer Geschlossenheit«1043 der eigenen ›nationalen Gemeinschaft‹ überein.1044 Auch in Teilen der heutigen Gesellschaft Israels, im Staatsleben und vereinzelt noch in der historischen Forschung bildet der ›Herzl-Mythos‹ ein aktuelles, wirksames Narrativ, das von verschiedenen gesellschaftlichen und politischen Interessengruppen instrumentalisiert wird, wobei Theodor Herzl neben Chaim Weizmann und David Ben Gurion (1886–1973) zu den Staatsgründern gezählt wird und eine direkte lineare oder gar teleologische Verbindungslinie von der Vergangenheit in die Gegenwart konstruiert wird.1045 Theodor Herzl, dessen Porträt nicht nur visuell die Knesset, das israelische Parlament, überragt, bildet einen wesentlichen Teil des Gründungsmythos des Zionismus und des Staates Israel wie das folgende Zitat aus der Rede von Premierminister Benjamin Netanyahu anlässlich Herzls 150. Geburtstag am 26. April 2010 zeigt und in dem

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Wirtschaft und Gesellschaft, S. 140–143; Möller, Frank: Einführung, in: Ders. (Hg.): Charismatische Führer der deutschen Nation, München 2004, S. 1–18. Zur »charismatischen Herrschaft« Theodor Herzls vgl. Meybohm, Wolffsohn, S. 140, 149; Ben-Israel, Leadership; Reinharz, Jehuda/Reinharz, Shulamit: Leadership and Charisma. The Case of Theodor Herzl, in: Reinharz, Jehuda/Swetschinski, Daniel (Hg.): Mystics, Philosophers, and Politicians. Essays in Jewish Intellectual History in Honor of Alexander Altmann, Durham 1982, S. 275–313. Vgl. Hardtwig, Wolfgang: Bürgertum, Staatssymbolik und Staatsbewusstsein im Deutschen Kaiserreich 1871–1914, in: Ders.: Nationalismus und Bürgerkultur in Deutschland 1500–1914, Göttingen 1994, S. 213–218. Vgl. dazu Machtan, Lothar : Bismarck-Kult und deutscher National-Mythos 1890–1940, in: Ders. (Hg.): Bismarck und der deutsche Nationalmythos, Bremen 1995, S. 14–67; Hardtwig, Wolfgang: Der Bismarck-Mythos. Gestalt und Funktionen zwischen politischer Öffentlichkeit und Wissenschaft, in: Ders. (Hg.): Politische Kulturgeschichte der Zwischenkriegszeit 1918–1939 (GG Sonderheft 21), Göttingen 2004, S. 61–90. Herzl selbst zog den Vergleich zu Bismarck bereits 1895 in seinem Brief an den französischen Philanthropen Maurice Baron de Hirsch: »Glauben Sie mir, die Politik eines ganzen Volkes – besonders wenn es so in aller Welt verstreut ist – macht man nur mit Imponderabilien, die hoch in der Luft schweben. Wissen Sie, woraus das Deutsche Reich entstanden ist? Aus Träumereien, Liedern, Phantasien und schwarzrotgoldenen Bändern – und in kurzer Zeit. Bismarck hat nur den Baum geschüttelt, den die Phantasien pflanzten.« Herzl, Theodor : Brief an Baron Hirsch vom 03. 06. 1895, in: Herzl, Tagebuch, S. 65. Hardtwig, Bismarck-Mythos, S. 64. Vgl. ebd., S. 63–65. Vgl. dazu auch Meybohm, Wolffsohn, S. 12; 17f.; Livnat, Prophet.

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Herzl auf ganz ähnliche Weise als moderner, säkularer Messias, nationales Einheitssymbol und historischer Visionär geschildert wird: »In world history and in the history of our people, there are very few cases in which one can point out a certain man who almost single-handedly saved his people from extinction. Benjamin Zeev Herzl was one. The thousands of years of the people of Israel’s history are filled with great leaders – judges, kings, prophets, military leaders and great thinkers. However, there are not more than a handful of people among them who showed up at those fateful moments that determined whether we will live or cease to exist, and who single-handedly turned the wheel of Jewish history from death to life. Joseph saved the House of Jacob from starvation; Moses led Israel from slavery to freedom; Judah the Maccabi saved his people from forced assimilation; Rabban Yohanan Ben Zakai built a dam to hold back the tide of disintegration and desperation. There are certainly a few more people we could add to this list. Herzl is part of this elite group of historic leaders, and follows in the footsteps of the giants of the past in our modern era. He worked at the dawn of the 20th century, a century during which the Jews’ fate was reversed twice: once downwards during the Holocaust and the second time upwards during the revival. One can say with certainty that if it were not for Herzl, the fate of the Jews would only have been reversed once – downwards. That is why it is no coincidence that his image is on the wall here behind us. Were it not for Herzl, we would not be sitting here today. […] Members of Knesset, Our mission is to continue to build, to strengthen the foundation of our country – the Jewish state – and develop it in the spirit of the great Benjamin Zeev Herzl’s vision. Several days ago, during an interview for Independence Day, I was asked what I would tell Herzl if I was honored enough to meet him today. I would tell him: we willed it! I would tell him: ›You said, ›If you will it, it is no dream‹ – and we willed it and made the dream reality‹.«1046

2.1.3 Zwischen ›Nein-Sagern‹ und ›Ja-Sagern‹, ›Palästinensern‹, und ›Landsuchern‹ – das zionistische Kollektiv und die »Ostafrika-Frage« Seit dem Sechsten Zionistenkongress, der Ende August 1903 in Basel stattfand, trat zu den beschriebenen Debatten die sog. »Uganda-Kontroverse«, »UgandaKrise« oder »Ostafrika-Frage« hinzu,1047 welche sich am Angebot der britischen Regierung eines Gebietes für die ZO in Britisch-Ostafrika entzündete und bis in 1046 Netanyahu, Benjamin: Rede anlässlich Herzls 150. Jahrestag [PM Netanyahu addresses Knesset special session marking the 150th anniversary of Herzl’s birth. Translated from Hebrew], 26. April 2010, Homepage des israelischen Außenministeriums. URL: [letzter Zugriff erfolgt am 29. 07. 2016]. 1047 Zur Haltung Heinrich Loewes in der »Uganda-Kontroverse« mit einem Schwerpunkt auf dem Narrativ des ›Landsuchers‹ vgl. ausführlich Schlöffel, Loewe, S. 235–248. Zur »Uganda-Kontroverse« allgemein vgl. Alroey, Gur : Journey to New Palestine: The Zionist Expedition to East Africa and the Aftermath of the Uganda Debate, in: Jewish Culture and History 10:1 (2008), S. 23–58; Heymann, Michael (Hg.): The Uganda Controversy, 2 Bde., Jerusalem 1970/1977.

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Die Konstruktion zionistischer Hybridität in der Jüdischen Rundschau

das Jahr 1905 andauerte. Dieses sah »eine autonome jüdische Ansiedlung in Ostafrika mit jüdischer Verwaltung, jüdischer Lokalregierung und einem jüdischen Oberbeamten an ihrer Spitze, alles natürlich unter britischer oberhoheitlicher Ueberwachung«1048 vor, wie Herzl den Mitgliedern der ZO auf dem Sechsten Zionistenkongress offerierte. Er verwob das Angebot dabei narrativ mit den Auswirkungen der schweren antisemitischen Pogrome in Kischinew, der Hauptstadt Bessarabiens, denen mehrere hundert russische Juden zum Opfer gefallen waren,1049 und damit der Allgegenwärtigkeit des europäischen Antisemitismus.1050 Mittels ihrer Beteiligung an der Debatte über dieses Angebot, das auch die intensive Diskussion über die ›Landfrage‹ bzw. ›Territoriumsfrage‹ miteinschloss, positionierten sich die deutschen Zionisten nicht zuletzt zum Status von ›Palästina‹ im Zionismus. Die ernsthafte Erwägung des britischen Angebots durch Herzl, welche die meisten Delegierten auf dem Sechsten Zionistenkongress zunächst mit Beifall begrüßten,1051 lässt sich auf verschiedene Faktoren zurückführen: Erstens besaß Palästina im politischen Zionismus Herzls, wie sich in seiner Schrift »Juden1048 Herzl, in: Stenographisches Protokoll der Verhandlungen des VI. Zionisten-Kongresses in Basel. 23., 24., 25., 26., 27. und 28. August (1903), Wien 1903, S. 1–11, hier S. 8. Vgl. dazu auch Alroey, Journey, S. 30–32 und Schlöffel, Loewe, S. 239f., Fn. 169 und Fn. 170. Ursprünglich im Zuge der Verhandlungen über einen Charter für die zionistische Besiedlung der Sinai-Halbinsel, dem sog. »El-Arisch-Projekt«, benannt nach seinem Zielort El-Arisch im Norden der Halbinsel, hatte sich Herzl im März 1903 mit Vertretern der britischen Regierung getroffen. Nachdem eine zur Prüfung der Siedlungstauglichkeit des Gebietes entsandte Kommission allerdings zu dem Ergebnis gekommen war, »dass es unmöglich sei, die pelusinische Ebene ausreichend mit Wasser zu versorgen, und daher auch die Besiedlung von El-Arisch oder einem anderen Teile der Halbinsel nicht erfolgen könne« (Herzl, Protokoll, S. 7f.), wurde Herzl von den britischen Vertretern zum ersten Mal ein Gebiet in Ostafrika »zum Zwecke der jüdischen Kolonisation« (ebd., S. 8) vorgeschlagen. Die konkreten Einzelheiten des britischen Angebots hatte Herzl einer Erklärung der britischen Regierung entnommen, die Clement Hill, der Leiter der Afrika-Abteilung des britischen Außenministeriums, in einem Brief vom 14. August 1903 an ihn adressiert hatte. Zum Zweck der Erforschung des Gebietes beschloss die britische Regierung am 26. August 1903 eine Kommission, welche die Eignung der Gegend und des Bodens für die jüdische Besiedlung prüfen sollte, zu entsenden. Vgl. Die Erklärung der englischen Regierung vom 14. 08. 1903, in: JR, Nr. 36 (01. 09. 1903), S. 375. Welches Territorium genau der zionistischen Kolonisation zur Verfügung gestellt werden sollte, wurde jedoch zunächst nicht entschieden. Im November 1903 schlug Charles Eliot, der Britische Commissioner von Ostafrika, das Guas Ngishu Plateau, ein etwa 15.500 km2 umfassendes Teilgebiet in der Nähe von Nairobi im Nordwesten Kenias vor. Vgl. Alroey, Journey, S. 33; Schlöffel, Loewe, S. 245, Fn. 190. 1049 Vgl. Kap. III.2.3.1 der vorliegenden Arbeit. Vgl. Judge, Edward H.: Ostern in Kischinjow. Anatomie eines Pogroms, Mainz 1994; Lambroza, Shlomo: The Pogroms of 1903–1906, in: Klier, John/Ders. (Hg.): Pogroms. Anti-Jewish Violence in Modern Russian History, Cambridge/New York 1992, S. 195–247. 1050 Vgl. Protokoll 1903, S. 1–6. 1051 Vgl. Protokoll 1903, S. 8f.

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staat« gezeigt hatte, (noch) keinen exklusiven, singulären Status als künftiges Territorium der zionistischen Besiedlung.1052 Gleichwohl war sich der erste Präsident der ZO der Bedeutung des symbolischen Ortes für die zionistische Bewegung durchaus bewusst, was er beispielsweise auch auf dem Sechsten Zionistenkongress artikulierte, als er den Delegierten das britische Angebot unterbreitete, »allein obschon selbstverständlich das jüdische Volk kein anderes Endziel haben kann als Palästina […]«1053. Im Gegensatz zu Herzl nannten sich die Befürworter Palästinas als ausschließlichem Territorium einer jüdischen Kolonisation »Zione Zion«, wobei die Doppelung des symbolischen Begriffs ›Zion‹ und die Verwendung des hebräischen Namens die Legitimität ihrer Ansprüche vermutlich noch unterstreichen sollte. Zweitens maß Herzl dem Angebot der britischen Regierung einen hohen symbolischen Wert bei. Aus seiner Sicht zeigte es, dass die Forderungen des politischen Zionismus nach einer jüdischen Heimstätte und die Charter-Idee erstmals auf internationaler Ebene anerkannt würden. Nach den gescheiterten Verhandlungen mit dem Sultan im Juli 19021054 und dem umstrittenen »ElArisch-Projekt«, das Herzl seit Oktober 1902 verfolgt hatte, stellte es einen diplomatischen Erfolg dar, der an die innerzionistische Opposition gegen Herzl eine deutliche Signalwirkung senden sollte.1055 Auch wenn die außenpolitischen Konstellationen zu dieser Zeit noch nicht erahnen ließen, dass Großbritannien der wichtigste politische Faktor und diplomatische Partner für den Zionismus nach der Balfour-Deklaration 1917 werden würde, sollte das britische Angebot einen vorübergehenden Zufluchtsort für die verfolgten osteuropäischen Juden und einen willkommenen Ausweg aus dem politischen Dilemma Herzls diplomatischer Bemühungen darstellen.1056 In der historischen Zionismusforschung wurde die sog. »Uganda-Kontroverse« neben Herzls Tod 1904 lange Zeit als eigentlicher Auslöser für die Spaltung der Bewegung in die Befürworter des Projekts und diejenigen, die das Projekt ablehnten, und für die allgemeine Krise der ZO zu Beginn des 20. Jahrhunderts gesehen.1057 Veröffentlichungen jüngeren Datums wie diejeni1052 Vgl. Herzl, Judenstaat, S. 39–41. 1053 Vgl. Protokoll 1903, S. 8. 1054 Noch im Februar 1902 hatte der Sultan Herzl das alternativlose, nicht akzeptable Angebot gemacht, dass eine limitierte Anzahl von Juden in die osmanischen Provinzen Mesopotamien und Kleinasien einwandern dürfe, welche jedoch die osmanische Staatsbürgerschaft annehmen und den Wehrdienst für das Osmanische Reich leisten müssten. Die Gespräche im Juli 1902 verliefen völlig ergebnislos. Vgl. Protokoll 1903, S. 6. Vgl. auch Meybohm, Wolffsohn, S. 175. 1055 Vgl. dazu auch Meybohm, Wolffsohn, S. 145. 1056 Vgl. dazu auch ebd., S. 183. 1057 Vgl. noch Vital, Formative Years, S. 349. David Vital beurteilt die »Uganda-Kontroverse« als die weitreichendste Debatte für das zionistische Kollektiv, welche sich sowohl gra-

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gen Michael Heymanns und Ivonne Meybohms bemerken jedoch treffend, dass die Krise vielmehr als »Indikator für das Ausmaß der inneren Zerrissenheit der Organisation«1058 oder als vorübergehender Höhepunkt der innerzionistischen Oppositionsbildung gegen Herzl und die gefühlte programmatische Inhalts- und Zukunftslosigkeit des politischen Zionismus selbst gesehen werden müsse.1059 Der gewohnten Strategie der ›Meinungsfreiheit‹ im Zionismus folgend, erschienen in der Jüdischen Rundschau wie in der Die Welt und in Ost und West zunächst einige Beiträge, die den Lesern, zum Teil mithilfe von Kartenmaterial, das Gebiet Britisch-Ostafrikas und damit das mögliche Territorium einer zukünftigen zionistischen Besiedlung vorstellen sollten.1060 Im Mittelpunkt standen in der Jüdischen Rundschau jedoch Kommentare, welche sich mit den verschiedenen Positionen auseinandersetzten und sich in Befürworter und Gegner des britischen Angebots spalteten.1061 So erschien bereits am 25. August 1903 unter dem Titel »God save the English King!« ein Leitartikel von Heinrich Loewe.1062 Loewe, der selbst am Kongress teilnahm und von dort in der Jüdischen Rundschau berichtete, verteidigte darin das Angebot der britischen Regierung und forderte die »sachliche Prüfung« des Vorschlags, auch wenn er betonte, dass Ostafrika wie El-Arisch nicht den Rang Palästinas für die zionistische Idee einnehmen und das Ziel der zionistischen Besiedlung im Sinne des »Baseler Programms« ersetzen könne. Die alternativen Siedlungs- und Kolonisationsprojekte seien jedoch – als Zwischenstufe sozusagen – durchaus zulässig, da sie den osteuropäischen Juden die vorübergehende Befreiung vom »eisernen Ofen von Kischinew«1063 bringen könnten. Die Besiedlung Ostafrikas stelle zwar keinen Zionismus im eigentlichen Sinne, aber eine willkommene »Kraftstation« dar und bilde als »Heimat für die Gegenwart« durch die millionenfache Rettung von Juden die notwendige nationaljüdische Voraussetzung für die »Heimat der Zukunft«.1064

1058 1059 1060

1061 1062 1063 1064

vierend auf die Ideologie des Zionismus als auch auf die zionistische Arbeit ausgewirkt hätte. Meybohm, Wolffsohn, S. 176. Vgl. Heymann, Uganda, Bd. 2, S. 18; Heymann, State, S. 210–237; Meybohm, Wolffsohn, S. 176f. Vgl. [Heinrich Loewe] Das Ostafrikanische Projekt des sechsten Kongresses, in: JR, VIII. Jg., Nr. 43 (23. 10. 1903), S. 453–455, hier S. 453. Auch in der Die Welt wurde unter dem Titel »Zion und Ostafrika« eine eigene Rubrik eingerichtet. Vgl. Zion und Ostafrika, in: Die Welt, 25. 09. 1903, S. 3. Vgl. Toeppen, Kurt: Das Gebiet des projektierten Judenstaates in Ostafrika, in: Ost und West 9/10 (1903), Sp. 681–704. Zum Verlauf der Debatte mit einem Schwerpunkt auf Heinrich Loewe vgl. ausführlich Schlöffel, Loewe, S. 240–248. Vgl. Loewe, Heinrich: God save the English King, in: JR, VIII. Jg., Nr. 35 (25. 08. 1903), S. 368. Ebd. Ebd.

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Im Lauf der Verhandlungen auf dem Kongress änderte Loewe jedoch seine Meinung1065 und schloss sich den sog. »Nein-Sager[n]«1066 an, welche die zionistische Besiedlung Ostafrikas als Verstoß gegen das »Baseler Programm« und damit den Kern des zionistischen Nationalismus werteten und brüsk ablehnten.1067 Nicht wenige Zionisten drohten, die Organisation zu verlassen, sollte Palästina nicht als einziger Ort einer zukünftigen zionistischen Besiedlung festgelegt werden.1068 Die ursprüngliche Unterstützung des britischen Angebots, die Loewe mit vielen Kongressabgeordneten teilte, ist wohl auch auf den Autorität beanspruchenden Führungsstil Theodor Herzls zurückzuführen, als Folge dessen sich viele Zionisten seinem Vorschlag im ersten Moment automatisch verpflichtet fühlten.1069 Aus einem Redebeitrag Loewes auf dem Kongress, der eine Apologetik seiner Ansichten darstellt, geht hervor, dass Loewes Meinungsumschwung, wie Schlöffel betont, wohl in erster Linie auf »die meinungsbildende Energie […], die von der Raumkonstellation Kongress ausging«1070, zurückgeführt werden kann.1071 Inzwischen hatte sich das Lager der ›Nein-Sager‹, das sich zunächst größtenteils aus osteuropäischen Zionisten zusammengesetzt hatte, merklich verbreitert, wobei ein Teil der Opposition nach der erfolglosen Ablehnung des Antrags zur Einsetzung einer Ostafrika-Kommission die Verhandlungen verließ.1072 Auch Elias Auerbach brachte Ende Oktober 1903 seine Ablehnung des britischen Angebots in einem Artikel in der Jüdischen Rundschau zum Ausdruck, der lose auf einem Referat, das er vor der BZV gehalten hatte, beruhte.1073 Auerbach polemisierte darin gegen das Ostafrika-Projekt, das in seinen Augen zwar einen beachtlichen realpolitischen Erfolg bedeutet, aber zur Spaltung des 1065 Vgl. dazu auch Schlöffel, Loewe, S. 240f. 1066 Vgl. zum Begriff Loewe, Heinrich: Die Erben des Zionismus, in: JR, IX. Jg., Nr. 2 (08. 01. 1904), S. 11–13, hier S. 12: »Wir Neinsager, die wir die Opposition auf dem VI. Kongresse bildeten, haben gegen die Expedition nach Ostafrika gestimmt, weil wir glaubten, dass durch eine solche Unternehmung zwar niemals unsere Führer, aber womöglich manche Anhänger des Zionismus an der Konsequenz unseres Zieles hätten irre werden können.« 1067 Zur Herkunft des Begriffs »Nachtasyl« vgl. Schlöffel, Loewe, S. 241, Fn. 173. 1068 Vgl. Protokoll 1903, S. 195–207. 1069 Vgl. Loewe, Heinrich, in: Protokoll 1903, S. 201–203, hier S. 201. 1070 Schlöffel, Loewe, S. 241. 1071 Vgl. Loewe, Heinrich, in: Protokoll 1903, S. 201–203, hier S. 201: »Ich persönlich hatte unter dem machtvollen Eindrucke der Rede unseres grossen Führers an das von mir redigierte offizielle Organ der Zionistischen Vereinigung für Deutschland einen Leitartikel geschickt, in dem ich vor allem den Ausdruck des Dankes zur Geltung bringen wollte, den wir für ein Anerbieten einer Nation empfinden müssen. […] Aber die lange Verhandlung hat mich eines anderen belehrt und wohl auch alle diejenigen, die unsere Beratungen verfolgen werden […].« Vgl. dazu auch Schlöffel, Loewe, S. 241f. 1072 Vgl. Schlöffel, Loewe, S. 241. 1073 Vgl. Auerbach, Elias: Das Ostafrikaprojekt und der Palästinazionismus, in: JR, VIII. Jg., Nr. 44 (30. 10. 1903), S. 466–472.

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Zionismus in zwei Konfliktparteien geführt hätte.1074 Er argumentierte weiter, dass es nicht die Aufgabe des Zionismus sei, ein »Nachtasyl«1075 zu schaffen, welches mit einer bloßen »Wohltätigkeitskolonisation«1076 gleichzusetzen sei. Wie für viele andere deutsche Zionisten bestand auch für Auerbach zwischen Palästina und dem zionistischen Nationalismus eine enge historisch begründete, geistig-emotionale Verbindung, welche nicht ersetzt werden könne. Der »Palästinagedanke«1077, hier als Wesensmerkmal des zionistischen Nationalismus begriffen, war für Auerbach »das volkstümlichste [ist], das wir besitzen«1078 : Zionismus sei nur als »Palästinazionismus« denkbar.1079 Einen vorübergehenden Kulminationspunkt in der Oppositionsbildung gegen Herzl brachte die Charkower Konferenz im November 1903, auf der sich unter der Leitung von Menachem Ussischkin und der russischen Mitglieder des GAC das Lager der ›Nein-Sager‹ und die praktisch-zionistische Opposition gegen Theodor Herzl und Ostafrika politisch organisierte.1080 Die Teilnehmer der Charkower Konferenz, welche zum Großteil den Chowewe Zion entstammten und einen deutlichen Fokus auf die praktische Arbeit forderten, drohten mit der Errichtung einer eigenen Organisation, welche sich in Konkurrenz zu Herzls Führung stellen wollte.1081 Mit der Charakterisierung der Charkower Anhänger Ussischkins als »Dissenters«1082 und »Frondisten«1083 und ihrer kollektiven Handlungen als »Verfassungsbruch«1084 versuchte Loewe nach anfänglicher Zurückhaltung1085 ihre politischen Ansprüche zu disqualifizieren und forderte 1074 1075 1076 1077 1078 1079 1080 1081 1082 1083 1084 1085

Vgl. ebd., S. 466. Ebd., S. 466. Ebd., S. 468. Ebd., S. 467. Ebd. Ebd., S. 466. Vgl. hierzu Loewe, Tagung, S. 133.; ders.: Der Streit im Grossen Aktionskomitee, in: JR, VIII. Jg., Nr. 16 (22. 04. 1903), S. 161. Vgl. auch Schlöffel, Loewe, S. 241, 243, Fn. 184. Vgl. Maarabi [Loewe, Heinrich]: Die Konferenz zu Charkow, in: JR, IX. Jg., Nr. 3 (15. 01. 1904), S. 22f. Nachbemerkung der Redaktion zu Tschernichoff, M. (Odessa): Das ostafrikanische Projekt des sechsten Zionistenkongresses. XII. Ein Wort an die Neinsager en chef, in: JR, IX. Jg., Nr. 4 (22. 01. 1904), S. 31–33, hier S. 33. Loewe, Tagung, S. 133; ders., Streit, S. 161; ders., Erben, S. 12. Loewe, Tagung, S. 133. Vgl. dazu ausführlich Schlöffel, Loewe, S. 243, Fn. 184. Schlöffel beschreibt treffend, dass die Jüdische Rundschau im Vergleich zur Welt (vgl. Die Charkower Konferenz, in: Die Welt, 25. 12. 1903, S. 4f.) nicht unmittelbar und direkt gegen die Konferenz und ihre Resolutionen polemisierte. Vielmehr entgegnete die Redaktion den Charkower Beschlüssen implizit, indem sie ihrem Abdruck aus Ha-Sefirah (vgl. Maarabi, Konferenz) das stenographische Protokoll einer Versammlung von Warschauer und Łjdz´er Zionisten gegenüberstellte, die Ende 1903 in Warschau den Charkower Beschluss für »illegal« befunden hatten (vgl. Protokoll der Vertrauensmänner-Beratungen, die am 23. November (6. Dezember) 1903 in Warschau stattgefunden hat, in: JR, IX. Jg., Nr. 3 (15. 01. 1904), S. 23f.).

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den Leser der Jüdischen Rundschau zur unbedingten Treue gegenüber dem »Baseler Programm« auf.1086 Zur Bekräftigung ihrer Thesen reproduzierten Loewe und die Jüdische Rundschau, nachdem die zionistische Expedition nach Britisch-Ostafrika1087 aufgebrochen war, seit Anfang 1905 den Topos des ›Landsuchers‹1088, um die Position des Territorialismus1089, der aus den ›Ja-Sagern‹ hervorgegangen war, vor dem Siebten Zionistenkongress öffentlich zu delegitimieren.1090 Die Figur des ›Landsuchers‹ hatte bereits Davis Trietsch auf dem Sechsten Zionistenkongress in der Form der Tätigkeitsbeschreibung des ›Suchens‹ in der ›Landfrage‹ vorgezeichnet.1091 Auffällig ist auch die Charakterisierung der Territorialisten als »Halbzionisten«1092, »Mitläufer«1093 und als »Mischehe von Zionismus und Assimilation, die unfruchtbar bleiben wird«1094, womit Loewe die Opposition Herzls als biologisch wie geistig ›minderwertig‹ abqualifizierte.1095 Die Diffamierung der Territorialisten als ›Landsucher‹ missfiel jedoch dem Presseausschuss der Zeitung, der weitere Beiträge, die sich der Figur widmeten,

1086 Vgl. Loewe, Tagung, S. 133; ders., Erben, S. 12. 1087 Vgl. Alroey, Journey, S. 32–37; Schlöffel, Loewe, S. 245. 1088 Nach Schlöffel, Loewe, S. 245f. rekurrierte diese Figur auch auf die Metapher des ›wandernden Juden‹, der ursprünglich im antijüdischen und im antisemitischen Diskurs entwickelt wurde. Loewe verknüpfte das Bild des »rastlosen«, niemals zur Ruhe kommenden Wanderers gekonnt mit den zionistischen Territorialisten, welche auf der Suche nach einem alternativen Siedlungsgebiet waren. Vgl. dazu auch ben Zwi Kleniec, Selman: Der ewige Jude in Basel, in: JR, VIII. Jg., Nr. 49 (04. 12. 1903), S. 526f., hier S. 527. 1089 Zum Territorialismus vgl. Alroey, Gur : Zionism without Zion. The Jewish Territorial Organization and its Conflict with the Zionist Organization, Detroit 2016; Glover, David: Imperial Zion. Israel Zangwill and the English origins of Territorialism, in: Bar-Yosef, Eitan/Valman, Nadia (Hg.): ›The Jew‹ in Late Victorian and Edwardian Culture: Between the East End and East Africa, Basingstoke 2009, S. 131–143. Die Entstehung der Jewish Territorial Organization (ITO) muss in einem engen Zusammenhang mit der pessimistischen Wahrnehmung der Zukunft der osteuropäischen Juden durch die Territorialisten im Kontext der antisemitischen Pogrome der Jahre 1903 bis 1905 im Russischen Reich betrachtet werden. Im Gegensatz zu den oben beschriebenen Fraktionen spalteten sich die Territorialisten unter Führung des britischen Zionisten Israel Zangwill (1864–1926) von der ZO ab, um ihrer eigenen politischen Linie einer Erlangung eines beliebigen Territoriums für die jüdische Besiedlung nachzugehen. Die ITO löste sich im Jahr 1925 auf (vgl. Alroey, Zionism). 1090 Vgl. Loewe, Heinrich: Die Landsucher, in: JR, X. Jg., Nr. 3 (20. 01. 1905), S. 23–25; ders.: Von den Landsuchern, in: JR, X. Jg, Nr. 4 (27. 01. 1905), S. 39f. Vgl. dazu ausführlich Schlöffel, Loewe, S. 245f. 1091 Vgl. Trietsch, in: Protokoll 1903, S. 43f. 1092 Loewe, Landsuchern, S. 39. 1093 Loewe, Landsucher, S. 23. 1094 Loewe, Landsuchern, S. 40. 1095 Vgl. dazu auch Schlöffel, Loewe, S. 246.

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verbot, darunter auch einen Artikel von Davis Trietsch.1096 Dennoch wurde die Figur des ›Landsuchers‹ weiter produziert, wie in der Auseinandersetzung zwischen Leib Estermann und Elias Auerbach um von Auerbach aufgestellte, für den Zionismus grundlegende Leitsätze, über die aus seiner Sicht ›Einigkeit‹ im zionistischen Kollektiv herrsche. Auerbach betonte erneut, dass das OstafrikaProjekt reine »Notstandsarbeit« sei und daher mit den provisorischen Maßnahmen der philanthropischen Akteure verglichen werden könne.1097 Die Territorialisten müssten daher, so Auerbach, um eine Mehrheit des Territorialismus auf dem kommenden Zionistenkongress zu vermeiden, aus der ZO ausgeschlossen werden,1098 was Estermann als autoritäre Haltung kritisierte.1099 Im Umfeld des Siebten Zionistenkongresses im August 1905 in Basel, auf dem das Ostafrikaprojekt offiziell abgelehnt und die verstärkte praktisch-zionistische Arbeit beschlossen wurde, wurde schließlich tatsächlich die Jewish Territorial Organization (ITO) unter Israel Zangwill als eigenständige politische Organisation gegründet.1100 Als Reaktion darauf forderte Julius Becker in Anlehnung an Auerbach von den Lesern der Jüdischen Rundschau noch einmal vehement, den »Irgendwo-Territorialismus« der »Landsucher« klar und deutlich abzulehnen.1101 Ihm entgegen stellten er und Heinrich Loewe ihre Vorstellung von »Gegenwartsarbeit«, worunter sie die Ausrichtung des zionistischen Erziehungsprogramms auf die »Heimat«1102 Palästina subsumierten. Im übergeordneten Zusammenhang ist die Haltung Loewes und vieler Beiträger in der Jüdischen Rundschau von Interesse, weil sich in der »UgandaKontroverse« zeigte, dass viele deutsche Zionisten neben dem Herzl-Mythos vor allem dem Palästinagedanken und damit dem »Palästinazionismus« die Aufrechterhaltung der Einheits- und Homogenitätsvision des zionistischen Nationalismus zuschrieben. Mehr noch: Aus Loewes Sicht stellte die »OstafrikaFrage« für viele Zionisten lediglich einen willkommenen Anlass dar, ihre unterschiedlichen Auffassungen von Zionismus vehement und offensiv in Position zu bringen und dadurch ihrer eigenen Deutung Legitimität zu verleihen:

˘

1096 Vgl. Brief von Heinrich Loewe an Arthur Hantke vom 30. 01. 1905, Sha ar Zion, Boxnr. 5; Brief von Heinrich Loewe an Davis Trietsch vom 02. 02. 1905, Sha ar Zion, Boxnr. 5. 1097 Vgl. Auerbach, Elias: Worüber wir einig sind, in: JR, X. Jg, Nr. 12 (24. 03. 1905), S. 130f., hier S. 130. 1098 Vgl. Auerbach, Elias: Zur Entgegnung, in: JR, X. Jg., Nr. 13 (31. 03. 1905), S. 144. 1099 Vgl. Leib Estermann: Worüber wir nicht einig sind, in: JR, X. Jg., Nr. 13 (31. 03. 1905), S. 143f. 1100 Vgl. Alroey, Zionism; Glover, Zion. 1101 Becker, Julius: Der VII. Kongress (2), in: JR, X. Jg., Nr. 35 (01. 09. 1905), S. 440f., hier S. 441. 1102 Loewe, Heinrich: Gegenwartsarbeit (1), in: JR, X. Jg., Nr. 37 (15. 09. 1905), S. 461–464, hier S. 462; ders.: Gegenwartsarbeit (2), in: JR, X. Jg., Nr. 38 (22. 09. 1905), S. 475–477.

˘

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»Das Ostafrikaprojekt musste in sich selbst den Keim zur Zersetzung des Zionismus tragen, und deshalb waren die äusseren Erfolge, die es uns verschaffte, von der Unruhe im Innern begleitet. Aber es blieb nicht beim Kampfe um Ostafrika. Alle Gegensätze, die zwischen ost- und westeuropäischen Zionisten, zwischen Palästinensern und Territorialisten, zwischen Chowewe Zion und Charteranhängern, zwischen alten und neuen politischen Zionisten tief unten im innersten Herzen existierten, wurden von Grund aus aufgewühlt und ein leidenschaftlicher Kampf entbrannte.«1103

Interessant ist hier auch die Wortwahl Loewes, indem er die diskursiven Grenzziehungen im zionistischen Kollektiv nicht nur zwischen ›Ost‹ und ›West‹, Anhängern Palästinas und Anhängern Ostafrikas bzw. alternativer Siedlungsprojekte, Philanthropen und ›politischen Zionisten‹, sondern auch innerhalb der politischen Zionisten selbst beobachtet zu haben glaubte, wobei er wohl nicht zuletzt seine eigene Position im Kopf hatte. Nur »der Größe« Herzls traute Loewe hingegen zu, »die durchbrochene Disziplin in ihrer ganzen Strenge wieder herzustellen […]«.1104 Die Synthese beider Prinzipien brachte er daher in einer Beurteilung der Tagung des Grossen Aktionskomitees auf den Punkt: »Einigkeit der Partei unter und in Herzl […], […] Palästina als das alleinige Ziel des Zionismus«.1105

2.2

Auf der Suche nach neuen ›Führern‹ und ›Programmen‹: Das zionistische Kollektiv in der ›Krise‹ (1906–1910)

Nach dem Tod Herzls im Jahr 1904 veränderten sich die Politik und die Struktur der ZO in mehrfacher Hinsicht:1106 Zum ersten wurden die politischen Gremien in Teilen reformiert und mehr Wert auf demokratische Willensbildung und Verfahrensweisen gelegt. Gleichzeitig gelang es David Wolffsohn unter seiner Präsidentschaft (1905–1911) den Grundstein zu legen für eine weitere Konsolidierung der Organisation und eine Stärkung der zionistischen Finanzen.1107 1103 Loewe, Landsucher, S. 25. Im Allgemeinen stützt diese Beurteilung der »Uganda-Kontroverse« durch Loewe die Sichtweise der oben genannten neueren Forschungen von Heymann und Meybohm, indem sie das Vorhandensein der unterschiedlichen ideologischen Strömungen bereits vor dem um »Uganda« ausgebrochenen Konflikt bestätigt bzw. diesen lediglich als verschärfendes Moment beurteilt. 1104 Loewe, Tagung, S. 133. 1105 Loewe, Streit, S. 161. Vgl. dazu auch Loewe, Heinrich: Zum Delegiertentag der deutschen Zionisten, in: JR, IX. Jg., Nr. 19 (13. 05. 1904), S. 197–199, hier S. 199. 1106 Vgl. zum Folgenden ausführlich Meybohm, Wolffsohn, S. 118–252, 340–351. 1107 Zu den strukturellen Veränderungen in den drei zionistischen Hauptgremien, dem Kongress, der als ›Legislative‹ der ZO charakterisiert werden kann, dem Engeren AktionsKomitee (EAC), das die Exekutive darstellte, und dem Großen Aktions-Komitee (GAC), das eine Stellung zwischen beiden einnahm, vgl. ebd., S. 127–140. Zur Finanzpolitik unter David Wolffsohn und der Jüdischen Kolonialbank vgl. ebd., 210–252.

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Die Konstruktion zionistischer Hybridität in der Jüdischen Rundschau

Zum zweiten wurde dem Bedürfnis der Mitglieder nach gleichmäßiger Repräsentation der verschiedenen ideologischen Richtungen im Zionismus partiell stattgegeben, indem in das ab 1905 gewählte EAC zu gleichen Teilen ›politische‹ wie ›praktische Zionisten‹ aufgenommen wurden.1108 Daneben formulierte Wolffsohn auf dem Achten Zionistenkongress 1907 in Den Haag ein neues Aktionsprogramm, das in der Praxis eine Synthese der drei großen ideologischen Strömungen im Zionismus vorschlug und je nach situativer Notwendigkeit der einen oder anderen Richtung Priorität einräumte.1109 Zum dritten änderte sich auch der politische Führungsstil an der Spitze, indem mit David Wolffsohn ein Präsident die Führung der ZO übernahm, der weniger auf ›autoritäre‹ und ›charismatische Herrschaft‹ als auf einen ›pragmatischen‹ Führungsstil1110 und ›legale Herrschaft‹1111 sowie ein ›inklusives‹ Verständnis von Zionismus, welches eine enge Zusammenarbeit mit Wohltätigkeitsorganisationen und Vereinen suchte und das zionistische Netzwerk ausbaute, setzte.1112 Diese innenpolitischen Veränderungen standen in einem engen Wechselverhältnis zu außenpolitischen, welche in erster Linie eine Folge der sich verändernden Machtverhältnisse im Osmanischen Reich durch die Jungtürkische Revolution (1908/09) waren.1113 Die Präsidentschaft David Wolffsohns wird vor diesem Hintergrund von der Historiographie auch als krisenhafte Übergangsphase gedeutet, zwischen Herzls politischem Zionismus und der Zeit ab 1911, in welcher praktisch-zionistische und kulturzionistische Ansätze die Oberhand in der ideologischen Ausrichtung 1108 Das änderte jedoch in der Praxis faktisch zunächst nur wenig daran, dass die Entscheidungen oftmals von David Wolffsohn allein oder von ihm in Absprache mit seinen persönlichen Vertrauten gefällt wurden. Vgl. ebd., S. 138. 1109 Vgl. Wolffsohn, in: Stenographisches Protokoll der Verhandlungen des VIII. ZionistenKongresses im Haag. Vom 14. Bis inklusive 21. August 1907, Köln 1907, S. 5–13, hier S. 10. Vgl. dazu auch Meybohm, Wolffsohn, S. 174f. 1110 Vgl. Meybohm, Wolffsohn, S. 149–172. 1111 Vgl. ebd., S. 152. Der Begriff der ›legalen Herrschaft‹ bezeichnet nach Max Weber einen Idealtypus von Herrschaft, welcher sich durch seine Bezugnahme auf Gesetzesquellen und rechtliche Normen legitimiert. Vgl. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 122–176. Herzl hingegen verkörperte den ›charismatischen Führer‹ (vgl. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 140–142), der in der Praxis kaum Mitspracherechte zugestand. Vgl. dazu auch Meybohm, Wolffsohn, S. 152; Reinharz, Leadership, S. 275–313. Nach Jehuda und Shulamit Reinharz sei eine charismatische Führungsfigur wie Herzl in der Konstituierungsphase der ZO notwendig gewesen. Je weiter der Konsolidierungsprozess derselben fortgeschritten sei, desto stärker sei auch die Bedeutung von charismatischer Herrschaft in der ZO gesunken (vgl. Reinharz, Leadership, S. 308). Meybohm sieht diesen Prozess kritischer, da auch nach Herzls Tod das Bedürfnis nach einer charismatischen Führungsperson weiterhin bestanden und erst allmählich abgenommen habe (vgl. Meybohm, Wolffsohn, S. 156). 1112 Vgl. dazu ausführlich Meybohm, Wolffsohn, S. 77–79. 1113 Vgl. Kap. III.2.2.2 der vorliegenden Arbeit.

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der Politik der ZO erlangten. Mit Otto Warburg (1859–1938, Präsident 1911– 1920)1114 wurde ein überzeugter praktischer Zionist zum dritten Präsidenten der ZO gewählt, der die intensive jüdische Kolonisation und die Etablierung eines kulturellen Zentrums in Palästina in den Mittelpunkt der zionistischen Arbeit rückte.1115 In der Zionismusforschung herrscht jedoch Uneinigkeit darüber, ob es sich bei den Veränderungen unter der Präsidentschaft Wolffsohns um eine völlige Neukonzeption der zionistischen Politik oder um eine Art ›organische‹ Weiterentwicklung bereits während Herzls Präsidentschaft angestoßener Tendenzen und Strukturen handelte, wobei neuere Forschungen, wie die Ivonne Meybohms, letztere These stützen.1116 Wie Meybohm glaubwürdig schlussfolgert, hätte sich in der zionistischen Bewegung bereits zu Lebzeiten Herzls eine klare Opposition gegen sein (einseitiges) diplomatisches Vorgehen und den ihm inhärenten Mangel eines klaren oder alternativen Aktionsprogrammes gebildet, die in erster Linie von osteuropäischen Zionisten, welche den Chowewe Zion entstammten oder ihnen nahestanden, getragen und erst unter Wolffsohns Präsidentschaft offen diskutiert worden sei. Des Weiteren hätte diese Opposition den als zu autoritär empfundenen Führungsstil Herzls kritisiert, der kaum Raum für politische Mitsprache gelassen hätte. David Wolffsohn sei also beim Antritt seiner Präsidentschaft vor der schweren Aufgabe gestanden, ein neues Aktionsprogramm entwickeln zu müssen, das gewissermaßen eine Synthese zwischen den verschiedenen Richtungen im Zionismus schaffen und den Bedürfnissen der Mitglieder nach größerer politischer Partizipation Rechnung tragen musste.1117 Im Mittelpunkt der folgenden Analyse stehen jedoch weniger diese realpolitischen Implikationen, sondern die subjektiven Wahrnehmungen dieser Tendenzen durch die deutschen Zionisten. Darüber hinaus soll gefragt werden, ob sich vor dem Hintergrund der angesprochenen Herausforderungen, vor die sich die ZO und ihre Mitglieder gestellt sahen, in den (hybriden) Vorstellungen von ›(zionistischem) Nationalismus‹, wie sie sich in der Jüdischen Rundschau in den Jahren 1906 bis 1910 abbildeten, eine Veränderung feststellen ließ und wie sich diese gegebenenfalls äußerte.

1114 Vgl. Leimkugel, Frank: Botanischer Zionismus. Otto Warburg (1859–1938) und die Anfänge institutionalisierter Naturwissenschaften in »Erez Israel«, Berlin 2005. 1115 Vgl. Meybohm, Wolffsohn, S. 150; Böhm, Adolf: Die zionistische Bewegung, Bd. 1: Die zionistische Bewegung bis zum Weltkrieg, Berlin 21935, S. 487. 1116 Vgl. Meybohm, Wolffsohn, S. 207–209. 1117 Vgl. ebd., S. 172–209, 340–351.

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Die Konstruktion zionistischer Hybridität in der Jüdischen Rundschau

2.2.1 Programm-, führer- und orientierungslos? Das zionistische Kollektiv nach Herzls Tod und unter Wolffsohns Präsidentschaft In den Jahren 1906 und 1907 hielt die Jüdische Rundschau zunächst am ›Einheits‹-Narrativ fest und charakterisierte den Zustand, in dem sich die zionistische Bewegung seit Herzls Tod befand, als »Dornröschenschlaf«, aus dem die Zionisten durch einen »Retter« erweckt werden müssten.1118 Heinrich Loewe spielte in seinem Artikel wohl auch auf die noch unentschiedene Nachfolge Herzls an, indem der Siebte Zionistenkongress im Juni 1905 mit David Wolffsohn, Max Nordau und Otto Warburg lediglich drei Kandidaten bestimmt hatte, unter denen einer zum neuen Präsidenten der ZO gewählt werden sollte.1119 Insgesamt erschienen in der genannten Zeit nur wenige Artikel, welche sich überhaupt mit der Frage der neuen Leitung der ZO oder den innenpolitischen Verhältnissen im Zionismus beschäftigten. Vermutlich war dies auch eine Folge der vorgeschriebenen neuen, allgemeinjüdischen Ausrichtung der Zeitung und der anhaltenden innerzionistischen Beschwerden über die Jüdische Rundschau.1120 Auffallend ist der überwiegend sachliche und ruhige Ton, in dem die wenigen Artikel, welche sich mit der Innenpolitik der ZO überhaupt beschäftigten, gehalten waren, was somit auch einen deutlichen Gegensatz zum polemischen Ton, der viele Stellungnahmen in der Ostafrika-Kontroverse gekennzeichnet hatte, darstellte. Eine Ausnahme der Mäßigung bildeten einige Artikel von Elias Auerbach, welche sich mit der ITO und Israel Zangwill beschäftigten und den Territorialismus – sozusagen aufs Neue – »tot«1121 sagten bzw. wünschten. Auf dem Achten Zionistenkongress, der vom 14. bis 21. August 1907 in Den Haag stattfand, wurde schließlich David Wolffsohn zum Präsidenten der ZO gewählt. Wolffsohn stand fortan vor der schwierigen Aufgabe, einen Mittelweg 1118 Die Redaktion der Jüdischen Rundschau: Dem zehnten Delegiertentage, in: JR, XI. Jg., Nr. 22 (01. 06. 1906), S. 317. Vgl. Eljaqim [Loewe, Heinrich]: Der zehnte Delegiertentag, in: JR, XI. Jg., Nr. 22 (01. 06. 1906), S. 318f.; L., H. [Loewe, Heinrich]: Ein neuer Jahrgang, in: JR, XII. Jg., Nr. 1 (06. 01. 1907), S. 1f. 1119 Vgl. Beschluss des A.-K., in: JR, X. Jg., Nr. 22 (02. 06. 1905), S. 253; Sachse, Heinrich [Loewe, Heinrich]: Neuer Steuermann – Alter Kurs, in: JR, X. Jg., Nr. 22 (02. 06. 1905), S. 253f.; Siebter Kongress (stenographisches Protokoll), in: JR, X. Jg., Nr. 31 (04. 08. 1905), S. 374–384. 1120 Vgl. Kap. II.3 und II.4 der vorliegenden Arbeit; Sitzung des Zentralkomitees der Zionistischen Vereinigung für Deutschland in Berlin vom 29. Oktober 1905 [Protokoll], in: JR, X. Jg., Nr. 44 (03. 11. 1905), S. 567, hier ebd., Absatz Nr. 5: »Das Z.-K. rügt den oft unangemessenen Ton der Jüdischen Rundschau und ersucht den Pressausschuss, Abhülfe zu schaffen.« 1121 Auerbach Elias: Die Entwicklung der Ito, in: JR, XII. Jg., Nr. 2 (11. 01. 1907), S. 15–17; ders.: Ein Ito–Politiker, in: JR, XII. Jg., Nr. 6 (08. 02. 1907), S. 55. Vgl. dazu auch Zangwill, Triumphator, in: JR, XIII. Jg., Nr. 19 (08. 05. 1908), S. 161f.; Anon.: Zangwill, in: JR, XIII. Jg., Nr. 37 (11. 09. 1908), S. 361f.

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zwischen einem politischen Zionismus, wie in Herzl im Konzept der Charteridee vertreten hatte, und einem praktischem Zionismus wie ihn vor allem Menachem Ussishkin (1863–1941) und seine Anhänger propagierten,1122 zu finden.1123 Dass mittlerweile zumindest in Teilen auch die Redaktion der Jüdischen Rundschau der (realpolitischen) Einsicht Rechnung trug, dass die praktische Opposition nicht länger in der Breite der Artikel in der Zeitung unberücksichtigt bleiben konnte, zeigte sich an einigen Artikeln, die unmittelbar vor dem Achten Zionistenkongress erschienen und das praktisch-zionistische Konzept der »Palästinaarbeit« aufgriffen.1124 Darin wurden die deutschen Zionisten jedoch zugleich davor gewarnt, dass der neue Weg des Zionismus nicht einen Rückfall in die »Kleinkolonisation«1125 des Chowewe Zionismus bedeuten dürfe. Richard Lichtheim sprach in einem Artikel, der im Mai 1907 veröffentlicht wurde, gar von dem »Wahn« der praktisch-zionistischen Opposition, dass die praktische die politische Arbeit jemals in ihrer Bedeutung marginalisieren oder verdrängen könne und dem die deutschen Zionisten daher auf keinen Fall erliegen dürften.1126 Ihm stimmte ein Autor unter dem Pseudonym »Democratissimus« in seinem Artikel, der im November 1907, also bereits nach dem Kongress, erschien, zu und forderte darin die unbedingte Priorität der politischen Arbeit.1127 Heinrich Loewe entwickelte in einer fünfteiligen Artikelreihe unter dem Titel »Gegenwartsarbeit in Palästina« ein eigenes Konzept von praktischem Zionismus im Sinne des »Baseler Programms«:1128 Den Begriff der »Gegenwartsarbeit«, der von Martin Buber auf die zuvor beschriebene »kulturelle Renaissance« geprägt worden war, erweiterte Loewe durch das Konzept der »Volkspolitik«,

1122 Vgl. Bilz, Hovevei Zion; Vital, Origins, S. 65–229; Meybohm, Wolffsohn, S. 43. 1123 Zur Berichterstattung zum Achten Zionistenkongress in der Jüdischen Rundschau vgl. JR, XII. Jg., Nr. 34 (23. 08. 1907) und Nr. 36 (06. 09. 1907). Vgl. dazu auch Auerbach, Elias: Nach dem achten Kongress, in: JR, XII. Jg., Nr. 36 (06. 09. 1907), S. 371f. 1124 Vgl. z. B. Sachse, Heinrich: Nach Palästina, ins Judenland, in: JR, XI. Jg., Nr. 31 (03. 08. 1906), S. 455–458; Weil, S.: Vom VII. zum VIII. Kongress. Ein Rückblick und Ausblick, in: JR, XII. Jg., Nr. 32 (09. 08. 1907), S. 326–328. 1125 Sachse, Palästina, S. 456. 1126 Lichtheim, Richard: Das Problem der Gegenwartsarbeit, in: JR, XII. Jg., Nr. 18 (03. 05. 1907), S. 180–182, hier S. 181. 1127 Vgl. Democratissimus: Endziel und reale Arbeit, in: JR, XII. Jg., Nr. 45 (08. 11. 1907), S. 483f. 1128 Vgl. Loewe, Heinrich: Gegenwartsarbeit in Palästina (1), in: JR, XII. Jg., Nr. 28 (12. 07. 1907), S. 285–287; ders.: Gegenwartsarbeit in Palästina (2), in: JR, XII. Jg., Nr. 29 (19. 07. 1907), S. 293–295; ders.: Gegenwartsarbeit in Palästina (3), in: JR, XII. Jg., Nr. 30 (26. 07. 1907), S. 303–306; ders.: Gegenwartsarbeit in Palästina (4), in: JR, XII. Jg., Nr. 31 (02. 08. 1907), S. 313–316; ders.: Gegenwartsarbeit in Palästina (5), in: JR, XII. Jg., Nr. 32 (09. 08. 1907), S. 324–326.

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worunter er eine Symbiose aus diplomatischen, ökonomischen und kulturellen Faktoren verstand.1129 Im Anschluss an den Achten Zionistenkongress erschien schließlich eine Reihe von Artikeln, die sich dezidiert dem Kongressgeschehen und den Beschlüssen des Kongresses widmeten. Darunter beschäftigte die Autoren vor allem die Rolle der deutschen Landsmannschaft und ihre Haltung zur neuen Leitung sowie zur angedeuteten neuen programmatischen Ausrichtung der ZO.1130 In seinem Artikel über den Achten Kongress kommentierte Elias Auerbach nüchtern die »dreiteilige Arbeit«, welche der Kongress in Aussicht gestellt hatte, wobei er die Tendenz der neuen Leitung unter David Wolffsohn, ein Ineinandergreifen von politischem, praktischem und Kulturzionismus zu befördern,1131 für wenig überraschend hielt.1132 Julius Simon bedauerte, dass die deutsche Landsmannschaft im Vergleich zu früheren Kongressen auf dem Achten Zionistenkongress nur eine marginale Rolle gespielt hätte. Die deutliche Parteinahme der deutschen Zionisten zugunsten David Wolffsohns, im Besonderen die »schrankenlose Hingabe an den neuen Führer« der ZO und die »Disziplin«, die sie auf dem Kongress unter Beweis gestellt hätte, lobte er jedoch ausdrücklich.1133 In der sich an Julius Simons Artikel anschließenden Diskussion über die Stellung der deutschen Landsmannschaft auf dem Kongress und damit im Weltzionismus, an der sich u. a. Elias Auerbach und Adolf Friedemann beteiligten,1134 zeigte sich erneut die Überlagerung von programmatischen Fragen mit dem ›Ost‹-›West‹-Diskurs im Zionismus. In Bezug auf ideologische Grundsatzfragen wurde in den Beiträgen weiterhin an der Priorität der politischzionistischen Arbeit festgehalten, welche über der praktisch-zionistischen Ar-

1129 Vgl. ebd.; Buber, Renaissance; Buber, Martin: Gegenwartsarbeit, in: Die Welt, 08. 02. 1901, S. 4f., hier S. 4. 1130 Vgl. dazu auch Sachse, Heinrich: Die neue Arbeit, in: JR, XII. Jg., Nr. 38 (20. 09. 1907), S. 405f. 1131 Dass sich beide Positionen hingegen nicht ausschlössen und vielmehr eng aufeinander aufbauten, betonte David Wolffsohn in einer Rede anlässlich eines Banketts in Wilna zu seinen Ehren am 15. 07. 1908. Vgl. Wolffsohn, David [Rede], abgedruckt in: JR, Nr. 31 (31. 07. 1908), S. 295: »Wir sind weder ausschließlich praktische, noch ausschließlich politische Zionisten. Nein, wir sind praktische Zionisten und politische Zionisten zugleich. Chibbat Zion und politischer Zionismus unterscheiden sich nicht wie etwas Wesentliches von etwas Nebensächlichem, sie gehören zusammen, wie Seele zu Körper. Es kann das eine nicht ohne das andere existieren.« 1132 Vgl. Auerbach, Elias: Nach dem achten Kongress, in: JR, XII. Jg., Nr. 36 (06. 09. 1907), S. 371f. 1133 Simon, Julius: Kongress und deutsche Landsmannschaft, in: JR, XII. Jg., Nr. 36 (06. 09. 1907), S. 327f. 1134 Vgl. Auerbach, Elias: Die deutsche Landsmannschaft im Zionismus, in: JR, XII. Jg., Nr. 37 (13. 09. 1907), S. 390–393; Friedemann, Adolf: Der Kongress und die deutsche Landsmannschaft, in: JR, XII. Jg., Nr. 39 (27. 09. 1907), S. 425f.

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beit stehe und durch die neuen Schwerpunkte keineswegs überflüssig geworden sei.1135 Demgegenüber mehrten sich während des Jahres 1908 und noch zu Beginn des Jahres 1909 solche Beiträge, in denen die Autoren betonten, dass zwischen politischem und praktischem Zionismus kein Gegensatz mehr bestehe und dass die Grundkonflikte, welche die Bewegung in den Jahren zuvor geprägt hatten, nun der Vergangenheit angehörten.1136 Die Synthese aus politischem und praktischem Zionismus, die im Schlagwort des ›synthetischen Zionismus‹ ihre programmatische Formulierung fand, wurde nunmehr als große Errungenschaft des Achten Zionistenkongresses ausgewiesen.1137 Auch wurde nun erneut Artikeln, welche sich den Prinzipien eines praktisch-kulturellen Zionismus widmeten, größerer Raum eingeräumt.1138 Insgesamt wurde die programmatische Debatte in der zweiten Hälfte des Jahres 1908 jedoch von der Diskussion über die Frage, wie die ZO ihr Verhältnis zu den jüdischen Wohltätigkeitsorganisationen und Hilfsvereinen gestalten sollte, vorübergehend in den Hintergrund gedrängt.1139 Zwischen Herbst 1908 und dem Neunten Zionistenkongress, der Ende Dezember 1909 stattfand, wurden in der Jüdischen Rundschau – meist im Kontext der Debatte über die Abänderung des »Baseler Programms«, welche im folgenden Kapitel ausführlich betrachtet wird – einige Artikel veröffentlicht, die sich kritisch gegenüber der Haltung der politischen Führung in Programmfragen sowie in Fragen der Reform der ZO äußerten. So erschien bereits im September 1908 angesichts der parallel ablaufenden Diskussion über Reformen in der ZO ein Artikel Heinrich Loewes, in dem der Autor seine Sicht einer Zustandsbeschreibung des zionistischen Kollektivs gab.1140 Der Artikel begann damit, dass Loewe die Herausforderung einräumte, vor welcher die neue politische Leitung der ZO stehe, die das ›große Erbe‹ Herzls antreten und erst ihren eigenen Weg und politischen Führungsstil finden müsse.1141 Den besonderen 1135 Vgl. Democratissimus, Endziel. 1136 Vgl. Lichtheim, Richard: Die Forderung des Tages, in: JR, XIII. Jg., Nr. 25 (19. 06. 1908), S. 234f.; Der politische Zionismus von heute [Vortrag von Aaron Sandler, Breslau, 21. 01. 1909], in: JR, XIV. Jg., Nr. 5 (29. 01. 1909), S. 54, 56. 1137 Vgl. Heymann, H. G. [Hans Gideon]: Die Lage der Zionistischen Bewegung, in: JR, XIII. Jg., Nr. 24 (21. 08. 1908), S. 327f. 1138 Vgl. z. B. Die kulturellen Aufgaben in Palästina. Auszug aus der Rede von Dr. Schemarjah Lewin am 11. Deutschen Delegiertentag in Breslau, in: JR, XIII. Jg., Nr. 26 (26. 06. 1908), S. 243–245; Simon, Julius: Diskussion über den Delegiertentag, in: JR, XIII. Jg., Nr. 27 (03. 07. 1908), S. 255f.; G., M. (Odessa): Die Konferenz der russischen Chowewe Zion, in: JR, XIV. Jg., Nr. 7 (12. 02. 1909), S. 73f. 1139 Vgl. dazu ausführlich Meybohm, Wolffsohn, S. 77–79. 1140 Sachse, Heinrich: Der alte Kurs im neuen Gleise, in: JR, XIII. Jg., Nr. 38 (18. 09. 1908), S. 373–375. 1141 Vgl. ebd., S. 373.

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Beitrag der bisherigen deutschen Führungspersönlichkeiten im Weltzionismus glaubte Loewe in der vorbildhaften, funktionierenden »Verwaltung und Ordnung«1142 zu finden, von welcher eine große Vorbildwirkung auf die anderen Landsmannschaften ausgegangen sei. Dennoch dürfe die Leitung vor lauter »Verwaltung« und »Ordnung« die eigentlichen »Ideen« hinter dem Zionismus, welche im Besonderen die Jugend und die breite Masse der Bewegung verkörperten, nicht vergessen,1143 der Zionismus dürfe nicht zu einer bloßen »gut geleitete[n] Verwaltungsmaschinerie […] werden, die in der Verwaltung und nicht in der Bewegung ihr Prinzip«1144 habe. Obwohl »die geniale Person des Gründers unserer Organisation nicht mehr an unserer Spitze steht«, zeigte sich Loewe hoffnungsvoll, dass die neue Leitung »die ganze Schwere ihrer Pflichten zum Bewusstsein bringt«1145. Loewes Worte vermitteln den Eindruck, dass er den Zionismus, wie er von der neuen politischen Leitung der ZO nach innen wie außen propagiert wurde, für nur unzureichend ideologisch unterfüttert hielt und dass er sich eine dringende Verschiebung der aktuellen Handlungsschwerpunkte der Leitung von ›technischen‹ hin zu ›ideologischen‹ Schwerpunkten wünschte. Dass die Grundkonflikte, welche zu Beginn des 20. Jahrhunderts die ZO erschütterten, nicht zuletzt der scheinbaren Inhaltsleere der gegenwärtigen Form von zionistischem Nationalismus und dem Mangel einer klaren Führungslinie der politischen Leitung attribuiert wurden, zeigt ein weiterer Beitrag von Richard Lichtheim, der ein gutes Jahr nach Loewes Beitrag im Oktober 1909 in der Jüdischen Rundschau erschien: »Wer sich die Mühe gibt, die Aeusserungen der zionistischen Presse über die aktuellen Parteiprobleme regelmässig zu verfolgen, wer aus den Worten unserer Führer und Versammlungsredner die herrschende Auffassung über die Grundfragen des Zionismus zu erkennen sucht, wird bald zu einem unerfreulichen Ergebnis kommen: Zu keiner Zeit, seit der Schaffung der zionistischen Bewegung hat solche Unklarheit und Verwirrung in den Reihen der Zionisten geherrscht, wie heute. […] Es ist wohl war : Parteikämpfe hat es im Zionismus immer gegeben. ›Praktische‹ und ›Politische‹, Zione-Zion und Territorialisten. Anhänger der ›demokratischen Fraktion‹ und der Orthodoxie haben sich stets bekämpft. Aber man sah doch hinter diesen Press- und Kongressfehden gewisse Grundanschauungen geschlossener Gruppen hervorleuchten, die die Gegensätze erklärten und damit zugleich die Möglichkeit einer Verständigung erkennen ließen. Heute ist von Parteikämpfen kaum etwas zu spüren. Niemand weiss, was der Zionismus eigentlich will und nur gelegentlich äußert dieser oder jener in unverbindlicher Form seine Ansicht vom Stand der Dinge. […] Die Leitung aber 1142 1143 1144 1145

Vgl. ebd. Ebd. Ebd., S. 374. Ebd.

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schweigt. […] Durch die Gleichgültigkeit gegenüber allen theoretischen Erörterungen und programmatischen Forderungen, durch diese Vernachlässigung des zionistischen Publikums, das angesichts der herrschenden Unklarheit stumpf und gleichgültig wird, laden unsere Führer eine schwere Verantwortung auf sich.«1146

Gerade in diesem gegenwärtigen Mangel einer eigenen, eindeutigen Programmatik und klaren Führungslinie glaubte Lichtheim auch den großen Unterschied zwischen dem Zionismus unter Herzl und dem unter der jetzigen Leitung der ZO unter David Wolffsohn und den Mitgliedern des GAC auszumachen, wobei er letztere an ihre politischen Pflichten erinnerte: »Es mag sein, dass der Zionismus sich entwickelt hat, dass Herzls Anschauungen in manchen Punkten revidiert werden mussten. Sein Zionismus aber war aus einem Guss, er bedeutete die Synthese des jüdischen Nationalgedankens mit den praktischen Forderungen des Tages. Diese Synthese vollzog Herzl durch ein klar formuliertes Aktionsprogramm, welches er den ›politischen Zionismus‹ nannte. Zu unserem tiefen Schmerze müssen wir heute seine glänzende Darstellungskunst, seine einfachen und lichtvollen Formulierungen des zionistischen Gedankenkreises entbehren. […] Dringend not tut uns solch ein klares Programm. Unzählige Anzeichen beweisen die allgemeine Ratlosigkeit im zionistischen Lager und deuten auf eine Verwirrung der Geister, die den Fortschritt unserer Bewegung hemmen muss. Der IX. Kongress naht! Mögen die Führer des Zionismus endlich sprechen! Wir fordern nicht die Enthüllung politischer Geheimnisse, aber wir fordern eine deutliche Stellungnahme zu den Prinzipienfragen der Bewegung. Die Mitglieder des grossen Aktionskomitees, die noch vor dem Kongress zusammentreten, mögen sich ihrer Führerpflicht erinnern und die Fundamente des politischen Zionismus vor jeder Erschütterung bewahren.«1147

Sowohl der Beitrag Loewes als auch der Beitrag Lichtheims zeugen von einem Gefühl der allgemeinen Orientierungs-, Inhalts- und Programmlosigkeit, das deutsche Zionisten nach dem Tod Herzls empfanden und auf das sie verbindliche Antworten von der politischen Führung der ZO hinsichtlich der programmatischen Ausrichtung von Zionismus erwarteten. Lichtheim berief sich in seinem Artikel dezidiert auf den politischen Zionismus Herzls, der aus seiner Sicht durch Übersichtlichkeit und Verständlichkeit und daher auch Verbindlichkeit, Nachhaltigkeit sowie Integrität gekennzeichnet war. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang auch ein Artikel des konservativen Intellektuellen und deutschen Zionisten Gustav Witkowskys1148, der im September 1909 erschien und in dem der Zustand der zionistischen Bewegung 1146 Lichtheim, Richard: Entwirrung. 1. Führerpflicht, in: JR, XIV. Jg., Nr. 40/41 (05. 10. 1909), S. 450. 1147 Ebd. 1148 Vgl. Witkowsky, Gustav : Der IX. Kongress. Zur neuesten »Krisis« im Zionismus, in: JR, XIV. Jg., Nr. 37/38 (15. 09. 1909), S. 428f. Zu Gustav Witkowsky vgl. Pulzer, Peter : Die Reaktion auf den Antisemitismus, in: Lowenstein u. a., Integration, S. 249–277, hier S. 266.

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mit dem Deutungsmuster einer ›Krise‹ interpretiert wird.1149 Mit seiner »Anschauung einer spezifisch zionistischen Krisentheorie«1150 griff Witkowsky das zeitgenössisch weit verbreitete Deutungs- und Wahrnehmungsmuster der ›Krise‹ auf, das hier auf den zionistischen Nationalismus projiziert wird.1151 Nach Witkowsky hatte sich die »Krisenhaftigkeit« geradezu zu einem Wesensmerkmal des Zionismus entwickelt und das zionistische Kollektiv in einen krisengeplagten ›nationalen Gemeinschaftskörper‹ verwandelt, dessen innere Harmonie und Balance es auf das Dringendste wieder herzustellen galt: »Dem nur sachlich Interessierten kann es nicht entgehen, wie wir mit übermoderner Geschwindigkeit von einer Krise in die andere geraten. Fast scheint der kritische Zustand die einzig permanente Lebensform unserer Bewegung, ihr Gleichgewicht ein labiles zu sein, aus dem die schon durch leise Erschütterungen gebracht werden kann. Man müsste sich schon zu der Meinung bereit finden, dass in einem kurzen Zeitraum zufällig elementare Ereignisse in wunderbarer Weise sich gehäuft haben, wenn man die Schwäche unserer Position nicht selbst anerkennen will. Jedenfalls scheint es mir die Pflicht eines jeden Zionisten zu sein, sich ernstlich mit diesen Fragen zu beschäftigen, gerade in einem Zeitpunkt, der uns wieder einer neuen Krise zuzuführen scheint.«1152

Witkowskys Beitrag belegt, dass die realen Krisenprozesse, welche die ZO seit der Jahrhundertwende im Allgemeinen und nach Herzls Tod im Besonderen prägten, von deutschen Zionisten als einschneidend und elementar empfunden werden konnten. Für Witkowsky bildete vor allem die »Reizbarkeit«1153 ein zentrales Merkmal des zionistischen Kollektivs, das nicht zuletzt an die von der historischen Forschung diagnostizierte »Nervosität« der wilhelminischen Gesellschaft insgesamt erinnert.1154 Die vermittelte oder erlebte Erfahrung der ›Krise‹, mit der Witkowsky den gegenwärtigen Zustand des zionistischen Nationalismus charakterisierte, mag auch ein Ausdruck dafür gewesen sein, dass 1149 Vgl. Witkowsky, Kongress, S. 428. 1150 Ebd. 1151 Vgl. Koselleck, Krise; Vierhaus, Rudolf: Krise, in: Jordan, Stefan (Hg.): Lexikon Geschichtswissenschaft. Hundert Grundbegriffe, Stuttgart 2002, S. 193–197; Hardtwig, Wolfgang: Einleitung, in: Ders. (Hg.): Ordnungen in der Krise. Zur politischen Kulturgeschichte Deutschlands 1900–1933 (Ordnungssysteme. Studien zur Ideengeschichte der Neuzeit; Bd. 22), München 2007, S. 11–17. Nach Koselleck, Krise, S. 617, und Vierhaus, Krise, S. 193, muss das Deutungsmuster ›Krise‹ im ›langen‹ 19. Jahrhundert primär als Ausdruck einer neuen Zeitwahrnehmung interpretiert werden, welche durch gesamtgesellschaftliche, beschleunigte Transformationsprozesse der eigenen Erfahrungs- und Deutungswelt(en) verursacht wurde. Entscheidend war dabei jedoch weniger die Existenz ›objektiver‹, ›realer‹ Auslöser, sondern das Vorhandensein eines individuellen, subjektiven Krisenbewusstseins, das in diesem Kontext als Wahrnehmungs- und Deutungsmuster gesehen wird, wie etwa Hardtwig, Einleitung, S. 12, betont. 1152 Witkowsky, Kongress, S. 428. 1153 Ebd. 1154 Radkau, Nervosität. Vgl. dazu auch Kap. III.1.2 und III.1.3 der vorliegenden Arbeit.

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die mittlerweile offen geäußerte Kritik am dezidiert politischen Zionismus und seiner Homogenitätsutopie von einigen Zionisten selbst als wesens- oder bestandsverändernd und daher als besorgniserregend wahrgenommen wurde. Zumindest suchten sie noch nach geeigneten Möglichkeiten, sich selbst in den ablaufenden Grenzziehungsprozessen zu positionieren. Als Krisenbewältigungsstrategie empfahl Witkowsky abzuwarten und an den fundamentalen Grundlagen, die der Erste Zionistenkongress gesetzt hatte, festzuhalten.1155 Dass die Jüdische Rundschau mitunter eine recht kritische Haltung gegenüber der politischen Führung des Zionismus einnahm, war auch David Wolffsohn nicht verborgen geblieben. Der neue Präsident der ZO hatte bereits 1907 sein Unbehagen gegenüber der oppositionellen Haltung der Jüdischen Rundschau zum Ausdruck gebracht, indem er sich gegen die Fusionspläne der Redaktion mit der Welt gewandt hatte.1156 Auch der Wechsel von Loewe zu Becker brachte – abgesehen von der programmatischen Neuausrichtung der Zeitung – zunächst nur wenig Veränderung hinsichtlich der Kritik des Presseorgans des deutschen Zionismus an den Führungsorganen der ZO. So forderte Julius Becker in einem Leitartikel, der unmittelbar vor dem Neunten Zionistenkongress in der Jüdischen Rundschau erschien, von den Kongressbeschlüssen eine umfassende »Reform an Haupt und Gliedern«1157. 2.2.2 Die ›Programm-Debatte‹ nach der Jungtürkischen Revolution (1908/1909) Einen wesentlichen Beitrag zu der beschriebenen Krisenempfindung, welche viele Autoren in der Jüdischen Rundschau während der Präsidentschaft David Wolffsohns teilten, leistete nicht zuletzt eine kontroverse Debatte über die Änderung des »Baseler Programms« in den Jahren 1908 und 1909, welche die Beiträger in Befürworter und Gegner einer Neuausrichtung der zionistischen Außenpolitik spaltete.1158 Die Debatte ist auch deshalb aufschlussreich, weil sich an ihr erkennen lässt, dass der Inhalt und das Ziel von ›Zionismus‹ im Spiegel des Untersuchungsmediums umstritten waren und die Beiträger unterschiedliche Interpretationen mit dem »Baseler Programm« und den wichtigsten Begriffen des Zionismus verknüpften.1159 Nicht zuletzt mischten sich in ihr politische Zukunftsentwürfe mit einer grundsätzlichen Kritik am europäischen Imperialismus. Der Verlauf der Debatte und die wichtigsten ideologischen Positionen, 1155 1156 1157 1158 1159

Vgl. Witkowsky, Kongress, S. 429. Vgl. Brief von David Wolffsohn an Heinrich Loewe vom 08. 09. 1907, CZA, W1/538. B., J. [Becker, Julius]: In letzter Stunde, in: JR, XIV. Jg., Nr. 52 (24. 12. 1909), S. 581. Zur Außenpolitik der ZO vor dem Ersten Weltkrieg vgl. Meybohm, Wolffsohn, S. 253–339. Zur Debatte mit einem Schwerpunkt auf David Wolffsohns Haltung und zionistischer Diplomatie vgl. allgemein auch ebd., S. 254–262, 297–322.

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die in erster Linie um die Grundbegriffe des politischen Zionismus wie »öffentlich-rechtlich«, »Charter« und »Autonomie« kreisten, sollen daher im Folgenden rekonstruiert und vorgestellt werden. Den Auslöser der Debatte stellte die sog. »Jungtürkische Revolution« (1908/ 09) dar oder besser gesagt ihre Wahrnehmung durch die (deutschen) Zionisten. Mit dem Verfassungserlass im Jahr 1876 bildete die Staatsform des Osmanischen Reiches der Theorie nach eine konstitutionelle Monarchie.1160 Bei der Regentschaft von Sultan Abdul Hamid II. (1876–1909) handelte es sich jedoch de facto weiterhin um eine absolute Monarchie, da der Grad an politischer Partizipation, der Parlament und Bevölkerung eingeräumt wurde, erheblich begrenzt und die Verfassung 1878 offiziell ausgesetzt worden war. Die sog. »Jungtürken«, eine nationalistisch-reformistische Bewegung, deren Mitglieder seit den 1870er Jahren auf eine Verfassungsreform in Theorie und Praxis hinwirkten und einen osmanisch-islamischen Patriotismus vertraten, übernahmen die Koordination und Leitung der Aufstände im Juli 1908 gegen die Alleinherrschaft Abdul Hamids II. und erzwangen die Abdankung des Sultans, die Wiedereinführung der Verfassung von 1876 und damit die Herstellung eines Verfassungsstaates. Trotz der Herbeiführung einzelner Reformen radikalisierte sich die Bewegung unter der Leitung des »Komitees für Einheit und Fortschritt« zunehmend. Dies äußerte sich schließlich offen im Jahr 1913 im Staatsstreich des ›jungtürkischen Triumvirats‹ unter Innenminister und Großwesir Talaat Pascha (1872–1921), Kriegsminister Enver Bey (1881–1922) und Marineminister Cemal Pascha (1872–1922), welcher das Osmanische Reich praktisch in eine nationalistischislamistische Diktatur verwandelte.1161 Neben dem Wechsel der politischen Machthaber trug zur innenpolitischen Instabilität des Osmanischen Reiches auch erheblich die prekäre Lage des Staatshaushaltes bei, welche zur Einrichtung der »Administration de la Dette Publique Ottomane« (»Verwaltung der Osmanischen Staatsschulden«) geführt hatte, deren Supervision eine Kommission aus Vertretern der verschiedenen Gläubigernationen, unter denen Frankreich den größten Anteil besaß, übernommen hatte.1162 Der politische und wirtschaftliche Einfluss der europäischen Mächte auf den »kranken Mann am Bosporus«, wie das Osmanische Reich im

1160 Vgl. zum Folgenden Hanioglu, M. Sükrü: A Brief History of the Late Ottoman Empire, Princeton u. a. 2008, S. 110–123; Kansu, Aykut: The Revolution of 1908 in Turkey, Leiden 1992, S. 1–3; Faroqhi, Suraiya: Geschichte des Osmanischen Reiches, München 42006, S. 89–101; Meybohm, Wolffsohn, S. 254–256. 1161 Vgl. Hanioglu, History, S. 150f. 1162 Vgl. ebd., S. 135f.; Schölch, Alexander: Wirtschaftliche Durchdringung und politische Kontrolle durch die europäischen Mächte im Osmanischen Reich (Konstantinopel, Kairo, Tunis), in: GG 1 (1975), S. 404–446.

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zeitgenössischen öffentlichen europäischen Diskurs bezeichnet wurde,1163 verstärkte sich noch durch das System der sog. Kapitulationen. Nach diesem standen Einwanderer in das Osmanische Reich unter dem Schutz ihrer Herkunftsländer und blieben von der Steuerpflicht ausgenommen, was für die Regierung des Osmanischen Reiches erhebliche Einbußen im Bereich der Staatseinnahmen bedeutete.1164 Aber nicht nur die genannten Gründe beeinflussten das Verhältnis der Hohen Pforte, wie die Regierung des Osmanischen Reiches, im Besonderen der Sitz des Großwesirats und des Außenministeriums, genannt wurden, zu den Zionisten, sondern auch die zunehmenden nationalistisch-separatistischen Tendenzen in Teilen des Osmanischen Reiches, welche bereits 1878 zur Abspaltung der Balkan-Länder geführt hatten.1165 Nach Neville Mandel und Ivonne Meybohm spielten diese Faktoren eine erhebliche Rolle bei der ablehnenden Haltung der Regierung des Osmanischen Reiches gegenüber einer jüdischen Kolonisation Palästinas. Dies zeigte sich unter anderem zwischen den 1880er Jahren und dem Beginn der jungtürkischen Herrschaft 1908 in verschiedenen Gesetzen über die Restriktion der jüdischen Einwanderung nach Palästina und den jüdischen Landkauf.1166 Einen weiteren wichtigen Grund für die Verhinderung einer großen zionistischen Ansiedlung im Osmanischen Reich stellte nicht zuletzt der symbolische Wert dar, den der Ort ›Palästina‹ im Islam – allein schon aufgrund seiner Lage auf der Pilgerroute von Damaskus nach Mekka und Medina – besaß. Dieser speiste sich, wie im Judentum, neben der religiösen Überlieferung aus verschiedenen Traditionen, welche die enge emotional-geistige Verbundenheit von ›Volk‹ und ›Boden‹ sowie die Heiligkeit und Unveräußerlichkeit dieses gedachten Raumes betonten.1167 Für die Zionisten implizierten sowohl die schwankende Haltung des Sultans und die instabilen innenpolitischen Verhältnisse im Osmanischen Reich, als auch die wechselnden, sich zum Teil widersprechenden imperialistischen Interessen und Bündniskonstellationen der europäischen Mächte eine große Herausforderung für die eigene diplomatische Arbeit und einen erheblichen Unsicherheitsfaktor bezüglich der Ausrichtung der eigenen (Außen-)Politik. Unter der Führung Herzls hatte die ZO versucht, sich als eigenständigen politischen Faktor im europäischen Mächtesystem zu etablieren. Da die Charteridee 1163 Vgl. Krämer, Geschichte, S. 53–56, 385. 1164 Vgl. Friedman, Germany, S. 32–49; Steinbach, Udo: Geschichte der Türkei (c. h. beck wissen), 4., durchges. und aktual. Aufl. München 2007, S. 18–21; Schöllgen, Gregor : Imperialismus und Gleichgewicht. Deutschland, England und die orientalische Frage 1871– 1914, München 32000, insbes. S. 15–186. 1165 Vgl. Faroqhi, Geschichte, S. 89–101. 1166 Vgl. Mandel, Neville J.: Ottoman Policy and Restrictions on Jewish Settlement in Palestine. 1881–1908. Part I, in: Middle Eastern Studies 10:3 (1974), S. 312–332; ders.: The Arabs and Zionism before World War I, Berkeley 1976, S. 2; Meybohm, Wolffsohn, S. 255f., 298f. 1167 Vgl. Krämer, Geschichte, S. 29–70; Meybohm, Wolffsohn, S. 256.

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des politischen Zionismus, an der auch Wolffsohn zunächst unbeirrt festhielt, im Wesentlichen darauf beruhte, eine jüdische Besiedlung Palästinas mithilfe der Zustimmung der europäischen Mächte zu erreichen, hatte Herzl sich an verschiedene europäische Regierungen gewandt, mit dem Ziel, entsprechende Konzessionen für den Zionismus zu erhalten. Diese Strategie hatte jedoch nicht zuletzt auch dazu geführt, dass die Zionisten vom Osmanischen Reich in erster Linie als Repräsentanten ihrer europäischen Herkunftsländer und Interessenvertreter des europäischen Imperialismus wahrgenommen wurden. Auch aufgrund ihrer lavierenden Haltung wurden sie von den rivalisierenden europäischen Mächten eher misstrauisch beobachtet.1168 Im Besonderen die Festlegung auf Palästina als exklusives zionistisches Besiedelungsgebiet und alleiniges Territorium einer zukünftigen ›jüdischen Heimstätte‹ nach der »Uganda-Kontroverse« auf dem Siebten Zionistenkongress 1905 sowie die Forderung nach ›Autonomie‹ des künftigen jüdischen Staatswesens, welche daher in späteren Charterentwürfen wie einem Memorandum Wolffsohns 1906 fehlten,1169 hatten die Hohe Pforte in Unruhe versetzt.1170 Nach weiteren vergeblichen diplomatischen Verhandlungen mit dem Osmanischen Reich in den Jahren 1906 und 19071171 drang bei den Zionisten immer stärker die Erkenntnis durch, dass nicht nur der Chartergedanke, sondern auch die Idee, überhaupt ein autonomes Gebiet in Palästina in absehbarer Zeit zu erhalten, gescheitert war.1172 Die Jungtürkische Revolution 1908/09 stellte die ZO nun vor diesem Hintergrund vor die Frage, ob die beschriebenen Veränderungen im politischen System des Osmanischen Reiches bzw. ihre subjektive Wahrnehmung durch die Zionisten eine Neuausrichtung der zionistischen Diplomatie und ihrer Ziele notwendig machten. Diese Frage wurde schließlich in der Jüdischen Rundschau kontrovers diskutiert. Zum Thema erschien am 31. Juli 1908 ein Leitartikel Heinrich Loewes mit dem Titel »Drei Wochen«, in dem der Autor die politischen Ereignisse im Osmanischen Reich aufgriff und mit einer antihegemonialen Stellungnahme kommentierte.1173 Loewe verklärte darin das Osmanische Reich und seine Bevölkerung zum eigentlichen Retter und Schutzherrn des ›jüdischen Volkes‹, das sich im Gegensatz zu den Angehörigen der europäischen und asiatischen ›Nationen‹ nicht an der Verfolgung der Juden beteiligt, sondern diesen vielmehr einen sicheren, freundlichen Zufluchtsort gewährt hätte.1174 Die 1168 1169 1170 1171 1172 1173

Vgl. Meybohm, Wolffsohn, S. 259. Vgl. dazu ausführlich ebd., S. 302f. Vgl. Mandel, Policy, S. 320. Vgl. dazu ausführlich Meybohm, Wolffsohn, S. 298–306. Vgl. ebd., S. 300. Vgl. Eljaqim [Loewe, Heinrich]: Die drei Wochen, in: JR, XIII. Jg., Nr. 31 (31. 07. 1908), S. 293f. 1174 Vgl. ebd., S. 293.

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im imperialistischen europäischen Diskurs als ›wilde Türken‹ charakterisierten Osmanen hielt Loewe daher in Wahrheit zu mehr ›Kultur‹ befähigt als das ›zivilisierte Europa‹, dessen Einflussnahme auf das Osmanische Reich er scharf kritisierte.1175 Daneben betonte er die kulturellen und wirtschaftlichen Ähnlichkeiten zwischen Türken und Juden sowie die weit fortgeschrittene ›rassenmäßige‹ ›Vermischung‹ beider Völkerschaften, welche ihren Status als »Brüdervölker«1176 begründe. Zugleich forderte Loewe die Zionisten auf, die im Moment ablaufende Umgestaltung der politischen Verhältnisse im Osmanischen Reich, deren Ausgang noch ungewiss sei, geduldig und in Ruhe abzuwarten und »das volle Vertrauen der türkischen Nation«1177 entgegenzubringen, ihre Angelegenheiten selbständig und verantwortungsbewusst zu regeln. Diese Charakterisierung des Osmanischen Reiches durch Loewe und die ihr implizite Diskursposition ist bemerkenswert, indem sie die beschriebene restriktive Handhabung der Einwanderungspolitik der Hohen Pforte gegenüber den Zionisten völlig ignorierte und durch die Gegenüberstellung des europäischen Imperialismus zur wohlwollenden, zionismusfreundlichen Politik des Osmanischen Reiches die Charterpolitik Herzls und des politischen Zionismus gegenüber den europäischen Mächten implizit ad absurdum führte. Die verklärende Charakterisierung der osmanischen Politik muss auch als bewusster diplomatischer Schachzug gewertet werden, sich der (neuen) politischen Führungselite des Osmanischen Reiches positiv zu empfehlen und diese nicht etwa durch beispielsweise eine scharfe Kritik an den bestehenden Einwanderungsgesetzen schon im Vorhinein zu irritieren. In derselben Ausgabe der Zeitung findet sich unter der Rubrik »Rundschau« auch ein kurzer Bericht zur Wiedereinführung der Verfassung des Jahres 1876, welcher dem Zionisten und Leser die wichtigsten konstitutionellen Inhalte und Prinzipien vorstellen möchte.1178 Darin wurde erneut kritisch auf den Topos des »kranken Mannes am Bosporus« Bezug genommen, indem der Autor polemisierte, dass der osmanische Sultan, dem er in erster Linie die Einsicht des Verfassungserlasses zuschrieb, nicht so ›krank‹ sein könne, »wie viele gute Europäer uns immer gern glauben machen wollten«1179. Eine ähnliche Bewertung findet sich auch bei Egon Rosenberg, der wesentlich an der Gründung der deutschen zionistischen Studentenvereinigungen, der »Hasmonaea« und dem »Kartell Zionistischer Verbindungen« (KZV), in den Jahren 1905 und 1906 beteiligt 1175 Vgl. ebd., S. 294. 1176 Ebd. Vgl. dazu auch Loewe, Heinrich: Das türkische Parlament, in: JR, XIII. Jg., Nr. 52 (25. 12. 1908), S. 511f. 1177 Vgl. Eljaqim, Wochen, S. 294. 1178 Die Wiedereinführung türkischen [sic!] Verfassung [Rundschau], in: JR, XIII. Jg., Nr. 31 (31. 07. 1908), S. 301f. 1179 Ebd., 301.

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war.1180 In seinem dreiseitigen Beitrag zum Thema im August 1908 stellte er zunächst ebenfalls die wohlwollende Einsicht des Sultans und die Stärke der nationalen Bewegung in der Türkei der egoistischen Interessenpolitik der europäischen Mächte gegenüber.1181 Neben der Herstellung eines Verfassungsstaates und der anvisierten Reformtätigkeit des neuen Regimes begrüßte Rosenberg in erster Linie die in Aussicht gestellte Gewährung rechtlicher Gleichberechtigung aller osmanischen Staatsuntertanen, unabhängig ihrer Konfession und ethnischen Zugehörigkeit, von der er eine deutliche Besserstellung der jüdischen Siedler vor Ort und eine offene Einwanderungspolitik erwartete.1182 Weniger vorsichtig als noch Loewe bewertete er die Tragkraft der politischen Umwälzung in der Türkei, welche er als historischen Wendepunkt für die Weltgeschichte und den Zionismus charakterisierte.1183 Die Jungtürkische Revolution bildete in den Augen Rosbergs wie in denen vieler Zionisten nicht nur einen eindeutigen Schritt hin zu einer parlamentarisch-demokratischen Entwicklung in der Türkei, sondern auch zu einer einwanderungsfreundlichen Politik, welche eine prinzipielle Ansiedlungserlaubnis für die jüdischen Kolonisten nach sich ziehen würde.1184 Diese Beurteilung Rosenbergs schienen auch verschiedene Interviews mit Vertretern der jungtürkischen Bewegung zu bestätigen, die in der Jüdischen Rundschau – meist anonymisiert – erschienen.1185 Rosenberg forderte daher eine neue Ausrichtung der politischen Arbeit der ZO, die sich stärker an den neuen realpolitischen Möglichkeiten orientieren sollte. Die politische Führung des Zionismus sollte demnach nicht mehr mit den europäischen Mächten über Palästina verhandeln, sondern das alleinige Wohlwollen der osmanischen Regierung und Bevölkerung gewinnen.1186 Max Nordau

1180 Vgl. Reinharz, Einführung, S. XXV. 1181 Vgl. Rosenberg, Egon: Die türkische Revolution und der Zionismus, in: JR 32 (07. 08. 1908), S. 305–307. Vgl. auch Ruhig Blut!, in: JR, XIV. Jg., Nr. 16 (16. 04. 1909), S. 177; Eine starke Türkei, in: JR, XIV. Jg., Nr. 30 (23. 07. 1909), S. 341f. 1182 Vgl. Rosenberg, Revolution, S. 306. 1183 Vgl. ebd. Vgl. ähnlich auch Heymann, H. G.: Die Lage der Zionistischen Bewegung, in: JR, XIII. Jg., Nr. 34 (21. 08. 1908), S. 327f.; Das Aktionskomitee: Aufruf!, in: JR, XIII. Jg., Nr. 39 (25. 09. 1908), S. 385; B., J. [Becker, Julius]: In letzter Stunde, in: JR, XIV. Jg., Nr. 52 (24. 12. 1909), S. 581. 1184 Vgl. Rosenberg, Revolution, S. 306. 1185 Vgl. z. B. S., E. M. [Simonson, Emil]: Der Zionismus und die Jungtürken, in: JR, XIII. Jg., Nr. 43 (23. 10. 1908), S. 430f. 1186 Vgl. Rosenberg, Revolution, S. 306. Vgl. auch Elias: Der Zionismus und die Parlamentswahlen in der Türkei, in: JR, XIII. Jg., Nr. 36 (04. 09. 1908), S. 353f. Elias forderte in seinem Leitartikel eine Beeinflussung der Parlamentswahlen im zionistischen Sinne, die gegebenenfalls auch mittels einer direkten Einflussnahme der zionistischen Leitung auf das Wahlverhalten der osmanischen Juden und die Aufstellung zionistischer Kandidaten erreicht werden sollte. Diesem Vorschlag widersprach Emil Simonson in der darauffolgenden Nummer in einer Replik mit dem Titel »Hands Off« vehement und forderte

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äußerte ähnliche Ansichten in einem Interview mit der zionistischen Wochenschrift »Chronica Israelita«, das am 27. November 1908 in der Jüdischen Rundschau erschien.1187 Die deutschen Zionisten zeigten sich in einem auffallenden Gegensatz zu ihren diplomatischen Unternehmungen im Kontext der Jungtürkischen Revolution also grundsätzlich auch imperialismuskritisch, indem sie die wirtschaftliche und politische Durchdringung des Osmanischen Reiches durch die europäischen Mächte kritisierten. Dabei polemisierten sie insbesondere gegen die Zuschreibung von kultureller ›Minderwertigkeit‹ und ›Rohheit‹ an das Osmanische Reich und seine Bevölkerung im europäischen Imperialismusdiskurs. Obwohl sie sich in ihren Argumenten auffallend ähnelten, quittierte Heinrich Loewe Rosenbergs Beitrag mit Skepsis und bestand auf einer abwartenden Haltung, da die Zionisten aus seiner Sicht noch keine konkreten politischen Zugeständnisse von der neuen Regierung erhalten hätten, eine Einschätzung, welche er im Übrigen anfänglich mit David Wolffsohn teilte.1188 Die zionistische Leitung sollte sich angesichts der neuen Verhältnisse im Osmanischen Reich vielmehr in Ruhe mit der Frage beschäftigen, ob sich dem Zionismus neue Handlungsoptionen erschlössen und wie diese überhaupt realpolitisch zu bewerten seien.1189 Da sich an der eigentlichen Zielsetzung des Zionismus nichts geändert hätte, sollte die Parole für das weitere Vorgehen (vorerst) nur lauten: »Der alte Kurs im neuen Gleise.«1190 Dass zu diesem Zeitpunkt – im Sommer/Herbst 1908 – bereits offen über Sinn und Realisierbarkeit der Charteridee des ›politischen Zionismus‹ diskutiert wurde, zeigte ein weiterer Artikel des ehemaligen Mitglieds der Demokratischen Fraktion, Davis Trietsch. Dieser war ursprünglich in der hebräischen Zeitschrift Haolam erschienen und provozierte bei seinem Abdruck auf der Titelseite Ende September 1908 die Redaktion der Jüdischen Rundschau zur kurzen Stellungnahme, dass man zwar die Charakterisierung der innenpolitischen Verhältnisse im Osmanischen Reich durch den Autor teile, sich jedoch nicht mit allen Einzelheiten des Artikels identifizieren könne.1191 Trietsch forderte darin ein neues

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stattdessen die penible Einhaltung ihrer Pflichten als osmanische Staatsuntertanen. Vgl. Simonson, Emil: Hands Off, in: JR, XIII. Jg., Nr. 37 (11. 09. 1908), S. 364. Vgl. Max Nordau über die Ereignisse in der Türkei, in: JR, XIII. Jg., Nr. 48 (27. 11. 1908), S. 470f. Zu David Wolffsohns diplomatischen Strategien vor und nach der Jungtürkischen Revolution vgl. Meybohm, Wolffsohn, S. 297–322. Vgl. Sachse, Heinrich: Der alte Kurs im neuen Gleise, in: JR, XIII. Jg., Nr. 38 (18. 09. 1908), S. 373–375, hier S. 374f. Vgl. Sachse, Kurs. Eine ähnliche Beurteilung der politischen Lage findet sich auch in einem weiteren Aufsatz Heinrich Loewes im Oktober 1908. Vgl. Eljaqim [Loewe, Heinrich]: Gewölk im Osten, in: JR, XIII. Jg., Nr. 41 (09. 10. 1908), S. 401f. Trietsch, Davis: In der Neuen Türkei, in: JR, XIII. Jg., Nr. 39 (25. 09. 1908), S. 385–387.

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»durchführbare[s], realpolitische[s]«1192 Programm für den Zionismus, wonach die jüdische Kolonisation, praktische Arbeit und mit ihr die Erlangung einer jüdischen Majorität in Palästina dem Erhalt eines Charters vorangehen müsse.1193 An die Stelle des Begriffes der »Autonomie« setzte er den der jüdischen »Selbstverwaltung«, wobei die jüdischen Siedler in jedem Fall die osmanische Staatsbürgerschaft annehmen sollten.1194 Die Einholung von Konzessionen der europäischen Mächte für die jüdische Einwanderungs- und Siedlungsaktivität in Palästina erachtete er hingegen als nicht mehr zeitgemäß und forderte stattdessen die exklusive diplomatische Kontaktaufnahme mit der jungtürkischen Regierung: »Nein! Wir haben nur mit der Türkei zu verhandeln und nur auf sie zu rechnen. Und nicht mit einer neuen oder einer alten Türkei, sondern mit der Türkei, gleichviel welche Partei am Ruder ist. Unsere Parole muss sein: Gut türkisch – mit oder ohne Konstitution! Gut türkisch in jedem Falle! Alle Verhandlungen mit den Mächten haben aufzuhören, und wir werden höchstens – soweit wir es können – zu verhindern haben, dass die Mächte uns stören, oder dass die Loyalität unserer Bestrebungen bezweifelt wird. Das ist die einzige Politik, die uns zum Ziele führen kann, aber auch diese nur auf der Basis der realen Arbeit in Palästina! Sie ist uns Mittel und Zweck zugleich und von nur von ihr allein hängen alle unsere weiteren Möglichkeiten ab!«1195

Dieses Programm der »realen Arbeit« in Palästina, wie Trietsch es selbst nannte, war identisch mit den Beschlüssen, welche die sog. »Landmannschaft Palästina« der ZO im Mai 1907 in Jaffa verabschiedet hatte und die wesentlich auf den Ideen von Trietsch beruhten.1196 Im Vorfeld des Neunten Zionistenkongresses erschien eine mehrteilige Artikelreihe in der Jüdischen Rundschau, in der Trietsch dem Leser die politischen, kulturellen und wirtschaftlichen Prinzipien des Programmes eines praktisch-kulturellen Zionismus vorstellte, welche im Wesent1192 1193 1194 1195

Ebd., S. 386. Vgl. ebd. Vgl. ebd. Ebd., S. 387. Diese Forderungen wiederholte Trietsch in einem weiteren Artikel im August 1909. Vgl. Trietsch, Davis: Der politische Zionismus und die Türkei, in: JR, XIV. Jg., Nr. 33 (13. 08. 1909), S. 377f. Davis Trietsch hatte bereits auf dem Fünften Zionistenkongress im Jahr 1901 die Abänderung des »Baseler Programms« gefordert, was zu einer Kontroverse geführt hatte. Vgl. Protokoll, 1901, S. 236–238. 1196 Vgl. Trietsch, Davis: Das zionistische Palästinaprogramm (1), in: JR, XIV. Jg., Nr. 44 (29. 10. 1909), S, 480. Die weiteren Teile erschienen unter ders.: Das zionistische Palästinaprogramm (2), in: JR, XIV. Jg., Nr. 45 (05. 11. 1909), S. 500f.; ders.: Das zionistische Palästinaprogramm (3), in: JR, XIV. Jg., Nr. 46 (12. 11. 1909), S. 512f.; ders.: Das zionistische Palästinaprogramm (4), in: JR, XIV. Jg., Nr. 47 (19. 11. 1909), S. 524f.; ders.: Das zionistische Palästinaprogramm (5), in: JR, XIV. Jg., Nr. 48 (26. 11. 1909), S. 537; ders.: Das zionistische Palästinaprogramm (6), in: JR, XIV. Jg., Nr. 49 (03. 12. 1909), S. 549; ders.: Das zionistische Palästinaprogramm (7), in: JR, XIV. Jg., Nr. 50 (10. 12. 1909), S. 562; ders.: Das zionistische Palästinaprogramm (8), in: JR, XIV. Jg., Nr. 51 (17. 12. 1909), S. 572.

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lichen die Forderungen der Chowewe Zion aufgriffen und politisch elaborierten.1197 Rosenberg und Trietsch sowie weitere deutschen Zionisten1198 forderten also eine Neuausrichtung der zionistischen Politik und Arbeit, welche sich stärker an praktischen Erfordernissen und realpolitischen Tatsachen, d. h. an gegebenen Handlungsoptionen und Grenzen, welche die Verhältnisse im Osmanischen Reich setzten, orientieren sollte. Diese Forderung besaß auch deshalb politische Sprengkraft, da sie mit der programmatischen Ausrichtung des Zionismus auch ganz unmittelbar den Inhalt des »Baseler Programms«, im Besonderen seinen vierten Absatz berührte. In diesem war festgehalten worden, dass die politische Leitung der ZO zur Schaffung einer öffentlich-rechtlich gesicherten Heimstätte in Palästina »vorbereitende Schritte zur Erlangung der Regierungszustimmungen« unternehmen solle, »die nötig sind, um das Ziel des Zionismus zu erreichen«1199. In einem Artikel Ende November 1908 kündigte Elias Auerbach daher sein Vorhaben an, auf dem Neunten Zionistenkongress, der aufgrund des politischen Umsturzes im Osmanischen Reich von September auf Dezember 1909 verschoben worden war, einen Antrag auf Streichung des letzten Absatzes des »Baseler Programmes« einreichen zu wollen.1200 Den eigentlichen Sinn dieser Programmänderung sah Auerbach in der impliziten Loyalitätsbekundung gegenüber der jungtürkischen Regierung und »des türkischen Reichsgedankens«1201. Eine Replik auf Auerbach folgte bereits in der nächsten Ausgabe der Jüdischen Rundschau, in welcher der Autor, Louis Weinberg, vehement gegen die Änderung des »Baseler Programms« protestierte.1202 Weinberg räumte zwar ein, dass die osmanische Verfassung quasi die »öffentlich-rechtliche Sicherung« der »jüdischen Heimstätte« vorweggenommen hätte, dass jedoch die Formulierung von der »Erlangung der Regierungszustimmungen« nicht mit der »Erlangung von Garantien der Mächte« gleichgesetzt werden könne. Sie trüge lediglich vorbereitenden Maßnahmencharakter, der durch die neuen Machtverhältnisse im Osmanischen Reich keineswegs obsolet geworden sei.1203 Im Jahr 1909 erschienen zunächst einzelne Berichte zu tagespolitischen Er1197 Vgl. Trietsch, Palästinaprogramm (1). 1198 Vgl. z. B. Böhm, Adolf: Die türkische Konstitution und die Aufgaben unserer Leitung, in: Jüdische Zeitung 36 (04. 09. 1908), S. 1f.; Stern, Bertram: Das Jahr 1908, in: JR, XIV. Jg., Nr. 2 (08. 01. 1909), S. 16. 1199 Vgl. Auerbach, Elias: Absatz 4 des Baseler Programms, in: JR, XIII. Jg., Nr. 48 (27. 11. 1908), S. 469. 1200 Vgl. ebd. 1201 Ebd. 1202 Vgl. Weinberg, [Jehuda Louis]: Absatz 4 des Baseler Programms, in: JR, XIII. Jg., Nr. 49 (04. 12. 1908), S. 481. 1203 Vgl. ebd.

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eignissen im Osmanischen Reich wie der Wahl Ahmed Risad Beys zum Präsidenten des türkischen Parlaments, der als »neue[r] türkische[r] Volksheros«1204 gefeiert wurde. Darunter mischten sich gelegentlich auch vereinzelte, kurze Berichte, welche auch kritische Untertöne erkennen ließen. In diesen wurden beispielsweise die nationale Spaltung des ›Vielvölkerstaates‹, die schwelgenden separatistischen Bestrebungen bestimmter Gruppen und Teile des Osmanischen Reiches und die Radikalisierung der jungtürkischen Bewegung sowie Absetzung des Sultans thematisiert.1205 Dennoch blieb der Ton in der Berichterstattung, gerade was die Haltung der Jungtürken gegenüber den Zionisten betraf und umgekehrt, mehrheitlich euphorisch oder zumindest beschwichtigend.1206 Als interessantes Beispiel kann hier auch die Berichterstattung in der Jüdischen Rundschau über die frühen Armenierverfolgungen unter den Jungtürken gelten. In dieser solidarisierten sich die Zionisten nicht mit der verfolgten Minderheit, sondern polemisierten gegen die vermeintliche Doppelmoral der sich empörenden europäischen Öffentlichkeit, die zu den Judenverfolgungen im Russischen Reich größtenteils geschwiegen hatte, während sie die Armenier, denen im Gegensatz zur jüdischen Bevölkerung tatsächlich autonomisierende Tendenzen unterstellt werden könnten, bedauert hätte.1207 In der neunten Ausgabe der Zeitung Ende Februar 1909 wurde vor diesem Hintergrund schließlich ein Artikel von Walter Fischer (1889–1971) mit dem Titel »Die junge Türkei und der Zionismus«1208 abgedruckt, der neue Argumente in die ›Programm-Debatte‹ einbrachte. Fischer, der sich ebenfalls für die Programmänderung aussprach,1209 vertrat darin die Meinung, dass die wiedereingeführte Verfassung von 1876 und die in ihr verbürgten Rechte, die für alle osmanischen Staatsuntertanen und daher auch für die eingewanderten Juden gelten würden, die im »Baseler Programm« geforderte »öffentlich-rechtliche« 1204 Achmed Risa Bey, in: JR, XIV. Jg., Nr. 2 (08. 01. 1909), S. 16. Vgl. auch die Rubrik »Türkei« im Dossier »Aus aller Welt« z. B. in den Ausgaben der JR, XIV. Jg., Nr. 4 (22. 01. 1909), S. 42; Nr. 6 (05. 02. 1909), S. 65f.; Nr. 11 (12. 03. 1909), S. 123. 1205 Vgl. z. B. Türkei [Aus aller Welt], in: JR, XIV. Jg., Nr. 12 (19. 03. 1909), S. 138; Türkei [Aus aller Welt], in: JR, XIV. Jg., Nr. 18 (30. 04. 1909), S. 205. 1206 Vgl. z. B. Ruhig Blut!, in: JR, XIV. Jg., Nr. 16 (16. 04. 1909), S. 177; Alarm?, in: JR, XIV. Jg., Nr. 27 (02. 07. 1909), S. 305f.; Eine starke Türkei, in: JR, XIV. Jg., Nr. 30 (23. 07. 1909), S. 341f.; Türkei [Aus aller Welt], in: JR, XIV. Jg., Nr. 45 (05. 11. 1909), S. 502. 1207 Vgl. Die Narren Europas, in: JR, XIV. Jg., Nr. 20 (14. 05. 1909), S. 225f.; Türkei [Aus aller Welt], in: JR, XIV. Jg., Nr. 19 (07. 05. 1909), S. 217; Auswanderung der Armenier, in: JR, XIV. Jg., Nr. 29 (16. 07. 1909), S. 332. 1208 Fischer, Walter: Die junge Türkei und der Zionismus (1), in: JR, XIV. Jg., Nr. 9 (26. 02. 1909), S. 99f. Vgl. auch den zweiten Teil seiner Artikelreihe, der die politischen Verhältnisse im Osmanischen Reich und mögliche Implikationen für den Zionismus einer genauen Analyse unterziehen möchte. Vgl. Fischer, Walter, Die junge Türkei und der Zionismus (2), in: JR, XIV. Jg., Nr. 11 (12. 03. 1909), S. 119f. 1209 Vgl. Fischer, Türkei (1), S. 100.

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Sicherung der ›jüdischen Heimstätte‹ ersetze und überflüssig mache.1210 Im Verhältnis der osmanischen Juden als Staatsbürger zum osmanischen Staat sah er nun die eigentliche Garantie begründet.1211 Mit der Forderung nach Annahme der osmanischen Staatsbürgerschaft verknüpfte Fischer argumentativ die Relativierung der Forderung nach einem »autonomen« jüdischen Staatswesen oder Territorium im Osmanischen Reich, um, so das Argument, die jüdische Loyalität zum osmanischen Staatswesen unter Beweis zu stellen und den Eindruck separatistischer Tendenzen zu vermeiden.1212 Diese Thesen Fischers griff auch David Wolffsohn in einem Interview mit der türkischen Tageszeitung Courrier d’Orient im Juli 1909 auf,1213 das am 20. August 1909 in indirekter Rede und gekürzter Version in der Jüdischen Rundschau abgedruckt wurde und auch dem Verfasser des begleitenden Artikels zur Bekräftigung der jüdischen Staatstreue zum Osmanischen Reich diente.1214 Wolffsohn hatte darin den Verzicht auf »Autonomie«, die bereits für Fischer »das letzte Glied in der [zionistischen] Entwicklungskette geworden sei«1215, ergänzt durch die Unterstützung der jüdischen Einwanderung in alle Provinzen des Osmanischen Reiches, nicht nur nach Palästina, gefordert.1216 Die Fokussierung auf das Problem der jüdischen Loyalität oder Staatsbürgertreue gegenüber dem osmanischen Staat, auf das sich die Autoren in ihren Begründungen größtenteils beriefen, muss wohl nicht zuletzt als direktes Abbild der beschriebenen (hybriden) Diskurse über das Verhältnis der jüdischen Staatsbürger zum Deutschen Reich betrachtet werden.1217 Sozusagen im unmittelbaren Anschluss an das Interview Wolffsohns und den entsprechenden Artikel darüber eröffnete die Jüdische Rundschau nun auch ganz offiziell »bereits jetzt die Diskussion über die grossen politischen und wirtschaftspolitischen Fragen des [Neunten Zionisten-]Kongresses«1218, wobei das Ziel der eingesandten Beiträge ausdrücklich darin bestehen sollte, die unterschiedlichen Positionen ausdifferenziert vorzustellen. In den folgenden Beiträgen, die entweder als Leitartikel oder unter der Rubrik »Der IX. Kongress« erschienen, erörterten deutsche Zionisten zwischen den Monaten August und November 1909 ihre Gründe für und gegen eine Programmänderung, wobei der Anteil an Gegnern einer Abänderung überwog. 1210 1211 1212 1213 1214 1215 1216

Vgl. ebd., S. 99. Vgl. ebd. Vgl. ebd., S. 99f. Vgl. zum Interview und der Debatte auch Meybohm, Wolffsohn, S. 314–317. Vgl. Ein vergifteter Pfeil, in: JR, XIV. Jg., Nr. 34 (20. 08. 1909), S. 389f. Fischer, Türkei (1), S. 99. Vgl. Pfeil, S. 389. Vgl. zum Interview und der Reaktion der Zionisten insgesamt Meybohm, Wolffsohn, S. 315. 1217 Vgl. Kap. III.1.1 der vorliegenden Arbeit. 1218 Redaktion der J. R.: Der IX. Kongress, in: JR, XIV. Jg., Nr. 34 (20. 08. 1909), S. 390.

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Als Beweis der Notwendigkeit einer programmatischen Neuausrichtung der zionistischen Außenpolitik wurde darin zunächst häufig das Interview mit dem osmanischen Parlamentsabgeordneten Riza Tevfik Beys mit Vertretern der English Zionist Federation angeführt, in dem der Befragte Befürchtungen vor separatistischen Tendenzen des Zionismus angedeutet hatte.1219 Der Autor eines ersten Beitrags folgerte daraus, dass der Zionismus vorerst vollständig auf die dezidierte Forderung nach »Selbstverwaltung« oder »Autonomie« einer jüdischen Siedlung verzichten müsse bzw. diese nur insoweit anstreben dürfe, als dadurch die staatlichen Interessen des Osmanischen Reiches gewahrt blieben.1220 Dagegen protestierte Lazarus Barth vehement in seinem Artikel, der unmittelbar in der nächsten Nummer erschien, indem er bekräftigte, dass nur die Forderung nach »Selbstverwaltung«, die auch er mit »Autonomie« gleichsetzte, »ein echt jüdisches Heim«1221 im Sinne des Zionismus gewährleiste. Alles andere bedeute, so Lazarus, »den Zionismus zu Grabe tragen« oder zumindest abseits der politischen Öffentlichkeit in der »Rumpelkammer«1222 verschwinden zu lassen. Auf die Abänderung oder Streichung der Formulierung der »öffentlichrechtlichen Sicherung« der jüdischen Heimstätte konzentrierte sich Erich Cohn, der in seinem Artikel zum Thema den Versuch unternahm, eine differenzierte Sicht auf die Problematik zu liefern, indem er eine Definition des umstrittenen Begriffs anbot.1223 Nach Cohn zerlegte sich das zionistische Begriffsverständnis von »öffentlich-rechtlich« im eigentlichen Sinne des »Baseler Programms« in die beiden Einzelbestandteile »völkerrechtlich« und »staatsrechtlich«. Während eine »völkerrechtlich« gesicherte Heimstätte die Einbindung von Garantien (westlicher) europäischer Mächte bedeute, welche aufgrund der Umwälzung der osmanischen Verhältnisse eventuell an Notwendigkeit eingebüßt hätte, sei die Notwendigkeit »staatsrechtlicher« Garantien, die sich allein auf das Osmanische Reich und seine Einwanderungsregularien bezögen, keineswegs obsolet geworden. Die Erlangung eines »Charters« von der osmanischen Regierung, müsse daher weiterhin das Ziel der politischen Arbeit der ZO bleiben. Cohns Beitrag richtete sich also auch gegen die erwähnten Stellungnahmen, nach denen die Wiedereinführung der Verfassung von 1876 mit der Erreichung einer öffentlich1219 Vgl. H., J. K.: Dr. Riza Tewfik Bey und der Zionismus, in: JR, XIV. Jg., Nr. 34 (20. 08. 1909), S. 390. Vgl. dazu auch Dr. Riza Tewfik Bey über den Zionismus, in: JR, XIV. Jg., Nr. 45 (05. 11. 1909), S. 501f. 1220 Vgl. H., Bey. 1221 Barth, Lazarus: Der IX. Kongress. Eine Entgegnung, in: JR, XIV. Jg., Nr. 35 (27. 08. 1909), S. 404. 1222 Ebd. 1223 Vgl. Cohn, Erich: Der IX. Kongress. Eine öffentlich–rechtliche Sicherung, in: JR, XIV. Jg., Nr. 36 (03. 09. 1909), S. 414.

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rechtlichen Konzession gleichgesetzt wurde. Eine endgültige Entscheidung über die Programmänderung wollte Cohn jedoch Wolffsohn und der politischen Führung des Zionismus überlassen.1224 Louis Weinberg, der sich im September 1909 erneut in der Debatte zu Wort meldete, polemisierte in seinem Beitrag unter dem Titel »Programmschmerzen« vehement gegen die Thesen des ›Praktikers‹ Daniel Pasmanik, welche dieser in einem Beitrag in der Jüdischen Zeitung am 20. August 1908 aufgestellt hatte.1225 Pasmanik hatte in seinem Artikel eine grundlegende Änderung des »Baseler Programms« und Verschiebung von politisch-zionistischen auf praktisch-zionistische und kulturzionistische Prinzipien gefordert, indem nicht eine »öffentlich-rechtlich gesicherte Heimstätte für das jüdische Volk«, sondern »die soziale und kulturelle Wiedergeburt des jüdischen Volkes«, die unabhängig sei vom öffentlich-rechtlichen Charakter des jüdischen Gemeinwesens, festgeschrieben werden sollte.1226 Nach Weinberg hätte Pasmanik dabei ganz wesentlich versäumt, zwischen feststehenden, unveränderlichen Programmsätzen, denen er die »öffentlich-rechtliche« Sicherung zuordnete, und sich den jeweiligen tagespolitischen Erfordernissen anpassender, flexibler »Taktik« und diplomatischer Strategie zu differenzieren.1227 Ähnlich argumentierte auch Leo Motzkin in einem Vortrag vor der BZV am 11. November 1909 und warnte die Zionisten davor, ihre politischen Möglichkeiten in der ›neuen Türkei‹ zu überschätzen.1228 Wie die Artikel in der Debatte belegen, bestand unter den deutschen Zionisten keinerlei Einigkeit über die Auslegung und die Notwendigkeit der vieldeutigen Begriffe »öffentlich-rechtlich«, »Charter« und »Autonomie« und darüber, welche Konsequenz man daraus bzw. aus den politischen Umwälzungen im Osmanischen Reich ziehen sollte.1229 Die Heterogenität der Meinungen und die Hilflosigkeit vieler Zionisten, sich in der vielschichtigen Debatte überhaupt zurecht zu finden oder gar selbst Grenzen der Zugehörigkeit und des Ausschlusses zu ziehen, belegt eindrucksvoll ein Stimmungsbild zur genannten Versammlung in der BZV vom 11. November 1909, in der im Anschluss an den genannten Vortrag Motzkins eine chaotische Diskussion über die Programm1224 Vgl. ebd. 1225 Vgl. Weinberg, L. [Jehuda, Louis]: Der IX. Kongress. Programmschmerzen, in: JR, XIV. Jg., Nr. 39 (22. 09. 1909), S. 443. 1226 Vgl. Pasmanik, Daniel: Zum IX. Zionistenkongress, in: Jüdische Zeitung 34 (20. 08. 1909), S. 2–4. 1227 Vgl. Weinberg, Kongress. 1228 M., H.: Die Aufgaben des IX. Kongresses. Eine Berliner Versammlung, in: JR, XIV. Jg., Nr. 47 (19. 11. 1909), S. 525f. 1229 Für eine Zusammenfassung der verschiedenen Positionen und Protagonisten in der Debatte vgl. ebd.; Bericht der Vereinsversammlung der zionistischen Ortsgruppe Charlottenburg am 08. 09. 1909, in: JR, XIV. Jg., Nr. 39 (24. 09. 1909), S. 445.

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änderung losbrach. Daraus geht auch hervor, dass die Sinnhaftigkeit der scheinbar endlosen Programmdebatten, welche die Frühgeschichte der ZO prägten, von nicht wenigen Zionisten zunehmend in Frage gestellt wurde: »Im Grunde war es eine Versammlung, wie es mehr oder minder wohl jede zionistische Versammlung ist: ein Streiten über Fragen des Programms, Fragen der Taktik, Fragen der praktischen Arbeit. Herausgeschaut hat bei der endlosen Debatte naturgemäss nichts. […] Aber eine einheitliche Stimmung konnte sein [Motzkins] Vortrag nicht hervorrufen, die Meinungen waren geteilt und man war schwankend. ›Ändere oder ändere nicht,‹ variierte jemand neben mir Sokrates, ›Du wirst beides bereuen‹ – - Es handelte sich, wie man sieht, darum: Sollen wir unerschütterlich und unbeirrt an dem Baseler Programm in seinem bisherigen Wortlaut festhalten – oder sollen wir es den geschichtlichen Ereignissen anzupassen uns bemühen? Sollen wir mitschreiten mit der Zeit? Uns ›nach jedem politischen Winde drehen?‹ (Oder warten wir, bis wir gedreht werden?) Wie gesagt: herausgeschaut hat nix dabei; endloses pro und contra. Und zum Schlusse, spät nach Mitternacht, wurde festgestellt, dass die ganze Debatte über Nutzen und Schaden einer Programmänderung vorläufig überflüssig sei […]. Man wird das abwarten müssen: das und auch die Konsequenzen, die sich daraus ergeben werden. […] Man kann auch unmöglich alle Eventualitäten voraussehen und alle in der Debatte vorgebrachten Argumente sowohl pro als auch contra sind hypothetisch und schweben in der Luft.«1230

Weniger (theoretische) Diskussionen, dafür mehr aktive praktische Arbeit in Palästina im Dienste der »Vorbereitung des Volkes und Vorbereitung des Landes«1231 forderte auch Hans Goslar in seinem Beitrag zum Thema. Insgesamt blieb der Anteil an Artikeln, den dezidiert praktische Zionisten verfassten, an der Debatte in der Jüdischen Rundschau mit wenigen Ausnahmen wie beispielsweise der genannten mehrteiligen Darlegung Davis Trietschs jedoch vergleichsweise gering. Dass die Debatte für viele Zionisten auf inakzeptable Weise bis zum Kernbestand von ›Zionismus‹ vorstieß, zeigten die Leitartikel, welche die Diskussion im Mittelteil der Jüdischen Rundschau begleiteten und das unbedingte Festhalten am »Baseler Programm« in seiner ursprünglichen Form zum Dogma erhoben.1232 Interessanterweise tauchte in diesen Artikeln auch erneut der Topos der ›Einheit‹ und nationalen Homogenität im Zionismus auf, die den Autoren aufs Neue bedroht und gerade in der Dreiteilung des Programms als Synthese der verschiedenen Strömungen im Zionismus gewährleistet schien: »Eines aber wird als unverrückbare Basis aller weiteren Auseinandersetzungen festzuhalten sein: das ist das unbeirrte Beharren beim Grundgesetze unserer Bewegung. 1230 M., H.: Die Aufgaben des IX. Kongresses. Eine Berliner Versammlung, in: JR, XIV. Jg., Nr. 47 (19. 11. 1909), S. 525f., hier S. 526. 1231 Goslar, Hans: Der IX. Kongress. Plus agir, in: JR, XIV. Jg., Nr. 47 (19. 11. 1909), S. 525f. 1232 Vgl. Der Hamburger Kongress, in: JR, XIV. Jg., Nr. 37/38 (15. 09. 1909), S. 426f.

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Nicht aus irgend welcher sentimentalen Anhänglichkeit an eine liebgewordene Formel, sondern aus der Überzeugung heraus, dass ein jeder Punkt, der dort festgelegt ist, untrennbar zu dem Ganzen gehört, das allein in seiner Dreieinheit Sinn, Wert und unterscheidendes Merkmal unserer Weltanschauung und unserer Bewegung ausmacht. Wenn einmal diese Einheit nicht mehr einem jeden von uns gegenwärtig sein sollte, dann droht dem Bestande unserer einheitlichen Bewegung ernste Gefahr, da in diesen allerersten Forderungen eine Divergenz der Meinungen den Keim unheilvollen, vielleicht unüberbrückbaren Zwiespalts für die ganze Bewegung in sich trägt. ›Principiis obsta!‹ muss es hier heissen. Ueber Weg und Mittel mögen wir diskutieren, aber wir haben nur ein einziges Ziel.«1233

Nach der Meinung dieser Beiträger gefährdeten die Befürworter der Programmänderung also nicht nur den Text auf einem Stück Papier, sondern riskierten mit ihrer Forderung den Bestand und das Wesen von ›Zionismus‹ an sich. Aus ihrer Sicht herrschte sehr wohl Einigkeit darüber, was ›Zionismus‹ eigentlich ausmache und was ihn von anderen nationalpolitischen Bewegungen unterschied, nämlich das »Baseler Programm« und die darin festgelegten Prinzipien. Für sie verbürgten gerade diese programmatischen Grundsätze »die Grundlage unserer Existenz, d. h. des Zionismus als politischer Bewegung«1234. Diese »grossen [politischen] Ideen«, wie Richard Lichtheim sich ausdrückte, dienten nicht zuletzt auch wesentlich zur Außenabgrenzung des Zionismus: »Wir sind kein Kolonisationsverein, sondern eine Bewegung, die die Geister aufrütteln, die Kräfte des Judentums neu beleben soll.«1235 Dass der (politische) Zionismus sich durch eine Programmänderung von seinem eigentlichen ideologischen Kern entfremden könnte und durch Verleugnung seiner eigenen Prinzipien unter einseitiger Rücksichtnahme auf osmanische Staatsinteressen Gefahr laufe, zu einem bloßen zweiten »Centralverein«, in diesem Fall zu einem »Centralverein osmanischer Staatsbürger jüdischen Glaubens«, herabzusinken, brachte Harry Epstein in seinem satirischen Gedicht »Der ›neue Kurs‹« pointiert zum Ausdruck: »Der ›neue Kurs‹ Schwamm Ueber das Baseler Programm! Wir wollen nur das Tärken- [sic!] Reich stärken. Und immer lauter, immer heftiger schrein: (Musik: Fest steht und treu die Wacht am Rhein) 1233 Ebd., S. 426. 1234 Hands off!, in: JR, XIV. Jg., Nr. 40/41 (05. 10. 1909), S. 449f. Ähnlich auch Weinberg, L. [Jehuda, Louis]: Der IX. Kongress. Programmschmerzen, in: JR, XIV. Jg., Nr. 39 (22. 09. 1909), S. 443. 1235 Lichtheim, Richard: Entwirrung. II. Politischer Zionismus, in: JR, XIV. Jg., Nr. 42 (15. 10. 1909), S. 461.

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Nur gute Türken woll’n wir sein! Wir gründen ’nen entsprechenden Zentralverein Und sehn allmählich wie ein Ei dem andern gleich Den lieben Leuten ›im Deutschen Reich‹.«1236

Epsteins Gedicht ist nur ein Beispiel dafür, dass deutsche Zionisten den Konflikt um die Programmänderung ganz wesentlich vor der Folie ihrer eigenen Erfahrungen und Erwartungen in Deutschland interpretierten. Die Forderung nach Abänderung des »Baseler Programms« führte zum entschiedenen Widerstand der dezidiert ›politischen Zionisten‹, für die Begriffe wie »öffentlich-rechtlich«, »Charter« und »Autonomie« sozusagen zum Grundvokabular des Zionismus gehörten.1237 Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang auch die prägnante Formulierung eines Zionisten in der ›Programm-Debatte‹, der davor warnte, den Herzlschen Zionismus als »Ewigkeitsprogramm« zu betrachten, womit er praktisch den Anspruch des ›politischen Zionismus‹ auf Deutungshoheit in Frage stellte.1238 Die Diskussion über die genannten Begriffe hatte die ZO seit ihrer Gründung begleitet und bereits im Vorfeld sowie während des Ersten Zionistenkongresses 1897 in Basel zu kontroversen Debatten im zionistischen Kollektiv geführt.1239 Gemeinsam war allen genannten ›zionistischen Grundbegriffen‹, dass keine allgemein verbindliche Definition für sie existierte und sie daher von jedem Zionisten unterschiedlich interpretiert werden konnten.1240 Je nach subjektiver Gefühlslage, (aktuellen) politischen Verhältnissen, programmatischen Erfordernissen und individuellem Erwartungs- und Erfahrungshorizont konnten verschiedene Konzepte mit ihnen verbunden und ganz unterschiedliche Deutungen an sie herangetragen werden. Auch die Historiographie zum Zionismus hat sich bislang, mit wenigen Ausnahmen, kaum mit einer begriffsgeschichtlichen Aufarbeitung beschäftigt.1241 Insgesamt hatten sich die Formulierung der zionistischen Forderungen in den diplomatischen Korrespondenzen und die Fassung eines eigenen Grundsatzprogrammes in der europäischen Öffentlichkeit keineswegs einfach gestaltet. Die Zionisten lavierten dabei gewissermaßen zwischen der Rücksichtnahme auf die staatlichen Interessen des Osmanischen Reiches sowie der potentiellen europäischen Garantiemächte und der Erhaltung der nötigen eigenen Handlungsspielräume bezüglich eines jüdischen Gemeinwesens in Palästina. Dies 1236 1237 1238 1239 1240 1241

Epstein, Harry : Der »neue Kurs«, in: JR, XIV. Jg., Nr. 37/38 (15. 09. 1909), S. 428. Vgl. dazu auch Meybohm, Wolffsohn, S. 264–275. Fischer, Türkei (1), S. 100. Vgl. Meybohm, Wolffsohn, S. 264; Bodenheimer, Israel, S. 83–85. So auch Meybohm, Wolffsohn, S. 269, 275. Vgl. ebd., S. 266, 269.

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hatte im Allgemeinen dazu geführt, dass in der Regel (absichtlich) unscharfe Begrifflichkeiten gewählt wurden, die im Falle einer Erreichung von potentiellen Zielen flexibel und breit interpretierbar waren.1242 In den privaten Korrespondenzen der zionistischen Führungspersönlichkeiten und in nicht-öffentlichen Versammlungen wurde hingegen offen ein souveräner, autonomer jüdischer Staat gefordert. Dieses diplomatische Dilemma lässt sich geradezu paradigmatisch an eben den Begriffen zeigen, welche Gegenstand der ›Programm-Debatte‹ wurden. Da Herzl nach seinem ersten Zusammentreffen mit der Hohen Pforte im Juni 1896 erkannt hatte, dass die Forderung nach einem »Judenstaat«, wie er seine programmatische Schrift genannt hatte, auf absehbare Zeit nicht zu erfüllen war, wurde in das »Baseler Programm« aus Rücksicht auf die osmanischen Befindlichkeiten und die Interessen der Chibbat-Zion-Gruppen die Formulierung der »jüdischen Heimstätte« aufgenommen, welche bewusst unbestimmt gehalten war.1243 Auch die Formulierung einer »völkerrechtlich« gesicherten Heimstätte, die Herzl ursprünglich auf dem Ersten Zionistenkongress neben »öffentlichrechtlich« und »rechtlich« in den Raum geworfen hatte, wurde nach vehementen Protesten verworfen und die begriffliche Fassung stattdessen einer eigenen Kommission übertragen, die sich letztlich für den gewollt unscharfen Begriff »öffentlich-rechtlich« entschied.1244 Der Begriff »öffentlich-rechtlich« war paradoxerweise genau deshalb gewählt worden, weil er aus Sicht der Kommissionsmitglieder eben nicht nur auf die exklusive Einbindung der westlichen Mächte abzielte, sondern auch gerade auf das Osmanische Reich abhob.1245 Eine ganz ähnliche Entwicklung erlebte der Begriff »Autonomie«, der im Gegensatz zu einem ersten Charterentwurf (wohl 18961246) nicht mehr im offiziellen diplomatischen Grundprogramm der Zionisten auftauchte, sondern 1242 Vgl. ebd., S. 267. 1243 Zur Diskussion um die Formulierung des Begriffes »Heimstätte« vgl. Meybohm, Wolffsohn, S. 264; 266–269; Penslar, Zionism, S. 54. Meybohm, Wolffsohn, S. 266–269 und Penslar, Zionism, S. 54, verweisen auf die unterschiedlichen Quellen des Begriffs »Heimstätte«. Im zeitgenössischen Diskurs wurde die Bezeichnung »Heimstätte« meist gleichbedeutend mit »Haus« oder dem »staatlichen sozialen Wohnungsbau« verwendet. Eine besondere Konnotation erlebte der Begriff in der sog. ›Heimstättenbewegung‹, welche sich auf die Verteilung oder Verpachtung von Land an Siedler nach dem sog. »Homestead Act« (1862) in den Vereinigten Staaten von Amerika bezog. Eine wichtige Rolle und Vorbildfunktion spielte für die zionistische Begriffsprägung auch das Landerwerbsprinzip der Kolonialgesellschaften, das im Besonderen Herzl in seinen schriftlichen Anweisungen zu den Charterentwürfen um die Jahrhundertwende betonte. 1244 Vgl. Nordau, in: Stenographisches Protokoll der Verhandlungen des IX. Zionisten-Kongresses in Hamburg. Vom 26. bis inklusive 30. Dezember 1909, Köln/Leipzig 1910, S. 16– 26, hier S. 22f. 1245 Vgl. Protokoll 1897, S. 113–119; Vital, Origins, S. 365–370; Meybohm, Wolffsohn, S. 268. 1246 Vgl. zur Datierungsfrage Meybohm, Wolffsohn, S. 270.

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durch vorsichtige Wendungen und Spezifizierungen wie dem »alleinigen und ausschließlichen Recht der Kolonisation« (1899) oder »eigener Verwaltung und Gerichtsbarkeit« (1900) ersetzt wurde, um gegenüber den Vertretern des osmanischen Staatswesens keinen Anstoß zu erregen.1247 Die unterschiedlichen Charterentwürfe nach 1900 sahen daher vor, dass die jüdischen Einwanderer unter Aufgabe ihrer vorherigen Staatsbürgerschaft die osmanische Staatsbürgerschaft annehmen und den osmanischen Wehrdienst ableisten sollten.1248 Ähnlich flexibel gestaltete sich ohnehin der Begriff »Charter«, zu dem ebenfalls keine offizielle, verbindliche Definition existierte.1249 Aus den Forderungen in den verschiedenen Charterentwürfen, die von Herzl oder führenden politischen Zionisten wie Max Bodenheimer und Max Nordau stammten, und den überlieferten Anweisungen und Kommentaren Herzls geht hervor, dass die Zionisten damit wohl nach dem Vorbild der deutschen Kolonialgesellschaften in Deutsch-Ostafrika und Neuguinea sowie dem Pachtvertrag der deutschen Regierung mit China bezüglich Kiautschou (1898) den deutschen »SchutzbriefKonzessionen« entsprechende Hoheitsrechte über beispielsweise den Erwerb und die Veräußerung von Land, Selbstbestimmungs- und Selbstverwaltungsrechte verbanden.1250 Die ›Programm-Debatte‹ zeigte nicht zuletzt, dass in Teilen des (deutschen) Zionismus ein Erkenntnisprozess eingetreten war bzw. offen thematisiert wurde, nach dem die Erlangung eines Charters und damit eine der Grundforderungen eines dezidiert politischen Zionismus für nicht in absehbarer Zeit erreichbar oder für unnötig bzw. sekundär erachtet wurde. Bereits auf dem Sechsten Zionistenkongress 1903 in Basel war es darüber zu einer kontroversen Diskussion gekommen, in der Davis Trietsch aus der Sicht der praktischen Zionisten die innere Widersprüchlichkeit der Begriffe und die daraus entstehende Ziellosigkeit des Zionismus öffentlich angeprangert hatte. Aus seiner Sicht war bereits zu diesem Zeitpunkt die Inhaltsleere und Zukunftslosigkeit des Chartergedankens offensichtlich geworden.1251 In der ›ProgrammDebatte‹ in den Jahren 1908 und 1909 hatte ein außenpolitisches Ereignis, ge1247 1248 1249 1250 1251

Vgl. dazu ausführlich ebd., S. 269–275. Vgl. dazu ausführlich ebd., S. 273. Vgl. ebd., S. 269. Vgl. ebd., S. 271–273. Vgl. Protokoll 1903, S. 43: »Man will die Selbstverwaltung, die Autonomie. Da gehört denn doch sehr wenig Überlegung dazu, um zu begreifen, dass eine jüdische Autonomie nur da existieren oder billigerweise verlangt werden kann, wo eine jüdische Majorität existiert. Ein jüdischer Charter oder eine jüdische Autonomie für ein Palästina mit vorwiegend mohammedanischer Bevölkerung ist ganz widersinnig und wird niemals von der Türkei zu bekommen sein. Denn das hieße ja, dass die Türkei der jüdischen Minorität des Landes die Herrschaft über die große Mehrzahl ihrer eigensten Landeskinder einräumt. Daran ist nicht zu denken. Trotzdem scheint dies die im offiziell-zionistischen Lager herrschende Ansicht zu sein.« Vgl. Meybohm, Wolffsohn, S. 274f.

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bündelt mit der ambivalenten Imperialismuskritik deutscher Zionisten, die im folgenden Kapitel eingehend thematisiert wird, die deutschen Zionisten vor die Herausforderung gestellt, ihre Vorstellungen von ›zionistischem Nationalismus‹ (neu) zu überdenken und zu formulieren. Mitte November 1909 sprachen sich schließlich die Plenarsitzung des GAC, das Zentralkomitee der ZO Russlands und die ZVfD gegen die Programmänderung aus,1252 die danach ganz offiziell (vorerst) als »erledigte Frage« galt.1253

2.3

Das zionistische Kollektiv als ›Kolonisierter‹ und ›Kolonisierer‹1254

Neben seiner engen Verschränkung mit den bereits genannten Diskursfeldern interagierte der deutsche Zionismus auch mit dem deutschen Kolonialismus und Imperialismus. Die Form ihrer Beziehung bildete nicht zuletzt einen prominenten Streitgegenstand in den großen historischen Fachkontroversen der 1980er und 1990er Jahre in Israel, die eine intensive Auseinandersetzung über das eigene Geschichtsbild und Selbstverständnis mit sich brachten.1255 Auslöser für diese Schlüsseldebatten waren die Untersuchungen einer Reihe von israelischen Historikern und Soziologen, welche den Zionismus sowohl hinsichtlich seiner ideologisch-programmatischen Grundlagen als auch seiner politischen und sozioökonomischen Praxis mit der Kolonialpolitik der europäischen Mächte verglichen.1256 An den dabei aufgestellten Kolonialismus-Thesen wurde jedoch – von ihrer gesellschaftlichen Sprengkraft abgesehen – im wissenschaftlichen Kontext von verschiedenen Seiten Kritik geübt, welche sich auf die Frage nach der prinzipiellen Vergleichbarkeit von Zionismus und europäischem 1252 Vgl. Aktuelle Fragen, in: JR, XIV. Jg., Nr. 47 (19. 11. 1909), S. 521f. 1253 Gespenster, in: JR, XIV. Jg., Nr. 48 (26. 11. 1909), S. 536. 1254 Die These, dass der Zionismus als Position »zwischen« Kolonialismus und Antikolonialismus zu werten ist, beruht auf den Thesen Stefan Vogts, die im Folgenden vorgestellt werden. Vgl. zum Folgenden daher Vogt, Positionierungen, S. 113–195, insbes. S. 186–195 (Kap. 2.6: »Zionisten als kolonisierende Kolonisierte«). 1255 Für einen Überblick über die Debatte und ihre Themen vgl. den Sammelband von Schäfer, Historikerstreit sowie die Themenhefte der Zeitschriften History & Memory 7:1 (1995) und The Journal of Israeli History 20:2/3 (2001). Zum Verhältnis von Zionismus und Kolonialismus allgemein vgl. Vogt, Positionierungen, S. 113–118. 1256 Zur Charakterisierung von Zionismus als Kolonialismus vgl. z. B. Kimmerling, Baruch: Zionism and Territory. The Socio-Territorial Dimensions of Zionist Politics, Berkeley 1983; Pappe, Ilan: Der Zionismus als Kolonialismus. Ein vergleichender Blick auf Mischformen von Kolonialismus in Afrika und Asien, in: Schäfer, Historikerstreit, S. 63– 93; Shafir, Gershon: Land, Labour and the Origins of the Israeli-Palestinian Conflict 1882– 1914, Cambridge 1989; Shamir, Ronen: The Colonies of Law. Colonialism, Zionism and Law in Early Mandate Palestine, Cambridge 2000.

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Kolonialismus und der Strukturen der Kolonialgesellschaften bezog.1257 Thematische Schwerpunkte bildeten darin zum einen die jüdische Kolonisation Palästinas bzw. die Beziehungen zwischen Juden und Arabern vor der Staatsgründung Israels und zum anderen die Rolle des Jischuws und des späteren Staates Israel im Kontext des Kolonialismus nach dem Ersten Weltkrieg und der fortschreitenden Dekolonisation.1258 Der europäische Kolonialismus fungierte hier also im Wesentlichen als negative Kontrastfolie, nicht jedoch als allgemeiner Bezugsrahmen, innerhalb dessen sich der Zionismus herausbildete und beide Seiten sich somit gegenseitig mitkonstituierten. Der israelische Historiker Avi Bareli mahnte daher bereits in einem Aufsatz aus dem Jahr 2001, dass die auf den Zionismus bezogene Kolonialismusforschung »Europa vergessen«1259 hätte. Die Kolonialismusthese sei zu verwerfen, weil sie die europäischen Einflüsse auf den Zionismus unterschlagen hätte.1260 Stefan Vogt hat daher in seinen Untersuchungen in einer Abwandlung von Barelis Thesen den berechtigten Einwurf erhoben, dass die wissenschaftliche Forschung zum Verhältnis von Zionismus und Kolonialismus bis dato die Frühzeit des Zionismus und damit die wichtige Tatsache ignoriert habe, dass der Zionismus immer auch der »von Juden unternommene Versuch [gewesen sei], das Judentum innerhalb der europäischen Moderne neu zu verorten«1261. Dies zöge eine grundsätzliche Neubewertung des Verhältnisses von Zionismus und Kolonialismus sowie Imperialismus und ihrer ideologischen Fundierung mit sich, da der Zionismus sich zugleich als Teil als auch als Gegendiskurs zu den europäischen Kolonialismus- und Imperialismusdiskursen verstanden hätte: »Der Zionismus ist weder als Kolonialismus noch ohne den Kolonialismus adäquat zu beschreiben.«1262 So hätten beispielweise deutsche Zionisten, auf die sich Vogt in seinen Untersuchungen konzentriert, nicht nur an den kolonialen Diskursen im Deutschen Kaiserreich partizipiert, sondern sich auch wesentlich an der Ausgestaltung kolonialer deutscher Politik beteiligt und darüber hinaus ihre eigenen Projekte hinsichtlich einer Kolonisation Palästinas in den Dienst der deutschen Kolonialpolitik gestellt.1263 Allerdings hätten sich diese zionisti1257 Zur Kritik an den Kolonialismus-Thesen vgl. z. B. Bareli, Avi: Forgetting Europe. Perspectives on the Debate about Zionism and Colonialism, in: The Journal of Israeli History 20 (2001), S. 99–120. Die Mittelposition nimmt Derek Penslar ein. Vgl. Penslar, Colonialism. Vgl. dazu auch Vogt, Positionierungen, S. 114f. 1258 Vgl. Schäfer, Historikerstreit sowie die Themenhefte der Zeitschriften History & Memory 7:1 (1995) und The Journal of Israeli History 20:2/3 (2001). Vgl. dazu auch Vogt, Positionierungen, S. 114. 1259 Bareli, Forgetting Europe. 1260 Ebd., S. 112. Vgl. dazu auch Vogt, Positionierungen, S. 115. 1261 Vogt, Positionierungen, S. 115. 1262 Vgl. ebd. 1263 Vgl. dazu auch die Einleitung der vorliegenden Arbeit (I.).

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schen Artikulationen und Beiträge zum deutschen Kolonialismus immer auch von denen eines nichtjüdischen Kolonialismus unterschieden, indem die deutschen Zionisten zugleich auch antihegemoniale Diskurspositionen vertreten hätten.1264 Die (deutschen) Zionisten hätten damit – ganz im Sinne von Homo K. Bhabhas postkolonialer Theorie eines in-between space, die in der vorliegenden Arbeit auf mehrere Felder des zionistischen Nationalismus übertragen und angewandt wird, – eine ambivalente Zwischenposition eingenommen, »in der sie sowohl koloniale als auch antikoloniale Vorstellungen entwickeln und diese miteinander verbinden, damit aber auch antihegemoniale Strategien der Selbstvergewisserung entfalten konnten«1265. Einen wesentlichen Einfluss auf die antikolonialen Positionierungsversuche des (deutschen) Zionismus im Feld des Kolonialismus und Imperialismus nahmen nicht zuletzt die bereits in anderen Zusammenhängen beobachteten (subjektiven) zionistischen Erfahrungen von antisemitischer1266 Diskriminierung, Zurückweisung und Verfolgung ein, welche die Lebenswelt der Zionisten im Deutschen Reich und in Europa prägten und als solche auch Kernelemente des zionistischen Diskurses bildeten.1267 Gerade in diesem Schnittfeld erfolgten entscheidende Weichenstellungen für die Konstruktion zionistischer Hybridität, indem die zionistischen Autoren mit der Verwendung antikolonialer Narrative nicht zuletzt immer auch antisemitische Positionen zurückweisen wollten. Auch die Diskrepanz zwischen den (positiven) Erwartungen wie der Hoffnung auf gesellschaftliche Gleichberechtigung in Folge der 1871 erlangten rechtlichen Gleichstellung und den tatsächlichen (negativen) Erfahrungen wie beruflicher Zurücksetzung und antisemitischen Zuschreibungen beeinflusste die Formulierung von Grenzziehungen und Zugehörigkeiten erheblich.1268 Die sich daraus ergebende Erwartungshaltung, die als Konsequenz an entsprechende Vorstellungen von ›Zionismus‹ herangetragen wurde, spielte in diesem Prozess eine wesentliche Rolle. Im Folgenden sollen daher in einem ersten Unterkapitel die Position der 1264 Vgl. Vogt, Positionierungen, S. 115–118, 186–195. 1265 Ebd., S. 195. 1266 Unter Antisemitismus soll als Arbeitsdefinition in Anlehnung an Wolfgang Benz verstanden werden: »Das Wort ›Antisemitismus‹ dient einerseits als Oberbegriff für jede Art von Judenfeindschaft. Andererseits charakterisiert es im engeren Sinne, als Wortbildung des letzten Drittels des 19. Jahrhunderts, eine neue pseudowissenschaftlich und nicht religiös, sondern mit ›Rassen‹-Eigenschaften und -Merkmalen argumentierende Form des antijüdischen Vorbehalts. Von diesem modernen Antisemitismus ist der religiös motivierte, ältere Antijudaismus zu unterscheiden« (Benz, Wolfgang: Antisemitismus und Antisemitismusforschung, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 11. 02. 2010, hier S. 1. URL: [letzter Zugriff erfolgt am 22. 08. 2016].). 1267 Vgl. dazu auch Vogt, Positionierungen, S. 117f. 1268 Vgl. dazu auch Koselleck, Kategorien.

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deutschen Zionisten gegenüber dem Antisemitismus und die Schlüsse, die sie daraus für die Formulierung ihrer eigenen Gemeinschaftsvorstellungen und von ›Zionismus‹ an sich zogen, am Beispiel der Deutung der Pogrome von Kischinew 1903 und eines kurzen Blickes auf das Antisemitismusbild in Bezug auf das Russische Reich und Preußen untersucht werden. Was dies wiederum für die zionistische Auseinandersetzung mit dem europäischen Kolonialismus und Imperialismus sowie seine ideologischen Grundlagen bedeutete, soll in einem zweiten Unterkapitel anhand ausgewählter Beispiele erläutert werden. Gemäß des Ansatzes der vorliegenden Studie soll die Ebene der praktischen Umsetzung der ersonnenen kolonialen Ideologie dabei ebenso ausgespart werden wie größtenteils der Inhalt und die Strukturen der deutschen Kolonisationspolitik und Kolonisationspraxis.1269

2.3.1 Der Antisemitismus und das zionistische Russlandbild als Antithesen zu ›Kultur‹ und ›Zivilisation‹ In Kischinew (heute: Chisina˘u/Moldova), der Hauptstadt des Gouvernements Bessarabien am Rande des Russischen Reiches, hatten am 6.jul./19. April 1903greg. und 7.jul./ 20. April 1903greg. schwere Ausschreitungen gegen die jüdischen Bewohner der Stadt stattgefunden, welche in der historischen Forschung als »Pogrom« und »antisemitisch« charakterisiert werden.1270 Der Pogrom in Kischinew bildete den Auftakt einer Reihe von Pogromen im Russischen Reich, die bis in das Jahr 1906 andauerten und die sich in Verlauf, Intensität, Ursachen und beteiligten Personengruppen mitunter erheblich voneinander unterschieden.1271 Im Unterschied zu früheren antijüdischen Ausschreitungen wie denjenigen der Jahre 1881 bis 1884 etwa wiesen sie eine bis dato ungekannte Höhe an Opferzahlen und Brutalität der Gewaltanwendung gegenüber Juden auf.1272 Schätzungen einer vom Zionistischen Hilfsfonds in London errichteten Untersuchungskommission zufolge, welche im Jahr 1910 im »Jüdischen Verlag« veröffentlicht wurden und sich mit den heutigen Ergebnissen der historischen Forschung auffallend treffen, hatten die Pogrome in Kischinew zahlreiche Todesopfer, Hunderte von Verletzten, welche zum Teil schweren körperlichen 1269 Vgl. dazu Penslar, Zionism; Vogt, Positionierungen, S. 186–195. 1270 Vgl. Hilbrenner, Anke: Pogrome im Russischen Reich (1903–1906), in: Benz, Wolfgang (Hg.): Handbuch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart, Bd. 4: Ereignisse, Dekrete, Kontroversen, Berlin 2011, S. 298f.; Penkower, Monty Noam: The Kishinev Pogrom of 1903. ATurning Point in Jewish History, in: Modern Judaism 24:3 (2004), S. 187–225; Hohmann, Andreas W./Mümken, Jürgen (Hg.): Kischinew. Das Pogrom 1903, Lich 2015; Schlöffel, Loewe, S. 237f. 1271 Vgl. Hilbrenner, Pogrome, S. 298. 1272 Vgl. ebd.

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Misshandlungen und Vergewaltigungen ausgesetzt waren, und 800 beschädigte oder zerstörte Häuser, Wohnungen und Geschäfte zur Folge.1273 Die Ausschreitungen schlugen hohe diskursive Wellen und wurden nicht nur in der jüdischen und zionistischen Presse, sondern auch in der Weltpresse heftig diskutiert und führten zu (vergeblichen) diplomatischen Interventionen unterschiedlicher Seite.1274 Die zionistische Diplomatie stellten die Ereignisse unter den großen Druck, in den Verhandlungen mit dem Osmanischen Reich und den europäischen Mächten sichtbare Erfolge vorzuweisen, und Herzl, der im August 1903 zu einem Treffen mit der russischen Regierung unter Plehwe nach St. Petersburg aufbrach, vor das politische Dilemma, ob die politische Leitung des Zionismus überhaupt mit der Regierung eines ›antisemitischen Regimes‹ verhandeln sollte.1275 Das Verhalten Herzls und der Führungselite des ›politischen Zionismus‹ in der sog. »Ostafrika-Frage« muss, wie bereits erwähnt, auch vor diesem Hintergrund beurteilt werden.1276 Auch deutsche Zionisten widmeten dem Ereignis monographische Untersuchungen wie Berthold Feiwel, dessen umfassende Studie zum Pogrom, die neben einer Chronologie der historischen Ereignisse auch Bildmaterial von Verletzten und Toten sowie ein von Ephraim Moses Lilien gezeichnetes Weiheblatt einarbeitete, noch im selben Jahr, im Jüdischen Verlag, erschien.1277 Frank Schlöffel hat darauf hingewiesen, dass die Rhetorik und Sprache, die Berthold Feiwel in seiner Abhandlung verwendete, in der er beispielsweise von den Taten »[m]enschlicher Bestien«1278 sprach, in ihrer Metaphorik an die hebräischen

1273 Vgl. Kischinew (1903), bearbeitet von Told [d.i. Berthold Feiwel], in: Die Judenpogrome in Russland, Bd. 2: Einzeldarstellungen, hg. i. A. des Zionistischen Hilfsfonds in London von der zur Erforschung der Pogrome eingesetzten Kommission, Köln/Leipzig 1910, S. 5–24. 1274 So sandte beispielsweise der amerikanische Präsident Theodore Roosevelt auf Initiative einer Bnei-Brith-Delegation Mitte Juli 1905 eine Petition an die russische Regierung unter Zar Nikolaus II., die unbeantwortet blieb, aber in den Vereinigten Staaten von Amerika die Unterschrift von fast 13 000 Personen erlangen konnte. Auch der Hilfsverein der deutschen Juden unter dem Vorsitz von Paul Nathan rief die Vertreter von relevanten jüdischen Organisationen aus verschiedenen Ländern zu einer Erörterung der Situation zusammen. Vgl. Penkower, Pogrom, S. 191. 1275 Vgl. ebd., S. 192. 1276 Vgl. dazu auch die bereits zitierte Eröffnungsrede Theodor Herzls auf dem Sechsten Zionistenkongress 1903, in der er das Angebot der britischen Regierung eines Territoriums für die jüdische Besiedlung in Ostafrika narrativ mit Kischinew verknüpfte: »Denn die blutigen Tage der bessarabischen Stadt sollen uns nicht vergessen machen, dass es noch manches andere Kischinew, und nicht nur in Russland gibt. Kischinew ist überall, wo Juden an Leib und Seele gequält, an der Ehre gekränkt und am Vermögen geschädigt werden, weil sie Juden sind.« (Herzl, in: Protokoll 1903, S. 4.). Vgl. dazu auch Schlöffel, Loewe, S. 238. 1277 Vgl. Told [d.i. Berthold Feiwel]: Die Judenmassacres in Kischinew, Berlin [1903]. 1278 Vgl. ebd., S. 27.

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Berichte über Judenverfolgungen zur Zeit des Ersten Kreuzzuges erinnerte.1279 Als Beispiel nennt Schlöffel etwa das Narrativ »Kidush Ha-Shem«, das jüdische Sterben im Namen Gottes, das von den Autoren mit dem historischen Ereignis semantisch verknüpft wurde.1280 In den zionistischen Zeitungen wie in der Welt und der Jüdischen Rundschau wurde der Pogrom seit Anfang Mai 1903 ausführlich thematisiert und die Leser im Namen des Zentralkomitees der ZVfD zu Spenden und Hilfsmaßnahmen aufgerufen.1281 In den Berichten in der Jüdischen Rundschau wurden im Besonderen die Gräueltaten, die an den Kischinewer Juden, unabhängig ihres Alters und Geschlechts, mit »unmenschlicher Grausamkeit« und »roher Gewalt«1282 begangen worden waren, in den Mittelpunkt gerückt und mitunter detailliert geschildert. Neben der minutiösen, in hohem Maße bildhaften Schilderung der einzelnen Gewalttaten unternahmen die Beiträger darüber hinaus häufig den Versuch einer Individualisierung des Opfergeschehens, indem verschiedene Einzelschicksale herausgehoben wurden oder den Opfern ein Name gegeben wurde. Über diese Herstellung von empathischen Bezügen appellierten die zionistischen Autoren an die Emotionen der Leser, um die Notwendigkeit und Dringlichkeit eines Auswegs aus dem geschilderten Leid zu untermauern. Darüber hinaus wurde ›Kischinew‹ als symbolischer Angriff auf alle Juden in der Welt gewertet. Nicht nur der Einzelne, sondern das gesamte ›jüdische Volk‹ sei in der russischen Stadt körperlich misshandelt und verfolgt worden.1283 Die russischen Juden, die im Zuge der Ausschreitungen ermordet worden waren, wurden zu »Märtyrer[n] ihrer Nation«1284 stilisiert, die ihr Jüdischsein bis zum Tode verteidigt und ihr Leben stellvertretend für das nationaljüdische Kollektiv gelassen hätten.1285 Die Erschütterung, die das ›jüdische Volk‹ in Kischinew getroffen hatte, verglich Loewe, aus dessen Feder die meisten Beiträge zum 1279 Vgl. Schlöffel, Loewe, S. 237f. 1280 Vgl. ebd. 1281 Vgl. Redaktion der »Jüdischen Rundschau«: Jüdische Stammesbrüder, in: JR, VIII. Jg., Nr. 19 (08. 05. 1903), S. 173f.; Loewe, Heinrich: Martinique in Kischinew, in: JR, VIII. Jg., Nr. 19 (08. 05. 1903), S. 174–176; Elijahu [Loewe, Heinrich]: Die Ereignisse in Kischinew (1), in: JR, VIII. Jg., Nr. 19 (08. 05. 1903), S. 176–178; L., H.: Ein Markstein, in: JR, VIII. Jg., Nr. 21 (22. 05. 1903), S. 197; Elijahu: Die Ereignisse in Kischinew (2), in: JR, VIII. Jg., Nr. 22 (29. 05. 1903), S. 210–212; Loewe, Heinrich: Die Waisen von Kischinew, in: JR, VIII. Jg., Nr. 23 (05. 06. 1903), S. 221f.; Elijahu: Die Ereignisse in Kischinew (3), in: JR, VIII. Jg., Nr. 23 (05. 06. 1903), S. 222f.; Loewe, Heinrich: Im eisernen Ofen von Kischinew, in: JR, Nr. 33 (14. 08. 1903), S. 339f.; Gt.: Die Schreckenstage von Kischinew, in: Die Welt, 15. 05. 1903, S. 3f. 1282 Vgl. Redaktion, Stammesbrüder, S. 173. 1283 Vgl. ebd. 1284 Ebd. 1285 Vgl. ebd.

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Thema in der Jüdischen Rundschau stammten, mit dem Vulkanausbruch der Montagne Pel8e auf Martinique 1902. Dieser war als Jahrhundertkatastrophe in die (Natur-)Geschichte des ›langen‹ 19. Jahrhunderts eingegangen und hatte mehreren zehntausend Menschen das Leben gekostet.1286 Daneben sticht aus den Beiträgen in der Jüdischen Rundschau wiederholt das Deutungsmuster der Kultur- und Zivilisationsfeindlichkeit des europäischen Antisemitismus ins Auge.1287 Die Brutalität der Gewaltanwendung und die menschlichen Abgründe, die sich in Kischinew auftaten, erinnerten Loewe an das ›finstere Mittelalter‹ und hätten darin noch die mittelalterlichen Judenverfolgungen sowie die grausamen Verbrechen der Inquisition übertroffen.1288 Aus der Sicht der Zionisten stellte Antisemitismus daher durch seine implizite Inhumanität und Irrationalität die Antithese von ›Kultur‹ und ›Zivilisation‹ dar, wodurch man diese Eigenschaften in positiver Umkehr implizit oder explizit, wie im vorhergehenden Kapitel erläutert wurde, als Wesensmerkmale des eigenen Kollektivs auswies.1289 Zugleich unternahmen die Autoren in ihren Artikeln eine doppelte Zivilisationskritik, indem sie die Ambivalenz der modernen christlichen, abendländischen »Kulturwelt«, die auch den Antisemitismus in seiner gegenwärtigen Form, der aus ihrer Sicht einen zivilisatorischen Rückschritt in der menschlichen Entwicklungsgeschichte darstellte, hervorgebracht hatte, bloßstellten und anprangerten.1290 Insgesamt hoben die Beiträge in der Jüdischen Rundschau die praktische Unentrinnbarkeit, Allgegenwärtigkeit und (historische) Zyklizität von Antisemitismus hervor.1291 Der zentrale Platz, den die antisemitische Erfahrung mittlerweile im zionistischen Gedächtnis und Geschichtsbewusstsein einnahm, lässt

1286 Vgl. Loewe, Martinique, S. 174. 1287 Vgl. auch Loewe, Heinrich: Die Königswahl in Serbien, in: JR, VIII. Jg., Nr. 25 (19. 06. 1903), S. 243f. 1288 Vgl. Redaktion, Stammesbrüder, S. 173. 1289 Vgl. dazu Kap. III.1.2.2 der vorliegenden Arbeit. 1290 Vgl. z. B. Redaktion, Stammesbrüder, S. 173: »Wir wollen nicht an das Menschentum appellieren, denn wir können keinen Glauben an die Menschheit haben, wenn beinahe zwei Jahrhunderte lang die Lehre vom Gott der Liebe den Siegeszug durch die Kulturwelt angetreten hat, und dieselbe Kulturwelt seit ebenfalls zwei Jahrtausenden verschworen zu sein scheint, alles zu unterdrücken, was Jude heisst.« Vgl. dazu auch Eljaqim [Loewe, Heinrich]: Weiss und Gelb, in: JR, IX. Jg., Nr. 8 (19. 02. 1904), S. 69f., hier S. 69: »Ja! Das kulturelle Europa! Damit hat es so seine eigene Bewandtnis. Das kulturelle Europa hat nämlich nicht nur einen Shakespeare und Goethe, nicht bloss einen Kant und Robert Mayer, nicht allein einen Mirabeau und eine Bertha von Suttner hervorgebracht. Das kulturelle Europa hat auch die Pückler und Bruhn, die Ahlwardt und Liebermann von Sonnenberg, die Stöcker und Mucker erzeugt. Das kulturelle Europa hat auch neben den eigenen Kindern Stiefkinder […].« 1291 Vgl. dazu auch Schlöffel, Loewe, S. 238.

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sich an einem Beitrag von Theodor Zlocisti ablesen, der in der Jüdischen Rundschau am 5. Juni 1903 erschien: »Die grause Tragödie von Kischinew spricht eine erschreckend-eindringliche Sprache. Auch die Schwerhörigen werden und müssen sie verstehen; und selbst die Blödesten werden die Ereignisse in Kischinew anfügen an alle die Einzelerscheinungen der letzten Jahrzehnte, und die Erneuerung alter Erinnerungsbilder wird ihnen eine laute und ewig bestimmende Vorstellung werden. Die Ringe schließen sich zur Kette; und die Symptome wachsen zum System empor. Der Quell unserer Tröstungen versiegt allgemach. Unser lebensfreudiger Optimismus, den Gott seinem auserwählten Volke als Lebensodem in die Seele blies, erschlafft unter der Wucht gigantischer Nöte. […] Das neunzehnte Jahrhundert, das die seelischen Grundkräfte unseres Volkes in ihren Aeusserungen so wesentlich umgesetzt hat, sah unseren lebensgierigen Optimismus sich eigen betätigen. Die äusserliche Ruhelage, die uns in grossartigster Pose, die mit Menschheitsphrasen ausgepolsterte Kultur der Neuzeit gestattete, kleidete unser Optimismus mit allen Reizen und Schönheiten einer wahrhaften Gleichstellung aus. Allein, wie er uns früher gab, unser Leid zu vergessen, […] so verpuffte er sich jetzt in dem sprühenden Feuerwerk naiver Tröstungen und erschlaffender Entschuldigungen; Fortschritt und ›Zeitgeist‹ werden uns retten. […] Der Liberalismus mit seiner Backfischweisheit, dass Bildung, Zivilisation und Kultur die seelische Struktur der Menschen wandeln könnten, wäre uns fast zum Verhängnis geworden, […]. Wir fangen an, die wirklichen Faktoren im Leben der Menschengruppen zu begreifen; die treibenden Kräfte historischen Werdens zu analysieren und ihre Polarität zu erkennen, die Abstossung und Anziehung bedingen.«1292

Aus Zlocistis Beitrag spricht ein in der Jüdischen Rundschau im Kontext von Kischinew weit verbreiteter Kulturpessimismus, in dessen Folge der Antisemitismus selbst als krisenhafte, pathologische Erscheinungsform einer ambivalenten ›Moderne‹ gedeutet wurde, in welche die Menschheit im Lauf des 19. Jahrhunderts gesteuert sei. Antisemitismus wurde in diesem Zusammenhang mit einem Verfall von ›Kultur‹ und ›Zivilisation‹ gleichgesetzt.1293 Wie Naturkatastrophen würden darüber hinaus auch Ausschreitungen gegenüber Juden in regelmäßigen Abständen in der Geschichte immer wiederkehren, Kischinew sei »nur ein Glied in der Kette der Judenverfolgung«.1294 Somit wurde ›Kischinew‹ in der zionistischen Publizistik geradezu zum Symbol für die Omnipräsenz des Antisemitismus: Der antisemitische Pogrom, der dort stattgefunden hätte, sei nicht an einen bestimmten Ort gebunden, sondern könne sich beliebig – überall und jederzeit – wiederholen:1295 1292 Zlocisti, Theodor : Eine Heimat!, in: JR, VIII. Jg., Nr. 23 (05. 06. 1903), S. 223f., hier S. 223. 1293 Zu den Deutungsmustern ›Kultur‹ und ›Zivilisation‹ in der deutschen Kulturkritik vgl. auch Beßlich, Wege, S. 16–27, insbes. 25–27. 1294 Loewe, Martinique, S. 174. 1295 Vgl. dazu auch Herzl, in: Protokoll 1903, S. 4.

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»Aber wir wollen zu bedenken geben, dass in jedem katholischen Orte und in jeder Stadt mit überwiegend katholischer Bevölkerung, ebenso aber auch in jeder protestantischen Gegend in Deutschland die gleichen Szenen wie in Kischinew sich abspielen könnten und nur deshalb nicht möglich sind, weil der preussische Staat denn doch sehr streng auf Ordnung sieht. Oder glaubt ihr, dass sich in Deutschland weniger Studenten und ›Gebildete‹ finden würden, die sich in gleicher Weise an der Judenschlacht beteiligen würden, wenn die Staatsbehörden es mit der gleichen Liebenswürdigkeit wie in Rumänien und Russland gestatten wollten?«1296

Trotz der Betonung der geographischen und zeitlichen Indeterminiertheit und damit Potenz von Antisemitismus verband sich die Deutung von antisemitischer Verfolgung, Zurücksetzung und Ausgrenzung in der Jüdischen Rundschau in erster Linie mit dem Russischen Reich und dem Deutschen Reich bzw. Preußen, was sich ganz konkret aus der alltäglichen Lebenswelt der Zionisten ergab. Die Begriffe und Bilder, die Loewe zur Charakterisierung der Regierung des russischen Zarenreiches, dem die Zionisten eine direkte Mitverantwortung an den Pogromen zuwiesen und als Hort von Antisemitismus betrachteten,1297 so z. B. in der Berichterstattung über Kischinew verwendete, stammten dabei in erster Linie aus dem zeitgenössischen deutschen Russland-Diskurs, der von der historischen Forschung im deutschen Kontext umfassend untersucht worden ist.1298 In den zionistischen Beschreibungen wurde das Russische Reich durch ›Rohheit‹ und ›Barbarei‹, ›Despotismus‹ sowie ›Terrorismus‹1299 und damit als kulturell und zivilisatorisch ›minderwertig‹ charakterisiert, was, so die zionistische These, einen auffallenden Doppelstandard bezüglich der vordergründigen Religiosität und ›Christlichkeit‹ des Landes bildete.1300 Dem deutschen Diskurs entnahmen die Zionisten typische Redewendungen und Metaphern wie den 1296 Loewe, Martinique, S. 175. Vgl. dazu auch Sachse, Heinrich: Groß-Kischinew und KleinStegers, in: JR, IX. Jg., Nr. 5 (29. 01. 1904), S. 39–41, hier S. 41: »Aber wir wollten uns darüber klar werden, dass in jeder Stadt Russlands mit großer Judenbevölkerung ein Kischinew und ein Homel [Ort eines antisemitischen Pogroms im September 1903] geschehen kann, und dass es ebenso jedem Juden in Deutschland so gehen kann wie dem ›gestorbenen‹ Juden Levy in Stegers [Berthold Levy, ein jüdischer Schriftsetzer aus Warschau, der am 23. September 1903 in Stegers [ehemals: Posen-Westpreußen/Preußen, heute: Rzeczenica/Polen] zu Tode geprügelt wurde].« Vgl. dazu auch Schlöffel, Loewe, S. 238, Fn. 166. 1297 Vgl. Elijahu, Ereignisse (1); ders.: Ereignisse (2); ders.: Ereignisse (3). 1298 Zum deutschen Russlanddiskurs vgl. Zykova, Antonina: Zaren, Bären und Barbaren. Das mediale deutsche Russlandbild am Anfang des 21. Jahrhunderts und seine historischen Wurzeln (Studien zur Geschichte Ost- und Ostmitteleuropas; 11), Herne 2014; Wippermann, Wolfgang: Die Deutschen und der Osten. Feindbild und Traumland, Darmstadt 2007. 1299 Eljaqim [Loewe, Heinrich]: Kischinowski, in: JR, IX. Jg., Nr. 31 (05. 08. 1904), S. 335f., hier S. 335. 1300 Vgl. z. B. Loewe, Martinique, S. 125. Zum Deutungsmuster der ›Religiosität‹ oder ›Christlichkeit‹ des Russischen Reiches vgl. auch Zykova, Bären, S. 72–75.

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(wilden) »Moskowiter«1301, den »Barbaren«1302, »Slawen«1303 und »Mongolen« bzw. »(Halb-)Asiaten«1304.1305 Das Russische Reich wurde auf diese Weise in der Jüdischen Rundschau zum zionistischen »Todfeind«1306 und Feindbild der deutschen Zionisten par excellence stilisiert, von dem sich das zionistische Kollektiv abgrenzte und das auch die diplomatische Ausrichtung des Zionismus vor und während des Ersten Weltkriegs erheblich beeinflusste.1307 Die im Kontext des zionistischen Russlandbildes verwendeten Narrative bildeten demnach 1301 Eljaqim, Kischinowski, S. 335f.; Sachse, Heinrich: Ostasien und Südafrika, in: JR, X. Jg., Nr. 1 (06. 01. 1905), S. 1f., hier S. 2. 1302 Loewe, Martinique, S. 175. 1303 Oppenheimer, Makkabäer. S. 354. 1304 Ebd. 1305 Vgl. Zykova, Zaren, S. 85–106. 1306 Anon.: Nationale Gedanken. Von einem jungen Zionisten, in: JR, XIX. Jg., Nr. 41/42 (16. 10. 1914), S. 388. 1307 Vgl. z. B. die Feindbilder und Dichotomien, die Heinrich Loewe in seinem bekannten Artikel »Feinde ringsum«, der unmittelbar nach Kriegsausbruch am 7. August 1914 erschien und zum zionistischen Kriegseintritt auf deutscher Seite aufrufen möchte, entwarf. Vgl. Loewe, Feinde, S. 343f.: »Nicht mutwillig hat Deutschland den Krieg vom Zaune gebrochen. Immer wieder hat unser Kaiser versucht, den Frieden zu erhalten. Aber die Schutzmacht der serbischen Königsmörder hielt es für notwendig, auch diesmal wieder ihr Panier schützend über die Mordbuben zu halten und lieber einen Weltkrieg zu entfesseln, zu dem sie seit Jahren gegen Deutschland insgeheim rüstet, als der Gerechtigkeit freien Lauf zu lassen. Rußland hat es verstanden, eine Koalition von Feinden gegen unser Vaterland zusammenzubringen, die von allen Seiten gleichzeitig zum Angriff vorgeht. […] Daß der Herrscher des Landes der staatlich organisierten Judenverfolgungen jetzt sein Schwert zur Unterdrückung des Zentrallandes moderner Kultur zieht, ist nicht verwunderlich. Aber daß sich alte europäische Kulturstaaten finden, die sich mit Erbfeinden aller Gesittung und aller Freiheit verbinden, um das ›Land der Kultur‹ zu vernichten, dafür fehlt uns als Kulturmenschen jedes Wort. Indem Frankreich und England, Staaten alter Gesittung, sich mit der kosakischen Vormacht des finstersten Mittelalters zu dem freventlichen Versuche verbinden, das Land zu erwürgen, in dem das Herz der europäischen Kultur schlägt, das Volk zu erdrosseln, das allein Europa vor der Verkosakung zu schützen imstande ist, verwirken sie die Sympathien, die man für sie hatte. […] Wir wissen aber auch, daß der Sieg des Moskowitertums jüdische und zionistische Hoffnungen und Arbeit vernichtet. Wir wissen, daß unser Interesse wie im Frieden, so noch mehr jetzt in dem wilden Weltkriege ausschließlich auf deutscher Seite liegt. Denn auf deutscher Seite ist Fortschritt, Freiheit und Kultur. Uns gegenüber stehen härteste Tyrannei, blutigste Grausamkeit und finsterste Reaktion. […] Als Juden haben wir mit den Barbaren des Ostens noch eine besondere Rechnung zu begleichen. Das Blut der Juden, ihrer Märtyrer und Glaubenshelden, dampft seit Jahrhunderten vom russischen Boden zum Himmel empor.« Interessant ist in diesem Zusammenhang auch die Deutung Serbiens in diesem Artikel und in einem früheren Artikel, der unmittelbar im Anschluss an die serbische Palastrevolte erschien, und in dem zum zionistischen Russlandbild auffallend ähnliche Deutungsmuster verwendet wurden, welche die deutschen Zionisten ebenfalls dem deutschnationalistischen Diskurs entlehnten. Vgl. dazu auch Loewe, Heinrich: Die Königswahl in Serbien, in: JR, Nr. 8 (19. 06. 1903), S. 243f. Zum deutschen Serbienbild vgl. allgemein Vidojkovic´, Dario: Von Helden und Königsmördern. Das deutsche Serbienbild im öffentlichen Diskurs und in der Diplomatie von 1878 bis 1914, Wiesbaden 2015.

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immer auch einen eklatanten Gegensatz zu den antihegemonialen und antikolonialistischen Narrativen, welche die zionistische Auseinandersetzung mit dem europäischen Kolonialismus und Imperialismus immer auch prägten. Wie das obige Zitat belegt, glaubten die Zionisten den wesentlichen Unterschied zwischen dem Antisemitismus im Russischen und im Deutschen Reich darin zu erkennen, dass die antisemitischen Ausschreitungen, welche in Preußen und in anderen Teilen des Deutschen Reiches stattgefunden hatten, einzig und allein dadurch kanalisiert würden, dass der deutsche Rechtsstaat das Gewaltmonopol hochhalte und sich – zumindest vordergründig – (noch) nicht offen an der Verfolgung von Juden mit der Ausübung physischer Gewalt beteiligt hätte.1308 Die Berichterstattung in der Jüdischen Rundschau konzentrierte sich daher in erster Linie auf den preußischen Staatsantisemitismus wie er sich etwa in der Benachteiligung und Diskriminierung von Juden im akademischen Bereich, im Militär und im Staatsdienst oder in Presseorganen der Konservativen wie der »Kreuzzeitung« äußerte.1309 Auch die Entwicklung der antisemitischen Parteien und antisemitischer Politiker wurde im Umfeld der Reichstagswahlen verfolgt und ältere prominente Vertreter wie Adolf Stöcker karikiert.1310 In den Beiträgen brachten die Autoren vor allem ihre Desillusionierung über die ambivalenten Folgen der jüdischen Emanzipation zum Ausdruck. Wie Heinrich Loewe in einem Artikel zur »Judenpolitik« im Deutschen Reich explizit auf den Punkt brachte, fühlten sich viele Beiträger durch den Antisemitismus gegen ihren Willen in den Status von Angehörigen einer in der Abnahme begriffenen (quasi-)kolonisierten, ›nationalen Minderheit‹ gedrängt,1311 aus dem die einzige 1308 Vgl. Loewe, Martinique, S. 175. 1309 Vgl. Anon.: Rundschau. Berlin [z. »antisemitischen Strömung« im Militär], in: JR, VII. Jg., Nr. 44 (31. 10. 1902); Anon.: Prozess Nardenkötter, in: JR, VIII. Jg., Nr. 8 (20. 02. 1903), S. 57f.; Sachse [Loewe], Heinrich: Parität und Gesinnungslosigkeit, in: JR, VIII. Jg., Nr. 12 (20. 03. 1903), S. 101f.; Anon.: Die Gleichstellung der Juden vor dem Gesetz ist im Deutschen Reiche illusorisch, in: JR, IX. Jg, Nr. 4 (22. 01. 1904), S. 37f.; Emil, Sch. L.: Einsicht ist besser als guter Wille, in: JR, IX. Jg., Nr. 10 (04. 03. 1904), S. 89f.; ders.: Juden beim Militär, in: JR, IX. Jg., Nr. 12 (18. 03. 1904), S. 109f.; Schachor, Ole: Judentum und Revolution, in: JR, X. Jg., Nr. 7 (17. 02. 1905), S. 69f.; Zum Kampf um die Gleichberechtigung (Schluss), in: JR, X. Jg., Nr. 11 (17. 03. 1905), S. 115f. 1310 Vgl. Emil, Einsicht; Anon.: Rundschau. Antisemitische Wahlkreise/Antisemitische Reichstagskandidaturen, in: JR, XII. Jg., Nr. 2 (11. 01. 1907), S. 20; Bürgerrechte und Bürgerpflichten, in: JR, XII. Jg., Nr. 3 (18. 01. 1907), S. 25f.; Eljaqim [Loewe, Heinrich]: Zwischen Wahl und Stichwahl, in: JR, XII. Jg., Nr. 5 (01. 02. 1907), S. 45f.; L., H. [Loewe, Heinrich]: Judenpolitik, in: JR, XII. Jg., Nr. 10 (08. 03. 1907), S. 95–97. Zur Berichterstattung zu den »Ritualmord«–Vorwürfen gegen Juden im Deutschen Kaiserreich vgl. L., H. [Loewe, Heinrich]: Nachklänge zum Konitzer Mord, in: JR, VII. Jg., Nr. 42 (15. 10. 1902), S. 17–19. 1311 Vgl. Loewe, Judenpolitik, S. 95: »Wie gern würden wir uns in der Lage sehen eine Judenpolitik im Deutschen Reiche nicht treiben zu müssen. Es ist keine angenehme Stellung, eine angegriffene Minorität zu bilden. Und unsere Minorität ist sehr klein und wird von

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Möglichkeit zur Befreiung in der (eigenen) politischen Abwehrarbeit und Kolonisationstätigkeit in Palästina bestand.1312 Auch wenn deutsche Zionisten wie Heinrich Loewe, der in einem Artikel zum Pogrom von Kischinew auf das Dilemma aufmerksam machte, ausdrücklich beteuerten, dass sie mit dem Leiden ihrer »jüdischen Schwestern und Brüder« keine zionistische Propaganda betreiben wollten, verwoben die Autoren doch argumentativ ihre Reaktionen auf die antisemitische Erfahrung mit den Rechtfertigungsmustern für Zionismus. Sowohl Heinrich Loewe als auch Theodor Zlocisti beispielsweise machten als eigentliche Ursache von Kischinew und Antisemitismus die Zerstreuung der Juden in der Diaspora aus, aus der allein der Zionismus einen verlässlichen und sicheren Ausweg böte.1313 Diese narrative Verkettung wiederholte sich im Folgenden in der Jüdischen Rundschau kontinuierlich, indem neue historische Ereignisse, welche mit Antisemitismus, Ausgrenzung oder Verfolgung verbunden waren, argumentativ an Kischinew rückgebunden wurden, wodurch beim Leser bestimmte Assoziationen geweckt werden sollten und eine mobile ›mentale Landkarte‹ entstehen sollte.1314 Zionismus wurde in diesem Zusammenhang also in erster Linie als ›Befreiungsgemeinschaft‹ gedacht, die einen sicheren Zufluchtsort und darin die Rettung vom »eisernen Ofen in Kischinew«1315 bringen sollte. Auch verstärkte sich nach Kischinew in der zionistischen Publizistik die Forderung nach einem eigenen nationalen Territorium, das eben nicht »in irgend einem Lande sein [könne], wo die Juden in christlicher Umgebung leben«1316, sondern nur in Palästina seinen Bestimmungsort habe. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch die Einschätzung Ben Halperns, der in seiner ideengeschichtlichen Studie über die Bedeutung Palästinas im Zionismus glaubhaft vermittelt, dass ›Zion‹ für die meisten Mitglieder des zionistischen Kollektivs in erster Linie einen abstrakten, auf biblischen Bezügen beruhenden ›Sehnsuchtsort‹ und eine Projektionsfläche darstellte, welche mit dem real existierenden geographischen Ort, den ohnehin die wenigsten Zionisten aus eigener Anschauung kannten, wenig bis nichts zu

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Jahr zu Jahr kleiner. Denn wenn auch einmal die Verringerung der jüdischen Bevölkerung in Deutschland gegenüber den Umwohnern zu einem zeitweiligen Stillstande kommt, so sorgen schon die Preussische Judenpolitik […] nicht minder wie der immer schärfer gegen die Juden der kleinen und mittleren Orte einsetzende Boykott für die dauernde Abnahme der für eine Bevölkerung von mehr als 60 Millionen recht kleinen Zahl von kaum 600 000 Juden.« Vgl. ebd., S. 96f. Vgl. Loewe, Martinique, S. 175. Vgl. z. B. Sachse, Groß-Kischinew ; ders., Kischinowski. Loewe, Heinrich: Im eisernen Ofen von Kischinew, in: JR, VIII. Jg., Nr. 33 (14. 08. 1903), S. 339f. Vgl. Loewe, Martinique, S. 176. Vgl. dazu auch Zakim, Eric: To Build and Be Built. Landscape, Literature, and the Construction of Zionist Identity (Jewish Culture and Contexts), Philadelphia 2006, S. 16, 24.

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tun hatte.1317 Palästina als ›nationaler Raum‹ des Zionismus besaß somit immer auch die Funktion einer Gegenutopie, welche die Unzulänglichkeiten der ›Galuth‹ und des (gefühlten) Exils, allen voran die antisemitische Erfahrung, kompensieren sollte.1318 In diesem Kontext muss auch die »external dimension«, die der ›politische Zionismus‹ mit der »Schaffung einer öffentlich-rechtlich gesicherten Heimstätte in Palästina« im Sinne des »Baseler Programms« verband, gesehen werden, wie aus einem Artikel von Heinrich Loewe aus dem März 1903, hervorgeht: »Was ist eine öffentlich-rechtlich gesicherte Heimstätte? Eine Heimat ohne Kanonen und Flotte, ohne prangenden Luxus und hinaustönenden Ruhm, aber auch ohne Knechtschaft und Unterdrückung, ohne Verkümmerung und Verfolgung. Wir wollen keine Gnade mehr, wir wollen nicht ›geduldet‹ sein. Rechtlich gesichert wollen wir unsere Zukunft sehen. Wir dürfen nicht mehr auf die ›Güte‹ der Völker angewiesen sein. Nicht trotzdem wir Juden sind, sondern weil wir Juden sind, wollen wir unser Recht haben.«1319

Loewe zielte mit seiner Erläuterung also weniger auf eine politisch-rechtliche Definition des Begriffes, als auf den ideellen Kern des zukünftigen jüdischen Staatswesens ab, indem er – in betonter Absetzung zu den imperialen, kolonialen europäischen Mächten – einen Ort des Friedens und der Freiheit zeichnete, an dem sich der einzelne Jude offen und selbstbewusst zu seiner Nationalität bekennen könne. Dem gefühlsbetonten Ausdruck der engen Verbundenheit gegenüber dem so imaginierten Raum ›Palästina‹ entsprach wie im deutschen Nationalismus die Verwendung des vielschichtigen Begriffes ›Heimat‹1320 und die bereits an anderer Stelle bemerkte Personifikation des Raumes der zionistischen Kolonisation und seine Feminisierung im zionistischen Diskurs, nach denen Palästina als weiblicher Elternteil charakterisiert wurde: »Und in Palästina soll das geschehen. Nur da. In dem Lande, wo wir einst eine grosse Vergangenheit hatten, wollen wir eine bescheidene aber glückliche Zukunft erleben. Warum da? Ja, warum habe ich die Mutter und nicht eine andere? Es wäre ungefähr dieselbe Frage. Sie ist meine Mutter, für mich die beste Mutter. Und Palästina ist das 1317 Vgl. Halpern, Idea, S. 95–130. 1318 Vgl. ebd. 1319 Anon. [Loewe, Heinrich]: Der Weg zum Ziel, in: JR, IX. Jg., Nr. 13 (25. 03. 1904), S. 119– 122, hier S. 121. 1320 Vgl. Pyta, Wolfram: Heimatvorstellungen in Gemeinschaftsbezügen, in: Lehnert, Detlef (Hg.): Gemeinschaftsdenken in Europa. Das Gesellschaftskonzept »Volksheim« im Vergleich 1900–1938, Köln u. a. 2013, S. 173–184; Petri, Rolf: Deutsche Heimat 1850–1950, in: Comparativ. Leipziger Beiträge zur Universalgeschichte und vergleichenden Gesellschaftsforschung 11:1 (2001), S. 77–127; Seifert, Manfred (Hg.): Zwischen Emotion und Kalkül. ›Heimat‹ als Argument im Prozess der Moderne, Leipzig 2010; Weigand, Katharina (Hg.): Heimat. Konstanten und Wandel im 19./20. Jahrhundert. Vorstellungen und Wirklichkeiten, München 1997.

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Land Israels. Dort soll die leidende Judenheit eine dauernde Zuflucht finden, weil das Gemüt, die treibende Kraft im innern Leben der Völker, dahin lenkt. Und wenn uns eine edle Nation die schönsten Länder auf dem Präsentierteller entgegenbringt, und wenn sie uns Freiheiten und Privilegien aller Art anbieten, und es ist unsere historische Heimat nicht, nicht das Land, in dem unsere Väter schlummern, wo sich unsere glorreiche Geschichte abgespielt hat, so werden wir danken, herzlich danken, aber ablehnen müssen.«1321

2.3.2 Zum ambivalenten Verhältnis von deutschem Zionismus und Kolonialismus Nach Jürgen Osterhammel lässt sich »Kolonialismus« definieren als eine »Herrschaftsbeziehung zwischen Kollektiven, bei welcher die fundamentalen Entscheidungen über die Lebensführung der Kolonisierten durch eine kulturell andersartige und kaum anpassungswillige Minderheit von Kolonialherren unter vorrangiger Berücksichtigung externer Interessen getroffen und tatsächlich durchgesetzt werden«1322.

Eng damit verbunden, so Osterhammel, sind »sendungsideologische Rechtfertigungsdoktrinen, die auf der Überzeugung der Kolonialherren von ihrer eigenen kulturellen Höherwertigkeit beruhen«1323. Imperialismus hingegen ist demnach der weitere (Ober-)Begriff, der »die Möglichkeit weltweiter Interessenwahrnehmung und informell abgestützter kapitalistischer Durchdringung großer Wirtschaftsräume einschließt«1324. Die vielfältigen Beiträge, welche die zionistischen Pläne zur Kolonisation Palästinas in der Jüdischen Rundschau begleiteten, belegen überwiegend das ›kulturelle‹ und ›zivilisatorische‹ Überlegenheitsgefühl und die Sendungsideologie, welches die deutschen Zionisten gegenüber Land und Leuten, der jüdischen wie der arabischen Bewohner Palästinas, empfanden. Wie selbstverständlich gingen sie davon aus, dass die indigene Bevölkerung von den Kolonisatoren auf eine höhere Stufe der ›Kultur‹ und ›Zivilisation‹ zu heben sei und dass die soziokulturellen und ökonomischen Errungenschaften, welche die Zionisten aus ihren europäischen Heimatländern mit sich brächten, dankbar angenommen würden. Diese kulturmissionarische Ideologie wurde nicht zuletzt mittels der zuvor beschriebenen Narrative gerechtfertigt, indem die ›jüdische Kultur‹ demgemäß von den deutschen Zionisten als »hoher und unersetzlicher 1321 Anon. [Loewe, Heinrich], Weg, S. 120f. 1322 Osterhammel, Jürgen: Kolonialismus. Geschichte, Formen, Folgen, 5., aktual. Aufl. München 2006, S. 21. 1323 Ebd. Ähnlich auch Conrad, Sebastian: Deutsche Kolonialgeschichte, München 2008, S. 70. 1324 Osterhammel, Kolonialismus, S. 28.

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Wert[e]«1325 geschildert wurde, den man der Menschheit und damit auch den Indigenen nicht vorenthalten dürfe.1326 Die deutschen Zionisten wollten wie Heinrich Loewe in erster Linie »Kulturarbeiten«1327 in Palästina leisten und das Land und seine Bevölkerung damit aus der »Unkultur und Halbkultur in die Zivilisation«1328 oder – wie sich Loewe unter Einbezug aufklärerischer und neutestamentarischer Topoi ausdrückte, – in das »Licht«1329 führen.1330 Dabei sah das Programm der zionistischen »Kulturarbeit« in auffallender Ähnlichkeit zur deutschen Kolonialpolitik unter anderem die Alphabetisierung und intensive Vermittlung der hebräischen Kultur im neu eingerichteten jüdischen Schulwesen in Palästina vor,1331 auf deren Grundlage die kulturellen Fähigkeiten des palästinischen jüdischen Bauern »und sein geistiger Horizont über den engen Dorfkreis hinaus erweitert werden soll[ten]«1332. Die Bedeutung, welche die Zionisten dem Schulunterricht als kolonisatorischem Mittel zuwiesen, zeigte sich besonders in der polemischen Kontroverse um die Einführung des Deutschunterrichts in den Schulen des Hilfsvereins, dem sog. »Sprachenkampf«, unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg.1333 Daneben spielte auch die Einrichtung von Krankenhäusern und einer medizinischen Versorgung im westeuropäischen Stil in Palästina für die deutschen Zionisten eine wichtige Rolle. Daher wurden in Reisebeschreibungen und palästinakundlichen Berichten, die in der Jüdischen Rundschau erschienen, das tropische Klima, die schlechten hygienischen Verhältnisse und die in Palästina vorherrschenden Krankheiten ausführlich thematisiert.1334 Darunter mischte sich auch Kolonisationsskepsis und -kritik, indem beispielsweise die Malaria als 1325 Gronemann, Sammy : Zionismus und Deutschtum (Schluss), in: JR, X. Jg., Nr. 13 (31. 03. 1905), S. 139–143, hier S. 142; Sachse, Heinrich: Gibt es eine Judenfrage (II)?, in: JR, X. Jg., Nr. 14 (07. 04. 1905), S. 149f. 1326 Vgl. Meybohm, Wolffsohn, S. 279–289; Vogt, Positionierungen, S. 186–195. 1327 Sachse, Heinrich: Das Erbe Theodor Herzls, in: JR, X. Jg., Nr. 29 (21. 07. 1905), S. 345–347, hier S. 347. 1328 Loewe, Heinrich: Kulturelle Streifzüge im jüdischen Orient. Die Hohe Pforte, in: JR, VIII. Jg., Nr. 18 (01. 05. 1903), S. 163–167. 1329 Sachse, Erbe, S. 347. 1330 Ähnliche Argumentationsmuster verwendeten die deutschen Zionisten auch in Bezug auf die jüdischen Kolonien in Anatolien. Vgl. dazu K., A.: Der Stand der jüdischen Kolonien in Anatolien nach zweijähriger Entwicklungszeit. Beitrag zur Geschichte dieser Kolonisation [Beitrag zu Asia, hg. von Otto Warburg], in: JR, VIII. Jg., Nr. 9 (27. 02. 1903), S. 66–68. 1331 Vgl. Sachse, Erbe, S. 347. 1332 Loewe, Heinrich: Eine Dorfschule in Palästina, in: JR, IX. Jg., Nr. 43 (28. 10. 1904), S. 357f., hier S. 358. 1333 Vgl. dazu auch Kap. III.3.3.1 der vorliegenden Arbeit. 1334 Vgl. z. B. die mehrteilige Artikelreihe von Auerbach, Elias: Das Klima Palästinas (1), in: JR, VIII. Jg., Nr. 15/16 (10. 04. 1903), S. 139f.; ders.: Das Klima Palästinas (2), in: JR, VIII. Jg., Nr. 23 (05. 06. 1903), S. 224f.; ders.: Das Klima Palästinas (3), in: JR, VIII. Jg., Nr. 24 (12. 06. 1903), S. 235f.

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»eines der grössten Hindernisse der Kolonisation«1335 geschildert wurde und entsprechende Gegenmittel ersonnen wurden. Zugleich beschwichtigten sowohl Otto Warburg als auch Elias Auerbach Kolonisationsskeptiker in den eigenen Reihen, wobei sie behaupteten, dass die physische »Degeneration«, welche beispielsweise die deutschen Siedler aufgrund der klimatischen Inkompatibilität der ›Nordmänner‹ mit dem tropischen Süden ereilt hätte, für die jüdischen Siedler, die sich durch ihre klimatische Flexibilität und somit ihre natürliche Kolonisationsfähigkeit für Palästina auszeichneten, keine Gefahr darstelle.1336 Wie Ivonne Meybohm anmerkt, griffen auch Zionisten wie Max Nordau und Theodor Herzl einen beliebten Topos europäischer Kolonialdiskurse auf, indem sie Kolonisationsängste vor der als ›kultureller Degeneration‹ empfundenen Angleichung an die einheimische Bevölkerung Palästinas beschwichtigen wollten. Max Nordau beispielsweise wies bei seiner Rede vor dem Zionistenkongress darauf hin, dass das kulturelle Niveau der Zionisten so gesichert sei, dass sie über die Verschmelzung mit der indigenen Bevölkerung nicht zu »Asiaten«1337 und damit aus dieser Sicht zu kulturell ›minderwertigen‹ Menschen verkümmern würden. Das Rechtfertigungsmuster, im Auftrag einer Zivilisierungsmission zu handeln, bildete nach Jürgen Osterhammel und Sebastian Conrad den »ideologische[n] Kern des kolonialen Projekts«1338, den die deutschen Zionisten mit breiten Bevölkerungsschichten im Deutschen Reich teilten. Die Idee von der ›kulturellen‹ und ›zivilisatorischen‹ Modernisierung der zu kolonisierenden Gesellschaften, die einen elementaren Bestandteil der europäischen Kolonialpolitik und des Selbstverständnisses der Kolonisierenden darstellte, muss auch als später Ausfluss der aufklärerischen Leitidee der »Zivilisation« betrachtet werden. Diese wurde als teleologischer Prozess in der Menschheitsgeschichte interpretiert und ging von dem unerschütterlichen Glauben an gesellschaftliche Optimierung und Höherentwicklung aus.1339 Dies schloss auch kulturimperialistische Deutungsmuster ein, da die deutschen Zionisten die Existenz von indigener Bevölkerung und Kultur zu diesem Zeitpunkt leugneten oder zumindest ignorierten und sich nicht die Frage stellten, ob die einheimische Bevölkerung überhaupt an der Erlangung ›jüdischer Kultur‹ interessiert sei. Falls überhaupt über die indigene arabische Bevölkerung oder den Islam gesprochen wurde, wurden vielmehr in der Regel die 1335 Jungmann, Max: Mittel zur Bekämpfung der Malaria, zit. n.: Auerbach, Elias: »Altneuland« [Heftbesprechung], in: JR, IX. Jg., Nr. 9 (26. 02. 1904), S. 81–83, hier S. 82. 1336 Vgl. Auerbach, »Altneuland«, S. 82; Warburg, Otto: Die nichtjüdische Kolonisation Palästinas, in: Altneuland 2 (Februar 1904), S. 39–45. 1337 Vgl. Nordau, in: Protokoll 1907, S. 22; Meybohm, Wolffsohn, S. 279–289. 1338 Conrad, Kolonialgeschichte, S. 70. 1339 Vgl. ebd.; Bauer, Jahrhundert, S. 37f.

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»innigen, freundschaftlichen Bande« und die enge »Bluts- und Geistesverwandtschaft« von Arabern, Muslimen und Juden betont.1340 Auch die Formierung einer arabischen Nationalbewegung und ihre Auswirkungen auf den Zionismus wurden, von wenigen Ausnahmen abgesehen, nicht ausführlich thematisiert.1341 Nicht selten hoben die deutschen Zionisten auch unmittelbar die Vorbildfunktion der deutschen und preußischen Kolonialpolitik und Kolonisationsmethoden hervor.1342 Neben der direkten Adaption von ursprünglich für die preußische Kolonisation entworfenen Plänen wie dem Konzept der Siedlungsgenossenschaften des Nationalökonomen Franz Oppenheimer (1864–1943) existierten etwa auch personelle Überschneidungen zwischen dem deutschen Kolonialismus und dem Zionismus wie das Beispiel Otto Warburgs zeigt. Warburg folgte nicht nur Herzl und Wolffsohn als Präsident der ZO in den Jahren 1911 bis 1920, sondern war in seiner Eigenschaft als bekannter Tropenbotaniker Mitglied der »Deutschen Kolonialgesellschaft« und gründete mehrere kolonialwirtschaftliche Gesellschaften. In einem Aufsatz, der ursprünglich in der Palästina-Zeitschrift Altneuland erschienen war und Gegenstand einer ausführlichen Rezension Elias Auerbachs in der Jüdischen Rundschau wurde, erstellte Otto Warburg eine Hierarchie der nichtjüdischen Kolonisation Palästinas, auf deren niedrigste Stufe er »die primitive Kolonisationsmethode der eingeborenen Orientalen«1343 stellte. Warburg und mit ihm Auerbach hoben stattdessen die Vorbildfunktion der (deutschen) Templerkolonisation für den Zionismus hervor, welche »auf weit höherem Niveau«1344 anzusiedeln sei. Franz Oppenheimer und Otto Warburg gehörten neben Selig Soskin dem Vorsitz der »Kommission für die Erforschung Palästinas« an, welche auf dem Sechsten Zionistenkongress 1903 beschlossen, 1907 aufgelöst und 1908 in das, sich in Jaffa befindende, Palästina-Amt eingegliedert wurde. Unmittelbar vor der offiziellen Gründung der Kommission im August 1903 mehrten sich die Stimmen in der Jüdischen Rundschau, welche eine dezidierte zionistische Beteiligung an der sog. Palästinakunde und ihrer Institutionalisierung forderten, weil dies als bedeutender Beitrag zur »zionistische[n] Agitation nach innen und aussen«1345 empfunden wurde. Die zionistische Palästinaforschung sollte, wie 1340 Anon.: Islam und Zionismus, in: JR, VIII. Jg., Nr. 12 (20. 03. 1903), S. 104f. 1341 Vgl. Nordau, in: Protokoll 1905, S. 25. 1342 Vgl. dazu auch Penslar, Derek J.: Israel in History. The Jewish State in Comparative Perspective, Oxon/New York 2007, S. 90–111; Meybohm, Wolffsohn, S. 279–289; Vogt, Positionierungen, S. 186–195. 1343 Warburg, Kolonisation; Auerbach, »Altneuland«, S. 82. 1344 Ebd. 1345 Auerbach, Klima (1), S. 139. Vgl. dazu auch L., H. [Loewe, Heinrich]: Zur Erforschung von Palästina, in: JR, VII. Jg., Nr. 47 (21. 11. 1902), S. 59–61; Neufeld, A.: Ein Jüdischer Palästinaverein. Interview mit Herrn Prof. Dr. Sellin-Wien, in: JR, VIII. Jg., Nr. 4 (23. 01.

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eine Rezension zur palästinakundlichen Zeitschrift Palästina ankündigte, gerade vor dem Hintergrund der Stellung des ›nationalen Raumes‹ Palästina im Zionismus der Aufklärung der zionistischen Jugend über das Land nach dem Vorbild des deutschen Volksschulunterrichts über die deutschen Kolonien und der kulturellen und wirtschaftlichen Erschließung des Landes dienen.1346 Mit anderen Worten bedeutete dies, wie Otto Warburg in einem Referat über die »Aufgaben [des Zionismus] in Palästina und Syrien« im Auftrag des zionistischen Palästinaausschusses im Juni 1904 formulierte: »Es lassen sich eine Anzahl fruchtbarer Arbeiten für die Kolonisation beginnen, auch ohne dass man selbst kolonisiert.«1347 Auch die größten Kolonien der Welt wie Amerika, Australien und Kapland hätten »klein begonnen« und sich »im natürlichen Lauf der Dinge auf Grund der gegebenen Bedingungen«1348 zu Größerem entwickelt. Warburg hob daher insbesondere die Vorbildfunktion des Kolonialwirtschaftlichen Komitees in Berlin und der protestantischen Palästinaforschung, im Besonderen des britischen Palestine Exploration Fund (PEF) und des Deutschen Palästina-Vereins (DPV),1349 hervor. Markus Kirchhoff konnte in seiner Studie über den Verlauf des wissenschaftlichen, vor allem des palästinakundlichen Diskurses über Palästina zeigen, dass sich ›Palästina‹ darin von einem ursprünglich primär bibelgeschichtlichem Motiv zu einem ›gedachten Raum‹ entwickelte, der maßgeblich zur späteren konkreten Gestaltwerdung des Territoriums beitrug und daher zunehmend auch von Zionisten für die Legitimation der eigenen Ansprüche instrumentalisiert wurde.1350 Felix Wiedemann betont in seinen Untersuchungen darüber hinaus

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1350

1903), S. 25–27. Zum Zusammenhang von Zionismus und Palästinaforschung vgl. allgemein Kirchhoff, Markus: Text zu Land. Palästina im wissenschaftlichen Diskurs 1865– 1920 (Schriften des Simon-Dubnow-Instituts, Bd. 5), Göttingen 2005, S. 333–348. Vgl. Litteraturbericht. Buchbesprechung über »Palästina«. Zeitschrift für kulturelle und wirtschaftliche Erschliessung des Landes, in: JR, VIII. Jg., Nr. 15/16 (10. 04. 1903), S. 145– 149. Warburg, Otto: Unsere Aufgaben in Palästina und Syrien. Referat im Auftrage des zionistischen Palästinaausschusses, in: JR, IX. Jg., Nr. 22 (03. 06. 1904), S. 232–237, hier S. 234. Ebd., S. 233. Der PEF wurde 1865 gegründet, der DPV 1877. Die ursprünglich protestantisch initiierten und dominierten Vereine waren private, bürgerliche Unternehmungen, welche die Erforschung Palästinas zur Illustration und Verifizierung der Bibel begriffen und als nationale Aufgabe verstanden. Durch die scheinbare Kongruenz von Bibel und Territorium, gegenwartsbezogenen Bereichen der Landeskunde und Kenntnissen über die scheinbare Geschichte des Landes sollte somit auch die Grenzziehung der europäischen Mächte und die jeweilige Struktur der kolonialen Gesellschaft vor Ort gerechtfertigt werden. Für den Zionismus erwies sich die Palästinakunde allein schon aus diesen Gründen von besonderer Bedeutung und man versuchte, die Ergebnisse der Palästinaforschung im eigenen Sinne zu beeinflussen und mit zu formulieren. Vgl. dazu Kirchhoff, Text, S. 149–157, 161– 172. Vgl. ebd., S. 333–348.

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das komplexe Verhältnis zwischen ›Raum‹ und ›Wissen‹ in Bezug auf raumbezogene Narrative, wobei ›Raum‹ darin als Produkt von kollektiv verhandeltem und praktiziertem Wissen betrachtet wird, das zugleich einen wichtigen Bezugsrahmen für die Konstitution von Wissen darstellt.1351 Auch nach dem deutschen Zionisten Elias Auerbach sollten die Mitglieder der Kommission zur Erforschung Palästinas »in Wahrheit die Kundschafter sein, die wir zur [kolonisatorischen] Landnahme vor uns hergesandt haben«1352. Neben dieser Beteiligung an Kolonialismus und seiner ideologischen Fundierung äußerten sich die deutschen Zionisten jedoch auch kritisch gegenüber dem »Chauvinismus«1353 der kolonialistischen und imperialistischen Bestrebungen der europäischen Mächte im »Jahrhundert der Nationalitäten«1354, wie Heinrich Loewe sich ausdrückte, was den zuvor beschriebenen kolonialistischen Narrativen somit häufig diametral entgegenlief. Loewe distanzierte sich in seinen Artikeln beispielsweise vom britischen, russischen und gesamteuropäischen Kolonialismus und Imperialismus, indem er sich etwa mit den Buren, Japanern, »Schwarzen« und Osmanen solidarisierte. Wie bereits erwähnt, polemisierten die deutschen Zionisten, meist im Zusammenhang mit bestimmten historischen Knotenpunkten wie dem antisemitischen Pogrom in Kischinew 1903 oder der Jungtürkischen Revolution 1908/09 gegen die »europäische Kulturwelt«, welche ein Symptom wie den modernen europäischen Antisemitismus überhaupt erst hervorgebracht hätte. Darüber hinaus kritisierten sie offen am europäischen Imperialismus, dass dieser den »kranken Mann am Bosporus« bevormundet hätte, zum Zweck, ein superiores oder hegemoniales Herrschaftsverhältnis gegenüber dem Osmanischen Reich zu etablieren und kulturellen sowie ökonomischen Einfluss auf das Gebiet zu nehmen.1355 An den Buren, welche in den sog. Burenkriegen ihre Selbstständigkeit gegenüber den militärisch überlegenen Briten in Südafrika einbüßten, faszinierte Loewe sowie andere deutsche Zionisten wie Max Nordau1356 die ungebrochene Widerstandskraft des kleinen ›Völkleins‹ und der ›niederländischen 1351 Vgl. Wiedemann, Felix: Stammen die Juden von den Hethitern ab? Ethnohistorische Kartographien des Alten Orients und die Debatte um die »Judenfrage« um 1900, in: Weipert, Axel u. a. (Hg.): Historische Interventionen. Festschrift für Wolfgang Wippermann zum 70. Geburtstag, Berlin 2015, S. 87–120. 1352 Auerbach, Elias: Altneuland und seine Arbeit, in: JR, X. Jg., Nr. 14 (07. 04. 1905), 152–154, hier S. 154. 1353 Sachse, Heinrich: Freiheitsfest und Freiheitsland, in: JR, X. Jg., Nr. 16/17 (19. 04. 1905), S. 177f., hier S. 177. 1354 Ebd. 1355 Vgl. dazu auch Kap. III.2.3.1 der vorliegenden Arbeit. Vgl. z. B. Loewe, Martinique, S. 176: »Und schliesslich: die wilden Türken sind doch bessere Menschen!« 1356 Vgl. die Rede Max Nordaus im Jahr 1900 in London, in welcher er den Makkabäeraufstand mit dem Kampf der Buren gegen den britischen Imperialismus in Südafrika verglich. Vgl. Eine Conf8rence Max Nordaus, in: Die Welt, Nr. 52 (28. 12. 1900), S. 6.

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Nation‹ gegenüber dem scheinbar übermächtigen Britischen Empire, welche er mit den Zionisten in ihrer feindlichen Umwelt und mit den Makkabäern parallelisierte.1357 Eine eindeutige Parteinahme der Zionisten erfolgte auch im Russisch-Japanischen Krieg 1904/05 gegen »die gewaltsame Russifizierung«1358 auf Seiten der Japaner, deren Wahrnehmung durch die deutschen Zionisten insgesamt im Kontext des zionistischen Russlandbildes, dessen wichtigste Facetten im Kapitel zuvor erläutert wurden und das stark vom Russlandbild der deutschen Öffentlichkeit und Diplomatie beeinflusst war, betrachtet werden muss. Die von deutschen Zionisten wie Loewe gewählten Beispiele zeichneten sich jedoch selbst durch eine paradoxe Ambivalenz aus, da es sich bei beiden nicht um indigene Ethnien, sondern im Fall der Buren um eine kolonisatorische Bewegung1359 und im Fall Japans um eine aufstrebende Großmacht handelte, die selbst eine expansive imperialistische Politik betrieb. Im Zusammenhang mit der Berichterstattung über den Russisch-Japanischen Krieg, im Besonderen im Kontext des japanischen Angriffs auf Port Arthur im Jahr 1904 sowie der russischen Niederlage, und die Burenkriege erfolgte auch Loewes bereits erwähnte Distanzierung vom europäischen Rassendiskurs,1360 wobei er in seiner Berichterstattung mehrmals auch die Perspektive der »Schwarzen von Südafrika«1361 einnahm und deren Solidarisierung mit dem zionistischen Kollektiv betonte: »Diese selben Schwarzen, denen man keine Menschenrechte einräumt, weil sie eine inferiore Rasse darstellen, müssen denn doch nicht gar so inferior sein, wie die europäische Welt sie hinzustellen für gewöhnlich beliebt. […] Und dass die Hottentotten und Kaffern, die man immer nur bevormundet, bekehrt und zur Abwechslung niedergeknallt hat, nicht in den primitiven Zuständen stehen geblieben sein können, in denen sie in europäischen Blättern erscheinen, das beweist das hohe Mass politischen Verständnisses, das ihnen englische Blätter zutrauen, und um so mehr, je weniger sie diesen englischen Blättern lieb und wert sind. Die Schwarzen von Südafrika freuen sich der Niederlage der Russen und des Sieges der Japaner. […] Es geschieht nicht, weil die Russen ›weiss‹ und die Japaner ›gelb‹ sind, denn die rassenhafte Unterscheidung dieser kämpfenden Völker ist für die Schwarzen eine sehr problematische, und der Neger und Bantu dürfte kaum imstande sein, die Hautnuancen zwischen dunklem Weiss und 1357 Anon.: Quid novi de Africa?, in: JR, VIII. Jg., Nr. 3 (16. 01. 1903), S. 17f. 1358 Sachse, Heinrich: Ostafrika und Südafrika, in: JR, X. Jg., Nr. 1 (06. 01. 1905), S. 1–3, hier S. 2. 1359 Bei den Buren handelte es sich um zumeist niederländische, aber auch deutsch- und französischsprachige Siedler, die sich seit dem 17. Jahrhundert im Auftrag der niederländischen Ostindien-Kompanie (VOC) als Kolonisatoren am Kap der Guten Hoffnung niedergelassen hatten. Vgl. Meredith, Martin: Diamonds, Gold, and War. The British, the Boers, and the Making of South Africa, New York 2007. 1360 Vgl. dazu vor allem Eljaqim [Loewe, Heinrich]: Weiss und Gelb, S. 69f.; Sachse, Ostafrika, S. 1f. 1361 Sachse, Ostafrika, S. 2.

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saubrem Gelb zu bemerken. Es geschieht, weil unterdrückte Völker instinktiv fühlen, auf welcher Seite das Recht ist. So ist es kein Zweifel, dass jedes von den Europäern gewaltsam niedergehaltene Volk im tiefsten Herzen empfindet, dass alle Herzenshärte, die europäischer Rassendünkel in seiner Kultur- und Humanitätsheuchelei je geschaffen hat, in Russland ihren reinsten Vertreter findet.«1362

Im Gegensatz zu den deutschen Juden, welche die russische Kriegsanleihe an der Berliner Börse mitfinanziert und damit eine Mitschuld am Krieg auf sich geladen hätten, hätten die »Kaffern und Hottentotten von Südafrika« Verständnis für die Lage der russischen Juden bewiesen und die »welthistorische Bedeutung« begriffen, »die der Fall des Zwingasien an der Strasse von Petschili [nordöstliche Provinz in China] hat«.1363 Loewes Berichte waren auf der einen Seite stark vom Vokabular des deutschen Kolonialdiskurses geprägt, was sich etwa an der Aufnahme von Begriffen wie »Kaffer«, »Hottentotten« und »Neger«1364 zeigte. Daneben argumentierten sie größtenteils innerhalb des kolonialen Wertesystems, indem sie grundsätzlich ebenso von der unterschiedlichen ›Wertigkeit‹ der kolonisierenden und indigenen Bevölkerung ausgingen, wenn auch in geringerem Maße als es in den von Loewe bloß gestellten europäischen Kolonialdiskursen der Fall war. Auf der anderen Seite lässt sich aus ihnen zugleich eine Skepsis und Kritik an der europäischen Kolonialpolitik erkennen. So setzten sie sich auch kritisch mit hegemonialen Argumentationsmustern auseinander, welche einen elementaren Bestandteil der Selbstdeutung der Kolonialherren und der Legitimation der europäischen Kolonisationspraxis bildeten. Die »Schwarzen« zählten für Loewe ebenso wie die Juden zu den von den europäischen Mächten diskriminierten und verfolgten (quasi-)kolonialisierten ›Völkern‹. Diese könnten miteinander mitfühlen und »empfinden, auf welcher Seite Recht und Gerechtigkeit sind«, da beide Kollektive »arm und unterdrückt«1365 seien. Dass diese Solidarisierung oder gar Identifizierung mit anderen (quasi-)kolonialisierten Minderheiten auch die indigene Bevölkerung Nordamerikas einschloss, zeigte sich in einem Artikel von Emil Simonsohn (1861–1938), einem Berliner Arzt, der seit 1904 das Büro der ZVfD in Berlin mitleitete,1366 mit dem Titel »Der neue Indianer«.1367 Auch darin wurde gegen die dem europäischen 1362 Ebd., S. 1f. 1363 Ebd., S. 3. 1364 Zu Kolonialismus, Rassismus und Afrikaterminologie vgl. etwa Arndt, Susan (Hg.): Afrika und die deutsche Sprache. Ein kritisches Nachschlagewerk, Münster 22009. Vgl. darin insbes. die Einträge zu den Begriffen »Hottentotte/Hottentottin« (vgl. S. 147–153), »Kaffer/Kafferin« (vgl. S. 154–159) und »Neger/Negerin« (S. 184–189). 1365 Sachse, Ostafrika, S. 3. 1366 Vgl. Lichtheim, Geschichte, S. 153. 1367 Vgl. Simonsohn, Emil: Der neue Indianer, in: JR, VIII. Jg., Nr. 32 (07. 08. 1903), S. 329f.

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Kolonialismus- wie Imperialismusdiskurs implizite Abwertung der emanzipatorischen, (post-)kolonialen Minderheitenbewegungen (hier : der Native Peoples bzw. Native Americans) angeschrieben und – wie im Falle der (deutschen) Zionisten – die Bedeutung der Produktion einer eigenen Nationalliteratur im Befreiungsprozess betont:1368 »Dass ein grosser Teil der Indianer sich vollständig zivilisiert hat, […] ist ja öfters von Zeitungen berichtet worden. Neu dürfte jedoch der grossen Mehrzahl der Leser die Tatsache sein, dass sogar schon eine indianische Litteratur im Aufblühen ist, welche einen interessanten und überraschenden Einblick in das Seelenleben dieser Menschen gewährt und zugleich zeigt, dass das einstige Herrenvolk die europäisch-amerikanische Kultur zwar in sich aufgenommen hat, jedoch keineswegs bedingungslos in ihr aufgegangen ist. […] Den leisen Spott, mit dem die fremde Kultur mit der eigenen verglichen wird; den Stolz auf die Vergangenheit und den nie zu verwindenden Schmerz, den der Gegensatz zwischen einst und jetzt hervorrufen wird. Der neue Indianer hat nicht vergessen, dass seine Väter einst die Herren dieser Länder gewesen, dass er der einzige eingeborene Amerikaner ist und einen ungehobenen Schatz von Literatur besitzt, an deren uralten Rätseln sich weisse Gelehrte noch lange Zeit die Zähne ausbeissen werden.«1369

In diesem Zusammenhang ist auch von Interesse, dass deutsche Zionisten wie Heinrich Loewe ihre kritischen Stellungnahmen zum europäischen Kolonialismus und Imperialismus argumentativ auch mit ihrer Vorstellung von der zukünftigen Rolle des Zionismus und der jüdischen Kolonialgesellschaft in Palästina verknüpfen konnten. Damit unterminierten sie implizit auch die gleichzeitige Vorstellung von der ›Zivilisierungsmission‹ des Zionismus. Ganz im Sinne des vorgestellten Deutungsmusters der ›Ethik‹ im Zionismus verwarf Loewe so den Herrschaftsgedanken für die zukünftige Beziehung des zionistischen Kollektivs zu Palästina und wollte nur »Kulturarbeit« im Sinne des »Baseler Programms« über die Besiedlung mit jüdischen Bauern, Handwerkern und Händlern leisten, wobei er explizit eine Grenze zur europäischen Kolonialpolitik zog: »Wir wollen kein fremdes Volk seiner Heimat berauben, unter dem fadenscheinigen Vorwande, ihnen eine höhere Kultur und Zivilisation zu bringen. Wir wollen kein fremdes Land, sondern das eigene, angestammte, auf das wir ewige, unveräusserliche Rechte haben. […] Und wie soll dieses Ziel erreicht werden? […] Nicht mit der Flinte, sondern mit dem Pfluge in der Hand soll unser gebeugtes Volk in das Land ihrer Väter

Simonsohn verwies darin auf einen gleichnamigen Artikel von A. v. Ende, der im Juli 1903 in der Monatsschrift Der Türmer erschienen war. 1368 Vgl. ebd. 1369 Ebd., S. 329. Vgl. zum Artikel jetzt auch Herrmann, Zionismus, S. 36f.

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einziehen. Durch die Kulturarbeit wollen wir das alte Recht zu einem neuen machen.«1370

Das Besondere in der Beziehung der Zionisten zu Palästina lag nach Loewe also darin, dass hier gerade keine – nach den Worten von Jürgen Osterhammel – »Herrschaftsbeziehung zwischen Kollektiven« entstehen sollte, bei der die »Kolonialherren unter vorrangiger Berücksichtigung externer Interessen« auf der Grundlage der Vorstellung von ihrer eigenen kulturellen und zivilisatorischen Höherwertigkeit über das Leben der Kolonisierten bestimmen sollten.1371 Das zionistische Kollektiv sollte vielmehr eine eigene Rolle spielen, welche die ›Rückkehr‹ eines ›Volkes‹ in sein ›Heimatland‹ und friedliche Koexistenz bedeuten würde. Dabei bezogen die deutschen Zionisten jedoch die Existenz und die Interessen einer indigenen Bevölkerung zu diesem Zeitpunkt so gut wie überhaupt nicht in ihre Überlegungen mit ein und malten sich nach den Worten Gudrun Krämers ein »Land ohne Volk für ein Volk ohne Land«1372 aus. Obwohl sich auch der deutsche Zionismus der Argumentationsmuster, Sprache und in Teilen auch der Ideologie des europäischen, im Besonderen des deutschen, Kolonialismus und Imperialismus bediente, war sein Verhältnis zu diesen Strömungen doch ein gebrochenes, das ihm ein ambivalentes Zwitterdasein zuwies. Darin formulierten und adaptierten deutsche Zionisten kolonialistische Narrative, während sie sich zugleich von anderen Teilen der ideologischen Fundierung des Kolonialismus wie des ihm impliziten hegemonialen Diskurses distanzierten. Da sich die deutschen Zionisten selbst als diskriminierte, (quasi-)kolonisierte Minorität empfanden, waren sie, um mit Stefan Vogt zu sprechen, »zugleich Kolonisierer und Kolonisierte«1373, wie es auch für die Mitglieder postkolonialer Gesellschaften beschrieben wurde. Dabei stellte für deutsche Zionisten Palästina nicht ausschließlich einen zu kolonisierenden Raum dar, sondern »unendlich viel mehr als bloss ›Kolonie‹, mehr noch sogar als nur ›Mutterland‹«,1374 wie Elias Auerbach in einem Artikel im April 1905 herausstellte, in dem er die Schwierigkeit einräumte, für die facettenreiche Beziehung von Zionismus und Palästina ein exklusives Label zu finden: »Und das ist erklärlich, denn das Verhältnis unserer nationalen Bewegung zu Palästina ist ein verwinkeltes. Wir haben dort nicht nur politische und Handelsinteressen wie England, nicht nur religiöse wie Russland, kolonisatorische und wirtschaftliche wie Deutschland, nationale wie die Türkei selbst oder kulturelle wie Frankreich – sondern 1370 Anon. [Loewe, Heinrich]: Der Weg zum Ziel, in: JR, IX. Jg., Nr. 13 (25. 03. 1904), S. 119– 122, hier S. 120. 1371 Osterhammel, Kolonialismus, S. 21. Vgl. auch Conrad, Kolonialgeschichte, S. 14–17. 1372 Krämer, Geschichte, S. 152. 1373 Vogt, Positionierungen, S. 196. 1374 Litteraturbericht. Buchbesprechung über »Palästina«, S. 146.

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wir haben gleichzeitig kulturelle, nationale, kolonisatorische, kommerzielle und religiöse Interessen an diesem Lande.«1375

3.

Wo liegt ›Zionismus‹? »Wenn aber das Wort Zionismus irgendeinen Sinn hat, so verlangt es doch das Streben nach Zion.«1376

Im abschließenden Kapitel soll untersucht werden, welchen ›(nationalen) Räumen‹ sich deutsche Zionisten zuordneten und mit welchen ideologischen Konzepten diese Zuordnungen verbunden wurden. Mit Ausnahme des ersten Unterkapitels liegt der Schwerpunkt der folgenden Untersuchung auf den Jahren nach 1910, da sich in diesem Zeitraum zeigte, dass sich zionistische Raumvorstellungen immer mehr mit kulturnationalistischen Deutungsmustern füllten und sich diese kollektiv ersonnenen Repräsentationen wiederum zu (umstrittenen) Grundfragen des zionistischen Nationalismus in Deutschland entwickelten.1377 So spielte im Rahmen der untersuchten Selbstbestimmungsdebatten beispielsweise die Suche nach kultureller, mitunter völkischer, Exklusivität im zionistischen Nationalismus eine wichtige Rolle, welche mit einer bestimmten – erfahrenen wie gedachten – räumlichen Umwelt assoziiert wurde und welche immer auch eine hybride Dimension aufwies. Von besonderem Interesse ist daher auch, welche Konsequenzen die so formulierten Grenzziehungen für die Ausrichtung von zionistischer Ideologie und Praxis mit sich bringen sollten. Eine entscheidende Rolle spielte für die Thematisierung der Bedeutungsveränderungen im deutschen Zionismus vor dem Ersten Weltkrieg nicht zuletzt die Tatsache, dass sie der Zionismusforschung bisher als die Standardinterpretation dienten, um eine Binnenzäsur im zionistischen Nationalismus zwischen einer »ersten« und einer »zweiten Generation« deutscher Zionisten vor dem Ersten Weltkrieg auszumachen.1378 Die folgenden räumlich-kulturellen Konzeptionen, die von den historischen Akteuren mit Begriffen wie ›Orient‹ und ›Okzident‹, ›Ost‹ und ›West‹, ›Deutschland‹ und ›Zion‹ bzw. ›Palästina‹ belegt wurden, sollen daher weniger 1375 Auerbach, Arbeit, S. 152. 1376 Blumenfeld, Kurt [Rede], in: Protokoll des XIV. Delegiertentages in Leipzig am 14. und 15. Juni 1914, in: JR, XIV. Jg., Nr. 25 (19. 06. 1914), S. 263–273, S. 268f., hier S. 268. 1377 Zum Zusammenhang zwischen Raumvorstellungen und kulturell – vermittelten wie imaginierten – Wertebildern vgl. allgemein Wagner, Kirsten: Kognitiver Raum: Orientierung – Mental Maps – Datenverwaltung, in: Günzel, Stephan (Hg.): Raum: Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart/Weimar 2010, S. 234–249, hier S. 245–247. 1378 Vgl. Reinharz, Generations; zuletzt Vogt, Positionierungen, S. 24.

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als Ausdruck real existierender Unterschiede,1379 sondern in erster Linie im Kontext eines spatial turn,1380 der mittlerweile auch die Geschichtswissenschaft erfasst hat, im Sinne von mental maps, d. h. als kognitive Konstrukte, ›Gedächtnisorte‹ und ›geistige Landkarten‹, verstanden werden.1381 Unter dem Begriff mental mapping wurde daher im Folgenden der Prozess der (subjektiven) Imaginierung eines geographischen oder soziokulturellen Raumes subsumiert, der im Wesentlichen der Orientierung des Individuums, der (sozialen) Kommunikation und der Erzeugung von Gemeinschaftsgefühlen dient.1382 Nach der historischen Raumforschung geht das ›mentale Kartographieren‹ entscheidend mit der Grenzziehung zwischen dem ›Eigenen‹ bzw. ›Vertrauten‹ und dem ›Anderen‹ bzw. ›Fremden‹ einher und steht somit auch in einem funktionalen Zusammenhang mit der Selbstdeutung des Dichotomien ersinnenden Subjektes.1383 Auf die Stufe der ›Dichotomisierung‹ folgt schließlich aus dieser Sicht die ›Homogenisierung‹ der Vorstellungen, welche den gedachten Entitäten stabile, generalisierte Eigenschaften zuschreibt. In der letzten Stufe des mental mapping erfolgt die ›Essentialisierung‹ der gedachten Einheiten, d. h. deren Verfestigung und letztlich mentale Einschreibung.1384 Die Produkte dieses Prozesses sind also als »codes of space«1385 zu verstehen. 1379 Vgl. dazu auch die Appelle von Maksymiak, Maps, S. VII; Sorkin, David: Beyond the EastWest-Divide. Rethinking the Narrative of the Jews’ Political Status in Europe. 1600–1750, in: Jewish History 24:3 (2010), S. 247–256. 1380 Zum ›spatial turn‹ in den Geschichts- und Kulturwissenschaften vgl. Schlögel, Karl: Im Raume lesen wir die Zeit: Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik, München 2003, S. 60–71; Gotthard, Axel: Wohin führt uns der »Spatial turn«? Über mögliche Gründe, Chancen und Grenzen einer neuerdings diskutierten historiographischen Wende, in: Wüst, Wolfgang u. a. (Hg.): Mikro – Meso – Makro: Regionenforschung im Aufbruch, Erlangen 2005, S. 15–49; Döring, Jörg u. a. (Hg.): Spatial Turn: Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften, Bielefeld 2008. 1381 Zum Prozess des mental mapping vgl. Schenk, Frithjof Benjamin: Mental Maps. Die Konstruktion von geographischen Räumen in Europa seit der Aufklärung, in: GG 28 (2002), S. 493–514; Damir-Geilsdorf, Sabine (Hg.): Mental Maps – Raum – Erinnerung. Kulturwissenschaftliche Zugänge zum Verhältnis von Raum und Erinnerung, Münster 2005; Lossau, Julia: Die Politik der Verortung. Eine postkoloniale Reise zu einer »Anderen« Geographie der Welt, Bielefeld 2002; Glasze, Georg/Thielmann, Jörn (Hg.): »Orient« versus »Okzident«. Zum Verhältnis von Kultur und Raum in einer globalisierten Welt, Mainz 2006; Steffelbauer, Ilja/Hakami, Khaled (Hg.): Vom Alten Orient zum Nahen Osten, Essen 2006; Maksymiak, Maps, S. VIII–X; Reuber, Paul u. a. (Hg.): Politische Geographien Europas. Annäherungen an ein umstrittenes Konstrukt, Münster 2005. 1382 Vgl. dazu auch Schenk, Maps, S. 493–495. 1383 Vgl. Polaschegg, Orientalismus, S. 41–49; 135–142. Polaschegg versteht unter dem Begriffspaar »das Eigene«/›»das Andere« identitätsrelevante Konstruktionen, während die Unterscheidung zwischen dem »Vertrauten« und dem »Fremden« eine hermeneutische Distanzierung impliziere (vgl. ebd., S. 43). So auch Maksymiak, Maps, S. IX. 1384 Vgl. Maksymiak, Maps, S. IX. 1385 Ebd.

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Erweitert um das vorgestellte Konzept der Hybridität nach Homi K. Bhabha lässt sich die genannte, bislang überwiegend auf Dichotomien beruhende Herangehensweise der Raumforschung auch in diesem Kontext um die Konzeption des »Dritten Raumes« erweitern. Nach dieser gewinnen Denkfiguren von (kultureller) Differenz, die Übergänge und Zwischenformen darstellen, an Bedeutung. Der »Dritte Raum« lässt somit in diesem Zusammenhang auch die Möglichkeit für Raumkonstruktionen zu, die sich vielmehr in einem Schwellenraum zwischen festen, dichotomischen Identitätskonstruktionen bewegten. An diese Überlegungen soll im Folgenden angeknüpft werden und zunächst nach dem Verhältnis von deutschem Zionismus und Orientalismus sowie deutschem Zionismus und Konzeptionen von ›Ost‹ und ›West‹ gefragt werden. Im ersten Unterkapitel (III.3.1) werden zunächst Palästinabilder und der Einfluss orientalistischer Diskurse auf den zionistischen Nationalismus in Deutschland analysiert. Dabei nahm die Selbstdeutung des zionistischen Kollektivs als ›Kulturbringer‹ auf der einen Seite und als ›Kulturvermittler‹ zwischen ›Orient‹ und ›Okzident‹ auf der anderen Seite entscheidenden Einfluss auf die zionistischen Vorstellungen und politischen Programme. Im zweiten Unterkapitel (III.3.2) werden ›West‹- und ›Ost‹-Konzeptionen in der Jüdischen Rundschau am Beispiel der sog. »Oppenheimer-Kontroverse« des Jahres 1910 behandelt. In dieser bezogen deutsche Zionisten auch in der Jüdischen Rundschau zu den von Franz Oppenheimer in seinem 1910 in der Welt veröffentlichten Aufsatz »Stammes- und Volksbewußtsein« formulierten Deutungsmustern Stellung. Während sich Kapitel 3.1 und 3.2 also vor allem mit den ›mentalen Landkarten‹ deutscher Zionisten beschäftigen, widmet sich das dritte Unterkapitel (III.3.3) der Bedeutungsverschiebung im zionistischen Nationalismus in Deutschland vor dem Ersten Weltkrieg. In verschiedenen Debatten seit dem Jahr 1910, wie in der »Oppenheimer-Kontroverse« im Jahr 1910 und in den Abgrenzungsversuchen der deutschen Zionisten gegenüber dem Centralverein und dem Hilfsverein der deutschen Juden1386 in den Jahren 1910 bis 1914, wurde deutlich, dass deutsche Zionisten um eine Betonung der Alleinstellungsmerkmale der ›jüdischen Nation‹ bemüht waren, die auch zunehmend eine kulturnationalistische Argumentation erkennen ließ. Ein erstes Unterkapitel (III.3.3.1) charakterisiert daher die Debatten der deutschen Zionisten mit dem Central1386 Der Hilfsverein der deutschen Juden wurde im Jahr 1901 auf Initiative des Sozialpolitikers Paul Nathan (1857–1927) in Berlin gegründet. Der Zweck des Vereins bestand darin, Spenden für die Verbesserung der Lebensbedingungen von Juden in Osteuropa und in Palästina zu sammeln. Er förderte und subventionierte u. a. Wirtschaftsunternehmungen und Schulgründungen in Palästina und unterstützte Juden bei der Vorbereitung und Finanzierung der Auswanderung. Zum Hilfsverein vgl. Reinke, Andreas: Hilfsverein der deutschen Juden, in: Diner, Dan (Hg.): Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur (EJGK), Bd. 3: He–Lu, Stuttgart/Weimar 2012, S. 40–43.

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verein und dem Hilfsverein der deutschen Juden in den Jahren von 1910 bis 1913/ 14, in denen sich die Forderung nach einer ›Nationalisierung‹ und Konkretisierung des deutschen Zionismus immer deutlicher abzeichnete. Im zweiten Unterkapitel (III.3.3.2) wird auf die Frage eingegangen, welche nationalen Deutungsmuster zu diesem Zweck auf den Delegiertentagen von Posen (1912) und Leipzig (1914) entwickelt wurden und wie sich die Beiträger in der Jüdischen Rundschau in der sich anschließenden Debatte zur Forderung nach der exklusiven ideologischen, praktischen und kulturellen Ausrichtung des zionistischen Kollektivs auf Palästina stellten. Im abschließenden dritten Unterkapitel (III.3.3.3) wird resümiert, auf welche inner- wie vor allem außerzionistischen ideologischen Einflüsse sich die Veränderungen in den Strukturen des zionistischen Nationalismus in Deutschland zurückführen lassen und welchen hybriden Gehalt sie gegebenenfalls beinhalteten. Gerade der historische Kontext ihrer Formulierung und Etablierung am Vorabend des Ersten Weltkriegs wirft die Frage nach dem Verhältnis dieser Vorstellungen eines zionistischen Nationalismus zu parallelen Entwicklungen im deutschen Nationalismus wie der mentalen Antizipation der (deutschen) »Ideen von 1914«1387 auf.1388

1387 Das zeitgenössische Schlagwort »Ideen von 1914« beschreibt die publizistischen Weltanschauungsentwürfe deutscher Intellektueller in Reaktion auf den Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Diese nationalpolitischen und kulturellen Ordnungsvorstellungen schlossen im Besonderen auch politisch-ideologische Konzepte für die innere Neugestaltung Deutschlands ein, welche sich um eine (hegelianische) Aufhebung der Ideale der Französischen Revolution, der »Ideen von 1789«, bemühten. Neben dem Modell eines konstitutionellen ›Volksstaates‹ befürworteten viele deutsche Gelehrte die Konzeption einer korporativen ›Volksgemeinschaft‹, welche exklusiv oder inklusiv gedacht werden konnte. Für eine ausführliche Erläuterung des Schlagworts der »Ideen von 1914« vgl. Beßlich, Wege; Bruendel, Volksgemeinschaft; Flasch, Kurt, Die geistige Mobilmachung. Die deutschen Intellektuellen und der Erste Weltkrieg, Berlin 2000; Lübbe, Hermann: Politische Philosophie in Deutschland. Studien zu ihrer Geschichte, Basel/Stuttgart 1963, S. 173–238; Mommsen, Wolfgang J.: Der Geist von 1914. Das Programm eines politischen Sonderweges der Deutschen, in: Ders.: Der autoritäre Nationalstaat. Verfassung, Gesellschaft und Kultur des Deutschen Kaiserreiches, Frankfurt a. M. 1992, S. 407–421; Schwabe, Klaus: Wissenschaft und Kriegsmoral. Die deutschen Hochschullehrer und die politischen Grundfragen des Ersten Weltkrieges, Göttingen 1969; Verhey, Geist. 1388 Die Zionismusforschung hat beide Entwicklungen bislang überwiegend im Kontext des Ersten Weltkriegs und des deutschen Kulturzionismus verglichen. Vgl. Vogt, Positionierungen, S. 197–251; Wiese, Wirkung.

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Palästinabilder, Zionismus und Orientalismus

Nach Edward Said, dessen 1978 erschienene Studie »Orientalism« immer noch das Standardwerk der Orientalismus-Forschung1389 darstellt, lässt sich »Orientalismus« als »a style of thought based upon an ontological and epistemological distinction made between ›the Orient‹ and (most of the time) ›the Occident‹«1390 definieren. Diese Unterscheidung hätte schließlich, so Said, einer Reihe von Intellektuellen und Politikern »as the starting point for elaborate theories, epics, novels, social descriptions, and political accounts concerning the Orient, its people, customs, ›mind‹, destiny and so on«1391 gedient. Anders gesagt: Orientalismus wird hier als ein seit der Antike reproduzierter Diskurs verstanden, in dem ›Orient‹ und ›Okzident‹ als einander entgegengesetzte, dichotome Pole existieren und erster kontinuierlich als das essentialisierte, romantisierte / exotisierte wie ›minderwertige‹ ›Andere‹, zweiter als das ›höherwertige‹ ›Eigene‹ imaginiert wird. In den Mittelpunkt dieser (einseitigen) Projektion rückt bei Said die Wechselbeziehung zwischen Alteritäts- und Identitätskonstruktionen: Erst über die eigene Abgrenzung vom so erdachten ›Orient‹ hätte sich das ›okzidentale‹, ›westliche‹ Selbstverständnis ausbilden können.1392 Die eigentliche Untersuchung Saids beginnt mit der Institutionalisierung und Wissenschaftswerdung der Orientalistik gegen Ende des 18. Jahrhunderts, wobei unmittelbar deren vielgestaltige Verflechtungen mit dem Phänomen des europäischen Kolonialismus, »shaped by the three great empires – British, French, American«1393, in den Mittelpunkt rücken.1394 Orientalismus erscheint unter diesem Blickwinkel bei Said in erster Linie als eine hegemoniale1395, herrschaftsbezogene diskursive 1389 Für einen ausführlichen Überblick über die aktuellen Tendenzen der OrientalismusForschung vgl. hier auch Wiedemann, Orientalismus. 1390 Said, Orientalism, S. 2. 1391 Ebd., S. 2f. 1392 Vgl. ebd., S. 12. 1393 Ebd., S. 15. 1394 Vgl. ebd., S. 15f. 1395 Neben Michel Foucaults Diskurstheorie (vgl. ebd., S. 3) lehnt sich Said methodisch an Antonio Gramsci an (vgl. z. B. ebd., S. 7), um durch dessen Konzept von ›Hegemonie‹ die Attraktivität des Orientalismus für die historischen Akteure zu erklären (Ebd., S. 7: »In any society not totalitarian, then, certain cultural forms predominate over others, just as certain ideas are more influential than others; the form of this cultural leadership is what Gramsci has identified as hegemony, an indispensable concept for any understanding of cultural life in the industrial West. It is hegemony, or rather the result of cultural hegemony at work, that gives Orientalism the durability and the strength I have been speaking about so far. Orientalism is never far from what Denys Hay has called the idea of Europe, a collective notion identifying ›us‹ Europeans as against all ›those‹ non-Europeans, and indeed it can be argued that the major component in European culture is precisely what made that culture hegemonic both in and outside Europe: the idea of European identity as a superior one in comparison with all the non-European peoples and cultures.«).

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Strategie (westlicher) europäischer Mächte, »a Western style for dominating, restructuring, and having authority over the Orient«1396. Obwohl sich die Orientalismus-Forschung prinzipiell an Saids Thesen orientiert und ihre Relevanz sowie Fruchtbarkeit unterstreicht, ist Saids Studie sowohl in methodologischer als auch in inhaltlicher Hinsicht Gegenstand von Kritik geworden.1397 Im Allgemeinen fordern diese kritischen Stimmen, die Argumentation Saids zu erweitern, um die Heterogenität und Widersprüchlichkeit europäischer Orientalismen sowie die Wechselseitigkeit der Projektionen in den Blick zu nehmen.1398 Im Besonderen Saids Ausblendung eines deutschen Orientalismus im Gegensatz zu Frankreich, Großbritannien und den Vereinigten Staaten von Amerika1399 wurde mittlerweile erheblich relativiert und 1396 Ebd., S. 3. 1397 Die Kritik an Saids Thesen kann an dieser Stelle nicht in allen Einzelheiten rekapituliert werden. Für einen ausführlichen Überblick vgl. Halliday, Fred: Orientalism and its Critics, in: British Journal of Middle Eastern Studies 20 (1993), S. 145–163; Osterhammel, Jürgen: Edward W. Said und die »Orientalismus«-Debatte. Ein Rückblick, in: Asien Afrika Lateinamerika 25 (1997), S. 597–607; Kurz, Isolde: Vom Umgang mit dem anderen. Die Orientalismus-Debatte zwischen Alteritätsdiskurs und interkultureller Kommunikation, Berlin 2000; Schmitz, Markus: Kulturkritik ohne Zentrum. Edward W. Said und die Kontrapunkte kritischer Dekolonisation, Bielefeld 2008, S. 213–260; Macfie, A. L. (Hg.): Orientalism. A Reader, Edinburgh 2000; Schnepel, Burkhard u. a. (Hg.): Orient – Orientalistik – Orientalismus. Geschichte und Aktualität einer Debatte, Bielefeld 2011; Kohlhammer, Siegfried: Populistisch, antiwissenschaftlich, erfolgreich. Edward Saids »Orientalismus«, in: Merkur 56 (2002), S. 288–299; Porter, Dennis: Orientalism and its Problems, in: Williams, Patrick/Chrisman, Laura (Hg.): Colonial Discourse and Post-Colonial Theory. A Reader, New York 1993, S. 150–161; Polaschegg, Orientalismus; Irwin, Robert: Dangerous Knowledge. Orientalism and its Discontents, Woodstock 2006; Varisco, Daniel: Reading Orientalism. Said and the Unsaid, Seattle 2007. 1398 Vgl. ebd. sowie Buruma, Ian/Margalit, Avishai: Okzidentalismus. Der Westen in den Augen seiner Feinde, München 2005; Siebenmorgen, Harald: Orientalismus – Okzidentalismus. Interkulturelle Spannungsfelder, in: Mostafawy, Schoole/Ders. (Hg.): Das fremde Abendland. Orient begegnet Okzident von 1800 bis heute, Stuttgart 2010, S. 12–29; Warraq, Ibn: Defending the West. A Critique of Edward Said’s Orientalism, Amherst 2007. 1399 Said begründete diese in erster Linie mit den fehlenden Verbindungslinien und Netzwerken zwischen der akademischen Disziplin der Orientalistik und der deutschen Kolonialpolitik, die demnach beide in der Region keine nachhaltigen (national-)politischen Interessen verfolgt hätten. Dennoch räumte auch er den (in diesem Fall ideellen) Einfluss des deutschen Orientalismus auf den Diskurs ein. Vgl. Said, Orientalism, S. 19: »Yet at no time in German scholarship during the first two-thirds of the nineteenth century could a close partnership have developed between Orientalists and a protracted, sustained national interest in the Orient. There was nothing in Germany to correspond to the AngloFrench presence in India, the Levant, North Africa. Moreover, the German Orient was almost exclusively a scholarly, or at least a classical, Orient: it was made the subject of lyrics, fantasies, and even novels, but it was never actual […]. Yet what German Orientalism had in common with Anglo-French and later American Orientalism was a kind of intellectual authority over the Orient within Western culture. This authority must in large part be the subject of any description of Orientalism, and it is so in this study.«

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es herrscht Übereinstimmung darüber, dass sich die deutsche Politik, Öffentlichkeit und die deutschen Orient- und Altertumswissenschaften trotz des Fehlens deutschen Kolonialbesitzes in der Region wesentlich an der Formulierung und Etablierung orientalistischer Diskurse beteiligten.1400 Suzanne Marchand charakterisierte die deutschen Orientwissenschaftler, die um 1900 mit einer anti-klassizistischen Haltung den ›Orient‹ romantisierten und kulturkritisch als Antonym zur ›Moderne‹ lasen, treffend als »romantische« oder »furiose Orientalisten«1401. Darunter lassen sich auch antikolonialistische und antiimperialistische Stimmen subsumieren, die sich gegen die vermeintliche ›Degeneration‹ des ›Orients‹ und die Vernichtung seiner Lebensformen durch europäische Einflüsse richteten und häufig eine antibritische oder antifranzösische Tendenz aufwiesen.1402 Felix Wiedemann spricht daher in diesem Zusammenhang vom deutschen auch als »umgekehrten Orientalismus bzw. eines von Europa selbst ausgehenden ›Okzidentalismus‹«1403, der jedoch häufig selbst in imperialen Diensten stand. Spätestens während des Ersten Weltkriegs wurde dieser unter maßgeblicher Beteiligung deutscher Orientalisten in ein politisches Konzept übersetzt, das unter dem Vorwand einer scheinbar antikolonialen, dem ›Orient‹ gegenüber wohlwollend gesinnten oder zumindest neutralen, Politik die Provokation eines »Dschihad« in der islamischen Welt zum Zweck der Schwächung der Kriegsgegner der Mittelmächte und des Osmanischen Reiches vorsah.1404 1400 Vgl. Polaschegg, Orientalismus; Hanisch, Ludmila: Die Nachfolge der Exegeten. Deutschsprachige Erforschung des Vorderen Orients in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Wiesbaden 2003; dies. (Hg.): Der Orient in akademischer Optik. Beiträge zur Genese einer Wissenschaftsdisziplin, Halle 2006; Mangold, Sabine: »Eine weltbürgerliche Wissenschaft«. Die deutsche Orientalistik im 19. Jahrhundert, Stuttgart 2004; Marchand, Suzanne L.: German Orientalism in the Age of Empire. Religion, Race, and Scholarship, Washington 2009; Wokoeck, Ursula: German Orientalism. The Study of the Middle East and Islam from 1800 to 1945, London 2009; Zantop, Susanne: Colonial Fantasies. Conquest, Family, and Nation in Precolonial Germany 1770–1870, Durham/London 1997; Fuhrmann, Malte: Der Traum vom deutschen Orient. Zwei deutsche Kolonien im Osmanischen Reich 1851–1918, Frankfurt a. M. 2006; Hauser, Stefan R.: Deutsche Forschungen zum Alten Orient und ihre Beziehungen zu politischen und ökonomischen Interessen vom Kaiserreich bis zum Zweiten Weltkrieg, in: Schwanitz, Wolfgang G. (Hg.): Deutschland und der Mittlere Osten, Leipzig 2004, S. 46–65 sowie die Beiträge zum Schwerpunkt »German Orientalism« in: Comparative Studies of South Asia, Africa and the Middle East 24:2 (2004), S. 19–96. 1401 Marchand, Orientalism, S. 212–251. 1402 Vgl. Wiedemann, Felix: Heroen der Wüste. Männlichkeitskult und romantischer Antikolonialismus im europäischen Beduinenbild des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, in: Ariadne 56 (2009), S. 62–67. 1403 Wiedemann, Orientalismus, S. 14. 1404 Vgl. Hagen, Gottfried: German Heralds of Holy War. Orientalists and applied Oriental Studies, in: Comparative Studies of South Asia, Africa and the Middle East 24 (2004), S. 145–162; Lüdke, Tilman: Jihad made in Germany. Ottoman and German Propaganda

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Wie bereits einleitend skizziert, wurde von der wissenschaftlichen Forschung in diesem Zusammenhang auch ein jüdischer Orientalismus in den Blick genommen, wobei hier bislang im Besonderen der Beitrag jüdischer Altorientalisten und der Wissenschaft des Judentums zur Islam- und Koranforschung im Mittelpunkt stand.1405 Lange Zeit überwog hier das Bild, nach dem im jüdischen Diskurs ein ›romantischer Orientalismus‹ dominierte, der zwar einerseits vielfältige Parallelen zu den europäischen Formen des orientalistischen Diskurses aufwies und damit als Teil derselben verstanden werden müsse, jedoch andererseits sich von diesen wesentlich unterschied, da ihm die Vorstellung der Unterlegenheit des so gedachten Raumes und die darin implizite Herrschaftskomponente gefehlt hätte.1406 Nina Berman beschrieb jüdischen Orientalismus daher auch als »Strategie einer bewussten Politik der Alterität«1407 und Susannah Heschel sprach in ihrer Untersuchung über Abraham Geiger von »[jüdischen] Gegengeschichten«, welche als »frühe Form postkolonialen Schreibens«1408 interpretiert werden könnten. Dass sich der zionistische Orientalismus jedoch komplexer darstellte und nicht in den bis dato beschriebenen dichotomischen Kriterien erschöpfte, soll im Folgenden gezeigt werden.1409 Partizipierten Zionisten an den deutschen Varianten des kolonialen Diskurses, tauchte häufig auch der ›Orient‹-Begriff auf, der jedoch im untersuchten Diskursmedium zunächst in der Regel nicht näher definiert und oftmals pauschal auf das Territorium des Osmanischen Reiches übertragen wurde.1410 Am Vorabend und im Kontext des Ersten Weltkriegs verwendeten deutsche Zionisten schließlich auch Begriffsverbindungen wie der »jüdische Orient« oder »unser Orient«,1411 welche in Abgrenzung von der »asiatische[n] Türkei«1412 oder

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and Intelligence Operations in the First World War, Münster 2005; Marchand, Orientalism, S. 436–473. Vgl. Kalmar, Ivan Davidson/Penslar, Derek J. (Hg.): Orientalism and the Jews, Hanover/ London 2005; Mendes-Flohr, Paul: Divided Passions. Jewish Intellectuals and the Experience of Modernity, Detroit 1991, S. 77–132; Berman, Nina: Orientalismus, Kolonialismus und Moderne. Zum Bild des Orients in der deutschsprachigen Kultur um 1900, Stuttgart 1997, insbes. S. 260–345; Efron, John M.: From Mitteleuropa to the Middle East: Orientalism through a Jewish Lens, in: The Jewish Quarterly Review. New Series 94 (2004), S. 490–520; Peleg, Yaron: Orientalism and the Hebrew Imagination, Ithaca 2005. Vgl. etwa Kirchhoff, Markus: Erweiterter Orientalismus. Zu euro-christlichen Identifikationen und jüdischer Gegengeschichte im 19. Jahrhundert, in: Gross, Raphael/Weiss, Yfaat (Hg.): Jüdische Geschichte als Allgemeine Geschichte, Göttingen 2006, S. 99–119. Berman, Orientalismus, S. 282. Heschel, Jesus, S. 97–136. Vgl. dazu auch Kap. III.1.4 der vorliegenden Arbeit. Vgl. zum Verhältnis von Zionismus und Orientalismus mit einem Schwerpunkt auf dem deutschsprachigen Kulturzionismus auch Vogt, Positionierungen, S. 157–171. Vgl. zum Beispiel die Bezeichnung des Dossiers »Aus dem Orient«. Levin, Schmarja: Zwei Epochen. Die letzten Ursachen des Sprachenkonflikts, in: JR, XIX. Jg., Nr. 1 (01. 01. 1914), Beiblatt, Nr. 1, S. 1–4, hier S. 3. Aus dem Orient, in: JR, IX. Jg., Nr. 41 (14. 10. 1904), S. 337f., hier S. 337.

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dem »türkischen Orient«1413 einen Versuch darstellten, den so gedachten Raum auf Palästina als konkretem Territorium der zionistischen Kolonisation einzuengen und den Begriff auf diese Weise sozusagen zu ›zionisieren‹. Einen solchen Versuch der exakten Lokalisierung des »türkischen Orients« im zionistischen Sinne unternahm etwa Heinrich Loewe in einem Artikel im Jahr 1915, in dem er klarstellte, dass er darunter das Osmanische Reich in seinen ursprünglichen Grenzen mit Ägypten, Tripolis und Tunis und vor der Abspaltung der Balkanhalbinsel sowie des Kaukasusgebietes verstand.1414 Bereits mit der Zerstörung des israelitischen Staatswesens und dem Beginn der jüdischen Diaspora in der Antike hätte, so Loewe, im besagten Raum jedoch ein kultureller Verfall eingesetzt, in dessen Folge allein der »orientalische Jude« eine kulturelle Insel unter der indigenen Bevölkerung gebildet und stetig an seiner »höhere[n] Wirtschafts- und Bildungsstufe«1415 festgehalten hätte.1416 Das Schicksal von Zionismus, Judentum und »türkischem Orient« sei daher untrennbar miteinander verbunden.1417 Für den als ›minder-kulturellen‹ oder ›halb-kulturellen‹ gedachten Raum sollten die deutschen Zionisten, wie Franz Oppenheimer in einem Aufsatz in der Zeitschrift Altneuland, der in der Jüdischen Rundschau ausführlich und wohlwollend von Elias Auerbach rezensiert wurde, bereits im Jahr 1904 betonte, die Funktion eines »Kulturträger[s]«1418 übernehmen. Diese kulturalistisch-hegemonialen Bestandsaufnahmen deckten sich mit zionistischen Reisebeschreibungen zum ›Orient‹ und damit auch zu Palästina, welche in regelmäßigen Abständen in der Jüdischen Rundschau erschienen und häufig mehrteilige Reportagen, welche teilweise an Passagen aus Abenteuerromanen erinnerten, umfassten. So wurde in der Jüdischen Rundschau beispielsweise im Jahr 1903 eine Reihe von Berichten abgedruckt, welche die Eindrücke der Zionisten Adolf Friedemann und Hermann Struck während ihrer gleichzeitigen Palästinareise dem Leser schilderten. Der ›Orient‹ und Palästina wurden darin gemäß der Degenerationsmetaphorik der Palästina- und Orientdiskurse im ›langen‹ 19. Jahrhundert, die Markus Kirchhoff für die Wissenschaft sowie Teile der Diplomatie1419 und Gudrun Krämer für die europäische Öffentlich-

1413 L., H. [Loewe, Heinrich]: Die Ottomanisierung der palästinensischen Juden, in: JR, XX. Jg., Nr. 4 (22. 01. 1915), S. 25f., hier S. 25. 1414 Vgl. Sachse, Heinrich: Juden im türkischen Orient, in: JR, XX. Jg., Nr. 38 (17. 09. 1915), S. 307–309, hier S. 307. 1415 Ebd., S. 309. 1416 Vgl. ebd., S. 307. 1417 Vgl. ebd., S. 309. 1418 Oppenheimer, Franz: Harmonische und Disharmonische Genossenschaften, in: Altneuland, Heft Nr. 2 (Februar 1904), S. 33–39. Vgl. dazu die Rezension von Auerbach, Elias: »Altneuland« [Buchbesprechung], in: JR, IX. Jg., Nr. 9 (26. 02. 1904), S. 81–83, hier S. 82. 1419 Vgl. Kirchhoff, Text, S. 258–270.

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keit1420 untersucht haben, als entvölkert, öde, brachliegend und stagnierend, Städte und Dörfer als schmutzig, arm und heruntergekommen, die Wirtschaftsweise als primitiv, Politik und Verwaltung als despotisch und korrupt und die indigene, allen voran arabisch-palästinensische, Bevölkerung als roh, gewalttätig und arbeitsfaul sowie von exotisch-orientalischer, »semitisch[er]«1421 Schön- wie Fremdheit beschrieben.1422 Eine Ausnahme vom »steinigen Land« bildeten nach Adolf Friedemann allein die jüdischen Kolonien, welche sich durch »[u]eberall Fortschritt, Sauberkeit, Ordnung – und überall gute zionistische Beamte« auszeichneten und aus der »Unfruchtbarkeit« einen »blühende[n] Garten«1423 gemacht hätten. Mit auffallend ähnlichen Attributen schilderte er auch die deutschen Kolonien in Palästina, die ebenfalls als »alles musterhaft sauber«1424 charakterisiert wurden. Zum zionistischen Diskurs der ›kulturellen Hebung‹ gehörte wie in den deutschen und europäischen Kolonialdiskursen demnach auch die Vermittlung von »Sekundärtugenden«1425. Diese betonten die in der Jüdischen Rundschau publizierenden Autoren dezidiert in ihrer Eigenschaft als ›deutsche Juden‹, die sich dazu berufen fühlten, den ›Orient‹ über Wertvorstellungen und Eigenschaften wie ›Sauberkeit‹, ›Ordnung‹ und ›Disziplin‹ zu ›modernisieren‹. Dennoch lassen sich in Friedemanns Reisebeschreibung auch kolonisationsskeptische Deutungsmuster finden: »Es ist wirklich deprimierend. Allmählich lernt man hier, wo täglich die äußeren Verhältnisse dem Willen lähmend entgegentreten, orientalische Ruhe und Geduld. Man wird wie die Menschen ringsum, und die sind vom europäischen Wesen weltverschieden. Das alles wird niemand ändern. Da gibt’s Leute, die glauben, man brauche nur recht viel westliches Wissen und vor allem viel westliche Gewohnheiten ins Land zu bringen, um den Araber zum Europäer zu machen. Schon jetzt, nach 3 wöchentlichem 1420 Vgl. Krämer, Geschichte, S. 152–164. 1421 Friedemann, Adolf: Palästinensischer Brief, in: JR, VIII. Jg., Nr. 18 (01. 05. 1903), S. 164f., hier S. 165. 1422 Alle diese Attribute finden sich in den Reisebeschreibungen von Adolf Friedemann. Vgl. z. B. Friedemann, Brief, S. 164f.; ders.: Palästinensische Briefe. II, in: JR, VIII. Jg., Nr. 20 (15. 05. 1903), S. 186f.; ders.: Palästinensische Briefe. III, in: JR, VIII. Jg., Nr. 21 (22. 05. 1903), S. 199f. Zum Narrativ der ›Stagnation im Besonderen auch Grünhut: Litteraturbericht. Rezension von: Leonhard Bauer : Volksleben im Lande der Bibel, Leipzig 1903, in: JR, VIII. Jg., Nr. 23 (05. 06. 1903), S. 224–227, hier S. 224: »Alteingesessene des hl. Landes, die Fellachen (u. Beduinen), an denen die Jahrtausende spurlos dahingingen. Die Leute haben sozusagen keine ›Vergangenheit‹, der Fellache von heute unterscheidet sich in nichts von dem Fellachen vor Jahrtausenden. Ein naturgetreues Bild dieser Urvölker versetzt uns gleichsam in der Vergangenheit Jahrtausende zurück.« Vgl. auch die zur selben Zeit wie Friedemanns Reisereportage erscheinende Reihe »Kulturelle Streifzüge im Jüdischen Orient« von Heinrich Loewe. Vgl. z. B. Loewe, Heinrich: Kulturelle Streifzüge im Jüdischen Orient, in: JR, VIII. Jg., Nr. 18 (01. 05. 1903), S. 163–167. 1423 Friedemann, Briefe III, S. 200. 1424 Friedemann, Brief, S. 164. 1425 Conrad, Kolonialgeschichte, S. 71.

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Aufenthalt im Osten, kommt mir diese Ansicht wie ein Scherz vor. Nichts, aber auch nichts wird in dieser Beziehung erreicht! Merkwürdig, wie rein äußerlich hier überall die europäische Kultur bleibt, wie wenig die Menschen sie in sich aufnehmen! Da baut man Eisenbahnen und Telegraphen, kleidet die Beamten in Uniformen und legt großartige Staudämme für das Nilwasser an in Assuan, Kairo, in Assiout. Das Land wird vermessen, die Bodensteuer gerecht verteilt, die Verwaltung reorganisiert – und alle Lebensgewohnheiten und Anschauungen der Eingeborenen bleiben die gleichen; sie hassen den Fremden nach wie vor, betrachten ihn lediglich als Ausbeutungsobjekt, erfüllen ihm zwar für Geld jeden erdenklichen Wunsch, sehnen aber doch den Tag der ›Befreiung‹ herbei, der sie aufs Neue der Paschawillkür und der Unordnung ausliefern würde. Aber an Willkür ist man so lange gewöhnt, dass man den Begriff der Gerechtigkeit kaum kennt, und Unordnung – die gehört zum Orient wie Sonnenschein und Palmen, man nimmt sie als selbstverständlich hin.«1426

Obwohl Friedemann hier also Skepsis an der Effizienz des ›europäischen‹ Projekts der Kolonisation des ›Orients‹ anmeldete, war er doch den kolonialen und orientalistischen Diskursen verhaftet und wich nicht von der Dichotomie zwischen einem ›Orient‹ und einem ›Okzident‹ bzw. ›Europa‹ ab. Auch stellte er die ›zivilisatorische Mission‹ des Zionismus nicht grundsätzlich in Frage.1427 Ein subversiver oder gar antikolonialistischer Gehalt lässt sich seinen Aussagen an dieser Stelle nicht unterstellen. Die zionistische Kolonisation des ›Orients‹ umfasste auch dezidiert politische Konzepte, nach denen der Zionismus einen europäischen, spezifisch deutschen, oder osmanischen Erfüllungsgehilfen im ›Orient‹ bilden würde. So wurde in den Beiträgen zur politischen und gesellschaftlichen Lage des Osmanischen Reiches wiederholt auch auf die Bedeutung des Zionismus und seine möglichen Sekundärfunktionen für die Innenpolitik der Hohen Pforte und die Orientpolitik des Deutschen Reiches aufmerksam gemacht. Daneben wurde auch das eigentlich antisemitische Argument von der Ableitung der jüdischen Auswanderung von den europäischen Ländern nach dem ›Orient‹ angeführt.1428 Im Kontext der sog. »Bagdadbahnfrage«1429 etwa betonten die zionistischen Autoren, dass

1426 Palästina. Reisebilder von Adolf Friedemann und Hermann Struck, Berlin 1904, Eintrag vom 06. 04. 1903 in Port Said. Vgl. dazu auch Meybohm, Wolffsohn, S. 286. 1427 Vgl. dazu auch Meybohm, Wolffsohn, S. 286. 1428 Vgl. Warburg, Otto: Unsere Aufgaben in Palästina und Syrien. Referat im Auftrage des zionistischen Palästinaausschusses, in: JR, IX. Jg., Nr. 22 (03. 06. 1904), S. 232–237. 1429 Zur »Bagdadbahn«, welche in Kooperation zwischen dem Deutschen Reich und dem Osmanischen Reich zwischen 1903 und 1940 gebaut wurde, vgl. Schöllgen, Gregor : Instrument deutscher Weltmachtpolitik. Die Bagdadbahn im Zeitalter des Imperialismus, in: Franzke, Jürgen (Hg.): Bagdadbahn und Hedjazbahn. Deutsche Eisenbahngeschichte im Vorderen Orient, Nürnberg 2003, S. 108–111; Mejcher, Helmut: Die Bagdadbahn als Instrument deutschen wirtschaftlichen Einflusses im Osmanischen Reich, in: GG 1 (1975), S. 447–481.

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die Frage der »Kolonisation längs der Bahn die Lebensfrage der Bagdadbahn«1430 sei, wobei die jüdische Besiedlung entlang der Strecke aufgrund der Loyalität der jüdischen Kolonisten zum osmanischen Staat der Hohen Pforte als beste Lösung empfohlen wurde.1431 Ganz ähnlich argumentierten die deutschen Zionisten bei der Eröffnung einer Teilstrecke der Hedschasbahn bzw. Mekkabahn, welche vor allem die Pilgerreise von Damaskus zu den heiligen Stätten des Islam in Mekka (und Medina) wesentlich erleichtern sollte.1432 Das osmanische Bauprojekt der Hedschasbahn charakterisierten sie in auffallender Parallelität zur zionistischen Kolonisation als westliche »Kulturarbeit«1433 im ›Orient‹, welche der ›zivilisierte‹ Zionist unterstütze, während »der Muhamedaner«1434, in Gestalt der »räuberischen Wüstenstämme, die sich in ihrer Industrie des Raubrittertums bedroht sehen«1435, Widerstand leiste. Neben der Gleichsetzung von Zionismus mit der »Europäisierung des Orients«1436 zirkulierte in der Jüdischen Rundschau auch die Vorstellung, nach der das jüdische bzw. zionistische Kollektiv als geborener Vermittler zwischen ›Orient‹ und ›Okzident‹ fungieren würde.1437 Neben kulturellen und ökonomischen ›Entwicklungshelfern‹ inszenierten sich die deutschen Zionisten in ihren Artikeln auf diese Weise mit den deutschen Siedlern vor Ort als Hauptpfeiler deutscher Interessensverwaltung im ›Orient‹. Nach Otto Warburg und Elias Auerbach etwa sollte sich der Zionismus an der Mittlerfunktion der deutschen Templerkolonisation zwischen ›Orient‹ und ›Okzident‹ orientieren, welche »zur Zeit das Bindeglied zwischen der orientalischen Wirtschaftsform und der abendländischen Kultur«1438 darstelle. Die Legitimation des Zionismus und seine Bedeutung für die deutsche Orientpolitik wurde in einem Beitrag von Ludwig Loewe mit dem Titel »Zionismus und Deutschtum« im Juni 1905 gegenüber der deutschen Öffentlichkeit beispielsweise damit gerechtfertigt, dass das zionistische Projekt »vom deutsch-vaterländischen Standpunkt aus […] zu einer an1430 Warburg, Aufgaben, S. 237. 1431 Vgl. ebd. 1432 Zur »Hedschasbahn« bzw. »Mekkabahn« vgl. Bickel, Benno: Mit Volldampf durch die Wüste. Lokomotiv- und Betriebsgeschichte von Hedjazbahn und Bagdadbahn, in: Franzke, Bagdadbahn, S. 139–143; Heigl, Peter : »Bis Gleiskopf 17,6 wird fleißig Schotter gefahren und die Gleise zum zweiten Male gestopft und gerichtet«. Deutsche Bauingenieure bei Bauarbeiten der Hejaz- und Bagdadbahn, in: Franzke, Bagdadbahn, S. 112–119; Pfullmann, Uwe: Die Bagdad- und Hedjazbahn im Ersten Weltkrieg 1914–1918, in: Franzke, Bagdadbahn, S. 125–138. 1433 Aus dem Orient, S. 338. 1434 Ebd. 1435 Ebd., S. 337. 1436 Calvary, Moses: Eine Freundesstimme, in: JR, XX. Jg., Nr. 20 (14. 05. 1915), S. 157f., hier S. 157. 1437 Vgl. dazu auch Vogt, Positionierungen, S. 163f. 1438 Auerbach, »Altneuland«, S. 82.

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sehnlichen Vermehrung und Vertiefung des deutsch-völkischen Kulturkreises und – falls Palästina jüdisch wird – auch zu einer bedeutenden Vergrösserung des Einflusses des Deutschtums im Orient führen«1439 müsse. Eine wichtige Rolle räumte Loewe dabei zunächst der von den Kolonisten mitgebrachten deutschen und jüdisch-deutschen Sprache(n) ein, welche bis zur Etablierung des Hebräischen und gegebenenfalls noch darüber hinaus die Umgangs- und Verkehrssprache, das »allgemeine Verständigungsmittel« und im Idealfall die »offizielle Regierungssprache«1440, bilden sollte(n). Auf die sprachliche und kulturelle Einflussnahme über jüdische Schulen und Presse würde dann – quasi im natürlichen Fortgang –, wie es bereits die Entwicklung »in allen orientalischen Ländern« unter französischem Einfluss bewiesen hätte, die (deutsche) ökonomische Durchdringung der Region folgen. Diese würde dem deutschen Handel und der deutschen Industrie neue Absatzgebiete öffnen, worauf ein reger Elitenaustausch zwischen dem »herrschenden Kreise des mohamedanischen Orients« bzw. dem »islamitische[n] Vorderasien«1441 und den Heimatländern der Siedler folgen sollte. Daraus folgerte Loewe, dass die Interessen des Zionismus mit denen der deutschen Kolonial- und Orientpolitik parallel gingen: »Wenn also der Zionismus sein Endziel erreicht, so wird er sicher nicht Verkleinerung, sondern Verstärkung der deutschen Machtsphäre zu Wege bringen […].«1442 Die genannten Rechtfertigungsmuster müssen auch in einem direkten Zusammenhang mit der zionistischen Diplomatie und Außenpolitik in den Jahren 1897 bis 1914 gesehen werden. Wie bereits gezeigt wurde, lavierte die frühe ZO diplomatisch in der Regel zwischen mehreren europäischen Mächten und dem Osmanischen Reich, um sich alle politischen Möglichkeiten offen zu halten.1443 Dies führte nicht zuletzt dazu, dass diese auf den Zionismus als diplomatischen Faktor mit Skepsis und Misstrauen reagierten, indem sie ihn für eine Organisation hielten, die im (Geheim-)Auftrag der jeweils anderen Regierung handelte.1444 Nicht selten wurde die ZO aufgrund der Herkunft der zionistischen Führungspersönlichkeiten, welche die Verhandlungen mit den Mächten leiteten, vor dem Ersten Weltkrieg in der britischen und osmanischen Presse als Maklerin deutscher Interessen abqualifiziert.1445 Die Hohe Pforte empfand die Verhandlungen der Zionisten mit den Regierungen der europäischen Mächte darüber hinaus insgesamt als Provokation. Meybohm erwähnt in diesem Zusammen1439 Loewe, Ludwig: Zionismus und Deutschtum, in: JR, X. Jg., Nr. 24 (16. 06. 1905), S. 279– 281, hier S. 280. 1440 Ebd. 1441 Ebd. 1442 Ebd., hier S. 281. 1443 Vgl. Meybohm, Wolffsohn, S. 254–297. 1444 Vgl. ebd., S. 258f. 1445 Vgl. die Beispiele ebd., S. 258.

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hang auch ein Memorandum des Auswärtigen Amtes vom 26. Januar 1904, aus dem hervorgeht, dass die deutsche Regierung den Zionismus zunächst nicht unterstützte, da sie sich davon keine Vertretung und Förderung der deutschen Interessen in Palästina versprach und den Zionismus ohnehin nicht als bedeutenden politischen Faktor in der Region wahrnahm.1446 Die wenigen Audienzen, die Herzl und Wolffsohn bei deutschen Regierungsvertretern und bei Kaiser Wilhelm II. erreicht hatten, beruhten größtenteils auf der Überlegung der deutschen Regierung, finanzielle Vorteile aus einem Bündnis mit dem Zionismus zu ziehen, und dem antisemitischen Vorurteil, der Zionismus verfüge über hohes Kapital und ein ausgedehntes internationales Netzwerk wirtschaftlicher Allianzen.1447 Dieses Verhalten entsprach insgesamt auch der offiziellen Leitlinie der deutschen Orientpolitik seit Bismarck, die zwar an einer Ausdehnung des deutschen, vor allem kulturellen und ökonomischen, Einflusses interessiert war, jedoch selbst keine Funktion als Kolonialmacht in der Region ausüben wollte.1448 Die deutschen Zionisten adressierten in ihren Beiträgen also unmittelbar die deutschen Interessen am ›Orient‹ und priesen sich als wertvolle Partner an, womit sie die Unterstützung der deutschen Regierung und Öffentlichkeit für den Zionismus erlangen wollten. Die außenpolitische Konstellation und die Handlungsoptionen des Zionismus änderten sich wesentlich erst mit dem Ersten Weltkrieg und dem Kriegseintritt des Osmanischen Reiches auf Seiten des Deutschen Reiches, mit der, wie es der Sozialdemokrat Ludwig Quessel, der in der Jüdischen Rundschau zitiert wurde, ausdrückte, eine »Bundesgenossenschaft zwischen Deutschtum und nationalgesinnter Judenheit«1449 begründet wurde. Während dieser Zeit erlangte das Narrativ vom zionistischen Nationalismus als »Vermittler zwischen Deutschland und dem Orient«1450 in der Jüdischen Rundschau neue Popularität. 1446 Vgl. ebd., S. 262. Vgl. das Faksimile des Memorandums des Auswärtigen Amts über die Haltung der deutschen Regierung zum Zionismus vom 26. 01. 1904, abgedruckt in: Fuchs, Walther Peter (Hg.): Großherzog Friedrich der I. von Baden und die Reichspolitik 1871– 1907, Bd. 4: 1898–1907, Stuttgart 1980, S. 531f. 1447 Vgl. Meybohm, Wolffsohn, S. 291–293. 1448 Vgl. ebd, S. 292. Zur Politik des Deutschen Reichs gegenüber dem Osmanischen Reich vgl. Schöllgen, Imperialismus. 1449 Deutsche und jüdische Orientinteressen, in: JR, XX. Jg., Nr. 19 (07. 05. 1915), S. 152. 1450 Grabowsky, Adolf: Grundlagen deutscher Orientpolitik, [in: »Das neue Deutschland. Wochenschrift für konservativen Fortschritt«, Nr. 12], abgedruckt in: JR, XX. Jg., Nr. 24 (11. 06. 1915), S. 192. Die Wochenschrift »Das neue Deutschland« wurde vom deutschen Geopolitiker Adolf Grabowsky gegründet. Grabowsky lehnte sich in seinen Beiträgen eng an Rudolf Kjell8ns imperialistischer, geopolitischer Lehre und seiner Konzeption von »Weltmacht« an. Grabowsky wie Kjell8n kamen zum Schluss, dass das alte europäische Großmachtsystem abgelöst sei und daher durch den Begriff der »planetarischen Macht« oder »Weltmacht« ersetzt werden müsse, den sich das ›deutsche Volk‹ aneignen müsse. In der von ihm mitbegründeten freikonservativen »Zeitschrift für Politik« hatte Grabowsky

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Dabei wurde es sowohl von deutschen Zionisten als auch deutschen Politikern elaboriert und zu einem politischen Konzept, das auch imperialistische Deutungsmuster aufnahm, (weiter) ausformuliert.1451 Die darin auftauchenden Argumentationsmuster, welche den Zionismus zur Sperrspitze des ›Deutschtums‹ stilisierten, erinnerten stellenweise stark an den zeitgleich ablaufenden Diskurs über die Rolle des Zionismus in den vom Deutschen Reich eroberten Ostgebieten.1452 Davis Trietsch beispielsweise veröffentlichte im Jahr 1915 eine Broschüre mit dem Titel »Juden und Deutsche, eine Sprach- und Interessengemeinschaft«, in der er die Gemeinsamkeiten zwischen Juden und Deutschen hervorhob und die Bedeutung des Zionismus für die deutsche Orientpolitik in den Mittelpunkt rückte.1453 Die zuvor rekonstruierten, von den deutschen Zionisten bereits vor dem Ersten Weltkrieg verwendeten, Selbstdeutungen entsprachen darüber hinaus fast aufs Wort den Thesen eines Artikels aus der Wochenschrift für deutsche Welt- und Kolonialpolitik, welcher in der Jüdischen Rundschau im März 1915 abgedruckt wurde und dem (deutschen wie jüdischen bzw. zionistischen) Leser die »politische Bedeutung des Zionismus«1454 vor Augen führen sollte. Die von Paul Rohrbach und Ernst Jäckh im April 1914 gegründete Wochenschrift stand politisch dem sog. »liberalen Imperialismus«1455 des Friedrich-NaumannKreises nahe.1456 Im besagten Artikel wurden Empfehlungen für die Leitlinien

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den Begriff des »Kulturkonservatismus« entwickelt, der konservative Ideen mit politischer Modernität versöhnen sollte. Vgl. dazu auch Grabowsky, Adolf: Raum, Staat und Geschichte. Grundlegung der Geopolitik, Köln/Berlin 1960. Zu Adolf Grabowsky vgl. Wende, Dietrich: Kulturkonservatismus und konservative Erneuerungsbestrebungen, in: Thierbach, Hans (Hg.): Adolf Grabowsky, Köln 1963, S. 87–131; vom Bruch, Rüdiger : Kulturstaat-Sinndeutung von oben?, in: Ders. u. a. (Hg.): Krise der Moderne und Glaube an die Wissenschaft, Wiesbaden u. a. 1989, S. 63–101, hier S. 85–92. Zu Kjell8n vgl. auch Kjell8n, Rudolf: Die Ideen von 1914. Eine weltgeschichtliche Perspektive, Leipzig 1915. Zur Orientpolitik des Deutschen Reiches während des Ersten Weltkrieges vgl. Loth/Hanisch, Weltkrieg; Kreutzer, Dschihad. Zu den zionistischen Erwartungs- und Wahrnehmungsmustern in Bezug auf die deutsche Okkupation in den Ostgebieten während des Ersten Weltkriegs vgl. Panter, Loyalitätskonflikte, S. 39–52, 97–114. Vgl. Trietsch, Davis: Juden und Deutsche. Eine Sprach- und Interessengemeinschaft, Wien 1915 [Microfiche-Edition]. Die politische Bedeutung des Zionismus. Aufsatz aus »Deutschland-Wochenschrift für deutsche Welt- und Kolonialpolitik«, veröffentlicht in der 9. Nummer v. 27. Februar 1915, abgedruckt in: JR, XX. Jg., Nr. 10 (05. 03. 1915), S. 79f., hier S. 80. Vgl. Mommsen, Wolfgang J.: Wandlungen der liberalen Idee im Zeitalter des Imperialismus, in: Holl, Karl/List, Günther (Hg.), Liberalismus und imperialistischer Staat, Göttingen 1975, S. 109–147. Zu Ernst Jäckh, Paul Rohrbach und der »Deutschland-Wochenschrift« vgl. Fehlberg, Frank: Protestantismus und Nationaler Sozialismus. Liberale Theologie und politisches Denken um Friedrich Naumann, Bonn 2012, S. 241–314; Mogk, Walter : Paul Rohrbach und das »Größere Deutschland«. Ethischer Imperialismus im Wilhelminischen Zeitalter.

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der deutschen Orientpolitik ausgesprochen, welche die Bedeutung des Zionismus würdigen sollten. Die jüdischen Einwanderer wurden charakterisiert als »die gegebenen Mittler zwischen Asien, Afrika und Europa, das ausgleichende Element zwischen Orient und Okzident, unter der Zahl verschiedener Volkselemente ein[en] durch Staatstreue und wirtschaftliche Bedeutung der Zentralregierung besonders wertvolle[n] Volksteil.«1457

Ganz entsprechend der ersonnenen Zuschreibungen im zionistischen Diskurs sollte die jüdische Kolonisation in Palästina dem Osmanischen Reich von Vorteil sein mittels »Volksvermehrung, der Hebung der Landwirtschaft, der Einführung von Industrien und der Verbreitung der europäischen Zivilisation« und eine allgemeine »wirtschaftliche Bereicherung, eine Besserung der hygienischen und Sicherheits-Verhältnisse und eine Festigung ihres gegenwärtigen Besitzstandes«1458 mit sich bringen. Neben diesen publizistischen Netzwerken existierten auch reale, indem sich deutsche Zionisten während des Ersten Weltkriegs wiederholt auch persönlich mit Rohrbach, Jäckh und anderen trafen, um ihre politischen Konzepte abzustimmen.1459 Im Jahr 1918 erfolgte mit der Gründung von »Pro Palästina. Deutsches Komitee zur Förderung der jüdischen Palästinasiedlung« schließlich die praktische Verstetigung und Institutionalisierung des Diskurses in einer Vereinigung aus Zionisten und prominenten deutschen Persönlichkeiten aus Wissenschaft, Kunst und Politik. Diese sollte zugleich das Streben des Zionismus nach einer jüdischen Besiedlung in Palästina und die deutschen Kultur- und Wirtschaftsbeziehungen in der Region fördern. Zu diesem Zweck wurde u. a. eine eigene Schriftenreihe herausgegeben.1460

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Ein Beitrag zur Geschichte des Kulturprotestantismus, München 1972; von UngernSternberg, Jörg/von Ungern-Sternberg, Wolfgang: Der Aufruf ›An die Kulturwelt!‹. Das Manifest der 93 und die Anfänge der Kriegspropaganda im Ersten Weltkrieg, Stuttgart 1996, S. 122–125; Vogt, Positionierungen, S. 168f. Vogt, ebd., bemerkt pointiert, dass es kein Zufall war, dass sich die deutschen Zionisten an die »ethischen Imperialisten« hielten. Bedeutung, S. 80. Ähnliche Thesen entwickelte auch Paul Rohrbach in einem Vortrag, der vom »Kartell Jüdischer Verbindungen« organisiert worden war und am 03. März 1915 im preußischen Abgeordnetenhaus gehalten wurde. Vgl. den Abdruck in der Jüdischen Rundschau unter Die Zukunft des Orients, in: JR, XX. Jg., Nr. 11 (12. 03. 1915), S. 86f. Allein schon die Wiedergabe dieser Artikel aus deutschen Kolonialzeitschriften und entsprechenden Reden belegt die Bedeutung, welche die Zionisten entsprechenden politischen Konzepten beimaßen. Bedeutung, S. 80. Vgl. dazu auch die Berichterstattung über einen Vortrag Ernst Jäckhs (vgl. Deutsche Weltpolitik und türkische Entwicklung, in: JR, XX. Jg., Nr. 13 (26. 03. 1915), S. 105). Vgl. Brief von Kurt Blumenfeld an Richard Lichtheim vom 24. 03. 1915, in: Blumenfeld, Kurt: Im Kampf um den Zionismus. Briefe aus fünf Jahrzehnten, hg. v. Miriam Sambursky und Jochanan Ginat, Stuttgart 1976, S. 43; Protokoll der Unterredung mit Ernst Jäckh vom 20. 02. 1915, CZA, Z3/11. Vgl. dazu ausführlich auch Vogt, Positionierungen, S. 170. Vgl. Pro Palästina. Deutsches Komitee zur Förderung der Jüdischen Palästinasiedlung, 1918.

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Im auffallenden Gegensatz zu diesen hegemonialen, mitunter imperialistischen Tendenzen im Verhältnis von Zionismus und Orientalismus existierten jedoch auch Beiträge, in denen deutsche Zionisten sich selbst als Teil eines ›(jüdischen) Orients‹ begriffen und sich in positiver Transformation orientalistischer Stereotypen, die oftmals auch im antisemitischen Diskurs etabliert waren, als ›(jüdische) Orientalen‹ schilderten.1461 So wurde im zionistischen Rassediskurs im Zusammenhang mit der Ostafrikafrage etwa von Julius Katz betont, dass die Juden nicht zuletzt deshalb ein geeignetes »Kolonisationsmaterial« für Palästina darstellten, da in ihren Adern selbst »semitisch-orientalische[s] Blut«1462 fließe. Damit bestehe eine natürliche ›Stammesverwandtschaft‹ mit der indigenen Bevölkerung. Auch Kurt Blumenfeld schilderte in seiner Charakteristik von »Antisemitismus« den ›Orient‹ als Ursprungsort ›des Juden‹.1463 Insgesamt stellte die ›Orientalisierung des Juden‹ einen beliebten Topos im deutschen Kulturzionismus dar und wurde beispielsweise von Martin Buber und Robert Weltsch in ihren Reden und Schriften über die »Juden als Volk des Orients«1464 aufgegriffen. Das Verhältnis von Zionismus und Orientalismus zeichnete sich, wie schon der zionistische Kolonialdiskurs, durch eine eigentümliche (hybride) Ambivalenz aus.1465 Einerseits bedienten sich auch die zionistischen Orientalismuskonzeptionen der dem europäischen Orientalismus inhärenten dichotomen Narrative, welche prinzipiell von der höheren kulturellen Wertigkeit des eigenen Gegenübers ausgingen und die politische, kulturelle und ökonomische Durchdringung der Region legitimieren sollten. Unter die Penetration des ›Orients‹ fiel in diesem Zusammenhang auch die zionistische Kolonisation in Palästina, welche die Unterstützung der europäischen Mächte suchte und sich selbst zu einem wertvollen diplomatischen Partner des europäischen, vor allem deutschen Imperialismus stilisierte. Andererseits entwickelten deutsche Zionisten auch eine neue Denkfigur, nach der das zionistische Kollektiv zwischen ›Orient‹ und ›Okzident‹ stand und sozusagen Eigenschaften und Werte beider so gedachten räumlichen Strukturen in sich vereinigte. Darüber hinaus sahen die zionistischen politischen Entwürfe auch den dialogischen Austausch und die Kommunikation mit der indigenen Bevölkerung vor. Die in diesem Zusammenhang formulierten Deutungsmuster konnten mit antihegemonialen, antikolonialistischen und antiimperialistischen Zielen verknüpft 1461 Vgl. dazu auch Pasto, Orientalism; Rohde, Orient; Marchand, Orientalism, S. 292–332. 1462 Katz, Betrachtungen, S. 5. 1463 Vgl. Maarabi [Blumenfeld, Kurt]: Antisemitismus, in: JR, XX. Jg., Nr. 30 (23. 07. 1915), S. 239f., hier S. 240. 1464 Vgl. dazu etwa den Bericht in der Jüdischen Rundschau über den Vortrag Bubers. Vgl. Buber, Martin: Die Juden als Volk des Orients, in: JR, XX. Jg., Nr. 12 (19. 03. 1915), S. 95f. Vgl. dazu ausführlich Vogt, Positionierungen, S. 157–171. 1465 Zum Folgenden vgl. insbes. auch Vogt, Positionierungen, S. 170f.

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werden oder aber auch mit einer imperialistischen Welt- oder Kolonialpolitik, welche sich in erster Linie am Deutschen Reich orientierte. Die deutschen Zionisten knüpften in dieser Hinsicht also auch an die widersprüchlichen, uneindeutigen Strömungen im deutschen Orientalismus an und bildeten einen Teil derselben, die Felix Wiedemann als »umgekehrten Orientalismus«1466 charakterisierte.

3.2

Zionismus zwischen ›West‹ und ›Ost‹: Die »Oppenheimer-Kontroverse« im Jahr 1910 und ›West‹- und ›Ost‹-Konzepte in der Jüdischen Rundschau

Sowohl einen Teil des soeben beschriebenen ambivalenten Verhältnisses zwischen Zionismus und Orientalismus als auch ein eigenes gedankliches wie diskursives Referenzsystem bildeten die Raumkonstruktionen, welche die ›West‹- und ›Ost‹-Konzepte in der Jüdischen Rundschau prägten. Mit den Vorstellungen über ›Ost-‹ und ›Westeuropa‹ im ›langen‹ 19. Jahrhundert beschäftigten sich auch eine Reihe von geschichts- und kulturwissenschaftlichen Forschungen seit den 1980er Jahren, oftmals unter Rekurs auf Edward Saids Thesen.1467 So kam etwa der US-amerikanische Historiker Larry Wolff in seinen Untersuchungen zu dem Ergebnis, dass sich seit der Aufklärung ein intellektueller Diskurs, teilweise unter Rückgriff auf ältere raumbezogene Vorstellungen, etabliert hatte, in dem ›Osteuropa‹ als homogene, ›andere‹ wie ›fremde‹ Entität und als eigener Kulturraum konstruiert wurde. Der ›Osten‹ wurde aus ›westlicher‹ Sicht ähnlich dem ›Orient‹ einerseits als barbarisch, wild, despotisch, halb-asiatisch und kulturell inferior geschildert, andererseits mit romantisierten und exotisierten Eigenschaften und der ›Authentizität‹1468 der dortigen Lebensformen imaginiert.1469 Daneben konnte ›Osteuropa‹ als Schwellenraum – zwischen dem barbarischen ›Orient‹ und dem kultivierten ›Westen‹ – in Erscheinung treten. Europäische Intellektuelle hätten an dieser ›Erfindung‹ partizipiert, so Wolff, um vor dieser Kontrastfolie ihre Vorstellung von ›Westeuropa‹ als Synonym für ›Kultur‹, ›Zivilisation‹ und ›Fortschritt‹ zu 1466 Wiedemann, Orientalismus, S. 14. Diese Tatsache hat die Zionismusforschung bislang völlig ignoriert. 1467 Vgl.den kurzen einleitenden Forschungsüberblick bei Maksymiak, Maps, S. IV–X. 1468 Vgl. ebd., S. IX. Wie im Orientalismus entsprach dieser Zuschreibung die Charakterisierung des ›Westens‹ als »artifiziell und entwurzelt« (ebd.). 1469 Vgl Wolff, Larry : Inventing Eastern Europe. The Map of Civilization on the Mind of the Enlightenment, Stanford 1994. Ähnliche Narrative rekonstruiert auch Maria Todorova in ihrer Anwendung von Saids Orientalismus auf den Raum »Balkan«. Vgl. Todorova, Maria: Imagining the Balkans, New York 2009 [1997]. Vgl. mit einem Schwerpunkt auf dem Raum »Balkan« auch Vidojkovic´, Serbienbild, S. 61–122.

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zementieren.1470 Wie der ›Orient‹ Saids hätte schließlich auch das ›mentale Kartographieren‹ des ›Ostens‹ der gedanklichen Antizipation expansionistischer, kolonialistischer und imperialistischer Unternehmungen westlicher Mächte in die östlichen Teile Europas gedient.1471 Wolfgang Wippermann unterscheidet hingegen, wenn auch gelegentlich wenig differenziert, vier Typen von Repräsentationen des ›Ostens‹ im deutschen öffentlichen Diskurs, welche von den narrativen Dichotomien »Feindbild« und »Traumland« eingerahmt werden.1472 Neben einem ›religiösen Osten‹ christlicher Heilserwartung habe ein ›orientalischer Osten‹ in der ›westlichen‹ Vorstellungswelt existiert, der, so die These Wippermanns, in enger Anlehnung an Wolff, als ›anderer‹/›fremder‹ ›Kulturkreis‹ gleichermaßen als negatives Kontrastprogramm zur westlichen ›Kultur‹ und ›Zivilisation‹ und als Projektionsfläche eigener idealisierter Zukunftsentwürfe fungiert hätte.1473 Auf einen älteren ›europäischen Osten‹, der zum Objekt kolonialer Phantasien und expansiver Bestrebungen aufstieg, folgte schließlich in Folge des Aufkommens des Sowjetkommunismus im 20. Jahrhundert ein zweiter ›politisch-kultureller Osten‹.1474 Spätestens seit dem Ende des 18. Jahrhunderts bildete die Verständigung über ›den Ostjuden‹1475 ein zentrales Element der beschriebenen diskursiven bürgerlichen und damit auch zionistischen Praxen.1476 In innerjüdischen Diskursen etwa wurde ›Ostjudentum‹ im ›langen‹ 19. Jahrhundert analog zu den ›westlichen‹ Vorstellungen über den ›Osten‹ überwiegend als Antithese zur aufklärerischen, emanzipatorischen Leitkultur (der ›bürgerlichen Gesellschaft‹) und als Sinnbild des politisch und sprachlich-kulturell zurückgebliebenen Ghettobe-

1470 Vgl. Wolff, Europe, S. 356–376. 1471 Vgl. dazu auch Dupcsik, Csaba: Postcolonial Studies and the Inventing of Eastern Europe, in: East Central Europe 26 (1999), S. 1–14; Gebhard, Gunther u. a. (Hg.): Das Prinzip »Osten«. Geschichte und Gegenwart eines symbolischen Raums, Bielefeld 2010; Jureit, Ulrike: Das Ordnen von Räumen. Territorium und Lebensraum im 19. und 20. Jahrhundert, Hamburg 2012; Klug, Ekkehard: Das »asiatische« Russland. Über die Entstehung eines europäischen Vorurteils, in: HZ 245 (1987), S. 265–289; Lemberg, Hans: Zur Entstehung des Osteuropabegriffs im 19. Jahrhundert. Vom »Norden« zum »Osten« Europas, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 33:1 (1985), S. 48–91; Lorenz, Dagmar (Hg.): Konzept Osteuropa. Der »Osten« als Konstrukt der Fremd- und Eigenbestimmung in deutschsprachigen Texten des 19. und 20. Jahrhunderts, Würzburg 2011; Schenk, Maps. 1472 Vgl. Wippermann, Osten, S. 9, 121. 1473 Vgl. ebd., S. 11–52. 1474 Vgl. ebd., S. 53–120. 1475 Zur Begriffsgeschichte vgl. Makysmiak, Maps, S. Vf. 1476 Vgl. Aschheim, Brothers; Maurer, Ostjuden; Reinharz, Jehuda: East European Jews in the Weltanschauung of German Zionists. 1882–1914, in: Studies in Contemporary Jewry 1 (1984), 55–64; Wertheimer, Jack: Unwelcome Strangers. East European Jews in Imperial Germany, New York 1987.

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wohners imaginiert.1477 In Folge der Masseneinwanderung osteuropäischer Juden in das Deutsche Reich nach 1880 verfestigten sich diese Stereotypen und osteuropäisches Judentum wurde zum »embodiment of an alien and hostile culture«1478. Mit Michael C. Frank und Frank Schlöffel kann die Entfremdung ›des Ostjuden‹ in westlichen Diskursen als »doppelte [räumliche und zeitliche] Distanzierung des Anderen«1479 interpretiert werden. Die in den Beiträgen deutscher Zionisten kontinuierlich reproduzierten Begriffe ›West‹ und ›Ost‹ wurden von der bisherigen Zionismusforschung bislang überwiegend als real bestehende »Dichotomisierung der europäischen Juden in zwei konträre Einheiten«1480 analysiert.1481 Malgorzata A. Maksymiak hingegen hat in ihren Untersuchungen auf die Reziprozität ›westjüdischer‹ und ›ostjüdischer‹ Projektionen aufmerksam gemacht,1482 die vermuten lässt, dass die wechselseitigen Bilder komplexer strukturiert waren, als die bisherige Forschung dies konstatiert hat. Auch im Folgenden sollen Schlaglichter auf die ›Ost‹-›West‹-Problematik in der Jüdischen Rundschau geworfen werden, wobei der Schwerpunkt auf der sog. »Oppenheimer-Kontroverse« des Jahres 1910 liegen wird.1483 In der zuvor analysierten »Altneuland-Kontroverse« zeichnete Max Nordau1484 entsprechend der genannten gängigen Topoi des zeitgenössischen ›Osteuropa‹-Diskurses die Grenze im jüdischen Kollektiv zwischen ›West‹ und ›Ost‹, zwischen ›Europa‹ und ›Asien‹, zwischen ›Kultur‹ und ›Fortschritt‹ auf der einen, ›Barbarei‹ und ›Rückständigkeit‹ auf der anderen Seite, womit er auch die He1477 Vgl. Jaeger, Achim u. a.: Positionierung und Selbstbehauptung. Debatten über den Zionistenkongress, die »Ostjudenfrage« und den Ersten Weltkrieg in der deutsch-jüdischen Presse, Tübingen 2003; Weiss, Yfaat: »Wir Westjuden haben jüdisches Stammesbewußtsein, die Ostjuden jüdisches Volksbewußtsein. Der deutsch-jüdische Blick auf das polnische Judentum in den beiden ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts«, in: Archiv für Sozialgeschichte XXXVII (1997), S. 157–178.; dies., Concept; Maksymiak, Maps. 1478 Aschheim, Steven E.: Caftan and Cravat. The Ostjude as a Cultural Symbol in the Development of German Anti-Semitism, in: Drescher, Seymour u. a. (Hg.): Political Symbolism in Modern Europe. Essays in Honor of George L. Mosse, New Brunswick 1982, S. 81–99, hier S. 82. 1479 Frank, Michael C.: Kulturelle Einflussangst. Inszenierungen der Grenze in der Reiseliteratur des 19. Jahrhunderts, Bielefeld 2006, S. 37–43 (Kap. I.3: »Raum- und Zeitgrenzen: Die doppelte Distanzierung des Anderen«); Schlöffel, Loewe, S. 115. 1480 Maksymiak, Maps, S. VII. 1481 Vgl. Aschheim, Steven E.: The East European Jew and German Jewish Identity, in: Studies in Contemporary Jewry 1 (1984), S. 3–25; Aschheim, Brothers; Kugelmass, Jack: Jewish Icons. Envisioning the Self in Images of the Other, in: Boyarin, Jonathan/Boyarin, Daniel (Hg.): Jews and Other Differences. The New Jewish Cultural Studies, Minneapolis/London 1997, S. 30–53. 1482 Vgl. Maksymiak, Maps. 1483 Vgl. zu den diskursiven Würzelchen des Ost-West-Diskurses im Zionismus vor 1910 ausführlich ebd., S. 21–86. 1484 Zu Max Nordau vgl. Avineri, Profile, S. 125–136.

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gemonie des ›Westjudentums‹ im Judentum bzw. Zionismus festschrieb: »Seine Eigenart wird das jüdische Volk innerhalb der allgemeinen westlichen Kultur entfalten, wie jedes andere gesittete Volk, nicht aber ausserhalb in einem kulturfeindlichen, wilden Asiatentum, wie Achad-Haam es zu wünschen scheint.«1485 Neben des Anspruches auf Deutungshoheit des ›(westlichen) politischen Zionismus‹ über den ›(östlichen) Kulturzionismus‹ ist hier auch die Verwendung des Begriffes ›Asien‹ für den (zionistischen) ›Osten‹ markant, der in der vorliegenden Untersuchung bereits als gängiger Topos des zionistischen Russlandbildes begegnete.1486 Auf den Konstruktcharakter der entsprechenden kulturräumlichen Topographien, bei denen es sich aus seiner Sicht um »zwei verschiedene Anschauungen, die ihren Ursprung im Osten bzw. im Westen haben«1487, handelte, hatte hingegen Achad Ha’am bereits 1898 pointiert hingewiesen. Demnach sei es durchaus möglich, so Ha’am, »dass ›Östliche‹ in diesem Sinne auch im Westen und dass ›Westliche‹ im äußersten Osten zu finden sind«1488. Die These Maksymiaks, nach der die meisten westeuropäischen Zionisten das Vorhandensein eines ›doppelten Zionismus‹ vor dem Ersten Weltkrieg hinunterspielten oder gar abstritten, während osteuropäische Zionisten auf die vorhandenen Differenzen verwiesen und eine Verständigung zwischen den sich im zionistischen Kollektiv geformten Allianzen herbei führen wollten,1489 relativierten deutsche Zionisten, die eine Versöhnung des ›gespaltenen Zionismus‹ erhofften. Diese Form des ›nationalen Homogenisierens‹ in Bezug auf ›Ost‹ und ›West‹ war auch vor dem Hintergrund der frühen Vision eines geeinten, starken Kollektivs unter vielen deutschen Zionisten weit verbreitet, wie gezeigt werden konnte.1490 In verschiedenen Reisebeschreibungen und Kommentaren, die in der Jüdischen Rundschau abgedruckt und veröffentlicht wurden und in denen sich zionistische Konzeptionen von ›Ost‹ und ›West‹ widerspiegelten, lassen sich des Weiteren die bekannten Assoziationen des ›Ost‹-›West‹-Diskurses‹ finden: ›Osteuropa‹ wird darin als Ort der ›Rückständigkeit‹ und ›Primitivität‹, jedoch zugleich als Hort der ›Religiosität‹, ›Volkstümlichkeit‹ und ›Traditionstreue‹ geschildert.1491 Die »Steifheit, Kälte, Gemessenheit«1492 und damit Formelhaf1485 Nordau, Max: Achad Haam über »Altneuland« (1), in: JR, VIII. Jg., Nr. (13. 03. 1903), S. 92–96, hier S. 94. 1486 Vgl. Zykova. Zaren, S. 88–90. 1487 Ha’am-Achad: Ha-Kongress Ha-Tsioni Ha-Sheni [Der zweite Zionistenkongress], in: Kol Kitvey [Gesammelte Schriften] Achad-Ha’am, Bd. 3, Jerusalem 1961, S. 293–295, hier S. 293, zit. n.: Maksymiak, Maps, S. 18, Fn. 85. 1488 Ebd. 1489 Vgl. Maksymiak, Maps, S. 19f. 1490 Vgl. Kap. III.2.1 der vorliegenden Arbeit. 1491 Vgl. Maksymiak, Maps, S. 70.

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tigkeit sowie national-kulturelle Inhaltsleere der jüdischen Kulturformen im ›Westen‹ einerseits1493 und die ›Authentizität‹ und tiefe Innerlichkeit der jüdischen Kulturformen im ›Osten‹ andererseits1494 hob beispielsweise Hans Goslar in seinen »Kulturskizzen« hervor, die im August 1910 in der Jüdischen Rundschau erschienen.1495 Goslar lieferte darin eine (fiktive) Beschreibung der unterschiedlichen Abhaltung des jüdischen Fast- und Trauertages Tischa be’Aw in ›West‹ und ›Ost‹, an dem der Zerstörung des Jerusalemer Tempels gedacht wird und der den Höhepunkt und Abschluss der Trauerzeit der drei Wochen bildet.1496 Wie Maksymiak treffend bemerkt, verlangte allein schon die zionistische Logik zwischen dem ›(jüdischen) Orient‹ und dem ›(jüdischen) Europa des Ostens‹ zu differenzieren. Letzteres erschien demnach in den zionistischen Beiträgen unter Rückgriff auf ältere Raumdeutungen als quasi- oder halbwestlicher, europäisierter Übergangsraum, der sich in einem Modernisierungsprozess der ›westlichen Welt‹ angenähert hätte, ohne seine ›(jüdische) Authentizität‹ einzubüßen.1497 Diese artifizielle Differenzierung diente nicht zuletzt der Legitimation der zionistischen Kolonisation: Die zur Auswanderung bereiten ›halb-europäischen‹ ›osteuropäischen Juden‹ sollten im Projekt der Kolonisation Palästinas zu Erfüllungsgehilfen bei der im Kapitel zuvor beschriebenen ›westjüdischen (europäischen) Zivilisierungsmission‹ und beim Brückenbau zwischen ›Okzident‹ und ›Orient‹ fungieren.1498 Im Jahr 1910 löste schließlich der Aufsatz »Stammesbewusstsein und Volksbewusstsein« des Soziologen und Nationalökonomen Franz Oppenheimer,1499 der in der Welt erschien und zum Zweck der möglichen Kommentierung in extenso in der Jüdischen Rundschau abgedruckt wurde, eine kontroverse innerzionistische Debatte über die Begriffe ›Ost‹ und ›West‹ und die damit verbundenen Vorstellungen von ›Zionismus‹ aus.1500 Die Debatte um die Thesen 1492 Goslar, Hans: Tischa be-Aw. Zwei Kulturskizzen, in: JR, XV. Jg., Nr. 33 (19. 08. 1910), S. 391f., hier S. 392. 1493 Vgl. ebd., S. 392. 1494 Vgl. ebd., S. 391. 1495 Vgl. ebd., S. 391f. 1496 Vgl. ebd. 1497 Vgl. Maksymiak, Maps, S. 71–73. 1498 Vgl. dazu auch Kap. III.2.3.2 und Kap. III.3.1 der vorliegenden Arbeit. 1499 Franz Oppenheimer entwickelte das Konzept der »Siedlungsgenossenschaft« als Modell für die Gründung landwirtschaftlicher Kolonien, wobei er davon überzeugt war, dass die zionistische Siedlung eine »freibürgerliche« Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung in Gang setzen würde. Zu Franz Oppenheimer vgl. Kotowski, Elke-Vera/Peretz, Dekel: Franz Oppenheimer, Wegbereiter der Sozialen Marktwirtschaft (Jüdische Miniaturen, Bd. 157), hg. vom Centrum Judaicum, Berlin 2015; Haselbach, Dieter: Soziologie, Geschichtsphilosophie und Politik des »Liberalen Sozialismus«. Mit einem Nachwort von Michael Th. Greven, Wiesbaden 1985, insbes. S. 117–145. 1500 Zur Debatte vgl. überblicksartig auch Weiss, Blick; Dies.: Jewry ; Maksymiak-Fugmann,

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Oppenheimers ist auch deshalb von Bedeutung, da sich darin bereits die vier Jahre später auf dem Delegiertentag in Leipzig (1914) herausgebildeten Narrative in Ansätzen zeigten und erkennen ließen, dass sich zum Teil neue Allianzen im deutschen Zionismus gebildet hatten. Die ›Oppenheimer-Kontroverse‹ des Jahres 1910 kann daher auch als eine Art ›Vorbeben‹ oder ›Präludium‹ zur Kontroverse auf dem Delegiertentag in Leipzig 1914 charakterisiert werden. Oppenheimer konstruierte in seinem Aufsatz zwei Arten von ›(europäischem) Zionismus‹, wobei er der im ersten Kapitel angesprochenen diskursiven Strategie der Differenzierung zwischen ›Stamm‹ und ›Volk‹ bzw. ›Nation‹ eine weitere semantische Dimension und Umgebung im Kontext des Diskurses über ›Ost‹ und ›West‹ verlieh.1501 Obwohl Oppenheimer zugleich die Faktizität seiner eigenen Gegenüberstellung relativierte, indem er den entsprechenden Einheiten ein voluntaristisches Element – das »Bewusstsein« – beigab, ging er von einem grundsätzlichen Unterschied zwischen der ›nationaljüdischen Gemeinschaft‹ im ›Westen‹ und der im ›Osten‹ aus: »Wir Westeuropäer stehen dem zionistischen Ideal anders gegenüber als die Osteuropäer! […] wir Westjuden haben jüdisches Stammesbewusstsein, die Ostjuden jüdisches Volksbewusstsein! […] Das Stammesbewusstsein geht auf Vergangenes, es ist überall da vorhanden, wo das Individuum das Bewusstsein hat, von einem Volkstum abzustammen, […] das Bewusstsein gemeinsamer Abstammung, gemeinsamen Blutes oder wenigstens ehemaligen gemeinsamen Volkstums, gemeinsamer Geschichte mit ihren Erinnerungen an Leid und Freud, an Heroismus und Grosstaten. […] Das Volksbewusstsein aber geht auf Gegenwärtiges: auf Gemeinsamkeit der Sprache, der Sitte, der Wirtschafts- und Rechtsbeziehungen usw. und der geistigen Kultur.«1502

Anders formuliert: Die ›Juden im Westen‹ stellten nach Oppenheimer also einen (gefühlten) ›Stamm‹ im Sinne einer ethnisch-historischen Abstammungsgemeinschaft dar, während die ›Juden im Osten‹ eine (gefühlte) präsente ›jüdische Volks- und Kulturnation‹ bildeten. Das ›Volksbewusstsein‹ unterteilte Oppenheimer noch weiter in »Nationalitätsbewußtsein« und »Kulturbewußtsein« und folgerte daraus, dass die ›Ostjuden‹ im Gegensatz zu den ›Westjuden‹ somit gleichermaßen ein »Kulturjudentum und Nationaljudentum«1503 darstellten.1504

1501 1502

1503 1504

Malgorzata: Zionistische Identitäten um 1900. Ein »Kulturkampf« zwischen Ost und West, in: Marten-Finnis, Susanne/Winkler, Markus (Hg.): Die jüdische Presse im europäischen Kontext 1686–1990, Bremen 2006, S. 167–178. Die bisherige Rekonstruktion der Debatte ignoriert die kulturalistische Argumentation. Vgl. dazu auch Kap. III.1.1 der vorliegenden Arbeit. Oppenheimer, Franz: Stammesbewußtsein und Volksbewußtsein, in: JR, XV. Jg., Nr. 8 (25. 02. 1910), S. 86–89, hier S. 86. Der Artikel erschien ursprünglich in Die Welt: Vgl. Oppenheimer, Franz: Stammesbewußtsein und Volksbewusstsein, in: Die Welt, 14. Jg., Nr. 7 (18. 02. 1910), S. 139–143. Oppenheimer, Stammesbewußtsein, S. 87. Vgl. ebd., S. 86.

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Oppenheimer suchte hier also zunächst auch nach einem Weg die von ihm empfundenen Loyalitätskonflikte zwischen zionistischem Nationalismus und deutscher Staatsangehörigkeit semantisch zu lösen. Die Dichotomie zwischen dem ›Westen‹ und dem ›Osten‹ ergab sich aus Oppenheimers Sicht völlig logisch aus den unterschiedlichen Lebenswelten der Juden in Westeuropa und Osteuropa, die jeweils in ihrer Gesamtheit »soziologisch ganz anders determiniert«1505 seien. Dabei konstruierte er einen Zusammenhang zwischen den so festgestellten unterschiedlichen Nationalismen und dem Grad an Intensität der antisemitischen Tendenzen in den jeweiligen imaginierten soziokulturellen Räumen. Da der Lebensraum der ›Ostjuden‹, vor allem das Russische Reich und Rumänien, einem »Orte des absolut höchsten [antisemitischen] Druckes«1506 gleichkäme, hätte sich unter den ›Juden im Osten‹ ein Gefühl der Entfremdung verbreitet, das sie zur kulturellen und territorialen Loslösung von der Diaspora getrieben hätte.1507 Eine geradezu logische, nachvollziehbare Konsequenz sei daher die Zuwendung ›des Ostjuden‹, der als Angehöriger »ein[es] Fremdvolk[es] […] ohne Vaterland« sozusagen ›auf gepackten Koffern sitze‹, um am besten bereits »nächstes Jahr in Jerusalem [zu] sein«,1508 zu praktisch-zionistischen Ansätzen, die schnelle, konkrete Lösungen für die genannten Probleme versprächen.1509 Dem ›ostjüdischen‹ Beispiel stellte Oppenheimer das ›westjüdische‹ Beispiel und damit das des deutschen Juden gegenüber, dessen Emanzipation auf weniger Widerstände gestoßen sei. Dieser fühle sich deshalb nicht nur als »Kulturdeutscher«, sondern auch als »Nationaldeutscher« und damit echter »Patriot«, ohne seine Zugehörigkeit zum »jüdischen Stamm«1510 in Frage zu stellen. ›Deutscher‹ wie ›westlicher Zionismus‹ bildeten demnach, so Oppenheimer, »eine rein idealistische Bewegung, ein Ziel des uninteressierten Altruismus«1511: Der deutsche Zionist befürworte zwar ebenso die Schaffung einer »öffentlichrechtlich gesicherten Heimstätte in Palästina« im Sinne des »Baseler Programms«, halte jedoch die Übersiedlung nach Palästina aufgrund der damit verbundenen unverhältnismäßigen Kosten für überwiegend nicht erstrebenswert und damit auch nicht für programmatisch bindend.1512 Der ›osteuropäische Zionismus‹ müsse dennoch erkennen, dass »westjüdische Intelligenz und 1505 1506 1507 1508 1509 1510 1511 1512

Ebd., S. 87. Ebd. Vgl. ebd. Ebd. Vgl. ebd. Ebd., S. 87f. Ebd., S. 87. Vgl. ebd., S. 88.

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westjüdisches Kapitel«1513 ein ebenso elementares Mittel zur Erlangung der zionistischen Ziele darstellen würden. Die subjektive Bedeutung des ›westjüdischen‹ Beitrags zur zionistischen Kolonisation versuchte Oppenheimer in seinem Aufsatz noch zu unterstreichen, indem er entsprechend des kolonialistischen, orientalistischen Diskurses auf der kulturellen Hegemonie ›Westeuropas‹ und damit des ›Westjuden‹ über ›Osteuropa‹ und den ›Ostjuden‹ bestand: »Auch hier wird ein Beispiel schneller aufklären als lange Auseinandersetzungen. Friedrich der Grosse hatte gewiss ein starkes deutsches oder wenigstens doch preussisches Nationalbewusstsein, aber er war durch und durch Kulturfranzose. König Karol von Rumänien hat unzweifelhaft deutsches Stammesbewusstsein und das stärkste rumänische Nationalbewusstsein, aber höchstwahrscheinlich kein rumänisches, sondern westeuropäisches Kulturbewusstsein, denn was von Kultur in Rumänien existiert, ist ja nur ein dünner westeuropäischer Firnis [farbloser Anstrich, S. S.] über orientalischer Barbarei. Hier klafft der erste grosse Unterschied zwischen den Ostjuden und denjenigen unter uns Westjuden, die in der Kultur ihres Geburtslandes aufgewachsen sind. Wir sind sämtlich Kulturdeutsche, Kulturfranzosen, Kulturengländer, Kulturamerikaner usw. weil wir das Glück haben, Kulturgemeinschaften anzugehören, die in der ersten Reihe der Völker stehen, weil es uns eine Ehre ist, unsere weltberühmten Denker, Forscher, Künstler und Erfinder die Unsern zu nennen. Wir können nicht Kulturjuden sein, denn die jüdische Kultur, wie sie in den Ghetti des Ostens aus dem Mittelalter herübergerettet worden ist, steht unendlich tief unter der neuzeitlichen Kultur, deren Träger unsere Völker sind. Wir können nicht rückwärts und wollen nicht rückwärts; wenn wir gebildeten Westeuropäer z. B. in uns hineinleuchten, so finden wir uns zu 95 Prozent zusammengesetzt aus westeuropäischen Kulturelementen. Die Ostjuden aber können unmöglich Kulturrussen, Kulturrumänen, Kulturgalizier sein, so wenig wie König Karol oder Carmen Sylva. Sie müssen Kulturjuden sein – soweit sie nicht durch eine überaus seltene Gunst der Erziehung bereits Kultureuropäer geworden sind – denn die mittelalterliche jüdische Kultur steht gerade so hoch über der osteuropäischen Barbarei wie sie tief unter der westeuropäischen Hochkultur steht.«1514

In diesem Abschnitt wird deutlich, dass sich Oppenheimer eindeutig innerhalb der Logik des deutschen Kolonialismus wie Orientalismus bewegte, indem er ›ostjüdische Kultur‹ mit ›Ghetto‹, ›Mittelalter‹, ›Rückständigkeit‹ und damit ›Minderwertigkeit‹ gleichsetzte, während er die prinzipielle Superiorität der ›westlichen Kultur‹ behauptete. Während die Übernahme national-kultureller Formen, wie sie das ›Ostjudentum‹ bewahrt hätte, als zivilisatorischer Rückschritt geschildert wird, wird das ›westliche‹ wie ›deutsche Kulturmilieu‹ entsprechend des deutschen Kolonial- und Orientdiskurses als ›fortschrittlich‹ und scheinbar ›übermächtig‹ eingestuft. Im Weiteren findet sich bei Oppenheimer 1513 Ebd. 1514 Ebd., S. 86.

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auch die bekannte Binnendifferenzierung, indem der ›kulturelle Entwicklungsstand‹ der ›ostjüdischen Kultur‹ noch über der ›osteuropäischen Kultur‹ oder ›orientalischen Kultur‹ angesiedelt wird.1515 Oppenheimers mentale Raumkonstruktion nahm also auch ältere Raumbilder, wie sie bereits bei Elias Auerbach beobachtet werden konnten, in sich auf, distanzierte sich allerdings implizit zugleich von ihrem hybriden, subversiven Gehalt.1516 Im Folgenden entspann sich in der Jüdischen Rundschau eine Debatte, deren Verlauf und wichtigste Argumentationsmuster im Folgenden vorgestellt werden. Bereits in der nächsten Ausgabe vom 4. März 1910 erschien der erste Beitrag einer zweiteiligen Replik von Berthold Feiwel unter dem Titel »Zweifacher Zionismus«.1517 Feiwel, der als ehemaliges Mitglied der Demokratischen Fraktion und Mitbegründer des »Jüdischen Verlags« zu den wichtigsten Vertretern eines deutschen Kulturzionismus gezählt werden kann, schrieb darin gegen Oppenheimers ›Erfindung‹ zweier scharf voneinander getrennter und räumlich verorteter Zionismen an. Auch wenn er Unterschiede in der Lebensweise von ›Ostjuden‹ und ›Westjuden‹ einräumte, verwies Feiwel auf den prinzipiellen Vorurteils- und Konstruktcharakter der Narration Oppenheimers, jedoch blieb auch er vereinzelt im orientalistischen Diskurs gefangen: »Dieser Begriff ›Barbarei‹ mit seinen mitschwingenden Tönen von Pogrom, Knute, Sibirien lenkt in verwirrender und sachlich durchaus unbegründeter Weise von der Kultur-Sphäre in die der Humanität oder Zivilisation ab. Man mag die russische Kultur so niedrig bewerten, wie man will, europäischen Rang wird man der Kultur der Dostojewski und Tolstoi nicht absprechen, selbst wenn man nicht daran denkt, wieviel Europäismus diese Kultur sich zugesellt hat. […] Nein, es stimmt durchaus nicht: Keineswegs deswegen müssen die Ostjuden Kulturjuden sein, weil die sie umgebende Kultur ihrer eigenen gegenüber minderwertig ist. […] Auf den zweiten grossen Irrtum, als wäre die jüdische Kultur des Ostens nichts als mittelalterliches Erbgut, […] will ich hier gar nicht eingehen […]. Beides sind Konstruktionen, die auf dialektischem Wege die andere Theorie stützen sollen, die für die westeuropäischen Juden einen nur auf jüdisches Stammesbewusstsein gestützten Zionismus zu bauen versucht – während das Vorhandensein einer überlegenen Kultur […] das deutsche Kultur- und Volksbewusstsein statuieren soll.«1518

Feiwel ging es hier also in erster Linie darum, den hegemonialen Charakter der von Oppenheimer ersonnenen ›Ost‹-›West‹-Dichotomie im Zionismus zu entlarven, die aus seiner Sicht alleinig dazu diente, einen chauvinistischen, »ge-

1515 Vgl. ebd., S. 88. 1516 Vgl. dazu auch Kap. III.1.5.1 der vorliegenden Arbeit. 1517 Vgl. Feiwel, Berthold: Zweifacher Zionismus (1), in: JR, XV. Jg, Nr. 9 (04. 03. 1910), S. 97f.; ders.: Zweifacher Zionismus (2), in: JR, XV. Jg, Nr. 10 (11. 03. 1910), S. 109–111. 1518 Feiwel, Zionismus (2), S. 109f.

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brochenen jüdischen Nationalismus«1519 und die Suprematie der deutschen Kolonialmacht zu propagieren. Feiwels Gegenprogramm sah stattdessen einen integrativen, »geschlossenen«1520 Zionismus vor, dessen Grundlage die freiwillige Unterordnung des Individuums unter das Kollektiv darstellen sollte, über die sich ›Ost‹ und ›West‹ in einem dialogischen Miteinander verständigen sollten.1521 Auch aus den folgenden Beiträgen in der zionistischen Publizistik und aus Protokollen von Vortragsabenden zionistischer Ortsgruppen geht hervor, dass sich gerade viele jüngere Zionisten an der als willkürlich empfundenen Begriffsbildung und Methodik Oppenheimers sowie an der impliziten Herabsetzung ›ostjüdischer‹ Kulturwerte und ›nationaljüdischer‹ Kultur im Allgemeinen stießen.1522 Darüber hinaus glaubten sie in Oppenheimers Charakterisierung der Wesensmerkmale des ›westlichen Zionismus‹ eine ›Entnationalisierung‹ von Zionismus zu erkennen, die ihrer Vorstellung von der zunehmend prominenten Stellung des kulturellen Moments im ›jüdischen Nationalismus‹ vehement entgegenlief.1523 Auf Feiwels Beitrag folgte in der Jüdischen Rundschau schließlich mit einiger Verspätung eine Replik Adolf Friedemanns,1524 in welcher Friedemann gegen Feiwels Ausführungen, die er als »Extremen von links«1525 abqualifizierte, und gegen die Vorstellung von ›westlichem jüdischem Nationalismus‹ als bloßem »Salon-Zionismus«1526 scharf polemisierte. Die Problematik der ›Ost‹-›West‹Konzepte im Zionismus und der damit verbundenen Frage nach dem Wesen vom ›Nationalismus im Zionismus‹ bezeichnete er darin als »wohl das tiefste und schwierigste in unserer Bewegung und überhaupt im modernen Judentum«1527. Friedemann bestätigte in seinem Beitrag zunächst im Wesentlichen die von Oppenheimer entworfene Dichotomie, indem er betonte, »daß die westlichen Juden für einen national-kulturellen Zionismus, soweit er sie selbst betrifft, nicht zu haben sind. Sie wachsen auf in einem Kulturkreise, der unvergleichlich viel höher steht, als der des östlichen Judentums, sie schätzen und lieben Dichter und Denker ihres Volkes und vielleicht mehr noch die ästhetischen Werte des Westens. […] 1519 1520 1521 1522 1523 1524 1525 1526 1527

Feiwel, Zionismus (1), S. 97. Ebd. Feiwel, Zionismus (2), S. 110f. Vgl. dazu beispielsweise auch Köln [Vereins-Rundschau. Protokoll über einen Vortragsabend vor der Kölner Ortsgruppe am 12. 03. 1910], in: JR, XV. Jg, Nr. 11 (18. 03. 1910), S. 128. Vgl. ebd. Vgl. Fr., Ad. [Friedemann, Adolf]: Westlicher Zionismus, in: JR, XV. Jg., Nr. 13 (01. 04. 1910), S. 147f. Ebd., S. 148. Ebd. Ebd., S. 147.

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Man mißverstehe mich nicht. Ich will keineswegs etwa behaupten, daß solche Werte im östlichen Judentum nicht vorhanden sind. Es gibt dort wunderbar reine und hochstehende Menschen, geistig und ästhetisch gleich fortgeschrittene Naturen. Aber drüben fehlt der Kultur die Breite, die sie im Westen erreicht hat. Sie fehlt ihr geistig wie ästhetisch.«1528

Nach Friedemann existierten also »[z]wei Arten von Zionismus«1529, von denen sich der ›östliche Zionismus‹ durch einen exklusiven ›jüdischen Kulturnationalismus‹ und der ›westliche Zionismus‹ durch eine eigentümliche Form der Aneignung von ›westlicher Kultur‹ auszeichnete. Im weiteren Verlauf seines Beitrags machte Friedemann deutlich, dass ihn nicht nur die in Aussicht gestellte Aufgabe der Verbundenheit mit der ›deutschen Kultur‹ abschreckte, sondern, wie schon Elias Auerbach, die einer ›jüdischen Kulturnation‹ unterstellte exklusive Homogenität, Starrheit und Abgeschlossenheit. Während der ›Westler‹ sich um eine Verständigung mit dem ›Oestler‹ bemüht hätte, hätte der ›Oestler‹ »nichts oder nur wenig getan, um den Westlern nahe zu kommen«.1530 Dass »der Gegensatz zwischen West und Ost in der nationaljüdischen Bewegung einmal so unerschrocken und prinzipiell konsequent beleuchtet worden ist«1531, lobte auch ein anonymer Autor in seinem Beitrag vom 20. Mai 1910, der sich als »Oestler« ausgab, jedoch Oppenheimer vorwarf, Wesensinhalt und Ziele von Zionismus verwechselt zu haben.1532 Bei allen Verschiedenheiten beinhalte Judentum in ›West‹ und ›Ost‹ eine unauflösliche, naturgegebene »Kulturgemeinsamkeit«, die aus Sicht des Autors in erster Linie auf dem ethischen, universalen Gehalt des ›jüdischen Nationalismus‹ beruhte.1533 Zionismus bildete für ihn »das jüdische Volkstum in seiner Gesamtheit als gegenwärtige Einheit«1534 ab. Auch wenn die Emigration nach Palästina nicht in jedem Fall möglich sei, müsse doch die ›Hebraisierung‹ der ›Westler‹ sowie die Schaffung eines nationalen Raums bzw. eines Zentrums für jüdische Kultur in Palästina vorangetrieben werden.1535 Unter dem Pseudonym »Maarabi«, das übersetzt ›Westler‹ bedeutet, mischte sich auch Kurt Blumenfeld mit einiger zeitlicher Verzögerung im Vorfeld des XII. Deutschen Delegiertentages unter die Disputanten, indem er im September 1910 einen Artikel mit dem Titel »Deutscher Zionismus« veröffentlichte.1536 Darin 1528 1529 1530 1531 1532 1533 1534 1535 1536

Ebd. Ebd., S. 148. Ebd. Von einem Oestler : West und Ost im Zionismus, in: JR, XV. Jg., Nr. 20 (20. 05. 1910), S. 235. Vgl. ebd. Vgl. ebd. Ebd. Vgl. ebd. Vgl. Maarabi [Blumenfeld, Kurt]: Deutscher Zionismus, in: JR, XV. Jg., Nr. 35 (02. 09. 1910), S. 414f.

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forderte er die deutschen Zionisten auf, die völkische Exklusivität des ›jüdischen (Kultur-)Nationalismus‹ zu propagieren.1537 In Anlehnung an Martin Buber sprach Blumenfeld von der untrennbaren jüdischen »Blutsgemeinschaft«, der sowohl der ›Westjude‹ als auch der ›Ostjude‹ angehören würde und die »die gleichen schöpferischen Fähigkeiten bedingt, dieselbe Art zu denken und zu fühlen«1538. Allein die ›Assimilation‹ hätte die Besonderheiten des gegenwärtigen ›deutschen‹ wie ›westlichen Zionismus‹ bedingt, indem sie den Verzicht auf Judentum propagiert hätte.1539 Aus diesem Grund müsse sich das Gegenwartsprogramm des ›deutschen Zionismus‹, dem es noch am nationaljüdischen kulturellen Fundament mangele und der momentan »nichts […] als die reine Idee«1540 sei, notwendigerweise auf die ›nationale‹ Erziehungsarbeit in der Diaspora konzentrieren.1541 Die dezidierte Forderung nach einer kulturnationalistischen ideologischen Fundierung des zionistischen Nationalismus, die Blumenfeld hier aussprach, muss nicht zuletzt auch im Kontext der Politik der ZO betrachtet werden. Im Vorfeld der »Oppenheimer-Kontroverse« hatte etwa auf dem Neunten Zionistenkongress im Dezember 1909 und in seinem publizistischen Umfeld eine scharfe, öffentliche Auseinandersetzung zwischen David Wolffsohn und Chaim Weizmann stattgefunden, die sich bis ins Frühjahr 1910 fortsetzte und in deren Folge eine praktisch-zionistische und kulturzionistische Opposition, die sich überwiegend aus osteuropäischen Zionisten zusammensetzte, David Wolffsohns Absetzung vom Amt des Präsidenten mehr oder weniger offen forderte.1542 Obwohl sich der deutsche Kulturzionismus während der Präsidentschaft Wolffsohns unter vielen deutschen Zionisten allmählich immer mehr etablierte, nahm Wolffsohn und damit die Exekutive der ZO, wie Ivonne Meybohm betont, eine äußerst widersprüchliche Haltung gegenüber der Position der Kulturzionisten ein: Einerseits förderte Wolffsohn als ehemaliges Mitglied der Chibbat Zion selbst kulturnationalistische Initiativen wie den »Jüdischen Verlag« und die Synthese der Zionismen, vertrat dabei jedoch einen eher ›pragmatischen Zionismus‹, der die Hervorhebung der national-kulturellen Exklusivität des zionistischen Kollektivs instrumentalisierte, um die Solidarität der Zionisten unterschiedlicher Herkunft zu fördern.1543 Vor einer dezidierten Betonung kulturzionistischer Werte in der Öffentlichkeit schreckte er hingegen andererseits zurück, weil er fürchtete, dass diese die diplomatischen Initiativen des Zionis1537 1538 1539 1540 1541 1542 1543

Vgl. ebd., S. 414. Ebd. Vgl. ebd, S. 415. Ebd., S. 414. Vgl. ebd. Vgl. Meybohm, Wolffsohn, S. 196f. Vgl. ebd., S. 146–189.

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mus gefährden könnte.1544 Im Besonderen Wolffsohns Schwerpunktsetzung auf der Konsolidierung der Finanzen der ZO wurde von der politischen Opposition instrumentalisiert, indem man Wolffsohn vorwarf, er würde mehr Gewicht auf »Finanzen« und damit wirtschaftsbürgerliche Ideale als auf »Ideen« und damit genuin bildungsbürgerliche Ideale legen.1545 Auf dem Zehnten Zionistenkongress im Jahr 1911 und damit im unmittelbaren Anschluss an die »Oppenheimer-Kontroverse«, nachdem David Wolffsohn seinen Rücktritt verkündet hatte, wurde schließlich ein neues Engeres Aktionskomitee gewählt, das ausschließlich aus praktischen Zionisten bestand, welche die kulturzionistischen Ideen Achad Ha’ams und die praktische Arbeit schrittweise umsetzen wollten, was sich jedoch in der Praxis als langwieriger Prozess erwies.1546 Auf Wolffsohn folgte 1911 schließlich Otto Warburg als neuer Präsident der ZO, den David Vital treffend als »the easterner’s favourite westerner«1547 bezeichnete. Dieselbe Widersprüchlichkeit, die schon beim Verhältnis von Zionismus und Kolonialismus bzw. Imperialismus sowie von Zionismus und Orientalismus festgestellt werden konnte, prägte auch die ›Ost‹-›West‹-Konzeptionen deutscher Zionisten. Einerseits kennzeichneten auch sie sich durch eine grundlegende Dichotomie zwischen dem ›Westen‹ und dem ›Osten‹, andererseits suchten sie nach Strategien, um diese Gegenüberstellung zu überwinden und beide soziokulturellen mentalen Räume zur Synthese und Versöhnung zu bringen. In ihnen schwang somit immer auch die Vorstellung von der Superiorität des ›Westens‹ gegenüber dem ›Osten‹ mit und zugleich der Versuch, den hegemonialen Konstruktcharakter der Raumvorstellungen offenzulegen und zu unterwandern. Ihre subversive oder antihegemoniale Stoßrichtung wurde dann offensichtlich, wenn die deutschen Zionisten sich offen mit dem zu kolonisierenden ›Osten‹ solidarisierten oder gar identifizierten oder die dialogische Verständigung und den interaktiven Austausch beider Teile forderten. Vielfach argumentierten die Zionisten in einer eigentümlichen, doppelwertigen Zwischenposition dennoch zu diesem Zweck innerhalb eines kolonialistischen oder orientalistischen Wertesystems. Die »Oppenheimer-Kontroverse« des Jahres 1910 zeigte darüber hinaus, dass die älteren zionistischen Raumvorstellungen von ›Ost‹ und ›West‹, die den Topoi des allgemeinen ›Ost‹-›West‹-Diskurses der deutschen Öffentlichkeit stark ähnelten, von neuen, sehr speziellen Narrativen überlagert wurden. Diese wurden von den Zionisten formuliert, um sich über die Forderung nach einem dezidierten, exklusiven jüdischen Kulturnationalismus zu verständigen. Dadurch 1544 1545 1546 1547

Vgl. ebd., S. 194–196. Vgl. ebd., S. 190–209, insbes. S. 196–198. Vgl. dazu auch Reinharz, Weizmann, S. 335f. Vgl. Meybohm, Wolffsohn, S. 205f. Vital, Crucial Phase, S. 58.

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entwickelten sie gewissermaßen eine eigene Variante des ›Ost‹-›West‹-Diskurses, deren Besonderheit wiederum in der Formulierung eines hybriden, mitunter kulturalistisch-völkischen Nationalismus lag, der essentialistische, kulturellpartikulare Elemente mit universalen Tendenzen verband und im folgenden Kapitel Gegenstand einer eingehenden Analyse sein wird. Die eigentliche »Wiederentdeckung des Ostjudentums«1548 fand während des Ersten Weltkrieges statt, als das zionistische Kollektiv durch die Eroberung der Ostgebiete auch vermehrt in persönlichen Kontakt mit dem Phänomen ›Ostjude‹ kam. In diesem diskursiven Prozess wurde ›Ostjudentum‹ zur bevorzugten, normativ aufgeladenen Projektionsfläche des deutschen Zionismus, um der kulturzionistischen Forderung nach einem ›authentischen‹, ›inneren nationalen Gemeinschaftserleben‹ Nachdruck zu verleihen. Der bereits vor dem Krieg gebräuchliche Begriff erlebte in der Jüdischen Rundschau eine vorher nicht dagewesene Konjunktur und Deutung und führte zu erneuten Bedeutungsverschiebungen im zionistischen Nationalismus.1549

3.3

Vom ›hybriden‹ zum ›exklusiven völkischen Nationalismus‹? Der deutsche Zionismus vor dem Ersten Weltkrieg (1910–1914)

Auf dem XIV. Delegiertentag der ZVfD im Juni 1914 in Leipzig und in der sich daran anschließenden Debatte in der zionistischen Publizistik, allen voran in der Jüdischen Rundschau, kam es zu einer heftigen Kontroverse unter den deutschen Zionisten, die von (beteiligten) zionistischen Führungspersönlichkeiten wie Kurt Blumenfeld in der Retrospektive als »Entscheidungsschlacht innerhalb des deutschen Zionismus«1550 gewertet wurde. Die Auseinandersetzung um die ideologischen Grundlagen des zionistischen Nationalismus in Deutschland hatte sich bereits in verschiedenen Debatten zwischen der ZVfD und anderen jüdischen Organisationen im Deutschen Kaiserreich wie dem Centralverein und dem Hilfsverein der deutschen Juden seit dem Jahr 1910 und im Umfeld des XIII. Deutschen Delegiertentages im Mai 1912 in Posen abgezeichnet. Diese kreisten um die grundsätzliche Problematik, welchen Stellenwert die Vorstellung eines exklusiven jüdischen Kulturnationalismus im deutschen Zionismus einnehmen sollte, und welche Konsequenzen die auf dem Delegiertentag in Posen beschlossene Resolution, welche von den deutschen Zionisten forderte, »die 1548 Gilman, Sander : Rediscovery of the Eastern Jews. German Jews in the East. 1890–1918, in: Bronsen, David (Hg.): Jews and Germans from 1860 to 1933. The Problematic Symbiosis, Heidelberg 1979, S. 338–365. 1549 Vgl. Gilman, Rediscovery ; Sieg, Intellektuelle, S. 195–217; Maksymiak, Mental Maps, S. V– VI. 1550 Blumenfeld, Judenfrage, S. 69.

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Übersiedlung nach Palästina in ihr Lebensprogramm aufzunehmen«1551, für die Ausrichtung zionistischer Ideologie und Praxis und für das Verhältnis des deutschen Zionismus zu anderen jüdischen Organisationen in Deutschland mit sich bringen sollte. Im Zusammenhang der vorliegenden Arbeit wirft die vordergründige Forderung deutscher Zionisten nach kultureller und damit gelegentlich auch völkischer Exklusivität die Frage auf, wie diese Bedeutungsverschiebung des deutschen Zionismus überhaupt semantisch strukturiert war und wie sich ihr Verhältnis zur hybriden Diskursposition des deutschen Zionismus gestaltete. Zur Beantwortung sollen die vor, während und nach den Delegiertentagen von Posen und Leipzig geführten Debatten im Spiegel der Jüdischen Rundschau untersucht werden. Die so gewonnenen Ergebnisse sollen schließlich mit der Frage in Beziehung gesetzt werden, auf welche Ursachen die Bedeutungsverschiebung im deutschen Zionismus vor dem Ersten Weltkrieg zurückgeführt werden kann. 3.3.1 Die Forderung nach ›Nationalisierung‹ des deutschen Zionismus und die ›Kulturfrage‹ in den zionistischen Debatten mit dem Centralverein und dem Hilfsverein (1910–1913/4) Die angedeuteten Grenzziehungen im zionistischen Nationalismus wurden von verschiedenen Selbstbestimmungsdebatten begleitet, die innerhalb des deutschen Zionismus oder von deutschen Zionisten mit jüdischen Organisationen in Deutschland wie dem Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens und dem Hilfsverein der deutschen Juden geführt wurden. In diesen verständigten sich deutsche Zionisten immer auch zugleich über die Vorstellung von zionistischem Nationalismus als ›inklusiver‹ oder ›exklusiver‹ Bewegung. Um an die einleitenden Überlegungen anzuknüpfen, soll bei der folgenden Analyse die Frage im Vordergrund stehen, ob bzw. auf welche Weise in den weitverzweigten Debatten seit 1910 für oder gegen einen abgeschlossenen kulturellen jüdischen Nationalismus plädiert wurde und wie sich diese Positionen zur hybriden Dimension des zionistischen Nationalismus in Deutschland verhielten. Während der Amtszeit von David Wolffsohn hatte sich immer deutlicher herauskristallisiert, dass der neue Präsident der ZO im Gegensatz zu seinem Vorgänger, Theodor Herzl, kein ›exklusives‹ Verständnis von Zionismus vertrat, das den Alleinvertretungsanspruch des Zionismus durch Abgrenzung von anderen jüdischen Organisationen zu betonen versuchte. Wolffsohn popagierte vielmehr ein ›inklusives‹ Zionismusverständnis, das auf der intensiven jüdi1551 Resolution des Posener Delegiertentags der ZVfD, Juni 1912, abgedruckt in: JR, XVII. Jg., Nr. 24 (14. 06. 1912), S. 222.

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schen Zusammenarbeit bestand, um, unabhängig von der jeweiligen ideologischen Gesinnung des Kooperationspartners, eine unmittelbare Verbesserung der jüdischen Lebensbedingungen in der Diaspora und in Palästina herbeizuführen.1552 Mit dieser Auffassung geriet Wolffsohn jedoch zunehmend in Konflikt mit praktisch-zionistischen und kulturzionistischen Allianzen, welche die jüdisch-zionistische Individualität betonen wollten und die Kooperation mit Nichtzionisten vehement ablehnten.1553 Bereits in der ersten Hälfte des Jahres 1908 häuften sich in der Jüdischen Rundschau im Hinblick auf den bevorstehenden XI. Deutschen Delegiertentag, der für den 8. und 9. Juni 1908 nach Breslau einberufen war und unter anderem über dieses Problemfeld diskutieren sollte,1554 skeptische Beiträge, in denen deutsche Zionisten eine Zusammenarbeit mit anderen jüdischen Organisationen im Deutschen Reich ablehnten. Aus Sicht dieser Autoren unterlief Wolffsohns Vorstellung von Zionismus als ›inklusiver Nationalbewegung‹ ihr Programm einer bewussten Abgrenzung von den meisten deutschen Juden, die sie als ›Assimilanten‹ charakterisierten. Auf dem XI. Deutschen Delegiertentag wurde schließlich eine Resolution beschlossen, in der sich das Zionistische Zentralkomitee wohlwollend gegenüber eines zukünftigen Zusammenwirkens aller jüdischen Organisation für das »Gesamtinteresse der Judenheit, insbesondere in Bezug auf Palästina«1555 äußerte. Richard Lichtheim befürchtete daher in einem Artikel, der am 19. Juni 1908 nach den Resolutionen des Delegiertentages erschien und die Synthese aus politisch-zionistischen und praktisch-zionistischen Ansätzen lobte, dass das zionistische Bemühen um die Herstellung partnerschaftlicher Beziehungen mit jüdischen Hilfsorganisationen zu einer »Verwässerung des Zionismus«1556 und damit zu einer Abschwächung des nationalen Wesensgehalts von Zionismus führen könne. Seine Forderung begründete Lichtheim jedoch nicht kulturnationalistisch, sondern im zuvor beschriebenen Kontext des »Ruf[es] der deutschen Zionisten nach einer starken und entschlossenen Führung!«1557 1552 Vgl. allgemein auch Meybohm, Wolffsohn, S. 77–79. 1553 Vgl. ebd., S. 190–209. 1554 Vgl. Klee, Alfred [Rede]: Die grossen jüdischen Organisationen in Deutschland, in: XI. Deutscher Delegiertentag in Breslau [Stenographisches Protokoll], in: JR, XIII. Jg., Nr. 24 (12. 06. 1908), S. 215–231, hier S. 218–220. In den Verhandlungen auf dem XI. Deutschen Delegiertentag beschränkte sich diese Frage auf das Verhältnis von Zionismus und den (fünf) »grossen jüdischen Organisationen in Deutschland«. Darunter fielen der Hilfsverein der deutschen Juden, die deutsche Konferenzgemeinschaft der Alliance Isra8lite Universelle, der Verband der deutschen Juden, der Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens und die Logen des Ordens Bnei Brith (U.O.B.B.) (vgl. ebd.). 1555 XI. Deutscher Delegiertentag in Breslau [Stenographisches Protokoll], S. 223. 1556 Lichtheim, Richard: Die Forderung des Tages, in: JR, XIII. Jg., Nr. 25 (19. 06. 1908), S. 234f., hier S. 235. 1557 Ebd.

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Der mehr oder minder nachdrücklich zum Ausdruck gebrachte Wunsch nach Hervorhebung der Alleinstellungsmerkmale des zionistischen Nationalismus erreichte einen vorläufigen Höhenpunkt mit einer von Kurt Blumenfeld initiierten Resolution des XII. Deutschen Delegiertentages, der am 11. und 12. September 1910 in Frankfurt am Main tagte. In diesem Beschluss forderten die deutschen Zionisten, dass »der nationale Charakter unserer Bewegung in der Agitation unzweifelhaft betont werden müsse, insbesondere sollte entscheidendes Gewicht auf den prinzipiellen Unterschied zwischen dem Zionismus, als der jüdischen Volksbewegung, und allen anderen jüdischen Organisationen gelegt werden.«1558

Im begleitenden Leitartikel in der Jüdischen Rundschau, der die Resolution des Delegiertentages dem Leser als gewinnbringend vorstellte, brachte der Autor seine Zufriedenheit über den Beschluss zum Ausdruck. Er betonte, dass sich das zionistische Kollektiv im Besonderen über die Hervorhebung einer dezidiert nationalistischen Gesinnung von der reinen Philanthropie der sonstigen jüdischen Wohltätigkeits- und Hilfsvereine unterscheide.1559 Das Alleinstellungsmerkmal des zionistischen Nationalismus glaubte der anonyme Verfasser im kulturzionistischen Gehalt des Zionismus zu erkennen, der nicht bei der Wohltätigkeit stehen bleibe, sondern »für die Erneuerung und Wiederherstellung seines alten Volkstums«1560 eintrete. Seit Mai 1910 berichtete die Jüdische Rundschau nun auch vermehrt über innerjüdische Themen und Kontroversen, wobei in den Beiträgen gelegentlich anderen jüdischen Organisationen und liberalen Gemeindepolitikern antizionistische Argumente unterstellt wurden.1561 Dies entsprach der offiziellen Leitlinie des deutschen Zentralkomitees einer systematisch durchgeführten »Apologetik des Zionismus«, wie aus einem Protokoll des Geschäftsführenden Ausschusses des Zentralkomitees vom November 1910 hervorgeht.1562 Demnach hatte sich dieser in seiner letzten Sitzung darauf geeinigt, »mehr als bisher sich gegen Angriffe auf den Zionismus oder die nationaljüdische Idee zu wehren«1563. Die zionistischen Vertrauensmänner, die mit einer antizionistischen Meldung 1558 1559 1560 1561

Anon.: Der XII. Delegiertentag, in: JR, XV. Jg., Nr. 38 (23. 09. 1910), S. 449. Vgl. ebd. Ebd. Vgl. Anon.: Religiöse Intoleranz, in: JR, XV. Jg., Nr. 18 (06. 05. 1910), S. 209; Goslar, Hans: Die Disputation der Liberalen, in: JR, XV. Jg., Nr. 19 (13. 05. 1910), S. 224f.; Vereinigung für das liberale Judentum in Deutschland, in: JR, XV. Jg., Nr. 23 (10. 06. 1910), S. 272; Anon.: Herr Lehmann, in: JR, XV. Jg., Nr. 42 (21. 10. 1910), S. 449; Redaktion der »Jüdischen Rundschau«: Der Zwist in der A. I. U., in: JR, XV. Jg., Nr. 48 (02. 12. 1910), S. 549f. Vgl. hingegen Alliance Isra8lite Universelle, in: JR, XV. Jg., Nr. 45 (11. 11. 1910), S. 513f. 1562 Vgl. Der Kampf gegen die Antizionisten, November 1910, CZA, Z2/409, in: Reinharz, Dokumente, S. 95f. 1563 Ebd., S. 95.

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oder Bemerkung konfrontiert würden, sollten darüber und über mögliche propagandistische Gegenmaßnahmen sofort dem Zentralkomitee Bericht erstatten.1564 Diese intensivierte Form der Abgrenzung nach außen muss allerdings auch in einem engen Zusammenhang mit dem wachsenden zionistischen Engagement in den Berliner Gemeindewahlen gesehen werden, indem die ZVfD Front gegen die jüdischen liberalen Gegner des Zionismus bezog.1565 Gegen Ende des Jahres 1912 gründeten Vertreter der liberalen Strömung daraufhin das »Antizionistische Komitee« und betrieben antizionistische Pressearbeit.1566 Unter die neue Strategie der zionistischen Apologetik fiel auch die wachsende Distanzierung vom Centralverein, die zumindest teilweise auch durch dessen innere Entwicklungstendenzen intensiviert wurde: Zwischen den Jahren 1911 und 1913 wandelte sich das Selbstverständnis des Centralvereins erheblich, indem die Stellung des »jüdischen Deutschen« zum deutschen Staat für seine Publizistik zum zentralen Topos wurde. Aus der Sicht der Centralvereinler vernachlässigten die deutschen Zionisten durch die Hervorhebung ihrer nationalen Partikularidentität ihre Pflichten als deutsche Staatsbürger. Der Centralverein entwickelte sich somit von einem überwiegend neutralen zu einem zionismuskritischen bis antizionistischen Verein, der für sich, wie der deutsche Zionismus, den Anspruch erhob, das deutsche Judentum in seiner Gesamtheit zu vertreten.1567 1913 führte dies im März zur erwähnten Resolution der Delegiertenversammlung des Centralvereins, nach der seinen Mitgliedern die Mitgliedschaft in der ZVfD verboten wurde1568 und die wiederum die entsprechende Gegenresolution der ZVfD nach sich zog.1569 Wie bereits bemerkt wurde, muss das gewandelte Selbstverständnis der Centralvereinler und entsprechende zio1564 Vgl. ebd., S. 96. 1565 Vgl. Die Gemeindewahl in Berlin, in: JR, XV. Jg., Nr. 46 (18. 11. 1910), S. 525; Liberalismus oder Radikalismus, in: JR, XV. Jg., Nr. 46 (18. 11. 1910), S. 525f.; Wahlbetrachtungen, in: JR, XV. Jg., Nr. 47 (25. 11. 1910), S. 537; Anon.: Ein Pyrrhussieg, in: JR, XV. Jg., Nr. 48 (02. 12. 1910), S. 549. 1566 Vgl. Anon.: Vom neuen »Reichsverband«, in: JR, XVII. Jg., Nr. 50 (13. 12. 1912), S. 483. 1567 Vgl. Barkai, Centralverein, S. 48–54; Dietrich, Anerkennung, S. 83–121. 1568 Vgl. Hantke, Arthur : Erklärung, in: JR, XVIII. Jg., Nr. 14 (04. 04. 1913), S. 135; Moses, Julius: Post Festum!, in: JR, XVIII. Jg., Nr. 14 (04. 04. 1913), S. 135f. Zur Entscheidungsfindung im Centralverein und möglichen Motiven vgl. Dietrich, Anerkennung, S. 108–117 sowie Anon.: Diskussion, in: IdR, 19. Jg., Nr. 5/6 (Mai 1913), S. 224–247; Holländer, Ludwig: Zur Klarstellung, in: Ebd., S. 194–200; Fuchs, Eugen: Vortrag, gehalten in Berlin, in: Ebd., S. 214–224; Falkenheim: Centralverein und Zionismus. Vortrag, gehalten in Königsberg, in: Ebd., S. 201–213. 1569 Vgl. Anon.: Unsere Antwort auf den Zentralverein. Ein einstimmiger Beschluß der zionistischen Vertrauensmänner, in: JR, XVIII. Jg., Nr. 18 (02. 05. 1913), S. 177f.; Anon.: Die ausserordentliche Tagung der Z. V. f. D. am 1. Mai 1913 in Berlin, in: JR, XVIII. Jg., Nr. 19 (09. 05. 1913), S. 187–190. Vgl. dazu auch Holländer, Ludwig: Glossen zur Zionisten-Resolution, in: IdR, 19. Jg., Nr. 7 (Juli 1913), S. 296–304; Anon.: Zionistische Korrespondenz, in: IdR, 19. Jg., Nr. 10 (Oktober 1913), S. 468f.

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nistische Deutungsmuster auch in einem engen Zusammenhang mit den gleichzeitig ablaufenden Debatten in der deutschen Öffentlichkeit um die ›Nationalisierung‹ und ›Ethnisierung‹ der deutschen Staatsangehörigkeit betrachtet werden.1570 Nachdem die Jüdische Rundschau bereits im »Fall Cohn« im Frühjahr 19071571 und in der »Mugdan-Affäre« zur Jahreswende 1908/091572 ausführlich berichtet und gegen die liberalen Strömungen im Judentum, ›Assimilation‹ und ›Taufbewegung‹ polemisiert hatte, führte die von Werner Sombart ausgelöste Debatte um seine Auffassung von der ethnisch-kulturellen Besonderheit der Juden zu ersten größeren öffentlichen Spannungen zwischen der zionistischen Presse und der Publizistik des Centralvereins.1573 In seinen Schriften »Die Juden und das 1570 Vgl. dazu ausführlich auch Kap. III.1.1 der vorliegenden Arbeit. 1571 Vgl. Cohn, Emil: Der Fall Cohn. Geschichte meiner Suspension, in: JR, XII. Jg., Nr. 17 (26. 04. 1907), S. 167–172. Der Rabbiner Emil Cohn wurde vom Vorstand der Jüdischen Gemeinde in Berlin am 15. April 1907 von seinem Posten als Religionslehrer entlassen, den er erst im Februar 1906 angetreten hatte. Der Grund für die Suspendierung war die zionistische Gesinnung Cohns, eines Sohnes des bekannten Zionisten Bernhard Cohn, welche dieser in seinen Unterricht hätte einfließen lassen, um seine Schüler im zionistischen Sinne zu beeinflussen. Im besagten Artikel in der Jüdischen Rundschau gab Cohn eine Darstellung der Ereignisse aus seiner Sicht und betonte offen, ein überzeugter Zionist zu sein: »Ich bin hier gemassregelt worden, um meiner Gesinnung willen. Und es ist eine Gesinnung, die ich noch heute aufrecht erhalte. Und ich verlange, dass sich die Oeffentlichkeit mit dieser Gesinnung beschäftige« (Ebd., S. 171). Vgl. dazu auch Cohn, Bernhard: Vor dem Sturm. Ernste Mahnworte an die deutschen Juden, Berlin 1896. 1572 Vgl. Judaeoborussus [Loewe, Heinrich]: Mugdanitis, in: JR, XIII. Jg., Nr. 10 (06. 03. 1908), S. 87f.; ders. [Sachse, Heinrich]: Noch nicht getauft, in: JR, XIII. Jg., Nr. 18 (01. 05. 1908), S. 151–153; H., G.: Der Zionismus, die Taufseuche und die Alliance [Isra8lite Universelle], in: JR, XIII. Jg., Nr. 30 (24. 07. 1908) S. 285f.; Anon.: Ein antisemitischer Sieg, in: JR, XIII. Jg., Nr. 50 (11. 12. 1908), S. 494; Protestversammlung gegen den Wahlskandal im Potsdamer Viertel, in: JR, XIII. Jg., Nr. 52 (25. 12. 1908), S. 514f.; Anon.: Abgeordneter Dr. Mugdan, in: JR, XVII. Jg., Nr. 44 (01. 11. 1912), S. 419f. Der liberale Politiker Otto Mugdan, der vom jüdischen zum protestantischen Glauben konvertiert war und bereits 1903 bei den Reichstagswahlen als christlicher Kandidat auftrat, kandidierte 1908 als Mitglied der Fortschrittlichen Volkspartei für den Berliner Stadtrat und einen Landtagssitz. Die meisten Vorstandsmitglieder des Centralvereins unterstützten Mugdans Kandidatur, da sie wie er häufig der Fortschrittlichen Volkpartei angehörten. Allerdings ähnelten sich die Deutungsmuster in der Debatte, welche die Jüdische Rundschau und die Centralvereinszeitung Im deutschen Reich entwickelten, indem beide die Taufe zur eigenen, politischen Bereicherung scharf verurteilten. Vgl. Pulzer, Peter : Die jüdische Beteiligung an der Politik, in: Mosse, Werner E./Paucker, Arnold (Hg.): Juden im Wilhelminischen Deutschland 1890–1914 (Schriftenreihe wissenschaftliche Abhandlungen des Leo Baeck Instituts; Bd. 33), Tübingen 1976, S. 143–239, hier S. 196. Zur Haltung des Centralvereins in der sog. »Mugdan-Affäre« und zu Fragen der Taufe vgl. ausführlich Dietrich, Anerkennung, S. 123–146 und H., L. [Holländer, Ludwig]: Der Fall Mugdan-Richert, in: IdR, 15. Jg., Nr. 1 (Januar 1909), S. 1–7. 1573 Vgl. dazu auch Reinharz, Fatherland, S. 129f. Zur Sicht des Centralvereins vgl. auch Dietrich, Anerkennung, S. 90–101.

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Wirtschaftsleben« und in der Broschüre »Die Zukunft der Juden«, welche 1911 und 1912 im Verlag Duncker & Humblot in Leipzig erschienen, behauptete Sombart die »anthropologische Eigenart der Juden«1574 und forderte, dass sich das Judentum »der ganzen Welt zum Trotz auch in alle Zukunft als selbstständiger Volkskörper […] erhalten«1575 solle. Die Jüdische Rundschau hatte wie andere jüdische Pressorgane bereits anlässlich der Vortragsreihe über »Die Bedeutung der Juden für das moderne Wirtschaftsleben«, auf welcher Sombarts spätere Veröffentlichung basierte, im November 1909 wohlwollend über Sombarts jüdischen Volksbegriff berichtet, von dem man sich offensichtlich auch Vorteile für die zionistische Agitation erwartete.1576 Der zionistischen Argumentation entsprach im Besonderen die Auffassung Sombarts, nach der sich die deutschen Juden offen und selbstbewusst zu ihrem jüdischen Wesen bekennen sollten.1577 In nichtzionistischen jüdischen Kreisen wurde Sombart hingegen vorgeworfen, dass er nur vordergründig zionistisch argumentiere, um die in seinen Schriften enthaltenen antisemitischen Narrative zu kaschieren.1578 An Werner Sombart (1863–1941), der als Professor für Staatswissenschaften an der Berliner Handelshochschule lehrte,1579 lobten die deutschen Zionisten wie Julius Becker im Besonderen, dass »ein Nationalökonom von Weltruf, ein Nichtjude, ein Forscher, den selbst einer seiner Gegner einmal einen der geistvollsten Soziologen der Gegenwart genannt hat, als Resüm8 seiner jahrelangen Arbeiten über die Judenfrage zu einer unzweideutigen Rechtfertigung der nationaljüdischen, der zionistischen Bewegung kommt.«1580

Dennoch war auch Becker die Widersprüchlichkeit der Sombartschen Argumentation, welche ›jüdischen Nationalismus‹ in erster Linie als passive Ab1574 Sombart, Werner : Die Juden und das Wirtschaftsleben, Leipzig 1911, S. 340, 346. 1575 Sombart, Werner : Die Zukunft der Juden, Leipzig 1912, S. 53. 1576 Vgl. Anon.: Die Bedeutung der Juden für das moderne Wirtschaftsleben, in: JR, XVI. Jg., Nr. 47 (19. 11. 1909), S. 522f. Vgl. auch Pinkus, Lazar Felix: Werner Sombarts Stellung zur Judenfrage, in: Die Welt, 15. 05. 1903, S. 7f. 1577 Vgl. Sombart, Zukunft, S. 52f. 1578 Vgl. Protokoll der ersten Plenarsitzung des Zentralkomitees vom 04. 02. 1912, CZA, A15/ 525. Vgl. dazu u. a. H., M.: Die Sombartschen Vorträge, in: IdR, 18. Jg., Nr. 2 (Februar 1912), S. 105f.; Anon.: Vereinsnachrichten – Sombart, der »Antisemitit«, in: IdR, 18. Jg., Nr. 3 (März 1912), S. 146f.; Wassermann, Rudolf: Sombart, der »Antisemit«, in: JR, XVII. Jg., Nr. 7 (16. 02. 1912), S. 151f.; Snew, Ben: Sombarthetze und kein Ende, in: JR, XVII. Jg., Nr. 23 (07. 06. 1912), S. 109f. In seinem Artikel verteidigte Rudolf Wassermann Werner Sombart gegen den Vorwurf des Antisemitismus. 1579 Zu Werner Sombart vgl. Lenger, Friedrich: Werner Sombart. 1863–1941, München 2012. 1580 Ib. [Becker, Julius]: Sombart und wir, in: JR, XVI. Jg., Nr. 50 (15. 12. 1911), S. 589. Zur wohwollenden Rezeption Sombarts im deutschen Zionismus vgl. auch Goslar, Hans: Werner Sombart über die Zukunft der Juden, in: JR, XVI. Jg., Nr. 46 (17. 11. 1911), S. 543f.; Anon.: Sein oder Nichtsein, in: Ebd., S. 541; Anon.: Letzter Vortrag Professor Sombarts, in: JR, XVI. Jg., Nr. 50 (15. 12. 1911), S. 590f.

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wehrhaltung charakterisierte, nicht verborgen geblieben. Daher stellte er dieser seine eigene kulturzionistische Interpretation von Zionismus als innerlichgeistiger »Neubelebung, eine wahre Renaissance des alten jüdischen Volkes«1581, entgegen. In einem weiteren Artikel hob Hans Goslar in einem Seitenhieb auf den Centralverein heraus, dass Sombart in seinen Vorträgen »bei Besprechung der Blutsdifferenzen zwischen den Juden und ihren Wirtsvölkern die ›VogelStrauß-Politik‹ derjenigen Kreise verurteilte, die von irgendwelchen blutsmäßigen Unterschieden hier nichts wissen wollen«. Diese würden »jeden einen verkappten Antisemiten schelten, der auf diese Momente hinweist.«1582 Zu einer weiteren Kontroverse zwischen deutschen Zionisten und Centralvereinlern1583 führte die bereits in anderem Zusammenhang angesprochene sog. »Kunstwart-Debatte«, die von der historischen Forschung bereits ausführlich aufgearbeitet wurde und deshalb hier nur im Hinblick auf relevante zionistische Deutungsmuster gestreift werden soll.1584 Auslöser der Debatte, die mit der Konstruktion zweier unterschiedlicher Kulturräume einherging, war ein Artikel des jüdischen Autors Moritz Goldstein, der unter dem Titel »Deutsch-jüdischer Parnass« in der Halbmonatsschrift Der Kunstwart im März 1913 veröffentlicht wurde, deren Herausgeber Ferdinand Avenarius, radikalnationalistischen, mitunter antisemitischen Kreisen nahestand.1585 In seinem Aufsatz prangerte Goldstein die Diskrepanz zwischen dem maßgeblichen, wertvollen Beitrag deutscher Juden zur deutschen Kultur und der Haltung vieler Deutscher an, die ihnen sowohl die Möglichkeit zu eigener Kulturproduktion als auch das Recht zur Beteiligung an der deutschen Kultur absprach.1586 Nach Goldstein stellte zwar die Emigration nach Palästina einen gangbaren Ausweg aus der Diskriminierung für eine Minderheit des deutschen Judentums dar, jedoch sah er in der Revitalisierung jüdischer Traditionen und dem Studium moderner hebräischer Literatur die wertvollste Alternative zur bisherigen ›assimilierten‹ jüdischen Existenz.1587 In der Jüdischen Rundschau erschienen nur wenige Artikel, die sich dezidiert mit den Deutungsmustern in der »Kunstwart«-Debatte auseinandersetzten und angesichts der Heftigkeit der öffentlichen Kontroverse auffallend blass blieben. In diesem Zusammenhang ist darunter ein Aufsatz mit dem Titel »Kulturkonflikt« von Interesse, der die Komplexität der Debatte im

1581 Becker, Sombart. 1582 Goslar, Sombart, S. 544. 1583 Zur Haltung des Centralvereins in der »Kunstwart-Debatte« vgl. Dietrich, Anerkennung, S. 101–107. 1584 Zur »Kunstwart-Debatte« vgl. auch Kap. III.1.5.2 der vorliegenden Arbeit. 1585 Vgl. Goldstein, Parnaß. 1586 Vgl. ebd. 1587 Vgl. Goldstein, Nationalliteratur.

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Wesentlichen auf »die kulturelle Judenfrage«1588 und damit eine Auseinandersetzung zwischen der »deutschen« und der »jüdischen Kultur« reduzierte. Darin wurde propagiert, »die Kulturkreise zwischen Judentum und Deutschtum abzugrenzen«1589. Der anonyme Autor forderte also hier, wie schon Blumenfeld vor ihm, die Bedeutungsverengung hin auf einen dezidierten, exklusiven Kulturnationalismus und die Ablösung des Juden von der deutschen Umwelt. Allerdings zeigten in regelmäßigen Abständen erscheinende Artikel und ein Zirkular vom Februar/März 1912, dass sich die Leitung der deutschen Zionisten intensiv mit dem vom Centralverein erhobenen Vorwurf der staatsbürgerlichen Illoyalität auseinandersetzte.1590 Dies führte schließlich auch zu der im ersten Kapitel erläuterten Intensivierung semantischer Differenzierungen zwischen den Begriffen ›Staat‹ und ›Volk‹ bzw. ›Nation‹.1591 In Reaktion auf die beschriebene Resolution des Centralvereins vom 30. März 1913 veröffentlichte die ZVfD eine Gegenerklärung, in der sie die »historisch gegebene[n] Beziehung des Judentums zum Deutschtum« hervorhob.1592 Darauf folgte am 1. Mai 1913 eine weitere Resolution, nach der auch die ZVfD ihren Mitgliedern eine Mitgliedschaft im Centralverein verbot und aufs Schärfste verurteilte, »mit dem vieldeutigen Wort ›Nationalismus‹ gefährlichen Mißbrauch zu treiben und auf Grund willkürlicher Begriffsdefinition das Bekenntnis zum jüdischen Volke in einen feindlichen Gegensatz zur deutsch-patriotischen Gesinnung zu bringen, Judentum und Deutschtum gegen einander auszuspielen.«1593

Die Erklärungen der ZVfD unterwanderten somit auch die Forderung nach einer partikularen nationalen Ideologie und wurden selbst von älteren Zionisten wie Max Bodenheimer kritisiert, der die Resolution als »unwirksam und unmännlich« und die »beständige Beteuerung patriotischer Gesinnung gegenüber irgend welchen törichten Angriffen unserer jüdischen Gegner in Deutschland«1594 als dem zionistischen Selbstverständnis unwürdig empfand. Eine weitere Verschärfung der innerjüdischen Debatten brachte die als »Sprachenstreit« oder »Sprachenkampf« bekannt gewordene Kontroverse zwischen dem Hilfsverein der deutschen Juden und dem deutschen Zionismus. Stein des Anstoßes war die Entscheidung des Hilfsvereins gegen die Einführung 1588 Kulturkonflikt, in: JR, XVII. Jg., Nr. 33 (16. 08. 1912), S. 309. 1589 Ebd. 1590 Vgl. Anweisungen für die Vetrauensmänner [Februar/März 1912], in: Reinharz, Dokumente, S. 102f. 1591 Vgl. Kap. III.1.1 der vorliegenden Arbeit. 1592 Erklärung vom Zentralkomitee der ZVfD vom 01. 04. 1913, in: Reinharz, Dokumente, S. 108–110. 1593 Resolution der ZVfD vom 01. 05. 1913, in: Reinharz, Dokumente, S. 111–113. 1594 Brief von Max Bodenheimer an Unbekannt vom 02. 04. 1913, in: Reinharz, Dokumente, S. 110f.

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des Hebräischen als Unterrichtssprache am Realgymnasium und Technikum in Haifa um die Jahreswende 1913/14.1595 Aus diesem Anlass versandte Arthur Hantke in seiner Funktion als Vorsitzender der ZVfD ein Rundschreiben an die zionistischen Vertrauensmänner und Ortsgruppen.1596 Das Zentralkomitee brachte darin deutlich zum Ausdruck, dass es sich aus zionistischer Sicht beim Konflikt mit dem Hilfsverein um eine Auseinandersetzung zwischen der zionistischen Idee und dem »assimilatorische[n] Gedanke[n]«1597 handelte. Der Hilfsverein hätte durch die Entscheidung gegen die hebräische Sprache und Kultur »die Lebensinteressen der Juden falsch verstandenen Interessen Außenstehender geopfert«1598. Im selben Schreiben machte Hantke im Namen des Zentralkomitees schließlich deutlich, dass die von der ZVfD seit den Delegiertentagen in Frankfurt am Main und in Posen eingeschlagene Tendenz, »die praktische Durchführung der Idee der jüdischnationalen Erziehung«1599 nunmehr zu priorisieren, unbedingt konsequent weiter verfolgt werden müsse.1600 Auch die Jüdische Rundschau berichtete seit November 1913, wie Die Welt und Ost und West1601, in nahezu jeder Ausgabe bis in das Jahr 1914 hinein über 1595 Bis zum Jahr 1913 hatte der Hilfsverein sowohl mit der ZVfD als auch mit dem EAC der ZO eine enge Zusammenarbeit unterhalten. Unter der Ägide von Paul Nathan (1857–1927), seinem Mitbegründer, ersten stellvertretenden Vorsitzenden und ehrenamtlichen Geschäftsführer, der darüber hinaus dem Vorstand des Centralvereins angehörte, gründete der Hilfsverein im Jahr 1911 in Haifa ein Realgymnasium, dessen Unterricht die Vorstufe zum Studium am dortigen Technikum bildete. Das Kuratorium des Technikums, dem neben Paul Nathan auch die überstimmten Achad Haam, Schmarja Levin und Jechiel Tschlenow angehörten, lehnte am 26. Oktober 1913 die zionistische Forderung nach Einführung des Hebräischen als Unterrichtssprache am Realgymnasium und Technikum ab, was in Palästina und in zionistischen Kreisen eine massive Protestwelle nach sich zog. Da auch die Lehrerorganisation und Schüler vor Ort sich der zionistischen Argumentation anschlossen und in den Streik traten und die amerikanischen Mitglieder des Kuratoriums des Technikums drohten, ihre finanzielle Unterstützung für die Schulen zurück zu ziehen, sah sich das Kuratorium schließlich gezwungen, den zionistischen Forderungen nachzugeben. In Deutschland zogen die Auseinandersetzungen jedoch die Konsequenz nach sich, dass viele Mitglieder des Hilfsvereins nun auch offen antizionistische Argumentationsmuster vertraten. Zum Verlauf des »Sprachenkampfes« vgl. ausführlich Kremer, Juden, S. 306–319; Schlöffel, Loewe, S. 280f.; Reinharz, Dokumente, S. 118; Eloni, Zionismus, S. 318–327. Vgl. dazu auch Nathan, Paul: Palästina und palästinensischer Zionismus, Berlin 1914; Palästina und palästinensischer Zionismus, in: IdR, 20. Jg., Nr. 2 (Februar 1914), S. 87f.; Im Kampf um die hebräische Sprache, hg. vom Zionistischen Actions-Comit8, Berlin [1914]. 1596 Vgl. Rundschreiben der ZVfD an die Ortsgruppen und Vertrauensmänner von 03. 12. 1913, in: Reinharz, Dokumente, S. 117–121, hier S. 119. 1597 Ebd. 1598 Ebd. 1599 Ebd., S. 120. 1600 Vgl. ebd. 1601 Vgl. u. a. Haam, Achad: Zur Sprachenfrage an den jüdischen Schulen Palästinas, in: Ost und West 14:1 (1914), Sp. 19–26. Nachwort der Redaktion, in: Ebd., Sp. 25–36; B[lum-

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den als »ernsten Kulturkampf«1602 charakterisierten Konflikt und bezog eindeutig Stellung auf Seiten der sog. ›Hebraisten‹.1603 Die Ausführlichkeit der Berichterstattung und die Intensität, mit der das Hebräische als jüdische Nationalsprache mit den größtenteils bereits bekannten Deutungsmustern verteidigt wurde,1604 belegen die Bedeutung, welche deutsche Zionisten einem jüdischen Kulturnationalismus mittlerweile mehrheitlich beimaßen.1605 In enger Anlehnung an die kulturzionistische und Herder’sche Sprachphilosophie schilderten

1602 1603

1604 1605

enfeld], K[urt]: Splendid Isolation, in: Die Welt, 30. 01. 1914, S. 105f.; Der Tatbestand, in: Ebd., S. 107–110; B[lumenfeld], K[urt]: Der Rückzug, in: Die Welt, 06. 02. 1914, S. 129f.; Die Hebraisierung des Technikums, in: Die Welt, 27. 02. 1914, S. 205f.; Bernstein, S.: Sprachenkampf und Volk, in: Die Welt, 08. 05. 1914, S. 451–453. Herrmann, Leo: Brot und Spiele, in: JR, XIX. Jg., Nr. 1 (01. 01. 1914), S. 2. Vgl. dazu die folgenden Artikel: Ginzberg, U./Schmarja, Levin/Tschlenow, E. W.: Vom Technikum in Haifa, in: JR, XVIII. Jg., Nr. 44 (31. 10. 1913), S. 470; H., H.: Das jüdische Technikum, in: JR, XVIII. Jg., Nr. 44 (31. 10. 1913), S. 467; Das Technikum, in: JR, XVIII. Jg., Nr. 45 (07. 11. 1913), S. 480; Das Technikum, in: JR, XVIII. Jg., Nr. 47 (21. 11. 1913), S. 502; Das Technikum, in: JR, XVIII. Jg., Nr. 48 (28. 11. 1913), S. 514; Resolution des Zionistischen Aktionskomitees, in: JR, XVIII. Jg., Nr. 48 (28. 11. 1913), S. 513; Das Technikum, in: JR, XVIII. Jg., Nr. 50 (12. 12. 1913), S. 536f.; Ein Brief Ben Jehudas, in: JR, XVIII. Jg., Nr. 50 (12. 12. 1913), S. 537; H.: Sprüche und Widersprüche des Antizionistischen Komitees, in: JR, XVIII. Jg., Nr. 52 (25. 12. 1913), S. 557f.; Der Sprachenkampf in Palästina, in: JR, XVIII. Jg., Nr. 52 (25. 12.1913), S. 558; Der Sprachenkampf des Antizionistischen Komitees, in: JR, XVIII. Jg., Nr. 52 (25. 12. 1913), S. 559; Anon.: Die Antwort des Volkes, in: JR, XIX. Jg., Nr. 1 (01. 01. 1914), S. 1f.; Herrmann, Brot, in: Ebd., S. 2; Aufruf des Merkas Hamorim. Eine Erklärung des jüdischen Lehrerverbandes, in: Ebd., S. 3; Hoppe (Königsberg): Ein Nachtrag zum Kapitel: »Zentralverein und Konsequenz«, in: Ebd., S. 3f.; Levin, Schmarja: Zwei Epochen. Die letzten Ursachen des Sprachenkonflikts, in: Ebd., Beiblatt Nr. 1, S. 1–4; Der Kampf um die hebräische Schule. Die Haltung des deutschen Auswärtigen Amtes, in: JR, XIX. Jg., Nr. 2 (09. 01. 1914), S. 11; Ein Communiqu8 des Hilfsvereins, in: Ebd., S. 11; Die deutsche Presse im jüdischen Streit, in: Ebd., S. 11; Palästinenser in Berlin, in: Ebd., S. 11; Grusenberg über den Sprachenkampf, in: Ebd., S. 11; Zur Beachtung! (Informationsmaterial über den Kampf um das hebräische Schulwerk), in: Ebd., S. 11; Die zionistische Aktion für das hebräische Schulwerk. Protestversammlung in Berlin, in: Ebd., S. 13; ›Ost und West‹ über den Kampf in Palästina, in: Ebd., S. 13; Hoppe (Königsberg): Ein Nachtrag zum Kapitel: »Zentralverein und Konsequenz«, in: Ebd., S. 12; Anon.: Der Kampf um die hebräische Schule, in: JR, XIX. Jg., Nr. 3 (16. 01. 1914), S. 23; Der deutsche Generalkonsul in Jerusalem über den Sprachenkampf. Eine authentische Erklärung, in: Ebd., S. 23; Zum Bericht Dr. Nathans. Die Erwiderung des Zionistischen Actions-Comit8s, in: Ebd., S. 23; Ein Brief aus Jerusalem, in: Ebd., S. 23; Eine offiziöse deutsche Stimme zum Sprachenstreit (Bericht aus der »Bayerischen Staatszeitung«, Organ der Bayerischen Regierung), in: Ebd., S. 24; Anon.: Die Antizionisten und die jüdische Presse, in: JR, XIX. Jg., Nr. 8 (20. 02. 1914), S. 79f.; H.: Das jüdische Technikum, in: JR, XIX. Jg., Nr. 9 (27. 02. 1914), S. 89; Unsere Arbeit geht weiter!, in: Ebd., S. 89f.; Goldmann, Nachum: Die Schulen Palästinas, in: Ebd., S. 90f.; Anon.: Dr. Nathan und die jüdischen Arbeiter in Palästina, in: Ebd., S. 91f. Vgl. Kap. III.1.5.3 der vorliegenden Arbeit. Vgl. dazu auch Ragowin, Israel: Die hebräische Sprache und ihre Bedeutung für den Zionismus (1), in: JR, XVII. Jg., Nr. 51 (20. 12. 1912), S. 494; ders.: Die hebräische Sprache und ihre Bedeutung für den Zionismus (2), in: JR, XVII. Jg., Nr. 52 (27. 12. 1912), S. 505f.

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die zahlreichen Beiträger die hebräische Sprache als natürliche Bewusstseinsund Ausdrucksform des ›jüdischen Volkes‹, die aus dem Einzelnen erst einen Teil der ›nationalen Gemeinschaft‹ werden lasse und aus den »engbrüstigen, bleichsüchtigen, blutarmen Produkte[n] des jüdischen Ghettos […] gesunde[n], kräftige[n] rotwangige[n] Jungen«1606 forme. In diesem Zusammenhang ist von Interesse, dass der Hilfsverein seine Entscheidung gegen die hebräische Sprache ursprünglich auch mit der Rücksicht auf die Interessen der deutschen Regierung begründet hatte, unter deren Schutz seine Schulen in Palästina standen. Obwohl sich die deutschen Zionisten in anderen beschriebenen Kontexten in ihrer ersonnenen Position zwischen ›Orient‹ und ›Okzident‹ zu geborenen Interessensverwaltern der deutschen Regierung in der Region stilisierten, bezogen sie im Kontext des »Sprachenkampfes« und damit der Forderung nach sprachlich-kultureller Exklusivität des zionistischen Kolonisationswerkes in Palästina nun auch Stellung gegen die imperialistische Sprachenpolitik des Hilfsvereins in Diensten der deutschen Regierung. Bereits im September 1906 wurde zu diesem Zweck ein Artikel aus der hebräischsprachigen Zeitung Haschkafa wiedergegeben, in dem der Autor die ›Germanisierungstendenzen‹ des Hilfsvereins anprangerte: »Wenn der Hilfsverein der deutschen Juden wirklich ernste Germanisation treiben und sich der deutschen Regierung und Nation gefällig erweisen will, so sorge er dafür, daß entweder nur deutsch-jüdische wissenschaftlich gebildete Assimilanten hierherkommen, oder noch besser er verlege das Jerusalemer Lehrerseminar nach Berlin in die Nähe des Kaiserlichen Schlosses, nach dem Vorbilde der französischen ›Alliance‹, welche unter ihrer speziellen Aufsicht den zukünftigen Jugendbildnern in Paris den nötigen französischen Nationalgeist einimpfen lässt.«1607

Auffallend ähnliche Argumentationsmuster verwendete Schmarja Levin nun im Kontext des »Sprachenkampfes« in einem vierseitigen Artikel, der im Beiblatt der Jüdischen Rundschau zur ersten Ausgabe des Jahres 1914 erschien.1608 Auch er kritisierte darin den Doppelstandard des Hilfsvereins: So hätten seine Mitglieder die Vorgehensweise der Alliance Isra8lite Universelle, die in ihren Schulen im Auftrag des französischen Imperialismus die »fremde« französische Sprache ohne Rücksicht auf die Befindlichkeiten der indigenen Bevölkerung eingeführt hätte, nur oberflächlich kritisiert. Insgeheim verfolge der Hilfsverein selbst eine imperialistische Sprachenpolitik, 1606 Goldmann, Schulen, S. 90. 1607 Der Kampf der Mächte um einen Jerusalemer Schuldirektor, in: JR, XI. Jg., Nr. 36 (07. 09. 1906), S. 543. Vgl. dazu auch das Beschwerdeschreiben von Paul Nathan, das in der Jüdischen Rundschau abgedruckt wurde, in: Nathan, Paul: An die Redaktion der Jüdischen Rundschau, in: JR, XI. Jg., Nr. 37 (14. 09. 1906), S. 555. 1608 Vgl. Levin, Epochen, S. 1–4.

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»indem sie die Schulkinder aus den ärmsten Bevölkerungskreisen, die keine andere Wahl hätten, zwängen, um armseliger, materieller und geistiger Vorteile willen auf ihren eigenen Willen zu verzichten und sich in der Gestaltung ihres Lebens und ihrer geistigen Ausbildung dem Diktat verständnisloser ›Wohltäter‹ zu unterwerfen«1609.

Der Hilfsverein beabsichtige wie schon die Alliance in seinen Schulen eine hegemoniale Beziehung zwischen den dort vorherrschenden Sprachen zu etablieren, wonach »die deutsche Sprache zur herrschenden«1610 gemacht werden solle. Dabei hätten seine Mitglieder jedoch die innere Kraft und Stärke des jüdischen Kolonisationswerkes in Palästina unterschätzt, dessen »Geist sich nicht reglementieren läßt, daß er, einmal entfesselt, keine Herren über sich duldet«1611. Dass sich die Zionisten in ihrer Ablehnung der Sprachenpolitik des Hilfsvereins auch mit der arabischen Bevölkerung vor Ort solidarisierten, zeigte des Weiteren eine Stellungnahme des Jüdischen Sozialistischen Verbandes PoaleZion, der in der Jüdischen Rundschau im Februar 1914 abgedruckt und wohlwollend kommentiert wurde. Die Erklärung der Poale Zionisten richtete sich gegen den Vorwurf des Mitbegründers des Hilfsvereins, Paul Nathan, der »Sprachenkampf« werde von »einem kleinen Kreis unbesonnener, exaltierter und intriganter Elemente und chauvinistischer Fanatiker«1612, allen voran den Poale-Zionisten, angeheizt.1613 Der Forderung nach sprachlich-kultureller Exklusivität wurde darin ein zusätzlicher subversiver, antikolonialistischer Gehalt hinzugegeben, indem die hebräische Sprache den interkulturellen Austausch und die Interaktion zwischen den Siedlern vor Ort und der indigenen arabischen Bevölkerung, deren eigene kulturelle Nationalbewegung Erwähnung findet, fördern sollte: »Ein wirklicher Freund der arabischen Kulturrenaissance, der keine politischen Hintergedanken hegt, müßte den Arabern weder ein deutsches, noch ein französisches Technikum, sondern ein völlig selbständiges arabisches Schulsystem wünschen. Solange die Araber auf andere Lehranstalten angewiesen sind, begrüßen wir es, wenn Araber unsere jüdischen Schulen besuchen und aus ihnen Nutzen ziehen. Dieser ideelle Gütertausch kann doch nur dann zu einer geistigen Annäherung und friedlichen Verständigung beider stammverwandten Volker führen, wenn der Araber aus der jüdischen Schule ein Stück jüdischer Kultur und Verständnis für unsere Sprache und Sitte mitnimmt. Ein von Juden und Arabern besuchtes deutsches Technikum ist beiden Völkern gleich fremd und hemmt den Fortschritt sowohl der jüdischen wie der arabischen Kultur. Wir wissen, daß die europäische Bourgeoisie und die Mächte im 1609 1610 1611 1612 1613

Ebd., S. 1. Ebd., S. 2. Ebd., S. 4. Anon., Arbeiter, S. 91. Vgl. dazu auch Nathan, Palästina, S. 58–60.

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Weltkampf um Märkte und Einflußsphären im Orient ihre Schulen voranschicken und durch kulturelle Zerklüftung und Zersetzung den Boden für ihre Machtgelüste vorbereiten.«1614

In den Jahren von 1908/1910 bis 1913/14 bildete sich innerhalb des deutschen Zionismus, im Besonderen unter praktischen Zionisten und Kulturzionisten, immer deutlicher eine Auffassung von ›jüdischer Nationalität‹ heraus, welche die exklusiven, partikularen Inhalte der ›nationaljüdischen Idee‹ und die Feststellung einer ethnisch-kulturellen Verschiedenheit von Juden und Nichtjuden stärker und eindeutiger in den Mittelpunkt rückte. Diese behauptete jedoch weder notwendigerweise automatisch stets auch die Überlegenheit jüdischer Kultur gegenüber nichtjüdischen Kulturen noch negierte sie gleichzeitig vorhandene universale Tendenzen im deutschen Zionismus. In den meisten Fällen beinhaltete sie jedoch die Forderung nach ›jüdischnationaler Erziehung‹ und nach schrittweiser Ablösung der jüdischen von der nichtjüdischen Umwelt, was der ›Hebraisierung‹ von ›jüdischem Nationalismus‹ in Deutschland gleichkommen sollte. Diese neue Forderung nach sprachlich-kultureller Exklusivität konnte allerdings selbst von antihegemonialen Deutungsmustern geprägt sein, welche in der Herstellung einer friedlichen und harmonischen Ko-Existenz verschiedener Kulturen die besondere Aufgabe von Zionismus erblickten. Innerhalb des deutschen Zionismus wurden somit vor dem Delegiertentag in Leipzig gleichzeitig mitunter äußerst widersprüchliche nationale Zugehörigkeitsmodelle in den ›zionistischen Raum‹ gestellt, wobei die Definition von Zionismus als partikularjüdischer, kultureller Nationalbewegung allmählich innerhalb der Jüdischen Rundschau die Oberhand gewann, wie die untersuchten Artikel und die Beschlüsse der Delegiertentage nahe legen, die im Folgenden analysiert werden.

3.3.2 Allianzen auf den und um die Delegiertentage/n von Posen (1912) und Leipzig (1914) Eine Bedeutungsfestschreibung von zionistischem Nationalismus im Lichte der soeben genannten Tendenzen erfolgte schließlich auf dem XIII. Delegiertentag der ZVfD, der vom 26. bis 28. Mai 1912 in Posen stattfand und die Ausrichtung zionistischer Ideologie und Politik auf Palästina in zwei Resolutionen verankerte. Die erste Resolution, die von Theodor Zlocisti und (Arieh Leib) Leo Estermann eingebracht worden war und bezeichnenderweise auf den Ideen Kurt Blumenfelds beruhte, schrieb den deutschen Zionisten vor, »die Übersiedlung nach Palästina in ihr Lebensprogramm aufzunehmen« bzw. sich in Anbetracht 1614 Anon., Arbeiter, S. 91f.

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der eigenen wirtschaftlichen Möglichkeiten zumindest »persönliche Interessen in Palästina [zu] schaffen«. Die zweite Resolution, die vom Oberschlesischen Gruppenverbandsausschuss initiiert worden war und zunächst weit weniger Beachtung fand, erklärte es zur »Pflicht jedes Zionisten, nach Möglichkeit Palästina aus eigener Anschauung kennen zu lernen« und forderte das Zentralkomitee auf, »in dieser Beziehung eine lebhafte Initiative zu entfalten und durch geeignete Mittel die Vornahme von Palästinareisen zu erleichtern«. Die im Kapitel zuvor beschriebene Verschärfung der innerjüdischen Grenzziehung muss somit auch im Kontext dieses ›palästinozentrischen Nationalismus‹ gesehen werden, der die exklusive Ausrichtung zionistischer Ideologie und Politik auf Palästina verlangte.1615 In einigen bilanzierenden Leitartikeln, die in der Jüdischen Rundschau zwischen den Monaten Juni und August 1912 erschienen, wurde einstimmig betont, dass die Posener Beschlüsse die »utopistische Epoche«1616 im zionistischen Nationalismus in Deutschland beendet und, wie Davis Trietsch es formulierte, »die sogenannte ›praktische‹, in Wirklichkeit realpolitische Richtung […] endgültig die pseudo-politische beseitigt«1617 habe. Im Besonderen müsse dabei gewürdigt werden, dass die ›Tat‹ hinter den ›Ideen‹ nun wieder zum Vorschein gekommen und der Forderung nach tatsächlicher Verwirklichung der zionistischen Ideale nachgegeben worden sei.1618 Wie ein anonymer Leitartikler am 7. Juni 1912 hervorhob, hätten die Delegierten in Posen nun endgültig »das nationale Moment in den Vordergrund […] gestellt«1619. Ihm war dabei jedoch wichtig zu betonen, dass diese Form der ›Nationalisierung‹ oder ›Zionisierung‹ von Zionismus, welche der Abgrenzung des zionistischen Nationalismus nach außen dienen sollte, nicht aus einem hegemonialen, aggressiv übersteigerten Nationalismus erwachsen war : »Wir sind nach Zahl unserer Anhänger und ganz gewiß in organisatorischer Hinsicht stark genug, um nach dem Worte zu handeln: ›Der Starke ist am mächtigsten allein‹. Beseitigen wir energisch die Gefahr der Verwischung vorhandener Gegensätze, eine Gefahr, die nur für uns, aber nicht für die anderen bedrohlich ist! Und fürchten wir uns nicht vor den allerlei Vorwürfen, die wir dann wieder zu hören bekommen werden! […] Ebenso unsinnig muß jedem Denkenden die Behauptung erscheinen, die zionistische Idee berge auch nur eine Spur von Chauvinismus in sich. Chauvinismus ist die Entartung nationalen Gefühls zur Mißachtung und Unterjochung alles Fremden. Wie sollte 1615 Zusammenstellung der Anträge, die vom XIII. Delegiertentag zum Beschluß erhoben wurden, in: JR, XVII. Jg., Nr. 24 (14. 06. 1912), S. 222 (alle Zitate ebd.). 1616 Anon.: Weg und Ziel. Epilog zum Posener Delegiertentag, in: JR, XVII. Jg., Nr. 23 (07. 06. 1912), S. 205f., hier S. 205. 1617 Trietsch, Davis: Realpolitischer Zionismus, in: JR, XVII. Jg., Nr. 24 (14. 06. 1912), S. 217. 1618 Weinberg: Vorläufer, in: JR, XVII. Jg., Nr. 31 (02. 08. 1912), S. 289. 1619 Anon., Weg, S. 205.

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der Zionismus dieses fanatischen Geistes sein, wo doch die Zionisten nur positiv am Wiederaufbau eines nationalen Judentums arbeiten und gerade die entjudeten Renegaten und ihr jüdisch-liberaler Anhang es nur allzu häufig sind, die zum ärgerlichen Schaden der jüdischen Gesamtheit am lautesten in das Horn eines fremdnationalen Chauvinismus stoßen.«1620

Der Zionismus wurde hier also als emanzipatorische Leitideologie und »positive« Hybriditätspolitik ausgegeben, die sich dezidiert von der chauvinistischen Dimension des deutschen Nationalismus, die paradoxerweise viele liberale Juden unterstützten, abgrenzen wollte. Im Zentrum dieser impliziten Nationalismuskritik standen erneut die extreme Feindbildfixierung des modernen (deutschen) Nationalismus auf der einen und die damit verbundene rechtsnationalistische Überhöhung der eigenen ›Nation‹ auf der anderen Seite. Die Position der Konstrukteure von Zionismus wurde hier also als eine auf Befreiung und Selbstbehauptung gerichtete charakterisiert, die ihre Alleinstellungsmerkmale allein zu diesem Zweck betont hätte. Am 14. und 15. Juni 1914 fand schließlich in Leipzig der XIV. Deutsche Delegiertentag statt, der sich laut einem Leitartikel in der Jüdischen Rundschau eigentlich »in aller Ruhe«1621 mit dem Verhältnis der zionistischen Bewegung zu den nichtzionistischen (jüdischen) Organisationen in Deutschland und mit der Frage nach der konkreten Form der »Gegenwartsarbeit« der deutschen Zionisten für und in Palästina beschäftigen sollte.1622 Tatsächlich bot dieser jedoch die Bühne für eine scharfe, öffentliche Kontroverse, in deren Verlauf die Grenzen zwischen zwei unterschiedlichen Allianzen im deutschen zionistischen Kollektiv sichtbar wurden. Dabei umfasste die eine Allianz überwiegend eine ältere Garde von deutschen Zionisten wie Adolf Friedemann, Franz Oppenheimer, Max Bodenheimer, Jakob Wolff, Julius Moses und Hermann Struck,1623 die andere Allianz hingegen jüngere Zionisten unter der inoffiziellen Führung von Kurt Blumenfeld. Im Folgenden sollen der Verlauf der Debatte und die wichtigsten Deutungsmuster, wie sie sich in den in der Jüdischen Rundschau abgedruckten Protokollen und in der sich daran anschließenden Debatte in der Zeitung abbildeten, rekonstruiert werden. Bereits in seiner Eröffnungsrede am Vormittag des 14. Juni 1914 mahnte Arthur Hantke in seiner Funktion als Vorsitzender der ZVfD, die »Einheit der 1620 1621 1622 1623

Ebd. Anon.: Leipzig, in: JR, XIV. Jg., Nr. 18 (01. 05. 1914), S. 185f., hier S. 185. Vgl. ebd., S. 185f. Vgl. dazu auch den Brief von Max Bodenheimer an David Wolffsohn vom 24. 05. 1914, CZA, A15/533. Diese hatten sich bereits im Vorfeld des Delegiertentages in Mannheim getroffen, um eine Resolution zu verabschieden, die sich gegen die Form der »einseitigen und abwegigen nationalen Propaganda in Deutschland« (ebd.) ihrer Gegner im deutschen Zionismus richten sollte.

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Judenheit«1624 nicht durch eine Überbetonung angeblicher eigentümlicher (deutscher) Wesenszüge zu gefährden.1625 Vielmehr sollte die »Liebe zu Palästina als der Wiege unseres Stammes und unserer Religion« den Kern der »jüdischen Erziehung«1626 bilden und als solidarisierendes nationales Moment wirken. Hantke griff also bereits zur Eröffnung des Delegiertentages die Posener Resolutionen und damit den »Protest gegen alles Unjüdische im Judentum«1627 auf, die er zum offiziellen Motto des Delegiertentages erhob. In der sich daran anschließenden Generaldebatte ergriff zunächst Adolf Friedemann mit einer längeren Rede das Wort,1628 aus der hervorging, dass er sich als Teil einer Gruppe deutscher Zionisten begriff, die sich durch die seit dem Frankfurter Delegiertentag im September 1910 abzeichnende Bedeutungsverschiebung im zionistischen Nationalismus hin zu angeblicher völkischer Exklusivität abgestoßen fühlte.1629 Des Weiteren kritisierte er die eindeutige Parteinahme der Jüdischen Rundschau, die mittlerweile als publizistisches Sprachrohr der praktisch-zionistischen und kulturzionistischen (Mehrheits-)Tendenz im deutschen Zionismus und damit auch der offiziellen Leitlinie des Geschäftsführenden Ausschusses der ZVfD fungiere.1630 Friedemann und seine Mitstreiter hätten in den Sitzungen des Aktionskomitees »um eine gemäßigte Tonart gebeten«, was jedoch unbeantwortet geblieben sei. Dabei entrüstete Friedemann, dass die Opposition Anspruch auf Deutungshoheit erhoben und anderslautenden Vorstellungen von ›Zionismus‹ jegliche Daseinsberechtigung abgesprochen hätte. Dieser Alleinvertretungsanspruch verletzte nach Friedemann die Richtlinien des »Baseler Programms«, das als »Kompromiß aller möglichen Richtungen im Zionismus« dem einzelnen Zionisten lediglich die

1624 Hantke, Arthur : [Eröffnungsrede auf dem XIV. Delegiertentages in Leipzig], 14. Juni 1914, in: Der XIV. Delegiertentag in Leipzig am 14. und 15. Juni 1914 [Protokoll], in: JR, XIX. Jg., Nr. 28 (10. 07. 1914), S. 263–273, S. 263–265, hier S. 265. 1625 Vgl. ebd. 1626 Ebd. 1627 Hantke, Arthur [Schlußwort auf dem XIV. Delegiertentages in Leipzig], Nachmittagssitzung, 14. Juni 1914, in: XIV. Delegiertentag [Protokoll], S. 271. 1628 Friedemann, Adolf [[Rede auf dem XIV. Delegiertentages in Leipzig], Vormittagssitzung, 14. Juni 1914, in: XIV. Delegiertentag [Protokoll], S. 267f. 1629 Vgl. ebd., S. 267. 1630 Vgl. auch Möller [Rede auf dem XIV. Delegiertentages in Leipzig], Nachmittagssitzung, 14. Juni 1914, in: XIV. Delegiertentag [Protokoll], S. 271. Möller griff die Kritik Friedemanns an der Jüdischen Rundschau auf, deren »Ton […] in weiten Kreisen der deutschen Zionisten verpönt« (ebd.) sei und die als »Parteiorgan« (ebd.) Lügen in Umlauf gebracht hätte (vgl. ebd.). Dass die kulturnationalistische Argumentation im deutschen Zionismus weitgehend die Oberhand gewonnen hatte, zeigte auch die Charakterisierung Möllers, der Blumenfeld und seine Anhänger als »Majorität« (ebd.) im zionistischen Kollektiv auswies.

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»Stärkung des Volksbewußtseins« zur Auflage gemacht hätte, ohne die inhaltliche Ausprägung seiner nationalen Gesinnung bis ins Detail vorzuschreiben.1631 Am ›neuen‹ deutschen Zionismus störte Friedemann vor allem sein angeblich dezidiert nationalistisch-chauvinistisches Gedankengut, das er mit dem Begriff »Radikalismus« charakterisierte, und die Auffassung von der ›jüdischen Nation‹ als exklusiver hebräischer ›Volks- und Kulturnation‹, welche entsprechende Kulturprojekte zum Zweck einer ›nationaljüdischen Erziehung‹ im hebräischen Geist bereits in der Diaspora anvisiere. Auch glaubte er einen Doppelstandard zu erkennen, indem die »Propagandisten des extrem nationalen Empfindens«, welche hinter der »Posener Resolution« ständen, zwar einerseits den Antagonismus von ›Zion‹ und ›Deutschland‹ hervorhöben und die Forderung nach Emigration für allgemeinverbindlich erklärten, jedoch andererseits dieser in der Praxis bislang nur selten gerecht würden. Stattdessen besäßen diese vielmehr selbst »ein ganz minimales jüdisches Wissen und eine rein deutsche Kultur«. Die Lebenswirklichkeit der Juden in der Diaspora würde ohnehin durch die Gesamtheit der kulturellen Einflüsse ihrer Umwelt bestimmt und sei »[a]lso in Deutschland ein Ergebnis der deutschen Kultur, vermengt mit den der alten jüdischen Kultur entstammenden Traditionen«. Vom deutschen Nationalismus übernahm Friedemann erneut das Argument der Überlegenheit der ›deutschen Kultur‹ zur Rechtfertigung seiner Position gegen einen hebräischen Kulturnationalismus: »Gewiß ist eine hebräische Kultur möglich und notwendig. Aber nur in der Volksheimat. Da soll sie entstehen und da entsteht sie erfreulicherweise. Vielleicht kann man ähnliches auch da anstreben, wo jüdische Massen leben, in Rußland, Galizien, Rumänien. Ich weiß es nicht und bezweifle es auch. Aber vielleicht ist es nicht ausgeschlossen. Hier in Deutschland ist die Forderung nach jüdisch-nationaler Kultur ein blutloses Ideal, eine leere Abstraktion theoretisierender Gehirne. Wir leben vereinzelt inmitten einer großen Kultur, die mit der Muttermilch in unser Wesen übergegangen ist und können nur Kulturdeutsche sein. Goethe, Schiller und Kant sind unsere Erzieher gewesen und wir können unser Wesen nicht nach Belieben umgestalten. Unter dem Drucke der Verhältnisse sind wir meist ohnehin keine einheitlichen Menschen. […] Wir stehen auf dem Boden des Baseler Programms, das keinen Kulturzionismus in Deutschland predigt, und das ist ein guter unerschütterlicher Rechtsboden. Und was wird aus euren Kindern werden? fragt man uns. Wir antworten: Wir werden ihnen eine gutjüdische Erziehung mit hebräischem Wissen, aber natürlich deutscher Kultur geben. […] Mehr können wir nicht tun. Besteht später die jüdische Gemeinschaft in Palästina, so mögen sie dort Hebraisten sein. Nicht hier, das ist unser prinzipieller Standpunkt.«1632

1631 Friedemann, Rede, S. 267. Alle Zitate ebd. 1632 Alle Zitate ebd.

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Zum Abschluss seiner Rede mahnte Friedemann, dass die kulturzionistische Argumentation auf »die ältere jüdische Generation und auf die vielen Mitläufer und wohlwollend Gesinnten verzichtet, ohne die keine Bewegung auf die Dauer leben kann«. Gegen den »alte[n] zionistische[n] Kämpfer« stünde nun »ein Stamm von fanatisierten jungen Leuten […], die sich an diesem Radikalismus berauschen«.1633 Im Anschluss an die Rede Kurt Blumenfelds in der Nachmittagssitzung desselben Tages vertrat Franz Oppenheimer zunächst ähnliche Deutungsmuster wie Adolf Friedemann und bekräftigte, dass sich der »neue Nationalismus«1634 der »Radikalisten oder Nationalisten«1635, die auch er eindeutig mit der zionistischen »Jugend« identifizierte, keinen Alleinvertretungsanspruch anmaßen und »behaupten [dürfe], daß er der einzige Zionismus«1636 sei. In für ihn gewohnter Weise machte er des Weiteren in seiner Rede deutlich, dass er sich als Mitglied einer deutschen ›Volks- und Kulturnation‹ begriff. Im Gegensatz zu Friedemann räumte Oppenheimer den nichtjüdischen, deutschen kulturellen Tendenzen in seiner Zionismuskonzeption also nochmals einen deutlich höheren bis exklusiven Stellenwert ein. Die »Kulturfrage« deutete er in erster Linie als persönliche Frage, die auf die nationalen Vorstellungen des Einzelnen keinen Einfluss nehmen sollte.1637 In der Nachmittagssitzung des ersten Verhandlungstages trug schließlich Kurt Blumenfeld die Replik einer breit aufgestellten Allianz deutscher Zionisten vor, der auf dem Delegiertentag neben Hantke und Blumenfeld unter anderem 1633 Ebd., S. 268. 1634 Oppenheimer, Franz [Rede auf dem XIV. Delegiertentages in Leipzig], Nachmittagssitzung, 14. Juni 1914, in: Der XIV. Delegiertentag [Protokoll], S. 269f., hier S. 270. 1635 Ebd., S. 269. 1636 Ebd., S. 270. 1637 Vgl. ebd.: »Ein Assimilant bin ich nicht, aber ich bin assimiliert. Ich bin Deutscher und bin stolz darauf, Jude zu sein, stolz auf die Abstammung von siebzig Generationen stolzer Männer. […] Die Makkabäer sind mir gleichgültig. Gerade so stolz bin ich aber auch darauf, in dem Lande Walters und Wolframs, Goethes, Kants und Fichtes aufgewachsen zu sein und deren Kultur in mich aufgenommen zu haben. […] Mein Deutschtum ist mir ein Heiligtum, wer aber mein jüdisches Stammesbewußtsein bezweifelt, gegen den muß ich mich – um ein Wort Gabriel Riessers zu gebrauchen – wehren wie gegen einen Mörder. […] Es verletzt mich, wenn in offiziellen Leitartikeln unserer Presse und in den Schriften unserer Parteibeamten Deutschland nur als Wohnland bezeichnet wird. Deutschland ist mein Vaterland, meine Heimat, das Land meiner Sehnsüchte, das Land meiner Gräber, das Land meiner Kämpfe und meiner Ziele, und wenn ich aus der Fremde nach Hause komme, so komme ich heim. Ich habe jüdisches Stammesbewußtsein, deutsches Kulturbewußtsein, märkisches Heimatbewußtsein. Ich liebe die Alpen außerordentlich und gehe immer wieder hin; ganz zu Hause bin ich aber nur im Kiefernwalde. Ich spreche hier für mich und meine Freunde. Wir empfinden das als unsere intimsten Persönlichkeitswerte, in die kein anderer uns hineinreden darf; und weil wir als gute Zionisten fest auf dem Boden des Baseler Programms stehen, müssen wir hier dagegen protestieren, als Zionisten zweiter Klasse bezeichnet zu werden.«

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eine Gruppe süddeutscher Zionisten angehörte. Blumenfeld griff darin die von Friedemann entwickelten Argumentationsmuster auf und stellte diesen seine eigene Definition von zionistischem Nationalismus entgegen: »Eine begriffliche Definition für Jüdischkeit kann ich nicht geben. Sie scheint mir aber nichts anderes zu sein, als das Streben, uns menschlich wieder ganz zu erfüllen mit dem Glauben an die Zukunft unseres Volkes und mit dem Bewußtsein, daß wir gewürdigt sind, durch unser Leben und durch unser Lernen, diese Zukunft vorzubereiten und hineinzuwachsen in den Strom des neuen jüdischen Lebens. Und wir erblicken in unserem ganzen Leben nur den einen Sinn, daß unsere Kinder und Enkel in Palästina fortsetzen und erweitern, was wir hier begonnen haben und daß wir Juden nach langer Zeit zum erstenmal sagen können: Was wir tun ist nicht verloren, es wird fortgesetzt von kommenden Geschlechtern. Das ist unsere Jüdischkeit, und sie werden wir mit aller Kraft verteidigen müssen, wenn unser Zionismus nicht wirklich nur ein Zionismus der Worte sein soll. […] Dieses Verknüpftsein mit Palästina ist für uns die beste Garantie für den Wert unserer mühseligen und unzureichenden Versuche und nur unser Nationalismus stellt die Verbindung dar.«1638

Während Blumenfeld wie so viele deutsche Zionisten vor ihm zunächst die Schwierigkeit einräumte, die für den Nationalismus konstitutiven Allgemeinbegriffe zu definieren, forderte er hier also eine Vergegenwärtigung von Zionismus, welche die Palästinabezogenheit als eigentlichen nationalen Wesenskern von Zionismus herausarbeitete. Zionistischer Nationalismus sollte demnach die Funktion eines ideellen wie reellen Brückenbauers zwischen der Diaspora und dem ›nationalen Raum‹ der zionistischen Kolonisation, Palästina, übernehmen. Gleichzeitig räumte auch diese Nationalismuskonzeption ihren grundsätzlichen Kompromisscharakter ein: Auch wenn Blumenfeld hier die Zionisten dezidiert aufforderte, zionistische Ideale im Sinne der Posener Resolution zu praktizieren, machte er doch das Eingeständnis, dass erst die nachfolgenden zionistischen Generationen auch tatsächlich Anteil an der Lebenswirklichkeit in Palästina nehmen würden. Obwohl er einerseits explizit forderte, dass die deutschen Zionisten sich keinen ›Zionismus der Theorie‹, sondern einen ›Zionismus der Praxis‹ aneignen sollten, deutete er andererseits die ›jüdische Volks- und Kulturnation‹ nicht ausschließlich essentialistisch, sondern auch als prozesshafte Idee der Selbstverwirklichung, an deren Etablierung der einzelne Zionist aktiv mitarbeiten sollte. Zionismus bedeutete nach Blumenfeld im Gegensatz zu Friedemanns »Minimalprogramm[e]«1639 demnach das »Streben nach Zion«1640 oder die »Tendenz«1641, den Schwerpunkt natio1638 Blumenfeld, Kurt [Rede auf dem XIV. Delegiertentages in Leipzig], Nachmittagssitzung, 14. Juni 1914, in: Der XIV. Delegiertentag [Protokoll], S. 268f., hier S. 269. 1639 Ebd. 1640 Ebd., S. 268. 1641 Ebd., S. 269.

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naljüdischer Gesinnung und Erziehungsarbeit auf das Hier und Jetzt in Palästina auszurichten. Des Weiteren finden sich bei Blumenfeld auch widersprüchliche Motive, indem er sein partikularistisches Nationskonzept, welches mit der grundsätzlichen kulturzionistischen Vorstellung einer ›inneren Nationalisierung‹ des Zionisten und damit einer Intensivierung nationalistischen Denkens und Handelns verknüpft wird, mit einem seinerseits ambivalenten humanistischen Universalismus verknüpfte. Nach diesem bildet der Zionismus als sittliche Idee die Voraussetzung zur Ganzheitlichkeit und zum wahren Menschsein, als deren Ziel jedoch wiederum die national geschlossene Persönlichkeit ausgewiesen wird.1642 Zugleich vermischte sich bei Blumenfeld die Forderung nach völkischer, ethnisch-kultureller Exklusivität paradoxerweise mit der Idee, zionistischen Nationalismus in Deutschland selbst als Entstehungsprodukt eines wechselseitigen, interkulturellen jüdisch-deutschen Dialoges zu betrachten. Wie schon Friedemann nahm auch Blumenfeld bei seiner Vorstellung auf den romantischen Nationalismus und seine Idee einer deutschen ›Volks- und Kulturnation‹ Bezug: »Das Wort Nationalismus ist ein Intensivum. Es bedeutet für uns Zionisten, daß die Juden vielfach schon aufgehört haben, zur jüdischen Nation zu gehören, es bedeutet, daß wir heute hier noch keine vollen Juden sind und daß wir gerade deshalb in intensiviertem Wollen nationalistisch sein müssen, weil unser nationales Sein in Gefahr ist. Unsere Gesinnung muß also viel unbeirrter und eindeutiger sein, als wenn wir schon eine wohleingerichtete, unbestrittene Nation wären; mit verstärkter Intensität gilt es, alles wegzuräumen, was uns daran hindert, schon jetzt das ruhige Gefühl des Eingebettetsein im Strom des eigenen nationalen Lebens zu besitzen, und uns jetzt noch zum betonten Nationalismus zwingt. Für uns deutsche Juden bestehen für diese Auffassungsweise noch ganz besondere Voraussetzungen. Herr Dr. Friedemann sagt uns: Er begreife nicht, wie es Juden geben könne, die wie er in deutscher Kultur aufgewachsen sind und zu so verstiegenen jüdischnationalen Ideen kommen können. Ich als deutscher Jude glaube erklären zu können, daß ich gerade aus der mir vertrauten deutschen Kultur meinen Zionismus habe lernen können. Und jeder Jude, der diese deutsche Kultur wirklich versteht und mit Goethe und Fichte und Keller lebt, wird sich gerade aus dem Besten dieser deutschen Kultur den jüdischen Nationalismus zu erwerben verstehen. Und erst der Nationalismus läßt uns andererseits verstehen, wie tief uns diese Kultur berührt, der wir so unglaublich viel an moralischen Erhebungen verdanken.«1643

Bezeichnenderweise glaubte auch Franz Oppenheimer eine Widersprüchlichkeit in den Nationalismusvorstellungen Kurt Blumenfelds erkannt zu haben, wonach er Blumenfeld vorwarf, sich zwar rein nominell auf die Fichteanische Idee der 1642 Vgl. ebd. 1643 Ebd.

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›Nation‹ zu berufen, jedoch deren Synthese aus partikularistischen und universalistischen Elementen übersehen zu haben.1644 Gewissermaßen hatte jedoch Oppenheimer selbst das bereits in der Nationalismuskonzeption Fichtes angelegte eigentümliche Spannungsverhältnis aus Partikularismus und Universalismus nicht erfasst, das diese überhaupt erst für eine Transformation im zionistischen Sinne prädestiniert hatte.1645 Abschließend nahm Blumenfeld zum »Radikalismus«-Vorwurf seiner Gegner Stellung, den er als »dumm«1646 auswies und den scharfen Ton in der Debatte als sachliche Notwendigkeit verteidigte.1647 Den Attributen Friedemanns stellte Blumenfeld sein Bild »einer zionistischen Lebensgemeinschaft« entgegen, die sich im Gegensatz zu den gemäßigten, älteren Zionisten, die ihr Unvermögen in zionistischen Angelegenheiten offenbart hätten, durch »Mut«, »Wahrheit«, »Entschlossenheit«, »Ueberzeugung«, »Leidenschaft« und »Entschiedenheit«1648 auszeichnete. Die nun folgende Debatte im Plenum war von relativ kurzen Redebeiträgen gekennzeichnet, in denen sich einzelne Zionisten oder Vertreter bestimmter Gruppen der einen oder anderen Allianz zuwiesen. Auf die Seite Friedemanns schlugen sich beispielsweise Max Bodenheimer, Jakob Wolff und Hermann Struck.1649 Auch Bodenheimer betrachtete es als Fehler, die »Posener Resolution« als Verpflichtung des Zionismus zu verstehen, »eine Loslösung vom Deutschtum«1650 zu betreiben. Aus seiner Sicht unterschied den deutschen Zionismus von der Ideologie des Zentralvereins jedoch, dass er nicht »ausschließlich deutsche Gesinnung verlangt« hätte und nicht »chauvinistischdeutsch«1651 sei. Nach Bodenheimer stellten Oppenheimer und Blumenfeld nur die einander entgegengesetzten Pole auf einer Skala der unterschiedlichen Auffassungen von zionistischem Nationalismus in Deutschland dar. Zwischen diesen würde vielmehr eine Vielzahl heterogener nationaler Konzeptionen 1644 Vgl. Oppenheimer [Rede], S. 270: »Es ist hier von Blumenfeld gesagt worden, daß, wer zum Ganzen strebt, dies nur durch den Nationalismus kann. Ich weiß nicht, ob der Nationalismus der beste Weg ist, der zum Ganzen führt. Daß er der einzige Weg ist, möchte ich entschieden bestreiten. Blumenfeld hat sich hier auf Goethe und Fichte berufen, aber weiß er denn nicht, daß für Fichte der Nationalismus der Durchgangspunkt zum höchsten Humanismus gewesen ist? Aus persönlicher Erfahrung möchte ich sagen, daß ein deutscher Jude unangefochten zu immer höheren Zielen streben kann, wenn er vom Geist des wahren Humanismus beseelt ist.« 1645 Vgl. dazu auch Kap. III.1 der vorliegenden Arbeit und Voigts, Prophet. 1646 Ebd. 1647 Vgl. ebd. 1648 Ebd. 1649 Vgl. Der XIV. Delegiertentag [Protokoll], S. 270f. 1650 Bodenheimer, M. I. [Max Isidor]: [Redebeitrag auf dem XIV. Delegiertentages in Leipzig], Nachmittagssitzung, 14. Juni 1914, in: Der XIV. Delegiertentag [Protokoll], S. 270f. 1651 Ebd., S. 270.

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existieren, die sich im Ideal der zionistischen Arbeit für Palästina treffen sollten: »[V]on Oppenheimer zu Blumenfeld gibt es tausend Erscheinungen und Uebergänge, und diese verbindende Brücke wollen wir fester machen durch die Arbeit in Palästina für das jüdische Volk. Hier können wir alle zusammenarbeiten.«1652 Wie Bodenheimer versuchte auch Arthur Hantke in seiner Schlussrede versöhnliche Töne anzuschlagen, indem er beide Allianzen zur Synthese aufrief: »Alte Herren im Zionismus und junge wollen wir uns vereinigen, um ein Ziel, ein jeder auf seinem Wege, zu verfolgen: Die Zukunft unseres Volkes in Palästina.«1653 Im Anschluss an den Delegiertentag in Leipzig entspann sich in der Jüdischen Rundschau eine Debatte, in welcher die beteiligten Disputanten die in Leipzig sichtbar gewordenen nationalideologischen Artikulationen nochmals sezierten und bewerteten. Das Narrativ der ›Gemeinschaft‹ und die Definition des Verhältnisses des Einzelnen zum Kollektiv rückte darin in den Fokus eines Leitartikels des Redakteurs Hugo Herrmann, der am 26. Juni 1914 in der Zeitung unter dem Titel »Radikalismus« erschien.1654 Der nationale Wesensgehalt von Zionismus wird bei Herrmann auf die Opferbereitschaft und freiwillige Unterordnung des Einzelnen unter das Kollektiv, »Selbstlosigkeit bis zur Selbstentäußerung« verengt. Erst im Dienst des Kollektivs wird dem Individuum so die Erfahrung wahrer »Gemeinschaft« möglich. Diese bezog Herrmann auf Palästina, wobei die Entstehung einer hebräischen Kultur und eines »neuen jüdischen Leben[s]« als »das wichtigste Mittel der Einstellung in das palästinensische Leben, das Mittel der Revolutionierung des Golus-Judentums durch Palästina«, geschildert wird. Abschließend griff auch Herrmann das Deutungsmuster ›Generation‹ auf, indem er sich selbst und die Allianz um Blumenfeld als Teil einer »zweite[n] zionistische[n] Generation« charakterisierte, welche »die umwandelnde Kraft des Zionismus in einem Alter erfahren [hat], wo man für die tiefsten Erlebnisse am empfänglichsten« sei. Als gegenwärtige Aufgabe der deutschen Zionisten begriff Herrmann den »Kampf der zweiten zionistischen Generation um die dritte«, die ›nationale Erziehungsarbeit‹ an der jüdischen Jugend: »Mehr von diesem ›Radikalismus‹, mehr Ernst und mehr Arbeit bei den Jungen und bei uns, die wir die junge Generation zu führen beanspruchen.«1655 Auch wenn Herrmann hier als leitender Redakteur eindeutig Stellung auf Seiten der Allianz um Blumenfeld bezog, ging die Jüdische Rundschau in ihren folgenden Ausgaben heran, die unterschiedlichen Positionen zur »Kulturfrage« ausdifferenziert vorzuführen. Die gegensätzlichen Meinungen wurden im wei1652 Ebd., S. 271. 1653 Vgl. Hantke, Arthur [Schlußwort auf dem XIV. Delegiertentages in Leipzig], Nachmittagssitzung, 14. Juni 1914, in: Der XIV. Delegiertentag [Protokoll], S. 271. 1654 Vgl. Herrmann, Hugo: Radikalismus, in: JR, XIX. Jg., Nr. 26 (26. 06. 1914), S. 277f. 1655 Alle Zitate ebd., S. 277.

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teren Verlauf der Debatte im Wesentlichen von Franz Oppenheimer und Adolf Friedemann auf der einen Seite und Richard Lichtheim auf der anderen Seite repräsentiert. Am Anfang einer Reihe von Beiträgen, die mitunter durch sarkastische Rhetorik geprägt waren, stand auf der Titelseite der Jüdischen Rundschau vom 3. Juli 1914 eine Adresse von Lichtheim an Oppenheimer, die unter dem Titel »Das Märchen vom Radikalismus« in erster Linie den Vorwurf Oppenheimers, Lichtheim hätte von Deutschland »nur als Wohnland« oder »Land des Aufenthaltes«1656 gesprochen, richtigstellen wollte. Das Feindbild, das Lichtheim in diesem und seinen folgenden Beiträgen stellvertretend für die Allianz um Blumenfeld projizierte, warf dem nationalpolitischen Gegner im Wesentlichen die mangelnde ideologische Unterfütterung seiner ZionismusDefinition und das Fehlen der für die Besonderheit von Zionismus kennzeichnenden Merkmale vor.1657 In fast völligem Gleichklang mit Blumenfelds Rede auf dem Leipziger Delegiertentag betonte auch Lichtheim, dass die ›nationale Erziehungsarbeit‹ und die Herstellung tatsächlicher Beziehungen zu Palästina bis zur Emigration als wichtigste Anliegen des jüdischen Nationalismus in der Diaspora betrachtet werden müssten.1658 Dies bedeute jedoch nicht, die zionistische »Verwurzelung im deutschen Boden«1659 und die hybride Zwischenposition deutscher Zionisten als »Juden und Deutsche, als Orientalen und Europäer«1660 zu negieren. Die erste Replik von Adolf Friedemann, welche den provozierenden Titel »Sachlicher Radikalismus oder endlich radikale Sachlichkeit« trug und in der Nummer vom 17. Juli 1914 erschien, schrieb erneut gegen die Unterscheidung von verschiedenen Auffassungen von Zionismus in »Minimal- oder Maximalprogramme«1661 und den Alleinvertretungsanspruch der Gegenseite an.1662 Aus Friedemanns Artikel spricht die Ernüchterung über die Schwierigkeit und Unzulänglichkeit von allgemeinen Begriffsdefinitionen und die Erkenntnis, dass der deutsche Zionismus im Wesentlichen über »das Palästinaprogramm« und den organisatorischen Zusammenschluss zusammengehalten werde. Die Forderung nach einem »Hebraismus schon in der Diaspora« lehnte Friedemann unter Verweis auf die »übermächtige große und gesetzliche Kultur des Milieus um uns her«, die einem »Reifen von Eisen und Stahl« gleichkäme,1663 aufs Neue 1656 Vgl. Lichtheim, Richard: Das Märchen vom Radikalismus. Offener Brief an Herrn Dr. Franz Oppenheimer, in: JR, XIX. Jg., Nr. 27 (03. 07. 1914), S. 199f. 1657 Vgl. ebd., S. 199. 1658 Vgl. ebd., S. 199f. 1659 Ebd., S. 199. 1660 Ebd., S. 200. 1661 Adolf Friedemann: Sachlicher Radikalismus oder endlich radikale Sachlichkeit, in: JR, XIX. Jg., Nr. 29 (17. 07. 1914), S. 311f., hier S. 311. 1662 Vgl. ebd., S. 311f. 1663 Alle Zitate ebd., S. 311.

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als utopisch und märchenhaft ab.1664 Die Schaffung einer hebräischen Kultur wollte er vielmehr auf Palästina begrenzen: »Die hebräische Kultur aber fängt mit der Landung in Jaffa an. Früher nicht!«1665 Auf Friedemann folgte schließlich eine dreiseitige Replik von Franz Oppenheimer in der folgenden Ausgabe der Zeitung, welche sich erneut kritisch mit den Narrativen vom »Maximalzionismus« und »Minimalzionismus« auseinandersetzte, dabei jedoch im Wesentlichen die bereits bekannten Narrative aufgriff.1666 Wie schon Friedemann plädierte auch Oppenheimer dafür, »das Haus von unten [zu] bauen, nicht vom Schornstein her«1667. Oppenheimer glaubte in den Forderungen der praktisch-zionistischen und kulturzionistischen Richtung im Zionismus eine Doppelmoral zu erkennen, da ihr »Wille zur ›Tendenz‹« lediglich eine »Phrase« und noch lange kein »Wille zur Erfüllung« sei. Anhand der Unterscheidung in »Ziele« und »Mittel« erläuterte er erneut seine Auffassung von Zionismus. Die nationalistische Propaganda sei, so Oppenheimer implizit, gefährlich, da sie die Jugend ohne Rücksicht auf tatsächliche Möglichkeiten und die Folgen der geistigen ›Entwurzelung« nach der Ablösung des Juden von seiner soziokulturellen Umwelt in der Diaspora »palästinisieren«1668 wolle.1669 Eine neue praktische und kulturelle Ideologie hielt er für unnötig, da allein die »Kraft der Idee«1670 ausreiche, um Zionismus in Palästina zu verwirklichen. Im Besonderen durch die Stellungnahme Oppenheimers fühlte sich Lichtheim zu einem zweiten offenen Brief in der Ausgabe vom 31. Juli 1914 herausgefordert, den er mit der »Verwirklichung des Zionismus« übertitelte und in dem er erneut vehement gegen die Diffamierung der praktisch-kulturnationalistischen Argumentation als »Radikalismus« polemisierte.1671 Lichtheim unterstrich ein weiteres Mal den nationalen Wesensgehalt von Zionismus in der »Tendenz zur persönlichen Anteilnahme an der Palästinaarbeit«1672 und im »idealistischen Opfersinn des Diasporajudentums«1673 sowie die Bedeutung der zionistischen Jugendarbeit. Ihr Ziel bestände darin, dass die Jugend »bei ihrem deutschen Kulturbewußtsein und trotz aller inneren und äußeren Widerstände sich dafür entscheidet, in der persönlichen Anteilnahme an dem Aufbau unseres 1664 Vgl. ebd., S. 311f. 1665 Ebd., S. 312. 1666 Oppenheimer, Franz: Radikalismus. Antwort auf den offenen Brief von Richard Lichtheim, in: JR, XIX. Jg., Nr. 30 (24. 07. 1914), S. 323–325. 1667 Ebd., S. 325. 1668 Alle Zitate ebd., S. 324. 1669 Vgl. ebd., S. 324f. 1670 Vgl. ebd., S. 325. 1671 Vgl. Lichtheim, Richard: Die Verwirklichung des Zionismus. Zweiter offener Brief an Herrn Dr. Franz Oppenheimer, in: JR, XIX. Jg., Nr. 31 (31. 07. 1914), S. 333–336. 1672 Ebd., S. 333. 1673 Ebd., S. 335.

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palästinensischen Daseins das höchste Ideal ihres Lebens zu erblicken«1674. Im Folgenden begründete Lichtheim die Forderung nach Beteiligung an der Gegenwartsarbeit in Palästina auch realpolitisch, da sie die Voraussetzung dafür sei, dass dem zionistischen Werk vor Ort ausreichend finanzielle und materielle Hilfen sowie menschliche Arbeitskraft und Siedler zuflössen.1675 Oppenheimer und seine Mitstreiter hätten die aus dem Leben in der Diaspora resultierende Notwendigkeit der praktisch-kulturnationalistischen Ideologie ignoriert, die sich gegen die faktisch bestehende »Macht der assimilatorischen Tendenzen«1676 im deutschen Judentum richte und einzig und allein Abhilfe schaffen könne.1677 Oppenheimer hingegen postuliere in auffallender Ähnlichkeit antizionistischer Argumentationsmuster einen »Normaltypus des deutschen Juden […]: soundsoviel Prozent Deutschtum, soundsoviel Prozent Judentum«, der in der Realität erst gar nicht vorkomme, da die »menschliche Seele keine vorgeschriebene Anzahl von Schubfächern mit Etikettes« besäße.1678 Zionistische Erziehungsarbeit und Propaganda müssten daher auf die ›innere Nationalisierung‹ des deutschen Judentums ausgerichtet sein und zu einer dezidierten Verinnerlichung zionistischer Werte führen.1679 Die untersuchten Deutungsmuster legen auf den ersten Blick nahe, dass sich der Schwerpunkt der ideologischen Ausrichtung des deutschen Zionismus in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg hin zu einem kulturalistisch-exklusiven Zionismus verlagerte, welcher der Betonung zionistischer Individualität und damit Partikularität hohes Gewicht zuschrieb. Gleichzeitig konnten die so formulierten Nationalismuskonzeptionen auch völkische Deutungsmuster beinhalten. Darin wurde eine Verinnerlichung von Zionismus über die Ablösung des deutschen Zionismus von der soziokulturellen Umwelt des Diasporajudentums gefordert und die Idee der ›(jüdischen) (Bluts-)Gemeinschaft‹ zum Fluchtpunkt nationalistischen Denkens und Handelns erhoben. Wie das Beispiel Blumenfelds paradigmatisch zeigt, schloss dies jedoch nicht aus, dass auch diese dezidiert partikularnationalistische Argumentation diskursive Räume bot, den Erwerb und die Aneignung von Zionismus selbst als dialogischen Prozess zwischen jüdischer und nichtjüdischer Umwelt zu begreifen. Hierbei zielte die Forderung nach kultureller Exklusivität, die Blumenfeld und Lichtheim erhoben, nicht auf die rechtsnationalistische Überhöhung der eigenen, so definierten jüdischen ›Volks- und Kulturnation‹ und auf eine eigene Überlegenheitsposition, sondern auf nationale Selbstbehauptung kraft der Begründung einer kul1674 1675 1676 1677 1678 1679

Ebd. Vgl. ebd., S. 334. Ebd., S. 334. Vgl. ebd. Ebd., S. 334f. Vgl. ebd.

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turellen Erneuerungsbewegung und der Betonung der Alleinstellungsmerkmale von Zionismus in seinem Bezug auf ›Zion‹ bzw. ›Palästina‹. Seine hybride Dimension gab der zionistische Nationalismus in Deutschland demnach nicht auf. Max Bodenheimer, Adolf Friedemann und Franz Oppenheimer vertraten einen ›jüdischen Nationalismus‹, der entweder im Zionismus den geistigen Rahmen für einen Ausgleich zwischen jüdischen und nichtjüdischen kulturellen Tendenzen erblickte (Friedemann) oder klar zwischen ›Deutschtum‹ und ›Judentum‹ im zionistischen Nationalismus unterschied und diese Komponenten mitunter unterschiedlichen Daseinsbereichen der Lebenswirklichkeit der Juden in Deutschland zuordnete (Oppenheimer). Somit lassen sich diese Zionismuskonzeptionen auch als Strategien für die Behauptung von Legitimität der national-kulturellen ›inbetweenness‹ oder Hybridität des Diasporajudentums an sich lesen. Deutsche Zionisten wie Oppenheimer bewegten sich dabei jedoch häufig innerhalb einer kolonialistischen Argumentationslogik und blieben in hegemonialen Narrativen gefangen, indem sie die ›Überlegenheit‹ der deutschen Kultur betonten, die sozusagen als automatische Folge die Anpassung der kulturell ›unterlegenen‹ Minderheit nach sich ziehen würde. Durch diese Verortung lässt sich der Kern des ›jüdischen Nationalismus‹ der älteren Zionisten in Deutschland nicht in der Schaffung eines jüdischen Gemeinwesens in Palästina sehen, sondern in einer Apologetik und Neuverortung der jüdischen Existenz in Europa.1680 Des Weiteren deckten sich die beteiligten Gruppen auch überwiegend mit den ideologisch-programmatischen Strömungen im Zionismus, indem sich die Richtung um Adolf Friedemann und Franz Oppenheimer dem politischen Zionismus, die Richtung um Arthur Hantke, Kurt Blumenfeld und Richard Lichtheim dem praktischen Zionismus und Kulturzionismus zuordnete. Dass die Zeitgenossen den Konflikt auch in diesem Sinne interpretierten, zeigt etwa die Aussage Isak Strauß‹ auf dem Delegiertentag in Leipzig, der die Allianz um Friedemann als »alte Herzlianer« charakterisierte und die Debatte als »den letzten Ausläufer der bisherigen prinzipiellen Kämpfe in der Partei […]: der Kämpfe um ›politischen‹ und ›praktischen‹ Zionismus«1681 deutete. Obwohl die Allianz um Blumenfeld und Lichtheim von den Ideen des hebräischen und deutschen Kulturzionismus stark beeinflusst worden war, bestanden zwischen diesen und der neuen praktischen und kulturnationalistischen Argumentation jedoch mitunter auch Unterschiede oder Differenzen.1682 So geht beispielsweise aus der Korrespondenz Kurt Blumenfelds hervor, dass dieser im Besonderen den 1680 Vgl. in anderem Zusammenhang Shumsky, Zweisprachigkeit, S. 125. 1681 Isak Strauß [Redebeitrag auf dem XIV. Delegiertentages in Leipzig], Nachmittagssitzung, 14. Juni 1914, in: Der XIV. Delegiertentag in Leipzig am 14. und 15. Juni 1914 [Protokoll], in: JR, XIX. Jg., Nr. 28 (10. 07. 1914), S. 263–273, hier S. 270. 1682 Vgl. dazu auch kurz Vogt, Transformation, S. 2.

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›Prager Zionismus‹1683 als zu vergeistigt oder metaphysisch empfand, womit er wohl auf dessen intensive Adaption lebensphilosophischer Deutungsmuster anspielte.1684 Kennzeichnend für den ›Prager Zionismus‹ war jedoch, in noch weit stärkerem Maße als für die zionistische Strömung um Blumenfeld in Deutschland, der immanente widersprüchliche »Versuch einer Verknüpfung von essentialistischen und ethnisch-partikularen Nationskonzepten mit Elementen eines humanistischen Universalismus«1685. Diese eigentümliche Spannung wies auch Blumenfelds Nationalismus auf, der sich mit Jochanan Ginat als das »Streben nach Verwirklichung der innerlich freien Persönlichkeit«1686 definieren lässt und darin selbst starke Anleihen beim deutschen Idealismus machte.1687

3.3.3 ›Radikaler Nationalismus‹ oder Generationenkonflikt? Erklärungsansätze für die Bedeutungsverschiebung im deutschen Zionismus vor dem Ersten Weltkrieg Wie einleitend erläutert wurde, wurde die ideologische Veränderung des deutschen Zionismus von der Zionismusforschung bislang nahezu ausschließlich im Kontext innerzionistischer Entwicklungstendenzen begründet, ohne die relevanten Deutungsmuster überhaupt eingehend diskursanalytisch untersucht zu haben.1688 »Generation« galt dabei als Schlüsselfaktor und wissenschaftliche Analysekategorie, um die beschriebenen Bedeutungsverschiebungen im deutschen Zionismus vor dem Ersten Weltkrieg zu erklären, welche nach dieser Interpretation primär durch die Annahme eines Generationenkonfliktes gedeutet wurden. Demnach geriet eine ›jüngere Generation‹ praktisch-zionistischer und kulturzionistischer deutscher Zionisten, welche nach 1880 geboren waren, mit ihrer Forderung nach einem »postassimilatorischen Zionismus« und nach »Entwurzelung« des Juden von seiner nichtjüdischen soziokulturellen Umwelt in zunehmenden Konflikt mit einer ›älteren Generation‹ um 1860 bis 1870 geborener politischer Zionisten, da sie deren »liberal-assimilatorische« 1683 Vgl. Shumsky, Zweisprachigkeit. 1684 Vgl. Brief von Kurt Blumenfeld an Martin Rosenblüth vom 16. 01. 1913, in: Blumenfeld, Kurt: Im Kampf um den Zionismus. Briefe aus fünf Jahrzehnten, hg. von Miriam Sambursky und Jochanan Ginat (Veröffentlichung des Leo-Baeck-Instituts), Stuttgart 1976, S. 43; Brief von Kurt Blumenfeld an Julius Berger vom 14. 01. 1917, in: ebd., S. 59. Vgl. dazu auch Vogt, Transformation, S. 2. 1685 Vogt, Zweisprachigkeit, S. 3. 1686 Ginat, Jochanan: Kurt Blumenfeld und der deutsche Zionismus, in: Blumenfeld, Kampf, S. 7–37, hier S. 8. 1687 Vgl. ebd., S. 8f. 1688 Vgl. Eloni, Zionismus, S. 250–312; Poppel, Zionism, S. 45–67; Reinharz, Fatherland, S. 144–170.

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Tendenzen abgelehnt hätte.1689 Die Wirklichkeit gestaltete sich jedoch komplexer als die Deutungsmuster »postassimilatorisch« und »liberal-assimilatorisch« auf den ersten Blick nahe legen, wie bereits gezeigt werden konnte. Aus den Protokollen des Leipziger Delegiertentages und der sich anschließenden publizistischen Debatte geht hervor, dass das Deutungsmuster ›Generation‹ bereits von den beteiligten Zeitgenossen entwickelt und instrumentalisiert wurde, um den eigenen Vorstellungen von Zionismus besondere Aussagekraft und Legitimität zu verleihen. Mit Ulrike Jureit lassen sich die generationellen Selbstthematisierungen der deutschen Zionisten sowohl als »eine individuelle Zuordnungsgröße als auch [als] eine kollektive Selbstbeschreibungsformel«1690 begreifen. Nach Blumenfeld und Lichtheim bezeichnete die ›Jugend‹ etwa die Vorstellung, sich vollständig und kompromisslos in den Dienst der ›nationalen Gemeinschaft‹ in Bezug auf Palästina zu stellen, und sich – sozusagen auch innerlich und als ganzer Mensch – den ›nationalen Idealen‹ hinzugeben. Das ›Alter‹ hingegen repräsentierte demzufolge einen kompromisshaften Zionismus, dem es an nationalideologischer Unterfütterung und Entschlossenheit mangelte. Die Richtung um Friedemann und Oppenheimer hingegen charakterisierte sich als eine um den Zionismus verdiente ältere Garde von Veteranen. Diese sei mit ihrer ›rationalen‹, ›etablierten‹ Auffassung eines ›gemäßigten Nationalismus‹, der die Berücksichtigung der konkreten Lebenswirklichkeit des Diasporajudentums aufrechterhalten wollte, unverschuldet in Konflikt mit den ›extremen‹ Ansichten ihrer hitzigen, ›radikalnationalistischen‹ Nachfolger geraten. Allein schon mittels der Charakterisierung der Argumentation der Gegenseite als einem bis zum ›Extrem‹ drängenden Nationalismus verfolgte sie die Strategie, den Zionismus der ›Jugend‹ als ›Abseits der Norm‹ und daher als illegitim zu charakterisieren. Dass die Wahl vieler deutscher Zionisten überhaupt auf das Deutungsmuster ›Generation‹ und dabei mehrheitlich auf die neue Bewältigungsstrategie ›Jugend‹ und damit ›praktischer Zionismus‹ und ›Kulturzionismus‹ fiel, lässt sich einerseits anhand der kognitiven Dissonanz erklären, die sich offenbar bei vielen jüngeren Zionisten aus der Diskrepanz zwischen ihrem ideologischen Erwartungshorizont und ihren tatsächlichen konkreten Erfahrungen in der politischen Praxis mit dem ›politischen Zionismus‹ eingestellt hatte. Diese drängte sie zu einer Neubewertung der nationalpolitischen Situation und erforderte aus ihrer Sicht eine veränderte Handlungsweise. Ob in der Frage der Erlangung des Charters, der Kolonisation Palästinas oder der nationaljüdischen Erziehungsarbeit in der Diaspora und in Palästina, überall waren die reellen Entwicklungen aus der Sicht der historischen Akteure hinter den Erwartungen zurückgeblieben. 1689 Vgl. Reinharz, Generations. 1690 Jureit, Generation, S. 2.

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Diese ›politisch Enttäuschten‹ konnten sich seit 1909/10, wie die Beispiele Kurt Blumenfeld und Arthur Hantke zeigen, immer mehr in den Führungsgremien des deutschen Zionismus behaupten und besaßen somit auch über die kommunikativen Möglichkeiten, ihre nationalen Ideen über die Presse in Umlauf zu bringen. Der ›neue Nationalismus‹ dieser deutschen Zionisten sollte demnach ihre Entschlossenheit zum entschiedenen Handeln und ihren Führungsanspruch innerhalb der ZVfD und der ZO zum Ausdruck bringen. Die Konstruktion neuer Erwartungshaltungen lässt sich in diesem Prozess andererseits nur unzureichend innerzionistisch erklären. Vielmehr muss dazu auch die Interaktion des Zionismus mit gleichzeitig ablaufenden Entwicklungen im deutschen Nationalismus und in der deutschen Gesamtgesellschaft in den Blick genommen werden. Die Debatte über die ideologische Ausrichtung des deutschen Zionismus erreichte bezeichnenderweise unmittelbar vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs ihren vorläufigen Höhepunkt. Auch wenn im deutschen Nationalismus weiterhin verschiedene Strömungen existierten, welche die ›deutsche Nation‹ mitunter völlig unterschiedlich definierten, zeichneten sich doch am Vorabend des Ersten Weltkriegs bestimmte Tendenzen ab, die auf eine ›Radikalisierung‹ des deutschen Nationalismus hinausliefen, die sich im Laufe des Krieges noch verstärken sollten.1691 Für diesen zunehmend ›radikalen Nationalismus‹ war charakteristisch, dass er mit einer extremen Feindbildfixierung einherging und die Grenze zwischen dem ›Eigenen‹ und dem ›Anderen‹ semantisch intensivierte sowie ›ethnisierte‹.1692 Vor allem im Dunstkreis einer »radikalen Rechten«, die ihre eifrigsten Anhänger u. a. in den Mitgliedern der nationalistischen Agitationsverbände fand, ging diese Radikalisierung der eigenen Nationsvorstellungen schließlich auch mit einer steigenden »Biologisierung der [deutschen] Nation«1693 einher. Dieser diente nicht zuletzt der Antisemitismus als »Code der Radikalität«1694, welcher die Juden wie andere Minderheiten als »Fremde« und »Feinde im Innern« stigmatisierte und damit konsequent von einer Teilhabe an der ›deutschen Nation‹ ausschloss.1695 Außerdem gelang es den Anhängern dieser radikalen Nationalismen, ihre Vor1691 Vgl. Bruendel, Volksgemeinschaft; Janz, Oliver : Nationalismus im Ersten Weltkrieg. Deutschland und Italien im Vergleich, in: Ders. u. a. (Hg.): Zentralismus und Föderalismus im 19. und 20. Jahrhundert. Deutschland und Italien im Vergleich, Berlin 2000, S. 163–184; Müller, Sven Oliver : Die Nation als Waffe und Vorstellung. Nationalismus in Deutschland und Großbritannien im Ersten Weltkrieg, Göttingen 2002, S. 17f.; Verhey, Geist; Raithel, Thomas: Das »Wunder« der Inneren Einheit. Studien zur deutschen und französischen Öffentlichkeit bei Beginn des Ersten Weltkrieges, Bonn 1996; Vogt, Positionierungen, S. 198f.; Walkenhorst, Nation, S. 308–342. 1692 Vgl. Vogt, Positionierungen, S. 198f.; Walkenhorst, Nation, S. 317, 333. 1693 Walkenhorst, Nation, S. 102. 1694 Ebd., S. 289. 1695 Vgl. ebd., S. 281–303.

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Die Konstruktion zionistischer Hybridität in der Jüdischen Rundschau

stellungen von Nationalismus zunehmend in der politischen Kultur des Deutschen Kaiserreichs festzuschreiben und Einfluss auf politische Entscheidungsprozesse zu nehmen. Spätestens im Ersten Weltkrieg äußerte sich die gestiegene Akzeptanz und Geltung radikalnationalistischer Deutungsmuster in der deutschen Bevölkerung nicht zuletzt in dem auch von vielen liberalen Intellektuellen mitgetragenen und mitformulierten Gesellschaftsentwurf einer ethnisch und kulturell homogenen »Volksgemeinschaft« und in der Forderung nach einer imperialistischen und expansionistischen Kriegspolitik.1696 Der »Geist von 1914« beispielsweise, den deutsche Intellektuelle wie Johann Plenge, Ernst Troeltsch und Rudolf Eucken in ihren Schriften nach Kriegsausbruch ersannen, ging weitgehend in eklatantem Gleichklang mit den rekonstruierten zionistischen Deutungen und mit der Sakralisierung der überindividuellen Bindung sowie dem Versuch einer Neuordnung des Verhältnisses zwischen dem Einzelnen und dem Kollektiv einher. Diese implizierten eine neue, homogene Haltung solidarischen, konfliktfreien Miteinanders und die freiwillige, auf innerer Überzeugung beruhende Einordnung des Einzelnen in die ›Nation‹ oder ›Volksgemeinschaft‹, die, wie der deutsche Historiker Friedrich Meinecke es umschrieb, als »eine einzige, mächtige, tief atmende Gemeinschaft«1697 verstanden wurde.1698 Der Gedanke, dass das Kollektiv, die »Gemeinschaft«, unbedingten Vorrang vor dem autonomen Individuum haben sollte, bildete – wie schon bei Kurt Blumenfeld und Hugo Herrmann – nicht zuletzt einen zentralen Stützpfeiler der »Ideen von 1914«, welche sich gegen die »Ideen von 1789« und damit auch Prinzipien wie Liberalismus und Individualismus wandten.1699 Wie die ideologischen Konstrukte deutscher Intellektueller1700 gingen auch die nationalen Selbstentwürfe deutscher Zionisten auffallend häufig mit zivilisationskritischen und lebensphilosophischen Deutungsmustern einher, welche das ›ursprüngliche‹ nationale Gemeinschaftserlebnis einer empfundenen zunehmenden Intellektualisierung und Rationalisierung in der modernen Industriegesellschaft entgegen stellten, die Max Weber mit dem Begriff »Entzauberung der Welt«1701 charakterisierte. Grundsätzliche Vernunftskepsis äußerte beispielsweise der deutsche Zionist Sammy Gronemann in seinem Artikel über 1696 Vgl. ebd., S. 317. 1697 Meinecke, Friedrich: Die deutschen Erhebungen von 1813, 1848, 1870 und 1914, in: Ders.: Die deutsche Erhebung von 1914. Vorträge und Aufsätze, Stuttgart/Berlin 1914, S. 9–38, hier S. 29. 1698 Vgl. Bruendel, Volksgemeinschaft, S. 110–119; Jeffrey, Erfindung, S. 116–118, 129–193. 1699 Vgl. Bruendel, Volksgemeinschaft, S. 110–119. 1700 Vgl. Beßlich, Wege, S. 3–7. 1701 Weber, Max: Wissenschaft als Beruf (Geistige Arbeit als Beruf; 1), Leipzig/München 1919, S. 15f.

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»Die Intellektuellen« vom 3. Juli 1914 und bewertete die Debatte in Leipzig in der Rückschau als kleinteilige, pseudowissenschaftliche Sezession von Zionismus, die sich in theoretischen, abstrakten Begrifflichkeiten verloren hätte und an der zionistischen Lebenswirklichkeit vorbei laufe.1702 Die deutschen Zionisten dürften sich nicht länger als »Volk der Grübler und Zweifler« generieren, sondern vom »Selbstanalysieren« zu einer Auffassung von ›jüdischem Nationalismus‹ zurückkehren, welche das intuitive, naturhafte Kollektiverlebnis wieder in den Mittelpunkt rücke und Zionismus als »nationale, d. h. ursprünglich den natürlichsten Instinkten der Gemeinschaft entspringende Bewegung« auffasse und verinnerliche.1703 Im Besonderen mit ihrer Forderung nach einem dezidierten ›Volks- und Kulturnationalismus‹, der zugleich mit Abschließung und Verinnerlichung von ›Nationalismus‹ einhergehen sollte, antizipierten deutsche Zionisten den von deutschen Intellektuellen ersonnenen »Kulturkrieg«1704, der das »Produkt einer sukzessiven zivilisationskritischen Radikalisierung«1705 bildete. Sowohl der ›neue Nationalismus‹ der deutschen Zionisten als auch entsprechende Tendenzen des ›radikalisierten‹ deutschen Nationalismus nahmen Bezug auf die Erhaltung eines inneren, »geistigen ›Wesens‹«1706, indem sie »›Kultur‹, Innerlichkeit, metaphysische Tiefe, ›Organisation‹ und eine spezifisch ›deutsche [bzw. jüdische] Freiheit‹«1707 für das eigene imaginierte nationale Kollektiv forderten. Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs fand die zionistische Zivilisationskritik in der Jüdischen Rundschau bezeichnenderweise ihre Fortsetzung in der gleichklingenden diskursiven Inszenierung des Ersten Weltkriegs als deutsch-jüdischem ›Befreiungs-‹ und ›Kulturkrieg‹.1708 In gewohnter Weise

1702 Vgl. Gronemann, Sammy : Die Intellektuellen. Epilog zur Leipziger Tagung, in: JR, XIX. Jg., Nr. 27 (03. 07. 1914), S. 200. 1703 Alle Zitate ebd. 1704 Laut Barbara Beßlich geht der Begriff »Kulturkrieg« auf den protestantischen Theologen und Kulturphilosophen Ernst Troeltsch (1865–1923) zurück, der in seiner gleichnamigen Rede vom 1. Juli 1915 davon sprach, dass England Deutschland den »Kulturkrieg« erklärt hätte. Der Lebensphilosoph Karl Jo[l (1864–1934) verwendete hingegen zunächst die Bezeichnung »Kulturkampf«, die sich allerdings aufgrund ihrer Besetztheit nicht durchsetzte. Vgl. Beßlich, Wege, S. 2, Fn. 4. 1705 Ebd., S. 15. 1706 Ebd., S. 2. 1707 Ebd. 1708 Vgl. dazu vor allem Loewe, Feinde, und die folgende Passage aus Anon.: Nationale Gedanken. Von einem jungen Zionisten, in: JR, Jg. XIX, Nr. 41/42 (16. 10. 1914), S. 388: »Unsere Zeit, von der viele glaubten, daß sie nicht fähig sei, gewaltige ideale Erregungen hervorzurufen, hat die einmütige wundervolle nationale Erhebung eines großen Kulturvolkes gezeitigt, das für seine Freiheit, für seine Ewigkeit kämpft. Diese ›neue Epoche der Weltgeschichte‹ muß auch die Erlösung des ältesten Kulturvolkes, das jahrtausendelang unter unsagbaren physischen und seelischen Qualen geblutet hat, bringen.« Zur ambi-

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zielten die zionistischen Kulturkrieger jedoch auch während des Ersten Weltkriegs weniger auf die biologistische Dimension der eigenen ›jüdischen Volksgemeinschaft‹ ab, sondern auf ihre innerliche, vergeistigte Dimension, welche die Forderung kultureller Partikularität und mit ihr das Kriegsgeschehen zu einem inneren Befreiungskampf und emanzipatorischen Produkt nationaler Selbstbehauptung stilisierte. Die Charakterisierung der kulturnationalistischen Argumentation als »Radikalismus«1709, »Geschwätz«1710 und »hypernationales Phrasengedresch«1711 und damit als pathologische Form von ›Nationalismus‹ hingegen teilten die älteren Vertreter des deutschen Zionismus mit der zeitgenössischen Kritik deutscher Intellektueller am ›radikalen‹ (deutschen) Nationalismus. Friedrich Meinecke etwa versuchte zur selben Zeit wie die Delegierten in Leipzig, im Juli 1914, in einem Aufsatz, der nach dem Ersten Weltkrieg veröffentlicht wurde, die »Überreizungen und Vergröberungen des deutschen Nationalgefühls«, die für ihn der ›völkische Nationalismus‹ paradigmatisch verkörperte, als »Entartung und Überspannung des gesunden nationalen Strebens«1712 zu charakterisieren. Die »Krankheit des Nationalismus« hatte nach Meinecke weite Teile der wilhelminischen Gesellschaft, im Besonderen auch die »gebildeten Schichten« ergriffen und hatte nichts mehr mit seiner Auffassung von Nationalismus, welche sich an einem universalen Humanismus orientierte, gemeinsam.1713 Allerdings muss in diesem Zusammenhang beachtet werden, dass auch in diesem Kontext der ›deutsche Nationalismus‹ für die deutschen Zionisten in widersprüchlicher Weise Vorbild und Feindbild zugleich darstellte. Es kann nur vermutet werden, dass gerade die Radikalisierungstendenzen im deutschen Nationalismus auch dazu geführt hatten, dass sich deutsche Zionisten mit der Betonung des Bezuges ihres Nationalismus auf Palästina darum bemühten, sich von der ›Menge‹ anderer Nationalismen, die in der deutschen Gesamtgesellschaft und im deutschen Judentum zirkulierten, abzuheben. Die unterschiedlichen kritischen Töne deutscher Zionisten gegenüber den Strömungen im deutschen Nationalismus, die sich im Kriegsverlauf unter den zuvor genannten Eindrücken verstärkten, schlossen immer auch Positionen ein, welche sich von zunehmend radikalisierenden und rechtsnationalistischen Tendenzen im deutschen Nationalismus1714 distanzierten und die ideologische Fundierung des deutschen Zionismus auf dem Boden eines ethischen Humanismus und Uni-

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valenten Haltung des deutschen Zionismus im Ersten Weltkrieg vgl. ausführlich Vogt, Positionierungen, S. 234–248. Brief von Adolf Friedemann an Max Bodenheimer vom 25. 02. 1914, CZA, A15/533. Brief von Max Bodenheimer an Adolf Friedemann vom 29. 05. 1914, CZA, A15/75/23. Brief von Max Bodenheimer an David Wolffsohn vom 24. 05. 1914, CZA, A15/533. Meinecke, Nationalismus, S. 83–86, 95. Vgl. das Zitat bei Walkenhorst, Nation, S. 15. Meinecke, Nationalismus. Vgl. dazu Bruendel, Volksgemeinschaft, S. 143–299.

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versalismus forderten. Dies zeigte sich geradezu paradigmatisch bereits in den Worten des Königsberger Zionisten Arthur Pelz auf dem Leipziger Delegiertentag 1914. Einerseits versprach sich Pelz darin in auffallend ähnlicher Rhetorik wie Meinecke nur von »Uebertreibungen des Nationalismus« und »Ueberspannungen nicht nur in der Form, sondern auch in der Theorie« den Durchbruch des Zionismus in Deutschland, andererseits forderte er dabei eine klare Abgrenzung der ideologischen Grundlagen von deutschem Zionismus und (chauvinistischem) deutschem Nationalismus.1715 Vor allem in den beiden letzten Kriegsjahren distanzierten sich die Autoren in der Jüdischen Rundschau merklich vom deutschen Nationalismus. Leo Herrmann etwa prangerte in einem Leitartikel mit dem Titel »Toleranz und ihre Grenzen« im Juli 1917 an, dass in Deutschland zwar »die Wurzeln eines edlen Nationalismus ruhen«, dass aber »die Deutschen, vom Nationalstaatsbegriff fest umfangen, die freie Sinnesart sich erst erwerben müssen, die, im eigenen Haus, sich von geistiger Unterdrückung und Bevormundung der andersgearteten Mitbürger freizuhalten weiß«.1716

1715 Pelz, Redebeitrag, S. 270. 1716 H., L. [Herrmann, Leo]: Toleranz und ihre Grenzen, JR, XXII. Jg., Nr. 28 (13. 07. 1917), S. 229. Das Zitat mit weiteren Beispielen findet sich auch bei Vogt, Positionierungen, S. 245.

IV.

Schlussbetrachtung

»Der Zionismus kann nicht im Zeichen des Nationalismus allein verwirklicht werden. Der Zionismus kann nur verwirklicht werden im Zeichen der Ueberwindung des Nationalismus; denn zum hundertsten Male muß die banale Tatsache wiederholt werden, daß wir in Palästina nicht allein leben und nicht allein leben werden.«1

Diese Aussage stammt aus einem Leitartikel des langjährigen Chefredakteurs Robert Weltsch, der zum jüdischen Neujahrsfest Rosch Ha-Shanah am 26. September 1924 in der Jüdischen Rundschau veröffentlicht wurde.2 Aus den Worten von Weltsch spricht eine grundsätzliche Skepsis am Phänomen des modernen imperialen Herrschaftsnationalismus und sein Bedauern darüber, dass der Zionismus auf denselben ideologischen Fundamenten errichtet worden war, die dieser Nationalismus vordefiniert hatte. Der Zionismus war nach Weltsch also zwangsweise eine Form des modernen Nationalismus, sollte diesen jedoch zugleich in seiner Entwicklung hinter sich lassen. Oder anders gesagt: Der Zionismus sollte – paradoxerweise – ein ›antinationaler‹ oder ›andersnationaler‹ Nationalismus sein. Der Artikel von Weltsch erschien zu einer Zeit, in der sich im britischen Mandatsgebiet Palästina gewaltsame Auseinandersetzungen zwischen Juden und Arabern ereigneten3 und in der im Besonderen der deutsche Zionismus überwiegend eine gemäßigte Form von zionistischer Ideologie und Praxis auf der Linie Chaim Weizmanns gegenüber revisionistischen Tendenzen in der zionistischen Bewegung, welche sich in Deutschland kaum behaupten konnten,4 1 Weltsch, Robert: Politische Neujahrsbetrachtung, in: JR, XXIX. Jg., Nr. 77/78 (26. 09. 1924), S. 551f., hier ebd. 2 Vgl. dazu auch Vogt, Positionierungen, S. 7–9. 3 Vgl. Krämer, Geschichte, S. 244–253; Segev, Tom: Es war einmal ein Palästina. Juden und Araber vor der Staatsgründung Israels, München 2006, S. 142–358. 4 Zum Verhältnis des deutschen Zionismus zur Politik von Chaim Weizmann vgl. Reinharz, Jehuda: Chaim Weizmann and German Jewry, in: LBIYB 35 (1990), S. 189–218. Zum zionistischen Revisionismus allgemein vgl. Shavit, Yaakov : Jabotinsky and the Revisionist Movement, 1925–1948, London 1988; Kaplan, Eran: The Jewish Radical Right. Revisionist Zionism

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Schlussbetrachtung

vertrat. Robert Weltsch und mit ihm die Jüdische Rundschau propagierten darin tonangebend eine Verständigung mit der arabischen Bevölkerung Palästinas und formulierten stellvertretend etwa für die zwischen 1925 und 1933 existierende politische Organisation Brit Shalom (»Friedensbund«) binationale Konzepte für ein künftiges staatliches Gemeinwesen in Palästina, welche ein geregeltes, friedliches Zusammenleben zwischen Juden und Arabern ermöglichen sollten.5 Auf den ersten Blick mag die Tatsache überraschen, dass sich gerade im deutschen Zionismus unter einer ›zweiten Generation‹ deutscher Zionisten, die sich um den Ersten Weltkrieg und darüber hinaus in enger, reziproker intellektueller Auseinandersetzung mit den ›radikalen‹ Strömungen im deutschen Nationalismus befunden hatten, in der Weimarer Republik politisch moderate Töne durchsetzen konnten. Diese Formen lehnten die Abschließung der jüdischen Gesellschaft in Palästina gegenüber der indigenen arabischen Bevölkerung ab und wollten mit dieser in ein Verhältnis des Austausches und harmonischen Miteinanders treten. Im Kontext der vorliegenden Arbeit hingegen wird nachvollziehbar, dass die Haltung der Jüdischen Rundschau in den Konflikten der 1920er Jahre, über ein Jahrzehnt nach dem hier gewählten Untersuchungszeitraum, vielmehr als durch die konkreten politischen Erfahrungen in Palästina angestoßene Intensivierung bereits vorhandener Tendenzen im zionistischen Nationalismus in Deutschland verortet werden muss. Diese lassen sich bis in die 1890er Jahre hinein zurückverfolgen und wurden von deutschen Zionisten gerade in Auseinandersetzung mit dem deutschen Nationalismus formuliert.6 Deutsche Zionisten entwickelten einen identitär ambivalenten zionistischen Nationalismus, der sich auf der einen Seite hinsichtlich seiner sprachlich-seand its Ideological Legacy, Madison 2005; Bilski-Ben Hur, Raphaela: Every Individual a King. The Social and Political Thought of Zeev Vladimir Jabotinsky, Washington 1993. Zum Revisionismus in Deutschland vgl. Nicosia, Francis R.: Revisionist Zionism in Germany (I). Richard Lichtheim and the Landesverband der Zionisten-Revisionisten in Deutschland, 1926–1933, in: LBIYB 31 (1986), S. 209–240; ders., Revisionist Zionism in Germany (II). Georg Kareski and the Staatszionistische Organisation, 1933–1938, in: LBIYB 32 (1987), S. 231–267. 5 Vgl. dazu auch u. a. Weltsch, Robert: Die blutigen Kampfe in Palästina, in: JR, XXXIV. Jg., Nr. 68 (30. 08. 1929), S. 435f.; Arlosoroff-Goldberg, Gerda: Die zweite Phase, in: JR, XXXIV. Jg., Nr. 74 (20. 09. 1929), S. 487f. Zur Bedeutung des deutschen Zionismus für Brit Schalom vgl. Lavsky, Hagit: German Zionists and the Emergence of Brit Shalom, in: Reinharz, Jehuda/ Shapira, Anita (Hg.): Essential Papers on Zionism, New York 1996, S. 648–670. Zur Organisation Brit Schalom und ihren politischen Vorstellungen vgl. Ratzabi, Shalom: Between Zionism and Judaism. The Radical Circle in Brith Shalom 1925–1933, Leiden 2002; Wiechmann, Dietmar : Der Traum von Frieden. Das bi-nationale Konzept des Brith Schalom zur Lösung des jüdisch-arabischen Konfliktes in der Zeit von 1925–1933, Schwalbach/Ts. 1998; Hattis, Susan Lee: The Bi-National Idea in Palestine during Mandatory Times, Haifa 1970. 6 Vgl. dazu und zu den Widersprüchlichkeiten des deutschen Zionismus auch die anregenden einleitenden und schließenden Bemerkungen bei Vogt, Positionierungen, S. 7–11, 431–442.

Schlussbetrachtung

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mantischen und politisch-ideologischen Grundlagen eng an die unterschiedlichen Strömungen des deutschen Nationalismus anlehnte. Darin partizipierte er selbst auch an hegemonialen nationalistischen Diskursen bzw. trug auch wesentlich zu deren Formulierung und Etablierung bei. Auf der anderen Seite beinhaltete er immer auch Tendenzen, welche sich durch ein subtiles, subversives Unterlaufen der deutschen Nationalismusdiskurse kennzeichnen lassen. Mit diesen distanzierte er sich insbesondere von Vorstellungen, welche die rechtsnationalistische Überhöhung der eigenen ›Nation‹ und, damit verbunden, die Erlangung einer konkreten Suprematie über andere Gemeinschaften implizierten. Die zionistischen Nationsentwürfe stellten somit immer auch die Strategie bzw. den Versuch dar, sich in einem »Dritten Raum« zu bewegen, der frei von hierarchischen Ordnungen sein sollte, ohne dabei die Erhebung der ›(jüdischen) Nation‹ zum »Letztwert und obersten Legitimitätsquell«7 aufzugeben. Dass sich der deutsche Zionismus auch nach dem Ersten Weltkrieg in dieser Tradition begriff, wird in der Jüdischen Rundschau deutlich, in der in den Artikeln von Robert Weltsch eine Nationalismuskritik geübt wird, die sich bewusst von der militaristischen Metaphorik und dem Machtstaatsstreben des ›radikalen Nationalismus‹ im Ersten Weltkrieg absetzen möchte.8 Das Produkt dieses interaktiven Prozesses war somit ein widersprüchlicher (hybrider) nationaler Diskurs, da diese Mimiky sich einerseits innerhalb der öffentlich etablierten nationalistischen Logiken bewegte und andererseits stets auch eine widerständige Komponente aufwies.9 Des Weiteren adaptierte der Zionismus in Deutschland darin häufig auch – bewusst oder unbewusst – entsprechende Tendenzen im deutschen Nationalismus, welcher sich wie alle Nationalbewegungen selbst durch ein gleichzeitiges ambivalentes Nebeneinander von emanzipatorischen und chauvinistischen Elementen auszeichnete.10 Im Verlauf der Untersuchung wurde deutlich, dass der zionistische Nationalismus in Deutschland damit in seiner Gesamtheit eine mehrdeutige hybride Zwischenposition einnahm, die sich mit Homi K. Bhabha treffend als »Dazwischen-Existenz« (»in between spaces«) charakterisieren lässt und sich zwischen dem (imaginierten) ›Einen‹ und dem ›Anderen‹ bewegte.11 Deutsche Zionisten bewegten sich somit im »Treppenhaus«12 zwischen ›Deutschland‹ und ›Zion‹, 7 Langewiesche, Nation, S. 16. 8 Vgl. z. B. Weltsch, Robert: Unser Nationalismus. Eine Chanukka-Betrachtung, in: JR, XXX. Jg., Nr. 97/98 (11. 12. 1925), S. 805f.; ders.: Zum neuen Jahre, in: JR, XXXIV. Jg., Nr. 78/79 (04. 10. 1929), S. 517f. 9 Vgl. dazu auch ebd. 10 Dieser Aspekt wurde von der bisherigen Zionismusforschung fast vollständig ignoriert. 11 Vgl. Bhabha, Verortung, S. 2. Vgl. zur Übertragung auf das deutsche Judentum und den Zionismus auch Heschel, Revolt, S. 64; Vogt, Positionierungen, S. 35. 12 Bhabha, Verortung, S. 5.

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Schlussbetrachtung

›deutscher Kultur‹ und ›jüdischer Kultur‹, ›Okzident‹ und ›Orient‹, Kolonialismus und Antikolonialismus, Nationalismus und Universalismus.13 Eine zusätzliche Problematik ergab sich für die deutschen Zionisten daraus, dass sich ihre Hybriditätspolitiken mit den ideologischen Strömungen im Zionismus überlagerten und vermischten. Die Bedeutungsverschiebungen im zionistischen Nationalismus in Deutschland deckten sich tendenziell mit den ideologischen Strömungen im Zionismus, indem seit den Jahren 1908/10 bis zum Vorabend des Ersten Weltkriegs praktisch-zionistische und kulturzionistische Ansätze über den politischen Zionismus Oberhand im deutschen Zionismus gewannen. Obwohl die Jüdische Rundschau zunächst unter Heinrich Loewe offiziell den politischen Zionismus Theodor Herzls unterstützte, wurden in ihr seit ihrer Gründung auch zutiefst kulturzionistisch geprägte Definitionen der ›jüdischen Nation‹ entwickelt. Deutsche Zionisten formulierten etwa Gemeinsamkeitszuschreibungen, die sich eng an ethnokulturellen Nationskonzepten orientierten, wie sie sowohl im deutschen romantischen Nationalismus um 1800 als auch im deutschen Radikalnationalismus seit den 1890er Jahren zirkulierten. Diese wiesen auch Komponenten eines völkischen Nationalismus auf, die eine biologistisch-rassistische Dimension besitzen konnten, sich jedoch häufig darüber hinaus auf die Innerlichkeit und Metaphysik der eigenen ›nationalen Gemeinschaft‹ bezogen, wie es auch für die kultur- und zivilisationskritischen Strömungen des deutschen Nationalismus typisch war. Die in der Jüdischen Rundschau so prominente Forderung nach nationaler Homogenität beispielsweise lässt sich weniger als Ethnisierungstendenz, sondern als diskursive Strategie einer positiven nationalen Selbstbehauptung und Selbstermächtigung in der politischen Arena deuten. Insgesamt bevorzugten deutsche Zionisten kulturalistische Narrative, die sich für ihre Hybriditätspolitiken in besonderem Maße eigneten. Spätestens am Vorabend des Ersten Weltkriegs dominierten im deutschen Zionismus Tendenzen, welche eine Betonung der Alleinstellungsmerkmale von zionistischem Nationalismus und eine exklusive ›jüdische Volks- und Kulturnation‹ forderten. Diese Narrative wurden sowohl als Teil von als auch als Gegendiskurs zu gleichlautenden Tendenzen im deutschen Nationalismus wie in mentaler Antizipation der sog. »Ideen von 1914« formuliert. Dennoch konnte gezeigt werden, dass auch diese neuen Formen eines mitunter essentialistischen, jüdischen Kulturnationalismus sich selbst immer auch als positive, emanzipatorische Hybriditätspolitiken gegenüber radikalen Semantiken im (deutschen) Nationalismus begriffen. Charakteristisch war für den zionistischen Nationalismus in Deutschland 13 Vgl. Vogt, Positionierungen, S. 35.

Schlussbetrachtung

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immer auch der spannungsgeladene Versuch einer Synthese aus partikularen und universal-humanistischen Werten, der seine Leitbilder etwa im frühen deutschen Nationalismus Fichteanischer Prägung und in jüdisch-religiösen moralischen Maximen fand.14 Dieser frühe deutsche zionistische Diskurs konnte wie seine historischen Vorbilder selbst höchst widersprüchlich sein: Einerseits wurde etwa das bürgerliche Deutungsmuster ›Kultur‹ zwar in den Dienst einer übernationalen Gemeinschaft gestellt und wandte sich gegen eine herrschaftsbezogene Deutung von Kolonialismus und Imperialismus. Andererseits wurde es jedoch zugleich mit bestimmten hegemonialen Denkstrukturen gefüllt, welche unter anderem die Überlegenheit der jüdischen (und europäischen) Kultur gegenüber sämtlichen nichtjüdischen Kulturen andeuteten. Bei diesen Nationalismus-Konzeptionen handelte es sich also streng genommen wie bereits im deutschen Idealismus und romantischen Nationalismus zu Beginn des 19. Jahrhunderts immer auch um einen paradoxen »universalistisch begründete[n] Partikularismus der Überlegenheit«15. Vor allem die zionistische Haltung gegenüber dem europäischen und deutschen Orientalismus, Kolonialismus und Imperialismus war so durch eine extensive innere Widersprüchlichkeit gekennzeichnet. Deutsche Zionisten schrieben zwar ihr eigenes Projekt einer jüdischen Kolonisation Palästinas in die entsprechenden hegemonialen Diskurse ein, um die europäischen Mächte, darunter im Besonderen das Deutsche Reich, zu diplomatischen Partnern des (deutschen) Zionismus zu machen. Sie imaginierten sich jedoch gleichzeitig als Vermittler zwischen ›Orient‹ und ›Okzident‹ (mitunter in imperialen Diensten) und solidarisierten sich mit anderen kolonialisierten Räumen und Nationalbewegungen. Hierbei forderten deutsche Zionisten bereits vor dem Ersten Weltkrieg auch die Verständigung mit der arabischen Bevölkerung in Palästina und die Errichtung einer offenen Gesellschaft, die sich vom Machtstaatsdünkel des europäischen Nationalismus fernhalten sollte. Dennoch unterminierten das zionistische ideologische Selbstverständnis und die zionistische Politik, die den Zionismus eindeutig als koloniales Projekt auswiesen, praktisch den subversiven Gehalt dieser so emphatisch emanzipativ konnotierten Nationalismuskritik. Insgesamt ignorierten die deutschen Zionisten sozusagen (geflissentlich), dass ihre nationalen Narrative selbst nahezu immer auch eine hegemoniale Dimension aufwiesen und das Nebeneinander zweier Nationalbewegungen auf engstem Raum somit geradezu zwangsläufig auf einen Konflikt hinauslief.16

14 Zum Universalismus im deutschen Nationalismus vgl. allgemein etwa Langewiesche, Nation, S. 35–38. Zum Einfluss Fichtes auf den deutschen Kulturzionismus vgl. etwa Voigts, Prophet. 15 Bielefeld, Ulrich: Nation und Gesellschaft. Selbstthematisierungen in Deutschland und Frankreich, Hamburg 2003, S. 145. Ähnlich auch Reiß, Ich, S. 167. 16 Vgl. dazu auch Weltsch, Robert: Deutscher Zionismus in der Rückschau, in: Ders.: An der

452

Schlussbetrachtung

Der Grund für die oft eigentümlichen Formen zionistischer Hybriditätspolitiken lag in der Stellung deutscher Juden in der Gesellschaft des Deutschen Kaiserreichs begründet: Deutsche Zionisten entwickelten ihre Vorstellungen von ›Nation‹ und ›Nationalismus‹ aus der reellen wie imaginierten Position einer marginalisierten, diskriminierten und damit para-kolonialisierten Minderheit heraus. Die rechtsnationalistischen Wertigkeiten, welche die deutschen Zionisten ablehnten, bildeten nicht zuletzt den ideologischen Rahmen antisemitischer Deutungsmuster, welche sich in der wilhelminischen Gesellschaft am Vorabend des Ersten Weltkriegs in immer breiteren Bevölkerungsschichten verankerten und unter den deutschen Juden völlig unterschiedliche Formen von Bewältigungsstrategien nach sich zogen. Der Antisemitismus wurde dabei von vielen deutschen Zionisten selbst als pathologischer, irreversibler Auswuchs der ›Moderne‹ und des ihr entsprungenen Nationalismus gedeutet. Dies verlieh dem zionistischen Nationalismus in Deutschland immer auch eine grundsätzlich emanzipatorische Dimension, die an die antihegemonialen Selbstermächtigungs- und Befreiungsnationalismen von Minderheiten in (post-)kolonialen Gesellschaften erinnert, wie sie von den postcolonial studies beschrieben wurden.17 Dass auch die Jüdische Rundschau im deutschen Zionismus zur Trägerin dieser zionistischen Hybriditätspolitik wurde, scheint in der Nachbetrachtung indes kein Zufall gewesen zu sein. So stellte sie selbst das konkrete Produkt einer emanzipatorischen Pressepolitik dar, welche die zionistische Position aus eigener Kraft in einer mehrheitlich nichtzionistisch dominierten Umwelt formulieren und etablieren wollte. Darüber hinaus entwickelte sie sich entgegen der offiziellen Leitlinie der Zionistischen Vereinigung für Deutschland, die sie zu einem Propagandainstrument mit einer nichtzionistischen Leserschaft machen wollte, zu einem zentralen Laboratorium und Netzwerk des deutschen zionistischen Nationalismus und damit zu einem, wenn nicht dem wichtigsten innerzionistischen Diskussionsforum vor dem Ersten Weltkrieg in Deutschland. Die für sie arbeitenden und in ihr veröffentlichenden deutschen Zionisten wie ihr Lesepublikum stammten nicht zuletzt aus derselben bildungsbürgerlichen Bevölkerungsschicht wie die Träger und Konstrukteure des deutschen Nationalismus, womit beide einen Teil desselben Phänomens darstellten und sich wechselseitig beeinflussten. Die Bedeutungsverschiebungen im deutschen Zionismus, die sich in der Jüdischen Rundschau abbildeten, hingen somit immer auch mit Entwicklungen in der deutschen Gesellschaft zusammen und bildeten sowohl einen Teil von als auch einen Gegendiskurs zu ihnen. Wende des modernen Judentums. Betrachtungen aus fünf Jahrzehnten, Tübingen 1972, S. 51–64, hier S. 61f.; Vogt, Positionierungen, S. 441f. 17 Vgl. dazu auch Vogt, Positionierungen, S. 34f., 76, 83, 100, 112f., 238, 313.

Schlussbetrachtung

453

Im gegenwärtigen Israel leben viele der nationalideologischen Konflikte, welche den frühen zionistischen Diskurs prägten, in modifizierter Form in der heterogenen, von Differenzen gezeichneten israelischen Gesellschaft fort.18 So wurde am 18. Juli 2018 von der Knesset nach stundenlanger Debatte ein Gesetz verabschiedet, welches Israel als »Nationalstaat des jüdischen Volkes« definiert.19 Der amtierende Ministerpräsident Benjamin Netanjahu würdigte das neue Grundgesetz als »einen entscheidenden Moment in den Annalen des Zionismus und der Geschichte des Staates Israel« und als »Gründungsprinzip unserer Existenz«.20 Der Knessetabgeordnete der Likud-Partei Avi Dichter, der mit Anderen den Gesetzesvorschlag im Jahr 2011 erstmals eingebracht hatte,21 stellte heraus, dass damit die Forderung des Gründervaters des Zionismus, Theodor Herzl, Wirklichkeit geworden sei: »ein nationales Heim, der jüdische Nationalstaat«.22 Dichter betonte weiter, dass »Israel der Nationalstaat des jüdischen Volkes« sei, was »die Mehrheit garantiert, ohne die Minderheit zu verletzen«.23 Das mit 62 zu 55 Stimmen angenommene sog. »Nationalstaats-Gesetz« berührt zentrale Fragen der Staatlichkeit und des nationalen Selbstverständnisses Israels.24 Es wird unter anderem darin festgelegt, dass das »Recht auf nationale

18 Zum Folgenden vgl. auch die anregenden Ausführungen bei Brumlik, Micha: Wann, wenn nicht jetzt? Versuch über die Gegenwart des Judentums (Relationen – Essays zur Gegenwart; Bd. 3), Berlin 2015, S. 11–19. 19 Press Releases Knesset: Knesset passes Jewish nation-state bill into law. URL: [letzter Zugriff erfolgt am 01. 08. 2018]. 20 Ebd., eigene Übersetzung aus dem Englischen. 21 Vgl. The 18th Knesset. Draft Law submitted by Members of Knesset. Draft Basic Law : Israel – the Nation-State of the Jewish People. URL: [letzter Zugriff erfolgt am 06. 02. 2016]. 22 Press Releases Knesset, eigene Übersetzung aus dem Englischen. 23 Ebd., eigene Übersetzung aus dem Englischen. 24 Die ersten drei Entwürfe des »Nationalstaats-Gesetzes«, die teilweise bis zum Jahr 2011 zurückreichen und eine deutlich nationalistischere Variante des Gesetzes vorsahen, stammten von den Knesset-Abgeordneten Ze’ev Elkin (Likud), Ayelet Shaked (HaBajit haJehudi) und Yariv Levin (Likud), und Robert Ilatov (Jisra’el Beitenu). Vgl. den Text der von Benjamin Netanyahu vorgebrachten und vom Kabinett genehmigten vierten Fassung in der englischen Übersetzung unter Annex of Principles, Approved for support in the Knesset by the Israeli Cabinet, November 23, 2014, in: Kalman, Matthew : Netanyahu’s »Jewish State« Bill – Full text. BASIC LAW: ISRAEL – THE NATIONAL STATE OF THE JEWISH PEOPLE (Decision of the Israeli Cabinet, November 23, 2014), 24. 11. 2014. URL: [letzter Zugriff erfolgt am 06. 02. 2016]. Vgl. den Gesetzestext der im Juli 2018 von der Knesset verabschiedeten Fassung in der englischen Übersetzung unter Basic Law : Israel – The Nation-State of the Jewish People. URL: [letzter Zugriff erfolgt am 01. 08. 2018].

454

Schlussbetrachtung

Selbstbestimmung« in Israel allein dem »jüdischen Volk« vorbehalten sei.25 Nationale Symbole wie Hymne, Flagge und Emblem sollen an die jüdische Tradition angelehnt bleiben.26 Jerusalem wird zur ungeteilten »Hauptstadt Israels«,27 Hebräisch zur »Sprache des Staates« erklärt, während die arabische Sprache »einen besonderen Status im Staat« hat.28 Der Staat soll die Gründung und den Bestand von jüdischen Siedlungen »als einen nationalen Wert« stärken und fördern.29 Dem sog. »Nationalstaats-Gesetz« waren jahrelange Debatten vorausgegangen, die Ende 2014 zum Zerbrechen der Koalition zwischen der Likud-Partei und den liberalen Parteien geführt hatten, was in Teilen der israelischen Gesellschaft und in der jüdischen Diaspora bereits zu diesem Zeitpunkt Proteste hervorgerufen hatte.30 Kritiker des Gesetzes betonten, dass bereits in den bestehenden Grundgesetzen31 vom »Staat Israel« als »jüdischem Staat« die Rede sei, während das neue Grundgesetz eine Abkehr von der nationaldemokratischen Dimension des israelischen Selbstverständnisses bedeute. Es wurden vor allem Befürchtungen laut, dass das Gesetz eine »discriminatory message«32 sende und die nichtjüdischen Bürger, vor allem die arabisch-palästinensische Bevölkerung, zu »Bürgern zweiter Klasse«33 degradiere. Israel laufe Gefahr, so der Vorwurf einiger, sich zu einer »Ethnokratie« zu entwickeln.34 Das »Nationalstaats-Gesetz« und die ihm implizite Abkehr von einem moralischen Universalismus, welche der Staat Israel mit den anderen modernen 25 26 27 28 29 30

31

32 33 34

Basic Law 2018, eigene Übersetzung aus dem Englischen, 1. Grundprinzipien. Vgl. ebd., 2. Die Symbole des Staates, eigene Übersetzung aus dem Englischen. Ebd., 3. Die Hauptstadt des Staates, eigene Übersetzung aus dem Englischen. Ebd., 4. Sprache, eigene Übersetzung aus dem Englischen. Ebd., 7. Jüdische Siedlung, eigene Übersetzung aus dem Englischen. Vgl. Fishman, Joel: Das Gesetz Jüdischer Nationalstaat: Gibt es einen Widerspruch zwischen Judentum und Demokratie?, in: Jewish Political Studies Review 26:1/2 (Frühjahr 2015), S. 6– 13. URL: [letzter Zugriff erfolgt am 06. 02. 2016]; Frehse, Lea: Nationalstaatsgesetz in Israel: Chauvi-Demokratisch, in: alsharq.de, Blog-Beitrag vom 27. 11. 2014. URL: [letzter Zugriff erfolgt am 06. 02. 2016]; Anon.: Israel’s Jewish Nation-state Bill. A Primer, in: Haaretz (25. 11. 2014). URL: [letzter Zugriff erfolgt am 06. 02. 2016]. Vgl. den Text in der englischen Übersetzung unter Basic Law : Human Dignity and Liberty, Passed by the Knesset on the 12th Adar Bet, 5752 (17th March, 1992) and published in Sefer Ha-Chukkim No. 1391 of the 20th Adar Bet, 5752 (25th March, 1992); the Bill and an Explanatory Note were published in Hatza’ot Chok, No. 2086 of 5752, p. 60. URL: [letzter Zugriff erfolgt am 06. 02. 2016]. The Association for Civil Rights in Israel: Basic Law : Israel the Nation-State of the Jewish People, 06. 11. 2011. URL: [letzter Zugriff erfolgt am 06. 02. 2016]. Frehse, Nationalstaatsgesetz; Brumlik, Versuch, S. 16. Vgl. Brumlik, Versuch, S. 17f.

Schlussbetrachtung

455

Nationalstaaten teilt, zeigen nicht zuletzt, wie uneinheitlich heute noch die ›jüdische Nation‹ definiert wird. Die Regierungspolitik und das Selbstverständnis des bestehenden Staates Israel wurden durch die Erfahrung der Shoah, die Kriege mit der arabischen Umwelt, die Bedrohung durch das iranische Atomprogramm und den Terrorismus wesentlich geprägt. Im Gegensatz dazu zielte die Konstruktion einer hybriden ›jüdischen Nation‹ im frühen deutschen zionistischen Diskurs weniger auf die Erlangung oder Erhaltung einer machtstaatlichen Position, sondern auf die national-kulturelle Neudefinition, Selbstbehauptung und Anerkennung des Juden in und gegenüber der deutschen Gesellschaft. Mit Stefan Vogt lässt sich in diesem Zusammenhang die Frage stellen, ob die deutschen Zionisten gewissermaßen gerade in Palästina an ihrem Versuch einer Überwindung der hegemonialen Dimension von Nationalismus scheitern mussten, da ihr Nationalismus vor dem Hintergrund einer reellen wie imaginierten »doppelten Bedrohung durch den europäischen Antisemitismus und den arabischen Nationalismus« geradezu zwangsläufig dazu tendierte, »sowohl kulturell als auch politisch hegemonial zu werden«.35 Hier zeigte sich einmal mehr das Dilemma, um nicht zu sagen: die unauflösbare Aporie eines jüdischen Nationalismus in seiner historischen Situation, in der die ursprünglich emanzipativ gedachte ›Idee der Nation‹ längst überall auch zu einer Macht- und Beherrschungsideologie korrumpiert worden war, was die anhaltende Bedeutung und den Gegenwartsbezug der in der vorliegenden Arbeit aufgeworfenen Fragen nahelegt.36

35 Vogt, Positionierungen, S. 442. 36 Vgl. dazu auch Brenner, Michael: Israel. Traum und Wirklichkeit des jüdischen Staates. Von Theodor Herzl bis heute, München 2016; Brenner, Michael/Weiss, Yfaat (Hg.): Zionistische Utopie – israelische Realität. Religion und Nation in Israel, München 1999; Schulte, Christoph: Die Klippen von Kulturnationalismus und Ethno-Nationalismus. Deutschland und Israel, in: Jasper, Willi (Hg.): Wieviel Transnationalismus verträgt die Kultur?, Berlin 2009, S. 81–96. Vgl. dazu auch die bemerkenswerte Aussage von Eric Hobsbawm, nach der »kein ernsthafter […] Historiker ein überzeugter politischer Nationalist« (Hobsbawm, Nationen, S. 24) sein könne.

V.

ARGB BJC CZA EAC GAC IdR ITO KfdO JR JTZ LA LBI PAR VDSt VJSt ZO ZVfD ZDSJ

Abkürzungsverzeichnis

Archiv für Rassen- und Gesellschaftsbiologie Bund jüdischer Corporationen Central Zionist Archives, Jerusalem Engeres Aktions-Komitee (der Zionistischen Organisation) Großes Aktions-Komitee (der Zionistischen Organisation) Im deutschen Reich Jewish Territorial Organization Komitee für den Osten Jüdische Rundschau Jüdische Turnzeitung Landesarchiv Leo Baeck Institut Politisch-Anthropologische Revue Vereine deutscher Studenten Vereinigung jüdischer Studierender Zionistische Organisation Zionistische Vereinigung für Deutschland Zeitschrift für Demographie und Statistik der Juden

VI.

Abbildungsverzeichnis

Abb. 1: Jüdische Rundschau, XL. Jg., Nr. 31/32 (17. 04. 1935), 40 Jahre, Sonder-Ausgabe, S. 17. Abb. 2: Jüdische Rundschau, VII. Jg., Nr. 41 (10. 10. 1902), Titelseite. Jüdische Rundschau, X. Jg., Nr. 2 (13. 01. 1905), Titelseite. Jüdische Rundschau, X. Jg., Nr. 16/17 (19. 04. 1905), Titelseite. Abb. 3: Jüdische Rundschau, XIV. Jg., Nr. 3 (15. 01. 1909), Titelseite. Jüdische Rundschau, XX. Jg., Nr. 1 (01. 01. 1915), Titelseite. Jüdische Rundschau, XXII. Jg., Nr. 14/15 (06. 04. 1917), Titelseite.

VII. Quellen- und Literaturverzeichnis

1.

Quellen

1.1

Ungedruckte archivalische Quellen

Central Zionist Archives (CZA), Jerusalem – – – – – –

– – – – –

A 11: Arthur Hantke Archive A 15: Max Bodenheimer Archive A 145: Leo Herrmann Archive A 146: Heinrich Loewe Archive A 167: Robert Weltsch Archive J 118: Correspondence between the Council and the URO concerning the restitution of the house and of the plot of the »Jüdische Rundschau« in Berlin, Meineckestraße 10 KKL 1: Keren Kayemeth LeIsrael (Hauptbüro des Jüdischen Nationalfonds, Wien/ Köln/Den Haag, 1902–1920) W: David Wolffsohn Archive Z 1: Zionistisches Zentralbüro Wien, 1897–1905 Z 2: Zionistisches Zentralbüro Köln, 1905–1911 Z 3: Zionistisches Zentralbüro Berlin, 1911–1920

Landesarchiv Berlin (LA)

– A Rep. 342–02 – Amtsgericht Charlottenburg – Handelsregister (Nr. 58622): Jüdische Rundschau GmbH, 1913–1945

Leo Baeck Institute New York (LBI)

– AR 7185: Robert Weltsch Collection – LBIMC ME 644 MM 77: Memoir Collection, Salo Translateur

˘

Sha ar Zion – Beit Ariela, Tel Aviv – Heinrich Loewe Archive

462 1.2

Quellen- und Literaturverzeichnis

Gedruckte Quellen

1.2.1 Zeitungen Allgemeine Zeitung des Judentums Allgemeine Zeitung für Psychiatrie Altneuland Archiv für Rassen- und Gesellschaftsbiologie (ARGB) Berliner Vereinsbote Der jüdische Student Der Kunstwart Die Stimme der Wahrheit Die Umschau Die Welt Im deutschen Reich (IdR) Israelitische Rundschau Israelitisches Gemeindeblatt Köln Journal of Mental Science Jüdische Rundschau (JR) Jüdische Turnzeitung (JTZ) Jüdische Volkszeitung Jüdische Zeitung Korrespondenz-Blatt der Deutschen Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte Mitteilungsblatt. Wochenzeitung des Irgun Olej Merkas Europa Neue jüdische Monatshefte Ost und West Palästina Politisch-Anthropologische Revue (PAR) Selbst-Emancipation Statistisches Jahrbuch der Stadt Berlin Wiener klinische Rundschau Zeitschrift für Demographie und Statistik der Juden (ZDSJ) Zion

1.2.2 Amtliche Druckschriften, zeitgenössische Publikationen, persönliche Quellen, Quelleneditionen Acher, Mathias [Birnbaum, Nathan]: Achad Ha-am, Ein Denker und Kämpfer der Jüdischen Renaissance, Berlin 1903. Arndt, Ernst Moritz: Versuch in vergleichender Völkergeschichte, Leipzig 1843. Ascher, Saul: Die Germanomanie, Berlin 1815. Auerbach, Elias: Pionier der Verwirklichung. Ein Arzt aus Deutschland erzählt vom Beginn der zionistischen Bewegung und seiner Niederlassung in Palästina kurz nach der Jahrhundertwende, Stuttgart 1969.

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Onlinepublikationen

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Onlinepublikationen

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VIII.

Personenregister

Abraham, Fritz 91–95, 112f., 122, 153 Ammon, Otto 224 Anderson, Benedict 37f., 146f., 149 Arndt, Ernst Moritz 152f., 167 Assmann, Jan 150, 237f. Auerbach, Elias 92, 109, 111f., 114, 132f., 179, 213–216, 218f., 227, 230, 233, 262– 268, 270f., 273, 295, 316, 318, 327f., 330, 334–336, 349, 373–375, 377, 381f., 390, 393, 407, 409 Bambus, Willy 24, 67f., 87 Becker, Julius 89–91, 99, 106, 108–110, 113, 117, 120–122, 132, 145, 290f., 310, 330, 341, 346, 418f. ben Elieser, Mei’r (s. auch Mayer, Max) 93, 96, 129, 260, 273, 279–281 Ben Gurion, David 322 Bergmann, Hugo 35, 129, 287 Berkowitz, Michael 14, 30, 103, 140, 271, 301f., 305, 316 Besser, Max 211, 233–235 Bhabha, Homi K. 12f., 46–48, 58f., 147, 361, 384, 449 Birnbaum, Nathan 87, 137, 151, 271, 281, 300 Blumenfeld, Kurt 13, 28f., 31, 50, 76, 84f., 95, 111, 122f., 131, 137f., 144, 382, 397f., 409f., 412, 415, 420, 425, 427f., 430–435, 437–442 Bodenheimer, Max 56, 65, 70–72, 78, 113–117, 120f., 126, 130, 147, 159, 178, 356, 358, 420, 427, 433f., 438, 444, 461

Brenner, Michael 16, 18, 25f., 29, 39, 42, 44, 167, 169, 243f., 272, 277, 455 Buber, Martin 24, 29, 31, 35, 40, 62, 93– 96, 141f., 144, 180, 187–189, 193, 204, 233, 259, 261, 270–273, 278, 286, 300f., 313, 335f., 398, 410 Calvary, Moses 11f., 149f., 166, 172, 175f., 393 Chamberlain, Houston Stewart 200f., 216, 232–234, 236, 268 Claß, Heinrich 163, 192 Darwin, Charles 210, 226 De Gobineau, Joseph Arthur 200f., 212, 214, 232, 234, 236 De Lagarde, Paul 21, 185, 193, 226, 268 De Lamarck, Jean Baptiste 210 Deutsch, Karl W. 37, 146f., 149, 157 Dinter, Artur 216 Driesmans, Heinrich 224f. Dühring, Eugen 216, 234 Estermann, (Arieh Leib) Leo 65, 330, 425 Feiwel, Berthold 25, 94, 141, 270, 297, 300–302, 313, 321, 363, 407f. Fichte, Johann Gottlieb 31, 152–154, 156, 430, 432f., 451 Foucault, Michel 58f., 386 Frankenstein, Betty 68, 75f., 79–83, 85, 108, 110, 123f., 128–130

512 Friedemann, Adolf 68, 70f., 73, 120f., 130, 137, 178f., 211f., 221f., 232, 297, 313, 316–318, 321, 336, 390–392, 408f., 427–433, 435f., 438, 440, 444 Gelber, Mark H. 24, 30, 32, 141, 208, 316, 321 Goldstein, Moritz 216, 273, 279f., 419 Goslar, Hans 112f., 354, 403, 415, 418f. Graetz, Heinrich 168, 244–246 Gramsci, Antonio 32f., 386 Gronemann, Sammy 107, 118, 137, 308, 313f., 373, 442f. Ha’am, Achad 24, 56, 142, 179f., 182, 189, 270f., 278, 283, 300f., 311–314, 402, 411, 421 Haeckel, Ernst 226 Hall, Stuart 33, 44, 46 Halpern, Ben 22, 159, 370f. Hantke, Arthur 56, 65, 68, 70–81, 85, 104– 106, 108, 113–117, 121, 123, 137, 144, 146, 171, 330, 416, 421, 427f., 430, 434, 438, 441, 461 Herder, Johann Gottfried 31, 154, 162, 180–182, 281f., 422 Herrmann, Hugo 94f., 122–124, 135, 259, 289, 434, 442 Herrmann, Leo 94–96, 124, 129, 131, 151, 260, 422, 445, 461 Herrmann, Manja 12, 32, 44, 48, 204, 311, 380 Herzl, Theodor 13, 15, 23f., 30, 45, 65, 67, 71f., 78, 88, 110f., 118, 122, 142, 153f., 156, 159–161, 178f., 188, 229, 252, 270f., 278, 291, 293–296, 301–305, 311–313, 315–335, 337, 339f., 343–345, 357f., 363, 366, 373–375, 395, 413, 450, 453, 455 Heschel, Susannah 45f., 51, 243f., 246, 389, 449 Hess, Moses 15, 222f. Heymann, Hans Gideon 73–80, 337, 346 Hobsbawm, Eric 37, 39, 149, 240, 455 Hutchinson, John 24f.

Personenregister

Jäckh, Ernst 396f. Jeremias, Carl 114, 179, 262–267, 270, 272f., 281 Katz, Julius 228f., 309, 398 Kirchhoff, Markus 376, 389f. Kollenscher, Max 173, 191 Koselleck, Reinhart 20, 38, 50, 150f., 157, 167–169, 172, 180, 186, 190, 240, 340, 361 Krämer, Gudrun 151, 343, 381, 390f., 447 Kremer, Arndt 30, 281, 283–286, 288, 421 Langbehn, Julius 199, 201 Langewiesche, Dieter 19f., 37f., 157, 167, 171, 174, 299, 449, 451 Lazarus, Moritz 169, 183–185, 352 Levin, Schmarja 87, 137, 144f., 389, 421– 423 Lichtheim, Richard 27, 29, 68, 78, 80, 89– 91, 335, 337–339, 355, 379, 397, 414, 435–438, 440, 448 Lilien, Ephraim Moses 88, 141, 277, 300, 363 Loewe, Heinrich 11f., 36, 51f., 55f., 61f., 65–69, 71–74, 79, 86–92, 95–100, 103, 105–115, 118–122, 127, 132, 134f., 137f., 141, 143, 147, 157, 172, 177–186, 192–197, 199–204, 206f., 211–213, 221, 231f., 235f., 239, 241–245, 248–260, 274–279, 281–283, 285–288, 290f., 295– 298, 303–308, 310f., 315–319, 321, 323f., 326–331, 334f., 337–339, 341, 344–347, 362–373, 375, 377–381, 390f., 393f., 401, 417, 421, 443, 450, 461 Löwenstein, Fritz 81, 93, 128f. Luft, Gerda (Arlosoroff-Goldberg) 85, 448 Majerowitsch, Berta 72–75, 79, 111, 131 Maksymiak, Malgorzata A. 34, 164, 383, 399, 401–403, 412 Mandel, Neville 343f. Marchand, Suzanne 388f., 398 Mayer, Max (s. auch ben Elieser, Mei’r) 93, 96, 129, 260, 273, 279–281

513

Personenregister

Meinecke, Friedrich 158, 442, 444f. Mendel, Gregor 210 Meybohm, Ivonne 16, 22–26, 31f., 65, 79, 97, 143, 159–161, 237, 239, 247–249, 253, 259f., 272, 291, 295, 298, 300, 302f., 305, 312, 322, 325f., 331–333, 335, 337, 341–344, 347, 351, 356–358, 373–375, 392, 394f., 410f., 414 Meyer, Michael A. 39, 243–245, 303 Motzkin, Leo 24, 70, 87, 300, 353f. Nagel, Michael 30, 35, 54 Nathan, Paul 363, 384, 421–424 Netanjahu, Benjamin 453 Nordau, Max 23, 89, 92, 142, 160, 178, 249, 300, 311–314, 334, 346f., 357f., 374f., 377, 401f. Nossig, Alfred 142 Oppenheimer, Franz 34, 130, 142, 162– 164, 170, 251, 268, 293, 313, 368, 375, 384, 390, 399, 401, 403–411, 427, 430, 432–438, 440 Oppenheimer, Max 137 Orkin, Georg 277f., 283–285 Pasmanik, Daniel 25, 353 Penslar, Derek 24–26, 30, 44–46, 226, 357, 360, 362, 375, 389 Plenge, Johann 442 Ploetz, Alfred 225 Quessel, Ludwig

395

Reinharz, Jehuda 15f., 22, 27–30, 49, 56, 64f., 79, 137, 162, 164, 262, 267–271, 300–303, 322, 332, 346, 382, 400, 411, 415, 417, 420f., 439f., 447f. Riehl, Wilhelm Heinrich 167 Rohrbach, Paul 243, 396f. Rührup, Miriam 133–139 Ruppin, Arthur 133, 144, 220, 223, 226f., 233 Said, Edward 45f., 386f., 399f. Sand, Shlomo 39, 248

Sandler, Aaron 212–217, 227, 337 Schachtel, Hugo 73, 114, 260, 262, 265, 267, 270, 273 Schallmayer, Wilhelm 225f. Schlöffel, Frank 36, 51f., 55f., 62, 65–69, 71–74, 86–89, 98–100, 103, 105, 107– 112, 119–121, 127, 134, 137f., 141, 147, 181–186, 241f., 244f., 274, 277, 279, 281f., 286, 290, 311, 323f., 326–329, 362–365, 367, 401, 421 Schulte, Christoph 23, 204, 243f., 261, 267, 269, 282, 455 Shimoni, Gideon 13, 15, 23f., 180, 296 Shumsky, Dimitry 31, 40, 93–95, 188, 287, 438f. Simonsohn, Emil 68, 72, 379f. Sombart, Werner 164, 417–419 Soskin, Selig 142, 375 Spivak, Gayatri Chakravorty 33 Steinthal, Heymann 183 Tönnies, Ferdinand 186f., 203 Tramer, Hans 84f. Translateur, Salo 112, 461 Trietsch, Davis 24, 142, 313, 329f., 347– 349, 354, 358, 396, 426 Troeltsch, Ernst 442f.

Ünhut, B. G. R. 286–288 Ussischkin, Menachem 328 Van Rahden, Till 41–43, 66, 139, 167–170, 190 Vital, David 15, 22, 24, 137, 160, 271, 301f., 325, 335, 357, 411 Vogt, Stefan 12, 14, 16–18, 20–22, 24–27, 32–34, 36f., 40, 43–46, 48f., 93, 95, 146, 150, 158, 180f., 187–189, 191, 208, 211– 214, 216f., 226f., 233, 260f., 266, 270– 272, 282, 292f., 301, 359–362, 373, 375, 381f., 385, 389, 393, 397f., 438f., 441, 444f., 447–450, 452, 455 Voigts, Manfred 31, 153f., 261, 279, 433, 451 Volkov, Shulamit 15, 21f., 42, 137–139, 240, 282

514 Von Humboldt, Wilhelm 281f. Von Luschan, Felix 213, 221f., 226, 230 Von Treitschke, Heinrich 21, 155, 168f., 241f., 244–246, 268 Waldenburg, Alfred 220–222 Walkenhorst, Peter 18–22, 39f., 150, 156– 158, 169, 174, 179, 185–187, 192, 208f., 226, 232, 235, 237, 269, 293, 299, 441, 444 Warburg, Otto 23, 26, 68, 131, 142, 333f., 373–376, 392f., 411 Wassermann, Ludwig 166, 171–173, 176, 186 Weismann, August 210 Weizmann, Chaim 25, 90, 122, 137, 144, 271, 300–302, 313, 322, 410f., 447 Weltsch, Robert 31, 35, 81, 83f., 94f., 114, 124, 144, 151–154, 180, 259f., 271, 398, 447–449, 451, 461

Personenregister

Wiedemann, Felix 45, 376f., 386, 388, 399 Wilser, Ludwig 223f. Winz, Leo 141f. Witkowsky, Gustav 279, 339–341 Wolffsohn, David 22–26, 31f., 65, 79, 97, 106, 111, 117, 120, 122, 143, 145, 159– 161, 291, 295, 298, 300, 302f., 305, 312, 315, 322, 325f., 331–337, 339, 341–344, 347, 351, 353, 356–358, 373–375, 392, 394f., 410f., 413f., 427, 444, 461 Woltmann, Ludwig 224, 226 Zangwill, Israel 321, 329f., 334 Zimmermann, Moshe 42, 245, 247, 249f. Zlocisti, Theodor 70–73, 113, 116f., 137, 177, 291, 366, 370, 425 Zollschan, Ignaz 210, 216f., 227, 233